The Project Gutenberg eBook of Deutsche Humoristen, 3. Band (von 8) This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Deutsche Humoristen, 3. Band (von 8) Author: Hans Hoffmann Helene Böhlau Max Eyth Otto Ernst Schmidt Release date: March 7, 2015 [eBook #48425] Language: German Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHE HUMORISTEN, 3. BAND (VON 8) *** Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Anmerkungen zur Transkription Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~. Im Original kursiver Text ist +so ausgezeichnet+. Im Original gesperrter Text ist _so ausgezeichnet_. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Hausbücherei der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung Fünfter Band [Illustration] 6. bis 10. Tausend Hamburg-Großborstel Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung 1904 Deutsche Humoristen Dritter Band Hans Hoffmann ▣ Otto Ernst Max Eyth ▣ Helene Böhlau [Illustration] 6. bis 10. Tausend Hamburg-Großborstel Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung 1904 Inhaltsverzeichnis zum 1. Bande der »Deutschen Humoristen« (Hausbücherei Band 3). Vorwort. _Vischer_, _Friedr. Theodor_: Humor. Gedicht. _Rosegger_, _Peter_: Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß. _Rosegger_, _Peter_: Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten. _Raabe_, _Wilhelm_: Der Marsch nach Hause. _Reuter_, _Fritz_: Woans ick tau 'ne Fru kamm. _Roderich_, _Albert_: Nemesis. Inhaltsverzeichnis zum 2. Bande der »Deutschen Humoristen« (Hausbücherei Band 4). Vorwort. _Brentano_, _Clemens_: Die mehreren Wehmüller oder ungarische Nationalgesichter. _Hoffmann_, _E. Th. A._: Die Königsbraut. Ein nach der Natur entworfenes Märchen. _Zschokke_, _Heinrich_: Die Nacht in Brczwezmcisl. Inhaltsverzeichnis zum 3. Bande der »Deutschen Humoristen«. _Hoffmann_, _Hans_: Eistrug 9--40 _Ernst_, _Otto_: Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben 41--78 _Eyth_, _Max_: Der blinde Passagier 79--142 _Böhlau_, _Helene_ (Madame al Raschid Bey): Die Ratsmädel gehen einem Spuk zu Leibe 143--196 [Illustration] Hans Hoffmann: Eistrug. Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem Buche »Von Frühling zu Frühling« (Berlin: Verlag von Gebrüder Paetel, 3. Auflage 1898). Eistrug. »Das ist wahr,« sagte Kapitän Kannenberg -- Robert Kannenberg, der die »Pomerania« führte -- »etwas anhängen bleibt einem immer von solcher jugendlichen Liebschaft, wenn auch sonst gar nichts dabei herausgekommen ist; und es passiert auch, wenn man sie längst vergessen hat oder bildet sich das doch ein, dann muckert sie hinterher noch 'mal nach, daß einem Hören und Sehen vergeht: und dafür bin ich selbst ein lebendiges Beispiel gewesen. Also, ich war schon ein paar Jahre auf See und dachte gewiß und wahrhaftig nicht mehr viel an meine Jugendflamme, die hübsche Hersilie, kümmerte mich auch nicht drum, was aus ihr geworden wäre. Nun kam ich aus der Südsee zurück mitten im Februar. In den Hafen konnt' ich bequem einlaufen, den hielten die Dampfer offen, aber weiter 'rauf übers Haff ging's nicht mehr, das war fest zugefroren. Es war lange Tauwetter gewesen und dann auf einmal noch spät im Januar scharfer Frost. Nun ist das eine komische Sache, wenn man von 'ner großen Fahrt zurückkommt und es riecht einem dann plötzlich alles so heimatlich, und wenn's auch bloß Teergeruch ist; es schlägt einem doch aufs Gemüt. Und hier war noch das Besondere, daß die ganze Gegend da herum so viel Ähnliches hatte mit der bei uns zu Hause, nämlich die Werften und die Schiffe und das Bollwerk und der Strom und besser hin die großen Wiesen zu beiden Seiten, die jetzt überschwemmt und mit blankem Eis bedeckt waren. Diese Erinnerung schlug mir erst recht aufs Gemüt, und ich mußte immer wieder an unser altes Nest denken, und daß doch immer noch die Gräber meiner Eltern da auf dem Kirchhof waren, wenn ich auch sonst nichts mehr da zu suchen hatte. Und so dämmerte ich schon tagelang in einer kuriosen Verfassung umher. Wenn ich aber sagen sollt', daß ich jetzt schon nach der hübschen Hersilie 'ne Extrasehnsucht gehabt hätte, müßte ich lügen. Wenn ich sie hier am Platz ohne Umstände hätte sehen können, wär's mir so wahrhaftig eine große Freude gewesen und hätt' mich auch inwendig aufgeregt; aber große Geschichten drum zu machen fiel mir nicht ein. Da wollte aber der Teufel oder sonst wer, daß ich an einem Morgen bei unserem alten Radmann zu tun hatte, der sich jetzt hier niedergelassen hatte und reich geworden war, und daß er mich dann natürlich gleich zu Mittag da behielt. Das war ja so weit sehr schön von ihm; und der Hasenbraten war gut, und der Rotspohn war sehr gut: sie haben da so ihre stillen Quellen für diese Ware. Und nachdem wir in Frieden vielerlei Geschäftliches gesprochen hatten, sagte Radmann so beiher: »Merkwürdig ist's doch, wie sich das manchmal so zusammentrifft: heute sind Sie bei mir, und gerade gestern früh treffe ich Ihren alten Freund Heinz Wichards, Pastors ihren, den Sie ja nun auch wohl seit Jahren nicht gesehen haben.« »I wo Donner,« rief ich ganz aufgeregt, »hier doch nicht?« Denn natürlich hatte ich ihn jahrelang nicht gesehen. »Nein,« sagt er, »ich bin gestern erst mit der Post von Stettin gekommen; da hab' ich ihn getroffen.« »Was zum Kuckuck hat der in Stettin zu tun?« rief ich. »Ich denke, der sitzt in Berlin bei seinen Museums und Gipspuppen.« »Tut er auch,« sagte Radmann, »und sie wollen ihn da nun bald zum Professor machen. Aber jetzt ist er auf dem Wege nach Ellermünde, nämlich wegen dem alten Küper; Sie wissen doch, daß der tot ist?« Ich wußte natürlich nichts davon, und es fuhr mir ordentlich in die Glieder. Es war doch immer Hersiliens Vater, wenn er mich auch sonst nicht viel anging. Und ich muß sagen, im stillen wurd' ich ganz rot vor Schreck; zu sehen war aber wohl nichts davon, weil ich so schon rot genug im Gesicht war, denn wir standen bei der fünften Flasche, und der leichteste war der Chateau nicht. »Aber was hat der Heinz Wichards damit zu tun?« fragte ich ganz schüchtern. »Der will sich die alten Marmorscharteken ansehen, die der Küper hinterläßt -- Sie wissen doch, das Zeug, das er aus Griechenland eingeschleppt hat -- vielleicht, daß er sie für sein Museum kaufen kann. So hat er mir gesagt. Möglich ist ja aber auch, daß er das lebendige Marmorpüppchen, die hübsche Hersilie, mal wieder unter die Lupe nehmen will; man hat so Exempel von Beispielen. Anzumerken war's ihm schon, wie nahe es ihm ging, daß die arme Person jetzt so verwaist dastände. Und verdächtig sind diese Art Mitgefühle immer, wenn solche arme Person so verteufelt hübsch ist wie die kleine Hersilie und noch obendrein eine alte Jugendflamme. Man hat Exempel von Beispielen.« So redete er ganz ruhig und hatte keine Ahnung, daß mir dabei etwas in den Kopf gefahren war wie ein Wirbelwind. Ich sage nicht, daß nicht auch der Rotspohn sein Teil daran gehabt hat, denn es kam zu plötzlich und zu toll. Und wenn ich ehrlich sein soll, es war eine richtige Gemeinheit und nicht um ein Haar was Besseres, was mich da gepackt hatte; nämlich der niederträchtige, giftige Neid und Eifersucht auf den alten Freund und friedlichen Nebenbuhler, daß der nun doch zu guter Letzt bei unserer gemeinsamen ehemaligen Flamme sollte zum Ziele kommen können. Und mit einem Schlage war die ganze alte Leidenschaft in mir wieder da, toller als je, und ich hätte in diesem Augenblick einen Finger darum gegeben, wenn ich der süßen Hersilie nur die Hand hätte küssen können. Wie das so auf einmal möglich war nach all den ruhigen Jahren, verstehe ich noch heute nicht; es kam über mich wie ein Gewitter. Schwere Angst! Und wenn ich mir nun vorstellte, daß der Heinz das Mädchen vielleicht zu dieser Stunde schon in den Armen hielt als seine Braut! Und ich hätte das ebensogut haben können, wenn ich eher daran gedacht hätte! »Wann wollte er denn fahren?« fragte ich so gleichgültig als möglich, denn von Stund' an war ich heimtückisch und hinterhaltig geworden. »Heute mit der Post,« sagte Radmann. »Wann kommt die an?« fuhr ich hastiger dazwischen, als ich wollte. »So gegen Abend. Um sechs herum, denk' ich. Natürlich mit der üblichen Verspätung.« Ich sah nach der Uhr. Ein sonderbarer Gedanke zischte in mir auf. Ich dachte an das zugefrorene Haff. Währenddem sah mich der alte Sünder, der Radmann, mit einem verdammten Grinsen an. Da wurde ich wirklich noch um einen Strich röter im Gesicht, denn ich glaubte, er müßte all meine nichtsnutzigen Gedanken in mir gelesen haben. Doch er sagte nur ganz gemütlich: »Wissen Sie, Kannenberg, was ich anfange zu merken?« »Na?« grunzte ich halb wütend, halb verlegen. »Daß Sie keinen Bordeaux vertragen können, Sie haben ja eine tolle Fahne aufgezogen nach den paar Buddeln.« Dieser infame Verdacht hätte mich sonst ganz aus dem Häuschen gebracht; jetzt aber kam er mir recht zupaß, und ich log flott darauf los: »Ja, wissen Sie, Radmann, ich hab' heute schon ein bißchen viel Sherry hinter mir; wissen Sie, bei Eggebrecht ist es immer so schwer, 'rauszukriegen, ob der Sherry oder der Portwein besser ist, und da wird es leicht etwas viel mit dem Proben, bis man es mit Halb und Halb versucht und endlich zur Ruhe kommt: ich glaub' selbst, ich hab' einen kleinen Hieb weg; der Kopf ist mir merkwürdig benommen.« »Na,« sagt' er in seiner Gutmütigkeit »das kommt vielleicht auch von dem Wetterumschlag; es liegt was von Schnee oder Tauwetter in der Luft; ich spür' das allemal in der Hüfte; mancher spürt's wieder im großen Zeh' und mancher in der Lunge und mancher sogar im Gemüt.« »Das muß denn wohl mein Fall sein, das mit dem Gemüt,« dacht' ich im stillen. Ich sagte aber ganz was andres. »Wissen Sie was, Radmann?« sagt' ich gemütlich, »können Sie mir ein Paar Schlittschuhe borgen? Ich möcht' ein Stündchen über die Wiesen laufen, das tut mir immer am besten, wenn ich im Kopfe Nebelwetter habe. Es ist eine gesunde Bewegung.« »Da haben Sie wieder recht, Kannenberg,« sagt' er, »das ist es. Die allergesundeste Bewegung. Da kommt kein Turnen und kein Reiten gegen. Bloß jung sein muß man wie Sie und nicht zu dick; für mich ist's aus. Die Schlittschuhe sollen Sie haben, passen werden sie ja. Und mit dem Wiederbringen hat's keine Eile. Brauchen Sie die Dinger getrost, solange das Eis hält.« »Hält's denn überall?« fragte ich so nebenher. »O ja,« sagte er, »auf den Wiesen laufen sie ja überall, und auf dem Strom geht's auch.« »Und das Haff?« Er sah mich groß an. »Na nu, Sie wollen doch nicht aufs Haff? Was haben Sie da zu suchen? Das lassen Sie lieber bleiben; es ist auch schon zu spät am Tage.« »Das wär' nicht schlimm,« meinte ich, »und sicher muß es doch sein; übrigens war es nur so 'ne Idee.« »Gott, ja,« sagte er, »am Ufer lang soll ja gute Bahn sein; aber weiter 'rein ist's faul; es ist zu viel Sturm gewesen, daß es nicht richtig hat zugehen können; es haben welche 'rüberlaufen wollen, sind aber wieder umgekehrt, weil es zu ungemütlich war und überall knackte.« Da schwieg ich still; und er kramte richtig ein Paar angerostete Holländer heraus, aber sonst leidlich im Stande und von guter Bauart. Und ich dank' ihm und mach' mich auf den Weg. Was ich wollte, wußt' ich. Quer über's Haff nach Ellermünde. Wenn ich mich dran hielt, konnt' ich drüben sein vor Dunkelwerden und vor der Stettiner Post. Hätt' ich Extrapost ums Haff herum nehmen wollen, ich hätte mindestens die vierfache Zeit gebraucht -- und morgen früh kam ich zu spät, daran war also nicht zu denken. So ging's denn auf die Reise. Wie ein Donnerwetter den Strom hinauf und nachher über die Wiesen. Das Eis war wie ein Spiegel und so klar, daß man jeden Grashalm darunter sehen konnte. Es liefen ziemlich viel Leute, Fischer und andere, und ich hätt' noch manchen nach dem Haffeis fragen können, tat's aber nicht; ich hatte heimlich Angst, sie könnten die Köpfe schütteln und mir's ausreden wollen. Ich wollt' nun mal nichts sehen und nichts hören, ich ging drauf los wie der Bulle auf den roten Flicken. Die Luft war schön und still wie in der Stube, der Himmel ganz blau: heißt das, im Südwest stand es grau und dick. Ach, Unsinn, dacht' ich, bei der Windstille kommt das nicht 'rauf, am wenigsten in zwei Stunden, und bis dahin bin ich drüben. Also immer drauf los über die Wiesen weg. Und eh' ich mich's versehe, ist das Eis unter mir schwarz, keine Spur mehr von Gras und Kraut, und auch kein Mensch rundum; ich bin also auf dem Haff. Siehst du wohl, und es geht wunderschön. Kerneis durch und durch; das hält wie Balken. Also immer stramm weiter. Und ein helles Vergnügen ist's und bleibt's doch, so dahin zu jagen, ganz allein; wie ein Adler kommt man sich vor, es ist gar nicht, als ob man den Boden berührt. Man fühlt sich so sicher; das Eis kann ja gar nicht brechen, weil man doch bloß so lose darüber streift. Ebensogut könnt' ein Vogel stolpern und ein Fisch sinken. Und immer vorwärts, immer vorwärts. Ja, das ist erst das Wahre, über solche Fläche zu schießen, die kein Ende hat und keine Unterbrechung; blankes, schwarzes Eis vor sich und hinter sich und rechts und links, und weiter nichts. Kein Mensch und kein Tier und kein Strauch und kein Pfahl und kein Halm. Und auch kein Ton; bloß die Schlittschuhe schurren leise, als ob das Eis singt, und die Luft streicht sachte an den Ohren vorbei. Es geht nichts darüber, sag' ich bloß. Und dabei zu wissen und zu fühlen: mit jeder Minute kommst du ein langes Stück näher dahin, wohin du kommen willst! Und wenn es einen nun so gewaltsam dahin drängt, und jede Minute kostbar ist! -- Wie ich so geradeaus vor mich hinsah, wo nun bald das Land aufsteigen mußte, da dacht' ich: Da drüben fährt er jetzt auch auf seinem Postwagen und hat auch solche Eile wie du und brennt auch inwendig lichterloh, aber er hat bloß Pferdebeine und kann nichts dazu tun, um schneller vorwärts zu kommen; wie muß ihn das prickeln in allen Gliedern, wenn der dumme Postillon 'mal Halt macht und trödelt und trödelt bei seinem Schnaps, und die Gäule haben auch ihren Eimer noch immer nicht ausgesoffen; und du hast deine eigene Kraft und hast Flügel an deinen eigenen Füßen und fliegst herrlich vorwärts, immer vorwärts! Ja, das war eine Freude. Und ich war nun ganz sicher, daß ich ihn überholen würde -- um eine, um zwei Stunden -- und versteht sich: wer zuerst kommt, mahlt zuerst, na, und die Augen, die er machen wird, wenn er die schöne Hersilie hübsch warm in meinen Armen findet, und er muß mit 'ner kalten Marmorpuppe ohne Kopf und Arme abziehen! Ja, das war ein Spaß, sich so was auszudenken und dabei zu fliegen, immer zu fliegen. Gerade aber, wie dies Vergnügen am allergrößten war, kriegt es auf einmal einen Knacks. Erst nur einen kleinen. Ich merke nämlich erstens, daß die graue Wand im Südwesten -- Gott's ein Donner ja, wie ist das möglich, daß die so schnell hoch gestiegen ist? Sie steht ja wohl längst nicht mehr im Südwesten, sondern gerade über meinem Kopf. Und das zweite, was ich merkte: daß es mit dem Laufen nicht mehr so glatt vorwärts gehen will wie vorher. Warum? Weil die Luft so ganz allmählich stärker gegen mich an ging und eigentlich schon eine recht handliche Brise geworden war. Und natürlich, gerade wenn das Eis so schön glatt ist, wie es hier war, da merkt man jeden Hauch, der einen von vorn her anpustet. Und ich fing nun so wahrhaftig schon an zu schwitzen und zu keuchen. Jetzt lief mir doch sachte was Ungemütliches übern Rücken. Sapperment, dacht' ich, auf die Weise kannst du ja wohl vor Nacht kaum drüben sein, und dann ist's 'ne faule Sache, überhaupt die Mündung zu finden, denn den Leuchtturm stecken sie doch nicht an bei Eiszeit. Und wenn dann noch Schnee dazu kommt von der verdammten Wolke da oben, oder das Eis fängt doch wo an zu knacken? Ein bißchen schummrig wurd' es nämlich schon -- mehr von der Wolke als von der Abendstunde -- und vor mir war noch keine Spur von Land zu sehen und rechts und links auch nicht. Und wenn ich nach unten sah, kam mir das Eis auch so dünn vor, als müßt' es jeden Augenblick unter mir zerspringen. Eigentlich sah ich gar nicht, wie dick es war oder wie dünn, sondern bloß wie in einen leeren, schwarzen Abgrund; so durchsichtig war es. Ob's nicht doch am Ende besser ist, umzukehren? fing ich an zu überlegen. Aber wie meine Schlittschuhe so über das Eis bullerten, mußt' ich an den verdammten Postwagen denken und den Heinz Wichards darin, und dann sah ich ihn vor mir, wie er die Hersilie im Arm hielt und sie tröstete, und ihre Tränen fingen an schon sachte zu fließen, bloß noch so, als wenn nach dem Regen das Wasser von den Blättern abtröpfelt. -- Zum Donnerwetter, nein, dacht' ich, wenn ich das zuließe, müßt' ich all mein Lebtag vor mir selbst als dummer Junge dastehen! Und weiter dacht' ich: I was, zurück kommst du immer noch. Mit dem Wind, der jetzt geht, bist du in der halben Zeit zurück, als in der du gekommen bist, und hast die sichere Bahn hinter dir! So kriegt' ich wieder Mut; denn man hat immer Mut, sowie man den Rücken gedeckt hat; und lief stramm weiter, obgleich es immer weniger flecken wollte gegen den Wind. Aber kaum hatte ich noch ein paar Minuten hinter mir, da kam etwas ganz Ekelhaftes. Erst so ein greulicher Ton von unten her, laut, lang, dumpf, genau als wenn jemand unter dem Eise jämmerlich schluchzte oder auch gurgelte wie beim Ersticken. Und der Ton lief dann immer weiter und weiter hin, als wenn da jemand mit fürchterlicher Schnelligkeit unten an dem Eise entlang führe und einen Ausweg suchte und dabei immer trostloser schluchzte und zuletzt in weiter Ferne erstickte. Eigentlich wußt' ich ja ganz gut, was es war, bloß das eingesperrte Wasser, das gluckst, ich hatte das schon oft genug gehört; aber es ist noch etwas anderes, solche Töne ganz allein mitten auf dem Haff in der Einsamkeit zu hören, wo sonst alles still und leer ist wie das Grab. Und wenn der Mensch graulich werden soll, dann wird er graulich und kann sich nicht wehren dagegen. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Gleich darauf glitt etwas Weißes unter meinen Füßen hin, wie eine große weiße Gestalt. Wenn mich jetzt einer fragt, was es gewesen sein wird, so sag' ich: vielleicht ein toter Stör oder sonst ein großes Vieh oder meinethalben auch ein Stück Segeltuch, oder was weiß ich? -- Aber damals schüttelte ich mich ordentlich vor Schauder und hätte darauf geschworen, es wär' ein Mädchen gewesen mit weißen Kleidern, und ich muß sagen, ich sah ganz genau Hersiliens weißes Gesicht vor mir, wie wir sie einmal halb ertrunken aus dem Wasser gezogen hatten. Und gleich darauf kam noch einmal das scheußliche Schluchzen unter dem Eise, gerade als wenn es von der armen Gestalt selbst ausginge. Und wenn mich einer auslacht, ich sag's doch: mir kamen die Tränen in die Augen vor reiner Angst. Und es war auch in Wahrheit schlimm für mich; nicht von sich selbst, aber weil mich jetzt keine Macht der Erde mehr dahin gebracht hätte, umzukehren und noch einmal über die weiße Gestalt hinweg zu laufen. Sondern ich arbeitete vorwärts mit allen Kräften wie ein Wahnsinniger. Und ich tröstete mich und dachte: wenn's jetzt nicht bricht, bist du durch, denn du mußt jetzt ja wohl gleich über die Mitte weg sein, und nach dem Ufer zu ist's wieder ganz sicher: und da kommen auch wohl wieder Menschen! -- Denn wahrhaftig, ich fing an, eine grausame Sehnsucht nach lebendigen Menschen zu kriegen. Aber das Vergnügen war noch lange nicht zu Ende, sondern der kleine Schreck war bloß ein Vorspiel gewesen, bloß so zum langsamen Drangewöhnen. Jetzt kam erst das Reelle. Nämlich auf einmal fällt mir etwas Naßkaltes ins Gesicht und dann etwas Weißes auf den Ärmel, und dann noch etwas und immer noch mehr, hier eine Flocke und da eine Flocke, und es tanzte immer lustiger vor meinen Augen, immer hübsch weiß, immer hübsch weiß; na ja, da haben wir die Bescherung! Es braucht nämlich kein Mensch zu denken, daß es sich leichter auf Schlittschuhen läuft, wenn man mit dem Eisen durch den Schnee fegen muß, und die Decke alle Minuten höher und höher wird, und man alle Augenblicke in einen dick zusammengewehten Haufen gerät und fast stecken bleibt. Und dann noch einen steifen Südwest gegen sich! Und es braucht auch keiner zu denken, daß es sehr gemütlich ist, wenn man in solcher Einsamkeit nichts mehr um sich her sieht als Flocken und Flocken und Schnee und Schnee und Schnee und keine Spur mehr von dem festen Eis -- von Land schon gar nicht zu reden. Aber da kam's, das Allerschlimmste. Es war zwar bloß so ein ganz feines, schleichendes Knistern unter mir: aber verdammt, das kannt' ich! Weiter war es auch nichts gewesen damals, als ich auf unserem Wiesengraben einbrach: damals hatte ich nicht darauf geachtet, bis ich drin lag. Nur bis an den Bauch damals -- aber jetzt! Na, es wird keiner denken, daß ich auch jetzt nicht darauf geachtet hätte! Und ob ich die Beine rührte! Aber das Knistern lief immer sachte hinter mir her, immer dicht mir auf den Hacken, wie so ein vermaledeiter Köter, der knurrt und knurrt und jeden Augenblick zubeißen kann. Und dabei war mir's, als käm' ich nicht von der Stelle, sondern säße da festgenagelt, wo das Eis am dünnsten war. Und nun also gerade mitten auf dem Haff. Himmeldonnerwetter! Und dann der Gedanke: mit dem Umkehren ist's jetzt vorbei, über das knackende Eis hinter dir läufst du ungestraft nicht zum zweitenmal. Dahinaus ist die Welt mit Brettern vernagelt! Na, schön war's nicht: aber wenn einer eben vom hohen Gerichtshof zum Tode verurteilt wird, das soll ja auch nicht schön sein. Also ich lief und lief wie besessen; und das Knistern lief immer sachte hinter mir her. Aber das Eis hielt immer noch trotz alledem, und es wollte mir schon ein ganz klein bißchen besser zu Mut werden. Ich laufe und laufe -- da, bums, krach, da liege ich lang ausgestreckt, oder vielmehr, ich liege nicht, sondern fliege im Kreise herum, und der Schädel brummt mir so, daß ich eine schöne Zeit brauche, bis ich ordentlich zur Besinnung komme. Erst denke ich natürlich, ich bin eingebrochen und alles ist aus; und weiß Gott, einen Augenblick war ich ganz zufrieden, daß die Höllenangst ein Ende hatte, und ich das verfluchte Knistern nur nicht mehr hörte. Allmählich aber merkt' ich denn doch, daß ich nicht unter dem Eise, sondern auf dem Eise lag, und daß ich bloß über einen losgegangenen Riemen gestolpert war. Und da hatt' ich nun zuerst eine große Freude: wenn das Eis den Prall aushält, dacht' ich, dann hat's keine Not, dann war das ganze Knistern bloß Spiegelfechterei zum Bangemachen, und du bist hier so sicher wie auf dem Tanzboden. Das heißt, das war hauptsächlich so eine Art von Renommage vor mir selber, denn ich wußt' doch ganz gut, daß solches Knistern und Knacken immer was zu bedeuten hat; ich war wohl bloß so davongekommen, weil ich so glatt hingerutscht war und sich die Last des Körpers im Liegen verteilte. Vielleicht war's auch aus Zufall eine festere Stelle gewesen. Mit der Freude war's bald zu Ende: indem ich aufstehe und wieder meine Richtung nehmen will, ja, zum Schockschwerenot, wo ist denn meine Richtung? Ich war beim Fallen so rundum geschmissen, daß ich nichts mehr wußte von Norden noch Süden, noch Osten, noch Westen. Der Schreck war nicht schlecht! Der kalte Schweiß brach mir aus am ganzen Leibe, und ich wäre beinahe wieder umgefallen und liegen geblieben. Aber natürlich faßte ich mich schnell und mußte ordentlich lachen über meine Dummheit. Wenn man eine so schöne steife Brise zum Wegweiser hat, braucht man wahrhaftig keinen Kompaß und keinen Leuchtturm. Immer nur stramm gegen den Wind an, und ich mußte notwendig irgendwo bei unserem Nest in der Nähe ans Land kommen; und dann fand ich mich schon zurecht, auch bei Nacht und Schneegestöber. Also los. Immer gegen den Wind und gegen den Schnee. Und der Schnee wurde immer dicker, und der Wind immer toller, und manchmal gab's einen Wirbel, daß mir Hören und Sehen verging: ich arbeitete wie ein gepeitschter Gaul und merkte doch kaum, daß ich vorwärts käme. Das Ausschreiten mit den Schlittschuhen war eine richtige Schinderei geworden. Und endlich war ich so weit, daß ich gegen Sturm und Schneedecke nicht mehr aufkommen konnte; ich mußte die Eisen abschnallen und auf Schusters unbeschlagenem Rappen weiter traben. Doch ich tröstete mich: nach meiner Rechnung mußte ich jetzt doch ganz nahe am Lande fein. Freilich war ich auch müde zum Umsinken, ich hatte mich gar zu sehr abgerackert mit dem tollen Anstürmen gegen das Wetter. Und nun Schritt vor Schritt durch den dicken Schnee zu patschen! Eine schöne Geduldsprobe das nach dem Fliegen und Sausen im Anfang! Dazu war es jetzt dunkle Nacht geworden, und der Schnee fiel immer ruhig weiter, unaufhörlich, ohne Ende, als wäre es darauf abgesehen, mich bis an den Hals einzuschneien. Und immer noch kein Land. Das wurde nachgerade unheimlich. Ich hatte mich denn doch schändlich verrechnet in Betracht meiner Geschwindigkeit. Zwar in jedem Augenblick konnte das Ufer auf zehn Schritt nahe sein; sehen konnte ich es kaum, ehe ich es unter den Füßen fühlte. Diese Hoffnung, die sich bei jedem Schritt erneuerte, hielt mich noch eine Zeitlang aufrecht; aber sie täuschte auch bei jedem Schritt. Und endlich packte mich's; siedendheiß lief es mir über den Rücken; es war kein Zweifel mehr: ich hatte die Richtung verfehlt. Der Wind -- nun ja, warum sollte der Wind sich nicht gedreht haben? Ich schnappte nach Luft, mehr noch vor Entsetzen als vor Müdigkeit, blieb stehen und witterte hinaus. Man kann es der Luft so ungefähr doch anfühlen, woher sie bläst. Nord und Ost war's nicht, das stand fest, dazu war sie zu feucht und zu weich -- aber Südost konnte es sein so gut als Südwest: vielmehr es war höchstwahrscheinlich Südost, denn er fühlte sich so sonderbar warm an, fast wie richtiger Tauwind. Südost! Also richtig Südost! Wenn ich aber gegen Südost gegangen war, so blieb kein Zweifel: dann steckte ich jetzt ganz genau im richtigen geometrischen Mittelpunkt des Haffs. Also noch mindestens je zwei bis drei Stunden Fußwanderung nach den nächsten Küstenpunkten im Norden und Süden. Das hielt ich gar nicht mehr aus nach all' der Quälerei, selbst wenn ich diesmal wirklich den richtigen Kurs faßte, und selbst wenn ich überall festes Eis fand und nicht wieder auf eine knisternde Stelle geriet. Eine tolle Verzweiflung schüttelte mich; blind und kindisch rannte ich im Zickzack hin und her wie eine Maus in der Falle -- da plötzlich knackt es unter mir, weit stärker als je vorher; ich bilde mir ein, ich fühle, wie die Eisdecke sich biegt und senkt! Wie ein Messerschnitt ging mir der nichtswürdige Ton durch den ganzen Leib. Ich tue einen wilden Sprung vorwärts, und im selben Augenblick steht etwas Schwarzes vor mir auf wie eine dunkle Mauer. Erst krieg' ich einen mächtigen Schreck, und das war sehr dumm von mir: denn alles, was hier nicht Schnee und Eis war, konnte für mich doch nur etwas Gutes sein. Und es war etwas sehr Gutes: nämlich ein rechter, echter Haffkahn, mit Torf beladen. Der hatte also vor dem Frost noch durchzukommen versucht und war mitten auf dem Haff eingefroren. Ich kletterte an Bord und kroch das lange Ding entlang bis zur Kajüte. Sie war verschlossen, und auf ein kurzes Klopfen kam keine Antwort. Selbstverständlich, die Leute konnten doch nicht auf dem Kahn geblieben sein, da das Eis seit Wochen stand. Also nahm ich eine tüchtige Klobe Holz und sprengte die Tür. Es war natürlich nicht bloß stockdunkel in dem kleinen Loch, sondern auch kalt und feucht wie im Eiskeller. Herr des Himmels! Noch ein letzter Schreck -- ich fand meine Streichhölzer nicht. Entsetzlich: da hatte ich nun Torf genug, um mir jahrelang einzuheizen, und konnte bei all dem Reichtum jämmerlich erfrieren. Und das zu guter Letzt, wo ich sonst gerettet war und friedlich wie auf einer sicheren Insel saß! Aber das war zum Glück nur ein blinder Schuß: man hat bekanntlich die Streichholzschachtel immer in einer falschen Tasche, wenn man sie gerade sehr eilig braucht. Na, ich fand sie am Ende doch noch, und dann fand ich gleich die anderen schönen Dinge, die dazu gehören: nämlich eine kleine Lampe über dem Tisch und sogar etwas Öl drin, und einen eisernen Ofen und Torf daneben und sogar Kienspäne, alles, als wenn's auf mich gewartet hätte. In einer Minute schlug die Flamme auf. O du grundgütiger Himmel, wie schön war das Feuer, wie schön, wie schön! Ich stöberte weiter umher; und jetzt hatt' ich Glück auf Glück. Es kommt immer gehäuft, Unglück und Glück. Erst lag in der Koje ein tüchtiger Schafpelz; merkwürdig genug, daß der Schiffer den hatte liegen lassen. Na, ich hatte nichts dagegen, ich zog ihn an, und mir fing an mollig zu werden. Dann in dem Wandschapp eine Flasche Rum, nicht die feinste Sorte, aber immer Rum, und eben erst angetrunken. Komischer Kerl, dacht' ich, der Schiffer! So was dazulassen, wenn man den langen Weg übers Eis vor sich hat! Ein ordentlicher Seefahrer hätt' das nie übers Herz gebracht -- aber na, so'n Kahnfriedel! Ich setzt' einen kleinen Topf auf den Ofen, tat Schnee hinein, und bald war mein Grog fertig. Aber steif wie nie, Halb und Halb ist Kindermilch dagegen. Und dann setzt' ich mich auf die Bank daneben und taute inwendig langsam auf. Und wie wohl es einem Menschen um die Seele 'rum werden kann bei Grog und Feuer und Schafpelz, das kann bloß der nachfühlen, der gerade so ein kleines Sommervergnügen wie ich hinter sich hat. Da saß ich also in meiner Gemütlichkeit, duselte vor mich hin und dacht' an viel und dacht' an gar nichts. Wenn jetzt einer hier vorbeikäm', dacht' ich, und säh' den fidelen Rauch aus dem ollen eingefrorenen Torfkahn aufsteigen! Aber hat sich was mit dem Vorbeikommen. 'Ne Landstraße ist hier gerade nicht und ein Aussichtspunkt auch nicht. -- Und wenn der Kahnfriedel selber käm'? Ob er wohl hauen würd'? Ich denke, nein; und wenn, dann haut' ich wieder. -- Und was mag denn wohl jetzt die Uhr sein? -- Richtig, sieben Uhr auf'n Knopf. Also jetzt hat sich der Schlingel, der Heinz, gerade aufgewärmt von der Postreise und geht über die Brücke und das Bollwerk entlang zu unserer kleinen Hersilie. Und jetzt tritt er ein, und Hersilie, ganz in Schwarz, aber sehr schön, erschrickt und wird rot und gibt ihm die Hand; und er küßt die Hand und wird auch rot und stammelt etwas; und sie wird noch röter und schlägt die Augen nieder und nickt ganz leise; und er faßt sie rundum mit aller Macht und küßt sie auf die Stirn und den Mund, und sie weint, und er weint auch, und sie lacht, und er lacht auch -- -- So deutlich sah ich die ganze Geschichte vor mir, richtig wie ein lebendes Bild oder ein Schauspiel. Aber das war nun ein reines Wunder Gottes dabei, daß ich das mit ansehen oder mir doch einbilden konnte, ohne aus der Haut zu fahren! Wer mir das vor ein paar Stunden gesagt hätte! Aber es war so: ganz ruhig blieb ich und gemütlich, und fiel mir gar nicht einmal ein, daß ich doch eigentlich aus keinem anderen Grunde hier auf dem Torfkahn saß, als weil ich eben diesem Heinz eben dieses Mädchen abjagen wollte. Küßt ihr euch nur! dacht' ich jetzt recht seelenvergnügt, und bildet euch wunder was für Süßigkeiten dabei ein: meinen Schafpelz und meinen Ofen und meinen steifen Grog habt ihr doch nicht! -- Und wenn jetzt der Teufel selbst in Person zu mir gekommen wär' und hätt' gesagt: Nimm du die schöne Hersilie und gib dem Heinz dafür die drei Stücke! -- »Den Teufel auch,« hätt' ich gerufen, »nicht eins von den dreien geb' ich her! Und wie werd' ich denn meinem alten Kameraden seine Liebste abjagen? Pfui Teufel! So ein Schuft bin ich mein Lebtag nicht gewesen. Jedem das Seine! Ihm die Braut und mir die dreifache Heizung, das ist christlich und kameradschaftlich geteilt.« So war's und so blieb's. Es ist die ganz buchstäbliche Wahrheit, mag es klingen wie es will: meine ganze Liebe und meine ganze Eifersucht waren alle beide im Haffeis eingefroren wie ein alter Torfkahn. Und sind auch festgefroren geblieben für Zeit meines Lebens. An die hübsche Hersilie hab' ich nie mehr anders gedacht, als an andere nette Mädchen; aufgeregt hat's mich nicht mehr. Von diesen Frühlingsgefühlen hat mich die lustige Badereise kuriert: eine Pferdekur ist's gewesen, aber geholfen hat's. Ja, aber nu: wie ich wieder 'rausgekommen bin aus dem alten Torfkahn? Na, das war auch man so; und 'ne besondere Sache war's. Also, wie ich nun so viel Grog hatte, als ich ungefähr vertragen konnte, verfiel ich in einen Schlaf; ich hatt' gerade noch Zeit, mich in der Koje auszustrecken und den Schafpelz überzudecken, und weg war ich. Und hab' denn auch die ganze schöne Nacht in Frieden geschlafen. Und zuletzt hatt' ich einen Traum, daß eben das Eis unter mir bräche und ich mit aller Gewalt ins Wasser sauste, immer tiefer, immer tiefer; und ich hörte im Sinken das Wasser an meinen Ohren vorüber rauschen und rauschen und immerfort rauschen -- -- Und meine Angst wurde so groß, daß ich davon aufwachte. Und ich fuhr in die Höhe, stieß mir den Kopf und horchte. Denn es war etwas zu hören. Wahrhaftig, es rauschte immer noch, über mir, um mich her, rauschte und rauschte -- Himmeldonnerwetter, was sollte das sein? Nu natürlich, Regen war's, richtiger, strammer Pladderregen. Also mit dem Tauwind hatte es doch seine Richtigkeit gehabt. Das war eine nette Bescherung. Da saß ich nun richtig im Gefängnis, konnte nicht mehr ausbrechen, und kein Mensch konnte zu mir 'rankommen. Denn wenn das Eis gestern schon so teuflisch geknistert und geknackt hatte, wie sollte das erst heute werden nach der Regennacht? Daran war gar nicht zu denken, wieder aufs Eis zu gehen, außer um schnell ein Ende zu machen. Und daran dacht' ich nun aber wirklich. Denn was hatt' ich sonst für schöne Aussichten? Bis das verdammte Eis ganz aufging und die Schiffahrt frei wurde, das hatte gute Weile bei allem Tauwetter, wenn nicht etwa gleich Hundstagshitze kam. Bis dahin würd' ich gerade in aller Gemütlichkeit verhungert sein -- denn zu essen hatte der Hallunke von Schiffer nicht eine Brotrinde dagelassen, und der Rum würde auch bald alle sein -- außer wenn mich vorher ein Sturm faßte und umschmiß oder leck machte. Da kriegt' ich's richtig mit der Verzweiflung. Mit der niederträchtigen, gemeinen, unchristlichen Hundeverzweiflung. Das einzige ist, dacht' ich, du machst es wie mancher Matrose, wenn das Schiff nicht mehr zu halten ist und alles aus ist: du säufst Rum bis zur Bewußtlosigkeit, und dann mit einem Sprung aufs Eis und durchs Eis ins Wasser. -- Und das dacht' ich nicht bloß so wie ein Hanswurst, um mich selbst graulich zu machen, sondern in verdammtem Ernst, und war, weiß Gott, nicht mehr weit ab davon, die Flasche vor den Kopf zu nehmen. Da mit einem Male -- bum -- bam -- bum -- bam -- bum -- bam -- was ist das? Da fängt es draußen an zu dröhnen und zu summen und zu singen und zu klingen -- bum -- bam -- bum -- bam -- richtiges, offenbares Glockengeläut, und das so laut und fest, als ob der Kirchturm nicht ein paar hundert Schritt von meinem Kahn ab sein könnte. Allmächtiger Gott, dacht' ich, was sind das für Neuigkeiten? Entweder bist du wahnsinnig geworden von der Angst, oder -- und mir kam die alte Geschichte in den Sinn, daß in der versunkenen Stadt Vineta manchmal die Glocken läuten sollen unter Wasser: aber wer das Läuten gehört hat, ist ein verlorener Mann und sieht das Land nie wieder -- -- Und das bist du jetzt, und also sind das deine Totenglocken. Aber Vineta liegt weit draußen in der Ostsee bei Streckelberg, wie kann man da das Läuten bis hier hören? Ja, dafür sind es Zauberglocken; christliche Glocken läuten auch erst nach dem Tode, nicht vorher. Indessen ging das draußen ruhig weiter -- bum -- bam -- bum -- bam -- immer schöner, immer freundlicher. Ich machte die Augen zu, und da kam es mir vor, als ob es die Weihnachtsglocken wären. Und ich faltete die Hände und dachte an die Zeiten früher, wenn am heiligen Abend die Glocken gingen und dann gleich der Baum angesteckt wurde und aufgebaut war -- mein Gott, was alles für Herrlichkeiten! -- Und wie nachher immer mein erstes gewesen, noch schnell am Abend zu Heinz Wichards zu laufen, seine Sachen zu besehen und meine zu zeigen und zu teilen, was zu teilen war -- -- ja wahrhaftig, wir hatten alles Gute damals geteilt als gute, treue Kameraden, ohne Neid und giftige Eifersucht bis -- Und in diesem Augenblick hatte ich nur den einen Wunsch und eine recht bitterliche Sehnsucht, meinen Heinz nur einmal noch vor meinem Ende zu sehen, ihm um den Hals zu fallen und -- na, ihm eine Kleinigkeit abzubitten. Bum -- bam -- bum -- bam -- Und nun klang es langsam, feierlich aus und wurde ganz still, ganz still. Und an der schauerlichen Stille merkte ich erst sicher, daß die wunderbaren Glockentöne doch kein Hirngespinst, sondern irgend etwas Wirkliches gewesen waren. Ich hielt es nicht mehr aus in der dumpfen Kajüte, stand auf und ging aus der Tür ins Freie. Da war es schon Morgen, ein trüber und regnerischer Morgen, aber Tageslicht. Da tat ich einen lauten Schrei, aber wahrhaftig, zuerst nur vor Schreck und nicht vor Freude. Dicht neben mir lag noch ein zweiter langer Haffkahn, ebenso eingefroren -- und weiterhin ein anderer Küstenfahrer -- und da eine holländische Kuff -- und da ein abgetakelter Schoner -- alle dicht nebeneinander, als ob das so sein müßte mitten auf dem Haff. Und wieder besserhin -- allmächtiger Vater -- da lag ein großer Schiffsrumpf, aber nicht im Eis, sondern auf dem Stapel, halbfertig -- und fünfzig Schritt von mir ist Land -- Häuser -- ein Kirchturm -- ein altes Schloß -- ganz offenkundig und reinlich unser altes pommersches Herzogsschloß -- -- Und nun faßte ich noch einmal an meinen Kopf und dacht', ich wäre wahnsinnig geworden vor Angst und Verzweiflung. Aber ganz und gar nicht. Ich war klar und vernünftig wie nie. Na nu kam's alles 'raus. Da hatte ich Unglückswurm also die ganze Nacht in meinem Elend gesessen, fünfzig Schritt weit von meinem Ziel. Und wäre gestern ganz bequem noch zur rechten Zeit gekommen, wenn ich's nur gewußt hätte. Aber welcher Mensch sollte auch auf den Gedanken kommen, daß er vom Haff, ohne es zu merken, auf die überschwemmten Wiesen geraten kann! Na, Gott sei gelobt und gepriesen, daß ich's nicht gewußt habe! Das bißchen Angst habe ich redlich verdient, und alles Übrige war in schönster Ordnung. Aber eine tolle Sache war's doch. Solchen Augenblick wie den erlebt man nicht zweimal im Leben. Ich hätte jetzt aber wer weiß was drum gegeben, wenn die Glocken noch einmal geläutet hätten. Aber das taten sie nicht, sondern blieben in ihrem Schweigen. Da packte mich die Sehnsucht nach einem Menschengesicht, und am meisten nach meinem alten Heinz. -- Und eine Viertelstunde später hatte ich meinen Heinz und konnte ihm nach Herzenslust um den Hals fallen und ihm eine Kleinigkeit abbitten. Und ich habe ihm, weiß Gott, nichts vorgelogen. Von der Stunde an sind wir die alten Freunde geblieben wie in unserer Kindheit, soweit seine jetzige Gelehrsamkeit das zuläßt. Mit der schönen Hersilie aber gab es zuletzt noch eine neue Überraschung. Der Heinz nämlich lachte so recht gemütlich und sagte: »O lieber Junge, unsere Hersilie ist schon seit dem Sommer -- lange ehe ihr Vater starb -- heimlich verlobt mit einem jungen Leutnant; nur daß sie leider vorläufig noch nicht ans Heiraten denken können, weil sie beide zu arm sind. Aber auch ohne das wäre es mir gar nicht eingefallen, noch an die alte Flamme zu denken -- weißt du, ich habe inzwischen schon eine neue Jugendliebe verschmerzt -- sondern ich bin wirklich nur um die antiken Fragmente hergekommen. Mit den Dingern bin ich freilich auch angeführt, ich habe sie gestern Abend noch besichtigt; sie sind rein gar nichts wert, nicht einmal der Frauentorso in der Hausnische, höchst mittelmäßige Arbeit aus spätrömischer Zeit, wie sie in Italien und Griechenland an jeder Landstraße zu finden sind. Wunderlich genug, daß der Alte sich mit dem Kram geschleppt hat; er muß doch nicht viel davon verstanden haben. Übrigens ein merkwürdiges Beispiel, wie einem die jugendliche Illusion mitspielt oder die idealisierende Kraft der Erinnerung: ich hätte darauf geschworen, der Torso wäre ein gutes Stück und eines guten Preises wert. -- Mit Hersilien ist's anders: die ist ein nett Mädchen und nicht häßlicher geworden, und nicht dumm. Ob sie aber zur Gelehrtenfrau gepaßt hätte, ist mir doch fraglich, und zur Seemannsfrau vielleicht erst recht nicht. Darüber können wir uns beruhigen. Aber ein nett Mädchen ist sie.« So urteilte mein Heinz, und er ist wirklich ein Kenner, für Marmor sowohl wie für Frauenzimmer. [Illustration] Otto Ernst: Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben. Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem Buche »Vom geruhigen Leben. Humoristische Plaudereien über groß und kleine Kinder« (Leipzig: Verlag von L. Staackmann, 1903). Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben. Wer je in seinem Leben den vortrefflichen Roman »Auch Einer« des noch vortrefflicheren Humoristen Friedrich Theodor Vischer gelesen hat, der wird sich auch in späteren Jahren noch mit Behagen erinnern, daß der Dichter ein Erkleckliches und Erquickliches zu reden weiß von der »Tücke des Objekts«. Man wird sich desgleichen erinnern, daß der Dichter unter solcher »Tücke des Objekts« die große Summe der kleinen Hindernisse versteht, die uns von äußeren und zufälligen Umständen gerade bei unseren wichtigsten und erhabensten Handlungen in den Weg geworfen werden. Eine große Tat vollbringen, ist keine Kunst, wenn man im entscheidenden Augenblicke nicht durch Niesen oder durch das Platzen einer Naht an ihrer Vollbringung gehindert wird. Das ist der Sinn der Vischerschen »Tücke des Objekts«. Hat nun der mehrfach benannte Poet aus Württemberg die Vermessenheit besessen, den Humor des hirnzerschlitzenden Nasen-Rachenkatarrhs und der unzeitig geplatzten Hosennähte recht ausführlich zu kultivieren, solcher Dinge also, die eines großen Hintergrundes durchaus entbehren und die geradezu dem schlimmen Verdachte Raum geben, der Autor habe ehrenhafte deutsche Mitbürger mit Bewußtsein zum Lachen gereizt: so geht der ganz unwürdige Verfasser dieser Plauderei in seinem Unterfangen gar so weit, der reinen Vernunft jenes Spaßmachers noch seine vermeintlich praktische Vernunft hinzuzufügen. Der ganz unwürdige Schreiber dieser Zeilen ist nämlich nicht nur davon überzeugt, daß so etwas wie die Tücke des Objekts in Wahrheit vorhanden sei, sondern er lebt auch des Glaubens, daß es eine Weise gebe, ihr erfolgreich zu begegnen. Schwerer als auf anderen Zeiten der schwarze Tod, lastet auf unserem Zeitalter die Seuche des grellen Lebens. Es ist die ansteckende, hartnäckige, tragikomische Krankheit, die man Nervosität nennt. Sie ist tragikomisch von einer schlimmen Art: wer von ihr befallen ist, dem ist sie sehr tragisch -- den anderen aber meist komisch. Oder sie halten sie für eine Lumperei, von der man kein Wesens machen sollte. Ich finde, man soll viel, viel Wesens von ihr machen. Denn obwohl sie dem einzelnen meistens das Leben läßt, ist sie eine tödliche Krankheit. Manchen tötet sie 24mal an einem Tage; was aber mehr bedeutet: sie tötet Völker und Generationen. Sehr wahrscheinlich, daß sie eine Ansteckungskrankheit ist wie Chauvinismus und Grippe, Bigotterie und schwarze Pocken und ihr spezifisches Kontagium hat, das zu allen Zeiten auftreten kann. Gewiß ist aber, daß sie in unserer Zeit eine besondere »Disposition« vorfindet. Kein Märchen von »guter, alter Zeit« ist es, daß unsere Väter zu allen ihren Taten wundervoll viel Zeit hatten. Sie waren gewiß so lebendig und fleißig wie wir; aber wenn der Blitz ihr Haus in Brand steckte, so rauchten sie, bevor sie hinausgingen, noch eine lange Pfeife. Wollt ihr noch die Abendröte jenes Zeitalters genießen, so geht in eine Kleinstadt; dort wächst noch alte Zeit zwischen den Pflastersteinen. Du verabredest dich mit deinem Freund in der Kleinstadt für Punkt zwei Uhr zu einem gemeinsamen Gange. Naiv, wie du als Großstädter bist, erscheinst du Punkt zwei Uhr oder auch eine Minute früher auf dem Posten. Dein Freund empfängt dich mit einer leichten Überraschung im Blick, erklärt aber, er werde gleich bereit sein und habe nur noch einen Blick in den Stall zu tun. Nach dreiviertel Stunden kommt dein Freund aus dem Stalle, unschuldig wie ein Schaf, und tut gar nicht, als ob irgend jemand sich zu entschuldigen hätte. Er ist überzeugt, daß du dich mit seinem Großvater, der dir von sämtlichen Fleisch- und Gemüsesorten die Preise zu Anfang und zu Ende des vorigen Jahrhunderts vorgerechnet hat, vortrefflich unterhalten habest. Ihr wollt gerade gehen, als die Gattin bemerkt, daß ihr Mann mit dem Hut unmöglich auf die Straße gehen könne, und daß der andere Hut beim Hutmacher sei. »Ach, dann schick' eben die Anna zum Hutmacher und laß ihn holen, ja? Mein Freund nimmt noch 'n Augenblick Platz, nicht wahr?« Aber natürlich. Warum nicht? ~Time is money.~ Man muß es einmal ansehen, mit welcher Nervenruhe diese Leutchen auf Anna und den Hut warten. Sie sind noch nicht wieder zurück, als Verwandtenbesuch aus dem benachbarten Dorfe erscheint. Bis dieser Besuch ordnungsmäßig empfangen ist und sich auf mehreren Stühlen in Linie entfaltet hat, vergeht eine Viertelstunde. Der Besuch erzählt, daß Onkel Thomsen sich eine Ziege gekauft und der kleine Franz sich die Finger verbrannt hat. Es ist ganz selbstverständlich, daß du mit anhörst, wie Onkel Thomsen sich eine Ziege kaufte und der kleine Franz sich die Finger verbrannte. Inzwischen empfindet die Hausfrau, daß es Zeit zum Kaffeetrinken sei, und meint, eine gute Tasse Kaffee würdest du »im Fluge« gewiß noch mitnehmen. Freilich, freilich. Dir ist jetzt schon alles egal. Die Zeit ist dir nur noch eine leere, nichtssagende Form der Vorstellung. Du kannst von hier aus ja gleich zum jüngsten Gericht gehen, wenn die Zeit knapp werden sollte. Nachdem der Kaffee mit allen Vorsichtsmaßregeln aufgetragen und er sowohl wie zahlreiche Butterbrote in einem sehr gedeihlichen Tempo genossen worden sind, erklärt dein Freund ohne jede Anwandlung von Schwäche, daß es jetzt, um halb fünf Uhr, doch zu spät für den verabredeten Gang sei, aber man könne ihn ja ebensogut morgen um zwei Uhr unternehmen. Leben sie nicht, diese guten Leute, wie in einem Schlaraffenlande, wo Milch, Zeit und Honig in vollen Bächen fließt, und wo man, wenn das Leben ausgetrunken ist, wieder einschenkt? Wo man selbst den Tod so lange bei Wein und Politik hinhält, bis er gemütlich die Sense in den Winkel lehnt und sagt: »Auf ein paar Jahre kommt mir's nicht an?« Und derweilen sich diese Leute in Zeit wälzen wie Ferkel in der Kleie, lebst du in der Großstadt -- nicht nach einem Stundenplan, o nein -- nach einem Halbeminutenplan. »4 Uhr 15 ist der Vortrag zu Ende; 4 Uhr 17½ Minuten ist die grüne Straßenbahn an der Ecke der Pfälzerstraße, in 2½ Minuten kann ich sie erreichen: in 15 Minuten, also 4 Uhr 32½ ist sie am Moltkeplatz; _wenn ich Glück habe_, erwische ich dort die rote Bahn und fahre mit dieser in 14½ Minuten nach der Domgasse; wenn ich die Beine nachziehe, kann ich in 13 Minuten an der Esplanade sein und komme dann eben rechtzeitig um 5 Uhr zur Konferenz.« Hast du aber _kein_ Glück -- und mit Straßenbahnen hat man nie Glück -- dann fällt deine ganze Tagesordnung über den Haufen wie ein Kartenhaus, das auf den großen Zeiger einer Turmuhr gebaut wurde; über den ganzen Rest des Tages fällt der Schatten der versäumten 10 Minuten; alles ist verschoben, alles verdreht und verspätet; die Galle tritt ins Blut, und in jener halben Minute, die du zu spät zur roten Bahn erschienst, hast du einen Tag verloren. Oder du sitzest in deinem Bureau oder Kontor und prüfst eine Statistik, die morgen abgeliefert werden muß. Ha, denkst du, die Eingabe des Herrn X. muß ja noch heute erledigt werden! Und dann das Attest, das Frau Y. erbeten -- --! Ja, richtig, der Z. wartet schon drei Tage auf die Empfangsbestätigung für seine Sendung -- und dann muß der Bericht an die Behörde angefangen werden; es sind nur noch acht Tage bis zum Einlieferungstermin -- -- I, sollte nicht heute eine Sitzung des Wohlfahrtsausschusses sein? (Du suchst längere Zeit nach einem Papier.) Richtig: Sitzung am 3. Juni morgens 11 Uhr -- es ist jetzt ¾ 12 -- also versäumt! Hm -- dem Dr. N. hab' ich noch gar nicht auf seine Einladung zum Diner geantwortet; es hat, glaub' ich, vor 14 Tagen stattgefunden -- halt! Hab' ich eigentlich schon meine Feuerversicherung erneuert? Nein -- nein! Und dabei gewittert's jetzt alle Tage, und überall schlägt's ein! Zum Augenarzt komm' ich auch nicht mit meinem Bindehautkatarrh -- ach ja, das Buch über Lungenheilstätten von Dr. M. sollt' ich ja lesen, das liegt schon seit Weihnachten hier -- hab' ich eigentlich schon dem Fräulein O. geantwortet? Ah, da muß ich doch aber gleich -- nein, erst muß P. Bescheid haben, daß ich -- oder nein, noch eiliger ist der Brief an Q.; die andern kann ich heute Abend -- Donnerwetter, heute Abend ist ja der Vortrag von Professor R.; wenn ich da nicht hinkomme, wird er mir sein Lebtag nicht wieder -- ja, was ist denn das, heut' Abend hab' ich ja Gesellschaft im eigenen Hause -- Du bist längst aufgesprungen und rennst wie eine vergiftete Ratte an allen vier Wänden der Zeit hinauf, um ein Loch zu finden. Da tritt dein Diener ein und sagt: Herr Soundso (wie du nun eben heißt), es ist höchste Zeit, aufs Gericht zu gehen, sonst wird Ihre Klage als zurückgezogen betrachtet! Du greifst nach deinen Stiefeln, und indem du natürlich den linken Stiefel auf den rechten Fuß zu ziehen versuchst, fallen dir fünf notwendige Besuche, sieben wichtige Sitzungen und neunzehn dringliche Briefe ein; du stürzest davon, kehrst aber in der Tür wieder um und rufst dem Diener zu: »Lieber Meyer, mir fällt ein, ich habe auf 1 Uhr dem Porträtmaler eine Sitzung versprochen; sagen Sie, ich wäre plötzlich abgerufen worden, und dann gehen Sie sofort hin und bezahlen Sie die Einkommensteuer, die hab' ich total vergessen; der Gerichtsvollzieher ist schon dagewesen und hat Zettel angeklebt ...« Und so kommst du vor tausend Arbeiten zu keiner einzigen und erleidest das graueste Elend, das diese Welt gewährt: der Katzenjammer nach einer übervollen Nacht ist Himmelsfreude gegen den Kater nach einem leeren Tage! Armer, verstörter Geist, ruheloses Herz, gequälter Zeitgenosse und Mitmensch, komm' zu uns und empfange Frieden in den Armen der Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben. Siehe, wir nennen uns nicht die »Brüder vom _ruhigen_ Leben«, sondern »Brüder vom _geruhigen_ Leben«, woraus du ersehen mögest, daß wir Zeit haben. Nachdem du so vielen Vereinen und Ausschüssen beigetreten bist, tritt endlich diesem bei, den ich mit anderen weisen Männern gegründet habe und der dich alle anderen Vereine ertragen lehrt. Du hast bereits dein Eintrittsgeld in der Hand -- ~festina lente~ -- höre und erwäge wohl, bevor du handelst. Ich seh' es dir an: du wähnst, ich lüde dich zu einem Klub der Wurschtigkeit, in welchem man lebt nach dem Grundsatze: »Nachher ist alles eins; in der Nacht des Todes sind alle Katzen grau, und obendrein sieht, wer tot ist, kein Grau und keine Katze.« Irre dich nicht. Unsere Brüderschaft lebt das Leben mit eifriger Aufmerksamkeit und reger Kraft. Oder glaubst du, wir schraubten uns und unsere Welt zurück in die Zeiten der Väter, die sich an dem Blitz, der ihr Haus entzündete, eine lange Pfeife entbrannten? O nein, mein Freund, unsere Brüdergemeinde weiß, daß Leben nicht zurück kann; Leben kann immer nur vorwärts. Unsere Gemeinschaft weiß, daß Reize und Sorgen den Menschen von heute zehnfach so stark bestürmen wie seine Vorfahren. Es ist wahr: der Ernst des Lebens und die Lust des Lebens reißen sich um die moderne Menschenseele mit einem Ungestüm, das ehemals unerhört war. Wir Kinder dieses goldenen Zeitalters der Technik und der Wissenschaft sind ein Geschlecht von Parvenus, und unter diesen Parvenus sind wir Deutschen noch ein besonderes Stück emporgekommen. Wer aber so jählings emporkommt, dem wird schwindelig. Das ist das Schicksal der Parvenus. Arbeit und Genuß tanzen uns vor den Augen, daß uns wirblig wird und alles sich mit uns im Kreise dreht. Wir haben den Überblick verloren; wir haben noch nicht gelernt, über die neue, unerwartete Fülle zu disponieren. Ruhig gesehen ist über die Hälfte geschafft. Wir werden hineinwachsen in unsere Aufgabe; wir werden sie bewältigen, wie jedes vorhergegangene tapfere Geschlecht. Aber noch flimmert's uns vor den Augen. Die einfachsten, banalsten Gebote der Ordnung, der Beschränkung und Überlegung sind uns abhanden gekommen, und bei wem du eintrittst, suchst du vergebens nach der philosophischen Hausapotheke. Erwarte daher nicht orphische Weisheit, nicht rabendunkle Urworte aus Morgendämmerungen der Menschheit, der du eintrittst in unsere Gemeinschaft! Es sind die gewöhnlichen Rhabarbertropfen der Seelentherapie, die du hier findest; was aber das Eigentümlichste ist, sie stehen nicht da in verstaubten Fläschchen sondern sie werden angewandt. Wer in die Brüdergemeinschaft aufgenommen wird, leistet zuvor einen heiligen Eid, daß er ihr alle seine Sünden gegen ein geruhiges Leben beichten, sich den über ihn verhängten Bußen unterwerfen und die Lehren der Weisen mit Ehrerbietung hören und redlich befolgen werde. In großen, ehrwürdigen Protokollen ist niedergeschrieben, was in den sonnabendlichen Konventen gebeichtet, verhandelt, geurteilt und gelehrt worden, zu denkwürdigem Zeugnis von der gewaltigen Macht und Tücke des Kleinen und von der Überwindung solcher Macht. In diesen heiligen Büchern mit mir zu blättern, bist du nunmehr, teuerster Leser, herzlich gebeten. Haare in der Feder. Es ist verzeihlich, Mensch, daß du meinst, wenn dir ein Haar in der Schreibfeder sitzt, es werde sich beim Schreiben von selbst wieder daraus entfernen. Bedenke aber, daß Haar und Feder, sobald sie diese deine Meinung merken, nur um so zärtlicher zusammenhalten. Aus dem verschmierten Buchstaben wird ein verschmiertes Wort, aus dem verschmierten Wort eine verschmierte Zeile; in der nächsten Zeile geht die Schmiererei rüstig weiter und dauert so lange, bis du die Feder auf den Tisch haust, sie zerbrichst und dir die Hand verstauchst. Daß du die ganze Seite nun noch einmal schreiben mußt, kostet bloß Zeit. Die verstauchte Hand kostet Zeit, Verdienst und ärztliches Honorar: das will alles noch nichts sagen. Aber das Wutgift, das sich in dir angesammelt, während du mit steigendem Ingrimm auf die Vernunft eines Haares hofftest, und nun der tage-, der wochenlange, mindestens der viertelstundenlange Ärger über all die Widerwärtigkeit: die fressen Nerven und Hirn, und das läuft in die Papiere. Sobald du, o Mensch, ein Haar in deiner Feder spürst, spreize die Feder und entferne das Haar, und will dir's nicht gelingen, so wirf die Feder weg oder das fasernde Papier, und nimm neues Material, und lächle dabei als ein Wissender, der in aller Ruhe und Behaglichkeit ein glänzendes Geschäft macht. Infame Halskragenknopflöcher. Es gehört zu den selbstverständlichsten Erscheinungen, daß die Knopflöcher neuer, namentlich etwas enger Halskragen sich gegen die Aufnahme größerer Knöpfe wehren. Nach dem ersten vergeblichen Versuche pflegt der Mensch von heute »Na?!« zu rufen, nach dem zweiten »Nanu?!!«, nach dem dritten: »Na, da soll aber doch gleich --!«, nach dem vierten pflegt er sich bereits erschöpft auf das frischgemachte Bett fallen zu lassen; beim fünften bricht er sich einen Fingernagel ab; nach dem sechsten schleudert er den Kragen in die Ecke und mit dem Kragen ein wertvolles Glas vom Waschtisch hinunter, und wenn seine Frau mit dem heitersten und liebenswürdigsten Gesicht von der Welt hereinkommt und ihn lächelnd etwas fragt, so antwortet er in einem unliebenswürdigen Tone, der ihm und ihr den ganzen Abend und den folgenden Morgen verdirbt. Der arme Unwissende und Verblendete merkt nicht, daß die Schar der tückischen kleinen Knopf- und Kragendämonen sich bei jedem Fluche verdoppelt, und daß ihre Gewalt und ihr Gewieher schon nach dem dritten Versuch ins Ungeheure und Unbezwingliche gewachsen ist. Der Mensch nehme einen rundlichen, kegelähnlichen Gegenstand, z. B. ein geschlossenes Scherchen, treibe ihn in das Knopfloch, und weite es ein wenig und mit Ruhe; er trete dann vor den Spiegel, und er wird sehen, daß der Knopf gefügig in sein Loch schlüpft, und daß der Mann im Spiegel ihn anschaut mit der heiteren Ruhe eines Gottes, zu dessen Füßen sich die Dämonen der Hölle krümmen. Einsatz bei diesem Spiel: eine Minute Zeit; Gewinn: ein frischgemachtes Bett, ein Fingernagel, ein venetianisches Glas, eine Viertelstunde Zeit, eine liebenswürdige Frau, ein fröhlicher Abend, ein dito Morgen, mehrere Bündel Nerven und ein gehöriges Quantum Herz- und andere Muskelkraft. Was sind dagegen die Chancen in Monte Carlo?! Vergessene Hosenträger. Bei Menschen, welche sich auch während des Ankleidens mit der Komposition von Sonaten oder Parlamentsreden befassen, ist es gar zu leicht möglich, daß sie, in Frack, Lack, Claque und Handschuhen, und schon im Begriff, in den Wagen zu steigen, an dem erbärmlichen Gefühl einer Art innerer Haltlosigkeit (nicht ihrer Reden, sondern ihres äußeren Menschen) plötzlich inne werden, daß sie die Hosenträger anzulegen vergessen haben. Ein teurer Novize, den wir bald als Konfrater in den Schoß unserer Gemeinschaft aufnehmen zu können hoffen, ist in solchem Falle die Treppen wieder hinaufgestürmt, hat sich dabei mit dem Fuß in seinen Cylinder verwickelt, hat sich unter Entwicklung einer unglaublichen Körpertemperatur fast bis auf die Haut ausgezogen, beim abermaligen Ankleiden seine Weste nicht wiederfinden können und endlich infolge alles dessen die Trauung seines besten Freundes versäumt. Und das alles um eines Unfalles willen, der für die Brüder vom geruhigen Leben in seiner Harmlosigkeit etwas ausschließlich Erheiterndes hat. Diese Brüderschaft pflegt nämlich vor dem Ankleiden sämtliche Garderobenstücke in der natürlichen Ordnung vor sich hinzulegen, so daß das Vergessen eines notwendigen Requisits nahezu unmöglich erscheint. Kommt sie aber dennoch in die Lage unseres teuren Novizen, so legt sie mit humorvoller Kühle Rock und Weste ab, legt die Hosenträger an und zieht Weste und Rock wieder an: eine Sache, die keine 5 Minuten beansprucht. Diese 5 Minuten -- das ist nun das Bedeutungsvollste an der ganzen Sache -- hat ein Bruder vom geruhigen Leben _immer_ übrig, weil er sich für jede Toilette vor Abfahrt der Droschke oder Eisenbahn mindestens 10 Minuten Zeitüberschuß gestattet. Das ist wohl der einzige Grund, weshalb es noch keine Schwestern vom geruhigen Leben gibt. Das Laster des Zeitgeizes ist von der Gemeinschaft der Brüder wegen seines besonders nervenverheerenden Charakters von je mit besonders hohen Bußen belegt und bei schwerem Rückfall wohl auf 500 Pfennige für die Armen und den gleichen Betrag für die Punschbedürftigen erkannt worden. Geburtsscheine im Fliegenschrank, Taschenuhren unterm Sofa und ähnliches. Es ist für den modernen Menschen, der zum Arbeiten bestimmt ist wie nur je ein Wesen irgend einer Periode, ein wahrer Fluch, wenn er die Stiefel, die er braucht, erst im Kohlenkasten suchen muß, und die Butter, deren er zum Frühstück benötigt, erst nach halbstündigem Suchen endlich im Aktenschrank entdeckt, noch dazu unter einem ganz verkehrten Buchstaben. Mehr als je bedarf der Mensch der Ordnung, wenn ihn die verwirrende Fülle seiner Pflichten nicht verrückt machen soll. Ohne Zweifel würde auch die Ordnung längst einen größeren Raum im Leben der Menschheit gewonnen haben, wenn nicht immer unnatürlicherweise verlangt würde, daß man die Ordnung »lieben« solle. Das ist nun einmal nicht zu verlangen. Es ist mit der Ordnung genau wie mit dem Verräter: man schätzt ihre Dienste, aber man hat ein Grauen vor dem, der sie leistet. Selbst von unserm Schiller, der es über sich gebracht hat, die Ordnung in vorzüglichen Versen anzusingen, ist uns bekannt, daß er zu ihr keineswegs ein intimes Verhältnis unterhielt, und obwohl er so weit gegangen ist, zu behaupten, daß die Ordnung »das Gleiche _frei_ und _leicht_ und _freudig_ binde«, hat er doch wohlweislich die Heuchelei nicht so weit getrieben, von »Liebe« zu sprechen. Die Leistungen der Dame sind allerdings ganz außerordentlich, ja großartig und bezaubernd, und so mag es ja vereinzelt vorkommen, daß jemand sie um dieser Leistungen willen »liebt«, wie etwa ein Junggeselle schließlich seine alte und anspruchsvolle, aber kolossal tüchtige Haushälterin heiratet -- abnorm bleibt es aber immer. Dabei wird die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben es stets als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachten, die ungeheuren Verdienste der Ordnung unermüdlich zu preisen. Tritt am Morgen in dein Zimmer, wo sie gewaltet und -- wenn sie nicht übertrieben hat -- welch ein alles umschwebender Glanz der Schönheit strahlt dir entgegen! Dein Arbeitstisch lockt und reizt dich wie eine köstlich gedeckte Tafel; Papier und Schreibzeug schimmern so sanft und licht wie Porzellan von Sèvres und altes Silber und Venediger Glas, und die Blumen sagen dir fühlbar »Guten Morgen«, weil eine sorgliche Hand sie gepflegt. Und wenn du dich nun zur Arbeit setzest -- welch eine Ruhe legt sich tief auf den ganzen Grund deines Gemüts! Das ist wohl die erhabenste Leistung der guten Frau, daß sie, die uns durch die Milchstraße führt wie durch ein Blumengärtchen auch den mörderischen Wirrwarr des modernen Lebens schlichtet und, wo sie ihre kühle Hand auf eine Stirn legt, dem erhitzten Gehirn die Ruhe bringt. Sie ist die barmherzige Schwester für Nervenkranke. Und wie du nun, geruhig in deinem Stuhle sitzend, auf wohlüberschauten Wegen zu deiner Arbeit fernsten Zielen schreitest, nein, springst, nein, fliegst! Man beachte doch wohl, daß gerade die kältesten, profitfreudigsten Geschäftsleute am eifrigsten auf Ordnung halten. Weil man eben in jede Gleichung die Ordnung getrost als eine Pferdekraft einsetzen kann, das sind sieben menschliche Arbeitskräfte. Mit Ordnung kannst du das römische Reich regieren, nebenher sieben schöne und sieben ritterliche Künste treiben und in freien Stunden dem Angelsport huldigen, während du als unordentlicher Mensch einen ganzen Tag vergeblich aufwendest, um eine Schusterrechnung doppelt zu bezahlen, weil du die Quittung nicht findest, und dabei noch mit einem Gefühl durch dein Zimmer rennst, als wenn ein Teufel dein Gehirn und die umgebende Welt mittels eines Quirls zu einem Urbrei verrührte. Darum lautet ein vornehmstes Gebot unserer Brüderschaft: Habe einen Menschen, der dir alle deine Sachen in Ordnung hält, und wenn du keinen findest: tue es eher selbst, als daß du dich der Unordnung ergibst! Die Sachen innerhalb deiner Persönlichkeit mußt du ja doch selbst in Ordnung halten, und bei einigen Menschen ist dies das meiste. Ausgeschlagene große Lose und Ähnliches. Der moderne Mensch empfängt von Zeit zu Zeit Briefe mit Lotterielosen, die er nach der Ansicht der Absender kaufen sollte. Unsere jüngeren Brüder pflegen ein solches Los, wenn sie es nicht behalten wollen, mit abgewandtem Gesicht wieder zu couvertieren, damit sie, wenn es später mit 300000 Mark gezogen wird, die Nummer gar nicht wissen. Anfängern im geruhigen Leben ist diese Weise auch gar wohl zu empfehlen. Jene Brüder freilich, die bereits die höheren und höchsten Weihen empfangen haben, bedürfen solcher Vorsicht nicht mehr; ja, sie merken sich wohl gar die Nummer, um deren Schicksal aus der Ferne mit wohlwollender Objektivität zu verfolgen. Denn diese Weisen wissen nicht nur, sondern sie _fühlen_ es auch, daß man nach Nichtgewinnung des großen Loses genau so viel besitzt wie vor Nichtgewinnung des großen Loses und also nicht der geringste Grund zur Klage vorliegt. Die Brüder vom geruhigen Leben preisen nicht die Armut, schon deshalb nicht, weil sie ein gutes Konzert und einen schönen ~Siran Labarde~ lieben; aber sie sind davon durchdrungen, ja ich möchte sagen: durchtränkt, daß es bodenlos gleichgültig ist, wieviel Einkommen andere Leute haben, wenn man selbst so viel hat, daß man auskommen kann. Ein Bruder vom geruhigen Leben, dem so viel geworden ist, wird kaum wissen, wieviel Gehalt seine Kollegen beziehen, und wenn ihm ohne Gerechtigkeit einer vorgezogen wird, so wird er sich zwar über die Ungerechtigkeit ärgern wie über alles Unrecht in der Welt; aber er wird nicht an das entgangene Geld denken; tut er es aber dennoch, so wird er am nächsten Samstag voll Freudigkeit seine Strafe zahlen. Ein Bruder, der einen erheblichen Vermögensverlust erleidet, ist für vier Wochen von der Ableistung gewisser Freudentänze und Jubelgesänge entbunden, auch darf er natürlich Versuche zur Wiedererlangung des Verlorenen machen. Trauert er aber um Unwiederbringliches, oder trauert er zu lange, so verfällt er der Strafe; denn ein Bruder vom geruhigen Leben soll wissen, daß er dem verlorenen Reichtum das Zehnfache hinzulegt durch seinen Kummer. Und ein Bruder, der reich gewesen, soll wenigstens das vom Reichtum gehabt haben, daß er erkannt hat: Tägliche Austern schmecken entweder genau so wie tägliches Rindfleisch oder -- schlechter, und der Schlaf, »das nährendste Gericht am Tisch des Lebens«, pflegt über einer gewissen Steuerstufe an Qualität einzubüßen. Wer aber den verlorenen Reichtum um der Wohltätigkeit willen liebte, der bedarf keines Trostes. Denn der Schatz zum Wohltun ist solider Reichtum und sitzt an einer Stelle, wo Kursstürze und Zahlungseinstellungen ihre Macht verlieren. Flöhe bei Audienzen, photographischen Sitzungen u. s. w. Man darf in guter Gesellschaft getrost von Flöhen reden; denn bekanntlich haben sogar Könige Flöhe und zwar große. In der Umgebung der Könige gibt es oftmals Hunde, und Hunde pflegen Flöhe abzugeben. Zuweilen handelt es sich auch nicht um Flöhe, sondern um ein ganz gewöhnliches und zufälliges Hautjucken, wie es mit Vorliebe auftritt, wenn der Photograph Stillsitzen geboten hat, oder wenn man den toten Julius Cäsar spielen muß, oder wenn man vor einer heißgeliebten Dame eine besonders gute Figur machen möchte, oder wenn man vor einer sehr hohen Persönlichkeit steht und nicht gerade angeredet wird, sich aber doch beileibe nicht kratzen darf. Sobald aber die hochgestellte Persönlichkeit ein hochwichtiges Wort an einen richtet, sind Floh und Jucken sofort verschwunden, und aus dieser bemerkenswerten Erscheinung soll der Bruder vom geruhigen Leben lernen. Wie? soll er sich fragen, was ein Staatsminister vermag, das sollte dein Wille nicht vermögen, der, schlecht gerechnet, ein König ist? Ein Floh oder ein Großfürst sollten stärker sein als deine Selbstbeherrschung? Kannst du den Floh verachten, wenn dir der Kaiser eine Statthalterschaft umhängt, so kannst du's auch, wenn du daheim sitzest als dein eigener Herr! Hier gibt es nun Menschen, die dagegen ihr unbezähmbares Temperament und ihre feurige Gemütsart einwenden. »Rache! Pest! Tod! Vernichtung! Feurig? Was für'n Gemüt? -- Mein Hauch u. Blut! Feurig? Der feurige Herzog?« Glaubt ihr, die Gottesgabe des Feuers sei euch ins Blut gegossen, auf daß ihr gegen Flöhe und Hosenträger kämpft? Wahrlich, wer sein Temperament an einen Halskragen verschwendet, der wird schlaff sein, wenn Handschellen und Halseisen ihm drohen. Auch sei doch der Mensch so weise, zu erkennen, daß jedes Juckteufelchen sofort erlahmt und abläßt, wenn man es verachtet. Audienzen, in denen man etwas bekommt, dauern nicht ewig, und der größte Floh wird einmal satt: das unterscheidet ihn von den menschlichen Blutsaugern. Wer aber einem Kitzeln -- sagen wir: im linken Ohrläppchen -- nur die geringste Beachtung schenkt, der erkennt sofort die infame Zahllosigkeit und niederträchtige Solidarität der Myriaden von Juckteufelchen, die ihn von allen Seiten wie einen Falstaff zwicken. Wer nicht herrscht an allen Nervenenden seiner Peripherie mit der absoluten Monarchie seines Hirns, der mag in dieser Welt wohl zu Grunde gehen unter eingebildeten Mückenschwärmen. Komitees in allen Gassen. Zu den verheerendsten Irrtümern der überregen Menschheit von heute gehört die Meinung, daß ein tätiger Mensch überall mitarbeiten müsse, und daß der Ernst des Lebens niemals weniger von uns verlange als das Leben. Eine der edelsten Bemühungen ist es, sich zum Schutze der Tiere zu vereinen, und doch ist keineswegs gesagt, daß du, Cajus, dabei sein müßtest. Steure zu allem Guten so viele Obolen bei, wie du vermagst; aber wenn du zu allem Guten auch von deiner Kraft hergibst, so bist du ein kopfloser Verschwender, der auf den leichtfertigen Bankerott hinsteuert. Unser geliebter Sempronius hat Lehrgeld bezahlt. Wo es ein Mäuslein zu schützen, einen Aussichtsturm zu errichten, ein Blindenasyl zu gründen gab, war er mit seinem lodernden Herzen dabei. Nach zwei Jahren war er ein müder Mann, den es kalt ließ, wenn ein armer Gaul von rohen Fuhrleuten gepeinigt wurde, und der darum Ekel vor sich selbst empfand. Erst in den Armen unserer Brüderschaft ist er gesundet, hier, wo es heißt: du kannst nicht auf alle Berge des Lebens steigen. Und brauchst es nicht. Suche _einen_ möglichst hohen Gipfel zu erreichen; wenn du willst auch _einige_, und du wirst mit frischem Auge verstehen, was Höhen und Tiefen des Daseins sind. Auch nicht braucht es der Gaurisankar zu sein oder der Mont Blanc -- schon auf einem Rigi, einem Monte Pian, einem Brocken geht dir eine ausgebreitete Welt durch die Augen ins Herz. Auf anderen Gipfeln stehen andere und geben deinem Feuer Antwort durch Feuer, dessen Flammen mit deiner Lohe und deinem Herzen gemeinsam emporzucken zum alles vereinenden Himmel. O daß die Menschheit immer in Extremen ihre Lebensbahn dahinwackelt und meint, weil der Mensch tätig sein soll, er müsse immer tätig sein. Künstereiche Zeit, die du eine Kunst so ganz verlernt hast: die köstliche Kunst, zu rechter Stunde zu faulenzen! Genüsse suchendes und findendes Geschlecht, das du _einen_ Genuß nicht wiederfinden kannst: den Genuß des Lebens! Armer Mensch, dessen ganzes Leben die Not frißt; ärmerer Mensch, der du Zeit zum Faulenzen hast und sie nicht nützest: »ärmer«, weil du krank bist! Wie ein verdorbener Gaumen die lautere Labe des klaren Wassers verschmäht, so kennen Sinn und Herz den heiter fließenden Trank des reinen Wassers nicht mehr. Nach schwerer Krankheit fühlen sie wohl in der Wonne der Genesung das Glück des reinen Seins, des Lebens an sich. Aber ist es nicht ein niedriger Sinn, der den Reichtum erst dankbar erkennt in der Armut und die Gabe erst schätzt, wenn sie ihm wieder entrückt ward? Fühlt ihr am Morgen nicht in den aufgespannten Augen das Glück des Wachens, das mit neuem Übermut den bunten Mantel der Träume verschmäht vor dem weißen Linnen der Frühe? Fühlt ihr nicht an den Lippen den morgenkühlen Becher des neuen Tags? Fühlt ihr nicht seine bewegliche Flut durch alle Glieder rieseln? Und tragen Muskel und Gebein nicht ihre wohlbemessene Last mit wohliger Lust davon, und singt nicht das ruhig schlagende Herz dazu ein bejahendes Lied? Habt ihr nie in der Glut des Mittags am Ufer des Stromes gelegen und ohne Ziel hinaufgeblinzelt in den blauen Brunnen der Unendlichkeit, in dem die Spenderin unserer Tage wohnt? Sind eure Augen nicht halbe Stunden lang mit den Wellen gewandert, und hat euer Herz nicht leichtsinnig dazu gelächelt: Zeit, fließe nur hin? Habt ihr niemals den silbernen Sand des Ufers durch die Finger rieseln lassen und also harmlos mit dem Stundenglas des Todes gespielt? Und habt ihr nie die letzte Stunde des Abends dahingegeben zum Abschiedsfest mit der Sonne und habt ihr nicht gesehen, wie sie selbst den Rest des Tages über die Höhen ausgießt und den roten Wein verschwendet zur Feier der Schönheit? Zeit ist Geld, und Geld ist Zeit, und mit beiden haushalten zu müssen, ist Menschenlos. Aber der Zeitfilz ist so klein wie der Geldfilz. Selbst der Arme und gerade der Arme, wenn ihm Stunden der Ruhe blühen, gönnt sich die Lust, bewegungslos auf der Welle des Lebens zu treiben und den Tag ohne Zweck zu trinken als Licht und Luft. Und du, erhabene Macht, die jeder mit anderen Namen nennt, mach' uns alle zu Brüdern vom geruhigen Leben, die auch in gesunden Tagen mit Lust das Leben an seiner Quelle trinken, die auch im ungestörten Besitz jenes Verlangen edler Herzen fühlen, ihren Dank ins Unbekannte emporzusenden. Wessen Seele den Gaben des Himmels offen liegt: jeder wärmende Strahl entzündet auf dem Herd seines Herzens ein Opfer des Dankes; sein ganzes Wesen hebt sich zum heiteren Antlitz des Tages empor, wie die Flut des Meeres sich dem schweigenden Gestirn der Nacht entgegenhebt. Langstielige Maler, Kellner, Versicherungsagenten u. s. w. Im Münchener Löwenbräukeller saß einst ein Mann vor einer hohen Maß Bier. Von Zeit zu Zeit nahm er den Krug, hob den Deckel, schaute hinein, indem er den Krug schüttelte, und stellte ihn, ohne zu trinken, wieder hin. Dies wiederholte sich dreimal. Ein Bruder vom geruhigen Leben fragte ihn nach der Bedeutung solchen Tuns. Der gefragte Münchener sprach: »Wann der Schaum mitwackelt, nacha is's guat g'schenkt; aber er wackelt net.« Und sieh, als sich aller Schaum verdichtet hatte, da fehlte wohl ein Sechstel am richtigen Maß. Schweigend, aber »mit Knotenstock im Blicke«, reichte er den Krug der Kellnerin; schweigend nahm sie ihn entgegen und brachte bald ein voll gerüttelt und geschüttelt Maß zurück. Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben rechnet zwar ein Sechstel Liter Löwenbräu gewiß zu den Dingen, die ein großzügiger Mensch verachten darf; aber im Prinzip bewundert sie den Mann mit dem wackelnden Schaum. Denn wenn auch ein gewisses Quantum erlittenen Unrechts zur täglichen Würze des Lebens gehört und die Menschheit zur Beschaffung dieses Gewürzes eine Versicherung auf Gegenseitigkeit geschlossen hat -- ein Unrecht mit Widerhaken soll man nicht verschlucken. Solch ein Unrecht will dann monatelang, jahrelang doch nicht hinunter, soviel man auch schluckt, und richtet mehr Schaden an, als die ganze Duldung wert ist. Auch kommt das meiste Unrecht in der Welt auf Rechnung derer, die Unrecht leiden. Die Brüder vom geruhigen Leben erstreben nicht die Ruhe jener Vegetabilien, die von den Ziegen gefressen werden. Sie sind groß genug, das Kleinliche zu verachten, und ein paar tausend Mikroben schaden ihrem gesunden Magen nicht; aber sie entwickeln eine sanft- und stillsinnige Kratzbürstigkeit, wo sie auf Gewohnheit und System im Unrecht treffen. So trifft der moderne Mensch in Hotels und Restaurants, auf Reisen und daheim immer häufiger auf eine Art von Wesen, die dem Gaste, was sie ihm nicht entraffen, auf jegliche Weise verekeln, und es nahezu als gewiß erscheinen lassen, daß Homer und Hesiod bei den Harpyien an eine Art Oberkellner und Hoteliers gedacht haben. Auch Kellnerinnen können sehr langstielig und unangenehm sein, wenn man von ihnen Dinge verlangt, die nicht zweifellos zur Bedienung ihres jeweiligen Studenten oder Sergeanten gehören. Ein anderer, ebenfalls sehr ehrenwerter Stand hat Angehörige, die, mit der Eleganz von Gesandtschaftsattachés gekleidet, unserm Dienstboten ihre hochfeine Visitenkarte überreichen, sämtlichen Hütern unseres Hausfriedens auf das Bestimmteste versichern, daß sie »den Herrn selbst« in einer wichtigen Sache sprechen müßten, endlich mit dem Anstand von Trägern diplomatischer Missionen in unser Arbeitszimmer treten, die persönlichen Grüße hervorragender Männer der Kunst, der Wissenschaft, der Politik überbringen, mit intimer Kenntnis von deren Gewohnheiten plaudern und bald bei einem großen Manne verweilen, der eine rührende Liebe und Fürsorge für seine Familie bekunde und infolgedessen erst kürzlich bei ihm, unserm geschätzten Besucher, sein Leben mit 100000 Mark versichert habe. Eine andere Menschenart übernimmt die Anstreichung eines Hauses, erscheint pünktlich am festgesetzten Tage und beginnt den Anstrich, um dann dich und dein viertelbemaltes Haus vierzehn Tage oder auch drei Wochen lang miteinander allein zu lassen, nach dieser Zeit abermals ein einmaliges Gastspiel zu geben u. s. w. ~in infinitum~. Ein Bruder vom geruhigen Leben pflegt schon nach dem ersten Ausbleiben des Malers einen andern kommen und von diesem das Haus zu Ende malen zu lassen, so daß es bei der Wiederkehr des ersten Mannes stets einen überraschend heiteren Eindruck macht. Die Brüder vom geruhigen Leben kennzeichnet überhaupt _Heiterkeit_ und _Handlung_. Sie werfen die kleinen Ärger des Tages von sich, ohne sich zu ärgern. In all den Quisquilien des alltäglichen Lebens befolgen sie den Grundsatz: Es geht ohne Aufregung auch, und besser. Dreiecke im Frack, Rußflecken auf der Nase u. dgl. Es gibt eine Sorte von Unglücklichen, die mit erschreckender Regelmäßigkeit, gerade wenn sie vor eine mächtige Persönlichkeit hintreten sollen, ausgleiten und hinstürzen, und denen dabei quer übers Knie das Beinkleid zerreißt, oder die just, wenn sie einem allerliebsten Mädchen eine Rose überreichen, einen schwarzen Fleck auf der Nase haben. Ein noch weit größeres Unglück aber ist die beständige Furcht vor solchen Nasflecken und Kniefällen, und diese Furcht peinigt oft die besten und anmutigsten Seelen. Sie genieren sich nicht nur, sondern sie sind bange, daß sie sich genieren könnten, und sind ceremonieller als der Ceremonienmeister, um sich nur immer tiefer in Ungemach und Befangenheit zu verstricken. Große Seelen und liebreiche Herzen haben um deswillen Beruf und Glück verfehlt. Niemand glaube, daß solchen Armen mit einer Tanzmeistererziehung geholfen wäre! Die Ruhe des Zentrums fehlt ihnen, die die Brüder vom geruhigen Leben so heiter und glücklich macht. Der unterzeichnete Bruder Schreiber sah einst, wie ein baumlanger Mensch, der bei einem wahrhaft anmutigen Mädchen einen möglichst guten Eindruck zu erwecken redlich bemüht war, seiner ganzen Länge nach vor ihr in den Sand fiel. Das Verkehrteste bei solchem Falle ist es, sich stückweise aufzusammeln, die Kniee abzuputzen und Entschuldigungen zu stottern, wo es nichts zu entschuldigen gibt. Unser langer Freund lachte. Er wurde so von der Komik seiner Situation geschüttelt, daß er liegen bleiben mußte und nichts vermochte, als den Kopf zu erheben und zu der Angebeteten emporzulachen, und er lachte so innerlich, so hell und strahlend, so mit der vollen, hallenden Resonanz des Herzens, daß sie in gefährlichster Weise angesteckt wurde, und man deutlich bemerken konnte, wie er mit seinem Fall auf dem Wege zu ihrem Herzen einen Schritt von der ganzen Länge seiner Persönlichkeit vorwärts getan habe. Nehmt die Dinge und euch selbst nicht schwerer, als ihr seid, dann tragt ihr leicht, dann fallt ihr leicht. Seid versichert, arme, gehetzte Selbstpeiniger: wenn ihr im Vorzimmer eines Fürsten oder einer umworbenen Dame oder ähnlicher Souveräne euch ein Dreieck in den Frack reißt, oder eure Krawatte sich löst, oder der schädelsprengende Schnupfen des redlichen Albert Einhart euch überfällt, und der Fürst oder die Dame euch darum abfallen lassen, dann handelt es sich um Damen und Fürsten, mit denen ein Bruder vom geruhigen Leben überhaupt nicht verkehren sollte. Resigniert mit Lachen und seid gewiß, daß euch bessere Dinge aufgehoben sind. Diners von 3--12. Noch verbreiteter als die Meinung, überall mitwirken zu müssen, ist unter uns armen Sterblichen die Überzeugung, daß wir überall mitessen müßten. Nicht, daß die Brüsseler Poularde mit Kompot und Salat nicht schließlich auf jeden ihre ermüdende Wirkung ausübte! Nein, es ist der Glaube an die Allmacht der »Gesellschaft«, der die Menschen feige macht und die Meinung in ihnen erweckt, sie müßten jährlich einmal bei sämtlichen Lehmanns essen, jährlich einmal sämtliche Lehmanns bei sich sehen, sämtlichen Lehmanns Verdauungsvisiten machen und von sämtlichen Lehmanns dergleichen Visiten entgegennehmen, wobei noch zu bedenken ist, daß die Lehmanns außerdem die Gewohnheit haben, sich zu verloben, zu heiraten, sich fortzupflanzen, zu avancieren und Jubiläen zu feiern. »Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt, Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen.« Und »Wer sich der Einsamkeit ergibt, Ach, der ist bald allein!« sagt Goethe, wie immer, mit Recht; aber nicht alle Lehmanns sind Menschen, und man kann sehr wohl mit einem Menschen in demselben Ozean gebadet haben, ohne deshalb »gesellschaftliche Verpflichtungen« gegen ihn zu fühlen. Eine Dame der Plutokratie erzählte unserm Bruder Tibull mit jenem seltsamen Lachen, dessen Geheimnis in Elend und Morphium besteht: »Mein Mann und ich sind kaum drei Abende im Winter zu Hause. Sehr oft haben wir drei Einladungen an einem Tage: eine um drei, eine um sechs und eine nach dem Theater.« Die gute Frau wies überzeugend nach, daß das so sein müsse. Je wohlhabender ein Mensch, je angesehener seine Stellung, desto mehr Diners muß er geben und einnehmen: das ergab sich aus den Reden der Dame wie ein ehernes Lohngesetz. Wenn Meyers sich nämlich zurückhalten, so heißt es: »Meyers sind ~pauvre~« oder »Meyers sind geizig« oder »Meyers sind eingebildet« oder »Meyers sind ungebildet; sie wissen nicht, was sich gehört.« Weil Meyers nämlich wissen, daß der _Mensch_ sich gehört. Und dabei können Meyers die ganz merkwürdige Beobachtung machen, daß die Leute, die anfangs klatschten, bald mit einer unverkennbaren Hochachtung klatschen, und schließlich von allem nur die Hochachtung übrig bleibt, und Meyers um so höher im Preise steigen, je seltener sie zu haben sind! Menschheit, verachte deinen Klatsch! Kennst du die Geschichte von unserm Timotheus? Ein neidgeplagter, armer Teufel hatte seine Künstlerschaft mit so geschickter Verlogenheit verunglimpft, daß auch auf den Charakter unseres Bruders ein Schatten fiel und der Verleumder doch nicht zu fassen war. Timotheus aß nicht, trank nicht und schlief nicht. Da geschah es, daß sein Söhnchen krank wurde, totkrank. Wochenlang schwebte das Bübchen zwischen Tod und Leben. Und mitten in der flackernden Qual seines Herzens fiel ihm unvermittelt die Verleumdung seines Feindes ein. Und mitten in den tiefsten Ängsten der Nacht mußte er lächeln, und wohl zehnmal sagte er zu sich selbst: du Narr -- du Narr -- du Narr! -- Der Knabe wurde wieder gesund, und als Timotheus eines Tages wieder an die Lügen des Neidharts dachte, da lagen sie nur noch wie ein ganz, ganz schmaler, schmutziggelber Streifen am Horizont, weit hinter Stallupönen, und die Abonnenten des Verleumders glaubten längst an andere Lügen. In jenen Tagen fand Timotheus eines der Grundgesetze unserer Gemeinschaft, das Gesetz: Gewinne die große Distanz zu den Dingen! Denn wenn der Mensch nach acht Wochen oder nach drei Jahren über ein Ärgernis lachen kann, dann ist der Mensch ein Esel, wenn er nicht schon heute lacht! Mit diesem Gesetz zwingt ein Bruder vom geruhigen Leben den Schlaf auf seine Lider, wenn die Niedertracht der Welt ihn wach zu halten droht. Er legt sich auf sein sanftes Ruhekissen und nimmt die erste Dosis seines Schlafmittels, die lautet: »Durch Schlaflosigkeit schwächst du nur deine Kraft.« Hilft das nicht, so stellt er sich deutlich vor, wie er in Zukunft einmal über die Widerwärtigkeiten dieser Tage lächeln wird, und mit dem vorgestellten Lächeln auf den Lippen entschlummert er. Nur in besonderen Fällen wendet er die dritte Dosis an, die da lautet: »Wie würden sich deine Feinde freuen, wenn du um ihretwillen wachtest.« In der nächsten Minute schnarcht er. Bleib Herr über deinen Schlaf und gib das Scepter auch um jenes höheren Klatsches willen, den man fälschlich »Ruhm« nennt, nicht aus den Händen. Bruder Tarquinius ist ein dramatischer Dichter; aber der Arzt hat ihm Vorsicht mit seinem Herzen geboten. Er hat einen simplen Gedanken ein für allemal zum Amulett erhoben, und diesen Gedanken zieht er vor jeder Première hervor und küßt ihn; er lautet: Herz ist besser als Ruhm. Freilich denkt er dabei an jenen Ruhm, der darin besteht, daß Hans genau dasselbe meint, was Peter meint, weil Peter meint, was August meint, der sich für seine Meinung auf jenen Hans berufen kann. Der wahre Ruhm ist freilich was ganz anderes. Der wahre Ruhm wächst nicht aus den Mäulern der Menge, sondern aus den Herzen der Werke. Hast du Anwartschaft auf solchen Ruhm, so sei versichert, daß er in deinen Werken durchaus mündelsicher angelegt ist. Kein anderer kann an dies Vermögen herankommen, und es wird wachsen durch Zins und Zinseszinsen, langsam aber sicher. Vielleicht kommt ein richtiger Ruhm erst nach deinem Tode heraus. Aber Nachruhm ist gerade der beste. Denn dann ist man nicht mehr dabei. Und hat doch sein fernes Kommen in einsamen Zeiten wie einen erdefremden Duft gefühlt. * * * * * Hier schließt die Vorlesung aus den Protokollen der Brüderschaft. Niemand wird die Gemeinschaft der Brüder für eine Bier- und Ruhebank halten, die Faulenzern und Feiglingen Gelegenheit gibt, stumpfzusinnen. Die geruhigen Brüder haben ein Verständnis dafür, daß es Invaliden des Lebens gibt, die sich darauf zurückziehen, täglich an derselben Stelle dasselbe Glas bis zur bestimmten Höhe gefüllt vorzufinden, es in der immer gleichen Zeit zu leeren und dabei auf dieselbe allgemeine Schnupftabaksdose in der Mitte der Tafel zu starren und in der sanften Betäubung dieses stillen Zirkeltanzes das bißchen Lebensrest zu verdämmern -- die Brüder vom geruhigen Leben respektieren die Haken, die für die Hüte dieser Invaliden ein für allemal reserviert sind -- aber sie haben nichts mit ihnen gemein. Die Brüder vom geruhigen Leben sind Kämpfer. Nur wollen sie den Kampf nicht dort führen, wo er sich nicht lohnt, wollen sie das Leben nicht dort schon tragisch nehmen, wo die Tragödie noch gar nicht beginnt, wollen sie ihre Eingeweide nicht schon opfern in den Vorhöfen des Lebens, wollen sie nicht wie die törichten Jungfrauen ihr Öl verbrennen, bevor der Bräutigam kommt. Sie wollen in dem verdammten »Objekt« keinen Machtkitzel erwecken, indem sie seine kleinen und gemeinen, niedrigen und widrigen, schäbigen und klebigen Nücken und Tücken mit nervösem Ernst behandeln, und wollen ihre Kraft sparen, um das Große zu verteidigen und das Größte, das Schicksal, mit Würde zu tragen. Denn das ist der allerhöchste und allerheiligste Grundsatz unserer Brüderschaft: »Ein Leben in Wacht und in Waffen wider die Großmächte der Finsternis ist eines Erdenpilgers tiefste Ruhe.« Max Eyth: Der blinde Passagier. Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers und des Verlegers abgedruckt aus dem 1. Bande des Buches »Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Taschenbuch eines Ingenieurs« (Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt, 5. Auflage 1902). Der blinde Passagier. Es war kein Hotel erster Klasse, auch keins der zweiten. Für beides hatte ich meine Gründe. Ein erfahrenerer Weltreisender als ich es damals war, hätte behaupten können, der Schwarze Anker zu Antwerpen grenze bedenklich nahe an eine anständige Matrosenkneipe. Aber seine Lage behagte mir, seine Preislage hatte selbst für mich nichts Erschreckendes, wenigstens im zweiten und letzten Stock. Seit zwei Tagen bewohnte ich dort ein Stübchen von holländischer Größe und Sauberkeit. So lange blieben die Gäste im Schwarzen Anker selten; die runde, vlämische Kellnerin zeigte bereits die ersten Spuren mütterlicher Zuneigung, wenn sie mir ein frisches, schneeweißes Handtuch brachte, fast so groß wie ein Taschentuch. Alles schien für die niedlichste Zwergwirtschaft eingerichtet zu sein, in welcher gute, pausbackige Menschen hausten, groß wie Riesen; namentlich in der Breitenrichtung. Man konnte kaum begreifen, wie sie ein und aus gingen. Mein Fensterchen sah nach der Schelde auf eins der großen Wassertore des Kontinents, die in die weite Welt hinausführen. Als ich vorgestern zum erstenmal die glänzende Fläche im Licht der untergehenden Sonne schimmern sah, mit ihren Masten und Segeln, ihren behaglich rauchenden Dampfschiffen, den plätschernden, hin und her schießenden Schleppbooten, die in der größten Eile schienen, heute noch fortzukommen, und immer wieder da waren, klopfte mir das Herz fühlbar. Ich selbst -- soll ich oder soll ich nicht? Etwas müde und nicht so hoffnungsfroh wie gestern und vorgestern war ich nach Hause zurückgekehrt. Das Wetter hatte sich geändert. Ein schwerer Aprilhimmel hing in schwarzen Wolkenfetzen über der Stadt. Bleigrau starrte die Schelde zu ihm empor. Von Zeit zu Zeit fegte ein Windstoß über den Strom und kräuselte ein silbernes Band in die tote Fläche. Die Masten der Schiffe wackelten nachdenklich hin und her, scheinbar ohne Ursache; doch schien es ihnen mit jeder Viertelstunde unbehaglicher zu werden. Jetzt, als ich eintrat, klatschten sogar schwere Regentropfen an die Fensterscheiben. In einer solchen Nacht hinaus in die weite, nasse, fremde Welt? Keines der Schiffe entlang dem dämmerigen Staden, das nicht den Kopf schüttelte! Ein höflicher, unermüdlich schwatzhafter, kleiner Zeichner aus Lüttich hatte mir den ganzen Nachmittag lang die Werften gezeigt, welche die große Fabrik von Seraing hier im Betrieb hält. Es war die erste Schiffswerfte, die ich als rassenreine schwäbische Landratte zu sehen bekam. Sie war im Jahr 1861 nicht sehr groß; aber für den Maßstab, mit dem ich mich auf die Wanderschaft gemacht hatte, doch gewaltig genug. Ein halbes Dutzend großer Schleppkähne für die Wolga und ein kleiner Küstendampfer waren im Bau begriffen. Vor einer Woche hatte man angefangen, den Kiel für ein Dampfschiff von 800 Pferdekraft zu legen. Alles rohe Arbeit, wie mir schien. Und niederdrückend war es, daß es so viel rohe Arbeit in der Welt gab, von der man nichts verstand, trotz eines Bildungsganges, an dem die alten Griechen und Römer nicht ohne Anstrengung mitgeholfen hatten. Diese Werfte zu sehen war der eine, unwesentlichere Zweck meines Hierherkommens gewesen, auf einen Brief zu warten der andre. Der Brief sollte mein Schicksal für die nächste Zeit entscheiden. Ich hatte in den letzten Wochen mehrmals ähnlichen Schreiben entgegengesehen, in Köln, in Essen, in Brüssel, und fing an, mich an die Spannung zu gewöhnen, die einer milden Neugier -- wie es wohl weiter gehen werde? -- Platz gemacht hatte. Doch heute handelte es sich um das letzte Wort aus Belgien. Klang es wie alle andern, so stand ich ziemlich ratlos vor einer ernsten Lebensfrage. In der Mauer von Schiffen, welche dem Staden entlang lagen, war die helle Lücke, die quer über der Straße gestern einen herrlichen Blick auf den munteren Strom gestattet hatte, plötzlich verschwunden. Ein schwarzes Ungetüm von Dampfer füllte sie aus, stieß träge Wolken Rauchs in die tiefhängenden Regenwolken und rasselte an vier Stellen zugleich mit Ketten und Dampfwinden, von denen jede ihre eigne schnarrende Tonart aufdringlich zur Geltung brachte. Unten im feuchten Halbdunkel verwirrte sich ein Dutzend Wagen und Karren, welche Waren aller Art herbeischleppten. Fässer, Kisten und Ballen flogen zuckend in die Luft, um mit einem behaglichen Grunzen im Bauch des Schiffs zu versinken. Peitschenknallen und Fluchen kam stoßweise zu mir herüber. Immer neue Karren kamen angerumpelt. Das Ungeheuer fraß mit Appetit, schwarz und schweigend. Frißt es wohl auch Menschen? Ich fragte die runde Kellnerin, die in diesem Augenblick eintrat. Erst morgen nachmittag, gegen vier Uhr, antwortete sie in ihrem pausbackigen Vlämisch und hielt mir Briefe entgegen, die ich ihr mit befremdender Lebhaftigkeit entriß. Nicht bloß den einen, den ich erwartete; es waren drei. Mein zwei Wochen altes Vlämisch sprudelte stürmisch über meine Lippen. Kein Sprachlehrer der besten deutschen Gymnasien hat je ähnliche Erfolge erzielt. In zwei Minuten stand ein Petroleumlämpchen auf dem runden Tisch, ein Stühlchen war unter mir zusammengebrochen, ich saß auf dem krachenden Sofa und riß meine Briefe auf. Der erste war in der Tat von Seraing, im höflichsten Französisch. »Mein Herr! Wir bedauern aufs lebhafteste, daß die gegenwärtige Besetzung unsers Zeichenbureaus uns der Möglichkeit beraubt, von Ihren Talenten Gebrauch zu machen, für die uns ebensosehr Ihre vortrefflichen Zeugnisse (die wir dankend beilegen) als die Empfehlung unseres sehr verehrten Mitglieds des Verwaltungsrats, ~Dr.~ Orban, bürgen. Wir sind überzeugt, daß andre Etablissements, namentlich in Ihrem eignen Vaterlande, mit Ungeduld den Augenblick erwarten, in dem sie von Ihren vielseitigen Fähigkeiten Gebrauch zu machen Gelegenheit finden werden, und wünschen denselben Glück zu den ihnen hieraus erwachsenden außerordentlichen Vorteilen. Genehmigen Sie den Ausdruck unsrer sehr distinguierten Hochachtung. Die Administration der ~Socicété anonyme de Seraing~,« würdig vertreten von zwei unlesbaren Namen, von denen der eine in Keilschrift ausgeführt war, der andre die Anfänge der später beliebt gewordenen Spritzmalerei andeutete. Es bleibt etwas Schönes um Stil und Höflichkeit. Ich faltete das Schreiben liebevoll zusammen und legte es auf ein Häuflein zumeist minder gut stilisierter Briefe, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatten und fast als Tagebuch einer Forschungsreise von Mainz bis Antwerpen dienen konnten, mit Kreuz- und Querzügen in allen Seitentälern des Rheins und der Maas, in denen Gott Eisen wachsen ließ. Vorgestern noch hatte mich ein Schreiben aus dem Ruhrgebiet erreicht, das mir von Stadt zu Stadt, von Gasthof zu Gasthof nachgelaufen war. Ein alter Spartaner schien es mit Streichhölzchen, mit denen er noch nicht umzugehen wußte, angefertigt zu haben. Mühsam entziffert lautete es: »Unser Bureau ist besetzt. Wir können Sie nicht brauchen. Hochachtend R. R.« -- Selbst _nützlich_ kann Stil und Höflichkeit manchmal sein. Dieser Brief mußte sich eine geringschätzige, ja grobe Behandlung gefallen lassen. Mit Belgien also war es auch aus. Seraing war meine letzte Hoffnung gewesen. Die kleineren Fabriken hatte ich schon von Brüssel aus durchgekostet. Verzweiflung gibt Mut. Ich hatte als letzte Möglichkeit die größte, die ersehnteste versucht: die weltberühmten Werke von Cockerill. Nun sah ich durch die trüben Scheiben in die Dämmerung hinaus. Das Schiffsungetüm fraß noch immer an seinem Abendbrot; etwas langsamer, mit widerwärtigem Räuspern. Eben schien ein besonders fetter Bissen an die Reihe zu kommen: ein Riesensarkophag dem Aussehen nach, in Wirklichkeit ein Eisenbahnwagen. Er hing schwarz und viereckig gegen den schmutzigroten Abendhimmel und drehte sich langsam an der Kette des Schiffskranes in der Luft. Dann versank er plötzlich mit wütendem Gerassel in dem nicht zu füllenden Bauch. Der dicke, kurze Schornstein machte eine ganz kleine, behagliche Bewegung. Diesmal hatte es dem Ungetüm sichtlich geschmeckt. Und morgen, um vier Uhr, frißt es auch Menschen! Ich wandte mich meinem Tischchen zu. Die beiden andern Briefe waren mir von meinem Brüsseler Gasthof nachgesandt worden. Der eine kam von England, von einem Freund und Schulkameraden, der schon ein halbes Jahr vor mir den Sprung in die weite Welt gewagt hatte. »Lieber Eyth,« schrieb er unter manchem andern, das nicht hierher und kaum in seinen Brief gehörte; »wenn Dich meine Epistel noch in Berg trifft und Dir Dein Leben lieb ist, namentlich Dein Seelenleben, so bleibe dort. Ein Waldhornminele findest Du hier nie und Dein tägliches Brot in den ersten sechs Monaten schwerlich. Solltest Du jedoch inkurabel verrückt und dies Deinem Fortkommen in Belgien und am Rhein hinderlich gewesen sein, so komme immerhin. Ich habe seit vier Wochen zwanzig Schilling die Woche und ein Reißbrett in der ersten Fabrik der Welt. Ein Hundeloch und Hundelöcher ringsumher. Whitworth. Aber es soll jetzt alles neu gebaut werden, und geleistet wird Gewaltiges, und interessant ist es, daß man beinahe den Mangel des Kneipens verschmerzt. Es ist noch ein Deutscher hier, oder vielmehr ein Schweizer, dem dies saurer fällt als mir. Wir zwei pausen zu Hause die ganze Nacht Bohrmaschinen und Drehbänke, Hobel- und Fräsmaschinen, mit dem Schwert des Damokles über unsern Köpfen. Den Tag über wird für unsern Herrn und Meister -- ein famoser Kerl voll trockener Energie -- redlich gearbeitet; nachts wird er bestohlen. Und dabei erfreuen wir uns des Gefühls tugendhafter Pflichterfüllung und eines wachsenden Haufens der wertvollsten Werkzeugmaschinenzeichnungen. Findest Du sonst nichts, so stellen wir Dich als Mitpauser an. Werden wir ertappt, so haben wir wenigstens jemand, den man hängen kann. Man muß übrigens auch dem Teufel Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie halten hier nicht jeden alten Bolzen für ein Fabrikgeheimnis, wie bei uns. Und mein Schweizer Associé meint, so oft er allzu durstig wird: in fünf Jahren können wir uns mit all unsern Pausen keine Maß Bier kaufen. Er wird wohl recht haben. Insofern ist die Sache auch vom streng ethischen Standpunkte aus harmlos. Also nochmals: bleibe zu Hause und nähre Dich redlich. Dein alter Gutbrod.« Ich trat wieder ans Fenster; diesmal erregter. Das war die Gattung von Briefen, bei denen ich nicht mehr auf einem Stuhl sitzen bleiben konnte. Es war jetzt völlig Nacht geworden, man hatte aber ein paar Pechfackeln um das Ungetüm herum angezündet. Es fraß noch immer, es ging sogar wieder rascher: kleine Bissen, die ihm leicht durch die Zähne schlüpften, immer drei Fässer auf einmal. Ich hatte sie schon nachmittags bereit liegen sehen und wußte, daß es dreitausend westfälische Schinken waren. Alles für England; und da sollte es wirklich so hungrig zugehen, wie dieser Gutbrod mir weismachen will. Unsinn! Wenn man mit dreitausend westfälischen Schinken ankommt, kann es einem nicht allzu schlecht ergehen. -- Nun aber zum dritten Brief. Er kam aus der Heimat, von meinem lieben Zeichen- und Leidensgenossen Braun, der jetzt, an meinem Tisch, das alte Leben fortsetzte. »Lieber Eyth! Zwei Dinge rate ich Dir, von denen Du das eine tun, das andre bleiben lassen sollst, und zwar so bald als möglich. Komme ohne Verzug wieder zurück. Dein alter Zeichentisch ist mir um drei Centimeter zu hoch, und Dein Reißbrett hat zwei Astlöcher, die mir das Leben zur Last machen. Oder, zum zweiten, mache, daß Du so schnell und so weit als möglich fortkommst; denn der Alte -- (in dieser vertraulichen Weise sprachen wir von unserm hochgeachteten Herrn und Meister hinter seinem Rücken) -- ist noch immer wütend über Deine Desertion: ›Da erzieht man die jungen Leute, die völlig unbrauchbar aus ihren polytechnischen Kindergärten kommen, zahlt ihnen noch glänzende 36 Kreuzer täglich dafür, und kaum sind sie im stande, sich einigermaßen nützlich zu machen, so laufen sie einem davon, der Kuckuck weiß, weshalb und wohin; bloß um zu laufen.‹ Er ist in der tiefsten Seele, soweit er eine solche hat, überzeugt, daß Du ein Scheusal von Undankbarkeit bist, und läßt es uns fühlen. Wir suchen uns dadurch einigermaßen schadlos zu halten, daß, wenn irgend etwas unten in den Werkstätten schief geht, eine Welle zu kurz oder zu lang, ein Zapfen zu dick oder zu dünn geraten ist, wir einstimmig versichern: das hat Herr Eyth noch gemacht. Die Bemerkung ist ein Sprichwort geworden, das uns vielfach tröstet; auch über Deinen Abgang, welchen ich anfänglich für ein Unglück hielt, denn wir waren in der ersten Woche wirklich verdrießlich. Jetzt geht es schon wieder. -- Daß Du am Rhein nichts gefunden hast, freut uns. Hoffentlich geht Dir's in Belgien ebenso gut. Dann wirst Du wohl an die Heimkehr denken und an die Fleischtöpfe im Waldhorn, und wir werden vielleicht wieder zu Ehren kommen. Mit Blechmusik sollst Du empfangen werden. Der Alte wird Dir sicher auch etwas blasen, glaube ich. Aber er wird Dich wieder aufnehmen wie den verlorenen Sohn, wenn auch ohne eine Kalbschlächterei zu veranstalten; darauf darfst Du bauen. Der Herr sei mit Dir, wenn Du schon bei den Trebern angelangt sein solltest. Dein getreuer Braun.« Nachschrift: »Das Waldhornminele läuft mit roten Augen herum. Dies dauert zu lange. Ich will ihr morgen Bleiwasser verordnen, und dann, wenn's besser wird, sehen, was sich machen läßt. Du kannst meinethalben noch ein Jahr fortbleiben. D. O.« Dazu klatschte jetzt der Regen ans Fenster, und ein kalter Aprilwind fing ordentlich zu blasen an. Man hörte draußen Rahen und Stangen ächzend aneinanderschlagen, und das Kettengerassel der Dampfwinden hörte trotz allem immer noch nicht auf. Die drei Briefe waren gelesen; zweifelnd, schwankend starrte ich in die dunkle Zukunft. Wenn je einem Menschen zu Mut war wie dem ungarischen Bauernjungen in Lenaus Werbung, so war ich jetzt der Mann. Mein alter Freund Braun hatte die richtige Saite angeschlagen, ohne es zu wissen. »Und er sieht das Hüttlein trauern, Das ihn hegte mit den Seinen, Hört davor die Linde schauern Und den Bach vorüber weinen.« Den Nesenbach; den damals noch nicht einmal überwölbten Nesenbach. Man glaubt es kaum, wie die Entfernung selbst ein solches Gewässer vergeistigt. In der Tat, warum sollte ich nicht umkehren? Alle vernünftigen Leute schienen dieser Ansicht zu sein, gleichgültige und teilnehmende. Leer käme ich ja nicht nach Hause. Ich hatte seit zwei Monaten alles mögliche gesehen und einiges gelernt. Meine Notizbücher strotzten von halbfertigen Skizzen. Warum sollte ich nicht einen Strich unter meine Studienreise machen, wenn man mir die Tinte dazu förmlich nachspritzt. Es kostet wohl einige Überwindung, nach den hoffnungsvollen Plänen, mit denen ich auszog; aber man muß sich auch überwinden können. Die größten Geister fanden dies am schwierigsten und achtbarsten. Und zur Stärkung und Belohnung meines heldenhaften Entschlusses der Selbstüberwindung muß etwas geschehen. Ich werde in dieser wilden Welt mit ihrem ewigen Kettengerassel, wenn irgend möglich, zum Abend- und Abschiedsmahl eine gute, deutsche Schützenwurst bestellen! Marie!! Die Zimmerglocken im zweiten Stock des Schwarzen Ankers waren nämlich nicht immer in Tätigkeit zu sehen. Man war deshalb gezwungen, dem Zimmermädchen bei jeder wichtigeren Veranlassung menschlich näher zu treten. Freilich nicht immer mit Erfolg. Sie ließ mir auch diesmal Zeit, meinen halblauten Monolog fortzusetzen, den die wachsende Erregung wohl entschuldigt. Man hat nicht alle Tage einen Entschluß zu fassen, der das ganze Leben in eine neue Bahn drängt. Eins aber will ich nicht unterlassen, fuhr ich, noch immer auf meine Belohnung bedacht, eifrig fort: so nahe an England, für das ich seit Jahren als Mensch und Techniker eine stille, beklommene Verehrung pflegte, will ich wenigstens etwas von seinem insularen und weltumspannenden Leben kennen lernen, ehe ich ihm den Rücken kehre! Eine Flasche britisches Ale zu meiner schwäbischen Wurst! Vielleicht sauge ich in dieser Weise kurzerhand die Quintessenz englischer Lebenskraft in mich ein. Ale hatte ich bis heute nur dem Namen nach kennen gelernt. Das wenigstens muß anders werden. Ich kann dann jedenfalls die erste Frage, die Braun, wenn wir uns in Bälde wiedersehen, an mich richten wird, prompt beantworten. Eine Flasche Ale unter dem Herzen und den fernen Salzgeruch der See in der Nase, wie ihn in einer solchen Sturmnacht jeder Windstoß bringt: wozu braucht man eigentlich dann noch nach England zu gehen? Marie! -- Sie geruhte zu erscheinen; ohne Übereilung, mit jener vlämischen, gemessenen Würde, die dem Süddeutschen Achtung einflößt und gelegentlich ein Donnerwetter auspreßt. Nicht ohne kleine sprachliche Schwierigkeiten erklärten wir uns: »Schützenwurst?« -- »Nein!« -- »Wurst im allgemeinen?« -- »Ja!« -- »Das englische Gebräu?«-- »Jawohl, Mynheer!« -- Nach zehn Minuten erschien alles auf einem Puppenstubenkaffeebrettchen; nur die große, wohlversiegelte Flasche machte eine imponierende Ausnahme. Man mag sagen, was man will, es ist doch etwas an den Engländern; ein großer Zug in allem, was sie berührt', dachte ich und streckte mich auf dem kleinen Sofa aus, den Kopf auf der einen, die Beine auf der andern Lehne, um wenigstens eine Stunde lang die englischen Illusionen möglichst aufrecht zu erhalten. Draußen heulte der Sturm. Segel und Rahen klatschten; das Kettengerassel dagegen hatte endlich aufgehört. Und mein Petroleumlämpchen brannte traulich und zutunlich. Ein schweres, goldgelbes Naß winkte mir aus dem Gläschen entgegen, das schlecht zur Flasche paßte. Ich begann; nicht ohne Wehmut. So wäre denn mein Wanderleben zu Ende! Warum auch nicht? »Das Hüttlein« wird bald wieder vergnügt sein, alter Lenau! Das alte Leben hatte doch wahrhaftig auch sein Schönes, wenn man es im rechten Lichte besah; namentlich im Abendsonnenschein oder noch besser: in der Dämmerung. Die Kinderzeit in dem Waldkloster, in dem ich aufgewachsen bin, mit ihrer unverstandenen Sehnsucht nach der großen Welt, welche zwei Stunden hinter dem Wald mit einem Eisenhammer anfing. Und nun hatte ich mir die große Welt schon ziemlich gründlich angesehen; was war sie anders? Tatsächlich Eisenhämmer, einer hinter dem andern! Sind sie all die Sehnsucht des kleinen, klopfenden Herzens wert gewesen? -- Dann die lustige Schulzeit mit ihren Freundschaften für eine vierjährige Ewigkeit und der ungeduldigen Ahnung von all dem Großen und Schönen, das der nächste Schritt im Leben unfehlbar bringen mußte, wenn man endlich den Staub und Moder der fürchterlichen Klassiker abschütteln durfte. Darauf die Kneip- und Arbeitsfreudigkeit des jungen Polytechnikers, der mit ganzem Herzen bei der Sache ist, durchdrungen von der Weisheit seiner verehrten Lehrer und der Höhe seines eignen Wissens und jederzeit bereit, mit einer liebenden Gattin von fünfzehn Jahren die Rosenpfade des Daseins zu durchwandeln. Nun aber plötzlich aus all diesen Herrlichkeiten der zermalmende Sturz in das Werkstättenleben, die Vernichtung aller Träume, die zerklopften Finger, die schwarze Nase. Und die ersten selbstverdienten Groschen, die ersten, mit selbstverdientem Geld gekauften Stiefel, in denen man mit bisher ungekannter Vorsicht auftritt. Und dann, trotzig und halb gebrochen, aus der Tiefe der Vernichtung langsam wieder emporsteigend. -- Übrigens ist dieses Ale ein wunderbares Getränk! Süffig wie das kostbarste Olivenöl -- darüber habe ich keinen Zweifel mehr; stark wie zwei Männer -- aber kaum bitter genug -- so ganz anders als ehrliches schwäbisches Bier! Ja -- man ist an dem Sturz in die unerwarteten Tiefen des praktischen Lebens allerdings nicht gestorben, wenn auch beinahe. Mir wurde es vielleicht doppelt sauer, denn in der alten Klosterzeit hatte ich im Träumen eine ganz besondere Fertigkeit erlangt und öfter versucht, die etwas dunstigen Luftgebilde in Reimen festzunageln, so daß ich jetzt noch, sobald es mir wieder etwas besser ging, anhub, meinen Schraubstock zu besingen, und den Fabrikschornstein in Verse brachte. Es schadete niemand; sogar mir selbst nur einmal. Doch das harte Jahr ging vorüber. Aus meiner ersten Fabrik hatte man mich zwar zu meiner unaussprechlichen Verblüffung hinausgeworfen; sechs Wochen, nachdem mir von meiner technischen ~Alma mater~ der erste Preis in höherer Mathematik und praktischem Maschinenzeichnen zugesprochen worden war. In der zweiten stieg ich jedoch aus den tiefsten Tiefen mit zusammengebissenen Zähnen, und verschmierter als der schmierigste Lehrjunge, langsam empor und wurde 36 Kreuzer, 48, ja schließlich einen Gulden täglich wert. Dann holte mich ein Engel vom Himmel -- er hieß Wolf und war Bureauchef und erster Konstrukteur -- ins Zeichenbureau. Die Wurst war nicht schlecht, wenn auch himmelweit entfernt von den Idealen, die meine teure schwäbische Heimat erzeugt. Es fehlte ihr die schlichte Treuherzigkeit, die man am Neckar auch in einer Knackwurst findet. Aber das Ale -- wie man ein solches Getränke Bier nennen kann! ~C'est magnifique, mais ce n'est pas la guerre!~ -- und stark! -- es lebe ~old England!~ Das Pausen macht nicht überglücklich, aber man war wieder gewaschen wie ein Mensch und ahnte die kommenden Freuden, wenn man nach Tisch in dem noch leeren Zeichensaal neugierig an den Reißbrettern der gewiegteren Herren Zeichner vorüberschlich: ernster, bärtiger Männer, denen man die harmlosen Dummheiten nicht ansah, deren sie nach längerem, tiefem Nachdenken oder schneidigem Winkel- und Reißschienengeklapper fähig waren. Welch erhebendes Gefühl, den ersten, selbstkonstruierten Lagerbock aus dem Nichts entstehen zu sehen; zu wissen, daß auch ich in der Zuckerfabrik zu Böblingen in der Form eines Holzgestells für zehn Zentrifugen weiter leben werde. Von den Sonnenblicken, welche Liebe und Freundschaft wieder auf meinen Lebenspfad zu werfen begannen, will ich gar nicht reden. Es war wie ein zweiter Frühling in sprossendem Ackerfeld nach dem ersten im kindlichen Heidekraut, der schon weit hinter mir lag. -- Ein tüchtiger Schluck von solchem Bier war damals nicht nötig, um mir den Lebensmut zu heben, und dies war ein weiteres Glück. Denn das Bier im Waldhorn war um ein beträchtliches schwächer. Die Tage folgten sich und glichen sich nicht mehr. Schritt für Schritt gings höher hinauf. Es kamen die kleinen Geschäftsreischen: hier die Aufnahme einer alten Sägemühle, dort der Besuch eines verkehrt aufgebauten Fundaments. Man hatte das fröhliche Gefühl des Entchens, das zum erstenmal halb verwundert, halb selbstbewußt in seiner Pfütze plätschert. Man fühlte die Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts, und daß man am Webstuhl einer großen Zeit das eigne Schiffchen hin und her warf. Abends am Wirtstische predigte man dem Pfarrer des Städtchens und wurde vom Bürgermeister den Gemeinderäten als der Herr Ingenieur aus Stuttgart vorgestellt, welcher uns alles über die Gasfabrik mitzuteilen in der Lage sei, deren Anlage möglicherweise doch in nicht allzu ferner Zeit in Erwägung zu ziehen wäre. Wenn es dann gar gelang, die Bestellung eines unerwarteten Seifenkessels nach Hause zu bringen, zu der sich der Herr Gemeinderat Angele in plötzlich erwachtem Vertrauen entschlossen hatte! Aber auch Lieblicheres als Seifenkessel sproßte frühlingsartig in allen Ecken und Enden des Ländchens, kleine Blumenbeete der Freundschaft und Liebe in buntwechselnder Farbenpracht. ~Fiducit~, du alte Jugendzeit! Prosit, ihr fernen Herzensbrüder; desgleichen ihr Schwestern! In einem besseren Nektar habe ich euch noch nie meine Grüße zugewinkt! Und das alles wollte ich verlassen? Ist es nicht schnöder Undank, um von positiver Schlechtigkeit in einem oder zwei Fällen nur mit gebührender Zurückhaltung zu sprechen? Ist das Neckartal nicht ein halbes Paradies und das Waldhornminele eine kleine Eva, ohne Falsch, wie die meisten Schwabenmädchen, an denen wahrhaftig kein Mangel war? Der erste Versuch, all diesen teuern Banden zu entschlüpfen, hatte verdientermaßen kläglich geendet. Zu Immendingen, im Schwarzwald, war die Stelle eines Zeichenbureauchefs ausgeschrieben. Wer nichts wagt, gewinnt nichts! Ich meldete mich, trotz des Jammers meiner guten Mutter: Immendingen sei gar so weit entfernt! Wenn es wenigstens nicht im Ausland läge! Es ist nämlich badisch, und wir schrieben 1859. Und wahrscheinlich hätte ich die Stelle bekommen, wenn mein wackerer Vater, stets auf mein Wohl bedacht, mich nicht unterstützt hätte. Er war ein Mann des Fortschritts, trotz der hervorragenden philologischen Stellung, die er in seiner Welt einnahm. Um meine Bewerbung zu fördern und um mich zugleich später freudig zu überraschen, schickte er hinter meinem Rücken an die Direktion von Immendingen eine Abschrift meiner sechs besten »Lieder am Schraubstock«, überzeugt, wie er beifügte, daß die in den kurzen Gedichten hervortretende ideale Auffassung des praktischen Lebens und die nicht unbeträchtliche sprachliche Gewandtheit, welche sich namentlich in dem fünften Gedicht, »Der Schornstein«, zeigte, einige Berücksichtigung finden dürfte. Erst zwei Jahre später erfuhr ich von der Sache durch einen Schreiber, der den »Schornstein« und die andern fünf Lieder aus dem direktorialen Papierkorb gerettet hatte. Denn der junge Herr war zufällig beim Empfang des Schreibens im Zimmer anwesend gewesen. »Sehen Sie mal!« hatte der Direktor zu seinem Prokuristen gesagt, der ihm gegenüber saß, »solches Zeug schickt mir ein alter Professor! Glaubt der Mann, wir machen Gedichte in Immendingen! Muß eine intelligente Familie sein, das!« Prosit, prosit, liebevollster und besorgtester aller Väter! Ich weiß, du hast es herzlich gut gemeint, wenn wir auch in diesem Falle hineinfielen. Es tat nicht allzu weh; der Papierkorb war geräumig genug für uns beide. -- Übrigens ist dieses Bier das Bier aller Biere! Wenn bei den Engländern alles so ist wie ihr Ale -- wer weiß, ob es nicht doch meine Pflicht wäre, diesem Volke näher zu treten. Nur zu stark, wirklich zu stark! Ich glaube, drei Flaschen könnte ich beim besten Willen nicht auf mich nehmen. Das hat auch seine Nachteile. Aber meine Ruh' war hin. Der Blick über den Schwarzwald hinaus hatte den Zauber der Heimat vernichtet. Eine geheime Sehnsucht nagte an meinem Herzen. Dazu kam eine kurze Geschäftsreise nach Paris, mit dem Auftrage, Lenoirs Gasmotoren zu studieren und den Franzosen nach Möglichkeit zu bestehlen, von wo ich verwirrten Kopfes nach Hause kam. Meine angeborene deutsche Ehrlichkeit bewährte sich schon bei dieser Gelegenheit. Aber ich ahnte mehr und mehr, wie weit die Welt ist, wie sich's draußen regt, wie die Zeit, _unsre_ Zeit, an ihrem großen Webstuhl die Schiffchen hin und her wirft. Liebe und Freundschaft und die komplizierteste Schiebersteuerung, an der ich viel und emsig herumklügelte, wollten mir den Seelenfrieden nicht wiedergeben. Ich mußte hinaus. Es lebe der Fortschritt; es lebe die Freiheit! Unbedenklich kann man das Ale das Bier der Befreiung, den Trank der Freiheit nennen; wie ja schon unserm wackern Schiller England als das gelobte Land der Freiheit erschien, weil und obgleich er der beste Deutsche war. Daher wird wohl auch der Unterschied im Geschmack rühren. Man muß sich an das Beste gewöhnen. Es lebe die Freiheit! Ich hatte mir ein paar hundert Gulden erspart und besaß eine Großmutter, die mir fünfhundert lieh. Dann -- Ehre, dem Ehre gebührt -- gibt die württembergische Zentralstelle für Handel und Gewerbe ihren hoffnungsvolleren jungen Schwaben gelegentlich ein paar hundert auf den Weg, für Studienzwecke, oder um sie mit Ehren los zu werden. Das machte zusammen etwas über tausend Gulden; damit kann man bequem eine Strecke gleich der Erdbahn durchreisen! Und als sich die ersten Spuren des Frühlings von 1861 zeigten, zog ich den Neckar hinunter in die weite Welt hinaus. Es lebe die Freiheit! Und nun sollte ich wieder umkehren, weil die Rheinländer nicht merkten, wer vor ihren Türen stand, und die Belgier -- konnte man's ihnen verargen? -- ebenso blind sind? Unsinn! Ich gehe nach England! Natürlich gehe ich nach England. Vor der Quelle eines solchen Nektars darf eine deutsche Studienreise nicht Halt machen. Ich könnte mir's wahrhaftig in meinen alten Tagen nie verzeihen. Soll ich beschämt vor meinen Enkeln stehen, wenn sie die Jugendgeschichten ihres Großvaters ausgraben? Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben. Ich begreife nicht, wie ich, noch mit sechshundert Gulden in der Tasche, auch nur einen Augenblick daran zweifeln konnte. Es war eine schmähliche Schwäche. Alles, was mich zu Hause liebt, soll leben. Aber ich gehe. Mit jedem Augenblick fühle ich einen neuen Zuwachs von Kraft und Mut in mir lebendig werden. Lebendige Kraft von der harten Art, mit der etwas zu machen ist. Lebe wohl, Kinderzeit! Ernst muß es werden, und das Ungetüm draußen mag mich verschlingen, sobald es Lust hat. Es soll mich als Mann wieder ausspeien an dem fremden Strande. Das ist beschlossene Sache, die deine roten Augen, Waldhornminele, nicht mehr ändern können. Der Mann will hinaus! -- Jetzt aber zum letztenmal -- und ganz gewiß zum letztenmal! Ich riß ein Blatt aus meinem Notizbuch und schrieb auf die Rückseite einer Kesselschmiede zu Aachen Abschiedsverse an meine armen, zurückgebliebenen Freunde, an Mina, an Minas zahlreiche Freundinnen und an meine ganze Jugendzeit, die ich unbarmherzig im Meer versenkte. Dann folgten etliche trotzige Strophen an die Stürme der Zukunft und ein fragwürdiges Schiff, das ich mit großer Zuversicht um brandungumtoste Klippen zu steuern vorgab. Die Reime flogen mir zu. Dagegen weiß ich heute noch nicht genau, wie ich in den Wandschrank kam, in dem sich nach holländischer Weise mein Bett befand. Es ging alles in schönster Ordnung. Aber ein gütiger Himmel mußte mich auch damals geleitet haben, wie später mannigfach, wenn ich, in Freud' und Leid, das Steuer nicht mehr allzufest in der Hand hielt. Ein sonniger Morgen weckte mich aus wogenden Träumen. Draußen rasselten die Dampfwinden mit einer Lebenslust und Arbeitswut, die fast wehe tat. Mein schwarzer Freund mit seinem unerschöpflichen Appetit war schon am ersten Frühstück. Er verspeiste soeben zehntausend Bretter. Dazu Geschrei und Peitschenknallen, Pfeifen und zischendes Abblasen von Dampf in allen Richtungen. Auf meinem Tischchen lag mein Gedicht und die Flasche von gestern. Etwas beschämt wendete ich mich von beidem nach dem Bilde lebendiger Arbeit, das draußen in der Sonne schimmerte. Wie die Wellen der Schelde im frischen Morgenwind den Strom heraufjagten! Und mir war fast ebenso wohl. Es war trotz allem ein in jeder Beziehung famoses Getränke, dieses merkwürdige Ale, nur ein wenig zu stark. Es dichtet und bringt unentschlossene Menschen zur Vernunft, zwei Eigenschaften, die man selten in einer Flasche beisammen findet. Denn mein Entschluß stand fest. Ein kleines Schwanken ging mir nur noch zwei- oder dreimal durch den Sinn, wie das Nachzittern einer großen stürmischen Bewegung; aber es hatte keine Gefahr mehr, selbst wenn ich mich mit zusammengebissenen Zähnen für immer vom Liebsten hätte losreißen müssen, das ein junger Mensch auf dieser Erde besitzen -- möchte. Mein letzter Tag auf dem alten Kontinent war angebrochen. Ich rief stürmisch nach Marie und meinem Kaffee. Diesen letzten Tag aber wollte ich noch in vollen Zügen und nach deutscher Art genießen. Bis Marie mit ihrer vlämischen Gewandtheit sich aufgeschwungen hatte, mit dem Kaffee zu erscheinen, durfte ich wohl nachsehen, was ich eigentlich gestern besungen hatte. Das sollte in Zukunft ja auch aufhören; das vor allem andern! Ich las: Leb wohl, du sonnige Jugendzeit, Ihr Berge und Burgen am Rheine! Mir ist so wohl, mir ist so weit, Leb wohl für immer, du Eine! Es reimt sich zwar ganz hübsch; aber wer -- wer ist die Eine? Ihr habt mich umsponnen, doch nicht gebannt Mit eurem lieblichen Scheine: Leb wohl, mein schlummerndes Heimatland, Leb wohl für immer, du Eine! Das Gedicht war sehr viel länger; aber die folgenden -- schätzungsweise -- sieben Verse konnte kein sterbliches Auge mehr entziffern. Der Gott, wie die alten Griechen es nannten, hatte mir in einer Weise die Hand geführt, daß seine geheiligten Hieroglyphen mit menschlichen Schriftzügen nicht mehr verwechselt werden konnten. Auch schien mir, was irgend noch zu entziffern war, gestern unverhältnismäßig tiefer und wärmer gelautet zu haben. Etwas verdrießlich warf ich das Blatt unter den Tisch; hob es aber wieder auf, als sich im Fluge auf seiner Rückseite die Aachener Kesselschmiede zeigte, die ich nicht verlieren wollte. Es konnte nichts schaden, das alles mußte ja aufhören. Nach acht Stunden; dann, um vier Uhr, wird ein neues Leben angefangen. Ich hatte in den letzten zwei Tagen nur Werkstätten und Werften der geschäftigen Seestadt Belgiens gesehen. Nun wollte ich zum Schluß das alte, niederländische Antwerpen durchpilgern und mir's sechs Stunden lang in einem andern Jahrhundert wohl sein lassen. Es war ein Genuß, den ich heute nicht mehr wiederzugeben vermöchte, selbst wenn ich den alten Bädeker von 1861 zu Hilfe nähme: die Kathedrale mit ihrem wundervollen Spitzenwerk aus Stein, die unsterblichen Niederländer im Museum, die alten Häuser aus der Zeit der Hansa und der ganze versteinerte Reichtum eines stolzen freien Bürgertums, das uns die Spanier halb zertreten haben, und das wir selbst mitzertraten in unserm dreißigjährigen Ringen um eine Gewißheit, die noch heute niemand besitzt. Als ich im Halbdunkel einer der abgelegensten Kirchen der Stadt nach der Uhr sah, war es halb vier -- höchste Zeit, mein deutsches Leben und Träumen abzuschließen. Im Sturmschritt verirrte ich mich zweimal; im Galopp langte ich im Schwarzen Anker an. -- Der »~Northern Whale~« -- der »Nordische Walfisch« pfiff schon zum erstenmal, während ich in mein Zimmer trat, und spie Dampf und Wasser aus, als ob er es keinen Augenblick länger in der Schelde aushalten könne. Mein kleiner Koffer wurde in wilder Eile gepackt. Marie und das ganze Haus arbeiteten an meiner noch kleineren Rechnung, die ich unter der niedern Gasthoftüre mit Zurücklassung mehrerer Franken bezahlte, da der Herr Oberkellner vergeblich das erforderliche Kleingeld in den Mansarden des Hotels suchte. »Wo bekommt man die Fahrkarten für den Dampfer?« fragte ich im letzten Augenblick, schon auf dem Weg nach dem Schiff. Marie, deren vlämische Ruhe durch meine damals noch ungebändigte süddeutsche Hast aus der Fassung gebracht worden war, schrie laut, um mir dadurch ihre Muttersprache etwas verständlicher zu machen, jedoch völlig ohne Erfolg. Ich glaubte, noch etwas von der nächsten Straßenecke zu hören, als der Walfisch zum zweitenmal einen heulenden Pfiff ausstieß. Es müßte doch des Kuckucks sein, dachte ich, wenn sie mein gutes Geld nicht auch an Bord nehmen wollten, wie auf dem Bodensee! »Adieu, Marie! Meine Londoner Adresse liegt auf dem Tisch in Nummer fünf, wenn Briefe kommen sollten! Adieu, Schwabenland! Anders geht es jetzt nicht mehr. Adieu!« Es war allerdings nur ein paar Schritte; aber die mächtigen Räder des Walfisches drehten sich schon, schläfrig, ein wenig vorwärts, ein wenig rückwärts, wie wenn das Ungetüm am Erwachen wäre und sich gähnend besänne, was vorn und was hinten sei. Ein jäher Schreck durchfuhr meine Glieder. Wenn es sich plötzlich aufmachte, ohne mich. Ich war die steile Landungstreppe hinauf wie der Blitz, trotz Koffer, Reisetasche, Plaid und Schirm. Ein Matrose, der am obern Ende stand, vermutlich der Kontrolleur der heraufkommenden Reisenden, erhielt von meinem Koffer einen unabsichtlichen schweren Stoß in die Magengegend und sah mir mit einem »~Damn these Germans!~« ärgerlich nach. Es mußte ihm genügend deutlich geworden sein, daß ich mitfahren wolle. Und damit war ich auf englischem Boden und hatte den ersten englischen Gruß gehört. Ich hätte mich nicht so sehr zu beeilen gebraucht. Eine halbe Stunde später wurde die Verbindungsbrücke eingezogen, gerade, als auf dem ruhiger gewordenen Staden in feierlichem Zuge ein wuchtiger Engländer mit fünf flachsblonden Töchtern sich dem Schiffe näherte, ohne sich im geringsten zu überstürzen. Man schob die Landungsbrücke wieder hinaus. Die Töchter erstiegen das Deck. Der Vater schien sie sorgfältig zu zählen. Dann sprach er über fünf Minuten lang mit seinem Kommissionär, der ihn unter lebhaften Dankesbezeigungen die Treppe hinauf zu komplimentieren suchte. Wieder wurde sie zurückgezogen, denn auch die Matrosen fanden die Unterredung etwas lange. Ein fünfstimmiges »Papa! Papa!« ertönte vom Schiff. Der Engländer winkte. Die Treppe wurde ihm abermals zugeschoben. Er stellte sich jetzt auf das untere Ende derselben und setzte seine Unterhaltung mit dem Kommissionär fort. So hatte er den Dampfer in seiner Gewalt, ihn sozusagen verankert, zog seinen Murray -- den englischen Bädeker -- aus der Tasche, entfaltete einen Stadtplan und schien sich noch über den Namen einer Kirche aufklären zu lassen. Als auch dies bereinigt war, drehte er sich langsam um, kam feierlich die Treppe herauf und begrüßte den Kapitän, der ungeduldig an ihrem oberen Ende gestanden hatte, mit Händeschütteln und einem wohlwollenden »~All right, captain!~«, als ob das alles völlig in Ordnung wäre. Zu eignem Gebrauch zitierte ich damals zum erstenmal Goethes inhaltsschwere Worte: »Dem Phlegma gehört die Welt.« Wie oft ich sie in den nächsten dreißig Jahren zitiert habe, weiß ich nicht. Es ist ein nützlicher Satz des großen, alten Herrn für jeden kleinen, jungen, der in die weite Welt hinausstürmt, ohne zu wissen, wohin. Mit dem Gefühl behaglicher Geborgenheit hatte ich jetzt Zeit, mich umzusehen. Zunächst, bescheiden, wie ich war, suchte ich nach der zweiten Kajüte, fand ihren Geruch nicht nach meinem Geschmack, verbarg aber trotzdem, wie ich es andre tun sah, meinen Koffer vorläufig in einer der schmalen Bettstellen, die, zwei Stockwerke hoch, entlang den Kajütenwänden liefen. Hierauf fragte ich ohne Erfolg nach dem Kassier. Daß ein Schiffskassier Purser heißt, wußte ich damals noch nicht. Auch ohne dieses Hindernis verstand man mein bestes, seit vier Jahren wohlabgelagertes Schulenglisch sichtlich höchst mangelhaft und ließ mich stehen. Dann lief ich natürlich nach den Maschinen und versuchte voll Wissensdrang in den Maschinenraum hinabzuklettern. Ein mürrisches Gebrüll veranlaßte mich zu beschleunigtem Rückzug. Aber es war auch von oben ein erhebender Anblick: die mächtigen Kurbeln und Kurbelstangen, die blinkenden Lager, die kurzen, trutzigen Cylinder, die wuchtigen Gelenke der übrigens sehr unwissenschaftlichen Steuerung. Steuerungen waren von der Schule her mein Steckenpferd; je komplizierter, um so besser. Und als sich das alles zu regen anfing, die riesigen Massen lautlos hin und her schaukelten, das ganze mächtige Schiff zitternd zu leben begann und es draußen rauschte und sprudelte, da vergaß ich, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem ich dem Lande meiner Väter, wer weiß auf wie lange, wer weiß ob für immer, den Rücken kehrte. In der geistigen Welt, die eine große Maschine umgibt, kann man, wie in jeder andern, versinken. Als ich wieder auftauchte, waren wir in der Mitte der Schelde und schwammen feierlich den großen Strom hinunter dem Meere zu. Ich hatte keine Lust, Schiffsfreundschaften anzuknüpfen. Alles um mich her war so neu, so interessant, daß es mich völlig gefangen nahm: der schimmernde, sonnige Strom, der frische Nordwest, der uns von der fernen See entgegenbläst; jetzt ein Dreimaster mit ausgespannten Segeln, der aus Westindien kommt und zierlich wie ein Schwan an uns vorübergleitet, ein Dampfer, schwärzer als der unsre, mit Kohlen aus Cardiff; kleine Schoner und Fischerboote, die wir hinter uns lassen, andre, die in gefährlicher Nähe an uns vorübersegeln. Dann die flachen, grünen Ufer, hinter deren Dämmen die roten Hausdächer und die Turmspitzen holländischer Städte kaum hervorragen. Auf den Dämmen erscheint hie und da eine Herde schwarz-weißer Holländer Rinder, die neugierig nach unserm Dampfer sehen. Über all dem spannt sich der glänzende Himmel mit fliegenden Wölkchen, ein riesiger Dom in diesem flachen Lande voll eignen, sonnigen Lebens, das sich in seiner Frühlingsfreude regt und bewegt wie das plätschernde Wasser um uns her, und die stillvergnügte Erde hinter den Dämmen. Und da draußen muß es ja bald kommen, das große, ersehnte Meer, das ich heute zum erstenmal sehen soll. Drum bleibt es wahr: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt! Doch es wollte Abend werden. Ein purpurner Sonnenuntergang spiegelte sich in der gewaltigen Wasserfläche, deren Ufer rechts und links kaum mehr als dünne violette Streifen erschienen, die Himmel und Erde trennten. Ein Kellner, unempfänglich für das weltentrückende Bild und seine einsame Pracht, eine Schüssel Irish Stew in den Händen, benachrichtigte mich, daß das Abendessen in der Kajüte bereit stehe. Ich dankte ihm; ich zöge es vor, den wundervollen Abend zu genießen. Auch ein handlungsbeflissener Landsmann hatte mich entdeckt, der schon zweimal in England gewesen war und deshalb ein unwiderstehliches Bedürfnis empfand, seine Landsleute zu belehren. »Sagen Sie nicht ›Kellner‹; das nimmt der Mann übel,« mahnte er. »Die Kellner auf Schiffen, selbst auf deutschen, heißen Stewards. Nicht zu verwechseln mit der schottischen Königsfamilie, die längst verstorben ist. Man schreibt sie auch anders.« Ich wiederholte meine Erklärung, daß mich der Sonnenuntergang genügend sättige. Mein wackerer Lehrmeister zog mich jedoch gewaltsam nach der Kajütentreppe. »Genießen Sie etwas. Sie werden es wahrscheinlich heute nacht brauchen können,« sagte er mit einem vielsagenden, nicht harmlosen Lächeln. »Übrigens sagen Sie nicht ›Treppe‹.« Ich hatte überhaupt nichts gesagt und suchte dies festzustellen. »Sagen Sie nicht Treppe!« fuhr mein Mentor sehr entschieden fort. »Eine Schiffstreppe heißt Campanion. Wir blamieren uns sonst.« In dem niederen, düsteren Raum standen auf einer langen Tafel, die mit einem nicht übermäßig reinen Tischtuch gedeckt war, zwei mächtige Keulen kalten Fleisches, würdige Vertreterinnen der unübertroffenen englischen Rinder- und Schafzucht, Brote, Salzbutter, Pickles, Senf, alles, was ein einfaches Herz begehren konnte, in reichlicher Menge. Jedermann griff zu, die meisten mit einer scheuen, unruhigen Hast, wie wenn es die höchste Zeit wäre. Ein Steward schenkte den Leuten in mächtigen Tassen Tee ein. »Trinken wir eine Flasche Ale!« rief mein Landsmann. »Das verlangt schon die Höflichkeit; diese Bretter sind englischer Boden! Rule Britannia!« Eine eigentümliche Bewegung des Schiffes unterbrach ihn. Die Hängelampen neigten sich höflich nach links zu mir herüber. Die Beefkeule machte eine kaum merkliche, gespenstige Bewegung auf ihrer Platte. Die Teelöffel zitterten hörbar, und der Tee in jeder Tasse kam nachdenklich an den Rand, besann sich eines besseren, da er keine Lippen fand, und schien verstimmt sein altes Niveau aufzusuchen. Dann war alles wieder wie zuvor; nur statt des dumpfen Gemurmels der Gäste war eine plötzliche Stille eingetreten. »Ich denke, wir sind draußen!« sagte endlich mein Landsmann erbleichend. »Nehmen Sie nicht noch einen Cognac? Brandy heißt man das an Bord-Schip.« Das »Noch« machte einen eigentümlichen Eindruck. War es wirklich so schlimm -- eine Art Abschied aus dem Diesseits? Nein, ich wollte keinen Brandy. Aber ich mußte sehen, wie es aussieht, wenn man »draußen« ist, und brauchte Luft. Die Atmosphäre in der Kajüte konnte jedes weitere Nachtessen ersetzen. Und jetzt machte alles um uns her eine zweite Bewegung, die Lampen, die Teetassen, selbst die Schafskeule; alles noch voller Höflichkeit, die nur das klappernde Umfallen eines Porzellanbeckens im dunkelsten Hintergrunde in unschicklicher Weise unterbrach. »Ich denke, wir sind draußen,« sagten zwei weitere Herren gleichzeitig, wie auf einem guten Theater; »und eine glatte Überfahrt gibt's heute nicht,« fügte der eine kleinlaut hinzu. »Ich habe immer das Glück!« jammerte ein vierter, ohne eine Spur von Fassung zu verraten, stand auf, kroch in die nächste Bettstelle, drückte den Kopf in die Kissen, die er verzweiflungsvoll über die Ohren stülpte, und zeigte der Gesellschaft rücksichtslos den breiten Rücken, über den von Zeit zu Zeit ein sichtbares Zucken lief: ein Bild von »Leides Ahnung«, die Schumann bekanntlich um jene Zeit so ergreifend in Musik gesetzt hat. Ich hatte glücklich die Kajütentreppe erreicht, ehe die Lampen ihre nachgerade zudringlichen Höflichkeitsbezeigungen wiederholen konnten, und arbeitete mich am Geländer hinauf in die frische Luft. Das Klappern eines zweiten Porzellanbeckens tönte mir von unten nach, mahnend, drohend. Aber ich war oben. Ein scharfer Wind blies mir ins Gesicht. Die Sonne war untergegangen. Einsam und schwarz lag die weite Meeresfläche vor uns, besät mit weißen Flöckchen: den Wellenkämmen, die uns die dumpfbrausende Nacht rastlos entgegenjagte. An der Spitze des Schiffes tauchte das kurze Bugspriet auf und nieder, bald über die dunkle Horizontlinie sich in den lichteren Himmel hinaufbäumend, bald unter derselben in tiefem Dunkel versinkend. Manchmal hörte man von dort einen schweren, dumpfen Schlag, wenn das Schiff eine große Welle spaltete. Dann spritzte das Wasser über die Brüstung, weiß in lustigem Aufbrausen, als ob drunten in dem schwarzen Gischte ein grober Triton seinen Witz mit uns treiben wollte. Zuweilen aber kam es auch ernsthafter, wenn der Kobold ein paar Tonnen soliden Wassers über das ächzende Geländer warf, die dann mit rasender Geschwindigkeit auf dem Deckboden hinjagten, so daß achtbare ältere Herren erster Klasse, die sich zu uns herübergewagt hatten, in unziemlichen Sprüngen Rettung suchten. Doch sah das Ganze eher ernstlich und feierlich, als wild und gefährlich aus. Wir hätten keinen Sturm -- weit entfernt! lachte ein deutscher Matrose, bei dem ich mich erkundigte. Nur eine steife Brise, die uns in die Zähne blies. So also zieht man in die Welt hinaus, dachte ich und klammerte mich an die Brüstung auf der weniger feuchten Seite des Schiffs. In Gottes Namen! Etwas bedenklich darf es den Würmchen doch wohl vorkommen, hoffe ich, die der Trockenheit bedürfen und fast hilflos in diesem Urweltselement herumplätschern. Aber bange machen gilt nicht. Es sieht schließlich nur so aus. Sind wir doch dazu da, die Erde zu beherrschen und die Meere zu zähmen, und tun es mit leidlichem Erfolg; jeder in dem Schiffchen, in das ihn der Herr der Welt gesetzt hat. Bin ich nicht wie ein andrer Mann? Und das herrliche Bild bekommen wir noch drein in den Kauf: die blauschwarze Nacht, die grauschwarze, weißgefleckte See mit ihrem gespenstigen Leben, das einförmige Brausen der Räder, die dumpfen Wasserschläge am Bug, das fühlbare Zittern, das durch den Riesenleib des Schiffes läuft in seinem rastlosen Kampf mit den Elementen. Es war herrlich; aber es dauerte nicht allzulange. Auf und ab, auf und ab stieg und senkte sich das brave Schiff, emsig seinen Weg durch die entgegenstürzenden Wogen brechend, ohne sich aufzuregen, ohne zu stocken, gleichgültig für alles, was hinter uns lag; vorwärts! Auf und ab, auf und ab. »Das nennt man auf deutsch ›stampfen‹,« meinte mein kaufmännischer Landsmann, der kreidebleich auf mich zukam, ein geisterhaftes Lächeln auf den verzerrten Zügen. Sein lehrhafter Ton war völlig verschwunden, der Menschheit ganzer Jammer hatte ihn sichtlich ergriffen, aber die Macht der Gewohnheit ließ ihn noch nicht versinken. »Jetzt fängt das Schiff auch an zu rollen. Wir bekommen voraussichtlich Seitenwind -- Südwest, wenn wir noch etwas weiter draußen sind. Rollen nennt man« -- er unterbrach sich selbst mit erschreckender Plötzlichkeit. »Ich -- ich -- nehme noch einen Cognac -- gehen Sie mit?« Die Einladung erstarb auf dem Weg. Eine heftige Bewegung des Bootes schoß ihn in der gewünschten Richtung nach der Kajütentreppe, und polternd, mit etwas Seewasser, die Treppe hinunter. Ich sah ihn nicht wieder. So, dies nennt man rollen, dachte ich mit dem Rest von Vergnügen, dessen ich noch fähig war. Es war nicht viel. Auch ich begann die Macht des großen Ozeans zu fühlen, der, man kann die Bemerkung kaum unterdrücken, sich in dieser Hinsicht gegen uns etwas kleinlich benimmt. Liegend soll der Widerstand länger möglich sein, hatte ich wiederholt gelesen, und auch der Tapferste kann mit Ehren der Übermacht weichen. Die nächste Sturzwelle schwemmte auch mich in die Kajüte hinunter. Vier Hängelampen, wild hin und her schaukelnd, erhellten mit trübem Licht den Tartarus. Stöhnen, Schluchzen, manchmal ein Schrei nach dem Steward, von Unglücklichen, die in großer Eile zu sein schienen, geheimnisvolles Porzellangeklapper, Laute, wie sie sonst auf der Erde nicht gehört werden, kamen aus dem dunstigen, säuerlichen Halbdunkel. Dann wohl auch ein kurzes Aufseufzen der Erleichterung -- ach, wie kurz -- und gleich darauf röchelnde Versuche, Unmögliches zu leisten. Manchmal entrang sich wohl auch ein allgemein verständliches: »O Gott! o Gott!« einer gepreßten Seele oder ein zorniges: »Sind Sie doch endlich still da droben! Ich will schlafen!« und dann die Antwort: »Sie haben gut schimpfen, mit Ihrem Rhinocerosmagen!«, und die Fortsetzung ein unartikulierter, sachlicher Protest. Mit der letzten Anstrengung meiner Kräfte war es mir gelungen, in meine Koje zu kriechen und mein Handgepäck hinauszuwerfen. Dasselbe fiel zermalmend einem dicken Herrn auf den Rücken, welcher zum Glück nicht mehr fähig war, sich zu wehren. Dann drückte ich den Kopf in die hinterste, finsterste Ecke meines Lagers, hielt mich krampfhaft an einem rätselhaften eisernen Ring, der aus der Schiffswand bequem in mein Bett hereinragte, und stemmte die Kniee gegen die Kajütendecke, so daß ich, nach allen Seiten wohl versteift, das Auf und Ab, Auf und Ab des wackeren Schiffes halb besinnungslos mitmachen konnte. So konnte man das Weltende oder was sonst noch kommen mochte, mit einiger Zuversicht erwarten. Später fühlte ich, daß jemand murrend an mir herumzerrte. Ich widerstand ohne Zorn, halb im Glauben, daß es nur eine neue Art von Schiffsbewegung sei, die mich zu ergreifen versuchte. Dabei schien das Schiff wirklich zu schimpfen, buchstäblich zu schimpfen, und noch dazu auf englisch. Ich verstand einiges. »~These blessed Dutchmen!~« begrüßte es mich; es sei eine Schande, mit den Stiefeln in ein so feines Bett zu liegen! Dann machte es ungeschickte Versuche, mir die Stiefel auszuziehen. Es ging nicht. Das hatte ich mir wohl gedacht. Konnte es mich nicht in Ruh' lassen -- immer noch nicht? Es fragte verdrießlich nach meiner Fahrkarte und suchte, meine Unfähigkeit begreifend, in meinen Westentaschen. Ich ließ es machen. Es wird schon nichts finden, dachte ich. Und so war es auch. Endlich entfernte es sich murrend, dumpf rauschend. Vielleicht war es doch nicht das Schiff gewesen. Das ging wieder auf und ab, auf und ab, als ob es nie etwas andres getan hätte, und so fortmachen wollte -- auf und ab, auf und ab -- in alle Ewigkeit. * * * * * Als ich zur Besinnung kam, dämmerte eine neblige, fröstelnde Helle um mich her. Die vier Lampen hingen schein- und regungslos von der Decke. Ein freudiger Schreck fuhr durch mein zermalmtes Inneres. Ist es möglich? haben wir -- haben einige von uns diese Nacht überlebt? Ruhig und gemessen rauschten draußen die Räder des Dampfers. Hier innen herrschte tiefe, feierliche Stille. Alles schlief. Ein friedlicher Morgen drückte seine segnende Hand auf die Schrecken der Finsternis, die hinter uns lag. Die übriggebliebenen Menschenreste schlummerten glücklich einem neuen Leben entgegen. Wir waren in der Themse. Die Stewards räumten ab und deckten die Tische für das Frühstück. Einen von außen Kommenden hätte allerdings die Atmosphäre hierzu kaum eingeladen. Wir waren zum Glück daran gewöhnt; sie war sozusagen unser Eigentum; und eine unendliche Leere erfüllte Herz und Magen. Stillvergnügt, mit halbgeschlossenen Augen sah ich die Rindskeule von gestern und den kalten Hammelsbraten aufmarschieren und die lange Reihe der Teetassen ihre Löffelchen präsentieren. Schon damals sah man es ihnen an, daß der Obersteward ein Preuße war: alles hübsch in Reih' und Glied. Dann sprang ich aus dem obersten Stockwerk, in dem ich gehaust hatte, und nahm beinahe den Kopf meines Untermanns mit, der sich eben erkundigen wollte, ob er denn auch noch lebe. In der Erwartung baldiger Trinkgelder fragten die Stewards aufmunternd nach unserm Befinden und brachten den schwächeren Leidensbrüdern die dampfenden Teetassen nach den Betten. Es war ein köstliches Getränke unter obwaltenden Umständen. Alles lächelte. Jeder suchte damit anzudeuten, daß die andern sich doch noch weit erbärmlicher aufgeführt hätten und sich heute in guter Gesellschaft kaum sehen lassen könnten. Doch schien es ein stillschweigendes Übereinkommen, gesprächsweise auf Einzelheiten nicht einzugehen. Nachdem man sich in dieser Art auch moralisch rehabilitiert hatte, ging es eilig aufs Deck. Das also war England, der Hort der Freiheit, der Kern der größten Weltmacht unsrer Zeit, das Ideal der jungen Maschinentechniker aller Welt. Es war ein herrlicher Morgen nach englischen Begriffen, wie ich sie später kennen lernte. Es schneite nicht, es regnete nicht, und man sah nichts. Grau in Grau lag Wasser und Land vor uns: stahlgrau, silbergrau, blau-, grün- und braungrau, alles merkwürdig fern und groß und wunderbar zart, das gespenstige Bild einer kaum irdischen Welt, über welcher eine verschwommene, rundliche Lichtquelle zu schweben schien, an der Stelle, wo in andern Ländern zu dieser Tages- und Jahreszeit die Sonne steht. Glatt und munter schwammen wir mit der steigenden Flut den Strom hinauf. Dampfer plätscherten in weiter Ferne, ehe sie aus dem Nebel heraustraten und, selbst Nebelbilder, an uns vorbeiglitten. Himmelhohe Segelschiffe, alle Segel ausgespannt, traten plötzlich still und feierlich, wie Gespenster, aus dem Silbergrau heraus, schwebten lautlos vorüber und waren verschwunden, ehe man sich zweimal umsah. Am Ufer zeigten sich jetzt nackte Masten, wie entnadelte Tannenwälder, formlose Wesen mit Sparren und Stangen nach allen Richtungen. Dann hörte man ein leises, dumpfes Brausen, das langsam anschwoll und alles in geheimnisvoller Weise durchdrang, selbst das laute Rauschen unsrer Räder; dazwischen manchmal einen scharfen Knall, einen Pfiff, ein lautes Gepolter, weitschallende Rufe von Schiffern aus unsichtbaren Fischerbooten. Alles kühl und feucht und fröstelnd. Bald aber kamen deutlichere Umrisse von Häusern, riesige, schwerfällige Vierecke, himmelhohe Schornsteine. Das Brausen wurde lauter und schwoll zum dumpfen, unablässigen Brüllen der erwachenden Millionenstadt. Jetzt zeigte sich eine bekannte Form über den zackigen Umrissen unzähliger Schornsteine, wie ein alter, guter Freund: der Tower mit seinen vier Ecktürmchen. Den kannte und liebte ich ja schon seit meinem sechsten Jahr, in einem übel zerrissenen ~Orbis pictus~. Und gleich darauf sperrte uns in dem immer glänzender werdenden Nebel eine gewaltige Geisterbrücke den Weg, welche die glasartig spiegelnde Wasserfläche begrenzte: Londonbridge. Unser Dampfer machte jetzt unruhige, stockende Bewegungen. Mächtige Schiffe wimmeln um uns her, durch die er sich durcharbeiten muß. Scharfe Kommandoworte, Pfeifen und Schreien scheint hierzu nötig zu sein. Alles drängt sich aufs Deck; Koffer und Mantelsäcke, Kinder und Frauen. Der Kampf ums Dasein erwacht rücksichtslos unter Menschen und Dingen. Ein halbes Dutzend Matrosen drängt sich nach dem einen Radkasten durch. Sie schieben die Landungsbrücke zurecht. Das dröhnende Brausen der Riesenstadt lastet betäubend auf den Ohren. Erdrückende, wirre Häusermassen hängen über uns herein, feindlich, drohend. Jetzt heult unsre Dampfpfeife ein ohrenzerreißendes Geheul. Jemand, der halb verrückt sein muß, läutet auf einem benachbarten Schiff eine Glocke, als wollte er den jüngsten Tag einläuten. Unsre Maschine hält still. Zischend und speiend fährt der überschüssige Dampf durch das Rohr am Schornstein, das zitternd wie eine Orgelpfeife im tiefsten Baß in den Lärm einstimmt. Die Landungsbrücke fällt ans Ufer. Wie Schafe, die den Kopf verloren, drängt sich alles zwischen die Geländer des engen Stegs. Wehe dem Regenschirm, der quer zwischen die aufgeregten Beine der sich bildenden Seeschlange aus Menschenleibern gerät. Ich selbst stak mitten in dem sich langsam durchtrichternden Knäuel und riß an meinem Koffer, der zwischen den Knieen eines Herrn stak, welcher hinter mir drei Kinder zusammenzuhalten suchte. So ging's über die Brücke. »Aber ums Himmels willen, wo bezahlt man denn?« rief ich in wirklicher Seelennot. »Ich habe ja noch nicht bezahlt!« Die Leute starrten mich an, große Fragezeichen in den Gesichtern. Zum Glück verstand mich niemand. Ich spürte jetzt festen Boden unter den Füßen. Alles rannte durch die finstern Gebäude und schwarzen Höfe der Katharinendocks in die Lower-Thames-Straße hinaus, nach Fiakern schreiend, nach Gepäckträgern, nach Gepäck, nach Weib und Kind. Einen Augenblick lang lag mein Koffer auf einem Tisch, der das Zollamt vorstellte; ich suchte nach meinen Schlüsseln. Im nächsten hatte ihn ein Mann ergriffen, auf die Schulter geschleudert und rannte davon. Ich sah, schon ziemlich in der Ferne, das teure, wohlbekannte gelbe Leder über den Köpfen der Menge manchmal auftauchen. Das ging denn doch über den Spaß: mein ganzes Hab' und Gut! Ich rannte ihm nach; natürlich. Draußen, im Getümmel einer engen, düsteren Straße, in der das Fuhrwerk ineinandergriff wie die Zähne eines Uhrwerks, stand mein Mann neben einem Handsome, auf dessen Dach sich bereits mein Koffer befand, als ob er dort zu Hause wäre. Es blieb keine Zeit, mich zu besinnen. Das Maul eines Pferdes stieß mir an den Hinterkopf. Der Mann streckte mir eine riesige Hand entgegen. Ich legte einen Franken hinein, in der bangen Erwartung einer schwer durchzuführenden Diskussion über die fremde Münze und von etwas Kleingeld englischen Geprägs. Aber ich wurde angenehm enttäuscht. Mit einem gutmütigen Nicken, halb Herablassung, halb Zufriedenheit andeutend, war der Mann verschwunden, ohne seine Ruhe, ohne eine Sekunde seiner Zeit zu verlieren. Einige Augenblicke später sah ich ihn noch einmal, unter einer riesigen schwarzen Kiste, von zwei Damen verfolgt, die laut schreiend ihre Regenschirme in der Luft schwangen. Staunend nahm ich in dem ersten Handsome Platz, das ich in meinem Leben sah. Eine wunderbare Maschine, deren sinnige Konstruktion mir erst nach Wochen einleuchtete. Durch ein Loch in der Decke schien mein Kutscher herunterzuschreien: wo ich hin wolle. Kaum hatte ich Zeit, in meinem besten Gymnasialenglisch »~Middleton square, Islington~« zu rufen, als der Deckel, mit dem das Loch geschlossen werden kann, wieder zuflog und sich mein Pferd, scheinbar führerlos -- denn der Führer sitzt hinter mir, in einem Kistchen auf dem Dach des Fahrzeuges -- ruhig trabend in dem reißenden Strom von Karren und Wagen, Pferden und Menschen verlor. Seitdem die Landungsbrücke des Dampfers ausgeworfen worden war, konnten kaum fünf Minuten vergangen sein. Welcher Reichtum an Erlebnissen und Eindrücken in dieser Spanne Zeit; welches Volk, mit seinem »Zeit ist Geld!« -- Die Straßen wurden etwas freier, das Getümmel etwas weniger betäubend. Ich war in England, mitten im Lande, dem Norden zutreibend, als verstehe sich all das ganz von selbst. Aber -- gütiger Himmel! Ich wollte ja meine Überfahrt erst bezahlen! »~Cabman -- Cabman!~ Kutscher! Fiaker!« -- Ich stieß den Deckel in meinem Dach wieder auf und begann zu explizieren. Der Mann schüttelte seine ziegelrote Nase herein -- das einzige, was ich von ihm sehen konnte -- und fuhr ruhig weiter nach Norden, immer nach Norden, endlose Straßen hinter sich lassend, die nach und nach immer stiller wurden. Es war gut, daß ich einen Kompaß bei mir hatte. Jetzt bogen wir um die dreißigste Ecke, ungefähr. Anfänglich hatte ich im Gewirr der unteren City die Ecken gezählt, aber auch diesen schwachen Faden bald verloren. Eine grüne, viereckige Oase öffnete sich jetzt vor uns, mit einer kleinen gotischen Kirche in der Mitte, ernst, still, vielleicht etwas pedantisch, ein klein wenig langweilig dreinsehend, aber sauber und sonnig, umgeben von vier Mauern, Häuser vorstellend, die sich glichen wie ein Ei dem andern. Jedes hatte das gleiche eiserne Gitter, das es vom Square trennte, die gleiche, blanke Sandsteintreppe, den gleichen glänzenden Klopfring an der braunpolierten Haustüre. Es tat dem Auge ordentlich weh, daß nicht auch die metallenen Hausnummern die gleichen waren. Der Cabman sprang von seinem lustigen Sitze herunter und schlug drei donnernde Schläge gegen ein sorgfältig verschlossenes Tor. Keine fünf Sekunden vergingen, ehe ein liebliches blondes Wesen, mit einem wahren Engelskopf und einem kleinen, flachen Spitzenteller darauf, vorsichtig öffnete und mich mit einem ermutigenden Lächeln begrüßte. Sie sah sofort, daß dies besser war, als mich in ein englisches Zwiegespräch zu verwickeln; nahm meinen Koffer, bezahlte den Cabman, der etwas brummte, denn er hätte sich lieber mit mir direkt verständigt, schob mich durch die Haustüre, klappte sie scharf zu und legte eine Kette davor. »Missis Bitters Boardinghaus?« sagte ich endlich, mit einem Fragezeichen. Es ging mir doch fast etwas zu sehr wie meinem Koffer in den Katharinendocks. »~Yes, Sir!~« sagte der Engel mit dem Spitzenteller. Missis Bitters Adresse hatte mir mein Schwager gegeben, der vor zehn Jahren in diesem Hause gewohnt hatte, um die kirchlichen Verhältnisse Englands zu studieren. Er hatte seiner alten, verehrten Freundin gleichzeitig geschrieben, daß ich möglicherweise eines Tages eintreffen werde. Sie selbst stand jetzt unter der Salontüre, den Fremdling freudig, wenn auch etwas gemessen begrüßend: eine würdige, muntere, fünfzigjährige Dame, wie mir schien. Sie war zweiundsiebzig, und ich war vorläufig geborgen. * * * * * Ein unbeschreiblich stiller Sonntag brachte meine erregten Nerven zur Ruhe, wenigstens äußerlich. Im Innern brauste noch immer die See, die Häuser im Square schwankten ein wenig, wenn ich sie nicht scharf ansah, und ein nagender Gedanke wollte sich nicht verscheuchen lassen. Ich hatte meine Überfahrt noch immer nicht bezahlt! Die Entfernung des stillen Middletonsquares vom Meer, vom »Nordischen Walfisch«, von dem tollen Treiben an der Themse schien mit jeder Stunde um hundert Meilen zu wachsen und damit die Möglichkeit, mein schuldbeladenes Gewissen von seinem Alp zu befreien. Wenn es mir nun recht schlecht ginge in diesem unbegreiflichen Land, mußte ich nicht fortwährend denken: geschieht dir ganz recht! Ein Mensch, der nicht einmal seine Überfahrt bezahlt hat! Vielleicht war ich, wie Missis Bitter, jünger, als ich aussah; denn ich konnte das kindische Gefühl nicht los werden. Nachmittags ging ich sechs- bis achtmal um die gotische Kirche herum spazieren und besah mir die vier Spitzen des trutzigen Turms von allen Seiten. Das englische Glockengeläute, ein regelmäßiges Anschlagen von drei glockenhellen Tönen -- Prim, Quint, Terz, Prim, Quint, Terz --, das dreißig Minuten lang fortdauert und dann wieder von neuem beginnt, kann den hartgesottensten Sünder mürbe machen. Es wurde gegen Abend auch mit mir schlimmer. Ich schüttete endlich der mütterlichen Freundin meines Schwagers das ganze Herz aus; sie schien sofort bereit, auch mir Mutter zu werden, und richtete mich mit heiteren Trostesworten auf, soweit ich sie verstand. Das sei ganz einfach! Ich könnte ja morgen meinen ersten Ausflug nach der Unteren Themse-Straße machen, das Bureau der Antwerpener Dampfer aufsuchen und alles regeln. So konnte ich mein englisches Leben wenigstens als ehrlicher Mensch beginnen. Ich schlief meine erste Nacht auf englischem Boden, in einem Riesenbett, getröstet, wie ein Sack. Als wackerer junger Deutscher kaufte ich mir am frühen Morgen einen Stadtplan und machte mich zu Fuß auf den Weg nach den Katharinendocks. Solange ich niemand zu fragen brauchte, ging alles vortrefflich. Die end- und zahllosen Straßen wurden wieder enger, der Lärm lauter, das Gedränge dichter. Gegen zehn Uhr erreichte ich den Platz vor der »Bank«. Hier, wenn irgendwo, ist der Mittelpunkt der Welt dieses Jahrhunderts. Man spürt es ordentlich. Staunend, halbbetäubt betrachtete ich das wirre Bild: ein Kaleidoskop, von einer Riesenmaschine gedreht, mit rennenden Menschen aus allen Weltteilen statt der übereinanderstürzenden farbigen Steinchen. Und jeder schien genau zu wissen, was er wollte, und rücksichtslos drauf loszugehen. Aber auch ich durfte mich nicht aufhalten. Es waren wohl genug Taschendiebe und sicher auch andere Spitzbuben in diesem brausenden Gedränge. Ich mußte mich beeilen, wieder ein ehrlicher Mensch zu werden. Der Weg dazu ging durch Cornhill nach Osten. Ohne es zu ahnen, ging ich dort an einem Hause vorüber, in dem ich später zwanzig Jahre lang den größeren Teil meiner Arbeit und ein Stückchen meines Glücks finden sollte. Wer wohl die blinden Passagiere alle führt, die in diesem Millionengewimmel umherirren. Auch keine kleine Arbeit, das! Jetzt wurde das Gedränge schmutziger. Der Themsenebel hing hier noch in den Straßen, und die riesigen Warenhäuser mit ihren Schätzen aus Ceylon und Cuba, aus Hongkong und Callao neigten sich schwarz und schwermütig gegeneinander; düstere Geldprotzen, die stillbrütend der Welt Arbeit geben und Bewegung. Wer weiß, vielleicht auch mir, dachte ich, und sah sie etwas scheu an. Sie gefielen mir nur halb. Nun war's mit dem Stadtplan zu Ende. Dort gähnte mir das schwarze Loch entgegen, durch das ich gestern meinen Einzug in England gehalten hatte. Ich mußte fragen. Ein hastig vorbei rennender Handlungsgehilfe hatte keine Zeit, zu antworten. Ein vierschrötiger, gutartiger Packträger rief zwei andre herbei. Zu dritt berieten sie, in welcher Sprache ich mit ihnen zu verkehren versuche. Und es war mein bestes Gymnasialenglisch, »~made in Germany~«, eine allerdings damals noch nicht übliche Bezeichnung! Die Verhältnisse wurden mehr und mehr hoffnungslos, bis uns ein deutscher Indigo-Agent mit einem riesigen Notizbuch und prächtig blauen Fingern aus einem Kellerloch heraus zu Hilfe kam. Es ergab sich, daß ich nur drei Häuser von dem Bureau entfernt war, das ich suchte: dort, gegenüber der Trinkstube mit der roten Laterne über der Türe. Das schwarzbraune Haus, dessen blauschwarze Fenster nie einen Lichtstrahl aufgefangen zu haben schienen, war ein Labyrinth von Gängen und engen Treppen. Überall brannte Gas; es wäre sonst nicht bewohnbar gewesen. Zahllose Türen und Türchen gingen auf die Gänge und waren in alle Winkel eingebaut. Auf jeder stand auf Milchglas, in schwarzen, schmucklosen Buchstaben, der Name einer Firma, einer Gesellschaft, eines Unternehmens in fernen Ländern -- Nevada, Singapore, Neufundland, Mexiko, Sidney, Kairo, Valparaiso -- alles, was die glühende Sonne beschien, schien in dem schwarzen Loch zu hausen. In einer Ecke des ersten Stocks fand ich meine Antwerpener Freunde. Es war mir, als fände ich alte, liebe Bekannte. Ich trat ohne weiteres ein, da die Türe fortwährend auf und zu ging. Eine mit Schaltern versehene Glaswand trennte einen langen, schmalen Streifen des niederen Saales ab und schied die Besucher von den Beamten, die hinter den Glasscheiben hausten. Aus dem ersten offenen Schiebfenster winkte mir jemand. Was ich wolle? Ich begann zu erklären. Nach ein paar Worten, die ich mutig und erfolgreich zusammengestellt hatte, unterbrach er mich. »Sie brauchen den Kassier! Dritter Schalter, rechts!« Wie der Mensch das wissen konnte? Ich war ja noch gar nicht so weit in meiner Erklärung. Aber er war fertig mit mir und sprach schon mit meinem Hintermann in jenen fürchterlichen, endlosen Worten, die mir in diesen ersten Tagen so viel Sorge machten und von denen jedes, wie sich später herausstellte, einen ganzen Satz bedeutete. Wie soll man aber wissen, wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt, wenn man sie nicht gedruckt sieht? Ich übersetzte bereits am dritten Schalter rechts mit Anspannung aller Geisteskräfte und möchte gerne für den Gebrauch späterer blinder Passagiere das Gespräch mit dem alten Kassier, der mich mit verwirrender Aufmerksamkeit anstarrte, wörtlich wiedergeben. Allein ich fühle mich, angesichts einer großen literarischen Schwierigkeit, fast ratlos. Meinen deutschen Bericht mit englischen Bruchstücken -- und was für Bruchstücken! -- zu schmücken, ist geschmacklos. Auch würden sie auf den deutschen Leser nicht entfernt den Eindruck machen, der das mürrische Gesicht des Kassiers nach und nach erheiterte. Am nächsten komme ich wohl meinem Ziele, wenn ich unser beiderseitiges Englisch möglichst wörtlich und wahrheitsgetreu in mein geliebtes Deutsch übertrage. »Ich komme,« begann ich, »ich tue kommen, bezahlen wollend ein Billet Antwerpen-London, dasselbige nicht bezahlt habend für das Überfahrt am Samstag.« Dies schien mir ziemlich gut, namentlich hatte ich das Gefühl, gewisse charakteristische Sprachfeinheiten mit großem Erfolg angebracht zu haben. »Was wünschen Sie?« fragte der Kassier brüsk, wie wenn er keine Zeit hätte, Sprachfeinheiten zu würdigen. »Ich tue wünschen, bezahlt zu haben ein Billet Antwerpen-London, dasselbige nicht habend gekauft zu rechter Zeit und dennoch mich befindend in England, unbezahlt. Samstag -- Nordischer Walfisch --« fügte ich noch erklärend bei, ohne weitere Satzbildungen zu versuchen. Dies war doch, sollte ich meinen, deutlich. Aber, anstatt mich zu verstehen, fing der alte Herr an, die Geduld zu verlieren. Wahrscheinlich war er kein Engländer. »Antwerpen-London -- Billet bezahlen!« rief ich meinerseits laut und etwas ärgerlich. Es war unangenehm, wenn man sein möglichstes tut, als ehrlicher Mensch zu handeln, auf solch erschwerende Hindernisse zu stoßen. »Aha,« rief der Kassier jetzt erfreut. »Welche Klasse?« »Zweite Klasse!« antwortete ich, ebenfalls zur Versöhnung die Hand bietend. »Sechzehn Schilling, sechs Pence!« sagte er in geschäftsmäßigem Singsang, stempelte mit einem Knall ein Billet und warf es durch den Schalter. In großgedruckten Lettern stand auf dem roten Papierstreifen: London nach Antwerpen. Zweite Klasse. »Nein, nein, nein!« rief ich entsetzt. »Ich wollen nicht London nach Antwerpen, ich wollen bezahlen Antwerpen nach London. Ich wollen nur bezahlen, ich wollen nicht reisen; habend schon gereist vom Kontinent nach England. Bezahlen! Antwerpen nach London. Verstehen Sie?« »Aber der Kuckuck, Sie sind ja in London!« Er sah mich besorgt an. Es ging ihm ein Licht auf: mit mir war es offenbar nicht ganz richtig. »Das der Fehler, mein Herr!« sagte ich, mich innerlich zur Ruhe ermahnend. »Ich in London, habend nichts bezahlt am andern Ende, und wünschen zu bezahlen Passage, Überfahrt. Verstehen Sie? Antwerpen, London!« Er streckte jetzt den Kopf aus dem Schalter, um mich deutlicher zu sehen. Solche Leute waren ihm noch nie vorgekommen. Er hatte sichtlich begriffen und wurde freundlich. »Na nu!« sagte ich fast schmeichelnd, indem ich einundzwanzig Franken auf das Zahlbrett legte. »Ja, lieber Freund,« sagte er nach einer langen Pause, in der er mich vollständig eingesogen hatte, langsam und sichtlich bemüht, verstanden zu werden. »Wir verkaufen hier keine Billette für die Fahrt von Antwerpen nach London. Da müssen Sie wieder nach Antwerpen fahren, und ich glaube, es wäre für Sie das beste. Oder wenn Sie mit dem Kapitän des Schiffes sprechen wollten; vielleicht nimmt der Ihr Geld. Hier können wir's nicht brauchen.« »Aber der Teufel! Wo finde ich den Kapitän in dieser großen Stadt?« rief ich erregt. »Sie brauchen nicht zu fluchen, wackerer, junger Mann,« antwortete der Kassier, sanft den Kopf schüttelnd; »Sie sind eine Merkwürdigkeit. Wenn ich Zeit hätte, würde ich Ihnen suchen helfen. Jack, wo ist Kapitän Brown?« »Er sitzt drüben im Goldenen Drachen!« piepste eine dünne Jungenstimme aus einer Ecke des Bureaus. »Haben Sie's gehört? Haben Sie verstanden? Drüben über der Straße, unmittelbar über der Straße! Im Goldenen Drachen. Brown wird Ihr Geld schon nehmen, wenn Sie ihm zusprechen. Adieu!« Ich dankte dem braven Herrn in unartikulierten Lauten und fand mich erfolgreich über die Straße in die düstere Schenkstube des Goldenen Drachens. Ein langer Schenktisch trennte auch sie in zwei Hälften. Auf der einen Seite, deren Hintergrund, halb Keller, halb Apotheke, mit einem phantastischen Aufbau von Fässern und Flaschen geziert war, befanden sich sechs elegant gekleidete Damen mit großartigen Chignons, die sich bemühten, vierundzwanzig weniger elegante Gäste auf der andern Seite feucht zu erhalten. Auch hier brannte Gas. Alles stand, alles schwatzte, lachte und trank; schwarze, braune und goldgelbe Biere, wunderliche Weine, heiße und kalte gebrannte Wasser aller Art, aus denen die Damen mit großer Behendigkeit dampfende Gemische brauten. Und alles war für mich neu, fremd, unheimlich. Hier galt es nun, Kapitän Brown zu finden, dessen Bild, wenn ich es je aufgefaßt hatte, mir in den Tiefen der Seekrankheit völlig entschwunden war. Ich beobachtete eine Zeitlang meine Umgebung und entdeckte nichts Ermutigendes; rote Nasen, triefende Augen, scheinbar halbbetrunkene Matrosen, ein paar ältere Damen von unzweifelhafter sozialer Stellung; aber auch einige anständig aussehende Herren, die hereinhuschten, rasch und stumm ein Glas leerten und wieder in den Mittagsnebel hinausstürzten. Meine Beobachtungen führten zu keinem Ergebnis. Es mußte etwas geschehen. Ich stellte mich an den Schenktisch, sah mich um, wie wenn ich die ganze Gesellschaft freihalten wollte, und rief laut: »Kapitän Brown! Kapitän Brown!« Mein Nachbar, ein kleiner, dicker Mann mit Riesenknöpfen an seiner Jacke, die aus dem Fell eines unbekannten wilden Tieres gemacht zu sein schien, drehte sich langsam um. »Ich bin Kapitän Brown. Was wollen Sie von mir?« Viktoria! Aber jetzt galt es wieder, sprachlich zu glänzen. Die ganze Schenke lauschte gespannt. »Ich bezahlen wollen Billet Antwerpen-London; sechzehn Schilling, sechs Pence!« begann ich entschlossen. »Zweite Klasse. Verstehen Sie?« »Ich bin nicht der Purser!« sagte der kleine Mann mit düster werdender Miene. »Da müssen Sie ins Bureau hinauf. Dort sitzt das Federvolk. Der dritte Schalter, rechts! Fragen Sie nach Mister Whitley.« »Aber ich tue kommen von Mister Whitley,« erklärte ich. »Ich tue wünschen sprechen mit Sie, Kapitän Brown, nicht habend bezahlt meine Passage.« Nach einer Viertelstunde harter Arbeit, an der sich der größere Teil der Gesellschaft beteiligte, verstanden wir uns; aber der Schweiß stand mir auf der Stirn. »~Well~,« sagte der Kapitän, »Sie sind eine Kuriosität. Wenn Sie mit Gewalt wollen: her mit dem Geld! Man muß die Ehrlichkeit bei diesen Ausländern ermutigen.« Er steckte meine einundzwanzig Franken mit wohlwollendem Lachen und unbesehen in die offene Tasche und schüttelte mir die Hand. »Was wollen Sie nehmen? Ein Glas Ale? Einen Sherry? Hallo, Jungen!« -- Der Kapitän schien plötzlich von Freunden umringt zu sein. -- »Was wollt Ihr nehmen? Brandy? Whisky? Ale, Porter, Stout? Jeder nach Belieben; ich bezahle. Wir trinken auf die Gesundheit dieses Gentleman; meines Freundes. Mister Dingsda. Wie heißen Sie?« Sie begrüßten mich alle freudig. Der Kapitän erzählte sechsmal hintereinander -- eine prächtige sprachliche Übung mit kostenlosen Repetitionen für mich -- wie er seinen neuen Freund gewonnen habe. Sie begrüßten mich aufs neue mit allen Zeichen wohlwollender Herablassung und erzählten sich untereinander, wie Kapitän Brown zu seinem neuen Freunde gekommen war. Die feinste der Damen hinter dem Schenktisch wechselte das Zwanzigfrankenstück in ehrliches englisches Geld um. Wer beim ersten Umtrunk Bier genommen hatte, nahm beim zweiten ein Glas Whisky und umgekehrt. Ich selbst wollte heute nicht schon wieder, und so früh am Tag, Ale trinken. Es war mir von Antwerpen her noch zu wohl in Erinnerung. Ich wählte Sherry. Es war ja ebenfalls ein nationales Getränke der Engländer, und die kleinen Weingläschen, die hierfür üblich sind, ließen ein Experiment leichter ausführen und gefahrloser erscheinen. Der Kapitän zahlte alles aus der Tasche, in der sich mein Überfahrtsgeld befand. Er duldete keine Einrede. »Also nochmals und zum Schluß, meine Herren,« rief er, »auf die Gesundheit dieses Gentleman. Ein ehrlicher, rarer Dutschman, oder was er sonst sein mag! Hipp, hipp, hurra!« Sie wollten mir offenbar alle Ehre antun. Wir tranken, wir schüttelten uns die Hände; es wurde fast eine Völkerverbrüderung daraus; selbst ein Chinese beteiligte sich schmunzelnd. Warum sollte ich mich sträuben? Sie meinten es sichtlich alle herzlich gut. Mein Sherry hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Ale, das mir noch von Antwerpen her in freundlicher Erinnerung lag. Es war nicht ganz dasselbe, aber merkwürdig ähnlich. Dann trennten wir uns. Der Kapitän begleitete mich bis unter die Türe und versicherte mich wiederholt seiner unbegrenzten Hochachtung. Ich hatte in dieser Stunde einen Freund fürs Leben gewonnen, was ich erst zwölf Jahre später an der Küste von Peru erfahren sollte. Vergnügt steuerte ich wieder dem stillen Middletonsquare zu. Meine erste englische Expedition war glänzend gelungen und erfüllte mich mit freudiger Hoffnung für die Zukunft. Auch hatte ich jetzt einen Lebensplan für die nächsten Wochen festgelegt. Ich wollte ruhig in der grünen Oase sitzen bleiben und zunächst mein Englisch etwas mehr den Verhältnissen anpassen, die mich hier umgaben. Drei Wochen konnten hierbei nicht wohl nutzlos vergeudet werden. Dann aber hinaus, in bitterem Ernst! Als ich in mein Zimmer trat, fand ich einen soeben angekommenen Brief auf dem Tisch. Von Belgien. Hat am Ende Cockerill in Seraing seinen Irrtum eingesehen und will mich nun mit Gewalt zurückholen? Zu spät, Verehrtester! ~Trop tard!~ um mich Ihnen verständlicher zu machen. Ich erbrach den etwas schmutzigen Umschlag. Keine kaufmännische Handschrift, wie sie die Leute von Seraing schreiben; auch kein ganz musterhaftes Französisch. Aber leserlich und deutlich genug. Es war ein Schreiben des Schwarzen Ankers aus Antwerpen. »Monsieur! Verzeihen Sie, daß wir uns beehren, Sie zu benachrichtigen. Sie haben am 4. April 1861 eine Flasche Englisch Ale bestellt und eine Flasche Sherry vertrunken. Vom feinsten Sherry, zu zehn Franken fünfzig Centimes die Flasche. Unsre Marie hat eine Verwechslung gemacht, und Sie haben den Irrtum getrunken. Dann sind Sie so schnell abgereist, ehe wir es bemerkt haben. Da Sie nicht wollen unglücklich machen unsre Marie, die die Flasche ersetzen muß, bitte ich den Herrn Baron, zu schicken la différence, nämlich neun Franken, dreißig Centimes. Um ferneren Zuspruch bittend ~Agréez, Monsieur, l'assurance de nos sentiments les plus distingués.~ ~Jean Pumperlaken~ ~garçon et chef de cuisine de l'ancre noire~ ~à Anvers.«~ Nun war mir manches klar: mein wachsender Mut, mein kühner Entschluß, mein stürmisches Abschiedslied, das bis zum heutigen Tag kein Mensch zu lesen vermochte. Und wenn ich heute, nach bald vierzig Jahren, zurückdenke an den Anfang meines Wanderlebens, an das wunderbare englische Bier und an den blinden Passagier von damals, so kann ich mich nicht enthalten -- und will's nicht --, noch eines andern Versleins zu gedenken, aus einer Zeit, die weiter zurückliegt, fast an der Schwelle meiner Kindheit. Es fängt mit den Worten an: »Weg' hast du allerwege« und ist wahr geblieben, bis ich wieder einlief im alten Hafen. Helene Böhlau. Die Ratsmädel gehen einem Spuk zu Leibe. Mit freundlicher Erlaubnis der Verfasserin und des Verlegers abgedruckt aus den »Ratsmädel- und Altweimarischen Geschichten« (Stuttgart: Engelhornsche Romanbibliothek, 13. Jahrgang Band 12). Die Ratsmädel gehen einem Spuk zu Leibe. Ich weiß noch so manches aus der Zeit, in der das kleine, nun längst wieder bescheidene Weimar ganz unvermutet anfing, mitten unter den tausend und abertausend europäischen Städten und Städtchen sich außerordentlich wichtig zu tun. Es mochte auch alles Recht dazu haben; denn es hatten sich in dem stillen Neste seltene Vögel eingenistet, Vögel, derengleichen vordem in Deutschland nicht gesehen worden waren, und die auch keine Jungen ihrer Art bekommen haben, so daß sie wirklich außerordentlich seltene Vögel geblieben sind, bis heutzutage. Von dieser Zeit habe ich schon mancherlei geschrieben, und es hat den Leuten vielleicht gefallen, weil es so ruhig hinerzählt war, allem Feierlichen, Schweren aus dem Wege ging, alles Leichtlebige beim Zipfel nahm. Ich will euch nun wieder aus den Gassen erzählen, aus den Bürgerstuben, aus den Gärten vor der Stadt, von jenen alten, gesegneten Gärten, und ich werde mich auch wieder vorsichtig, wie das erste Mal, an den großen Tieren vorbeidrücken und mich mit den Vergessenen, Verwehten abgeben. Die werde ich aus ihren Gräbern noch einmal in ihre alte weimarische Sonne locken, von der sie so gerne sich wieder bescheinen lassen würden. Es ist eine alte Frühlingsgeschichte, die ihr hören sollt, eine weiche, hingeschwundene Frühlingsgeschichte, in der es sproßt und keimt, in der ein lustiger, feuchter Wind weht, Nebel ziehen, in der Herzen schlagen, und in der allerlei behauptet wird, worüber man heutzutage vornehm die Achseln zucken müßte, wollte man auf der Höhe der Zeit stehen; damals aber glaubte und sprach man, was einem Vergnügen machte. So glaubte man in jenen Tagen und tuschelte es sich gegenseitig wie eine interessante Hofgeschichte zu, daß die verstorbene Hofdame der Herzogin Amalie, von der Karl August gesagt hatte: »Genie die Fülle, kann aber nichts machen!« ganz unvornehmerweise spuken gehe, und zwar in Tieffurth, im Park und im Schlößchen. Man erzählte sich geheimnisvoll die unglaublichsten Dinge. Die bürgerliche Gesellschaft faßte die Sache ernsthaft, aber doch humoristisch auf. Sie hatte ihren Spaß daran, daß die kleine, bucklige, häßliche Dame solche Geschichten machte. Der Adel aber zog ein sehr bedenkliches Gesicht, denn es war absolut nicht ~comme il faut~ von der Göchhausen. -- Außerdem sprach die Hofgesellschaft mit einem tiefen Bedauern darüber, daß ihr so etwas »arrivieren« mußte -- solch eine »Kalamität«! -- Man fand, daß sich die Göchhausen noch nachträglich schwer »ridikulisierte« und unmöglich machte. Verschiedene Personen waren ihr nachts begegnet, wie sie schimpfend und klagend die Parkwege auf und nieder gehuscht war. Sie hatten sie ganz genau erkannt -- daran bestand kein Zweifel! Einem weimarischen Fleischermeister, der ein Kalb von Krommsdorf erst spät heimgetrieben, war sie im Park auch nachgehuscht, und er erzählte, daß sie ihm scheußlich weinerlich und wichtig gesagt habe: »Ich la--ngweil' mich so!« -- Weiter nichts. Aber wie sie es gesagt hätte! Wie aus einer Flasche heraus! Der Fleischer konnte es den Mägden, die die Neuigkeit samt dem Fleisch von dem armen Krommsdorfer Kalb, das die merkwürdige Geistererscheinung mit erlebt hatte, pfundweis nach Hause trugen, gar nicht haarsträubend genug vormachen. Sie war, wie gesagt, allen möglichen Leuten erschienen, immer klagend, immer schimpfend und immer unzufrieden; -- manchmal auch nur murmelnd und brummend; -- aber wie murmelnd! -- eben ganz wie eine arme Seele murmeln muß: durch die Zähne und wie aus einer Flasche. Es war überhaupt das Merkwürdige und Überzeugende an der Sache, daß sich die Göchhausen genau nach Vorschrift benahm -- nach Vorschrift der alten Kobold- und Geistergeschichten. Die Weimaraner mußten immer etwas zu schwatzen haben und hatten auch gottlob immer etwas; sie waren an die merkwürdigsten Dinge gewöhnt, eine solche Fülle von gesegnetem Klatsch hatte sich seit 1775 auf das graue Rattennest niedergelassen. Seit geraumer Zeit aber schon floß diese Quelle spärlicher, und die verwöhnten Gaumen mußten mit allerhand fürlieb nehmen und taten dies wohl oder übel. Zu allererst tauchen aber in unsrer Geschichte ein paar lachende, blütenjunge Gesichter auf, ein paar feste, kindlich behende Körper, blonde, dicke Zöpfe, junge, weiche, noch etwas tollpatschige Hände, helle Kleider, die sich lebendig um diese jungen Körper schmiegen, die sich so jugendsicher auf leichten Füßen bewegen, so kernig, so wohlgebaut und unschuldig. All diese schönen Dinge miteinander gestalten sich hier zu ein paar Mädchen, die in der alten Wünschengasse daheim sind. Sie haben ihr Lebtag in der Wünschengasse gewohnt und sind mehr, als ihnen lieb ist, dort bekannt, bei Freund und Feind, Nachbar und Nachbarin. »Die Ratsmädel« heißen sie bei alt und jung, und sind die Töchter des Herrn Rat Kirsten, der, ehrsam und würdig, nie verstanden hat, weshalb gerade ihm das Schicksal diese blonden Hexen aufhalste, die ihm mehr Mühe und Kopfzerbrechen kosteten als seine Buben. Ja, in der Tat, er und Frau Rat wären auch nie und nimmermehr mit dem hübschen Paare fertig geworden, wenn nicht die ganze Wünschengasse ihnen beigestanden hätte, die Rangen zu erziehen; und nicht nur die Wünschengasse fühlte sich dazu berufen, alle Freunde und Feinde haben an dem merkwürdigen Werke mitgeholfen. »Da gehen sie!« hieß es, wenn sie miteinander durch die dämmerige Gasse schlenderten. Und wer dies aussprach, schaute ihnen gewissermaßen gespannt nach. Von Jugend auf hatten sie es verstanden, die würdige Wünschengasse in Aufregung zu erhalten. Sehr früh war es angegangen, das Ausschauen nach den Ratsmädchen, das Schimpfen und Lachen, das Nörgeln und Hetzen, das Verhätscheln und Anraunzen. Nie, solange die Wünschengasse steht, sind aber zwei Schwestern von Kindesbeinen an trotz alledem so ungetrübt heiter gewesen wie diese zwei, so treu ihren Freunden ergeben. Sie gehörten zu den glückseligen Menschen, die ihr Lebtag Freunde haben -- zu den Menschen, die nie einsam sind -- zu den sonnigen Kraftmenschen, die Wärme und Strahlen für andere übrig haben. Von Jugend an waren sie stolz auf ihre Freunde, verstanden keinen Spaß, wenn irgend jemand diesen Freunden nahe treten wollte, waren ihnen dankbar -- und was die Hauptsache ist, unverbrüchlich treu. Und diese Freunde: der blondlockige, kleine, gescheite Heinrich Goullon, den sie auf den weimarischen Straßen »den Pudding« nannten, seiner französischen Abstammung wegen; in den weimarischen Mäulern aber war »der Pudding« zu einem »Budang« geworden. -- Und der schöne Franz Horny, der sich als Maler später einen Namen machte und in jungen Jahren in Amalfi starb; -- sein Bild hängt dort in einer Kapelle, wo es von den Landleuten als ein heiliger Johannes oder Sebastian verehrt wird. -- Und der dritte im Bunde: Ernst Schiller, Schillers Sohn. Mit diesen dreien haben die Ratsmädchen sich so köstlich vergnügt, wie dies jetzt im lieben Deutschland nimmermehr geschieht. Die Leute in unserm Zeitalter haben die schöne, heitere Urwüchsigkeit wie ein altmodisches Kleidungsstück abgelegt. Die guten Freunde sind oftmals miteinander ausgegangen und haben sich oben im Ettersberg, im alten Gutshofe von Röses Paten Sperber, einquartiert. Sie sind ins Wasser gefallen, haben miteinander getanzt, wenn es ihnen paßte; sie haben getollt und gelacht, sie sind Schlitten gefahren, sie haben Räuber und Prinzeß in den Gassen gespielt, sie haben »Budang« als Mädchen verkleidet und sind mit ihm spazieren gegangen. Und die beiden schönen Mädchen sind recht eigentlich von den etwas älteren Kameraden erzogen und in die Lehre genommen worden, haben ihnen ihre Schularbeiten vorweisen müssen und sind von ihnen belobt und gestraft worden, wie das alles ausführlich schon einmal erzählt worden ist. Herr und Frau Rat wären ohne die Kameraden nie mit der Erziehung ihrer beiden Schelme zu Ende gekommen. * * * * * Ein feuchter Frühlingssturm fährt heut durch die Wünschengasse. Zerrissene dunkle Wolken jagen über den Himmel, und in die Dämmerung dröhnt die große Glocke im Schloßturm. Der Sturmwind fährt in das mächtige Geläute; er reißt die großen, vollen Töne wie Wolken auseinander und nimmt diese Riesentöne mit sich fort, zerstreut sie, läßt sie hie und da aufdröhnen und plötzlich verhallen. Die Glocke läutet die Osternacht ein. Es ist ein wunderbares Getöse, erschütternd, wie überirdisch; so voll, so rein, so tief, wie die tiefste Menschenwonne und das tiefste Menschenleid. Die alte Glocke, die sie im dreißigjährigen Kriege, weiß Gott wo, erbeutet haben, ist das lebendige Herz des Städtchens Weimar geworden. Ein jeder versteht dies Herz da oben im grünen Turm. Es dröhnt mächtig aus, was die andern Eintagsherzen fühlen. Es erschüttert sie, es erweckt sie, es reißt sie im Gefühle mit sich fort, wie von jeher ein großes, mächtiges Herz die kleinen mit sich gerissen hat. -- Die Ratsmädel, Röse und Marie, schauen zum Fenster hinaus. »Hörst du?« sagt Marie. Sie sind bisher immer, wenn die große Glocke geläutet wurde, zum Schloß hinunter gelaufen und haben hinauf nach der grünen Turmspitze gesehen, die von der Wucht der Glockenschläge langsam, aber deutlich hin und her schwankte; oder sie haben das Ohr an die alte Turmmauer gehalten, und das Dröhnen ist ihnen schauervoll durch den Körper gezittert; oder die Kameraden nahmen sie bis hinauf in den Glockenstuhl, und sie haben da, schwankend und schwindelnd und ganz betäubt von den ungeheuren Schlägen, die den Turm zu zersprengen drohten, sich aneinander geklammert und an den riesigen Balken festgehalten. Heute schauen sie aber, wie gesagt, nur gedankenvoll zum Fenster hinaus. Es ist, als läge irgend etwas auf ihnen. Röse hat auf das »Hörst du?« von Marie nicht einmal geantwortet. Sie stecken beide feierlich in weißen Kleidern und tragen grüne Schärpen. Grüne Schärpen sind für sie noch immer der Inbegriff von aller Schönheit und Eleganz. »Röse! Marie! Schließt das Fenster! Gleich! -- Was fällt euch ein! -- Der Wind!« So ruft Frau Rat, die Mutter der Ratsmädchen, die eben ins Zimmer tritt. Eine rührende Zartheit liegt über der schlanken Gestalt. Der Haushalt mit den wilden Mädchen und Buben, die Kriegsjahre, der überernste Gatte, die Geldsorgen, -- das alles ist der fein organisierten Frau zu viel geworden. Um sie her wachsen die Kinder urkräftig in die Höhe; sie aber hat etwas Müdes, Insichgekehrtes, als wenn sie nur bei sich selbst fände, was sie sucht. Die beiden Mädchen schließen das Fenster, und das Glockengeläut dringt nur noch dumpf ins Zimmer. Der Wind heult im Schornstein. Frau Rat zündet die Lichter an. Das große Familienzimmer macht heute ein feierliches Gesicht. Der runde Eßtisch ist blendendweiß gedeckt; statt des einen Talglichtes brennen zwei Wachskerzen auf einem Leuchter unter einem grünseidenen, ovalen Schirm. »Oho,« sagte Marie, »den nimmst du?« »Was denn sonst, Schatz? -- Habt ihr euch die Hände gewaschen?« »Jawohl, mit Schmierseife!« antwortet Röse. »Röse, mein Kind!« Frau Rat ist heute bewegt und streicht ihr übers Haar. -- »Gutes Kind!« Röse ist von dieser Freundlichkeit so sonderbar berührt, daß sie ihrer Mutter um den Hals fällt und in Tränen ausbricht. »Ruhig, ruhig!« Der Vater tritt ein, mustert alles und sagt: »Ist Senf auf dem Tisch?« Senf war eben das Neueste. Und es ist Senf auf dem Tisch, es ist überhaupt alles in schönster Ordnung; er findet nichts zu tadeln und geht feierlich im Zimmer auf und ab. »Charmante Leute!« bemerkt er und wiederholt es noch einmal: »Charmante Leute!« Niemand stört den Vater. Er liebt das »Anreden« nicht. Man hat zu warten, bis er fragt. »Du könntest der Thon, dächt' ich, noch eine kleine Aufmerksamkeit erweisen,« wendet er sich zu seiner Frau. »Ja was denn?« fragt diese. »Wie meinst du denn?« »Ich dachte so etwa ... etwa ...« Er schien sich über das, was er eine »kleine Aufmerksamkeit« nannte, nicht recht klar zu sein. »Weißt du, Kirsten, ich dächte, wir erwiesen ihr schon eine recht große!« Das sagt sie leise und schaut mit einem Seitenblick auf die Mädchen. Röse lehnt am Nähtisch, müßig den Fingerhut der Mutter auf der Platte tanzen lassend. Marie sieht ihr gespannt zu. »Ist das eine Art, den Bräutigam zu erwarten?« Herr Rat meint das ernst und rügend aus seiner hohen Halsbinde heraus, im Hintergrunde des großen Zimmers, zu seiner Frau. »Bst!« macht Frau Rat. -- »Mein Gott, so jung sollte sie nicht sein. So ein armes Ding!« »I was!« sagt Herr Rat. -- »Papperlapapp! Warst du etwa älter?« Frau Rat lächelt schmerzlich. Alle Papperlapapps ihres Lebens zogen an ihrer Seele vorüber. -- Sie lächelt -- alle heißen Tränen, alles Sehnen, alles Verstummen hatte sich bei ihr zu einem müden Lächeln herabgemindert -- oder in ein Lächeln zusammengefaßt -- wie man will. Apothekers kamen. Frau Apotheker in der schönsten Haube. Des Gatten rundes Bäuchlein war mit »selber gestickter« Seide überspannt und glänzte wie ein heiteres Gestirn. Er kniff Röse in die Wange und war vortrefflich gelaunt. Marie tuschelte Röse etwas zu, indem sie vorsichtig nach den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses sah; da zeigte sich eben eine Dame in vollem Putz, in weißer Haube mit blauen Bändern und im weißen Kleide. Sie öffnete das Fenster und hakte die Fensterflügel ein, damit der Wind, der durch die Gasse fegte, es nicht wieder zuwerfen könnte. »Jetzt kommen sie!« flüsterte Marie. Und es währte nicht lange, da empfing man bei Kirstens wieder Gäste: Frau Geheimderat Thon und deren Sohn Ottokar Thon, Adjutant des Großherzogs Karl August. Frau Geheimderat Thon begrüßte sich lebhaft mit den Eltern Kirsten, küßte dann zuerst Röse auf die Stirn, dann Marie. Sie war die Dame, die aus dem Fenster geschaut hatte. Das weiße Kleid umschloß in langen Falten eine volle, stolze Gestalt. Das schöne Busentuch war aus kostbaren gelblichen Spitzen, und eine breite, hohe Haube mit himmelblauen Bändern beschattete ein energisches, wohlkonserviertes Gesicht. Ottokar Thon reichte Röse die Hand und führte ihre rundliche Kinderhand dann an die Lippen. Röse war befangen und schweigsam. Auf ihrem frischen Gesichte aber lag eine große, stille Wonne. Sie ließ indessen ihrer Schwester Hand nicht los, bis man sich zu Tische setzte. Noch war das große Wort nicht gesprochen; aber sie ahnte, sie wußte alles! Ottokar Thon war erregt; er sprach mit ihr, als spräche er zu einem lebendigen Heiligtume -- so etwas scheu -- und doch ... -- Rösen überschauerte es. Wie er schön und stolz in seiner schwarzen, verschnürten Uniform aussah. Von dem Augenblick an, als sie ihn zuerst gesehen, war ihre Seele ganz erfüllt von seinen guten Eigenschaften, seiner Gescheitheit und seiner Tapferkeit; er war Lützowscher Jäger gewesen, und sie hatte auch gehört, wie er sich in Wien ausgezeichnet. Die Schopenhauerin erzählte, daß Karl August ihn unbändig gelobt habe, und daß Karl August eine Schrift über die Zukunft Deutschlands von ihm kenne, von wahrer staatsmännischer Bedeutung. »Solch ein Mensch will mich!« Das waren Röses Jubelgedanken. -- Röse saß bei Tisch neben dem lieben, herrlichen Menschen und hörte zu, wie alle sprachen. Es war ihr so feierlich und still zu Mute. Und sie mußte träumerisch an einen Vogel denken, der in seinem Nest auf schwankem, grünem Zweige sitzt, das von einem weichen Winde hin und her geweht wird. Die Sonne glitzert durch die dichten Blätter und schafft so ein wohliges, grünes Licht um ihn her. Kein Auge sieht ihn; er ist sich selbst genug. Sie fühlt eine Seligkeit, die ihr noch fremd und neu ist; deshalb macht sie sich unbewußt ein Bild von dieser großen, stillen Wonne, ein kindisches, süßes Bild. Und es waren nicht nur die Gefühle festlich und heiter; nein, alles und jedes! Zu allererst die Suppe. Eine echte Festsuppe: Grünkern mit Kerbelrübchen. Das war Frau Rats Meisterwerk. Die Kerbelrübchen, wie Mandeln so fein und klein, zergingen auf der Zunge, und die Suppe duftete wie ein blühendes Ährenfeld. Ganz sommerlich duftete es aus der Terrine und verbreitete sich im Familienzimmer. Warmer Sonnenschein, Lerchensang vom blauen Himmel, der echte, köstliche Kornduft, ein sanfter Wind, der über die Ährenhäupter streicht -- Erdgeruch! Das alles kam, als der Deckel von der Suppenschüssel gehoben wurde, den Gästen bewußt oder unbewußt in Erinnerung. Das war die Eigentümlichkeit dieser Suppe! Frau Rat hatte den Mädchen gesagt: »Die Suppe muß sein wie eine Musik oder wie ein Gedicht, die Leute sollen fröhlich davon werden.« Ja, es war eine feierliche Suppe! Draußen wirtschaftete der Sturm gewaltig. Die Fensterscheiben klirrten, und im Schornstein heulte und jammerte er. Nach der Suppe gab es einen Karpfen, -- einen Spiegelkarpfen mit großen, goldenen Schildern und Flecken, den besten Karpfen, den der Hoffischer gehabt hatte, einen Riesen! Röse und Marie hatten natürlich mitgeholfen, ihn aus dem Behälter herauszufischen, in dessen klarem Ilmwasser die festen Karpfenburschen sich im dichten, goldig flimmernden Gewimmel durcheinander drängten, und den allerherrlichsten hatten sie also erwischt. Er war so schön, so unaussprechlich schön in seiner Strammheit, seiner Schlüpfrigkeit und in seinem Goldglanze gewesen. Der Hoffischer hatte ihn selbst geschlachtet, hatte ihm den Kopf auf den festen Tisch geschlagen, dessen Füße im Rasen neben den Fischbehältern eingerammt waren, und der über und über von Fischschuppen flimmerte. Dann hatte er den Fisch in zwei Hälften geteilt und den Ratsmädchen in den Korb gepackt und ihnen die Fischblase extra verehrt. Marie war darauf getreten, um sie zerplatzen zu lassen; es hatte auch wie ein Schuß geknallt. Das war ein althergebrachter Spaß gewesen. Als der Karpfen auf den Tisch im Familienzimmer kam, blau gesotten mit geriebenem Meerrettich und ganz in Petersilie ruhend, da rief der Apotheker: »Donnerwetter, ist das ein Prachtkerl! Ist das ein einziger gewesen?« Diese beiden Dinge, die Suppe und der Karpfen, waren aber nur die Vorläufer vom Propheten. Die Gäste waren nicht zum Karpfenessen geladen, sondern zu einem wirklichen und wahrhaftigen Fasanenschmaus. Die Fasanen hatte der junge Adjutant Thon von einer Hofjagd mitgebracht, denn er war ein großer Jäger vor dem Herrn, und hatte sie Frau Rat Kirsten in die Küche geliefert, und nun sollten sie feierlich gemeinschaftlich verzehrt werden. Als die Magd diese seltenen Geschöpfe hereinbrachte, waren alle erstaunt, auch der Herr Rat, daß diese merkwürdigen, nußbraun gebratenen Tiere silberne Füße und silberne Köpfe hatten. »Ja,« rief der Apotheker, »Herr Adjutant, alle Achtung vor eurer Fasanenjagd! Das nenn' ich mir Silberfasanen! Silberne Köpfe und silberne Füße!« Röse und Marie kniffen sich gegenseitig in die Finger und waren glückselig über das Erstaunen, und daß ihr Vater auch nichts davon gewußt hatte. Die Schopenhauerin hatte Frau Rat, als sie von dem Geschenk gehört hatte, diesen herrlichen Ausputz für gebratene Vögel aus ihrem Silberschrank geliehen. Dazu brachte Herr Rat auch eine Überraschung: zwei Flaschen alten Steinwein in Bocksbeuteln. Diese beiden Flaschen hatte er in dem Franzosenjahr vor den gierigen Langfingern versteckt. Er hatte sie im kleinen, dunklen Höfchen unter dem Regenfaß vergraben und, als die Luft wieder rein war, wieder hervorgeholt, und seitdem lagerten sie in einer Mauernische, hoch oben in Rat Kirstens Keller, ganz von Staub und Spinnweben bedeckt; und in solchem Zustande setzte er sie, als die Vögel mit den silbernen Füßen kamen, zum Entsetzen seiner Frau stolz auf den Tisch. »Aber Kirsten!« sagte diese gekränkt. »Papperlapapp!« -- Herr Rat war schon dabei, eine zu entkorken. -- »Gehört sich's nicht etwa so?« Und der Apotheker unterrichtete Frau Rat Kirsten, daß ein alter, seltener Wein in so staubigen und schimmeligen Flaschen auf den Tisch kommen müsse; das sei für den Kenner das Feinste. Die Fasanen hatten einen stattlichen Hofstaat von Salaten, Kompotts und Beilagen aller Art. »Na, und wie steht's denn mit dem Fuchs, den Sie verspürt haben wollen?« fragte der Apotheker den jungen Thon. »Das wäre heute so eine Nacht für die Bestie, um den Fasanen im Webicht einen Besuch zu machen!« »Freilich, freilich, das wird er wohl auch vorhaben!« antwortete der Adjutant lebhaft. »Seinen Bau hat der freche Bursche übrigens an der Ilm an dem Abhang zwischen Krommsdorf und Tieffurth -- so eigentlich mitten im Tieffurther Park. Verspürt ist er nun, der Lump ... aber ...!« »Ja -- aber!« lachte der Apotheker und stieß mit dem Adjutanten auf den Fuchs an. Marie zupfte Röse am Kleid. Röse saß zwischen Marie und Ottokar Thon. »Röse,« tuschelte Marie besorgt, -- »sie werden doch nicht gar zu lange bleiben?« -- Röse fuhr wie aus einem Traum auf. »Was?« fragte sie. »Na, wenn unsre Drei nun kämen?« »Die kommen doch nicht eher, als bis alle hier fort sind; die werden unten schon lauern, bis der letzte hinaus ist!« flüsterte Röse. Jetzt erhob sich Herr Rat Kirsten und ließ seinen lieben, verehrten Gast, die Frau Geheimderat Thon, hoch leben und bedauerte, daß sie Weimar so bald wieder verlassen müsse. Die Dame war nur auf kurze Zeit aus Eisenach gekommen, um ihren Sohn zu besuchen. Darauf erhob sich Frau Geheimderat, schlug mit dem Kompottlöffelchen an ihr Weinglas und dankte sehr wohlgesetzt und stattlich. Es war ein wohltuender Anblick, diese kräftige, hochgewachsene Frau in ihrem weißen Kleid so frei und vornehm stehen zu sehen. Sie sprach davon, wie beruhigt und glücklich sie ihren Sohn diesmal verlasse, wie beruhigend seine Zukunft, soweit menschliches Berechnen nicht trüge, vor ihren Augen läge -- und für diese Beruhigung, diese frohe Aussicht danke sie dem gütigen Elternpaare im Namen ihres Gatten. Sie hob ihr Glas und stieß mit Herrn Rat und Frau Rat an, dann mit Apothekers, und mit Röse ganz besonders. »Gott segne dich, mein liebes Kind!« sagte sie. Ihr Sohn trat auf sie zu und küßte ihr die Hand; darauf küßte er Röses Hand wieder tief bewegt. Frau Rat traten Tränen in die Augen. »Du wilder Schlingel!« flüsterte sie Röse zu. Aber ausgesprochen wurde das große Wort nicht. Das war auf Vater Kirstens Befehl hin so eingerichtet. Die jungen Leute sollten noch mit der Heirat warten, und er wollte in seinem Hause Ruhe haben, und vorderhand keinen »Verlobungstrafik«, wie er sich ausdrückte. Das Geküß und Getu sollte möglichst eingeschränkt werden. Das fehlte ihm jetzt: auf Schritt und Tritt über ein verliebtes Paar zu stolpern! Er war Herr im Hause, damit basta! Der Apotheker erstickte fast an einer Rede, und die Apothekerin mußte ihren Mann zweimal am Rockschoß zupfen, als sie bemerkte, daß ihm der schönste gewürzte Verlobungstrinkspruch auf der Lippe saß. Einmal hatte er sich schon erhoben; da war aber der Wind mit solcher Gewalt gegen die Scheiben gefahren und hatte an den wackeligen, alten Fenstern gerüttelt, daß der Apotheker ordentlich zusammengefahren und wieder zur Besinnung gekommen war. Ihm war Wind greulich zuwider. Röse vermißte das Aussprechen des großen Wortes durchaus nicht. Es war gut so. Sie wünschte sich's nicht anders. Nichts schreckte sie aus ihrem süßen Traume auf. Sie fühlte sich so unaussprechlich glücklich! Und es war nichts Beängstigendes bei diesem Glück. Zugleich erschien es ihr aber auch noch fremd. Sie mußte sich erst daran gewöhnen. Ja, wie es ihr Vater eingerichtet hatte, so war es gut! Sie kannte auch Onkel Apothekers Verlobungs- und Hochzeitssprüchlein und gab ihrem Vater, als sie mit ihm anstieß, extra einen Kuß dafür, daß der in der schön gestickten, seidenen Weste nicht reden durfte. Der junge Adjutant Thon sah das wundervolle, blonde, kindliche Geschöpf vor sich, wie es so süß träumte. Und sie gehörte ihm, war sein eigen, sie war ihm versprochen! Er war wie verdurstet, wie verschmachtet. Ein Kuß auf diese junge Wange, auf den kecken, rätselhaft schweigenden Mund schien ihm Erlösung -- das seidenweiche Haar zu streicheln Erquickung! Und daß sie an seiner Seite so bräutlich verschämt schwieg, erschütterte ihn. Er empfand ihre junge Liebe wie den Duft einer Blume. Ein berauschender Duft! -- Marie flüsterte Rösen ins Ohr: »Du, Röse, sie wird doch heut auch wirklich spuken?« »Wer?« fragte Röse. »Ach geh!« »Wenn das so werden soll, wenn du ewig nur vor dich hin gucken willst! -- Na dann --!« Marie sprach sich nicht weiter aus, schien aber entrüstet zu sein. »Jesses,« flüsterte Röse, »wenn ich nicht gleich aufpaß! Mich freut's grad so wie dich, wenn sie spukt; vielleicht noch mehr!« Der noch nicht offizielle Bräutigam hörte die beiden zankend miteinander tuscheln. »Ich denke, die Demoisellen sind immer ein Herz und eine Seele?« »Sind wir auch!« sagte Röse. Er lächelte und sprach eifrig mit seiner jungen, zukünftigen Braut; etwas würdig, wie er es mit jedem jungen Mädchen tat, aber jedes Wort bebte und zitterte und war beladen mit allem möglichen, und die Blicke beider hingen aneinander -- forschend, ergründend und scheu den Anblick genießend. Draußen fauchte in langen Zügen unvermindert der Wind und trug jetzt, wie es schien, einen merkwürdig hellen, rhythmischen Pfiff auf seinen Flügeln. Röse, die eben im lebhaftesten Gespräche mit ihrem Anbeter war, spitzte die Ohren, erhob sich wie im Traume, ging dem Fenster zu, blieb aber zögernd, wie unverrichteter Sache stehen und begab sich wieder auf ihren Platz. Der junge Thon beobachtete sie. »Schaf!« flüsterte Marie ihr zu. »Wenn sie's merken, lassen sie uns bei dem Wetter nicht fort!« Es war etwas übermütig Glückseliges in Röses Gesicht gekommen. Die Ratsmädel kniffen sich gegenseitig versteckt in die Arme. Frau Rat hatte aber auch den Pfiff gehört und dachte bei sich: »Das war ja Budangs Pfiff; was lauert denn der?« Jetzt schellte es unten. Das sind sie! dachten Röse und Marie gleichzeitig erschreckt und sprangen beide auf, um die Haustür zu öffnen. Was ihnen denn nur einfiele! Waren sie denn des Kuckucks! Sie trafen aber ganz etwas andres, als sie vermuteten. Die Schopenhauerin schickte als Dessert nach dem Fasanenschmaus für Röse ein weißsamtenes Ridikül mit Perlenstickerei und mit einem Veilchenbouquet daran gebunden, etwas unsagbar Schönes, Bräutliches. Sie hatte jedenfalls nicht anders gedacht, als daß die Verlobung doch bei einem Gläschen Wein trotz alledem feierlich ausgesprochen worden sei. Röse und Marie wußten nicht recht, was sie damit beginnen sollten; sie beratschlagten und hielten sich deshalb ziemlich lange auf der Treppe auf. Marie kam auf den schlauen Gedanken, das wundervolle Ding mitsamt den Veilchen in ihr Schnupftuch zu wickeln; so wollten sie es aufheben, bis die Gäste fort wären, denn beide fürchteten, es möchte dem Vater nicht recht sein, wenn sie das Verlobungsgeschenk der Schopenhauerin mit hereinbrächten. Und es geschah so, wie sie sich vorgenommen. »Was war denn?« fragte Frau Rat ernst, als die Mädchen wieder eintraten. Röse errötete und flüsterte ihrer Mutter etwas ins Ohr. Der junge Thon fand, daß die beiden Mädchen seit einiger Zeit von einer merkwürdigen Unruhe befallen waren. Es war ihm, als müsse er mit Röse ein feierliches, großes Wort reden. Eine bange Unruhe überfiel ihn. Liebte sie ihn auch wirklich? War er ihrer sicher? Die beiden Mädchen hielten sich, während sie ganz vernünftig und liebenswürdig sprachen, unter dem Tisch an den Händen fest. »Heut wär' eine schöne Nacht für meinen Fuchs!« dachte der junge Thon mitten in seinem Herzensrausch. Er hat bereits gestern die halbe Nacht platt auf dem Bauche vergeblich vor dem Fuchsbau gelegen und sieht sich schon, wie er an der nur ihm bekannten Stelle abermals auf den Fuchs paßt. Er hört im Geiste die knospenden Bäume über sich rauschen, fühlt wohltätig den kühlenden, weichen Sturm. Und das Lauern, das scharfe Hinhorchen -- das Spannen -- die Naturlaute, die nachts hie und da geheimnisvoll auftauchen -- da wird's ihm wohl werden! * * * * * Die Gäste empfehlen sich zur Bürgerstunde. Alle machen Frau Rat Kirsten Komplimente über das splendide Gastmahl, und Frau Geheimderat Thon drückt Röse mütterlich zärtlich an sich und flüstert ihr etwas ins Ohr. Röse errötet tief und küßt ein wenig zaghaft und verlegen die Hand ihrer zukünftigen Frau Schwiegermutter. Und wieder ist sie durchschauert von etwas Ungeahntem, Unbekanntem, als Ottokar Thon ihr zum Abschied die Hand drückt, so erregt und bewegt, als wäre dieser einfache Händedruck eine heilige Handlung. Als alle fort waren, fällt sie ihrer Mutter in die Arme und küßt sie und lacht, und dabei glänzen ihr die Tränen in den Augen. Die Mädchen müssen noch mit aufräumen, alles an Ort und Stelle bringen; sie sind zu diesem Behuf aus ihren weißen Kleidern in die grauen Ginghamalltagskleider geschlüpft und wirtschaften mit wahrem Feuer und so ordentlich und vernünftig, daß Frau Rat ihre Freude hat und bei sich denkt: »Was für ein paar flinke Mädchen sind sie doch, pflichttreu und brav!« »Jesses, Röse,« flüstert Marie, »mach zu! Wenn du so trödelst, wann denkst du denn, daß wir fortkommen?« »Erst müssen doch alle im Bett sein,« sagt Röse bang, »was hilft's denn sonst? -- Poltere doch nicht so!« Marie ging daraufhin auf den Fußspitzen. Drüben bei Thons war schon alles dunkel. »Ach Gott!« brummte Marie, »weshalb dauert's denn bei uns so lang?« Die Magd schlürfte noch draußen herum; der Vater sah nach diesem und jenem; die Mutter schloß das gespülte und geputzte Silberzeug in den Schrank. Röse beguckte sich noch einmal nachdenklich die silbernen Füße und Hälse der Fasanen. Nach und nach zog aber auch in das Kirstensche Haus Dunkelheit und Nachtruhe ein. Die beiden Mädchen waren hinauf in die Kammer geschickt; die Magd, Vater und Mutter, jedes war schlafen gegangen, und keine Maus rührte sich. Es schlug elf Uhr. -- Da war es, als wenn auf der dunklen Treppe sich vorsichtig etwas bewege. Es knarrte eine Stufe; es huschte und schlich etwas. Zwei Stimmen wisperten vorsichtig. »Ach Gott im Himmel,« sagte Röse tief erregt, dicht am Ohr Maries, »mir ist's außerordentlich angst, -- so was haben wir noch nie getan! Glaubst du, daß der Vater bös sein würde?« »Röse,« erwiderte Marie mit Herzklopfen und verhaltenem Atem, »jetzt ist's zu spät! -- Mach nur leise -- du trampelst ja!« »Na,« murrte Röse, »wenn das Trampeln is! Gar nich!« Aber da krachte die alte Stufe so entsetzlich. Den beiden kam es wie ein Kanonenschuß vor. -- Sie standen ganz starr und hatten nicht den Mut, sich wieder zu regen. -- »Ach Gott!« klagte Marie. Dann aber schlichen sie langsam und vorsichtig weiter. »Ich höre da draußen wen,« brummte Herr Rat in seinen Kissen. Frau Rat war schon am Einschlafen und entgegnete undeutlich: »Der Wind; auch wohl die Katze.« Das leuchtete Herrn Rat ein, denn der Wind rasselte draußen an den Dachrinnen, klirrte mit den Fensterscheiben, sang und jodelte in den Schornsteinen. Es war eine wilde, stürmische Osternacht. Zerrissene Wolken fuhren über den Himmel. Unten an der Haustür fingerten jetzt ein paar ängstliche, zitternde Händchen vorsichtig, um den großen Haustürschlüssel geräuschlos ins Schlüsselloch zu stecken. Röse und Marie hatten diesen Schlüssel, pochenden Herzens, aus der Mutter Speisekammer stibitzt. Nun standen sie draußen, im Sturm aufatmend, und schauten mit ängstlichen Blicken nach dem Fenster oben. Sie seufzten beide tief, denn es war ihnen nicht geheuer zu Mute. Sie hätten's nicht tun sollen! So heimlich fortzuschleichen war das Rechte nicht, das fühlten sie. Und sie dachten beide mit einem Gefühl bangen Seelendruckes an Frau Geheimderat Thon, vor der sie den denkbar größten Respekt hatten. Was die wohl dazu meinen würde? »Donnerstag!« rief Röse, »ist das ein Wetter! -- Himmlisch!« Sie faßten sich an den Händen und ließen sich von dem Winde treiben. »Glaubst du wirklich, daß es was gibt, wenn sie's oben merken?« fragte Röse. Marie antwortete nicht. Der Wind hatte ihren wollenen Longshawl gefaßt und sich darin verfangen. »Weißt du,« sagte sie nach einer Weile, »ich glaub' schon. Aber wenn alles gut ausgeht, und wir haben sie wirklich gesehen, und wir sagen's, dann -- dann ...« Der Wind nahm ihr den Atem. Sie wollten nicht quer über den Markt laufen, sondern lieber gedeckt, wie die Diebe an den Häusern hin; und so eilten sie Hand in Hand vorwärts. Ihre engen Kleiderröcke flatterten wild im Westwinde; die Stirnlöckchen, selbst die schweren hängenden Zöpfe wehten und peitschten um sie her. »Diese Scheusäler!« brummte Röse, als ihr Maries Zopf übers Gesicht gefahren war. Jetzt mußten sie am »Elefanten« vorbei. Aus der Gaststube schimmerte Licht in die Dunkelheit; es trat jemand aus der hell erleuchteten Torfahrt. Röse und Marie drückten sich atemlos, erschreckt in den Schatten an die Mauer. Dann liefen sie weiter, mit halb zugekniffenen Augen, weil der Sturm Sand und Staub aufrührte. Das Wolkengeschiebe riß auseinander, und der Vollmond schaute auf einen Augenblick ungeheuer glänzend, als wäre er von den Wolken eben erst wieder blank gewischt worden, auf die dunkle, windgepeitschte Erde hinab. »Gucke, der Mond!« bemerkte Röse im Rennen. Als sie am Schlosse vorbei zur Burgmühle kamen und die Ilm nächtlich an ihnen vorbeirauschte, blieben sie stehen und lauschten ins Dunkel hinaus. Ihre Herzen hämmerten, ihre Wangen glühten; der Sturm hatte sie wie ein paar Rosenbüsche zerzaust. »Die andern werden in der Fähre stecken,« flüsterte Marie, »wenn sie uns nur nicht erschrecken!« Ja, sie fürchteten sich sehr! Das grelle, plötzlich hervorbrechende und wieder verschwindende Mondlicht, die schweren, schwarzen Wolken, der Sturm, der in den hohen Bäumen sauste, und dazwischen die unheimliche Stille, ohne menschlichen Laut, nur von entferntem Hundegebell unterbrochen, das Kreischen der uralten, verrosteten Wetterfahne auf der Mühle -- alles bedrückte sie! Röse versuchte einen kleinen, rhythmischen Pfiff, dem ähnlich, den der Wind vorhin durch die Wünschengasse getragen hatte; aber er kam so zaghaft zu stande, daß er wie ein Hauch verflog. »Bis hierher wird sie doch nicht kommen?« fragte Marie kaum hörbar. »Ach gar!« wehrte Röse mit geheucheltem Mute, und beide schmiegten sich fest aneinander. »Sie sitzen gewiß in der Fähre und schaukeln sich,« meinte Marie. »Wir müssen ein bißchen näher. Ob der Müller ihnen wohl die Fähre los gemacht hat?« Sie gingen vorwärts, aber sehr, sehr langsam. »Wie die Ilm rauscht!« sagte Marie. Jetzt pfiffen sie beide. Budang würde erklärt haben: »Scheußlich falsch.« »Oho!« hörten sie laut rufen. Und es kam wirklich aus der Fähre. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, da standen ihre drei Freunde Budang, Horny und Ernst Schiller vor ihnen. »Trödelbüchsen!« rief Budang. »Gottlob, daß ihr da seid!« sagte Marie aufatmend. Horny und Budang halfen den Mädchen auf die dunkle Fähre. Das Ilmwasser rauschte und gluckste um die groben Bretter und schien eine eisige Kälte zu verbreiten. Budang und Ernst Schiller stießen vom Ufer, die Fähre zwischen den geteerten Tauen lenkend. Die vier Räder, woran die schweren Taue liefen, schnurrten; der Wind klappte und rasselte damit. Röse und Marie saßen aneinander gedrängt. Wie dünkte ihnen ihre alte, gute Fähre heute sonderbar und bedrohlich, einem Riesenungetüm ähnelnd, dem man nicht trauen durfte. Wie sie über das klatschende Wasser schlich, wie sie schwankte, ruckte und zuckte! Der Sturm erschwerte die Überfahrt außerordentlich. »Wie schaurig die Ilm sein kann!« wisperte Röse wieder -- »so schwarz!« Budang rief: »Na, ihr fürchtet euch wohl?« Keine Antwort. Die jungen Burschen lachten nur kurz auf, denn sie waren gerade dabei, die Fähre am andern Ufer anzulegen, und mußten aufpassen. Beim Aussteigen waren die Ratsmädchen noch immer schwer und bang gestimmt. Alle miteinander schritten in einer Reihe den aufwärts führenden Weg hinan. Den breit ausladenden Westwind hatten sie jetzt in der Seite. Man konnte sich ordentlich dagegen stemmen. Der Mond war einmal wieder hinter den Wolken verschwunden, die Dunkelheit pechschwarz. Röse fragte Budang zaghaft bittend: »Einhäkeln?« »Ja, aber so schwer mußt du dich nicht wieder machen!« »Budang,« kam es schüchtern von Röses Lippen, »in der Osternacht da stehen die Toten aus ihren Gräbern auf.« Marie, die sich an Röse hielt, fuhr zusammen. »Nu ja,« meinte Budang kaltblütig, »deshalb gerade, denke ich, gehen wir doch!« Tiefe Stille. Marie ergänzte Röses Wissen: »Und die Tiere sprechen miteinander, und die Sonne tanzt, wenn sie aufgeht!« Es durchrieselte sie selbst bei ihren Worten. »Ach Budang,« begann Röse wieder, »es gibt so fürchterliche Dinge! Am Tage denkt man nicht daran, aber nachts, da sieht alles so wie in einer alten, schrecklichen Geschichte aus. Weißt du von dem Fährmann, der die Toten über ein großes schwarzes Wasser setzte? -- so wie wir vorhin, fuhren sie von allem fort, was sie kennen und was sie lieb haben. -- So hat es gewiß gerauscht -- und so kalt wird's gewesen sein, und die Taue haben so geklappt, und die Räder geschnurrt; und alles pechschwarz, Sturm, nie wieder Sonnenschein! -- Und da haben sie auch so auf der Bank gesessen und sich gefürchtet, -- und sind auf Nimmerwiedersehen fortgefahren! -- Budang, wie mir die Göchhausen leid tut! -- Glaubst du denn wirklich, daß sie kommt? -- Und wie ist's denn nur, daß sie gerade kommt, und die andern nicht? -- -- Ach, Budang, wer so was wissen könnte! Ob sie wohl recht unglücklich ist?« Marie bemerkte zu Ernst Schiller: »Und daß sie wie aus einer Flasche spricht -- so fiept -- das ist gräßlich!« Sie gingen jetzt durch die breite Allee von Kastanien, alle Hand in Hand. Der Wind schlug die Zweige mit den dicken, glänzenden Blätterknospen aneinander; es klappte und sauste, und über die kahlen Felder kam es unheimlich angebraust. Röse wisperte: »Kahle Bäume sind die Gerippe, und die Blätter werden erst das Fleisch daran.« Dabei hielt sie sich an Budang fest vor Grauen. Und Marie flüsterte bebend: »Pfui Röse!« »Jetzt haben wir's,« sagte Budang, »jetzt fürchten die sich!« Aber sonderbar, sie gingen alle etwas aneinander gedrängt; ganz geheuer war es keinem von der Gesellschaft zu Mute. »Ich weiß noch gar nicht, wie das werden wird, wenn sie wirklich kommen sollte! Was machen wir denn da mit Röse und Marie --?« meinte Ernst Schiller. Röse ließ ihn nicht aussprechen: »Da sei du nur ohne Sorge, wenn es darauf ankommt, fürchte ich mich gar nicht! -- Ich rede sie an!« »Oho,« rief Budang, »ihr wißt, daß ihr nicht prahlen sollt!« »Budang,« zürnte Röse, »das geht jetzt nicht mehr, so darfst du uns nicht behandeln! -- Weißt du, wir sind so gut wie verlobte Mädchen!« »Jawohl,« antwortete Budang halb ironisch, halb ärgerlich, »laß die dummen Witze!« Röse fuhr empört auf. »Nein, jetzt glaubt er's nicht! -- Haben wir je gelogen?« Die ganze Karawane stockte mit einem Ruck. Sie standen alle zusammengedrängt wie in einem Nest, und der Wind schnob um sie her und trieb sie noch näher zu einander. »Beide?« fragte eine sonderbare Stimme, von der niemand sogleich wußte, wem sie angehörte. Sie klang so fremd, so unterdrückt, als wenn der Frühlingssturm selbst mit einem Male eine leise, ängstliche Frage getan hätte. Franz Horny sah beim grellen Mondlicht eine sonderbare Veränderung in dem Gesichte seines Freundes Ernst Schiller. Ja, er und Ernst Schiller hatten mit den beiden Mädchen Götzendienst getrieben; für sie gab es nichts Schöneres, nichts Lieblicheres als diese Geschöpfe. Aber Horny war kühlen Herzens geblieben, sein ganzes erstes Jugendfeuer gehörte seiner Kunst. Und nun fragte er ruhig, wenn auch seines Freundes wegen innerlich erregt: »Beide?« »Nein,« sagte Marie, »nur Röse; aber sie darf's ja noch nicht sagen!« »Nun -- weshalb sagst du dann: beide?« »Ich weiß nicht,« meinte Röse beschämt. Da hatten sie sie doch auf einer Lüge ertappt, die Bengel! Es war ihr aber so entwischt, weil noch nie eine etwas gehabt hatte, was die andre nicht auch besaß. Es mochte ihr neu sein, daß sie Einzelwesen waren. Es verdutzte sie völlig. Beide gehörten so eng zusammen. Sie waren sogar merkwürdigerweise in ein und demselben Jahre geboren, als gute Kameraden so ganz nah auf einander gefolgt; das wissen wir ja. Im Webicht peitschte der Wind das Gestrüpp der Büsche durcheinander. Er sauste durch die Tausende schlanker Ruten und Zweige, wie durch ein Riesensieb. Ein Schrei von einem Käuzchen! Fern brömselte ein andres schwatzend und klagend, frühlingshaft spitz und grell vor sich hin. Auch ein Liebespärchen, das sich lockte und schalt, koste und sich beklagte! Wenn man genau hinhörte, fiepte und klatschte es da und dort: unbestimmbare Nachtlaute. Ganz fern ein Vogelaufkreischen! »Guten Appetit!« sagte Horny, »da ist einer über eure Fasanen gekommen -- vielleicht ein Fuchs.« »Wie waren sie denn?« fragte Budang, der an Röses Verlobungsgeschichte nicht glauben wollte und sich doch nicht recht zu fragen getraute. »Gut,« sagte Böse. »Sie hatten auch silberne Köpfe und silberne Füße aufgesteckt bekommen. Sie sahen prachtvoll aus.« Die Karawane setzte sich wieder in Bewegung, jetzt ganz still. Röses Verlobung lag über allen wie etwas Unbegreifliches. »Röse,« wagte Budang nach einer Weile sich zu erkundigen, »ist denn deine Verlobung wirklich wahr?« »Ja, Budang.« »Mit dem Thon, der euch die Fasanen geschickt hat?« »Ja.« »Herr Gott!« sagte Budang, »glaubt der, daß du eine vernünftige Person bist? Tust du's denn freiwillig? Verlobst du dich denn gern? Ich begreif's nicht. Wieviel jünger bist du denn als ich?« »Anderthalb Jahr,« gab Röse wie im Examen Auskunft. »Stell' dir vor,« fuhr Budang fort, »wenn ich mich in anderthalb Jahren verheiraten wollte. -- Lächerlich!« »Ja,« bestätigte Röse aufrichtig. »Und du weißt's, daß du verlobt bist -- seit heute erst -- und bist doch mitgerannt! -- -- Du bist aber gedankenlos! Da muß man doch, dächt' ich, ganz erschüttert sein?« »Ach,« meinte Röse betreten, »ich bin ja auch noch nicht ganz verlobt! -- Und glaubst du etwa, ich denk' nicht immer dran? -- Immer! -- -- Nein, weißt du, mir ist's auch viel lieber, daß ich mit euch hier renne; zu Haus war mir's manchmal ganz angst und bange vor Glück.« »Weiß denn der Thon, daß du hier mitläufst?« »Nein.« »Na, mir scheint, du denkst wirklich über gar nichts nach! Wie bist du nur!« »Ach geh'!« wehrte Röse ab. Der Sturm hatte nachgelassen. Sie bogen jetzt ins Dorf ein. Die Kirchturmuhr schlug zwölf: die Geisterstunde! »Da kommen wir ja gerade recht,« meinte Horny. Marie tat einen tiefen Seufzer. »Wenn ihr so sprecht, geh' ich wenigstens nicht mit,« protestierte sie leise, aber heftig. »So seid ihr Mädchen: ›Wasch mich, mach mich aber nicht naß!‹« rief Budang. »Ich habe es immer gesagt, Röse und Marie denken nicht; sie tun's nur!« »Nein,« sagte Röse, »da irrst du dich!« Sie gingen jetzt auf einem schmalen Wege, der an der Ilm vorüberführt. Und die Ilm gluckste und rauschte auch hier geheimnisvoll nächtlich, und der Wind pfiff noch gespenstischer durch die riesig hohen Ulmen. »Wenn sie hier käme,« flüsterte Marie zitternd, »da könnten wir doch nirgends ausweichen, -- so zwischen der Mauer und der Ilm. -- -- -- Ich stürb' auf der Stelle, wenn sie mich anfaßte!« »Fällt ihr nicht ein,« zürnte Budang; »wie soll sie darauf kommen, dich anzufassen? Schließlich war sie doch eine vornehme Dame, und die wird sich doch nicht im Grabe solche Handgreiflichkeiten angewöhnt haben!« »Laß doch,« meinte Ernst Schiller, »sie mag das nicht hören!« Marie war jetzt im Grund ihres Herzens tief erregt; das nächtliche Ausreißen von daheim, die dumpfe Sorge, daß sie doch etwas Unrechtes täten, das schauerliche Ziel, die vermutliche Nähe des Entsetzlichen -- all das hatte sie überwältigt, und sie brach in Tränen aus. Seele und Körper erschauerten ihr. Sie suchte eine Stütze; Röses Hals umklammernd, weinte sie bitterlich. »Marie,« schalt Budang, »sei doch vernünftig!« Die drei Freunde standen um die Ratsmädchen her und wußten nicht, was beginnen. »Laßt sie nur!« sagte Röse. Und beide Mädchen steckten ihre blonden Köpfe ganz dicht zusammen, und die jungen Körper schmiegten sich fest einer an den andern. Der Mond schien hell über sie hin. »Röse,« bat Marie schluchzend, »nicht wahr, du, wir verlassen uns doch nicht?« »Nein,« sagte Röse, »gewiß nicht.« »Die arme Göchhausen!« schluchzte Marie wieder, »wie muß der zu Mute sein! -- Und wie schrecklich, daß sich die Leute so vor ihr fürchten!« »Wir wollen sie anreden,« ermutigte Röse, »und wollen sie fragen. Vielleicht können wir ihr helfen. Komm, Marie!« Die guten Herzen der Beiden überwanden das Grauen. Sie hielten sich noch eine Weile umschlungen, während Röse leicht beschwichtigend auf Maries Rücken klopfte. »Nun gehen wir weiter,« sagten sie dann, und sie hingen sich wieder ein in die Arme ihrer Freunde. »Der Mond hat sich wieder versteckt,« meinte Marie bedenklich. In der großen, tiefen Stille, die durch kein Geräusch gestört war, nur die Ilm plätscherte, und der Wind fuhr durch die Baumkronen, da hörten sie etwas! -- Was war das? Sie befanden sich noch auf dem schmalen Weg. -- Von fern ein Scharren -- ein Laufen -- ein Huschen -- Schritte -- aber merkwürdige Schritte -- in Sätzen -- etwas ganz Unvermutetes, Unvernünftiges, Menschenunwürdiges! Sie standen alle bewegungslos, lautlos. Wenn sie das wäre, so wär's grauenhaft, so ein unwürdiges Hupfen und Huschen! Ihre Herzen klopften zum Zerspringen. Es kam näher -- grad' auf dem Wege kam es auf sie zu -- näher -- immer näher, auf dürren Blättern gehend, dann hopsend! Ja, wenn sie das wirklich wäre, dann überstiegen diese Laute alle Phantasie! Der entsetzlichste Kobold hätte nicht widersinniger rennen, hüpfen und stehen bleiben können, als es das tat, was da ankam! -- Und zu denken, daß diese arme Seele eine vornehme, geistreiche Hofdame war, wenn auch mit einem etwas boshaften Mundwerk gesegnet und mit einem Buckel! -- Ein Mensch! Eine Hofdame!! -- so heruntergekommen, so urweltlich sich aufführend -- so ungeheuerlich! Die junge, starke Phantasie der fünf Nachtwandler wurde mächtig bestürmt. Sie standen wie Schatten an die Gartenmauer angedrückt -- totenstill. Wie mußte erst das Aussehen des Spukes sein, nach solchen Lauten! -- Sie hatten sich alle eine unbestimmte Vorstellung von der Begegnung mit der Göchhausen gemacht, etwas Geisterhaftes -- Nebelhaftes -- Huschendes -- Fiependes -- und daß sie wie aus einer Flasche sprechen würde; aber nicht so -- um Gottes willen nicht so! Der Mond war hinter eine zerfetzte Wolke gekrochen, deren Ränder versilbernd. Da sahen sie sich etwas bewegen -- etwas Ungestaltes, Niederes -- es glühten zwei Augen, da war gar kein Zweifel -- und zwei unbegreifliche, wackelnde Hörner zeigten sich und hoben sich gespenstisch vom dunklen Hintergrund ab! Diese wackelnden Hörner, was sollten die? Was wollten die? Röse und Marie waren gelähmt vor Entsetzen. Da mit einem Male ein Zappeln, ein Strampfen, ein Bocken und Stampfen, und wie aus einer Trompete ein urweltlicher, scheußlicher Ton, und -- ein Gelächter! Budang war's, der lachte. Der Mond hatte sich jetzt durch seine Wolken gearbeitet und beleuchtete -- ein kleines, graues Ungetüm, das verdutzt auf vier hohen, sparrigen Beinen stand und seinen Riesenkopf mit seinen Riesenohren vor sich hin streckte und horchte. »Jesses, ein Esel!« rief Röse erlöst. Durch die Stimmen erschreckt, machte das kleine junge Scheusal hopsend und stolpernd Kehrt und jagte wieder mit vorgestrecktem Kopf in die Nacht und in den Park hinein. »Weiß Gott,« sagte Budang, »das war der kleine ›Muffel‹, der ist dem Pächter entwischt!« Sie blieben alle still und betreten, als müsse noch was kommen; zu einem wirklichen, herzhaften Gelächter brachten sie es nicht. Es lag etwas in der Luft, so etwas Rauschendes, Werdendes -- so etwas Banges, Wehes. -- Auf Windesflügeln fuhr es durch die hohen Bäume und sauste schwer über die uralte Erde hin; es klopfte und pochte überall an, an die schwellenden Knospen, an die Herzen, an die Gräber -- denn es war heilige Osternacht, wo die Toten auferstehen! Fern fiepte es wieder: Fledermäuschen -- Käuzchen -- verliebtes Nachtgetier. Jetzt zogen sie über die großen, weiten Parkwiesen. Die Schritte waren unhörbar auf dem moosigen Rasenboden. Eine moderige Feuchtigkeit stieg auf. Sie gingen immer noch in einer Reihe, Hand in Hand. »Ist's wahr,« erkundigte sich Röse bang, »daß vor Goethes Gartenhaus alle Morgen gekehrt wurde? Daß ein wunderschönes Mädchen dort gekehrt hat? -- Glaubt ihr das?« Sie unterhielten sich alle mit halber Stimme. Die Wucht der stürmischen, feuchten Frühlingsnacht lag über ihnen. Marie sagte leise: »Goethe hat das Mädchen selbst einmal gesehen; die Schopenhauern hat's erzählt, und die weiß auch, wer's gewesen ist. Beim ersten Morgenschimmer hat er das Mädchen getroffen, wie sie gekehrt hat -- und da hat sie aufgeschrieen wie eine arme Seele und ist zusammengesunken wie ein Wisch; und eine alte Frau, die wie ein Schatten war, hat sie mit sich genommen und hat etwas gemurmelt, wie: ›Ach, wenn ma auch immer alleinig is!‹ Dann sind sie nie wieder gekommen, und das Kehren war aus!« Diese erschütternde Erzählung stieß auf einigen Unglauben. -- »Ja, wißt ihr denn das nicht?« rief Marie unwillig, »Goethe hat der Schopenhauern gesagt, daß das nicht das einzige Mal gewesen ist, daß er das Mädchen gesehen hat. Wenn er in seinem Zimmer bei der Arbeit saß, hat es sich ihm manchmal so zart an die Seite gedrängt -- so wie ein Kätzchen -- oder wie ein Mädchen, das ihn lieb hatte und für ihn gestorben ist. Einmal hat er auch, als es wieder so kam, einen ganz feinen Arm gesehen, der sich über seine Brust spannte -- nur einen Arm und eine Hand. Und wenn er in der Dämmerung in seinen Garten ging, da soll etwas neben ihm aufgetaucht sein, etwas Unbestimmtes. Es haben's auch andre Leute gesehen und sind davor erschrocken. Ja, es war oft jemand unsichtbar um ihn, der ihn übermenschlich liebte! Und der Schopenhauern hat er erzählt, daß kein Gefühl je dem gleichgekommen ist und ihn so übermannt hat, wie der Schauer, wenn das Wundersame bei ihm gewesen sei. Und an dem Morgen, an dem er das schöne Mädchen kehren gesehen hat, da soll er ganz verstört gewesen sein!« Mit dem Kehren schien es also doch seine Richtigkeit zu haben; alle unterhielten sich weiter über geheimnisvolle Dinge. Jeder hatte etwas zu erzählen. Röse wußte von einem Kobolde, der den Leuten beim Umzug als Feder nachfliegt und im neuen Hause wieder mit einzieht; die Beutlersleute, die über Kirstens wohnten, kannten einen in ihrer Familie, der auf Spinnenbeinen ging und eine Zipfelmütze trug. -- Im alten Rattenneste Weimar spukte es zu jener Zeit eben noch recht kräftig. Da gab es keinen Kreuzweg und kaum eine Wegesbiegung, wo nicht irgend etwas nächtlich hockte und sein Wesen trieb, und kein altes Haus, in dem es ganz einfach geheuer war, und keine adelige Familie, die nicht gerade so wie ihr altes Familiensilber ihren alten Familienspuk besaß. Das heißt, auf den Familienspuk war bei weitem sicherer als auf das Familiensilber zu rechnen. Und so strichen unsere Fünf im nächtlichen Grauen auf den einsamen Parkwiesen hin und her und betraten nun mit abermals klopfendem Herzen die dunkelsten, geheimnisvollstem, überwachsenen, feuchten Wege an der Ilm, um trotz allem der gespenstischen Hofdame zu begegnen, denn gerade dort, hieß es allgemein, sollte sie spuken. Die Kameraden sprachen zwar nach der Eselbegegnung ziemlich von oben herab von diesen Dingen, waren aber wiederum um nichts weniger eifrig und weniger erregt, als unsere Ratsmädchen. Jetzt gingen sie über die Borkenbrücke und versuchten ihr Glück und ihr Grauen am jenseitigen Ufer. Da führte der Weg an einem mit Bäumen und Büschen bestandenen Abhange hin, und kaum waren sie hier eine Strecke in tiefem Schweigen geschlichen -- denn es war eine so feuchte, monddurchschienene Einsamkeit, als wäre jahrhundertelang hier niemand gegangen -- da standen sie alle mit einem Schlage wie gebannt! Nahe -- in ihrer allernächsten Nähe, hatte jemand aufgestöhnt, und sie hatten alle deutlich gehört, wie etwas, das in den Büschen steckte, so recht verbissen und verzweifelt zwischen den Zähnen »verdammt« gezischt hatte. »Verdammt!« deutlich: »verdammt!« -- nichts weiter, und dann wieder tiefe, tiefe Stille auf beiden Seiten. »Das is sie aber!« flüsterte Röse schaudernd. Alle hielten den Atem an und horchten. Das Einsame, Verlassene, Geheimnisvolle in den Büschen schien indessen auch zu horchen. Totenstille! Die Geistersucher warteten, ob sich's nicht wieder regen würde -- denn da war etwas -- das war sicher! Sie fühlten die Nähe eines fremden Wesens; sie standen wie die Bildsäulen so starr -- ganz Erwartung! Dasjenige, das in den Büschen auf so sonderbare Weise »verdammt!« gesagt hatte, mußte sicherlich in Verwunderung geraten sein, was mit den vielen Schritten, die es doch kommen gehört hatte, geworden sei. Jetzt aber -- was war das? -- Ein Fiepen, ein jämmerliches, sonderbares Fiepen, als singe ein Wasserkessel, oder quietsche ein Wägelchen, oder auch als wimmere ein Hund unter ganz besonderen Umständen! Es war ein ganz merkwürdiger Ton! Allen schien es durchaus nicht unmöglich, daß sie es wäre, denn daß sie fiepe, oder wie durch eine Flasche rede, hatten sie ja gewußt! Das war das Entsetzliche! Der Mond schien dämmernd hell; hell genug, um das, was im Gebüsch steckte, zu erkennen, falls es sich hervorwagte. Dadurch merkwürdig ermutigt und wie von Jagdeifer gepackt, mahnte Röse: »So kommt doch!« Und sie war's, die sich wieder auf die Beine machte, ohne auf die andern zu achten, die ihr schleichend folgten. So ging's den kleinen Abhang ein wenig hinan; einige Schritte, mit klopfendem Herzen und stockendem Atem. -- Dann ein gewaltiges Rascheln im dichten Gebüsch -- ein furchtbarer Schrei -- ein Springen -- ein heiserer Laut -- und im Mondlichte sahen sie, wie Röse von einem großen, dunklen Mantel umfangen wurde. -- Ein ungeheurer Schreck! -- Etwas so Unbegreifliches! Schauervolles! Marie schrie verzweifelt auf. »Ruhig -- ruhig!« sagte eine erregte Stimme. »Was macht ihr denn hier? Röse, um Gottes willen, wie kommst du hierher?« Von Röse hörte man kein Sterbenswort; aber sie schien zu flüstern und war immer noch in dem großen Mantel verschwunden. Und jetzt -- ein zarter, zarter Frühlingslaut -- so süß, so wunderlich -- ein Laut wie ein Kuß! »Herr Gott, der Thon!« rief Marie ganz überwältigt. »Der lag hier auf der Fuchspasse!« Das nicht gerade jagdgemäße Wort hatte sich ihr im Schreck und in der Überraschung gebildet. Da sprang auch schon Thons Hund, dem er im Ärger und in der Erregung über die geheimnisvollen nächtlichen Schritte, die ihm den Fuchs verscheuchten, die Schnauze zugehalten hatte, wedelnd an Marie in die Höhe. »Ja, der Thon!« antwortete der Geheimnisvolle bewegt, erschüttert, doch auch unwillig aus dem großen, dunklen Mantel heraus. -- »Was fällt euch denn ein?« »Ich hab's ihm schon erzählt,« sagte Röse betreten, »daß wir ausgerissen sind.« »Ja aber,« meinte Budang in seiner offenen Weise, »sie sind ja mit _uns_ -- und wenn _wir_ dabei sind, dürfen sie alles! -- Frau Rat hat es ihnen ein für allemal erlaubt.« Der junge Adjutant mußte über die Ehrenwache, die die beiden Mädchen hatten, lächeln. In den wenigen Worten Budangs lag jedoch so eine überzeugende Vortrefflichkeit -- so eine unantastbare Treuherzigkeit -- daß jedes weitere Wort, jeder Unwille und jedes Mißtrauen abgeschnitten war. Der Adjutant schüttelte Budang die Hand und begrüßte die beiden andern, währenddem er seine junge Braut nicht aus dem Arme ließ. »Also die Göchhausen wolltest du sehen? -- Für so etwas hattest du also doch noch Raum?« »Und Sie,« flüsterte Röse bedrängt und zaghaft -- »lagen da doch des Fuchses wegen?« »Ja, mein Herz -- weil ich's daheim nicht aushalten konnte. -- Was denkst du denn? Da ist die Welt zu enge!« »Ja,« sagte Röse leise, »deshalb war ich eben auch hier.« Und nun gingen sie alle miteinander und brachten die leichtsinnigen Dinger, die Ratsmädchen, heim in die Wünschengasse. Unterwegs erzählte Röse ihrem Bräutigam von ihren Kameraden -- wie gut sie immer wären, wie lustig, wie treu, und was sie von ihnen gelernt hätte, besonders von Budang. Sie schüttete ihrem Bräutigam ihr ganzes Herz aus, das voller Liebe und Freundschaft war, voller Anhänglichkeit -- und erzählte alle möglichen dummen und lustigen Streiche. Er mußte in aller Eile alles wissen. Und sie bat ihn, auch ihre Kameraden lieb zu haben. »Sie sind so gut, so klug! Solche gibt's nicht wieder!« rief sie. Und er hörte ihr glücklich lächelnd zu. Das war Frühlingsreinheit -- Frühlingszartheit -- Frühlingswonne! Der Wind hatte sich gelegt, und der Mond schien hell. * * * * * Viele, viele Jahre sind vergangen. -- Die Jugend vieler Millionen Menschen ist verweht. -- Es ist alles anders geworden. Röse ist nun eine alte Frau. -- Was das Leben ihr gab, hat es ihr längst wieder genommen. Sie hat alle Freuden genossen und alle Freuden mit Leiden gezahlt -- nach Menschenart. Sie ist unendlich geduldig geworden. Sie kennt alles und weiß alles. Sie hat alles sich wiederholen sehen, immer von neuem. -- Sie ist gut, still und heiter und lebt in sich selbst. Hier, nur in sich selbst, findet sie die schöne, alte Welt, die ihr so lieb ist, so heimisch -- sonst nirgends! Fremde Gesichter sind um sie, und man spricht von fremden Dingen, die sie nichts angehen. Ein Sehnen wie nach einer verlorenen Heimat ergreift sie oft -- aber da ist nichts zu machen. Alles ist unerbittlich, was geschieht. Geduldig werden -- geduldig werden -- geduldig werden! darauf läuft's hinaus. Jetzt ist sie schwer krank. Von lieben Menschen wird sie gepflegt. Ihre Enkelin sitzt bei ihr am Bette. Draußen Frühlingsdämmerung und wieder einmal weicher Sturm, der breit durch die Straßen fährt. Die alte Frau träumt und spinnt an ihren Gedanken. Da -- was ist das? Der Sturm trägt wie auf Flügeln einen rhythmisch munteren Pfiff zu ihrem Fenster herauf; ganz wie damals in der Wünschengasse, als sie beim Fasanenessen saßen. »Das ist er, wie vor sechzig Jahren!« sagt sie leise bewegt zu ihrer Enkelin -- »das ist Budang!« Und wie ein milder Glanz geht es über das Gesicht der Greisin. -- »Das ist er!« nickte sie träumerisch. »Siehst du, so pfiff er immer, der Budang, wenn er uns abholen wollte; so pfiff er, wenn er wissen wollte, ob der Vater nicht mehr daheim sei, und ob er mit den beiden andern heraufkommen dürfe!« Da tut sich die Tür auf. Ein schöner, kleiner, alter Mann tritt ein, in tadellosem Anzuge, blütenweiß und rabenschwarz; so tadellos, daß es sofort wie etwas Besonderes auffällt. Er hat einen gescheiten Kopf mit lebendigen, geistvollen Augen -- und seine silberweißen, dichten Locken liegen ihm wie eine helle Wolke über der Stirn. -- Er hat eine Art geistvoller Grazie in Blick und Bewegung. »Wie geht's der Röse?« fragt er. Röse streckt ihm die feine Hand entgegen. »Goullon,« sagt sie bewegt mit hellen Tränen im Auge, »du kannst ja noch deinen Pfiff!« »Gelt,« antwortet der Geheimrat, den sie sonst den »Budang« nannten, »das freut dich?« Dann saßen die beiden Alten zusammen und plauderten und machten miteinander einen weiten -- weiten Ausflug in die gute, alte Zeit. Und das war die beste Medizin. Es war das vierte Mal heute, daß er herauf zu seiner alten Freundin in Sorgen und Bangen kam; -- aber zuletzt, da hatte er's gefunden, was ihr wohl tat. »Gott segne dich,« sagte Röse, »du lieber Mensch -- du treuer Mensch!« Ja, treu waren sie ihr Lebtag einander gewesen -- treu in großer, wahrer, seltener, starker Freundschaft. [Illustration] Hausbücherei der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung. +Bis Dezember 1904 sind erschienen folgende Bände:+ Bd. 1. _Heinrich von Kleist_: Michael Kohlhaas. Mit Bildnis Kleists, 7 Vollbildern von Ernst Liebermann und Einleitung von Dr. Ernst Schultze. Preis gebunden 90 Pfg. +6.--10. Tausend.+ Bd. 2. _Goethe_: Götz von Berlichingen. Mit Bildnis Goethes von Lips und Einleitung von Dr. Wilhelm Bode. Preis gebunden 80 Pfg. Bd. 3. _Deutsche Humoristen._ +Erster Band+: Ausgewählte humoristische Erzählungen von Peter Rosegger, Wilhelm Raabe, Fritz Reuter und Albert Roderich. 221 Seiten stark. Preis gebunden 1 Mark. +6.--10. Tausend.+ Bd. 4. _Deutsche Humoristen._ +Zweiter Band+: Clemens Brentano, E. Th. A. Hoffmann, Heinrich Zschokke. 222 Seiten. Preis gebunden 1 Mark. +6.--10. Tausend.+ Bd. 5. _Deutsche Humoristen._ +Dritter Band+: Hans Hoffmann, Otto Ernst, Max Eyth, Helene Böhlau. 196 Seiten. Preis gebunden 1 Mark. +6.--10. Tausend.+ Bd. 6/7. _Balladenbuch._ +Erster Band+: Neuere Dichter. 495 Seiten. Preis gebunden 2 Mark. Bd. 8. _Hermann Kurz_: Der Weihnachtsfund. Eine Volkserzählung. Mit Einleitung von Prof. Sulger-Gebing. 209 Seiten. Preis gebunden 1 Mark. Bd. 9. _Novellenbuch._ +Erster Band+: C. F. Meyer, Ernst von Wildenbruch, Friedrich Spielhagen, Detlev von Liliencron. 194 Seiten. Preis gebunden 1 Mark. Bd. 10. _Novellenbuch._ +Zweiter Band+ (Dorfgeschichten): Ernst Wichert, Heinrich Sohnrey, Wilhelm von Polenz, Rudolf Greinz. 199 Seiten. Preis gebunden 1 Mark. [Illustration] Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder gegen vorherige Einsendung des Betrages oder Nachnahme durch die Kanzlei der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel (für Mitglieder -- s. folgende Seite -- portofrei). Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung. [Illustration] (Goldene Medaille der Weltausstellung St. Louis 1904.) Die Stiftung, deren Zweck es ist, »hervorragenden Dichtern durch Verbreitung ihrer Werke ein Denkmal im Herzen des deutschen Volkes zu setzen«, begann ihre _Tätigkeit_ i. J. 1903 damit, daß sie an 500 Volksbibliotheken je 20 Bände verteilte, unter denen sich z. B. Fontanes »Grete Minde« -- M. v. Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind« -- eine Auswahl der »Deutschen Sagen« der Brüder Grimm -- Roseggers »Als ich noch der Waldbauernbub' war« -- ferner die umstehend genannten 3 ersten Bände der »Hausbücherei« befanden. Im J. 1904 wurden 40 Werke (23 Bände) in je 750 Exemplaren zum gleichen Zwecke angekauft. Abzüge des _Werbeblatts_, des _Aufrufs_, der Satzungen, des Jahresberichts u. s. w. werden von der Kanzlei der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel gern übersandt. Die Stiftung erbittet besonders jährliche, aber auch einmalige Beiträge; erstere sollen nicht zum Kapital geschlagen, sondern fortlaufend mit den Kapitalzinsen ausgegeben werden. _Für jährliche Beiträge von mindestens 2 Mk._ oder einmalige von mindestens 20 Mk. gewährt die Stiftung durch Übersendung einer ihrer eigenen Ausgaben (nicht der angekauften Werke) Gegenleistung. Wer 25 Mark Jahresbeitrag zahlt, erhält auf Wunsch alle im gleichen Jahre erscheinenden Bände der »Hausbücherei«. Die _Beiträge_ werden in jeder Höhe entgegengenommen von der Deutschen Bank und ihren sämtlichen Zweiganstalten und Depositenkassen -- der k. k. Postsparkasse, Wien, auf Konto Nr. 859112 -- der Schweizerischen Volksbank, Bern, und ihren sämtlichen Zweiganstalten und Depositenkassen -- dem Kassenwart der Stiftung, Dr. Ernst Schultze, Hamburg-Großborstel. Alle _Briefe_, _Anfragen_ u. s. w. werden an den Genannten oder mit der Aufschrift »Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung, Hamburg-Großborstel« erbeten. Aufruf der Stiftung. Fast täglich lesen wir in den Zeitungen von der Enthüllung neuer Denkmäler. Kaiser und Fürsten, Feldherren und Staatsmänner, Dichter und Künstler erhalten Standbilder, die das Andenken der Nachwelt an ihre Verdienste in eine besonders wirksame Form kleiden und für alle Zeiten befestigen sollen. Gewiß ist das an sich ein lobenswertes Tun; aber daneben muß doch auch dafür gesorgt werden, _daß dem äußeren Bild ein inneres Gedenken entspricht_ -- daß nicht nur bei einigen wenigen Kundigen, sondern in den weitesten Kreisen des Volkes Verständnis dafür vorhanden ist, was der Gefeierte für sein Volk geleistet hat. Ganz besonders aber müssen _unsere großen Dichter in der Seele ihres ganzen Volkes weiterleben_, sollen ihre Standbilder nicht ein leerer Prunk bleiben. Schon oft ist von deutschen Dichtern der Gedanke ausgesprochen worden, daß aller Ruhm und alle Ehre, mit denen Mit- und Nachwelt sie schmücken können, ihnen nichts ist gegen die frohe Hoffnung, im Herzen ihres Volkes eine bleibende Stätte zu finden. _Gustav Freytag_ war es, der zum ersten Male klar und bestimmt darauf hinwies, daß man einen großen Dichter so gut wie durch ein Denkmal durch die Begründung einer Stiftung ehren könne, die seine Schriften auch nach seinem Tode im Volke verbreite. Als es sich im Jahre 1874 um die Errichtung eines Denkmals für den eben verstorbenen _Fritz Reuter_ handelte, machte er den Vorschlag, man möge kein gewöhnliches Denkmal setzen, sondern lieber die Volksbibliotheken fortgesetzt mit den Schriften Reuters versehen. -- Und in jüngster Zeit ist derselbe Grundgedanke u. a. in ansprechendster Form von _Rosegger_ verfochten worden: »Die Denkmäler erstehen, die poetischen Schöpfungen verstauben. Als ob die Dichter geboren würden und ihre Werke schrieben, damit einmal eine Denksäule, eine Figur ihren Namen trüge! Die Hoffnung, der Stolz, das Leben und die Unsterblichkeit eines Dichters besteht aber darin -- gelesen zu werden, mit seinen Schöpfungen im Volke zu wirken ... _Wenn das Kapital, das für ein Dichterdenkmal aufgebracht worden, auf Zinsen angelegt_ Weitere Anmerkungen zur Transkription Im Werbeteil (Aufruf der Stiftung) fehlt offenbar eine Seite. Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzungen wurden stillschweigend korrigiert, die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Textkorrekturen: S. 114: Teelöfel → Teelöffel Die _Teelöffel_ zitterten hörbar, S. 132: Gymnasialenglich → Gymnasialenglisch mein bestes _Gymnasialenglisch_, »~made in Germany~«, S. 166: gleichzeitg → gleichzeitig Das sind sie! dachten Röse und Marie _gleichzeitig_ S. 186: war → wahr »Ist's _wahr_,« erkundigte sich Röse bang, *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHE HUMORISTEN, 3. BAND (VON 8) *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. 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