Title: Die Sitten der Völker, Zweiter Band
Editor: Georg Buschan
Release date: January 31, 2022 [eBook #67289]
Language: German
Original publication: Germany: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
Credits: Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
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Liebe·Ehe·Heirat·Geburt·Religion·Aberglaube·
Lebensgewohnheiten·Kultureigentümlichkeiten·
Tod und Bestattung bei allen Völkern der Erde
Bearbeitet auf Grund der Beiträge hervorragender Fachgelehrter
von
Dr·Georg Buschan·
Zweiter Band
Mit 522 Abbildungen im Text, 13 farbigen
Kunstbeilagen
und 12 Kunstblättern in Doppeltondruck
Stuttgart, Berlin, Leipzig * Union Deutsche Verlagsgesellschaft
Nachdruck verboten
Alle Rechte vorbehalten
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Seite
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Asien (Fortsetzung)
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Korea
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Japan
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Formosa
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Ceylon
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Vorderindien
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Nordindien
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Die Wildstämme im Norden und Osten
Vorderindiens
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Assam
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Zentralasien
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Nordasien
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Iran
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Vorderasien
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Afrika
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Südafrika
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Madagaskar
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Ostafrika
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Nordostafrika
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Ägypten
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Nordafrika
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(Schluß von Afrika folgt in Band III)
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Verzeichnis der Kunstbeilagen
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Zugehöriger
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Eine mohammedanische Braut
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Fächertanz in Nikko
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Strohpuppentanz in Japan
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Das „Gion“-Fest in Kyoto
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Singhalesische Teufelstänzer
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Das Periyapalayamfest (Ceylon)
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Fakire in einem indischen Tempel über ein
Brett mit aufrechtstehenden Nägeln schreitend
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Indische Bajadere im Tempel tanzend
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Hochzeitswagen der Hindu
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Gebetmühle in einem buddhistischen
Tempel in Tibet
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Samojedenfamilie in Winterkleidung
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Mohurrumfest in Persien
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Der Nationaltanz der Balutschen
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Vor der Klagemauer Jerusalems
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Das jüdische Osterfest der Samaritaner
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Ein Medizinmann der Swasi
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Inneres der Palisadenfeste eines
Eingeborenensultans in Ostafrika
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Negerfrauen aus Ostafrika, die
in Flaschenkürbissen Bier auf dem Kopfe tragen
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Suaheliweiber aus Sansibar mit
ihrem Fetisch
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Der Borana-Bororansi-Tanz der Somal
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Die Prozession des Mahmal
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Kriegsspiel in Marokko (sogenannte
Fantasia)
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Marokkanischer Beduinenscheich
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Marokkanische Schönheit
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Arabischer Schleiertanz
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Die Halbinsel Korea, die nach wechselvollen Schicksalen 1904 zu einem Vasallenstaate, sechs Jahre später zu einer Provinz Japans gemacht wurde, wird von einer Bevölkerung eingenommen, die zu den Mongolen im weiteren Sinne zählt, aber auch viele fremde Bestandteile in sich aufgenommen hat. So hat sich bei ihr ein ganz bestimmter Typus herausgebildet, der sogenannte mandschu-koreanische, der im großen und ganzen mehr dem des Europäers als des Mongolen nahekommt. Die Koreaner sind stattliche, im Vergleich zu den übrigen Ostasiaten große Leute, mit mehr länglichem, schmalem Gesicht, weniger vorragenden Jochbeinen, sowie feinerer, mehr dünner und etwas gebogener (adlerförmiger) Nase (Abb. 4). Diese relative Feinheit des Gesichtes wird aber beeinträchtigt durch die deutlich geschlitzten Augen mit Mongolenfalte, die vorstehenden Kiefer, im besonderen die langen Schneidezähne, welche die Oberlippe nicht zu decken vermag, und das wenig entwickelte Kinn.
Die Koreaner betreiben Ackerbau auf ziemlich niederer Stufe. Ihre Kleidung gleicht in ihren Hauptbestandteilen der chinesischen; beide Geschlechter tragen unten geschlossene Hosen und Jacke, aber nicht vom modernen Schnitt, sondern so wie er zur Zeit der Mingdynastie in China üblich war. Für das Frauengewand sind typisch eine ganz kurze, die Brüste unbedeckt lassende Jacke und ein wie ein Segel aufgebauschter Rock, der an einem breiten Gurte hängt und überall die Erde berührt (Abb. 6). Frauen der wohlhabenden Kreise ziehen noch darüber einen Chang-ot, einen dünnen, grünseidenen Mantel an, der ihnen auf der Straße gleichzeitig zur Verschleierung[S. 2] dient, wenn ihnen eine männliche Person begegnet. Wenn er richtig umgelegt ist, dann bleiben nur ein Auge, eine Andeutung der Wange und ein ganz klein wenig von der Stirn und den Schläfen unbedeckt. Ganz eigenartig ist die Kopfbedeckung der Koreaner. Diese besteht aus einer aus Pferdehaar oder Zwirn angefertigten Binde, die, um das lange, nach oben zu in einen kleinen Knoten auslaufende Haar zusammenzuhalten, um den Kopf gebunden und nur beim Schlafen abgenommen wird. Über diese Binde wird eine aus dem gleichen Material hergestellte Kappe gestülpt, die der Koreaner ebenfalls tagsüber nie ablegt, und wenn er auf die Straße geht, wird über diesem Käppi noch ein schwarzlackierter Zylinderhut aus gespaltenem Bambus getragen, der jedoch, da er bedeutend kleiner als der Kopf ist, unter dem Kinn mittels einer schwarzen Schnur, die bei wohlhabenderen Leuten noch mit Glasperlen besetzt ist, festgehalten wird (Abb. 2). Da jeder Koreaner mit dieser unvermeidlichen Kopfbedeckung einhergeht, so gibt es in den Straßen natürlich zahlreiche Huthändler, die diese Zylinder zu dem billigen Preise von vier bis fünf Pfennigen häufig aufbügeln. — Die Koreaner wohnen in einfachen Strohhütten (Abb. 5).
Das koreanische Volk ist streng in drei Stände geschieden, was übrigens auch in[S. 3] der Kleidung zum Ausdruck kommt. Nur dem Adel und den Beamten ist es gestattet, farbige Gewänder zu tragen (Abb. 4), die gewöhnlichen Leute dürfen sich nur weiße Kleider anziehen. Die vornehmste Klasse sind die Yang-ban oder Adligen. Für die Frauen dieses Standes ist Vorschrift, daß sie nur verschleiert auf die Straße gehen, wobei der grünseidene Chang-ot über den Kopf gezogen wird; für die der zweiten Klasse ist dieses Gebot nicht so bindend; die Tänzerinnen, Sklavinnen, Nonnen und alle, die zur untersten Klasse gerechnet werden, dürfen den Chang-ot nicht tragen. Im übrigen besteht die Kleidung der Koreanerinnen in weiten Hosen und einem darübergezogenen Rock, der die Umrisse des Körpers, abgesehen von den freibleibenden Brüsten, unkenntlich macht. — Die vornehmen Koreaner reiten entweder zu Pferde aus, wobei sie ihr Pferd führen und einen Diener mit einem Schirm vorausgehen lassen (Abb. 3), oder sie werden in einem Gefährt getragen, das ein Mittelding zwischen Sänfte und Karre vorstellt. Vorn und hinten wird es an langen Stangen von Dienern halb gezogen, halb geschoben, fährt aber auf einem Rade, das sich unter dem Sitz befindet, dahin (Abb. 7).[S. 4] Das religiöse Gefühl scheint bei den Koreanern weniger als bei den übrigen asiatischen Völkern entwickelt zu sein. Der Buddhismus, der ums Jahr 380 nach Christus eingeführt und später zur Staatsreligion erklärt wurde, vermochte nie recht Wurzel zu fassen; die gebildeten Kreise bekennen sich zur Lehre des Konfuzius, das gewöhnliche Volk ist zumeist religiös indifferent oder glaubt an die Geister der Berge und des Waldes. Die Teufel- und Geisteranbetung scheint von jeher die Grundlage des nationalen Glaubens der Koreaner gebildet zu haben. Der Berggeist ist heute noch die volkstümlichste Gottheit, der ein jedes Dorf Opfer darbringt. Am Wege und in den Bergpässen finden sich Altäre errichtet, auf denen die Vorüberziehenden sich durch Spenden die Berggottheit geneigt machen können. Nach dem Glauben der Koreaner üben die Berge auch eine wohltätige und schützende Wirkung aus; man gibt ihnen auch ganz sonderbare Namen, wie Spitze der andauernden Tugend, Spitze der tausend Buddha, Ewiger Friede, Schwertberg, Wolkenberührer und andere mehr. Jede Stadt hat ihren Schutzberg. — Ebenso wie die Bergketten werden auch die Bäche, Flüsse, Seen, Teiche und so weiter von Geistern bewohnt gedacht, die entweder verderbenbringend oder wohlwollend sich gegen die Menschen verhalten und durch Opfer und Gebete versöhnt werden.
Die Frauen der Koreaner werden sorgfältig von der Außenwelt abgeschlossen, besonders die der obersten Klasse, denen es nur gestattet ist, bei Nacht sich im Freien Bewegung zu machen. Es gewährt dann einen gespensterhaften Anblick, diese weißen Nachtgestalten bei Laternenschein über die Straße huschen zu sehen. Ohne Erlaubnis ihres Mannes darf die Frau nicht einmal auf die Straße hinabsehen. Wenn ein Mann ein Dach zu decken hat, benachrichtigt er zuvor die Nachbarsleute des Hauses davon, damit sie die Fenster der Frauengemächer schließen. — Bis zum Alter von zwölf Jahren sind die Mädchen der vornehmen Stände nur für die Angehörigen des Hauses und ihre nächsten Verwandten sichtbar. Von ihrer Verheiratung an, die sie sehr jung eingehen, beschränkt sich ihr Verkehr mit Männern auf solche, die mit ihnen bis zum fünften Vetterngrade verwandt sind. Die Frauen dürfen zwar Freundinnen besuchen, aber dabei nur mit verschleiertem Gesicht an die Öffentlichkeit gehen; zumeist werden sie in einer verhangenen Sänfte getragen (Abb. 9).
Für den Koreaner ist die Frau eigentlich nur das Arbeitstier und das Werkzeug des Vergnügens; ihre Hauptaufgabe erblickt sie daher in der Mutterschaft. Wenn ein Mädchen mit zwanzig Jahren noch nicht verheiratet ist, dann kommt es ins Gerede der Leute. Bezeichnend für die niedere Stellung der Frau ist es, daß sie als Gattin keinen Namen führt; in der Kindheit erhält sie wohl innerhalb der Familie einen Rufnamen, aber nach ihrer Verheiratung[S. 5] geht sie seiner verlustig. Trotz der großen Verachtung, mit der die koreanische Frau behandelt wird, macht sie doch einen wirtschaftlichen Faktor in der Familie und im Leben der Nation aus. Der Zwang der Verhältnisse hat sie zum Lasttier gemacht. Sie arbeitet, damit ihr Herr und Gebieter in Faulheit, in gewissem Luxus und in Frieden leben kann. Die Frau zeigt sich außerordentlich tätig, ist fleißig, charakterfest, weiß sich in jedweder Notlage sofort zu helfen, besitzt Ausdauer, Mut und Anhänglichkeit. Ihre Tätigkeit besteht bei den mittleren und unteren Schichten im Schneidern und Waschen, in der Hausarbeit, sowie in der Bestellung des Ackers.
Auch der Jüngling ist bestrebt, möglichst früh eine Gattin heimzuführen, denn nur der Verheiratete gilt etwas in der Gesellschaft und hat Anrecht auf Ämter und Ehren. Die Hochzeit (Abb. 1) wird von den Vätern vereinbart. Am Vorabend bindet eine Freundin der Braut ihr jungfräuliches Haar zu einem Knoten, dem Abzeichen der Verheirateten. Am Hochzeitstage setzt ein Zauberer eine „Krone des Glücks“ auf ihr Haupt (Abb. 8), sie selbst muß beständig im Schweigen verharren, selbst allen Fragen und Glückwünschen gegenüber. Die Brautleute (Abb. 10) nicken sich vor Zeugen mit einem Gruße zu; damit ist die Ehe geschlossen. — Polygamie ist nicht gestattet, jedoch sind Nebenweiber eine anerkannte Einrichtung und sowohl[S. 6] in den niedrigsten wie in den höchsten Kreisen anzutreffen, und dies in so großer Zahl, als der Geldbeutel des einzelnen es erlaubt. Nach koreanischem Gesetz kann eine Frau eine Scheidung von ihrem Mann nicht erzielen, dieses Vorrecht besitzt nur er selbst; in den oberen Kreisen aber ist Scheidung ungewöhnlich. Die Frau darf jedoch ihren Mann verlassen und den Schutz eines Verwandten annehmen, es sei denn, daß ihr Gatte das Gegenteil ihrer Anklagen beweisen kann. Gelingt es der Frau nicht, den Beweis der Wahrheit für ihre Beschwerden anzutreten, dann erstatten ihre Verwandten die Hochzeitskosten, meistens eine große Summe, zurück. Ein Mann kann sich gesetzlich von seiner Gattin scheiden lassen wegen Trägheit, Versäumen der vorgeschriebenen Opfer, Diebstahl und Widerspenstigkeit; er behält stets die Pflege der Kinder. Eine Frau der oberen Klassen darf gegen die Beschuldigungen ihres Gatten auch keine Berufung einlegen, da häusliche Störungen durchweg für tadelnswert angesehen werden.
[S. 7]
[S. 8]
Wenn wir auf der langgestreckten Inselgruppe des japanischen Reiches, das sich von den nördlichen Kurilen bis zur Südspitze Formosas ausdehnt, Umschau halten, so treffen wir nicht nur auf eine große Verschiedenheit des Klimas, der Tier- und Pflanzenwelt, sowie der Lebensbedingungen, sondern auch auf solche der Bewohner; in der Hauptsache sitzen im Norden die Ainu, im Süden Chinesen und Malaien und auf den Inseln des eigentlichen Altjapan die Japaner, die allerdings auch wieder keinen reinen Typus mehr vorstellen, sondern ein Mischvolk sind, hervorgegangen aus den ursprünglich ziemlich über das ganze Reich ansässig gewesenen Ainu (vielleicht auch noch einer älteren Urschicht, den sogenannten Koro-pokguru), den aus Nordasien hinzugewanderten mongolischen (tatarischen) Völkern und den aus Indonesien über die Philippinen hinzugekommenen malaiischen. Trotz dieser grundverschiedenen Mischung treten uns die Japaner als eine ziemlich homogene Masse entgegen, in der sich höchstens zwei Typen unterscheiden lassen, die aber in ihrer extremen Ausprägung doch scharf gekennzeichnet sind: ein feinerer und ein plumperer; der Unterschied kann so auffällig sein, daß man manchmal denkt, es handelt sich um Personen ganz verschiedener Rassen. Der feinere Menschenschlag (Abb. 12), der sich fast ausschließlich auf die höheren Stände beschränkt, gleicht dem von uns bereits geschilderten mandschu-koreanischen Typus; er hat sich gleichsam durch geschlechtliche Zuchtwahl hier befestigt, denn die Vornehmen und Reichen in Japan bevorzugen als Frauen und auch als Nebenfrauen solche von schlankem Bau, mit langem, schmalem Gesicht, Adlernase, langem Hals, schmalen Schultern und Hüften, sowie zierlichen Armen und Füßen. Bälz nennt diesen Typus den Shoshutypus im Gegensatz zu dem Satsuma- oder groben Typus. Letzterer (Abb. 13 u. 15) ist gekennzeichnet durch kleinere Statur, plumpen, robusten Körperbau, rundes, breites Gesicht mit ausladenden Wangenbeinen, volle Backen, stark ausgeprägte Mongolenfalte, breite, gerade oder aufgestülpte Nase mit flachem, niederem Rücken, großlippigen, breiten Mund, vortretende Nasen-Mundpartie und volles Kinn.
Die Kleidung der Japaner besteht in einer Hose und einem Kittel, die beim Landvolke aus mit Indigo gefärbtem Hanf-, bei den Stadtbewohnern aus farbigem Baumwollgewebe (Abb. 17) und bei den Wohlhabenderen aus Seidenstoffen angefertigt sind. Vielfach hat bereits europäische Kleidung Eingang gefunden, die bei der Arbeit praktisch und sparsamer ist. In seinem Heim jedoch bevorzugt jeder Japaner, sei er Offizier, Beamter, Gelehrter oder Geschäftsmann, den bequemeren Kimono, der dem Träger etwas Würdevolles und, besonders bei weiblichen Wesen, recht Malerisches verleiht. Es ist dies ein aus einem Stück hergestelltes, schlafrockähnliches Gewand, das vom Hals bis zu den Füßen reicht, lange viereckige Ärmel besitzt und mit einem Gürtel, dem Obi, zusammengehalten wird. Der Schnitt ist für beide Geschlechter der gleiche. Jede Jahreszeit erfordert ihr besonderes Kleid, ebenso die Etikette bei den verschiedenen Anlässen; es geht in Japan geradeso zeremoniell zu wie in China. Im Winter trägt man wattierte Kimono; vielfach wird ein Kimono über den anderen gelegt, um sich vor Kälte zu schützen, denn da man in Japan in Holzhäusern wohnt, deren Räume nur durch Papierwände abgeschlossen sind, so herrscht in diesen bei kühlerer Witterung eine ziemlich niedrige Temperatur. Der Obi der Männer ist ein schmaler Gurt aus gerippter Seide oder Brokat bei festlichen Gelegenheiten und aus weißem Krepp oder Seide im Hause. Der der Frauen (Abb. 14) bildet den kostbarsten Teil des weiblichen Gewandes und wird für besonders feierliche Gelegenheiten aus prachtvollem Goldbrokat hergestellt. Er ist etwa dreißig Zentimeter breit und mißt vier bis viereinhalb Meter. Er wird in der Länge zusammengefaltet, um die Taille gelegt und an den Enden zu einer flachen Schleife auf dem Rücken zusammengebunden; infolge eingelegter Polsterung stehen diese dann vom Körper weit ab. Vorn wird der Gürtel noch durch eine goldene oder mit Edelsteinen verzierte Klammer gehalten. Bei den unverheirateten Mädchen wird der Obi so gebunden, daß die Enden bis an die Schulter in die Höhe stehen (geradeso wie ein „Pfeil“ in einem Köcher, weswegen die Mode auch ihren Namen erhalten hat). Das Kleid der Japanerin mutet recht schön und malerisch an, eignet sich aber nicht zur Arbeit und hindert die körperliche Bewegung. Die Männer ziehen sich stets noch einen Überzieher (Haori) an, der denselben Schnitt wie ein Kimono hat, aber nur bis zu den Knien reicht und mit einer weißseidenen Schnur geschlossen gehalten wird. Die zeremonielle Robe ist mitten auf dem Rücken, auf den Ärmeln[S. 10] und auf jeder Seite der Brust mit der Familienverzierung in Weiß versehen. Arbeiter, Zimmerleute, Jinrikschazieher und so weiter tragen einen baumwollenen Rock (Happi), der mit großen roten oder weißen Zeichen gemustert ist, die die Zunft oder den Stand des Trägers bezeichnen; der private Jinrikschazieher trägt das Familienwappen seines Herrn in Seide gestickt auf dem Rücken (Abb. 16). Die Fußbekleidung ist, sofern der Japaner nicht barfuß geht, eine Leinensocke (Tabi), bei der die große Zehe von den übrigen getrennt ist, um den Sandalenriemen durch die Lücke führen zu können. Die Kopfbedeckung fällt verschieden aus. Die kunstvolle Haarfrisur der Frauen erfordert das Schlafen auf einer Nackenstütze. Gegen den Regen hängt sich das Landvolk Strohmäntel um und trägt Regenschirme aus Ölpapier. Bei den Männern der niederen Klassen (Kuli, Pferdeknechten) ist das Tatauieren (Abb. 20) sehr beliebt; es soll bei ihnen, die wegen ihrer anstrengenden Arbeit leicht in Schweiß geraten und daher nur wenig bekleidet einhergehen, die Kleidung ersetzen. Tatsächlich werden vorzugsweise die Stellen am Körper tatauiert, die man sonst bedeckt trägt. Vögel, Drachen, Blumen und weibliche Schönheiten geben die Motive auf Rücken, Brust, Lenden und Schultern ab. Bei den Frauen ist Bemalen des Gesichtes und Halses mit einer weißen Paste (Abb. 22), Ausrupfen der Augenbrauen, Rotschminken der Lippen und Schwarzfärben der Zähne üblich. Die Japaner wohnen in niederen, nur einen bis zwei Stock hohen, aus Holz gebauten Häusern, die weder Keller noch Boden besitzen. Die Stelle von Fenstern vertreten Schiebetüren, deren Füllung aus Papier besteht. Feste Zimmer gibt es in ihnen nicht, die Innenräume werden nach Bedarf durch verschiebbare Wände aus Papier hergestellt. Den Boden bedecken Binsenmatten, zur Heizung dienen messingene Kohlenbecken. — Die Lagerstätten sind auf dem Boden ruhende Matratzen und eine wollene Zudecke. Die sonstige Ausstattung der Zimmer ist eine bescheidene; außer Schränken finden sich für gewöhnlich nur noch Wandschirme, Ständer für Blumen und einige wenige Rollbilder an der Wand.
Die Japaner genießen mit Vorliebe Reis, sehr wenig Fleischspeisen und als Getränke heißen Reiswein (Sake) und Tee (Abb. 19); Genußmittel ist ihnen der Tabak, den auch die Frauen gern rauchen (Abb. 18). — Ihre Ackerwirtschaft steht noch auf der Stufe des Gartenbaues.
Die Japaner genießen einen Ruf als tüchtige Handwerker, die eine Reihe von aus China überkommenen Fertigkeiten zu einer wahren Kunst weiterentwickelt haben. Es sei nur an die Seidenindustrie, die Email- und Tauschierarbeiten, den Bronzeguß, das Waffenschmiedehandwerk, die Lackierkunst, die Malerei, die feinere Keramik, die Kleinplastik in Elfenbein, Holz, Horn und so weiter erinnert. Stets erwiesen sich die Japaner weniger als Erfinder eigener Ideen, denn als Verarbeiter der ihnen von außen zugetragenen Gedanken, womit sie im geraden Gegensatz zu den Chinesen stehen, die an ihrer althergebrachten Kultur mit Zähigkeit festhalten. — Die [S. 12]Japanerinnen bekunden eine besondere Fertigkeit in dem künstlerischen Zusammenstellen von Blumensträußen, worin sie eine sorgfältige Ausbildung erfahren. Das Geheimnis der japanischen Blumenstraußkunst besteht in der Ausarbeitung scharfer Silhouetten, in der sorgfältigen Harmonie zwischen Strauß und Gefäß, die sich auf eine Übereinstimmung in der Linie sowie in der Farbe erstrecken muß, und in der Vermeidung jeder gleichmäßigen oder langweiligen Anordnung der Blumen, die leicht, graziös und originell zusammengestellt sein müssen.
Die Japaner sind stets heiteren Charakters, und diese ihre Fröhlichkeit kommt unter anderem auch in ihren zahlreichen Festen und anmutigen Tänzen (siehe die Kunstbeilage) zum Ausdruck. Am bekanntesten sind das Kirschblütenfest und das Chrysanthemumfest; bei beiden herrscht große Lustigkeit. Beim Einsetzen der Kirschblüte strömen Tausende und aber Tausende hinaus, um sich an der Blütenpracht zu erfreuen und sich dem lustigen Spiel des Dichtens hinzugeben; man verfertigt kleine Gedichtchen, schreibt sie auf Zettel und hängt sie an den Zweigen auf. Beim Chrysanthemumfest finden großartige Ausstellungen dieser Pflanze, deren Kultur sich die Japaner besonders angelegen sein lassen, statt, und lebensgroße Figuren werden aus den Topfpflanzen in wirksamer Anordnung zusammengestellt. Im Herbst, wenn die Ernte gelungen ist, feiern die Bauern das Strohpuppenfest gleichsam als Erntedankfest für die Götter. Sie tanzen dabei unter Singen und Begleitung von Trommel und Flöte im Kreise umher. Die Tänzer sind mit einer eigenartigen Kopfmaske bekleidet, die einer Garbe gleicht, wie sie auf dem Felde aus Reishalmen, mit nach unten gerichtetem Fruchtständer, aufgestellt werden (siehe die Kunstbeilage). Sehr beliebt sind auch die Onotänze, eine Art dramatischer Aufführungen aus alter Zeit in jetzt schwer verständlicher, wenn auch schöner Sprache, bei der die Vorführenden besonders prächtig gekleidet sind (Abb. 27 und 28).
Bevor abendländische Ideen in Japan Eingang fanden, herrschte hier ein streng ausgesprochenes[S. 13] Kastenwesen. An der Spitze stand der Hochadel, dessen verschiedene Familien sich wieder im Range abstuften und aus deren vornehmsten der Mikado sich seine ebenbürtige Gattin holte. Den zweiten Stand bildeten die Krieger, deren wichtigste Klasse die Samurai (Abb. 29), die Ritterschaft, waren. Sie standen als Vasallen unter den Schogunen und Daimyo und hatten das Recht, das Schwert zu tragen. Traditionell und in hohem Grade entwickelt war bei ihnen der Ehrbegriff, das Bushido, unter dessen Einfluß die Ritter, sofern sie die Reinheit ihrer Ehre für angetastet hielten und keine Vergeltung üben konnten, Harakiri vornahmen, das heißt sich durch Aufschlitzen des Bauches selbst entleibten.
Die Nationalreligion der Japaner ist der Shintoismus (Abb. 21 und 24), „der Pfad der (einheimischen) Götter“, ein Name, der diesen Kultus von dem im sechsten Jahrhundert nach Christus eingeführten Buddhismus (Butsu-do = „Weg des Buddha“) unterscheiden soll. Infolge der anderthalbtausend Jahre, während deren der Buddhismus (Abb. 23) mit dieser primitiven Naturreligion zusammen ausgeübt wird, hat er manches von dieser angenommen. Die Hunderte von Gottheiten umfassende Götterwelt des Shinto kannte nicht nur die Naturgötter der Bäume, Felsen, Berge, des Windes, des Meeres, der Sonne, des Mondes, des Donners und Feuers, sondern auch solche Gottheiten, die um das Wohl des Hausstandes besorgt sind, wie einen Gott des Brunnens, des großen Kessels, der Badestube und sogar der Bratpfanne; auch berühmte Helden und Vorfahren wurden in diese Götterwelt versetzt. Man nimmt an, daß der Shintoismus sich selbständig aus[S. 14] dem japanischen Gedanken entwickelt hat, den die Vorfahren bereits nach dem Insellande mitbrachten, und daß der Ahnenkultus, der jetzt seinen Grundzug vorstellt, aus den alten Begräbnisgebräuchen hervorgegangen ist. Nach der Shintolehre formten zwei hohe Wesen, Izanagi und Izanami, die japanischen Inseln und erzeugten eine Anzahl himmlischer und irdischer Gottheiten, deren bedeutendste die Sonnengöttin Amaterasu war. Einer ihrer Nachkommen wurde der erste Mikado, daher sind alle japanischen Kaiser göttlicher Abstammung und gleichzeitig Hohepriester des Volkes. Der Shintoismus hat niemals ein festes Glaubensbekenntnis formuliert, noch bestimmte Gebote aufgestellt. Er lehrte nur, daß der Mensch mit der Erkenntnis dessen, was gut und böse ist, im Herzen geboren werde und daß er, wenn er der Eingebung dieses seines himmlischen Gewissens folge, von dem „Pfad der Götter“ niemals abweichen könne. Er predigte auch den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, ein Fortleben nach dem Tode in einer unsichtbaren Welt. Er unterscheidet sich ferner von anderen Glaubensbekenntnissen des Ostens durch die hohe Stellung, die er der Frau einräumt. Die in Ise, dem Hauptverehrungsorte, angebeteten Gottheiten sind weiblich, die Göttin der Sonne und die der Nahrung, und ein jeder Ortstempel hält sich jungfräuliche Priesterinnen, die zu Ehren der Gottheit tanzen (Abb. 25). Erst durch die Einführung des Konfuzianismus und Buddhismus ist die Stellung der Frau herabgesetzt worden.
Der Shintoismus kannte ursprünglich keine Tempel; diese sind erst ungefähr seit Beginn unserer Zeitrechnung aufgekommen und zählen jetzt zu Hunderttausenden. Es sind einfache Gebäude aus glattem weißem Holz, das notdürftig durch Bronze und Eisen zusammengehalten wird, mit einem Strohdach gedeckt.[S. 15] Vor ihnen steht ein Torii, ein Galgentor, das aus zwei Pfosten, die von einem dritten Balken überdeckt werden, besteht.
Der Shintoismus ist voll von phallischen Vorstellungen; unter seinem Schutze konnte sich daher die Verehrung des männlichen Zeugungsgliedes ausgedehnter Verbreitung erfreuen. Man stellte Nachbildungen von ihm (Phalli) als Wahrzeichen ursprünglich an Wegen auf, die durch Wildnisse führten, und hoffte dadurch einem Unglück vorzubeugen, besonders gegen die bösen Geister den Wanderer zu schützen. Früher begegnete man in Japan ganz allgemein, jetzt noch vielfach in abgelegenen Gegenden der Nachbildung des männlichen Gliedes in Gestalt von hölzernen oder steinernen Phalli auf Landwegen, besonders an Kreuzungen, vor Brücken und Paßübergängen, an Wohnhäusern als Schutzgott für Reisende und die Bewohner; die Vorübergehenden brachten ihnen Opfer von Papierschnitzeln, Kleiderfetzen, Blumen und so weiter dar. Ja schon einfache Naturgebilde, wie Baumwurzeln, aufrechte Steine, die Ähnlichkeit mit einem männlichen Gliede hatten, genossen die gleiche Anbetung von seiten der Shintoanhänger. Man begnügte sich schon damit, die eigenen Geschlechtsteile zu entblößen oder die phallischen Zeichen an das Haus oder an den zu behütenden Gegenstand zu malen, um das Unheil der bösen Geister abzuwehren. Ursprünglich besaßen die phallischen Gottheiten der Japaner keine Tempel; man verehrte sie im Freien, teils offen dastehend, teils mit einem Schirmdach versehen. Das Volk wallfahrte zu ihnen und verrichtete hier seine Andacht. In neuerer Zeit flüchtete sich der Phalluskultus vor der Öffentlichkeit mehr in geschlossene Heiligtümer. In ihnen finden sich glänzendrot oder goldfarbig angestrichene Nachbildungen des Gliedes auf den Altären aufgestellt. Ihnen werden von den Frauen, die sich einen Gatten oder Kinder wünschen, oder von Personen, die von Geschlechtskrankheiten befreit sein wollen, Votivgaben in Gestalt kleiner hölzerner, bronzener oder steinerner Nachbildungen von Phalli dargebracht. Auch werden von den Altären solche Phalli von Kranken ausgeliehen, um als Amulett getragen zu werden. Nach erlangter Genesung bringen die Betreffenden sie wieder zurück und stiften einen neuen Phallus aus Dankbarkeit. Auch zu Geschenken, besonders zu Liebesamuletten, werden allerlei phallische Schnitzereien benutzt. Früher veranstaltete man auch Prozessionen, bei denen ein mächtiger Phallus[S. 16] umhergetragen oder auf einem Wagen mitgeführt wurde. — Neben dem männlichen Gliede war in Japan auch die weibliche Scham vielfach Gegenstand göttlicher Verehrung. Häufig waren es auch hier wieder natürliche Steingebilde, die Ähnlichkeit mit einem weiblichen Geschlechtsteil aufweisen und vom Volke angebetet wurden, in der Hoffnung, durch sie dasselbe zu erlangen wie durch Anbetung des Phallusgottes.
Der gebildete Japaner bekennt sich zur Lehre des Konfuzius, die ungefähr um dieselbe Zeit wie die Buddhas in Japan Eingang fand. Sie stimmt mit dem Shintoismus insofern überein, als auch sie predigt, daß das Wesen des Menschen ursprünglich ein vollkommenes sei, und die Wichtigkeit kindlicher Pietät und der Unterwerfung unter die Obrigkeit ihren Anhängern einschärft, weswegen sie auch gut zum japanischen Lehnsystem paßt und gerade bei den militärischen Klassen ihre Bekenner gefunden hat. Dagegen sind die religiösen Übungen, die im Kaiserpalast abgehalten werden, reiner Shintoismus; der oberste Leiter des Reiches ist auch sein oberster Priester. Der Neujahrstag ist der Hauptfeiertag; dann betet der Kaiser mit allen Prinzen und Beamten die Sonnengöttin an und bringt den Geistern seiner Vorfahren Opfer dar; er richtet seine Gebete gegen die vier Himmelsrichtungen hin für den Frieden und das Wohl seiner Untertanen. Außer dem Neujahrsfest kennt der Japaner noch eine ganze Reihe festlicher Tage, an denen Umzüge und Volksbelustigungen stattfinden (Abb. 26, 30 bis 33, 37 und die farbige Kunstbeilage). Um eine Gottheit zur Erfüllung eines Wunsches gleichsam zu zwingen, geht er viele Male um ihren Tempel herum (Abb. 38).
Der japanische Buddhismus, das Mahayana oder „größere Fahrzeug“, unterscheidet sich von dem indischen Buddhismus, dem Hinayana oder „kleineren Fahrzeug“, ganz bedeutend. Während letzterer, die ältere, einfachere Lehre, sich darauf beschränkt, die Gläubigen durch Entsagen von allem Weltlichen zu der Stufe eines Arhat hinaufzuführen und von zahlreichen Wiedergeburten absieht, legt ersterer gerade auf eine Unendlichkeit von ihnen Gewicht, vermöge deren es einem Menschen möglich gemacht wird, über die Stufe eines Arhat hinaus zum Bodhisatwa hinanzukommen, der in seiner nächsten Wiedergeburt dann Buddha selbst wird. Zahlreiche Tempel und Klöster finden sich in Japan, in denen eine Unmasse Götter von den einfachsten Stufen des Arhat bis zu den Bodhisatwa und zum Buddha selbst dargestellt sind. Zahlreiche Sekten, sowohl des Shintoismus wie des Buddhismus, haben sich im Laufe der Zeiten gebildet und auch ihre Anhänger gefunden. Die japanische Regierung übt nämlich die weitgehendste Toleranz auf dem Gebiete der Religionsübung aus.
Der Aberglaube treibt in Japan so viele Blüten wie wohl bei keinem Volke der Erde. Wollte man die Unmasse von Legenden und Gebräuchen aufzählen, die mit dem Aberglauben des japanischen Volkes zusammenhängen, dann würde dies ganze Bände füllen. Tierkunde und animistische Philosophie spielen eine große Rolle darin. Von gewissen Tieren glaubt man, daß sie die Boten bestimmter Götter seien, weswegen man ihnen kein Leid antut und beim Landvolke direkt mit Achtung begegnet. So zum Beispiel gibt der Schiffer, wenn er eine Schildkröte findet, die dem Gott des Meeres heilig ist, ihr zuvor Sake zu trinken, ehe er sie wieder freiläßt.
Besonders an den Fuchs knüpft sich eine Unmenge von Aberglauben und Sagen. Diese Vorstellungen scheinen von der ursprünglichen Annahme ausgegangen zu sein, daß Füchse, die in den Reisfeldern gesehen werden, den Reisgeist verkörpern. Allmählich verband sich dieser Aberglaube mit der Verehrung der Shintogöttin des Überflusses zu Ise, und so kommt es, daß heutzutage viele Leute aus dem Volke irrtümlicherweise den Fuchs anbeten, dem sie alle möglichen übernatürlichen Fähigkeiten zuschreiben. Im Winter werden ihm besonders Opfergaben gespendet; man bringt ihm außer seinen Lieblingsleckerbissen noch Fettkerzen und Seidenwatte dar, damit er sich erwärme. Ein weitverbreiteter Aberglaube ist, daß er sich in die Gestalt einer schönen Frau verwandeln könne, um junge Männer zu bezaubern und zu verführen; der Tod ist für diese stets der Ausgang des Liebesabenteuers. Daher gilt der Fuchs auch in gewissem Sinne als Schutzpatron der Teehäuser. Man meint auch, daß ein solcher verwandelter Fuchs eine große Freude daran verspüre, verspätete Wanderer auf falsche Wege oder in Gefahr zu bringen, sowie daß er imstande wäre, den Leuten Visionen von Häusern und Dienern vorzuzaubern und Prozessionen in dünne Luft aufgehen zu lassen. Man erzählt sich Geschichten von Männern, die jahrelang mit verwandelten Füchsen verheiratet waren, ohne dies zu wissen, und daß die Fuchsfrau so lange die Rolle einer liebenden und treuen Gattin spielte, bis sie durch die Geisteraustreibung eines Priesters gezwungen wurde, ihre richtige Gestalt wieder anzunehmen, oder durch den Angriff von Hunden entlarvt wurde, die imstande sind, solche verwandelte Füchse zu unterscheiden. — Der Dachs spielt im japanischen Aberglauben ebenfalls eine wichtige Rolle; er steht hier im Geruche eines listigen Betrügers, der gern auf Kosten des Landvolkes Possen und Schabernack spielt. Den Pferden schneidet er die Schwänze ab, macht, daß man bei der Bezahlung falsches Geld weiter gibt, läßt Fische aus der Bratpfanne verschwinden, Pferde aus verschlossenen Ställen entlaufen und anderes mehr. Der Dachs soll sogar Priester täuschen, indem er vor ihnen die Gestalt Buddhas entstehen läßt und sich in einen Mönch verwandelt, um mit ihnen die heiligen Bücher durchzustudieren. — Von alters her glauben die Japaner auch an die Macht zum Guten beim Hunde. Dieses Tier gilt als besonderer Beschützer der Frauen, kleinen Kinder und Häuser; das Zeichen für Hund wurde den Kindern mit roter Farbe auf die Stirn geschrieben, und heutigentags werden Hundebildnisse dem Kinde, wenn es sich im Tempel vorstellt, mitgegeben. Der Kaiser hielt sich eine besondere Leibwache, deren Pflicht es war, zu bestimmten Zeiten wie Hunde zu bellen, um böse Einflüsse und Teufel zu vertreiben. Schließlich sei noch der Katze gedacht, an die sich ebenfalls allerhand unheimliche Geschichten knüpfen. Von solchen Tieren mit langem Schwanz glaubt man, daß sie im Alter Kobolde werden, weswegen man jungen Kätzchen, die mit einem langen Schwanz zur Welt kommen, diesen kürzt. Der Katzenkobold soll den Menschen stillstehende Spinnräder drehen, ihnen im Schlafe die Decken entfernen, auf dem Fußboden und auf den Dächern nachts unheimliche Lichter tanzen lassen und manchmal sogar zu einem Vampyr werden, in diesem Falle alte Frauen anfallen, sie verschlingen und ihre Gestalt annehmen.
Auch alte Bäume sind vielfach von Aberglauben umgeben. Man umzäumt sie oft mit[S. 19] geweihten Strohseilen oder den weißen Papierstreifen des Shinto und stellt winzige Torii und Stein- oder Holzschreine an ihrer Wurzel auf, beziehungsweise legt solche in die Höhlung ihres Stammes. Solche alte ehrwürdige Bäume denkt man sich von Geistern bewohnt und meint, daß die Geister der Pflaumen-, Kirsch- und Weidenbäume die Gestalt lieblicher junger Frauen annähmen. Es gibt hierüber mancherlei Legenden, daß solche weibliche Wesen sich mit guten und heldenhaften Männern ehelich verbunden hätten, auch daß die Baumgeister, weil man ihnen Generationen hindurch Pflege angedeihen ließe, den Schutz über die Familie übernähmen, ihre Mitglieder vor Unheil warnten und ihnen verborgene Schätze offenbarten. Auch einigen Blumen, wie der Päonie, der Lotusblume und der Chrysantheme, spricht man Geister zu. Werden sie von einer Stelle, die ihnen lieb geworden ist, entfernt, dann welken sie und gehen ein; anderseits erweisen sie sich für liebevolle Pflege auch erkenntlich. So erzählt man sich, daß ein Päoniengeist einem alten Gelehrten, der die Pflanze mit großer Geduld und Sorgfalt gepflegt hatte, in seiner Einsamkeit als blühendes junges Mädchen erschienen sei, um ihn aufzuheitern.
Gespenster, die den Gegenstand vieler Erzählungen bilden, werden meistens als Wesen mit wirren und lose über die abgemagerten Gesichter fallenden Haaren, von durchsichtigem Körper, dessen unterer Teil wie ein Dunst ohne Füße entlang ziehe, geschildert. Allgemein glaubt man, daß die Geister der Verstorbenen aus dem Grabe zurückkehren, um die Angehörigen entweder zu trösten und ihnen Gutes zu erweisen, oder auch die, die ihnen bei Lebzeiten Unrecht zugefügt hatten,[S. 20] zu bestrafen. Man meint sogar, daß allzu starke Liebe oder Haß imstande seien, zu bewirken, daß der Geist eines lebenden Menschen sich vom Körper loslöse, um sich dem Gegenstand seiner Liebe oder seines Hasses zu nahen.
Auch das tägliche Leben des Japaners ist von unzähligen abergläubischen Gebräuchen durchsetzt. Ebenso wird den Vorbedeutungen ein großer Wert beigelegt und bestimmte Handlungen, wie Hochzeit, Umzug, Reise nicht unternommen, ohne einen Wahrsager vorher um Rat gefragt zu haben. Ganz besonders aber herrscht der Aberglaube auf dem Gebiete der Heilkunde. Unsere Abbildung 34 zeigt eine alte Japanerin, die sich vom Rheumatismus zu heilen sucht, indem sie den bronzenen Stier an der Stelle streicht, an der in ihrem eigenen Körper das Leiden sitzt. Von Kind auf ist ihr diese Heilmethode vertraut. Das bronzene Standbild ist ganz blank von dem jahrhundertelangen Darüberstreichen der Hände.
Abergläubische Furcht setzt auch bereits bei dem werdenden Menschen im Mutterleibe ein. Eine Frau, die gern Kinder haben möchte, muß an der Stelle niederknien, wo eben vorher ein Kind geboren wurde. Um sich ihre schwere Stunde zu erleichtern, darf sie über keinen Bambusbesen schreiten, ebensowenig auf Eierschalen treten, die Kochpfanne, aus der man ihr zu essen gegeben hat, nicht abwaschen, sondern muß sie halb mit Wasser gefüllt stehen lassen, auch muß sie eine Kormoranfeder in den Händen halten, ein Stückchen Papier mit der Abbildung des Schutzpatrons der Gebärenden verschlucken, einen Absud von ungeborenen Hirschkälbern trinken und anderes mehr. Früher scheinen die Schwangeren allgemein in besonderen Hütten niedergekommen zu sein, was noch heute auf einzelnen kleinen Inseln üblich ist. Die Geburtshilfe lag vordem und jetzt noch auf dem Lande in den Händen weiser Frauen (Samba-san, das heißt verarmtes Frauenzimmer oder Toriage-baba, das heißt aufhebendes Mädchen genannt), die zur Beschleunigung der Geburt den Unterleib zu kneten (ambuk) pflegten. Der Nabelstrang, der niemals mit einem eisernen Messer abgeschnitten werden darf, sondern nur mit einem Bambusspan, einem Dornen oder Porzellanscherben, wobei siebenmal auf ihn gehaucht werden muß, wird in mehrere Bogen Papier eingewickelt, mit dem Namen der Eltern versehen und dem[S. 21] Familienarchiv übergeben. Stirbt das Kind, dann wird er mitbegraben, erreicht es das erwachsene Alter, dann bekommt es den Nabelstrang zurück und trägt ihn beständig bei sich. In wohlhabenderen Kreisen schneidet man ihn in zwölf Stücke und legt jedes Stückchen in ein aus Zedernholz angefertigtes, mit Kranichen, Schildkröten, Bambus, das heißt mit lauter glückbringenden Dingen bemaltes Tönnchen und vergräbt dieses zusammen mit Reis, Hanf, Stroh und Geld im Hofe in der Richtung der in zwölf Teile eingeteilten Windrose. Die Nachgeburt wird ebenfalls unter dem Hause an einer vom Priester näher bezeichneten Stelle tief vergraben, und zwar die von Knaben zusammen mit einem Schreibpinsel und einem Stückchen Tusche, von einem Mädchen mit einer Nadel und etwas Garn. Am Nabel des Neugeborenen wird eine sogenannte Moxe (Zunder) abgebrannt, was Bauchweh im späteren Leben verhüten soll.
Bei der großen Liebe, mit der die Japaner an Kindern hängen, wird die Geburt eines neuen Erdenbürgers mit Freuden begrüßt; besonders die eines männlichen Nachkommen, was schon in dem Sprichwort zum Ausdruck kommt: „Der Glanz des Mannes ist siebenfacher Glanz.“ Verwandte und Freunde eilen auf die Nachricht hin mit Gratulationsgaben herbei; sie schenken Eier, Obst, Kuchen und getrockneten Fisch, auch Krepp, Seide oder Kattun für das Kindchen.
Der wichtigste Tag im Leben des japanischen Kindes ist der Muja-Mairi, das ist der „Tag des Tempelbesuches“ (der einunddreißigste für die Knaben und der dreiunddreißigste für die Mädchen), an dem es aufs kostbarste geschmückt feierlich zum Altar des Schutzgottes der Gegend getragen und unter den Schirm desselben gestellt wird (Abb. 35). Innig betet hier die Mutter, daß das kleine Leben vor jeglichem Schaden und Krankheit bewahrt bleiben möge, und der Priester überreicht dem Kinde in liebevoller Weise ein Amulett in Gestalt einer kleinen[S. 22] Holztafel, die es fortan immer in einem gestickten Täschchen oder einem solchen aus Brokat um die Taille mit sich trägt. An diesem glückbringenden Tage werden rote Bohnen mit Reis gekocht und in Lackkästchen mit Deckeln (Jubako), die man hierfür besonders herstellt, getan; man schickt diese, mit besticktem Krepp oder Brokat bedeckt, an alle Verwandten und Freunde, die dem Kinde bei der Geburt Geschenke machten. Außerdem wird dieses ihnen zum erstenmal zu Besuch gebracht und erhält hier allerlei Spielzeug, von dem am beliebtesten ein Hund aus Papiermaché ist; dieser soll, am Kopfende des Bettes aufgestellt, die Teufel vertreiben. Ein zweites Fest, das ungefähr am hundertundneunten Tage nach der Geburt stattfindet, ist die Zeremonie des „ersten Essens“ des Kindes. In Anwesenheit der Freunde der Familie wird vor ihm ein Tablettchen mit Reis, Suppe und Fisch (der aber ganz sein und noch den Kopf haben muß) hingesetzt und seine Lippen mit dieser Speise befeuchtet. Auch hieran schließt sich ein fröhliches Zusammensein. Überhaupt hat das Leben des japanischen Kindes recht viele Festtage zu verzeichnen.
Da kommen zunächst die Oiwaifeste, an denen die kleinen Leute von drei (Abb. 36), fünf und sieben Jahren in eine neue Lebensphase eintreten, womit die Zeremonie der „Gurtentfernung“, des „Hakamatragens“ und der „Haarerhaltung“ verbunden ist. Das erstgenannte Fest hat seinen Namen davon erhalten, daß die Kinder beiderlei Geschlechtes den schmalen, bandartigen Gurt, an denen ihre Kleider hängen, fortan ablegen und dafür den Obi der Erwachsenen erhalten; das zweite Fest betrifft die Knaben allein, die zum erstenmal Hakama tragen, und das dritte bezieht sich darauf, daß von diesem Zeitpunkt an die Kinder, denen vordem der Kopf rasiert wurde, um einen möglichst starken Haarwuchs zu erzielen, ihr Kopfhaar lang wachsen lassen.[S. 24] Jedesmal, wenn die Kinder eine der bezeichneten Altersstufen erreichen, werden sie zum Altar ihrer Beschützer gebracht, um diesen davon Kenntnis zu geben.
Die wichtigsten Feste im Leben des japanischen Kindes, die sich einer ungemeinen Popularität bei alt und jung, sowie bei reich und arm erfreuen, sind das Puppenfest (Hina matsuri) und das Knabenfest (Tango-no-sekku); beide werden an bestimmten Tagen gefeiert. Das Puppenfest, das auf den dritten Tag des dritten Monats fällt, wird besonders in den Häusern der Vornehmen großartig begangen. Es spielen bei ihm, wie der Name besagt, Puppen eine große Rolle, aber nicht die alltäglichen Puppen, jene bekannten, aus Holz oder Ton angefertigten, einander sich ähnelnden Geschöpfe mit kahlem Schädel oder Haarschopf und buntem Kimono, mit denen zu spielen zu der Lieblingsbeschäftigung der kleinen Mädchen gehört, sondern es sind dies kostbare, von Generation auf Generation überkommene Erbstücke in prächtigen Gewändern, auf deren Herstellung wirkliche Künstler ihre ganze Geschicklichkeit verschwendet haben. Es gibt deren wohl in jedem Haushalte eine mehr oder minder große Anzahl, die an diesem festlichen Tage aus den Truhen hervorgeholt und für drei Tage in dem vornehmsten Zimmer des Hauses auf einen aus fünf bis sechs Stufen bestehenden, mit purpurrotem Krepp überzogenen Aufbau zur Schau gestellt werden. Auf dem obersten Brett sitzen der Kaiser und die Kaiserin in alter Hoftracht (Abb. 40), zu ihren Seiten die Minister; auf der zweiten Stufe stehen drei Hofdamen, die das Amt der Erzmundschenkinnen ausüben und daher neben sich Gefäße und Geräte zum Darreichen des Reisweines haben; dann folgen weiter unten die Hofmusikanten und andere Hofschranzen. Außerdem finden noch hervorragende Personen der japanischen Götter- und Heldenlehre Aufstellung, und schließlich allerhand kunstvoll aus Lack angefertigte Haus-, Küchen- und Toilettengegenstände, wie sie der Kaiserhof zum täglichen Leben nötig hat, in Miniaturausgabe. Da natürlich die fürstlichen Gäste auch bewirtet werden müssen, so stehen auf der untersten Stufe des Gestelles noch die erforderlichen Eß- und Trinkgefäße mit Wein und Kuchen aufgebaut; alle diese Gegenstände werden den Kleinen von ihren Verwandten und Freunden geschenkt und stellen mitunter recht kostbare Sachen dar. Je vornehmer die Familie, um so großartiger fällt die Ausstellung an Puppen aus. Die kleinen Mädchen stehen den ganzen Tag über bewundernd vor ihren Schätzen und laden ihre Freundinnen ein, damit diese auch Freude an dieser Pracht haben. Dabei spielen sie vorzüglich die Rolle der Gastgeberin, bewillkommnen die Freundinnen unter vielen zeremoniellen Verbeugungen und reichen ihnen allerhand Leckerbissen dar. Ärmere Leute begnügen sich mit einfachen, aus Papier geschnittenen oder auch auf ein Hängebild (Kakemono) aufgemalten Puppen. Heiratet die Tochter, so gehen die Puppen in ihren Besitz über und werden später wieder einmal auf ihre weiblichen Nachkommen vererbt.
Das Puppenfest scheint aus einem alten shintoistischen Reinigungsfeste, das am 3. März, am Liomi, dem ersten Tage des Schlangenmonats, stattfand, hervorgegangen zu sein. Seine Bedeutung bestand darin, daß die Familienmitglieder sich an das Flußufer begaben, sich mit einem Stückchen Papier, dem der Priester durch Ausschneiden die rohe Form einer menschlichen Figur gegeben hatte, den Körper abrieben und damit ihre Sünden auf diese übertrugen; die Knaben warfen ihre Papierpuppen in den Fluß, die Mädchen aber bewahrten sie auf. Letztere scheinen späterhin eine plastische Form angenommen und sich zu den sogenannten „Himmelssöhnen“ entwickelt zu haben, das sind Puppen, die nach altem Volksglauben alles Unglück, das einer Frau während ihres Lebens, besonders auch in ihrer Ehe, zustoßen könnte, freiwillig auf sich nehmen. Ursprünglich stellten die beiden obersten Puppen überhaupt nur ein Ehepaar vor, um dadurch den jungen, in Abgeschlossenheit lebenden jungen Mädchen den Begriff der Ehe und Familie bildlich vor Augen zu führen, später aber erblickte man in diesen beiden das Kaiserpaar und pflanzte dadurch in das junge Mädchenherz frühzeitig die Liebe zum Herrscherhause ein.
Das Fest der Knaben wird am fünften Tage des fünften Monats gefeiert. Zu diesem Zeitpunkte sieht man neben jedem Hause, in dem ein Knabe im Laufe des vergangenen Jahres das Licht der Welt erblickte, eine mächtige Bambusstange, die mit vergoldeten Bällen und bunten Wimpeln geschmückt ist und an ihrem äußersten Ende einen oder mehrere mächtige Papier- oder Baumwollkarpfen (Abb. 39), die in Schwarz, Scharlachrot und Gelb recht realistisch angemalt sind, trägt. Wenn der Wind in die durch einen Ring offengehaltenen Mäuler dieser hohlen Fische hineinfährt, bläst er das Tier mächtig auf und setzt es in drehende Bewegung. Da an dem Knabenfeste Tausende und aber Tausende von bunten Karpfen über der Stadt flattern, so gleicht sie sozusagen einem Riesenaquarium.[S. 26] Daß man gerade dieses Tier als Festzeichen auswählte, hängt mit der volkstümlichen Auffassung des Karpfen als Symbol der Energie, des Mutes und der Standhaftigkeit zusammen. Man will damit andeuten, daß der Knabe in derselben Weise den Strom der Leidenschaften überwinden möge, wie der Karpfen imstande ist, nicht nur gegen den Strom zu schwimmen, sondern auch Wasserfälle zu überspringen, dank seiner großen Energie. Das Innere der Häuser wird mit Flaggen, auf denen sich die Helden der Götterlehre und der Geschichte dargestellt finden, sowie mit anderweitigen Bannern, Feldzeichen, Miniaturspeeren und Lanzen geschmückt, um dadurch in den Knaben bereits frühzeitig kriegerischen Sinn und Liebe zum Vaterlande zu erwecken. Auch die Knaben laden sich gegenseitig zu diesem ihrem Ehrentage ein und bewirten sich mit Leckerbissen. Außerdem flechten sie sich aus Kalmus Schwerter, mit denen sie in fröhlichem Spiel auf die Erde schlagen und dabei „zurück! du Teufelsauge“ ausrufen. Kalmus- und ebenso Beifußblätter gelten nämlich als Schutzmittel gegen allerhand schädliche Tiere und werden daher bei dem Knabenfeste auch in Bündeln am Vordache der Häuser aufgehängt.
Schon frühzeitig werden die japanischen Kinder in die Volksschule gebracht; der hier ihnen erteilte Unterricht erstreckt sich auf einen mindestens vierjährigen Kursus im Lesen, Rechnen (Rechenmaschine, Abb. 42), Satzlehre, Turnen und Sittenlehre. Besonderer Wert wird darauf gelegt, daß die Kleinen in die japanische Sittenlehre eingeführt werden, die in der Pflicht unbedingten Gehorsams gegen die Eltern gipfelt. Jeden Morgen haben die Kinder ihre Eltern in ehrfurchtvollster Weise zu begrüßen, indem sie vor ihnen ernst und würdig in knieender Stellung ihren Oberkörper und Kopf verbeugen und sich dabei mit ausgestreckten Händen auf die darunter liegende Matte stützen (Abb. 11). Außerdem haben sie ihren Eltern nach jeder Richtung hin bei ihren Arbeiten hilfreiche Hand zu leisten, so die Knaben im Geschäft, Rechnen und Schreiben, die Mädchen im Haushalte. Außerdem wird den Kindern frühzeitig eingeschärft, sich bei allen Seelenerregungen möglichst zu beherrschen, also äußerlich jedes Gefühl von Freude oder Schmerz zu unterdrücken. Zur Kräftigung ihres Körpers und zur Erlangung großer Geschmeidigkeit[S. 28] werden sie bereits sehr frühzeitig zu allerhand Leibesübungen herangezogen (Abb. 43). Der zweite Grundsatz der japanischen Morallehre bezweckt die Pflege der Treue gegen den Kaiser, der schon bei Lebzeiten göttliche Verehrung genießt, und gegen das Reich, wie überhaupt gegen jedweden Vorgesetzten. Diese unbedingte Gehorsamspflicht gegen höher Stehende führt zu merkwürdigen Konsequenzen. Die eine davon ist, daß die Tochter verarmter Leute zur öffentlichen Dirne wird, um durch das dabei verdiente Geld ihre Eltern vor der Schande vollständigen materiellen Unterganges zu bewahren. Die andere Folge äußert sich in der unbedingten Unterordnung des Mädchens unter den Willen seiner Eltern bei der Wahl des Gatten.
Sobald der älteste Sohn in einer Familie das heiratsfähige Alter erreicht hat, sieht sich sein Vater unter den Töchtern seiner Freunde nach einer passenden Lebensgefährtin um, und zwar bedient er sich hierzu eines Vermittlers. Dieser schlägt ihm dieses oder jenes junge Mädchen vor und veranlaßt, wenn eine Partei ihm geeignet erscheint, einen Mi-ai, das heißt eine „Sehbegegnung“ entweder im Hause der Eltern oder in einem Blumengarten, einem Restaurant oder im Theater. An einem solchen Orte, dessen Namen langes Leben, gutes Geschick und Glück versinnbildlicht, finden sich die jungen Leute in Begleitung ihrer Eltern zum ersten Stelldichein ein und lernen sich flüchtig kennen. Sind beide Parteien hiervon befriedigt, dann nehmen die weiteren Verhandlungen einen schnellen Verlauf. Der Vermittler hält jetzt in aller Form um die Hand des Mädchens an. Wird der Heirat zugestimmt, dann kommt es zum gegenseitigen Austausch von Geschenken, die bereits ebenso bindend sind, wie die Hochzeit. Der Bräutigam sendet seidene Kleider, einen Obi, Sake, getrockneten[S. 30] Fisch, Seetang, ein Weidenfaß und Flachsgarn, alles Gegenstände von guter Vorbedeutung; die Braut macht ihrem Bräutigam ebenfalls ein Geschenk; dabei ist es Vorschrift, daß die beiderseitigen Sendboten sich unterwegs treffen. Bevor die Hochzeit festgesetzt wird, wendet man sich noch an einen Wahrsager, damit er den günstigen Termin dazu auswähle.
Die japanische Hochzeit ist, da es die erste Pflicht eines jeden Japaners ist, für einen männlichen Nachkommen zu sorgen, der die vorgeschriebene Ahnenverehrung vornehmen kann, keine persönliche Angelegenheit, sondern eine solche der Familie. Wirkliche Liebe spielt dabei selten mit. Bei der Hochzeit geht es sehr zeremoniell zu; je höher die Beteiligten im Range stehen, um so strenger sind die konventionellen Formen und um so großartiger die Zeremonien, die sie begleiten. Drei Tage vor der Hochzeit wird die Aussteuer der Braut in einem Zuge in ihr künftiges Heim getragen (Abb. 41). Die Sitte erfordert, daß die Braut außer den Gegenständen zu ihrem persönlichen Bedarf alles Notwendige mitbringt, um das Heim für sich und den Gatten auszustatten, nämlich Betten (baumwollene Schlafdecken mit Seide und Krepp bezogen), Kommoden zur Aufbewahrung ihrer Kleider, Küchengeräte, Schreibtische, Schränke, Kohlenpfannen, lackierte Tablette, Porzellan und Toilettengegenstände. Ist der Hochzeitstag erschienen, dann stellt sich zunächst die Friseurin ein, sie kämmt das rabenschwarze Haar der Braut zum letztenmal in der gleichen kunstvollen Weise, wie es die jungen Mädchen tragen und schmückt es mit Nadeln aus Bernstein, Schildpatt und Korallen, sowie mit einem kleinen Kamm aus Goldlack, der den ganzen Aufbau krönt. Die Braut kleidet sich darauf in eine wundervolle Hochzeitsrobe (Abb. 46) mit langen Ärmeln, die beinahe bis auf die Erde reichen, in altmodischen Häuslichkeiten legt sie noch eine Hochzeitskapuze an, um ihr Erröten zu verdecken (Abb. 44). Das Brautkleid ist ganz in Weiß gehalten — der Farbe der Trauer —, wodurch der Austritt des Mädchens aus der Familie beziehungsweise Sippe angedeutet werden soll —; dagegen ist die Unterkleidung hellrot. Ehe das Mädchen ihr altes Heim verläßt, verabschiedet sie sich in aller Form von ihren Eltern; in diesem Augenblick überreicht ihr der Vater der Sitte gemäß ein kurzes Schwert (Abb. 45), wodurch er stillschweigend andeuten will, daß sie nicht vergessen soll, es im Notfalle, wenn ihre Ehre auf dem Spiele steht, zu gebrauchen. Von ihren Eltern begleitet, begibt sich die Braut, meistens am Abend, entweder in einer Jinrikscha oder in einer Kutsche, je nach den Geldmitteln[S. 31] der Familie, in ihr zukünftiges Heim. Die Eltern und Verwandten des Bräutigams, alle in knisternde Seide gekleidet, empfangen sie hier am Tore, der Bräutigam erwartet sie in dem Zimmer, wo die Heiratszeremonie stattfinden soll. An dieser dürfen außer dem zu trauenden Paar nur die beiderseitigen Eltern, der Vermittler und seine Frau, sowie zwei Bedienstete teilnehmen. In der Mitte des Zimmers befindet sich der Shima dai, ein weißer Tisch mit drei Beinen, auf dem das Land ewiger Jugend und Glückes dargestellt ist. Unter Kieferbäumen steht das alte Paar Takasago, das wegen seiner ehelichen Treue berühmt geworden ist, ihnen zu Füßen spielen Schildkröten mit langen grünen Schwänzen, deren Lebensspanne zehntausend Jahre beträgt; in der Höhe schweben Kraniche, ebenfalls Sinnbilder langen Lebens und Gedeihens, über einem Nest mit Jungen in den Fichtenbäumen, in deren Schatten Bambus und Pflaumenbäume stehen. Nachdem sich Braut und Bräutigam einander gegenüber gesetzt haben, findet das zeremonielle Trinken des San-san-ku-do („drei-drei-neunmal“) Bechers Sake statt. Dabei werden keine Versprechungen gemacht, keine Gelübde abgelegt, die ganze Zeremonie spielt sich schweigend ab. Zwischen das Paar wird ein viereckiger Ständer aus Lackarbeit gestellt, auf dem übereinander drei verschieden große zierliche Lackschalen für Sake stehen. Der Vermittler reicht zunächst die oberste Schale, mit diesem Stoff gefüllt, dem Bräutigam (Abb. 48), der sie in drei Zügen austrinkt, hierauf reicht er sie, neu gefüllt, der Braut, die sie ebenfalls leert. Dasselbe geschieht mit der mittleren und der unteren Schale. Hiermit ist die Ehe geschlossen. Das neuvermählte Paar wird sodann seinen zahlreichen Verwandten vorgestellt, die sich in einem Nebenraum versammelt haben und das frohe Ereignis durch ein Essen feiern. Ein Gang dieses Schmauses pflegt in einer Suppe aus Venusmuscheln zu bestehen, da die Schalen dieser Muschel eine glückliche und unzertrennliche Verbindung versinnbildlichen sollen; denn wie eine Schale nur mit der entsprechenden Partnerin ein Ganzes bilden kann, in die ihr Schloß hineinpaßt, so sollen auch Mann und[S. 32] Frau in der Ehe einander ergänzen. Auch ein Kranich wird serviert, indessen seltener, denn dieses Gericht können sich nur Wohlhabende leisten. Beim Festessen, währenddessen sich die Braut mehrere Male umkleidet, erhebt sich einer der männlichen Teilnehmer, der in klassischer Musik bewandert ist, und singt mit erhobenem offenen Fächer eine Ode, die dem feierlichen Augenblick angemessen ist.
Eine religiöse Zeremonie fehlt bei einer rein japanischen Hochzeit. Das Gesetz verlangt nur, daß die beiderseitigen Eltern die eingegangene Ehe eintragen lassen, und daß der Name der Frau aus dem Familienregister ihres Vaters gestrichen und in das ihres Gatten übergeschrieben wird, denn ohne solche Eintragung ist die Ehe ungültig. Neuerdings kommt auch die sogenannte Shintotrauung in Mode, die eine Nachahmung unserer kirchlichen Trauung ist. Zu dieser versammelt sich die Hochzeitsgesellschaft im Tempel der Sonnengöttin in Tokyo, der „drei-drei-neunmal“ Becher mit Sake wird in Gegenwart weiß gekleideter Priester getrunken, die Gebete an die Sonnengöttin sowie an Izanagi und Izanami (die schöpferischen Gottheiten) richten.
Eine große Rolle spielen bei der japanischen Hochzeit die Geschenke, die das Brautpaar erhält (Abb. 47) und die oft genug einen großen Wert darstellen. Sie bestehen in allen Arten von Seide oder Krepp für die Kleidung des jungen Mannes und der jungen Frau. Meistens sind diese Stoffe in Weiß gehalten, damit die Empfänger sie nach eigenem Geschmack nachfärben lassen können. Von der Großartigkeit der Hochzeitsgeschenke und dem Luxus, der mit ihnen getrieben wird, kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man hört, daß bestimmte Leute das Einwickeln von ihnen als besonderes Geschäft betreiben. Denn auch hierfür werden bestimmte Gewohnheiten beobachtet. Um jede Schachtel oder jedes Paket, das solche Glückwunschgaben enthält, werden zwei Stücke von extra schwerem weißen Papier gewickelt, und um das Ganze sodann noch in der Mitte ein rot und weißes zehnsträngiges Papierband, Mizuhiki genannt, das oft in Locken oder Ranken endigt, zu einer zierlichen Schmetterlingsschleife gebunden. Oft verwendet man dazu auch Gold- und Silberpapier und führt darin allerlei Muster und Phantasiegebilde aus; sehr beliebt sind Schleifen mit mehreren Schlingen in Form einer fünfblätterigen Pflaumenblüte, des Symbols der Lieblichkeit und Tugend der Frau, die sich im Unglück behauptet, geradeso wie die Pflaumenblüte mitten im Schnee zur Entwicklung gelangt. Auch ein Stück getrockneter Seeohrmuschel (Haliotis) pflegt jedes Geschenk zu begleiten. Da dieses Tier, das wie ein Stück getrockneten Pergaments aussieht, elastisch ist, so versinnbildlicht es Haltbarkeit und lange Lebensdauer, und seine Schale die Beständigkeit der Liebe. Die Geschenke aus Seide oder Krepp werden oft auch in Form großer Fächer arrangiert, um dadurch anzudeuten, daß sich im Leben des jungen Paares das Glück ebenso ausbreiten möge, wie der Fächer. Zu den genannten wertvollen Geschenken gesellen sich noch eine Menge getrockneten Fisches (Katsobushi genannt), der so hart ist, daß er wie Holz gehobelt werden muß und im Haushalte für alle möglichen Suppen und als Würze bei den meisten Gerichten Verwendung findet, sodann kleine Sträuße künstlicher Kiefer- und Bambuszweige, sowie Pflaumenblüten. In der romantischen Phantasie des Volkes stellt die Kiefer das Sinnbild der Ausdauer und Beständigkeit, der Bambus das der Aufrichtigkeit und die Pflaumenblüte das der weiblichen Tugend dar.
Bis in den Anfang des vorigen Jahrhunderts waren unter den Geschenken, die man der jungen Frau darbrachte, gewisse Bilderbücher sehr beliebt, die voll köstlichen Witzes in Karikaturen Beischlafszenen in phantastischer Mannigfaltigkeit den Frauen zur Veranschaulichung bringen, sie also darüber belehren sollten, was sie in der Ehe zu leisten hätten, und die oft von namhaften Künstlern angefertigt waren, ebenso die sogenannten Frühlingstäfelchen, Kästchen von der Form unserer Tuschkästen, deren Schubdeckel oben ein Bild zeigte, das ein männliches und ein weibliches Wesen in anständiger Unterhaltung darstellte, auf der Unterseite aber in farbiger Reliefdarstellung eine Beischlafszene in komischer Stellung darbot. Für unsere Moralauffassung erscheinen solche Dinge in hohem Grade unanständig und unverständlich, zumal man sie jungen Frauen darbrachte; der Japaner indessen findet daran absolut nichts Anstößiges. Für ihn gilt das alte Sprichwort, daß das Natürliche nichts Schimpfliches ist. Er erblickt in dem nackten Körper daher etwas ganz Natürliches, Selbstverständliches, sofern die Nacktheit im gegebenen Falle berechtigt ist. Er entledigt sich daher zu Hause möglichst aller ihn beengenden Kleidungsstücke und entblößt sich auch in der Öffentlichkeit, wenn ihn die Kleider am Arbeiten hindern. Er findet es auch keineswegs anstößig, daß beide Geschlechter zusammen baden, und ebenso ist für ihn der Geschlechtsakt etwas ganz Natürliches und das Preisgeben eines Mädchens nichts Entehrendes, wenn den Grund dazu die Unterstützung armer Eltern abgibt.
Die Ehe des Japaners wird eigentlich auf Zeit geschlossen, die bei den besseren Ständen fünf Jahre, bei den niederen weniger beträgt. Trotzdem kommt es höchst selten bei offenkundigem Unglück und fast nie bei vorhandenen gesunden Kindern vor, daß die Ehegatten auseinander gehen. Der Ehemann hat allerdings das Recht, sich ohne besonderen Grund von seiner Frau zu trennen und eine andere zu heiraten, nur darf dies nicht eine leibliche Schwester seiner Frau oder einer früheren Frau sein. Auch braucht er nicht die eheliche Treue zu halten, kann sich daher mehrere Frauen nehmen, soviel als ihm sein Geldbeutel erlaubt. Neuerdings jedoch machen sich in den besseren Kreisen Japans europäische Anschauungen auch über die Ehe geltend.
Der Japaner scheint ein starkes Geschlechtsbedürfnis zu besitzen; diesem wird dadurch Rechnung getragen, daß nicht nur jede größere Stadt und jeder Seehafen, sondern beinahe jedes[S. 37] Dorf öffentliche Lusthäuser besitzt. Es sind dies jedoch keineswegs Stätten unanständiger Orgien und Liederlichkeit, sondern, wenn man von dem nach unserer Ansicht unmoralischen Zwecke absieht, dem sie dienen, durchaus anständige Institute, über die der Staat nach jeder Hinsicht eine strenge Kontrolle ausübt.
In Japan ist das Prostitutionswesen in solchem Grade wie wohl nirgends auf der Welt verbreitet. Ein anonymer englischer Schriftsteller schätzt die Zahl der in etwa zwanzigtausend Freudenhäusern untergebrachten Mädchen auf vier- bis fünfhunderttausend, zu denen ungefähr die gleiche Anzahl Frauen kommen soll, die heimlich diesem Berufe nachgehen. Die Prostituierten bilden in Japan eine besondere Kaste, deren Entstehung schon um mehrere Jahrhunderte zurückreicht und die durch Gesetz und Sitte geschützt ist. Der Staat kauft die jungen Mädchen auf, läßt sie in allerlei Künsten ausbilden und so für ihren zukünftigen Beruf vorbereiten. Es sind dies meistens Mädchen armer Eltern oder Waisen, die zur Prostitution herangezogen werden. Die älteren Kurtisanen unterrichten sie in allerlei weiblichen Fertigkeiten, wie Schreiben, Lesen, Singen, Samisaspielen, vornehmen Manieren und anderem mehr. Dafür haben diese jenen kleine Handleistungen zu machen, sie gleichsam als ihre Zofen zu bedienen. Oft genug kommen die jungen Mädchen schon im zartesten Kindesalter in diese Häuser, aber erst mit vierzehn Jahren dürfen sie preisgegeben werden. Mit dem siebenundzwanzigsten[S. 38] Jahre erhalten sie ihre Freiheit wieder, falls sie nicht schon früher durch Freikauf in privaten Besitz übergehen oder sich verheiraten. Denn die wenigsten Leute nehmen an solchem Gewerbe einen Anstoß, im Gegenteil, die Mehrzahl der ärmeren Japaner bezieht aus den Freudenhäusern ihre Ehefrauen; denn der schon erwähnten allgemeinen Anschauung entsprechend wird die Schuld ihres früheren Lebenswandels nicht den Mädchen, sondern ihren Eltern zugeschoben; nur sie waren es, die zumeist unter dem Drucke der Not ihre Töchter solchem Lebenswandel zuführten, und diese taten nur ihre Pflicht, indem sie den Eltern gehorchten. Daher verachtet auch die bessere Gesellschaft diese Mädchen nicht, sondern bemitleidet sie nur. Die Bezeichnung für eine Prostituierte in Japan ist auch keineswegs eine herabwürdigende, sondern eine höchst dezente; man nennt sie „Zeitweib“ oder „Stundenehefrau“. Früher war es nämlich Sitte, daß diese Mädchen dem Fremden auf eine kurze Zeit gleichsam angetraut wurden. Die Zeremonie, die sich dabei abspielte, glich der bei wirklichen Hochzeiten, wie wir sie oben kennen gelernt haben; der Fremde heiratete aber nur auf Zeit.
Das Bordellviertel von Tokio hat eine gewisse Berühmtheit erlangt; es ist dies das Yoshiwara. Das Zugangstor zu ihm trägt die poetische Inschrift: „Ein Frühlingstraum, wenn die Straßen voll von Kirschblüten sind, eine Herbststimmung, wenn die Straßen auf beiden Seiten mit hellen Laternen umsäumt sind.“ Das Yoshiwara (Abb. 49) ist durch regelmäßig verlaufende Straßen eingeteilt, in denen es des Abends ein wirkliches Schauspiel gewährt, umherzuwandern. Geschmückt mit farbenprächtigen Gewändern sitzen die Mädchen in Reihen vor goldenen Schirmen in käfigartigen Räumen — denn von der Außenwelt sind sie durch wirkliche Holzstäbe abgesperrt — und stellen sich zur Schau (Abb. 50). Die Prostituierten kennzeichnen sich durch zahlreiche Nadeln, die sie im Kopfhaar tragen; auch pflegen sie sich als Abzeichen ihres Gewerbes die Schleife des Obi, die[S. 40] sonst über dem Gesäß sitzt, nach vorn zu drehen, so daß sie über den Schoß zu liegen kommt. In größeren Städten sind an den Häusern Laternen ausgehängt, die mit dem Wappen des betreffenden Mädchens geschmückt sind. Es gibt sogar Bücher, in denen sich Laternen und Wappen, sowie der Schirm, der vornehmen Prostituierten auf ihren Ausgängen vorangetragen wird, nach Art eines Verzeichnisses aufgeführt finden. Künstler von Bedeutung wie Yoshitoshi oder Kitagawa Utamaro haben es nicht für unter ihrer Würde erachtet, Darstellungen aus dem Leben des Yoshiwara mit ihrem Stifte wiederzugeben, und japanische Bücher bringen die Lebensbeschreibungen einiger berühmter Prostituierter sowie ihre Porträts (Abb. 51). — Da das ganze Yoshiwaraviertel besonderer polizeilicher Aufsicht unterstellt ist, so herrscht hier vollkommene Ordnung, musterhafte Ruhe und absolute Sicherheit; die öffentliche Scham wird durch das sich hier abspielende Treiben keineswegs verletzt. — Die gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern hat in Japan, besonders in seinen südlichen Teilen, weite Kreise des Volkes durchseucht; hier werden ebenso wie in China Knaben von frühester Jugend auf zu einem solchen Berufe systematisch vorbereitet. Auch Bordellwesen existiert nach dieser Richtung.
Zu den vielen schönen und ergreifenden Eigenarten des japanischen Lebens gehört auch die Verehrung der Toten und die peinliche Sorgfalt, die auf die feierlichen Gebräuche der Anbetung und Erinnerung an die Seelen der Heimgegangenen im Hause verwendet wird.
Hat der Sterbende den letzten Hauch getan, dann versuchen die, welche ihm am nächsten standen, ihn noch einmal ins Leben zurückzurufen, indem sie ihm seinen Namen ins Ohr schreien, denn sie glauben, die Seele könne es hören und noch einmal Rückkehr halten; besonders rührend ist, wenn zuerst das jüngste Kind die Mutter ruft, denn man erwartet, daß sie dieses am allermeisten liebe. Nützt dies nichts, dann befeuchtet man die Lippen des Toten mit Wasser, bedeckt sein Gesicht mit einem weißen Tuch und kehrt alles im Zimmer um. Auf einen niedern Tisch stellt man sodann die Tafel mit dem Namen des Verstorbenen, der ihm nach seinem Tode gegeben wird. Die Totentafel der Buddhisten ist kunstvoll gearbeitet und reich vergoldet; sie trägt als Namen eine langtönende Zusammenfassung vieler Tugenden; die Tafel der Shintoisten dagegen ist einfach, aus weißem Holz angefertigt und hat als Aufschrift nur den Lebensnamen des Verblichenen mit dem Zusatz „Mi-tama“, das ist Erhabener Geist. Vor dieser Tafel nun stellt man ein Weihrauchbecken mit einem dauernd brennenden Weihrauchstock, eine Tasse Wasser, ein ganz bescheidenes Licht — in einer irdenen Untertasse mit Rübsenöl brennt ein Docht —, weiter einen Behälter mit einigen Aniszweigen, ein paar Klöße aus weißen Bohnen auf einem Teller, eine Schüssel mit Reis, über den Bohnensuppe gegossen ist, und ein Speisestäbchen auf; in die Nähe der Leiche legt man öfters noch quer über die Kniee ein Schwert, um die bösen Geister abzuwenden.
In den Sarg gibt man dem Toten einen Bambusstab und einen Beutel mit buddhistischen Amuletten, Gebetssprüchen und einer Münze (für die Überfahrt) mit und bestreut das Ganze mit Weihrauchpulver und getrockneten Anisblättern. Stirbt ein Ehemann, so pflegt die Frau ihr Haar abzuschneiden und es ebenfalls in den Sarg zu legen; sie will damit bekunden, daß sie nie wieder heiraten wird; übereinstimmend mit diesem Entschlusse bestellt sie zu gleicher Zeit ihre eigene Totentafel, die mit der ihres verstorbenen Gatten gemeinsam auf dem Hausaltar und[S. 43] im Familientempel Aufstellung findet. Indessen beschränkt sich dieser Brauch nur auf die Ehefrauen der oberen Klassen, die dadurch fortan ihre Keuschheit anzeigen wollen.
In der Nacht vor einem Begräbnis (Abb. 54 und 55) halten die Hausangehörigen Wache, die Priester sagen dabei Gebete her. Auf die Nachricht von dem Tode machen die Freunde und Bekannten sofort ihren Beileidsbesuch; sie senden gleichzeitig oder bringen ein Geschenk in Form von Geld als Beitrag zu den Begräbniskosten mit, die in Japan ungewöhnlich hohe sind und auch nicht gespart werden, wenn es gilt, einen Toten zu ehren. Das Geld wird in weißes Papier gewickelt, mit der Bezeichnung „koden“ (Weihrauchgeld) versehen und mit einem schwarz und weißen Bande zugeschnürt. Die Familie macht zum Zeichen ihres Dankes innerhalb fünf Wochen nach dem Begräbnis ein Gegengeschenk in Form von Klößen aus grünen und weißen Bohnen, sowie von Blechdosen mit Tee. Auch sendet man Kuchen, und zwar merkwürdigerweise bei solchem traurigen Anlaß in gerader Zahl, hingegen bei freudigen Ereignissen in ungerader Zahl.
Der vertrauteste Gegenstand in einem japanischen Haushalte ist der Familienaltar, auf dem die Tafeln, welche den Toten geweiht sind, die Ihai, aufbewahrt werden. Der buddhistische Altar ist vornehmer ausgestattet, meistens lackiert, sein Inneres vergoldet. Der Shintoaltar dagegen besteht nur aus einfachem weißen Holz in der Form des archaistischen Shintotempels. Sind die Leute Anhänger des Buddhismus, so wird jeden Morgen von dem ersten Reis und Tee eine Opfergabe den Ihai auf dem Altar entrichtet; jeden Monat wird den Geistern am Todestage ein winziges Gemüsemahl serviert, dazu werden Blumen in kleinen Vasen hingestellt und Weihrauch verbrannt. Die Shintoanhänger ihrerseits opfern alle zehn Tage und am wiederkehrenden Todestage im Monat Sake, ungekochten Reis, rohes Fleisch, Obst und Gemüse dem[S. 44] „Erhabenen Geiste“. Weihrauchverbrennen gestattet jedoch die shintoistische Religion nicht, läßt dafür aber bei feierlichen Gelegenheiten und auch beim Begräbnisgottesdienst Zweige der Cleyera japonica darbringen (Abb. 55). Auch die Shintoisten betrachten alles, was mit dem Tode zusammenhängt, als unrein. Bei eintretendem Todesfall wird daher der Altar mit weißem Papier zugedeckt, um das Eindringen verunreinigter Luft zu verhindern; nach dem Begräbnis vollziehen die Priester eine feierliche Reinigung, indem sie Salz über das ganze Haus streuen und am Grabe geweihte Stäbe über die Trauernden schwenken.
Die Buddhisten feiern ein Allerseelenfest, das wunderbare Bon-matsuri, vom 13. bis 16. August, denn um diesen Zeitpunkt, so glaubt man, suchen die Seelen der Toten ihre Hinterbliebenen auf. Von einem Ende des Reiches bis zum anderen werden freudige Vorbereitungen getroffen, um diese geisterhaften Besucher zu bewillkommnen. Die Kirchhöfe werden aufgesucht, die Grabsteine (Abb. 53) gewaschen und mit Blumen geschmückt, vor den Hügeln wird Weihrauch verbrannt, und vor den Häusern sowie den Altären werden Laternen aufgehängt, die von leuchtender, durchscheinender Schönheit sind, manchmal die Form von zart abgetönten Lotusblumen aufweisen und durchweg mit rosa und weißen Lotusblumen, sowie mit Fransen und langen Bändern aus feingeschnittenem Papier verziert sind. Auf den „Geisteraltar“, eine auf vier mit Fadennudelgewinden verzierten Bambuspfählen ruhende, mit einer Kryptomerienumzäunung versehene Strohmatte, werden „Willkommenkuchen“ und „glückbringende Klöße“, in Lotusblätter eingehüllt, sowie verschiedene Früchte und Beeren den Geistern als Speise hingesetzt, desgleichen für sie Gefährte in Gestalt kleiner Ochsen und Pferde, entweder aus Stroh geflochten oder aus Eierpflaumen und Melonen zugeschnitten, aufgestellt. Auf dem Lande geht die ganze Familie mit brennenden Laternen in den Händen zu den Gräbern, den ankommenden Seelen entgegen, zündet draußen vor dem Hause überall Hanfstockfeuer an (Abb. 52), um sie zu begrüßen, und stellt bei den Toren Schüsseln mit Wasser auf, damit sie sich die Füße waschen können. Am 14. August kommen die Priester, um vor dem Altar Gebete zu sprechen, und am nächsten Tage werden alle Feuer wieder angezündet, um die scheidenden Geister hinauszugeleiten. Altmodische Leute zünden sich an solchem Feuer ihre Pfeifen an und treten über dasselbe, um sich bestimmte Krankheiten fernzuhalten. — An der Küste besteht in[S. 45] manchen Gegenden der Brauch, kleine Boote aus Stroh mit Papiersegeln und winzigen Gefäßen für Wasser und Weihrauch für die wiederkehrenden Geister auszusetzen; auf dem Segel dieser Boote steht der buddhistische Name des Toten geschrieben. An manchen Orten schmückt man die Boote abends auch mit kleinen Laternen, an anderen setzt man nur schwimmende Laternen aus.
Die Ainu. Im nördlichen Japan (Jesso) sowie auf der Südspitze Sacchalins und auf den Kurilen wohnen die Ainu, ein Volk, das ehemals die ganze ostasiatische Inselkette, von den Kurilen angefangen bis Liu Kiu, sowie das Amurgebiet auf dem Festlande bewohnt haben muß und höchstwahrscheinlich von hier aus zur Steinzeit nach Japan einwanderte. Anscheinend trafen die Ainu hierbei auf eine einheimische Urbevölkerung, die die Bezeichnung Koro-pok-guru führte und mit ihnen zusammen, sowie mit hinzugewanderten mongolischen und malaiischen Elementen die heutige Bevölkerung Japans hervorbrachte.
Die Ainu sind klein, stehen in der Größe sogar noch den Japanern nach, sind aber von kräftigem, gedrungenem Körperbau. Ihr Kopf ist länger als bei den Mongolen, ihr kurzes, rundes Gesicht besitzt tiefliegende, rundliche, gerade stehende Augen (meistens ohne Mongolenfalte), die von buschigen Augenbrauen überschattet werden, und etwas vorstehende Jochbeine. Die Nase ist kurz, an der Wurzel schmal, nach unten hin aber ausladend. Der große Mund besitzt wulstige Lippen, das Kinn ist breit. Die Hautfarbe gleicht im allgemeinen der der Japaner, zeigt aber einen Stich ins Rötliche. Das Haar ist ebenfalls straff und tiefschwarz. Eine auffällige Erscheinung ist die besonders starke Behaarung der Ainu, die um so wunderbarer erscheint, als sie mitten unter Völkern leben, die im Gegensatz dazu besonders spärlich behaart sind. An den Männern fällt der üppige Bart auf, der bis an die Ohren und ziemlich an die Augen heranreicht, desgleichen der Reichtum an Haaren am ganzen übrigen Körper, die ihn wie ein Pelz bedecken. Im großen und ganzen weisen die Ainu in ihren Gesichtszügen mehr Ähnlichkeit mit den kaukasischen, als mit den mongolischen Völkern auf; Bälz stellt sie geradezu mit den russischen Bauern in Parallele. Die Ainu sind von Charakter gutmütige, höfliche, man kann beinahe sagen, unnatürlich kriechende, unterwürfige, dabei aber träge und arbeitscheue, sowie dem Trunke und dem Tabakgenuß sehr ergebene Leute.
Im wesentlichen sind sie Jäger und vor allem Fischer; Ackerbau erlaubt das kalte Klima ihnen kaum. Sie graben sich auch Wurzeln mittels Grabstöcken aus. Auf der See bedienen sie sich zum Fange der Harpunen (Abb. 56); früher betrieben sie die Jagd mittels (mit Akonit) vergifteter Pfeile. Ihr einziges Haustier ist der Hund, der ihnen ihre Schlitten zieht (Abb. 57). —[S. 46] Sie wohnen in Holzhütten mit Binsenbedeckung (Abb. 60 bis 62), die teils direkt auf dem Boden, teils auf Gerüsten stehen, teilweise auch in Erdwohnungen.
Die Kleidung der Ainu besteht aus Fellen und Stoffen aus Ulmenbast (Abb. 58); beide Geschlechter tragen enge Beinkleider, Jacke, langen Rock und Schuhe, dazu Schmuck in Gestalt von großen Ohrringen aus bunten Stoffstreifen oder Metall, silbernen Halsbändern und Kopfbinden. Ganz eigenartig ist die Tatauierung der Frauen, künstlerisch verschlungene Linien auf Armen und Händen sowie schnurrbartähnliche Muster an der Ober- und Unterlippe, wodurch sie ein ganz männliches Aussehen bekommen (Abb. 62). Bereits im siebenten Lebensjahre beginnt man bei den kleinen Mädchen an der Oberlippe damit und fügt alljährlich ein Stück des blauschwarzen „Schnurrbartes“ mehr hinzu, so daß mit etwa zwanzig Jahren die Tatauierung vollendet ist.
Die Ainu leben in kleinen Horden in Dörfern unter einer Art Häuptlingen, die bei festlichen Gelegenheiten eine mit einem roh aus Holz geschnitzten Bärenkopfe geschmückte Krone aus Weidenholzspänen und Seegras, ein besonderes Kleid aus bunten Stoffstreifen und ein großes Schwert tragen.
Die Ainu sind ihrer religiösen Anschauung nach reine Animisten; sie halten die ganze lebende und tote Natur von Geistern und Göttern belebt, beten diese an und huldigen ihnen durch[S. 47] Opfer, im besonderen durch Darbringen von Reiswein. Ihre Hauptgottheit ist heutzutage (wohl von Japan aus eingeführt) der Gott der Sonne; dieser gebietet allen übrigen Gottheiten. Außer diesem hohen Gott gibt es noch eine ganze Reihe Götter zweiten Grades, die zahllosen Geister, die in dem Feuer, den Bergen, Flüssen, Tälern, Wäldern, selbst in den Tieren (Walfisch, Seebär, Walroß, Otter und vor allem dem Bären) leben oder die Seelen der Vorfahren vorstellen und insgesamt unter der Bezeichnung der Kamui zusammengefaßt werden. Alle diese Geister sind ihnen gutgesinnt und fördern ihr Wohlbefinden. Daneben aber kennen die Ainu auch solche Wesen, die sich angelegen sein lassen, sie zu schädigen, ihnen Unglück und besonders Krankheit und Tod zu bringen; diese verehren sie nicht, sie beten sie ebensowenig an oder opfern ihnen, sondern bekämpfen sie nur; den Kampf übernehmen die Schamanen.
Die Opfer, die die Ainu ihren Göttern darbringen, bestehen in Speise und Trank (Abb. 59); außerdem stellen sie ihnen zu Ehren überall, wo es nur möglich ist, eigenartige Gegenstände auf, die sie Inau nennen. Es sind dies für gewöhnlich Ästchen aus Weiden-, seltener aus Erlen- und Ebereschenholz, an denen stellenweise kurze Streifen abgespalten sind, so daß diese wie Locken herabhängen. Sie sollen menschliche Figuren darstellen, was man mit einiger Phantasie auch wohl erkennen kann. Daneben werden aber auch große Inaue in Gestalt hoher Stangen oder Bäume errichtet, die oft ganz verwickelte Gestalten wiedergeben; so zum Beispiel stellt ein kleiner Tannenbaum, an dem die Äste quirlähnlich stehen gelassen sind, den Sonnengott dar. Auch Bündelchen mit abgespaltenen Holzstückchen werden als Inau bezeichnet; das Bezeichnende für alle die so benannten Gegenstände scheint das Vorhandensein von Holzspänen zu[S. 48] sein. Man trifft die Inaue überall, entweder einzeln oder in Gruppen zusammen an, in und vor dem Hause, auf Bergen, am Meeres- und Flußufer, im Walde, auf Wegen, Grabstätten und sonst noch. Sie spielen eine überaus wichtige Rolle im Leben der Ainu, die sehr viel Zeit auf ihre Herstellung verwenden. Über die Bedeutung der Inaue sind die verschiedensten Meinungen aufgestellt worden. Die eine davon besagt, daß die Inaufigur an Stelle früherer Menschenopfer getreten sei und das Einkerben den Ausdruck des Bauchaufschneidens bedeute; eine andere behauptet, daß die Inaue aus dem Shintokultus herstammten, das heißt auf die mit farbigem Papier behängten Opferstäbchen der Japaner als Vorbild zurückgehen und ebenso wie diese aus dem Opfergegenstand zum direkten Gegenstand der Verehrung, das heißt zur Gottheit geworden seien. Indessen befriedigen auch diese Erklärungen nicht. Am wahrscheinlichsten erscheint mir die Annahme, daß die Inaue die Rolle eines Vermittlers zwischen Menschen und Göttern zu spielen haben, daß die „hölzernen Menschen“ gleichsam die Gabe besitzen, diesen die Wünsche und Bedürfnisse der lebenden Menschen zu überbringen, und daß die Späne an ihnen Zungen darstellen. Im Augenblick großer Gefahr, zum Beispiel bei Sturm auf dem Meere, holt der Ainu ein Holzstäbchen, das er stets bei sich trägt, hervor, kerbt es in der bekannten Weise ein und wirft es, sobald die Figur fertiggestellt ist, ins Meer mit den Worten: „Gehe zum Geist des Meeres und sage ihm, daß er gehörig acht gebe“ und so weiter. — Eine besondere Verehrung zollen die Ainu dem Bären, der auch ihre wichtigste Nahrungsquelle abgibt. Sie fangen im Beginn des Frühjahres junge Tiere ein[S. 49] und ziehen sie in Käfigen (Abb. 61 und 63), die im Hause der Häuptlinge stehen, angeblich an der Brust der Weiber, auf. Wenn sie erwachsen sind, werden diese Bären unter gewissen Zeremonien getötet und verzehrt. Die Schädel aber werden auf Pfählen aufgesteckt und dienen zur Anbetung (Abb. 64).
Die Stellung der Ainufrau ist eine verhältnismäßig hohe, insofern sie nicht gekauft wird. Nach ihrer Heirat bleibt sie auch ihrem Stamme erhalten, denn die verwandtschaftlichen Beziehungen mütterlicherseits gelten für engere als die väterlicherseits. Demgemäß beeilt sich die Jungverheiratete nicht, in das Haus ihres Gatten überzusiedeln, sondern verbleibt in dem ihrer Eltern noch einige Jahre; in der Regel macht sie hier auch ihr erstes Wochenbett durch. Diese Erinnerungen an ein früheres Matriarchat machen sich auch in verschiedenen abergläubischen Vorstellungen bemerkbar. Frauenblut auf die[S. 50] Brust gerieben, bewirkt, daß alle, die mit Geldangelegenheiten zu tun haben, stets ihren Vorteil daraus ziehen, ein Stückchen der Menstruationsschürze ist ein mächtiger Talisman in allen Lagen des Lebens.
Während ihrer Schwangerschaft erfreut sich die Ainufrau ebenfalls einer gewissen Pflege und Aufmerksamkeit. Merkwürdigerweise muß sie sich, besonders gegen Ende der Schwangerschaft, recht viel Bewegung verschaffen, damit das Kind recht klein bleibe und die Entbindung leicht und schnell vonstatten gehe. Die Schwangere darf kein Hammelfleisch essen, weil sonst das Kind eine Hasenscharte erhalten, auch kein Geflügel, weil es sonst mit schielenden Augen zur Welt kommen würde. Zwei Monate vor ihrer Niederkunft darf sie nicht spinnen, Seile drehen oder Wolle wickeln, weil sonst die Eingeweide des werdenden Kindes wie die Fäden durcheinander geraten könnten, und anderes mehr. — Während der Geburt bleibt die Kreißende allein, weil eine größere Anzahl von Zuschauern ihre Wehen verstärken würde, jedoch steht ihr eine erfahrene Frau, meistens eine nahe Verwandte, bei. Diese wendet sich auch mit Gebeten an die Geister der verstorbenen Vorfahren, die allgemein für die Beschützer der Frauen gelten, um ihr dadurch eine leichte Geburt zu verschaffen. Bei Eintritt der Geburtswehen wird ein Inau in der Ecke des Herdes aus dem gleichen Grunde aufgestellt, als Opfer für die Göttin des Feuers. Ein auf einer Matte sitzender Greis sendet leise zu ihr ein für diesen Fall improvisiertes Gebet; fällt das glimmende Stäbchen in der Richtung nach ihm zu, so gilt dies als ein Anzeichen dafür, daß das Gebet erhört werden wird. Daneben kommen noch allerlei Mittel zur Erleichterung der Geburt in Anwendung, wie Umlegen einer aus Weidenspänen gedrehten langen Schnur oder eines getrockneten Bärendarms um den Unterleib, sein Einreiben mit einer in ebensolche Späne gewickelten, getrockneten Fledermaus oder mit den Bauchhaaren einer Hündin[S. 51] und so weiter. — Sobald das Kind geboren ist, hebt die Geburtshelferin es in die Höhe und ruft dabei aus: „Neuer Greis (bei Mädchen: Neue Greisin) sei gesund.“ Die Ainu glauben nämlich, daß ihnen die Kinder von verstorbenen Verwandten aus dem Jenseits gesandt werden, die dort unter den gleichen Verhältnissen wie hier auf Erden wohnen.
Von Zwillingen wird der eine für teuflischer Herkunft angesehen und getötet.[S. 52] Frauen, die solche zur Welt brachten, werden von ihren Geschlechtsgenossinnen gemieden, aus Furcht, sie könnten dadurch angesteckt werden. Dieser Aberglaube, daß erwachsene Menschen ihre Eigenschaften auf andere übertragen können, führt zum Beispiel dazu, daß eine unfruchtbare Frau von einem kinderreichen Weibe Geräte kauft und sich ihrer beständig bedient oder sie mit sich trägt.
Abtreibung der Leibesfrucht kommt recht häufig vor, um das Ergebnis eines Verkehrs mit fremden Männern zu verheimlichen. Binden des Bauches, starkes Einschnüren der Taille, Herabspringen von großer Höhe sind die üblichen Methoden. Der Wöchnerin läßt man ebenso wie der Schwangeren große Pflege angedeihen.
Bei dem aus Anlaß der Geburt veranstalteten Feste wird wilder Knoblauch als Lieblingsspeise der Götter ins Feuer geworfen, um sie dadurch zu zwingen, an der Feier teilzunehmen. Die Nachbarn finden sich zum Schmause ein, dessen Hauptgericht mit Knoblauch gekochter Reis bildet.
Die Toten der Ainu werden gewaschen und mit ihren Waffen und sonstigen Habseligkeiten wie auch Schmuck entweder in Matten gewickelt oder in Bretterkisten gelegt; gleichzeitig opfert man den Geistern der Verstorbenen Speise und Trank. Stirbt jemand unnatürlichen oder gewaltsamen Todes, so bringen sich die Angehörigen mit einem Messer leichte Wunden an der Stirn bei und opfern das herausquellende Blut dem Toten. Die Beerdigung[S. 53] findet für gewöhnlich in der Nacht im Walde statt. Die Stätte, wo der Tote beigesetzt wurde, bezeichnet man durch einen mittels roher Rindeneinschnitte verzierten Pfahl oder Baumstamm, der, wenn es sich um eine Person männlichen Geschlechts handelt, in halber Höhe einen phallusartig zugestutzten Ast trägt (Abbild. 65) oder, wenn um eine weibliche, an seinem oberen Ende mit einem oder zwei länglichen Löchern versehen ist (Abbild. 66). An Beigaben legt man an diesen Grabstätten die Kleider, die Angelhaken, Pfeile oder Pfeilspitzen und Glasperlen entweder in Täschchen oder direkt auf der Erde nieder. Die Trauer dauert je nach dem Grade der Verwandtschaft ein bis drei Jahre; als Zeichen für dieselbe trägt man eine eigenartige Mütze. Nach einem Jahr vom Todestage an kommen sämtliche Verwandte zusammen, vermeiden aber, etwas über den Toten zu sprechen, aus Furcht, es könnten die Geister der Verschiedenen zurückkommen und sie ängstigen.
[S. 54]
Formosa, seit 1895 im Besitze der Japaner, wird von acht Wildstämmen bewohnt, die sich nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in der Kleidung, Bauart der Häuser, Tatauierung und sonstigen Sitten voneinander unterscheiden; gemeinsam ist ihnen allen das Äußere, kleine Statur, gelbbraune Hautfarbe und glattes, schwarzes Haar. Dieses ihr anthropologisches Verhalten, wie auch ihre Sprache und ethnographischen Verhältnisse lassen darauf schließen, daß sie malaiischer Herkunft sind, also von Völkern abstammen, die zu verschiedenen Zeiten von Süden, der indisch-australischen Inselwelt her nach Formosa einwanderten. Zu ihnen, den Sebenshin oder Wildstämmen, gesellten sich im fünfzehnten Jahrhundert Chinesen aus Südchina hinzu, die Hakka, später die Hoklo; diese machen die reiche Bevölkerung der großen Städte der Insel aus. Ihre Frauen verkrüppeln sich auch heute noch die Füße.
Die Wilden Formosas, die durch die Chinesen in die gebirgigen Teile des Landes zurückgedrängt wurden und hier in fast unzugänglichen Dschungeln hausen, sind Ackerbauer; ihre Dörfer bilden ungefähr ein halbes Dutzend leicht gebauter Hütten. Eine feste Stammesverfassung unter Häuptlingen kennen sie nicht. — Als Schmuck ist bei allen Stämmen Tatauierung beliebt; die einzelnen Stämme unterscheiden sich hierin deutlich voneinander. So sind die Männer der Atayalen an einer senkrecht von der Mitte der Haargrenze über die Stirn bis zu den Augenbrauen verlaufenden breiten blauen Linie, sowie an einer senkrechten am Kinn, ihre Frauen an einem breiten blauen Bande, das von einem Ohr zum anderen über den Mund sich hinzieht (Abb. 68), kenntlich, die Amifrauen an mehreren Bändern um die Handgelenke (Abb. 73) und so weiter. Die Atayalen tragen als weiteren Schmuck noch geschnitzte Stöcke in den Ohrläppchen, andere Stämme wieder Hals- und Kopfbinden aus einer Art Achat und anderes mehr. Bei einigen Stämmen besteht die Sitte des Zähneherausnehmens bei Eintritt der geschlechtlichen Reife.
Die Wilden Formosas besitzen eine außerordentliche Gewandtheit; mit affenartiger Geschwindigkeit verstehen sie es, die Klippen zu erklimmen, von Baum zu Baum zu springen[S. 56] und durch das beinahe undurchdringliche Dickicht des Urwaldes hindurchzukriechen. Sie tragen beständig ein Schwert bei sich, dessen Griff bei den Ami, ebenso wie ihre Pfeifenköpfe, mit Silberstäbchen ausgelegt ist.
Die grausame Unsitte der Kopfjägerei haben die Wildstämme aus ihrer malaiischen Urheimat auch hierhin verpflanzt; sie beherrscht direkt ihr ganzes soziales Leben. Besonders die Atayalen sind die eifrigsten und gefürchtetsten Kopfjäger (Abb. 71). Ihre Sitte erfordert es, daß man sich Köpfe verschafft, um eine reiche Ernte zu erzielen — in diesem Falle werden die frisch abgeschnittenen Köpfe den Ahnen geopfert — oder um sich eine Frau, eine Stellung oder überhaupt Einfluß zu verschaffen, um sich für die Aufnahme in den Rat Erwachsener zu eignen, und um als tapferer Mann angesehen zu werden oder um bei Verfehlungen gegen die eigenen Stammesgenossen seinen Ruf wiederherzustellen. Es kommt sogar so weit, daß zwei Männer, die Streit miteinander bekommen haben, aber zu keinem Ausgleich gelangen können, verschwinden und sich gegenseitig zu Leibe gehen, bis der eine dem anderen den Kopf abhaut; wer mit dem Kopfe seines Gegners ins Dorf zurückkehrt, zu dessen Gunsten wird der Streit entschieden. Bei der Rückkehr der Tapferen mit den erbeuteten Köpfen (Abb. 69) wird ein großes Freudenfest veranstaltet, häufig mit Tanz und Reisweintrinken; die Helden genießen fortan großes Ansehen. Die Köpfe werden bei den Atayalen auf kleinen, schmalen, drei bis vier Fuß hohen Plattformen (Abb. 67), bei den Paiwan zwischen aufeinander gelegten Steinplatten aufbewahrt und verbleiben dort als eine Art Heiligtum unter Aufsicht des Dorfältesten, damit sie nicht gestohlen werden (Abb. 70). Manche Dörfer sind im Besitze von mehreren hundert Köpfen, selbst der kleinste Weiler hat in der Regel deren mindestens zehn aufzuweisen. In den Distrikten, die durch die Kopfjäger unsicher gemacht werden, haben die Japaner mit Wällen und Gräben befestigte Niederlassungen erbaut.
Die Wilden Formosas sind reine Animisten; sie glauben an Geister, auch an Zauberbann und Zaubermittel. Eine Krankheit legen sie fast allgemein dem Zorne böser Geister zur Last; fast jedes Dorf hat eine alte Frau aufzuweisen, die sich damit abgibt, sie zu vertreiben. Zu diesem Zwecke hockt sie vor dem Kranken auf der Erde nieder und nimmt ein Bambusrohr zwischen die Knie, so daß es vorn etwas in die Höhe steht. Auf[S. 57] dem Ende dieses Rohres balanciert sie ein geweihtes Zaubermittel, einen durchlöcherten Stein, und bewegt die Hand darüber, indem sie gleichzeitig die Geister bittet, den Zauber fortzunehmen. Bleibt der Stein für einige Augenblicke liegen, dann erblickt man darin ein Anzeichen für eine günstige Wendung, fällt er aber sofort herunter, dann sind die Bemühungen aussichtslos. Die Ami schreiben Schmerzen einem schädlichen Stoffe im Fleische zu; ein Zauberer saugt daher kräftig an der schmerzhaften Stelle und holt dann plötzlich einen oder mehrere Gegenstände aus seinem Munde hervor, die er angeblich dem Kranken entnahm.
Nach dem Einbringen der Ernte sowie bei der Aussaat pflegt man bei den meisten Stämmen an einem bestimmten Tage, an dem Vollmond sein muß, die Ahnen anzubeten, teils um ihnen für die reichliche Ernte zu danken, teils auch um ihre weitere Gunst für die kommende Saat zu erbitten. Eine jede Familie bringt Kuchen von dem eingeernteten Getreide (Hirse und Reis) in der Dunkelheit der Nacht in den Dschungel, wickelt sie in Blätter ein und hängt sie an Bäumen auf, damit die Geister der Vorfahren von ihnen genießen. Am nächsten Tage kommen die Dorfbewohner alle zusammen und lassen Frohsinn und Freude walten; die Frauen führen dem Hula-Hula (I. Band Seite 24) ähnliche Tänze auf. — Die Stämme der Tsougruppe weisen den Geistern ihrer Ahnen als Wohnsitze die Bäume an; am Eingange eines jeden Dorfes findet sich ein besonders wegen seiner Größe auffallender Baum, der sich besonderer Ehrung erfreut und nach Einbringen der Ernte aus Dankbarkeit gegen die Ahnen mit Wein besprengt wird. Eine besondere Orchideenart wird am Fuß des Baumes sowie bei den noch zu besprechenden Junggesellenhäusern als heilige Pflanze gezogen und darf nicht beschädigt oder gar abgeschnitten werden. Die Stämme der Paiwan glauben, daß die Geister ihrer Ahnen in den Schwertern sind, die ihre Eltern ihnen[S. 58] hinterlassen haben. Alle fünf Jahre führen sie an einem bestimmten heiligen Tage ein Wettspiel auf; sie versuchen ein auf der Spitze einer Bambuslanze sitzendes Bündel Borke aufzufangen, das die Form eines Menschenkopfes hat; wem es gelingt, dieses aufzuspießen, wird als Sieger gefeiert. Ursprünglich wurde dazu ein wirklicher Menschenkopf verwandt und am Schluß des Spieles den Geistern ein Opfer dargebracht. Die Puyuma fangen an dem Jahrestage des Festes einen Affen, binden ihn an einen Baum vor dem Schlafsaal der Knaben und töten ihn mit Pfeilen, worauf der Häuptling mit Wein dreimal das Tier und die Erde besprengt. Der Affe ist auch hier an Stelle eines Menschen getreten, der ursprünglich geopfert wurde.
Bei vielen Stämmen gibt es ein besonderes Haus, in dem die unverheirateten Jünglinge wohnen, bis sie die Berechtigung erlangen, zu heiraten. Es ist mit Absicht so gebaut, daß es seinen Bewohnern wenig Behaglichkeit bietet, unter anderem den kalten und regnerischen Winden Eintritt gewährt, damit die jungen Leute abgehärtet und an das rauhe Kriegerleben gewöhnt werden. Sie dürfen auch nicht ein Haus, in dem Frauen leben, betreten, noch irgend einen Gegenstand besitzen, der einer Frau gehörte oder für eine Frau gedacht war. Für die Heirat besteht die Voraussetzung, daß der Jüngling (Abb. 72) in aller Form vom Stamme als Erwachsener anerkannt worden ist, was erst geschehen kann, wenn er von der großen Versammlung der Tapferen aufgenommen wurde, nachdem er einen Fremden getötet und dessen Kopf mitgebracht hat.
Für die Hochzeit muß bei den Tsalisen zuvor die Einwilligung der Eltern eingeholt werden, wofür man sich eines Vermittlers bedient. Ist dies geschehen, dann muß erst noch ein Monat verstreichen, um beiden Teilen Gelegenheit zu geben, sich kennen zu lernen und sich zu besinnen. Am verabredeten Tage besucht der Bewerber dann das Haus seiner Zukünftigen, und eine einfache Zeremonie berechtigt darauf das Paar, fortan zusammenzuleben. Die Frau bleibt aber bei ihrer Mutter, bis ein Kind geboren worden ist; erst dann siedelt sie in das Heim ihres Gatten über. Bleibt die Ehe aber kinderlos, dann hören die Besuche ihres Bewerbers und alle Vertraulichkeiten zwischen beiden Teilen auf, und ein jeder kann sich einen neuen Ehegefährten suchen. — Bei manchen Stämmen erfordert die[S. 60] Ehezeremonie einen vorgegebenen Brautraub. Manchmal kommt es auch zwischen den beiderseitigen Verwandten zu Scheinkämpfen; falls etwas Blut dabei vergossen wird, gilt dies als eine gute Vorbedeutung. — Bei den Paiwan geht der junge Mann nach dem Hause seiner Geliebten und stellt Wasser und Brennmaterial vor ihre Tür; benutzt sie beides, so bekundet sie damit, daß sie ihn annimmt. Daraufhin schlägt der Jüngling seinen Wohnsitz in der Familie seiner Schwiegereltern auf, bis er imstande ist, seiner Frau ein eigenes Heim zu bieten. Bei dem Puyumastamm verbleibt der Gatte dauernd in der Familie seiner Frau, seine eigene Familie entsagt sich fortan jeglichen Anspruchs auf ihn. Als Sohn des neuen Heims nimmt er an allem teil, was das Haus darbietet; er besitzt aber keine gesetzmäßige Macht über die Familie, auch fallen ihm erst das Haus und sonstiger Besitz nach dem Tode seiner Schwiegereltern zu; er teilt das Erbe dann mit seiner Frau. Das Brennmaterial, das bei den Ami der junge Mann seiner Angebeteten als Werbung darbringt, wird ihr ratenweise — jeden Tag ein Bündel, bis die Zahl zwanzig voll geworden ist — zugesandt. Um im gegebenen Augenblick genügend Material zur Hand zu haben, pflanzen die jungen Knaben bereits Bäume, die, wenn sie eineinhalb bis zwei Meter groß geworden sind, gerade für ein derartiges Verlobungsgeschenk ausreichen.
Über die Totenzeremonien der Formosawilden ist wenig zu sagen. Die Atayalen ziehen dem Verstorbenen neue Kleider an und hüllen ihn noch in ein Rehfell oder in Ermangelung eines solchen in ein großes Tuch. Das Grab für ihn wird unter dem Schlafraum gegraben, den er bis zu seinem Tode bewohnte. Die Familientrauer hält zehn bis dreißig Tage an; darauf verlassen die Angehörigen für immer das Haus, welches dadurch in Wirklichkeit zu einem Grab für den Toten wird. — Die Tsoustämme graben das Grab beim Eingange des Hauses aus und wälzen über den Toten einen möglichst großen Stein, um ihn zu schützen, füllen die Grube ganz mit Erde aus und machen die Oberfläche dem Erdboden gleich, so daß die Stelle unkenntlich bleibt und wieder anderweitig verwertet werden kann.
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Auf der Insel Ceylon treten uns seit undenklichen Zeiten drei Bevölkerungselemente entgegen: die Ureinwohner oder Wedda, die aus Nordindien anscheinend auf dem Seewege hinzugekommenen Singhalesen und die von Südindien übergesetzten Tamulen. Neben diesen sind die aus einer Mischung von Europäern und Eingeborenen hervorgegangenen Burghers oder Eurasier zu nennen. Beschäftigen wir uns zunächst mit der ersten Gruppe, den Wedda.
Zur heutigen Zeit lassen sich drei Arten von Wedda unterscheiden, die Küstenwedda, die Dorfwedda und die Dschungel- oder wilden Wedda. Die beiden ersten Klassen, die man als „zahme Wedda“ zusammenfaßt, haben bereits viel singhalesisches und tamulisches Blut in sich aufgenommen, so daß ihre Sitten und Gebräuche denen dieser Völker ziemlich ähnlich sind. Dagegen haben die wenigen „wilden“ Wedda noch zumeist ihre Ursprünglichkeit bewahrt.
Die reinen Wedda sind kleine Leute (Männer hundertfünfundvierzig bis höchstens hundertsechzig Zentimeter Höhe) von schlankem, zierlichem Körperbau, aber kräftig entwickeltem Brustkorb. Sie zeigen eine dunkelschokoladenähnliche bis schwärzliche Hautfarbe und besitzen wellige dichte Kopfhaare, aber nur spärlich entwickelten Bart. Ihr Kopf ist länglich, ihr Gesicht schmal und niedrig, springt in seinem unteren Teil verhältnismäßig stark vor und läuft zuweilen nach dem Kinn auffällig rasch spitz zu. Die Jochbeine sind weit ausladend. Die Nase ist flach, kurz und breit, an der Wurzel tief eingesattelt, besitzt breite Flügel und nach vorn sehende[S. 62] Nasenlöcher. Der große und unförmige Mund wird von einer dicken, wulstigen Oberlippe überragt. Im großen und ganzen erscheinen die Wedda in ihrem Äußeren als Verwandte der Australier, Sakai und anderer Stämme der indo-australischen Rasse, deren ursprünglichste Vertreter sie noch heute darstellen.
Die Körperbedeckung der Wedda ist eine sehr geringe; sie besteht nur in einem Hüftentuch oder einem Schurz aus grünen Zweigen; früher gingen sie gänzlich nackt. — Schmuck fehlt ihnen ganz und gar.
Die soziale Einheit der Wedda ist die Familie; über sie hinaus kommt es nur noch zur Horde, aber innerhalb dieser herrscht nur ein lockerer Zusammenhang, zumal es in ihr auch an einem Häuptling fehlt. Die älteren Männer scheinen eine Art Einfluß auszuüben, dem sich die übrigen unterordnen. Eine Gruppe von nahen Verwandten besitzt ihr bestimmtes Gebiet, in dem sie sich allein das Recht anmaßt, zu jagen und Honig einzusammeln.
Die Wedda leben von der Jagd (auf Büffel, Hirsch, wilden Schwan, Affen, Vögel) und dem Einsammeln der Dschungelprodukte (Honig, Früchte und Wurzeln). Ihre Waffen bestanden ursprünglich nur in Bogen und Holzpfeilen, heutigentags verfügen sie auch noch über eiserne Pfeilspitzen und Äxte. Pfeile und Äxte sind die einzigen Metallwerkzeuge, die ihnen bekannt sind und von ihnen mit großer Geschicklichkeit gehandhabt werden. Sie hausen zur kälteren Jahreszeit in Felshöhlen oder unter Felsenschlupfen (Abb. 78), zur wärmeren hinter Windschirmen oder ganz im Freien. Einige Weddafamilien betreiben auch etwas Ackerbau, insofern sie Mais oder Kurakhan, Samen einer Eleusineart, in die Erde stecken, und die Ernte verzehren, wenn Wild oder Honig, ihre beiden Hauptnahrungsmittel, knapp werden.
Der Honig ist in der Tat ihre wichtigste Speise, von der sie selbst[S. 64] behaupten, daß sie sich nie so wohl befinden, als wenn sie tüchtig davon essen. Da er ihnen auch meistens reichlich zur Verfügung steht, so betreiben sie damit Tauschhandel und erhalten auf diesem Wege von den Singhalesen, die ihn ebenfalls sehr lieben, ihre eisernen Pfeilspitzen und Beile, sowie Tuch, Kokosnüsse und Reis. Das Einsammeln des Honigs, des Wabenerzeugnisses der Bambara (indischen Felsenbiene), ist recht umständlich. Die Bambara bauen ihre Nester vorzugsweise in den Spalten hoch oben in den Felsen an fast unzugänglich erscheinenden Stellen, zu denen man nur mittels Strickleiter gelangen kann. Bevor die Wedda auf diesen Leitern, die sie sich aus Rotang anfertigen, herabsteigen, lassen sie ein brennendes Bündel grüner Blätter herab, um die Bienen auszuräuchern oder zu betäuben. Sodann steigt einer aus der Gesellschaft auf der schwankenden Leiter hinunter, ebenfalls mit einer schwelenden Masse Blattwerk ausgestattet, während der Schamane der Gemeinde am Rande des Felsens steht und Zaubergesänge an die Geister der Verstorbenen richtet, auf daß sie den Honigeinsammler auf seiner „goldbesetzten Schnur“, wie sie die Leiter benennen, beschützen. Dieser führt außer seinem Feuerbrand noch einen kräftigen, etwa zweieinhalb Meter langen Stock mit vier Zinken, um die Waben loszureißen, (auch wohl einen Pfeil zur weiteren Hilfe) und einen festen Behälter aus Hirschfell zur Aufnahme des Ertrages, beides an einer Schlinge am Unterarm, mit sich. Für gewöhnlich schließen sich alle Gemeindemitglieder zur Gewinnung des Honigs zusammen und verteilen die Beute gleichmäßig ohne Rücksicht auf den, der sich den Gefahren des Einsammelns aussetzte. Die Frauen begleiten ihre Männer zu den Felsen und zu den Spalten, wo die Bambara ihre Nester anlegen; sie halten Fackeln während der Nacht, die man zum Einsammeln bevorzugt, und singen während der ganzen Zeit Lieder.
Die Religion der Wedda ist ein Toten- und Geisterkult. Nach der allgemeinen Annahme wird der Geist eines jeden Verstorbenen (Mann, Frau und Kind) wenige Tage nach dem Tode ein Yaka; wie manche allerdings behaupten, sollen nur Männer dieses Vorzuges teilhaftig werden, die in ihrem Leben sich durch Tapferkeit, Charakterstärke und Geschicklichkeit auszeichneten oder die Macht besaßen, die Geister der Verstorbenen zu beschwören. Diese Geister der Verstorbenen werden insgesamt als Nae Yaku bezeichnet; sie erscheinen den Überlebenden als wohlgesinnte Verwandte und Freunde, sofern sie gut behandelt werden, lassen aber ihren Zorn und Unwillen an ihnen aus und sind ihnen direkt feindlich gesinnt, wenn man sie vernachlässigt. Daher sind die Wedda bemüht, sie sich durch Darbringen von Opfern (Abb. 76 u. 77)[S. 66] geneigt zu machen. Außer den gewöhnlichen Yaku beten die Wedda noch eine Art Obergeister an, die Seelen zweier Brüder, die einst berühmte Jäger waren, Kande Yaka und Bilinde Yaka; nach dem allgemeinen Glauben sollen die Nae Yaku zu diesen gehen, um etwas für ihre überlebenden Angehörigen, im besonderen bei der Ausübung der Jagd, zu erreichen, und ihnen in gewissem Sinne Dienste leisten. Haben die Wedda Unglück auf der Jagd gehabt, dann wenden sie sich mit Bitten an diese großen Geister. Ihre Anrufe bestehen in einem Tanz um einen in die Erde gesteckten Pfeil (Abb. 79); die Tänzer schlagen sich dabei im Takte mit den flachen Händen auf ihre Seiten und rühmen die Tüchtigkeit des Kande als Jäger. Gelegentlich werden auch größere Feste vor Antreten eines Jagdzuges gefeiert. Nach der Schilderung, die Seligmann von einem solchen gibt, wurden zunächst Reis, Kokosnuß und Pfefferschoten mit bestimmten Wildstücken gekocht und in einer Lichtung des Dschungels als Opfer hingestellt. Der Schamane hockte sich davor nieder, wendete sich mit gefalteten Händen an die beiden Kande und Bilinde Yaka (Abb. 81), dankte ihnen für den bisherigen Erfolg, den sie auf der Jagd den Leuten verliehen hätten, und forderte sie schließlich auf, von dem Opfer zu nehmen (Abb. 82). Nach kurzer Zeit, währenddessen die Geister, wie man annahm, sich versorgt hatten, wurde die Speise von den Wedda aufgezehrt. Darauf wurden auf freiem Platze in der Nähe der Höhle drei Stöcke zusammengebunden und auf diese ein tönerner Napf, Kirikoraha, gesetzt und darüber ein Zeremonialpfeil gelegt (Abb. 83). Alle stimmten nun Gebete an die Yaku an, der Schamane tanzte mit dem Pfeil und einer Kokosnuß in den Händen um das Gestell und schlug beides kräftig aneinander, so daß die Kokosnuß zerbrach; die ausfließende Milch ließ er in die Schüssel laufen; dabei sang er gleichfalls Beschwörungsformeln. Aus der Art und Weise, wie die Nuß sich spaltete, weissagte er, ob das nächste Tier, das erlegt werden würde, ein männliches (bei glattem Bruch) oder ein weibliches (bei zackigen Rändern) sei. Nachdem er darauf weitergetanzt und die Teilnehmer ihre Beschwörungsgesänge fortgesetzt hatten, untersuchte der Schamane auch die Milch, indem er sie sich durch die Finger laufen ließ und etwas auf seinen Pfeil schüttete (Abb. 84). Zunächst fiel er nun erschöpft in die Arme eines der Zuschauer, erholte sich aber bald wieder, füllte seine hohle Hand mit Milch und prophezeite unter Erschütterung des Körpers und Luftschnappen einigen der Anwesenden[S. 68] gutes Glück bei der Jagd. Sein aufgeregtes Wesen zeigte jetzt den Teilnehmern an, daß er vom Kande Yaka besessen sei; er kauerte sich zusammen und tat so, als verfolge er in Fußspuren die Fährte eines Tieres (Abb. 85). Darauf erhielt er Bogen und Pfeil und setzte unter großer Aufregung das Aufspüren des Wildes fort, bis er endlich einen Korb, der vor ihm auf die Erde gesetzt worden war, mit dem Pfeil durchschoß. Bald darauf verließ der Geist den Zauberer, und die Zeremonie war zu Ende. Zum Schluß wurde der Inhalt der Kokosnuß, die dem Yaka geopfert worden war, an die Festteilnehmer verteilt; ein jeder bemühte sich, etwas zu erhalten, damit ja nichts davon verloren gehe. Von der Milch wurde etwas den Hunden auf die Köpfe gerieben, damit sie tüchtiger beim Aufspüren und Erfassen des Wildes würden.
Ähnliche Tänze, bei denen es zur Besessenheit kommt, werden zur Heilung von Krankheiten veranstaltet; sie spielen sich um und unter einem laubenartigen Gestell (Kolamaduwa) ab, von dessen wagrechten Stäben Blätterbüschel herabhängen (Abb. 87). Die Feststellung, welcher Yaka die Krankheit verursacht hat, geschieht dadurch, daß der Wedda einen Bogen auf seinen Fingern balancieren läßt und abwartet, bei wessen Namennennung dieser in Schwingungen gerät (Abb. 88).
In gleicher Weise wird der Schutz der Yaku für den guten Verlauf einer Geburt angerufen. Man schlägt drei kräftige Pfosten mit gabelförmig gespaltenem Ende in die Erde und bindet an sie eine Menge Baststreifen an. Zwei Leute, von denen einer der Vater der Schwangeren sein muß (Abb. 86), tanzen zwischen diesen Pfosten umher, die während der Zeremonie den anzurufenden Geistern zum Aufenthalt dienen sollen, und benehmen sich bald darauf wie besessen. Der Vater ergreift einen Stock, der an seinem Ende gleichfalls eine Anzahl Baststreifen trägt, den Wila, fuchtelt mit ihm unter Geschrei in der Luft herum, so daß die Streifen weit[S. 69] weg flattern, nähert sich darauf seiner Tochter, schwingt den Wila über ihren Kopf und hüllt sie für einige Sekunden damit ganz ein, wobei er gleichzeitig das Geschlecht des kommenden Kindes voraussagt (Abb. 89). Darauf nimmt er den Wila wieder fort, schwingt ihn noch einmal, zieht ihn über die Frau nach unten, so daß die Blätter ihren Kopf und Körper streifen, und fegt dann weiter damit über den Erdboden; er tut dies, um die Schmerzen der Kindesnöte von der Schwangeren gleichsam hinwegzuwischen. Damit hört seine Besessenheit auf. Nach einer kurzen Pause geht er noch einmal zu den Baststreifen, die auf einem Haufen daliegen, nimmt ein paar von ihnen in die Hand (Abb. 90) und ruft den Geistern, wobei er noch ihre Anwesenheit voraussetzt, die Worte zu: „Ane! Möge irgendwelches Unheil meinem Kinde dieses Mal nicht widerfahren. Du mußt ihr gestatten zu landen“ (das heißt aus ihrem Meer von Mühsalen zu entkommen).
Die Kinder der Wedda wachsen ohne besondere Erziehung heran; die einzige Beschäftigung, die ihnen systematisch gelehrt wird, ist das Einsammeln des Honigs. Das Nachahmen der Erwachsenen nach dieser Richtung scheint ein beliebtes Spiel der Kleinen zu sein.
Die sexuelle Moral ist bei den Wedda von jeher eine außerordentlich hohe gewesen und ist es auch jetzt noch; sowohl Verheiratete wie auch Unverheiratete sind gewohnheitsgemäß keusch. Die Leute leben streng monogam und halten sich die gegenseitige Treue bis in den Tod. Bei seiner Werbung bringt der junge Mann dem Vater seiner Erkorenen Geschenke in Gestalt von Honig, getrocknetem Wild und Fleisch der Warneidechse dar, dieser ruft seine Tochter herbei und übergibt sie der Obhut ihres Gatten, für den sie sofort ein Gürtelband anfertigt. Bei der Heirat überläßt der Vater meistens seinem Schwiegersohne ein Stück Land, für gewöhnlich einen Hügel, der von einer Kolonie Felsenbienen bewohnt ist, oder er schenkt ihm[S. 70] etwas aus seinem persönlichen Besitze, wie einen Bogen oder ein bis zwei Pfeile, auch wohl einen Hund. Ein anderer Brauch, der jetzt bereits im Schwinden begriffen ist, besteht darin, daß der Bräutigam zugleich mit den Eßwaren für den Vater des Mädchens diesem eine Haarlocke überreicht, die entweder von seiner Schwester oder von ihm stammen muß. Es war dies früher allgemeine Sitte und gehörte gleichsam zur Hochzeitszeremonie; unterließ der Bräutigam dieses Geschenk, so konnte das Mädchen darauf bestehen, daß sie eine Haarlocke erhielt. Anderseits aber war es auch Pflicht der Schwester des Bräutigams, sich für diesen beziehungsweise seine Braut eine Haarlocke abschneiden zu lassen, wenn sie wußte, daß es sich dabei um eine Hochzeitsgabe handelte. Nur wenn die Schwester zufällig fort oder überhaupt nicht vorhanden war, mußte der junge Mann die Locke seinem eigenen Haar abschneiden. Der[S. 72] Grund für diese eigentümliche Sitte ist ein ganz prosaischer. Bei den Wedda ist es allgemein üblich, daß die Frauen, aber nur die verheirateten, falsche Haare tragen, angeblich, damit der Haarknoten recht kräftig aussehen soll. Diese Erklärung erscheint aber recht unwahrscheinlich für ein Volk, das so herzlich wenig Wert auf sein Äußeres legt, wie die Wedda.
Witwen dürfen sich wieder verheiraten, gewöhnlich verbinden sie sich mit einem unverheirateten Bruder des verstorbenen Mannes, sofern dies möglich ist. Auch ihre sexuelle Moral steht ebenso hoch wie die der unverheirateten Mädchen. — Auffällig ist, daß bei den Wedda sich Kinder von Bruder und Schwester, also Cousin und Cousine über Kreuz heiraten dürfen, eine Verbindung, die anderwärts für Blutschande gilt.
Trotzdem die Religion der Wedda in einem Totenkult gipfelt, machen sie mit ihren Verstorbenen keine besonderen Umstände. Stirbt jemand, so bleibt sein Körper einfach in der Höhle oder unter dem Felsenspalt liegen, wo der Tod eintrat; die Leiche wird weder gewaschen noch bekleidet oder in irgend einer Weise geschmückt, man läßt sie auf dem Rücken liegen und deckt sie nur mit Blättern und Zweigen zu; in früheren Tagen wälzte man noch einen Stein auf die Brust, jedenfalls um zu verhindern, daß die Seele austrete und die Überlebenden belästige. So schnell wie möglich wird die Höhle von den Angehörigen verlassen und für längere Zeit gemieden. Nach Jahren pflegen die Söhne zumeist wieder zu dieser Stätte zurückzukehren und die etwa noch vorhandenen Knochen einfach in den Dschungel zu werfen. — Um die Geister gut zu stimmen, hält man es gewöhnlich für notwendig, den Verstorbenen eine Opfergabe, meistens ein bis zwei Wochen nach dem Tode, darzubringen; dieses Opfer muß aus gekochtem Reis und Kokosnußmilch, häufig auch noch aus Betelblättern und Arekanuß bestehen. In jeder Gemeinde gibt es wohl immer einen Schamanen, der die erforderliche Macht und die Kenntnisse besitzt, um die Geister, die Yaku, anzurufen; er fordert die kürzlich Verstorbenen auch auf, zu kommen und das ihnen dargebotene Opfer anzunehmen. Der Yaka kommt, nimmt von dem Schamanen Besitz und spricht durch dessen Mund mit heiseren gutturalen Tönen, daß er[S. 73] mit dem Opfer zufrieden sei und sich bemühen werde, den Angehörigen seiner Sippe bei der Jagd behilflich zu sein; oft gibt er ihnen auch an, welche Richtung die Männer beim nächsten Jagdausflug einzuschlagen haben, um Beute heimzubringen. Nachdem die Seele den Schamanen verlassen hat, verzehren die versammelten Hinterbliebenen den Reis, gewöhnlich sogleich an der Stelle, wo sie das Opfer darbrachten.
Die herrschende Klasse auf Ceylon sind die Singhalesen, ein aus Nordindien eingewanderter Volksstamm, der zwar bei seinem Erscheinen schon gemischt war, aber im großen und ganzen doch in seinem Äußeren die Merkmale des Hindutypus seines Ursprungslandes bewahrt hatte. Dementsprechend besitzen sie feine, regelmäßige Züge; besonders die Frauen sind manchmal wirkliche Schönheiten (Abbild. 91). Von ihren dunkelhäutigen Mitbewohnern der Insel unterscheiden sich die Singhalesen durch ihre größere Gestalt (die Männer im Durchschnitt hundertdreiundsechzig Zentimeter), eine geringere Pigmentierung der Haut, die ein helles Braun oder hellbräunliches Gelb aufweist, eine größere und schmalere, feinere Nase und reichliches Körper- und Barthaar; schöngepflegte Vollbärte sind keine Seltenheit unter ihnen.
Die Singhalesen wohnen zumeist in Dörfern (Abb. 93) in den Tälern und Falten der Gebirge im Innern, sowie an der Küste; hier größtenteils in besonderen Vierteln der großen Städte.
Ihrem Charakter nach sind die Singhalesen klug, höflich, würdevoll und ernst, auch selbstbewußt; die des Unterlandes aber verweichlicht, schlaff und energielos. Dieser Eindruck wird noch durch ihre Kleidung erhöht. Ein um die Hüften geschlungenes Tuch macht bei beiden Geschlechtern das nationale Gewand aus; es hat bei den Männern verschiedene Länge, je nach der sozialen Rangordnung seines Trägers. Die Singhalesen zerfallen nämlich in eine Reihe Berufskasten; die vornehmste Kaste stellen die Goiwansa (die höheren Beamten und Grundbesitzer); es folgen sodann im Range die Karawo (Fischer), die Tschaudo (Palmweinbauern), die Atschari (Handwerker allerlei Art) und so weiter; auf der niedrigsten Stufe stehen die Rodiya (Abb. 92), denen jeglicher Verkehr mit Menschen höherer Klasse verboten ist. Diese Paria dürfen ihr Gewand nur bis zu den Knien, höchstens bis zu den Waden reichen lassen, dagegen die Goiwansa dürfen ein solches bis zu den Knöcheln tragen, was für große Vornehmheit gilt. In den Städten des Unterlandes tragen die Männer außerdem noch eine nach europäischem Schnitt angefertigte Jacke, im Berglande aber gehen sie mit entblößtem Oberkörper einher. Einen besonders weichlichen Eindruck macht die Haartracht der Männer. Ihr langes[S. 74] Haar wird nach hinten zusammengerafft und durch einen halbkreisförmig gebogenen, quer über den Hinterkopf gelegten Schildpattkamm zurückgehalten. Im Oberland, wo diese Tracht nicht üblich ist, wird das Haar durch ein um den Kopf gelegtes Tuch hochgehalten oder bleibt auch ganz unbedeckt. Der Rock der Frauen gleicht dem der Männer; es wird von ihnen gleichfalls ein langes Tuch um den Unterkörper geschlungen, aber es ist so lang, daß es noch den Oberkörper einzuhüllen vermag. Sein Ende wird nämlich über die linke Schulter geworfen und an der Taille wieder unter das untere Stück eingesteckt. Den untersten Kasten ist es verboten, mit dem gleichen Stück auch den Oberkörper zu bedecken; sie müssen hierzu ein besonderes Tuch verwenden. — Alle Singhalesen bekunden eine große Vorliebe für Schmuck, von dem wohl keine Körperstelle freigelassen wird; Finger, Vorder- und Oberarm, Hals, Ohren, Taille und selbst Fußgelenke und Zehen werden, wenn es die Verhältnisse erlauben, mit Schmuck gleichsam überladen, der nach Möglichkeit aus Edelmetallen (Gold und Silber) sowie aus Edelsteinen und Perlen besteht. Bei festlichen Gelegenheiten wird von den Frauen ein wahrer Prunk entfaltet; wo der eigene Besitz dazu nicht ausreicht, wird der Zierat von guten Bekannten geliehen.
Die Singhalesen sind ein ackerbautreibendes Volk; in den Städten üben sie auch verschiedene Handwerke aus und bekunden hierin einen entschieden künstlerischen Sinn. Die meiste Arbeit im Haus, sowie im Garten und auf dem Felde verrichtet die Frau.
Alle Singhalesen bekennen sich zum Buddhismus (Abb. 94), aber ihre religiösen Übungen umfassen mancherlei Handlungen und Zeremonien aus anderen, niederer stehenden Religionen, unter anderem das Darbringen von Opfergaben, und ein verwickeltes Ritual zur Versöhnung verschiedener Klassen von Teufeln, Yakan genannt, sowie zur Beseitigung schädlicher Einflüsse von seiten der Gestirne oder lokaler Gottheiten, der Geister von Ortshäuptlingen und sonstigen bedeutenden Persönlichkeiten, darunter auch einigen Königen. Dieser Geister muß es[S. 75] eine große Menge geben, denn Listen, von denen man weiß, daß sie unvollständig sind, zählen deren ungefähr hundertzwanzig mit Namen auf. Man hält sie im allgemeinen für wohlgesinnt und wohlwollend, aber oft auch für feindlich und schädlich und bringt ihnen daher Opfer dar. Alle diese Dienste verrichten geschulte Vermittler oder Priester. Unter den heiligen Handlungen, die sie vornehmen, um einen Dämon zu bewegen, daß er von seinem Opfer Abstand nehme, das er mit Krankheit heimgesucht hat, machen verschiedentlich Tänze (Abb. 95 und 96) den Hauptanteil an den Zeremonien aus; in anderen Fällen werden Opfer dargebracht und phantastischer Kopfschmuck und Masken getragen (siehe die farbige Kunstbeilage). — Wie im übrigen Indien, so werden auf Ceylon für den Tempeldienst besondere Tänzerinnen, die sogenannten Nautschmädchen (Abb. 80), schon von klein auf ausgebildet.
Ist jemand von einer Krankheit befallen, dann wenden sich die Angehörigen zuerst an einen eingeborenen Arzt. Wenn dessen medizinische Behandlung nach einigen Tagen ohne Wirkung zu bleiben scheint, nehmen sie an, daß die Krankheit auf diese Weise nicht gehoben werden könne, sondern von einem feindlichen Einflusse, entweder von einem bösen Blick oder einem Dämon oder einer schädlichen Einwirkung der Gestirne herrühren müsse. Sie wenden sich jetzt an einen Wahrsager, der, nachdem er sich hat Bericht erstatten lassen, für gewöhnlich[S. 76] erklärt, daß das Leiden die Tat eines bestimmten Dämons sei, und daher empfiehlt, ihm eine Opfergabe zu versprechen. Der Priester, der diese vollzieht, befestigt als äußerlich sichtbares Zeichen, daß dieser Forderung Genüge geschah, an die kranke Person ein Bare (Merkmal), entweder eine in ein Stückchen gelbgefärbten Kattuns eingewickelte Münze um den Hals oder Arm, auch einen dreifachen ebenso gefärbten Faden, oder ein zusammengelegtes Taschentuch und anderes mehr, hängt auch ein entsprechendes Merkmal in seinem Hause oder Kornspeicher auf. Soll daraufhin die Versöhnung des Dämons vor sich gehen, so kommt an einem festgesetzten Tage oder Abend der Priester mit noch einem oder mehreren anderen ins Haus des Kranken, wo sich auch bereits Tamtamschläger eingefunden haben. Auf einem auf vier Stöcken hergerichteten Tischaltar wird eine Speise gekocht, deren Auswahl sich nach dem zu versöhnenden Dämon richtet, und diesem auf Bananenblättern als Tellern geopfert. Den Altar umstehen kleine Dochtlämpchen. Alles, was für die Zeremonie verwendet und geopfert wird, muß drei Reinigungen oder Läuterungen durchmachen. Es wird Weihrauch in einem Fäßchen geschwungen oder auf einen brennenden Stock gestreut, und die Enden eines weißen Tuches von genügender Länge werden von dem Priester in Form einer Acht in horizontaler Richtung geschwungen. Der Priester ist mit einem weißen Tuch bekleidet, das Haupt und Schultern bedeckt. Gleichzeitig werden die Tamtame so laut wie möglich geschlagen und Rohrpfeifen und Trompeten geblasen, um die Aufmerksamkeit des Dämons auf sich zu lenken. In manchen Fällen erfassen die Priester die Fackeln, schwingen sie und tanzen umher; die ganze Szene[S. 78] macht auf jeden Zuschauer einen ganz unheimlichen Eindruck, auch auf den Kranken, der ihr von Anfang bis zu Ende beiwohnt. Wird der oberste der Teufel, Sanni Yaka, der Krämpfe, heftige Zahnschmerzen, Kopfschmerzen und so weiter veranlaßt, angerufen, so kommen Masken in Anwendung. Es gibt deren nicht weniger als zweiunddreißig, jede von ihnen, ausgenommen die letzte, läßt äußerlich bestimmte, meistens verzerrte Züge eines Leidens erkennen, die er verursacht; die letzte Maske zeigt den Teufel aber in seiner wahren Gestalt als eine milde, gutartig aussehende Persönlichkeit. Wird er um Gnade angegangen, dann legt einer der Priester eine der Masken an, tritt aus dem Hintergrunde hervor, berührt die Speise, tanzt ein wenig und zieht sich darauf wieder zurück. Sodann erscheint er oder ein anderer mit einer neuen Maske; dies geht immer so weiter, bis alle zweiunddreißig Masken vorgeführt worden sind. Nach Ablauf dieser Zeremonie muß der Kranke dann genesen sein.
Das Ritual, bei dem es sich darum handelt, die schädlichen Einflüsse der Planeten und anderer Himmelskörper zu vertreiben, weist fünfunddreißig verschiedene Formen auf und besteht hauptsächlich aus Tänzen und Gesängen zu Ehren der Macht, welche die Krankheit veranlaßt hat, sowie in Anrufen des Inhaltes, daß sie ihre Wirkung auf den Kranken aufhören lassen möge; die Zeremonie dauert für gewöhnlich die ganze Nacht hindurch. Der Patient sitzt oder liegt dabei auf einer Matte dem Amtierenden gegenüber, ihm zur Seite je ein Freund. Bei jeder Pause in den Bittgesängen des Priesters rufen diese beiden der angeredeten Macht „Ayibo, Ayibo“, das heißt „Langes Leben, langes Leben“ zu. Der ganze Vorgang wird reichlich beleuchtet, die Tänzer tragen auch noch Fackeln; Tamtamschläger begleiten die Tänzer im Takt. Vor dem Kranken ist außerdem noch auf einem Rahmen ein farbiges Lehmrelief seiner selbst, sowie die Sinnbilder einiger Himmelskörper aufgestellt; er hält das Ende eines Fadens in der Hand, der an der Mittelfigur befestigt ist. — Der Glaube an den Einfluß der Gestirne[S. 80] ist in dem Singhalesen fest eingewurzelt, und seine stete Sorge ist es, überall die Gunst des Standes der Gestirne auszunutzen und ihre schädlichen Wirkungen abzuwenden. Vor Schluß des Jahres läßt er sich von dem Astrologen eine Zusammenstellung geben, in der alle glück- und unheilbringenden Stunden — hierzu gehören in erster Linie die Finsternisse — des neuen Jahres verzeichnet stehen, sowie alle Handlungen und Zeremonien, die man zu diesen Zeiten vorzunehmen, beziehungsweise zu unterlassen hat. In einem solchen astrologischen Kalender heißt es unter anderem: „Das Zeichen des kommenden Jahres wird ein roter Löwe sein, der gerade aufgerichtet auf einem Pferde reitet und aus einem Loch herauskommt, das wie das Maul eines Pferdes gestaltet ist. Dies wird am Anfange des Jahres geschehen, neun Stunden und vierundfünfzig Minuten nach Sonnenuntergang; in diesem glücklichen Augenblick soll man Milch an allen vier Ecken des Hauses kochen“ und so weiter.
Das neue Jahr beginnt man mit verschiedenen Zeremonien, dem Anzünden des ersten Feuers, der Aufnahme der ersten Nahrung und ein paar Tage später mit der Ölung aller Familienhäupter mittels einer Mischung von fünf Ölen, die in günstigen Augenblicken, welche die Astrologen feststellten, gemischt wurden, um sich dadurch die allgemeinen Glücksfälle des Jahres zu sichern. Der Familienvater stellt sich mit dem Gesicht nach der Richtung gewendet, die für die günstige erklärt worden ist, vor einen Tisch, auf dem ein Licht und eine Tasse mit Öl steht, taucht einen oder auch alle Finger hinein und zieht die Fingerspitzen über die rechte Seite des Kopfes oberhalb des Ohres; unter tiefem Schweigen wiederholt er diesen Vorgang an den anderen.
Das große Peraharafest wird im Juni gefeiert, da um die Zeit der Sonnenwende die Regenperiode einsetzt; man veranstaltet diese besonders für Kandy großartige Zeremonie, um Fruchtbarkeit für die Äcker zu erzielen. An jedem Abend während der zwei Wochen, die das Fest dauert, trägt man die Waffen und Abzeichen von vier indischen Gottheiten in feierlichem Zuge, an dem Elefanten, Musikbanden und Tänzer bei Fackelschein teilnehmen (Abb. 97), durch die Stadt, am letzten Abend kommt noch die angebliche Zahnreliquie des Buddha (Abb. 75 und 98) hinzu. An diesem Abend begibt sich der Aufzug schließlich noch nach dem Mahawäligangafluß zum Wasserschneiden. Bei Anbruch des nächsten Tages beschreiben die vier Priester der Tempel der indischen Gottheiten mit ihren Schwertern einen Kreis im Flusse, füllen vier Gefäße mit Wasser aus diesem Kreis und kehren damit zu ihren Tempeln zurück, wo man die Gefäße bis zum nächstjährigen Peraharafest stehen läßt. An anderen Stellen spielt sich der Vorgang etwas anders ab; hier wird ein weißes Tuch von zwei Männern über das Wasser gehalten und in der Mitte von den Symbolen der Gottheiten niedergedrückt; das in dem Tuch befindliche Wasser wird in den Tempel mitgenommen. Solches Wasser wird auch verabreicht, um Krankheiten zu heilen. — Ein anderes wichtiges Fest wird alljährlich zu Ehren der Göttin Mariamma zu Periyapalayam gefeiert (Abb. 99 und die farbige Kunstbeilage).
Sobald dem Singhalesen ein Kind geboren ist, eilt der Vater zum Astrologen, um sich für das Neugeborene das Horoskop stellen zu lassen. Früher wurde das Kind, falls der Stand der Gestirne ungünstig war, lebendig begraben, ertränkt oder dem Hungertod preisgegeben. Auch wenn man sonst bei kinderreicher Familie ein Kind aus dem Wege schaffen wollte, gab man als Grund hierfür an, daß es unter einem unglücklichen Planeten geboren sei. Selbst heute soll man von der Unsitte, die Kinder, im besonderen die Mädchen zu töten, wozu hauptsächlich Opium verwendet wird, noch nicht ganz abgekommen sein; auch Abtreibung soll im Schwange sein, um keine zu große Familie zu bekommen. Die Neugeborenen werden von der Mutter ernährt, und zwar ziemlich lange, oft drei, vier und noch mehr Jahre; vom fünften Monat an erhalten sie aber auch Reis als Beikost. Der Augenblick, in dem ihnen zum ersten Male diese Speise gereicht wird, wird unter[S. 82] großer Feierlichkeit begangen. Dabei erhalten die Kleinen auch ihren ersten Namen, den Reisnamen. Natürlich wird auch hier der Astrologe wieder zu Rat gezogen. Auf Grund des Horoskops bei der Geburt soll er den ersten Buchstaben des Namens ermitteln und die Eltern die übrigen nach ihrem Belieben hinzufügen.
Die Singhalesen heiraten sehr früh. Sobald das Mädchen die Reife erreicht hat, wird es für mehrere Tage abgesondert und muß für gewöhnlich noch mehrere Monate im Hause verbleiben. Nachdem es dann ein Bad genommen hat, darf es sich zum ersten Male im Spiegel beschauen, was vordem für unschicklich galt. Die Heirat ist für die Beteiligten das reine Geschäft, keine Herzensangelegenheit. Bei der Auswahl ihrer Schwiegertochter, welche die Eltern treffen, ist die erste Bedingung, daß sie derselben Kaste angehört; sodann kommt für sie die Vermögensfrage in Betracht, in dritter Linie, ob sie gesund, häuslich und so weiter ist. Genügt ein Mädchen diesen Vorbedingungen, so muß man sich weiter versichern, ob die beiden Auserwählten als Brautleute zusammenpassen, das heißt unter Planeten geboren wurden, die einander nicht feindlich sind. Stimmen ihre beiderseitigen Planeten überein, dann werden vom Sterndeuter auch Tag und Stunde festgesetzt, die für die Vereinigung günstig sind. Inzwischen werden die erforderlichen Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen, ein großer Speisesaal hergerichtet, seine Wände und Decke mit weißem Tuch ausgeschlagen, das Haus der beiden Parteien geschmückt, viel Kuchen gebacken und Früchte eingekocht. Am Hochzeitstage wird der Bräutigam in feierlichem Zuge von den Seinigen, die alle in Festgewänder gekleidet sind, zum Hause der Braut geleitet. Hier finden sie den Eingang der Umfriedigung versperrt und von zwei männlichen Mitgliedern der Partei der Braut bewacht; durch Singen machen diese den Ankömmlingen verständlich, daß ihnen der Zutritt verboten sei. Einer aus der Gruppe des Bräutigams erwidert in Versen, welche die Wächter veranlassen, die Sperre zu entfernen und dem Zug Eintritt zu gewähren. Die Besucher werden darauf im Hause von den Verwandten der Braut empfangen; sie bringen Geschenke und Speise mit, welche die Angehörigen der Braut verzehren. Die Brautmutter erhält von den Geschenken ein Stück weißes Tuch und Kleider, die Braut ihr Hochzeitsgewand nebst reichem Schmuck. Ärmere Leute leihen sich, um diese Sitte der Vornehmen ebenfalls nachahmen zu können, von ihren Freunden einen großen Teil der Schmuckstücke[S. 83] und geben sie, nachdem die Braut in ihrem neuen Heim angekommen ist, nach ungefähr einer Woche wieder zurück. Sodann setzen sich Braut und Bräutigam Seite an Seite auf ein weißes Tuch, das auf einer Matte ausgebreitet wurde, nehmen mit der rechten Hand gekochten Reis aus einer gemeinsamen Schüssel und stecken ihn sich dreimal gegenseitig in den Mund. Es werden ihnen nun durch den älteren Bruder der Brautmutter, der der Hauptzeremonienmeister ist, die Hände aneinandergelegt und die kleinen Finger zusammengebunden. Damit ist die Ehe vollzogen. Nachdem es mit einem Ruck den Faden zerrissen hat, stellt sich das neue Paar der Reihe nach vor jeden Gast mit erhobenen Händen hin, verneigt sich und sagt: „Langes Leben dir!“ Jeder Gast erwidert die Begrüßung und reicht dem Paar ein Geschenk. Danach findet für alle Teilnehmer eine Unterhaltung und Bewirtung statt. Nach einigen Tagen begleiten die Hochzeitsgäste die Neuvermählten in das Heim des Bräutigams; die gute Sitte erfordert es, daß die junge Frau Tränen vergießt, ehe sie das Elternhaus verläßt, zum mindesten sich betrübt stellt und fortzugehen zögert. Auf dem Wege zum neuen Heim muß sie ihrem Manne vorangehen, damit dieser sie stets vor Augen haben und sie nicht mit einem etwaigen Geliebten entfliehen kann, wie es vorgekommen sein soll. Auch wird die junge Frau manchmal in ihren weißen Brautschleier ganz eingehüllt und muß vor männlichen Bekannten, die ihr begegnen, die Augen niederschlagen. Die Ankunft wird so eingerichtet, daß sie zu einer glückbringenden Stunde erfolgt, die der Astrologe festsetzt, desgleichen wird das Brautgemach auch nur in einer solchen betreten. Eine Woche später findet in dem Begießen der jungen Eheleute mit Wasser noch eine Zeremonie statt, die durch einen Bruder oder eine Schwester der Mutter oder durch einen anderen angesehenen Verwandten der jungen Frau vollzogen wird, natürlich auch wieder an einem glückbringenden Tage. Neben seiner rechtmäßig angetrauten Gattin ist es dem Singhalesen erlaubt, sich noch andere Frauen zu nehmen, vorausgesetzt, daß jene und ihre Angehörigen nichts dagegen haben; ist die erstere aber nicht befragt worden, dann hat sie das Recht, sich von ihrem Manne zu trennen. Die Lösung der Ehe ist unter den Singhalesen leicht gemacht; sie kann von beiden Seiten, oft auf geringfügige Veranlassung hin, erfolgen. — Im allgemeinen herrschen unter den Singhalesen laxe Auffassungen von der sexuellen Reinheit. Eheirrungen scheint man nicht[S. 84] besonders ernst zu nehmen; nur wenn sich eine Frau mit einem Mann aus niederer Kaste vergangen hat, dann gilt dies für ein schweres Verbrechen.
Die Begräbniszeremonien bei Armen und Leuten niederer Kaste sind sehr einfach. Der in weiße Tücher gehüllte Tote wird von weißgekleideten Freunden auf einer Bahre, die an einer Stange hängt, unter lautem Wehklagen der Frauen aus dem Hause nach dem Walde oder einem besonderen Begräbnisplatze getragen, wo man ihn lang ausgestreckt auf dem Rücken in die Erde legt und einen flachen Grabhügel darüber aufschüttet; oft wird dieser noch mit Dornensträuchern bedeckt, um die Leiche vor Schakalen zu schützen. Die Bahre verbleibt neben oder auf dem Grabe, Speiseopfer werden aber nicht dargebracht. Da eine Grabstätte ein Ort ist, der von einem schrecklichen Dämon, dem Sohon Yaka, dem Grabdämon, heimgesucht wird, meidet man ihn bei Eintritt der Dunkelheit. Nach etwa vier bis fünf Tagen finden sich Mönche aus dem nächstgelegenen Kloster ein, um eine oder zwei Stunden vor den versammelten Freunden und Verwandten aus den heiligen buddhistischen Büchern vorzulesen; sie erscheinen unter Vorantritt von Tamtamschlägern und Flötenbläsern. Am nächsten Tage erhalten die Mönche Speisen vorgesetzt; was sie übrig lassen, verzehren die Freunde und Nachbarn. Damit ist die Totenzeremonie beendet. Man nimmt an, daß der Geist des Verstorbenen sich zu diesen Feierlichkeiten einfindet und durch das Darbringen des Speiseopfers von seinen irdischen Fesseln befreit wird, so daß er sich nunmehr nach der anderen Welt, nach Paraloka, begeben kann. Vor dieser Opfergabe darf er die Erde nicht verlassen und muß so lange als entkörperter Geist auf ihr verweilen. — Während früher die Leichen der einfachen Leute vielfach verbrannt wurden, beschränkt sich diese Bestattungsart heute auf die vornehmen Familien, die höheren Kasten, Häuptlingsfamilien und Buddhistenmönche. Der Tote wird auf einer Bahre, die den Verhältnissen entsprechend vornehm hergerichtet ist, zu einem Scheiterhaufen[S. 85] getragen, der aus Lagen von trockenem Holz und Kokosnußschalen aufgebaut ist (Abb. 100 u. 102). Eine Anzahl Mönche, bei wichtigen Persönlichkeiten etwa achtzig, gehen dem Zuge voran, ihnen folgen die Musikkapelle, darauf die Träger mit dem Sarg, schließlich die Angehörigen und Bekannten; auf dem Wege, den der Leichenzug nimmt, wird manchmal weißes Tuch ausgebreitet. Ehe man den Sarg auf den Scheiterhaufen legt, wird er dreimal um ihn herumgetragen. Über der Leiche türmt man noch Holz auf und gießt reichlich Erdöl darüber. Während ein Mönch eine Predigt über die Eitelkeit der Welt und das Flüchtige im Leben hält, die Erfüllung religiöser Pflichten preist und um Glück für den Verstorbenen im neuen Leben bittet, zündet ein naher männlicher Verwandter mit einer Fackel den Scheiterhaufen (Abb. 103) an. Ist dieser heruntergebrannt, dann wird die Asche zunächst nur durch ringsherum in die Erde gesteckte Kokoszweige umgrenzt und erst nach sieben Tagen von den Angehörigen gesammelt und in einem irdenen Gefäß in aller Stille an geeigneter Stelle neben einem buddhistischen Tempel oder auf dem allgemeinen Begräbnisplatze beigesetzt. Auf den niederen Hügel pflanzt man einen Schößling, oft einen Bobaum; über den Aschenresten eines höher stehenden Mönches legt man im allgemeinen einen höheren Hügel an und umschließt ihn mit einer festen Mauer. Nur solche Personen, die an einer ansteckenden Krankheit, wie Cholera, Pocken und Ähnlichem, gestorben sind, werden, auch wenn sie der höheren Kaste angehören, nicht verbrannt, sondern begraben, denn man will den Krankheitsdämon, der in der Leiche sitzt, durch Feuer nicht noch mehr reizen.
Die Tamilen gleichen in ihrem Äußeren sowie in ihren Sitten und Gewohnheiten (Abb. 101) ihren Stammesbrüdern auf dem vorderindischen Festlande. Da sie im nächsten Abschnitt eingehende Berücksichtigung finden, so wollen wir uns mit ihnen an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen.
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Der südliche Teil der großen vorderindischen Halbinsel ist im wesentlichen das Verbreitungsgebiet der Drawida, eines dunklen Volkselementes, das den Hauptbestandteil des ausgedehnten Hinduvolkes dieser Gebiete ausmacht und auch Ausläufer nach Ceylon entsandt hat, wo die Tamilen seine Vertreter sind. Indessen sind die Drawida nicht als die Ureinwohner Südindiens anzusehen, sondern nur als Einwanderer, die auf eine Rasse von kleiner Gestalt, dunkler Hautfarbe und breiter Nase stießen, deren Reste sich bis auf unsere Tage, wenn auch nicht mehr rein, in den Wald- oder Dschungelvölkern, wie den Bhil, Mahair, Khond, Bhumidsch, Kurumba, Irula, Santal, Kolh, Munda und anderen, die man insgesamt als Munda-Kolh oder Kolarier zusammenfaßt, erhalten haben und die Angehörige der großen indo-australischen Grundrasse zu sein scheinen, deren Vertreter wir bereits in den Wedda, Sakai, Toala und auch Australiern kennen gelernt haben. Einen Beweis für einen solchen Zusammenhang der Australier mit den Ureinwohnern Südindiens erblickt man in der Übereinstimmung in ihrem Äußeren (lange Schädelform, kleine Gestalt, welliges oder lockiges Haar, schwarze Augen, breite, niedrige Nase mit weiten Löchern und dicke Lippen), in der Verwandtschaft der Sprache und in[S. 87] dem Vorkommen des Bumerangs in Neuholland sowohl wie im Tamillande; hier findet letzterer bei der Jagd auf kleines Wild Verwendung und wird einer alten Sitte gemäß zwischen Braut und Bräutigam auf der Hochzeit ausgetauscht. Allerdings besitzt der tamilische Bumerang nicht die klingenartige Form und die spiralige Drehung des australischen.
Der Drawidatypus erstreckt sich von Ceylon bis nach den Tälern des Ganges hin und nimmt ganz Madras, Haiderabad, die zentralen Provinzen, den größten Teil des mittleren Indien und Chutia Nagpur ein. Da die Drawida auf der einen Seite mit den Ariern, auf der anderen auch wieder mit der Urbevölkerung Kreuzungen eingegangen sind, so unterscheidet sich ihre äußere Erscheinung nicht unbeträchtlich, indessen läßt sich immerhin ein Durchschnittstypus aufstellen, der gekennzeichnet ist durch ziemlich mittelgroße Gestalt, schlanke, lange, geschmeidige Gliedmaßen, tiefdunkle, teils kaffeebraune, teils direkt schwarze Haut, tiefschwarzes, welliges oder gelocktes Haar, vorwiegend langen, schmalen Schädel, breites, niederes Gesicht von ovaler Form, tiefliegende, geradestehende, schwarze Augen, sehr breite, manchmal an der Wurzel eingedrückte Nase, großen Mund und volle Lippen. — In geistiger Hinsicht werden die Drawidahindu als offene, gutmütige, duldsame, heitere, dabei aber kriegerische, auch selbstsüchtige Leute geschildert. Als die Arier ums Jahr 2000 vor Christus in Vorderindien erschienen, standen die Drawida auf einer ziemlich hohen Kulturstufe; sie besaßen beträchtliche Fertigkeit in der Ausübung des Handwerks und der Künste, trieben Ackerbau, Handel und Schifffahrt und hatten sich sogar zu einigen selbständigen Staaten zusammengeschlossen. Ihre Religion war der Brahmaismus, der noch barbarische Gebräuche, sogar die Menschenopfer kannte; mit diesen hat die europäische Kultur ziemlich aufgeräumt. So feierten die Bergkhond ein Fest, Meriah genannt, bei dem geweihte, gekaufte oder geraubte menschliche Opfer der Göttin der Erde dargebracht wurden (Abb. 106), um dadurch eine gute Ernte zu erzielen; heute werden Büffel, Affen, Schafe oder Ziegen an Stelle von Menschen geopfert. Bevor sich ehemals die umherziehenden Lambadi auf eine Reise begaben, pflegten sie ein kleines Kind in die Erde bis zum Hals einzugraben und die Gepäckbullen darüber zu treiben, um Erfolg zu haben; heute treibt man in der gleichen Absicht das Vieh über ein lebendig begrabenes Huhn oder eine Ziege. Kindsmord war in früheren Zeiten Stammesbrauch bei den Khond; besonders Mädchen pflegte man bei den Bergtoda durch Ersticken ins Jenseits zu befördern. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es ganze Dörfer, in denen[S. 88] nicht ein einziges weibliches Kind vorhanden war. Bei der Vakkaligakaste in Mysore war es Sitte, daß bestimmte Frauen sich, wenn ihnen ein Enkelkind geboren wurde, einige Finger abhauen ließen; sie bezogen sich dabei auf eine Überlieferung, wonach der Gott Siwa befohlen habe, daß in seinem Tempel andauernd zwei Finger geopfert werden müßten. Gegenwärtig wird dieser Brauch vielfach dadurch umgangen, daß man sich Gold- oder Silberstücke mittels Mehlkleisters an die Fingerspitzen klebt oder sich Blumen darum bindet und diese scheinbar abschneiden oder abreißen läßt. — Eigenartig sind die Grußformen der Toda; die niedriger stehende Person fällt vor der höher stehenden auf die Knie und hebt deren Fuß zu ihrem Gesicht empor (Abb. 105 und 107).
Die Kleidung der Drawida ist bei den niederen Klassen immer noch eine recht spärliche; an der Westküste besteht sie meistens nur in einem Scham- und einem Kopftuche. Die Weiber einiger Pariastämme, wie der Koraga, Vettuvan und Thanda Pulayan, tragen in Erinnerung an frühere Sitten noch Blättergewänder (Abb. 108), die in Form einer Schürze oder eines Rockes von der Hüfte herabhängen; sie behalten sie bei, weil sie fürchten, es würde ihnen Unglück bringen, wenn sie diese Kleidung abschafften. Legt ein Thanda Pulayan dieses aus Riedgrasblättern angefertigte Kleid an Stelle des Streifens Palmenrinde, den er in frühester Kindheit trägt, an, dann gibt diese Zeremonie, Thandahochzeit genannt — Thanda ist der Name für das Gras — Anlaß zu einem Familienfest. — Verunstaltungen des Körpers als dessen Verschönerung sind verschiedentlich beliebt, so die Erweiterung des Ohrläppchens, die ihren höchsten Grad im Tamillande erreicht. Den Kindern werden in der frühesten Jugend die Ohren durchbohrt und die Löcher allmählich mit Baumwollpflöcken, später Palmblattrollen, Bleistücken und Metallscheiben mehr und mehr erweitert, bis sie unter Umständen auf die Schultern herabreichen (Abb. 111). Unter den Dschungelkadir und Mala Vedan herrscht die Unsitte des Zuspitzens der Schneidezähne bei beiden Geschlechtern. Ein sehr beliebter Schmuck ist auch das Tatauieren, mit dem sich die Frauen des Koravastammes im Umherziehen abgeben. Sie zeichnen das Muster mit einem stumpfen, in Zeichentinte getauchten Stäbchen auf die Haut auf und impfen die Farbe mittels Nadeln ein; anderwärts geschieht dies mittels der Dornen der Berberitze oder des Balbulbaumes. Die Bergkoyi legen großes[S. 90] Gewicht auf das Tatauieren, damit die Seele in der anderen Welt angemessen damit geschmückt erscheine. Auch bei Krankheiten wird Tatauierung angewendet, um den Schmerz zu lindern; sehr beliebt ist als Muster hierfür bei den Kanaresen das Bild des Affengottes Hanuman (Abbild. 110). Um Kinderkrämpfe oder Koliken zu lindern, schlimme Augen und andere Leiden zu heilen oder auch nur um eine Krankheit fernzuhalten, werden den verschiedenen Körperteilen Brandwunden mit einer glühend gemachten Nadel oder einem Safranstocke, einer Zigarre und anderem mehr zugefügt. Daher sieht man viele Leute mit mächtig erhöhten Narben einhergehen, die auf diese Weise entstanden. Die Toda lassen sich Narben einbrennen, weil sie glauben, daß sie dadurch die Fähigkeit erlangen, in aller Ruhe Büffel zu melken. — Bei den Kanibar von Travankore trifft man noch eine primitive Art des Feueranzündens an (Abb. 109).
Die Religionen Südindiens sind in erster Linie der Brahmaismus, sodann auch die Lehre Mohammeds und das Christentum. Es würde zu weit führen, wollten wir die religiösen Übungen und Gebräuche dieser verschiedenen Bekenntnisse, vor allem der Sekten des Brahmaismus, hier näher behandeln; wir beschränken uns auf die interessantesten Punkte.
Fast jedes Dorf oder jede Stadt Südindiens besitzt eine Ortsgottheit, Grāma Dēvata genannt, die sich aber von der der nächsten Ortschaft schon zu unterscheiden pflegt. Ebenso mannigfaltig wie ihre Namen sind auch die Bildnisse (Abb. 114) oder Symbole der Gottheiten. In manchen Dörfern gibt es überhaupt kein bleibendes Bild von ihnen, sondern der Töpfer fertigt für jedes Fest eine Lehmfigur an, die eine Gottheit vorstellen soll und nach Beendigung des Festes wieder beiseite geworfen wird. In anderen Dörfern wieder wird die Gottheit einfach durch eine Steinsäule auf freiem Felde (Abb. 113) oder auf einer Steinplattform unter einem Baum (Abb. 116) oder innerhalb einer kleinen, aus Steinen aufgebauten Umfriedigung, oft auch nur durch kleine kegelförmige Steine, die nicht höher als zehn bis fünfzehn Zentimeter sind und infolge des beständigen Salbens mit Öl eine schwarze Farbe angenommen haben, dargestellt. Die Dorfgottheiten sind mit wenigen Ausnahmen weiblich; im Tamillande werden sie fast alle aber von männlichen Wärtern behütet und bedient. Eine männliche Gottheit, Aiyanar, hat einen eigenen Schrein und ist gleichsam der Nachtwächter des Dorfes, denn ihm fällt die Aufgabe zu, des Nachts auf seinem Geisterrosse die Dorfstraße abzureiten und die bösen Geister zu verscheuchen. Sein Schrein ist an Lehm- oder festen Pferdegestalten (Abb. 115) zu erkennen, die entweder zu beiden Seiten des Bildnisses aufgestellt sind oder in Haufen auf dem freien Platze umherliegen. Diese Pferde, die die Rosse vorstellen sollen, auf denen Aiyanar nachts seine Runde macht, werden von den Anbetern der Gottheit verehrt.
Um die Dorfgottheiten zu versöhnen und die Angriffe böser Geister abzuwenden, werden ihnen fast allgemein jährlich große Opfer dargebracht (Abbild. 118), bei denen Büffel, Schafe, Ziegen, Schweine und Geflügel (Abb. 119), oft genug zu Tausenden, so daß das Blut geradezu in Strömen hinter dem Opferplatz fließt und ganze Karren Sand herbeigeschafft werden, um die Lachen zuzuschütten, ihr Leben lassen müssen. Die Köpfe der geopferten Tiere werden zu einem etwa vier Meter hohen Haufen aufgetürmt; obendrauf wird eine Schüssel mit Öl und einem dicken baumwollenen Docht gestellt und das Ganze angezündet. Das Schlachten der Tiere dauert den ganzen Tag bis gegen Mitternacht; sie werden von den Priestern geköpft und auf die großen Reisberge geworfen, die man den Göttern dargebracht hat, so daß der Reis von ihrem Blut vollständig durchtränkt wird. Dabei spielen sich oft genug widerwärtige Szenen ab, bei denen die Tiere vielfach gequält werden. Unter anderem werden die Opfertiere bei lebendigem Leibe aufgespießt und so auf einer Karre durch das Dorf gefahren, den Schweinen wird Reis, der mit ihrem eigenen Blut getränkt ist, zu fressen gegeben und anderes mehr. Eine ganz sonderbare Verwendung findet das Blut der geschlachteten Tiere bei den Pudukkottai tāluk des Trichinopollidistriktes; man taucht Tücher in dieses ein und hängt sie an den Dachrinnen der Häuser auf, um das Vieh dadurch vor Krankheit zu schützen.
Bei einem Fest, Mayāna oder Smasāna kollai (Beraubung des Begräbnisplatzes)[S. 94] genannt, das die Sembadawan, eine Fischerkaste, im Tamillande zu Ehren der Ankalamma feiern, trägt eine Person, die entsprechend aufgeputzt diese Göttin darstellen soll, auf den Armen ein Brett mit den sauber gewaschenen Eingeweiden eines Schafes (Abb. 117) und hält einen Teil von ihnen im Munde, so lange, bis die Prozession, die das Bildnis der Göttin zum Dorfaltar geleitet, zurückgekehrt ist. Dicht bei der Stelle, wo man die Leichen zu verbrennen pflegt, häufen die Priester sodann an fünf Stellen die Asche einer Leiche kegelförmig auf; diese Haufen sollen den Elefantengott Ganesha darstellen, dem Opfergaben aus Getreide, Betel, Spangen und so weiter in großen Mengen dargebracht werden. Das versammelte Volk fällt über die Haufen her und schleppt mit sich fort, was es nur mitnehmen kann. Man sagt, daß Hunderte von Personen dabei in Verzückung geraten, die Asche der Leichen essen und jedweden Knochenrest, dessen sie nur habhaft werden können, anbeißen. Die Asche der Leichen wird nämlich sehr geschätzt, da man glaubt, daß sie böse Geister fernzuhalten und unfruchtbaren Frauen Nachkommenschaft zu sichern vermag.
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Die Vadafischer an der Ostküste errichten am Strande Miniaturschreine aus Ton oder Backsteinen, die nach der See zu offen sind (Abb. 123). In ihnen stellen sie die Lehmfiguren der Götter auf, die von ihnen angebetet werden, bevor sie einen Fischzug unternehmen, oder auch Holzfiguren von verstorbenen Verwandten. Die Namen ihrer Götter, einschließlich einer Göttin mit tausend Augen, die durch einen durchlöcherten Topf mit einem Öllicht in seinem Innern dargestellt wird, und eines Bengali Bābu genannten Gottes, der einen Hut trägt und auf einem schwarzen Pferde reitet (Abb. 112), sind unzählig. Letzterer steht in dem Rufe, die Fischer auf der See gegen Gefahren zu schützen und ihnen zu großen Fischzügen zu verhelfen. Die Hauptgöttin der Vada scheint indessen Orosundiamma zu sein, die nachts auf dem Meere in einem Boote umherfahren soll. Man huldigt ihr, indem man denjenigen, der die Zeremonie vorzunehmen hat, mit einer Ziege an einem Pfosten vor dem Hause festbindet und ein Spielzeugboot davorstellt. Die Ziege, der Pfosten, das kleine Boot und der Schrein für das Götzenbild werden darauf an die See gebracht und vor dem Schrein Andachten verrichtet. Kriecht die Ziege dabei auf allen vieren entlang und zittert sie, dann opfert man sie; tut sie dies aber nicht, dann erblickt man darin eine üble Vorbedeutung und beschafft sich eine andere Ziege an ihrer Stelle.
In manchen Dörfern mit einem bleibenden Schrein werden den Gottheiten täglich Reis, Früchte und Blumen mit Weihrauch und Kampfer dargebracht, an anderen wieder nur alle Jahre oder an einem bestimmten Tage, ausgenommen zu Zeiten einer Epidemie, in denen man sofort die Götter durch Opfer zu versöhnen sucht. Auch bei Beginn der Bestellung des Ackers, sowie zur[S. 97] Erntezeit werden Festlichkeiten zu Ehren der Götter veranstaltet. Bei eintretender Dürre werden an den Regengott Gebete gerichtet, und an manchen Orten wird eine Lehm- oder Strohfigur mit den Füßen nach vorn durchs Dorf gezerrt und von den Totengräbern in regelrechter Weise begraben. In Südkanara werden, ehe die zweite Saat in die Erde kommt, Büffeljagden, denen „Teufelstänzer“ beiwohnen, auf einem tiefverschlammten Reisfelde abgehalten; am Tage darauf finden große Hahnenkämpfe auf einem freien Platze vor dem Dorfe statt, dieses alles in der Absicht, die verschiedenen Teufel zu versöhnen. — Unter den sportlichen Tierkämpfen spielen die Kämpfe zwischen Elefanten eine hervorragende Rolle (Abb. 132).
In vielen Dörfern an der westlichen Küstengegend von Südkanara, wo die Teufelsanbetung sehr verbreitet ist, befindet sich ein Bhuta Sthānam oder Teufelstempel; in manchen Häusern wird auch ein besonderer Raum oder ein Winkel für den Familienbhuta hergerichtet. In den Tempeln werden Götzenbilder oder eine Metallplatte, die das Bild eines menschlichen Wesens trägt, oder auch Figuren von Tigern, Schweinen, Hähnen und so weiter aufbewahrt; einige Tempel erhalten eine Reihe Lagerstätten, jede für einen besonderen Bhuta bestimmt, auf denen bei Gelegenheit einer Versöhnungsfeier der Bhuta Kostbarkeiten und Weihgeschenke niedergelegt werden. — Die Teufelstänzer, die in ihrem bürgerlichen Berufe als Matten-, Korb- und Schirmmacher tätig sind, gehören der Nalke-, Parawa- und Pompadakaste an (Abb. 120, 122 und 124). Man ruft sie, damit sie an Personen, die von Teufeln besessen sind, die Teufelaustreibung vornehmen oder damit sie, wenn Götzendienst in den Tempeln[S. 98] abgehalten wird, eine Maskerade in phantastischen Verkleidungen, die verschiedene Bhuta vorstellen, aufführen, dabei tanzen und Lieder singen. Die Vorstellung findet für gewöhnlich des Nachts statt. Zuerst tritt ein Pujari, ein Priester auf, wirbelt, mit dem Bhutaschwert und Glocken in den Händen, rings im Kreise herum und ahmt die mutmaßlichen Mienen und Gesten des Teufels nach. In Verzückung gerät er aber nicht, das bleibt einem Pompada oder Nalke (Abb. 124) vorbehalten, der ungefähr eine halbe Stunde später auf der Bildfläche erscheint. Dieser ist meist nackend bis auf das Hüftband, hat das Gesicht mit Ocker angemalt und trägt eine Art Bogen aus Kokosnußblättern, sowie eine Metallmaske. Nachdem er kurze Zeit langsam auf und ab gegangen ist, arbeitet er sich nach und nach in einen Zustand hysterischer Raserei hinein, unter beständiger Begleitung der Tamtame und unter langgezogenem, monotonem Geheule der Zuschauer. Endlich hält er inne und redet einen jeden seinem Range nach an. Strittige Angelegenheiten werden sodann dem Bhuta zur Entscheidung unterbreitet, und seine Entscheidung wird meistens auch angenommen. Entweder jetzt erst oder schon früher erhält der Teufel etwas zu essen; auch dem Pompada werden Reis und andere Speisen gereicht. Solche Feste dauern mehrere Nächte hindurch.
In auffallendem Gegensatze zu den bescheidenen Altären der Dorfgottheiten und Teufel stehen die prächtigen Vaishnavite- und Saivitetempel, zu deren bekanntesten die von Conjeeveram, Ramesvaram, Madura, Kumbakonam und Tanjore, der letztere wegen der mächtigen Steinfigur des heiligen Bullen Nandi (Abb. 126) berühmt, zählen. Die Tempelausstattung besteht in kunstvoll geschnitzten Wagen auf Rädern (Abb. 125), die bei Umzügen an Stricken gezogen werden (Abb. 104, 121 u. 128), silbernen Gefährten der Gottheiten, Dēva-Dāsis oder[S. 100] Tänzerinnen, die ihr Leben dem Tempeldienst geweiht haben, und Prozessionselefanten (Abb. 127 und 130). Die Städte, in denen sich die großen Tempel befinden, sind der Brennpunkt des Brahmaismus und des brahmanischen Priestertums (Abb. 129, 131 und 135) und werden zum Schauplatze vieler hindostanischer Feste. Das berühmteste von ihnen, das ungeheure Massen von Pilgern aus ganz Indien herbeizieht (Abb. 133), ist wohl das Mahāmakhafest, das man in Kumbakonam alle zwölf Jahre feiert. Strenggläubige Inder glauben, daß bei dieser Feier die heiligen Gewässer des Ganges in den dort befindlichen heiligen Teich fließen; in ihm baden daher die Pilger. Was Mekka für die Mohammedaner, Buddha Gaya für die Buddhisten ist, das bedeutet Mahamakha für die Hindu. Die wichtigsten Götterbilder werden im Zuge getragen und auf einen Altar am Rande des Teiches hingestellt; darauf wird ein Dreizack, das Abzeichen des Siva, in das Wasser gesenkt, zum Zeichen dessen, daß die Zeit zum Baden gekommen ist. Viele Tausende von Pilgern tauchen nun ihre Köpfe unter die Oberfläche und kommen ganz mit Schlamm bedeckt wieder heraus (Abb. 134). — Von anderen religiösen Festen, welche die Hindu des südlichen Indien feiern, wären zu nennen das Mahāsivaratri zu Ehren Sivas, das Srijayanti oder der Geburtstag Krischnas, das Dipāvali oder das Fest der Lichter, das Vischnu — oder Neujahrsfest, das Vinayaka Chaturthi oder der Tag der Anbetung der Elefantengöttin Vinayaka oder Ganēscha (Abb. 137) und das Sarasvati oder Ayudha Pujafest, bei dem man seinem Arbeitsgerät, der Brahmine seinen Büchern, der Handwerker seinem Werkzeug, der Fischer seinen Netzen, der Kaufmann seiner Wagschale und so weiter seine Anbetung darbringt, und das Pongal (Abb. 136) oder Sonnenfest, bei dem Milchreis und andere Speisen dargebracht werden.
Eine besondere Eigentümlichkeit Südindiens sind die verschiedenen Klassen frommer Bettler, die Bairāgi, Dasari, Gangeddu und Lingayat Jangam; sie ziehen in der Regel von Ort zu Ort und erbitten, mit einem ihrem Berufe eigenen Gewande angetan, in den Basaren und auf den Straßen Almosen. Die Bairagi tragen Kochgeschirre aus Messing, einen geweihten Salagramastein und eine Seemuschel bei sich und rufen beim Durchwandern der Straßen den Namen einer Gottheit laut aus. Für gewöhnlich lassen sie sich Bart und Haar lang wachsen (Abb. 139) und bestreichen ihren nackten Körper mit heiliger Asche. Die Abzeichen eines Dāsari sind eine Seemuschel, auf der er bläst, um seine Ankunft mitzuteilen, ein Gong, das er auf seinen Runden schlägt, eine hohe eiserne Lampe, die beim Betteln brennt, ein Metallgefäß, in das er seine Almosen legt, und ein Metallbild des Affengottes Hanuman um den Hals. Bei einem Fest im Tamillande stecken die Anbeter etwas von einer Mischung von Bananenfrüchten, Reis und anderen Sachen einem Dāsari, der zu dem betreffenden Tempel gehört, in den Mund, der es kaut und in die Hand des Anbeters wieder zurückspeit. Dieser ißt den zerkauten Bissen dann auf, um dadurch eine erbetene Wohltat zu erlangen. Die Jangam sind manchmal mit sehr auffallenden Gewändern angetan, hängen sich Messingteller mit Bildern verschiedener Gottheiten und ein Kästchen um, das den Lingam, ein phallisches Abzeichen des Siva, enthält, und tragen ein Schwert in der Hand und Metallglocken um die Knöchel gebunden (Abb. 138), die klingen, wenn der Jangam tanzt und das Lob des Virabhadra, des Sohnes des Siva, preist.
Die Lingayat, eine Sekte, die gleichsam die Hindupuritaner vorstellt, tragen das Lingam, ein Sinnbild des männlichen Gliedes, als Symbol des Gottes Siva in einem Metallkästchen oder in einer rotseidenen Schärpe um den Hals oder den Arm gebunden. Ihre Kinder werden damit bereits im frühesten Kindesalter von dem geistlichen Berater der Familie bekleidet. Das Lingam wird mit geweihter Asche bestrichen und dem Kinde umgebunden, dem man außerdem[S. 103] einen Rosenkranz von geweihten Rudrakshaperlen um den Hals bindet und die vorgeschriebene geheiligte Formel ins Ohr flüstert. Auch Weihwasser, mit dem die Füße des Priesters gewaschen worden sind, wird über das Lingam ausgegossen, und von der gekochten Speise, die für jenen bestimmt ist, dem Kinde etwas in den Mund gesteckt. In Kanara besteht bei manchen Kasten die Sitte, der Gottheit gewisse Mädchen, Basawi genannt, zu weihen, die in derselben Weise wie die Dēva-Dasis oder Tanzmädchen ein öffentliches Leben führen. Die übliche Form ihrer Weihefeier besteht darin, daß ihnen ein Tali, das Eheabzeichen, an einer schwarzen Perlenschnur um den Hals gebunden und die Abzeichen der Chank und Chakra auf die Schultern gebrannt werden. Bei einer anderen Art dieser Zeremonie legen die Mädchen ein Schwert mit einer Limette an seiner Spitze, die den Bräutigam vorstellen soll, in das Allerheiligste der Gottheit. In wieder anderen Fällen werden die Mädchen an einem glückverheißenden Tage mit einer Blumengirlande an eine Lampe gebunden, wie sie manche fromme Bettler tragen, und aus dieser Stellung entweder von einem Manne, der ihrer ersten Gunstbezeigung teilhaftig werden will, oder von ihrem Onkel mütterlicherseits befreit; zum Zeichen daran wird ihnen eine schwarze Perlenschnur um den Hals gehängt. Der Aberglaube, daß eine Dēva-Dasi niemals Witwe werden kann, veranlaßt manche Hindu, um sich Glück zu verschaffen, das Tali, das bei ihrer Hochzeit gebraucht wird, zu einer dieser Frauen bringen zu lassen, damit sie das Band dazu herrichtet.
Bestimmte Zeremonien knüpfen sich an mancherlei andere Einführungen. Bei den Telugu Mādiga werden gewisse Frauen der Göttin geweiht und dadurch sogenannte Matangi.[S. 104] Bei dieser Zeremonie wird ein farbiges Muster auf den Hof des Hauses gezeichnet, an dessen Ecken und in dessen Mitte Töpfe aufgestellt werden, wie bei einer Hochzeit. Die Kandidatin sitzt, in ein weißes Gewand gekleidet, dicht bei dem mittleren Topf und erhält auf den Kopf einen Bambuskorb gestellt, der auch einen Topf mit dem Bild der Fußeindrücke der Göttin, einem irdenen oder hölzernen Behälter, einer eisernen Lampe und einem Rohr enthält. Der amtierende Priester bindet ihr darauf ein Bottu, ein Heiratsabzeichen, im Namen der Göttin um den Hals. Dieser Korb, dessen Inhalt die Abzeichen einer Matangi ausmacht, darf niemals auf die Erde gestellt werden, sondern wird, falls sie dieselben nicht benutzt, im Hause aufgehängt oder in eine Wandnische gestellt. Bei den Dorffestlichkeiten der Madiga beschimpft und bespeit die Frau, die als eine Verkörperung der Göttin Mātangi angesehen wird, die Versammelten; diese fassen dies nicht etwa als Beleidigung auf, sondern meinen im Gegenteil, daß ihr Speichel alle Verunreinigung wegnimmt.
Soll ein Korawamädchen in den Beruf des Wahrsagens (Abb. 140) eingeführt werden, so verbindet man ihm die Augen und verabreicht ihm mindestens dreimal einen ganzen Mund voll von einer Mischung, die aus unreifem Getreide und dem Blute eines schwarzen Huhnes, einer ebensolchen Ziege und eines Schweines besteht. Stellt sich bei der Einzuführenden dabei kein Erbrechen ein, dann wird dies als ein günstiges Zeichen angesehen, daß sie eine gute Wahrsagerin werden wird. Schwarze Tiere stehen in dem Ansehen einer guten Vorbedeutung. — Soll ein[S. 106] Neuling in die Brüderschaft der Donga (Dieberei treibenden) Dāsari aufgenommen werden, so führt man ihn an das Flußufer, wo er ein Ölbad erhält und mit einem neuen Tuche bekleidet wird. Darauf wird mit dem glühenden Zweige eines heiligen Baumes seine Zunge angebrannt. Nunmehr ist es ihm gestattet an einem Festgelage der Männer dieser Kaste teilzunehmen. Die Mitglieder der Dandāsikaste, deren überlieferter Beruf ebenfalls in Dieberei besteht, vollziehen eine eigentümliche Einführungsfeier an einem Neugeborenen. Das Oberhaupt der Sekte schiebt das erst mehrere Tage alte Kind dreimal durch das Loch einer Mauer oder unter der Türschwelle hindurch, wo es Familienangehörige in Empfang nehmen, mit den Worten: „Tritt ein, Kind, tritt ein; mögest du deinen Vater übertreffen!“
Sehr verbreitet ist unter den Hindu das Darbringen von silbernen Nachbildungen einzelner Körperteile, die erkrankt waren (Abb. 141), oder von ineinandergeschlungenen Schlangen nach überstandener Krankheit, des Modells eines Hauses nach einem gewonnenen Prozeß und anderer Dinge mehr als Votivgaben. Kinderlose Frauen geloben, unter einem heiligen Feigenbaum einen Stein mit dem eingravierten Doppelschlangensymbol aufzustellen; auch erbitten kinderlose Eltern manchmal vor einer Reihe solcher Steine, vor einem Lingamstein und einer Steinfigur der Ganeshagottheit Nachkommenschaft (Abb. 142).
Der Feuerlauf, den wir bereits bei den Fidschiinsulanern (I. Band Seite 46) kennen gelernt haben, ist allenthalben sehr verbreitet; er wird hauptsächlich von solchen Leuten, die unter einem Gelübde stehen, ausgeführt, und zwar vor dem Schrein der Draupadi. Draupadi lebte einst mit fünf Brüdern Pandava in Vielmännerei und unterzog sich dieser Prozedur, um den Beweis[S. 108] für ihre Keuschheit während der Verbannung ihrer Männer anzutreten. Nachdem die Gläubigen an dem Tage der Zeremonie gefastet und zu der Göttin vor ihrem Schrein gebetet haben, wird ihr Bildnis auf den Schauplatz, wo sich der Vorgang abspielen soll, hingetragen. Der Priester, der bereits die Vorzeichen befragt hat, geht, mit Girlanden geschmückt und in gelbes Tuch gekleidet, zuerst über die glühende Asche, ihm folgen die Anbeter, die, nachdem sie hindurchgegangen sind, ihre Füße in einer Wasserpfütze, „Milchtopf“ genannt, abkühlen. An manchen Orten treten allerdings Blumen an die Stelle der Aschenglut, auf denen man zu Ehren der Göttin wandelt. — Eine ganz sonderbare Zeremonie, die heutzutage von der Regierung verboten wird, ist das Hakenschwingen, bei dem große eiserne Haken in den Rücken eines Menschen getrieben werden (Abb. 144). Dieser hängt am Ende eines hölzernen Hebels oben an einem hohen Mast und wird über der versammelten Menge in der Luft geschwungen. Der Zweck dieser Sitte war eine Beeinflussung der Witterung bei Regenmangel, eine Steigerung der Ernte, eine Beseitigung der Cholera und eine Erhöhung der Geburtenzahl. In der Provinz Mysore wird jetzt an Stelle eines Menschen bei diesem Fest eine kleine Figur, Sidi Viranna genannt, die in bunten Aufputz gekleidet ist und Schild und Schwert in den Händen trägt (Abb. 143), an einem aus menschlichem Haar geflochtenen Seil an einem Balken aufgehängt und geschwungen.
Die Hindu sind durchweg gläubige Anhänger krassen Aberglaubens. Bei allen wichtigen Gelegenheiten, wie Pubertät, Hochzeit, Todesfall, Aufbruch zur Reise, Prüfungstag, Neujahrsmorgen, werden die Vorbedeutungen zu Rate gezogen, und die Liste solcher Vorzeichen ist sehr groß. Zu den guten Vorbedeutungen rechnet man eine Jungfrau, Brahmanen, einen Radscha, einen Elefanten, eine Kuh mit ihrem Kalb, einen gebundenen Bullen, einen Topf mit Wasser und Milch, zu der Zahl der ungünstigen aber einen lahmen oder blinden Mann,[S. 110] eine Leiche, eine Witwe, einen Barbier, einen Wäscher, einen Besenstiel, zerbrochenes Geschirr, eine Katze und einen Esel. Manchmal hängt die Deutung auch davon ab, wie ein Satz Eier von der Henne ausgebrütet wird, wie ein Huhn nach dem Getreide pickt, wie die Milch beim Überkochen über den Topf läuft, ob eine Ziege oder ein Schaf beben, wenn man über sie Wasser schüttet, oder wie eine Blume von dem Kopfe eines Götzenbildes herabfällt. Das Auftauchen vieler Tiere bedeutet Glück oder Unglück; so zeigt der Ruf eines Schakals das eine oder das andere, je nach der Richtung, aus der er erschallt, an, bedeutet der Anblick eines Hasen für einen Wanderer Mißerfolg, ebenso das Erscheinen einer Katze oder einer Kuh am frühen Morgen, das Ersteigen des Daches durch einen Hund oder eine Ziege, das Einnisten einer Eule in einem Hause, das Hervorkriechen einer Schildkröte unter dem Pflug Unglück, und vieles andere mehr. Auf der anderen Seite erwartet man Glück, wenn Sperlinge ihr Nest in einem Hause bauen. — Ungemein verbreitet ist auch der Glaube an die Wirksamkeit eines Zaubermittels oder Talismans, wenn man solche zum Schutze gegen Teufel oder den bösen Blick (Abb. 145), oder zum Zeichen eines Gelübdes, um eine Krankheit zu heilen, oder um einen Prozeß zu gewinnen trägt; die unmöglichsten Dinge werden dazu verwandt bis herab zu einem Stück Scherben vom Begräbnisplatz her oder dem getrockneten Fuß einer Schildkröte, einem Krokodilzahn, der Borste aus einem Elefantenschwanz, Bärenhaaren, Tigerklauen, einer Schakalschnauze oder dem Schwanz eines Skorpions. — Mit Buchstaben, Zeichen und Figuren bedeckte oder eingravierte Steintafeln werden oft an der Grenze der Dörfer angebracht, um seine Einwohner und das Vieh vor[S. 111] Krankheit zu schützen. Ist in einem Hause Krankheit ausgebrochen, dann wird bei Nacht in aller Stille an Wegkreuzungen ein geometrisches Muster auf die Erde gezeichnet oder vor dem Kranken eine Figur aus Reismehl, die mit Münzen an den verschiedensten Körperstellen beklebt ist, geschwungen und dann auf den Kreuzweg gelegt; man hofft dabei, daß dort die Krankheit auf einen zufällig Vorübergehenden übertragen werde. — Um einen Feind zugrunde zu richten, formt man ein Bild aus Wachs, Mehl, Blei oder Erde, auf die er getreten hatte, und vergräbt es oder verbrennt es unter mystischen Handlungen.
Unter den Leuten, die berufsmäßig das Wahrsagen ausüben, haben die Kaniyan der Westküste einen gewissen Ruf erlangt; sie verstehen es, mit großer Geschicklichkeit das Horoskop zu stellen, einen Glückstag für eine Hochzeit oder eine andere Festlichkeit vorauszusagen, die Ursache eines Familienkummers ausfindig zu machen und ähnliches. Wo ein solcher Wahrsager zu Rate gezogen wird, erscheint er mit einem Beutel Muschelgeld und einem Astrologenkalender ausgerüstet, die Stirn mit dem dreifachen Zeichen des Siva bestrichen in dem Hause, zeichnet ein Diagramm auf den Fußboden und legt in dessen Felder Muschelgeld, das die Planeten darstellt. Nachdem er daran die Stellung der Planeten zueinander bestimmt hat, verkündet er nach reiflicher Überlegung die Entscheidung, zu der er gekommen ist. Manche Kaniyan sind auch wegen ihrer Kunst in der Geisterbeschwörung berühmt; sie kleiden sich dabei in ein Kokosnußblättergewand und tragen Masken, die verschiedene Teufel vorstellen sollen. Die malaiischen Zauberer von Malabar beschwören auch Teufel und verkleiden sich dazu auf die verschiedenste[S. 112] Weise (Abb. 146, 148 u. 150). Die Pulluwan Malabars sind Astrologen und Priester in einer Person und hausen in den zahlreichen Schlangenhainen, die dem Nägesvara, dem Herrn der Schlangen, geweiht sind, Bildnisse von Schlangen aus Stein zu Tausenden enthalten (Abb. 149) und sich oft über ein Areal von vielen Morgen Landes erstrecken. Sie ziehen von Haus zu Haus und singen zu dem Ton einer Trommel, die aus einem mit einer Schnur überspannten irdenen Topfe (Abbild. 147) besteht und mit einem Stock geschlagen wird, Lieder, die den Schlangen wohlgefällig sein sollen. Werden sie für eine Schlangen- oder Teufelsbeschwörung zu Personen, die von diesen besessen sind, gerufen, dann zeichnen sie eine mächtige Schlangenfigur in farbigem Pulver auf den Fußboden, singen zu Ehren der Schlangengottheit Lieder und verwischen unter heftiger Erregung und vielem Getue das von ihnen gezeichnete Bild (Abb. 151); schließlich suchen sie noch den Schlangenhain auf und werfen sich vor den Steinbildnissen nieder.
Das ganze Leben der Hindu von der Wiege bis zum Grabe wird von[S. 114] abergläubischen Vorstellungen beherrscht. Schon vor der Geburt werden an der Schwangeren zeremonielle Handlungen vorgenommen, die darauf zurückgehen. Bei den Tiyan Malabars zum Beispiel werden Mitglieder der Waschmännerkaste und Teufelstänzer geholt, um zur Besänftigung der bösen Geister, die die angehende Mutter und ihr Kind belästigen könnten, umfangreiche heilige Handlungen auszuführen. So wird unter anderem im Verlaufe derselben ein Muster auf die Erde unter einem Bananengestänge gezeichnet; die Frau muß um dieses herumgehen und einen brennenden Docht hineinwerfen. Musik und Tanz begleiten diese Zeremonie bis in die Nacht hinein, und zum Schluß des Ganzen wird ein Huhn, manchmal ein bereits geköpftes, der Frau an die Stirn gehalten, und Reis über sie ausgeschüttet. Die Nayar Malabars pressen aus den Blättern eines Tamarindenbaumes den Saft aus und kochen ihn mit Reis; der Bruder der Schwangeren schüttet davon etwas auf einer Messerklinge ihr in den Mund. Von den Bergbagaba wird an der Schwangeren im siebenten Monat ihrer ersten Schwangerschaft eine Zeremonie vollzogen, bei welcher der Ehekontrakt endgültig dadurch besiegelt wird, daß der Ehemann in Gegenwart seiner versammelten Freunde seiner Gattin einen Faden um den Hals wirft. Verfängt er sich in den Haaren — manchmal wird, um dies zu erreichen, von ihr in schlauer Weise durch Hinzufügen falschen Haares die Frisur vergrößert —, dann muß er einige Rupien Strafe an sie zahlen. Vor dem Paar stehen zwei Schüsseln, in welche die Verwandten ebenfalls Geldstücke für die jung Verheirateten stiften. Ein Festschmaus wird am Schlusse veranstaltet. Bei einigen Kasten in der Tamilgegend werden um die Schwangere im siebenten Monat, während sie auf dem Hochzeitspodium[S. 115] steht, rotgefärbtes Wasser und Lichter geschwungen, um den bösen Blick von ihr abzulenken. Sie beugt sich sodann nieder und legt ihre Hände auf zwei große Töpfe, ihre Schwägerin oder eine andere Verwandte gießen ihr dabei Milch aus einem Betelblatt über den Rücken oder zeichnen ihr mit Reismehl ein Muster darauf und gießen dann erst die Milch darüber. Die Schwester des Ehemanns schmückt einen Stein in derselben Weise und betet, daß der Frau ein männliches Kind, ebenso stark wie ein Stein, beschert werden möge.
Fühlt eine Hindufrau ihre schwere Stunde nahen, dann pflegt man sie allgemein in einer Hütte aus Blättern oder Matten abzusondern; in ihr muß sie niederkommen und eine geraume Zeit, bei den Adivi des Telegulandes neunzig Tage lang, für sich allein hausen. Niemand darf sie inzwischen anrühren, höchstens die Frauen, die ihr bei der Geburt manchmal beistanden; rührt sie jemand anderes an, dann muß er ebenso wie die Wöchnerin drei Monate lang außerhalb des Dorfes zubringen. Der Ehegatte baut sich für gewöhnlich eine kleine Hütte in einiger Entfernung und wacht über seine Frau, darf sich ihr aber nicht nähern. Das Essen für sie stellt man in der Nähe ihrer Hütte auf die Erde. Am vierten Tage nach der Entbindung schüttet eine Frau aus dem Dorfe Wasser über die Wöchnerin, ohne sie indessen zu berühren, am fünften Tage bringt man sie an eine neue Stelle, etwas näher der Ortschaft. Am neunten, fünfzehnten und dreißigsten Tage rückt man die Hütte in derselben Weise dem Dorfe immer etwas näher und tut dies schließlich noch einmal in den beiden folgenden Monaten. Am neunzigsten Tage endlich wäscht ein Waschmann ihr Zeug, worauf die junge Mutter in den Tempel gebracht und außerdem eine Läuterungszeremonie an ihr zu Hause vorgenommen wird. Bekommt eine Frau der Bergkota zum ersten Male ein Kind,[S. 116] dann läßt sich ihr Ehemann Bart- und Kopfhaar lang wachsen, desgleichen die Fingernägel. Ist das Kind geboren, dann legt er Zweige von fünf dornigen Pflanzen und einem heiligen Baume, die er durch Reibung anzündete, in einer Reihe außerhalb einer besonderen Hütte, die die Frau mit ihrem Kinde von rückwärts zwischen den Zweigen schreitend betreten muß. Einem Coorgknaben werden sogleich nach seiner Geburt ein Miniaturpfeil und ein ebensolcher Bogen in die Hände gelegt, wodurch man ihn als tüchtigen Krieger und Jäger in die Welt einführen will.
Bei der Zeremonie der Namensgebung unter den Nayar Malabars gibt ein älteres männliches Familienmitglied dem Kinde einen Mund voll Milch mit Bananenscheiben und Zucker vermischt zu essen und ruft ihm seinen Namen dreimal ins Ohr. Die Korava binden dem Kinde, das mit seiner Mutter auf einer Matte sitzt, einen schwarzen Faden um die Hüfte, spalten eine Kokosnuß in zwei Teile und reichen der Mutter ein Stück davon zu essen, dabei geben sie dem Kinde den Namen. Sie bezeichnen ihre Kinder, ebenso wie einige Oriyakasten, nach den Wochentagen, die nach den Planeten wieder benannt sind. Die Oriya scheinen den Sonnabend davon auszuschließen, wohl weil er in ihrer alten Mythologie für einen Tag übler Vorbedeutung galt. Die Bergkondh töten bei der Namensgebung einen Hund und waschen die Füße des Kindes. Darauf bindet ein Priester eine Schnur an eine Sichel, streut Reis darauf und wartet, bis sich die Sichel bei einem bestimmten Namen, deren eine ganze Reihe genannt werden, bewegt. Der so gefundene Name wird dem Kinde dann beigelegt. Überresten der Couvade, des Männerkindbettes,[S. 117] begegnen wir noch bei den Nomadenstämmen der Korava oder Yerukala. Bald nachdem die Frau entbunden ist, bekümmert man sich ausschließlich um den Mann, der sich in das Tuch seiner Gattin wickelt und sich auf ihren Platz neben das neugeborene Kind legt, allerdings nur für wenige Augenblicke, dann räumt er seiner Frau wieder den Platz ein. Eine ähnliche Sitte wird noch von einer anderen Gegend berichtet. Bei Eintritt der Geburtsstunde zieht sich der Ehegatte etwas von dem Zeug seiner Frau an, zeichnet sich das Mal, das Frauen auf der Stirn zu tragen pflegen, auf seine Stirn, zieht sich in ein verdunkeltes Zimmer zurück, in dem nur eine sehr trübe Lampe brennt, legt sich zu Bett und deckt sich mit einem langen Tuch zu.[S. 118] Sobald das Kind dann geboren ist, wäscht man es und legt es auf das Lager neben den Vater. Ihm, nicht der Mutter, werden gleichfalls bestimmte Mittel eingegeben; er darf sein Bett nicht verlassen und erhält alles Erforderliche gebracht.
Der Eintritt der Reife bedeutet für ein Mädchen ein wichtiges Ereignis in seinem Leben. Es muß sich einer zeitweiligen zeremoniellen Abgeschlossenheit unterziehen, die häufig in einer zu diesem Zwecke besonders errichteten Hütte vor sich geht. Einige Okkiliyanstämme im Tamillande schlagen die erste Hütte nach wenigen Tagen wieder zusammen und errichten eine neue am dritten, fünften und siebenten Tage. Nach Beendigung der Unreinheit wird die Hütte vielfach von dem Mädchen oder seinem Onkel angezündet und bis auf die Erde niedergebrannt; die Töpfe, die das Mädchen benutzte, werden bei den Bergsavara in kleine Stücke zerschlagen, weil es sonst dem allgemeinen Aberglauben gemäß keine Nachkommenschaft erhalten würde, falls sich Regenwasser in den etwa ganz gebliebenen Töpfen ansammeln sollte. Um Teufel zu verscheuchen, werden Zweige von verschiedenen Bäumen ins Dach der Hütte gesteckt und ein Stück Eisen zusammen mit Margosablättern, Zweigen vom Strychnosbaum und der Arkapflanze in sie gelegt. Manchmal wird auch ein Gestell aus Besenstielen und Stücke von Palmblättern oder ein Bogen hineingelegt und täglich angebetet. Bei der Pubertätszeremonie eines Tiyanmädchens Malabars schüttet seine Tante oder eine andere weibliche Verwandte ein gewisses Öl aus einem becherförmig gebogenen Jackbaumblatte ihm über den Kopf, auf den vorher eine kleine goldene Münze gelegt wurde, und fängt das Öl samt der Münze wieder in einer Schüssel auf. Es gilt als gute Vorbedeutung, wenn das Geld in einer bestimmten Lage in diese fällt. In ähnlicher Weise leeren Frauen bei einigen Kasten Südkanaras über das Mädchen, das auf dem Hofe über fünf Kokosnüssen auf einem Bambusrohrgefäß sitzt, einen Topf aus, der Wasser, Betelnüsse und Arekanüsse enthält; darauf wird es in einem Nebenhause abgesondert. Die kanaresischen Kappiliyan stellen, wenn die Zeremonien ihren Abschluß erreichen, in der Nähe des Hauseinganges etwas für einen Hund zu fressen hin; dieser wird, wenn er mit der Vertilgung beschäftigt ist, tüchtig durchgeprügelt; je lauter er heult, desto günstiger stellen sich die Aussichten einer[S. 119] großen Nachkommenschaft für das Mädchen. Die Pulluwanmädchen werden am siebenten Tage ihrer Reinigung von sieben jungen Frauen gesalbt; diese bringen außerdem den Teufeln, durch die das Mädchen etwa besessen werden könnte, eine Opfergabe in Form eines aus der Rinde eines Bananenbaums angefertigten Triangels, an dem Stücke zarter Kokosnuß und kleine Miniaturfackeln hängen, dar. Der Triangel wird um den Kopf des Mädchens geschwungen und sodann aufs Wasser gesetzt, damit er fortschwimme.
Viele interessante Werbegebräuche herrschen noch allenthalben in Südindien. Öfters ist für die jungen Mädchen bei der Auswahl ihres Zukünftigen dessen persönlicher Mut ausschlaggebend. Bei einigen Kallanstämmen zum Beispiel besteht der Brauch, daß beim Mattupongalfest Bullen, an den Hörnern geschmückt mit Kokosblattgirlanden und Tüchern der jungen Mädchen, in die Münzen gebunden sind, unter dem Getöse der Tamtam und anderer Musik, um sie in Angst zu versetzen, losgelassen werden. Wer von den jungen Burschen einem Mädchen sein Tuch, das von ihm um das Horn des Tieres gewickelt war, wieder wohlbehalten zurückbringt, wird von ihm zum Manne genommen. Die Coorgmädchen verlangen eine Probe physischer Kraft von ihrem zukünftigen Gatten; er muß sechs Bananenstämme, die aufrecht in der Erde stehen, jeden einzeln mit einem einzigen Hiebe seines Kriegsmessers umhauen. Bei den Bergbonda Porja besteht die Sitte, Gruben in den Erdboden zu graben, in die während der kalten Jahreszeit nachts die Kinder gelegt werden, damit sie warm bleiben. Im Frühling nun werden die heiratsfähigen jungen Mädchen des Dorfes in einer dieser Gruben[S. 120] zusammengedrängt, und ein junger Mann kommt und macht der einen von ihnen einen Antrag; weist das Mädchen ihn ab, dann macht er bei einer anderen den gleichen Versuch, bis er sein Ziel erreicht hat. Anderwärts wird auch wieder der persönliche Mut des jungen Mannes von seinem Mädchen auf die Probe gestellt; beide begeben sich in den Dschungel und zünden ein Feuer an; das Mädchen nimmt darauf einen schwelenden Feuerbrand und berührt damit den Rücken des Jünglings. Schreit er vor Schmerz auf, dann wird er abgewiesen, wenn aber nicht, dann wird die Ehe sofort geschlossen. Dem Zufall überlassen die Wahl des Bräutigams die Mädchen bei den Dschungelnayādi. Wenn ein solches das heiratsfähige Alter erreicht hat, begibt es sich in eine aus Blättern aufgebaute Hütte, um die die jungen Männer des Dorfes herumtanzen und singen. Sie sind mit Stöcken bewaffnet, die sie durch die Hüttenwand hindurchstoßen. Wessen Stock das junge Mädchen ergreift, der wird ihr Mann.
Bei manchen Stämmen herrschte die Sitte, daß der Schwiegersohn in die Dienste seines zukünftigen Schwiegervaters tritt und sich bei ihm die Frau gleichsam erarbeitet. Jetzt aber wird diese Dienstleistung schon durch eine Barzahlung ersetzt.
[S. 121]
Bei den Kondh begegnen wir unter den Hochzeitszeremonien noch der Brautentführung. Dem Brautzug treten der Bräutigam und die jungen Männer seines Dorfes an der Dorfgrenze entgegen, jeder mit einem Bambusknüppel bewaffnet. Die jungen Frauen aus dem Dorfe der Braut aber gehen zuerst zum Angriff auf die Partei des Bräutigams mit Stöcken, Steinen und Erdklumpen vor, und ein Bombardieren wird eröffnet und fortgesetzt, bis das Dorf erreicht ist. Dann hört das Steinwerfen auf, und der Onkel des Bräutigams ergreift die Braut und trägt sie zum Hause seines Neffen. Der Umstand, daß es gerade der Onkel ist, der die Braut entführt, legt die Vermutung nahe, daß dieser Scheinkampf um die Braut, von dem in Südindien mancherlei Abänderungen vorkommen, nicht als ein Überbleibsel der Sitte, die man insgemein Raubehe nennt, anzusehen ist, sondern seine Erklärung in der Vorschrift findet, die noch bei vielen Kasten beobachtet wird, daß ein Mann die Tochter seines Onkels mütterlicherseits[S. 122] heiraten muß. Wo diese Vorschrift nicht zwangsweise durchgeführt wird, spielt dieser Onkel dennoch eine wichtige Rolle bei den Hochzeitszeremonien. So muß er öfters dem Bräutigam auf seine Bitte seine Zustimmung zur Heirat geben, oder der Onkel der Braut dem Bräutigam die Füße waschen, die Braut zur Hochzeitsbude tragen, ihr das Tāli um den Hals legen und die Finger des jungen Paares bei der Eheschließung zusammenbinden.
Bei den Kasten, wo der Brauch, die Tochter des Onkels mütterlicherseits zu heiraten, sich erhalten hat, kommt es bisweilen vor, daß ein Knabe von sieben oder acht Jahren an ein Mädchen versprochen wird, das zweimal so alt ist wie er. Dem Mädchen ist es in manchen Fällen erlaubt, auch mit ihrem Schwiegervater zusammenzuleben und zu verkehren, bis der Knabe, der als der Vater aller inzwischen etwa geborenen Kinder gilt, heranwächst.
Ein sonderbarer Brauch, „die Aufrechterhaltung des Hauses“ genannt, wird von den Bergkunnuwan beobachtet, wenn ein Mann keine Kinder außer einem Mädchen besitzt und seiner Familie die Gefahr des Aussterbens droht. Das Mädchen darf hier zwar nicht, wie es sonst vielfach üblich ist, von dem Sohn ihres Onkels beansprucht werden, kann aber mit einem Türpfosten des Hauses verheiratet werden; als Eheabzeichen erhält sie dann eine silberne Spange um das Handgelenk gelegt. Es ist ihr nun gestattet, sich mit irgend einem Manne aus ihrer Kaste zusammen zu tun; sollte sie von ihm einen Sohn bekommen, so erbt dieser durch sie den Besitz ihres wirklichen Gatten. — Mit einer dritten Frau eine Ehe einzugehen, bringt nach Ansicht der Brahmanen Unglück. Um diesem aber aus dem Wege zu gehen, wird zunächst[S. 124] eine Scheintrauung vollzogen. Der Witwer bindet ein Tāli um eine Arkapflanze, die die Sonne versinnbildlicht, und haut sie dann um. Dadurch wird die nunmehr einzugehende Ehe die vierte anstatt der dritten. Eine ähnliche Form der Scheinehe mit einem Baume (Banane) wird manchmal von denen geschlossen, die die älteren Brüder einer Familie sind, jedoch aus irgend einem Grunde (zum Beispiel wegen körperlichen Fehlers) zur Ehelosigkeit verurteilt sind. Da den jüngeren Brüdern aber die Ehe nicht eher gestattet ist, bevor die älteren verheiratet sind, so tun diese dies, um jenen Gelegenheit zu geben, sich zu vermählen. — Wenn ein Mädchen bei einigen Kasten im Oriyalande vor der Reife sich noch keinen Mann gesichert hat, so wird sie mit einem Messinggefäß, dem Sinnbild der Sonne, verheiratet, oder sie unterzieht sich einer Scheintrauung, bei der ein alter Mann oder ein Pfeil, ein Sahādabaum, um dessen Stamm ein neues Tuch gebunden ist und gegen den Pfeil und Bogen angelehnt sind, den Bräutigam vertreten. — Geht ein Landbesitzer der Kambalakaste im Tamillande mit einer Frau aus niederer Kaste eine Ehe ein, so ist er nicht persönlich bei der Hochzeit zugegen, sondern wird durch einen Dolch vertreten, in dessen Gegenwart der Braut das Tāli um den Hals gebunden wird. In ähnlicher Weise stellt bei den Maravan der vornehme Bräutigam einen Stock als seinen Vertreter. Unsere Abbildung 153 zeigt den bei Hochzeiten der Tamilen gebräuchlichen reichgeschmückten Baldachin, unter dem Braut und Bräutigam Platz nehmen.
Die Sitte der brüderlichen Vielmännerei besteht heutigentags noch bei den Toda, allerdings ist sie jetzt schon mehr im Abnehmen begriffen, denn es bürgert sich mehr und mehr bei diesem Volke der Brauch ein, daß Brüder je ein besonderes Weib sich nehmen oder auch[S. 126] mehrere Männer mehrere Weiber gemeinsam haben. Wenn ein Mädchen bei den Toda sich verheiratet, dann wird sie gleichzeitig das Eheweib sämtlicher Brüder des Gatten, ja es geht so weit, daß, wenn ein Mädchen schon mit einem Knaben verheiratet wird, man sie nicht bloß als die rechtmäßige Gattin aller lebenden jüngeren Brüder betrachtet, sondern im voraus auch als die aller derjenigen, die noch geboren werden können. Die Brüder leben in solcher polyandrischen Ehe einträchtig miteinander; jeder von ihnen wohnt der Frau abwechselnd bei. Wenn aber die Brüder nicht unter einem gemeinsamen Dach, sondern in verschiedenen Dörfern hausen, dann lebt die gemeinsame Frau abwechselnd für eine gewisse Zeit der Reihe nach mit jedem von ihnen zusammen. Interessant ist die Art und Weise, wie die Vaterschaft der Kinder festgestellt wird. Wird die Frau zum ersten Male schwanger, dann nimmt der älteste Bruder für gewöhnlich die Zeremonie des Überreichens von Bogen und Pfeil an dem Kinde vor, womit er andeuten will, daß er sich zum Vater des Neugeborenen bekennt; bei der zweiten Geburt ist es wohl Sitte, daß der andere Bruder diese Zeremonie übernimmt, für gewöhnlich aber gehören die ersten zwei bis drei Kinder demselben Ehemanne an, und erst bei den darauffolgenden läßt er die Zeremonie des Bogen- und Pfeilüberreichens durch einen anderen Bruder vollziehen. Gehen die Eheleute auseinander, dann nimmt jeder der Ehemänner die Kinder an sich, für die er sich bei der Geburt als Vater bekannt hatte.
Bisher haben wir die Hochzeitsbräuche der Bewohner Südindiens behandelt, die nicht die allgemeine Regel bilden, sondern vielmehr eine seltenere Erscheinung ausmachen. Wir wollen jetzt die ersteren hier nachholen. Bereits mehrfach war von dem Tāli (auch Bottu genannt)[S. 127] die Rede. Es ist dies ein goldener Ziergegenstand, welcher der Braut (Abb. 152) um den Hals gebunden wird, nachdem er unter den Hochzeitsgästen die Runde gemacht und deren Segen empfangen hat, und etwa unserem Trauring entspricht, also das hindostanische Eheabzeichen (Abbild. 155) vorstellt. Bei manchen Kasten tritt an Stelle dieses wertvollen Gegenstandes eine Halskette aus schwarzen Perlen oder nur ein mit Safran gefärbtes Band. Safran bildet überhaupt einen wichtigen Bestandteil des indischen Zeremoniells. Die Sitte, sich damit das Gesicht zu färben, ist bei den Frauen sehr verbreitet; sie meinen dadurch ihren Männern mehr Lebensjahre zu verschaffen; daher pflegen sie sich geradezu verschwenderisch mit Safranwasser zu waschen. Um den bösen Blick abzuwenden, wird bei Hochzeiten ein Gefäß, das unter anderem auch Safranwasser enthält, vor dem Brautpaar geschwungen; beide baden sich darin und begießen sich gegenseitig damit.
Bei den meisten Kasten ist der wesentliche und bindende Teil der Hochzeitszeremonie das Zusammenbinden der Hände von Braut und Bräutigam mittels eines baumwollenen oder seidenen, mit Safran gefärbten Fadens oder mittels des heiligen Dharbagrases, oder das Ineinanderlegen ihrer Hände oder kleinen Finger, wobei Wasser über sie ausgeschüttet wird. Manchmal werden auch die Hände des Brautpaares unter einem Tuch vereinigt, das die beiderseitigen Onkel mütterlicherseits[S. 128] halten. Bei einem Stamme der Bergbadaga bringt die Schwester der Braut etwas Reis und Milch in einer Tasse, in die das Paar seine aneinander gebundenen Finger eintaucht; darauf nehmen beide etwas Reis und stecken ihn sich dreimal in den Mund. Bei den Völkern von Telugu, Kanara (Abb. 154) und Oriya ist es allgemein üblich, einen Wandschirm oder einen Vorhang zwischen den Brautleuten anzubringen, über den hinüber die Braut Reis und Salz auf den Kopf ihres Bräutigams wirft. Man pflegt hier auch die Enden der Hüfttücher des Paares, in die Reis, Betelblätter, Arekanüsse, Muschelgeld und andere Dinge gebunden sind, miteinander zu verknoten.
Eine wichtige Rolle spielen bei der Hinduhochzeit die Töpfe. Nach dem Aberglauben des Volkes sollen sie dreihundertdreißig Millionen kleinerer Götter oder Dēvas vorstellen; daher verwenden Brahmanen auch dreiunddreißig Töpfe bei ihrer Hochzeit. Die Dorftöpfer haben für solche Gelegenheiten gut zu tun; sie fertigen eine Menge Töpfe an, deren größter an Umfang etwa dreieinhalb Meter messen muß. Die Töpfe nun werden von Braut und Bräutigam in gebührender Weise angebetet. Verschiedene Oriyakasten pflegen einen Topf mit Wasser aus sieben verschiedenen Häusern anzufüllen und in der Hochzeitsbude aufzuhängen, oder sie stellen eine Anzahl Töpfe, einen auf den anderen geschichtet, in die vier Ecken und in die Mitte dieses Raumes auf und so weiter. — Dem Barbier kommt bei Hochzeiten ein wichtiges Amt zu. Er hat dem Bräutigam die Fußnägel zu beschneiden und das Gesicht zu rasieren, wobei er zuweilen Kuhmilch an Stelle von Wasser verwendet. Er berührt auch die Stirn der Braut[S. 130] mit einem Rasiermesser und ihre Zehen mit einem in Milch getauchten Mangoblatt, dem Sinnbild des Wohlergehens; bei manchen Kasten bindet er der Braut auch das Tali um den Hals. Eine drollige Figur gibt der Barbier auf der Hochzeit bei den Lingayat Kannadiyan ab. Er hat hier die Aufgabe, die Köpfe des Brautpaares mit geklärter Butter aus einer Kokosnußschale zu besprengen, was ihm aber nicht leicht gemacht wird. Denn vorn trägt er einen Stein an einem Stricke um seinen Hals, der ihn dabei nach vorn herabzieht, und rückwärts ebenfalls einen Strick, an dem die Kinder ihn nach hinten ziehen.
Die Hochzeitszeremonien der Mohammedaner Südindiens sind verschiedentlich ein Mittelding zwischen rein mohammedanischen und hindostanischen Gebräuchen. Bei einer Hochzeit der mohammedanischen Marakkayar wird eine Zeremonie direkt die „brahmanische Verkleidung“ genannt. Die Braut ist wie eine Brahmanin gekleidet und fordert mit einem Messinggefäß in der einen und einem Stock in der anderen Hand vom Bräutigam Geld ein, wobei sie ihr Anliegen mit Stockschlägen begleitet.
Eheliche Untreue der Frauen wird besonders dann streng geahndet, wenn sie sich mit Männern einer niederen Kaste einließen. Wer eines solchen Vergehens von dem Dorf- oder Gemeinderat überführt ist, wird aus der Kaste ausgestoßen und kann eine Wiederaufnahme erst dann wieder erlangen, wenn er sich verschiedenen seltsamen Formen von Gottesurteilen[S. 132] unterzogen hat. Sonderbar mutet von diesen Vorschriften die folgende an: ein schwerer Mörser wird der Frau vorn und eine Katze hinten auf dem Rücken angebunden; so ausgestattet muß sie durch die Straße ziehen. Während der Mörser sie beinahe bis auf die Erde hinabzieht, sucht die Katze sich durch Kratzen hinten zu befreien. — Bei den Koraga von Südkanara wird eine Reihe von sieben Hütten am Flußufer errichtet und Grasbündel gegen sie aufgestapelt. Diese werden in Brand gesteckt, und die Übeltäterin muß über die brennenden Garben und die heiße Asche hinweggehen. Diese Zeremonie soll die sieben Leben versinnbildlichen, die nach dem Gesetze des Manu erforderlich sind, um einen Fehltritt gegen das Heiratsgesetz zu sühnen. Koyimädchen, die sich mit einem Mann aus niederer Kaste verbinden, werden dadurch geläutert, daß ihnen die Zunge mit einer erhitzten goldenen Nadel durchstochen wird und sie durch sieben Palmenblätterbogen hindurchgehen müssen, die nachher verbrannt werden. Die Kappiliyan kennzeichnen das Ausgestoßensein einer Frau wegen Ehevergehens dadurch, daß sie über einen ihr gehörigen Schmuckgegenstand in aller Form eine Trauerfeier abhalten und ihn verbrennen, und die Frau selbst von nun an für tot erklären. Die Parivaram töten die Frau in ähnlicher sinnbildlicher Weise; sie fertigen von ihr ein Lehmbildnis an, stechen ihm in die Augen Dornen und werfen es schließlich außerhalb des Dorfes fort.
Eine ganz besondere Strafe trifft manchmal bei den Oriya Ravulo den Ehemann, wenn er seine Frau mißhandelt oder verlassen hat. Er muß sich unter einen Bambusbottich und seine Frau oben darauf setzen; sodann wird der Inhalt von fünf Töpfen Wasser über das Paar gegossen[S. 134] in Nachahmung der bei dieser Kaste üblichen Sitte, über eine Leiche aus ebensoviel Gefäßen Wasser zu gießen, bevor man sie zum Verbrennungsplatz bringt. Dieser Vorgang spielt sich überdies in einem Hause ab, wo für gewöhnlich ein Toter gewaschen wird.
Um ihre Unschuld zu beweisen, kann eine verdächtigte Person ihre Zuflucht zu einem Gottesurteil nehmen. Meistens muß sie dann ihre Hand in kochendes Öl tauchen und eine Münze, eine Arekanuß oder einen Stein herausholen. Gelingt ihr dies nicht, so ist ihre Schuld bewiesen; andernfalls geht sie frei aus.
Die vornehmste Bestattungsform der Südindier, aber auch die teuerste, ist das Einäschern der Leichen; diese können sich nur die Wohlhabenderen leisten (Abb. 156 bis 159). Daher begegnen wir der Einäscherung allgemein bei den höheren Kasten, bei den niederen dagegen nur insoweit, als die pekuniären Verhältnisse der Familie es gestatten. Die Regel bildet bei den niederen Kasten das Begraben der Toten. Beim Tode des Mannes wird der Witwe manchmal das Tali vom Halse abgenommen und mit den Blumen, die sie schmücken, der Leiche mit ins Grab gegeben, oder ihre Spangen werden vor einem hölzernen Pfahl, der mit dem Zeug des Mannes bekleidet ist, zerbrochen. Beerdigung in sitzender Haltung kommt noch unter anderen bei einigen primitiven Dschungelstämmen vor. Das Grab wird oft dadurch gekennzeichnet,[S. 135] daß man eine Hütte oder ein Schirmdach darüber baut und einen stachligen Zaun aus Zweigen herumlegt, damit die wilden Tiere, im besonderen die Schakale, nicht herankönnen, oder man legt einen Kiesel mit einem Zauberspruch auf das Grab, um den Geist des Verstorbenen daran zu hindern, daß er die Überlebenden belästigt.
Vielseitig und manchmal auch sehr sinnig sind die Gebräuche, die man mit der Asche des Toten vornimmt. Die Bergkoyi vermischen sie mit Wasser und formen Kugeln, vergraben diese in einem Loch und decken eine Steintafel darüber. Wenn Freunde des Mannes an der Stelle vorübergehen, legen sie ein paar Tabakblätter für ihn auf diese Tafel. Die Bergsavara begraben Reste der verbrannten Gebeine mit einem zerschlagenen Hühnerei in einer Miniaturhütte; auch schicken sie Stücke verkohlter Knochen an Verwandte, die entfernt wohnen, damit diese an ihnen bestimmte Begräbniszeremonien vornehmen. Manche Kasten legen ein Stück Knochen in einen Topf unter einen heiligen Feigenbaum; der Sohn des Verstorbenen nimmt diesen schließlich fort und vergräbt ihn in der Nähe seines Hauses. Andere wieder pflanzen eine Tulsipflanze an der Stelle, wo die Asche begraben liegt; manchmal werden die Aschenreste auf einen Baum, einen Ameisenhaufen, in fließendes Wasser oder auch in die See geschüttet. Vielfach besteht auch die Sitte, die Asche als Postpaket an einen bestimmten Agenten in Benares zu senden, auf daß er sie in den heiligen Ganges schütten läßt. — Bildnisse des Verstorbenen werden oft aus seiner Asche, Reismehl, Stroh und Schlamm hergestellt oder auf ein neues Tuch aufgezeichnet und dann durch Opfergaben geehrt. Die Strohfiguren verbrennt man dann oft, die Bergkondh aber stellen sie vor oder auf dem Dache ihrer Häuser auf. Die Oriya Gaudo[S. 136] stecken sieben kleine Fahnen aus gelbgefärbtem Stoff in die Schultern, den Unterleib, die Beine und den Kopf einer Figur aus Asche und bringen ihr Speise dar. Von vielen Kasten wird ein Topf mit Wasser oder Reis von dem Hauptleidtragenden, in der Regel der Witwe des Verstorbenen oder seinem Onkel mütterlicherseits, auf dem Hinwege zum Verbrennungsplatz oder auch auf diesem selbst zertrümmert.
Zahlreich sind die Methoden, zu denen man seine Zuflucht nimmt, um die ruhelosen Geister der Verstorbenen zu versöhnen und zu beruhigen. Manche Bergstämme schießen zu diesem Zweck ein Gewehr ab, während das Begräbnis stattfindet. Im Tamilgebiet wird manchmal gerösteter Reis auf dem Wege zum Verbrennungsplatze ausgestreut, um dadurch den Geist, der am Abend versuchen wird, nach Hause zurückzukehren, zu veranlassen, daß er sich mit dem Auflesen der Speise aufhalte und sich dann zurückziehe. Um den boshaften Geist eines Menschen, der an einer ansteckenden Krankheit starb, an seiner Rückkehr zum Dorf zu verhindern, legen die Bergkoyi eine Fischfalle und dornige Zweige über den Weg, der zu ihm hinführt. Am dritten Tage nach dem Tode sollen die Khond eine Spinne vom Begräbnisplatze holen, sie einen Tag lang zu Hause behalten und mit Reis, Fleisch und einem neuen Tuch zu versöhnen suchen, weil sie annehmen, daß dieses Tier eine feindlich gesonnene Wiedergeburt des Verstorbenen vorstelle. Von den Bergkoyi wird bei Eintritt eines Todesfalles eine Kuh oder ein Bulle erschlagen, der Schwanz abgeschnitten und der Leiche in den Mund gesteckt. Auch pflegen sie einen solchen Schweif auf dem Begräbnisplatze an jeden der einzelnen Steine, die hier errichtet sind, zu binden; er bleibt hier, um den Geist des Verstorbenen zu besänftigen, dem man dadurch einreden will, daß er das ganze Tier[S. 137] erhalten habe. Manchmal werden dem Verstorbenen auch ein paar Rupien, die den Wert eines Ochsen darstellen, anstatt des Schweifes in den Mund gesteckt.
Eine ganz besondere Form erhält das Totenzeremoniell bei den Hirtentoda und den ackerbautreibenden Badaga der Nilghiriberge. Bei ersteren weichen die Bräuche zwar sehr voneinander ab, je nach dem Geschlechte des Verstorbenen und den sonstigen Verhältnissen, aber im allgemeinen verfährt man mit der Leiche folgendermaßen. Der Tote wird in eine zu diesem Zwecke gebaute einfache Hütte gelegt, meistens innerhalb eines Steinkreises in der Nähe des Haines, in dem der Scheiterhaufen hergerichtet worden ist. Vor ihr gruppieren sich die Frauen, zu zweien zum Zeichen der Trauer die Stirnen aneinander gelegt (Abb. 160), wobei ihnen die Tränen über die Wangen rollen. Männer und Knaben gehen nun auf die Suche nach einem oder mehreren Ochsen, die sie nach der Stelle, wo der Tote liegt, hintreiben (Abb. 161 und 164). Hier packen die ersteren die Tiere mit aller Kraft bei den Hörnern, ducken sie nieder und versetzen ihnen auf die Stirn einen Axthieb. Der Tote wird sodann herbeigebracht und am Kopfe des seine Seele aushauchenden Tieres, das mit Butter beschmiert worden ist, niedergelegt (Abb. 162 und 163). Männer, Frauen und Kinder drängen sich dann heran, um das tote Tier zu begrüßen und die Hände auf seinen Kopf und seine Hörner zu legen. Bei dem Leichenbegängnis eines Mannes pflegt man dreimal Erde auf den Leichnam und in eine Viehhürde oder einen Steinkreis zu werfen. Nach Ablauf einer gewissen Zeit wird eine zweite Totenfeier veranstaltet, bei der die Hinterlassenschaft des Verstorbenen samt einem Stück seines Schädels und einer Haarlocke in einem Steinkreis verbrannt werden.
Bei einem Leichenbegängnis der Badaga wird der Tote auf einen aus mehreren[S. 138] Stockwerken aufgebauten, mit Tüchern und Wimpeln festlich geschmückten Wagen (Abb. 165) gelegt. Eine Anzahl Frauen, Verwandte und Befreundete des Toten, stürzen sich auf seine Lagerstätte (Abb. 166) und erheben abteilungsweise großes Wehklagen; eine Frau läutet dabei eine Glocke. Die Männer aber tanzen, mit bunten Röcken und schmucken Turbanen herausgeputzt, um den Leichenwagen herum. Nachdem der Tote zum Einäscherungsplatz gebracht worden ist, wird der Wagen seines Schmuckes beraubt und in Stücke zerschlagen. Großen Eindruck macht es, wenn der Stammesälteste dann noch die herkömmlichen Sünden des Toten absingt; er erwähnt dabei unter anderem auch, daß er junge Vögel den Katzen zum Fressen reichte, Schlangen und Kühe tötete und die Schwiegertochter quälte.
Bei den Billawa in Südkanara begegnen wir dem interessanten Beispiel einer Totenhochzeit. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß ein Mädchen, das unverheiratet starb, das Haus heimsucht und daher durch einen nachträglichen Ehebund versöhnt werden muß. Seine Verwandten nehmen aus einem Hause, in dem sich eine Knabenleiche befindet, eine kleine Münze (Viertelannastück), binden sie zwischen zwei Löffel fest und hängen diese an dem Dache des Hauses auf, das der Familie des verstorbenen Mädchens gehört. Damit soll die Verlobungsfeier angedeutet werden. An einem bestimmten Tage, der nun für die Hochzeit festgesetzt worden ist, werden zwei Figuren, Braut und Bräutigam darstellend, mit ineinander gelegten Händen auf den Fußboden gezeichnet, Viertelannastücke, schwarze Perlen, Spangen und ein Nasenschmuck auf die Hände des Paares gelegt und darüber Wasser gegossen, wie bei einer Hochzeit im wirklichen Leben. Die Kaste der Idayan verheiratet eine menschenähnliche Figur aus Stroh mit der Leiche und vollzieht an diesem Paar einige Hochzeitsriten.
Die Sitte des Sati, das ist die Selbstopferung der Witwe beim Leichenbegängnis des Mannes, hat längst aufgehört. Eine Erinnerung daran lebt noch bei den Tottiyan fort, deren Kastengöttinnen zu Gottheiten gewordene Frauen sind, die sich auf solche Weise opferten.[S. 139] Ihnen zu Ehren wird noch alle vier Jahre ein Fest veranstaltet; das Hauptereignis dabei ist ein Ochsenkampf, bei dem ein Preis für den Gewinner ausgesetzt wird.
Viele Hindustämme sind mit der Zeit von den Zeremonien für ihre Ahnen mehr und mehr abgekommen, die ihre Vorväter aufs peinlichste auszuführen sich angelegen sein ließen. Nur die Brahmanen und gewisse andere Hindukasten feiern noch ein Jahresfest als Erinnerung an die Toten, das Srādh. Hierbei wird den Vorfahren dreier Generationen ein Reisball dargebracht und sodann den Krähen vorgeworfen. Fressen diese davon, dann wird dies als ein günstiges Vorzeichen aufgefaßt. — Die Dschungelnayadi Malabars stellen um einen Mangobaum Steine herum, die ihre verstorbenen Stammesmitglieder darstellen sollen; an sie richten sie in regelmäßigen Zeitabschnitten Gebete, auf daß ihre Geister sie vor den Verheerungen der wilden Tiere und besonders der Schlangen beschützen möchten. In ähnlicher Weise verehren die Yerrakolla Tottiyan des Tamilgebietes Steine als Vorfahren, die sich innerhalb ihrer Dorfgrenze in Kreisen aufgestellt finden; sobald jemand stirbt, wird ein Stein in die Asche des Toten gelegt und dann dem Ahnenkreise eingereiht. Die Vekkiliyan Tottiyan, bei denen die kürzlich Verstorbenen unter einem kuppelartigen Strohdach um eine geschnitzte Säule herum in Gestalt von Steinen verschiedener Größe verehrt werden, Māle genannt (Abb. 167), lassen bei ihren Festen eine Anzahl Stiere darauf los; das Tier, welches das Māle zuerst erreicht, wird geschmückt und in Ehren gehalten. — Die Coorg verehren ihre Vorfahren entweder ebenfalls in Gestalt von Steinen, die sie auf einem aufgeschütteten Hügel unter einem Baum aufstellen, oder auch von Figuren, die sie in Silberplatten einschlagen oder in Topfsteinscheiben einritzen, oder von Bronzebildnissen. Sie werden in einem kleinen Hause oder in einer Nische des Wohnhauses untergebracht. — Viele Kasten verbinden mit der Hochzeits- oder einer anderen Feier eine Versöhnung der Vorfahren. So bitten die Mādhvabrahmanen gelegentlich einer Hochzeit die Ahnen, die durch ein Männertuch und ein Mieder dargestellt werden, um ihren Segen für das Brautpaar. Um die Ahnen bei der gleichen Gelegenheit gutzustimmen, zeichnen die Telugu Puni Golla auf den Fußboden mit farbigen Pulvern ein Bild auf, das die Göttin Ganga, eine Lotusblume, eine Schlange und anderes mehr vorstellt (Abb. 168), und beten dieses in einer sehr sorgfältig durchgearbeiteten Zeremonie an. Im Laufe der Andacht wird ein Mann, der sich Glocken um die Beine gebunden hat, von dem Geiste eines Vorfahren besessen und verletzt sich mit einem Schwert. Dieses wird ihm entwunden und auf die Gestalt der Ganga gelegt. Zu guter Letzt wird auch noch der Bräutigam besessen; er wirft seinen Turban und sein Leibtuch fort und ergeht sich in wilden Bewegungen.
[S. 140]
Hindu und Mohammedaner.
Je weiter wir in Indien nach Norden vordringen, um so reiner treten uns die Hindu entgegen, reiner insofern, als sie in höherem Grade die charakteristischen Züge ihrer Vorfahren bewahrt haben, die im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung aus Europa über Iran in das Fünfströmeland einwanderten und sich von da aus über ganz Indien ausbreiteten. Je weiter nach Süden, um so stärker wurde ihre Mischung mit den bereits vor ihnen hier ansässigen Drawida und Ureinwohnern. Die äußere Erscheinung der Hindu ist eine ansprechende; besonders sind beim weiblichen Geschlecht wirkliche Schönheiten keine Seltenheit. Die Hindu sind im allgemeinen ein mittelgroßer, schlank gewachsener Menschenschlag von geschmeidigen, aber verhältnismäßig langen Gliedmaßen, samtweicher, glänzender, ziemlich lichter Hautfarbe, die vielleicht der des Südeuropäers entspricht, üppigem, glänzendschwarzem, welligem oder lockigem Haupthaar und verhältnismäßig reichlichem Bartwuchs. Ihr Kopf ist klein, lang und schmal; das schmale, hohe (ovale) Gesicht mit wohlentwickelter Stirn und anliegenden Jochbogen zeigt regelmäßige, feine Züge, eine ebenfalls schmale, fein geschnittene Nase mit hohem, häufig konvexem Rücken, horizontal stehende, große Augen ohne Mongolenfalte, einen[S. 141] mittelgroßen Mund und ein kleines, rundes Kinn. Die reinsten Vertreter dieses dem europäischen nahekommenden Typus finden sich in den oberen Kasten des Fünfströmelandes, von Kaschmir und Radschputan, im besonderen unter den Brahmanen. Je niedriger eine Kaste in der sozialen Stufenordnung der Hindu steht, um so dunkler ist ihre Hautfarbe. Das Bestreben der arischen Einwanderer, die Rasse rein zu erhalten, hat im Laufe der Zeiten dazu geführt, daß sie sich in kleine Gemeinschaften absonderten, die unter gleichen Lebensbedingungen miteinander lebten und nur untereinander heirateten. Ein jeder, der außerhalb des so geschaffenen Ringes stand, galt als ein Fremder; mit ihm hörte eine soziale Gemeinschaft, im besonderen eine Heirat, auf. Auf diese Weise entstanden besondere Gesellschaftsklassen, die sogenannten Kasten — das Sanskritwort für Kaste, „Warna“, bedeutet direkt Farbe — deren es heutzutage eine ungeheure Menge gibt (im Jahre 1901 sollen deren nicht weniger als zweitausenddreihundertachtundsiebzig gezählt worden sein), zumal sie sich wieder in kleinere Unterkasten gliedern, die aber wieder häufig genug soziale Unterschiede, wenn auch nur geringfügige, unter sich machen. So ist zum Beispiel die Kaste der Brahmanen unter diesem Namen über ganz Indien verbreitet, aber in Wirklichkeit zerfällt sie wieder in eine Menge differenzierter Abstufungen — die nördlichen sollen ihrer allein vierhundertneunundsechzig zählen — die hinsichtlich des geselligen Verkehrs vollständig voneinander getrennt leben. Für einen Brahmanen aus Kaschmir, der wohl den ursprünglichen arischen Typus noch am reinsten vertritt, würde ein solcher aus Madras, wenngleich er nominell derselben Kaste angehört, nicht als gleichgestellt gelten, ebensowenig ein Brahmane aus Bombay einen aus Bengalen als einen solchen anerkennen. Über den Verkehr der indischen Kasten herrschen strenge Gesetze. Wer sich dagegen vergeht, ja etwas von einem Angehörigen einer niederen Kaste auch nur berührt, gilt als unrein. Daß ein Mensch aus einer niederen Kaste in eine höhere übergeht, tritt wohl sehr selten ein, dagegen aber häufig der umgekehrte Fall, daß er in eine niedere verstoßen wird. Ein solches soziales System hat notgedrungen dazu geführt, daß bestimmte Kasten sich einem besonderen Handwerk zugewandt haben; daher decken sich vielfach Kaste und bestimmte Handwerke. Ursprünglich gab es in Indien nur vier große Kasten: die Brahmanen oder Priester, die Kshatriya oder Krieger, aus der die regierenden Fürsten hervorgingen, die Vaishya oder Ackerbauer und Kaufleute, und die Sudra oder Handwerker. Die letzteren wurden von den unterworfenen Eingeborenen gestellt. Diese Kasten unterschieden sich auch äußerlich in ihrer Tracht, die sich bis auf[S. 142] unsere Tage erhalten hat. Die Angehörigen der Brahmanenkaste tragen um den Hals ein Band aus locker mit der Hand gedrehten Baumwollfäden, die der Kshatriya ein solches aus Hanf, die Vaishya aus Schafwolle. Paria heißen die keiner Kaste Angehörigen, sowie die Ausgestoßenen.
Die Kleidung der Hindu besteht bei den niederen Klassen meistens nur in einem Hüfttuch, bei den höheren in weiten kurzen Beinkleidern und einem Obergewand, manchmal auch in einem mantelartig umgeschlungenen Tuch; um den Kopf wird ein Tuch nach Art eines Turbans, unter die Füße Sandalen gebunden. Für die Brahmanen ist vollständig weiße Kleidung vorgeschrieben. Die Frauen bekleiden sich mit einem mehrere Meter langen Schal aus Musselin oder bunter Seide, mit dem sie Kopf und Oberkörper leicht umhüllen und auch einen Teil des Unterkörpers umschlingen, einen trikotartigen, fest anliegenden Jäckchen, das eigentlich nur für die Einhüllung der Brüste bestimmt ist, denn von da an bis zum Nabel bleibt der Körper für gewöhnlich entblößt, und einem weiten, von den Hüften herabhängenden Rock aus Baumwolle oder Seide (Abb. 172). Die Mohammedanerinnen gehen vollkommen bekleidet und tragen noch eng anliegende Beinkleider. Besondere Vorliebe bekunden die Hindufrauen für Schmuck, der bei den wohlhabenderen auch sehr reichlich ausfällt: die entblößten Arme, die Handgelenke, der Hals, die Knöchel und selbst die Zehen (Abb. 171), ferner die Ohren und die Nase werden mit Ringen und Spangen, beziehungsweise Ketten, meistens aus Edelmetall mit wertvollen Steinen hergestellt, förmlich überladen. Ein Ring im linken Nasenflügel (Abb. 170) zeigt an, daß seine Trägerin verheiratet ist. Die Vornehmen beider Geschlechter salben sich mit wohlriechenden Ölen; die Frauen färben sich die Fußsohlen und Hände rosa, andere den ganzen Körper gelb, bemalen sich auch das Gesicht, schwärzen sich die Augenbrauen und tatauieren sich. Junge[S. 144] Mädchen tragen öfters ein kleines rundes Goldplättchen, Tica genannt, oberhalb der Nasenwurzel.
Die Beschaffenheit der Wohnungen hängt von dem Rohmaterial ab, das die Gegend liefert. Im allgemeinen wohnen die Vornehmen in Häusern aus Backsteinen oder aus Holz, die einfacheren Leute hausen in Hütten, die aus Bambus oder Lehm aufgebaut und mit Matten oder Palmblättern bedeckt sind. — Die Nahrungsweise der Hindu ist seit Zeiten ziemlich dieselbe geblieben; Pflanzenkost ist bevorzugt, für manche Kasten direkt vorgeschrieben. Daher machen Reis und Milch, in anderen Gegenden mehr Hirse und Weizen die Hauptnahrung aus.
Die ursprüngliche Religion der arischen Einwanderer in Nordindien war der Animismus oder die Seelenanbetung, die in allem in der Natur eine Seele erblickte und im Dämonen- und Zauberglauben ihren Ausdruck fand. Erst später trat die Vorstellung an bestimmte höhere Wesen hinzu, an Naturgötter, wie Agni, Indra, Surya, Waruna und andere mehr, die uns in der ältesten indischen Religionsliteratur, den Veden, begegnen. Aus dieser Lehre entwickelte sich allmählich eine hochphilosophische Lebensauffassung, die mit der Ausbildung des Brahmanentums (Abb. 174), der alles beherrschenden Priesterkaste, Hand in Hand ging. Durch Spekulation entstand aus der Naturreligion die Idee des Brahma, des All-Einen, der Weltseele, und schließlich die konkrete Gestalt des höchsten Gottes Brahma selbst. Diese Lehre führte weiter zur Annahme des Dogmas vom Weltübel und von der Seelenwanderung. Daher müssen alle von der Weltseele ausgestrahlten Wesen in sie auch wieder zurückkehren, zuvor aber sich einem Reinigungsprozeß unterwerfen, der sie von der Materie schließlich gänzlich frei macht. Die Bestrebungen des Gläubigen gehen dementsprechend darauf hinaus, schon bei Lebzeiten die Seele vom Körper unabhängig zu machen, was nur durch selbstlosen Lebenswandel, Sichlossagen von allen Begierden und Vergnügungen, intensives Versenken in sein Inneres erreicht werden kann. Je mehr man alle Lebensäußerungen einschränkt, um so eher gelangt man zu seinem Ziele. Diese merkwürdige Lehre hat in ihrer extremen Auffassung ganz merkwürdige Heilige großgezogen, denen man gerade in Indien auf Schritt und Tritt begegnet; es sind dies die sogenannten Fakire, deren es wiederum verschiedene Klassen gibt, vom Yogi, der niedrigsten Stufe, an bis zum Mahatma, der höchsten, hinauf. Diese Fakire, die sich aus allen Lebensaltern zusammensetzen und durch Leute aller möglichen geistlichen Fähigkeiten vertreten werden, sind zumeist echte Fanatiker und Asketen, oft genug aber wohl auch schlaue, geriebene Schwindler, Taugenichtse und selbst Geisteskranke. Ein außergewöhnliches Äußere und absonderliche Gewohnheiten gehören zum Teil zu ihrem Handwerk; sie gehen nämlich fast unbekleidet einher, reiben sich den Körper ganz mit Asche ein, verstümmeln ihn, liegen beständig auf einer nagelgespickten Unterlage (Abb. 175) oder gehen barfuß darüber (siehe die Kunstbeilage), stehen jahrelang an einer und derselben Stelle, setzen sich dem Feuer aus (Abb. 178), leben ohne ein Wort zu sprechen und nehmen noch andere Selbstpeinigungen vor (Abb. 176 u. 177). Nebenbei betreiben sie noch allerlei übernatürliche Künste, hypnotisieren sich selbst, lassen sich, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, monatelang begraben und anderes mehr.
Wenn wir auch von solchen Extravaganzen absehen, die der Brahmanismus gezeitigt hat, so leuchtet doch ein, daß ein auf so tief-philosophischer Spekulation aufgebautes Religionssystem, wie er es ursprünglich war, unmöglich eine volkstümliche Lehre abgeben konnte. Eine dem Geschmack des Volkes wirklich entsprechende Religion entstand erst, als diese Lehre sich mit dem Kult der von den Eingeborenen übernommenen volkstümlichen Götter zum Hinduismus vereinigte, der eine Dreieinigkeit von Göttern aufstellte: Brahma als den Schöpfer, Wischnu als den Erhalter und Schiwa als den Zerstörer des Weltalls. Dieser Hinduismus (Abb. 180) der Gegenwart kann als ein systematisierter Animismus im weitesten Sinne des Wortes angesehen werden; feste Dogmen kennt er nicht, wenngleich er doch wieder im allgemeinen sich gleichbleibende Grundsätze besitzt.
Geradeso wie das indische Gesellschaftsleben in eine Unmasse sozialer Unterabteilungen zerfällt, zersplittert sich der Hinduismus der Gegenwart in unzählige kleinere oder größere religiöse Sekten, deren jede ihr eigenes System der Sittenlehre und heiligen Gebräuche aufweist. Eine seiner wichtigsten Sekten ist der Sikhismus, die Religion der Sikh des Pendschab (Abb. 179). Dieser stellte gleichsam eine Reform der bisherigen Lehre dar, insofern er die Götzenanbetung, das Kastenwesen, das Abschließen der Frauen, den Genuß von Berauschungsmitteln, im besonderen des Tabaks, die Pilgerfahrten und andere Sitten des Hinduismus verwarf. Unter so strenger Verneinung der alten Gebräuche vermochte sich der Sikhismus aber nicht zu halten, und daher neigt er bereits mehr dazu, langsam in die hindostanische Sittenlehre wieder zurückzufallen. Späterhin wurde er der Kultus einer einflußreichen militärischen Gesellschaft mit eigenartigen Zeremonien und Bräuchen. Das Merkwürdigste davon ist der Aufnahmeritus.[S. 146] Die Novizen müssen dabei eingemachtes Obst mit einem zweischneidigen Schwert in Wasser zerrühren und die Glaubensartikel in Gegenwart von fünf Eingeweihten hersagen, worauf sie mit diesem Wasser fünfmal besprengt werden und ebenso oft davon mit der hohlen Hand trinken müssen. Fortan haben sie die Pflicht, ihrem Personennamen den Titel „Singh“ hinzuzufügen und die fünf K zu tragen, nämlich „ungeschnittenes Haar“ am ganzen Körper, einen „Kamm“ zum Aufstecken der Haare, „kurze Hosen“, eine „eiserne Spange“ und einen „kleinen Stahldolch“. Die Worte für alle diese Gegenstände fangen mit dem Buchstaben K an, daher jene Bezeichnung. Es gibt unter den Anhängern der Sikhreligion auch eine Art von Sakrament oder Abendmahl aus geweihter Butter, Mehl und Zucker, an dem alle Getreuen teilnehmen müssen, und zwar ohne Unterschied der Kaste, um dadurch die ursprüngliche Verwerfung des Kastensystems zum Ausdruck zu bringen. — Eine zweite, vor sehr langer Zeit aus dem alten Brahmanentum hervorgegangene Sekte sind die Vertreter des Jainismus, der Religion der Jain (in Oberindien auch Saraogi genannt). Im Gegensatz zum Buddhismus, der eine Seele in Abrede stellt, betont der Jainismus ihr Vorhandensein und stattet alle Dinge im Leben damit aus. Daher legen seine Anhänger einer jeden Lebensform eine außerordentliche Heiligkeit bei, töten auch nicht die niedrigsten Lebewesen und bedecken ihren Mund sogar mit einem herabhängenden Schleier, damit sie nicht versehentlich ein Insekt hinunterschlucken (Abb. 181). Früher teilten sie sich in Nackte und Bekleidete ein, heutzutage aber beschränken die ersteren (die Digambar oder Himmelbekleideten) ihr Prinzip auf die Zeit der Mahlzeiten in ihrem eigenen Heim.
Eine weitere große religiöse Macht in Indien ist der Islam, der in der Theorie der Lehre Mohammeds in anderen Weltgegenden gleicht, aber in der Praxis in Indien unter dem Volke stark mit hindostanischen Gebräuchen durchsetzt erscheint.
Als letzter religiöser Gruppe müssen wir noch der Parsen Erwähnung tun, einer kleinen Schar — sie zählen höchstens neunzigtausend Seelen — von Anhängern der alten Lehre Zoroasters, die nach der Zerstörung des Perserreiches durch die Sassaniden nach Indien flüchteten und es hier dank ihrer auffälligen Befähigung[S. 147] und großen Energie zu einer wichtigen Gemeinde mit führendem Einflusse gebracht haben. Sie sind ihrem alten Glauben bis in die jüngsten Tage treu geblieben und daher noch Feueranbeter (Abb. 183), besitzen auch ihre eigenen Bräuche, obgleich sie sich in mancher Hinsicht auch schon den sie umgebenden Einflüssen angepaßt haben.
Das Sehnen und Streben jedes gläubigen Hindu geht darauf hinaus, wenigstens einmal im Leben eine Wallfahrt (Abb. 182) nach den heiligen Stätten (Tempeln oder Götterschreinen) zu unternehmen, um dort für das eigene Wohl und das der Vorfahren zu beten. Die religiösen Feierlichkeiten, deren es viele unter den Hindu gibt, weichen voneinander stark ab, aber ein bis zwei Feste können doch gleichsam als Nationalfeste gelten. Das eine von ihnen ist das Holifest (Abb. 184), das im Frühjahr unter starker Beteiligung aller unteren Volksschichten, auch Andersgläubiger, mit großem Lärm gefeiert wird. In der Hauptsache besteht es darin, daß unter vielen Gesängen und großer Freude die Holifeuer angezündet werden, wobei es ohne große Lustigkeit, meistens in schamloser und selbst roher Weise, nicht abgeht. Man pflegt sich gegenseitig mit rotem Safran zu bewerfen, durch das Feuer zu gehen oder darüber zu springen und anderes mehr. Das zweite der gemeinsamen Feste Nordindiens fällt in den Herbst; es ist das hübsche Diwali (Abb. 185) oder Lampenfest. Jeder muß dann sein Haus fein sauber machen und erleuchten, sowie draußen am Abend mindestens eine Lampe anzünden, damit, wenn die Geister der Verstorbenen kommen, um ihrem früheren Aufenthaltsorte einen Besuch[S. 148] abzustatten, sie alles nett und strahlend und zu ihrem Empfange vorbereitet finden. Hieran schließt sich in den Dörfern noch das Godhanfest an. Die Kuhhirten machen bei ihren Herren die Runde, tragen in halbbetrunkenem Zustande Lieder vor und erbetteln sich Geschenke, ganz wie es von unseren ländlichen Festen her bekannt ist.
Vier Monate im Jahre besteht eine Art Fastenzeit, die den Schlaf eines Gottes, meistens des Wischnu, versinnbildlichen soll und von Juli bis Oktober dauert (Abb. 186). Während dieser Zeit muß man es vermeiden, Hochzeiten zu feiern, Dächer auszubessern, eine Bettstatt zu zimmern oder dergleichen, weil dies Unglück bringen würde. Wenn der Gott seine Ruhe antritt, wird allgemein gefastet, wenn er wieder erwacht, wird ein Freudenfest gefeiert; die ganze Bevölkerung auf dem Lande läßt dabei unter Festgelage und Tanz der Freudigkeit ihre Zügel schießen. Die öffentlichen Festlichkeiten, die mit dem Anfange und dem Ende dieser Fastenzeit verknüpft sind, führen in den verschiedensten Teilen Indiens ganz verschiedene Namen und schwanken je nach der Bedeutung, die man ihnen beilegt, in der Art und Weise wie sie gefeiert werden. In Oberindien nennt man sie im allgemeinen Dasahra, in Bengalen und im Osten der Halbinsel Durgapuja = Anbetung der Vernichtung, im Süden wieder Charakhpuja = Schwebekult, weil früher, wie bereits erwähnt (S. 108), die Festgenossen sich mittels eines Hakens, der in ihre Rückenmuskulatur eingriff, an einer Stange aufhängen und hin und her schwingen ließen. Dasahra bedeutet den „freisprechenden zehnten“ Tag, und zwar zweier bestimmter Monate (Juli und Oktober), an denen man die Sünden durch ein vorgeschriebenes Zeremoniell abwaschen kann. Das Fest im Juli spielt sich an einem einzigen Tage ab, gewöhnlich zu Ehren der Geburt der Ganga, das ist des zur Gottheit erhobenen großen priesterlichen Reinigers Ganges. Wer im Gangesflusse und in anderen heiligen Flüssen und Wasserflächen, die diesen Läuterer vorstellen, badet, wäscht sich von seiner Sünde rein. Das Fest im Oktober ist das Hauptdasahra und dauert zehn Tage oder vielmehr Nächte. Es findet seinen Abschluß in einem allgemeinen Feueropfer, sowie in dem Hineinwerfen der Bilder der Göttin in den nächsten Strom. Die letzte Nacht nimmt auf das Kriegswesen Bezug; sie wird daher als die „Nacht des Sieges“ besonders von Soldaten und Prinzen gefeiert: Kriegsmaterial und Kriegsgeräte werden angebetet und verehrt, sowie Festgelage und Spiele veranstaltet, die dem Andenken an die Schlachten dienen sollen, von denen uns die beiden bedeutenden indischen Heldenepen Ramayan und Mahabharata erzählen. Dramen, die auf diesen hindostanischen Heldenlegenden sich aufbauen und in langatmiger Folge alle ihre Einzelheiten wiedergeben, werden bei verschiedenen Gelegenheiten aufgeführt. Am beliebtesten ist bei allen das Ram-Li, das „Spiel des Ram“ (Abb. 188). Es stellt die Geschichte von Ram und Sita dar, ursprünglich eines Helden und einer Heldin des zuerst genannten Epos, die später in die Götterwelt versetzt wurden. — Ein ähnliches volkstümliches Schauspiel wird vielfach zu Ehren der alten Gottheit Krischna aufgeführt (Abb. 190).
Die Feste der Mohammedaner kennzeichnen sich sowohl in Indien wie auch anderwärts durch die Eigentümlichkeit, daß sie auf kein festes Datum nach unserer Zeitrechnung[S. 151] fallen, sondern, da die religiösen Übungen (Abb. 189) des Islam sich auf dem Mondjahr aufbauen, das um zehn Tage kürzer als unser Sonnenjahr ist, jedesmal früher stattfinden, so daß innerhalb sechsunddreißig Jahren sie allmählich alle Jahreszeiten durchlaufen haben. Das bedeutendste ist das Mohurrum (Abb. 191 bis 195) zur Erinnerung an den Tod oder, wie man lieber sagt, an das Martyrium der beiden Enkelsöhne Mohammeds, Hassan und Husain, die zwar zu verschiedenen Zeiten, aber unter auffallend tragischen Umständen ermordet wurden. Es dauert zehn Tage und ist in der Hauptsache ein Fest der Schiitensekte, wenngleich auch strenggläubige Sunniten sich am letzten Tage daran beteiligen, um die Schöpfung der Welt zu feiern. Dieses Fest gibt Anlaß zu mächtigen Volksansammlungen und großen Umzügen, bei denen allerlei Pferdespiele stattfinden. Im Vordergrunde des Ganzen steht für die strenggläubigen Islamanhänger das Einhertragen des Tabūt (Abb. 194) oder Tazia, des großartig illuminierten und verzierten Modells der Grabstätten der beiden Heiligen, in großer Prozession nach einem freien Platz unter Begleitung von Tänzern, die ihre kämpfenden, zu Märtyrern gemachten Verwandten vertreten, während die abergläubische Masse beider Religionen an den Mohurrumfeuern, die dabei angezündet werden, sein Hauptvergnügen hat. Sie brennen in Gruben während des ganzen Festes, sogar die Ärmsten leisten sie sich; Vorübergehende legen Gelübde bei ihnen ab, und die große Menge tanzt die Nächte um sie herum, springt durch die Flammen und streut brennende Scheite umher. Ein zweites Fest, das heutzutage zu allerhand Volksbelustigungen Anlaß gibt, im besonderen zum Abbrennen von Feuerwerk, ist das Shab-i-barat; es wurde als eine Nacht des Gebets begründet, in der die Gläubigen die ganze Nacht hindurch wachen sollten. — Das bekannteste mohammedanische Fest ist der Ramasan oder der „Fastenmonat“. Er dauert von Neumond bis zu Neumond und wird von den indischen Anhängern des Islam oft mit staunenswerter Treue innegehalten, auch in den Jahren, wo er in die heißeste Jahreszeit fällt, trotz der großen Entsagungen, die dann das tägliche Fasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit sich bringt. Denn während dieser Zeit[S. 152] darf der Mohammedaner weder etwas essen noch trinken. Der Ramasan endigt mit dem „Fest des Fastenbrechens“ (Idu’l-fitr), bei dem alles wieder aufatmet und sich dem Vergnügen in vollen Zügen hingibt. Bestimmte Zeremonien werden dabei nicht beobachtet, die Familien putzen sich einfach festlich aus, amüsieren sich nach Kräften, besuchen einander und tun alles nur Erdenkliche hinsichtlich der Unterhaltung und Lustbarkeit. — Einen weiteren wichtigen Anlaß für eine allgemeine Freude gibt das Idu’l-Azha oder Bakrid ab, auch einfach nur Id, das heißt das Fest im besonderen genannt. Es wird zur Erinnerung an das Opfer gefeiert, das Abraham mit seinem Sohne Ismael darbrachte. (Die Mohammedaner haben die biblische Erzählung von Isaaks Opferung auf Ismael, den Sohn Abrahams von der Hagar, übertragen.) An Stelle des Menschen tritt bei diesem Fest natürlich Vieh (im besonderen Ziegen).
Neben diesen regelmäßigen Wallfahrten und Messen, die die Ausübung ihres besonderen Glaubens den Strenggläubigen vorschreibt, gibt es noch eine unregelmäßige und abergläubische Form der Religionsübung, die aber ebenso im ganzen indischen Volke wie jene verbreitet ist und aus der Verehrung übernatürlicher Mächte hervorging. Diese zeigt sich hauptsächlich in der Andachtverrichtung vor den Grabmälern und Schreinen früherer Volkshelden und selbst an den Wohnstätten noch lebender, heilig gesprochener Persönlichkeiten (Abb. 196). Eine Anbetung dieser lebenden oder toten Heiligen vermag ihren Anhängern die Wünsche zu erfüllen, Krankheit zu heilen und hervorzurufen, an den Orten der Verehrung Wundertaten zu verrichten, Lästerern und Ungläubigen auf unheimliche Art Schaden zuzufügen und auf der anderen Seite auch wieder ergebene Gläubige mit vollem Segen zu überschütten. Die Bezeichnungen für solche Gottheiten zweiten Grades, um sie kurzweg so zu benennen, fallen je nach der Religion verschieden aus — die Mohammedaner heißen sie zum Beispiel Heilige, die Hindu kleine Götter oder einfach Teufel — aber immer schreibt das Volk ihnen die gleichen übernatürlichen Kräfte und Fähigkeiten zu und verehrt sie in derselben Weise. Wie schon erwähnt, sind diese kleinen Gottheiten als Kulturüberbleibsel des Uranimismus oder der Geisteranbetung der Völker anzusehen, die vor alten Zeiten in Indien ansässig waren und ihre religiöse Richtung den Einwanderern aufzwangen. Die Diener dieser heiligen Personen und Stätten sind wandernde Barden, die in Scharen das Land durchziehen, Städte und Dörfer heimsuchen, Lieder und epische Gedichte, oft in sehr poetische Sprache gekleidet, vortragen und die Wundertaten und geistigen Fähigkeiten ihrer besonderen Herren, denen sie dienen, preisen. Als ein verdienstvolles Werk wird das Füttern von Affen betrachtet (Abb. 197).
Eine aufdringliche Erscheinung im täglichen Leben Indiens sind die allerwärts anzutreffenden Bettelmönche der verschiedenen Religionen und ihrer überaus zahlreichen Sekten, die zwar unter mannigfaltigen Namen auftreten, aber sich überall darin ähneln, daß sie ihren Lebensunterhalt sich ausschließlich durch Ausbeutung der Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen verschaffen. Denn alle gelten insofern als „heilig“, als sie in dem Rufe stehen, Wünsche und Hoffnungen auf irgendeine übernatürliche Art und Weise zu erfüllen. Allgemein segeln sie unter der Bezeichnung der Fakire (Abb. 169 u. 173). Sehr zustatten kommt ihnen die weitgehende Wohltätigkeit und große Freigebigkeit, die die verschiedenen Glaubensbekenntnisse ihren Anhängern beständig als höchste Tugend predigen, und zwar gerade in der Form des Almosengebens. Unter Almosen wird aber ein Geschenk an Geld oder an Naturalien an Priester, heilige Männer und an alle solche, die ein uraltes Anrecht auf Gewohnheitsgeschenke besitzen, verstanden. Jedwede Handlung, die Religion, Aberglaube und Sitte vorschreiben, jede Zeremonie bei Geburten, Hochzeiten, Todesfällen oder anderen häuslichen Vorfällen, die eine konventionelle Handlung erfordern, jeder Besuch eines Fakirs, Priesters, Sängers, Schlangenbändigers (Abb. 199) oder ähnlicher Persönlichkeiten, jede Wallfahrt nach einer heiligen Stätte, jeder Besuch einer Messe, alles dies bedingt die unvermeidliche Almosenspende oder das Pflichtgeschenk (Abb. 198).
Eine eigentümliche Erscheinung bei den Bewohnern Indiens ist noch die, daß sie wohl Musik und Tanz sehr lieben, aber diese Künste niemals selbst ausüben, wie unsere Dilettanten dies tun, sondern sie berufsmäßigen Musikern und Tänzern überlassen, deren Ausführungen sie sich gern anhören und ansehen. Die meisten Festlichkeiten werden von Musik und Tanz begleitet. Eine besondere Stellung nehmen unter den Berufstänzern die Nautsch oder Tempelmädchen, auch Bajaderen genannt, ein, die eine besondere angesehene Kaste bilden (Abb. 206 und die Kunstbeilage). Sie werden bereits als kleine Kinder mit der Gottheit eines Tempels vermählt, wohnen in diesem ihr ganzes Leben lang und dürfen[S. 154] niemanden anders heiraten; von klein auf werden sie für ihren späteren Beruf vorbereitet und im Tanzen und Singen ausgebildet. Sobald diese Mädchen die Reife erlangt haben, werden sie vom Brahmanen oder auch von einer fremden angesehenen Person entjungfert und stehen fortan gegen Entgelt jedermann der gleichen oder einer höheren Kaste zur geschlechtlichen Benutzung zur Verfügung. Trotz dieses ihres Berufes erfreuen sich die Tempelmädchen großer Gunst und großen Ansehens, zumal sich früher zu dieser Stellung Mädchen aus angesehenen Kasten drängten. Sie führen auch, wie ihr Name besagt, bei religiösen Festen Tänze auf, die durch ihre Geschmeidigkeit und Ästhetik die Zuschauer entzücken. Jedoch beschränkt sich ihre Tätigkeit nicht auf den Tempeldienst, sondern die Nautsch treten sehr häufig auch bei festlichen Gelegenheiten in den Häusern, besonders bei Hochzeiten, großen Festlichkeiten und dergleichen auf. Es ist allgemeine Sitte, sie aus solchen Anlässen einzuladen und dafür reichlich zu beschenken.
Abergläubische Vorstellungen (Abb. 200) beeinflussen die wichtigsten Augenblicke im Leben des Hindu; besonderes Gewicht legt er darauf, den bösen Blick abzuwenden. Um den etwaigen Einfluß der Planeten unschädlich zu machen, werden bestimmte Dinge als Almosen verteilt, so bei ungünstiger Konstellation des Saturn sieben verschiedene Getreidearten oder etwas Schwarzes, wie Eisen oder ein schwarzer Büffel, oder bei der des Mondes weiße Gegenstände, wie Silber, Reis, eine weiße Kuh, ein weißes Gewand und anderes mehr. Zahlreiche Gebräuche knüpfen sich aus dem gleichen Grunde an die Geburt eines Kindes, die je nach den verschiedenen Gegenden ganz verschieden und auch ziemlich kompliziert ausfallen. Sie dauern ungefähr so lange, bis die Mutter ihre Reinigung durchgemacht hat, was im Durchschnitt etwa vierzehn Tage dauert, aber sich auch bis zu vierzig Tagen ausdehnen kann; für bestimmte Tage sind meistens auch bestimmte Zeremonien vorgeschrieben. So wird das Hindukind nach seiner Geburt mit Staub von Backsteinen eingerieben, die in der Sonne getrocknet wurden, darauf aber sofort in lauem Wasser gebadet. Es wird auch von der Hebamme fünfmal in die Luft geworfen. Öl wird auf den Fußboden der Stube und unter das Bett der Wöchnerin gegossen oder der Handgriff eines Pfluges unter ihr Bett gelegt; in dasselbe kommt grünes Gras zu liegen, Senf- und Dillkörner werden über ihren Kopf ausgestreut und sodann in einen irdenen Topf zusammen mit Feuer getan, das sie mit dem Fuße austreten muß. In den nächsten Tagen werden der Mutter die Nägel beschnitten und so weiter. Eine ganz sonderbare Zeremonie wird mit der Wöchnerin am sechsten Tage im Staate Jindh und in seiner Umgebung vorgenommen. Man errichtet auf der einen Seite des Hauses neben der Tür sieben konzentrische Kreise aus Kuhdung, legt in den innersten Haufen ein Vierannastück und steckt sieben Zweige vom Besenginster hinein, ebenso trägt man auf der anderen Seite der Haustür einen Haufen aus dem gleichen Material auf, auf das aber eine Rupie gelegt und ebenfalls sieben Ginsterzweige gesteckt werden, und breitet schließlich noch in der Mitte vor der Türschwelle auf einer Platte fünfeinhalb Sers Weizen, sowie ein weibliches Gewand aus. Darauf kommt die Mutter heraus, läßt sich nieder und betet diese Dinge an. Der Weizen, die Kleider und die beiden Münzen werden schließlich dem Sohne von des Vaters Schwester überlassen. Merkwürdigerweise spielt Kuhdung bei der Geburt der Hindu verschiedentlich eine große Rolle. — Wird ein Kind bereits im achten Monat geboren, dann behauptet man, daß es entweder am achten Tage, im achten Monat, achten oder achtzehnten Jahre sterben wird. Einem totgeborenen oder unmittelbar nach der Geburt gestorbenen Kinde wird durch die Nase ein goldener Ring gezogen, damit es nicht der Familie Unglück bringe. — Die Nachgeburt und die Nabelschnur[S. 157] werden für gewöhnlich verbrannt.
Bei der Namensgebung findet eine besondere Zeremonie statt. Ein rohes Viereck mit Diagonalen wird mittels Kuhdung auf die Wand gemalt, in jede Ecke und Kreuzung von ihm ein Stück Muschelgeld eingelassen und das Ganze mit Zinnober bestrichen; davor werden Kuchen gestellt. Das Kind wird ganz mit Öl eingerieben, um die Augen herum mit Augensalbe bemalt und in neue Gewänder gekleidet; gleichzeitig erhält es zum ersten Male Ringe um Arme und Knöchel gelegt und Geld in die Hand gesteckt. Darauf bekommt es seinen Namen. Dieser wird ihm meistens von dem ältesten Familienmitgliede gegeben; für seine Auswahl ist entweder das Urteil des Astrologen oder das Los ausschlaggebend.
Bei den mohammedanischen Indiern bestehen ziemlich die gleichen Gewohnheiten, natürlich erhalten sie ihre besondere Eigenart durch die abweichenden religiösen Ansichten. Es ist im allgemeinen üblich, daß im siebenten Monat der Schwangerschaft die Eltern der angehenden Mutter allerlei Geschenke ins Haus senden, wie süße, getrocknete Früchte (sieben Arten), oder Reis, wohlriechende Öle, Parfüm, Hennah, Kleider, Schmucksachen und anderes mehr; die Eßwaren werden sogleich von den Anverwandten des Mannes verzehrt. Manchmal findet bei dieser Gelegenheit auch eine Festlichkeit statt, bei der die Schwangere, nachdem sie ein Bad genommen hat, festlich eingekleidet wird, „geradeso wie eine Braut“, und die Glückwünsche der Gäste empfängt. Das Geschlecht des zukünftigen Kindes glaubt man aus der Beschaffenheit der Milch der Schwangeren bestimmen zu können; ist sie dünnflüssig, dann steht ein Knabe zu erwarten, im anderen Falle ein Mädchen. — Sobald die Nabelschnur durchschnitten ist, weihen Männer auf dem Hofe eingemachte Früchte,[S. 158] und das Kind erhält in einer Muschel die Milch einer „guten“ Frau gereicht, während die Nachbarn durch den Klang einer mittels eines Stockes geschlagenen Schüssel zum Gebet aufgefordert werden. — Die übrigen Gebräuche sind mit geringen Abweichungen ziemlich dieselben wie bei den Hindu.
Den Hindumädchen wird Keuschheit vor der Ehe zur strengen Pflicht gemacht; wird eines unehelich geschwängert, dann ist es dem Tode verfallen; man sagt, daß die Mutter selbst das Amt des Henkers ausübe. Bei den Parsen erdrosselt sie die Tochter in Anwesenheit der Priester mit den Händen. Die Gefahr eines vorehelichen Verkehrs ist in Indien bei weitem nicht so groß wie anderwärts, denn gerade hier sind die Kinderehen unter allen Kasten und Klassen (weniger allerdings bei der mohammedanischen Bevölkerung) ungemein verbreitet. Noch ganz unentwickelte Mädchen, selbst unter fünf Jahren, werden von ihren Eltern an Männer verheiratet und dürfen auch bereits zum Geschlechtsakt herangezogen werden. Die gesundheitschädlichen Folgen solcher vorzeitigen Ehen sind meistens recht traurig; nach einer Zusammenstellung über zweihundertfünf Fälle starben fünf dieser kindlichen Ehegattinnen direkt infolge der ehelichen Beiwohnung und achtunddreißig erlitten schwere Verletzungen. Im allgemeinen pflegt man daher noch einige Jahre mit der Ausübung der Ehe zu warten, bis das Mädchen seine gehörige körperliche Entwicklung erreicht hat, und dann erst durch eine besondere Zeremonie (Muklawa oder Gaunâ genannt) sie zu den ehelichen Pflichten zuzulassen.[S. 160] Aber trotzdem sind Mütter von neun Jahren in Bengalen keine Seltenheit. Man zählt in ganz Indien Millionen von Mädchen, die mit dreizehn Jahren Mutter und mit fünfundzwanzig Großmutter wurden. Von der großen Verbreitung der Kinderehen in Indien kann man sich einen Begriff aus der von Risley und Gait über das Jahr 1901 gegebenen Statistik machen. Unter je tausend Personen waren im Alter unter fünf Jahren sieben männliche und dreizehn weibliche verheiratet, eine weibliche sogar schon verwitwet, im Alter von fünf bis zehn Jahren sechsunddreißig männliche und hundertzwei weibliche verheiratet und zwei männliche und fünf weibliche verwitwet, und im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren hundertvierunddreißig männliche und vierhundertdreiundzwanzig weibliche verheiratet, beziehungsweise sechs und achtzehn verwitwet. Im Jahre 1911 gab es in Indien zweihundertfünfzigtausend kleine Mädchen unter fünf Jahren, die bereits die Ehe eingegangen waren, zwei Millionen im Alter unter zehn und sechs Millionen von zehn bis fünfzehn Jahren. Alle Versuche von philanthropischer Seite, in dieser Unsitte Wandel zu schaffen, haben bisher leider nur ganz wenig Erfolg gehabt.
Eine merkwürdige Form der Kinderehe treffen wir bei den Newâr in Nepal an. Hier wird ein jedes junge Mädchen bereits als Kind mit einer Betelfrucht verheiratet und diese dann in den heiligen Fluß geworfen. Nach erlangter Geschlechtsreife wird dann ein wirklicher Gatte für dasselbe ausgewählt. Fällt die Ehe unglücklich aus, dann kann die junge Frau in ganz leichter Weise sich von ihrem Manne trennen; sie braucht ihm nur eine Betelnuß unter sein Kopfkissen zu legen und dann davonzugehen. Nicht minder sonderbar ist die Sitte der Kalva Kunbis in Gujarât: ein heiratsfähiges Mädchen, das aber keinen Freier gefunden hat, mit einem Blumenstrauß zu vermählen und am nächsten Tage die verwelkten Blumen in den Brunnen zu werfen. Das Mädchen gilt dann für eine Witwe, darf sich aber später, wenn sich der richtige Gatte findet, wirklich verheiraten. Überhaupt begegnen wir der Sitte des Verheiratens mit einer Pflanze, einem Tier und selbst einem Gegenstand mehrfach in Indien. Eine Braut der Kangra, die ihre Verpflichtung zur Heirat gern aufheben möchte, kann sich ihrer[S. 161] dadurch entledigen, daß sie in den Wald geht und sich hier mit irgendeinem wilden Gewächs verheiratet, indem sie rings um dasselbe ein Feuer anzündet. Damit ist ihre Verlobung gelöst. Reiche Hindu, die keine Kinder besitzen, pflegen manchmal eine Tulasipflanze mit einem Brahmanen zu verheiraten und betrachten diesen dann als ihren Schwiegersohn. Hat ein Mann zwei oder drei Frauen bereits verloren, dann läßt er durch eine Frau einen Vogel einfangen und diesen von ihr als Tochter adoptieren. Er heiratet dann den Vogel, zahlt auch den Brautpreis an die Adoptivmutter, läßt sich aber von ihm sogleich wieder scheiden und verheiratet sich schließlich mit einer wirklichen Gattin, die ihm dann als Folge der Zeremonie am Leben erhalten bleiben soll.
Eine Werbung gibt es im gewöhnlichen indischen Haushalte nicht; die Heirat wird von der Familie des Mädchens dadurch meistens in die Wege geleitet, daß sie einem Heiratsvermittler den Auftrag gibt, einen passenden Jüngling auszusuchen, eine keineswegs für jenen leichte Sache in Anbetracht der vielen Kasten und sonstigen üblichen Einschränkungen hinsichtlich der Auswahl. Sind die Verhandlungen zum Abschluß gelangt und die Mitgiftfrage geregelt, dann findet eine formelle Verlobung statt. Damit setzt bereits die große Zahl der Hochzeitszeremonien ein, die sich sehr in die Länge ziehen und in ihren Einzelheiten nach Kaste, Religion und Lebensstellung verschieden ausfallen. Daher lassen sie sich auch nur ganz im allgemeinen schildern. Natürlich bedarf ein so wichtiges Ereignis, wie es die Hochzeit vorstellt, eingehender Prüfung durch den Astrologen, ob der Stand der Gestirne auch ein günstiger ist. Ist die Hochzeit beschlossene Sache, dann finden Tag um Tag in den beiden[S. 162] elterlichen Häusern etwa eine Woche lang verschiedene konventionelle Handlungen statt, bevor der Zug des Bräutigams zum Hause der Braut aufbricht. Zu diesen gehören unter anderem das Bauen eines Hochzeitsschutzdaches, sowie das Salben des Paares. An manchen Orten besteht auch die seltsame Zeremonie des Verschluckens einer Mangoblattrippe. Der Bruder der Mutter steckt ihr ein Geschenk in Gestalt von Geld und Schmuck in die linke Hand, während die Frau des Barbiers ihm das Mittelstück eines in der Hochzeitshütte aufgehängten Mangoblattes gibt, das er der Mutter an den Mund hält. Diese beißt ein Stück davon ab, legt es sich in die hohle rechte Hand und gießt ein wenig Wasser hinzu. Darauf hält die Mutter das Blatt über den Kopf ihrer Tochter und schluckt es.
Der Hochzeitszug spielt sich unter allem nur möglichen Aufwand ab (Abb. 201, 203–205); Bedingung ist dabei, daß etwas von dem Wasser, in dem der Bräutigam sich vor dem Aufbruch gebadet hat, mitgenommen wird, damit es dem Bade für die Braut zugeschüttet werde. Vor der Haustüre wird Reis über den Bräutigam ausgeschüttet, der Stempel der Familiencurrystampfe ihm auf die Wangen gedrückt und die Stirn mit gelblichem Sandelholz gezeichnet. Nach der Ankunft findet die wichtige heilige Handlung der Armbandanfertigung und -umlegung statt; ein paar Reiskörner werden in Mangoblätter eingewickelt und eines um das rechte Handgelenk des Bräutigams und das andere um das linke der Braut gelegt; man verehrt auch der Braut Süßigkeiten und Schmuckgegenstände als Geschenke. Sodann wird sie in ihrem Kopfputz aus Dattelblättern der Mutter auf den Schoß gesetzt, damit an ihr von der Frau des[S. 164] Familienbarbiers die Zeremonie der Nägelbeschneidung an Händen und Füßen vorgenommen werden kann. Sodann setzt sich das Brautpaar in die Hochzeitshütte. Die Trauung, die durch den Brahmanen vollzogen wird, wobei die Braut dem Vater auf dem Schoße sitzt, besteht in dem Hersagen von Sanskritsprüchen und verschiedenen Anbetungsakten, sowie in dem Räuchern mit Weihrauch und Umherstreuen von Reis. Ihren Abschluß findet diese Zeremonie in dem Zusammenknoten der Kleider von Braut und Bräutigam und in dem Herumgehen um das Opferfeuer; die Braut geht zuerst, und zwar fünfmal rechts herum. Beide tragen dabei ein Kornsieb in der Hand und streuen daraus Reis umher. Damit sind jedoch die Zeremonien des Hochzeitstages noch nicht erschöpft. Der Bräutigam drückt der Braut noch das scharlachrote Hochzeitsmal auf die Stirn; die Schwestern der Braut vertreten ihm an der Haustüre den Weg, geben ihm Rätsel auf, die er beantworten muß; außerdem werden ihm die Schuhe fortgenommen, die er sich wieder fordern muß, und anderes mehr. Am Abend beten die Neuvermählten den Familienschutzgeist an; der Bräutigam begibt sich dann zu seinen Angehörigen zurück, während die Braut bei den ihren bleibt. Nach vier Tagen werden beide gebadet und die Hochzeitsarmbänder ihnen wieder abgenommen. Damit sind die langatmigen Feierlichkeiten beendet. Bei einigen Hindukasten ist zu den Hochzeitsfeierlichkeiten noch ein hübsch geschmückter Ochsenwagen im Gebrauch, an dem geschnitzte mythologische Figuren angebracht sind (siehe die farbige Kunstbeilage).
Die gebildeten Kreise der Mohammedaner kennen weiter keine Hochzeitszeremonien außer denen, die das islamitische Gesetz vorschreibt. Beachtenswert ist dabei nur, daß der Bräutigam seiner Braut ein Ausstattungsgeschenk von auffallend hohem Wert machen muß; dieses kommt ihr sehr zugute, im Falle ihr Mann sich später etwa von ihr scheiden lassen sollte.[S. 166] Dagegen gibt es unter den niedrigen Klassen der Islamanhänger Indiens eine ganze Reihe von Hochzeitszeremonien, von denen wir nur die wichtigsten hier wiedergeben können. Gemeinsam ist wohl allen die Verwendung von rotem oder rot gesprenkeltem Papier für die Dokumente und Briefe, das Trinken von Sorbet und das Verschenken von Süßigkeiten und kleineren Gaben an gewisse privilegierte Personen. Nach Abschluß der Vorverhandlungen und Austausch der üblichen Geschenke erfolgt die offizielle Verlobung; hierbei ist von Wichtigkeit, daß die Braut ihrem Erwählten einen glatten Ring, ein rotes Tuch, Süßigkeiten sowie einen Versprechungsbrief überreicht, in dem der Hochzeitstag festgesetzt wird. Hieran schließen sich zu bestimmten Zeiten verschiedene Zeremonien, wie die des Mehlmahlens, des Zuschneidens der Brautkleider und der Nachtwache. Diese letztere besteht darin, daß Frauen die ganze Nacht hindurch, ehe der Hochzeitsbaldachin angefertigt wird, vor einem besonders hergerichteten Wassergefäß sich hinsetzen, um „Gott wach zu erhalten“. In derselben Nacht wird noch ein verziertes Wassergefäß aufgestellt, um darin Sturm, Regen, Schlangen, Skorpione, Würmer und andere schädliche Dinge aufzufangen, und von frommen Bettelmönchen die Feuerlöschzeremonie, eine Art Durchsfeuergehen mit nackten Füßen, vollzogen. Am nächsten Abend wird den verstorbenen Vorfahren ein feierliches Opfer dargebracht und das Brautpaar von sieben verheirateten Frauen gesalbt. Nach allen diesen Vorarbeiten findet erst der Hochzeitszug statt, der sich in der schon geschilderten Weise abspielt. Dann erst bekommt der Bräutigam seine Braut zum ersten Male von Angesicht zu Angesicht zu sehen; denn bis dahin war sie ihm eine Unbekannte. Es folgen noch einige seltsame Zeremonien, wobei darauf geachtet wird, daß die Braut die ganze Zeit über die Augen geschlossen hält und keinen Fuß auf die Erde setzt;[S. 168] um dies zu vermeiden, wird sie auf den Armen einer Dienerin umhergetragen, sogar in das Haus ihres Gatten am Tage nach der Hochzeit. Hier finden während zwei bis drei Tagen weitere Zeremonien statt, worauf der Bräutigam für weitere zehn Tage mit ihr in das Heim ihrer Eltern zurückkehrt. Hier ist ein Raum für die jungen Leute hergerichtet, den die Braut zum ersten Male wieder mit den Füßen betreten muß; hier erwartet sie ihr Gatte. Denn damit ist erst die wirkliche Ehe geschlossen.
Die Stellung der Frau in Indien ist eine recht tiefe. Der Hindu erblickt in ihr nur ein niedrigstehendes Geschöpf, was schon darin zum Ausdruck kommt, daß die Mädchen bei der Geburt mit einem Fluch begrüßt werden und früher in großen Massen sofort getötet wurden. Das indische Weib verbringt den größten Teil ihres Lebens in der Zenana, das ist dem Frauengemach, das sie nur mit der Genehmigung ihres Gatten, und dann auch nur verschleiert oder in einem verhängten Wagen (Abb. 202) verlassen darf. Sie ist in jeder Hinsicht seine Sklavin und ebenso die ihrer Schwiegermutter; denn die junge Frau siedelt nicht in ein eigenes Heim über, sondern in das der Eltern ihres Gatten, wo dem jungen Paar ein paar Räume überlassen werden.[S. 169] Hier fordert die Schwiegermutter die ihr gebührende Ehrfurcht und blinden Gehorsam. In gleicher Weise aber muß die junge Frau ihrem Ehemann in jeder Hinsicht untertänig sein. Das alte Gesetz des Manu schreibt hierüber: „Ihrem Manne soll ein tugendsames Weib mit Achtung ihr Leben lang dienen und ihm auch nach seinem Tode noch anhängen ... wenn auch der Mann sich tadelnswert betrüge und anderer Liebe sich zuwendete und guter Eigenschaften ledig wäre, so soll ein gutes Weib ihn dennoch wie einen Gott verehren; sie darf nichts tun, was ihm mißfällt, weder bei seinem Leben noch nach seinem Tode ... In dem Maße, wie eine Frau ihren Gebieter ehrt, wird sie im Himmel angesehen sein.“ Bleibt eine Ehe kinderlos, so wird das als ein großes Unglück angesehen; auch wenn die Frau ihrem Gatten nur Mädchen zur Welt bringt, wird ihr dies sehr verübelt; erst wenn sie einen männlichen Erben ihm schenkt, steigt sie etwas in seinem Ansehen.
Polygamie ist den Indiern erlaubt; das Gesetz gestattet den Hindu eine unbestimmte Zahl von Frauen, der Islam seinen Anhängern deren höchstens vier. Die zuerst geheiratete[S. 170] Frau gilt für die rechtmäßige Gattin und nur die Kinder aus ihrer Ehe für legitim. Im allgemeinen wird von dieser Vergünstigung aber wenig Gebrauch gemacht. Man pflegt eine zweite Frau nur dann zu nehmen, wenn der ersten Kinder versagt bleiben, vorausgesetzt aber, daß der Mann die Mittel für eine nochmalige Ehe besitzt. Verarmte Brahmanen sollen sich diese Erlaubnis zur Aufbesserung ihrer Finanzen zunutze machen, indem sie eine wohlhabende Frau aus niederen Kasten heiraten; früher soll mancher von ihnen mehr als hundert Frauen nacheinander geheiratet haben. — Ehescheidung ist in Indien leicht, da der Gatte keine Gründe vorzubringen braucht. Er führt seine Frau, wenn er ihrer überdrüssig geworden ist, an den vier Wänden des Frauengemaches entlang und erklärt ihr, daß er sie nicht länger ausstehen könne. Damit ist sie entlassen. — Die Stellung der Hindufrau ist eine recht niedrige; ein weibliches Wesen gilt in den Augen der Hindu für ein niedriges, unwürdiges Geschöpf, das auch im Jenseits keine ehrenvolle Stelle einnehme. Daher ist Töten der Mädchengeburten in Indien gleichsam an der Tagesordnung, was zur weiteren Folge hat, daß in manchen Gebieten kein einziges Mädchen anzutreffen ist. Ein Aussterben der betreffenden Stämme ist daher nur eine Frage der Zeit.
Die Bestattungsweise bei den Indiern ist keine einheitliche. Zwar behauptet man allgemein, daß sie ihre Toten verbrennen, aber dies ist durchaus nicht die Regel, denn viele Kasten und Stämme beerdigen sie auch. — Ist ein gewöhnlicher Hindu gestorben, dann schafft man die Leiche sogleich aus dem Hause, das sofort durch frisches Tünchen gereinigt wird, und legt sie außerhalb des Dorfes auf eine Bahre, am liebsten sogleich in der Nähe eines Flusses. Hier wird sie gebadet, ihr auch der Mund innen gewaschen, dann wird die Leiche in ein neues Lendentuch sowie in ein großes Laken eingehüllt und auf den Scheiterhaufen getragen. Der Hauptleidtragende, gewöhnlich der Erbe, der sich inzwischen Kopf und Gesicht hat rasieren lassen, zündet den Scheiterhaufen mit einer langen Fackel an und geht fünfmal um ihn herum, indem er gleichzeitig jedesmal die Lippen der Leiche mit der Fackel berührt. Bevor der Körper gänzlich verbrannt ist, wirft jeder Anwesende fünf Stöcke ins Feuer und hilft sodann beim Auslöschen. Was unverbrannt bleibt, wird den Fischen im Flusse zugeworfen. Sodann waschen die Teilnehmer die Brandstätte, baden sich sämtlich im Flusse, aber an einer anderen Stelle, und gehen dann nach Hause. In der Nähe der gleichen Stätte wird ein geweihter Basilikumstrauch gepflanzt. Am nächsten Tage schüttet der Hauptleidtragende ein wenig frische Milch auf die Brandstätte und hängt zu Hause einen Topf mit solcher an einem Baume auf; dieser hat eine kleine Öffnung, so daß sein Inhalt herabtropfen kann. Er selbst geht dreimal um diesen Baum herum und gibt sodann seinen Verwandten einen Leichenschmaus. An den folgenden zehn Abenden zündet er zu Ehren des Verstorbenen eine Lampe an, und zwar an verschiedenen Stellen auf dem Weg vom Hause bis zum Scheiterhaufen. Noch weitere Zeremonien folgen an bestimmten Tagen. An dem letzten davon legt die Witwe ihre Trauerkleidung an, die sie fortan lebenslänglich trägt; bei den oberen Hinduklassen ist sie weiß, bei den übrigen wechselt ihre Farbe. — In Benares und anderen großen Städten gibt es bestimmte heilige Plätze für die Einäscherung (Abb. 207).[S. 174] Wenn man die Hinduleichen begräbt, dann geschieht dies für gewöhnlich in ganzer Kleidung mit gekreuzten Beinen in sitzender Stellung (Abb. 209); das Gesicht ist dabei nach Norden gewendet, in die Hände erhalten die Toten Kuchen mitgegeben.
Auch die Mohammedaner Indiens begraben ihre Toten (Abb. 208 und 211). Sie werden ebenfalls erst gründlich gebadet, mit einem Lendentuch umhüllt und in ein großes Laken gewickelt, der Kopf wird durch ein Loch der Umhüllung gesteckt. In Sindh kommen die Frauen der Verwandten und der befreundeten Häuser in das Trauerhaus und erheben vor der Tür für mehrere Stunden ein Trauergeheul (Abb. 210). Auf dem Friedhof wird die Leiche, nachdem dann weiter Gebete gesprochen worden sind, mit dem Kopf nach Norden ins Grab gelegt. Einen Sarg kennen die Mohammedaner nicht, dafür aber befestigen sie den Körper mit Bambusstäben oder Brettern, überdecken ihn mit Gras und bestreichen das Ganze mit Lehm. Beim Zuschaufeln der Gruft beteiligen sich die anwesenden Familienmitglieder. Frommen Bettlern werden die üblichen Geschenke verabreicht. Zu Hause kocht man während der nächsten Tage nichts; Verwandte versorgen die Leidtragenden mit Speise. Am dritten Tage endlich findet die Totenfeier ihren Abschluß mit einer merkwürdigen Zeremonie. Alle männlichen Familienangehörigen versammeln sich auf einem freien Platz, wo Getreide, Blumen, Betelblätter und Sorbet zusammengetragen sind. Jeder Anwesende nimmt ein Korn auf, segnet es mit einem feierlichen Spruch und läßt es auf ein Tuch fallen, bis der ganze Haufe verbraucht ist. Die Getreidekörner verteilt man sodann an Bettelmönche, den Sorbet aber trinkt man selbst; dabei wird ein bestimmtes Kapitel aus dem Koran vorgelesen.
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Es bleiben noch ein paar Worte über die Witwenverbrennung in Indien zu sagen. Wenngleich diese nicht direkt durch die Religion vorgeschrieben ist, so verlangte doch die Volkssitte, daß die Witwen ihrem Gatten auf dem Scheiterhaufen im Tode folgen. Diese Unsitte scheint auf eine Legende zurückzugehen, wonach Sati, die Gemahlin des Gottes Schiwa, sich beim Opfer ihres Vaters Dakscha aus Gram darüber, daß ihr Gatte von Brahma dazu nicht eingeladen war, ins heilige Feuer stürzte. Daher heißt jede Ehefrau, die ihrem verstorbenen Gatten auf den Holzstoß folgt, um gleich ihm zu Asche verbrannt zu werden, Sati; der Gebrauch selbst, den man bereits aus dem sechsten Jahrhundert nach Christo kennt, wird Sahagrama, das ist „das Mitgehen mit dem Tode“ genannt. Bis zum Jahre 1829 war die „Selbstopferung“ der indischen Witwen gang und gäbe, dann hat die englische Regierung sie verboten, aber manche Witwe hat sich seitdem noch weiter geopfert, und selbst heute dürfte die Witwenverbrennung gelegentlich ganz im geheimen noch vorkommen. Man brachte auf den Scheiterhaufen ein Bett, und die Witwe legte sich in schöne Gewänder gekleidet darauf. Während die Flammen um sie emporzüngelten, machte Musik einen ohrenbetäubenden Lärm, aber nicht etwa, um ein etwaiges Jammergeschrei der Verbrennenden zu übertönen, sondern vielmehr um ihre Weissagungen nicht zu Gehör zu bringen, die vielleicht manchem Anwesenden hätten unangenehm sein können; denn nach dem Volksglauben besaßen solche Witwen die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen. Heutzutage wird die sogenannte „kalte Witwenverbrennung“ geübt. Die Witwe wird nach dem Tode ihres Mannes ihrer Schmucksachen beraubt, muß ihre Gewänder ablegen und erhält dafür minderwertige Kleider, sie muß fortan ihre Mahlzeiten einschränken, gelegentlich auch fasten und verschiedene Kasteiungen sich auferlegen. Ihr schon bei Lebzeiten ihres Gatten trauriges Schicksal wird dadurch noch menschenunwürdiger. Auf jeden Fall ist[S. 176] es der Hinduwitwe verboten, sich wieder zu verheiraten. Vielfach werden die Hinduwitwen Tempeltänzerinnen (Abb. 206). Es gibt in Indien sechsundzwanzig Millionen Witwen, von denen zehntausend das Alter von kaum fünf Jahren, fünftausend noch nicht das von zehn und zweihundertfünfundsiebzigtausend das von höchstens fünfzehn Jahren erreicht haben. Allerdings kommen bei einigen nordindischen Stämmen auch Ausnahmen hiervon vor; hier ist die Leviratsehe gestattet, aber nur mit dem jüngeren Bruder des Verstorbenen. Dieser kann aber seinerseits auf dieses Recht Verzicht leisten.
Wenn wir das im vorstehenden über die Eingeborenen Nordindiens Gesagte uns noch einmal vergegenwärtigen, so ergibt sich uns als das am meisten hervorspringende Merkmal dieser Völker, daß bei all ihrem Tun und Denken, in ihren Sitten und Bräuchen, sowie überall in ihren sozialen Einrichtungen religiöse Anschauungen ausschlaggebend sind. Von der Wiege bis zur Bahre beeinflussen den Indier, mag er nun strenggläubiger Hindu oder Mohammedaner sein oder einer der zahllosen sektierenden Religionsgemeinschaften angehören, in geradezu bedenklicher Weise beengende religiöse Vorschriften, hemmen seine freie Entfaltung und machen einen gesunden Fortschritt bei ihm fast zur Unmöglichkeit. Religiöse Engherzigkeit ist es denn auch, die im Verein mit dem ausgeprägtesten Kastenwesen jeden kräftigen politischen Aufschwung verhindert und die Indier ohne fremde Hilfe niemals aus dem Druck der englischen Knechtschaft herausläßt.
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Mit den Wildstämmen im Norden und Osten der vorderindischen Halbinsel kehren wir wieder zu der Urbevölkerung zurück, der im Süden die Drawida entsprechen. Sie stellen die Überreste der, jetzt allerdings mehr oder minder stark vermischten, angesessenen Bevölkerung dar, auf die die von Nordwesten her eindringenden Arier stießen; diese schoben auf ihrem Weiterzuge jene Reste teils nach Süden vor, teils drängten sie sie in die nördlichen und östlichen, schwerer zugänglichen Gebiete (Wälder und Gebirge) zurück. Eine reinliche Scheidung dieser Stämme in anthropologischer Hinsicht ist bisher nicht gelungen. Im allgemeinen kann man sagen, daß ihr Typus den der indo-australischen Grundrasse aufweist.
Sprachlich unterscheidet man zwei große Gruppen, die Kolarier und die eigentlichen Drawida des Nordens. Die wichtigsten Stämme der ersten Gruppe sind die Munda, Kolh (Abb. 213), Santal, Juang oder Patua, Ho, Bhumidsch, Bhil (Abb. 214) und Savara; sie nehmen die östlichen Gebiete der Halbinsel, das heißt Bengalen, Orissa, Chota, Nagpur und Madras (vom Ganges südlich bis zum achtzehnten Grad nördlicher Breite) ein. Die zweite Gruppe zählt zu ihren bekannteren Stämmen die Malé oder Aral Paharia, Oraonen, Gond und Khond; ihre Vertreter wohnen in den Gebirgsgegenden an den Quellen des Ganges. Alle diese Völker lassen deutlich ihre ursprüngliche Zugehörigkeit zur indo-australischen Grundrasse erkennen[S. 178] (dunkle Haut, kleine Statur, platte, kurze Nase, vorspringende Backenknochen, grobes, straffes, schwarzes Haar); indessen kommt auch vielfach Hindublut bei ihnen zum Vorschein (Abb. 215 bis 218). Einen einheitlichen Typus weisen sie nicht mehr auf.
Das gleiche gilt für ihre kulturellen Verhältnisse, die verschiedentlich noch ursprüngliche sind, aber anderseits auch schon wieder hindostanischen Einfluß erkennen lassen. Die Kleidung der Leute ist vielfach noch primitiv; die Männer begnügen sich mit einem Gürtel, die Frauen mit einem Lendentuch, die Kinder gehen ganz nackt. Die Juang haben ihren zweiten Namen, Patua, daher erhalten, daß sie um die Hüften einen Gurt trugen, von dem Blätter herabhingen, denn Patua heißt Blätterträger. Auch die Hütten dieser Stämme sind sehr primitiv, ebenso ihre Lebensweise; bis vor kurzem lebten sie noch in der Steinzeit. Ihre Beschäftigung besteht zum Teil im Umherstreifen durch die Wälder (Abb. 220), zum Teil — dort, wo sie bereits unterworfen worden sind — in der Verrichtung niederer Arbeiten, Handwerke oder Gewerbe; im allgemeinen spielen sie die Rolle der Unterdrückten. — Vielfach begegnen wir im Handwerk hier noch ganz ursprünglichen Arbeitsweisen. So benutzt man zum Überqueren der reißenden Gebirgsflüsse noch Flöße aus aufgeblasenen Ziegenfellen (Abb. 219).
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Wie schon erwähnt, sind zu ihnen bereits arische Anschauungen durchgedrungen, besonders durch die herumziehenden Mönche und andere Asketen, die wir oben kennen gelernt haben. Diese bekehren die Leute oft genug zur Religion der Hindu und machen sie somit der indischen Kultur zugänglich. Die Religion der Wildstämme besteht in dem schon von anderen primitiven Stämmen her bekannten Animismus, der die ganze Umgebung von Geistern bewohnt sein läßt. Große Verehrung und Achtung bringen sie vor allem den Tieren entgegen, von denen sie glauben, daß sie stimmbegabt sind, eigene Königreiche unter besonderen Fürsten besitzen und sich in Menschen verwandeln können, wie sie anderseits auch behaupten, daß ein Zauberer die Gestalt von Tieren, im besonderen von Tigern, annehmen kann. Wie anderwärts geht auch ihr Bestreben darauf hinaus, die Geister der Verstorbenen, deren Wohnsitze sie in Steine oder rohe Götzenfiguren verlegen, bei guter Laune zu erhalten; sie bringen ihnen von Zeit zu Zeit Opfer von Speisen und Getränken dar (Abb. 221 bis 226). Andere Stämme haben noch ihre besondere Orts- oder Dorfgottheit, deren Macht, wie sie annehmen, auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt ist. Man denkt sie sich in einem Steinhaufen verkörpert, der unter einem heiligen Baume in der betreffenden Niederlassung errichtet wird. Bei den Saat- und Erntefesten wird die sinnbildliche Hochzeit dieser Götter, die man sich meistens paarweise denkt, gefeiert, um dadurch die Fruchtbarkeit der Äcker zu steigern. Eine andere Geistergruppe umfaßt solche, die epidemische Krankheiten, wie Pest, Cholera, Pocken, beseitigen oder sie auch herbeiführen können (Abb. 227). Zeigen sich solche Krankheiten in einem Dorfe, so bringt man diesen Gottheiten ein Opfer in Gestalt von jungen Hühnern und Ziegen dar, deren Fleisch nach Beendigung der Zeremonie verzehrt wird, oder man entfernt einfach den Stein oder den Götzen, dem man die Schuld der Krankheit zuschreibt, aus der Umgebung des Dorfes und bringt ihn in eine andere Niederlassung, wodurch nun auch die Krankheit sich dorthin zieht. Noch niedriger stehende Stämme bemalen lediglich den Kopf eines jungen Huhnes mit Mennige und treiben es gleichsam als Sündenbock mit der Krankheit über die Dorfgrenze.
Zwei Klassen von Menschen stehen bei den Wildstämmen in dem Rufe, die Macht über die übelwollenden Geister zu besitzen, die Dakin oder Hexe, die die Geister dazu zu bestimmen weiß, daß sie Unheil senden, und der Bhagat oder Zauberpriester, der sie wieder austreibt. Die erstere, zumeist ein altes häßliches Weib, macht sich den bösen Geist zu eigen und veranlaßt ihn, Krankheit über die Menschen zu bringen, denen sie nicht wohl gesinnt ist. Sie erreicht dies dadurch, daß sie sich eine Haarlocke oder einen Nagelabfall ihres Opfers verschafft, einen Zauber darüber spricht und so den Geist zwingt, seinen Einfluß auf den Träger dieser Gegenstände auszuüben. Die Dakin verkörpert somit die Macht der Finsternis. Hingegen übt der Bhagat die weiße Magie aus; er wird von dem Geist besessen, rast, tobt und bezeichnet dann jene Dakin, die als die Ursache des Unglücks anzusehen ist, sowie die Art des Opfers, das zur Besänftigung darzubringen ist. Er wirkt auch durch eine Art sympathischen Zaubers; die Nachahmung einer Handlung oder einer Erscheinung verursacht ihr Eintreten. So werden, um das Wetter günstig zu gestalten, im Frühjahr Feuer angezündet — man will damit die zur Ernte erforderliche Hitze herbeiführen; oder bei Trockenheit wird, um Regen zu erzielen, eine Person untergetaucht oder kopfüber mit Wasser begossen, oder ein Wassertier, zum Beispiel ein Frosch, gequält, wodurch der Regengeist veranlaßt werden soll, Regen zu senden (Abb. 228). Um ein drohendes Hagelwetter abzuwenden, zerschneidet man einige der Hagelkörner mit einem Messer, damit die anderen erschreckt werden und verschwinden. — Die Furcht vor dem bösen Blick (beim Begegnen alter Leute, häßlicher oder kinderloser Menschen, Krüppel, Blinder und so weiter) ist unter den Wildstämmen sehr verbreitet und wird durch allerlei Zauber und Amulette bekämpft. Auch auf Vorbedeutungen wird viel Wert gelegt. Um Glück zu haben, muß man am Morgen zuerst etwas sehen, das für verheißungsvoll gilt, so zum Beispiel eine Kuh oder ein anderes der Glückstiere, die sich manche Leute im Hause halten, damit nach dem Erwachen ihr erster Blick darauf falle; glückverheißend ist es auch, wenn man am Morgen einem Oberhaupte, einem Brahmanen, einem achtbaren Handwerker mit seinem Handwerkszeug, Personen mit Obst oder Blumen, einer verheirateten Frau mit Kindern und so weiter begegnet; dagegen darf man sich auf Unglück gefaßt machen, wenn man einen nackten Mann, eine blinde oder kahlköpfige Person, einen Menschen in untergeordneter Stellung oder von erniedrigender[S. 183] Beschäftigung, einen, der weint, zankt, hustet oder niest, zuerst antrifft. Wenn man gähnt, kann es passieren, daß einem der böse Geist in den Hals fährt; darum muß man eine Gottheit dabei anrufen oder mit den Fingern knacken. Einmaliges Niesen bedeutet Unheil, beim zweiten Male aber kann man zuversichtlich seine Beschäftigung fortsetzen.
Die Munda kennen ebenfalls eine vielköpfige Götterwelt, in der die Sonnengottheit obenan steht. Furcht vor Zauberei und Hexenkunst spielt bei ihnen ebenfalls eine große Rolle. Haben die üblichen Opfergaben keinen Erfolg, dann wendet man sich an einen Ojha (Zauberer) (Abb. 229 und 230), der einen machtvollen Faktor im Dorfleben ausmacht, insofern er alles aufzudecken und alles zu beschwören vermag. Durch ganz sonderbare Mittel stellt er fest, wem die Schuld an einem Unglück zuzuschieben ist. Will der Ojha zum Beispiel herausbekommen, wer ein bestimmtes Zauberwerk angerichtet hat, dann wirft er eine Handvoll Reis auf ein großes Blatt, das auf dem Erdboden ausgebreitet liegt, und bezeichnet im voraus ein bestimmtes Muster, das die hingeworfenen Körner bilden, als dasjenige, bei dessen Entstehen der Name des Schuldigen gerade aufgerufen wird. Früher wurden die auf solche Weise namhaft Gemachten öfters getötet, und selbst in neuerer Zeit soll es noch vorgekommen sein, daß solche Opfer daran glauben mußten.
Ein wichtiger Platz im religiösen und sozialen Leben der Santal ist das Manjhi Than (Abb. 231), ein aufgeworfener Erd- oder Lehmhügel mit einem auf Holzpfeilern darüber ruhenden Dach aus Lumpen vor dem Hause des Dorfobersten, des Manjhi, der eine gewichtige Persönlichkeit in allen öffentlichen Angelegenheiten der Gemeinde ist. Diese einfache Hütte wird als der Wohnplatz der Ahnen angesehen; ihr Fußboden, der stets sorgfältig gepflegt wird, weist in der Mitte einen kleinen, rot angemalten Holzblock auf, der Mittelpfeiler trägt außerdem noch ein Tongefäß, in das man Wasser für die Geister zum Trinken gießt, aber nur in der heißen Jahreszeit, da man glaubt, daß sie im Winter nicht durstig sind. Hier, inmitten der gleichsam die Aufsicht führenden Geisterschar, beim Manjhi Than, versammeln sich die alten Männer des Dorfes, um den Spruch des Ojha zu prüfen, wenn jemand im Verdacht der Hexerei steht oder[S. 184] durch den bösen Blick eine geheimnisvolle Krankheit unter dem Vieh verbreitet haben soll, und auf Grund dieser Prüfung wird dann das Urteil über den Übeltäter gefällt. Auch wird hier bei Streitigkeiten Recht gesprochen sowie der Kaufpreis für die Braut festgesetzt, und anderes mehr.
Die Santal neigen sehr zu Festlichkeiten, die fast das ganze Jahr hindurch gefeiert werden. Mit besonderer Freude begeht man das Sohräfest. Hier herrscht allgemeine Ungebundenheit, was von den Leuten mit ihren eigenen Worten deutlich zum Ausdruck gebracht wird: „Jetzt muß man seine Ohren mit Watte verstopfen, damit man nicht merkt, was der Nachbar tut oder sagt.“ Denn beim Sohräfest sind alle Sittengesetze aufgehoben, ein jeder kann tun, was ihm beliebt. Nach Beendigung des Festes kommen die alten Männer wieder zusammen und bringen Opfergaben dar, um das schändliche Betragen während desselben wieder zu sühnen. Einer der wichtigsten Momente beim Sohräfest ist die Glücksprobe, denn von ihrem Ausfall hängt der Erfolg des ganzen Jahres ab (Abb. 232). Am Ende der Dorfstraße oder einer schmalen Gasse wird Reis in einem Kreise auf der Erde ausgebreitet und ein Ei sorgfältig in die Mitte gelegt. Während nun die Dorfbewohner herumsitzen, wird alles Vieh aus dem Dorfe gegen den Reishaufen getrieben und darauf geachtet, wessen Tier das Ei in der Mitte zertritt; seinem Besitzer wird dann für das ganze Jahr Glück beschert sein.
Ein anderes wichtiges Fest ist das Rath Jatra zu Puri (Abb. 233 und 234), zu dem jedesmal viele Tausende von Pilgern herbeiströmen, um sich an dem Vorwärtsschieben des mächtigen, aus mehreren Stockwerken aufgebauten Prunkwagens, in dem die Götter zum Tempel gebracht werden, zu beteiligen und hier zu beten. Tausende von Andächtigen kämpfen hier um die Ehre, die Seile zu erfassen und auf ein gegebenes Zeichen anzuziehen, bis der plumpe Wagen in Bewegung gerät. Ein allgemeines Gedränge und Stoßen entsteht, da jedermann selbst Hand anlegen oder wenigstens mit zusehen will, ein Hin- und Herwogen der Volksmassen, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Als ein besonderes Glück wird es von den[S. 186] Gläubigen angesehen, wenn sie ihren Tod unter den Rädern des Wagens finden, denn dann erreichen sie bei ihrem nächsten Dasein eine höhere Lebensstufe. Aus diesem Grunde begehen Fanatiker oft genug Selbstmord, indem sie sich absichtlich überfahren lassen. Nach zehn Tagen werden die Götter aus dem Tempel wieder in ihre Verborgenheit zurückgebracht.
Zu Nangalbandh strömen an einem bestimmten Tage, an dem sich alle Tugenden der Welt hier im Brahmaputra vereinigen sollen, unzählige Pilger zusammen, um sich ihre Sünden in seinem Wasser abzuwaschen (Abb. 212 und 235).
Ein ganz eigenartiges „Familienfest“ der Santal besteht darin, daß sich einmal im Jahre die ganze Familie in ihrem eigenen Hause einschließt, jeder einzelne sich die Ohren mit Watte verstopft, so daß kein Laut zu ihm dringen kann, und auf ein gegebenes Zeichen alle, Vater, Mutter, Söhne, Töchter, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten, einander die größten und gemeinsten Schimpfworte zurufen, die ihre Erfindungskraft nur aufzubringen vermag. Keines vermag natürlich zu verstehen, was das andere sagt. Man schreit so laut und so lange, bis man vor Erschöpfung anhalten muß. Über den Ursprung dieser sonderbaren Gewohnheit, die bereits auf ein hohes Alter zurückblicken soll, vermögen die Santal nichts Näheres anzugeben.
Auch das von uns bereits oben erwähnte Hakenschwingfest, das allerdings durch das Gesetz verboten ist, wird verschiedentlich alljährlich noch gefeiert. Nach den darüber vorliegenden alten Berichten drängten sich die Gläubigen direkt zu dieser grauenerregenden Schaustellung. Der Priester weihte der Reihe nach die Bittenden, die sich vor ihm mit entblößtem Rücken auf die Erde warfen, indem er ihnen mit seinem in einen Aschenhaufen getauchten Finger auf den Rücken gerade unter die Schulterblätter zwei Zeichen schrieb, worauf sein Gehilfe an dieser Stelle das Fleisch in einer Falte hochhob und zwei große Haken durchstieß. Darauf erhoben sich die Opfer unter den Bewunderungsrufen der Menge und begaben sich zum Schwingpfosten, wobei sie, obwohl ihnen das Blut vom Rücken rieselte, stolz und ohne Schmerz zu äußern einhergingen. Möglicherweise waren sie vorher durch ein Mittel betäubt worden. Nachdem nun weiter die Haken an den Seilen der Schwingvorrichtung befestigt waren, wurden sie unter dem Geschrei der begeisterten Zuschauer und unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Trommeln in die Höhe gezogen und in der Luft geschwungen; ein loser Gurt, der ihnen um die Brust gelegt war, verhinderte, daß die Haken dabei das Fleisch durchschnitten (Abb. 236). — An keinem Feste der Wildstämme dürfen Tänze fehlen (Abb. 237 bis 239, 241 und 243).
Bei der starken Verbreitung des Glaubens an böse Geister unter den Wildstämmen kann es nicht wundernehmen, wenn sie die angehenden Mütter besonders stark durch sie gefährdet sehen und daher allerlei Abwehrmaßregeln dagegen treffen. So darf eine Schwangere nicht über eine Schlange oder deren Haut, nicht über einen Kuhknochen oder ein Loch in der Erde treten, ebensowenig in einer Sänfte getragen werden, es müßte denn sein, daß sie dabei durch eine bis auf den Boden herabhängende Schnur mit der heiligen Erde in Verbindung bleibt; sie darf ferner nicht unter einer Dachrinne stehen, noch nach Einsetzen der Dunkelheit allein ausgehen; ist sie nach Sonnenuntergang hierzu gezwungen, so[S. 190] legt sie sich ein paar Grashalme zum Schutze auf den Kopf. Sonnen- und Mondfinsternisse, die nach dem Glauben der Wildstämme durch einen Angriff böser Geister auf diese Gestirne entstehen, bedeuten ebenfalls eine Gefahr für die Schwangere. Solange eine solche Finsternis anhält, darf sie keine Arbeit verrichten; sonst würde ihr Kind mißgestaltet werden. Man handelt außerdem sehr verständig, wenn man bei einer Finsternis die Hörner einer trächtigen Kuh rot anstreicht, denn Rot ist eine dem Finsternisteufel widerwärtige Farbe.
Bei der Geburt werden ebenfalls mancherlei Schutzmittel gegen die bösen Geister angewendet. So wird Eisen, das besonders wirksam ist, in Form eines Messers oder Zinken ans Bett der Gebärenden gelegt. Man kann den Geist auch in eine Falle locken, wenn man ein Netz über die Tür des Zimmers hängt, in dem sie liegt. Feuer wirkt ebenfalls als Läuterungs- und Schutzmittel; daher wird es stets, auch beim heißesten Wetter, unterhalten. — Nach der Geburt bestreicht man dem Kinde die Augenlider mit Ruß oder Antimon, um durch diese Entstellung des kleinen Wesens die Geister zu täuschen oder es in den Augen derer unansehnlich zu machen, die etwa einen bösen Blick darauf werfen könnten. Die Wöchnerin gilt als unrein und wird, damit Verwandte und Nachbarn nicht durch sie Schaden erleiden, in einem gesonderten Raum oder in einer Hütte im Dschungel untergebracht.
Die Nachgeburt, von der man glaubt, daß sie eng mit dem Kinde verknüpft sei, wird entweder in einem Loch an Ort und Stelle tief vergraben oder verbrannt; auf jeden Fall darf sie keinem Zauberer oder keiner Hexe in die Hände fallen oder von einem wilden Tiere gefressen werden, da dies dem Kinde verhängnisvoll werden könnte. Kein Gegenstand aus der Wochenstube darf in die Hände einer kinderlosen Frau geraten, denn dadurch würde deren Unfruchtbarkeit auf Mutter und Kind übergehen, erstere keine Kinder mehr bekommen und ihre lebenden sterben. — Die Geburt von Zwillingen wird von manchen Stämmen als[S. 191] etwas Unglückbringendes gedeutet. Die wilderen Stämme setzen dieselben daher im Dschungel aus, während die mehr zivilisierten, falls ein Zwilling ein Mädchen ist, es absichtlich vernachlässigen und infolge der mangelhaften Pflege umkommen lassen.
Den altertümlichen Brauch des Männerkindbettes (Couvade) treffen wir verschiedentlich an. Bei den Drawidastämmen des Verwaltungsbezirkes Madras verrichtet der Vater bei der Geburt des Kindes gewisse Handlungen oder simuliert Zustände, die für die Mutter natürlich oder ihr eigentümlich sind; auch enthält er sich für eine gewisse Zeit des Genusses bestimmter Speisen oder der Verrichtung gewisser Handlungen, wie wenn er durch die Geburt körperlich sehr mitgenommen wäre. Im nördlichen Indien treten nur noch vereinzelte Überbleibsel der Couvade in die Erscheinung. Allgemein gesagt, teilt der Mann die Unreinheit seiner Frau und bleibt, wenn das Haus von den anderen Verwandten verlassen worden ist, bei ihr daheim, auch kocht er für sie. Was er unmittelbar vor der Geburt tut, soll auf seine Frau von Einfluß sein. Bei einem Stamme der Korbmacher im westlichen Indien geht die Wöchnerin sofort nach der Geburt an ihre Arbeit, als ob nichts vorgefallen sei, während der Ehemann sich in sein Bett legt und ein paar Tage kräftige (Wöchnerinnen-) Nahrung erhält.
Am sechsten Tage nach der Geburt, der für besonders heilig gilt, insofern man annimmt, daß am Abend dieses Tages die betreffende Gottheit erscheine und das Schicksal des Kindes aufzeichne (weshalb manchmal Schreibmaterial zur Benutzung hingelegt wird), pflegt man dem Kinde auch seinen Namen zu geben. Derselbe ist von größter Bedeutung und macht einen Teil seiner Persönlichkeit aus. Damit nicht etwa eine Hexe oder ein Zauberer ihn erfahre,[S. 192] wird er geheim gehalten und ein zweiter dem Kinde beigelegt, mit dem es bei gewöhnlichen Anlässen angeredet wird. Öfters pflegt man ihm direkt Schimpfnamen, wie Unrat, Bettler und so weiter zu geben, einfach zu dem Zweck, daß damit kein übelwollender Mensch seinen bösen Blick auf ein so wertloses Geschöpf werfe.
Für die Knaben besteht keine andere Pubertätszeremonie als die bei den Hindu überhaupt übliche Überreichung der Schnur. Bei den Mädchen aber ist das Erscheinen der ersten Regel ein wichtiges Ereignis. Da sie während dieser Zeit unter dem Einflusse von Geistern stehen und eine Quelle der Ansteckung sind, so darf niemand mit ihnen in Berührung kommen; sie werden daher streng abgesondert. Nach Ablauf der Periode werden sie gebadet, einer Läuterung unterzogen und kehren dann erst wieder in den Schoß ihrer Familie zurück. Auch werden sie um diese Zeit herum einer Tatauierung unterworfen.
Heiraten ist bei den Wildstämmen ein unbedingtes Erfordernis; nur die Krüppel, Gebrechlichen und unheilbaren Kranken machen hiervon eine Ausnahme. Der drawidische Bewerber sieht bei seiner Auserwählten mehr auf Gesundheit und Kraft, als auf Schönheit; er will eine Frau haben, die im Hause und auf dem Felde tüchtig arbeiten kann, das Vieh besorgt, das Korn für den Haushalt mahlt, sowie Früchte und Beeren im Dschungel einsammelt. Für gewöhnlich übt die Hausfrau auch einen ziemlichen Einfluß aus, zumal sich ihr Aufenthalt auf keine Zenana beschränkt. Sie verhüllt ihr Gesicht auch selten in Gegenwart fremder Männer. In der[S. 193] Familie wird wenig unternommen ohne ihre Billigung; im besonderen greift sie in die Heiratsverhandlungen ihrer Kinder tätig ein.
Für die Wahl der Braut ist Gesetz, daß ein Mann innerhalb seines Stammes oder seiner Kaste, aber kein Mädchen aus seinem eigenen Clan oder Unterstamm (Sippe) heiratet. Der soziale Stand bietet wenigstens in der Theorie kein Hindernis bei einer Wechselheirat. Die Heiratsaison ist für gewöhnlich das Frühjahr, denn dann ist das Wetter zum Reisen schön, auf den Feldern gibt es keine dringende Arbeit, und um diese Zeit werden auch die Jahresfeste gefeiert, die die Fruchtbarkeit der Menschen, Tiere und Pflanzen fördern sollen. Bei den bereits durch die Hindureligion beeinflußten Stämmen wählt ein Astrologe, bei den ursprünglichen Gruppen der Dorfoberste den für die Hochzeit günstigsten Tag aus. Um die Unkosten der Hochzeitsfeiern zu ermäßigen, finden diese an manchen Orten an demselben Tage des Jahres statt. Bei den Kunbi im westlichen Indien besteht der merkwürdige Brauch, daß sie nur einmal alle zehn oder zwölf Jahre Heiraten vollziehen und daß der Dorfoberste die Erlaubnis dazu dem Schicksal überläßt. Er fertigt zu diesem Zweck eine Anzahl Papierstreifen an, schreibt auf sie entweder „ja“ oder „nein“ und wirft sie auf einen Haufen vor dem Bildnis der Stammesgöttin. Ein kleines Kind muß darauf eine gewisse Anzahl heraussuchen, und zwar tut es dies dreimal. Wenn sich dann bei der Prüfung herausstellt, daß die Mehrzahl bejahend ausfällt, dann nimmt man an, daß die Göttin dazu ihren Segen erteilt hat.
Die Eheschließung weist bei den einzelnen Stämmen verschiedene Formen auf. Bei[S. 194] den Waldstämmen wird fast jede Form des Zusammenlebens, sofern der Stammesrat sie gutheißt, als rechtsgültig anerkannt und dem Paare die Vorrechte des Stammes oder der Kaste übertragen, auch ihre Kinder als legitim angesehen. Obenan steht unter den Heiratsformen der Raub oder die Entführung. Der Jüngling trägt das Mädchen unter Anzeichen von Gewalt in den Wald; nach einiger Zeit machen seine Angehörigen die Beleidigung wieder gut, indem sie den Brautpreis zahlen und den Stammesbrüdern ein Fest geben, und das junge Paar kehrt nach kurzen Flitterwochen ins Dorf zurück. Auch bei den zivilisierteren Stämmen begegnen wir noch Anklängen an diese Eheform (Abb. 240). Um den Brautpreis zu sparen, ist Austauschheirat keine ungewöhnliche Erscheinung. Die betreffenden Eltern tauschen dabei gegenseitig ihre Kinder aus; in diesem Falle wird von einer Bezahlung Abstand genommen.
Eine andere Methode der Frauengewinnung ist die Sitte, um die Braut zu dienen. In solchem Falle tritt der Jüngling in die Familie seines zukünftigen Schwiegervaters ein und dient hier oft bis zu sieben Jahren, ehe das Paar heiraten darf. In der Theorie muß es während dieser Probezeit getrennt bleiben, aber in der Praxis wird diese Bedingung von ihm nicht immer innegehalten. Dieser Brauch hängt mit dem ursprünglichen Gesetz der Abstammung in weiblicher Linie zusammen, worauf auch noch die hohe Stellung der Schwester der Braut und des Onkels mütterlicherseits hinweist; ersterer fällt bei der Hochzeitszeremonie die Aufgabe zu, die Kleider des Paares zum Zeichen ihrer Verbindung zusammenzuknoten, letzterem dagegen, das Hochzeitskleid zu stiften und zum Brautpreis beizutragen. In den meisten Fällen jedoch wird die Braut ihrem zukünftigen Manne übergeben, sobald seine Verwandten eine Geldsumme, Vieh, messingene Kochgeräte oder andere Besitzgegenstände gezahlt haben.
Bei den Waldstämmen findet zumeist keine weitere Werbung statt, bei den fortgeschritteneren Gruppen dagegen bestehen mancherlei Gebräuche, die indessen von Bezirk zu Bezirk verschieden[S. 195] sind. Meist pflegt sich die Werbung in der Weise abzuspielen, daß eine Deputation von Freunden des Jünglings ausgesandt wird, die durch sorgfältige Beobachtung der vorgeschlagenen Braut feststellen soll, daß sie an keinem körperlichen Gebrechen leidet. Fällt dieser Vorbesuch befriedigend aus und ist damit zusammenhängend der Kaufpreis festgesetzt, dann werden die Betreffenden verlobt. Dessenungeachtet macht sich der Vater der Form wegen noch auf den Weg, die Braut zu suchen, dabei muß er einen kleinen Vogel, Devi genannt, rechts von sich erblicken, um Glück zu haben. Ehe er diesen nicht sieht, bricht er auf keinen Fall auf, selbst wenn er monatelang warten sollte. Hat er seinen Wunsch erreicht, ist die Verlobung also ordnungsgemäß zustande gekommen, dann werden der Vater und die Freunde des Jünglings aufgefordert, bei den Angehörigen der Braut zu speisen. Während der Mahlzeit streuen ihre weiblichen Verwandten Getreidekörner auf die Türschwelle und stürzen sich, sobald der zukünftige Schwiegervater das Haus verlassen will, auf ihn, als ob sie ihn angreifen wollten, er aber eilt auf die Tür zu und gleitet auf den Körnern aus; das letztere wird immer so eingerichtet, daß es eintrifft, da sonst die Ehe keine glückliche sein würde. Bei der Verlobung beschenkt er die Braut mit einer silbernen Halskette und einem goldenen Nasenring, den sie zum Zeichen, daß sie bereits versprochen ist, fortan trägt. Bevor der Hochzeitstag festgesetzt wird, geht man den Astrologen um Rat an; dieser fragt nach den Namen des Paares und berechnet, ob diese mit den Gestirnen eine günstige Vorbedeutung ergeben. Da nun bei ungünstigem Stand der Sterne ein anderer Name in Vorschlag gebracht werden kann — manchmal nacheinander eine ganze Reihe derselben —, so geben manche Leute schon bei der Geburt ihren Kindern zehn bis zwölf Namen.
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Kurz vor der Hochzeit werden Braut und Bräutigam mit Öl und Safran gesalbt, um dadurch die bösen Geister zu verscheuchen. Bei Anbruch des verabredeten Hochzeitstages begibt sich der Jüngling in Begleitung seiner Freunde bewaffnet auf den Weg zu seiner Braut; er trägt ein besonderes Hochzeitsgewand und ist mit verschiedenen Zaubermitteln und Amuletten, die ihn vor Unheil schützen sollen, ausgerüstet; seine Augen sind mit Antimon oder Ruß gefärbt, auch sein Gesicht bisweilen gänzlich bedeckt oder mit einem Schleier bekleidet. An der Grenze des Dorfes, wo die Braut lebt, wird der Zug von einer Abteilung ihrer Sippenleute empfangen; die Teilnehmer werden noch auf besondere Weise gereinigt, um kein Unheil mitzubringen, und sodann in einer besonderen Hütte außerhalb des Dorfplatzes bewirtet. Zu einer günstigen Stunde wird nun der Bräutigam nach dem Hause seiner Zukünftigen geleitet. An der Haustür begrüßen ihn hier deren Freundinnen mit Speisebrettern voller Getreide und Früchte und mit einer brennenden Lampe. Diese schwingen sie über seinem Kopfe, um noch einmal Unglück abzuwenden, und die alten Frauen der Familie lassen ihre Fingergelenke knacken, wodurch sie das etwa noch vorhandene Unglück auf sich nehmen wollen. Unter Trommelwirbel und den Tönen sonstiger Musik betreten der Bräutigam und seine Schar den Hochzeitspavillon. Ursprünglich war dies ein heiliger Baum, unter dem die Verbindung stattfand. In moderner Form ist daraus eine Art Pavillon geworden, der aus den Zweigen eines solchen Baumes aufgebaut wird; zur Vermeidung von Unglück müssen die Zweige mit besonderer Vorsicht geschnitten werden. Im Innern des Pavillons haben die verheirateten Frauen des Stammes glückbringende Erde zusammengetragen; kinderlose Frauen waren, weil unheilbringend, davon ausgeschlossen. Auf dieser Erde, die oft zu einem primitiven Herde zusammengekehrt ist, wird dann der Hochzeitsschmaus gekocht, oder Braut und Bräutigam setzen sich darauf. Der Familien- oder Stammesgöttin, die man mit Safranstreifen auf die Wand gemalt hat, wird sodann gehuldigt, worauf eine der Schwestern der Braut die Kleider des Paares zusammenknotet. Der Jüngling führt jetzt seine junge Frau noch einigemal um das heilige Feuer im Pavillon herum und streicht ihr Mennige auf den Haarscheitel; ein etwa anwesender Brahmane murmelt inzwischen Gebete und Zauberformeln zur Abwendung von Unheil. Schließlich setzt sich das Paar zusammen hin und ißt gemeinsam aus einer Schüssel; hierdurch soll die Aufnahme der jungen Frau in den Stamm ihres Gatten angedeutet werden. Mancherlei Bräuche sind bei der Hochzeit noch üblich, um die Fruchtbarkeit der jungen Eheleute zu fördern. So füllt man den Schoß der Braut mit Obst oder Getreide, oder läßt sie mit einer Puppe spielen; sie und ihr Mann müssen ein Stück Land pflügen und etwas aussäen, man führt die junge Frau auch abends hinaus, um ihr den Polarstern, das Sinnbild der Beständigkeit, zu zeigen, und anderes mehr.
Mit der Heirat sind manche Einschränkungen beziehungsweise Tabu für die jungen Eheleute verbunden. Der Mann darf mit seiner Schwiegermutter keinen direkten Verkehr haben, sondern, wenn er etwas von ihr will, muß seine Frau dies vermitteln; auch muß er es nach Möglichkeit vermeiden, ihr zu begegnen; treffen sie sich zufällig, dann muß sie beiseite treten und ihr Gesicht verhüllen. Mann und Frau dürfen sich nicht bei Namen anreden, besonders ist dies für die letztere strenges Gebot, selbst bei öffentlichen Verhandlungen. Der Mann nennt seine Frau mit dem Namen ihres Stammes oder ihrer Unterkaste, oder er bezeichnet sie mit „Mutter von ....“ (Name eines ihrer Kinder). Nur während der Hochzeitszeremonien ist es dem Paare erlaubt, sich gleichsam im Scherz mit seinem richtigen Namen zu rufen. Die Frau muß auch den älteren Brüdern ihres Mannes die höchste Ehrerbietung erweisen.
Bei den Stämmen in Bengalen und Orissa, also den nördlichen Drawida, besteht die wichtigste Handlung des Vaters des Bräutigams, nachdem die Vorverhandlungen in der schon geschilderten[S. 199] Weise eingesetzt haben, darin, daß er dem Vater der Braut das Lorie bringt, einen kurzen (etwa drei Fuß langen) Bambusstock, der den Familiengott bergen soll. Dieser behält ihn einige Tage bei sich und bringt ihn dann der Familie des Bräutigams wieder zurück, womit er andeutet, daß ihm der in Vorschlag gebrachte Schwiegersohn willkommen ist und die Angehörigen der Braut gewillt sind, die Hochzeit vorzubereiten. Bei den Besuchen werden viel geistige Getränke, im besonderen Haria, eingenommen, so daß beide Parteien bereits in einen vorgeschrittenen Zustand der Trunkenheit gelangt sind, ehe die Verhandlungen zu Ende geführt werden. Am Vortage der Hochzeit begeben sich die Braut und ihre Familie unter Begleitung ihrer ganzen Freundschaft nach dem Hause des Bräutigams und schlagen in kurzer Entfernung vor ihm ein Lager auf; hier finden sie reichlich Erfrischungen vor, vor allem ein reichliches Quantum Haria. Die ganze Nacht wird unter dem Lärm der Tamtams und dem Getöne der Hörner und Pfeifen gefeiert. Mit dem Morgengrauen des nächsten Tages setzt sich der Bräutigam ganz feierlich vor seinem Hause auf einen Schemel und erwartet seine Braut. Bei ihrem Erscheinen verbeugt er sich vor ihr und läßt sie auf einem ähnlichen Schemel neben sich Platz nehmen. Wenn beide so zum erstenmal als Braut und Bräutigam zusammensitzen, macht der Baiga oder Priester den Versuch, in ihre Zukunft zu blicken und ihr Schicksal ihnen vorauszusagen, und dies auf eine ganz merkwürdige Weise. Nachdem er nämlich beiden je eine Haarlocke von der Mitte der Stirn genommen und auf den Nasenrücken herabgezogen hat, gießt er oben Öl auf den Kopf und beobachtet aufmerksam, wie es an der Locke herabträufelt. Läuft es in gerader Linie auf die Nasenspitze herab, dann wird die Zukunft eine glückliche sein; verbreitet es sich aber über die Stirn oder träufelt es zu beiden Seiten der Nase herab, so steht mit Bestimmtheit Mißgeschick zu erwarten. Für gewöhnlich aber sagt der Baiga eine glückliche Zukunft voraus, natürlich wenn man ihm vorher ein gutes Geschenk in Aussicht gestellt hat. Darauf bemalen Braut und Bräutigam sich gegenseitig mit Sindur (künstlichem Zinnober) die Stirn,[S. 200] wobei sie zwar nebeneinander stehen, aber die Gesichter abwenden müssen, denn es ist von größter Wichtigkeit, daß keiner während dieses wichtigen Vorganges, der das Paar schließlich zu Mann und Frau macht, von dem anderen auch nur einen flüchtigen Blick auffängt. Hieran schließen sich Musik und Tanz. Gegen Abend nimmt der Priester, der die ganze Zeit über für das neuvermählte Paar gebetet hat, beide an die Hand, führt sie ins Haus und schließt sie hier sorgfältig ein. Draußen versammeln sich die Gäste unter vielem Gelächter und verbrennen aus Übermut möglichst viel getrocknete Cayennepfefferschoten dicht vor der Tür und den Fenstern, damit der Rauch in das Zimmer dringe und die jungen Eheleute zum Niesen bringe, was aber für das allerschlimmste Omen gilt. Um daher dem Unfug ein Ende zu machen und der Gefahr des etwaigen Niesens aus dem Wege zu gehen, ist es üblich, daß der Bräutigam hinter der geschlossenen Tür den Gästen ein festes Versprechen macht, damit sie aufhören. Meistens verlangen diese so und so viele Hühner oder so und so viel Haria und drohen den Eingeschlossenen, falls sie diese Ablösung nicht bewilligen, sie durch das Verbrennen von Schoten noch weiter zu belästigen; sie haben auf der anderen Seite aber auch die Verpflichtung, ihre Ansprüche nicht zu hoch zu stellen, in Anbetracht der Tatsache, daß der junge Mann durch die Hochzeit schon genug Unkosten gehabt hat. Nachdem das Eß- und Trinkgelage die ganze Nacht hindurch angedauert hat, brechen die Gäste bei Morgengrauen auf. Damit endigen die Hochzeitsfeierlichkeiten, die im großen und ganzen bei allen Stämmen ziemlich die gleichen sind, aber in ihren Einzelheiten[S. 201] wohl manchmal voneinander abweichen. Gemeinsam sind ihnen aber stets das Gelage, der Tanz und das Auftragen von Sindur auf die Stirn.
Bei einer Mundahochzeit ist eine Szene ganz besonders ansprechend. Die Braut geht mit einer Kanne an einen nahe gelegenen Brunnen oder Fluß, füllt sie hier bis an den Rand, hebt sie auf den Kopf und stützt sie auf ihm mit der Hand. Der Bräutigam folgt ihr auf dem Rückweg und schießt einen Pfeil durch das Loch, das ihr nach oben gerichteter Arm mit der Kanne bildet. Die Braut geht dann weiter bis zu der Stelle, wo der Pfeil hingefallen ist, und nimmt ihn mit dem Fuße auf, wobei sie ihre Kanne auf dem Kopfe ruhig weiter balanciert; mit Anmut befördert sie sodann den Pfeil in ihre Hand und überreicht ihn dem Bräutigam, wodurch sie andeuten will, daß sie ihre häuslichen Pflichten gut mit Hand und Fuß in seinem Interesse erfüllen kann. Auf der anderen Seite will der Bräutigam durch seinen Pfeilschuß anzeigen, daß er imstande ist, seine Frau zu beschützen und jedwede Gefahr von ihr abzuwenden.
Für die Santal ist nachzutragen, daß sie für die Festsetzung des Datums des Hochzeitstages sich eines eigenartigen Kalenders bedienen. Sie schürzen eine Anzahl Knoten, die der Zahl der bis dahin noch vorhandenen Tage entspricht, in das Ende einer Schnur und versenden eine ebensolche bei der Einladung an die Hochzeitsgäste; an jedem Morgen wird ein Knoten gelöst, und wenn der letzte an die Reihe gekommen ist, dann wissen alle, daß der Hochzeitstag anbricht.
Die Scheidung ist im allgemeinen leicht. Will eine Frau ihre Freiheit wieder haben, so wendet sie sich an den Rat der Alten ihres Stammes und trägt ihm ihre Klagen vor; findet[S. 202] dieser sie begründet (Mißhandlung oder Unverträglichkeit von seiten des Mannes), so billigt er die Trennung der Gatten. Anderseits kann auch der Mann eine Scheidung beanspruchen, wenn er von seiner Frau keine Kinder bekommt.
Nach dem Grundsatze, daß die Frau gleichsam gekauft wird, geht sie in das Eigentum der Familie des Mannes über. Stirbt ihr Gatte, dann wird sie gewöhnlich einem seiner jüngeren Brüder als Ehefrau übertragen, jedoch nie einem älteren Bruder, denn das ist streng verboten. Nur wenn kein Verwandter ihres verstorbenen Mannes sie zur Frau haben will, kann sie sich an einen Fremden verheiraten, aber dieser muß für gewöhnlich eine Vergütung an die Freunde ihres ersten Gatten zahlen. Weil man den Zorn des Geistes des Verstorbenen fürchtet, pflegen die Hochzeitszeremonien im geheimen und des Nachts stattzufinden; auch wirft der neue Besitzer ein Tuch über sie und bespritzt die Haare mit Mennige. Die junge Frau ihrerseits trägt, um den Geist ihres verstorbenen Gatten zu versöhnen, ein Götzenbild aus Gold oder Silber um den Hals und bringt, falls sie einen Witwer heiratet, dem Bilde seiner verstorbenen Frau jedwedes Geschenk als Opfer dar, das sie von ihrem neuen Gatten erhalten sollte.
Die meisten Dschungelbewohner begraben ihre Toten, und nur bei den Stämmen, die von der Hinduzivilisation bereits beeinflußt worden sind, werden sie verbrannt. Die ganz wilden Stämme entledigten sich früher ihrer Toten einfach durch Aussetzen in den Dschungel, heutzutage kommt dieses Verfahren wohl nur noch für ganz kleine Kinder und Aussätzige, deren Krankheit der Verhängung durch eine beleidigte Gottheit zugeschrieben wird, in Betracht. Beim Begräbnis legt man dem Toten Geld in den Mund, damit sein Geist auf der Reise ins gelobte Land, das im Westen liegt, weiterkomme; auch fügt man öfters Speise, Getränke, Kleidung und Waffen[S. 203] (aber in zerbrochenem Zustande) bei, damit er sich dieser Dinge im Jenseits bediene. Allgemein wirft man in das Grab auch einige Kupfermünzen, um dadurch die Erdgöttin wegen der Störung, die sie durch das Begräbnis erfährt, milde zu stimmen. Handelt es sich um einen angesehenen Mann, dann legt man auf sein Grab noch einen Stein als Ruheplatz für seinen Geist und bringt ihm zu bestimmten Zeiten Trank- und Speiseopfer dar. Bei Leuten, die verunglückten oder einem Tiger oder einer Schlange zum Opfer fielen, werden besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen, weil man fürchtet, daß die Geister nachtragend sein könnten. Man errichtet ein Steingrab über dem Toten, damit sein Geist unten gehalten werde, oder füllt die Grube mit Dornen auf, daß er sich nicht fortbewege; manchmal wird die Leiche auch mit dem Gesicht nach unten beigesetzt. Ist ein Mensch durch einen Tiger getötet worden, dann begibt sich der Baigapriester an den Ort, wo sich das Unglück abspielte, und baut dort aus der blutdurchtränkten Erde einen kleinen Kegel auf, der den Toten vorstellen soll; sodann treibt er allen möglichen Hokuspokus und ahmt unter anderem auch den Überfall des Tigers nach, wobei ihn ein anderer von hinten her als Bluträcher unterstützt. Der Lehmkegel wird sodann auf einen Ameisenhügel gestellt und ein Schwein darüber geopfert. Am nächsten Tage wird noch ein mit Mennige gezeichnetes Hühnchen, das den Geist des Verstorbenen darstellen soll, dorthin gebracht und schließlich in den Dschungel getrieben. Ähnliche Versöhnungsgebräuche werden noch eine Reihe von Jahren an der gleichen Stelle vollzogen.
Bei gewöhnlichen Todesfällen trauert die Familie ungefähr eine Woche lang; während dieser Zeit ruht alle Arbeit, die Leute unterhalten keinen Verkehr miteinander, kein Essen wird[S. 204] gekocht, sondern die Nachbarn liefern die Mahlzeiten für die Familie. Alles dieses könnte den Geist des Toten stören. Im allgemeinen werden alle Geister Verstorbener, ausgenommen derer, die heilig gesprochen wurden, für den Lebenden feindlich gesinnt gehalten, besonders aber die Geister von Fremden oder von solchen Menschen, die zu früh mit unerfüllten Wünschen aus der Welt schieden. Am meisten wird indessen der Geist einer Frau gefürchtet, die bei der Geburt oder im Wochenbett starb. Sie wird zu einer Churel, was daran zu erkennen ist, daß sie rückwärts gebogene Füße besitzt; sie umlagert junge Männer, verschleppt sie und gibt sie erst frei, wenn sie alt und gebrechlich geworden sind. Daher wird eine solche Frauenleiche mit Stricken zusammengebunden, erhält Nägel in die Glieder geschlagen, wird mit dem Gesicht nach unten begraben und so weiter, damit sie nicht „umgehen“ kann. Außerdem werden von ihrem Grabe bis zu ihrer Wohnung Sesamkörner gestreut, damit die Churel, falls sie doch aus ihrem Grab herauskommen sollte, auf dem Heimwege diese einzeln aufhebe; man nimmt an, daß dies länger dauern würde, als bis der Hahn kräht, woraufhin sie wieder in ihr Grab zurückkehren muß.
Wenn jemand im Sterben liegt, so bringt man ihn ins Freie, damit sein Geist, den man sich als winziges Geschöpfchen vorstellt, wenn er den Körper durch die Schädeldecke verläßt, freie Beweglichkeit erhalte und ihm nichts im Wege stehe; eine brennende Lampe wird an der Stelle, wo der Geist ausgehaucht wurde, unterhalten, um diesen auf seiner Reise ins Jenseits zu geleiten.
Die Völker, die ihre Toten verbrennen, wie die Munda und Oraonen, begraben die Asche[S. 206] unter mächtigen Grabsteinen in weitausgedehnten Friedhöfen oder tragen sie, wie die Santal, nach ihrem heiligen Flusse, dem Damuda, und streuen sie in den Strom. Eine eigentümliche Abweichung weist die Begräbniszeremonie bei den Ho auf. Hier muß die nächste weibliche Verwandte des Verstorbenen seine Asche in einem tönernen Gefäß auf dem Kopfe von dem Verbrennungsplatz in feierlichem Zug nach der alten Wohnung tragen, in deren Nähe das Grab gemacht ist. Der Zug bewegt sich von Haus zu Haus, und aus jedem Hause kommen die Insassen hervor, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Das Ganze macht bei den feierlichen Trommelschlägen, die den Aufzug begleiten, und dem leisen Geklage der Frauen einen tiefernsten Eindruck. In dem Grabe wird die Urne zusammen mit Reis und anderen Speisen beigesetzt. Über der Grabstätte wird eine mächtige Steintafel errichtet. Die Ho ehren das Andenken der Toten noch dadurch, daß sie ihnen draußen vor dem Dorfe Denkmäler in Gestalt von mächtigen, bis zu drei und selbst vier Meter hohen Felsensäulen errichten (Abb. 242).
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Assam, das zerklüftete Gebirgsland, das sich zwischen China, Indien, Tibet und Birma erstreckt, ist im Besitze einer Reihe Völker, die sich infolge ihrer Isoliertheit durch Sprache, Gewohnheiten und Religion ziemlich scharf voneinander unterscheiden. Einen gewissen höheren Grad von Zivilisation haben unter ihnen die Garo, Khasi und Kacha-Naga erreicht, da sie bereits länger mit den Engländern in Berührung gekommen sind, während hingegen die eigentlichen Naga, mit ihrem größten Stamme, den Ao, auf einer verhältnismäßig noch niederen Kulturstufe stehen.
Vom Rassenstandpunkt aus weisen alle diese Völker einen ziemlich einheitlichen Typus auf, nämlich den der Mongolen, wenngleich auch verschiedentlich indonesischer Einschlag nicht zu verkennen ist, wofür auch manche aus dem Süden her übernommene Gebräuche sprechen.
Die Lebensweise der Naga ist eine ziemlich feste; solange es geht, bleiben sie an einem Orte seßhaft. Sie betreiben Acker-(Reis-)Bau. Oft genug liegen ihre Felder weit vom Dorfe ab. Die Ernte wird in besonderen kleinen Scheuern am Eingange des Dorfes untergebracht. Haustiere sind der Hund, die Katze, das Schwein und die Ziege. Die Naga essen alles, dessen sie auf der Jagd habhaft werden können. Als größter Leckerbissen gilt für sie mit Reis ausgestopfter Hundebraten. Bei einzelnen Stämmen bestehen gewisse Speiseverbote. Die Naga wohnen[S. 208] in Dörfern, deren Eingangstor von Kriegern bewacht wird (Abb. 247). Die Hütten stehen meistens so nahe aneinander, daß sich die Giebel einer Häuserreihe mit der ihr gegenüberstehenden fast berühren (Abb. 245). In der Mitte eines jeden Dorfes und meistens auf seinem höchsten Punkt steht der Murong, das Gemeindeberatungshaus (Abb. 251), das gleichzeitig den Junggesellen als Aufenthaltsort und Schlafraum dient (Abb. 244). Auch die unverheirateten jungen Mädchen pflegen abgesondert von den Verheirateten unter Aufsicht einer Matrone in einem eigenen Haus für sich zu schlafen. Ein anderes wichtiges Gebäude der Naga ist neben der Versammlungshalle der Krieger (Abb. 246) die Hütte, in der die große Dorftrommel aufbewahrt wird (Abb. 249). Sie wird angeschlagen, um beim Herannahen eines Feindes die auf den weiter entfernten Reisfeldern arbeitenden Leute zusammenzurufen, und ist aus einem vier bis sechs Meter langen Baumstamme angefertigt; an ihrem hinteren Ende trägt sie einen geschnitzten Tiger- oder Ochsenkopf, an ihrem vorderen aber ist sie ausgebuchtet und endigt in zwei ausgebreitete Arme. In diese Rinne kamen früher bei Festlichkeiten nach einem Kriegszuge die Köpfe der erschlagenen Feinde zu liegen.
Die Kleidung der Naga ist für gewöhnlich aufs knappste bemessen. Diejenigen Stämme, die die halbtropischen Wälder und die tiefer gelegenen Gebirgsabschnitte bewohnen, gehen fast nackt. Die Männer begnügen sich mit einer langen gewebten Binde um die Hüften, die Frauen tragen dunkelblaue, selbstgewebte Röcke. Viele Leute gehen tatauiert und alle schmücken sich gern; in dieser Hinsicht überbieten die Männer die[S. 209] Frauen. Sehr beliebt sind bei den Mishmi mächtige Bambuspflöcke in den ausgedehnten Ohrläppchen (Abb. 250), ferner Halsketten aus Perlen oder Muscheln, sowie Armbänder aus Rohr, Messing oder Silber (Abb. 248). Merkwürdigerweise legen die Weiber, sobald sie verheiratet sind, ihren Schmuck ab und überlassen ihn den jungen Mädchen.
Ein Nagakrieger macht in seiner Galatracht einen imposanten Eindruck (Abb. 252). Sein kraftvoller Körper ist reich tatauiert und bemalt; er trägt einen kurzen blauen Schurz, der mit weißen Kaurimuscheln verziert ist, zum Zeichen, daß er an früheren räuberischen Einfällen teilgenommen hat. Über die Brust hat er sich mehrere farbenfrohe Schärpen mit vielen farbigen Bändern geworfen, auf das Genick sich eine Scheibe aus einer großen Seemuschel mit einem blauen Band gebunden. Dazu kommen schwere Armbänder aus Rohr über den Ellbogen, Rohrgamaschen und ein Kranz von ineinander verschlungenen Wildschweinzähnen, der, mit bunten Baumwollbändern verziert, seine Stirn umgibt. In einem Gürtel steckt eine hackbeilähnliche Axt, deren Griff mit gefärbten Haaren verziert ist. Die sehnige Faust hält einen großen Schild aus der ausgespannten Haut eines Tigers, Leoparden, Elefanten oder Bären, die gleichfalls mit Ziegenhaar geschmückt ist, und einen acht Fuß langen Speer, der schön mit steifem, karmesinrot und schwarz gefärbtem Samt aus Ziegenhaar umwickelt ist. Die ganze Tracht wirkt außerordentlich malerisch und zugleich furchterregend.
Die Naga kürzen ihr langes, straffes, pechschwarzes Haar auf dem ganzen Kopfe (Abb. 248), diese Prozedur wird aber nicht etwa mit einer Schere vorgenommen, sondern ein befreundeter Nachbar legt sein Jagdbeil unter das Haar und schlägt mit einem flachen Stück Holz die Haarspitzen ab. Bei festlichen Gelegenheiten setzen sich die Krieger noch besondere Haarkränze auf.[S. 210] Die jungen Mädchen tragen ihr Haar bis zur Hochzeit ebenfalls gekürzt, dann aber lassen sie es sich wachsen und binden es über dem Hinterkopf in einem Knoten zusammen. Bei den Mishmikriegern dienen die als Ohrschmuck getragenen großen Muscheln zum Schutze gegen Schwerthiebe (Abb. 253).
Die meisten Nagastämme befinden sich noch auf der niedrigsten Stufe religiösen Glaubens, auf der des Animismus, der alle Dinge sich belebt denkt und sie für den Wohnsitz von Geistern hält. Hauptsächlich werden aber nur jene Geister verehrt, von denen man annimmt, daß sie Böses zuzufügen imstande sind (Abb. 254). Götterbilder gibt es nicht, ebensowenig Tempel oder heilige Haine, dementsprechend auch keinen Priesterstand. Bei Ausbruch einer jeden Krankheit wird geopfert; was für ein Tier dazu genommen werden soll, das bestimmt ein alter Mann. Die Garo opfern den himmlischen Geistern weiße Hähne und den Erdgeistern die Erzeugnisse des Bodens, wie Reis, Blumen und Wein; sie bringen diese Opfer vor einem Bambusbaum dar. Die Abor (Abb. 255) beten mit Vorliebe Geister an, die in den Bäumen leben; erweisen diese sich aber boshaft, indem sie zum Beispiel die Cholera senden oder ein Kind in dem Walde sich verirren lassen, dann hauen sie aus Rache einfach die Bäume ihrer Umgebung um.
Die Naga waren früher sehr gefürchtete Kopfjäger und sind es in den Gebieten, wohin der englische Einfluß nicht reicht, noch. Nach Molz’ Schätzung erjagten sie in einem Zeitraum von vierzig Jahren auf einem Gebiete von zwanzig Quadratmeilen allein zwölftausend Köpfe. Der wichtigste Grund dafür, daß die jungen Leute auf Schädel so erpicht sind, ist ihre Eitelkeit, der Wunsch, in den Augen ihrer Angebeteten[S. 211] für einen tüchtigen Krieger zu gelten. Denn alle anderen Liebesbeweise ziehen bei ihr nicht, wenn der junge Mann nicht einen erbeuteten Kopf seinem Mädchen zu Füßen gelegt hat. Dazu kommen aber noch religiöse Gründe. Man glaubt nämlich, daß die Geister der Erschlagenen, deren Köpfe man selbst besitzt, nach dem eigenen Tode in der nächsten Welt als Sklaven aufwarten müssen. Andere Stämme erblicken in den erbeuteten Köpfen ein gutes Schutzmittel gegen die Pocken oder in dem Verstreuen des Fleisches getöteter Feinde über die Reisfelder eine gute Förderung der Ernte. Bei dem Erwerb der Schädel pflegen die Naga oft genug recht rücksichtslos vorzugehen, indem sie hinterrücks aus dem Gebüsch fremde Menschen, selbst Frauen, überfallen und sie töten. Bezeichnend für ihre große Grausamkeit war in früheren Zeiten auch, daß sie den Feinden nicht nur den Kopf abschnitten, sondern sie bei lebendigem Leibe auch in Stücke zerteilten, ihnen die Brust öffneten, damit sie selbst ihr flatterndes Herz sehen könnten, oder ihnen einzelne Körperteile abschnitten und das eigene Fleisch zum Essen darreichten.
Für die niederkommende Mutter wird von einzelnen Stämmen eine kleine Hütte errichtet, in der sich der Vorgang unter der Beihilfe einiger Weiber abspielt und in der die Mutter mit dem Kinde noch einige Tage verweilt. Stirbt die Kreißende bei der Geburt, dann wird dies als ein großes Unheil für das ganze Dorf angesehen und es werden besondere Vorkehrungen getroffen, auf die wir weiter unten noch zurückkommen werden. — Besondere Zeremonien bei der Geburt kennt man in Assam nicht, auch keine besonderen Vorschriften für die[S. 212] Schwangeren. Nur bei den Miri bringt man den Vater zu Bett, wo er vierzig Tage lang nach der Geburt des Kindes liegen bleiben muß und wie eine Wöchnerin von einer Frau gefüttert wird. Auf seine üblichen Gewohnheiten muß er dabei verzichten, ja sogar eine gewisse Diät einhalten, weil sonst das Kind davon Schaden an seiner Gesundheit erleiden könnte. Die Miri befinden sich noch in einem Übergangsstadium von dem mutterrechtlichen zum vaterrechtlichen System; dieser ihrer Sitte des Männerkindbettes scheint der Gedanke zugrunde zu liegen, daß der Vater zu dem Neugeborenen in direkter Verwandtschaft steht. Auch die Khasia, Kuki und Kacha-Naga leben noch auf solcher Zwischenstufe.
Die Namensgebung des Kindes richtet sich bei den Kacha-Naga und Khasia nach dem matriarchalischen System. Weder der Vater noch die wirkliche Mutter haben nach dieser Richtung hin etwas zu sagen, die älteren Männer und Frauen im Dorfe erledigen die Angelegenheit. Das Ergebnis ist, daß die Eltern ihres eigenen Namens verlustig gehen und dafür in Zukunft nach ihrem Kinde genannt und gerufen werden, also mit „Vater von Soundso“, sowie „Mutter von Soundso“. Eine drollige weitere Folge dieser eigentümlichen Sitte ist die, daß, wenn ein Ehepaar alt geworden ist, ohne daß ihm Kinder beschert wurden, der Mann mit „kinderloser Vater“ und die Frau dementsprechend angeredet wird. — Beschneidung wird nicht geübt.
Die Kinder wachsen frei heran. Von dem Eintritt der Reife bei den Mädchen wird keine Notiz genommen; es finden daher auch keine Festlichkeiten statt. Sobald die Knaben in den Stamm aufgenommen worden sind, dürfen sie sich an den räuberischen Einfällen beteiligen. —[S. 213] Vor der Ehe wird beiden Geschlechtern die größte geschlechtliche Freiheit gestattet. Jeder Bursche darf sein Mädchen zu allen Stunden der Nacht mit Willen und Einverständnis der Eltern besuchen. Wie wir schon hörten, gibt es auch Murong für die weibliche Jugend, in denen es zumeist recht zügellos zugeht. Ist der Verkehr von Folgen begleitet gewesen, dann heiratet der Verführer vielfach das Mädchen. Tut er es nicht und gerät die junge Mutter dadurch in Not, dann wird das neugeborene Kind von zwei alten Weibern ins Jenseits befördert, indem sie es mit einem Bambusrohr erdrosseln.
Die Naga heiraten verhältnismäßig spät. In einigen Dörfern herrscht Exogamie, in anderen wieder Endogamie; in letzteren ist also das Heiraten innerhalb desselben Clans gestattet. Die großen Tanzfeste bieten den jungen Leuten Gelegenheit zum Liebeswerben. Bei den Ao-Naga kommt gelegentlich eines solchen Tanzfestes noch eine Sitte zum Ausdruck, die lebhaft an die Raubehe erinnert. Die Mädchen eines Clans bilden einen Kreis und tanzen langsam herum, während die jungen Männer aus einem anderen Clan mit Fackeln herbeistürzen und ein jeder das Mädchen seiner Wahl davonschleppt. Durch diese Gefangennahme hat das Mädchen aber nur einen Trunk verwirkt, den es seinem jungen Manne verabreichen muß, um freizukommen.
Die Hochzeitsfeierlichkeiten sind unter allen Nagastämmen sehr einfach. Bei den Garo tragen Freunde den Bräutigam nach dem Hause der Braut; hier werden ein Hahn und eine Henne geopfert und ihre Eingeweide auf eine günstige Vorbedeutung hin zu Rate gezogen. Ein Freund oder ein anderer Mann von Ansehen schlägt nun mit dem toten Hahn den Rücken der Frau und mit dem Huhn den des Mannes; damit ist den Zeremonien Genüge geleistet, und die Ehe wird für gültig erklärt. Natürlich findet im Anschluß hieran dann ein Festschmaus und ein Tanz statt. Der junge Ehemann bleibt mit seiner Frau im Hause ihrer Eltern und wird Angehöriger ihres Clans. Eine merkwürdige Folge dieser verworrenen weiblichen Verwandtschaft[S. 214] unter den Garo ist die, daß der Mann, der die Lieblingstochter eines Hauses heiratet, für den Fall, daß sein Schwiegervater sterben sollte, dessen Witwe, also seine Schwiegermutter heiraten muß. — Polygamie kommt nur unter den Mishmi (Abb. 256) vor; bei diesem Stamme darf sich ein Mann so viele Frauen kaufen, als er sich zu leisten vermag. Der Preis für eine Frau schwankt von einem Schwein bis zu zwanzig Ochsen; die Zahl der Frauen ist somit ein Zeichen des Wohlstandes. Beim Tode des Ehemannes werden alle überlebenden Frauen das Eigentum seines Erben, das heißt des Sohnes, ausgenommen die eigene Mutter. Bei einigen Stämmen kommt auch Ehe auf Probe für einige Wochen vor. Das Paar macht sich allein auf und davon; findet es Gefallen aneinander, dann folgt die bindende Hochzeitszeremonie.
Die Stellung der Frau ist bei den Stämmen mit der „mütterlichen Verwandtschaft“, wie zum Beispiel bei den Garo und Khasia, eine recht hohe. Das Mädchen ist es, von dem der Eheantrag ausgeht; der Ehemann lebt fortan in der Familie seiner Frau. Diese kann ihn, sofern es ihr paßt, einfach vor die Türe setzen und im allgemeinen dann jeden beliebigen Mann heiraten; sie kann diesem auch ihren ganzen Besitz wie auch den ihres früheren Gatten übertragen; auch die Kinder gehören ihr. Der Mann seinerseits darf aber seine Frau unter keinen Umständen von sich stoßen, es sei denn, daß er seine ganze Habe und seine Kinder preiszugeben gewillt ist. Stirbt ein Häuptling, dann ist nicht sein Sohn der Erbe, sondern ein Sohn seiner Schwester, den die[S. 215] Witwe auswählt. Ist der Auserwählte etwa bereits verheiratet, dann trennt er sich sofort von seiner Frau, die sein ganzes Besitztum samt den Kindern mit sich nimmt, während er die alte Witwe heiratet, dafür aber auch die hohe Würde eines Häuptlings erhält.
Ganz entgegengesetzt zu diesen Frauen aus den Stämmen, bei denen das Matriarchat herrscht, führen die aus den Stämmen der Naga mit Vaterschaftssystem ein recht mühevolles, untergeordnetes Dasein, und doch geben die Naga im allgemeinen glückliche Eheleute ab. Obwohl sie vor der Ehe in geschlechtlicher Hinsicht recht zügellos leben, halten sie nach der Hochzeit um so fester die Treue. Ehescheidung kommt aber häufig genug vor und wird von dem Paar selbst vollzogen, indem es einfach auseinandergeht, doch hat der schuldige Teil Strafe zu zahlen. Eine Trennung der Eheleute ist erlaubt wegen Untreue, schlechten Charakters, Unfruchtbarkeit der Frau und noch aus anderen Gründen. Eine geschiedene Frau kann sich sogleich wieder mit einem anderen Manne verheiraten.
Die Toten der Naga werden zunächst nicht beerdigt, sondern fünf bis sechs Tage im Hause behalten, hierauf mittels eines Feuers tüchtig angeräuchert. Um den Verwesungsgeruch etwas erträglicher zu machen, zünden die Angehörigen auch vor dem Hause ein Feuer an; hier bauen sie auch alle Habseligkeiten des Verstorbenen, seine Waffen, Schmucksachen, Jagdbeute, in früheren Zeiten auch die erbeuteten Köpfe der Feinde auf. Ist der Räucherung Genüge geschehen, dann wird der meistens schon in Verwesung übergegangene Leichnam ohne besondere Feierlichkeit auf den Begräbnisplatz vor dem Dorfe getragen und hier, mit Flechtwerk und gespaltenen Bambusstangen wie ein Wickelkind[S. 216] fest eingewickelt, auf einer aus Bambuspfählen aufgebauten Plattform, dem sogenannten Majan, ausgesetzt, wo er auf seine Auferstehung warten muß. Über dem Toten wird dann noch ein kleines Strohdach errichtet und an der Begräbnisstelle sämtliche äußeren Abzeichen des Verstorbenen aufgehängt. War er ein großer Krieger, dann bilden diese ausgestellten Gegenstände wegen ihrer großen Anzahl gleichsam ein kleines Museum; sie werden aber nicht in Natura aufgehängt, sondern in Miniaturnachahmungen. — Stirbt ein Krieger eines natürlichen Todes, dann muß sein nächster männlicher Verwandter mit einem Speere die Leiche verwunden, damit sie bei ihrem Erscheinen im Jenseits mit dem gleichen Kriegergruß empfangen werde wie jemand, der im Kampfe fiel.
Bei einer Frau wird nur ein schwarzes Tuch neben die Leiche gelegt und ein Korb voll Reis über sie gestülpt. Außerdem pflegt man daneben den Korb, in dem sie ihre Lasten trug, den Reismörser, in dem sie das Mehl für den Tagesbedarf stampfte, sowie ihre Webestöcke zu legen. Stirbt eine Frau im Wochenbett oder überhaupt eine Person infolge eines Unglücksfalles (Tötung durch ein wildes Tier, Ertrinken oder Fall von einem Baume), dann muß der Tote an der Stelle begraben werden, wo das Unglück geschah. Sobald die Beerdigung stattgefunden hat, werden die Häuser der Verunglückten von ihren Angehörigen abgebrochen, die bewegliche Habe bleibt liegen, das Vieh wird frei und herrenlos laufen gelassen, wohin es will. Einige Stämme lassen in solchen Fällen sogar ihre Felder brach liegen und das Korn in den Speichern verfaulen, oder sie heimsen die Ernte gar nicht erst ein. Die Bewohner eines so zerstörten Unglückshauses begeben sich für einen Monat in den Dschungel; dann erst ist es ihnen erlaubt, unter ihre Stammesgenossen zurückzukehren.
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Als Zentralasien bezeichnet man das große abflußlose Gebirgsland im Innern Asiens, das durch die großen Massive des Himalaja im Süden, des Karakorum, Pamir, Tian-Schan, Alatan und Altai im Westen, des Sajan- und Jablonoigebirges im Norden und des Chingan und chinesischen Grenzgebirges im Osten in einer fortlaufenden Umwallung abgeschlossen wird. Es umfaßt in geographischer Hinsicht drei Gebiete: Tibet, die Mongolei und das Tarimbecken. Seine charakteristische Eigenschaft besteht eben in der großen Wasserarmut, die auch eine besondere Kultur seiner Völker geschaffen hat. Diese sind die eigentlichen Mongolen, von denen sich, entsprechend den drei geographischen Gebieten, ebensoviele große Völkergruppen unterscheiden lassen: die Tibeter, die Mongolen im engeren Sinne und die Ostturkistaner; an den Grenzen finden sich Mischvölker, aus der Verbindung der Mongolen mit Chinesen, Hindu und Iraniern hervorgegangen. Die mächtigen Züge mongolischer Horden, die im Mittelalter in mehrfachen Schwärmen bis ins Herz Europas eindrangen, kamen aus dieser Wiege der mongolischen Rasse. — Die Völkerstämme Ostturkistans, im besonderen die Kirgisen, sind keine Mongolen im anthropologischen Sinne mehr, sondern zählen zu einer Abzweigung dieser Rasse, die bereits vorzeiten erfolgt sein muß und sich in Nordasien weiter ausbildete, zu den sogenannten[S. 218] Türkvölkern. Indessen können sie auf der anderen Seite auch nicht wieder als reine Türkvölker gelten, sondern als das Mischungsprodukt dieser mit hinzugekommenen Mongolen, so daß ihr Typus bald mehr dem mongolischen, bald mehr dem der Türkvölker nahekommt. Die Kultur der Ostturkistaner jedoch entspricht ganz und gar der der Mongolen, so daß wir sie weiter unten mit diesen gemeinsam abhandeln können.
Die Lebensweise der zentralasiatischen Mongolen ist eine ziemlich gleichmäßige. Alle Völker sind umherziehende Nomaden (nur vereinzelt seßhaft), deren Beschäftigung fast nur in der Viehzucht (hauptsächlich von Schafen, Pferden und Kamelen, daneben auch von Rindern und Ziegen) besteht. Sie wohnen in sogenannten Jurten, zylindrischen, etwa anderthalb Meter hohen Zelten aus Filz, mit Kegeldach, die sich leicht abbrechen und wieder aufstellen lassen. Gekleidet sind sie in Gewänder, die sie selbst aus Filz herstellen, oder auch in solche aus Pferdehaut; russische Stoffe finden aber bereits vielfach Eingang. Charakteristisch für die Mongolen ist eine hohe Schaffellmütze. Die Frauen tragen lange Zöpfe, in die sie allerhand Schmuck, wie Bänder, Glasperlen, Korallen und bunte Steine, einflechten, silberne Spangen auf dem Kopf, Ohrringe, Arm- und Fingerringe und anderen Schmuck aus dem gleichen Metall.
Die Nahrung der Mongolen besteht in erster Linie aus einem aus gerösteten und zermahlenen Getreidekörnern hergestellten Teig, Dsamba genannt, und aus Ziegeltee, einem minderwertigen chinesischen Tee, der, um leicht befördert werden zu können, zu einem Kuchen (wie ein Ziegel) zusammengepreßt ist. Es besteht nach ihm überall eine so große Nachfrage, daß er als Geld umgesetzt wird, also als Münze gilt. Von tierischen Erzeugnissen werden Schaffleisch, Käse, Butter, Milch und ein durch Gärung daraus hergestelltes kohlensäurehaltiges Getränk, der Kumys, genossen.
Die Religion der zentralasiatischen Mongolen ist die Lehre Buddhas in ihrer nördlichen Umbildung, der sogenannte Lamaismus, der sich auch noch in der Mandschurei, China und Korea findet. Er ist gekennzeichnet durch die Annahme einer großen Anzahl von Wiedergeburten, die der Mensch nacheinander durchzumachen hat, um die schier unerreichbare höchste Stufe des Bodhisatva zu erlangen, deren nächste Stufe der Buddha selber ist. Dementsprechend besitzt die Götterwelt der nördlichen Schule des Buddhismus eine Unzahl von Götterbildern, die in ebenso zahllosen Tempeln und Klöstern untergebracht sind und die vielfachen Stufen darstellen, die vom einfachen Arbat, der ersten Stufe der Wiedergeburt, über die kaum zu zählenden Heiligen bis zum Bodhisatva führen, und damit zusammenhängend eine ausgebildete Priesterherrschaft, die es in Tibet zu einer völlig selbständigen Theokratie gebracht hat. Ihr Mittelpunkt ist die geheimnisvolle Residenz des buddhistischen Papstes, des Dalai-Lamas, zu Lhassa.
Tibet ist noch wenig durchforscht, vielleicht das dunkelste Land der Welt, da hier seit jeher strenge Vorschriften gegen das Einwandern europäischer Elemente bestehen. Daher ist über seine Bevölkerung auch noch wenig bekannt geworden. Sie gehört, wie schon erwähnt, zu den reinen Mongolen, und es werden die Bodpa oder eigentlichen Tibeter, die Tanguten im Nordosten, die Sifan im Südosten, die Ladakh im Osten und die Gurung, Magar, Mishmi und Leptscha im Süden, beziehungsweise in den in den angeführten Richtungen angrenzenden Gebieten der Nachbarländer unterschieden. Alle diese Völker bewohnen das mächtigste Hochland der Erde, das im Durchschnitt viertausendfünfhundert Meter aufweist.
Die Kleidung der Tibeter (Abb. 258) besteht aus einem langen wollenen Rock, Tschak genannt (im Winter aus einem Schafpelz), der durch einen Gürtel fest zusammengehalten wird, langen wollenen Strümpfen mit ledernen Sohlen und einer Schaffellmütze. Hosen und Hemd werden nicht getragen. Die Frauen kleiden sich in lange, faltenreiche Röcke. Die Haartracht der Männer besteht in einem durch Einflechten eines baumwollenen Fadens noch verlängerten Zopf, der spiralig um den Kopf gelegt wird; die der Frauen wechselt sehr nach der Ortschaft von einem chignon- oder turbanähnlichen Aufbau bis zu zahlreichen kleinen Zöpfchen, die manchmal fächerförmig auf einem[S. 221] Holzkamm ausgebreitet werden. Bei den Frauen ist Schmuck in Form von Halsketten und Diademen aus Gold oder Silber, die außerdem noch mit roh bearbeiteten Edelsteinen geschmückt sind, sehr beliebt (Abb. 260 und 261). Die Frauen Tibets pflegen sich auch das Gesicht mit Kleister zu beschmieren und sich darauf kleine Samenkörner in ziemlicher Regelmäßigkeit zu legen. Da die Luft in Tibet sehr trocken ist und die Leute sich fast nie waschen, so hält sich dieser Schmuck längere Zeit. Die Töchter sind durchweg sehr unsauber. — Die Wohnung der Tibeter ist in der Regel ein viereckiges Zelt. Wo sie ansässig geworden sind, besitzen sie auch wirkliche, aus Bruchsteinen aufgeführte Häuser (Abb. 258).
Die Nahrung gleicht der der übrigen Mongolen; besonders bevorzugt wird aber gebutterter Tee, etwas für den europäischen Gaumen höchst Widerliches, das aber von den Tibetern fast zu jeder Tageszeit in ziemlichen Mengen mit großem Genuß getrunken wird und gleichsam ihr Nationalgetränk ausmacht; einem jeden Besucher wird es aus Gastfreundschaft aufgedrungen, und auch auf den Reisen wird es tagsüber des öfteren eingenommen. Es wird aus dem schon genannten Ziegeltee hergestellt. Auf ganz eigenartige Weise wird davon eine besondere Mischung gebraut. Eine genügend abgehobelte oder abgeschnittene Menge Tee wird mit ein wenig Wasser gekocht, dem eine Prise kohlensaures Natron beigegeben wird. Von dieser Abkochung wird ein wenig in ein kleines Butterfaß getan, das mehrere Liter kochendes Wasser und einen Kloß meist ranziger Butter enthält, und mit genügend Salz abgeschmeckt, darauf die ganze Mischung ein paar Minuten lang durchgebuttert und schließlich noch heiß aus Holzbechern getrunken, von denen jeder Tibeter einen in seiner Brusttasche bei sich trägt, und der, wenn er seinen Zweck erfüllt hat und trocken geleckt worden ist, wieder in diese zurückbefördert wird. In jede volle Tasse dieses Gebräus, das schon mehr eine Suppe oder Brühe vorstellt, aber entschieden[S. 222] nahrhaft und erfrischend sein dürfte, werden noch ein paar Kügelchen aus Brot oder Gerstenmehlteig als Beigabe geworfen. Bei feierlichen Gelegenheiten, wie bei Hochzeiten, Besuchen der Priester und anderer Ehrengäste, wird der gebutterte Tee aus massiven kupfernen Teekannen (Abb. 262) eingeschenkt, die oft mit künstlerisch ausgeführten Zeichnungen versehen und in erhabener Rankenverzierung aus Silber oder Messing reich plattiert erscheinen.
Die offizielle Religion (Abb. 259, 263, 264 und 265) in Tibet ist die Lehre Buddhas in ihrer Ausbildung durch die nördliche Schule, von der uns hier im besonderen das Dogma von der fortlaufenden Inkarnation, das ist Fleischwerdung der Gottheit in der Person des jeweiligen Dalai-Lamas, interessiert. Diesem neuen Dogma zufolge, das im Jahre 1439 entstand, können die buddhistischen Götter auf der Erde eine menschliche Form annehmen, wieder ins Fleisch zurückkehren, die göttlichen Kräfte also in menschlicher Gestalt auftreten und wirken. Der jeweilige Dalai-Lama ist die Inkarnation des Bodhisatva Avalokiteçvara, die höchste der menschgewordenen Gottheiten. Neben ihm gibt es noch eine sehr große Anzahl anderer inkarnierter Gottheiten, die aber nicht auf derselben hohen Stufe stehen wie er; es sind dies die sogenannten Chubilgane, das heißt Wiedergeborene. — Eigenartig ist die Wahl eines neuen Dalai-Lamas, sobald der alte gestorben ist. Nach dessen Tode geht der Bodhisatva nicht einfach sofort in ein unbekanntes Kind über, sondern erst nach einer angemessenen Frist (bis zu drei Jahren). Es ist nun die Aufgabe[S. 224] des obersten Zauberpriesters, des Dharmapala, aus dem Kloster Nastschun das richtige Kind auszukundschaften. Zu diesem Zweck schickt er eine Anzahl Lamas im Lande umher auf die Suche. Der Knabe muß zu einem bestimmten Termin geboren, vollkommen normal gebildet, gesund und schön sein; außerdem wird auf bestimmte Anzeichen für seine göttliche Geburt gefahndet. Solche bestehen darin, daß Bäume in unmittelbarer Nachbarschaft des Geburtsortes zu einer Zeit in Blüte kommen, die von der natürlichen Blütezeit um Monate abliegt, daß Haustiere Junge entweder gleichzeitig oder in ungewöhnlicher Anzahl werfen, daß bei unheilbaren Kranken plötzliche Gesundung sich einstellt, nachdem sie in wirkliche Berührung mit der mutmaßlichen neuen Inkarnation gekommen waren, und anderes mehr. Der beste Beweis aber, daß der richtige gefunden ist, besteht in einem direkten Wunder. Leider geht die Wahl meistens nicht so leicht vonstatten, so daß man aus einer Anzahl Kinder wählen muß; man pflegt deren zwölf auszusondern, die den Anforderungen noch am meisten gerecht werden, und diese in ein Kloster zu bringen, um sie weiter zu prüfen. Zuletzt kommen drei Knaben in engere Wahl, und wenn im letzten Augenblick die Gottheit nicht eindeutig zu erkennen gibt, wer von ihnen der richtige ist, entscheidet das Los. Dieser Vorgang spielt sich unter höchst feierlichen Zeremonien ab. Der schließlich Auserwählte wird fortan der strengen klösterlichen Zucht unterworfen und für seinen hohen Beruf vorbereitet, den er mit dem erreichten achtzehnten Lebensjahre übernimmt.
Der Dalai-Lama ist nach außen hin fast gar nicht als weltliches Oberhaupt tätig; er ist nur das Oberhaupt der Kirche. Jene Tätigkeit liegt dem sogenannten Regenten und dem Ministerrat ob, die in seinem Namen amtieren. Dem Dalai-Lama sind eine Unmasse hoher und niederer Priester untertan, deren es in Lhassa selbst nicht weniger als achtzehntausend (Mönche und Nonnen) geben soll. Sie unterscheiden sich nach vier Rangstufen und leben alle im Zölibat. Die meisten der lamaistischen Priester leben in Klöstern, mit denen das ganze Land gleichsam übersät erscheint. — Der Gottesdienst des tibetischen Buddhismus (Abb. 266 und 267) ist in reinen Formenkram ausgeartet. Man betet nicht allein mit den Lippen und dem Herzen, sondern man bringt den Göttern seine Gebete bereits gedruckt oder geschrieben auf Felsplatten, die lange Mauern (Abb. 271) bilden, sogar viele Meter lang (in der Nähe geweihter Gebäude oder Bergpässe), auf Pyramiden, Papierstreifen und so weiter dar. Diese Gebete pflegen nur die vier typischen Worte zu enthalten: Om ma-ni pad-me hum, gleich „O Gott, das Kleinod im Lotos. Amen“. Das bloße Aussprechen dieser Weiheformel genügt für den, der dies tut, um eine Wiedergeburt direkt ins Paradies zu bewirken. Die Anbetung wird dadurch noch besonders erleichtert, daß man nur Gebetmaschinen (siehe Kunstbeilage) zu drehen braucht, die in endloser Reihenfolge diese Formel, auf Papier oder Seide geschrieben, abwickeln. Für den Hausgebrauch werden kleine Gebetmühlen benutzt, kleine Zylinder, die in ihrem Innern auf einer Röhre Papierstreifen mit dem aufgeschriebenen Gebet enthalten und durch einen durchgehenden Stift in rotierende Bewegung versetzt werden (Abb. 268). In den Tempeln finden sich größere Gebetmaschinen, die mit einem Strick getrieben werden. Ja, auch ohne die geringste körperliche Anstrengung kann man seine Gebete zum Himmel senden, nämlich durch Mühlen, deren Inhalt durch Wind oder Wasser in Umdrehung versetzt wird.
Trotz der hohen Entwicklung, die der Buddhismus in Tibet angenommen hat, ist das Volk doch noch in so hohem Grade von animistischen und schamanistischen Anschauungen durchsetzt, wie wohl an wenigen Stellen der Erde. Wir begegnen als Überresten der[S. 226] vorbuddhistischen Religion, des Bonkultus (Abb. 269 bis 272), noch vielfach den Teufelstänzern, die die Aufgabe haben, die Dämonen zu beschwören, sie zu besänftigen und so Glück über das Land und seine Bewohner zu bringen (Abb. 275). Diese sind in hohem Grade abergläubisch und glauben sich auf Schritt und Tritt von Legionen böser Kräfte umgeben, gegen die sie nicht nur bei diesen Schamanen, sondern noch mehr bei den buddhistischen Priestern Schutz suchen, die sich übernatürliche Kräfte beilegen. Sie behaupten von sich sogar, sie besäßen die Macht, den Sündern ihr Geschick noch nach dem Tode zu erleichtern, auch wenn sie bereits in der Hölle weilen und hier allen möglichen schrecklichen Peinigungen unterworfen werden, sobald ihre irdischen Verwandten den Priestern Geschenke in entsprechender Menge machen, um für das Seelenheil der Verschiedenen die teuren Zeremonien vorzunehmen und Messen zu lesen. In der Hölle wären daher Lamas, die umhergehen, ihre Gebetmühlen drehen und Zaubersprüche zum Nutzen der gequälten Seelen murmeln, wenn überlebende Verwandte sich deren Heil angelegen sein lassen. Das Verlangen nach materiellem Schutz gegen die unsichtbaren bösen Geister führt die Menschen dazu, auf Zaubersprüche und Amulette ein felsenfestes Vertrauen zu setzen; man sieht jedermann, Männer, Frauen und Kinder damit behängt. Diese Zauberformeln sind meistens in Sanskrit geschriebene Aussprüche, die dem Buddha zugeschrieben werden und angeblich den indisch-buddhistischen Schriften entnommen wurden. Sie werden ergänzt durch Reliquien heiliger Mönche, geweihte Körner, kleine Götzenbilder und allerhand andere heilige Dinge, die, zusammen mit ihnen, in ein goldenes, silbernes oder kupfernes,[S. 228] reich verziertes Amulettkästchen eingeschlossen, als massiver Schmuck (Abb. 272 und 277) getragen werden. Die volkstümlichste aller Zauberformeln sind die oben angeführten Worte, die auf den Gebetmühlen gedreht werden. Diese abergläubischen Vorstellungen finden sich auch wieder in dem Brauche, hohe Masten mit wehenden „Gebetfähnchen“ (Abb. 279) aufzustellen und Girlanden aus solchen von Dach zu Dach, an von Geistern bewohnten Bäumen und an Bergpässen (Abb. 276), die von Geistern besonders heimgesucht werden sollen, anzubringen.
Große Wichtigkeit legt das Volk auch noch den Vorbedeutungen bei und regelt unter diesem Gesichtspunkte alle Angelegenheiten seines täglichen Lebens; nicht nur bei allen wichtigen Geschäften, sondern auch bei allen ernsten Vorfällen im Leben, wie Geburt, Hochzeit, Krankheit und Tod, ferner bei Aussaat, Ernte, Bautätigkeit, Reisen und so weiter holt es sich darüber Rat, ob ein bestimmter Tag oder ein Augenblick der Vornahme dieser Handlungen günstig sei. Bedeutende Zauberer werden nicht nur vom gewöhnlichen Volke, sondern auch von den Buddhistenmönchen und selbst von der Regierung bei wichtigen Staatsangelegenheiten hinzugezogen. Jedes Kloster hält sich zu diesem Zweck einen eigenen Zauberer, der aber nicht als Glied der buddhistischen Brüderschaft betrachtet wird. Er lebt auch gesondert von ihnen und darf heiraten, womit man zum Ausdruck bringen will, daß er nicht zur Lehre Buddhas gehört und sein Handwerk einer vorbuddhistischen Zeit entstammt. Seine Aussprüche werden in ganz geheimnisvolle und orakelähnliche Formen gekleidet. Eine besondere Aufgabe dieser Zauberer im ganzen Lande ist das „Regenerzwingen“. Unter diesem Himmelsstrich hängt der Erfolg der Ernte nämlich in besonders hohem Grade von einem rechtzeitig eintretenden Regen ab, dessen Herbeiführung ebenso wie die Abwendung des die Saat vernichtenden Hagels auf dem Einwirken des Zauberers beruht (Abb. 273).
[S. 229]
Unter den tibetischen Festen nimmt ähnlich wie bei den Chinesen das Neujahrsfest[S. 230] die erste Stelle ein. Es wird mit besonderem Pomp gefeiert und ist außerdem dadurch ausgezeichnet, daß an diesem Tage die Leute sämtlich neue Kleider anlegen, die dann allerdings für das ganze Jahr vorhalten müssen und von den meisten nicht einmal des Nachts oder überhaupt nicht gewechselt werden. Am Neujahrsmorgen findet am Hofe des Dalai-Lama großer Empfang statt, bei dem der erste Kammerherr die Zeremonien eröffnet, indem er dem großen Kirchenfürsten unter Darbringung von Reisbranntwein und Dsamba in goldenen Schalen auf goldener Platte Glück und Wohlergehen wünscht, worauf dieser seine Finger in die Flüssigkeit taucht, seine Umgebung bespritzt, etwas von der Speise kostet, alle anwesenden Würdenträger nacheinander segnet und sie bewirtet. Gleichzeitig finden außerhalb des Festsaales Tänze statt, denen die an der Gratulationskur nicht unmittelbar beteiligten hohen Beamten beiwohnen; die Knaben tanzen den „Tanz des glücklichen Schicksals“. An den beiden ersten Abenden, sowie am Vorabend des Neujahrsfestes werden sämtliche Tempel, alle öffentlichen sowie privaten Gebäude und Wohnungen aufs festlichste illuminiert. Für die Kleriker enden die Festlichkeiten bereits am dritten Tage, von da an versammeln sie sich alltäglich zu feierlichen Gottesdiensten um den Dalai-Lama, die zwanzig Tage lang dauern und von strengen Fasten begleitet werden. — Von längerer Dauer und von reicherer Abwechslung als das eigentliche Neujahrsfest sind die Vorbereitungen dazu, die das Volk fast einen ganzen Monat lang in Anspruch nehmen. Besonders ist es der neunundzwanzigste Tag des letzten Monats, der eine große Rolle dabei spielt. An ihm wird nicht nur der Staub und Schmutz, der sich während des zum Abschluß kommenden Jahres angesammelt hat, durch eine gründliche Reinigung entfernt, sondern auch die bösen, übelwollenden Geister, die an allem Unglück Schuld tragen, werden verbrannt. Am frühen[S. 232] Morgen setzen in den Höfen der verschiedenen Tempel oder an nahe gelegenen, geeigneten Plätzen Zaubertänze ein, die von Leuten in den schrecklichen Masken (Abb. 280, 274, 275) der alten, aus dem Schamanentum noch übernommenen Götter und Halbgötter aufgeführt werden und mehrere Stunden dauern, da an ihnen gewöhnlich achtzig bis hundert Tänzer, alles nur Lama, nacheinander in Gruppen teilnehmen. Für den Humor sorgen dabei die Figuren der indischen „Azari“, die durch ihre Trachten, ihre groteske Gesichtsbemalung und ihre Grimassen das versammelte Volk belustigen wollen und es auch zu ausgelassenem Beifall hinreißen. Außer den Volksmassen sehen auch die höhere Geistlichkeit und vornehme Gäste unter großen Zelten dem Trubel zu. Nach Abschluß der Tänze und Abhaltung eines Morgengottesdienstes wird noch eine feierliche Prozession nach einem wenige Kilometer davon entfernten Orte auf freiem Platze in Bewegung gesetzt, um ein gewisses Symbol, das Torma, zu opfern beziehungsweise zu verbrennen. Ein Torma ist ein aus Dsamba mit Butter und Zucker hergestellter kegel- oder pyramidenförmiger, an der Oberfläche oft in einer oder mehreren Farben — meistens rot, was die Flammen versinnbildlichen soll — bemalter, gelegentlich auch noch mit allerlei auf den Kultus bezugnehmenden Figuren und Zeichen versehener Gegenstand von etwa einem halben, bei besonderen Gelegenheiten sogar bis zu vier Meter Höhe, der an der Spitze der Prozession von drei Lama auf einem eisernen Dreifuß vorangetragen wird; auf ihm ruht noch eine künstliche Schädelschale aus demselben Dsambateige. Außerdem tragen ebenfalls drei Lama auf einem eisernen Tablett ein aus dem gleichen Material hergestelltes menschliches Skelett. An dem vorbestimmten Platze[S. 233] werden Torma und Skelett auf einem aus Reisig oder Stroh errichteten Haufen verbrannt. Sobald die Flammen über dem Ganzen zusammenschlagen, senken die in der Prozession mitgezogenen vierundzwanzig Fahnenträger ihre Stangen und laufen, was sie nur können, ohne sich nur einmal umzusehen, nach dem Kloster zurück, während eine große Anzahl gleichfalls dabei beteiligter Soldaten ein furchtbares Gewehrgeknatter, natürlich nur mit Platzpatronen, über dem brennenden Haufen unterhalten, um dadurch die bösen Geister am Entweichen zu hindern und sie sämtlich dem Verbrennungstode zu überliefern.
Die Hauptunterhaltung des Tibeters bilden heilige Schauspiele (Abb. 257, 278, 280 und 281) im Freien, die Jātakas, die an Fast- und Festtagen aufgeführt werden und zum Gegenstand die „früheren Leben“ Buddhas haben. Auch hierbei treten manchmal Maskentänzer in Gestalt von grotesken Tieren und Teufeln, sowie Possenreißer auf, die in den Pausen das Volk durch ihre Sprünge und sonstigen Scherze unterhalten. Diese heiligen Schauspiele laufen immer auf dieselbe Lehre hinaus, daß nämlich die gute Tat belohnt und die schlechte bestraft wird.
Die Geburt eines neuen Weltbürgers wird von den Eltern, Verwandten und Nachbarsleuten mit großer Freude begrüßt, obgleich man nach der buddhistischen Lehre nicht wissen kann, ob das Kind wirklich das eigene Fleisch und Blut seiner Eltern ist und nicht etwa von einem wildfremden Menschen oder vielleicht auch von einem Tier, dessen Geist zufällig nach Wiedergeburt[S. 234] verlangt hat, abstammt. Dankopfer werden in den Tempeln dargebracht und etwaige Gelübde, die vordem abgelegt wurden, um einen Erben zu erhalten, werden erfüllt. Eine Tochter wird wie überall in den buddhistischen Ländern weniger geschätzt. Stirbt die Mutter kurz vor der Geburt, so wird das Kind durch Bauchschnitt herausgeholt. — Das Neugeborene wird nicht gebadet, sondern mit Butter eingerieben und mehrere Tage lang den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Die Nahrung der Säuglinge besteht weniger in Milch, als vielmehr in der Hauptsache in Dsamba mit Suppe vermischt. Talismane werden dem Kinde an sein Kleid gebunden, um den bösen Blick abzulenken oder das Glück zum Eintritt zu zwingen, der Astrologe wird herzugezogen, um dem Neugeborenen das Horoskop zu stellen. Der Name, den das Kind erhält, pflegt oft ein recht hochtrabender zu sein, wie „Der Donnerschlag langen Lebens“ oder „Das unermeßliche Banner“, oder es wird ihm einfach der Name des Wochentages beigelegt, an dem es geboren wurde, wie die „Sonne“ für einen am Sonntag geborenen, oder „Saturn“ für einen am Sonnabend geborenen Knaben. Für Mädchen ist der beliebteste aller Namen derjenige der buddhistischen Mutter Gottes, nämlich „Dōlma“, was also unserem Maria entspricht.
Die tibetischen Frauen sind im allgemeinen recht fruchtbar; sie bringen im Durchschnitt etwa zehn bis zwölf Kinder zur Welt, von denen allerdings die Hälfte wieder stirbt. Von drei bis vier Söhnen einer Familie wird mindestens einer zum Lama bestimmt. Die Lama sind aber zum Zölibat verurteilt, und daher übersteigt die Zahl der unverheirateten Mädchen weitaus die der Jünglinge, die heiraten dürfen. Obwohl daher ein junger Mann bei seiner Brautwahl eine ungewöhnlich große Auswahl hat, so nimmt er doch für gewöhnlich eine Frau, die älter als er ist. Da zwischen den Geschlechtern die weitgehendste Vertraulichkeit erlaubt ist, so sind echte Werbungen und Liebesheiraten nichts Ungewöhnliches. Die formelle Verlobung indessen wird zumeist von einem Zwischenträger zustande gebracht, der ein Freund des Bewerbers ist und als Geschenk eine seidene Zeremonialschärpe mit überreicht. Diese, Chadak genannt, spielt[S. 235] eine sehr wichtige Rolle im gegenseitigen Verkehr, sobald eine Gefälligkeit erbeten oder ein Besuch gemacht wird. Sie dient als Zeichen der Begrüßung, der Freundschaft und des Glückwunsches und wird mit einer Verbeugung in der Weise überreicht, daß man sie gefaltet über beide parallel gehaltene Hände hinhält, worauf der andere sie auf seine ebenso vorgestreckten Hände übergleiten läßt, ohne die Finger dabei zu Hilfe zu nehmen. Um wieder auf die Werbung zu kommen, so wird die Antwort der Eltern dem Vermittler an einem festgesetzten Tage zuteil, an dem die Angehörigen der Braut und er, der dann eine große Menge Wein zur Bewirtung der Gesellschaft mitbringt, eingeladen werden. Wenn das Mädchen und ihre Eltern mit dem Vorschlage einverstanden sind, dann trinken sie den Wein und nehmen jeder einen Chadak an, worauf der Vermittler der Braut einen mit Türkisen besetzten Kranz, das Verlobungsgeschenk des Bewerbers, auf die Stirn setzt und noch andere Geschenke überreicht.
Bei der nunmehr folgenden Hochzeit finden keine religiösen Zeremonien statt, denn die Heirat ist in Tibet wie in anderen buddhistischen Ländern nichts als ein Zivilvertrag, der nur öffentlich bekannt gegeben zu werden braucht, um Gültigkeit zu besitzen. Nachdem die Astrologen einen günstigen Tag festgesetzt haben, werden Einladungsschärpen an alle Verwandten und Freunde gesandt, wofür man erwartet, daß sie das Geschenk durch ein Kleidungsstück oder einen anderen praktischen Gegenstand erwidern. Mehrere Freunde des Bräutigams holen die Braut ab und werden von den Angehörigen mit anderen Gästen festlich bewirtet. Alle Festgenossen sind aufs feinste angezogen; die Reicheren tragen Gewänder aus chinesischem Seidenbrokat, die Männer ihre Amtshüte, die Frauen sind mit schwerem Schmuck (silbernen und goldenen, mit Türkisen besetzten Amulettkästchen) förmlich überladen und tragen auf dem Haupte Tiaren. Besonders[S. 236] ausgeputzt ist natürlich die Braut, sie erhält ihren Platz zwischen ihren Eltern auf einem recht hohen Kissen, daneben nehmen Freunde und Verwandte in regelmäßiger Reihenfolge Platz. Nach Beendigung der Festtafel werfen Vater und Mutter der Braut je eine Schärpe (Abb. 282) um den Hals und wünschen ihr dabei reichen Kindersegen, während die übrigen Anwesenden Getreidekörner über sie ausschütten und sie sodann zum Hause des Bräutigams begleiten. Hier finden für gewöhnlich keine Zeremonien mehr statt. Braut und Bräutigam setzen sich nun nebeneinander nieder, essen und trinken Wein oder Tee, erheben sich darauf und nehmen die Glückwünsche der Gäste und die Schärpen entgegen; die letzteren legen sie sich zum Teil um den Hals oder häufen sie neben sich auf. Gelegentlich liest auch noch ein Priester etwas aus den heiligen Schriften vor und spendet seinen Segen. Die Gäste werden sodann noch einmal bewirtet. Nach der Hochzeit wandert das glückliche Paar noch drei Tage lang, aufs schönste gekleidet, umher, macht bei den Freunden Besuche, ißt und trinkt bei ihnen und beteiligt sich an sonstigen Lustbarkeiten. Wie bei allen feierlichen Gelegenheiten, so werden auch bei der Hochzeitsgratulation ausgesuchte Höflichkeiten ausgetauscht. Diese bestehen darin, daß man sich verbeugt und gegenseitig (wie beim Gruße überhaupt) die Zunge herausstreckt (Abb. 283). So sonderbar uns diese Sitte anmutet, ist sie doch die vornehmste aller Höflichkeitsformen.
Eine in Tibet weit bis in die neuere Zeit hinein verbreitete Sitte war die Polyandrie oder Vielmännerei; heutigentags ist sie bereits im Aussterben begriffen. Hiernach gehört eine Frau gemeinsam allen Brüdern einer Familie (Abb. 284); der älteste heiratet sie. Wenn einer der jüngeren Brüder seine ehelichen Pflichten ausüben will, verläßt der älteste das Haus und geht[S. 237] für gewöhnlich auf Reisen; zum Zeichen dessen hängt der augenblickliche Gatte seine Schuhe, seinen Gürtel und seine Beinkleider vor der Tür des Hauses auf. Die Polyandrie der Tibetaner scheint im wesentlichen ein Ausfluß des Gesetzes der Erstgeburt zu sein, das in Tibet besteht. Diesem zufolge wird der älteste Sohn, sobald er sich verheiratet, der alleinige Besitzer aller Ländereien, Sklaven, des Hauses und sonstigen Zubehörs seiner Eltern; diese werden auf das Altenteil gesetzt, die jüngeren Brüder von dem ältesten unterhalten. Daher wird die gemeinsame Frau offiziell nur die des ältesten, und etwaige Kinder gelten nur als die seinigen.
Wird ein Tibeter krank, dann nimmt man an, daß ein böser Geist von ihm Besitz ergriffen habe, und holt einen Lama herbei, um diesen auszutreiben. Erweist sich dessen Kunst als unzulänglich, dann macht man sich mit dem Gedanken vertraut, daß der Kranke sterben muß, und läßt ihn im Stich. Ist der Tod eingetreten, dann darf niemand den Körper berühren, bevor nicht der Priester mit seiner Seele fertig geworden ist. Er wird sofort gerufen, denn es besteht der Aberglaube, daß die Seele des Verstorbenen mindestens noch vier Tage lang in dem toten Körper weile und nur von einem erfahrenen Priester hinausgeleitet werden könne, der deswegen auch der „Seelenbeförderer“ heißt. Bei seiner Ankunft verweist der Priester alle Menschen aus dem Sterbezimmer, schließt Fenster und Türen zu und setzt sich zu Häupten der Leiche nieder. Er ermuntert die Seele, den toten Körper nunmehr zu verlassen, und reißt, um ihr einen Weg zu bahnen, dem Toten ein paar Kopfhaare aus, in dem Glauben, daß durch die Poren der Haarwurzeln die Seele nun einen Ausgang finde. Er ermahnt sie dann weiter, die Gefahren, die ihr auf dem Wege zum Paradies drohen, zu meiden, und wünscht ihr gute Reise. Die ganze Zeremonie dauert ungefähr eine Stunde; der Lama erhält dafür einen ungewöhnlich großen Lohn an Geld und anderen Geschenken, dessen Höhe von der Hinterlassenschaft des Verblichenen abhängt; bei ganz reichen Leuten kann diese Gebühr beinahe die Hälfte des Nachlasses ausmachen. Sobald der Priester erklärt hat, daß die Seele von dem Toten gegangen sei, darf letzterer berührt werden. Die Männer, die die weiteren Handlungen mit ihm vornehmen, müssen unter dem gleichen Planeten wie der Verstorbene geboren sein; sie werden mit einem Tabu belegt. Durch Horoskop wird der geeignetste Tag für das Begräbnis und für die Gebete, die für die Sicherheit der Überlebenden vorgeschrieben sind, festgestellt. Der Tote wird, mit Stricken in Hockerstellung gebunden, in einen Sack aus rohem Fell oder in eine viereckige Kiste gesteckt und in einer Ecke des Zimmers oder in einem unbenutzten Raum hingestellt. Abwechselnd halten Priester Tag und Nacht Wache neben der Leiche; sie lesen Gebete vor und murmeln heilige[S. 238] Sprüche, so lange, bis der Tote aus dem Hause gebracht wird. Um ihn herum brennen Kerzen, von acht bis einhundertundacht an der Zahl, und die Verwandten, die sich im Nebenraum aufhalten, bringen ihm Speise und Trank auf niederen Tischen dar. Vor dem Begräbnis essen und trinken auch die Angehörigen im Hause; sobald aber der Tote aus ihm entfernt worden ist, genießt keiner darin einen Monat lang etwas von einer Speise oder einem Getränk, aus Furcht vor dem bösen Geist. Unter Umständen, so bei rauher Witterung, namentlich im Winter, bleibt der Tote wochen- und selbst monatelang unbeerdigt, bis sich eine günstige Gelegenheit dazu bietet, die aber immer erst von dem Astrologen vorausgesagt werden muß. Die Priester (Abb. 286) gehen im Leichenzuge voran, sie singen Zauberformeln aus indischen Schriften, andere stimmen[S. 239] unheimliche Totenlieder auf Hörnern an, die von Trommelschlag und Handglockengeläut begleitet werden (Abb. 285). Hierauf folgen die Verwandten — ist der Hauptleidtragende eine Frau, dann begleitet sie den Zug nicht — und zuletzt der Sarg, den ein Hauptpriester an einer langen seidenen Schärpe (wohl dem „Seelenbanner“ der Chinesen entsprechend) unter Anschlagen einer Schädeltrommel (Abb. 287) führt. Menschenknochen wird bei Andachtsübungen eine große Bedeutung beigelegt; so finden Schalen aus Menschenschädeln als Becher (Abb. 288 und 289) bei Altaropfern Anwendung, Trommeln aus ebensolchen und Trompeten aus Oberschenkelknochen (Abb. 290) dienen bei der Teufelbeschwörung, Fingerknochen zu Rosenkränzen und so weiter.
Ein Begraben gibt es in Tibet nicht. Die Leichen der großen Lama und anderer hoher Priester werden einbalsamiert und in vergoldeten Grabmälern, den sogenannten Chorten oder Stupen aufbewahrt, die sterblichen Reste der wohlhabenderen Priester werden manchmal auch eingeäschert und ihre Aschenteile mit Lehm zusammen zu kleinen Medaillons geformt, die man in Nischen in diesen Chorten unterbringt, oder sie werden in den schon beschriebenen Amulettkästchen als Zaubermittel getragen.
Die übliche Art, sich der Toten zu entledigen, besteht darin, daß man das Fleisch von den Knochen schneidet und es den Hunden oder Geiern zum Fraße vorwirft (Abb. 292), eine Unsitte, die gewiß ein uralter Brauch ist und auch noch von den Parsen geübt wird. Von den Geiern verzehrt zu werden, wird besonders hoch eingeschätzt; die Wärter, die sich bemühen, andere aasfressende Tiere fernzuhalten, werden noch besonders dafür belohnt. Die Knochen des seines Fleisches beraubten Toten können wohl begraben werden, aber jede Familie, die es nur ermöglichen kann, läßt die Gebeine ihres lieben Angehörigen zerstoßen und in die Luft als Fraß für die Geier werfen; man hat für dieses Verfahren die schönklingende Bezeichnung „himmlische Erledigung der irdischen Reste“ erfunden. Die Leichen von armen Leuten, Verbrechern oder solchen, die durch einen Unfall ums Leben kamen, sowie von Aussätzigen und manchmal auch von kinderlosen Ehefrauen werden wie tote Tiere an einem Seil an Flüssen oder Seen geschleppt und hineingeworfen.
Die Trauer um Verwandte dauert gewöhnlich drei Monate, aber ein Jahr lang werden noch keine farbigen Kleider und kein Schmuck getragen. Die Jungen werden mehr als die Alten beklagt. Buddhistenpriester werden in häufig wiederkehrenden Zwischenräumen gerufen, um durch Messelesen für den Frieden der Seele des Verstorbenen zu beten und ihr den Weg durch ein Zwischenstadium, eine Art Fegefeuer, zum „Paradies des Westens“ zu verschaffen.
Die Mongolei und Ostturkistan. Die Bevölkerung der Mongolei besteht ausschließlich[S. 240] aus umherziehenden Mongolen; nur in ein paar Städten, wie in der Hauptstadt Urga, und in einigen wenigen Handelszentren haben die Bewohner eine halb städtische Lebensweise angenommen. Die Wohnstätte dieser Nomaden ist die Jurte, ein hölzernes Gestell mit Filzbelag. Dem Eingang gegenüber findet man immer den Heiligenschrein, ein kleines Schränkchen oder eine Schatulle mit dem Götterbildnis oder wenigstens seiner Abbildung auf Papier oder Gewebe, vor dem in einigen Schalen Wasser, Getreidekörner, Käse, Rahm und so weiter dargebracht werden. Zur rechten Seite des Heiligenschreins steht ein breites, niederes Bett mit einer Filzmatratze. Der übrige Haushalt besteht in Lederschläuchen, deren Inhalt Kumys, Sauermilch und Butter bilden, sowie in hölzernen Kasten zur Aufbewahrung des Wirtschaftsgerätes. In der Mitte der Jurte findet sich der Herd, auf dem das Feuer mit Mist unterhalten wird. Dieselbe Hütte dient allen möglichen Zwecken; sie ist zugleich Schlafzimmer, Küche, Eßzimmer und Besuchsalon, selbst Viehstall, denn im Winter wird das Kleinvieh in ihr untergebracht. Infolgedessen herrscht hier eine recht unbehagliche Atmosphäre, in der der Aufenthalt noch schrecklicher durch das in Unmasse herumwimmelnde Ungeziefer, im besonderen Flöhe und Läuse, wird. Um diesem zu entgehen, greifen die Mongolen des Nachts zu folgendem angeblich erprobten Mittel. Alle, Männer und Frauen, legen sich nackend auf Schafpelze oder wollige Felle und decken sich mit diesen auch zu. Läuse besitzen sie in ihren Unterkleidern, die sie niemals wechseln oder waschen, sondern so lange tragen, bis sie ihnen buchstäblich vom Leibe fallen, in solcher Masse, daß sie, wenn sie diese Tiere mit Holzstücken vom Leibe geschabt haben, auf diese Weise ganze Haufen erhalten, die ins Feuer geworfen oder nicht selten auch mit viel Behagen verzehrt werden.
Die Kleidung ist die bei den Mongolen übliche, deren wir bereits oben gedachten; beide Geschlechter kleiden sich im allgemeinen gleich, nur binden die Frauen keinen Gürtel um die Hüften, sondern knöpfen das Obergewand zu. Außerdem haben die Ärmel an den Frauengewändern die Form eines in die Länge gezogenen Ballons: sie sind bauschig und werden vom Ellenbogen an enger (Abbild. 293 und 294).
Der Lama rasiert sich den Kopf;[S. 241] die Laien haben nur einen Teil des Kopfes rasiert und tragen im übrigen einen kurzen Zopf. Die Frauen teilen ihre Haare in zwei Büschel, schmieren sie mit Leim ein und lassen sie in Form von zwei flachen, bandartigen Locken auf die Brust und bis auf die Taille herabhängen. In den Ohren tragen sie massiven Schmuck mit mannigfachen Anhängern, an den Armen und Händen Armbänder und Ringe und am Halse Korallen und Glasperlen. Mit diesem Schmuck wird geradezu Verschwendung getrieben, denn man trifft sogar bei Frauen aus ärmeren Klassen solchen im Werte von sechshundert bis achthundert Mark an; die Familien pflegen ihre ganzen Ersparnisse beiseite zu legen, nur um einen kostbaren Schmuck zu ermöglichen. Die Kopfbedeckung ist bei Männern und Frauen die gleiche: eine konische Mütze mit breitem, aufwärts gebogenem Rande, der außen mit Fellbesatz oder Plüsch (Abb. 291) eingefaßt ist; hinten fallen von dieser Mütze zwei karmoisinrote ungefähr fünfundvierzig Zentimeter lange Bänder herab.
Die Mongolen sind im allgemeinen gutmütige, freundliche und gastfreie Leute, gleichzeitig aber leicht aufbrausend, starrköpfig und träge. Sie begrüßen sich auf eine eigenartige Weise: der eine streckt beim Begegnen die Arme vor, der andere tut das gleiche, hält dabei aber seine Arme unter die seines Gegenübers. Bevor man in ein Zelt tritt, muß man sein Pferd in einiger Entfernung draußen lassen, Stöcke und Peitschen ablegen; als Grund hierfür gibt man an: „Stöcke und Peitschen sind gut für wilde Hunde; brächtest du sie herein, dann würdest du uns auch wie Hunde behandeln.“ Beim Eintritt muß man sich links zwischen Eingang und Hintergrund der Jurte niederlassen, sofern man nicht die Aufforderung erhält, „höher hinaufzurücken“, das heißt, weiter nach dem Inneren zu kommen. Den Hut behält man auf dem Kopfe oder legt ihn ab, aber nie in der Richtung der Türe. Kann man nicht mit gekreuzten Beinen sitzen, so muß man seine Füße nach der Türe hin ausstrecken. Man reicht dem Wirt und seinen Angehörigen die Schnupftabaksdose, und diese reichen umgekehrt die ihrige hin. Es ist nicht bloße Formsache, daß dem Gaste Tee dargereicht[S. 242] wird, sondern die gute Sitte verlangt, daß er auch tüchtig davon trinkt und sich immer wieder einschenken läßt.
Zu den bereits an anderer Stelle erwähnten Nahrungsmitteln der Mongolen kommt für dieses Gebiet noch das Fleisch von Murmeltieren hinzu, das besonders von den ärmeren Volksschichten verzehrt wird. Die Zubereitungsweise dieser Tiere ist eine eigenartige und erinnert an die tiefstehender Völker. Nach Abziehen des Felles und Entfernung der Eingeweide wird das Innere des Tieres mit glühenden Steinen ausgefüllt, das Ganze in eine flache Grube in die Erde gelegt und vollständig mit Erde zugeschüttet; über der Stelle wird ein Feuer so lange unterhalten, bis das Fleisch gar geworden ist.
Die Hauptbeschäftigung der Mongolen und zugleich die wichtigste Quelle ihres Reichtums ist die Viehzucht (Rinder, Schafe, Pferde, Kamele, Ziegen, weniger Schweine). Mit Ackerbau geben sie sich nur in beschränktem Maße ab. Zum Teil sind sie auch Jäger (auf Murmeltiere, deren Felle sie russischen Händlern verkaufen). Die Industrie steht auf sehr niederer Stufe und beschränkt sich auf die Anfertigung von allerlei Silberschmuck, die Bearbeitung von Leder und die Gewinnung von Filz.
Die Religion der Mongolen ist der Buddhismus, und zwar die besonders in Tibet übliche Form des Lamaismus (Abb. 296). Im allgemeinen sind sie sehr fromm. In jeder Jurte findet sich, wie schon angeführt, ein Altar zur Anbetung einer oder mehrerer lamaistischer Gottheiten; Gebetswimpel, die von den Stangen der Palisaden um die Hütte wehen, sollen Buddha ihre Bitten überbringen, und fast jeder zweite Mann, mindestens aber einer aus jeder Familie, wird ein Lama. Gebetsrad und Gebetsbrett sind überall anzutreffen. Unter letzterem versteht man ein Brett, auf das der Bittende sich wirft, wobei er mit dem Gesicht die Erde berührt und feierlich die Worte: „Om ma-ni pad-me hum“ ausruft. Aberglaube ist auch reichlich vertreten, und zwar in derselben Form wie in Tibet.
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Der Geistlichkeit ist die Ehe verboten. Dafür aber sind fast ausnahmslos alle übrigen Mongolen verheiratet; Junggesellen gibt es daher so gut wie gar nicht. Bestimmte Verbotstage, an denen keine Ehe eingegangen werden darf, sind in der Mongolei nicht vorhanden, wohl aber bestimmte Jahre, in denen Eheschließung nicht erlaubt ist. Diese werden von den Astrologen in Peking festgelegt und durch die Lama bekanntgegeben. Die Heiraten bringen die Eltern zustande, Verlobungen finden bereits in früher Kindheit statt. Auf geschlechtliche Unschuld der Mädchen wird kein Wert gelegt, sie genießen in dieser Hinsicht vollkommene Freiheit. Oft vermitteln die Eltern vorehelichen Umgang ihrer Mädchen selbst, besonders wenn ihre Beihilfe durch Geschenke belohnt wird. Trotz dieser Freiheit der geschlechtlichen Beziehungen gilt der Verkehr des Schwiegervaters mit seiner Schwiegertochter für eine schwere Sünde; der Sohn, der seinen Vater auf frischer Tat ertappt, hat das Recht ihn zu ermorden oder Teilung des väterlichen Vermögens zu fordern. Auch die bereits von Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert erwähnte Sitte der gastlichen Prostitution ist noch heute bekannt; ein Gast wird nicht nur mit Speise, Trank und Unterkunft, sondern auch mit einer Frau versorgt.
Die Mitgift des Mädchens besteht in lebendem Inventar, Schafen, Ochsen und Pferden. Diese Ausstattung kann unter Umständen eine recht ansehnliche sein; sie verbleibt der Witwe als Erbteil. Die Ehe pflegt man frühzeitig zu schließen. Am Hochzeitstage geht der Bräutigam in das Haus seines Schwiegervaters, um zu opfern; dort bleibt er die ganze Nacht. Am nächsten Morgen geleitet er die verschleierte Braut in seine Hütte, vor der seine Eltern und die Gäste das Paar erwarten und es mit gekochtem Hammelfleisch bewirten. In der Hütte spricht ein Lama Zaubersprüche für das Wohlergehen der Brautleute aus und besprengt sie mit Weihwasser, worauf sich das Brautpaar in die elterliche Hütte des Bräutigams begibt und hier Butter als Opfergabe auf den Familienherd wirft. Den Abschluß des Festes bilden Gelage und Lustbarkeiten. Eine mutwillige Verstoßung der Frau ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. — Den Frauen wird ziemlich viel Arbeit aufgebürdet; sie haben[S. 245] nicht nur im Haushalte zu tun, wie Speisen zuzubereiten und die Kinder sowie die Herden zu hüten, sondern müssen auch Filze und Decken herstellen, die Kleidung nähen, die Zelte abbrechen und anderes mehr.
Wird ein Kind geboren, so ruft man einen Lama herbei, der Gebete spricht und die Mutter mit Weihwasser besprengt.
Sobald ein Mongole gestorben ist, wird der Lama ebenfalls herbeigeholt, und dieser bestimmt, wann er beigesetzt werden soll; dabei richtet er sich nach dem Geburtstage des Verstorbenen. Die Leiche wird darauf in einen alten Mantel gehüllt und eine Strecke weit von der Ortschaft oder dem Dorfe hinweggetragen, dort bleibt sie frei auf dem Erdboden liegen, der Gnade der Elemente und der Tiere überlassen (Abb. 295), und nur eine Gebetsfahne, auf der der Name des Verstorbenen geschrieben steht, bezeichnet seine Stätte. Nach der Beisetzung kehren alle in die Jurte zurück, schlachten und verzehren einen Hammel, womit die Feier zu Ende ist. Der Lama erhält das Pferd des Toten samt dem Geschirr, seinen Säbel und sämtliche Kleider. Wenn die Hunde mit ihrer Mahlzeit schnell aufräumen, dann gilt dies für ein gutes Omen, denn nach dem Glauben der Mongolen muß der Lebenswandel eines Toten um so heiliger gewesen sein, je schneller sein Leichnam von den Hunden aufgefressen wird. Wird dagegen die Leiche im Laufe einer Woche von keinem Hunde berührt, so gilt der Verstorbene für einen argen Sünder, dem man keine Totenfeier veranstaltet, während im entgegengesetzten Falle zum Andenken an den von den Hunden Verzehrten ein Schmaus zum besten gegeben wird, wobei sich die Teilnehmer am Hammelbraten, Branntwein und Tabak gütlich tun. — Die Geistlichen sowie vornehme und reiche Leute werden nicht den Hunden überlassen, sondern eingeäschert. Die Asche wird, besonders bei hochstehenden Personen, gesammelt, mit Tonerde vermengt zu einer menschlichen Figur mit untergeschlagenen Füßen geformt und an der Verbrennungsstätte aufgestellt. Diese Figuren stehen im Rufe der Heiligkeit.
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Nordasien wird von einer Reihe Völkerstämme eingenommen, die verschiedenen Rassen angehören, aber unter den gleichen klimatischen Verhältnissen und Lebensbedingungen auch ziemlich dieselbe Kultur angenommen haben. Da sind zunächst die Altasiaten als die Urbevölkerung im Osten dieses Gebietes zu nennen; zu ihnen gehören die Tschuktschen oder Tschautschu (Abb. 299), die Korjäken, die Itälmen oder Kamtschadalen, die Aleuten (bereits auf der Verbindungsbrücke nach Amerika hin), die Inkagiren, Tschuvanen, Inuit oder Eskimo und die Jenissejer (Abb. 298). Von allen dürften als am meisten typische Vertreter noch die Tschuktschen gelten, Leute von mittlerer Größe, hellbrauner Hautfarbe, straffem, schwarzem Kopfhaar, breitem Gesicht mit vorstehenden Backenknochen, gerader Nase, horizontalstehenden großen Augen und geringem Bartwuchs. Die übrigen Stämme lassen schon mehr oder minder mongolischen Einschlag erkennen. Denn eigentliche Mongolen sind auch bis nach Sibirien vorgedrungen, die Tungusen (Abb. 305) mit der Untergruppe der Lamuten und Orotschonen (Abb. 307) und die Burjäten (Abb. 303), die in ihrem Äußern deutlich ihre Abstammung erkennen lassen. Eine dritte Gruppe bilden die Ainu (im Norden Sachalins und am Mündungsgebiet des Amur) mit den aus ihnen (mit Mandschumongolen?) hervorgegangenen Mischvölkern der Giljaken und Golde. Hierzu kommen dann noch Vertreter der türkischen Völkerfamilie, die Jakuten (Abb. 300, 302) und Tataren und schließlich solche der finnisch-ugrischen Völkergruppe, die Ostjaken, Samojeden (Abb. 297), Karagassen, Sojoten und so weiter. Die Völker dieser Abstammung sind gekennzeichnet durch Kleinwüchsigkeit, hellgelbe Haut, schlichtes, dunkles, seltener helles Haar, dunkle Augen mit schräg verlaufender Lidspalte, flaches Gesicht, kurze, an der Wurzel eingedrückte Nase, die nach vorn[S. 247] in eine runde Kuppe endigt und große Nasenflügel aufweist, großen Mund mit wulstiger, herabhängender Unterlippe, kleines rundes Kinn und spärlichen Bartwuchs.
Ihrem Charakter nach sind alle diese Völker gutmütig, bieder, verträglich, gastfrei, ehrlich und widerstandsfähig in dem Ertragen von Strapazen, andererseits aber auch selbstbewußt, großprahlerisch, unter Umständen streitsüchtig, wenn sie sich unterordnen sollen, faul und besonders stark dem Trunke ergeben.
Die soziale Gliederung geht bei einigen Stämmen (Tungusen, Burjäten, Jakuten) über die Familie hinaus; denn es lassen sich bei ihnen schon Geschlechter und Stämme mit Häuptlingen oder leitenden Personen (Fürsten) unterscheiden. Bei den übrigen Stämmen ist die höchste Gemeinschaft die Familie; gelegentlich finden sich wohl mehrere Familien für eine gewisse Zeit (Fischfang, Wandern) zusammen, unterstehen aber keinem gemeinsamen Häuptling.
Die Kleidung der Sibirier ist sehr einfach und der Umwelt angepaßt, daher auch bei allen Stämmen ziemlich übereinstimmend. Männer und Weiber kleiden sich ebenfalls gleich. Das Material besteht aus Fellen oder Leder vom Renntier — Renntiere sind für die Polarvölker von der größten Bedeutung; nicht mit Unrecht bezeichnen die Ostjaken sie als das „lebende Gold“ —, von den großen Wassersäugetieren, von Hunden und anderen Tieren mehr. Die Golde verstehen sich besonders darauf, Fischhaut in vorzüglicher Weise zu präparieren und sie zu Gewändern zu verarbeiten (namentlich die Haut der Lachse); die Haut wird zunächst getrocknet, sodann mittels hölzerner Hämmer geklopft und zu größeren Stücken zusammengenäht. Die aus ihr hergestellten Gewänder verziert man obendrein noch mit schönen Stickereien oder Malereien. — Die Kleidung (Abb. 305) setzt sich aus einer kurzen Hose und langen Stiefeln, einem langen, bis zu den Oberschenkeln reichenden Rock oder Hemd, das durch einen Ledergurt zusammengehalten wird, einer kapuzenartigen Kopfbedeckung und Fausthandschuhen zusammen; die Männer tragen im Sommer Mützen oder Hüte, die Frauen gehen entweder barhäuptig oder setzen sich ein Häubchen auf. Das Haar lassen sich beide Geschlechter lang wachsen, nur einige wenige Stämme schneiden es sich ab; die mongolischen Völker tragen es nach Chinesenart. Die Frauen flechten das[S. 248] Kopfhaar gewöhnlich in zwei Zöpfe und bringen daran allerlei Zierat, wie Münzen, Perlen, Korallen, Bernsteinstücke und dergleichen, an.
Die Tatauierung, die früher allgemein verbreitet war, ist neuerdings mehr in Abnahme gekommen; doch schmückt besonders das weibliche Geschlecht sich auch jetzt noch gern damit. Die Muster werden entweder mittels der sonst üblichen Methode des Stechens hervorgebracht oder mittels der des Nähens; bei diesem Verfahren zieht man durch die Haut einen mit Ruß oder Kohle geschwärzten Faden. Die eingestochenen Zeichnungen bestehen zumeist in einfachen Mustern, wie Kreisen, Halbkreisen oder Doppellinien, seltener in komplizierteren Mustern oder Tieren und Blumen. Bemalen des Körpers, sowie Durchbohren der Nasenscheidewand, der Unterlippe und der Ohren und Hineinstecken von allerlei Zierat, im besonderen von Knochenstiften, kommen auch verschiedentlich vor.
Die Lebensweise der Nordvölker Asiens ist im allgemeinen eine nomadisierende (siehe Kunstbeilage). Wenngleich einige Stämme, die vorzugsweise dem Fang der Fische und Seetiere obliegen, eine gewisse Seßhaftigkeit bekunden, so verlegen sie von Zeit zu Zeit doch ihren Wohnsitz an einen anderen Ort. Die Unwirtlichkeit des Klimas zwingt die Polarvölker, große Strecken umherziehend zurückzulegen; Renntier (Abb. 297) und Hund (Abb. 301) erleichtern ihnen ihr Fortkommen; Schlitten und Boot dienen als die hauptsächlichsten Beförderungsmittel. Die wichtigste Nahrungsquelle bildet die Jagd auf Bären, Wölfe, Hirsche und kleinere Pelztiere, an den Flüssen der Fischfang und an der Meeresküste die Jagd auf Seehunde, Walrosse, Walfische, Seelöwen und andere große Seesäugetiere. Als besondere Delikatesse gilt mit Zedernnüssen angefüllter und gerösteter Renntiermagen oder gefülltes Eichhörnchen. Die Mongolenstämme genießen mehr Schaf- und Pferdefleisch. Natürlich werden auch Pflanzenstoffe den Speisen beigegeben, im besonderen Zwiebeln, Beeren, Sauerampfer. Von Genußmitteln kennen die Sibirier Schnaps und Tabak. Die Korjäten und die ihnen verwandten Stämme stellen aus dem giftigen Fliegenpilz ein stark berauschendes Getränk her. — Von den üblichen Kochmethoden verdienen zwei ältere Verfahren der Itälmen und Aleuten Erwähnung, das Steinkochen (durch Hineinwerfen glühend gemachter Steine in ein mit Wasser gefülltes Gefäß) und das Rösten des Fleisches zwischen zwei ausgehöhlten und mittels Lehm zusammengefügten Steinen in der Feuersglut. Feuer wird allgemein durch Anschlagen von Stahl an Steinen erzeugt.
Die Behausung der Sibirier ist ihrer Lebensweise und dem Klima angepaßt. Wo sie schon eine gewisse Seßhaftigkeit erreicht haben, wie an den Küsten, wohnen sie in Erdhütten oder Schneehäusern; dagegen leben alle umherziehenden Völker, auch die sonst seßhaften, im Sommer in leicht gebauten kegelförmigen Zelten aus oben zusammengebundenen Stangen, die zur kalten Jahreszeit mit mehreren Fellen, zur wärmeren mit Birkenrinde bedeckt werden. Der Hausrat in diesen urwüchsigen Wohnungen (Abb. 304) ist sehr bescheiden; er besteht fast nur in einigen Gefäßen aus Birkenrinde oder Holz, Werkzeugen aus Knochen, Horn oder Eisen und eisernen Töpfen, die man durch Tauschhandel zu erlangen sucht, sowie in Ledersäcken. Besondere Fertigkeit bekunden die Männer in dem Schnitzen von allerlei Geräten aus Bein oder Horn, die Frauen in der Herstellung von Lederarbeiten und dem Benähen der Gewänder mit schönen Mustern aus bunten Fellstückchen, Perlen, Renntierhaaren und Ähnlichem.
Im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Lebensweise aller nordasiatischen Völker teilweise schon durch den Verkehr mit den Russen beeinflußt ist; dies gilt von ihren Sitten, Gebräuchen und religiösen Vorstellungen.
Ihrem religiösen Bekenntnis nach sind die meisten der sibirischen Völker rechtgläubige Christen, aber in Wirklichkeit huldigen sie doch noch vielfach ihrer alten heidnischen Religion, dem Schamanismus, der wieder auf dem Animismus und dem Ahnenkult (Abb. 306) beruht. Einige Stämme bekennen sich zum Lamaismus, noch andere zum Islam. Vielfach haben sich die christlichen Gebräuche mit heidnischem Aberglauben verquickt, so daß daraus eine eigentümliche Form der offenbarten Religion hervorgegangen ist. Zunächst sind es die Furcht und Freude zugleich einflößenden Naturgewalten, die für die Sibirier zum Gegenstand der Verehrung werden, in erster Linie die Sonne, sodann Blitz, Donner, Regen, Wolken, Feuer, ferner der Wald, auffallend geformte Steine, Gebirge, Flüsse, Seen, das Meer und so weiter. Ihnen bringen sie Opfer in Gestalt von Fleisch, Blut, Fett, Häuten, Fellen und Schmucksachen dar. So werfen die Itälmen die Nase der Pelztiere ins Feuer, die Jakuten und Tungusen schütten beim Essen von jedem Gericht einen Löffel voll hinein, die Samojeden legen Felle, Perlen und Schmucksachen an den Fuß gewisser Bäume, bestreichen Steine mit Blut und Fett, die Ostjaken behängen Bäume mit Pferde- und Rinderhäuten oder Pelzwerk, die Tungusen gießen beim Überschreiten von Gebirgspässen einen Schluck Branntwein aus oder hängen Pferdehaare, Felle, Tuchfetzen an die dort stehenden Bäume oder Steine.
Der animistischen Denkweise entsprechend werden auch Tiere als höhere Wesen behandelt; man verehrt sie hauptsächlich aus Furcht, daß sie sich rächen könnten, wenn man sie tötet. Besonders der Bär und der Walfisch erfreuen sich der größten Achtung. Dem ersten zu Ehren werden große Feste veranstaltet, an denen schließlich ein Bär getötet wird. Die Giljaken fangen zu diesem Zwecke ein junges Tier ein; jedem Dorfe, in dem dasselbe bei dem Transport Aufenthalt nimmt, widerfährt dadurch ein Glück; wird durch Versehen der Führer etwa ein Kind vom Bären getötet, so schätzen die Eltern dies als eine Auszeichnung. In dem Heimatdorfe angekommen, bringen die Giljaken den Bären in einen besonderen Behälter, wo er längere Zeit gefüttert und gut gepflegt wird. Zum Festtage strömen die Leute von weit und breit zusammen; es finden gleichzeitig Hundewettrennen statt. Darauf wird der Bär, der für die Festlichkeit vorgesehen ist, herumgeführt und zum heiligen Platze gebracht; hier bindet man ihn an einen Pfahl und tötet ihn durch Pfeilschüsse unter dem Geschrei und dem Gejubel der versammelten Menge. Darauf wird er zerlegt und sein Fleisch an die Zuschauer verteilt; die Veranstalter des Festes müssen sich mit der Suppe[S. 250] begnügen. Die Knochen des Tieres werden schließlich gesammelt und in einer besonderen Gruft beigesetzt. Die Ostjaken stimmen vor der an einem Baume aufgehängten Haut des Bären Bittgesänge an, auf daß das getötete Tier ihnen ihr Vorgehen vergebe, und erweisen ihm große Ehre, um seinen Geist zu versöhnen, damit er sich nicht räche. Ein ähnliches Fest begehen im Anfang des Frühjahrs die Itälmen. Hierbei ist der Walfisch Gegenstand der Verehrung. Sie schnitzen aus Holz ein solches Tier von etwa einem halben Meter Länge und zünden vor ihm eine Lampe an, die die ganze Fangzeit über, also bis zum Herbste brennen muß. Im nächsten Frühjahr, bevor die Walnetze ausgelegt werden, bringen sie den hölzernen Walfisch unter Trommelwirbel und allgemeinem Jubel in eine Erdjurte und schlachten ihm zu Ehren eine Anzahl Hunde. Schamanen verkünden darauf, daß das Tier ins Wasser entflohen sei.
Ebenso wie die Rache getöteter Tiere wird auch die verstorbener Menschen von den Sibiriern gefürchtet; sie sind daher bestrebt, wie wir noch weiter unten sehen werden, den Verstorbenen ihre Habe mit ins Grab zu geben und durch allerlei Zeremonien sie an der Rückkehr zu verhindern. Außerdem lassen sie es sich angelegen sein, mit Hilfe der Schamanen der Seele der Abgeschiedenen den Weg ins Jenseits zu zeigen. Über das Aussehen der Geister und ihr Wesen herrschen unter den Sibiriern nur unklare Vorstellungen; man glaubt vielfach, daß sie zu Bären, Adlern, Eulen, Käfern und so weiter werden oder als Schatten umhergehen, und unterscheidet gute und böse Geister. Die ersteren gelten meistens für die Beschützer des Hauses und des Eigentums, während die bösen hingegen als Unholde den Menschen alles mögliche Böse zuzufügen suchen, im besonderen Krankheit und Tod. Nach dem Glauben der Burjäten essen sie die kleinen Kinder und trinken ihr Blut, aber nur bei solchen unter einem Jahre; die Erwachsenen belästigen sie dagegen durch allerlei Ränke. Früher scheint man bei diesem Volke durch Menschenopfer die bösen Geister versöhnlich gestimmt zu haben, wie sich aus alten Liedern und Sagen der Burjäten entnehmen läßt. Da man mit der Möglichkeit rechnen muß, daß die Geister der Verstorbenen trotz aller Vorsichtsmaßregeln doch zu ihren Angehörigen zurückkehren, fertigt man Ahnenbildnisse für sie an, in denen sie dann einen ihrem früheren Körper ähnlichen Aufenthalt nehmen können. Es sind dieses aus Holz roh geschnitzte, bald größere, bald kleinere menschliche Figuren, an denen eigentlich nur der Kopf, als der Sitz der Seele, ausgearbeitet[S. 251] zu werden pflegt. Man bringt sie entweder im Hause oder unter dem Dachfirst an, stellt sie auch wohl an abgelegenen Plätzen auf.
Allgemein nimmt man an, daß die Seelen der Verstorbenen nach längerer oder kürzerer Frist in eine andere Welt übergehen, wo sie ein dem irdischen ähnliches, aber weit glücklicheres Leben führen. Nach dem Glauben der Ostjaken geht die Seele zunächst in den Himmel ein und bleibt hier ebensolange, wie sie auf Erden weilte, sodann wandert sie in einen Käfer, der unter Steinen lebt, und schließlich geht sie in das Innere der Erde über. Die Eskimo kennen ein Totenreich, das unserem Fegfeuer entsprechen würde und für die bösen Geister als Aufenthalt dient, und ein Himmelreich, wo die Abgeschiedenen die wahre Seligkeit finden und wohin in erster Linie Männer gelangen, die im Leben viel erduldet und große Taten vollbracht haben, sowie die Frauen, die im Wochenbett starben. Zu diesen beiden Reichen ist indessen der Zugang nicht leicht; zu ersterem führt er über ein dünnes Seil oder über eine spiegelglatte Eisbrücke, an deren Ende zwei bissige Seehunde die Ankömmlinge erwarten, zu letzterem über den Regenbogen und einen bluttriefenden Berg. Wegen dieser mannigfachen Gefahren, die die Abgeschiedenen auf den Wegen ins Himmelreich erwarten, geben die Eskimo ihren Kindern Hundeköpfe ins Grab mit, die die schwachen Kinderseelen unterwegs leiten und beschirmen sollen. Bei den Jakuten sind die ursprünglichen Anschauungen von der Gottheit und dem Leben nach dem Tode bereits stark durch den Monotheismus der christlichen Religion beeinflußt worden. Gott ist nach ihrer heutigen Ansicht unsichtbar, er wohnt im siebenten Himmel und regiert von dort die Welt; zwischen ihm und der Erde bilden eine Reihe weniger bedeutender Götter die Vermittlung. Der Himmel hat sieben Firmamente übereinander, auf dem obersten thront Gott der Schöpfer, auf den niedriger gelegenen die übrigen Götter. An den Stufen des Himmels wohnen die guten Geister, in der Tiefe der Hölle die bösen, denn die Seelen der Verstorbenen werden je nach ihren Tugenden oder Lastern in jene oder in diese verwandelt. Der Fürst der Hölle wird auch als ein Gott angesehen. Die Erde ist dem Teufel zur Verfügung gestellt; er kann die auf ihr lebenden Menschen verführen; damit er diese ihm verliehene Macht nicht zu sehr mißbrauche, hat Gott die geringeren Götter auf die Erde gesandt; sie sollen die Menschen vor den Angriffen des Teufels schützen. Nach dem Tode[S. 252] nimmt der Teufel die Seele und führt sie an alle Stellen, wo der Lebende sündigte, und bestraft sie dort; darauf gelangt die Seele an den ihr zukommenden Platz.
Auch während des Schlafes trennt sich die Seele zeitweilig von dem Körper des Menschen und kann umherschweifen. Fängt der Teufel dabei die Seele ein, so erkrankt der Mensch; hält er sie zu lange fest, dann muß er sterben. Ist ein Mensch krank geworden, so versucht man es bei den Tschuktschen mittels Suggestion (Abb. 313). Sonst wendet man sich an den Schamanen, da nur ein solcher imstande ist, die Seele zurückzuschaffen. Die Schamanen sind zumeist Männer (Abb. 308), seltener Frauen (Abb. 311), denen die Aufgabe zufällt, zwischen den Menschen und den überirdischen Geistern, im besonderen den bösen, dem Teufel, zu vermitteln. Ihr Beruf pflegt sich von Vater auf Sohn zu vererben, jedoch kann ihnen ihre Bestimmung auch von den Göttern im Traume verkündet werden; auf jeden Fall haben die angehenden Schamanen eine langdauernde Schule durchzumachen, in der sie in die Geheimnisse eingeweiht werden. Zumeist sind sie wohl von ihrer Kunst überzeugt, oft genug aber sind sie auch bewußte Betrüger, die durch ihre besondere Klugheit die übrigen zu betören vermögen; sie machen zur Erhöhung ihres Ansehens auch allerlei Taschenspielerkunststückchen, ähnlich unseren Spiritisten. Eine wesentliche Vorbedingung für den Schamanenberuf scheint eine gewisse Überempfindlichkeit des Nervensystems zu sein, eine Art Hysterie. Sie zeichnen sich äußerlich durch eine besondere Tracht aus, die durch auffälligen Zierat, wie allerlei Lederstreifen, Adlerklauen, Schlangenhäute, Federn, Ringe, Glöckchen, Amulette und so weiter, furchterregend auf die Zuschauer wirkt. In der Hand halten sie das wichtigste Werkzeug ihrer Kunst, eine Trommel von etwa fünfzig bis siebzig Zentimeter Durchmesser, die aus einem hölzernen Rahmen besteht, mit Renntier- oder Seesäugerhaut bespannt und mit kleinen Schellen behängt ist. Die Trommel wird mit einem kurzen Stock aus Holz geschlagen, der mit Fell überzogen ist und vorn meist in zwei Hörner ausläuft. Außerdem gehört zum Ausputz eines Schamanen eine runde Kupferscheibe, die zusammen mit Tigeridolen als Zeichen der Kraft und einigen Götterbildnissen an einem Lederriemen über seiner Brust hängt; in dieser Scheibe sollen sich die guten und bösen Taten der Menschen widerspiegeln, so daß sie der Schamane erkennen kann. Bevor der Schamane seine offizielle Kleidung anlegt, werden alle Gegenstände von seinem Gehilfen mit Branntwein bespritzt. Bei einer Krankenheilung setzt er sich bei den Golde noch eine Kopfbedeckung aus Hobelspänen auf, deren Enden ihm über den Nacken herabfallen, und befestigt solche auch an seinen Ellbogen und Knien. Der Zweck derselben soll der sein, daß die Krankheit während der Behandlung in diese Späne übergehe, die nach eingetretener Heilung dann fortgeworfen werden.
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Wird der Schamane zu einem Kranken gerufen, um die von einem bösen Geiste diesem geraubte Seele wieder einzufangen, so erscheint er im vollen Kostüm, was an und für sich schon Schaudern einzuflößen geeignet ist, und nimmt an dem Kranken seine Beschwörungen vor. Er beginnt zunächst einen Tanz, der anfänglich langsam und manchmal nicht ungraziös, dann immer schneller ausgeführt wird und schließlich in einen wirren Wirbel ausartet. Gleichzeitig schlägt er seine Trommel, singt, schreit, brüllt, verzerrt mehr und mehr sein Gesicht und gerät allmählich in einen Zustand von Ekstase, in der er den bösen Geist erkennt und zu dem Kranken zitiert. Sodann kämpft er mit ihm, bestürmt ihn anfänglich mit Bitten und Versprechungen, dann mit Drohungen. Dieses Spiel treibt er so lange, bis er vollständig erschöpft zu Boden sinkt. Darauf erteilt er dem harrenden Kranken — oft genug, indem er sich dazu der Sprache eines Bauchredners bedient — die Antwort des bösen Geistes, die meistens darin besteht, daß dieser zur Versöhnung eine Anzahl Schafe oder Pferde fordert. Oft verlangen die Schamanen von dem Kranken beziehungsweise seiner Umgebung noch ganz andere Dinge, so zum Beispiel, daß er die Kleider wechsle und in den Wald an eine bestimmte Stelle hinlege; oft geben sie dem Kranken auch allerlei Mittel ein, stellen ihm Idole an die Seite (Abb. 310), schwingen bei der Beschwörung eine Gerte mit einem Pferdehaarbüschel über dem Kranken und anderes mehr. Trifft die Voraussage des Schamanen zu und findet der Kranke Genesung, dann wird jener gut belohnt; mißglückt dagegen der Beschwörungsversuch und stirbt der Kranke, so ist der Schamane um eine Ausrede nicht verlegen: er meint dann, daß die Seele auf ihrer Wanderung sich verirrt habe, oder daß die bösen Geister mit dem Opfer nicht zufrieden gewesen seien.
Die Mitwirkung eines Schamanen pflegt meistens auch gefordert zu werden bei der Aufdeckung eines Diebstahls,[S. 254] beim Wahrsagen, beim Wetterzauber und bei der Herstellung von Amuletten. Schließlich fällt ihm noch die Aufgabe zu, die Seele eines Verstorbenen ins Jenseits zu begleiten.
Wenn eine Schwangere bei den Sibiriern merkt, daß ihre schwere Stunde naht, dann zieht sie sich für einige Zeit in eine besondere Jurte oder Schneehütte zurück oder begibt sich abseits vom Dorfe ins Dickicht, um niederzukommen. In dieser Zurückgezogenheit bringt sie nach der Geburt auch noch einige Wochen (bei den Samojeden bis zu zwei Monaten) zu; nach Abschluß dieser Zeit unterzieht sie sich einer Läuterung. Bereits während ihrer Schwangerschaft ist die junge Mutter mancherlei Verboten unterworfen. Bei den Ostjaken ist es ihr untersagt, sich einem Manne zu nähern oder über Gegenstände des Haushaltes zu steigen. Ist ein schwangeres Weib zufällig doch über ein Netz gestiegen, so wird dieses zerschnitten, dann aber wieder zusammengenäht. Bei den Inuk muß sie aus einem besonderen Gefäß trinken, darf ihre Nahrung nicht vor der Hütte zu sich nehmen und mehr dergleichen. Wenn bei den Golde eine Frau Mutter wird, dann pflegt sie den Schamanen über die Zukunft ihres Kindes um Rat zu fragen. Sie verschluckt die Regenbogenhaut eines Bärenauges, damit das Kind ein gutes Aussehen bekomme, sagt dies aber keinem anderen, sondern behauptet, daß sie das Auge versteckt habe; denn es würde ihr als Sünde ausgelegt werden, wenn sie sie etwa gegessen hätte. Nach dem Glauben dieses Volkes leben die menschlichen Seelen vor ihrer Geburt im Himmel, wo sie in der Gestalt eines kleinen Vögelchens in einem großen heiligen Baume wohnen. Steigt eine solche Seele zur Erde hinab, dann bildet sie sich im Leibe der Frau zu einem Menschen um. Stirbt das Kind innerhalb eines Jahres, dann kehrt seine Seele wieder zum Himmel zurück, behält aber die Fähigkeit, zum zweitenmal Mensch zu werden. — Die Geburt geht meistens unter Beihilfe einer alten Frau vor sich. Um ihre schwere Stunde zu erleichtern, muß die Gebärende bei den Ostjaken dieser ihre Sünden bekennen. Soviel Sünden sie beichtet, so viel Knoten macht die Alte in einen dünnen Strick. Gleichzeitig aber bekennt der Mann ebenfalls einer alten Frau, daß er in unerlaubtem Verkehr mit einem fremden Weibe gestanden oder daß er, was gar nicht so selten ist, Sodomiterei getrieben habe. Auch diese bindet für jedes Vergehen[S. 255] einen Knoten in einen Strick. Darauf werden beide Stricke miteinander verglichen, die überzähligen Knoten werden abgeschnitten, und der Rest wird der Kreißenden auf den Unterleib gelegt. Falls die Eheleute keine Sünde bei dieser Generalbeichte verheimlicht haben, steht der Gebärenden eine leichte Geburt bevor. Nach der Niederkunft muß die Frau sich gewissen Reinigungsgebräuchen unterziehen, die in der Hauptsache darin bestehen, daß sie sich täglich an dem Feuer in ihrer Hütte, in das sie wohlriechende Stoffe geworfen hat, durchräuchern läßt, auch wohl darüber hinwegspringt. Der Samojedin ist es zwei Monate lang verboten, frisches Fleisch zu essen, der Inukfrau sogar ein Jahr lang; auch darf diese das Fleisch eines durch Herzschuß getöteten Tieres nicht verzehren. Beim Wiederbetreten der gemeinsamen Wohnung legt sich die Ostjakin vor dem Eingang auf die Erde, worauf sämtliche Hausbewohner über sie wegschreiten; die Inukfrau betritt bei dem gleichen Anlaß das Haus nicht durch die Tür, sondern durch ein Loch in der Wand, die Tungusin ebenso durch ein Loch in der Decke; alles dieses hängt offenbar mit der Reinigung der Wöchnerin zusammen.
Das Neugeborene wird bei den Jakuten von einer alten Frau vor dem Läuterungsfeuer mit Wasser, das sie zuvor in den Mund nimmt, besprengt und gewaschen; darauf schmiert sie es mit frischer Sahne ein. Die Burjäten reiben das Kind mit schmutzigen Lappen ab und wickeln es in eine frisch abgezogene Schafhaut ein. Die Ostjaken sowie die Samojeden stecken das Neugeborene in den Schnee und reiben es damit tüchtig ab. Darauf legen sie es in eine Art Wiege, einen elliptischen Korb an einem Hängeband, den die Mutter aus Birkenrinde selbst angefertigt hat. Bei den Golde muß das Kind dreimal die Wiege wechseln, um zu gedeihen; eine leere Wiege darf nicht geschaukelt werden. Gestillt werden die Kinder wohl überall sehr lange; man hat beobachtet, daß fünfjährige Kinder noch neben den jüngeren Geschwistern die Brust dargereicht erhielten. Solange das Kind noch nicht sprechen gelernt hat, besteht bei den Jakuten der Aberglaube, daß es die Fähigkeit besitze, die Sprache der Tiere, im besonderen der Vögel, sowie des Feuers und der Geister zu verstehen. Die Burjäten glauben, daß böse Geister die kleinen Kinder aufessen; daher sind sie bestrebt, alles mögliche zu tun, um jene von diesen fernzuhalten. Sie beauftragen Schamanen, die Geister aus dem Hause zu verjagen. Auch geben sie keinem Fremden Zutritt zur Jurte, weil mit diesem zugleich ein böser Geist eintreten könnte; die Türe bleibt in solchem Falle beständig geschlossen. Wollen die Angehörigen in die Jurte, so müssen sie mit einem Schläger an einen Topf, der draußen hingestellt wird, schlagen; dadurch soll der böse Geist erschreckt und zur Flucht gezwungen werden. Manchmal[S. 256] ruft auch der Schamane den guten Geist an, auf daß er das Neugeborene vor dem bösen beschütze.
Die Namengebung erfolgt zumeist bald nach der Geburt. Die Jakuten geben dem Knaben erst einen Namen, wenn er sich aufzusetzen beginnt; einen zweiten erhält er, wenn er den Bogen zu spannen gelernt hat. Die Mädchen erhalten für gewöhnlich keinen Namen, sie werden entweder einfach mit „Weib“ oder „Frau“ oder „Tochter des Soundso“ angeredet. Die Ostjaken benennen ihre Kinder nach irgendeinem zufälligen Merkmal aus der Umgebung; die Korjäken hängen ein in Haut eingewickeltes Steinchen an einem Faden zwischen zwei Stäben auf und nennen darauf eine Reihe Namen; derjenige Name, bei dem der Stein sich bewegt, wird dem Kinde gegeben. Bei den Golde ändert man den Namen, sobald man erfährt, daß einer Person, die den gleichen Namen trägt, ein Unglück zugestoßen ist. — Wenn bei den Golde ein Weib mehrere Male tote Kinder zur Welt gebracht hat, dann fertigt der Schamane bei einer neuen Schwangerschaft ein Säckchen an, in das er die neue Seele des Kindes legt, und trägt dieses beständig an seinem Gürtel mit sich; dadurch hofft er das Kind am Leben zu erhalten. — Die jungen Mädchen werden bei den Burjäten bis zu ihrem siebenten Lebensjahre auf dem Kopf rasiert; erst dann läßt man ihr Haar wachsen und ordnet es in Flechten an.
Verschiedentlich begegnen wir unter den sibirischen Völkerschaften den bekannten Kinderverlöbnissen. Bei den Giljaken zum Beispiel zahlt der Vater eines vier- bis fünfjährigen Knaben an die Eltern eines entsprechend alten Mädchens den Brautpreis, und dieses bleibt entweder im Hause ihrer Eltern oder siedelt in die Hütte ihrer zukünftigen Schwiegereltern über, wo es mit ihrem „Manne“ zusammen aufwächst und auch seine Frau genannt wird.[S. 257] Besondere Hochzeitszeremonien finden nicht statt, nur ein Schmaus wird gegeben, der sich manchmal durch Wochen hinzieht und bei dem der Branntwein in Strömen fließt. Auch bei den Golde wird das Mädchen in noch ganz jugendlichem Alter ihrem Zukünftigen versprochen. — Im übrigen ist das Heiratsalter für alle diese nordischen Völkerschaften ein ziemlich frühes. Bei den Samojeden und Ostjaken werden die Mädchen bereits mit zehn Jahren verheiratet und im elften oder zwölften Jahre Mutter, und bei den Tungusen gehen sie mit zwölf Jahren die Ehe ein. Die Braut wird durchweg durch Kauf erworben; dieser Kalym wird entweder in Renntieren oder in Kleidern, Gerätschaften, Pelzwerk, neuerdings jedoch mehr und mehr in barem Gelde (Rubeln) erlegt. Ist der Bräutigam arm, dann darf er nicht eher heiraten, als bis er alles, was ausgemacht wurde, abgezahlt hat. Oft genug geben die Eltern der Braut dieser auch eine Mitgift, die dem Kalym an Wert meistens gleichzukommen pflegt. Das Werben geschieht bei den Ostjaken durch Frauen, die sich in die Jurte, wo das Mädchen sich aufhält, begeben und hier ohne ein Wort zu sagen seinen Eltern Geschenke darbringen; nehmen diese sie an, dann bekunden sie hierdurch ihr Einverständnis. Darauf treten die Eltern des Bräutigams mit ihnen wegen Festsetzung des Brautpreises in Verbindung. Bei den Jukagiren sind auch wirkliche Neigungen mit im Spiele. Hier ritzen die jungen Mädchen in ihrer Freizeit in Birkenrinde, die das Papier vorstellt, mit einem Messer Zeichnungen (Abb. 309) ein, in denen sie ihrer Liebe zu einem bestimmten Jüngling oder auch ihrem Kummer darüber, daß er sie verlassen hat, Ausdruck geben. Es besteht hier nämlich die Sitte, daß nur die jungen Männer ihre Liebe in Worte fassen dürfen, weswegen die Mädchen ihre Zuflucht zu einem solchen Mittel nehmen, um die ihrige bekannt zu geben. — Während der Brautzeit wird bei den Burjäten die Anzahl der Zöpfe, die die jungen Mädchen tragen, bis auf zweiundzwanzig erhöht.
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Die Hochzeitszeremonien sind bald ziemlich komplizierte, wie bei den Golde und den Jakuten, bald wieder ganz bescheidene wie bei den Tschuktschen, Giljaken und Ostjaken. Bei letzteren wird die reich geschmückte Braut im Schlitten von den Werberinnen abgeholt und nach der Behausung der Eltern ihres Bräutigams gefahren, wo diese sie empfangen und von ihr Geschenke, die meistens in Tüchern bestehen, erhalten; bevor der Schlitten sich in Bewegung setzt, tritt einer der Jurtenbewohner hervor und verlangt ein Lösegeld. — Bei den Tschuktschen wachsen die Kinder, die später als Mann und Weib leben sollen, schon von früher Jugend an miteinander auf; sobald der Jüngling imstande ist, sich selbst zu ernähren, tun beide sich als Ehepaar zusammen. — Bei den Golde erwartet der Bräutigam im reichen Jagdkostüm (Abb. 312) seine mit dem Boot eintreffende Zukünftige. Sobald er ihrer sichtbar wird, springt er schnell in ihr Boot und kämpft um sie ungefähr eine halbe Stunde lang, bis Friede zwischen den Parteien geschlossen wird. Hierbei haben wir es offenbar mit einem Überrest des Brautraubes zu tun. Darauf begibt sich der Bräutigam mit dem Schwiegervater ins Haus, während die Braut und ihre Mutter mit ihren nächsten Angehörigen am Strande warten und erst auf eindringliche Einladung von seiten der Mutter und Schwestern des Bräutigams das Haus betreten. Hier wird die Braut sogleich auf ihren Ehrenplatz geführt und sodann in die neue Hausgenossenschaft aufgenommen. Der Vater breitet einen neuen Teppich auf der Erde aus, läßt das Brautpaar niederknien und reicht seinem Sohne ein Glas Branntwein, das dieser wieder seiner Braut darbietet und sodann die Runde unter den Gästen machen läßt. Hierauf begrüßt die nunmehrige junge Frau den Hausgott und verteilt Tabak an die Teilnehmer, während diese sie beschenken. Den Schluß bildet der Hochzeitschmaus, bei dem der Branntwein wiederum eine große Rolle spielt. Die junge Frau wechselt hierbei ihren Hochzeitstaat mit einem Arbeitsanzug und geht Wasser holen. Damit erreicht das Fest sein Ende. — Sehr zeremoniell geht es bei einer Jakutenhochzeit zu. Hier erscheint der Bräutigam hoch zu Roß in Begleitung seiner Angehörigen im Hause der Braut und bringt viel Fleisch für das Hochzeitsmahl mit. Beim Empfang im Hofe hält ihm der Schwiegervater den Steigbügel. Während nun alle Gäste[S. 259] sich im Hause versammeln, bleibt der Bräutigam vorläufig allein draußen, verbeugt sich nach Osten und begrüßt die aufgehende Sonne, bis er von seinem Vetter mit einer Peitsche ins Haus hineingetrieben wird. Die Schwiegereltern gehen ihm hier mit Heiligenbildern entgegen und segnen ihn; gleichzeitig erfaßt sein eigener Vater ihn von hinten und zwingt ihn, dreimal vor deren Füßen sich niederzulassen. Darauf wird das Fleisch hineingebracht und vom Bräutigam ausgewickelt; er selbst nimmt von einem bereits gekochten Pferdekopf drei Stückchen Fett unter den Augen heraus und wirft sie ins Feuer. Sodann wird er in die rechte Ecke des Raumes geführt und muß sich hier mit dem Gesicht nach der Wand zu niedersetzen. In entsprechender Weise nimmt seine Braut in der linken Ecke Platz. So verharren beide eine bestimmte Zeit, bis das Festmahl beginnt. Bei diesem werden ein Ochse und ein Pferd geschlachtet und vor sämtlichen Gästen gekocht; diese selbst nehmen auf der frisch abgezogenen Haut der Tiere Platz. Dabei werden Trinksprüche ausgebracht und auf die neue Verwandtschaft mit den Worten getrunken: „Wir sind jetzt miteinander verwandt geworden und wollen daher in Freundschaft und Eintracht leben.“ Die gleiche Szene wiederholt sich an den folgenden Tagen. Die Weiber werden zur Tafel nicht zugelassen; sie nehmen ihre Mahlzeit in den Ecken des Zimmers ein. Am vierten Tage endlich besteigen die fremden Gäste wieder ihre Pferde und machen sich auf den Heimweg; zuvor aber wird ihnen das übrig gebliebene Fleisch zugesteckt, damit sie es ihren Angehörigen, die nicht an dem Mahle teilnehmen konnten, mitbringen.
Einer eigenartigen Erinnerung an den Brautraub begegnen wir bei den Burjäten. Hier schließt sich die Braut am Hochzeitstage mit ihren Freundinnen in einer Jurte ein. Diese machen ihre Zöpfe auf und verflechten sie mit denen der Braut, so daß die Haare aller zusammen gleichsam ein Ganzes bilden. Aufgabe des hinzukommenden Bräutigams ist es nun, die Gefährtinnen von seiner Auserkorenen zu trennen und letztere zu veranlassen, daß sie ihm in sein Haus folgt.
Für gewöhnlich begnügen sich die Sibirier mit einer Frau, jedoch ist es keine Seltenheit, daß Männer, die es sich leisten können, mehrere nehmen.
Die Stellung des Weibes ist überall eine recht niedrige; besonders untergeordnet erscheint sein Los bei den Burjäten, Ostjaken und Samojeden. Hier ist die Frau gleichsam[S. 260] das Lasttier des Mannes; es wird ihr nicht nur alle Arbeit im Haushalte auferlegt, sondern sie muß auch noch bei einem Wechsel des Aufenthalts die Hütte abbrechen, die ganze Last auf den Schlitten verstauen und am neuen Ort die Hütte wieder aufbauen.
Bei den Samojeden gilt alles, was ein Weib anfaßt, für unrein. Wenn eine Frau das Zelt aufgeschlagen hat, dann erhält sie nicht eher Zutritt zu ihm, als bis sie nicht nur ihre eigene Person, sondern alle Stücke, auf denen sie saß, einschließlich des Schlittens, sowie jeden Gegenstand, den sie in den Händen getragen, über einem kleinen Feuer mittels Renntierhaaren ausgeräuchert hat. Bei den Tungusen wird die eine Hälfte des Zeltes ausschließlich von den Männern, die andere von den Weibern eingenommen.
Eines etwas besseren Schicksals erfreut sich die Frau bei den Giljaken, was wohl daher kommen mag, daß unter diesen Völkern das weibliche Geschlecht in der Minderzahl und darum sehr gesucht und geschätzt ist. Bei ihnen kann eine Frau sogar Schamanin werden. Eine besondere Liebesbezeigung der Giljakeneheleute besteht darin, daß sie sich gegenseitig die Läuse vom Kopfe suchen und sich in den Mund stecken, sowie daß sie einander mit ihrem Speichel das Gesicht waschen. Die Giljaken behandeln ihre Frauen im allgemeinen gut; wenn dies nicht der Fall ist, dann verläßt die Gattin einfach ihren Mann und wird die Frau eines anderen, der den Brautpreis für sie erlegt.
Da die Frau durch den Kalym Eigentum des Mannes wird, so kann er mit ihr machen, was er will. Er kann sie auch züchtigen, sowie weiter verhandeln, vertauschen und verschenken. Gegenseitiger Austausch der Ehefrau war unter den Aleuten, Jakuten und Itälmen üblich. Ebenso kann ein Korjäke seine Frau einem Freunde, selbst wenn dieser schon verheiratet ist, für längere Zeit durch Vertrag überlassen. Sehr verbreitet ist unter den Sibiriern (Tschuktschen, Tungusen, Korjäken, Samojeden und so weiter) die Sitte, einem Gastfreunde, um ihn besonders zu ehren, Frau, Tochter oder Schwiegertochter für die Nacht zu überlassen. Als Zeichen einer solchen Annäherung von seiten der Frau gilt bei den Tschuktschen ein Kitzeln der Fußsohle des Gastes.
Eine Scheidung der Ehe geht leicht vor sich. Ist ein Mann mit seiner Frau nicht zufrieden oder ist er ihrer überdrüssig geworden, dann sendet er sie einfach ihren Eltern zurück; er ist dann allerdings verpflichtet, den Kalym zurückzuerstatten. Einer Witwe ist es erlaubt, wieder zu heiraten; falls sie es aber nicht tut, steigt sie bei den Giljaken in der Achtung. Bei den Ostjaken siedelt die Witwe nach dem Tode ihres Mannes zu den Eltern des Verstorbenen über, die sie dann wieder wie ihre eigene Tochter verheiraten[S. 261] können; sind die Schwiegereltern schon gestorben, dann kehrt die Frau zu ihren eigenen Eltern zurück.
Mit der Sittlichkeit der Sibirier ist es im allgemeinen nicht sonderlich gut bestellt. Die unverheirateten Mädchen haben in geschlechtlicher Hinsicht vollständige Freiheit; niemand nimmt daran Anstoß, wenn sie vor der Ehe Verkehr haben, wohl aber wird es für entehrend gehalten, wenn dieser von Folgen begleitet ist. Daher ist der Kindsmord keine ungewöhnliche Erscheinung.
Bei Erkrankungen eines Menschen pflegt man den Schamanen zu rufen, der durch Beschwörung (wie wir oben schilderten) versucht, die entwichene Seele wieder einzufangen und zurückzubringen. Ist seine Kunst vergeblich und steht der Tod des Kranken zu erwarten, dann schrecken die Tschuktschen nicht davor zurück, ihn auf gewaltsame Weise aus dem Wege zu räumen. Wenn der Kranke in Schlummer verfallen ist, legen sie um seinen Hals einen Riemen und schnüren ihm damit die Kehle zu (Abb. 314). Nach Eintritt des Todes wird die Brust geöffnet und die Luftröhre durchschnitten. Es kommt auch vor, daß alte Leute, die des Lebens überdrüssig geworden sind, ihre Angehörigen angehen, sie ins Jenseits zu befördern; diesem ihrem Wunsche wird dann auch entsprochen. An demselben Tage noch wird der Leichnam in Felle eingehüllt und auf einem Renntierschlitten auf eine Hochebene oder in die Wildnis gefahren, wo man ihn vollkommen nackt mit nach Nordosten gerichtetem Kopfe einfach auf den Boden hinlegt und den Tieren zum Fraße überläßt (Abb. 315). Der Schlitten, der ihn dorthin brachte, wird zerhackt, die Renntiere, die ihn zogen, werden getötet und einige Streifen ihres Fleisches über den Toten gelegt. Meistens umgibt man den Toten noch mit einer Steinumwallung in Form eines Rechtecks und setzt einen kleinen Napf mit etwas Wegzehrung für die Reise ins Jenseits neben ihn, ferner einige Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, wie seine Pfeife und sein Messer, damit er sich ihrer auch dort bediene, wie hier auf Erden. Nie wieder wird die Begräbnisstätte von den Angehörigen betreten.
Nach dem Tode eines Ostjaken zündet man im Tschum um die Leiche ein Feuer an und läßt den Schamanen kommen, damit er den Toten frage, auf welchem Friedhofe er[S. 262] beerdigt sein will. Dies geschieht in der Weise, daß man den Ort nennt und den Kopf der Leiche zu erheben sucht. Das Einverständnis erkennt man daran, daß der Tote dieses zuläßt; im anderen Falle würden drei Männer nicht imstande sein, seinen Kopf zu heben. Die Frage muß solange wiederholt werden, bis der Tote einwilligt. Darauf wird die festlich gekleidete Leiche entweder in einen Sarg oder in ein Boot gelegt; das letztere zerschneiden sie zu diesem Zwecke in zwei Hälften, in die eine kommt die Leiche zu liegen, mit der anderen wird sie zugedeckt. Sodann wird sie in einer Grube beigesetzt, wobei der Sarg erst mit Birkenrinde und dann mit Erde bedeckt wird.
Das Grab wird überdacht nach Art eines Hauses oder einer Jurte, doch bleibt in dem Dache eine Öffnung, um dem bösen Geist einen Ausweg zu lassen. Durch die gleiche Öffnung reicht man dem Verstorbenen Speise und Branntwein. Auf das Dach werden allerlei Gegenstände gelegt, ein Schlitten, ein Stein, Körbe, ein kleines Täschchen, ein Ruder und anderes mehr, unter das Dach stellt man auf das Grab eine Schale und einen Löffel, um den Verstorbenen bei Gelegenheit seines Gedächtnismahles zu speisen. Ein solches wird nämlich fünf Tage nach dem Tode eines Mannes und vier nach dem eines Weibes abgehalten; dabei werden Renntiere geopfert und verspeist, sowie Branntwein dazu getrunken. Nach dem Leichenmahle spießt man die Schädel der Opfertiere auf Pfähle (Abb. 316) und behängt letztere mit deren Geschirr, sowie mit kleinen Glocken. Der Schlitten, der die Leiche nach dem Friedhof brachte, wird zerschlagen. Zum Zeichen der Trauer tragen die Weiber einige Tage ihre Zöpfe aufgelöst. Eine Ostjakenehefrau zerkratzt sich beim Tode ihres Gatten das Gesicht mit den Nägeln, reißt sich die Haare aus und wirft sie auf die Leiche. Außerdem zieht sie einem hölzernen Block, dem man annähernd die Gestalt ihres Mannes gegeben hat,[S. 263] die Kleider ihres Gatten an, stellt ihn an den Ort, wo er zu sitzen pflegte, nimmt ihn nachts mit auf ihr Lager und küßt ihn; so treibt sie es ein volles Jahr lang, worauf sie den Klotz unter Tränen begräbt.
Bei den Jakuten wird der Verstorbene am dritten Tage in einem mit einem weißen Tuche vollständig bedeckten Sarge auf einem von Ochsen (niemals von Pferden) gezogenen Schlitten zur Grabstätte hinausgebracht. Niemand begleitet ihn außer den Trägern und Totengräbern; die letzteren schaufeln in größter Hast das Grab aus und eilen dann schnell nach Hause, bei der Heimkehr dürfen sie sich aber auf keinen Fall umsehen. Zu Hause führen sie dann die Tiere, die die Leiche zogen, durch ein Feuer, das sie aus den Abfällen des Sarges und dem Stroh, auf dem der Tote lag, entzünden. Die Spaten und auch die sonstigen Werkzeuge, mit denen sie beim Grabe hantierten, werden an diesem zurückgelassen; bei einem Kinde dagegen legt man dessen Spielzeug auf das Grab und hängt seine Wiege nebenan an einem Baume auf. Ist ein Schamane beerdigt worden, dann werden seine Zaubertrommel und sein Kostüm ebenfalls am Grabe aufgehängt. Man begräbt diese Leute bei Nacht oder wenigstens am Abend in großer Eile und meidet späterhin ihre Stätte ängstlich.
Die Frau eines Golde legt sich des Nachts neben den verstorbenen Ehemann und deckt sich mit dem gleichen Tuche wie die Leiche zu; sie glaubt nämlich, daß seine Seele noch nicht fortgegangen sei, sondern so lange im Hause weile, bis der Schamane sie ins Jenseits geführt hat. Auch nach dem Begräbnis geht die Witwe von Zeit zu Zeit nach dem Grabe des Gatten und legt sich hier nieder. Am nächsten Tage nach dem Tode wird die Leiche durch das Fenster gehoben und auf der Straße in den Zedernholzsarg gelegt; unter ihren Kopf legen die Frauen aus Papier geschnittene Tierfiguren und unter die Füße einen Stein; dies ist nötig, um ins Jenseits zu gelangen. Auf dem Wege zur Grabstätte wird mehrere Male haltgemacht und der Sarg jedesmal mit Branntwein begossen; dabei ruft man dem Toten noch die Worte zu: „Trinke, gute Reise in das Land der Seelen; komm nicht wieder und nimm keines deiner Kinder und Tiere mit.“ Der Sarg wird in einer Grube beigesetzt und[S. 264] über ihm eine Hütte errichtet, in die man die Jagdgeräte und Lieblingsgegenstände des Toten legt. Währenddessen zünden die Frauen neben der Grabstätte ein großes Feuer an und bitten den Toten noch einmal, daß er nicht wieder kommen und niemand nach sich ziehen möge. Hierauf wird ein Hund getötet, an einem Baume aufgehängt und mit Hirschfell bedeckt. Zu Hause wäscht sich die Witwe Hände und Gesicht und verbrennt wohlriechende Kräuter. Sodann werden die Vorratsräume, die, solange der Tote noch im Hause lag, geschlossen waren, wieder geöffnet und ein Totenmahl abgehalten.
Nach einigen Monaten findet sich ein Schamane ein, um die Seele des Verstorbenen mit Hilfe des Vogels Koori (eines aus Holz geschnitzten, mit rotem Rehfell überzogenen Vogels von der Gestalt eines Kranichs) und des Schutzgeistes Butschtschu (einer gleichfalls mit Rehfell überzogenen geflügelten menschlichen Figur mit krummen Beinen) auf ihrem Wege ins Jenseits zu begleiten, zu dem sie nicht allein den Weg kennt, sondern auch die Namen der Orte, die die Seele zu passieren hat — es sind achtzehn Stationen — und die Gefahren, die sich ihr auf dem Wege entgegenstellen. Der Schamane macht im Geiste bei seiner Beschwörung alle die furchtbaren Qualen angeblich mit durch und kehrt nach dem Erwachen aus seinem Dämmerzustand völlig erschöpft auf dem Vogel Koori und im Gefolge des Geistes Butschtschu wieder heim. Bis der Schamane ihre Führung übernimmt, hält sich die Seele des Abgeschiedenen in einem kleinen viereckigen Kissen auf, das man zu diesem Zwecke anfertigt. Man behandelt dasselbe wie eine lebende Person; man spricht mit ihm, gibt ihm zu essen und zu trinken und bedeckt es von Zeit zu Zeit mit den neuen Kleidern des Verstorbenen. Sobald aber die Seele ins Jenseits hinüber befördert worden ist, wird das Kissen zerrissen und ins Feuer geworfen. Damit sind alle Beziehungen zu dem Toten für immer aufgehoben, und die Witwe kann jetzt wieder heiraten.
[S. 265]
Iran, ein Hochland, das sich als Bindeglied zwischen Türkisch-Vorderasien und Indien hinzieht und in fast allen Richtungen zu der es umgebenden Niederung abfällt, umfaßt die drei Länder Persien, Afghanistan und Beludschistan. Seine Bewohner (Iranier) sind in der Hauptsache arischer, also nordeuropäischer Herkunft, haben sich aber teils mit der vor ihnen ansässigen Urbevölkerung, teils mit später eingewanderten Mongolen mehr oder weniger vermischt. Sprachlich zerfallen die Iranier in die Perser, Afghanen, Beludschen und Kurden; alle diese Völker sprechen indogermanische Dialekte.
Der Grundstock der iranischen Bevölkerung gehört der zentralasiatischen, den Mongolen verwandten Rasse an, die sich durch kleine Gestalt, dunkle Haut und runden Schädel auszeichnet; man trifft sie noch in zusammenhängender Masse an vielen Orten an. Augenscheinlich wurde sie hierhin durch die von Osten her vordringenden langköpfigen und hellfarbigen Angehörigen der nordeuropäischen (arischen) Rasse, die sich mit ihr mehr oder minder vermischten, zurückgedrängt. Ihre Vertreter sind hauptsächlich die Tadschik und die Galtscha. Bekanntlich hat die gleiche Rasse auch an der Zusammensetzung der mitteleuropäischen Bevölkerung, vor allem in den Alpenländern bis nach dem zentralen Hochplateau Frankreichs hin, den Hauptanteil genommen; französische Autoren haben die Tadschik nicht mit Unrecht als die „Savoyarden von Kohistan“ bezeichnet.
[S. 266]
Unter der iranischen Bevölkerung nehmen die erste Stelle, sowohl ihrer Zahl als auch ihrer Kultur und weltgeschichtlichen Bedeutung nach, die Perser ein. Sie sind die allerdings mit mongolischen Elementen durchsetzten Nachkommen der alten Perser der Geschichte und dürfen als die verhältnismäßig reinsten Vertreter des arischen Typus angesehen werden. Ihre äußere Erscheinung ist gekennzeichnet durch hohe Statur, schönen Wuchs mit schlanken Gliedmaßen, schlichtes dunkles Haar, dunklen Teint (heller Milchkaffee), länglichen Schädel, ovales Gesicht, große, hellbraune Augen, edelgeformte, gerade oder leicht gebogene Nase, dünne Lippen und schmales Kinn. In zweiter Linie kommen die Afghanen oder Paschtu; auch sie sind Vertreter des indoeuropäischen Typus mit der Eigentümlichkeit, daß ihr Gesicht einen sozusagen jüdischen Zug aufweist, nämlich eine kräftig gebogene Nase. Nach der Volksüberlieferung sollen ihre Vorfahren tatsächlich in Syrien gewohnt haben, bis Nebukadnezar die Bewohner dieses Landes gefangennahm und zum Auswandern nötigte; sie wurden zunächst von ihm in Persien und Medien angesiedelt, drangen dann aber von hier weiter ostwärts bis in die heutigen Gebiete von Afghanistan vor, wobei sie die eigentlichen Arier nach Indien vor sich herschoben. Die Afghanen zerfallen in eine Reihe Stämme, von denen die Durami, Ghilzai, Nasir, Pathan, Khattar und Kafir die wichtigsten sind. Im wesentlichen betreiben alle das Kriegshandwerk; mit ihren langen Flinten, Dolchmessern, sowie mit Bogen und Pfeilen verstehen sie gut umzugehen. Nebenbei aber sind sie auch Ackerbauer und Viehzüchter.
[S. 267]
Die Beludschen oder Biloch, die sich bis nach Indien hinein verbreiten, lassen in ihrem Äußeren bereits mehr fremdländischen Einschlag als die beiden genannten Völker erkennen. Die nördlichen Teile ihres Landes werden vorzugsweise von türkischen, die südlichen von arabischen Stämmen eingenommen, und nach Südwesten haben sich schwarze Drawida (die Brahui) vorgeschoben. Die Beludschen sind umherziehende Nomaden, die aber gleichfalls sehr kriegerisch und durch ihre räuberischen Einfälle ins persische Grenzgebiet gefürchtet sind.
Ihrem Glaubensbekenntnis nach sind alle Iranier Anhänger der Lehre Mohammeds; die religiösen Gebräuche (Abb. 318 und 320) und Festlichkeiten (Abb. 319) sind daher meistens die gleichen wie sonst in der Welt des Islams. Sie spalten sich aber in zwei sich feindlich gegenüberstehende große Sekten, in die Sunniten in Afghanistan und Beludschistan — auch die Kurden bekennen sich als solche — und in die Schiiten in Persien. Die Sunniten oder Traditionisten, die die große Mehrheit der Mohammedaner in Indien und der Türkei ausmachen, hängen an der Sunna, einer Sammlung von Überlieferungen über die Gebräuche und Vorschriften des Islams, die bereits zu Zeiten des Propheten in Medina entstand, und erklären sie als gleichberechtigt neben dem Koran, den gesammelten Offenbarungen des Propheten. Unter diesen orthodoxen Anhängern der Lehre Mohammeds gibt es wieder viele Abstufungen, von den hochgradigen fanatischen Afghanen (zum Beispiel im Kabultale) an bis zu den die Sache leichter auffassenden Beludschen herab, denen es meist genügt, wenn ihr Häuptling für den ganzen Stamm die Gebete verrichtet. Die Schiiten dagegen erkennen nur den Koran an und halten Mohammeds Schwiegersohn Ali für den ersten rechtmäßigen Kalifen und seine Nachkommen, die im Bürgerkriege unterlagen, für seine wahren Nachfolger. Nach dem Tode des Propheten nämlich wurde Ali zugunsten seiner Rivalen um das Kalifat dreimal übergangen und bald darauf meuchlings ermordet. Ebenso fiel sein unglücklicher Sohn Hussein, der die Rechte des[S. 268] Vaters geltend machen wollte, in der Ebene von Kerbela am Tigris. Diese Tragödie rief so tiefes Mitgefühl für das Haus Ali hervor, daß seine Anhänger ihn fortan als den Schutzheiligen von Persien betrachteten, auf die gleiche Stufe mit Mohammed stellten und seitdem nicht mehr nach Mekka, sondern nach Kerbela am Tigris pilgern, wo sich das Grab Husseins und seines Bruders Hassan befindet. Die Nachkommen Alis vom Vater auf den Sohn, die Imame, werden von den Schiiten allein als die wahren geistlichen Führer, als die wahren und unfehlbaren Kalifen angesehen. Die Schiiten erwarten auch noch einen Messias, den Mahdi, der natürlich auch ein Nachkomme Alis sein wird; schon mehrfach haben sich Betrüger und Aufrührer für ihn ausgegeben.
Neben den Mohammedanern gibt es in Persien noch Anhänger der altiranischen Avestalehre oder Zoroasterreligion, die uns schon bekannten Parsen (Parsis). Sie sind hier allerdings nicht sehr zahlreich vertreten, da die meisten nach der Zerstörung des Reiches der Sassaniden nach Indien auswanderten; aber sie bilden doch ein wichtiges Element im wirtschaftlichen Leben, zumal reiche und gebildete Leute (Bankiers und Gelehrte) zu ihnen gehören.
Die Kleidung (Abb. 318 u. 320) der Perser besteht in einem baumwollenen langen, meist reich bestickten Hemd mit weiten Ärmeln, leinenen Hosen, die um die Hüften mit einer roten oder grünen seidenen Schnur zusammengehalten werden, einem kragenlosen, kaftanartigen Überrock aus Baumwolle oder Seide und einem vorn offenen, in seiner Länge nach der sozialen Stellung des Trägers sehr verschiedenen, häufig pelzverbrämten Mantel, der mit einem Gürtel geschlossen wird und dessen Falten die Stelle von Taschen vertreten. Die Frauen (Abb. 321) kleiden sich in ganz derselben Weise; sie ziehen sich ebenfalls Hosen an, die bei wohlhabenderen Damen aus einem kostbaren, reich bestickten oder perlenbesetzten Stoffe (Goldbrokat) angefertigt zu sein pflegen. Auf der Straße gehen sie mit verhüllten Gesichtern (Abb. 322), wie es der Koran vorschreibt.
Die Perser wohnen in Häusern aus lufttrockenen Ziegeln oder, in waldreichen Gegenden, aus Holz. Die reichen Leute leisten sich recht luxuriöse Paläste. — Als Nahrung dient ihnen in erster Linie Reis, entweder gedämpft und getrocknet (Tschillau) oder mit Lammfleisch zu einer Art Pudding hergerichtet (Pillau) oder schließlich auch als Suppe (Arsh). Außerdem werden[S. 269] Lammfleisch (die einzige Fleischsorte), Hühner, Milch, Gerstenbrot, Früchte und besonders viel Süßigkeiten von ihnen genossen.
Die Perser gelten für besonders fanatische Schiiten. In Erinnerung an die Tragödie von Kerbela wird alljährlich im Monat Mohurrum eine Art Passionsspiele aufgeführt, durch die alles in so hochgradige Aufregung gerät, daß es keineswegs zu den Seltenheiten gehört, wenn ein Schauspieler, der den Mörder des Imams Hussein darstellt, in Wirklichkeit getötet wird. Am zehnten Tage des Festes finden Umzüge von Männern und Knaben aus allen Gegenden durch die Straßen statt, wobei sich die Teilnehmer rhythmisch mit dem Rufe „O Hassan, o Hussein“ auf die Brust schlagen. Besonders fanatische Leute, die die Prozessionen (Abb. 323) anführen, sind in Totengewänder gekleidet und tragen am bloßen Körper Ketten, Hufeisen und Dolche, mit denen sie sich unter lautem Aufschreien Wunden beibringen (Abb. 324 und die farbige Kunstbeilage) und andere dazu ermuntern. In Yedz, einer abgelegenen Stadt mit besonders fanatischer Bevölkerung, wird ein mächtiges, mit Fahnen, Spiegeln, Schwertern und Dolchen ausgeputztes und mit Schals behangenes Gerüst langsam von fünfhundert Männern um den freien Platz der Stadt getragen (Abb. 327). Wer diesen Passionsspielen (Abb. 326) einmal beigewohnt hat, wird von der Tiefe der Gefühle, die hier zum Ausdruck kommen, ergriffen und wird auf der anderen Seite auch den Haß verstehen, mit dem die Schiiten ihre Feinde, die Sunniten, beständig verfolgen. Die heilige Stadt Persiens, der Stolz der Schiitenwelt, ist Mesched, denn dort ruhen unter einer goldenen Kuppel die sterblichen Überreste des achten Imams, namens Riza. Der Kalif Mamun, der Sohn des bekannten Harun al Raschid, der dort ebenfalls begraben liegt, ernannte diesen Imam zu seinem Erben in Anerkennung der Ansprüche des Hauses Ali, mußte aber diese Verfügung, die in Bagdad einen mächtigen Sturm der Entrüstung hervorrief, nicht nur wieder zurücknehmen, sondern ließ den Imam obendrein auch noch vergiften. Auf manchem persischen Bild findet sich dieser Vorgang wiedergegeben. Für fromme Schiiten bedeutet eine Pilgerfahrt (Abb. 330) nach Mesched das Höchste im Leben und steht bei ihnen in dem gleichen Ansehen, wie eine solche nach Mekka bei den Sunniten.
[S. 270]
Die Pilger ziehen in großen Karawanen unter der Obhut eines Chausch oder Führers, der für ganz besonders tapfer und umsichtig gilt, dorthin; reiche Leute lassen sich von einem Mullah oder Priester begleiten, der ihnen Gebete oder Stellen aus den Passionsspielen vorliest, worauf manchmal alle Teilnehmer des Pilgerzuges antworten, so daß die Wüste von ihren Gesängen und Gebeten widerhallt. So wandern die Pilger Tag und Nacht weiter, alle fünfzehn Meilen etwa machen sie halt, und wenn sie aus dem südlichen Persien kommen, schrecken sie nicht einmal vor den Gefährlichkeiten des Lut, des schrecklichen „Toten Herzens“ Irans, zurück, wo die Nahrungsmittel sehr knapp sind und das Wasser salzig und schwer zu bekommen ist und wo außerdem Räuberbanden den unbewaffneten Wanderern auflauern. Wer diese Schrecknisse überwunden hat und an dem „Berge des Heils“ angelangt ist, für den bedeutet es dann das höchste Glück, auf die in grünen Gärten gebettete heilige Stadt mit dem goldenen Glanz ihrer Kuppeln und Türme hinabzuschauen und mit Freudentränen in ein Gebet einzustimmen. Nach einem Reinigungsbad legt der Pilger einen neuen Anzug an und betritt die „heilige Schwelle“ durch eine Pforte, über der Ketten hängen, zum Zeichen, daß er seine Füße auf geweihte Erde setzt. Sein Weg führt ihn zunächst über einen alten Hof, dessen Häuser mit ausgesucht feinen Ziegeln bedeckt sind, und dann weiter durch ein reich mit Gold bekleidetes Portal zu einer sehr geräumigen Halle, die unter dem Namen „Ort der Größe“ bekannt ist; von hier aus vermag er durch ein Gitter bereits in die Grabkammer hineinzusehen, muß aber noch eine zweite Halle durchschreiten, bis er die Freude erlebt, sich in Andacht auf der Schwelle des goldenen Tores niederzuwerfen. Geläutert erhebt er sich nach inbrünstigem Gebet, nähert sich dem reichen Gitterwerk und küßt das Schloß. Von dem Reichtum der Grabkammer kann man sich kaum eine Vorstellung machen.[S. 271] Das Grab ist durch drei Gitter geschützt, von denen das mittlere aus Silber angefertigt und mit Edelsteinen besetzt ist; darüber hängen sehr kostbare Reiherbüsche, mit Juwelen besetzte Schwerter und Dolche, vielfach Geschenke von Fürsten. Am Fuß des Grabes befindet sich eine mit Goldplatten bedeckte und ebenfalls mit Edelsteinen reich verzierte Tür, kurz gesagt, das ganze Gemach flutet sozusagen in einem Meer von Glanz. Die Pilger umkreisen das Grab dreimal; dabei fluchen sie allen Feinden des Imams, im besonderen dem Harun al Raschid, worauf sie zum Schluß noch zu Allah beten.
Eine auf den Straßen Persiens beinahe alltägliche Erscheinung sind die Derwische (Abb. 325), Bettelmönche, die nicht nur durch ihre sonderbaren Manieren, sondern auch durch ihre phantastische Tracht auffallen. Auf dem Kopf tragen sie eine weiße, mit Koransprüchen oder den Namen der zwölf Imame bestickte spitze Mütze, um Hals und Brust Glasperlen in allen Farben, sowie hölzerne Kugeln und über den Schultern noch ein Wolfs- oder Pantherfell, in der Hand meistens eine Stahlaxt, die mit goldenen und silbernen Einlegearbeiten versehen ist, oder wenigstens einen mit Nägeln und eisernen Knöpfen oder Spitzen besetzten schweren Knüppel; an Messingketten hängt ihnen vom Arme die Opferschale herab. Mit einem Horn künden sie ihr Erscheinen an und blasen vor einem Haus so lange, bis man ihnen eine Gabe spendet.
In Persien herrscht ein doppeltes Recht, das religiöse und das allgemeine. Das erstere,[S. 272] das sich auf den Koran, die niedergeschriebenen Ansichten der zwölf Imame und auf die Kommentare einer Schule kirchlicher Rechtsgelehrter stützt, wird von den religiösen Behörden vertreten, das andere dagegen, das auf ungeschriebenen Bräuchen und auf der Überlieferung fußt, von den weltlichen Behörden, die ihre Entscheidungen lediglich nach ihrem eigenen Ermessen von Recht und Unrecht treffen. Die allgemein übliche Strafe, die in Persien von Behörden, Lehrern und Haushaltungsvorständen verhängt werden darf, besteht in Stockhieben; wer diese Strafe erhält, „ißt Stöcke“, wie es im Volksmunde heißt. Man wirft ihn auf den Rücken, bindet seine Füße an eine Stange, die von zwei Männern gehalten wird, und schlägt ihn auf die nach oben sehenden Fußsohlen (Abb. 328). Die Männer, die diese Strafe vollziehen, sind aber leicht der Bestechung zugänglich; wenn der Delinquent ihnen ein Geschenk verspricht, lassen sie ihre Schläge auf die Stange anstatt auf die Füße gehen, zum Scheine aber muß das Opfer dann furchtbar stöhnen und schreien. Es gibt aber noch viel qualvollere Strafen, wie das Einsperren in Türme, in denen der Verbrecher unter großen Qualen schmachten muß, das Beschlagen der Füße mit Hufeisen, das Aufpfählen, das Hautabziehen bei lebendigem Leibe und das Erschießen mit einer Kanone; allerdings werden diese Strafen heutzutage seltener als noch vor wenigen Jahrzehnten verhängt. Allgemein hat in Persien noch der alte biblische Ausspruch Geltung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“; ein Mörder wird oft zur Vergeltung seines Verbrechens der Familie des Getöteten übergeben.
Der Lieblingswunsch jeder wahren Perserfrau geht dahin, Kinder zur Welt zu bringen. Um dies zu erreichen, sammelt eine Frau in Mesched am letzten Mittwoch des Monats Safar sieben Walnüsse, ebensoviel Mandeln und Blätter eines Krautes, sowie drei Fäden so lang wie sie selbst groß ist, und besucht am anderen Morgen, von einem alten Weibe begleitet, den berühmten Steinlöwen. Hier öffnet sie, nachdem einige Gebete verlesen worden sind, die Nüsse und geht dreimal unter dem Löwen hindurch (Abb. 329). Dieser Brauch wird in Mesched und Hamadan beobachtet. In anderen Städten wird das Grab eines kurz zuvor getöteten Mannes und in Teheran die berühmte „Perlenkanone“ am letzten Mittwoch vor Neujahr in ähnlicher Absicht aufgesucht, angeblich stets mit gutem Erfolge. Hat die Frau ihren Wunsch erreicht, das heißt ist sie schwanger geworden, dann treten an sie verschiedene Verbote heran. So darf sie über keinen Kirchhof schreiten, auch nachts nicht in eine Küche treten, weil sie dann von einem bösen Geist (Dschinn) heimgesucht werden könnte; bei etwaiger Mondfinsternis darf sie nicht in den Mond sehen, ebensowenig ihren Körper mit den Händen berühren, da dies unfehlbar auf dem Körper des Kindes ein schwarzes Zeichen hervorbringen würde.
Um ein leichtes Kindbett zu erzielen, muß man einen Erdklumpen zurechtmachen, das Eingangskapitel des Korans daraufhauchen und dann den Kloß in den Brunnen werfen. Im westlichen Persien schießt man Flinten ab, wenn eine Frau in den Wehen liegt, um Dämonen zu vertreiben, oder man legt einen Säbel neben die Kreißende oder setzt auf dem flachen Dache des Hauses eine Reihe als Soldaten angezogener Puppen durch Fäden in Bewegung. Zögert trotzdem die Geburt, dann läßt der Ehemann einen Schimmel von der nackten Brust seiner Frau Gerste fressen. Manche Pferde haben durch solchen vermeintlich günstigen Einfluß einen gewissen Ruf bekommen, und es geschieht dann, daß sich in einem Dorfe die Männer zweier Frauen, die gleichzeitig Geburtswehen verspüren, um dieses Heilmittel streiten.
Sobald ein Knabe geboren ist, wird er fest wie eine Mumie eingewickelt, seine Augen werden mit Antimon geschwärzt und um seinen rechten Arm werden ein oder mehrere Amulette gebunden, um den bösen Blick abzuwenden. Dasselbe will die Hebamme dadurch erreichen, daß sie das Kind dreimal feierlichst Hals über Kopf umdreht. — Während des Wochenbetts darf kein Glas Wasser ins Zimmer gebracht werden, das würde Schielaugen beim Kinde zur Folge haben; ebensowenig darf es jemand, der Trauer hat, betreten, denn das würde Unglück bringen. Am siebenten Tage reibt man die Gelenke des Kindes mit Antimon ein. Verwandte und Freunde setzen sich dann in einem Kreis um dasselbe herum und schieben das Kind dreimal durch eine Rolle, auf der das schon öfters erwähnte Yasinkapitel des Korans geschrieben steht. Die persischen Mütter nähren ihre Lieblinge zwei Jahre lang; sie sind auf das Erscheinen des ersten Zahnes noch mehr erpicht als unsere Mütter. Denn sollte sich ein Zahn zuerst in dem Oberkiefer zeigen, dann stünde den Eltern ein furchtbares Unglück, vielleicht selbst der Tod bevor, falls nicht etwa, um das Unheil abzuwenden, das Kind vom Dache heruntergeworfen wird. Um nun in solchem Falle zu vermeiden, daß dieses gewaltsame Heilmittel einen noch schlimmeren[S. 275] Ausgang nehme als die Krankheit selbst, fangen vier Männer das fallende Kind mit einer ausgespannten Decke auf.
Eine Einweihungsfeierlichkeit (Beschneidung) der Knaben bis zum Alter von vierzehn Jahren wird allen Anhängern des Islams zur strengen Pflicht gemacht; bei den Reichen erfolgt diese Aufnahme bereits im Alter von acht Jahren. Freunde und Verwandte nehmen an diesem Feste teil. Ist die Zeremonie vorüber, dann wird ein Kohlenbecken mit Raute gefüllt und diese angezündet, um durch den Rauch Unglück abzuwenden; jeder der Anwesenden wirft eine Münze in die Flamme.
Die Heirat erfolgt in Persien bereits in frühem Alter; für gewöhnlich wird für den Jüngling, wenn er das achtzehnte Jahr erreicht hat, von seiner Mutter Umschau nach einer geeigneten Frau gehalten, aber oft genug werden auch schon vierzehnjährige Knaben mit elfjährigen Mädchen verheiratet. Der Grund hierfür liegt in dem in Persien noch herrschenden Patriarchat, in dem Wunsche des Vaters, eine möglichst junge Schwiegertochter ins Haus zu bekommen, damit sie sich unter geringeren Schwierigkeiten an die neue Familie gewöhne, als dies bei einer schon älteren der Fall sein würde. Die Mutter hält also für ihren Sohn Umschau und sucht ihm, wenn möglich, eine Cousine aus, da diese sich bei ihren Verwandten bereits wie zu Hause fühlt. Läßt sich dies aber nicht einrichten, dann treten besondere Vermittler in Tätigkeit. Ist ein passendes Mädchen aus entsprechender Familie und mit entsprechendem Vermögen gefunden,[S. 276] dann machen die Mutter und ihre Schwester der neuen Familie einen formellen Besuch. Dabei wird das junge Mädchen aufgefordert, Zucker und Wasser hereinzuholen. Sie zieht sich zurück und legt ihre besten Kleider an; bei der Rückkehr wird sie von den Besuchern umarmt und aufs genauste untersucht, sogar ihre Haare werden auf Echtheit geprüft. Hieran schließt sich eine lange Besprechung, an der das Mädchen aber nicht teilnehmen darf. Beide Parteien übertreiben mit echt persischer Phantasie die Vorzüge ihrer Kinder und der beiderseitigen sozialen Stellung. In der nächsten Zeit suchen es die Frauen häufig so einzurichten, daß das Mädchen seinen Zukünftigen zu Gesicht bekommt, was sich leicht machen läßt, wenn er vorüberreitet oder spazieren geht. Es verstößt gegen die gute Sitte, daß der Jüngling die für ihn Ausgesuchte erblickt, aber manchmal wird dies doch bewerkstelligt; er versteckt sich dann in einem Nebenraum, wenn seine Auserwählte in Begleitung ihrer Mutter den Gegenbesuch macht. Ist man über den Brautpreis einig geworden, um den viel gefeilscht zu werden pflegt, dann findet die Verlobung statt, zu der Geschenke in Form von Schmucksachen und Schalen mit Süßigkeiten ins Haus der Braut gesandt werden; jedoch beteiligen sich an dieser Feierlichkeit nur die Frauen beider Familien. Ungefähr zwei Monate später findet dann die Hochzeit an einem glückverheißenden Tage statt, den der Astrologe festgesetzt hat. Es werden dazu wiederum Geschenke gesandt, darunter befindet sich eine Platte mit hundert verschiedenen Kräutertränken und Kräutern, ein Spiegel und zehn Meter Leinwand, mit der die Braut während der Zeremonie verhüllt wird, ferner ein Paar Leuchter, zwanzig Paar Schuhe und mehrere Platten mit Süßigkeiten.
Die Braut, die am Tage vorher ein Bad genommen hat, wird vor dem Spiegel mit den Leuchtern geputzt, dabei wird ihr die Leinwand um den Kopf geschlungen und durch die weiße Hülle ein Faden in sieben Farben gezogen. Ferner wird ihr der Mund voll Süßigkeiten gestopft und Zucker über den Kopf gestreut. In das Feuer schüttet man wohlriechende Drogen. Während dieser Vorbereitungen läßt ein Rechtsgelehrter, der bei den Männern sitzt, den Bräutigam rufen und sich von ihm in aller Form die Zusage machen, daß er für ihn als Vermittler tätig sein darf; darauf verliest er den Entwurf des Ehevertrages. Ein entsprechender Vermittler von seiten der Braut begibt sich zu dieser und fragt sie dreimal vor dem Vorhang zu den Frauengemächern, ob sie den Bräutigam zu den genannten Vereinbarungen nehmen wolle. Ihre bejahende Antwort läßt er sich noch von einer der anwesenden Frauen bestätigen. Nun verhandeln beide Agenten noch einmal gemeinsam; der des Bräutigams bittet dreimal den der Braut um deren Hand für seinen Klienten unter den Bedingungen, die im Ehevertrag festgelegt wurden. Der letztere bejaht die Frage dreimal, worauf das Ehebündnis für vollzogen erklärt wird und man Süßigkeiten zu sich nimmt. Die Zeremonie findet vorläufig ihren Abschluß damit, daß der Bräutigam nunmehr in die Frauengemächer geführt wird, wo er nach Überreichung eines Geschenkes, meist eines Ringes, den Vorzug genießt, seine ihm soeben angetraute Frau im Spiegel zu sehen. Weiter erfolgt nichts. Bis die Braut ihrem zukünftigen Heim zugeführt wird, vergeht noch einige Zeit, die zur Beschaffung der Einrichtung benutzt wird. An einem Nachmittag, den wiederum der Astrologe festgesetzt hat, werden die Hochzeitsgeschenke (Zeug,[S. 280] Möbel, Kochgeräte und so weiter) auf reich geschmückten Maultieren nach dem Hause des Bräutigams geschafft. Nach Einbruch der Dunkelheit begeben sich die männlichen Verwandten und Freunde des Bräutigams, denen in einiger Entfernung die weiblichen sich anschließen, zum Hause der Braut unter Begleitung von Musikanten, die Lampen und Fackeln tragen. Nach ihrer Ankunft wird dem Vater der Braut der abgeschlossene Ehevertrag überreicht. Inzwischen sind der Braut die Körperhaare sorgfältig entfernt worden, besonders auf dem Rücken, da hierüber der Aberglaube besteht, daß dort ein Haar des Todesengels wachse; außerdem wird sie jetzt in ihr Brautgewand gekleidet.
Endlich setzt sich der Hochzeitszug in Bewegung. Die Braut fährt in einem Wagen; Brot, Salz und Käse führt sie in einem Taschentuch mit sich. Regen bei dieser Fahrt bedeutet besonderes Glück. Der Bräutigam erwartet die Ankommenden in der Nähe seines Hauses, seine weiblichen Verwandten rufen der Braut zu: „Wir haben dich aufgenommen.“ Der Bräutigam schließt sich dem Zuge bis zu seinem Heim an. Hier werden noch Schafe geopfert, um den bösen Blick abzuwenden, und nun kann die junge Frau endlich ihr neues Heim betreten. Hier wird sodann eine große Freudenfeier abgehalten, zu der besondere Tänzer und Musikanten (Abb. 317 u. 332) eingeladen worden sind; in dem Hochzeitszimmer wird glückbringende Raute über einem Kohlenbecken verbrannt. Der junge Ehemann entfernt seiner Frau die Oberkleidung und nimmt ihr, nachdem sie sich gegenseitig die Füße gewaschen haben, den Schleier ab; beide betrachten sich nun wieder gegenseitig im Spiegel. Bei der sich daran anschließenden Mahlzeit steckt eines dem anderen einen Bissen in den Mund. Nach dem Essen brechen die Verwandten auf, nachdem sie im Brautgemach der jungen Frau beim Entkleiden behilflich waren. Der junge Gatte trägt dabei zum Schluß einige artige Verse vor.
[S. 282]
Zu den unter dem Volke beliebten Belustigungen gehören die meist zu Neujahr stattfindenden Widderkämpfe (Abb. 331).
Aberglaube und Zauberei sind unter der persischen Bevölkerung noch sehr im Schwange. Zahlreich sind die Mittel, sich einer lästigen Person oder eines Feindes auf dem Wege des Sympathiezaubers zu entledigen. Zu diesem Zwecke muß man ein bestimmtes Gebet einundvierzig Tage lang lesen, dann stirbt der Feind, oder man fertigt sich ein Bildnis an, das die unliebsame Person vorstellen soll, schlägt es täglich bis zum vierzigsten Tage und haut ihm am nächsten Morgen den Kopf ab, dann stirbt die betreffende Person ebenfalls, oder endlich man nagelt ein Stück Schafsfett an die westliche Mauer eines unbenutzten Friedhofs, am besten an einem Mittwoch, und steckt vierzig Tage lang eine Stecknadel in das Fett; in dem Maße, wie das Fett vergeht, löst sich auch der Feind auf. Es wird versichert, daß Leute, die von diesem Zauber, der gegen sie angewendet wurde, hörten, so in Angst und Aufregung gerieten, daß sie wirklich starben. Wünscht man nicht den Tod einer Person, sondern nur ihre Unbeliebtheit, dann zerstößt man eine Eselsrippe und mischt sie unter ihr Essen. Es muß aber eine linke Rippe sein; würde man aus Versehen eine rechte Rippe dazu verwenden, dann träte das Gegenteil ein, die betreffende Person würde in hohem Grade beliebt werden. — Sehr verbreitet ist auch der Liebeszauber. Um die Neigung des Mannes zurückzugewinnen, streut die Frau Kardamom, Nelken, Zimt und anderes Gewürz in einen Krug, liest über ihm das schon erwähnte Yasinkapitel aus dem Koran siebenmal rückwärts, füllt hierauf die Kanne mit Rosenwasser, legt noch ein Blatt Papier, das den Namen ihres Mannes und die von vier Engeln enthält, sowie das Hemd des ersteren hinein und setzt schließlich das Ganze aufs Feuer; sobald die Flüssigkeit in der Kanne kocht, kehrt der Ungetreue eilenden Schrittes heim. Oder ein anderes, nicht minder wirksames[S. 283] Mittel. Man kratzt den Namen des Geliebten auf ein Hufeisen mit einem wirksamen Talisman ein und hält es ins Feuer; sofort wird der Geliebte unruhig und eilt stehenden Fußes zu seiner Angebeteten. — Dort, wo Polygamie herrscht, wird eine neue Frau zumeist mit gemischten Gefühlen begrüßt. Um sie zu zwingen, bald wieder nach Hause zurückzukehren, wendet die bisherige Gattin folgenden Zauber an. Sie beschafft sich Erde vom Grabe eines ermordeten Mannes und einer Frau und streut sie im Hause aus, nachdem sie das Kapitel im Koran, das vom Jüngsten Tage handelt, gelesen hat. Dadurch soll Zwietracht zwischen dem Manne und seiner neuen Gattin gestiftet und erreicht werden, daß diese freiwillig in das Haus ihrer Eltern zurückkehrt oder auch von jenem ausgewiesen wird. Ehefrauen, die gern Liebesabenteuern nachgehen möchten, mischen ihrem Manne in das Essen das getrocknete Gehirn eines Esels; dadurch wird er unfähig, ihre Schuld zu entdecken.
Kranke werden auf eigentümliche Weise geheilt. Die persische Medizin teilt alle Krankheiten in vier Klassen ein, in solche, die kalt und naß sind, in kalte und zugleich trockene, in heiße und dabei nasse, und in heiße und trockene. Als Heilmittel wird das entgegengesetzte Verfahren eingeschlagen, gegen Fieber zum Beispiel, das eine heiße Krankheit ist, wird das Fleisch von einem Hahn verordnet, denn Hahnenfleisch ist kalt, hingegen das vom Huhn heiß.
Nützen derartige Heilmittel dem Kranken nichts und steht sein Ende bevor, dann legt man ihn mit dem Gesicht nach Mekka hingewendet nieder und liest ihm das Yasinkapitel aus dem Koran vor. Darauf wird er veranlaßt, sein Testament in Gegenwart von Zeugen zu machen. Ist dies geschehen, dann zerbricht man das Siegel des Sterbenden und legt es unter seine rechte Hand. Auch bereitet man das Totenkleid vor und bedeckt es mit Gebeten, die von einundvierzig Männern niedergeschrieben sind und besagen: „O Allah, in Wahrheit wissen wir nichts als Gutes über diesen Mann; du aber kennst sein Verhalten besser.“ Nach Beendigung des[S. 284] Todeskampfes schließt man dem Verschiedenen die Augen, streckt ihm die Glieder, bindet ihm die Zehen der beiden Füße zusammen und schlingt eine Schärpe um den Kopf. Dann wird der Tote auf einer Bahre auf dem Hofe umhergetragen und zur Waschstätte gebracht; voraus gehen die „Totenprediger“, die auch das traurige Ereignis vorher bekanntgegeben haben. Nachdem die Waschung vollzogen worden ist, wird die Leiche in ein Leichentuch gehüllt, wobei ihr zwei grüne Weidenstöcke unter die Achselhöhlen gelegt werden, und auf der Bahre unter Begleitung von Verwandten und Freunden zum Friedhof getragen; ein Mullah sagt auf dem Wege dorthin das Al Raham-Kapitel aus dem Koran (Abb. 335). Auf dem Friedhof wird der Tote noch dreimal von der Bahre genommen und wieder hingelegt, beim vierten Male aber mit dem Kopf voran ins Grab gesenkt. Er kommt auf die rechte Seite zu liegen, mit dem Gesicht nach Mekka gewendet. Das Grab wird nun zugemauert; es bleibt aber über dem Toten noch so viel Raum, daß er sich aufrecht setzen kann, um das gefürchtete Verhör der beiden Engel Munkir und Nakir zu bestehen. Wenn die Erde endlich aufgeschüttet ist, machen alle Anwesenden mit den Fingern Zeichen darüber, wobei sie das Anfangskapitel des Korans hersagen. Man glaubt nun, daß die beiden genannten Engel den Toten besuchen und ihn verhören. Fällt seine Antwort befriedigend aus, dann gehen sie wieder fort; ist das Ergebnis des Verhörs aber nicht zufriedenstellend, dann schlagen sie beide die Leiche mit ihren feurigen Keulen zu Staub, worauf diese ihre frühere Gestalt wieder annimmt. Die Geister derer, die bestanden haben, werden an den „Wohnort des Friedens“ in der Nähe von Najaf geleitet, um dort den Jüngsten Tag abzuwarten, während die Geister derjenigen, die für unwürdig befunden wurden, nach Sahra-i-Barahut[S. 285] in der Nähe von Babylon gebracht werden, um sich dort den Strafen und der Läuterung zu unterziehen bis zu demselben, für sie so furchtbaren Tag.
Drei Tage lang wird um den Toten getrauert. Am ersten Tage sprechen einundvierzig Männer die „Gebete der Beunruhigung“, um den Verstorbenen für die Begegnung mit Munkir und Nakir zu stärken, am folgenden Tage besuchen Verwandte das Grab, bilden einen Kreis, bitten um die Vergebung aller Propheten und Heiligen und danken den Freunden für ihre Teilnahme, am dritten Tage endlich fordert ein Geistlicher die Angehörigen auf, die Öffnungen in ihren Hemden, die sie sich zum Zeichen ihrer Trauer eingerissen haben, wieder zu schließen, und beendet damit die Trauer. Am vierzigsten Tage endlich wird über dem Grabe ein Gedenkstein errichtet (Abb. 333). — Zu den Gräbern großer Heiligen werden Wallfahrten unternommen und Weihgaben an ihnen dargebracht (Abb. 334).
Leviratsehe ist zwar nicht direkte Vorschrift in Persien, aber sie gilt für die Brüder des Verstorbenen als eine Anstandspflicht, gleichviel, ob Kinder da sind oder nicht. — Ehebruch führt zur Ehescheidung.
Afghanistan und Beludschistan. Die Kleidung der Afghanen wie auch der Beludschen besteht in einem langen Hemd, weiten Hosen (bei den einen aus Baumwolle, bei den anderen aus Leinen), einem mantelartigen Überwurf aus Schaffell und einer Mütze, die bei den Beludschen eine zylindrische Form aufweist. Die Städter haben bereits vielfach persische Tracht angenommen. Die Frauen kleiden sich in derselben Weise; Schmuck ist bei ihnen äußerst beliebt. Die afghanischen Bergvölker wohnen in Dörfern, die oft sehr stark[S. 286] befestigt sind und mit Hörnern versehene Türme besitzen. Die nomadisierenden Povindah bringen ihr Leben in Zelten zu. Die Stadtbewohner verfügen bereits über festgebaute Häuser, die oft sehr vornehm eingerichtet sind. Die Beludschen führen ein Nomadenleben (Abb. 336 bis 338) und hausen in primitiven Mattenhütten, die öfters auf einem aus losen Steinen aufgebauten Unterbau ruhen (Abb. 339). Diese Steinmauern, die sich vorzugsweise an solchen Plätzen finden, in deren Nähe Wasser ist, lassen sie bei ihrem Fortzuge für die nächsten Wanderer stehen; nur die Mattenwände nehmen sie mit.
Afghanen wie Beludschen sind Anhänger des Islams, die ersteren aber viel fanatischer als die letzteren. Dafür sind diese aber um so abergläubischer. Sehr verbreitet ist unter den Beludschen der Glaube an den Mamm; es ist dies der gewöhnliche braune Bär, dem man aber die Eigenschaften eines Werwolfs oder Vampirs zuschreibt. Von vielen Frauen nimmt man an, daß sie in Wahrheit Mamms sind, die eine solche Gestalt nur angenommen haben, um Männer in die Falle zu locken, ihr Blut auszusaugen oder sie durch ihre Liebesumarmungen zu Tode zu drücken. Eine besondere Merkwürdigkeit der Beludschen, die von ihren Nachbarn, den Afghanen, nicht geteilt wird, ist ihre Abneigung gegen Fische, offenbar ein Überbleibsel aus alten totemistischen Gebräuchen. Sie essen niemals Fisch. Ebenso meiden sie Eier. An Teufel glauben die Beludschen zwar nicht, wohl aber an allerlei Geister. Die Hazara stellen aus diesem Grunde bei der Geburt eines Kindes stets Speise für einen solchen Dschinn an die Seite der Kreißenden. Auch Feuerproben werden von den Beludschen vorgenommen, im besonderen das uns schon von anderwärts her bekannte Feuerlaufen.
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Die Beludschen haben in viel höherem Grade noch ihre Ursprünglichkeit bewahrt als die Afghanen. Sie sind ein Volk von Reitern und Pferdezüchtern. Leidenschaftlich interessieren sie sich daher auch für Pferdewettrennen (Abb. 340 und 341); gelegentlich wetteifert dabei ein Stamm gegen einen anderen. Nach ihrer Überlieferung ist dies eine alte Neigung, die vor vielen Jahrhunderten einmal zu Bürgerkriegen und Spaltungen in feindliche Parteien innerhalb des Volkes führte. Bei allen größeren Festen oder Versammlungen finden solche Pferderennen statt, die auch immer von Tänzen begleitet sind. Am ausgebildetsten zeigen ihren Nationaltanz noch die Bergstämme. Die Tänzer, die lange, wallende weiße Gewänder tragen, fassen sich bei den Händen, bilden einen Kreis, in dessen Mitte die Musik — Trommeln und zwei weitere, unserem Violoncell und unserer Gitarre ähnliche Instrumente — aufspielt, und setzen sich mit leicht federndem Schritt in Bewegung, den Kreis bald enger ziehend, bald ihn vergrößernd. Allmählich werden ihre Bewegungen, die anmutig und gemessen begannen, immer schneller, die Tänzer machen sich oft voneinander los und drehen sich allein, schließlich endet das Ganze in einen wilden Taumel. Die Umstehenden werden ebenfalls von der Lust zu tanzen erfaßt und fallen unter wüstem Geschrei ein (siehe die farbige Kunstbeilage). — Unter den berufsmäßigen Kameltreibern ist ein ähnlicher Tanz üblich. Sobald sie dabei in Aufregung geraten, nehmen sie ganz seltsame und groteske Stellungen ein: sie kauern sich nieder, hüpfen umher, springen wie Frösche und stoßen ein wildes Geheul aus, grunzen oder geben andere eigenartige Töne von sich. — Der Tanz der Afghanen ist ein Schwertertanz. Zumeist halten nämlich die Tänzer ein Schwert in beiden Händen, manchmal ein solches nur in der einen und[S. 288] eine Flinte in der anderen Hand. Sie kreisen um einen Pfosten, schwenken das Schwert um den Kopf und werden nach und nach so erregt, daß sie in wilden Bewegungen umherspringen und nicht selten ihre Gewehre abschießen. Die Musikanten halten sich hier außerhalb des Kreises auf. Aus anderen freudigen Anlässen tragen bei den Beludschen berufsmäßige Sänger Lieder, im besonderen alte Balladen vor. Jedoch sind dies keine eigentlichen Beludschen, sondern Domen, das heißt Männer des Zigeunerstammes, die die Lieder gleichzeitig auf den schon erwähnten Musikinstrumenten begleiten (Abb. 342). Die Beludschen verfassen auch noch mancherlei Dichtungen, aber keiner von ihnen gibt sich dazu her, selbst sein Erzeugnis öffentlich vorzutragen; er lehrt es einen Dom, und dieser singt es vor dem versammelten Volke. Die Bergbewohner üben auch Gesänge, kurze Liebeslieder und kleine lyrische Gedichte, ein und begleiten sie mit der Flöte. Diese Gedichte atmen mitunter einen recht romantischen Geist, besonders wenn die Liebe mitspricht. Denn Flirten und Hofmachen kommt unter den jungen Leuten recht häufig vor. Im großen und ganzen erfreuen sich die Frauen der Beludschen ziemlicher Freiheit, wenngleich bei der Auswahl des Gatten ihre Stimme wenig ins Gewicht fällt. Dafür entschädigen sich die Frauen aber durch Liebeleien nach der Hochzeit. Daß jungverheiratete Frauen sich von ihren Liebhabern aus anderen Stämmen oder Familien entführen lassen, kommt sehr häufig vor. Ein solches Vergehen hat den Tod der Frau oder des Liebhabers, meistens beider zur Folge, wenn es dem Paare nicht gelingt, sich auf das Gebiet eines anderen Stammes zu flüchten, denn hier verbietet das Gesetz der Gastfreundschaft ihre Auslieferung. Frauen dürfen bei Fehden unter den einzelnen Stämmen nicht getötet werden, ebensowenig Knaben bis zur Pubertät. Sobald sie aber die Reife erlangt haben, werden sie mit Hosen bekleidet, wie sie die erwachsenen Männer tragen, gelten dann für Männer und dürfen wie diese fortan mit Fug und Recht umgebracht werden.
Bei Erkrankung werden Zaubermittel angewandt. Viele Mullah stehen in dem Rufe, Krankheiten heilen zu können, entweder durch Verabreichung eines solchen Mittels oder durch Anblasen der Kranken. Auch gegen den bösen Blick gibt es zahlreiche Zaubermittel; man schützt durch sie auch die Lieblingstiere, wie Kamele, Stuten, Ziegen und so weiter; sehr beliebt sind zu diesem Zweck blaue Perlenketten.
Die Beisetzung der Toten erfolgt nach mohammedanischem Ritus, aber in den Einzelheiten herrscht manche Abweichung unter den verschiedenen Stämmen. In den Städten befolgen sowohl Afghanen wie Beludschen die üblichen Methoden; sie errichten schöne gewölbte Grabdenkmäler für gewichtige Persönlichkeiten und bestatten die Leichen des gewöhnlichen Volkes in bescheidenen Lehmgräbern. Die wilden Stämme errichten über den Gräbern vielfach Steinhaufen, die Povindah legen Hörner des Schafes oder der wilden Ziege obenauf (Abb. 343 und 344). Wird ein Heiliger oder eine Persönlichkeit von Ruf begraben, dann errichtet man ihm zu Ehren einen Schrein. Einer der berühmtesten dieser Schreine ist der von Sakhi Sarwar (Abb. 345) im Dera-Ghazi-Khan-Gebiet. Alljährlich im Frühjahr wird zu ihm gewallfahrtet; auf den in den Felsen gehauenen Stufen versammeln sich die Menschen, um den Spielen, Ringkämpfen und Pferderennen zuzusehen, die zu den Füßen des Felsens, auf dem der Schrein steht, sich abspielen.
Russisch-Turkistan. Turkistan mit Buchara, Chiwa und Transkaspien bildet einen Teil von Russisch-Asien, der sich nördlich von Afghanistan und östlich von Persien bis zu den großen Binnenseen (Kaspisee, Aralsee und Balchaschsee) erstreckt. Seine Bevölkerung bietet ein recht buntes Bild, das allerdings in der Hauptsache aus Angehörigen der mongolischen Rasse besteht, die aber hinsichtlich ihrer Tracht, Sitten und Gewohnheiten ziemlich voneinander abweichen, so daß eine erschöpfende Schilderung auf Schwierigkeiten stoßen dürfte. Die[S. 290] geographische Lage Turkistans und der westlich anstoßenden Gebiete, die den innerasiatischen Stämmen im Laufe der Jahrtausende gleichsam als Einfallstor nach Europa dienten, gibt uns die Erklärung für dieses Völkergemisch. Mongolen, Arier, Juden (Abb. 346), Araber und Türkenvölker haben sich hier im Laufe der Zeiten zusammengefunden und sind miteinander Kreuzungen eingegangen, deren heutiges Produkt bald den einen, bald den anderen Typus mehr hervortreten läßt. Es ist in verschiedener Hinsicht praktisch, die Bevölkerung der uns interessierenden Gebiete in die Städtebewohner und in die Nomaden zu teilen; beide Gruppen unterscheiden sich nämlich voneinander nicht nur in kultureller, sondern auch in anthropologischer Hinsicht. Die ansässige Bevölkerung heißt Sarten; es sind stattlich gewachsene Leute von bräunlicher Hautfarbe, die sich von den Mongolen durch diesen ihren hohen Wuchs, mehr länglichen Schädel, edlere Züge und stärkeren Haarwuchs unterscheiden. Zum großen Teil zu seßhafter Lebensweise sind die Uzbegen übergegangen, wohingegen die Turkmenen im Westen, die Kirgisen im Osten Turkistans noch reine Nomaden sind. Sie, besonders die letzteren, weisen in ihrem Äußeren noch ziemlich reinen Mongolentypus auf.
Die Tracht der Sarten ist eine recht charakteristische und erinnert im ersten Augenblick an weibliche Gewandung. Das kommt von dem langwallenden (bis zum unteren Drittel des Unterschenkels reichenden), schlafrockähnlichen Oberkleid, dem Chalat, her, das zumeist noch offen getragen wird und daher hinterherschleppt. Darunter sitzt ein zweiter Chalat, der aber durch einen Gürtel aus baumwollenen Tüchern geschlossen gehalten wird; der Gürtel dient gleichzeitig[S. 291] als Behältnis für Tabaksdose, Geld, Speisen und so weiter. Baumwollene oder leinene Beinkleider, schwarze Lederstrümpfe, große gelbe Stiefel und ein Turban vervollständigen die Kleidung. Während das Tragen eines Turbans bei den Persern nur den Mullah gestattet ist, geht ein Sarte niemals ohne einen solchen aus. Die Tracht der Frauen ist im großen und ganzen der der Männer gleich. Sobald sie das Haus verlassen, was nur äußerst selten der Fall ist, hüllen sie sich in einen dichten Roßhaarschleier und in ein graues Gewand, das lange, eng auslaufende Ärmel hat und sie vom Kopf bis zu den Füßen bedeckt (Abb. 347 u. 348). Reiche und Arme kleiden sich auf dieselbe Weise, nur unterscheiden sich die Frauen der oberen Klassen von ihren ärmeren Mitschwestern durch die bessere Qualität des Stoffes und die größere Sauberkeit des Gewandes.
Jeder Sarte muß sich zeit seines Lebens den Kopf rasieren lassen, sobald sein Bart zu wachsen beginnt; ebensowenig darf er sich ein Haar auf der Oberlippe stehen lassen, hingegen wohl seinen übrigen Bart, der sogar überhaupt niemals geschnitten wird. Schon ganz jungen Kindern, wenn sie das erste Lebensjahr gerade erreicht haben, rasiert man den Kopf, Knaben sowohl wie Mädchen. Letztere lassen sich aber vom siebenten Jahre an die Kopfhaare wieder wachsen. Unter Umständen dürfen zwei kleine Haarbüschel über dem Ohr eines Knaben stehen bleiben, wenn die Eltern damit anzeigen wollen, daß sie ein besonderes Gelübde abgelegt haben; manchmal befestigen sie daran noch eine dichte Flechte Frauenhaar. Weil sie keine Haare auf dem Kopfe haben, tragen alle Sarten beständig eine kleine Mütze, die erwachsenen Männer darüber noch ihren aus meterlangen Tüchern geschlungenen Turban. Ihre Mützen pflegen in bunten,[S. 292] leuchtenden Farben bestickt zu sein. Überhaupt legen alle Sarten großes Gewicht auf besondere Schönheit ihrer Gewandung, die zumeist farbenprächtig ausgestattet ist. Oft genug tragen sie bis zu einem halben Dutzend bunter Chalats, einen über dem anderen, sogar zur heißesten Jahreszeit. — Die Mädchen tragen ihr dichtes, üppiges Haar glatt und in der Mitte gescheitelt und lassen es in zahlreichen Flechten herabhängen. Kopfschmuck ist ihnen verboten. Die verheirateten Frauen verlängern ihre schwarzen Augenbrauen künstlich mittels Farbstifts; zum mindesten bringen sie sie über der Nasenwurzel zusammen, oft aber führen sie sie auch seitwärts weiter. Handflächen und Nägel werden von ihnen, wie es für die Anhängerinnen des Islams Vorschrift ist, mit Henna gefärbt. Bei festlichen Gelegenheiten tragen die Damen viele Korallenschnüre um den Hals und schwere silberne Ringe im Ohr, außerdem mit Türkisen, Korallen und Glasperlen besetzte Amulette über den Ohren im Haar.
Die Sarten können für die strenggläubigsten Mohammedaner der ganzen Welt gelten (Anhänger der Sunna): sie befolgen nicht nur aufs genaueste die Vorschriften des Korans, sondern übertreiben sie unter Umständen sogar. Während jeder andere Mohammedaner sich im allgemeinen damit begnügt, die ihm auferlegten Waschungen an Händen, Füßen und Mund fünfmal am Tage vorzunehmen, gewinnen es die Sarten über sich, diese Vorschrift gegen zwanzigmal zu erfüllen (Abb. 349 und 350). — Eine besondere Ehrfurcht bekunden die Sarten gegenüber dem Brot. Diese geht so weit, daß sie es für Unrecht halten, einen Laib Brot „auf den Rücken zu legen“. Nach dem Ramadan legt jede Familie ein Stückchen beiseite, um es bis zur nächsten Fastenzeit als glückbringend aufzubewahren. Es gilt als Zeichen von Wohlhabenheit, wenn ein Sarte vor seinem Gaste seine Brote hoch aufbaut.
Eine Eigentümlichkeit der Sarten sind die Batschas oder Tanzknaben, wozu besonders schöne oder, besser gesagt, mädchenhaft erscheinende Knaben eigens ausgewählt werden. Sie werden auch ähnlich wie Mädchen gekleidet: sie tragen das Kopfhaar vorn abgeschnitten und hinten langwallend; man steckt sie in buntschillernde Gewänder, zieht ihnen lose Beinkleider sowie hohe Lederstiefel an und setzt ihnen eine reich und recht bunt bestickte Mütze auf. Unter einem Leiter, der mit ihnen sehr streng umgehen soll, ziehen sie in Gruppen von zehn bis zwölf von Ort zu Ort und werden an wohlhabende Männer vermietet, um diese durch ihre Tänze zu unterhalten (Abb. 352), auch wohl von ihnen sich geschlechtlich mißbrauchen zu lassen. Während des Fastenmonats Ramadan sind diese Knaben hochgradig in Anspruch genommen; denn sie müssen ganze Nächte durchtanzen, bis sie vor Ermüdung zusammenbrechen. — Die sartischen Musikanten, die bei Volksbelustigungen (Abb. 351) aufspielen, blasen auf mächtigen Trompeten von etwa zweieinhalb Meter Länge (Abb. 355).
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Die Begrüßungsform der Sarten ist sonderbar. Bei der Begegnung reichen sie sich die Hände und streichen sich darauf mit beiden Händen den Bart. Überhaupt ist das Händereichen unter ihnen sehr beliebt; ein Höhergestellter hält es nicht für unter seiner Würde, einem Manne von niedrigerem Stande die Hand zu geben.
Im Alter von acht bis zwölf Jahren wird an den Knaben die Aufnahmezeremonie vollzogen, kraft deren es ihnen gestattet ist, fortan an Stelle der gestickten kleinen Mütze einen Turban zu tragen. Für die jungen Mädchen besteht die Pflicht darin, sich eine Bettdecke zu arbeiten. Das Material dazu geben ein grober straminähnlicher Stoff und karmesinrote Seide ab; je dichter der Stoff mit der Seide bestickt wird, für um so kostbarer gilt die Bettdecke. Sticken ist die einzige Handarbeit, die die Sartenfrau am Freitag, der unserem Sonntag entspricht, vornehmen darf.
Die Sartenfrauen bringen ihr ganzes Leben in strenger Abgeschlossenheit zu; wohl bei keinem Volke der Erde ist diese so ausgeprägt wie in Turkistan. Eine Frau, die nur etwas auf ihren Ruf hält, gleichviel, ob sie erst neun oder bereits neunzig Jahre alt ist, wird sich außerhalb ihres Heims nie sehen lassen, ohne, wie wir es schon geschildert haben, tief verschleiert zu gehen.
Die Sarten sind große Fatalisten, die dem Tode als dem Willen Allahs mit Ruhe und Ergebenheit entgegensehen. Unmittelbar nach dem Hinscheiden beginnt ein lautes Klagen und Weinen der Angehörigen; Freunde und Bekannte gehen aus und ein, um ihr Beileid zu bezeigen. Bezahlte Klageweiber sorgen dafür, daß das laute Jammern und Schluchzen nicht aufhört. Der von gemieteten Weibern gewaschene und in lange Decken wie ein Wickelkind eingehüllte Tote bleibt nur kurze Zeit im Hause; er wird vielmehr sehr bald nach der Moschee getragen und schon innerhalb der ersten zwölf Stunden der Erde übergeben. Wohlhabende werden auf einer Tragbahre hinausgetragen, die Ärmeren quer über ein Pferd gelegt, wobei die Leiche am Kopfe und an den Füßen gestützt wird. Während des feierlichen Zuges, an dem die männlichen Verwandten, der Mullah, die Totengräber und Bettler teilnehmen, wird vollständiges Stillschweigen beobachtet; jeder Mann trägt zum Zeichen der Trauer einen Stock und ein dunkelblaues Taschentuch. Da die Mohammedaner keine Särge kennen, anderseits aber auch keine Erde auf eine Leiche geworfen werden darf, so legt man den Toten nicht direkt in die geschaufelte Grube, sondern in eine Seitennische, die sich neben ihr in der Tiefe befindet, und schließt diese sogar erst noch mit Schilf ab, bevor man das Grab zuschüttet. Nach der Beerdigung begeben sich die Leidtragenden ins Haus zurück und werden hier sämtlich mit Süßigkeiten, Früchten, Tee und so weiter bewirtet; selbst die vor dem Hause sich einfindenden zahlreichen Bettler werden dabei nicht vergessen. Nach Beendigung des schweigsamen Totenmahles werden an die Verwandten, Freunde und Bettler Stücke Baumwollenzeug, Tücher und[S. 294] andere Sachen von geringem Wert zum Andenken an den Verstorbenen verteilt. Drei Tage nach einem Todesfall wird von den Angehörigen nicht verlangt, daß sie für sich kochen; man trägt ihnen das Erforderliche von außen zu. Die Männer der Sarten pflegen keine Trauer anzulegen, die Frauen tragen bei tiefer Trauer schwarze, bei Halbtrauer blaue Gewänder. — Auf den Grabhügeln werden nach der Stellung des Toten und seinen Vermögensverhältnissen einfachere oder kostbarere Denkmäler errichtet. Die Grabhügel der Ärmeren bleiben meistens ohne Schmuck, die der Wohlhabenderen dagegen werden mit Ziegeln oder Fliesen belegt und mit allerlei Verzierungen aus Alabaster versehen. Man setzt auch mit Inschriften versehene Gedenksteine darauf. Gräber von Leuten, die sich besonderer Heiligkeit erfreuen, erhalten kleine Tempel (Abb. 353). Von den Verehrern derartiger Heiligen bringen ihnen Hirten oder Viehbesitzer die Schädel und Hörner von Haustieren, Kaufleute Stücke Zeug oder Gewänder, Talglichter und Sesamöl zu Nachtlampen dar. Mitunter hausen bei solchen Gräbern in elenden Erdhütten armselige Bettler, die ihr Leben kümmerlich durch Almosen der die heiligen Gräber aufsuchenden Leute fristen; solche Bettler werden oft nach ihrem Tode ebenfalls für Heilige erklärt.
Die Kirgisen (das heißt Steppenwanderer) sind ein kräftiges Nomadenvolk, das die Steppe zwischen den nördlichen Gebieten Turkistans und dem mittleren Sibirien durchstreift; sie kommen auch in die Sartenstädte, wo man sie häufig auf den Basaren und Märkten antrifft. Ihre irdischen Güter bestehen nur in Viehherden (Kamelen, Pferden, Schafen, Ziegen, Eseln), die aber einen recht hohen Wert darstellen. Da die klimatischen[S. 295] Verhältnisse des Landes nicht das ganze Jahr hindurch genügend Futter für die Herden an einer Stelle gewähren, so sind die Kirgisen gezwungen, ein Nomadenleben zu führen. Sie leben daher in Zelten, die sie zum Schutz gegen wilde Tiere öfters noch mit einer Lehmmauer umgeben. Sobald der Sommer anbricht, ziehen sie mit ihren Herden aus der Ebene in die umgebenden Berge. Die Frauen schlagen die Zelte auf und brechen sie auch wieder ab; es sind dieses Holzgerüste, die im Sommer mit Rohrmatten, im Winter mit Filzdecken überspannt werden. Je nach der Wohlhabenheit ihrer Besitzer weisen die Zelte eine mehr oder weniger kostbare Innenausstattung in Gestalt von Teppichen und Seidenstoffen auf (Abb. 354). Sonst ist ihre Ausstattung bescheiden; aber ein Prunkstück hat wohl jede Jurte aufzuweisen: einen mit grüner oder roter Farbe bemalten, metallbeschlagenen Holzkoffer, der zur Aufnahme des Familienreichtums, der Schmucksachen, des Geldes, kostbarer Stickereien und so weiter dient.
Die Kleidung der Kirgisen setzt sich aus kurzen, aber sehr weiten Reithosen aus Baumwollstoff,[S. 296] Leder oder Häuten, deren Haare nach außen gerichtet sind, mächtigen Stiefeln und einem langen Mantel mit sehr langen, engen Ärmeln und (zur Winterszeit) einem Baschlik zusammen. Die Kleidung der Frauen (Abb. 356) ist der der Männer gleich. Merkwürdig ist an ihr, daß unverheiratete Mädchen sich mit reichem Schmuck aus Edelsteinen und Edelmetall behängen dürfen, verheirateten Frauen dies aber verboten ist; sie unterscheiden sich von ersteren auch noch dadurch, daß sie sich ein weißes baumwollenes Tuch um Kopf und Schultern binden.
Trotz ihres enormen Reichtums an Vieh verstehen sich die Kirgisen nur im Notfalle dazu, ein Stück zu schlachten; sie betrachten ihre Herden als ihr Kapital und begnügen sich mit Milch und deren Erzeugnissen, unter denen der Kumys (in schafledernen Schläuchen gegorene Stutenmilch) die erste Stelle einnimmt, Hirsebrei und einer aus Mehl hergestellten Speise. Nur bei festlichen Gelegenheiten genießen sie Fleisch; dann aber lassen sie auch, wie man zu sagen pflegt, etwas springen, und zahlreiche Tiere müssen daran glauben. Als große Delikatesse wird der Tjustjuk geschätzt, ein etwa handtellergroßes, nur aus Fett bestehendes Bruststück vom Schaf, das man mit dem noch daran haftenden Fell an einem Holzstab über Kohlenfeuer röstet.
Obwohl sich die Kirgisen zum Islam bekennen, gehen sie doch ganz in animistischen Anschauungen auf; wie die sibirischen Völker kennen auch sie Schamanen (Baksas genannt). Diese wahrsagen auch und heilen Kranke, wobei sie Pferdeopfer darbringen. Zu Heil- und Schutzzwecken verwenden sie außer Amuletten allerlei tierische Substanzen. Sehr gefürchtet wird der böse Blick; allgemein verbreitet ist auch der Glaube an Vorzeichen in Träumen und[S. 298] Körperzuckungen, ferner der Tier-, Zahlen-, Sternenglaube und das Orakel. Man wahrsagt aus Schafsknochen und Schafmistkugeln.
Die Frauen der Kirgisen sind die reinen Arbeitstiere, wie auch sonst bei den Nomadenstämmen. Während die Männer auf ihren Wanderzügen stets zu Pferde sitzen, müssen die Frauen vielfach zu Fuß nebenher laufen. Sie tragen keinen Schleier.
Eigentliche Hochzeitsgebräuche kennen die Kirgisen nicht. Man begnügt sich im allgemeinen damit, ein großes Hochzeitsmahl zu veranstalten. Die Braut trägt einen unförmigen, hohen, kegelartigen Kopfputz (Saukele) aus rotem Stoff, der reich mit Perlen, Münzen, Edelsteinen und Silberschmuck verziert ist und unter Umständen einen Wert von mehreren tausend Mark darstellt.
Bei Beginn der Geburt werden alle Weiber aus der Jurte entfernt, in dem Glauben, es könnte eine darunter sein, die vom Satan besessen wäre. Dagegen versammeln sich die Männer drinnen, und draußen stellen sich alle übrigen Dorfbewohner auf. Man schreit, lärmt, knallt mit der Peitsche und schießt mit der Flinte, manchmal schlägt man auch, nur zum Schein, auf die Kreißende ein. Offenbar sollen dadurch die bösen Geister verscheucht werden. Außerdem holt man einen Dargon, eine Art Arzt, oder häufiger den Schamanen hinzu. Dieser nimmt die üblichen Beschwörungen vor, um die Geburt zu erleichtern.
Wird ein solcher Baksa zu einer Kreißenden gerufen, dann läßt er zunächst alle Feuer bis auf[S. 299] das auf dem Herde brennende auslöschen, kniet, mit einem langen, weißen Hemd bekleidet, vor ihr nieder und beginnt, sich langsam hin und her neigend, auf einem dreisaitigen mandolinenähnlichen Instrumente zu spielen, das er von Zeit zu Zeit schüttelt. Darauf singt er mit zitternder Stimme eine fremdartige, wilde Melodie. Ab und zu unterbricht er die Musik und seinen Gesang durch unartikulierte laute Schreie und springt endlich nach einer kurzen Pause sehr erregt auf; mit verzerrtem Gesicht und rollenden Augen fängt er an, in der Jurte im Kreise umherzugehen, zu gestikulieren, als ob er Krämpfe habe, umherzuspringen, überhaupt sich wie toll zu gebärden. Wenn gar zwei Baksen herzugezogen worden sind, wird die Szene noch wilder. Beide rasen umher, und einer sucht den anderen an Wildheit zu überbieten; sie beißen sich, bewerfen sich mit glühenden Feuerbränden und hören mit ihrem Toben nicht eher auf, als bis der schwächere kraftlos zusammenbricht. Inzwischen soll die Geburt sich leicht abwickeln. — Die ganze Kindererziehung beschränkt sich für die Knaben auf das Erlernen des Reitens — die Kirgisen sind vorzügliche Reiter —, für die Mädchen auf Spinnen, Weben, Sticken und Herstellen von Gewändern und Filz, sowie in dem Erlernen der Hauswirtschaft.
Turkmenen. Der dritte Volksstamm, der für unser Gebiet in Betracht kommt, sind die Turkmenen. Sie führen die gleiche Lebensweise wie die Kirgisen. Dementsprechend leben sie unter Zelten, die sie in der Weise herstellen, daß sie dicken Filz über ein Gestell aus Weidenruten hängen. Das Innere dieser Wohnungen ist an den Wänden mit kostbaren Gebetsteppichen, gewebten Vorhängen und den berühmten Satteltaschen ausgestattet; ebenso liegen[S. 300] dicke Filzdecken oder Teppiche auf dem Boden. Ihr Reichtum an Herden, die vorwiegend aus Pferden bestehen, ist bei weitem nicht so bedeutend wie der der Kirgisen.
Ihre Tracht gleicht der kirgisischen; nur ein Kleidungsstück unterscheidet die Turkmenen von diesen ihren Stammesvettern, das ist ihre große buschige schwarze Schafwollmütze, der Kalpak. — Wie die Kirgisenfrauen gehen auch die Turkmeninnen unverschleiert. Dagegen behängen sie sich viel mit allerlei Schmuckstücken, die ein ziemliches Gewicht haben, zum Beispiel schweren Brustharnischen mit Achatsteinen oder massiven Daumenringen, dicken Armbändern, die so breit sind, daß sie den ganzen Vorderarm bedecken, und anderem mehr. Mancher Ehemann legt in diesem Schmuck beinahe sein ganzes Vermögen an.
Auch die Turkmenen sind vorzügliche Reiter, und ihre Frauen sind in dieser Kunst nicht minder geschickt als die Männer. Außerdem sind die Turkmenen große Liebhaber von Ringkämpfen, bei denen die Zuschauer in dichten Reihen umherstehen. Jeder barfüßige Held, dem es gelingt, seinen Gegner zum Straucheln zu bringen und ihn platt auf die Erde zu werfen, wird mit lautem Beifall von ihnen begrüßt. Der Kampf spielt sich in ruhiger, bedächtiger Weise ab; Roheiten kommen dabei nicht vor. Ein Schiedsrichter überreicht dem Sieger helleuchtende seidene Taschentücher; mit dem Stock in der Hand hält er die Ordnung aufrecht.
Die Toten werden in der üblichen Weise begraben. Am dritten, siebenten, vierzigsten, hundertsten und am Jahrestag werden Erinnerungsfeste an die Verschiedenen abgehalten, am Jahrestage geht es ganz besonders feierlich zu. Auf das Grab werden Steine gesetzt, und man umfriedigt es mit Platten; auch errichtet man Sarkophage und Mausoleen auf ihm.
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Die Bevölkerung Vorderasiens (Syriens und Palästinas) bildet ebenso wie die Turkistans eine zusammengewürfelte Gesellschaft. Denn dieses Gebiet, die Brücke, die von Asien nach Europa führt, wurde in der gleichen Weise von den aus Zentral- und Nordasien nach Westen vorstürmenden Völkerstämmen zu den verschiedensten Zeiten überflutet. Dazu kommt noch, daß die Osmanen von ihren Kriegszügen her die Frauen der heterogensten Rassen mit heimbrachten und ihren Harems einverleibten, so daß die Rassenmischung dadurch noch mehr gesteigert wurde.
Als die Urbevölkerung Vorderasiens werden allgemein die Hittiter oder Kheta der Bibel angesehen, ein Volk, das nach der Überlieferung auf den Denkmälern und nach den assyrischen Berichten der zentralasiatischen Bevölkerung verwandt gewesen sein muß. Zu ihnen gesellten sich bereits in der Urzeit von Süden (Arabien) her die Semiten und von Norden nordeuropäische oder diesen verwandte Völker (vor allem die Amoriter). Aus einer Mischung von Hittitern und Amoritern sind die Juden Palästinas hervorgegangen, die sich von hier aus über ganz Nord- und Mitteleuropa sowie Nordamerika ausbreiteten (die sogenannten Akenaschim). Die südeuropäischen und afrikanischen Juden dagegen (die sogenannten Sephardim) stehen den eigentlichen Semiten (Arabern) näher. Wenngleich die Osmanlitürken (Abb. 358) die politische Herrschaft über ganz Vorderasien ausüben, so bilden die Armenier doch das wichtigste Rassenelement. Sie sind die unveränderten Nachkommen der alten hittitischen Urbevölkerung und weisen noch[S. 302] heute ziemlich denselben Typus auf, wie er uns auf den alten Denkmälern entgegentritt. Es sind große, stämmige Menschen von dunkelbräunlicher Hautfärbung, dunklen Augen, schwarzem Kopf- und Barthaar, sehr kurzem Schädel, breiter, langer, im Rücken gekrümmter Nase (Judennase) und dicken, etwas umgestülpten Lippen. Sie sind nicht nur über einen großen Teil Vorderasiens, sondern auch über Osteuropa verbreitet. Dort, wo sie an die Scholle gebunden sind, betreiben sie vorzugsweise Ackerbau, wie ihre Vorfahren; in der Fremde aber beschäftigen sie sich mit Handel und gelten für sehr geschickte, ja selbst sehr gerissene und schlaue Kaufleute, Händler, Bankiers und Makler („Juden des Orients“).
Ein anderes, den Armeniern in hohem Grade feindselig gegenüberstehendes Rassenelement sind die wilden Kurden, ein Volksstamm, der, seinem Äußeren nach zu urteilen, viel arisches Blut in sich aufgenommen haben muß. Zumeist sind die Kurden umherschweifende Nomaden, deren Lieblingsbeschäftigung in Raub und Kampf besteht, weswegen sie gefürchtete Grenznachbarn der Perser sind; ein Teil von ihnen ist ansässig geworden und betreibt Ackerbau. — Zu den genannten Völkern kommen noch eine ganze Reihe anderer, weniger wichtiger, die ihre Sitze hauptsächlich in dem Kaukasusgebiet haben; mit ihnen werden wir uns an anderer Stelle zu beschäftigen haben.
Aus politischen Gründen hat die türkische Regierung die Bevölkerung Vorderasiens in drei Klassen eingeteilt: in die Mohammedaner, die Christen und die Juden; jede dieser Klassen weist wieder Unterschiede auf, die auf der Rasse und dem Wohnort beruhen. Dem Namen nach sind die meisten Stämme Anhänger des Islams, aber in Wirklichkeit setzt sich ihre Religion aus einem Mischmasch von überkommenem Ahnenkult, Christentum und Mohammedanismus, selbst Judentum zusammen. Dies zeigt sich unter anderem an der Glaubenslehre der Jesiden, einer Sekte der Kurden. Ihre Lehre wird als strenges Geheimnis bewahrt, in ihrem vollen Umfange ist sie allein dem Ältesten des Geschlechtes, Hassan al Bussri, bekannt. Die Jesiden glauben an einen höchsten Gott, den sie Melek-Taus nennen; ihr Prophet ist Scheich Adi, der dem Gotte gleich ist. Außer diesen beiden höchsten göttlichen Wesen kennen sie noch eine große Anzahl niederer Gottheiten, darunter verehren sie die Abendröte, die Morgenröte und das Sternbild des großen Bären. Ihr Kultus ist ein Gemisch von christlichen, mohammedanischen und sogar jüdischen Gebräuchen. Der Religionsunterricht findet in einem besonderen Raum statt, den kein Fremder betreten darf. Weil der Name des Satans nicht ausgesprochen werden darf, so sind alle diesbezüglichen Bezeichnungen aus der Glaubenslehre ausgelöscht. Die Jesiden haben sogar, um das Wort Scheitan (Teufel) zu vermeiden, aus ihrer Sprache eine Menge Worte verbannt, die mit einem Sch beginnen und an diese Bezeichnung erinnern könnten. — Das heilige Buch der Jesiden, das mit sieben Siegeln versehen vom Himmel fiel und in dem Grabmal des Scheich Adi aufbewahrt wird, berichtet unter anderem von der Erschaffung der Welt, die sich im Jesidenglauben ganz eigenartig ausnimmt. Als Gott der Finsternis in der Welt müde war, schuf er sich einen Papagei, der ihn vierzig[S. 305] Jahre lang erfreute und unterhielt. Darauf wurde er über ihn zornig und schlug ihn tot. Aus den Federn des Tieres bildeten sich Berge und Täler, aus dem letzten Atemzuge die Luft. Darauf schuf Gott das Himmelsgewölbe und hängte es mittels eines Haares seines Hauptes auf. Weiter gingen aus seiner Hand sechs Götter, die Sonne, der Mond, die Morgenröte, das Licht, der Morgenstern, das Siebengestirn und alle anderen Sterne, wie die Funken aus dem Feuer, hervor. Jede dieser Gottheiten schuf sich ein Pferd, um durch den Luftraum reiten zu können. Sodann versammelten sich alle Götter und schufen die Engel; der siebente Gott schuf allmählich die Tiere, sowie Adam und Eva. Eva gab ihrem Manne hundertvierzehn Kinder, alles Zwillinge, aber die Jesiden stammen nicht von ihnen ab, sondern von einem Einzelkind, das nach einem Versprechen Gottes auf wunderbare Weise durch eine der Huris des Paradieses geboren wurde, und so weiter. — Im Grabe des Scheich Adi wird eine heilige Fahne aufbewahrt, die vom König Salomon stammen soll, aber von jedem Jesiden durch Geld für eine gewisse Zeit gekauft werden kann. Derjenige, der sich das Recht dazu erworben hat, taucht die Fahne in Wasser, feuchtet mit diesem etwas Staub vom Grabe Adis an und fertigt daraus Pillen für die Gläubigen. Jede Pille verleiht dem, der sie einnimmt, die Eigenschaft, auf ein Jahr gesund zu bleiben. Mit dieser Fahne ziehen die Jesiden siebenmal um ihr Haus, schlagen sich dabei auf die Brust und bitten Gott um Vergebung ihrer Sünden. Im Herbst kommen alle Jesiden zusammen, um ein Fest zu feiern. Jeder Teilnehmer über dreißig Jahre muß dazu aus seiner Herde für den Scheich etwas mitbringen. Vom Morgen bis zum Abend wird in einem großen Kessel ein Rind gekocht. Sobald das Fleisch gar geworden ist, ruft der Scheich einige junge Leute herbei und befiehlt ihnen, trotz[S. 306] des siedenden Wassers mit den Armen in den Kessel zu greifen und das Fleisch herauszuheben; wer infolge der dabei erhaltenen Brandwunden etwa stirbt, gilt als Märtyrer. Darauf beginnt das Volk von der gekochten Suppe zu essen; einzelne werfen Geld in sie hinein. Nachdem drei Tage lang gefeiert worden ist, baden sich Männer und Frauen im Flusse, waschen die Bilder des Königs Pfau darin und stellen sie unter die heilige Fahne. Schließlich ziehen sie noch siebenmal im Kreise herum, wobei sie den Staub ihrer Füße, der für heilig gilt, sammeln. Das Fest endigt mit einem Opfer zu Ehren des genannten Königs. Ein anderes wichtiges Fest ist das Neujahr (am ersten Mittwoch nach Frühlings-Tagundnachtgleiche). An diesem Tage versammelt Gott nach dem Glauben der Jesiden alle Bewohner des Himmels und alle Seligen und übergibt ihnen für das folgende Jahr die Erde wie in einer Versteigerung; wer von ihnen am meisten bietet, erhält die Macht über die Geschicke der Menschen. — Die Jesiden glauben an ein Leben nach dem Tode, meinen aber, daß nur ihnen und den Christen ein solches beschieden sei, während die Seelen der Mohammedaner nach dem Tode in Tiere übergehen sollen. Ehe die gläubigen Seelen ins Paradies eingehen, müssen sie sich eine Weile in einem sogenannten Fegefeuer aufhalten, wo sie von ihren Sünden gereinigt werden.
Auch die Drusen im Libanon und Hauran besitzen eine merkwürdige Religion, die zwar auf islamitischer Grundlage beruht, aber von zahlreichen Elementen der Lehre Christi und Zoroasters, selbst auch von abergläubischen Vorstellungen durchsetzt ist. Ihre erbittertsten Feinde sind die am Westabhang des Libanon wohnenden Maroniten, deren Vorfahren zu den allerersten Christen zählten und ihrer Glaubenslehre daher eine eigenartige Richtung gaben.
Die Kleidung der Osmanen besteht in weiten Pluderhosen, baumwollenem oder seidenem Hemd, kurzer wattierter Jacke, über der sie einen langen Rock tragen, weichen Lederpantoffeln und einem Fez oder Turban. Die Frauentracht (Abb. 359 und 361) ist der der Männer im allgemeinen gleich, nur trägt das weibliche Geschlecht als Kopfbedeckung[S. 307] eine kleine Kappe oder ein Schleiertuch und außerdem auf der Straße einen langen, dunkelfarbigen Mantel mit breitem Kragen, der über den Kopf geschlagen wird, sowie einen Gesichtsschleier. — Die Tracht der Armenier ist keine einheitliche, sie schließt sich vielmehr der des jeweiligen Volkes an, unter dem sie leben. Eher kann man von einer typischen Gewandung der Armenierinnen sprechen, die in hellfarbigen, über den Knöcheln zusammengebundenen Pluderhosen, einem Hemd, das in der Taille mit einem seidenen oder goldenen Band zusammengehalten wird, und einer gestickten Weste einhergehen. Die Kleidung der Kurden setzt sich aus roter Tuchhose, weitärmliger, mit Goldborten und Schnüren verzierter Jacke, roten Lederstiefeln und großem Turban zusammen.
Die Beschäftigung der Stämme auf dem Lande besteht hauptsächlich in Ackerbau und Viehzucht. Ein nomadisierendes Leben führen die Beduinen Palästinas (Abb. 360), die mit ihren zahlreichen Herden dessen Wüsten durchziehen (Abb. 357, 362 und 363) und teilweise auch von Raub leben, wie wir dies bereits von den Kurden hörten.
Für alle Bewohner Kleinasiens, ganz gleich ob sie Mohammedaner, Christen oder Juden sind, bildet die Stadt Jerusalem den Mittelpunkt ihrer Anbetung; ihr einheimischer Name „El Kuds“, das heißt „die Heilige“, ist bezeichnend für die hohe Einschätzung dieser Stadt unter den Anhängern aller Glaubensbekenntnisse. Sie zieht zahlreiche Scharen von Pilgern herbei, die ihre Empfindungen den verschiedenen religiösen Bräuchen und Riten gegenüber gemeinsam und geflissentlich zum Ausdruck bringen. Der Sakhrah, der große Felsen unter dem Dom, den Europäern unter der Bezeichnung Moschee des Omar, den Bewohnern des Orients[S. 308] aber als der Dom des Felsens bekannt (Abb. 364), ist der Anziehungspunkt für die Bekenner des Islams. Allen Gläubigen liegt die heilige Pflicht ob, ihn zu besuchen und dreimal um ihn herumzugehen; sie haben dann die Gewißheit, daß ihre Gebete erhört werden. Der mohammedanischen Legende zufolge ist diese Stelle der erste Teil der Erde, der von Gott erschaffen wurde. Man sagt, daß der große Prophet hier mit allen seinen Vorgängern zusammengetroffen und von dort aus in den Himmel eingegangen sei. Der Felsen sei ihm gefolgt, aber auf seiner Reise durch den Engel Gabriel achtzehn Meilen von der Erde aufgehalten worden; daher schwebe er jetzt mitten in der Luft. — Das größte Fest für die Mohammedaner ist die Neby-Musa-Prozession (Abb. 365), die ganze Scharen von Menschen aus allen Gegenden des Landes zu dem angeblichen Grabe des Moses bei dem Orte gleichen Namens im Jordantale herbeizieht. Die Scheiche (Abb. 366) von Haram, der Pascha und alle Mohammedaner von Bedeutung, auch die Banner, die in Mekka gewesen sind, gehen im Zuge vom Dome des Felsens nach Neby-Musa; ihnen folgt Musik und eine ungeheure Menschenmenge. Es herrscht dabei eine ungemeine Begeisterung.
Die christlichen Feste (Abb. 367 bis 370) sind eng mit der Kirche des Heiligen Grabes verknüpft. Ursprünglich gab es in Jerusalem nur zwei heilige Stätten: die der Kreuzigung und die der Auferstehung; allmählich sind aber noch andere Stellen aufgefunden und heiliggesprochen worden, die mit dem großen Trauerspiel auf Golgatha im Zusammenhang stehen. Wenn die Pilger die Schritte Christi auf seinem Wege nach Golgatha verfolgen, beginnen sie mit der Stelle, an der Pilatus gestanden haben soll, als er in die Worte ausbrach: „Sehet, welch ein Mensch!“ Der Bogen über dieser Straße ist als Eccehomobogen (Abb. 374)[S. 309] bekannt; ihm schließen sich die Stellen an, wo sich seit Jahrhunderten die verschiedenen Stationen des Kreuzweges dargestellt finden. Den Schluß des Ganzen bildet die Kirche des Heiligen Grabes (Abb. 372). Außerhalb derselben werden zu gewissen Zeiten Schauspiele aufgeführt. Das imposanteste davon ist die Fußwaschung (Abb. 376), bei der der griechische Patriarch zwölf Bischöfen die Füße wäscht, um den Heiland darin nachzuahmen. Am Palmsonntag (Abb. 371) findet eine Wallfahrt hierher statt, mit der eine prachtvolle Schau von Palmzweigen verbunden ist. Zum griechischen Osterfest zieht das Fest des Heiligen Feuers die meisten Pilger herbei, die es als die wichtigste Handlung ihrer Pilgerfahrt ansehen, eine Kerze an der heiligen Flamme anzuzünden. Wer auf das Gelingen dieser religiösen Handlung besonderes Gewicht legt, sichert sich bereits Stunden, sogar Tage vorher einen Platz. Die Stadtverwaltung trifft alle mögliche Fürsorge, daß keine Störung oder irgendwelche Folgen des Fanatismus sich bemerkbar machen; sie stellt je eine Kompanie Soldaten in und vor der Kirche auf und hält eine solche in der nächstgelegenen Kaserne bereit. Denn zu leicht werden die Zuhörer zu großer Begeisterung und sogar direkt zur Raserei hingerissen, wenn die Würdenträger der Kirche, mit kostbaren glänzenden Gewändern geschmückt, erscheinen und die verwirrte Volksmenge zurückzudrängen suchen, um genügend Platz für den Umzug um das Heilige Grab zu schaffen. Nachdem dieser dreimal unter wilder Begeisterung stattgefunden hat, betritt der Patriarch (Abb. 373) das Heilige Grab und reicht bald eine Fackel aus ihm heraus, die von einem kräftigen Arm, der darauf schon wartet, sofort ergriffen wird, um nach Bethlehem getragen zu werden. Es entsteht dann eine große allgemeine Verwirrung; ein jeder will von diesem heiligen Feuer etwas abbekommen. Allmählich entleert sich die Kirche, und wer das Glück hatte, seine Kerze anzuzünden, kehrt freudig heim.
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Für die Juden ist die Klagemauer (siehe die Kunstbeilage) der Anziehungspunkt in Jerusalem; seit vielen Jahrhunderten bildet sie die Stätte, zu der Tausende und aber Tausende hinströmen, um über den Steinen ihres verlorenen Erbes zu weinen. Doch kommen die Juden auch bei freudigen Anlässen in ihrer Stadt zusammen. So bietet Purim, das Fest, das zur Erinnerung an die Niederlage von Haman und das Vorrücken von Mardochai gefeiert wird, Gelegenheit zu ausgelassener Freude. Besonders auch die Kinder belustigen sich dabei, weil allerlei Süßigkeiten in der Form von Schuhen, Pantoffeln und Hüten unter die Jugend verteilt werden. Wenn dann das Buch Esther vom Rabbi in der Synagoge vorgelesen wird und die versammelten Andächtigen den Namen Haman hören, fangen alle an, mit den Füßen zu stampfen und auszurufen: „Sein Name soll ausgelöscht werden“; die Kinder, die sich draußen aufhalten, schütteln die Klappern, die sie von den Eltern zu diesem Zweck erhalten haben, und schlagen mit Holzhämmern gegen die Mauer. Ferner sei des Laubhüttenfestes gedacht, des einzigen Festes, das wohl noch in seiner ursprünglichen Einfachheit gefeiert wird. Man baut Hütten (Abb. 375) aus Schilfrohr und Baumzweigen auf den Dächern der Häuser, den Balkonen und auch in den Gärten und schmückt sie mit Obst, wie es das Alte Testament vorschreibt.
In Palästina besteht noch eine kleine, nicht einmal zweihundert Seelen zählende jüdische Sekte, die das Passahfest (siehe die farbige Kunstbeilage) noch ganz nach der Sitte ihrer Vorväter auf dem heiligen Berge Gerizim, der ihre Wohnstätte überblickt, feiert. Es sind dies die Samaritaner. Die dabei stattfindenden Riten werden ganz nach dem Plan vollzogen, wie ihn das zweite Buch Mosis im 12. Kapitel schildert. Sie schlagen ihre Zelte (Abb. 377) so dicht wie möglich in zwei Reihen auf; darunter ist das wichtigste ein längliches Zelt für das Tabernakel, dicht beim Opferplatz, der sich neben dem Zelt des Hohenpriesters befindet. Neun Tage lang werden die Vorbereitungen zu dem hohen Feste getroffen, im besonderen die Lämmer durch reichliches und sorgfältiges Waschen für das Opfer zurechtgemacht. Am letzten Abend, dem fünfzehnten des Monats Nisan, kleiden sich Männer und Knaben in weiße Baumwollhemden und Hosen (Abb. 380); die Frauen legen ebenfalls ihre beste Kleidung an, bleiben aber in den Zelten. In einem Graben, dem Tabernakel gerade gegenüber, legt man Feuer an und bringt darüber zwei große Kessel zum Wasserkochen an; währenddessen wird das „Gesetz“ gelesen (Abb. 378). Am Ende dieses Grabens wird eine große, etwa zwei Meter tiefe Grube gegraben und in ihr gleichfalls ein Feuer entzündet, um das Opfer zu verbrennen. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang versammeln sich die männlichen Samaritaner im Tabernakel mit Ausnahme der jungen Leute, denen die Aufgabe zufällt, die Lämmer zu töten und auch auf das kochende Wasser, sowie die Feuer acht zu geben. Das Gesetz wird noch einmal verlesen, wobei die Gesichter der Zuhörer den Ruinen des Tempels auf der Bergesspitze zugewendet sind, und dann werden bei Sonnenuntergang die Lämmer den jungen Burschen zum Schlachten gebracht; die übrigen Samaritaner versammeln sich um die Opfer.
Auf ein gegebenes Zeichen wird jedes Lamm ergriffen, auf den Rücken geworfen und erhält mit dem Opfermesser einen Schnitt quer durch den Hals. Das Blut spritzt aus der Wunde, das Osterlamm rollt auf die Seite und verendet nach kurzem Todeskampf. Die Stirnen der Knaben, die im inneren Kreise stehen, werden mit Blut gezeichnet; die Männer umarmen und küssen sich, freuen sich und wünschen sich Glück, daß die Lämmer ihrer Erlösung gefallen sind. Nachdem der Hohepriester die Tiere sorgfältig geprüft hat, ob sie vorschriftsmäßig getötet wurden, ohne Fehl sind und nicht mehr leben, wird kochendes Wasser aus den Kesseln über sie gegossen, worauf die jungen Männer daran gehen, die Wolle abzuzupfen und die Eingeweide zu entfernen. Diese werden in der Grube verbrannt. Die Tierleiber werden auf lange Stangen aufgespießt und den Flammen zum Braten übergeben. Damit die Grube die Hitze halte, deckt man sie mit nasser Erde zu. Das Braten dauert bis gegen Mitternacht. Inzwischen kommen die einzelnen Familien zusammen, um das ungesäuerte Brot und die bitteren Kräuter zu essen; sie bieten sie auch den Besuchern, die sich vielfach aus Neugierde einfinden, an. Damit keine Störung von dieser Seite geschehe, ist während der ganzen Feier türkisches Militär kommandiert, das die Ordnung aufrecht zu erhalten hat; natürlich wird es dafür von den Samaritanern reichlich bezahlt. Wenn das Fleisch nachts fertig gebraten ist, wird es aus der Grube gezogen und von den Gläubigen, die mit gegürteten Lenden, Stäben in den Händen und Schuhen an den Füßen dastehen, in großer Eile verzehrt.
Abergläubische Vorstellungen beherrschen die Bevölkerung Syriens und Palästinas in weitem Umfange. In der Wildnis im Süden und Osten Vorderasiens glaubt das Volk unbedingt an das Vorhandensein böser Geister (Jans genannt), die nach seiner Ansicht in der Unterwelt leben sollen. Ebenso behauptet es, daß manche Menschen die Macht besitzen, anderen ein Leid zuzufügen, wenn sie sie ansehen. Die Furcht vor dem bösen Blick ist allgemein verbreitet, besonders für Kinder und Vieh, die ihn nicht abwehren können, fürchtet man in dieser Hinsicht. Zahlreich sind die Abwehrmittel (Abb. 379), die hiergegen in Vorschlag gebracht werden. Zum Schutze gegen den bösen Blick pflegt man am Halse von Kindern (Abb. 382) und Haustieren, auch an der Mähne oder dem Schwanz der letzteren, blaue Perlen oder Amulette (Dreiecke aus Kupfer oder einem anderen Metall, an denen Papierschnitzel mit arabischen Beschwörungsformeln befestigt sind) anzubringen. Als sicheres Mittel gilt auch, ein Stück Zeug von der Person, die von dem verderblichen Element heimgesucht ist, unter dem Opfer zu verbrennen; der Rauch beseitigt dann den bösen Einfluß. Die Christen nehmen ein Stück von den Palmzweigen, die am Palmsonntag verwendet wurden, tun es mit einer Prise Salz oder Alaun in einer Pfanne aufs Feuer und gehen dann siebenmal herum; sobald sie einen knisternden Ton vernehmen, sind sie von ihrem Bann erlöst. Um Gärten und Reben gegen den bösen Blick zu schützen, hängt man auf dem Lande Schädel von Kühen, Pferden oder Kamelen an der Umfriedigung oder auf einer hohen Stange auf. — Bestimmte Tage und Stunden gelten für unheilbringend, weswegen dann keine Arbeit vorgenommen werden darf, so der Dienstag und die Stunden vor Sonnenuntergang.[S. 314] An bestimmte Ereignisse oder Tage knüpfen sich auch wieder allerlei abergläubische Vorstellungen; so wälzt man sich beim ersten Donnerschlag im Jahre auf der Erde, um keine Flöhe zu bekommen. Das Brot wird besonders heilig gehalten; man darf es nie mit senkrecht stehender Klinge durchschneiden, sondern nur mit wagrecht liegender. Glückbringende Amulette werden von Menschen und Haustieren getragen, ebenso an Häusern und Gärten angebracht. So findet man vielfach an jüdischen Häusern die „Hand der Allmacht“ angemalt, oft in solcher Größe, daß sie die ganze Front bedeckt; meistens allerdings nur eine rohe Wiedergabe der fünf Finger, etwa ein Meter lang, in Wasserfarbe. Der jüdische Trauring hat die Form einer Hand, und kleine Glashände werden von der ärmeren Bevölkerung vielfach getragen, ebenfalls um Glück zu bringen. Am Türpfosten der jüdischen Häuser befindet sich die M’zuza-Rolle angebracht, ein kleines Pergament in einer Metall- oder Holzhülse, auf dem in hebräischer Sprache einige Stellen aus dem Gesetz sowie das Wort Schaddai (Allmächtiger) geschrieben stehen, das in einem Loch in der Hülle sichtbar sein muß; so oft der gläubige Jude seine Wohnung betritt oder verläßt, küßt oder berührt er dieses Wort. — Den Schlangen wird große Macht zum Guten oder Bösen zugeschrieben; daher wird ein Bauer es wohl nie wagen, eine Schlange zu töten oder auch nur zu stören, in der festen Überzeugung, daß das ganze Geschlecht der getöteten oder verwundeten Schlange den Mörder und seinen Anhang unbarmherzig verfolgen würde, um Rache zu nehmen.
Das Bestreben jeder strenggläubigen Moslemitin sowie jeder Jüdin ist darauf gerichtet, ihrem Manne recht viele, womöglich männliche Kinder zu schenken. Ist ihr solches Glück versagt und leidet sie infolgedessen unter Vernachlässigung von seiten ihres Gatten sowie unter der Verspottung ihrer Nachbarn, die unter höhnischem Lachen mit dem Finger auf sie zeigen, dann sucht sie diesem Übelstande mit allen Mitteln abzuhelfen. Sie sucht die verschiedensten heiligen Stätten (Schreine) auf und nimmt die Hilfe weiser Frauen oder heiliger Männer in Anspruch. Der bedeutendste Schrein ist der Neby Daud, das heißt der „Prophet“ David, womit das angebliche Grabmal Davids gemeint ist, ein moslemitischer Schrein, der von einer größeren Anzahl Menschen alljährlich[S. 315] aufgesucht wird. Jede Frau glaubt, daß der „Prophet“ David sich für alle diejenigen verwenden wird, die sich Kinder wünschen, sofern sie ein Gelübde ablegen. Zum Zeichen dessen trägt sie meistens ein Stück Zeug, und das Gelübde erfüllt sie durch das Opfer eines Lammes, das ein heiliger Mann schlachtet; das Fleisch des Tieres wird darauf unter die Armen verteilt. Sind alle Bemühungen, Mutter zu werden, vergeblich gewesen, so tut die Mohammedanerin ihr letztes und trägt eine schwarze Schlange drei Tage lang auf bloßer Haut; dann ist sie fest überzeugt, daß sie nicht mehr lange auf die Mutterschaft zu warten braucht. — Die Geburt eines Kindes bildet in jedem Dorfe ein wichtiges Ereignis. Verspürt die islamitische Frau, daß ihre schwere Stunde naht, so verläßt der Gatte seine Wohnung, nachdem er einen Freund gebeten hat, dort zu bleiben und ihm die Nachricht von der erfolgten Entbindung zu überbringen. Ist ein Knabe zur Welt gekommen, so läuft dieser Freund in größter Eile zum Vater, schwenkt von weitem schon freudig seine Arme und ruft ihm so laut er nur kann zu: „Bschara, Bschara“, das heißt „gute Nachricht, gute Nachricht“. Der neugebackene Vater macht sich spornstreichs auf den Weg nach Hause, um dem Kinde einen Namen zu geben. Dieses wird nach der Geburt sofort ganz und gar mit Salz eingerieben, mit Olivenöl bestrichen und sodann in Windeln gewickelt. Erst nach sieben Tagen wird es ausgebündelt, noch einmal mit Öl gewaschen, mit Salz eingerieben und dann wieder eingehüllt. Dieses Verfahren wird vierzig Tage lang fortgesetzt. Dann wird[S. 316] das Kind (Knabe wie Mädchen) in die Kleidung der Erwachsenen gesteckt. Der Vater gibt seinen Freunden, von denen man erwartet, daß sie sich mit Geschenken einfinden werden, ein Fest. Es schenkt auch jeder, seinen Mitteln entsprechend, einen gewissen Betrag, angeblich zum Besten des Kindes, aber in Wirklichkeit für die eigenen Zwecke des einsammelnden Vaters. Vielfach, meistens bei den Bauern, werden Geschenke auch in Gestalt von Naturalien (Schafe, Ziegen, Getreide, Linsen und dergleichen) verabreicht.
Bei der Geburt eines Mädchens ist die Freude bei weitem nicht so groß. Der Bote kommt nur langsam zum Vater, der von weitem schon den Inhalt der Botschaft ahnt, und teilt ihm diese schonend mit. Er weist zwar gleichzeitig tröstend darauf hin, daß der Vater später einmal von der Tochter auch einen Vorteil haben wird. Denn vorläufig hat ein Mädchen für ihn keinen Wert; erst wenn es älter wird und heiratet, steigt es in den Augen des Vaters. Dieser interessiert sich dann für die äußere Erscheinung der Tochter und schätzt ihren Wert ein; er genießt fortan auch bei dem Händler, von dem er seine Nahrungsmittel bezieht, Kredit. Hat er drei Töchter, so kann er dies dem Besitze von etwa achthundert bis zweitausend Mark gleich achten, je nach dem Alter und den Reizen derselben. Gleichwohl werden die Mädchen niemals mitgezählt, wenn man von der Zahl der Familienmitglieder spricht. — Manchmal wird bei der Geburt eines Kindes auch ein Lamm als Geschenk dargebracht, um Achtung und Ergebenheit zu bekunden. Dieser Brauch wird indessen nicht als eine religiöse Zeremonie angesehen, wenngleich sich meistens daran ein Festgelage anschließt und vielleicht die Erfüllung eines Gelübdes damit verknüpft ist. Oft wird diese Gelegenheit dazu benutzt, um Frieden zu schließen, das Geschenk bedeutet dann ein Versöhnungszeichen zwischen zwei Nachbarn oder Bekannten, deren gute Beziehungen durch Fehde oder Blutvergießen getrübt gewesen waren. Oft entspricht das Darbringen von Geschenken auch lediglich eigennützigen Beweggründen: derjenige, der das Opfer „führt“, erwartet davon eine Belohnung, die dem Brauche gemäß in einem Kleidungsstück bestehen muß. — Auch bei der Rückkehr eines teuren Verwandten wird noch heute wie in früheren Zeiten aus Freude ein Tier geschlachtet (Abb. 383).
Bei der Geburt eines ersten Sohnes steigt der Vater in der Achtung seiner Mitmenschen und nimmt dann auch einen neuen Namen an. Man kennt ihn fortan nicht mehr unter seinem bisherigen Namen, sondern nur noch unter dem seines Sohnes; so heißt er nunmehr, um ein Beispiel anzuführen, Abu Abdallah, das heißt „Vater des Abdallah“.
Ist der Knabe ein Jahr alt geworden, dann opfert bei den nomadisierenden Stämmen der Vater ein Schaf oder eine Ziege, teils aus dankbarer Anerkennung dafür, daß Allah ihn und sein Kind bisher gnädig beschützt hat, teils aber auch, um sich im voraus von einem etwaigen Opfer loszukaufen, das Gott von ihm in seinem Sohne fordern könnte.
Die Hochzeitsgebräuche in Vorderasien sind je nach der Religion, zu der sich die Brautleute bekennen, ganz verschieden, nur eines ist fast allen drei Bekenntnissen gemeinsam, das ist die Frage nach der Mitgift, die eine wichtige Stelle bei den Vorverhandlungen einnimmt.
Die mohammedanischen Bauern gehen sehr jung die Ehe ein und heiraten wohl alle. Jedes Mädchen weiß daher, daß sie einmal Braut werden wird; sie bereitet schon beizeiten, sobald sie nähen kann, ein mit der Hand hergestelltes Gewand für dieses große Ereignis vor. Der Zeitpunkt, wann sie von ihrem Auserwählten heimgeführt werden wird, steht für sie jedoch nicht fest; denn die Heirat hängt von den Mitteln des Mannes, nicht von seinem Alter ab. Arme Männer können es sich nicht leisten, sich jung zu verheiraten, obgleich unter Umständen für sie doch Aussicht besteht, daß sie das in der Armut liegende Hindernis beseitigen können. Wenn sie nämlich eine Schwester haben, so können sie diese gegen die Schwester eines anderen Mannes austauschen; beide Hochzeiten finden dann an einem und demselben Tage mit gemeinsamer[S. 320] Festlichkeit statt. Das wichtigste bei den Heiratsvorschlägen ist, wie schon hervorgehoben, die Geldsumme, die man für das Brautgeschenk aussetzt. Manchmal verpflichtet sich der Jüngling, der keine genügend große Summe aufbringen kann und bei seiner Stellung auch nicht zu sparen vermag, oder der gern die Tochter eines Freundes heiraten möchte, die indessen für ihn noch zu jung ist, die Brautsumme in Teilbeträgen zu zahlen; mit dem vierzehnten Lebensjahre des Mädchens muß in solchen Fällen das Geschäft ganz erledigt sein.
Ist die Verlobung zustande gekommen, so beginnen acht Tage vor dem zur Hochzeit festgesetzten Termin die festlichen Vorbereitungen. Abend für Abend versammeln sich Freunde und Verwandte entweder auf dem Dreschboden des Dorfes oder auf dem Hofe des Hauses und unterhalten einander mit Rätselaufgeben und besonders mit einem Tanz, der ein Bärentanz zu sein pflegt. Ein Mann stellt sich in die Mitte eines Halbkreises von Frauen und gebärdet sich wie ein Bär; er stößt allerlei Töne aus, die sich wie lautes Grunzen anhören, und bewegt sich taktmäßig auf die Frauen zu, die zu dem rhythmischen Trommelschlag einer Musikbande in die Hände klatschen und das ziemlich laute Grunzen mit schriller Stimme beantworten. Auf diese Weise wollen sie andeuten, daß sie den Bären vom Dorfe zurückschrecken, damit er die junge Braut nicht einfange. Die Männer führen einen Schwertertanz (Abb. 381 u. 386) auf, bei dem sie ähnliche Possen treiben, im besonderen sich in verschiedenen lächerlichen Stellungen versuchen. Sie klirren mit den Schwertern, um die bösen Geister zu vertreiben, die in dem Rufe stehen, dem Brautpaar Leid zuzufügen.
Am Morgen des festlichen Tages holt eine große Schar junger Männer die Braut unter Musikbegleitung vom Haus ihres Vaters ab; sie wird dazu geschmückt, in einen Schleier gehüllt und auf ein Kamel oder Pferd gesetzt (Abb. 384). Das Volk macht sich diese Gelegenheit zunutze, um möglichst großen Lärm durch Abschießen von Gewehren, Schlagen von Trommeln und Geschrei zu veranstalten; es geleitet den Zug zum Hause des Bräutigams, in dem die Braut den Tag mit ihren weiblichen Verwandten und Freundinnen verbringt, während ihr Auserwählter mit seinen Gästen verschiedenen männlichen Übungen und dem Sporte nachgeht. Gegen Abend, wenn das Festmahl fertig gestellt ist, zu dem unter Umständen bis zu anderthalbhundert Schafe geschlachtet worden sind, machen sich die Gäste daran, den Speisen fleißig zuzusprechen. Der Bräutigam nimmt dabei einen erhöhten Platz ein, um die Gesellschaft gut übersehen zu können; ein Zeremonienmeister mit Gehilfen ist besonders angestellt, um für das leibliche Wohl der Teilnehmer zu sorgen. Sind alle im Überflusse gesättigt, dann werden die Geschenke eingesammelt. Ein jeder, der zur Hochzeit geladen ist, soll von Rechts wegen ein solches mitbringen, das immer in barem Gelde zu bestehen pflegt. Um die Hochherzigkeit der gütigen Geber anzuspornen, ruft der Einsammler jedesmal mit lauter Stimme den Namen des Spenders aus, nennt aber eine viel größere Summe, als er in Wirklichkeit gegeben hat, damit der nächste nicht hinter ihm zurückstehe; gleichzeitig fleht er des Himmels Segen auf dessen Familie herab. Sind alle Geschenke eingesammelt, dann erhebt sich der junge Ehemann und zieht sich mit seiner Frau zurück; die Brautjungfern erwarten das Paar mit brennenden Öllämpchen.
Eigenartig ist die Werbung bei den Drusen, einer mohammedanischen Sekte, die innerhalb ihres eigenen Stammes zu heiraten pflegt und sich mit einer einzigen Frau begnügt, obwohl der Islam ihnen deren mehrere erlaubt. Drei Tage vor dem Hochzeitstag begibt sich der Bräutigam mit einem Gefolge von Altersgenossen, die, wie er, vollständig bewaffnet sind, zu seinem zukünftigen Schwiegervater, der, gleichfalls im Waffenschmuck, die Gesellschaft an der Schwelle seines Hauses erwartet, um von diesem in aller Form die Tochter als Frau zu[S. 323] verlangen. Der Vater gesteht sie ihm unter den Bedingungen des Brautvertrages zu und erteilt, wenn das Heiratsgut ausgemacht und auf die Braut übertragen ist, dem Paare seinen Segen. Die Braut erscheint dabei für einen Augenblick tief verschleiert in Begleitung ihrer weiblichen Verwandten; die Mutter übernimmt die Bürgschaft für die unbefleckte Reinheit ihrer Tochter. Der junge Mann fragt seine Zukünftige, ob sie ihn heiraten wolle, und erhält die zusagende Antwort: „Ich nehme dich“; dabei überreicht sie ihm einen sehr schönen syrischen Dolch, den Khanjar, in ein großes Taschentuch aus Wolle gewickelt, das sie mit eigenen Händen gearbeitet hat. Sie will damit andeuten, daß sie sich in Zukunft unter den Schutz ihres Mannes stellen wird, aber auch, daß dieser mit dem Dolch ein etwaiges Vergehen ihrerseits sühnen darf, sei es, daß sie mit ihrer Jungfrauenehre etwa leichtsinnig umgegangen sein oder sonst ein von ihr bei der Hochzeit abgelegtes Gelübde übertreten oder ihre Pflicht als gehorsame Gattin nicht erfüllt haben sollte. Am Hochzeitsabend führen die Frauen den Bräutigam zum Brautgemach, wo ihn die Braut, vom Kopf bis zum Fuß in einen roten, mit Goldflitter besetzten Schleier gehüllt, erwartet; er[S. 324] entfernt diesen und setzt ihr den Tantur aufs Haupt, den sie so lange trägt, als sie lebt. Es ist dies eine silberne, manchmal auch nur zinnerne, spitz zulaufende Tube, die auf dem Kopfe im rechten Winkel zu der Stirn getragen wird (ähnlich wie man das Horn eines Einhorns darstellte) und das Abzeichen für die verheiratete Drusenfrau bildet (Abb. 385). Dies Schmuckstück wird auf sehr verschiedene und für die einzelnen Örtlichkeiten kennzeichnende Weise getragen, so daß jemand, der mit Land und Sitten vertraut ist, nach der Art, wie eine Frau den Tantur trägt, zu sagen vermag, aus welchem Bezirk sie stammt. Für gewöhnlich ruht er mit seinem breiteren Ende auf einem Kissen oben auf dem Kopf und wird hier durch zwei Seidenschnüre festgehalten, die, nachdem sie um den Kopf geschlungen worden sind, hinten fast bis zur Erde hinabreichen und in Troddeln endigen, die bei den besseren Klassen noch mit einer Silberkappe versehen sind. Sobald der Schleier vom jungen Ehemann gelüftet wird, laufen alle Anwesenden eiligst aus dem Zimmer; sie schreien dabei in tiefen Kehllauten und lassen diese mißtönende Musik noch stundenlang weiter erschallen. Die Männer führen inzwischen in einem anderen Raum oder auf dem Hofe einen Schwertertanz auf; sie fuchteln in drolligen Stellungen mit ihren Schwertern und Messern in der Luft herum, um die Jans (bösen Geister) dem künftigen Leben der Neuvermählten fernzuhalten.
Abweichend von den sonstigen Hochzeitsgebräuchen besteht bei den Kurden die Sitte, daß die Braut, nachdem sie von dem Bräutigam in sein Zelt geführt worden ist, vor dem zwei Freunde mit gezückten Schwertern die Ehrenwache halten, damit kein Unberufener es betrete, sich gegen die Annäherung des jungen Gatten zunächst heftig sträubt und erst nach langem Bitten, das durch Überreichung eines wertvollen Geschenks unterstützt wird, das Beilager erlaubt. Wird ein Mädchen unter den Kurden nicht mehr für jungfräulich befunden, dann setzt man sie, nur mit einem wollenen Hemd bekleidet, verkehrt auf einen Esel, gibt ihr den Schwanz in die Hand und jagt sie unter Verhöhnungen aus dem Dorfe hinaus; ein jeder, der sie trifft, hat das Recht, die Gefallene mit Kot zu bewerfen.
[S. 325]
Bei den christlichen Armeniern besteht noch die Sitte, daß die Kinder in der Wiege, selbst noch ungeborene, miteinander verlobt werden, um feste Verbindungen zwischen zwei Familien dadurch anzuknüpfen. Als Zeichen solcher Verlobung gilt ein Einschnitt in das Obergestell der Wiege des Mädchens, den der Vater des Knaben macht, oder das dreimalige Umwickeln des Gestelles mit einem baumwollenen Faden. Bei der Werbung eines Erwachsenen legt der Jüngling seiner Angebeteten nachts im geheimen einen Korb mit frischen Blumen oder Pakete mit süßen Früchten vor die Tür des elterlichen Hauses. Nachdem er auf solche Weise zwei- bis dreimal das Mädchen aufmerksam gemacht hat, gibt er dessen Eltern durch seine Verwandten zu wissen, daß er es war, der diese Gaben hinlegte. Sind die Eltern gesonnen, ihre Tochter ihm zum Weibe zu geben, so tun sie in den von ihm dargebrachten Korb ein gekochtes Huhn, einige aus Milch, Eiern und Butter gebackene Kuchen sowie einige Eier und senden ihn dem Jüngling zurück. Daraufhin gilt die Verlobung für abgemacht. Zum Zeichen dessen überreicht die Mutter des Bräutigams oder eine andere weibliche Anverwandte während des Gottesdienstes am Palmsonntag dem Mädchen eine angezündete Kerze und wirft ihr ein großes rotes Tuch über den Kopf. Einige Monate nach der Verlobung findet die Vermählung statt. Sie wird in der Weise begangen, daß Braut und Bräutigam dreimal um den Herd des Hauses gehen, seinen Rand küssen und sich, das Gesicht gen Osten gewandt, vor ihm aufstellen; der Geistliche stellt Kerzen auf den Herd und legt beiden eine Schnur aus grüner und roter Seide um den Hals, die er an den Enden mit einem Wachssiegel, auf das ein Kreuz gedrückt wird, schließt. Solange diese Schnur (Narot genannt) am Halse der Neuvermählten sitzt, haben sie kein Anrecht auf geschlechtlichen Verkehr. Durch eine besondere kirchliche Feier wird das Paar erst von diesem Verbot befreit.
Bei den Juden gilt es für eine Sünde, wenn ein gesunder junger Mann unverheiratet bleibt; Mittellosigkeit wird nicht als Entschuldigungsgrund anerkannt, sofern die Braut eine Mitgift mitbringt. Da es ebenso als Schande gilt, wenn eine Tochter unverheiratet bleibt, so werden für eine bedürftige Witwe zur Aussteuer ihrer Tochter Beiträge gesammelt. An dem zur Verlobung festgesetzten Tage[S. 326] wird der Ehevertrag von den Eltern des Brautpaares und ihren Freunden aufgesetzt. Die Väter geben sich zur Bekräftigung in Gegenwart von Zeugen, mit denen sie nicht verwandt sind, die Hände. Hierauf ergreift der Bräutigam ein mit Wein gefülltes Glas mit den Worten: „Gesegnet seist du, o Herr, König der Welt, der du uns mit deinen Geboten geheiligt hast,“ trinkt nach diesem feierlichen Ausspruch ein wenig davon und gibt das Glas dann der Braut. Nun werden irdene Töpfe oder ein Glas hereingebracht und auf die Erde geworfen, so daß sie in viele Stücke zerbrechen. Währenddessen bringen die Gäste ihre Glückwünsche dar. Dieser Brauch soll besagen, daß ebenso wie die Stücke nie wieder zusammengesetzt werden können, auch die bevorstehende Verbindung nie gelöst werden möge; je mehr Stücke es sind, in die das Gefäß zersplittert, um so größer werden Glück und Wohlergehen des Paares ausfallen. Die Verlobten erhalten von ihren Eltern zwei Scherben, die sie sich aufheben müssen. Wenn später einer der Eheleute stirbt, dann legt der Überlebende, so erzählt man sich von frommen Juden, dieselben auf die Augen des verstorbenen Gefährten. Nachdem noch die Verlobungsgeschenke ausgetauscht worden sind, folgt ein Fest. Während der letzten acht Tage vor der Hochzeit darf keiner der Verlobten seine Wohnung verlassen, weil man fürchtet, er könne behext werden.
Am Hochzeitsmorgen wird der Bräutigam von seinen Freunden zur Synagoge geleitet, wo der Rabbi (Abb. 378) ein Kapitel aus den Büchern Mosis vorliest. Am Nachmittag oder Abend versammelt sich das junge Paar mit Eltern, Verwandten und Gästen zu der eigentlichen Vermählungsfeier; hierbei muß der Kontrakt vorgelegt werden. Darauf wird die Braut dreimal um den Bräutigam herumgeführt; dieser nimmt sie bei der Hand und führt sie unter einen Baldachin, ein Stück Tuch, das über Stäben von den Gästen gehalten wird; gleichzeitig schütten die Gäste und näheren Freunde Korn aus einer Schüssel über sie mit den Worten: „Seid fruchtbar und mehret euch; Friede sei mit euch.“ Der amtierende Rabbiner nimmt die Hände des Paares, legt sie ineinander und bedeckt ihre Häupter mit einem Schleier oder Schal. Darauf ergreift er ein Glas Wein, spricht den Hochzeitsegen und gibt Braut und Bräutigam zu trinken. Der Bräutigam wendet der Braut das Gesicht zu, reicht dem Rabbi den Trauring dar, damit dieser ihn auf seine Echtheit prüfe, und steckt ihn schließlich der Braut an den Finger mit den Worten: „Siehe, durch diesen Ring bist du mir nach den Gesetzen von Moses und Israel angetraut.“ Schließlich wird noch der Ehekontrakt vorgelesen, der letzte Segen gesprochen, Wein getrunken und das Glas zerschlagen. Der Abend vergeht unter Musik und Tanz. Auf den Trauring, der für gewöhnlich die Form einer Hand aufweist, sind meistens die Worte „Gut Glück“ in hebräischer Sprache eingegraben.
Von der Erlaubnis des Korans, sich mehrere Frauen zu halten, wird von den Mohammedanern Vorderasiens, wie auch anderwärts, wenig Gebrauch gemacht; die Drusen haben die Einehe sogar zum Gesetz erhoben. Da mit der Hochzeit die Frau in den Besitz des Mannes übergeht, so hat er auch vollständige Verfügung über sie und kann sich leicht von ihr wieder scheiden lassen. Ein Wort genügt manchmal, um die Ehe als aufgelöst zu betrachten. Wenn der Kurde von seiner Frau loskommen will, nimmt er einfach drei Steinchen in die Hand und spricht zu ihr, indem er die Steine auf die Erde wirft: „Ich löse die Ehe mit dir auf.“ Daraufhin ist sie frei geworden und darf nun auch nicht wieder zurückkehren. Bereut der Mann sein voreiliges Vorgehen, so darf er die „Geschiedene“ nicht ohne weiteres wieder heiraten. Indessen kann dem dadurch abgeholfen werden, daß ein anderer sie heiratet, sich von ihr wieder scheiden läßt und der erste Gatte dann eine zweite Ehe mit ihr eingeht. Da aber die Kurden sehr argwöhnisch und eifersüchtig sind, ihre Frau also keinem anderen überlassen wollen, so ist dafür gesorgt, daß bei der Scheinehe, die der Kasi schließt, ein Mann, genannt der „Esel des Kasi“, zur Verfügung steht, der gegen Bezahlung die Geschiedene heiratet und sich von ihr wieder scheiden läßt, ohne sie berührt zu haben. Da aber auch nicht jeder sich dazu entschließen kann, seine Frau diesem Esel des Kasi anzuvertrauen, so hat man sich ein noch einfacheres Verfahren ausgedacht. Die geschiedene Frau wird mit einem tönernen Kruge vermählt, den sie mehrere Nächte hindurch ins Bett nehmen und in den Armen halten muß. Da eine Scheidung von diesem „Gatten“ insofern schwierig ist, als er nicht reden und seine Gründe vorbringen kann, so wird eine Person gedungen, die ihn tötet, das heißt den Krug zertrümmert; dadurch wird die Frau frei und kann ihren ersten Gatten wieder heiraten.
Eheliche Untreue wird von den Drusen mit dem Tode bestraft, indessen führt der Gatte diese Strafe nicht selbst aus, sondern überläßt dies den Eltern oder Angehörigen seiner Frau, denen er durch sie einen Dolch übersendet. Die Schuld trifft nicht ihn, sondern die Verwandtschaft der Frau.
Das Begräbnis eines Mohammedaners gestaltet sich im allgemeinen nach dem gleichen Ritus, wie er für die islamitische Welt vorgeschrieben ist und von uns bereits geschildert wurde. Sofort nach Bekanntwerden eines Todesfalles im Dorfe erhebt sich allgemeines Wehklagen. Die Weiber der ganzen Ortschaft stimmen darin ein; sie zerreißen ihre Kleider, raufen sich die Haare und stoßen lautes Wehgeschrei aus. Die Beisetzung erfolgt in möglichster Eile. Männer tragen die Leiche auf einer Bahre nach dem Friedhof, wobei sie beständig langsam das mohammedanische Glaubensbekenntnis singen: „Gott ist groß; es gibt keine andere Gottheit neben Gott; Mohammed ist sein Prophet. Gott begünstige und erhalte ihn.“ Während man den Toten neben das ausgeschaufelte Grab legt, murmeln die Teilnehmer sein Lob. Sodann fordert der Kadi den Geist des Verstorbenen auf, so zu antworten, wie er in Gegenwart des Allerhöchsten es tun würde. Für ihn antwortet ein Verwandter mit den Worten: „Er glaubt[S. 329] an einen Gott und an Mohammed, seinen Apostel.“ Nach der Beerdigung weinen die Frauen den ganzen Tag über am Grabe und besuchen es täglich, bis ein Stein am Kopfende die Stätte kennzeichnet, wo der Abgeschiedene begraben liegt. — Das Grab eines „Heiligen“ wird vom umwohnenden Volke hoch in Ehren gehalten; die Steine darauf geben Zeugnis von der Verehrung, die der Tote genießt, und sind ein Zeichen der dargebrachten Gelübde.
Im Lager der Nomaden gestaltet sich die Trauer noch viel tiefer; man klagt und härmt sich hier so lange ab, bis vollständige Erschöpfung eintritt. Die Leiche wird in einer flachen Grube beigesetzt, und darüber werden Steine gehäuft, damit die wilden Tiere oder die Vögel ihr nichts anhaben können. War ein Scheich wegen wohlwollender Behandlung seiner Mitmenschen sehr beliebt, dann gibt eine Kaffeekanne auf dem Grabe Kunde von dieser seiner Gastfreundschaft. Die Beisetzung findet sonst nach dem mohammedanischen Ritus statt, gestaltet sich aber ganz schlicht, ohne Zeremonie und großes Gepränge. Die Verwandten opfern, wenn es sich um einen Mann handelt, ein Mutterschaf, ohne jedoch sein Blut zu versprengen; sie kochen und verteilen alsdann das Fleisch. Bei der Leiche einer Frau wird kein Opfer dargebracht, sie wird aber beim Heraustragen aus dem Lager mit wohlriechendem Wasser besprengt. Die Weiber besuchen häufig die Gräber ihrer Lieben und weinen um die Toten; eine Witwe pflegt ihre Kinder dorthin zu führen[S. 330] und sie über den Verlust des Vaters aufzuklären. — In den Städten und größeren Dörfern gestalten sich die Beisetzungszeremonien schon großartiger. In Jerusalem begräbt man die jüdischen Toten stets am Abhang des Ölbergs und die mohammedanischen auf der gegenüberliegenden Seite des Kidrontales. Die allgemeine Meinung geht dahin, daß hier alle Toten am Jüngsten Tag auferstehen werden. An diesem großen Tage wird Mohammed eine Sichtung vornehmen, die bösen Mohammedaner auf der anderen Seite bei den Ungläubigen zurücklassen, die guten aber in Flöhe verwandeln und sie, nachdem er die Gestalt eines Schafes angenommen, in seiner Wolle über die Brücke Es Sirat, die so dünn wie ein Pferdehaar ist, ins Paradies hinüberführen.
Noch einer mohammedanischen Sekte sei hier kurz Erwähnung getan, der Nosairier oder Ansarije, die sich selbst als Fellach bezeichnen. Früher über ganz Syrien und Mesopotamien verbreitet, sind sie heute in einer Kopfzahl von 70–80000 fast nur noch in dem syrischen Küstengebirge zwischen Libanon und Antiochia, dem Dschebel Ansarije, anzutreffen. Sie sind auch äußerlich von der übrigen Bevölkerung Syriens auffallend verschieden. In religiöser Hinsicht sind sie eine Abzweigung der Schiiten, doch ist ihre Glaubenslehre, in die sie unter anderem auch die Seelenwanderung aufgenommen haben, mit so vielen Anschauungen aus dem altsyrischen Heidentum und dem altchristlichen Gnostizismus durchsetzt, daß sie ein recht wirres Religionsgemisch darstellt. So beten die Nosairier, um nur eines hervorzuheben, die Sonne an, die sie als Wohnsitz Gottes nach seinen verschiedenen Inkarnationen — als Adam, Moses, Jesus, Mohammed, Ali, Hussein und so weiter — ansehen.
[S. 331]
Afrika wird, wenn wir von der Bevölkerung nördlich der großen Wüste, der Sahara, sowie Ägyptens absehen, die sowohl in körperlicher als auch in kultureller Hinsicht Beziehungen zu Südeuropa aufweist, von der Negerrasse eingenommen. Ihre Angehörigen sind gekennzeichnet durch einen langen, aufgeschossenen Körper (im Mittel hundertsiebzig bis hundertachtundsiebzig Zentimeter) mit verhältnismäßig langen Armen, schlanken Beinen und breiten, flachen Füßen, einen ausgesprochen langen, schmalen Schädel mit etwas fliehendem Vorderhaupt, große, runde, vorstehende Augen von schwarzer Farbe, sehr flache, kurze, an der Wurzel sehr breite Nase, kleine oder nur mäßig vorspringende Wangenbeine, vorgeschobenen Unterkiefer, dicke, fleischige, oft wulstige Lippen und stets schwarzes, grobes, kurzes, krauses oder wolliges Haar. Ihre Hautfarbe ist ein dunkles Braun bis Schwarz. Infolge vielfacher Vermischung mit fremdem Blut, im besonderen mit hamitischem und semitischem, auch mit dem der einheimischen Zwergvölker, hat dieser Typus mancherlei Veränderungen erfahren, wobei der eine oder der andere vorstechende Zug der sich mischenden Rassen in dem Kreuzungsprodukt zum Ausdruck kommt. Man teilt die Neger in Sudan- und Bantuneger ein. Diese Unterscheidung beruht weniger auf körperlichen Verschiedenheiten, als vielmehr auf solchen sprachlicher und kultureller Natur, und ist manchmal schwer durchzuführen. Allgemein läßt sich nur sagen, daß der Sudanneger die meisten Eigentümlichkeiten des dunklen Afrikaners in verstärktem Grade (also zum Beispiel dunklere Haut, größere Nasenbreite, mehr umgestülpte Lippen und so weiter) zur Schau trägt.
Außer der Negerrasse finden sich nun noch, mehr oder weniger unter sie verstreut, Angehörige einer kleinwüchsigen helleren Rasse, die wir als die Urbewohner Afrikas annehmen dürfen, der afrikanischen Grundrasse, der Pygmäen. Ihre relativ reinsten Vertreter besitzt sie in[S. 332] den Buschleuten Südafrikas und in gewissen zentralafrikanischen Zwergstämmen. Diese Leute sind von niedrigem Wuchs (Männer etwa hundertvierundvierzig, Weiber hundertfünfunddreißig Zentimeter), haben einen im Verhältnis zu den Gliedmaßen langen Rumpf, vergleichsweise breite Schultern und kurze Arme wie Beine. Ihr Schädel ist von mehr rundlicher Form, zeigt eine ziemlich steil aufsteigende, breite, gut gewölbte Stirn und ein niederes, zumeist breites Gesicht, aus dem die Jochbeine ziemlich weit vorspringen. Die Augen stehen weit voneinander ab, die kurze Nase ist an der Wurzel tief eingesattelt und hat einen ziemlich breiten Rücken; die Kieferpartie ist mehr oder weniger vorgeschoben. Das Gesicht erhält dadurch ein schnauzenartiges Aussehen. Die Hautfarbe dieser Rasse ist ziemlich hell, von gelblichem bis milchkaffeebraunem Ton. Sehr bezeichnend für sie ist die Beschaffenheit ihrer Haare, die in kleinen, spiraligen Büschelchen (sogenannte Pfefferkornbildung) auf dem Kopfe stehen. Man bezeichnet dies als Krausköpfigkeit. Der Bart ist spärlich entwickelt, dafür aber ist der übrige Körper mit einem zarten Flaum ganz überzogen. Für die Buschleute ist noch im besonderen bezeichnend die geringe Entwicklung, man könnte fast sagen das Fehlen des Unterhautzellgewebes am ganzen Körper, wodurch die Haut Neigung zur Faltenbildung erhält, mit Ausnahme der Gesäßpartien, die geradezu einer übermäßigen Ausbildung von Fettpolster sich erfreuen. Die Verbreitung der Zwergvölker erstreckt sich auf einzelne Teile des zentralen Afrika, die der Buschleute auf die mittlere Kalahari. Ursprünglich müssen die Vertreter dieser Grundrasse ein viel ausgedehnteres Gebiet eingenommen haben, bis nach Westafrika auf der einen und bis zu den Quellen des Nils auf der anderen Seite hin; ebenso saßen die Buschleute früher weit über ihre heutigen Grenzen hinaus.
Südafrika wird von den Bantu, den Buschleuten und den Hottentotten, wahrscheinlich einer Mischung zwischen letzteren und Hamiten, eingenommen.
Die Buschleute (Abb. 388) führen ein umherschweifendes Leben, betreiben daher weder Ackerbau noch Viehzucht, sondern suchen sich ihre spärliche Nahrung durch Jagen und Sammeln von Erzeugnissen der Pflanzenwelt. In früheren Zeiten, als die Jagdgründe noch reich bestellt waren, wurde die tierische Nahrung von ihnen bevorzugt; mit Pfeil und Bogen erlegten sie das Wild. Heutzutage aber, wo der Wildreichtum bedeutend nachgelassen hat,[S. 333] beschränken sie sich auf das Ausgraben von Knollen und Wurzeln mittels des Grabstockes. Die Speisen werden, da man vielfach keine Gefäße besitzt, meist nur geröstet und halb roh hinuntergeschlungen. Sehr schwierig hält es mit der Beschaffung von Wasser zur heißen Jahreszeit. Solange man solches zur Verfügung hat, bewahrt man es in Straußeneierschalen auf. Fehlt es, so nimmt man zu Saugbrunnen seine Zuflucht. Man treibt ein Loch in den harten Boden, senkt einen mit einem Filter aus Gras versehenen Rohrhalm hinein und bemüht sich, das sich ganz spärlich aus dem Grundwasser einfindende Naß durch Ansaugen heraufzubefördern und dann in Straußeneierschalen zu sammeln. — Ihre Wohnungen entsprechen ihrem unsteten Leben. Was die Natur ihnen auf ihren Wanderungen gerade als Unterschlupf darbietet, wird dazu benutzt, so zum Beispiel Höhlen oder Felsenüberhänge. Sonst erfüllen denselben Zweck primitive Windschirme aus einem Paar zusammengebundener Büschel oder auch schon bienenkorbähnliche Hütten, die sie bei den sie umgebenden Stämmen kennen gelernt haben.
Die Kleidung der Buschleute besteht in einem Lendenschurz oder beim weiblichen Geschlecht in einem Gürtel, von dem vorn ein kleinerer, hinten ein größerer Schurz herabhängt. Ihr Schmuck ist sehr bescheiden, Halsketten von kleinen Scheibchen aus Straußeneierschalen. Besondere Sorgfalt verwenden die Buschleute auf ihre Gesichtsbemalung, die beide Geschlechter für die Tänze oder auch ohne besonderen Anlaß an sich vornehmen lassen, und zwar durch die Zauberdoktoren selbst; diese Bemalung hat religiösen Hintergrund.
Von den künstlerischen Neigungen der Buschleute ist ihre Vorliebe für Musik zu erwähnen; ihr einziges Musikinstrument besteht allerdings nur in einem Bogen, dessen eines Ende zwischen die Zähne eingeklemmt wird, während die Hand die Sehne schlägt. Mehr Beachtung verdient ihre Zeichenkunst, deren Spuren man, über ganz Südafrika zerstreut, an den Felsen und in den Höhlen antrifft. Sie äußert sich nach zwei Richtungen: einmal als richtige Felsenmalerei,[S. 334] zum anderen als eingeritzte Zeichnungen. Gegenstand dieser Darstellungen sind meistens Tiere und Menschen, im allgemeinen Jagdszenen, die durch ihre Naturwahrheit Staunen erregen müssen. Diese Malereien und Gravierungen stammen bereits von früheren Generationen her; wenn diese Kunst heutzutage nur noch wenig oder gar nicht mehr von den Buschleuten geübt wird, so liegt dies einmal daran, daß sie unter ganz unglücklichen Lebensbedingungen ihr Dasein fristen, sodann aber daran, daß sie sich jetzt in einem Gebiete aufhalten, wo es keine Felsen und keine Höhlen gibt, nämlich in der Wüste, so daß sich ihnen also keine Gelegenheit mehr bietet, die ihnen innewohnende Fertigkeit im Malen zu betätigen. Früher waren die Buschleute über ganz Südafrika verbreitet; sie wurden aber von den mehr und mehr vordringenden großen Völkern zurückgedrängt und ziemlich ausgerottet. Augenblicklich gehen sie ihrem Untergange mit Riesenschritten entgegen.
Die Religion der Buschleute beruht in der Hauptsache auf einer Verquickung von Geisterglauben und Ahnenkult. Die Seelen Verstorbener, die man sich teils als freundlich, teils als feindlich gesinnt vorstellt und von denen man beständig das menschliche Leben in dem einen oder dem anderen Sinne beeinflußt glaubt, werden durch das übliche Darbringen von Opfern, durch Veranstaltung von Tänzen oder durch Zaubermittel, die die guten Geister festhalten, die bösen bannen sollen, verehrt. Zaubermittel, um Krankheiten oder Unheil abzuwenden oder auf der Jagd Glück zu bringen, sind sehr verbreitet. So zum Beispiel gilt es als wirksam gegen Rheumatismus, wenn man sich eine Schlange um den Hals wickelt; auf der Jagd glaubt man Erfolg zu haben, wenn man sich eine bestimmte streifenförmige Tatauierung auf dem Oberarm anbringen läßt; das Wild glaubt man bezaubern zu können, so daß es den Jäger nicht sieht, wenn man sich mit einer Jagdmedizin einreibt, die aus einem Stück vom Herzen und dem linken Ohr eines erlegten Exemplars der zu jagenden Tiergattung durch Verbrennen mit glühender Kohle hergestellt ist. Und manches Ähnliche. Auch auf Wahrsagen und Vorbedeutungen wird großer Wert gelegt. Um den Erfolg einer bevorstehenden Unternehmung, Reise, Jagd und so weiter, im voraus zu erfahren, wirft man ein Bündel Hölzchen in die Luft und schließt aus der Lage,[S. 335] die die einzelnen Stücke beim Herabfallen einnehmen, auf den Ausgang der Sache. — Ist jemand krank geworden, dann läßt man einen der vielen Zauberdoktoren kommen. Dieser erscheint phantastisch aufgeputzt und mit zahlreichen Amuletten behängt und verordnet entweder eine Medizin, die er selbst aus gekochten Kräutern und anderen Säften — hierbei spielt eine Abkochung der schweißigen Kleidungsstücke sowie des Urins des Zauberers eine wichtige Rolle — angefertigt hat, oder er bläst, tanzt, singt, beschwört und treibt den üblichen Hokuspokus. Zuletzt beugt er sich über den Kranken und bläst ihm den bösen Geist fort oder saugt ihn aus; zum Zeichen, daß er des Übeltäters Herr geworden ist, holt er ihn dann aus seinem Munde in Gestalt eines Steinchens, Stöckchens oder eines Hirsekorns hervor.
Die Tänze der Buschleute beziehen sich sämtlich auf das Geschlechtsleben der Tiere und ahmen ihre Bewegungen zur Brunstzeit in ziemlich drastischer Weise nach, so der Elandbullentanz, den wir noch weiter unten kennen lernen werden, der Duckerbocktanz, der Stachelschweintanz, der Pfautanz und anderes mehr. Allen diesen Tänzen kommt eine religiöse Bedeutung zu; anscheinend will man den Tieren, die man nachahmt, durch einen derartigen Tanz eine Ehrung erweisen. Bei diesen Tänzen sind beide Geschlechter beteiligt. Daneben gibt es aber noch andere, an denen nur Männer in Tätigkeit treten, Weiber aber gänzlich ausgeschlossen zu sein scheinen. Passarge beobachtete zwei solcher Tänze, einen, der auf den Knien, und einen anderen, der unter heftigem Trampeln mit den Füßen ausgeführt wurde, und will ihnen eine noch tiefere religiöse Bedeutung als den schon erwähnten Tänzen beigelegt wissen, wenn er auch nichts Näheres über sie in Erfahrung bringen konnte. Im ganzen scheint das Tanzen eine wahre Leidenschaft der Buschleute zu sein. Besonders in schönen Mondscheinnächten artet es in wirkliche Raserei und Liebesbrunst aus, zumal nach einem reichlich genossenen Mahle. Vor allem sind es die jungen Männer, die sich beim Anblick des weiblichen Geschlechtes ganz berauschen und ihre wilde Leidenschaft durch Springen, Stampfen und Gliederverrenken zum Ausdruck bringen.
Auch Kriegstänze und Scheinkämpfe mit Assagaien gehören zu den Belustigungen der Buschleute. Beliebt ist schließlich noch das Melonenspiel, wobei man eine ausgehöhlte und[S. 336] mit Steinchen angefüllte Melone mit dem Finger, der in ein entsprechendes Loch in der Frucht hineinpaßt, in die Luft wirbelt und mit dem Finger wieder auffängt.
Bei der Geburt eines Kindes dürfen männliche Personen nicht zugegen sein. Das Neugeborene wird mit Gras abgerieben. Falls die Mutter mit Nahrungssorgen zu kämpfen hat, wird das Kind für gewöhnlich lebendig begraben; wenn sie aber einigermaßen zu leben hat und das vorhergehende Kind sich bereits so weit entwickelt hat, daß es sich selbst Wurzeln und Knollen ausgraben, also der Mutter zu seinem Lebensunterhalt entbehren kann, dann wird das Neugeborene aufgezogen. Eine besondere Pflege kann ihm trotzdem nicht zuteil werden; daher gehen viele Kinder der Buschleute zugrunde. — Nach der Geburt erfolgt die Namengebung durch die Eltern in Gegenwart der nächsten Angehörigen; hat man gerade ein Stück Wild erbeutet, so wird ein Festschmaus mit Tanz veranstaltet. Die Söhne erhalten zumeist den Namen des älteren Bruders des Vaters oder des Großvaters, die Töchter den der älteren Schwester der Mutter oder der Großmutter. — Die Kinder werden frühzeitig zur Selbständigkeit erzogen; man lehrt sie die für ihre Ernährung wichtigen Pflanzen und Tiere kennen und unterweist sie in den Sammel- und Fangmethoden, im Aufspüren des Wildes sowie in der Anfertigung der Hausgeräte und Waffen.
Die Knaben werden bei Eintritt der Männlichkeit von einem älteren Manne in die Geheimnisse des Geschlechtslebens eingeweiht; im besonderen erhalten sie Unterricht in den religiösen Tänzen. Diese Unterweisungen der Jünglinge finden draußen auf dem Felde zur kalten Jahreszeit statt, wo sie unter Aufsicht in einer großen Hütte untergebracht werden, kein Feuer anzünden und Wasser nur in beschränktem Maße trinken, auch nur von Wurzeln und Früchten leben dürfen. Alles das soll zur Abhärtung und Stählung des Körpers dienen. Nach Abschluß dieser Zeit werden die Knaben zu Männern geweiht, indem der Lehrer seinen Schülern auf die Stirn und zwischen die Schulterblätter Tatauierungen einschneidet und die Wunden mit Holzkohlenpulver einreibt. Hierauf dürfen die Jünglinge heiraten und an den Versammlungen und Tänzen der Erwachsenen teilnehmen. Eine Beschneidung findet nicht statt.
Bei den Mädchen wird der Eintritt der Reife ebenfalls gefeiert, aber eine Unterweisung geht der Zeremonie nicht voraus. Die Sitte schreibt dabei ebenfalls gewisse Tänze vor. Ein solcher Tanz des Aikwestammes ist der Elandbullentanz, den Passarge folgendermaßen schildert. Das zum erstenmal menstruierende junge Mädchen liegt auf der Erde, die älteren Weiber stehen um dasselbe herum, singen, klatschen in die Hände und klappern mit Eisenstücken. Die verheirateten jungen Frauen aber ziehen im Gänsemarsch, mit den Füßen den Takt dazu stampfend, um das Mädchen herum; dabei haben sie ihr Gesäß entblößt, wackeln und kokettieren mit demselben und stoßen die Arme rhythmisch nach unten. Nach einer Weile nähert sich ihnen mit langsamem Schritte ein Buschmann, der ein Fell mit Hörnern der Elandantilope auf dem Kopf trägt und ähnliche stampfende Bewegungen wie die Frauen ausführt. Er stellt den Bullen dar, die Weiber die Kühe. Zunächst läuft der Mann mehrere Male um sie herum, schließlich springt er in die Reihe hinter eine Frau und zieht sie an sich. Die Bewegungen des Bullen und der Kühe lassen deutlich erkennen, daß es sich hierbei um eine Szene aus dem Liebesleben dieser Tiere handeln soll.
Bei der Auswahl seiner Lebensgefährtin sieht sich der junge Buschmann unter den Mädchen einer anderen Sippe um; als Vermittlerin pflegt ihm seine Schwester zu dienen. Hat er die ihm Zusagende gefunden, dann sucht er sich die Gunst der Eltern durch Geschenke zu erwerben. Früher bestanden diese in einem ganzen Stück Wild oder wenigstens in einem großen Teil eines solchen; heutzutage, wo der Wildreichtum sehr zurückgegangen ist, genügen auch kleinere[S. 337] Geschenke. Mit der Erlegung dieses Brautpreises ist die Ehe geschlossen, die dann noch durch einen Hochzeitschmaus gefeiert zu werden pflegt. Gelegentlich ist es dabei Sitte, daß der neue Ehemann, wenn die eingeladenen Nachbarn sich über ihn lustig machen, sein junges Weib ergreift, worauf jene mit ihren Grabstöcken auf ihn eindringen, so daß sich ein regelrechtes Gefecht entwickelt; steht der Bräutigam dabei seinen Mann, so wird der Kampf eingestellt und die Frau ihm überlassen. Der Ehemann tritt in deren Sippe über.
Von der ihnen erlaubten Vielweiberei machen die Buschleute (Abb. 388) oft Gebrauch, und drei bis vier Weiber sind keine Seltenheit. Recht häufig heiratet der Mann nach der Reihe die Schwestern seiner Frau oder ihre Cousinen. Im allgemeinen steht die Sittlichkeit bei den Buschleuten auf verhältnismäßig hoher Stufe.
Bei der Nachricht von dem Tode eines Buschmannes erhebt sich lautes Schreien und Jammern unter den Weibern des Dorfes. Die Leiche, der der Kopf mit rotem Ocker und Salbe eingerieben worden ist, wird ans Feuer gestellt, nach Angabe anderer Autoren auch direkt durchgeräuchert. Die Beerdigung erfolgt möglichst schnell. Der Tote wird in einer Grube in hockender Stellung (mit über der Brust gekreuzten Armen), das Gesicht nach Osten gewandt, zusammen mit seinen Waffen, Hausgeräten und mit etwas Nahrung beigesetzt; sodann wird seine Hütte zerstört oder auch verbrannt, deren Überreste in die Grube auf die Leiche geworfen und das Ganze mit Erde zugeschaufelt. Zum Schutz gegen die wilden Tiere, vielleicht auch um ein Hervorkommen des Geistes des Verstorbenen zu verhindern, wird eine Steinpackung oder eine Steinsetzung über dem Grabe aufgeführt; ein jeder, der vorübergeht und das Grab als ein solches erkennt, wirft einen neuen Stein darauf. Die Grabstätte wird von den Angehörigen möglichst schnell verlassen und für ein bis zwei Jahre gemieden; selbst fremde Buschleute, die auf ihrem Zuge an einem solchen Grabe vorbeikommen, hüten sich, in seiner Nähe zu schlafen. Anscheinend bestehen unter den Buschleuten auch Vorstellungen von einem Weiterleben nach dem Tode. So begegnet man der Ansicht, daß diejenigen, die sich bei ihren Tänzen schwere Unsittlichkeiten hätten zuschulden kommen lassen, nach ihrem Tode an einen geheimnisvollen Ort unter das Wasser gebracht und hier in Tiere[S. 338] verwandelt würden, die für ihre Ausschreitungen beständige Pein erlitten. — Wie in ihren Sitten und Gebräuchen überhaupt, so sind die Buschleute im besonderen auch in denen, die sich auf die Begräbnisfeierlichkeiten beziehen, von den umwohnenden Hottentotten sowie den Bantu verschiedentlich beeinflußt worden.
Eine zweite Sondergruppe innerhalb der südafrikanischen Völker bilden die Hottentotten. Man hat sie früher als Verwandte der Buschleute aufgefaßt, und dies mit einer gewissen Berechtigung, insofern es sich bei einer Gegenüberstellung mit den dunkelhäutigen Bantu bei beiden um „hellfarbige Südafrikaner“ handelt und sie auch sonst manches Gemeinsame in ihrem äußeren Verhalten darbieten. Indessen war es der Sprachwissenschaft vorbehalten, Klarheit über die Stellung der Hottentotten innerhalb des afrikanischen Völkerkreises zu schaffen. Meinhof, der beste Kenner afrikanischer Sprachen, hat nämlich gezeigt, daß ihre Grammatik eine ganz auffällige Übereinstimmung mit den grammatikalischen Regeln der hamitischen Sprachen aufweist und daß auf der anderen Seite die Schnalzlaute, die ihre Sprache mit den Dialekten der Buschleute gemeinsam hat, von diesen nur entlehnt sind. Da nun die Hottentotten trotz mancherlei Ähnlichkeit mit den Buschleuten in ihrem Äußeren auf der anderen Seite auch wieder Eigenschaften aufweisen, die sie den Hamiten nähern, wie die höhere Statur und die größere Hellfarbigkeit, so liegt unter Berücksichtigung der sprachlichen Gründe die Wahrscheinlichkeit sehr nahe, daß es sich bei ihnen um frühzeitig weit nach dem Süden verschlagene und von ihren Stammesangehörigen vollständig abgeschnittene Stämme hamitischer Völker handeln mag, die durch starke Vermischung mit den in der Überzahl vorhanden gewesenen Buschleuten der meisten ihrer ursprünglichen Rasseneigenschaften verlustig gingen, jedoch ihre geistigen Eigenschaften, im besonderen ihre entwickeltere Sprache, ihre verfeinerte Grammatik und vorgeschrittenere Religion, sowie manche ihrer Gewohnheiten bis auf die Neuzeit retteten.
Die Hottentotten sind heutzutage auf Deutsch-Südwestafrika, im besonderen Groß-Namaland, beschränkt; ihre wichtigsten Stämme sind die Zwartboi, Bondelzwart (so benannt nach dem Bündel schwarzer Streifen über den Augen), die Veldschoendrager, die Witboi, Simon Kopper- und die Fransmann-Hottentotten. Im Gegensatz zu den Buschleuten sind sie durchweg Viehzüchter geblieben, wie es ihre hamitischen Vorfahren vor langen Zeiträumen schon waren. Bekannt sind ihre blutigen Kämpfe mit der deutschen Regierung, durch die sie ziemlich aufgerieben worden sind. Infolge der seit langem unter ihnen wirkenden Mission haben sie das meiste Ursprüngliche bereits abgestreift und europäische Sitten angenommen; ein Teil von ihnen ist Mischehen mit den vor den Deutschen hier sehr verbreitet gewesenen Buren eingegangen. Im großen und ganzen ähneln sie in körperlicher Hinsicht den Buschleuten, unterscheiden sich aber von ihnen vor allem durch ihre bedeutendere Größe sowie durch feinere Gesichtszüge. Ein einheitlicher Typus läßt sich für die Hottentotten nicht aufstellen.
Ihre Wohnungen sind halbkuglige niedere Hütten (sogenannte Pontoks), die aus einem Gestell kreisförmig in den Boden gesteckter und oben kuppelförmig miteinander verbundener dünner Zweige hergestellt sind und mit Fellen oder Matten bedeckt werden. — Jetzt kleiden sich die Hottentotten schon meistens nach europäischer Art. Ihre frühere Tracht war ganz aus Leder beziehungsweise Fellen angefertigt, sie bestand in einem solchen Hüftschurz, einem großen Fellmantel, Karoß genannt, und einer Kopfbedeckung aus Pelz. — Ihre Waffen sind Bogen und Pfeile, Speere und Wurfstöcke; neuerdings auch Schießgewehre.
Die ursprüngliche Religion der Hottentotten (heutzutage sind sie Christen) scheint auf Ahnenverehrung und Geisterglauben beruht zu haben. Die Geister der Verstorbenen wurden von ihnen als böse Dämonen angesehen; daher war man auch bestrebt, durch Zusammenbinden der Leiche sie an der Wiederkehr zu hindern. Der Ahnenkult kam in der Gewohnheit zum Ausdruck, daß die an Gräbern Vorübergehenden diesen eine Gabe darbrachten, entweder einen Stein oder Reisig, einen Blumenzweig, ein Scheit Holz oder ein Büschel wohlriechender Kräuter darauf legten und gleichzeitig den Verstorbenen um Gesundheit, viel Kinder und viel Kleinvieh anflehten. — Unglücksfälle und Krankheiten werden dem Einflusse böser Geister zugeschrieben, gegen die man sich durch Amulette und Beschwörungen durch einen Zauberer zu schützen sucht.
Die Hottentotten sind heutzutage faule und zur Genußsucht geneigte Menschen; sie verstehen sich darauf, aus Honig ein berauschendes, stark mussierendes Getränk herzustellen, dem sie eifrig zusprechen. Besondere Freude haben sie an Musik und Tanz. Ihr beliebtestes Musikinstrument ist die Riedflöte, eine Art Schalmei, die aus einem fußlangen Ried hergestellt wird; die verschiedenen Töne werden durch Auf- und Niederschieben eines Stempels erzeugt. Die Männer bilden einen Kreis und die Weiber darum einen anderen; sie bewegen sich darauf in entgegengesetzter Richtung unter Verbiegungen des Oberkörpers, die Weiber kehren ihre hintere Körperpartie hervor und führen unter Händeklatschen und Musik groteske Sprünge und Bewegungen aus. — Eine recht sonderbare Art von Selbstbefriedigung betreiben die jungen Mädchen der Hottentotten (sowie der Buschleute), indem sie von frühester Jugend an beginnen, ihre ohnehin schon verhältnismäßig stark entwickelten kleinen Schamlippen zu ziehen und zu zerren (sogar unter Benutzung kleiner Gewichte), bis sie eine ansehnliche Größe (Hottentottenschürze) erreichen.
Nach der Geburt eines Kindes wird ein Feuer angezündet, an dem aber so lange weder gekocht noch gebraten werden darf, bis der Nabelstrang abgefallen ist, sonst würde dem Kinde ein Unglück begegnen. Der Mann darf der Niederkunft seiner Frau, die von älteren Frauen unterstützt wird, nicht beiwohnen. Nach der Geburt wird dem Vater das Kind vor die Hütte gebracht; man legt es auf die Erde, und er hebt es auf zum Zeichen, daß er es als das seine anerkennt. Bei der Geburt eines männlichen Nachkommen herrscht große Freude; sie erhöht die Eltern in der Achtung der Dorfbewohner. Je nach den Vermögensverhältnissen schlachtet der Vater zwei bis drei Ochsen und gibt den Nachbarn ein Fest; bei der Geburt eines Mädchens begnügt er sich mit einer Ziege. Werden Zwillinge geboren, dann ist die Freude weniger groß, zumal wenn beide weiblichen Geschlechts sind. Entweder wird der eine Zwilling in einer verlassenen Tierhöhle ausgesetzt, die man mit Steinen oder Erde zubaut, oder an einen der nächsten Bäume gehängt, wo er verhungern muß. — Das Neugeborene wird nicht gewaschen, sondern zunächst mit Kuhmist vom Kopf bis zu den Füßen eingerieben, darauf zum Trocknen in die Sonne gelegt, vom Mist gereinigt und sodann mit dem Saft einer Pflanze gewaschen, damit es gelenkig und ausdauernd im Laufen werde. Schließlich wird es, nachdem es noch einmal an der Luft getrocknet worden ist, mit Schaffett oder Butter eingerieben. — Die Hottentottenmütter stillen ihr Kind, lassen es gelegentlich nebenbei auch einen Zug aus der Tabakspfeife tun.
Bis zum Eintritt der Reife gehen die Kinder nackt. Die Mädchen werden dann mit einem reichverzierten Karoß bekleidet, dessen Tragen sie fortan als heiratsfähig stempelt. Nach dieser Einkleidung müssen die Mädchen drei Tage lang in einem von fußhohen Stäben errichteten Kreis von etwa einem Meter Durchmesser mit untergeschlagenen Beinen dem Eingang der Hütte gegenüber sitzen, den gespitzten Mund dabei vorgestreckt halten und mit dem Kopfe herausfordernd nicken. Am dritten Tage wird eine junge fette Kuh geschlachtet und ein Schmaus veranstaltet, zu dem der nächste Anverwandte, gewöhnlich ihr ältester unverheirateter Vetter, mit den Nachbarn sich einfindet. Er stülpt ihr den Magen des Rindes über den Kopf und wünscht ihr dabei, so fruchtbar wie eine junge Kuh zu sein und recht viele Kinder zur Welt zu bringen. Die Freunde und Freundinnen schließen sich diesem Glückwunsche an und nehmen ebenfalls an dem Schmause teil, der mit Tanz, Gesang und Bezechtheit infolge allzu reichlichen Genusses von Honigbier endigt.
Die Stellung der Frau und auch schon des Mädchens ist bei den Hottentotten eine verhältnismäßig angesehene. Eine besonders hohe Achtung genießt die älteste Tochter innerhalb der Familie; Beweis dafür ist unter anderem die für jeden Mann bindende Versicherung: „So wahr meine Schwester lebt.“ Es darf daher nicht wundernehmen, wenn wir hören, daß das Hottentottenmädchen seinen Lebensgefährten selbst wählt. Bei der Hochzeit geht es hoch her. Der Vater[S. 343] schlachtet ein Rind, es muß dies aber ein tragendes weibliches Tier sein, damit die Ehe auch fruchtbar werde. Auch unfruchtbare Weiber essen davon, um in gesegnete Umstände zu kommen. — Früher war Polygamie erlaubt, heutzutage hat das Christentum damit aufgeräumt.
Bei Krankheitsfällen versammeln sich die nächsten Angehörigen um den Kranken und beginnen durch Schreien, Heulen, Klatschen und Stampfen einen Heidenlärm zu machen. Nützt dies nichts und hat es den Anschein, daß es mit dem Kranken zu Ende gehe, dann rütteln und schütteln sie den Sterbenden unter lautem Geschrei und reden ihm mit schmeichelnden Worten zu, noch länger unter ihnen zu verweilen. Hat der Kranke unter solchem Lärm sein Leben ausgehaucht, so versucht man noch einmal, ihn auf dieselbe Weise zurückzurufen, und macht ihm gleichzeitig wegen seines Dahinscheidens schwere Vorwürfe. Hat auch dies keinen Erfolg mehr, dann nehmen das Wehklagen der Frauen und der Lärm noch zu. Früher schlachtete der Sohn des Verstorbenen, sobald es wieder ruhig geworden war, einen Bock und bestrich mit dessen Blute die Leiche. Darauf brachte man sie in Hockerstellung, das heißt man legte sie so, daß ihre Knie an den Bauch, die Ellbogen auf die Knie und die Arme über die Brust gekreuzt zu liegen kamen, band sie mit Lederriemen fest und wickelte sie in den Karoß, den der Verstorbene bei Lebzeiten getragen hatte, oder auch in Felle oder Matten. Heutzutage wird die Leiche einfach von den Weibern gewaschen und ausgestreckt in Felle eingenäht, darauf von drei bis vier Trägern nach dem Grabe außerhalb der Werft geschleppt; die Leiche darf die Hütte aber niemals durch die Tür, sondern nur durch ein zu diesem Zweck durch Wegnahme einer Matte hergestelltes Loch in der Wand verlassen. Die Beerdigung findet möglichst bald nach dem Tode statt. Alle Männer und Weiber, die während der Vorbereitungen sich vor der Hütte versammelt und in zwei Kreisen niedergehockt haben, rufen in einem fort Bo-Bo, das heißt Vater, und folgen sodann unter vielem Lärm in zwei ebenfalls nach Geschlechtern getrennten Gruppen der Leiche. Diese wird zusammen mit den Habseligkeiten des Verstorbenen ohne besondere Zeremonie in einer bald flacheren, bald tieferen Grube beerdigt. Auf das zugeschaufelte Grab wirft man aus den uns bereits bekannt gewordenen Gründen Steine; Vorübergehende pflegen einen neuen Stein hinzuzufügen, so daß schließlich unter Umständen große Haufen entstehen. Nach Beendigung dieser Zeremonie kehren alle Teilnehmer nach dem Dorfe zurück, wobei sie noch einmal den Verstorbenen laut mit Namen rufen; zu Hause setzen sie sich vor seiner Hütte in zwei Kreisen nieder und klagen stunden-,[S. 344] selbst tagelang. Früher gingen nach Beendigung dieser Klagen der Dorfälteste oder zwei alte Leute in beiden Kreisen herum und bespritzten alle Sitzenden mit ihrem Urin, holten sodann von dem Herde in der Hütte, die sie durch das für den Toten gebrochene Loch verließen, eine Handvoll Asche und bestreuten die draußen Sitzenden damit. Diese rieben sich zunächst mit der Asche ein, schrieen wiederum und beschmierten sich sodann noch mit Kuhmist, den die nächsten Anverwandten aus dem Viehkral herbeiholten. Offenbar sollten diese Handlungen zur Reinigung dienen, da allem, was mit den Körperausscheidungen zusammenhängt (Urin, Mist), eine besondere Zauberwirkung zugeschrieben wird. Am nächsten Tage packten die Bewohner des ganzen Dorfes ihre Habe zusammen, brachen ihre Häuser ab — das des Verstorbenen ließen sie stehen, nahmen auch nichts von ihm mit aus Furcht vor seinem Geiste — und zogen von dannen. Ehe man auseinander ging, schlachtete der Erbe noch ein Schaf zu einem Abschiedsschmaus. — Eigenartig sind die Trauerabzeichen bei den Hottentotten. Das Netz des von den Erben geschlachteten Tieres wurde dem Ehegatten oder, falls dieser tot war, dessen ältestem Sohn überlassen, der es zu einem Strick drehte und sich um den Hals band, wo es so lange hängen blieb, bis es von selbst abfiel. Auch Trauerfrisuren werden getragen, besonders von den ärmeren Leuten, die sich kein Schlachttier leisten können. Sie lassen sich das Haar so scheren, daß mitten auf dem Wirbel eine Platte und rund um den Kopf lauter schmale Streifen stehen bleiben. Sogar Körperverstümmlungen scheinen früher üblich gewesen zu sein; es wird berichtet, daß Freunde und Anverwandte sich ein Fingerglied gleichsam als Opfer für den Verstorbenen weghauen ließen und es ihm in das Grab nachwarfen; von anderer Seite wird wieder erzählt, daß nur die Witwe sich dieser Verstümmlung unterzogen habe, weil sie dadurch in den Augen der Hottentotten gleichsam wieder jungfräulich werde. Man konnte dann aus der Zahl der fehlenden ersten Fingerglieder an einer Frau sogleich erkennen, wie oft sie schon verheiratet gewesen war. — Daß die Hottentotten an ein Fortleben nach dem Tode glaubten, dafür dürfen wir den Beweis in ihren Begräbnisgebräuchen erblicken; aber wie sie sich dieses vorstellten, darüber fehlen uns nähere Angaben.
Mehrfach ist beobachtet worden, daß man alte Leute, die sich nicht mehr ernähren konnten und ihren Angehörigen zur Last fielen, einfach aussetzte und ihrem Schicksal, das heißt der Tötung durch wilde Tiere, überließ; sie ertrugen dies als etwas ganz Selbstverständliches.
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Das dritte einheimische Rassenelement in Südafrika bilden die Bantuneger, die die östlichen Landstrecken vom großen Fischfluß an bis zum Tanganjikasee hinauf einnehmen. Sie sind offenbar von Norden her zu verschiedenen Zeiten hierhin vorgedrungen und haben selbst Ausläufer nach Westen in das Gebiet der Buschleute und Hottentotten geschickt, die Herero und Ovambo (Abb. 389).
Von den uns hier beschäftigenden südafrikanischen Bantu nehmen die größte Verbreitung die Kaffern ein mit ihren Unterstämmen der Xosa, Pondo, Tembu, Zulu, Swasi und anderen. Die wichtigste Gruppe hiervon sind zweifelsohne die Zulu, insofern sie den Europäern am meisten zu schaffen gemacht haben. Westlich von den Kaffern sitzen die ihnen stammverwandten Betschuanen, die weniger kriegerisch als sie sind, sondern sich mehr den Künsten des Friedens widmen. Auch sie zerfallen in eine Reihe Untervölker, deren wichtigstes die Basuto (Abb. 391) sind. Zu ihnen wiederum stehen in nahem verwandtschaftlichen Verhältnis die das Hochland zwischen Limpopo und Sambesi bewohnenden Baronga, Makalaka und Maschona. Die nördlichste Gruppe der südafrikanischen Bantu sind die Barotse und Mambunda, am Sambesibogen, sowie die berüchtigten Angoni (Abb. 395) am Tanganjikasee, der nördlichste Zweig der Zulu überhaupt, die bis heute ihre alten Stammessitten wohl noch am reinsten bewahrt haben dürften.
Die südafrikanischen Bantu, mit Ausnahme der Herero, betreiben durchweg Ackerbau, und zwar in der Form des Hackbaus. Sofern nicht die Europäer den Pflug eingeführt haben, ist sein Gebrauch ihnen unbekannt. Die wichtigsten Kulturpflanzen sind die Getreidearten, vor allem Hirse in drei verschiedenen Sorten, sowie Mais und auch Reis. Das Getreide wird in großen Mörsern zerquetscht oder auch auf steinernen Handmühlen zermahlen und zumeist in Breiform genossen. Neben Ackerbau wird auch Viehzucht betrieben, von dem einen Stamm mehr, von dem anderen weniger. Die Stelle der Lasttiere wird vielfach von Frauen und Mädchen vertreten (Abb. 392). Schließlich trägt auch die Jagd zum Lebensunterhalt der Bantu bei, wenngleich nur[S. 347] in beschränktem Maße. In der Auswahl der Speisen sind sie nicht wählerisch; an vielen Speisen, die uns geradezu Ekel erregen würden, empfinden sie Genuß. So sind geröstete Heuschrecken, Raupen, Würmer und Termiten wirkliche Delikatessen für die Neger; auch verfaultes Fleisch verzehren sie mit Vergnügen. Die Basuto waren früher Menschenfresser.
Die Hütten der südafrikanischen Bantuneger weisen verschiedene Formen auf. Am verbreitetsten ist die kegeldachförmige Rundhütte. Es werden Stangen im Kreise in die Erde gesteckt und über sie ein fertiges kegelförmiges, aus Matten hergestelltes Dach gesetzt. Zwischen den Stangen werden Ruten wie in einem Geflecht durchgeführt und die so entstehenden Wände mit Gras behängt. Eine andere Form ist die Bienenkorbhütte (Abb. 390). Auch hier werden Stangen kreisförmig in die Erde gestoßen, aber an ihrem oberen Ende zusammengebunden, dieses Gerüst wird darauf ebenfalls durch dazwischen geflochtene Ruten verstärkt und mit Gras bedeckt. Eine dritte Form endlich gleicht unserer fensterlosen Scheune. Zu ihrer Herstellung werden Pfähle in Rechteckform in die Erde gerammt und durch Querlatten zu einem Gitterwerk verbunden, das man mit Palmblattmatten bekleidet. Auf diesen Unterbau wird dann ein auf mehreren in der Mitte des Raumes stehenden Pfählen ruhendes Satteldach gebaut, das gleichfalls eine Bedeckung durch Matten erhält.
Die Kleidung der Bantu hängt von dem Grade ihrer Kultur beziehungsweise der Stärke des europäischen Einflusses ab. Unter den ursprünglichen[S. 348] Verhältnissen pflegen Männer und Frauen fast nackt zu gehen oder sich nur eine Hüftschnur oder einen Lendenschurz (Abb. 391 und 397) umzulegen; andere Stämme wieder tragen Hüfttücher aus Baumrindenstoff oder Felle. Eine Ausnahme macht die Kleidung der Hererofrauen (Abb. 394), die ganz einzig dasteht. Sie tragen außer einem Lendenschurz und einem langen Mantel aus dem gleichen Stoffe, der überdies mit eisernen Perlen in verschiedenen Mustern besetzt ist, noch eine Art Korsett, das aus einer Anzahl Riemen mit runden, durchbohrten Scheibchen aus Straußeneierschalen hergestellt ist, und eine durch aufrecht stehende Ohren und einen tief in den Nacken herabhängenden eisernen Perlenbehang gekennzeichneten Kopfputz aus Leder.
Die Vorliebe für Schmuck ist bei beiden Geschlechtern sehr verbreitet, und die Art, wie man sich ausputzt, sehr mannigfaltig (Abb. 393, 395 und 396). Die Männer legen großen Wert auf einen mächtigen Kopfputz in Gestalt bunter Federn oder Felle, desgleichen auf einen Körperbehang aus Fellen (Abb. 393 und 395), während die Weiber mehr Neigung für Perlenschmuck bekunden: dicke Schnüre beziehungsweise Wülste oder Behänge aus bunten aus Europa bezogenen Perlen, die in geschmackvollen Mustern angeordnet sind; an allen möglichen Körperstellen, von der Stirn herab bis zu den Füßen, wird solcher Schmuck angebracht (Abb. 397 und 398). Bei beiden Geschlechtern sind ferner eiserne oder kupferne Ringe um Arme und Beine sehr beliebt (Abb. 399). Eigenartig ist der Schmuck der Hererofrauen; sie tragen nämlich um die Unterschenkel eine Art Beinschienen aus Lederriemen mit aufgezogenen Eisenperlen. Große Sorgfalt verwenden die Frauen auf ihre Frisuren (Abb. 400 und 401); die Betschuanenfrauen reiben sich das Kopfhaar mit einer Mischung aus Fett und Glimmer ein, wodurch es ein schillerndes Aussehen erhält. Sehr verbreitet ist schließlich noch die Bemalung, die Tatauierung und das Anbringen von Narben; von sonstigen Verunstaltungen wäre das Durchbohren der Ohren, der Lippen sowie das Ausschlagen beziehungsweise Zuspitzen der Zähne und auch das Abschlagen des letzten Gliedes am kleinen Finger zu erwähnen.
Die religiösen Vorstellungen der Bantu beruhen ausschließlich auf dem Glauben an die Macht der Geister der Vorfahren, wie wir ihn bereits verschiedentlich bei anderen Naturvölkern kennen gelernt haben. Dieser Aberglaube beeinflußt alle Verhältnisse ihres Lebens, ihr ganzes Denken und Handeln von der Wiege bis zum Grabe. Ihre religiösen Übungen gehen demgemäß darauf aus, die Geister der Verstorbenen durch Opfer günstig zu stimmen. Die Vermittler zwischen Lebenden und Toten sind die Wahrsager, die eine fast unbegrenzte Macht besitzen und daher eine wichtige Rolle in allen Lebenslagen spielen. Diese Wahrsager bilden einen bestimmten Stand unter den Stämmen; sie sind gleichsam Staatsbeamte, die ihre Tätigkeit für das Wohl des Ganzen ausüben, insofern ihre Aufgabe darin besteht, die Verbrecher und Zauberer zu offenbaren, und erfreuen sich unter ihren Stammesgenossen ganz besonderer Achtung. Das Amt des Wahrsagens wird sowohl von Männern wie von Weibern ausgeübt. Auf eigene Hand kann es keiner übernehmen, wohl aber sich zu einem solchen melden oder in Vorschlag gebracht werden. Glauben die Angehörigen einer Person aus ihrem sonderbaren Verhalten (wie lebhaftem Träumen, Stimmenhören, Aufsuchen der Einsamkeit, Menschenscheu, Krämpfen, Zwiegesprächen mit Vögeln, launenhaftem Wesen, Nahrungsverweigerung und so weiter) entnehmen zu können, daß sie sich für einen Wahrsager eignen dürfte, so lassen sie den oder die Betreffende durch einen erfahrenen Wahrsager prüfen. „Hält dieser den Fall für aussichtsvoll, so verordnet er dem Lehrling eine Medizin zur Verstärkung aller der eben erwähnten und ähnlicher Erscheinungen. Hierauf setzt er ihm einen Federbusch auf das Haupt, und der Unterricht in der geheimen Wissenschaft beginnt. Unter der Kur, die hauptsächlich in Einreibungen und Einnahme von Medizinen besteht, verstärken sich die rätselhaften Symptome des Novizen immer mehr. Zuletzt springt dieser an Felswänden hinab, oder er wirft sich ins Wasser, oder er[S. 349] gefährdet auf andere Weise sein Leben, so daß seine Freunde ihn bewachen müssen, damit er nicht umkomme. Er beschwört nun Schlangen und windet sie um Hals und Brust. Magert bei alledem der Prüfling stark ab, so gilt dies als ein günstiges Zeichen für den Beruf; denn die Eingeborenen setzen nur wenig Vertrauen in einen fetten Wahrsager. Nach einiger Zeit erklärt der Novize, daß er die äußere Schale der Sünde abgestreift und sich zu einem Geiste entwickelt habe und daß die Geister der Vorfahren in dem ihnen eigenen pfeifenden Tone zu ihm sprächen. Zu seiner Beruhigung werden ihm nunmehr Zaubermittel um den Hals gehängt. Der Appetit kehrt wieder, die Träume werden ruhiger. Er gibt vor, im Schlafe hellzusehen, und befaßt sich mit dem Finden verlorener Sachen, so daß sein Lehrmeister es für an der Zeit hält, ihn vollständig in die Geheimnisse der Kunst einzuweihen.“ Ehe nun der angehende Wahrsager öffentlich anerkannt wird, muß er eine Probe ablegen. Fällt diese zu seinen Gunsten aus, dann wird er von den Ältesten des Stammes unter Zustimmung des Häuptlings gewählt. — In der Hauptsache scheint es sich bei den Wahrsagern um neuropathische oder hysterische Individuen zu handeln, denen indessen eine gewisse Gerissenheit nicht abgeht. Denn wenn ihre Kuren keinen Erfolg haben, dann entschuldigen sie sich damit, daß die betreffende Krankheit nicht zu ihrem besonderen Fach gehöre, und werfen den Angehörigen sogar vor, daß sie keinen anderen Doktor geholt haben.
[S. 350]
Die Wahrsager pflegen als Abzeichen ihrer Würde mit einem Stück Ziegenhaut auf den Schultern (Abb. 403), das in zwei breiten Streifen über die Brust herabhängt, oder als Ersatz dafür mit dicken Schnüren oder Bändern aus Gras, Perlen, Sehnen und so weiter bekleidet zu sein; auf dem Kopf tragen sie eine oder mehrere Gallenblasen einer Ziege, wenn möglich von solchen Tieren, die für einen von ihnen erfolgreich durchgeführten Fall geschlachtet wurden — je größer ihre Anzahl ist, um so höher steht der Ruf des Wahrsagers —, und hängen zahlreiche Tierschwänze an ihren Gürtel; auch Schlangen tragen sie als Schmuck. Die weiblichen Künstler bemalen sich Gesicht, Brust, Arme und Beine mit weißer Farbe. Ist der Wahrsager zugleich Medizinmann, so trägt er um den Hals ein Band aus Bockshörnern, in deren Höhlung er seine Heilmittel aufbewahrt.
Die bei der Ausübung seines Handwerks zur Anwendung kommenden Methoden sind verschiedene. Zumeist werden Knochen oder Stöcke verwendet. Handelt es sich darum, festzustellen, ob eine verdächtige Person eines Verbrechens schuldig ist, so gibt der Wahrsager ihr eine Anzahl kleiner Knochen in die Hand; er selbst nimmt auch welche zu sich. Beide werfen sie sodann auf den Boden. Je nachdem die Knochen nebeneinander, gegeneinander, übereinander oder sonstwie fallen, gibt der Wahrsager sein Urteil ab. Handelt es sich darum, zu erfahren, wo ein ausfindig zu machender Zauberer wohnt oder wo verloren gegangene Sachen liegen und ähnliches mehr, so erschließt der Wahrsager die Antwort aus der Richtung, in der die Knochen zu liegen kommen. Wo Stöcke zum Wahrsagen benutzt werden, schleudert der Wahrsager sie hastig auf den Boden; bleiben sie flach am Boden liegen, so bedeutet dies für ihn Verneinung der Frage, springen sie aber auf den vermeinten Übeltäter zu, dann lautet die Antwort bejahend. Angeblich wird dem Wahrsager dieses alles von den Geistern im Schlafe offenbart. In Wirklichkeit aber weiß er auf ganz geschickte und scharfsinnige Weise unter Zuhilfenahme zahlreicher Auskunftsquellen bereits vorher auszukundschaften, wer in Frage kommen könnte oder wo sich ein vermißter Gegenstand befindet. Seine Hilfe wird bei allen möglichen Dingen angerufen, sei es, daß es sich darum handelt, ausfindig zu machen, wer ein Verbrechen begangen hat, wo ein gestohlener Gegenstand versteckt liegt, wo ein entlaufenes Stück Vieh sich aufhält, wo der Sitz eines Leidens bei einem Kranken ist, wer ihm die Krankheit angezaubert hat, oder daß die Witterung beeinflußt, also Regen herbeigezaubert, die Dürre gebannt, Blitz und Donner beschworen werden soll (Abb. 402), oder schließlich, daß man darauf ausgeht, anderen Schaden zuzufügen, zum Beispiel jemand Zaubermittel auf den Weg zu streuen, um ihm dadurch, wenn er diesen überschreitet, Verderben zu bringen und dergleichen. Wird ein Wahrsager zur Heilung einer Krankheit um Hilfe angerufen, so erscheint er mit einem Dutzend Medizinen bewaffnet (Säften aus Kräutern, Wurzeln, Rinde oder aus Galle, Haut, Knochen wilder Tiere, gestampften Kuheingeweiden, pulverisierten Affenzähnen und so weiter), um damit eine oft tagelang dauernde Kur an dem Leidenden vorzunehmen. Nach vielem Hokuspokus bringt der Wahrsager schließlich im günstigen Augenblick den Erreger der Krankheit, meistens eine Eidechse, die er vorher zu sich gesteckt hatte, zum Vorschein. Wenn die Geister der Vorfahren an der Entstehung des Leidens schuld sind, dann muß ihnen ein Opfer dargebracht werden, und wenn böse Leute es dem Betreffenden angezaubert haben, dann erfolgt eine Ausriechung des Schuldigen durch den Wahrsager (siehe die farbige Kunstbeilage). In beiden Fällen geht der Zeremonie ein allgemeiner Tanz voraus, von dem sich niemand ausschließt, weil er durch sein Fernbleiben vielleicht Verdacht erregen könnte. Der Lärm der Trommeln und Pauken wird immer lauter, und der Wahrsager gerät mehr und mehr in Verzückung und wirkliche Raserei; dadurch tritt er in Beziehung zu den Geistern. Bei dem nunmehr folgenden Opfer ist streng darauf zu achten, daß nicht das geringste Blut auf den Boden fällt; es wird sorgfältig in einer Opferschale gesammelt. Die Knochen und etwas vom Fett oder auch vom Mageninhalt werden den Vorfahren zu Ehren verbrannt, die sich an dem in die Lüfte steigenden Rauch begnügen müssen,[S. 351] während die Teilnehmer sich an dem übrigen Fleisch gütlich tun; natürlich erhält der Wahrsager und sein Anhang den Löwenanteil davon. Während der Rauch hochsteigt, fleht er die Geister um ihre Hilfe an. Soll ein Schuldiger ausfindig gemacht werden, so tritt der Wahrsager nach beendetem Tanz an eine jede Person heran und beriecht sie; glaubt er den Schuldigen gefunden zu haben, dann springt er über dessen Kopf hinweg oder zeigt auf ihn. Dadurch ist er „ausgerochen“ und der Strafe verfallen, die entweder in einer Geldbuße oder in Ausstoßung aus dem Stamm, in schweren Fällen auch im Tode besteht. Eine Beteuerung der Unschuld nützt nichts, höchstens kann der als schuldig Bezeichnete noch an das Urteil eines höheren Zauberers appellieren, der, falls er genügend Geld dafür erhalten hat, ihn freispricht.
Alle Bantu sind große Anhänger von Musik und Tanz (Abb. 405 und 407). Die Musikinstrumente sind keine musikalischen in unserem Sinne, insofern sie, mehr für das Taktmäßige der Tänze zugeschnitten, das rhythmische Element vor dem melodischen betonen. Die Tänze bestehen in einem taktmäßigen Gestampfe der Füße mit langsamer Vorwärtsbewegung im Kreise und entsprechenden Bewegungen der oberen Gliedmaßen, unter eintönigem Lärm des Tamtam, einer primitiven Flöte und des einsaitigen Musikbogens. Auch Schellen an den Füßen werden zur Steigerung der musikalischen Wirkung getragen (Abb. 405). Dabei werden die Schilde oder Stöcke wie Speere im Takt mit den Tanzbewegungen über dem Kopfe geschwungen. Die gleichmäßigen, kraftvollen und geschmeidigen Bewegungen der Tanzenden gewähren einen ästhetisch schönen Anblick. Die Basuto bevorzugen für ihre Tänze die Vollmondnächte und begehen auf solche Weise das Fest einer guten Ernte. Die Barotse tragen bei ihren Tänzen Masken (Abb. 407), denen aber keine religiöse Bedeutung zukommt. — Bei allen Festlichkeiten spielt der Biergenuß eine große Rolle. Männer, Frauen und Kinder pflegen dieses Genußmittel, das von dem weiblichen Geschlecht[S. 352] aus dem Kaffernkorn hergestellt wird (Abb. 387), oft in großen Mengen zu sich zu nehmen; wenn dann der Alkohol die Sinne benebelt hat, arten diese Tänze nicht selten in wilde Orgien aus.
Die Geburt eines Sohnes wird von den südafrikanischen Bantu nicht so freudig wie die eines Mädchens begrüßt, wohl weil letzteres als zukünftige Arbeitskraft einen wertvolleren Familienzuwachs bedeutet. Der Vater hält sich während der Entbindung außerhalb der Hütte auf. Die Boten, die ihm die Nachricht melden, prügeln ihn durch, wenn das Neugeborene ein Knabe ist an Stelle des sehnlich erwünschten Mädchens, begießen ihn aber mit Wasser, wenn sein Wunsch nach einer Tochter in Erfüllung gegangen ist, damit ihm die übergroße Freude nicht schade.
Das Neugeborene wird vielfach nicht gebadet, sondern am ganzen Körper mit Fett oder Öl abgerieben; bei den Awenda bekommt es Salz in den Mund gesteckt. Der Vater macht sogleich den Nachbarn von dem freudigen Ereignis Mitteilung mit den Worten „Wa-kanando“, das heißt „er ist für die Hacke“, womit er einen Sohn, oder „Wa-mpero“, das heißt „sie ist für die Mühle“, womit er eine Tochter bezeichnen will. Darauf kommen die Freundinnen der Frau und begrüßen sie mit „Samalale mukwai“, das heißt Glückwünsche. — Sehr besorgt ist man, böse Einflüsse von dem Kinde fernzuhalten. So stecken die Kaffern es mehrere Wochen lang täglich in den beißenden Rauch von schwelenden wohlriechenden Hölzern, um dadurch die Hexen zu verscheuchen, andere Stämme graben es bis an den Hals in die Erde ein. Sie legen dem Neugeborenen als gesundheitfördernd ein Amulett aus Ziegenriemen um den Hals und später ein solches aus dem Schweife eines Rindes. Kann das Kind auf allen vieren umherkriechen, dann schlachtet der Vater eine Ziege und befestigt deren Gallenblase um das Handgelenk des Kindes. — Wird eine Basutofrau zum erstenmal Mutter, dann legt sie ihren bisherigen Namen ab und nennt sich „Mutter des X“, nämlich ihres Erstgeborenen. Der Name des Vaters bleibt meistens von dieser Tatsache unberührt, kann sich aber auch in dem gleichen Sinne ändern. Spätere Kinder beeinflussen den Namen der Eltern nicht mehr.
Zwillinge werden im allgemeinen nicht mit Freuden begrüßt, ebensowenig betrauert, wenn einer von ihnen sterben sollte. Nach dem Aberglauben der Kaffern besitzt der eine von den Zwillingen die Natur eines wilden Tieres; er genießt daher auch nicht die Stammesrechte, auch wird bei seiner Hochzeit nicht getanzt. Die Basuto töten meistens den einen Zwilling, andere Stämme sogar beide. Man wirft das dem Tode geweihte Kind in ein Erdloch, schüttet trockenen Kuhmist darüber und läßt diesen durch Tiere festtreten, um die Stelle unkenntlich zu machen; die Zauberer gehen nämlich darauf aus, Kinderleichen wieder auszugraben, um sie als Medizin zu verwerten. Die Makalaka lassen den Wahrsager durch Wurfhölzer darüber entscheiden, welcher Zwilling aus der Welt zu schaffen ist, und setzen diesen in einem Topfe als Beute für die Hyänen aus. Ganz anders verhalten sich bei der Geburt von Zwillingen die Herero, die in ihren Gebräuchen, wie wir schon oben sahen, auch anderweitig von den Bantu abweichen. Von ihnen wird eine solche Geburt als ein ausnehmend großes Glück betrachtet, weswegen die Kinder sowohl wie ihr Vater besondere Rechte und Vorzüge genießen. Besondere Feierlichkeiten und Zeremonien werden unter Beteiligung aller Dorfbewohner vollzogen und die Eltern für heilig erklärt. — Die Bantumutter pflegt ihre Kinder stets selbst zu stillen und dies meistens mehrere Jahre hindurch. Sie trägt sie, in ein Tuch oder ein Fell eingehüllt, bei ihren Arbeiten immer mit sich herum, entweder auf dem Rücken oder auf ihrer linken Hüfte reitend.
Die Basuto lassen nach der Geburt eines Kindes den Wahrsager kommen und durch dessen Zauberwürfel zunächst sein Lebensschicksal vorausbestimmen, sodann ihm den Kopf bis auf einen kleinen Büschel rasieren, der auf dem Scheitel stehen bleibt. Als Honorar dafür erhält er einen Ziegenbock und reichlich Bier. Überall bei den Bantu werden die Geburt eines Kindes und die damit zusammenhängenden Zeremonien durch einen Festschmaus gefeiert.
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Bei Eintritt der Reife müssen sowohl Knaben wie Mädchen sich bestimmten Vorschriften unterziehen. Bei den Kaffern ziehen sich die Knaben in einem bestimmten Alter für längere Zeit in eine Hütte in der Wildnis unter Aufsicht eines älteren Mannes zurück, malen sich weiß an und werden unter gewissen Feierlichkeiten beschnitten. Jeder Knabe hat die ihm abgeschnittene Vorhaut an irgendeiner Stelle heimlich zu vergraben, damit niemand mit ihr Sympathiezauber treiben kann. Sie haben sich auch gewissen Peinigungen zu unterziehen, so zum Beispiel stellen sie sich in einer Reihe auf und erhalten von den älteren Leuten, die vor ihnen tanzen, unter bestimmten Fragen Rutenschläge ausgeteilt, gegen die sie sich mit Sandalen, die sie in den Händen halten, zu schützen suchen, wenn auch nur in beschränktem Maße, so daß sie manche Wunde davontragen. Haben sie diese und andere Mutproben bestanden, dann gelten sie für Männer, und dies nicht nur in den Augen ihrer männlichen Genossen, sondern auch in denen der jungen Mädchen, die ohne einen solchen Beweis ihrer Tapferkeit keinen von ihnen ehelichen würden. Zum Zeichen, daß sie nun Männer geworden und der Obhut ihrer Mütter entwachsen sind, empfangen die Jünglinge diese, wenn sie sie abholen wollen, mit Stockschlägen. — Bei den Basuto findet eine ähnliche Absonderung der Knaben statt; der Platz, auf dem sie in Hütten untergebracht werden, wird ängstlich durch Dornengebüsch vor den Unberufenen behütet. Jeder Jüngling muß eine Beichte über sich ergehen lassen und wird für jedes Vergehen, das er eingesteht, mit Ruten gezüchtigt. Darauf hat er aus einem herumgehenden Topfe eine Zaubermedizin zu trinken, wodurch festgestellt werden soll, ob er die Wahrheit bekannt hat; wer gelogen hat, empfindet nach ihrem Genuß furchtbare Schmerzen und kann sogar sterben. Hieran schließt sich die Beschneidung und die Aufnahme unter die Erwachsenen. Damit sind aber auch wieder allerlei Peinigungen verbunden; man peitscht die Knaben, hält sie über Feuer und anderes mehr. Jeder Erwachsene hat nämlich das Recht, die jungen Leute mit Ruten zu schlagen, was[S. 354] sich mancher zunutze macht, um sein Mütchen an ihnen zu kühlen; aber auch gegenseitig dürfen sich die Jünglinge durchpeitschen. Nicht selten geschieht es, daß ihr Rücken tatsächlich blutig geschlagen wird, und sogar der eine oder der andere daran stirbt. Wenn später die Mütter ihre Kinder in Empfang nehmen wollen, sagt man ihnen, die Koma, das heißt die Mannbarkeitserklärung habe sie gefressen. Natürlich spielt sich der ganze Vorgang, wie anderwärts, unter großem Trommellärm, Gesang und Tanz ab, und ein Festessen darf nicht fehlen. Gegen Ende des ersten Monats erhalten die jungen Leute noch in der Götterlehre und den Stammesmysterien, sowie in der Verwaltung und Politik, auch im Tanzen Unterricht.
Die heranwachsenden Mädchen der Bantu haben gleichfalls, bevor sie als heiratsfähig in den Stamm aufgenommen werden, eine längere Abschließung und eine strenge Unterweisung über ihre Frauenpflichten durch eine Matrone durchzumachen. Bei den Betschuanen bemalen sie sich zum Zeichen dessen mit weißer Farbe und kleiden sich in eine Art phantastischen Kostüms, indem sie sich die Lenden, den Hals, die Schultern und selbst den Kopf mit Röhrichtstreifen behängen und sich dazu noch mit aufgereihten Kürbiskernen schmücken. Einem männlichen Wesen ist es streng verboten, sich solchen Mädchen, die sich durch ein eigentümliches Rasseln ihrer Kleidung schon auf weite Entfernung bemerkbar machen, zu nähern; wer es dennoch tut, muß gewärtigen, mit Stockhieben von ihnen empfangen zu werden. Von der Matrone werden die Kandidatinnen in die Geheimnisse des Geschlechtslebens und in die Pflichten der zukünftigen Hausfrau und Mutter eingeweiht. Nach Abschluß dieser ihrer Prüfungszeit, während deren sie hier und da auch besondere Peinigungen durchzumachen haben, legen die Mädchen ihre Röhrichtkleidung ab und werfen sie auf einen Haufen zusammen, den sie anzünden und mit lautem Toben und wüstem Singen zusammen mit ihren Müttern umtanzen. Die Bewegungen dieser Tänze sollen manchmal recht unanständig sein. Am anderen Morgen reinigen sich die Mädchen, bemalen sich mit rotem Ocker und Fett und reiben sich Fett und Glimmer ins Kopfhaar. Dadurch kennzeichnen sie sich als heiratsfähig. — In ziemlich ähnlicher Weise spielen sich die Pubertätsfeste bei den übrigen Stämmen ab. Bei den Makalaka tatauieren ältere Frauen außerdem die Mädchen; unter großen Schmerzen erhalten sie etwa viertausend kleine Hautschnitte, in die man darauf eine ätzende, durch Kohlenpulver geschwärzte Salbe reibt. Bei den Basuto muß ein Mädchen, das ein Kind geboren hat, bevor es die Komazeremonie durchmachte, ebenso ein Mann, der, ohne sich ihr unterzogen zu haben, schon ein Kind gezeugt hat, dies mit dem Tode büßen.
Die ersten Schritte zur Verlobung werden meistens von den jungen Männern unternommen; nur bei den Kaffern kommt es manchmal vor, daß die Angehörigen des Mädchens die Angelegenheit in die Wege leiten. Man pflegt meistens durch Vermittler vorsichtig auszukundschaften, ob Aussicht auf Heirat besteht, natürlich unter Darbringung von Geschenken. Erst wenn die Bereitwilligkeit bekannt geworden ist, werden direkte Verhandlungen angeknüpft, die sich in erster Linie um die Festsetzung des Brautpreises drehen, wobei nach Möglichkeit geschachert wird. Mitunter werden sehr weitschweifige Zeremonien bei der Werbung beobachtet. Bei den Basuto macht der Vater des Jünglings dem Vater der von diesem Auserwählten[S. 355] einen Besuch — nebenbei bemerkt sind einzelne Stämme sehr förmlich bei ihrer Begrüßung (Abb. 406) —, spricht zunächst über gleichgültige Sachen und kommt dann mit seinem Anliegen heraus, das er in die Worte kleidet: „Ich bin gekommen, ein Hündchen von euch zu erbitten.“ Nach langer Pause und scheinbar langem Nachdenken erwidert der Angeredete: „Wir sind arm, wir haben kein Vieh; hast du Vieh?“ Darauf beginnt der Werbende über die schlechten Zeiten zu klagen und erreicht schließlich nach langem Feilschen eine Einigung über den Kaufpreis in Vieh, womit er seine Aufgabe erfüllt hat. Darauf wird ein zweiter Bote in den Kral des Mädchens entsandt, der sich mit den Worten einfindet: „Ich bin gekommen, um Schnupftabak zu erbitten.“ Die alten Frauen füllen ihm reichlich davon in eine Kalabasse und übersenden sie dem Bräutigam. Zu Hause wird von diesem die ganze Sippe versammelt, der Mann der ältesten Schwester des Bräutigams öffnet die Schnupftabaksdose, und jeder der Anwesenden nimmt daraus unter großer Feierlichkeit. Am nächsten Tage wird die Dose nebst Angeld an Kleinvieh in den Kral des Mädchens zurückgesandt; dieses umwickelt sie zierlich mit Perlengewinden und trägt sie, beständig oder doch bei feierlichen Anlässen, um den Hals. Damit will es andeuten, daß es fortan Braut ist. Erst wenn die junge Frau ihr erstes Kind geboren hat, legt sie die Dose ab, nimmt die Perlenschnüre herunter und legt diese ihrem Kinde um. Die Verlobung wird festlich gefeiert und mit viel Bier begossen. Den Rest des Brautpreises bringt der Bräutigam später persönlich, allerdings nicht auf einmal, sondern in Raten. Die Heimführung der Braut erfolgt aber erst, wenn alles bezahlt worden ist.
Bei der Hochzeit der Bantu (Abb. 404) finden ganz verschiedene Zeremonien statt; sie dehnen sich bei den Awenda oft über einen Monat und länger aus. Ehe sie nicht abgeschlossen sind, dürfen Braut und Bräutigam nicht als Mann und Frau zusammenleben. — Ein Brauch, der sich bisher nicht hat ausrotten lassen, ist das Eheversprechen unter Kindern im zartesten Alter. — Die Vielehe ist unter den Bantu erlaubt und wird auch vom Gesetz anerkannt, erfährt aber meist durch die Armut des Bräutigams Einschränkung. Wo die Mittel dagegen vorhanden sind, kann sich der Ehemann so viel Frauen kaufen, als ihm beliebt. Der Brautpreis besteht, wie schon erwähnt, in Vieh. Die Weiber eines Mannes vertragen sich im allgemeinen gut miteinander, weil sie meistens eine eigene Hütte haben und eigene Wirtschaft führen. Der Mann haust zeitweilig in dem einen Haushalt, dann wieder in einem anderen; die Frauen sind jedoch verpflichtet, ihm täglich Speisen zu bereiten und sie ihm dorthin zu bringen, wo[S. 356] er sich gerade aufhält. Unter den Kaffernfrauen sollen Duelle nichts Seltenes sein und mit Händen, Füßen, Nägeln und Zähnen ausgefochten werden.
Ehescheidung kommt häufig vor und ist für gewöhnlich mit einer Rückgabe des Kaufpreises verbunden. Der Mann kann seine Frau ohne Gründe verstoßen, geht dann aber dieser Rückgabe verlustig. Ehebruch wird von den Angoni stets mit dem Tode geahndet; der Verführer wird in Gegenwart der ehebrecherischen Frau mit einer Keule erschlagen, sie selbst an einen Baum gebunden und mit einem Strick erdrosselt. Den Angehörigen der Schuldigen ist es verboten, diesen ein zeremonielles Begräbnis zu bereiten. — Die Awenda heiraten, wenn ihre Frau stirbt, deren Schwester oder nächste Verwandte; sind diese aber noch zu jung, um zu heiraten, dann muß der Vater eine entsprechende Vertreterin stellen, bis sie herangewachsen sind. Bei den Matabele nehmen die Brüder des Verstorbenen die Witwe zur Frau; bei den Maschona erben oft die Söhne des Vaters Witwen, ausgenommen die eigene Mutter.
Nach dem Bekanntwerden eines Todesfalles kommen die Verwandten sofort zusammen, und die Frauen heulen laut; bei den Barotse wird meistens durch Schießen ein großer Lärm gemacht. Der Tote wird in Felle oder Rindenstoffe, auch in wollene Decken eingehüllt und in hockender Stellung mit seinen Waffen und seinem persönlichen Besitz in der Erde beigesetzt. Verbrennung kommt unter den Bantustämmen nirgends vor, dagegen wird die Leiche vereinzelt im Busch ausgesetzt oder ins Wasser geworfen. In diesen Fällen handelt es sich aber nur um Sklaven, Stammesfremde oder um Leute, die keine Angehörigen mehr haben. Besondere Begräbnisstätten gibt es nicht; zumeist wird der Verstorbene in der Hütte selbst begraben und diese dann entweder gänzlich aufgegeben oder ruhig weiter bewohnt. Die Kaffern begraben ihre Häuptlinge im Kral. Die Awenda beten zu den Verstorbenen und versprechen, ihnen Bier zum Grabe zu bringen und für die Kinder zu sorgen. Bevor das Grab zugeschaufelt wird, schneidet der nächste Verwandte in die Decke, welche die Leiche umhüllt, ein Loch, gerade über dem Ohr, damit der Tote den großen Geist reden höre.
Bei den Basuto werden nach der Beerdigung die schon vorher abgeschnittenen Enden des Kuhfelles, in das man den Toten gehüllt hatte, zu kleinen Riemen zurechtgeschnitten und der Witwe zum Zeichen der Trauer als Band um die Stirn gebunden. Bei den Angoni legt die Witwe gleichfalls einen Trauerschmuck in Gestalt einer Binde um die Stirn an und trägt ihn ein halbes oder auch ein ganzes Jahr. Nach dieser Trauerzeit ruft sie ihre Verwandten und Bekannten zusammen, entledigt sich feierlich des Trauerabzeichens, verbrennt es über dem Feuer und schüttet die Asche in einen Fluß, in dessen Nähe die Handlung vor sich geht. Nachdem sie auch noch die Feuerstätte gereinigt hat, um das Andenken an den Verstorbenen damit gänzlich auszulöschen, kehren alle Teilnehmer in die Hütte zurück und halten zum Schluß ein festliches Gelage ab. Fortan darf die Witwe wieder heiraten.
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Die Bevölkerung der Südafrika im Osten vorgelagerten Insel Madagaskar setzt sich aus verschiedenfarbigen Völkerelementen zusammen, deren Grundbestandteile ein interessantes Rassenproblem abgeben. In der Hauptsache scheinen es zwei Rassen gewesen zu sein, die zu ihrer Zusammensetzung beigetragen haben; die reinsten Vertreter der einen sind die Hova, die der anderen die Sakalaven; die Mischungsprodukte zwischen beiden sind die übrigen überaus zahlreichen Stämme, die die Franzosen unter dem Sammelnamen der Madagassen zusammenfassen.
Die Hova, ursprünglich ein kleiner Stamm, der das Hochland von Imerina in Besitz nahm, haben es vermöge ihrer hohen Intelligenz und guten Beanlagung verstanden, bis die Franzosen sich zu Herren der Insel aufwarfen, die Führung über die übrigen Stämme zu behaupten; sie bilden auch jetzt noch die Oberschicht. Wie ihr Äußeres, ihre Geschichte, Sprache und ethnologischen Verhältnisse deutlich verraten, sind die Hova malaio-polynesischen Ursprungs und wanderten vor etwa achthundert bis tausend Jahren, mutmaßlich von den Großen Sundainseln her, ein; bekanntlich sind ja diese Völker in der Schiffahrt von jeher gut bewandert gewesen. Ihr Typus ähnelt in der Tat dem der Javanen; kleiner Wuchs, olivgelbe Hautfarbe, üppiges straffes oder leicht gelocktes schwarzes Haar, rundlicher Kopf, kleine, öfter schiefstehende Augen, flaches Gesicht, vorstehende Backenknochen, vorstehende gerade Nase und[S. 358] etwas dicke Lippen sind seine hauptsächlichen Kennzeichen. Weniger rein schon erscheint dieser malaiische Typus bei den südlich von den Hova wohnenden Betsileo. Die Hova bildeten früher einen Feudalstaat und zerfielen in drei Klassen: die Adligen (Andriana), die Freien (eigentlichen Hova) und die Sklaven (Andevo). — Das gerade Gegenteil der Hova sind die Sakalaven, ein Volk von tiefdunkler Hautfarbe und negerartigem Aussehen (wolligem Haar, länglichem Schädel, vorspringendem Gesicht und so weiter). Es liegt bei der Nähe Südafrikas die Vermutung nahe, daß sie von dort hergekommen sein mögen, aber ein derartiger Ursprung der Sakalaven wird aus gewichtigen Gründen — vor allem sind die Bantu durchaus keine Seefahrer — von zuständigen Kennern der Verhältnisse in Abrede gestellt. Es mag ja möglich sein, daß an der Zusammensetzung der dunklen Völker Madagaskars auch Bantuneger sich beteiligt haben, aber diese kamen nicht von selbst über die Meerenge von Mozambique, sondern wurden von den Arabern als Sklaven eingeführt. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, daß es sich bei den Sakalaven um Reste einer Urbevölkerung handelt, die zur afrikanischen Grundrasse gehörte, also den Negritos verwandt gewesen sein wird. Südafrika, Madagaskar, Südindien, die Sundainseln und so weiter bildeten ursprünglich ein zusammenhängendes Festland, das von eben dieser Rasse bewohnt gewesen sein muß; erst später hat dieses Festland seine heutige Gliederung erfahren.
Die übrige Bevölkerung Madagaskars, die sogenannten Madagassen (Abb. 410), kann man als eine Mischbevölkerung ansehen, die aus einer Kreuzung jener beiden Grundelemente hervorgegangen ist und in ihrem Äußeren bald mehr den einen, bald mehr den anderen Zug verrät. Es haben zu ihrer Zusammensetzung auch noch weitere Rassenelemente beigetragen, die,[S. 359] teils freiwillig, teils durch Schiffbruch verschlagen, die Insel besiedelten; es zählen zu diesen vor allem Araber, ferner Perser und Inder, vielleicht auch Chinesen und Japaner, und seit den letzten Jahrhunderten auch die Weißen. Die Madagassen weisen eine Unzahl von Stämmen auf, als deren wichtigste die Betsimasaraka (Abb. 412), die Tanala, Bara und andere zu nennen sind.
Die Grundverschiedenheit in der Abstammung der Hova und Sakalaven kommt auch in ihrer Kleidung, ihren Wohnungen (Abb. 408 und 409) und in ihren sonstigen Gepflogenheiten zum Ausdruck. Die Nationaltracht der Madagassen ist der Lamba (Abb. 410 und 411), ein großes Stück Zeug, entweder aus weißer Baumwolle oder aus leuchtend bunter Seide hergestellt, das als Überwurf getragen wird. Die Betsimasaraka tragen oft eine Tunika aus Raphiafasern, ihre Frauen außerdem noch eine kurze Jacke, die nur die Schultern, die Arme und den oberen Teil der Brust bedeckt, aber die Bauchgegend freiläßt, ähnlich wie die Tracht der Indierinnen. In den südöstlichen Provinzen haben manche Stämme noch ihre althergebrachten Mattentrachten aus Schilf in Gebrauch, ein röhrenähnliches Gewand, in das man hineinsteigen muß; es wird um die Hüften mit einem Gürtel zusammengehalten.
Schmuck ist besonders bei den dunklen Stämmen sehr beliebt und recht abwechslungsreich. Er besteht in möglichst vielen Ketten aus Korallen-, Glas- oder Silberperlen, Armbändern und Ringen aus Metall, großen Ohrringen und Stiften in den Nasenflügeln. Eine große Vorliebe zeigen die Hova- und Sakalavenfrauen für das Aufsetzen kleiner Schönheitstüpfelchen (bei den einen in schwarzer, bei[S. 360] den anderen in weißer oder gelber Farbe) auf die Haut des Gesichtes. Besonders pflegen alle Madagassenfrauen ihr Kopfhaar; bei Trauer wird es stark zerzaust und aufgebauscht (Abb. 423). — Tatauierung kommt nur noch selten vor.
Die Religion der Hova, wie der Madagassen überhaupt, ist offiziell das Christentum, aber in Wirklichkeit zeigen sie sich religiös gleichgültig und neigen eher zu ihrem alten animistischen Aberglauben. Sie erkennen ein höchstes Wesen, Sanahary, das heißt den allgemeinen Schöpfer, an, den sie aber, da er seinem Wesen nach gut ist und dementsprechend im allgemeinen kein Unglück verhängt, in ihrem Kult ziemlich vernachlässigen. Dagegen sind die Geister der Ahnen Gegenstand der größten Verehrung, zumal sie außerordentliche Furcht einflößen. Man glaubt nämlich an ihre absolute Macht, Gutes und Böses über die Lebenden zu verhängen, denen sie sogar von Zeit zu Zeit einen Besuch abstatten. Das geht selbst so weit, daß man annimmt, ein verstorbener Mann könne nachts seiner Ehefrau beiwohnen, weswegen auch lange nach seinem Tode geborene Kinder als legitim anerkannt werden. Die Ahnengeister erhalten Opfergaben, gewöhnlich ein Stück Rindfleisch und etwas Rum, das man zu ihrem Grabe bringt, wenn man ihre Gunst gewinnen will. Die Madagassen glauben auch an die Unsterblichkeit der Seele, nehmen aber an, daß diese nicht ohne weiteres zum Himmel aufsteige, sondern zuvor noch eine Reihe Wanderungen durch teils wirkliche, teils eingebildete tierische Wesen durchzumachen habe, die der Mensch sich bis zu einem gewissen Grade aussuchen könne. Am meisten ist der Aberglaube verbreitet, daß die Seele des Toten sich zuerst in ein Kokolampy verwandle, ein Fabeltier mit langen Haaren, das in düsteren Wäldern umherirre, um die Gräber schleiche, sich von Krabben nähre und am Tage in Höhlen hause, nachts aber unheimliche Laute von sich gebe. Sobald man diese Töne hört, wagt sich niemand allein des Nachts in den Wald, in den Häusern stockt die Unterhaltung, kurz, es herrscht große Furcht. Wenn das Kokolampy stirbt, geht die Seele in den Körper eines dicken Nachtschmetterlings, den Voangoamba, über, dem zu begegnen den bevorstehenden Tod eines Familiengliedes anzeigt, sodann in ein Chamäleon, weiter in ein Insekt, namens Angalatsaka, und schließlich in eine Ameise, nach deren Tod sie sich erst befreit und in den Himmel eingeht.
Unter den Sakalaven ist der Steinkultus noch sehr verbreitet, der offenbar mit alten religiösen Vorstellungen zusammenhängt. So begegnet man öfters großen Steinhaufen, die von Goldsuchern zusammengetragen wurden und von ihnen, unter Darbringung von Honig als Opfergabe, um Hilfe bei ihrem Gewerbe angefleht werden. An anderen Orten trifft man auf zwei einzelne große Steine, deren einer nach Norden, der andere nach Süden zeigt, die von Frauen, die Mütter werden wollen, angebetet und mit Honig und Fett eingerieben werden; wer sich einen Knaben wünscht, wendet sich an den südlichen, wer ein Mädchen haben möchte, an den nördlichen Stein. Andere Steine werden angegangen, um eine Zunahme des Besitztums, eine Vermehrung der Herden, Fruchtbarkeit für die Aussaat und ähnliches mehr zu erflehen. Es gibt auch Steinbauten in Form von Dolmen; auf sie gießen die Tanala, bevor sie ihre Toten begraben, die von diesen ausgeschiedene Flüssigkeit aus und richten Gebete und Danksagungen an die Seelen der Vorfahren. Daher findet man auf ihnen auch stets Bananenblätter mit Reis und einen Bambusbehälter mit Honig oder Rum.
Der Madagasse unternimmt nichts Wichtiges, ohne daß er einen Zauberer zu Rate zieht. Dieser breitet eine Handvoll Getreide oder eine Anzahl Samen nach gewissen Regeln auf einer Matte aus und bildet aus ihnen sechzehn Figuren, deren Bedeutung er nach einem bestimmten Gesetz auslegt (Abb. 413). Überhaupt sind die Zauberer, die bald Mpanazary, bald Ombissa, Mpisikidy oder Masina und so weiter heißen, auf der ganzen Insel sehr wichtige Persönlichkeiten. Sie stehen in dem Rufe, nicht nur wahrsagen und Kranke heilen zu können, sondern auch die Macht zu besitzen, das Ody, einen Talisman, anzufertigen, der gewöhnlich aus kleinen Stücken geschnitzten Holzes, den Enden von Ochsenhörnern, die mit Glasperlen verziert sind,[S. 363] und Krokodilzähnen besteht. Die Hörner und Zähne werden mit Sand oder Erde, auch mit verschiedenen kleinen Gegenständen, wie vergoldeten Nägeln, Eisenabfällen und anderem mehr angefüllt. Nachdem der Zauberer Gott angerufen und das Zaubermittel noch mit Rinderfett eingerieben hat, händigt er es gegen Barzahlung seinem Kunden aus, der es nun beständig um den Hals trägt und fortan überzeugt ist, daß er bei allen seinen Unternehmungen vom Glück begünstigt sein werde. So zum Beispiel wird er überall Gegenliebe finden, gegen Kugeln sowie gegen Krokodilbisse gefeit sein, bei Diebstählen unentdeckt bleiben und auch in allen übrigen Dingen stets Erfolge zu verzeichnen haben. — Mit diesen Zaubermitteln und Fetischen ist fast stets ein Fady verknüpft, das heißt ein Verbot bestimmten Handlungen oder bestimmten Fleischsorten gegenüber. Bei Nichtbefolgung dieses Fady verliert der Ody seine sämtlichen Tugenden und büßt seine Kraft ein. Dieser Brauch des Fady, der über ganz Madagaskar verbreitet ist, erinnert sehr an das Tabu in Ozeanien.
Die früher üblichen Gottesurteile sind jetzt mehr in Wegfall gekommen, aber bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein wandte die einheimische Regierung zur Ermittlung eines Verbrechens noch die Tangenprobe an, so benannt nach der je nach der genossenen Menge mehr oder weniger giftigen Frucht des Tangenbaumes (Tanginia venenifera), die der Verdächtigte essen mußte; übergab er sich nach ihrem Genuß, dann galt seine Unschuld für erwiesen. Andere Ordalien sind jetzt noch in Gebrauch (siehe unten).
Die Hauptbeschäftigung der Frauen von Madagaskar ist das Zerstampfen von Reis für den Tagesbedarf; nebenbei weben sie auch primitive Stoffe zu Kleidern und flechten Matten, Körbe und Hüte aus Binsen oder Reisstroh. Die Männer dagegen führen, sofern sie nicht gerade, wie einige Bewohner von Merina, Kaufleute oder eigentlich Hausierer sind, ein vollkommen müßiges Leben, ausgenommen während der Zeit des Säens und Erntens.[S. 364] Entsprechend dieser ihnen angeborenen Trägheit geben sie auch gute Hirten ab. Die Küstenmadagassen, deren einzige Beschäftigung das Fischen ist, sind oft tüchtige Seeleute, die auch über gut gebaute Boote (Abb. 414) verfügen. — Als Unterbrechung des süßen Nichtstuns, das den gewöhnlichen Zustand der Madagassen ausmacht, sind ihnen Vergnügungen willkommen; auch dem Spiel (Abb. 415) sind sie sehr ergeben. Ein jedes Familienereignis gibt Anlaß zu Gesellschaften und Festen; Geburt, Hochzeit, Tod, das Errichten eines neuen Hauses, die Ankunft eines vornehmen Fremden, die Befreiung von einem Unglück, wie etwa einer Epidemie oder einer Überschwemmung — dies alles dient als Vorwand zu einem Freudenfest, bei dem Ochsen geschlachtet, viel Rum getrunken und getanzt wird. Der Tanz ist auf der ganzen Insel eine der beliebtesten Unterhaltungen (Abb. 416); langsame Bewegungen in anmutigen, ungezwungenen Stellungen kennzeichnen ihn. Ebenso sind die Madagassen sehr musikliebend (Abb. 417).
Ohne Nachkommen zu sterben, gilt bei ihnen als das größte aller Übel, was bei ihrer großen Verehrung der Vorfahren und ihrer feudalen Gesellschaftsgliederung erklärlich erscheint. Daher war es Vorschrift, daß, wenn ein Mann kinderlos starb, die Witwe von neuem heiratete, damit „der Keim wieder auflebe“. Das Bestreben eines jeden Madagassen läuft somit darauf hinaus, eine möglichst große Nachkommenschaft zu haben; nicht damit zufrieden, was ihm die Natur gewähren kann, macht es ihm Freude, noch andere Kinder zu adoptieren, wo dies nur möglich ist. Bei all dieser Liebe zu den Kindern und dem Wunsche nach einer großen Familie muß es um so mehr wundernehmen, daß die schreckliche Unsitte des Kindsmordes auf Madagaskar so verbreitet war. Es hängt dies aber mit dem stark ausgeprägten Aberglauben an Unglückstage und -stunden zusammen. Wird ein Kind zum Beispiel um Mitternacht im Monat Mai
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geboren, dann gerät die Familie in große Bestürzung, denn das Kind wird dann ein Zauberer. Erscheint es zu der Stunde auf der Welt, wenn die Ochsen auf die Weide oder die Leute an die Arbeit gehen, dann steht zu befürchten, daß aus ihm ein Verschwender werde. Der ganze Monat September gilt für verhängnisvoll, denn die in ihm Geborenen werden sicherlich Bösewichter oder bringen den Eltern Unheil, wenn sie nicht gar deren Tod verursachen. Daher schafft man sie sofort entweder durch Lebendigbegraben oder Ertränken aus der Welt. Eine Ausnahme machen allein diejenigen, die gegen zwölfeinhalb Uhr mittags, das heißt wenn die Sonne ihre Strahlen gerade auf die Türschwelle sendet, das Licht der Welt erblicken; jedoch dürfen auch sie nicht so ohne weiteres am Leben bleiben, sondern werden einem Gottesurteil unterworfen. Man legt das Kind vor den Ausgang einer Ochsenhürde und wartet ab, ob die Tiere beim Herausgehen ihm einen Schaden zufügen. Auch wenn es nur von ihnen verwundet werden sollte, ist es dem Tode verfallen; nur wenn es unverletzt bleibt, läßt man es am Leben. Für die Geburt eines Prinzen dagegen ist nach dem Aberglauben der Madagassen der September gerade günstig, denn sie meinen, daß man, um ein großer und berühmter Fürst zu werden, recht böse sein und jeden mit Füßen treten müsse. Eine glückliche Zukunft steht ferner den Kindern bevor, die im Juli zur Welt kommen, besonders dann, wenn die Sonne aufgeht, oder wenn ihre Strahlen zwischen vier und fünf Uhr nachmittags die Hauspforten vergolden; denn dann wird der neue Weltbürger sehr große Reichtümer einernten. Man kennt aber auch Mittel und Wege, um das böse Schicksal eines unter ungünstigen Aussichten geborenen[S. 366] Kindes abzuwenden. So muß man bei einem Februarkinde, das man zu einem Brandstifter bestimmt glaubt, schnell eine kleine Hütte aus Erde und Kalk machen und sie verbrennen, oder man kann auch eine Heuschrecke oder einen Maikäfer als Opfer darbringen.
Die Schwangere ist mancherlei Fady unterworfen. Sie darf keine Ochsenschnauze essen, weil sonst ihr Kind eine schnauzenförmige Oberlippe bekäme, ebensowenig das Fleisch eines bestimmten Wasservogels, weil seine Beine sonst so dünn wie bei diesem Tiere werden würden, auch nicht von einem Raubvogel, weil das Kind sonst diebische Eigenschaften annähme; sie darf sich auch nicht über eine taubstumme oder geisteskranke Person lustig machen, weil das Kind dann die gleichen Eigenschaften erwürbe, und anderes mehr. Naht die Stunde der Geburt, dann versammeln sich die Angehörigen und jeder von ihnen nimmt nach dem Vorbilde des ältesten Familienmitgliedes etwas Wasser in den Mund, das dann auf die Gebärende ausgespien wird.
Ist die Geburt erfolgt, was mit großer Freude begrüßt wird, dann fleht der Vater den Segen Gottes, der Vorfahren, der „zwölf Könige“ und der „heiligen zwölf Berge Imerinas“ herab. Der Säugling wird mit Rinderfett abgerieben, damit er kräftig gedeihe. Daher pflegen Erwachsene bei Wettspielen und Kämpfen einander mit den Worten herauszufordern: „Komm her, wenn du von deiner Mutter wirklich mit Fett eingerieben worden bist.“ Die Namen, die die Madagassen ihren Kindern beilegen, werden meistens von Tieren oder Pflanzen hergenommen und mit der Vorsilbe ra versehen; es können dabei unter Umständen recht lange Namen herauskommen, wie Ravoninahitriniarivo, was „tausend Blüten des Grases“ heißen[S. 367] soll. Auch häßlich klingende Namen, wie zum Beispiel Misthaufen, werden dem Kinde beigelegt, um dadurch das Unglück, das ihm droht, abzuwenden.
Einen wichtigen Augenblick im Leben des Kindes bildet die erste Haarschur, die etwa im Alter von drei Monaten stattfindet und zu einem großen Fest sich gestaltet; zu ihr finden sich auch entfernt lebende Familienmitglieder ein. Bei der Auswahl des Haarschneiders muß man achtgeben, daß sein Vater noch lebt, denn sonst würden die Eltern selbst sterben und ihr Kind als Waise zurücklassen. Man beginnt auf der linken Seite und entfernt hier mit einer Schere das „böse Haarbüschel“ über dem linken Ohr, das man sofort mit der dazu gebrauchten Schere wegwirft. Darauf wird die rechte Kopfseite vorgenommen und das über dem rechten Ohr stehende „gute Haarbüschel“ abgeschnitten, aber nicht fortgeworfen, sondern in einer Reisschwinge mit Fleischstückchen aus dem Höcker des Zebuochsen und Knollen von Arum esculentum zu einem Talisman für glückliche Geburten gemischt, den man unter die gierig danach haschenden Festgenossen wirft.
Wenn die Knaben das erste Lebensjahr zurückgelegt haben, wird an ihnen die Beschneidung vorgenommen. Dieser Vorgang bietet Anlaß zu einer mehr oder minder großen Feier mit mancherlei Zeremonien, die früher recht umfangreich waren. Wichtig ist dabei, daß sowohl die Eltern als auch Paten und Patinnen während der dem Akte vorausgehenden Woche vom Bett getrennt schlafen müssen. Jetzt sind die Zeremonien bereits sehr vereinfacht worden. Am Abend vorher wird ein Bananenbaum unter Begleitung der Menge, die mit der rechten Hand ihre Lambas schwenkt, tanzt und singt, eingeholt, in Mannshöhe abgeschnitten und in der nordöstlichen Ecke der Hütte in den Boden gesteckt; auf seine abgeschnittene Spitze wird ein irdener Napf mit einem aus Kuhmist durch Kneten hergestellten Docht und Unschlitt gesetzt, worauf man diese Lampe anzündet. Sie muß bis zum nächsten Morgen brennen und darf nur von männlichen Wesen bedient werden; falls eine Frau dies besorgte, würde der Knabe kein „Mann“ werden. Während der Nacht wird der Segen über das Kind gesprochen. Man stellt zu diesem Zweck eine flache Holzschüssel mit Wasser auf, in die silberne Ketten gelegt werden. Drei Männer müssen nun mit einem Rohrstengel diese Ketten zehnmal hintereinander herausholen und dabei dem Kinde viel Geld und Reichtümer wünschen. Beim ersten Hahnenschrei befestigt einer der versammelten Männer einen Pflanzenstengel (Hundezahn oder Quecke) an einer Flasche oder an einer Kalabasse, worauf die kräftigsten und mutigsten Männer ausgesandt werden, um in diesem Gefäß „kräftiges“ Wasser zu holen, das zum Auswaschen der Wunde bei der Beschneidung[S. 368] gebraucht wird. Der Operateur, der bereits am Abend vorher eingetroffen ist und die Nacht in einer Hütte zubrachte, worin sich kein weibliches Wesen aufhalten durfte, nimmt an dem Kinde mittels eines kleinen Messers die Beschneidung vor. Ein Assistent wartet den Augenblick ab, wo die Wunde zu bluten anfängt, schwingt hierauf seine Lanze und schlägt damit die Türschwelle, wobei er wünscht, daß der Knabe ein „Muster von Schönheit und Güte“ werden möge. Die abgeschnittene Vorhaut muß der Vater in Stückchen zerschnitten mit einer Banane verzehren. Bei den Sakalaven wird sie in eine Flinte geladen oder auf die Spitze einer Lanze gesteckt und diese über das väterliche Haus geschleudert; stellt sich der Speer senkrecht zur Erde, dann erblickt man darin ein Anzeichen dafür, daß der Knabe mutig werden wird. Bei den Bara werfen die Väter die Vorhaut in den nächsten Fluß. — Bei den Antankarana wird die Beschneidung in etwas abweichender Weise vorgenommen. Es geht dem eigentlichen Akte ein reichliches Essen und Trinken der Verwandten und Gäste voraus. Darauf wird ein Ochse gefesselt und zu Boden geworfen, den Kopf nach Osten gerichtet. Der Familienälteste begießt mit einem Topf Wasser das Tier vom Kopf bis zu den Füßen, stellt sich mit einem Stäbchen in der Hand hinter dasselbe, klopft ihm viermal auf die Rippen und fleht dabei Gesundheit, Reichtum und sonstiges Gute auf die Kinder herab. Darauf wird der Ochse durch Zerschneiden der Halsschlagader getötet und sein Fleisch gegessen; seine Hörner aber werden mit einem Stück Schädeldecke auf eine lange spitze Stange gesteckt und mitten im Dorfe aufgestellt. Die Beschneidung wird an den Knaben einzeln in einem dicht geschlossenen Zelte vorgenommen, die abgeschnittene Vorhaut auch hier von den Verwandten in eine Flinte geladen und unter Jubel in die Luft oder gegen die Ochsenhörner geschossen. Essen, Trinken und Tanz beschließen das Fest.
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Die Kinder wachsen von der Liebe und Sorgfalt der Mutter behütet heran; solange sie nicht gehen können, trägt diese sie beständig auf dem Rücken mit sich herum, sei es, daß sie auf dem Felde arbeitet oder im Haushalte tätig ist. Eine Erziehung erhalten diese Kinder weder in geistiger noch in moralischer Hinsicht, und sie wachsen heran, ohne daß ihre Fehler beachtet und verbessert werden. Überhaupt nimmt die Moral in Madagaskar eine ganz untergeordnete Stufe ein, besonders in geschlechtlichen Dingen. Ein junges Mädchen kann tun und lassen, was ihm beliebt. Daher ist es auch gang und gäbe, daß die Mädchen bereits vor ihrer Reife, also etwa mit zehn bis elf Jahren, oft auch noch früher, geschlechtlichen Verkehr anfangen und freie Vereinigungen der jungen Leute allgemein üblich sind. Schamhaftigkeit und Keuschheit sind, mit wenigen Ausnahmen, auf Madagaskar ziemlich unbekannte Tugenden. Im Gegenteil, die Eltern begünstigen sogar die freie Liebe ihrer Töchter, nur der Verkehr eines Mitgliedes der adligen oder der freien Kaste mit einer Sklavin wird mißbilligt. Da auf die Jungfräulichkeit der Mädchen absolut kein Wert gelegt wird, so erscheint es verständlich, daß auch die gastliche Prostitution, das heißt das Überlassen der Töchter des Hauses an Gastfreunde von hohem Rang, zu den Pflichten des Hausherrn gehört.
Die freien ungesetzlichen Vereinigungen der jungen Leute pflegen mehrere Monate und selbst ein bis zwei Jahre zu dauern, ehe sie sich entschließen, die wirkliche Ehe miteinander einzugehen.[S. 370] Finden sie in dieser Zeit, daß sie nicht zueinander passen, dann gehen sie ruhig wieder auseinander und beginnen ein neues Zusammenleben mit anderen Personen. Haben sie aber die Überzeugung gewonnen, daß sie miteinander glücklich werden, dann zieht das Mädchen wieder in das elterliche Haus zurück, und der junge Mann macht sich auf die Werbung bei ihrem Vater. Doch zuvor sendet er eine Anzahl festlich gekleideter junger Leute, die immer unpaar sein muß, an einem bestimmten Tage, den der Astrologe als günstig bezeichnet hat, in das Haus seiner Auserwählten. Der Sprecher zählt zu diesem Zwecke vor den Eltern die wirklichen und angeblichen Tugenden des Bräutigams sowie seiner Vorfahren auf, spendet seinen Eltern Lob und rühmt ihre Vermögensverhältnisse, schließlich teilt er dem Vater mit, daß der Betreffende nicht länger mit seiner Tochter im Konkubinat leben, sondern mit ihr eine richtige Ehe eingehen wolle, eine „Frau unter seiner Achsel tragen“, wie der Ausdruck dafür lautet. — Bei den Sakalaven, Betsileo und einigen anderen Stämmen finden sich noch Überreste einer früheren Raubehe.
Wenn die Annahme des Antrages erfolgt ist, dann bespricht man die Natur und den Wert der Geschenke, die der zukünftige Schwiegersohn seinen Schwiegereltern und seiner Braut darzubringen hat und die meistens in Rindern, Schafen, Ziegen, Geflügel, Honig, Rum, Geld, Kleidungsstücken und so weiter bestehen; ihr Wert hängt von der Vermögenslage des Werbers ab. Aber immer müssen gewisse Fleischstücke (zum Beispiel eine Hammelkeule mit daranhängendem Schwanz) als besonderes Angebinde für das Familienoberhaupt darunter sein. Heutzutage wird diese „Vodiondry“ zumeist mit Geld abgelöst.
Wenn der Hochzeitstag festgesetzt ist, wozu auch wieder der Astrologe angehört wurde, begeben sich die Leute, die die Braut holen sollen, ebenfalls in ungerader Zahl, im Zuge nach dem Heim ihrer Eltern, wo sich die Anverwandten und Gäste bereits eingefunden haben und ein Festmahl hergerichtet ist. Dann wird vor Zeugen der Ehevertrag vereinbart, der alle erdenklichen Möglichkeiten berücksichtigt, zum Beispiel, daß der Ehemann diesen oder jenen Fehler begehen, die Frau ihre Freiheit wiedererlangen oder Witwe werden, die Eltern bei ihrem Tode Schulden hinterlassen sollten und anderes mehr. Nachdem von den Vertretern des Bräutigams[S. 371] die ausbedungenen Geschenke überbracht worden sind und man Gegengeschenke überreicht hat, gilt die Ehe für geschlossen. Man begrüßt die Neuvermählten mit den Worten: „Möge euer ferneres Leben ein glückliches sein!“ Hieran schließt sich ein großes Mahl an, bei dem der Hausherr die Gäste unermüdlich auffordert, tüchtig den Speisen zuzusprechen. Handelt es sich um ein Hochzeitsmahl eines vornehmen Hova, dann wird das Fleisch nicht in gewöhnlichen Töpfen gebraten, sondern nach der Sitte der Vorfahren in Blätter eingewickelt in Erdlöchern, die mit glühenden Steinen ausgelegt sind, geröstet. Bei diesem Mahle essen die jungen Eheleute das einzige Mal in ihrem Leben mit einfachen schwarzen Hornlöffeln aus demselben Napfe oder nach dem Brauch ihrer Vorfahren auf einem Bananenblatte Reissuppe, Honig und gerösteten Fisch oder ein Stück Fleisch. Nach Beendigung desselben spricht der Hausvater noch einen Glück- und Segenswunsch über sie aus, worauf sie im Zuge, für gewöhnlich in einem Tragsessel, unter Gesang und Jubel nach dem Hause des Bräutigams sich begeben. In dem Augenblick, wo die junge Frau das Haus verläßt, setzt sich ihre Großmutter mit gekreuzten Beinen vor dem Hauspfeiler nieder und verharrt ohne sich zu rühren so lange, bis sie annimmt, daß das junge Paar in seinem neuen Heim angelangt ist, oder wenigstens bis es ihren Blicken entschwunden ist, um, wie man sagt, dadurch die Beständigkeit in dem neuen Haushalt zu sichern. Bei der Ankunft geht der Zug dreimal um die kleine Umfriedigungsmauer herum, ebenso um das Haus und schließlich um den Herd. Diese Zeremonie soll die jungen Leute an die neue Wohnung fesseln und verhindern, daß sie sie verlassen. Sodann wird noch einmal in der bereits geschilderten Weise ein Mahl eingenommen. Bei diesem werden die Neuvermählten zum Zeichen ihres zukünftigen festen Zusammenlebens noch in einen großen Lamba aus Seide eingewickelt, dessen Enden man zusammenknotet; der junge Mann muß diesen Knoten dann lösen, womit er andeuten will, daß ihm das[S. 372] Recht zusteht, auch den Ehebund zu lösen. Dies ist der Schluß der Festlichkeit. — Bei der ärmeren Bevölkerung Madagaskars gestaltet sich die Hochzeitszeremonie viel einfacher, weist auch einige Verschiedenheiten von der soeben geschilderten auf. So wurde die junge Frau beim Verlassen des elterlichen Hauses in früheren Zeiten angespien oder mit dem Blut des Opfertieres besprengt, um sie zu segnen; jetzt nimmt man dazu Wasser. Bei den Hirtenstämmen setzt sich die Braut bei ihrer Hochzeit bescheiden in einen Winkel der Hütte und erwartet sehnsüchtig, daß der Bräutigam ihr den einen für diesen Zweck besonders zubereiteten Schenkel eines Huhnes darbiete. Wenn sie diesen und der Bräutigam den anderen verzehrt hat, gilt die Ehe für geschlossen.
Neben dieser richtigen Ehe kennen die Madagassen noch eine Zeitehe; dieselbe ist bei den Betsimasaraka, den Sakalaven und anderen Stämmen üblich. Hierbei wird eine bestimmte Zeit von etwa ein bis drei Jahren mit den Eltern der Braut vereinbart; nach Ablauf dieses Zeitraums hat letztere das Recht, von ihrem Manne fortzugehen. Will sie die Ehe verlängern, dann bedarf dies wieder derselben Förmlichkeiten wie das erste Mal. Wird inzwischen aber ein Kind geboren, dann ist der Ehemann verpflichtet, die übliche Vodiondry zu geben, und die Ehe gilt fortan als für die Dauer geschlossen. — Früher, und verschiedentlich auch noch bis in die neueste Zeit hinein, nahmen Madagassen, deren Mittel es erlaubten, sich mehrere Frauen, selbst bis zu fünfzig und mehr. — Obwohl die Ehe bei den Madagassen eigentlich eine rein äußerliche Einrichtung ist, kommt es hin und wieder doch vor, daß tiefergehende, edlere Neigungen die jungen Leute zusammenführen. Liebestränke, Talismane, Zauberformeln, um sich die Schöne geneigt zu machen oder um andererseits einen kühlen Ehemann wieder zu fesseln, sind sehr verbreitet.
Keuschheit ist unter den Madagassen, wie schon gesagt, eine seltene Tugend; dasselbe gilt von der ehelichen Treue. Denn es gibt in Wirklichkeit wenige Ehen, die dauernd sind. Nur bei einigen Stämmen gilt Ehebruch für eine schändliche Handlung. Die Antimorona verlangen, wenn sie von einer Reise zurückgekehrt sind, von ihren Frauen, daß sie in Gegenwart der Eltern und Freunde einen Eid ablegen, während der Abwesenheit der Männer die eheliche Treue bewahrt zu haben, und daß sie sich zur Erhärtung der Wahrheit einem Gottesurteil unterwerfen. Sie müssen nämlich durch einen Fluß schwimmen, in dem Krokodile hausen: kommen sie unversehrt hindurch, dann sind sie frei von Schuld; jetzt erst begrüßt sie der Ehemann und überreicht ihnen die mitgebrachten Geschenke.
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Die Madagassen halten den Tod nur dann für natürlich, wenn er infolge hohen Alters eintritt. In allen anderen Fällen schreiben sie den Verlust des Lebens Zaubereien zu. Um nicht Gefahr zu laufen, daß ein Zauberer Gegenstände von ihnen zu fassen bekomme und sie zu bösen Zwecken verwende, achten sie sehr darauf, daß sie nie abgeschnittene Haare oder Nägel oder sonst etwas von sich umherliegen lassen. Die Sakalavenkönige gingen in dieser ihrer Furcht sogar so weit, daß sie sich immer von einem Diener begleiten ließen, dessen alleinige Obliegenheit es war, die Erde aufzusammeln, auf die sie gespien hatten. — Neben der Zauberei als Krankheitsursache kennen die Madagassen aber noch eine Entstehung von Krankheit durch Besessensein von einem Teufel oder bösen Geiste (Bilo genannt). Hiergegen nehmen sie eine Art Austreibung vor (Abb. 418 u. 421). Der Kranke wird aus dem Dorfe nach einem freien Platz gebracht, auf dem eine kleine Plattform besonders hergerichtet wurde. Ihr zu Füßen haben auf der einen Seite alle Leute aus der Nachbarschaft Aufstellung genommen, auf der anderen stehen die Herden des Kranken oder seiner Familie. Bei der Ankunft des Leidenden erhebt sich Tanz und Gesang; besonders aber wird dem Rum zugesprochen, von dem auch der Kranke eine große Menge zu sich nehmen muß. Sodann führt man ihn mitten unter das Vieh; mit einem Stabe weist er auf zwei Tiere hin, von denen das eine sofort geopfert und von den Teilnehmern verzehrt wird, das andere gleichsam als Sündenbock von den Eltern des Patienten heilig gehalten und mit der größten Sorgfalt behandelt wird. Dann klettert der Kranke auf einer recht primitiven Hühnerstiege auf die Plattform, ein bei seinem Zustand manchmal recht gefährliches Unternehmen. Gelangt er ohne sonderliche Hilfe oben an, dann beweist dies, daß Gott ihm wohlwill und ihm Genesung geben wird; wenn nicht, gibt man von vornherein alle Hoffnung auf. Sobald er auf der die Plattform bedeckenden Matte sich niedergelegt hat, wartet ihm eine Frau, die in den letzten vierundzwanzig Stunden keusch gelebt haben muß, mit Speise, die sie für ihn besonders zubereitet hat, in erster Linie mit[S. 375] dem Fleisch des geopferten Ochsen, auf; ißt er davon oder tut er wenigstens so, dann erblickt man darin ein sicheres Anzeichen für baldige Genesung und ein langes Leben. Sodann beginnt von neuem ein mächtiger Lärm, Gesang und Geschrei. Der Kranke verbleibt oft viele Stunden auf seinem erhabenen Posten, während die anderen sich in Rum betrinken und sich an dem Fleisch des geschlachteten Tieres gütlich tun. Zuletzt wird er unter großem Gepränge in seine Hütte zurückgebracht, wo er in der Mehrzahl der Fälle dann doch stirbt. — Die Sakalaven reiben das Gesicht des Kranken mit Maniokpulver und gelbem Ocker ein (Abb. 419).
Die Begräbniszeremonien der Madagassen sind nicht überall dieselben. Manche Stämme legen ihre Begräbnisplätze tief im Walde, unter Felsen verborgen, oder in öden Gegenden an, also an Stellen, die dem menschlichen Auge und der menschlichen Berührung fern bleiben; andere wiederum begraben ihre Angehörigen am Wege oder auch mitten in ihrer Hütte. Die ersteren, die eine solche Scheu vor den Friedhöfen haben, sind vorwiegend die Küstenstämme, dem Ursprung nach zumeist Araber; die zweite Gruppe, die gern den letzten Aufenthaltsort vor Augen hat, der ihrer harrt, bilden die Zentralstämme, besonders die Merina und die Betsileo; man erkennt in dieser Sitte ganz deutlich den großen Einfluß der malaiischen Kultur. Stirbt ein Madagasse, besonders ein Merina, fern von seiner Heimat, dann geht sein letzter Wunsch dahin, daß seine Angehörigen möglichst bald seine Gebeine abholen, um sie in heimatlicher Erde, meistens in einer Familiengruft, beizusetzen. Ist die Leiche eines Verwandten nicht aufzufinden, dann pflegt die Familie sein Kopfkissen und seine Ruhematte statt seiner zu beerdigen oder zu seinem Andenken am Wege oder in der Nähe des Dorfes ein Grabmal zu errichten, das in einer Tafel oder einem Pfosten besteht (Abb. 422 und 424).
Die Leiche wird für gewöhnlich gewaschen, in einen Lamba gekleidet und in einen[S. 376] ausgehöhlten Baumstamm gelegt, den ein oft dachförmiger Deckel schließt. Dieser ist häufig mit Schnitzereien verziert; bei den Tanala trägt er, wenn es sich um einen regierenden Häuptling handelt, zwei halbmondförmig gekrümmte Hörner. Die östlichen Stämme stellen den Sarg entweder einfach auf die Erde oder auf ein Gerüst inmitten von Palisaden, die mit Blättern überdacht werden. Die Antankarana setzen ihn in natürlichen Grotten des Kalksteingebirges bei, die übrigen Inselbewohner begraben ihn in der Erde. Vielfach wird der Sarg noch mit einem Steinhaufen zugedeckt. Manche Sakalavenfamilien umgeben die Gräber mit Pfosten, auf denen sich Schnitzereien in Form von Menschen, Krokodilen, Vögeln und so weiter befinden. Die Merina graben gewöhnlich eine Totenkammer, über der sie für Adlige ein kleines Haus erbauen. Bei den Hova wird eine kleine rechtwinklige Mauer errichtet, in der man Steine anhäuft; die Winkel werden mit besonders großen Steinen versehen.
Verschiedene Madagassenstämme, im besonderen die Betsileo und Antaokara, befolgten früher die von Ozeanien her übernommene Sitte, ihre Toten nicht sogleich zu begraben, sondern über der Erde erst die Verwesung abzuwarten und Leichenwachen daneben zu stellen. Um sich diese Pflicht nach Möglichkeit erträglich zu gestalten, betranken sich die Angehörigen und Freunde tüchtig in Rum und verbrannten Unmassen von Weihrauch, Talg und sogar Leder. Bei den Betsileo (Abb. 420) begräbt man jetzt den Toten möglichst bald, nimmt aber nach einiger Zeit noch ein zweites Begräbnis mit seiner Nachbildung vor, die die Frauen, während die eigentliche Beisetzung stattfindet, in dem Hause anfertigen. Sie rollen eine Matte zusammen, umkleiden sie mit Lambas und legen diese Nachbildung des Toten in einen aus Bambusstangen geflochtenen Käfig, weswegen dieses ganze Erzeugnis Trano vorona, das heißt „Käfig mit Vögeln“, benannt wird. Dieser Trano vorona wird etwa zwei bis sieben Tage ausgestellt, das heißt so lange, als die Mittel ausreichen, um die zahlreich versammelten Trauergäste mit Rum und Fleisch reichlich zu versorgen, und sodann entweder neben der wirklichen Leiche mit vielem Lärm und Gesang begraben oder einfach so wie er ist ausgesetzt. Begräbnisse auf Madagaskar sind stets von Festlichkeiten begleitet. Früher wurden massenhaft Tiere geschlachtet; die Regierung hat aber, um einer zu starken Schmälerung der Herden vorzubeugen, diese Unsitte auf ein einziges Tier beschränkt. Die Köpfe der Ochsen mit den daran bleibenden Hörnern werden auf das Grab ihres verstorbenen Besitzers gelegt. Viel Rum wird getrunken und vielfach auch zahlreiche Gewehrsalven abgeschossen. Ein solches Fest dauert so lange, als Essen und Getränke eben vorhalten.
Bei den Sakalaven erfahren die Könige eine besondere Behandlung. Sie wickeln deren Leichen zunächst in Ochsenhäute und hängen sie tief im Busch an Bäumen auf. Nach einigen Monaten gehen die Häuptlinge hin und entnehmen dem verwesten Leichnam einige Reliquien, nämlich einen Halswirbel, einen Fingernagel und eine Haarlocke. Während der übrige Körper unter großen Feierlichkeiten begraben wird, bringt man die oben genannten Stücke nach einer heiligen Stätte, wo bereits ähnliche Reliquien von früher begrabenen Königen her aufbewahrt sind. Mit ihrem Besitz ist das Recht der königlichen Gewalt verbunden.
Trauernde Madagassen lassen sich das Haar zerzausen und tragen grobe und schmutzige Kleidung (Abbild. 423); sie dürfen sich auch nicht waschen, auch nicht in den Spiegel sehen, falls sie etwa einen solchen im Besitz haben sollten. Die Frauen müssen alle Gedanken an Gefallsucht aufgeben und ihre Umgebung durch ihren jämmerlichen Anblick geradezu zum Abscheu bringen. Die Farbe der Trauer ist, wie überall sonst im Osten, auch bei den Madagassen weiß.
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Das große Gebiet südlich von Abessinien und dem Golf von Aden bis herab zum Nyassasee, beziehungsweise dem Unterlauf des Zambesi bezeichnen wir als Ostafrika. Es bildet ein ebenso interessantes und vielleicht noch bunteres Völkergemisch als Südafrika. In seinen Teilen südlich vom Gleicher, ganz allgemein gesagt, herrschen die schon von Südafrika her bekannten Bantustämme vor, wenngleich hier bereits verschiedentlich vom Osthorn her andere Rassenelemente zugewandert sind, die Hamiten heißen. Zu letzteren gehören die Wahima, Kavirondo (oder Wagaia), Masai, Wandorobbo (Abb. 425) und Watatura (Abb. 428) im sogenannten Zwischenseengebiet. In Deutsch-Ostafrika sind die bekanntesten Bantustämme die Wanyamwesi, Waschambala, Wanguru, Wakami, Kirundi, Waganda, Wasoga, Wakikuyu, Wakamba, Wadigo, Wagogo, Wanyuturu, Wadschagga (Abb. 427), Wapare, Warangi, Wahehe, Wabena, Wapoto und andere mehr. Längs der ganzen Küste haben sich im Lauf der beiden letzten Jahrtausende zahlreiche Araber, Inder und Perser auf die altangesessene Bantuschicht aufgelagert und durch Vermischung mit ihr ein ziemlich homogenes neues Volk entstehen lassen, die Suaheli (Abb. 426). — In den nördlichen Gebieten Ostafrikas (Somalland) dagegen sitzen Stämme hamitischer und[S. 379] semitischer Zugehörigkeit, mit denen wir uns an anderer Stelle beschäftigen werden. Hier wollen wir uns darauf beschränken, nur zu erwähnen, daß sich ihr Typus vollständig von dem der Bantuneger unterscheidet. Wo beide Rassenelemente aufeinander gestoßen sind, wie in den nördlichen Teilen Ostafrikas, da haben natürlich vielfach mehr oder minder starke Kreuzungen zwischen ihnen stattgefunden. Ebenso sind die Bantu mehrfach Vermischungen mit den zwischen sie versprengten Zwergvölkern eingegangen.
Die übliche Wirtschaftsform der ostafrikanischen Bantu ist der Ackerbau, nebenbei auch vielfach die Viehzucht. Die mit hamitischen Elementen gekreuzten Bantu bevorzugen die letztere. Auch Jagd wird von den meisten ostafrikanischen Stämmen eifrig betrieben (Abb. 430).
Die Wohnungen der ostafrikanischen Bevölkerung sind teils Kegeldachhütten, teils Temben. Vor der Besitznahme des Landes suchten sich die übermütigen Sultane durch Palisadenfesten zu schützen (siehe die Kunstbeilage).
Dieselben Ursachen, die dazu beigetragen haben, daß man in Ostafrika so vielen und verschiedenen Mischtypen begegnet, wie Wanderungen, Aufnahme von Kriegsgefangenen in den Stamm, Sklavenraub, Ausübung der Exogamie, Zuflucht bei fremden Stämmen bei Eintritt einer Hungersnot und Dürre oder bei Bedrängung von seiten vorrückender Stämme und anderes mehr, haben auch dazu geführt, daß die verschiedenen alten Gebräuche und Sitten der einzelnen Völker sich ebenfalls miteinander vermischten, so daß es vielfach ein Ding der Unmöglichkeit ist, zu entscheiden, ob ein bestimmter Brauch bei dem einzelnen Stamm heimisch ist oder zu ihm eingeführt wurde. Im großen und ganzen können wir wohl sagen, daß, soweit die Bantu in Betracht kommen, bei den ostafrikanischen Stämmen[S. 380] die Sitten und Gebräuche so ziemlich dieselben sind, wie wir sie oben bereits in dem Abschnitt Südafrika schilderten. Daher beschränken wir uns an dieser Stelle auf die Wiedergabe einiger Eigenheiten.
Was die Kleidung anbetrifft, so begegnen wir bei den Jaluo und den südlichen Wagaia (Abbild. 429) noch vollständiger Nacktheit, und trotz oder vielmehr gerade wegen dieser Nacktheit stehen diese Stämme sittlich so hoch wie wohl selten Negerstämme. Man ersieht hieraus, daß[S. 381] die Bekleidung nichts mit der Moral zu tun hat. Manchmal wird ein kleiner Schamschutz (Abb. 431) oder ein Ziegenfell (auch um den Hals gelegt) getragen. Auf diese Häute werden seltsame Flecken- oder Streifenmuster eingebrannt, so daß sie von weitem wie Tiger- oder Leopardenfelle aussehen (Abb. 434). Bei den Wagaia erfordert es der gute Ton, daß ein verheirateter Mann, der bereits Vater ist, vor seiner Schwiegermutter niemals ohne Ziegenfell erscheinen darf, sonst würde sie ernstlich beleidigt sein und auf Zahlung einer Ziege bestehen. Ältere Frauen bekleiden sich mit einer Art Troddel oder Bindfadenschwanz, der von ihrem Taillengürtel herabhängt (Abb. 432). Berührt etwa ein Mann, und wäre es selbst der eigene Gatte, dieses Anhängsel, so muß er eine Ziege opfern, andernfalls würde dem Aberglauben zufolge die betreffende Frau schwer krank werden oder gar sterben. Der Taillengürtel besteht meistens aus Perlen oder Kaurimuscheln; er wird von allen afrikanischen Schönen getragen; selbst wenn noch andere Kleidung darüber gezogen wird, behält man ihn bei. Andere Stämme, besonders die Frauen bei ihnen, kleiden sich in gegerbte Häute, die entweder wie ein Schurz vorn und hinten herunterhängen oder den Unterkörper ganz umhüllen (siehe die Kunstbeilage), oder in selbst durch Klopfen angefertigte Rindenstoffe (Abb. 433). Diese werden togaähnlich um den Körper geschlungen und oft über der einen Schulter zusammengeknotet, so daß entweder beide Arme oder wenigstens einer frei bleibt (Abbild. 436). Eigenartig ist die Kleidung der Waheia, ein Rock aus feinen geschlitzten Fasern der Raphiapalmenblätter oder von Grashalmen, die auf einer Schnur aufgereiht sind. Dieser wird meistens wie ein Rock um die Hüften getragen oder auch nach Art eines Mäntelchens um den Hals gelegt. Die mehr südlich und nach der Küste zu wohnenden Bantustämme haben in manchen Gegenden die Kleidung vom Sansibartypus (Abb. 435) angenommen, die für gewöhnlich in einem Lendentuch aus weißem oder gemustertem Kattun, einer Hose und einer ärmellosen Jacke oder in einem langen Araberhemd, beziehungsweise einer Zusammenstellung beider Trachten (siehe die farbige Kunstbeilage) und einem Fes besteht. An der Küste kennt man auch bereits Anzüge nach europäischem Schnitt.[S. 382] Die Bantufrauen dieser Gegenden tragen vielfach lange baumwollene Gewänder, die den ganzen Körper einhüllen und unter den Armen befestigt werden, oder auch geradezu arabische Frauenkleider. — Die mohammedanischen Frauen der besseren Kreise gehen nach den Vorschriften des Islams verhüllt über die Straße (Abb. 437).
Der Pflege der Haare wird vielfach besondere Sorgfalt zuteil, auch von seiten der Männer (Abb. 438). Darüber trägt man zuweilen ganz sonderbaren Kopfputz (Abb. 440 und 443). In einzelnen Gegenden wird das Haar allerdings vollständig abrasiert oder nur in kleinen Büschelchen stehen gelassen. Die Masaimänner verlängern durch Einflechten von Rindenfasern ihr Kopfhaar und machen sodann starke Zöpfe daraus, von denen einer hinten weit herabhängt und noch mit Zeugstreifen fest umwickelt wird, der andere oder auch mehrere kürzere, neben- und übereinander angeordnet, nach vorn fallen (Abb. 441). Ihre Frauen rasieren sich häufig den Kopf (Abb. 442 und 446), so daß ihr Haar kaum länger als einen Zentimeter ausfällt. Ganz eigenartig ist die Haartracht der Wahima. Die Männer dieses Volkes lassen sich Streifen in Spiralform auf ihrem Schädel ausrasieren und ziehen die stehengebliebenen Haare nach oben aus. Die jungen Mädchen drehen sich unter Zuhilfenahme von Butter das Haar zu langen dicken Strähnen, die ihnen über Ohr und Augen herabfallen, und flechten als Schmuck noch Kaurimuscheln und Perlen in sie hinein.
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Zur Verschönerung des Körpers wird er mit Ziernarben bedeckt oder mit Farbe (Ocker oder weißem Ton) angemalt (Abb. 444), entweder ganz oder nur einzelne Teile, zum Beispiel bei den Waganda die Beine; auch werden die Zähne teilweise ausgeschlagen, sowie allerhand Gegenstände in die durchbohrten und manchmal mächtig erweiterten Ohrläppchen (Abb. 446, 447 und 449), Nasenflügel und Lippen (Abb. 445) eingefügt. Die Wagogo tragen wohl die größten Ohrpflöcke; die Wagaia stecken durch das Bohrloch des Ohres dünne Rindenholzstückchen, die mit eingebrannten Strich- und Kreismustern verziert sind und überdies an ihren Enden häufig noch ein Federbüschelchen aufweisen; die Masai hängen sich mächtige Spiralscheiben (Abb. 448) mittels kleiner Riemchen an die Ohren und so weiter. Das Drolligste an Lippenschmuck bieten jedoch die Sarafrauen, die sich die Lippen durchbohren und diese Öffnung durch stetes Einstecken immer größer werdender Holzscheiben derart erweitern, daß ihre Lippen, mit diesem Zierat ausgestattet, wie ein Schnabel vorstehen (Abb. 451) und sie am Essen, Trinken und Sprechen ziemlich behindern. An sonstigem Schmuck sind sehr beliebt und allenthalben in Ostafrika verbreitet eiserne oder messingene Ringe, die um Arme und Beine und um den Hals getragen werden, manchmal einer über dem anderen (Spiralen) bis zu ganz anständigem Gewicht (Abb. 453). Besonders die Masai sind große Verehrer solchen „gewichtigen“ Schmuckes (Abb. 450); ihre Krieger tragen sogar ganze Kragen aus Eisendraht.
Die Afrikaner sind alle auf ihre Art ziemlich musikalisch, doch ist ihre Musik eher als rhythmisch denn als harmonisch zu bezeichnen. Die großen Negerfürsten halten sich meistens eigene Musikbanden (Abb. 452). Das Lieblingsinstrument, das wohl bei keinem Stamme fehlen dürfte, ist die Trommel, ein aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehender Zylinder, der mit Fell, meistens Ziegenfell, oder Eidechsenhaut überzogen ist. Die Masai kennen kein weiteres Instrument. Die Trommel kommt in allen Größen vor und spielt bei jedweder Zeremonie eine große Rolle; sie erschallt im Kriege wie im Frieden, um Regen herbeizuführen, als Ruf zu den Waffen und als Werkzeug zum Signalisieren. Zur Feier fast jedes Ereignisses werden Tänze abgehalten (Abb. 454 und 455), bei denen die Trommel und Biertrinken die Hauptsache ausmachen. Die Suaheli verwenden die Trommel in Verbindung mit Opfern auch dazu, Teufel auszutreiben. Steht von einem Menschen fest, daß er von einem bösen Geiste besessen ist, so ordnet der Medizinmann an, daß ein Trommeln abgehalten und gewisse Tiere geopfert werden. Dieses Trommeln wird oft viele Tage lang ununterbrochen fortgesetzt, bis die bösen Geister gewichen sind.
Mehr den wirklichen Musikinstrumenten nähern sich die Blashörner aus Elefantenzähnen und Antilopenhörnern, ferner kleine Pfeifen aus Elfenbein, Holz oder Knochen, sowie Flöten (Abbild. 458) aus Rohr (auch Panflöten). Die Hörner werden allerdings häufiger zu Signalzwecken benutzt. Ein über ganz Afrika sehr verbreitetes Instrument ist ferner die Sansa, in ihrer einfachsten Form ein Brett, auf dem eine Anzahl elastischer Stäbe oder Plättchen aus Holz oder Eisen angebracht sind, die an dem einen Ende fest aufliegen, während sie an dem anderen frei in die Luft ragen. Man spielt die Sansa in der Weise, daß man die Plättchen mit dem Daumen herabdrückt und sie wieder zurückschnellen läßt. Die Banyoro besitzen ein eigenartiges Instrument, das an unsere Xylophone erinnert: an zwei Stangen sind Holzbalken von verschiedener Länge befestigt, die mit einem Stock geschlagen werden. Von den Saiteninstrumenten findet sich in Ostafrika die über ganz Afrika verbreitete Sese, die Negergitarre, sowie Harfe und Lyra, die aus Nordostafrika stammen.
Für Unterhaltungsspiele hat der Neger großes Interesse (Abb. 456 u. 457). Sehr[S. 386] beliebt, nicht nur unter den Negern Ostafrikas, sondern unter den Schwarzen des ganzen Erdteils überhaupt, ist das Nsolo (Abb. 463). Es wird entweder in achtundvierzig, in vier Parallelreihen angeordneten Löchern, die man auf dem Erdboden aushebt, oder auf einem Brett, das die erforderliche Anzahl Aushöhlungen besitzt, mit Steinchen, Scherben oder Samenkörnern gespielt.
Das Handwerk steht unter den ostafrikanischen Negern in ziemlicher Blüte. In erster Linie ist hier die Eisentechnik zu nennen, sowohl die Gewinnung und Verhüttung des Rohmaterials (Abb. 459) wie auch im besonderen die weitere Verarbeitung, und das Schmiedehandwerk, in dem es einzelne Stämme zu wirklich meisterhafter Fertigkeit gebracht haben. Die Öfen, in denen man das Erz verhüttet, sind über einen Meter hoch und aus Lehm gebaut (Abb. 439); sie werden abwechselnd mit einer Schicht Holzkohle und einer Lage Eisenerze beschickt; um den Ofen herum sind eine größere Anzahl Löcher angebracht, die zur Aufnahme der Düsen des Blasebalges, für gewöhnlich eines Ziegenfelles, dienen (Abb. 466). Auch in der Schnitzkunst (Herstellung von Milchgefäßen, Schnitzen von Löffeln und Köchern), Bearbeitung von Elfenbein (Abb. 460), Anfertigung von Booten und so weiter verraten die Neger ein ziemliches Geschick. In den Bereich der Frauentätigkeit fällt die Herstellung von Tongefäßen (Abb. 461) und Flechtarbeiten.
Abgesehen von denjenigen Stämmen, wo der Islam und das Christentum bereits Eingang gefunden haben, huldigen die Völker Ostafrikas animistischen Anschauungen, soweit man dies bei der Unnahbarkeit vieler Stämme in religiösen Dingen hat feststellen können. Verschiedentlich besteht aber auch der Glaube an einen Gott, ein allmächtiges Wesen oder einen ebenso beschaffenen Geist, dem manchmal noch andere Götter untertan sind. So verehren die Masai ein höchstes Wesen unter dem Namen ’Ng ai als den Schöpfer der Welt, der Erde und aller Dinge, die sie beherbergt; daneben kennen sie noch seine erstgeborene[S. 388] Tochter Barsai, die den Menschen Regen bringt, seinen ältesten Sohn Ol gurugur, der den Menschen durch Blitz und Donner den Unwillen des ’Ng ai verkündet, und so weiter. Die Wagaia glauben an zwei Götter; der eine, Awafra, gilt als der oberste der guten Geister, der andere, Ischischemi, als der oberste der Teufel; die Waganda beten eine höchste Macht namens Mukasa an, die der Gott des Nyanzasees ist, daneben Chiwuka und Nanda, die Kriegsgötter, und so weiter. Für gewöhnlich kümmert man sich um diese Gottheiten wenig; nur in Zeiten der Gefahr, sei es, daß es sich um ein Naturereignis, wie Dürre oder Hungersnot, oder um einen Einbruch des Feindes, das Auftreten einer epidemischen Krankheit oder irgendeine andere Heimsuchung handelt, nimmt man durch Bitten und Opfer seine Zuflucht zu ihnen.
Aus solchen Anlässen besteigen bei den Kikuyu die Priester einen heiligen Berg oder betreten einen geweihten Hain und opfern dort ein Schaf, dessen Fleisch gekocht und von ihnen verzehrt wird, während sie in das Fett Zweige eintauchen und damit die umstehenden Bäume bestreichen. Diese heiligen Haine (Kahinga) kommen im Kikuyulande häufig vor; sie heben sich hier von der sonst baumlosen Ebene auf Hügeln ab. Kein Mensch darf einen Baum in ihnen niederhauen; bei Nichtbeachtung dieses Gebotes würden Krankheit und Unglück die Folge sein. Wo sich kein Hain finden sollte, wird ein großer Baum als solcher heiliger Ort bestimmt. Die Masaifrauen beten morgens und abends zu ihrem Gott ’Ng ai; dabei heben sie die Hände, in denen sie Grasbüschel halten, zum Himmel empor. Bei jedem Gebet opfern sie auch ein wenig Milch, entweder drücken sie etwas aus ihrer eigenen Brust heraus oder gießen es aus einer Kalabasse auf die Erde. In schweren Krankheitsfällen wird von[S. 389] den Masai ein schwarzer Schafbock oder auch ein schwarzer Ochse geschlachtet und ein Teil seines Blutes als Opfer auf den Fußboden gegossen.
Die große Mehrzahl der Stämme bringt den Geistern, beziehungsweise den Ahnen Opfer dar, meistens an den Gräbern der letzteren oder den Wohnstätten der ersteren, die man in große oder auffallende Bäume, Steine und so weiter verlegt. Die Waganda glauben, daß die Geister ihrer verstorbenen Könige in die rahmenartigen Gestelle aus Perlenarbeit eingehen, die sie auf den Gräbern derselben aufbewahren (Abb. 464). Die späteren Könige statten den Grabstätten ihrer Vorgänger Besuche[S. 390] ab und bringen ihnen Opfer dar; in früheren Zeiten bestanden diese sogar in Hunderten von Menschen, die bei solchem Besuch zur Versöhnung der Geister ihr Leben lassen mußten. Viele Stämme bauen den Geistern kleine Miniaturhütten und stellen Speise und Opfergaben für sie hinein (Abb. 462). Die Wagaia setzen in der Nähe ihrer Hütten Steine in die Erde, opfern an ihnen den Geistern ihrer Vorfahren Ziegen und schütten deren Blut über sie, während sie das Fleisch verzehren. Die Waganda opferten früher viele Hunderte von Menschen dem Mayanja und Kitinda, den Geistern des Leoparden und Krokodils; den Opfern für die zuletzt genannte Gottheit pflegten sie die Ellenbogen- und Kniegelenke zu zerbrechen und sie dann entweder ins Wasser zu werfen oder am Ufer als Fraß für die Krokodile liegen zu lassen. — Die Suaheli und Waganda sind die wichtigsten Vertreter des Islams in Ostafrika (Abbild. 465).
Mit der Religion der ostafrikanischen Stämme ist allgemein der Aberglaube an Zauberei (Abbild. 467) so eng verknüpft, daß es vielfach schwer hält, beides voneinander zu trennen. Man glaubt allgemein, daß ein Mensch anderen Menschen durch Zauberei Unglück, Krankheit und selbst den Tod anhexen könne. Daher trägt wohl jeder Ostafrikaner zum mindesten ein Amulett oder einen Talisman bei sich, um entweder damit einen Zauber, der ihm zugefügt werden könnte, zurückzuweisen oder auch einen Vorteil für sich zu erwirken. Gehen zum Beispiel die Masaifrauen in die benachbarten Ortschaften zum Einkauf, so schützen sie sich vor Zauberei durch Bestreichen von Stirn und Backen mit Rindermist oder durch Anlegen einer Schnur um den Hals, auf der kleine gespaltene Stäbchen aufgereiht sind. Die Masaimänner tragen ein bestimmtes Amulett, um sich vor dem Zorn ihrer Ehefrauen zu schützen, wenn sie etwa auf Abwegen gegangen sein sollten. Ihre[S. 391] Weiber tragen ferner ein anderes Amulett um den Hals, um die Empfängnis zu fördern, oder eines um die Knöchel, um einer Erkältung der Beine zu entgehen. Die Lugware binden ein Zaubermittel an ihre Bogen, damit der Pfeil gerade gehe, die Madi legen ein Stückchen Holz um ihren Hals, um Erfolg in der Liebe zu haben, und so weiter. Als Amulette werden alle nur denkbaren Gegenstände verwendet, wie Holzstäbchen, Steine, Maiskolben, Tierzähne und -krallen, Schlangenhautstückchen, Säckchen, in die Pflanzenmehle, Holz, Samen oder — bei den Anhängern des Islams — Zettel mit frommen Koransprüchen eingenäht sind, und anderes mehr.
Allgemein verbreitet ist auch der Glaube an den bösen Blick, der Menschen und Vieh krank mache. Wer in dem Verdacht steht, mit dieser Gabe ausgestattet zu sein, darf sich bei den Masai ja nicht in der Nähe eines Krals sehen lassen, sondern muß zusammen mit seiner Familie in einem besonderen Kral abseits leben; sollte er es wagen, den fremden Kral zu betreten, so kann er gewärtig sein, totgeschlagen zu werden. Erkranken Menschen oder Tiere plötzlich, ohne daß man es sich durch natürliche Ursachen, wie eine im Kampfe empfangene Wunde, erklären kann, dann führt man dies auf Hexerei von seiten bösgesinnter Menschen zurück. Selbst die verhältnismäßig hochstehenden Suaheli glauben fest daran, ein Mensch könne umgebracht werden, wenn er über ein Horn schreite, das man ihm auf den Weg gelegt habe, oder wenn ein Zauberbann über ihn verhängt werde. Man behauptet auch,[S. 392] daß die Hexen für gewöhnlich Leichen essen und schon darum bestrebt seien, den Tod eines Menschen herbeizuführen.
Zum Herausholen von Geständnissen sind gewisse Torturen bei den Masai üblich. Man schnürt zunächst dem Angeklagten die Sehne eines Bogens so fest um seinen Vorderarm, daß sie ins Fleisch schneidet. Wird auf diese Weise nichts erreicht, so geht man zu einem Gottesurteil über. Zumeist erhält der Angeschuldigte aus einer Schale zu essen, die ein Gemisch von Mehl und Blut enthält. Bleibt er acht bis zehn Minuten nach dem Genusse noch am Leben, so wird er für unschuldig angesehen. Auch die Wagaia kennen solche Gottesurteile. Sie nehmen zum Beispiel einen kleinen Wassernapf und tun etwas Milch und Medizin hinein; kocht sein Inhalt über, dann beweist dies die Schuld des Angeklagten. Oder man läßt ihn trockenes Mehl hinunterschlucken; kann er das nicht, dann ist man von seiner Schuld überzeugt. Noch sonderbarer ist die Unschuldsprobe bei den Wasoga: Lehm und Grieß werden in einem Napf zusammengemischt, und der Angeschuldigte muß dreimal damit beworfen werden. Bleibt die Masse an ihm kleben, so zeigt dies an, daß er schuldig ist.
Auch an die Schwangerschaft knüpft sich mancherlei Aberglaube. Der Makonde fertigt seiner Frau, die zum ersten Male guter Hoffnung ist, unter Gesangbegleitung einer Verwandten ein Amulett aus Rindenstoff an, das mit Perlen bestickt und der angehenden Mutter um den Hals gehängt wird. Bei den Wandorobbo muß die Schwangere den Genuß von gefallenem oder durch Raubtiere geschlagenem Wild vermeiden, ebenso Honig, in dem sich tote Bienenlarven befinden. Sie darf auch nicht in die Nähe eines Chamäleons oder einer Schlange kommen, weil dieses alles der Frucht schaden könnte. Bei den Masai trennen sich die Ehegatten, sobald sich die junge Frau schwanger fühlt. Während dieser ganzen Zeit und auch noch ungefähr ein Jahr nach ihrer Niederkunft darf sie mit keinem Manne geschlechtlichen Verkehr haben; auch muß sie währenddessen allen Schmuck ablegen, angeblich um dadurch keinem Manne zu gefallen. Kurz vor der Geburt darf der Ehemann auf keine Reise mehr gehen, noch in den Krieg ziehen, sondern muß in der Nähe des Krals sich aufhalten; der Zutritt zur Hütte, wo die Schwangere sich aufhält, ist ihm jedoch verboten. Will eine Wandorobbofrau einem anderen Kral einen Besuch abstatten, so muß sie sich vorher ihre Stirn mit weißem Ton anstreichen, um sich kenntlich zu machen, außerdem auf dem Wege dorthin sich von einem kleinen Mädchen an der Hand führen lassen; bei Nichtbefolgung dieser Vorschrift würde sie die Gefahr einer Fehlgeburt laufen.
Die Geburt erfolgt meistens unter Beihilfe einer weisen Frau in der Hütte; bei einzelnen Stämmen, zum Beispiel den Waganda, darf die Frau dagegen nur im Freien niederkommen. Der Ehemann muß während dieser Zeit die Hütte verlassen und darf erst erscheinen, wenn er gerufen wird. Will die Geburt nicht recht vonstatten gehen, so erhält der Ehegatte den Auftrag, mit einer Frau oder einem Mädchen den Beischlaf zu vollziehen; dies hilft dann. Ist das Kind geboren, so pflegt der Vater es sogleich zu begrüßen und seine Freude auszudrücken. Bei den Makonde sieht er es erst, wenn es entwöhnt ist; ebenso darf bei den Wagaia der Ehemann vor diesem Zeitpunkt in der Hütte weder schlafen noch essen. Bei den Waheia bespeit der Vater das Kind bei seinem ersten Anblick mit einer heilkräftigen Medizin, die er im Munde gekaut hat, und bewirft es auch damit. Ebenso bespucken die Masai ihr Neugeborenes, weil dies ihm Glück bringen soll. Hat ein Masaimann mit einer seiner Frauen Verkehr gehabt, dann darf er am nächsten Tage keinen Säugling anfassen, weil dieser sonst dadurch krank werden würde. Die Geburt eines Kindes wird wohl von allen Stämmen durch Tanz[S. 395] und Gesang sowie durch einen Festschmaus gefeiert.
Die Behandlung von Zwillingen ist eine ganz verschiedene. Viele Stämme empfinden solche Geburt als ein Unglück oder wenigstens als ein Hindernis bei der Arbeit der Frau, die dann zwei Würmer mit sich schleppen müßte, und töten daher entweder beide oder einen der Zwillinge. Im letzteren Falle legt die Wanjamwesimutter nach der Fortnahme des einen Zwillings eine mit Fell umwickelte Kalabasse neben das überlebende Kind und reicht dieser Puppe ebenso wie dem ihr verbliebenen Kinde die Nahrung. In der Landschaft Mkulwe fürchtet man, daß infolge der Geburt von Zwillingen allen Verwandten der Bauch anschwellen werde, und wendet daher sofort Vorbeugungsmittel an. Ein Zauberdoktor mischt eine Medizin unter die Speise und läßt alle Angehörigen davon essen. Sodann kommt ein entfernt wohnender Verwandter und bestreicht seine Stirn mit der gleichen Medizin, die einige Zeit vor der Hütte der Zwillingsmutter in einem irdenen Topfe zwischen drei Pflöcken gestanden haben muß. Andere Stämme pflegen sich über Zwillinge zwar auch nicht zu freuen, lassen aber doch beide am Leben. Die Yao kleiden sie dann ganz gleich, weil eine Verletzung dieser Sitte den Tod des einen zur Folge haben würde. In Kiziba erhalten sie zwei gleiche viereckige Amulette um den Hals gehängt; stirbt einer der Zwillinge, dann geht sein Amulett auf den anderen über, der es sich zu seinem eigenen umhängen und fortan aus zwei Flaschen trinken, aus zwei Pfeifen rauchen muß und anderes mehr. Bei noch anderen Stämmen werden Zwillinge aber mit uneingeschränkter Freude begrüßt und ihre Geburt ganz besonders gefeiert; es geht dabei noch festlicher zu als bei der Geburt nur eines Kindes. — Auch mißgestaltete Kinder und solche, die in abnormer Stellung (zum Beispiel mit den Füßen voraus) zur Welt gekommen sind, ferner Albinos fallen verschiedentlich dem Tode anheim. Bei den Kikuyu mußte die[S. 396] Mutter noch an demselben Tage ihr Kindchen in den Wald tragen, es dort in einer seichten Grube mit Holzasche bedecken und den Hyänen zum Fraß überlassen. In Useguha dreht die Geburtshelferin den verkrüppelten Kindern den Hals um und trägt die Leiche in den Wald, wo sie einen Kochtopf über sie stülpt. Von einzelnen Stämmen (Usambara, Wakilindi, Suaheli und so weiter) werden auch Kinder, die in unregelmäßiger Weise zahnen, aus dem Wege geräumt.
Kommt bei den Suaheli ein Kind mit den Füßen zuerst zur Welt, so wird der Mwalimu (der mohammedanische Priester) geholt, um Allah zu bitten, daß er das unheilbringende Kind sterben lasse. Bleibt es trotz aller Gebete am Leben, so glaubt man, daß Vater oder Mutter sterben müssen. Wenn dies aber wider Erwarten auch nicht eintrifft, so wird es eben als Schicksalsfügung hingenommen. Der Mwalimu fertigt auch allerlei Zaubermittel gegen etwa dem Kinde drohendes Unheil an, eine mit Koransprüchen beschriebene kleine Rolle oder eine Kette aus bunten Perlen, Fisch- und Vogelknochen, Holzstückchen, Pflanzenkernen und so weiter, die abwechselnd die Mutter als Diadem auf dem Kopfe und das Kind um den Hals gehängt trägt.
Die Namengebung erfolgt bei den meisten ostafrikanischen Stämmen schon am Tage der Geburt, seltener erst später, zum Beispiel wenn das Kind Zähne bekommen hat. Dieser ursprüngliche Name wird häufig später gegen einen anderen vertauscht. Die Namen, die die Kinder erhalten, sind manchmal recht drollig. So zum Beispiel hießen die eingeborenen Träger Weules „Zweipfennig“, „der lange Mann mit dem flachen Käppchen“, „Berg“, „Boot“, „das Dampfboot“, „Ratte“, „Käfer“, „Nashorn“ und so weiter; allerdings waren dies Namen, die die Leute erst mit Eintritt der Pubertät bei der Beschneidung erhalten hatten.
Vielfach wird die Brustdrüse durch bestimmte[S. 398] Verunstaltungen zu einem Nachlassen und schließlich zum Aufhören der Milchabsonderung gebracht. Die Frauen pflegen um den Oberkörper eine aus Baumbast gedrehte dicke Schnur zu tragen, die, vorn über die herabhängenden Brüste gelegt, diese fest abschnürt und so die Blutzufuhr zum Drüsengewebe verhindert. Bei den Masaiweibern üben gewundene schwere Drahtgeflechte, die auf die Brüste gedrückt werden, eine ähnliche Wirkung auf diese aus.
Die Mutter nährt ihre Kinder für gewöhnlich wohl selbst, aber bereits nach wenigen Tagen pflegt sie als Beikost noch Milch oder Mehlbrei zu verabreichen, die sie ihnen, da sie noch nicht selbst schlucken können, in den Mund stopft (Abb. 468). Da die Beschäftigung der Negerfrauen meistens im Freien stattfindet, so nehmen sie ihre Kleinen stets mit sich aufs Feld. Sie setzen sie auf den Rücken, ziehen ihr oberes baumwollenes Gewand fest um sich und das Kindchen und knoten die Enden über der Brust. In diesem engen Behältnis, flach wie ein Frosch an den Rücken der Mutter gedrückt, mit seitwärts gewandtem Gesicht, müssen diese armen Würmer stundenlang in der Tropenhitze ausharren, während die Mutter hackt und jätet; sie machen, unter anderem beim Maisstampfen, in dieser Lage alle Bewegungen der Mutter, wie auf einem schlingernden Schiffe, mit, natürlich auch beim Tanz, zu dem das Kind gleich vom ersten Tage an mitgebracht wird. Wiegt die Mutter sich im Reigentanz, so macht das Kindchen auf dem Rücken alle Bewegungen mit und lernt ganz von selbst frühzeitig das Gleichgewicht halten, so daß es, sobald es auf eigenen Füßen zu stehen vermag, auch das Tanzen sehr bald erlernt. Viele Stämme, die nackend einhergehen, tragen eine „Felltasche für alles“ bei sich, und in dieser wird das Kind ebenfalls auf dem Rücken der Weiber mitgeschleppt.
Das Leben der Negerkinder Ostafrikas spielt sich meistens recht sorglos ab, denn auch hier kennt man eine Reihe Spiele, an denen die Kleinen sich wie bei uns vergnügen. Die Jungen rotten sich zu kleinen Trupps im Dorfe zusammen und treiben ihr Wesen: sie bauen Hütten, formen Sandkuchen, nehmen Schießübungen mit kleinen Bogen und Pfeilen vor, machen Lärm auf der Trommel, lassen Kreisel tanzen und anderes mehr, während die Mädchen sich aus Lumpenbündeln oder Ton höchst einfache Puppen zurechtmachen, die sie nach dem Vorbilde ihrer Mütter besorgen. Bei vereinzelten Stämmen tritt allerdings frühzeitig der Ernst des Lebens an die Kinder heran; sie müssen den Eltern beim Hüten des Kleinviehs, mit Wasserholen und durch sonstige Hilfeleistung an die Hand gehen.
[S. 400]
Wenn die Kinder das Reifealter erreichen, müssen sich sowohl die Knaben wie die Mädchen für gewöhnlich besonderen Zeremonien unterziehen. Diese schwanken bei den verschiedenen Stämmen oft sehr beträchtlich; zumeist sind sie zu obszön, als daß man sie schildern könnte. Zu diesem Zeitpunkte werden den angehenden Jünglingen und Jungfrauen vielfach auch die Stammesabzeichen durch Schröpfen oder Tatauieren gewisser Muster aufgetragen, bei einzelnen Stämmen, wie den Masai, Wadschagga,[S. 402] Kikuyu, Wakamba und Suaheli, wird an ihnen auch die Beschneidung vorgenommen. Der Eintritt der Reife bedeutet bei wohl allen ostafrikanischen Völkern ein überaus wichtiges Ereignis im Leben beider Geschlechter; deshalb werden damit große Festlichkeiten verbunden, Tänze abgehalten (Abb. 470 und 471), Essen veranstaltet und viel Bier getrunken. Bei den Masai setzen die Zeremonien bereits wochenlang vor dem eigentlichen Festakt ein. Man sieht dann die Knaben mit möglichst viel Schmuck behängt im eigenen und in den Nachbarkralen täglich tanzen und singen. Zu diesen Vorführungen finden sich auch viele Frauen ein, die Mütter der Knaben mit Begleiterinnen, sodann aber auch Frauen, die gern Kinder haben möchten. Diese lassen sich von den Knaben mit frischem Rindermist bewerfen und hoffen dadurch fruchtbar zu werden. Am Tage vor der Beschneidung wird den angehenden Jünglingen der Kopf rasiert und ihnen an Stelle des Fellumhangs, den sie bis dahin trugen, ein von der Mutter angefertigter, bis auf die Füße reichender Lederschurz verabreicht. Die Zeremonie findet am frühen Morgen statt. Kein weibliches Wesen darf aber derselben beiwohnen; dagegen nehmen die Krieger an ihr teil: sie bespötteln die Knaben, die nicht standhaft sind und nicht lautlos die Schmerzen ertragen, legen ihnen sogar Spottnamen bei und strafen sie und unter Umständen selbst ihre Eltern mit Verachtung, letztere auch mit Schlägen dafür, daß sie ihre Söhne nicht zu der nötigen Standhaftigkeit und Abhärtung erzogen haben. Nach Beendigung dieser Handlung versammeln sich alle männlichen Teilnehmer und werden von den Eltern in ausgiebigem Maße mit Fleisch und Honigbier bewirtet. Es geht dabei immer recht lustig zu; man scherzt und lacht und renommiert. Die Krieger brüsten sich mit ihren Heldentaten, und die Väter der Beschnittenen malen sich bereits in Gedanken die künftigen Taten ihrer Sprößlinge und den Gewinn aus, den sie ihnen von ihren Kriegszügen heimbringen werden. Den Abschluß des Festes bildet ein Tanz. — Von der Beschneidung der Mädchen, die in ziemlich dem gleichen Alter wie die der Knaben (vierzehn bis sechzehn Jahre) stattfindet und in Abtrennung eines Teiles des Kitzlers besteht, wird von den Masai nicht so viel Aufsehens gemacht. Dagegen gestaltet sich die Beschneidung der Mädchen bei[S. 403] den eigentlichen Bantu zu einer äußerst wichtigen Angelegenheit. Die Mädchen erhalten hier längere Zeit vor der eigentlichen Einweihung von einer Ehefrau Unterricht, der sie über das Geschlechtsleben sowie über die Sitten und Umgangsformen gegenüber den Familien- und Stammesmitgliedern aufklärt. Die betreffende Lehrerin bleibt auch für die Zukunft ihre Beraterin. Der Unterricht, der in einer besonderen Hütte erteilt wird, zerfällt manchmal in verschiedene Stufen und nimmt Monate in Anspruch. Währenddessen dürfen die jungen Mädchen sich von keinem männlichen Wesen erblicken lassen und müssen sich, falls sie die Hütte einmal verlassen, mit einem Kopftuch, das sie zu diesem Zwecke tragen, bedecken. In einzelnen Gegenden fertigen die Lehrerinnen auch zum Anschauungsunterricht Lehmfiguren an, die auf das Eheleben Bezug nehmen. Diese Belehrungen finden ihren Abschluß in einem großen Fest, bei dem die Frauen, die den Unterricht erteilten, von ihren Schülerinnen und deren Eltern reichlich beschenkt werden. Dabei werden unter Trommelbegleitung und Händeklatschen Aufführungen und Tänze veranstaltet, die oft einen sehr lasziven Charakter (Bauchtänze) annehmen; an ihnen beteiligen sich auch die Novizinnen, um darzutun, daß sie sich auf solche Künste (wie obszöne Gesäßbewegungen und so weiter) auch verstehen. Bei den Makonde werden die Mädchen auch noch durch schreckenerregende Masken, darunter solche, die den Teufel mit Hörnern und Bart vorstellen, geängstigt, um ihren Mut zu erproben. Als Zeichen der Reife werden sie von ihren Lehrerinnen mit Eigelb, das mit Rizinusöl vermischt ist, auf Stirn, Brust und Rücken angemalt. Bei den Bakulia ist für die Mädchen, die der Beschneidung harren, ein mit zahlreichen kleinen weißen und roten Perlen bestickter Lederkranz charakteristisch, den sie wie einen Heiligenschein um den Kopf tragen. Außerdem gehören zu ihrer Ausrüstung während dieser Zeit eine Kürbisflasche und eine Rute, um die Fliegen von ihrer Wunde abzuwehren (Abb. 472). Sowie die Operation vollendet ist, legen sie sich ein großes, sorgfältig gegerbtes und mit rotem Ocker gefärbtes Fell an. Von jetzt an dürfen die jungen Mädchen[S. 404] offiziell Geschlechtsverkehr haben, und sie machen auch von dieser Erlaubnis ausgiebigen Gebrauch. Mit dem ersten Unterricht pflegen die Pubertätsgebräuche nicht immer abgeschlossen zu sein, sondern meistens folgen jenem noch ein zweiter und ein dritter, die unter Umständen, wenn die Mädchen etwa inzwischen geheiratet haben, in ihrer Hütte in Gegenwart des Ehemanns abgehalten werden.
Die Ansichten der ostafrikanischen Völker über das moralische Leben der jungen Leute sind sehr geteilt; während man auf der einen Seite die Jungfräulichkeit hoch einschätzt und einen vorehelichen Geschlechtsgenuß mißbilligt, legt man auf der anderen wieder auf Reinheit vor der Ehe kein weiteres Gewicht. Zur letzten Gruppe gehören unter anderen die Masai. Hier haben sich die jungen Krieger (Abb. 473) eines Bezirkes zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen, die einen bestimmten Kral bewohnt; die Verheirateten leben in einem besonderen Kral (Abb. 469). Ein Kriegerkral beherbergt etwa fünfzig bis hundert junge Leute und fast die doppelte Anzahl junger Mädchen, die, abgesehen von den notwendigen Hausarbeiten, wie im besonderen dem Melken des Viehs, in erster Linie zur Unterhaltung jener dienen. Jeder Krieger besitzt ein Lieblingsmädchen, das beständig bei ihm wohnt und, solange er sich im Kral aufhält, ihm auch Treue halten soll. Wenn er aber abwesend ist, sucht sich das junge Mädchen einen anderen Liebhaber. Diesem ihrem Wunsche gibt sie beim Tanz dadurch Ausdruck, daß sie am Schluß desselben auf einen ihr gefallenden Krieger in kurzen Hochsprüngen zueilt. Damit will sie andeuten, daß sie ihn abends zum Schäferstündchen erwartet. Hüpft er in gleicher Weise in die Höhe, dann liegt darin eine zusagende Antwort.
Als Grund, warum die jungen Männer die Mädchen nicht heiraten, geben sie an, daß sie im Fall eines Krieges leichteren Herzens auszögen, wenn sie nicht gebunden seien durch die Sorge um Weib und Kind. In Friedenszeiten vergnügen sich die Krieger durch Gelage, Spiel und Tanz.
[S. 405]
Erst wenn sie aus dem Kriegerstande austreten, das ist um das achtundzwanzigste bis dreißigste Jahr herum, denken die Masaijünglinge an die Ehe. Ist der Bräutigam mit seiner Auserwählten einig, dann begibt sich sein Vater zu ihrer Mutter und wirbt in seines Sohnes Namen. Ist ihm die Zusage erteilt worden, dann wird dem jungen Mädchen der Kopf mit Fett eingerieben zum Zeichen, daß es versprochen ist. Die gute Sitte erfordert es, daß der Bräutigam während der ganzen Verlobungszeit mit seiner Braut nicht in Berührung kommt. Er lebt als Krieger in seinem Kral, sie mit ihren Freundinnen in einem anderen. Kommt es trotzdem zu einer Schwangerschaft zwischen den jungen Leuten, so sieht man dies als Verstoß gegen die guten Sitten an, und die Verlobung wird aufgehoben. Vor der Hochzeit ist der Rest des Heiratsgutes zu entrichten, das bereits bei der Verlobung angezahlt wurde und in Vieh sowie in einigen Töpfen Honig besteht. Besondere Schönheit des Mädchens sowie vornehmer Stand und Einfluß der Eltern werden höher bewertet. Die Hochzeitsfeier besteht in einem Festessen, Trinkgelage und Tanz. Beim Festschmaus sitzen alle Anwesenden in einem Kreise zusammen, auf der einen Seite der Bräutigam mit den Männern, auf der anderen die Braut mit den Weibern. Nach dem Mahle zieht sich das junge Ehepaar in seine neu erbaute Hütte zurück; hier setzt die Mutter des Mannes der jungen Frau ein kleines Kind auf den Schoß, die ihm sodann Milch zu trinken gibt. Hierdurch soll ein günstiger Einfluß auf die Fruchtbarkeit der jungen Ehe ausgeübt werden. Es ist bei den Masai allgemein üblich, daß der junge Ehemann einem oder zweien seiner alten Kampfgenossen das Jus primae noctis, das heißt die Berechtigung des ersten Beilagers mit seiner Frau, gewährt, sofern sie es fordern; eine Abweisung ist nicht statthaft. — Bei den Wahima läßt sich ein[S. 406] verlobtes Mädchen eine etwa handbreite Stelle ausrasieren, die quer über den Kopf von einem Ende zum anderen verläuft, an seinem Hochzeitstage aber den Kopf ganz kahl rasieren und vergräbt die abrasierten Haare in der Hütte; später läßt es sich die Haare für immer wieder lang wachsen. Als Hochzeitsgeschenk erhält die junge Frau von ihrem Gatten zahlreiche dünne, gedrehte, eiserne Ringe um die Knöchel, die bis zur Wade hinaufreichen.
Werbung und Heirat sind bei den ostafrikanischen Stämmen im großen und ganzen dieselben. Meistens hält der junge Mann bei seinem zukünftigen Schwiegervater um dessen Tochter an, gelegentlich machen aber auch die beiderseitigen Väter die Sache untereinander aus. Bei den Waganda geht das Mädchen auf die Freite; wenn die jungen Leute einig geworden sind, führt die Verlobte ihren Auserwählten zu ihrer Tante, diese ihn wieder zu dem Bruder des Mädchens und dieser endlich zum Vater. Der Bruder setzt aber den Brautpreis fest. Die Wagandamädchen dürfen sogar Reisen unternehmen, um sich einen Mann zu suchen; zum Zeichen dessen tragen sie eine Unmasse Armringe. Bei den Latuka und Wasoga geht das junge Paar, wenn es einig geworden ist, einfach durch; Vater oder Bruder kommen dann und fordern das Hochzeitsgeschenk ein. Hat bei den ersteren der Schwiegersohn nicht so viel, um zu bezahlen, dann hat der Vater der jungen Frau das Anrecht auf das erste Kind. — Der Preis für heiratsfähige Mädchen schwankt sehr; bei den Lenda geht er bis zu sechzehn Kühen und hundert Ziegen. Für gewöhnlich erhält der Vater das ausbedungene Hochzeitsgeschenk oder, falls er bereits verstorben sein sollte, der Bruder des[S. 408] Mädchens. Bei den Wasukuma muß der junge Ehemann für seinen Schwiegervater die ersten zwei Jahre seiner Ehe arbeiten, erst dann darf er mit der Frau in sein Dorf zurückkehren. — Einige Stämme verloben ihre Töchter bereits im Alter von etwa acht Jahren. Von diesem Zeitpunkt an macht der zukünftige Schwiegersohn von Zeit zu Zeit dem Vater Geschenke. Haben sich, wenn das Mädchen heiratsfähig geworden ist, genügend Geschenke angesammelt, ungefähr vierzig Hacken, zwanzig Ziegen und eine Kuh, dann findet die Hochzeit statt. Der Ehemann hat dann aber auch den ersten Anspruch auf alle Schwestern seiner Frau, sowie sie heiratsfähig geworden sind. Stirbt ihm die Frau ohne Kind, so muß der Vater den Brautpreis zurückerstatten. Besonders bei den Wagaia geht der Ehe eine lange Verlobungszeit voraus, denn die jungen Mädchen werden hier schon mit sechs bis sieben Jahren verlobt, aber erst nach eingetretener Reife ihrem Gatten überlassen. Dieser holt sie dann aus dem elterlichen Hause ab; der Schwiegervater schlachtet einen Ochsen und sorgt für das erforderliche Hochzeitsbier. Großen Wert legt der junge Ehemann darauf, daß seine junge Frau noch unberührt ist. Ist das nicht der Fall, dann schickt er sie mit großem Schimpf zu ihren Eltern zurück; der Schwiegervater ist daraufhin verpflichtet, ihm nicht nur den ganzen Brautpreis zurückzuzahlen, sondern wegen der Schande, die die ungeratene Tochter über den Gatten brachte, noch eine Entschädigungsumme zuzuzahlen.
Vielweiberei ist unter den ostafrikanischen Stämmen sehr verbreitet. Der Masai[S. 409] pflegt sogar außer seinen Ehefrauen sich noch Nebenfrauen zu halten, je nach seinen Vermögensverhältnissen. Die zuerst angeheiratete Gattin ist indessen die Hauptgattin und steht über den späteren Frauen. — Zwischen Schwiegereltern und Schwiegersohn bestehen unzählige Gepflogenheiten. Bei den Lendu darf der Schwiegervater seinen Schwiegersohn nicht besuchen, bei den Batoro ihn nicht einmal mehr sehen. Der Unyoroschwiegersohn hat niederzuknien, wenn er seiner Schwiegermutter begegnet, und anderes mehr.
Eheliche Treue ist bei manchen Stämmen, vor allen bei den Masai, ein unbekannter Begriff, und zwar sowohl für den Mann wie für die Frau. Läuft eine Frau ihrem Manne weg und kehrt sie zu ihren Eltern zurück, so haben diese, falls sie ihre Tochter wieder ins Haus nehmen, den Brautpreis zurückzuerstatten. Es kommt aber auch vor, daß der Mann sich seine Frau wieder holt, dann nimmt er aber für gewöhnlich ein kleines Geschenk mit.
Ehebruch pflegt bei den Bantu mit einer Geldstrafe an den beleidigten Ehemann bestraft zu werden. Diese besteht manchmal nur in einer Ziege, manchmal auch wieder in der Höhe des ursprünglichen Preises der Frau. Die Masai und Nandi betrachten Ehebruch als kein schweres Vergehen, belegen ihn aber ab und zu doch auch mit einer Geldstrafe. Manche Stämme indessen ahnden solches Vergehen schwer und, wenn das Mädchen unverheiratet war, sogar mit dem Tode. Die Manyema, sowohl Mann wie Frau, führen wirklichen Kampf mit der Frau oder dem Manne, mit denen ihr Lebensgefährte Ehebruch beging. Kommt einer dabei ums Leben, dann müssen die Verwandten die Fehde aufnehmen.
Im allgemeinen gelten bei den Bantu Mord, Diebstahl,[S. 410] Ehebruch und Hexerei für die einzigen strafbaren Übertretungen. Mord, an einem Manne aus einem anderen Stamme begangen, wird für gewöhnlich nicht für ein Vergehen angesehen, oft auch der Mord an einer Ehefrau nicht weiter beachtet. Die Banyoro und Wahima bestrafen einen Mord mit dem Tode, die Masai nur mit einer Geldstrafe in schwankender Höhe. Die Wasukuma haben hundert Ziegen zu zahlen, wenn sie einen Mann, und halb so viel, wenn sie eine Frau ermordet haben. Das Todesurteil wird für gewöhnlich durch den Spieß vollstreckt, außer wenn es sich um einen Zauberer handelt; dieser wird oft totgeprügelt. — Die Nandi bestrafen Viehdiebstahl ebenfalls mit dem Tode, die Kamasia mit einer schweren Geldstrafe, nur wenn der Dieb sie zu bezahlen nicht imstande ist, ebenfalls mit dem Tode, die Masai auch nur mit einer Geldstrafe, die aber dreimal so hoch ausfällt, als der gestohlene Gegenstand Wert hat. In Uganda wurde früher Diebstahl nicht geahndet, außer etwa, wenn es sich um das Eigentum eines Häuptlings handelte. Bei den Lendu bleibt es einem Bestohlenen überlassen, den Dieb ausfindig zu machen und selbst zu bestrafen. Auf Hexerei steht fast immer die Todesstrafe.
[S. 412]
Nach eingetretenem Tode ist es üblich, den Körper zu waschen, was für gewöhnlich die Ehefrauen des Verstorbenen oder die sonstigen Weiber des Haushalts besorgen. Die Suaheli legen die Leiche auf eine Bettstelle inmitten der Hütte und graben in den Boden darunter ein Loch, in welches das zum Waschen verwendete Wasser abläuft. Darauf wird die Leiche in ein großes Tuch aus Glanzkattun (Bafuta) gehüllt und auf einer Bahre zum Grabe getragen; hier begräbt man sie nach mohammedanischem Ritus. In Uganda berief früher beim Tode eines Kabaka oder Fürsten der erste Minister die Prinzen und fragte ihren Vormund, wer sich wohl von ihnen am besten zur Nachfolge eignen dürfte, worauf dieser einen berührte. Dieser wurde nun Kabaka und erhielt eine Rolle Rindentuch, in das er seinen verstorbenen Vater einzuhüllen hatte. Jetzt wählt der Rat der Eingeborenen, der Lukiku, ihren neuen Fürsten. Ein gewöhnlicher Untertan wurde einfach begraben, die Leiche eines Fürsten aber brachte man an einen besonderen Platz und legte sie hier auf eine erhöhte Plattform. Dann wurde der Unterkiefer abgeschnitten, in eine Holzschüssel getan und, mit Kaurimuscheln verziert, in einer eigenen, dicht bei dem Grabe erbauten Hütte untergebracht. Um die Leiche wurde hierauf ein großes Grabmal oder eine Hütte erbaut und deren Tür für immer verschlossen. Früher pflegte man noch Menschenopfer zu Hunderten darzubringen, deren Überreste vor der Tür der Hütte den Geiern zum Fraß überlassen wurden. Die ganze Stätte wurde schließlich mit einer Umfriedigung eingeschlossen, innerhalb deren noch Hütten für die Wächter und die Frauen des toten Königs errichtet wurden; ihre Pflicht war[S. 413] es, das Grab bis zu ihrem Lebensende zu bewachen; sodann traten andere Personen an ihre Stelle.
Die Banyoro entsetzen sich davor, in der Nacht zu sterben, da zu dieser Zeit die Geister sie holen könnten. Um dieser Gefahr vorzubeugen, soll es vorkommen, daß man sehr kranke Menschen manchmal lebendigen Leibes schon am Tage begräbt, sofern zu befürchten steht, daß es nachts doch mit ihnen zu Ende gehen werde. Die Leiche wird in Rindentuch oder bei großer Armut in Gras eingewickelt und in der Nähe der Hütte begraben. Einen Häuptling pflegt man mit an den Körper herangezogenen Beinen und unter den Kopf gelegten Händen in die Haut einer frisch geschlachteten Kuh zu nähen, ihn auf die linke Seite zu legen und so ins Grab zu senken, worauf man Rindenstoff hineinwirft und das Grab zuschaufelt. Der Mukuma oder König wurde in derselben Weise gewickelt und dann mit neun lebenden Männern in ein großes Grab gelegt; dieses aber wurde nicht zugeschüttet, sondern über seiner Öffnung eine Haut fest mit Pflöcken befestigt und eine Hütte oder ein Grabmal darüber errichtet. In dieser Hütte mußten der Oberbefehlshaber und die Diener des Königs das Grab bewachen. — Die Masai, Suk und Turkena erheben bei eingetretenem Todesfall ein Wehklagen und tragen die Leiche darauf in den Busch, wo sie sie einfach mit dem Gesicht gegen Westen, damit sie den Neumond sehe, hinlegen, zur Freude der Geier und Hyänen. Die Nandi, Kikuyu und Lumbwa begraben ebenfalls ihre Häuptlinge, während sie im übrigen die Leichen im Busch liegen lassen. Die Kamasia legen für ihre Häuptlinge im Viehkral das Grab an und pflanzen Sträucher darauf, alle anderen Leichen aber bringen sie in den Busch und legen Felle darüber. Die Kavirondo und Baziba begraben einen Häuptling in sitzender Stellung in seiner Hütte, lassen den Kopf aber aus der Erde heraussehen. Bei ersteren müssen die Frauen in der Hütte bleiben, bis das Fleisch vom Kopfe abfault, dann wird auch dieser begraben. Bei letzteren übernimmt ein bestimmter Wächter diese Pflicht. Nach zwei Monaten wird auch hier der Kopf unter die Erde geschoben und darauf ein neuer[S. 414] Häuptling gewählt. Die Wahima brechen ihren Toten, wenn sie erkaltet sind, die Gelenke und den Hals, wickeln sie in eine Matte und begraben sie unter einem Dunghaufen im Viehkral. Nach seinem Tode wird der Name des Verstorbenen nie mehr genannt; war sein Name etwa auch die Bezeichnung für irgendeinen Gegenstand, so verschwindet dieses Wort aus der Sprache, und ein neues wird für den betreffenden Gegenstand geschaffen. Ähnlich verfahren die Masai, die niemals mehr den Namen eines Verstorbenen in den Mund nehmen.
Nach einem Begräbnis oder wenigstens nach Ablauf der Trauer pflegt man einen großen Tanz und ein Biergelage abzuhalten. Die Madi markieren oft einen Kampf; ein jeder gerät in große Aufregung, und es ist daher nichts Ungewöhnliches, daß Männer bei Begräbnissen getötet oder zum mindesten schwer verletzt werden. Bei den Manyema ertönt nach Eintritt eines Todesfalls ein Signal, auf das hin die Freunde und Verwandten sehr zahlreich zusammenströmen und die Leiche hinwegbringen. Sie kochen sie darauf und essen sie zu Hause. Nahe Angehörige wie die Eltern essen nicht von dem Fleische, wohnen auch nicht der Beerdigung bei. — Der Sohn eines Baziba trägt um den Hals ein Band, an dem zwei Stückchen Holz befestigt sind, die Vater und Mutter vorstellen; stirbt eines von ihnen, dann wird das betreffende Hölzchen weggeworfen.
Die Witwen des Verstorbenen gehen häufig auf den ältesten Sohn oder Bruder über; jedoch haben die verschiedenen Stämme vielfach besondere Sitten. In der Regel dürfen die Witwen erst nach Ablauf einer bestimmten Trauerzeit wieder heiraten, und auch dann nur mit Zustimmung ihres Vormundes. Bei den Suaheli ist die Witwe gezwungen, drei Monate lang sich zurückzuziehen; sie darf während dieser Zeit nicht ausgehen, wohl aber Besuche ihrer Angehörigen empfangen.
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Nordostafrika läßt sich geographisch, das heißt seinem landschaftlichen Charakter nach, in zwei große Gebiete gliedern: in das Hochland und in die Ebene. Das erstere, eine Anzahl größerer und kleinerer Tafelländer und Tafelberge mit zahlreichen Bergzacken und turmartigen Erhebungen, bildet nicht nur im geographischen, sondern auch im politischen Sinne eine Einheit, das Kaiserreich Abessinien, das bereits auf ein hohes Alter zurückblicken kann. Es wurde schon im vierten Jahrhundert die Wiege des Christentums im Herzen Afrikas. Leider ist sein alter Ruhm mehr und mehr verblaßt, und jetzt ist Abessinien nur noch die Karikatur eines Staatswesens. Südlich von diesem Hochland breitet sich die große öde und unwirtliche ostafrikanische Steppe aus, ein gleichförmiges Landschaftsbild, das sich weit nach Süden nach dem eigentlichen Ostafrika hinein erstreckt. Die das afrikanische Osthorn begrenzenden Gebiete führen die Bezeichnung Somalland.
Die für Nordostafrika in Betracht kommenden wichtigsten Völker sind ganz im Osten, am Golf von Aden und Indischen Ozean, die Somal, nördlich von ihnen an der Küste des Roten Meeres die ihnen stammverwandten Danakil oder Afar, auf der abessinischen Hochebene die Stämme der Abessinier und im Süden von ihnen, also im Südwesten, die Galla; ihnen schließen sich die uns schon bekannten Masai an. Alle diese Völker, ebenso die nördlich von ihnen wohnenden Nubier und Ägypter bezeichnet man als östliche Hamiten,[S. 416] die nordostafrikanischen im besonderen als Äthiopier. Sie unterscheiden sich deutlich von den Negern Afrikas; ob sie, wie vielfach behauptet wird, direkt aus Stämmen hervorgegangen sind, die aus Asien herüberkamen, oder durch Aufpfropfung solcher Einwanderer auf bereits ansässige Negervölker entstanden sind, bleibt noch zu entscheiden. Abgesehen hiervon sind die Hamiten heutigestags nicht das einzige anthropologische Element der nordostafrikanischen Völker, sondern gleichsam nur die Unterschicht, zu der viel semitisches (arabisches) Blut hinzugekommen ist. Besonders die Somal haben solches in starkem Maße aufgenommen, weniger schon die Danakil, und am reinsten dürften die Galla den ursprünglichen Typus bewahrt haben. Noch bunter aber ist die Mischung in Abessinien; hier haben sich Ägypter, Griechen, Juden, Portugiesen, Inder, Araber und Neger zu einem wirklichen Völkerchaos zusammengeschlossen, den Kern des abessinischen Volkes aber bilden Semiten. Der eigentliche östliche Hamitentypus ist gekennzeichnet durch eine ziemlich hohe, grazile Gestalt (im Mittel hundertsiebenundsechzig Zentimeter), langen, schmalen Schädel, langes, ovales Gesicht mit feiner, gerader oder leicht gebogener, hervortretender Nase, schlanke Gliedmaßen, eine braunrötliche bis schokoladefarbige Haut, dunkle Augen und schwarzes, bald mehr lockiges, bald mehr wolliges Haar.
Die Beschäftigung der Abessinier erstreckt sich auf ganz einfachen Ackerbau, Viehzucht und etwas Industrie, besonders auf die Herstellung von silbernen Filigran-, Leder- und Flechtarbeiten sowie Stickereien. Kunst und Technik werden vielfach in den Dienst der Kirche gestellt. Auch die übrigen Hamitenstämme sind überwiegend Viehzüchter (Abb. 477 und 478), treiben daneben aber auch alle das Kriegshandwerk (Abb. 474 und 475) und Raub. Besonders die Galla werden als kühne Krieger gerühmt.
Die Kleidung der Abessinier hat viel Arabisches an sich. Sie besteht aus anliegenden Beinkleidern, einem langen, über sie hinausreichenden weißen Hemd und einem baumwollenen oder seidenen Umschlagetuch, das wie eine Toga über die Schulter geworfen wird und in malerischen Falten herabfällt (Abb. 479). Die Frauen raffen ihr weitärmliges Hemd um die Taille mit einem Gürtel zusammen. Füße und Kopf bleiben unbekleidet, nur die Priester (Abb. 480) tragen ein turbanähnlich um den Kopf geschlagenes Tuch. Sie zeichnen sich ferner durch eine weiße Jacke mit weiten Ärmeln und Schuhe mit aufgebogenem Schnabel aus. — Die Kleidung der Somal (Abb. 481) und der ihnen verwandten Stämme ist ebenfalls ein langes, lakenähnliches Tuch, das um den Körper geschlungen wird (Abb. 476) und häufig auch noch den Kopf wie eine Kapuze bedeckt; bei den Frauen (Abb. 482) sind es zwei Teile, von denen der eine, längere, einen losen Rock mit vielen Falten bildet, während der andere die Stelle einer Weste oder eines Mieders vertritt und sich nach oben in die Kapuze verlängert.
Die Haare werden bei den abessinischen Männern entweder kurzgeschnitten getragen oder zu kurzen anliegenden Zöpfen geflochten. Die Haartracht der Frauen besteht ausschließlich in solchen, auch bei den Somal und verwandten Stämmen. Eigenartig ist die Frisur der Somalmädchen. Erst lassen sie sich das Haar bis zu einer gewissen Länge wachsen, scheiteln es sodann in der Mitte und flechten es dicht am Scheitel oder ein bis zwei Zoll tiefer in Dutzenden von kleinen Zöpfchen rings um den Kopf; am Ende eines jeden dieser Zöpfe lassen sie noch einen kleinen Haarbüschel stehen (Abb. 483). Während die älteren Somalmänner sich das Haar zu rasieren pflegen, lassen die jüngeren es sich abwechselnd zu einem großen Wulst auswachsen und wieder rasieren. Die Esasomal stecken stets lange speilartige Kämme in ihre aufgebauschten Haare (Abb. 486). Vor den üblichen Aufnahmezeremonien der Knaben wird diesen eine runde Stelle oben auf dem Kopfe geschoren; nur ein kleiner Haarbusch bleibt auf dem Wirbel stehen. Den jungen Mädchen hingegen wird der ganze Kopf in mancherlei Mustern geschoren; später lassen sie sich die Haare wieder wachsen und dann niemals mehr kürzen. Verheiratete Frauen tragen stets ein Netz um ihr Haar.
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Um ihre natürliche Schönheit noch zu erhöhen, färben sich die Abessinierinnen die Finger- und Fußnägel rot und das Zahnfleisch schwarz, wodurch sich die Zähne vorteilhaft abheben. Ferner werden die Augenbrauen künstlich scharf gezeichnet, und Brust, Hals und Rücken tragen nicht selten kunstvolle Tatauierungsmuster. In erster Linie aber wenden sich die Frauen an den Geruch-, weniger an den Gesichtsinn der Männer, denn auf Wohlgerüche wird ein außerordentlicher Wert gelegt und eine solche Verschwendung mit ihnen getrieben, daß die Wirkung auf den Europäer eine der beabsichtigten gerade entgegengesetzte ist. Natürlich behängen sie ihren Körper, soweit sie dazu imstande sind, mit zahlreichem, oft genug recht kostbarem Schmuck (Abb. 488).
Die Abessinier sind sehr intelligent und besonders schlau im Abschließen von Geschäften, aber sehr faul und schmutzig. Daher besitzen sie auch beinahe mehr Feier- als Arbeitstage. In jedem Monat feiern sie als Hauptfeste die vier Sonnabende und Sonntage, den Sankt-Michael-, Sankt-Gabriel-, Sankt-Miriam- und Sankt-Georg-Tag am 12., 19., 21. und 23., sowie Christi Geburt am 28. jedes Monats. Dazu kommen noch als wichtige Feiertage Ostern, Weihnachten, Neujahr (im September) und kurz danach Mascal zur Erinnerung an die Entdeckung des Kreuzes (Abb. 487). Die Festlichkeiten pflegen länger als drei Tage zu dauern. Die Priester, die in bunte Gewänder gekleidet und mit Kreuzen aus Silber, Gold oder Messing, mit Weihrauchfäßchen, Kronen, Bildern der Jungfrau Maria mit ihrem Kinde und seidenen Sonnenschirmen mit aufgezeichnetem Kreuz einhergehen, führen bei diesen Gelegenheiten Tänze auf; viele dieser Tänze blicken auf ein hohes Alter zurück und sollen auf den Tanz Bezug nehmen, den König David vor der Bundeslade aufführte. Bei all dieser Lustigkeit vergessen die Abessinier jedoch auch nicht das Fasten, sie beobachten im Gegenteil häufig und streng die ihnen durch[S. 419] die Religion vorgeschriebene Enthaltsamkeit. So fasten sie an jedem Mittwoch und Freitag sowie während der Monate März und April; auch die Regenzeit um den August herum ist für sie eine besondere Zeit des Fastens und des Gebets.
Wie die meisten Naturvölker finden auch die Somal an Tanz (siehe die farbige Kunstbeilage) und Gesang große Freude. Der Somal komponiert sich sein Lied vielfach selbst, unterwegs beim Wandern; sein Inhalt erhebt sich aber meistens kaum über eine öde Schmeichelei auf diejenige Persönlichkeit, der zu Ehren es verfaßt ist. Findet der Sänger, daß sein Werk bei seinen Freunden anspricht, dann lernt er es auswendig und lehrt es oft noch andere; auf diese Weise überliefern sich manche Lieder mehrere Menschenalter hindurch. — Wird unter den Somal ein neuer Sultan gewählt, dann findet für gewöhnlich ein Dibaltig statt. Es ist dies sozusagen ein Reiterschaustück. Jedes Stammesmitglied, das ein Pferd zur Verfügung hat oder es sich borgen kann, beteiligt sich daran. Zuerst wird ein Sänger erwählt, der ein Lied, Gerar genannt (Abb. 484), komponieren muß, und zwar tut er dies meistens sogleich an Ort und Stelle. Es besteht auch wieder aus widerlichen Schmeicheleien auf den Sultan. Alle Reiter stellen sich bei seinem Vortrage in Reih und Glied auf, der Sänger vor ihnen in der Mitte; darauf läßt er mit erhobenem Speer seine Weise erklingen, setzt seinen Pony in Bewegung und trabt auf den[S. 420] neuen Sultan zu (Abb. 485). Die übrigen folgen ihm, anfänglich langsam, dann aber schneller werdend, alle mit hochgehobenen Speeren und Schilden, und bringen ihre Pferde nach gestrecktem Galopp unmittelbar vor ihrem neuen Herrscher zum Stehen. — Die Galla sind gleichfalls dem Tanze sehr zugetan (Abb. 490).
Die Galla feiern alle Jahre das Fest der Maisernte, Yarabbi genannt; an ihm dürfen nur Frauen teilnehmen, Männern ist es nur gestattet, in beschränkter Anzahl aus der Entfernung zuzusehen. Die feierliche Handlung spielt sich zunächst um eine heilige Sykomore ab. Hier erwartet eine greise Priesterin auf einem dreistufigen Schemel sitzend die Ankömmlinge; sie hält einen langen Stab in der Rechten und trägt als einziges Abzeichen ihrer Würde einen breiten, langen, mit Muschelscheiben geschmückten Lederriemen um das rechte Handgelenk. Die Frauen erscheinen alle ebenfalls mit einem langen Stecken, den sie gegen den Baum lehnen, mit einer Handvoll Grünzeug und mit Maisbroten, die sie ablegen. Alle tragen auf dem Kopfe entweder einen Zweig mit wohlriechenden Blättern beziehungsweise Blumen oder einen elfenbeinernen Kamm. Sobald sich ihrer etwa fünfzig eingefunden haben, pflücken sie von den benachbarten Sträuchern Blätter ab; dann lassen sie sich in Gruppen von je etwa fünfzehn auf die Knie nieder inmitten zweier großen Haufen Grünes, die mit ihrer gewölbten Seite einander zugekehrt aufgeschichtet sind. Jede von ihnen legt den linken Arm um die Hüften ihrer Nachbarin und schlägt mit der Rechten unter Hervorstoßen eintöniger Laute, die später einem Grunzen gleichkommen, taktmäßig auf die vor ihr liegenden Blätterhaufen, wobei sie den Kopf gleichfalls im Takt nach hinten[S. 422] wirft. Diese Bewegungen werden immer wilder und arten schließlich in ein wirkliches Verzücktsein aus. Wenn dieses ein paar Minuten angehalten hat, verstummt der Lärm plötzlich. Die Frauen erheben sich und machen neuen Ankömmlingen Platz, die dieselbe Handlung vornehmen; der Vorgang wiederholt sich etwa fünf- bis sechsmal. Darauf ergreifen die Weiber ihre Stäbe und gehen langsam unter eintönigem Gesang etwa hundert Meter den Weg, den sie gekommen sind, zurück, wobei sie auf der Stelle hüpfen und zugleich Hände voll Kräuter pflücken, die sie zu einer Garbe zusammenraffen. Sodann hocken alle in langer Reihe eine nach der anderen nieder und halten ihre Stäbe mit den Bündeln wagrecht über die Köpfe, dabei murmeln sie wieder unverständliche Worte. Sobald sie sich erhoben haben, stellen sie alle ihre Stäbe zu einem Haufen zusammen und strecken gegen diesen die Hände mit Grünzeugbündeln aus. Schließlich kehrt die Gesellschaft wieder zum heiligen Baume zurück, hüpfend und singend, wie sie gekommen war. Mittlerweile sind die hier zurückgebliebenen Frauen nicht untätig gewesen; die eine von ihnen hat in einem aus Ton gefertigten Napfe Kaffeebohnen mit Butter und Salz geröstet, während vier andere den Gesang um die Kräuterhaufen fortgesetzt haben. Die Zurückgebliebenen erheben sich jetzt und gehen den unter Führung ihrer Priesterin Zurückkehrenden gleichfalls unter Hüpfen mit Grasbüscheln in den Händen entgegen. Nun umarmen sich alle und begeben sich gemeinsam zum Baum, der von dem ganzen Zug noch einmal umgangen wird. Dann legen die Frauen ihre Bündel am Fuße des Baumes nieder, umstellen ihn im Kreise und sagen dabei mit tiefer Stimme allerlei Sprüche auf. Damit schließt die eigentliche Feier. Es werden nun noch die mitgebrachten Maisbrote am Baume niedergelegt, auf die sich die abseits lauernden Kinder auf ein verabredetes Zeichen stürzen und um die sie sich balgen, um möglichst viele in ihren Fellsäcken verschwinden zu lassen.
Ein interessantes Gebiet der abessinischen Kultur ist die Rechtspflege, die noch auf dem alten Grundsatze beruht: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Im allgemeinen können die[S. 424] Abessinier nicht ohne ständige Gerichte leben; wegen der geringsten Kleinigkeit wird von ihnen das Gericht angerufen und unter hochgradigen Aufregungen verhandelt und gestikuliert. Eigentliche Freiheitstrafen kennt das abessinische Recht nicht, es wendet nur Körper- oder Geldstrafen an. Erstere werden meistens auf dem Hauptmarktplatze am Sonnabend unter Anwesenheit mächtiger Menschenmassen vollstreckt. Ist ein Diebstahl begangen worden und kann der Täter nicht sogleich ermittelt werden, so greift man zu einem eigentümlichen Verfahren, um ihn ausfindig zu machen. Man läßt in das betreffende Haus einen Knaben kommen und versetzt ihn durch Trinken von Milch, in die eine betäubende Medizin getan wurde, sowie durch Rauchen aus einer Pfeife, die etwas Ähnliches enthält, in eine Art Traumzustand. Der Knabe zieht sodann, ähnlich wie ein Polizeihund, mit einem Vertreter der Gerichtsbarkeit, mit dem er durch einen Strick verbunden ist, durch die Straßen und Häuser der Stadt. Derjenige, den er berührt, gilt als der Dieb, und damit ist dessen Urteil gesprochen, denn für den vermeintlichen Dieb gibt es kein Mittel, seine Unschuld zu beweisen. Die Strafen, die auf Diebstahl stehen, sind besonders hart. In einfacheren Fällen wird dem Diebe mit einer Peitsche der entblößte Rücken blutig geschlagen, oft so, daß dieser eine einzige blutige Masse bildet. Ist das Vergehen schwerer, dann wird dem Übeltäter die rechte Hand abgehauen, im Wiederholungsfalle der linke Fuß, dann eventuell noch die linke Hand und der rechte Fuß. Falsche Aussagen vor Gericht werden zunächst mit Geldstrafe, bei Rückfälligkeit mit Ausschneiden der Zunge bestraft. Der Abessinier schwört beim Tode eines Großen des Reiches. Straßenraub und Mord werden mit Todesstrafe geahndet. Der Mörder wird den Angehörigen des Toten ausgeliefert, die über[S. 426] sein Schicksal zu bestimmen haben, sei es, daß sie, was meistens geschieht, durch Totschlag an ihm Rache nehmen oder sich mit Geld und Vieh begnügen. Meist findet die Ahndung durch die gleiche Todesart statt, wie sie der Verbrecher gegen sein Opfer angewendet hatte. Das ehrenvollste ist das Erschossen-, das entehrendste das Gehängtwerden.
Die Abessinier sind monophysitische Christen und als solche der koptischen Kirche (Abb. 489) zugeteilt; noch heutzutage weiht der koptische Bischof von Alexandria den abessinischen. Die Lehre Jesu fand bereits im vierten Jahrhundert Eingang in Abessinien durch zwei gefangene Christen aus dem Abendlande, sie verbreitete sich bald im Lande und wußte sich gegenüber den Stürmen des auf sie eindringenden Islams zu erhalten. Allerdings ist dieses Christentum vielfach auf Abwege geraten und hat in Aberglauben und Kultus allerlei Zutaten erfahren, die teils dem Islam, teils dem Heidentum der Grenzvölker, auch wohl dem Judentum entstammen. Doch ist unter den Abessiniern auch die Lehre Mohammeds vielfach mit solchen durchsetzt. Alle Abessinier, ob Christen, Mohammedaner oder Heiden, glauben an Geister der verschiedensten Form und Gestalt, die alle möglichen Beziehungen zum Bösen haben. Dementsprechend halten sie noch an vielen abergläubischen Gebräuchen fest. Ein paar Beispiele hiervon. Wer eine Hyäne tötet, zerstört sein Glück, denn man meint, daß diese Tiere Tote verschlingen, deren Seelen dann in ihrem Körper weiterleben. Man glaubt ferner, daß Grobschmiede nachts den Schornstein hinauf verschwinden und sich in Hyänen verwandeln; sie sollen auch mit dem Teufel im Bunde stehen. Wenngleich solcher Aberglaube heutigestags im Abnehmen begriffen ist, so wird doch immer noch kein Abessinier besseren Standes seine Tochter einem Grobschmied zur Frau geben. Der weiße Adler soll großes Unglück bringen und wird, wenn möglich, stets geschossen. Seine Leber wird herausgeschnitten und sodann gegen ein Kuheuter gerieben; ein Teil kommt schließlich in ein Amulett, und der Rest wird unter das Trockenfutter der Haustiere verteilt. Auf diese Weise hofft man einen reichlichen Milchertrag zu erzielen. Der Kopf eines weißen Raben soll, um den Hals eines Tieres gehängt, dieses gegen den bösen[S. 429] Blick schützen. Überhaupt spielt der böse Blick eine große Rolle; viele Krankheiten werden ihm zugeschoben. Kinder schützt man dagegen, indem man sie stets mit Baumwollstoff bedeckt. Krankheiten, die durch den bösen Blick bereits entstanden sind, werden auf folgende Weise wieder beseitigt: Fleisch und Haut einer Hyäne werden in ein kleines Gefäß getan und glühende Kohlen darauf gelegt; den sich daraus entwickelnden Brodem muß der Leidende durch Mund und Nase einziehen, dabei wie eine Hyäne heulen und sprechen: „Der und der hat den bösen Blick auf mich geworfen.“ Die Furcht vor dem bösen Blick ist auch die Ursache, daß ein Abessinier es nicht gern hat, wenn jemand ihm beim Essen zusieht; man kann daher oft beobachten, wie Menschen, die am Wege gerade ihre Mahlzeit einnehmen, sich den Kopf mit einem Shama bedecken (Abb. 491).
Ärzte sind, außer in den von Europäern bewohnten Gegenden, in Abessinien unbekannt. Das Volk wird von den Priestern behandelt, die ihren Patienten Amulette (Abb. 492) und Kräuterabkochungen verabreichen. Sie behaupten die Macht zu haben, den Teufel auszutreiben.
Die Priester (Abb. 493) der abessinischen Kirche dürfen mit Ausnahme dessen, der im Allerheiligsten waltet, die Ehe eingehen, aber nur einmal in ihrem Leben. Es gibt auch unzählige Mönche und Nonnen, aber nur unverheiratete Männer und ältere Frauen dürfen in ein Kloster gehen. Die Klöster werden durch Almosen unterhalten. — Die Erziehung des Volkes liegt in den Händen der Priester, jedoch darf niemand über seinen Stand hinaus erzogen werden. Alle modernen Ideen sind vom Unterricht ausgeschlossen, und wer etwa für solche empfänglich sein oder Neugierde nach ihnen verraten sollte, wird der Ketzerei angeklagt. Auch dem Reichtum, den der einzelne anhäufen darf, ist ein Ziel gesetzt.
Wie schon gelegentlich erwähnt, bekennt sich ein Teil der Abessinier zum Mohammedanismus; auch die Somal und zum größten Teil die Galla sind Anhänger dieser Glaubenslehre;[S. 430] aber obwohl sie diese streng befolgen, oft in dem Maße, daß sich ihre Anbetung zur wahren Ekstase steigert, lassen sie sich auf der anderen Seite doch nicht daran hindern, an manchen abergläubischen Vorstellungen festzuhalten. Ein Teil der Galla ist noch vollständig im Heidentum befangen.
Über besondere Bräuche bei Schwangeren und Gebärenden unter den Abessiniern ist meines Wissens nichts bekannt geworden; sie werden sich wohl im großen und ganzen nach den Riten der christlichen und mohammedanischen Kirche richten. Nur soll es während der Niederkunft einer Abessinierin sehr laut zugehen; die Personen, die sie umgeben, erheben fortwährend ein lautes Geschrei, wohl ein Überbleibsel der alten Sitte, die Dämonen dadurch zu vertreiben. Will die Geburt nicht recht vonstatten gehen, dann zieht sich der Ehegatte die Sandalen aus, umschreitet barfuß das Haus und teilt mit der flachen Klinge seines Schwertes auf dessen Außenwände Schläge aus, während drinnen die helfenden Frauen heiße Gebete an die Jungfrau Maria, die Beschützerin aller Gebärenden, richten.
Bei den Somal verläuft die Geburt ohne sonderliche Feier. Ein Knabe wird im allgemeinen mit großer Freude begrüßt. Die Nachbarn des glücklichen Vaters werfen dann Baumzweige[S. 431] auf seine Hütte und sprechen hierbei den Wunsch aus, daß Allah ihm eine an Söhnen reiche Familie verleihen möge. Bei den Somal pflegen sich nach Bekanntwerden einer Geburt die Yebir einzufinden, Angehörige einer Pariaklasse, von denen man glaubt, daß sie keines natürlichen Todes sterben; sie verlangen eine kleine Abgabe von den Eltern, die diese ihnen wohl niemals abschlagen, aus Furcht davor, daß sie bei etwaiger Verweigerung von den Yebir Schaden zugefügt bekommen könnten. Als Gegengabe für solches Geschenk verabreicht der Yebir der jungen Mutter ein Zaubermittel, für gewöhnlich ein winzig kleines Stückchen in Leder eingewickelten Holzes, das dem Kinde um den Hals gehängt wird. — Die Somal und Galla beschneiden ihre Kinder; dabei finden große[S. 432] Festlichkeiten statt (Abb. 494). Bei den Mädchen der Somal wird zugleich auch die Infibulation angewendet, die bis zu der Verheiratung erhalten bleibt. Die Knaben der Abessinier bleiben bis zum sechsten Jahre bei der Mutter, dann kommen sie, falls die Familie vornehm ist, an den Hof, wo sie Unterricht erhalten und Pagendienste tun müssen. Die Mädchen werden im Hause erzogen, wo sie das Hauswesen, das Spinnen und die Künste, den Männern zu gefallen, erlernen. Bereits mit vierzehn bis fünfzehn Jahren gehen sie die Ehe ein; meistens erhalten die Eltern für sie einen Kaufpreis in Form von Vieh oder Geld. Es gibt drei Wege, die Ehe zu schließen. Am unbeliebtesten ist die kirchliche Einsegnung, weil die Ehe dann nicht geschieden werden kann; sie kommt fast nur in fürstlichen Familien vor. Eine zweite Art besteht darin, daß sich das Brautpaar zu einem besonderen Richter und fünf Schöffen begibt, vor denen der Mann im Namen Meneliks gelobt, seine Frau stets gut zu behandeln und im Falle einer Scheidung ihr eine Abfindungssumme (für gewöhnlich achtzig Mariatheresientaler) zu gewähren. Die dritte Art der Eheschließung ist die einfachste. Der Mann sagt zu seiner Auserwählten einfach: „Komm!“ Folgt sie seinem Wunsche und ziehen sie beide zusammen, dann sind sie verheiratet. — Für gewöhnlich bietet eine Hochzeit Anlaß zu ausgiebigen Fest- und Trinkgelagen. Die Frau ist Herrin im Hause; sie bringt ihr Gesinde mit, beköstigt und bekleidet es.
Ehescheidungen kommen häufig vor und sind leicht herbeizuführen. Mit Zustimmung der beiderseitigen Eltern können auch kirchlich geschlossene Ehen für ungültig erklärt werden. Scheidet sich das Ehepaar, dann zieht die Frau mit ihren Sklaven und Sklavinnen, den Kindern, die aus[S. 433] der Ehe hervorgegangen sind, und ihrer Abfindungssumme einfach ab. Etwas Unehrenhaftes wird darin nicht erblickt, und ein jeder Teil hat das Recht, sich wieder zu verheiraten; er macht auch meistens davon Gebrauch.
Beim Tode eines Mannes erfordert es der Brauch, daß der Bruder des Verstorbenen die Witwe heiratet.
Bei den Somal ist es das Mädchen, das sich den Ehegatten mit Billigung ihrer Eltern wählt. Auch bei diesem Volke wird vor der Hochzeit ein Brautpreis ausbedungen, der bei den habsüchtigen Forderungen des Schwiegervaters oft ziemlich hoch ausfällt; natürlich werden dabei auch die Vermögensverhältnisse des Werbers in Betracht gezogen. Der Preis bewegt sich von wenigen Rupien und einem halben Dutzend Schafe und Ziegen bis zu hundert Kamelen und wird in zwei Raten bezahlt, die eine Hälfte sogleich bei seiner Feststellung, die andere vor der Hochzeitsfeier. Die Trauung selbst ist eine sehr einfache Sache. Nachdem der Preis bezahlt worden ist, begeben sich Braut und Bräutigam in die Wohnung des Kadis, woselbst der künftige Gatte ein feierliches Gelübde ablegt des Inhaltes, daß er dem Mädchen Wohnung geben, es ernähren, kleiden und versorgen werde. Nachdem der Kadi noch einige Koranverse vorgelesen hat, ist die Handlung beendet, und der junge Ehemann führt seine Frau in sein Haus. Am Abend dieses Tages wird dann aber noch ein Iyar (Abb. 495) abgehalten, zu dem alle Freunde des Paares eingeladen werden. Ein Iyar besteht in Sang und Tanz, den der Bräutigam eröffnet. Im übrigen beteiligt er sich nicht weiter daran, sondern zieht sich, nachdem er das Zeichen zur Eröffnung gegeben hat, mit zwei Freunden in seine Hütte zurück. Darauf nähern sich einige Männer unter dem Gesang eines Liedes, das für diese Gelegenheit besonders verfaßt wurde und aus guten Ratschlägen für das junge Paar besteht, der Hütte und beschreiben einen Halbkreis um sie. Zwei Leute treten hervor und führen einen bestimmten Tanz, Shirbo genannt, auf, wobei sie mit den Füßen aufstampfen und Luftsprünge machen. Ist der Shirbo zu Ende, dann schließen sich die Freundinnen der Braut den Männern an, und alle begehen jetzt zusammen den eigentlichen Iyar. Sie tanzen im Kreise, klatschen in die Hände und stampfen nach dem Takte eines besonderen Liedes mit den Füßen, bis sie erschöpft umfallen. Darauf werden noch Erfrischungen umhergereicht, und die Gäste brechen auf. An allen diesen Festlichkeiten nimmt die Braut keinen Anteil; es gehört zum guten Ton, daß sie sich dabei überhaupt nicht sehen läßt.
Im großen und ganzen hält der Somal viel von seiner Frau; er behütet sie sorgfältig. Wenn sie ihm treu bleibt und ihn mit Kindern beschenkt, heiratet er häufig genug keine zweite mehr, obgleich ihm das mohammedanische Gesetz, wie wir bereits wissen, vier Frauen zu nehmen gestattet.
Beim Todesfall eines Abessiniers versammeln sich Freunde und gute Nachbarn draußen im Hof des Sterbehauses, und die Frauen erheben eine Wehklage und einen Totengesang. Die Leiche wird auf ein gerüstartiges Holzgestell mit geschnitzten Füßen gelegt, mit Ochsenhautstreifen verschnürt, mit Stoff zugedeckt und von kräftigen Männern zum Begräbnisplatz getragen, wo man den Toten, dem man das Gesicht nach Osten gewendet hat, ins Grab senkt. Nach dem Begräbnis findet für gewöhnlich noch ein Festgelage statt. Vierzig Tage später gibt es zur Erinnerung an die Auferstehung ein zweites, und im dritten sowie im zwölften Monat nach dem Tode wiederholt sich die Feierlichkeit abermals. Zum Zeichen der Trauer wird das Haar kurz geschnitten.
Unter den Somal fällt ein hoher Prozentsatz den blutigen Raubzügen und Fehden zum Opfer. Denn Räubereien stehen unter diesen Stämmen gleichsam auf der Tagesordnung; natürlich werden dabei viele Menschen getötet. Die Gegenpartei verlangt dementsprechend Sühne und beginnt,[S. 434] falls eine solche nicht bezahlt wird, die Fehde von neuem. So hören die blutigen Kämpfe meistens nicht eher auf, als bis ein großer Teil der Leute hat daran glauben müssen. Kommt schließlich ein Ausgleich zwischen den Parteien zustande, so währt der Friede leider oft genug auch nicht allzu lange, denn irgendein gestohlenes Kamel oder ein Streit um ein Weib bringen die Kugel von neuem ins Rollen, und bald liegen sich die Stämme wiederum in den Haaren. Auf diese Weise wird die Volkszahl der Somal stark geschmälert. Der bekannte Afrikareisende und Geograph Philipp Paulitschke schätzte ihre Gesamtzahl noch Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf mehr als zwei Millionen. Nach neueren Berechnungen aber beträgt ihre Kopfzahl kaum eine Million.
Wie wenig übrigens den Somal ein Menschenleben gilt, zeigt unter anderem auch die auf uraltem Herkommen beruhende Forderung, daß jeder Jüngling, der sich zu verehelichen wünscht, die Tötung zum mindesten eines Mannes muß nachweisen können.
Ihre Toten werden von ihnen, da sie Anhänger des Islams sind, nach mohammedanischem Brauch beerdigt. Auf dem Grabe wird ein Stein errichtet. Wo der Boden locker ist, so daß die Hyänen die Leichen leicht ausgraben können, wird ein hoher Palisadenzaun um die Gräber errichtet (Abb. 496). Auch bei den heidnischen Galla sind solche Zäune üblich.
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Die Bevölkerung des Landes der Pharaonen besteht in der Hauptsache aus hamitischen Elementen, zu denen sich im Laufe der Zeiten semitische und in geringerem Grade auch Negerstämme hinzugesellten. Schon in der Vorzeit muß dieselbe ziemlich die gleiche wie heute gewesen sein, denn wir begegnen auf den Figuren der alten Malereien und Bildwerke aus der Pharaonenzeit bereits den gleichen Köpfen und Zügen sowie der gleichen Hautfarbe, die wir jetzt noch auf der Straße antreffen.
Der Religion nach unterscheiden sich die Ägypter in Kopten und Fellachen; die ersteren sind Anhänger des christlichen, die letzteren des islamitischen Glaubens, aber in ihrem Äußeren sind sich beide Teile ziemlich gleich, höchstens kann man sagen, daß die Kopten vermöge ihrer Religion sich mehr davor gescheut haben, arabisches, das heißt semitisches Blut in sich aufzunehmen. Es ist daher falsch, die Fellachen zu Arabern zu stempeln, zu behaupten, daß sie ausschließlich von den mohammedanischen Eroberern des Landes abstammten, wie es vielfach geschieht. Zwar mag ihre Eigenschaft als Anhänger des Islams sie selbst dazu geführt haben, daß sie sich als Verwandte der Araber betrachteten und dementsprechend die Besonderheit ihrer ägyptischen Nationalität aus den Augen verloren haben, aber in Wirklichkeit sind sie mit den Kopten eines Stammes. Beide sind Nachkommen der alten Nilbewohner aus der Zeit der Denkmäler und Sphinxe.
Wenngleich diese religiöse Spaltung naturgemäß manche Unterschiede in den Gebräuchen, besonders in den Festen und Fasten, zur Folge gehabt hat, so sind diese doch keineswegs so groß,[S. 436] wie man annehmen könnte, nicht einmal in religiösen Dingen. So kommt es vor, daß ein alter Moslem zur Jungfrau Maria betet und den christlichen Heiligen bei gewissen Gelegenheiten und an bestimmten Orten Opfergaben darbringt, und die Mosleme sowohl Christus wie auch seine Mutter verehrt.
Auch in ihrer Kleidung gleichen sich Christen und Mohammedaner Ägyptens. Die oberen Klassen tragen meistens europäische Kleidung, mit Ausnahme des mohammedanischen Fes und des christlichen Tarbusch. Der junge Mann aus dem unteren und dem Mittelstande in den Städten trägt über seiner Landestracht einen kurzen Rock nach europäischem Schnitt an Stelle des feinen schwarzen Gewandes, das der reiche Fellache auf dem Lande sich umhängt. — Die nationale Tracht besteht in weiten Beinkleidern, einem weichen Hemd, einer kurzen Weste ohne Ärmel und einer langen, bis zu den Knöcheln reichenden Jacke aus gestreiftem baumwollenem oder seidenem Stoff, die vorn offen ist und lange Ärmel aufweist. Sie wird meistens durch einen Gürtel über den Hüften geschlossen gehalten. Zur Winterszeit gehört zur Kleidung noch ein großer schwarzer Mantel aus Tuch oder Seide, der alles umhüllt. Nur in ihrer Kopfbedeckung unterscheiden sich die beiden Religionen: der Mohammedaner trägt einen türkischen Fes mit kurzer, schwarzer Troddel, der Kopte einen Tarbusch aus weicherem Stoff und von dunklerer Farbe mit langer, blauer Troddel. Fes und Tarbusch werden beständig getragen und gelten als Abzeichen männlicher Würde; es einem vom Kopfe zu schlagen, kommt der schwersten Beleidigung gleich. Keine Kopfbedeckung zu besitzen, ist das Zeichen schrecklicher Armut und in dieser Beziehung etwa dem Barfußgehen unter Europäern gleichbedeutend.
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Alle Ägypter der oberen Klassen tragen das Haar ganz kurz geschnitten. Die Fellachen rasieren sich den Kopf für gewöhnlich kahl und lassen nur auf dem Wirbel ein langes Büschel stehen. Diese sonderbare Haartracht erklären sie selbst auf zweierlei Weise. Die einen meinen, daß man dieses Büschel stehen lasse, damit der Engel sie daran festhalten könne, wenn sie nach dem Tode von der Brücke al-Sirat, die ins Jenseits führe und an Schmalheit einer Messerklinge gleichkomme, herabfallen sollten; andere dagegen sagen, man wolle dadurch Vorsorge treffen, daß ein ungläubiger Feind, der ihren Kopf etwa abgehauen hätte und mit sich schleppte, ihn an diesem Haarbüschel ergreifen könne, nicht aber ihn mittels der Mundöffnung einhake und dadurch den Mund entweihe, der so oft Allah gepriesen und zeitlebens Gebete aus dem Koran gesprochen habe.
Die Frauenkleidung gleicht im großen und ganzen der der Männer. Auf dem Lande gehen die Frauen im Sommer so gut wie nackt, nur mit einem Schurz bekleidet, Knaben überhaupt vollständig nackt. Die Städterinnen legen weite Hosen, eine lange Unterjacke (Yelek), einen Gürtel und eine Jacke und beim Ausgang darüber noch ein langes, weites, schwarzseidenes Oberkleid (Tôb) an. Das Haar tragen die Frauen in unzählige kleine Zöpfchen geflochten, in die sie mit schwarzer Seide noch Münzen binden. Auf dem Kopfe tragen sie eine Art Turban mit einer Verzierung aus Gold oder vergoldetem Metall, Kûrs genannt, und darüber einen schwarzen oder weißen Schleier, der das ganze Gesicht bedeckt und nur die Augen freiläßt. Typisch ist ferner noch ein eigenartiges Schmuckstück zwischen den Augen, eine kleine Walze aus Gold oder Messing, um die zwei Rillen herumlaufen. Die Fellachinnen begnügen sich mit einem Kopfschleier, mit dem sie auch ihr Gesicht bedecken können. Schmuck um Hals, Arme, Finger und an den Ohren ist sehr beliebt. Die Männer tragen keine Ohrringe, obwohl ihnen als Kindern die[S. 439] Ohrläppchen durchstochen werden; nur die Stutzer in Oberägypten hängen sich oft einen schweren einzelnen Ring in das eine Ohr.
Die Nahrung der Ägypter ist eine recht bescheidene, man kann fast sagen, erbärmliche, was größtenteils auf den vielen Fasten beruht, die einen ziemlichen Teil des Jahres in Anspruch nehmen. Sie leben meistens von Brot oder Fladen aus Weizen- und Hirsemehl, gerösteten Getreidekörnern, Früchten, Erbsen, Bohnen, Linsen, Eiern, Milch, Käse und Fischen; als Leckerbissen kommen gelegentlich Geflügel, Hammel-, Ziegen- und Büffelfleisch auf den Tisch. Den Kopten ist der Genuß von Schweine- wie auch von Kamelfleisch verboten. Zur Zeit der Fasten besteht die tägliche Nahrung nur aus Erbsen, Bohnen und Fischen. Wein rühren die Mohammedaner nicht an, obwohl davon sehr viel für die unter ihnen lebenden Griechen und Italiener, die ohne ihn nicht leben können, eingeführt wird.
Die Fellachen leben meistens auf dem Lande und treiben Ackerbau, dabei wenden sie noch ganz dieselben ursprünglichen Bearbeitungsweisen an wie ihre Vorfahren vor Tausenden von Jahren. So dreschen sie noch heutigestags das Getreide mit Hilfe eines Dreschschlittens aus und bewässern ihre Ländereien mit dem Schöpfrade. Sie wohnen in elenden Hütten, die aus Nilschlamm errichtet sind.
Von allen Mohammedanern können die Ägypter für die duldsamsten gelten; auch nehmen sie ihre Glaubensvorschriften verhältnismäßig leicht. So führen sie selten eine Wallfahrt nach Mekka aus, beobachten nicht immer so streng ihre Fasten und sind saumseliger in der Ausführung sonstiger religiöser Gebräuche; doch verrichten sie für gewöhnlich wohl ihre Zwangsgebete mit den üblichen Fasten und Kniebeugungen (Abb. 500) und enthalten sich des Weingenusses. Ganz frei von Fanatismus sind sie aber nicht. Dies kommt unter der Landbevölkerung manchmal gelegentlich der Zikrs zum Ausdruck; es sind dies eine Art Erbauungspredigten, die oft eine Zugabe zu einem Feste vorstellen, stets jedoch im Anschluß an die Dorfvergnügungen gelegentlich des „Großen Bairamfestes“ und anderer wichtiger Feste abgehalten werden. Die Teilnehmer eines Zikrs versammeln sich gewöhnlich bei einer Moschee oder dem Grabe eines Heiligen und setzen sich in zwei Reihen einander gegenüber; meistens sind es streng religiös gesinnte Männer, das weniger gläubige Publikum sieht zu und spendet seinen Beifall. Man beginnt im Sitzen den Namen Allah zu rufen, anfänglich langsam, und dieses Wort mit leichtem Kopfnicken zu begleiten. Bald werden die Worte hastiger ausgesprochen und dementsprechend auch die Bewegungen des[S. 440] Kopfes verstärkt. Hierauf stehen beide Reihen unter sichtlicher Anstrengung auf und stoßen den Oberkörper vorwärts und rückwärts; verschiedene andere Bezeichnungen der Gottheit treten jetzt an Stelle des Namens Allah, und man sieht den Gesichtern deutlich ihre Verzückung an. Schließlich dreht sich der ganze Körper wie im Wirbel; der Schweiß perlt von den Gesichtern der Anbeter, die nur noch ein heiseres, atemberaubendes „Hu, Hu, Hu!“ (Er, das heißt der Eine Gott) ausstoßen können. Befinden sich Epileptiker in der Gesellschaft, die für besonders heilig gelten — und an solchen fehlt es wohl nie — dann bekommen sie ihren Anfall und sinken um; auch die übrigen Teilnehmer fallen erschöpft zur Erde. Die Sekte der Derwische in Kairo führt ähnliche Tänze mit Verzückungen auf. Viele Fellachen, besonders die Sakkah oder Wasserträger, gehören zu dieser Sekte, sie unterscheiden sich aber von der übrigen Landbevölkerung äußerlich nicht. Dagegen tragen die Derwische in Kairo, wo sie in Klöstern zusammenwohnen, eine hohe weiße Kopfbedeckung, die sie als solche kennzeichnet. Die niederen Mitglieder des Derwischordens sind ganz ungebildete Leute, die meistens zerlumpt im Lande umherziehen und sich den Lebensunterhalt zusammenbetteln; sie leisten aber nichts auf dem Gebiete der guten Werke. Dagegen sind die Derwische, die höhere Stellen im Orden einnehmen, oft sehr begabte Menschen, die sich für ihre Person von den Verzückungen der übrigen fernhalten, wenn sie sie auch nicht gerade mißbilligen.
Eines der bemerkenswertesten Feste des Islams in Ägypten (Abb. 497) ist die Reise der heiligen Sänfte („Mahmal“) nach Mekka. Die althergebrachte Sitte, das Mahmal der Stadt auf dem Rücken eines Kamels nach diesem heiligen Orte des Islams tragen zu lassen (siehe die farbige Kunstbeilage), wird jetzt nur noch als Zeichen der Höflichkeit von seiten des ägyptischen Herrscherhauses ausgeübt. Nebenbei gesagt, hat noch niemand in dieser Sänfte gesessen, und es sitzt auch jetzt keiner darin. Sie ist eigentlich ein pyramidenförmiger Aufbau, der reich mit Goldstickereien behängt ist und viele Inschriften trägt. Das Kamel, das die Sänfte auf seinem Rücken mitführt, wird von der gesamten hohen Geistlichkeit zu Fuß begleitet, natürlich unter militärischer Eskorte. Der Statthalter, sein Stab und eine Abteilung Kavallerie reiten voran, den Schluß bildet der von einem Kamel getragene Shek el-Gemel oder Shek el-Hagg als Leiter der Wallfahrt. Früher war es üblich, daß dieser über die Rücken der Gläubigen hinwegritt. Der Aufbruch und die Ankunft der Karawane ist Gegenstand großer Begeisterung unter der Bevölkerung; ungeheure Menschenmassen pflegen sich dabei anzusammeln.
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Ein seltsamer Brauch, der wahrscheinlich auf ein hohes Alter zurückblickt, wurde bis vor kurzem alljährlich in Kairo geübt, das „Durchschneiden des Khalîg“. Der Khalîg war ein Kanal, der vordem durch die Stadt führte, jetzt aber zugeschüttet und in eine Straße umgewandelt worden ist. Zur Zeit des Tiefwasserstandes des Nils wurde der Eingang dieses Kanals durch einen Deich abgedämmt, der dann, wenn der Nil anstieg, jedes Jahr feierlich durchbrochen wurde, um die Fluten des Stromes in ihn hineinzulassen. Dabei wurde ein kleines Schiff, das mit kleinen Geschützen ausgerüstet und an seinen Masten und Rahen mit bunten Wimpeln geschmückt war, in feierlichem Zuge unter lautem Tamtamschlag und Geschützdonner zum Kanaleingang geschleppt und hierauf der Deichdurchstich mit großer Festlichkeit vorgenommen.
Eine bei allen Festlichkeiten stets wiederkehrende Erscheinung sind Kampfspiele mit kurzen schweren Stöcken oder mit einschneidigen Schwertern, in deren Handhabung die Ägypter sehr gewandt sind. Diese Spiele werden nach ganz bestimmten Regeln gehandhabt, um zu verhindern, daß sie etwa in einen richtigen Kampf ausarten. Die Dorfbewohner bilden einen Ring, und zwei von ihnen nehmen in der Mitte mit gekreuzten Beinen auf der Erde Platz. In dieser Stellung fangen sie mit Stöcken ihr Gefecht an, zugleich müssen sie sich bemühen, sich allmählich auf die Füße zu stellen, ohne mit den Händen nachzuhelfen. Das Spiel wird nach und nach immer schneller und wilder, harte Schläge dürfen aber nicht ausgeteilt werden. Wird der Kopf des Gegners getroffen, so gilt dieser für besiegt, und ein neuer Kämpe tritt aus[S. 443] dem Kreis hervor, um sich mit dem Sieger zu messen. Waffentänze kommen nur bei den Wüstenstämmen Oberägyptens vor. Die geschilderten Spiele werden meistens in der Nähe einer Moschee, am Grabe eines Heiligen oder an irgendeiner geweihten Stätte abgehalten, die oft durch einen heiligen Stein oder Baum gekennzeichnet ist. An einem solchen heiligen Platze in der Nähe von El Kab in Oberägypten lassen die Gläubigen winzige Teile ihrer Speise oder ihrer Gewänder als Opfergabe in Tonkisten zurück.
Ägypten ist von jeher das Land der Tänzerinnen gewesen. Die berühmtesten von ihnen gehören einem besonderen Stamme an und heißen Ghawazu. Sie führen ihre Tänze unter Begleitung eines zither- oder violinenähnlichen Musikinstruments sowie einer Rohrpfeife auf und begleiten sich daneben noch selbst mit Kastagnetten. Diese Tänze bestehen in schreitenden und drehenden Bewegungen und vor allem in einem Zittern der Muskeln der leicht verschleierten Hüftgegend, in dessen Ausführung die Ghawazu eine unbegreifliche Geschmeidigkeit und Fertigkeit bekunden, und arten öfters in ein ziemlich laszives Schauspiel aus, das die männlichen Zuschauer sinnlich erregen soll, wozu noch feuriger Augenaufschlag, herausforderndes Lächeln und andere pantomimische Liebeserklärungen beitragen. Diese Vorstellungen finden auf offener Straße, in Höfen, in Kaffeehäusern sowie in den[S. 444] Haremen (gelegentlich gewisser Festlichkeiten, wie Hochzeit, Geburt und so weiter) statt; je nach dem Stande der Zuschauer sind die Tänzerinnen mehr oder weniger bekleidet und ihre Darbietungen freier. Besonders schlüpfrig fallen sie vor Männergesellschaften aus. Ganz besonders gilt dies von dem für Ägypten geradezu spezifischen Bauchtanz (Abb. 498). Eigentlich ist diese Bezeichnung irreführend, denn es handelt sich hier nicht nur um Bewegungen des Bauches, wenngleich dieser in erster Linie daran beteiligt ist, sondern um solche des ganzen Oberkörpers; die Beine bleiben dabei ruhig oder bewegen sich nur wenig. Das Bezeichnende für ihn sind die Leidenschaft und die Wollust, die in den Bewegungen zum Ausdruck kommen.
Neben den Tanzmädchen gibt es auch Tanzknaben, die Khewalin; diese tragen gewöhnliche männliche Kleidung, lassen sich aber ihr Haar wie Mädchen lang wachsen und durchflechten es geradeso wie diese mit Münzen.
Die Ägypter, vor allem die Fellachen, sind sehr abergläubisch; sie schreiben den Zaubermitteln und Amuletten jeglicher Art große Macht zu. Daher trägt jeder Bauer ein derartiges Schutzmittel in einer kleinen Lederhülle auf dem bloßen Körper. Oft ist es nur ein Koranspruch, den ihm ein öffentlicher Schreiber aufgeschrieben hat, denn für gewöhnlich sind die Fellachen des Schreibens unkundig. Auch ist bei dem Fellachen der Glaube an Geister stark eingewurzelt, die er für bösartig hält. Besondere Scheu hat er vor den Gräbern der alten Ägypter; denn diese hält er für den Sitz der Teufel oder Afrîts. Dessenungeachtet hat er an vielen Orten, besonders in Theben, die alten Grabstätten in Wohnhäuser umgewandelt. Kein Fellache begibt sich an einem dunkeln Abend ins Freie, aus Furcht vor diesen mächtigen Teufeln, auch wird er sich hüten, einen modernen Begräbnisplatz zu überschreiten, obwohl[S. 445] alle, die hier ruhen, seine Mitgläubigen waren und man im Leben nichts gegen sie einzuwenden gehabt hatte.
Die Geburtsgebräuche der beiden Religionen in Ägypten unterscheiden sich nur durch den christlichen Taufritus. Die Geburt eines Knaben wird mit besonderer Freude aufgenommen; reiche Fellachenfamilien lassen sich dann Tänzer, sowohl Ghawazu wie Khewalin — die letzteren schicken sich mehr bei der Geburt eines männlichen Familienmitgliedes — aus der Stadt kommen. Am siebenten Tage wird das Kind den Freundinnen der Mutter in großem Staat vorgeführt, in einem Siebe geschüttelt und feierlich im Harem umhergetragen.
Der nächste wichtige Vorgang im Leben eines Ägypters, sei er Mohammedaner oder Christ, ist die Beschneidung. Dieselbe wird für gewöhnlich beim Alter von etwa sechs bis acht Jahren vorgenommen, unter Umständen auch später und selbst noch in den zwanziger Jahren. Dabei werden die Knaben stets aufgeputzt, und zwar in Weiberkleidung gesteckt, auch mit Weiberputz behängt; nur auf dem Kopfe tragen sie ein männliches Abzeichen, nämlich einen Turban. Am Vorabend, „der Nacht der Hennah“, versammeln sich die Frauen im Harem, kneten kleine Kerzen aus Teig und Hennahblättern, setzen sie auf einen Prunkteller und zünden sie an. Unter Gesang und Paukenschall ziehen sie mit dem Teller, dem der Knabe folgt, durch das ganze Haus und beschenken die Mutter. Für die Nacht legen sie sich und ebenso dem Beschneidungsanwärter ein Stück Hennahpflaster in die Handhöhlung, so daß diese[S. 446] am anderen Morgen eine rotbraune Färbung aufweist. Am nächsten Tage findet großer Umzug statt. Der Kandidat wird in seiner Weibertracht von einem Diener auf einem Pferde durch die Straßen geführt; dabei hält er sich beständig ein besticktes Tuch vor den Mund. Ihm voran schreiten ein Diener des die Handlung vornehmenden Barbiers und ein paar Musikanten; ersterer trägt ein Schild seines Herrn, einen hölzernen Halbzylinder mit vier kurzen Beinen, dessen Rückseite mit einem Vorhang und dessen Vorderseite mit Spiegelscheiben und Kupferbeschlag bedeckt ist. Dem jugendlichen Reiter schließen sich die Verwandten an. Zur Verringerung der Kosten verbindet man einen solchen Aufzug öfters mit einem Hochzeitszug; häufig pflegt man auch zwei Knaben auf ein Pferd zu setzen. Noch feierlicher und großartiger gestaltet sich die Sache in den gelehrten Familien und bei den Wohlhabenderen. Am Tage vorher begibt sich der Knabe unter Begleitung seiner festlich gekleideten Mitschüler und zahlreicher Angehöriger, Verwandter und Freunde in eine Moschee, um hier seine Gebete zu verrichten. Dann wird er in festlichem Zuge zum Elternhause zurückgeleitet. Die Schulkameraden, die teils aus silbernen Flaschen wohlriechende Wässer auf die Zuschauer sprengen, teils ein silbernes Weihrauchgefäß schwingen, singen religiöse Wechselgesänge; Diener teilen aus einer silbernen Kaffeekanne an bessergekleidete Spaziergänger Kaffee aus, die ihnen dafür einen halben Piaster zu geben pflegen; auch einige Lehrer nehmen an dem Festzuge teil und stimmen gleichfalls Lobgesänge auf den Propheten an. Ein Knabe im Zuge trägt die vom Lehrer verzierte Schreibtafel des Beschneidungsanwärters an einem Tuche um den Hals. Dieser ist, wie schon erwähnt, nach Weiberart gekleidet und hält sich ein besticktes Taschentuch vor den Mund. Ihm folgen Weiber unter lautem Freudengeschrei, von denen eine beständig Salz hinter ihm ausstreut, um ihn vor dem bösen Blick zu bewahren. Vor dem elterlichen Hause und auch noch drinnen im Harem werden die Wechselgesänge von Knaben und Frauen fortgesetzt. Währenddessen lassen die letzteren auf die Schreibtafel des Knaben ihre Geschenke fallen, die nachher von ihm feierlichst dem Lehrer überreicht werden. Hieran schließt sich ein Festmahl, für die Frauen oben im Frauengemach, für die Männer und Knaben unten. Erst dann findet die Beschneidung in einem besonderen Raume in Gegenwart von zwei männlichen Verwandten[S. 447] statt. Wohlhabende Eltern lassen zur Erhöhung der Festfreude Fecht- und andere Spiele veranstalten.
Von einer Werbung des jungen Mannes um seine Frau ist in Ägypten nicht viel die Rede. Entweder seine Mutter bringt die Heirat zustande oder ein Vermittler von Beruf. Der Jüngling bekommt seine Auserwählte vorher niemals zu Gesicht (siehe die farbige Kunstbeilage), außer wenn es sich um gewöhnliche Fellachen handelt, die täglich zusammen arbeiten. Man vermählt sich sehr jung, Kinderhochzeiten aber sind unbekannt. Ist die Heirat ausgemachte Sache, dann findet sich der älteste männliche Verwandte der Braut ein, um die Brautsumme ins reine zu bringen. Nach Zahlung des festgesetzten Betrages wird der Ehevertrag unterschrieben oder, da er nicht immer schriftlich aufgesetzt wird, vor Zeugen wenigstens anerkannt, und zwar im Hause der Braut. Bei den Muselmanen setzen sich der männliche Vertreter der Braut und der Bräutigam auf die Erde und reichen sich die Hände, über die ein Fikih ein Taschentuch ausbreitet; dabei spricht er die vorgeschriebenen Verlöbnisworte, die ihm die beiden Männer nachsprechen. Darauf findet ein Fest statt. Während der nächsten acht bis zehn Tage sendet der Bräutigam der Braut täglich Geschenke; diese schickt ihm dafür die Möbel, die sie in die Ehe mitbringt, ins Haus. Der Bräutigam bewirtet jeden Abend Gäste bei sich. Die Braut sucht jetzt das öffentliche Bad auf; sie geht dabei unter einem Baldachin (Abb. 499), den ihre männlichen Verwandten tragen, und wird von Weibern begleitet, die schrille, zitternde Freudenlaute ausstoßen. Bei ihrer letztmaligen Anwesenheit im elterlichen Heim bewirtet sie Freunde und Verwandte und sammelt Geldbeträge von ihnen ein in einem Klumpen Hennah, in den die Eingeladenen Münzen stecken. Dieser letzte Abend, bei dem die Gäste außerdem noch durch bezahlte Sänger unterhalten werden, heißt deshalb Hennahabend.[S. 448] Am nächsten Abend zieht die Braut in feierlichem Zuge in das Haus des Bräutigams ein; die Straße, in der es liegt, hat man mit Lampions sowie mit roten und grünen Fähnchen geschmückt. In den Städten pflegt die Braut zu Fuß zu gehen oder auf einem Esel unter einem Baldachin zu reiten, auf dem Lande aber sitzt die Fellachenbraut, besonders wenn sie einer wohlhabenden Familie entstammt, auf einem stattlichen Kamel und hat einen prunkvollen, zeltähnlichen Baldachin über sich, der gewöhnlich von zwei sich kreuzenden Palmenzweigen getragen wird. Oft reiten auch noch zwei oder drei ihrer Freundinnen mit auf dem Tier. Selten wird eine Kamelsänfte benutzt. Hinter der Braut reiten Musikanten mit Pauken, ebenfalls auf Kamelen, und das ganze Dorf begleitet den Zug. Vor ihrem neuen Heim steigt die Braut ab, wird aber, ehe sie eintritt, noch in ein besonderes Zelt geführt, in dem sie mit ihren weiblichen Verwandten zu Abend speist. Inzwischen begibt sich der Bräutigam, von Fackelträgern und Musikanten begleitet, zur Moschee, um zu beten. Vor seiner Rückkehr hat die Braut ihr neues Heim bereits betreten, wo sie der Bräutigam zum ersten Male von Angesicht zu Angesicht sieht. Flößt sie ihm sogleich Abscheu ein, dann kann er sich auf der Stelle wieder von ihr losmachen; er braucht nur die Formel der dreifachen Scheidung auszusprechen. Für gewöhnlich geht er aber nicht gleich so weit, sondern wartet einen geeigneteren Zeitpunkt ab. Der Koran gewährt nämlich dem Manne die weitgehendste Freiheit bei der Scheidung. — Von der Erlaubnis, sich vier Frauen und als Konkubinen Sklavinnen zu halten, ist man neuerdings sehr abgekommen; die meisten Muselmanen geben sich mit[S. 449] einer Frau zufrieden. Die Kopten kennen ihrer Religion entsprechend natürlich nur die Einehe. Ihre Hochzeitsfeierlichkeiten ähneln denen in anderen christlichen Ländern. In der Kirche findet eine Trauung statt, bei der der Braut eine Krone aufgesetzt wird. Man hält sodann eine Messe ab, und allen Teilnehmern wird das Abendmahl gereicht.
Sowie der Tod eingetreten ist, muß die Leiche mit dem Gesicht nach Mekka zu gelagert und noch am selben oder spätestens am nächsten Tage beerdigt werden. Inzwischen klagen und schreien die Frauen des Hauses unaufhörlich. Die Leiche wird in eine Art Sack gehüllt und auf einer Bahre zum Grabe getragen; vorauf gehen Männer, die das Glaubensbekenntnis „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein größter Prophet“ und im Anschluß daran „Die Gnade Gottes sei mit ihm und Friede“ singen. Hinter der Bahre, die von Freunden getragen wird, gehen die Frauen in Haufen und stimmen ein gleichsam heulendes Begräbnisgeschrei an; sie schlagen sich dabei auf die Brust, bewerfen sich den Kopf mit Staub und zerraufen sich das Haar. Zunächst kommt die Leiche noch in die Moschee, wo der Imam sie einsegnet, dann wird sie auf den Friedhof getragen, wo die letzten Förmlichkeiten vollzogen werden. In der ersten Nacht nach dem Begräbnis, der „Nacht der Einsamkeit“ — so genannt, weil in ihr die Seele des Verstorbenen, noch mit dem Leibe verbunden, für sich allein auf dem Friedhof zurückbleibt, um erst am andern Tage entweder nach dem Ort der Seligen oder nach dem Gefängnis der Verdammnis zu wandern — kommen die Freunde und Bekannten der Leidtragenden in deren Hause zusammen, um ihnen ihr Beileid auszusprechen und bei Kaffee und Tabak sich zu unterhalten, während jene entweder sich dabei beteiligen oder sich in einem Winkel des Hauses ihrem Schmerz überlassen. Zu gleicher Zeit finden sich zwei bis drei Schulmeister ein, die zuerst eine einfache Mahlzeit einnehmen und dann das siebenundsechzigste Kapitel des Korans herbeten, auch unaufhörlich den Namen „Allah“ ausrufen, um Gott zu zwingen, sich der armen Seele des Heimgegangenen zu erbarmen. — An den nächstfolgenden Tagen setzt sich das eintönige Klagen der Weiber fort und wiederholt sich sogar noch jahrelang an bestimmten Tagen.
Männer tragen keine Trauerkleidung, die Frauen aber legen Schwarz an und lassen für gewöhnlich ihr Haar ungeflochten. Eine Woche später besuchen sie das Grab und legen zerbrochene Palmzweige darauf. In Oberägypten opfern sie oft noch ein Lamm oder eine Ziege am Grabe. Diese Zeremonien wiederholt man gelegentlich bis zum vierzigsten Tage nach dem Tode. — Die Begräbnisgebräuche der Kopten sind denen der Mohammedaner ziemlich ähnlich, ausgenommen die Riten, die bei diesen den Vorschriften der christlichen Religion entsprechen.
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Als Nordafrika bezeichnen wir die französischen Provinzen beziehungsweise Schutzstaaten Marokko, Algerien und Tunis, sowie die italienische Provinz Tripolis. Ursprünglich wurden diese Gebiete wohl von Menschen bevölkert, die mit der Urbevölkerung der europäischen Mittelmeerländer gleicher Abstammung waren, anscheinend auch eine ganz nahe Verwandtschaft mit den Urhamiten besessen haben müssen. Ihre heutigen Nachkommen sind die Berber Marokkos und die Kabylen Algeriens. Zu ihnen gesellten sich bereits in der Vorzeit von Europa her, über damals wahrscheinlich zahlreicher vorhanden gewesene Inselbrücken, nordeuropäische (urgermanische) Völker hinzu, die jener Urbevölkerung vielfach ihren Typus aufprägten, denn anders lassen sich die zahlreichen blonden oder wenigstens hellfarbigen und helläugigen Elemente unter den Berbern — Tissot behauptet, daß solche unter der heutigen Bevölkerung Marokkos etwa zu einem Drittel, unter den Riffberbern sogar bis zu zwei Dritteln angetroffen werden — nicht erklären. Um die Mitte des elften Jahrhunderts erfolgte von Osten her die Einwanderung von Arabern, also von semitischen Elementen, die sich zu Herren des Landes aufwarfen und es bis heute geblieben sind. Sie wohnen meistens in den Städten und größeren Ortschaften, während die Berber mehr auf dem Lande angesiedelt sind.
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Die Berber sind schlanke, aber kräftig entwickelte Gestalten (Abb. 502 und 503) von einer Körpergröße, die über das Mittelmaß hinausgeht. Ihr Schädel ist vorwiegend lang, desgleichen ihr Gesicht lang und schmal, die Nase gerade oder gebogen (siehe die Kunstbeilage und Abb. 501). Sehr auffallend ist, wie schon gesagt, das Vorkommen hellfarbiger Elemente unter ihnen, die sonst dunkles Haar, ebensolche Augen und tiefbrünetten Teint ausweisen. Sie (und ebenso die Kabylen) sind kriegerisch veranlagte Leute (siehe die farbige Kunstbeilage sowie Abb. 504 und 505), die sowohl unter sich wie auch besonders mit der Regierung des Sultans in beständiger Fehde leben; die meisten von ihnen leben unabhängig, andere wiederum zahlen eine Abgabe, aber gewöhnlich nur auf kräftiges Drängen des Sultans. Trotz dieser ihrer Liebe zum Rauben und Plündern ist der Charakter der Berber von größerer Offenheit und Geradheit als der der Araber; im besonderen rühmt man ihnen große Gastfreundschaft nach. Infolge des jahrhundertelangen Zusammenlebens mit den Arabern sind die Berber vielfache Mischungen mit ihnen eingegangen, zumal beide Teile Anhänger des Islams sind, die Religion also keinen Hinderungsgrund dafür abgibt. Vollblutaraber gibt es also heutigestags wohl nur wenige, am meisten noch in den Zeltdörfern in einzelnen ebenen Teilen des Landes, sowie jenseits des Atlasgebirges in den breiten, meistens ausgetrockneten Flußtälern am Nordrande der Wüste, wo sie ein Nomadenleben (Abb. 506 und 509) führen oder auch etwas Ackerbau treiben. Je weiter nach Osten zu, um so zahlreicher werden die arabischen Elemente gegenüber den berberischen. Die nordafrikanischen Araber — in Tunis und Algerien Mauren genannt — verleugnen ihre semitische Abstammung nicht. Sie sind etwas kleiner als die Berber, auch schlanker gebaut als diese. Das ovale Gesicht ist von hellerer Hautfarbe, die Nase gebogen. Auch in der Charakteranlage erinnert der Araber sehr an seine semitische Abstammung.
Ein drittes Volkselement in Nordafrika bilden die Juden. Sie sind für das Land sehr wichtig, da in ihren Händen nicht nur der gesamte Handel, sondern auch die Industrie ruht. Die meisten von ihnen stammen von portugiesischen und spanischen Flüchtlingen ab, die Ende des sechzehnten Jahrhunderts und auch noch später infolge der Judenverfolgungen einwanderten, und weisen daher den vornehmen Typus der sogenannten Spaniolen, nicht den zumeist häßlichen der nordeuropäischen Juden auf. Durch besondere Schönheit zeichnen sich die marokkanischen Jüdinnen aus, zumal in ihren Mädchenjahren. Leider wird dieser Liebreiz schon frühzeitig durch das gewohnheitsmäßige Nudeln sehr beeinträchtigt, eine Unsitte, die sie mit den Araberinnen wie überhaupt mit allen Orientalinnen teilen. Denn Wohlbeleibtheit (Abb. 507) gilt im Orient allgemein als[S. 452] Ideal weiblicher Schönheit. Besonders in der Zeit zwischen Verlobung und Vermählung stopfen sich die jungen Jüdinnen Marokkos, um recht dick zu werden, täglich mit vierzig bis sechzig zigarrenförmigen Nudeln aus Weizenmehl, dazu mit Süßigkeiten; die in Tunis mästen sich mit dem Fleisch junger Hunde und mit Fettlebern, bis die gewünschte Körperfülle erreicht ist.
Schließlich wollen wir nicht vergessen, die zahlreichen Mischlinge zu erwähnen, die aus einer Kreuzung nicht nur der Araber mit den Berbern, sondern auch zwischen diesen und den im Laufe der Zeiten eingewanderten zahlreichen Römern, Vandalen, Spaniern, Italienern und anderen Völkern der Mittelmeerländer hervorgegangen sind. Auch Neger haben hieran teilgenommen, die noch ihren Geisterkultus treiben (Abb. 508 und 516).
Die Kleidung der nordafrikanischen Eingeborenen ist im allgemeinen die in den islamitischen Ländern übliche. Bei den einfacheren Stämmen des Sahararandes beschränkt sie sich auf ein umgebundenes Fell; wer sich aber mehr leisten kann, legt sich eine Tobe, ein weites, bis an die Knie reichendes Hemd, zu. Darüber wird meistens noch ein Umschlagetuch aus Baumwolle, zur kälteren Jahreszeit oder auf Reisen aus Wolle, der sogenannte Burnus, von den Männern getragen. Als Kopfbedeckung kommen der Fes oder bei reicheren Leuten der Turban und als Fußbekleidung gelbe Lederpantoffel hinzu. Die jüngeren Männer nehmen heutzutage mehr und mehr europäische Kleidung an. Das Haar wird meistens kurzgeschnitten getragen, die Riffberber lassen sich den Kopf scheren und nur auf der rechten Seite des Hinterkopfes ein Büschel stehen, das sie in kleine Zöpfchen flechten. Frauen und Mädchen (Abb. 511) pflegen weite Beinkleider aus farbigem Stoff, ein weißes Musselinhemd und eine farbige, meistens mit Gold, Silber und Seide kunstvoll bestickte Jacke anzulegen und über den Hüften einen silbernen Gürtel zu tragen. Auf dem Kopfe haben sie eine bestickte Mütze, an den Füßen Sandalen aus feinem Marokkinleder. Bei den ärmeren Stämmen beschränkt sich die Gewandung auf zwei Stücke groben, für gewöhnlich blaugefärbten Stoffes. Stets aber wird großes Gewicht auf recht viele Ketten aus Silber und Münzen im Haar und um den Hals, sowie auf nicht minder zahlreiche Ringe und Spangen um Hand- und Fußgelenke gelegt; reichere Frauen vervollständigen ihren Schmuck durch Perlen, Diamanten und andere Edelsteine (siehe die Kunstbeilage und Abb. 512). Ein altes Überbleibsel aus der Vorzeit sind die Fibeln oder Gewandnadeln (ganz noch in der ursprünglichen einfachen Form gehalten) zum Zusammenstecken der Kleidungstücke (Abb. 513). Natürlich geht die Mohammedanerin auch hier außerhalb ihres Hauses stets verschleiert; ärmere Weiber begnügen sich damit, durch Vorziehen ihres Gewandes das Gesicht zu verhüllen. Bei Ausgängen hüllen sich die Frauen in ein großes wollenes Tuch, den Haik, das über den Kopf geht und bis auf die Augen herabreicht, von der linken Hand über der Brust zusammengehalten und mit der rechten bis über die Nase hochgehoben wird. In solcher Umhüllung gleichen sie lebendig gewordenen Wäschebündeln von manchmal nicht ganz einwandfreier Beschaffenheit. Die Kabylenfrauen (Abb. 510 und 515) halten sich hinsichtlich der Verschleierung nicht so streng an die Vorschrift des Islams.
Sehr kostbar pflegt die Kleidung der Jüdinnen zu sein. Ihre Hauptstücke bestehen aus Samt und Seide; sie sind in der verschwenderischsten Weise mit echtem Gold besetzt. Dazu kommen die sonstigen Schmucksachen, Ketten, Ringe, Spangen und so weiter, die in ihrer Kostbarkeit oft bis zu zweitausend Mark Wert vorstellen sollen. Der junge Ehemann schenkt seiner Neuvermählten an kostbaren Gewändern, Schmucksachen und anderen wertvollen Dingen, soviel nur in seinen Kräften steht. In Tunis tragen die Jüdinnen, die sich rühmen, von den ursprünglichen Ansiedlern abzustammen, die bereits zu Salomos Zeiten herüberkamen, eine ganz eigenartige, schwer vergoldete spitze Kappe, über die sie noch einen seidenen Schal ziehen.
Wenngleich der Araber behauptet, daß er sein ganzes Vertrauen auf Allah setze (Abb. 514), so lebt er dennoch in ständiger Furcht, daß irgendein böser Geist, von ihm Dschinn genannt (Abb. 518), seinen Untergang beschlossen oder irgendein Mitmensch ihm mit dem bösen Blick etwas angetan habe. Um dies zu verhüten, bedeckt er sich mit allerlei Talismanen, die in frommen Sprüchen aus dem Koran, magischen Zeichen oder Figuren bestehen, oder mit verschiedenen Zaubermitteln in Gestalt eines Fisches, einer Menschenhand, eines Schwertes, Schlüssels, Halbmondes und anderer ähnlicher Dinge. Ja noch mehr, nicht nur seine eigene Person sucht er dadurch zu schützen, sondern auch sein Eigentum; er hängt zu diesem Zweck ein Hufeisen über seine[S. 454] Tür und bemalt seine Hausgegenstände und Tiere mit den angeführten Figuren, beziehungsweise hängt sie ihnen um. Ein sehr beliebtes Zeichen ist hierfür die menschliche Hand (Abb. 517), die in schwarzer oder roter Farbe über fast jeder Türe prangt, auf die Haut der Haustiere gestrichen oder mit Blut auf die Instrumente, die bei gewissen religiösen Handlungen Verwendung finden, gemalt, wie auch von den Schönen des Landes in Silber um den Hals getragen wird. An vielen Gebäuden ferner füllt man die Mauerritzen mit Papier aus, auf dem Koransprüche geschrieben stehen, mischt solche Papierstückchen auch wohl unter den Mörtel, mit dem die Häuser aufgeführt werden.
Da die Araber Nordafrikas so tief im Aberglauben stecken, nimmt es nicht wunder, wenn man hört, daß Wahrsager und Kristallschauer sehr gesucht von ihnen sind. Gewahrsagt wird aus Mustern, die auf Sandhaufen gezeichnet werden, durch Zählen von Bohnen oder durch Schriftzeichen; auch das Weissagen aus den Eingeweiden der Opfertiere und andere derartige Verfahren sind noch gebräuchlich. Christen und Juden sind für den Araber Fremde, daher schreibt er ihnen auch böse Kräfte zu. Bekommt er am Morgen den einen oder den anderen als erste Person, die ihm begegnet, zu Gesicht, so legt er dieses Zusammentreffen als eine üble Vorbedeutung aus. Auch die schwarze Farbe gilt für eine solche; daher begegnet ein Araber[S. 455] ungern einem Neger, selbst einem solchen seines Glaubens, und noch weniger gern Amseln. Dagegen ist Weiß die Farbe der Freude und der guten Vorbedeutung; ein junges Mädchen, das Milch austrägt, gilt für ein erfreuliches Vorzeichen.
Um Regen herbeizuführen, der bei der unter den nordafrikanischen Himmelstrichen herrschenden Trockenheit meistens sehr erwünscht ist, werden ebenfalls allerlei geheimnisvolle Maßnahmen getroffen. Eine der interessantesten ist der Ghonja. Ist eine große Dürre eingetreten, dann kleidet man eine Wasserkelle wie eine Puppe (Ghonja) an und führt sie im Zuge durch die Straßen; die alten Weiber und die Kinder singen dabei: „Ghonja hat sein Haupt entblößt. Gib ihm zu trinken! O Herr, gib uns Regen!“ oder so ähnlich. Die Puppe und die mit ihr Hantierenden werden zuletzt mit Wasser begossen.
Um die Liebe des anderen Geschlechtes zu gewinnen, gibt es eine Unmenge Zaubermittel. Durch solche Hilfsmittel kann man auch Uneinigkeiten zwischen Verliebten stiften, wenn man ihre bevorstehende Hochzeit nicht gern sieht. Zu diesem Zwecke nimmt man Wasser, mit dem ein Toter gewaschen wurde, und schüttet es über das betreffende Mädchen. Daraufhin entstehen zwischen dem verlobten Paare Streitigkeiten, die eine Auflösung seines Verhältnisses zur wahrscheinlichen Folge haben. Glaubt eine Frau in Marokko, daß die Zuneigung ihres Gatten im Abnehmen begriffen sei, so läßt sie sich Honig von der Stirn bis zum Kinn über das Gesicht herablaufen und fängt ihn unten mit einem Löffel auf. Darauf sticht sie sich mittels eines Feigenblattes in die Zunge, mischt das daraus hervorquellende Blut mit sieben Salzkörnern und mengt es unter den Honig; weiter läßt sie Blut in den Löffel tropfen, das von der Stelle zwischen den Augenbrauen stammt, und fügt darauf noch weitere sieben Salzkörnchen hinzu. Das Ganze vermischt sie mit so viel Erde von ihren Fußspuren, wie erforderlich ist, um drei Silbermünzen zu bedecken, und tut alles zusammen in das Essen ihres Mannes, worauf bei diesem die im Erkalten begriffene Liebe wieder entfacht werden soll.
Da der Wunsch nach Kindern unter den Mohammedanerinnen ein recht reger ist und auf der anderen Seite die Frau, die ihrem Gatten keine solchen schenkt, der allgemeinen Verachtung preisgegeben ist, auch schwer einen zweiten Mann bekommen kann, so greift sie in ihrer Angst nach allerhand Amuletten und Zaubersprüchen, die ihr zur Erreichung ihres Zieles behilflich sein sollen. Wir haben diese verschiedenen magischen Zeichen und Gegenstände bereits kennen gelernt; für besonders wirksam werden solche Formeln, Zeichen und Figuren gehalten, wenn sie mit einem Myrtenzweig und einer Tinte aus Safran und Rosenwasser auf Gazellenhaut[S. 456] aufgetragen und dann in einem stählernen Behälter aufbewahrt werden. Auch werden von unfruchtbaren Frauen Pilgerfahrten nach heiligen Orten oder Schreinen unternommen, wo sie vielfach an einem besonderen Baum Zeugfetzen aufhängen.
Wenn eine schwangere Kabylin eine schwere Geburt bereits durchgemacht hat und eine solche von neuem befürchtet, trägt sie zur Erleichterung ihrer Niederkunft in den Falten ihres Haiks eine Mischung von Öl und Eichelasche mit sich herum oder bindet sich auf einen ihrer Oberschenkel einen Feuerstein auf; ebenso trägt sie wohl an ihrem rechten Oberschenkel ihren eigenen Haarkamm mit dem darauf geschriebenen Wunsche einer leichten Geburt.
Die Geburt eines Kindes wird auch in Nordafrika von den einheimischen Stämmen mit großer Freude und lautem Lärm begrüßt, besonders aber, wenn ein Sohn angekommen ist. Die Geburtshelferin meldet dies bei den Kabylen mit einem lauten „Yu, yu“ an, worauf sich alle Männer des Dorfes versammeln und Freudenschüsse abgeben. Die Großeltern beschenken das Neugeborene, festlich angetan, mit mancherlei Gaben und wünschen ihm Glück, und mit Stolz befestigt man auf der Stirn der Wöchnerin das Thabazimth, ein rundes, broschenähnliches Schmuckstück, zum Zeichen, daß sie der Familie einen Erben und dem Dorfe einen Verteidiger gegeben hat. Der glückliche Vater zahlt der Gemeinde eine Abgabe, oft verdoppelt er sie aus eigenem Antrieb. Um den bösen Blick oder die Dschinns zu bannen, werden Mutter und Kind mit Salz bestreut. Am siebenten Tage nach der Geburt pflegen sich die Bekannten einzufinden und das Kind zu beschenken. Dabei findet für gewöhnlich eine religiöse Festlichkeit statt.
Sind die Mädchen etwa sieben Jahre alt geworden, dann färbt man ihnen die Hände mit Hennah, fettet ihnen das Haar ein und flicht es fest zu einem Zopf; von da an gelten sie für Jungfrauen und müssen an der Öffentlichkeit auch den Schleier tragen. Die Knaben (Abb. 519) werden zu ungefähr der gleichen Zeit, bald etwas früher, bald später, beschnitten. Auch hierbei werden Festlichkeiten abgehalten.
Die Brautwerbung ist die bei den islamitischen Völkern überhaupt übliche. Wenn die Brautgeschenke dargebracht sind, wird der Hochzeitstag festgesetzt. An diesem begeben sich die Brautjungfern mit der Braut zum Bade, waschen sie dort und schmücken sie mit neuen Kleidern. Da Wert darauf gelegt wird, recht prunkvoll aufzutreten, so werden vielfach besonders kostbare Kleidungstücke und Schmucksachen von guten Bekannten geborgt. Auf dem Wege nach dem Bade besprengen andere Frauen die Braut mit Weihwasser als Symbol der Fruchtbarkeit. Die eigentlichen Hochzeitsfeierlichkeiten dauern für gewöhnlich drei Tage, der Abend des zweiten Tages ist aber der bedeutungsvollste für die Braut, denn an ihm findet das Hennahfest statt. Nachdem sich die versammelten Gäste an den ihnen vorgesetzten Leckerbissen gütlich getan haben, sorgt man noch für ihre Unterhaltung durch Vorführung von Tänzen (siehe die Kunstbeilage), die von einer weiblichen Kapelle oder blinden männlichen Musikanten begleitet werden; solche sind außer den allernächsten Angehörigen die einzigen männlichen Wesen, denen man Zutritt zu den Frauengemächern (Abb. 520) gewährt. Vielfach sind die Tänze (Bauchtanz) und die Darbietungen der Musikanten ziemlich obszöner Natur. Auch Lieder und Geschichten werden aus diesem Anlaß vorgetragen (Abb. 522). Überhaupt sind Geschichten- und Märchenerzähler allgemein beliebt; man trifft sie vielfach auf den Straßen an, umgeben von einer aufmerksamen Zuhörerschaft (Abb. 521). Die Braut und ihre Begleiterinnen sind bei dem Gelage zunächst nicht zugegen, zumal sich bisweilen Männer unter den Gästen befinden; sie kommen aber herunter, wenn sich diese zurückgezogen haben. Wie während der ganzen drei Tage ihrer Hochzeit muß die Braut auch jetzt wieder still auf einem erhöhten Holzschemel oder Stuhl sitzen; ihre Füße ruhen dabei auf dem Brautkoffer, der ihre Ausstattung enthält, oder auf einem Schmuckkasten[S. 457] mit kostbarem Inhalt, ihre Hände ausgestreckt auf den Knien; sie darf sich nicht bewegen, auch ihr Gesicht nicht zum Lächeln verziehen, sondern muß ganz still und ernst dasitzen. Darauf wird das Hennahfärben an ihr vorgenommen. Meistens tut dies eine hierfür bestellte Frau, die dazu einen großen Korb mit Hennah und zwei gestickte Taschen mitbringt. Sie kaut Hennahblätter in ihrem Munde zu einem Brei und färbt der Braut damit die Handflächen, die Fußsohlen und manchmal auch das Gesicht an der Haargrenze. Besondere Sorgfalt wird auf die Färbung der Hände verwendet. Es werden auf ihnen zwei Striche gemacht, der eine vom Daumenballen zum vierten Finger und der andere über die Fingerspitzen bis zum ersten Gelenk; die Ränder dieser Striche werden noch mit Zierpunkten und geschwungenen Linien verziert. Nun werden die Hände fest verbunden, worauf sie von der Braut in die erwähnten Taschen gesteckt werden. Der Verband darf nicht eher abgenommen werden, bis die Farbe genügend in die Haut eingedrungen ist; um die Sache zu beschleunigen und am Hochzeitstage nicht zu lange deswegen warten zu müssen, lassen manche Mädchen das Färben schon vorher an sich vornehmen. Inzwischen wird die Braut verschleiert und, wenn die Hennahzeichen trocken geworden sind, ins Brautgemach geführt.
Bei den Juden geht, wie schon erwähnt, der Hochzeit das Mästen des jungen Mädchens voraus. Die Hochzeitsfeierlichkeit spielt sich hier in ganz anderer Weise als bei den Mohammedanern ab. Sie findet in der Synagoge oder im Schlafzimmer der angehenden Eheleute statt.[S. 458] Die Ankunft des Bräutigams wird von den Frauen mit einem eigenartigen Ruf oder Kururua begrüßt; er wird hineingeleitet, bindet sich eine seidene Schärpe um den Hut und nimmt zur Linken der Braut Platz. Der Rabbi segnet das Paar ein, betet für sein Wohlergehen, legt seine Hände ineinander und läßt die Ringe wechseln. Sodann nimmt er ein Glas Wein in die eine Hand, breitet die andere über die Neuvermählten aus und bietet beiden zum Trinken an, worauf das Glas zertrümmert wird. Man verabreicht auch Wein in kleinen Gläsern an die nahestehenden Freunde und Verwandten, sowie Süßigkeiten an alle Teilnehmer der Trauung.
Über die Sittlichkeit der nordafrikanischen Stämme scheinen die Ansichten auseinanderzugehen; zumeist wird allerdings berichtet, daß man streng auf Moralität sowohl vor wie in der Ehe halte, indessen kommen auch Ausnahmen vor. Eine solche macht der ganze Stamm der Uled Nail in Algerien. Hier gehen sämtliche Mädchen in Begleitung ihrer Mütter oder älteren Schwestern in die von Fremden und Nomaden gut besuchten Oasenstädte und geben sich dort für mehrere Jahre dem Gewerbe der Prostitution hin. Nachdem sie sich damit ein kleines Vermögen erworben haben, kehren sie in ihre Heimat zurück und bekommen als begüterte Frauen hier leicht einen Gatten.
Ist ein Araber ernstlich erkrankt, dann wird der Priester gerufen, um zu sehen, was er für ihn tun kann. Der Sterbende wird von ihm aufgefordert, zu beichten und sein Glaubensbekenntnis[S. 459] herzusagen; das genügt für sein Seelenheil. Daneben kommt aber auch wieder der Aberglaube zu seinem Recht. Man holt ein Huhn und schneidet ihm die Kehle durch. Ein Knabe muß es dann eine Strecke weit in einer bestimmten Richtung forttragen. Begegnet ihm dabei niemand, dann darf man auf Genesung des Kranken rechnen; sollte er aber doch auf jemand stoßen, obwohl man die Nachbarn davor zu warnen pflegt, ihm in den Weg zu laufen, so ist dies eben Kismet, wie der Mohammedaner zu sagen pflegt, das Schicksal, der Wille Allahs. Die Leichen- und Bestattungsgebräuche sind die gleichen, wie wir sie bereits von der islamitischen Bevölkerung Ägyptens oben kennen gelernt haben. Die Beisetzung erfolgt in einem Grabe, auf das eine Platte aus Marmor oder aus gemauerten Ziegelsteinen, die angeweißt werden, zu liegen kommt. Ein darauf angebrachter Fes oder Turban bezeichnet ein männliches Grab. In der Mitte der Platte wird ein Loch angebracht, das man mit Opfergaben aus Brot und Wasser versieht, damit der Geist des Verstorbenen daran merke, daß die Hinterbliebenen ihn nicht vergessen haben.
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