The Project Gutenberg eBook of Lebensbilder

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Title: Lebensbilder

Novellensammlung

Author: Ida Barber

Release date: May 16, 2023 [eBook #70775]

Language: German

Original publication: Austria: Verlag von E. Czaki

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEBENSBILDER ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1882 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

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Lebensbilder.

Dekoration

Novellensammlung.

von

Ida Barber.

Wien 1882.

Verlag von E. Czaki.

IX., Maximilianplatz 3.

[S. 3]

Widmung.

Als vor kaum einem Jahre edle, für das Allgemeinwohl thätige Männer und Frauen daran gingen, in Wien die erste Wärmestube zu eröffnen, da ahnte der größte Theil des Publicums noch nicht, wie sehr vielen Tausenden diese That reiner Menschenliebe in Stunden der Noth zu Gute kommen sollte. Wir sahen sie seitdem schaarenweise, zitternd und frierend, entkräftet und arbeitsunfähig die Locale aufsuchen, in denen sie die erstarrten Glieder beleben, sich an einem warmen Getränk laben konnten. — Hunger und Kälte sind gar schlimme Bundesgenossen, die manchen sonst thätigen, rechtlich denkenden Mann, dem das Dasein ehedem lieb war, zu dem verzweifelten Entschluß brachten, diesem Leben ein Ende zu machen.

Wer kann sich, wenn ihm nicht Gelegenheit wird, das Elend der unteren, arbeitslosen Volksmassen kennen zu lernen, einen Begriff von jenen Zuständen machen, die leider Gottes allda existiren?

Die Noth trifft Diejenigen am schlimmsten, die gerne arbeiten wollen und kaum Erwerb finden. Betteln können sie[S. 4] nicht gehen, frieren und hungern mögen sie auch nicht. Wohin sollen sie in der Verzweiflung ihre Schritte lenken?

Siehe, da öffnet sich ihnen, den Armen, die sich schon von Gott und aller Welt verlassen wähnen, gastlich eine Pforte; sie treten ein, belebende Wärme dringt ihnen entgegen, gütige, wohlwollende Menschen heißen sie willkommen, laben und stärken sie, geben ihnen Vertrauen und Hoffnungsfreudigkeit wieder.

Diese Idee, sich der Armen, der Hungernden und Frierenden anzunehmen, ihnen ein Heim zu gründen, in dem sie, wenn auch nur zeitweise, ihr Elend vergessen, ist der Unterstützung aller Gutgesinnten werth.

Ich sehe es als heilige Pflicht an, diese Idee zu fördern, in ihrem Dienste thätig zu sein.

Ist es sonst eine in der Schriftstellerwelt ziemlich allgemein gültige Sitte, ein Werk einer hochstehenden Persönlichkeit zu widmen, so widme ich vorliegendes Schriftchen einer humanitären Idee, die mir das, was die Bestgesinnten unserer Zeit erstreben, theilweise in sich zu verkörpern scheint.

Der Reinertrag dieses Bändchens ist zum Besten der Wärmestuben bestimmt.

Die Erzählungen sind zumeist dem wirklichen Leben entnommen; möchten sie Denen, die mit der Noth dieses Lebens zu kämpfen haben, zum Segen gereichen.

Wien, im December 1881.

Ida Barber.

[S. 5]

Inhalt.

 
Seite
Weihnachtsschäfchen. Skizze nach dem Leben
Ein improvisirtes Verlobungsfest. Humoreske
Aus dem Leben eines Gründers
Glaubenskämpfe
Thurmwächters Rundschau in der Sylvesternacht
Eine verunglückte Speculation
Kopfvignette   „Weihnachtsschäfchen“

Weihnachtsschäfchen.
Skizze nach dem Leben.

Es war an einem jener eisig kalten, sternenhellen Winterabende, als ein ärmlich gekleidetes, ungefähr sechsjähriges Mädchen zitternd und frierend an einem Eckhause der Königsstraße in Berlin lehnte und, ach wie oft vergeblich, seine kleinen Schäfchen den Passanten zum Kauf anbot.

„Kaufen Sie, lieber Herr,“ bat sie, „die Mutter ist krank und hat heute noch nichts gegessen!“

Niemand schien ihre Worte zu beachten.

War es ja heute Heiliger Abend; Jeder hatte mit sich selbst, seinen Einkäufen und Geschenken so viel zu thun, wie sollte man da auf die ärmliche Kleine Acht haben können!

Bald kam auch ein Schutzmann, der sie zum Weitergehen antrieb, da er sie sonst arretiren müsse. Unter Thränen nahm das Kind die schön aufgebauten Schäfchen in einen Korb und wanderte weiter, die Kurfürstenbrücke entlang; — sie sah sich um, ob ihr der Polizist folge; Gottlob, nein; er hatte Kehrt gemacht; noch einmal wagte sie es, an einer[S. 6] Stufe der Brücke Halt machend, ihre Schäfchen auszupacken und sie den Vorübergehenden anzubieten; zwei Silbergroschen hatte sie eingenommen und doch war sie schon seit 2 Uhr vom Hause fort. „Wenn ich sie alle verkauft hätte,“ seufzte sie, „könnte ich der Mutter einen Christstollen kaufen! Ach, wie würde sie sich freuen!“ Und in der Vorstellung dieser Freude begann sie wieder mit neuem Muthe, wenngleich mit halbheiserer Stimme:

„Kauft Schäfchen! Kauft Schäfchen!“ — Sie hielt die erstarrten Hände an den Mund, um sie mit ihrem Hauch zu erwärmen; sie trappelte mit den kleinen Beinchen, als wollte sie den Boden zerstampfen — bald ward es ihr unmöglich, ihren zarten, dürftig bekleideten Körper gegen die rauhe Winterluft zu schützen; da kam auch noch ein eisiger Nordwind, der ihre kleine Heerde, die sie so zierlich auf einem Brettchen postirt hatte, vor sich her fegte. Laut weinend sank sie zusammen und rief mit gefalteten Händen: „O Gott, nun sind wir ganz arm!“

„Beruhige Dich, Kleine!“ hörte sie in ihrem Herzeleid die volltönende Stimme eines Mannes, der eifrig bemüht war, ihr einige der hier und dort zerstreut auf dem Pflaster liegenden Schäfchen einzusammeln; „wie viele hattest Du denn?“

„Zwölf Stück, Herr!“ rief die Kleine unter Schluchzen.

„Und was kostet ein solches Stück?“

„Drei Pfennige!“ entgegnete das Kind, ihre thränenumflorten Augen zu dem Manne aufschlagend, der so freundlich mit ihr sprach.

Dieser blickte sie theilnehmend und aufmerksam an und stand eine Weile vor ihr, ohne ein Wort zu sprechen.

[S. 7]

„Wie heißest Du?“ fragte er endlich.

„Anna Masson!“ erwiderte die Kleine zaghaft.

„Hast Du Eltern?“

„Eine Mutter, Herr!“ entgegnete das Kind.

Der Fremde wurde immer aufmerksamer. „Ganz seine Augen, seine Stirn!“ sagte er halblaut vor sich hin. „Wo wohnt Deine Mutter?“ fuhr er dann theilnehmend fort. — Sie nannte ein Haus in der Linienstraße.

„Willst Du mich zu Deiner Mutter führen?“ fragte der Fremde, nachdem er sie noch eine Weile aufmerksam betrachtete.

„O, Herr, ich mag ohne Geld nicht zu Hause kommen!“ entgegnete Anna, der nun wieder die ganze Schwere des erlittenen Verlustes auf die Seele fiel; „die Mutter ist so krank und —“

„Hier hast Du Geld!“ unterbrach sie der Fremde, ihr einen blanken Thaler in die Hand drückend, „doch nun komm!“

Anna aber stand wie festgewurzelt. Ein Strom Freudenthränen entquoll ihren Augen und während sie mit der einen Hand nach ihrem Körbchen griff, legte sie die andere in die dargebotene Rechte ihres Wohlthäters, der sie eilig mit sich fortführte. Bald schien er einzusehen, daß die Kleine zu schwach sei, ihm zu folgen; er nahm einen Fiaker und hob das zitternde Kind hinein. „Du wirst Hunger haben?“ fragte er, sich plötzlich besinnend. „Seit wann hast Du nichts gegessen?“

„Seit heute Morgen, Herr!“ entgegnete das Kind verlegen.

Eiligst stieg er wieder aus und machte an einer Pfefferkuchenbude verschiedene Einkäufe. Mit einer großen Tüte beladen,[S. 8] kam er an den Wagen zurück. Wie hüpfte der Kleinen das Herz! Ja, es war wirklich Weihnacht; sie fühlte, daß ein Band der Liebe alle Menschen umschlang, denn auch ihr, dem armen, verlassenen Menschenkinde dachte man eine Freude zu machen.

Noch nie war sie so schnell die vier Stiegen zu ihrem Dachkämmerchen hinaufgeeilt. „Herzmütterchen!“ rief sie, die Tüte und das blanke Silberstück hoch empor haltend, „sieh, was ich Dir mitbringe. Und draußen ist ein feiner Herr, der Dich sprechen will,“ fuhr sie fort, indem sie eine bleiche, junge Frau, die auf elendem Lager ausgestreckt lag, in ihre Arme nahm und herzte und küßte.

Der Fremde war schon eingetreten und erklärte der Kranken mit kurzen Worten, wie er Anna getroffen, daß eine auffallende Aehnlichkeit mit seinem verstorbenen Bruder ihn veranlaßt, ihr sein Interesse zu schenken und er ihr dankbar sein würde, wenn sie das Kind dann und wann in sein Haus schicken wolle; seine alte Mutter könne den Verlust des geliebten Sohnes noch nicht verschmerzen und würde sicher durch den Anblick der Kleinen, die ihm so ähnle, angenehm berührt werden.

Plötzlich schwieg er; wie festgebannt hing sein Auge an einem Bild, das in elegantem Rahmen auf dem Nähtisch der Kranken stand. Lange sah er sie prüfend, sprachlos an. „Sie kannten ihn?“ rief er, plötzlich ihre magere Hand ergreifend und mit ängstlicher Miene in ihren Blicken lesend. „Er war der Freund meiner Seele!“ entgegnete sie leuchtenden Auges; „seit ich ihn verloren, weiß ich nicht mehr, daß ich lebe!“

„Und Anna?“ fragte der Fremde gespannt.

[S. 9]

„Ist seine Tochter!“ entgegnete die Kranke; „sie ist das einzige Band, das mich noch an das Leben fesselt, sonst —“

„Regen Sie sich nicht auf!“ bat der Fremde, da er sah, wie eine kaum niederzukämpfende Rührung sich der Kranken bemächtigte; und ihr lange in die noch immer schönen, wenngleich gramdurchfurchten Züge schauend, fügte er mit bangem Seufzer hinzu: „O Gott, was müssen Sie gelitten haben!“ Dann nahm er die kleine Anna in seine Arme, drückte einen herzlichen Kuß auf das blonde Lockenköpfchen und sagte, während Thränen auf Thränen ihm über die Wangen liefen: „Gott sei gelobt! Endlich werde ich Ruhe finden!“

Die Kranke sah ihn sprachlos an. Eine fieberhafte Aufregung bemächtigte sich ihrer, je länger sie ihn anblickte; als er dann innig ihre beiden Hände ergriff und sagte: „Schwägerin, können Sie uns verzeihen!“ da sank sie mit lautem Aufschrei in ihre Kissen zurück und lag lange wie leblos da. Endlich that sie die müden Augen wieder auf: „Habe ich geträumt?“ fragte sie wirr um sich blickend; doch als sie den hohen stattlichen Mann, der jetzt seinen eleganten Zobelpelz abgelegt hatte, vor sich sah — da verfinsterte sich wieder ihre Stirne, Bild auf Bild trat vor ihre Seele und auf jedes fiel der Schatten dieses Unseligen, den sie als den Feind ihres Lebens, ihres Glückes betrachtet.

Sie gedachte ihrer Brautzeit mit Adolf von Salmen, dessen Liebe sie, die arme Lehrerstochter, so unendlich reich und glücklich gemacht hatte, dann der Weigerungen seiner Familie, sie anzuerkennen, der steten Kränkungen, die sie erfahren, — ihrer heimlich geschlossenen Ehe — des plötzlichen Todes des geliebten Mannes! — Sie begrub ihr Gesicht in beiden Händen und weinte bitterlich.

[S. 10]

„Wollen Sie mich hören?“ fragte Ernst von Salmen im warmen Tone; „ich habe Ihnen noch die Botschaft eines Sterbenden zu überbringen und suche Sie seit sechs Jahren vergeblich allüberall!“

Die Kranke richtete sich empor: „Von ihm?“ fragte sie, indem eine brennende Röthe das zarte Gesicht überflog.

„So hören Sie!“ begann Ernst von Salmen und eine Centnerlast schien mit jedem Worte von seinem Herzen zu weichen.

„Da ich vor sechs Jahren die Reise nach Wiesbaden mit Adolf unternahm, war er elend und fast aufgegeben; er hielt sich noch für gesund und glaubte, daß sein Husten nur ein anhaltender Catarrh sei, von dem er in Wiesbaden geheilt zu werden hoffte. Als ich eines Abends von einer Reunion zu Hause kam, hörte ich zu meinem Entsetzen, daß er einen Blutsturz gehabt; — ich fand einen Sterbenden! ‚Gut, daß Du kommst!‘ rief er mit stockender Stimme; ‚ich habe — Dir — Wichtiges — mit‘ — ein abermaliger Blutstrom entquoll seinen Lippen. Als er zu sich gekommen: ‚Helene ist meine — Frau — sorge — — für sie!‘ Kaum hatte er diese Worte ausgehaucht, so war auch sein Leben entwichen! Und wie habe ich Sie gesucht — um den letzten Willen des geliebten Todten zu erfüllen! Sie waren verschwunden!“ O, weinen Sie nicht! bat er, da er sah, wie die arme Frau in ein convulsivisches Schluchzen verfiel. „Sehen Sie, es giebt eine Vorsehung, die meine Schritte durch diesen Engel“ — er zog die Kleine herzlich an sich — „zu Ihnen geleitet! Lassen Sie uns jetzt gut machen, was wir Ihnen damals wehe gethan! Wir kannten Sie nicht! Sie wissen, daß Adolf dem Willen des verstorbenen Vaters gemäß seine Cousine[S. 11] Alma heiraten sollte — daher unsere Weigerung! Adolf’s Liebe zu Ihnen war stärker als der Respect, den er dem Verewigten schuldete — er heiratete Sie ohne unser Wissen, wie ich nach seinem Tode aus seinen Briefschaften ersah. Meine arme Mutter machte sich die heftigsten Vorwürfe! Sie hatte den innigsten Wunsch, ihres unvergeßlichen Sohnes geliebtes Kind an ihr Herz zu drücken — Sie waren indeß mit dem Kinde verschollen!“

„Als ich die Nachricht von Adolf’s Tode erhielt,“ entgegnete Helene unter Schluchzen, „verfiel ich in ein heftiges Nervenfieber. Meine Tante Ida nahm mich zu sich, pflegte mich, und als ich genas, verblieb ich den Sommer hindurch auf ihrem Landgute. Im Herbste trat ich eine Stelle als Erzieherin an — die Tante Anna hatte meine Kleine — von der ich mich, ach, wie schwer trennte, bei sich behalten! Mit Absicht habe ich jede Nachforschung unmöglich gemacht; ich wollte nach meines Adolf Tode kein Almosen von einer Familie, die mich einst — weil ich arm war — für unwürdig gehalten, in ihren Kreis einzutreten. Mein Stolz hat sich empfindlich gerächt. Nach einem Jahr starb die gute Tante — ich mußte meine Stellung aufgeben und das Kind zu mir nehmen. Fünf Jahre habe ich mein Leben als Privatlehrerin gefristet — o Gott, welch’ ein Leben! Was nützten mir meine Kenntnisse — ich konnte sie nicht verwerthen! Kaum verdiente ich, was wir zum Essen brauchten. Seit einem Jahre bin ich krank. Alles, was mir lieb und theuer war, ist in’s Leihhaus gewandert — mit blutendem Herzen trennte ich mich von meinen Kleinodien, die mir Adolf in jenen sonnenhellen Tagen des Glücks geschenkt!“

[S. 12]

„Genug!“ unterbrach sie Ernst von Salmen, da er sah, wie von Neuem ein Thränenstrom ihren Augen entquoll. „Ich danke Gott, daß er meine Schritte endlich zu Ihnen geleitet! Ich weiß, Sie sind keine Unwürdige — meine Mutter wird Sie und die gute Anna mit Freuden aufnehmen! Ich kann ihr keine schönere Weihnachtsfreude bereiten, als wenn ich ihr sage: Ich habe sie gefunden!“ „Können Sie mich begleiten?“ fragte er nach einer Weile. — Die Kranke schüttelte das Haupt. — „So führe ich meine Mutter noch heute zu Ihnen,“ entgegnete Ernst von Salmen, „aber das Kind, die liebe, süße Anna müssen Sie mir gleich mitgeben.“

Anna holte ihr verschossenes Wollkleidchen aus dem Schrank, die Kranke frisirte, während ihre Thränen reichlich floßen, das blonde Lockenköpfchen und begleitete sie mit ihren besten Segenswünschen, als der Onkel sie, wie er sagte, in ihre neue Heimat führte.

Kaum eine Stunde hernach kam ein gallonirter Diener mit einem großen Korbe in die ärmliche Stube. Er packte unzählige Pakete aus: Weinflaschen, Kuchen, Fleischspeisen, Kleidungsstücke — der kleine Tisch schien unter der Last zusammenzubrechen.

Bald nachdem er gegangen, trat, auf einen Stock gestützt, eine alte Dame mit silberweißen Locken in das Zimmer: „Laßt mich allein!“ bat sie die draußen Stehenden; dann wankte sie hin an das Bett der Kranken, nahm ihren Kopf in beide Hände und küßte sie lange und innig: „Meine Tochter!“ rief sie endlich, „kannst Du mir verzeihen? Willst Du mir gestatten, all das Unrecht gut zu machen, das —“

[S. 13]

„Ich bin eine Sterbende,“ unterbrach Helene; „meine Tage sind gezählt; mir kann man wenig noch helfen, aber meine Anna lege ich Ihnen an’s Herz, seien Sie ihr —“

„Regen Sie sich nicht auf!“ unterbrach Ernst von Salmen, der jetzt mit Anna an der Hand eintrat; „Anna ist das Vermächtniß meines verstorbenen Bruders — damit ist Alles gesagt. Doch was können wir jetzt für Sie thun?“ — Helene schwieg.

„Sie kommen zu uns, Helene!“ bat die alte Dame; „mein Wagen wartet; wir packen Sie in Betten, daß kein Lüftchen Ihnen nahe kommt!“

Traurig schüttelte die junge Frau das Haupt. — „Ich würde Ihnen nur eine Last sein!“

„Gönnen Sie mir die süße Beruhigung, Sie in meiner Nähe zu haben!“ bat die alte Dame. „Wie habe ich Sie doch so lange und leider vergeblich gesucht, nachdem ich wußte, was Sie meinem Sohn gewesen.“

Da Helene fühlte, wie aufrichtig es Frau von Salmen meinte, gab sie bald ihren Bitten nach. —

Welch’ ein Weihnachtsabend! Im Salon der Räthin Salmen waren die Kronleuchter angezündet, ein herrlich geschmückter Tannenbaum prangte in der Mitte und hinein in dieses Meer des Lichtes trug man in ihren Kissen die Kranke, die daheim kaum ein ärmliches Talglicht auf ihrem Tisch hatte. — Es gibt Freudengefühle, die jeder Beschreibung spotten!


Zehn Jahre sind nach jenem glücklichen Abend vergangen. Wieder ist es Weihnachten; wieder strahlen die Kerzen und Kronen in dem hochgewölbten, prächtig geschmückten[S. 14] Saale. Man erwartet glänzende Gesellschaft. — Helene von Salmen trifft mit bewunderungswerther Umsicht alle Vorkehrungen, sie empfängt die herzlichsten Glückwünsche der nach und nach Erscheinenden — ein Feuer reinsten Glücks strahlt aus ihren immer noch schönen Augen.

Man feiert heute das Verlobungsfest ihrer Anna mit dem Finanzrath Ernst von Salmen! Aus dem zärtlichen Onkel ist ein feuriger Liebhaber geworden, der kein anderes Glück kennt, als die „kleine Anna“ sein zu nennen. Anna ist zu einer herrlichen Mädchenknospe erblüht, deren körperliche und geistige Schönheit Jeden bezaubert. Doch wo weilt sie? Der Saal ist schon mit Gästen gefüllt. — Man frägt nach dem Brautpaar.

Endlich öffnet sich die Thür — Ernst von Salmen führt das bezaubernd schöne Mädchen in den Salon. Wie glüht es vor Freude und Leben! „Wir haben uns zu lange aufgehalten!“ bittet er um Entschuldigung, „aber Anna konnte sich von ihren Armen nicht trennen! Das gab ein Danksagen, eine Thränenfluth, eine Freude!“

„Ich habe meinen Armen ihren Weihnachtsbaum angezündet!“ erklärte Anna, „und nun, da ich Andere beglückt, will ich mich des eigenen Glückes freuen!“ Mit herzgewinnendem Lächeln nahm sie die Glückwünsche der Versammelten entgegen — es war als ob eine Wonne-Atmosphäre das ganze Haus durchströmte.

Niemand schien glücklicher, als Ernst von Salmen; mit bewundernden Blicken hing er an der anmuthigen, jugendfrischen Erscheinung, die dem geliebten Onkel heute zugesagt hatte, ihm für’s Leben anzugehören. Endlich führte er sie,[S. 15] nachdem Anna mit Allen freundliche Worte ausgetauscht, unter den reich geschmückten Weihnachtsbaum.

„Such’ Dir Dein Theil, Herz!“ sagte er. Sogleich fiel ihr Blick auf ein weißes, ungefähr handgroßes Schäfchen, das mitten unter Blumen versteckt schien. — Tausend Erinnerungen durchwogten ihre Brust — durch einen Druck sprang ein Deckel auf, — welch’ ein Meer des Lichtes strahlte ihr da entgegen! Ein herrlicher Brillantschmuck, wie sie ihn schöner nie gesehen! „Mutter, schau her!“ rief sie mit freudig erregter Stimme; dann sank sie ihrem Verlobten an die Brust und schien in der Gluth der Erinnerungen, Hoffnungen und seligen Gefühle, die auf sie einstürmten, zu vergessen, daß es nach diesem Augenblick noch eine Zukunft gebe, die ihr in goldenen Farben entgegen lachte. — Zwei Weihnachtsabende waren von Bestimmung für ihr Leben geworden — beide erhellt durch die Liebe eines edlen, gemüthreichen Mannes, dem sie heute ihr Lebensgeschick einte.

Schlussvignette „Weihnachtsschäfchen“

[S. 16]

Kopfvignette   „Ein improvisirtes Verlobungsfest“

Ein improvisirtes Verlobungsfest.
Humoreske.

Vor einem der belebtesten Cafés der Ringstraße sahen wir einen älteren, behäbig aussehenden Herrn seinen Mocca schlürfen, dann eifrig die Zeitungen durchstöbern, auch wohl die Passanten mustern. Auf hundert Schritt Entfernung glaubte man zu erkennen, daß er ein Ausländer sei, und doch ist Leopold Buchler ein gutes Wiener Kind, das noch in seinen alten Tagen von der Sehnsucht heimwärts getrieben wurde und die weite Reise unternommen, um seine Tage da zu beschließen, wo er sie begonnen, in seiner geliebten trauten Kaiserstadt, nach der es ihn, als er seine Geschäfte in Calcutta abgewickelt, wie mit Zauberbanden zurückzog. Da ist er nun heute nach zwanzigjähriger Abwesenheit zurückgekehrt, Alles ist ihm so fremd und neu, er hat noch keinen seiner alten Bekannten aufgesucht, doch späht er eifrig aus, ob ihm nicht ein günstiger Zufall den Einen oder den Andern entgegen führen würde. Wohl ist vielleicht Mancher, mit dem er sich einst gut Freund nannte, schon an ihm vorbeispaziert,[S. 17] doch vermochte er ihn nicht zu erkennen; in seiner Vorstellung sind sie Alle noch „flotte Bursche“, die da jetzt mit weißen oder ganz haarlosen Köpfen, in gebückter Haltung, sorgenvoll, gedankenschwer einhergehen; zwanzig Jahre sind in unserer leichtlebigen Welt, die die Menschen schneller altern, ihnen keine Zeit zur Ruhe und Erholung läßt, ein Zeitraum, der aus lebensfrischen Menschen müde Greise macht.

Leopold Buchler erkannte Niemanden, auch nicht den jetzt sinnend vor ihm stehen bleibenden breitschultrigen Mann, der dann einige Schritte vorwärts ging, sich alsbald umwandte und ihm dann derb einen Schlag auf die Schulter versetzte.

„Grüß Dich Gott, alter Freund!“ rief jener, der jetzt seiner Sache sicher zu sein schien; „was führt Dich wieder heim in unsere liebe Vaterstadt?“

„Roderich!“ rief Buchler jetzt, beide Arme ausbreitend und den Jugendfreund herzlich umarmend; „Dich, Dich habe ich nicht erkannt!“

„Dafür ich Dich auf den ersten Blick!“ rief jener, auf dessen gefurchtem, eingefallenem Gesicht jetzt Freude und Glück strahlte; „Du hast Dich aber auch prächtig conservirt!“ fuhr er, am Tische Platz nehmend, fort, „man sieht es Dir an, daß Du nur die Lichtseiten des Lebens kennen gelernt —“

„O Freund,“ unterbrach Buchler, „auch die Schattenseiten sind mir nicht verborgen geblieben!“

„Ich weiß,“ entgegnete Professor Detmold; „Du hast Deine gute Frau in der Blüthe der Jahre verloren. Wir sprachen gar oft von ihr und meine Anna weinte wie ein Kind, als die Nachricht von ihrem Tode einlief.“

[S. 18]

„Sie war eine seltene Frau!“ sagte Buchler, eine Thräne im Auge zerdrückend; „Jahre sind darüber hingegangen, ehe ich —“

„Das kann ich Dir nachfühlen“, unterbrach ihn der Freund; „auch ich habe, seitdem ich meine Anna verloren, keine rechten Freuden genossen.“

„Anna todt!“ sagte Buchler mit aufrichtigem Mitgefühl. „Wann hat Dich das Unglück getroffen?“

„Vor fünf Jahren!“ entgegnete Detmold, den Blick zur Erde gewendet.

„Und hast Du nie daran gedacht, Deinem Witwerstand ein Ende zu machen?“ forschte Buchler.

Der Andere sah ihn groß und fragend an. Ein stummer Vorwurf schwebte auf seinen Lippen, doch er vermochte ihm in seinem Schmerz nicht Worte zu leihen. „Wer wäre würdig genug gewesen, den Platz einzunehmen, den Anna inne gehabt!“ sagte er nach einer Pause. Beide Männer schwiegen; Buchler wollte offenbar etwas entgegnen, doch er besann sich und, auf ein anderes Thema übergehend, suchte er den Freund zu erheitern; er erzählte ihm, wie er vor einem halben Jahre sein Geschäft verkauft, wie dann die Sehnsucht nach der Heimat in ihm mächtig geworden und er beschlossen, alle Verbindungen abzubrechen und sobald als möglich westwärts zu steuern; so sei er denn vor drei Monaten von Calcutta abgereist und nach mancherlei Unterbrechungen, Aufenthalt in Italien, der Schweiz und dem Salzkammergute gestern glücklich in seinem lieben Wien angelangt.

„Und Du denkst Dich hier dauernd niederzulassen?“ forschte der Freund.

[S. 19]

„Ich suche soeben eine hübsche Stadtwohnung, von vier bis fünf Zimmern, die ich mir mit allem Comfort herzurichten gedenke!“

„Siehst Du, alter Knabe!“ rief Detmold hocherfreut, „das ist die gescheiteste Idee Deines Lebens! — Doch was willst Du mit einer so großen Wohnung?“ fuhr er nach einer Pause fort.

„Nun, nun,“ erwiderte jener sichtlich verlegen, „man mag doch nicht immer allein bleiben und dann erwarte ich“ — er hielt inne, da ihm ein Geständniß, das ihm schwer auf den Lippen schwebte, nicht so recht herunter wollte.

Doch Detmold schien dies kaum zu bemerken. „Hast auch Recht,“ nahm er das Wort, „daß Du Dir, nachdem Du auf eine gesegnete Thätigkeit zurückblicken kannst, das Leben angenehm machen willst! A propos!“ begann er nach kurzer Pause, während er mit Behagen seinen Mocca schlürfte, „da fällt mir ein, daß die Sectionsräthin Sturm in ihrem neu erbauten Hause am Ring eine prächtige Wohnung zu vergeben hat; sie bewohnt das Parterre, im zweiten Stock wohnt ein Börsianer, der erste Stock ist noch frei. Du kommst da gleich zu einem sehr angenehmen, geselligen Verkehr, die Räthin ist eine charmante, sehr gastfreie und unterhaltende Dame, die Töchter sind gebildete, überaus reizende Mädchen, in deren Umgang Du sicher —“

„Aber bester Freund, Du willst mir doch nicht gar eine Partie aufschwatzen?“

„Das will ich nicht, bei Gott!“ entgegnete Detmold ernsthaft; „weiß ich ja, daß Du Deine Marie nie vergessen wirst, und wenn schon die Räthin nach einem reichen Freier für ihre älteste Tochter ausspäht, lag mir eine solche Combination[S. 20] fern. Mich leitete nur der Gedanke, Dir, der Du hier fremd bist, ein gastliches Haus zu eröffnen —“

„Ich verstehe,“ unterbrach ihn Buchler, „und bin Dir dankbar für Deine Fürsorge. Wollen wir mit einander die Wohnung anschauen?“

„Du hast heute ganz über mich zu verfügen, alter Freund!“ entgegnete Detmold.

Gar bald standen die beiden Männer vor einem großen stattlichen Hause.

„Frau Räthin zu sprechen?“ fragte Detmold den Portier.

„Die Gnädige muß jeden Augenblick zurückkehren!“ entgegnete Jean.

„So nehmen wir einstweilen die Wohnung in Augenschein!“ sagte Detmold, die Treppe hinaufgehend. Kaum hatten die beiden Männer die Runde durch die mit allem Comfort eingerichteten Räume gemacht, als man unten einen Wagen vorfahren hörte.

„Unsere Frau Wirthin!“ sagte Detmold, der an’s Fenster getreten war, „willst Du mit ihr sprechen?“

Doch ehe dieser noch zu einem Entschluß kommen konnte, stand schon ein Diener vor ihnen, der die Herren bat, in den Salon der Frau Räthin hinunter zu kommen.

„Bist Du hier Hausfreund?“ neckte Buchler; „Madame ist ja sehr pressirt, Dich zu empfangen?“

„Oder richtiger, ihre Wohnung zu vermiethen! Der Portier hat ihr vermuthlich gesagt, daß ich mit einem Fremden hinaufgegangen.“

„Mein lieber, werther Professor, wie lange haben wir Sie nicht gesehen!“ erscholl es, als sie noch kaum den Salon[S. 21] betreten, aus dem Munde einer kleinen, runden Frau, der Detmold alsbald seinen Freund Buchler aus Calcutta mit dem Zusatze: „Millionär außer Dienst!“ vorstellte.

Die Räthin machte eine augenscheinlich tiefere Verbeugung, als sie eigentlich beabsichtigt, der „Millionär“ schien ihr gewaltig zu imponiren. Mit überaus gewinnender Liebenswürdigkeit lud sie ihn ein, neben sich auf dem Divan Platz zu nehmen und hatte gar bald mit der klugen Frauen eigenen Unterhaltungsgabe erkundet, was sie wissen wollte. Buchler war enorm reich, fünfundvierzig Jahre, wollte sich hier niederlassen, eine Wohnung mit allem Comfort einrichten, das Leben genießen! Er war noch ein hübscher, ansehnlicher Mann, mit dem selbst ein achtzehnjähriges Mädchen, so meinte sie, hätte glücklich sein können. Gar schnell war in dem Köpfchen der klugen Frau ein Plan gereift; ihre Camilla war 24 Jahre alt, aus der Verbindung mit dem mittel- und stellunglosen Doctor Richard könnte nichts werden, der Millionär, den ihr der Zufall in’s Haus geschneit hatte, mußte mit allen Mitteln der Coquetterie und Liebenswürdigkeit derart gefesselt werden, daß er, mochte er Heiratspläne haben, oder nicht, um Camilla werben mußte.

Dem arglosen Buchler sagte die sympathische unterhaltende Dame sehr zu; er fragte kaum nach dem Preis der Wohnung und erklärte, daß, obgleich er gern noch ein Fremdenzimmer eingerichtet hätte, er doch der angenehmen Geselligkeit wegen, die ihm Madame in Aussicht gestellt, auf eine größere Wohnung verzichten und diese miethen werde. Die Räthin war überselig; das war ihr in ihrer jahrelangen Praxis als Hausherrin noch nicht vorgekommen, ein Miether, der nicht einmal nach dem Preise fragte!

[S. 22]

„Er muß ein Nabob sein!“ sagte sie, nachdem die Herren gegangen, zu ihren Töchtern, die im Nebenzimmer die Unterhaltung mit angehört hatten, „wir können uns Professor Detmold zu aufrichtigstem Danke verpflichtet halten, daß er uns diese Bekanntschaft vermittelt.“ „Beste Mama,“ entgegnete Camilla, ein hübsches blondlockiges Mädchen, dem Freude und Lebenslust aus den Augen schauten, „wenn Du doch nur den alten, langweiligen Professor —“

„Thörin,“ unterbrach sie die jetzt völlig metamorphosirte Mutter, deren Blick ernst und finster geworden war, „Du könntest leicht Frau Professor sein, wenn Du es verstanden hättest, Deine Vorzüge zur Geltung zu bringen.“

„Soll ich dies vielleicht, da ich es bei Detmold unterließ, bei dem indischen Nabob versuchen?“ fragte Camilla schelmisch lächelnd.

Die Räthin schien den Spott nicht herauszuhören. „Gut, daß Du endlich einmal zur Vernunft kommst, Mädchen,“ sagte sie, dicht zu ihr heran rückend. „Ich will Dir all’ Deine bisherigen Unklugheiten verzeihen, wenn Du mir in diesem Punkte zu folgen versprichst!“

„Also, was soll ich thun, Mütterchen, um Deine Zufriedenheit zu erwerben?“ fragte Camilla, sich zum Ernste zwingend. „Mon Dieu,“ entgegnet die Räthin nach Worten suchend, „soll ich denn einem Mädchen von vierundzwanzig Jahren Vorschriften geben, wie sie sich benehmen soll, um ihre Zukunft zu sichern? Mr. Buchler wird unser Hausgenosse sein, wir werden selbstverständlich Gelegenheit haben, ihn öfter zu sehen, ihm bei seiner Einrichtung und Wirthschaftsführung an die Hand zu gehen, Du wirst Dich ihm als praktische Haustochter unentbehrlich machen, unser Freund Detmold ist sein[S. 23] Intimus, selbstverständlich wird das ‚Motto‘ gelten: ‚Les amis de mes amis sont aussi mes amis‘!

„Und weiter nichts als amis?“ spottete das übermüthige Mädchen. „Gut, Mama, auf diesen Vorschlag will ich eingehen; ich werde den alten indischen Nabob mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu umstricken suchen, verspreche Dir, ihm sogar, und wenn er uns täglich besuchen sollte, etwas vorzulesen, vorzusingen, vorzuspielen, vorzuweinen —“

„Du bist und bleibst eine Närrin!“ unterbrach sie die Räthin unwillig. „Doch ich erkläre Dir fest und entschieden, Camilla, daß, wenn Du all’ meine Pläne consequent kreuzen wirst, ich Dr. Richard von heute an den Verkehr in unserem Hause untersage.“

Das schöne Mädchen wurde nachdenklich.

„Aber Mutterlieb“, begann sie, ihre Arme um den Hals der kleinen Frau schlingend, „was hat Dir denn Adalmar gethan? Ist er nicht der beste Gesellschafter, der aufrichtigste Freund?“

„Und die aussichtsloseste Partie, die Du nur anstreben kannst!“ entgegnete die Mutter.

„Strebe ich denn eine Partie an?“ fragte Camilla verwundert.

„Das ist ja eben Dein strafbarer Leichtsinn, daß Du es nicht thust! Ein Mädchen in Deinen Jahren, ohne Vermögen, ohne Versorgung, hat die Pflicht —“

„Aber Pardon, beste Mama, sich doch nicht etwa einem alten, abgelebten Manne als Krankenpflegerin zu opfern?“

„Du kannst mich mit Deinen albernen Ansichten bis zur Verzweiflung bringen!“ entgegnete die Räthin mit dem Fuße stampfend; man sah jetzt, wie die noch eben im Verkehr mit[S. 24] den beiden Herren so äußerst einnehmende Frau bitterbös sein konnte, so daß sich ihre Züge bis zur Unkenntlichkeit entstellten. Schmollend verließ sie das Zimmer. Kaum war die Thür hinter ihr in’s Schloß gefallen, als Camilla ein Bild aus ihrem Notizbuch hervor nahm, und es, indem ihre Augen sich mit Thränen füllten, herzlich küßte. „Mein Adalmar, Dein auf ewig!“ flüsterte sie, „und wenn zehn indische Nabobs mir ihre Schätze zu Füßen legen wollten!“

II.

Leopold Buchler hatte seine herrlich eingerichtete Wohnung im ersten Stock bezogen; die Räthin war ihm in besonderer Liebenswürdigkeit bei der Beschaffung der Einrichtung hilfreich gewesen, sie hatte Tapezierer und Decorateure bei ihren Arbeiten überwacht, eine Haushälterin engagirt, Dienstboten aufgenommen — Buchler wußte in der That nicht, wie er der ihm vollständig fremden Dame ihre Freundlichkeit danken sollte. Madame war klug genug, bis jetzt nichts von ihren Töchtern hören zu lassen, Camilla hielt sich, so oft der „Nabob“, anders titulirte sie ihn nicht, bei ihnen vorsprach, consequent verborgen. Doch nun gab es zur Einweihung der neuen Wohnung ein Fest, bei dem selbstverständlich die Räthin die Honneurs machte und „sammt Familie“ eingeladen war. Buchler war in der That überrascht, die noch jugendliche Frau mit drei jungen Damen erscheinen zu sehen, die für ihre Schwestern hätten gelten können. In chevaleresker Weise machte er den jungen Damen, aber nicht minder der Mutter[S. 25] Complimente, und fast stieg schon in der noch immer feschen, lebenslustigen Frau die Idee auf: „Wie, wenn er Dich meint?“ Sie war vierundvierzig Jahre, konnte aber noch gut für sechsunddreißig gelten; einst eine berühmte Schönheit, waren ihre Züge immer noch angenehm, ihre Figur litt zwar durch die zunehmende Körperfülle, doch verstand sie so prächtig Toilette zu machen, daß Jedermann noch die schöne Räthin Sturm von ehemals sah.

Nur einen Augenblick konnte sie jenem Gedanken nachhängen, das Muttergefühl war stärker als der Wunsch für ihr persönliches Glück. Camilla glänzend verheiratet zu sehen, war ihr Hauptziel. Geschickt wußte sie Buchler in eine Unterhaltung mit Camilla zu verflechten und schien sichtlich erfreut, die Tochter so gesprächig und liebenswürdig zu finden, wie sie sie lange nicht gesehen.

Auch Camilla hatte ihren Plan; war die Mutter berechnend, so glaubte die Tochter noch berechnender sein zu sollen. Ja, sie wollte sich die Gunst des reichen Buchler, dessen Neffe, wie sie wußte, Professor Wenzel in Prag war, gewinnen. Wenn dieser ihrem angebeteten Adalmar zu einer Stellung an der Prager Universität verhalf, konnte selbst die ehrgeizige Mutter, die durchaus für sie eine „glänzende Partie“ anstrebte, nichts gegen ihre Verbindung einzuwenden haben.

Diesem Plane gemäß war Camilla von ausnehmender Freundlichkeit gegen Buchler, sie wußte ihm mit schalkhaftem Ernst dies und jenes pikante Histörchen zu erzählen, dann wieder ihn selbst zum Reden zu veranlassen, und da sie gar bald gewahrte, daß er mit Vorliebe von seinen fernen Besitzungen, seinem früheren Geschäft, der Seereise etc. sprach,[S. 26] war sie bald die aufmerksamste Zuhörerin, der zuliebe er die ganze, ihn umgebende Gesellschaft zu vergessen schien.

Die Räthin strahlte vor Wonne und Glück; nie hatte sie geglaubt, daß Camilla denn doch noch Raison annehmen und auf ihre Pläne eingehen werde. Man setzte sich zur Tafel; Buchler, der ursprünglich beabsichtigt hatte, die Räthin zu Tisch zu führen, fühlte sich derart von dem Reiz, den das junge Mädchen auf ihn ausübte, bestrickt, daß er an ihrer Seite blieb und auch, nachdem die Tafel aufgehoben war, stetig um sie bemüht blieb. Bald holte er Noten herbei, um sie zum Singen zu veranlassen, bald Kupferstich-Sammlungen, die sie, wie er meinte, interessiren müßten. Im Grunde interessirte sie nur, daß sie im Laufe der mehrstündigen Unterhaltung herausgebracht, Professor Wenzel sei ein sehr zugänglicher, liebenswürdiger Mann, dessen Besuch er, sobald die Hörsäle geschlossen, erwarte. Sie selbst nahm Buchler, als man sich trennte, das Versprechen ab, recht oft ihr Gast sein zu wollen, und um in ihrem bon-homme nicht etwa Hoffnungen zu nähren, die sie nicht zu erfüllen gewillt war, theilte sie ihm ganz im Vertrauen und unter dem Siegel des strengsten Geheimnisses mit, daß sie ihn mit einem hochbegabten jungen Manne, einem enthusiastischen Verehrer seines Neffen bekannt machen wolle, der, so sehr er ihr gefalle, das Unglück habe, der Mama zu mißfallen, da er stellenlos sei.

Buchler schien sich sichtlich durch das ihm geschenkte Vertrauen geehrt zu fühlen und gestand sich gar bald, daß er lange kein Mädchen gesehen, das bei eminentem Geist und gediegener Unterhaltungsgabe so viel Wahrheit und Natürlichkeit besäße.

[S. 27]

Als er wenige Tage hernach in der Wohnung der Räthin einen Besuch machte, fand er Dr. Adalmar Richard anwesend, der ihm, zum nicht geringen Erstaunen der Räthin, mit herzgewinnender Freundlichkeit entgegen kam. „Ahnt Adalmar in ihm keinen Nebenbuhler?“ fragte sie sich. Thut der doch sonst, wenn er irgendwo einen Rivalen wittert, als wollte er ihn vergiften.

Buchler seinerseits betrachtete mit sichtlichem Wohlgefallen den schönen jungen Mann, dessen edle hohe Gestalt, dessen geistfunkelndes Auge Jedem imponiren mußten. Mit Freuden nahm er Dr. Richard’s Vorschlag, ihn auf seinen Ausflügen in der Umgegend zu begleiten, an, lud auch die Räthin und Camilla zu denselben ein, da, wie er ziemlich unbeholfen sagte, „die Equipage ja nun doch einmal täglich gemiethet sei“.

Einem Andern würde die Räthin eine derartige taktlose Einladung nie verziehen haben, doch in diesem speciellen Falle schien die sonst in Etiquettefragen ungemein subtile Dame keine Verletzung des guten Tones zu finden; war ihr auch die Gesellschaft Adalmar’s ziemlich lästig, so hoffte sie doch, diesen bald in geschickter Weise beseitigen zu können, und dann galt ja auch die Gelegenheit, täglich des Nabob elegante Equipage zur Verfügung zu haben, sich an seiner Seite zeigen zu können, nicht wenig.

Die gute Frau legte sich gar manche Strapaze auf, sie war auf Promenaden, Landpartien, in Theatern und Concerten stets die vorsorglichste Garde-Dame und stellte es, wenn gute Freundinnen auf ein intimes Verhältniß hindeuteten, kaum in Abrede, daß Mr. Buchler ihr ein erwünschter Schwiegersohn sei.

[S. 28]

Dr. Richard war einige Wochen hernach, wie es hieß, nach seiner Heimat abgereist, in Wirklichkeit aber nach Prag, wo er sich auf Anrathen und Empfehlung Buchler’s an Professor Wenzel wenden sollte, um dessen Protection zu gewinnen. Täglich sandte er Briefe an Camilla, doch da die Räthin energisch gegen einen Briefwechsel protestirt hatte, machte der gutmüthige Buchler den Mittler und erntete für jedes Briefchen, das er Camilla heimlich zusteckte, tausend Dank. Diese Heimlichkeiten entgingen dem sorglichen Auge der Räthin nicht, doch lag ihr Alles ferner, als sie zu stören; sie war sogar unvorsichtig genug, ihrer Busenfreundin mitzutheilen, daß Buchler sterbensverliebt sei und Camilla täglich Correspondenzen sende, so liebeglühend, so feurig, daß sie sicher seiner Erklärung entgegensehen könne.

Buchler sprach jetzt auch öfter von einem Feste, das er demnächst zu geben beabsichtige, von lieben Verwandten, die zu demselben eintreffen sollten. Niemand fragte, wer diese Verwandten wären, Professor Detmold, der täglich im Hause verkehrte, hatte wohl gelegentlich von einer Nichte gesprochen, die bei Innsbruck auf einem Gute lebe, — vermuthete man, daß diese oder eine andere Verwandte kommen werde? Da man den zu erwartenden Besuch nicht kannte, interessirte man sich nicht für ihn. Gerne ließ sich die Räthin vom Professor Detmold von Buchler’s verstorbener Gattin unterhalten. Er schilderte sie als eine eminent schöne, geistbegabte Frau, der Buchler von ganzer Seele zugethan war. „Sonderbar,“ sagte die Räthin, „daß Buchler nie an eine Wiederverheiratung gedacht hat!“

„Das wundert mich durchaus nicht!“ entgegnete der Professor; „wer einmal wahr und rein geliebt hat, bleibt dieser Liebe getreu!“

[S. 29]

Die Räthin lächelte im Stillen; sie glaubte in Buchler’s Herzensangelegenheiten besser unterrichtet zu sein.

Die Beiden hatten nicht bemerkt, daß gleich bei Beginn ihres Gespräches die Portiere leicht gehoben worden, doch eben so schnell wieder fiel. Buchler, der gerade seinen Namen nennen hörte, war zurückgetreten. „Der gute Professor wird es Dir nicht verzeihen können,“ dachte er, „wenn er denn doch über kurz oder lang die große Neuigkeit erfahren muß.“ Leise ging er wieder hinaus und traf im Vorzimmer Camilla, der er ein eben erhaltenes Briefchen zusteckte. Sie dankte ihm herzlich und verschwand sogleich im anstoßenden Gemach. Die Räthin hatte die Thür gehen hören, ja, sie glaubte sogar Buchler’s Tritt erkannt zu haben. Eilig war sie hinausgegangen und kam noch zu rechter Zeit, um zu sehen, wie Camilla einen Brief freudestrahlend aus Buchler’s Hand in Empfang nahm.

Wiederum lächelte sie und dachte still für sich: „Was doch so ein Professor ungeachtet seiner Gelehrsamkeit stockdumm ist!“ Buchler eilte die Stiegen hinauf; die Haushälterin erwartete ihn schon an der Thür, um ihn zu fragen, ob er heute zum Frühstück Rinderfilet oder Kalbsbraten, Roth- oder Weißwein, Compot oder Salat wünsche.

„Liebe, beste Frau Lorenz,“ sagte er, sie um die Taille fassend, „fragen Sie mich nicht, ich weiß ja, was Sie mir vorsetzen, ist gut und schmackhaft.“

Frau Lorenz schien überglücklich ob dieses Compliments und tänzelte wie ein Backfischchen hinaus, um für den gnädigen Herrn Alles herzurichten.

„Alte Närrin!“ sagte Buchler ihr nachsehend, „ich glaube gar, sie hat sich heute geschminkt!“

[S. 30]

„Jean,“ rief er dem eintretenden Diener, „recherchire doch mal, ob die Lorenz nicht gar Schminktöpfchen und derlei Kleckserei gebraucht; es schien mir heut ganz“ —

„O, gnädiger Herr,“ unterbrach Jean lachend, „ich selbst habe sie ihr holen müssen und könnte Ihnen noch Manches erzählen, was sie anstellt, um Ihnen zu gefallen.“

„Nun was denn?“ fragte Buchler augenscheinlich belustigt.

„Früh vor dem Kaffee trinkt sie beispielsweise drei rohe Eier — das gibt klaren Teint, sagt sie, dann läßt sie sich kalt abreiben und frägt jedesmal hernach das Stubenmädchen: ‚Sehe ich jetzt frisch aus?‘ Dann geht es an’s Schnüren und Schminken, ich glaube sie braucht zwei Stunden, bis sie mit ihrer Toilette fertig wird.“

„Aber, mein Gott,“ unterbrach Buchler, „für wen putzt sie sich denn, die alte Schachtel?“

Jean lächelte verschmitzt. „Sie glaubt,“ entgegnete er, „der gnädige Herr würden sie“ —

Plötzlich schien ihm die Zunge wie gelähmt; das verhängnißvolle Wort wollte nicht über seine Lippen.

„Was würde ich?“

Jean blieb stumm.

„Aha,“ lachte Buchler hell auf; „ich bin ja für Euch — schon gut, schon gut,“ unterbrach er sich plötzlich und bedeutete Jean, das Zimmer zu verlassen. „Spaßhaft!“ sagte er dann; „hat mir der gute Detmold überall den Ruf eines reichen Witwers gemacht und noch heut habe ich nicht das Herz, ihm seinen guten Glauben zu nehmen!“ „Doch,“ fuhr er nach einigem Nachdenken fort, „weshalb auch? Die Sache ist amüsant! Meine liebenswürdige Wirthin glaubte, ich sei ein Prätendent auf Camilla’s Hand, die gute Lorenz hegt und[S. 31] pflegt mich wie ein neugebornes Kind, putzt sich für mich, schminkt sich, träumt wohl gar von mir — wahrlich, die alten Junggesellen sind gar nicht so bedauernswerth, wie ich stets geglaubt!“

Soeben öffnete die holde Hausfee die Thür und brachte auf einem silbernen Cabaret so viel herrlich duftende Speisen, daß man auch, ohne Appetit zu haben, sich zum Essen veranlaßt gefühlt hätte.

„Oho, meine gute Lorenz,“ sagte Buchler, „weshalb lassen Sie Jean nicht serviren?“

„Ich bringe es dem gnädigen Herrn lieber selbst!“ entgegnete die Angeredete, verschämt lächelnd.

„Sie denken, es schmeckt mir besser, wenn —“

„Wie gut der gnädige Herr meine Gedanken errathen können!“ unterbrach die Haushälterin.

Schon hatte sie Alles appetitlich aufgestellt und schickte sich eben an, einen Stuhl zu nehmen und sich dem Hausherrn gegenüber zu placiren.

„Warum, liebe Lorenz, halten Sie sich in so angemessener Entfernung?“ fragte Buchler gutmüthig lächelnd; „wollen Sie nicht bei mir auf dem Divan —“

„O bitte, gnädiger Herr,“ unterbrach sie erröthend, „das würde sich nicht schicken; muß unser Einer nicht auch auf Ehre und Reputation halten?“

Indem glättete sie die weiße, reich mit Stickereien besetzte Schürze, zog den Brustlatz gerade und lächelte so stillvergnügt in sich hinein, als hätte sie einen Haupttreffer gemacht.

„Wie alt sind Sie eigentlich, meine liebe Frau Lorenz?“ fragte Buchler, nachdem er sich reichlich bedient. Die Angeredete wurde über und über roth. „Achtundzwanzig!“ sagte[S. 32] sie, verschämt die Augen niederschlagend. Buchler lachte hell auf. „Achtundzwanzig? Da haben Sie sich ja prächtig conservirt! Ich hätte Sie höchstens für zweiundzwanzig gehalten!“

Das war denn doch zu stark! Ungläubig schaute ihn die Achtundzwanzigjährige, die bei sich selbst recht gut wußte, daß sie nahezu vierzig Lenze hinter sich habe, an, doch Buchler hatte sein Gesicht in so ernste Falten gelegt, daß sie in der That glaubte, sie habe sich mittelst der in letzter Zeit angewandten Schönheitsmittel derart verjüngt, daß man sie noch zu den Jugendlichen zählen könne. Diese Annahme steigerte ihre gute Laune; Buchler schien sich prächtig zu amüsiren, indem er mit Kennerblick beobachtete, wie sein keineswegs feines Compliment die Lebensgeister der alten leichtgläubigen Coquette erregte.

„Haben Sie mir, meine liebe Lorenz, gute Anschaffungen in Speis und Keller gemacht?“ fragte er nach einigem Nachdenken. „Wir werden da nächstens ein Verlobungsfest zu feiern haben, zu dem es —“

„Ein Verlobungsfest?“ unterbrach ihn die Lorenz, an allen Gliedern bebend.

„Ja, ein Verlobungsfest, meine Liebe, und Sie sind die Erste, die in das große Geheimniß, das Sie aber gehörig respectiren müssen, eingeweiht ist. Niemand im Hause darf eine Ahnung davon haben; ich beabsichtige eine große Ueberraschung und hoffe, daß, wenn schon gewisse Leute sehr verwundert sein werden, doch Alles nach Wunsch gehen und zwei Menschen dauernd —“

„O, Sie sind so gut, wie sie klug sind!“ unterbrach ihn Frau Lorenz, seine Hände ergreifend. „Ja, es ist besser, Alles bis dahin discret zu halten, sich nicht zu verrathen![S. 33] Ich verstehe Sie vollkommen und theile Ihre Ansicht.“ Dabei schaute sie ihn mit ihren ehemals gewiß schönen, funkelnden Augen so überselig an, daß Buchler, dem dann doch ein klein wenig um seine Herzensruhe bangte, es für das Beste hielt, schnell aufzustehen und sich zu entfernen. —

„Wie rücksichtsvoll und edel er ist!“ sagte Frau Lorenz überglücklich, indem Freudenthränen über ihre Wangen flossen. „Er fühlt sich nicht standhaft genug, mit mir allein zu bleiben, und entfernt sich lieber, um mich nicht zu compromittiren!“

Mit der noch eben schneeweißen Schürze trocknete sie die rothgeschminkten Wangen und, das Unheil bemerkend, das ihre Thränendrüsen angerichtet, eilte auch sie schnell in ihr Gemach, um durch Schmink- und Puderbüchsen ihrem, wie sie meinte, bezaubernden Gesichte seinen früheren Glanz zurückzugeben.

III.

Doctor Richard hatte bei Professor Wenzel die freundlichste Aufnahme gefunden. Wenzel war dem reichen Onkel, der ihn während seiner ganzen Studienzeit und auch noch hernach, als er schon die Examina hinter sich hatte, unterstützte, zu größtem Danke verpflichtet und sichtlich erfreut, eine Gelegenheit zu haben, diesen Dank abzustatten. Eine Professur an der Prager Universität war zu vergeben, doch war dies Sache des Unterrichtsministers, dem sich Dr. Richard, versehen mit Empfehlungsschreiben und eingeführt durch die denkbar günstigsten Protectionen, demnächst vorstellen sollte. Professor Wenzel galt als ein unparteiischer, streng rechtlicher[S. 34] Mann, dessen Empfehlung ein großer Werth beigelegt wurde. Gar bald stand es außer allem Zweifel, daß Dr. Richard demnächst als außerordentlicher Professor angestellt sein würde. Ueberglücklich meldete er dies dem guten Buchler, der sich ganz in die Rolle seines Beschützers hineingelebt hatte. Camilla wußte nicht, wie und wodurch sie dem kreuzbraven Mann, der, obgleich er ein Fremder war, ihnen ein so lebhaftes Interesse entgegenbrachte, danken sollte. Sobald sie ihn sah, leuchtete ihr Gesicht, sie eilte auf ihn zu und drückte ihm mit Herzlichkeit die Hand; sie hatte so viele kleine Aufmerksamkeiten für ihn, daß die Räthin, die sonst Camilla’s Zurückhaltung den Herren gegenüber stets getadelt hatte, fast zu glauben begann, Camilla liebe ihn wirklich. — Wenn sie dann mit ihr von der glänzenden Zukunft sprach, lächelte das junge Mädchen still vergnügt in sich hinein und sagte wohl manchmal: „Mütterchen, Du ahnst gar nicht, wie und warum ich unsern braven Buchler so lieb habe!“

„Ja aber, warum macht ihr denn nicht endlich Anstalt?“ fragte die sehr praktische Frau; „sein Haus ist eingerichtet, Deine Aussteuer ist längst fertig, ich weiß wirklich nicht, worauf ihr wartet.“

„Ein Geheimniß, Mütterchen,“ flüsterte Camilla überglücklich.

„Aber, beste Tochter, wer wird vor der eigenen Mutter Geheimnisse haben!“

„Ein klein wenig will ich Dir verrathen, aber Du darfst, nach dem, was ich Dir mitgetheilt habe, nicht weiter fragen!“

„Du machst mich wirklich neugierig.“

[S. 35]

Camilla rückte ihren Sessel ganz dicht an den der Mutter und flüsterte ihr in’s Ohr: „Buchler strebt einen Titel an! Er hat schon die einleitenden Schritte gethan!“

„Ah so!“ rief die Räthin erleichtert; „nun wird mir Alles klar! Aber was für einen Titel kann er denn —“

„Lieb’ Mütterchen, nicht weiter fragen!“ unterbrach sie Camilla, „das wäre gegen die Verabredung!“

„Du meinst einen Orden, mein Kind!“ entgegnete wiederum die Räthin, die ihren Scharfsinn vergeblich anstrengte, zu erdenken, welchen Titel ein Mann in Buchler’s Stellung erhalten könne. Doch Camilla hielt consequent den Finger auf den Mund gelegt und antwortete nichts weiter.

„Nun, die Sache ist spaßhaft,“ sagte die Räthin nach einer Weile, „nicht minder spaßhaft, wie das, was mir Buchler gestern über die Lorenz mitgetheilt.“

„Und was denn?“

„Denk’ Dir, diese alte Hexe bildet sich ein, er werde sie heiraten, und sie wendet alle möglichen Schönheitsmittel an, ihm zu gefallen.“

Camilla lachte laut auf. „Das ist in der That sonderbar! Ich vermuthete wohl, daß irgend Jemand seinem Herzen nahe stehe und weiß sogar, daß er, um Professor Detmold, der seine erste Gattin wie eine Heilige verehrt, zu schonen, nie davon sprach, doch — die Lorenz, die sollte doch längst über die Zeit, in der man Heiratsprojecte hegt, hinüber sein!“

„An ihr hat meine Camilla keine Concurrentin,“ sagte die Räthin, die anmuthige Gestalt des jungen Mädchens mit den Augen verschlingend.

[S. 36]

„Darüber kannst Du beruhigt sein, Mütterchen,“ entgegnete Camilla sichtlich belustigt; „Derjenige, der mich liebt, kennt keine Madame Lorenz!“

Wochen waren wiederum vergangen, Dr. Richard war zurückgekehrt und glaubte seine Professur so gut wie gesichert. Mit warmen Worten dankte er dem guten Buchler für seine Empfehlung, doch dieser wies jede Anerkennung zurück.

„Macht mir ja selbst die größte Freude,“ sagte er, „wenn ich Andern nützlich sein kann. Habe da nämlich,“ fuhr er nach einigem Besinnen fort, „einen verteufelt schönen Plan, an dessen Ausführung ich schon lange arbeite. — Denken Sie, Ihr Decret in vier Wochen haben zu können?“

„Wenn ich überhaupt der Glückliche bin, auf den die Wahl fällt, schon in vierzehn Tagen!“

Very well! Da versprechen Sie mir, Ihr Geheimniß so lange zu wahren, bis —“

„Doch Camilla darf erfahren,“ unterbrach Dr. Richard, „daß ich —“

„Camilla, ja, wenn sie schweigen und sich beherrschen kann. Ich erwarte nämlich heute in vier Wochen lieben Besuch, dem zu Ehren ich ein hübsches Familienfest arrangiren möchte. Ich habe die Räthin und auch Frau Lorenz schon für das Arrangement desselben interessirt und durchblicken lassen, daß man ein Verlobungsfest feiern wird. Beide gehen mit riesigem Eifer in’s Zeug, denn sonderbarerweise glauben sich Beide bei der Verlobung interessirt.“

„Meine Schwiegermama in spe wird doch nicht gar auf ihre alten Tage —“

„Ihre Braut war zartfühlend genug, Sie nicht von den Plänen ihrer Mutter in Kenntniß zu setzen,“ unterbrach[S. 37] Buchler; „die vorsorgliche Frau glaubte nämlich eine Verbindung ihrer Tochter mit —“

„O, ich errathe!“ rief Dr. Richard, indem er sich entfärbte und fast ohnmächtig in den Stuhl sank; doch bald sich fassend, fuhr er fort: „Und wie soll ich Ihnen nun doppelt, nein zehnfach danken, verehrter Freund, daß Sie, der Sie ja, wie ich weiß, Camilla so überaus schätzen, mir zuliebe Verzicht leisteten!“

„Machen Sie mich nicht zum Helden!“ entgegnete Buchler still lächelnd; „wer weiß, wenn —“ er hielt inne.

„Wenn Camilla Ihnen nicht kluger Weise gebeichtet hätte, daß sie mich liebt?“ forschte Dr. Richard.

„Nein, mein Freund, es spielt da noch ein anderes ‚Wenn‘, das bis in vier Wochen mein Geheimniß bleibt; — doch vertrauen Sie mir, Ihre Camilla wird die Ihrige, so wenig auch heute unsere gute Räthin daran denkt! Hat sie erst einmal die Einladungen zur Verlobung ausgesendet, die Arrangements getroffen und sieht sie, daß der alte Buchler so ein unverbesserlicher Hausnarr ist, der stets seine Extra-Possen im Kopf hat, so wird sie schon hernach —“

„Aber sie wird all’ ihren Bekannten sagen, daß Camilla ihre Verlobung mit Ihnen feiern wird?“ unterbrach Dr. Richard, die Stirne finster runzelnd.

„Halten Sie mich für einen solchen Schwachkopf, daß ich, wenn ich etwas in Scene setze, die Pointen vergesse. Ihre liebe Schwiegermama muß mir das Wort geben, Niemandem zu sagen, mit wem sich Camilla verlobt; es soll ihr und vielen Anderen eine Ueberraschung sein.“

Und in der That. Woche auf Woche verging, die sehnlichst erwartete Ernennung war eingetroffen, die beiden Liebenden[S. 38] hätten es zwar gern hinaus gejubelt in alle Lüfte, doch sie schwiegen eben so gern, da der gute Papa Buchler, wie sie ihn nun nannten, es so wollte. „Kinder,“ sagte er, zwei Tage vor dem längst besprochenen Feste, „heute begleitet Ihr mich zu der Bahn. Um 6 Uhr treffen meine Gäste aus Innsbruck ein!“

„Aber Sie wissen ja, bester Freund,“ entgegnete Dr. Richard, „daß Camilla nach dem neuesten Verdict der gestrengen Mama sich nicht mit mir zeigen darf!“

„So fahre ich mit Fräulein Camilla zur Bahn und wir treffen Sie draußen, Herr Professor,“ sagte Buchler, das letzte Wort so stark accentuirend, als thäte er sich selbst auf die neu verliehene Würde etwas zugute.

„Wollen Sie uns heute auch noch nicht sagen,“ forschte Camilla, „wen Sie erwarten?“

„Nun, meinethalben, wenn Sie mir versprechen, Freund Detmold nichts zu verrathen!“

Beide gelobten Schweigen und so begann Buchler, während sein Auge in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, strahlte: „Bald drei Monate sind es, daß ich mit meiner Frau in Triest landete —“

„Mit Ihrer Frau?“ unterbrachen Beide wie aus Einem Munde.

„Mit meiner Frau!“ bestätigte Buchler schmunzelnd. „Der gute Detmold hat mich hier in den Ruf eines trauernden, womöglich gar eines heiratslustigen Witwers gebracht, und da mich die Sache zuerst amüsirte, ich hernach, da ich sah, mit welcher Pietät er das Andenken an meine verstorbene Gattin bewahrte, sein zart besaitetes Gemüth durch die Mittheilung, daß ich seit zwei Jahren wieder vermält sei, zu[S. 39] verletzen fürchtete, störte ich die vorgefaßte Meinung nicht, um so weniger, da ich mich in jeder Hinsicht gut dadurch befand. Ihre Mama, liebe Camilla, wußte mir das Haus sehr angenehm zu machen, Detmold blieb mir ein treuer Freund und last, not least selbst meine gute Frau Lorenz hegte und pflegte mich, daß ich mich durchaus bei meiner Witwerschaft wohl fühlte. Vielleicht hätte ich schon eher den Schleier gelüftet, denn gar oft drückte es mir das Herz ab, daß ich zu Niemandem von meiner braven Gattin sprechen konnte, doch da kam Euer Liebesroman dazwischen, den ich mir nun einmal, ein närrischer Kauz, wie ich es bin, vorgenommen, zum definitiven Abschluß zu bringen. Consequent mußte ich also meine Rolle durchführen, sonst hätte ich morgen nicht das Vergnügen, Euer Verlobungsfest feiern zu können!“

„Sie guter, edler Mensch,“ riefen Beide, ihm zärtlich die Hände drückend.

„Doch nun,“ begann Camilla mit feinem Tact, „nun plaudern Sie uns von Ihrer Gattin, die ich wie eine Schwester lieb haben will!“

„Auch sie sehnt sich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Camilla, und zählt die Stunden bis —“

„Aber, verzeihen Sie meine Frage,“ unterbrach das junge Mädchen, „wie konnten Sie, ein so gemüthvoller, häuslicher Mann, es über sich gewinnen, drei Monate von einer sicher sehr liebenswürdigen Gattin getrennt zu sein?“

„Meiner Anna,“ entgegnete Buchler, „war schon in Calcutta eine Cur in Franzensbad verordnet worden; von Triest aus fuhren wir direct dorthin und nachdem meine Gattin einen geeigneten Kreis von Bekannten gefunden, beschloß ich, nach Wien zu reisen, um das Haus inzwischen so einzurichten,[S. 40] daß, wenn sie einträfe, Alles geordnet sei, in längstens vier Wochen hoffte ich, meine Gattin hier zu sehen, da will es der böse oder der glückliche Zufall, ich weiß es selber nicht, daß sie in Franzensbad eine Nichte trifft, die sie einladet, die Nachcur auf ihrem Gute bei Innsbruck zu halten. Der Aufenthalt in Franzensbad wurde auf sechs Wochen ausgedehnt, die Nachcur sollte nur vierzehn Tage in Anspruch nehmen, doch da erwartet man im Hause der Nichte einen kleinen Weltbürger und meine gute Anna kann selbstverständlich die Verwandte in dieser hoffnungsvollen Zeit nicht allein lassen; nun, Gottlob, ist aber Alles überstanden und — wenngleich ich mich in der Zeit meines Strohwitwerthums recht wohl befunden, zähle ich doch die Minuten, bis ich endlich meine Gattin in ihr Heim einführen kann!“

„Was nun die Mama sagen wird!“ rief Camilla nachdenklich; „ich glaube gar, sie bekommt einen ihrer Nervenzufälle!“

„Von denen sie der ‚Professor‘ heilen wird,“ entgegnete Buchler zuversichtlich. „Und nun, Herr Professor,“ fuhr er fort, „eilen Sie voran, ich folge in einer halben Stunde mit Fräulein Camilla.“

„Ob ich nicht doch besser thäte,“ begann diese, „die Mama vorzubereiten?“

„Sie würden mir meine ganze Freude verderben!“ entgegnete Buchler. „Die Mama kommt noch sehr gelinde mit einem kleinen Schreck für das in meinen Augen sehr strafbare Vergehen davon, daß sie des lieben Mammons willen ein junges, in echter Liebe für einen edlen, kenntnißreichen Mann entflammtes Mädchens einem abgelebten müden Manne zuführen wollte, den ihr Kind nicht lieben, ja kaum achten[S. 41] kann, wenn er herzlos genug ist, ihre Jugend an sein Alter zu ketten.“

„Verurtheilen Sie die Mama nicht!“ bat Camilla; „sie hat den Ernst des Lebens kennen gelernt und nach ihren Begriffen denkt sie am besten für mich zu sorgen, wenn —“

„Auch dem alten Detmold wollte sie Sie vermälen,“ unterbrach Buchler unwillig; „er ist mein Freund, doch ein eingefleischter Sonderling, daß ich nicht verstehen kann, wie eine sonst so praktische Frau, wie Ihre Mama, da so ganz unpraktisch verfahren kann, wo es gilt, das Glück ihres Kindes zu begründen!“

„Und Frau Lorenz?“ fragte Camilla nach einigem Nachdenken, „wird sie schweigen?“

„Glauben Sie nicht, daß meine Anna mir zuliebe ein wenig Comödie spielen kann? Niemand im Hause wird ahnen, daß sie meine Gattin ist; sie gilt für meine Nichte, bewohnt das Zimmer neben dem meinigen, zu dem Frau Lorenz schon in gutgemeinter Vorsorglichkeit den unlängst abhanden gekommenen Schlüssel hat anfertigen lassen; o glauben Sie, liebe Camilla, wir werden unsere Rollen trefflich durchführen und das Verlobungsfest noch lange in gutem Andenken behalten.“

„Wie habe ich es mir verdient, daß Sie sich meiner so warm annehmen?“ fragte Camilla, eine Thräne in ihren schönen Augen zerdrückend.

„Keine Reflexionen, Püppchen!“ sagte Buchler, ihr die Wangen streichelnd; „jetzt eilen Sie zu Mama und bitten sie um die Erlaubniß —“

„Madame Buchler feierlichst einzuholen!“ unterbrach Camilla, muthwillig lächelnd.

[S. 42]

„Bei Verlust meiner Freundschaft, keinen Verrath!“ sagte Buchler, mit dem Finger drohend. Doch schon war das junge Mädchen die Stiegen hinuntergesprungen und sandte bald hernach die Nachricht, daß Herr Buchler sie abholen könnte.

Im Salon empfing ihn die Räthin, die heute gegen ihre Gewohnheit ein ziemlich böses Gesicht machte. „Bester Freund,“ sagte sie, ihre Worte abwägend, „meine Camilla nimmt sich jetzt oft das Recht, ohne meine oder der Schwestern Begleitung in Ihre Wohnung zu gehen, sie verlangt sogar jetzt meine Einwilligung, allein mit Ihnen eine Spazierfahrt machen zu dürfen. Sie werden begreifen,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „daß ihr Ruf —“

„Aber meine beste Räthin,“ unterbrach sie Buchler, ihr gutmüthig die Hand auf die Schulter legend, „gedulden Sie sich nur noch zwei Tage und Alles wird sich klären! Glauben Sie mir, Camilla’s Ehre ist mir so heilig wie meine eigene und ich möchte um Alles in der Welt nicht —“

„Ich verstehe,“ unterbrach ihn die Räthin, durch seinen Hinweis sichtlich befriedigt, „ich weiß sie ja auch in Ihrer Gesellschaft gut aufgehoben und will nicht gleich einer bösen Schwiegermutter ein Störenfried sein —“

„O, dazu wird es nie kommen!“ entgegnete Buchler, verschmitzt lächelnd; doch die Räthin verstand ihn nicht und da Camilla freudestrahlend jetzt eben eintrat, sagte sie gut gelaunt: „Nun Kind, da mir unser Freund Buchler mittheilt, daß sich in den nächsten Tagen etwas vorbereitet, will ich Dir die Erlaubniß, mitzufahren, nicht versagen. —“

„Wie, Sie haben geplaudert?“ fragte Camilla erröthend.

„Nein, meine liebe Camilla,“ sagte Buchler, der schon fürchtete, daß das junge Mädchen, ihrem Drange nach Mittheilungen[S. 43] folgend, seinen ganzen wohldurchdachten Feldzugsplan stören werde; „bei mir heißt es nicht: Weß das Herz voll ist —“

„Nun, nun,“ drohte die Räthin mit dem Finger, „der Mund geht doch manchmal über, wenn er es auch nicht eingestehen will!“

Doch schon hatte Buchler, um sich auf keine Discussion einzulassen, Camilla’s Arm in den seinen gelegt und war mit ihr, höflich grüßend, hinausgeeilt.

Zufrieden lächelnd, blickte ihr die Räthin nach, wie sie in die elegante Equipage einstieg, und murmelte still vor sich hin: „Ist sie nicht ein rechtes Glückskind?“

IV.

Die Gesellschaftszimmer in der Buchler’schen Wohnung waren glänzend erleuchtet. Der Hausherr hatte all’ seine Bekannten und Freunde eingeladen, Frau Räthin Sturm die ihrigen; auch Camilla’s Freundinnen waren zahlreich vertreten, sie selbst erschien an der Seite ihrer Mutter in herrlichem Schmuck; eine rosa Seidenrobe, reich mit Rosen und Maiglöckchen garnirt, umgab die anmuthige Erscheinung; für Jeden hatte sie ein bezauberndes Lächeln, für Buchler einen herzlichen Händedruck; leise flüsterte sie ihm etwas in’s Ohr, worauf er in’s anstoßende Zimmer hindeutete. Der Räthin Blick folgte seiner Handbewegung, doch kaum glaubte sie sich halten zu können, als sie dort Dr. Richard, dem sie schon seit vier Wochen jeden Verkehr mit Camilla untersagte, stehen[S. 44] sah und gewahrte, wie er der Tochter soeben eine Kußhand sandte.

„Aber, bester Buchler,“ sagte sie, sich fassend, „wie konnten Sie Dr. Richard einladen?“

„Das wird Ihnen, verehrte Räthin, meine liebe, kleine Frau sogleich erzählen!“

Dies sagend, nahm er die vermeintliche Nichte, eine blühend hübsche Frau von ungefähr fünfunddreißig Jahren, an der Hand und sie der Räthin zuführend, fuhr er lebhaft fort: „Erlauben Sie, daß ich Ihnen zunächst meine Frau —“

„O, machen Sie keinen Scherz, spielen Sie keine Comödie!“ unterbrach ihn unwillig die Räthin.

„Mein Mann hat sich in der That einen kleinen Scherz erlaubt,“ nahm Frau Anna das Wort, „um —“

„Ihr Mann? Ihr Mann?“ unterbrach dunkelroth vor Zorn die Räthin.

„Herr Buchler, haben Sie es gewagt, meine Tochter in Verruf zu bringen, so —“

Sie ballte, aller Etiquette vergessend, drohend die schönen Händchen, die Worte versagten ihr, doch beherrschte sie sich, um Niemandem ahnen zu lassen, daß sie vor Wuth und Weh hätte aufschreien mögen.

Frau Anna, die offenbar Mitleid mit der dupirten Frau hatte, nahm ihren Arm und führte sie mit den Worten: „Ich werde Ihnen über Alles Aufklärung geben!“ in’s Nebenzimmer.

„Ah, Herr Professor!“ sagte sie, als sie anscheinend unvermuthet da den Dr. Richard gewahrte, „macht Ihre neue Würde Sie so stolz, daß Sie sich ganz von der Gesellschaft zurückziehen?“

[S. 45]

Die Räthin horchte überrascht auf und Frau Anna, bemerkend, daß sie Ihren Zweck erreicht, fügte zu ihr gewendet hinzu: „Herr Professor Richard denkt in acht Tagen seine neue Stellung in Prag anzutreten!“

„Was höre ich?“ rief die Räthin, die mit einem Blick die Situation erkannt und beschlossen hatte, aus ihr den bestmöglichen Nutzen zu ziehen, „Sie sind zum Professor ernannt und lassen uns davon nichts wissen?“ fragte sie halb vorwurfsvoll, halb beleidigt.

„Sie vergessen, Frau Räthin,“ sagte der junge Mann würdevoll, „daß Sie mir seit Kurzem den Verkehr in Ihrem Hause untersagt haben und daß —“

„Aber mein bester Professor,“ unterbrach ihn die Räthin, ihr liebenswürdigstes Lächeln auf ihre Wangen zaubernd, „was ist eine Mutter nicht verpflichtet zu thun, wo es gilt, Ruf und Zukunft ihres Kindes zu wahren?“

„So würden Sie,“ sagte der junge Mann, die dargebotene Hand ergreifend, „dem Professor gestatten, was Sie dem stellenlosen Aspiranten versagten?“

Die arme Frau schien einen harten Kampf mit sich zu kämpfen, doch nur einen Augenblick. Die Gäste waren geladen, die Verlobung Camilla’s inscenirt, Buchler war bereits verheiratet — was blieb ihr übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen?

„Mein sehnlichster Wunsch ist,“ sagte sie mit Würde, „meine Camilla glücklich zu sehen; wenn Sie ihr, woran ich jetzt nicht zweifle, eine gesicherte Zukunft bieten können —“

„Das kann er,“ unterbrach jetzt Buchler, der hinter der Portiere Alles gehört; „ich übernehme die Garantie, daß[S. 46] unser Freund in zwei Jahren ordentlicher Professor ist, und bis dahin reichen, wie ich sicher weiß, seine —“

„Meine Camilla,“ unterbrach die Räthin selbstbewußt, „ist ja auch nicht mittellos, und wenn sie Sie gern hat, so —“

„Fräulein Camilla, Fräulein Camilla!“ rief jetzt Buchler in den Saal hinein, „kommen S’ mal schnell her und sagen S’ mal, ob Sie den da gern haben?“

Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden war mit einem Male auf das kleine Cabinet gerichtet, auf das Camilla jetzt schnell zueilte.

„Ob ich ihn gern habe?“ rief sie, in Adalmar’s geöffnete Arme eilend und seine leidenschaftlichen Küsse herzlich erwidernd. Die Räthin zerdrückte ein Paar Thränen, man wußte nicht ob vor Rührung oder Wuth, sich so mystificirt zu sehen, Buchler umarmte seine Frau und stellte sie jetzt in aller Form den Anwesenden als die Herrin des Hauses vor. Professor Detmold ging still bei Seite und murmelte sich etwas von Treulosigkeit und Undankbarkeit in den grauen Bart, Frau Lorenz, die heute die denkbar schönsten Schmachtlöckchen gedreht und ihre großblumige Seidenrobe angelegt hatte, bekam plötzlich einen Weinkrampf und mußte auf ihr Zimmer geführt werden, doch all das hinderte nicht das Glück des jungen Paares, das jetzt herzlichst von allen Seiten beglückwünscht wurde.

„Nein, diese Ueberraschung!“ hieß es allerseits, „wir waren auf ganz etwas Anders gefaßt!“ „Ich weiß, ich weiß,“ sagte die Räthin halblaut, „doch konnten Sie im Ernst denken, daß ich Camilla’s Jugend- und Lebenslust den Launen eines alten, abgelebten Mannes opfern würde? Zudem,“ setzte sie stolz hinzu, „wußten wir ja längst, daß er verheiratet sei; wie hätte ich sonst meiner Tochter gestattet, so intim mit ihm zu verkehren!“

[S. 47]

„Sehen Sie, gute Räthin,“ sagte eine alte Klatschschwester, „wie man Sie da ungerecht beschuldigt hat! Jedermann glaubte, man wußte selbst nicht, wer das Gerücht ausgesprengt, Camilla sei die Braut des —“

„Ha, ha, ha,“ lachte die Räthin anscheinend belustigt, „meine Tochter ist seit zwei Jahren mit Professor Richard versprochen, und wenn ich mir selbst hie und da eine kleine Mystification erlaubt, so geschah es nur, weil mich das Gerede belustigte, das sich, seitdem Herr Buchler zu uns gezogen, überall entsponnen.“

„Sind Sie mir böse?“ fragte der Hausherr die Räthin, als er eben erspäht hatte, wie sie allein in einer Fensternische stand.

„Ich schätze Sie zu hoch,“ entgegnete die kluge Frau, „um etwas an Ihrer Handlungsweise tadeln zu können, bin ich doch sicher, daß Adalmar nur Ihnen seine Berufung —“

„Pardon, wenn ich Sie unterbreche, Adalmar ist ein so kenntnißreicher talentirter junger Mann, daß, wie mir Professor Wenzel schreibt, er auch ohne jegliche Protection reussirt hätte!“

„Darüber habe ich nun so meine eigenen Gedanken!“ sagte mit abwehrender Bewegung die kleine Frau, „doch wie dem auch sei — Adalmar ist heute in einer Stellung, daß ich ihm gern meine Tochter zur Frau gebe, und Sie, Sie haben uns eine so herrliche, liebenswürdige Dame als Ihre Gattin vorgestellt, daß ich Sie nur bitten kann, unsere früheren freundschaftlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten.“

„An Ihnen ist ein Diplomat verloren gegangen, liebe Räthin,“ sagte Buchler, der wohl erkannte, wie schwer es der Räthin wurde, gegen ihn in dieser Weise liebenswürdig zu[S. 48] sein, „aber auch meine Anna ist eine Diplomatin, und daß ich es Ihnen nur offen gestehe, sie ist die eigentliche Urheberin des ganzen Planes; als ich ihr mittheilte, wie sehr mich Ihre Camilla interessirt, wie sie unglücklich liebt und von dem Manne ihrer Wahl getrennt werden soll, da war sie es, die mir die Idee eingab, den jungen Leuten hilfreich zu sein, und, schrieb sie damals, wenn Du meine volle Anerkennung erringen willst, so manövrirst Du so, daß das Fest, das Du bei meinem Eintreffen geben willst, gleicher Zeit Camilla’s Verlobungsfest ist.“

„Nicht der gewandteste Regisseur,“ entgegnete die Räthin, „hätte das Stück besser in Scene setzen können — nur, lieber Herr Buchler, einen kleinen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen: Warum haben Sie mich nicht ein bischen hinter die Coulissen gucken lassen?“

„Ich habe strengstes Amtsgeheimniß gelobt!“ entgegnete Buchler, „und war für den Erfolg des Stückes meinem in Innsbruck weilenden Oberregisseur verantwortlich.“ Er schaute sich im Saal um, um seinen Oberregisseur zu suchen, doch dieser schien verschwunden. „Wo ist meine Anna?“ fragte er Professor Richard, „ich sah sie zuletzt mit Ihnen sprechen?“

„Man hat sie eben zu Frau Lorenz gerufen, die sie in wichtiger Angelegenheit zu sprechen verlangte!“

Eilig durchschritt Buchler mehrere Räume und war endlich am Zimmer der Haushälterin, deren Schluchzen er schon von fern hörte, angelangt.

„Sagen Sie mir, Sie selbst,“ bat sie mit geschlungenen Händen seine Gattin, „ob es denn wahr ist, wahr sein kann, daß Sie — Sie seine Nichte — nun mit einem Male seine Gattin sein sollen?“

[S. 49]

„Und was kann Sie denn dabei, meine liebe Frau Lorenz, in eine solche Aufregung versetzen?“

„Ach mein Gott, mein Gott!“ rief die arme Frau, „unser Einer hat doch auch ein Herz, und der gnädige Herr war stets so gut mit mir, und dann sprach er von einem Verlobungsfest, ich solle mich nur recht schön machen, damit er Ehre einlegen könne, er wolle mich zuvor schon all seinen Verwandten vorstellen, und dann kamen Sie, gnädige Frau, und er sagte: Siehst Du, liebe Nichte, das ist meine liebe Lorenz, die so brav für mich gesorgt hat, daß —“ Thränen erstickten ihre Stimme.

„Nun ja, meine liebe Lorenz,“ sagte der Hausherr jetzt hervortretend, „haben Sie bisher brav für mich gesorgt, so will ich auch ferner brav für Sie sorgen; daß indeß Ihr liebebedürftiges Herz meiner Frau Concurrenz machen wollte, geht doch nicht! Wenn Sie mir sagen wollen, auf wen Ihre schönen, schwarzen Augen sonst einen Eindruck gemacht —“

„Jetzt führen Sie nun schon wieder so gottlose Reden!“ unterbrach ihn unwillig Frau Lorenz; „da haben Sie mir so lange von meinen schönen, schwarzen Augen gesprochen, bis ich dumm genug war, daran zu glauben, daß, daß —“ sie schluchzte wiederum so heftig, daß Frau Anna jetzt ihrem Gatten ernstliche Vorwürfe machte, ein, wie sie in gut angenommenem Ernst sagte, so frevles Spiel mit den heiligsten Empfindungen des Frauenherzens getrieben zu haben.

Frau Anna schien sich prächtig auf das Gardinenpredigen zu verstehen, so prächtig, daß selbst der grollenden Schönen, die Alles für baare Münze nahm, es nun genug des grausamen Ernstes schien und sie selbst der von sittlicher Entrüstung erfüllten Gattin in’s Wort fiel und um[S. 50] Schonung für Denjenigen bat, dem sie ungeachtet der bitteren Enttäuschung doch nicht ernstlich gram sein konnte.

Die beiden Gatten kehrten, nachdem die Lorenz sich endlich in ihr Unglück zu finden schien, in den Salon zurück wo man eben im Begriffe war, zu Tisch zu gehen.

Das glückliche Brautpaar saß obenan, die Räthin nahm ihm zur rechten, das Buchler’sche Ehepaar zur linken Seite Platz. Professor Detmold war verschwunden. Man toastirte, aß, trank und war in heiterster Stimmung. Professor Richard war die Hauptperson des Abends; man beglückwünschte ihn nicht nur zu der schönen Braut, die ihm ja, wie Alle nun trotz aller gegentheiligen Annahmen sehr wohl wußten, längst verlobt war, mehr noch zu der so schnell erlangten Professur, die seine Zukunft zu einer so glänzenden gestaltete. Die Frau Professorin in spe leuchtete vor Wonne und Seligkeit, und als die Champagnerkorke knallten und Alles in Lust und heiterer Laune aufjubelte, umarmte sie die auf ihr dereinstiges Familienglück toastirende Mrs. Buchler, und als deren Gatte nun auch sein Theil begehrte, sich als den eigentlichen Anstifter des heutigen Festes gerirend, da hatte auch er einen herzlichen Kuß weg, ehe er recht wußte, wie ihm geschah.

Dem so sonderbar improvisirten Verlobungsfeste folgte einige Monate hernach ein von der Räthin ganz nach strengstem Hofceremoniell inscenirtes Hochzeitsfest.

„Mein Schwiegersohn, der Herr Professor!“ war bei ihr stehende Redensart geworden; er war jetzt der vorzüglichste, tüchtigste, strebsamste Mensch, und so oft sie Camilla an seiner Seite sah, intonirte sie die schon ehedem angewandte Redensart: „Ist sie nicht ein rechtes Glückskind?“

Schlussvignette „Ein improvisirtes Verlobungsfest“

[S. 51]

Kopfvignette „Aus   dem Leben eines Gründers“

Aus dem Leben eines Gründers.

Ich war im Theater. Eben war der Vorhang gefallen, das Publikum klatschte enthusiastisch Beifall. Frau von Straß hatte in Laube’s „Böse Zungen“ ihren zündenden Monolog gehalten und wurde durch mehrmaligen Hervorruf geehrt.

Noch ganz unter dem Einflusse des herrlich gemalten Zeitbildes, das da vor unsern Augen entrollt worden, bemerkte ich nicht, wie der Logendiener an mich herantrat; erst als er ein versiegeltes Briefchen mir dicht vor die Augen hielt, wandte ich mich um.

„Ein Kellner aus dem Hôtel de Russie wartet auf Bescheid!“ sagte er mir.

Ich erbrach das Schreiben. Es waren die Schriftzüge meines Jugendfreundes Berg, doch zitternd und flüchtig. Er schrieb:

„Eile zu mir; meine Stunden sind gezählt; ich habe Dir wichtige Mittheilungen zu machen!“

Ich griff nach Hut und Stock und folgte dem draußen harrenden Diener.

[S. 52]

Aufregende Vermuthungen durchzuckten mein Hirn; wie kommt Berg hierher? fragte ich mich; hat er wieder eine verunglückte Speculation, einen Kampf mit der Regierung? Doch schon war ich vor dem Hotel angelangt.

„Sie werden erwartet, eilen Sie!“ sagte mir am Eingang Professor Sonn; „ich komme soeben von Ihrem Freunde, er ist hoffnungslos.“

Ich flog die Treppe hinan, schon hatte der Diener die Thür geöffnet; ein halblautes, unterdrücktes Stöhnen drang an mein Ohr. Ich schlug die Portieren zum Seitenzimmer zurück und blickte in das matte, halb gebrochene Auge des einst so lebensfreudigen, thatendürstenden Mannes.

Wohl mit einer gewaltigen Schmerzensregung kämpfend, hatte er mich nicht erblickt; ich stand vernichtet; ich hörte mein Herz klopfen und hatte nicht den Muth, eine Frage an den Kranken zu richten, fürchtend, er könne am Ton meiner Stimme meine Gemüthsaufregung und seine Hoffnungslosigkeit erkennen.

Jetzt erhob er den Blick. „Bist Du’s endlich!“ sagte er, mir die matte Hand entgegenstreckend, „o wie freue ich mich, Dich noch einmal zu sehen; seit heute Mittag sende ich schon Boten aus, die Dich weder im Geschäft, noch an der Table d’hôte, noch —“

Er konnte nicht vollenden; angstvoll griff er nach der Herzgegend, als ob da ein Krampf wüthe, der ihn zu ersticken drohte. — Er rang nach Luft; die Hände auf die Brust pressend, röchelte er mit gewaltiger Kraftanstrengung; es sollten Worte sein, doch verstand ich sie nicht zu deuten. „Dort! Nimm!“ brachte er endlich mühsam heraus, mit dem Finger auf ein aufgeschlagenes Buch deutend. Der Krampf[S. 53] schien sich zu legen, er sank ohnmächtig in die Kissen. „Lies!“ hauchte er mit matter Stimme, nachdem er eine Weile geruht. Ich durchblätterte das Buch, es war von seiner Hand geschrieben. „Meine Schicksale!“ begann er mit sichtbarer Anstrengung. „Ich gehe als ein Nichts aus der Welt und weiß doch, daß ich dieser Welt eine übermenschliche Thatkraft geweiht habe. Ich habe Gutes gewollt,“ setzte er nach einer Weile hinzu, „meine Mittel waren edel; ich hatte die Anerkennung von Fürst und Volk — —“

Ein wiederholter Krampfanfall, dann, nach einigen Minuten qualvollen Ringens ein heftiger Blutsturz — Berg lag als Leiche in meinen Armen.

Ich war versteinert; den Kopf des todten Freundes in meinen Händen haltend, saß ich regungslos da; ich fühlte nichts, ich dachte nichts, eine gänzliche Starrheit lähmte mir die Glieder.

„Mein Theodor!“ rang es sich endlich schmerzerfüllt aus meiner Brust empor; ich drückte einen langen Kuß auf die eisig kalte Stirn und weinte bitterlich.

Die Thräne hat eine erlösende Kraft; so selten sie im Auge des Mannes ist, so schwer muß das Schicksal sein, das sie aus ihrem finstern Verließ an’s Licht ruft. Je mehr der Thränen mir in den nun schon silbergrauen Bart rannen, desto mehr Bilder und Erinnerungen, die sich an das Leben des Entschlafenen knüpften, tauchten vor meinem geistigen Auge auf.

Wir hatten die Schulzeit gemeinsam zurückgelegt, hatten als Studenten gezecht und gepaukt, uns gemeinsam in unserer Sturm- und Drangperiode die weitesten Ziele gesteckt und sie zu erreichen geglaubt, im Mannesalter redlich gerungen[S. 54] um die höchsten Güter der Menschheit, um Familienglück und Völkerwohl, und nun —

Wieder überlief es mich eiskalt. Ich legte das Haupt des müden Kämpfers zurück in die Kissen, säuberte meine Kleider und griff nach dem Vermächtniß des Jugendfreundes. Er schrieb:

Mein Karl!

Ich habe heute nach sechsmonatlicher Untersuchungshaft das Gefängniß verlassen; der Arzt erklärt mir, daß ich mich rüsten möge, in die große Armee einzutreten; vielleicht gibt mir der Herr der Heerschaaren, ehe er mich als treuen Recruten mit obligatem Eide verpflichtet, noch Zeit und Kraft, Einiges zu erzählen, das Klarheit und Wahrheit in ein viel angefeindetes, oft absichtlich verkanntes, oft schnöde beurtheiltes Leben bringen wird. Ich fühle mich zwar unendlich schwach; der Mangel jeden Comforts, die ungesunde Luft im Gefängnißraum, schlechte Kost haben den ohnehin verwöhnten und kranken, der besten Pflege bedürftigen Körper zum Siechthum gebracht.

Was liegt daran? — Ich hatte meine Mission erfüllt, oder zu erfüllen geglaubt; nicht Eigennutz, Du weißt es, war die Triebfeder meines Handelns. Millionen flossen durch meine Hände, für mich blieb nur, was ich als anständiger Privatmann nöthig hatte. Fürsten und Herzoge verkehrten bei mir, ich blieb wer ich war, der einfache Industrielle, der als solcher stolz auf seine Verdienste war und Adelsdiplom und Orden von sich wies.

Als Du vor zwei Jahren in B. mein Gast warst, stand ich im Zenith meiner Thätigkeit. Von da ging es rasend bergab; ich verlor, was ich mühsam erworben, Geld[S. 55] läßt sich zwar verschmerzen, es kommt auch wieder, aber, was mich tiefer drückte, meine redlichen, nur auf das Gemeinwohl gerichteten Bestrebungen wurden verdächtigt; wo ich, um wohlzuthun, Geld mit vollen Händen ausstreute, da hieß es: eitele Prahlerei. Ich konnte nun einmal nicht einsehen, daß Tausende darben sollten, damit Einer genieße. Du weißt, ich ließ damals, als der Prinz X. sich bei mir ansagte und in Folge dessen schon Einladungen an die haute finance und Adelsgesellschaft ergangen waren, plötzlich unter dem Vorwande, meine Frau sei erkrankt, absagen; man hatte mir die Berechnung des Festes auf dreitausend Thaler gemacht; diese Ausgabe, angesichts der allgemeinen Arbeitslosigkeit und grimmigen Kälte, die Tausende armer Menschen vor Frost umkommen ließ, schien mir zu groß für die Freuden einer Ballnacht. Ich legte eine gleiche Summe dazu und gab Auftrag Holz an die Armen der Residenz vertheilen; die mir entstehenden kleinen häuslichen Zwistigkeiten meiner Frau, die sich auf den glänzenden Ball piquirt hatte, ließen mich diesmal kalt; mir war es im Herzen so herrlich warm, dachte ich daran, wie die Eisblumen an den Fenstern der Armen vor der belebenden Gluth des Ofens schwanden, die steifen Glieder sich wieder bewegen lernten, und Tausende, ohne zu wissen, wer ihnen wohlgethan, des Wohlthäters dankend gedachten.

Ja, Karl, dieser leidige Idealismus trieb mich mancher „Thorheit“, wie es die Leute nennen, in die Arme. Warum hat auch der Mensch ein Herz, das Theil nimmt an den Leiden und Freuden seiner Mitmenschen? — Und doch könnte ich heute von Neuem mein Leben beginnen, ich würde von Neuem so anfangen. Es gibt Irrungen, die so süß sind,[S. 56] daß man viel Bitteres in den Kauf nehmen und doch sagen kann: „Das Leben ist werth, gelebt zu werden!“

Zwei unheilvolle Jahre trennen uns. Höre also! Ich hatte damals den Adel refüsirt; Du weißt, ich verachte Alles, was äußerlich ist. Innerlich fühlte ich mich jedem Adeligen mindestens vollkommen ebenbürtig, wozu der Tand also? Das konnte man mir bei Hofe nicht verzeihen. Der Kronprinz hatte mir zuvor seinen Besuch anzeigen lassen, angeblich wollte er meine Gemäldegalerie in Augenschein nehmen, er kam hernach nicht; meine finanziellen Unternehmungen wurden in den der Regierung ergebenen Blättern einer strengen Kritik unterzogen; man konnte mich nicht direct angreifen, doch man unterminirte das feindliche Terrain. Meine Freunde, o ja, ich hatte deren, machten mich aufmerksam, jener bedeutsamen Großmacht, „öffentliche Meinung“ genannt, mehr Beachtung zu schenken. Ich, im Vollgefühle dessen, was ich zur Hebung des Volkswohls gethan, zuckte verächtlich die Achseln. Hätte ich, durch den Tausende und abermals Tausende an allen Grenzen des Vaterlandes Arbeit und Fortkommen gefunden, erst um die Gunst Einzelner buhlen sollen, damit ich richtig beurtheilt würde? Ich verachtete das elende Zeitungsgeschwätz, ignorirte die Weitschweifigkeit, mit der einzelne Volksredner, die nach Popularität rangen, meine Unternehmungen mit der Leuchte ihres beschränkten Unterthanenverstandes kritisirten. Doch so sehr ich mich selbst überzeugt hielt, nur das Rechte und Gute zu wollen, es kam bald eine Zeit, da ich selbst meine Nächsten nicht davon überzeugen konnte. Meine Gattin zeigte sich, je mehr die Wogen der allgemeinen Unbill mich umdrängten, um so kälter und gefühlloser; sie hielt mich heute für einen waghalsigen Speculanten, morgen für einen hirnlosen Phantasten,[S. 57] kurz, wenngleich ich ein verständnißvolles Eingehen auf meine Intentionen nie bei ihr gekannt habe, so hätte ich doch gern nach des Tages Arbeit und Anfeindungen ein herzliches Entgegenkommen von ihr gewünscht; sie war kalt und rücksichtslos. Ich war der arme, reiche Mann, der Tausenden ein Heim bereiten konnte und selbst keines besaß. Ella konnte mir nicht verzeihen, daß ich die Gunst des Hofes verscherzt; als künftige Freifrau hätte sie sich vielbeneidet gesehen! Ihrer Phantasie war alles Bürgerliche bereits entfremdet; das Tafelservice, die Livreen für die Dienerschaft, Alles war schon mit Kronen und Wappen bestellt worden, und da begeht der „tölpelhafte Bourgeois“ die Lächerlichkeit, die Auszeichnung von sich zu weisen! Es war auch zu tölpelhaft!

Eines Morgens warte ich vergeblich, Madame beim Kaffee erscheinen zu sehen; ich habe schon diverse Zeitungen durchblättert, hier und dort das Damoklesschwert über meinen waghalsigen Unternehmungen hängen sehen — man hatte in Volksversammlungen gewarnt, sich an Emissionen, die meinen Namen tragen, zu betheiligen — doch das Alles sollte mir meinen Morgenimbiß nicht stören; ich gehe, um nicht länger zu warten, in Madames Boudoir, sie zu bitten, den Kaffee mit mir zu nehmen, da finde ich statt ihrer ein Billet und die Zofe sagt mir, die gnädige Frau sei diesen Morgen 7 Uhr verreist. Ich öffne das Billet.

„Mein Herr! Sie können nicht verlangen, nachdem ich nun jahrelang ihr abenteuerliches Leben getheilt, daß ich demselben ferner meine Jugend und Lebensfreude opfere. Ich lebe um zu genießen, zu glänzen; Ihre philisterhaften Marotten müssen Sie in’s Unglück stürzen; ich mag es nicht[S. 58] theilen. Baron L. bietet mir Herz und Hand; willigen Sie in die Scheidung, ich bitte Sie darum; mein Platz ist nicht an Ihrer Seite. Ich habe kein Verständniß für Ihre Bestrebungen. Sie nicht für die meinigen. Lassen Sie uns gute Freunde bleiben!

Ella.“

Das war mehr, als ich erwarten konnte. Ella war damals, als ich sie im Hause des Dr. Werther, der sie zur Bühne vorbereiten sollte, kennen lernte, ein armes, adeliges Fräulein; wohl hatte ich sie dem Hang zur Bühne abspenstig gemacht, die komödienhaften Anwandlungen ließen sich jedoch nicht betäuben. Ihre Schönheit, ihre Liebenswürdigkeit fesselten mich; sie hatte eine gute Komödie mit mir gespielt, denn kaum war sie meine Gattin, so war ich nur noch gut genug, Schenkungen auf ihren Namen eintragen zu lassen. Daß ich Rechte auf ihre Treue, ihre Hingebung habe, erschien ihr lächerlich; bei so gewagten Unternehmungen, wie ich sie führe, wiederholte sie mir oft, sei es meine Pflicht, ihre Zukunft sicher zu stellen. Das that ich in der besten Absicht. Am Tage, als sie mich verließ, hatte sie wohl ein Vermögen von sechzigtausend Thalern.

Ich stand wie vernichtet. Eine so raffinirte Betrügerin jahrelang an meiner Seite geduldet, ihr meinen Namen gegeben zu haben, das empörte mich. Meinem Herzen war Ella nie das, was ich erwartet. Sie war arm und hilflos, als ich mich ihrer annahm; ich glaubte ihre Seele zu mir empor zu ziehen, sie der meinigen zu vermälen. Nach all der Last der Tagesgeschäfte sehnte ich mich nach einem hingebenden, treuen Weibe, ich fand eine gefallsüchtige, von Anbetern umgebene Coquette. Doch das wird Dir damals[S. 59] schon nicht entgangen sein. Was aber angesichts dieses Briefes thun? Auf keinen Fall einwilligen! tönte es in mir.

Ich antwortete: „Madame! Sie halten mich für einen einfältigen Narren. Sie irren! Ich fordere Sie auf, unverzüglich zurückzukehren; meine Achtung haben Sie verscherzt, ein öffentlicher Scandal würde Sie entehren.“ Ich sandte diesen Brief in die Wohnung des Baron L.

Madame kam nicht; statt ihrer ein Brief mit Drohungen niedrigster Art. Wolle ich ihr nicht die Freiheit geben, so werde sie Enthüllungen an maßgebender Stelle machen, die mich vernichten müßten; die Documente seien in ihren Händen.

Ich hatte in der That in letzter Zeit bemerkt, daß sie unter meinen Privatpapieren herumgestöbert; ich wußte auch, daß ein Brief des Herzogs U., in dem er mir seine Betheiligung an der neuen Eisenbahnstrecke nach W. zusagt, falls ich seinen Namen mit zwanzigtausend Thalern kaufen wolle, abhanden gekommen sei. Hatte sie ihn? fragte ich mich. Und wenn selbst! Was konnte jener Brief beweisen? Weder daß ich ein ähnliches Anerbieten gefordert habe, noch darauf eingegangen sei. Es war nichts Neues, daß man Namen hoher Persönlichkeiten an die Spitze neuer Unternehmungen stellte, um diese dadurch besser zu accreditiren. Meine Unternehmungen waren durchwegs gesund und auf streng rechtlicher Basis erbaut; ich hatte derartige Kunstgriffe nicht nöthig, konnte also der Verdächtigung ruhig in’s Auge sehen. Doch wie schmerzte es mich, daß diese Verdächtigung gerade von meinem Weibe ausging! Wer hoch steht, ist allen Blicken ausgesetzt, hat Neider und Feinde; das sollte ich jetzt Schlag auf Schlag erfahren. Die mise-en-scène war gut[S. 60] ausgedacht. Sie verschmähe es, den schwindelhaft erworbenen Reichthum des Parvenüs zu theilen, die Ehre ihres unbefleckten Stammbaumes auf’s Spiel zu setzen, dann die einem befreundeten Anwalt, der gleicherzeit Parlamentsmitglied ist, geschickt in die Hände gespielten Verdachtsmotive von unlauteren Speculationen, dazu die Gährung in der öffentlichen Meinung, die bei jedem Geschäftsabschluß gleich eine Gründung auf trügerischem Untergrunde wähnte, kurz — was ich noch vor einem Monat für unmöglich gehalten, geschah. — Das Vertrauen zu meinen Unternehmungen war erschüttert; hier Verdächtigung, dort öffentlicher Angriff, ja, jener Freund Ella’s wagte selbst im Parlamente einen beziehentlich sehr deutlichen Speech loszulassen — ich fühlte, wie mir der Boden unter den Füßen wankte. Mehrere Zeichnungen wurden gleich an der Börse zurückgezogen, unsere Eisenbahnpapiere sanken von Tag zu Tag, da — pour comble de malheur, kam von Wien her jene Unglückskatastrophe, die das öffentliche Vertrauen vollständig lahm legte — der Krach. Vierzehn Selbstmörder in Einer Woche dort an der schönen blauen Donau! Sie Alle fuhren einst auf Gummirädern, hatten ihre Logen in der Oper, hatten die Elite-Bälle besucht und — nun? Was hielt mich noch am Leben, nachdem ich Häuslichkeit, Vertrauen, Glück und Frieden verloren? Das Bewußtsein, recht gehandelt zu haben, mich nicht mit jenen Glücksrittern in eine Kategorie stellen zu dürfen, die feige untersanken, als die Wogen über ihren Köpfen zusammenstürzten. Durch Sturm und Brandung wollte ich mir einen Weg bahnen und zeigen, daß meine Unternehmungen lebenskräftig seien und sich behaupten müssen. Das Geld der Armen, der Schweiß des Bürgers, schrie man, klebe an jenen Gründungen,[S. 61] der Fluch der Mit- und Nachwelt werde sie begleiten.

Weißt Du, was schlaflose Nächte sind? Ich lernte ihre Qualen damals kennen. — Den Kopf voll großartiger Pläne, die Hunderte beglücken mußten, sah ich meine Thätigkeit lahm gelegt, das Begonnene in Schutt sinken. Wenn dann mein Hirn die dünne Schale zu zersprengen drohte, griff ich voll unsäglichen Wehes nach dem Herzen; o Du weißt es, Karl; ich hätte einst die ganze Welt mit meinen Plänen beglücken mögen, mein Herz fühlte den Pulsschlag der Menschheit und wollte sich ihm einen; heute glich es einem ausgebrannten Krater. Und doch wußte ich, daß ich noch leben müsse; Tausende hatten ihr Hab und Gut in meinen Gründungen angelegt, für sie hatte ich als Anwalt aufzutreten und meine ganze Kraft einzusetzen, trotz der gesunkenen Course das Ansehen und die Achtung vor meinen Unternehmungen herzustellen. Ja, das hieß gegen den Strom schwimmen!

Drüben, im Lager meiner Feinde, stand jenes Weib, das, da sie meine Unnachgiebigkeit erkannt, nun Pfeil auf Pfeil gegen mich abschoß. Mein Comptoirchef war mit dem Tage, da sie mein Haus verließ, aus dem Geschäfte entlassen; ich wußte, daß er ihr wichtige Papiere überliefert hatte; auch er war nur ein williges Werkzeug in den Händen Derer, die auf meinen Ruin lossteuerten.

O, was ist Dankbarkeit, Pflichtgefühl! Leonhard kam vor Jahren zu mir elend, dürftig; er war seit Monaten ohne Stellung und hatte eine arme kranke Mutter, die auf seine Hilfe angewiesen war. Ich hatte zwar keine Vacanz, doch mochte ich ihn nicht fortschicken. Hundertfünfzig Leute arbeiteten auf meinem Bureau, da konnte auch er noch Verwendung finden.[S. 62] Ich gab ihm einen Vorschuß von dreißig Thalern und stellte ihn mit fünfhundert Thalern Gehalt an. Er erwies sich brauchbar und hatte nach Jahresfrist tausend Thaler. Ich liebe Rührscenen nicht, aber noch heute wird mir das Auge feucht, gedenke ich jener Stunde, da seine alte Mutter im Gefühl überschwänglichen Dankes zu mir in’s Zimmer wankte, mir die Hände küssen wollte, mich den Wohlthäter ihres Lebens nannte und Gott weiß, was noch.

Ich glaubte mir in Leonhard einen Menschen heranbilden zu können, der mich verstände und in meinen Intentionen handeln sollte. Ich stellte ihn pecuniär gut, denn er mußte repräsentiren, sollte er Einfluß haben.

Aus der elenden Dachkammer war er mit seiner Mutter in eine glänzende Etage in der Behrenstraße gezogen; er hatte reichliche Tantièmen und so oft ich ihm Zulage machte, versicherte er mir seine unbegrenzte Dankbarkeit. Ich wähnte der Begründer seines Glückes zu sein und ich muß es im Gefühl einer gewissen Selbstüberhebung gestehen, es schmeichelte mir, „Glück ausstreuen“ zu können; noch mehr aber galt mir vielleicht das Bewußtsein, mir einen Menschen durch die Bande der Dankbarkeit zu ewiger Treue verpflichtet zu haben.

Ja, wo blieb die Treue? Meinen Widersachern theilte er meine geheimen Verbindungen und Correspondenzen mit, um sich für den plötzlichen Abschied zu rächen; man sondirte und wußte durch Bestechungen Zeugen gegen mich aufzustellen, die zu jeder Aussage bereit waren. Ich mußte verkaufen, mit Schaden verkaufen, um mich behaupten zu können. Ein langwieriger Proceß entspann sich; ich wollte mein eigener Anwalt sein, und in der Aufregung der gegen mich geschleuderten Anklagen vernachlässigte ich mein Geschäft. Fall folgte auf[S. 63] Fall; ich hatte den klaren Blick, das persönliche Vertrauen verloren; das Chaos brach über mir zusammen. Häuser kamen zur Subhastation, angefangene Bauten konnten nicht vollendet werden, mehrere Eisenbahnlinien, zu denen schon die Concession erlangt war, sanken im Cours, Alles sank — nur der Proceß wuchs riesengroß über meinem Haupte zusammen.

Ich hustete schon während des ganzen Sommers; innere und äußere Aufregungen hatten Körper und Seele erschüttert. Der Arzt wünschte, daß ich den Winter in einem milden Klima zubrächte; das hätte einer Flucht ähnlich gesehen. Nein, ich wollte das Wrack aus dem Sturm retten; der Steuermann muß bei seinem Schiffe bleiben. —

Ich warf Blut aus, mein Aussehen war in wenigen Wochen ein auffallend anderes; dennoch fand ich keine Zeit, an mich zu denken.

Da kam die Untersuchungshaft; man fürchtete, ich werde flüchtig werden, man wollte sich meiner Person vergewissern.

Der Polizeichef S., der sonst ein gerngesehener Gast bei unseren Soireen war, hatte das traurige Amt, mich abzuführen. Er ließ es mich einen Tag zuvor wissen; ich hätte entfliehen können; ich verachtete es. Meine Freunde drangen in mich, sie beschworen mich bei meiner zerrütteten Gesundheit; umsonst, ich blieb fest. Welchen Werth hatte das Leben noch für mich? Meine Schuldlosigkeit mußte und sollte zu Tage kommen, und wenn dann für mich die ewige Nacht kam, so war mir wohl. —

Polizeirath S. fuhr gegen 7 Uhr bei mir vor; ich folgte ihm. Als wir das Opernhaus passirten, stieg eben eine fein gekleidete Dame, auf den Arm des Baron L. gestützt,[S. 64] aus einer eleganten Equipage. Ich kannte sie. Drinnen spielte man eben das Vorspiel zu Wagners „Meistersingern“. Es war die Erstlingsvorstellung; sie durfte nicht fehlen.

Wir fuhren an der Börse vorbei; ein Schauer packte mich; dann weiter der Vorstadt zu; ich kannte dort manches Haus, in dem gute Menschen wohnten, denen ich in meinen glücklichen Tagen Stütze und Trost gewesen, die mich als ihren Erretter aus Noth und Elend verehrten; mir wurde wärmer um’s Herz — ich wußte doch, daß ich nicht umsonst gelebt habe. — Nun eine lange Reise an die Grenze des Landes.

Freund, wer wie ich gereist, in eleganten Schlafcoupés mit Diener und Freund, dem wird es im engen Polizeiwagen unbequem. Die Nacht war kalt; der Husten peinigte mich, ich wollte mich ausstrecken, wollte ruhen, doch nein, die Nothwendigkeit machte mir es klar — ich reiste als Gefangener.

Endlich schloß ein wohlthätiger Schlaf die matten Augen. Ich träumte. Da sah ich sie strotzend von Brillanten am Arme des Baron L. im Foyer des Opernhauses auf und ab promeniren; die jungen Offiziere setzten die Lorgnons auf, um sie besser zu fixiren, die alten Roués drückten ihr freundschaftlich die Hand — Madame war interessant geworden, sie war à la mode. — Die Frau des Gründers mochte sie nicht sein, sie war die Maitresse des Barons. Da plötzlich fuhr ich wild auf. Noch war sie nach allen Gesetzen meine Gattin; konnte ich sie nicht zwingen, zu mir zurückzukehren?

Doch wer war ich? Ein Gefangener! Der Plan war sehr schlau, teuflisch schlau in Scene gesetzt.

Nein, rief es in mir, und wenn sie jetzt fußfällig meine Verzeihung erflehen wollte, ich konnte ihr nicht vergeben,[S. 65] sie nie wieder an meiner Seite sehen. Ein Weib ohne Herz ist der Teufel in Menschengestalt; hatte ich sie bis jetzt nur verachtet, so begann ich sie zu hassen. In einem Anfall von Wuth beneidete ich die Barbaren, die, ohne sich Convenienzen und Formeln fügen zu müssen, dreinschlagen und in dem Augenblick der Wuth auch ihre Rache austoben lassen können. Ja, rächen wollte ich mich an jenem feigen Gesindel, das einst an den Rädern meines Glückswagens gezogen, mich verwöhnt, umschmeichelt, hofirt hatte, und das nun, da der Glückswagen ein elender Karren geworden, mich in Elend und Verzweiflung umkommen läßt.

Ich war also in der entfernten Grenzstadt D., wo ich während meiner Untersuchungshaft bleiben sollte, angelangt. Ein Zimmer ohne jeglichen Comfort wurde mir angewiesen. Der Diener meines Hauswarts hatte bei mir eine behaglichere Einrichtung. Ein Sopha, dessen Sitz schon mehr einem wattirten Brette glich, ein Spiegel, einen Fuß hoch und dito breit, zwei wackelige Stühle, ein elendes Bett, ein dreibeiniger Tisch aus Methusalem’s Zeiten, das war mein Mobilar.

Ihr habt oft über den Luxus in meinem Hause gespöttelt; wahrlich, er war mir nicht Bedürfniß, nicht einmal sympathisch. Ella liebte ihn und schaffte wohl Manches an, das eben sonst nur Fürstlichkeiten erlaubt zu sein pflegt; ich hatte nichts dagegen; „man muß die Industrie unterstützen“, sagte ich mir; wenn jeder Reiche das Geld im Geldkasten verschließen wollte, wie sollten Handel und Gewerbe blühen? L’argent veut circuler!

Aber welcher Abstand von jenem „Zuviel“ bis zu dieser Dürftigkeit!

[S. 66]

Gleich in der ersten Nacht hatte ich einen Hustenanfall, wie ich ihn vorher nicht gekannt. Die Brust preßte sich mir zusammen; ich rang nach Athem, glaubte mich dem Ersticken nahe. In meiner Angst riß ich die Fenster auf, ich rief nach Hilfe — keine Menschenseele antwortete. Unten hörte ich das Gekläff des Wachthundes; voilà tout. Seit langen Jahren empfand ich zum ersten Male, was es heißt: „Allein sein!“

Der Anfall ging vorüber, doch wünschte ich am folgenden Tage einen Arzt. Dieser, ein Doctor Streit, musterte mich, als ich ihm meinen Namen nannte, mit eigenem Blick; im Laufe des Gesprächs sagte er mir, daß auch er Papiere der Nordbahn gekauft und nun die Hälfte beim Umsatz verloren habe. Es klang wie eine Art Vorwurf, ja, an seiner gänzlichen Theilnahmslosigkeit sah ich, daß er es fast für Pflicht hielt, den Mann, der ihm Schaden verursacht, dafür büßen zu lassen. Medicamente seien nicht nöthig, sagte er, einen Wärter oder Diener, den ich wünschte, hielt er für überflüssig; ein leichter Hustenanfall führe nicht gleich zum Erstickungstod. Leider war es so.

Du weißt, mit welcher Umständlichkeit man bei uns Processe führt! O, es war zum Verzweifeln! Da saß ich nun in meinen vier Pfählen voll des unersättlichen Thaten-, ja Rachedurstes und konnte Nichts thun, als abwarten. Fehlt bei finanziellen Unternehmungen die leitende Hand, so ist oft Alles verloren; ohne Selbstüberhebung wußte ich, daß ich die Seele jener Schöpfungen war, die ich angeregt. — Störe den Pulsschlag des Herzens und es steht still, der Organismus ist todt; vernichte die treibende Kraft, die Triebfeder eines jeden größeren Werkes, es steht still. Ja, Alles stand[S. 67] still, nur ich rannte wie wüthend gegen die Mauern meiner Zelle, als wollte ich mein Gehirn zersprengen.

Ella ließ mich durch ihren Anwalt mit der Scheidungsklage peinigen; sie drohte mit weiterer Denunciation, falls ich sie nicht frei gäbe. Ich schäumte vor Wuth ob solcher Verworfenheit. Das Weib, das einst schmeichelnd in meinen Armen geruht, deren Wunsch mir Befehl war, der ich mein geheimstes Denken und Wünschen anvertraut, sie konnte so gesunken sein?

Noch eben mit diesen Ideen beschäftigt, hörte ich, wie an der Thür meines Zimmernachbars gepocht wurde. Er war ein Kaufmann aus der Provinz, der des betrügerischen Bankerotts angeklagt war. Ich hörte, wie er die Thür öffnete. — Ein Freudenschrei, ein langer, inniger Kuß. Ich wußte genug. Beschämt, wie ein Bettler wandte ich mich von jener Thür, an der ich soeben gelauscht. Drüben eine Scene innigsten Familienglücks, hier die Qualen der Einsamkeit. Zu mir kam keine theilnehmende, tröstende Gattin bis in die Kerkerzelle; ich war verlassen, elend. Nie habe ich die ganze Schwere meines Geschicks so furchtbar empfunden wie in jener Stunde.

Was ist aller Reichthum der Welt im Vergleich mit einer Menschenseele, die uns gehört, die uns treu bleibt in Nacht und Elend, die uns umfangen hält und wenn eine ganze Welt in Waffen entgegensteht. O Karl, ich breitete meine Arme aus, als müsse ich ein Wesen umfassen, an dessen Herzen ich mich ausweinen konnte; die Arme fielen schwer und matt hernieder, ich war allein.

Drüben ging endlich die Thür. „Habe tausend Dank, Du Gute,“ hörte ich meinen Nachbar sagen, „Du hast mich[S. 68] heut glücklicher gemacht, wie je in den glücklichsten Tagen.“ Sie hielten sich wohl noch lange umfangen; endlich vernahm ich: „Lebe wohl, es muß geschieden sein!“ Die Frau ging einige Schritte der Treppe zu, doch nochmals und nochmals kehrte sie zurück; endlich kam der Aufseher und bemerkte, daß die Stunde abgelaufen sei. Ja wohl, dem Glücklichen schlägt keine Stunde!

„Grüß mir die Kinder!“ rief er ihr nach. Die Thür schloß sich. Die Kinder! Welche Welt der Empfindungen durchwogte meinen Busen. Für wen hatte ich mich gemüht? Jahrelang war es der innigste Wunsch meines Herzens, ein trautes Kinderauge mir zulächeln zu sehen; ich glaubte das Schicksal, das mir diesen heißesten Wunsch unerfüllt ließ, versöhnen zu müssen, indem ich für die Kinder der Armen Gold mit vollen Händen ausstreute. Hunderte erhielten durch mich Kleidung, Unterricht, Versorgung — unser Haus blieb kinderlos.

Heute danke ich meinem Schöpfer, daß es so gekommen. Was wäre aus den Kindern einer solchen Mutter geworden? Man sagt, es liege im Blut, daß sich ein Mensch gerade so und nicht anders entwickeln müsse. Ich glaube es. Weder persönliche Einsicht, noch Erziehung, noch die treffendsten Vernunftgründe können einen Menschen von der abschüssigen Bahn abbringen, wenn ihn eine innewohnende Kraft zwingt; es giebt ewige Naturgesetze, gegen die kein Kampf zum Sieg verhilft.

An mir fühlte ich, daß meine physischen Kräfte diesen Gesetzen verfallen waren. Ich war nicht mehr ich selbst. Es ist schauerlich, den Tod langsam, tappend, doch sicher heranschleichen zu sehen. Ja, ich sehe ihm in’s Auge, doch ohne Grauen. Die Beweise meiner Schuldlosigkeit häufen sich, alle[S. 69] Verdachtsgründe sind beseitigt, meine Freilassung muß in den nächsten Tagen erfolgen. Der unbefleckte Name ist gewahrt, und ein erfahrungs- und thatenreiches Leben, in dem ich viel genützt, liegt hinter mir. Ich wandere nicht nach B. zurück; ich habe Ordre gegeben, Alles zu realisiren und mit dem Erlös die Forderungen zu decken. Zu Dir, mein Jugendfreund, will ich kommen; ich bedarf des Freundes. Vielleicht, wenn ich einige Zeit unter guten Menschen geweilt und Körper und Geist gekräftigt ist, kann ich mich wieder den Geschäften widmen; doch ich fürchte fast, daß dies eine trügerische Hoffnung ist. Eine Mission jedoch habe ich noch zu erfüllen; jene sechzigtausend Thaler, die mir Ella mit teuflischer Schlauheit abgeschwindelt, sollen ihr, da sie mich böswillig verlassen, abgenommen und zur Deckung —

Hier endete die Mittheilung.

Ich brauchte lange Zeit, mich zu sammeln; mit hastigen Schritten ging ich auf und ab; ein Diener, in der Vermuthung, ich wünsche etwas, trat ein. Von ihm hörte ich, daß Berg gestern hier eingetroffen war, er hatte nach meiner Wohnung gefragt, um mich zu besuchen; sein Zustand hinderte ihn jedoch am Ausgehen. Er sandte heute früh nach dem Arzte und hatte mir gegen Mittag ein Paar Zeilen nach meiner Wohnung geschickt; da ich jedoch gleich von der Börse in’s Comptoir und von da in’s Theater ging, konnte ich sie nicht erhalten. Nachdem ihm der Arzt erklärt, daß sein Zustand das Schlimmste befürchten ließe, hatte er nochmals nach mir gesendet; der Bote mußte mich von einem Schauspiel zu einem Trauerspiel holen. — Ich blieb die Nacht bei dem Entschlafenen, eine schauerlich lange Nacht.

[S. 70]

„Das ist das Ende eines aufregenden, thatenreichen Lebens!“ sagte ich mir. Bilder buntester Art stiegen vor meinem Geiste auf, Zeitfragen, auf die ich keine Antwort wußte.

Ist es nicht besser, im Dunkel der Mittelmäßigkeit dahin zu vegetiren, ohne Schaffensdrang und Streben, als seine besten Kräfte an Probleme zu setzen, die, falls sie wirklich erreicht werden, Neid, Mißgunst und das ganze Heer der niedrigen Leidenschaften gleich einer wilden Meute fessellos auf unser Leben einstürmen lassen?

Berg hatte sich kraft seines riesengroßen Fleißes und bedeutender Begabung emporgearbeitet zu oft beneideter Höhe; er war ein Fürst im Reich der Armen, ja, ich wußte es, sie küßten den Saum seines Kleides, sie verehrten ihn mit innigster Dankbarkeit. Und die Reichen und die Vornehmen, auch sie hatten um seine Gunst gebuhlt und jenes Weib, es hatte sich gesonnt im Glanze seines Reichthums. — Ha, als ich ihrer gedachte, ballte ich die Hände krampfhaft; hätte ich sie da vor mir gehabt, ich glaube, ich hätte sie züchtigen können. Doch einen Trumpf wollte ich noch ausspielen, sie durfte nicht die reiche Witwe des zu Grunde gerichteten Mannes bleiben; war sein Vermögen, wie sie ihn denuncirt hatte, schwindelhaft erworben, so sollte sie auch zur Herausgabe der schwindelhaft erworbenen sechzigtausend Thaler gezwungen werden! In der Hoffnung, meinen Freund zu rächen, fand ich die Kraft, das mir obliegende traurige Amt, ihn der allumfangenden Mutter Erde zu übergeben, auszuführen.

Es war ein stilles Begräbniß. — Er war ja ein ruinirter Mann; er hatte nicht Weib, nicht Kind, wer sollte ihm folgen? Meine heißen Thränen rollten auf sein Grab hernieder,[S. 71] der Prediger sprach ein kurzes Gebet; — ein müder Pilger war zur letzten Ruhe bestattet worden. — Noch vor Jahresfrist, da er ein Palais in der Residenz sein eigen nannte, wäre seinem Leichenwagen ein unabsehbarer Conduct gefolgt; Palmen und Kränze, umflorte Equipagen und in ihnen traurig scheinende Menschen hätten zu seinem Leichengang gehört; heute hatte ihn nur ein Freund hinausgeleitet, doch Einer, der seinen Werth voll und ganz erkannt.

Oeffentliche Blätter brachten bald die Nachricht von seinem Tode. Ein mir bekannter Reporter wußte geschickt die Bemerkung einzustreuen, daß ein Testament, nach welchem die seiner in Scheidung lebenden Gattin geschenkten Gelder zur Deckung der Außenstände verwendet werden sollen, existire, daß ein Freund des Verstorbenen, der ihm zuletzt nahe gewesen, das Testament in Händen habe. Das wirkte mit wahrem Knalleffect. — Wer jener Freund sei, konnte den Betheiligten nicht zweifelhaft sein; sie wußten, Berg sei in D. gestorben, und daß ich jener Bevollmächtigte sei, mußte ihnen einleuchten.

Einige Tage nach jener Veröffentlichung erschien bei mir der Advocat des Baron L. Er interpellirte mich, ob an jener Zeitungsnotiz etwas Wahres sei und ob ich ihm Schriftstücke zeigen könne.

Ich durchschaute die Absicht und gewann dadurch den Muth zu einer beinahe straffälligen Unwahrheit. Baron L. hatte nicht die gefallsüchtige Frau, sondern ihr Geld gemeint. Dieses schien ihm angefochten — wer weiß, sagte ich mir, ob er sie nicht verläßt, wenn er sie enterbt weiß, und dann hätte sie den Lohn ihres ruchlosen Gebahrens. — Ich theilte dem Advocaten mit, daß Berg mich auf seinem Todtenbette[S. 72] zum Mitwisser aller ihrer Intriguen gemacht, daß er es „schwarz auf Weiß“ hinterlassen, daß das ihr geschenkte Vermögen zur Deckung seiner Gläubiger verwendet werden solle; Einsicht in die Papiere könne ich ihm jetzt nicht geben, da diese schon an maßgebender Stelle abgeliefert seien.

Ich galt als Ehrenmann; der Advocat, obwohl er keine Einsicht in die Papiere erhalten, schenkte meinen Worten Glauben; er kehrte nach der Residenz zurück und theilte dem Baron mit, daß, da ein Testament existire, das jene Schenkung ungültig mache, und außerdem in Folge unmotivirter Trennung eine Enterbung denkbar, es das Rathsamste sei, Frau Berg von einem Processe zurückzuhalten, für dessen Durchführung wenig Aussicht sei.

Mein Reporter arbeitete nun weiter; er sprach von Enthüllungen, von Legaten, kurz, es wurde kaum bezweifelt, daß ein vollständig rechtskräftiges Testament existire. — Wie leichtgläubig ist doch die Menge! Hätte das Fragment, das ich in Händen hatte, irgend welche Rechtsgiltigkeit gehabt? Ich hätte günstigsten Falls eine moralische Pression ausüben können! Doch ich ließ der Sache ihren Lauf; die Nemesis sollte ihres Amtes allein walten.

Eben machte ich Anstalt, zur Börse zu gehen, als mein Freund athemlos zu mir hereinstürzte.

„Was haben Sie da angestiftet, Freund?“ rief er mir zu, „Sie haben Fatum gespielt und können möglicher Weise zur Rechenschaft gezogen werden.“

„Was ist denn vorgefallen?“ fragte ich beunruhigt.

„Eben bekomme ich die Nachricht von Lieutenant Solm, daß Frau Berg, die angebliche Braut des Baron L., in dessen Zimmer todt vorgefunden worden; man spricht von einem[S. 73] Selbstmord, schreibt er mir. In ihren krampfhaft verschlungenen Händen fand man einen Brief des Baron L., der einige Tage zuvor verreist war; er schrieb ihr in demselben, daß seine derangirten Verhältnisse eine Heirat nicht gestatten; er habe Ehrenschulden, die ihn, da nun auch das ihr angeblich gehörige Vermögen confiscirt sei, wie er aus glaubwürdiger Quelle erfahren habe, zur Auswanderung zwingen; er gehe nach Californien und bitte sie, keine Nachforschungen anzustellen.“

Ich blieb noch lange sprachlos, nachdem mein Freund geendet. „Das war eine schnelle Justiz!“ sagte ich endlich. „Kein irdischer Richter hätte so scharf und so gerecht strafen können.“ Die Worte des Dichters:

Das Leben ist der Güter Höchstes nicht,
Der Uebel größtes aber ist die Schuld

traten urplötzlich vor meine Seele. — Die Schuld war gesühnt, doch ein energievoller, in weitesten Kreisen hochgeachteter Mann war durch die Ränke und Treulosigkeit eines Weibes dem Ruine entgegengeführt worden. —

Schlussvignette „Aus dem Leben eines Gründers“

[S. 74]

Kopfvignette   „Glaubenskämpfe“

Glaubenskämpfe.

I.

Nachdenkend, den Kopf in die Hand gestützt, saß Susanne am Fenster. Sie war ein schönes, 18jähriges Mädchen, aus deren feurigen Augen Begeisterung, doch auch finstere Schwermuth sprachen. Die hohe, schöne Stirn war in tiefe Falten gelegt, ein convulsivisches Zucken umschwebte die Mundwinkel.

„O, wer giebt mir Klarheit, wohin ich mich wenden soll?“ rang es sich endlich aus dem bedrängten Herzen empor. „Ist die Religion, die unseren Vätern vor Jahrtausenden heilig war, noch berechtigt, in unserer Zeit gelten zu wollen? Kann ich denn noch beten, wie jene gebetet? Ist es nicht Entweihung der heiligsten Gefühle —“

Sie wurde unterbrochen; eine alte Frau, die nach Sitte der frommen Jüdinnen einen tiefen Scheitel trug, der das eigene Haupthaar verbarg, trat ein.

„Susi, mein Kind“, begann sie, „Du bringst noch Gram und Schande über Deine alten Eltern! Sprich, warum warst Du heute wieder bei dem deutschen Prediger und doch[S. 75] weißt Du, daß Dein Vater ein guter Jud ist und treu dem großen Gott?“

„Mutter!“ rang es sich qualvoll aus Susi’s Brust, „Mutter, fragt mich nicht. Ihr seid glücklich in dem Glauben Euerer Väter, ich möchte Euch meine Zweifel nicht mittheilen, Ihr könntet mich nicht heilen; lasset mich den Kampf mit meinem religiösen Bewußtsein allein auskämpfen; glaubt mir, ich werde nicht schlechter, wenn ich die Gedanken über Gott und Ewigkeit, die ich nicht bannen kann, klar zu erforschen suche, sie mit dem, was Andere darüber gedacht, vergleiche. — Ich will Euch eine gute Tochter sein, doch —“

„Wie kannst Du mir eine gute Tochter sein, wo Du Gott, dem Allgütigen, ein abtrünniges Kind bist!“ sprach die alte Frau unwillig.

„Das bin ich nicht, Mutter!“ entgegnete Susi flammenden Auges; „ich will Gott und allem Guten und Edlen nur um so näher kommen, indem ich die todten Buchstaben, die unsere Weisen vor Jahrtausenden niedergeschrieben, nach dem Geiste unserer Zeit deute. Sieh, wir opfern keine Schlachtopfer mehr in unseren Tempeln und doch heißt es in unseren Gebetbüchern: ‚Gott, nimm unser Opfer gnädig an!‘ Da muß ich mir klar werden, was wir denn jetzt dem höchsten Wesen zum Opfer bringen; unsere Begierden, unsere Neigungen, falls sie nicht mit den Gesetzen der Moral und Menschlichkeit im Einklang sind, unsere Wünsche, falls sie Anderer Wohl beeinträchtigen —“

„So denke ich nicht und so bete ich nicht!“ unterbrach die alte Frau abwehrend. „Ich bete, was da geschrieben steht und indem ich die Worte leise vor mich hersage, fühle ich, wie der Geist Gottes zu mir herniedersteigt und ich werde froh und[S. 76] neu belebt; so hat meine Mutter gebetet, ja ich sehe noch die Großmutter, Gott habe sie selig, so vor mir stehen; sie alle sind glücklich und hochbetagt gestorben und Du, mein armes Kind, machst Dich elend und krank, daß Du klüger sein willst als Alle, die nun in Frieden bei Gott dem Allmächtigen sind.“

Susi blickte starr vor sich hin; sie wollte die alte Frau, die sie ja ohnehin nicht verstehen konnte, nicht aufregen, doch wer konnte ihr mitgetheilt haben, daß sie heute zur Predigt in der freien Gemeinde gewesen?

Dunkle Zornesröthe überzog ihre Stirn. Ja, er war es, Jakob Stern, der arme reiche Mann, der noch immer in dem Wahne befangen war, er könne ein Mädchen wie Susi mit seinem Gelde erkaufen. Da, als sie um die Ecke bog, sah sie ihn in eleganter Equipage daherrollen; sie fühlte, wie sein Blick ihr folgte, bis sie das Erbauungshaus betreten, indeß ahnte sie nicht, daß er sich zum Denuncianten erniedrigen würde.

„Jakob Stern war bei Dir?“ fragte Susi, indem sie die Mutter forschend anblickte.

„Vor einer Stunde,“ entgegnete diese. „Susi, er hat seinen Antrag erneuert. Bedenke wohl, ehe Du Dich jetzt in Heftigkeit äußerst,“ fügte sie hinzu, da sie der Tochter lebhaften Einspruch voraussah, „was es heißt, eine solche Partie auszuschlagen! Dein Vater hat keine Mitgift für Dich, Du bist an Wohlleben gewöhnt; was wird aus Dir werden, wenn wir alten Leute abgerufen werden?“

„So werde ich arbeiten, um mir eine Selbstständigkeit zu sichern, Mutter! Besser arbeiten und frei sein, als auf[S. 77] goldenen Polstern ruhen und Geist und Seele in Fesseln schlagen!“ entgegnete Susi mit edlem Freimuth; „doch,“ setzte sie sanfter hinzu, „meine guten Eltern sind ja noch rüstig und werden mir noch lange erhalten bleiben.“ —

„Und selbst dann, Susi,“ entgegnete die Mutter, „ist ihr erster Wunsch, Dich versorgt zu sehen. Du bist so gescheidt, wie kannst Du nicht einsehen, daß Du ein Glück ausschlägst, um das Dich alle Deine Freundinnen beneiden!“

„Gute Mutter,“ entgegnete Susi mit schwerem Seufzer, „lass’ es Dir ein für allemal gesagt sein, eine Verbindung mit Jakob Stern ist für mich kein Glück; er ist stumpf, zelotisch fromm, eingebildet, eitel; wie kann ich einen solchen Menschen achten, wie werde ich auch nur eine Stunde im Umgange mit ihm froh sein können?“

„Das findet sich, Susi, er ist gut von Herzen; er wird Dich auf Händen tragen und Du wirst wie Hunderte und Tausende Andere Deine Schwärmereien vergessen und eine brave Frau werden, die ihr Haus beglückt und nach allen Seiten Segen ausstreut.“

„Mutter, meine gute Mutter,“ rief Susi, in Thränen ausbrechend und der alten Frau um den Hals fallend; „o könntest Du mich verstehen! Du willst doch Dein Kind nur glücklich machen, wie kannst Du ihm ein so schweres Opfer zumuthen! Denke zurück, Mutter, an die Tage Deiner eigenen Jugend! Wie es Dein Stolz und Glück, Deines Herzens höchste Seligkeit war, einem frommen — angesehenen Manne Deine Zukunft zu einen, so ist es Deines armen Kindes einzigster Wunsch, nur dem Manne anzugehören, der es versteht — der mit erleuchtetem Blick und warmem Herzen an den Bestrebungen unserer großen Zeit Theil nimmt, für[S. 78] alles Große, Edle und Gute begeistert einsteht, der im Ringen nach den höchsten Zielen, im Erforschen der heiligsten Wahrheiten seinen Lebenszweck erkennt!“

„Arme Susi,“ entgegnete die Mutter thränenden Auges, „wo willst Du den Mann finden!“

„O, ich kenne ihn!“ rief Susi, sich selbst vergessend, „ich habe ihn heute gehört und der Ton seiner Stimme vibrirt noch jetzt in meinem Herzen!“ — Plötzlich hielt sie inne, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, als sie die Erstarrung sah, die sich der Mutter bemächtigt hatte; wehe, sie hatte zu viel gesagt! In einem Augenblick der Erregung war ihr ihres Herzens tiefstes Geheimniß entschlüpft. — Fassungslos stand sie der alten Frau gegenüber.

„Er, er!“ — rief die Mutter endlich in herzerschütterndem Schmerze; sie rang stumm und verzweifelnd die Hände, doch endlich schien sie in ihrem tiefen Weh Worte zu finden: „Und ihn, den Getauften, den Meschumed, den Goi, kannst Du achten? Was ist dem Manne heilig, der die Religion seiner Väter abgeschworen? Um sich dereinst vielleicht Herr Rath nennen zu lassen, hat er seinen Glauben aufgegeben! Ja, noch schlechter, jetzt sucht er mit Scheinreden, als ob man wirklich nicht mehr an den allmächtigen Gott glauben könne, Andere zu gleicher Schlechtthat zu bewegen und wenn es nach ihm geht, soll jeder fromme Jud —“

„Halt ein, Mutter,“ unterbrach Susi entschieden. „Berthold Caspari ist nicht des Titels wegen seinem Glauben untreu geworden, noch sucht er irgend Jemanden durch seine Vorträge demselben zu entfremden! Jeder denkende Mensch, ob Jud oder Christ, hört sie mit gleichem Interesse und fühlt sich gehoben und beseligt, dem feurigen Redner lauschen[S. 79] zu können. Nur das höchst Sittliche ist ihm heilig, nur das Streben nach Veredlung ist ihm Religion, jede gute That ein Gebet, das gleich Opfern zu Gott emporsteigt —“

„Genug,“ rief die alte Frau mit zitternder Stimme, „versündige Dich nicht an Allem, was uns heilig ist! Er ist kein Prophet und kein Gottgesandter — und was er sagt, das fühle ich, obschon ich es nicht verstehe, ist Lug und Trug und wohl angethan, arme, verblendete Menschenkinder wie Du, zu verführen! Ja, er ist schön,“ fuhr die alte Frau, zu sich sprechend, fort, „seine Augen zünden wie Feuer, das blasse Gesicht, der lange, schwarze Bart, die hohe Gestalt, all’ das vermag wohl Eindruck auf ein 18jähriges Mädchen zu machen! Doch, Susi,“ fuhr sie fast flehend fort, „Du solltest doch wissen, was Du Deinen Eltern, die im Glauben ihrer Väter ergraut sind, schuldig bist.“

Susi rang nach Luft, ihr war, als müsse sie ersticken.

Die Mutter, diesen Augenblick der Schwäche benützend, fuhr fort: „Ich seh’, Kind, Du hast selbst schwer an Deinem Unglücke zu tragen; ja, es wird Dir noch schwerer werden, je mehr Du Dich von Gott und seinen Geboten entfernst; deshalb versprich mir heute am Tage vor dem großen Versöhnungsfeste, daß Du ihn nicht wieder sehen willst, daß Du ein gutes Kind und die Freude Deiner alten Eltern bleibst.“

Sie öffnete ihre Arme und schluchzend warf sich die Tochter, als ob sie das Verlangte gelobe, an der Mutter Brust. „Ich will mit Ehren in’s Grab steigen,“ sagte diese, „und Gott, der Allgütige, wird auch Dir helfen, daß Du wieder rein und ohne Fehl im Herzen vor ihn hintreten kannst!“ Frau Cahen trocknete ihre Augen, küßte der Tochter Stirn und verließ bewegt das Gemach!

[S. 80]

„O, was habe ich gelobt!“ rief Susi in heller Verzweiflung, als die Mutter die Thür geschlossen. „Sein Wort war der Sonnenstrahl, der mein armes Dasein belebte! Wie werde ich leben können, ohne ihn zu hören! O Mutter, ist das Liebe, daß Du mir durch ein willenlos gethanes Gelöbniß die einzige Freude raubst, die mir in all’ diesen Zweifeln bleibt! Wie konnte die sonst so wahrheitsliebende, gerechte Mutter,“ fuhr sie nach einer Weile schmerzlichen Sinnens fort, „gerade diesen besten, edelsten aller Männer so verurtheilen! O, welche bestrickende Macht übt doch der religiöse Fanatismus!“ Ein schwerer, dem tiefsten Herzen entstammender Seufzer begleitete diese Worte.

Je mehr Susi über sich nachdachte, desto mehr lebte sie sich in die Idee hinein, daß sie, wolle sie den Eltern folgen, ein Martyrium für ihren Glauben auf sich nehme. In diesem Wahne fand sie den Muth, ihren Gram zu bekämpfen und im Laufe des Tages mit Ruhe und innerer Fassung der Mutter in den Vorbereitungen zum morgigen Festtage an die Hand zu gehen. Sie begleitete die Eltern Abends in den Tempel und war tief innerlich bewegt, als der Vater heute auch sie, wie sonst stets die Mutter, in seine Arme schloß, indem er den Wunsch aussprach: „Mögest Du Gutes am großen Tage der Verheißung für Dich ausbitten.“ An der Erregung, mit der der alte Mann diese Worte sprach, ahnte sie, daß er Alles wisse. Er vertraute ihr und betrübte sie durch keinen Vorwurf. Dies erschütterte sie tiefer als alle Strafpredigten. Am Eingange zum Tempel, nachdem er sich von der Mutter verabschiedet, wandte er sich noch einmal zu ihr: „Susi, bete zu Gott und er wird Dir beistehen!“ sprach er, während eine Thräne ihm in’s Auge trat.

[S. 81]

Ja, Susi betete; die heiligen Gesänge, der Vortrag des Predigers erschütterten tief das ohnehin zerknirschte Herz. Doch sonderbar! Je mehr sie sich in sich selbst versenkte, desto klarer wurde ihr, daß sie keine Sünderin sei. Sie hatte sich nicht vom göttlichen Worte entfernen, dasselbe vielmehr nur um so tiefer und wahrer erfassen wollen. Ihre Beziehung zu Berthold Caspari, dem Bruder ihrer Jugendfreundin, war keine sträfliche Neigung, sondern eine gleichem Streben und Erkennen zugewandte, begeisterungsvolle Hingabe an das Erforschen jener ewigen Wahrheiten, die zu allen Zeiten denkende Menschen interessirt haben. Gebet auf Gebet wurde hergesagt; sie beobachtete verschleierten Blickes die Gemeinde. Wie Wenige verstanden, was sie da im hebräischen Texte sprachen. Man neigte sich rechts und links, klopfte sich in die Brust, betheuerte gesündigt, gelästert, veruntreut zu haben und erflehte die Verzeihung des Ewigen. Susi schloß die Lippen gerade, als der Vorbeter zu jenem heiligsten aller Gebete ansetzte: „Oschamno, wir haben gesündigt“, betete er vor und die Gemeinde andächtig nach; nein, sie konnte sich keiner Sünde zeihen! „Oder,“ dämmerte es in ihren Gedanken, „war das Sünde, daß sie ihr heiligstes Streben und ihre begeisterungsreichsten Stunden, die sie im Austausch mit jenem denkenden Freunde verlebt, zum Opfer bringen wollte?“ Sie konnte den Gedanken nicht ausdenken; der weihevolle Gesang von jenen Hunderten von Gläubigen, die ihr Herz hier vor Gott ausschütteten, betäubte ihr Sinnen und Denken; sie fühlte sich schwach jener unsichtbaren Macht gegenüber, die sich in den Herzen der Frommen ihre Altäre errichtet und auch sie jetzt mit unsichtbarer Macht zu umgarnen schien.

[S. 82]

II.

Dr. Berthold Caspari hatte soeben seine Bureaustunden beendigt. Er war mit einem Proceß beschäftigt, der sein ganzes Denken unausgesetzt beanspruchte. Mit wahrer Sehnsucht erwartete er die Erholungsstunde, in der er im nahen Wäldchen einen Spaziergang zu machen pflegte. Dort traf er zumeist Mutter und Schwester und auch deren Freundin Susi. Susi war heute nicht da und der Schwester Blick verschleiert. „Marie, Du scheinst betrübt,“ sagte Berthold nach herzlicher Begrüßung.

„O, ich bin es auch in tiefster Seele,“ sprach die Schwester, ein anmuthiges, junges Mädchen mit blondem Lockenköpfchen und schwärmerisch blickenden Augen. „Lies, was mir Susi schreibt!“ Damit überreichte sie ihm den Brief, den sie unlängst erhalten. Ueber Berthold’s klare Stirne zogen finstere Wolken; fast schien es, als zittere seine Hand. Da stand: „Herzensfreundin! Deine Susi ist tief unglücklich und möchte gerne zu Dir eilen und sich an Deinem treuen Herzen ausweinen; Ihr seid die einzigen Menschen, die mich verstehen, deren Umgang mich beglückte; nie werde ich die heilig schönen Stunden vergessen, in denen uns Dein Bruder von den hohen Idealen der Menschheit sprach, Stunden, in denen ich mich gehoben und beglückt fühlte, besser zu werden glaubte und die edelsten Vorsätze für die Zukunft faßte. — Du kennst den Geist des Fanatismus, der in unserem Hause herrscht; meine guten Eltern können leider nicht verstehen, daß man über religiöse Dinge denken könne und doch gut und sittlich brav bleiben. Sie fürchten meinen Uebertritt zur[S. 83] ‚freien Gemeinde‘ und sehen mich damit für Zeit und Ewigkeit verloren. Um mich zu retten, protegiren Sie die Bewerbungen jenes Jacob Stern, von dem ich Dir schon neulich sprach. — Meine Mutter hat mir gestern, ich möchte sagen ein Gelöbniß erpreßt — und ich weiß, Du fühlst es mir nach, theure Marie, was es mich kostete — ich muß demnach den Verkehr mit meinen theuersten, besten Freunden aufgeben. Habt Ihr Alle, Deine gute Mutter, Dein Bruder, Du, meine liebe, treue Seele, tausend Dank für das, was Ihr mir gewesen! Das Andenken an Euch wird stets in mir in begeisterter Weise fortleben und mich zu allem Guten und Edlen anregen. Lebt Alle tausendmal wohl! Die Ruhe der Meinigen ist mir heilig; ich erkaufe sie mit schweren Opfern. Susi Cahen.“

Berthold gab den Brief zurück und sprach kein Wort. Stumm ging er eine Weile voran, Mutter und Schwester wechselten einen Blick des Einverständnisses, in dem sich unsägliche Trauer aussprach. Als er sich endlich umwandte, war sein Gesicht erdfahl.

„Ihr promenirt wohl heute allein?“ sprach er, Beiden herzlich die Hand reichend.

„Geh’ nicht fort,“ bat die Mutter; „sprich Dich aus, Berthold; wir verstehen Dich!“

„Das höchste Glück und auch der tiefste Schmerz wollen allein getragen sein!“ entgegnete Berthold. Damit war er im nächsten Seitenwege verschwunden.

„Du hättest ihm den Brief nicht geben sollen!“ sagte die Mutter vorwurfsvoll.

„O, ich konnte es nicht über die Lippen bringen, daß wir sie verlieren müssen!“ entgegnete Marie.

[S. 84]

„Berthold sagte mir oft,“ fuhr die Mutter mit tiefem Seufzer fort, „daß er erst dann mit rechter Begeisterung zur Gemeinde sprechen könne, wenn er in ihre leuchtenden Augen geblickt, aus denen ihm das reinste Feuer, das innigste Verständniß entgegenleuchte. Als sie sich neulich verspätet hatte, sah ich, wie sein Blick unstet umherschweifte, wie er gar nicht in den rechten Redefluß kommen konnte, aber plötzlich, als sie eintrat, belebten sich seine Augen und die Worte perlten nur so über seine Lippen!“

Berthold war unterdeß zu Hause angelangt; er sagte dem alten Diener, daß er ungestört sein wolle, und verschloß sich in sein Zimmer.

„Diese holde Blume jenem Einfaltspinsel opfern!“ rief er in höchster Entrüstung. „Nein, ich darf es nicht zugeben, gerade jetzt nicht, da ich weiß, was ich ihr bin; es wäre Feigheit, es wäre ein Mord an einer edlen strebenden Seele, die den Samen des reinsten Menschenthums in sich zur freudigsten Blüthe erstehen läßt. Auf dem Boden der finsteren Orthodoxie würde sie untergehen, in der Sonne der freien Wissenschaft“ — Er brach plötzlich ab und schlug sich mit geballter Hand vor die Stirn. „O, warum bin ich herausgetreten aus dem Bannkreis der angestammten Religion! Hätte ich nicht auch so meiner Ueberzeugung leben können?“ setzte er im Tone schmerzlichster Selbstanklage hinzu. „Jetzt habe ich mir selbst den Weg versperrt! Die Liebe zur Wahrheit zwingt mich, der Liebe des Herzens zu entsagen! Dem Getauften, dem Abtrünnigen wird Bernhard Cahen nie seine Tochter geben.“

Schwer sank ihm das Haupt, das er sonst so stolz empor trug, auf die Brust.

[S. 85]

Wie lange er so dagesessen? Die Sonne war niedergegangen, das Morgenroth dämmerte schon, der unglückliche Denker saß noch immer mit halbgeschlossenen Augen an derselben Stelle. Gedanken über Gott, Zeit und Ewigkeit, Menschenglück und Menschenleid, Pflicht und Neigung, Beruf und freie Wahl waren in seinem Innern vorübergegangen, ohne den Sturm beschwichtigen zu können, der in ihm wühlte. Als er sich endlich erhob, sah er stier um sich; es war ihm, als habe er die Eruption eines feuerspeienden Berges erlebt; das Feuer seines Innern schien ausgebrannt; er suchte nach der Lava und den Schlacken, der Asche und den noch glimmenden Erdstücken — selbst diese fehlten, nur ein nagender Schmerz war ihm geblieben, der das Herz zu zersprengen drohte. —

Die Erbauungsstunde der freien Gemeinde wurde am nächsten Sonntage von einem Vertreter abgehalten; Dr. Caspari hatte, so hieß es, in Angelegenheiten seines Amtes eine Reise antreten müssen. — Man vermißte ungern den feurigen, gewandten Redner, der einem inneren Drange, Gutes zu wirken, sich an der Aufklärung des Volkes zu betheiligen, folgend, in allen Bildungsvereinen des Ortes lebhaft mitwirkte. Der freien Gemeinde besonders war durch seine Thätigkeit ein lebhafterer Aufschwung gesichert. Einst hatte er in Stellvertretung des angestellten Redners einen Vortrag gehalten, der so zündete, daß er den von allen Seiten an ihn gerichteten Bitten nachgebend, sich entschloß, allwöchentlich eine wissenschaftlich religiöse Besprechung in der Gemeinde zu halten, zu der bald Juden und Christen ohne Unterschied des Standes mit lebhaftestem Interesse eilten. Berthold hatte somit, ohne es zu wollen, eine öffentliche Stellung errungen; noch gehörte[S. 86] er damals dem Judenthume an, doch da er die Satzungen der alten Religion öffentlich desavouirte, hielt er es für seine Pflicht, um nicht in Conflicte zu gerathen, seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde zu erklären.

Die allgemeine Ansicht ging dahin, Caspari habe, um Carrière zu machen, seinen Glauben aufgegeben, und als ihm bald hernach durch das Ableben seines Vorgesetzten, zu dem er jahrelang in freundschaftlicher Beziehung gestanden, dessen bedeutende Advocatur zufiel, war kaum ein Zweifel darüber, daß nur Eigennutz und Gewinnsucht die Motive gewesen, denen er nachgegeben, als er zum Christenthume übertrat. Justizrath Dorn, so sagte man sich, hätte keinem Juden seine ausgedehnte Praxis übertragen; Caspari, das war nur eine Stimme, habe dieselbe mit dem Austritt aus seiner Religion erkauft.

Die Welt ist so leicht geneigt, nach dem Scheine zu urtheilen; edlere Beweggründe, innere zwingende Nothwendigkeiten gelten vor ihrem Forum wirklich herzlich wenig; sage man nur den Leuten, es habe Jemand aus innerer Ueberzeugung diesen oder jenen Schritt gethan, wie selten wird man Glauben finden! Wie viel eher, wenn es heißt: Gewinnsucht, Brodneid, Ehrgeiz hätten ihn dazu veranlaßt!

Dr. Caspari hatte eine einträgliche Praxis und galt in den betheiligten Kreisen als gute Partie. Der Idealist legte wenig Werth auf seinen Gewinn, nur das Bewußtsein beglückte ihn, nicht wie so viele seiner Collegen eine reiche Frau erheiraten zu müssen, um sich durch deren Geld eine Unabhängigkeit zu sichern. Oft in stillen Träumereien hatte er den Tag als den schönsten seines Lebens gepriesen und herbeigesehnt, an dem er sie, die er nur ihrer selbst willen liebte,[S. 87] deren Geist und Seele sich ihm schon längst, das sah er an ihren leuchtenden Blicken, vermählt hatte, in seine Arme schließen und als seine verständige, geliebte Gefährtin in sein Heim einführen könne.

„Die Ideale sind zerronnen, die einst das trunkene Herz geschwellt,“ hat wohl Mancher mit dem Dichter ausgerufen, und Jeder glaubte nun mit einer allen Anderen vor ihm unbekannten Bitterkeit den Leidensbecher leeren zu müssen.

Dr. Caspari hoffte, eine Entfernung würde in seinem und namentlich auch in Susi’s Interesse geboten sein; es war unvermeidlich, sich nicht tagtäglich zu treffen, und obgleich die Beiden sich nie ausgesprochen, wußten sie doch, was sie einander waren, und daß seit mehr als zwei Jahren ihr Denken und Fühlen in innigster Beziehung stand. Es war eben jenes „Lied ohne Worte“, jenes hohe heilige Lied, das auf Engelsflügeln in die Seelen einzieht, sie magnetisch eint und weihevoll stimmt, daß sie den Geist der ewigen Liebe in sich fühlen und durch ihn geläutert und erhoben werden, das die Beiden ohne Worte vernommen und verstanden.

Im fernen Seebade, im Anblick des unendlichen Meeres, das auch wie sein wildbewegtes Herz auf- und abfluthete, ohne sich beruhigen zu können, hoffte er Vergessen zu finden.

Eine Stunde vor seiner Abreise hatte er noch an Susi geschrieben, doch er schloß den sechs Seiten langen Brief ein, ohne ihn abzusenden. Nachdem er das Schreiben noch einmal überlesen, fühlte er, daß er ihr durch dasselbe den Kampf nur erschwere. Nein, es war besser, sie handelte nach eigenem Ermessen; ihr Glück war ihm zu heilig, als daß er irgendwie in dasselbe hätte eingreifen wollen. „Vielleicht,“ sagte[S. 88] er sich — „findet sie Trost in dem Wahne, eine gute Tochter zu sein und ihre Kindespflichten erfüllt zu haben. Auch ich,“ setzte er gedankenvoll hinzu, „möchte es nicht auf mich nehmen, den Lebensabend der braven alten Leute getrübt zu haben, indem ich mein Glück auf den Trümmern des ihrigen gründe.“

III.

Niemandem konnte die Abreise Berthold’s gelegener sein als dem reichen Banquier Jacob Stern. Es war bei ihm zur fixen Idee geworden, er müsse die schöne Susi sein eigen nennen, gelte es Spionage, List, ja selbst Verleumdung. Mit lebhaftem Interesse horchte er auf, als ihm kurz nach Caspari’s Abreise ein Geschäftsfreund von der Börse erzählte, er habe Frau und Tochter nach Ostende begleitet und sei eigentlich unruhig, die Frauen dort allein gelassen zu haben, da Dr. Caspari, der im selben Hause mit Ihnen wohne, der Tochter zu viel Aufmerksamkeit schenke und es nicht in seinem Sinne liege, sie dort eine Liaison anknüpfen zu lassen. Stern wußte sehr wohl, wohin Banquier Eden zielte; er war zu klug, um sich in dieser Weise zur Eifersucht reizen zu lassen, zudem mißfiel ihm Fräulein Eden und gern hätte er Dr. Caspari das Glück gegönnt, von ihr begünstigt zu werden; doch die Mittheilung ließ sich verwerthen; sie sollte ihm gute Früchte tragen.

Die Commissionsräthin Blum, Stern’s Schwester, hatte für den folgenden Abend ein Soupée veranstaltet und zu[S. 89] demselben auch die Cahen’sche Familie geladen. Obgleich Susi bat und flehte, zu Hause bleiben zu dürfen, bestand doch die Mutter darauf, man müsse der Einladung Folge leisten; der Vater wünsche es, da ihm der geschäftliche Einfluß Blum’s gerade jetzt von großem Nutzen sei. — Susi erschien im einfach weißen Cachemirkleide, doch wandten sich bald Aller Blicke ihr zu, da sie, von Banquier Stern geführt, in den Saal trat. Ihre auffallende Blässe wich einer flammenden Röthe, als er ihr beim Eintritte den Arm reichte; wohl bemerkte er diesen Wechsel, doch hielt er ihn für ein günstiges Zeichen. So sehr sich Susi bemühte, in den Kreis der Damen zu gelangen, wich doch ihr Begleiter nicht von ihrer Seite. Bald hatte er sie in eine Unterhaltung mit Eden verwickelt, ihn geschickt auf Dr. Caspari zu sprechen gebracht. Eden wagte sogar heute noch hinzuzusetzen, daß seine Frau ihm geschrieben, es errege Aufsehen, daß Dr. Caspari so viel in Gesellschaft ihrer Lucie sei, doch hoffe sie, die Tochter werde genug Tact haben, um unangenehme Freier abzuweisen.

Susi glaubte, der Boden unter ihren Füßen beginne zu wanken, doch faßte sie sich; als aber Eden gar hinzusetzte, man habe ihm Dr. Caspari schon vor einigen Wochen, als Lucie noch hier weilte, für seine Tochter angetragen, es sei ihm nur zu viel, die schwere klingende Mitgift von 50.000 Gulden einem unerfahrenen Advocaten zu geben — Caspari sei sicher nachgereist, um dort die Angelegenheit zu betreiben, da schien eine Saite in ihrem Herzen zu springen, die ohnehin scharf genug gespannt war. Sie biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten, und ging unter dem Vorwande heftiges Nasenbluten zu haben, in’s Nebenzimmer. Erschöpft sank sie hier auf ein Canapé. Ihr Gefühl war zu stark[S. 90] erregt, als daß der Verstand unbefangen hätte urtheilen können. Sie kannte Lucie Eden, jene eingebildete, oberflächliche Erscheinung; ihretwegen — sollte Berthold eine Reise unternommen haben! Sie konnte es nicht glauben! Und doch! fragte sie sich. Warum war die Reise so geheim gehalten worden? Sie hatte Marie Caspari bis zu jenem Tage stets gesehen; warum hatte ihr diese keine Mittheilung gemacht? Susi’s klares Denken verwirrte sich, ihr Kopf brannte; wohl wiederholte sie sich trotz aller Erregung, daß Lucie keine Frau nach Berthold’s Wahl sein könne; wie hatte er selbst stets das eitle Haschen nach Mode-Effecten, wie es in Lucie verkörpert war, getadelt, doch sie hielt sich wieder so und so viele Beispiele vor, in denen Männer von ähnlicher Bedeutung und geistigem Werthe hoffärtige Puppen zu Frauen genommen, die sie weder verstehen, noch für irgend welches Ideal begeistern konnten.

„Es ist der Lauf der Welt!“ sagte sie endlich mit tiefem Seufzer, aber kopfschüttelnd setzte sie hinzu: „Daß auch er“ —

Die Thüre wurde leise geöffnet. Jacob Stern kam, um sich zu erkundigen, ob das Nasenbluten gestillt sei. Susi bejahte, doch gab sie vor, einen so heftigen Kopfschmerz zu haben, daß sie nach Hause fahren müsse. Er reichte ihr ein Riechflacon, erlaubte sich sogar, ihre Stirn mit dem Inhalt zu befeuchten, doch, wie von der Tarantel gestochen, schnellte Susi hoch, als diese Hand sie berührte. Stern ging die Mutter zu rufen, ließ seine Equipage anspannen und begleitete selbst die Damen heim. Wohl hörte Susi, wie die Mutter ihn beim Aussteigen bat, seinen Besuch bald zu wiederholen — ihr war jetzt Alles gleich — sie fühlte eine[S. 91] Leere in ihrem Herzen, als ob weder Schmerz, noch Freude je da gewohnt hätten.

Nach einer schlaflos durchwachten Nacht stand sie früh auf, um einen Morgenspaziergang zu machen. Unwillkürlich lenkte sie ihre Schritte nach jenem Park, in dem sie so oft an seiner Seite gewandelt. Marie hatte dort allmorgentlich Molken getrunken, der Bruder sie fast stets begleitet, und auch Susi war, so oft es ihre Zeit gestattete, von der Gesellschaft gewesen. Mit stillem Seufzer gedachte sie jener schönen Morgenspaziergänge voll Poesie und Waldesduft! O, wie hatte sie sonst ihre Schritte beeilt, wenn sie der beiden Geschwister ansichtig wurde! Heute schlich sie gebeugt und matt dahin. Doch Halt! Kam dort nicht Marie des Weges herauf? Ja, sie war es! Ich muß sie sprechen! rief es in ihr. Sie wird mir die Wahrheit sagen! — Bald lagen die Freundinnen in stummer Umarmung Brust an Brust. „Wie konntest Du Deiner Mutter solch ein Versprechen geben?“ fragte endlich Marie. „Du weißt, was wir Alle dadurch verlieren.“

„Ihr Alle?“ fragte Susi ungläubig. „Doch sage mir,“ setzte sie eifrig hinzu, „zu welchem Zwecke ist Dein Bruder in Ostende? Man spricht hier —“

„O, laß Dich das Gerede der Leute nichts kümmern, Susi —“ unterbrach die Freundin ahnungslos; „Du weißt, die Menschen wollen immer Alles deuten und mischen sich oft mit wahrer Unverschämtheit in die geheimsten Angelegenheiten.“

Susi blieb stumm; „Also doch! Aber warum sprachet Ihr nie von dieser Reise?“ fragte sie, sich fassend.

„Der Entschluß muß Berthold sehr plötzlich gekommen sein; ich glaubte zu wissen, was den Entschluß in ihm hervorrief[S. 92] — doch, gute Susi —“ fügte sie theilnehmend hinzu — „laß mich Dir das Herz nicht schwer machen! Ich verstehe und billige Deine Handlungsweise und erkläre mir dadurch die seinige. Glaube mir — es ist besser so, er mußte fort!“

So klar und unzweideutig Marie sprach, so legte doch Susi jedem ihrer Worte eine andere Beziehung unter. „Es ist gut, daß unsere Wegen sich trennen!“ sagte sie schmerzhaft.

„Aber, daß ich dadurch die treueste, beste Freundin verliere!“ entgegnete Marie klagend.

„Meine Stelle ist in Deinem Herzen zu ersetzen, doch“ — sie vollendete nicht. „Leb wohl, Marie,“ fügte sie schnell hinzu und ging eiligen Schrittes davon.

„Sie schluchzte!“ sagte Marie; „soll ich ihr nacheilen?“ Doch schon war Susi in einen Seitenweg eingebogen, Marie sah noch, wie sie schnell einen Fiaker bestieg und davon fuhr.

„Also doch!“ rief Susi in wildestem Schmerze. „Aus ihrem Munde mußte mir die Bestätigung des Unglaublichen werden. Er mußte fort! Es ist besser so!“ Das waren ihre Worte. — „Was kann da gut, was besser sein?“ sprach sie in sich gekehrt. „Berthold Caspari kann nie ein Verständniß für Luciens Lebensansichten gewinnen, sie nie seine reich angelegte Natur, seine edle Denkweise verstehen.“ Kopfschüttelnd setzte sie hinzu: „Wie konnte er sich vom edlen Mammon blenden lassen! Er ist so bedürfnißlos für sich, verachtet alles äußere Gepränge, selbst der Comfort des Lebens ist ihm nur Last! —“

Der Wagen hielt vor der großen Eiche, einem einsamen entfernten Orte. Lucie stieg aus; sie athmete erleichtert auf.[S. 93] Hier war sie allein. Sie ließ sich auf eine Bank nieder und starrte dumpf vor sich hin. „Ach, wenn ich nur weinen könnte!“ rief sie endlich verzweiflungsvoll. „Welche Wohlthat liegt noch in dem herben Schmerze, am Grabe des Geliebten niederknieen, es mit Blumen schmücken, sich seinem unsterblichen Herzen vereint fühlen zu können! Aber allein, unverstanden, verschmäht zurückbleiben zu müssen, wo man so begeistert liebte, sich im Höchsten und Edelsten Eines glaubte! Ihn, in den Armen einer —“

Sie vollendete nicht. Mit wildem Aufschrei sank sie zusammen und jetzt endlich löste sich der wilde Schmerz in erleichternde Thränen. Sie dachte nichts, sie fühlte nichts — sie wußte nur, daß sie unbeschreiblich elend war. Als sie endlich aufstand, war es ihr, als habe sie eine schwere Krankheit überstanden.

Drüben leuchtete die Sonne so golden; in ihrem Herzen war es tief schwarze Nacht. Ein leiser Wind bewegte die hohe Eiche; sie stand fest, noch fiel keines ihrer Blätter zu Boden, während die umherstehenden Linden und Erlen massenhaft gelbes Laub zur Erde sandten.

„So fest wie die Eiche!“ rief es in ihr, „keine Schwäche! Wie oft hat er Dir von Standhaftigkeit im Leiden, von —,“ sie hielt inne.

„Er und wieder er!“ rief sie, sich selbst anklagend. „Bin ich denn ein so elend schwaches Weib, daß ich gar keine Herrschaft über mich habe?“ setzte sie in heftiger Selbstanklage hinzu.

Plötzlich stand sie auf. Sie schien größer, kräftiger geworden, obgleich ihrem Gesichte jede Farbe fehlte. „Ich will und muß ihn vergessen,“ sagte sie energisch. Festen Schrittes[S. 94] ging sie heim. Wer hätte ihrem noch eben so geknickten Gemüthe diese plötzlich durchbrechende Energie zugetraut! — Ich will! Dieses mächtige Zauberwort gab ihr Kraft, sich, ihr Glück und ihre Zukunftsträume zu vergessen.

Sie hatte einen einstündigen Marsch gemacht, als sie wieder am Elternhause anlangte. Die Susi, die jetzt das stattliche mit einem Garten umgebene Haus betrat, war nicht mehr das stolze, für alles Edle und Hohe mit Begeisterung erfüllte Mädchen, in dessen Herzen eine ideale Leidenschaft geglüht; die Flamme war jäh erloschen; die demuthsvolle Tochter kehrte zurück, die sich bemühen wollte, all ihr Glück in der Erfüllung ihrer Kindespflichten zu finden.

IV.

Der Getreidehändler Cahen gehörte zu den geachtetsten Leuten der Stadt; er hatte einst ein bedeutendes Vermögen besessen, das er theilweise durch ungünstige Speculationen in den letzten Kriegsjahren, theilweise beim Krach verloren. Er hatte sein Geschäft bedeutend verkleinert und lebte hauptsächlich noch von den Revenuen eines Gutes, das ihm seit zwanzig Jahren gehörte. Jetzt waren ihm Hypotheken in der Höhe von 20.000 Gulden gekündigt; der alte Mann plagte sich mit schweren Sorgen; konnte er das Geld nicht aufbringen, so wurde das Gut subhastirt — seine Hypothek war die vierte, sie mußte, da der Preis des Bodens gesunken war, ausfallen — er war ein ruinirter Mann.

[S. 95]

Susi sah des Vaters sorgenbeschattete Stirn und seufzte: „O, Vater, wenn ich nur Rath wüßte!“ sagte sie; „ich gäb’ mein Herzblut hin, um Euch helfen zu können!“

„Du kannst es, Susi!“ entgegnete der alte Mann, dessen matter Blick sich erhellte. „Ein gutes Wort von Dir und ich bin gerettet.“

„Ich verstehe!“ sagte Susi, hoch erröthend. „Ich hörte neulich die Unterredung, die Stern mit der Mutter gehabt! Glaubt mir, ich mache ihn und mich unglücklich!“

„Und was wirst Du haben, wenn wir in Noth und Elend sind und ich auf meine alten Tage von der Unterstützung der Menschen leben muß?“ fragte Cahen mit bitterem Vorwurfe.

„O, Vater, so weit wird es nicht kommen! Ist Stern ein edler Mann, so wird er Euch den Vorschuß bedingungslos geben! Ihr dürft Eure Tochter nicht verkaufen, und ich — ich kann nicht all mein Lebtag an einer einzigen großen Lüge —“

„Was Lüge?“ unterbrach sie der alte Mann unwillig. „Stern weiß, daß Du nicht für ihn schwärmst; die Mutter hat offen mit ihm gesprochen; er ist trotzdem bei seinem Antrag geblieben; wirst Du seine Frau, so erwartet er von Dir keine zärtliche Liebe — doch Susi — dessen sei gewiß, sie kommt von selbst — wenn Du das glückliche Bewußtsein hast: dieser edle Mann hat mich als armes Mädchen zu einer Frau von Rang und Stand gemacht, er hat meinen Eltern, die ohne ihn ruinirt wären, wieder zum Wohlstand verholfen, daß sie ihre alten Tage nicht zu vertrauern brauchen; Susi, ich kenne Dein gutes Herz! Du wirst ihm dankbar sein und wirst ihn lieben und zu ihm als unsern[S. 96] Erretter aus Schand und Elend aufblicken! Glaub’ mir, mein Kind. Wenn er auch keine schönen Redensarten wie Andere im Munde führt und auch nicht die Art hat, jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen — er hat ein gut jüdisch Herz und wird seine Frau hoch und in Ehren halten, wie seinen theuersten Schatz.“

„Vater, wenn Du mir als religiöser Mann sagst, daß es denn kein Verbrechen ist, ohne Liebe in die Ehe zu treten, — dann — o lass’ mir zwei Tage Bedenkzeit — ich will als gehorsame Tochter thun, was ich — vermag.“

Der alte Mann küßte seine Tochter auf die Stirn. „Möge Gott, der Allgütige, Dein Herz zum Guten lenken, mein Kind!“ sagte er der sich abwendenden Tochter.

„Zwei Tage sollen die Entscheidung meines Lebens geben!“ seufzte diese, in ihrem Zimmer angelangt. „O Gott!“

Erschöpft von innerer Aufregung, warf sie sich auf’s Sopha. Sie suchte nach einem Gegenstande, ihre Gedanken abzulenken, zu beruhigen. Der eben eintretende Diener legte die Morgenzeitung auf den Tisch. Mechanisch griff sie darnach. Sie überflog mehrere Seiten. „Ostende!“ rief sie endlich erregt. Sie sprang auf und zitterte heftig. Erschöpft sank sie in den nebenstehenden Sessel.

„Ja, nun glaub’ ich Alles!“ rief sie in wildem Schmerzensschrei. Ohnmächtig, einer Leiche gleich, lag sie da.

Die Mutter war herbeigeeilt, man brachte Riechfläschchen, versuchte Einreibungen, endlich schlug Susi die Augen auf. Starr blickte sie um sich, als suche sie Jemand.

„Es ist überwunden!“ sagte sie endlich. „Vater, es bedarf der zwei Tage nicht! Ich habe mich entschlossen!“

„Einen solchen Entschluß kann ich nicht —“

[S. 97]

„O, Vater, keine Bedenken!“ sagte Susi, deren Kräfte jetzt zurückkehrten; „es ist in diesem Augenblicke mein freier, selbstgefaßter Entschluß.“

Wieder fiel ihr Auge, während sie sprach, auf das Zeitungsblatt; der Vater folgte diesem Blick; eine Ahnung dämmerte in ihm auf. Schnell überflog er es: Ostende. Er las halblaut. In unserer Badegesellschaft machte die Heldenthat eines jungen Rechtsanwalts aus S. viel von sich reden. Mit eigener Lebensgefahr hat er gestern eine wegen ihrer Schönheit und Eleganz viel Aufsehen erregende junge Dame, Frl. E., zu der er schon längere Zeit in intimster Beziehung stehen soll, dem sichern Tode entrissen. Frl. E. wagte sich zu weit vor, wurde von einer Welle gehoben und weiter geschleudert und wäre unrettbar verloren gewesen, wenn nicht Dr. C., der am Strande promenirte (wahrscheinlich den Bewegungen der Angebeteten folgend), augenblicklich in die Fluthen gesprungen wäre. Schon glaubte man Beide verloren, da — o Wundermacht der Liebe — taucht der kühne Schwimmer, die Geliebte fest im Arm haltend, empor. Er gewinnt die nächste Cabine, wird als Lebensretter von der staunenden Zuschauermenge enthusiastisch begrüßt, von der Mutter des jungen Mädchens herzlich umarmt und geküßt; auch Frl. E. schlägt bald die Augen auf, sie reicht ihm beide Hände — eine Scene stummen Glückes, die jeder Beschreibung spottet.

Cahen legte das Blatt nieder; eine ziemlich lange Pause. Er verstand den Entschluß der Tochter und wußte jetzt, daß er ein freiwilliger war, den er um so unbedingter annehmen durfte.

[S. 98]

Wohl hätte sich Susi als verständiges, vorurtheilsloses Mädchen sagen können, wie pikante Sensationsnachrichten fabricirt werden, doch — sie war zu erregt, um klar urtheilen zu können; sie glaubte, was sie las und Niemand in ihrer Umgebung war offen genug, sie darauf aufmerksam machen zu wollen, daß, wenn schon die Lebensrettung eines verunglückten Mädchens ganz dem selbstlosen Opfermuth Berthold’s entsprach, jene Ausschmückung nur ein erdachtes Beiwerk sei, damit — sich die Notiz gut lese! Armes, geknicktes Mädchenherz! Noch blutet die offene Wunde — Du darfst nicht einmal dem lindernden Balsam, den die Zeit sonst zu bieten pflegt, vertrauen — schon reichst Du die Hand dem drängenden, reichen Freier, die Hand ohne das Herz! Wohl hast Du es ihm gesagt, doch ahntest Du nicht, was es heißt, einem ungeliebten Manne angehören! — Er hat ein Recht auf Deine Treue, Dein Vertrauen. Kannst Du Dich hingeben, treu und vertrauungsvoll demjenigen, für den keine Ader in Deinem Herzen schlägt? Kann der Verstand Dein Gemüth so leiten, daß es ihm willenlos folgt? —

Eine Ehe mit echtem Einklang der Herzen gleicht dem Sphärengesang, der sich über Wolken und aller Erden Himmel emporschwingt zu Gott, in den der Engel Chöre begeistert einstimmen — eine Ehe ohne Uebereinstimmung der Seelen bleibt ein einziger Mißton, der bald schriller, bald tiefer vibrirend, keine Harmonie entstehen läßt und sich endlich in unheimlichen Dissonanzen auflösen muß. —

Jacob Stern erhielt am folgenden Morgen ein Billet, in dem ihm Cahen andeutete, daß er seinen Besuch Mittag erwarte, und es ihm zur hohen Freude gereiche, ihm die Zusage Susi’s versprechen zu können.

[S. 99]

Punkt 12 Uhr fuhr Stern in seiner Equipage vor. Er sah überglücklich aus, umarmte den alten Mann, der ihm auf dem Corridor entgegen kam, und zeigte ihm eiligst einen Brillantenring, den er soeben für Susi gekauft.

„Ist unter Brüdern 2000 Gulden werth!“ sagte er mit stolzem Selbstbewußtsein.

Frau Cahen empfing ihn herzlichst, Susi jedoch ließ auf sich warten.

„Haben Sie im gestrigen Blatte gelesen, daß Lucie Eden verunglückt ist?“ fragte er, eine peinliche Pause unterbrechend. Ohne die Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „Ich wußte es schon Tags zuvor; mein Freund, der Journalist S., der augenblicklich in Ostende weilt, telegraphirte es mir.“

„Er hat vermuthlich auch jene Nachricht der hiesigen Zeitung gesandt?“ fragte Cahen mit mißtrauischem Blick.

Doch eben trat Susi, bleich und fast zitternd, herein und schnitt damit jede Antwort ab.

Stern ging ihr entgegen; sie legte ihre Hand in die seinige; eine peinliche Pause, in der Niemand das rechte Wort fand. Stern sprach von Theater, Concerten, vom letzten Wettrennen — Susi antwortete zerstreut. Die Eltern gingen hinaus und nun endlich faßte sich Stern ein Herz, seinen Antrag zu machen. Die Mutter horchte lange an der Thür; sie vernahm nichts Zusammenhängendes; wohl hörte sie, wie Susi eindringlich sprach, sie hörte auch Stern’s Entgegnungen, man dürfe das Leben nicht zu ernst nehmen, man müsse sich glücklich im Besitze schätzen und dergleichen. Da endlich öffnete sich die Thür und Susi, bleicher als zuvor, kam ihnen auf Stern’s Arm gestützt entgegen. — Der herrliche Brillant funkelte schon an ihrem Finger, doch auch eine Thräne,[S. 100] glänzender als dieser, in ihrem Auge. Schnell trocknete sie sie ab, als der Vater segnend seine Hände über sie ausbreitete: „Gebe Euch Gott seinen Segen!“ sagte er in hebräischer Sprache. Die Mutter drückte die Tochter an ihr Herz und flüsterte unter Thränen: Tausend Dank, meine gute Tochter. Da erhellten sich Susi’s verschleierte Blicke; sie wußte, wem sie das Opfer gebracht; jetzt schien es ihr weniger groß; mit aufrichtiger Herzlichkeit wandte sie sich an ihren Verlobten: „Ja, ich will mich bemühen, Dir zu vergelten, was Du den Eltern gethan.“

V.

Dr. Caspari war der gefeierte Held der Badegesellschaft in Ostende. Er war hierher gekommen, um Ruhe und Vergessenheit zu finden, und blieb nach jenem Rettungsact nicht einen Augenblick Herr seiner selbst. Man beglückwünschte ihn wegen der edlen That, wegen der reichen Braut, denn Niemand zweifelte daran, daß die Beiden längst in intimster Beziehung gestanden, obschon man leicht hätte ergründen können, daß ein nichtsnutziger Reporter die Parole ausgegeben. Berthold dachte zuerst daran, das Gerücht zu widerrufen, doch war er zu sehr mit sich beschäftigt, um einer oberflächlichen Plauderei im Kreise der Badegäste Werth beizulegen, auch war er weit entfernt, zu ahnen, daß jenes Gerede sich bis nach seiner Vaterstadt verpflanzen werde. Er wollte ohnehin in der nächsten Woche abreisen, da er die erhoffte Ruhe nicht finden konnte. Schon waren seine Sachen am bestimmtem Tage gepackt, er hatte nur noch einen Weg[S. 101] zur Post, um einen Brief von der Mutter in Empfang zu nehmen, und wollte dann die Rückfahrt antreten.

Wie gebannt stand er, als er das Schreiben überflogen.

„Mein theurer Sohn!

Du klagst, daß es Dir nicht gelingen will, daran zu glauben, daß Du Susi aufgeben müssest. Es schmerzt mich tief, wenn ich Dich von einer Seelenkrankheit reden höre — vielleicht kann ich Dir die beste Medicin gegen dieselbe geben. Die, die Du nicht vergessen zu können glaubst, hat Dich bereits vergessen und ist die Braut des Banquiers Jacob Stern. Gestern wurde die Verlobung proclamirt. Ich weiß, theurer Sohn, die Nachricht thut Deinem edlen Herzen bitter wehe und Deiner Mutter ist es eine harte Aufgabe, sie Dir zu senden, doch ich weiß auch, sie wird Dir zur Genesung verhelfen. — Ich frage mich selbst oft: ‚Wie konnten wir uns Alle so in Susi täuschen?‘ Doch, ich will Dir das ohnehin gepreßte Herz nicht noch mehr beschweren u. s. w. —“

Berthold stand wie vernichtet. Da unten wogte und brauste das Meer; es war todtenstill gegen die Sturmfluth in seinem Inneren.

„Arme, arme Susi!“ rief er endlich voll unendlichen Schmerzes; „Du warst eine der edelsten Blumen Deines Geschlechtes, zu allem Hohen befähigt, Du sollst an der Seite dieses Menschen verdorren!“

„Ha!“ rief er endlich, sich mit geballten Fäusten die Stirn schlagend, „warum war ich Feigling genug, ohne Erklärung von ihr zu gehen! Ja, ich fühle es, ich habe diese Seele auf meinem Gewissen! Ich hätte sie retten können,[S. 102] sie und — mich!“ Erschöpft setzte er sich auf einer Düne nieder und begrub den Kopf in beiden Händen. Unten promenirte die lustige Badegesellschaft.

„Dr. Caspari dort?“ fragte eine Dame, mit dem Finger nach ihm weisend.

„Er scheint ja ganz in Schmerz zerflossen!“ entgegnete Dr. Berg, der Badearzt.

„Es sieht auch traurig um Frl. E. aus. Ich glaube kaum, daß sie den heutigen Tag überlebt!“

„Der arme, junge Mann!“ entgegnete eine andere Dame, „trotz seiner Selbstaufopferung soll er nun doch auf die Geliebte verzichten müssen!“

„Ich bewundere nur, daß man sie so selten zusammen sah!“ erwiderte Dr. Berg.

„Die Sache sollte noch geheim bleiben!“ sagte die Alles wissende Frau Z., die Chronik des Bades, mit Wichtigkeit. „Ich weiß es von Frau Eden selbst, daß Dr. Caspari mehrmals um Lucie angehalten und ihr nun, da er keine entscheidende Antwort vom Papa erhalten, hierher nachgereist sei.“

So erging man sich in allerhand halb projectirten, halb für gewiß ausgegebenen Reden, während der einsame Mann da oben bald in wildem Schmerze zu vergehen schien, bald an seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit zweifelte.

An die Abreise mochte er heute nicht denken. Die Rückkehr in die sonst so geliebte Vaterstadt war ihm verhaßt. — Er mußte ihr und auch ihm, dem sie nun für’s ganze Leben angehören sollte, täglich begegnen, da man sich in den gleichen Gesellschaftskreisen bewegte. Ja, er mußte ihr wohl noch gar gratuliren, sobald er sie sah; — war er doch wohl unter[S. 103] allen Menschen Derjenige, der ihr das denkbar höchste Glück wünschte.

„Nein,“ rief er, aus seinen Träumereien erwachend; „nur keine Heuchelei aus Etiquette. Ich muß sie meiden mein Lebtag, sie und Alle,“ setzte er mit schwerem Seufzer hinzu.

Nach einigen Tagen fühlte sich Dr. Caspari so weit gekräftigt, daß er die Rückreise antreten konnte. Als ein müder, gebrochener Mann kehrte er in die Heimat zurück.

Er wurde von Bekannten mit Fragen nach Lucie Eden bestürmt; jetzt erst fiel ihm ein, daß er, ohne Abschied von der Familie zu nehmen, abgereist sei. Er sagte dies offen, man brachte es mit der Trauer, die sein ganzes Wesen erfüllte, mit jener Zeitungsnachricht in Verbindung, und bald stand die Thatsache fest, Dr. Caspari sei trotz seiner heldenmüthigen Aufopferung abgewiesen worden. Man sah ihn wenig im Kreise seiner Bekannten, und wo er sich zeigte, war er schweigsam und in sich gekehrt. Bald legte man dieser auffallenden Veränderung des sonst als überaus liebenswürdig und geistreich gerühmten Mannes eine andere Version bei. Lucie Eden war nach acht Tagen in Folge einer eingetretenen Gehirnentzündung gestorben. Man drückte ihm mitleidig und theilnehmend die Hand und schien seinen Schmerz zu ehren.

Berthold war in demselben zu sehr befangen, um den stillen Beweisen von Theilnahme, die ihm wurden, die rechte Deutung zu geben. Er erfüllte seine Berufsgeschäfte mit peinlicher Gewissenhaftigkeit und war im Uebrigen für die Welt abgestorben.

[S. 104]

So hatte er auch Susi nicht wiedergesehen; die Hochzeit sollte schon in einigen Wochen stattfinden; das junge Paar wollte den Winter in Italien zubringen. Das klang Alles ungemein beneidenswerth, doch wer zählt die Thränen, die die arme, reiche Braut in einsamen Stunden weinte! Noch mehr als des eigenen Unglücks, dem sie wissentlich entgegen ging, schmerzte es sie, zu hören, wie Dr. Caspari seit Lucie Eden’s Tode ein gebrochener Mann sei.

„Also, hat er sie wirklich geliebt?“ fragte sie sich kopfschüttelnd. — Als sie sich noch sagen durfte, daß Dr. Caspari sie, das arme Mädchen, aufgegeben, um eine Geldheirat zu machen, fand sie in dieser Gewißheit einen, wenngleich traurigen Trost.

Berthold’s Trauer, die von ihr wie von Allen mißdeutet wurde, schien ihr auch diese so liebe Gewißheit zu nehmen; Susi kam sich unsäglich elend und unglücklich vor. Die überreichen Geschenke, die glänzende Ausstattung ihrer neuen Wohnung vermochten ihr keine andere Sinnesrichtung zu geben. Schon seit Wochen arbeiteten Handwerker und Künstler in der neuen Villa, die Stern dem verschuldeten Grafen Hotz abgekauft; die Möbel waren aus Paris bestellt — nichts sollte gespart werden, um das neue Heim so elegant als möglich zu gestalten. Wohl sagte sich Susi, daß es Alles zu werden versprach, nur kein Heim für Diejenige, die sich nach Ruhe und Einfachheit sehnte.

Zwar begegnete sie ihrem Verlobten herzlich und vertrauungsvoll, doch dem Auge und Gefühl Derjenigen, die Susi’s angeborene Leutseligkeit kannten, blieb das Gezwungene ihres Benehmens nicht verborgen. Sie sah blaß und leidend aus; die Mutter meinte, der stete Gesellschaftstroubel strenge[S. 105] sie an, eine Einladung jage die andere; der Bräutigam mochte, obgleich Susi häufig bat, keine refüsiren; er war so stolz, seine Braut überall bewundert und gefeiert zu sehen!

Der Hochzeitstag nahte heran. Auf Susi’s ausdrücklichen Wunsch war jede Festlichkeit vermieden. Nach der Trauung waren die Familie und die nächsten Freunde zu einem Mahle versammelt, nach welchem die Neuvermählten ihre Hochzeitsreise antraten. Susi’s Eltern fürchteten die Abschiedsstunde, die junge Frau blieb auffallend ruhig; nicht eine Thräne netzte ihr Auge. Wußte sie, daß sie den Eltern ein größeres Opfer brachte, als diese ein Recht hatten, von ihr zu fordern? War dadurch Dankbarkeit und kindliche Liebe, die sie sonst ihren Eltern in so reichem Maße zollte, gelöscht?

Der junge Ehemann schien in Allem befriedigt, es dämmerte kaum in ihm die Idee, daß Susi bei ihrem ehedem leidenschaftlichen Naturell, ihrer glühenden Begeisterung für Alles, was sie mit ihrem Herzen erfaßte, in diesem Stadium eine Andere hätte sein müssen. Er kannte ja auch Susi’s Denken und Fühlen zu wenig, bemühte sich auch kaum, in dasselbe einzudringen; er war beglückt, daß sie seine Geschenke annehme, seine Plaudereien über Börsenoperationen, Course, Wettrennen, Theater etc. mit Geduld anhörte und sich neben ihm öffentlich und in Gesellschaften zeigte. Sah er alle Augen mit Bewunderung auf sie gerichtet, so war er zufrieden und meinte, er hätte keine bessere Wahl treffen können.

So sah Susi den schönsten Theil Süddeutschlands, die Schweiz und Italien.

In ihrem kühnsten Traume hätte sie kaum gewagt, sich das Glück auszumalen, in diesen Wunderhallen der[S. 106] Natur und Kunst je wandeln zu dürfen. Wo war heute der Schwung, die ideale Begeisterung, mit der sie sich sonst dem einfachsten Naturgenusse hingegeben?

Ja ehedem, da flossen ihr die Worte wie Perlen von den Lippen, blickte das Auge von einer Anhöhe hinunter in das blühende Thal, in schattige Gründe. Die Poesie des Herzens fand ihren Ausdruck in blühender, ergreifender Redeweise. Heute saß sie gedankenvoll, den Kopf in die Hand gestützt, und schaute hinaus in die ungleich schönere Natur des Südens, doch — Alles ließ sie kalt; sie sah, doch nichts kam ihr zum Bewußtsein; das Auge empfing all die Reize, ohne sie in den Spiegel der Seele zurückzustrahlen.

„Du hast Heimweh, Kind!“ pflegte dann ihr Gatte zu sagen, wenn er sie schwermüthig und interesselos an den herrlichsten Wunderwerken der Natur und Kunst vorüberschreiten sah.

„Ich werde mich bemühen, heiter zu sein!“ beruhigte sie ihn, und Stern glaubte die beste, fügsamste Gattin zu besitzen, die seine Wünsche, noch ehe sie ausgesprochen waren, zu erfüllen suchte.

VI.

Das junge Ehepaar war nach einer zweimonatlichen Reise glücklich heimgekehrt. Stern’s Mutter, eine im religiösen Vorurtheile alt gewordene Frau, hatte ihrem Sohne seit drei Jahren den Haushalt geführt. Sie war damals, als er sich etablirte, nach der Hauptstadt übersiedelt, hatte ihren Haushalt in Bromberg aufgegeben und so war es Jacob[S. 107] Stern’s begründeter Wunsch, die Mutter auch in seinem neuen Heim bei sich zu sehen. Die junge Frau ging gern darauf ein, fühlte jedoch nur zu bald, daß sie in Frau Nanette keine günstige Beurtheilerin fand.

Diese hatte Jacob’s Wahl nie billigen können; war es doch ihr Wunsch, daß ihr Sohn eine von jenen Geldprinzessinnen, die ihm wiederholt angetragen wurden, wähle. Zudem war Susi nicht in ihrer Weise fromm; wiederholt machte sie der jungen Frau Vorstellungen, wie eine gute jüdische Hausfrau ihren Haushalt zu führen habe; Susi hatte ihr endlich offen erklärt, daß sie die veralteten Ceremonien nicht befolgen könne, da sie gewohnt sei, Nichts zu thun, das sie nicht auch mit ihrem Gefühl als heilig erfassen könne. Nun zeigte sich Frau Nanette als — Schwiegermutter.

Sie klagte und jammerte, welch’ ein Unglück über sie und ihren Sohn gekommen, daß er solch eine Frau, die nichts von Gott und seinen Geboten wissen wolle, in’s Haus genommen; sie betonte bei jedem Gespräch, welch’ ein Glück Susi gemacht, daß sie so in Wohlstand und Reichthum gekommen sei, daß ohne ihres Sohnes Großmuth die Familie Cahen heute ganz mittellos wäre, und so sehr sich Susi auch, um keinen offenen Zwist aufkommen zu lassen, bemühte, solche Redensarten entweder nicht zu hören oder nicht zu beachten, so konnte sie doch nicht hindern, daß gar bald eine tiefe Verstimmung einriß, die um so fühlbarer wurde, je mehr sie bemüht war, heiter und glücklich zu erscheinen.

Die alte Frau kannte bald weiter nichts als Vorwürfe und Verdächtigungen; sie suchte ihrem Sohne die Meinung beizubringen, Susi besuche Concerte und Theater, um Aufsehen[S. 108] zu erregen, sie lasse dem Haushalte der Eltern namhafte Summen zufließen, sie kümmere sich nicht um ihre Dienerschaft, die sehr Vieles veruntreue, und obgleich Jacob Stern lange diesen Einflüsterungen Stand hielt, vermochten sie doch nach und nach seine Zuneigung zu seiner Gattin zu erschüttern.

Wahre, innige Liebe hatte sie ja ohnehin nicht zusammengeführt; es war nur der Wunsch, sie zu besitzen; jetzt, da dieser Wunsch befriedigt war, schien Stern’s Leidenschaft gekühlt.

„Du solltest der Mutter wirklich mit mehr Herzlichkeit begegnen!“ sagte er einst im Tone des Vorwurfs zu seiner Gattin.

„Und ich möchte Dich bitten, Deiner Mutter Vorstellungen zu machen, daß sie ihre kränkenden Reden, die noch tiefer verletzen, als sie vielleicht denkt, unterlasse!“

„Du erbitterst die Mutter durch Dein hochmüthiges Wesen!“

„Ich, hochmüthig?“ fragte Susi erstaunt. „Ich antworte nicht, wenn mich Deine Mutter mit spitzen Redensarten quält, doch nicht aus Hochmuth, sondern um weitere beleidigende Worte zu verhindern.“

„Ich höre nichts als Klagen, wie unglücklich sich die Mutter fühlt,“ entgegnete Stern. „Sie war sonst stets so froh und heiter; ich kann Dir den Vorwurf nicht ersparen, daß Du doch nicht den rechten Ton anschlägst, ihr Herz zu gewinnen.“

In Susi’s Natur lag es nicht, unangenehme Wortgefechte fortzuführen. Sie ging verstimmt in ihr Zimmer und war während des Tages für Niemanden zu sprechen. Am[S. 109] Abend hatten sich einige Herren ansagen lassen, Susi ließ sich entschuldigen, da sie unwohl sei. Dr. Zelt, einer der zuerst Gekommenen, bedauerte, die junge Frau nicht anwesend zu treffen.

„Gestehen Sie nur, daß Sie mir eigentlich Ihr Glück verdanken!“ sagte er, als er mit Stern an dem Spieltisch Platz genommen.

„Mein Glück?“ sagte Stern mit einem Seufzer.

Keiner von Beiden bemerkte, daß die Portière leise gehoben worden; Frau Susi war im Begriff, trotz ihrer Absage einzutreten, doch, den Seufzer ihres Mannes hörend, stand sie still und ließ den Vorhang fallen.

„Seien Sie aufrichtig,“ fuhr Dr. Zelt fort, „habe ich nicht den armen Caspari auf meinem Gewissen. Er trauert noch heute um Susi Cahen und diese wäre ohne jene geschickt hier eingeschmuggelte Zeitungsnotiz nie Ihr Weib geworden.“

„Ich bedauere aufrichtig, Zelt, daß ich Sie damals dazu veranlaßte!“ entgegnete Stern, sich mit der Hand die Stirn glättend. „Ein altes Sprichwort sagt: ‚Gezwungene Liebe thut Gott leid‘!“ setzte er nachdenkend hinzu.

„Ach, Ihr Beide habt gewiß heute Euer Schmollstündchen!“ sagte Dr. Zelt lachend. „Wollte ich Ihnen morgen erzählen, Stern, was Sie da heute für grämliche Aeußerungen gethan, Sie würden mich zum Lügner stempeln.“

„Keineswegs!“ sagte Stern entschieden. „Ich habe mir Susi’s Jawort durch eine Intrigue erschlichen, und wenn Sie, mein guter Doctor, der Sie dabei eine Hauptrolle spielten, noch Dank dafür verlangen, so —“

„Ich habe ja nichts gethan, als Ihnen zu Liebe die Nachricht zu verbreiten gesucht, Caspari sei mit Lucie Eden[S. 110] heimlich verlobt, er sei ihr nachgereist und dann kam uns noch der famose Rettungsact und die Zeitungsnotiz zu Hilfe!“ unterbrach Dr. Zelt.

„Hätten Sie diese lieber damals nicht gebracht!“ setzte Stern gedankenvoll hinzu. „Am Tage darauf hatte ich Susi’s Jawort, und, daß ich es Ihnen, dem langjährigen Freunde, gestehe, — ich fürchte, es bringt mir kein Glück. — Meine Mutter ist seit dem Tage unserer Rückkehr niedergeschlagen und stimmt durchaus nicht mit meiner Frau überein. Susi gibt sich keine Mühe, die Liebe der alten, herzensguten Frau zu erwerben und — ich sage mir — erfährt sie gar, und ich fürchte es täglich, da sie die früheren Beziehungen zu Marie Caspari wieder aufgenommen, daß der Liebesgeschichte mit Lucie Eden nie etwas Wahres zu Grunde gelegen, ja daß sie von uns in die Welt gesetzt wurde — es ist für immer mit uns aus.“

„Sie hätten auch die Annäherung an Frln. Caspari verhüten können!“ meinte Dr. Zelt. „Auch mir wäre eine Entschleierung des Sachverhalts sehr fatal.“

Keiner von Beiden bemerkte den leisen Aufschrei, der von der Portière hervordrang. Die Zofe kam bald mit der Meldung, die gnädige Frau sei ohnmächtig an der Thüre ihres Zimmers gefunden worden; sie hatte sich eben angekleidet, um in das Gesellschaftszimmer zu kommen. Der herbeigerufene Arzt constatirte einen Anfall von Schwäche; er wollte in einer Stunde wieder vorsprechen. Als er zum zweitenmale kam, fand er Susi in heftigem Fieber. Es befremdete ihn, Stern noch im Gesellschaftszimmer zu finden; er ließ ihn rufen und empfahl größte Schonung, da die gelindeste Aufregung bei dem Zustande gefährlich werden könnte.

[S. 111]

Kopfschüttelnd verließ Dr. Senter das Haus. „Ist das das Glück der Reichen?“ sagte er gedankenvoll. „Die junge reizende Frau in diesem Zustande der Pflege der Zofe überlassen und der Mann mit nichtsnutzigen Cameraden am Spieltische! O armer Freund!“ setzte er hinzu, an Berthold Caspari denkend, „wie glücklich wäret ihr Beiden geworden, wenn Dich der leidige Mammon nicht geblendet hätte.“

Susi wußte, daß Dr. Senter ein Freund dessen sei, dem sie, ohne es zu ahnen, so bitteres Leid zugefügt. Ihr einziger Wunsch war, Klarheit in ihrem Denken zu behalten, um Dr. Senter in’s Vertrauen ziehen zu können. Sie fühlte, daß ihre Sinne sich in den heftigen Fieberphantasien verwirrten. „O Gott, nimm mich nicht fort von dieser Erde,“ jammerte sie, „ehe ich ihn, den edelsten, besten Menschen, mir versöhnt habe!“ Doch immer wilder tanzten die bunten Gestalten vor ihren Augen, ihr Kopf glühte, sie sprach von Himmel und Hölle, von Verbrechen, die sie nie sühnen könne, dann zogen wieder freundlichere Bilder in ihrem Sinne vorüber; sie lebte in einem kleinen Gartenhause mit der trauten Freundin; er, der Geliebte, kam, sie flog an seinen Hals, er küßte sie — er sprach so schön, so bezaubernd, doch plötzlich wich das milde Lächeln, das soeben ihre Züge verklärt hatte, einer schrecklichen Verzerrung; die Schwiegermutter war gekommen, sie den Armen des Geliebten zu entreißen, sie heimzuführen in das goldene Gefängniß, dem sie glücklich entronnen.

Was dachten die Umstehenden bei diesen Fieberphantasien? Stern entfernte jede fremde Person; er wollte mit der Mutter allein die Nacht über wachen.

[S. 112]

Mit Morgenanbruch erschien der Arzt. „Ein Nervenfieber!“ sagte er kurz. „Es scheint eine heftige Aufregung vorangegangen?“ setzte er fragend hinzu.

Stern wurde bleich. Jetzt wohl ahnte er, daß Susi vielleicht seine Unterhaltung mit Dr. Zelt belauscht haben konnte; er wähnte sie oben in ihren Zimmern und sie war, vermuthlich, um ihn zu überraschen, doch heruntergekommen und willen- und ahnungslos Zeugin der Unterredung mit dem Freunde geworden.

Er hatte seine Ehe unglücklich genannt, von erzwungener Liebe, von der erfundenen Zeitungsnachricht gesprochen; welch’ schauerliche Klarheit mußte dadurch der ahnungslosen Frau geworden sein?

Susi’s Zustand war in hohem Grade besorgnißerregend. Sie fühlte in lichten Augenblicken, daß ihre Kräfte abnahmen, und bat die Mutter, falls sie nicht am Leben bleibe, Berthold Caspari an Dr. Zelt zu verweisen, der ihm eine Erklärung nicht verweigern werde, daß ihm ihr Andenken heilig bleibe.

„Du wirst leben, mein gutes Kind!“ beruhigte dann die Mutter; „Du wirst noch glücklich werden und an Deine Krankheit wie an einen bösen Traum zurückdenken!“

Susi schüttelte traurig das Haupt. Gern hätte sie sich ausgesprochen, nur hatte der Arzt jede Aufregung untersagt. Ihr Gatte war jetzt theilnehmend und herzlich, doch athmete sie jedesmal erleichtert auf, wenn er das Zimmer verlassen; oft wollte sie die Bitte aussprechen, man möge ihn nicht vorlassen, aber wie sollte sie dieselbe motiviren? Sie sehnte sich, Marie Caspari zu sprechen, doch der Arzt hatte jeden Besuch verboten. So war Susi wochenlang von jedem Verkehr abgesperrt, allein mit den quälendsten Gedanken, schwach[S. 113] und hilflos, denn die Reconvalescenz ging langsam von Statten. Sie saß in der That, wie sie es oft in ihren Fieberphantasien genannt, in einem goldenen Gefängniß! Ihr Gemal hatte, als sie das Bett verlassen durfte, Tag und Nacht an einem Gartenpavillon arbeiten lassen, der in dem geräumigen, an das Wohnhaus grenzenden Park eiligst errichtet werden sollte. Nach acht Tagen war er fertig, mit allem denkbaren Luxus und Comfort ausgestattet. Der Arzt hatte endlich den ersten Spaziergang erlaubt. Nur widerstrebend nahm Susi den Arm ihres Gatten, da sie sich zu schwach fühlte, um allein gehen zu können. „Du wirst Dich noch mit mir aussöhnen, Susi,“ sagte er bedeutungsvoll.

„Glaubst Du wirklich, daß mich jener verschwenderische Luxus erfreut?“ fragte Susi, als sie das goldgezierte Dach des Pavillons sah.

„Du wirst liebe Freunde dort treffen, Susi, wirst sie täglich sehen und in ihrem Umgang gesunden!“ sagte Stern.

„Ach, mein Herz hat kein Gefühl mehr für die Freundschaft!“ hauchte sie schmerzlich; „Du weißt, jeder Verkehr ist mir lästig, falls Besuch dort ist, komm’ laß uns umkehren!“

„Fühlst Du Dich stark genug, Susi, eine unverhoffte Freude zu kosten?“ fragte Stern.

„Ah, ich ahne, Du hast gewiß Marie Caspari geladen!“ sagte Susi leuchtenden Auges.

„Sie und noch Jemanden, Susi, an dem ich großes Unrecht begangen!“ entgegnete ihr Gatte.

„Das, das hättest Du gethan?“ rief Susi hochbeglückt. „O, dann sei Dir Alles verziehen!“ setzte sie schnell hinzu. „Ja, ich fühle mich stark und neubelebt;“ sie legte ihren Arm fest und innig in den seinen; es war ihm, als führte er[S. 114] nicht mehr die kranke, schmachtende Susi, sondern ein glückliches, freudestrahlendes Weib.

Jetzt hatten sie die Vorhalle des Pavillons erreicht; es war das erstemal, daß Susi ihren Gatten aus eigenem Antriebe küßte. Sie schloß ihn innig in ihre Arme und hauchte hochbeglückt: „Tausend, tausend Dank, daß Du in dieser Weise Alles gut machen willst!“

Die Flügelthüren öffneten sich; ein bleicher, hoher Mann mit eingefallenem Gesicht, das von schwarzem Vollbart umrahmt war, stand vor ihr. Sie reichten einander stumm die Hand, doch Marie fiel der Freundin zärtlich um den Hals und weinte Thränen reinsten Glücks.

Susi ließ sich erschöpft auf einen Sessel nieder.

„Es ist doch gut, daß Du mich vorbereitet hast“, sagte sie zu ihrem Gatten; „ich glaube, die Freude hätte mich getödtet.“

„Es war mein specieller Wunsch!“ sagte Caspari endlich; „Sie sind noch Reconvalescentin und bedürfen der Schonung.“

„O, nun nicht mehr!“ rief Susi hochaufathmend; „in dieser Luft, unter so guten, treuen Menschen bin ich plötzlich gesund und stark worden. Doch verzeih’,“ wandte sie sich an ihren Gatten, „ich wollte Dich nicht kränken! Auch Du bist gut, das fühle ich heute erst recht deutlich; aber die geistige Atmosphäre —“

„Nun will ich doch einmal nachsehen, wie die Parforce-Cur bekommen!“ unterbrach der plötzlich eintretende Dr. Senter.

„Ah, Sie sind ein guter Menschenkenner!“ sagte Susi, ihm herzlich die Hand reichend.

[S. 115]

„Ja, Ihr wäret ja alle drei für Gott und Ewigkeit verlorene Menschen gewesen,“ entgegnete Dr. Senter, „wenn ich als Arzt nicht die passende Medicin gefunden hätte! Frau Susi gemüthsleidend, weil sie eine Horcherin gespielt (setzte er mit dem Finger drohend hinzu), Dr. Caspari verzweifelt, weil er in falscher Großmuth auf die Geliebte verzichtet, und nun gar mein herzensbraver Stern, der fast tiefsinnig werden will, daß er sich vor einem Jahre in verliebter Laune — eine — wie soll ich sagen — eine Zeitungsspeculation erlaubte.“ Ueber Stern’s Gesicht flog ein tiefer Schatten.

„Susi,“ sagte er bittend zu seiner Frau, „der beste aller Menschen hat mir verziehen, sag’ auch Du —“

„Du hast Dein Unrecht in einer Weise ausgeglichen,“ unterbrach Susi, ihm herzlich die Hand reichend, „die Dir meine vollkommene Hochachtung sichert. Ich bin Dein angetrautes Weib und will Dir jetzt ewig treu und dankbar sein, da Du mir die Freunde, an denen mein Leben hing, zurückgegeben. Ohne sie, das sagte ich mir oft in meiner Krankheit, wäre mir das Leben eine unsagbare Last gewesen, der ich hätte erliegen müssen.“

Dr. Caspari war noch keines Wortes mächtig. Endlich dicht vor Susi hintretend, sagte er mit bewegter Stimme: „Und Sie, Susi, in deren Herzen jedes Gefühl des meinigen ein volltönendes Echo fand, Sie konnten wirklich glauben, daß eine Geldheirath —“

„Herr Philosoph!“ unterbrach Dr. Senter, „solche Discussionen vertagen Sie gefälligst auf einige Wochen später; Frau Stern ist noch Reconvalescentin, ich fürchte, wir haben ihr schon zu viel zugemuthet.“

[S. 116]

„Nein, guter Doctor,“ sagte Susi, ihm herzlich beide Hände entgegenstreckend, „ich wäre nie gesund und froh geworden, wenn sich nicht Alles so gefügt hätte. Eine Frau kann ihren Gatten eines Fehltrittes zeihen, doch sie kann ihm verzeihen, wenn sie weiß, daß er Edelmuth genug besitzt, denselben gut zu machen. Ich weiß,“ sagte sie, sich an Stern wendend, „es ist Dir nicht leicht worden, unserem Freunde einzugestehen, wie Du ihn —“

„Hintergangen,“ ergänzte Stern, als Susi zauderte, das Wort auszusprechen. „Ja,“ fügte er hinzu, „es war der schwerste Gang meines Lebens; ich bekannte ihm Alles und wäre gerne bereit gewesen, ihm ein Leben, das mir, da ihm die Selbstachtung fehlte, lästig war, zur Verfügung zu stellen. Ehe ich den Gang zu ihm antrat, waren meine Pistolen geladen.“

„Aber er, der beste der Menschen,“ fuhr Stern mit einer an ihm sonst ungekannten Begeisterung fort, „er reichte mir, nachdem er lange nachgedacht, gerührt die Hand. ‚Ich danke Ihnen, daß Sie mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben!‘ sagte er unter Thränen; wie Alles gekommen und kommen mußte, ist eine Fügung des Himmels, doch, daß Sie den schweren Kampf, sich selbst zu besiegen, durchgeführt und jetzt reumüthig Ihre Schuld eingestehen, um wieder als freier Mann aufathmen zu können, beweist mir, daß Susi sich nicht, wie Sie behaupten, einem Unwürdigen vermählt hat. Ich war ehedem der Freund, der Bruder, der Lehrer und Berather Ihrer Gattin!“ setzte er nach einer Weile stillen Nachdenkens hinzu; „setzen Sie mich wieder in meine alten Rechte ein! Wir stehen Alle auf der Stufe einer Sittlichkeit, daß Niemand von uns bei einem noch so trauten Verkehr etwas gefährdete!“

[S. 117]

„Das war Ihrer würdig gedacht!“ entgegnete die junge Frau. „Ja, bleiben Sie unser Aller Freund und verzeihen Sie meinem Gatten und auch — meinen Eltern,“ setzte sie schmerzlich bewegt hinzu, „daß Ihnen so tiefes Herzeleid bereitet worden!“

„Ich klage Niemanden an als mich selbst!“ entgegnete Dr. Caspari tief bewegt. „Ein Jeder ist seines Glückes Schmied und wer zu rechter Zeit und mit rechter Energie in die Schicksalsräder eingreift, gestaltet sich sein Leben glücklich. Ich war ein Träumer, wo ich hätte handeln sollen —“

„Quäle Dich nicht mit Selbstanklagen!“ unterbrach Marie. „Ich bin so froh und glücklich, daß wir unsere Susi wieder haben, daß ich gar nicht zurückdenken mag, daß wir Sie verloren glaubten.“

„Du gute Seele!“ sagte Susi, die Freundin herzlich umarmend. „O, wie ist die Welt so schön, wenn wir uns von lauter guten Menschen umgeben wissen!“ setzte sie unter Thränen lächelnd hinzu.

VII.

Im Stern’schen Hause war Lust und Freude. Die junge Frau erblühte nach überstandener Krankheit schöner, als sie je gewesen. Allgemein war man über ihren Zauber und ihre Liebenswürdigkeit erfreut. Täglich holte sie ihren Gatten von der Börse ab, Abends Punkt 7 Uhr wartete ihr Wagen vor dem Comptoir, sie schien die Zeit nicht erwarten zu können, daß sie zusammen waren. Stern wußte erst jetzt, was er an seiner Frau besitze. War sie bisher kalt und ablehnend[S. 118] gewesen, so schien sie jetzt die übersprudelnde Herzlichkeit, und selbst die alte Mutter machte Anstalt, sich mit ihr auszusöhnen. Wer hätte auch ihrem herzgewinnenden Liebreiz widerstehen können! Leben und Glück waren in die fast leblose Hülle zurückgekehrt, und das Glück, das sie selbst verschönte, wirkte beglückend auf ihre Umgebung.

Zum ersten Male wieder seit fast einem Jahre sprach Dr. Caspari in der Freien Gemeinde. Ungern hatte man auf den Redner, dessen Worte so mächtig zu zünden pflegten, verzichtet, er war indeß nicht zu bewegen gewesen, seine Thätigkeit wieder aufzunehmen.

„Ich habe mich selbst verloren!“ sagte er damals zu einem Freunde, der ihn bat, wieder einmal öffentlich zu sprechen. „Als ich noch den vollen Glauben an die Menschheit hatte, da konnte ich vor Euch hintreten und, begeistert wie ich selbst für alles Gute war, Euch auch mit fortzureißen suchen. — Heute bin ich ein todter Mensch!“ hatte er hinzugefügt, „ich könnte Euch doch zu nichts nützen!“

Auch dieser todte Mensch war wieder auferstanden zu neuem thatkräftigen Leben. Allgemein war nur Eine Stimme: „So wüßte Niemand zu sprechen!“ Alles in seiner Rede war durchgeistigt, belebt von jenem Feuer innerer Wärme, die mächtiger zündete als je. Der Saal der Freien Gemeinde war Kopf an Kopf gedrängt voll; die Vorsäle und Zugänge waren überfüllt; schon eine Stunde vor Beginn waren alle Plätze besetzt. Zwei Stühle blieben stets in der vordersten Reihe reservirt; eine schöne, junge Frau, auf den Arm ihres Gatten gestützt, pflegte kurz vor Beginn zu kommen. Beide folgten, nur ab und zu Blicke des Einverständnisses wechselnd, dem Vortrage mit gespanntester Aufmerksamkeit. Sie waren[S. 119] die Ersten, denen Dr. Caspari, nachdem er geendet, die Hand reichte, obgleich sich begeistert Hunderte an ihn hinandrängten. Von ihm begleitet, traten sie den Heimweg an; es war eine auserwählte Gesellschaft, die sich dann allsonntäglich im Stern’schen Salon einte, Menschen, die sich nicht begnügten, des Lebens Güter nur durchzukosten, um von Genuß zu Genuß zu eilen, sondern denkende, für alles Hohe begeisterte, alles Gute thatkräftig unterstützende Menschen. Dr. Caspari war die Seele des Ganzen, doch sein begeistertster Anhänger war Jacob Stern geworden. In diesem sonst stets für oberflächlich und eitel gehaltenen Menschen war eine Wandlung vorgegangen, die ihn kaum wieder erkennen ließ! War sein Gang sonst gebückt und schlodderig, so athmete jetzt jede Bewegung Selbstbewußtsein und Muth, das Auge leuchtete, sein Wort klang überzeugend und herzlich. Die früher von ihm beliebte leichtfertige Gesellschaft war nach und nach aus seinem Hause geschwunden; er konnte sich heute selbst nicht eingestehen, wie er Jene einst seine Freunde genannt. Sein Glück schien keine Grenzen zu kennen, als ihm, ein Jahr nach Susi’s Genesung, ein Sohn geboren wurde.

Abermals war es ein Zeitungsblatt, das Susi in nicht geringe, doch diesmal freudige Aufregung versetzte. Zum ersten Male seit ihrer Niederkunft hatte ihr Gatte heute eine Zeitung auf den Tisch gelegt. Hastig griff sie danach; sie blätterte vor und rückwärts, bis ihr Auge starr an einer Stelle haften blieb. Dann faßte sie nach dem Herzen, doch nicht wie damals schmerzerfüllt, sondern überglücklich und leuchtenden Auges reichte sie ihrem Gatten die Hand: „Das macht Deinem guten Herze Ehre!“ sagte sie tief gerührt. „Doch warum theiltest Du mir nicht mit —“

[S. 120]

„Hatte ich Dir nicht durch ein Zeitungsblatt Schmerz bereitet,“ sagte Stern bewegt, „so war ich Dir an selber Stelle einen Ausgleich schuldig.“

Susi zerdrückte eine Thräne in ihren Augen; sie blickte auf ihr Kind, ihren kleinen Berthold und sagte: „Möge alles Gute, das Du thust, ihm zum Segen gereichen!“

„Und Dir zu Freude!“ sagte er, sie zärtlich küssend.

Jene Zeitungsnotiz lautete: „Der hiesige Banquier St. hat, seinem anerkannten Wohlthätigkeitssinne folgend, aus Anlaß eines freudigen Familienereignisses, dem hiesigen Armenvereine 10.000 Gulden überwiesen, deren Zinsen zur Pflege armer Wöchnerinnen verwendet werden sollen.“

Wieder und wieder las Susi diese wenigen Zeilen: „Sie athmen die Poesie eines gottgeweihten Herzens!“ sagte sie bewegt.

„Und doch wird es von so Vielen, selbst von der eigenen Mutter für gottlos gehalten!“ entgegnete Stern mit tiefem Seufzer.

„Guter Mann,“ entgegnete Susi; „Deine Mutter genügt ihrem religiösen Pflichtgefühl, wenn sie betet und die Gebote der Bibel befolgt, wir, wenn wir helfen und den Samen des Guten ausstreuen, wo wir können; unser Söhnchen wird wiederum einst unser Thun vielleicht belächeln; jede Generation hat ihre Ideale, und wer wahr und aufrichtig strebt, gut zu sein, verdient, daß man ihn anerkenne.“

Susi’s Mutter trat mit strahlendem Gesichte ein.

„Ich habe mir keine Zeit genommen, mich recht anzukleiden!“ rief sie überglücklich. „Bist Du es denn wirklich?“ fragte sie ihren Schwiegersohn, „von dem heute die ganze Stadt spricht!“

[S. 121]

Stern war fast verlegen; er hatte nur beabsichtigt, der geliebten Frau eine Freude, keineswegs sich zum Mittelpunkt des Stadtgespräches zu machen.

„Nur schade,“ setzte die Mutter nach einer Weile hinzu, „warum hast Du es nicht für jüdische Arme an die jüdische Gemeinde gewiesen?“

„Da hättest Du schwerlich in meinem Sinne gehandelt!“ sagte Susi entschieden. „Wenn Jemand in Noth ist, so frage ich ihn nicht, zu welcher Religion er sich bekennt.“

„Hast Du aber schon gesehen, daß Christen für jüdische Arme testiren?“ fragte die Mutter fast beleidigt.

„Um so mehr ist es Pflicht, liebe Mutter,“ entgegnete Stern, „daß wir zeigen: Wer helfen will, helfe den Bedürftigen, gleichgiltig ob Jud, oder Christ, ob Muselmann.“

„Das sind nun wieder Eure freireligiösen Ansichten,“ sagte Frau Cahen; „nun, ich bin eine alte Frau und kann und mag sie nicht verstehen, aber das weiß ich, Gott lohnt das Gute bis in’s dritte und vierte Glied und er wird es Euch an Eurem Kinde lohnen, was Ihr Gutes gethan.“

VIII.

Der Mutter Prophezeiung schien in Erfüllung zu gehen; der kleine Berthold wurde ein ausnehmend schönes, kräftiges Kind; die junge Mutter fühlte all die Süßigkeiten, ihrem Kinde Alles sein zu können, sein erstes Lächeln zu belauschen, seinen Schlaf zu bewachen, es selbst an ihrer Brust zu nähren. Die Kinderstube war ihre Welt. Zwar war eine[S. 122] Wärterin angenommen, doch ließ Susi das Kind nicht von den Händen.

„Du gehst zu weit in Deiner Gewissenhaftigkeit!“ sagte ihr Gatte oft.

„Wie will ich von bezahlten Leuten das verlangen, das ich selbst nicht leiste?“ entgegnete ihm Susi.

An ihrer Hand machte das Kind die ersten Gehversuche, und — welche Freude durchzuckte das Mutterherz — als Berthold ein Jahr alt war, ging er bereits dem Vater einige Schritte entgegen! Dieser fing ihn hochbeglückt in seinen Armen auf, drückte ihn an sein Herz, doch trotz aller Freude schien die Wolke, die schon einige Zeit auf seiner Stirn lagerte, nicht zu vergehen.

Susi war so sehr mit ihrem Kinde beschäftigt, daß sie dieselbe nicht bemerkt hatte. Da sie seit der Geburt des Kleinen fast abgeschlossen von allen größeren Gesellschaften lebte, war ihr auch nicht zu Ohren gekommen, was man sich draußen erzählte. Sie hörte wohl von einer Geschäftskrisis, von schlechten Zeiten, doch legte sie dieser landläufigen Klage, die selbst in den günstigen Jahren beliebt ist, wenig Werth bei; sie wußte, daß ihr Mann in Eisenbahn-Papieren hoch speculirt habe, doch er hatte ja eine so sichere, glückliche Hand, daß noch keine Ahnung in ihr aufstieg, sein Vermögen könne gefährdet sein.

Stern hatte sich oft gesagt, es sei Pflicht, der Frau Einblick in die Vermögensverhältnisse zu gestatten, er hatte auch oft mit Darlegungen begonnen, doch Susi, die jedesmal glaubte, er beabsichtige nur, ihr eine Idee seines Reichthums zu geben, schnitt kurz ab und sagte, daß sie ja doch von Geschäftsoperationen nichts verstehe und es ihr vollständig[S. 123] gleichgiltig sei, ob ihr Vermögen in Türkenloosen oder amerikanischen Papieren oder Eisenbahn-Actien angelegt sei.

„Wenn ich aber einmal ungünstig speculire?“ hatte Stern wie zufällig gefragt.

„Du gehst so sicher zu Werke, daß dies kaum eintreten kann!“ antwortete Susi.

Ihr Gatte wollte der in vollem Vertrauen Lebenden keine Besorgnisse einpflanzen, die ihrem arglosen Gemüthe so fern lagen; auch hoffte er noch die Katastrophe abzuwenden.

Das Welthaus Strousfeld war nahe daran, seine Zahlungen einzustellen; Stern war mit seinem ganzen Vermögen bei demselben betheiligt. Er hielt es unausbleiblich, daß auch er folgen würde. „Dies muß abgewendet werden, um jeden Preis!“ sagte er sich. Noch war die Angelegenheit nicht officiell. Stern bot seinen ganzen Einfluß auf und im Verlauf von acht Tagen gelang ihm das Unglaubliche. Man konnte öffentlich die in Privatkreisen schon vielfach besprochene Zahlungseinstellung Strousfelds Lügen strafen, da die vorkommenden Anweisungsgelder Heller bei Pfennig bezahlt wurden.

Doch wie war dies möglich geworden?

Haben jene Moralisten Recht, die die Börsenwelt die Welt des Scheines, des Betruges, der Illusionen nennen? Wohl konnte man sich in jener Gründerzeit, die mit dem überall in schwerem Unglück hereinbrechenden „Krach“ endete, fragen: „Was ist Reichthum?“ Imaginär war der Besitz, war die Verrechnung. Papiere wurden geschaffen, verwerthet, entwerthet; Consortien, Gesellschaften, Banken gegründet, die, da ihre Directoren mit allem erdenkbaren Pomp auftraten, die feinsten Hotels mit einer zahllosen, gallonirten Dienerschaft bewohnten, auf Gummirädern dahingallopirten, eines[S. 124] Ansehens und Vertrauens bei der großen Menge genossen, das uns heute, da der Schleier gefallen, an dem gesunden Sinn, der richtigen Urtheilsgabe der in’s Schlepptau genommenen Bevölkerung zweifeln läßt; ein kleiner Bruchtheil hielt sich der Strömung fern, theils aus Mißtrauen, theils aus angeborenem Rechtlichkeitsgefühl; sie ahnten, daß jenen ewigen Naturgesetzen zufolge, welche nur eine Vermehrung des Besitzes nach rechtlicher Arbeit eintreten lassen, die Ueberspeculation sich rächen müsse. Es war so bequem zu „zeichnen“, nur zu zeichnen, wie der technische Ausdruck hieß, und dafür gleich den Gewinn einzuheimsen. So leicht wie man „verdiente“ (wenn dies eben ein Verdienen war), gab man auch aus; der Börsianer hatte eine stets offene Hand; was galt ihm der Preis einer Waare? Der armselige Krämer oder Waarenhändler rechnete seinen Nutzen nach Pfennigen, er denjenigen einer einzigen „Zeichnung“, nach Tausenden.

Eine einflußreiche, gut accreditirte Person konnte in jener Gründerzeit mit leeren Händen Schätze gewinnen. So war es auch nichts Seltenes, daß sogar fürstliche Personen sich an die Spitze der Börsen-Unternehmungen stellten. Stern wußte seinen Einfluß bei dem verschuldeten Grafen Nesh geschickt zu benutzen. Der Graf stand an der Spitze jenes Consortiums, das eine neue Anleihe für eine Zweigbahn ausschrieb; weder Strousfeld’s, noch sein Name hatten genügende Anziehungskraft, die Grafenkrone adelte das Unternehmen. Zwar wußte man in aristokratischen Kreisen, wie es nun mit Graf Nesh stehe, doch das Gros war geblendet durch den altadeligen Stamm, man traute und Tausende und Abertausende flossen zusammen; es hieß, das Geld sollte zum Bau einer Zweigbahn, von deren Prosperität[S. 125] man sich überzeugt hatte, verwendet werden — in Wirklichkeit wurden mit den einlaufenden Capitalien alte Verpflichtungen berichtigt. Die Interessenten warteten auf eine Verständigung — vergebens.

Wozu war die Anleihe verwendet worden?

Man munkelte allerhand, und Stern, der die rechte Hand Strousfeld’s war, er, den man als Freund und chargé d’affaire des Grafen Nesh kannte, wurde vielfach verdächtigt, bedeutende Summen zu anderen, als den gezeichneten Zwecken verwendet zu haben.

Der Begriff von Ehre und Rechtlichkeit ist in gewissen Kreisen gar zu dehnbar, zu elastisch; Stern hatte ein weites Gewissen, dennoch drückte ihn die Verantwortlichkeit. Was heute Geheimniß der Betheiligten war, mußte doch über kurz oder lang entschleiert werden. Kommt Zeit, kommt Rath! tröstete er sich; augenblicklich war die Krisis überwunden; einige gute Speculationen und die eingelaufenen Summen konnten zurückgezogen und ihrer eigentlichen Bestimmung nach verwendet werden. Er hoffte es, wenngleich in schlaflosen Nächten das Gespenst der Sorge aus den Falten des blauseidenen Himmelbettes gar grinsend und unheimlich hervorlugte, Ruhe und Glück verscheuchend.

Der arme, reiche Mann! Was hatte er von seinen Hunderttausenden? Sorge, Aufregung, Qual ohne Ende. Der ärmste Bettler legt sein müdes Haupt zur Erde nieder und findet erquickende Ruhe; seit Wochen floh ihn der Schlaf, unstet irrten seine Gedanken in die Zukunft; die erhoffte günstige Wendung in den Börsenmanövern trat nicht ein; der kommende Ultimo erforderte neue Opfer. Strousfeld war außer Stande, auch nur einen Theil der Gelder[S. 126] auszuzahlen. Stern sah ein, daß er ein gewagtes Spiel gespielt, wohl konnte man das ungläubige Publikum noch für einige Zeit dupiren, doch — es mußte etwas geschehen, denn auch Graf Nesh fing an zu drängen, daß er seinen „guten Namen“ retten müsse. Welch’ schweren Stand hatte Stern! Was er gethan, konnte er vor sich selbst nicht verantworten; keine Hoffnung, die Angelegenheit zu ordnen! Die fremden Capitalien waren nicht herauszuziehen, sie schienen ihrem Bestimmungszweck verloren. — Von Tag zu Tag sanken die Course. Ein sogenannter „heller Kopf“ berief eine Versammlung der Actionäre ein und entrollte ein Bild, das eben nicht vertrauenerweckend war. „Wir sind die Geprellten!“ hieß es, „doch wir wollen der Sache auf den Grund gehen; entweder die Bahn, für die wir gezeichnet und gezahlt, wird noch im Laufe dieses Monats in Angriff genommen, oder wir beantragen gerichtliche Untersuchung.“

Jetzt mußte Stern handeln; er sagte sich, daß „Zeit gewonnen, Alles gewonnen“ heiße. Unerschrocken berief auch er jetzt unter der Aegide des Grafen Nesh eine Versammlung der Betheiligten ein. In glänzender, überzeugender Rede suchte er die gegen das Consortium laut gewordenen Verdächtigungen zu widerlegen; wohl sei man nicht vorschnell mit dem Ankauf der Bahnstrecken vorgegangen, da eine günstige Conjunctur abzuwarten, auch der Erfolg einer Zweigbahn erst nach Vollendung der Hauptbahn zu erwarten sei, letztere könne jedoch erst in einigen Monaten dem Betriebe übergeben werden. Die eingezahlten Gelder seien einstweilen sicher in einem der ersten Bankhäuser angelegt; auch Graf Nesh und andere Koryphäen des Consortiums traten dafür ein, daß das Unternehmen den besten Händen anvertraut[S. 127] und eine baldige Durchführung auf solider Grundlage zu erwarten sei.

Man „glaubte“ und die Versammlung ging beruhigt auseinander. — Doch nun hieß es energisch vorgehen. Weshalb hatte Stern die eingezahlten Gelder dem Hause Strousfeld zugeführt? Es galt, eine damals unabwendbare Zahlungsstockung zu verhüten und somit Zeit zu gewinnen, sein bei Strousfeld engagirtes Vermögen herauszuziehen. Stern selbst hatte an Actien 50,000 Thaler gezeichnet; die Gesammt-Zeichnung betrug 800,000 Thaler. Wohl hatte er den Fall des Strousfeld’schen Hauses hingehalten, seine Gelder theilweise herausgezogen, doch — ein sinkendes Schiff ist schwer zu retten. Unmöglich, jetzt noch das Steuer richtig zu lenken! Das hatte Stern allerdings nicht voraussehen können; mit Sicherheit hoffte er bei steigender Conjunctur nach einigen Monaten seine Gelder mit guten Zinsen vom Hause Strousfeld erheben zu können; wie so manch ähnliches Manöver war in Börsenkreisen abgespielt und ohne Schaden der Betheiligten zu Ende geführt worden! Es galt für Stern, sein Vermögen, die Ruhe und Ehre der Seinigen zu retten; welche Speculation war um diesen Preis zu gewagt?

Noch vor zwei Jahren, ehe Stern die Bekanntschaft Caspari’s gemacht, hätte er keinen Fehler in seiner Handlungsweise erkannt, doch jetzt war er nicht mehr er selbst, der berechnende Kaufmann, dem der Naturalismus, die Sucht nach Gewinn, über Alles geht — er hatte sich berauscht an dem sprudelnden Nectar einer edlen Weltauffassung, hatte aus dem Born des reinen Menschenthums ideale Begeisterung getrunken und — der Dualismus nagte an seiner Natur und schien sie zu ertödten; der Idealist verurtheilte, was der[S. 128] Materialist geboten hielt; aus Liebe zu den Seinen hatte er sich einer verbrecherischen Handlung schuldig gemacht, um sein Vermögen zu retten, so viele Andere um das Ihrige gebracht. Die von ihm gezeichneten 50,000 Thaler waren nur fingirt, doch hatten sie Andere zur Nachzeichnung ermuntert; der Betrug konnte ihm nachgewiesen werden. O, Qual der schlaflosen Nächte, in denen er sich das Hirn zermarterte, wie er Ehre und Vermögen und Glück der Seinen, das ihm noch unlängst so fest begründet schien, retten könne. Noch war keine Aussicht auf Eröffnung der Bahnstrecke, und selbst wenn diese erfolgte — man weiß ja, daß das erste Jahr ein Versuchsjahr sein muß und keinen Gewinn abwirft.

Zehnmal schon hatte er sich vorgenommen, sich dem Freunde zu vertrauen — doch konnte er ihm, dem reinen, hochherzigen Manne seine unlautere Geschäftsgebahrung mittheilen?

Caspari hätte ihn kaum verstanden; er würde ihn eher für irrsinnig erklärt haben, ehe er solche Schurkerei geglaubt hätte.

Wie beneidete er Susi um ihre Arglosigkeit. Ja, das Kind war ein Glück für sie, denn hätte sie ihm nicht so ganz ihr Sinnen und Trachten geweiht, die kluge Frau würde längst die Aenderung in ihres Gatten Wesen bemerkt haben.

In der Stadt munkelte man schon viel, daß es mit Stern’s Finanzoperationen schlecht stehe; die „guten Freunde“ zogen sich zurück; Frau Commercienrath Beche, die sonst nie ohne herzlichen Händedruck an Susi vorüberging, wich ihr schon mehrmals, wenn sie einander auf der Promenade begegneten, aus; Frau von Lorm pflegte sonst, wenn sie die[S. 129] junge Frau sah, stets ihren Wagen halten zu lassen und sie zu bitten, in demselben Platz zu nehmen; — sonderbar! war die sonst so scharfsehende Dame kurzsichtig geworden? Doch Susi war so sehr mit ihrem reichen Innenleben und der Sorge für ihr Kind beschäftigt, daß, wenngleich ihr diese Vorfälle nicht entgingen, sie ihnen doch weiter keine Bedeutung beilegte. Ihr Gatte schien zwar öfter auffallend zerstreut, doch war ihr dies nichts Neues; wußte sie doch, daß seine weitverzweigten Geschäfte, sowie das große Personale, das ihm unterstand, sein Denken sehr in Anspruch nahmen.

Mehrere Monate nach der Katastrophe stand man im Strousfeld’schen Geschäft vor derselben Krisis. Die vom Consortium gezeichneten Summen waren nur theilweise eingezahlt worden; es hatte sich unter Stern’s eigenen Leuten ein Verräther gefunden, der das ganze Manöver aufdeckte. Eine gerichtliche Commission wurde zur Prüfung der Sachlage eingesetzt; Stern hielt seine Position für unhaltbar; nicht nur hatte er die gezeichneten 50,000 Thaler nicht eingezahlt, er hatte im Laufe jener Zeit beinahe das Doppelte aus dem Strousfeld’schen Geschäft an sich zu bringen gewußt, obgleich andere Gläubiger, die frühere Forderungen hatten, zurückgewiesen worden waren.

Vergebens zermarterte er sein Hirn, wie er einen Ausweg finden könne, um wenigstens seinen ehrlichen Namen zu retten. Die Bücher waren mit Beschlag belegt und wurden seine unerbittlichen Ankläger. Jeder Laie konnte aus Ihnen ersehen, daß ein großer Theil des vom Consortium geleisteten Vorschusses in Stern’s Casse geflossen.

Wie beneidete er den ärmsten Commis in seinem Geschäfte, der, sein spärliches Einkommen richtig eintheilend, sorgenfrei, ohne Reue, ohne Furcht leben durfte.

[S. 130]

O, hätte ihm nur ein Mensch rathen können, was jetzt zu thun sei.

Schon sah er die Gerichtsdiener kommen, sein Eigenthum pfänden, ihn selbst fortführen, fort von Weib und Kind — von der alternden Mutter, deren größter Stolz er war, und die es nicht überleben würde, ihn als Verbrecher angeklagt zu sehen.

Verbrecher! er schauderte zusammen. Ja, das war er in den Augen der Welt, und dadurch waren auch sein Weib, sein Kind geschändet!

Doch wie? Ein rettender Gedanke flog durch die fieberhafte Stirn; noch kann er als ehrlicher Mann sterben, noch ist keine Anklage erhoben; es gibt Mittel. — Geisterbleich saß er da und stierte in die Ferne. Noch einmal trat das Leben mit all’ seinen Verlockungen vor seine Seele, er umarmte in Gedanken das geliebte Weib, er küßte unter strömenden Thränen das Bild des kleinen Berthold, das er bei sich führte. — „Ja, Euch zu Liebe muß es sein!“ rief er endlich in wilder Verzweiflung. „Der Freund wird Euch schützen, daß Ihr nie das Schreckliche erfahrt, Ihr sollt mich beweinen, als einen geliebten Todten, den die Erde, — nicht als einen Verbrecher, den das Zuchthaus birgt.“

Als Stern endlich aufstand, schien er um zehn Jahre gealtert. Er ging auf sein Schreibpult zu, nahm ein Paket Streichhölzer, deren Schwefelenden er in eine eigens bereitete Lösung steckte.

„Meine einzige Rettung!“ sagte er seufzend; er griff zur Feder und schrieb lange, lange; den Brief übergab er selbst der Post; als er zurückkehrte stand er sinnend an der Thür des Kinderzimmers. Sie sang so rührend schön: „Bleib’[S. 131] brav und gut, mein herzig Kind!“ Nein, er hatte kein Recht, ihre holde Ruhe zu stören. „Wer weiß auch,“ sagte er sich, „ob mir die Kraft bleibt, den Entschluß auszuführen, nachdem ich sie noch einmal gesehen!“ Festen Schrittes ging er in sein Arbeitszimmer, das er sorgfältig verschloß; dort stand der todtbringende Trank.

„Besser leiblich als moralisch todt!“ sagte er sich und trank muthig den Becher zur Neige! —

IX.

In der fünften Stunde erhielt Dr. Caspari einen Brief von Stern’s Hand. „Gewiß eine Einladung zu heute Abend!“ sagte er erfreut, doch starr und bleich wurden seine Züge, als er den Brief durchflogen:

„Du einzig wahrer Freund! Ich muß in Deine Hände ein schauerliches Vermächtniß legen; beklage mich und erfülle meinen letzten Willen; stehe meiner Susi, meinem Kinde zur Seite, wenn ich nicht mehr bin. Du als Advocat hast Einblick in die Strousfeld’schen Acten; meine Gebahrung erscheint strafbarer als sie ist; hätte jener Elende nicht mein Geschäftsgeheimniß verrathen, ich hätte Alles zum Guten wenden können; jetzt ist es leider unmöglich. Trachte, daß Susi mit dem Kinde die Residenz meidet; der Arzt hat ihr ohnehin ein Seebad verordnet; sie wird mich betrauern und mein Andenken ehren; dies gibt mir die Kraft, den schrecklichen Entschluß auszuführen. Dr. Senter wird einen Herzschlag als Todesursache constatiren. Die Untersuchung kann[S. 132] sich noch Wochen hinziehen; inzwischen richte es ein, daß Susi nach Misdroy übersiedelt; falls Gerüchte auftauchen, hoffe ich, kommen sie ihr dort nicht zu Ohren; Deine und Mariens Gesellschaft wird ihr bester Schutz sein.

Nun noch die eine Bitte an Dein Freundesherz! Verurtheile mich nicht! Du wirst es Feigheit und moralische Schwäche nennen, was mir gerade als echte Mannesthat geboten scheint, ich meide schweren Herzens ein Leben, das ich jetzt erst durch edle Menschen lieben und verstehen gelernt habe; ich muß es meiden, da ich als Ehrloser nicht weiter in ihrer Gemeinschaft leben darf. — Sich selbst verbannen, ist ein schweres Loos!

Ich lege das Schicksal der Meinen, meine Vertheidigung bei Gericht in die Hände des besten Menschen und bitte ihn, mir zu verzeihen, daß ich sein reines Gewissen in Mitwissenschaft der schrecklichen That ziehe, die ich ausführen mußt’ — aus Liebe zu den Meinen! Jacob Stern.“

Dr. Caspari hatte kaum den Brief gelesen, als er nach Hut und Stock griff und eiligst davonlief. Unterwegs traf er einen Fiaker, in den er sich, an allen Gliedern bebend, warf. „Ich zahle dreifache Taxe, nur eilen Sie!“ er nannte Stern’s Wohnung. Der Fiaker flog, doch schneckengleich für Caspari’s Ungeduld. Vielleicht konnte er ihn noch retten, der Brief war eine Stunde zuvor aufgegeben. — Endlich hielt der Wagen. Angsterfüllt stieg Caspari die teppichbelegten Stufen hinan; er warf einen Blick in’s Comptoir, dort war er nicht; er eilte in sein Privatzimmer; zitternd öffnete er. — Das Schreckliche war bereits geschehen; dort lehnte der Freund mit verzerrtem Gesicht; die Todeszuckungen waren noch wahrnehmbar! er mußte furchtbar gelitten haben.

[S. 133]

Caspari brach erschüttert zusammen; eine Fluth von Gedanken und Empfindungen überkam ihn, die ihn unfähig zum Handeln machte. — Wie lange er hier gesessen? Es dämmerte schon, da hörte er einen Wagen vorfahren; eine schlanke Frauengestalt hüpfte leichten Fußes heraus; sie schien so glücklich, so lebensvoll! Jetzt half sie der Wärterin mit dem Kinde, sie nahm es nun selbst in ihren Arm, um es dem Papa hinaufzutragen. Schnell verriegelte Caspari die Thür, jetzt durfte sie nicht eintreten; er wollte erst selbst gefaßt sein, um die Arme vorbereiten, sich selbst in die ihm zugemuthete Lüge hineinfinden zu können.

Er sandte einen Diener zu Dr. Senter. Derselbe kam bald. Die Männer hatten sich verständigt. — Der Procurist erschien, Briefe zur Unterschrift vorzulegen — das Geheimniß mußte gewahrt werden. Es hieß, Jacob Stern sei an einem Herzschlag soeben verschieden. —

Susi saß am Clavier und spielte eben — es war die Zeit, in der ihr Gatte bei ihr einzutreten pflegte — die von ihm so geliebte Arie aus Aïda. Die Thür öffnete sich, es trat Jemand hinter ihre Lehne, sie reichte ihm, während sie weiter spielte, den Mund zum Kusse, doch erschreckt fuhr sie auf, der, den sie eingetreten wähnte, war nicht ihr Gatte, sondern Dr. Caspari, leichenbleich, mit verstörten Augen.

„Ich glaubte,“ stotterte Susi — „doch was ist Ihnen? Sie sind angegriffen“ —

„Ich habe soeben einen Freund verloren, und kann es noch nicht glauben, daß dem so ist!“ sagte Caspari schmerzlich erregt.

[S. 134]

Susi drängte ihn ahnungslos auf einen Sessel und läutete, um ihren Mann rufen zu lassen. Der Diener, dem sie den Auftrag gab, stand sprachlos.

„Gnädige Frau, wissen noch gar nicht,“ stammelte der Alte — doch Caspari hatte sich gefaßt und drängte ihn zur Thür hinaus.

„Susi,“ begann er, ihre Hände in den seinigen haltend, „zeigen Sie sich als die muthige, seltene Frau, als die ich Sie stets verehrt! Die Vorsehung hat Schweres über Sie verhängt, doch Sie haben Kraft, selbst das Schreckliche mit Fassung zu ertragen — Ihr Gatte“ —

„Um Gottes Willen, was ist mit ihm?“ schrie Susi in halber Verzweiflung.

„Ein Herzschlag hat soeben sein Leben geendet!“ hauchte Caspari tonlos.

Susi war zusammengesunken; das Leben schien auch aus ihrem Körper entwichen; doch plötzlich flammte sie auf: „O, das ist ja nicht möglich! Heut’ Mittag war er noch gesund und frisch“ —

Der Arzt trat ein und hielt sie zurück, wie sie eben das Zimmer verlassen wollte.

„Lassen Sie mich zu ihm!“ rief sie abwehrend.

„Kein Anblick für Sie! meine Gnädige,“ sagte er bestimmend. „Fassen Sie sich!“

Susi stand entsetzt; ihre Kraft war gebrochen. Machtlos ließ sie sich von Caspari auf ein Sopha führen; sie stierte die Männer an, als kenne sie sie nicht, doch bald eilte sie an die Wiege des schlafenden Kindes, stürmisch preßte sie es an ihre Brust und weinte bittere, leidenschaftliche Thränen.

[S. 135]

„Eine Waise!“ jammerte sie in wildem Schmerze. „O, Du armes, unschuldiges Kind, was hast Du verschuldet, daß Dir der Vater“ —

„Lassen Sie mich ihm Vater sein,“ sagte Caspari, ihr das Kind entwindend, da er fürchtete, sie möchte es in ihrem wilden Schmerze zerdrücken.

Susi sah ihn groß und fragend an; dann schüttelte sie wehmüthig das Haupt und blickt lange gedankenvoll vor sich hin. Man erzählte ihr, wie Alles gekommen, sie schien nichts zu hören. Wieder bat sie, man soll sie zu ihm lassen — der Arzt fürchtete eine zu heftige Erschütterung.

Die Kunde, daß Stern am Herzschlag gestorben, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.

Condolenten kamen und gingen. — Susi ließ Niemand vor. Was ihr noch vor einigen Jahren als eine Erlösung erschienen, war ihr jetzt ein unüberwindbares Unglück.

Ein großes unabsehbares Gefolge geleitete den Todten nach dem Friedhofe. Susi hatte gewünscht, Dr. Caspari soll in der Wohnung eine Leichenrede halten. Sie ahnte nicht, weshalb er es ablehnte. „Ich kann nicht!“ hatte er in einem Tone gesagt, der keine nochmalige Bitte aufkommen ließ. Der Prediger rühmte den Wohlthätigkeitssinn des Entschlafenen, seine unermüdliche Willenskraft, die nun so plötzlich gelähmt sei; er nannte ihn ein schaffendes Genie, durch dessen geniale Pläne Tausende in den entferntesten Landestheilen Arbeit, und damit Wohlstand und Bildung gewonnen. Susi hörte Nichts. Erst als man die Leiche aus dem Hain von Palmen, der in dem schwarz drapirten Saale gebildet war, hinaustrug, that sie einen gellenden Schrei und sank ohnmächtig zusammen. — —

[S. 136]

Dr. Caspari hatte ihr in kluger Berechnung den Wunsch eingegeben, nach dem elterlichen Hause zu übersiedeln; er meinte, sie würde dort nicht durch Alles und Jedes an den Todten erinnert werden, der Umgang mit der Mutter werde sie beruhigen. So sah Susi nicht, was sich nach wenig Wochen in ihrem glänzend eingerichteten Hause abspielte. Die Comptoirs waren geschlossen, die Möbel unter gerichtliches Siegel gelegt, das Personal entlassen. Sie empfing Niemand, als Dr. Caspari, dessen Schwester und Mutter, so hörte sie auch nicht, was man sich in der Stadt bei der nun erfolgten Zahlungs-Einstellung ihres verstorbenen Gatten erzählte; sogar in den Zeitungen tauchten die Muthmaßungen auf, ob denn der Tod ein natürlicher gewesen, doch dem Einfluß des Dr. Caspari, an dessen reinem Charakter Niemand zweifelte und der sich öffentlich einen Freund des Verstorbenen nannte, gelang es, alle Gerüchte zum Schweigen zu bringen. Susi wurde selbstverständlich an jeder Zeitungslectüre verhindert, doch als die Hinweise in derselben zu häufig wurden, hielt es Dr. Caspari für geboten, der ohnehin leidenden Frau eine Badereise vom Arzte dictiren zu lassen. Marie begleitete die Freundin, und war wohl instruirt, wie sie Alles von ihr fern halten müsse, was sie beunruhigen könnte.

Vor ihrer Abreise hatte Susi noch einmal das Grab ihres Gatten besucht; hier erst empfand sie, wie nie im Leben, was er ihr und ihren Eltern gewesen, wie sich sein Denken und Empfinden geläutert, wie unaussprechlich unglücklich sie war, den Mann, der erst jetzt der Vertraute ihres Herzens geworden, gerade jetzt verlieren zu müssen.

[S. 137]

X.

Wie jedes Ereigniß, das weitere Folgen nach sich zieht, wurde auch der Fall des Stern’schen Hauses eine Zeit lang eifrig besprochen. Wäre Stern am Leben gewesen, so hätte unbedingt ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft erfolgen müssen, so indeß beruhigten sich die Gläubiger, als der Anwalt Dr. Caspari erklärte, die Witwe verzichte zu Gunsten der Gläubiger auf Hab und Gut, selbst die ihr notariell nach der Verheiratung mit Stern zugeschriebene Summe von 20.000 Thalern, sowie die ein Jahr später erfolgte Schenkung eines in gleichem Werthe stehenden Landgutes solle der Masse zugute kommen, um einen Ausgleich zu ermöglichen.

Susi’s Eltern waren keineswegs im Einklang mit dieser im eigentlichen Sinne des Wortes willkürlichen Verfügung Caspari’s; Cahen, von seinem Standpunkt als Kaufmann, meinte, Susi dürfe, ohne sich Gewissensskrupel zu machen, die ihr persönlich gemachten Schenkungen zurückhalten, sie sei es sogar sich, ihrem Kinde und ihrer Zukunft schuldig. Dr. Caspari versicherte, keinen Schritt zur Regelung der Sache mehr thun zu wollen, wenn man es ihm nicht überlasse, ganz nach bestem Ermessen zu handeln; nur durch vollständiges Verzichtleisten auf jedes ihr zustehende Recht könnte Susi die Gläubiger von feindlichen Schritten abhalten; zudem sei er überzeugt, daß, falls die junge Frau je einen Einblick in die Verhältnisse gewänne, sie keinen Augenblick zögern würde, so, wie er für sie disponirt, zu handeln, daß man jedoch, und stände eine dreifach so große Summe auf dem Spiele, ihr den Schmerz ersparen müsse, das Schreckliche mit Klarheit zu erkennen. Cahen sah endlich ein, daß er sich fügen[S. 138] müsse; er kannte seiner Tochter Grundsätze; zudem sprach das Vatergefühl, daß man dem geliebten Kinde jeden ferneren Schmerz ersparen müsse, zu mächtig in ihm.

„Sie können, ohne daß Susi eine Ahnung von der Sachlage hat, ein Jahresgeld für sie aussetzen!“ hatte Caspari bestimmt gesagt. „Ich weiß, wie sich Ihr Geschäft gehoben; Susi ist Ihr einziges Kind, und was ihr nach Jahren zugute kommen soll — theilen Sie es schon heute mit ihr, daß nicht der Fluch unrechtmäßigen Besitzes auf Ihnen und Ihrer Tochter Namen laste.“

Cahen war es, als ob er ein großes Opfer brächte, doch welcher Ausweg blieb ihm? Er wußte, daß Caspari sich zurückziehen würde, falls er ihm nicht willfahre, und nur durch das muthige Auftreten dieses in weitesten Kreisen hochgeschätzten Mannes war Unehre und Schande von dem Namen seines Schwiegersohnes fern gehalten worden.

Indeß Eltern und Freunde für sie Zeiten schwerer Sorgen und Kämpfe durchmachten, saß die trauernde Witwe ahnungslos in ihrem fernen Häuschen am Meer und glaubte schon das schwerste Unglück erfahren zu haben. Noch wähnte sie sich im Besitz von Macht und Reichthum, den Namen des Verstorbenen unangetastet; wohl ihr, daß sie nicht wußte, wie Alles in den zwei Monaten, seit jenem Unglückstage so anders geworden.

Der Sommer neigte seinem Ende zu. Susi dachte an die Heimreise; es galt, die junge Frau jetzt vorzubereiten, daß ihr Heim, ihr schloßartig eingerichtetes Haus, nicht mehr ihr eigen sei, das Geschäft ihres Gatten sich aufgelöst habe. Dr. Caspari war der Einzige, der dies in schonender Weise und mit richtigem Tact zu thun im Stande war. Er sollte[S. 139] die Freundin und die Schwester heimgeleiten. Einige Tage vor seiner Abreise wurde Frau Cahen bedenklich krank; die Sorgen und Aufregung hatten die ohnehin alternde Frau tief erschüttert; so bedenklich der Fall an und für sich, so erleichterte er doch dem Freunde das traurige Amt, Susi in die vollständig geänderten Verhältnisse einzuführen. Nicht die Witwe kehrte in das Haus des verstorbenen Gatten zurück, die Tochter eilte an’s Krankenbett der geliebten Mutter und dachte tage- und wochenlang nicht daran, dasselbe zu verlassen. — Frau Cahen war einem heftigen Nervenfieber zum Opfer gefallen; noch ehe sie die Augen schloß, nahm sie Susi das Versprechen ab, den Vater nicht zu verlassen. „Mein Kind, bleib’ im Elternhaus!“ hatte sie bittend gesagt. „Du mußt jetzt für Deinen Vater leben; verlaß ihn nicht!“

Was Susi der sterbenden Mutter versprach, war ihr heilig. Sie bat jetzt den Freund selbst, das große, elegante Haus zu veräußern. Arme Frau! Sie ahnte nicht, daß der neue Besitzer bereits im Begriff war, es renoviren zu lassen. Dr. Caspari hatte ihr gesagt, daß er im Verein mit ihrem Vater gewissenhaft alle Geldangelegenheiten ordnen werde und Susi’s Sinn war zu wenig auf pecuniäre Dinge gerichtet, um, da sie ihr Vermögen den zuverlässigsten Händen anvertraut wußte, irgend eine Auskunft zu begehren. Sie lebte abgeschnitten von allem Verkehr nur den Ihrigen, fühlte sich auch in der steten Fürsorge, die ihre Freunde für sie hatten, durchaus nicht vereinsamt, obgleich Alle die sie mieden, die bisher ihre Gesellschaften frequentirt, sich in ihren Salons an Wein und Champagner gütlich gethan. Sie hatte ihr Kind, und somit erschloß sich ihr eine neue Welt des Glückes, der reinsten Freuden, die nach und nach die Falten, die Gram[S. 140] und Kummer ihrer jugendlichen Stirne eingefurcht, glätteten. Der kleine Berthold gedieh, gleich kräftig an Körper und Geist. Wer je die Freude gekannt, das erste Denken des geliebten Kindes zu belauschen, zu beobachten, wie sich seine Wahrnehmungen schärfen, wie es erkennen, urtheilen, vergleichen lernt, kann wohl ermessen, daß der vereinsamten Frau noch manche Blumen blühten, die ihrem Leben Reiz und Werth verliehen. „Ja, wenn er nur das Alles mit erlebt hätte!“ seufzte sie; „und sie, die gute Mutter!“ fügte sie thränenden Auges hinzu. Doch der kleine Wildfang ließ keine Verstimmung aufkommen; er herzte und küßte die Thränen aus dem Mutterauge hinweg, als sei er sich der Aufgabe bewußt, der betrübten Frau jetzt Alles sein zu müssen.

Der Jahrestag von ihres Gatten Tode nahte heran; sie glaubte im Sinne des Verstorbenen zu handeln, wenn sie aus dem vermeintlich großen Vermögen eine Summe zu wohlthätigen Zwecken abzweige. Dr. Caspari kam nicht wenig in Verlegenheit, als sie ihm ihre Absicht kund that.

Durfte er ihr sagen: „Du, die Du Dich reich und unabhängig wähnst und Anderen nach deinem reichen Herzen reiche Unterstützungen zufließen lassen willst, bist selbst auf Unterstützung angewiesen, bist arm und hilflos und weil Du es bist, komme, theile mit mir, was ich habe! Vergönne es mir, Dir des Lebens Annehmlichkeiten zu bieten, für Dich zu leben — Dein zu sein.“

O wie oft hatte dieser Wunsch in den letzten Monaten ihm auf der Zunge geschwebt — doch er ehrte ihre Treue und mochte in dem Jahr, das sie dem Verschiedenen widmete, keine Rechte auszuüben versuchen, die ihm dieser ja in seinem letzten Willen selbst eingeräumt. — Und Susi! hatte sie ihm[S. 141] nicht gehört, ehe sie Stern ihm — doch weg mit jenen Gedanken, die das Andenken dessen, den er hernach seinen Freund genannt, verunehrten. Ja, Susi mußte die Seine werden, doch das wußte er, sie würde nur einwilligen, so lange sie sich reich und unabhängig wähnte — nie, falls sie denken müßte, ihm mit ihrem Kinde eine Last zu sein. Deshalb mußte sie in ihrem Glauben, eine vermögende Frau zu sein, erhalten bleiben, deshalb mußte der sonst so wahrheitsgetreue Mann sich zu einer Unwahrheit herbeilassen. Als Susi wiederholt auf ihre Absicht zurückkam, versprach er Gelder flüssig zu machen, um womöglich in kürzester Zeit eine Vorlage liefern zu können. Diese kürzeste Zeit mußte genützt werden, so gern er noch, um Susi’s Schmerz und das Andenken an den Verblichenen sich ganz beruhigen zu lassen, seinen Antrag hinausgeschoben hätte.

Zum wievielten Male hatte Susi heute in dankbarer Anerkennung gesagt: „Was wäre aus mir geworden, wenn ich Euch nicht in der herben Leidenszeit zur Seite gehabt hätte! Nie werde ich Euch danken können, was Ihr an mir gethan!“

Caspari hatte der Schwester einen Wink gegeben, sich zu entfernen.

„Susi!“ begann er, mit Innigkeit ihre Hände ergreifend, „Susi, Sie können es! Denken Sie,“ fuhr er leidenschaftlich fort, „was wir uns, ohne es uns je gestanden zu haben, vor Ihrer Verheiratung waren! Lassen Sie uns die Spanne Zeit, die dazwischen liegt, aus dem Buche unseres Lebens streichen und ein neues Leben innigster Gemeinschaft beginnen! Glauben Sie mir, Susi, es hat mich die härtesten Seelenkämpfe gekostet, ehe ich mich dazu überreden konnte, Ihr Freund, nur Ihr Freund sein zu wollen. Mit der[S. 142] unterdrückten Gluth des Liebenden war ich nach außen der kühle, besonnene Freund, — ich wußte, was ich Ihnen und Ihrem Gatten schuldig war! Doch glauben Sie meinem Ehrenworte, er selbst hat mir einst in ernster Stunde das Recht auf Sie zurückgegeben, falls er nicht mehr sein wird. Susi, machen Sie dieser Tödtung der heiligsten Gefühle, zu der ich mich zwingen muß — ein Ende — werden Sie endlich die Meine!“

Die junge Frau hatte ihm mit steigender Röthe zugehört. War das der ruhige, besonnene Freund, der weise Berather, der da mit leuchtenden Augen, aus denen das heißeste Verlangen sprach, vor ihr saß, der ihr jetzt zu Füßen gesunken war, ihre Hände mit glühenden Küssen bedeckte. Magnetisch durchzuckte es ihr ganzes Wesen, vergebens sammelte sie ihre Kräfte, ihm zu widerstehen, — willenlos lag sie in seinen Armen, eine höhere Macht, der sie mit dem Aufgebot ihrer physischen und geistigen Kräfte lange genug entgegengearbeitet, um äußerlich ruhig zu erscheinen, läßt sie unterliegen, die Macht der lang unterdrückten, jetzt siegreich erwachenden Liebe.

Sie sprach kein Wort, sie schluchzte wie ein Kind, das sich aus dem Elternhaus verlaufen und nun durch eine gütige Hand wieder in die Arme der Liebe zurückgeführt wird.

„Und Du sagtest, daß er Dir ein Recht auf meinen Besitz gegeben?“ fragte sie endlich nach langer stummer Umarmung.

„In einer Stunde, die ihm die ernsteste seines Lebens war!“ entgegnete Caspari.

„So nimm mich denn hin!“ rief sie, sich innig an seine Brust schmiegend; „Du weißt es ja, daß ich längst Dir[S. 143] gehört, ehe ein unseliges Mißverständniß mich dem Verstorbenen zuführte; doch ich habe ihn achten und lieben lernen und werde sein Andenken, selbst wenn eine alte Liebe in ihre geheiligten Rechte tritt, stets in Ehren halten!“ — Sie war zu glücklich, um die Wolke zu sehen, die Caspari’s klare Stirn überzog; doch wie ein Schatten flog sie vorüber, als sein Blick das geliebte Weib traf, das blühender und schöner als je, nach langen Kämpfen nun endlich sein eigen geworden.

XI.

In der Stadt S. erregte es nicht wenig Aufsehen, als die Verlobung des Rechtsanwalts Berthold Caspari mit der Witwe des bankerotten Jacob Stern bekannt wurde. Er, dem die schönsten und reichsten jungen Mädchen angetragen worden, wählte eine mittellose Frau, deren Mann allerhand unlautere Sachen nachgesagt wurden, an dessen ehrenhaftem Tode man sogar zweifelte. Es war wieder einmal einer jener Fälle, den man sich nicht erklären konnte und der namentlich von den Müttern heiratsfähiger Töchter in’s Unglaubliche travestirt wurde. Man sprach schon von einem Verhältniß zu Lebzeiten Stern’s, von Susi’s wohlbedachten Plänen, ihrer Coquetterie, von Caspari’s Leichtsinn, in eine solche Falle gegangen zu sein und ahnte nicht, daß die beiden Menschen, um deren Schicksal man sich so sehr kümmerte, den Traum ihres Glückes so rein und ganz genossen, daß nicht einmal die in aller Munde ventilirte Vermögensfrage bisher zur Sprache kam. Der alte Cahen[S. 144] hatte sich, obgleich die Vereinigung mit Caspari, dem getauften Juden, seiner religiösen Anschauung durchaus zuwider war, dennoch endlich gefügt und dem glücklichen Paare seinen Segen gegeben; selbst in dem Herzen des alten, in religiösen Vorurtheilen grau gewordenen Mannes dämmerte eine Ahnung, daß es ein Glück gebe, das über den religiösen Bekenntnissen, frei und unabhängig von denselben die Menschenseele belebe; ja es wurde in ihm zur Gewißheit, daß jene höchste, vornehmste Glückseligkeit, wie er sie in seinen Kindern verkörpert fand, sich nur in sittlich guten, reinen Menschen, denen Reichthum mehr Werth als Befolgung ceremonieller Gebräuche habe, verwirklichen lasse. Caspari’s Benehmen noch zu Stern’s Lebzeiten, seine edle Handlungsweise nach dessen Tode an der sonst der Verachtung preisgegebenen Tochter, hatten ihm imponirt.

„Mehr hätte kein Jude thun können!“ hatte er ihm als höchste Anerkennung gesagt.

Obgleich er der Tochter gern den Schmerz erspart hätte, Klarheit in ihrer Vermögenslage zu haben, hielt er es doch für seine Pflicht, da Susi mehrmals davon gesprochen, ihrem Kinde eine Summe festzusetzen, auf die traurige Vergangenheit hinzuweisen.

Caspari fand seine Verlobte einst in Thränen, als er nach den Bureaustunden, wie gewöhnlich, bei ihr vorsprach.

„Das, das hättest Du für mich gethan!“ rief sie in überströmender Glückseligkeit unter heißen Thränen lächelnd. „O, jetzt weiß ich erst, daß ich mich nie, nie, und setzte ich mein ganzes Leben zum Opfer ein, Deiner Liebe würdig machen kann, Du edler, guter Mann.“

[S. 145]

„Du übertreibst, Susi!“ sagte er ruhig, nachdem er erkannte, was Susi so in Extase gebracht. „Hättest Du nicht gleichfalls, wenn es in Deiner Macht gelegen, Alles gethan, um einen Schmerz, eine Enttäuschung von mir abzuwenden?“

„Aber Du bindest Deine Zukunft an die einer mittellosen Frau, die Dir noch die Sorge für ihr Kind aufbürdet!“ entgegnete sie halb vorwurfsvoll.

„Susi!“ entgegnete er fast unwillig, „bedarf es zwischen uns darüber einer Auseinandersetzung, daß das wahre Glück nicht an irdischen Besitz gebunden sei? Hast Du es nicht selbst an Dir erfahren, wie sehr der Besitz abstumpft, wie leicht sich das Auge an Gold und Glanz gewöhnt, ohne seinen Werth richtig zu schätzen, während das Herz, das Gemüth täglich neu und dankbar den innern Reichthum würdigt? Und wer,“ setzte er begeistert hinzu, „brächte mir, wenn ich denn schon mal egoistisch handeln will, mehr Garantien für inneres Glück in mein neu zu gründendes Heim, als die jahrelang erprobte Freundin meiner Jugend?“

„O, wie martert mich der Gedanke,“ entgegnete Susi, „daß ich, wie ich jetzt die Sachlage erkenne, dennoch nicht die Deine werden darf! Dein nur der Wahrheit und dem Recht geweihtes Leben darf nicht durch die Vereinigung mit einer Frau, an deren Namen ein Makel der Unehrenhaftigkeit haftet, befleckt werden —“

„Halt ein, Du übertreibst!“ rief Caspari, ihre Rede energisch abschneidend; „es war gefehlt von Deinem Vater, Dir Alles zu enthüllen, doch was man auch dem Verschiedenen nachsage, Dein Name steht rein und unangetastet —“

[S. 146]

„Und habe ich nicht geholfen, jenes Geld, an dem der Fluch von Tausenden lastete, in Ueppigkeit vergeuden? Kann man mich nicht für die Mitwisserin seiner Pläne halten?“ entgegnete Susi in heller Verzweiflung.

„Wer Dich kennt,“ beruhigte Caspari, „weiß Dich keiner unlauteren Handlung fähig. Es ist ein Unrecht der Männer, ihren Frauen keinerlei Einblick in ihre finanziellen Verhältnisse gewähren zu wollen; sie würden sich manche Sorge und Verantwortung erleichtern, wenn sie in der Frau die treue, verständige Beratherin erkennen wollten; doch glaube mir Susi — hier, wo die Speculation in’s Ungeheuerliche ging, hatte selbst der Mann keinen Einblick, wie sich die Verhältnisse gestalten konnten. Die Hunderttausende, die heute verloren galten, konnten in wenigen Tagen durch eine glückliche Speculation zurückerobert sein. Es war der Fluch, der auf dem leichterworbenen, durch Börsengeschäfte errungenen Gelde lastete, daß, wie es mühlos die Cassen füllte, zu Verschwendung und Luxus Veranlassung gab, es ohne Segen zu stiften, gleich Fluth und Ebbe wieder in dem Meer der endlosen Speculation verschwand.“

„Wehe denen, die in jener Zeit maßloser Ueberschätzung ihres irdischen Besitzes den Sinn für Werthschätzung jener höheren Güter verloren, die des Lebens eigentlichen Inhalt ausmachen. Du, meine Susi,“ setzte er mit lebhafter Empfindung hinzu, „kamst als Opfer unglücklicher Intriguen in jene Welt des falschen Seins; doch unter allen möglichen Verlockungen zu Verschwendung und Scheinleben hast Du Dir den Sinn für das Ideal reinen Menschenthums rein erhalten und veredelnd und beglückend, einer leuchtenden Sonne gleich in jenen Kreisen gewirkt, die dem Glanz höheren Lichtes[S. 147] sonst abhold zu sein pflegen; und darum, Susi, bist Du mein geblieben und ich muß Dich festhalten — muß es, Susi, aus Egoismus — denn ich trage den Zwang, den ich mir Jahrelang auferlegte, nicht länger. —“

„Mögest Du nie diese Stunde bereuen,“ hauchte Susi leise, „in der Du meinen Entschluß, den ich — ja ich gestehe es Dir, mit dem Glücke meines Lebens bezahlt hätte — wankend machst! In wenigen Tagen soll unsere Verbindung stattfinden; ich bitte Dich, laß uns jedes äußere Gepränge vermeiden! — Es hat sich mir seit gestern ein Abgrund schauerlicher Wahrheiten aufgethan — daß ich denen nicht in’s Auge sehen mag, die sie längst kannten und mich vielleicht schwer und falsch verurtheilten! —“

„Glaube das nicht, Susi!“ entgegnete Caspari beschwichtigend; „Deine näheren Bekannten wußten, daß Marie und ich Dich absichtlich von jedem Verkehr fernhielten; Du warst durch uns verurtheilt ein Traumleben zu führen und darfst nicht aus demselben erwachen, um unglücklich, sondern im eigentlichsten Sinne des Wortes glücklich zu werden, und daß Du es werdest, dies, geliebtes Weib, soll meines Lebens heiligste Aufgabe sein. —“

Eine weihevolle, heiligschöne Stunde folgte dieser Auseinandersetzung. Wie, ach leider so selten hatten sich über dem Grabe einer unseligen Vergangenheit und menschlicher Vorurtheile zwei Menschen die Hand zum gemeinschaftlichen Bunde gereicht, die sich dessen bewußt waren, was es heißt „eine Ehe vor Gott“ führen. — Kein Priester hatte ihren Bund gesegnet, und doch war sie rein und geheiligt durch das Streben nach des Lebens unvergänglichen Gütern.

[S. 148]

Das Casparische Haus wurde bald der Mittelpunkt jedes geistigen Lebens. Schwester Marie ist die Gattin eines angesehenen Advocaten; es ist rührend, die beiden Frauen in blühender Kinder Mitte als das Bild echten Familienglücks zu betrachten.

Vielfach taucht von Bekannten die Frage auf, wie sie denn in religiöser Beziehung ihre Kinder zu erziehen gedenken? „Zu sittlich guten Menschen,“ antwortet dann Caspari und selbst der alte Cahen, der in dem Glücke seiner Kinder auflebt, sagt: „Er wird es schon verstehen! Wir sind alle Gottes Kinder, wenn wir die Gebote der Pflicht und des Rechts befolgen.“

Schlussvignette   „Glaubenskämpfe“

[S. 149]

Kopfvignette   „Thurmwächters Rundschau in der Sylvesternacht“

Thurmwächters Rundschau in der Sylvesternacht.

Wie war es doch dem alten Benda heut beängstigend in seinem behaglich eingerichteten Wohnzimmer! Es ist ihm, als sollte er ersticken, so dick und unrein schien die Luft. — Der Stundenzeiger schleicht so langsam vorwärts, als wollte das alte Jahr gar kein Ende nehmen! Noch eine halbe Stunde, und auch dieses wäre abgelaufen, wie die fünfzig anderen, die er schon hinter sich hatte, aber diese kurze Spanne Zeit will ihm zur Ewigkeit werden. Was Wunder! War er ja heut allein mit sich und seinen Gedanken, während ehedem seine treue Gattin ihm half, Sorgen und Langeweile zu verscheuchen. Zum ersten Male seit 20 Jahren verbrachte er diesen Abend allein; es litt ihn nicht mehr in der engen Stube; seinen Pelz umnehmend, eilte er hinauf auf die Thurmgallerie; hier athmete er erleichtert auf; war er ihr ja so vielleicht näher, der theuren Verschiedenen, die, so meinte er, sicher da oben einen Ehrenplatz haben müsse. Wie um sich selbst Trost zuzusprechen, hielt er Umschau in den ihm bekannten Häusern, die[S. 150] da vor ihm lagen; — zwar glitzte und flimmerte es überall von Lichtern und Lampenschein, doch ihn blendete dieser Glanz nicht — er ahnte, daß gar oft Kummer und Sorge da Einzug gehalten, wo hell die Kerzen strahlten, daß manch glänzendes Elend hinter jenen hohen Spiegelscheiben und den seidenen Gardinen wohnte, daß das kommende Jahr nicht ihn allein mit Bangigkeit und Schauern erfüllte. Wohl wußte er auch, wo Glück und Freude heut ihre Stätten aufgeschlagen — man kennt einander ja in einer kleinen Stadt ziemlich genau — doch wer wollte angesichts der Wechselfälle des Lebens dafür bürgen, daß mit Schluß des eben beginnenden Jahres dieselben lebensfrohen Gesichter einander noch ebenso lebensfroh zulächeln würden?

Dumpf und schwer ertönen die ersten Glockenschläge; unwillkürlich zuckt der doch sonst an diese Töne gewöhnte Alte zusammen. Jetzt setzt das Uhrwerk mit hellen Schlägen ein; eins, zwei, drei — bis zwölf. Er zählt sie alle halblaut mit, dann, als der letzte Ton verstummt, schaut er wie betäubt um sich. Da steht er allein, hoch oben über dem Häusermeer — weit droben in undenkbarer Ferne schimmern die ewigen Sterne — ihm zur Seite, um ihn, neben ihm kein fühlendes, theilnehmendes Wesen. „Allein!“ murmelt er, während Thräne auf Thräne in den grauen Bart rollt — bald aber faßt er sich; er will hinunter in seine einsame Klause, doch da ergreift ihn wieder jenes erschütternde Weh, dem er nicht zu widerstehen vermag. Er bleibt. Licht auf Licht verlöscht drüben in den Häuserreihen, auch das Rufen und Lärmen in den Straßen hört allgemach auf. Muntere Tanzweisen klingen wohl noch von da und dort an sein Ohr, fast möchte er die Glücklichen beneiden, die sich bei ihren[S. 151] Klängen in glücklichem Selbstvergessen wiegen und das Heute genießen, ohne an das Morgen zu denken.

Dort am Ende der Straße, in des Rechnungsrathes Stromen Hause scheint es besonders lustig herzugehen. Man feiert das Verlobungsfest der einzigen Tochter mit dem Premier-Lieutenant von Zewitz. Der Herr Rath hält auf Standesehre; er hat es nun doch durchgesetzt, daß seine Anna ihr Verhältniß zu dem Maler Angelo gelöst. — Wohl war er ein schöner, die Leute sagen sogar, ein geistreicher Mann, und Anna Stromen soll ihn unaussprechlich gern gehabt haben, dennoch — der Alte hält plötzlich in seinem Gedankengang inne. Wer geht da vor dem Zewitz’schen Hause erregt auf und ab? Er erkennt ihn genau an seinem breitkrämpigen Malerhut, der stolzen Haltung. Sollte er sie nicht vergessen haben? Einsam steht auch Jener dort in stiller Nacht — unwillkürlich vergleicht der Alte sein Loos mit dem jenes jungen Mannes; welcher ist wohl der Bedauernswerthere?

Und gegenüber vom Zewitz’schen Hause wohnt des Malers Studiengenosse, der reiche Gotthelf Andrée. Er hat ein blühendes Weib, ein glänzendes Geschäft, Achtung und Anerkennung von allen Seiten. Kann es wahr sein, was man sich erzählt? Auch ihn soll die in seiner Familie wüthende, unheilvolle Krankheit, die den Geist in Fesseln schlägt, vor einigen Tagen befallen haben; man hat ihn in eine Anstalt bringen müssen; der Arzt scheint an seiner Wiedergenesung zu zweifeln. — Den alten Benda schaudert es; er fühlt an seinen kahlen Schädel und murmelt: „Gottlob, wenn nur noch da Alles stimmt!“ Schon will er hinabsteigen, da fesselt ihn der Laut einer wunderlieblichen Mädchenstimme, die in reinsten Tönen jenes herrliche Lied: „O lieb, so lang Du lieben[S. 152] kannst, o lieb, so lang Du lieben magst“ wiedergiebt. Er kennt diese Stimme. Sie kommt dort unten aus dem Schulhause, in dem heute Freude und Jubel herrscht. Lisette, die treffliche Sängerin, ist vor wenig Stunden zu Besuch bei den Eltern heimgekehrt. Ein Jahr lang haben die guten Alten ihr Lieblingskind nicht gesehen; sie hat vorigen Jänner eine Stelle als Erzieherin in einer gräflichen Familie angenommen; heute kam sie unerwartet — er schaute gerade durch’s Fenster, wie sie aus ihrem Reisekorb für die Mutter den neuen Wintermantel, für den Vater den prächtigen Pelz hervorholte — das war eine Freude, eine Seligkeit, und doch weinten sie Alle — ja Mama Traugott fiel sogar ihrer Lisette unter heftigem Schluchzen um den Hals und schien sich kaum beruhigen zu können; die unerwartete Freude hatte die alte Frau ganz verändert. Jetzt saßen sie nun so überglücklich beisammen — es war unserem Thurmwart als sollte er hinunter eilen und um Einlaß bitten, daß er auch Theil an ihrem Glücke nehmen dürfe. — Oeffnete sich da nicht gerade die Thür des Schulhauses? Er kannte Jenen, der eben das friedliche Heim verläßt, nur zu gut. Josef Berndt ist sein Name; er war einst Gemeinderath und Inhaber aller erdenklicher Ehrenämter gewesen. Sein Geschäft war allgemein geachtet und warf ihm jährlich Tausende mehr ab, als er für sein luxuriös eingerichtetes Haus brauchte; damals kannte Berndt die Lehrerfamilie nicht. — Dann kam der „Krach“ — Josef Berndt war mit einem Schlage ein armer Mann geworden; er wollte dem Schicksal die Stirn bieten, sich dennoch obenauf behaupten; doch durch welche Mittel? Man wußte es leider überall. Sein eigener Neffe klagte ihn der Wechselfälschung an; er, der als Ehrenmann so hoch gestanden, wurde[S. 153] gefänglich eingezogen, all seiner Ehrenämter entkleidet, und als er seine Strafe verbüßte, fand er heimkehrend sein Haus leer; die Gattin hatte die Scheidungsklage eingereicht und war zu ihren Eltern zurückgekehrt. — Auch die ehemaligen guten Freunde zogen sich zurück; Lehrer Traugott, der ehedem nie in Beziehung zu ihm gestanden, war der einzige, der dem Unglücklichen als Mensch nahe trat, ihn wieder aufzurichten suchte, ihm in seinem Hause ein Ausruhen nach des Tages Last und Mühen bot. — Dort unten in der Herrengasse bewohnt Frau Berndt jetzt ein prächtiges Haus; sie lebt in Glanz und Ueberfluß; die böse Welt raunt sich allerhand in’s Ohr, wer die Kosten des Haushalts tragen mag. Unseren Thurmwart kümmert’s nicht; er ist ruhiger in sich geworden, nachdem er Umschau gehalten, denn er hat gesehen, daß es hüben und drüben und da und dort mehr Leid als Freud giebt, daß das neue Jahr gar Manchem ein ernstes Gesicht zeigt, daß die Sorge allüberall hin Eingang findet, in die Prachtsäle der Reichen, wie in die Hütten der Armuth, daß es aber auch reine Freuden giebt, die die Seele zu Gott erheben, und daß, solange der Mensch athmet, die Hoffnung nie schwinden dürfe, daß noch Alles gut werde. Erleichtert steigt er die Stiege hinab und begiebt sich zur Ruhe.

Der Engel des Friedens und der Glückseligkeit, den er drüben im einfachen Schulhause gesehen, scheint auch bei ihm Einkehr zu halten. Wunderbar warm wird es ihm um’s Herz, wenn er denkt, wie morgen Früh die Glückwünsche seiner Lieben eintreffen werden; der älteste Sohn Franz ist Disponent eines großen Pariser Hauses — seine Toni ist an einen braven Handwerker in der Hauptstadt verheiratet,[S. 154] der nur das eine Glück kennt, für sein geliebtes Weib und seine Kinder zu sorgen. Ja, die Kinder, die süßen Kleinen! ruft er wehmuthsvoll und möchte fast die Arme öffnen, sie an sein Herz zu drücken. Er weiß jetzt, daß er nicht allein ist, sind sie gleich nicht bei ihm, so ist er ihnen doch vereint — giebt es ja ein Gefühl, das Zeit und Raum aufhebt. Gar bald umgaukeln wundersüße Träume des alten Mannes Hirn. Er sieht demnächst seinen Franz heimkehren, ihm die liebliche Braut zuführen — auch die Toni kommt mit ihren Blondköpfchen — dann ist wieder Jubel und Leben wie ehedem im stillen Stübchen. — Seine noch vor einer Stunde so vergrämten Züge umgiebt ein weihevoller Ernst; es ist ihm als ob ihm eine innere Stimme zuflüsterte:

Denke nicht dessen, was du verloren, sondern dessen was dir bleibt!

Schlussvignette   „Thurmwächters Rundschau in der Sylvesternacht“

[S. 155]

Kopfvignette   „Eine verunglückte Speculation“

Eine verunglückte Speculation.

Rentier Fels hatte sich seit einigen Monaten in dem Städtchen Auenthal niedergelassen; er war das Muster eines guten Bürgers, wohlthätig, gemeinnützig und trotz seines anscheinenden Reichthums leutselig und gesprächig selbst mit dem Niedrigsten. Sein Haus war eines der schönsten in den neuen Anlagen, mit allem Comfort ausgestattet, doch, wenn gute Bekannte die Annehmlichkeiten desselben priesen, pflegte er stets mit tiefem Seufzer zu antworten: „Ja, wenn sie nur nicht fehlte!“ Er erzählte dann gern, und das Herz schien ihm dabei auf die Zunge zu treten, von seiner vor Jahresfrist gestorbenen Gattin, wie er mit ihr so glücklich gelebt, wie er ihren Verlust fast nicht zu ertragen geglaubt habe, und auch schließlich — um sich nicht ganz dem Schmerz hinzugeben, — einen Wohnungswechsel vorgenommen, hoffend, die neue Umgebung werde ihm sein Leid vergessen machen. Ein Witwer in guten Verhältnissen pflegt für speculative Mütter heiratsfähiger Töchter ein beachtenswerther Fund zu sein.

[S. 156]

Die Frau Müllerin hatte drei Töchter, die sich zwar nicht durch persönliche, wohl aber durch finanzielle Liebenswürdigkeit auszeichneten. Marie, die ältere, hatte von dem Großvater ein bedeutendes Gut, außerdem von ihrem Vater gleichtheilig mit den anderen Schwestern ein Vermögen von 20.000 fl. geerbt. Zwar schielte sie etwas, auch wollten böse Zungen meinen, daß sie nur durch Kunstmittel den schiefen Rücken verdecke, dennoch galt Marie für eine gute Partie und, als ihr Vetter Gerstner, der mit Fels befreundet war, diesem einst halb scherzend, halb ernst sagte: „Freund, Sie sollten sich wieder verheiraten, um auf andere Gedanken zu kommen — ich wüßte auch gleich eine Frau für Sie!“ da hatte Fels, als gelte es einen guten Gedanken festzuhalten, erfreut gesagt: „Wenn mich so ein Mädchen wie Ihre Cousine Marie wollte, wahrlich, ich glaube, wieder glücklich werden zu können! Das ist ein Mädchen voll Biederkeit und Kern, die muß einmal die bravste Hausfrau werden!“ setzte er schmunzelnd hinzu. Mehr bedurfte es nicht, daß Gerstner noch am selben Abend den Bescheid von der Frau Müllerin brachte, Fels möge sie des anderen Tages in der Mittagsstunde besuchen und dürfe sich des besten Empfanges gewärtig halten.

Acht Tage hernach war Müllers Marie die verlobte Braut des reichen Fels. Glücklicher, als die Beiden, denen zu Ehren nun Festlichkeiten aller Art gegeben wurden, war vielleicht Vetter Gerstner, denn zweifelsohne hätte er, dem Wunsche seiner Eltern folgend, Marie heiraten müssen, wenn es ihm nicht geglückt wäre, das zwar reiche aber ungeliebte Mädchen einem anderen Freier zuzuführen. Die Müllerin hatte Gerstner, ehe sie ihr Jawort gab, mit Erkundigungen über Fels betraut,[S. 157] die nach des Neffen Aussage äußerst günstig eingegangen waren. Gerstner hatte theils aus Leichtsinn, theils in dem Bewußtsein, selbst wenn unvortheilhafte Nachrichten einliefen, diese der Tante nicht mitzutheilen, jede Recherche über Fels’ Vergangenheit unterlassen; er glaubte sich auch keine Gewissensbisse machen zu dürfen, man sah ja, Fels war ein reicher Mann voll Herzensgüte und Biedersinn, ein Mädchen wie Marie müßte sich nach seinem Dafürhalten glücklich schätzen, von ihm gewählt zu werden.

Fels wünschte die Hochzeitsfeier so einfach wie möglich zu begehen und da man Rücksicht auf seine früheren Verhältnisse nehmen zu müssen glaubte, sah auch Niemand von der Familie der Braut etwas Sonderbares darin, daß Fels keinen seiner ehemaligen Verwandten oder Bekannten zur Hochzeitsfeier eingeladen. Diese fand zwei Monate nach dem Verlöbniß statt; Fels machte mit seiner jungen Frau eine Hochzeitsreise, auf welcher sie auch die Hauptstadt berührten. Marie, die schüchterne Kleinstädterin, fühlte sich befangen, da sie nun vielen ehemaligen Freunden ihres Gatten gegenübertrat. Eines Abends waren sie in Gesellschaft eines früheren Geschäftsfreundes, der eine fixe Idee zu haben schien, nämlich die, Menschen, mit denen er es gut meinte, in eine Lebensversicherung einzukaufen. Fels spöttelte zuerst über des Freundes Manie, ließ sich jedoch bald durch dessen hinreißende Suada überzeugen, daß es eigentlich Pflicht jedes bedächtigen Menschen sei, seine Zukunft sicher zu stellen, und da Marie derselben Ansicht war, beschloß man eine Polizze auf gegenseitige Versicherung in Summa von 10.000 fl. zu nehmen. Marie lachte und scherzte, als ihr Fels sagte, welche Beruhigung es ihm gewähre, sie dermal einst, wenn er nicht mehr sei,[S. 158] jene Summe bei der Versicherungsgesellschaft erheben zu sehen; vor ihr lag die Welt so rosig, daß es ihr fast eine Entweihung ihrer glücklichen Stimme schien, jetzt sich mit Todesgedanken befassen zu wollen.

Die Polizze wurde einige Tage hernach unterzeichnet. Fels bat seine junge Frau, Niemandem von diesem Act Mittheilung zu machen, die Leute seien voll Neid und Mißgunst, sie möchten ihnen nicht gönnen, daß sie in wohlbedächtigter Weise nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft gesorgt. Marie war ein gefügiges Werkzeug ihres Gatten. Er wünschte es nicht und nicht einmal ihre Mutter erhielt Mittheilung.

Marie hatte auch alle Ursache, wie die „guten“ und selbst die bösen Freunde meinten, glücklich zu sein und den Wünschen ihres Gatten Rechnung zu tragen. Welch herrliches Leben führte sie nach den Meinungen Aller. Sie hatte ihr Abonnement im Theater, sie gab Gesellschaften, machte Reisen, erschien stets in gewählter Toilette — Nichts war Fels zu theuer, ihr eine Freude zu bereiten.

Das erste Grün des Frühlings rief in Fels eine unbezwingliche Reiselust hervor; er wollte die Schweiz sehen und selbstverständlich mußte ihn Marie begleiten. Mit welchen Hoffnungen trat sie die Reise an! Es war stets ihr sehnlichster Wunsch gewesen, ein Gebirgsland zu sehen; trotz ihres vielen Geldes hatte es die Mutter nie über sich gewinnen können, diesem Zweck eine Summe Geldes zu widmen.

Marie hatte schlaflose Nächte, so sehr regten sie die Vorstellungen von dem, was sich ihr darbieten werde, auf. Obgleich sonst eine nüchterne, prosaische Natur, erging sie sich in Schwärmereien, wie herrlich der Sonnenaufgang[S. 159] auf einem Berge, wie wunderbar die Aussicht von demselben über blühende Wiesen und Felder, wie rein die Luft, wie beglückend der Umgang mit anderen Menschen sein müsse. Ihre Schwestern hatten Recht, als sie beim Abschied sagten: Marie ist in dem einen Jahr ihrer Ehe um zehn Jahre jünger geworden; so lebhaft und glücklich hatte sie zuvor Niemand gekannt. Die Mutter, eine sonst sentimentale Frau, der bei jeder Trennung Thränen der Rührung in die Augen zu treten pflegten, vergaß sogar diesmal das übliche „Glückliche Reise!“ Weshalb ihr noch eine glückliche Reise wünschen, da sie im Widerschein des Glückes und der erfüllten Hoffnung strahlte.

Marie schrieb fast täglich; die Briefe machten die Runde unter allen Bekannten, denn der Müllerin war es keine geringe Genugthuung, ihre Marie, der man schon Glück und Zukunft, zum Mindesten eine gute Verheiratung wegen der ihr mangelnden äußeren Vorzüge abgesprochen, nun in guten Verhältnissen und an der Seite eines braven Mannes zu sehen, dessen Lebensaufgabe es zu sein schien, sie glücklich zu machen.

Plötzlich jedoch blieben die Briefe aus; schon war eine ganze Woche vergangen, ohne daß irgend welche Nachricht eingetroffen; das wirkte namentlich beunruhigend auf die Mutter; sie ließ ihren Neffen rufen, um ihn zu beauftragen, nach Innsbruck zu depeschiren, von wo der letzte Brief angelangt war. Gleich bei Gerstners Eintreten fiel ihr dessen verstörtes Aussehen auf. „Paul, Du hast irgend welche unheilvolle Nachricht!“ rief sie mit der der Mutter eigenen Divinationsgabe. Gerstner gestand, er habe heute eine Nachricht von Fels erhalten, daß Marie unterwegs bedenklich erkrankt sei.

[S. 160]

„Aber warum theilt er es mir nicht mit!“ rief die Müllerin, Schlimmeres ahnend. „O Paul, ich bitte Dich, sage mir die Wahrheit, was weißt Du von Marie? Zeig’ mir den Brief!“

„Unmöglich!“ rief Paul verwirrt. „Er ist nicht für Sie geschrieben, Sie würden —“

„Um des Himmels Willen!“ jammerte die Müllerin; „mit meiner Marie ist ein Unglück passirt! Rede, Paul! Ich kann Alles eher ertragen, als diese quälende Ungewißheit, die mich nun schon acht Tage martert.“

„Fast glaube ich selbst,“ sagte Paul nach einigem Ueberlegen, „daß es richtiger ist, die volle Wahrheit zu sagen. Fels schreibt mir,“ fuhr er nach einer Pause fort, „daß Marie beim Bergsteigen ausgeglitten ist und sich erheblich beschädigt hat!“

„Wo ist sie, die Arme, daß ich zu ihr eile?“ rief die geängstigte Mutter.

„Man hat sie nach Innsbruck zurückgebracht, doch fürchte ich, können Sie ihr nicht helfen!“ setzte Paul zögernd hinzu.

„Eine Mutter soll ihrem Kinde nicht helfen können!“ rief die Müllerin, der das Schreckliche nicht in den Sinn wollte. „Paul, Du mußt mich begleiten, sicher ist Gefahr im Verzuge, sonst hätte mir Marie geschrieben! Wir reisen mit dem nächsten Zuge ab!“

„Aber beste Tante, vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Sie dort Nichts mehr nützen können —“

„Nichts mehr?“ rief die Müllerin in wildem Aufschrei. „So ist Marie — —“

Die arme Frau sank ohnmächtig zusammen.

[S. 161]

Als sie wieder erwachte, saß sie stumm, fast leblos da; die beiden anderen Töchter Anna und Elise weinten schmerzlich, ihr wollte keine erlösende Thräne das Auge netzen.

„Gib mir den Brief!“ sagte sie endlich mit gebrochener Stimme. Kaum hatte sie ihn erfaßt, als er wiederum ihren Händen entfiel. „Anna lies Du!“ sprach sie, in Thränen ausbrechend. Anna begann nach einigem Zögern: „Bester Vetter! Ein schweres Unglück hat uns Alle betroffen: ich finde erst heute die Kraft, Dir Mittheilung zu machen, denn ich war, seitdem mir Marie für immer genommen, fast meiner Sinne nicht mächtig. Theile das Schreckliche den Ihrigen so schonend wie möglich mit; ich vermag es nicht! Noch sehe ich sie mir voran die Anhöhe erklimmen, leicht und glücklich, wie ein Vogel, der seine Schwingen entfaltet, da plötzlich höre ich einen Angstruf, ich eile ihr nach, sehe wie sie sich angsterfüllt an einen Strauch klammert, den sie beim Fall in die Tiefe gepackt, der Strauch gibt nach und wie sich die Wurzeln dem Boden entwinden, fehlt auch ihr der letzte Anhalt, ich muß, ohne ihr helfen zu können, mit ansehen, wie mein geliebtes Weib hinunter in die tiefe Schlucht stürzt; noch ein markerschütternder Schrei — ich wußte Alles. Man trug mich leblos in meine Wohnung und kaum eine Stunde hernach die Unglückliche, die man unten in der Thalschlucht mit zerschlagenem Schädel und gräßlich zerschundenem Leibe aufgefunden.“

Anna konnte vor Schluchzen nicht fortfahren.

„Arme, arme Marie!“ jammerte die Mutter; „so früh und so schrecklich mußtest Du enden!“ Schweren Schrittes ging sie in ihre Stube und schloß die Thür hinter sich; sie wollte mit ihrem Schmerze allein sein.

[S. 162]

In dem Städtchen rief der Trauerfall die lebhafteste Theilnahme wach und als der trauernde Witwer eine Woche hernach völlig gebrochen zurückkehrte, war Jeder erschüttert ob seines tiefen Schmerzes. Er wollte Niemand sehen, seine besten Freunde wurden nicht vorgelassen; die Müllerin besuchte er, sie mußte ja, wie er oft sagte, seinen Schmerz verstehen. Fels sah in der That um Jahre älter aus; sein Blick war eingesunken, sein Gang schlaff; nichts schien ihm Interesse zu erregen. Er wollte Haus und Anwesen verkaufen, um nicht durch Alles an die schmerzlich betrauerte Todte erinnert zu werden.

Wohin er gehen wollte? er wußte es selbst nicht; vielleicht hoffte er durch Reisen von seinem tiefen Weh abgelenkt zu werden. Bald fand sich ein Käufer für das schöne Haus; Fels stellte ihn der Müllerin vor und bemerkte so nebensächlich, daß Herr Eckart auch das Gut, das er bisher für Marie verwaltet, übernehmen werde. Die alte Frau stutzte. So peinlich ihr jetzt, wenige Monate nach der Tochter Tode eine Auseinandersetzung bezüglich der Hinterlassenschaft war, so sagte sie doch unverholen: „Das Gut, denke ich, fällt an die Familie zurück.“ „Wir sprechen gelegentlich davon!“ hatte Fels entgegnet und begann dann unter Seufzen und Weheklagen seines Verlustes wiederum zu gedenken.

Obgleich die Müllerin eine keineswegs besonders scharfsinnige Frau war, ließ ihr doch jene Aeußerung keine Ruhe; sie sandte des andern Tages ihren Neffen Paul zum Schwiegersohn, damit er sondire, welche Bewandtniß es mit der Uebergabe des Gutes habe.

Fels verhielt sich zuerst ablehnend, es sei ihm widerwärtig, jetzt schon von Erbtheil und dergleichen zu sprechen,[S. 163] doch als Paul ihm ohne Hehl sagte, daß in kinderloser Ehe das Vermögen der Frau an die Familie zurückfalle, zog er schweigend ein Testament aus der Tasche, das Marie in Gegenwart eines Notars unterzeichnet hatte, nach welchem ihr Gatte dereinst ihr alleiniger Erbe sein sollte.

Paul blieb sprachlos; ehe es Fels ahnte, erhob er seinen Blick vom Papier und schaute in die Augen des ihm gegenüber Sitzenden, die eher Bosheit, List und Tücke als jenen so würdevoll zur Schau getragenen Schmerz ausdrückten. Dieser eine Moment hatte genügt, ihn einen Blick in die Seele des Mannes werfen zu lassen, der, obschon er im nächsten Augenblick wieder sein Gesicht mit jenem Schmerzesausdruck überkrustet hatte, ihm jeder Schandthat fähig schien.

„Was hat Marie bewogen ein derartiges Testament zu unterschreiben?“ fragte er kurz.

Ohne durch den herben Ton beleidigt zu sein, entgegnete Fels: „Dasselbe, was mich bewogen, sie nach meinem Ableben zu meiner Universalerbin zu ernennen.“

„Sie mögen wohl gewußt haben, wen Gevatter Tod zuerst abrufen werde?“ erwiderte Paul, doch hielt er plötzlich inne, als er sah, welchen Eindruck seine Worte auf Fels machten; bleich, einer Bildsäule gleich, saß er da und starrte ihn an. Da Paul diese Wandlung nur dem heftig sich erneuernden Schmerz zuschreiben konnte, brach er das Gespräch ab und that dem Unglücklichen innerlich Abbitte, daß er jener Vermögensregulirung wegen so unzart kaum geschlossene Wunden aufgerissen. Der Tante gab er die Auskunft, daß man den schwer gebeugten Mann jetzt mit jener Angelegenheit verschonen müsse; zwar existire ein Testament, demzufolge der überlebende Ehegatte Universalerbe sei, doch hoffe er, daß[S. 164] Fels jenes alte Familienerbtheil nicht in fremde Hände übergehen lassen werde.

Wenn schon die Müllerin im höchsten Grade unangenehm von jenem Testamente überrascht worden war, von dem ihr ihre sonst stets Alles vertrauende Tochter nie Etwas mitgetheilt, so war sie doch noch zu sehr von ihrem Schmerz befangen, um einen klaren Gedanken fassen zu können.

Nicht wenig erstaunt war die harmlose Frau, da sich eines Tages ein Versicherungsbeamter der Allemannia melden ließ, der von seiner Gesellschaft beauftragt zu sein vorgab, über die Todesart ihrer Tochter Erkundigungen einzuziehen.

Als die Müllerin ihr Befremden äußerte, wieso die Direction irgend ein Interesse an dem sie betroffenen Unglücksfall habe, erwiderte der Beamte lakonisch: „Weil die Direction dem überlebenden Gatten zehntausend Gulden zu zahlen hat.“

Die arme Frau brach zusammen; wie ein Blitzstrahl durchzuckte es ihr gramumwebtes Herz, hier könne ein Verbrechen vorliegen. Dort das Testament, hier die Versicherung, die schreckliche Todesart, — Alles ließ sie vermuthen, daß — doch sie wagte das Schreckliche nicht einmal zu denken. Der Beamte kam ihrer Vermuthung zu Hilfe, indem er ihr mittheilte, daß Fels seine beiden ersten Frauen, die bei anderen Gesellschaften auch hoch versichert waren, gleichfalls durch plötzlichen Todesfall verloren. Wie Schuppen fiel es der unglücklichen Mutter von den Augen. „Zwei Frauen hat er schon gehabt?“ rief sie verwundert. „Als er die erste heiratete,“ entgegnete der Beamte, „war er noch Schuhmacher; nach ihrem Tode nannte er sich Rentier, ging bald wieder auf Freiersfüßen,“ er hielt inne, denn er sah, daß die Arme besinnungslos in einen Sessel gesunken war. Als sie wieder[S. 165] zu sich kam, war ihr erstes Wort, man möge Fels rufen. Dieser, Nichts ahnend, kam sogleich aus seiner nur wenige Schritte entfernten Villa herüber, da das Mädchen ihm von dem Unwohlsein ihrer Herrin sagte.

„Elender, feiger Mörder!“ herrschte sie ihn in mächtig hervorbrechendem Groll an; „warum hast du mein Kind umgebracht?“

Darauf war Fels nicht vorbereitet; geisterbleich, keines Wortes mächtig, stand er da, ein Sünder der, ohne zu beichten seine Schandthat eingesteht, als sein stierer Blick den Fremden gewahrte, brach er kraftlos zusammen; noch ehe Beweise seiner Schuld vorlagen, hatte ihn sein Gewissen verrathen.

„Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie!“ sagte der Assecuranz-Beamte.

„Wessen klagte man mich an?“ entgegnete Fels, dem jetzt seine Geistesgegenwart zurückgekommen.

„Drei Frauen elendiglich aus der Welt geschafft zu haben, um sie zu beerben!“ sagte der Beamte kurz.

„Sie sind mir Beweise für diese schändliche Anklage schuldig!“ entgegnete Fels jetzt mit frecher Stimme.

„Die Beweise wird Ihnen der Staatsanwalt geben!“ antwortete Jener, „jetzt haben sie zu folgen.“

Vergeblich wollte Fels an seine Verwandten appelliren — Alle wiesen ihn mit Entrüstung von sich.

„Ich folge Ihnen!“ sagte er endlich, „doch nur, um mich von einer schändlichen Verleumdung zu reinigen!“

Die Müllerin ließ zunächst ihren Neffen rufen, der, da sie selbst zu schwach war, die Reise nach Innsbruck machen sollte, um Näheres über die Todesart der schmerzlich beweinten Tochter zu erfahren. Paul machte sich die heftigsten Vorwürfe[S. 166] zu leichtfertig gehandelt zu haben, da es galt, Erkundigungen einzuziehen, ehe das Verlöbniß zu Stande kam: er sah bleich und verstört aus, als fühle er, daß er indirect die Schuld an dem Unglück trug, das seine Familie betroffen. Bei gewissenhafter Nachforschung hätte er sicher Kunde von dem Vorleben des Mannes erhalten können und dann wäre es wohl nie zu einer Annäherung gekommen. Marie war das beklagenswerthe Opfer seines Leichtsinnes und — wenngleich er sie nie geliebt, war seine Trauer jetzt eine so tiefe, unlöschbare, daß die Umgebung sicher darin zu sein glaubte, er habe der Verstorbenen ein wärmeres Gefühl entgegengebracht, als sie selbst vielleicht geahnt.

Da er am Grabe der viel Beweinten dort auf jenem einsamen Friedhof der kleinen Bergstadt niederkniete, schluchzte er wie ein Kind; ein Geistlicher des Ortes, der ihn begleitete, hatte Mühe ihn zu beruhigen; er theilte ihm mit, wie ihm selbst die seltene Fassung, die der Gatte der Verstorbenen bewahrte, aufgefallen sei; wahrscheinlich habe er es nicht für nöthig erachtet, seine Heuchlerkunst vor einfachen Naturmenschen zur Schau zu tragen.

Die Leiche wurde ausgegraben, doch konnten die zu einem Concilium geladenen Aerzte nicht feststellen, ob der Sturz in die Tiefe gewaltsam oder zufällig bewirkt worden. Der Körper war an allen Seiten zerschunden. Knochen und Gelenke gebrochen, der Tod mußte noch während des Sturzes erfolgt sein.

Paul beschloß, die nun einmal in ihrer Ruhe gestörte Leiche mit heimzuführen, um der unglücklichen Mutter wenigstens den einen Trost zu gönnen, ihre Tochter auf dem Gottesacker besuchen zu können.

[S. 167]

Fels war noch immer in Gewahrsam und leugnete standhaft; er wußte ja am besten, daß seine dunkle That keinen Zeugen hatte. Paul kam gerade an dem Tage zurück, da er wiederum in Freiheit gesetzt werden sollte. Als der Ortsrichter indeß hörte, daß Paul die Leiche mitführe, änderte er seine Bestimmung. Er ließ bitten, den Sarg in’s Gerichtszimmer zu überführen und nachdem dies geschehen, nahm er Fels noch einmal streng in’s Verhör; Fels blieb dabei seine Unschuld zu betheuern; da plötzlich öffnete der Richter die Thür nach dem Gerichtssaal, des Gefangenen Blicke fielen auf den geöffneten Sarg, in dem die gemordete Frau lag. „Marie, du hast mich verrathen!“ rief er zusammensinkend. Die Gefängnißwärter trugen ihn in seine Zelle zurück; jeder Blutstropfen schien aus seinem Körper gewichen.

Den Gerichten war es nun ein Leichtes, erfolgreiche Nachforschungen über die Todesart der beiden anderen Frauen anzustellen.

Fels war vor fünf Jahren als armer Schuhmacher nach Renddorf gekommen, wo er die Tochter einer vermögenden Witwe heiratete.

Er kaufte sie vier Wochen nach der Hochzeit mit 1000 fl. in eine Lebensversicherung ein — sechs Monate nachher stürzte die junge Frau die Kellertreppe hinunter und langte todt unten an.

In Folge des Lärmens und Schreiens des trostlosen Ehemannes kamen die Hausgenossen zusammen — alle Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Fels war so erschüttert, daß er kurze Zeit nach der Beerdigung der Frau sein Geschäft aufgab und nach Saalfeld übersiedelte. Hier machte er nach Jahresfrist die Bekanntschaft der Witwe[S. 168] Kore, einer vermögenden, doch älteren Frau. Die Vermälung wurde in aller Stille gefeiert und als Frau Kore nach drei Monaten am Herzschlage starb, wußten ihre nächsten Bekannten noch nicht, daß sie inzwischen Frau Fels geworden. Wohl aber wußte die Versicherungsgesellschaft, daß sie dem trauernden Witwer 5000 fl. zu zahlen hatte.

Wenngleich jedes Mal eine andere Gesellschaft betheiligt war, wurde die Sache doch ruchbar. Die Direction der Allemannia erhielt eine Zuschrift, man möge doch recherchiren, welcher Todesart Fels frühere Gattinnen gestorben seien, die bei den namhaft gemachten Versicherungen durch den früheren Schuhmacher, jetzigen Rentier Fels eingekauft waren.

Obschon kein Beweis vorlag, daß Fels ein Mörder, so verurtheilten ihn doch die Geschworenen nach allen Indicien und seinen eigenen Worten beim Anblick der Leiche seines dritten Opfers zum Tode.

Die Entrüstung im Städtchen ob der schändlichen That war eine allgemeine.

Jetzt freilich wollten einige Hellseher dies und das in des Gerichteten Benehmen auf niedere Abkunft und gemeine Gesinnung deuten, doch war die Thatsache nicht wegzuleugnen, daß derjenige, der heute als Mörder von Allen verachtet wurde, noch unlängst einer der geachtetsten Männer des Städtchens gewesen. — Zu allgemeinem Erstaunen hatte der Fürst das eingereichte Gnadengesuch berücksichtigt und die Todesstrafe in lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt. Von dem Correctionshause aus, das an einer Anhöhe lag, konnte Fels hinab auf seine mit allem Comfort ausgestattete Villa schauen, die die Müllerin als Erbin ihrer Tochter in Besitz nahm.

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Im wunderbaren Wechsel der Ereignisse wurde schon nach wenigen Monaten dort ein Hochzeitsfest gefeiert. Der Verstorbenen zweite Schwester Anna, ein durch Anmuth und Schönheit ausgezeichnetes Mädchen, hatte Vetter Paul, gerührt von seiner aufrichtigsten Trauer um die Verewigte, die Hand gereicht. Wenngleich er nun als Schwiegersohn der Müllerin von ganzem Herzen bemüht war, die gebeugte Mutter zu trösten — er vermochte es — da Selbstanklagen und Vorwürfe ihn ungeachtet der glücklichen Wendung seines Geschickes darniederhielten, nicht. Allgemein wunderte man sich, daß die ungleich liebenswürdigere Anna in ihm das Andenken an Marie nicht verlöschen konnte.

Fels starb schon nach einigen Jahren in der Gefangenschaft; sein frevelhaft erworbenes Gut hatte ihm keinen Segen gebracht und oft hat er, wie seine Mitgefangenen berichteten, die Zeiten zurückgewünscht, da er noch mit ruhigem Gewissen und frohem Sinn als armer Schuhmachergeselle von Werkstatt zu Werkstatt wanderte und Abends nach gethaner Arbeit das müde Haupt zu friedlichem Schlafe niederlegen konnte. An einer Ecke der Kirchhofsmauer ruht der arme, reiche Mann, ein Ausgestoßener, dessen Grab Jeder meidet, der die Geschichte des Unglücklichen kennt.

Schlussvignette   „Eine verunglückte Speculation“

Druck von J. C. Fischer & Comp. in Wien.