Title: Malmedy und die preußische Wallonie
Skizzen und Studien
Author: Tony Kellen
Release date: October 4, 2023 [eBook #71803]
Language: German
Original publication: Essen (Ruhr): Fredebeul & Koenen
Credits: Jens Sadowski, Richard Scheibel, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
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Skizzen und Studien
von
A. Kellen.
Essen (Ruhr) 1897.
Verlag von Fredebeul & Koenen.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von Fredebeul & Koenen in Essen.
Seite
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I.
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Einleitung
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II.
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Aus Malmedy’s Vergangenheit
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III.
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Die Stadt Malmedy
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IV.
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Die Malmedyer Mineralquellen
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V.
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Die Umgegend von Malmedy
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A. Das Thal mit der
Inselquelle
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B. Das Thal von Mon-Bijou
mit der Géromontquelle
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C. Das Thal von Bévercé mit
den Felsenquellen
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D. Weitere Ausflüge
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VI.
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Die Bewohner von Malmedy und die Sprachenverhältnisse in der
Wallonie
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VII.
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Die Sitten und Gebräuche
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VIII.
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Die Verdeutschungsmaßregeln und die Zukunft der Wallonie
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IX.
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Schlußwort
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ie vorliegende Schrift soll zum ersten Mal den Versuch machen, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise in Deutschland auf Malmedy, den Hauptort der preußischen Wallonie, zu lenken. Dieser vorgeschobene Posten in des deutschen Reiches Westmark, der einst eine hervorragende Stätte der Kultur war, aber durch die Ungunst der Verhältnisse das Schicksal der vom großen Verkehr abseits liegenden Eifel teilte, verdient wohl, daß seine Geschichte und seine Eigentümlichkeiten bekannt werden. Die Stadt selbst, die in einer an Naturschönheiten reichen Gegend liegt, entwickelt sich jetzt, dank der Thatkraft ihrer Bürger, zu einem Badeort, dessen Mineralquellen denjenigen der unweit an der Grenze gelegenen belgischen Stadt Spa erfolgreiche Konkurrenz machen können.
Durch einen mehrmaligen Aufenthalt in Malmedy habe ich die dortigen Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen gelernt; auch haben Einheimische wie Altdeutsche mir in bereitwilligster Weise Material für dieses Werkchen, von dem voriges Jahr ein Teil in der Unterhaltungsbeilage zur „Täglichen Rundschau“ erschienen ist, zur Verfügung gestellt.
Möge es dieser Schrift gelingen, in Deutschland einiges Interesse für das bis jetzt so wenig beachtete Malmedy und die preußische Wallonie zu wecken!
Essen/Ruhr, Frühjahr 1897.
Der Verfasser.
[S. 1]
Einige Jahre hindurch hatte ich die Verhältnisse in Elsaß-Lothringen studiert und besonders dem Vordringen des Deutschtums in den französischen Sprachgegenden mein Augenmerk zugewandt. Es wurde nun der Wunsch in mir rege, auch eine andere Gegend kennen zu lernen, die, abgesehen von ihrer geringeren Ausdehnung, ähnliche Verhältnisse aufweist, nämlich die preußische Wallonie. Diese Bezeichnung mag manchem Leser wenig oder gar nicht bekannt sein. Thatsächlich ist aber ein bedeutender Teil des Kreises Malmedy wallonisch und die Stadt gleichen Namens ist der Hauptort der sogenannten preußischen Wallonie. Die Bewohner dieser seit 1815 zu Preußen gehörigen Gegend sprechen wallonisch und französisch, ein Teil beherrscht auch das Deutsche. Wenn Malmedy in den Zeitungen nicht oft genannt wird, so ist das sehr begreiflich: deutschfeindliche Umtriebe kommen dort nicht vor, und man hat auch zuviel mit den Polen im Osten und den Dänen im Norden zu thun, als daß man sich mit einer verhältnißmäßig geringen Zahl Wallonen im Westen des preußischen Staates beschäftigen sollte. Dann sind auch im Südwesten des Deutschen Reiches die Elsässer und Lothringer, mit denen sich die öffentliche Meinung noch oft genug zu befassen hat. Aber merkwürdig sind die Verhältnisse doch auch in Malmedy und der Umgegend; die wenigen Notizen, die es mir gelungen war, vor meiner Reise in jene Gegend darüber zu sammeln, gaben mir keinen Aufschluß über die Fragen, die mich besonders interessirten, und so führte ich den längst gefaßten Entschluß aus, an Ort und Stelle mich über die Verhältnisse zu erkundigen.
Von Straßburg fuhr ich nach Luxemburg und von dort brachte ein gemüthlicher Bummelzug mich nach dem nördlichen Theile des Großherzogtums, dem Oesling. Die Gegend ist dort gebirgiger und rauher, als im Gutlande. Die letzte einigermaßen bedeutende Ortschaft auf großherzoglichem Boden ist Ulflingen, von den Luxemburgern Elwen genannt, während die französische Bezeichnung Trois-Vierges lautet (von drei Nornen bezw. Jungfrauen, die in früherer Zeit dort verehrt wurden). Von dort hat man bald die Grenze überschritten, und man würde im Zuge den Uebergang gar nicht gemerkt haben, wenn nicht ein Grenzaufseher nach Branntwein gefragt hätte. An der luxemburgisch-deutschen[S. 2] Grenze war nämlich damals noch für Branntwein eine Kontrole, weil Luxemburg, das bekanntlich zum deutschen Zollverein gehört, sich früher weigerte, die Branntweinsteuer auf gleiche Höhe zu bringen, wie in Deutschland. Dieses ist jetzt geschehen, so daß der Grenzkordon wegfallen konnte. Auch über die Grenze hinaus wird noch die Luxemburger Mundart gesprochen; die Gegend gehörte übrigens früher zum Luxemburger Lande. Die Zugverbindung war dort nicht gerade eine sehr glänzende, und so mußte ich mich schon entschließen, in St. Vith zu übernachten, weil der Nachmittags- bezw. Abendzug nicht weiter fuhr. Jetzt sind die Zugverbindungen besser.
St. Vith ist ein hübsches Städtchen, und so abgelegen es auch ist, so findet man doch ein gutes Unterkommen dort. Es liegt auf einer Anhöhe und zählt ungefähr 2000 Einwohner, die mit Rücksicht auf jene Gegend als ziemlich behäbig gelten können. Außer der Viehzucht wird besonders die Gerberei eifrig betrieben. In dem Städtchen findet man eine alte Pfarrkirche, ein Kloster mit Haushaltungsschule und Touristenheim, sowie einen alten Thurm („Büchelthurm“) als letzten Ueberrest der früheren Umwallung. Die Mundart, die dort gesprochen wird, ist schon die Eifeler Mundart, die der Luxemburgischen ähnelt[1]. Die Stadt selbst nennt das Volk „Sankt Veit“ oder z’m Vekt. Wer sich über die Bevölkerung dieser Gegend unterrichten will, muß schon mit den Leuten selbst verkehren. Greift man zu einem Führer, so findet man meistens gar keine Angabe darüber. Heinrich Pflips[2], ein Eifeler Lehrer, der die Gegend beschrieben hat, beschränkt sich auf eine landschaftliche Schilderung mit dürftigen geschichtlichen Notizen. Einige hübsche Seiten widmet Heinrich Freimuth in seinen anregend geschriebenen „Ardenner Wanderungen“[3] der Geschichte des Städtchens St. Vith.
Vormittags fuhr ich nach Malmedy weiter. Die Gegend um St. Vith ist ziemlich ärmlich, man sieht meist nur Haide und Ginster. Die nächste Station ist Montenau, eine hübsch gelegene Ortschaft mit Wäldern in der Nähe. In Weismes verläßt man den nach Montjoie-Aachen weiterfahrenden Zug, um auf einer kleinen Zweigbahn abseits nach Malmedy zu gelangen. Ich mußte in Weismes fast eine Stunde warten, und so benutzte ich die Gelegenheit, das Dorf zu besichtigen, das schon ganz im wallonischen Sprachgebiet liegt. Der Name selbst ist wallonisch und wird „Uäm“ ausgesprochen; die deutschen Bahnbeamten sprechen ihn allerdings aus, so wie er geschrieben wird: Weismes, und das kann einen Philologen schon sehr nervös machen. Das Dorf hat gar nichts Merkwürdiges; man sagte mir nur, es sei wegen seines Kirchweihfestes bekannt. Mehr interessirte mich die Schule, wo ich deutsch singen hörte. Die Bewohner[S. 3] grüßten mich aber meistens wallonisch oder französisch. In den wenigen Geschäften, die der Ort außer einer Strohhutfabrik aufzuweisen hat, wird auch deutsch gesprochen.
In Malmedy findet man in mehreren alten Gasthöfen, wo man deutsch, französisch oder, wenn’s beliebt, auch wallonisch sprechen kann, eine gute Unterkunft. Ein modernes Hotel wird jetzt dort errichtet. Es gefiel mir bei meinem ersten Aufenthalt so gut in dem behaglichen Städtchen, daß ich im Herbst, wo ich eine Ferienreise durch die Eifel machte, noch einmal dorthin zurückkehrte.
Bevor ich die Stadt und ihre Umgebung beschreibe, auf die Sitten und Gebräuche der Einwohner, die Sprachenverhältnisse usw. eingehe, will ich eine kurze Geschichte der Stadt Malmedy entwerfen.
[1] Dr. Hecking: Die Eifel in ihrer Mundart. Prüm, P. Plaum. 1890.
[2] Das romantische Ourthal. Ein Wanderbuch. I. Das obere Ourthal. Aachen, Jgn. Schweitzer. 1891.
[3] Mit fünf Bildern nach Skizzen von Prof. W. Altenburg, einem Tourenverzeichnis und einer Karte. Köln, J. P. Bachem.
[S. 4]
Malmedy, der Hauptort der preußischen Wallonie, hat bis jetzt keinen deutschen Geschichtsschreiber gefunden. Die Vergangenheit dieser Stadt bietet aber schon deshalb ein besonderes Interesse, weil noch jetzt dort das Wallonische und Französische vorherrschend sind, obschon Stadt und Umgebung bereits seit Anfang dieses Jahrhunderts zu Preußen gehören. Die jetzigen Verhältnisse in Malmedy sind wirklich sehr merkwürdig. Die Bewohner der Stadt und einer Anzahl benachbarter Ortschaften sprechen unter sich wallonisch; viele beherrschen auch die französische Schriftsprache sehr gut. Daneben ist, besonders in den letzten Jahrzehnten, das Deutsche aufgekommen, nachdem diese Sprache in der Volksschule eingeführt wurde. Wir wollen im Nachfolgenden einen kurzen Rückblick auf die Vergangenheit Malmedy’s werfen; es wird uns dann auch manches erklärlich, was uns sonst ein Rätsel bleiben würde.
Malmedy war von jeher mit dem bei Belgien verbliebenen Stavelot (Deutsch: Stablo) ethnographisch und geschichtlich verbunden. Deshalb sind die Beziehungen zwischen beiden Städten trotz der politischen Trennung immer sehr lebhaft geblieben. Die Geschichte Malmedy’s schildern heißt auch die Stavelot’s erzählen, denn beider Geschichte war bis zum Beginn unseres Jahrhunderts eng verbunden. Nur die besonderen Ereignisse in Stavelot, die keine Rückwirkung auf die Abtei ausübten, lasse ich unberücksichtigt.
Zu der nachfolgenden kurzen Geschichte von Malmedy habe ich hauptsächlich die Werke der beiden de Noüe benutzt, besonders: „Etudes historiques sur l’ancien pays de Stavelot et Malmédy, par Arsène de Noüe, docteur en droit“[4] und „La Législation de l’ancienne principauté de Stavelot-Malmédy, par Paul de Noüe, docteur en droit, référendaire de régence, membre correspondant de l’Académie d’archéologie de Belgique“[5].
Die Abteien Stavelot und Malmedy wurden im 7. Jahrhundert im Ardennerwalde gegründet. In der Gegend hatte der deutsche Stamm der Eburonen gewohnt, der von den Römern unterjocht wurde. Der Teil der Ardennen gehörte zur Germania inferior, die von den Franken[S. 5] besetzt wurde. Die austrasischen Könige betonen in mehreren Urkunden, daß der Ardennerwald ihnen gehörte (in terra nostra silva arduennense). Siegebert ließ eine Anzahl Klöster gründen, worunter auch Malmedy und Stavelot. Er betraute mit der Errichtung derselben den heil. Remaclus, der am Hofe des Königs Dagobert gelebt hatte. Der Apostel der Ardennen, wie er später genannt wurde, verbreitete um die Mitte des 7. Jahrhunderts das Christenthum in Aquitanien. Er baute also mit Unterstützung des Königs Siegebert im Jahre 648 ein Kloster, in welchem Söhne des hl. Benediktus ihren Aufenthalt nahmen. Dasselbe gehörte zum Kölner Sprengel. Von dieser Stiftung Malmundarium oder Malmidarium (a malo mundatum) soll die Stiftung ihren Namen erhalten haben.[6] Als Remaclus Bischof von Tongern (nach andern von Mastricht) wurde und eine eigene Diözese besaß, gefiel es ihm nicht, sein Kloster einem fremden Sprengel einverleibt zu sehen, und er beschloß deshalb, sich einen zweiten Konvent zu gründen, nämlich in dem 1½ Stunden westlich von Malmedy gelegenen, zu seinem Bistum gehörigen Stavelot. Dort entstand bald (gegen 650) eine weitere prächtige Abtei, und von da an blieben die beiden hochangesehenen, mit vielen Vorrechten ausgestatteten Schwesterklöster Stavelot-Malmedy, deren spätere Fürstäbte souveräne Herrscher waren, vereinigt.
Bei der Teilung des Reiches Karls des Großen kam das Land, in welchem die beiden Klöster lagen, mit zu Lothringen, das so lange ein Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland sein sollte. Daß Stavelot und Malmedy bald zu dem einen, bald zu dem andern Lande gehörten, beweisen die Urkunden aus jener Zeit. Beide Abteien wurden im 10. Jahrhundert unabhängig, ebenso wie die von Trier, Prüm, Echternach u. s. w. Besonders Malmedy lag in einer schönen Gegend, denn der hl. Bernhard sagt: Malmundarium totius Arduennae vallis amoenissima. Man wird wohl nicht irre gehen in der Annahme, daß schon damals die nationalen Gegensätze sich wenigstens in der Nähe von Malmedy bemerkbar machten. Während die Ober- und Niederfranken die Thäler der Mosel, Saar, Sauer, Ur, Ahr, Erft und Ruhr (Roer) besetzten, blieben die Thäler der Amel (Amblève) und Warche im Besitze der zurückgedrängten Kelto-Romanen, wo diese noch heute den romanischen Volksstamm der Wallonen bilden. Malmedy und Umgebung wird also schon damals ein Vorposten des späteren Wallonentums gewesen sein.
Die beiden Klöster waren seit ihrer Gründung eng mit einander verbunden und bildeten eine freie fürstliche Abtei. Diese war abgabefrei, hatte aber die Verpflichtung, dem Kaiser Heeresdienste zu leisten. Zwei Punkte in der Geschichte der Abtei sind bemerkenswert, zunächst, daß[S. 6] Stavelot das einzige Kloster war, dessen Oberhaupt Rang und Rechte eines Fürsten hatte und gleichzeitig zum Kriegsdienst verpflichtet war, dann daß der Doppelkonvent, obgleich eines und desselben Ursprungs, zwei verschiedenen Diözesen zugehörig war. Die Einweihung der Kirche und Altäre von Stavelot geschah durch den Bischof von Lüttich, während der Erzbischof von Köln diese Handlungen im Abteibezirk von Malmedy vornahm. Bis zur französischen Revolution hatte jedes Kloster sein eigenes Kapitel, seine eigenen Novizen usw. Beide Kapitel waren gleich und von einander unabhängig. Das zu den Klöstern gehörige Gebiet war gemeinschaftlich, ebenso wie sie nur einen Abt hatten, zu dessen Wahl beide gleichberechtigt waren. Aber schon der hl. Remaclus zog Stavelot vor, wo er auch begraben wurde. Seither mußten auch die Mönche von Malmedy ihre Gelübde am Grabe des Heiligen ablegen. In Stavelot residierte gewöhnlich der Abt und dort hielten die Kapitel ihre Versammlungen ab. Diese Bevorzugung Stavelots wurde in Malmedy nur ungern gesehen und gab zu manchen Differenzen Anlaß, die später sogar zu der Teilung der Güter führte.
Im Uebrigen war das geistliche Fürstentum ein kleines selbständiges Staatswesen, das weltlich nur vom Kaiser und geistlich direkt von Rom abhing. Es vereinigte Jahrhunderte hindurch ein glückliches, draußen in der Welt fast unbekannt gebliebenes Völkchen. Die Benediktinermönche rodeten die Wälder aus und bebauten die Felder. Reich waren sie ursprünglich nicht; dieses bezeugt ausdrücklich Christian Druthmare (840), der mehrere Jahre bei ihnen gelebt hatte. Ihre Klosterschulen zeichneten sich durch berühmte Lehrer aus, wie Druthmare, Notger, Everhelm, Theodorich, Wibald, Zantfliet usw. Nicht lange hatte Remaclus seinen Bischofssitz inne; schon im Jahre 660 leistete er auf denselben Verzicht und kehrte nach seiner Abtei zu Stavelot zurück, wo er um das Jahr 669 starb; noch heute werden die Gebeine des heiligen Ordensmannes in der Pfarrkirche daselbst aufbewahrt. Mit dem Tode des Gründers endete aber sein Werk nicht; nicht weniger als 77 Fürstäbte zählt man als Nachfolger des hl. Remaclus, von denen neun heilig gesprochen wurden, während viele andere es in den Wissenschaften und in der Politik zu hohem Ansehen brachten. Die Großen Europas, insbesondere die deutschen Kaiser und Könige, wetteiferten darin, die Fürstäbte von Stavelot-Malmedy mit Ehren- und Gunstbezeugungen auszuzeichnen. Leider ist durch die Verwüstungen, denen die Abteien zu verschiedenen Zeiten unterworfen waren, wohl nicht zum Mindesten durch die französischen Vandalen, die schließlich den Untergang des Fürstentums herbeiführten, sehr viel Material aus den Archiven der Abteien vernichtet oder zerstreut worden.
Die Nachfolger des hl. Remaclus sind nicht alle dem Namen nach bekannt; ihre vollständige Aufzählung wäre auch ohne besonderes Interesse. Mehrere von ihnen gelangten zu hohen Würden, so der hl. Agilolfus, der Erzbischof von Köln wurde. In einer dichterischen Beschreibung des Todes dieses Heiligen wird auch die Schlacht bei Amel (Amblève) im Jahre 716 geschildert, die die Vorläuferin der großen Kämpfe Karl[S. 7] Martells werden sollte. Amel (Amblava) wird als ein Ort im Ardennergau, 2 Meilen von Malmedy entfernt bezeichnet. Der hl. Agilolfus soll dort den Martertod erlitten haben. Die Abtei mußte in der folgenden Zeit manche Widerwärtigkeiten erleben, die die Folgen der Kriegswirren waren. Im Jahre 877 wurden die beiden Klöster von den Normannen in Brand gesteckt und der Abt Hildebald mußte mit den Mönchen in die Ardennen flüchten; bei seiner Rückkehr fand er nur mehr Trümmer vor. Als Heinrich der Vogler Lothringen erhielt (zwischen 921 und 924) wurde das Fürstentum Stavelot-Malmedy, das bis dahin die Schicksale Austrasiens und Lothringens getheilt hatte, dem deutschen Reiche einverleibt. Arséne de Noüe hebt in seiner Geschichte ausdrücklich hervor, daß nach dem Anschluß an das deutsche Reich die Abtei Stavelot-Malmedy aufblühte („c’était l’aurore de la restauration qui se levait sur le pays“). Der hl. Odilon richtete die Klöster wieder auf, deren bürgerliche und religiöse Verwaltung in Verfall geraten war. Er berief dorthin den berühmten Notker (Notger, Notakar) aus St. Gallen, der später Bischof von Lüttich wurde und das Leben des hl. Remaclus schrieb. Er leitete die Schulen der Abtei, die damals in hohem Ansehen standen. Er predigte in lateinischer und jener romanischen Sprache, die später das Wallonische wurde (Vulgari plebem, clerum sermone latino erudit). Erst der Abt Werinfrid ließ die Klosterkirche von Malmedy, welche von den Ungarn nach dem Einfall der Normannen zerstört worden war, wieder aufbauen. Unter seinem Nachfolger Ravengère wurde sie vollendet und am 10. September 992 vom Erzbischof von Köln geweiht zu Ehren der Heiligen Petrus, Paulus, Johannes, Quirinus und Justus. Der neue Abt ließ in Malmedy, das inzwischen eine Stadt geworden war,[7] die St. Gereons-Pfarrkirche bauen und am 2. November 1007 von dem Erzbischof Heribert weihen. Die von dem hl. Agilolfus gegründete St. Laurentiuskirche, die als gemeinsame Kirche diente, wurde 1661 zur Verschönerung der Abteikirche, an die sie angelehnt war, abgerissen. Später wieder aufgebaut, wurde sie mit der Abteikirche ein Raub der Flammen bei dem großen Brande von 1689.
Der hl. Poppo, dessen Leben der Mönch und spätere Abt Everhelm aufgezeichnet hat, war einer der größten Aebte des Reichsfürstentums. Er regierte von 1020 bis 1048. Nach dem Tode des Abtes Bertrand hatte Heinrich III. ihn als dessen Nachfolger wählen lassen. Stadt und Kloster Stavelot, die mit dieser Wahl nicht zufrieden waren, lehnten sich gegen ihn auf, und Poppo mußte nach Malmedy flüchten; der Sturm legte sich übrigens bald. Obschon Poppo 32 Abteien unter seiner Leitung vereinigte, zog er doch Stavelot und Malmedy vor und residirte am liebsten daselbst. Da bildete er auch die Aebte heran, die er an die Spitze der Klöster stellte, die seiner Leitung unterstellt waren. Er verkehrte viel mit Fürsten und vereinbarte im Jahre 1032 zu Divillers[S. 8] eine Zusammenkunft zwischen Kaiser Konrad und dem König Heinrich von Frankreich, die durch eine lange Feindschaft getrennt gewesen waren. Er ließ in Stavelot eine prachtvolle Kirche in romanisch-byzantinischem Stile errichten, die unter der französischen Revolution zerstört wurde. Als frommer Ordensmann wußte er in den ihm unterstehenden Klöstern die gelockerte Disziplin wieder zu heben und die Ordnung wiederherzustellen; wie es heißt, wurde in Folge seines strengen Verfahrens in Trier der Versuch gemacht, ihn zu vergiften.
Sein Nachfolger wurde Theodorich, ein Mönch von Stavelot, unter welchem der Streit über den Vorrang der beiden Abteien — denn auch Malmedy führte den Namen Abtei — zu lebhaftem Ausdruck kam, so daß es beinahe zu einer Trennung gekommen wäre.[8]
Einer der Nachfolger Theodorich’s war der Abt Wibald (1130 bis 1158), der als der bedeutendste aller Aebte bezeichnet wird und der auch einer der größten Männer seines Jahrhunderts war. Wibald fand die Abteien in trostlosem Zustande, doch seiner Thatkraft gelang es, bessere Zeiten herbeizuführen, indem er die geistlichen und weltlichen Angelegenheiten regelte. Seine Wirksamkeit beschränkte sich nicht auf sein Fürstentum; es gab keine Frage in der Kirche und im Reiche, in der Wibald nicht zu Rate gezogen wurde, und es dauerte nicht lange, da machte Kaiser Lothar den Abt von Stavelot-Malmedy zu seinem geheimen Rate. Auf allen seinen Reisen und Kriegszügen begleitete nun Wibald den Kaiser; er nahm am Kriege gegen Italien 1133 Anteil und wurde sodann vom Kaiser nach Neapel geschickt, um den Befehl über die Flotte zu übernehmen. Bei dieser Gelegenheit besuchte Wibald die berühmte Abtei des hl. Benediktus auf dem Monte Cassino; den dortigen Mönchen machte er ernste Vorhaltungen über die zur Zeit im Kloster herrschenden Mißstände. Nach dem Kriege wurde Wibald trotz seines Sträubens zum[S. 9] Abte dieser Abtei gewählt, schlug aber die Wahl aus; vergebens baten die Mönche ihn, er möge sie nicht verlassen und die Leitung der Abtei übernehmen. Als der Kaiser dies hörte, ließ er Wibald gewaltsam in den Kapitelsaal bringen und wiederum wurde derselbe einstimmig gewählt und als Abt von Monte Cassino eingeführt. Die Verhältnisse zwangen ihn jedoch schon nach 44 Tagen die ehemalige Abtei des hl. Benediktus zu verlassen; er kehrte nach Stavelot zurück, nahm hier selbst wieder die Leitung der Regierungsgeschäfte in die Hände und ordnete insbesondere die Verhältnisse der Grafschaft Logne zum Fürstentume. Auch in der Folge erfreute sich Wibald einer stets wachsenden Gunst des Kaisers. Für die Hochachtung, die er bei demselben genoß, gibt eine auf rotem Pergament in Goldschrift geschriebene Urkunde, welche gegenwärtig im Provinzialarchiv zu Düsseldorf aufbewahrt wird, einen sprechenden Beweis. Durch diese Urkunde erhebt Kaiser Lothar Stavelot-Malmedy zu reichsunmittelbaren Abteien, er rühmt Wibald’s Verdienste um das Reich und schenkte ihm große Besitzungen in Aachen, namentlich eine Anzahl Häuser der damaligen Adelgundis-Kapelle gegenüber (Umgebung des jetzigen Präsidialgebäudes).[9] Später finden wir Wibald wieder als Erzkanzler des deutschen Reiches unter Friedrich Barbarossa, und er ist es wieder, auf den der Kaiser fast die ganze Last der Regierungsgeschäfte abwälzt, dem er die wichtigsten und vertraulichsten Sendungen an fremde Mächte überträgt. Auf der Rückreise von einer Mission nach Konstantinopel, wohin ihn die Geschäfte des Reiches geführt hatten, starb Wibald, angeblich von den Feinden des Reiches vergiftet, am 19. Juli 1156 in Paphlagonien, im Alter von 61 Jahren. Wibald, dessen Leben und Wirken durch Prof. Johannes Janssen eine liebevolle Darstellung gefunden hat, war ein Mann von hervorragender Bildung, Staatsmann, Dichter und Redner. Arsène de Noüe sagt, nachdem er sein Leben erzählt und seine Eigenschaften gerühmt: Gloire donc à Wibald! Gloire au pays de Stavelot qui a produit ce grand homme, l’honneur de l’état monastique, la lumière de l’Empire, le sublime pilote suscité par la main du Très-Haut pour diriger et soutenir le vaisseau de l’Eglise romaine au milieu des épouvantables tempêtes qui menaçaient de l’engloutir.[10]
[S. 10]
Auf Wibald folgte sein Bruder Erlebald, als Fürstabt von Stavelot-Malmedy. Er ließ die sterblichen Reste seines Bruders aus Griechenland nach Stavelot bringen und vor dem Hauptaltar der Abteikirche beisetzen. Derselbe ließ 1190 in Malmedy ein Haus für die Aussätzigen und eine der hl. Maria Magdalena gewidmete Kapelle bauen. Nach dem Verschwinden der Pest wurden in dem Spital andere Kranke aufgenommen. Die Kapelle wurde im 16. Jahrhundert neugebaut und am 6. September 1554 geweiht. Die Verwaltung des Spitals wurde dem Kloster von Malmedy übertragen. Im Jahre 1640 gründete Abt Ferdinand Lateinschulen in Malmedy; das Kloster mußte die Lehrer stellen und durfte von den Schülern keine Vergütung fordern. Die Krankenkapelle (chapelle des malades), die noch jetzt an dem Wege nach dem Pouhon des Iles steht, diente als Pfarrkirche, als 1689 die Stadt Malmedy mit ihren Kirchen durch einen großen Brand zerstört worden. Bei der Epidemie von 1741, wo während 8 Monaten 800 Einwohner von der Pest hingerafft wurden, strömten zahlreiche Gläubige dorthin und ein Bauer aus Faimonville, N. Lejeune, schenkte derselben eine Marienstatue, die sich noch jetzt dort befindet. In einer 1167 ausgestellten Urkunde wird Stavelot zum ersten Mal als Stadt bezeichnet. Abt Erlebald starb hochbetagt 1193, nachdem er 34 Jahre dem Doppelkonvent vorgestanden. Sein Nachfolger Gerard schloß einen „ewigen Frieden“ zwischen den beiden Klöstern. Aus der einzigen Urkunde über die Civilverwaltung, die aus seiner Zeit erhalten ist, geht hervor, daß die Grafen und Herzoge von Luxemburg Erbvogte von Stavelot waren. Jean d’Enghien, Bischof von Tournai, Fürst-Bischof von Lüttich, wurde auch Fürst-Abt von Stavelot in einer unruhigen Zeit. Nach Beendigung des verhängnisvollen „Kuhkrieges“ wurde er ein Opfer der Rachsucht seines abgesetzten Vorgängers Heinrich von Geldern, der zugleich Bischof von Lüttich war, aber zuletzt aller seiner kirchlichen Aemter und Würden entsetzt wurde. Dieser lockte ihn in eine Falle, ließ ihn halbnackt auf ein wildes Pferd binden, das ihn fortschleppte, bis er zu Boden fiel und tot blieb (1281). In der folgenden Zeit fehlte es nicht an kriegerischen Verwickelungen, und manche Aebte vergeudeten die Güter der beiden Klöster. Im 15. Jahrhundert sah es geradezu trostlos dort aus; von den ehemals so berühmten Schulen war kaum noch die Erinnerung übrig geblieben, und die hervorragenden Männer waren verschwunden. In der Kirche von Stavelot hieb man von dem Grabstein des Abtes Jean de Geuzaine die vier Ecken ab, um anzudeuten, daß er die vier Ecken seines Landes veräußert hatte.
[S. 11]
Bald aber erstand in Heinrich von Merode, der Stiftsherr von Aachen war und als Abt nach Stavelot berufen wurde, ein Reformator in weltlicher und kirchlicher Beziehung (1438–1460). Von ihm rührt die Verfassung des damals etwa 30,000 Einwohner zählenden Fürstentums her, die ganz erhalten ist. Sowohl Arséne als Paul de Noüe besprechen dieselbe eingehend; eine Wiedergabe der Bestimmungen würde uns aber zu weit führen.[11]
Unter den Nachfolgern Heinrich v. Merodes wurde das Land noch öfter von räuberischen Einfällen, von Pest und Hungersnot heimgesucht. Eine der sympathischsten Erscheinungen unter sämmtlichen Fürsten ist zweifellos der an Stelle des 1499 verstorbenen heiligmäßigen Caspar Poncin gewählte Wilhelm von Manderscheid, jüngster Sohn des Grafen Wilhelm I. von Manderscheid und seiner Gemahlin Adelheid von Mörs. Fürstabt Wilhelm ist einer der wenigen Fürsten, die in Malmedy ihren Wohnsitz nahmen; zu seiner Zeit zählte Malmedy 330 Wohnhäuser, Stavelot dagegen nur 190. Während seiner 47jährigen Regierung hat Wilhelm sehr vieles zum Wohle seines Landes und zur Verschönerung der beiden Städte gethan. Im Jahre 1525 ließ er in beiden Städten den Grundstein zu den beiden Palästen legen, die die Residenz der Fürstäbte sein sollten. Der Palast in Malmedy bestand bis zur Feuersbrunst am 11. Juni 1782. Wilhelm von Manderscheid hatte die Gepflogenheit, zu Weihnachten die erste Messe in Stavelot, die zweite in Malmedy und die dritte in Prüm, dessen Abt er auch war, zu lesen, und zwar, indem er die Wege von einer Abtei zur andern zu Pferde zurücklegte. Er starb, 70 Jahre alt, im Jahre 1547.
Drei bayrische Prinzen, Ernst, Ferdinand und Wilhelm regierten als Aebte von 1580 bis 1657. Im Jahre 1587 mußten die Bewohner von Malmedy es schwer büßen, daß sie den Spaniern Geschützpulver geliefert hatten. In der Stadt wurde nämlich Pulver erzeugt,[S. 12] und so wurde diese Industrie ihr zum Verhängnis. Das Pulver wurde von den geschäftseifrigen Pulvermüllern an die unrechte Kriegspartei verkauft und dann der Stadt von der Gegenpartei in natura zurückgezahlt — aus Büchsen und Geschützen. Der Prinz von Oranien ließ durch den berüchtigten Schenk von Nideggen die Kirche und 70 Häuser der Stadt in Brand stecken, das Kloster plündern, die Pulvermühlen zerstören u. s. w. Um die räuberischen Einfälle abzuwehren, mußten die beiden Schwesterstädte sich mit Mauern und Festungswerken ähnlich wie Spa und Verviers umgeben. Fünfzig Jahre später wurden die Befestigungen jedoch mit Ausnahme einiger Thore abgerissen. Am meisten hausten in Malmedy, wie auch an vielen anderen Orten, die Truppen Ludwig’s XIV., die 1650 unter Turenne monatelang dort ihr grausames Spiel trieben, so daß viele Bewohner nach Deutschland auswanderten. In der folgenden Friedenszeit lebte die Stadt wieder auf, und der Handel wurde für sie eine Quelle des Wohlstandes.
Am Ende des 17. Jahrhunderts hatte das Fürstentum ein Drittel seines früheren Gebietes verloren. Besonders die Herzoge von Luxemburg hatten anscheinend ihre Stellung als Vögte mißbraucht, um sich eine Anzahl Ortschaften anzueignen. Ueberdies befand sich das Land infolge von Kriegen, Feuersbrünsten, räuberischen Einfällen u. s. w. in einem trostlosen Zustande: es zählte nur mehr 1693 Häuser (vorher 3780). Im Jahre 1686 finden wir als Nachfolger des hl. Remaclus den Kardinal Wilhelm Egon von Fürstenberg auf dem Abbatialsitze von Stavelot, unter dessen Regierung die Franzosen sich auf das wehrlose Ländchen warfen. Am 4. October 1689 steckten französische Truppen Stavelot und Malmedy in Brand, und in den beiden Städten konnten von 1020 Häusern nur etwa 100 gerettet werden. Dadurch hatte das Land so große Verluste erlitten, daß es eine allgemeine Anleihe von 134,000 Thaler in Lüttich, Verviers und anderen Orten aufnehmen mußte und außerdem für die Klöster eine solche von 100,000 Thaler. Die reichsten und mächtigsten Familien waren überdies ausgewandert.[12] Schnell erhob sich ein neues Städtchen aus dem Trümmerhaufen, und auf ein Gesuch wurde dem Lande ein Teil der Steuern nachgelassen und auf 3 Jahre Befreiung von der Militärpflicht bewilligt. Diese Vergünstigung wurde 1715 noch auf vier weitere Jahre ausgedehnt.[13]
[S. 13]
Das Fürstentum vermochte inmitten der Kriegswirren der Zeit seine Neutralität nicht geltend zu machen; immer wieder zogen Heerschaaren durch dasselbe, raubend, plündernd und mordend. In den Jahren 1741 bis 1753 stand das Fürstentum unter der Regierung von Joseph de Nollet, der wieder in Malmedy residirte und dem es sogar gelang, dieser Stadt den Vorrang über Stavelot vom päpstlichen Stuhle zuerkennen zu lassen. Ihm folgten noch die beiden Fürstäbte Delmotte und Hübin; unter ihrem Nachfolger schlug für das Land des hl. Remaclus die Stunde der Auflösung als selbständiges Staatengebilde; der im Jahre 1787 am 4. Januar gewählte 77. Fürstabt Cölestin Thys sollte der letzte sein. Malmedy feierte diese Wahl als ein freudiges Ereignis, weil Thys Prior dort war. Er wurde in Köln geweiht und leistete den Eid in Stavelot. Er war gebildet, aber schwach und wenig in Verwaltungssachen erfahren. Uebrigens hätte er auch ohnehin den französischen Revolutionären nicht widerstehen können. Die Unzufriedenheit, „le mal français“, ergriff auch die Bewohner des Fürstentums, die eine förmliche National-Versammlung bildeten, welche dem Fürstabt ihre Forderungen vortrug. Es war eine Art Miniatur-Revolution, die zugleich den Todeskampf des Fürstentums bedeutete. Arséne de Noüe nennt sie eine „pitoyable parodie de la révolution française, augmentée de la contrefaçon de la révolte liégeoise.“ In Lüttich, der bedeutendsten Nachbarstadt, hatte es nämlich so gewaltig gegährt, daß man die Wirkung selbst in Stavelot und Malmedy verspürte. Auswärtige Emissäre durchzogen das Land, um die Bewohner aufzuwiegeln. Im Kapuzinerkloster trat die Nationalversammlung zusammen, deren Mitglieder ihre Person als heilig und unverletzlich erklärten. Inzwischen trafen auf Veranlassung des Abtes, der sich nicht mehr sicher fühlte, 450 Mann aus Köln in Malmedy ein unter dem Befehl des Oberstlieutenants Frhr. v. Wolzogen. Die Bürgerschaft forderte aber den Rückzug der Truppen und weigerte sich, für den Unterhalt derselben aufzukommen. Sie wurde bald darauf von 2000 „Patrioten“ aus Franchimont unterstützt; und als die deutschen Truppen nun auf die Bitte des Abtes sich zurückzogen, war auch seine Autorität vollends geschwunden und der eigentliche Aufruhr brach los. Die Mönche ließen ihre Archive und Kostbarkeiten auf Wagen nach[S. 14] Deutschland transportieren. Das Volk wollte zwar seinen Fürsten nicht vertreiben, aber es verlangte zahlreiche Rechte und Freiheiten, Aenderungen in der Verwaltung u. s. w. Im Februar 1792 zog ein österreichisches Regiment durch Malmedy, und in den folgenden Monaten kamen französische Truppen und Emigranten dort an. Im November flüchteten der Abt sowie eine Anzahl Mönche aus Malmedy. Französische Dragoner plünderten die Abtei und errichteten einen Freiheitsbaum. Die Franzosen mußten aber am 3. März 1793 wieder abziehen. Der Abt kehrte bald darauf inkognito zurück und ließ eine Untersuchung über die Anhänger der Revolution eröffnen. Die Bewohner weigerten sich aber, ihr Land von den Oesterreichern besetzen zu lassen. Nach einer kurzen ruhigen Periode empörten sich die Bewohner der Grafschaft Logne, welche zu Stavelot-Malmedy gehörte, und der Abt rief deshalb die Württemberger zu Hilfe. Am 21. Juli verließ er sein Land für immer. Er starb am 1. November 1796 in Hanau bei Frankfurt a. M. und wurde in Groß-Steinheim begraben.[14]
So liegt nun der letzte unglückliche Fürst eines Landes, welches über 1100 Jahre hindurch gleichsam allen Stürmen und Umwälzungen der Zeiten getrotzt hatte, aber der französischen Anarchie zum Opfer fallen mußte, fern von seiner Abtei begraben, und nicht einmal ein Grabstein bezeichnet seine Ruhestätte! Die Mönche wurden entweder deportirt oder in der weiten Welt zersprengt, die Archive entweder vernichtet oder nach allen Seiten zerstreut.
Am 1. Oktober 1794 proklamirte der Bürger Brixhe aus Spa auf dem öffentlichen Platz in Malmedy die Vereinigung mit der Republik, und durch das Gesetz vom 9. Vendemiaire Jahr IV (1. Oktober 1795) erklärte die französische Nationalversammlung die Gebiete von Lüttich, Stavelot, Logne und Malmedy mit Frankreich vereinigt. So ging das kleine Fürstentum in den Fluten der Revolution unter, nachdem es 1146 Jahre bestanden hatte.[15]
[S. 15]
Die Bewohner von Malmedy waren über ihre Vereinigung mit der französischen Republik keineswegs erbaut. Die Annexion wurde aber durch die Verträge von Campo-Formio und Lunéville bestätigt. Malmedy wurde zum Ourthe-Departement geschlagen, dessen Hauptstadt Lüttich war. Die Stadt wurde Sitz eines Unterpräfekten. Durch den Wiener Vertrag vom 9. Juni 1815 wurde Stavelot mit den Niederlanden vereinigt, während Malmedy mit Umgebung, soweit sie zur Diözese Köln gehörten, an Preußen kam. Malmedy ist noch gegenwärtig eine Kreisstadt im Regierungsbezirk Aachen.[16]
Aus Malmedy sind eine Anzahl hervorragender oder bekannter Männer hervorgegangen. Außer den vielen Aebten, Bischöfen und Theologen, die in dem Benediktinerkloster lebten und wirkten oder aus demselben hervorgegangen sind, verdienen wohl einige erwähnt zu werden.
Johann Ignaz Roderique (auch Rodric, Rodrigue und Rodrique geschrieben) wurde im Jahre 1697 in Malmedy geboren. Seine humanistische Bildung erhielt er in Aachen und trat, zwanzig Jahre alt, in den Jesuitenorden, aus welchem er jedoch, wie seine Gegner behaupten, schlechter Führung wegen ausgestoßen[S. 16] wurde. Er begab sich zu dem berühmten Georg von Ekkard nach Würzburg, wo er der Hochschule bald als Professor angehörte. Später siedelte er nach Köln über, heiratete dort eine begüterte Wittwe, die Eigentümerin der „Kölnischen Zeitung“. Arséne de Noüe sagt von ihm: „Unter seiner geschickten Leitung wurde das Blatt sehr bekannt, besonders während des Krieges wegen der Erbfolge Kaiser Karls VI. Roderique hatte es verstanden, in den beiden Lagern Korrespondenten zu finden, und was er nicht zu drucken wagte, ließ er den Interessenten im Manuskript zukommen.“ Er führte eine lebhafte Polemik mit dem Gelehrten Martenius wegen der Gleichberechtigung Malmedy’s mit Stavelot. Der Provinzialrat dieser Stadt ließ ihn sogar gerichtlich verfolgen, weil er behauptet hatte, Urkunden von Stavelot seien gefälscht. Er starb 1756, nachdem er mehrere lateinische Werke veröffentlicht und in seiner Vaterstadt eine Kapelle hatte errichten lassen.
Auf geschichtlichem und juristischem Gebiete war der 1748 in Malmedy geborene Augustin Villers litterarisch thätig, der Vorsitzender des Obergerichtshofs zu Malmedy, Staatsrat und Geheimrat des Fürsten Cölestin Thys wurde. Er schrieb u. a. die Gesetze des Landes nieder, sowie Kommentare dazu, ferner eine Geschichte der Aebte und ein wallonisch-französisches Wörterbuch. Diese Werke wurden nicht gedruckt, sind aber im Manuskript erhalten. Er starb in Folge eines Sturzes vom Pferde im Alter von 46 Jahren.
Der Prior François Laurenty von Malmedy schrieb die Geschichte der Aebte von dem hl. Remaclus bis zu Wilhelm von Bayern, deren Handschrift im Regierungs-Archiv in Düsseldorf aufbewahrt wird. Laurenty starb 1650, 66 Jahre alt. Aus dem Ende des 18. Jahrhunderts verdient der Verleger Gerlache erwähnt zu werden, der in Malmedy eine Druckerei gründete. Derselbe gab eine neue Ausgabe der Droits coutumiers de Stavelot heraus und einen Almanach du Pays de Stavelot.
Auf militärischem Gebiete zeichnete sich der 1771 in Malmedy geborene P. Jos. Bartholemy aus, der in österreichische Dienste trat und an den italienischen Feldzügen teilnahm. Abgesehen von anderen Auszeichnungen wurde er zum Freiherrn erhoben und starb als Oberst 1832 in Pest.
Als Gynäkologe wurde Joseph Doutrelepont (auch Doutrepont genannt) berühmt, der 1776 in Malmedy geboren war. Er studirte in Würzburg, Halle und Wien und wurde in ersterer Stadt Professor der Gynäkologie. Einen Ruf nach Göttingen (1837) lehnte er ab und wurde daraufhin von dem König von Bayern mit dem Civilverdienstorden ausgezeichnet. Seine Abhandlungen erschienen in Fachzeitschriften. Er starb 1845 in Würzburg.
Auf dem Gebiete der Botanik erwarb sich Fräulein Maria Anna Libert, die Tochter des Bürgermeisters von Malmedy (1782–1865), einen Namen. Ferner sind mehrere Maler zu nennen: Counet, Louis und Engelbert Renarstein, die die Portraits der letzten Fürstäbte gemalt haben, Alexander Thomas u. s. w.
Malmedy hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Die Chronik seiner Mißgeschicke ist sehr umfangreich, aber die Geschichte des Fürstentums weist auch manche erfreuliche Seite auf. Vielleicht entschließt sich einmal ein deutscher Geschichtsforscher die Geschichte des ehemals so berühmten geistlichen Fürstentums Stavelot-Malmedy zu schreiben und dabei auch die kulturhistorischen, ethnographischen und sprachlichen Verhältnisse eingehend zu berücksichtigen. Man würde dadurch den Bewohnern Malmedys, dieser einzigen wallonischen Stadt im deutschen Reiche, die dem Deutschtum gewonnen werden sollen, eine Aufmerksamkeit beweisen, die diese wohl zu würdigen wissen würden.
[4] Liége 1848.
[5] Anvers 1891.
[6] Die Wallonen nennen die Stadt Mâmdî. Malmedy wird auch häufig Malmédy geschrieben. Der verdienstvolle Forscher Dr. Quirin Esser läßt die oben erwähnte Etymologie nicht gelten. In seinen „Beiträgen zur gallo-keltischen Namenkunde“ (I. Malmedy 1884) begründet er die Annahme, daß Malmedy schon zur Römerzeit bestand und Malmandra geheißen habe (dieses soll der frühere Name der Warchenne gewesen sein).
[7] Es wird allerdings erst in einer unter dem Abte Wibald ausgestellten Urkunde zum erstenmal oppidum genannt.
[8] Stavelot besaß das Grab des gemeinsamen Stifters, dort hatten auch die meisten Fürstäbte ihre Residenz. Stavelot wollte deshalb den Vorrang über Malmedy haben; Malmedy dagegen war vom hl. Remaclus zuerst gegründet worden, dort hatten Mönche gewohnt, ehe in Stavelot der Grundstein zum Kloster gelegt wurde und es wollte deshalb in Allem Gleichberechtigung. Stavelot siegte über Malmedy, da Papst und Kaiser sich zu Gunsten der ersteren Abtei aussprachen; es war offenbar seitens der Mönche von Stavelot eine Mißachtung der Absichten und Ermahnungen des hl. Remaclus, der vor seinem Tode die Eintracht empfohlen hatte. Ueber die Frage des Vorranges der einen oder anderen Abtei wurden mehrere Foliobände geschrieben, ohne daß der Streit endgültig erledigt worden wäre. Es handelte sich dabei nur um eine interne Frage ohne eigentlichen politischen Anstrich. Stavelot war immer der Hauptort des Fürstentums und Sitz des Obergerichtshofes, und man kannte auch nur den Namen „Principauté de Stavelot“. Die Streitfrage spitzte sich zeitweilig sogar so zu, daß Malmedy einen eigenen Abt hatte. Im Uebrigen aber wurde der gemeinsame Abt immer in Stavelot gewählt, aber in der letzten Zeit vor der Aufhebung des Fürstentums fiel die Wahl oft auf Mönche aus Malmedy. Hier residirten auch die letzten Aebte, und sogar die Ständeversammlungen fanden trotz des Protestes der Schwesterstadt dort statt. Es blieb Stavelot zuletzt also nur mehr das eine Vorrecht, daß die Mönche dort ihre Gelübde ablegen mußten. Ohne die Ereignisse der französischen Revolution wäre vermutlich auch dieses Vorrecht abgeschafft worden.
[9] Hagen, Geschichte Aachens, Bd. I, S. 117.
[10] Die oben erwähnte „goldene Bulle“ (1137) ist eines der wichtigsten Dokumente für die Geschichte Stavelots und Malmedys. In derselben spricht Kaiser Lothar der Abtei sein besonderes Wohlwollen aus und nimmt sie unter seinen Schutz. Er untersagt darin für alle Zeit die Lostrennung der Abtei vom deutschen Reiche; ferner verordnet er ausdrücklich, daß Malmedy nicht von Stavelot getrennt werden dürfe, wie es schon drei Mal versucht worden sei. Bei dem Tode des Abtes sollen die Mönche sich in Stavelot vereinigen und einen Nachfolger unter denjenigen dieses Klosters wählen oder falls ein geeigneter nicht vorhanden sei, eher einen solchen aus Malmedy als von auswärts wählen. Der Bischof von Lüttich soll die Weihe vornehmen, ohne eine Gebühr zu erheben. Der Vogt (advocatus, avoué) der Abtei soll die Truppen befehligen. Aus der Urkunde ersieht man auch daß die Abtei inzwischen ihren Besitz bedeutend vergrößert hatte und in Aachen 31 Häuser und eine Kapelle besaß. Die Stadt Malmedy selbst erfreute sich schon früh einer gewissen Blüte. — Von Wibald’s Briefen sind 441 erhalten; das Originalmanuskript befindet sich ebenfalls in Düsseldorf. In denselben werden die wichtigsten Ereignisse des 12. Jahrhunderts besprochen. Sie sind deshalb von großem geschichtlichem Werte, aber auch in litterarischer Hinsicht sind sie von Bedeutung. Wibald schrieb ein Latein, das so sehr an die Klassiker erinnert, daß man es ihm sogar zum Vorwurf machte, er beschäftige sich zu viel mit denselben.
[11] Die Verfassung enthielt im Wesentlichen die früheren Bestimmungen, deren Text verloren gegangen war. Das Oberhaupt der Herrschaft Stavelot-Malmedy hatte, wie bereits bemerkt, souveräne Gewalt; wie es in der Verfassung hieß, war der Fürst Herr über Leben und Tod; er hatte vollste Gewalt über „Feuer, Wasser, Luft und Erde“. Die Landstände, zu welchen die beiden Priore von Stavelot und Malmedy, die ältesten der Ritterschaft, je zwei Schöffen der Gerichtshöfe, die Bürgermeister der beiden Städte und die Gemeindeabgeordneten gehörten, traten jedes Jahr zur Beratung zusammen. Zu der Ständeversammlung gehörten auch adelige Deutsche, die in dem Fürstentum begütert waren, u. a. der österreichische Graf v. Metternich (die fürstliche Familie v. Metternich hat erst in den vierziger Jahren ihre dortigen Güter veräußert). Dem Abte stand als Fürsten ein Staatsrat von 3, oft auch 5 Mitgliedern bei Seite. Die haute-cour von Stavelot protestirte allerdings dagegen, indem sie ihre älteren Rechte geltend machte, aber es wurde ihr u. a. geantwortet: „Das Alter habe in der Sache nichts zu sagen, da ja auch die Tiere, die vor dem Menschen erschaffen wurden, dafür doch nicht über ihm ständen.“ An Soldaten mußten Stavelot, Malmedy und Logne je 100 Mann stellen. Die Bürger mußten unentgeltlich und zwar bis zum 65. (!) Jahre dienen, aber von jedem Haushalt durfte nur ein Mann gefordert werden. Vom Militärdienst befreit waren die Geistlichen, die Richter, die Bürgermeister und die Adligen.
[12] Einer wohl wenig glaubwürdigen Nachricht zufolge soll Kardinal von Fürstenberg, der zur Zeit des Einfalls zur Teilnahme am Konklave in Rom weilte, auf der Rückreise über Paris das seinem Lande zugefügte Unheil gerächt haben, indem er nämlich den damaligen französischen Kriegsminister ohrfeigte.
[13] Das Fürstentum war damals begrenzt im Norden von dem Herzogtum Limburg, im Osten und Süden von Luxemburg, im Nordwesten von der Markgrafschaft Franchimont und Condroz. Es bestand aus den postelleries Stavelot und Malmedy und der Grafschaft Logne mit einer Bevölkerung von 28,000 Einwohnern. Die postellerie Malmedy bestand aus Malmedy, den Gebieten (bans) von Weismes und Francorchamps. Es ist leicht begreiflich, daß, wenn auch noch vereinzelt deutsche Elemente vorhanden waren, diese gegenüber dem überwuchernden Wallonentum nicht zur Geltung kommen konnten. Das sehen wir auch in andern Gegenden, wo das Deutsche mit einer andern Sprache, der Muttersprache der überwiegenden Mehrheit, ringt. Da Malmedy unweit von rein deutschem Sprachgebiet liegt, kamen auch oft Deutsche dorthin. Gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb Saumery in seinen „Délices du pays de Liége“ (Liége 1743, III, S. 195): „Die Stadt Malmendi muß Stavelot vorgezogen werden nicht bloß wegen ihres Umfangs, sondern auch wegen der Schönheit ihrer Lage und des Reichtums ihres Handels. Abgesehen davon, daß sie ein Stapelplatz (entrepôt) Lothringens und der von der Mosel und dem Rhein bespülten Länder ist, genügen um sie zu bereichern eine Tuch- und Wollstoff-Fabrik und eine der schönsten Gerbereien Europas, zu welcher das Wasser des Flüßchens Warchenne verwendet wird, das fast alle Straßen der Stadt durchfließt. Stavelot unterhält ebenfalls dieselben Fabriken, aber die von Malmendi sind viel bedeutender, und der beständige Besuch der deutschen Kaufleute führt einen rascheren Absatz herbei und vermehrt den Eifer der Arbeiter.“
[14] Da in Stavelot-Malmedy als Tag seines Todes allgemein, jedoch irrtümlicher Weise, der 15. Dezember 1796 angegeben wird, so möge hier zuerst eine Abschrift der Urkunde aus dem Sterberegister der Pfarre Groß-Steinheim folgen:
1796
1. Nov. obiit in Hanau Reverendissimus D. Coelestinus Abbas Monasteriorum Stavelot et Malmedi de Thys, princeps Imperii Romani, Comes de Logne, omnibus morientium Sacramentis munitus. Tertia Novembris huc transportatus, sepultus est in choro Ecclesiae huiatis, Annorum 66.
Ferner besagt ein Auszug aus der Hanauer Chronik: 1. Nov. stirbt zu Hanau der Fürstabt Cölestin Thys aus Malmedy im Alter von 66 Jahren; die Leiche wird am 3. Nov. nach Groß-Steinheim überführt und im Chor der dortigen Kirche beigesetzt. Er war der letzte Fürstabt der reichsunmittelbaren Benediktinerabteien Stavelot-Malmedy, deren Gebiet zur Hälfte zu Belgien gehört, während der andere Teil mit dem Hauptort Malmedy 1815 an Preußen kam. (Erst 1809 wurde durch Napoleon d. d. Tuilerien 3. März, die katholische Pfarrei in Hanau gegründet; bis dahin versahen, von 1787 ab, die Pfarrer von Groß-Steinheim den Dienst.)
[15] Ueber den Untergang des Fürstentums schreibt Heinrich Freimuth in seinen „Ardennenwanderungen“: „Malmedy hatte auch seine Erklärung der Republik, ein Liliput-Revolutiönchen mit allem Pathos einer Weltkatastrophe nach berüchtigtem Pariser Muster, eine wahre Harlekinade auf untergeschnalltem Kothurn. Das Spiel der als „unverletzlich“ erklärten „Nationalversammlung“ von Malmedy mit dem revolutionären Feuer lief dann aber in einen regelrechten Brand aus, von welchem der altehrwürdige, zwölfhundert Jahre alte Thronsessel der Fürstäbte verzehrt wurde. Im Regierungsarchiv zu Düsseldorf ruhen die Reste des berühmten Toten, der das Fürstentum Stavelot-Malmedy heißt, in Form der einzig aus Brand und Krieg geretteten Archive des letztern, nach langer schicksalsreicher Irrfahrt. Die Mönche hatten sie als traurige Fuhrleute 1794 nach dem westfälischen Olpe geflüchtet, wo ein Jahr darauf mit der Hälfte der Wohnungen auch ein Teil dieser geschichtlichen Schätze verbrannte. Der Rest kam teilweise nach Münster und teilweise nach Hanau, wohin der letzte aus der langen Reihe der Fürstäbte, Abt Cölestin Thys, geflüchtet war. Später waren sie in Aachen Gegenstand langwieriger Verhandlungen zwischen Preußen und Holland, sowie nachher zwischen Preußen und Belgien.“ — Die Bewohner von Stavelot und Malmedy lebten glücklich in ihrer Abgeschiedenheit, so lange sie nicht durch Stürme von auswärts gestört wurden. Ueber die geistlichen Herrscher urteilt Arséne de Noüe wie folgt: „Es sei fern von uns zu erklären, daß alle Fürsten von Stavelot Muster der Tugend waren; die Geschichte würde uns Lügen strafen; aber wenn wir von den dem Lande aufgezwungenen Titular-Aebten absehen, bemerken wir höchstens drei unwürdige Aebte auf der Liste. Sie waren von der verdorbenen Atmosphäre dieser Zeit umgeben. Uebrigens trägt von den regelrecht gewählten Aebten keiner das Brandmal der Infamie auf der Stirn; ihr einziges Laster bestand in der Freigebigkeit.“
[16] Ueber die sprachlichen Verhältnisse berichtet Arséne de Noüe sehr wenig; die Spuren deutscher Sprache scheint er zu verschweigen, dagegen erwähnt er ausdrücklich, daß in dem Fürstentum dieselbe Sprache gesprochen wurde wie in Lüttich. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts finden wir auch schon Schwestern (Sepulcrines) aus Verviers in Malmedy, woselbst sie besonders den wohlhabenderen Töchtern Unterricht erteilten. In diesem Pensionat war jedenfalls die französische Sprache vorherrschend. Die Schule wurde nach der französischen Revolution wieder aufgerichtet. Auch die Kapuziner, die sich 1617 in Malmedy niederließen, kamen aus Lüttich. Der Gebrauch der französischen Schriftsprache verallgemeinerte sich besonders seit der Revolution, und von 1815 an war das Deutsche Amtssprache. Das älteste wallonische Dokument, das aus dem ehemaligen Fürstentum erhalten ist, ist die Verfassung von 1459, in welcher einzelne Ausdrücke an den Einfluß des Deutschen erinnern.
[S. 17]
Malmedy liegt sehr hübsch in einem Thale, das schon der hl. Bernhard „das lieblichste der Ardennenthäler“ nannte, und hätte schon längst ein Kurort werden können, da es vortreffliche Mineralquellen besitzt. Für die Touristen, die vom Niederrhein kamen, war die Reise dorthin aber zu beschwerlich, und man wagte es wohl auch nicht, mit dem ziemlich nahegelegenen berühmten Spa in Wettbewerb zu treten. Vom Bahnhof her glaubt man bereits in einen Kurort zu kommen, wenn man die freundlichen Villen und Gartenhäuser bemerkt. Im Innern ist die Stadt allerdings gar nicht großstädtisch; sie trägt vielmehr den Charakter eines ruhigen Landstädtchens, und da jede geräuschvolle oder die Bewohner durch Rauch belästigende Industrie fehlt, wird sie von Touristen und Sommerfrischlern gern besucht. Wenn einmal eine größere Anzahl von Kurgästen die Mineralquellen von Malmedy aufsuchen, wird sich die Stadt wohl rascher entwickeln als bisher.
Malmedy liegt unter 50°28′ nördl. Breite, 23°34′54″ östlicher Länge. Es ist eine Kreisstadt im Regierungsbezirk Aachen und zählte am 1. Dezember 1895 4600 Einwohner (Zunahme: 182 seit 1890), davon sind ungefähr 3000 Wallonen. Außer einer Kreisbehörde besitzt es ein Hauptzollamt, ein Amtsgericht, ein Katasteramt, eine Sparkasse, ein Progymnasium, eine höhere Töchterschule, mehrere Spitäler u. s. w. Die Stadt liegt nur 2 geographische Meilen von Spa und 4 Meilen von Eupen entfernt. Ein Bach, die Warchenne, durchläuft in mehreren jetzt zum größten Teile überdeckten Rinnsalen die Stadt, um sogleich nachher sein krystallhelles Wasser in die breitere Warche zu ergießen, welche eine Stunde unterhalb in die Amel mündet. Diese fließt an Stavelot vorbei und bildet später einen Zufluß zur Maas.
Malmedy liegt höher als Spa. Während letzteres am Pouhon etwa um 250 Meter das Meeresniveau überragt, liegt der Fuß der Kirche von Malmedy 332 Meter oder 1023 Fuß hoch. Der hervorragendste Punkt des Hohen Venns liegt noch 1118 Fuß höher; es ist dies der Bodranche (auch Baudrange geschrieben), von wo aus man bei hellem Wetter das Siebengebirge erblicken kann.
[S. 18]
Die klimatischen Verhältnisse Malmedys sind nicht wesentlich von denen Spa’s verschieden. Daß ziemlich jähe Temperaturwechsel an beiden Orten stattfinden, ist nicht abzuleugnen. Beiden Städten ist wegen ihres Wasserreichtums auch eine gewisse Feuchtigkeit der Atmosphäre gemeinsam, welche aber für die heißen Sommertage erwünscht ist. Gegen die rauhen Nord- und Nordwestwinde ist Malmedy durch hohe Bergzüge geschützt. Die hohe Lage und die umgebende Waldung gewährt den Bewohnern den Vorteil frischer reiner Gebirgsluft, deren anregende tonisirende Eigenschaften Jeder, der dort verweilt, bald empfinden wird. Wenn auch die Einwohner nicht zu dem stärksten Menschenschlage gehören, so erfreuen sie sich doch im Ganzen einer blühenden, widerstandsfähigen Gesundheit. Die Bewohner sind übrigens gefällig und von einem in der Eifel ziemlich seltenen Wohlstande.
Ein öffentlicher Platz führt den etwas hochklingenden Namen „Place de Rome“ (Römerplatz), angeblich weil die Römer früher eine Niederlassung dort hatten. An Sehenswürdigkeiten besitzt Malmedy vorerst die Abteikirche im Spätrenaissancestil, die seit 1819 als Pfarrkirche dient. Der interessante Bau mit zwei Türmen, der 1775 errichtet wurde, erhebt sich am Chateletplatz und dicht daneben befindet sich das alte Abteigebäude. Das Innere der Kirche mit ihren polychromierten Wänden ist sehenswert. In derselben werden in einem kostbaren Schrein die Gebeine des hl. Quirinus aufbewahrt. Die Kirche besitzt ein schönes Glockenspiel, das alle Viertelstunde lustige, weltliche Weisen ertönen läßt. So gut katholisch die Bewohner auch sind, so wenig nehmen sie doch an diesen Melodien Anstoß, die sie zwar an das Schwinden der Zeit erinnern, aber meistens so fröhlich klingen, daß man schier ein Tänzchen dazu wagen möchte. „Heil Dir im Siegerkranz“, „Ueb’ immer Treu und Redlichkeit“, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, „Adam hatte sieben Söhne“ und andere schöne Melodien wechseln auf der Walze, will sagen in dem Glockenspiel mit einander ab.
In den anstoßenden Abteigebäulichkeiten befinden sich jetzt das Amtsgericht, das Hauptzollamt, das Progymnasium, die Wohnung des katholischen Oberpfarrers, der evangelische Betsaal, das Gefängnis u. s. w. Schon hieraus kann man schließen, daß die frühere Benediktinerabtei sehr geräumig ist. Außer der Pfarrkirche besitzt Malmedy noch die Kapuzinerkirche, die in einer engen Straße etwas abseits liegt, und ebenfalls sehenswert ist. Der Kapuzinerorden hatte 1623 eine Niederlassung dort gegründet und eine Kirche errichtet. Diese besitzt einen schönen Renaissance-Altar mit einem Gemälde, die Geburt Christi darstellend, ein Werk des Malers Counet, der im vorigen Jahrhundert in Malmedy lebte. Von Gotteshäusern sind noch zu nennen: die Chapelle de la Résurrection an der Rue Neuf (!), die Chapelle des Malades, eine Wallfahrtskapelle in der Nähe des Pouhon-Brunnens, die Chapelle Ste. Hélène und die Klosterkirche.
Außer dem bereits genannten Chateletplatz besitzt die Stadt noch den Gereonsplatz, sowie den Marktplatz mit einem Brunnenobelisken,[S. 19] der 1781 mit einem Kostenaufwande von 500 Florins errichtet wurde.
Die Warche, welche das Thal durchfließt, entspringt auf den bewaldeten Höhen bei Losheim, Büllingen, Rocherath und Udenbreth, wo sich auch die Quellen des Kyllflusses befinden. Sie vereinigt sich auf belgischem Boden mit der Amel und ergießt sich dann unter dem Namen Aywaille in die Ourthe. Die Warchenne, das bereits genannte Nebenflüßchen, dient zum Betriebe der Gerbereien in Malmedy. Das Warchethal ist ziemlich eng und felsig, erweitert sich von Bévercé an und wird unterhalb der Stadt wohl auch Warchebrückethal genannt. Eine Brücke verbindet Malmedy mit der Vorstadt Outrelepont (wörtlich: Ueber die Brücke hinaus), deren Häuser allerdings nicht so stattlich aussehen.
Je mehr Fremde nach Malmedy kommen, desto schneller verschönert sich die Stadt. Bis vor Kurzem ließen sich die Bewohner in einzelnen Straßen ein recht holperiges Pflaster gefallen; in der letzten Zeit ist dem aber anders geworden. Auch besitzt die Stadt jetzt eine Wasserleitung und eine Gasanstalt.
Das landschaftlich und architektonisch so anmutige Bild Malmedys wird nur selten von fremdem, buntem Leben verändert, und wem das Schicksal eine besondere Gunst erweisen will, den führt es dorthin zur Zeit eines Manövers. Dann findet man dort Paraden mit Musikkorps, Militär-Concerte, und wenn Sedan sich noch dazugesellt, so schläft man ruhiger bei der Feldbäckerei draußen auf den Höhen von Weismes, als in dem Gasthofe, der mit der Abend- und Nachtfeier des 2. September gesegnet ist. Die deutschen Militärtafeln an den Häusern gewähren, wie Heinrich Freimuth hervorhebt, zu solcher Zeit zwischen den französischen Straßennamen und Firmenschildern einen auffallenden Gegensatz und den Eindruck einer deutschen Besatzung wälschen Bodens.
Malmedy ist mit Naturschönheiten mannigfacher Art ausgestattet. Es besitzt in der Umgegend mehrere Mineralquellen, von denen die bedeutendsten die Géromont-, Insel- und Felsenquellen sind, deren Wasser demjenigen der Quellen von Spa und Langenschwalbach gleich oder sogar noch überlegen sein sollen. Die Quellen werden wie auch in Spa Pouhons (wallonisch = Sprudel) genannt: Pouhon des Iles, Pouhon des Cuves. Besonders letzteren findet man an einem idyllischen, allerdings noch ungepflegten Orte. Wegen der Vertiefungen, die das Wasser sich selbst in Felsen geschaffen hat und von denen eine die Form eines Bottichs (cuve) hat, nannte man die Quelle Pouhon des Cuves. Die Géromontquelle war früher gefaßt, aber das Brunnenhaus ist in Verfall geraten. Dagegen ist der Pouhon des Iles, so genannt nach den Inselchen, welche in der Nähe die Verzweigungen der Warche bilden, zur Benutzung eingerichtet. Diese Quelle liefert täglich 70000 Liter Wasser und besitzt eine ziemlich gleichmäßige Temperatur von +9 Grad C. Seit 1871 wird von hier Mineralwasser versandt. Ich werde später noch auf diese Quellen zurückkommen.
Man geht jetzt ernstlich mit dem Plane um, aus der Stadt einen Kurort zu machen. Die Lage ist günstig sowohl für Deutsche und[S. 20] Belgier, als auch für Holländer, Franzosen u. s. w. Dadurch würde natürlich das Städtchen in der Badezeit ein internationales Gepräge erhalten. Es hat sich eine Aktiengesellschaft „Malmedy-Werke“ gebildet, welche nicht bloß die Stadt mit Gas und Wasser versorgt, sondern auch die Mineralquellen ausbeutet. Die Aussichten sind sehr günstig für dieses Unternehmen. Der Besuch zahlreicher Badegäste wird dazu beitragen, die wallonische Mundart zu verdrängen, und die deutsche Sprache wird dann jedenfalls eine raschere Verbreitung finden, als jetzt. Allerdings wird der geographischen Lage wegen auch das Französische daneben eine Rolle spielen.
Man könnte vielleicht einwenden, die Nähe von Spa verhindere die Entwickelung der Stadt zu einem bedeutenden Badeort. Ich bin aber nicht der Ansicht. In Spa ist das Leben so teuer, daß, wenn man nicht gerade Geld zum Wegwerfen hat, man möglichst bald der Stadt den Rücken dreht. Sobald in Malmedy den Touristen aller wünschenswerte Komfort geboten wird, werden viele Kurgäste sich mit einem kurzen Aufenthalt in Spa begnügen und sich zur wirklichen Erholung in Malmedy niederlassen. Da die Stadt thatsächlich zweisprachig ist, werden Touristen aus allen Ländern sich dort einfinden. Für Vergnügungen muß allerdings auch gesorgt werden, denn diese sind in einem modernen Badeort geradezu unentbehrlich.
Von der anmutigen Vennstadt aus kann man lohnende Spaziergänge in die nähere und weitere Umgegend unternehmen, so auf den Kalvarienberg, in das Thal von Bévercé, auf die Höhen von Floriheid, nach der Ruine Reinhardstein, dem Felsen von Falize u. s. w. Der jäh aufsteigende, bewaldete und teilweise felsige Kalvarienberg (Livremont) — es führt ein Stationenweg hinauf — mit seinen Terrassengärten überragt den Hauptteil der Stadt und bildet den Eckpfeiler, an welchem die Thäler der Warche, die die Stadt nur an ihrem untersten Ende berührt, und der Warchenne zusammentreffen. Man genießt einen überraschenden Blick auf die Stadt von der mit einem Pavillon gekrönten überhängenden Felsplatte, genannt roche tournante. Auch von den Höhen von Floriheid genießt man eine schöne Aussicht auf die Stadt.
Die Malmedyer sind einigermaßen stolz auf ihre Eigenschaft als Städter, und sie werden es sich schon gern gefallen lassen, wenn aus ihrem Landstädtchen ein berühmter Badeort wird. Den Landhäusern in der Umgebung geben sie meist etwas stolze Namen, wie Monbijou, Monrepos, Monplaisir, Monidée, Bellevue u. s. w. Diese Villen sind übrigens hübsch gelegen; die Gärten sind stufenförmig an den Abhängen angelegt. Weiter hinaus findet man Gehöfte, sogenannte „Fermen“ (fermes, Pachthöfe), bis schließlich die Haide sich wieder auf den weiten Flächen ausdehnt.
Die meisten Bewohner der Wallonie sind katholisch. Die 325 Protestanten des Kreises entfallen fast nur auf Beamte, Grenzaufseher, Gendarmen u. s. w. Seit 1845 umfaßt der ganze Kreis eine protestantische Seelsorgestation. Der protestantische Gottesdienst findet im[S. 21] alten Abteigebäude, im ehemaligen Refektorium der Benediktinermönche statt. Juden giebt es hier, sowie im angrenzenden Kreise Montjoie, gar nicht.
Der Charakter der Einwohner hat bei der abgeschlossenen Lage des Ortes noch die Tugenden bewahrt, welche ein Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, der Engländer Lucas, an ihnen pries: Anstand, industrieller Fleiß, Mäßigkeit, Gefälligkeit und große Zuvorkommenheit gegen Fremde. Malmedy war von jeher eine gewerbfleißige Stadt, obschon sie wenig den Charakter einer Industriestadt trägt. Die Pulverfabriken, deren es im 17. Jahrhundert eine Anzahl dort gab, sind verschwunden. Auch die Tuchfabrikation ist Anfangs dieses Jahrhunderts zurückgegangen. Unter anderen Industrieen sind noch in Malmedy: eine Dominospielfabrik und zwei Blaufärbereien verbunden mit Kittelfabrikation. Das älteste und noch jetzt bedeutendste Gewerbe ist jedoch die Lohgerberei, die schon seit 1500 betrieben wird. Es heißt zwar, daß die Eigenschaften des Wassers der Warchenne die Lederbereitung sehr erleichtern, jedoch haben die Gerber ihre Erfolge wohl am meisten ihrem Wahlspruch: „Du tan et du temps“[17] zu verdanken. Eine Papierfabrik beschäftigt über 500 Arbeiter und genießt einen Weltruf durch die Erzeugung von photographischem Papier.
[17] Ein Wortspiel: Lohe und Zeit.
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Da Malmedy sich zu einem Kurort entwickelt und die Ausbeutung der Mineralwasserquellen bereits begonnen hat, dürfte es interessiren, etwas Näheres über die lange in Vergessenheit geratenen Heilquellen zu erfahren.
Schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden die Malmedyer Mineralwässer von einem ausländischen Chemiker, nämlich dem Engländer C. Lucas untersucht. Sein Werk „An essay on waters“ (London 1756), welches ins Deutsche übersetzt wurde, machte wohl zum ersten Mal eingehend auf diese Quellen aufmerksam. Später war es Dr. J. P. J. Monheim, Apotheker in Aachen, der sich mit der Untersuchung des Wassers näher befaßte und auf die Heilkraft desselben hinwies.[18] Von da an blieben die Eisenquellen von Malmedy bei Vielen in gutem Andenken. Einige Bemühungen dort ansässiger Aerzte, dieselben in die Reihe der anerkannten Heilwässer einzuführen, waren fruchtlos, weil die Einwohner sie nicht genügend unterstützten. Außerdem war an diesem Mißlingen die damalige Abgeschlossenheit der Lage schuld, welche freilich kein absolutes Hindernis gewesen wäre, aus Malmedy einen Kurort zu schaffen, wenn nicht die Nähe des luxuriösen und weithin glänzenden Spa die Aufmerksamkeit von dem bescheidenen deutschen Heilquellen-Orte abgelenkt hätte. Endlich bildete sich im Jahre 1868 zu Malmedy ein kleiner Verein zur Gründung eines Kurortes daselbst, zunächst mit der Absicht, die dortigen Quellen zur Anerkennung zu bringen und sie nicht bloß durch Versendung gemeinnützig zu machen, sondern auch die nötigen lokalen Einrichtungen zu einer Trink- und Badekur ins Leben zu rufen. Auch diese Bestrebungen hatten nicht den erwünschten Erfolg. Besonders verdient hat sich um die Quellen Malmedys Herr Dr. Coulon gemacht, der trotz der Mißerfolge der Gesellschaft stets bemüht war, die heilkräftigen Eigenschaften des Wassers in Ehren zu halten. Von der Gesellschaft wurden damals Bohrarbeiten an der Inselquelle unternommen, sowie die nötigen Vorkehrungen zum Auffangen und zum Schutze des Wassers getroffen, und die Quelle gab stündlich 1350 Liter Wasser. Es wurde[S. 23] damals auch ein freundliches Brunnenhaus errichtet, welches an heißen Sommertagen von manchen Einwohnern der Stadt fast täglich, namentlich des Abends, besucht wird.
Ueber die Zusammensetzung und die Heilkraft des Wassers findet man ausführliche Mitteilungen in dem Werkchen: „Die eisenhaltigen Sauerwässer von Malmedy. Eine monographische Skizze von Dr. B. M. Lersch, Bade-Inspektor in Aachen. 2. Auflage. Malmedy 1881, Verlag von H. Bragard-Pietkin.“ Ich will aus dieser Schrift nur folgende Bemerkungen wiedergeben. Herr Dr. Lersch schreibt: „Das Wasser von Malmedy hat jedenfalls gewisse Eigentümlichkeiten, die man auf dem großen Mineralquellengebiete nicht leicht wieder finden dürfte, nämlich bei einer großen Einfachheit der Zusammensetzung und bei einem erheblichen Gehalte von Kohlensäure, von kohlensaurem Kalk und kohlensaurem Eisenoxydul die Abwesenheit anderer Stoffe, welche die Wirkung jener leicht beeinflussen könnten ...“ „In bezug auf Reichtum an Eisenkarbonat kann sich das Wasser der Inselquelle fast mit allen gebräuchlichen Eisensäuerlingen messen. Viele derselben, z. B. Neuenahr und Bormio, läßt es hinter sich. Es steht in genannter Hinsicht mit dem Paulinenbrunnen von Langenschwalbach fast ganz gleich, mit dem Pouhon von Spa auf gleicher Stufe. Ein Wasser, welches so reich an Eisen, Kalk und Kohlensäure ist wie die Inselquelle von Malmedy, hat gewiß ein wohlbegründetes Anrecht, in den Heilschatz einzutreten. Wie zu Spa solche, die ein schwächeres Eisenwasser wünschen, es in Barisart oder in Geronstère finden, so ist auch Malmedy mit einer schwächeren Quelle als die Inselquelle versehen; es ist dies die Géromontquelle.“ Ueber den inneren Gebrauch des Wassers sei bemerkt, daß bei allen Kranken, welchen Eisen verschrieben wird, sowie bei sehr vielen Frauenkrankheiten seitens vieler Aerzte mit dem Malmedyer Mineralwasser die besten Erfolge erzielt worden sind.
[18] Die Quellen von Aachen, Burtscheid, Spa, Malmedy und Heilstein. Aachen 1829.
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Außer der Stadt Malmedy gehören zur preußischen Wallonie die Bürgermeistereien Bévercé, Bellevaux, Weismes und von der Bürgermeisterei Bütgenbach die Gemeinden Faymonville und Sourbrodt. Der übrige Teil des Kreises ist deutsch, und dort verstehen die Bewohner meistens weder wallonisch noch französisch. Betrachten wir die Karte des Kreises, so finden wir in der Umgegend von Malmedy folgende Ortschaften mit französischen Namen (außer den eben erwähnten): Pont (Brücken), Ligneuville (Engelsdorf), Xhoffraix, Robertville, Arimont, Géromont, Falize, Baumont, Chôdes, Mont, Longfaye, Bruyère, Eremitage, Ondenval, Ovifat, Hedomont, Burnenville, Bernister, Meiz, Boussire, G’doumont u. a. Diese Dörfer und Weiler der Wallonie zählen 5975 Seelen, von denen etwa 200 nicht geborene Wallonen sein mögen. Es wird also im ganzen Kreise etwa 8800 Wallonen geben (nach anderer Angabe bis 10000).[19]
In landschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht gehört das Gebiet von Malmedy und Umgebung zur Eifel. Die Belgier und Franzosen zählen es allerdings zu den Ardennen. Das Gebiet der Eifel läßt sich überhaupt nicht genau abgrenzen. So wollen z. B. die Eupener keine Eifler sein, obwohl sie Sachkundige, wie Dronke, der Vorsitzende des[S. 25] Eifelvereins, zu denselben rechnen. Das ist die alte Geschichte, über welche sich schon Karl Simrock lustig gemacht hat: niemand wolle in der Eifel wohnen, die erst drei Stunden weiter hinten anfange.
Der Teil der Eifel, welcher das Hohe Venn heißt und in den Kreisen Malmedy und Montjoie liegt, besteht aus weit ausgedehnten Hochmooren mit spärlichem Pflanzenwuchs. Häufige Stürme und furchtbares Schneewehen, sowie die zahlreichen, nur von dünner Moosdecke überzogenen Löcher können dem verirrten Wanderer und dem wenigen weidenden Vieh verhängnisvoll werden. Hier ist das Klima auf den öden, steinichten Höhen so unwirtlich, daß es an die rauhen Landschaften in den Gesängen Ossians erinnert. In Montjoie und Malmedy ist der Reinertrag für den Hektar 3,90–5,10 Mk., während er z. B. im Kreise Jülich 59,40 Mk. beträgt. Der Großgrundbesitz im Kreise Malmedy ist ohne Bedeutung. Die Ackerflächen nehmen nur 26,6 Prozent, die Weiden 37,5 Prozent und die Wiesen 8 Prozent der Gesamtfläche ein.
Ich will im Nachfolgenden einige Spaziergänge und Ausflüge in der Umgegend von Malmedy beschreiben, obschon das vorliegende Werkchen kein eigentlicher Führer sein soll. Mit Hülfe einer Karte wird man sich sehr leicht zurechtfinden.
Westlich von der Stadt entfaltet sich ein weites reizendes Wiesenthal, welches rechts von steilen, mit Eichenlaub bekleideten Anhöhen, links mit flach abgedachten, teils mit Nadelholz, teils mit Ackerland bedeckten Bergen umgeben ist. Eine schöne Chaussee durchschneidet dies nach der Warche benannte Thal in grader Richtung, von welcher unmittelbar vor der Stadt ein nach der Inselquelle führender Weg rechts abgeht. Der Pouhon des Iles, auf deutsch die Inselquelle, ist die wichtigste der Malmedyer Quellen. Man findet sie 5 Minuten westlich von der Stadt. Vor mehr als 60 Jahren ist sie mit einer Steinfassung umgeben worden, wodurch sie aber nur teilweise vor dem Eindringen des wilden Wassers und vor Verunreinigung geschützt war. Erst im Jahre 1870, nachdem die Untersuchung des Wassers ihre Ebenbürtigkeit mit den Quellen von Spa festgestellt hatte, erhielt die Quelle eine würdige Fassung. Auf den Rat des Aachener Bade-Inspektors Dr. B. M. Lersch wurde ein 15 Meter tiefes Bohrloch angelegt, und aus dieser Tiefe erhebt sich jetzt das Wasser stoßweise in zwei eisernen Röhren. Ueber der Quelle ist ein neues, einfaches Brunnenhaus errichtet.
Ganz in der Nähe fließt auch ein reines Wässerchen, die Quirinusquelle, die früher für alaunhaltig und heilsam galt. Hinter dem Brunnenhause gelangt man in den Wald, der die Anhöhe bedeckt. Verfolgt man den steilaufwärts sich erhebenden Fußpfad, so gelangt man nach wenigen Minuten in einen schattigen, mitten auf dem Bergrücken verlaufenden Waldweg, von dem aus man eine herrliche Aussicht über das ganze Thal genießt.[S. 26] In einer halben Stunde erreicht man wieder die Chaussee, auf welcher man zur Stadt zurückkehrt. Es ist dies die Straße, welche von Stavelot nach Malmedy führt, an welcher sich auch das Zollamt befindet. Sie wird viel von belgischen Touristen, besonders Radlern und Radlerinnen, benutzt.
Eine andere sehr beliebte Promenade in diesem Thale führt nach dem Felsen, der sich hinter dem Dorfe Falize erhebt, von dessen Gipfel aus man den Lauf der Warche durch das Thal weithin verfolgen kann. Das Besteigen des Grauwackekolosses ist allerdings nicht ganz mühelos.
Die Chaussee, welche sich südöstlich von Malmedy zum Dorfe Géromont, von da über Weismes und dann nach Aachen hinzieht, führt zunächst durch das Thal Mon-bijou. Dieses verdankt seinen Namen einem Privat-Parke, dessen Eingang man in etwa 10 Minuten von Malmedy aus erreicht. Das einige hundert Schritt weiter gelegene Wirtshaus „Zur schönen Aussicht“ wird von den Einwohnern des Städtchens zum Ruhepunkt oder auch wegen der daselbst stattfindenden Tanzbelustigungen besucht. Der Name des Hauses ist deshalb gewählt, weil man eine herrliche Aussicht von da aus über Feld und Wiese, über den Park und die Landhäuser des Thales genießt. Nahe beim Wirtshaus befindet sich links vom Wege in einer Wiese am Abhange des Felsens, etwa 390 Meter über dem Meere, die Quelle Géromont. Im vorigen Jahrhundert entfloß sie unter einer offenen Steinnische als eine schwache Quelle dem Felsboden. Erst wenige Jahre vor der Untersuchung, welcher Monheim sie gegen das Jahr 1823 unterzog, wurde sie gehörig gefaßt, verlor aber bald wieder durch das Eindringen von Süßwasser viel von ihrer Stärke, und es erforderte gegen das Jahr 1827 lange und kostspielige Arbeiten, um sie wieder in Stand zu setzen. Ein damals errichtetes Brunnenhaus mit der sinnigen Aufschrift: „In otio sine cura bibe et spem fove salutis“ (Sorglos trink in Muße und habe Hoffnung auf Rettung) hat seinen Zweck nur kurze Zeit hindurch erfüllt und ist schon vor vielen Jahren abgebrochen worden. Ein steinerner Behälter, welcher die Quelle umgiebt und überdeckt, ist leider noch der einzige Schutz, der ihr und den sie Aufsuchenden gewährt ist. Vielleicht wird auch hier ein praktisches Brunnenhaus errichtet werden.
Ehe man zu dem erwähnten Wirtshaus gelangt, kann man die Straße den Berg hinauf verfolgen, wo ein Spaziergang durch den Wald sehr erquickend ist.
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Die Landstraße, welche in nördlicher Richtung von Malmedy nach Eupen führt, durchzieht das hübsche, von der Warche durchflossene, mit Landhäusern und Mühlen besetzte Thal. In einer halben Stunde erreicht man von der Stadt aus unter vielfacher Abwechslung der Landschaft das Dorf Bévercé, welches dem Thal seinen Namen gegeben hat. Monheim spendete den Naturschönheiten desselben das größte Lob. „Dieses Thal,“ sagt er, „das in bezaubernder Schönheit bald mehr, bald weniger sich verengt, macht durch seine höchst romantische Lage und die so einladenden Querthäler auf den Zuschauer einen Eindruck, der sich nur fühlen, nicht beschreiben läßt; auch stimmen alle Fremden, denen der Genuß dieses so herrlichen Anblicks zu teil ward, darin überein, daß die einfachen Naturschönheiten des Bévercéer Thales allein schon Spa mit allen seinen künstlichen Anlagen aufwiegen.“
In der Nähe des Thales entspringt die Felsenquelle. Die Schilderung, welche uns Monheim von der Lage der Quelle gibt, stimmt heute jedoch insofern nicht mehr, als seitens des „Verschönerungsvereins“ der Zugang zur Quelle dadurch bedeutend erleichtert worden ist, daß jetzt ein bequemer Weg bis dahin führt.
„Eines Waldes Dickicht“, schrieb 1829 Dr. Monheim weiter, „Gesträuch und Felsen, unwegsame, unsichere Pfade nehmen den von Staunen ergriffenen Wanderer auf, und jeder Schritt über Steine und Baumwurzeln muß nun schon sorgsam erwogen werden. Hart daneben inzwischen tobt von Felsen zu Felsen herabstürzend der hoch vom Gebirge fallende Bach. Endlich gelangt man, nicht ohne Schwierigkeiten, zu den Ufern eines rauschenden Waldbaches, der durch verschiedene Krümmungen zu einer einsamen, mit Strauchwerk bewachsenen, tiefen Felsenschlucht führt. Hier nun, durch das sich immer mehr verengende Thal behutsam fürderschreitend, wird plötzlich der Blick durch eine seltsam gruppierte Felsenmasse gefesselt, von welcher der Waldbach viele Fuß hoch mit Brausen herabstürzt und aus deren flacherem Abhange dicht nebeneinander drei Mineralquellen entspringen, denen man der Vertiefungen wegen, die sie sich im Felsen ausgewühlt haben und weil eine derselben die Form eines kleinen Bottichs (cuve) hat, den Namen „Pouhons des cuves“ beigelegt hat. Hier nun entkeimen den schöpferischen Felsenritzen Milliarden von Gasbläschen unter stillem Geräusche, während nebenan, aus gemeinschaftlichem Felsen, auch gewöhnliches Wasser mit tobendem Ungestüm sich hervordrängt. Diese höchst imposante Szenerie in des Waldes dunkelstem Grunde, beim Anblick von drohenden Felsen und Trümmern der Vorzeit, ergreift mächtig den stillen Forscher der Natur um so mehr, wenn plötzlich von heftigem Gewitterregen hier überfallen und dadurch vom Rückwege abgeschnitten, er bis nach Ablauf der Gewässer in der nahe gelegenen Felsenhöhle sein Heil suchen muß, und er von hier aus das furchtbar schöne Schauspiel genießt, wie plötzlich aus dem Flußbette das Wasser in reißenden Strömen sich erhebt, dann unter schrecklichem Brausen unaufhaltsam aufwärts steigt und nun alle Mineralquellen mit einem Male gänzlich überzieht und gleichsam vergräbt.“
Bevor die Warche das Thal von Bévercé erreicht, durchläuft sie eine enge und tiefe Gebirgsschlucht, in welcher sich ⁷⁄₄ Stunden von der Stadt entfernt die interessante Ruine Reinhardstein befindet. Um sie zu erreichen, schlägt man den Weg ein, welcher östlich von der Stadt nach[S. 28] Chôdes und weiter über einem ausgedehnten Plateau nach Ovifat führt. Die höchst pittoreske Lage der Ruine lohnt den Wanderer für seine Mühen. Man kann auch von Weismes aus über Bruyères nach Robertville gehen und von dort die Ruinen zu erreichen suchen. Ueber die Geschichte der Burg teilt Hermann Rehm Folgendes mit:
Graf Reichard von Weismes, Erbmeier dieser Grafschaft, hatte einen Sohn Reinhard, welcher die Burg zu Weismes, deren Spuren heute noch nicht ganz entschwunden sind, verließ und sich im Warchethal in einer tiefen Schlucht eine eigene Feste erbaute, welche er Reinhardstein nannte. Er starb im Jahre 1354, und Graf Winquin oder Winguin, sein Sohn, wurde 1358 von dem Abte zu Stavelot mit Reinhardstein belehnt. Auch Winguins Bruder Johann war um das Jahr 1388 Lehnsträger der Burg. Nach des letzterem Tode kam diese als Erbe auf seine Tochter Maria, welche später Johann von Zevel oder Zievel heiratete. Diesem übertrug im Jahre 1430 der damalige prunkliebende Abt von Stavelot-Malmedy, Johannes von Goeussain, die Herrschaft Reinhardstein zum Lehen. Durch Erbfolge ging die Burg in den Besitz der Familie von Metternich über, die sie jedoch in den Wirren der französischen Revolution einbüßte. Es trat nun ein häufiger Wechsel im Besitze der Burg ein, welcher zur Folge hatte, daß dieselbe zum größten Teil abgebrochen wurde. Heute sind die Herren Dr. Nouprez und Fabrikant Lefèvre in Malmedy Eigentümer der Ruine.
Tüchtige Fußwanderer, die das Hohe Venn kennen lernen wollen, mögen, wenn sie von Norden (Aachen) kommen, von Eupen nach Malmedy zu Fuß gehen. Man folgt dem Hillbach hinauf bis zur Baraque St. Michel (auf belgischem Gebiete) über den Gipfel des Bodranche, den höchsten Punkt des Gebirges (694 Meter über dem Meere), das sehr eigenartige Schönheiten aufweist. Beide Berge sind mit Aussichtstürmen versehen und werden in der schönen Jahreszeit häufig besucht. Zu den Füßen rund um den Turm herum breitet sich eine weite, nur mit Haidekraut bewachsene Hochebene aus. Hie und da gewahrt das Auge einen Wachholderstrauch, einen verkrüppelten Baum oder eine durch Nebel und Frost im Wachstum verkommene Waldanlage. Auch Tiere stören diese Einsamkeit nicht. In der ungünstigen Jahreszeit trifft man nur selten einen Wanderer auf diesen unwirtlichen Höhen. Von dort folgt man der Straße durch Xhoffraix und Bévercé nach Malmedy. Es sind zwar nur meistens einförmige Landschaftsbilder, die man auf dem Hohen Venn sieht, aber die mit Haide bedeckten langgestreckten Höhenzüge entbehren in der schönen Jahreszeit doch nicht eines anziehenden Reizes. Bei der Höhe von Bodranche erhebt sich eine Kapelle, die ein Menschenfreund 1827 errichten ließ mit der Anordnung, daß Abends eine Glocke geläutet würde, damit die einsamen Wanderer vor dem Verirren bewahrt blieben. Solche Glockenhäuschen sollen schon vor Jahrhunderten in dem Hohen Venn bestanden haben, das damals viel unwirtlicher war, als heutzutage. Das erwähnte Schutzhaus war vor einem halben Jahrhundert noch gleichsam[S. 29] das St. Bernhard-Hospiz dieser Einöden. Damals, als die heutige Staatsstraße noch nicht bestand, wurde bei abendlichen Nebeln und Schneewehen auch ein Laternenlicht an dem Kapellenturm ausgesteckt. Die vielen alten Kreuze am Wege oder seitwärts erinnern an die Gefahren, denen der bei Nachtzeit verirrte Wanderer oft genug unterlag, wenn er, die trügerische Schneedecke betretend, in einen der tiefen Wassertümpel geriet. In jener Gegend ist der Baumwuchs zurückgetreten, um der niedrigen, gleichwohl interessanten Torfflora Platz zu machen.
Wenigstens dem Namen nach erinnert Montjoie noch an die wallonische Gegend. Es ist eine an der Roer (Rur), einem Nebenflüßchen der Maas, reizend gelegene Kreisstadt (2000 Einwohner), deren Textilindustrie sich wieder aufzuschwingen beginnt.[20] Die Entstehung des Namens Montjoie scheint noch nicht endgiltig aufgeklärt zu sein[21]; jedenfalls haben manche Geographen sich durch diese Form verleiten lassen, die Gegend von Montjoie dem wallonischen Gebiete zuzurechnen. Stadt und Umgegend sind aber deutsch. In der niederfränkischen Volksmundart lautet der Name Monschau und die Bewohner heißen Monschäuer.
Vor einigen Jahren ging in den französischen und belgischen Zeitungen viel die Rede von dem „großen Lager von Malmedy“, das absichtlich dicht an der Grenze errichtet werde. Es stellte sich aber bald heraus, daß lediglich ein großer Truppenübungsplatz bei Elsenborn im Kreise Malmedy hergestellt wurde und daß der Platz deshalb gewählt war, weil dort das Land verhältnismäßig billig ist, während es in fruchtbareren Gegenden aus finanziellen Gründen nicht möglich wäre, einen etwa 5 Kilometer langen Schießplatz anzulegen. Die Errichtung dieses Lagers war natürlich Wasser auf die Mühle derjenigen, welche behaupten, bei einem nächsten deutsch-französischen Kriege würden deutsche Heere durch Belgien nach Frankreich dringen. Auffällig ist es übrigens, daß man in Malmedy selbst meistens gar kein Militär sieht, während man im Reichslande in jedem kleinen Neste eine Garnison antrifft.
Der Truppenübungsplatz befindet sich bei dem etwa in der Mitte zwischen Montjoie und Malmedy gelegenen Dörfchen Elsenborn. Er liegt also nahe an der belgischen, luxemburgischen und auch der französischen Grenze. Dieser letztere Umstand ist es, der bei einem Teile der Franzosen die Besorgnis wachzurufen scheint, dies Lager könnte zu einem künftigen Offensivstoße gegen Frankreich bestimmt sein. Der Übungsplatz Elsenborn ist aber nicht mehr offensiver Art gegen Frankreich oder Belgien, als die Übungsplätze Senne, Münster oder wie sie weiter heißen. Es ist wohl selbstverständlich, daß die Militärverwaltung solche Plätze, die tausende von Morgen Landes erfordern, nicht in stark bewohnter Gegend anlegt, sondern dort, wo möglichst[S. 30] gar keine Bewohner sich finden und das Terrain möglichst niedrigen Preis hat. Jedes Armeekorps bedarf eines solchen Platzes, und als für das VIII. Armeekorps eine entsprechende Fläche gesucht wurde, bot sich in seinem Bezirke lediglich diese einzige, weil sich nur dort das benötigte ebene Oedland finden ließ. Für die Militärverwaltung wäre es viel bequemer gewesen, wenn sie z. B. zwischen Köln und Düsseldorf den Platz hätte anlegen können, aber dann hätten ganze Ortschaften ausgerottet, blühende Gefilde verödet werden müssen, und abgesehen von einem solchen Vandalismus und der Schädigung des Volkswohlstandes wären die Kosten unerschwinglich gewesen. Lediglich der Notwendigkeit gehorchend, hat man sich zu der Wahl des Terrains bei Elsenborn entschlossen.
Man erblickt dort einige einfache Häuser, Wohnungen für Offiziere und Verwaltungsbeamte, Baracken für die Mannschaften, Stallbaracken für die Pferde, die notdürftigsten Magazinräume, und daneben ein paar Wirtschaften, die nur im Sommer einige Monate flotten Ausschank haben, sonst still und verlassen dastehen, und auf dem Uebungsplatze selbst hier und da Bauten, welche Windmühlen, Denkmäler, Burgen ⁊c. markieren und lediglich dazu dienen, daß die Offiziere und Mannschaften sich bei den Übungen in bezug auf den Platz orientieren können. Von Mai ab bis zum Beginn der Manöver herrscht auf dem Platze regstes Leben, ein Regiment löst das andere ab, das eine bleibt 14 Tage, das andere vier Wochen, und die Mannschaft freut sich zumeist, wenn die strapaziösen Lagertage, die indessen einer gewissen soldatischen Romantik nicht entbehren, ihr Ende erreicht haben. Zu Beginn des Herbstes hört das Leben im Übungsplatze auf, und wer dann nach Elsenborn kommt, wird gut thun, sich auf dem kalten Hohen Venn recht warme Kleidung mitzubringen und sich auch genügend mit Proviant zu versehen, denn außer vereinzelten Waidmännern, die einem treuherzig einen Schluck Jägerkorn anbieten, wird man kaum Jemand zu sehen bekommen. Das ist die Wahrheit über das „Lager von Malmedy“.
In der Nähe des Dorfes Sourbrodt (nicht weit von dem Truppenübungsplatz Elsenborn) wurden 1889 Arbeiterbaracken und Ziegeleien angelegt, um allmählich ein größeres Torfwerk herzustellen und landwirtschaftliche Kultur damit zu verbinden. Gründer dieser Unternehmungen ist der Oberst z. D. v. Giese in Aachen. Die bedeutenden Torflager, die man 1889 angefangen hat auszubeuten, verschaffen der Bevölkerung jener armen Gegend jedenfalls einigen Erwerb. Man sieht dort auch Wiesen und Baumgruppen, aber an Fruchtbäume darf man bei einer Höhe von durchschnittlich 600 Meter nicht denken. Die Preißelbeeren werden aber in großer Menge dort gezogen. Dem Touristen fallen die hohen Buchen-Schutzhecken auf, welche die Wohngebäude an der Schlagwetterseite umzäumen; auch die Bauart der Häuser verrät den echten Gebirgsstil.
Man kann von Malmedy aus noch andere entferntere Ausflüge machen, die jedoch hier nur kurz angedeutet werden sollen. Nach Spa kann man mit der Bahn in 1½ Stunde gelangen. Der von den Kurgästen dieses berühmten Ortes so viel besuchte, von einer lieblichen Landschaft umgebene Wasserfall von Coo, welchen die Amel bildet, ist auf einem ebenso bequemen als schönen Wege in 2½ Stunden zu erreichen. Der Wasserfall wurde von einem der letzten Äbte von Stavelot künstlich angelegt, um das Fischen im Fluß zu erleichtern.[22] Es wurde[S. 31] aber nur ein Teil der Amel abgeleitet, der sich mehr als 20 Meter tief herniederstürzt auf einen Felsen, sodaß der Schaum fast bis zur Brücke spritzt, auf welcher die Touristen sich das Schauspiel ansehen. Der größte Teil der Amel läuft mehr als eine Stunde weit um den Berg herum und vereinigt sich mit dem andern Teile bei dem Dorfe Coo. Man findet dort eine Kapelle, eine Mühle und einige Wirtschaften, die aber trotz ihrer großartigen Aufschriften sehr dürftig sind, sodaß es sich den Touristen empfiehlt, für des Leibes Notdurft zu sorgen, bevor sie dort hingehen.
In Malmedy wünscht man schon seit Langem eine Bahnverbindung mit dem belgischen Grenzstädtchen Stavelot. Die preußische Regierung ist dem Plane gewogen, aber auf belgischer Seite verhielt man sich bisher ablehnend; erst seit Kurzem hat sich die Stimmung geändert, so daß die Aussicht jetzt günstiger ist. Stavelot (deutsch Stablo) liegt auf dem rechten Ufer der Amel an einem Berghang und ist mit Malmedy durch das reizende Warchethal verbunden. Es hat ebenfalls bedeutende Gerbereien. Da nur wenige hervortretendere Bauten aus den letzten Jahrhunderten übrig geblieben sind, merkt man nicht, daß es eine der ältesten europäischen Residenzen ist. Ein Thurmrest und einige alte Schloßtrümmer sind die einzigen Spuren der alten Geschichte dieses Städtchens. Kunstkenner versäumen nicht, sich in der übrigens stillosen Pfarrkirche die aus der alten Abtei stammende Châsse de St. Remacle (Schrein des hl. Remaklus) mit Figuren in getriebener Arbeit zeigen zu lassen. Heinrich Freimuth schreibt u. a. über Stavelot: „Ehrfurcht vor den kleinen Hauptstädtchen, und doppelt Ehrfurcht, wenn sie in Folge eines tragischen Schicksals ihr altes Krönlein verloren haben! Spielten sich in den meisten dieser ehemaligen Residenzchen auch keine größeren politischen Aktionen ab, so suchte sich dafür um so häufiger die Romantik diese wenig bewegten, räumlich oft auf ein Idyll nur zugeschnittenen Städtchen aus, um dort ihre zum Teil originellen und oft eindrucksvollen Bilder zu weben, und selbst das bischen Politik, das dort getrieben wurde, gewinnt unter der phantastischen Laune dieser Romantik zuweilen Interesse und Leben. Es liegt auf dem rechten Ufer der Amblève, nicht gar weit von Malmedy, auf belgischem Gebiet, eine solche kleine Ex-Residenz, ein stets wohl aufgeputztes Städtchen in idyllisch-romantischer Landschaft von saftigstem Grün, die durch Anmut ersetzt, was ihr an Großartigkeit fehlt. Dieses Städtchen, gleichzeitig eine der ältesten europäischen Residenzen, ist das uralte, mit seiner Geschichte bis in die Mitte des 7. Jahrhunderts zurückreichende Stavelot. Niemand würde in diesem vorwiegend modern romantischen Orte, in welchem nur wenige hervortretende Bauten aus den letzten Jahrhunderten übrig geblieben sind, den Schauplatz einer altersgrauen, ebenso romantischen als dramatischen Geschichte vermuten. Ein über die Dächer an der rue du Châtelet hinausragender Turmrest und auf der andern Seite des Flüßchens einige alte Schloßtrümmer sind die einzigen verbliebenen Spuren dieser alten Geschichte. In den weitläufigen, imposanten Abteigebäuden, wo wir einen Reichtum an geschichtlichen Erinnerungen schöpfen, die über den Rahmen einer bloßen Reiseplauderei weit hinausgehen[S. 32] würden, weckt das dort in einem Flügel untergebrachte „Hospiz Ferdinand Nicolai“ das Andenken an ein originelles Menschenkind. Dieser Nicolai, Comthur u. s. w. war ein großer Philantrop, aber auch kein kleiner Narr. Er schenkte nach allen Seiten, sodaß jedes Kind in Belgien seinen Namen kannte. Das Hospiz von Stavelot soll ihm über eine Million Franken gekostet haben. Er sorgte aber auch dafür, daß seine geschätzte Person vermittelst Porträts, Büsten und Statuen bestens bekannt wurde.“ Den Namen des freigebigen Sonderlings führt eine Avenue, durch die man auf die Landstraße nach Malmedy gelangt.
Auf der belgischen Seite, wie auch in dem Kreise Malmedy ist in den letzten Jahren Gold gefunden worden, und einige Zeit war fortwährend in den belgischen, westdeutschen und luxemburgischen Zeitungen die Rede davon, wie wenn dort ein zweites Kalifornien entstände. Das Gold kommt besonders bei der Ortschaft Recht in Ablagerungen von Schutt, bestehend in Quarzgeröllen, Sand und Lehm vor. Das Waschverfahren, das jetzt bereits dort betrieben wird, ist sehr einfach, aber es sind nur einzelne kleine, kaum sichtbare Flitterchen, Blättchen und Körnchen vorhanden; einzelne wenige erreichen die Dicke eines Stecknadelkopfes. Man glaubt, im Altertum habe dort Bergbau stattgefunden, weil man in der Gegend zahlreiche kleine Hügel findet, die die Geologen als „Goldhaufen“ betrachten.[23] Die „Goldminen“ bildeten einige Zeit eine ständige Rubrik in den Malmedyer Zeitungen, aber es ist fraglich, ob die Ausbeutung besonders stark sein wird.
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Die Grenze der Wallonie wird im Süden durch den Amelbach gebildet. Ligneuville[24] oder Engelsdorf, das schöne Baumanlagen besitzt, die in der Eifel nicht allzu häufig sind, wird von belgischen, holländischen und englischen Touristen als Sommerfrische benutzt. Von dort führen schöne Wege nach Pont, Malmedy, Stavelot, Vielsalm u. s. w. Letzteres ist ein altes Städtchen, das anmutig auf dem rechten Hochufer der Salm liegt und hübsche Landhäuser und Gärten aufzuweisen hat.
[19] Von diesen Dörfern und Weilern der preußischen Wallonie sind manche zweinamig. So kommen nach Dr. Esser, der im „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“ 1882–1884 eine Reihe eingehender Untersuchungen über die Ortsnamen des Kreises Malmedy veröffentlicht hat, neben einander vor die Namen: Faymonville und Außelborn, Ligneuville und Engelsdorf, Pont und Brücken, Champagne und Gringertz, Ondenval und Niedersteinbach, Thirimont und Deidenberg, Gueuzaine und zur Heiden, Bruyères und außer Heiden, Robertville und zur Bivel, Outrewarche und zur Spinnen, Belair und Wolfskuhl, Ovifat und Mischvenn, Bellevaux und Schönthal, Noirthier und auf dem schwarzen Hügel, Eaurouge und Rotwasser. Dr. Esser bemerkt dazu: „Da zu der Zeit, als der hl. Remaklus an den Ufern der Warchenne sein Kloster gründete, die hiesige Gegend deutsch war, so sind auch die deutschen Namen wie Außelborn, Engelsdorf u. s. w. die älteren und ursprünglicheren, die romanischen Namen wie Faymonville, Ondenval u. s. w. sind dann offenbar vom Kloster ausgegangen, das überhaupt die deutsche Sprache bis an die nordöstlichen Grenzen des Fürstentums zurückdrängte.“ Vgl. de Nouë. Miscellanées sur l’ancien pays de Stavelot et Malmédy, S. 82.
[20] Montjoie liegt in einem von Bergen eingeschlossenen Thale. In dem Städtchen, welches nach dem Aussterben der Dynastie gleichen Namens an das Herzogtum Jülich und dann an die Kurpfalz fiel, haben die Franzosen im 17. Jahrhundert arg gehaust. Das hoch gelegene, jetzt verwetterte Schloß ist noch ein beredtes Zeugnis ihrer Zerstörungswut. Montjoie erfreut sich erst seit 1885 der Bahnverbindung mit Aachen und wird von Fremden, besonders auch von Engländern, viel besucht.
[21] Vgl. darüber: Dr. H. Pauly, Beiträge zur Geschichte der Stadt Montjoie. 1852 ff.
[22] So berichtet der „Guide pratique aux eaux de Spa“. 14ᵉ édition. Spa, Bruch-Maréchal. S. 151.
[23] Der Landesgeologe H. Grebe in Trier berichtete 1896 darüber: „Schon im vorigen Frühjahr bei Rückkehr von einer geologischen Studienreise aus Belgien wurde mir in Burtonville, nahe der preußischen Grenze, Kunde von den Goldfunden bei Recht im Kreise Malmedy; ich habe sie nicht beachtet, weil ich oftmals in meiner bergmännischen und geologischen Praxis von solchen sprechen hörte, auch von Goldborn, Goldkaul u. s. w., und das Mineral, das mir gezeigt wurde, war Schwefelkies, wie er auch in den ältern Gebirgsschichten der Malmedyer Gegend häufig vorkommt. Bei den geologischen Aufnahme-Arbeiten dort im vorigen Sommer hörte ich wiederholt, daß man bei Recht Versuche mache, Gold zu waschen. Ich habe auch eine Probe davon erhalten und dann persönlich dem Goldwaschen beigewohnt und zwar an der Rechter Mühle, dicht an der belgischen Grenze. Das Gold kommt daselbst in Ablagerungen von Schutt, bestehend aus Quarzgeröllen, Sand und Lehm vor. Diese Materialien sind durch Verwitterung des conglomeratischen Muttergesteins (grobe Conglomerate und Arkosen der ältern Eifeler Sedimentschichten) entstanden, in der Nähe der Schuttablagerungen auftretend. Das Waschverfahren ist ein ganz einfaches: man schaufelt das Material in eine geneigt liegende hölzerne Rinne, an deren unterm Ende ein Blechsieb angebracht ist und über die man aus dem nahen Bache Wasser unter stetigem Umrühren laufen läßt. Dabei gelangen die schlammigen Massen durch das Sieb in eine tiefere, ebenfalls schwach geneigt liegende Rinne. Die auf dem Sieb zurückgebliebenen Gesteinsbrocken werden zur Seite aufgehäuft; alsdann läßt man einen Wasserstrahl über die den Schlamm enthaltende zweite Rinne laufen, auf deren Boden sich das specifisch schwere Gold ablagert. Aber es waren davon nur einzelne kleine, kaum sichtbare Flitterchen, Blättchen und Körnchen vorhanden, einzelne wenige erreichten freilich die Dicke eines Stecknadelkopfes, die mittels Messers hervorgeholt wurden. Ein Korn Gold, angeblich bei andern Versuchen gefunden, das mir gezeigt wurde, hatte fast die Größe einer Erbse. Jedenfalls ist dieses Goldvorkommen in wissenschaftlicher Hinsicht ein recht interessantes. Wie bereits bemerkt, gehört das Muttergestein zu den ältern Gebirgsschichten der Eifel (unterstes Unterdevon, Gedinnien der Franzosen) und erstreckt sich mit den darauf lagernden phyllitischen Schichten von Viel-Salm über die belgisch-preußische Grenze, die Rechter Mühle, die großen Steinbrüche von Recht nach Montenau hin. Im Altertum, wohl zur Römerzeit, muß in dieser Gegend ein bedeutender Bergbau stattgefunden haben, denn man findet nicht nur in der Umgebung der Rechter Mühle, sondern auch etwa 8 km. nordöstlich von da, besonders zwischen Born und der Station Montenau eine fast unzählige Menge von kleinen Hügeln, die Halden von Goldseifen sein werden. Der erste Finder des Rechter Goldes, Bergverwalter Jung aus Bliesenbach, hat dasselbe auch bei Montenau nachgewiesen und hat in dem ganzen Gelände, in dem die kleinen Hügel vorkommen, Mutungen auf Gold bei der Bergbehörde eingelegt. In der Nähe der vielen Hügel in der Umgebung der Rechter Mühle sah ich viele schachtförmige Vertiefungen (alte Pingen) mit hohem Baumwuchs bestanden, die sicherlich von früherm Bergbau herstammen. Herr Jung hat die Gegend schon in den 70er Jahren durchsucht und vermutet, daß die vielen Hügel Halden von Seifen seien. v. Dechen, mit dem Jung damals in Briefwechsel trat, war anderer Ansicht, indem er ihm unter dem 27. Januar 1876 schrieb: „Die kleinen Hügel von Montenau habe ich hier und westlich von Recht an der belgischen Grenze gesehen. Es sind wohl keine Halden. Mit Halden von Goldwäschen, die ich bei Goldberg, Löwenberg, Bunzlau in Schlesien gesehen, haben dieselben keine Aehnlichkeit. Ebensowenig weist der Bestand derselben auf irgend ein sonst bekanntes Goldvorkommen hin. Ich habe sie für alte Grabhügel gehalten, obgleich bei einigen, die aufgeworfen worden sind, nichts gefunden worden ist.“ Derselben Ansicht, daß sie alte Grabhügel seien, war früher auch der Altertumsforscher Dr. Esser in Malmedy, er hält sie aber jetzt für Halden von Erzseifen, wie er mir unlängst mitteilte. Dafür spricht ihre geringe Ausdehnung — sie sind kaum 1 m hoch — und namentlich der Umstand, daß sie nur in Thalgründen unmittelbar an Bächen (Amelsbach, Emmelsbach, Rechter Bach u. s. w.) vorkommen. Es mögen im Altertum hier viele Arbeiter beschäftigt und eine größere Gewinnung von Metall im Gange gewesen sein. Nun, die Römer verfügten sicherlich über ganz billige Arbeitskräfte und es stand damals das Gold in weit höherm Werte als heute. Ob gegenwärtig noch eine Rentabilität zu erzielen ist, werden die weiteren Versuchsarbeiten ergeben.“
[24] Die Ortschaft wird seit 888 in Urkunden genannt: Nova villa, la neuve ville, auf wallonisch: li nouve veie, dann: Lignonville, im 11. Jahrhundert: Langeneuville.
[S. 34]
Die Namen der Bewohner von Malmedy sind meistens französisch, aber infolge des Zuzuges aus Altdeutschland nimmt die Zahl der Deutschen fortwährend zu. Die Mischehen, d. h. die Heiraten zwischen Einheimischen und Altdeutschen sind übrigens gar nicht so selten, wie z. B. von französischer Seite behauptet wird. Auguste Descamps, auf den ich noch zu sprechen komme, behauptet, die Malmedyer heirateten nur Walloninnen aus Stavelot u. s. w. Das ist natürlich übertrieben. Es mag ja Leute geben, die von Altdeutschen nichts wissen wollen, aber Mischehen kommen sogar in solchen Gegenden häufig vor, wo die nationalen Gegensätze viel stärker sind, als hier. Auf dem Bürgermeisteramt von Malmedy habe ich sogar erfahren, daß etwa ein Viertel der dortigen Heiraten zwischen Einheimischen und Auswärtigen (Deutschen) geschlossen werden.
Die Straßen tragen zum Teil nur französische, zum Teil deutsche und französische Namen, die manchmal recht sonderbar sind, z. B. Rue chemin-rue, Rue Derrière la Vaulx u. s. w. Neuerdings ist angeordnet worden, daß die Straßen deutsche Namen erhalten müssen, der Gemeinderat hat dieses jedoch nur insoweit genehmigt, als die Namen leicht übersetzbar sind. Von den Geschäftsschildern sind viele deutsch. In den meisten Läden werden beide Sprachen gesprochen: die einheimischen Geschäftsleute müssen der Beamten und anderen Eingewanderten wegen deutsch sprechen lernen, und die altdeutschen Geschäftsleute lernen meistens so viel Französisch, daß sie sich auch mit solchen Kunden behelfen können, die das Deutsche nicht beherrschen. Es ist deshalb ganz irrig, wenn Heinrich Freimuth schreibt: „Wer Brasserie und Poudre à tirer nicht versteht, der geht dort kein Bier und hier kein Schießpulver suchen.“ Sogar Aerzte, die aus Stavelot herüberkommen, bemerken in ihren Anzeigen, daß sie auch deutsch sprechen.
Einen französischen „Führer“ durch Malmedy gibt es bis jetzt nicht. Ein ziemlich gutes Büchlein ist „Malmedy und das Thal der Warche“ von Hermann Rehm. Der landschaftliche Teil ist ausführlich darin behandelt, aber der geschichtliche und ethnographische Teil weist[S. 35] manche Lücke auf. Manche von den interessantesten Fragen werden nicht einmal darin berührt. Übrigens wird Malmedy auch in den Eifelführern behandelt, von denen der beste vom Eifelverein herausgegeben ist. Den Bemühungen dieses Vereins ist es zu danken, daß mit jedem Jahre mehr Touristen ihre Schritte nach dieser Gegend lenken.
Das Wallonische, welches in Malmedy und Umgegend gesprochen wird, unterscheidet sich von demjenigen in Belgien einerseits durch eine etwas veränderte Betonung und andererseits durch die Aufnahme germanischer Sprachelemente. Schön klingt es keineswegs, und es ist für einen Kenner des Französischen zum großen Teil unverständlich. In dem Gedichte „Die Wallonen“ spottet Alexander Kaufmann über das Wallonische, indem er St. Jürgen vor der Himmelsthüre sagen läßt:
So schwer dürfte das Wallonische wohl doch nicht zu erlernen sein, aber wenn es auch für einen Philologen interessant sein mag, so dürfte kaum jemand es aus litterarischem Interesse lernen wollen. Es zählt zu den nordfranzösischen Patois und entstand im 5. und 6. Jahrhundert. Die mittelalterlichen Schriftsteller nannten das Wallonische (abgeleitet von wael, gallus, gaulois) romana lingua (la langue romance oder le gaulois). Das älteste bekannte Schriftstück in wallonischer Sprache ist aus dem Jahre 1450. Der Bischof Notker von Lüttich dürfte wohl einer der Ersten gewesen sein, der neben der deutschen auch die wallonische und französische Sprache redete. Das Wallonische überhaupt ist mit den nordfranzösischen Dialekten verwandt. Es zerfällt hier wie in den belgischen Ardennen in mannichfache, mehr oder weniger abweichende Untermundarten. Die sehr urwüchsigen ältesten wallonischen Sprachdenkmäler enthalten noch einen Rest von dunkeln, anderweit unbekannten Ausdrücken, wie auch das Neuwallonische noch manches Altertümliche in der Flexion u. s. w. aufweist.[25] Die Malmedyer Mundart insbesondere bearbeitete der bereits erwähnte Rechtsgelehrte Villers in seinem „Dictionnaire wallon“, von dem bis jetzt jedoch nur Auszüge veröffentlicht sind.
Die Sprache des Volkes ist also das Wallonische. Die Bewohner lernen aber ebenso rasch das Französische, wie z. B. der Holländer das Deutsche. In der wohlhabenderen Gesellschaft wird denn auch noch vielfach französisch gesprochen, wenn auch nicht immer in reiner Form. Die Einheimischen lernen auch deutsch, aber das Französische geben sie deswegen nicht auf.
[S. 36]
Auguste Descamps hat in Malmedy einige sonderbare Redensarten der Wallonen aufgezeichnet. Diese nennen z. B. den Schlaftrunk (das letzte Gläschen vor dem Schlafengehen) bonnet de nuit, ein kleines Brötchen pistolet u. s. w. Sie fragen nicht Comment allez-vous, sondern comment va-t-il?
In Malmedy erscheinen zwei Zeitungen ausschließlich in französischer Sprache. Die älteste ist die seit 50 Jahren bestehende Wochenzeitung: „La Semaine. Journal de la Ville et du Cercle de Malmédy“, die von dem Buchhändler H. Scius-Stouse redigirt, gedruckt und verlegt wird. Neben ihr erscheint seit 16 Jahren das „Organe de Malmédy. Feuille d’annonces et revue hebdomadaire du Cercle de Malmédy“, im Verlage von F. J. Lemoine. Es ist nicht immer ein klassisches Französisch, das in diesen Zeitungen geschrieben wird, aber es genügt den Malmedyern zur Verständigung.[26] Die „Semaine“ wurde von dem jetzigen Herausgeber gegründet, der also in diesem Jahre sagen kann, er habe ein halbes Jahrhundert hindurch seine Zeitung allein geleitet. Das Blatt war zur Verteidigung der religiösen und monarchischen Grundsätze in stürmischer Zeit gegründet worden, und es ist seiner Devise „Nous maintiendrons“ treu geblieben. Beide Zeitungen nehmen den größten Teil ihres Stoffes aus französischen und belgischen Blättern, sowie aus der „Gazette de Lorraine“, dem bekannten offiziösen Organ in Metz. Hier und da findet man eine eigene Bemerkung des Redakteurs beigefügt, so unter Frankreich: „Charmante et pudique république!“ Ein besonderes Interesse bieten die lokalgeschichtlichen Artikel der „Semaine“, die von dem Geschichtsforscher Arsène de Noüe herrühren. Die Anzeigen sind teils französisch, teils deutsch. Eine eigenartige Bezeichnung hat man in Malmedy für den Gemeinderat, den man nicht conseil municipal, sondern conseil de ville (wörtliche Übersetzung von Stadtrat) nennt. So wie jetzt die Verhältnisse in Malmedy liegen, wäre es jedenfalls am empfehlenswertesten, eine Zeitung in deutscher und französischer Sprache erscheinen zu lassen, wie es deren noch jetzt im Elsaß giebt. Dadurch würde den Einheimischen Gelegenheit geboten werden, deutsch zu lernen, und es würde überhaupt eine Verständigung in Ortsangelegenheiten zwischen ihnen und den Einheimischen leichter erzielt werden können, als jetzt, wo nur französische Artikel erscheinen. Das amtliche Kreisblatt für Malmedy wird übrigens in St. Vith ausschließlich in deutscher Sprache ausgegeben. Aus der ehemaligen Schwesterstadt kommt „L’Annonce“, ein für Stavelot und[S. 37] Vielsalm bestimmtes Blättchen. Daneben werden noch andere belgische und westdeutsche Zeitungen gehalten.
Litterarisch wird die wallonische Mundart in Malmedy wenig verwertet. Die „Semaine“ bringt jede Woche einen „Armonac do l’Saméne“ und hie und da auch ein Gedicht in derselben. Außerdem giebt sie für die Abonnenten als Prämie jedes Jahr einen Kalender: „Armonac wallon“ mit Gedichten, geschichtlichen Notizen u. s. w. heraus.[27]
Die Vereine in Malmedy scheinen ziemlich rege Beziehungen mit den Wallonen jenseits der Grenze zu unterhalten. Es giebt mehrere Musikvereine: das „Echo de la Warche“ (seit 1846), die „Union Wallonne“ (seit 1847), „La Malmédienne“, „La Fraternité“. Ferner giebt es einen Kriegerverein, der die vaterländischen Festtage feiert, wobei die einheimischen Vereine mitwirken. Es besteht auch eine „Société Littéraire“, eine „Société de Tir“ u. s. w. Schon die französischen Namen deuten an, daß in diesen Vereinen meistens wallonisch oder französisch gesprochen wird.
Die Amtssprache ist jetzt in der preußischen Wallonie durchweg die deutsche. Bis in den siebziger Jahren herrschte allerdings das Französische vor, sowohl in der Gemeindeverwaltung, als auf dem Gerichte und im Progymnasium in Malmedy. In letzterem war sogar ein bekannter französischer Schriftsteller, de Molinari, Mitarbeiter der „Revue des Deux-Mondes“, zwei Jahre Lehrer bei Beginn seiner Laufbahn.
Jetzt gilt das Deutsche überall als Amts- und Lehrsprache, obschon es aus praktischen Zwecken noch oft dem Wallonischen oder Französischen Platz machen muß. In den Gemeinderatssitzungen in Malmedy und den wallonischen Gemeinden werden die zu verhandelnden Gegenstände in deutscher Sprache vorgetragen. Wünscht dann ein Mitglied eine Aufklärung in französischer Sprache, so wird ihm diese erteilt. Besonders unter den älteren Herren giebt es solche, die das Deutsche nicht zur Genüge verstehen und denen amtliche Verfügungen in französischer Sprache erklärt werden müssen. Andere Mitglieder aber sind der deutschen Sprache nicht so mächtig, daß sie ihre Ansichten in ihr gut vortragen könnten, und um dann Mißverständnisse zu vermeiden oder sich nicht lächerlich zu machen — besonders da die Sitzungen öffentlich sind und die Presse gern Kritik übt — sprechen sie wallonisch oder französisch. Alle Protokolle werden aber in deutscher Sprache abgefaßt.
Noch bis in die sechziger Jahre hinein waren die Malmedyer selten, welche einen halbwegs richtigen deutschen Brief schreiben konnten. Jetzt ist das ganz anders. Übrigens hätte eine an sich so wenig deutsche,[S. 38] hart an Belgien grenzende Stadt in bezug auf Schulen mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie Malmedy thatsächlich zu teil geworden ist. Sie besitzt erst seit 1869 ein Progymnasium. Angesehene Familien lassen ihre Töchter in belgischen Klosterschulen erziehen.
Der Schulunterricht wird gegenwärtig in deutscher Sprache erteilt, und das trägt neben dem Militärdienst viel zu ihrer Verbreitung bei.[28] Den Volksschullehrern wie auch den Geistlichen erwächst durch die Mehrsprachigkeit des Bezirks eine keineswegs leichte Aufgabe. Die Lehrer und Lehrerinnen sind bis auf zwei oder drei Ausnahmen Altdeutsche, beherrschen aber meistens das Französische bezw. Wallonische. Die sämmtlichen Schulbücher sind deutsch und werden nicht, wie Descamps behauptet, aus Belgien, sondern aus dem Inlande bezogen. Der Religionsunterricht findet an den Schulen in deutscher Sprache statt; nur von den beiden jüngsten Jahrgängen erhalten die wallonischen Kinder den Religionsunterricht in französischer Sprache, während die Kinder deutscher Familien in deutscher Sprache unterrichtet werden. Der teilweise außerhalb der Schulen erteilte Vorbereitungsunterricht zur ersten hl. Kommunion findet ebenfalls in deutscher und in französischer Sprache statt. Diese Einrichtungen sind einfach deshalb getroffen, damit die Kinder auch verstehen, was sie lernen sollen. In den Kirchen in Malmedy wird gewöhnlich jeden Sonntag zweimal deutsch und zwei- bis dreimal französisch gepredigt.
Wir finden hier dieselbe Erscheinung wie in anderen Gegenden, wo eine nationale Veränderung vor sich geht. Die Geistlichkeit läßt sich, soweit ich in Erfahrung gebracht habe, keineswegs durch deutschfeindliche Gesinnung leiten; sie sucht sich nur den Pfarrkindern verständlich zu machen, mag dies in deutscher oder französischer Sprache sein.
Ein aufmerksamer Beobachter wird zugeben müssen, daß bei der niederen Bevölkerung das Französische sichtlich abgenommen hat. Das Wallonische bleibt aber natürlich bestehen.
[25] Vgl. Grandgagnage-Scheler, Dictionnaire étymologique, und W. Altenburgs Abhandlung über Lautgeschichtliches.
[26] Es geht den Bewohnern von Malmedy in der Hinsicht noch schlimmer, als denjenigen des französischen Sprachgebiets im Reichslande: die Sprache bleibt zwar französisch, aber sie verarmt und verkümmert. Man ist gezwungen, viel aus dem Deutschen zu übersetzen, und für manche Bezeichnungen muß man erst französische Ausdrücke suchen. Diese sind dann meistens für Franzosen unverständlich. So würde es keinem Franzosen einfallen, hinter der „Régence“ die Regierung in Aachen zu suchen. Landrat, Amtsgericht u. s. w. werden überhaupt nicht übersetzt, obschon man schon einigermaßen entsprechende Ausdrücke dafür finden könnte.
[27] Ein Malmedyer, der Lehrer des Französischen am Gymnasium in Mülhausen i. E. wurde, hat eine Sammlung französischer Gedichte veröffentlicht: Poésies lyriques par Joseph Lebiere. Malmédy, F. J. Lemoine. 1882. Eine neue Auflage erschien unter dem Titel: Poésies, par Joseph Lebierre. Nouvelle édition. Strasbourg, Imprimerie alsacienne, ancᵗ. G. Fischbach. 1896. Diese Sammlung ist in französischen Zeitungen sehr beifällig besprochen worden. Sein Bruder Florent Lebierre hat einige wallonische Lokalgedichte geschrieben.
[28] Der Kreisschulinspektor Dr. Esser in Malmedy hat sich besondere Verdienste um den Volksschulunterricht erworben. Die in den Schulen der preußischen Wallonie befolgte Methode wird sogar von dem Franzosen Henri Gaidoz sehr gelobt. Näheres findet man in der Einleitung zu: „100 deutsche Anschauungs- und Sprachübungen für die Unterstufe der preußischen Volksschule mit Kindern nichtdeutscher Nationalität.“ Dortmund, Crüwell 1879.
[S. 39]
Die Einwohner halten nicht bloß an ihrer Sprache, sondern auch an ihren Sitten und Gebräuchen beharrlich fest. Man findet dort auch einige hübsche Sagen, besonders von Zwergen, die im Wallonischen Sottais (von sous terre) genannt werden, weil sie sich meistens unter der Erde aufhielten, oder Nuttons (von nuit), weil sie nur während der Nacht zum Vorschein kamen. Die bemerkenswertesten dieser Sagen findet man in der Zeitschrift „Wallonia“[29] erzählt. Es würde mich zu weit führen, wenn ich hier darauf eingehen wollte.
Die preußischen Wallonen lieben wie ihre belgischen Stammesgenossen die Feste. Fastnacht wird mit vielem Lärm gefeiert, und die „Semaine“ verfehlt nicht, eine Beschreibung von zwei Folioseiten zu bringen. Allerdings ist die Polizei ziemlich strenge, denn die Polizeistunde ist für die drei Fastnachtstage „ausnahmsweise“ auf 1 Uhr Nachts festgesetzt. Früher scheint es etwas ungezwungener hergegangen zu sein, denn jetzt wird noch jedes Jahr daran erinnert, daß die unter der Bezeichnung „Egyptiennes“ bekannten Masken verboten sind. Hermann Rehm sagt:
„In Malmedy trägt man allem karnevalistischen Mummenschanze große Sympathien entgegen, doch hat der Fasching, wie er in dieser Stadt gefeiert wird, neben vielem Geräuschvollen manches Schöne und Originelle. Der Zug des „trouvl’ai“ (Holzspaten), die sog. „Massitours“, die „Haguette“,[30] die charakteristischen Pierrottänze, das sind Dinge, welche man in einer anderen Stadt nicht zu sehen bekommt. Bei der Maskerade bleibt nichts der Willkür überlassen, Kleidung, Bewegung, Rufe und Gesänge, alles wird durch die herkömmlichen Formen geregelt. Die aus der altitalienischen Komödie herübergenommenen Masken haben sich beim Karneval einer besonderen Beliebtheit zu erfreuen. Zu Fastnacht werden ferner in den Gesellschaftszirkeln häufig Gelegenheitspossen, von Einheimischen in französischer oder wallonischer Sprache verfaßt, aufgeführt.“
In der Nacht vom 1. Mai pflanzen die jungen Leute Bäumchen vor den Häusern ihrer Freundinnen auf, ebenso am Tage der Verlobung. Dabei singen sie dann „lu Nutte du Maie“ (la Nuit de Mai), ein in[S. 40] der Wallonie volkstümliches Lied, sozusagen die Lokalhymne von Malmedy. Sie wurde von einem dortigen Dichter Florent Lebierre verfaßt, dessen Bruder Olivier sie in Musik gesetzt hat.
Jedes Jahr wird der Martinstag mit seinen alten symbolischen Bräuchen gefeiert. Schon einige Zeit vorher gehen die Knaben von Haus zu Haus, um unter Absingung wallonischer Lieder Holz und Stroh zu erbitten. Am Martinsabend wird auf einer Höhe ein großes Feuer angezündet, um welches die Jugend tanzend und springend sich bewegt. Hier gelangt auch das wallonische Volkslied, das ja allmählich durch das deutsche Lied verdrängt wird, zu Ehren. Singend kehrt man in die Stadt zurück, um den an jenem Abend üblichen Reisbrei zu verzehren.
So recht ländlich ist auch ein anderes Vergnügen, „Cusnée“ genannt: man begiebt sich in Gesellschaft aufs Feld, um in einem frei brennenden Feuer Kartoffeln zu braten, die mit Butter bestrichen genossen werden. Häufig wird auch Bier dazu getrunken oder ein Liebeslied gesungen. Oft versteigt man sich auch zu einem ländlichen Tanz, einem „bal champêtre“. Die Bedeutung des Wortes „Cusnée“ oder „Küssnee“ hat sich allmählich erweitert; man bezeichnet darunter auch jede Landpartie, sowie gesellige Zusammenkünfte in der Stadt selbst.
Eine wirkliche Unsitte sind die auf dem Lande vorkommenden „Leichenschmäuse“, Gastereien bei der Totenwache, gegen welche die Behörden und die Presse schon oft geeifert haben, ohne sie jedoch verdrängen zu können.
Herr Gymnasiallehrer Zander aus Aachen, der mehrere Jahre in Malmedy thätig war, beschreibt in einer Plauderei[31] einige andere interessante Gebräuche. Ich gebe den mir vom Verfasser freundlichst zur Verfügung gestellten Artikel, der auch eine Beschreibung der „Cusnée“ enthält, hier vollständig wieder:
„Der Herbst ist die schönste Zeit für die Volksspiele im Freien. Wenn man jetzt des Sonntags auf den Bergen herumklettert, sieht man überall auf den Dörfern und Weilern der Wallonie die Landleute und auch manche Stadtbewohner damit beschäftigt, Kegel zu spielen oder Schinken zu werfen. Die Kegelbahn ist viel kürzer als in der Stadt, und die Kugeln sind, wie auch in Süddeutschland vielfach, mit Löchern versehen. In manchen Orten soll der Einsatz recht hoch sein. Das Schinkenwerfen ist nur ein Spiel für kräftige Leute. Zwei hölzerne Balken, 1½ Meter hoch, sind in den Erdboden hineingetrieben und bilden, durch einen Balken von 3 Meter Breite miteinander verbunden, ein Gerüst. An dem wagerechten Balken befinden sich mehrere Nägel, und an diesen werden zu Beginn jedes Spiels hölzerne Schinken mit Kordeln befestigt. Die Spieler stellen sich in einiger Entfernung von diesem Gerüst auf und werfen in einer durch das Loos bestimmten Reihenfolge danach mit schweren eisernen Stäben. Es handelt sich darum, den wagerechten Balken so zu treffen, daß die Kordel, womit ein Schinken befestigt ist, zerreißt. Wem dies gelingt, der erhält den Schinken oder was man sonst verabredet hat. Es kann dabei vorkommen, daß mehrere Schinken zusammen herabfallen. Sicherlich gewinnt nicht immer der Stärkste, sondern wer am geschicktesten den Balken zu treffen weiß, auch werden wohl, wie bei jedem Spiel, Kniffe dabei sein, und wie beim Vogelschießen ist es auch Glückssache. Eine interessante Abart des Schinkenwerfens ist das Hammelwerfen. Allsonntäglich[S. 41] kann man jetzt in unsern Wochenblättern lesen: „Aujourd’hui, dimanche, on jettera un mouton. Qui l’abat, l’a. N. N.“ (Heute, Sonntag, wird man einen Hammel werfen. Wer ihn herunterschlägt, hat ihn). So lautet die Anzeige eines Gastwirtes, der Gäste dadurch heranzuziehen hofft, daß er ihnen das Vergnügen des Hammelwerfens bietet. Nachmittags gegen 5 Uhr, nachdem man oft schon mehrere Stunden auf demselben Platze dem Schinkenwerfen obgelegen hat, wird der Hammel vorgeführt. Das Tier ist natürlich selten von erster Güte und hat nicht viel Geld gekostet. Es beginnt die Diskussion um die Höhe des Einsatzes. Dabei geht alles in der anständigsten Weise zu; denn der Wallone geht nicht leicht zu Streitigkeiten und Schlägereien über. Aber es wird mit unglaublicher Beredtsamkeit und Lebhaftigkeit gefeilscht, unter vielem Lachen und auf die Tische schlagen. Endlich ist man einig. Das Tier wird geschlachtet und mit einem Hinterbeine an einem senkrecht in die Erde getriebenen Pfahl, 2 Meter über dem Erdboden, festgenagelt, der nach hinten von mindestens zwei schrägen Holzbalken gestützt wird. Die Sehnen der Hammelbeine sind bekanntlich sehr stark, und das Bein ist noch mit einer Kordel an dem Nagel befestigt. Nun wird gerade so wie beim Schinkenwerfen nach dem Pfahl gezielt, und jeder sucht den hintern Teil des Hammels zu treffen. Hierbei benutzt man jedoch nicht die Eisenstäbe, sondern gerade so große hölzerne Balken. Die Reihenfolge der Spieler wird auch hier durch das Loos bestimmt. Der Hammel muß so herunterfallen, daß ein Stück des Hinterbeins an dem Nagel bleibt. Es würde hier nicht gelten, wenn etwa die Kordel entzwei ginge. Das Spiel dauert oft zwei Stunden. Endlich gelingt es einem, das Bein zu zerbrechen, und der Hammel gleitet auf die Erde. Der Sieger wird mit lautem Jubel begrüßt und zieht, mit seinem Hammel beladen, zur Wirtschaft. Dort muß sich der Hammelkönig revanchieren, und seinen Kameraden Tournées (Runden) werfen. Am Abend bringt er stolz seine Beute heim, aber sein Geldbeutel ist leer. Auch der Hammel macht nicht immer viel Freude, denn gerade die besten Stücke sind durch das Werfen oft ungenießbar gemacht.
„Ein anderes eigenartiges Volksvergnügen, das man nur hier sehen kann, sind die Cusnées. Sobald die Kartoffeln anfangen zu reifen, also von Mitte August ab, werden diese Festlichkeiten abgehalten. Familien, Gesellschaften, junge Leute versammeln sich, um zu schmausen, und die Kartoffeln, wie sie aus der Erde herauskommen, in Asche gebraten, zu verzehren. Nach der Etymologie des Volkes kommt das Wort von cuit und né, d. h. wie sie geboren werden, werden sie gekocht. In Stavelot heißt das Wort wirklich: Cuitnée. Es heißt aber einfach: Das Kochen, Braten, und ist abzuleiten von cuhner = cuisiner, faire la cuisine. Eine rechte Cusnée muß im Freien stattfinden. Da zündet man ein großes Feuer von trockenen Reisern an, und hierauf legt man glühende Kohlen. Auf diesen werden die Kartoffeln in gewaschenem, aber ungeschältem Zustande gebacken, indem man über dieser Schicht ein zweites Feuer anzündet. In weniger als einer Viertelstunde sind sie genießbar. Sie sind von einer gerösteten Kruste umgeben, und ihr Geschmack würde sogar dem wählerischsten Gourmand Ausrufe des Entzückens entlocken. Man bricht sie (schneiden mit dem Messer würde ihnen ein gut Teil ihres Wertes nehmen) und versieht sie tüchtig mit Pfeffer, Salz und Butter. Da sie nicht gerade leicht verdaulich sind, trinkt man Schnaps dazu. Wer seinen Magen daran gewöhnt hat, kann bis zwanzig Stück essen. Der Schmaus wird durch Singen und Tanzen gewürzt. Wenn die Witterung kalt wird, werden die Cusnées in verschlossenen Räumen abgehalten. Die Kartoffeln sind dann im Backofen auf Asche gebacken. Besonders schön sind die von den hiesigen Gesangvereinen veranstalteten Cusnées. Man hat dabei das seltene Vergnügen, dieselben Leute fortwährend in drei Sprachen — wallonisch, französisch und deutsch — sprechen und singen zu hören, und das letztere nicht in dem tötlich langweiligen Unisono des deutschen Kneipengesangs, sondern von geschulten Sängern, die schon bei manchem Wettsingen preisgekrönt worden sind.“
„Die Sitte des Hammelwerfens wird wohl in alte Zeiten zurückreichen. Man darf wohl annehmen, daß früher der Hammel lebendig aufgehängt wurde, und daß rohere Zeiten und Menschen sich an dem Blöken des gequälten Tieres erfreuten.[S. 42] Vielleicht hat die Sitte einen mythologischen Hintergrund, der ja beim Kegelspiel längst nachgewiesen ist. Die Kartoffelmahle können aber nicht älter sein als die Kartoffel; ältere Leute müßten über die Einführung dieser Freudenfeste Bescheid wissen. Sie legen Zeugnis ab von dem Jubel, mit dem die Kartoffel in den ärmeren Gegenden begrüßt wurde.“
Das „Burgbrennen“, d. h. Abbrennen eines Feuers auf einer Anhöhe am ersten Fastensonntag, ist im Kreise Malmedy, wie überhaupt in der Eifel und den Ardennen üblich. Der Ursprung dieser Feuer geht in das heidnisch-germanische Altertum zurück, denn am Burg- oder Schoofsonntag[32] (französisch dimanche des brandons und dimanche des bures) wird, wie Simrock im Schlußwort zu den Sitten und Sagen des Eifler Volkes von Schmitz (Bd. II, S. 148) ausführt, der Winter in Gestalt einer alten Frau oder Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Am Burgsonntag pflegt man in der Eifel Buchweizenpfannkuchen („Pankech“) und Haferwaffeln zu essen. Auch in der Stadt Malmedy, wo man das Burgbrennen jetzt nicht mehr kennt, werden am ersten Fastensonntage Waffeln gebacken.
Dr. Quirin Esser, der die Sitten und Gebräuche der Wallonie beschrieben hat,[33] sagt, die Bewohner des Dorfes betrachteten es als eine Pflicht, solche Feuer abzubrennen. Sie seien der Meinung, wenn sie es unterließen, würden sie im Laufe des Jahres von einem Unglücke (Brand, Todesfall in der Familie, Verlust im Viehbestande usw.) heimgesucht werden. Zu dem Feuer werden besonders Wachholdersträuche benutzt, die beim Brennen laut knistern. Die Sträucher werden auf einem Wagen auf die Anhöhe gebracht, während die Kinder im Dorfe Stroh und Reisig zusammenbetteln. All dieses Brennmaterial wird um eine hohe Stange oder eine Strohpuppe (haguette) aufgehäuft und gegen Abend in Brand gesteckt, während die Bewohner des Dorfes sich ringsum versammeln. Unter Schreien und Jauchzen sieht man dem Feuer zu, während die Jungen und Mädchen um die Feuerstätte tanzen. Stehen an dem Abend viele Sterne am Himmel, so glaubt man, es werde ein reiches Erntejahr werden. Manche behaupten auch, der Wind behalte den größten Teil des Jahres über dieselbe Richtung, wie an jenem Abend, während andere behaupten, die Richtung werde eine entgegengesetzte sein.
Der Johannistag wurde früher in Malmedy von den Kindern gefeiert. In einzelnen Familien wurden sie mit Milch und Kuchen bewirtet; sie bekränzten sich mit Blumen und zogen dann, mit einer Harmonika an der Spitze, durch die Straßen der Stadt und tanzten auf den öffentlichen Plätzen.
Zum Schlusse sei noch ein anderer Gebrauch erwähnt, der anderwärts wohl selten vorkommen dürfte. Schon Wibald erklärt in einem seiner Briefe, niemand dürfte sich in einer auswärtigen Familie verheiraten,[S. 43] ohne die Erlaubnis des major (mayeur), des Verwalters und Vorsitzenden des Schöffengerichts. Dieser Gebrauch ist auf dem Lande lange geblieben. Ein junger Mann, der ein Mädchen aus einem anderen Dorfe heiratete, mußte der Jugend seines Heimatdorfes ein „droit de sortie“ bezahlen. In der letzten Zeit des Fürstentums wurde demselben außerdem ein Katzenständchen gebracht. Dieser Gebrauch scheint übrigens in dem Lande ziemlich alt gewesen zu sein, denn es giebt nicht weniger als 15 Verordnungen gegen die charivaris, die bei solchen Anlässen verübten Spektakelscenen.
[29] 13. April 1893.
[30] Haguette war eine Strohpuppe, welche auf dem Marktplatz zu Malmedy am Abend des Aschermittwochs zum Beschluß des Carnevals feierlich und mit großem „Knalleffekt“ verbrannt wurde. Haguette ist auch ein Maskierter oder eine besondere Charaktermaske.
[31] Unterhaltungsblatt des Politischen Tageblatts (Aachen) 1893. Nr. 84.
[32] Das niederdeutsche Schoof oder Schöf bedeutet Strohbund oder Strohwisch. Die Jugend sammelt Stroh für das Feuer.
[33] Mélusine, Revue de mythologie, littérature populaire, traditions et usages. Dirigée par Henri Gaidoz. Paris 1889 Nr. 14, 1890 Nr. 3, 1896 Nr. 4.
[S. 44]
In Malmedy erzählte man mir von einem französischen Schriftsteller, der vor zwei Jahren dort anwesend war, um sich über die Verhältnisse zu erkundigen. Er hat jedenfalls nur mit Einheimischen verkehrt und ist in manchen Sachen schlecht unterrichtet worden. Vorurteilsfrei vermag er die Lage nicht aufzufassen, und ich entspreche nur den Wünschen vieler Bewohner von Malmedy, wenn ich etwas näher auf den Bericht eingehe, den er in dem Organ der geographischen Gesellschaft von Lille veröffentlicht hat.[34] Auguste Descamps hat Wahres mit Falschem vermischt. Er hat manche interessante Eigentümlichkeiten verzeichnet, aber den Charakter der Bewohner hat er durchaus falsch erfaßt, da er sie als unversöhnliche Protestler ansieht. Die Witze, mit denen er seine Abhandlung beginnt, sind kaum der Beachtung wert. „Wo sind“, fragt er, „die Pickelhauben, wo die Notare, Lehrer und Richter mit narbendurchschnittenen Gesichtern, wo die Soldaten mit Brillen, wo die Spießbürger, die im Schlafrock, mit Pantoffeln und Nachtmütze ausgehen und unaufhörlich mit einer langen bis zu den Knieen herabreichenden Pfeife bewaffnet sind, ohne die sie wie Elefanten aussehen würden, welche ihren Rüssel verloren haben?“ Wer diese Bemerkungen als geistreich ansehen will, muß eben über jede nationale Eigentümlichkeit lachen. In Malmedy herrscht allerdings die kurze belgische Pfeife vor, aber die deutschen Spießbürger haben doch nicht die Gewohnheit, im Schlafrock und in Pantoffeln auszugehen.
Man könnte ja darüber streiten, ob Preußen Recht hatte, eine wallonische Gegend zu annektieren, aber es ist doch lächerlich, zu behaupten, es sei arm und habe sich nach dem reichen Malmedy gesehnt; wer so was schreibt, ist jedenfalls nicht über die preußische Wallonie[S. 45] hinausgekommen. Vom nationalen Standpunkt aus wäre es wohl empfehlenswerter gewesen, auf diese Gegend zu verzichten und an Stelle derselben Arlon und Umgebung mit den deutsch sprechenden Gemeinden zu beanspruchen.
Descamps will an dem Aussehen der Häuser und der Gärten „la positive Belgique“ erkennen. Nun sieht zwar Malmedy nicht wie eine altdeutsche Stadt aus, aber es verliert doch allmählich sein wallonisches Gepräge. Wenn der Franzose ferner bemerkt, Samstags werde in der ganzen Stadt geputzt (das wird in Lille wohl auch der Fall sein) und die Frauen schütteten den Fremden ganze Eimer voll Wasser über die Beine, so erinnert das an den Engländer, der irgendwo einen Mann mit roten Haaren sah und dann in sein Notizbuch schrieb: „In dieser Gegend haben die Leute rote Haare.“
Es mag sein, daß die Einheimischen von Gestalt etwas kleiner sind, als die Deutschen, aber es ist doch nicht richtig, daß deswegen mehr junge Leute bei der Aushebung zurückgestellt werden, als in anderer Gegend. Descamps läßt sich leicht eine Meinung beibringen, sobald sie ihm in den Kram paßt. Es ist leicht begreiflich, daß manchen jungen Leuten aus Malmedy die Kenntnis des Französischen beim Fortkommen in der Welt von Nutzen ist, allein ich habe nirgends davon gehört, daß ihnen in „königlichen und kaiserlichen Bureaus“ besonders vorteilhafte Stellen („de grasses sinécures“) zugewiesen worden seien. Descamps sagt, seit 1876 werde der untere und mittlere Unterricht ausschließlich in deutscher Sprache erteilt, obwohl im übrigen Deutschland zahlreiche Stunden dem Französischen gewidmet seien. Letzteres ist aber nur in den mittleren und höheren Lehranstalten der Fall, denn in den deutschen Volksschulen wird selbstverständlich kein Französisch gelehrt. Ebenso ist es falsch, daß alle Kinder, sogar die altdeutscher Familien, gezwungen werden, den Religionsunterricht in französischer Sprache zu nehmen. Auch ist es nicht richtig, daß nur französisch geredet wird. Kurz und gut, die Broschüre enthält eine solche Menge Irrtümer, daß man allein zu deren Richtigstellung eine ganze Abhandlung schreiben müßte. Ueberhaupt ist der französische Schriftsteller durchaus im Irrtum befangen, wenn er die Malmedyer als widerspenstige Köpfe betrachtet. Sie machen vielmehr den Eindruck guter deutscher Unterthanen. Auch Hermann Rehm hebt hervor, daß die Gesinnung der Bewohner von Malmedy echt deutsch ist. Er fügt allerdings hinzu, daß sie Manches an sich tragen, was an französisches Wesen gemahnt. „Namentlich Höflichkeit und Gefälligkeit“, schreibt er, „zwei Tugenden, die wir bei unsern westlichen Nachbarn in so hoher Ausbildung antreffen, findet man auch in Malmedy in allen Gesellschaftsschichten vor, wodurch der Verkehr mit den Bewohnern dieser Stadt sich zu einem angenehmen und genußreichen gestaltet.“ Von anderer Seite werden die Wallonen als ein reich begabter, lebhaft empfindender Volksschlag geschildert, deren Regsamkeit ihnen allerwärts, welchen Berufen sie sich auch zuwenden mögen, zu günstigem Fortkommen verhilft.
[S. 46]
An Opposition denkt niemand in der preußischen Wallonie. Die Beziehungen zwischen den Einheimischen und den Vertretern der Behörden sind durchaus gut. Als im Januar 1896 infolge des kaiserlichen Gnadenerlasses die Gefangenen in Freiheit gesetzt wurden, riefen sie „Vive l’Empereur!“ Man spricht dort seine deutsche Gesinnung in französischer Sprache aus. Die Ortsblätter bringen über vaterländische Feste Berichte, die sich manchmal bis zur Begeisterung erheben. Man sieht, daß die Zeitungen keine Rücksicht auf grollende Protestler zu nehmen brauchen, sondern nur dem Gefühl der Bevölkerung Ausdruck verleihen. Bei einigen Einheimischen fand ich allerdings eine gewisse Verstimmung, aber das waren Geschäftsleute, denen der Wettbewerb der Eingewanderten unerwünscht ist. Es ist ungefähr so, wie in einem Orte, wo die alteingesessenen Geschäftsleute mißmutig auf die von auswärts zuziehenden blicken.
Malmedy gehört zum Wahlkreise des wegen seines Eintretens für die Militärvorlage bekannten, durch persönliche Beziehungen zu Hofkreisen einflußreichen Zentrums-Abgeordneten Prinzen von Arenberg. Die Bevölkerung sprach sich 1893 entschieden für die Militärvorlage aus.
Der oberste Beamte in Malmedy ist der Landrat. Der jetzige Inhaber dieses Postens gestand mir offen, daß er Land und Leute noch nicht kenne, weil er erst kurze Zeit da sei. Wie es scheint, wird die Malmedyer „Landratur“ als eine Art Uebergangsposten für solche Beamte betrachtet. Das ist entschieden ein Fehler. In einer derartigen Gegend, wo es auf eine stetige Verwaltungspolitik ankommt, sollte man doch nicht Beamte nur auf einige Jahre unterbringen. Der jetzige Bürgermeister von Malmedy nimmt schon seit sechs Jahren diesen Posten ein. Er ist ein Altdeutscher, hat eine Malmedyerin geheiratet und kommt überhaupt mit den Wallonen gut aus, obschon er gut deutsch gesinnt ist.
Die Auswanderung aus der Gegend war früher anscheinend ziemlich stark, wie überhaupt aus der Eifel und den Ardennen. Die Ortsblätter von Malmedy weisen mit Stolz darauf hin, daß sie von ehemaligen Bewohnern der Gegend in Belgien, Frankreich, Rußland und Amerika gehalten werden. Manche Malmedyer suchen jetzt ihr Fortkommen in Deutschland, wo ihnen die Kenntnis zweier Sprachen an manchen Stellen von großem Nutzen ist. Die Einwanderung von Altdeutschen ist natürlich nur in der Stadt Malmedy ziemlich stark. Durch die politischen Verhältnisse werden die Einheimischen gezwungen, nicht bloß deutsch zu lernen, sondern auch sich den deutschen Verhältnissen anzubequemen.
Eine achtzigjährige Zugehörigkeit zu Preußen hat Malmedy seinen wallonischen Charakter nicht zu nehmen vermocht. Es handelt sich übrigens selbstverständlich hier nicht um eine Sprachinsel, sondern um einen Ausläufer des belgischen Wallonentums. Die Bewohner des Kreises Malmedy stehen mit ihren Stammesgenossen jenseits der Grenze im vielfachen Verkehr, und deshalb dringt das Deutschtum nicht so leicht bei ihnen ein, wie wenn sie isoliert wären.
[34] Die Abhandlung ist auch als Broschüre erschienen unter dem Titel: Société de géographie de Lille. Malmédy et les Wallons prussiens ou une ville belge en Allemagne, par l’Auteur d’un village français en Allemagne. Extrait du Bulletin de la Société de géographie de Lille (Mai 1895). Lille, L. Danel 1895. Viel unparteiischer und gründlicher beurteilt Henri Gaidoz, Herausgeber der „Mélusine“ (Paris) die Verhältnisse in Malmedy in einer Abhandlung: „Malmédy et la Wallonie prussienne.“ (Le Correspondant, 10. September 1886. S. 911–935.)
[S. 47]
„Möchte Malmedy sich gleich Spa bald zu jener Stufe des Ranges erheben, den seine so sehr ausgezeichneten Heilquellen ihm unter den vorzüglichsten Eisenwässern Europas anweisen, einen Rang, den es fortdauernd durch die glänzendsten und auffallendsten Heilungen zu erproben wissen wird.“ Mit diesen Worten schloß Dr. Monheim 1829 seinen Bericht über die von ihm unternommene Untersuchung des Malmedyer Mineralwassers. Möge jetzt der Wunsch dieses Gelehrten in Erfüllung gehen und das ins Werk gesetzte Unternehmen schnell emporblühen. Ein gewisses Anrecht auf Unterstützung seitens des deutschen Publikums hat sich die Stadt dadurch erworben, daß sie dem deutschen Kapital den Vorzug gab und die nicht minder günstigen Offerten der englischen Unternehmer unberücksichtigt ließ.
Malmedy ist von der Natur sehr begünstigt, und wenn die deutschen Touristen und Kurgäste sich ihm zuwenden, wird es bald dem berühmten belgischen Badeorte Spa Konkurrenz machen können. Wer durch die Eifel oder die Ardennen reist, möge nicht verfehlen, auch Malmedy einen Besuch abzustatten. Er wird dort ein eigenartiges Städtchen kennen lernen, wie kein zweites im deutschen Reich zu finden ist.
Von Jahr zu Jahr mehrt sich die Zahl der Touristen und Sommerfrischler, welche in der schönen Jahreszeit die Eifel aufsuchen. Diese Gegend war lange Zeit vernachlässigt; seitdem sie aber durch verschiedene Bahnlinien dem Verkehr aufgeschlossen wurde, lernen immer mehr Deutsche und Ausländer dieses an eigentümlichen Schönheiten so reiche Hochland kennen. Wer die vulkanische Eifel mit ihren Maaren und Ruinen oder einen anderen Teil der Eifel aufsucht, möge seine Schritte auch nach Malmedy lenken, wo er gewiß ebenso gern verweilen wird wie in irgend einem anderen Städtchen des Eifellandes. Sowohl von Gerolstein, dem Mittelpunkt der Eifelbahnen, als von Aachen aus, läßt Malmedy sich jetzt leicht mit der Bahn erreichen. Wer Malmedy nicht gesehen hat, kennt einen der interessantesten Punkte der Eifel und überhaupt des deutschen Reiches nicht.