Title: Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin
Author: Ritter von Eduard Hofmann
Release date: July 10, 2024 [eBook #74004]
Language: German
Original publication: Wien: Urban & Schwarzenberg
Credits: Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1895 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
Neue Seitenüberschriften wurden zur besseren Orientierung im Text an den entsprechenden Stellen als Randnotizen übernommen, sofern nicht bereits eine Textüberschrift auf den betreffenden Inhalt hinweist.
Im Register wurden nach traditioneller Weise die Begriffe mit den Anfangsbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ zusammengefasst. In der vorliegenden Fassung werden diese aber, den heutigen Gewohnheiten entsprechend, getrennt aufgeführt.
MIT GLEICHMÄSSIGER BERÜCKSICHTIGUNG
DER
DEUTSCHEN UND ÖSTERREICHISCHEN GESETZGEBUNG
VON
DR. EDUARD R. VON HOFMANN,
K. K. HOF- UND OBERSANITÄTSRATH, O. Ö. PROFESSOR DER
GERICHTLICHEN MEDICIN
UND LANDESGERICHTSANATOM IN WIEN
Siebente, vermehrte und verbesserte Auflage
Mit 130 Holzschnitten
WIEN UND LEIPZIG
URBAN & SCHWARZENBERG
1895.
Seite
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Einleitung
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Gesetzliche Bestimmungen, betreffend die Heranziehung
von Sachverständigen überhaupt und von Gerichtsärzten insbesondere und
die dabei zu beobachtenden formellen Vorgänge
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Gebührentarif für österreichische Gerichtsärzte
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Oesterreichische Gesetze bezüglich der Sachverständigen
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Gesetzliche Bestimmungen bezüglich der Sachverständigen
für das deutsche Reich
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Gebühren der Gerichtsärzte im deutschen Reich
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Wahl der Sachverständigen
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Thätigkeit des Gerichtsarztes bei der Vornahme des
Augenscheines
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Gegenstände gerichtsärztlicher Untersuchung
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Aufnahme des Protokolls
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Das Gutachten
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Einholung von Superarbitrien
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Thätigkeit des Gerichtsarztes bei der
Hauptverhandlung
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[S. iv] | |||||
Zeugungsfähigkeit.
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Gesetzliche Bestimmungen
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Die Begattungsunfähigkeit beim Manne
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Die Befruchtungsunfähigkeit
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Die Begattungsunfähigkeit beim Weibe
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Die Conceptionsunfähigkeit
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Die Zwitterbildungen
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Die gesetzwidrige Befriedigung des
Geschlechtstriebes.
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Gesetzliche Bestimmungen
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Vom gesetzwidrigen Beischlafe
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Diagnose des stattgehabten Beischlafes
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Anatomische Veränderungen an den weiblichen
Genitalien in Folge des Beischlafes
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Nachweis von Sperma
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Nachweis venerischer Affection
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Die Umstände, unter welchen der Beischlaf ausgeübt
wurde
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Wirklich ausgeübte Gewalt
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Absichtliche Betäubung
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Wehr- und Bewusstlosigkeit ohne Zuthun des Thäters
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Beischlaf mit Mädchen unter 14 Jahren
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Wichtige Nachtheile in Folge gesetzwidrigen
Beischlafes
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Unzüchtige Handlungen (Schändung)
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Widernatürliche Unzucht
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Die Päderastie
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Unzucht mit Thieren
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Fragliche Schwangerschaft und Geburt.
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Gesetzliche Bestimmungen
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Zeichen der Schwangerschaft
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Dauer der Schwangerschaft
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[S. v]
Spätgeburt
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Die Nachempfängniss
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Extrauterinschwangerschaft
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Molenschwangerschaft
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Verkennen der Schwangerschaft durch die Mutter
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Diagnose der stattgehabten Entbindung
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Die Fruchtabtreibung, gesetzliche Bestimmungen
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Diagnose des stattgefundenen Abortus
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Untersuchung der Mutter
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Untersuchung der Abgänge
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Ursachen des spontanen Abortus
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Absichtlicher Abortus
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Innere Fruchtabtreibungsmittel
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Mechanische Fruchtabtreibungsmittel
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Folgen der Fruchtabtreibung
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Die gewaltsamen Gesundheitsbeschädigungen und der
gewaltsame Tod.
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Gesetzliche Bestimmungen
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I. Von der Gesundheitsbeschädigung
und dem gewaltsamen Tod durch Verletzung im engeren Sinne
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A.
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Bestimmungen des verletzenden Werkzeuges
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Verletzungen mit stumpfen oder stumpfkantigen
Werkzeugen
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Die Hautabschürfungen
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Die Blutunterlaufungen
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Wunden
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Commotionen
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Rupturen innerer Organe
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Läsionen der Knochen
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Zermalmungen
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Schnitt- und Hiebwunden
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Stichwunden
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Schusswunden
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B.
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Strafrechtliche Qualification der Verletzung
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Nicht tödtliche Verletzungen
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Die schwere körperliche Beschädigung im Sinne des
österr. St.-G.
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Die erschwerenden Umstände des §. 155 österr.
St.-G.
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Die erschwerenden Umstände des §. 156 österr.
St.-G.
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[S. vi] |
Bestimmungen des §. 132 der österr. St.-P.-O.
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Die schwere Körperverletzung des deutschen St.-G.
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Die leichte Körperverletzung des deutschen St.-G.
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Tödtliche Verletzungen
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Die nächste Todesursache
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Zusammenhang dieser mit einer Verletzung
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Unterscheidung vitaler und postmortaler Verletzungen
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Ausschluss anderer Todesursachen
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Der Selbstmord
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Untersuchungen von Blutspuren
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Untersuchung von Haaren
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Verletzungen nach ihrem Sitze
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A.
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Die Kopfverletzungen
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B.
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Verletzungen des Halses
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C.
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Brustverletzungen
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D.
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Verletzungen des Unterleibes
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E.
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Verletzungen der Genitalien
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E.
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Verletzungen der Extremitäten
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II. Tod durch Erstickung
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Leichenbefund bei Erstickten
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Der Tod durch Erhängen
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Das Erdrosseln
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Das Erwürgen
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Tod durch Ertrinken
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Andere Erstickungsformen
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III. Tod durch Verhungern
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IV. Tod durch hohe und
niedrige Temperatur
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Verbrennung und Verbrühung
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Erfrieren
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V. Tod durch Vergiftung
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Gesetzliche Bestimmungen
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Gift und Bedingungen der Giftwirkung
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Krankheitsbild bei Vergiftungen
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Sectionsbefund
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Der chemische Nachweis
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Die Umstände des Falles
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Vergiftung mit Schwefelsäure und anderen
Säuren
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„ „ Aetzlauge
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[S. vii]
„ „ Sublimat
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„ „ chlorsaurem Kali
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„ „ Arsenik
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„ „ Phosphor
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„ „ Opium und Morphium
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„ „ Kohlenoxyd
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„ „ Blausäure
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„ „ Strychnin
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„ „ anderen Alkaloiden
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VI. Gesundheitsbeschädigungen
und Tod durch psychische Insulte
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Vom Kindesmorde
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A.
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Ist das Kind lebend geboren worden?
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Die durch Luftathmung erzeugten Veränderungen in den
Lungen
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Anderweitige Lebensproben
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B.
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Wie lange hat das Kind gelebt?
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C.
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Todesursache des Kindes
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Tod des Kindes vor der Geburt
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Tod des Kindes während der Geburt
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1.
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Die vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung
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2.
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Die Compression des Kopfes
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Tod des Kindes nach der Geburt
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1.
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Tod durch Lebensunfähigkeit
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2.
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Tod durch extrauterine Vorgänge
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Sturzgeburt
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Verblutung aus der Nabelschnur
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Absichtliche Tödtung des Neugeborenen
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Die Leichenerscheinungen
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Die gerichtsärztliche Aufgabe bei der
Sicherstellung der Identität von Leichen
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Die gerichtliche Psychopathologie
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Gesetzliche Bestimmungen
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A.
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Zurechnungsfähigkeit von Kindern und jugendlichen
Personen
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B.
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Angeborene psychopathische Zustände
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[S. viii]
1.
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Der angeborene Blödsinn
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2.
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Der angeborene Sinnesmangel
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3.
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Originäre psychische Anomalien specifischer Art
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Das moralische Irrsein
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B.
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Die erworbenen Geistesstörungen
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1.
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Die einfachen Geisteskrankheiten
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Die Melancholie und der melancholische Wahnsinn
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Die Manie und der exaltirte Wahnsinn
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Der erworbene Blödsinn
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2.
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Complicirte Irrseinszustände
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a)
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Die paralytische Geistesstörung
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b)
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Epileptisches Irrsein
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c)
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Hysterisches Irrsein
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d)
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Die alkoholische Geistesstörung
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Der Rausch
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Alkoholisches Irrsein im engeren Sinne
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Allgemeines über
Untersuchung und Begutachtung wegen fraglicher Zurechnungsfähigkeit
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II. Fragliche
Dispositionsfähigkeit
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Gesetzliche Bestimmungen
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A.
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Entmündigung (Curatelverhängung)
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B.
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Wiederaufhebung der Entmündigung
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Civilrechtliche Acte, die von nicht entmündigten
Personen ausgeführt wurden
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III. Fragliche
Verhandlungsfähigkeit
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[S. 1]
Unter gerichtlicher Medicin versteht man jene Disciplin, welche sich mit der Behandlung von Fragen beschäftigt, die in der civil- und strafrechtlichen Praxis sich ergeben und nur mittelst ärztlicher Vorkenntnisse beantwortet werden können.
Bekanntlich ist eine grosse Zahl der sowohl in der Civil- als in der Strafjustizpflege vorkommenden Rechtsfälle der Art, dass entweder die Feststellung gewisser Thatsachen, oder die Feststellung des Zusammenhanges gewisser Thatsachen mit anderen, überhaupt die Constatirung und Aufklärung gewisser, für die richterliche Entscheidung des einzelnen Falles wichtiger Umstände, ärztliche Kenntnisse erfordert. Es gehören hierher u. A. alle jene Fälle, in denen gewaltsame Schädigungen an der Gesundheit oder am Leben Gegenstand richterlicher Untersuchung werden, ferner jene, in welchen es sich zunächst um die Constatirung gewisser physiologischer, insbesondere geschlechtlicher Zustände handelt.
Die Heranziehung von Aerzten geschieht hier aus gleichem Grunde, wie in anderen Fällen, in welchen, wie sich die österr. Strafprocessordnung vom Jahre 1853 im §. 78 ausdrückt, die Erforschung eines zu untersuchenden Gegenstandes besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten voraussetzt, andere „Sachverständige“, z. B. Bautechniker, Münz- und Bankbeamte, Kaufleute, Künstler etc., herangezogen werden, um Dinge zu untersuchen und klar zu stellen, welche juristische Bildung allein nicht zu beurtheilen im Stande ist, und der auf diese Weise angestrebte Beweis führt die technische Bezeichnung „Sachverständigenbeweis“, ein Verfahren, welches fast so alt ist, wie geordnete Rechtszustände überhaupt, da man unsicheren Spuren desselben, insbesondere des Abverlangens ärztlicher Gutachten, bereits in den mosaischen Gesetzen, in den 12 Tafeln und im Codex Iustinianeus, ausdrücklichen einschlägigen Bestimmungen aber bereits in den Gesetzen der Alemannen aus dem 6. Jahrhundert, sowie in den späteren Gesetzbüchern, namentlich[S. 2] aber in der peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karl’s V. aus dem Jahre 1532 begegnet.[1]
Die Zahl und die Qualität der sich in foro ergebenden, ärztliche Intervention erfordernden Fragen bestimmt im Allgemeinen den Umfang und den Inhalt der gerichtlichen Medicin. Was jedoch die Details der Lehre betrifft, so erweitern und vervollkommnen sich dieselben stetig; einerseits, indem die medicinische Wissenschaft überhaupt, auf welcher die gerichtliche Medicin basirt, vorwärts schreitet und immer neue Forschungsresultate zu Tage fördert, die auch unserer Specialdisciplin zu Gute kommen, andererseits, indem specifisch gerichtsärztliche Fragen eingehender und unter Anwendung neuer Hilfsmittel, insbesondere aber auf dem Wege des Experimentes, studirt werden und dadurch vielfach in gegen früher geändertem Lichte erscheinen. Sie werden aber auch beeinflusst durch den jeweiligen Stand der Gesetzgebung, welcher sich die gerichtliche Medicin in formeller, theilweise aber auch in sachlicher Beziehung anpassen muss, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. Letzteres Moment macht sich eben in der letzten Zeit in eingreifender Weise geltend, da sowohl in Oesterreich, als im deutschen Reich Strafprocessordnung und Strafgesetz eine, neueren Rechtsanschauungen entsprechende Umgestaltung theils bereits erfahren haben, theils binnen Kurzem erfahren werden.
Die gerichtliche Medicin ist angewandte Medicin, und diese Thatsache sichert ihr ihre Stellung in der Reihe der[S. 3] medicinischen Disciplinen. Trotz der specifisch forensischen Zwecke, die die gerichtliche Medicin verfolgt, löst sie sich niemals vom Mutterboden der medicinischen Wissenschaft los, baut sich vielmehr aus dieser auf, wächst und entwickelt sich mit dieser, und die Fragen, die sie behandelt, die Lehrsätze, die sie aufstellt, behalten immer einen rein medicinischen Charakter, obgleich es ausser Zweifel steht, dass sie vorwiegend, ja ausschliesslich forensen Zwecken zu dienen bestimmt sind. Wenn dennoch einzelne ältere und sogar ein hervorragender neuerer Autor (Taylor) statt der alten, und wenn auch nicht ganz präcisen, so doch nicht unrichtigen Bezeichnung „gerichtliche Medicin“ (Medicina legalis seu forensis, Médecine légale, Medicina forense etc.) jene der „medicinischen Rechtswissenschaft“ (medical jurisprudence) gewählt haben, so ist dies nicht zu billigen.
Ein viel schwererer Irrthum ist es jedoch, wenn man in falscher Auffassung der gerichtlichen Medicin als angewandte Medicin sich der Meinung hingibt, dass, wenn sonst tüchtiges medicinisches Wissen vorhanden sei, sich dessen Anwendung für forense Zwecke von selbst ergebe, und sonach der Lehre der letzteren nur eine nebensächliche Bedeutung zukomme. Leider ist diese irrige Meinung viel verbreitet und sie hat es zum grössten Theile verschuldet, dass ein Fach von so eminent praktischer Bedeutung, wie die gerichtliche Medicin, in den letzten Jahren nicht jene Würdigung gefunden hat, die es verdient.
Man übersieht bei einer solchen Auffassung dreierlei. Erstens, dass die Anwendung medicinischer Kenntnisse in foro ein volles Verständniss des Zweckes verlangt, zu welchem man dieser Kenntnisse bedarf, dass zweitens die Anwendung dieser Kenntnisse formell in bestimmter Weise erfolgen muss, wenn sie dem Richter verwerthbar sein soll, und dass drittens eben aus der eigenthümlichen, durch bestimmte Rechtsfälle dictirten Anwendung medicinischen Wissens Gesichtspunkte und Fragen sich ergeben, die ganz specifischer Art und der sonstigen Aufgabe und Richtung der Heilkunde in der Regel vollkommen fremd sind, und daher besonders gelehrt und gelernt werden müssen. Die erstgenannten zwei Erfordernisse verlangen Kenntniss des Strafgesetzes und der Strafprocessordnung. Wie wichtig diese ist, wird insbesondere bei der Begutachtung von Verletzungen ersichtlich. Was nützt es z. B. dem Richter, wenn ein Arzt, der herbeigerufen wird, um über eine Verletzung am Lebenden oder an der Leiche sich auszusprechen, diese sehr schön und richtig vom klinisch-chirurgischen oder vom pathologisch-anatomischen Standpunkte erörtert, wenn er nicht angibt, ob die Verletzung eine jener Qualitäten besitzt, auf welche es dem Richter ankommt, und wovon die weitere Behandlung des Falles abhängt; und wie kann sich der Arzt über diese Qualität aussprechen, wenn er die betreffenden Unterscheidungen des Strafgesetzes nicht kennt, und die Intentionen nicht versteht, die für den Gesetzgeber massgebend gewesen sind. Was aber die specifische,[S. 4] von der gewöhnlichen Richtung der Heilkunde gewöhnlich weitab liegende Natur der Fragen betrifft, mit denen sich die gerichtliche Medicin beschäftigt, so genügt ein Blick auf die Materien, die wir in unserem Buche behandeln werden, um Jedermann hiervon die Ueberzeugung zu verschaffen.
Erwägen wir dazu die Häufigkeit der Rechtsfälle, in denen die Intervention des Gerichtsarztes gefordert wird[2], sowie den Umstand, dass in den meisten derartigen Fällen die ganze weitere Behandlung des Rechtsfalles, insbesondere der Ausfall des Urtheils, von der Untersuchung des Gerichtsarztes und von seinem Gutachten abhängen, dass somit nicht blos allgemein sociale Interessen von höchster Bedeutung, sondern insbesondere das Schicksal, Ehre, Freiheit und selbst das Leben der betreffenden Personen in seine Hände gelegt sind, so bedarf es wohl keiner weiteren Worte, um die Wichtigkeit der gerichtlichen Medicin und die Nothwendigkeit einer selbstständigen und würdigen Stellung derselben zu den übrigen medicinischen Fächern zu demonstriren.
[S. 5]
Die gesetzlichen Bestimmungen, welche sich auf den formellen Vorgang bei der Heranziehung von Sachverständigen überhaupt und von ärztlichen insbesondere, sowie auf das von diesen bei ihren Functionen zu beobachtende formale Verhalten, als auch auf deren Rechte und Pflichten beziehen, sind in der österreichischen, beziehungsweise deutschen Strafprocessordnung, einzelne von ihnen jedoch, namentlich die auf die Untersuchung von Leichen bezüglichen, in bestimmten Specialverordnungen, beziehungsweise Regulativen enthalten. Letztere, sowie die specielle gerichtsärztliche Untersuchungen betreffenden Bestimmungen der Straf-, beziehungsweise Civilprocessordnungen werden bei den einschlägigen Capiteln citirt werden, während hier nur die allgemein giltigen Erwähnung finden sollen.
Die hierher gehörenden Bestimmungen der österreichischen Strafprocessordnung vom 23. Mai 1873 sind in folgenden Paragraphen derselben enthalten:
§. 116. Der Augenschein ist vorzunehmen, so oft dies zur Aufklärung eines für die Untersuchung erheblichen Umstandes nothwendig erscheint. Es sind stets zwei Gerichtszeugen, oder, wenn sich dies wegen Anerkennung der zu untersuchenden Gegenstände oder zur Erlangung von Aufklärungen als zweckdienlich darstellt, ist auch der Beschuldigte zuzuziehen. Dem Vertheidiger des Beschuldigten kann die Betheiligung bei der Vornahme des Augenscheines nicht versagt werden; auch ist ein bereits bestellter Vertheidiger, wenn kein besonderes Bedenken dagegen obwaltet, von der Vornahme des Augenscheines in Kenntniss zu setzen.
§. 117. Das über den Augenschein aufzunehmende Protokoll ist so bestimmt und umständlich abzufassen, dass es eine vollständige und treue Anschauung der besichtigten Gegenstände gewähre. Es sind demselben zu diesem Zwecke erforderlichenfalls Zeichnungen, Pläne oder Risse beizufügen; Masse, Gewichte, Grössen- und Ortsverhältnisse sind nach bekannten und unzweifelhaften Bestimmungen zu bezeichnen.
§. 118. Sind bei einem Augenscheine Sachverständige erforderlich, so soll der Untersuchungsrichter in der Regel deren zwei beiziehen.
[S. 6]
Die Beiziehung eines Sachverständigen genügt, wenn der Fall von geringerer Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines zweiten Sachverständigen für den Zweck der Untersuchung bedenklich erscheint.
§. 119. Die Wahl der Sachverständigen steht dem Untersuchungsrichter zu. Sind solche für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend angestellt, so soll er andere nur dann zuziehen, wenn Gefahr am Verzuge haftet, oder wenn jene durch besondere Verhältnisse abgehalten sind, oder in dem einzelnen Falle als bedenklich erscheinen.
Wenn ein Sachverständiger der an ihn ergangenen Vorladung nicht Folge leistet oder seine Mitwirkung bei der Vornahme des Augenscheines verweigert, so kann der Untersuchungsrichter eine Geldstrafe von fünf bis einhundert Gulden gegen ihn verhängen.
§. 120. Personen, welche in einem Untersuchungsfalle als Zeugen nicht vernommen oder nicht beeidet werden dürfen, oder welche zu dem Beschädigten oder dem Verletzten in einem der in §. 152, Z. 1, bezeichneten Verhältnisse stehen, sind bei sonstiger Nichtigkeit des Actes als Sachverständige nicht beizuziehen.[3] Von der Wahl der Sachverständigen sind in der Regel sowohl der Ankläger als der Beschuldigte vor der Vornahme des Augenscheines in Kenntniss zu setzen; werden erhebliche Einwendungen vorgebracht und haftet nicht Gefahr am Verzuge, so sind andere Sachverständige beizuziehen.
§. 121. Diejenigen Sachverständigen, welche vermöge ihrer bleibenden Anstellung schon im Allgemeinen beeidigt sind, hat der Untersuchungsrichter vor dem Beginne der Amtshandlung an die Heiligkeit des von ihnen abgelegten Eides zu erinnern.
Andere Sachverständige müssen vor der Vornahme des Augenscheines eidlich verpflichtet werden, dass sie den Gegenstand desselben sorgfältig untersuchen, die gemachten Wahrnehmungen treu und vollständig angeben und den Befund, sowie ihr Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft oder Kunst abgeben wollen.
§. 122. Die Gegenstände des Augenscheines sind von den Sachverständigen in Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen und zu untersuchen, ausser wenn Letztere aus Rücksichten des sittlichen Anstandes für angemessen erachten, sich zu entfernen, oder wenn die erforderlichen Wahrnehmungen, wie bei der[S. 7] Untersuchung von Giften, nur durch fortgesetzte Beobachtung oder länger dauernde Versuche gemacht werden können.
Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des Augenscheines ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die Glaubwürdigkeit der von den Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen sichergestellt werde.
Ist von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten, so soll ein Theil des letzteren, insoferne es thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden.
§. 123. Der Untersuchungsrichter leitet den Augenschein. Er bezeichnet mit möglichster Berücksichtigung der von dem Ankläger und dem Beschuldigten oder dessen Vertheidiger gestellten Anträge die Gegenstände, auf welche die Sachverständigen ihre Beobachtung zu richten haben, und stellt die Fragen, deren Beantwortung er für erforderlich hält. Die Sachverständigen können verlangen, dass ihnen aus den Acten oder durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über von ihnen bestimmt zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche sie für das abzugebende Gutachten für erforderlich erachten.
Wenn den Sachverständigen zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die Einsicht der Untersuchungsacten unerlässlich erscheint, können ihnen, soweit nicht besondere Bedenken dagegen obwalten, auch die Acten selbst mitgetheilt werden.
§. 124. Die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen gemachten Wahrnehmungen (Befund) sind von dem Protokollführer sogleich aufzuzeichnen. Das Gutachten sammt dessen Gründen können sie entweder sofort zu Protokoll geben oder sich die Abgabe eines schriftlichen Gutachtens vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist.
§. 125. Weichen die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen wahrgenommenen Thatsachen erheblich von einander ab, oder ist ihr Befund dunkel, unbestimmt, im Widerspruche mit sich selbst, oder mit erhobenen Thatumständen, und lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist der Augenschein, soferne es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder anderer Sachverständigen zu wiederholen.
§. 126. Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf das Gutachten, oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus den angegebenen Vordersätzen nicht folgerichtig gezogen sind, und lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Verständigung der Sachverständigen beseitigen, so ist das Gutachten eines anderen oder mehrerer anderen Sachverständigen einzuholen.
Sind die Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so kann in solchen Fällen das Gutachten einer medicinischen Facultät der im Reichsrathe vertretenen Länder eingeholt werden. Dasselbe geschieht, wenn die Rathskammer die Einholung eines Facultätsgutachtens wegen der Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles nöthig findet.
§. 127. Wenn sich bei einem Todesfalle Verdacht ergibt, dass derselbe durch ein Verbrechen oder Vergehen verursacht worden sei, so muss vor der Beerdigung die Leichenbeschau und Leichenöffnung vorgenommen werden.
Ist die Leiche bereits beerdigt, so muss sie zu diesem Behufe wieder ausgegraben werden, wenn nach den Umständen noch ein erhebliches Ergebniss davon erwartet werden kann und nicht dringende Gefahr für die Gesundheit der Personen, welche an der Leichenbeschau theilnehmen müssen, vorhanden ist.
§. 128. Die Leichenbeschau und Leichenöffnung ist durch zwei Aerzte, wovon der Eine auch nur ein Wundarzt sein kann, nach den dafür bestehenden besonderen Vorschriften vorzunehmen.
Der Arzt, welcher den Verstorbenen in der seinem Tode allenfalls vorhergegangenen Krankheit behandelt hat, ist, wenn es zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen und ohne Verzögerung geschehen kann, zur Gegenwart bei der Leichenbeschau aufzufordern.
[S. 8]
§. 131. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so sind der Erhebung des Thatbestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit noch zwei Chemiker beizuziehen. Die Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den Chemikern allein in einem hierzu geeigneten Locale vorgenommen werden.
§. 132. Auch bei körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des Verletzten durch zwei Sachverständige vorzunehmen....
§. 133. Ist die körperliche Besichtigung einer Frauensperson nöthig, so können nach Umständen auch Geburtshelfer oder in minder wichtigen Fällen Geburtshelferinnen statt der Aerzte oder Wundärzte damit beauftragt werden.
§. 134. Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch seiner Vernunft besitze, oder ob er an einer Geistesstörung leide, wodurch die Zurechnungsfähigkeit desselben aufgehoben sein könnte, so ist die Untersuchung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschuldigten jederzeit durch zwei Aerzte zu veranlassen.
§. 158. Steht die zu vernehmende Person in einem öffentlichen Amte oder Dienste und muss zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder anderer öffentlicher Interessen eine Stellvertretung während ihrer Verhinderung eintreten, so ist der unmittelbare Vorgesetzte von deren Vorladung gleichzeitig zu benachrichtigen.
Diese Vorschrift hat auch dann zu gelten, wenn Angestellte von Eisenbahnen und Dampfschiffen, im Staats- oder Gemeindedienste stehende Sanitätspersonen vorzuladen sind.
§. 221. — — — Zur Hauptverhandlung sind die Zeugen und Sachverständigen in der Art vorzuladen, dass in der Regel zwischen der Zustellung der Vorladung und dem Tage, an welchem die Hauptverhandlung vorgenommen wird, ein Zeitraum von drei Tagen in der Mitte liegt.
§. 222. Will der Ankläger, der Privatbetheiligte oder der Angeklagte die Vorladung von Zeugen oder Sachverständigen beantragen, welche nicht bereits zufolge der Anklageschrift oder des über den Einspruch gegen dieselbe ergangenen Erkenntnisses vorzuladen sind, so hat er diese dem Vorsitzenden unter Angabe der Thatsachen und Punkte, worüber der Vorzuladende vernommen werden soll, rechtzeitig anzuzeigen.
Die Liste der vorzuladenden Zeugen und Sachverständigen ist dem Gegner längstens drei Tage vor der Hauptverhandlung mitzutheilen, ausserdem können diese Personen nicht ohne seine Zustimmung vernommen werden, unbeschadet jedoch der dem Vorsitzenden in dieser Hinsicht eingeräumten Macht (§. 254).
§. 235. Der Vorsitzende hat darüber zu wachen, dass gegen Niemand Beschimpfungen oder offenbar ungegründete oder zur Sache nicht gehörige Beschuldigungen vorgebracht werden; hat sich der Angeklagte, der Privatankläger, der Privatbetheiligte, ein Zeuge oder ein Sachverständiger solche Aeusserungen erlaubt, so kann der Gerichtshof wider denselben auf Antrag des Beleidigten oder des Staatsanwaltes oder von Amtswegen Geldstrafe bis fünfzig Gulden oder Arreststrafe bis zu 8 Tagen, gegen einen Verhafteten aber eine angemessene Disciplinarstrafe verhängen.
§. 236 enthält gleiche Bestimmungen gegenüber derartigen vom Vertheidiger oder dem Vertreter des Privatanklägers oder des Privatbetheiligten ausgehenden Uebertretungen.
§. 241. Bei Beginn der Hauptverhandlung werden die vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen aufgerufen und der Vorsitzende weist sie an, nachdem er sie an die Heiligkeit des von ihnen abzulegenden Eides erinnert hat, sich in das für sie bestimmte Zimmer zu begeben. — — — — — — — — — — — — —
Rücksichtlich der Sachverständigen kann der Vorsitzende in allen Fällen, in welchen er es für die Erforschung der Wahrheit zweckdienlich findet, verfügen, dass dieselben sowohl während der Vernehmung des Angeklagten, als der Zeugen im Sitzungssaale bleiben.
[S. 9]
§. 242. Wenn Zeugen oder Sachverständige, der an sie ergangenen Vorladung ungeachtet, bei der Hauptverhandlung nicht erscheinen, so kann der Gerichtshof deren ungesäumte Vorführung verfügen.
Ist diese nicht möglich, so entscheidet der Gerichtshof nach Anhörung des Anklägers und des Angeklagten oder seines Vertheidigers, ob die Hauptverhandlung vertagt oder fortgesetzt werden und statt der mündlichen Abhörung jener Zeugen oder Sachverständigen die Verlesung der in der Voruntersuchung abgelegten Aussagen derselben erfolgen soll.
Der Ausgebliebene ist zu einer Geldstrafe von fünf bis fünfzig Gulden zu verurtheilen. Ist die Hauptverhandlung vertagt worden, so hat er überdies die Kosten der durch sein Ausbleiben vereitelten Sitzung zu tragen. Auch kann, um sein Erscheinen bei der neu angeordneten Sitzung zu sichern, ein Vorführungsbefehl wider ihn erlassen werden.
§. 243. Gegen die in Gemässheit des vorstehenden Paragraphen ausgesprochene Verurtheilung kann der Zeuge oder Sachverständige binnen acht Tagen nach Zustellung des gegen ihn ergangenen Erkenntnisses bei dem erkennenden Gerichtshofe Einspruch erheben.
Wenn er nachzuweisen vermag, dass ihm die Vorladung nicht gehörig zugestellt worden, oder dass ihn ein unvorhergesehenes und unabwendbares Hinderniss vom Erscheinen abgehalten habe, wird er von der wider ihn ausgesprochenen Strafe losgezählt.
Eine Minderung der verhängten Strafe oder des ihm auferlegten Kostenbetrages kann ausgesprochen werden, wenn er darzuthun im Stande ist, dass diese Strafe oder Kostenverurtheilung nicht im richtigen Verhältnisse zu seinem Verschulden oder zu den Folgen seines Ausbleibens steht.
Wird der Einspruch erst nach dem Schlusse der Hauptverhandlung erhoben, so entscheidet darüber der Gerichtshof erster Instanz in nicht öffentlicher Sitzung, in einer Versammlung von drei Richtern, von denen Einer den Vorsitz führt.
Gegen das über den Einspruch ergehende Erkenntniss ist kein Rechtsmittel zulässig.
§. 247. Zeugen und Sachverständige werden einzeln vorgerufen und in Anwesenheit des Angeklagten abgehört. — — — —
§. 248. Der Vorsitzende hat bei der Abhörung von Zeugen und Sachverständigen — — — — — — dafür zu sorgen, dass ein noch nicht vernommener Sachverständiger nicht bei der Vernehmung anderer Sachverständigen über denselben Gegenstand zugegen sei.
Zeugen und Sachverständige haben nach ihrer Vernehmung so lange in der Sitzung anwesend zu bleiben, als der Vorsitzende sie nicht entlässt.
§. 249. Ausser dem Vorsitzenden sind auch die übrigen Mitglieder des Gerichtshofes, der Ankläger, der Angeklagte und der Privatbetheiligte, sowie deren Vertreter befugt, an jede zu vernehmende Person, nachdem sie das Wort hierzu von dem Vorsitzenden erhalten haben, Fragen zu stellen (ebenso nach §. 315 die Geschworenen). Der Vorsitzende ist berechtigt, Fragen, die ihm unangemessen erscheinen, zurückzuweisen.
§. 252. — — — — — — die Gutachten der Sachverständigen dürfen nur in folgenden Fällen vorgelesen werden:
1. Wenn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind; wenn ihr Aufenthalt unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen ihres Alters, Krankheit oder Gebrechlichkeit oder wegen entfernten Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht bewerkstelligt werden konnte;
2. wenn die in der Hauptverhandlung Vernommenen in wesentlichen Punkten von ihren früher abgelegten Aussagen abweichen;
3. wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, oder wenn Mitschuldige die Aussage verweigern; endlich
4. wenn über die Verlesung Ankläger und Angeklagte einverstanden sind.
Augenscheins- und Befundaufnahmen — — — — müssen vorgelesen werden, wenn nicht beide Theile darauf verzichten.
[S. 10]
§. 253. Im Laufe oder am Schlusse des Beweisverfahrens lässt der Vorsitzende dem Angeklagten und, soweit es nöthig ist, den Zeugen und Sachverständigen diejenigen Gegenstände, welche zur Aufklärung des Sachverhaltes dienen können, vorlegen und fordert sie auf, sich zu erklären, ob sie dieselben anerkennen.
§. 254. Der Vorsitzende ist ermächtigt, ohne Antrag des Anklägers oder Angeklagten, Zeugen und Sachverständige, von welchen nach dem Gange der Verhandlung Aufklärung über erhebliche Thatsachen zu erwarten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen und nöthigenfalls vorführen zu lassen und zu vernehmen.
Ob eine Beeidigung solcher neuer Zeugen oder Sachverständigen stattfinde, darüber hat nach deren Abhörung und nach Vernehmung der Parteien der Gerichtshof zu entscheiden.
Der Vorsitzende kann auch neue Gutachten abfordern oder andere Beweismittel herbeischaffen lassen, mit dem Gerichte einen Augenschein vornehmen oder hierzu ein Mitglied des Gerichtshofes abordnen, welches darüber Bericht zu erstatten hat.
§. 384. Sachverständige, welche bei einem Gerichte bleibend als solche bestellt sind und dafür eine Entlohnung beziehen, haben nur den Ersatz der zur Erstattung eines Gutachtens nöthig gewesenen und gehörig nachgewiesenen Vorauslagen anzusprechen. Andere Sachverständige erhalten ausserdem eine von dem Gerichte mit Erwägung aller Umstände zu bemessende Gebühr. Soweit hierüber in den bestehenden Vorschriften nichts Besonderes bestimmt ist, wird die Gebühr zwischen einem und fünf Gulden, und in dem Falle, wenn zu dem Gutachten besondere wissenschaftliche, technische oder künstlerische Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, zwischen zwei Gulden und zwanzig Gulden bemessen. Zur Bewilligung einer diesen Betrag übersteigenden Entlohnung ist die Genehmigung des Gerichtshofes zweiter Instanz einzuholen.
Die Grundlage für die Entlohnung von ärztlichen Sachverständigen bildet die Minist.-Verordng. vom 17. Februar 1855, Nr. 33 R. G. B., welche lautet:
§. 1. Für die streng-gerichtsärztlichen Verrichtungen im Civil- und Strafverfahren hat der beiliegende Tarif I zu gelten.[4]
§. 2. Für andere bei den Gerichtsbehörden vorkommende ärztliche, wundärztliche und geburtshilfliche Verrichtungen ist die Entlohnung nach dem beiliegenden Tarife II zu bemessen.
§. 3. Für aussergewöhnliche Verrichtungen, welche in den Tarifen namentlich nicht aufgeführt erscheinen, ist unter genauer Nachweisung und Darstellung des Falles ein entsprechender Entlohnungsbetrag in Anrechnung zu bringen, worüber in jedem einzelnen Falle die Entscheidung des Oberlandesgerichtes einzuholen ist.
§. 4. Die nach diesen Tarifen gebührenden Entlohnungen werden den betreffenden Sanitätspersonen unmittelbar vom Aerar selbst dann vergütet, wenn das Aerar dritten Personen gegenüber den Ersatz dafür auszusprechen hat.
§. 5. Werden gerichtsärztliche Geschäfte ausserhalb des Wohnortes der dazu verwendeten Sanitätsperson besorgt, so hat dieselbe, nebst der für die Verrichtung selbst (nach Tarif I und II) entfallenden Entlohnung, auch noch eine Zehr- und Fahrkosten-Vergütung anzusprechen.
[S. 11]
Oesterr. Währ.
|
|||||
fl.
|
kr.
|
||||
In Civil-Rechtssachen.
|
|||||
Allg. bürgl.
Gesetzbuch §. 100. |
Ermittlung des ehelichen Unvermögens:
|
||||
a)
|
für die Untersuchung
|
2
|
10
|
||
b)
|
für jeden hierzu nothwendigen folgenden Besuch
|
—
|
52,5
|
||
c)
|
für das schriftliche Gutachten
|
1
|
5
|
||
§§. 273, 283,
567. |
Für die Untersuchung eines an Wahn- oder Blödsinn
Leidenden, und zwar:
|
||||
a)
|
wegen Bestimmung des Wahn- oder Blödsinns
|
2.10 bis 4.20
|
|||
b)
|
wegen Bestimmung der Heilung desselben
|
||||
c)
|
wegen Bestimmung der heiteren Zwischenzeit
|
||||
Für jeden folgenden nothwendigen Besuch
|
1
|
5
|
|||
Für das schriftliche Gutachten, je nach der geringeren
oder grösseren Ausführlichkeit.
|
2.10 bis 5.25
|
||||
§. 926.
|
Für die Untersuchung wegen Gewährleistung für
bestimmte Viehkrankheiten:
|
||||
a)
|
bei Schafen oder anderen kleien Thieren
von 1–5 Stück |
—
|
52,5
|
||
bei 5–10 Stück
|
—
|
52,7
|
|||
und so fort;
|
|||||
b)
|
bei Rindern und Pferden für 1 Stück
|
1
|
5
|
||
§§. 1325, 1328.
|
Für die Untersuchung bei körperlichen Verletzungen,
insoferne sie ausser dem Strafverfahren vorkommt
|
2
|
10
|
||
Für jeden erforderlichen folgenden Besuch
|
—
|
52,5
|
|||
Für die Abgabe eines abgesonderten Gutachtens
|
2
|
10
|
|||
Im Strafverfahren.
|
|||||
A. Verbrechen.
|
|||||
Strafgesetz
§§. 125, 127, 128. |
Für die Untersuchung bei der Nothzucht oder bei
der Schändung
|
1
|
5
|
||
§§. 129, 132 zu IV.
|
Für die Untersuchung bei der Unzucht gegen die Natur
oder bei der Kuppelei durch Verführung einer unschuldigen Person
|
1
|
5
|
||
§§. 134 bis 143.
|
Für die gerichtliche Section (Leicheneröffnung)
|
3
|
15
|
||
§. 161.
|
Für die gerichtliche Section eines Neugeborenen
mit Vornahme der Lungenprobe
|
4
|
20
|
||
In Fällen, wo die Untersuchung an faulen Leichen
vorzunehmen ist, über die oben angeführte Gebühr noch
|
2
|
10
|
|||
Für die Vornahme einer chemischen Untersuchung
bei Vergifteten nebst dem Ersatze der dazu verwendeten, nach der
Arzneitaxe berechneten Prüfungsmittel
|
6.30 bis 10.50
|
||||
Für Leitung und Ueberwachung der Untersuchung
und für das darüber abgefasste Gutachten dem Arzte
|
3.15 bis 5.25
|
||||
[S. 12] |
Für die nachträgliche Untersuchung des Mordwerkzeuges
oder anderer hieher gehöriger Gegenstände
|
2
|
10
|
||
Im Falle aber letztere Gifte wären, nebst Ersatz der
Prüfungsmittel
|
4
|
20
|
|||
§§. 144, 148.
|
Für die Untersuchung der Mutter bei dem Verdachte
der Abtreibung der Leibesfrucht
|
2
|
10
|
||
§§. 149, 151.
|
Für die bei Weglegung von Neugeborenen erforderlichen
Untersuchungen
|
|
|
||
a)
|
bei lebend gefundenen Kindern
|
2
|
10
|
||
b)
|
bei todt gefundenen Kindern
|
4
|
20
|
||
§§. 152, 157, 160.
|
Für die Untersuchung eines körperlich schwer
Beschädigten oder im Zweikampfe Verwundeten
|
2
|
10
|
||
Für jeden erforderlichen folgenden Besuch
|
—
|
52,5
|
|||
Für die Abgabe eines gesonderten Gutachtens
|
2
|
10
|
|||
Untersuchung eines Gefangenen bezüglich der
Leibesbeschaffenheit (Gebrechen) etc.
|
—
|
17,5
|
|||
Strafgesetz §§. 335 bis 337.
|
B. Vergehen und
Uebertretungen.
|
||||
a)
|
Für die Untersuchung einer leichten körperlichen
Verletzung
|
1
|
5
|
||
b)
|
Für die Untersuchung einer leichten schweren
Verletzung
|
2
|
10
|
||
c)
|
Für die Untersuchung im Falle der Tödtung (gerichtliche
Section) die oben bei den §§. 134 bis 143 vorkommenden Gebühren.
|
||||
§§. 339, 340.
|
Untersuchung der Wöchnerin wegen verheimlichter
Geburt
|
1
|
5
|
||
Untersuchung einer unreifen Frucht
|
1
|
5
|
|||
Im Falle die Section des Kindes nöthig ist, dafür
sammt Gutachten
|
3
|
15
|
|||
§. 345.
|
Untersuchung einer verbotenen Arznei (beim
Verkaufe derselben von Seite Berechtigter)
|
1
|
5
|
||
§. 349.
|
Für die Untersuchung einer schlecht oder falsch
bereiteten Arznei (ausgenommen, wenn eine chemische Untersuchung
nöthig wäre)
|
1
|
5
|
||
§. 353.
|
Untersuchung von verwechselten Arzneien
|
1
|
5
|
||
§. 354.
|
Untersuchung bei unbefugtem Handel mit Arzneien:
|
||||
a)
|
einzelner oder einiger ohne Rücksichten auf die
Qualität
|
1
|
5
|
||
§§. 356 bis
358. |
b)
|
vieler oder ganzer Sammlungen derselben
|
1.05 bis 4.20
|
||
Untersuchung bei einem Verschulden eines Heil- oder
Wundarztes die bei §. 335 bezeichneten Gebühren.
|
|||||
§. 360.
|
Untersuchung bei Vernachlässigung einer Krankheit
|
1
|
5
|
||
§. 354.
|
Untersuchung eines Giftes, wenn es bei Krämern oder
Hausierern gefunden wird:
|
||||
a)
|
wenn der Augenschein genügt
|
—
|
21
|
||
b)
|
für eine weitläufigere Untersuchung
|
1.05 bis 2.—
|
|||
§. 379.
|
Untersuchung einer mit einer schändlichen oder sonst
ansteckenden Krankheit behafteten Amme oder Hebamme
|
1
|
5
|
||
§. 387.
|
Untersuchung eines wüthenden oder wuthverdächtigen
Thieres
|
2
|
10
|
||
[S. 13]
§. 391.
|
Untersuchung eines bösartigen Thieres
|
1
|
5
|
||
§. 399.
|
Untersuchung von Fleisch bei Gewerbsleuten
|
1
|
5
|
||
§§. 400, 401.
|
Untersuchung von krankem Viehe bei einer Viehseuche
die bei §. 929 a. b. G. B. bezeichneten Gebühren.
|
||||
§§. 403, 405.
|
Untersuchung von Getränken
|
1
|
5
|
||
§§. 406 bis 408.
|
Untersuchung von Zinngeschirr oder anderen
gesundheitsschädlichen Aufbewahrungen oder Zubereitungen von
Genussmitteln, sammt den hierbei erforderlichen chemischen
Untersuchungen
|
1
|
5
|
||
§. 409.
|
Untersuchung der Selbstverstümmelungen: wie
bei leichten oder schweren körperlichen Verletzungen
|
||||
§§. 411 bis 430.
|
Untersuchung bei Raufhändeln oder anderen in diesen
Paragraphen bezeichneten Fällen nach Beschaffenheit der stattgefundenen
leichteren oder schwereren Verletzungen und der Zahl der verletzten
Personen, wie oben.
|
||||
§. 431.
|
Untersuchung der im §. 341 bezeichneten Fälle
nach den vorstehend entwickelten Ansätzen.
|
||||
Anhang.
|
|||||
1.
|
Für ein von Seite des Gerichtes gefordertes
Krankheitszeugniss
|
1
|
5
|
||
2.
|
Für die Beiwohnung bei einer gewöhnlichen
Hauptverhandlung, Gerichtssitzung, um Aufschlüsse zu geben:
|
||||
a)
|
für einen halben Tag
|
3
|
15
|
||
b)
|
für einen ganzen Tag
|
5
|
25
|
||
c)
|
für jeden folgenden halben Tag
|
2
|
10
|
||
3.
|
Gerichtliche Section eines todten Thieres:
|
||||
a)
|
eines grösseren
|
3
|
15
|
||
b)
|
eines kleineren
|
1
|
57,5
|
Wenn diese Verrichtungen von einem Wundarzte vorgenommen werden, so erhält er nur die Hälfte der hier angesetzten Gebühren.
Nebst den hier angesetzten Gebühren haben die von den Gerichten als Sachverständige in Anspruch genommenen Sanitätspersonen, wenn die Verrichtung für das Gericht ihre Entfernung von dem Wohnorte erheischt, die durch die bestehenden Gesetze und Verordnungen bestimmten Diäten und Reisegelder zu fordern.
Das österr. Strafgesetz vom 27. Mai 1852 enthält bezüglich der Sachverständigen folgende Bestimmungen:
§. 153. Dieses Verbrechens (der schweren körperlichen Beschädigung) macht sich auch derjenige schuldig, der — — — — einen Zeugen oder Sachverständigen, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder wegen derselben vorsätzlich am Körper beschädigt.
§. 300. Wer öffentlich, oder vor mehreren Leuten oder in Druckwerken verbreiteten bildlichen Darstellungen oder Schriften durch Schmähungen, Verspottungen, unwahre Angaben oder Entstellungen von Thatsachen — — — — gegen einen Zeugen oder Sachverständigen in Bezug auf ihre Aussagen vor Gericht aufzureizen sucht — — — — ist des Vergehens der Aufwieglung schuldig und mit ein- bis sechsmonatlichem Arrest zu bestrafen.
[S. 14]
Von den einschlägigen Special-Erlässen ist mit Rücksicht auf die mitunter voreilige Publication gerichtsärztlich interessanter Fälle das Gesetz vom 17. December 1862 zu erwähnen, dessen Art. VII lautet:
Wer den Inhalt der im Laufe einer strafgerichtlichen Untersuchung zu den Acten gebrachten Beweisurkunden oder Aussagen von Beschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen vor Beendigung der Untersuchung und bevor davon in der Hauptverhandlung Gebrauch gemacht worden ist, durch den Druck veröffentlicht, macht sich eines Vergehens schuldig und ist mit einer Geldstrafe von 50 bis 500 fl. zu belegen.
Eine gleiche Bestimmung enthält der §. 133 des „Entwurfes eines neuen Strafgesetzes“ (Regierungsvorlage vom Jahre 1889).
Ebenda heisst es im §. 160: Wer vor Gericht — — — — — — — eine unwahre Aussage mit einem Eide bekräftigt oder auf einen vorher abgelegten Eid nimmt, wird wegen Meineides mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter drei Monaten bestraft. Ausserdem kann auf eine Geldstrafe bis zu 5000 fl. erkannt werden, wenn der Meineid um rechtswidriger Vortheile willen abgelegt wurde.
§. 161. Wer vor Gericht oder vor einem Schiedsgericht, aber nicht unter Eid, ein falsches Zeugniss, einen falschen Befund oder ein falsches Gutachten abgibt, wird mit Gefängniss bestraft.
§. 162. Ist der Meineid oder die falsche Aussage in einer Strafsache zum Nachtheil der Beschuldigten abgelegt worden, so ist auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren zu erkennen. Wenn der Beschuldigte zur Zuchthausstrafe oder zu einer anderen mehr als dreijährigen Freiheitsstrafe oder zu einer noch strengeren Strafe verurtheilt worden ist, so ist im Falle des Meineides auf Zuchthaus nicht unter 3 Jahren zu erkennen.
Ferner im §. 295: Aerzte und andere approbirte Medicinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugniss über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauche bei einer Behörde oder Versicherungsunternehmung wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Gefängniss von einem Monat bis zu 2 Jahren oder an Geld von 100 bis 500 fl. bestraft.
Die auf die Sachverständigen und den Augenschein bezüglichen Bestimmungen der deutschen Strafprocessordnung vom 1. Februar 1877 lauten:
§. 72. Auf Sachverständige finden die Vorschriften des sechsten Abschnittes über Zeugen entsprechende Anwendung, insoweit nicht in den nachfolgenden Paragraphen abweichende Bestimmungen getroffen sind.
§. 73. Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch den Richter.
Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn die besonderen Umstände es erfordern.
§. 74. Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen, welche zur Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden.[5] Ein Ablehnungsgrund kann jedoch nicht daraus entnommen werden, dass der Sachverständige als Zeuge vernommen worden ist. Das Ablehnungsrecht steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu. Die ernannten Sachverständigen sind den zur Ablehnung Berechtigten namhaft zu machen, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen. Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen; der Eid ist als Mittel der Glaubhaftmachung ausgeschlossen.
[S. 15]
§. 75. Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der erforderlichen Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntniss Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerbe ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben öffentlich bestellt oder ermächtigt ist.
Zur Erstattung des Gutachtens ist auch derjenige verpflichtet, welcher sich zu derselben vor Gericht bereit erklärt hat.
§. 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das Zeugniss zu verweigern, berechtigen einen Sachverständigen zur Verweigerung des Gutachtens.[6] Auch aus anderen Gründen kann ein Sachverständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens entbunden werden.
Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen findet nicht statt, wenn die vorgesetzte Behörde des Beamten erklärt, dass die Vernehmung den dienstlichen Interessen Nachtheil bereiten würde.
§. 77. Im Falle des Nichterscheinens oder der Weigerung eines zur Erstattung des Gutachtens verpflichteten Sachverständigen wird dieser zum Ersatze der Kosten und zu einer Geldstrafe bis zu 300 Mark verurtheilt. Im Falle wiederholten Ungehorsams kann noch einmal eine Geldstrafe bis zu 600 Mark erkannt werden.
Die Festsetzung und die Vollstreckung der Strafe gegen eine dem activen Heere oder der activen Marine angehörende Militärperson erfolgt auf Ersuchen durch das Militärgericht.
§. 78. Der Richter hat, soweit ihm dies erforderlich erscheint, die Thätigkeit der Sachverständigen zu leiten.
§. 79. Der Sachverständige hat vor Erstattung des Gutachtens einen Eid dahin zu leisten: „dass er das von ihm erforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen erstatten werde“.
Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im Allgemeinen beeidigt, so genügt die Berufung auf den geleisteten Eid.
§. 80. Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden.
Zu demselben Zwecke kann ihm gestattet werden, die Acten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an diesen unmittelbar Fragen zu stellen.
§. 82. Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab, ob die Sachverständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten haben.
§. 83. Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für ungenügend erachtet.
Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist.
In wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden.
§. 84. Der Sachverständige hat nach Massgabe der Gebührenordnung Anspruch auf Entschädigung für Zeitversäumniss, auf Erstattung der ihm verursachten Kosten und ausserdem auf angemessene Vergütung seiner Mühewaltung.
Die Gebühren für gerichtsärztliche Verrichtungen sind durch das Gesetz vom 9. März 1872 fixirt. Diesem zufolge entfallen:
Für die Besichtigung eines Leichnams ohne Obduction (einschliesslich der Terminsgebühr): 2 Thaler.[7]
[S. 16]
Für den Bericht hierüber, falls derselbe nicht sogleich zu Protokoll gegeben wird: 1 Thaler.
Für Besichtigung und Obduction eines Leichnams (einschliesslich der Terminsgebühr): 4 Thaler.
Wenn der Leichnam bereits 6 Wochen oder länger begraben war oder 14 Tage im Wasser gelegen hatte: 8 Thaler.
Für den vollständigen Obductionsbericht: 2–6 Thaler.
Für jedes andere mit wissenschaftlichen Gründen unterstützte, nicht bereits im Termin zu Protokoll gegebene Gutachten, es mag dasselbe den körperlichen oder geistigen Zustand einer Person oder eine Sache betreffen, 2–8 Thaler.
Die höheren Sätze sind insbesondere dann zu bewilligen, wenn eine zeitraubende Einsicht der Acten nothwendig war oder die Untersuchung die Anwendung des Mikroskopes oder anderer Instrumente oder Apparate erforderte, deren Handhabung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist.
Für die Ausstellung eines Befundscheines ohne nähere gutachtliche Ausführung: 1 Thaler.
Der bei der Obduction zugezogene zweite Medicinalbeamte erhält für den Bericht: 1–3 Thaler.
Sind zwei Medicinalbeamte zu einem gemeinschaftlichen Gutachten über den Gemüthszustand eines Menschen aufgefordert, so erhält jeder derselben die Gebühr.
Für jeden nöthigen besonderen Vorbesuch: 1 Thaler.
Für mehr als 3 Vorbesuche passirt die Gebühr nur insoweit, als die Vorbesuche auf ausdrückliches Verlangen der requirirenden Behörde gemacht sind.
Für eine gerichtliche oder medicinal-polizeiliche chemische Untersuchung einschliesslich des Berichtes nebst Vergütung der verbrauchten Reagentien und Apparate: 4–25 Thaler.
Für Abwartung eines Termins (Verhandlung) 2 Thaler, und insoferne der Termin über 3 Stunden dauert, für jede folgende ganze oder angefangene Stunde 15 Sgr. Diese Sätze finden auch Anwendung für die Zuziehung zur mündlichen Hauptverhandlung in Untersuchungssachen, und zwar werden dieselben, wenn die Zuziehung an mehreren Verhandlungstagen stattgefunden hat, für jeden Tag besonders berechnet.[8]
§. 86. Findet die Einnahme eines gerichtlichen Augenscheines statt, so ist im Protokoll der vorgefundene Sachbestand festzustellen und darüber Auskunft zu geben, welche Spuren oder Merkmale, deren Vorhandensein nach der besonderen Beschaffenheit des Falles vermuthet werden konnte, gefehlt haben.
§. 87. Die richterliche Leichenschau wird unter Zuziehung eines Arztes, die Leichenöffnung im Beisinn des Richters von zwei Aerzten, unter welchen sich ein Gerichtsarzt befinden muss, vorgenommen. Demjenigen Arzte, welcher den Verstorbenen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat, ist die Leichenöffnung nicht zu übertragen. Derselbe kann jedoch aufgefordert werden, der Leichenöffnung anzuwohnen, um aus der Krankheitsgeschichte Aufschlüsse zu geben.
Die Zuziehung eines Arztes kann bei der Leichenschau unterbleiben, wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich ist.
§. 89. Die Leichenöffnung muss sich, soweit der Zustand der Leiche dies gestattet, stets auf die Oeffnung der Kopf-, Brust- und Bauchhöhle erstrecken.
§. 91. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen.
Der Richter kann anordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines Arztes stattzufinden habe.
[S. 17]
§. 191. Findet die Einnahme eines Augenscheines statt, so ist der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und dem Vertheidiger die Anwesenheit bei der Verhandlung zu gestatten.
Dasselbe gilt, wenn ein Sachverständiger vernommen werden soll, welcher voraussichtlich am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhindert oder dessen Erscheinen wegen grosser Entfernung besonders erschwert sein wird.
§. 193. Findet die Einnahme eines Augenscheines unter Zuziehung von Sachverständigen statt, so kann der Angeschuldigte beantragen, dass die von ihm für die Hauptverhandlung in Vorschlag zu bringenden Sachverständigen zu den Terminen geladen werden und, wenn der Richter den Antrag ablehnt, sie selbst laden lassen.
Den von dem Angeschuldigten benannten Sachverständigen ist die Theilnahme am Augenschein und an den erforderlichen Untersuchungen insoweit zu gestatten, als dadurch die Thätigkeit der vom Richter bestellten Sachverständigen nicht behindert wird.
§. 218. Verlangt der Angeklagte die Ladung von Sachverständigen zur Hauptverhandlung, so hat er unter Angabe der Thatsache, über welche der Beweis erhoben werden soll, seine Anträge bei dem Vorsitzenden des Gerichts zu stellen.
§. 219. Lehnt der Vorsitzende den Antrag auf Ladung einer Person ab, so kann der Angeklagte die letztere unmittelbar laden lassen. Hierzu ist er auch ohne vorgängigen Antrag befugt.
Eine unmittelbar geladene Person ist nur dann zum Erscheinen verpflichtet, wenn ihr bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten und Versäumniss baar dargeboten oder deren Hinterlegung bei dem Gerichtsschreiber nachgewiesen wird.
§. 220. Der Vorsitzende des Gerichts kann auch von Amtswegen die Ladung von Sachverständigen anordnen.
§. 221. Der Angeklagte hat die von ihm unmittelbar geladenen oder zur Hauptverhandlung zu stellenden Sachverständigen rechtzeitig der Staatsanwaltschaft namhaft zu machen und ihren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben.
Diese Verpflichtung hat die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten, wenn sie ausser den in der Anklageschrift benannten oder auf Antrag des Angeklagten geladenen Sachverständigen die Ladung noch anderer Personen, sei es auf Anordnung des Vorsitzenden (§. 220) oder aus eigener Entschliessung, bewirkt.
§. 222. Wenn dem Erscheinen eines Sachverständigen in einer Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit oder Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen, so kann das Gericht die Vernehmung desselben durch einen beauftragten oder ersuchten Richter anordnen.
Dasselbe gilt, wenn ein Sachverständiger vernommen werden soll, dessen Erscheinen wegen grosser Entfernung besonders erschwert sein wird.
§. 238. Die Vernehmung der Sachverständigen ist der Staatsanwaltschaft und dem Vertheidiger auf deren übereinstimmenden Antrag von dem Vorsitzenden zu überlassen. Bei den von der Staatsanwaltschaft benannten Sachverständigen hat diese, bei den von den Angeklagten benannten der Vertheidiger in erster Reihe das Recht zur Vernehmung.
§. 239. Der Vorsitzende hat den beisitzenden Richtern auf Verlangen zu gestatten, Fragen an die Zeugen und Sachverständigen zu stellen. Dasselbe hat der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten und dem Vertheidiger, sowie den Geschworenen und den Schöffen zu gestatten.
§. 240. Demjenigen, welcher im Falle des §. 238, Abs. 1 die Befugnisse der Vernehmung missbraucht, kann dieselbe von dem Vorsitzenden entzogen werden.
In den Fällen des §. 238, Abs. 1 und des §. 239, Abs. 2 kann der Vorsitzende ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen zurückweisen.
§. 241. Zweifel über die Zulässigkeit einer Frage entscheidet das Gericht.
§. 247. Die vernommenen Sachverständigen dürfen sich nur mit Genehmigung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der Gerichtsstelle entfernen.
Deutsche Civilprocessordnung v. J. 1877, Achter Titel. Beweis durch Sachverständige §§. 367–378 im Allgemeinen identisch mit den analogen Bestimmungen der St. P. O.
[S. 18]
§. 379. (Sachverständige Zeugen.) Insoweit zum Beweise vergangener Thatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu vernehmen sind, kommen die Vorschriften über den Zeugenbeweis zur Anwendung.
Deutsches Strafgesetzbuch, §. 278. Aerzte und andere approbirte Medicinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugniss über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauche bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Gefängniss von einem Monat bis zu zwei Jahren bestraft.
Aus den vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen ist zunächst zu entnehmen, dass die Wahl der in dem einzelnen Falle heranzuziehenden Sachverständigen, mithin auch der Gerichtsärzte, im Allgemeinen dem Richter vorbehalten ist. Es erscheint jedoch dieses Recht schon insoferne eingeschränkt, als er nach §. 119 der österr., §. 73 der deutschen St. P. O. und §. 369 der deutschen C. P. O., wenn Sachverständige für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend angestellt sind, andere nur dann zuziehen soll, wenn besondere Umstände dies erfordern, namentlich (österr. St. P. O.) wenn Gefahr am Verzuge haftet, oder wenn jene durch besondere Verhältnisse abgehalten sind oder in dem einzelnen Falle als bedenklich erscheinen. Diese Verfügung kann man nur begrüssen, nicht blos im Interesse der betreffenden Angestellten, sondern vorzugsweise im Interesse der Sache, da auf diese Art den Einzelnen Gelegenheit geboten ist, sich durch wiederholte einschlägige Untersuchungen eigene praktische Erfahrungen zu sammeln, welche den Blick schärfen und eine gewisse Sicherheit des Urtheils verleihen, die bei dem Anfänger oder Neuling in solchen Untersuchungen, trotz mitunter tüchtiger Vorbildung, noch nicht erwartet werden kann.[9]
Ferner ist es dem österr. Richter bei sonstiger Nichtigkeit des Actes nicht gestattet, solche Personen als Gerichtsärzte beizuziehen, welche auch als Zeugen nicht vernommen (§. 151) oder wegen eines der im §. 170 angegebenen Umstände nicht beeidet werden dürften, sowie weiter Personen, die zu dem Beschuldigten oder dem Verletzten in einem der in §. 152, Z. 1 bezeichneten Verhältnisse stehen.
Auch von Seite des Anklägers und des Beschuldigten können nach §. 120 der österr. und §. 74 der deutschen St. P. O., resp. §. 371 der C. P. O. Einwendungen gegen die Berufung bestimmter Sachverständiger zur Vornahme des Augenscheines erhoben werden und es sollen in einem solchen Falle, wenn die gemachten Einwendungen erheblich sind und nicht Gefahr am Verzuge haftet, andere Sachverständige beigezogen werden.
Eine ausdrückliche Bestimmung, dass dem Arzte, welcher einen Verstorbenen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat, die gerichtliche Obduction der[S. 19] Leiche nicht übertragen werden dürfe, wie im §. 87 der St. P. O. für das deutsche Reich, ist in der österr. St. P. O. nicht enthalten, dagegen verordnet die Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau vom 28. Jänner 1855 im §. 7: dass „der Unparteilichkeit des Urtheils wegen der behandelnde Arzt des Verstorbenen, wo es nur immer möglich ist, als beschauender Arzt nicht verwendet werden soll“; eine Bestimmung, die nach allen Richtungen gerechtfertigt erscheint und auch auf andere gerichtsärztliche Functionen ausgedehnt werden sollte.[10]
Ob ein Arzt, der in einem Untersuchungsfalle Zeuge ist, gleichzeitig auch als Sachverständiger fungiren kann, wird in der österr. St. P. O. nicht erwähnt, wohl aber bemerkt die deutsche St. P. O. (§. 74) und C. P. O. (§. 371), dass daraus, dass der Sachverständige als Zeuge vernommen worden ist, ein Ablehnungsgrund nicht entnommen werden kann. Unserer Ansicht nach sollte dies jedoch ebenfalls die „Unparteilichkeit des Urtheiles“ fordern, und wir kennen in der That Fälle, in welchen ein österreichischer Richter, wie wir glauben mit Recht, einen angestellten Gerichtsarzt als Sachverständigen nicht beizog, weil dieser in demselben Untersuchungsfalle als Zeuge auszusagen hatte.
Erwähnt sei noch, dass zufolge der Min.-Vdg. vom 21. October 1853 die Professoren der medicinischen Facultäten, wenn es nicht die Wichtigkeit des Falles oder andere besondere Umstände nothwendig machen, als Sachverständige zu strafgerichtlichen Untersuchungen nicht verwendet oder mindestens nicht länger dazu beigezogen werden sollen, als es unumgänglich nothwendig ist; eine Vorschrift, die mit Justiz-Min.-Erl. vom 24. März 1855 auch auf die der philosophischen Facultät zugewiesenen Professoren der Chemie ausgedehnt wurde.
Uns ist nicht bekannt, durch welche Vorkommnisse diese Erlässe dictirt wurden, wir müssten jedoch entschieden dagegen protestiren, wenn dieselben auch auf den Professor der gerichtlichen Medicin ausgedehnt würden, denn es liegt im Interesse seines Faches, dass er mit gerichtsärztlichen Untersuchungen betraut wird und diese so viel als möglich zu Lehr- und Lernzwecken ausbeuten kann, denn das betreffende Material ist für ihn und für sein Fach von eben so grosser Bedeutung wie das klinische für den Kliniker und das anatomische für den Anatomen. Wenn demnach in Wien und Prag die gerichtsärztlichen Untersuchungen den betreffenden Professoren der gerichtlichen Medicin anvertraut werden, so kann dies nur als eine die Heranbildung tüchtiger Gerichtsärzte und den Fortschritt des Faches fördernde Massregel betrachtet werden, ebenso wie es keiner weiteren[S. 20] Ausführung bedarf, dass die ausgezeichneten Leistungen eines Casper, Taylor, Tardieu, Maschka, Liman u. A. auf dem Gebiete der gerichtlichen Medicin in erster Linie durch den Umstand gefördert wurden, dass ihnen ein reichhaltiges gerichtsärztliches Material zu Gebote stand und von ihnen wissenschaftlich ausgebeutet werden konnte.
Abgesehen von den erwähnten Fällen[11] ist jeder Arzt verpflichtet, der an ihn ergangenen Vorladung, eine Function als Sachverständiger zu übernehmen, Folge zu leisten, und kann im Weigerungsfalle eine Geldstrafe von 5–100 fl. über ihn verhängt werden (§. 119). Ebenso verfällt er in eine Geldstrafe von 5–50 fl., wenn er der an ihn ergangenen Vorladung ungeachtet bei der Hauptverhandlung nicht erscheint, in welchem Falle er auch zum Ersatz der Kosten der vertagten Hauptverhandlung verurtheilt und gegen ihn selbst ein Vorführungsbefehl erlassen werden kann (§. 242). Der dem Arzte dann offenstehende Recursweg ist im §. 243 ausgeführt. Analoge Bestimmungen enthält die St. P. O. für das deutsche Reich im §. 77.
Gegen den in diesen Paragraphen decretirten Berufszwang haben sich bekanntlich, ebenso wie gegen andere einschlägige gesetzliche Bestimmungen, viele Stimmen, sowohl einzelner Aerzte als ganzer ärztlicher Gesellschaften, erhoben. Ohne auf die von diesen geltend gemachten Einwände einzugehen, möchten wir nur bemerken, dass, wenn man schon den Zwang nicht umgehen konnte, es doch angezeigt gewesen wäre, denselben nur auf active Aerzte auszudehnen und unter diesen besonders auf solche, welche die zur Untersuchung und Beurtheilung des betreffenden Falles nöthigen Specialkenntnisse besitzen, da es doch dem Zwecke der Untersuchung direct widerspricht, z. B. eine Untersuchung des Geisteszustandes[S. 21] eines Individuums einem Arzte zuzuweisen, der sich niemals mit psychiatrischen Studien befasste, oder über specifisch gerichtsärztliche Fragen von Jemandem ein Gutachten zu verlangen, der kaum die nothdürftigsten einschlägigen Kenntnisse besitzt.
Die deutsche St. P. O. ist diesen Forderungen wenigstens theilweise gerecht geworden, insoferne als sie im §. 75 bestimmt, „dass der zum Sachverständigen Ernannte der Ernennung Folge zu leisten habe, wenn er zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntniss Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerbe ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben öffentlich bestellt oder ermächtigt ist“.
Für unsere österreichischen Verhältnisse wäre es vielleicht am zweckmässigsten, nur diejenigen Aerzte zur Uebernahme gerichtsärztlicher Functionen unbedingt zu verpflichten, welche die Physikatsprüfung abgelegt haben, da bei dieser die gerichtliche Medicin und die forensische Psychologie besonders ausführlich, und zwar theoretisch und praktisch geprüft wird, die Heranziehung anderer Aerzte aber auf bestimmte, näher zu präcisirende Fälle zu beschränken.
Sehr gerechtfertigt ist die im §. 158 d. österr. St. P. O. enthaltene Verordnung, dass, wenn die einzuvernehmende Person in einem öffentlichen Amte oder Dienste steht und zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder anderer öffentlicher Interessen eine Stellvertretung derselben einzutreten hat, der unmittelbare Vorgesetzte derselben von der Vorladung gleichzeitig zu benachrichtigen ist, eine Vorschrift, die auch auf Angestellte an Eisenbahnen, Dampfschiffen und auf im Staats- oder Gemeindedienste stehende Sanitätspersonen ausgedehnt wurde.
Anschliessend an diese Bestimmung ist zu erwähnen, dass zufolge des österr. Sanitätsgesetzes vom 30. April 1870, §. 8, lit. d): „die landesfürstlichen Bezirksärzte als solche auch verpflichtet sind, sich gegen Bezug der normalmässigen Gebühren als Gerichtsärzte verwenden zu lassen.“
Bezüglich der Zahl der zu einem Augenschein zu berufenden Sachverständigen verordnet der §. 118 der österr. St. P. O., dass in der Regel deren zwei beizuziehen seien, dass jedoch die Beiziehung eines Sachverständigen genüge, wenn der Fall von geringerer Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines zweiten Sachverständigen für den Zweck der Untersuchung bedenklich erscheint. Ausdrücklich fordert die St. P. O. die Intervention zweier Gerichtsärzte bei der Vornahme einer gerichtlichen Leichenbeschau und Leichenöffnung (§. 128), und bei Verdacht einer Vergiftung, auch nach Thunlichkeit die Beiziehung zweier Chemiker (§. 131), dann bei der Besichtigung von Verletzten (§. 132) und bei Untersuchungen des Geisteszustandes eines Beschädigten (§. 134); doch bestimmt die Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau vom Jahre 1855 im §. 5: dass, wenn bei bereits[S. 22] weit vorgeschrittener Fäulniss der Leiche ein Arzt wegen zu grosser Entfernung nicht schnell genug herbeigeholt werden könnte, oder eine der Sanitätspersonen zur bestimmten Stunde nicht erscheint, oder der Augenschein nur aus Anlass einer Uebertretung vorgenommen wird u. dergl., die Vornahme der Obduction auch nur durch eine Sanitätsperson zulässig sei, dass aber die Unterlassung der Beiziehung einer zweiten Sanitätsperson jedesmal in dem Protokoll besonders angeführt und begründet werden soll.
Die St. P. O. für das deutsche Reich überlässt nach §. 73 die Bestimmung der Anzahl der herbeizuziehenden Sachverständigen dem Richter und fordert blos bei der gerichtlichen Leichenöffnung die Gegenwart zweier Aerzte, während ihr bei der gerichtlichen Leichenschau die Zuziehung nur eines Arztes genügt, und sogar bemerkt wird, dass die Zuziehung eines Arztes bei der Leichenschau ganz unterbleiben kann, wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich ist.
Ueber die Zweckdienlichkeit letzterer Bestimmung, die offenbar der Institution der englischen Coroners nachgeahmt ist, liesse sich streiten. Was jedoch die überall geforderte Beiziehung zweier Aerzte zu einer gerichtlichen Obduction betrifft, so ist es offenbar die besondere Wichtigkeit einer solchen Untersuchung und die durch die gleichzeitige Intervention zweier Sachverständigen erhöhte Verlässlichkeit des Obductionsbefundes, die jene ausdrückliche Forderung veranlasste. Wenn aber der Motivenbericht zu einer analogen Bestimmung des Entwurfes einer neuen St. P. O. für Bayern vom Jahre 1870[12] ausserdem bemerkt: Die Zuziehung zweier Sachverständigen zur Leichenöffnung sei auch deshalb nothwendig, weil nicht alle Aerzte die dazu nöthige technische Geschicklichkeit und körperliche Eignung besitzen, so könnten wir nur den letzteren Grund gelten lassen, gegenüber dem ersteren müssten wir jedoch bemerken, dass man von Aerzten, denen eine gerichtliche Obduction anvertraut wird, grundsätzlich die nöthige technische Fertigkeit im Seciren verlangen sollte, und wir können uns nicht mit der häufig geübten und auch von der bereits genannten österr. Todtenbeschauordnung im §. 13 geforderten Praxis einverstanden erklären, dass der zweite Arzt nur zur eigentlichen Section verwendet werde, während der erste Sachverständige das Protokoll dictirt; vielmehr erscheint es uns zweckmässig, dass gerade derjenige Sachverständige, bei welchem zufolge seiner Stellung grösseres Fachwissen und mehr Erfahrung vorausgesetzt wird, sowohl die eigentliche Obduction als das Dictiren des Protokolls übernehme, denn es kann nur zweckdienlich sein, wenn sowohl Untersuchung als protokollarische Aufnahme des Befundes in einer, und zwar der geübteren Hand ruhen, während es im gegentheiligen Falle möglich ist, dass der blos Zusehende Manches übersieht und zu Protokoll zu geben unterlässt, was dem Obducenten selbst nicht entgangen wäre. Die Stellung des zweiten Arztes bei einer Obduction kann unseres Erachtens[S. 23] blos als die eines sachverständigen Zeugen und eventuell Assistenten angesehen werden, und wir halten es für unpassend, ihm statt dessen die Rolle eines blossen Handlangers des ersten Gerichtsarztes zuzuweisen.
Gleiches gilt von der Thätigkeit und Stellung des zweiten Gerichtsarztes bei anderen forensisch-medicinischen Untersuchungen, wenn bei diesen zufolge der Bestimmungen der St. P. O. die Beiziehung eines solchen nöthig erscheint.
Die Mitwirkung des Gerichtsarztes wird vorzugsweise bei zwei durch die Strafprocessordnung geforderten richterlichen Acten in Anspruch genommen: 1. bei der Vornahme des Augenscheines und 2. bei der Hauptverhandlung.
Den Augenschein definirt Rulf in seinem Commentar zur österr. St. P. O. vom Jahre 1873 (Wien 1873, pag. 120) als „diejenige Handlung, durch welche sich der Richter von dem Dasein oder Nichtdasein gewisser, für die Entscheidung einer Strafsache einflussreicher Thatsachen durch eigene sinnliche Wahrnehmung Kenntniss zu verschaffen sucht“. Der Augenschein ist somit in erster Linie ein richterlicher Act, der auch häufig vom Richter allein blos unter Zuziehung des amtlichen Protokollführers und der zwei vorgeschriebenen Gerichtszeugen (§. 116 österr. St. P. O.) vorgenommen wird, so lange die allgemeine und speciell juristische Bildung des Richters hierzu ausreicht. Erfordert aber der zu untersuchende Gegenstand andere Specialkenntnisse, dann lässt er eben die Untersuchung durch Sachverständige vornehmen, die die betreffenden ihm fehlenden Specialkenntnisse besitzen, und überträgt ihnen diesen besonderen Theil des Augenscheines, ohne sich jedoch der Leitung des ganzen Actes zu begeben. Es fällt ihm vielmehr die Leitung des Augenscheines auch bei gerichtsärztlichen Untersuchungen unter allen Umständen zu (§. 123 österr., §. 78 deutsche St. P. O.) und er hat mit möglichster Berücksichtigung der vom Ankläger und dem Beschuldigten oder dessen Vertheidiger gestellten Anträge jene Gegenstände zu bezeichnen, auf welche die Sachverständigen ihre Beobachtungen zu richten haben, sowie er auch die Fragen stellt, deren Beantwortung ihm erforderlich erscheint. Aus diesem Grunde und weil dem Untersuchungsrichter auch die Verantwortlichkeit für den formell richtigen Vorgang bei der Vornahme des Augenscheines zufällt, ist die Forderung des §. 122 der österr. St. P. O. begreiflich, wonach die Gegenstände des Augenscheines von den Sachverständigen in Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen und zu untersuchen sind, ausser wenn letztere aus Rücksichten des sittlichen Anstandes für angemessen erachten, sich zu entfernen, oder wenn die erforderlichen Wahrnehmungen nur durch fortgesetzte Beobachtung oder länger[S. 24] dauernde Versuche gemacht werden können. In ersterer Beziehung sind offenbar vorzugsweise die Fälle gemeint, wobei Untersuchungen an den Genitalien weiblicher Individuen vorgenommen werden, in letzterer erwähnt die österr. St. P. O. als Beispiel die Untersuchung auf Gifte und jene Fälle, wo die Constatirung des physischen, insbesondere aber des Geisteszustandes eines Individuums längere Beobachtung und wiederholte Untersuchung erfordert. Dasselbe wird aber auch von den meisten chemischen und mikroskopischen Untersuchungen gelten, die dem Gerichtsarzte oder dem Chemiker anvertraut werden.
Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des Augenscheines ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die Glaubwürdigkeit der von den Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen sichergestellt werde. Es ist Sache des Untersuchungsrichters, Veranstaltungen zu treffen, womit er letzterer etwas dunklen Bestimmung zu entsprechen vermeint. Die Vertrauenswürdigkeit der betreffenden Sachverständigen ist wohl unerlässliche Vorbedingung der Berufung derselben, und der Eid, den dieselben entweder ein- für allemal oder blos aus Anlass der einzelnen Untersuchung und noch vor Vornahme derselben zu schwören haben (§. 121 österr., §. 79 d. St. P. O.), bietet wohl die nöthige Garantie, dass Befund und Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln der Kunst von den Sachverständigen aufgenommen, beziehungsweise abgegeben werden.
Die Vornahme der eigentlich ärztlichen Untersuchung des betreffenden Objectes ist, wenn man von den einzuhaltenden allgemeinen und speciellen formellen Vorschriften absieht, einzig und allein Sache der betreffenden Gerichtsärzte, und sie allein übernehmen die volle Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit derselben.
Der dabei einzuschlagende Vorgang wird selbstredend von der Natur des zu untersuchenden Objectes, beziehungsweise von der Qualität der zu lösenden Frage abhängen. Die Besprechung beider ist Aufgabe des speciellen Theiles dieses Buches, weshalb hier nur einige allgemeine Bemerkungen Platz finden sollen.
Den Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung bilden im Allgemeinen entweder Personen oder Sachen. Die ersteren kommen wieder entweder lebend zur Untersuchung oder als Leichen.
Die Untersuchung lebender Personen bezweckt die Constatirung des Vorhanden- oder Nichtvorhandenseins entweder physiologischer oder pathologischer Zustände, zu welchen ersteren beispielsweise die verschiedenen Alters- und Entwicklungszustände, insbesondere aber die geschlechtlichen Zustände gehören, während in letzterer Beziehung die verschiedensten Krankheiten, namentlich aber chirurgische und Geisteskrankheiten, in Frage kommen. Die blosse Constatirung des Bestehens oder Nichtbestehens solcher Zustände ist selbstverständlich in jedem einzelnen Falle der Hauptzweck der Untersuchung, und es liegt auf der Hand, dass letztere[S. 25] nach keinen anderen als nach allgemein geltenden klinischen Grundsätzen und Methoden und mit gleichen Hilfsmitteln wie diese erfolgen kann und muss. Mit dieser Constatirung des betreffenden Zustandes ist aber nur in seltenen Fällen die gerichtsärztliche Untersuchung beendet; in der Regel verfolgt sie noch weitere Zwecke, die insbesondere die Beziehungen dieser Zustände zu gewissen strafbaren Handlungen im Auge haben, oder Anhaltspunkte liefern sollen für die vorläufige oder definitive Abschätzung der Bedeutung solcher Zustände, beziehungsweise ihrer Folgen im Sinne bestimmter, vom Gesetze aufgestellter Qualitäten. Dadurch aber erhält eine derartige Untersuchung ihren specifisch gerichtsärztlichen Charakter, und es müssen hierbei Dinge beobachtet werden, die bei einer rein klinischen Untersuchung entweder gar nicht oder nur nebensächlich in Betracht kommen.
Bezüglich der Untersuchung von Leichen unterscheidet sowohl die österr. als auch die deutsche St. P. O. die Leichenbeschau und die Leichenöffnung und versteht unter ersterer die blos äussere Besichtigung und Untersuchung der Leiche, unter letzterer aber die eigentliche Section oder Obduction. Während jedoch die österr. St. P. O. (§. 127) die jedesmalige Vornahme beider dieser Acte fordert und nur die mehrfach erwähnte Todtenbeschauordnung vom 28. Jänner 1855 im §. 38 bestimmt: dass sich die gerichtliche Beschau nur dann auf die äussere Besichtigung beschränken dürfe, wenn der vorhandene hohe Grad der Fäulniss kein erhebliches weiteres Ergebniss aus der inneren Untersuchung gewärtigen lässt, und bei solchen Leichen kein Verdacht einer Vergiftung mit mineralischen Stoffen oder einer Knochenverletzung vorhanden ist, trennt die deutsche St. P. O. im §. 87 die gerichtliche Leichenschau von der Leichenöffnung, sie als verschiedene Arten des „Augenscheines“ unterscheidend, indem sie zu ersterer die Beiziehung blos eines Arztes verlangt, die, wenn sie der Richter für entbehrlich hält, sogar ganz unterbleiben kann, bei der Leichenöffnung aber die Gegenwart zweier Aerzte ausdrücklich fordert. Wie wir glauben, versteht das Gesetz unter gerichtlicher Leichenschau die erste commissionelle Besichtigung einer Leiche, von deren Ergebniss es abhängt, ob eine eingehendere anatomische Untersuchung der letzteren verfügt wird oder nicht. Ob und in welchen Fällen dieselbe sich blos auf die äussere Beschau beschränken kann, ist nicht angegeben, doch bemerkt der §. 4 des „preussischen Regulativs für das Verfahren bei den medicinisch-gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichname“, dass wegen vorhandener Fäulniss Obductionen in der Regel nicht unterlassen und von den gerichtlichen Aerzten nicht abgelehnt werden dürfen. Dass in einzelnen Fällen die blosse äussere Besichtigung der Leiche genügt, um den Fall klar zu stellen, unterliegt keinem Zweifel, und wir erwähnen z. B. blos die so häufig zur Untersuchung gelangenden, irgendwo aufgefundenen abortirten Früchte. In der Regel sollte jedoch so selten als möglich von der Section abgegangen werden, da sowohl[S. 26] die Wichtigkeit als die Vollständigkeit einschlägiger Untersuchungen die Vornahme dieser verlangt.
Ueber die Art und Weise, wie sowohl bei der äusseren Besichtigung als bei der Section von zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangten Leichen vorgegangen werden soll, enthalten einerseits die österreichische Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau vom Jahre 1855, andererseits das preussische Regulativ vom 6. Jänner 1875 ausführliche Bestimmungen.
Es ist klar, dass bei einer gerichtlichen Obduction im Allgemeinen dieselben Grundsätze zu beobachten sein werden, wie sie bei jeder pathologisch-anatomischen Section zur Anwendung kommen, eben so klar ist es aber, dass dieselbe mit Rücksicht auf die wesentlich anderen Zwecke, die die gerichtliche Obduction verfolgt, und mit Rücksicht auf die eigenthümlichen durch die Obduction zu beantwortenden Fragen Vorgänge einschlägt und Details nachgeht, die für den pathologischen Anatomen nur eine untergeordnete Bedeutung besitzen und deshalb von diesem häufig übergangen werden. Wir erinnern z. B. an die Aufnahme der Befunde, welche die Constatirung der Identität ermöglichen, an die Wichtigkeit der genaueren Berücksichtigung der sogenannten Leichenerscheinungen, an den specifischen Vorgang, der bei der Section Vergifteter, insbesondere aber bei jener Neugeborener einzuschlagen ist u. dergl., bezüglich welcher auf die speciellen Capitel verwiesen werden muss.
Von Sachen, die Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung werden können, kommen am häufigsten verletzende Werkzeuge, insbesondere Waffen, vor, indem es sich in der Regel entweder um die Frage handelt, ob mit ihnen eine bestimmte Verletzung erzeugt worden sein konnte, oder ob dieselben unter die Kategorie von Werkzeugen gehören, deren Anwendung von Seite des Strafgesetzes besonders qualificirt wird.
Ferner gehören hierher gewisse verdächtige Spuren (Blutspuren, Samen- und Meconiumflecken), Haare und dergleichen, deren Bestimmung für die Klarstellung eines concreten Falles mitunter von der grössten Wichtigkeit sein kann. Bei diesen Untersuchungen ist die Anwendung des Mikroskopes, beziehungsweise anderer Hilfsmittel (Spectralapparat, chemische Reaction) unerlässlich, die aber zweierlei voraussetzt, erstens den Besitz der betreffenden Apparate, und zweitens die nöthige Kenntniss und Uebung in dem Gebrauche derselben. Dort, wo diese Erfordernisse nicht vorhanden sind, erübrigt allerdings nichts Anderes, als die betreffenden Gegenstände unter Beachtung der nöthigen Cautelen für eine weitere, von anderen Sachverständigen vorzunehmende Untersuchung aufzubewahren, was bei den genannten Gegenständen umso leichter geschehen kann, als dieselben, wenn sonst keine Schädlichkeit auf sie einwirkt, durch längeres Liegen nichts oder nur wenig an ihren charakteristischen[S. 27] mikroskopischen und chemischen Eigenschaften einbüssen. Es ist aber zu bedauern, dass die erstuntersuchenden Gerichtsärzte so selten in der Lage sind, selbst und sofort die betreffenden Untersuchungen vorzunehmen. Heutzutage, wo die mikroskopische Untersuchung für die ärztliche Diagnose überhaupt und für die gerichtsärztliche insbesondere eine so hohe Bedeutung gewonnen hat, sollte man von jedem Gerichtsarzt die nöthigen mikroskopischen Kenntnisse verlangen, und dieselben sind für einen solchen, wenn er auf der Höhe der Zeit stehen will, geradezu unentbehrlich. Einestheils ist die Constatirung der genannten Spuren und einschlägigen Objecte als solcher in der Regel sofort erwünscht, und wenn sie gleich geliefert werden kann, gewiss von höherem Werthe, als wenn sie erst nachträglich beigebracht wird. Ausserdem ist aber die Anwendung des Mikroskops bei der Section so häufig angezeigt, wie z. B. zur Constatirung der diagnostisch so wichtigen, körnigen und fettigen Degenerationen verschiedener Organe, zur Constatirung der Natur eines etwa im Magen oder den Luftwegen gefundenen Inhaltes, und so fort, dass sie auch bei dieser nicht mehr entbehrt werden kann.
In diesen Umständen liegt ein Grund mehr für die Forderung, dass an den Gerichtsarzt höhere Ansprüche bezüglich seiner Vorbildung gestellt werden sollten, als an einen gewöhnlichen praktischen Arzt, und dass daher das Amt eines Gerichtsarztes nur Aerzten verliehen werden sollte, die sämmtliche, zu einer solchen Stellung nöthigen Kenntnisse sich erworben und über deren Besitz sich durch eine eigene Prüfung (Physikatsprüfung) ausgewiesen haben.[13]
Allerdings müsste man aber auch bei dieser Einrichtung von der bis jetzt festgehaltenen Zumuthung abgehen, dass sich die Gerichtsärzte die zu ihren Untersuchungen nöthigen Instrumente und Apparate selbst anzuschaffen haben, es wäre vielmehr die Einrichtung zu treffen, dass bei jedem Gerichte solche Apparate (Mikroskop, kleiner Spectralapparat und ein Kasten mit den nöthigen Reagentien) aufgestellt und den angestellten Gerichtsärzten in Obhut gegeben werden möchten.
Eine derartige Einrichtung würde eine eventuelle nachträgliche Untersuchung von anderen Sachverständigen, insbesondere höheren ärztlichen Instanzen keineswegs anschliessen, wenn die Bestimmung des §. 122 der österr. St. P. O. beachtet würde, wonach: „wenn von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung[S. 28] oder Veränderung eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten ist, ein Theil des letzteren, insoferne es thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden soll“.
Da sich Blutspuren und ähnliche verdächtige Befunde nicht selten am Ort der That ergeben und das Verhalten dieser von mitunter grosser Bedeutung ist, wird die Intervention des Gerichtsarztes auch bei der Vornahme des sogenannten Localaugenscheines in Anspruch genommen, und es wäre zu wünschen, dass dies häufiger und rechtzeitiger geschehen möchte, als es bisher der Fall ist. Die Stellung oder Lage, in welcher eine Leiche gefunden wird, die Anordnung der Kleider und der Dinge in ihrer Nähe, insbesondere aber die Form und Vertheilung der Blutspuren können häufig sehr wichtige Anhaltspunkte bezüglich der Art und Weise, wie eine That verübt wurde, ergeben, wenn sie, noch bevor Veränderungen vorgenommen wurden, von Jemandem untersucht und gewürdigt werden, der, wie der Arzt, über solche Dinge und deren Bedeutung ein richtigeres und schnelleres Urtheil sich bilden kann, als dies der Laie in der Regel im Stande ist.
Gifte, oder als solche verdächtige Körper können dann Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung werden, wenn sich dieselben beim Localaugenschein, bei Hausdurchsuchungen oder im Körper, namentlich im Magen obducirter Leichen, gefunden hatten und eine sofortige Bestimmung derselben nöthig erscheint, denn die für die Bestimmung mindestens der wichtigsten und am häufigsten vorkommenden Giftstoffe nöthigen Kenntnisse sollen ebenfalls bei einem Gerichtsarzte vorausgesetzt werden. Complicirte Laboratoriumsarbeiten erfordernde Untersuchungen, insbesondere aber die Untersuchungen von Leichentheilen auf Gift, sind nicht Sache der Gerichtsärzte, sondern der Gerichtschemiker, die, wenn der Verdacht einer Vergiftung vorliegt, nach Thunlichkeit schon der Erhebung des Thatbestandes, also insbesondere der Obduction, beziehungsweise Exhumation, beizuziehen sind (§. 131 österr. St. P. O.).
Die bei einer gerichtsärztlichen Untersuchung von den Sachverständigen constatirten Befunde sind sogleich zu Protokoll zu bringen. Auf die Form des Protokolles wurde früher mehr als nöthig Gewicht gelegt. Im Allgemeinen ist es nicht Sache der Gerichtsärzte, für die Einhaltung der vorgeschriebenen Formen bei der Aufnahme des Protokolls zu sorgen, sondern die des Richters und seines Schriftführers, und deren Aufgabe ist es, den sogenannten Kopf des Protokolls zu verfassen und nach Beendigung des Protokolls es in vorgeschriebener Weise abzuschliessen, eine Aufgabe, die ihnen dadurch erleichtert wird, dass bereits vorgedruckte Formulare zur Anwendung kommen. Kommen die Gerichtsärzte in die Lage, den Befund selbst niederschreiben zu müssen, wie es geschehen kann in den Fällen, in welchen die Untersuchung von ihnen allein, in Abwesenheit der Gerichtspersonen vorgenommen wird (§. 122 österr. St. P. O.), dann empfiehlt sich die Form des Berichtes zu wählen, welcher von den untersuchenden Sachverständigen[S. 29] unterzeichnet und dem Untersuchungsrichter zur weiteren protokollarischen Behandlung übergeben wird.
Bei dem streng technischen Theile des Protokolles ist es angezeigt, der Uebersichtlichkeit wegen, und um im Gutachten auf bestimmte Punkte desselben leichter hinweisen zu können, jedesmal das Protokoll in mit fortlaufenden Zahlen zu bezeichnende Absätze zu theilen, eventuell gewisse Partien von anderen durch deutliche Bezeichnungen unterscheidbar zu machen. Bei der Aufnahme eines Sectionsprotokolles ist es durch die österr. Todtenbeschauordnung (§. 115) vorgeschrieben, den äusseren und inneren Befund in besondere, durch grosse Buchstaben oder römische Ziffern bezeichnete Unterabtheilungen zu bringen und diese wieder durch kleine Buchstaben oder arabische Ziffern ihrer Reihe nach fortlaufend in noch kürzere Absätze zu theilen.
Aehnliches fordert das preussische „Regulativ“ im §. 28. Was die übrigen Eigenschaften des Protokolls anbelangt, so sind diese im §. 117 der österr. St. P. O. kurz und richtig zusammengefasst, welcher sagt: „Das über den Augenschein aufzunehmende Protokoll ist so bestimmt und umständlich abzufassen, dass es eine vollständige und treue Anschauung der besichtigten Gegenstände gewähre.“ Diese Bestimmung kann nicht eindringlich genug den Gerichtsärzten zur Beachtung empfohlen werden und sie werden gut thun, sich bei jeder Untersuchung vor Augen zu halten, dass sie nicht blos zum Gebrauch für ihr eigenes Gutachten den Befund zu Protokoll geben, sondern damit ein Schriftstück liefern sollen, welches auch nachträglich Aufschluss zu geben im Stande ist über alle damals an dem betreffenden Objecte bestandenen Verhältnisse, so dass, wenn der Fall anderen Sachverständigen, beziehungsweise den höheren medicinischen Instanzen zur Begutachtung übergeben wird, diese deutlich erkennen können, welche Befunde den erst untersuchenden Aerzten vorgelegen haben.
Es wäre ein müssiges Unternehmen, Regeln aufstellen zu wollen, nach denen vorzugehen wäre, um den genannten Forderungen zu genügen, schon aus dem Grunde, weil jeder Fall seine Eigenthümlichkeiten hat, die richtig erkannt und bei der Aufnahme des Befundes in Betracht gezogen werden müssen, und weil gerade aus diesem Grunde jedes schablonenhafte Vorgehen bei gerichtsärztlichen Aufnahmen vermieden werden soll.
Doch empfiehlt sich Folgendes zu beobachten:
Erstens, dass man bei allen Aufnahmen vom Allgemeinen zum Besonderen übergehe. Die Beachtung dieses Grundsatzes erleichtert dem Anfänger wesentlich seine Aufgabe und verleiht der gesammten Beschreibung eine gewisse Uebersichtlichkeit. Bei der Aufnahme eines Obductionsprotokolls ist ein solcher Vorgang in den betreffenden Verordnungen ausdrücklich vorgeschrieben; er sollte jedoch bei allen Befundsaufnahmen ohne Ausnahme beachtet werden, indem man z. B. bei jeder Untersuchung einer Person zuerst deren allgemeine Körperverhältnisse (Alter, Grösse,[S. 30] Körperbau, Ernährungszustand) aufnimmt, und dann in anatomischer Ordnung zu den einzelnen Organen und Functionen übergeht, und die an diesen sich ergebenden Befunde zu Protokoll bringt, wobei man sich bei jenen besonders aufhält und sie detaillirt schildert, denen im concreten Falle eine specielle Wichtigkeit zukommt, oder mit Rücksicht auf die Umstände des Falles oder auf die allgemeine Erfahrung möglicher Weise später zukommen könnte.
Bei Aufnahme dieser localen Befunde ist wieder der gleiche Grundsatz wie bei der Totalaufnahme zu beachten, d. h. von der Beschreibung der allgemeinen Verhältnisse zum Detail überzugehen.
Je ausführlicher ein Protokoll ist und in je eingehenderer Weise sich dasselbe über alle Detailverhältnisse eines zu untersuchenden Objectes verbreitet, desto werthvoller ist dasselbe. Doch sollten auch in dieser Beziehung die richtigen Grenzen eingehalten werden. Ebenso, wie man bei Sectionen nicht jedesmal die Wirbelsäule oder die einzelnen Gelenke eröffnet und die dort sich ergebenden Befunde beschreibt, ebenso wird man bei Untersuchungen lebender Personen Verhältnisse übergehen oder nur flüchtig berühren, die für den Zweck der Untersuchung keine Bedeutung besitzen.
Darin aber soll sich das richtige Verständniss und der fachmännische Blick des Gerichtsarztes äussern, dass er in jedem concreten Falle erfasst, was für die weitere juristische Behandlung desselben wichtig ist oder wichtig werden kann, und er wird aus diesem Grunde nicht blos die positiven Befunde protokollarisch anführen, sondern auch, wie §. 86 der deutschen St. P. O. sehr richtig verlangt, erforderlichen Falles noch bemerken, welche Spuren oder Merkmale, die im vorliegenden Falle vermuthet werden konnten, gefehlt haben.
Weiter verdient besondere Erwähnung, dass bei der Protokollirung pathologischer Befunde nicht Ausdrücke gebraucht werden sollen, die die summarische pathologische oder pathologisch-anatomische Diagnose derselben umfassen, sondern jedesmal jene Detail-Erscheinungen aufzunehmen und protokollarisch zu beschreiben sind, die zusammengenommen jene Diagnose bilden. So wird man z. B. im Protokoll nicht kurzweg den Ausdruck Fieber gebrauchen, sondern ausführlich die gesteigerte Temperatur, vermehrte Pulsfrequenz und Respiration, wie sie durch die klinische Untersuchung constatirt wurden, zu Protokoll geben, ebenso wird man bei Obductionen nicht von „Entzündungen“ sprechen oder andere fertige Diagnosen, wie „Stichwunde“, „Schusswunde“, „Quetschung“ dictiren, sondern die einzelnen Eigenschaften solcher Befunde beschreiben, welche erst im Gutachten zur Stellung der betreffenden Diagnose zusammengefasst werden sollen.
Drittens ist nicht zu vergessen, dass das Protokoll auch für das Gericht, für das es ja sammt dem Gutachten bestimmt[S. 31] ist, möglichst verständlich sein soll, was nicht der Fall ist, wenn bei der Aufnahme desselben den Laien fremde Kunstausdrücke gebraucht wurden. Letztere sollen daher, soweit thunlich, vermieden werden.
Schliesslich möchten wir einen besonderen Werth darauf legen, dass bei der Aufnahme von Befunden von der Beigabe von Zeichnungen und von der Aufbewahrung von Objecten, deren unmittelbare Demonstration im Laufe der Verhandlung, besonders bei der Hauptverhandlung, wichtig werden kann, häufiger Gebrauch gemacht werden möchte, als dies erfahrungsgemäss geschieht. Eine, wenn auch nur rohe Zeichnung gibt über manchen Befund, z. B. über Form, Sitz und Anordnung von Verletzungen, eine viel bessere Vorstellung, als mitunter die weitläufigste Beschreibung. Besonders empfehlen sich Zeichnungen bei Würgespuren und haben wir solche bei Hauptverhandlungen wiederholt und zur sichtlichen Befriedigung der Richter und Geschworenen vorgelegt.[14] Die Aufbewahrung von Objecten der gerichtsärztlichen Untersuchung beschränkt sich, ausgenommen die bei Verdacht auf Vergiftung für den Chemiker reservirten Leichentheile, in der Regel nur auf Kleidungsstücke, im Körper gefundene Projectile u. dergl. Es ist jedoch in gewissen Fällen entschieden opportun und zweckmässig, wenn auch verletzte oder anderweitig wichtige Leichentheile für die unmittelbare Demonstration aufbewahrt werden. Hierher gehören namentlich gewisse Verletzungen des Schädeldaches, deren Form und Beschaffenheit noch nachträglich die Erkennung des verletzenden Werkzeuges, resp. die Vergleichung mit bestimmten Werkzeugen, oder der sonstigen Art der Zufügung ermöglicht, so insbesondere Lochbrüche, umschriebene Zertrümmerungen, Schuss- und Stichöffnungen. Die einfache Vorzeigung solcher Objecte gewährt den Richtern, namentlich aber den Geschworenen, eine richtige Vorstellung von dem Sachverhalt und erspart dem Gerichtsarzte weitläufige Beschreibungen. Ebenso sollten aber auch, wo dies voraussichtlich vortheilhaft und leicht ausführbar erscheint, Weichtheile reservirt werden. So haben wir in einem Falle von Kindesmord, in welchem die Angeklagte eine Sturzgeburt am Abort behauptete, wo wir aber an dem Nabelschnurende deutliche Schnitte fanden, die Nabelschnur in Alkohol reservirt und bei der Hauptverhandlung den im Vorhinein erwarteten Einwendungen des Vertheidigers, dass in letzterer Beziehung eine Täuschung vorgelegen haben könne, durch Vorzeigung des Objectes sofort ein Ende gemacht, ebenso wie wir bei einer wegen Fruchtabtreibung eingeleiteten Verhandlung durch Vorzeigung des zerstochenen Uterus ein Argumentum ad hominem zu liefern vermochten. Die Aufbewahrung solcher und ähnlicher[S. 32] Objecte ist auch insoferne wichtig, als sie die nachträgliche Untersuchung derselben durch andere Gerichtsärzte, insbesondere durch höhere gerichtsärztliche Instanzen, ermöglicht und deren Aufgabe wesentlich erleichtert, endlich auch bei fraglicher Identität obducirter Individuen. Für die Opportunität derselben in beiden Beziehungen liefert der sensationelle Tisza-Eszlaer Fall ein exquisites Beispiel, da, wenn der Schädel, gewisse Epiphysen, ein Stückchen der angeblich rasirten Kopfhaut und die angeblich noch vorhanden gewesenen Nägel auf bewahrt worden wären, auch ohne Exhumation leicht zu constatiren gewesen wäre, ob die Obducenten richtig gesehen und richtig geurtheilt haben oder nicht.
Nach Beendigung der schriftlichen Aufnahme des Befundes sollte das Protokoll jedesmal von dem Dictirenden einer nochmaligen Durchsicht unterworfen werden, damit etwaige Auslassungen oder Fehler rechtzeitig corrigirt werden könnten. Bezüglich solcher Correcturen bestimmt der §. 16 der österr. Todtenbeschauordnung: „dass in dem Niedergeschriebenen nichts Erhebliches ausgelöscht, zugesetzt oder verändert werden, durchstrichene Stellen noch lesbar bleiben, erhebliche Aenderungen und Berichtigungen von Seite der Aerzte ausdrücklich aufgenommen, am Rande oder im Nachhange bemerkt und von den Commissionsgliedern vorschriftsmässig unterschrieben werden sollen.“
Das beendigte Protokoll ist von beiden untersuchenden Aerzten zu unterschreiben.
Das Gutachten sammt seinen Gründen kann von den österr. Gerichtsärzten entweder sofort zu Protokoll gegeben werden, oder sie können sich die Abgabe eines schriftlichen Gutachtens vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist (§. 124 St. P. O.). Wann ersteres oder letzteres stattzufinden habe, ist in der St. P. O. nicht angegeben, doch bemerkt der §. 17 der Todtenbeschauordnung, dass die Gerichtsärzte „besonders in schwierigen Fällen“ das Gutachten nachträglich abgeben können. Diese Bestimmung erscheint gewiss gerechtfertigt, aber die Achillesferse dieser Unterscheidung findet sich in dem Umstande, dass zufolge des Gebührentarifes für gerichtsärztliche Verrichtungen (vide pag. 11) nur dann für das Gutachten eine Gebühr berechnet werden darf, wenn dasselbe nicht sofort dem Untersuchungsprotokoll angeschlossen, sondern „abgesondert“ abgegeben wurde. Allerdings bestimmte der Justiz-Min.-Erl. vom 6. November 1856, dass bei Obductionen der Betrag von 2 fl. 10 kr. für das Gutachten in allen Fällen gebühre, möge dasselbe gleich zu Protokoll dictirt oder abgesondert erstattet werden, aber schon die Erlässe desselben Ministeriums vom 1. März und 11. August 1869 verfügten, dass als abgesonderte Gutachten nur jene anzusehen seien, welche wegen Schwierigkeit der Untersuchungsfälle nicht sogleich bei der Erhebungscommission abgegeben werden können, indem zugleich den Gerichten aufgetragen wurde, die Aerzte in der Regel zur sofortigen Abgabe der Gutachten zu verhalten. Die Zwangslage,[S. 33] in welche sowohl der Gerichtsarzt als auch der Untersuchungsrichter durch diese Verfügung versetzt werden, liegt auf der Hand, welcher ein Ende zu machen wohl sehr angezeigt wäre.
Nach §. 82 der St. P. O. für das deutsche Reich hängt es im Vorverfahren von der Anordnung des Richters ab, ob die Sachverständigen ihr Gutachten mündlich oder schriftlich zu erstatten haben, bezüglich der Obductionen wird jedoch im „Regulativ“ ein Unterschied gemacht zwischen dem vorläufigen Gutachten und dem „Obductionsberichte“. Ersteres ist zufolge §. 29 jedesmal sofort nach Schluss der Obduction summarisch und ohne Angabe der Gründe zu Protokoll zu geben, und nur in Fällen, wo weitere technische Untersuchungen nöthig sind, oder wo zweifelhafte Verhältnisse vorliegen, ist ein besonderes Gutachten mit Motiven ausdrücklich vorzubehalten. Ein solches motivirtes Gutachten, „Obductionsbericht“, kann auch vom Gerichte verlangt werden, und dasselbe ist von den Obducenten spätestens innerhalb vier Wochen einzureichen (§. 31).
Die Gebühr für den vollständigen Obductionsbericht ist mit 2 bis 6 Thalern, die „für jedes andere mit wissenschaftlichen Gründen unterstützte“ Gutachten mit 2 bis 8 Thalern fixirt.
Bezüglich der Form des Gutachtens bestimmt die österr. Todtenbeschauordnung (§. 18) Folgendes: „Das nachträglich ausgearbeitete schriftliche Gutachten hat in seinem Eingange aus der Anführung des ergangenen schriftlichen Auftrages von Seite des Untersuchungsrichters, aus der Angabe des Ortes, wo, der Zeit, wann die Untersuchung vorgenommen wurde, und der im Eingang des Protokolls enthaltenen Daten, insofern sie sich auf die Abgabe des Gutachtens beziehen, zu bestehen. Hierauf folgt dann das eigentliche Gutachten.“
Auch das „preussische Regulativ“ fordert bei der Abgabe des „Obductionsberichtes“ die Einhaltung bestimmter Formen, welche dort (§. 31) nachzusehen sind.
Das Gutachten ist selbstverständlich der wichtigste Theil der gerichtsärztlichen Thätigkeit, denn auf dieses kommt es dem Richter besonders an und von seinem Inhalt hängt vorzugsweise die weitere Behandlung des betreffenden Falles ab; es ist demnach auf die Verfassung desselben von Seite des Gerichtsarztes das grösste Gewicht zu legen.
Letztere wird entweder nach allen Richtungen den Gerichtsärzten überlassen oder dieselben haben sich dabei, wenn auch nicht ausschliesslich, doch vorzugsweise an die Beantwortung gewisser Fragen zu halten, die entweder in dem einzelnen Falle vom Richter gestellt wurden oder welche schon von Seite der (österr.) St. P. O. für bestimmte Kategorien von Fällen ausdrücklich normirt sind, wie für das Gutachten nach Obductionen (§. 129 und 130), bei körperlichen Beschädigungen (§. 132) und theilweise auch bei den Untersuchungen auf den Geisteszustand eines Individuums (§. 134). Die Schlüsse des Gutachtens sind ausser in dem[S. 34] vom §. 29 des preussischen Regulativs angegebenen Falle jedesmal zu motiviren. Die Motivirung ergibt sich einestheils aus den bei der Untersuchung constatirten und im Protokoll schriftlich verzeichneten Befunden, anderseits aus dem Zusammenhalten dieser Befunde mit den Umständen des Falles.
Die Kenntniss und Erwägung letzterer ist in den meisten Fällen für die gerichtsärztliche Beurtheilung von Wichtigkeit und häufig so nothwendig, dass ohne dieselbe überhaupt kein brauchbares Gutachten abgegeben werden kann. Zu diesem Behufe ist aber eine Mittheilung derselben von Seite des Richters, beziehungsweise die Gestattung der Einsicht in die Untersuchungsacten in der Regel angezeigt. Es ist nicht lange her, dass man es für bedenklich und unstatthaft hielt, den untersuchenden und begutachtenden Aerzten die Einsicht in die Untersuchungsacten zu gestatten, da man der Meinung war, dass eine solche Mittheilung bei denselben eine Voreingenommenheit erzeugen und die Unbefangenheit ihres Urtheils beeinträchtigen könnte. Es wurden deshalb nicht blos von juristischer Seite Bedenken gegen die Zulässigkeit der Acteneinsicht erhoben, sondern dieselben sind auch von ärztlichen Corporationen getheilt worden, wie z. B. von dem königlichen Obercollegium medicum in Berlin, welches im Jahre 1790 die Acteneinsicht ausdrücklich verbot. Gegenwärtig ist man in dieser Hinsicht einsichtsvoller geworden, indem der §. 123 der österr. St. P. O. bestimmt, dass die Sachverständigen nicht nur verlangen können, dass ihnen aus den Acten oder durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über von ihnen bestimmt zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche sie für das abzugebende Gutachten für erforderlich erachten, sondern dass ihnen, wenn zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die Einsicht in die Untersuchungsacten unerlässlich erscheint, soweit nicht besondere Bedenken dagegen obwalten, auch die Acten selbst mitgetheilt werden können.
Ebenso bestimmt der §. 80 der deutschen St. P. O., dass dem Sachverständigen auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen und des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden kann, und dass es ihm zu diesem Zwecke auch gestattet wird, die Acten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen und des Beschuldigten beizuwohnen und an diese unmittelbar Fragen zu stellen.
Diese Concessionen sind nach jeder Richtung hin gerechtfertigt. Es handelt sich ja in den meisten Fällen nicht blos um die Constatirung einer einfachen Thatsache, sondern um den Zusammenhang dieser mit anderen, und gerade letzteres Moment erfordert Erwägung der Umstände des Falles schon aus dem Grunde, weil häufig ein und derselbe Befund durch ganz verschiedene Ursachen erzeugt worden sein konnte. Gerade bei gerichtlichen Sectionen, bezüglich welcher man mit der Mittheilung der bereits aufgelaufenen Acten besonders vorsichtig sein zu müssen[S. 35] glaubte, ist ja häufig die Sachlage so, dass ohne Kenntniss der Umstände des Falles das Gutachten ganz allgemein und unbestimmt ausfüllen müsste, womit dem Richter gewiss nicht gedient wäre. Wie wichtig z. B. für die Beurtheilung eines derartigen Falles die Kenntniss des Krankheitsverlaufes ist, liegt auf der Hand, und dies haben auch die Gesetzgeber anerkannt, da sie, wenn dies thunlich, die Beiziehung des behandelnden Arztes zu einer gerichtlichen Obduction fordern, damit er aus der Krankheitsgeschichte Aufschlüsse gebe (§. 7 österr. Todtenbeschauordnung und §. 87 deutsche St. P. O.).
Bei anderen Untersuchungen ist die Bekanntgabe der Umstände des Falles häufig nicht minder wichtig, und man erinnere sich in dieser Beziehung nur an die Menge derjenigen, deren Kenntniss bei Untersuchungen der Zurechnungsfähigkeit eines Individuums nothwendig erscheint, und halte sich vor Augen, dass ja in den meisten zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangenden Fällen eben die Umstände in der Regel erst die Richtung angeben, in welcher untersucht werden soll.
Jedenfalls sollen aber die früher in der bezeichneten Richtung zur Geltung gebrachten Bedenken für den Gerichtsarzt ein Wink sein, wie sehr er sich unter allen Verhältnissen vor Beeinflussungen seines Urtheils zu hüten habe.
Die Motivirung der im Gutachten zu ziehenden Schlüsse hat in logisch richtiger und wissenschaftlich correcter Weise zu erfolgen und ausserdem so viel als möglich in der Art, dass sie auch dem Laien, für den sie ja bestimmt ist, verständlich und so geeignet ist, ihm jene Ueberzeugung beizubringen, die für ihn behufs der weiteren Behandlung des Falles unbedingt nothwendig erscheint. Aus diesem Grunde ist es angezeigt, ebenso wie im Protokolle, fremde, dem Laien unverständliche Kunstausdrücke möglichst zu vermeiden und der Motivirung eine gewisse populär verständlich gehaltene Fassung zu geben.
In wissenschaftlicher Beziehung wird die Beweisführung je nach den vorliegenden Umständen theils auf positivem, theils auf negativem, d. h. ausschliessendem Wege erfolgen können, immer jedoch gestützt auf anerkannte wissenschaftliche Sätze und Erfahrungen. Der Verwerthung von blossen wissenschaftlichen Hypothesen kann sich zwar auch der Gerichtsarzt nicht ganz entziehen, doch wird er nicht unterlassen, dieselbe immer mit der nöthigen Vorsicht zur Anwendung zu bringen. Bezüglich der Berufung auf Autoritäten sind wir im Ganzen der Meinung des §. 23 der österr. Todtenbeschauordnung, sowie des §. 31 des preuss. Regulativs, dass dieselbe in der Regel unterbleiben möge. Dagegen ist eine solche Berufung mitunter in der Hauptverhandlung am Platze, da es bekannt ist, dass bei dieser sowohl Staatsanwalt als Vertheidiger häufig mit einschlägigen Citaten bei der Hand sind, die sie allerdings nicht immer neueren Werken und anerkannten Autoritäten entnehmen.
[S. 36]
Es ist begreiflich, dass richterlichen Zwecken vorzugsweise mit einem möglichst bestimmten Gutachten gedient ist, und deshalb wird der Gerichtsarzt nicht unterlassen, dort, wo es thunlich, seine gutachtlichen Schlüsse bestimmt zu fassen. Dass dies aber nicht immer möglich, liegt in der Natur derartiger Untersuchungen, und jeder gerichtsärztliche Praktiker weiss, wie häufig er blos Wahrscheinlichkeitsschlüsse machen und nicht selten die Beantwortung einer sich ergebenden Frage ganz in suspenso lassen muss. Der Gerichtsarzt möge sich dadurch nicht beirren lassen. Die Medicin kann eben ihre Schlüsse nicht mit so genauer Schärfe ziehen, wie etwa die Mathematik, auch ist sie keine sogenannte „fertige“ Wissenschaft, sondern in beständiger Ausbildung und Entwicklung begriffen, und der Grad, in welchem letztere zur Zeit gegeben sind, sowie auch die Natur des concreten Falles fixiren die Grenzen, bis zu welchen eine präcise Beweisführung zu gehen vermag. Darüber hinaus beginnt das unsichere Gebiet der Abschätzung der für und gegen eine Annahme sprechenden Momente — des Wahrscheinlichkeitsbeweises, welchem sich der Gerichtsarzt nicht entziehen kann. Er kann aber dasselbe um so ruhiger betreten, als zufolge der gegenwärtig bei uns sowohl als in Deutschland geltenden Strafprocessordnung dem Gutachten der Sachverständigen weder für den gelehrten Richter, noch für die Geschworenen eine bindende Kraft zukommt, diese vielmehr nur aus freier, aus gewissenhafter Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnener Ueberzeugung zu entscheiden haben. (§§. 258 und 313 der österr. und §. 260 der deutschen St. P. O.)
Unter allen Umständen wird der Gerichtsarzt sich hüten, positive Schlüsse zu ziehen, wenn die Prämissen derselben nicht ganz klar gelegt sind, andererseits aber nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen und durch übertrieben ängstliche Herbeiziehung aller erdenklichen Möglichkeiten die Beweiskraft seines Gutachtens schwächen.
Für den Schluss des Gutachtens fordert die österr. Todtenbeschauordnung vom Jahre 1855 (§. 25) eine bestimmte Formel, deren Weglassung wohl heutzutage von keiner Seite beanstandet werden wird.
Zufolge §§. 125 und 126 der österr. St. P. O. ist es Sache des Richters, sowohl den durch die Sachverständigen aufgenommenen Befund (Protokoll), als das von ihnen abgegebene Gutachten einer Prüfung zu unterziehen. Er hat beide vom „logischen Standpunkt[15] aus zu prüfen und darauf zu sehen, dass der Befund[S. 37] klar, bestimmt und widerspruchslos laute, dass das Gutachten begründet, die Schlüsse folgerichtig seien“. Ist dies nicht der Fall oder weichen die Angaben der Sachverständigen von einander ab, so hat er das zu veranlassen, was die erwähnten Paragraphe bestimmen.
Weichen nämlich (§. 125) die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen wahrgenommenen Thatsachen erheblich von einander ab, oder ist ihr Befund dunkel, unbestimmt, im Widerspruche mit sich selbst, oder mit erhobenen Thatumständen, und lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist der Augenschein, soferne es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder anderer Sachverständiger zu wiederholen.
Es handelt sich demnach in solchen Fällen entweder darum, ein Einverständniss der betreffenden Sachverständigen ohne nochmalige Untersuchung des betreffenden Objectes zu erzielen, oder um Wiederholung der letzteren durch dieselben oder durch andere Sachverständige. Zu dieser sollte wohl, wenn sich derartige Zweifel ergeben, in gerichtsärztlichen Fällen jedesmal geschritten werden, wenn eine neuerliche Untersuchung überhaupt noch möglich und noch irgend ein Resultat von ihr zu erwarten ist. Inwieweit letztere Möglichkeit noch besteht, müssen die concreten Verhältnisse des Objectes und das sachverständige Urtheil selbst ergeben.
Derartige Eventualitäten hatte der Gesetzgeber bei der Bestimmung im Auge, dass (§. 122), wenn von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten steht, ein Theil des letzteren, soferne dies thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden soll.
Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf das Gutachten, oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus den angegebenen Vordersätzen nicht folgerichtig gezogen sind, und lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist (§. 126) das Gutachten eines anderen oder mehrerer anderer Sachverständiger einzuholen. Sind die Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so kann in solchen Fällen das Gutachten einer medicinischen Facultät der im Reichsrathe vertretenen Länder eingeholt werden.
[S. 38]
Dasselbe geschieht, wenn die Rathskammer die Einholung eines Facultätsgutachtens wegen der Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles nöthig findet.
Aus der Fassung dieser Bestimmung scheint hervorzugehen, dass nur die Rathskammer in den letztgenannten zwei Fällen ausdrücklich verhalten ist, ein Facultätsgutachten einzuholen, während in anderen obenbezeichneten Fällen der Untersuchungsrichter das Gutachten einer Facultät blos einholen kann, woraus in Verbindung mit dem Inhalte des vorher gestellten Satzes hervorgeht, dass ein Superarbitrium auch von einem anderen oder mehreren anderen Sachverständigen abverlangt werden könne.
Der Vorgang, der bei den einzelnen cisleithanischen medicinischen Facultäten bei der Erstattung solcher Obergutachten eingeschlagen wird, ist nicht überall der gleiche. An den kleinen Universitäten wird das eingelangte Actenstück von Seite des Decans einem Professor übergeben, in dessen Fach der betreffende Gegenstand besonders einschlägt, und das Referat wird in einer der folgenden Sitzungen des gesammten Professorencollegiums auf die Tagesordnung gebracht und durch die Discussion und Abstimmung erledigt.
Für die medicinischen Facultäten der grösseren Universitäten, insbesondere Wiens, ist der bei der Erstattung von Facultätsgutachten einzuschlagende Vorgang durch den Erlass des Unterrichtsministers vom 28. Januar 1874, Z. 15984, vorgeschrieben, welcher die Zusammensetzung 12gliedriger Commissionen verlangt, welche von Fall zu Fall mit Berücksichtigung der speciellen Natur des letzteren aus dem gesammten Lehrkörper durch den Decan zu constituiren sind.
Wie häufig in Strafrechtsfällen Facultätsgutachten abverlangt werden, geht aus folgendem Justizmin.-Erl. vom 18. Mai 1874, Z. 6488, hervor, der in Folge diesbezüglicher Eingaben der medicinischen Professorencollegien von Prag und Krakau erfolgt ist und den Zweck hat, die allzu häufige Einholung der Facultätsgutachten soweit möglich in gewisse Grenzen zu stellen:
Es wurde dem Justizministerium zur Kenntniss gebracht, dass einzelne medicinische Professorencollegien wegen Abgabe von Facultätsgutachten in strafrechtlichen Angelegenheiten von den Gerichtsstellen in einer Weise in Anspruch genommen werden, dass daraus die Besorgniss eines nachtheiligen Einflusses auf die den Professorencollegien zunächst obliegenden Lehraufgaben hergeleitet wird.
Das Justizministerium ist nicht in der Lage, in dieser Richtung auf die Gerichte einen bestimmenden Einfluss zu nehmen, weil nach den Bestimmungen der Strafprocessordnung die Einholung des Facultätsgutachtens lediglich in das Ermessen des Untersuchungsrichters, beziehungsweise der Rathskammer gegeben ist; und es würde das Justizministerium bei der hohen Bedeutung der Gutachten der Facultät für die Strafrechtspflege auch bedauern, wenn bei wichtigen und schwierigen Fällen von der Ermächtigung, das Gutachten der Facultät einzuholen, Umgang genommen würde.
[S. 39]
Da aber die Behauptung aufgestellt wird, dass häufig auch bei Fragen von untergeordneter Bedeutung die Facultät angegangen wird, ohne dass zuvor die Beseitigung der obwaltenden Bedenken durch die im ersten Absatze des §. 126 St. P. O. angedeuteten Mittel versucht wurde, so wird das löbliche Präsidium ersucht, diesem Umstande seine Aufmerksamkeit zuzuwenden und im geeigneten Wege auf die entsprechende Anwendung der bezüglichen Bestimmungen der St. P. O. hinzuwirken.
Die einschlägige Bestimmung der deutschen St. P. O. lautet:
„§. 83. Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für ungenügend erachtet.
Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger mit Erfolg abgelehnt ist. In wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden.“
Diese Fachbehörden für gerichtsärztliche Superarbitrien sind in Preussen die Medicinalcollegien als erste und die wissenschaftliche Deputation in Berlin als zweite Instanz. In den §§. 173 und 177 der bis 1877 geltenden Criminalordnung waren die Fälle genau angegeben, in welchen das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden solle. Sie sind analog den in der österr. St. P. O. angegebenen und dürften wohl auch noch jetzt den Richter leiten. Sowohl in den Medicinalcollegien als in der wissenschaftlichen Deputation werden die eingelangten Acten zweien Referenten übergeben, von denen jeder über den Fall berichtet und sein schriftliches Gutachten zum Vortrag bringt. Dasjenige, für welches sich das Collegium entscheidet, wird dem Gerichte übergeben.[16]
Da der Absatz 2 des §. 255 der deutschen St. P. O. bestimmt, dass, wenn das Gutachten einer collegialen Fachbehörde eingeholt worden war, das Gericht letztere ersuchen kann, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung des Gutachtens in der Zeugenverhandlung zu beauftragen und dem Gerichte zu bezeichnen, so wäre es möglich, dass auch Mitglieder der genannten medicinischen Fachbehörden zur Hauptverhandlung vorgeladen werden[S. 40] könnten, was jedoch wohl nur in ganz besonders wichtigen Fällen geschehen dürfte.
Die Hauptverhandlungen finden statt entweder vor einem Gerichtshofe erster Instanz (§. 10 österr. St. P. O.), und zwar in Versammlungen von vier Richtern (§. 13) oder vor Geschwornengerichten (§. 14).
Das Verzeichniss der zur Hauptverhandlung vorzuladenden Sachverständigen ist bereits in die vom öffentlichen oder Privatankläger dem Untersuchungsrichter, beziehungsweise der Rathskammer, zu überreichende Anklageschrift aufzunehmen (§. 207 St. P. O.). Die betreffenden Sachverständigen sind dann von dem Vorsitzenden der Hauptverhandlung in der Art vorzuladen, dass in der Regel zwischen der Zustellung der Vorladung und dem Tage, an welchem die Hauptverhandlung vorgenommen wird, ein Zeitraum von 3 Tagen in der Mitte liegt (§. 221).
Will der Ankläger, der Privatbetheiligte oder der Angeklagte die Vorladung von Sachverständigen beantragen, welche nicht bereits zufolge der Anklageschrift oder des über den Einspruch gegen dieselbe ergangenen Erkenntnisses vorzuladen sind, so hat er dies dem Vorsitzenden unter Angabe der Thatsachen und Punkte, worüber der Vorzuladende vernommen werden soll, rechtzeitig anzuzeigen. Die Liste der vorzuladenden Sachverständigen ist dem Gegner längstens drei Tage vor der Hauptverhandlung mitzutheilen, ausserdem können diese Personen nicht ohne seine Zustimmung vernommen werden, unbeschadet der dem Vorsitzenden (§. 254) eingeräumten Macht, wonach derselbe auch ohne Antrag des Anklägers und Angeklagten Sachverständige im Laufe des Verfahrens vorzuladen berechtigt ist (§. 222).
Aus diesen Bestimmungen geht zunächst hervor, dass die Zahl der zu einer Hauptverhandlung beizuziehenden Sachverständigen, beziehungsweise Gerichtsärzte, nicht in gleicher Weise eingeschränkt wird, wie dies bezüglich des Augenscheines meistens der Fall ist. In der Regel wird jedoch bei den österr. Gerichtshöfen der Usus beobachtet, dass von Seite des Gerichts ebenfalls zwei Gerichtsärzte, und zwar meistens dieselben, die bei der Voruntersuchung functionirt hatten, beigezogen werden.
Wesentlich abweichend von der früher geltenden Uebung ist die Bestimmung, wonach auch auf Antrag des Privatanklägers, des Privatbetheiligten und auch vom Angeklagten, resp. seinem Vertheidiger, die Beiziehung von Sachverständigen, also auch Aerzten, erfolgen kann. Diese Einführung scheint auf den ersten Blick bedenklich, da sie den Gedanken nahelegt, dass dadurch der betreffende Sachverständige auf den Parteistandpunkt gestellt werde, während doch das Gutachten desselben unter allen Umständen ein streng objectives und unparteiisches sein soll. Dem[S. 41] entgegen muss jedoch bemerkt werden, dass, wenn die Sachverständigen nur von Seite des Gerichtes beigezogen würden, wie dies bisher üblich war, der gleiche Einwand gemacht werden könnte, dass ferner die Objectivität bei sonst tadellos dastehenden Sachverständigen als vorhanden angenommen werden muss, mögen sie von dieser oder jener Seite vorgeladen werden, und dass die Einhaltung dieser ausserdem durch den abzulegenden Eid in genügender Weise garantirt erscheint, sowie es weiter dem Rechtsgefühl entspricht, wenn sowohl dem Ankläger als dem Angeklagten bezüglich der Beibringung der Beweismittel gleiche Rechte eingeräumt werden, und dass endlich einer Ueberschreitung der diesbezüglichen Rechtsbefugnisse insoferne Schranken gesetzt sind, als zufolge §. 225 St. P. O. nicht alle von den Parteien beantragten Sachverständigen zur Hauptverhandlung vorgeladen werden müssen, sondern von Seite der Rathskammer zurückgewiesen werden können.
Die einschlägigen Bestimmungen der deutschen St. P. O. weichen in einigen Beziehungen von denen der österreichischen ab.
Zunächst steht die Ladung der zur Hauptverhandlung beizuziehenden Sachverständigen der Staatsanwaltschaft zu (§. 213), entweder aus eigener Entschliessung oder auf Anordnung des Vorsitzenden (§. 221).
Verlangt der Angeklagte die Ladung von Sachverständigen, so hat er unter Angabe der Thatsachen, über welche der Beweis erhoben werden soll, seine Anträge bei dem Vorsitzenden des Gerichtes zu stellen (§. 210). Lehnt der Vorsitzende den Antrag auf Ladung einer Person ab, so kann der Angeklagte die letztere unmittelbar laden lassen. Hierzu ist er auch ohne vorgängigen Antrag befugt (§. 219). Von einer solchen Ladung hat der Angeklagte „rechtzeitig“ die Staatsanwaltschaft in Kenntniss zu setzen unter Angabe des Namens und des Wohnortes der zu Ladenden. Dieselbe Verpflichtung hat die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Angeklagten, wenn sie ausser den in der Anklageschrift benannten oder auf Antrag des Angeklagten geladenen Sachverständigen die Ladung noch anderer Personen bewirkt (§. 221).
Es ist demnach dem Angeklagten, resp. seinem Vertheidiger bezüglich des Rechtes der Ladung von Sachverständigen noch ein weiterer Spielraum gelassen als bei den österr. Gerichten.
In den deutschen Ländern gestattete schon das frühere Gerichtsverfahren die Zuziehung von sog. „Defensionalsachverständigen“, und es wird von diesem Rechte ungleich häufiger Gebrauch gemacht, als dies in Oesterreich der Fall ist.
Aehnliche Einrichtungen bestehen seit langer Zeit in anderen Ländern, insbesondere in England und Amerika. Während jedoch dieselben im Allgemeinen in Deutschland sich bewährten, sind in erstgenannten Ländern entschieden Uebelstände zu Tage gekommen, die vorzugsweise darin bestanden, dass auf ein entsprechendes einschlägiges[S. 42] Wissen der herangezogenen Sachverständigen nicht die gehörige Rücksicht genommen wurde.[17]
Die geladenen Sachverständigen sind verpflichtet, bei der Hauptverhandlung zu erscheinen, und können, wenn sie dies unterlassen, zu einer Geldstrafe von 5–50 fl. und eventuell zum Ersatze der Kosten für die vereitelte Sitzung verurtheilt werden, wenn sie nicht im Stande sind, ihr Ausbleiben zu rechtfertigen. Auch kann nöthigenfalls ein Vorführungsbefehl gegen sie erlassen werden (§§. 242 und 243 der österr. St. P. O.). In Deutschland gilt für einen solchen Fall die Bestimmung des bereits erwähnten §. 77 der deutschen St. P. O.
Bei Beginn der Hauptverhandlung werden die Gerichtsärzte aufgerufen und an die Heiligkeit ihres abgelegten Eides erinnert, beziehungsweise beeidet (§. 241 österr. und §. 242 deutsche St. P. O.). Hierauf werden dieselben in der Regel vom Vorsitzenden aufgefordert, im Sitzungssaale zu bleiben und dem Gange der Verhandlung zu folgen. Die Abhörung der ärztlichen Sachverständigen erfolgt in den meisten Fällen nach geschlossener Zeugenvernehmung, kann jedoch, wenn der Vorsitzende dies verfügt, und die übrigen Betheiligten damit einverstanden sind, auch früher geschehen. Bei dieser Vernehmung ist dann nach §. 248 der österr. St. P. O. dafür zu sorgen, dass ein noch nicht vernommener Sachverständiger nicht bei der Vernehmung anderer Sachverständiger über denselben Gegenstand zugegen sei.
Es erfolgt demnach zuerst die Vernehmung blos eines Sachverständigen, während die übrigen auf Aufforderung des Vorsitzenden den Saal verlassen, um dann nach Abhörung des ersten und jedes folgenden Sachverständigen einzeln vorgerufen zu werden.
Die Aufgabe der ärztlichen Sachverständigen bei dieser Vernehmung besteht zunächst darin, dass sie mit Berücksichtigung des von ihnen oder anderen Sachverständigen vorgenommenen Augenscheines, dessen Protokoll jedesmal sämmtlichen noch versammelten Aerzten vorgelesen wird[18], und mit Rücksicht auf das Ergebniss der Hauptverhandlung ihr Gutachten mündlich abzugeben, ausführlich zu motiviren und die betreffs dieses oder anderer Verhältnisse entweder von dem Vorsitzenden oder von den übrigen Mitgliedern des Gerichtshofes, vom Ankläger, Privatbetheiligten, sowie deren Vertreter oder von den Geschworenen an sie gerichteten Fragen zu beantworten, eventuell auf gemachte Einwürfe zu erwidern haben.
Die Grundsätze, die dabei einzuhalten sind, sind im Allgemeinen keine anderen als jene, deren Einhaltung bei der Abgabe[S. 43] des schriftlichen Gutachtens empfohlen wurde. Der Arzt hat auch hier sich zu bestreben, dass seine Auseinandersetzungen wissenschaftlich und logisch richtig, möglichst bestimmt und namentlich verständlich und auch den Laien zu überzeugen im Stande sind. Letzteres ist besonders bei Schwurgerichtsverhandlungen zu beachten, und auf den Bildungsgrad der Geschworenen Rücksicht zu nehmen, von denen in der Regel viele unmöglich aus dem Gutachten des Sachverständigen eine Ueberzeugung gewinnen können, wenn dieser seine Ausführungen in einer Weise gibt, welcher nur der höher Gebildete zu folgen im Stande ist, oder, was am häufigsten geschieht, wenn er Ausdrücke gebraucht, deren Verständniss wieder nur bei Aerzten erwartet werden kann.
Aus gleichem Grunde empfiehlt es sich, weitschweifige und hochtrabende Auseinandersetzungen zu vermeiden, vielmehr kurz und schlicht den Sachverhalt zu schildern und das Gutachten abzugeben. Es ist allerdings ein Rednertalent und die Gabe einer fliessenden klaren Darstellung nicht Jedermann gegeben und auch dem Eindrucke des Momentes und des öffentlichen Auftretens wird sich manchmal der Anfänger nicht entziehen können; doch auch in dieser Beziehung wächst die Sicherheit mit zunehmender Uebung und Erfahrung, und auch dem Neuling in solcher Situation soll das Bewusstsein über derartigen Einflüsse hinweghelfen, dass man von ihm keine oratorischen Leistungen, keine kunstvoll aufgebauten Plaidoyers verlangt, sondern eine einfache Schilderung der ärztliche Beurtheilung erfordernden Verhältnisse des concreten Falles und eine Darlegung der aus diesen sich ergebenden Schlüsse.
Nicht ganz ohne Schwierigkeiten ist die Lage der ärztlichen Sachverständigen gegenüber den Fragen und Einwürfen der oben genannten, hierzu berechtigten Personen, insbesondere gegenüber denen des Anklägers einerseits und des Vertheidigers anderseits, eine Situation, die durch etwaige Meinungsverschiedenheiten der citirten Sachverständigen selbst mitunter noch difficiler sich gestalten kann.
In solchen Fällen kommt es besonders darauf an, Ruhe und Geistesgegenwart zu wahren und sich weder durch das Drängen der Fragenden, noch durch die gewöhnlich von diesen geübte Taktik, alle erdenklichen Möglichkeiten herbeizuziehen, einschüchtern zu lassen. Insbesondere hat der Experte darauf zu achten, dass er bei seinen Aussagen stets auf streng ärztlichem Standpunkt bleibe und niemals aus seiner Stellung als Sachverständiger heraustrete. Nach beiden Richtungen geschehen Fehler, allerdings nicht selten veranlasst durch das Drängen der Fragenden. Der zur Hauptverhandlung beigezogene Arzt ist eben nur als Arzt gerufen worden und hat über keine anderen Verhältnisse sich zu äussern, als über solche, die mit ärztlichem Wissen beurtheilt werden können. Werden ihm daher Fragen vorgelegt, die auch ohne medicinische Bildung beantwortet werden können, oder[S. 44] derart sind, dass zu ihrer Beantwortung ganz andere Fachkenntnisse erfordert werden, als sie der Arzt besitzt, so kann er ein Eingehen auf diese ohne Weiteres ablehnen, wenn nicht in einem solchen Falle der Vorsitzende von seinem Rechte, Fragen, die ihm unangemessen erscheinen, zurückzuweisen (§. 249 österr. St. P. O.), Gebrauch machen sollte.
Am meisten hat aber der Arzt sich zu hüten, in die Rolle eines Anklägers oder Vertheidigers zu fallen, es wäre dieses einer der grössten Fehler, die er als Sachverständiger begehen könnte. Es kommt ihm durchaus nicht zu, belastende oder entlastende Momente aufzubringen, er hat sich vielmehr zu hüten, auch nur solche oder ähnliche Ausdrücke zu gebrauchen, sondern hat nicht zu vergessen, dass seine Aufgabe blos darin besteht, gewisse Thatsachen oder Verhältnisse in ganz objectiver Weise klarzustellen, während Anderen die Aufgabe zufällt, diese vom Arzte klargelegten Verhältnisse als Beweis für die Schuld oder Unschuld des Angeklagten und für die Urtheilssprechung zu verwerthen.
Damit ist überhaupt die Stellung von Sachverständigen und insbesondere die des Gerichtsarztes gekennzeichnet. Er ist kein blosser Zeuge, da er nicht, wie dieser, nur über gemachte Wahrnehmungen zu berichten, sondern über diese auch sein Gutachten abzugeben hat, er hat aber auch den concreten Fall nicht zu entscheiden, sondern nur mit seinem Specialwissen gewisse Verhältnisse aufzuklären oder sicherzustellen, die für die Entscheidung von Wichtigkeit sind. Diese Wichtigkeit ist allerdings in der Regel eine so grosse, dass von dem Gutachten des Arztes meistens die Entscheidung des Falles abhängt. Dieses mag ihn aber niemals verleiten, seinen Standpunkt mit dem eines Richters zu verwechseln, wohl wird ihm aber das Bewusstsein der Wichtigkeit und Tragweite seines Ausspruches stets vor Augen schweben und ihn noch mehr veranlassen, bei seinem Gutachten strenge Wissenschaftlichkeit und unerschütterliche Ehrenhaftigkeit massgebend sein zu lassen, eingedenk der Worte, die der Dichter des Uriel Acosta (Gutzkow) den Arzt Silva sprechen lässt, als ihm das Buch Acosta’s von den Rabbinern zur Beurtheilung übergeben wurde:
Nach ihrer Vernehmung müssen die Sachverständigen so lange in der Sitzung anwesend bleiben, als der Vorsitzende sie nicht entlässt oder ihr Abtreten fordert.
Die deutsche Str. P. O. enthält im Allgemeinen gleiche Bestimmungen (siehe oben). Abweichend von denen der österreichischen[S. 45] ist nur die (§. 238), dass die Vernehmung der Sachverständigen von dem Vorsitzenden der Staatsanwaltschaft und dem Vertheidiger auf deren übereinstimmenden Antrag zu überlassen ist, wobei bei den von der Staatsanwaltschaft benannten Sachverständigen dieser, bei den von dem Angeklagten benanntem dem Vertheidiger in erster Reihe das Recht zur Vernehmung zukommt.
Inwieferne der Gerichtsarzt gegen eventuelle Ausschreitungen von Seite des Angeklagten u. s. w. geschützt erscheint, geht aus den oben angeführten §§. 235 und 236 der österr. St. P. O., sowie aus den §§. 153 und 300 des österr. Strafgesetzes hervor; ebenso aber ergibt sich aus den §§. 165 und 301 des österr. Strafgesetzentwurfes und aus dem §. 278 des deutschen Strafgesetzes, welchen Strafen der Gerichtsarzt anheimfällt, wenn er sich beikommen lassen sollte, seine Vertrauensstellung zu missbrauchen und eine wissentlich falsche Aussage zu machen.
[S. 46]
Die Intervention ärztlicher Sachverständiger wird von Seite der Gerichte im Allgemeinen in folgenden Fällen in Anspruch genommen:
1. Wenn die Zeugungsfähigkeit eines Individuums in Frage kommt;
2. bei Anklagen wegen gesetzwidriger Befriedigung des Geschlechtstriebes;
3. bei fraglicher Schwangerschaft und Geburt;
4. bei Anklagen wegen Schädigung eines Individuums an der Gesundheit oder wegen gewaltsamer Tödtung;
5. bei fraglichem Geisteszustand einer Person.
Es erscheint uns zweckmässig, entsprechend diesen Fällen den sachlichen Theil unseres Buches in bestimmte Hauptabschnitte einzutheilen, in denen wir zu behandeln gedenken:
im ersten Hauptabschnitte: die Zeugungsfähigkeit;
im zweiten Hauptabschnitte: Die gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes;
im dritten Hauptabschnitte: Die Schwangerschaft und Geburt;
im vierten Hauptabschnitte: Die gewaltsamen Gesundheitsbeschädigungen und den gewaltsamen Tod;
im fünften Hauptabschnitte: Die gerichtliche Psychopathologie.
In diesen Hauptabschnitten, welche wieder in Unterabschnitte getheilt werden sollen, lassen sich die wichtigsten in foro vorkommenden ärztlichen Fragen unterbringen.
[S. 47]
Oesterr. bürgerl. Gesetzbuch.
§. 53. Mangel an dem nöthigen Einkommen, erwiesene oder gemein bekannte schlechte Sitten, ansteckende Krankheiten oder dem Zwecke der Ehe hinderliche Gebrechen desjenigen, mit dem die Ehe eingegangen werden will, sind rechtmässige Gründe, die Einwilligung zur Ehe zu versagen.
§. 60. Das immerwährende Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, ist ein Ehehinderniss, wenn es schon zur Zeit des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war. Ein blos zeitliches, oder erst während der Ehe zugestossenes, selbst unheilbares Unvermögen kann das Band der Ehe nicht auflösen.
§. 99. Die Vermuthung ist immer für die Giltigkeit der Ehe. Das angeführte Ehehinderniss muss also vollständig bewiesen werden, und weder das übereinstimmende Geständniss beider Ehegatten hat hier die Kraft eines Beweises, noch kann darüber einem Eide der Ehegatten stattgegeben werden.
§. 100. Insbesondere ist in dem Falle, dass ein vorhergegangenes und immerwährendes Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, behauptet wird, der Beweis durch Sachverständige, nämlich durch erfahrene Aerzte und Wundärzte, und nach Umständen auch durch Hebammen, zu führen.
§. 101. Lässt sich mit Zuverlässigkeit nicht bestimmen, ob das Unvermögen ein immerwährendes oder blos zeitliches sei, so sind die Ehegatten noch durch ein Jahr zusammen zu wohnen verbunden, und hat das Unvermögen diese Zeit hindurch angehalten, so ist die Ehe für ungiltig zu erklären.
§. 158. Wenn ein Mann behauptet, dass ein von seiner Gattin innerhalb des gesetzlichen Zeitraumes geborenes Kind nicht das seinige sei, so muss er die eheliche Geburt des Kindes längstens binnen drei Monaten nach erhaltener Nachricht bestreiten und gegen den zur Vertheidigung der ehelichen Geburt aufzustellenden Curator die Unmöglichkeit der von ihm erfolgten Zeugung beweisen.
§. 159. Stirbt der Mann vor dem ihm zur Bestreitung der ehelichen Geburt verwilligten Zeitraume, so können auch die Erben, denen ein Abbruch an ihren Rechten geschähe, innerhalb drei Monaten nach dem Tode des Mannes aus dem angeführten Grunde die eheliche Geburt eines solchen Kindes bestreiten.
Oesterr. St. G. B.
§. 156. Hat aber das Verbrechen a) für den Beschädigten — den Verlust der Zeugungsfähigkeit — nach sich gezogen, so ist die Strafe des schweren Kerkers zwischen 5 und 10 Jahren auszumessen.
Oesterr. St. G. Entwurf.
§. 232. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte — — die Fortpflanzungsfähigkeit verliert — — so ist wegen schwerer Körperverletzung auf Gefängniss, nicht unter einem Monate, zu erkennen.
Preuss. Allg. Landrecht.
§. 669. Tit. 2, Th. II: Auch jüngeren (als 50jährigen) Personen kann es, aber nur unter besonderer landesherrlicher Erlaubniss, gestattet werden, Kinder zu adoptiren, wenn nach ihrem körperlichen oder Gesundheitszustande die Erzeugung natürlicher Kinder von ihnen nicht zu vermuthen ist.
§. 695. Ein Ehegatte, welcher durch sein Betragen bei oder nach der Beiwohnung die Erreichung des gesetzmässigen Zweckes derselben vorsätzlich hindert, gibt dem Anderen zur Scheidung rechtmässig Anlass.
§. 696. Ein auch während der Ehe erst entstandenes, gänzliches oder unheilbares Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht begründet ebenfalls Scheidung.
[S. 48]
§. 697. Ein Gleiches gilt von unheilbaren körperlichen Gebrechen, welche Ekel und Abscheu erregen, oder die Erfüllung der Zwecke des Ehestandes gänzlich hindern.
Rhein. Civilgesetzb. (Code civil).
Art. 313. Der Mann kann nicht unter Anführung seines natürlichen Unvermögens das in der Ehe geborene Kind verleugnen.
Deutsches St. G. B.
§. 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte — — — die Zeugungsfähigkeit verliert — — so ist auf Zuchthaus bis zu 5 Jahren, oder Gefängniss nicht unter einem Jahre zu erkennen.
Aus vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich, dass die Zeugungsfähigkeit einer Person in folgenden Rechtsfällen in Frage kommen kann:
1. Bei beabsichtigten Eheschliessungen: wenn an der Zeugungsfähigkeit eines Theiles gezweifelt wird. (Bürg. Ges.-Buch §. 53.)
2. Wenn es sich um Auflösung einer bereits geschlossenen Ehe wegen Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht handelt. (Bürg. Ges.-Buch §§. 60, 99, 100, 101, Preuss. Landr. §§. 696, 697.)
3. Wenn die rechtliche Abstammung eines Kindes von einem bestimmten Vater (oder einer bestimmten Mutter) wegen Zeugungsunfähigkeit dieser in Zweifel gezogen wird. (Bürg. Ges.-Buch §§. 158, 159.)
4. Wenn Zeugungsunfähigkeit als Folge einer Verletzung zurückgeblieben sein soll. (Oesterr. St. G. B. §. 156, St. G. Entw. §. 236, Deutsches St. G. B. §. 224.)
5. Wenn jüngere als 50jährige Individuen Kinder adoptiren wollen. (Preuss. Landr. §. 669.)
In allen diesen Fällen kann entweder beim Manne oder bei der Frau die Zeugungsfähigkeit in Frage stehen, und es kann sich dabei entweder um ein immerwährendes oder um ein blos temporäres Unvermögen handeln.
Ein physiologisch normales geschlechtliches Vermögen erfordert: 1. die Fähigkeit zur Ausübung des Begattungsactes, 2. die Befruchtungsfähigkeit beim Manne, die Conceptionsfähigkeit beim Weibe, weshalb seit jeher eine Begattungs- oder Beischlafsunfähigkeit (Impotentia coëundi) und eine Befruchtungs-, beziehungsweise, Conceptionsunfähigkeit (Impotentia generandi, concipiendi) unterschieden wird.
Eine derartige Unterscheidung ist zweckmässig, einestheils, weil in der That die eine Unfähigkeit ohne die andere vorkommen kann und sogar nicht selten vorkommt, anderseits, weil auch das Gesetz in analoger Weise unterscheidet, da es u. A. im §. 53 des österr. Bürg. Ges.-Buch von „dem Zwecke der Ehe hinderlichen Gebrechen“ überhaupt spricht, während im §. 60 nur vom „Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten“, also nur von der Impotentia coëundi die Rede ist.
[S. 49]
Auch das preussische Landrecht spricht im §. 696 nur von einem Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht, und es ist nirgends angeführt, ob auch eine bei ungestörter Potentia coëundi bestehende Befruchtungs- oder Conceptionsunfähigkeit einen Scheidungsgrund bilden könne; doch sollte letzteres vermuthet werden, da im unmittelbar vorhergehenden Paragraph bestimmt wird, dass ein Ehegatte, welcher durch sein Betragen bei oder nach der Beiwohnung die Erreichung des gesetzmässigen Zweckes derselben vorsätzlich hindert, dem Anderen zur Scheidung rechtmässigen Anlass gibt.
Die wichtigste Bedingung der Potentia coëundi beim Manne ist die Erectionsfähigkeit seines Gliedes, und der angebliche Mangel dieser gibt am häufigsten Veranlassung zur Einleitung von Eheauflösungsprocessen und deshalb zur gerichtsärztlichen Untersuchung.
Die Erection ist ein Reflexvorgang, der unter normalen Verhältnissen durch wollüstige, auf geschlechtliche Vereinigung gerichtete Vorstellungen, insbesondere unmittelbar vor letzterer, ausgelöst wird, aber auch durch periphere Reize anderer Art, z. B. durch Masturbation, hervorgerufen werden kann.
Dieser normale Reflexvorgang kann nun bei einem Manne entweder vollkommen fehlen oder nicht mit jener Präcision erfolgen, wie sie de norma beim Coitus gefordert wird.
Um solche Fälle zu verstehen, ist es nothwendig, festzuhalten, dass die Erection wie jeder Reflexact zu ihrem Eintreten zweierlei erfordert: einen entsprechenden peripheren Reiz und eine prompte Reaction des betreffenden specifischen Reflexcentrums und der zu- und ableitenden Nervenbahnen.
Der periphere Reiz ist eben die geschlechtliche Aufregung, in die ein Mann durch den unmittelbaren Verkehr mit einem weiblichen Individuum versetzt wird, und es ist klar, dass unter sonst normalen Verhältnissen der Grad dieser Aufregung und die Leichtigkeit, mit welcher sie eintritt, abhängig sein wird von dem Eindrucke, den das weibliche Individuum, mit welchem den Coitus auszuüben Gelegenheit geboten ist, auf die Sinne und durch diese auf den Begattungstrieb des betreffenden Mannes ausübt. Fehlt dieser Eindruck oder ist derselbe gar derart, dass er statt geschlechtlicher Zuneigung Widerwillen einflösst, dann ist es begreiflich, wenn die Erection trotz bestehender Fähigkeit hierzu und trotz zum Coitus gebotener Gelegenheit sich nicht einstellt, eben weil jenes Moment, welches dieselbe erweckt, die äussere geschlechtliche Erregung, nicht gegeben ist. Eine derartige natürliche oder relative Impotenz kann demnach vorkommen gegenüber alten oder hässlichen Frauen oder gegenüber solchen, welche an körperlichen Gebrechen leiden, die Ekel und Abscheu erregen. (§. 697 Preuss. Landr.)
[S. 50]
Doch ist es bekannt, dass gerade in dieser Beziehung die eigene Individualität des Mannes sich auffallend geltend macht, und dass ungemein häufig Fälle vorkommen, dass trotz der abschreckendsten körperlichen Eigenschaften der Frau der geschlechtliche Verkehr anstandslos erfolgt, ein Umstand, der bei der Beurtheilung solcher Fälle ebenso zu berücksichtigen wäre, wie die Erfahrung, dass die Angabe von Ekel und Abscheu vor dem anderen Theile häufig nur als Vorwand genommen wird, um die lästig gewordenen Fesseln der Ehe zu lösen, und dass zu diesem Zwecke nicht selten die unverschämtesten Lügen und Uebertreibungen aufgeboten werden.
Von bei weitem grösserer forensischer Bedeutung als die eben erwähnte Behinderung der Erection ist jene, welche in abnormen Zuständen des Mannes selbst ihren Grund hat, und welche demnach als Impotentia coëundi katexochen zu bezeichnen ist.
Eine solche Behinderung kann begründet sein:
Ad 1. Nach dem gegenwärtigen Stande der Physiologie muss angenommen werden, dass ebenso wie für andere physiologische Functionen auch für den Geschlechtstrieb und seine Aeusserungen bestimmte Nervencentren existiren. Ueber den Sitz derselben ist jedoch noch wenig bekannt. Man hat denselben früher vorzugsweise im Kleinhirn vermuthet, und einzelne pathologische Beobachtungen scheinen dies zu bestätigen, z. B. jene von Serres, welcher fand, dass nach apoplectischen Ergüssen in’s Kleinhirn, speciell in der Wärme, Erection des Penis eintritt; dagegen erwähnt Brücke (Vorlesungen, II, 63) eines im Hospice des orphelins beobachteten Falles, in welchem eine Kranke bis zu ihrem Ende der Onanie ergeben war, obgleich bei der Obduction kein Kleinhirn gefunden wurde, sondern statt dessen eine gallertige Masse, und im Archiv für Psychiatrie, IV, 730, findet sich ein von A. Otto mitgetheilter Fall von hoher geschlechtlicher Erregbarkeit trotz verkümmerten Kleinhirnes.
Neueren Untersuchungen zufolge ist der Sitz des Erectionscentrums im Rückenmark zu suchen. Insbesondere ist nach Goltz (Pflüger’s Archiv, VIII, 460) das Lendenmark das selbstständige Centralorgan für die Erection, welches theils reflectorisch, theils durch Erregung der höheren Sinnesnerven auch von oberhalb gelegenen Theilen durch die im Rückenmark verlaufenden Bahnen erregt werden kann. Mit dieser Behauptung stehen im Einklange die Beobachtungen von mehrere Stunden andauernder Erection des Penis nach Verletzungen der Halswirbelsäule, wie eine solche von Tauszky (Wiener med. Presse. 1874, Nr. 31) und eine zweite von[S. 51] Reimann (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1875, pag. 461) veröffentlicht worden ist.[19]
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es Männer gibt, bei welchen schon von Haus aus die Erregbarkeit der den geschlechtlichen Functionen, insbesondere der Erection vorstehenden Centren entweder fehlt oder im abnormen Grade vermindert erscheint. Es ist wohl denkbar, dass ein solcher Zustand bei sonst normalen Verhältnissen vorkommen kann, und die alten, in diesen Dingen sehr erfahrenen Canonisten haben denselben als „Natura frigida“ bezeichnet. Diese Möglichkeit hat eine festere Basis durch gewisse psychiatrische Beobachtungen gewonnen, aus welchen hervorgeht, dass als Theilerscheinung gewisser angeborener psychopathischer Zustände ein vollkommenes Fehlen des Geschlechtstriebes oder wesentliche Abweichungen desselben von der Norm vorkommen können.
Es gehören hierher manche Fälle von Blödsinn und Schwachsinn, obgleich bezüglich dieser bemerkt werden muss, dass der Geschlechtstrieb mit der Intelligenz in keinem wesentlichen Zusammenhange steht und als rein instinctiver Trieb sich äussern kann, auch wenn erstere fehlt oder sehr schwach entwickelt ist, und nicht selten gerade bei Blödsinnigen schrankenlos sich äussert, weil eben bei diesen das moralische Fühlen und Vorstellen fehlt, welches beim vollsinnigen Menschen dem Geschlechtstrieb gewisse Schranken zu setzen bestimmt ist. Ebenso muss bemerkt werden, dass die bei angeborenem Blödsinn häufig zu beobachtende Verkümmerung der Hoden keineswegs ein Fehlen des Geschlechtstriebes bedingt, noch weniger aber die Möglichkeit der Erection des Penis ausschliesst, wie wir ja auch bei Castraten (Eunuchen) und den später zu erwähnenden Formen von Hermaphrodisie trotz Fehlens oder Verkümmerung der Hoden geschlechtliche Regungen und insbesondere Erectionsfähigkeit des Penis constatiren können. In diesen Fällen ist eben das Centrum für die Geschlechtsempfindung functionsfähig. Es kommen jedoch noch häufiger Fälle vor, in welchen sich als Theilerscheinung des angeborenen Blödsinnes und Schwachsinnes entweder vollständiges Fehlen des Geschlechtstriebes oder ein Darniederliegen desselben beobachten lässt. Im letzteren Falle kann es vorkommen, dass das Individuum auf von einem Weibe ausgehende geschlechtliche Erregungen nicht reagirt, während sich das Vorhandensein des Geschlechtstriebes z. B. durch Masturbation äussert.
Insbesondere wichtig in vorliegender Beziehung und auch anderweitig forensisch bemerkenswerth sind die Fälle von angeborener Verschrobenheit und namentlich von angeborenem Defect des moralischen Fühlens, bei welchen trotz normaler Körperbildung[S. 52] und gut entwickelter männlicher Geschlechtsorgane der Geschlechtstrieb gegenüber dem Weibe entweder vollständig fehlt und selbst Abneigung und Abscheu gegen das weibliche Geschlecht besteht, oder die Geschlechtsempfindung eine durchaus verkehrte ist, so dass das Individuum sich gar nicht als Mann, sondern als Weib fühlt und dem entsprechend sich benimmt. Eine Zusammenstellung derartiger Fälle, insbesondere von sogenannter „conträrer Sexualempfindung“ (Westphal), hat Krafft-Ebing veröffentlicht (Arch. f. Psych. 1877, VII, 201). Dieselben zeigen in eclatanter Weise, dass auch der Geschlechtstrieb und seine Aeusserungen von der angeborenen Organisation nervöser Centren abhängen, und geben uns den Wink, auch bei fraglicher Impotenz die einschlägigen psychiatrischen Erfahrungen zu berücksichtigen.
In erworbener Weise kann die Erregbarkeit des Erectionscentrums herabgesetzt sein durch sexuelle Excesse (insbesondere Onanie) und andere schwächende oder die Erregbarkeit des Nervensystems herabsetzende Einflüsse, beziehungsweise Erkrankungen, wohin z. B. der Diabetes und die „traumatische Neurose“ gehören, sowie die Neurasthenie (Fürbringer, Impotentia virilis. Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr. 40).
Zweifellos bedingen viele Erkrankungen des Gehirns und namentlich des Rückenmarks Beeinträchtigung und Verlust der Erectionsfähigkeit, theils durch pathologische Veränderungen der Centren selbst, theils durch Störungen der betreffenden Leitungen. Auf den Sitz und die Ausdehnung, sowie auf die Art und den Grad der Erkrankung würde Rücksicht genommen werden müssen. Da nach den oben angegebenen Untersuchungen von Goltz die Erection vorzugsweise vom Lendenmark ausgelöst wird, so muss insbesondere den Erkrankungen des unteren Theiles des Rückenmarkes ein schädigender Einfluss auf die Potenz zugeschrieben werden; doch haben wir in der Prager Siechenanstalt einen damals 50jährigen Mann beobachtet, der, obwohl seit vielen Jahren an den unteren Extremitäten fast vollständig gelähmt, im hohen Grade der Masturbation ergeben war und wiederholt mit erigirtem Penis überrascht wurde.
Dass in Folge vorgerückten Alters die Erregbarkeit der Erectionscentren abnimmt und vielleicht ganz erlöschen kann, ist gewiss anzunehmen, doch sind geschlechtliche Aeusserungen bei Greisen so häufig, dass gerade bei diesen weniger das Alter als der individuelle Körperzustand in Betracht zu ziehen sein wird.
Ad 2. Da der Anstoss zur Erection vorzugsweise von oberhalb dem Goltz’schen Erectionscentrum im Lendenmark gelegenen Nervenorganen ausgeht, insbesondere von den höheren Sinnesnerven, deren Erregung mittelst im Rückenmark verlaufenden Bahnen auf das Erectionscentrum fortgepflanzt wird, so wird es begreiflich, wie auch Erkrankungen des Gehirnes und der oberen Theile des Rückenmarkes die Erectionsfähigkeit schwächen und selbst Verlust derselben bedingen können.
[S. 53]
Die centrifugale, die Erection vermittelnde Leitung ist durch C. Eckhard nachgewiesen worden durch die Entdeckung der Nervi erigentes, Fasern, die aus dem 1., 2. und 3. Sacralnerven entspringen, in den Sympathicus übergehen und mit diesem zu den Gefässen des Penis gelangen, deren Erweiterung sie auf stattgehabte Reizung, und auf diese Weise die Erection bewirken. Durchschneidung dieser Nerven kann Erectionsunfähigkeit bedingen, wie durch Versuche an Pferden constatirt worden ist, ebenso nach Rémy (Journ. de l’anat. et phys. 1886, pag. 205) Durchschneidung der Nervi ejaculatorii; auch Verletzungen der Wurzel des Penis können Gleiches veranlassen.
Ad 3. Der glatte Verlauf des Reflexvorganges der Erection kann auch durch psychische Einflüsse verhindert werden.
Nach Goltz kann man bei Hunden, bei welchen in Folge Durchschneidung des oberen Theiles des Lendenmarkes die Erection des Penis schon auf geringe Reize eintritt, die Erection nicht auftreten oder verschwinden sehen, wenn stärkere Hautreize anderwärts eingeleitet werden.
Diese auch bei anderen Reflexen zu beobachtende Thatsache kann auch auf psychische Einflüsse übertragen werden. So wäre es begreiflich, wenn bei einem Individuum, das eben im Begriffe wäre, den Coitus auszuüben, z. B. in Folge eines plötzlichen Schrecks, die Erection ausbliebe oder unterbrochen würde. Aehnliches können jedoch auch weniger plötzliche Gemüthsaffecte bewirken, und es ist eine durch zahlreiche Erfahrungen constatirte Thatsache, dass insbesondere bei Neulingen im geschlechtlichen Verkehr, sowie bei Individuen, die wegen früher getriebener Masturbation mit einem schlechten Gewissen in die Ehe treten, einerseits übertriebene Scham, anderseits durch Vorstellungen etwaiger Impotenz geweckte Aengstlichkeit den Grund bildet, warum die Erection ausbleibt, ein Gang der Dinge, der in der Thatsache, dass es Männer gibt, die nicht in Gegenwart Anderer den Harn lassen können, sowie in der bekannten Erfahrung, dass auf Eisenbahnen nicht selten die Defäcation und Harnentleerung durch die Angst, den Zug zu versäumen, gehemmt wird, sein Analogon findet.
Diese psychische Reflexhemmung erklärt gewiss so manche Fälle angeblicher oder vermeintlicher Impotenz, welche, wie die Praktiker wohl wissen, gar nicht so selten bei jungen Ehemännern vorkommt und in der Regel, sobald durch einen gelungenen Beischlaf das Selbstvertrauen geweckt und die Angst vor vermeintlicher Impotenz damit gehoben wird, von selbst verschwindet. Es scheint hierher auch der grösste Theil jener Fälle zu gehören, in welchen das Individuum trotz normaler Erection doch keine Ejaculation beim Coitus zu Stande bringt, trotzdem bei nächtlichen Pollutionen Sperma entleert wird, wie Ultzmann („Ueber männliche Sterilität.“ Wiener med. Presse. 1878, Nr. 1) einen solchen mittheilt.
[S. 54]
Ausser diesen in Innervationsstörungen gelegenen Ursachen der Erectionsfähigkeit des Gliedes gibt es Zustände, welche in mechanischer Weise Gleiches bewirken können. Es gehören hierher schwielige Narben und chronische Exsudate in den Corporibus cavernosis oder anderen Theilen des Penis, ebenso gewisse Neubildungen desselben, vielleicht auch einzelne Formen der Phimose, dann auch in vielen Fällen von Hypospadie eine angeborene Verkürzung des gespaltenen Frenulums, oder der die Unterfläche des Penis bekleidenden Haut, wodurch der letztere hakenförmig nach abwärts gekrümmt und in der Erection behindert erscheint, ebenso die Verwachsung des Penis mit dem Scrotum, deren Oesterlen in Maschka’s Handbuch, III, 13, erwähnt.
Weiter kommen Fälle vor, in welchen das Glied zwar die normale Erectionsfähigkeit besitzt, aber auch im Zustande der Erection so von Geschwülsten der Nachbarschaft bedeckt wird, dass es über das Niveau dieser gar nicht hervortritt, somit auch nicht in die weiblichen Genitalien eingeführt werden kann. Beispiele dieser Art liefern gewisse Fälle von Elephantiasis scroti und Scrotalhernien.
Einen exquisiten Fall ersterer Art haben wir selbst beobachtet. Das Scrotum reichte bis an’s Knie und hatte die Grösse von etwa drei Mannsköpfen. Der Penis war in diesem riesigen Tumor vollkommen vergraben, und durch eine excoriirte Stelle wurde die Oeffnung bezeichnet, aus welcher sich der Harn entleerte. Der Mann war verheiratet und konnte dieses Tumors wegen bereits seit Jahren den Coitus nicht mehr ausüben, da trotz vorhandener Geschlechtslust der Penis auch im erigirten Zustande durch die Geschwulst vollkommen verdeckt wurde.
Ein Fall, in welchem auf diese Weise durch einen grossen Scrotalbruch Impotenz herbeigeführt wurde, findet sich in Henke’s Zeitschrift, 1862, 44. Bd., pag. 379.
Von einer allzugrossen Dicke des männlichen Gliedes als Begattungshinderniss ist in älteren Büchern viel die Rede, doch wollen wir die betreffenden Angaben, als nicht durch thatsächliche Beobachtungen erwiesen, bei Seite lassen.
Vollständiger Defect des Penis, wie er wohl selten angeboren, häufiger aber durch Gangrän, Noma, fressende Geschwüre u. dergl. Processe bewirkt, vorkommt, bedingt selbstverständlich Begattungsunfähigkeit. Bei theilweisem Defect des Gliedes wäre nicht zu vergessen, dass die Anwesenheit der Eichel nicht unumgänglich zur Erection und zur Ejaculation nothwendig ist, und dass auch ein bei der Untersuchung kurz befundener Penisstumpf durch die Erection sich verlängert und auf diese Weise seine Einbringung in die weiblichen Genitalien ermöglicht werden kann.[20]
[S. 55]
Wir haben bei der Besprechung der Ursachen der Impotentia coëundi bisher nur die Genitalverhältnisse für sich allein in Betracht gezogen; es ist jedoch klar, dass zur Ausübung eines Beischlafes ausserdem noch das allgemeine physische Vermögen gehört. Dieser Umstand kommt insbesondere in Betracht in jenen Fällen, in welchen bestritten wird, dass ein Kind zu einer bestimmten Zeit von einem bestimmten Manne erzeugt worden sein konnte.
Es gehören hierher somatische Zustände, die ihrer allgemeinen Natur nach einestheils die Geschlechtslust sistiren, anderseits, indem sie das Individuum zu selbstständigen Acten unfähig machen, auch die Möglichkeit ausschliessen, dass während eines solchen Zustandes von dem Manne ein Beischlaf hätte ausgeübt worden sein können. Ersteres wird der Fall sein bei den meisten fieberhaften Erkrankungen, und es ist kaum anzunehmen, dass z. B. während schwerer fieberhaften oder gar mit Delirien verbundenen Erkrankungen ein Beischlaf von dem betreffenden Individuum ausgeübt worden sein konnte. Letzteres Moment wird vorliegen bei gewissen Lähmungszuständen, z. B. nach Hämorrhagien des Gehirns und ihren Consequenzen, bei allgemeinen Hydropsien u. dergl., die umsomehr von Bedeutung sind, als sie nicht schnell vorübergehende, sondern meist lange dauernde Leiden darstellen.
Fälle, in denen die Legitimität posthum geborener Kinder wegen in der Zeit vor dem Tode bei dem angeblichen Vater bestandener schwerer Erkrankung und dadurch bewirkter Beischlafsunfähigkeit bestritten wurde, finden sich in Casper-Liman’s Handb. d. gerichtl. Med., I, pag. 92 und 237, sowie in Tailor’s Principles of medic. jurispr., 1873, II, pag. 297 u. s. f. In einem der von Casper-Liman mitgetheilten Fälle hatte ein 72jähriger Mann eine 30jährige Frau geheiratet, die, nachdem der Gatte nach vierjähriger kinderloser Ehe und nach endlicher sechswöchentlicher schwerer Krankheit gestorben war, 317 Tage nach dem Tode des Mannes einen Knaben gebar und denselben als legitim angesehen haben wollte!
Bei der Beurtheilung solcher Fälle ist jedoch zu erwägen, dass nicht alle schweren Erkrankungen die Möglichkeit eines Beischlafes ausschliessen. So ist es bekannt, dass namentlich Tuberculöse trotz weitgediehener Erkrankung den Coitus noch ausüben (Phthisicus salax) und uns ist insbesondere vorgekommen, dass ein sehr herabgekommener tuberculöser Bauer noch am Abend vor seinem Tode den Beischlaf ausübte, womit sein Weib ganz einverstanden war, die es nicht unterliess, dem Ortspfarrer[S. 56] gegenüber diesen Umstand lobend zu erwähnen. Ebenso kannten wir einen jungen, geschlechtlich sehr erregbaren Mann, der, obgleich an Syphilis der Leber und Ascites leidend, dennoch wiederholt in diesem Zustande den Coitus ausübte.[21]
Die Potentia generandi des Mannes ist an zwei Bedingungen geknüpft: an die Gegenwart leistungsfähiger Hoden und an die normale Beschaffenheit der Samenwege.
Die Hoden müssen nicht blos vorhanden sein, sondern auch befruchtungsfähigen Samen secerniren.
Vollständiger Mangel beider Hoden bedingt natürlich absolute Zeugungsunfähigkeit, wenn die Hoden entweder angeboren fehlen oder vor erreichter Pubertät verloren gegangen sind. Angeborener Hodenmangel ist wohl als selbstständige Missbildung bei sonst normaler Körperbildung gewiss ungemein selten und kommt wohl nur bei Missgeburten (Anaedoeus) vor. Castration im Kindesalter kommt ebenfalls nur äusserst selten zur Beobachtung. Wurde die Castration nach erreichter Pubertät ausgeführt, dann lässt sich die Möglichkeit nicht ganz wegleugnen, dass mit dem noch in den Samenblasen zurückgebliebenen Sperma noch ein einmaliger befruchtender Beischlaf ausgeübt werden kann. Dieses muss umsomehr zugegeben werden, als ein solcher Mann durch die Castration die Beischlafsfähigkeit, soweit sie durch Erections- und Immissionsfähigkeit des Gliedes bedingt wird, keineswegs einbüsst, da ja durch diese Operation weder die Erectionscentren, noch die betreffenden Nervenbahnen verletzt werden. Schon die ältere Literatur enthält Mittheilungen über Castraten, die den Beischlaf wiederholt ausübten (P. Frank, Otto, Henke, A. Cooper), und Gleiches wurde in neuester Zeit an den russischen Skopzen beobachtet, von denen Pelikan (Das Skopzenthum in Russland. Giessen 1867, pag. 93) angibt, dass jene vom „kleinen Siegel“, d. h. die blos castrirten Skopzen, die Fähigkeit zum Beischlaf nicht verlieren, sondern sogar von dieser noch ausgiebigen Gebrauch machen, indem sie heiraten und mitunter selbst zügelloser Wollust sich ergeben. Ferner sah Otto bei einem Individuum, das sich selbst castrirt hatte, einige Tage nach der Castration eine Pollution[S. 57] eintreten, und einen gleichen Fall beobachtete Krahmer (Handb. d. gerichtl. Med. 1857, pag. 303). Leider wurde in keinem dieser Fälle das ejaculirte Sperma mikroskopisch untersucht.
Dass der Verlust blos eines Hodens, wenn der andere leistungsfähig ist, keine Befruchtungsunfähigkeit bewirkt, ist selbstverständlich.
Das Fehlen der Hoden im Hodensack wegen nicht erfolgtem Descensus testiculorum — die Kryptorchie — bedingt für sich allein keine Befruchtungsunfähigkeit. Taylor (l. c. II, 294) erwähnt vier Fälle dieser seltenen[22] Hemmungsbildung, die sämmtlich Männer betrafen, welche in, zum Theile wiederholter Ehe Kinder erzeugt hatten, und ein gleicher Fall wird von Pelikan (l. c. pag. 43–50) mitgetheilt; ebenso konnte Beigel (Virch. Arch. CVIII, pag. 144) in dem ejaculirten Samen eines 22jährigen Mannes mit doppelseitiger Kryptorchie Spermatozoiden in normaler Mengen nachweisen. Diese Thatsachen widersprechen den ältern, insbesondere von Hunter, Curling und Godard gemachten Behauptungen, wonach der nicht erfolgte Descensus der Hoden immer auch mit verkümmerter Beschaffenheit dieser verbunden sei, und es ist immerhin beachtenswerth, dass in drei solchen Fällen, die Taylor (l. c. 293) ebenfalls erwähnt, in dem ejaculirten Sperma keine Spermatozoiden gefunden werden konnten.[23] Bei dem Umstande jedoch, als, wie wir hören werden, die Aspermatozie auch bei normalem Situs der Hoden häufig genug vorkommt, erscheint es möglich, dass in jenen Fällen weniger der nicht erfolgte Descensus der Testikel als andere Ursachen das Fehlen der Samenfäden bedingt haben, wie ja schon in dem Umstande, dass überhaupt Spermaflüssigkeit ejaculirt wurde und die Beischlafsfähigkeit in dieser Richtung nicht gestört war, der Beweis liegen dürfte, dass die Hoden keineswegs verkümmert waren, wie dies von Hunter u. A. bei den Testiconden angenommen wird.
Die zur Befruchtung nothwendige Fähigkeit der Testikel,[S. 58] normalen Samen zu secerniren, wird zunächst von gewissen Altersverhältnissen beeinflusst.
In dieser Beziehung ist es bekannt, dass erst mit dem Eintritte der Pubertät die Hoden die Fähigkeit erlangen, Sperma zu bilden. In unserem Klima stellt sich die Geschlechtsreife gewöhnlich zwischen dem 16.-18. Jahre ein; es ist jedoch klar, einestheils, dass dieselbe nicht mit einem Schlage auftritt, sondern allmälig sich entwickelt, und dass ferner eine Reihe der verschiedenartigsten Verhältnisse den früheren oder späteren Eintritt derselben modificirt. Insbesondere sind Race und Erziehung von Einfluss, und diese Momente, sowie etwa stattgehabte frühzeitige geschlechtliche Reizungen, die unzweifelhaft eine Frühreife bewirken können, werden in dieser Beziehung in Betracht zu nehmen sein, sowie überhaupt in solchen Fällen, wo die Zeugungsfähigkeit eines Knaben namentlich wegen angeschuldeter Vaterschaft in Frage kommt, an dem Grundsatze festgehalten werden muss, weniger das Alter des Individuums, als seine körperliche Entwicklung in Erwägung zu ziehen. Dass letztere und mit ihr die Geschlechtsreife früher als sonst, und mitunter ungewöhnlich frühzeitig sich einstellen kann, unterliegt keinem Zweifel. Es existiren darüber thatsächliche Beobachtungen. Ob der von Klose (Syst. der ger. Physik, pag. 250) bezeichnete Fall von durch einen 9jährigen Knaben bewirkter Schwängerung Glauben verdient, ist allerdings fraglich; ein solcher, einen 14jährigen Knaben betreffend, ist uns aber selbst bekannt. Ebenso erwähnt Taylor (l. c. 289) Fälle von Nothzucht, die von 15–16jährigen Knaben verübt wurden und zur Verurtheilung letzterer führten.
Anlässlich solcher Fälle möchten wir jedoch bemerken, dass geschlechtliche Regungen überhaupt, sowie Erections- und daher Beischlafsfähigkeit bei Knaben viel früher vorhanden sind als die Befruchtungsfähigkeit, wie ja die so häufige Masturbation und analoge Erfahrungen bei jungen Thieren, insbesondere Hunden, zur Genüge beweisen, dass daher aus der Thatsächlichkeit eines durch einen Knaben vollbrachten geschlechtlichen Actes nicht auch auf bereits vorhandene Geschlechtsreife, respective Befruchtungsfähigkeit geschlossen werden darf.
Wie die Erfahrung lehrt, gibt sich die eingetretene geschlechtliche Reife in der Regel durch gewisse mehr weniger auffallende Veränderungen in dem körperlichen Verhalten des betreffenden Individuums zu erkennen. Der Körper bekommt einen mehr männlichen Habitus, die Schamhaare kommen zum Vorschein, ebenso, jedoch in der Regel später, die ersten Spuren der Barthaare; die früher infantilen Hoden schwellen an und werden gegen Druck empfindlicher, das Glied wird turgescenter und stärker, die Stimme schlägt um u. s. w. Das Vorhandensein oder Fehlen dieser Symptome wäre zu constatiren, denn es ist nicht zu leugnen, dass dieselben sehr gut für die Frage, ob das Individuum bereits zeugungsfähig sei oder nicht, verwerthet werden können. Eine[S. 59] absolute Beweiskraft kommt jedoch keiner dieser Erscheinungen zu[24], und nur dem Befunde ejaculirten Spermas könnte eine solche zugeschrieben werden. Bei dem Umstande als nächtliche Pollutionen ein frühzeitig sich einstellendes Zeichen eingetretener Geschlechtsreife bilden und anderseits gerade in der Pubertätsperiode die Masturbation am häufigsten vorkommt, wäre in einem derartigen Falle nach Spermaflecken zu fahnden und der mikroskopische Nachweis der Spermatozoiden anzustreben.
Obgleich im Allgemeinen angenommen werden kann, dass im Greisenalter mit den Jahren die Befruchtungsfähigkeit abnimmt, so lässt sich doch kein Zeitpunkt bestimmen, von welchem an dieselbe vollkommen aufhört, es scheint vielmehr, dass in dieser Beziehung, so lange das Individuum nicht in hohem Grade marastisch oder anderweitig herabgekommen ist, von der Natur keine Grenzen gesetzt sind, wie dies bezüglich der Conceptionsfähigkeit des Weibes der Fall ist. Es sprechen dafür nicht blos zahlreiche zweifellose Beobachtungen von durch Greise erfolgten Schwängerungen (Taylor, l. c. pag. 291), sondern auch die Thatsache, dass man auch in Leichen sehr alter Leute ungemein häufig Spermatozoiden in den Hoden sowohl als in den Samenblasen nachzuweisen im Stande ist. Duplay (Arch. génér., December 1852) hat das Sperma der Leichen von 51 Greisen untersucht und konnte in 37 Fällen Spermatozoiden nachweisen; 7mal war die Menge derselben ungeheuer gross, wie in früheren Jahren, 16mal war noch in jedem Tropfen eine grosse Zahl zu finden und 14mal waren nur einzelne nachweisbar. Aehnliche Untersuchungen hat A. Dien angestellt (Journ. de l’anat. et de la phys. 1867, 449) an den Leichen von 105 Greisen von 64 bis 95 Jahren. Es fanden sich Spermatozoiden in den Samenbläschen bei Greisen von 64–70 Jahren (14) bei 64·3%, von 70–80 (49) bei 44·8%, von 80–90 (38) bei 26·3%, während in den Leichen von 90–97jährigen Greisen (4) keine gefunden wurden. Uebrigens kann auch bei Greisen trotz fehlender Spermatozoiden Geschlechtslust und Beischlafsfähigkeit bestehen. So obducirten wir einen 74jährigen, noch ziemlich rüstigen Mann, der bei einer Prostituirten während des Coitus gestorben war, und zwar an Herzlähmung[S. 60] in Folge von Endarteriitis deformans und consecutiver Herzhypertrophie. Im Inhalte der Hoden und Samenblasen fand sich keine Spur von Samenfäden. Interessant war in diesem Falle auch der Befund einer ausgeheilten embolischen Erweichung des rechten Kleinhirns, welche fast ein Drittel desselben betraf (vide pag. 50).
Obige Beobachtungen, mit welchen die in unserem Institute gemachten übereinstimmen, mahnen zur Vorsicht bei der Beurtheilung der Befruchtungsfähigkeit von Greisen, umsomehr, als Fälle, in denen die Legitimität von Kindern wegen Alters des Vaters angefochten wird, verhältnissmässig nicht selten vorkommen. Auch hier wird weniger das Alter des betreffenden Mannes, als vielmehr sein Körperzustand zu würdigen sein, und es ist bekannt, dass in dieser Beziehung die grössten Verschiedenheiten sich ergeben.
Von den pathologischen Processen, welche die Functionsfähigkeit der Hoden aufheben oder gar nicht eintreten lassen können, sind insbesondere die atrophischen Zustände zu erwähnen.
Eine angeborene Verkümmerung der Hoden ist verhältnissmässig sehr selten. Häufiger ist ein Persistiren der Hoden in ihrem infantilen Zustand, welches insbesondere gleichzeitig mit dem Zurückbleiben der sonstigen Körperentwicklung, bei gewissen Formen des angeborenen Blödsinnes, aber auch ohne beides vorkommt.
Wir obducirten kurz hintereinander 3 Fälle einschlägiger Art. Der erste betraf einen 23jähr. Mann, welcher in Kohlendunst erstickt war. Es war ein sehr kräftiges, jedoch bartloses Individuum, ein wahres Modell; der Penis war normal, das Scrotum auffallend klein (kaum apfelgross), leer. Die Hoden unmittelbar am äusseren Leistenring knabenhaft klein. Weder in diesen, noch in den Nebenhoden, noch in den Samenblasen Spermatozoiden. Das äussere Genitale hatte eine auffallende Aehnlichkeit mit dem des von Pelikan (l. c.) abgebildeten Kryptorchen. Der zweite Fall betraf einen 40jähr. herabgestürzten Ziegeldecker von kleinem, zartem Körperbau, mit ziemlich dichtem Vollbarte, nicht verknöcherten Kehlkopf- und Rippenknorpeln und offenem Foramen ovale. Die Genitalien mässig behaart, doch von knabenhafter Kleinheit. Die Hoden blos haselnussgross, weich. Sowohl in den Samenblasen, als in den Hoden Spermatozoiden, doch nur sehr spärlich, in ersteren 1–3, in letzteren 3–5 in einem Gesichtsfelde. Im dritten Falle handelte es sich um einen 23jähr. Zimmermaler, der auf der Strasse plötzlich todt zusammengestürzt war. Als Todesursache ergab sich ein Struma mit hochgradiger säbelscheidenförmiger Compression der Trachea. Der Körper war 169 Cm. lang, schlank und mager. Die Genitalien von knabenhaftem Aussehen. Am Schamberg etwa 10 Flaumhaare, Penis 4 Cm. lang, 1·5 breit, vom Schamberg durch eine niedrige bogenförmige Hautfalte abgegrenzt. Hodensack klein, flach, leer. Hoden bohnengross, im Leistencanal unmittelbar [S. 61]hinter dem inneren Leistenring. Samenbläschen 2·3 Cm. lang, 0·5 breit. Nirgends Samenfäden. Das Individuum war seit seiner Jugend schwächlich, soll ein Liebesverhältniss gehabt haben, welches jedoch nach Coitusversuchen von Seite des Mädchens aufgegeben wurde. Seitdem soll der Untersuchte stets traurig und verschlossen gewesen sein. — Beachtenswerth sind auch die durch mehrere Fälle illustrirten Mittheilungen Boreli’s, wonach ein Zurückbleiben der Entwicklung des Zeugungsapparates auch als Theilerscheinung von Malariakachexie vorkommt. (Wiener med. Blätter. 1881, pag. 54.)
Bezüglich der senilen Atrophie gilt das, was oben über die Spermabildung bei Greisen gesagt wurde.
Die übrigen Formen der Hodenatrophie können durch locale oder durch entfernte Ursachen veranlasst werden.
Zu den ersteren gehören Excesse in venere, entzündliche Processe der Hoden und Nebenhoden und von den Nachbarorganen ausgeübter Druck.
Dass excessiver Missbrauch der Hoden Atrophie derselben bewirken kann, unterliegt keinem Zweifel, weniger ist es jedoch die allzuhäufige natürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, die solche Folgen nach sich zu ziehen vermag, als vielmehr die frühzeitige und excessiv geübte Masturbation, die ebenso, wie sie den Gesammtkörper herabbringt, auch die Leistungsfähigkeit der Hoden zu erschöpfen vermag. Curling (On sterility in Man, 1846) erwähnt derartige Fälle, und ein solcher, wo bei einem 29jährigen Onanisten Atrophie der Hoden gleichzeitig mit Atrophie der Prostata beobachtet wurde, findet sich im Jahresberichte des Wiener allgem. Krankenhauses pro 1871, pag. 141, von Albert beschrieben.
Von den entzündlichen Processen, welche Hodenatrophie herbeiführen können, sind die gonorrhoische Orchitis und Epididymitis zu erwähnen. Doch kommt eigentliche Atrophie und consecutive Aspermasie vorzugsweise nur in den chronischen indurativen Formen der Hodenentzündung zu Stande, indem die von dem intralobulären Bindegewebe oder von der Membrana propria der Samencanälchen ausgehende Bindegewebswucherung das Lumen der Samencanälchen comprimirt und den zelligen Inhalt derselben durch Druck zum Schwinden bringt (Rindfleisch, Steiner). Ungleich häufiger ist die gleich zu erwähnende Aspermatozie (Azoospermie) ohne Atrophie des Hodens die Folge der genannten Processe.
In gleicher Weise kann Hodenatrophie nach syphilitischer, sowie nach traumatischer Hodenentzündung zu Stande kommen.
Fortgesetzter Druck auf die Hoden kann dieselben ebenfalls zum Schwinden bringen. Es kann dies geschehen durch Hydro- und Varicocele (Hunter), durch grosse Scrotalhernien (Hunter) und nach Virchow auch durch Elephantiasis scroti. Die in einzelnen Fällen von Kryptorchie beobachtete Aspermasie (Aspermatozie) hat man ebenfalls mit durch Druck bewirkter Atrophie der Hoden in[S. 62] Verbindung gebracht. Es wäre dies namentlich möglich bei Hoden, die im Leistencanal stecken geblieben sind. So fanden wir bei einem erstochenen Manne blos den linken Hoden im Scrotum, den rechten aber im Leistencanal. Ersterer war normal gross und enthielt reichliche Spermatozoen, während im linken, um zwei Drittel kleineren, nur isolirte sich nachweisen liessen.
Von den entfernteren Ursachen der Hodenatrophie ist zunächst die von Obolensky (Med. Centralbl. 1867, pag. 497) experimentell geprüfte Durchtrennung des Nervus spermaticus zu erwähnen. O. fand, dass bei Thieren nach Durchschneidung des N. spermaticus progressive Atrophie des Hodens sich einstelle, dass sie schon 2–3 Wochen nach der Operation beginne und binnen 4 Wochen in der Regel so weit schreite, dass der betreffende Hode zu einem erbsengrossen Körper zusammenschrumpfe. — Pelikan und Blumberg sahen auch nach Durchschneidung der Samenstränge in toto Atrophie, manchmal aber auch Vereiterung der Hoden eintreten.
Nach der Operation erfolgte in der Regel Intumescenz des Hodens, in welchem Zustande derselbe bis zum 16.-20. Tage blieb, worauf sich derselbe allmälig bis zum Umfange einer Bohne oder Erbse verkleinerte, so dass der ganze Process in etwa zwei Monaten beendet war. Nach Durchschneidung des Vas deferens allein trat Atrophie des Hodens nicht ein, ebensowenig nach Unterbindung desselben.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ebenso, wie Verletzungen des N. spermaticus Hodenatrophie bedingen können, letztere auch bei Erkrankungen des N. spermaticus oder der centralen Nervenorgane, aus welchen er entspringt, erfolgen kann. Dies wäre insbesondere bei Erkrankungen der unteren Partien des Rückenmarkes in Betracht zu ziehen. Möglicher Weise kann eine solche Atrophie auch nach Erkrankung höher gelegener Rückenmarkstheile und selbst des Gehirns sich entwickeln, wofür auch die Beobachtung Larrey’s spricht, der bei einem Soldaten, dem in Egypten das kleine Gehirn verletzt worden war, Hodenatrophie und Impotenz eintreten sah.[25] Weiter kann Hodenatrophie eintreten nach Thrombose der Art. sperm. interna, welcher für den Hoden die Bedeutung einer Endarterie zukommt. J. Mifle (Arch. f. klin. Chir. XXIV, 399) und E. Niemann (Breslauer ärztl. Zeitschr. 1884, Nr. 2) berichten über solche Fälle.
Die früher behauptete atrophirende Wirkung des Jod auf die Hoden wurde durch neuere Beobachtungen nicht bestätigt. Gleiches gilt vom Bromkalium, dem Huette ähnliche Wirkung zuschrieb (Krosz, Arch. f. experim. Path. VI, 3). Dagegen scheint dem Alkoholmissbrauch ein solcher Effect zuzukommen. Die meisten Säufer sind bekanntlich steril, und eine Zahl von Leichen derselben,[S. 63] die wir selbst untersucht haben, hat uns belehrt, dass die Hoden bei diesen Leuten in gleicher Weise der Verfettung unterliegen wie die übrigen Organe, und dass sich bei denselben verhältnissmässig selten Samenfäden im Hoden und in den Samenblasen finden. Anderweitig zu Stande kommende übermässige Fettbildung wird wahrscheinlich ebenfalls auf die Hoden einen Einfluss nehmen, wie wir ja wissen, dass sehr fette Individuen seltener Kinder zeugen als andere.[26]
In allen Fällen von Atrophie, resp. Verfettung der Hoden scheint zuerst die Bildung der Spermatozoiden und hierauf erst jene der Spermaflüssigkeit zu sistiren. Aspermatozie (Azoospermie) geht demnach der Aspermie voraus. Es kann jedoch auch Aspermatozie bestehen ohne jegliche Atrophie, und sie kann sich finden bei Individuen, die ohne Anstand den Coitus auszuüben im Stande sind und dabei ganz normal ejaculiren. Casper (l. c. 129), Mantegazza und Hirtz (Prager Vierteljahrschr. 1863, 78. Bd., III) berichten bereits über solche Fälle, ebenso Gosselin, Curling und besonders Liégeois (Virchow’s Jahrb. 1869, I, 257), ferner in späterer Zeit aus unserem Institute Schlemmer[27], dann Ultzmann (l. c.), Kehrer (Beiträge zur Geburtsk. und Gynäk. Giessen 1879, II, 1 und 1887, pag. 262), Duncan (Virchow’s Jahrb. 1883, II, 554), Quedliot (Wiener med. Wochenschr. 1884, 78) und Fürbringer (Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 28). Die Mehrzahl dieser Individuen betrifft solche, die eine (meist beiderseitige) Entzündung der Samenstränge und der Nebenhoden überstanden haben, und es unterliegt mit Rücksicht auf die Häufigkeit einschlägiger Beobachtungen keinem Zweifel, dass letztere Processe zu den häufigsten Ursachen der Aspermatozie gehören. Es kommt zu Verwachsungen der entzündlich erkrankten Leitungswege, und die Flüssigkeit, welche später beim Coitus entleert wird, ist kein Sperma im engeren Sinne, sondern nur das Secret der oberhalb der Obliterationsstelle gelegenen Samenwege, insbesondere der Samenblasen. Es gibt jedoch auch Fälle von Aspermatozie im engsten Sinne, bei welchen, ohne dass Erkrankung der Hoden vorausgegangen wäre, das Secret derselben keine Spermatozoiden enthält. Casper erwähnt solcher Beobachtungen. Die Ursache dieser Erscheinung ist vorläufig unbekannt. Es ist möglich, dass vielleicht einzelne Individuen von Haus aus nicht fortpflanzungsfähig sind, wie wir[S. 64] dies z. B. bei den Bastarden von Thieren beobachten können. So ist eine Befruchtung vom Maulesel unmöglich, weil im Samen desselben wohl Epithelialzellen und Kerne, aber keine Samenfäden vorkommen, wie De Martini und Hausmann nachgewiesen haben. (Vierteljahrschr. für Veterinärk. 1874, XLI, Heft 1, pag. 6, Anal.[28])
Temporäre Abwesenheit der Spermatozoiden nach wiederholt geübtem Coitus hat Casper bei einem 60jährigen Manne direct beobachtet. Ueber die forensisch nicht unwichtige Frage, wie sich im Verlaufe gewisser Krankheiten oder einige Zeit nach diesen die Spermatozoidenbildung verhält, existiren Beobachtungen von Liégeois (l. c.), aus welchen derselbe den Schluss zieht, dass solche Processe die Bildung der Spermatozoiden nicht aufheben. Dagegen lehren die in unserem Institute an Leichen gemachten Untersuchungen, dass ebenso wie mit fortschreitendem Altersmarasmus, auch im Verlaufe langwieriger und erschöpfender Krankheiten die Neubildung der Spermatozoiden abnimmt und selbst ganz sistiren kann. Damit stimmen neuere Untersuchungen von A. Busch in München (Ueber Azoospermie beim gesunden und kranken Menschen etc. Zeitschr. f. Biologie. Bd. 18, pag. 496) überein, welcher bei 43 an Phthisis pulmonum und bei 37 an anderen chronischen Krankheiten Verstorbenen 12mal, beziehungsweise 11mal Azoospermie und 20mal, resp. 13mal nur wenige Spermatozoiden zu constatiren vermochte.
Dass in einem Sperma die Samenfäden fehlen, lässt sich nur durch mikroskopische Untersuchung constatiren. Doch kann ein solches Sperma schon makroskopisch durch seine wässerige oder stark pigmentirte oder colloide Beschaffenheit auffallen (Schlemmer, Ultzmann).
Wie oben erwähnt, ist die Potentia generandi des Mannes ausser an die Gegenwart leistungsfähiger Hoden auch an die normale Beschaffenheit der Samenwege geknüpft. Diese Wege sind die Samengänge und die Harnröhre.
Einen vielleicht einzig dastehenden Fall von angeborenem Mangel der Vasa deferentia beschreibt Little (Dublin. Journ. LVIII, Aug. 1874). Er betraf einen kräftigen, gesunden Mann mit äusserlich gut entwickelten Geschlechtsorganen und normalen Hoden. Epididymis beiderseits unvollkommen entwickelt, Cysten mit Spermatozoiden enthaltend. Vas deferens fehlt beiderseits vollständig, ebenso die Ductus ejaculatorii. Von den Samenbläschen nur Rudimente. In einem von uns secirten Falle von Agenesie der linken Niere fehlte auch die linke Samenblase und das linke[S. 65] Vas deferens. Leider wurden die Hoden in der Leiche gelassen, so dass ihr Verhalten nicht mehr constatirt werden konnte, doch war an ihnen äusserlich keine Atrophie bemerkt worden.
Obliteration der Vasa deferentia kann sowohl, wie schon erwähnt, durch entzündliche Processe, als durch Compression erfolgen. Duplay (Arch. génér. Août-Oct. 1855) will bei älteren Leuten häufig (?) Obliteration des Nebenhodencanals, seltener der Vasa deferentia beobachtet haben, wobei es ihm auffiel, dass die Hoden selbst nicht verändert waren und die Samenbildung noch stattfand. Diese Beobachtung würde mit der oben erwähnten Pelikan’s übereinstimmen, welcher fand, dass Durchschneidung der Vasa deferentia allein keine Atrophie der Hoden bewirke.
Seit jeher wurde die Möglichkeit besprochen, dass in Folge des Seitensteinschnittes durch Verletzung der Ductus ejaculatorii Sterilität entstehen könne. Cosmao-Dumenez (Schmidt’s Jahrb. 1863, 120. Bd., 308) beschreibt einen derartigen Fall. Ebenso (Virch. Jahrb. 1874, II, 312) werden von Teevan vier solche mitgetheilt, die sämmtlich im besten Mannesalter stehende Individuen betrafen, welche vom Zeitpunkte der Operation nicht blos kinderlos blieben, sondern auch übereinstimmend angaben, dass seit dieser Zeit während des Coitus keine Ejaculation mehr stattfinde. Anderweitige Verletzungen der betreffenden Partie der Harnröhre können offenbar Gleiches bewirken. In dieselbe Kategorie gehört auch der von G. Schmitt (Würzb. med. Zeitschr. III, pag. 361; Schmidt’s Jahrb. 1863, 119. Bd., pag. 39) erwähnte 35jährige, stets gesunde, sinnlich aufgeregte Mann, der nie, weder beim Coitus, noch bei nächtlichen Erectionen, Sperma entleert hatte, trotz Wollustgefühl.
Von den Anomalien der Harnröhre ist insbesondere die Hypospadie als die am häufigsten vorkommende zu erwähnen. Bei der Beurtheilung solcher Fälle muss man zunächst von der alten Anschauung abgehen, dass, damit Befruchtung eintreten könne, der Same tief in die Scheide eindringen oder gar gegen den Muttermund gespritzt werden müsse. Diese Anschauung ist durch eine Reihe von Thatsachen zweifellos widerlegt, worunter insbesondere die später zu erwähnenden Fälle gehören, in welchen Schwängerung erfolgte, obgleich eine Immissio penis wegen fast vollständiger Verwachsung des Scheideneinganges und selbst der Schamlippen gar nicht möglich war. Bei vielen Formen der Hypospadie, z. B. bei der verhältnissmässig häufig vorkommenden Ausmündung der Harnröhre an der Wurzel des Frenulums, in der Eichelfurche (Fig. 1), ist übrigens weder das tiefe Eindringen des Gliedes, noch das directe Ausspritzen des Spermas gegen den Muttermund wesentlich gehindert, denn in solchen Fällen ist der Penis in der Regel normal gebildet und auch die Entleerung des Harns erfolgt ohne Anstand im Strahle. Labalbary[29] sah eine[S. 66] solche Hypospadie bei einem Vater von zwei Kindern und erwähnt einer weiteren derartigen Deformität, die einen Vater von 5 Kindern betraf. P. Frank sah sogar in derselben Familie Hypospadie bei Vater, Sohn und Enkel.
Bei den hochgradigen Formen der Hypospadie, bei welchen die Harnröhre im Damme ausmündet (Fig. 2), gestalten sich die Verhältnisse auch dadurch ungünstiger für die Befruchtungsfähigkeit, als in der Regel gleichzeitig das Glied verkümmert und überdies häufig hakenförmig nach unten gekrümmt ist. Trotzdem kann auch in einem solchen Falle die Möglichkeit einer Befruchtung nicht ohne Weiteres in Abrede gestellt werden, und sie wird in eclatanter Weise durch den Fall Traxler’s[30] dargethan, der ein als Mädchen erzogenes und als Magd dienendes Individuum mit hermaphroditisch gebildeten Genitalien betraf, welches mit einer anderen Magd notorisch ein Kind gezeugt hatte, das eigenthümlicher Weise dieselbe Missbildung seiner Genitalien zur Welt brachte, wie sie sein Vater besass. Derartige Möglichkeiten erklären sich einestheils aus dem Umstande, dass auch ein verkümmert aussehender Penis durch die Erection sich verlängert, in der Weise, dass er wenigstens zwischen die Schamlippen eingebracht werden kann, sowie daraus, dass, indem eben dadurch die Schamlippen auseinander gedrängt werden, dem ausspritzenden Samen der Weg zur Vulva geöffnet wird.
Die Epispadie ist viel seltener als die Hypospadie, auch kommen niedere Formen derselben, denen kein wesentlich störender[S. 67] Einfluss bezüglich der Befruchtungsfähigkeit zugeschrieben werden könnte, noch seltener vor als die hohen Grade, in welchen die Harnröhrenmündung unter der Symphyse sich befindet. Beschreibung und Abbildung einer Epispadie letzterer Art bei sonst normal gebildetem Penis findet sich in Bernt’s Beiträgen zur ger. Arzneikunde, 1822, V, pag. 200, sowie in Henke’s Zeitschrift, 1824, pag. 275 (Fig. 3), und zwei solche seltene Fälle werden von R. Bergh (Virchow’s Arch. 41. Bd., 305) beschrieben und theilweise abgebildet. Der eine derselben (Fig. 4) betraf einen Polizisten, der zweimal verheiratet war und viele lockere geschlechtliche Verhältnisse, jedoch niemals Kinder gehabt hatte. Er liess den Harn nach Art der Frauenzimmer und glaubt niemals im Stande gewesen zu sein, den Harn im Strahle zu entleeren. Der zweite Fall betraf einen 15jährigen Knaben, bei welchem bereits Pollutionen eingetreten waren. Der Harn kam bei diesem anfangs im Strahle, floss jedoch dann immer die Seiten des Penis herab.
In derartigen Fällen ist wohl nicht leicht anzunehmen, dass eine Befruchtung durch Coitus erfolgen könne, da ja der ejaculirte Samen gar nicht in die Vulva eindringt; absolut unmöglich wäre jedoch eine Befruchtung doch nicht, da das ejaculirte Sperma doch wenigstens mit der Vulva in Berührung kommt und durch fortgesetzte Cohabitation tiefer in die weiblichen Geschlechtstheile eingebracht werden kann. Die höchsten Grade der Epispadie sind mit Mangel einer geschlossenen Symphyse und Ecstrophie der Blase verbunden, und es müsste bei einem solchen Defect noch mehr an der Befruchtungsfähigkeit des Individuums gezweifelt werden, als bei den oben genannten Formen.
[S. 68]
In gleicher Weise wie die angeborenen anormalen Ausmündungen der Harnröhre, müssten die etwa durch Traumen entstandenen beurtheilt werden.
Den Stricturen der Harnröhre, sowie der Phimose kommt bezüglich der Befruchtungsfähigkeit eine Bedeutung nicht zu.
Die Begattungsfähigkeit des Weibes erfordert das Vorhandensein der Scheide und die Zugänglichkeit derselben für das erigirte Glied. Sie kann demnach beeinträchtigt werden durch Unzugänglichkeit des Scheideneinganges, durch Verengerungen der Scheide selbst und durch Processe anderer Art, die die Immissio penis verhindern.
Die verschiedenen Formen der Atresien des Scheideneinganges bilden das häufigste Begattungshinderniss beim Weibe. Es handelt sich dabei in der Regel entweder um Verwachsung oder nur epitheliale Verklebung der Schamlippen[31] oder um eine mehr oder weniger vollständige Atresia hymenalis, oder endlich um Verengerung des gesammten Scheideneinganges.
Meistens sind die betreffenden Anomalien angeboren, es kann jedoch eine Verwachsung oder Verengerung der äusseren Genitalien und des Scheideneinganges auch durch Narben veranlasst werden, wie solche Fälle nach Verbrennungen, diphtheritischen Processen, nach Variola, aber auch nach Verletzungen beobachtet worden sind.
Es wird von der näheren Beschaffenheit der betreffenden Anomalien abhängen, in welchem Grade sie als Begattungshindernisse gelten können, und bei der forensischen Beurtheilung wird es insbesondere darauf ankommen, ob dieses Begattungshinderniss ein durch Operation zu beseitigendes ist oder nicht. In den meisten Fällen ist ersteres möglich und damit ist in der Regel die forensische Seite derselben erledigt. Könnte dies nicht behauptet werden, dann wäre wohl der Umstand, dass, wie erwähnt werden wird, auch bei hochgradiger solchen Verengerungen Schwängerungen vorgekommen sind, sowie der, dass mitunter durch wiederholte Coitusversuche eine Art Scheide gebildet wurde, für die weitere gerichtliche Entscheidung einer aus diesem Anlasse eingeleiteten Ehetrennungsklage ohne Bedeutung, ebenso wie die Thatsache, dass statt der fehlenden oder verengerten Scheide schon die Harnröhre durch fortgesetzten Impetus in dem Grade erweitert wurde, dass in sie der Coitus ausgeführt werden konnte.
Grosse Labialhernien, sowie Elephantiasis labiorum können ebenfalls Unzugänglichkeit des Scheideneinganges bewirken.
Unter die in einem anormalen Verhalten des Introitus[S. 69] vaginae gelegenen Begattungshindernisse gehört auch der Vaginismus, ein Leiden, auf welches zuerst von Simpson und Sims aufmerksam gemacht wurde. Man versteht darunter nach Schröder (Ziemssen’s Handb. X, 487) eine excessive Empfindlichkeit des Scheideneinganges, verbunden mit krampfhafter Zusammenziehung des Constrictor cunni und der Muskeln des Beckenbodens. Die Empfindlichkeit ist mitunter so hochgradig, dass schon bei blossen Berührungen des Scheideneinganges Krämpfe ausgelöst werden. Ueber die Ursache dieser Erscheinung sind die Acten noch nicht geschlossen. Nach Scanzoni wird die Mehrzahl der Fälle durch das Trauma bei ungeschickten und wiederholten Begattungsversuchen verursacht, daher das Leiden am häufigsten bei jungen Frauen gesehen wird, womit auch Gallard („Du vaginisme.“ Annal. de Gyn. Avril 1879) übereinstimmt. Andere betonen den entzündlichen Charakter der Affection, und Martin hat dasselbe bei Tripperaffection beobachtet. Es scheint jedoch, dass dem Leiden häufig nur Fissuren des Introitus vaginae zu Grunde liegen, deren Sitz mitunter sehr versteckt und deshalb schwer zu entdecken ist. So beschreibt H. Fritsch (Arch. f. Gyn. 1876, X, 547) einen Fall, bei welchem sich in Folge des Vaginismus bald eine Geisteskrankheit entwickelt hätte, bis der Grund der enormen Empfindlichkeit des Scheideneinganges in einer kleinen Fissur unter der Clitoris entdeckt und diese durch Cauterisation zur Heilung gebracht wurde. In anderen Fällen beruhen die auftretenden Krämpfe auf entschieden psychischer Grundlage, besonders auf excessiver Angst vor Berührung. So hat Schröder bei einer 20jährigen Virgo heftige Krämpfe der ganzen Beckenmusculatur gesehen, die schon bei der Annäherung des Fingers auftraten. Wichtig ist zu wissen, dass in einzelnen der bisher beobachteten Fälle von sogenanntem Vaginismus der Grund der grossen Hyperästhesie gegenüber Coitusversuchen nicht in dem Scheideneingang selbst, sondern in Analfissuren gelegen war (Ewart, Fritsch). Auch soll erwähnt werden, dass Neftel (Schröder l. c.) den Vaginismus als Theilerscheinung einer Bleiintoxication auftreten sah.[32]
Von den Fehlern der Vagina kann der angeborene Defect derselben und die partielle oder vollständige Verwachsung der[S. 70] Scheide, die wieder angeboren oder erworben sein kann, als Begattungshinderniss vorkommen, dessen Beurtheilung keiner besonderen Besprechung bedarf. Gleiches gilt von der Ausfüllung oder Verengerung der Vagina durch Geschwülste.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass auch hochgradige Beckenverengerungen eine Impotentia coëundi des Weibes bedingen können. Ein solcher, zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangter Fall wird in Kopp’s Jahrbuch der Staatsarzneikunde, 8. Jahrg., 397, mitgetheilt und betrifft eine von geizigen Eltern zur Ehe gezwungene, verkrüppelte Person, die auf Ehescheidung klagte, weil sie bei brutalen Versuchen ihres Ehemannes, den Beischlaf gewaltsam auszuüben, seit zwei Jahren zu leiden hatte. Die Aerzte fanden eine 31jährige blasse, sehr abgemagerte, kyphoskoliotische Person, von Brüsten keine Spur vorhanden; das Becken verschoben und in dem Grade verengt, dass die Conjugata kaum einen Zoll betrug, dabei die Scheide sehr eng und kaum für den Finger durchgängig. Die Gerichtsärzte erklärten die Frau als zum Beischlaf absolut unfähig und veröffentlichten den Fall, um, wie sie sagen: „Ein Scherflein dazu beizutragen, dass man auf Fälle dieser Art, aus Menschenliebe und aus Achtung für die Heiligkeit des Zweckes der Ehe, von Staatswegen endlich einmal ernstlich Rücksicht nehme“, ein frommer Wunsch, der auch gegenwärtig noch vollkommen berechtigt erscheint.[33]
Ein reponibler Gebärmuttervorfall ist kein absolutes Begattungshinderniss, noch weniger ein Prolapsus vaginae; dass aber durch ein solches Leiden der Beischlaf erschwert und zugleich Abscheu erregt wird, ist sicher, und diese Thatsache kann unter Umständen, z. B. wenn das Leiden sich bei einer eben verheirateten Frau ergibt, einen begreiflichen Grund zu Ehescheidungsklagen abgeben. In einem von Mayer (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1877, 26) mitgetheilten Falle war die Frage zu entscheiden, ob der Mann, welcher, nachdem die Ehepacten rechtsgiltig geworden waren, mit der Braut das erste Mal, und zwar vor der Trauung, den Beischlaf ausüben wollte und dabei fand, dass dieselbe an einem Gebärmuttervorfall leide, dieselbe heiraten und sonst den Vertrag erfüllen müsse. Die befragten Gerichtsärzte betonten das Moment des Abscheues, und das Gericht theilte diese Meinung, indem es den Mann von der Erfüllung der Ehepacten entband, aber zur Leistung einer Deflorationssumme verurtheilte.
Das Moment des Ekels und des Abscheues spielt, wie schon oben erwähnt, bei Ehescheidungsklagen eine häufige Rolle. Es ist jedoch natürlich, dass dasselbe auch von Seite der Frau gegenüber dem Manne geltend gemacht werden kann. Dieses[S. 71] Moment hat mit der eigentlichen Begattungsfähigkeit nichts zu thun und ist von so individueller und leicht vorzuschützender Natur, dass gegenüber solchen Angaben nochmals die grösste Vorsicht und Objectivität angerathen werden soll.[34]
Das Gleiche gilt vom Fehlen oder Darniederliegen der geschlechtlichen Erregbarkeit, welche thatsächlich beim Weibe häufiger vorzukommen scheint als beim Mann, nach Duncan (The Gulstonian lectures on the sterility of woman. Brit. med. Journ. 1883, pag. 343) besonders häufig bei sterilen Frauen. Unter 161 solchen fand D. 39 ohne Begierde und 62 ohne Geschlechtsgenuss. Es unterliegt keinem Zweifel, dass derartige Defecte das eheliche Zusammenleben beeinträchtigen und zu Ehescheidungsgesuchen führen können.[35]
Die Zeit, wann die Geschlechtsreife und daher Conceptionsfähigkeit sich eingestellt hat, lässt sich beim Weibe leichter bestimmen als beim Manne, weil, seltene Ausnahmen abgerechnet, der Eintritt der Menstruation einen sehr sicheren Anhaltspunkt gewährt.
Dieser Zeitpunkt fällt bei uns im Durchschnitte zwischen das 15. und 16. Lebensjahr. Szukits (Wiener med. Ztg. 1857, XIII, 509) berechnete aus 2275 Beobachtungen, dass die Wienerinnen im Durchschnitt im Alter von 15 Jahren 8½ Monaten zum ersten Male menstruiren, während am Lande dieses erst mit 16 Jahren 2½ Monaten geschieht. In Frankreich fällt nach Brierre de Boismont der Eintritt der Menstruation im Mittel bei Mädchen aus den ärmeren Ständen auf 14 Jahre 10 Monate; beim Mittelstand auf 14 Jahre 5 Monate; bei Reichen auf 13 Jahre 8 Monate. Francis R. Hogg (Med. Times and Gaz. 1871, Nr. 4) constatirte unter 1948 Fällen den Eintritt der Menses 1mal mit 9 Jahren, 6mal mit 10, 59mal mit 11, 146mal mit 12, 253mal mit 13, 437mal mit 14, 502mal mit 15, 270mal mit 16, 157mal mit 17, 97mal mit 18, 45mal mit 19, 19mal mit 20, 4mal mit 21, 1mal mit 22 und 1mal mit 30 Jahren. In 17 Fällen erschien die Menstruation erst nach der Verheiratung.
Schon aus letzterer Zusammenstellung ist zu ersehen, dass in einzelnen Fällen die Menstruation ungewöhnlich bald eintreten[S. 72] kann. Es existiren jedoch verhältnissmässig zahlreiche Beobachtungen, wo dies noch früher geschah. Eine ganze Reihe derartiger Fälle hat Horvitz (Petersb. med. Ztg. VII. Jahrg., XIII. Bd.) zusammengestellt. Unter diesen findet sich ein Fall von Morand, betreffend ein Mädchen, das, blos 4 Monate alt, schon menstruirte; ein weiterer, wo die Menses bei einem 9monatlichen Mädchen schon sich zeigten, das bereits einen behaarten Mons veneris und entwickelte Brüste aufwies; ebenso eine gleiche, auch ein 9monatliches Mädchen betreffende Beobachtung von Lenhossek, aus welcher zu entnehmen ist, dass dieses Mädchen, als es 2 Jahre alt geworden war, die Entwicklung eines 17- bis 18jährigen Mädchens zeigte; ferner der Fall von Parvin, der ein 4½jähriges und der von Peakock, der ein 5jähriges Kind betraf. Im ersteren dauerte die Menstruation regelmässig stets 3 Tage; der äussere Habitus war wie bei einem 10jährigen Mädchen, Körperlänge 3´ 11´´, Gewicht 75 Pfund. Die äusseren Genitalien vollkommen entwickelt, jedoch haarlos, die Brüste wie bei einem 17jährigen Mädchen.[36]
Diesen Fällen gegenüber könnte man einwenden, dass der frühzeitige Eintritt der Menstruation nicht auch so frühzeitige Conceptionsfähigkeit bedeute. Gegen diese Auffassung spricht jedoch, ausser dem Umstande, dass zufolge der Beobachtungen Waldeyer’s die Eier in dem kindlichen Eierstock schon vorgebildet sind, und dass von Slaviansky (Med. Centralbl. 1871, 131 und 1875, 165) der Nachweis geliefert wurde, dass die Follikelreife nicht erst mit der Pubertät beginne, sondern dass schon beim Kinde reife Follikel sich finden, die Thatsache, dass wirklich in so frühem Alter Schwangerschaften beobachtet worden sind.
So sah Kussmaul ein 8jähriges Mädchen schwanger werden und im 9. Monate niederkommen. Rüttel beobachtete eine Schwangerschaft bei einem 9jährigen Mädchen, Boulet bei einem 10jährigen, das schon seit seinem ersten Lebensjahre regelmässig menstruirte, Macramara bei einem Hindumädchen von 10½, Cortis eine Niederkunft im Alter von 10 Jahren und 8 Monaten, Fox und Willand je eine Schwängerung im 11. und Horvitz eine im 12. Jahre.[37]
[S. 73]
Wichtig ist, dass die Geschlechtsreife früher als die Menstruation und schon ohne diese sich einstellen kann, z. B. bei Chlorotischen, aber auch bei sonst gesunden Individuen. Casper kannte eine 32jährige kräftige und gesunde Bäuerin, welche schon 3mal geboren hatte, ohne jemals menstruirt gewesen zu sein. Löwy (Wiener med. Wochenschr. 1868, Nr. 98) berichtet von einer gesunden 31jährigen Frau, die bereits 6 Kinder geboren und niemals menstruirt hatte. Erst nach der 6. Entbindung stellte sich die Menstruation zum ersten Male ein und erschien seitdem regelmässig.
Die Zeit, in welcher die Conceptionsfähigkeit des Weibes physiologisch aufhört, fällt bei uns in der Regel zwischen das 40. und 50. Lebensjahr. Das Aufhören der Menstruation, die Menopause, signalisirt in der Regel das Aufhören der Conceptionsfähigkeit. Der Zeitpunkt der ersteren unterliegt jedoch, je nach Klima, Race u. dergl., grossen Schwankungen. Bei 57 Frauen, die Francis Hogg beobachtete, hörte die Menstruation auf:
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Nach Evers (Schmidt’s Jahrb. 1873. 160 Bd., pag. 150), der die Menopause bei 123 Individuen verzeichnete, erfolgte dieselbe:
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[S. 74]
Abgesehen von diesen Schwankungen ist zu beachten, einestheils, dass aus pathologischen Gründen die Menses früher ausbleiben können, anderseits aber, dass die Fortdauer der Menstruation durch, gerade im climacterischen Alter nicht seltene, pathologische Blutungen vorgetäuscht werden kann. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass das Aufhören der menstrualen Blutungen eine Conception nicht unmöglich macht. Barker hat die einschlägigen Beobachtungen Anderer um zwei neue eigene vermehrt (Virchow’s Jahresb. 1874, II, 728), indem er von einer Frau berichtet, die, Mutter von 5 Kindern, mit 42 Jahren aufhörte zu menstruiren, aber mit 46 Jahren nochmals schwanger wurde; ebenso von einer zweiten, die, nachdem durch 3 Jahre die Menstruation bereits ausgeblieben war, im 47. Lebensjahre concipirte.
Dass Frauen nach dem 45. Jahre noch concipiren, ist im Ganzen eine seltene Erscheinung, und es kommt überhaupt nicht häufig vor, dass Frauen noch nach dem 40. Jahre entbinden. So hat Neverman statistisch nachgewiesen, dass unter 10.000 Geburten blos 436 nach dem 40. Jahre vorkommen, und von diesen fallen fast alle kurz nach Vollendung des 40. Jahres, von wo die Zahl der Entbindungen rapid abnimmt. Doch existiren vollkommen beglaubigte Fälle, dass Frauen noch in weit vorgerücktem Alter concipirten und niederkamen. Von Beobachtungen dieser Art erwähnen wir die von Barker, welcher in drei Fällen Geburten bei Frauen beobachtete, die bereits über 50 Jahre alt waren. Darunter befand sich eine Frau von 51 Jahren, welche nach 27jähriger Ehe zum ersten und im Jahre darauf zum zweiten Male niederkam.[38]
Die ältere Literatur enthält eine ziemliche Anzahl von Fällen, in denen die Entbindung in noch späterem Alter erfolgt sein soll; die Glaubwürdigkeit derselben muss jedoch dahingestellt bleiben. Zufolge den Angaben Barker’s gibt es nur einen einzigen authentischen, von Davies beobachteten Fall, in welchem eine Frau von 55 Jahren noch niedergekommen ist. Doch wird uns von Dr. Josef Mayer in Medenice in Galizien mit Schreiben vom 10. Jänner 1894 mitgetheilt, dass in der deutsch-evangelischen Colonie Josefsberg Ende December 1893 eine 59jährige Frau Namens Barbara Porr (bereits Urgrossmutter), unter Intervention der Hebamme Katharina Meier von einem lebenden Kinde entbunden worden sei, nachdem seit dem 55. Jahre die Menses nur unregelmässig und in langen Intervallen aufgetreten waren!
Die Conceptionsfähigkeit bereits im höheren Alter stehender Frauen kann in Frage kommen, wenn die legitime Abkunft eines Individuums aus diesem Grunde angefochten wird, wie Taylor (l. c. II, 305) einen solchen Fall anführt, in welchem man die Legitimität eines Erbschaftsprätendenten bestritt, weil man bezweifelte, dass dessen angebliche Mutter noch in ihrem 49. Jahre[S. 75] empfangen haben konnte. Ebenso, wenn die gerichtliche Auszahlung einer Erbschaft oder anderweitig stipulirter Summen von der Beantwortung der Frage abhängt, ob von der betreffenden Frau noch Kinder erwartet werden können.
Ein Gentleman hatte die testamentarische Verfügung getroffen, dass sein Vermögen erst seinen Urenkeln ausbezahlt werden dürfe. Er hatte zwei Söhne hinterlassen und von diesen jeder Kinder. Einige von letzteren waren gestorben, ohne Kinder zu hinterlassen, und es blieben zwei Töchter von dem ältesten Sohn des Erblassers, die beide verheiratet waren, jedoch keine Kinder hatten, und zwei Töchter und ein Sohn von dem jüngeren. Die erstgenannten Töchter standen im Alter von 57 und 52 Jahren. Es handelte sich nun, da man annahm, dass von diesen zwei Frauen, des vorgerückten Alters wegen, keine Kinder mehr zu erwarten wären, um Uebertragung der Erbschaftsrechte an die jüngere Linie. Der Richter ging jedoch auf die Sache nicht ein, da ihm von dem Oberaufseher der Archive (Master of the Rolls) mitgetheilt wurde, dass in einem Falle ein Kind von einer Frau geboren wurde, welche um 6 Jahre älter war als die jüngere der beides Ladies. (Taylor, II, 306.)
Aehnliche Rechtsfälle finden sich bei Casper-Liman, I, 87 u. ff. Bei der Beurtheilung solcher wird man allerdings von dem Erfahrungssatze ausgehen, dass nach dem 40. Jahre eine Conception mit den zunehmenden Jahren immer unwahrscheinlicher wird, man wird jedoch nicht unterlassen, ausser dem Alter und dem Verhalten der Menses auch den Körperzustand der Frau in Betracht zu ziehen, und desto vorsichtiger seinen Ausspruch thun, je kräftiger und rüstiger derselbe noch ist.
Das österr. b. G. B. §. 180 sowohl als das preuss. Landrecht bestimmen, dass die Adoption von Kindern von Individuen gestattet ist, welche das 50. Lebensjahr bereits zurückgelegt haben, und es geht daraus, sowie aus der Bestimmung des §. 669 des preuss. Landrechtes, dass auch jüngeren Personen solches gestattet werden kann, „wenn nach ihrem körperlichen und Gesundheitszustande die Erzeugung natürlicher Kinder von ihnen nicht zu vermuthen ist“, hervor, dass das Gesetz das 50. Jahr als die gewöhnliche Grenze betrachtet, bis zu welcher die Fortpflanzungsfähigkeit als noch bestehend angenommen werden kann.
Diese Annahme trifft, wie aus dem Gesagten zu entnehmen, bei den Frauen für die bei weitem überwiegende Zahl der Fälle zu, bezüglich der Männer ist jene Grenze entschieden zu niedrig gegriffen.
Die Befruchtungsunfähigkeit des Weibes kann ferner bedingt sein durch pathologische Processe.
Wenn wir in dieser Beziehung von den Ovarien ausgehen, so kommt zunächst der vollständige Mangel und die Verkümmerung derselben in Betracht. Beide können angeboren vorkommen, jedoch wohl nur ganz ausnahmsweise für sich allein. Die meisten derartigen Fälle sind von anderweitigen Missbildungen begleitet, namentlich mit unvollkommener Entwicklung des übrigen Genitalapparates,[S. 76] wie bei vielen Formen der sogenannten Hermaphrodisie. Erworbener Defect der Ovarien kann gegenwärtig, wo die Ovariotomie immer häufiger, und zwar nicht blos wegen Geschwülsten, geübt wird, leicht vorkommen, und es würde natürlich nach doppelseitiger Ovariotomie von einer Conceptionsfähigkeit der betreffenden Frau keine Rede mehr sein können.[39]
Die Anwesenheit von Tumoren der Ovarien berechtigt nicht zur sicheren Ausschliessung der Conceptionsfähigkeit. Conceptionen bei einseitigen Tumoren kommen häufig vor, aber auch bei doppelseitigen wurde mehrmals Schwangerschaft beobachtet, woraus hervorgeht, dass auch bei vorgerückter Tumorenbildung die Eireifung bisweilen fortbesteht. (Leopold und Olshausen, Virch. Jahrb. 1874, II, 738.)
Es unterliegt keinem Zweifel, dass eine Reihe anderer Erkrankungen des Ovariums die Functionsfähigkeit derselben sistirt und Conceptionsunfähigkeit bedingt; es ist jedoch begreiflich, dass die Mehrzahl dieser Processe für die Diagnose so schwer zugänglich ist, dass eine forensische Verwerthung in den seltensten Fällen thunlich sein wird. Gleiches gilt von der Erkrankung der Tuben, insbesondere von dem Unwegsamwerden derselben, wie sie durch peritonitische Processe, durch Salpingitis etc. herbeigeführt werden kann.
Angeborener Defect des Uterus bei blind endender, in der Regel stark verkürzter und häufig auch verengerter Scheide ist wiederholt beobachtet worden. Wir selbst haben ihn bei der Section einer alten, verheiratet gewesenen Frau gefunden. Die Scheide hatte eine Länge von 5–6 Centimeter und endete vollkommen blind. Anstatt des Uterus nur einige pyramidenförmig angeordnete Faserzüge im Lig. latum, Tuben fehlend, beiderseits rudimentäre, vielfach eingekerbte Ovarien. (Aehnliche Fälle siehe Virch. Jahrb. 1868, II, 601, und Schmidt’s Jahrb. 1874, Bd. 164, pag. 260.)
Hat in einem solchen Falle die Vagina eine entsprechende Länge und Weite, so kann Begattungsfähigkeit bei vollkommen fehlender Conceptionsfähigkeit bestehen, ebenso wie nach Exstirpation des Uterus.
In einem von Taylor (l. c. 310) mitgetheilten Falle wurde bei der aus Anlass einer Scheidungsklage vorgenommenen gerichtsärztlichen Untersuchung einer Frau eine blos ¾ Zoll tiefe Vagina, aber kein Uterus gefunden, und bei einer zweiten, sechs Monate darauf vorgenommenen Untersuchung wurde constatirt, dass die Scheide bereits eine Tiefe von 2 Zoll besass. Die Ehe wurde für null und nichtig erklärt, jedoch blos wegen der behinderten Begattungsfähigkeit, wobei [S. 77]der Richter die Ansicht aussprach, dass eine Conceptionsunfähigkeit bei ungestörter Begattungsfähigkeit keinen genügenden Grund für die Nullitätserklärung einer Ehe abgeben könne. Wäre demnach in diesem Falle die Scheide von natürlicher Beschaffenheit gewesen, so wäre trotz vollkommenem Defect des Uterus die Nullitätserklärung der Ehe nicht erfolgt, eine Anschauung, welcher gegenüber Taylor mit Recht bemerkt, dass sie mit dem eigentlichen Zweck der Ehe, als der nur die Erzeugung von Kindern angesehen werden könne, im offenbaren Widerspruche stehe.[40]
In gleicher Weise wie der vollständige Defect des Uterus wäre die rudimentäre Entwicklung der Gebärmutter und der Uterus infantilis zu beurtheilen, ebenso die Atresien des Uterus. Durch Versionen und Flexionen behinderte Wegsamkeit des Uterus scheint eine sehr häufige Ursache der Sterilität zu sein. Mayer fand bei 272 sterilen Frauen 97mal Lageveränderungen der Gebärmutter, ebenso Beigel (Wiener med. Wochenschr. 1873, Nr. 12) bei 114 solchen Frauen 22mal. Auch P. Müller („Die Sterilität der Ehe.“ Deutsche Chirurgie, Lief. 55) betont die Wichtigkeit der Flexionsstenose für die Sterilität. Dagegen sucht Grünewald (Arch. f. Gynäk. VIII, pag. 414) den Grund der Unfruchtbarkeit in solchen Fällen nicht in der behinderten Wegsamkeit des Uteruscanals, sondern in der mit letzterer gewöhnlich verbundenen anderweitigen Erkrankung des Uterus, indem er darauf hinweist, dass alle Widerstände, die ein geknickter menschlicher Uterus dem Vordringen der Spermatozoiden darbieten kann, ein Kinderspiel sind im Vergleiche mit den Schwierigkeiten, die sich demselben im physiologischen Cervicalcanal gewisser Thierarten (Sau, Schaf, Hündin) entgegenstellen, obgleich es bekannt, wie reichlich und regelmässig sich letztere fortzupflanzen vermögen.
Auch Stadfeldt (Virch. Jahrb. 1874, II, 756) hält die den Flexionen bezüglich der Sterilität zugeschriebene Bedeutung für übertrieben, indem er fand, dass Weiber mit Retroflexio uteri ganz tüchtig zur Vermehrung der Bevölkerung beigetragen, da die 36 Frauen, die er zu beobachten Gelegenheit hatte, 133mal zur rechten Zeit geboren hatten, so dass 3·7 Schwangerschaften auf jede Frau kamen, eine Zahl, die die gleiche ist, wie sie die Statistik für verheiratete Frauen im Allgemeinen berechnet.
Fibroide des Uterus und Carcinom desselben sind kein absolutes Hindernis für die Conception, doch wird letztere nach Schröder (Geburtsh., pag. 203) bei den interstitiellen und submucösen Fibroiden im hohen Grade erschwert und kann beim Carcinom in den späteren Stadien desselben nicht leicht erfolgen.
Von den Gynäkologen wird noch eine Reihe von Erkrankungen des Uterus, so Deformitäten der Vaginalportion (Beigel),[S. 78] Entzündungsformen des Uterus und ihre Ausgänge (Grünewald), ferner mit Rücksicht auf ihre mechanische sowohl, als angeblich chemisch den Spermatozoiden schädliche Wirkung die Blennorrhoe (Kölliker, Scanzoni, Küchenmeister, Marion Sims) mit der Sterilität in ursächlichen Zusammenhang gebracht, und gewiss mit vielem Recht. Da jedoch solche Zustände keineswegs immer und absolut die Conceptionsfähigkeit aufheben, so sind dieselben für die forensische Beurtheilung der Conceptionsfähigkeit von sehr untergeordneter Bedeutung.
Behinderte Wegsamkeit der Vagina durch Verwachsungen, Tumoren, Pessarien u. dergl. bilden, wenn der Verschluss kein vollständiger ist, kein absolutes Conceptionshinderniss. So beobachtete Olshausen (Arch. f. Gyn. II, 278) zweimal Conception trotz permanent getragener Pessarien. Ausserdem existirt eine bereits grosse Zahl von Beobachtungen, die fast jährlich um neue sich vermehrt, von erfolgter Conception nicht blos bei hochgradiger Verengerung der Scheide, sondern selbst bei fast vollständigem Verschluss des Scheideneinganges.
Aus der grossen Menge solcher Fälle wollen wir einige der instructivsten hervorheben:
Hanuschke beobachtete Schwangerschaft, trotzdem die grossen Schamlippen fast vollständig bis auf eine nadelstichgrosse Oeffnung in der hinteren Commissurgegend mit einander häutig verwachsen waren. Die Verwachsung war angeboren, und die Person sah in Folge dessen aus, „wie wenn sie mit Tricots bekleidet wäre“.
Scanzoni (Allg. Wiener med. Ztg. 1864, 4) fand bei der Untersuchung eines blühend aussehenden, im vierten Monate schwangeren Mädchens die grossen und kleinen Schamlippen normal, den Scheideneingang aber durch eine prall gespannte Membran nach oben verschlossen und in deren Mitte nur eine hirsekorngrosse Oeffnung, durch welche man eine gewöhnliche Fischbeinsonde durchführen konnte. Nachdem die Muttermundsränder bereits verstrichen waren, zeigte sich an der Stelle, wo sich das mittlere mit dem oberen Drittel der Scheide verbindet, eine zweite, dünne, kreisförmig um die Vaginalwand ziehende Membran. Diese riss beim Herabrücken des Kopfes von selbst ein, das verdickte Hymen musste jedoch eingeschnitten werden.
Von Netzel wird folgender Fall berichtet (Virch. Jahrb. 1868, II, 606): Ein 35 Jahre altes Frauenzimmer hatte nie ihre Menstruation gehabt, noch Molimina gespürt; als sie 23 Jahre alt war, bekam sie starke Unterleibsschmerzen und es gingen mehrere Pfund ichorösen Eiters aus der Vagina ab. Im 33. Jahre hatte sie eine ähnliche Attaque und seit dieser Zeit litt sie an einem unbedeutenden gelben Ausflusse, der alle 14 Tage blutig wurde. Als sie dieses Leidens wegen in die Behandlung N.’s trat, fand dieser die Vagina blos 2–3 Cm. lang mit gesunder Schleimhaut. Links vorn bestand eine kleine Oeffnung, wodurch eine Sonde 3 Cm. eindrang. Die Oeffnung wurde dilatirt, und über der verengten Stelle fand nun N. wieder ein Stück Vagina, circa 4 Cm. lang, und in dem Fornix vaginae wieder eine kleine[S. 79] Oeffnung, passirbar für eine feine Sonde. Nach der Dilatation dieser Oeffnung fand man erst die Portio vaginalis uteri, mit infundibuliformem, klaffendem und mit kleinen Ulcerationen besetztem Orificium. Während der Dilatationsversuche, die mit Laminariasonden bewerkstelligt wurden, erkrankte die Person an Peritonitis und starb. Als man die Leiche aus dem Bette herausnehmen wollte, fand man in diesem — einen Fötus von 15 Cm. Länge, und die Obduction constatirte, dass die Patientin geboren hatte!
K. Braun (Wiener med. Wochenschr. 1872, Nr. 45 und 1876) publicirte mehrere Fälle von Conception bei Imperforatio hymenis und bestimmt nachgewiesener Unmöglichkeit der Immissio penis, worunter einen, wo bei der Untersuchung der im letzten Monate schwangeren Frau das Hymen keine, auch nicht die allerfeinste Oeffnung entdecken liess und die Vagina in den untersten Theil der Harnröhre 0·5 Cm. hinter dem hanfkorngrossen Orificium urethrae einmündete.
Fehling (Arch. f. Gyn. 1883, V, 342) beschreibt einen Fall, in welchem einer 32jährigen Frau, die von ihrer ersten Entbindung eine Blasenscheidenfistel davongetragen hatte, durch mehrfache Operationen derselben, schliesslich durch die gänzliche Obliteration der Scheide soweit geholfen worden war, dass sie nur in aufrechter Stellung, durch eine kleine, für eine feine Sonde eben durchgängige Oeffnung etwas Urin aus der Scheide verlor. Trotzdem wurde diese Person geschwängert.
Leopold (Arch. f. Gyn. XI) bringt zwei Fälle von Schwangerschaft bei vollständiger Impotentia coëundi. In beiden Fällen völlig erhaltenes Hymen, im zweiten ausserdem starker Vaginismus.
Diese Fälle beweisen, dass eine Conception manchmal unter den scheinbar ungünstigsten Bedingungen erfolgen kann, sowie sie auch darthun, dass zur Befruchtung keine vollständige und tiefe Immissio penis nothwendig ist, wie bis dahin allgemein gefordert wurde.
Auch lassen diese Beobachtungen vermuthen, dass der Uterus bei der Conception sich nicht, wie man gewöhnlich annimmt und wofür auch die Beobachtungen Spalanzani’s und Marion Sim’s über künstliche Befruchtung[41] zu sprechen scheinen, passiv verhält,[S. 80] sondern auch eine active Rolle spielen dürfte. Wernich (Berliner klin. Wochenschrift. 1873, Nr. 9) hat neuerdings das Stattfinden einer Aspiration des Spermas bei der Cohabitation von Seite des Uterus, insbesondere von Seite des Cervix betont und beruft sich auf gewisse Bewegungserscheinungen, die von ihm und Anderen am Orificium uteri erregbarer Frauen beobachtet wurden. Untersuchungen, die v. Basch und wir über Uterusbewegungen an Hunden anstellten (Wiener med. Jahrbücher. 1878), haben in der That das Auftreten einer Erection der Portio vaginalis und ein Oeffnen des Muttermundes nach Reizung eines vom Aortenplexus des Sympathicus entspringenden und zum Uterus herabziehenden Nervenpaares ergeben, sind daher geeignet, die Theorie Wernich’s zu stützen und den Vorgang bei der Conception in den genannten merkwürdigen Fällen zu erklären.
Dass Urinfisteln kein wesentliches Hinderniss für die Conception bilden, hat Kroner gezeigt. (Ueber die Beziehungen der Urinfisteln zum Geschlechtsleben des Weibes. Arch. f. Gyn. 1882, XIX, 140.) Von 37 Fistelkranken sind 21 noch einmal, 12 zweimal, 3 dreimal und 1 mehrmal schwanger geworden.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass unter die „dem Zwecke der Ehe hinderlichen Gebrechen“ (§. 53 b. G. B.) auch die Impotentia gestandi und generandi des Weibes subsumirt werden müssen, und es ist bekannt, dass es eine Reihe theils localer, theils allgemeiner Zustände gibt, welche trotz vorhandener Beischlafs- und Conceptionsfähigkeit das Austragen oder normale Gebären des Kindes nicht zulassen. In letzterer Beziehung erinnern wir z. B. an die Beckenverengerungen höherer Grade. Der Gerichtsarzt dürfte vorkommenden Falls nicht unterlassen, eine nachweisbare Impotentia gestandi oder generandi im Gutachten in ihrer ganzen Bedeutung auseinanderzusetzen, und es wäre dann Sache der Behörde, eine derartige, vor dem Eingehen eines Ehebündnisses constatirte Impotenz eventuell als ein „dem Zwecke der Ehe hinderliches Gebrechen“ zu behandeln. Dass dies geschehen, respective eine solche Ehe nicht bewilligt werden möchte, wäre im Interesse der Moral sowohl als Humanität zu wünschen. Leider lehrt in dieser Richtung die tägliche Erfahrung, dass bei Eheschlüssen alle anderen Momente mehr in Betracht gezogen werden als die zu erwartenden gesundheitlichen Folgen, und dass, wie die Fälle von mehrmals an einer und derselben Frau vorgenommenem Kaiserschnitt beweisen, selbst die glücklich überstandene Lebensgefahr die Leute nicht abhält, sich von Neuem derselben auszusetzen.
In jenen Fällen, in welchen wegen angeblicher Impotenz[S. 81] des einen Theiles eine Eheauflösung oder Ehescheidung angestrebt wird, genügt es nicht, das thatsächliche Vorhandensein eines „Unvermögens zur Leistung der ehelichen Pflicht“ zu constatiren, sondern es fällt dem Gerichtsarzte noch die Aufgabe zu, darzuthun, ob dieses Unvermögen ein immerwährendes und unheilbares sei (§. 60 österr. B. G. B., §. 696 preuss. Landrecht), und nach dem österr. Gesetze (§. 60 B. G. B.), ob dasselbe bereits zur Zeit des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war oder erst während der Ehe eingetreten ist.
Die Beantwortung der ersten Frage ist bei der Impotenz des Mannes in der Regel dann leicht, wenn derselben locale Defecte oder Erkrankungen zu Grunde liegen, und sie fällt zusammen mit der Beantwortung der Frage, ob etwa durch chirurgische Eingriffe die zur Ausübung des Coitus erforderlichen Verhältnisse hergestellt werden können.
Schwieriger gestaltet sich die Sache in jenen Fällen, in welchen bei normal beschaffenen Genitalien die Erection behindert ist, und wenn als Ursache dieser Behinderung nicht etwa ein schweres, durch anderweitige Symptome sich kundgebendes Leiden centraler Nervenorgane, insbesondere des Rückenmarkes, sich ergibt, sondern Innervationsstörungen anderer Art derselben zu Grunde liegen. Die Natur letzterer kann so versteckt sein, dass sie sich der Diagnose vollkommen entzieht. Da es sich jedoch in vielen solchen Fällen nur um eine psychische Hemmung des Reflexvorganges der Erection handelt und diese nicht selten durch Angewöhnung und fortgesetztes Zusammenleben sich wieder gibt, so wird man gut thun, in solchen Fällen ein unbestimmtes Gutachten zu erstatten und auf letztere Möglichkeit hinzuweisen. Es tritt dann die, offenbar auf einschlägige Erfahrungen basirende Bestimmung des §. 101 des österr. B. G. B. in Kraft, welche verordnet, dass, wenn es sich mit Zuverlässigkeit nicht bestimmen lässt, ob das Unvermögen ein immerwährendes oder blos zeitliches sei, die Ehegatten verbunden sind, noch durch ein Jahr zusammen zu wohnen, und dass die Ehe erst dann für ungiltig erklärt werden kann, wenn das Unvermögen diese Zeit hindurch angehalten hat.
In Folge der mehr passiven Rolle, welche beim Coitus dem Weibe zufällt, handelt es sich bei der Beurtheilung der Heilbarkeit einer erwiesenen Impotentia coëundi des Weibes ausschliesslich um die Frage, ob diese durch Operation zu beseitigen sei oder nicht. Wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, sind viele der beim Weibe vorkommenden Begattungshindernisse der Art, dass sie durch chirurgischen Eingriff gehoben werden können, wie dies z. B. von den häutigen Verwachsungen der Schamlippen und von vielen Formen der Atresie des Scheideneinganges, insbesondere von der Atresia hymenalis, gilt. Ueberhaupt sind sämmtliche pathologische angeborene sowohl als erworbene Processe, die beim Weibe ein Begattungshinderniss bedingen können, so leicht der[S. 82] Untersuchung zugänglich, dass ebenso wie ihre Diagnose auch die Begutachtung der Heil- oder Unheilbarkeit keine besonderen Schwierigkeiten bieten wird.
Was die durch §. 60 des österr. B. G. B. gegebene Frage betrifft, ob das immerwährende Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht schon zur Zeit des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war, so ergibt sich die Beantwortung derselben dann von selbst, wenn das Begattungshinderniss seiner allgemeinen Natur nach als ein angeborenes oder in der Kindheit erworbenes sich darstellt. Bei den im mannbaren Alter acquirirten Impotenzen ist es theils die Natur und der Grad des ihnen zu Grunde liegenden Leidens, theils die Anamnese, welche behufs Beantwortung obiger Frage herangezogen werden muss. Ausserdem wären namentlich in Fällen, wo die Impotenz des Gatten in Frage kommt, auch die Genitalien des betreffenden Weibes zu untersuchen, ob sich aus ihrem Verhalten ein „matrimonium consummatum“ erkennen lässt oder nicht.
Bezüglich letzterer Diagnose muss auf die folgenden Capitel verwiesen werden.
Dieselben kommen nicht blos mit Rücksicht auf die Zeugungsfähigkeit der betreffenden Individuen, sondern auch in anderen gerichtlich wichtigen Beziehungen in Betracht, verdienen daher eine besondere Behandlung.
Vollkommene Zwitterbildung, d. h. eine vollständige Entwicklung eines Individuums nach beiden Geschlechtsrichtungen kommt beim Menschen nicht vor. Dagegen ist eine annähernd vollkommene Zwitterbildung allerdings möglich, indem nicht blos beiderlei Geschlechtsgänge, sondern auch beiderlei Geschlechtsdrüsen an einem und demselben Individuum bis zu einem gewissen Grade sich entwickeln können. Derartige Fälle werden verständlich, wenn man festhält, dass die Geschlechtsanlage in den ersten Wochen der embryonalen Entwicklung jedesmal eine bisexuelle ist, und dass erst nach der sechsten Woche die Geschlechtsentwicklung nach der einen Geschlechtsrichtung geschieht, während die Embryonalanlage der Organe des anderen Geschlechtes verkümmert. Ausnahmsweise kann es nun geschehen, dass ausser der Anlage des einen Geschlechtes sich auch in mehr weniger ausgesprochener Weise jene des anderen entwickelt, wodurch eben jenes merkwürdige Verhalten der Genitalien entsteht, welches wir als Zwitterbildung, Hermaphrodisie, bezeichnen.
Je nachdem die bisexuelle Entwicklung sowohl die Geschlechtsdrüsen als die Geschlechtsgänge, oder nur die letzteren betrifft, unterscheidet man den Hermaphrodismus verus und die Pseudohermaphrodisie.
[S. 83]
Vom Hermaphrodismus verus unterscheidet man wieder den H. v. bilateralis, wenn beiderseits sowohl Hoden als Eierstöcke vorhanden sind, dann den H. v. unilateralis, wenn die Geschlechtsdrüse auf der einen Seite einfach, auf der anderen aber sowohl Hode als Ovarium sich findet, und endlich den H. v. lateralis, wenn auf der einen Seite ein Hode, auf der anderen ein Ovarium zur Entwicklung gelangte.
Letztere Form ist wiederholt beobachtet worden. Ein solcher ausführlich beschriebener und mikroskopisch untersuchter Fall ist der von H. Meyer in Zürich (Virchow’s Archiv. XI). Es fanden sich bei dem betreffenden Individuum, einem Kinde, hermaphroditische äussere Genitalien, die Vagina in die Harnröhre einmündend, ein Uterus mit zwei Tuben, rechts Ovarium mit Parovarium, links ein Hode mit Rosenmüller’schem Organ. Seltener sind die Fälle von H. v. unilateralis und am seltensten der H. v. bilateralis. Das Vorkommen des letzteren wurde vielfach angezweifelt. Doch hat Heppner (Dubois-Reymond’s Archiv. 1870, pag. 679) einen derartigen höchst interessanten Fall veröffentlicht, in welchem hermaphroditische äussere Genitalien, Vagina, Uterus mit Tuben und unter diesen beiderseits sowohl langgestreckte Ovarien, als rundliche Hoden sich fanden, die durch die mikroskopische Untersuchung als solche constatirt wurden.
Die Fälle des Vorkommens beiderlei Geschlechtsdrüsen auf einer Seite sind uns durch die wichtigen Untersuchungen Waldeyer’s (Eierstock und Ei, 1870) begreiflich geworden, aus welchen hervorgeht, dass in der Embryonalanlage nicht blos die Ausführungsgänge beider Genitalien vorhanden sind, sondern auch die Geschlechtsdrüsen einen ursprünglich bisexuellen Charakter an sich tragen.
Die häufigste Form der Zwitterbildungen ist die Pseudohermaphrodisie, welche entweder blos darin besteht, dass nur die äusseren Genitalien des betreffenden Individuums eine Bildung zeigen, wie sie jener des anderen Geschlechtes entspricht, oder darin, dass mit oder ohne eine solche Missbildung der äusseren Genitalien auch die Ausführungsgänge der Genitalien des anderen Geschlechtes zu mehr weniger ausgesprochener Entwicklung gelangt sind. Sind dabei die Keimdrüsen männlich, so nennt man eine solche Zwitterbildung Pseudohermaphrodismus masculinus, sind sie aber weiblich, Pseudohermaphrodismus femininus, indem man dann von beiden einen Pseudohermaphrodismus internus, einen completus (internus und externus) und einen externus unterscheidet.
Das Zustandekommen einer Zwitterbildung der äusseren Genitalien erklärt sich aus der Thatsache, dass in der ersten Zeit des embryonalen Lebens die Anlage der äusseren Genitalien sich ganz gleich verhält und erst später in verschiedener Weise sich entwickelt. Zwischen der 5. bis 6. Woche sehen wir über dem Sinus urogenitalis ein kleines, an seiner unteren Seite mit einer Furche versehenes Wärzchen und zu beiden Seiten des Sinus je eine wulstige Erhebung der Haut. [S. 84]Entwickelt sich das Individuum zu einem männlichen, so bildet sich aus dem Wärzchen der Penis, und die Furche an der Unterfläche desselben schliesst sich zur männlichen Harnröhre, die seitlichen Wülste aber verwachsen zum Scrotum, dessen Raphe auch später die ursprünglich bestandene Trennung beider Scrotalhälften andeutet. — Wird die Frucht eine weibliche, so entwickelt sich aus dem Wärzchen die Clitoris und seine Furche schliesst sich nur am centralen Ende zur Urethra. Der Sinus urogenitalis bleibt offen, bildet den Introitus vaginae und aus den seitlichen Hautfalten werden die grossen Labien.
Aus diesem Entwicklungsgange ergibt sich, dass eine äussere Hermaphrodisie sich beim Manne dadurch entwickeln kann, dass der Penis verkümmert bleibt, die Harnröhre sich nicht vollkommen schliesst (Hypospadie) und dass die Scrotalhälften nicht vollständig mit einander verwachsen, sondern eine mehr weniger tiefe, mit schleimhautartiger Membran überkleidete Grube zwischen sich lassen, die als Rest des ehemaligen Sinus urogenitalis dann den Introitus vaginae vortäuscht. Ist mit einer solchen Bildungshemmung, wie nicht selten, gleichzeitig Kryptorchie verbunden, so wird die Aehnlichkeit solcher äusserer Genitalien mit weiblichen noch auffallender. Dagegen können wieder die äusseren weiblichen Geschlechtstheile dadurch eine gewisse Aehnlichkeit mit männlichen erhalten, wenn die Clitoris sich ungewöhnlich entwickelt, oder wenn ausserdem die grossen Schamlippen mit einander verwachsen und eine mehr weniger vollständige Atresie des Scheideneinganges sich ausbildet. Letztere Form ist die bei weitem häufigere. Seltener kommt erstere vor, namentlich eine so bedeutende Vergrösserung der Clitoris, dass sie für einen Penis genommen werden kann. Doch haben wir bei einem alten, zur Section gekommenen Weibe, trotz vollkommen weiblicher Genitalien, eine Clitoris von 4–5 Cm. Länge gesehen, mit vollständig entwickelter, aber undurchbohrter Eichel und gut ausgebildetem Präputium.
Von derartigen hermaphroditischen Bildungen der äusseren Genitalien sind blosse Verkümmerung des Penis, dann Hypospadien und beim Weibe die einfachen Atresien des Introitus vaginae zu unterscheiden, obwohl zugestanden werden muss, dass sich zwischen diesen und den ersteren eine scharfe Grenze nicht ziehen lässt.
Die inneren Pseudohermaphrodisien kommen zu Stande, indem sich beim Manne auch die Müller’schen Gänge oder beim Weibe auch die Wolff’schen Canäle entwickeln. Auch hier sind erstere Fälle die bei weitem häufigsten und sie bestehen darin, dass sich bei einem Individuum von vorwiegend männlichem Geschlechtscharakter auch [S. 85]eine mehr weniger ausgebildete Vagina und ein eben solcher Uterus vorfinden, eine Bildung, die in rudimentärer Weise in der Vesicula prostatica (Utriculus masculinus) bei jedem Manne nachzuweisen ist.
Bei solchen Zwitterbildungen kann es sich in foro zunächst einzig und allein um die Bestimmung des Geschlechtes handeln, dem das betreffende Individuum angehört. Das Geschlecht bestimmt die sociale Stellung des Individuums, und es knüpfen sich auch an dasselbe wichtige Interessen und Rechte, die häufig nicht blos die Person selbst, sondern auch jene Dritter berühren, und die Verkennung der Sachlage kann sowohl die Betroffenen selbst, als Andere in die unangenehmsten Situationen versetzen.[42] Die Wichtigkeit solcher Untersuchungen und Begutachtungen ist daher mitunter eine bedeutende. Leider aber gehören dieselben zu den schwierigsten, die sich für den Gerichtsarzt ergeben können. Namentlich gilt dies bei Kindern, da bei diesen blos die äusseren[S. 86] Genitalien für die Unterscheidung verwerthet werden können, das unbestimmte Aussehen dieser aber eben das fast allen sogenannten Hermaphrodisien Gemeinschaftliche bildet.
Der Nachweis von in den zu beiden Seiten des ehemaligen Sinus urogenitalis sich erhebenden Hautfalten befindlichen Hoden würde natürlich in erster Linie anzustreben sein. Häufig sind jedoch solche Missbildungen der Genitalien mit Kryptorchie verbunden, was die Diagnose wesentlich erschwert. Anderseits können auch die Ovarien durch den Leistencanal herabsteigen, und es können Lymphdrüsen, Bruchsäcke und selbst vielleicht kolbig endigende Ligamenta rotunda (Fig. 6) Täuschungen veranlassen.
Klebs[43] hält den Nachweis von Nymphen als wichtig für die Geschlechtserkennung, da entwickelte Nymphen bei einer einfachen Hemmungsbildung des Penis und Perineums nicht wohl entstehen können, und weist darauf hin, dass Andeutungen dieser auch in dem oben angegebenen Falle von Meyer, sowie bei der Katharina Hohmann, die sich an den meisten Universitäten als Zwitter vorstellte, gefunden wurden.
Im späteren Alter, nämlich nach erreichter Pubertät, kann sich manchmal die richtige Diagnose aus dem Auftreten gewisser Geschlechtseigenthümlichkeiten ergeben, und als solche werden zur Beachtung empfohlen: der sogenannte Habitus, das Verhalten des Kehlkopfes und der Stimme, das Auftreten gewisser specifischer Neigungen und sexueller Regungen, insbesondere aber der Nachweis der Samenbildung einerseits oder der Menstruation anderseits.
Die Beweiskraft der erst erwähnten Erscheinungen ist erfahrungsgemäss keine absolute, gibt vielmehr zu verschiedenen Täuschungen Veranlassung.
Insbesondere gilt dies vom sogenannten Habitus. Bekanntlich zeigt der Körpertypus auch bei geschlechtlich vollkommen normal entwickelten Individuen mannigfache Verschiedenheiten, und knochige, musculöse und selbst bebartete Weiber[44] sind nichts besonders Seltenes, ebensowenig wie Männer ohne Spur von Bart und von weibischen Aussehen. Ferner ist bekannt, dass Castraten ein mehr weibliches Aussehen erhalten, insbesondere bartlos bleiben, und es ist zu erwarten, dass auch bei angeborenem Mangel oder angeborener Verkümmerung der Hoden ein solcher Habitus sich entwickeln könne. Umgekehrt sehen wir bei „Zwittern“ von zweifellos oder mindestens vorwiegend weiblichem Geschlechte mitunter entschieden männlichen Habitus und gut entwickelten Bartwuchs. Einen solchen Fall, der ein als Kammerdiener (!) bedienstetes Individuum betraf, beschrieb De Crecchio[45], und einen fast gleichen[S. 87] haben wir in den Wiener med. Jahrbüchern, 1877, III, pag. 293, veröffentlicht. Der Fall betraf einen 38jährigen ledigen Kutscher (!), welcher in Folge eines Hufschlages an Septicämie gestorben war. Die Leiche war von kräftigem Knochenbau, stark entwickelter Musculatur, von entschieden männlichem Habitus. Die Haut erdfahl. An der Oberlippe ein schütterer, 5–7 Mm. langer Schnurrbart, das Gesicht umrahmt von einem 1–1·5 Cm. langen, dichten, krausen und beschnittenen Barte. Die Beschaffenheit der äusseren und inneren Genitalien ist aus beiliegenden Abbildungen (Fig. 5 und 6) ersichtlich. Interessant ist in dieser Beziehung der von Debierre (Arch. de l’anthropologie criminelle et des sciences pénales. 1886, I, pag. 314) beschriebene Fall des „Hermaphroditen“ Marie-Madeleine Lefort, dessen Abbildung, sowie seiner Genitalien, wie sie sich bei der Section ergaben, wir in Fig. 7 und 8 wiedergeben und der ebenfalls ein weibliches Individuum betraf.
Casper hat auch das Verhalten der Schamhaare zur Unterscheidung des Geschlechtes benützen wollen, indem nach seiner Angabe der umschriebene Kranz von Haaren auf dem Schamberge das Weib und die, wenn auch geringe, Fortsetzung des Haarwuchses vom Schamberg gegen den Nabel den Mann erweisen soll. B. Schultze hat aber häufig Ausnahmen von dieser Regel gefunden, so bei 100 Frauen 5mal das Hinaufreichen des Haarwuchses bis zum Nabel, und unter 120 Soldaten wiederholt eine kranzartige Anordnung der Haare um den Schamberg, wie bei Weibern. In dem Falle von De Crecchio zog sich eine Haarlinie bis zum Nabel und auch in unserem liess sich eine solche Fortsetzung des Haarwuchses constatiren. Wir haben ausserdem in zwei Fällen beobachtet, dass bei jungen weiblichen Individuen, von denen das eine stark brünett war, sich eine Haarlinie bis zum Nabel und in dem einen Falle sogar über diesen hinaus bis zwischen die Brüste verfolgen liess. In einem von Ruggieri mitgetheilten Falle hat sogar der übermässige, auf den ganzen Bauch sich ausdehnende Haarwuchs zur Scheidungsklage Veranlassung gegeben.
Auch das Verhalten des Beckens gibt keine sicheren Anhaltspunkte für die Geschlechtsbestimmung. In dem Falle De Crecchio’s, sowie in dem unserigen, die doch entschieden weibliche Individuen betrafen, war das Becken ein ausgesprochen männliches,[S. 88] und ebenso bei einem anderen wahrscheinlich weiblichen „Zwitter“, den wir unlängst während des Lebens zu sehen und zu untersuchen Gelegenheit hatten. Dieses Verhalten scheint die Ansicht Schröder’s (Lehrb. d. Geburtsh. 4. Aufl., pag. 9) zu unterstützen, zufolge welcher die Verschiedenheiten des weiblichen und männlichen Beckens bedingt werden durch die Entwicklung der beim Weibe im kleinen Becken liegenden Genitalien, eine Annahme, für welche nach Schröder die Fälle von geistig und körperlich verkümmerten Frauen sprechen, die, mit unentwickelten Genitalien versehen, auch an allgemeiner Beckenenge leiden, sowie die Beobachtung von Roberts, dass bei weiblichen Castraten unter den Hindus der Schambogen eine ganz ungewöhnliche Enge zeigt.
Dagegen hat Leopold (Arch. f. Gyn. 1875, VIII, 487) in einem Falle, der seiner Meinung nach einen männlichen Scheinzwitter betrifft, bei vollständigem Mangel des Uterus ein entschieden weibliches Becken constatirt.
Weiters wird empfohlen, das Verhalten des Kehlkopfes und der Stimme zur Differentialdiagnose heranzuziehen. Grössere Dimensionen des Kehlkopfes und stärkeres Hervortreten des „Adamsapfels“ sollen den Mann erkennen lassen, ebenso die rauhe Stimme. Die Erfahrung lehrt aber, dass auch unter gewöhnlichen Umständen[S. 89] bezüglich dieser Verhältnisse grosse Verschiedenheiten herrschen. Rauhe Stimme bei Weibern und hohe bei Männern ist eine häufige Erscheinung. Ausserdem kann die hohe Stimme, respective das Ausbleiben des sogenannten Umschlagens der Stimme in der Pubertät, sowie das geringe Volum des Kehlkopfes, ebenso wie bei Castraten, Folge der Nichtentwicklung der obgleich männlichen Geschlechtsdrüsen sein, und Verkümmerung letzterer geht ja gewöhnlich mit sogenannter Hermaphrodisie Hand in Hand. Dagegen wurde bei unserem weiblichen Zwitter erhoben, dass er eine männliche Stimme besessen, die nur im Affecte in’s Hohe umgeschlagen habe, auch prominirte der Kehlkopf in ziemlich deutlicher Weise. Gleiches war bei dem Zwitter von De Crecchio der Fall.
Das Vorhandensein oder Fehlen der Brustdrüsen ist ebenfalls nicht absolut beweisend. Sowohl in dem Falle von De Crecchio als in unserem fehlten sie. Dagegen waren in dem Falle von Leopold, der, wenigstens seiner Angabe nach, ein männliches Individuum betraf, Brüste vorhanden und ebenso bei der Katharina Hohmann trotz notorisch erwiesener Spermasecretion. Fälle von mehr weniger entwickelten Brüsten bei Männern wurden wiederholt beobachtet, und es ist bekannt, dass Schwellung der Brustdrüsen und Milchsecretion (Hexenmilch) bei neugeborenen Kindern, und zwar bei beiden Geschlechtern gleich häufig, zur Beobachtung gelangt.
Seit jeher wurde empfohlen, behufs Unterscheidung des eigentlichen Geschlechtes eines „Zwitters“ dessen Neigungen, Gewohnheiten und sexuelle Aeusserungen in Betracht zu ziehen. Es ist jedoch erwiesen, dass eine grosse Zahl der Eigenschaften, die ein Individuum sowohl als Kind, als in späterer Zeit zeigt, blosse Erziehungsresultate darstellen, und dass hierbei der Einfluss des Geschlechtes des Individuums nur indirect zur Geltung kommt. Es kann daher nicht verwundern, wenn später zweifellos als männlich erkannte Individuen ihr ganzes Leben lang weibliche Geschäfte betrieben und weibliches Gebahren zeigten, wenn es constatirt ist, dass sie seit ihrer Kindheit als dem weiblichen Geschlechte angehörend angesehen und darnach erzogen wurden, wie solche Fälle verhältnissmässig zahlreich vorgekommen sind.
Auch die Körperentwicklung und das Temperament, welche beide keineswegs nur allein vom Geschlechte abhängen, spielen in jener Beziehung eine wesentliche Rolle, und schon bei den Spielen der Kinder sind diese Momente von Einfluss. Ohne Zweifel dürfte es bei „Hermaphroditen“ weniger das durchschlagende männliche Geschlecht, als das in Folge stärkerer Körperentwicklung gesteigerte Kraftgefühl sein, welches das als Mädchen erzogene und behandelte Individuum männlichen Beschäftigungen zuführt. Dies kann aber geschehen ebensowohl bei entschieden männlichen „Zwittern“, als auch bei zweifellos weiblichen Individuen; ebenso wie anderseits Fälle vorkamen, dass eben die zurückgebliebene[S. 90] schwächliche Körperbildung Veranlassung wurde, dass das seinem Geschlechte nach vorwiegend oder ausschliesslich männliche Individuum stets für ein weibliches gegolten hatte.
Was die Zuneigung zum anderen Geschlechte und die sexuellen Regungen überhaupt anbelangt, so können diese allerdings in einzelnen Fällen das eigentliche Geschlecht der betreffenden Person verrathen, dass aber gerade in dieser Beziehung die gröbsten Täuschungen unterlaufen, ist thatsächlich.
Es ist zunächst zu constatiren, dass geschlechtliches Fühlen und geschlechtliche Triebe nicht ausschliesslich von der Gegenwart und vollständigen Entwicklung der betreffenden Sexualdrüsen abhängen. Beweise für diese Thatsache liefern die Kinder, die ja so häufig Onanie treiben, während ihre Geschlechtsdrüsen noch weit vom Zustande der Functionsfähigkeit entfernt sind, ferner junge Thiere, die, geschlechtlich noch ganz unentwickelt, schon Coitusversuche anstellen, und endlich die Castraten, bezüglich deren Beischlafsfähigkeit und mitunter stürmisch sich äussernden Geschlechtstriebes überraschende Angaben sowohl in der älteren als in der neueren Literatur sich finden. Wir verweisen in dieser Richtung insbesondere auf das oben erwähnte Werk Pelikan’s: „Gerichtlich-medicinische Untersuchungen über das Skopzenthum in Russland“, aus welchem zu ersehen ist, dass bei den Adepten der Skopzensecte vom „kleinen Siegel“ die Beischlafsfähigkeit, respective die Erectionsfähigkeit sich erhält, und dass die Skopzen von dieser Fähigkeit nicht blos Gebrauch machen, sondern sich sogar in einzelnen Fällen Zügellosigkeiten und excessiver Wollust hingeben.
Unser weiblicher „Zwitter“ hatte notorisch den Coitus nach Männerart versucht, und ebenso hören wir von De Crecchio, dass das seinen inneren Genitalien nach doch entschieden weibliche Individuum den Weibern nachstieg, wiederholt den Coitus ausübte und dabei zweimal mit Tripper angesteckt wurde; und umgekehrt sehen wir nachträglich entschieden als Männer anerkannte „Hermaphroditen“ als Weiber verheiratet und auch als solche den Coitus ausübend.
Von dem seinerzeit viel genannten Hermaphroditen Rosina Göttlich, einem zweifellosen Manne mit Hypospadie und gespaltenem Scrotum, erzählt Ammon („Die angeb. chirurg. Krankheiten des Menschen.“ Berlin 1842, pag. 93): „Nicht ohne Frechheit sagte das Subject, dass es den Coitus als Mann und als Weib ausüben könne, dass es ihn aber in letzterer Geschlechtsbeziehung vorziehe und sich des ersteren schäme. Es ist dies sehr erklärlich. Bei der Kleinheit und Difformität des Penis würde der ganze Act sehr unvollkommen ausfallen. Uebt ihn die Person als Weib aus, so ist dies viel leichter und auch angenehmer für sie, indem hier die ausgedehnte Urethra zwischen beiden Hodensackhälften als Substitut der Vagina fungirt.“
In dem von Tortual beschriebenen Falle („Ein als Weib verheirateter Androgynus vor dem kirchlichen Forum.“ Vierteljahrsschr. für gerichtl. Med. X, 18) war das wahrscheinlich männliche Individuum [S. 91]als Weib verheiratet und eifersüchtig auf den Ehegatten, welcher, da er den Coitus mit seiner Frau nicht zu Wege bringen konnte, sich anderweitig umsehen wollte.
Die Marie Arsano (Casper-Liman, Handb. 1768, I, 75) war 84 Jahre alt, hatte stets als Weib gegolten, war als solches lange Jahre verheiratet und erst bei der Obduction wurde sie als Mann erkannt.
Wir haben demnach allen Grund, anzunehmen, dass ein Geschlechtstrieb auch bei jenen Formen von Hermaphrodisie existiren wird, bei welchen die Geschlechtsdrüsen entweder fehlen oder ganz verkümmert und zweifellos functionsfähig vorhanden sind. Zur letzteren Kategorie scheinen die meisten „Zwitter“ und darunter auch der unserige zu gehören. Wir müssen aber vermuthen, dass in diesen Fällen die Qualität des Geschlechtstriebes einen ebenso unbestimmten Charakter besitzen wird wie die Genitalien, respective die Geschlechtsdrüsen selbst, und dass es mehr von zufälligen Umständen abhängen wird, ob der Geschlechtstrieb in dieser oder in jener Richtung zur Aeusserung gelangt.
Auch ergibt sich aus den in der Literatur verhältnissmässig häufig verzeichneten Fällen, dass Männer jahrelang mit männlichen hermaphroditisch gebildeten Individuen verheiratet, und sogar glücklich verheiratet waren, die für das Verständniss der Aeusserungen des Geschlechtstriebes interessante Thatsache, dass nicht blos wirkliche, sondern auch vermeintliche Weiblichkeit den Mann anzuziehen und geschlechtlich aufzuregen im Stande ist.
Erwägen wir zu dem Gesagten, dass perverses sexuelles Fühlen auch als psychopathologische Erscheinung vorkommen kann, so folgt, dass die Anwesenheit männlicher oder weiblicher Geschlechtsdrüsen sich nicht nothwendig durch specifischen Nixus sexualis kundgeben muss, und umsoweniger kundgeben wird, je weniger die Sexualdrüsen zur Entwicklung gekommen sind.
Der Nachweis von Sperma würde allerdings jedem Zweifel über die rechtliche Stellung des betreffenden Individuums ein Ende machen. Bei der Katharina Hohmann wurde ein solcher Nachweis geliefert, indem Schultze (Virchow’s Archiv, 43, pag. 429) Spermatozoiden in dem Schleime constatirte, welcher dem Catheter anklebte, mit welchem die Harnröhre des genannten „Zwitters“ untersucht worden war. Vorausgesetzt, dass die Möglichkeit, dass die gefundenen Spermatozoen vielleicht von einem kurz zuvor zugelassenen Coitus herrührten, positiv ausgeschlossen würde, könnte, wenn solche in Frage gewesen wären, nicht daran gezweifelt werden, dass der Katharina Hohmann die Rechte des Mannes gebühren, und es wäre in dieser Beziehung ohne Bedeutung, dass bei diesem Individuum die Coexistenz eines oder beider Ovarien, sowie der weiblichen Genitalgänge keineswegs ausgeschlossen werden kann.
Selbstverständlich ist der Nachweis der Spermatozoiden am Lebenden nur möglich, wenn nicht blos mindestens ein Hode vollkommen normal zur Entwicklung gelangte, sondern wenn[S. 92] auch das Vas deferens mit dem betreffenden Hoden normal sich verbindet, ferner durchgängig ist und schliesslich nach aussen ausmündet. Ein Blick jedoch auf die bisher bekannten Fälle von anatomisch untersuchten Hermaphrodisien belehrt uns, dass in den meisten derselben die männliche Keimdrüse verkümmert ist, überdies das Vas deferens entweder ganz fehlt, oder kein Lumen besitzt, oder blind endet. Da, wie der Fall De Crecchio’s und der unsrige darthut, auch bei weiblichen derartigen Individuen die Ovarien verkümmert sind, so erscheint es gerechtfertigt, anzunehmen, dass hermaphroditische Bildung der Genitalien gewöhnlich mit Verkümmerung der Keimdrüsen Hand in Hand geht, und es folgt daraus, dass gerade in den exquisitesten Fällen von Hermaphrodisie, trotz Vorhandenseins männlicher Keimdrüsen, selten eine Bildung und noch seltener eine Ausscheidung von normalem, d. h. Spermatozoiden enthaltenden Samen erwartet werden kann.
Das Bestehen menstrualer Blutungen beweist nicht so absolut das weibliche Geschlecht des betreffenden Individuums, wie es auf den ersten Blick erscheinen dürfte. Seitdem man weiss, dass die Menstruation nicht unbedingt an die Gegenwart von Ovarien geknüpft ist, was insbesondere aus der Thatsache erhellt, dass bereits wiederholt Fortdauer der Menstruation trotz beiderseitiger Ovariotomie beobachtet wurde (v. Aufsatz von Beigel, Wiener med. Wochenschr. 1873, Nr. 27 und 28, und 1878, pag. 162), ist man nicht unbedingt berechtigt, aus dem Vorhandensein einer solchen Erscheinung bei einem „Zwitter“ auf die Existenz von Ovarien, noch weniger aber auf die Nichtexistenz von Hoden zu schliessen.
Die Katharina Hohmann soll in früheren Jahren regelmässig menstruirt haben, und diese Thatsache soll klinisch constatirt worden sein (Schultze l. c.). In dem Falle von Tortual sollen bei dem männlichen „Zwitter“ menstruale Blutungen seit dem 19. Lebensjahre erschienen sein, ebenso gab die später zu erwähnende, unsittlicher Attentate auf Weiber angeklagte und von den Aerzten als Mann erkannte Hebamme an, periodische Blutungen aus den Genitalien gehabt zu haben, und auch die Rosina Göttlich behauptete, dass sie vom 20. Jahre an unregelmässig menstruirt gewesen (Vierteljahrschr. für ger. Med. XIX, pag. 317), obgleich sie bei der 1857 angestellten Obduction als Mann erkannt wurde. In dem Falle von Blackmann (Heppner, l. c., pag. 700) soll das betreffende, männlichen Habitus zeigende Individuum alle Monate Blutungen aus dem Penis gehabt haben, war auch während einer solchen gestorben und es fand sich eine, Menstrualblut enthaltende, in den Blasenhals mündende Scheide, Uterus, Tuben und Ovarien, aber auch zwei Hoden mit normalen Ausführungsgängen. Leider ist dieser Fall nicht zweifellos klargestellt. Anderseits liefert sowohl der Fall De Creechio’s als der unsere den Beweis, dass trotz entschieden weiblicher Bildung der inneren Genitalien menstruale Blutungen vollkommen fehlen können.
Aus dem Gesagten ist zu entnehmen, dass bei den „Hermaphroditen“ nach der Pubertät die Geschlechtsbestimmung häufig[S. 93] nicht minder schwierig sich gestaltet, als bei den Kindern, und die bekannten Fälle erwachsener „Zwitter“, die sich an den medicinischen Facultäten sehen liessen und von wissenschaftlich hochstehenden Männern untersucht wurden, illustriren diese Schwierigkeit am deutlichsten; denn während des Lebens wurden die meisten ebenso oft für männliche als für weibliche Individuen gehalten, und auch mit dem letzten derartigen Falle, dem der Katharina Hohmann, ist es ebenso gegangen. Dabei hatte man überdies immer nur ein Geschlecht im Auge, während wir gegenwärtig seit den so wichtigen Forschungen Waldeyer’s und seit den von Meyer und von Heppner veröffentlichten Beobachtungen zugeben müssen, dass in der That auch beim Menschen ein wahrer Hermaphroditismus vorkommen könne, durch welchen Umstand die Diagnose in den einzelnen Fällen noch mehr erschwert wird.
Das preussische Landrecht, Titel I, Theil 1, enthält bezüglich der Zwitter folgende Bestimmungen:
§. 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Eltern, zu welchem Geschlecht sie erzogen werden sollen.
§. 20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten will.
§. 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt.
§. 22. Sind aber die Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann Ersterer auf eine Untersuchung durch Sachverständige antragen.
§. 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch gegen die Wahl des Zwitters und seiner Eltern.
Gegen die ersten dieser Paragraphe ist nicht viel einzuwenden, der letzte jedoch setzt offenbar voraus, dass die Sachverständigen jedesmal in der Lage sind, das eigentliche Geschlecht eines Zwitters zu erkennen.
Wie irrig diese Voraussetzung ist, geht aus dem Gesagten zur Genüge hervor.
Im römischen Rechte L. 10, D. 1, 5, heisst es:
Quaeritur hermaphroditum cui comparamus? et magis puto ejus sexus aestimandum, qui in eo praevalet.
Welchen Täuschungen man sich bei der Befolgung dieses Grundsatzes aussetzen kann, ist aus Obigem ebenfalls ersichtlich, obgleich, so lange das Individuum lebt, kaum etwas Anderes übrig bleiben dürfte, als sich nach diesem Grundsatz zu richten.[46]
Doch könnte, wenn in einem Falle wichtige Rechte Anderer von dem Geschlechte eines Hermaphroditen abhängen, gesetzlich dafür Sorge getragen werden, dass nach erfolgtem Tode das Verhalten[S. 94] der inneren Genitalien durch eine Legalobduction constatirt werde. Denn nur die Section ist im Stande, die Erkennung des eigentlichen Geschlechtes eines solchen Wesens zu ermöglichen, insbesondere, worauf es doch schliesslich in rechtlicher Beziehung ankommt, den Nachweis zu liefern, dass in der That Hoden, wenn auch nur verkümmerte, vorhanden sind.
Ein forensisches Interesse kommt der Hermaphrodisie noch insoferne zu, als auch von solchen Individuen gesetzwidrige geschlechtliche Handlungen unternommen werden können. Eine solche Möglichkeit muss a priori zugegeben werden, da, wie bereits oben ausgeführt, die Betreffenden des Geschlechtstriebes nicht nur nicht entbehren, sondern auch davon Gebrauch machen.
In der That enthält die Literatur zwei Fälle, in welchen Zwitter wegen gesetzwidriger Befriedigung des Geschlechtstriebes in strafgerichtliche Untersuchung gezogen und auch verurtheilt wurden. So zunächst den von Martini publicirten („Ein männlicher Scheinzwitter“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XIX, pag. 303), der eine Hebamme (!) betraf, die verheiratet war und mit Wöchnerinnen und anderen Weibern Unzucht getrieben hatte, bis sie als ein angeblich männlicher Zwitter erkannt wurde[47], und den schrecklichen Fall der Institutsvorsteherin Wilhelmine Möller, welche in Kopenhagen einen der ihrer Obhut anvertrauten Knaben wiederholt geschlechtlich missbraucht und dann mit Chloral vergiftet hatte. Sie war als Mädchen getauft und erzogen worden, wurde jedoch bei der Untersuchung als Mann mit hermaphroditisch verbildeten Genitalien erkannt und im Juni 1894 wegen Mord zum Tode verurtheilt!
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein solcher Fall von Seite des Gerichtes nur dann als „Nothzucht“ aufgefasst werden könnte, wenn das männliche Geschlecht des betreffenden Zwitters durch ärztliche Untersuchung sichergestellt wäre. Diesen Beweis scheint im ersten Falle das Gericht als nicht erbracht betrachtet zu haben, da es das Verbrechen nur als „widernatürliche Unzucht“ qualificirte. In der That muss dem Gesagten zufolge dahingestellt bleiben, ob das betreffende Individuum wirklich ein männliches gewesen ist, wie die Gerichtsärzte positiv behaupteten.
Wenn Giuseppe Marzo (so hiess der von De Crecchio beschriebene Zwitter) oder unser Kutscher ein derartiges Attentat begangen hätten, würde man gewiss mehr Gründe für die Annahme des männlichen Geschlechtes dieser Individuen gehabt und würde[S. 95] sich doch vollkommen getäuscht haben, wenn man sie für Männer erklärt haben würde.
Auch die Qualification des Delictes als „widernatürliche Unzucht“ setzt ein bestimmtes Geschlecht des Beschuldigten, und zwar hier das weibliche, voraus, welches ebenso wenig erwiesen war wie das männliche.
Es würde bei solchen Fällen Aufgabe des Gerichtsarztes sein, offen zu erklären, dass das eigentliche Geschlecht des Individuums sich nicht mit der nöthigen Sicherheit bestimmen lasse, und wir zweifeln nicht, dass auf Grundlage eines solchen Gutachtens das Gericht Anstand nehmen würde, die betreffende Handlung in die Kategorie jener Verbrechensqualitäten zu rangiren, bei welchen das Gesetz zum Thatbestande ein bestimmtes Geschlecht des Thäters gegenüber dem Objecte seiner That erfordert.
Weiter können Hermaphroditen wegen fraglicher Zeugungsfähigkeit Object einer gerichtsärztlichen Untersuchung werden.
Da erfahrungsgemäss die meisten solchen Individuen als Mädchen getauft und erzogen werden, und auch als solche heiraten, so dürfte am ehesten die weibliche Potentia coëundi in Frage kommen. Trotzdem sind die Fälle, in welchen wegen derartiger Missbildungen Ehescheidungen oder Eheauflösungen angesucht wurden, verhältnissmässig selten.
Meistens wurde, wie sich nachträglich herausstellte, durch ein solches Verhältniss das eheliche Zusammenleben nicht gestört, entweder weil sich die betreffenden Ehemänner accommodirten, oder indem die vorhandene Genitalspalte theils als solche, theils nachdem sie durch fortgesetzten Impetus erweitert worden war, den Coitus in genügender Weise gestattete. In einzelnen Fällen, wie z. B. in dem von Leopold beschriebenen, hatte der Ehemann keine Ahnung von dem Bestehen einer Missbildung an den Genitalien seiner Frau.
Würde sich bei der Untersuchung eines solchen Zwitters das männliche Geschlecht desselben herausstellen, so ergäbe sich die Nichtigkeit der betreffenden Ehe von selbst. Wäre dies nicht der Fall, dann hätte die Begutachtung nichts Specifisches an sich, sondern würde nach denselben Principien erfolgen müssen wie die einer durch andere Ursachen gesetzten Impotentia coëundi beim Weibe.
Bei der Beurtheilung der männlichen Potenz von Hermaphroditen wäre zunächst zu erwägen, dass die gewöhnlich vorhandene Verkümmerung und Verkürzung des Penis und die gleichzeitige Hypospadie für sich kein absolutes Hinderniss der sexuellen Copulation und bei normaler Beschaffenheit mindestens eines Hodens und seiner Ausführungsgänge auch nicht der Befruchtungsfähigkeit bildet, wie wir oben ausgeführt haben.
Doch wird im Allgemeinen bei dem bereits berührten Umstande, dass bei hermaphroditischer Bildung der äusseren Genitalien die Keimdrüsen, speciell die Hoden, in der Regel verkümmert waren und die Vasa deferentia entweder mangelten oder obliterirt sich fanden, oder an vom Perineum weit entfernten Stellen,[S. 96] so namentlich an den Ecken des gleichzeitig vorhandenen Uterus, mündeten, die Befruchtungsfähigkeit bei Zwittern nur ausnahmsweise anzunehmen sein.
Dass je beim Menschen eine vollkommene Hermaphrodisie mit nach beiden Geschlechtsrichtungen functionsfähigen Genitalien vorkommen werde, ist wohl, obgleich eine solche Bildung entwicklungsgeschichtlich sich erklären liesse, nicht zu befürchten, und man kann nicht umhin, den Vorschlag Teichmeyer’s zu belächeln, welcher dahin geht, dass man solchen Zwittern zwar das Heiraten gestatten, sie aber schwören lassen sollte, ihre Genitalien nur nach einer Richtung zu gebrauchen.
Im hohen Grade interessant wäre es, das psychische Verhalten der „Zwitter“ verfolgen zu können. Da bekanntlich schon die im Kindesalter vorgenommene Castration einen hemmenden Einfluss auf die psychische Entwicklung ausübt, so ist zu erwarten, dass eine schon im Fötus erfolgende Verkümmerung der Keimdrüsen, wie sie gewöhnlich als Theilerscheinung der Hermaphrodisie eintritt, noch intensiver in jener Richtung sich äussern werde. Bei den orientalischen Eunuchen und anderen Castraten findet sich als wichtigste Abweichung ihres psychischen Verhaltens von der Norm ein Mangel an geistiger Energie und productiver Kraft, insbesondere aber ein mangelhaftes moralisches Fühlen[48], und es ist wahrscheinlich, dass ähnliche psychische Defecte auch bei Zwittern zu Tage treten können. Auch kann Zwitterbildung als Degenerationszeichen und mit anderen combinirt vorkommen, ebenso mit infantilem Habitus und damit verbundenem Schwachsinn. Doch erklärt sich das bei den meisten Zwittern zu beobachtende Darniederliegen der psychischen Energie, das mehr passive Verhalten, sowie das scheue, zurückgezogene Wesen auch daraus, dass dieselben sich des Charakters und der Bedeutung der Missbildung offenbar wohl bewusst sind, da sie letztere sorgfältig zu verbergen sich bemühen, und dass dieser Umstand für sich genügt, eine deprimirte Gemüthsstimmung zu schaffen und damit das eigenthümliche Verhalten zu motiviren. Jedenfalls wäre dieser Umstand zu beachten, wenn ein derartiges Individuum sich eines Delictes schuldig machen würde.
Oesterr. St. G. B.
§. 125. Wer eine Frauensperson durch gefährliche Bedrohung, wirklich ausgeübte Gewaltthätigkeit oder durch arglistige Betäubung ihrer Sinne ausser Stand setzt, ihm Widerstand zu thun, und sie in diesem Zustande zu ausserehelichem Beischlafe missbraucht, begeht das Verbrechen der Nothzucht.
[S. 97]
§. 126. Die Strafe der Nothzucht ist schwerer Kerker zwischen 5 und 10 Jahren. Hat die Gewaltthätigkeit einen wichtigen Nachtheil der Beleidigten an ihrer Gesundheit oder gar am Leben zur Folge gehabt, so soll die Strafe auf eine Dauer zwischen 10 und 20 Jahren verlängert werden. Hat das Verbrechen den Tod der Beleidigten verursacht, so tritt lebenslanger schwerer Kerker ein.
§. 127. Der an einer Frauensperson, die sich ohne Zuthun des Thäters im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindet, oder die noch nicht das vierzehnte Lebensjahr zurückgelegt hat, unternommene aussereheliche Beischlaf ist gleichfalls als Nothzucht anzusehen und nach §. 126 zu bestrafen.
§. 128. Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren oder eine im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindliche Person zur Befriedigung seiner Lüste auf eine andere als die im §. 127 bezeichnete Weise geschlechtlich missbraucht, begeht, wenn diese Handlung nicht das im §. 129, lit. b) bezeichnete Verbrechen bildet, das Verbrechen der Schändung und soll mit schwerem Kerker von 1 bis zu 5 Jahren, bei sehr erschwerenden Umständen bis zu 10, und wenn eine der im §. 126 erwähnten Folgen eintritt, bis zu 20 Jahren bestraft werden.
§. 129. Als Verbrechen werden auch nachstehende Arten der Unzucht bestraft: I. Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Thieren, b) mit Personen desselben Geschlechtes.
§. 130. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 bis zu 5 Jahren. Wenn sich aber im Falle der lit. b) eines der im §. 125 erwähnten Mittel bedient wurde, so ist die Strafe von 5 bis 10 Jahren, und wenn einer der Umstände des §. 126 eintritt, auch die dort bestimmte Strafe zu verhängen.
§. 131. II. Blutschande, welche zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie, ihre Verwandtschaft mag von ehelicher oder unehelicher Geburt herrühren, begangen wird. Die Strafe ist Kerker von 6 Monaten bis zu 1 Jahr.
§. 132. III. Verführung, wodurch Jemand eine seiner Aufsicht oder Erziehung oder seinem Unterrichte anvertraute Person zur Begehung oder Duldung einer unzüchtigen Handlung verleitet. IV. Kuppelei, woferne dadurch eine unschuldige Person verführt wurde, oder wenn sich Eltern, Vormünder, Erzieher oder Lehrer derselben gegen ihre Kinder, Mündel oder die ihnen zur Erziehung oder zum Unterrichte anvertrauten Personen schuldig machen.
§. 133. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 bis zu 5 Jahren.
Ausser vorstehenden Paragraphen gehören hierher auch die §§. 500, 501, 504–506 und der §. 516, welche von jenen Verletzungen der öffentlichen Sittlichkeit und von jenen Unzuchtsformen handeln, die nur als Vergehen oder Uebertretungen qualificirt werden, denen keine besondere gerichtsärztliche Bedeutung zufällt, und die auch thatsächlich nur sehr selten und unter besonderen Umständen zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangen.
Oesterr. St. G. Entwurf:
§. 184. Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie (Blutschande) wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter einem Jahre, an den letzteren mit Gefängniss bis zu 2 Jahren bestraft.
Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern ist mit Gefängniss bis zu 2 Jahren zu bestrafen.
§. 185. Mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Gefängniss nicht unter drei Monaten werden bestraft:
1. Eltern, Adoptiv- und Pflegeeltern, welche mit ihren Kindern, Vormünder oder Mitvormünder, welche mit ihren Pflegebefohlenen, Lehrer und Erzieher, welche mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen, Geistliche, welche bei ihren Verrichtungen als Seelsorger oder aus Anlass derselben mit den ihrer geistlichen Obhut unterstehenden Personen, oder Beichtväter, welche mit ihren Beichtkindern unzüchtige Handlungen vornehmen;
2. Beamte, die mit Personen, gegen welche sie eine Untersuchung zu führen haben, oder welche dienstlich ihrer Obhut anvertraut sind, unzüchtige Handlungen vornehmen;
[S. 98]
3. Beamte und andere Bedienstete, Aerzte und andere Medicinalpersonen, welche in Gefängnissen, Zwangsarbeitshäusern oder anderen Detentionsanstalten, oder in zur Pflege von Kranken, Armen oder anderen Hilfslosen bestimmten Anstalten beschäftigt und angestellt sind, wenn sie mit den in die Anstalt aufgenommenen Personen unzüchtige Handlungen vornehmen.
§. 186. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen desselben Geschlechtes oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniss zu bestrafen.
§. 187. Mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter 6 Monaten wird bestraft, wer
1. eine Frauensperson, die sich im Zustande der Wehr- oder Willenslosigkeit befindet, zum ausserehelichen Beischlafe missbraucht; oder
2. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.
Ist durch die Handlung eine der in den §§. 231, Z. 1, und 232 bezeichneten Folgen[49] verursacht worden, so tritt Zuchthaus bis zu 10 Jahren, und wenn dadurch der Tod der Verletzten verursacht wurde, Zuchthaus bis zu 15 Jahren ein.
§. 188. Mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder mit Gefängniss wird bestraft, wer eine Person durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nöthigt, oder solche Handlungen an einer Person vornimmt, welche sich in einem Zustande der Wehr- oder Willenslosigkeit befindet.
Der zweite Absatz des §. 187 findet auch für diese Fälle Anwendung.
§. 189. Wegen Nothzucht wird mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter einem Jahre bestraft: wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensperson zur Duldung des ausserehelichen Beischlafes nöthigt, oder wer eine Frauensperson zum ausserehelichen Beischlafe missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen Zustand der Wehr- und Willenslosigkeit versetzt hat.
Wird die Nothzucht an einer Frauensperson, welche mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe treibt, verübt, so tritt Gefängniss nicht unter einem Jahre ein.
Ist durch die Handlung eine der in den §§. 231, Z. 1, und 232 bezeichneten Folgen oder der Tod der Verletzten verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe bis zu 20 Jahren ein.
§. 190. Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafes dadurch verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt oder einen anderen Irrthum in ihr erregt oder benutzt, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter 6 Monaten bestraft.
Die Bestrafung erfolgt nur auf Grund einer Privatanklage.
§. 192. Wer ein geschlechtlich unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlaf verführt, wird mit Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft. Die Bestrafung erfolgt nur auf Privatanklage der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters der Verführten.
Deutsches Strafgesetz:
§. 173. Der Beischlaf zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren, an den letzteren mit Gefängniss bis zu 2 Jahren bestraft.
Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen Geschwistern wird mit Gefängniss bis zu 2 Jahren bestraft.
§. 174. Mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren werden bestraft:
1. Vormünder u. s. f.
2. Beamte u. s. f.
3. Beamte, Aerzte oder andere Medicinalpersonen, welche in Gefängnissen oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder anderen Hilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestellt sind, wenn sie mit den in das Gefängniss oder in die Anstalt aufgenommenen Personen unzüchtige Handlungen vornehmen.
[S. 99]
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 6 Monaten ein.
§. 175. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechtes oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniss zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
§. 176. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer
1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einer Frauensperson vornimmt oder dieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nöthigt;
2. eine in einem willenlosen oder bewusstlosen Zustande befindliche oder geisteskranke Frauensperson zum ausserehelichen Beischlafe missbraucht, oder
3. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 6 Monaten ein.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein, welcher jedoch, nachdem die förmliche Anklage bei Gericht erhoben worden, nicht mehr zurückgenommen werden kann.
§. 177. Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensperson zur Duldung des ausserehelichen Beischlafes nöthigt, oder wer eine Frauensperson zum ausserehelichen Beischlaf missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen willenlosen oder bewusstlosen Zustand versetzt hat.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter einem Jahre ein.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein, welcher jedoch, nachdem die förmliche Anklage bei Gericht erhoben worden, nicht mehr zurückgenommen werden kann.
§. 178. Ist durch eine der in den §§. 176 bis 177 bezeichneten Handlungen der Tod der verletzten Person verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.
Eines Antrages auf Verfolgung bedarf es nicht.
§. 179. Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafes dadurch verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt, oder einen anderen Irrthum in ihr erregt oder benutzt, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 6 Monaten ein. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
§. 182. Wer ein unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlafe verführt, wird mit Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der Eltern oder des Vormundes der Verführten ein.
Preuss. Gesetz vom 24. April 1854, §. 1. Eine Frauensperson, welche 1. durch Nothzucht, 2. im bewusstlosen oder willenslosen Zustande geschwängert worden, — — — ist zu verlangen berechtigt, dass ihr das im Allgemeinen Landrecht, Theil II, Tit. 1, §. 785, vorgeschriebene höchste Maass der Abfindung zugesprochen werde.
Aus vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich, dass sowohl das gegenwärtig in Oesterreich geltende Strafgesetz als der österr. Strafgesetzentwurf und das deutsche Strafgesetz nicht nur den Beischlaf, sondern auch andere „unzüchtige Handlungen“ ahnden, wenn sie unter bestimmten, im Gesetze ausdrücklich angegebenen Umständen ausgeübt worden sind; dass ferner diese Gesetze je nach den Umständen, unter welchen der Beischlaf[S. 100] oder die unzüchtigen Handlungen verübt wurden, die That verschieden qualificiren, beziehungsweise mit niederen oder höheren Strafen belegen, und dass bei einzelnen dieser Delicte die Höhe der auszumessenden Strafe auch abhängig gemacht wird von den Folgen, welche eventuell durch die betreffende Handlung veranlasst worden sind.
Aus diesen Verhältnissen ergeben sich die dem Gerichtsarzte in solchen Fällen zufallenden Aufgaben von selbst. Er hat, so weit dies durch ärztliche Untersuchung möglich, zu constatiren:
1. ob ein Beischlaf oder eine andere unzüchtige Handlung stattgefunden;
2. ob der Beischlaf oder eine andere unzüchtige Handlung unter Umständen stattfand, unter welchen solche Acte als gesetzwidrige betrachtet werden; und
3. ob und welche Folgen durch eine derartige Handlung etwa verursacht worden sind.
Es empfiehlt sich, die wegen gesetzwidrigen Beischlafes sich ergebenden gerichtsärztlichen Untersuchungen als die häufigeren und vieles Specifische darbietenden, von denen wegen anderer unzüchtiger Handlungen getrennt zu behandeln, um so mehr, als die Besprechung letzterer dann kürzer gefasst werden kann.
Das gegenwärtige österr. Strafgesetz unterscheidet folgende als Verbrechen zu strafende Formen des gesetzwidrigen Beischlafes: die Nothzucht, die Blutschande, die Verführung und die Kuppelei. Im Entwurf des neuen Strafgesetzes findet sich der Ausdruck Blutschande in fast unveränderter Bedeutung wieder, während der strafrechtliche Begriff der Nothzucht insoferne eingeengt erscheint, als unter demselben nur der mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung erzwungene aussereheliche Beischlaf, sowie derjenige subsumirt wird, welcher an einer Frauensperson verübt wurde, die vom Thäter zu diesem Zweck in einen Zustand der Wehr- oder Willenslosigkeit versetzt worden ist.
Das deutsche Strafgesetz gebraucht keinen der erwähntes Ausdrücke mehr, obgleich es schwer halten dürfte, dieselben in der Praxis zu umgehen.
Diese Aenderungen sind für die gerichtsärztliche Beurtheilung der betreffenden Fälle ohne alle Bedeutung, da es niemals die Aufgabe des Gerichtsarztes war, noch ist, einen Beischlafsact im Sinne des Strafgesetzes zu qualificiren, sondern nur mit seinem ärztlichen Wissen zur Sicherstellung des betreffenden Thatbestandes mitzuwirken.
In vielen Fällen ist mit dem Nachweis eines stattgehabten Beischlafes die Aufgabe des Gerichtsarztes beendet; in anderen kommt ihm zu, die Umstände, unter welchen der Beischlaf ausgeübt wurde, zu untersuchen und zu begutachten, und in wieder[S. 101] anderen ausserdem die aus dem Acte etwa entstandenen Folgen zu beurtheilen.
Zum physiologischen Begriffe des Beischlafes gehört die Immissio penis und die Immissio seminis. Es ist jedoch selbstverständlich, dass im strafrechtlichen Sinne schon die Immissio penis genügt, um den Thatbestand des Beischlafes zu ergeben.
Allerdings ist von älteren Criminalisten die Immissio seminis als nothwendig zur vollendeten Nothzucht betrachtet worden, zur Zeit der Geltung der peinlichen Halsgerichtsordnung Carl V., vielleicht nur deshalb, um so selten als möglich die auf Nothzucht gesetzte Todesstrafe eintreten zu lassen[50], und auch Feuerbach hat diese Ansicht vertreten.[51] Neuere Juristen jedoch halten schon den Nachweis der erfolgten Vereinigung der Genitalien für genügend, und das englische Gesetz[52] verlangt ausdrücklich in solchen Fällen nur den Nachweis der stattgehabten Immissio penis (Penetration), nicht aber jenen der Immissio seminis. In gleicher Weise hat sich bezüglich des Thatbestandes des Beischlafes das preussische Obertribunal in einer Entscheidung vom 3. März 1869 und das deutsche Reichsgericht mit 17. März 1881[53] geäussert.
In der That liegt es auf der Hand, dass, wenn man bei der strafrechtlichen Verfolgung des gesetzwidrigen Beischlafes auf der Forderung eines vollendeten, d. h. bis zur Ejaculatio in vaginam gelangten Beischlafes bestehen wollte, nicht blos die Sicherstellung des Thatbestandes in überflüssiger Weise erschwert, sondern auch der schmählichsten Umgehung des Gesetzes Thür und Thor geöffnet werden möchte. Es ist auch gewiss weniger die Gefahr der Conception, als der Schutz der Geschlechtsehre, wodurch die Gesetzgeber bestimmt wurden, den erzwungenen Beischlaf als Verbrechen zu bestrafen, und es geht dies schon daraus hervor, dass der Beischlaf auch dann als Verbrechen qualificirt wird, wenn er, wie dies z. B. in der Regel bei der Nothzucht mit Mädchen unter 14 Jahren der Fall ist, unter Umständen verübt wurde, welche die Gefahr einer Schwängerung vollkommen ausschliessen.
Der Thatsache, dass trotz stattgehabter Vereinigung der Genitalien eine vollständige Immission des Gliedes verhindert worden sein konnte, z. B. durch ein festes Hymen oder, wie bei Kindern, durch unverhältnissmässige Enge der weiblichen Genitalien, trägt das gegenwärtige österr. Strafgesetz dadurch Rechnung, dass es, wenigstens im §. 127, nicht einen vollendeten, sondern nur einen „unternommenen“ Beischlaf fordert, und der österr. Entwurf, sowie das deutsche Strafgesetz[S. 102] dadurch, dass in den auf geschlechtlichen Missbrauch von Kindern sich beziehenden Paragraphen (§. 187, 2. österr. Entwurf, §. 176, 3. deutsches Strafgesetz) der Ausdruck „Beischlaf“ nicht mehr vorkommt, sondern unter den Begriff der „unzüchtigen Handlungen“ überhaupt subsumirt und mit gleicher Strafe belegt wird.
Wenn wir nun auch diese Bemerkungen vorausschicken und sie der Berücksichtigung empfehlen, so werden wir doch bei der Besprechung der Diagnose eines stattgehabten Beischlafes den vollendeten Coitus in erster Linie in Betracht ziehen, wobei wir selbstverständlich nur das weibliche Individuum im Auge behalten, da die Untersuchung des Mannes, wenn nicht etwa eine specifische Affection vorliegt, wohl nur ganz ausnahmsweise irgend ein für die vorliegende Frage verwerthbares Ergebniss liefern wird.
Es sind im Allgemeinen drei Anhaltspunkte, welche behufs einer solchen Diagnose herangezogen werden können:
a) Die Veränderung der anatomischen Verhältnisse der Genitalien durch den (ersten) Coitus.
b) Der Nachweis einer stattgehabten Ejaculation von Sperma an den weiblichen Genitalien selbst, oder in ihrer Nähe.
c) Die etwaige virulente Affection.
Diese lassen sich begreiflicherweise an den weiblichen Genitalien in der Regel nur dann erwarten, wenn der betreffende Coitus an einem bis dahin jungfräulichen Individuum verübt wurde, d. h. mit Defloration verbunden war. War dies nicht der Fall, so dürften wohl nur unter ganz besonderen Umständen durch den Coitus selbst Veränderungen zu Stande kommen, und ihre Entstehung wird desto weniger leicht möglich, je mehr die weiblichen Genitalien durch vorausgegangene Cohabitationen oder gar Geburten erweitert worden sind.
In der bei weitem grössten Zahl der zur forensischen Untersuchung gelangenden Fälle sind es angeblich bis dahin geschlechtlich unberührt gewesene weibliche Individuen, von denen behauptet wird, dass sie in gesetzwidriger Weise gebraucht worden seien, und es wird sich unter diesen Umständen zunächst darum handeln, zu untersuchen, ob die Genitalien des betreffenden Mädchens noch jene Eigenschaften darbieten, wie sie dem jungfräulichen Status zukommen, oder ob sie Veränderungen zeigen, die auf bereits stattgehabte Defloration schliessen lassen.
Als Zeichen noch jungfräulicher Genitalien werden angegeben: pralle, einander eng anliegende grosse Schamlippen, durch letztere bedeckte rosenrothe Nymphen, enges Vestibulum, unverletzter Hymen und enge, stark gerunzelte Vagina.
Das Zusammentreffen aller dieser Befunde berechtigt allerdings in der überwiegenden Anzahl der Fälle zur Annahme, dass die betreffenden Genitalien sich noch im jungfräulichen Zustande[S. 103] befinden, doch ist bezüglich der einzelnen Befunde Folgendes zu bemerken:
Die pralle und feste Beschaffenheit der grossen Schamlippen wird nur durch eine genügende Unterpolsterung derselben mit Fett bedingt, sie kann demnach bei entschieden jungfräulichen Individuen fehlen, wenn diese von Haus aus mager oder durch Krankheiten in der Ernährung herabgekommen sind; sie kann aber auch bei Individuen vorkommen, die selbst wiederholt den Coitus zugelassen haben, wenn sie im guten Ernährungszustande sich befinden. Im Allgemeinen ist die pralle und feste Beschaffenheit der Labien als Jugendzustand aufzufassen und als Theilerscheinung der im jugendlichen Alter bestehenden Turgescenz der Gewebe, sowie der Geneigtheit zur Bildung körnigen und festen Fettes im Unterhautzellgewebe. Sie geht daher im vorgerückteren Alter in dem Masse verloren, in welchem der Ernährungszustand abnimmt, die Faser erschlafft und das Fett aus dem Unterhautzellgewebe entweder verschwindet oder seine feste körnige Beschaffenheit verliert.
Von eben diesen Verhältnissen hängt es auch ab, ob die Labien mehr oder weniger einander anliegen und so die Schamspalte mehr oder weniger vollständig schliessen, und es ist daher begreiflich, dass dieser Befund bei entschiedenen Jungfrauen fehlen und ebenso bei entjungferten Personen vorhanden sein kann.
Ueberdies ist zu bemerken, dass auch bei jungfräulichen und pralle, anliegende Labien besitzenden Individuen die letzteren auseinander weichen, wenn die Oberschenkel weit auseinander gezogen werden, und dass daher das Kriterium des Anliegens der Labien eigentlich nur bei mässiger Abduction der Oberschenkel gelten kann.
Das Bedecktsein der Nymphen von den grossen Schamlippen oder das Prominiren derselben zwischen letzteren ist in vielen Fällen auch nur durch den Zustand der grossen Labien bedingt. Ebenso, wie wir bei frühzeitig geborenen Früchten die Nymphen vorstehend finden, weil die Haut überhaupt und jene der Labien insbesondere noch nicht in jenem Grade mit Fett unterpolstert ist wie bei ausgetragenen Kindern, ebenso und aus gleichem Grunde sehen wir manchmal auch bei älteren, aber abgemagerten Mädchen die Nymphen unvollständig von den Labien bedeckt, selbst wenn der jungfräuliche Zustand nicht in Zweifel gezogen werden kann. Da aber die Nymphen nur so lange den Charakter einer Schleimhaut bewahren, als sie durch die sie bedeckenden Labien vor der Einwirkung der Luft geschützt und feucht erhalten werden, so können sich bei entschieden jungfräulichen Individuen mehr weniger braun verfärbte und trockenen, epidermisartigen Ueberzug zeigende Nymphen finden, ein Befund, der bei alten, insbesondere in der Ernährung herabgekommenen Jungfrauen verhältnissmässig häufig ist, wobei allerdings die mit dem Alter sich vollziehende Erschlaffung und daher Verlängerung[S. 104] dieser Schleimhautduplicaturen auch in Betracht gezogen werden muss. Auch durch wiederholtes Zupfen und Ziehen an den Labien, also durch Onanie, können die Labien verlängert werden.
Anderseits aber ist die Angabe irrig, dass bei Individuen, die den Coitus zugelassen haben, die kleinen Labien gewöhnlich prominiren, eine welke Beschaffenheit erhalten u. dergl. Dies ist allerdings häufig der Fall; Jeder aber, der eine grössere Anzahl von deflorirten Personen zu untersuchen Gelegenheit hat, wird sich überzeugen können, dass bei diesen die Nymphen häufig von den Labien bedeckt sind und jene Beschaffenheit zeigen, wie sie eine der Luft nicht ausgesetzte Schleimhaut darbietet, und dass man dieses Verhalten auch bei Prostituirten und selbst bei Personen, die geboren haben, finden kann.
Das individuelle Verhalten der Nymphen ist daher ein verschiedenes, und mit dieser Thatsache stimmt auch die Beobachtung überein, dass unter sonst gleichen Verhältnissen die Höhe der die Nymphen bildenden Schleimhautfalte sehr variirt und dass namentlich die Fälle nicht selten sind, wo die Nymphen einen ganz niedrigen Saum bilden, der auch trotz wiederholt geübtem Coitus und trotz stattgehabter Entbindung niedrig bleibt. Auch bezüglich der Pigmentirung herrschen vielfache individuelle Verschiedenheiten.
Das Vorhandensein des unverletzten Hymen wurde seit jeher für das wichtigste Kennzeichen noch bestehender Jungfräulichkeit gehalten, und es ist nicht zu leugnen, dass das Verhalten dieses Gebildes für die Beantwortung der Frage, ob eine Defloration bereits stattgefunden habe oder nicht, die hauptsächlichsten Anhaltspunkte gewährt, bei deren Verwerthung es jedoch zunächst angezeigt ist, sich von jenen schablonenhaften Anschauungen frei zu machen, die bezüglich des Verhaltens des Hymen überhaupt und beim ersten Coitus insbesondere noch immer gang und gäbe sind.
Es gibt keine irrigere Anschauung als die, dass der Hymen im Allgemeinen so ziemlich immer die gleiche Beschaffenheit zeige und dass daher sein Verhalten beim ersten Beischlafe ebenfalls sich in der Regel gleich gestalte. Zunächst überzeugt sich Jeder, der das Verhalten des Hymen systematisch untersucht — und bei Kindern ist solches verhältnissmässig leicht durchführbar — dass letzterer sowohl in der Form als in seinen sonstigen Eigenschaften vielfach variirt.
Im Allgemeinen kann man den ringförmigen Hymen als die Grundform ansehen, aus welcher sich die übrigen construiren lassen. In seiner typischen Erscheinung stellt derselbe eine am Ostium vaginae ringförmig vorspringende Schleimhautfalte dar, welche überall gleich breit eine runde centrale Oeffnung umschliesst. Eine solche vollkommene Ringform des Hymen ist sehr selten (Fig. 9), in der Regel liegt die Oeffnung excentrisch (Fig. 10), und zwar immer der oberen Peripherie des Scheideneinganges[S. 105] näher als der unteren. Ein umgekehrtes Verhalten haben wir bis jetzt noch niemals beobachtet. Durch diese excentrische Lage der Oeffnung ist bereits der Uebergang zum halbmondförmigen Hymen (Fig. 11) gegeben, welches in seiner vollkommenen Ausbildung sich als eine halbmondförmig von der unteren Peripherie des Introitus sich abhebende Falte darstellt, deren beide Enden, sich allmälig verschmälernd, oben nicht zusammenstossen, sondern mehr weniger weit von einander entfernt bleiben. Zwischen diesen zwei Hauptformen gibt es eine Menge Uebergänge, die theils durch die Grösse der Hymenalöffnung, theils durch ihre Form bedingt werden. — Erstere variirt ungemein. Mitunter findet man Oeffnungen, die kaum für eine Sonde durchgängig sind, so dass nicht viel fehlt zur vollständigen Atresie. In anderen extremen Fällen ist die Oeffnung wieder so gross, dass man schon bei ganz kleinen Kindern mit der Spitze des kleinen Fingers in die Scheide eindringen kann, ohne den Hymen zu zerreissen, welcher dann nur einen niedrigen Saum bildet, der halbmondförmig oder ringförmig von der Peripherie des Scheideneinganges sich abhebt.
Die Form des Foramen hymenaeum ist nicht immer rundlich, sondern häufig oval, und dann fast ausnahmslos im sagittalen Durchmesser länger als im queren, ausserdem nicht selten durch lappenförmiges Vorstehen der einen oder der anderen Randpartie asymmetrisch. Prävalirt der sagittale Durchmesser bedeutend über den queren, so dass der obere und untere Theil des Hymen nur einen schmalen Saum bildet, während die[S. 106] seitlichen Theile verhältnissmässig breite Lappen darstellen, dann heisst ein solcher Hymen ein lippenförmiger Hymen, H. labiiformis, welcher, wenn der obere Saum ganz fehlt und der untere nur angedeutet ist (vollkommen fehlt letzterer nie), sich beim Auseinanderziehen der Vulva gleichsam wie ein drittes Paar Schamlippen präsentiren kann.
Ausserdem ist von wesentlichem Einfluss auf die Gestalt der Hymenöffnung die Beschaffenheit der sie begrenzenden Ränder, und diese bietet grosse Verschiedenheiten. Bei einer grossen Zahl von Fällen stellt allerdings der freie Hymenrand, wenn der Hymen gespannt wird, eine kreisförmige oder elliptische oder halbmondförmige Linie dar; in einer mindestens ebenso grossen Zahl der Fälle ist aber dieser Rand eingekerbt oder mehr weniger ausgezackt, eine Thatsache, die forensisch besonders wichtig ist, da solche von ursprünglicher Bildung herrührende Einkerbungen und Zacken für traumatische Producte genommen werden können.
Blosse Einkerbungen des freien Hymenrandes kommen häufig vor, meist an der oberen Hälfte des Hymen, seltener an der unteren (Fig. 12). Durch eine grosse Zahl von an Kindesleichen gemachten Beobachtungen haben wir uns überzeugt, dass insbesondere jene Stelle des Hymen, an welcher das mittlere Drittel desselben in das obere übergeht, sehr gewöhnlich den Sitz von angeborenen Einkerbungen bildet, und dass diese dann in den meisten Fällen, indem an jeder Seite eine Kerbe sich befindet, symmetrisch gestellt sind. Diese Lage und Stellung der angeborenen Kerben wird daher bei der Unterscheidung derselben von verheilten Einrissen zu beachten sein. Die Tiefe solcher Kerben ist verschieden. Mitunter betreffen sie blos den freien Rand des Hymen, sie können[S. 107] jedoch, und zwar nicht selten, die ganze Breite desselben bis zur Insertionsstelle einnehmen, in welchem Falle wir dann eine häufige Form, den sogenannten gelappten Hymen, vor uns haben, welche meist darin besteht, dass die oberen Drittel des Hymen beiderseits gesonderte Lappen darstellen. Wenn zugleich die untere und obere mittlere Peripherie des Hymen nur einen niedrigen Saum bildet, oder mit anderen Worten, wenn so tiefe Einkerbungen an einem lippenförmigen Hymen sich finden, dann sehen wir letzteren aus vier abgerundeten Lappen bestehen, welche symmetrisch angeordnet sind und von denen die unteren fast immer grösser sind als die oberen.
Abgesehen von solchen grösseren Einkerbungen findet sich der freie Hymenrand nicht selten in seiner ganzen Ausdehnung gleichmässig fein gekerbt und in einzelnen Fällen wie mit stärkeren, jedoch weichen, meist kurzen Wimpern besetzt — Hymen fimbriatus. Letztere Hymenform hat Luschka[54] zuerst beschrieben und abgebildet (Fig. 13). Einen ebenso schönen Fall aus unserer Sammlung zeigt Fig. 14, der dadurch noch interessanter ist, dass er von einer jungen Frau stammt, die zwei Tage nach der Brautnacht an Ulcus ventriculi perforans gestorben war. Die Fimbrienbildung ist hier besonders ausgezeichnet, und in der linken Hälfte der unteren Peripherie findet sich ein seichter Einriss. Geringere[S. 108] Grade von Fimbrienbildung am Hymenrande sind häufig (v. Fig. 10), und wir haben uns überzeugt, dass eine derartig gewimperte und auch die gleichmässig gekerbte Beschaffenheit des Hymenrandes vorzugsweise am gelappten Hymen sich findet, wodurch dieses, wie Luschka richtig bemerkt, eine gewisse Aehnlichkeit mit einer Blumenkorolle erhält.
In einzelnen Fällen findet man eine noch complicirtere Lappung, die dadurch gebildet wird, dass gewisse, und zwar fast ausnahmslos die oberen Partien der Scheidenklappe aus mehreren hintereinander liegenden, manchmal vollkommen getrennten, häufiger stellenweise mit einander verwachsenen und dann taschenartige Einstülpungen bildenden Blättern bestehen, von denen die hinteren sich mitunter deutlich als lappenförmige Ausbreitungen der Längsrunzeln der Vagina erkennen lassen.
Dabei sieht man dann häufig auch ein System von Läppchen im Kreise um die Harnröhrenmündung angeordnet, ebenfalls eine Art kleiner Korolle bildend, wie dies auch bei den hier abgebildeten Beispielen von Hymen fimbriatus der Fall ist.
Eine eigenthümliche und interessante Form des Hymen ist jene, die wir schon vor mehreren Jahren als überbrückten Hymen beschrieben haben.[55] Sie entspricht dem Foramen hymenaeum[S. 109] bipartitum älterer Autoren und besteht darin, dass ein Band von derselben Structur wie die Scheidenklappe sich über die Oeffnung derselben, und zwar fast immer in sagittaler, nur ausnahmsweise in etwas schiefer Richtung, hinwegspannt, und auf diese Weise dieselbe in zwei seitliche abtheilt (Fig. 15, 16 und 17). Diese Hymenform (Hymen septus) ist keineswegs selten. Wir hatten sie, als wir unseren Aufsatz schrieben, bereits fünfmal beobachtet und seitdem sowohl an Lebenden als an Leichen wiederholt gefunden. Ausserdem ist dieselbe seitdem auch von anderen Beobachtern, so von H. Paschkis, Delens, Heitzmann, Dohrn und Fehling, gesehen und beschrieben worden. Wir haben dieses Band als den unteren Saum des in frühen Perioden der embryonalen Entwicklung bestehenden, den Genitalcanal in zwei Hälften theilenden Septums gedeutet, somit als den niedrigsten Grad jener Hemmungsbildung, welche in den höheren Graden als Uterus septus und vagina septa erscheint. Wir wurden in dieser Anschauung bestärkt durch mehrmals beobachtete Fälle, in welchen sich die Hymenbrücke thatsächlich in ein in die Vagina aufsteigendes kurzes und in einem Falle sogar in ein die ganze Länge des Genitalschlauches durchsetzendes Septum fortsetzte, sowie dadurch, dass wir zweimal ein solches Hymen bei Uterus unicornis fanden; da jedoch einzelne Autoren, wie Schröder[56] und insbesondere[S. 110] Dohrn[57], das Hymen als eine erst später (in der 19. Woche) sich bildende Klappe auffassen, so wäre es möglich, dass der Entstehung dieser Hymenform weniger eine Bildungshemmung, als[S. 111] vielmehr eine excessive Entwicklung der Hymenanlage zu Grunde liegen könnte.
Eine derartige Brücke kann bei allen Hymenformen vorkommen, und die Grösse der seitlichen Hymenöffnungen kann sich verschieden gestalten. Sind dieselben sehr klein, so bilden sie den Uebergang zur vollständigen Atresie des Hymen, doch können bei dieser die betreffenden Oeffnungen noch durch stärker vorgetriebene und dünnere Stellen angedeutet sein, wie Patin (Schmidt’s Jahrb. 1858, Bd. 100, pag. 308) einen solchen Fall beschreibt und Dohrn (l. c.) einen abbildet. Auch ist es möglich, dass bei einer derartigen Brückenbildung die eine Oeffnung mehr weniger klein ist als die andere (Fig. 18 und 19), oder dass nur die eine seitliche Oeffnung ausgebildet, die andere aber verwachsen ist, woraus sich die manchmal zu beobachtende seitlich excentrische Lage des Foramen hymenaeum erklärt.
Auch niedere Grade einer solchen Ueberbrückung der Hymenöffnung kommen zur Beobachtung. So haben wir mehrmals Fälle gefunden und in unserem Museum aufgestellt, bei welchen entweder von dem unteren (Fig. 20, 21 und 22) oder vom oberen (Fig. 23 und 24) Hymensaum zapfenartige Fortsätze in das Lumen der Hymenöffnung hineinragten[58], während in anderen sowohl von der oberen als von der unteren Hymenperipherie ein solcher Zapfen abging (Fig. 25). Den Uebergang zu letzterer Hymenform bilden die Fälle, wo das Septum zwar vollständig, aber in der Mitte sanduhrförmig verdünnt ist. In einem unserer Präparate ragt von oben und von unten ein konischer Zapfen in das Lumen der Hymenöffnung und die Spitzen beider sind durch einen dünnen Faden verbunden. Dass solche Rudimente eines Hymenseptums[S. 112] mitunter zu langen polypenartigen Bildungen auswachsen können, zeigt Fig. 26, welche wir einer interessanten russischen Arbeit über die Hymenformen von L. Mierzejewski[59] entnehmen.
Noch niedere Reste der Brücke finden sich an den meisten Scheidenklappen und wir betrachten als solche einen dreieckigen mit der Basis von der hinteren Columna rugarum des Scheideneinganges abgehenden Pfeiler, welcher, mit der hinteren Wand des unteren Hymentheiles verwachsen, letzterem gleichsam als Stütze dient. Nicht selten gabelt sich die Columna rugarum an ihrem untersten Ende und gibt dann zwei, unter einem spitzen Winkel abgehende Pfeiler an die Hinterfläche des Hymen ab.
Das bisher Gesagte bezieht sich blos auf das verschiedene Verhalten der Form der Scheidenklappe. Aber auch in anderen Beziehungen kommen vielfache Varietäten vor. So zunächst bezüglich der Festigkeit und daher Resistenzfähigkeit der betreffenden Schleimhautfalte. In einzelnen Fällen kommen ungewöhnlich feste, fleischige und selbst sehnige (Velpeau) Hymen vor, und diese sind es, welche schon öfters operative Eingriffe nothwendig machten, damit die Begattung und selbst die Geburt erfolgen konnte. Fig. 17 gibt ein Beispiel eines solchen theils durch die fleischige Substanz, theils durch das fast sehnige kurze und dicke Septum ungewöhnlich festen Hymens. In anderen Fällen wieder ist der Hymen sehr dünn, selbst durchscheinend. Diese Rarefaction kann bis zur Lückenbildung sich steigern, wodurch dann der von älteren Autoren, Picolhominus, Berengar carpensis, Riolan und auch von Velpeau (Gaz. des hôp. 31, 1851) vielfach erwähnte „siebförmige“ Hymen (H. cribriformis) zu Stande kommt. Wir selbst haben ein eigentliches „siebförmiges“ Hymen bis jetzt noch nicht gesehen, dagegen ein solches, bei welchem an einem halbmondförmigen Hymen ausser der gewöhnlichen Oeffnung noch[S. 113] eine andere in der linken Hälfte des betreffenden Halbmondes sich fand, die, wie die durchscheinende Beschaffenheit der Randpartien derselben, sowie eine auffallend verdünnte, ebenso grosse Stelle in der anderen Hälfte des Halbmondes erkennen liess, offenbar durch Rarefaction zu Stande gekommen war (Fig. 27). Wäre ein solcher Vorgang auch auf der anderen Seite erfolgt, so würde sich ein Hymen mit drei Oeffnungen ergeben haben, wie Delens (l. c., ebenso bei Tardieu: Attent. aux moeurs, 1878) thatsächlich einen solchen abbildet. Auch in unserer Sammlung befindet sich ein von einem Säugling stammender Hymen mit drei Oeffnungen (Fig. 28), doch ist derselbe kein rareficirter, sondern ein sehr fester. Die Oeffnungen führen sämmtlich in blinde Taschen, während die Vagina darüber vollkommen fehlt, statt welcher sich ein dünner, zum Uterus hinaufziehender ganz solider Strang findet.
Die Dehnbarkeit der Scheidenklappe ist von dem Baue derselben abhängig. Die sehnenförmigen sind nicht dehnbar, dafür sehr widerstandsfähig; die sehr dünnen, zartwandigen reissen sehr leicht, dagegen ist der gewöhnlich vorkommende, nicht eine einfache Schleimhautduplicatur darstellende, sondern auch eine bindegewebige und selbst musculöse Structur besitzende Hymen (Velpeau, Luschka, Dohrn) sehr dehnbar, wovon man sich sowohl an der Leiche als am Lebenden oft genug zu überzeugen in der Lage ist, da man, wenn die Hymenöffnung nicht sehr klein ist, mit einiger Vorsicht nicht blos mit dem Finger, sondern[S. 114] manchmal selbst mit einem dünnen Speculum in die Scheide gelangen kann, ohne den Hymen zu verletzen.
Wenig beachtet wird die Thatsache, dass der Hymen, wenn die Organe sich in ihrem normalen Situs befinden, niemals eine straffgespannte Membran bildet, sondern, da die Vagina kein starres Rohr darstellt, entsprechend den gegebenen beengten Raumverhältnissen, zusammengelegt sein muss. Diese Zusammenlegung geschieht einestheils in der Richtung der Raphe perinaei, indem die beiden seitlichen Hymenhälften entsprechend der Verlängerung dieser sich in eine vorspringende Falte legen, andererseits indem der so zusammengelegte Hymen einen Conus bildet, dessen abgestumpfte Spitze gegen den Scheidenausgang gerichtet ist.
Erstere Faltung zeigt sich am schönsten beim halbmondförmigen Hymen, welches nach leichtem Auseinanderziehen der Schamlippen schiffskielförmig oder wie das „Schiffchen“ einer Schmetterlingsblüthe hervortritt, wobei man bemerkt, dass, wenn man auch den Hymen anspannt, doch noch in der Regel eine Art Raphe entsprechend der früher bestandenen Falte zurückbleibt, welche wie eine Verlängerung der Raphe perinaei erscheint. Eine solche Raphe findet sich, wie auch an einzelnen der hier abgebildeten Hymen zu erkennen, an den meisten Hymenformen und ihr entspricht auch häufig eine Verdickung der Substanz der Scheidenklappe, die sich in den oben erwähnten Stützpfeiler an der hinteren Fläche derselben fortsetzt.
Am ringförmigen Hymen tritt wieder die Conusbildung deutlicher hervor, wobei der Hymen wie ein Hühnersteiss (cul de poule, Tardieu) sich präsentirt, weshalb Einzelne auch von einem „bürzelförmigen“ Hymen sprechen (Schröder). Dabei ist entsprechend der äusseren Fläche des Conus eine Zahl von Längsfalten bemerkbar, die, wenn sie nicht durch Spannung ausgeglichen werden, dem freien Hymenrande eine eingekerbte Beschaffenheit verleihen können (Fig. 29).
Beim gelappten Hymen erfolgt die Zusammenfaltung ausserdem in der Art, dass sich die einzelnen Lappen theilweise dachziegelförmig über einander legen, wie auch Liman erwähnt.
Sowohl die seitliche Zusammenlegung als die Conusbildung wird bei geschlechtsreifen Mädchen in der Regel schon durch geringe Anspannung des Introitus vaginae ausgeglichen und der Hymen bildet dann in der That meistens eine quer über den Introitus vaginae hinweggespannte Membran. Bei kleinen Kindern gelingt das Anspannen der Scheidenklappe nicht immer so leicht und so vollständig, aus dem Grunde, weil der Hymen häufig verhältnissmässig zum Scheideneingange grössere Dimensionen besitzt[S. 115] als bei Erwachsenen. Daher kommt es, dass man namentlich bei Säuglingen mitunter Hymen begegnet, welche einen so langen Conus darstellen, dass, wie wir wiederholt sahen, die Spitze desselben aus der Schamspalte etwas hervorragt. Diese Thatsache ist von Tardieu, Scrzeczka u. A. hervorgehoben worden, und es wurde deshalb der sogenannte „bürzelförmige Hymen“ als die kindliche Form des Hymen überhaupt bezeichnet. Letztere Anschauung ist aber insofern nicht ganz richtig, als, wie oben erwähnt, eine Conusbildung auch den Hymen geschlechtsreifer Mädchen mehr weniger zukommt und als auch bei diesen manchmal der Conus verhältnissmässig länger ist als in der Regel, und weil das erwähnte Verhalten auch bei kleinen Kindern keineswegs ganz constant vorkommt, sondern nur häufiger als bei Erwachsenen.
Der Befund eines vollkommen unverletzten Hymens ist allerdings eines der werthvollsten Zeichen noch bestehender Virginität, keineswegs jedoch ein absolutes.
Zunächst kann der Hymen trotz stattgefundenem Coitus intact bleiben, wenn bei diesem Acte das erigirte Glied gar nicht in die Vagina eindrang, sondern die geschlechtliche Befriedigung nur im Vestibulum erfolgte. Dies kann einestheils geschehen, wenn die Festigkeit des Hymen eine Penetration des Penis nicht gestattete, wie dies ja auch bei verheirateten Frauen und trotz wiederholtem Beischlaf gefunden wurde; oder weil, wie z. B. ganz gewöhnlich bei kleinen Kindern, wegen unverhältnissmässiger Enge der noch unentwickelten Genitalien eine Einbringung des Gliedes in die Scheide gar nicht möglich war, so dass sich der Act nur in der Vulva abspielte, wobei der Hymen nicht zerrissen, sondern höchstens nach einwärts gestülpt wurde. Dieser Umstand erklärt es, warum in den meisten Nothzuchtsfällen, die Kinder betreffen, der Hymen unverletzt gefunden wird.
In einer weiteren Kategorie von Fällen kann sich jedoch die Scheidenklappe vollkommen unverletzt finden, obzwar ein vollständiger, d. h. mit Penetration in die Scheide verbundener Coitus stattgefunden hatte. Ob dieses möglich, wird theils von den allgemeinen Raumverhältnissen der betreffenden weiblichen Genitalien, theils und zwar vorzugsweise, von der ursprünglichen Beschaffenheit des Hymen abhängen. In ersterer Beziehung ist es klar, dass bei sehr jugendlichen, namentlich noch nicht geschlechtsreifen Individuen eine solche Eventualität ungleich schwieriger erfolgen kann als bei erwachsenen und geschlechtlich vollkommen entwickelten Mädchen, da bei ersteren der Introitus vaginae seiner kindlichen Enge wegen kaum ohne Zerreissung des wie immer beschaffenen Hymen zu passiren sein wird, während bei erwachsenen Mädchen als Theilerscheinung der bereits eingetretenen Geschlechtsreife grössere Weite der Genitalien und grössere Dehnbarkeit derselben besteht, welche eingebrachten fremden Körpern ungleich leichter den Zutritt gestattet, als dies vor erlangter Geschlechtsreife der Fall gewesen war.
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Bei geschlechtlich ausgebildeten Individuen wird es aber vorzugsweise von der Beschaffenheit des Hymens abhängen, ob dasselbe trotz stattgehabten vollständigen Beischlafes unverletzt bleiben kann oder nicht. Form und Structur der Scheidenklappe müssen in dieser Beziehung erwogen werden. So werden wir, wenn sich ein unverletzter ring- oder halbmondförmiger Hymen mit kleiner Oeffnung findet, nicht zugeben, dass eine Penetration stattgefunden haben könne, und selbst bei grösserem Foramen hymenaeum werden wir dies negiren, wenn die Scheidenklappe von zarter, insbesondere an den Rändern leicht zerreisslicher Structur sich erweist und trotzdem keine Spur eines Einrisses oder einer Einkerbung darbietet. Dagegen wird sich einer solchen Möglichkeit nichts entgegenstellen, wenn der Hymen eine schlaffe, dehnbare Beschaffenheit zeigt, einen niedrigen Saum darstellt und eine so grosse Oeffnung besitzt, dass man anstandslos mit dem untersuchenden Finger oder gar mit einem Speculum in die Scheide einzudringen im Stande ist. Ganz besonders begreiflich und fast selbstverständlich wird das Intactbleiben des Hymen beim Coitus erscheinen, wenn letzteres überhaupt kein sich spannendes Diaphragma darstellt, sondern ein lappenförmiges ist, welches seinem Baue nach dem Eindringen des männlichen Gliedes gar keinen Widerstand entgegensetzt, da die Lappen, aus welchen es besteht, einfach bei Seite geschoben werden, um so leichter, als ausser der günstigen Form auch die erwähnte Dehnbarkeit dieser Theile sich geltend machen wird.
Letztere wird vielfach unterschätzt, obgleich sie bei der Bestimmung dieser Organe verständlich ist und noch begreiflicher wird, wenn man erwägt, in welch überraschender Weise viel engere Canäle, z. B. weibliche Harnröhre und Mastdarm, eine forcirte Erweiterung ohne Zerreissung zulassen, eine Thatsache, die ja, wie bekannt, von der modernen Chirurgie vielfach ausgenützt wird.
Wenn man bedenkt, dass ausserdem die Dehnbarkeit des Hymen und Scheideneinganges individuell eine erhöhtere sein kann und während der Menstruation, insbesondere aber bei den, auch bei intacten Jungfrauen nicht seltenen, blennorrhoischen Zuständen der Genitalien sich steigert, so wird man nicht überrascht sein durch die in der Literatur zahlreich niedergelegten und auch von uns wiederholt gemachten Beobachtungen von unverletztem Hymen bei Prostituirten[60] und selbst bei Erstgeschwängerten[61], und wird[S. 117] begreifen, warum schon die Alten dem Vorhandensein einer Scheidenklappe keine absolute Beweiskraft für noch bestehende Jungfrauschaft zuschreiben wollten.
Trotzdem gilt das Einreissen des Hymen beim ersten Coitus als Regel, und man wird daher vor Allem nach etwaigen Läsionen des Hymen suchen, wenn es sich um die Beantwortung der Frage handelt, ob ein Beischlaf stattgefunden habe oder nicht.
Das Einreissen des Hymen erfolgt fast ausnahmslos vom freien Rande aus und beschränkt sich entweder, und zwar häufiger, nur auf letzteren (Fig. 30) oder dringt durch die ganze Duplicatur bis zu ihrer Ausgangsstelle von der Peripherie des Introitus vaginae. Ob nur ein Riss entsteht oder mehrere und an welcher Stelle und bis zu welcher Tiefe, wird von der ursprünglichen Beschaffenheit der Scheidenklappe abhängen. Nach Tardieu, l. c. pag. 51, zerreisst der lippenförmige Hymen an der unteren Brücke, so dass zwei verticale Lappen entstehen: der Hymen semilunaris an zwei seitlichen Stellen, wodurch ein mittlerer dreieckiger Lappen abgetrennt wird, der Hymen annularis aber in vier oder mehrere mehr weniger unregelmässige Lappen. Dieser Gang der Dinge wird jedoch zweifellos alterirt durch die Structur des Hymen, die keineswegs eine überall gleiche, sondern an manchen Stellen eine festere ist als an anderen. Zu ersteren gehören insbesondere jene Partien des Hymen, die durch auf die Hinterwand desselben sich fortsetzende Vaginalfalten eine Verdickung der Substanz und zugleich eine Art Stütze erhalten, und da, wie oben erwähnt, ein solcher dreieckiger Pfeiler sich sehr häufig hinter dem unteren und mittleren Theile des Hymensaumes befindet, so erklärt sich daraus die nach Tardieu häufige Beobachtung, dass nach Laceration des Hymen, insbesondere des halbmondförmigen, ein mittlerer dreieckiger Lappen stehen bleibt. Fig. 31 gibt ein Beispiel eines derartigen deflorirten und vernarbten Hymen aus unserer Sammlung, während Fig. 32 einen unregelmässig eingerissenen ringförmigen Hymen zeigt.
Beim überbrückten Hymen kommt, wie wir uns nicht blos an Lebenden, sondern auch an Museumpräparaten zu überzeugen Gelegenheit hatten, verhältnissmässig häufig eine sit venia verbo partielle Defloration vor, insoferne als durch den ersten Coitus nur die eine Hälfte der Scheidenklappe eingerissen wird, während die Brücke und die andere Hälfte des Hymen sich erhält und, da der Coitus in der Regel auch weiter immer auf demselben Wege ausgeübt[S. 118] wird, auch später erhalten bleibt. Drei Fälle dieser Art beschreibt Paschkis (Wiener med. Presse. 1877, Nr. 1). Der eine derselben, eine 18jährige Prostituirte betreffend, ist in Fig. 33 abgebildet. Der Coitus wurde offenbar durch die rechte Hälfte des Scheideneinganges ausgeübt, da diese ungleich weiter ist als die linke und auch die Einführung eines mittleren Röhrenspeculums gestattete, während die linke eben nur den Finger durchdringen liess.
Doch sahen wir auch Fälle, in denen beide Hymenhälften Einrisse zeigten, während die Brücke erhalten war. Letztere scheint ein besondere Resistenz, beziehungsweise Dehnbarkeit, zu besitzen, denn es finden sich in der Literatur öfter Angaben über ein verticales fleischiges Band, das den Scheideneingang in zwei seitliche Hälften theilte und das sowohl bei verheirateten Frauen als selbst bei Gebärenden gefunden wurde[62], und Mende[63] gibt sogar an, dass in der Sammlung der Göttinger Gebäranstalt sich ein ganzes Fläschchen voll solcher fleischiger Bänder findet, die im Laufe der Zeit bei Gebärenden constatirt und ausgeschnitten wurden.
Auch in Fig. 34 war der Hymen ursprünglich ein Hymen septus mit schief verlaufender Brücke, welche bei der Defloration zerrissen wurde, wobei zugleich ein Einriss in der linken Hälfte der unteren Peripherie des Hymensaums entstand.
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In frischen Fällen sind Verletzungen des Hymen unschwer zu erkennen, da sie sich nicht blos durch die Zusammenhangstrennung, sondern auch durch gewisse Reactionserscheinungen bemerkbar machen werden.
Zu diesen gehört zunächst die mit der Laceration verbundene Blutung. Auf das Eintreten dieser in der Brautnacht wurde bekanntlich und wird noch ein grosses Gewicht gelegt und dasselbe als vollgiltiges Kennzeichen noch bestandener Jungfrauschaft betrachtet, von dessen Vorhandensein bei den alten Israeliten sogar die Giltigkeit der Ehe abhängig gemacht wurde. Da jedoch, wie oben erwähnt wurde, der Hymen beim Coitus nicht immer zerreissen muss, so wird schon durch diese Thatsache der Beweiswerth dieser Erscheinung, respective des Ausbleibens der Blutung, sehr eingeschränkt. Es wird aber bei thatsächlich erfolgter Verletzung des Hymen einerseits von der Ausdehnung der Läsion, anderseits von dem Gefässreichthum der verletzten Partie abhängen, in welchem Grade sich bei einer Defloration die Blutung bemerkbar machen kann. Im Allgemeinen lehrt die Erfahrung, dass heftigere Blutungen nach dem ersten Coitus ungemein selten sind, obgleich in einzelnen Fällen die Blutung einen so starken Charakter annehmen kann, dass chirurgische Hilfe nothwendig wird. Zeiss (Centralbl. f. Gyn. 1885, Nr. 8), Mundé (Boston med. and surg. Journ. 1885, Nr. 20) und Dworak (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, XLIII, pag. 36) haben über solche Fälle berichtet, von denen wir den letzteren mit beobachtet haben.
Bordmann (Tardieu, l. c., pag. 55) erwähnt sogar eines Falles von Verblutung in der Brautnacht aus den Hymeneinrissen[S. 120] bei einer aus einer Bluterfamilie stammenden Frau, und Borelli (Ibid.) berichtet von einer hochgradigen Blutung, die aus derselben Quelle bei einem 11jährigen genothzüchtigten Mädchen eingetreten war.
Die Seltenheit profuserer Blutungen bei solchen Gelegenheiten erklärt sich theils aus dem geringen Reichthum des Hymen an grösseren Gefässen, besonders aber aus dem Umstande, dass die durch den Coitus entstehenden Continuitätstrennungen ungleich häufiger blosse Einrisse des freien, dünnen und daher gefässarmen Hymenrandes als förmliche Lacerationen darstellen. In den Fällen von Zeiss und Dworak reichte der Hymeneinriss bis in die hintere Vaginalwand, und dies scheint der Hauptgrund der profusen Blutung gewesen zu sein. In einem von Cercha (Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr. 19) mitgetheilten Falle betraf der Riss die hintere Partie eines Septums der Vagina, und auch Frank (Prager med. Wochenschr. 1889, Nr. 48) berichtet über bei doppelter Vagina zu Stande gekommene Scheidenverletzungen.
Auch bei operativen, wegen Atresie oder bei der Entbindung nothwendig gewordenen Eingriffen am Hymen wurden in der Regel nur unbedeutende Blutungen beobachtet, obgleich in solchen Fällen auch die manchmal sehnige Beschaffenheit der Scheidenklappe in Betracht zu ziehen ist. Doch haben Chiari und Habit[64] je einen Fall von namhafter Blutung bei einer derartigen Operation beobachtet.
Selbstverständlich wird in jedem einzelnen Falle, bevor man die an den Genitalien zu beobachtende Blutung auf einen Hymenriss bezieht, jede andere Quelle einer solchen auszuschliessen sein. Zunächst die Menstrualblutung, deren frühzeitiges Eintreten in einem uns bekannten Falle den Verdacht erweckt hatte, dass an dem betreffenden Kinde ein Nothzuchtsact verübt worden sei. Ebenso Blutungen aus anderen Verletzungen der Genitalien, insbesondere der gefässreichen Clitorisgegend[65], des Frenulum oder[S. 121] anderer Stellen des Vestibulums und selbst der Vagina, denen allerdings die gleiche Bedeutung vindicirt werden müsste wie den Beschädigungen des Hymen selbst. Auch die, zufolge den Angaben Schlesinger’s und Wernich’s[66] nicht ganz seltenen, aber stets geringen und rasch vorübergehenden „Cohabitationsblutungen“, welche auf der Zerreissung der congestionirten Cervicalgefässe beruhen, sind nicht unbeachtet zu lassen.
Die Verheilung der Rissstellen erfolgt in wenigen, zwei bis drei Tagen, und zwar desto früher und unter desto geringfügigeren Erscheinungen, je weniger eine eigentliche Laceration, als vielmehr nur ein Einriss des freien Randes stattgehabt hatte. Die in der ersten Zeit bestehende Schwellung und Röthung der Wundränder, die Verklebung derselben durch Exsudat etc. wird nicht blos das Auffinden der Rissstelle erleichtern, sondern auch den Schluss gestatten, dass eben nur ganz kurze Zeit seit der Zufügung derselben verflossen ist.
Ist einmal die Verheilung der Rissstellen erfolgt, dann ist es mitunter nicht leicht, dieselben zu erkennen. Eine vollkommene Verheilung eines solchen Risses per primam und ohne Narbenbildung, wie Devergie sie als möglich annahm, erfolgt zwar allerdings nicht, aber die verheilten Stellen sind häufig, da sie gewöhnlich nur aus seichten Verletzungen sich gebildet haben und nur sehr feine und zarte Narben zurücklassen, nur bei sehr sorgfältiger Untersuchung als solche zu unterscheiden. Behufs differentieller Diagnose ist es wichtig, einestheils die oben angeführten Stellen im Auge zu behalten, an welchen sich häufiger angeborene Kerben finden, sowie die gewöhnlich symmetrische Lage derselben, anderseits zu erwägen, ob, wenn man sich den Hymen an der betreffenden Stelle nicht unterbrochen vorstellt, dieselbe derart gelegen und beschaffen ist, dass aus mechanischen Gründen beim Coitus ebendort leichter ein Einreissen erfolgen konnte als an anderen.
Es liegt nahe, zur Unterscheidung zu empfehlen, dahin zu untersuchen, ob der betreffenden Stelle eine Narbe oder eine von normaler Schleimhaut überkleidete Einsenkung entspricht. Allerdings wird in jedem einzelnen Falle ein solcher Nachweis anzustreben sein, allein, es wäre irrig, zu glauben, dass, wenn die betreffende Einkerbung thatsächlich einem Einriss ihre Entstehung verdankt, jedesmal eine ausgesprochene Narbe sich finden muss. Nur in selteneren Fällen und bei tiefen Einrissen finden sich weissliche Narben von festerer Consistenz oder gar sehniger Beschaffenheit, in der Regel ist die betreffende Stelle zart überhäutet und durch Härte und Consistenz nicht auffällig unterschieden von der umgebenden Schleimhaut, so dass es manchmal selbst dem[S. 122] Geübteren schwer fällt, sich für einen verheilten Einriss oder für eine congenitale Einkerbung auszusprechen. Es ist dann angezeigt, ausser den bereits erwähnten Verhältnissen die ganze Configuration der Stelle und das Verhalten der Ränder und Ecken derselben in Erwägung zu ziehen; letzteres insoferne, weil eine gleichartige Abrundung derselben mehr für einen angeborenen Befund sprechen wird. Auch wird, was wir besonders empfehlen möchten, die hintere Fläche des Hymen, soweit diese zugänglich ist, zu untersuchen sein, und zwar mit Rücksicht darauf, dass, wie bereits oben gesagt wurde, bei angeborener Lappung des Hymen die einzelnen Lappen gewissermassen als Fortsetzungen der Scheidenschleimhautfalten sich verfolgen lassen.
Aus dem Gesagten ist zu ersehen, dass solche Untersuchungen keineswegs zu den leichten gehören, sondern alle Aufmerksamkeit des betreffenden Arztes erfordern. Dazu kommt noch, dass insbesondere bei Kindern durch die Unruhe dieser, sowie durch die Enge der Genitalien die Untersuchung erschwert wird, in anderen Fällen wieder durch die eben bestehende Menstruation, durch blennorrhoische und andere Affectionen. Unter solchen Umständen wird es mitunter geboten sein, wiederholt zu untersuchen, und die Beachtung dieses Rathes wird den Neuling am ehesten vor Irrthümern schützen, die, wie die Erfahrung lehrt, bei keiner gerichtsärztlichen Untersuchung so häufig vorkommen, wie bei jenen, welche den Zustand des Hymen zum Gegenstande haben.
Bezüglich des Vorganges bei der Untersuchung sei erwähnt, dass in allen Fällen, in denen die betreffende Person gerade menstruirt oder an blennorrhoischen oder anderen Ausflüssen leidet, eine entsprechende Reinigung der Genitalien der Untersuchung vorauszuschicken ist; dass ferner auf zweckmässige Lage und gute Beleuchtung geachtet und dahin gewirkt werden soll, dass der Hymen so weit als möglich gespannt und dadurch einestheils Faltungen ausgeglichen, andererseits etwaige Einkerbungen deutlicher sichtbar gemacht werden. Ist wegen relativer Höhe des Hymensaumes, wie z. B. bei Kindern, ein vollkommenes Anspannen der Scheidenklappe nicht zu bewirken, dann ist durch Einführung einer Sonde oder dergleichen durch die Hymenöffnung der Hymenrand vorsichtig vorzudrängen, und indem man dieselbe hinter dem Hymen herumführt, von Stelle zu Stelle anzuspannen und zu besichtigen. Bei kleinen Kindern gelingt es nach Maschka am besten, den Hymen zu sehen, wenn man das Kind mit an den Leib angezogenen und von einander entfernten Oberschenkeln am Rücken liegen lässt, die grossen Schamlippen mit der linken Hand auseinanderhält und mittelst einer Sonde oder eines ähnlichen dünnen Gegenstandes die Harnröhrenmündung emporhebt, wodurch die Theile gespannt werden und der Hymen deutlich zum Vorschein kommt.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass bei derartigen Untersuchungen der Arzt sich hüten muss, durch ungeschickte oder rohe Exploration selbst einen Einriss des Hymen zu erzeugen. Thatsächlich bringt Liman (l. c. I, 153) einen Fall, in welchem eines derartigen unsachgemässen[S. 123] Verfahrens wegen es dahingestellt bleiben musste, ob der fragliche Hymenriss bereits früher bestand oder durch den Finger des Arztes erzeugt worden war.
Haben wir einen Einriss des Hymen als solchen constatirt, so werden wir die Entstehung desselben nicht ohne Weiteres auf einen stattgehabten Coitus beziehen, sondern auch andere Möglichkeiten im Auge behalten, durch welche ebenfalls eine Verletzung des Hymen erfolgen kann.
Die von älteren Autoren vertretene Anschauung, dass der Hymen auch durch plötzliches Auseinanderziehen oder Zerren der Schenkel einreissen kann, ist als ganz unbegründet bei Seite zu lassen.[67] Dagegen sind Verletzungen des Hymen durch Auffallen des Körpers mit den Genitalien auf harte und entsprechend geformte Gegenstände thatsächlich beobachtet worden und auch begreiflich; doch ist natürlich eine derartige Entstehungsweise eines Hymenrisses nur dann in Betracht zu ziehen, wenn die ganz besonderen Umstände eines speciellen Falles an eine solche Möglichkeit denken lassen.
Am 20. December 1876 Abends wurde das 15 Jahre alte Dienstmädchen R. K. in einem zwei Klafter tiefen Eiskeller unter einer unverwahrten Fallthüre auf einer Sandschichte bewusstlos gefunden, nachdem sie kaum eine Viertelstunde vermisst worden war, und starb wenige Augenblicke darauf. Die Obduction ergab keine äusserlich sichtbare Verletzung, dagegen eine handflächengrosse Blutaustretung unter der Kopfhaut über der linken Lambdanaht, Contusion des linken Stirnlappens des Grosshirns mit mässigem Blutaustritt an die Schädelbasis ohne Spur einer Verletzung der Kopfknochen. An den äusseren Genitalien kein Blut zu bemerken. Der Hymen halbmondförmig mit scharfem Rand, im unteren Theile 1 Cm. hoch, ziemlich dickwandig, mit weiter Oeffnung. Entsprechend der tiefsten Stelle des unteren Segmentes desselben ein die ganze Höhe des Hymen durchsetzender, vom freien Rande senkrecht nach abwärts bis zur Insertionsstelle desselben dringender, frisch blutender Einriss mit feingezackten Rändern, welche, ebenso wie die Basis des Risses im unteren Theile desselben, deutlich, doch in ganz geringem Grade suffundirt erscheinen. Ausserdem findet sich eine linsengrosse Ecchymose 3 Millimeter nach rechts von dieser Stelle in der Uebergangsfalte zwischen Hymen und Vestibulum. In der Scheide blasser Schleim, ebenso im jungfräulichen Uterus. Trotz sorgfältigster Untersuchung dieses Schleimes konnte keine Spur von Samenfäden gefunden werden.
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In dem Gutachten wurde auseinandergesetzt, dass die Hymenverletzung bei dem Sturze allerdings hätte geschehen können, jedoch nicht durch die blosse Erschütterung des Körpers beim Aufschlagen desselben auf den Boden, sondern nur dann, wenn die R. K. mit den Genitalien auf einen vorspringenden Körper aufgefallen wäre. Letzteres sei jedoch aus dem Localaugenschein nicht ersichtlich und bei dem Umstande, als nicht die geringste Verletzung an den äusseren Genitalien bemerkt wurde, auch nicht wahrscheinlich. Es liege daher viel näher die Annahme, dass jener Riss kurz vor dem Sturze durch einen in den Scheideneingang eingedrungenen festen Körper entstanden ist, der trotz des nicht gelungenen Auffindens von Samenfäden ein gesteiftes männliches Glied, aber auch ein Finger gewesen sein konnte.
Im weiteren Verlaufe der Untersuchung tauchte zwar gegen einen jungen Burschen der Verdacht auf, dass er an jenem Abende mit dem Mädchen in dem betreffenden dunklen Gange zu thun gehabt hätte, wobei diese in den offenen Keller gestürzt sei, doch wurde die Sache wegen Abgang von beweiskräftigen Anhaltspunkten von Seite des Gerichtes nicht weiter verfolgt.
Eine Zerreissung der Commissur, Fossa navicularis und des Hymen mit nachfolgender Pyämie fanden wir bei einem Kinde, unter welchem der irdene Nachttopf zusammengebrochen war, und wiederholt Rupturen der Fossa navicularis bei kleinen Mädchen, welche durch Ueberfahren um’s Leben gekommen waren; einmal sogar eine vollständige Abreissung der Scheide sammt dem Hymen von der Vulva ohne Verletzung der letzteren.
Postmortale bis auf den Hymen übergreifende Rupturen des Dammes können nach Verbrennungen höherer Grade entstehen und bei den nicht selten vorkommenden Fällen von Tod durch Feuerfangen der Kleider haben wir wiederholt solche Sprengungen des wie gebratenen Mittelfleisches gefunden oder konnten sie leicht durch Auseinanderziehen der Oberschenkel erzeugen.
Seit jeher wird die Möglichkeit betont, dass auch durch masturbatorische Manipulationen der Hymen verletzt werden könne; man hat jedoch dieser Möglichkeit entschieden eine viel höhere Bedeutung zugeschrieben, als ihr thatsächlich zukommt.
Die Onanie ist zwar unter jungen Mädchen sehr verbreitet, doch wird dieselbe selten in solcher Weise ausgeübt, dass daraus eine Verletzung des Hymen resultiren könnte. In der Regel besteht die Onanie blos in Frictionen der Clitoris und der Innenfläche der Labien, und es ist bekannt, dass behufs Heilung von aus habitueller Masturbation zur Entwicklung gekommenen Erkrankungen die Amputation der Clitoris, sowie der Nymphen empfohlen und auch ausgeführt worden ist. Seltener wird bei der Selbstbefleckung der Finger in die Scheide selbst eingeführt und dies nur in Fällen, wo die Weite der Oeffnung des Hymen dies gestattet, was allerdings, dem oben Gesagten zufolge, in den wenigsten Fällen einer besonderen Schwierigkeit unterliegen dürfte. Ist die Hymenöffnung für den Finger des betreffenden Individuums[S. 125] nicht passirbar, dann muss wohl zugegeben werden, dass durch wiederholt geübte masturbatorische Manipulationen dieselbe erweitert werden kann, was dann aber allmälig und ohne Zerreissung des Hymen geschieht; auch wäre es nicht ganz unmöglich, dass bei solcher Gelegenheit seichte Einrisse des Randes eines zarten Hymens entstehen könnten, aber es ist nicht anzunehmen, dass die Masturbation je mit solcher Gewalt geübt werden möchte, dass es zu ausgedehnten oder gar mehrfachen Einrissen der Scheidenklappe kommen würde, da die betreffenden Individuen sich hüten werden, sich selbst Schmerzen zuzufügen. Wir hatten in unserer früheren Stellung wiederholt Gelegenheit gehabt, Kinder, insbesondere blödsinnige und epileptische, zu beobachten, die mitunter excessiv der Selbststupration ergeben waren, und haben in solchen Fällen sehr gewöhnlich eine Erschlaffung und welke Beschaffenheit des Präputiums, der Clitoris, der Nymphen und auch des Hymen beobachtet, mitunter auch ausgesprochene acute oder chronische Reizungszustände, niemals aber Einrisse oder gar ausgedehnte Zerreissungen der Scheidenklappe. Damit stimmen auch die Beobachtungen Anderer überein. J. Behrend[68] bemerkt in einem Aufsatze „Ueber die Reizung der Geschlechtstheile durch Onanie bei kleinen Kindern“, anschliessend an eine einschlägige Schrift von A. W. Johnson[69], dass Hymenverletzung durch Onanie selten vorkommt. G. Braun[70] berichtet über Fälle von Nymphomanie, die die Amputation der Clitoris nothwendig machten, und in welchen trotzdem der Hymen zwar sehr schlaff, jedoch ohne Einriss gefunden wurde. Ein Fall von langjähriger Onanie und unverletztem Hymen findet sich im Jahresberichte der chirurgischen Klinik von Dumreicher pro 1869–1870[71] und ein weiterer, eine 35jährige, an conträrer Sexualempfindung leidende Onanistin betreffender Fall wird von Westphal im Arch. f. Psych. u. Nervenkh., 1869, II, 73, mitgetheilt. Ebenso hat Liman[72] durch eigene Beobachtungen die von dem Arzte des grossen Berliner Waisenhauses, Ideler, gemachte Angabe bestätigen können, dass bei unzweifelhafter Onanie in der Regel vollkommen normal beschaffene Genitalien gefunden werden. Auch ist es begreiflich, dass, wenn es bei der Onanie so leicht zu Läsionen des Hymen kommen würde, solche Ereignisse sich durch, wenn auch vielleicht minimale Blutungen aus den Genitalien verrathen möchten, die bei kleinen Kindern den sorgsamen Eltern u. s. w. kaum entgehen würden, während thatsächlich über solche Vorkommnisse so gut wie gar keine Beobachtungen existiren, was bei der Häufigkeit der Onanie bei Kindern gewiss nur geeignet ist, weiter die Behauptung zu rechtfertigen, dass Verletzungen der Scheidenklappe durch Selbstbefleckung[S. 126] zu den seltensten Vorkommnissen gehören. Am ehesten könnten solche vorkommen in Fällen, wo die Mädchen durch Pruritus vulvae oder Würmer (Oxyuris vermicularis) veranlasst werden, sich an den Genitalien zu reiben und zu kratzen, und es ist gewiss auf die Möglichkeit einer Onanie aus solchen pathologischen Ursachen zu achten.
Von der mit anderen Körpern als mit dem Finger geübten Onanie, die, wie bekannt, ebenfalls häufig vorkommt, gilt dasselbe wie von der gewöhnlichen Onanie. Secundäre, mitunter heftige Erscheinungen wurden zwar bei kleinen Kindern nach Einführung von Nadeln und ähnlichen Gegenständen in die Harnröhre oder in die Scheide oft genug beobachtet, niemals aber directe Verletzungen. Was aber die Masturbation mit voluminösen Körpern betrifft, wie sie bei geschlechtsreifen Individuen zur Beobachtung kommt, so wird sie geübt, nachdem bereits früher durch habituelle Onanie oder durch normale geschlechtliche Acte die Geschlechtstheile erweitert worden sind, und hat demnach für die vorliegende Frage so gut wie keine Bedeutung.
Viel wichtiger ist der Umstand, dass ganz gleiche Läsionen des Hymen, wie wir sie nach dem ersten Coitus finden, auch durch gewaltsames Einbohren eines fremden Fingers entstehen können. Diese Möglichkeit ist insbesondere bei der Untersuchung kleiner Kinder im Auge zu behalten; denn bei diesen liegt letztere Entstehungsweise des eventuell constatirten Einrisses des Hymen desto näher, je weniger die räumlichen Verhältnisse der kindlichen Genitalien noch eine Immissio penis gestattet haben konnten. Eine derartige Erwägung ist auch deshalb jedesmal angezeigt, weil zufolge des österr. Strafgesetzes der Beischlaf mit Kindern von anderen mit diesen verübten unzüchtigen Handlungen ausdrücklich unterschieden wird, indem letztere als „Schändung“ qualificirt und im Allgemeinen milder bestraft werden als die Nothzucht mit Mädchen unter 14 Jahren. Wir werden auf den Gegenstand später zurückkommen.
Es ist endlich zu beachten, dass Narben am Hymen auch durch diphtheritische Processe[73], durch Noma, sowie durch Variola[74] veranlasst werden können, in welchen Fällen jedoch, namentlich nach Diphtherie und Noma, die Grösse der Narbe und die Ausbreitung derselben auf andere Partien, insbesondere der äusseren Genitalien, im Zusammenhange mit der Anamnese die Diagnose ergeben wird.
Zerstörungen des Hymen durch venerische und syphilitische Geschwüre gehören besonders bei Kindern zu den ebenfalls in Erwägung zu ziehenden Möglichkeiten, da solche auch zu Stande kommen können, ohne dass bei der Uebertragung des Virus eine[S. 127] Läsion der Scheidenklappe erfolgt sein müsste. Die Angaben Hohl’s und Devergie’s, dass der Hymen auch von innen aus durch Blutklumpen bei Metrorrhagien zerrissen werden könne, haben blos historisches Interesse. Wurde ja schon oben erwähnt, dass der Hymen selbst einen Abortus überdauern könne, und es ist in dieser Beziehung bezeichnend, dass in der Zeitschrift für Geburtsh., 1877, pag. 123 über ein 15 Jahre altes, noch nicht menstruirtes Mädchen berichtet wird, bei welchem trotz eines Gebärmuttervorfalles der Hymen erhalten, jedoch stark dilatirt sich fand. Einen analogen, einen Säugling (!) betreffenden Fall besitzt unsere Sammlung. Auch Schaeffer (Virchow’s Jahresb. 1890, I, pag. 250) erwähnt eine solche Beobachtung.
Dass der Hymen angeborener Weise vollständig fehlen könne, ist mindestens bei sonst normalen Genitalien kaum anzunehmen, doch erwähnt Maschka bei Besprechung der ersten Auflage dieses Buches (Wiener med. Wochenschr. 1877, pag. 756) eines Falles aus seiner Sammlung, in welchem der Hymen fehlt und nur durch eine sehr kleine, ganz unbedeutende, überall gleichförmige und platte Leiste angedeutet ist. Das betreffende und ein zweites ebenso gestaltetes Genitale findet sich abgebildet in Maschka’s Handb. der gerichtl. Med. III, pag. 91. Hyrtl behauptet, dass bei Vagina duplex der Hymen immer fehle. Wir haben im Gegentheil in jedem Falle von Vagina duplex auch ein Hymen gefunden, und zwar ein einfaches ringförmiges, hinter welchem erst die Scheidewand der Vagina begann, oder ein „überbrücktes Hymen“, dessen Brücke, wie bereits oben erwähnt, eben von dem unteren Rande des Vaginaseptums gebildet wurde. Heitzmann (Wiener med. Presse, 1884, pag. 367) hat ein vollständiges Fehlen des Hymen bei einem 21jährigen, mit angeborener Verwachsung der Scheide behafteten Mädchen beobachtet.
Ausser Zerreissungen der Scheidenklappe können in Folge des ersten Beischlafes auch andere Beschädigungen der Genitalien zur Entwicklung kommen. Von diesen wurden am häufigsten Einrisse des Schambändchens, seltener der Nymphen oder gar des Dammes, beobachtet. Letztere sah Toulmouche (Ann. d’hyg. publ. Juli 1856), und zwar fast ausschliesslich bei Kindern von 2–14 Jahren. Je enger die Geschlechtstheile des betreffenden weiblichen Individuums sind, desto leichter werden derartige Beschädigungen sich bilden können, daher dieselben vorzugsweise nach an kleinen Kindern vorgenommenen Nothzuchtsattentaten zur Beobachtung gelangen. Allerdings kann jedoch auch bei geschlechtsreifen Individuen, wenn der Act mit einer gewissen Brutalität vollzogen wurde, Gleiches sich ereignen. So sah Toulmouche einen Dammriss bei einem 25jährigen genothzüchtigten Mädchen, ebenso Liman (l. c. I, 124) und Ascher (Prager med. Wochenschr. 1889, Nr. 3) eine schwere Blutung in der Brautnacht, die durch einen Schleimhautriss in der Fossa navicularis veranlasst war. Bandl (Virchow’s Jahrb. 1881, II, pag. 577) sah eine Verletzung[S. 128] des Blasenhalses, die wahrscheinlich durch Coitus entstanden war, und Dorffmeister (Friedreich’s Blätter, 1887, pag. 3) einen totalen Prolapsus der Harnröhrenschleimhaut.[75]
Finden sich ausgebreitete Zerreissungen der Genitalien, insbesondere Rupturen der Vagina, so ist viel eher daran zu denken, dass dieselben auf andere Weise, namentlich durch gewaltsames Einbohren der Finger, als durch den Penis entstanden sind, da letzterem eine solche Kraftleistung nicht gut zugemuthet werden kann. In der That haben Casper-Liman (l. c.) trotz der grossen Zahl von einschlägigen Untersuchungen, die sie zu machen Gelegenheit hatten, niemals solche Zerreissungen gesehen. Maschka (Handb. III, pag. 104) constatirte unter 248 Fällen von Nothzucht derartige Verletzungen nur 5mal und erklärt sie ebenfalls aus gewaltsamer Nachhilfe des Thäters mit dem Finger. Bei besonderer Brutalität und grossem Missverhältniss der Geschlechtstheile kann jedoch eine solche Möglichkeit nicht ganz bestritten werden, wofür auch einzelne in der Literatur verzeichnete Beobachtungen sprechen.
So die von Taylor (l. c. II, 443) erwähnten Fälle; ferner ein von Albert[76] berichteter Fall. Ein 16jähriger Araber heiratete ein 11jähriges, noch nicht mannbares Mädchen. Sie starb in der Brautnacht, anscheinend erwürgt durch den Mann über den Lärm, den sie vor Schmerz machte. Man fand die Commissur auf 8 Mm. weit eingerissen, die Fossa navicularis zerstört und die Scheide in ihrem hinteren und oberen Theil transversal in einer Länge von 4·9 Cm. durchrissen und mit dem Abdomen communicirend.
Cadwick (Med. Centralbl. 1885, pag. 912) erzählt einen Fall von Scheidenverletzung durch Coitus, der bei einer 48jährigen sterilen Frau eines Seemannes entstand, als dieser nach viermonatlicher Abwesenheit zum ersten Male wieder Umgang mit ihr pflog. Unter heftigen Schmerzen entstand eine abundante Blutung. Die Scheide war senil atrophisch und zeigte im oberen Drittel rechts einen tiefen, 1 Zoll langen Riss. — Munde (Ibid.) berichtet über einen in der Hochzeitsnacht entstandenen Riss der Vagina, welcher aber ausserhalb des Introitus lag und sich bis in das Scheidengewölbe erstreckte. — Zeiss in Erfurt (Centralbl. f. Gyn. v. 21. Februar 1885) fand einen 4 Cm. langen Riss im rechten hinteren Scheidengewölbe bei einer 25jährigen Frau, welcher während des Coitus entstanden war, den der Ehemann bald nach der Entbindung in angeheiterter Stimmung, à la vache, vollzogen hatte. Wir selbst bewahren das Genitale eines 23jährigen Mädchens auf, welches an Sepsis in Folge eines Längsrisses[S. 129] der Vagina gestorben ist, welcher sich links von der Mittellinie vom Hymen bis zum Fornix erstreckt. Das Mädchen war mit starken Blutungen, die angeblich nach einem ersten Coitus eingetreten waren, in’s Spital gekommen. Es wurde jedoch constatirt, dass der Coitus schon früher wiederholt ausgeübt worden war, auch fand sich vom Hymen nur ein niedriger, vielfach vernarbter Saum. Der Liebhaber bestätigte, dass der Riss während eines sexuellen Actes entstanden sei, man konnte jedoch keine Klarheit darüber erhalten, ob er während des Coitus oder durch Manipulationen erfolgte. Die Scheide war auffallend kurz, was die Entstehung der Ruptur begünstigt haben konnte. Ueber weitere solche Fälle berichten Frank (Prager med. Wochenschr. 1890, 6), Hofmokl (blind endende Scheide, angebliche Nothzucht [Internationale klin. Rundschau, 1890, Nr. 39]) und Späth (Zeitschr. f. Geburtsh. XIX, pag. 277).
Auch sahen wir auf Albert’s Klinik eine grosse Vulvorectalfistel, die zufolge der Anamnese und ihres ganzen Verhaltens beim Coitus durch Einreissen der Fossa navicularis unmittelbar an der hinteren Insertion des sehr festen und eine enge Oeffnung besitzenden, fast noch völlig erhaltenen Hymen entstanden war. Der Mann hatte Jahre lang den Coitus durch die betreffende Fistel ausgeführt. Dieser Fall ist ein Analogon zu den von Reverdin (Virchow’s Jahrb. 1883, II, 582), Delens und Dohrn (l. c.) mitgetheilten Fällen von Abreissung des ganzen Hymen von seiner hinteren Insertion.
Je gröber die durch den geschlechtlichen Act gesetzten Verletzungen an den Genitalien sind, desto intensiver gestalten sich die Reactionserscheinungen, und da diese auch ihrer Natur nach länger dauernde Processe darstellen und in der Regel bleibende und auffallendere Veränderungen (Narben) an den Genitalien zurücklassen, so ist in solchen Fällen die Diagnose im Allgemeinen viel leichter als unter gewöhnlichen Verhältnissen.
Die sonstige Beschaffenheit der Vagina gewährt im Allgemeinen wenig Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, ob eine Immissio penis in dieselbe stattgefunden habe oder nicht. Am ehesten lassen sich noch bei sehr jungen Individuen brauchbare Befunde erwarten, da bei diesen wegen der Enge der Vagina die Einführung des Penis nur mit einiger Gewalt und mit mehr weniger starker Dehnung der betreffenden Theile erfolgen kann, deren Spuren man in frischen Fällen nachzuweisen im Stande sein wird.
Bei geschlechtsreifen Mädchen ist die Weite der Vagina, ihrem physiologischen Zwecke entsprechend, normaler Weise eine solche, dass von ihr aus, sobald einmal der Introitus vaginae, insbesondere der Hymen, überwunden ist, kein weiteres Hinderniss dem Eindringen des erigirten Gliedes sich entgegenstellt, und es ist aus diesem Grunde, sowie aus der Elasticität des Vaginalschlauches begreiflich, dass eine einmalige oder nur wenige Male stattgefundene Immissio penis weder eine auffallende Aenderung in der Weite der Scheide, noch in dem Verhalten der Runzeln[S. 130] der Scheidenschleimhaut bewirken wird. Dagegen muss zugegeben werden, dass habituell ausgeübter Coitus eine bleibende und sich steigernde Ausweitung des Genitalschlauches, sowie eine Erschlaffung desselben, insbesondere der Constrictoren der Vagina, erzeugen und ein theilweises Verstreichen der Scheiden-Schleimhautrunzeln bewirken kann, und dass sich auch die ursprüngliche Turgescenz der Schleimhaut, sowie die zarte Beschaffenheit des epithelialen Ueberzuges derselben mehr weniger verliert, wie man namentlich bei Prostituirten beobachten kann.
Am meisten wird selbstverständlich die ursprüngliche Beschaffenheit der Vagina durch stattgehabte Entbindungen verändert, wovon an einer anderen Stelle die Rede sein soll. Hier sei nur erwähnt, dass in der bei weitem überwiegendsten Zahl der Fälle erst bei der Entbindung eine vollständige Zerreissung des Hymen, respective der nach der Defloration zurückgebliebenen Reste, erfolgt, und dass, wie schon Mende (l. c. pag. 443) aussprach und später wieder die Untersuchungen von Lazarewitsch und Bellien in Charkow[77] ergaben, erst aus diesen Einrissen die charakteristischen, dicken, auf breiter Basis aufsitzenden Carunculae myrtiformes sich entwickeln, während nach der Defloration, auch nach tieferer Laceration der Scheidenklappe, nur Lappen zurückbleiben, deren Form und Zahl von der Zahl und dem Sitze der betreffenden Einrisse bedingt wird.
Ausser den besprochenen objectiven Symptomen werden bei einschlägigen Untersuchungen allerdings auch die subjectiven in Betracht zu ziehen sein; doch ist es klar, dass gegenüber subjectiven Angaben die grösste Vorsicht zu beobachten und denselben nur dann ein gewisser Werth zuzuschreiben sein wird, wenn sie im Einklange stehen mit der allgemeinen Erfahrung und mit den speciellen objectiven Befunden. So werden Angaben über bei dem betreffenden Acte empfundenen Schmerz dann glaubwürdig erscheinen, wenn ein Missverhältniss zwischen den beiderseitigen Geschlechtstheilen bestand und Spuren stärkerer Zerrung, Einrisse u. dergl. gefunden wurden. Unter normalen Verhältnissen, d. h. bei geschlechtsreifen Mädchen, ist die Defloration, wie die Erfahrung lehrt, nur ausnahmsweise mit besonderen Schmerzen verbunden, was aus dem oben über das Verhalten des Hymen Gesagten sich wohl begreift. Dagegen lässt es sich nicht leugnen, dass, wenn grössere Gewalt zur Sprengung des Hymen erfordert worden ist, dabei selbst erhebliche Schmerzen sich einstellen können. Gleiche Erwägungen werden bei der Beurtheilung von Angaben über die bei dem angeblichen Attentat eingetretene Blutung platzgreifen müssen; ebenso bezüglich subjectiver Symptome, die, wie ziemlich häufig angegeben wird, noch in den nächsten Tagen bestanden haben sollen, z. B. erschwertes Gehen, Schmerz beim Koth- und Urinlassen u. dergl.
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Nur ausnahmsweise kommen Fälle, in denen es sich um Constatirung eines stattgehabten Beischlafes handelt, so frühzeitig zur Untersuchung, dass noch von der Untersuchung des Scheiden-, beziehungsweise, des Uterusschleimes auf Spermatozoiden ein Resultat erwartet werden kann. Bei der grossen Beweiskraft eines solchen Befundes ist selbstverständlich in frischen Fällen eine solche Untersuchung niemals zu unterlassen, zu diesem Behufe der Scheidenschleim und unter Umständen selbst der Uterusschleim hervorzuholen und behufs nachträglicher, durch den betreffenden Gerichtsarzt selbst oder durch einen anderen Sachverständigen vorzunehmender mikroskopischer Untersuchung aufzubewahren, was am einfachsten in der Weise geschieht, dass man den betreffenden Schleim zwischen zwei Glasplatten (Objectträgern) einschliesst und entsprechend verpackt.
An der Leiche haben wir bereits wiederholt Gelegenheit gehabt, Spermatozoiden im Scheidenschleim nachzuweisen, und zwar zweimal bei Prostituirten, welche nach vollbrachtem Coitus von ihren Liebhabern, die Eine durch Erwürgen und gleichzeitige Stiche in die Brust, die Andere durch einen Revolverschuss in den Kopf ermordet worden sind. Im letzteren Falle fanden sich massenhaft Spermatozoiden, obgleich das Individuum mit einer profusen Blennorrhoe behaftet war[78], ebenso in einem Falle von Lustmord.
In derartigen frischen Fällen kann auch die mikroskopische Untersuchung des an den äusseren Genitalien, insbesondere an den Schamhaaren, eingetrockneten Schleimes ein positives Resultat ergeben, wie Pfaff[79] einen solchen Fall beschreibt und abbildet.
Bei weitem häufiger kommen Flecke in der Wäsche angeblich genothzüchtigter Personen zur Untersuchung, bezüglich welcher der Verdacht besteht, dass sie vom Samen herrühren.[S. 132] Begreiflicherweise sind es vorzugsweise Hemden und an diesen meistens die unteren und inneren Theile desselben, an welchen derartige verdächtige Flecke sich ergeben.
Das äussere Aussehen solcher Flecke kann niemals genügen, um sie als Samenflecke zu bezeichnen. Denn das bei thatsächlichen Samenflecken zu findende Verhalten: landkartenartige Contouren, graue Farbe mit häufig dunklerer Nuance an den Rändern, eigenthümlicher Reflex bei auffallendem Lichte, wie gestärkte Beschaffenheit der betreffenden Stelle des Wäschestückes, sowie der bekannte, namentlich beim Reiben mit dem befeuchteten Fingern stärker hervortretende Geruch (nach Kastanienblüthe, Toulmouche) kann sich theils bei anderen Dingen, insbesondere bei von blennorrhoischem Secret und selbst von Harn herrührenden Flecken ergeben, theils ist dasselbe, wie z. B. der Geruch, von allzu subjectiver und Täuschungen unterliegender Natur, als dass demselben ein Beweiswerth zugeschrieben werden könnte.
Der Beweis, dass wirklich ein Samenfleck vorliegt, kann nur durch mikroskopische Untersuchung geführt werden, und zwar nur dann, wenn letztere das Vorhandensein von Spermatozoiden ergibt. Es findet sich zwar im Sperma ausser den Samenfäden eine grosse Menge anderer morphotischer Elemente: Epithelien aus den Samenwegen, lymphoide Zellen und Elementarkörnchen in grosser Zahl, auch colloide, aus den Samenblasen stammende Körper, aber blos die Samenfäden sind für das Sperma charakteristisch. Auch den von Böttcher[80] beschriebenen, im eingetrockneten Samen zu findenden und einem Eiweisskörper angehörenden „Spermatinkrystallen“ kann eine diagnostische Bedeutung nicht zugeschrieben werden, da sich ähnliche und vielleicht gleiche krystallinische Bildungen auch in anderen eiweisshältigen Secreten finden, wobei übrigens bemerkt werden muss, dass solche Krystalle nicht verwechselt werden dürfen mit Tripelphosphat-Krystallen, die sich im eingetrockneten Sperma häufig in grossen Mengen nachweisen lassen. Fürbringer’s Untersuchungen zufolge (Virchow’s Jahrb. 1881, I, pag. 240) stammen die Spermakrystalle aus dem Prostatasecret und dieses ist auch der Träger des specifischen Samengeruches.
Die Gestalt der Samenfäden muss als bekannt vorausgesetzt werden (Fig. 35). Ihre Länge beträgt 0·033 bis 0·050 Mm., wovon[S. 133] durchschnittlich 0·05 Mm. auf den birnförmigen Kopf und das Uebrige auf den linienförmigen Schwanz entfallen. Im frischen ejaculirten Samen finden sich dieselben bekanntlich in lebhafter Bewegung, welche, wenn der Same nicht eintrocknet und keine sonstigen Schädlichkeiten, wie Harn oder saure Flüssigkeiten, auch Wasser, eingewirkt haben, sich durch mehrere Stunden erhalten kann. In einem auf einer Glasplatte und unter Glasglocke aufbewahrten Spermatropfen haben wir in einem Falle noch nach 72 Stunden schwache Bewegungen der Spermatozoiden wahrnehmen können. Durch Eintrocknen, welches desto rascher erfolgt, in je dünnerer Schichte das Sperma aufgetragen war, erlischt die Beweglichkeit der Samenfäden. Im saueren Secret der Vagina hören die Bewegungen ebenfalls sehr bald auf, während der alkalische Schleim des Cervix und des Uterus den Spermatozoiden besonders günstige Lebensbedingungen bietet (Scanzoni, Kölliker, Küchenmeister), worauf bei der Untersuchung frischer Fälle wohl zu achten ist.
Im eingetrockneten Samen halten sich die Samenfäden, wenn keine Schädlichkeiten[81] einwirken, jahrelang und können demnach unter günstigen Bedingungen noch nach langer Zeit durch mikroskopische Untersuchung nachgewiesen werden. Um diesen Nachweis zu führen, muss der betreffende Fleck zunächst aufgeweicht werden. Ist die der Unterlage anhaftende Substanz in stärkerer Schichte aufgetragen, so dass sich feine Splitter oder Schüppchen ablösen lassen, was uns wiederholt vorgekommen ist, dann sind solche mit einer Nadel oder mit der Spitze des Scalpells abzuheben, was bei der Sprödigkeit der Substanz einige Vorsicht erfordert, sofort auf einen Objectträger zu bringen und mit einem Tropfen destillirten Wassers aufzuweichen, wobei man den Process durch Auseinanderzupfen des Splitters mit zwei Nadeln befördern kann. Das Aufweichen und Zerzupfen des Objectes ist so lange fortzusetzen, bis dasselbe entweder sich gelöst oder in möglichst fein vertheiltem Zustande sich befindet. Hierauf wird der Tropfen mit einem Deckgläschen bedeckt und unter dem Mikroskope durchmustert.
Dieses Verfahren ist immer einzuschlagen, wenn es möglich ist, Splitter oder Schüppchen von der eingetrockneten Substanz abzulösen, weil erstens in solchen dicken Schichten zahlreichere Samenfäden zu erwarten sind, und weil man die fragliche Substanz für sich allein und ohne störende Beimengungen zu untersuchen in der Lage ist.
In den meisten Fällen ist die Substanz in die Unterlage eingesogen, in der Art, dass eine makroskopische Trennung derselben nicht möglich erscheint. Es empfehlen sich dann folgende[S. 134] zwei Verfahren, von denen jedes zum Ziele führen kann. Man schneidet entweder ein kleines Stückchen des zu untersuchenden Fleckes aus, wozu man am besten die Stellen aussucht, die am meisten gesteift und von der Substanz gesättigt erscheinen, bringt dieses Stückchen auf ein Uhrschälchen, befeuchtet dasselbe mit ein paar Tropfen destillirten Wassers und lässt nun das letztere, am besten unter einer Glasglocke, so lange einwirken, bis das Wasser sich eingesogen und die dem Gewebe anhaftende Substanz macerirt hat, wobei man wieder durch Zerzupfen des Gewebes mit Nadeln nachhelfen kann. Je älter und dichter der Fleck, desto länger hat man das Aufweichen fortzusetzen, und es ist deshalb angezeigt, jedesmal, nachdem man das wie erwähnt behandelte Object auf ein Uhrglas gebracht, einige Stunden verstreichen zu lassen, bevor man die weiteren Untersuchungen vornimmt. Das entsprechend aufgeweichte Gewebe gibt beim Ausdrücken in der Regel eine molkige Flüssigkeit, welche ohne Weiteres unter das Mikroskop gebracht und nach Spermatozoiden durchsucht wird.
Das zweite Verfahren besteht darin, dass man aus dem betreffenden Flecke ein kleines Stückchen ausschneidet und einzelne aus letzterem ausgezogene Fäden unmittelbar oder nach vorhergeschickter Maceration auf die Objectträger bringt, unter Zusatz eines Tropfen Wassers mit Nadeln zerzupft und mikroskopisch untersucht wird.
Selbstverständlich kann man bei der Untersuchung eines und desselben verdächtigen Fleckes alle drei Methoden zur Anwendung bringen, und es empfiehlt sich insbesondere dann, es mit einer anderen Methode zu versuchen, wenn die eine oder die andere kein sicheres Resultat ergeben hat. Mag man die eine oder die andere Methode anwenden, stets ist darauf zu achten, dass die betreffende Substanz genügend lange aufgeweicht werde. Viele Untersuchungen, namentlich alter und fest eingetrockneter Spermaflecken, missglücken nur deshalb, weil man dem Macerationsprocess nicht die nöthige Zeit gönnt. Weiter ist nicht zu unterlassen, verschiedene Stellen einer und derselben verdächtigen Spur wiederholter Untersuchung zu unterziehen, denn Jeder, der mit derartigen Untersuchungen sich zu beschäftigen Gelegenheit hatte, weiss, dass, während in einzelnen Partien eines notorischen Samenfleckes massenhaft Spermatozoiden vorkommen, in anderen nur spärliche oder gar keine gefunden werden können. Ausserdem ist es bekannt, dass der Gehalt des Spermas an Spermatozoiden bei verschiedenen Menschen verschieden sein kann, und auch bei einem und demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten wechselt.
Ferner ist es angezeigt, immer mit stärkeren Vergrösserungen zu untersuchen. Schwächere können bei der Kleinheit und linearen Beschaffenheit der Samenfäden, namentlich bei Ungeübten, leicht zu Täuschungen führen. Jedesmal ist das Auffinden vollständiger und morphologisch wohl charakterisirter Spermatozoiden anzustreben,[S. 135] denn nur wenn dieses gelingt, kann der betreffende Fleck als zweifellos von Samen herrührend erklärt werden, und es genügt begreiflicher Weise schon der Nachweis eines einzigen Samenfadens, um eine solche Erklärung abzugeben. Der Nachweis isolirter, den Köpfen oder Schwänzen der Spermatozoiden ähnlicher Elemente kann niemals eine sichere Diagnose ergeben, da in dieser Beziehung Irrungen allzu nahe liegen, und man kann sich häufig genug überzeugen, wie namentlich Anfänger geneigt sind, alle möglichen linienförmigen Gebilde, die meistens von den zerzupften Geweben herrühren, für Samenfäden oder mindestens für Schwänze von diesen zu halten.
Vollkommene Spermatozoiden mit anderen Dingen, z. B. den von Fränkl und Pfeiffer sogenannten Trommelschlägelbacterien, zu verwechseln, ist wohl nur bei einem ganz Ungeübten möglich, und von einem solchen sollen derartige wichtige Untersuchungen überhaupt gar nicht übernommen werden.
Statt des Wassers andere Flüssigkeiten bei der Untersuchung auf Samenfäden anzuwenden, ist im Allgemeinen nicht nothwendig. Am ehesten empfiehlt sich noch ein Zusatz von Glycerin, einestheils der Aufhellung wegen, anderseits, um das schnelle Eintrocknen des Präparates zu verhüten. Zur Aufhellung kann auch verdünnte Essigsäure benützt werden, sowie, wenn viele Epithelien beigemengt sind, zur Zerstörung dieser Kalilauge in Anwendung gezogen werden kann, gegen welche ebenso wie gegen Säuren sich die Samenfäden ungemein resistent erweisen.
Roussin (Ann. d’hyg. publ. 1867) hat zur Erleichterung des Nachweises von Samenfäden die Anwendung einer Lösung von 1 Theil Jod und 4 Theilen Jodkalium auf 100 Theile Wasser empfohlen, die jedoch keine besonderen Vortheile bietet.
Ungar (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVI) verwendet zur Färbung der Spermatozoiden die von Koch für den Nachweis von Mikrozymen eingeführten Trocken-, respective Deckglaspräparate. Er erhielt Doppelfärbungen durch Combination von Eosin- und Hämatoxylinfärbung durch Carminalaun und Eosin, sowie durch Vesuvin und Eosin, empfiehlt aber als besonders einfach die Färbung der Samenfäden durch eine mit 3–6 Tropfen Salzsäure versetzte Methylgrünlösung (0·15–0·3 auf 100·0 Aq. destill.), die uns ebenfalls gute Resultate gegeben hat.
Pinkus[82] und Liman haben darauf aufmerksam gemacht, dass, wenn man ein mit Wasser bereitetes Präparat eintrocknen lässt, die Samenfäden in den eingetrockneten Netzen unter dem Deckgläschen auffallend vergrössert hervortreten. Wir können aus eigener Erfahrung dieses Verhalten bestätigen, das einestheils aus der grossen Resistenz der Samenfäden, anderseits aus der durch die zwischen Objectträger und Deckgläschen eingeschlossene Luftschichte veranlassten stärkeren Brechung sich erklärt. Da jedoch durch dieselben Ursachen [S. 136]das mikroskopische Bild gleichzeitig verzerrt wird, können wir im obigen Vorgange keine besondere Methode für den Nachweis von Samenfäden erblicken.
Wenn trotz sorgfältiger Untersuchung eines verdächtigen Fleckes der Nachweis von Samenfäden nicht gelungen ist, so geht daraus allerdings nicht mit absoluter Gewissheit hervor, dass der Fleck nicht von Sperma herrühren könne, da wir ja oben dargethan haben, dass der Same mitunter, namentlich nach überstandener gonorrhoischer Epididymitis, keine Spermatozoiden enthalte, wir sind jedoch mit Rücksicht auf die verhältnissmässige Seltenheit solcher Fälle berechtigt zu erklären, dass, da keine Spermatozoiden gefunden wurden, die allergrösste Wahrscheinlichkeit vorliege, dass der fragliche Fleck nicht von Sperma herrühre, noch mehr aber, wenn wir durch die mikroskopische Untersuchung nicht blos die vollkommene Abwesenheit von Samenfäden dargethan, sondern auch Formelemente gefunden haben, welche für eine anderweitige Provenienz des Fleckes sprechen, so durch Koth, Scheidenschleim u. dergl. Dagegen werden wir uns hüten, in einem Falle, wo vielleicht schon makroskopisch der betreffende Fleck Eigenschaften zeigt, die auf letzterwähnte Provenienz hinweisen, schon in Folge dieses Umstandes jede weitere Nachforschung nach Samenfäden aufzugeben, wir werden vielmehr nicht vergessen, dass ein und derselbe Fleck sowohl durch Sperma, als durch irgend eine andere Substanz, und zwar sowohl gleichzeitig, als in verschiedener Aufeinanderfolge, entstanden sein konnte. Dieses gilt speciell von Blutspuren, die einestheils durch Menstrualblut und Sperma erzeugt worden sein konnten, aber auch durch letzteres und das bei der Defloration aus den Hymeneinrissen geflossene Blut.
Im Allgemeinen ist die Untersuchung nach den genannten Richtungen ungleich leichter, wenn die verdächtigen Flecke auf reiner Wäsche sitzen, als wenn lange getragene, schmutzige und vielfach besudelte Hemden u. dergl. vorliegen. Dass aber gerade letzteres häufiger der Fall ist, ist begreiflich, da ungleich seltener Individuen aus besseren Ständen, als solche aus niederen und meistens niedersten, Objecte von Nothzuchtsattentaten werden, wie schon Casper ganz richtig hervorgehoben hat.
Nicht selten sind die Fälle, in denen durch den gesetzwidrig ausgeübten Beischlaf eine virulente Infection des betreffenden weiblichen Individuums veranlasst wurde, und es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, welcher Werth einem solchen Nachweis für die Diagnose eines stattgefundenen Beischlafes zukommt.[83]
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In den meisten Fällen sind es locale catarrhalische oder ulceröse Processe, welche den Verdacht erwecken, dass sie mit einer virulenten Infection in ursächlicher Beziehung stehen. Es handelt sich dann immer zunächst um die Frage, ob die betreffende Affection thatsächlich eine virulente sei oder ob sie nicht vielleicht anderweitig, insbesondere etwa nur durch die mechanische Irritation oder durch Verletzung, sich entwickelt habe. Die Beantwortung dieser Frage ist keineswegs eine leichte und es ist in dieser Richtung ganz besondere Vorsicht zu beobachten.
Dies gilt schon gegenüber blennorrhoischen Zuständen. Zunächst ist festzuhalten, dass catarrhalisch-entzündliche Processe, insbesondere bei Kindern, auch durch mechanische Reizung sowohl durch Coitusacte als mit den eigenen oder fremden Fingern entstehen können. Sie können auch zu Simulationszwecken künstlich hervorgebracht werden, wovon Fournier (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 647) zwei Beispiele anführt. In einem dieser Fälle hatte die Mutter eines Kindes die Affection durch wiederholtes Reiben mit einer alten Schuhbürste erzeugt und dann gegen einen vermögenden Mann die Anklage wegen Missbrauch des Kindes erhoben; im zweiten war sie durch Einstopfen schmutziger Fetzen erzeugt worden, um darauf die Nothzuchtsanklage gegen einen Arbeiter, welcher der Pflegerin des Kindes untreu geworden war, basiren zu können.
Es handelt sich in diesen Fällen in der Regel nur um Irritationserscheinungen an der Vulva, die bei gehöriger Behandlung, insbesondere schon bei einfacher Reinigung und Aussetzung der mechanischen Insulte, binnen wenigen Tagen zu heilen pflegen.
Ungleich wichtiger ist die Thatsache, dass catarrhalische Zustände der wirklichen Genitalien auch aus anderen Ursachen vorkommen und eine mehr weniger grosse Aehnlichkeit mit dem gonorrhoischen Catarrh aufweisen können. Bekanntlich sind bei geschlechtsreifen Mädchen, noch mehr aber bei Frauen, die bereits geboren haben, Schleimflüsse häufig, die auf gewöhnliche chronisch-catarrhalische[S. 138] Erkrankungen der Uterusschleimhaut beruhen und mitunter mit constitutionellen Erkrankungen, wie Tuberculose, lymphatischer Constitution, Chlorose u. dgl., im ursächlichen Zusammenhange stehen. Aber auch bei Kindern finden sich solche chronische Affectionen nicht selten. Ausserdem kommen aber, und zwar mitunter epidemisch, acute Vulvovaginitiden vor, die, obgleich anderweitigen, wahrscheinlich ebenfalls infectiösen Ursprungs, doch nicht durch gonorrhoische Ansteckung veranlasst worden sind.[84]
Es bedarf mitunter einer sehr sorgfältigen Beobachtung und einer sehr genauen Erwägung aller Umstände des Falles, um eine solche Erkrankung von wirklicher Blennorrhoe zu unterscheiden, umsomehr, als weder die Dauer der Incubation, noch die Menge und Beschaffenheit des Secretes, noch die Intensität der Entzündungserscheinungen, die Mitbetheiligung der Urethra oder die Dauer des Processes sichere Unterscheidungsmerkmale liefern.
Nachdem A. Neisser in seinen Gonokokken den specifischen Erreger der virulenten Blennorrhoe gefunden hatte, der gegenwärtig fast allgemein als solcher anerkannt wird, lag es nahe, den Nachweis von Gonokokken in verdächtigen Secreten auch für forensische Zwecke zu fordern und für die Unterscheidung der gonorrhoischen Affectionen von anderen heranzuziehen. In der That wurde durch Lober (1887), Aubert (1888) und Kratter (1890) der Nachweis von Gonokokken für forensische Zwecke empfohlen und in der That angewendet. Da jedoch von mehreren Autoren, wie Bockhardt, Mannaberg, Lustgarten, Legrain, Oberländer, Zeissl und Combry, in der gesunden sowohl als kranken Urethra Diplokokkenarten gefunden wurden, die den Neisser’schen ähnelten, ja theilweise sogar in Form (die zweier mit ihren flachen aneinander gelegten Kaffeebohnen), in ihrem Vorkommen im Protoplasma der Eiterkörperchen und in ihrem tinctoriellen Verhalten (Entfärbung der durch Gram’sche Lösung tingirten Kokken durch Alkohol) sich wie die echten Gonokokken verhalten haben sollen, so konnte man diesem Nachweis nicht jene Sicherheit vindiciren, die bei gerichtsärztlichen Gutachten gefordert wird.
Seitdem es jedoch Wertheim[85] gelungen ist, eine leichte, aber sichere Methode der Reinzüchtung (auf aus menschlichem Blutserum und Agar gemischtem Nährboden) aufzufinden, ist auch die Erkennung der gonorrhoischen Affection insofern eine sichere geworden, als, wenn die Reinzüchtung gelingt, über die specifische Natur des Leidens kein Zweifel bestehen kann. Nach Haberda[86][S. 139] gibt die Reinzüchtung selbst noch in jenen Fällen ein positives Resultat, wo die Untersuchung im Deckglaspräparate, aus welchem Grunde immer, besonders aber in chronischen Fällen oder überhaupt bei spärlichem Gonokokkengehalt des Secretes, selbst nach langem Suchen oft nur unsichere Resultate liefert.
Die mikroskopische Untersuchung auf Gonokokken ist namentlich bei acuten Fällen von Erfolg, doch hat sie Neisser unter 80 Fällen von chronischer Gonorrhoe 18mal gefunden, wo die Erkrankung länger als 1 Jahr und 20mal, wo sie über 2 Jahre bestand.
Den Untersuchungen Haberda’s zufolge lassen sich die Gonokokken auch in auf Leinwand und dergl. eingetrockneten Flecken noch nach mehreren Wochen mikroskopisch erkennen, doch sind in dünnen Flecken schon nach wenigen Tagen, in dicken schon nach einigen Wochen Kern und Zellleib der Eiterzellen so zerfallen, dass der differentialdiagnostisch wichtige Umstand, ob die Kokken im Protoplasma der Eiterkörperchen liegen, nicht mehr zu constatiren ist. Ist der Eiter vollständig eingetrocknet, so haben die Gonokokken ihre Vermehrungsfähigkeit verloren, so dass sie dann durch Cultur nicht mehr nachgewiesen werden können.
Gleiche Vorsicht ist bei der Beurtheilung ulceröser Processe an den weiblichen Genitalien anzuwenden. Verhältnissmässig leicht ist der Initialeffect der Syphilis — der harte oder Hunter’sche Schanker — als solcher zu erkennen, da die Induration seiner Basis, die geringe Eiterung, die zögernde Vernarbung, das meist schon in den ersten vier Wochen zu constatirende Auftreten indolenter Bubonen und die ebenfalls bald auftretenden Erscheinungen allgemein syphilitischer Erkrankung denselben charakterisiren. Bezüglich der Sclerose der Basis und Umgebung solcher Geschwüre ist jedoch zu bemerken, dass sie nicht immer in gleich typischer, sondern manchmal in wenig ausgeprägter Weise einzutreten pflegt, dass ferner mit eigentlicher Sclerose nicht die teigige, mehr ödematöse Beschaffenheit des Nachbargewebes des weichen Schankers, der catarrhalischen, sowie der traumatischen Geschwüre verwechselt werden darf, und dass auch letztere Geschwüre, wenn sie auf einer dichteren Unterlage, z. B. an der Uebergangsfalte des Präputiums des Penis oder der Clitoris, sitzen, eine solche Derbheit der Textur bedingen können, dass diese mit Sclerose verwechselt werden kann. So erwähnt Zeissl (l. c. II, 59), dass er wiederholt bei Säuglingen consultirt wurde, bei welchen nach vorgenommener ritueller Circumcision in dem zurückgebliebenen Theile der Vorhaut oder in der Glans selbst Induration zu bemerken war, und deshalb, sowie weil auch die benachbarten Drüsen hyperplastisch vergrössert und zuweilen sogar in Vereiterung begriffen sich fanden, der Beschneider beschuldigt wurde, die Kinder inficirt zu haben. Es wurde jedoch constatirt, dass an dem Beschneider keine Spur einer recenten oder alten Syphilis aufzufinden war, und[S. 140] dass auch bei den betreffenden Kindern, selbst nach längerer Beobachtung, keine consecutive Syphilis auftrat.[87]
Die Unterscheidung des weichen Schankers von anderweitigen, insbesondere traumatischen Geschwüren hat mitunter grosse Schwierigkeiten. Der Sitz des Geschwüres bietet keine Anhaltspunkte für die differentielle Diagnose. Zwar kommen die meisten Schankergeschwüre an den Schamlefzen, am Scheideneingange und an der unteren Scheidencommissur vor (Zeissl), aber diese Stellen sind es auch, an welchen am häufigsten catarrhalische oder traumatische Erosionen und gröbere Läsionen, worunter auch Hymeneinrisse gehören, vorkommen. Der Grund und die Beschaffenheit der Ränder sind beim Schanker keineswegs so charakteristisch, wie gewöhnlich angenommen wird; denn die speckige Beschaffenheit des Grundes kann, da sie nur eine Necrose der obersten Schichten der Geschwürsfläche bedeutet, auch bei anderen, insbesondere unrein gehaltenen, vernachlässigten Geschwüren vorkommen; und was die Form des Geschwüres und die Beschaffenheit seiner Ränder betrifft, so ist sie sowohl beim Schanker, als beim traumatischen Geschwüre meist eine unregelmässige und vielfach bedingt durch den Sitz des Geschwüres. Es bleibt demnach nur der Verlauf des Processes, der für die Unterscheidung verwerthet werden kann, insoferne einestheils das rasche Weitergreifen des Ulcus den Schanker charakterisirt, während das aus Erosionen oder Verletzungen entstandene Geschwür sich mehr auf die Ursprungsstelle beschränkt, und als anderseits bei zweckmässiger Behandlung letztere Defecte viel rascher heilen als die virulente Affection.
Entzündliche Lymphdrüsenschwellung und Vereiterung kann sowohl in Folge eines weichen Schankers als in Folge eines traumatischen Geschwüres auftreten, doch ungleich häufiger im ersteren als im letzteren Falle, namentlich suppurative Bubonen, an welchen nach den Angaben Zeissl’s (l. c. I, 223) von 100 mit Schanker behafteten Individuen durchschnittlich 40 zu erkranken pflegen, wobei jedoch allerdings beachtet zu werden verdient, dass bei Weibern die Bubonen seltener auftreten als bei Männern.
Da der weiche Schanker bekanntlich auf dasselbe Individuum überimpfbar ist, so wird man nicht unterlassen, von diesem diagnostisch sehr wichtigen Hilfsmittel Gebrauch zu machen, umsomehr, als, wenn unter gewissen Cautelen vorgegangen wird, eine Gefahr für das Individuum aus einer solchen Inoculation sich nicht ergibt. Es wird jedoch zu beachten sein, dass mitunter auch gewöhnliche eiterige Secrete, wenn sie eingeimpft werden, Geschwüre erzeugen können, allerdings niemals mit jener Constanz und jenem charakteristischen Verlauf wie das Secret des virulenten Geschwüres.
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Von anderen Processen, die mit Schankergeschwüren verwechselt werden können, sind die herpetische Eruption und brandige Processe nicht virulenter Art zu erwähnen.
Die Herpeseruption, gewöhnlich H. praeputialis genannt, obwohl sie an den allgemeinen Decken der weiblichen Genitalien ebenfalls vorkommt und sich daselbst ebenso wie beim Manne in Folge der Irritation beim Coitus entwickeln kann, ist durch die grosse Zahl der meist stecknadelkopfgrossen und zu Gruppen gestellten Bläschen gekennzeichnet, welche, ohne weiter zu greifen, vertrocknen und unter der Kruste heilen.
Gangränöse Processe der äusseren weiblichen Genitalien sind bei Kindern wiederholt beobachtet worden. Es gehört hierher das Noma, sowie die Diphtherie, welche namentlich in Begleitung von Scharlach und Typhus auftreten kann, und es wäre denkbar, dass solche Processe für phagedänische Schankergeschwüre oder für durch mechanische Insulte erzeugte Destructionen gehalten werden könnten. Taylor[88] berichtet von einem vierjährigen Mädchen, welches mit Gangrän der äusseren Genitalien und grossem Schwächezustande in das Spital von Manchester aufgenommen worden war. Dasselbe hatte mit einem 14jährigen Knaben in einem Bette geschlafen, und da erhob sich der Verdacht, dass Letzterer mit dem Kinde unzüchtige Acte getrieben habe. Die Gangrän gewann an Ausbreitung und das Kind starb. Der Knabe kam wegen Nothzucht vor die Assisen und wurde nur deshalb freigesprochen, weil sich herausstellte, dass zu jener Zeit ähnliche destructive Processe auch bei anderen Mädchen der Nachbarschaft beobachtet worden waren, und dass in einem dieser Fälle zweifellos der Process im Verlaufe einer typhösen Erkrankung aufgetreten war.
Selbstverständlich ist in jedem Falle, in welchem sich thatsächlich eine virulente Infection bei einer angeblich geschlechtlich missbrauchten Person ergibt oder auch nur der Verdacht einer solchen besteht, auch der Angeschuldigte zu untersuchen, um zu constatiren einestheils, ob derselbe ebenfalls an einer virulenten Affection leidet oder gelitten hat, anderseits, ob das betreffende Leiden in seiner Natur der Affection entspricht, welche bei dem weiblichen Individuum gefunden wurde, sowie ob der Entwicklungsgrad der Affection bei beiden Individuen in der That die Annahme gestattet, dass zu einer bestimmten Zeit durch einen Coitus das Virus durch den Mann auf die betreffenden weiblichen Genitalien übertragen worden ist.
Besteht bei dem Manne ein frisches virulentes Leiden, dann wird dessen Nachweis keine Schwierigkeit bieten. Dagegen kann ein Nachtripper sich der ersten Beobachtung entziehen, weshalb es angezeigt sein wird, wiederholt und insbesondere möglichst[S. 142] lange Zeit nach einer stattgehabten Harnentleerung zu untersuchen. Auch Geschwürsnarben, besonders solche von geringer Ausdehnung und wenn sie an faltigen Stellen sitzen, sind mitunter nicht so leicht zu entdecken, ebenso nach Hunter’schen Geschwüren zurückgebliebene Narben. Da beim Manne vorzugsweise das Frenulum und das Präputium den Sitz der Schankergeschwüre bildet, so sind insbesondere diese einer genauen Untersuchung zu unterziehen, ausserdem jedesmal die Leistengegenden bezüglich des Verhaltens der Lymphdrüsen, ferner bei Verdacht auf Syphilis die Haut, die Umgebung des Afters, der Rachen, sowie überhaupt alle Stellen, an welchen consecutive syphilitische Processe aufzutreten pflegen.
Der Beweis, dass in der That zu einer bestimmten Zeit, beziehungsweise durch den in Frage stehenden geschlechtlichen Missbrauch, die bei der Untersuchung des weiblichen Individuums constatirte specifische Infection erfolgte, wird zunächst Erhebungen in der Richtung erfordern, ob der Entwicklungsgrad des virulenten Processes übereinstimmt mit der Zeitdauer, welche von dem angeblichen Coitus bis zum Momente der ärztlichen Untersuchung verflossen ist. In dieser Beziehung wird der durchschnittliche Verlauf venerischer und syphilitischer Erkrankungen im Auge zu behalten sein, wie er sich der Erfahrung zufolge in der Regel ergibt, ebenso sind aber auch alle Momente zu berücksichtigen, welche diesen Verlauf zu beschleunigen oder zu verzögern vermögen.
Beim Tripper pflegt sich nach Zeissl gewöhnlich schon 24 Stunden nach geschehener Infection ein lästiges Prickeln und Jucken in den Genitalien einzustellen, die betreffende Schleimhaut beginnt zu schwellen und sich zu röthen und meist schon am 4. bis 6. Tage, in seltenen Fällen erst am 12. bis 16. Tage, verändert sich das anfangs seröse oder mucös-seröse Secret zu einem dicken eitrigen, welche anfangs profuse, später abnehmende Secretion 14 Tage bis 3 Wochen andauert, dann in eine schleimige sich umwandelt, die bei zweckmässiger Behandlung binnen wenigen Tagen verschwinden, im gegentheiligen Falle aber in einen chronisch-catarrhalischen Zustand übergehen kann, der wochen- und monatelang nachweisbar ist. Hierbei kommt zu bemerken, dass, wie Zeissl (l. c. I, 117) hervorhebt, der purulente Vaginaltripper, der schon bis auf ein Minimum geschwunden war, durch den Eintritt der Menstruation gleichsam wieder angefacht werden kann.
Bezüglich des weichen Schankers haben Impfversuche gelehrt, dass schon am 6. Tage nach geschehener Infection ein Schankergeschwür entwickelt sein kann, welches bei günstigen Verhältnissen durchschnittlich 4 bis 5 Wochen um sich greift, um dann mit Granulationen sich zu bedecken und binnen beiläufig 14 Tagen zu vernarben (Zeissl, l. c. I, 190). Unreines Verhalten kann sowohl die Dauer des Destructionsprocesses verlängern, als die Vernarbung verhindern. Gleiches findet bei phagedänischen Geschwüren statt.
Die Entwicklung der typischen Sclerose erfordert mehrere Wochen (nach Grünfeld durchschnittlich 21 Tage) und hält dann[S. 143] ungleich länger an als der weiche Schanker. Zeissl (l. c. 57) sah noch keine Induration vor Ablauf von 90 Tagen vollkommen schwinden, wenn auch der Kranke gleich beim Beginne der Sclerose mercuriell behandelt wurde. Sehr häufig erhielt sie sich 8 bis 9 Monate und darüber. Die indolenten Bubonen pflegen sich schon in der vierten Woche nach stattgehabter Infection zu zeigen und bleiben trotz antisyphilitischer Behandlung 3 bis 4 Monate stationär (l. c. 64). Die Eruption allgemeiner consecutiver Erscheinungen scheint nie vor der achten Woche nach stattgehabter Infection aufzutreten und pflegt dann in der Regel zuerst auf der Haut, dann auf einzelnen Schleimhäuten (Nasenhöhle, Rachen) und viel später erst in anderen Organen zu erfolgen (l. c. 81).
Auch bezüglich des Mannes wird von denselben Erfahrungssätzen ausgegangen werden müssen bei der Beurtheilung der Frage, ob bei ihm ein bestimmtes virulentes Leiden zu jener Zeit, als angeblich der geschlechtliche Act ausgeübt wurde, bereits bestand oder noch bestand. In dieser Beziehung ist auch zu bemerken, dass der Tripper des Mannes, wie Zeissl (l. c. I, 13) ausführt, bereits in den allerersten Stadien seines Bestehens, noch bevor eine eitrige Secretion auftritt, bereits inficiren kann, und dass anderseits selbst jene Formen des Nachtrippers, in welchen nur noch Spuren eines Ausflusses nachweisbar sind, Infectionen, insbesondere an den sehr empfänglichen Genitalien von Kindern, bedingen können.
Von den Umständen, unter welchen die Ausübung des Beischlafes gesetzwidrig erscheint, bedürfen blos die im §. 125 und §. 127 des österr. St. G. B., beziehungsweise der §§. 187, 188 und 189 des österr. St. G. Entwurfes und des §. 176, lit. 2 und 3, sowie des §. 177 des deutschen St. G. einer besonderen Besprechung.
Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass der Beischlaf als gesetzwidrig bestraft, beziehungsweise als Nothzucht behandelt wird, wenn er 1. durch gefährliche Bedrohung oder 2. durch wirklich ausgeübte Gewalt erzwungen, oder 3. an einer zu diesem Zwecke bewusst- oder wehrlos gemachten, oder 4. an einer anderweitig im Zustande der Wehr- oder Willenlosigkeit sich befindenden Person, oder endlich 5. mit einem Kinde unter 14. Jahren ausgeübt worden ist.
Ad 1. Die gefährliche Bedrohung oder, wie sich der St. G. Entwurf und das deutsche St. G. ausdrücken, die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben ist kein Umstand, welcher der ärztlichen Beurtheilung unterliegt, es ist vielmehr klar, dass sich die Erhebung eines solchen Umstandes der gerichtsärztlichen Competenz vollkommen entzieht.
Maschka (Handb. III, 155) bemerkt mit Recht, dass die gefährliche Drohung nicht ausschliesslich das eigene Leben der Bedrohten, [S. 144]sondern auch jenes anderer ihr nahestehender Personen betreffen, eventuell auch in Androhung der Enthüllung wichtiger, die Ehre der Bedrohten oder ihrer Angehörigen betreffender Geheimnisse bestehen könne und bringt einen Fall, wo eine junge Frau, die sich lange gegen die Ueberwältigung gewehrt hatte, schliesslich den Coitus zuliess, als der Attentäter ihr Kind ergriff und demselben den Schädel an der Wand zu zerschmettern drohte, wenn sie ihm nicht zu Willen wäre. In diesem Falle hatte Maschka die Frage zu beantworten, ob letztere Drohung geeignet war, die Frau willenlos und widerstandsunfähig zu machen, was er mit Rücksicht auf kleine Verletzungen, welche die Angabe des vorhergegangenen Kampfes bestätigten, und mit Rücksicht auf die Umstände des Falles, speciell der Natur der Drohung, bejahte. Wir sind in dieser Beziehung der Ansicht, dass, strenge genommen, nur die Constatirung der auf einen Kampf schliessen lassenden Befunde in das Gebiet des Gerichtsarztes gehörte, aber zur Beurtheilung des psychischen Einflusses der betreffenden Drohung auf die Willensbestimmung der Mutter ein ärztliches Gutachten gewiss nicht nothwendig war.
Ad 2. Handelt es sich um einen angeblich durch Gewalt erzwungenen Beischlaf, so wird zu erwägen sein, ob es sich im vorliegenden Falle um die Anwendung grober Gewaltacte, z. B. Niederschlagen, schwere Verletzungen, Würgen u. dergl., handelt oder um Ueberwältigung im engeren Sinne.
Im ersteren Falle unterliegt die Beurtheilung keiner Schwierigkeit und wird insbesondere der Nachweis der betreffenden Verletzungen den Ausschlag geben. Was aber die Frage betrifft, ob eine erwachsene, ihrer Sinne mächtige und zum Widerstand fähige Person von einem einzelnen Manne durch einfache Ueberwältigung zur Duldung des Beischlafes gezwungen werden könne, so wurde diese von älteren Gerichtsärzten, so schon von Paulus Zacchias[89], Metzger[90] und selbst von ärztlichen Corporationen[91] mit mehr weniger Entschiedenheit verneint, indem sie darauf hinwiesen, dass, wenn auch eine Ueberwältigung erfolgt sei, die Einbringung des Penis unschwer durch Bewegungen des Körpers, insbesondere des Beckens, verhütet werden könne. Wenn auch im Allgemeinen diesen Anschauungen eine Berechtigung nicht abgesprochen werden kann, so wäre es doch entschieden irrig, wenn man ihnen eine ausnahmslose Geltung zuschreiben wollte. Es kommt in solchen Fällen zunächst der Kräftezustand der dabei Betheiligten in Betracht. Während z. B. von einer Ueberwältigung nicht wird die Rede sein können, wenn das Weib robust, der angebliche Attentäter aber schwächlich befunden wird, wird wohl nicht zu leugnen sein, dass ein starker Mann ein zart gebautes, keiner ausgiebigen Kraftentwicklung fähiges, vielleicht dazu timides Mädchen unschwer[S. 145] wird überwältigen, beziehungsweise zur Duldung des Coitus wird zwingen können. Aber auch bei nicht schwächlichen weiblichen Individuen ist zu erwägen, dass selbst energisch geleisteter Widerstand endlich erlahmt, und dass ausser der Gewalt auch die durch sie erzeugten Schmerzen, sowie der Einfluss des psychischen Affectes, namentlich des Schreckens und der Angst, dass Schlimmeres geschehen könnte, in Betracht zu ziehen sind, welche nach vergeblichem Ringen schliesslich die Person theils bewegen, nachzugeben, theils überhaupt eine weitere Widerstandsleistung unmöglich machen.
Wenn demnach im Allgemeinen gegenüber Angaben erwachsener und widerstandsfähig gewesener weiblicher Individuen, dass an ihnen die Nothzucht mit Gewalt vollzogen wurde, um so mehr die grösste Vorsicht und Objectivität anzuempfehlen ist, als die Erfahrung lehrt, dass verhältnissmässig häufig derartige Angaben blos erfunden werden, so wird doch jeder einzelne Fall als solcher zu erwägen sein, insbesondere aber auf die beiderseitigen Körperkräfte, sowie darauf Rücksicht genommen werden müssen, ob beim Weibe dieselben vollständig zur Geltung gelangen konnten oder nicht.
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In jedem derartigen Falle ist nach etwa zurückgebliebenen Spuren der angethanen Gewalt zu forschen, und es ist klar, dass solche desto eher erwartet werden können, je intensiver und länger der angebliche Widerstand gewesen ist. Hautaufschürfungen und Sugillationen, seltener grössere Verletzungen können gefunden werden, und ihre Beschaffenheit sowohl als ihr Sitz möglicherweise die Angaben der Klägerin unterstützen. Casper fand bei einem zartgebauten Mädchen fast unmittelbar nach der thatsächlich stattgehabten Ueberwältigung ausser einem frischen Hymeneinriss frische Sugillationen an der Innenfläche beider Oberschenkel über den Knieen, offenbar vom Fingerdruck herrührend, beziehungsweise von den Bemühungen des Thäters, die Schenkel der betreffenden Person auseinander zu bringen. Maschka (l. c. 104) sah bei einem 24jährigen Mädchen, welches sich des Attentäters nach längerem Kampfe wirklich erwehrte, ein Hämatom der linken Schamlippe. Dagegen hatten wir Gelegenheit, einen Fall zu untersuchen, der ein 25jähriges, angeblich mit Gewalt genothzüchtigtes Mädchen betraf, bei welchem vom erst untersuchenden Arzte Sugillationen an der Innenfläche beider Oberschenkel diagnosticirt und von Fingereindrücken des Stuprators abgeleitet wurden, während sich dieselben bei näherer Untersuchung als jene halbmondförmigen pigmentirten Hautstellen ergaben, welche sich bei brünetten Mädchen und Frauen an der Innenfläche der Oberschenkel, den unteren Rand der Genitocruralfalte bildend, nicht selten und vollkommen symmetrisch zu finden pflegen. Auch ist zu bemerken, dass, wie Maschka (l. c. 132) hervorhebt und durch zwei Fälle illustrirt, Verletzungen als Zeichen angeblich erlittener Gewalt und geleisteter Gegenwehr auch künstlich erzeugt werden können.
Da die etwa zurückgebliebenen Spuren einer angethanen Gewalt in der Regel ganz unbedeutende Beschädigungen darstellen, so ist es begreiflich, dass der Nachweis solcher wohl nur in frischen Fällen wird gelingen können. Das Gleiche gilt von etwaigen Zeichen geleisteter Gegenwehr am Körper des betreffenden Mannes, dessen Untersuchung in dieser Richtung allerdings nicht blos behufs eventueller Constatirung der erwähnten Spuren (Kratz- und Bisswunden, Sugillationen, möglicherweise auch Verletzungen an den Genitalien, besonders am Penis), sondern auch behufs der Erhebung seines Körper-, respective Kräftezustandes nicht zu versäumen sein wird.
Dass zwei oder gar mehrere Männer verhältnissmässig ungleich leichter ein selbst kräftiges Mädchen gewaltsam geschlechtlich missbrauchen können, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Doch wurde in einer 1872 wegen Nothzucht stattgefundenen Gerichtsverhandlung in Wien constatirt, dass drei junge Männer nicht im Stande waren, das 18jährige Mädchen, welches sie auf der Landstrasse überfallen hatten, zu stupriren.
Ad 3. Während §. 125 des österr. St. G. den Ausdruck „arglistige Betäubung“ gebraucht, spricht der §. 189 des österr. St. G. Entwurfes von einer zum Zwecke der Vollbringung des Beischlafes eingeleiteten „Versetzung in einen Zustand der Wehr- und Willenlosigkeit“, der §. 177 des deutschen St. G. aber von einer „Versetzung in einen willen- oder bewusstlosen Zustand“. Offenbar haben alle diese gesetzlichen Bestimmungen einestheils die absichtliche Betäubung, anderseits die absichtlich herbeigeführte Wehrlosigkeit im Auge.
Letztere ist eigentlich unter den eben behandelten Umstand angethaner Gewalt zu subsumiren und bedarf keiner besonderen Besprechung; doch dürfte der Gesetzgeber hier weniger offene Gewalt, als heimtückisch erzeugte Wehrlosigkeit im Auge gehabt haben.
Bezüglich des im §. 125 des österr. St. G. B. gebrauchten Ausdruckes „arglistige Betäubung ihrer Sinne“ bemerkt Herbst in seinem Handbuch des österr. Strafrechtes[92]: „Eine durch künstliche Aufregung der Sinne herbeigeführte grössere Geneigtheit, sich dem Verführer hinzugeben, genügt nicht zum Thatbestande des Verbrechens, sondern es wird deren eigentliche, die Möglichkeit des Widerstandes ausschliessende Sinnesbetäubung gefordert. Letztere muss überdies „arglistig“ gewesen sein, was nur dann behauptet werden kann, wenn dabei eine Irreführung der Frauensperson durch auf Täuschung berechnete Handlungen oder die Benützung eines Irrthumes oder der Unwissenheit derselben stattgefunden hat.“
Der Ausdruck „Betäubung“ ist offenbar mit dem der Bewusstlosigkeit und Willenlosigkeit, wie ihn der österr. Entwurf, beziehungsweise das deutsche St. G. gebrauchen, identisch und[S. 147] wird im gleichen Sinne zu commentiren sein. Dagegen kommt in den letzteren Gesetzen der Ausdruck „arglistig“ nicht mehr vor.
Eine „Betäubung der Sinne“, respective eine Bewusstlosigkeit, kann bewirkt worden sein einerseits durch mechanische, anderseits durch narcotische Mittel.
Als mechanisch herbeigeführte Bewusstlosigkeit wäre z. B. eine Betäubung durch Schläge auf den Kopf oder durch Strangulation[93] zu erachten, Vorgänge, deren Stattgefundenhaben nach an anderen Stellen anzugebenden Grundsätzen zu erheben sein wird.
Von narcotischen Mitteln, die zum Zwecke der Betäubung der zu stuprirenden Person in Anwendung kommen könnten, wären zunächst alkoholische Getränke zu erwähnen. Nach dem gegenwärtigen österr. St. G. wird wohl eine behufs Vollziehung des Beischlafes eingeleitete Berauschung einer erwachsenen Frauensperson mit Alkoholicis nicht als „arglistige“ Betäubung genommen werden können, da vorauszusetzen ist, dass eine erwachsene Frauensperson sowohl alkoholische Getränke, als den Zustand, den ihr Uebergenuss herbeiführt, kennen wird, demnach von einer „Irreführung der Person durch auf Täuschung berechnete Handlungen“ nicht die Rede sein kann. Doch würde gewiss auch im Sinne des österr. St. G. die in der bezeichneten Absicht bewirkte Berauschung jugendlicher, mit der Wirkung des Alkohols unbekannter Personen, insbesondere Kinder, hierher gerechnet werden müssen. Da weder im öster. St. G. Entwurf, noch im deutschen St. G. der Ausdruck „arglistig“ oder ein ähnlicher vorkommt, so ist wohl kein Zweifel, dass in den betreffenden Paragraphen auch eine absichtliche Berauschung einer (erwachsenen) Frauensperson gemeint sein dürfte. Es scheint jedoch, dass die Gesetzgeber vorzugsweise die Betäubung mit Schlaf herbeiführenden Mitteln, wie Opium, Morphium, Chloroform, Chloralhydrat, im Auge hatten. Diese Mittel sind bekanntlich allerdings geeignet, Bewusstlosigkeit zu bewirken, und es ist auch zuzugeben, dass sie „arglistig“ beigebracht werden können.
Es ist jedoch unseres Wissens kein einziger Fall sichergestellt, dass ein Individuum ausschliesslich zu dem Zwecke narcotisirt wurde, um an der Betäubten den Coitus auszuüben.[94] Dagegen wird über Fälle berichtet, in denen während der zu
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einem anderen Zwecke, insbesondere behufs Vornahme von Operationen, eingeleiteten Narcose die betreffenden Individuen geschlechtlich missbraucht worden sind. Taylor[95] berichtet über zwei solche Fälle, und einen gleichen hat Schuhmacher[96] veröffentlicht. In diesen Fällen wurde die Narcose mit Chloroform erzeugt, und die Möglichkeit eines derartigen Missbrauches der Chloroformnarcose muss gewiss zugegeben werden. Dagegen sind Angaben, dass die Betreffenden durch plötzliches unerwartetes Vorhalten von Chloroform oder anderen narcotischen Substanzen sofort bewusstlos gemacht oder gar während des natürlichen Schlafes chloroformirt und dann missbraucht worden sind, nur mit der grössten Vorsicht zu beurtheilen. Derartige Anschuldigungen sind thatsächlich vorgekommen und werden von Taylor (l. c.), ferner von Kidd, Stephens Royers u. A.[97] mitgetheilt. Erstere Angabe ist entschieden zurückzuweisen, da weder Chloroform, noch ein anderes Narcoticum sofort und unmittelbar, nachdem es vor die Respirationsöffnungen gebracht wurde, beziehungsweise schon nach einem oder nur ganz wenigen Athemzügen Bewusstlosigkeit herbeiführt. Was aber die Möglichkeit der Chloroformirung Schlafender betrifft, so wurde dieselbe aus Anlass derartiger in foro vorgekommener Behauptungen von Stephens Royers und 1873 von Dolbeau[98] experimentell geprüft. Ersterer erhielt bei seinen Versuchen mit Thieren negative Resultate. Ebenso anfangs Dolbeau, sowohl bei Thieren als bei einer jungen Frau, indem er fand, dass zwei bis drei Minuten, nachdem der mit Chloroform getränkte Schwamm auf mässige Entfernung den Respirationsöffnungen genähert worden war, die Betreffenden mit den Zeichen des Schreckens erwachten und aufsprangen. Bei späteren, an kranken Menschen vorgenommenen Versuchen, gelang es ihm jedoch, von 29 Schlafenden 10, also ein Drittel, zu chloroformiren, während die übrigen erwachten und dagegen reagirten.[99] Winkler (l. c.) wendet zwar gegen diese Versuche ein, dass sie an kranken Personen vorgenommen wurden, wir glauben jedoch, dass dieser Umstand weniger in Betracht kommt, als der, dass hier die Chloroformirung mit Sachkenntniss und unter Beobachtung wissenschaftlicher Cautelen vorgenommen wurde, während bei Laien, welche gewöhnlich ganz irrige Vorstellungen von der Gebrauchsweise des Chloroforms haben, eine so vorsichtige Anwendung desselben nicht leicht, wenigstens nur bei besonderem Raffinement des Thäters oder unter besonderen Umständen, vorkommen könnte und daher auch kaum zum Ziele zu führen vermag.
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Berichten über „arglistige Betäubung“ und nachträgliche Beraubung, eventuell Nothzüchtigung von Reisenden im Eisenbahncoupé kann man von Zeit zu Zeit in den Tagesblättern begegnen. Diesen Fällen gegenüber ist die grösste Vorsicht angezeigt, da sie fast ausnahmslos auf Betrug oder Einbildung hinauslaufen. In einem Wiener Falle wollte die betreffende Dame sogar durch eine „mit einer narcotischen Substanz imprägnirte Zeitung“ betäubt und dann beraubt worden sein. In einem anderen (1885) wollte ein Postmeister, der, wie sich später herausstellte, wegen Malversationen seinen Posten verlassen hatte, glaubhaft machen, dass er von einem Manne im Eisenbahncoupé durch Schnupftabak betäubt und dann in einer ihm unbekannten Gegend ausgesetzt worden sei. Der Fall wurde anfangs allen Ernstes geglaubt, machte viel Aufsehen und hatte zur Folge, dass eine Woche darauf ein junges Mädchen, welches auf derselben Strecke in einem Coupé I. Classe fuhr, aus dem Fenster springen wollte, als ein im selben Coupé mit ihr allein sitzender Herr ihr eine Cigarette anbieten wollte, weil sie meinte, er wolle sie damit betäuben. Dass aber eine Betäubung von Individuen zum Zwecke der leichteren Verübung von Verbrechen selbst durch andere Gifte, als die gewöhnlichen Narcotica, vorkommen kann, hat der 1878 in Wien vorgekommene Fall Simère bewiesen, in welchem der Raub geschah, nachdem das die betreffende Wohnung bewachende Dienstmädchen durch Atropin betäubt worden war, ferner der berüchtigte Fall des Mädchenmörders Hugo Schenk, der einzelne seiner Opfer mit in Liqueur gemischtem Chloralhydrat betäubte und der ausserdem zu gleichen Zwecken Cyankalium, Blausäure und Cyanquecksilber (letzteres als sog. „Bändiger“ gekauft) besass. Marandon (Ann. méd. psychol., Juli und November 1878; Friedreich’s Bl. 1879, pag. 445) berichtet von einem Verrückten, der eines Tages einen Mitreisenden im Eisenbahncoupé, gerade als der Zug durch einen Tunnel fuhr, mit Blausäure vergiftete, entweder um ein Experiment zu machen oder um des Reisenden Geld zur Fortsetzung seiner vermeintlichen Entdeckungen zu bekommen. Bekannt ist ferner die 1882 in Wien vorgekommene, durch angebliche Socialisten ausgeführte Beraubung eines Bürgers nach vorausgegangener gewaltsamer Chloroformirung desselben. In einem grossen Scandalprocess, über welchen Morache (Annal. d’hygiène publ. 1882, Nr. 9, pag. 225) berichtet, kam hervor, dass das Kammermädchen eines Arztes(!) durch mehrere Monate mit den Kindern ihres Dienstherrn Unzucht getrieben und dieselben überdies wiederholt Nachts aus dem Hause geführt und anderen Individuen zu gleichen Zwecken überlassen hatte. Das Mädchen war geständig, behauptete aber, die Eltern auf Anrathen eines Complicen mit einem von diesem gebrachten Schlafpulver, welches sie ihnen in die Speisen mischte, jedesmal in tiefen Schlaf versetzt zu haben, wenn sie die Kinder aus dem Hause führte. Letztere Angaben erwiesen sich als Ausgeburten der krankhaften Phantasie des hysterischen und mit Nymphomanie behafteten Mädchens.
Ad 4. Nicht selten sind die Fälle, in welchen ohne Zuthun des Thäters oder wenigstens ohne dessen dabei ursprünglich[S. 150] gehegte Absicht, den Beischlaf auszuüben, im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindliche weibliche Individuen geschlechtlich missbraucht wurden. Es ist hierbei wieder zunächst Wehrlosigkeit von Bewusstlosigkeit zu unterscheiden.
Von Wehrlosigkeit wird die Rede sein, wenn die betreffende Person, obgleich bei Bewusstsein, sich gegen den Vollzug des Beischlafes entweder gar nicht oder nicht in der ihr unter normalen Umständen möglichen Weise zu wehren vermochte. Bernt[100] erzählt von einem Jägerburschen, der im Walde den Zeitpunkt abwartete, wo eine Bauernmagd auf der nahen Wiese ihr Grastuch vollgefüllt, zugebunden, sich mit dem Rücken darauf niedergelegt, die Armbänder an den Achseln befestigt hatte und soeben versuchte, sich mit ihrer Last allmälig aufzuschwingen, dann aus seinem Hinterhalte hervorsprang und ohne Schwierigkeit den Beischlaf verübte. Maschka[101] berichtet über einen ähnlichen Fall, in welchem das Mädchen, weil es auf einem Leiterwagen zwischen Federbetten und Stroh eingezwängt war, den gewaltsamen Beischlaf nicht abzuwehren vermochte. Ebenso wurde uns von einem vielbeschäftigten Gerichtsarzte mitgetheilt, dass in einem Falle eine Bauernmagd von ihren Genossinnen auf einem Heuboden aus Scherz „in den Bock“ gespannt wurde, indem sie ihr die gebundenen Hände über die aufgezogenen Knie legten und zwischen Armen und Knien eine Stange durchschoben, sie in dieser Lage verliessen und einen Knecht hinaufschickten, der die günstige Gelegenheit benützte, seine Lust an der auf diese Weise vollständig wehrlos gemachten Person von hinten zu befriedigen.
Ausser durch derartige äussere Vorgänge könnte eine mehr weniger vollkommene Wehrlosigkeit auch durch krankhafte Schwächezustände, Lähmungen u. dergl. gegeben sein. So berichtet z. B. Kuby (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 646) über die angebliche Nothzucht einer halbseitig Gelähmten.
Unter Bewusstlosigkeit wäre nicht blos die vollständige Aufhebung der Perception äusserer Vorgänge, sondern auch jener Grad von Betäubung zu verstehen, in welchem zwar diese Perception nicht vollständig aufgehoben, aber doch so sehr getrübt ist, dass von einer klaren Beurtheilung des Vorsichgehenden nicht die Rede sein kann. Es gehören hierher die transitorischen Bewusstseinsstörungen und unter diesen insbesondere die Trunkenheit, sowie die zu anderen als dem oben genannten Zwecke eingeleitete Narcose, und zwar nicht blos in ihrer vollen Entwicklung, sondern auch in jenen Stadien, in denen das Bewusstsein zwar nicht vollkommen aufgehoben, aber in höherem Grade getrübt ist. Wenn solche Fälle zur gerichtsärztlichen Beurtheilung kommen, ist selbstverständlich in der Regel die auf die eine oder andere Art gesetzte Bewusstseinsstörung nicht mehr vorhanden, und es[S. 151] erübrigt blos, die Glaubwürdigkeit der Angaben der angeblich Stuprirten selbst oder der Zeugen über den betreffenden damaligen Zustand der ersteren zu prüfen, welche Prüfung mit Berücksichtigung der toxikologischen und psychopathologischen Erfahrungen über die Wirkung der Alkoholica oder des im concreten Falle in Frage kommenden Narcoticums zu geschehen hätte, wobei insbesondere zu berücksichtigen wäre, dass die Betreffende desto weniger von dem mit ihr Geschehenen etwas wissen kann, je vollständiger die Bewusstlosigkeit gewesen und je weniger der geschlechtliche Act selbst Spuren an der betreffenden Person zurückgelassen hatte. Ueberhaupt ist in solchen Fällen mit Rücksicht auf thatsächliche Erfahrungen zu beachten, dass derartige Beschuldigungen häufig vollkommen erlogen sind, dass dieselben aber, was nicht zu übersehen ist, auch auf Illusionen und Hallucinationen beruhen können, welche unter dem Einflusse der Narcose, aber auch während anderer Bewusstseinsstörungen, entstehen und, beim Erwachen in das Bewusstsein herübergenommen, in der betreffenden Person die Idee erweckt haben konnten, dass ein geschlechtlicher Act mit ihr vorgenommen worden sei. So berichtet Kidd, dass ein Mädchen, welches bei der Untersuchung mit dem Scheidenspiegel in Ohnmacht fiel und von dem Arzte mit einem Riechmittel zu sich gebracht wurde, dieses Mittel für Chloroform gehalten hatte und vor Gericht mit voller Bestimmtheit erklärte, dass der Arzt sie chloroformirt und während der Narcose gemissbraucht habe. Es hielt schwer, den Richter und die Geschworenen von der Schuldlosigkeit des Arztes zu überzeugen.[102]
Andere transitorische Bewusstseinsstörungen, als die genannten, kommen wohl nur selten in Betracht. In einem von Maschka (l. c., pag. 295) mitgetheilten Falle gab ein als schwanger befundenes Mädchen an, dass sie während eines epileptischen Anfalles von dem Angeklagten in eine Scheuer getragen und dort genothzüchtigt worden sei. Die Details des ganzen Vorganges wurden jedoch von ihr mit solcher Genauigkeit geschildert, dass schon dadurch ihre Angabe, sie sei damals bewusstlos gewesen, widerlegt wurde, abgesehen von anderen Umständen, die die ganze Anschuldigung als auf Erpressung gerichtet herausstellten.
Ein höchst sonderbarer Fall einschlägiger Art kam laut mir mitgetheilten Acten vor mehreren Jahren in Wien vor. Am 18. März, 6 Uhr Früh, wurde die 17jährige, in einem Branntweingeschäft dienende [S. 152]A. F. von ihrem Dienstgeber, der sie, wie gewöhnlich, wecken kam, in ihrer Kammer im Bette liegend, bewusstlos aufgefunden. Sie war Abends um 10 Uhr ganz wohl schlafen gegangen, doch hatte der Dienstgeber und seine Frau, die in einem anstossenden Zimmer schliefen, beiläufig um 2 Uhr Nachts gehört, wie sich die A. F. erbrach, und als der Dienstgeber deshalb in die Kammer hineinfragte, was ihr fehle, antwortete ihm die A. F., „es sei ihr schon besser“, worauf sie ruhig wurde. Da die A. F. nicht zu sich kam, wurde um 9 Uhr ein Arzt geholt, der den Zustand für einen Rausch erklärte. Man liess sie den Tag schlafen, als sie aber auch am folgenden nicht erwachte und Essigwaschungen und dergl. Mittel nichts fruchteten, liess sie die Frau durch einen „Stammgast“ (offenbar zu Wagen) in ein Vorstadt-Spital überbringen. Daselbst am 19. um ½-9 Uhr Abends angelangt, wies die A. F. folgende Erscheinungen auf: Schlummersucht, Bindehäute stark injicirt, Pupillen beiderseits mittelweit. Temperatur erhöht, Puls sehr frequent, klein, Bewusstsein nur momentan vorhanden (?), Sprache schwer, meist versagend, unwillkürlicher Harnabgang, kein Erbrechen, jedoch Aufstossen. Es wurde der Verdacht auf eine Vergiftung mit Narcoticis ausgesprochen und darnach behandelt. Am 20. keine wesentliche Veränderung, am 21. noch getrübtes Bewusstsein, verworrene Antworten, an den Lippen Hydroa febrilis, Temperatur und Puls fast normal. Pupillen eher verengert als erweitert. Unterleib mässig aufgetrieben, gespannt. Aus den (früher nicht untersuchten) Genitalien blutiger mässiger Ausfluss. Scheideneingang geröthet und geschwellt, sehr empfindlich, die Scheidenklappe zeigt vier Einrisse, und zwar zwei im oberen, zwei im unteren Theile, so dass unten ein mittlerer kleiner Lappen isolirt bleibt. Zugleich waren Hautaufschürfungen am Scheideneingange und an beiden Gesässbacken bemerkbar, deren nähere Beschaffenheit ebensowenig angegeben wird, wie die der Hymeneinrisse.
Die A. F. wurde am 23. März polizeilich vernommen, sprach von einer braunen Medicin, die sie von einem ihr ganz unbekannten Dienstmädchen erhalten habe, und gab an, dass ihre Regeln seit 14 Tagen ausgeblieben seien. Die Angaben waren so verworren, dass die Commission zur Ueberzeugung gelangte, dass die A. F. noch nicht bei Bewusstsein sei. Am 26. gab sie derselben Commission ganz verständige Antworten, widerrief die am 23. gemachten Angaben und erklärte, sie wisse sich nur zu erinnern, dass sie am 17. Abends einen halben Liter Bier getrunken und viel Brot gegessen habe, sowie, dass ihr in der Nacht schlecht geworden sei und heftige Kopfschmerzen eingetreten seien.
Da der Verdacht ausgesprochen wurde, dass die A. F. betäubt und dann genothzüchtigt worden sei, wurde am 30. März eine gerichtsärztliche Untersuchung veranlasst, wobei sich fand: Allgemeinbefinden normal, nur an der Unterlippe eingetrocknete Bläschen. Scheideneingang stärker geröthet. Die Scheidenklappe ringförmig, geschwellt, zu beiden Seiten mit je einem und nach unten mit zwei noch gerötheten Einrissen versehen, wodurch ein mittleres Läppchen gebildet wird. Indagation schmerzhaft, Portio vaginalis und Muttermund jungfräulich.[S. 153] An der Innenfläche des rechten Oberschenkels, und zwar in der unteren Hälfte ein gelblich-grüner kreuzergrosser Fleck und darüber eine etwas grössere dunkelroth gefärbte empfindliche Hautstelle. Am Gesässe linkerseits gegen den After eine Gruppe von mehreren, theils rundlichen, theils länglichen, kleinen, braunroth vertrockneten Hautstellen, etwa von Linsengrösse, zerstreute solche Stellen auch rechterseits und gegen den After zu ein über 2 Cm. langer, 0·5 Cm. breiter, gelblich-grüner Streifen.
Auf Grundlage dieses Befundes und der Anamnese äusserten sich die Gerichtsärzte: 1. dass der Betäubungszustand von narcotisch wirkenden Substanzen herrühren konnte, 2. dass die Beschaffenheit der Genitalien auf eine ganz kurz vor der Aufnahme in’s Spital erfolgte Entjungferung schliessen lasse und dass letztere während des betreffenden Betäubungszustandes geschehen sein konnte.
Am selben Tage gerichtlich einvernommen, blieb die A. F. bei ihrer Aussage, dass sie am 17. Abends einen halben Liter Bier getrunken habe, worauf sie Kopfschmerz und Brechreiz verspürt habe. Am schlechtesten soll ihr um 10 Uhr Nachts geworden sein, worauf sie die Besinnung verlor und erst im Spitale zu sich kam. Ein Liebesverhältniss habe sie nicht gehabt, weiss nichts von einem an ihr verübten Beischlaf und hat auch Niemanden im Verdacht, sie während ihrer Bewusstlosigkeit missbraucht zu haben.
Da der Dienstherr sich von jedem Verdachte zu reinigen wusste, ein Verdacht gegen andere Personen nicht aufkam, wurde der Fall nicht weiter verfolgt.
Unserer Meinung nach dürfte es sich zunächst weniger um eine Narcose als um eine durch febrile (infectiöse) Erkrankung veranlasste Bewusstseinsstörung gehandelt haben, wofür insbesondere das Auftreten der Hydroa febrilis spricht. Ob nicht etwa eine Kohlenoxydvergiftung vorlag, wurde nicht erhoben. Dass während dieser Bewusstlosigkeit der Beischlaf oder vielleicht nur ein Einbohren des Fingers ausgeübt wurde, ist im höchsten Grade wahrscheinlich, welcher Act sowohl in der betreffenden Wohnung, aber auch erst während des Transportes der bewusstlosen Person in’s Spital stattgefunden haben konnte, zumal letzterer offenbar im Wagen am späten Abend und durch einen „Stammgast“ des betreffenden Branntweinladens geschehen war.
Die von älteren Autoren vielfach ventilirte Frage, ob eine Nothzucht während eines normalen Schlafes möglich sei, ohne dass die Betreffende zum Bewusstsein des mit ihr Vorgehenden gelangt, kann wohl heutzutage ad acta gelegt werden. Dagegen muss zugegeben werden, dass eine Ueberrumpelung und Ueberwältigung einer schlafenden und zudem etwa in günstiger Lage befindlichen Person ungleich leichter ist, als bei einer Wachenden, sowie es gut denkbar ist, dass unter Umständen, namentlich bei Individuen mit erweiterten Genitalien, eine Immissio penis bereits erfolgt sein kann, bevor die Betreffende wieder zum vollen Bewusstsein zurückkehrt. Bei abnorm tiefem Schlafe, wie er namentlich bei jungen Leuten nach Ueberanstrengung oder nach Alkoholgenuss[S. 154] sich einstellt, kann dieses noch leichter geschehen und es könnte unter gewissen Umständen, z. B. wenn die Missbrauchte den Thäter für ihren Ehemann hielt (§. 179 des deutschen St. G. B. und §. 190 des österr. St. G. E.), sogar die vollständige Ausführung des Coitus gelingen.
In dieser Weise ist der merkwürdige Fall zu deuten, der vom Advocaten Cowan aus Dumfries in Schottland berichtet wird (Edinb. med. Journ. 1862, pag. 570). Eine seit 16 Jahren verheiratete Gastwirthin, Mutter dreier Kinder, hatte sich Nachts, nachdem sie die Nacht zuvor wach geblieben und von Anstrengungen sehr ermüdet war, zu Bette gelegt, und zwar ganz angekleidet, mit Röcken und Crinoline und, nach Gewohnheit, auf die linke Seite. Sie fiel in festen Schlaf. Nachdem sie eine halbe Stunde geschlafen, fühlte sie einen schweren Druck auf sich, glaubte ihr Mann läge auf ihr, richtete sich auf, wobei sie bemerkte, dass sie jetzt mehr auf dem Rücken lag, und sah nun, dass ihr Stallknecht, der seit Jahren in ihren Diensten war, auf ihr lag, und dass sein Körper mit dem ihrigen in Berührung, und dass seine Geschlechtstheile in den ihrigen waren. Sie war ganz nass geworden. Der Knecht hob sich von ihr hinweg, sie sah, wie er sich die Hose zuknöpfte, rief ihren Ehemann, der noch im Nebenzimmer die Zeitungen las, theilte ihm sofort Alles mit, worauf der Knecht augenblicklich der Polizei übergeben und von den Geschworenen zu 10 Jahren Strafarbeit verurtheilt wurde. Aerzte sind nicht befragt worden. — Einen fast gleichen Fall hat Maschka (l. c. pag. 147) begutachtet; ebenso einen weiteren, in welchem ein 15jähriges Mädchen, welches, des Tages stark beschäftigt, erst um zwei Uhr Nachts zur Ruhe gekommen war, gegen Morgen eine Berührung ihrer Genitalien und einen Schmerz in denselben empfand, aber erst durch das Umfallen eines Brettes aufwachte und nun bemerkte, wie ihr Dienstherr mit entblösstem Gliede, von ihrem Bette herabsprang und davonlief. Ein Arzt fand einen frisch blutenden Einriss und Maschka nach 14 Tagen die entsprechende Narbe und eine sehr enge Scheide. Der Mann war geständig, doch will er nur mit den Fingern an den Genitalien gespielt, und da das Mädchen die Augen aufschlug, gemeint haben, dass sie sich seine Manipulation gefallen lasse. — Auch Liègey (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 553) berichtet über die Nothzucht einer schlafenden Frau. Ein Bauernbursche hatte im Wirthshause gewettet, dass er in der Nacht zu einer etwas schwachsinnigen Bäuerin schleichen und statt deren Mann den Beischlaf ausüben werde. Die That wurde wirklich ausgeführt. Die Frau erwachte zwar, liess jedoch den Act zu, weil sie den Thäter für ihren Mann hielt. Ersterer wurde verurtheilt. — Die Möglichkeit der Versetzung eines Individuums in „magnetischen Schlaf“ und der Missbrauch von Frauen während des letzteren, welche eine bereits abgethane Sache zu sein schien und auch von Tardieu aus Anlass einzelner derartiger wirklich vorgekommener Behauptungen in diesem Sinne begutachtet wurde (l. c. pag. 90 und 173), ist durch den Nachweis sogenannter hypnotischer Zustände (Cermak, Henkel, [S. 155]Charcot etc.) wieder discutirbar geworden. Dass es solche Zustände wirklich gibt und dass dazu disponirte Individuen (sogenannte Medien) durch gewisse Manipulationen in den hypnotischen Zustand versetzt werden können, kann heutzutage nicht mehr geleugnet werden. Wir selbst haben einen solchen Fall auf der Klinik Meynert’s und einen zweiten, eine Hochschwangere betreffend, bei C. v. Braun gesehen. Letzterer ist von Pritzl (Wiener med. Wochenschr. 1886, pag. 6) publicirt worden und deshalb von besonderem Interesse, weil es gelang, die Hypnose während des Geburtsactes einzuleiten und in diesem Zustande die Entbindung schmerzlos zu beenden.
Angesichts dieser Thatsache ist es nicht unmöglich, dass gelegentlich ein solcher absichtlich eingeleiteter oder zufällig bestehender hypnotischer Zustand zur Ausführung des Beischlafes oder eines anderen Unzuchtactes ausgenützt werden kann. In der That berichtet Brouardel (Annal. d’hygiène publ. 1879, pag. 39) über einen in vielen Beziehungen höchst merkwürdigen Fall, in welchem ein Zahnarzt an einer 20jährigen Person, die er durch gewisse Manipulationen in einen „hypnotischen Zustand“ versetzte, wiederholt, und zwar in Gegenwart der in demselben Zimmer befindlichen Mutter des Mädchens, den Beischlaf ausgeübt haben soll! Auch Ladame (Annal. d’hygiène publ. 1882, Nr. 6, pag. 518) berichtet von einem Mädchen, welches in Gegenwart von Zeugen von einem Manne magnetisirt worden war und einmal, als dieses ohne Zeugen und gegen ihren Willen geschah, missbraucht und geschwängert worden sein wollte. Die Anklage gegen den Mann wurde fallen gelassen, weil es wahrscheinlich war, dass das Mädchen auf diese Weise einen Freiplatz in der Gebäranstalt erhalten wollte und weil, wie es in den Motiven lautete, es dem Mädchen, da es bereits wiederholt unter anderen Umständen in Hypnose versetzt worden war, leicht gewesen ist, exacte Angaben über derartige Zustände zu machen. Siehe auch Vibert: „De l’hypnotisme au point de vue médico-légale.“ Ibid. 1881, Nr. 35, pag. 399. Letzterer bemerkt mit Recht, dass die Schwierigkeit bei der Beurtheilung solcher Fälle nicht in der Frage liegt, ob eine Person hynotisirbar sei, denn diese lässt sich durch den Versuch leicht beantworten, sondern in der, ob dieselbe zur Zeit der an ihr begangenen oder unternommenen Handlung hypnotisch gewesen sei oder nicht. Da es sich meist um Hysterische handelt, kann man gegenüber solchen Angaben nicht genug vorsichtig sein.
Der Hypnose ähnlich sind gewisse cataleptische Zustände. Mabille (Annal. méd. psychol. 1884, IV, pag. 83) berichtet über den Missbrauch eines 22jährigen schwachsinnigen und hysterischen Mädchens in einem solchen Zustande durch vier Männer. Anfälle von zeitweise eintretendem, 15 Minuten bis 9 Stunden dauerndem, cataleptischem Schlaf bestanden seit 10 Jahren und auch während der Hauptverhandlung wurde das Mädchen von einem solchen ergriffen.
Ausser der bis jetzt besprochenen transitorischen Wehr- oder Bewusstlosigkeit gibt es gewisse Zustände, welche in mehr dauernder Weise dem Individuum nicht gestatten, die Bedeutung des mit[S. 156] ihm Geschehenden zu erfassen und in diesem Sinne seinen Willen zu bethätigen, nämlich gewisse psychische Schwächezustände und die Geisteskrankheiten im engeren Sinne.
Der geschlechtliche Missbrauch „geisteskranker“ Frauenspersonen wird nur im deutschen St. G. (§. 176, lit. 2) ausdrücklich erwähnt, und unter diesem Ausdruck können sowohl an Geistesstörungen im engeren Sinne als an Blödsinn oder Schwachsinn leidende Personen subsumirt, beide aber ausserdem auch als „willenlose“ Individuen im Sinne derselben Gesetzesstelle betrachtet werden.
Das gegenwärtige österr. St. G. enthält keine directen derartigen Bestimmungen, doch unterliegt es keinem Zweifel, dass, wenn es von dem Beischlaf mit im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindlichen Personen spricht, es unter letzteren auch Blödsinnige und Geistesgestörte gemeint hat. Im St. G. Entwurf ist zwar ebenfalls weder von Blödsinnigen, noch von Geisteskranken die Rede, aber von „willenlosen“ Personen, in welchen Begriff offenbar Blödsinnige etc. miteingeschlossen sind.
Die Diagnose, ob bei einem Individuum ein psychischer Schwächezustand oder eine Geistesstörung besteht, wird nach allgemein psychiatrischen Grundsätzen zu beurtheilen sein, und die Frage, in welchem Grade durch die psychische Anomalie das Individuum gegenüber dem mit ihm vorgenommenen geschlechtlichen Acte in seinem Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsvermögen verhindert war, nach jenen Principien, die bei der Besprechung der Dispositionsfähigkeit erörtert werden sollen.
Hier sei nur bemerkt, dass es in derartigen Fällen nicht blos darauf ankommt, ob das betreffende Individuum thatsächlich zu jener Zeit geistesschwach oder geisteskrank war, sondern ob dieser Zustand auch vom Thäter als solcher erkannt worden sein musste.
Zwei Burschen von 16 und 17 Jahren hatten wiederholt eine 20jährige taubstumme und zugleich blödsinnige Person geschlechtlich gebraucht und wurden, dabei ertappt, wegen Nothzucht im Sinne des §. 127 angeklagt. Bei der Schlussverhandlung bestritten sowohl die Angeklagten, als mehrere Zeugen den Blödsinn des Mädchens, indem sie aus dem Umstande, dass dasselbe sowohl die Angeklagten, als andere Personen selbst zum Coitus eingeladen hatte, folgerten, dass dieselbe sehr gut wisse, was sie thue und insbesondere die Bedeutung eines solchen Actes zu beurtheilen im Stande sei. — Wir setzten in unserem Plaidoyer auseinander, dass die Person thatsächlich blödsinnig und nicht blos taubstumm sei, gaben jedoch mit Rücksicht auf die Umstände und Zeugenaussagen zu, dass dieselbe von den Angeklagten für blos taubstumm und sonst dispositionsfähig gehalten worden sein konnte, worauf auch die Freisprechung erfolgte. Auch Kornfeld berichtet (Arch. f. Psych. IX, pag. 188) über einen derartigen Missbrauch einer geistesschwachen Person, bei dessen Beurtheilung das Gericht von einer ähnlichen Anschauung ausging, wie wir in dem unserigen.
[S. 157]
Dieser Umstand wäre auch bei gewissen Formen des hysterischen Irrsinns, sowie gegenüber den maniakalischen Exaltationszuständen zu berücksichtigen, welche Psychosen dem Laien nicht sofort als solche erkennbar sind und bei welchen es um so leichter zu geschlechtlichen Acten kommen kann, als bekanntlich gerade bei diesen Formen die gesteigerte sexuelle Erregbarkeit eine fast constante Theilerscheinung des gesammten Krankheitsbildes zu bilden pflegt. Einen einschlägigen Fall, betreffend den Missbrauch einer mit Mania menstrualis in periodischer Wiederkehr und nymphomanischem Krankheitsbild behafteten Person hat Krafft-Ebing begutachtet (Friedreich’s Blätter, 1879, pag. 448).
Ad 5. Beischlaf mit Mädchen unter 14 Jahren wird sowohl vom österreichischen als vom deutschen Strafgesetze mit schwerer Strafe bedroht, wenn auch, wie in solchen Fällen gewöhnlich, der geschlechtliche Missbrauch mit Einwilligung der Gebrauchten geschah. Das Gesetz stellt solche Individuen in gleiche Linie mit wehr- und bewusstlosen Personen, indem es einerseits die noch nicht erfolgte psychische Entwicklung, anderseits die psychische Infirmität im Auge hat. Das 14. Jahr wurde als Grenze gesetzt mit Rücksicht auf die Erfahrung, dass in unserem Klima die Geschlechtsreife um diese Zeit sich einstellt, und weil erst von da an angenommen werden kann, dass das betreffende Individuum die Bedeutung des Beischlafes zu erkennen und für Zulassung oder Abwehr desselben frei sich zu entscheiden vermag.
Auf die Thatsache, dass nicht selten die Geschlechtsreife erst nach dem 14. Jahre sich einstellt, nimmt das Gesetz keine Rücksicht. Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, dass ein Beischlaf mit einem Individuum unter 14 Jahren nur dann strafbar erscheint, wenn der Thäter wusste, dass dasselbe das vom Gesetze bezeichnete Alter noch nicht erreicht hatte. Hatte er Gründe, dasselbe zufolge seiner körperlichen Entwicklung für älter zu halten, dann befand er sich allerdings in einem nach §. 2, lit. e des österr. St. G. die Zurechnung ausschliessenden Irrthume.[103] Es wird jedoch frühzeitige Geschlechtsreife nicht in Betracht kommen, wenn sonst dem Thäter das Alter bekannt war. In einem von Taylor[104] mitgetheilten Falle war das betreffende Mädchen zur Zeit, als gegen ihren Verführer die Anklage wegen Nothzucht erhoben wurde, nicht ganz 12 Jahre und 6 Monate alt und — befand sich im letzten Monate der Schwangerschaft. Die Menstruation hatte sich bei dieser Person, einem Fabriksmädchen, im Alter von 10 Jahren und 2 Monaten eingestellt, und der erste, seitdem wiederholt fortgesetzte Beischlaf hatte stattgefunden, als dasselbe 11 Jahre und 8 Monate alt gewesen[S. 158] war. Trotz diesen Umständen wurde der Angeklagte zu 2 Jahren Kerker verurtheilt.
Die Nothzucht mit Kindern bildet die häufigste Form des gesetzwidrigen Beischlafes; dies beweist die Criminalstatistik aller Länder, welche zugleich lehrt, dass nicht vielleicht der Geschlechtsreife bereits nahestehende Mädchen Opfer solcher Attentate wurden, sondern dass die grösste Zahl Kinder im zartesten Alter betraf und dass selbst das Säuglingsalter nicht verschont geblieben ist.
Das jüngste in der Weise missbrauchte Kind war 8 Monate (!) alt und der betreffende in Wien vorgekommene Fall wird von Schauenstein (Lehrb. 1875, pag. 125) erwähnt. Nach Tardieu („Attentats aux moeurs.“ 1878, pag. 19) kamen in Frankreich in den Jahren 1851 bis inclusive 1875 22.017 Nothzuchtsfälle zur gerichtlichen Untersuchung und von diesen betrafen nur 4360 erwachsene weibliche Individuen, dagegen 17.657 Kinder. Casper und Liman (l. c. 115) haben zusammen bis zum Jahre 1874 406 Individuen wegen an ihnen verübter Nothzucht untersucht. Von diesen waren mehr als 70 Procent Kinder unter 12 und mehr als 84 Procent unter 14 Jahren. Hiervon befanden sich 8 im Alter von 1½-2 Jahren (!), 64 im Alter von 3–6, 161 von 7–10, 59 von 11–12 und 60 im Alter von 13–14 Jahren. Von 248 Fällen von Nothzucht, die Maschka (l. c. 102) untersuchte, betrafen 3 weibliche Individuen von 4½, 5 von 5, 11 von 6, 37 von 7–10, 60 von 10–12 und 55 von 12–14 Jahren.[105]
Es wurde bereits oben erwähnt, dass bei Kindern desto weniger von einem vollkommenen Beischlafe, d. h. von einer Immissio penis in vaginam die Rede sein kann, je mehr das betreffende Kind noch von dem Zeitpunkte der Geschlechtsreife entfernt ist. Es bleibt daher in der Regel nur bei Cohabitationsversuchen, die sich in der Vulva abspielen und meistens den Hymen intact lassen. Wurde trotz des Missverhältnisses der beiderseitigen Genitalien die Einführung des Gliedes forcirt, dann können, wenn der Act mit einer gewissen Brutalität vollzogen wurde, Zerreissungen der äusseren Genitalien erfolgen, wobei auch die grössere Zerreisslichkeit der kindlichen Gewebe zu berücksichtigen sein wird. Doch müssen wir wieder darauf zurückkommen, was wir bereits oben bemerkt haben, dass es bei dem Umstande, als der Kraftentwicklung des gesteiften Gliedes schon seiner Empfindlichkeit wegen gewisse Grenzen gesetzt sind, wie schon daraus hervorgeht, dass es häufig genug nicht einmal ein festeres Hymen[S. 159] zu überwinden vermag, wenn grobe Verletzungen der Genitalien sich finden, in der Regel wahrscheinlicher sein wird, dass dieselben durch gewaltsame Einführung eines resistenteren Körpers als des Penis, insbesondere der Finger, entstanden sind. In dieser Weise ist unseres Erachtens auch der schauerliche, von Taylor (l. c. 444) mitgetheilte Fall zu deuten, der ein 11monatliches (!) Kind betraf, welches von einem betrunkenen Soldaten genothzüchtigt worden sein soll und Tags darauf in Folge der dabei erlittenen Verletzungen starb. Es fanden sich die gesammten äusseren Genitalien in einem gequetschten Zustande, das Perineum war fast ganz, die Schleimhautfalten des Vestibulums an mehreren Stellen eingerissen, die Vagina vom Uterus abgerissen und durch eine grosse Oeffnung mit der Bauchhöhle in Verbindung stehend. Es ist nicht denkbar, dass durch den Penis diese Verletzungen entstanden sein sollten, wohl aber lässt sich ihre Entstehung durch brutale Manipulationen erklären, wofür auch der Umstand spricht, dass, als die Mutter den Soldaten bei ihrem Kinde getroffen hatte, dessen ganze eine Hand blutig gewesen war.
Wohl zu beachten ist jedoch, dass selbst bei von der Pubertät noch weit entfernten Kindern durch fortgesetzte Manipulationen und Cohabitationsversuche die Genitalien vorzeitig so erweitert werden können, dass sie die Immissio penis zu einer Zeit zulassen, in welcher bei anderen Mädchen dies noch unmöglich gewesen wäre, und eine solche Erweiterung bietet natürlich sehr wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose von an dem Kinde vorgenommenen geschlechtlichen Acten, um so mehr, je weiter dieselbe gediehen ist und je mehr sie mit dem Alter des Kindes im Missverhältniss steht. Es ist interessant in dieser Beziehung, dass, wie Taylor aus glaubwürdiger Quelle berichtet, die Eingeborenen von Calcutta die Genitalien kleiner Mädchen mit den Früchten des Pisang künstlich erweitern, um sie recht bald zum Coitus tauglich zu machen; noch interessanter ist aber das Factum, dass auch Casper einen Fall zu untersuchen Gelegenheit hatte, in welchem eine Mutter ihrer 11jährigen Tochter täglich ein ovales Steinchen in die Vagina einführte, um dieselbe recht bald zur Zulassung des Beischlafes zum Behufe des Erwerbes zu befähigen.
Die gerichtsärztliche Beurtheilung von in Folge eines Nothzuchtsactes zur Entwicklung gekommenen Gesundheits- oder Berufsstörungen, sowie von besonderen im Gesetze ausdrücklich bezeichneten schweren Folgen (österr. St. G. §. 126, österr. St. G. Entwurf §§. 187, 188 und 189, deutsches St. G. §. 178) fällt zusammen mit der forensisch-medicinischen Beurtheilung von „Verletzungen“ überhaupt, wie insbesondere aus der ausdrücklichen Hinweisung der citirten Paragraphe des österr. S. G. Entwurfes auf die für „schwere Verletzung“ geltenden Bestimmungen hervorgeht.[S. 160] Indem wir daher auf die Lehre von den Verletzungen verweisen, beschränken wir uns hier blos darauf, Folgendes zu bemerken:
Wichtigere Nachtheile für die Gesundheit einer durch gesetzwidrigen Beischlaf missbrauchten Person können hervorgehen erstens aus dem Beischlaf als solchem, zweitens aus den zur Ermöglichung desselben in Anwendung gebrachten Mitteln.
Zu ersteren gehören Verletzungen der Genitalien, ferner durch die mechanische Irritation bewirkte entzündliche Zustände[106] und stattgehabte virulente Affection, sowie auch insbesondere durch frühzeitige und wiederholte geschlechtliche Erregung hervorgerufene Nervenkrankheiten; zu letzteren die Verletzungen anderer Organe, ferner der mit einer Ueberwältigung einer Person verbundene allgemein somatische, insbesondere aber psychische Insult, sowie die Gesundheitsstörung, welche durch ein etwa zur Betäubung angewendetes inneres Mittel erzeugt worden ist. Alle diese Processe können entweder nur eine vorübergehende Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit bedingen, und es wird von ihrer Natur abhängen, ob die Gesundheitsstörung als eine „wichtige“ oder gar lebensgefährliche im Sinne des §. 125 des österr. St. G. aufzufassen sein wird, beziehungsweise ob im Sinne des §. 187 und 189 des St. G.-Entwurfes dieselbe „über eine Woche“ angehalten haben konnte; oder sie hinterlassen bleibende schwere Folgen, welche dann nach der Bestimmung des §. 156 des österr. St. G. oder nach jener des §. 232 des österr. St. G.-Entwurfes, beziehungsweise nach denen des §. 224 des deutschen St. G. zu begutachten sein werden.
Am häufigsten sind es venerische Affectionen, die als Folgezustände eines stattgehabten gesetzwidrigen Beischlafes sich ergeben. Nach der unbestimmten Fassung des §. 126 des österr. St. G. könnte es fraglich erscheinen, ob eine Ansteckung mit Tripper oder mit einem weichen Schanker, wenn die Affection local beschränkt bleibt, als ein „wichtiger“ Nachtheil an der Gesundheit aufzufassen wäre, da der Ausdruck „wichtig“ Deutungen zulässt. Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, dass ein derartiges Leiden im Sinne des §. 231 des Entwurfes als ein solches zu bezeichnen wäre, welches eine über eine Woche dauernde Gesundheitsstörung bildet. Zweifellos ist aber die Affection als ein „wichtiger“ Nachtheil an der Gesundheit zu erklären, wenn der Process sich auf die inneren Organe fortpflanzt, was bekanntlich gerade beim Weibe in der Form der sogenannten ascendirenden Gonorrhoe häufig geschieht und zu langwierigen und lästigen Leiden Veranlassung gibt. Auch acute, selbst lebensgefährliche Erkrankungen, namentlich Arthritis und Peritonitis, kommen nach Gonorrhoe vor, wovon Haberda (l. c. 243) instructive Fälle mittheilt, darunter der von[S. 161] Bordoni-Uffreduzzi, der ein 11jähriges, von einem mit Tripper behafteten Manne stuprirtes Mädchen, betraf, das darnach an Gonorrhoe erkrankte, der bald Polyarthritis, Peri- und Endocarditis und Pleuritis folgte. In dem durch Punction gewonnenen Pleuraexsudate wurden Gonokokken mikroskopisch und culturell nachgewiesen.
Auch der weiche Schanker kann durch Uebergreifen und Vereiterung der Drüsen durch phlegmonöse oder gangränöse Processe Thrombosen u. dgl. zu einem „wichtigen“ gesundheitlichen Nachtheil werden.
Die Infection mit Syphilis wäre unter allen Umständen, namentlich aber dann als ein wichtiger Nachtheil an der Gesundheit zu bezeichnen, wenn Consecutiverkrankungen zur Entwicklung gekommen sind, und es wäre denkbar, dass letztere so weit gediehen sein konnten, dass der Zustand vielleicht selbst als „Siechthum“ (§. 232 österr. St. G.-Entwurf und §. 224 deutsches St. G.) zu begutachten wäre.
Von den übrigen der genannten Folgen des gesetzwidrigen Beischlafes seien hier nur noch die neuro- und psychopathischen Zustände erwähnt. Am häufigsten sind es krampfartige, epileptoide Zustände der Kinder, welche mit an ihnen begangenen Nothzuchtsacten in ursächliche Verbindung gebracht werden. Ein solcher Zusammenhang ist, wenn man einestheils die zarte, gegen starke Reize besonders empfindliche Constitution der Kinder im Auge behält, anderseits aber die Thatsache in Betracht zieht, dass periphere Reize auf reflectorischem Wege epileptoide Zustände hervorrufen können, desto weniger als unmöglich hinzustellen, je zarter das betreffende Kind und je intensiver und anhaltender und je öfter sich wiederholend die Reizung seiner Genitalien durch die Cohabitationsversuche gewesen ist.
Doch ist bei der Beurtheilung solcher Fälle mit grösster Vorsicht vorzugehen. Zunächst wird das thatsächliche Vorhandensein convulsiver Anfälle und die Natur der letzteren zu constatiren sein, denn Lügen und Uebertreibungen von Seite der Angehörigen und auch der Kinder selbst gehören gerade in dieser Beziehung nicht zu den Seltenheiten. Ferner wird erhoben werden müssen, ob der Zeitpunkt des Auftretens der Convulsionen mit jenem der an dem Kinde vorgenommenen geschlechtlichen Acte zusammenfällt, oder ob dieselben nicht vielleicht schon früher vorhanden waren oder erst lange darnach aufgetreten sind. Weiter aber wird es Aufgabe des Arztes sein, nach etwaigen anderen Ursachen der Convulsionen zu forschen. Bekanntlich werden Convulsionen im Kindesalter ziemlich häufig beobachtet und es sind insbesondere hydrocephalische Zustände, die sie veranlassen, ferner periphere Reize nicht sexueller Art (Wurmreiz), und man weiss, dass namentlich bei schwächlichen, durch Krankheit herabgekommenen Kindern, dann während gewisser physiologischer Perioden, wie des Zahnwechsels, der Pubertät, eine erhöhte Reizbarkeit und grössere[S. 162] Geneigtheit zum Entstehen neuropathischer, insbesondere convulsivischer Zustände besteht.
Solche natürliche Ursachen der constatirten Krämpfe etc. müssen zunächst berücksichtigt werden, obwohl wieder zu beachten sein wird, dass, wenn bereits aus einem der genannten Gründe eine grössere Reizbarkeit besteht, auch durch hinzugekommene sexuelle Erregungen leichter neuropathische Zustände hervorgerufen werden können. Noch weniger wird aber zu übersehen sein, dass habituelle Onanie ebenfalls im Stande ist, jene Erkrankungen zu erzeugen[107], und die Rücksichtnahme auf diese Möglichkeit ist um so wichtiger, als auch durch ein solches Laster an den Genitalien, ausgenommen Hymenlacerationen, gleiche Veränderungen zu Stande kommen können, wie nach anderweitigen wiederholt vorgenommenen sexuellen Acten.
Bei Erwachsenen können in Folge der mit gewaltsamer Erzwingung des Beischlafes verbundenen heftigen Affecte des Schreckens und der Angst, sowie in Folge der durch den Verlust der Geschlechtsehre gesetzten gemüthlichen Depression neuro- und psychopathische Zufälle eintreten. Melancholisches, vorzugsweise aber hysterisches und hystero-epileptisches Irrsein kann sich aus einer solchen Veranlassung entwickeln, wie drei einschlägige, von Krafft-Ebing[108] veröffentlichte Beobachtungen zeigen. Eine etwa schon früher bestandene Prädisposition zu geistiger Erkrankung erleichtert das Zustandekommen derartiger Psychosen und ist bei der Begutachtung in Betracht zu ziehen.
Die höchste Strafe ist auf Nothzucht dann gesetzt, wenn durch dieselbe der Tod verursacht wurde. Selbstverständlich ist in den betreffenden Stellen nur der Tod gemeint, der ohne Absicht des Thäters durch seine auf gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichtete Handlung erfolgt ist, und zwar entweder während des betreffenden Actes oder nachträglich.
Während des Actes kann der Tod durch Erstickung erfolgen, und zwar durch die Vorgänge, welche der Thäter unternimmt, um einerseits sein Opfer zu überwältigen, anderseits um dasselbe am Schreien zu hindern. Also durch Verschluss der Respirationsöffnungen mit der Hand, Bedecken des Gesichtes mit Tüchern, Betten oder mit den über den Kopf geschlagenen Röcken der Genothzüchtigten, ferner durch Würgen am Halse. Der gleichzeitige Bestand von mit Respirationsbeschwerden verbundenen Krankheiten, wie Lungen- oder Herzkrankheiten, kann den tödtlichen Ausgang eines solchen Gewaltactes wesentlich begünstigen. Auch kann der Tod durch Herzlähmung eintreten, und zwar entweder[S. 163] durch von den heftigen Affecten veranlassten Shock oder durch Ueberanstrengung des Herzens, und zwar desto leichter, wenn das Herz schon früher erkrankt war, insbesondere wenn Klappenfehler oder fettige Degenerationen des Muskelfleisches bestanden, welche Zustände, wie nicht seltene Erfahrungen lehren, auch bei freiwillig zugelassenem Coitus, und zwar sowohl beim Manne als beim Weib den Tod herbeiführen können. Der seinerzeit viel Aufsehen erregende, in Glogau vorgekommene Fall gehört vielleicht in eine dieser Kategorien.
Nachträglich kann der Tod eintreten in Folge ausgebreiteter Verletzung der Genitalien und der durch sie veranlassten secundären Processe, ebenso in Folge bei der Ueberwältigung erzeugter anderweitiger Verletzungen[109], ferner auch in Folge des etwa angewandten Betäubungsmittels (Chloroform), welches übrigens auch schon während und selbst vor dem geschlechtlichen Acte den Tod veranlassen kann, endlich möglicher Weise auch in Folge der stattgefundenen Ansteckung.[110]
Die Untersuchung und Begutachtung solcher Fälle würde nach den bei der Besprechung der gewaltsamen Todesarten auseinanderzusetzenden Grundsätzen zu erfolgen haben. In jenen Fällen, in denen der Tod während des Actes oder gleich darnach erfolgte, wäre die Diagnose des thatsächlich stattgefundenen Beischlafes insoferne leichter, als sowohl die etwa geschehenen Veränderungen an den Genitalien anatomisch untersucht, als auch Spermatozoen im Genitalcanale selbst gefunden werden können.
Schliesslich sei bemerkt, dass die von älteren Autoren bestrittene Möglichkeit einer Conception durch einen ohne Einwilligung vollzogenen Beischlaf nicht den geringsten Zweifeln unterliegen kann, dass aber eine durch einen Nothzuchtsact erfolgte Schwängerung weder vom österreichischen, noch vom deutschen Gesetze als ein erschwerender Umstand betrachtet wird, obgleich, da auch andere aus der That entsprungene, wenn auch nicht beabsichtigte wichtige Folgen (und als solche muss doch eine stattgehabte Schwängerung gewiss betrachtet werden) dem Thäter imputirt, d. h. bei der Bemessung der Strafe in Betracht gezogen werden, eine solche Bestimmung vertreten werden könnte.
[S. 164]
Selbstverständlich hat in einem solchen Falle der Thäter alle jene Paternitätspflichten zu erfüllen, die durch das bürgl. Gesetzbuch vorgeschrieben sind. Während jedoch das österr. allg. bürgl. Gesetzbuch bei der Bestimmung des von Seite des Vaters zu Leistenden auf den bezeichneten Fall keine Rücksicht nimmt, enthält der §. 1 des preuss. Gesetzes vom 24. April 1854 die ausdrückliche Bestimmung, dass eine Frauensperson, welche durch Nothzucht oder im bewusstlosen oder willenlosen Zustande geschwängert worden, berechtigt ist zu verlangen, dass ihr das im allg. Landrechte vorgeschriebene höchste Mass der Abfindung zugesprochen werde.
Das gegenwärtige österr. St. G. B. (§. 128) bezeichnet den geschlechtlichen Missbrauch von Knaben und Mädchen unter 14 Jahren, sowie von im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindlichen Personen, wenn derselbe auf andere Weise als durch Beischlaf erfolgte und auch nicht die Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechtes darstellte, als Schändung, welchen Ausdruck wir der Kürze wegen beibehalten können.
Gleichen geschlechtlichen Missbrauch versteht der österr. St. G.-Entwurf (§§. 185, 187, 188) und das deutsche St. G. (§§. 174, 176) unter „unzüchtigen Handlungen“ im engeren Sinne, d. h. abgesehen vom Beischlaf und von Päderastie. Eine nähere Bezeichnung der Art und Weise, in welcher in diesem Sinne der geschlechtliche Missbrauch erfolgt sein muss, ist im Gesetze nicht angegeben, wäre auch bei der Dehnbarkeit des Begriffes „unzüchtige Handlung“ nicht leicht auszuführen. Deshalb hat auch das preuss. Obertribunal angenommen, dass die Frage, welche Handlungen als „unzüchtige“ zu betrachten sind, thatsächlicher Natur und durch die Geschwornen zu beantworten sei.[111]
Erfahrungsgemäss bestehen derartige unzüchtige Handlungen meistens in Manipulationen an den Genitalien der betreffenden Personen, oder darin, dass diese, insbesondere Kinder, zu onanistischen Zwecken missbraucht werden, Vorgänge, die sowohl mit männlichen als weiblichen Personen und beidemale sowohl von Männern als von weiblichen Individuen vorgenommen werden können.[112][S. 165] In letzterer Beziehung besteht zwischen der Fassung des §. 128 des österr. St. G. und des §. 187, lit. 2 des österr. Entwurfes ein wesentlicher Unterschied. Zufolge ersterer musste, wenn die Handlung als Schändung aufgefasst werden sollte, der geschlechtliche Missbrauch an der Person der Gemissbrauchten verübt worden sein und das Verbrechen war nicht vorhanden, wenn letztere Person blos als Werkzeug der Selbstbefleckung benützt wurde, in welchem Fall die That als Verführung zur Unzucht (§. 132) zu qualificiren war.[113] Der erwähnte Paragraph des österr. Entwurfes behandelt und straft beide Vorgänge auf gleiche Weise, ebenso der §. 176, lit. 3 des deutschen St. G., indem es in beiden heisst: „Mit Zuchthaus wird bestraft, wer — — — 3. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.“
Die Aufgaben des Gerichtsarztes sind in allen solchen Fällen die gleichen wie bei der Beurtheilung eines gesetzwidrig vorgenommenen Beischlafes. Er hat nämlich zu untersuchen, erstens, ob an dem angeblich gemissbrauchten Individuum Zeichen vorhanden sind, welche auf eine mit demselben getriebene unzüchtige Handlung schliessen lassen, zweitens, ob Zeichen einer stattgehabten Ueberwältigung bestehen oder mit Rücksicht auf §. 128 österr. St. G., ob das Individuum zur Zeit der That wehr- oder bewusstlos (geisteskrank) war, und drittens, ob und welche Folgen aus dem geschlechtlichen Missbrauche für das gemissbrauchte Individuum entstanden sind.
Wieder sind zunächst die Genitalien zu untersuchen, ob an denselben Veränderungen bestehen, welche auf an diesen ausgeübte Manipulationen zu beziehen sind. Die Veränderungen, welche auf diese Weise an den weiblichen Genitalien entstehen können, werden abhängen einestheils von der Brutalität, mit welcher vorgegangen wurde, dann aber auch von der Weite der betreffenden Theile, sowie, was insbesondere bei Kindern in Betracht kommt, auch davon, ob der geschlechtliche Missbrauch nur einmal oder nur einigemale und selten, oder wiederholt und in kurzen Zwischenräumen erfolgte.
Durch brutales Einbohren der Finger in die Genitalien kleiner Mädchen können aus den oben angeführten Gründen viel leichter Zerreissungen des Hymen entstehen, als durch den Penis, mit dem ein Vordringen bis zum Hymen und über dasselbe hinaus desto weniger möglich ist, je enger noch die betreffenden Organe gewesen sind. Ueberhaupt müssen bei solchen Verletzungen die Raumverhältnisse der betreffenden weiblichen Genitalien mit dem Caliber des Penis, beziehungsweise des Fingers, verglichen werden, um die Frage zu beantworten, ob dieselben mit diesem oder mit[S. 166] jenem entstanden sein konnten. Mitunter können sich Befunde ergeben, die sofort als nicht durch den Penis, sondern durch den eingebohrten Finger oder mindestens ähnliche harte und verhältnissmässig dünne Körper erzeugte, zu erkennen sind. So bildet Tardieu (l. c. Taf. II, Fig. 5) einen Fall ab, in welchem, ohne dass der freie Rand des halbmondförmigen Hymen verletzt war, im mittleren Theile des letzteren eine unregelmässig eingerissene, senkrecht nach abwärts bis in’s Schambändchen dringende Zerreissung sich fand, die offenbar durch den gewaltsam durchgestossenen Finger entstanden ist. Solche Perforationen sind aber nicht zu verwechseln mit angeborenen Oeffnungen, welche an diesen Stellen vorkommen können (vide Fig. 27 und 36). Ebenso konnte in dem von Lender[114] mitgetheilten Falle, in welchem aus der hochgradig entzündeten Scheide eines 4jährigen Mädchens, dessen Hymen frisch gerissen war, ein Stückchen eines von ihrem Unterröckchen herrührenden Wollstoffes herausgezogen wurde, kein Zweifel darüber bestehen, dass ein solcher Befund nicht durch den Penis, wohl aber durch den gewaltsam eingebohrten Finger erzeugt worden sein konnte. — In anderen Fällen können die charakteristischen Abdrücke von Fingernägeln Aufschluss geben über die Art des Insultes, welcher die betreffenden Genitalien getroffen hatte.
Beschränkte sich der geschlechtliche Missbrauch des Mädchens nur auf Betastungen der Genitalien u. dergl., so sind, namentlich nach blos einmaligem oder selten vorgenommenem derartigen Acte keine Veränderungen an den Geschlechtstheilen zu erwarten. Wiederholte solche Manipulationen können theils Irritationserscheinungen hervorrufen, theils jene Erschlaffung und Ausweitung der Theile bewirken, die auch durch wiederholte Cohabitationsversuche, aber auch durch habituelle Onanie sich bilden kann.
Geschlechtlicher Missbrauch von Knaben kann Irritationserscheinungen am Penis, Erschlaffung des Präputiums u. dergl, zurücklassen, die ihrerseits wieder ebenfalls durch Onanie entstehen können. In der überwiegenden Zahl der Fälle von Schändung sowohl von Knaben als Mädchen finden sich keine auffallenden[S. 167] Veränderungen an den Genitalien, und solche werden natürlich insbesondere dann vollkommen fehlen, wenn die Schändung nicht im Missbrauche des Individuums selbst bestand, sondern wenn dieses als Werkzeug zur Selbstbefleckung benutzt worden ist.
Die Frage, ob Ueberwältigung stattgehabt hatte, oder ob das missbrauchte Individuum wehr- oder bewusstlos war, ist natürlich nach denselben Grundsätzen zu untersuchen und zu beantworten, wie sie bei der Nothzucht besprochen worden sind.
Gleiches gilt von der Beurtheilung der Frage, ob durch die unzüchtige Handlung Nachtheile für die Gesundheit entstanden sind oder dadurch gar der Tod herbeigeführt wurde. Venerische Ansteckung kommt bei an Mädchen von Männern begangenen Schändungsattentaten nur selten vor, leichter kann dieselbe erfolgen bei Missbrauch von Knaben durch Frauenspersonen, wie uns selbst ein solcher Fall bekannt ist.
Das österr. St. G. (§. 129) unterscheidet widernatürliche Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechtes und mit Thieren. Ebenso §. 186 des österr. St. G.-Entwurfes und §. 175 des deutschen St. G., jedoch mit dem Unterschiede, dass im letzteren der Begriff der widernatürlichen Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechtes nur auf die zwischen Personen „männlichen“ Geschlechtes, also auf die Päderastie, eingeengt wird. Letztere Beschränkung ist eine sehr zweckmässige; denn wenn auch widernatürliche Unzucht zwischen Weibern, die bereits den Alten als „lesbische Liebe“ und „Tribadie“ bekannt war, auch gegenwärtig häufig genug geübt wird, wie man insbesondere in Gefangenhäusern und Detentionsanstalten für Prostituirte beobachten kann[115], so kommt doch dieser, wenn sie nur zwischen Erwachsenen stattfindet, gewiss nach keiner Richtung hin jene moralische und insbesondere strafrechtliche Bedeutung zu, wie der Päderastie. Wohl wäre dieses aber der Fall bei an Kindern oder hilflosen Personen ausgeübten derartigen Attentaten.
[S. 168]
Einen abscheulichen Fall dieser Art bringt Tardieu (l. c. 69). Eine noch ziemlich junge Frau hatte ihre eigene 12jährige Tochter durch wiederholte Einführung der Finger deflorirt und die betreffende Manipulation mitunter mehrmals im Tage durch lange Zeit ausgeführt. Verhaftet, gab sie an, die Acte im gesundheitlichen Interesse des Kindes (?) vorgenommen zu haben. Welche Motive sie aber thatsächlich dazu bewogen hatten, ging aus der positiven Aussage des Mädchens hervor, welches berichtet, dass ihre Mutter mitunter während der Nacht die betreffenden Acte vornahm, dieselben selbst stundenlang fortsetzte, dabei in grosse Aufregung gerieth und erst aufhörte, bis sie ganz echauffirt und in Schweiss gebadet war.
Unter Päderastie im strafrechtlichen Sinne versteht man die Befriedigung des Geschlechtstriebes durch Immission des Penis in den Anus eines männlichen Individuums. Die Gesetzgeber hatten bei der Fixirung der widernatürlichen Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechtes als besonders zu behandelnden Delictes offenbar nur die genannte sexuelle Ausschreitung im Auge, obwohl der Ausdruck „widernatürliche Unzucht“ Deutungen zulässt, worauf umsomehr hätte Rücksicht genommen werden sollen, als thatsächlich bei vielen, als widernatürliche Unzucht aufgefassten Fällen die Befriedigung des Geschlechtstriebes weniger durch den Anus, als vielmehr nur durch wechselseitige Manustupration erfolgt und häufig combinirte Excesse vorkommen.[116]
Bemerkenswerth ist die Thatsache, dass der „Coitus analis“ auch an weiblichen Individuen geübt wird, wovon schon Tardieu (l. c. 199) Beispiele erwähnt. Aehnliche Fälle, wovon wir einen weiter unten anführen werden, haben wir wiederholt beobachtet, die keinen Zweifel übrig lassen, dass die Zulassung des Coitus per anum sogar eine besondere Art der gewerbsmässigen weiblichen Prostitution in grossen Städten bildet. Damit stimmen die Angaben von Parent-Duchatelet (La prostitution dans la ville Paris. 1858, I, 214) und neuere Beobachtungen von Martineau (Deutsche Med.-Ztg. 1882, pag. 9 und Virchow’s Jahrb. 1881, I, 533 und l. c.) und besonders von
[S. 169]
Coutagne (Lyon médical. Nr. 35 und 36) überein, welcher unter 446 Prostituirten 15 mit positiven Zeichen der Päderastie fand und 165 mit solchen, die wenigstens theilweise von diesem Laster herrühren dürften.
Die von Tardieu mitgetheilten Fälle betrafen sonderbarer Weise zum Theile jung verheiratete Frauen, an welchen die betreffenden Ehemänner, alte Wüstlinge, derartige Attentate versucht hatten. Ausserdem scheint es, dass die Päderastie hier und da unter Eheleuten als eine Form des Malthusianismus geübt wird, d. h. zu dem Zwecke, um dem Kindersegen vorzubeugen.
Die Päderastie ist ein uraltes Laster. Bereits die Bibel setzt Strafen darauf und warnt vor dem Götzendienste des Moloch und Bal Phegor, bei welchem die Päderastie eine grosse Rolle spielte. Bekannt ist die Verbreitung dieses Lasters im classischen Griechenland (griechische Knabenliebe), sowie die Thatsache, dass man die Ausübung desselben nicht blos als nicht anstössig betrachtete, sondern dass auch die berühmtesten Männer Griechenlands sich derselben ergaben.[117] Ebenso bekannt ist das päderastische Treiben in Rom in der Kaiserzeit und die Satyren Juvenal’s und Martial’s, die dasselbe geisseln, sowie die Lex scatinia, die demselben Schranken zu setzen bestimmt war. Die Verbreitung der Päderastie im Mittelalter, besonders im XVII. Jahrhundert in Italien ist namentlich aus Paulus Zacchias’ Quest. med. leg. tomi tres. Lib. IV, Tit. 2, Qu. 5, zu entnehmen.
Gegenwärtig ist die Päderastie nicht minder verbreitet, und zwar nicht blos im Orient, wo sie ungescheut getrieben wird, sondern auch in den hochcivilisirten Ländern Europas und Amerikas, so zwar, dass wir derselben in den grossen Städten sogar in der Form einer gewerbsmässigen Prostitution begegnen, die sich, wie zahlreiche in Paris (Tardieu, l. c. 201), London (Taylor, Medical Jurisprudence. 1873, II, 473), Berlin (Casper-Liman’s Handb. 7. Aufl., I, 183 u. ff.) und Wien vorgekommene Fälle beweisen, häufig mit systematisch geübten Erpressungsversuchen (Chantage), mitunter sogar mit Raub und Mord an den diesen Leuten in die Hände gerathenen Opfern verbindet. Beachtenswerth ist ferner die Thatsache, dass, wie speciell in Wien vorgekommene Fälle beweisen, die Chantage auch gegen ganz Unschuldige geübt wird, indem Personen in Pissoirs, auf einsamen Spaziergängen u. dergl. von zu diesem Zwecke verbundenen Gaunern überfallen, eines päderastischen Attentates beschuldigt und mit der Erstattung der Anzeige bedroht werden. Die peinliche Zwangslage kann ängstliche Personen in der That zu Zahlungen veranlassen, wodurch sie sich begreiflicher Weise ihren Verfolgern erst recht in die Hände geben.
[S. 170]
Die strafrechtliche Behandlung dieses Lasters ist gegenwärtig eine ungleich mildere, als sie früher gewesen war. Während die peinliche Halsgerichtsordnung Karl V. die Strafe des Feuertodes auf widernatürliche Unzucht setzte und in England und Amerika noch in neuerer Zeit auf dieses Verbrechen der Galgen stand, bestraft das österr. Gesetz (§. 130) eine solche That nur mit 1 bis 5 Jahren schweren Kerkers, und der österr. Entwurf, sowie das deutsche St. G. sogar nur mit Gefängniss.
Diese mildere Auffassung hat ihren Grund in der milderen Beurtheilung der geschlechtlichen Ausschreitungen überhaupt, die sich in der modernen Gesetzgebung bemerkbar macht, andererseits aber darin, dass man in Folge psychiatrischer Erfahrungen geneigt ist, die geschlechtliche Zuneigung zu Individuen des eigenen Geschlechtes in einzelnen Fällen mit einem abnormen sexuellen Fühlen in Verbindung zu bringen.
Das Vorkommen einer conträren Sexualempfindung und in Folge dessen einer perversen Richtung des Geschlechtstriebes ist eine durch eine Reihe von Beobachtungen[118] sichergestellte Thatsache, auf welche bei der Beurtheilung der „widernatürlichen Unzucht“ nothwendig Rücksicht genommen werden muss. Wir werden auf diese forensisch sowohl als psycho-pathologisch höchst interessanten Fälle an einer anderen Stelle zurückkommen, bemerken nur hier, dass eine solche „angeborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewusstsein der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung“ (Westphal) vorzugsweise als Theilerscheinung anderer neuro- oder psychopathologischer Zustände beobachtet wurde, und dass es vorläufig noch sehr fraglich erscheint, ob eine solche conträre Sexualempfindung auch als isolirte Erscheinung vorkommen könne.
In der überwiegenden Zahl der Fälle ist die Päderastie weder eine neuro-, noch eine psychopathologische Erscheinung, wie schon die Geschichte dieses Lasters und ihre allgemeine Verbreitung im classischen Zeitalter beweist. Sie findet sich verhältnissmässig häufig in Straf- und Versorgungsanstalten und erklärt sich dort einerseits durch die aus dem gedrängten Zusammenleben vieler Männer sich ergebende Gelegenheit zu solchen Ausschreitungen, anderseits aus der Unmöglichkeit, den Coitus in normaler Weise auszuüben. Das öftere Vorkommen dieses Lasters bei Geistlichen erklärt sich unschwer aus dem Cölibate und aus der Scheu vor den Folgen eines sexuellen Umganges mit dem weiblichen Geschlechte. Letztere kann aber auch bei anderen Ständen angehörigen Individuen den Beweggrund abgeben. So setzte der oben angeführte, wegen Päderastie verurtheilte „Buben-Apis“ den[S. 171] von ihm missbrauchten Burschen offen auseinander, „dass bei Weibspersonen etwas Derartiges viel zu gefährlich sei, da es leicht etwas abgeben könne, während man bei Buben in dieser Beziehung sich nicht zu fürchten brauche“, und dieser Umstand mag auch wohl die Ursache sein, warum mitunter Päderastie auch unter Ehegatten getrieben wird. In wieder anderen treffen wir dieses Laster bei Wüstlingen, für welche der normale geschlechtliche Genuss bereits seinen Reiz verloren, weshalb sie stärkere Reize aufsuchen und in verbotener Unzucht finden. Auch die Verführung spielt eine grosse Rolle. Weiter kommen Fälle vor, dass durch Onanie erregtes Misstrauen in die männliche Potenz, aber auch angeborene fehlerhafte Bildung der Genitalien die Betreffenden veranlasst, die geschlechtliche Befriedigung auf andere Weise zu suchen. Thatsächlich liefern die Onanisten ein Hauptcontingent für päderastische Unzucht. Einen Fall von Hypospadie mit Verkümmerung des Penis bei einem angeblichen Päderasten bringt Casper (l. c. 200) und hier in Wien kam vor einigen Jahren ein Fall vor, wo bei dem thatsächlich päderastischer (passiver) Unzucht ergebenen Individuum eine hochgradige Verkümmerung des Penis gefunden wurde. Auch Ottolenghi (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 444) fand bei Päderasten auffallend häufig Anomalien an den Genitalien und ebenso Virgilio (Lombroso’s Arch. 1889, X, 63).
Man sieht demnach, dass es eine ganze Reihe von Momenten gibt, welche diese psychologisch allerdings merkwürdige Verirrung des Geschlechtstriebes auch ohne Annahme eines neuro- oder psychopathologischen Zustandes vollkommen erklärt, und dieser Umstand, sowie der, dass auch das Rechtsbewusstsein im Volke solche Handlungen nicht blos als Laster, sondern als Verbrechen beurtheilt[119], hat trotz von medicinischer Seite erhobenen und mit Rücksicht auf obige Beobachtungen theilweise gerechtfertigten Zweifeln über die Strafwürdigkeit solcher Handlungen, auch die modernen Gesetzgeber bewogen, die widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechtes in das Strafgesetz aufzunehmen.
Die Päderastie kann man, je nach der Rolle, die die einzelne Person dabei spielt, in eine active und passive unterscheiden.
Die active Päderastie hinterlässt keine charakteristischen Kennzeichen, selbst dann nicht, wenn sie habituell betrieben wurde. Tardieu gibt zwar an, dass er bei einzelnen der von ihm untersuchten activen Päderasten eine hundepenisartig zugespitzte und verschmälerte Eichel gesehen habe, welche Form er von der gewaltsamen und wiederholten Einbringung des Penis in den engen After herzuleiten geneigt ist. Andere haben jedoch nichts Derartiges beobachtet, auch ist nicht abzusehen, wie ein kurz vorübergehender, wenn auch wiederholter Druck auf die doch elastische Eichel an dieser eine solche Formveränderung erzeugen sollte.[S. 172] Wahrscheinlich handelte es sich in Tardieu’s Fällen um angeborene Deformitäten, wie auch Brouardel (Annal. d’hygiène publ. 1880, Nr. 20, pag. 182) bemerkt, der sich durch zahlreiche Beobachtungen überzeugte, dass Form und Volumen der Eichel ungemein variiren. Auch Coutagne (l. c.) konnte bei activen Päderasten in der Regel keine Formveränderung des Penis constatiren, doch fand er bei einem bei der That überraschten 35jährigen Individuum eine ringförmige Furche an der Grenze des vorderen und mittleren Drittels der Eichel, wie sie auch Tardieu in einem Falle gesehen hatte. Wir selbst haben in den von uns untersuchten, allerdings spärlichen Fällen niemals eine Formveränderung des Penis, resp. dessen Eichel, bemerkt und anderseits eine zugespitzte, hundepenisartige Form der Glans an der Leiche ganz unverdächtiger Personen wiederholt beobachtet. Bei forcirter Einführung des Gliedes können Excoriationen an der Eichel und am Präputium entstehen; es ist jedoch begreiflich, dass diesen für sich allein ein besonderer Beweiswerth nicht zukommt. Einer der von Coutagne untersuchten Männer besass eine hochgradige Phimose, Coutagne erklärte, dass letztere die Einführung des Penis in den Anus gerade nicht unmöglich mache, aber jedenfalls erschwere.
Die passive Päderastie ist eher geeignet, diagnostisch verwerthbare Kennzeichen zu hinterlassen, und die Natur dieser wird vorzugsweise von dem Umstande abhängen, ob der betreffende Act zum ersten Male ausgeübt wurde, oder ob habituelle passive Päderastie vorliegt.
Im ersteren Falle sind Zeichen stattgehabter gewaltsamer Ausdehnung der Afteröffnung, insbesondere Excoriationen, Einrisse der Schleimhaut und selbst tiefere Verletzungen, sowie die secundären Irritationserscheinungen, desto eher zu erwarten, mit je grösserer Brutalität der Act verübt wurde und je grösser die Differenz der Dimensionen zwischen der Afteröffnung einerseits und dem Penis anderseits gewesen ist. Daher insbesondere bei noch im kindlichen Alter stehenden Individuen. Bei manchen dieser Fälle dürfte es sich übrigens gar nicht um eine Immission des Penis in den Anus, sondern um Befriedigung des Geschlechtstriebes in der Gesässfalte handeln. Bei älteren Individuen ist bekanntlich, wenn der Sphincter erschlafft ist, der After grosser Ausdehnung fähig, wie die von Simon in die chirurgische und gynäkologische Praxis eingeführte Untersuchungsmethode beweist, bei welcher man in der Chloroformnarcose mit der ganzen Hand und selbst mit dem Arm in das Rectum eingeht und sogar die Nieren abzutasten vermag.
Es folgt daraus, dass bei einem Erwachsenen, wenn dieser den Sphincter ani nicht wirken lässt, wie dies bei freiwilliger Gestattung des Actes geschieht, die Einführung des erigirten Gliedes in den After ohne besondere Schwierigkeit erfolgen kann und auch keine Spuren zurücklassen muss.
Der Nachweis ejaculirten Spermas wäre natürlich nur in dem Falle absolut beweisend, wenn es, was nur in ganz frischen Fällen[S. 173] (an Leichen) möglich ist, gelingen sollte, es im After selbst aufzufinden; an anderen Körperstellen oder in der Wäsche nur dann, wenn z. B. bei unreifen Knaben die Möglichkeit, dass die gefundene Spur von eigenem Sperma herrühren könnte, positiv ausgeschlossen werden könnte. Den Fall eines achtjährigen von einem 14½jährigen Jungen päderastisch gemissbrauchten Knaben, in dessen Hemde der Nachweis von Spermatozoen gelang, beschreibt Casper (l. c. 208).
Uebertragung von Tripper oder virulenten Geschwüren durch Päderastie ist thatsächlich beobachtet worden, und ein solcher Befund ist natürlich von grosser diagnostischer Wichtigkeit, namentlich dann, wenn die Affection blos auf den After und seine unmittelbare Nachbarschaft sich beschränkt. Der Umstand, dass auch bei anderweitig acquirirter virulenter Affection die Haut der Gesässfalte an der Erkrankung häufig participirt (Condylome), ist nicht ausser Acht zu lassen.
Als Zeichen habitueller passiver Päderastie wurde schon von den alten Satirikern (Martial) und Aerzten (P. Zacchias), sowie theilweise auch von anderen Beobachtern (Tardieu, Casper) angegeben: Auffallend schlaffe, dütenförmig gegen den After sich einsenkende Nates (Podice laevis), Erweiterung der Afteröffnung, Schlaffheit des Sphincter ani, Verstreichung der sonst um die Afteröffnung stern- oder strahlenförmig angeordneten Hautfältchen und gewisse, theils hahnenkammförmige, theils ringförmige Wucherungen der Schleimhaut der Afteröffnung (Mariscae der Alten).
Von diesen Zeichen hat gar keinen Werth die Erschlaffung und dütenförmige Einsenkung der Hinterbacken, denn die Festigkeit und Rundung der letzteren, sowie das mehr oder weniger feste Anliegen derselben hängt, wie wir dies schon bezüglich des ähnlichen Verhaltens der grossen Labien auseinandergesetzt haben, von dem Ernährungs- (Jugend-) Zustande des betreffenden Individuums ab und, wie bekannt, sind bei alten oder anderweitig herabgekommenen Leuten diese Partien ganz gewöhnlich schlaff, ohne dass man sie päderastischer Unzucht beschuldigen kann, ebenso wie thatsächlich bei habituellen, jedoch gut genährten, insbesondere bei jungen passiven Päderasten ganz normale Hinterbacken gefunden wurden. Bezüglich der trichter- oder dütenförmigen Einsenkung des Afters bemerkt Brouardel (l. c.), dass sich dieselbe schon nach dem ersten päderastischen Missbrauch finden könne, dass dieselbe jedoch nicht auf einer mechanischen Einstülpung, sondern auf der Reizung und Contraction des Sphincter und der dadurch bewirkten Einziehung des Afters beruhe. Nach Tarnowsky jedoch („Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes.“ Berlin 1885), einem sehr erfahrenen Beobachter, entsteht der Anus infundibuliformis thatsächlich durch die wiederholte centripetale Zerrung des Sphincter und in ähnlicher Weise wie die trichterförmige Vertiefung der äusseren Genitalien bei kleinen Mädchen durch wiederholte Nothzuchtsversuche. Doch habe dieses Zeichen nur einen Werth, wenn es ohne gewaltsames Auseinanderziehen der Hinterbacken zu Tage tritt.
[S. 174]
Ein sehr beachtenswerthes Symptom ist die Erweiterung der Afteröffnung und die Erschlaffung des Sphincters, das namentlich bei jüngeren und sonst gesunden Individuen auffallen muss.
Auffällig, besonders bei jungen Leuten, ist nach Tarnowsky die Leichtigkeit, mit welcher der Finger in das Rectum eingeführt werden kann, am werthvollsten aber das Klaffen des Orificium ani, wodurch in der Knieellenbogenlage ohne Weiteres oder bei mässigem Ausdehnen der Hinterbacken die Wände des Rectum in der Ausdehnung von mehreren Centimetern sichtbar werden. Diese Erschlaffung bedingt häufig Incontinentia analis.
Ein von allen Beobachtern (P. Zacchias, Tardieu, Casper) besonders hochgehaltenes Kennzeichen passiver habitueller Päderastie ist das Verstrichensein der um die Afteröffnung stern- oder strahlenförmig angeordneten Hautfältchen, und daher glatte Beschaffenheit des Aftersaumes. Wir haben diese faltenlose Beschaffenheit des Afters nebst Erweiterung und Erschlaffung desselben sehr schön ausgebildet gesehen bei einer Prostituirten, die viele Jahre in einem Dresdener Bordell zugebracht hatte und ihrem eigenen Geständnisse zufolge zur Zulassung des Coitus per anum gemiethet und abgerichtet worden war. Doch findet sich diese Erscheinung nach Tarnowsky durchaus nicht so constant, als gewöhnlich angegeben wird, da von 23 von ihm kürzlich untersuchten zweifellosen Kynäden nur 12 dieselbe zeigten.
Die Mariscae oder Cristae der Alten sind Vorwölbungen der Schleimhaut des Afters, die mitunter knotige oder lappige hahnenkammartige Gebilde, manchmal aber einen prolapsartigen Saum (Casper) darstellen. Da solche Bildungen, welche man, obgleich ihnen durchaus nicht immer Venenerweiterungen entsprechen, mit dem Gesammtnamen Hämorrhoiden bezeichnet, auch bei Nichtpäderasten ungemein häufig vorkommen, so kann ihnen um so weniger ein Werth zugeschrieben werden, als es gar nicht sichergestellt ist, dass der Päderastie überhaupt ein fördernder Einfluss auf die Entstehung der genannten Gebilde zukommt. In unserem eben erwähnten Falle waren sie nicht vorhanden, dagegen fanden wir sie, grosse hahnenkammartige und aus cavernösem Gewebe bestehende Lappen bildend, stark entwickelt an den Leichen zweier 40jährigen Prostituirten, welche, wie auch andere Merkmale und die Anamnese erwiesen, ihr Gewerbe a posteriori ausgeübt hatten.
Narben nach specifischen Geschwüren, wenn sie als solche zweifellos erkannt werden, sind diagnostisch sehr werthvolle Befunde. Gleiches gilt vom chronischen Catarrh des Mastdarmes, der bei habituellen passiven Päderasten vielleicht ebenso häufig vorkommt, wie die Blennorrhoe der Scheide und des Uterus bei Prostituirten. Sowohl bei der während des Lebens als bei den als Leichen untersuchten Prostituirten haben wir einen profusen chronischen Mastdarmcatarrh gefunden, und Erstere gab an, dass sie bereits seit Jahren und überhaupt so lange daran leide, als sie den Coitus per anum zulasse. Es ist einestheils die mechanische[S. 175] Reizung der für solche Insulte nicht bestimmten Mastdarmschleimhaut, anderseits die Tripperinfection, welche das Entstehen chronischer Mastdarmcatarrhe bei habituellen passiven Päderasten wohl begreiflich erscheinen lässt, obwohl Tarnowsky angibt, dass eine Gonorrhoe des Rectums bei Kynäden eine Seltenheit sei, da er sie nur zweimal beobachtete.[120]
Neu war uns die in einem Fall gestellte Frage, ob die Zeichen passiver, durch mehrere Jahre geübter Päderastie wieder verschwinden können, wenn mit der Uebung der letzteren durch mehrere Jahre ausgesetzt wurde.
Der Fall betraf einen gewissen S. S., welcher im November 1878 angeklagt wurde, in den Jahren 1873 bis 1876 mit zweien seiner Lehrjungen theils päderastische, theils anderweitige Unzucht getrieben zu haben.
Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab bei allen drei Betheiligten vollkommen normale Befunde am After und den Genitalien, aus welcher Thatsache die Vertheidigung den Schluss ziehen wollte, dass insbesondere die Angabe des L., durch mehrere Jahre von S. S. päderastisch missbraucht worden zu sein, nicht auf Wahrheit beruhen könne, weil in diesem Falle doch gewisse Veränderungen am After zu Stande gekommen wären, die sich trotz der seit dem letzten Unzuchtsacte eingetretenen zweijährigen Pause hätten erhalten müssen. Deshalb wurden uns die Fragen vorgelegt: erstens, ob in Folge der mit L. getriebenen Päderastie nothwendig Veränderungen an dessen After haben entstehen müssen, und zweitens, ob dieselben, wenn sie wirklich entstanden waren, nicht nachträglich verschwunden sein konnten? Die erste Frage wurde von uns dahin beantwortet, dass bei mehrere Jahre fortgesetzter und häufig geübter passiver Päderastie in der Regel gewisse Veränderungen am After sich entwickeln, dass dieselben aber keineswegs besonders auffallend sein müssen, die zweite dahin, dass, wenn einmal ausgeprägte solche Veränderungen, insbesondere Ausweitungen und Erschlaffungen des Afters, Verstreichen der Fältchen um die Afteröffnung, Vorfälle oder Catarrhe der Mastdarmschleimhaut, zu Stande kamen, nicht zu erwarten ist, dass dieselben sobald wieder und vollständig verschwinden, dass dies aber wohl möglich sei, wenn die betreffenden Veränderungen erst im Entstehen begriffen waren und dann die päderastischen Acte durch längere Zeit ausgesetzt wurden. Wenn demnach trotz genauer Untersuchung des L. am After desselben keine Spur von Veränderungen gefunden wurde, so sei es nicht wahrscheinlich, dass die betreffenden, angeblich durch fast drei Jahre fortgesetzten päderastischen Acte häufig stattgehabt haben, wohl aber lässt sich trotz des negativen Befundes nicht leugnen, dass einzelne solche Acte innerhalb dieser Periode vorgekommen sein konnten.[121]
Eigenthümlich sind die bei einzelnen passiven Päderasten beobachteten weiblichen Gewohnheiten, so weiblicher Putz, in[S. 176] Locken gedrehte Haare, Gebrauch von wohlriechenden Salben und Oelen etc. Es wäre irrig, solche Erscheinungen sofort als Zeichen einer abnormen (conträren) Sexualempfindung zu deuten, denn derartiges Gebahren erklärt sich auf gleiche Weise wie die verschiedenen Kunststücke der Coquetterie, die die Prostituirten anzuwenden pflegen, um Männer an sich zu locken. Brouardel (l. c.) bemerkt auch mit Recht, dass der bei manchen passiven Päderasten zu findende weibische Habitus häufig schon von Haus aus besteht, und dass gerade solche Individuen den perversen Geschlechtstrieb activer Päderasten erregen.
Die active Päderastie kann mit und ohne Einwilligung des zweiten Theiles geübt worden sein. Ersteres ist das bei weitem Häufigste, und wenn der passive Theil nicht etwa ein Kind oder ein dispositionsunfähiges Individuum gewesen ist, verfallen beide Thäter dem Gesetze. Die Fälle, in denen die Päderastie ohne Einwilligung des Opfers unternommen wurde, betreffen meist Kinder; aber auch gegenüber Erwachsenen sind solche Versuche vorgekommen, wie ein von Casper (l. c. 203) mitgetheilter Fall beweist. Es ist selbstverständlich, dass ein gewaltsamer Missbrauch eines Erwachsenen zu diesem Zwecke von Seite eines einzelnen, wenn nicht ganz besondere, der Verübung der That günstige Umstände vorhanden waren, nicht angenommen werden kann, dass man daher derartigen Angaben mit noch mehr Vorsicht entgegentreten wird, als sie schon gegenüber ähnlichen Aussagen angeblich genothzüchtigter Frauenspersonen angezeigt zu sein pflegt.
Auch bei der Päderastie ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, nicht blos Anhaltspunkte für die Sicherstellung des Thatbestandes aufzusuchen, sondern auch zu constatiren, ob und welche Folgen für die Gesundheit des gemissbrauchten Individuums aus dem Acte entstanden sind (§. 130 österr. St. G.). Solche Folgen kommen wieder insbesondere bei gemissbrauchten Kindern in Betracht und können entweder aus den localen Verletzungen am After, aus der erfolgten virulenten Infection, aus Verletzungen anderer Art (vide den schauerlichen, von Liman l. c. 204 mitgetheilten Zastrow’schen Fall, sowie den nicht minder monströsen von Tardieu, l. c. 272, in welchem zwei Päderasten an der Zerfleischung ihres Opfers, eines 3½jährigen Knaben, sich betheiligten) oder aus dem durch die locale Reizung oder den Affect gesetzten Insult des Nervensystems resultiren, und sind nach demselben Grundsätzen zu beurtheilen, die bereits bei der Nothzucht auseinandergesetzt worden sind. Die nachtheiligen Folgen, welche habituelle Päderastie auf die allgemeine Gesundheit der dabei Betheiligten ausüben soll, sind vielfach übertrieben worden. Casper stellt derartige Behauptungen, die Abmagerung, Tuberculose u. dergl. von solchem Missbrauch herleiten wollen, entschieden in Abrede. Unserer Ansicht nach ist es, wenn solcher Missbrauch mit Kindern getrieben wird, weniger die Päderastie als solche, als vielmehr anderweitige, in der Regel damit verbundene sexuelle Excesse (Onanie), welche[S. 177] geeignet erscheinen, die betreffenden Individuen in ihrer Ernährung und Gesundheit herabzubringen. Wie vorsichtig man aber bezüglich derartiger Folgen sein muss, beweist der von Dohrn[122] mitgetheilte Fall, in welchem von einem alten Pfründner mit fünf in demselben Hause wohnenden Knaben Päderastie und andere Unzucht getrieben worden war, und nachdem fast alle diese Knaben hintereinander erkrankten und drei davon starben, die Erkrankung sowohl als der Tod dieser Kinder von dem geschlechtlichen Missbrauch derselben hergeleitet wurde, während es doch bei genauer Erwägung aller Umstände keinem Zweifel unterliegen konnte, dass die Kinder an einem typhösen Leiden erkrankt, beziehungsweise gestorben waren, welches mit der mit ihnen getriebenen Unzucht in keinem ursächlichen Zusammenhange gestanden hatte.
Dem Laster der Sodomie begegnen wir ebenfalls bereits in den ältesten Zeiten. Ausserdem, dass diese Unzuchtsform den Bewohnern von Sodoma und Gomorrha zur Last gelegt wird, finden wir auch sonst in der Bibel eine Zahl von Stellen, aus welchen hervorgeht, dass dieselbe auch dem auserwählten Volke Gottes nicht unbekannt gewesen war.
Auch gegenwärtig kommen derartige Ausschreitungen des Geschlechtstriebes, wenn auch sehr selten, zur Beobachtung, noch seltener aber zur gerichtsärztlichen Untersuchung.
Die meisten in der Literatur enthaltenen Fälle betreffen geschlechtlichen Missbrauch weiblicher Thiere[123] durch Männer. Es ist selbstverständlich, dass nur, wenn die Betreffenden bei der That ertappt werden, und nur wenn unmittelbar nach einer solchen That Gelegenheit geboten ist, das betreffende Thier sowohl als den Thäter zu untersuchen, möglicher Weise ein die verbotene Cohabitation bestätigender Befund sich ergeben könnte. Die Untersuchung wäre in einem solchen Falle natürlich zunächst auf den Nachweis von Sperma in der Scheide des missbrauchten Thieres zu richten. Von Werth wäre ferner der Befund von Excrementen oder Haaren des Thieres an den Genitalien des Thäters oder in der Nähe derselben. Einen solchen Fall hat Kutter[124] mitgetheilt. Er betraf einen Knecht, der dabei getroffen wurde, als er eben eine Stute gemissbraucht hatte und der sofort ärztlich untersucht werden konnte. Bei diesem Manne fanden sich, nachdem die Vorhaut[S. 178] zurückgezogen wurde, in der Eichelfurche Härchen, welche angeblich, freilich ohne mikroskopische Untersuchung, als der betreffenden Stute angehörig erkannt wurden; ebenso wurden blutige Flecken auf der Hose und am Hemde des Untersuchten und gleichzeitig ein blutiger Ausfluss aus der Scheide der Stute constatirt.
Wir selbst hatten nur einmal Gelegenheit, vor Gericht über einen Fall angeblicher Sodomie befragt zu werden.
Ein Mann hatte von einem Senner eine Ziege gekauft, welche nach Angabe des Letzteren am selben Morgen vor der Stallthüre todt gefunden worden war. Bei dem Zerlegen der Ziege will nun derselbe die äusseren Genitalien des Thieres blutig und die Schambeinfuge auseinandergesprengt gefunden haben. Diese Befunde erweckten in ihm den Verdacht, dass jener Senner mit der Ziege Sodomie getrieben habe, und dass das Thier in Folge der dabei erlittenen Beschädigungen umgekommen sei, und er erstattete die gerichtliche Anzeige, jedoch erst nachdem das Fleisch des Thieres stückweise verkauft worden war. Vom Gericht wurde uns die Frage vorgelegt, ob zufolge der an dem todten Thiere angeblich beobachteten Befunde in der That auf an demselben verübte Sodomie geschlossen werden könne. Wir antworteten darauf, dass, wenn wirklich die Schamfuge des Thieres gesprengt war, dies nur durch eine sehr bedeutende Gewalt, etwa durch Sturz von einer Höhe oder durch Auffallen eines wuchtigen Gegenstandes auf das Thier u. dgl., hat entstehen können, dass es aber absolut unmöglich sei, dass durch die Einführung des Penis oder auch der Hand in die Scheide des Thieres jene Verletzung erzeugt worden sein konnte, dass also die Natur der Verletzung selbst der von dem Denuncianten geäusserten Vermuthung, dass mit der betreffenden Ziege Sodomie getrieben wurde, widerspreche, und dass auch sonst nicht der geringste Anhaltspunkt vorhanden sei, der eine solche Vermuthung begründet erscheinen lasse.
Noch seltener als Missbrauch weiblicher Thiere durch Männer kommt die Sodomie von weiblichen Individuen mit männlichen Thieren vor. Sämmtliche solche bis jetzt publicirte Fälle betrafen Sodomie mit Hunden. Ein derartiger Fall wurde vor einigen Jahren von Schuhmacher in Salzburg, ein zweiter von Pfaff[125] und ein dritter von Schauenstein[126] mitgetheilt. Ob es sich in diesen Fällen um thatsächlichen Coitus oder nur um Unzucht anderer Art handelte, ist nicht erwiesen, auch wäre dies strafrechtlich gleichgiltig, da das Gesetz nur von „Unzucht“ mit Thieren spricht. Auch bei solchen Vorkommnissen würde der Gerichtsarzt kaum in der Lage sein, von seinem Standpunkte aus zur Sicherstellung des Thatbestandes beizutragen. Doch berichtet Pfaff, dass in seinem Falle zwischen den Schamhaaren der betreffenden Dienstmagd ein schwarzes Hundshaar gefunden wurde, welches[S. 179] mit den Haaren des grossen schwarzen Hundes, mit dem jene Person sich thatsächlich eingelassen hatte, vollständig übereinstimmte[127], und Maschka (l. c., pag. 190) fand bei einer 44jährigen Frau, welche in actu angetroffen wurde und auch geständig war, an der Vorderfläche der Oberschenkel und in der unteren Bauchgegend mehrere streifige Hautaufschürfungen, welche seiner Meinung nach durch die Pfoten des Hundes entstanden sein dürften.
Oesterr. bürgerl. Gesetzbuch.
§. 58. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach der Ehelichung bereits von einem Anderen geschwängert findet, so kann er, ausser dem im §. 121 bestimmten Falle, fordern, dass die Ehe als ungiltig erklärt werde.
§. 120. Wenn eine Ehe für ungiltig erklärt, getrennt oder durch des Mannes Tod aufgelöst wird, so kann die Frau, wenn sie schwanger ist, nicht vor ihrer Entbindung, und wenn über ihre Schwangerschaft ein Zweifel entsteht, nicht vor Ablauf des sechsten Monats zu einer neuen Ehe schreiten; wenn aber nach den Umständen oder nach dem Zeugnisse der Sachverständigen eine Schwangerschaft nicht wahrscheinlich ist, so kann nach Ablauf dreier Monate die Dispensation ertheilt werden.
§. 121. Die Uebertretung dieses Gesetzes zieht zwar nicht die Ungiltigkeit der Ehe nach sich, allein die Frau verliert die ihr von dem vorigen Manne durch die Ehepacte, Erbvertrag, letzten Willen oder durch das Uebereinkommen bei der Trauung zugewendeten Vortheile. Der Mann aber, mit dem sie die zweite Ehe schliesst, verliert das ihm ausser diesem Falle durch den §. 58 zukommende Recht, die Ehe für ungiltig erklären zu lassen, und beide Ehegatten sind mit einer den Umständen angemessenen Strafe zu belegen. Wird in einer solchen Ehe ein Kind geboren und es ist wenigstens zweifelhaft, ob es nicht von dem vorigen Manne erzeugt worden sei, so ist demselben ein Curator zur Vertretung seiner Rechte zu bestellen.
§. 138. Für diejenigen Kinder, welche im siebenten Monate nach geschlossener Ehe oder im zehnten Monate nach dem Tode des Mannes oder nach gänzlicher Auflösung des ehelichen Bandes von der Gattin geboren werden, streitet die Vermuthung der ehelichen Geburt.
§. 155. Die unehelichen Kinder geniessen nicht die gleichen Rechte mit den ehelichen. Die rechtliche Vermuthung der unehelichen Geburt hat bei denjenigen Kindern statt, welche zwar von einer Ehegattin, jedoch vor oder nach dem oben (§. 138), mit Rücksicht auf die eingegangene oder aufgelöste Ehe bestimmten gesetzlichen Zeitpunkt geboren worden sind.
[S. 180]
§. 156. Diese rechtliche Vermuthung tritt aber bei einer früheren Geburt erst dann ein, wenn der Mann, dem vor der Verehelichung die Schwangerschaft nicht bekannt war, längstens binnen drei Monaten nach erhaltener Nachricht von der Geburt des Kindes die Vaterschaft gerichtlich widerspricht.
§. 157. Die von dem Manne innerhalb dieses Zeitraumes rechtlich widersprochene Rechtmässigkeit einer früheren oder späteren Geburt kann nur durch Kunstverständige, welche nach genauer Untersuchung der Beschaffenheit des Kindes und der Mutter die Ursache des ausserordentlichen Falles deutlich angeben, bewiesen werden.
§. 163. Wer auf eine in der Gerichtsordnung vorgeschriebene Art überwiesen wird, dass er der Mutter eines Kindes innerhalb des Zeitraumes beigewohnt habe, von welchem bis zu ihrer Entbindung nicht weniger als sieben und nicht mehr als zehn Monate verstrichen sind; oder wer dieses auch nur ausser Gericht gesteht, von dem wird vermuthet, dass er das Kind erzeugt habe.
§. 1243. Der Witwe gebührt noch durch sechs Wochen nach dem Tode ihres Mannes, und wenn sie schwanger ist, bis nach Verlauf von sechs Wochen nach ihrer Entbindung die gewöhnliche Verpflegung aus der Verlassenschaft.
Oesterr. Strafgesetz.
§. 339. Die unverehelichte Frauensperson, die sich schwanger befindet, muss bei der Niederkunft eine Hebamme, einen Geburtshelfer oder sonst eine ehrbare Frau zum Beistande rufen. Wäre sie aber von der Niederkunft ereilt oder Beistand zu rufen verhindert worden, und sie hätte entweder eine Fehlgeburt gethan oder das lebendig geborene Kind wäre binnen 24 Stunden von der Zeit der Geburt an gestorben, so ist sie verbunden, einer zur Geburtshilfe berechtigten, oder, wo eine solche nicht zur Hand ist, einer obrigkeitlichen Person von ihrer Niederkunft die Anzeige zu machen und derselben die unzeitige Geburt oder das todte Kind vorzuzeigen.
§. 340. Die gegen diese Vorschrift geschehene Verheimlichung der Geburt wird nach Herstellung der Verheimlichenden als Uebertretung mit strengem Arreste von drei bis sechs Monaten bestraft.
Oesterr. Strafprocess-Ordnung.
§. 398. Wenn der zum Tode oder zu einer Freiheitsstrafe Verurtheilte zur Zeit, wo das Strafurtheil in Vollzug gesetzt werden soll, geisteskrank oder körperlich schwer krank, oder die Verurtheilte schwanger ist, hat die Vollziehung so lange zu unterbleiben, bis dieser Zustand aufgehört hat.
Nur dann kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe auch gegen eine Schwangere eingeleitet werden, wenn die bis zu ihrer Entbindung fortdauernde Haft für sie härter sein würde als die zuerkannte Strafe.
Preuss. allgem. Landrecht, Th. II, Tit. 2.
§. 2. Gegen die gesetzliche Vermuthung der Vaterschaft in der Ehe geborener Kinder soll der Mann nur alsdann gehört werden, wenn er überzeugend nachweisen kann, dass er der Frau in dem Zwischenraume vom dreihundertundzweiten bis zweihundertundzehnten Tage vor der Geburt des Kindes nicht ehelich beigewohnt habe.
§. 3. Gründet er sich dabei in einem Zeugungsunvermögen, so muss er nachweisen, dass dergleichen völliges Unvermögen bei ihm während dieses ganzen Zeitraumes obgewaltet habe.
§. 19. Ein Kind, welches bis zum dreihundertundzweiten Tage nach dem Tode des Ehemannes geboren worden, wird für das eheliche Kind desselben geachtet.
§. 20. Die Erben des Mannes können die eheliche Geburt eines solchen Kindes nur innerhalb der Zeit und nur aus den Gründen anfechten, wo und aus welchen der Verstorbene selbst dazu berechtigt sein würde (§§. 2 und 3).
§. 21. Ergibt sich jedoch aus der Beschaffenheit eines zu frühzeitig geborenen Kindes, dass nach dem ordentlichen Laufe der Natur der Zeitpunkt seiner Erzeugung nicht mehr in das Leben des Ehemannes treffe, und kann zugleich die Witwe eines nach seinem Tode mit anderen Mannespersonen gepflogenen verdächtigen Umganges überführt werden, so ist das Kind für ein uneheliches zu achten.
§. 22. Hat die Witwe wider die Vorschrift der Gesetze (siehe unten) zu früh geheiratet, dergestalt, dass gezweifelt werden kann, ob das nach der anderweitigen[S. 181] Trauung geborene Kind in dieser oder der vorigen Ehe erzeugt worden, so ist auf den gewöhnlichen Zeitpunkt, nämlich den zweihundertundsiebenzigsten Tag vor der Geburt, Rücksicht zu nehmen.
§. 22. Fällt dieser noch in die Lebenszeit des vorigen Mannes, so ist die Frucht für ein eheliches Kind desselben zu achten.
Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschliessung vom 6. Februar 1875.
§. 35. Frauen dürfen erst nach Ablauf des zehnten Monates seit Beendigung der früheren Ehe eine weitere Ehe schliessen. Dispensation ist zulässig.
Rheinländisches Civilgesetzbuch.
Art. 312. Ein während der Ehe empfangenes Kind hat den Mann zum Vater. Dieser kann gleichwohl das Kind verleugnen, wenn er beweist, dass er während der zwischen dem dreihundertsten und hundertundsechzigsten Tage vor der Geburt des Kindes verlaufenden Zeit wegen Abwesenheit oder durch irgend einen Zufall sich in dem Zustande einer physischen Unmöglichkeit befunden habe, seiner Frau ehelich beizuwohnen.
Art. 315. Die eheliche Geburt eines Kindes, welches 300 Tage nach Auflösung der Ehe geboren ist, kann bestritten werden.
Art. 228. Die Frau kann eine neue Ehe erst nach Ablauf von 10 Monaten nach Auflösung der vorherigen eingehen.
Preuss. Gesetz vom 21. April 1854.
§. 15. Als Erzeuger eines unehelichen Kindes ist derjenige anzusehen, welcher mit der Mutter innerhalb des Zeitraumes vom zweihundertundfünfundachtzigsten bis zweihundertundzehnten Tage vor der Entbindung den Beischlaf vollzogen hat. Auch bei einer kürzeren Zwischenzeit ist die Annahme begründet, wenn die Beschaffenheit der Frucht nach dem Urtheil der Sachverständigen mit der Zeit des Beischlafes übereinstimmt.
Deutsches Strafgesetzbuch.
§. 169. Wer ein Kind unterschiebt oder vorsätzlich verwechselt, — — — — wird mit Gefängniss bis zu drei Jahren, und wenn die Handlung in gewinnsüchtiger Absicht begangen wurde, mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.
Strafprocess-Ordnung für das deutsche Reich.
§. 485. — — An schwangeren oder geisteskranken Personen darf ein Todesurtheil nicht vollstreckt werden.
Aus vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen, zu denen überdies jene auf Weglegung des Kindes und Kindesmord bezüglichen und an einer anderen Stelle zu erwähnenden gehören, ist ersichtlich, dass in einer grossen Zahl civil- sowohl als strafgerichtlicher Fälle Schwangerschaft und Geburt in Frage kommen und zur gerichtsärztlichen Untersuchung und Begutachtung Veranlassung geben kann.
Dieselben lassen sich unterscheiden in zwei Hauptkategorien, in deren ersterer es sich um die Diagnose einer eben bestehenden, in der zweiten aber um jene einer bestandenen, d. h. durch die Geburt bereits beendeten Schwangerschaft handelt.
In ersterer Beziehung geschieht die Untersuchung in folgenden Fällen:
1. Wenn die Frauensperson nach dem Tode ihres Gatten oder nach erfolgter Ehescheidung noch vor Ablauf der vorgeschriebenen sechs, beziehungsweise zehn Monate eine neue Ehe einzugehen beabsichtigt, da dies zufolge §. 120 des österr. bürgerl. Gesetzbuches nur gestattet wird, „wenn nach den Umständen und dem Zeugnisse der Sachverständigen eine Schwangerschaft nicht wahrscheinlich ist“, und auch die im §. 35 des deutschen Reichsgesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschliessung[S. 182] vom Jahre 1875 als möglich hingestellte Dispens wohl zunächst die ärztliche Erklärung erfordern wird, dass bei der Frau, welche sich noch vor Ablauf der vorgeschriebenen 10 Monate von Neuem verehelichen will, keine Schwangerschaft besteht.
2. Wenn bei einer zum Tode (§. 398 österr. und §. 485 deutsche St. P. O.) oder zu einer Freiheitsstrafe (§. 398 österr. St. P. O.) verurtheilten Frauensperson die Vermuthung vorliegt, dass sie schwanger sein könnte, oder eine solche Angabe von der Betreffenden gemacht wird, da zufolge der genannten gesetzlichen Bestimmungen die Vollziehung des Urtheils, insbesondere des Todesurtheils, so lange zu verschieben ist, bis die Entbindung erfolgte.
Ungleich häufiger kommt die bereits erfolgte Geburt in Frage so insbesondere in allen Fällen verheimlichter, sowie bezüglich der Legitimität fraglicher Geburt, bei Verdacht auf Kindesmord, Kindesweglegung, Kindesunterschiebung, Fruchtabtreibung, bei Identitätsfragen u. s. w. In solchen Fällen genügt es nicht, einfach zu constatiren, dass eine Person geboren habe, sondern es ergibt sich in der Regel die Nothwendigkeit, die Detailverhältnisse zu erheben, welche theils die Dauer der Schwangerschaft und die während dieser aufgetretenen Erscheinungen, theils den Zeitpunkt und den Verlauf der Geburt, aber auch, wie z. B. bei Verdacht auf Fruchtabtreibung, die Ursache desselben betreffen können.
Die wichtigsten Zeichen einer bestehenden Schwangerschaft sind folgende:
1. Ausbleiben der Menstruation. Dieses Symptom signalisirt bekanntlich den Beginn einer Schwangerschaft, und zwar in so constanter Weise, dass mit Recht sowohl in der Geburtshilfe, als auch von Laien auf dasselbe ein hoher diagnostischer Werth gelegt wird, und es ist bekannt, dass man, wie noch besprochen werden wird, den Beginn einer Schwangerschaft, respective die Conception, von der Zeit an berechnet, in welcher die Menses zum letzten Male eingetreten waren. Trotzdem ist, abgesehen von dem Umstande, dass, wie bereits oben (pag. 73) erwähnt wurde, Schwangerschaft auch bei Individuen eintreten kann, welche bis dahin noch nie menstruirt hatten, das Ausbleiben der Menses für sich allein kein sicheres Kennzeichen eingetretener Schwangerschaft, da bekanntlich auch aus anderen Ursachen die Menstruation für einige und selbst für längere Zeit sistiren kann. Anderseits ist die Fortdauer der Menses auch nach erfolgter Conception in einzelnen, nicht gar seltenen Fällen beobachtet worden.
Hohl[128] will öfters Fortdauer der Menstruation in den ersten Monaten der Schwangerschaft gesehen haben und ebenso oft die Wiederkehr[S. 183] der Menses während der ganzen Schwangerschaft. Elsässer[129] hat 50 derartige Fälle zusammengestellt; in 8 Fällen erschien die Menstruation noch einmal, in 10 Fällen zweimal, in 12 Fällen dreimal, in 5 viermal, in 6 fünfmal, in 5 achtmal und in 2 neunmal, Francis Hogg[130] beobachtete 21mal Fortdauer der Regeln bis zur Hälfte der Schwangerschaft, viermal durch 6, nur selten durch 7 oder 8 Monate und nur in 3 Fällen während der ganzen Schwangerschaft. Wir selbst hatten Gelegenheit, eine Frau zu untersuchen, die sich, obzwar regelmässig menstruirend, für im zweiten Monate schwanger hielt, weil sich auch in einer vorhergegangenen, und zwar ersten Schwangerschaft die Regeln bis in die zweite Hälfte derselben wie gewöhnlich eingestellt hatten. Ebenso haben wir in der Vierteljahrsschrift für gerichtl. Med. (N. F. XXIII, 1) einen Fall veröffentlicht, in welchem ein 17jähriges Mädchen, welches ein blos 15 Zoll langes Kind zufolge ihrer Aussage über einem Nachttopf und in den letzteren geboren hatte, angab, dass ihre Regeln nur einmal ausgeblieben wären, dann aber sich durch die ganze weitere Zeit stets, und zwar anfangs schwach, in den letzten zwei Monaten aber stark eingestellt hätten, welche Angabe in dem betreffenden Falle durchaus nicht der inneren Glaubwürdigkeit entbehrte, weshalb zugegeben werden musste, dass dieser Umstand die Betreffende sowohl bezüglich ihres Zustandes im Allgemeinen, als bezüglich des Zeitpunktes der bevorstehenden Entbindung irregeführt haben konnte. Auch Friedberg (Gerichtsärztliche Praxis, pag. 148) bringt einen Fall, wo die des Kindesmordes Angeklagte behauptete, während der ganzen Schwangerschaft ihre Menses regelmässig gehabt zu haben, erklärt jedoch die Angabe für unglaubwürdig.
Selbstverständlich ist der Gerichtsarzt bezüglich des Fehlens oder Bestandenhabens der Menstruation in der vor der gerichtsärztlichen Untersuchung gelegenen Zeit blos auf die Angaben der betreffenden Person selbst und auf jene von Zeugen angewiesen, und seine Aufgabe geht demnach blos dahin, die Glaubwürdigkeit solcher Angaben zu prüfen. Die Erfahrung hat überdies gelehrt, dass auch die Menstruation simulirt werden kann. Casper-Liman (l. c. 221) erwähnen zweier solcher Fälle, in deren einem Vogelblut benützt und durch die mikroskopische Untersuchung als solches erkannt worden war. Wir selbst hatten über einen Fall von Kindesmord ein Gutachten abzugeben, in welchem der Mutter der Angeklagten deshalb der Zustand ihrer Tochter nicht aufgefallen war, weil diese in jedem Monat ein blutiges Hemd in die Wäsche brachte, während sich nachträglich herausstellte, dass[S. 184] die Angeklagte, um ihre Mutter zu täuschen, jedesmal das blutige Hemd eines anderen Mädchens abgegeben hatte.
2. Die Veränderungen am Uterus. Von diesen ist die allmälig zunehmende Ausdehnung desselben und in Folge dessen die successive Vergrösserung des Bauches diejenige, welche sowohl der betreffenden Person selbst als ihrer Umgebung aufzufallen pflegt, und häufig für sich allein bei den Laien den Verdacht erweckt, dass bei einer bestimmten Person Schwangerschaft bestehe. Bekanntlich ist der schwangere Uterus erst im vierten Monate über der Symphyse als glatte Kugel tastbar, und erst nach dieser Zeit macht sich die zunehmende Ausdehnung des Unterleibes immer deutlicher bemerkbar, bis sie in den letzten Monaten so auffallend wird, dass sie, wenigstens aufmerksamer Umgebung gegenüber, nicht leicht verborgen werden kann. Doch lehrt die Erfahrung, dass der Grad der Ausdehnung, den der Unterleib während einer Schwangerschaft erfährt, sich verschieden gestaltet je nach der Grösse der Frucht und besonders je nach der Menge des Fruchtwassers, und dass durch entsprechende Körperhaltung, sowie durch passende Kleidung auch noch in den letzten Monaten eine Schwangerschaft vor der Umgebung verheimlicht werden kann.
Eine bestehende oder bestandene Ausdehnung des Unterleibes beweist für sich allein nicht das Vorliegen einer Schwangerschaft, da sowohl Fettleibigkeit als Erkrankungen der in der Bauchhöhle gelegenen Organe sie ebenfalls bedingen können. Auch kann sie simulirt werden.
Wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose gewährt das Verhalten des unteren Uterinsegmentes und der Portio vaginalis. Ersteres wird schon im zweiten Monat auffallend nachgiebig und compressibel (Reinl-Hegar’sche Schwangerschaftszeichen), was man am besten dadurch constatiren kann, dass man mit dem in’s Rectum eingeführten Zeigefinger, nachdem der in die Scheide eingeführte Daumen an die Portio vaginalis gesetzt ist, nach hinten gehend in den Schlupf des Sphincter ani tertius zu gelangen sucht und, nachdem dieser passirt ist, langsam die unmittelbar über der Symphyse aufliegende Hand dem vom Rectum nach vorn sich bewegenden Finger entgegendrängt. Die Vaginalportion verlängert sich in der ersten Periode der Schwangerschaft, ist daher anfangs leichter zu erreichen, als dies früher der Fall war, und wird, was besonders wichtig ist, eigenthümlich aufgelockert und weich, welche Veränderung zuerst am Muttermund beginnt und, successive centripetal vorwärtsschreitend, im fünften Monate den ganzen Cervix begreift. In der zweiten Hälfte der Schwangerschaft wird die Portio vaginalis immer schwerer als solche unterscheidbar, da sie durch das Herabgetriebenwerden des ganzen vorderen Scheidengewölbes sich scheinbar verkürzt und schliesslich in ihrem vorderen Theile scheinbar verstreicht. Gleichzeitig mit dieser Erscheinung lassen sich Veränderungen in der Gestalt und[S. 185] Weite des Muttermundes beobachten. Bei Erstgebärenden beginnt schon im zweiten Monate der früher, obgleich nicht immer, eine Querspalte darstellende Muttermund sich abzurunden, bleibt jedoch bis zum neunten Monat geschlossen, wo er anfängt sich zu öffnen, so dass am Ende des zehnten Monates (bei Mehrgebärenden schon im fünften Monat) der ganze Cervix für den Finger durchgängig zu sein pflegt.
Zu diesen Erscheinungen kommt in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft das Fühlen der Kindesbewegungen und der Kindestheile, sowie das Hören der Herztöne der Frucht. Die Kindesbewegungen werden von der Mutter gewöhnlich schon am Ende des fünften, vom Arzte erst im sechsten Monate gefühlt. Die Kindestheile lassen sich durch die Bauchdecken gewöhnlich erst zwischen dem sechsten bis siebenten Monate unterscheiden, und am Ende des siebenten und im achten Monate bereits von der Scheide aus der auf dem Beckeneingange ballotirende Kopf. Die Herztöne der Frucht können schon gegen das Ende des fünften Monates gehört werden. Die drei letztgenannten Erscheinungen sind die sichersten Kennzeichen der Schwangerschaft; dass aber auch bezüglich dieser, sowohl von Seite des Arztes, als noch mehr von Seite der Mutter arge Täuschungen vorkommen können, geben selbst die erfahrensten Geburtshelfer zu. Wichtig sind ferner:
3. Die Veränderungen an den Brüsten. Dieselben schwellen häufig schon in den ersten zwei Monaten an und werden gegen Druck empfindlich. Die Schwellung schreitet successive vor, wird aber erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft auffallend. Die Milchsecretion tritt gewöhnlich zwischen dem sechsten und siebenten Monate ein, indem man zu dieser Zeit schon im Stande ist, beim Druck auf die Drüsen Milch auszudrücken.[131] Letztere hat anfangs eine mehr wässerige Beschaffenheit, gewinnt später immer mehr an Consistenz und wird reichlicher secernirt. Die Papillen und noch mehr die Warzenhöfe beginnen sich schon im zweiten Monate durch Pigmentbildung dunkler zu färben und diese Verfärbung wird in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft, namentlich aber gegen das Ende derselben, sehr auffallend. Als eine für bestehende Schwangerschaft sehr charakteristische, allerdings meist nur bei brünetten Frauen sich einstellende Erscheinung bezeichnet Säxinger (l. c. 204) die Ausbildung der sogenannten secundären Schwangerschaftsareole (P. Dubois), welche sich gewöhnlich erst um die Mitte der Schwangerschaft entwickelt. Sie erscheint als zweiter, gewöhnlich nur schmutzig-gelber oder gelbbrauner Ring um den viel dunkler pigmentirten Warzenhof, in welchem eine grössere Zahl weisser, rundlicher bis linsengrosser[S. 186] Flecken liegt. Auch die Anschwellung der Folliculardrüsen in der Areola, die ebenfalls bereits im zweiten Monat beginnt, ist eine sehr constante Erscheinung. Faye[132] hat 2308 Schwangere auf diesen Befund untersucht und denselben bei 95% beobachtet.
Einen blos unterstützenden Werth hat die Schwellung und weinhefeartige Verfärbung der Scheidenschleimhaut, das Oedem der äusseren Genitalien und der unteren Extremitäten, sowie andere durch den Druck des schwangeren Uterus auf die Unterleibsgefässe bewirkte Erscheinungen, deren Grad vielfach variirt. Auch der sogenannten Linea fusca, d. h. einem von der Symphyse zum Nabel und selbst über diesen hinausziehenden Pigmentstreif, kommt nur eine untergeordnete Bedeutung für die Diagnose der Schwangerschaft zu. Faye fand unter 1082 Schwangeren die Linea fusca nur bei 125 deutlich, bei 226 undeutlich, bei 207 aber gar nicht. Ausserdem fand er sie einmal sehr deutlich bei einem 12jährigen, noch nicht menstruirten Mädchen. Wir selbst haben sie bei brünetten, noch niemals schwanger gewesenen Individuen wiederholt beobachtet. Noch weniger Bedeutung kann dem Chloasma gravidarum zugeschrieben werden, welches Jeanin (Virchow’s Jahresb. 1869, pag. 623) mitunter auch während jeder Menstruation sich bilden sah.
Dem Gesagten ist zu entnehmen, dass es nur sehr wenige Symptome gibt, die einzeln für sich den Bestand einer Schwangerschaft beweisen, und dass auch bezüglich dieser Täuschungen nicht ausgeschlossen sind. Wohl aber ist das gleichzeitige Vorkommen mehrerer, der Schwangerschaft erfahrungsgemäss zukommender Erscheinungen geeignet, die Diagnose zu sichern, wobei es sich begreift, dass letztere mit desto grösserer Gewissheit gestellt werden kann, je weiter bereits der Zustand gediehen ist. Am schwierigsten gestaltet sich die Diagnose in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft, weshalb gerade in dieser Periode die grösste Vorsicht anzuempfehlen ist und vor voreiligen Urtheilen ausdrücklich gewarnt werden muss. Es wird in solchen Fällen immer angezeigt sein, wiederholt und nach verschiedenen Zwischenräumen zu untersuchen und die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Letzteres hat umsomehr zu geschehen, als wohl nur ausnahmsweise die Fälle so dringend sind, dass eine sofortige oder möglichst baldige Erklärung vom Gerichtsarzte gefordert wird.
Für die nähere Bestimmung der Periode, in welcher sich die betreffende Schwangerschaft bereits befindet, gibt Schröder in seinem bekannten Lehrbuche der Geburtshilfe (l. c. 85) folgende Anhaltspunkte:
Erster Monat: Der Uterus nimmt bereits im ersten Monat an Grösse zu; die Portio vaginalis ist etwas aufgelockert, die Scheide secernirt stärker. Die Veränderungen sind annähernd dieselben, wie zur Zeit der Menstruation, doch ist der Uterus grösser, besonders im Dickendurchmesser.
[S. 187]
Zweiter Monat: Die Vergrösserung des Uterus lässt sich durch die combinirte (gleichzeitig durch die Bauchdecken und von der Scheide oder vom Rectum aus vorgenommene) Untersuchung mit Leichtigkeit sicherstellen; derselbe erreicht die Grösse einer mässigen Orange und hat besonders an Dicke stark zugenommen. Die Consistenz ist noch ziemlich hart. Der Muttermund bleibt weich, aufgelockert und wird etwas rundlich. Die Brüste werden voller, der Warzenhof und die Linea alba beginnen sich zu bräunen.
Dritter Monat: Der Fundus uteri ist bei der combinirten Untersuchung als ein weicher, fast teigiger Körper sehr deutlich im vorderen Scheidengewölbe zu fühlen. Er ist gut kindskopfgross und die Port. vag. tritt, indem der Fundus mehr nach vorn sinkt, etwas nach hinten und wird dadurch schwerer zugänglich.
Vierter Monat: Der Fundus des fast mannskopfgrossen Uterus lässt sich in der Regel schon durch die äussere Untersuchung allein über der Symphyse nachweisen; bei der combinirten Untersuchung fühlt man ihn, den ganzen vorderen Theil des Beckens ausfüllend und etwas auf der Symphyse aufliegend. Die Consistenz ist weich und besonders bei Mehrgebärenden ungleich, an einzelnen Stellen (vom Körper des Fötus herrührend) härter. Bei gleichzeitiger innerer und äusserer Untersuchung kann man nicht selten ein Ballotement des Fruchtkörpers hervorbringen. Bei der Auscultation hört man in diesem Monat bereits das Uteringeräusch an einer oder an beiden Seiten.
Fünfter Monat: Der Uterus ist zwischen Nabel und Symphyse deutlich fühlbar. Die Port. vag. wird lockerer, der äussere Muttermund lässt bei Mehrgebärenden den Finger eindringen. Gegen das Ende dieses Monats fühlt die Mutter die Bewegungen der Frucht[133] und beim Auscultiren hört man die fötalen Herztöne.
Sechster Monat: Der Uterusgrund reicht bis zum Nabel, Kindestheile lassen sich bei Erstgebärenden häufig nur undeutlich, bei Mehrgebärenden in der Regel ohne alle Schwierigkeiten unterscheiden. Die Pigmentablagerungen sind jetzt stark, die Brüste voll und fest.
Siebenter Monat: Der Uterus steht zwei bis drei Finger breit über dem Nabel. Die Nabelgrube verschwindet, „der Nabel ist verstrichen“. Die Kindestheile sind deutlicher zu fühlen. Die Portio vaginalis, d. h. der in die Scheide vorragende Theil des Cervix, wird etwas kürzer. Während bei Erstgebärenden der äussere Muttermund noch vollständig geschlossen ist, ist bei Mehrgebärenden häufig der ganze Cervix bis zum inneren Muttermund dem untersuchenden Finger zugänglich. Das Ballotiren des Kopfes ist bereits nachzuweisen. Die Brüste werden stärker und aus ihnen lässt sich jetzt regelmässig (gewöhnlich schon früher) eine dünne milchige Flüssigkeit drücken.
Achter Monat: Der Fundus uteri steht in der Mitte zwischen Nabel und Herzgrube. Die Bauchdecken sind besonders bei Erstgebärenden[S. 188] so stark gespannt, dass sich das Epigastrium nur unbedeutend eindrücken lässt. Der Nabel ist vollständig glatt. Kindeslage leicht zu bestimmen.
Neunter Monat: Der Uterus geht bis in die Nähe der Herzgrube und erreicht damit seinen höchsten Stand. Bei Primiparen öffnet sich der äussere Muttermund häufig, so dass man das Nagelglied hineinlegen kann, der Cervix ist aber selten bereits durchgängig; bei Multiparen gelangt man leicht bis an den inneren Muttermund, mitunter ist auch dieser geöffnet. Aus den Brüsten lässt sich eine bläuliche, mit dicken, weissgelben Streifen durchzogene Flüssigkeit ausdrücken.
Zehnter Monat: Der Uterus hat sich wieder gesenkt, so dass sein Fundus ungefähr in derselben Höhe steht, wie im achten Monat. Das Epigastrium ist jetzt, da der Uterusgrund herabgestiegen ist, auch bei Erstgebärenden leicht eindrückbar und der Fundus deswegen leicht abzugrenzen. Bei Mehrgebärenden ist dieses unterscheidende Merkmal zwischen achtem und zehntem Monate meist nicht so deutlich, da bei ihnen auch im achten Monate das Epigastrium häufig nicht straff ist. Der Fundus uteri sinkt dabei weit nach vorn herüber, die Nabelgegend ist blasenartig vorgetrieben. Bei Erstgebärenden ist die Falte der Scheidenschleimhaut, die das vordere Scheidengewölbe bildete, ausgeglichen und in Folge dessen der vordere Scheidentheil verstrichen. Der Cervix meist durchgängig. Bei Mehrgebärenden ist der äussere Muttermund erheblich weiter, als der fast immer durchgängige innere Muttermund. Doch kann auch der letztere schon in der Schwangerschaft für zwei oder selbst drei Finger durchgängig sein. Die Schleimhaut der Vagina ist weicher, aufgelockert und secernirt reichlich einen milden, weisslichen Schleim.
Bekanntlich liegt auch in der gewöhnlichen geburtshilflichen Praxis die Schwierigkeit für eine genaue Berechnung der Schwangerschaftsdauer darin, dass es nur in den seltensten Fällen möglich ist, den Tag der Conception genau zu bestimmen. Uebereinstimmend gehen jedoch die Erfahrungen der Geburtshelfer dahin, dass die meisten Conceptionen in den ersten Tagen nach dem Aufhören der Menstruation erfolgen. Faye (Ahlfeld, l. c.) gibt den zehnten, Luschka (Schmidt’s Jahrb. d. gerichtl. Med. 1869. 144, pag. 89) den achten, Schröder (l. c. 60) den siebenten Tag nach der Menstruation als denjenigen an, auf welchen zufolge einer grossen Zahl von Beobachtungen am häufigsten die Conception zu fallen pflegt. Von gleicher Erfahrung geht die bekannte und in der Geburtshilfe allgemein adoptirte Nägele’sche Berechnung aus, welche zum Anfangstage der letzten Menstruation 7 Tage hinzufügt, von da ab drei Kalendermonate zurückzählt und so den Tag findet, an welchem gewöhnlich die Schwangerschaft durch die Entbindung beendigt zu werden pflegt. Selbstverständlich ist durch[S. 189] diese Erfahrungen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine Conception auch zu jeder anderen Zeit erfolgen kann. Wir werden jedoch gut thun, auch in zur gerichtsärztlichen Beurtheilung gelangenden Fällen von der durch unzählige Erfahrungen bestätigten Thatsache auszugehen, dass in der Regel die Conception und daher der Beginn der Schwangerschaft in die ersten Tage nach der letzterschienenen Menstruation zu fallen pflegt, ebenso wie wir die weitere Erfahrung berücksichtigen werden, dass die ersten Kindesbewegungen gewöhnlich um die 20. Schwangerschaftswoche gefühlt werden, und dass sonach diese Erscheinung der Mitte der ganzen Schwangerschaft entspricht. Nicht zu übersehen ist aber, dass die Lage des Gerichtsarztes in solchen Fällen ungleich schwieriger ist als die des Arztes in der gewöhnlichen geburtshilflichen Praxis. Während die Frauenspersonen, mit welchen es letzterer zu thun hat, über das Verhalten ihrer Menstruation, insbesondere über den Zeitpunkt des letzten Auftretens derselben, sowie über die weiter aufgetretenen Erscheinungen genaue und verlässliche Angaben ertheilen und ihm daher die wichtigsten Anhaltspunkte für die Beurtheilung des Falles geben, hat der Gerichtsarzt in der Regel allen Grund, die Angaben der von ihm zu untersuchenden Personen mit grösster Vorsicht aufzunehmen, und ist sogar häufig gezwungen, von denselben vollkommen abzusehen. In der Regel steht, wenn nicht etwa Zeugen in der Lage sind, über das Verhalten der Menstruation Aufschluss zu geben, die Sache so, dass nur aus dem Zeitpunkt der Geburt und der Entwicklung des betreffenden Kindes, sowie aus dem Grade der am Körper, insbesondere an den Geschlechtsorganen der betreffenden Frauensperson zu findenden Veränderungen auf die Zeit der Conception geschlossen werden kann, beziehungsweise, ob eine durch die Entbindung beendigte Schwangerschaft zu einer bestimmten Zeit begonnen haben konnte.
Von dem Tage der Conception rechnet man 280 Tage oder 40 Wochen oder 10 Monate, beziehungsweise 9 Kalendermonate, als normale Dauer einer Schwangerschaft. Es lehrt jedoch die Erfahrung, dass die Entbindung in den meisten Fällen etwas früher eintritt. Nach Ahlfeld (l. c.) fällt die grösste Zahl der Geburten in die 39., die nächstgrösste in die 40. Woche. Die durchschnittliche Dauer der Schwangerschaft berechnet er auf 271·44 Tage, eine Berechnung, mit der auch die Beobachtungen Schröder’s u. A. übereinstimmen.
Tritt die Geburt mehrere Wochen vor dem normalen Ende der Schwangerschaft ein, so heisst sie Frühgeburt, erfolgt sie vor der 28.-30. Schwangerschaftswoche, also zu einer Zeit, in welcher die Frucht erfahrungsgemäss noch nicht im Stande ist, selbstständig weiter zu leben, dann wird sie als Fehlgeburt (Abortus) bezeichnet. Von letzterer wird später gehandelt werden. Bezüglich der Frühgeburt sei hier bemerkt, dass sie in strafgerichtlichen Fällen vorzugsweise dann in Frage kommt, wenn wegen Kindesmord Angeklagte[S. 190] behaupten, früher als sie erwartet haben, von der Entbindung überrascht worden zu sein, und wenn es sich um die Lebensfähigkeit des Neugeborenen handelt, in civilgerichtlichen Fällen insbesondere dann, wenn nach geschlossener Ehe oder nach ausserehelichem Beischlaf ein Kind noch vor Ablauf von 10 Monaten geboren und die Vaterschaft unter der Angabe, dass das Kind ein reifes, daher bereits früher erzeugtes sei, abgelehnt wird. (Oesterr. bürgl. Gesetzb. §§. 156 und 157; Preuss. Landr. II, §. 21 und Gesetz vom 24. April 1854, §. 15.
Ein derartiger Fall findet sich in der „Allg. österr. Gerichtszeitung“ vom Jahre 1869.[134]
In diesem ging die Klage gegen einen gewissen B. auf Erfüllung der Vaterpflichten bezüglich des von der S. A. am 5. December 1860 geborenen Kindes, mit dessen Mutter B. zum erstenmal am 23. April 1860 und später durch mehrere Monate wiederholt den Coitus ausgeübt haben soll. B. bestritt, schon am 23. April der S. A. beigewohnt zu haben, aber selbst dieses zugegeben, wollte er das Kind deshalb nicht als das seine anerkennen, weil dasselbe zufolge der Aussage der Sachverständigen ein vollkommen reifes sei, daher längere Zeit vor dem besagten Tage erzeugt worden sein müsse. Die Aussagen der Sachverständigen gingen dahin, dass das betreffende Kind zwar schwächlich gebaut, jedoch gross (17 Zoll) und in allen Organen vollkommen entwickelt sei, somit keine Anzeichen vorhanden wären, dass dasselbe als ein in der ersten Hälfte des achten Monates (7 Monate 12 Tage) geborenes zu betrachten sei.
Der oberste Gerichtshof bestätigte trotzdem das Urtheil der zweiten Instanz, welches dahin lautete, dass der vom Geklagten durch die Sachverständigen gegen die Vermuthung, dass er der Vater sei, angestrebte Gegenbeweis umsoweniger hergestellt sei, als dieser Befund selbst nur eine Vermuthung enthält und als durch denselben der schwächliche Körperbau des Kindes, somit gerade eine Eigenschaft bestätigt wird, die erfahrungsgemäss frühreif geborenen Kindern zukommt.
Verhältnissmässig häufiger und ungleich schwerer zu beurtheilen sind die Fälle, in denen die Legitimität von Kindern, die längere Zeit nach dem 280. Tage zur Welt gekommen sind, Gegenstand der Frage bildet.
Die Spätgeburt hat seit jeher die Gerichtsärzte lebhaft beschäftigt und die extremsten Behauptungen hervorgerufen. Während die einen leugneten, dass die Schwangerschaft länger als 40 Wochen dauern könne, wollen ältere Autoren zwölf- und mehrmonatliche Dauer der Schwangerschaft beobachtet haben.[135] Die Wahrheit liegt, wie gewöhnlich, in der Mitte. Gegenwärtig geben die meisten und erfahrensten Geburtshelfer zu, dass der Eintritt der Entbindung um Tage und selbst um Wochen sich verzögern kann. Simpson[136][S. 191] theilt vier Beobachtungen mit, wo die Schwangerschaft länger als 280 Tage gedauert hatte, und zwar vom Aufhören der zuletzt erschienenen Menstruation gerechnet 333, 332, 319 und 324 Tage. Nimmt man an, die Conception sei erst kurz vor dem zu erwarten gewesenen Eintritt der nächsten Menstruation erfolgt, und rechnet deshalb 23 Tage ab, so bleiben noch immer 310, 309, 296 und 301 Tage. Unter 782 von Merimann, Murphy und Reid zusammengestellten Fällen, in denen sich der letzte Tag, an welchem die Menstruation noch erschienen war, bestimmen liess, trat von diesem Tage an gerechnet bei 173 Frauen die Geburt zwischen dem 281. und 287. Tage, bei 99 zwischen dem 288. und 294., bei 63 zwischen dem 295. und 301. und 20mal zwischen dem 302. und 326. Tage ein. Bei 40 Fällen, in denen bei Frauen und Mädchen der Tag der Conception mit völliger Sicherheit ermittelt werden konnte, fiel ziemlich die Hälfte der Geburten (18) auf den 274.-280. Tag, während 6 zwischen dem 281.-287. und 4 zwischen dem 288.-294. Tage erfolgten. Auch Schröder (l. c. 60) gibt zu, dass die Geburt bis zum 320. Tage nach der Conception sich verzögern kann, und damit ist die Möglichkeit einer Spätgeburt von Seiten anerkannt, die vor Allem berufen sind, darüber ein Urtheil abzugeben. In einem von Puppe (Zeitschr. f. Med.-Beamte, 1891, pag. 10) mitgetheilten Falle, wo der Conceptionstag bekannt war, verblieb die Frucht (Anencephalus) 357, respective 348 Tage im Uterus, in dem von Purkhauer (Virchow’s Jahrb. 1890, I, 477) beobachteten 300, respective 316 Tage. Trotz Leben des Kindes hatten die Kindesbewegungen in den letzten Monaten aufgehört, so dass vielleicht der Reiz fehlte, den dieselben auf den Uterus ausüben.
Wir sind demnach auch in forensischen Fällen genöthigt, mit einer solchen Möglichkeit zu rechnen, umsomehr, als, wie Simpson richtig bemerkt, auch vom theoretischen Standpunkt nicht abzusehen ist, warum der physiologische Act der Geburt nicht ebenso gut bezüglich der Zeit seines Eintretens Schwankungen unterliegen könnte, wie z. B. das Zahnen, die Pubertät oder die Menstruation, und es ist bekannt, dass bezüglich letzterer Erscheinung von einzelnen Autoren (Cederschjöld, Schuster, Bischoff, Berthold) die Ansicht vertreten wurde, dass die Schwangerschaftsdauer 10 individuelle Menstruationsperioden betrage und deshalb ebenso wie diese bald länger, bald kürzer ausfallen könne, eine Anschauung, die neuestens von Paul Löwenhardt[137] wieder aufgenommen wurde und auch darin ihre Unterstützung findet, dass, wie schon Elsässer und Wald hervorgehoben haben, der spontane Abortus häufig mit dem Zeitpunkte zusammenfällt, in welchem die Menstruation erscheinen sollte.
Wie aus den oben angeführten Bestimmungen (Oesterr. bürg. Gesetzb., §§. 138, 163, Preuss. Landr., II. Th., §§. 2, 19, 22, 1077,[S. 192] Rhein. Civilr., Art. 312 und 315, und Preuss. Gesetz vom 24. April 1854, §. 15) hervorgeht, nimmt das Gesetz auf die Möglichkeit einer Spätgeburt ausdrücklich Rücksicht, indem es 300, beziehungsweise 302 Tage als die äusserste Grenze annimmt, bis zu welcher Jemandem die Vaterschaft zugemuthet werden kann. Diese Frist ist zwar mit Rücksicht auf die Thatsache, dass den Angaben der Geburtshelfer zufolge noch bis zum 320. Tage nach der Conception eine Geburt erfolgen kann, gegenüber der allgemeinen Möglichkeit etwas zu kurz genommen, da jedoch die Fälle, in denen noch nach dem 300. Tage eine Entbindung erfolgte, ausnehmend selten sind, und gegenüber der enormen Zahl früher sich beendigender Schwangerschaften fast verschwinden, so dürften obige Bestimmungen so ziemlich das Richtige getroffen haben.[138]
Käme ein einschlägiger Fall zur gerichtsärztlichen Untersuchung, so wäre es Aufgabe des Gerichtsarztes, zunächst den Tag der erfolgten Entbindung genau sicherzustellen, wenn derselbe nicht bereits actenmässig erhoben ist. In frischen Fällen kann sowohl die Untersuchung der Wöchnerin, als die des Kindes Anhaltspunkte für eine solche Zeitbestimmung gewähren und den Arzt gegenüber einer etwaigen falschen Angabe des Geburtstages sichern, deren Möglichkeit in derartigen Fällen deshalb nicht immer auszuschliessen ist, weil, wie Erfahrungen lehrten, viele der angeblichen Spätgeburten auf puren Betrug hinauslaufen.
Zweitens ist die Entwicklung des betreffenden Kindes in Erwägung zu ziehen, auf deren Constatirung auch durch den Wortlaut einzelner der angeführten gesetzlichen Bestimmungen ein besonderer Werth gelegt wird. Wir werden die Eigenschaften der Früchte aus den verschiedenen Monaten der Schwangerschaft an einer anderen Stelle besprechen, ebenso die Umstände, welche, abgesehen vom Fruchtalter, dieselben zu alteriren im Stande sind. Hier sei nur bemerkt, dass die Annahme einer Spätgeburt desto mehr entfällt, je weniger das geborene Kind jene Eigenschaften zeigt, welche die ausgetragene Frucht charakterisiren, und dass, wenn die Schwangerschaft einen sonst ungestörten Verlauf genommen, mit Recht zu erwarten sein wird, dass die betreffende Frucht in Länge, Gewicht und in sonstigen Eigenschaften eine vorgeschrittenere Entwicklung zeigen wird, als wir sie sonst bei zur gewöhnlichen Zeit geborenen Kindern zu sehen in der Lage sind[139], obgleich nicht zu übersehen ist, dass auch bei letzteren der Grad der körperlichen Entwicklung in ziemlich weiten Grenzen[S. 193] sich bewegt und insbesondere die Fälle gar nicht selten sind, wo zur gehörigen Zeit ungewöhnlich stark entwickelte Kinder zur Welt gebracht werden. Dies gilt nicht blos von der Länge und dem Körpergewichte, sondern auch von manchen Eigenschaften, die in der Regel erst nach der Geburt sich einzustellen pflegen. So sind z. B. Fälle, in denen ausgetragene Kinder bereits Zähne mit zur Welt gebracht haben, wiederholt beobachtet worden, und es wäre demnach irrig, blos aus dem Vorhandensein einer solchen Erscheinung auf das Vorliegen einer Spätgeburt zu schliessen.[140]
Nicht zu übersehen ist ferner bei der Begutachtung derartiger Fälle, dass nur verhältnissmässig sehr selten Grund vorhanden ist zur Annahme, dass noch am letzten Tage, nachdem die Ehe durch Tod des Gatten oder durch Scheidung zur Auflösung kam oder noch kurz vorher der Coitus ausgeübt worden ist; insbesondere wird im ersteren Falle häufig genug die Natur der Krankheit, welcher der Betreffende schliesslich erlag, eine solche gewesen sein, dass nicht angenommen werden kann, dass während des Bestandes derselben der Beischlaf hat ausgeführt werden können, und es ist selbstverständlich, dass unter solchen Umständen die Zeit, während welcher der Mann vor seinem Tode cohabitations- oder befruchtungsunfähig gewesen war, ebenfalls bei einer angeblichen Spätgeburt, sowie überhaupt bei einer nach dem Tode des Gatten erfolgten Entbindung in Betracht gezogen und mitgerechnet werden muss.
Fälle, in denen die Spätgeburt Gegenstand gerichtsärztlicher Beurtheilung wurde, sind in der Literatur ziemlich zahlreich vorhanden.
Von den älteren erwähnen wir insbesondere den von Marc[141] mitgetheilten, weil in diesem gleichzeitig die merkwürdige Frage sich aufwarf, ob im Sinne des Gesetzes als Niederkunft schon der Beginn der Entbindung oder nur der Zeitpunkt der Ausstossung der Frucht zu verstehen sei. Der Fall spielt in Bayern zu einer Zeit, als noch die Bestimmung galt, dass nur dann Paternitätsansprüche erhoben werden können, wenn die Niederkunft innerhalb des 210. bis 285. Tages erfolgte. Die Betreffende war nun erst am 286. Tage niedergekommen, nachdem jedoch schon Tags zuvor, also gerade an dem vom Gesetze als Grenze bestimmten Tage, Geburtswehen eingetreten waren, welcher Umstand zu obigem interessanten Rechtsstreit Veranlassung gab, der jedoch zu Ungunsten der Mutter entschieden wurde.
Ein Fall von angeblicher Spätgeburt in Folge einer erdichteten Nothzucht (306 Tage nach letzterer) findet sich in Henke’s Zeitschrift, 1821, pag. 418. Auch in dem bereits oben citirten Falle Schuhmacher’s, in welchem gegen einen Wundarzt die Klage auf [S. 194]in der Chloroformnarkose vollbrachte Nothzucht erhoben wurde, wollte die betreffende Frauensperson ihre Schwängerung von diesem Acte herleiten, obgleich die Entbindung erst 317 Tage darnach eingetreten war.
Weitere einschlägige Fälle vide Taylor (l. c. II, 269) und Casper-Liman (l. c. I, 92).
Von diesen wollen wir, als ein forensisches Interesse besitzend, die Nachempfängniss, die extrauterine und die Molenschwangerschaft besprechen.
Die Möglichkeit einer Nachempfängniss ist ebenfalls eine bereits von den Alten erwogene Frage, und noch heute kann dieselbe keineswegs als gelöst angesehen werden.
Wir müssen, wie die alten Aerzte thaten und wie dies auch ein neuerer Schriftsteller über diesen Gegenstand — Kussmaul[142] — thut, unterscheiden zwischen Ueberschwängerung (Superfoecundatio) und Ueberfruchtung (Superfoetatio), indem wir unter ersterer Bezeichnung eine Empfängniss verstehen, die noch während der ersten Menstruations- (Ovulations-) Periode einer bereits eingetretenen folgt, unter Ueberfruchtung aber eine neue, in den späteren Perioden einer bestehenden Schwangerschaft eintretende Empfängniss begreifen.
Die Möglichkeit einer Ueberschwängerung in dem bezeichneten Sinne wird allgemein zugegeben, weil das befruchtete Eichen in der Regel noch einige Tage im Eileiter verweilt und weil dasselbe, wenn es sich auch im Uterus bereits festgesetzt hat, noch kein wesentliches Hinderniss für eine neue Befruchtung abgibt. Bei Thieren (Hunden und Katzen) kann man sehr gewöhnlich die Möglichkeit wiederholter Befruchtung innerhalb einer Ovulationsperiode beobachten, und auch für den Menschen hat es den Anschein, dass die meisten Mehrlingsgeburten durch wiederholte Empfängniss innerhalb der ersten Menstruationsperiode zu Stande kommen.
Bezüglich der Ueberfruchtung bemerkt Kussmaul mit Recht, dass, bevor man diese zugeben oder ableugnen könnte, zuerst die Frage zu beantworten wäre, ob während einer Schwangerschaft noch eine Reifung, beziehungsweise Auslösung von Eichen stattfinden kann. Da es bis jetzt noch nicht gelungen ist, bei in der Schwangerschaft oder kurz nach einer Entbindung Verstorbenen frisch geborstene Graaf’sche Follikel zu finden, trotzdem von zahlreichen[S. 195] Beobachtern (Kiwisch, Virchow, Hecker, Kussmaul u. A.) darnach gesucht wurde, und da der Befund von blossen gelben Körpern verschiedenen Entwicklungsgrades, insbesondere verschiedener Grösse, in dieser Richtung nichts beweist, so bleiben eigentlich nur die, wie oben erwähnt, wiederholt gemachten Beobachtungen von auch während einer Schwangerschaft in regelmässigen Zwischenräumen eingetretener Menstruation, welche als Beweis für die angegebene Möglichkeit genommen werden könnten, wenn es nicht wieder anderseits, insbesondere mit Rücksicht auf die Thatsache, dass in einzelnen Fällen die Menstruation auch nach beiderseitiger Ovariotomie noch fortdauerte[143], fraglich wäre, ob derartige Blutungen immer als Ausdruck einer vor sich gehenden Eiauslösung zu betrachten sind.
Letzteres aber zugegeben, würde wieder die Frage entstehen, ob nicht das im Uterus sich entwickelnde Ei ein absolutes Hinderniss für eine neuerliche Befruchtung und im günstigsten Fall wenigstens für die Entwicklung des neu befruchteten Eies abgebe. Dies scheint der gewichtigste Einwand gegen die Möglichkeit einer Ueberfruchtung zu sein, doch ist wieder nicht zu übersehen, dass das Eichen einerseits und die Spermafäden anderseits ganz winzige und letztere sogar mikroskopische Gebilde darstellen, denen gegenüber der durch die Frucht und ihre Hüllen gebildete Verschluss nicht als ein hermetischer betrachtet werden kann. Da wir ausserdem wissen, dass mitunter grosse Fibroide und Polypen, die scheinbar die Gebärmutter vollkommen ausfüllen, den Eintritt einer Schwangerschaft nicht verhinderten, und anderseits die Möglichkeit der Entwicklung eines so befruchteten Eies neben einem älteren und trotz diesem gegenüber der Erfahrung, die wir über die Entwicklung anderer Tumoren, selbst in den lebenswichtigsten Organen, besitzen, auch nicht absolut negirt werden kann, so lässt sich über die Frage der Ueberfruchtung noch immer streiten. Es ist aber für die Annahme einer solchen umsoweniger eine Nothwendigkeit vorhanden, als sich jene Entbindungen, die als Beweis für die Möglichkeit einer Ueberfruchtung angeführt wurden, auch ohne letztere erklären lassen.
Die Mehrzahl einschlägiger Beobachtungen betraf Fälle, in denen Frauen mit Mehrlingen, insbesondere Zwillingen, niedergekommen waren, deren Körperentwicklung eine sehr verschiedene gewesen ist. Diese Fälle erklären sich ungezwungen daraus, dass in Folge des beengten Raumes und vielleicht auch durch ungleiche Ernährungsverhältnisse die eine Frucht auf Kosten der anderen sich mehr entwickelte, und es ist umsoweniger Grund vorhanden, an eine Ueberfruchtung zu denken, als eine solche ungleiche Entwicklung bei Zwillingen verhältnissmässig häufig beobachtet wird[S. 196] und, was besonders wichtig ist, selbst bei solchen, die, wie das gemeinschaftliche Chorion beweist, aus einem Ei entstanden sind. Hierher gehört u. A. der von Bock in Marburg mitgetheilte Fall, in welchem eine Frau, die überdies bis zum siebenten Schwangerschaftsmonate regelmässig menstruirte, Drillinge gebar, von denen der eine eine Länge von 18 Zoll besass, während die anderen, in getrennten Eiern befindlichen, die Entwicklung einer fünf- und viermonatlichen Frucht zeigten. Sehr interessant sind in dieser Beziehung die von B. Schultze (Volkmann’s Samml. klin. Vortr. Nr. 34), Ruge (Beitr. z. Geburtsh. und Gyn. III, 1874) und neuestens von Breisky (Prager med. Wochenschr 1886, pag. 46) mitgetheilten Fälle, wo in der Placenta einer älteren (in Schultze’s Falle nahezu reifen) Frucht ein wohl erhaltener, vier- bis sechswöchentlicher Embryo mit eigener Decidua gefunden wurde. Solche Fälle werden übrigens schon von Schurigius (Embryologie, 1732, pag. 259) angeführt.
Ferner wurden Fälle beobachtet, in denen Frauen in verhältnissmässig kurzem Zwischenraume entweder verschieden entwickelte oder jedesmal reife oder wenigstens gleich entwickelte Früchte gebaren. In der ersten Kategorie derselben erfolgte während einer Schwangerschaft der Abgang einer unreifen Frucht, während die andere sich weiter entwickelte und zur normalen Zeit geboren wurde. Solche Vorkommnisse hat man auch als „partiellen Abortus“[144] beschrieben und sie erklären sich ebenfalls in der oben angegebenen Weise aus der Verdrängung der einen Frucht durch die andere. Die erstgeborene Frucht ist gewöhnlich abgestorben, obgleich auch frühzeitiger Abgang lebender oder wenigstens frischer Früchte beobachtet wurde. Die abgestorbene Frucht kann übrigens auch im Uterus zurückbleiben und gleichzeitig mit der sich weiter entwickelnden geboren werden, ein Vorkommniss, das, obwohl eher geeignet, die Anschauung bezüglich der Superfötation zu corrigiren, dennoch als letztere gedeutet worden ist.
Besonders interessant und am ehesten auf Superfötation zu beziehen sind die Beobachtungen zweiter Kategorie.
Von diesen sind insbesondere die von Eisenmann, von Moebus, von Thielmann und von Generali[145] mitgetheilten von Wichtigkeit.
In dem Falle von Eisenmann gebar eine Frau am 30. April 1748 einen ausgetragenen Knaben, der Unterleib blieb jedoch ausgedehnt, die Frau fühlte deutliche Kindesbewegungen und E. sowohl als andere Aerzte überzeugten sich von der Gegenwart eines zweiten [S. 197]Kindes. Die Geburt trat aber erst am 17. September 1748, also 4½ Monate nach der ersten, ein. — Die Frau starb 1755 und die Section ergab einen einfachen Uterus. — In dem Falle von Moebus wurde eine 35jährige Frau, die schon viermal geboren, am 16. October 1833 von einem ausgetragenen Mädchen entbunden, doch wurde durch die Bauchdecken ein zweites Kind gefühlt. Bei der nachträglich vorgenommenen Indagation fand sich der Muttermund wieder zusammengezogen, kaum zu erreichen. Lochialfluss und Milchsecretion blieben aus, wie in dem Eisenmann’schen Falle, und die zweite Geburt erfolgte erst nach 33 Tagen, am 18. November. — Die Frau, über welche Thielmann berichtet, war zum dritten Male schwanger und die Menstruation war noch zweimal erschienen. Am 26. März 1853 Geburt eines kleinen, lebensfähigen Mädchens, am 18. Mai, also 52 Tage darauf, die einer zweiten, ebenfalls nicht vollständig ausgetragenen, doch lebensfähigen Frucht. — Generali endlich berichtet über eine Frau, die am 17. Februar 1817 einen lebenden reifen Knaben und 4 Wochen darauf, am 14. März, einen zweiten ebenfalls ausgetragenen gebar. Im Jahre 1847 starb diese Frau und es fand sich bei der Section ein doppelter Uterus.
Diese merkwürdigen Fälle lassen sich entweder in der Weise erklären, dass man annimmt, dass von zwei gleich alten, aber ungleich entwickelten Früchten die stärkere durch die Entbindung ausgestossen, die schwächere jedoch von dem entlasteten Uterus noch weiter, beziehungsweise bis zur völligen Reife, zurückbehalten und dann erst geboren wurde, oder man ist gezwungen, thatsächlich an Superfötation zu denken. Für letztere spricht der Umstand, dass in einem dieser Fälle, wie auch in einem der oben angeführten, die Menstruation trotz eingetretener Schwangerschaft sich noch einige Male gezeigt hatte, und der Befund eines doppelten Uterus in dem Falle von Generali, dessen Vorhandensein von Kussmaul auch in jenem von Moebus vermuthet wird, obgleich auch bezüglich dieses mit Recht bemerkt wurde, dass bei Schwängerung der einen Hälfte eines doppelten Uterus auch in der zweiten eine Decidua sich bildet und deren Höhle durch die zunehmende Ausdehnung der geschwängerten Uterushälfte ebenfalls, wenn nicht verschlossen, so doch bedeutend verengert werde.
Am meisten sprechen für die Möglichkeit einer Ueberfruchtung jene Fälle, in welchen neben einer intrauterinen Schwangerschaft eine jüngere Tubarschwangerschaft gefunden wurde. Majer (Friedreich’s Bl. 1884, pag. 390) berichtet über einen solchen von Schröder und Braun obducirten Fall, und mehrere andere werden von Rennert (Arch. f. Gyn. 1884, pag. 276) mitgetheilt. In ersteren fand sich im Uterus ein dreimonatlicher, in der Tuba aber ein sechswöchentlicher Fötus.
Jedenfalls würde ein derartiges Vorkommniss, wenn es, was als möglich zugegeben werden muss, zu Zweifeln über die legitime Geburt der einen der in längeren Zwischenräumen geborenen Früchte Veranlassung geben sollte, zu den schwierigsten und[S. 198] heikelsten Gegenständen gehören, die zur gerichtsärztlichen Beurtheilung gelangen können. Da von mehreren Autoren, so namentlich von Kussmaul, die Möglichkeit einer Superfötation wenigstens bei doppeltem Uterus zugegeben wird, so wäre auf das Vorhandensein dieses, sowie darauf zu achten, ob nicht während der Schwangerschaft Erscheinungen aufgetreten sind, die, wie z. B. die Fortdauer der Menstruation, auf noch nach der Conception erfolgte Ovulation bezogen werden könnten. Sind derartige Momente nicht nachzuweisen, dann liegt es gewiss viel näher, einen anormalen Verlauf einer Zwillingsschwangerschaft als eine Ueberfruchtung anzunehmen.[146]
Bei der Beurtheilung einschlägiger Fälle kommt auch die Frage in Betracht, wann nach der Entbindung eine Frau wieder concipiren kann. Nach der herrschenden Ansicht ist dies erst 6–8 Wochen nach der Entbindung, d. h. kurz vor der bei nichtstillenden Frauen eintretenden Menstruation möglich. Von König wurde jedoch in der Leipziger Gesellschaft für Geburtshilfe (Centralbl. f. Gyn. 1893, Nr. 19) ein Fall mitgetheilt, wo 4 Tage post partum der Coitus ausgeübt und dann 3 Monate ausgesetzt wurde, die Menstruation nicht wiederkehrte und die Frau 243 Tage nach diesem Coitus ein vollreifes 3550 Grm. schweres Kind gebar.
Die häufigste Form der extrauterinen Schwangerschaft ist die Tubarschwangerschaft. Dieselbe endigt meistens schon im zweiten bis dritten, mitunter erst im vierten Monate[147], indem das sich ausdehnende Ei die Tuba sprengt und der Tod entweder sofort durch Verblutung oder in Folge der nun entstehenden Peritonitis eintritt. In günstigen Fällen tritt Genesung ein, indem die Frucht entweder abgekapselt wird und in ein Lithopädion sich umwandelt, oder eine sogenannte lipoide Umwandlung eingeht[148], oder indem Abscessbildung unter Ausstossung der abgestorbenen Frucht oder vielmehr ihrer Reste erfolgt, Vorgänge,[S. 199] die selbst Jahre in Anspruch nehmen, so zwar, dass in der Zwischenzeit neue und normal verlaufende Schwangerschaften sich einstellen können, eine Form der Superfötation, die von der eben besprochenen wohl zu unterscheiden ist.
Abgesehen von letzterem Umstande, hat die Extrauterinschwangerschaft[149] noch insoferne eine gerichtsärztliche Bedeutung, als der plötzliche Tod, der sehr häufig in Folge der Berstung des Fruchthalters erfolgt, den Verdacht einer gewaltsamen Todesart erwecken kann. So kam in Prag ein Fall vor, in welchem eine Frauensperson nach dem Genusse von Würsten unter Schwindel und Würgebewegungen zusammenstürzte und nach wenigen Augenblicken[S. 200] starb, weshalb an eine Vergiftung gedacht wurde, bis die Section den Fall als Verblutung in Folge einer Tubarschwangerschaft klarstellte.
Ebenso kann es sich ereignen, dass eine schwangere Tuba, die vielleicht binnen Kurzem von selbst geborsten wäre, durch verhältnissmässig unbedeutende Erschütterungen des Unterleibes, z. B. durch Fauststösse u. dgl., zum Bersten gebracht und dadurch der Tod veranlasst wird, in welchem Falle „die eigenthümliche persönliche Beschaffenheit oder der besondere Zustand der Verletzten“ (österr. St. P. O. §. 129, 2, lit. b) besonders hervorgehoben werden müsste. Endlich kann der Riss in der Uteruswand, welcher nach interstitieller Schwangerschaft entsteht, für eine anderweitig, insbesondere traumatisch veranlasste Ruptur genommen werden (Fig. 37).
Unter Mole verstehen wir ein degenerirtes Ei und schliessen folglich alle anderen Neubildungen, wie Polypen, Fibrome u. dergl., welche ebenfalls mitunter durch Contractionen der Gebärmutter, also durch einen Geburtsact, ausgestossen werden können, von diesem Begriffe aus.
Man unterscheidet Fleischmolen und Blasenmolen. Die Fleischmolen entstehen ausser aus zurückgebliebenen Placentaresten oder Fibringerinnseln durch Hämorrhagien zwischen die einzelnen Eihäute und mitunter in die Eihöhle selbst, wobei die Frucht abstirbt, aber keineswegs ein gewöhnlicher Abortus eintritt, sondern das Ei mit dem abgestorbenen Fötus im Uterus zurückbleibt und, indem sich das Extravasat organisirt, zu einem die Formen der Uterushöhle präsentirenden fleischartigen, faserigen Tumor umwandelt, in dessen Centrum nicht selten noch die Amnionhöhle und selbst Reste des Embryo erkannt werden können.
Die Blasen- oder Traubenmolen entwickeln sich durch Hypertrophie und cystöse (myxomatöse) Degeneration der Chorionzotten, mitunter auch durch cystöse Degeneration oder durch subchoriale Hämatome der Decidua vera, wie Breus[150] ausführt und abbildet. Man findet ein Convolut von erbsen- bis haselnussgrossen dünnwandigen und mit meist wasserklarem Serum gefüllten Cysten, welche auf langgestreckten und ein verfilztes Balkenwerk bildenden Stielen von einer centralen Masse ausgehen, die als Ueberrest des Chorion aufzufassen ist und mitunter ebenfalls noch Reste der ehemaligen Eihöhle enthält.
Die Entstehung der Molen fällt gewöhnlich in die ersten Monate der Schwangerschaft, in welchen eben die Ursache des Absterbens der Frucht, beziehungsweise der Hämorrhagie, in die Eigebilde oder der hydropischen Degeneration der Chorionzotten[S. 201] gesetzt wurde. Im Allgemeinen werden Blasenmolen viel länger getragen als Fleischmolen (Scanzoni). Die Symptome einer Molenschwangerschaft unterscheiden sich in der ersten Zeit gar nicht von einer gewöhnlichen Schwangerschaft. Im späteren Verlaufe kann der Mangel der Kindesbewegungen und der fötalen Herztöne Anhaltspunkte für die Diagnose ergeben, auch Blutungen aus den Genitalien können sich einstellen, dagegen sind die von älteren Autoren angegebenen Erscheinungen von Abmagerung, Unwohlsein etc. keineswegs constant. Bei Blasenmolenschwangerschaft ist die unverhältnissmässig rasche Zunahme des Uterus bemerkenswerth. Ebenso wurden starkes Erbrechen und hydropische Erscheinungen beobachtet. In einem von Leopold verfolgten Falle (Arch. f. Gyn. XII, 482) trat schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft heftiges Erbrechen und Oedem des Gesichtes auf. Ende der achten Woche stand der Fundus uteri bereits zwei Finger über der Symphyse, Ende des dritten Monates zwei Finger breit über dem Nabel. Ende der dreizehnten Woche profuser Blutverlust aus der Scheide und rasche Entbindung von einer grossen, ein ganzes Waschbecken ausfüllenden Blasenmole.
Eine Erwähnung verdient noch das Verkennen der Schwangerschaft von Seite der Schwangeren selbst, eine Behauptung, die in forensischen Fällen nicht selten vorkommt.
Dass ein Verkennen der Schwangerschaft in den ersten Monaten möglich ist, wird allgemein zugestanden und ist auch begreiflich, da die Gravidität anfangs keine auffallenden Veränderungen im Körper veranlasst und die ersten subjectiven Erscheinungen, wie Unwohlsein und auch das Ausbleiben der Menstruation, das überdies, wie wir gehört haben, nicht immer erfolgen muss, auch anderweitig gedeutet werden können. Ist aber die Schwangerschaft bereits weiter gediehen, namentlich bereits über die erste Hälfte ihrer normalen Dauer vorgerückt, dann ist wohl nur unter besonderen Umständen als möglich zuzugeben, dass eine Person ihren Zustand verkannt haben konnte, da für gewöhnlich vorausgesetzt werden muss, dass eine vollsinnige und geschlechtsreife Person sowohl die Bedeutung des Coitus kennt, als die Folgen, die daraus entstehen können, und da die successive und immer auffallender werdende und mehrere Monate beanspruchende Entwicklung der Symptome sie über ihren Zustand in’s Klare bringen muss. Deshalb kann auch der im früheren preuss. St. G. enthaltenen Bestimmung, dass: „wenn die Frucht bereits die 30. Woche erreichte, die Ausrede, dass die Mutter von ihrer Schwangerschaft nichts gewusst habe, nicht mehr gelten kann“, die Berechtigung nicht abgesprochen werden.
Ausnahmen von dieser Regel könnten jene Fälle bilden, in denen der betreffende Coitus an einer bewusstlosen Person ausgeführt [S. 202]wurde. Das Verkennen der daraus entspringenden Schwangerschaft wäre gewiss begreiflich; ebenso begreiflich ist es aber, dass gegenüber derartigen Angaben nur die grösste Vorsicht angezeigt ist. Wie leichtgläubig in dieser Beziehung ältere Aerzte gewesen sind, beweist der in Schmidt’s Jahrb. 1850, pag. 323 als Beweis für die Möglichkeit einer unbewussten Schwängerung angeführte Fall: Ein 23jähriges plethorisches Bauernmädchen erkrankte an heftigen Unterleibsschmerzen lebensgefährlich. Bei Eröffnung der ungünstigen Prognose fühlte sich der Bräutigam zu der Mittheilung veranlasst, dass er vor drei Monaten, als sie sich beide in trunkenem Zustande befunden hätten, höchst wahrscheinlich (!) mit dem Mädchen den Beischlaf ausgeübt habe. Am sechsten Tage wurde eine dreimonatliche Frucht geboren, worauf die Mutter starb. Nun heisst es weiter: „Der gesellschaftliche (Bauersleute!) und sittliche (beide betrunken!) Standpunkt der beiden Verlobten musste bezüglich der Angaben des Bräutigams Vertrauen erwecken und spätere Erkundigungen mussten dieses Vertrauen bestärken. Der Fall würde also beweisen, dass ein übermässiger Genuss starker Getränke das Bewusstsein so zu unterdrücken vermag, dass selbst der Coitus ohne Wissen beider Individuen vollzogen werden kann.“ (!!!)
Dass bei Blödsinnigen und Geisteskranken ein Verkennen der Schwangerschaft vorkommen kann, bedarf keines weiteren Beweises. Wichtiger ist jedoch die Thatsache, dass auch bei blos schwachsinnigen Individuen Solches zugegeben werden muss, wie Fleischmann (Henke’s Zeitschr. 1839, pag. 294) einen solchen Fall beobachtete. Ebenso wäre es denkbar, dass bei Schwängerung ganz jugendlicher, von dem normalen Zeitpunkt der Pubertät noch weit entfernter Individuen, wovon wir oben vielfache Beispiele angeführt haben, schon der noch kindlichen Beschaffenheit der Verstandeskräfte wegen eine Schwangerschaft verkannt werden könnte.
Der Einfluss von Menstruationsanomalien auf etwaiges Verkennen der Schwangerschaft wird nicht unbeachtet gelassen werden dürfen. So bei Individuen, die früher noch niemals menstruirt hatten oder bei denen die Menses stets unregelmässig und mit vielfachen Unterbrechungen sich einstellten, namentlich aber, wenn trotz eingetretener Gravidität die Menstruation noch fortgedauert hätte. Wir haben ferner oben eines Falles erwähnt, in welchem das Ausbleiben der Menstruation in Folge eingetretener Schwangerschaft mit dem Eintritt des Klimakteriums in Verbindung gebracht wurde, und es wäre begreiflich, wenn eine Person, die trotz wiederholtem Coitus niemals geboren hatte, wenn sie im vorgerückten Alter wirklich schwanger wird, ihren Zustand verkennt.
Einen solchen Fall bringt Tanner (Monatsschr. f. Geburtsk. 1863, XXI, 163). Eine 42jährige Dame, zu welcher T. gerufen wurde, klagte seit 11 Uhr der verflossenen Nacht über grosse Schmerzen im Unterleibe, ist mehr denn drei Jahre verheiratet und niemals schwanger gewesen. Die Catamenien waren seit 10 Monaten ausgeblieben, was jedoch, da sie früher sehr reichlich gewesen waren, der Veränderung [S. 203]der Lebensweise zugeschrieben wurde. Der Schmerz im Unterleibe kam in Paroxysmen und hatte sich weder durch Medicamente, noch durch Senfteige gebessert. Der Assistent eines benachbarten Arztes erklärte, dass die Schmerzen von Flatulenz und Entzündung herrührten. Dies stimmte ganz wohl mit der Meinung der Patientin, ihres Mannes etc. überein. T. fand jedoch die Frau in Wehen und extrahirte wenige Stunden darauf ein ausgetragenes Kind — zu nicht geringer Befriedigung der erstaunten Eltern. Dieser Fall, sagt T., beweist, dass eine Frau empfangen, vollkommen austragen und 10 Stunden lang Wehen haben kann, ohne nur im Geringsten zu ahnen, dass sie schwanger sei.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass unter Umständen eine Schwangerschaft auch für einen chronisch-pathologischen Zustand gehalten werden kann, namentlich dann, wenn ähnliche Symptome thatsächlich früher bestanden hatten, und noch mehr, wenn die Betreffende etwa von ärztlicher Seite in dem Wahne, krank zu sein, bestärkt worden ist. So erzählt Wald von einem Ladenmädchen, welches, hinter dem Pulte stehend, ein Kind geboren hatte, das in Folge der dabei erlittenen Schädelfracturen sofort gestorben war. Die Person war seit jeher kränklich gewesen, litt besonders an Unterleibsbeschwerden und die Menstruation war stets unregelmässig. Nur einmal hatte sie den Coitus zugelassen. Die Erscheinungen, die auftraten, schrieb sie ihrer alten Krankheit zu und wurde in diesem Glauben durch einen Arzt bestärkt, den sie wiederholt consultirte und der ihr Landaufenthalt anrieth. Von dort kehrte sie gebessert zurück und hielt die Zunahme ihres Unterleibes für ein Zeichen fortschreitender Genesung. In den letzten Monaten consultirte sie wegen der auffallenden Zunahme ihres Unterleibes ihren Arzt, der noch acht Tage vor der Entbindung die Diagnose auf Wassersucht stellte und darnach behandelte. Unter solchen Umständen musste die Möglichkeit, dass die Betreffende ihre Schwangerschaft verkannt haben konnte, zugegeben werden. Ist es ja schon vorgekommen, dass Schwangerschaft für einen Ovarialtumor gehalten und die Ovariotomie gemacht wurde!
Schliesslich sei bemerkt, dass eine Verkennung der Schwangerschaft unter sonst gleichen Verhältnissen bei einer Person, die bereits geboren hatte, noch weniger leicht wird zuzugeben sein, als bei Individuen, die zum erstenmale gravid geworden sind und daher in diesen Dingen noch keine Erfahrung besitzen.
Ein Unicum war die laut brieflicher Mittheilung des Herrn Collegen Fleischer in Brüx ihm in einem Ehetrennungsprocesse gestellte Frage, ob der Ehemann die Schwangerschaft seiner ihm vor wenigen Wochen angetrauten Frau erkennen musste. Ein Witwer, der in erster Ehe 6 Kinder gezeugt hatte, heiratete nach vierwöchentlicher Bekanntschaft ein 24jähriges Mädchen. Nach fünf Wochen gebar die Frau ein lebendes, jedoch unreifes Kind. Der Mann verlangte die Ungiltigkeitserklärung der Ehe mit Rücksicht auf §. 58 des österr. bürg. Gesetzb. Der Vertreter der geklagten Frau machte aber geltend, dass der Gatte als erfahrener Mann bei dem geschlechtlichen Umgang mit [S. 204]seiner Frau deren Zustand erkennen musste, sich aber die Sache offenbar gefallen liess, da er erst nach erfolgter Entbindung Klage erhob. Da auch die Hausgenossen den Zustand der Frau nicht erkannt hatten, und das Kind ein unreifes war, musste die Aussage des Gatten, dass ihm keine Idee von dem Sachverhalte aufgestiegen sei, als glaubhaft erklärt werden, umsomehr, als er angab, dass er zwar den Coitus öfters ausgeübt, dass aber seine Frau weitere Berührungen unter dem Vorwande, kitzlich zu sein, nicht zugelassen habe.
Wir haben hier die normale Entbindung von einer ausgetragenen Frucht im Auge, und zwar zunächst diejenigen Kennzeichen, welche in der ersten Zeit nach einem solchen Acte zu constatiren sind.
Unmittelbar nach einer Entbindung finden wir die äusseren Genitalien und deren Umgebung mit Blut verunreinigt, welches theils aus dem Uterus, theils aus den bei Erstgebärenden in der Regel, bei Mehrgebärenden sehr häufig vorhandenen kleinen Einrissen des Scheideneinganges stammt. Die Schamlippen sind geschwollen, der Scheideneingang und die Scheide so erweitert, dass man bequem mit der ganzen Hand eindringen kann. Die Scheide selbst, insbesondere ihre vordere Wand, ist schlaff, die Runzeln verstrichen. Der Cervix schlaff, der Muttermund weit offen, in der Regel mit frischen Einrissen versehen. Blutiger Ausfluss aus dem Uterus.[151] Letzterer als kugeliger Körper zwischen Symphyse und Nabel zu fühlen. Die Bauchdecken auffallend schlaff und stark gerunzelt, mit frischen Schwangerschaftsnarben besetzt, ausserdem in der Regel stärker pigmentirt, namentlich entsprechend der weissen Bauchlinie als Linea fusca. Die Brüste geschwellt, beim Druck dickliche gelbliche Milch (Colostrum) entleerend, in welcher sich nebst anfangs spärlichen Milchkügelchen sogenannte Colostrumkörperchen finden, welche grosse rundliche, einen Kern und zahlreiche Fetttröpfchen enthaltende Zellen darstellen, die als im fettigen Zerfall begriffene Drüsenepithelien aufzufassen sind. Die Brustwarzen und ihre Höfe sind auffallend pigmentirt und die Follikel in letzteren deutlich geschwellt.
Von allgemeinen Erscheinungen ist die erhöhte Temperatur sehr constant; die Erhöhung beginnt nach Schröder gleich nach der Geburt, steigt durchschnittlich bis 39° und schwankt in den nächsten Tagen zwischen 36–38°, in der Regel mit abendlichen Exacerbationen. Der Puls ist im normalen Wochenbett in der Regel[S. 205] sehr niedrig, 50–60 (Schröder). Gesteigerte Hautthätigkeit und ziemlich bedeutende Gewichtsabnahme in den ersten Tagen (Gassner) sind ebenfalls constante Befunde.
In den folgenden Tagen und Wochen bilden sich die besprochenen Erscheinungen allmälig zurück. Die Involution des Uterus schreitet vor, ist jedoch erst nach 6–8 Wochen vollendet. Der Muttermund contrahirt sich, bleibt aber meist bis zum 10.-12. Tage offen. Nach 5–6 Wochen ist der Cervix bereits wieder ziemlich zur Norm zurückgekehrt, etwaige Einrisse verheilt, ebenso jene des Scheideneinganges. Letzterer, sowie die Scheide verengern sich, die Wandungen der Vagina werden fester und gewinnen ihre gerunzelte Beschaffenheit wieder. In der Regel wird die Verengerung erst in der 3.-4. Woche deutlicher, kann sich jedoch auch früher einstellen (Schröder). Die Bauchdecken verlieren ihre Schlaffheit, doch erhält sich die Pigmentirung derselben in der Regel lange Zeit, während die Schwangerschaftsnarben meistens als bleibendes Merkmal überstandener Gravidität auch später zu bemerken sind, indem ihre ursprünglich einen Stich in’s Röthliche zeigende Farbe allmälig jene sehnigglänzende annimmt, die dann meist für die ganze übrige Lebenszeit persistirt.
Die Milchsecretion wird, wie bekannt, erst nach der Geburt intensiver und hält dann in der Regel so lange an, als das Säugegeschäft fortgesetzt wird. Bei verheimlichten Geburten ist letzteres natürlich nicht der Fall, weshalb die Milchsecretion schon nach wenigen Tagen schwächer wird und in 8–10 Wochen ganz sistirt. Die Brüste nehmen dabei an Völle ab, werden meist schlaff, die Pigmentirung der Warzen und Warzenhöfe erhält sich jedoch lange Zeit und bleibt in der Regel in mehr weniger ausgesprochener Weise für’s ganze Leben. Bemerkenswerth ist, dass mitunter Milchsecretion auch bei Frauen vorkommt, welche niemals geboren haben, besonders bei solchen, welche an chronischen Uterusaffectionen leiden. Säxinger (l. c. 224) bringt ein solches Beispiel, und wir selbst haben starke Milchsecretion an der Leiche eines 20jährigen blödsinnigen, vollkommen virginalen Mädchens gefunden. Die Mammae waren mässig gross und besassen blasse Warzen und Warzenhöfe.
Wichtig für die Zeitbestimmungen in den ersten Tagen und Wochen nach einer Geburt ist das Verhalten des Ausflusses aus den Genitalien, der sogenannten Lochien. Unmittelbar nach der Entbindung wird reines, theils flüssiges, theils geronnenes Blut entleert[152] und noch durch 2–3 Tage sind die Lochien vorwiegend[S. 206] blutig, werden vom 3. bis beiläufig zum 5. Tage fleischwasserähnlich, vom 5.-8. stark eiterhältig und dann blennorrhoisch, indem sie anfangs eine mehr dickliche, rahmähnliche, später mehr schleimige Consistenz zeigen und schliesslich nach 14 Tagen bis 3 Wochen sich verlieren. Nach Schröder ist die Dauer der Lochien bei stillenden Frauen häufig kürzer als bei solchen, die nicht stillen. Letzterer Umstand trifft aber bei heimlich Gebärenden zu, sowie bei diesen auch das unzweckmässige Verhalten nach der Entbindung geeignet ist, um in der Regel die Rückkehr des Genitalapparates zur Norm zu verzögern.
Die mikroskopische Untersuchung der Lochien (Wertheimer, Virchow’s Archiv, XXI, 314; Rokitansky, Wiener med. Jahrb. 1874, 2; Artemieff, Zeitschr. f. Geburtsh. XVII, 171) ergibt in den ersten Tagen vorwiegend rothe Blutkörperchen, Fibrinflocken, abgestossene, fettig degenerirte Epithelien und der Decidua vera angehörige Gewebsreste, später Eiter und schliesslich Schleimkörperchen in abnehmender Menge, ausserdem freies Fett, Pigment, sowie constant Mikrokokken und eigentliche Bacterien, ferner auf der Höhe des Ausflusses noch abgestossene, junge Bindegewebszellen, durchaus Befunde, die für sich allein nicht den lochialen Charakter des Ausflusses beweisen, so dass von einer mikroskopischen Untersuchung keine verwerthbaren Anhaltspunkte erwartet werden können.
Sind Monate seit der betreffenden Entbindung verflossen, dann kann man allerdings Zeichen finden, welche beweisen, dass die Untersuchte überhaupt geboren habe, es ist jedoch nicht mehr möglich, die Zeit genauer zu bestimmen, wann dies geschah. Zu jenen Zeichen gehören insbesondere diejenigen, welche auf eine bestandene starke Ausdehnung der Bauchwand schliessen lassen: die Schlaffheit der Bauchdecken und der Befund der „Schwangerschaftsnarben“.
[S. 207]
Beide Befunde finden sich besonders dann in unverkennbarer Weise entwickelt, wenn wiederholte Entbindungen vorausgegangen waren. Hat jedoch nur eine Entbindung stattgefunden, dann können die Bauchdecken wieder die normale Spannung gewinnen, was namentlich dann der Fall ist, wenn in Folge guter Ernährung sich ein reichlicher Fettpolster ausbildet. Durch letzteren können selbst Diastasen der Bauchmuskeln, die während einer Schwangerschaft sich nicht selten entwickeln, unkenntlich gemacht werden. Wichtiger ist der Befund der Schwangerschaftsnarben. Dieselben präsentiren sich als eigenthümlich sehnig glänzende, verschieden lange und breite Streifen der Bauchhaut, welche vorzugsweise in der Unterbauchgegend ihren Sitz haben und meist von der Symphyse und den beiden Poupart’schen Bändern in gewissermassen strahlenförmiger Anordnung nach oben und aussen verlaufen. Man bekommt sie besonders deutlich zu Gesichte, wenn man eine Partie der unteren Bauchhaut spannt, wo sie dann nicht blos vom Untergrunde besser sich abheben, sondern auch eine feine Querfaltung der sie überziehenden Epidermis erkennen lassen. Diese narbigen Streifen, welche subepidermoidalen Dehnungen der Cutis und einer Auseinanderzerrung der Bindegewebsbündel derselben ihre Entstehung verdanken[153] und erst in den letzten Monaten der Schwangerschaft sich bilden, sind sehr wichtige, weil fast constante und bleibende Merkmale einer dagewesenen Schwangerschaft, doch ist zu bemerken, dass sie in nicht sehr seltenen Fällen trotz normaler Dauer der Gravidität sich nicht entwickeln (nach Fayé fehlten sie unter 514 Fällen 31mal, nach Credé in 10, nach Hecker in 6 Procenten der Fälle), dass ferner der Grad ihrer Ausbildung nicht immer der gleiche ist, und dass auch andere bedeutende Ausdehnungen des Unterleibes sie ebenfalls erzeugen können. Letzterer Umstand ist, soweit er sich auf krankhafte Ausdehnungen der Bauchwand durch Ascites, Ovariencysten etc. bezieht, insoferne von geringerer Bedeutung, als das Bestandenhaben dieser wohl nachweisbar sein wird, und bei jungen und gewöhnlich alle Zeichen der Gesundheit darbietenden Individuen, mit denen es der Gerichtsarzt in solchen Fällen in der Regel zu thun hat, überhaupt nur sehr selten in Betracht kommt. Wichtiger ist die Thatsache, dass auch jene Ausdehnung der Bauchhaut, welche durch stärkere Fettbildung im Unterhautzellgewebe erzeugt wird, zur Bildung derartiger narbenähnlicher Streifen führen kann, wie Schultze[154] zuerst constatirte, dessen Angabe, dass sich solche Befunde aus gleichem Grunde mitunter auch bei wohlgenährten Männern (6 Procente) ergeben können, wir aus eigenen zahlreichen, an Leichen gemachten Erfahrungen bestätigen müssen.
[S. 208]
In dieselbe Kategorie werden auch die falschen Narben gehören, die Plagge (Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde. 1860, XV, 369) nach Typhus auftreten sah, und die er als eine Atrophie der Cutis in Folge von Nutritionsdefect auffasst, deren Befund jedoch dadurch zu erklären ist, dass die bereits früher bestandenen, durch stärkere Fettbildung im Unterhautgewebe erzeugten narbenähnlichen Streifen an den abgemagerten Typhusreconvalescenten deutlicher hervortreten. Solche durch blosse Fettbildung erzeugten Streifen unterscheiden sich jedoch von den wirklichen Schwangerschaftsnarben durch ihre grössere Zartheit und geringere Ausdehnung, sowie durch den Abgang der Pigmentirung der Nachbarhaut, die nach Schwangerschaft, wenn auch nicht immer, so doch sehr häufig gleichzeitig besteht.
Die Brustdrüsen bieten in der späteren Zeit nur wenig Anhaltspunkte für die Diagnose, da die Schlaffheit derselben, die anfangs in der Regel vorhanden ist, sich durch nachträgliche Fettbildung wieder ausgleichen, anderseits aber auch bei nicht schwanger gewesenen Personen bestehen kann, weil ferner die Pigmentirung der Warzen und Warzenhöfe nur eine relative Vermuthung gestattet, da ihr Grad nicht blos von etwa vorausgegangener Gravidität, sondern auch, wie die Färbung der Haut, von individuellen anderweitigen Verhältnissen abhängt, und da es ja in der Regel nicht bekannt ist, wie die betreffenden Theile bezüglich ihrer Färbung sich früher verhalten haben.
Die verwerthbarsten Kennzeichen wird natürlich die Untersuchung der Genitalien ergeben. Zunächst das Verhalten des Scheideneinganges, an welchem sich vernarbte Einrisse des Frenulums und selbst des Dammes finden können. Ersteres muss nicht nothwendig bei einer Geburt zerreissen, kann sich vielmehr, wie neuerdings Wahl[155] wieder hervorhob, auch bei der Geburt eines ausgetragenen Kindes erhalten, obgleich dies gerade bei verheimlichten, ohne Unterstützung des Dammes und ohne sonstige Cautelen verlaufenden Entbindungen gewiss seltener geschehen wird. Wichtig ist ferner das Verhalten des Hymen, welches, wie wir bereits an einer anderen Stelle erwähnten, erst bei einer Entbindung vollkommen und an mehreren Punkten zerreisst, aus welchen Rissen sich erst die eigentlichen sogenannten Carunculae myrtiformes bilden. Wenn wir demnach das Hymen entweder noch erhalten oder nur so eingerissen finden, dass sich die ursprüngliche Form der Scheidenklappe noch leicht construiren lässt, dann ist nicht anzunehmen, dass ein ausgetragenes oder der Reife nahestehendes Kind geboren wurde, während diese Annahme dann gerechtfertigt ist, wenn sich blos Carunculae myrtiformes nachweisen lassen. Dieses Verhalten gilt vorzugsweise von der unteren Hälfte des Hymen, während die oberen seitlichen, von der[S. 209] Harnröhrenmündung herabziehenden Lappen desselben sich, wie wir uns wiederholt an Leichen zu überzeugen Gelegenheit hatten, trotz selbst mehrfachen Entbindungen erhalten können.
Die Weite der Scheide gibt keinen brauchbaren Anhaltspunkt für die Beantwortung der vorliegenden Frage; denn einestheils kann die durch eine Entbindung ausgedehnt gewesene Vagina wieder fast vollständig zu ihrer früheren Beschaffenheit zurückkehren, anderseits kann die grössere Weite, sowie auch die Schlaffheit derselben auch durch andere Ursachen, wie häufig geübten Coitus, Blennorrhoen, sowie durch vorgerückteres Alter bedingt sein.
Dagegen werden wir in der veränderten Form des Muttermundes (siehe oben), sowie den an demselben zu findenden vernarbten Einrissen die wichtigsten Befunde erblicken, aus welchen der Schluss auf eine überstandene normale Geburt gezogen werden kann. Doch kann man auch in dieser Beziehung Ausnahmen begegnen, indem nicht gar selten auch ein gravid gewesener Uterus einen spaltförmigen Muttermund darbietet, und als die Ränder des letzteren so abgerundet und die vernarbten Einrisse so unbedeutend oder so versteckt sein können, dass namentlich, wenn die Entbindung die einzige gewesen und seitdem bereits lange Zeit verstrichen war, die Portio vaginalis und der Muttermund sich nicht auffallend von jenen unterscheiden, die durch Gravidität nicht verändert worden sind.
Die Erkennung einer unmittelbar oder wenige Tage vor dem Tode eines Individuums erfolgten Entbindung bietet bei der Untersuchung der betreffenden Leiche keine Schwierigkeiten, da ausser den bereits durch die äussere Untersuchung sich ergebenden Befunden auch das Verhalten der inneren Genitalien durch unmittelbare anatomische Exploration constatirt werden kann. Man findet den Uterus vergrössert, in der Regel schlaff, die Höhle erweitert, kurz nach der Entbindung mit Blutgerinnseln gefüllt. Die Innenwand blutig imbibirt, zottig, mit Fibringerinnseln und Deciduaresten bedeckt, die Placentarinsertion durch eine gewöhnlich an der hinteren Wand des Fundus liegende, wie zerwühlte Stelle erkennbar. Die Wandungen des Uterus verdickt, am Durchschnitt weite klaffende Gefässe zeigend, die Portio vaginalis verhältnissmässig kurz, wie gequetscht, der Muttermund bedeutend erweitert, mit frischen Einrissen versehen.
Ist der Tod erst nach einigen Tagen in Folge septikämischer oder entzündlicher Processe erfolgt, dann ergeben sich entsprechende Veränderungen am Uterus und anderen Organen, die als bekannt vorausgesetzt werden müssen. Erwähnt sei nur, dass in solchen Fällen insbesondere die Gefässe des Uterus sowohl als des Perimetriums genau zu untersuchen sind, da diese in der Regel Eiter verschiedener Qualität zu enthalten pflegen. Nicht überflüssig dürfte die Bemerkung sein, dass durch Erkrankungen der genannten Art die Involution des Uterus wesentlich aufgehalten[S. 210] wird, und dass dieser Umstand bei der Bestimmung der Zeit, die seit der betreffenden Entbindung bis zum Tode verflossen ist, wohl in Betracht gezogen werden muss.
Ist der Tod durch eine andere Ursache und ohne dass die normale Rückbildung des Uterus behindert wurde, eingetreten, z. B. durch Selbstmord oder andere gewaltsame Todesart, dann finden wir den Uterus in dem entsprechenden Stadium der Involution, und da diese ungefähr nach 6–8 Wochen beendet ist, der Uterus jedoch unter sonst normalen Verhältnissen schon um die dritte bis vierte Woche bereits in dem Grade contrahirt zu sein pflegt, dass seine Grösse jener des normalen sich beträchtlich nähert, so können diese Daten zur Abschätzung der seit der Entbindung vergangenen Zeit verwendet werden, wobei jedoch wieder festzuhalten ist, dass eben bei heimlich Entbundenen die Nichtschonung während des Wochenbettes die Rückbildung des Uterus zu verzögern im Stande ist.
Eine Erwähnung verdient noch der Befund eines sogenannten Corpus luteum verum in den Ovarien. Das Corpus luteum bildet sich aus den Resten eines geborstenen Graaf’schen Follikels durch Wucherung der Follikelwandungen und spätere fettige Degeneration der neugebildeten Zellenmassen, wobei auch das bei der Berstung des Follikels in den Follikelraum gewöhnlich, aber nicht immer erfolgte geringe Blutextravasat eine Rolle spielt. Seit jeher hat man nun behauptet, dass jene Vorgänge besonders dann in intensiv und extensiv erhöhterem Grade sich einstellen, wenn der betreffenden Eiauslösung sofort Conception nachfolgt, dass in Folge dessen ein viel grösseres Corpus luteum sich bilde, als nach einer nicht von Befruchtung gefolgten Eiauslösung und ungleich länger sich erhalte als das menstruelle. Ein derartiges Corpus luteum nannte man C. l. verum zum Unterschiede von dem C. l. falsum, worunter man den kleinen und bald verschwindenden gelben Körper verstand, der nach jeder Menstruation sich bildet. Man sah somit in dem Vorhandensein eines Corpus luteum verum den Beweis einer eben bestandenen oder vor Kurzem beendeten Schwangerschaft und daher einen auch für die gerichtsärztliche Diagnose der Schwangerschaft und Geburt wichtigen Befund.
Unseren Erfahrungen zufolge ist es allerdings richtig, dass sich nach der Conception fast immer ein grösseres Corpus luteum bildet, welches beiläufig in 3–4 Monaten seine grösste räumliche Entwicklung zu erreichen, d. h. meist haselnussgross zu sein pflegt. Die Rückbildung scheint aber nicht so regelmässig zu erfolgen, da man nach der Entbindung mit einem ausgetragenen Kinde manchmal nur ein erbsengrosses, häufig jedoch kein Corpus luteum findet oder nur ein sogenanntes Corpus nigricans, welches sich von einem blos menstruellen nicht weiter unterscheiden lässt. Wichtiger ist aber der Umstand, dass auch ohne nachfolgende Conception sich bohnen- bis haselnussgrosse Corpora lutea entwickeln können, ein Befund, der ein verhältnissmässig häufiger ist, da wir wiederholt in der Lage waren, bei plötzlich verstorbenen, entschieden nicht schwangeren Individuen derartige[S. 211] gelbe Körper zu finden. Damit befinden sich auch die Angaben anderer Beobachter in Uebereinstimmung.[156]
Soll nach Monaten oder Jahren die Frage entschieden werden, ob eine verstorbene Person einmal oder mehrmal geboren habe, deren Beantwortung nicht blos in civilrechtlicher Beziehung, sondern auch für die Sicherstellung der Identität des betreffenden Individuums von Bedeutung sein kann, dann ist ausser den an den Bauchdecken, am Muttermund und am Scheideneingang etwa zu findenden Zeichen stattgehabter Ausdehnung dieser Theile, insbesondere das Verhalten des Uterus als Ganzes zu beachten, da eine einmal oder gar mehrmal schwanger gewesene Gebärmutter nicht mehr vollständig zu jener Beschaffenheit zurückkehrt, die dem jungfräulichen Uterus zukommt, so dass sich letzterer in der Regel gut von einem solchen unterscheiden lässt, der bereits eine Gravidität durchgemacht hatte.
Der Unterschied zeigt sich weniger in der Form, denn auch beim gravid gewesenen Uterus finden wir dieselbe birnförmig und können ebenso wie beim jungfräulichen in der Regel eine vordere, mehr flache und eine hintere ausgebauchte Fläche unterscheiden; da jedoch auch die vordere Seite etwas vorgewölbt erscheint und die Ecken des Uterus nicht so scharf hervortreten, wie im jungfräulichen Zustande, so zeigt der gravid gewesene Uterus im Allgemeinen eine abgerundetere Gestalt als der virginale. Vorzugsweise ist aber die Grösse eine verschiedene. Aus einer Reihe von Messungen ergab sich uns, dass der jungfräuliche Uterus durchschnittlich eine Länge von 5·3–6 Cm. aufweist und dass der Abstand der Tubeninsertionsstellen 3·7–4 Cm., die Dicke der Uteruswand beiläufig 1 Cm. und die Breite des Cervix am äusseren Muttermund 2 Cm. betrage. Dem entgegen zeigten zwei Uteri, welche von Personen stammten, die beide vor einem Jahre geboren hatten, folgende Dimensionen: Länge der beiden 9 Cm., Tubenabstand bei dem einen 4·5, bei dem anderen 5 Cm., Dicke der Uteruswand in der Tubenhöhe bei beiden 2, Cervix bei beiden 1½ Cm., während die Breite des Cervix, am äusseren Muttermunde gemessen, bei dem einen 2·5, bei dem anderen 2·7 Cm. betrug.[157] Der schwanger gewesene Uterus ist sonach in allen Dimensionen grösser und zugleich massiger. Diese Befunde, sowie die viel derberen und weitere Gefässe enthaltenden Wandungen lassen sich sehr gut für die Diagnose verwerthen, ebenso die weitere Höhlung des Uteruskörpers. Dagegen können wir die hier und da zu findende Angabe, dass die Plicae palmatae des Cervix nach der Gravidität nicht mehr so deutlich sich finden, wie früher,[S. 212] indem sie mehr weniger verstreichen, nicht bestätigen, haben sie vielmehr nicht blos in den oben erwähnten zwei Fällen, sondern in vielen anderen sehr gut entwickelt gesehen, obgleich wir zugeben, dass in manchen Fällen, namentlich wenn ausgebreitete Zerreissungen stattgefunden haben, die Cervicalfalten undeutlich werden und selbst ganz verschwinden können.
Lageveränderungen des Uterus und insbesondere peritonitische Adhäsionen desselben beweisen für sich allein keineswegs eine vorausgegangene Schwangerschaft; doch ist zu beachten, dass erfahrungsgemäss verhältnissmässig ungleich häufiger nach Schwangerschaften sich solche Befunde zu entwickeln pflegen, als ohne dieselben. Dass man auch ohne vorausgegangene Schwangerschaften Vermehrung des Volumen des Uterus, z. B. durch chronische Metritis, Neubildungen etc. bemerken kann, bedarf keiner besonderen Ausführung, ebenso die Thatsache, dass durch hohes Alter, aber auch durch pathologische Processe, ein durch überstandene Schwangerschaften vergrösserter Uterus wieder atrophiren kann. Dittrich (Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 20) hält die partielle Necrose der Uterusmusculatur für ein untrügliches Zeichen stattgehabter Geburten. Doch findet sich diese Necrose nur dann, wenn die Involution des Uterus nicht normal vor sich gegangen, insbesondere, wenn sie durch puerperale Infectionskrankheiten gestört worden ist.
Oesterr. Strafgesetz.
§. 144. Eine Frauensperson, welche absichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht verursacht oder ihre Entbindung auf solche Art, dass das Kind todt zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.
§. 145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen, die zu Stande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.
§. 146. Zu eben dieser Strafe, jedoch mit Verschärfung, ist der Vater des abgetriebenen Kindes zu verurtheilen, wenn er mit an dem Verbrechen Schuld trägt.
§. 147. Dieses Verbrechens macht sich auch Derjenige schuldig, der aus was immer für einer Absicht wider Wissen und Willen der Mutter die Abtreibung ihrer Leibesfrucht bewirkt oder zu bewirken versucht.
§. 148. Ein solches Verbrechen soll mit schwerem Kerker zwischen 1 und 5 Jahren, und wenn zugleich der Mutter durch das Verbrechen Gefahr am Leben oder Nachtheil an der Gesundheit zugezogen worden ist, zwischen 5 und 10 Jahren bestraft werden.
Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.
§. 225. Eine Schwangere, welche ihre Frucht abtreibt oder im Mutterleibe tödtet oder dies durch einen Anderen thun lässt, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter 6 Monaten bestraft.
§. 226. Dieselbe Strafe trifft Denjenigen, welcher mit Einwilligung der Schwangeren ihre Frucht abtreibt oder im Mutterleibe tödtet. Hat er dieses gegen Entgelt gethan, so ist auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren zu erkennen.
[S. 213]
§. 227. Ausser dem Falle des §. 226 wird Derjenige, welcher die Leibesfrucht einer Schwangeren abtreibt, oder tödtet, mit Zuchthaus von 2 bis 15 Jahren bestraft. Ist durch die Handlung der Tod einer Schwangeren verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren ein.
Deutsches Strafgesetz.
§. 218. Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 6 Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf Denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.
§. 219. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren, welche ihre Frucht abgetrieben oder getödtet hat, gegen Entgelt die Mittel hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.
§. 220. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen und Willen vorsätzlich abtreibt oder tödtet, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft.
Ist durch die Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.
Es würde die diesem Buche gesteckten Grenzen überschreiten, wenn wir auf die Geschichte der absichtlichen Unterbrechung der Schwangerschaft, ein so grosses culturhistorisches und insbesondere forensisch-medicinisches Interesse dieselbe auch bietet, näher eingehen wollten, und wir müssen uns beschränken, auf die betreffenden Specialarbeiten[158] hinzuweisen, aus welchen hervorgeht, dass die Fruchtabtreibung, nachdem sie im classischen Alterthum sehr gewöhnlich prakticirt wurde und als erlaubt galt, erst im dritten Jahrhundert n. Chr. in den römischen Gesetzen als strafbar bezeichnet wird, dass ferner auch die alten germanischen Gesetze die Fruchtabtreibung mit Strafen belegten und dass die peinliche Halsgerichtsordnung Karl V. die Fruchtabtreibung am Manne mit dem Schwerte, an der Frau durch Ertränken bestrafte, wenn das Kind bereits „lebendig“ war, während die Fixirung der Strafe dem Ermessen des Richters überlassen blieb, wenn das Kind noch nicht „lebendig“ war, eine Bestimmung, die durch die damaligen Anschauungen über die „animatio foetus“, über die Beseelung der Frucht dictirt worden ist.
Dass auch in gegenwärtiger Zeit die Fruchtabtreibung sehr häufig geübt wird, ist eine Thatsache. Bei den orientalischen Völkern gilt sie noch heutzutage als etwas Erlaubtes und wird strafrechtlich gar nicht oder nur ausnahmsweise verfolgt. Nach Pollak[159] endigen in Persien, wo die Todesstrafe auf uneheliche Geburt gesetzt ist, alle derartigen Schwangerschaften mit absichtlich[S. 214] eingeleiteten Abortus. Stricker[160] und Schort[161] in dieser Beziehung in der Türkei herrschen, geht daraus hervor, dass der künstliche Abortus bereits als Ursache der Entvölkerung angesehen wird, und Pardo[162] erzählt sogar aus Constantinopel, dass in einem Zeitraume von 10 Monaten 3000 (?!) verbrecherische Abortus nachgewiesen wurden, und dass noch vor wenigen Jahren an einer Pharmacie Stambuls in einem Gefässe ein Fötus als Aushängeschild des schmählichen Verbrechens zu sehen war, das hier getrieben wurde.
Aber auch in hochcivilisirten Ländern gehört die Fruchtabtreibung notorisch zu den häufigen Erscheinungen, obwohl gewiss nur die geringste Zahl zur Kenntniss der Gerichte gelangt. Ueber ihre Häufigkeit in Amerika und England wird von Lex (l. c. 194) berichtet, und bezüglich Frankreichs ergaben die statistischen Zusammenstellungen Tardieu’s[163], dass binnen 11 Jahren (1850 bis 1861) 346 Anklagen wegen verbrecherischen Aborten vorkamen und Gallard (De l’avortement au point de vue médico-légale. Paris 1878) hatte innerhalb von blos zwei Jahren 22mal Gelegenheit, Fälle von angeschuldeter Fruchtabtreibung zu begutachten, wovon jedoch nur 5 vor die Assisen kamen. Auch Chaussinand (Étude de la statistique criminelle de la Fance. Lyon 1881) bezeichnet die Zahl von jährlich 20 bis 25 zur strafrechtlichen Verfolgung kommenden Fruchtabtreibungsfälle als „nombre presque dérisoire“. In Preussen kamen nach Lex (pag. 193) in den Jahren 1843–1859 277 derartige Anklagen vor, während in Oesterreich (Cisleithanien), wie wir oben (pag. 4) angegeben haben, die höchste Zahl der in den Jahren 1872–1876 wegen Fruchtabtreibung Verurtheilten 19, die niedrigste 10 betrug.
Die Ursache der Fruchtabtreibung liegt in der bei weitem überwiegenden Zahl der Fälle in dem Streben, den stattgehabten unehelichen geschlechtlichen Umgang durch frühzeitige Unterbrechung der Schwangerschaft zu verheimlichen und eben dadurch auch den übrigen Folgen zuvorzukommen, die aus einer normalen Entbindung sich zu ergeben pflegen. Dass von ehelich Schwangeren, d. h. um den Folgen übermässigen Kindersegens vorzubeugen, zur Fruchtabtreibung geschritten wird, wie schon Aristoteles vorschlug, und wie dies noch gegenwärtig im Oriente, wo die Polygamie besteht, thatsächlich der Fall ist[164], kommt nicht gar selten vor.[S. 215] Vielleicht kann auch die längere Erhaltung der Körperschönheit, die im Alterthum die Frauen zur Begehung der Handlung bestimmte und noch gegenwärtig im Oriente dazu bestimmen soll, das Motiv bilden.[165]
Unter Fruchtabtreibung im strengen Sinne versteht man die Einleitung der Entbindung zu einer Zeit, in welcher die Frucht noch nicht die Fähigkeit besitzt, selbstständig weiter zu leben, also vor der 28. bis 30. Schwangerschaftswoche.
Auch das Strafgesetz (österr. St. G. §§. 144–148, St. G. Entwurf §§. 225–227, deutsches St. G. §§. 218–220) hat in erster Linie diese Handlung im Auge, straft aber in gleicher Weise die Tödtung der Frucht im Mutterleibe, worunter offenbar die einer bereits lebensfähigen gemeint ist.
Eine strenge Scheidung dieser zwei Handlungen ist auch vom rein ärztlichen Standpunkte nicht vollkommen möglich, da, wie wir hören werden, auch bei der eigentlichen Fruchtabtreibung das Absterben der Frucht das Primäre und die Ausstossung derselben erst das Secundäre sein kann.
Erfahrungsgemäss wird die Fruchtabtreibung seltener durch die Schwangere selbst, sondern häufig durch Andere oder unter Mitwirkung Anderer vorgenommen. In einzelnen Fällen ist es der Vater der betreffenden Frucht, der, vom gleichen Interesse wie die Schwangere getrieben, die Fruchtabtreibung unternimmt; viel häufiger sind es jedoch andere Helfershelfer, die dazu gegen Entgelt ihre Hand bieten und, wie insbesondere die Erfahrung in grossen Städten lehrt, mitunter gewerbsmässig dieses Geschäft betreiben.
Das Strafgesetz hat auf diesen Umstand Rücksicht genommen; während jedoch das österr. St. G. auch schon den Vater des betreffenden Kindes, wenn er bei der Fruchtabtreibung sich betheiligte, mit verschärfter Strafe bedroht, bestimmt der österr. Entwurf und das deutsche St. G. nur dann ein bedeutenderes Strafausmass, wenn der Betreffende die Fruchtabtreibung oder die Tödtung der Frucht im Mutterleibe entweder gegen Entgelt oder wider Wissen und Willen der Schwangeren unternommen hatte. Im letzteren Falle hängt das Ausmass der Strafe auch von den Nachtheilen ab, welche in Folge der Fruchtabtreibung für die Gesundheit der[S. 216] Schwangeren entstanden sind (österr. St. G. §. 148), und es tritt Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren ein, wenn dadurch der Tod der Betreffenden veranlasst wurde (österr. St. G.-Entwurf §. 227, deutsches St. G. §. 220).
Erwähnt sei noch, dass die Fruchtabtreibung unter jene Verbrechen gehört, bei welchen das Gesetz auch den blossen Versuch bestraft.
Im Allgemeinen sind es bei derartigen Untersuchungen drei Fragen, die von gerichtsärztlicher Seite beantwortet werden müssen.
1. Ob die betreffende Frauensperson wirklich abortirt habe.[166]
2. Ob der nachgewiesene Abortus ohne absichtliches Zuthun der Schwangeren oder einer anderen Person, also spontan, erfolgt sei oder ob er absichtlich eingeleitet wurde.
3. Ob und welche Folgen für die Gesundheit der betreffenden Frauensperson aus der Fruchtabtreibung entstanden sind, beziehungsweise ob dieselbe den Tod verursacht habe.
Dieselbe gründet sich einestheils auf der Untersuchung der betreffenden Frauensperson, anderseits auf jener des von ihr Abgegangenen. Ist man in der Lage, beide Objecte zu untersuchen, dann unterliegt die Diagnose keinen besonderen Schwierigkeiten, in der Regel ist dies jedoch nicht der Fall und die Diagnose ist meist einzig und allein aus der Untersuchung der Angeklagten zu stellen.
Die Erscheinungen, welche im Falle eines wirklich stattgehabten Abortus an der Mutter sich finden können, werden abhängen: erstens von der Schwangerschaftsperiode, in welcher derselbe eingetreten war, und zweitens von der Zeit, welche seit dem Abortus bis zur gerichtsärztlichen Untersuchung verflossen ist.
[S. 217]
In ersterer Beziehung ist es klar, dass unter sonst gleichen Verhältnissen desto ausgesprochenere Zeichen einer Entbindung zu erwarten sein werden, je weiter die betreffende Schwangerschaft bereits vorgerückt war.
In den ersten 4–8 Wochen ist das menschliche Ei viel zu klein, um, wenn es ausgestossen wird, auffallendere Veränderungen an den Genitalien zu erzeugen. Die stärkere Blutung, die gewöhnlich einzutreten pflegt, ist für sich allein ebenfalls nicht beweisend, da sie auch als profuse Menstruation oder pathologische Blutung aufgefasst werden kann. Auch am übrigen Körper sind keine ausgesprochenen Merkmale bestandener Schwangerschaft vorhanden, da diese, wie oben erwähnt, erst in den späteren Monaten und nur allmälig sich zu entwickeln pflegen. Die Schwierigkeit, einen so frühzeitigen Abortus als solchen zu erkennen, wird am besten durch die Thatsache illustrirt, dass die unten zu besprechende Dysmenorrhoea membranacea, die von den meisten Gynäkologen als ein menstruelles Leiden aufgefasst wird, von Anderen[167] als ein Abortus in den ersten Tagen und Wochen gedeutet wurde. Die verbrecherische Einleitung des Abortus in so früher Zeit scheint neueren Beobachtungen zufolge[168] häufiger zu sein, als bisher angenommen wurde, besonders dann, wenn Aerzte oder Hebammen sich eines solchen Verbrechens schuldig machen oder gar die Fruchtabtreibung gewerbsmässig betreiben.
In den späteren Monaten ist die Frucht bereits so weit gediehen, dass ihre Geburt nicht mehr ohne entsprechende Dehnung des Genitalcanals erfolgen kann, deren Spuren, wenigstens in der ersten Zeit nach der Entbindung, sich erkennen lassen werden, und zwar desto deutlicher, je grösser bereits die betreffende Frucht gewesen war. Im Allgemeinen bestehen zwischen den Befunden, wie sie sich unmittelbar nach einem Abortus im vierten bis siebenten Monate ergeben, und jenen, die nach der Geburt eines bereits lebensfähigen Kindes an den Genitalien zu finden sind, nur Gradunterschiede, von denen der wichtigste der ist, dass beim Abortus verhältnissmässig ungleich seltener Einrisse am Muttermund und am Scheidenostium angetroffen werden, und dass deren Vorkommen, weil es eine bedeutende Ausdehnung der betreffenden Theile voraussetzt, die bei einem Abortus, wenn derselbe nicht etwa schon nahe der 28. Woche eintrat, nicht leicht in diesem Grade erfolgen kann, in der Regel eher auf die Geburt eines lebensfähigen Kindes als auf eine Fehlgeburt schliessen lässt. Auch die vollständige Zerreissung der nach der Defloration zurückgebliebenen Hymenreste wird bei einem Abortus nicht leicht geschehen, und es ist sogar denkbar, dass das Hymen, wenn es durch den Coitus nicht zerrissen wurde, und wenn es eine entsprechende Dehnbarkeit besitzt,[S. 218] auch einen Abortus, freilich nur in den ersten Monaten, überstehen kann, ohne grössere Lacerationen zu erleiden.[169]
In den genannten Monaten einer Schwangerschaft ist auch die Gebärmutter bereits so weit ausgedehnt, dass sie sich in den ersten Tagen nach dem Abortus über der Symphyse tasten lässt; dagegen ist die Ausdehnung des Unterleibes in der Regel noch keine bedeutende und deshalb weder der Befund von Schwangerschaftsnarben zu erwarten, noch eine besonders auffallende Schlaffheit und Runzelung der Bauchdecken unmittelbar nach erfolgter Geburt. Dafür findet sich meistens bereits die Linea fusca, sowie die Pigmentirung der Warzen und Warzenhöfe, und ebenso häufig ist die Schwellung der Brustdrüsen nachweisbar, sowie ein Ausfluss von milchiger Flüssigkeit beim Druck auf dieselben.
Was die Zeit betrifft, welche seit dem Abortus verflossen ist, so ist es natürlich, dass sich desto prägnantere und verlässlichere Kennzeichen bieten werden, je früher nach der Entbindung die betreffende Person zur Untersuchung gelangt. Längere Zeit darnach ist die Diagnose ungleich schwieriger, als jene der Entbindung von einem reifen oder der Reife nahen Kinde, da, wenn keine störenden Einflüsse eintraten, die durch die Schwangerschaft und durch die Entbindung veranlassten Erscheinungen viel schneller wieder verschwinden, die betreffenden Theile ungleich vollkommener zu ihrer normalen Beschaffenheit zurückkehren, als dies nach einer normalen Geburt der Fall ist, und insbesondere nicht jene Merkmale zurückbleiben, die, wie z. B. Schwangerschaftsnarben, die vernarbten Einrisse am Muttermund, am Frenulum und selbst am Damm noch nach Jahren das Stattgehabthaben einer normalen Schwangerschaft und Geburt zu diagnosticiren erlauben.
Wir werden daher, wenn nach Ablauf mehrerer Monate ein solcher Fall zur Untersuchung gelangt, desto weniger verwerthbare Befunde erwarten können, in je früherer Periode der Abortus eingetreten war.
Ein Hauptaugenmerk ist in Fällen, in denen dies noch möglich ist, auf jene Dinge zu richten, die durch den angeblichen Abortus abgegangen sind, und es ist, wenn ein derartiger Fall frisch zur Kenntniss des Gerichtes gelangt, jedesmal die nächste Aufgabe des Gerichtsarztes, in dieser Richtung Nachforschungen anzustellen, beziehungsweise anzuregen und sich der betreffenden Objecte zu versichern. Es bezieht sich dies weniger auf ältere Früchte, die als solche auch für den Laien leicht kennbar und unter günstigen Umständen auch leichter auffindbar sind, als vielmehr auf die Abgänge, die bei einem in den ersten Monaten einer Schwangerschaft eingetretenen Abortus zu erfolgen pflegen und[S. 219] die als Blutgerinnsel betrachtet und beseitigt werden, während das kundige Auge des Arztes in diesen mitunter das abgegangene Ei oder Theile desselben nachweisen und damit die Diagnose des Abortus ausser Zweifel zu stellen im Stande ist.
Es empfiehlt sich, zu diesem Zwecke die betreffenden Gerinnsel unter Wasser zu untersuchen und durch fleissiges Erneuern desselben das anhängende Blut abzuspülen. Es kann bei dieser Untersuchung gelingen, das ganze Ei nachzuweisen, welches in den ersten zwei bis drei Monaten in toto abgehen kann, während in der späteren Zeit in der Regel die Eihüllen zerreissen und zuerst die Frucht und dann die Nachgeburt ausgestossen wird.
In einem solchen Falle und ebenso, wenn nur die Frucht allein gefunden wird, ist natürlich die Diagnose klargestellt; nicht so einfach ist die Sache, wenn blos membranöse Gebilde gefunden werden, welche nicht ohneweiters als Eihüllen gedeutet werden dürfen, da ähnliche häutige Gebilde auch ohne Gravidität im Uterus entstehen und durch Contractionen des Uterus und unter mehr weniger heftigen Blutungen ausgestossen werden können.
Wir meinen insbesondere jene häutigen Ausscheidungen, welche bei der sogenannten Dysmenorrhoea membranacea ausgestossen werden.[170] Es sind dies Membranen, deren Natur noch nicht vollkommen aufgeklärt ist. Während Einzelne die Erscheinung blos als eine Steigerung der bei jeder Menstruation, aber nur partikelweise erfolgenden Abstossung der fettig degenerirten obersten Schichten der Uterusschleimhaut auffassen (Schröder[171]) und in solchen Membranen ein Analogon der nach der Conception sich bildenden Decidua sehen, sie als Decidua menstrualis bezeichnend, betonen wieder Andere den mehr entzündlichen Charakter solcher Membranen, indem sie für den ganzen Process die Bezeichnung „Endometritis exfoliativa“ in Vorschlag bringen (Beigel).
Derartige Membranen können in toto ausgestossen werden und dann ein in den ersten Monaten einer Schwangerschaft abgegangenes Ei vortäuschen, umsomehr, als sie ebenso wie letzteres die Form der Uterushöhle und gewissermassen einen Ausguss derselben darstellen. In anderen Fällen gehen solche Membranen stückweise ab und können dann wieder für Stücke von Eihäuten gehalten werden, eine Täuschung, die umso näher liegt, als derartige Bildungen unter starker Blutung und wehenartigen Schmerzen vom Uterus entleert werden und ihrer Bildung in der Regel Menstruationsstörungen vorhergehen.
Im Allgemeinen ist zwischen der Structur einer solchen Decidua menstrualis und einer Decidua vera kein wesentlicher Unterschied; dieselbe kann demnach auch nicht für sich allein die Diagnose ergeben, ob die betreffende Membran einer Schwangerschaft oder blos einer [S. 220]Dysmenorrhoea membranacea ihre Entstehung verdankt. Auch der Umstand, dass sich eine solche Membran in Schichten trennen lässt, beweist für sich allein nicht, dass Eihüllen vorliegen, da eine geschichtete Beschaffenheit auch bei der Decidua menstrualis beobachtet wurde; wohl werden wir aber dann in der Lage sein, die betreffenden Membranen als Eihäute zu erklären, wenn wir im Stande sind, Amnion und Chorion zu unterscheiden, wozu in der Regel eine genaue makroskopische Besichtigung genügt, die eventuell durch mikroskopische Untersuchung ergänzt werden kann. In den späteren Wochen sind die Eihäute bereits so ausgedehnt und differenzirt, dass eine Verwechslung nicht wohl geschehen kann, umsoweniger, als zu dieser Zeit bereits die Placenta sich bildet und auch die von ihr abgehende Nabelschnur unterschieden werden kann.
Ist es gelungen, die Frucht oder ihre Anhänge oder das ganze Ei aufzufinden, dann handelt es sich um die Bestimmung der Schwangerschafts-Periode, aus welcher sie stammen. Zum Zwecke einer solchen Bestimmung geben wir folgende Anhaltspunkte[172]:
Erster Monat: Am Ende dieses Monats ist das ganze Ei etwa taubeneigross, 1·7–2 Cm. lang, das Chorion an seiner ganzen Oberfläche gleichmässig zottig. Der Embryo 1 Cm. lang, durch eine sehr kurze Nabelschnur mit dem Chorion verbunden, stark gekrümmt. Nase und Mund bilden eine Höhle. Am Halse jederseits 4 Kiemenspalten zu erkennen. Bauchspalte und Nabelblase noch vorhanden, obzwar bereits in der Rückbildung begriffen. Die Extremitäten als Stummeln angedeutet.
Zweiter Monat: Dass Ei erreicht die Grösse eines Hühnereies. Der Embryo ist 2·5–3 Cm. lang und fast 4 Grm. schwer. Er ist nicht mehr gekrümmt; Mund und Nasenhöhle getrennt, die Kiemenspalten geschlossen, ebenso die Bauchspalte. Nabelbläschen nicht mehr vorhanden. Die Extremitäten entwickelt, die Finger und Zehen jedoch noch nicht geschieden. Der Nabelstrang länger. Die Ossification beginnt im Unterkiefer, in den Schlüsselbeinen, an den Rippen und an den Wirbelkörpern.
Dritter Monat: Das Ei ist gänseeigross. Die Placenta bereits entwickelt. Die Frucht 7–9 Cm. lang und 5–20 Grm. schwer, Finger [S. 221]und Zehen getrennt, Geschlecht beginnt sich zu differenziren. Ossification findet sich auch in den Schädelknochen und in den Diaphysen der Extremitäten. Das Durchschnittsgewicht der Placenta beträgt 36 Grm. Die Durchschnittslänge der Nabelschnur 7 Cm.
Vierter Monat: Die Frucht ist 10–17 Cm. lang und bis 120 Grm. schwer. Das Geschlecht deutlich zu unterscheiden. Haare beginnen sich zu zeigen und die Nägel sind bereits zu erkennen. Das durchschnittliche Gewicht der Placenta beträgt 80 Grm., die durchschnittliche Länge der Nabelschnur 19 Cm.
Fünfter Monat: Die Frucht misst 18–27 Cm. und wiegt 225–320 (durchschnittlich 284) Grm. Kopf- und Wollhaare deutlich. Die Haut ist noch hellroth und dünn, das Meconium erscheint bereits gallig gefärbt. Das durchschnittliche Gewicht der Placenta stellt sich auf 178 Grm., die Länge der Nabelschnur auf 31 Cm. Die Insertionsstelle der letzteren, die noch im vorigen Monate nahe der Symphyse lag, beginnt sich von letzterer zu entfernen.
Sechster Monat: Die Länge der Frucht beträgt zwischen 28–34 Cm., das Gewicht durchschnittlich 634 Grm. Der Kopf im Verhältniss zum Rumpfe noch gross, doch nicht mehr so auffallend wie in den früheren Monaten. Die Haut wird dicker und der Fettpolster beginnt sich zu entwickeln. Kopfhaare deutlicher, die Wollhaare bereits einen starken Flaum bildend. Käsige Schmiere tritt auf. Hoden noch in der Bauchhöhle. Die grossen Schamlippen noch wenig entwickelt, die kleinen und die Clitoris zwischen ihnen hervorragend. Das Gehirn zeigt bereits die Urwindungen. Pupille noch durch die Pupillarmembran verschlossen. Die Lösung der Lidnaht gegen das Ende des Monats in der Regel vollendet. Gewicht der Placenta durchschnittlich 273 Grm. Länge der von der Symphyse noch weiter entfernten Nabelschnur im Mittel 37 Cm.
Siebenter Monat: Fruchtlänge 35–38 Cm., das mittlere Gewicht 1218 Grm. Kopfhaar reichlich 5–6 Millimeter lang. Die Haut noch immer roth und mager. Wollhaare dicht. Descensus testiculorum beginnt. Weitere Hirnwindungen fangen an sich zu bilden, doch sind sie immer noch spärlich. Die Pupillarmembran zeigt gegen die 28. Woche zu bereits häufig centralen Schwund, im Fersenbein findet sich meist ein 2–5 Millimeter breiter Knochenkern, dessen Andeutungen man schon in der zweiten Hälfte des sechsten Monates nachweisen kann. Das mittlere Gewicht des Mutterkuchens 374 Grm., die mittlere Nabelschnurlänge 42 Cm.
Nach den Ursachen des constatirten Abortus zu forschen ist die zweite Aufgabe des Gerichtsarztes. Diese Ursachen können entweder solche sein, die ohne Verschulden der Schwangeren oder eines Andern die Fehlgeburt bewirkt haben oder letztere ist absichtlich herbeigeführt worden. Auf die Möglichkeit einer spontanen Fehlgeburt ist in jedem einzelnen Falle Rücksicht zu[S. 222] nehmen, einestheils wegen der notorischen Häufigkeit derselben[173], anderseits weil die Diagnose einer Fruchtabtreibung jedesmal auch auf die Ausschliessung jener Einflüsse sich stützen muss, die erfahrungsgemäss im Stande sind, auch ohne Absicht der Mutter oder eines Dritten zum Abortus Veranlassung zu geben.
Am häufigsten scheint der spontane Abortus in den ersten (zwei bis vier) Wochen einer Schwangerschaft zu erfolgen, obgleich er sich begreiflicher Weise in den meisten Fällen der Beobachtung entzieht. Die noch schwache Haftung des Eies, die in dieser Periode besonders erhöhte Empfindlichkeit des Uterus gegen Reize, aber auch die zu dieser Zeit in der Regel häufigen unabsichtlichen Insulte, die den schwangeren Uterus treffen, worunter insbesondere häufiger Coitus und Nichtschonung anderer Art gehören, erklären diese Thatsache zur Genüge. Abgesehen von letzterer findet die grosse Mehrzahl der spontanen Fehlgeburten im dritten und vierten Monate statt[174], aber auch die späteren Monate liefern ein starkes Contingent, und wir verweisen in dieser Beziehung auf den Umstand, dass unserer Erfahrung zufolge die grösste Zahl der macerirt geborenen Früchte dem Ende des sechsten und noch häufiger dem siebenten Monat angehören, so dass es uns scheint, dass die Zeit, in welcher die Lebensfähigkeit der Frucht sich einstellen soll, ebenfalls als eine kritische bezeichnet werden muss.
Die Ursachen des spontanen Abortus können entweder in der Mutter oder im Ei selbst liegen.
Zu den ersteren gehören insbesondere alle schweren acuten Erkrankungen, von welchen wir als häufiger vorkommend die acuten Infectionskrankheiten (besonders die exanthematischen) und von den übrigen die Pneumonie[175] und den acuten Morbus Brightii[176] erwähnen.
[S. 223]
Von den chronischen Erkrankungen sind in der genannten Beziehung jene des Herzens und der Respirationsorgane, sowie der Nieren[177] von Einfluss, da an diese Organe desto erhöhtere Anforderungen gestellt werden, je weiter bereits die Schwangerschaft gediehen ist, und daher, wenn diese erkrankt sind, viel eher als sonst Insufficienz der betreffenden Functionen und dadurch schwere Folgen, sowohl für die Schwangere als für die Frucht, eintreten können. Gleiches gilt von solchen chronischen Erkrankungen, die mit hochgradigen Ernährungsstörungen einhergehen, und endlich von der syphilitischen Erkrankung der Mutter, welche erfahrungsgemäss ungemein häufig das Absterben der Frucht und deren vorzeitigen Abgang bewirkt (nach Hecker unter 40 Fällen 12mal).
Weiter kann spontaner Abortus durch locale Verhältnisse bewirkt werden. So durch raumbeengende Tumoren oder ähnliche Processe in der Bauchhöhle und durch Tumoren und Erkrankungen des Uterus selbst. Ebenso wird den Flexionen des Uterus ein störender Einfluss auf den Verlauf der Schwangerschaft zugeschrieben. Wie Howitz[178] mittheilt, hatten 19 mit Anteflexion behaftete Frauen im Ganzen nur 30 lebende Kinder geboren, dagegen 98 Unterbrechungen der Schwangerschaft — 9 vor dem fünften Monate, 89 später — gehabt, und von 14 mit Retroflexionen wurden nur 15mal lebende Kinder geboren, dagegen 37 Unterbrechungen der Schwangerschaft beobachtet. Nach Howitz ist es in den meisten Fällen die durch die Knickung behinderte Ausdehnung des Uterus (Retroflexio uteri gravidi), welche den Abortus veranlasst, ausserdem aber auch die erhöhte Reflexirritabilität, welche bei an Flexionen des Uterus leidenden Frauen gewöhnlich constatirt werden kann. Auf eine etwa aus anderen Gründen (Hysterie, Status nervosus etc.) bestehende individuell erhöhte Reizbarkeit ist immer Rücksicht zu nehmen, da eine solche häufig mit dem spontanen Abortus in ursächlicher Verbindung steht.
Von den im Ei gelegenen Ursachen sind ausser den bereits bei der Molenbildung besprochenen Erkrankungen der Eihüllen zu erwähnen die Hämorrhagien der Placenta, vorzeitige Verfettungen und anderweitige, insbesondere syphilitische Erkrankungen derselben, Processe, die, wenn das Ei vorliegt, häufig sich durch unmittelbare Untersuchung nachweisen lassen. Doch muss bemerkt werden, dass die Verfettungen der Placenta und der Decidua, sowie die Verfettung oder anderweitige (hydropische)[S. 224] Degeneration der Chorionzotten auch erst secundär, nachdem früher die Frucht abgestorben war, sich gebildet haben können.
Torsionen der Nabelschnur sind verhältnissmässig häufig Veranlassung des Absterbens der Frucht und des dann eintretenden Abortus. Sie kommen in der ersten Hälfte der Schwangerschaft häufiger vor als in der zweiten, und lassen sich ebenfalls bei Besichtigung der abgegangenen Frucht mitunter deutlich erkennen, wobei der Umstand zu statten kommt, dass sie sich vorzugsweise am fötalen Ende der Nabelschnur zu finden pflegen.[179]
Primäre Erkrankungen der Frucht und consecutives Absterben derselben kommen — ausgenommen die verhältnissmässig häufige Syphilis — wohl nur ganz ausnahmsweise vor. Der Nachweis derartiger Erkrankungen, sowie etwaiger Missbildungen der Frucht und ihrer Adnexa, die ein frühzeitiges Absterben derselben bewirken können, wird ebenfalls leicht zu führen sein.
Ausser den genannten Ursachen sind es auch manche derjenigen, die wir bei der absichtlichen Fruchtabtreibung erwähnen werden, welche, wie z. B. die Erschütterungen und andere mechanische Irritationen des Uterus, auch ohne böse Absicht der Schwangeren den vorzeitigen Abgang der Frucht veranlassen können, und thatsächlich lässt sich in vielen Fällen, wie wir bereits oben angedeutet haben, der so häufige Abortus zum ersten Male schwangerer Frauen auf derartige äussere Momente zurückführen.
Der Abgang der Frucht und ihrer Anhänge muss nicht sofort oder kurze Zeit, nachdem die Ursache desselben nicht geltend gemacht hatte, erfolgen, es kann vielmehr, namentlich wenn früher die Frucht abstarb, längere Zeit (mehrere Wochen, in seltenen Fällen aber auch Monate) verfliessen, bevor der Abortus erfolgt.[180] Die Adnexa, insbesondere die Placenta, können in solchen Fällen noch weiter wachsen, in der Regel beginnt jedoch in ihnen ein degenerativer Process, der schliesslich zur Expulsion führt. Jakob (Virchow’s Jahrb. 1881, II, pag. 562) beobachtete bei einer Frau,[S. 225] die im vierten Monat abortirt hatte, dass die Placenta erst volle sieben Monate später ausgestossen wurde. Sie war nicht zersetzt, sondern hart und ohne Geruch. Die Veränderungen, welche die Frucht erleidet, werden später besprochen werden. In den frühesten Monaten der Schwangerschaft kann die Frucht vollkommen durch Auflösung und Resorption verschwinden. Wir hatten zweimal Gelegenheit, solche Eier aus dem zweiten und dritten Monat zu beobachten, von denen das eine während des Lebens abgegangen war, das zweite in der Leiche einer Selbstmörderin gefunden wurde, und beide, trotzdem die Eihüllen intact sich erwiesen, keine Frucht, das eine aber eine kurze, in ein Bläschen endigende, dünne Nabelschnur enthielt.
Bemerkenswerth ist die von einzelnen Beobachtern gemachte Erfahrung, dass die in frühen Schwangerschaftsmonaten abgestorbene Frucht sich immer trotz längeren Verweilens im Uterus auffallend frisch erhalten kann. Nach zwei und in einem von Holst[181] mitgetheilten Falle sogar nach sechs Monaten will man diese Erscheinung constatirt haben. Dass diesem Umstande auch ein forensisches Interesse zukommt, beweist ein von Liégey (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 533) untersuchter Fall, in welchem die Mutter behauptete, dass der sechsmonatliche Fötus noch von ihrem vor 11 Monaten durch Selbstmord gestorbenen Manne herrühre. Wahrscheinlich lagen in solchem Falle einfach ausgewässerte und sonst nicht weiter veränderte Früchte vor.
Die Beurtheilung der angeblich durch innere Mittel vollbrachten oder versuchten Fruchtabtreibung bildet eines der heikelsten Vorkommnisse in der forensisch-medicinischen Praxis, und diese Thatsache wird umso fühlbarer, als erfahrungsgemäss die inneren Fruchtabtreibungsmittel verhältnissmässig am häufigsten in Anwendung gezogen werden.
Unter inneren Fruchtabtreibungsmitteln verstehen wir Substanzen, welche, in entsprechender Gabe innerlich genommen, im Stande sind, Abortus zu bewirken. Im gewöhnlichen Leben fasst man diesen Begriff entschieden enger, indem man sich unter diesen Mitteln Substanzen vorstellt, welche, in genügender Dosis innerlich genommen, Contractionen des schwangeren Uterus (Wehen) und dadurch die Austreibung der Frucht veranlassen, und zwar mit gleicher oder nahezu gleicher Sicherheit, mit welcher z. B. Brechmittel Erbrechen und Abführmittel Stuhlgänge bewirken.
Derartige sichere Abortivmittel kennen wir gegenwärtig nicht, dagegen unterliegt es keinem Zweifel, dass es Stoffe gibt, nach[S. 226] deren Genusse, wenn auch nicht immer präcis, so doch mitunter der Abortus erfolgen kann, freilich seltener in Folge einer specifischen Wirkung des Mittels auf den Uterus, als vielmehr als Theilerscheinung einer Vergiftung, die durch das betreffende Mittel gesetzt wurde, wie denn überhaupt fast alle Substanzen, denen eine abortive Kraft zugeschrieben wird, und die thatsächlich zu Fruchtabtreibungsversuchen missbraucht werden, unter die Classe der Gifte gehören, so dass man ganz wohl statt von inneren von toxischen Fruchtabtreibungsmitteln sprechen könnte.
Die abortive Wirkung kann dann in der Weise erfolgen, dass das betreffende Gift ausser den übrigen ihm zukommenden Functionsstörungen auch Contractionen der Gebärmutter veranlasst, indem es auf jene Nervencentren einen Reiz ausübt, welche Uteruscontractionen hervorzurufen vermögen. Ueber den Sitz dieser ist vorläufig noch wenig bekannt. Goltz[182] ist geneigt, das Lendenmark als das selbstständige Centrum für den Geburtsact anzusehen, indem er eine Hündin nach vollständiger Durchtrennung des Rückenmarkes in der Höhe des ersten Lendenwirbels brünstig werden, den Coitus mehrmals vollziehen und drei Junge werfen sah. Auch Schlesinger[183] hat Reflexcentren für den Uterus im unteren Theile des Rückenmarkes nachgewiesen und Röhrig („Untersuchungen über die Physiologie der Uterusbewegung“. Virchow’s Archiv. 76, I. Heft) im untersten Brustmark. Es entspringen jedoch die motorischen Nerven des Uterus nach Körner nicht blos aus dem Lendenmark, sondern auch aus dem unteren Theile des Brustmarkes, und wir haben in unseren gemeinschaftlich mit v. Basch angestellten Untersuchungen über Uterusbewegungen[184] gefunden, dass insbesondere ein vom Plexus aorticus abgehendes Nervenpaar (Nerv. hypogastrici), wenn dasselbe gereizt wird, lebhafte Bewegungen des Cervix bewirkt, die auch, wie schon Oser und Schlesinger beobachteten, durch isolirte Reizung des Gehirnes hervorgerufen werden können. Ausser den erwähnten Reflexcentren für die Uterusbewegung gibt es jedoch zweifellos solche, die im Uterus selbst gelegen sind. Kehrer hat bereits solche angegeben, und wir und Basch haben sie ebenfalls constatirt, während Röhrig dieselben leugnet. Nach Dembo und Kurz (Virchow’s Jahresb. 1883, II, 564) sitzen solche auch in der vorderen Vaginalwand.
Die Reizung dieser Centren kann sowohl unmittelbar, als auch auf reflectorischem Wege erfolgen. In ersterer Weise scheinen nach den Versuchen Röhrig’s am Kaninchen Strychnin, Pikrotoxin, Nicotin, Carbolsäure, Coffeïn, Extract. Aloës, ganz besonders aber Oleum Sabinae Uteruscontractionen zu veranlassen, und in letzterer Beziehung ist es insbesondere möglich, dass heftige Reizung[S. 227] der Magen- und Darmschleimhaut, wie sie durch irritirende Gifte hervorgerufen wird, reflectorische Uteruscontractionen auslösen kann. Am häufigsten scheinen jedoch vasomotorische Störungen die Reizung zu veranlassen, indem entweder durch vasomotorische Lähmung oder durch Gefässkrampf die Blutzufuhr zu den Organen vermindert und die so entstandene Sauerstoffarmuth des Blutes die cerebrospinalen oder die parenchymatösen oder beide Centren für Uterusbewegung in Erregung versetzt, in analoger Weise, wie wir den Beobachtungen Spiegelberg’s[185], Oser’s und Schlesinger’s[186], sowie unseren eigenen Erfahrungen zufolge lebhafte Uterusbewegungen während der Erstickung und schon nach Unterbrechung der Blutzufuhr zum Gehirn oder zur Gebärmutter auftreten sahen.
In anderen Fällen wieder kann der Abortus eintreten, indem die in den Organismus der Mutter eingeführte Substanz ein Absterben der Frucht bewirkt. Da die Ernährung und Respiration des Fötus vom Mutterleibe aus erfolgt, so können alle toxischen Substanzen, welche die Ernährungsverhältnisse der Schwangeren herabsetzen, auch den Tod der Frucht bewirken. Solche für die Frucht fatale Ernährungsstörungen können sowohl durch die acute Erkrankung gesetzt werden, die das Gift herbeiführte, als noch mehr durch chronische Inanitionszustände, die als Folgen der Intoxication zurückgeblieben sind. Weiter kann die Frucht in Folge der durch vasomotorischen Krampf oder im Gegentheil durch Gefässlähmung eintretenden Behinderung des fötalen Gasaustausches zu Grunde gehen, und es hat insbesondere M. Runge („Ueber den Einfluss einiger Veränderungen des mütterlichen Blutes und Kreislaufes auf den fötalen Organismus“. Arch. f. experim. Path. X, 324) gefunden, dass jede plötzliche und bedeutende Herabsetzung des Blutdruckes des Mutterthieres ein tödtlicher Factor für die Frucht ist, und dass auch eine protrahirte Narcose die Frucht zu tödten vermag, ohne das Leben der Mutter zu gefährden, wenn durch dieselbe der Blutdruck auf niedrige Werthe herabgesetzt wird. Daraus dürfte die von verschiedenen Seiten constatirte Schädlichkeit grösserer Morphiumdosen für die Frucht sich erklären, während anderseits vorsichtig geleitete Chloroformnarcosen letztere nicht bedrohen und auch Beobachtungen vorliegen, wo bei Kreissenden Chloralhydrat bis zu 4 Grm. pro dosi gegeben wurde, ohne dass daraus ein Nachtheil für das Kind entstanden wäre (Müller). Es kann jedoch das Absterben der Frucht auch dadurch erfolgen, dass das von der Mutter genommene Gift in die erstere übergeht und Vergiftung derselben herbeiführt. Auf diese Möglichkeit wurde bereits von Adonard und Tardieu (l. c.) hingewiesen, und zahlreiche Versuche neuerer Autoren (Benicke, Zweifel, Gusserow, Fehling, Porak, Runge u. A.) haben ausser Zweifel gestellt, dass in den mütterlichen Organismus eingeführte lösliche[S. 228] Substanzen in die Frucht, beziehungsweise in die Placenta übergehen können. Insbesondere ist dies von Chloroform, Salicylsäure, Jodkalium, Ferrocyankalium, Bromkali und Benzoësäure nachgewiesen. Doch scheinen im Allgemeinen nur verhältnissmässig kleine Mengen in die Frucht überzugehen und einzelne Substanzen leichter als andere. Bei Thierversuchen konnte Walter (Med. Centralbl. 1881, pag. 764) weder Strychnin, noch Morphium, Veratrin, Curare, Secale cornutum im Fötus nachweisen. Die Diffusionsfähigkeit der Substanz wird dabei eine wesentliche Rolle spielen, obgleich auch der Uebergang corpusculärer Elemente (pathogener Mikroben, und nach Pyle auch von Ultramarin) von der Mutter in die Frucht constatirt worden ist. Ebenso der Umstand, ob und in welchem Grade dieselbe etwa im Organismus der Mutter zersetzt oder zurückgehalten wird. So ist es begreiflich, dass Stoffe, denen eine grosse Affinität zu Eiweisskörpern zukommt, nicht leicht in die Frucht übergehen können, ebenso auch nicht jene, die, wie z. B. das Kohlenoxyd, durch das Hämoglobin gebunden werden.[187]
Auch der Umstand kommt in Betracht, ob der toxischen Substanz genügende Zeit gegönnt war, um in die Frucht überzugehen. Es können demnach solche Substanzen, die erwiesenermassen langsam aus dem Organismus ausgeschieden werden, wie z. B. metallische Gifte, eher einen letalen Einfluss auf die Frucht üben, als Stoffe, die, wie z. B. die Alkaloide oder flüchtige Gifte, bekanntlich schnell eliminirt werden. Daraus erklärt sich auch die Beobachtung Gusserow’s (Arch. f. Gyn. III, 241), dass er, während er bei acutem Verlaufe die in den Magen der Mutter gebrachten Substanzen im Fötus nicht finden konnte, im Stande war, bei schwangeren Frauen, denen er durch längere Zeit (14 Tage) Jodkalium gegeben hatte, dasselbe im Fruchtwasser und im Harne der Neugeborenen nachzuweisen.[188]
[S. 229]
Ob die Empfindlichkeit der Früchte gegen Giftstoffe eine verhältnissmässig gleiche ist wie beim geborenen Menschen, ist vorläufig nicht sichergestellt. Bisher war man der Meinung, dass im Allgemeinen bei solchen Früchten, wie bei Kindern überhaupt, eine relativ höhere Empfindlichkeit gegen Gifte bestehen dürfte, neuere Beobachtungen scheinen eher für das Gegentheil zu sprechen. Insbesondere hat Gusserow (Arch. f. Gyn. XIII, pag. 66) gefunden, dass, wenn er Thierföten innerhalb des Mutterleibes Strychnin injicirte, dieselben niemals Strychninkrämpfe bekamen, wohl aber das Mutterthier.
Eine weitere Ursache des Abortus nach Einverleibung toxischer Substanzen kann in dem durch manche der letzteren hervorgerufenen heftigen Erbrechen liegen. Wir haben schon erwähnt, dass Irritation der Magen- und Darmschleimhaut reflectorische Uteruscontractionen hervorzurufen vermag. Abgesehen von diesem Umstande kann aber auch der durch das Erbrechen erzeugte mechanische Insult solches bewirken. So wenig die Möglichkeit von sich gewiesen werden kann, so ist auch diese nur mit Vorsicht aufzunehmen, da ja von sämmtlichen Geburtshelfern als Indication zur Einleitung des Abortus oder der Frühgeburt auch — unstillbares Erbrechen der Schwangeren angeführt wird, und ein neuerer Geburtshelfer[189] sogar das bei vielen Schwangeren auftretende Erbrechen als einen von der Natur eingeleiteten heilsamen Act bezeichnet und behauptet, dass Emetica drohenden Abortus verhüten.
Von dem Standpunkte der besprochenen Möglichkeiten werden die einzelnen in der Praxis vorkommenden „Fruchtabtreibungsmittel“ zu beurtheilen sein, doch ist niemals zu vergessen, dass auch die individuellen Verhältnisse hierbei eine wesentliche Rolle spielen. Wer Gelegenheit hatte, an Thieren das Verhalten des Uterus gegen diverse Reize zu verfolgen, wird gefunden haben, dass nicht blos die Reizbarkeit des Uterus bei verschiedenen Thieren[S. 230] eine verschiedene ist, z. B. bei Kaninchen eine auffallend grössere als bei Hündinnen, sondern er wird auch bemerken, dass bei einer und derselben Thierclasse die Erregbarkeit des Uterus je nach dem Individuum vielfach wechselt, und dass, während z. B, bei einzelnen schon schwache Reize Contractionen hervorrufen, bei anderen viel stärkere nothwendig sind, um diese zu bewirken, ja dass man nicht selten auf Thiere stösst, bei welchen die Reize ganz ohne Effect bleiben. Bei unseren Versuchen glauben wir bemerkt zu haben, dass im Allgemeinen junge Thiere viel prompter reagiren als alte, und dass offenbar die Brunstzeit einen Einfluss in dieser Beziehung äussert, indem sie die Erregbarkeit des Uterus erhöht. Auch schwangere Gebärmütter der Thiere verhalten sich verschieden, denn während in einzelnen Fällen lebhafte peristaltische Bewegungen der Uterushörner zu beobachten sind, fehlen dieselben in anderen gänzlich oder treten nur schwach in die Erscheinung.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch beim menschlichen Weibe ähnliche Differenzen der Reizbarkeit des Uterus im nicht schwangeren sowohl als besonders im schwangeren Zustande bestehen werden. So ist es bekannt, dass bei manchen Schwangeren schon geringe Veranlassungen genügen, um Abortus herbeizuführen, und in den meisten dieser Fälle lässt sich auch eine anderweitig erhöhtere Reizbarkeit (Nervosität, Hysterie) constatiren, auf deren eventuelles Vorhandensein jedenfalls zu reagiren sein wird. Sehr wohl ist es auch denkbar, dass in den einzelnen Perioden der Schwangerschaft die Reizbarkeit des Uterus sich verschieden verhält, und dass insbesondere, wie Elsässer, Wald u. A. bemerkt haben wollen, zu jener Zeit eine erhöhtere Irritabilität der Gebärmutter besteht, in welcher die Wiederkehr der Menstruation zu erwarten gewesen wäre.[190]
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen übergehen wir zu einer kurzen Besprechung derjenigen Mittel, welche erfahrungsgemäss als Fruchtabtreibungsmittel im Rufe stehen und thatsächlich zu diesem Zwecke in Anwendung gezogen werden.
Wir nennen zuerst das Secale cornutum und seine Präparate. Das Mutterkorn ist der durch einen Pilz (Claviceps purpurea[S. 231] Tul.) verbildete Fruchtknoten des Roggens, dessen äussere Eigenschaften als bekannt vorausgesetzt werden können. Die Giftigkeit des Mutterkornes unterliegt keinem Zweifel. Sie ist bei der frischen Drogue eine stärkere, als nach längerem Liegen derselben, tritt jedoch auch im ersteren Falle erst nach grösseren Dosen auf. In solchen von mehr als 8 Grm. (Husemann) tritt Ekel, Erbrechen, Trockenheit im Halse ein, ferner Eingenommenheit des Kopfes, Erweiterung (seltener Verengerung) der Pupille, Magen- und Darmschmerzen, Verlangsamung des Pulses, endlich Delirien, Betäubung, comatöser Zustand, der in den Tod übergehen kann. Kleinere Gaben von 1·0 Grm. bewirkten nach Schroff sen. blos Uebelkeit, Aufstossen, ein Gefühl von Völle im Magen, das sich später in wirklichen Schmerz verwandelt, Verminderung des Appetits, Trockensein der Zunge, welche letzteren Erscheinungen bis zum andern Tage anhielten. Auf den Puls wirkte die Gabe nicht. Heftiger wirkt das Extract des Mutterkorns, das Ergotin, von welchem schon 0·2–0·5 Grm. Bauchschmerzen, Eingenommenheit des Kopfes, Erweiterung der Pupille und constantes Sinken des Pulses um 12–18 Schläge veranlassen (Schroff).
Ueber das im Mutterkorn, beziehungsweise im Ergotin, eigentlich wirksame Princip existiren zahlreiche Arbeiten, so von Wenzell, Buchheim, Draggendorff und Podwissotzky, Kobert, Lazarsky u. A. Kobert (Arch. f. experim. Path. u. Pharm. XVIII, 317) fand bei seinen ausgebreiteten Versuchen drei wirksame Principien im Mutterkorn, die Ergotinsäure, die Sphacelinsäure und das Cornutin. Erstere hat keine ekbolische, aber eine centrallähmende Wirkung, die Sphacelinsäure ist das eigentliche Ekbolicum, da sie tetanische Contractionen des Uterus veranlasst. Auch bewirkt sie periphere Gangrän (Ergotismus gangraenosus). Das Cornutin bewirkt wellenförmige Bewegungen des Uterus. Von dem Gehalte der Extracte des Mutterkorns an den zwei letztgenannten Stoffen hängt die Intensität der Wirkung ab. Sie ist am grössten bei aus frischem Mutterkorn dargestellten Präparaten, da sowohl das Cornutin als die Sphacelinsäure im älteren Mutterkorn, und zwar auch im entölten, schwinden.
Eine contractionserregende Wirkung auf den Uterus kommt also dem Mutterkorn thatsächlich zu, und es ist bekannt, dass dasselbe, insbesondere in der Form des Ergotins, von den Geburtshelfern als wehenbeförderndes Mittel angewendet wird, wenn der Geburtsact bereits von selbst in Gang gekommen ist. Aber auch zur Einleitung der künstlichen Frühgeburt bei geburtshilflicher Indication wurde das Mittel versucht. Ramsbotham und Krause (Lex, l. c. 227) haben vorzugsweise damit experimentirt. Ersterer gab Secale cornutum bis zu 1½ Unzen, und es gelang ihm, Frühgeburt zu erzielen, will aber gefunden haben, dass viel mehr Kinder todt zur Welt kamen als nach Eihautstich; Letzterer führt 80 Fälle an, in denen Ramsbotham’s Methode zur Einleitung der Frühgeburt in Anwendung gezogen wurde. In 62 Fällen wurden dadurch Wehen erregt, 18mal blieb sie erfolglos; 37 Kinder[S. 232] lebten, 3 Mütter starben. Die Dauer der Geburt betrug 1 bis 12 Tage.
Ueber die Ursache dieser Wirkung ist wenig Positives bekannt. Wernich[191] sucht dieselbe in einer durch das Ergotin bewirkten Verengerung der Gefässe und der dadurch theils im Uterus, theils im Gehirn und Rückenmark erzeugten Blutarmuth, welche ihrerseits die cerebrospinalen, beziehungsweise die parenchymatösen Centren für die Uterusbewegung in Erregung versetzt, eine Erklärung, die plausibel erscheint, da Pulsverlangsamung als ein constantes Symptom der Ergotinwirkung angegeben wird und die therapeutischen Erfolge des Ergotins bei Blutungen ebenfalls mit Contraction der Gefässe in Verbindung gebracht werden. Andere Beobachter haben jedoch eine auffallende Gefässverengerung nach der Application von Ergotin nicht beobachten können und betonen im Gegentheil eine lähmende Einwirkung desselben auf das Rückenmark. (Zweifel, Arch. f. experim. Path. und Pharm. 1875, IV, 387.)
Jedenfalls geht aus den bisherigen Beobachtungen an Schwangeren und aus den an Thieren gemachten Experimenten hervor, dass die Wirkung des Mutterkorns auf den Uterus keineswegs als eine sichere und regelmässige bezeichnet werden kann. Namentlich kann dies von kleinen Gaben nicht behauptet werden, während grössere Gaben allerdings Abortus bewirken können, aber gleichzeitig auch heftige Vergiftungserscheinungen erzeugen, so dass der Abortus schon durch letztere erklärt wird, ohne dass man eine specifische Wirkung des Ergotins auf den Uterus anzunehmen braucht.[192]
Damit stimmen auch die Beobachtungen überein, die bei thatsächlicher Fruchtabtreibung mit Secale cornutum gemacht wurden, welche merkwürdiger Weise, trotz der leichten Zugänglichkeit des Mittels und trotz seiner so häufigen und daher bekannten Anwendung in der Geburtshilfe, doch nur ganz ausnahmsweise vorgekommen sind.
Tardieu (Annal. d’hygiène publ. 1885, Vol. I, pag. 404) berichtet über eine 24jährige Frauensperson, welche im vierten Monate ihrer Schwangerschaft abortirte, nachdem sie Mutterkorn in Pulverform genommen hatte. Sie starb an Peritonitis nach 24 Stunden. Fragmente von Mutterkorn wurden im unteren Theile der Gedärme gefunden. Ein ähnlicher, jedoch sorgfältig beschriebener, von Richter mitgetheilter Fall findet sich in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1861, XX, 177.[193] Ein 22jähriges kräftiges, im sechsten bis siebenten Monate schwangeres Mädchen hatte eine auf 4–8 Loth geschätzte Menge von Mutterkorn genommen. Sie war darauf sofort unter wiederholtem [S. 233]Erbrechen und heftigem Durst erkrankt, welche Erscheinungen bereits 2 Tage gedauert hatten, als der Arzt gerufen wurde. Derselbe fand das Bewusstsein ungetrübt, das Gesicht blass, grosse Unruhe, raschen Puls, Klagen über unlöschbaren Durst, Schmerzen im Magen und im ganzen Unterleibe, Harnverhaltung. Die Geburt hatte bereits begonnen und nach wenigen Augenblicken wurde eine kürzlich abgestorbene Frucht geboren. Enorme Blutung, die unter fortdauerndem Erbrechen nach einer Viertelstunde den Tod herbeiführte. Die Obduction ergab hochgradige Anämie; unscheinbare Injectionen im Magen; hämorrhagische Erosionen an der grossen Curvatur und am Fundus, chocoladefarbigen Mageninhalt und streifige Röthung der Speiseröhre. Mikroskopisch und chemisch wurde das Gift nicht mit voller Bestimmtheit nachgewiesen. — Taylor (l. c. II, 193) berichtet aus dem Jahre 1864 über ein Weib, welches, offenbar in der Absicht, die Frucht abzutreiben, durch 11 Wochen (!) täglich dreimal einen Theelöffel von Ergotintinctur genommen hatte. Sie starb in der elften Woche, ohne dass Abortus eingetreten wäre. Ueber die Erscheinungen während des Lebens wird nichts mitgetheilt. Bei der Section wurden „entzündliche Flecken“ an der Magenschleimhaut constatirt und ein dreimonatlicher Embryo im Uterus gefunden. — Einen weiteren Fall hat Otto (Memorabilien. 1870, Nr. 2, Virchow’s Jahresb. I, 438) publicirt. Eine Magd war nach mehrmaligem Erbrechen, über Unterleibsschmerzen klagend, unter geringem Blutverlust von einem 5 Zoll langen Embryo entbunden worden. Sehr bald (?) starb sie bewusstlos. Im Magen fand man eine 2 Zoll lange braunrothe Stelle, die hintere Seite des Magens am Cardialtheil stark injicirt. In demselben eine graue Flüssigkeit, in welcher zahlreiche kleine missfärbige, klumpige Partikelchen schwammen, welche durch chemische und mikroskopische Untersuchung „mit grösster Wahrscheinlichkeit“ als durch den Verdauungsprocess verändertes Mutterkornpulver erkannt wurden. Im Uterus fand sich noch der faustgrosse Mutterkuchen. — Davidson (Ibid. 1883, I, 528) obducirte ein Mädchen, welches eingestandenermassen einige Tage vor ihrem Tode zwei Hände voll Mutterkorn genommen hatte. Die klinischen Erscheinungen und der Obductionsbefund waren ähnlich denen bei einer subacuten Phosphorvergiftung. Der Uterus enthielt einen fünfmonatlichen Embryo. — Merkwürdig ist ein von Pouchet (Annal. d’hygiène publ. 1886, pag. 253) mitgetheilter Fall, betreffend eine Person, die im Verlauf von 8 Jahren sechsmal abortirte, nachdem sie einen von ihrem Schwängerer bereiteten Trank, nach Allem einen Absud von Mutterkorn, getrunken hatte. Sie musste den Trank mehrmals nehmen, worauf Kolikschmerzen, Schmerzen in den Nieren, Schwindel, Schwäche der Extremitäten und einige Tage darauf Metrorrhagien und Abortus eintraten. Zwei Monate (sic) nach dem letzten Abortus wurde die Person von allgemeinem Unwohlsein, Schwäche und Schmerzen in den Extremitäten befallen, an letzteren traten gangränös sich ausbreitende Flecke auf und nach etwa vier Monaten erfolgte unter grosser Prostration der Tod. Die Obduction ergab nur ödematöse Infiltration der Bauchhaut und Hautgangrän an[S. 234] den Extremitäten. Morbus Brightii und Diabetes waren ausgeschlossen. In den Eingeweiden konnte Pouchet chemisch und spectroskopisch Ergotin nachweisen. Er erörtert, dass eine chronische Vergiftung mit Mutterkorn stattgefunden, dass die Bestandtheile des letzteren sich im Körper angesammelt (sich accumulirt) und schliesslich zur Hautgangrän geführt haben, wie dies auch bei ökonomischen chronischen Vergiftungen mit Mutterkorn als gangränöse Form der Kriebelkrankheit beobachtet worden ist.
Für die Erkennung der Mutterkornpartikel im Erbrochenen oder im Magen und Darmcanal einer Leiche müsste zunächst die mikroskopische Untersuchung herangezogen werden. Das Gewebe des Mutterkorns ist, wenn es nicht durch Quellung oder Verdauung zu sehr verändert wurde, sehr charakteristisch. Es besteht (Fig. 39) aus polygonalen, sehr enge und ausserordentlich innig mit einander verbundenen Zellen, welche als Inhalt ein farbloses Fett führen, weshalb die Structur des Gewebes besonders deutlich hervortritt, wenn man dasselbe mit Aether u. dergl. extrahirt. In den Zellen der äussersten Gewebsschichte findet sich überdies ein violetter Farbstoff, der die bekannte schwarzviolette Farbe der Oberfläche des Mutterkornes bedingt. Dieser Farbstoff, den Draggendorff (l. c.) Sclererythrin nennt, lässt sich durch Alkohol ausziehen, welcher durch Zusatz von Schwefelsäure sofort sich roth färbt (Jakobi und Böttcher). Nach Draggendorff gewinnt die Reaction an Schärfe, wenn man die Substanz mit säurehältigem Alkohol auszieht, mit Wasser mengt, mit Aether ausschüttelt, den Aether verdunstet und mit dem Rückstande die Reaction mit Schwefelsäure (rothe Lösung) und Kalilauge (violette Lösung) vornimmt. Die saure Lösung gibt vor dem Spectralapparat zwei blasse und schmale Absorptionsbänder in Grün und eines in Blau, die alkalische zwei eben solche, nahe bei einander stehende in Grün. Eine weitere Reaction besteht darin, dass man die betreffende Substanz mit kalter Kalilauge behandelt. Es entwickelt sich, wenn Mutterkorn vorliegt, Trimethylamin, welches an seinem eigenthümlichen Geruche nach Häringslake erkannt werden kann. Der Geruch tritt deutlicher hervor, wenn man, nachdem die Substanz in einer[S. 235] Eprouvette mit Kalilauge übergossen wurde, erstere mit einem Pfropfe verschliesst und erst nach einigen Minuten öffnet.
Der Sadebaum, Juniperus sabina Linn., steht seit den ältesten Zeiten in dem Rufe eines Abortivum und ist als solches thatsächlich in Anwendung gezogen worden. Das wirksame Princip ist ein ätherisches Oel (Ol. sabinae), welches sich in einer „Oeldrüse“ am Rücken der feinen Nadeln dieser Wachholderart befindet. Die flüchtige Beschaffenheit dieses Oels bringt es mit sich, dass besonders die frischen Zweige eine heftige Wirkung äussern, während sie in dem Grade abnimmt, je mehr dieselben eintrocknen, so dass schliesslich ganz trockenen und geruchlos gewordenen Zweigen keine Wirkung mehr zukommt. Das Ol. sabinae ist zu 1 bis 3 Procent in den frischen Zweigen enthalten und gehört, wie die meisten ätherischen Oele, zu den local irritirenden Giften, erzeugt daher vorzugsweise die Symptome der Gastroenteritis toxica (die Sabinazweige rufen nach Schroff schon auf der Haut Entzündung und Eiterung hervor) mit mehr weniger ausgesprochener Nebenwirkung auf das Gehirn und Rückenmark. Die Dosis toxica für den Menschen ist nicht genau bekannt; bezüglich der Thiere wird von Husemann (l. c. 417) angegeben, dass 8·5 bis 17 Grm. des Oels Kaninchen in sechs Stunden und etwa 17·5 Grm. des Pulvers einen Hund getödtet haben. Jedenfalls scheint die Wirkung auch auf den Menschen eine sehr heftige zu sein, da fast alle bisher bekannten Fälle, in denen Sabina, insbesondere die Abkochung der frischen Zweige, zu Abortivzwecken genommen wurde, letal verliefen. Von den Wirkungen auf das Urogenitalsystem kann jene auf die Nieren als constatirt angesehen werden, da bei Thieren Hämaturie und Abgang von nach Sabina riechendem Harn in der Regel beobachtet wurde, ohne dass man jedoch die Wirkung als eine specifische bezeichnen könnte. Für die gewöhnlich angenommene specifisch abortive Wirkung ist noch von keiner Seite ein Beweis beigebracht worden, doch ist es bei den heftigen Irritationserscheinungen, die im Unterleibe nach dem Genusse grösserer Gaben von Sabina auftreten, wohl begreiflich, wenn als Folge dieser Abortus sich einstellt. Auch hebt Röhrig (l. c.) unter den von ihm geprüften Substanzen insbesondere das Ol. sabinae als eine solche hervor, die durch directe Reizung der Centren Uteruscontractionen zu bewirken vermag.
In einem von Taylor (l. c. 187) beobachteten Falle hatte eine im siebenten Monate schwangere Person drei Tage grüne Massen erbrochen, die man Anfangs für Galle hielt. Am vierten Tage wurde sie von einem lebenden Kinde entbunden, welches bald darauf starb. Die Mutter selbst starb zwei Tage nach der Entbindung. Bei der Section fand sich Röthung und Ekchymosirung des Schlundes und eine starke umschriebene Entzündungsröthe im Magengrunde, jedoch keine Erosionen. Der Magen enthielt eine grünliche Flüssigkeit, in welcher Partikelchen von Sabina sowohl durch den Geruch, als unter dem Mikroskop erkannt wurden. Ferner fand sich starke Röthung der [S. 236]Dünndarmschleimhaut und beginnende Entzündung des Peritoneums und der Nieren. Die Menge der genommenen Sabina konnte nicht sichergestellt werden.
In einem zweiten nach Newth erzählten Falle wurde die im siebenten Monate Schwangere acht Stunden, nachdem sie Sabina genommen hatte, vollkommen bewusstlos und stertorös athmend gefunden, nachdem sie zuvor wiederholt heftig gebrochen hatte. Sie starb vier Stunden nach der alsbald erfolgten Entbindung. Der Magen enthielt eine braungrüne, säuerliche Flüssigkeit, aus welcher Ol. sabinae dargestellt wurde. Die Schleimhaut war blässer als gewöhnlich und nur an zwei Stellen unscheinbar ekchymosirt.
In einem dritten von Tidy beobachteten Falle war nach der Einverleibung des Giftes Trismus und Tetanus eingetreten, so dass, als die Person einige Stunden darauf starb, an Strychnin gedacht wurde. Es wurde jedoch im Magen nicht dieses, sondern eine grosse Menge Sabina nachgewiesen, ebenso in einer Flasche, aus welcher die Betreffende den grössten Theil ausgetrunken hatte. Bezüglich des übrigen Sectionsbefundes wird nichts angegeben. Die Frucht war nicht abgegangen.
Diese Fälle sind deshalb instructiv, als sie die letale Wirkung grösserer Dosen von Sabina demonstriren, aber namentlich insoferne, als sie auch zeigen, wie verschieden die Symptome sein können, welche in Folge einer solchen Vergiftung noch während des Lebens sich einstellen. Während nämlich im ersten Falle fast ausschliesslich Symptome der Gastroenteritis toxica auftraten, wurde im zweiten Falle ausgesprochene Narcose und im dritten wieder Trismus und Tetanus beobachtet.
Letheby (Lex, l. c. 238) sah eine 21jährige Schwangere vier bis fünf Stunden nach dem Genusse von Sabina unter heftigen Leibschmerzen und Convulsionen abortiren und gleich darauf sterben. Sabina wurde im Mageninhalt nachgewiesen.
Dagegen erwähnt Fodéré eines Falles, in welchem, nachdem eine „starke Dosis“ von Sabinazweigen mit Wein genommen worden war, nur vorübergehende Symptome der Magenreizung auftraten, die in Genesung übergingen, ohne dass die Schwangerschaft eine Unterbrechung erlitten hätte. Tardieu hat Gleiches beobachtet bei einer Schwangeren, die durch mehrere Tage 10 bis 14 Tropfen „Essence de Sabine“ genommen hatte. In einem von Maschka (Gutachten, III, 236) mitgetheilten Falle waren keine Erscheinungen aufgetreten, trotzdem an zwei aufeinanderfolgenden Tagen eine Abkochung von Sabina genommen worden war.
Für die Diagnose an der Leiche wird zunächst die auffallend grüne Farbe des Mageninhaltes von Wichtigkeit sein, die sich findet, wenn Sabinapulver oder eine Abkochung von Sabina genommen worden war. Taylor vergleicht sie mit der von „grüner Erbsensuppe“. Aehnliche Färbung kann jedoch auch von Galle herrühren. Zu beachten ist ferner der eigenthümliche, dem Ol. sabinae zukommende Geruch, ferner das eventuelle Vorkommen[S. 237] von Theilchen von Sabinablättern oder Zweigchen, welche sorgfältig zu sammeln und trocken zur weiteren Untersuchung aufzubewahren sind. Ausser den allgemeinen botanischen Eigenschaften solcher Theilchen wird insbesondere das mikroskopische Verhalten feiner Schnitte, sowie die charakteristische Oeldrüse nachzuweisen sein (Fig. 40 und 41). Ausserdem kann das Oel aus dem Mageninhalte etc. durch Ausziehen mit Aether und durch Destillation gewonnen werden.
In ähnlicher Weise wie Juniperus sabina wirkt Juniperus virginiana und das von diesem kommende sogenannte Cedernöl. Aber auch aus dem gewöhnlichen Wachholder lässt sich ein ätherisches Oel bereiten, welches nach Semon zu 1 Unze auf Kaninchen tödtlich wirkt (Husemann l. c. 416). Doch beschreibt Fodéré einen Fall, in welchem eine Schwangere drei Wochen lang täglich 100 Tropfen dieses Oels genommen hatte, ohne dass eine Unterbrechung der Schwangerschaft eintrat. Ebenso enthalten auch die Thujaarten (Fig. 42), welche bei uns häufig in den Gärten zu finden sind, ein ätherisches Oel, dessen Wirkung der des Ol. sabinae sehr nahe steht. Sander[194] hat einen Fall veröffentlicht, in welchem nach einem Thee von Herba Thujae occ. unter den Erscheinungen einer heftigen Gastroenteritis Abortus, aber unmittelbar darauf der Tod erfolgte. Nach Stahlmann (Göttinger Diss., 1884) enthält das ätherische Oel von Thujae occ. 60–70 Procent Thujol, welches bei Kaninchen und Hunden heftigen[S. 238] Tetanus mit nachfolgenden clonischen Krämpfen, Speichelfluss, Mydriasis und vermehrte Darmperistaltik bewirkt, wahrscheinlich in Folge von Reizung der Krampfcentren im verlängerten Mark. Ferner ist als in diese Classe gehörig der Eibenbaum, Taxus baccata, zu nennen, welcher schon wiederholt zu Fruchtabtreibungszwecken in Anwendung gekommen ist.[195] Die Analogie der Wirkung der Blätter und Zweige von Taxus bacc. mit jener der Sabina hat Schroff hervorgehoben. Die giftige Wirkung der Früchte wurde bezweifelt, neuerdings aber durch Lucca (Husemann, „Die Pflanzenstoffe“, 1871, pag. 97) und Marmé[196] erwiesen, denen es auch gelang, das wirksame Princip in Form einer alkaloid-ähnlichen Substanz — das Taxin — darzustellen, von welcher 15–25 Mgrm. in die Jugularnerven injicirt, Kaninchen, und 30 bis 50 Mgrm. Katzen in 14–20 Minuten zu tödten im Stande sind.
Endlich ist noch bei den Coniferen das Terpentinöl zu erwähnen, welches eines der schärferen ätherischen Oele darstellt und in Dosen zu 3–8 Grm. Bauchschmerzen, Mattigkeit, Vermehrung der Pulsfrequenz und der Diurese (Veilchengeruch des Harns), aber auch Strangurie, Hämaturie und Erscheinungen heftiger Gastroenteritis bedingen kann, ohne dass wir berechtigt wären, diesem oder einem anderen der vorhergenannten Mittel eine specifisch abortive Wirkung zu vindiciren.
Gleiches gilt von anderen ätherischen Oelen, beziehungsweise von den Pflanzen, welche sie enthalten, wie z. B. von dem Bernsteinöl (Oleum succini), welches nach Seydel (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, pag. 267) in seiner Gegend im Rufe eines Abortivum steht und [S. 239]von dem in einem Falle ein Esslöffel voll Bauchschmerzen, Erbrechen, Prostration, später Durchfall und typhöse Erscheinungen und am 13. Tage Abortus veranlasste; ferner von Tanacetum vulgare (Rainfarren), welches in Frankreich und von Ruta graveolens (Raute), welche in Amerika als Abortiva im Rufe stehen und auch angewendet werden. Ebenso von den starken Gewürzen, wie z. B. Saffran[197] und dem aus ihnen bereiteten „Glühwein“.
Den ätherischen Oelen chemisch und toxisch nahestehend sind die Kampherarten. Ueber eine mit gewöhnlichem Kampher versuchte Fruchtabtreibung berichtet Kuby (Virchow’s Jahresb. 1881, I, 534). In Tirol steht die Wurzel von Asarum europaeum in dem Rufe eines Fruchtabtreibungsmittels und wir intervenirten in einem Falle, wo ein Individuum gewerbsmässig diese Wurzel als Abortivum oder Emmenagogum verkauft hatte. Das wirksame und der Wurzel den intensiven scharfen Geruch verleihende Princip ist ein kampherartiger Körper.
Die Einwirkung der Canthariden auf die Nieren ist bekannt und ebenso, dass dieselben seit jeher als ein Aphrodisiacum angesehen wurden. Es kann demnach nicht wundern, wenn wir ihnen auch als „Abortivum“ begegnen. In den wenigen sichergestellten Fällen, in denen Canthariden zum Zwecke der Fruchtabtreibung genommen wurden (vide Lex, l. c. 245), erfolgte der Tod der betreffenden Mutter entweder ohne oder nach vorausgegangenem Abortus. Die hochgradigen Irritationserscheinungen, die nach der Einverleibung von Canthariden im Verdauungstractus erfolgen, machen den Eintritt des Abortus im Verlaufe der Intoxication begreiflich. Dass aber den Canthariden eine specifische Wirkung auf den Uterus zukommen würde und dass insbesondere nicht toxische, selbst wiederholte Gaben Contractionen des Uterus hervorrufen könnten, ist nicht erwiesen.
Auch bezüglich der Drastica, insbesondere der, auch eine emmenagogische Wirkung besitzenden Aloe, kann nicht abgeleugnet werden, dass sie mitunter in Folge des durch sie verursachten Eingriffes in die normalen Vorgänge des Organismus Abortus herbeiführen können, gewiss jedoch nur ausnahmsweise und unter besonders günstigen Bedingungen, da bis jetzt kein einziger sichergestellter Fall in der Literatur verzeichnet ist, in welchem ein solcher Effect zu constatiren gewesen wäre.
Wenn wir nun die Reihe der Mittel erwägen, die als Abortiva im Rufe stehen, so sehen wir, dass kein einziges derselben im strengen Sinne als ein solches angesehen werden kann, und dass, wenn hie und da in Folge eines solchen Mittels wirklich Abortus eintritt, dieser selten mit einer specifischen und primären Wirkung desselben auf die motorischen Centren des Uterus oder auf die Frucht im nachweisbaren ursächlichen Zusammenhange steht, sondern als Folge und Theilerscheinung anderweitiger im Organismus[S. 240] gesetzter Störungen, insbesondere als Folge einer Intoxication im weiteren Sinne, aufgefasst werden muss, woraus wieder hervorgeht, dass eigentlich alle Gifte unter Umständen auch Abortus bewirken, eventuell zu Fruchtabtreibungszwecken missbraucht werden können, was auch thatsächlich der Fall ist. So hat z. B. die unverhältnissmässige Häufigkeit der Vergiftungen mit Phosphor, besonders mit den Köpfchen von Phosphorzündhölzchen, bei Schwangeren, bei uns schon lange den Verdacht erregt, dass diese Substanz in manchen dieser Fällen nicht zum Zwecke des Selbstmordes, sondern als Fruchtabtreibungsmittel genommen worden sei. Dieser Verdacht wurde zur Gewissheit durch einen von Kirchmeier[198] mitgetheilten Fall, in welchem die betreffende Vergiftete alle Zeichen eines Abortus im dritten Monate darbot und vor dem Tode eingestand, dass sie ihrer Schwangerschaft wegen auf Anrathen eines alten Weibes die Köpfchen von drei Päckchen Zündhölzchen in Milch aufgekocht genommen habe, ebenso auch durch die in Anschluss an diesen Bericht gemachte Mittheilung Dr. Langer’s, dass binnen Jahresfrist in demselben Bezirke vier Fälle von Fruchtabtreibung zur Kenntniss des Gerichtes gelangten, wobei zweimal Schwefelarsen (!) und je einmal Sabinadecoct und Phosphor verwendet worden waren. Endlich haben wir wiederholt an subacuter Phosphorvergiftung gestorbene schwangere Mädchen obducirt, welche eingestandenermassen oder wie anderweitig klar war, Phosphorzündhölzchenköpfchen genommen hatten, um sich die Frucht abzutreiben. Auch in Ostpreussen (Seydel, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, VI, 281) und in Finnland (Fagerlund, Ibid. VIII. Suppl.) gilt der Phosphor als Abortivum. Es geht daraus hervor, dass selbst die heftigsten und wie man glauben sollte, als solche bekannten Gifte in den Ruf von Fruchtabtreibungsmitteln kommen können. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Phosphor thatsächlich Abortus bewirken kann, denn in vielen Fällen abortirten die Betreffenden wirklich, so z. B. in einem von Maschka (Wiener med. Wochenschr. 1877, Nr. 36) schon nach 48 Stunden, und in einem von Seydel mitgetheilten, wobei Hämorrhagien zwischen die Eihäute, sowie zwischen Ei und Uterus eine wesentliche Rolle zu spielen scheinen[199], und es ist denkbar, dass in irgend einem Falle eine solche Person Vergiftung und Abortus überstehen könnte. Trotzdem wird es Niemandem einfallen, dem Phosphor specifisch abortive Wirkungen zuzuschreiben, beziehungsweise diesen als Fruchtabtreibungsmittel kat’exochen zu erklären.
Wenn demnach ein angeblich zum Zwecke einer Fruchtabtreibung benütztes Mittel zur gerichtsärztlichen Beurtheilung vorgelegt wird, so wird zu erwägen sein, ob das Mittel überhaupt[S. 241] geeignet ist, in einer bestimmten Gabe Functionsstörungen im Organismus hervorzurufen, und im bejahenden Falle, ob dieselben derart eingreifend sind, dass als Folge oder Theilerscheinung derselben auch ein Abortus eintreten kann.
Sind wir in der Lage, auch auf letztere Frage eine bejahende Antwort zu geben, so genügt dies dem Richter vollkommen zur Begründung der Anklage auf versuchte Fruchtabtreibung; denn in dieser Beziehung handelt es sich, wie es ja schon in dem Begriffe des „Versuches“ liegt, dem Gerichte keineswegs darum, ob das Mittel ein „specifisches“ Abortivum und ein solches ist, welches mit einiger Sicherheit die Fruchtabtreibung zu bewirken vermag, sondern ob dasselbe diese überhaupt bewirken konnte, und das Substrat für eine solche Anklage entfällt nur dann, „wenn ein völlig ungeeignetes Mittel gebraucht wurde, nicht aber, wenn ein an sich geeignetes Mittel wegen Dazwischenkunft eines Hindernisses in zu geringer Quantität angewendet worden ist, oder wenn das bereitete Mittel nicht an jeder schwangeren Person ohne Unterschied ihrer physischen Anlage, sondern nur unter Voraussetzung einer bestimmten physischen Disposition seine abtreibende Wirkung äussert, weil im ersteren Falle der Umstand, dass nicht die erforderliche Quantität genommen wurde, im letzteren aber die mangelnde Disposition als fremdes Hinderniss oder als Zufall erscheint“.[200]
Dass völlig ungeeignete Mittel in der Intention auf Fruchtabtreibung genommen und gegeben werden, ist eine ziemlich häufige Beobachtung, und es fällt in der Regel leicht, sie als solche zu bezeichnen. In einem von uns begutachteten Falle hatte die Schwangere auf Anrathen ihres Liebhabers wochenlang feingepulverte Kreide, natürlich ohne allen Erfolg, genommen, in einem anderen den Schlamm vom Schleifstein, ein Mittel, das offenbar seines Eisengehaltes wegen als Abortivum sehr im Rufe zu stehen scheint, da in der Literatur wiederholt seiner Anwendung zu Fruchtabtreibungszwecken Erwähnung geschieht. In einem dritten hatte ein Mädchen, offenbar von gleichen Ideen geleitet, Globuli martiales genommen und Coutagne berichtet von einem anderen, welches sich schliesslich von einer Hebamme die Frucht abtreiben liess, nachdem sie früher Safran, Beifuss etc. vergebens genommen und sich Injectionen mit dem Wasser gemacht hatte, mit welchem ein Büchsenlauf ausgespült worden war! Auch eine Menge verschiedener, ganz unschuldiger Thees gehören hierher, wie denn gerade in diesen Dingen ein wahrer Köhlerglaube sich geltend zu machen pflegt, der nicht selten von Quacksalbern, Hausirern und anderen Leuten, an die sich die Schwangeren in ihrer Noth wenden, in gewissenlosester Art ausgebeutet wird.
Handelt es sich um einen wirklich eingetretenen Abortus und um die Frage, ob derselbe mit einem angewandten inneren[S. 242] Mittel in ursächlichem Zusammenhange steht, so sind insbesondere die Erscheinungen zu erwägen, die dem Abortus vorausgegangen sind. Da es nämlich keine Mittel gibt, welche ohne anderweitige Functionsstörungen den Abortus bewirken würden, so müssen erstere sich in mehr weniger ausgesprochener Weise kundgeben, und wir sind nicht berechtigt, einen Abortus als durch ein innerlich genommenes Mittel erzeugt zu erklären, wenn solche Functionsstörungen nicht aufgetreten sind, oder wenn wir sie nicht nachzuweisen im Stande waren. Ferner muss erhoben werden, ob die aufgetretenen Erscheinungen solche sind, die sich auf die Wirkung eines innerlich genommenen sogenannten Fruchtabtreibungsmittels zurückführen lassen, und, wenn ein bestimmtes solches Mittel in Frage steht, ob die Erscheinungen, die aufgetreten sind, mit denjenigen übereinstimmen, die zufolge der Erfahrungen der Pharmakologie und Toxikologie nach gewissen Dosen desselben einzutreten pflegen. Ferner ist die Möglichkeit auszuschliessen, dass gewisse Erscheinungen nicht etwa von spontanen oder wenigstens von dem genommenen Mittel unabhängigen Ursachen sich eingestellt und den Abortus veranlasst haben, sowie endlich auch erwogen werden muss, welche Zeit zwischen der Einverleibung der verdächtigen Substanz und dem Auftreten der krankhaften Erscheinungen einerseits und zwischen diesen und dem Abortus anderseits verflossen ist, und ob in dieser Beziehung eine unmittelbare Aufeinanderfolge sich constatiren lässt. Da die meisten zur Anwendung kommenden „Fruchtabtreibungsmittel“ in die Classe der irritirenden oder narkotisch-scharfen Stoffe gehören, so pflegt die Wirkung, insbesondere die Gastroenteritis toxica, kurze Zeit nach der Ingestion derselben einzutreten, es wird daher auch umgekehrt, wenn der Zeitpunkt, wann das Erbrechen etc. begann, erhoben werden kann, ein ziemlich sicherer Rückschluss gestattet sein auf die Zeit, wann beiläufig die toxische Substanz genommen worden ist. Auch was den Zeitpunkt des Eintrittes des Abortus betrifft, lehrt die Erfahrung, dass derselbe meistens mit der Höhe der Intoxicationserscheinungen zusammenfällt oder kurz darnach erfolgt, obwohl die Möglichkeit nicht bestritten werden kann, dass mitunter, gewiss aber nur in selteneren Fällen, die Frucht erst nachträglich ausgestossen wird. Nach den sorgfältigen Zusammenstellungen von Dölger (Friedreich’s Blätter, 1892, S. 56) erfolgte der Abortus im Durchschnitte aus 27 genaueren Daten nach 60 Stunden.
Selbstverständlich ist es von grosser Wichtigkeit, etwa erbrochene Substanzen, wenn man ihrer noch habhaft werden kann, einer näheren Untersuchung zu unterziehen, eventuell dieselben für die durch einen Specialsachverständigen (Chemiker, Botaniker) vorzunehmende Untersuchung in zweckmässiger Weise aufzubewahren. Ebenso ist das Auffinden von im Rufe als Fruchtabtreibungsmittel stehenden Substanzen bei der Localuntersuchung von hohem Werthe, einestheils weil es den Verdacht bestärkt,
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dass die Betreffende mit dem Plane umging, die Frucht abzutreiben, andererseits weil der Gerichtsarzt dadurch in die Lage versetzt wird, seine weiteren Untersuchungen in bestimmter Richtung zu betreiben, insbesondere aber zu vergleichen, ob die an der Schwangeren aufgetretenen Erscheinungen thatsächlich solche waren, die den toxischen Eigenschaften der bei ihr gefundenen Substanz entsprechen.
Ob eventuell von einer chemischen Untersuchung der Frucht eine Aufklärung zu erwarten sei, muss aus den concreten Verhältnissen des Falles erwogen werden. In einem unserer Fälle, wo der Abgang der Frucht von einer ungerechtfertigten Jodkaliumcur abgeleitet wurde, ergab die vom Collegen Ludwig vorgenommene chemische Untersuchung der Frucht ein negatives Resultat.
Unter mechanischen Fruchtabtreibungsmitteln verstehen wir Vorgänge, die entweder durch Läsion des Eies oder durch mechanische Irritation des Uterus den Abortus bewirken. Diese sind Abortivmittel im engsten Sinne, und es gibt welche darunter, die mit solcher Präcision die Fehlgeburt herbeiführen, dass sie zu diesem Zwecke vom Geburtshelfer angewendet werden, wenn eine ärztliche Indication die Einleitung des Abortus oder der Frühgeburt erheischt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass derartige Mittel in der Regel die Mitwirkung von Helfershelfern voraussetzen, die die betreffende Operation vorgenommen haben, doch ist die Ausführung der letzteren durch die Schwangere selbst keineswegs ausgeschlossen. Viele von ihnen erfordern eine gewisse Sachkenntniss, doch sind es keineswegs ausschliesslich Hebammen oder gar Aerzte, die, wenn sie sich eines solchen Verbrechen schuldig machen, zu diesen Mitteln greifen; es lehrt vielmehr die Erfahrung, dass auch Laien Derartiges ausführen, und wenn sie das Verbrechen gewerbsmässig ausüben, darin selbst eine gewisse Uebung erlangen können.
Wir wollen von diesen Fruchtabtreibungsmitteln nur diejenigen besprechen, welche thatsächlich häufiger in der Verbrecherpraxis vorkommen und welche auch von Laien ausgeführt werden können, während wir die eigentlichen kunstgerechten Abortivmethoden als jedem Arzte bekannt voraussetzen.
Eine besonders rohe und deshalb nur von Laien geübte Methode der mechanischen Fruchtabtreibung ist die heftige Erschütterung des Unterleibes durch Stösse u. dgl. Derartige Acte können den Abortus bewirken durch Ablösung des Eies von der Uteruswand oder durch Sprengung desselben, aber auch durch Beschädigung der Frucht oder dadurch, dass der mechanische Insult Contractionen des Uterus erzeugt.
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Diese Methode ist uralt. Schon Hippokrates soll sie angewendet haben, indem er bei einer schönen Sclavin auf Aufforderung der Besitzerin derselben die Frucht dadurch abgetrieben zu haben angibt, dass er sie siebzehnmal nacheinander von einer gewissen Höhe herabspringen liess, worauf — „genitura cum sonitu defluxit“. Auch Ovid spricht von einem „coccus ictus“, dessen man sich bediente, um Abortus zu bewirken. Dass auch gegenwärtig, und zwar nicht allein bei den Indianern in Paraguay (Short), solche brutale Fruchtabtreibungsversuche vorkommen, beweist der von Tardieu[201] mitgetheilte Fall, in welchem ein Bauer, der seine Magd geschwängert hatte, sich mit ihr auf ein feuriges Pferd setzte und dieselbe im stärksten Galopp zu Boden schleuderte — ohne jedoch damit den gewünschten Abortus zu erzielen! In einem uns bekannten Falle hatte eine schwangere Bauernmagd in der eingestandenen Absicht, den Abortus zu bewirken, den schweren Flügel eines Scheunenthores auf ihren Unterleib fallen lassen, ohne dass Abortus eintrat, und in einem weiteren, den wir bei der Prager Facultät begutachteten, hatte ein Bauer der von ihm geschwängerten Magd, nachdem er verschiedene innere Mittel vergebens behufs Erzielung des Abortus angewandt hatte, aufgelauert und ihr plötzlich einen Hieb mit der Fläche eines schweren, zum Wäscherollen bestimmten Brettes über den Bauch versetzt. Die Magd fiel vor Schmerz in Ohnmacht, die Schwangerschaft wurde jedoch nicht unterbrochen und die Geburt erfolgte zur normalen Zeit.
Eine weniger rohe und auch sichere Methode ist die Fruchtabtreibung durch systematisches Kneten und Drücken des Uterus durch die Bauchdecken. Es ist bekannt, dass die Massage des Unterleibes in der geburtshilflichen Praxis, sowohl während des Geburtsactes, als namentlich in der Nachgeburtsperiode, häufig und mit Erfolg als wehenbeförderndes Mittel angewendet wird, und es unterliegt keinem Zweifel, dass dieselbe, wenn systematisch und entsprechend lange geübt, auch während einer Schwangerschaft den Uterus zu Contractionen anregen und also Abortus bewirken kann.[202] Auch diese Methode ist zur Einleitung des verbrecherischen Abortus, und zwar mit Erfolg, benützt worden. Wistrand[203] berichtet, dass in einem Falle nach energischem und wiederholtem Drücken des Unterleibes, welches heftige Schmerzen verursacht hatte, der Abortus in der That erfolgte, und in einem zweiten Falle wurde aus Sugillationen des Bauchfelles, die man[S. 245] bei der Section der nach einem Abortus verstorbenen Person fand, auf ähnliche Manipulationen geschlossen, doch dürfte, wie wir glauben, in diesem Falle, da leichter Icterus, schlaffes Herz und Verfettung der Leber gefunden wurden, wahrscheinlich eine Phosphorvergiftung vorgelegen haben. Der gleiche Autor gibt an, dass es in Schweden Leute gebe, die sich als „Bauchdrücker“ einen Ruf erworben haben, indem sie durch oft wiederholtes Drücken auf den Unterleib des Weibes die Frucht abzutreiben verstehen.
Entschieden die häufigste von den in der Verbrecherpraxis vorkommenden mechanischen Fruchtabtreibungsmethoden ist das Anstechen oder Zerreissen der Eihäute durch in den Cervix eingeführte Instrumente. Bekanntlich ist der „Eihautstich“ eine der ältesten der in der Geburtshilfe zur Einleitung vorzeitiger Geburt benützten Methoden, die aber gegenwärtig nur selten geübt wird, der Nachtheile wegen, die der plötzliche und vorzeitige Abgang der Fruchtwässer mit sich bringt. Die Eröffnung des Eies, die in der geburtshilflichen Praxis mit der Uterussonde oder eigenen dazu construirten Instrumenten ausgeführt wird, geschieht bei der verbrecherischen Einleitung des Abortus theils mit solchen, theils mit allen möglichen langen und spitzigen sondenartigen Werkzeugen, wie z. B. mit Stricknadeln, Drähten, zugespitzten Stäbchen, Federhaltern etc. In einem von Tardieu beschriebenen Falle war ein Brenneisen, in einem anderen von Casper erwähnten eine Scheere zu diesem Zwecke benützt worden. Die Hebammen von Teheran bringen hakenförmige Instrumente zur Anwendung (Pollak, l. c.), jene von Constantinopel die grossen Blattrippen der Tabakblätter. In Japan bedient man sich wieder der Bambusstäbchen oder zugespitzter Zweige verschiedener Sträucher (Stricker, l. c.) und in Italien der steifen Wurzel von Plumbago Zeylanica (Short, l. c.).
Obgleich man glauben sollte, dass eine derartige Methode der Fruchtabtreibung nur von einer zweiten Person ausgeführt, beziehungsweise versucht werden könne, so lehrt doch die Erfahrung, dass auch Schwangere an sich selbst derartiges unternommen haben. So wird von Graves (Virchow’s Jahresb. 1869, II, 608) ein Fall mitgetheilt, in dem eine Frau an sich selbst mittelst einer Stricknadel den Abortus effectuirte, und ebenso wird von einem anderen Falle berichtet (Ibid. 1873, II, 651), in welchem die betreffende Schwangere sich einen Draht von einem Regenschirm in die Genitalien eingestossen hatte. Von Leblond (Annal. d’hyg. publ. 1884, pag. 520) werden mehrere solche Fälle mitgetheilt.
Bei tiefem Stand des Uterus, wie er factisch in den ersten Monaten der Gravidität sich findet, halten wir es namentlich bei Mehrgeschwängerten für möglich, dass die Betreffende sich selbst ein Instrument in den Cervix einführen kann. Der Vorgang hat dann eine gewisse Analogie mit der so häufigen Selbsteinbringung[S. 246] von fremden Körpern in die Harnröhre, und es ist in dieser Beziehung interessant, dass Pouillet (L’onanie chez la femme. Paris 1884, 4. Aufl.) über Fälle von Selbsteinführung sondenartiger Körper in den Uterus zu masturbatorischen Zwecken berichtet. Sehr beweisend in dieser Richtung ist ein von Herzfeld (Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 3) mitgetheilter Fall, wo im Uterus einer 25 Jahre alten Frau der abgebrochene beinerne Griff einer Häkelnadel gefunden wurde, welchen Herr Herzfeld unserer Sammlung zu schenken die Güte hatte. Die Frau gab nach verschiedenen Ausflüchten an, sie habe, um dem überreichen Kindersegen vorzubeugen, auf Rath einer Hebamme sich nach jedem Beischlafe die Uterushöhle ausgewischt, indem sie den Griff der Häkelnadel mit einem Lappen umgewickelt und nach Einführung von zwei Fingern der linken Hand in die Scheide das Instrument in die Gebärmutterhöhle einschob. Sie habe dabei eine hockende Stellung angenommen und durch Anspannen der Bauchwand den Muttermund herabgedrängt. Diese Manipulation will sie seit längerer Zeit geübt haben, bis ihr eines Tages die Nadel abbrach und sie nur noch den Lappen herausziehen konnte. Besonders klar wird aber eine solche Möglichkeit durch den Fall von Resnikow (Centralbl. f. Gyn. 1893, Nr. 44) illustrirt, da die betreffende Frau, welche schon zweimal durch eigenhändige Einführung der Sonde den Abortus provocirt hatte, die Manipulation vor dem Arzte an sich selbst demonstrirte.
Fruchtabtreibungen durch Injectionen, insbesondere in den Cervix, kommen gegenwärtig immer häufiger vor, besonders wenn Sachverständige sich eines solchen Delictes schuldig machen. Doch wird die Operation mitunter auch von Laien ausgeführt. So wurde in einem von Maschka (Gutachten. II, 324) mitgetheilten Falle ein seit Langem in dem Verdachte eines Fruchtabtreibers stehendes Individuum (Nichtarzt) dabei ertappt, wie es durch Injectionen mittelst einer Spritze und eines in den Muttermund eingeführten Mutterrohrs den Abortus einleitete. Scheideninjectionen können auch von den Schwangeren selbst und mit Erfolg ausgeführt werden. Ausser gewöhnlichen Spritzen werden Clysopompen, insbesondere aber Balloncatheter benützt. In dem von Vibert (Annal. d’hygiène publ. 1893) referirten Processe gegen den Fruchtabtreiber Thomas hatte dieser bei 72 Frauen den Balloncatheter angewendet. Auch die Einleitung von Dampf wurde schon, und zwar mit Erfolg versucht. Schoder (Beiträge zur Lehre vom provocirten Abortus. Diss. Berlin 1893) berichtet über einen solchen Fall. Auf Rath einer bereits zweimal wegen Fruchtabtreibung bestraften Person, musste sich die Schwangere mit gespreizten Beinen über einen Eimer stellen, auf dessen Boden Spiritus gegossen und angezündet worden war und gleichzeitig heissen Kaffee trinken. Dabei überkam die Schwangere Schwäche, sie legte sich zu Bette, nach 2 Stunden begann Drängen und es gingen Blutklumpen ab. Andere Methoden sind verhältnissmässig selten.[S. 247] In einem von Thomson[204] publicirten Falle war unter Anderem auch der Versuch angestellt worden, durch fortgesetztes Herumbohren mit dem Finger in der Scheide die Fruchtabtreibung zu bewirken, und in einem von uns begutachteten war ein übelbeleumundeter Mann, nachdem er eine ganze Reihe verschiedener innerer Mittel (Branntwein mit Pfeffer, eine Mischung von Wasser, Stärke und Zucker, dann ein Gebräu aus Schöllkraut, Kamillen, Safran, Alaun, Kupfervitriol und Kampher, und hierauf Schlämmkreide) fruchtlos angewendet hatte, um bei seiner Geliebten die Frucht abzutreiben, sogar auch auf die Idee gerathen, dies durch forcirten Coitus zu bewirken, zu welchem Zwecke er die Betreffende durch einige Zeit nicht blos zwei- bis dreimal täglich gebrauchte, sondern auch einen Freund mitbrachte, der in seiner Gegenwart dieselbe gebrauchen musste! In einem dritten, uns von den hiesigen Gerichtsärzten DDr. Doll und Haschek mitgetheilten Falle hatte ein Mann seiner schwangeren Geliebten ein Instrument gebracht, welches wir in halber Grösse hier abbilden (Fig. 43), dessen unterer Theil aus Holz, dessen oberer aus Bein gefertigt ist, mit der Aufforderung, sich dasselbe in den Muttermund einzuführen und dort liegen zu lassen, wobei er angab, dass er dasselbe von einem Arzt gekauft habe, welcher ihn versicherte, dass das Instrument, wenn richtig eingeführt, die Fruchtabtreibung zweifellos bewirke. Die Betreffende wandte jedoch trotz wiederholter Aufforderung das Instrument nicht an, liess die Schwangerschaft regelmässig verlaufen und producirte erst nachträglich das Instrument vor Gericht, als es wegen der Erhaltungskosten des Kindes zu Zerwürfnissen zwischen ihr und ihrem Geliebten gekommen war. Die Gerichtsärzte, denen das Instrument vorgelegt wurde, gaben ihr Gutachten dahin ab, dass sich in der Construction desselben eine gewisse Zweckmässigkeit und Sachkenntniss nicht verkennen lasse, dass dasselbe in den Muttermund möglicherweise auch von der Frau selbst eingeführt werden könnte, und, wenn dort liegen gelassen, den Abortus anzuregen im Stande gewesen wäre. Der Angeklagte wurde wegen versuchter Fruchtabtreibung verurtheilt. Wir sind im Allgemeinen derselben Meinung wie die Herren Collegen und sind überzeugt, dass das betreffende Instrument in der Hand eines Sachverständigen gewiss zum Ziele führen würde, halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass eine[S. 248] Schwangere sich selbst das plumpe Instrument in den Muttermund einzubringen im Stande sein dürfte.
Dagegen behauptet Säxinger (l. c. 289), dass das blosse Einlegen einer Sonde in den Gebärmutterhals keine Wehen hervorrufe. Auch das einfache Betasten der Innenfläche des Cervix mit der Sonde oder bei hinreichender Eröffnung mit dem Finger könne nicht als ein solches Mittel bezeichnet werden. Müller habe bei 100 Schwangeren mit dem Finger und mit dicken Sonden den ganzen Cervicalcanal behufs genauer Messung wiederholt abgetastet, ohne je schlimme Folgen davon zu sehen.
Auch durch Einführung reizender Substanzen in die Genitalien ist die Fruchtabtreibung versucht worden. So hatte das oben erwähnte Individuum zu den bezeichneten Fruchtabtreibungsversuchen noch den hinzugefügt, dass es zwei Knoblauchzehen nahm, an der Stelle, wo der Keim herauswächst, Pfeffer hineinthat und seiner Geliebten „tief in die Scheide bis zur Gebärmutter“ hineinsteckte, ebenso eine dritte Zehe in den Mastdarm mit dem Auftrage, diese Körper einen halben Tag lang an ihrem Orte zu belassen, was die Betreffende allerdings nicht that, sondern schon nach etwa einer halben Stunde den präparirten Knoblauch sowohl aus den Genitalien als aus dem After herauszog, da derselbe ihr starkes Brennen verursachte. Dieser Fall erinnert an die mit verschiedenen reizenden Substanzen bestrichenen Pessarien, deren sich bereits die alten arabischen Aerzte zur Einleitung des Abortus bedienten, und demselben analog sind jene Fälle, in denen heftig wirkende Giftstoffe, insbesondere Arsenik, zu diesem Zwecke per vaginam eingeführt wurden. Ein solcher Fall wird in der „Deutschen Klinik“, 1873, Nr. 41, und ein zweiter von Brisken in der Vierteljahrsschr. f. ger. Med. XXV, 110, mitgetheilt.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass, wenn der Gerichtsarzt in die Lage kommt, über einen der genannten, sei es durch Eingeständniss des Thäters oder durch die Angaben der Schwangeren selbst[205], oder etwa durch Zeugen oder durch besondere Umstände sichergestellten Vorgänge ein Gutachten abzugeben, es nicht schwer halten wird, sich auszusprechen, ob ein solcher Vorgang im Allgemeinen geeignet ist, Abortus zu bewirken; aber es liegt in der Natur der Sache, dass, wenn solche Aussagen nicht vorliegen, sondern nur ein unbestimmter Verdacht besteht, dass ein mechanischer Vorgang unternommen wurde, um die Frucht abzutreiben, die Diagnose eines solchen Vorganges nur dann möglich sein wird,[S. 249] wenn derselbe objectiv nachweisbare Veränderungen hinterlassen hatte. Wir werden diese bei den Folgen der Fruchtabtreibung erwähnen.
Ausser der Erhebung solcher Veränderungen wird es weiter wie bei dem durch innere Mittel veranlassten Abortus Aufgabe des Gerichtsarztes sein, zu erwägen, in welcher Zeit nach dem angeblich eingeleiteten Vorgange die Fehlgeburt erfolgt ist, und ob dieselbe mit der Zeit stimmt, in welcher erfahrungsgemäss nach der Anwendung der betreffenden Mittel der Abortus zu erfolgen pflegt.
Von den Methoden, die auch in der Geburtshilfe angewendet werden, führt die aufsteigende Scheidendouche (nach Kiwisch) am langsamsten zum Ziele. Wenn, wie Kiwisch fordert, die warme Douche alle drei bis vier Stunden durch 12 bis 15 Minuten wiederholt wird, pflegen sich erst nach drei bis fünf Tagen die ersten Wehen einzustellen[206], mitunter noch später.[207] Ungleich schneller wirkt die Uterusinjection (Methode von Cohen). In 12 Fällen, in denen Lazarewitsch[208] diese Methode anwendete, begannen die Wehen fast unmittelbar nach der Injection und die Geburt dauerte 3½ bis 30 Stunden. Tardieu gibt an, dass, wenn diese Methode behufs verbrecherischer Fruchtabtreibung zur Anwendung kam, die Geburt bis höchstens 18 Stunden nach der Injection erfolgte. Auch in dem von Maschka mitgetheilten Falle traten sofort nach der Injection heftige Schmerzen und acht Stunden darauf der Abortus ein. Die Angabe Krause’s, dass bei dieser Methode die Geburtsdauer im Mittel drei, in maximo acht Tage betrage, ist daher unrichtig, doch wird gewiss die Art und Weise, wie die Methode ausgeführt wird, auf den Zeitpunkt des Eintrittes der ersten Wehen von Einfluss sein, insbesondere die Tiefe, bis zu welcher das Injectionsrohr zwischen Ei und Uterus eingeführt, und die Menge der Flüssigkeit, die eingespritzt wurde. Bei der Methode nach Krause (Einlegung eines elastischen Katheters zwischen Ei und Uterus) traten nach Schröder (l. c. 329) [S. 250]bei Mehrgebärenden die Wehen nicht selten sofort, bei Primiparen wenigstens nach mehreren Stunden auf. Franque dagegen (Scanzoni’s Beiträge zur Geburtshilfe, 1869, VI, 109) fand in seinen Fällen, dass die mittlere Dauer der Geburt 68 Stunden und die längste 141 Stunden betrug. Mitunter tritt, trotzdem die Sonde zwischen Uterus und Ei wiederholt eingeführt und selbst liegen gelassen wurde, dennoch kein Abortus ein. Interessante derartige Fälle werden von Säxinger (l. c. 290) mitgetheilt. Am präcisesten scheint der Abortus nach der gegenwärtig vielfach empfohlenen Methode von Barnès und von Tarnier (Einführung einer Kautschukblase zwischen Ei und Uterus und Wasserinjection) zu erfolgen. Nach Machenand (Virchow’s Jahrb. 1869, II, 611) trat in 21 Fällen der Abortus im Mittel nach 35 Stunden ein; nach Spiegelberg (Ibid.) war in allen (7) Fällen 1 bis 3 Stunden nach der Application die Geburt im vollen Gange und 4 bis 51 Stunden nach derselben beendet. Ueber den Verlauf des Abortus nach Dilatation des Cervix mittelst Pressschwamm berichtet Godson (Virchow’s Jahrb. 1875, II, 613) auf Grund von 20 Beobachtungen, dass die Dauer der Geburt von der Einlegung des Pressschwammes bis zur Beendigung 24 bis 96 Stunden betrage. Was die bei der criminalen Fruchtabtreibung am häufigsten geübte Methode, den Eihautstich, betrifft, so gibt Hohl an, dass 12 bis 48 Stunden nach dem Abfluss der Wässer die Wehen einzutreten pflegen und auch die Erfahrungen Tardieu’s gehen dahin, dass die Geburt in einigen Stunden und selten später als nach vier Tagen erfolgt, während Gallard (l. c. 44) den Abortus meist in fünf bis acht Tagen, in einem Falle aber schon nach 12 Stunden eintreten sah. Im Allgemeinen dürfte bei von Laien vorgenommenem Eihautstich die Entbindung früher eintreten als nach kunstgerecht eingeleitetem Abortus, da bei letzterem, wenn er in Folge ärztlicher Indication ausgeführt wird, die Wässer in der Regel nicht auf einmal, sondern indem man die Eihäute an einer höher gelegenen Stelle eröffnet, allmälig abgelassen werden.
Ueber die Zeit, binnen welcher nach Massage des Uterus oder nach heftigen Erschütterungen des Unterleibes der Abortus sich einstellen kann, lässt sich nichts Bestimmtes sagen. Wenn, wie bei der Massage, zunächst Contractionen des Uterus durch den mechanischen Eingriff hervorgerufen wurden, dann wird der Abortus in der Regel kurz nach letzterem sich einstellen, wenn jedoch, wie z. B. in Folge von heftigen Erschütterungen des Unterleibes, zunächst das Ei lädirt, resp. die Frucht getödtet wurde, dann können Tage und selbst längere Zeit vergehen, bevor die todte Frucht ausgestossen wird. Der Macerationsgrad der letzteren lässt sich dann für die Beantwortung der Frage verwerthen, wie lange Zeit seit dem Tode der Frucht verflossen ist und ob diese Zeit mit dem Zeitpunkte übereinstimmt, in welchem angeblich der betreffende Eingriff geschah.
Die Besichtigung der Frucht kann auch dann Anhaltspunkte für die Diagnose einer mit mechanischen Mitteln herbeigeführten Fruchtabtreibung ergeben, wenn sich an dieser Verletzungen zeigen, die durch das eingeführte Werkzeug erzeugt worden sind. Insbesondere [S. 251]können beim Eihautstich Stichverletzungen an vorliegenden Kindestheilen zu Stande kommen.
Tardieu fand in einem seiner Fälle eine Stichwunde in der grossen Fontanelle des abgetriebenen Fötus, welche durch den Sinus falcif. major bis in’s Gehirn eingedrungen und von Blutextravasat begleitet war. Andere Fälle dieser Art hat Lex (l. c. 267) zusammengestellt, ebenso bringt Gallard (l. c. 80 u. ff.) einen, in welchem bei der Mutter Quetschungen des Cervix und analoge Quetschungen am Kopf und am Halse des betreffenden Fötus gefunden wurden, und Liman in der siebenten Auflage seines Handb. I, pag. 267, einen weiteren, in welchem an der Leiche der Mutter ausgebreitete Zerreissungen des Cervix und tiefe Suffusionen der hinteren Gebärmutterwand mit blutiger Infiltration der linken Adnexa constatirt wurden, an der 19 Cm. langen Frucht aber eine 2 Cm. lange, scharfrandige, suffundirte Oeffnung über dem linken Hüftbeinkamm, aus welcher Dünndarmschlingen vorragten.
Gallard hat (l. c. 104 und 115, sowie Ann. d’hyg. publ. 1877, pag. 483) die Behauptung aufgestellt, dass, weil in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft das Ei fast stets en bloc abgeht, daraus, dass ein Abortus in dieser Periode in zwei Tempis erfolgte, d. h. zuerst die Frucht und dann die zerrissenen Eihüllen geboren wurden, mit grösster Wahrscheinlichkeit auf künstliche Eröffnung des Eies geschlossen werden könne. Diese Angabe ist allerdings beachtenswerth, keineswegs aber allgemein giltig. In den ersten sechs Wochen kann beim spontanen Abortus der Abgang des Eies in toto als Regel angenommen werden. Von der sechsten bis zehnten Woche scheint der Abgang en bloc und in zwei Tempi gleich häufig vorzukommen. Die Festigkeit des Eies, die Energie der Uteruscontractionen, der Widerstand des Cervix spielen dabei eine Rolle, auch ist eine nachträgliche Beschädigung des in toto abgegangenen Eies wohl möglich, desto leichter, je zarter dasselbe war. Ueberdies kann auch nach Eihautstich das Ei unversehrt abgehen, wenn nur die Decidua reflexa verletzt wurde.
Zu den mechanischen Fruchtabtreibungsmitteln müssen auch noch starke Blutentziehungen gerechnet werden, von denen insbesondere der Aderlass verhältnissmässig häufig, seltener das Setzen von Blutegeln in Anwendung gezogen wird.
Es kann nicht geleugnet werden, dass eine hochgradige, namentlich eine plötzlich erzeugte Anämie den Abortus möglicherweise zu bewirken im Stande sein wird, einestheils indem durch die Verminderung der Blutmenge der Mutter die Respiration der Frucht leidet, andererseits weil eine plötzliche Anämie der Nervencentren thatsächlich Uteruscontractionen hervorzurufen vermag, wie die Versuche von Oser und Schlesinger, sowie unsere eigenen gezeigt haben. Trotzdem wird es wohl nur ganz selten geschehen, dass durch Aderlässe etc. der Anstoss zur Fehlgeburt gegeben wird, da bei diesen die Blutentleerung kaum je so weit getrieben wird, dass dadurch entweder Lebensgefahr für die Frucht bedingt oder eine [S. 252]Reizung der Centra der Uterusbewegung gesetzt wird, wie auch trotz der Häufigkeit, in welcher Blutentziehungen zu Fruchtabtreibungszwecken in Anwendung gezogen wurden, unseres Wissens kein Fall bekannt ist, in welchem nur durch diese der Abortus hervorgerufen worden wäre. Im Gegentheil sah Moriceau bei zwei Individuen die Entbindung normal verlaufen, obgleich das eine 48mal, das andere 90mal sich während der Schwangerschaft zur Ader gelassen hatte (Gallard, pag. 23).
Nichtsdestoweniger sind diese Vorgänge von grosser forensischer Bedeutung, weil der Befund von frischen Aderlasswunden oder Blutegelstichen häufig den Verdacht bestärkt, dass die Betreffende Fruchtabtreibungsversuche unternommen habe, besonders dann, wenn solche Befunde sich an Stellen ergeben, wo, wie z. B. an den Füssen oder an den Genitalien, aus therapeutischen Zwecken selten oder gar nicht Aderlässe oder Blutegel gesetzt werden.
Durch den elektrischen Strom, namentlich den constanten, können Contractionen des Uterus hervorgerufen werden und wurde derselbe bereits wiederholt zur Einleitung der ärztlich indicirten Frühgeburt mit Erfolg angewendet, so insbesondere von Bayer (Zeitschr. für Geburtsh. und Gyn. XII und Prager med. Wochenschr. 1889, Nr. 48). Die Kathode wurde in den Cervix eingeführt, die Anode auf den Bauch oder die Kreuzbeingegend applicirt. Nach Bayer ist dieses in den meisten Fällen ein sicheres und absolut ungefährliches Mittel zur Einleitung der künstlichen Frühgeburt, womit allerdings die Erfahrungen anderer Beobachter (Fränkel, Bumm, Fleischmann, Brühl) nicht ganz übereinstimmen. In Amerika soll das Mittel zur Fruchtabtreibung nicht gar selten benützt werden. Rosenstirn (Virchow’s Jahresb. 1881, II, 562) erzählt von einer Dame, an welcher die Operation in einem „elektrischen Bade“ geschah, wo ihr ein Strom von 60 Daniell’schen Elementen 10 Minuten lang vom Kreuzbein nach dem Introitus vaginae durchgeleitet wurde. Der Abortus erfolgte am anderen Tage.
Die Folgen einer Fruchtabtreibung kommen in strafrechtlicher Beziehung insbesondere dann in Betracht, wenn die Fruchtabtreibung oder die Tödtung der Frucht im Mutterleibe ohne Wissen und Willen der Mutter bewirkt wurde, da in einem solchen Falle die etwa für die Betreffende aus der Fruchtabtreibung entstandenen schweren Nachtheile an der Gesundheit oder Gefahr am Leben die Höhe des Strafausmasses beeinflussen, und wenn durch eine solche Handlung der Tod verursacht wurde, Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren und selbst lebenslängliche Zuchthausstrafe verhängt werden kann. (Oesterr. St. G. §. 148, St. G.-Entwurf §. 227 und deutsches St. G. §. 220.)
Abgesehen von dieser eventuellen Bedeutung sind solche Folgen auch insoferne von grosser gerichtsärztlicher Wichtigkeit,[S. 253] weil durch ihren Bestand nicht blos die Diagnose des stattgefundenen Abortus, sondern auch die Erkennung der Art und Weise, in welcher derselbe eingeleitet wurde, wesentlich erleichtert wird.
Schwere Nachtheile für die Gesundheit und selbst Lebensgefahr können für die betreffende Mutter hervorgehen, sowohl aus dem Abortus als solchem, als aus den zur Einleitung desselben angewandten Mitteln.
In ersterer Beziehung sind insbesondere die heftigen Blutverluste zu erwähnen, welche so häufig den Abortus begleiten, vorzugsweise durch die unvollständige Contraction des Uterus verursacht werden, und die für sich im Stande sind, Lebensgefahr zu bedingen. Weiter gehören hierher die puerperalen entzündlichen und septischen Erkrankungen und ihre Folgezustände. Von dieser Erkrankung sagt Liman in der letzten Auflage seines Handbuches (I, 250, und Zeitschr. f. Geburtsh. XIV, Heft 1) Folgendes: „Was speciell die septischen Erkrankungen nach Abortus betrifft (Endometritis septica puerperalis und Peritonitis), so setzen dieselben voraus, dass kurz vor oder während der Geburt durch Personen oder Instrumente oder sonst nicht hinreichend gesäuberte Dinge Infectionsstoffe dem Uterus zugeführt worden sind. Eireste, macerirte Früchte können fieberhafte Zustände, Cachexien erzeugen, sie bedingen aber keine Sepsis. Man kann deshalb trotz Gallard’s (l. c. 76) gegentheiliger Behauptung aussprechen, dass ein Abortus, welcher wenige Tage später die Erscheinungen schwerer Sepsis bietet, stets den Verdacht erregt, dass dabei irgend welche Eingriffe geschehen sind, und dass er durch Einführung von Instrumenten oder sonstigen Dingen in die Genitalwege bedingt gewesen, also ein provocirter gewesen ist.“ Diese Ansicht Liman’s ist entschieden beachtenswerth, und es muss die verhältnissmässige Häufigkeit der genannten Processe nach instrumentell provocirtem Abortus, auch wenn dieser mit Verletzung der Mutter nicht verbunden war, Jedermann auffallen; trotzdem ist diese Thatsache forensisch nur schwer zu verwerthen, einestheils, weil eine scharfe Grenze zwischen „schweren“ und minder schweren Formen von Sepsis nicht besteht, und weil anderseits im concreten Falle die Möglichkeit kaum auszuschliessen sein wird, dass das septische Gift auch erst nachträglich, d. h. nachdem der Abortus bereits erfolgt war, in den wunden Uterus gekommen sein konnte, umsoweniger, als letzteres keineswegs nur durch Manipulationen, sondern auch durch unreines sonstiges Verhalten geschehen kann (vide C. v. Braun, Lehrb. d. Gyn. 1881, pag. 881).
Verhältnissmässig häufiger rühren die schweren Folgen, die nach Fruchtabtreibungen beobachtet werden, von den zur Einleitung derselben in Anwendung gebrachten Mitteln her.
Es gehören hierher zunächst die Intoxicationen, die durch manche innere Fruchtabtreibungsmittel veranlasst werden können. Da, wie wir oben auseinandergesetzt haben, viele, wenn nicht[S. 254] die meisten Mittel, welche gewöhnlich zur Fruchtabtreibung angewendet werden, heftige Gifte sind, so ist es begreiflich, wenn in solchen Fällen die Schwangeren durch die genommene Substanz häufig in Lebensgefahr gerathen, und dass, wie wir gesehen haben, viele dieser Unglücklichen ihr Wagniss mit dem Vergiftungstode bezahlen.
In den meisten Fällen hat die Vergiftung der Natur der betreffenden Substanzen zufolge einen acuten Charakter und die Genesung oder der Tod erfolgen bald nach dem Eintritte der ersten Intoxicationserscheinungen. Im ersteren Falle wäre insbesondere zu erwägen, ob die aufgetretenen Symptome solche waren, dass um das Leben der betreffenden Mutter zu fürchten war. Protrahirter Verlauf der Intoxicationen kommt selten vor, noch seltener langwierige Krankheiten oder gar bleibende gesundheitliche Nachtheile, die sich aus der Vergiftung entwickelt haben. Ist der Tod erfolgt, so wird bei der Untersuchung der Leiche nach denselben Regeln und Vorschriften vorzugehen sein, wie sie bei der Obduction Vergifteter überhaupt beobachtet werden müssen.
Am häufigsten werden schwere Folgen nach der Anwendung mechanischer Mittel beobachtet, insbesondere nach dem „Eihautstich“, wenn dieser von Laien unternommen wurde. Da nämlich diese in der Regel ohne die geringsten Kenntnisse über das anatomische Verhalten der betreffenden Organe an die Ausführung der Operation gehen, so ist es begreiflich, dass sie nicht selten, statt mit ihren mitunter ganz primitiven Werkzeugen zum Ei zu gelangen, mannigfache Verletzungen der Genitalien verursachen. Am leichtesten entstehen Perforationen des Scheidengewölbes oder des Cervix uteri. Doch sind solche auch am Fundus wiederholt beobachtet worden, und zwar auch ohne Verletzung der Frucht. Ein Uterus mit zwei lochförmigen Perforationen am Fundus wird von Kempendik (Deutsche med. Wochenschr. 1881, Nr. 5) abgebildet. Es handelte sich um einen Abortus im vierten bis fünften[S. 255] Monat, welchen die Mutter angeblich selbst (!) durch Einführung einer Gänsefeder eingeleitet haben wollte. Einen ähnlichen von uns obducirten Fall mit septischer Erweichung der Ränder der Perforationsöffnungen und consecutiver Vergrösserung der letzteren zeigt Fig. 44. Ueber fünf solche Perforationsfälle berichtet Maschka (Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. XLI, pag. 265). Ebenso hat Lesser (Ibid. XLIV, pag. 220) 11 eigene und 29 fremde Beobachtungen von Verletzungen durch criminelle Provocation des Abortus zusammengestellt und zum Theile abgebildet. In allen 35 Fällen war 23mal der Hals des Uterus oder dieser und andere Theile des Körpers und 20mal die Scheide verletzt. In den selbst beobachteten Fällen fanden sich: 6 Vaginalverletzungen, 13 Cervixverletzungen, 7mal am inneren Muttermund und 7mal am Körper. Eine Perforation des hinteren Scheidengewölbes in das perirectale Gewebe durch ein langes Ansatzrohr sah Mittenzweig (Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, X, pag. 225). Wir selbst haben ausser ähnlichen Perforationen einen Fall beobachtet, wo die hintere Blasenwand perforirt war. Die Umstände machten es wahrscheinlich, dass die Schwangere sich diese Verletzung selbst beigebracht hatte, indem sie mit ihrem Instrument statt in die Vagina in die Harnröhre gerathen war. Schwere Peritonitiden sind fast ausnahmslos die Folge einer solchen Verletzung, doch ist der Ausgang, wenn auch sehr häufig, doch nicht immer ein tödtlicher.
Graves (Virchow’s Jahrb. 1869, II, 608) berichtet von einer Frau, die sich im vierten Monate ihrer Schwangerschaft mittelst einer Stricknadel den Abort effectuirt hatte. Während desselben wurde der Abgang von Fäces und Ascariden durch den Muttermund beobachtet. Schwere Peritonitis trat ein, die jedoch nach einem halben Jahre in Genesung endete. Die Frau gebar später noch zwei lebende Kinder. — In einem Falle von Petrquin und Foltz (Ibid. 574) hatte sich eine Schwangere behufs Fruchtabtreibung durch eine Hebamme eine Uterussonde einführen lassen. Die Sonde verschwand und der Abortus erfolgte. Vier Monate darauf bildete sich eine kleine Geschwulst in der Nähe des Nabels, aus welcher durch Einschnitt die Sonde extrahirt wurde, ohne dass gefährliche Erscheinungen sich eingestellt hätten. — Ein ähnlicher Fall wird von Barwell (Med. Centralbl. 1875, pag. 400) mitgetheilt. Eine junge Dame hatte durch Einführung und Liegenlassen eines elastischen Katheters abortirt, wobei nur noch der Elfenbeinknopf des Instrumentes hatte entfernt werden können; 1½ Jahre darnach fand Barwell eine bedeutende Eiteransammlung über den Hüften, die er entleerte. Eine Woche später wurde im Douglasschen Raum der Katheter gefühlt und später von Rectum aus entfernt, nachdem er 20 Monate in der Bauchhöhle gelegen hatte. Die Genesung dauerte sechs Wochen.
Derartige Verletzungen zeigen in der Regel deutlich den Charakter von Stichverletzungen, seltener finden sich, wenn grobe Werkzeuge (Schneiderscheere, Casper) gebraucht wurden, oder wenn durch gewaltsames Einbohren der Finger in den Muttermund[S. 256] etc. die Fruchtabtreibung unternommen wurde, unregelmässige Läsionen der betreffenden Theile. Gröbere Verletzungen der Genitalien lassen sich auch während des Lebens unschwer erkennen; die Erkennung von Perforationen kann Schwierigkeiten bieten, wenn die Oeffnung in Folge ihrer Feinheit oder ihrer versteckten Lage der unmittelbaren Beobachtung sich entzieht. Das Auftreten einer heftigen Peritonitis ist für sich allein nicht beweisend, da diese auch in Folge anderer Ursachen sich einstellen kann.
Am günstigsten für die Diagnose gestalten sich die Verhältnisse, wenn der betreffende Fall letal ablief, welcher unglückliche Ausgang bei der Fruchtabtreibung durch mechanische Mittel ungemein häufig vorkommt. In 28 Fällen sah Tardieu 18mal, also in 64·2 Procenten, den Tod eintreten, und in den meisten dieser Fälle war die nächste Todesursache in den Verletzungen gelegen, welche durch eben jene Mittel gesetzt wurden. Letztere sind in der Regel so klar vorliegend, dass sich die Diagnose sofort ergibt, namentlich dann, wenn deutliche Stichöffnungen oder Stichcanäle gefunden werden, und überdies der Sitz und ihre Richtung derart sind, dass über ihre Entstehungsweise Zweifel nicht obwalten können. Doch ist zu beachten, dass die ursprüngliche Form der Perforationsöffnungen durch septische Erweichung verändert, respective unregelmässig vergrössert werden kann[209] und dass auch metrophlebitische Abscesse in das Lumen des Uterus oder in das Scheidengewölbe perforiren und die so entstandenen Löcher oder Canäle Stichwunden vorzutäuschen vermögen.
Finden sich Zerreissungen, so muss, wenn diese den Uterus betreffen, mitunter die Frage von Wichtigkeit werden, ob die Läsion künstlich erzeugt wurde oder ob eine spontane Ruptur vorliegt. Man unterscheidet bekanntlich penetrirende und nicht penetrirende oder partielle Uterusrupturen. Zu letzteren gehören zunächst die Einrisse des äusseren Muttermundes, die nach Entbindungen mit lebensfähigen Früchten so gewöhnlich sind, aber auch beim Abortus in den späteren Monaten vorkommen können. Zahl und Tiefe dieser Einrisse variirt bedeutend und wird ausser von der Grösse der Frucht auch von der Schnelligkeit der Geburt beeinflusst, insoferne, als bei raschem Verlauf und daher weniger vorbereitetem Muttermund mehr Chancen zur Entstehung von Einrissen gegeben sind als sonst. Ausgedehntere Einrisse und Quetschungen des äusseren Muttermundes und des Cervix, die, wie erwähnt, auch bei einem Abortus in den späteren Monaten vorkommen, können für Producte äusserer Gewalteinwirkung gehalten werden. Doch ist auch das Umgekehrte möglich, und es ist begreiflich, dass, wenn die Verletzungen eben nur Zerreissungen bilden, in der Regel nur der Umstand, ob dieselben der abgegangenen Frucht gegenüber als verhältnissmässig erscheinen, die[S. 257] Beantwortung der Frage ermöglichen wird, ob sie von der Entbindung allein herrühren können oder nicht.
Einrisse der Schleimhaut der Vaginalportion und des Cervix sind nach normaler Entbindung häufig und können auch bei Abortus mit einer grösseren Frucht erfolgen. Diese Risse können sich auch in die Muskelschichten erstrecken und dieselben am Cervix mit und ohne Zerreissung des Peritoneums vollständig durchdringen. Aber auch durch Einführung von Instrumenten in den schwangeren Uterus können an diesen Theilen Zerreissungen oder ihnen ähnliche Verletzungen entstehen, insbesondere am inneren Muttermunde, welcher die engste Stelle des Cervix bildet, die bei Einführung von Instrumenten in die Gebärmutterhöhle besonders überwunden und daher, wenn die Einführung forcirt wird, leicht beschädigt werden kann. Wir hatten zweimal Gelegenheit, solche, offenbar beim Eihautstich zu Stande gekommene Verletzungen an der Leiche zu sehen.
Der erste Fall betraf eine 29jährige ledige Dienstmagd, welche bereits zweimal geboren und dreimal abortirt (!) hatte. Sie war am 20. Juli zu einer Hebamme mit Kreuzschmerzen und Blutung aus den Genitalien gekommen, indem sie angab, dass sie beim Heben eines schweren Schaffes sich wehe gethan habe und wahrscheinlich abortiren werde. Die Hebamme holte am nächsten Tage einen Arzt, welcher Kreuzschmerzen und starke Blutung aus den Genitalien fand und Pulv. haemostat. verordnete. Am 22. dauerte die Blutung fort, der Muttermund war für den kleinen Finger durchgängig und der Arzt diagnosticirte beginnenden Abortus, welcher auch im Laufe desselben Tages eintrat. Abends wurde dem Arzte der abgegangene dreimonatliche Embryo gezeigt und von ihm die Nachgeburt entfernt (wir bekamen keines dieser Objecte zu Gesichte). Hierbei fühlte der Arzt im „Collum rechts eine Stelle, aus welcher die Muskelsubstanz wie herausgerissen erschien“. Da ihm dieser Befund verdächtig erschien, veranlasste er die Uebertragung der Magd in ein Spital, woselbst diese bereits mit Peritonitiserscheinungen aufgenommen wurde und am 30. Juli starb, ohne weitere Angaben gemacht zu haben. Die Obduction ergab ausser eiteriger Peritonitis und puerperalem Uterus drei bohnengrosse, so ziemlich in gleicher Höhe gelegene, je 1 Cm. von einander entfernte, trichterförmig vertiefte Verletzungen an der hinteren und seitlichen Partie des Cervix, entsprechend dem inneren Muttermunde, deren Gestalt aus der beiliegenden Abbildung zu ersehen ist. Die Ränder der betreffenden Oeffnungen waren ziemlich scharf, der Grund mit Eiter belegt, doch nicht fetzig. Alle Verletzungen dringen tief in die Muskelsubstanz ein, die mittlere bis fast unmittelbar an’s Peritoneum, so dass eine eingelegte Sonde durch letzteres durchgefühlt wird. Am äusseren Muttermund rechts hinten ein tiefer vernarbter Einriss. Frische Einrisse daselbst nicht zu bemerken, ebensowenig, ausser den beschriebenen trichterförmigen Oeffnungen, im Cervix. Dass letztere durch sondenartige Instrumente entstanden sind, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, und wir glauben und wurden [S. 258]durch Versuche, die wir an der Leiche von Multiparis anstellten, in unserer Ansicht bestärkt, dass dieselben theils durch Einbohren des Instrumentes in den oberen Cervixantheil, am ehesten aber durch Aufschlitzung des wallartig prominirenden inneren Muttermundringes erzeugt wurden. Allerdings könnte bei der Lage der Verletzungen auch daran gedacht werden, dass sie durch spontane Ruptur während des Entbindungsactes sich gebildet haben; gegen eine solche Annahme spricht jedoch einestheils die fast regelmässige Form der Verletzungen und der nahezu scharfe Rand derselben, die trichterförmige und rasche Verschmälerung des Lumens derselben, der Abgang von auffälligen Dehnungs- und Zerrungserscheinungen am übrigen Theile des Cervix, vorzugsweise aber die frühe Periode, in welcher der Abortus erfolgte (dritter Monat), in welcher von einer bedeutenden bis zu so tiefen Zerreissungen gehenden Dehnung des Cervix kaum schon die Rede sein kann. Auch kann bei dem Umstande, als der Abortus zwei Tage währte, von einem „unvorbereiteten“ Cervix nicht gesprochen werden, [S. 259]und endlich unterstützt auch die schon am 20. bestandene starke Blutung die Behauptung, dass schon damals die betreffenden Verletzungen bestanden haben.
Im zweiten Falle handelte es sich ebenfalls um eine 29jährige ledige Mehrgebärende. Dieselbe war am 18. Jänner mit ausgesprochener Peritonitis in das Krankenhaus aufgenommen worden und starb dort am 23. d. M., nachdem sie vor dem Tode ihrem Liebhaber gestanden hatte, dass sie in der sechsten Woche schwanger gewesen und dass ihr von einem Wundarzte gegen Entgelt die Frucht mit einem Instrumente abgetrieben worden sei. Sie sei viermal bei dem Arzte gewesen, das letztemal anfangs Januar. Zugleich hatte sie ihrem Liebhaber einen Brief des Wundarztes übergeben, worin sich dieser erbietet, ihr gegen ein Honorar von 50 fl. zu helfen. In einer halben Stunde sei Alles vorüber etc. Es wurde eruirt, dass das Mädchen am 13. Januar bei einer Hebamme abortirt hatte, und es gelang nachträglich noch, des von letzterer dem herbeigeholtes Arzte übergebenen, beiläufig sechswöchentlichen, 2·5 Cm. langen, noch die Bauchspalte besitzenden Embryo zu erhalten. Die Obduction ergab eiterige Peritonitis und einen dem erstbeschriebenen ähnlichen, doch in allen Dimensionen etwas grösseren Uterus, und ebenso an der hinteren Peripherie des inneren Muttermundes zwei trichterförmig vertiefte Verletzungen von auffällig ähnlichem Verhalten wie die im erstbeschriebenen Falle. Beide zeigten schlitzförmige, ziemlich scharfrandige, sagittal gestellte und einander nahezu parallele, von einander 1 Cm. entfernte Eingangsöffnungen von 7–8 Mm. Länge und einen nur wenig unebenen, mit Eiter bedeckten Grund. Die linke drang bis nahe an das Peritoneum, die rechte, etwas höher stehende auf 1 Cm. tief in die Muskelsubstanz. Dass diese Oeffnungen durch einen instrumentellen Eingriff entstanden waren, war zweifellos. Interessant war der Umstand, dass der Brief des Wundarztes vom 7. October des verflossenen Jahres datirt war, und dass somit derselbe sich nicht auf den letzten, zweifellos in der sechsten Schwangerschaftswoche erfolgten Abortus beziehen konnte, woraus folgte, dass die Betreffende damals entweder gar nicht schwanger war oder innerhalb drei Monaten zweimal abortirt hatte, was, wenn der erste Abortus auch wie der zweite sehr frühzeitig eingeleitet wurde und ohne jede Störung verlief, jedenfalls möglich war, da in diesem Falle schon in der nächsten Menstruationsperiode eine neuerliche Conception erfolgt sein konnte.
Die spontane, penetrirende Ruptur des Uterus kommt sehr selten vor und fast sämmtliche derartige Fälle betreffen solche, die erst während eines am normalen Ende der Schwangerschaft oder kurz vor demselben eingetretenen Geburtsactes sich ereignet haben[210], wobei als prädisponirendes Moment eine fehlerhafte Beschaffenheit[S. 260] der Gebärmutterwand, schwächere Stellen in derselben, Fibrome, Narben, parenchymatöse Erkrankungen u. dergl., und als veranlassende Ursachen heftige Anstrengungen des Uterus in Folge behinderter Geburt sich ergaben, Umstände, die sich in der Regel leicht ausschliessen lassen werden. In den früheren Monaten der Schwangerschaft, insbesondere in der ersten Hälfte derselben, sind spontane Rupturen noch viel seltener, obwohl sie schon im dritten und vierten und selbst eine im zweiten Monate beobachtet wurden.[211] Von diesen Rupturen sind besonders jene zu erwähnen, welche bei interstitieller Gravidität durch spontane Berstung entstehen und auf den ersten Blick für traumatisch entstandene imponiren können. (S. die Abbildung auf pag. 199.) Rupturen des Uterus ausserhalb des Geburtsactes während der Schwangerschaft werden von einzelnen Autoren geleugnet[212], doch hat Hildebrandt (Virchow’s Jahresb. 1872, pag. 669) eine solche publicirt. Auch in solchen Fällen bilden Anomalien der Uteruswand die prädisponirende Ursache, und wenn diese nicht nachweisbar ist, ist umsoweniger Grund vorhanden, an eine spontane Ruptur zu denken.
Wichtig für die Unterscheidung ist der Sitz der Ruptur. Die spontane Ruptur sitzt in der Regel im Cervix oder an der Grenze zwischen diesem und dem Uteruskörper und verläuft meist quer oder etwas schräg (Schröder), seltener longitudinal (Hohl); die künstlich erzeugten Rupturen können an verschiedenen Stellen sich finden und liegen, wenn sie durch Einführung von Instrumenten per vaginam erzeugt wurden, meistens in der verlängerten Axe des Genitalcanals, mitunter, wie Tardieu einen solchen Fall beobachtete, in der Mitte des Fundus uteri.
Ausser aus der Erwägung dieser Verhältnisse ergibt sich die Diagnose einer künstlichen Ruptur mitunter aus der gleichzeitigen Verletzung anderer Organe, insbesondere des Darms, die bei einer spontanen Ruptur nicht vorkommen kann, und die den Fall desto klarer stellt, je ausgebreiteter die betreffenden Läsionen gefunden werden.
Fruchtabtreibungen durch Einspritzungen in die Scheide sowohl als in den Uterus können ausser durch directe Verletzung durch septische Infection, durch Eindringen der Luft oder der[S. 261] Injectionsflüssigkeit in die Tuben oder die Uterusvenen, aber auch durch specifische Eigenschaften der Injectionsflüssigkeit schwere Erscheinungen und selbst den Tod veranlassen.
Es ist möglich, dass durch forcirte Injectionen Uterusrupturen entstehen können. Einen wahrscheinlich so zu deutenden Fall bringt Coutagne („Des ruptures utérines pendant la grossesse et de leurs rapports avec l’avortement criminel.“ Paris 1882. 8).
Ein 21jähriges schwangeres Mädchen (Primipara) hatte wiederholt erklärt, sich die Frucht abtreiben zu wollen, auch wenn sie daran sterben sollte. Nach verschiedenen Versuchen mit anderen Mitteln wendete sie sich an eine Hebamme, mit welcher sie 95 Fr. für die Fruchtabtreibung accordirte. Kurz nach dem zweiten Besuche bei der Hebamme wurde sie bei dieser halb angekleidet und offenbar schwer krank gefunden. Die Hebamme gab später an, das Mädchen sei gleich nach seiner Ankunft von Ohnmacht und Metrorrhagie befallen worden, weshalb sie 1 Grm. Secale cornutum gegeben habe. Ein Arzt wurde erst am nächsten Tage geholt, fand die Kranke in extremis mit Zeichen von Peritonitis, das Collum uteri halb offen, das Os internum jedoch nicht passirbar. Tags darauf trat der Tod ein. Bei der Obduction fand sich zwischen Uterus und Rectum, in Blutgerinnsel und Exsudat eingebettet, ein 15 Cm. langer Fötus sammt Adnexis. Letztere, sowie Fötus unverletzt. Der Uterus 11·5 Cm. lang, 10·5 Cm. breit, seine Wand 2·5 Cm. dick, der Grund desselben von einem die Tubarmündungen verbindenden penetrirenden Riss eingenommen, dessen Ränder gefranst und von verdünnter Muskelsubstanz gebildet erscheinen, wie wenn sie vor ihrer Trennung auseinander gezerrt worden wären, sonst normal. Das Collum halb offen, ohne Narben und ohne frische Verletzungen. Coutagne schloss wegen normaler Beschaffenheit der Uteruswand eine Spontanruptur aus, ebenso eine directe Verletzung, weil keine Beschädigung an der Frucht gefunden wurde und weil der Hebamme kaum ein so roher Eingriff zugemuthet werden kann. Dagegen hält er für wahrscheinlich, dass Injectionen gemacht wurden, welche die Ruptur erzeugt haben konnten. Auch hält er für möglich, dass sich die Ruptur aus einer partiellen Läsion entwickelt habe, da auch Spencer Wells angibt, dass, als er einmal bei einer Ovariotomie irrthümlich den schwangeren Uterus punctirt habe und in die Oeffnung den Finger einführte, ein grosser Riss entstanden sei. Coutagne bemerkt auch, dass Injectionen mit irritirenden Flüssigkeiten durch entzündliche Erweichung nachträglich, namentlich unter dem Einfluss der Wehen, zur Uterusruptur führen können und meint, dass einzelne der in der Literatur als während der Schwangerschaft durch gangränöse Entzündung entstandene Spontanrupturen angeführten Fälle in letztere Kategorie gehören dürften. Wir haben einen fast ähnlichen Fall obducirt, wo sich ausserdem eine Perforation des hinteren Scheidengewölbes ergab und auch Lacassagne (Arch. de l’anthropol. criminelle. 1889, pag. 754) berichtet über einen solchen. In beiden diesen Fällen waren ebenfalls Injectionen gemacht worden und die Betreffenden nach 12, respective 14 Tagen gestorben.
[S. 262]
L. Sentex (Ann. d’hyg. publ. 1882, Nr. 11, pag. 488) obducirte eine Person, an welcher der Abortus durch Injection von Wasser in den Uterus mittelst eines zinnernen Mutterrohres eingeleitet worden war. Gleich nach der Operation hatte die Betreffende Schmerzen in der rechten Bauchgegend verspürt, und die Obduction ergab eiterige Peritonitis und eine blos auf die rechte Seite beschränkte eiterige Salpingitis, so dass die Annahme gerechtfertigt war, dass die Peritonitis durch Eindringen der Injectionsflüssigkeit durch die rechte Tuba in die Bauchhöhle veranlasst worden ist.
Eine weitere Gefahr ergibt sich aus der Möglichkeit des Lufteintrittes in die Uterusvenen. Dies kann schon bei der aufsteigenden Scheidendouche nach Kiwisch geschehen, wobei der Wasserstrahl gegen den Muttermund gerichtet wird, da nach C. v. Braun (Lehrb. d. ges. Gynäk., 2. Aufl., 1881, pag. 716) „bei offenem Muttermunde der mit Gewalt einströmende einfache Wasserstrahl zwischen Chorion und Decidua oder zwischen dieser und der Uteruswand bis zum Gebärmuttergrunde eindringt, die Eihäute in einem sehr weiten Umfange ablöst und den Lufteintritt in die Uterusvenen begünstigt“.
Am leichtesten kann aber derselbe erfolgen, wenn die Flüssigkeit direct in den Uterus eingespritzt wird. Auf diese Gefahr wird von allen Geburtshelfern aufmerksam gemacht, und C. v. Braun (l. c. pag. 717) theilt 11 Fälle mit, in denen dadurch plötzlicher Tod veranlasst wurde, darunter einen, der ihm selbst vorgekommen ist.
Wahrscheinlich gehört auch der von Vibert (Un cas de mort déterminé par un simple cathéterisme du col utérin durant des manoeuvres abortives. Annal. d’hyg. publ. XXIV, 1890, pag. 541) mitgetheilte Fall vom plötzlichen Tode einer im vierten Monate Schwangeren hierher, welcher in dem Momente eintrat, als ihr von einer die Fruchtabtreibung gewerbsmässig ausübenden Person die Canüle eines kleinen Kautschukballons in den Cervix eingeführt, letzterer aber angeblich noch nicht comprimirt worden war. Die Obduction ergab keine nachweisbare Todesursache und Vibert frägt deshalb, ob nicht etwa Reizung des Cervix reflectorisch in ähnlicher Weise Shock herbeiführen könne wie traumatische Insulte des Bauches oder des Larynx. In der Debatte über diesen Casus wurden Fälle mitgetheilt, wo nach Clysmen oder Catheterismus des nicht schwangeren Uterus Syncope eintrat. S. auch Bonvalot, Annal. d’hyg. publ. 1892, pag. 24. Derartige plötzliche Todesfälle können auch bei ohne verbrecherische Absicht ausgeführten Ausspülungen der Genitalien erfolgen, wovon Hectoen (Virchow’s Jahresb. 1892, I, 483) Beispiele bringt.
Die Injection reinen Wassers von mässiger Temperatur ist vielleicht ungefährlich; entschieden bedenklich aber die Einspritzung von Wasser, welches Keime oder suspendirte Partikelchen enthält. Die Anwendung unreinen Wassers bei solchen Operationen wird wohl nicht zu Seltenheiten gehören; auch können[S. 263] zu diesem Zwecke verschiedene Flüssigkeiten benützt werden. So bediente sich in einem von Maschka (Gutachten, II, pag. 324) mitgetheilten Falle ein gewerbsmässiger Fruchtabtreiber (Nichtarzt!) einer grünlichen Flüssigkeit, wahrscheinlich eines Theeabsudes, zu seinen Einspritzungen, und Gallard (De l’avortement au point de vue médico-légale. Paris 1878, pag. 32) erwähnt einer Wäscherin, welche die Injectionen mit — Seifenwasser ausführte, und zwar mittelst einer für Scheidenausspülungen bestimmten zinnernen Spritze, deren gekrümmtes Ansatzrohr sie nach Wegnahme der Olive zugespitzt hatte, um dasselbe direct in den Cervix einführen zu können! Auch Schoder (l. c.) erwähnt zweier Fälle, in denen Seifenwasser angewendet wurde.
Die Anwendung antiseptischer Flüssigkeiten zu solchen Zwecken wäre begreiflich und könnte einestheils durch unmittelbares Eindringen derselben in das Blut toxische Erscheinungen oder in höheren Concentrationsgraden locale Verätzungen, respective Coagulation des Blutes bewirken.
Schliesslich kann die allzu hohe Temperatur der Injectionsflüssigkeit einerseits eine Verbrühung der Theile, andererseits eine Coagulation des Blutes in den Uterusvenen und dadurch schwere Erscheinungen und selbst den Tod bedingen. Dies ist schon bei Anwendung der heissen Scheidendouche, noch mehr aber dann möglich, wenn allzu heisses Wasser in die Gebärmutter eingespritzt wird. Kiwisch hat für seine „aufsteigende Uterusdouche“ ursprünglich eine Temperatur des Wassers von 30–35°R. empfohlen, C. v. Braun (l. c. 716) nur eine solche von 22 bis 28°R., da er fand, dass bei 30–35°R. die Scheide verbrüht werden kann. Später wurde im Gegentheil die Temperatur des Wassers absichtlich sehr heiss genommen (30–40°R.), respective empfohlen, wogegen sich aber andere Geburtshelfer ausgesprochen haben, vorzugsweise wegen der grossen Schmerzen und der entzündlichen Anschwellungen, welche darnach eintreten (v. Schröder, Lehrb. d. Geburtsh., 10. Aufl., pag. 276).
Einen gerichtlichen Fall dieser Art haben wir in Friedreich’s Blätter, 1892, pag. 1 veröffentlicht. Er betraf ein Mädchen, welches bei einer Hebamme plötzlich gestorben war. Die Obduction ergab Schwangerschaft im 3. Monat mit Placenta praevia, welche theilweise vom inneren Muttermund abgelöst war. Die untere Partie des sonst unverletzten Eies und des Uterus wie gekocht, ebenso das Blut in den unteren Uteringefässen. Embolie zahlreicher kleiner Lungenarterien. Ausgewaschene Genitalien mit leichter Trübung des Scheidenepithels. Anfangs wurde an coagulirende antiseptische Flüssigkeiten gedacht, da aber die chemische Untersuchung ein negatives Resultat ergab, blieb nur die Annahme, dass heisses Wasser, vielleicht zum Zwecke der Stillung der Blutung aus der durch eine Operation verletzten Placenta, injicirt worden war.
Oesterr. Strafgesetzbuch.
§. 134. Wer gegen einen Menschen, in der Absicht ihn zu tödten, auf eine solche Art handelt, dass daraus dessen oder eines anderen Menschen Tod erfolgte, macht sich des Verbrechens des Mordes schuldig, wenn auch dieser Erfolg nur vermöge der persönlichen Beschaffenheit des Verletzten, oder blos vermöge der zufälligen Umstände, unter welchen die Handlung verübt wurde, oder nur vermöge der zufällig hinzugekommenen Zwischenursachen eingetreten ist, insoferne diese letzteren durch die Handlung selbst veranlasst wurden.
§. 140. Wird die Handlung, wodurch ein Mensch um das Leben kommt (§. 134), zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht ausgeübt, so ist das Verbrechen ein Todschlag.
§. 143. Wenn bei einer zwischen mehreren Leuten entstandenen Schlägerei oder bei einer gegen eine oder mehrere Personen unternommenen Misshandlung Jemand getödtet wurde, so ist jeder, der ihm eine tödtliche Verletzung zugefügt hat, des Todschlages schuldig. Ist aber der Tod nur durch alle Verletzungen oder Misshandlungen zusammen verursacht worden, oder lässt sich nicht bestimmen, wer die tödtliche Verletzung zugefügt habe, so ist zwar keiner des Todschlages, wohl aber sind alle, welche an den Getödteten Hand angelegt haben, des Verbrechens der schweren körperlichen Beschädigung schuldig und zu schwerem Kerker von ein bis fünf Jahren zu verurtheilen.
§. 152. Wer gegen einen Menschen, zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht auf eine solche Art handelt, dass daraus eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens zwanzigtägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder eine schwere Verletzung desselben erfolgte, macht sich des Vergehens der schweren körperlichen Beschädigung schuldig.
§. 153. Dieses Verbrechens macht sich auch Derjenige schuldig, der seine leiblichen Eltern, oder wer einen Geistlichen, einen Zeugen oder Sachverständigen, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder wegen derselben vorsätzlich an ihrem Körper beschädigt, wenn auch die Beschädigung nicht die im §. 152 vorausgesetzte Beschaffenheit hat.
§. 154. Die Strafe des in den §§. 152 und 153 bestimmten Verbrechens ist Kerker von sechs Monaten bis zu einem Jahre, der aber bei erschwerenden Umständen bis auf fünf Jahre auszudehnen ist.
§. 155. Wenn jedoch:
a) die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist, oder auf andere Weise die Absicht, einen der im §. 152 erwähnten schweren Erfolge herbeizuführen, erwiesen wird, mag es auch nur bei dem Versuche geblieben sein; oder
b) aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens 30tägiger Dauer entstand; oder
c) die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten verbunden war; oder
d) der Angriff in verabredeter Verbindung mit Anderen oder tückischer Weise geschehen, und daraus eine der im §. 152 erwähnten Folgen entstanden ist; oder
e) die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde; — so ist auf schweren Kerker zwischen einem und fünf Jahren zu erkennen.
§. 156. Hat aber das Verbrechen:
a) für den Beschädigten den Verlust oder eine bleibende Schwächung der Sprache, des Gesichtes oder des Gehöres, den Verlust der Zeugungsfähigkeit, eines Auges, Armes oder einer Hand, oder eine andere auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung; oder
[S. 265]
b) immerwährendes Siechthum, eine unheilbare Krankheit oder eine Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung oder
c) eine immerwährende Berufsunfähigkeit des Verletzten nach sich gezogen, so ist die Strafe des schweren Kerkers zwischen fünf und zehn Jahren auszumessen.
§. 157. Wenn bei einer zwischen mehreren Leuten entstandenen Schlägerei, einem gegen eine oder mehrere Personen unternommenen Misshandlung Jemand an seinem Körper schwer beschädigt wurde (§. 152), so ist Jeder, welcher ihm eine solche Beschädigung zugefügt hat, nach Massgabe der vorstehenden §§. 154–156 zu behandeln.
Ist aber eine schwere körperliche Beschädigung nur durch das Zusammenwirken der Verletzungen oder Misshandlungen von Mehreren erfolgt, oder lässt sich nicht erweisen, wer eine solche Verletzung zugefügt habe, so sollen Alle, welche an den Misshandelten Hand angelegt haben, ebenfalls des Verbrechens der schweren körperlichen Beschädigung schuldig erkannt und mit Kerker von sechs Monaten bis zu einem Jahre bestraft werden.
§. 335. Jede Handlung oder Unterlassung, von welcher der Handelnde schon nach ihren natürlichen, für Jedermann leicht erkennbaren Folgen, oder vermöge besonders bekannt gemachter Vorschriften, oder nach seinem Stande, Amte, Berufe, Gewerbe, seiner Beschäftigung oder überhaupt nach seinen besonderen Verhältnissen einzusehen vermag, dass sie eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder körperliche Sicherheit von Menschen herbeizuführen oder zu vergrössern geeignet sei, soll, wenn hieraus eine schwere körperliche Beschädigung (§. 152) eines Menschen erfolgte, an jedem Schuldtragenden als Uebertretung mit Arrest von einem bis zu sechs Monaten, dann aber, wenn hieraus der Tod eines Menschen erfolgte, als Vergehen mit strengem Arreste von sechs Monaten bis zu einem Jahre geahndet werden.
§. 411. Vorsätzliche und die bei Raufhändeln vorkommenden körperlichen Beschädigungen sind dann, wenn sich darin keine schwerer verpönte Handlung erkennen lässt (§. 152), wenn sie aber wenigstens sichtbare Merkmale und Folgen nach sich gezogen haben, als Uebertretungen zu ahnden.
§. 412. Die Strafe der Uebertretung ist nach der Gefährlichkeit und Bösartigkeit der Handlung, nach der öfteren Wiederholung, zumal bei Raufern von Gewohnheit, nach der Grösse der Verletzung und nach der Eigenschaft der verletzten Person, Arrest von drei Tagen bis zu sechs Monaten.
Auch gehören hierher die §§. 413–421, betreffend die Misshandlungen bei häuslicher Zucht, nämlich der Eltern an ihren Kindern, der Vormünder an Mündeln, eines Gatten an dem anderen, der Erzieher und Lehrer an ihren Zöglingen und Schülern, der Lehrherren an ihren Lehrjungen und der Gesindehälter an dem Dienstvolke.
Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.
§. 219. Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, ist, wenn der Vorsatz in einer und derselben heftigen Gemüthsbewegung gefasst und ausgeführt wurde, des Todtschlages schuldig. Die Strafe des Todtschlages ist Zuchthaus von 3 bis 15 Jahren oder Gefängniss nicht unter 3 Jahren.
War der Thäter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einer ihm nahestehenden Person zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem Getödteten zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur That hingerissen worden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter einem Jahre ein.
§. 221. Ist Jemand zur Tödtung eines Menschen durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen desselben bestimmt worden, so ist auf Gefängniss nicht unter zwei Jahren zu erkennen.
§. 223. Tritt keiner der in den §§. 219–222 erwähnten Fälle ein, so ist derjenige, welcher vorsätzlich einen Menschen tödtet, des Mordes schuldig. Die Strafe des Mordes ist der Tod.
§. 228. Wer eine hilflose Person aussetzt, oder wer eine solche Person, wenn dieselbe unter seiner Obhut steht, oder wenn er für die Unterbringung, Fortschaffung oder Aufnahme derselben zu sorgen hat, in hilfloser Lage verlässt, wird mit Gefängniss nicht unter drei Monaten bestraft. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
[S. 266]
Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung der ausgesetzten oder verlassenen Person verursacht worden, so kann auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren erkannt werden. Wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, tritt Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren oder Gefängniss nicht unter zwei Jahren ein.
§. 229. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefängniss bis zu drei Jahren oder an Geld bis zu 2000 fl. bestraft. — Wenn der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war, so kann bis auf fünf Jahre Gefängniss erkannt werden.
§. 230. Wer einen Anderen misshandelt oder am Körper oder an der Gesundheit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängniss bis zu sechs Monaten oder an Geld bis zu 500 fl. bestraft.
§. 231. Die Körperverletzung wird mit Gefängniss bestraft:
1. Wenn sie eine über eine Woche anhaltende Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit zur Folge hatte oder mit besonderen Qualen verbunden war;
2. wenn sie mit Werkzeugen oder unter Umständen verübt wurde, welche Lebensgefahr begründen;
3. wenn sie an Verwandten aufsteigender Linie begangen wurde.
§. 232. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte einen Arm, eine Hand, ein Bein, einen Fuss, die Nase, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert oder in Siechthum, Lähmung oder in eine Geisteskrankheit verfällt oder eine bleibende Verunstaltung erleidet, so ist wegen schwerer Körperverletzung auf Gefängniss nicht unter einem Monate zu erkennen.
§. 233. Ist die Körperverletzung in der Absicht zugefügt worden, eine der im §. 232 bezeichneten Folgen herbeizuführen, so ist auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder Gefängniss nicht unter sechs Monaten zu erkennen.
§. 234. Hat die Körperverletzung den Tod des Verletzten zur Folge, so ist wegen tödtlicher Verletzung auf Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder auf Gefängniss nicht unter einem Jahre zu erkennen.
§. 236. Ist durch eine Schlägerei oder durch einen von Mehreren gemachten Angriff der Tod eines Menschen oder eine der in den §§. 231, Z. 1, und 232 bezeichneten Folgen verursacht worden, so ist Jeder, welcher sich an der Schlägerei oder an dem Angriff betheiligt hat, schon wegen dieser Betheiligung mit Gefängniss bis zu 3 Jahren zu bestrafen.
Die gegenwärtige Bestimmung ist nicht anwendbar auf Denjenigen: 1. welcher ohne sein Verschulden in die Schlägerei hineingezogen wurde; 2. welcher lediglich in der Absicht vorging, der Schlägerei ein Ende zu machen; 3. welchem die Körperverletzung zugefügt wurde.
Ist eine der vorbezeichneten Folgen mehreren Misshandlungen zuzuschreiben, welche dieselbe nicht einzeln, sondern nur durch ihr Zusammentreffen verursacht haben, so ist Jeder, welchem eine dieser Misshandlungen zur Last fällt, mit Gefängniss nicht unter einem Monate zu bestrafen.
§. 238. Wer durch Fahrlässigkeit einen Anderen am Körper oder an seiner Gesundheit beschädigt, wird wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Gefängniss bis zu 3 Monaten oder an Geld bis zu 500 fl. bestraft.
Hat die fahrlässige Körperverletzung eine der in den §§. 231, Z. 1, und 232 bezeichneten Folgen herbeigeführt, so ist auf Gefängniss bis zu 2 Jahren oder an Geld bis zu 1000 fl. zu erkennen. War der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet, so kann auf Gefängniss bis zu 3 Jahren erkannt werden.
§. 239. In allen Fällen der Misshandlung und Körperverletzung kann auf Verlangen des Verletzten neben der Strafe auf eine an denselben zu erlegende Geldbusse bis zum Betrage von 3000 fl. erkannt werden.
§. 240. Wegen der in den §§. 230, 231, Z. 3, und 238, Absatz 1, vorgesehenen strafbaren Handlungen wird die Verfolgung nur auf Antrag eingeleitet.
Das im §. 231, Z. 3, erwähnte Vergehen wird nur auf Antrag verfolgt.
§. 241. Die Bestimmungen des gegenwärtigen Hauptstückes finden auch Anwendung auf Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes.
[S. 267]
§. 247. Wer rechtswidrig einen Menschen gefangen hält oder auf andere Weise des Gebrauches seiner persönlichen Freiheit beraubt, wird mit Gefängniss oder an Geld bis zu 500 fl., und wenn die Freiheitsentziehung über eine Woche gedauert hat, mit Gefängniss nicht unter einem Monat bestraft.
Wenn die Freiheitsentziehung über 3 Monate gedauert hat, oder wenn eine schwere Körperverletzung des der Freiheit beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden ist, so kann auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren erkannt werden. Ist der Tod des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder Gefängniss nicht unter 3 Monaten zu erkennen.
§. 251. Auf Zuchthaus von 2–15 Jahren ist zu erkennen, wenn — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
4. bei dem Raube ein Mensch körperlich gepeinigt wurde.
§. 256. Auf Zuchthaus nicht unter 5 Jahren ist zu erkennen, wenn die Handlung eine schwere Körperverletzung oder den Tod des Verletzten zur Folge hatte.
Oesterr. bürgerliches Gesetzbuch:
§. 1325. Wer Jemanden an seinem Körper verletzt, bestreitet die Heilungskosten des Verletzten, ersetzt ihm den entgangenen, oder wenn der Beschädigte zum Erwerb unfähig wird, auch den künftig entgehenden Verdienst und bezahlt ihm auf Verlangen überdies ein den erhobenen Umständen angemessenes Schmerzensgeld.
§. 1326. Ist die verletzte Person durch die Misshandlung verunstaltet worden, so muss, zumal wenn sie weiblichen Geschlechtes ist, insoferne auf diesen Umstand Rücksicht genommen werden, als ihr besseres Fortkommen dadurch verhindert werden kann.
§. 1327. Erfolgt aus einer körperlichen Verletzung der Tod, so müssen nicht nur alle Kosten, sondern auch der hinterlassenen Frau und den Kindern des Getödteten das, was ihnen dadurch entgangen ist, ersetzt werden.
Oesterr. Strafprocessordnung:
§. 127. Wenn sich bei einem Todesfalle Verdacht gibt, dass derselbe durch ein Verbrechen oder Vergehen verursacht worden, so muss vor der Beerdigung die Leichenschau und Leichenöffnung vorgenommen werden.
Ist die Leiche bereits beerdigt, so muss sie zu diesem Behufe wieder ausgegraben werden, wenn nach den Umständen noch ein erhebliches Ergebniss davon erwartet werden kann, und nicht dringende Gefahr für die Gesundheit der Personen, welche an der Leichenschau theilnehmen müssen, vorhanden ist.
Ehe zur Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben und deren Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt hatten, ausser Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung eine genaue Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der Letztere unbekannt, so ist eine genaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt zu machen.
Bei der Leichenschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen, dass die Lage und Beschaffenheit des Leichnams, der Ort, wo, und die Kleidung, worin er gefunden wurde, genau bemerkt, sowie Alles, was nach den Umständen für die Untersuchung von Bedeutung sein könnte, sorgfältig beachtet werde. Insbesondere sind Wunden und andere Spuren erlittener Gewaltthätigkeit nach ihrer Zahl und Beschaffenheit genau zu verzeichnen, die Mittel und Werkzeuge, durch welche sie wahrscheinlich verursacht wurden, anzugeben und die etwa vorgefundenen, möglicherweise gebrauchten Werkzeuge mit den vorhandenen Verletzungen zu vergleichen.
§. 129. Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in dem vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod zunächst bewirkende Ursache gewesen und wodurch dieselbe erzeugt worden sei.
Werden Verletzungen wahrgenommen, so ist insbesondere zu erörtern:
1. ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Anderen zugefügt wurden, und falls diese Frage bejaht wird,
[S. 268]
2. ob diese Handlung
a) schon ihrer allgemeinen Natur wegen,
b) vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaffenheit oder eines besonderen Zustandes des Verletzten,
c) wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder
d) vermöge zufällig hinzugekommener, jedoch durch sie veranlasster oder aus ihr entstandener Zwischenursachen den Tod herbeigeführt habe, und ob endlich
e) der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte abgewendet werden können.
Insoferne sich das Gutachten nicht über alle für die Entscheidung erheblichen Umstände verbreitet, sind hierüber von dem Untersuchungsrichter besondere Fragen an die Sachverständigen zu richten.
§. 132. Auch bei körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des Verletzten durch zwei Sachverständige vorzunehmen, welche sich nach genauer Beschreibung der Verletzungen insbesondere auch darüber auszusprechen haben, welche von den vorhandenen Körperverletzungen oder Gesundheitsstörungen an und für sich, oder in ihrem Zusammenwirken, unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles als leichte, schwere oder lebensgefährliche anzusehen seien: welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle daraus hervorgegangen sind, sowie durch welche Mittel oder Werkzeuge, und auf welche Weise dieselben zugefügt worden seien.
Deutsches Strafgesetz:
§. 211. Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.
§. 212. Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung nicht mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Todschlages mit Zuchthaus nicht unter 5 Jahren bestraft.
§. 221. Gleichlautend mit §. 228 des österr. Entwurfes.
§. 222. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefängniss bis zu 3 Jahren bestraft.
§. 223. Wer vorsätzlich einen Anderen körperlich misshandelt oder an der Gesundheit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängniss bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 300 Thalern bestraft.
Ist die Handlung gegen Verwandte aufsteigender Linie begangen, so ist auf Gefängniss nicht unter einem Monat zu erkennen.
§. 223 a.[213] Ist die Körperverletzung mittelst einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges, oder mittelst eines hinterlistigen Ueberfalls, oder von Mehreren gemeinschaftlich, oder mittelst einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 2 Monaten ein.
§. 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass den Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in Siechthum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Gefängniss nicht unter einem Jahre zu erkennen.
§. 225. War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und eingetreten, so ist auf Zuchthaus von 2 bis 10 Jahren zu erkennen.
§. 226. Ist durch die Körperverletzung der Tod des Verletzten verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht unter 3 Jahren oder Gefängniss nicht unter 3 Jahren zu erkennen.
§. 227. Ist durch eine Schlägerei oder durch einen von Mehreren gemachten Angriff der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung (§.224) verursacht worden, so ist — — — (gleichlautend mit §. 236 des österr. Entwurfes).
§. 230. Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines Anderen verursacht, wird — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
[S. 269]
§. 239. Wer vorsätzlich und widerrechtlich einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise des Gebrauches seiner persönlichen Freiheit beraubt, wird mit Gefängniss bestraft. Wenn eine schwere Körperverletzung des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden ist, so ist auf Zuchthaus nicht unter drei Jahren (bei mildernden Umständen nicht unter 3 Monaten) zu erkennen.
§. 251. Mit Zuchthaus wird bestraft, wenn bei dem Raube ein Mensch gemartert, oder durch die gegen ihn verübte Gewalt eine schwere Körperverletzung oder der Tod desselben verursacht worden ist.
Eine gewaltsame Gesundheitsbeschädigung, beziehungsweise der Tod, kann erfolgen:
I. durch Verletzung im engeren Sinne (durch Trauma);
II. durch Entziehung der atmosphärischen Luft;
III. durch Entziehung der Nahrung;
IV. durch unverhältnissmäsig hohe oder niedrige Temperatur;
V. durch Gifte und ihnen analog wirkende Stoffe;
VI. durch psychische Insulte.
Wir reden von einer Verletzung im engeren Sinne, wenn Störungen des Zusammenhanges oder der Function gewisser Organe oder Organgewebe durch mechanische Mittel veranlasst wurden.
Derartige Verletzungen können sowohl an Lebenden, als an Leichen zur Untersuchung und Begutachtung gelangen, im letzteren Falle namentlich dann, wenn der Verdacht besteht, dass die betreffende Verletzung den Tod veranlasst habe.
In beiden Fällen ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, erstens das Werkzeug zu bestimmen, mit welchem die betreffende Verletzung zugefügt wurde, und zweitens letztere im Sinne des Strafgesetzes, beziehungsweise drittens der Strafprocessordnung zu qualificiren.
Man unterscheidet im Allgemeinen stumpfe oder stumpfkantige, scharfe, stechende und Schusswerkzeuge und diesen entsprechend 1. Verletzungen mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen, 2. Schnitt- und Hiebwunden, 3. Stichwunden und 4. Schusswunden.
1. Verletzungen mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen.
Von allen Verletzungen, die zur gerichtsärztlichen Beurtheilung gelangen, sind diese die häufigsten. Die Werkzeuge, die hierbei in Anwendung kommen, sind ungemein differenter Natur. Es gehören hierher, ausser den Extremitäten des Menschen, eventuell[S. 270] auch der Thiere (Hufe), theils gewisse, wirklich zum Angriff, respective zur Vertheidigung verfertigte Werkzeuge, wie die sogenannten „Todtschläger“ (Life preservers) und die Schlagringe der Alpenbewohner, theils Werkzeuge, die ursprünglich zu anderen Zwecken bestimmt, bei den verschiedenen Raufereien als improvisirte Waffen zum Dreinschlagen benützt werden, wie Stöcke, Stuhlbeine, Steine etc., und es ist begreiflich, dass bei solchen Gelegenheiten und überhaupt dort, wo ohne besondere Vorbereitung Thätlichkeiten verübt werden, zu allen möglichen wuchtigen und zugleich handlichen Gegenständen gegriffen wird. Stumpfe oder stumpfkantige Körper kommen ferner zur Geltung beim Ueberfahrenwerden, beim Gerathen zwischen Stossballen, beim Einsturz von Bauten, Gerüsten etc., sowie beim Sturz von einer Höhe, in welch letzterem Falle nicht, wie in den übrigen, das verletzende Werkzeug gegen das betreffende Individuum geführt worden ist, sondern, wie dies im kleineren Massstabe auch beim Hinschleudern gegen feste Gegenstände geschieht, das Umgekehrte erfolgt.
Obgleich sich die Wirkung aller stumpfen und stumpfkantigen Werkzeuge auf mehr oder minder heftige und plötzliche, mit mehr weniger starker Verschiebung des Gewebes verbundene Compression von Körpertheilen zurückführen lässt, so ist es doch bei der Mannigfaltigkeit und ganz heterogenen Beschaffenheit der Werkzeuge, die in Anwendung kommen können, insbesondere bei der so ungemein verschiedenen Grösse der ihnen zukommenden Gewalt, selbst abgesehen von einer ganzen Reihe von Umständen, die modificirend einwirken können, begreiflich, wie mannigfaltig der Effect sein wird, der durch sie am menschlichen Körper veranlasst werden kann. Doch können wir im Allgemeinen, indem wir von den geringsten ausgehen, folgende Effecte der genannten Gewalten unterscheiden: a) Hautaufschürfungen, b) Blutunterlaufungen, c) Wunden, d) Erschütterungen des centralen Nervensystems, e) Rupturen und Lageveränderungen innerer Weichtheile, f) Continuitätstrennungen und Lageveränderungen der Knochen und endlich g) Zermalmungen und Abtrennungen ganzer Körpertheile.
a) Die Hautaufschürfungen.
Hautaufschürfungen (Excoriationen) entstehen vorzugsweise durch tangentiale Wirkung stumpfer oder stumpfkantiger Werkzeuge, durch welche die Epidermis von einer Hautstelle abgeschunden und das darunter liegende Corium blossgelegt wird. Sie können entweder für sich allein oder in Begleitung anderer Verletzungen vorkommen, namentlich als Theilbefund einer und derselben Verletzung. So findet man sehr gewöhnlich die Haut über einer Sugillation oder einer schwereren Beschädigung tiefer gelegener Theile excoriirt, und ebenso gewöhnlich kann man bemerken, dass die Ränder der mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen erzeugten Wunden excoriirt erscheinen. Den Hautaufschürfungen[S. 271] als solchen kommt, da sie nur eine geringfügige, meist auf kleine Stellen der allgemeinen Decken beschränkte Läsion darstellen, eine Bedeutung im chirurgischen Sinne nicht oder nur ganz ausnahmsweise, z. B. bei Hinzutritt einer Infection, zu. Von grosser Wichtigkeit sind sie aber in forensischer Beziehung, da sie die Stelle markiren, auf welche eine Gewalt eingewirkt hatte und bei Erwägung dieser, sowie der Form und Anordnung solcher Excoriationen nicht selten mit grosser Sicherheit erkennen lassen, von welcher näheren Beschaffenheit die betreffende Gewaltthätigkeit gewesen war. Dies gilt insbesondere von den Hautaufschürfungen in der Nähe der Respirationsöffnungen und der Respirationswege am Halse, deren Bedeutung für die Diagnose gewisser Attentate nahe liegt, besonders dann, wenn sich in der Form derselben deutlich jene der Fingernägel oder eines Stranges erkennen lässt. Wir werden auf diese Befunde ausführlicher an einer anderen Stelle zurückkommen. Gleich wichtig sind die Hautaufschürfungen als Zeichen eines stattgefundenen Kampfes, beziehungsweise geleisteter Gegenwehr, deren Constatirung in vielen, sowohl Leichen als Lebende betreffenden Fällen von grosser Bedeutung sein kann.
Unmittelbar nach ihrer Zufügung bluten die Excoriationen in der Regel wenig oder gar nicht. Kommt es zur Blutung, so stammt dieselbe aus den verletzten Capillaren der Papillarspitzen. aus welchen Blutpunkte hervortreten. Bleibt das Individuum am Leben, so bedeckt sich das blossgelegte Corium schon im Laufe der ersten Stunden mit einer Schichte fibrinösen Exsudates, welches, wenn die Stelle der Luft ausgesetzt bleibt, zu einer Kruste vertrocknet, unter welcher die Heilung in der Regel binnen wenigen Tagen und ohne Narbenbildung erfolgt. Ist der Tod während oder gleich nach der Entstehung einer Excoriation erfolgt, so ist eine Blutung aus dem blossgelegten Corium noch seltener oder noch geringfügiger als im vorigen Falle, da eine der ersten Erscheinungen des eintretenden Todes das Leerwerden der Capillaren der Cutis bildet, wie sich aus dem Blasswerden der Haut erkennen lässt, das während der Agonie sich fast regelmässig, wenn auch nicht überall gleichzeitig, einzustellen pflegt. Unmittelbar nach dem Tode zeigt demnach eine derartige Hautaufschürfung, wenn sie nicht etwa an abhängigen Körperstellen liegt, gegen welche das Blut sich senkt, die Farbe des anämischen Corium und erscheint feucht. Bleibt die betreffende Stelle der Luft ausgesetzt, so beginnt sie kurz nach dem Tode einzutrocknen (an den oberen und an den unbedeckten Stellen früher, als an den abhängigen oder von Kleidungsstücken bedeckten), und schon in wenigen Stunden erscheint die Lederhaut in eine gelbbraun bis braunroth gefärbte, harte und daher schwerer zu schneidende Stelle verändert, oder wie man sich gewöhnlich auszudrücken pflegt, pergament- oder lederartig vertrocknet. Diese Vertrocknung ist eine reine Leichenerscheinung und sie kommt auch zu Stande,[S. 272] wenn die Epidermis auf andere als mechanische Weise, z. B. durch Verbrennung, Vesicans etc., abgängig gemacht wurde, und, was forensisch besonders wichtig ist, in gleicher Weise, ob die betreffende Hautaufschürfung kurz vor dem Tode oder während des Todes oder erst nach demselben, z. B. durch Wiederbelebungsversuche erzeugt wurde. Es folgt daraus, dass wir, wenn nicht Suffusionen im Unterhautgewebe sich befinden, in der Regel nicht im Stande sind, aus der Beschaffenheit einer solchen Hautvertrocknung zu entscheiden, ob die ihr zu Grunde liegende Hautaufschürfung während des Lebens entstanden ist oder nicht. Die Farbe der vertrockneten Stelle kann, entgegen der Ansicht älterer Autoren, für eine solche Entscheidung nicht verwerthet werden, da auch die Farbe postmortal erzeugter und dann vertrockneter Hautaufschürfungen die verschiedenartigsten Nuancen zeigt und überdies nicht blos der Blutgehalt der Lederhaut, der ja an der Leiche ebenfalls ein verschiedener ist, sondern auch die bereits verstrichene Zeit und der Grad der Eintrocknung die lichtere oder dunklere Farbe einer solchen Stelle bedingt. Auch der Nachweis kleiner, vertrockneter, aus den Papillarspitzen stammender Blutpunkte ist nicht absolut beweisend, da auch bei einer postmortalen Hautaufschürfung die Papillen lädirt werden, und wenn die betreffende Stelle an einer abhängigen Partie des Körpers sitzt, auch erst an der Leiche Bluttröpfchen aus den verletzten Capillaren austreten können, wie man sich durch entsprechende Versuche leicht zu überzeugen vermag.
Uebrigens sei schon hier bemerkt, dass eine ähnliche postmortale Vertrocknung, wie wir sie an der Epidermis beraubten Hautpartien eintreten sehen, auch ohne eine Ablösung der Oberhaut erfolgen kann, und zwar entweder an solchen Stellen der allgemeinen Decken, an welchen die Epidermis für gewöhnlich feuchter gehalten wird, wie z. B. am Scrotum, ferner an den freiliegenden Schleimhäuten, namentlich an den Lippen, dann aber auch an solchen Hautstellen, die einer starken Compression ausgesetzt waren, wodurch Blut und andere Feuchtigkeiten ausgedrückt und dadurch die Stelle zur Eintrocknung geeigneter gemacht wurde als die umliegende Haut, wie wir z. B. an Strangfurchen oder an durch Aufliegen oder festes Anfassen der Leiche gedrückt gewesenen Stellen beobachten können, und endlich an den Rändern verschiedener, insbesondere gequetschter Wunden, an denen die Vertrocknung ausser in Folge gewöhnlich vorhandener Hautaufschürfung auch deshalb früher sich einstellt, weil aus den durchtrennten Gewebspartien die in ihnen enthaltene Feuchtigkeit besonders leicht verdunsten kann.
b) Die Blutunterlaufungen.
Wir haben hier vorzugsweise jene im Auge, welche sich durch subcutane Quetschung des Unterhautzellgewebes oder der darunter liegenden Weichtheile zu bilden pflegen. Sie entstehen durch Zerreissung kleinerer Gefässe und consecutiven Austritt[S. 273] von Blut in das umgebende Gewebe und kommen entweder ohne weitere Verletzung oder mit solcher verbunden vor, insbesondere ganz regelmässig im Bereiche gerissener und gequetschter Wunden. Günstige Bedingungen für die Entstehung derselben sind, abgesehen von der Intensität der ausgeübten Gewalt, eine nahe unterhalb der Oberfläche der betreffenden Hautstelle liegende feste Unterlage und grössere Zerreisslichkeit der von dem Druck oder Stoss getroffenen Gewebe. In ersterer Beziehung ist es bekannt, dass namentlich dort, wo die Haut über Knochen hinwegzieht, so insbesondere am Kopfe, leichter Suffusionen entstehen als anderswo, und in letzterer Beziehung wissen wir, dass bei Kindern sich leichter Blutunterlaufungen bilden als bei Erwachsenen, und zwar häufig schon nach verhältnissmässig ganz geringen Gewalteinwirkungen. Gleiches gilt aber auch von zarten Frauen und von sehr alten Leuten, bei denen die Gefässe in und unter der Haut so zerreisslich sein können, dass schon unbedeutende Veranlassungen genügen, um Suffusionen zu erzeugen.
Die Ausdehnung der Blutunterlaufungen ist bedingt durch den Gefässreichthum der getroffenen Stelle, durch das Caliber und die Natur der betreffenden Gefässe (Verletzung arterieller Gefässe veranlasst ausgedehntere Blutaustretungen, weil das Blut unter höherem Drucke ausströmt, als aus venösen), aber auch durch die mehr oder weniger lockere und grossmaschige Beschaffenheit der Gewebsschichten, in welche der Bluterguss erfolgt. Letzterer Umstand ist der Grund, warum z. B. die Suffusionen in der Kopfhaut im Allgemeinen eine viel beschränktere Ausdehnung besitzen, als jene, die sich in dem lockeren Bindegewebe zwischen Galea und Pericranium entwickeln, und warum die Suffusionen der Augenlider und des Scrotums oder der Labien mitunter so beträchtliche Ausbreitung erreichen können.
Die häufigste äussere Form der Sugillationen ist die rundliche und sie erklärt sich daraus, dass einestheils die meisten Werkzeuge, die sie veranlassen, mit einer abgerundeten oder ebenen Oberfläche einwirken und wegen der abgerundeten Form der meisten Körpertheile mit letzteren in der Regel nur in umschriebene Berührung kommen, woraus wieder hervorgeht, dass die verschiedenartigsten Werkzeuge Sugillationen von gleicher oder ähnlicher Form hervorbringen können. In anderen Fällen trägt die Sugillation in ausgesprochener Weise die Form des Werkzeuges an sich, durch welches sie entstanden ist, wie wir z. B. an den striemigen Blutunterlaufungen sehen, die nach Stockschlägen besonders dort zurückbleiben, wo, wie am Rücken, das Instrument mit einem grösseren Theile seiner Länge mit der Körperoberfläche in Berührung kommen konnte. Ausser der Form der Blutunterlaufungen kann auch ihre Anordnung und Zahl ein Licht werfen auf ihre Entstehungsweise, ebenso die Stelle, an welcher sie sich befinden. Dies gilt wieder besonders von den streifenförmigen und meist parallel verlaufenden, in anderen Fällen wieder mannigfach[S. 274] sich kreuzenden, meist mit erythematöser Schwellung verbundenen Suffusionen (Striemen) nach Stockstreichen, vorzugsweise aber von den Suffusionen am Vorderhalse zu beiden Seiten des Kehlkopfes, die nach Würgeversuchen und wirklich erfolgtem Erwürgen zurückbleiben können und in der Regel mit den gewöhnlich gleichzeitig vorhandenen, von Fingernägeln herrührenden Hautaufschürfungen für sich allein genügen, die Art des Angriffes, beziehungsweise die Todesart in’s Klare zu stellen.
Ein in gesundheitlicher Beziehung schwerer Charakter kommt einzelnen Sugillationen als solchen selten zu, so z. B. bei ausgebreiteten subcutanen Hämatomen. Dagegen können zahlreiche Suffusionen, von denen jede einzelne vielleicht nur eine unbedeutende Verletzung bildet, in ihrem Zusammenwirken, auch abgesehen von der mit ihrer Zuführung etwa verbundenen heftigen Reizung peripherer Nervenendigungen und theils reflectorischer, theils direct durch Erschütterung bewirkter Reizung der Nervencentren, zu intensiven Reactionserscheinungen und länger dauernder Gesundheitsstörung führen, wie insbesondere nach Misshandlungen durch zahlreiche Stockschläge (Lynchen) wiederholt beobachtet worden ist.[214]
Im frischen Zustande präsentiren sich sugillirte Hautstellen als umschriebene, mitunter etwas prominirende, bläulich oder blauroth verfärbte, in der Regel etwas empfindliche Flecke, welche, wenn sie keine besondere Ausdehnung besitzen, in der Regel schon nach Ablauf von 24 Stunden in Folge der Resorption der flüssigen Theile des Extravasates sich verkleinern, abflachen und hierauf, indem sich die Farbe des Fleckes von den Rändern aus in’s Blaugraue, dann in’s Grünliche und schliesslich in’s Gelbliche verändert, nach verschieden langer Zeit vollkommen verschwinden. Die Farbenveränderung ist anfangs durch die Eindickung bedingt, später durch Umwandlung des Blutfarbstoffes theils in braunes Methämoglobin und später theils in amorphes, theils in krystallinisches Pigment (Hämatin und Hämatoidin).
An der Leiche kommt den Blutunterlaufungen ausser in den bereits bezeichneten Beziehungen, sowie überhaupt als Spuren angethaner Gewalt, beziehungsweise geleisteter Gegenwehr, eine gerichtsärztliche Bedeutung insoferne zu, als sie die wichtigsten Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage bieten, ob eine frische Verletzung während des Lebens oder erst nach dem Tode entstanden sei, eine Frage, welche wir an einer anderen Stelle näher zu besprechen gedenken. Es handelt sich bei derartigen Befunden an der Leiche immer zunächst darum, ob thatsächlich eine Blutunterlaufung vorliegt, und in dieser Beziehung hat sich der Gerichtsarzt jedesmal vor einer etwaigen Verwechslung von[S. 275] blossen äusseren sowohl als inneren Leichenhypostasen und ihren Consequenzen (der Imbibition und Transsudation blutigen Serums) mit Sugillationen sicherzustellen, eine Cautele, die leider sehr häufig versäumt wird und nachträglich zu den peinlichsten Situationen Veranlassung geben kann. Das blosse äussere Verhalten einer Hautstelle darf dem Obducenten niemals genügen, um dieselbe als eine suffundirte zu erklären, er hat vielmehr, wie es sowohl die österr. Todtenbeschau-Ordnung als das preuss. Regulativ vorschreibt, die betreffende Stelle einzuschneiden und sich zu überzeugen, ob derselben thatsächlich ein Extravasat entspricht oder nur eine Leichenfärbung zu Grunde liegt. Auch hat er nicht blos den einen oder den anderen Befund zu constatiren, sondern darf auch nicht unterlassen, denselben und den ganzen von ihm eingeschlagenen Vorgang zu Protokoll zu dictiren, um auf diese Weise nachträglichen Einwürfen im Vorhinein zu begegnen. Gleiches hat bei der Untersuchung und Constatirung tiefer liegender Blutaustretungen zu geschehen. An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass nicht blos Leichenhypostasen Sugillationen vortäuschen können, sondern auch nach dem Tode comprimirt gebliebene Hautstellen, welche theils in Folge der Compression der Haut selbst, theils in Folge des durch die Verdünnung der letzteren ermöglichten Durchschimmerns der Musculatur eine bläuliche Färbung erhalten, wie wir uns namentlich an Strangfurchen leicht überzeugen können.[215]
Schliesslich sei noch erwähnt, dass Suffusionen sowohl der Haut als innerer Organe auch ohne äussere Gewalteinwirkung entstehen können. Es gehören hierher die Ecchymosen der Haut und innerer Organe bei scorbutischen Processen[216], bei Hämophilie, aber auch nach Phosphorvergiftung, deren Bildung eine grössere, meist durch fettige Degeneration bedingte Zerreisslichkeit der peripheren Gefässe zu Grunde liegt. Eine Verwechslung dieser Ecchymosen mit traumatischen Suffusionen ist nicht unmöglich und wir haben oben eines Falles erwähnt, in welchem, offenbar als Theilerscheinung einer Phosphorvergiftung, zur Entwicklung gekommene grosse Ecchymosen unter dem Peritoneum als Producte einer Quetschung des Unterleibes aufgefasst worden sind. Derartige Verwechslungen werden sich bei genauer Erwägung des Sectionsbefundes unschwer vermeiden lassen. Auch gewisse Erythemformen, namentlich das Erythema nodosum oder contusiforme (!), können als Suffusionen imponiren, letzteres umsomehr, als es insbesondere bei jugendlichen Individuen, Säuglinge und Kinder mit inbegriffen, sich findet. Dasselbe erscheint nach Kaposi[S. 276] (Hautkrankheiten, 1880, pag. 284) in Gestalt haselnuss- bis nussgrosser, sehr schmerzhafter Beulen oder Knollen sehr acut über Nacht, zuweilen an beiden Unterschenkeln und Fussrücken, seltener an den Vorderarmen, Oberschenkeln und Nates. Die Knollen sind im Centrum blauroth, an der Peripherie rosenroth, bestehen 2 bis 3 Tage unverändert und involviren sich dann binnen 8 bis 14 Tagen, indem das lebhafte Roth in Blauroth, Gelb und Grün sich umwandelt. Die knollige Form der Eruptionen, das mitunter typische oder schubweise Auftreten derselben und die Anfangs rosenrothe Oberfläche erleichtern die differentiale Diagnose.
Würde es sich an der Leiche um Altersbestimmungen von Suffusionen handeln, so müsste ausser dem erwähnten äusseren Verhalten der betreffenden Hautstelle auch die nähere Beschaffenheit des extravasirten Blutes herangezogen werden. Je älter die Sugillation, desto eingedickter ist das betreffende Blut und desto mehr ist die ursprüngliche Farbe desselben verändert. In den ersten Tagen finden wir das Blut von theerartiger Consistenz und in dicken Schichten von fast schwarzer Farbe, während in dünnen Schichten noch die gewöhnliche Blutfarbe sich zeigt. Später wird die Farbe mehr bräunlich und weiter missfärbig mit mehr weniger deutlichem Stich in’s Rostfarbige. Die rothen Blutkörperchen sind Anfangs vollständig erhalten; mit dem Eintritt der Farbveränderung stellt sich auch der Zerfall derselben ein, ihre Zahl vermindert sich, während massenhaft contractile Zellen auftreten, die rothe Blutkörperchen in sich einschliessen, welche in ihnen zu körnigem Pigment zerfallen. Frühzeitig treten in solchen Extravasaten Hämatoidinkrystalle auf, deren Zahl in dem Grade zunimmt, als die Eindickung und Verfärbung des Extravasates vorwärts schreitet. In frischen Leichen lassen sich derartige Befunde, insbesondere die Hämatoidinkrystalle, zu approximativer Zeitrechnung allerdings verwerthen; nicht so bei der Untersuchung fauler Leichen, da sich Hämatoidinkrystalle auch in faulenden Geweben, und zwar sehr rasch, bilden können. Im Blute fauler Leichen neugeborener, besonders todtgeborener Kinder finden sich gewöhnlich massenhaft Hämatoidinkrystalle, und Virchow hat sie in abgestorbenen Amputationslappen schon am vierten, in Extravasaten schon am siebzehnten Tage gefunden.[217]
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c) Wunden.
Die Beschaffenheit von Wunden, welche durch stumpfe oder stumpfkantige Werkzeuge entstehen, hängt vorzugsweise von der Richtung ab, in welcher das Werkzeug die betreffende Oberfläche getroffen hatte. War die Richtung eine senkrechte, so entstehen einfach gequetschte Trennungen der Haut, und zwar entweder durch Platzen der Haut oder dadurch, dass das Werkzeug wirklich die Weichtheile durchdringt; wurde aber die Körperstelle schief getroffen oder gleitet das Werkzeug von der Stelle ab, so bilden sich meist Lappenwunden, indem das Instrument nicht blos die Haut durchtrennt, sondern auch von der Unterlage abreisst. Sowohl die gequetschten als die gerissenen Wunden sind in den meisten Fällen an der unregelmässigen Form, den gequetschten, aufgeschürften und vielfach gezackten und meist im weiten Umfange suffundirten Rändern, sowie an der meist unregelmässigen gequetschten Beschaffenheit der Basis zu erkennen.
Es können jedoch auch durch stumpfe oder stumpfkantige Werkzeuge mitunter lineare Trennungen der Haut entstehen, mit so ebenen und scharfen Rändern, dass sie sich äusserlich schwer oder gar nicht von Schnitt- oder Hiebwunden unterscheiden. Derartige Wunden bilden sich namentlich leichter an solchen Stellen, an welchen die Haut über eine feste, insbesondere gewölbte Unterlage hinweggespannt ist, und zwar in der Regel dadurch, dass die Haut durch die Einwirkung des Werkzeuges meist entsprechend ihrer später zu erwähnenden localen Spaltbarkeitsrichtung zum Bersten gebracht wird. Solche günstige Bedingungen, wozu noch die gleichmässige Structur des Gewebes und die geringe Verschiebbarkeit hinzukommt, sind insbesondere an der Kopfschwarte gegeben, in welcher auch thatsächlich solche Befunde am häufigsten zur Beobachtung gelangen. Gleiche Wunden können auch an über Knochenkanten verlaufenden Hautstellen entstehen. So haben wir bei einem Verschütteten eine lineare und scharfrandige Trennung der Haut längs der Kante der Tibia gesehen und in einem zweiten Falle ebenfalls bei einem Verschütteten eine 15 Cm. lange, vollkommen geradlinige und scharfrandige Wunde der Bauchhaut, welche quer über die Schambeinfuge hinwegzog, so dass der Einfluss der letzteren, sowie der horizontalen Schambeinäste unverkennbar war. Von solchen „Platzwunden“ sind jene zu unterscheiden, welche von innen aus durch eingetriebene und perforirende Kanten oder Ecken gebrochener Knochen entstehen. An den Extremitäten sind solche Befunde als complicirte Fracturen allgemein bekannt. Aber auch am Kopfe findet ein solcher Vorgang statt, indem bei grösseren Zertrümmerungen des Schädels Knochenfragmente die Schädeldecken perforiren. Hier hat diese Thatsache eine besondere Bedeutung, da erstens eine solche secundär entstandene Wunde für eine primäre gehalten werden kann, und zweitens, weil mehrfache solche Wunden auf wiederholte Gewalteinwirkung bezogen werden könnten.
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Die Unterscheidung der Platzwunden von Schnitt- oder reinen Hiebwunden ergibt sich insbesondere aus dem Verhalten des Grundes derselben. Während bei Schnitt- oder Hiebwunden die Wunde gegen den Grund zu sich keilförmig vertieft und auf diesem Wege alle Gewebe gleichmässig und in einer Ebene durchtrennt, finden wir bei durch stumpfe Werkzeuge veranlassten linearen Wunden in der Regel trotz scharfer und geradliniger Beschaffenheit der Ränder eine unregelmässig gequetschte Basis, und sind nicht selten, da die Wunde in der Regel durch Platzen der Haut entsteht, im Stande, im Grunde resistentere Gewebstheile, insbesondere Gefässe, nachzuweisen, welche von einer Seite der Wunde zur anderen brückenförmig hinweg verlaufen, ein Befund, der für sich allein genügt, die Entstehungsweise der Verletzung sicherzustellen (Fig. 46). Ebenso kann der Umfang der der Wunde entsprechenden Suffusion, der nach stumpfen Werkzeugen grösser auszufallen pflegt und die etwaige nach mehreren Richtungen sich erstreckende Ablösung der Wundränder von ihrer Unterlage zur Unterscheidung herangezogen werden. Eine blos einseitige Ablösung des einen Wundrandes kann sowohl nach stumpfen Werkzeugen als bei Hiebwunden vorkommen.
Gerissene und gequetschte Wunden heilen selten durch erste Vereinigung, ungleich häufiger auf dem Wege der Granulation und Narbenbildung. Der Grad der Quetschung der getroffenen Theile, beziehungsweise die darnach zurückgebliebene grössere oder geringere Lebensfähigkeit derselben bedingt vorzugsweise den Verlauf, und für den Eintritt sogenannter accidenteller Wundkrankheiten, wie langwieriger Eiterungen, phlegmonöser Entzündungen, Erysipele, Eitersenkungen etc. sind günstigere Bedingungen gegeben als sonst. Aus gleichem Grunde hinterlassen derartige Verletzungen selten lineare, sondern meist unregelmässige Narben, die desto grösseren Umfang besitzen, je ausgedehnter die Abstossung der necrotischen Partien und die consecutive Eiterung gewesen ist.
Eine besondere Art von Quetschungen bilden die Bisswunden. Dieselben können sowohl durch Menschen, als durch Thiere veranlasst werden. Erstere betreffen in der Regel vorspringende, mit den Zähnen leicht fassbare Körpertheile, wie die Finger und die Nase. Abbeissen der letzteren aus Eifersucht oder Rache kommt öfters zur Beobachtung.[S. 279] In einzelnen Thälern Tirols ist das Abbeissen der Ohrmuschel bei Raufereien üblich und kam uns während unseres Aufenthaltes in Innsbruck dreimal zur Begutachtung. Die Ränder solcher Wunden, beziehungsweise Abtrennungen kleinerer Körpertheile, sind vielfach sugillirt und lassen nicht selten die Abdrücke der Zähne erkennen, welcher Befund die Erkennung der Provenienz der Verletzung erleichtert.
Bisswunden durch Thiere können die verschiedensten Körpertheile betreffen, und wenn sie von grösseren Thieren, z. B. grossen Hunden, Pferden etc., herrühren, ungleich ausgedehntere Verletzungen verursachen als die Bisse der Menschen. Ein schrecklicher Fall von Zerfleischung eines 13jährigen Mädchens durch Hunde kam im Jahre 1878 zur gerichtlichen Obduction. Das Mädchen war, weil es sich eines Vergehens wegen fürchtete nach Hause zu gehen, spät am Abend über die Umzäunung eines Bauplatzes gestiegen, der von zwei grossen Fleischerhunden und einem kleinen Bastardhunde bewacht wurde, und wurde kurz darauf, nachdem wüthendes Hundegebell und Hilferuf gehört worden waren, aus zahlreichen Wunden blutend und sterbend aufgefunden. Bei der Obduction fand sich die ganze Kopfhaut vom Schädel abgerissen, die Haut der rechten Halsgegend vielfach gequetscht und stellenweise inclusive des rechten Kopfnickers und der rechten Vena jugularis externa unregelmässig eingerissen, ebenso die Haut und die oberflächlichen Muskeln am inneren oberen Theile des rechten Oberschenkels mit Verletzung der Vena saphena. Ausserdem eine Unzahl von theils unregelmässigen, theils rundlichen, stellenweise in bogenförmigen Reihen stehenden Hautaufschürfungen und kleinen Trennungen der Haut, die deutlich den Abdruck der Zähne erkennen liessen. Einzelne dieser Wunden hatten eine rundliche Eingangsöffnung und setzten sich in einen kurzen, nur die Haut durchdringenden, kegelförmig zulaufenden Canal fort. Dieselben waren offenbar durch die kegelförmigen Eckzähne der Hunde entstanden und sie boten insoferne ein Interesse, als sie ursprünglich für Stichwunden gehalten worden waren.[218]
Bei durch Thiere veranlassten Bisswunden kommt ausser der Wunde als solcher auch die Möglichkeit der Infection mit Wuthgift in Betracht. Charakteristische Sectionsbefunde gibt es bei Lyssa nicht, doch kann diese, wie zuerst Pasteur angab, durch subdurale Impfung trepanirter Thiere mit Medullatheilchen auf diese übertragen und so die Diagnose sichergestellt werden. In unserem Institute wurde von diesem werthvollen Hilfsmittel wiederholt und stets mit positivem[S. 280] Erfolge Gebrauch gemacht. A. Paltauf (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1889, LI, 312) hat darüber berichtet, sowie über Versuche, die von ihm mit Rücksicht auf die gegen die Beweiskraft solcher Impfungen erhobenen Bedenken angestellt wurden.
d) Erschütterungen wichtiger Nervencentren.
Von diesen kommt insbesondere die Hirnerschütterung, die Erschütterung des Rückenmarkes und der Bauchgeflechte in Betracht. In eine nähere Besprechung dieser gedenken wir erst bei der Behandlung der Verletzungen der einzelnen Körpertheile einzugehen.
e) Rupturen innerer Organe.
Berstungen innerer Organe können entweder durch directen Stoss oder durch Contrecoup entstehen. Ihr Zustandekommen setzt in der Regel eine grosse Gewalt voraus, und man findet sie daher am häufigsten nach Sturz von bedeutender Höhe, bei Verschütteten und Ueberfahrenen, bei Individuen, die zwischen die Stossballen von Eisenbahnwaggons gerathen sind, und nach ähnlichen intensiven Gewalteinwirkungen. Seltener genügen geringere Gewalten zur Erzeugung derselben, wie z. B. Fusstritte, Kolbenstösse, Hinschleudern auf den Boden u. dergl. Uns ist ein Fall bekannt, in dem ein Arzt eine tödtliche Ruptur der Niere sich dadurch zuzog, dass er, im schnellen Gange begriffen, seiner Kurzsichtigkeit wegen eine hölzerne Barrière übersah und gegen dieselbe mit Heftigkeit anrannte.
Vorzugsweise sind es parenchymatöse Organe, die Rupturen ausgesetzt sind und unter diesen am meisten die Leber, sowohl ihrer Grösse und Brüchigkeit, als ihrer weniger geschützten Lage wegen.[219] Nächst ihr kommen die Milz und dann die Nieren, ferner die Lungen und das Herz, seltener der Magen, die Gedärme oder die Blase, und am seltensten das Gehirn. Fälle letzterer Art, d. h. Zerreissungen der Hirnsubstanz bei intactem Schädel, haben Cooper, Adams, Casper-Liman und Zaaijer (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, XI, pag. 239) beobachtet. Im letzteren Falle hatte die Ruptur eine Länge von 13·5 Cm. und ging sagittal durch den einen Linsenkern. Centrale Rupturen des Gehirns bei Schädelbrüchen sind uns wiederholt begegnet. Selbstverständlich ist für die grössere oder geringere Leichtigkeit der Entstehung einer Ruptur unter sonst gleichen Verhältnissen auch die individuelle Resistenzfähigkeit des betreffenden Organes von Einfluss. Dies gilt insbesondere von der Milz, insoferne als das vergrösserte und namentlich[S. 281] das acut geschwellte Organ ungleich leichter und schon nach geringfügigeren Veranlassungen bersten kann, als die normale Milz.
Diese Thatsache ist namentlich in Fiebergegenden zu berücksichtigen. Pellereau (Annal. d’hyg. publ. 1882, Nr. 2, pag. 223), Polizeiarzt in Port-Louis (Insel Mauritius), einer bekannten Fiebergegend, hat von Anfang 1879 bis September 1881 13 Fälle von Milzruptur beobachtet, von denen 8 zweifellos traumatischen Ursprungs. Sämmtliche Fälle betrafen fieberkranke und mit weichen Milztumoren behaftete Männer. In zweien dieser Fälle hatte ein Stoss mit der Faust, in einem dritten ein Fusstritt die Ruptur bewirkt. In solchen Fällen kann es, was forensisch sehr wichtig ist, auch zu spontaner Ruptur der Milz kommen. In 4 der Beobachtungen von Pellereau handelte es sich zweifellos, in einer fünften wahrscheinlich um eine Spontanruptur. Ueber analoge Vorkommnisse berichtet Corre aus Guadeloupe (Arch. de l’anthrop. crim. 1889). Auch in unserem Institute ist ein Fall von Spontanruptur der Milz zur Obduction gekommen und von Schlemmer (Allg. Wr. med. Ztg. 1878, Nr. 11 u. ff.) unter Anführung von sechs anderen Fällen aus der Literatur beschrieben worden. Weitere Fälle vide Med. Centralbl. 1878, pag. 686 (Markham) und 1879, pag. 127 (Sidney Stone), sowie Maschka, Allg. Wr. med. Ztg. 1877, pag. 348 (forensischer Fall, angebliche Misshandlung; in der Milz multiple Angiome, wovon eines geborsten) und Schwing (Ueber Milztumoren während der Schwangerschaft und Geburt. Centralbl. f. Gyn. 1880, Nr. 13). Beachtenswerth ist der Umstand, dass Milzschwellungen auch bei Säuglingen, sogar bei Neugeborenen vorkommen und gelegentlich sowohl zu spontanen, als traumatischen Rupturen führen können. Birch-Hirschfeld hat einen und Steffen (Jahrb. f. Kinderheilk. XVII, 1. Heft) zwei Fälle von Ruptur der kindlichen Milz während des Geburtsactes beobachtet, und wir haben zwei Säuglinge obducirt, bei welchen sich als Todesursache innere Verblutung in Folge eines Kapselrisses der acut geschwellten und sehr blutreichen Milz ergab, müssen jedoch ausdrücklich bemerken, dass uns wiederholt Fälle vorkamen, wo, wie aus der flüssigen, leicht abspülbaren Beschaffenheit des in der Bauchhöhle gefundenen Blutes und aus dem Abgang von Verblutungserscheinungen geschlossen werden musste, die mitunter ganz unscheinbare Ruptur der sehr zarten und gespannten Kapsel offenbar erst postmortal entstanden war.
Bezüglich der Leber bestehen analoge, obgleich seltenere Erfahrungen. Chiari berichtet über eine Ruptur einer mit medullaren Knoten durchsetzten Leber, die beim Umwenden im Bette entstanden war und Heinzelmann (Friedreich’s Bl. 1886, pag. 360) über einen ähnlichen Fall im Verlaufe einer Pleuropneumonie und Pericarditis, wo die acute parenchymatöse Degeneration das die Ruptur begünstigende Moment gebildet hatte. Ebenso sah Tamassia eine Ruptur einer verfetteten und Ecchinococcusblasen enthaltenden Leber nach einem unbedeutenden Stoss eintreten. Die Ruptur sass über einer Ecchinococcusblase.
[S. 282]
Rupturen des Herzens und der grossen Gefässe oder ausgedehnte Rupturen der Lungen, der Leber und der Milz bewirken in der Regel sofortigen Tod durch Verblutung. War die Blutung wegen geringerer Ausdehnung des Risses oder wegen geringerer Bluthältigkeit des Organes nicht sofort eine profuse, oder wurde dieselbe durch besondere locale Verhältnisse verzögert, dann kann der Tod auch erst nach einiger Zeit durch innere Verblutung oder durch secundäre Processe erfolgen. Auch ist es unter Umständen möglich, dass selbst nach höhergradigen Rupturen innerer Organe die betreffenden Individuen sich noch zu erheben und weiter zu gehen vermögen.
So vermochte in einem von Zühlin[220] mitgetheilten Falle ein Individuum, welches durch Auffallen eines Balkens eine Ruptur der Milz und eine vollständige Zerreissung der linken Niere erlitten hatte, sich noch zu erheben und 20 Schritte weit zu gehen und starb erst nach 7½ Stunden, und wir haben einen 30jährigen kräftigen Eisenbahnarbeiter obducirt, welcher, vom Waggon gegen eine Wand gedrückt, sofort ohnmächtig zusammenstürzte, sich aber nach Essigwaschungen wieder erholte, auf sein eigenes Verlangen in’s Spital gebracht wurde und erst auf dem Transporte starb, obwohl, wie die Obduction ergab, eine totale Zerreissung der Milz, mehrfache Leberrupturen (wovon eine 11 Cm. lang und 1 Cm. tief), vollständige Querruptur der rechten Niere und eine Fractur der linken sechsten Rippe mit oberflächlicher Lungenverletzung bestand; ebenso einen Kutscher, der einen Hufschlag in den Bauch und dadurch eine fast vollständige Abreissung des linken vom rechten Leberlappen, sowie eine hochgradige Nierenberstung erlitten hatte, aber noch im Stande war, in den ersten Stock eines Hauses auf den Abort zu gehen, wo er erst zusammensank. Endlich sahen wir einen Fall, wo sogar eine Herzruptur erst nach 10 Stunden zum Tode führte. Der Fall betraf einen 17jährigen Pferdewärter, welcher um 9 Uhr Morgens einen Hufschlag auf die Brust erhielt und dadurch gegen eine Mauer geschleudert worden war. Ein sofort herbeigeholter Arzt fand den Burschen bewusst- und pulslos, cyanotisch, die Extremitäten kalt, unwillkürlichen Kothabgang. Trotzdem erfolgte der Tod erst um 7½ Uhr Abends. Die Obduction ergab zwei über bohnengrosse Hautvertrocknungen am unteren Ende des Sternums, drei Querfinger von einander entfernt und durch einen ½ Cm. breiten vertrockneten Streifen mit einander verbunden. Im Herzbeutel eine grosse Menge theils flüssigen, theils geronnenen Blutes. Das Herz contrahirt, an seiner Unterfläche unmittelbar unter der Einmündung der Vena cava ascendens eine über 1 Cm. lange, quere, schlitzförmige, suffundirte Oeffnung in der Herzwand, welche mit dem rechten Vorhof communicirt und gerissene Ränder besitzt. Wahrscheinlich war letztere ursprünglich[S. 283] kleiner und wurde erst nachträglich durch das sich vordrängende Blut erweitert, woraus die lange Agonie sich erklärt.
Oberflächliche Einrisse der drüsigen Organe können heilen. Namentlich gilt dies von oberflächlichen Einrissen der Leber, insbesondere jenen verhältnissmässig häufig vorkommenden, die nur das Peritoneum betreffen. Wir haben bei einem Säufer, der an einer Hämorrhagie aus einer pachymeningitischen Membran gestorben war, einen 8 Cm. langen und blos auf 0·5 Cm. in die Tiefe dringenden Riss der Leber gefunden, den sich der Betreffende zwei Tage vor seinem Tode durch einen Fall von der Treppe zugezogen hatte. Der Riss war verklebt und zeigte keine entzündlichen Reactionserscheinungen in seiner Umgebung, auch war die aus demselben ausgetretene Blutmenge eine nur sehr geringe, so dass aller Grund vorhanden war zur Annahme, dass, wenn die Hirnhämorrhagie nicht eingetreten wäre, der Leberriss wahrscheinlich geheilt haben würde. Auch Klob[221] hat über eine in Verheilung begriffene, und zwar 6–8 Cm. tiefe Leberruptur berichtet. Zwei in Heilung begriffene Milzrupturen bewahrt unser Museum. In beiden Fällen handelte es sich um Sturz von bedeutender Höhe und in beiden war der Tod durch Schädelfracturen eingetreten, in dem einen Falle nach 10, im anderen nach 11 Tagen. Mitunter beobachtet man sowohl nach Leber-, als nach Milzrupturen anämische Necrose mehr weniger ansehnlicher Partien.
Von der Ruptur des Magens und der Gedärme werden wir bei den Verletzungen des Unterleibes sprechen.
Beachtung verdient die Thatsache, dass selbst grossartige Quetschungen der inneren Organe zur Ausbildung kommen können, ohne dass Spuren der denselben zu Grunde liegenden Gewalt an den Hautdecken zurückbleiben müssen.
Wir hatten häufig Gelegenheit, die Leichen Verschütteter, von Höhen Herabgestürzter oder zwischen Puffern Erdrückter zu obduciren, bei welchen sich keine Spur einer Aufschürfung oder Sugillation der Haut bemerken liess, obgleich die innere Untersuchung vielfache Berstungen innerer Organe, Brüche sämmtlicher Rippen etc. ergab. Insbesondere ergab die Untersuchung eines 20jährigen Mädchens, welches sich vom dritten Stockwerk auf das Strassenpflaster herabgestürzt hatte und erst eine Stunde darnach gestorben war, blos eine Anfangs nicht bemerkte thalergrosse, blau verfärbte Stelle in der linken Schenkelgefässfalte, sonst aber nicht die geringste Spur einer äusseren Verletzung. Trotzdem fanden sich Rupturen der linken Lunge, der Milz und einer Niere, sowie ferner eine Fractur der Lendenwirbelsäule und eine ausgebreitete Zertrümmerung des Beckens. Die Abwesenheit äusserer Verletzungen hatte in diesem Falle Zweifel erregt, ob der Tod wirklich durch Sturz erfolgt sei, weshalb auch die Obduction veranlasst wurde.
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Derartige Befunde erklären sich aus der grösseren Resistenzfähigkeit der Haut, die ein Zerdrücktwerden der Organe durch dieselbe ebenso gestattet, wie wir z. B. einen in ein Tuch gewickelten Apfel ohne Verletzung des Tuches zerdrücken und selbst mit einem nicht allzu scharfen Messer zerschneiden können. Auch die in den meisten Fällen sofort eintretende Verblutung mag die Entwicklung von Sugillationen im Unterhautgewebe verhindern, da bei einer solchen Todesart zur Bildung der Blutunterlaufungen sowohl die Zeit als das Material fehlt.
f) Continuitätstrennungen und Lageveränderungen der Knochen.
Knochenfracturen und Luxationen sind eine häufige Folge der Gewalteinwirkung stumpfer Werkzeuge. Bezüglich ihrer forensischen Würdigung verweisen wir auf die Besprechung der Verletzung der einzelnen Körpertheile, insbesondere auf die des Kopfes und der Extremitäten.
g) Zermalmungen und Abreissung ganzer Körpertheile.
In der Regel sind es ganz enorme Gewalten, die solches bewirken. Wir beobachten sie nach Eisenbahnunglücksfällen, bei von Trains Ueberfahrenen, bei Individuen, die in Maschinen gerathen sind, u. dergl. Die grossartigsten Zerstörungen finden sich bei durch Explosion von Pulverstampfen, Dynamitfabriken etc. Verunglückten, da bei diesen die Zerreissungen des Körpers mitunter einen so hohen Grad erreichen können, dass von diesem überhaupt nur noch unkenntliche Reste aufgefunden werden, und dass es Mühe hält, die Identität solcher Individuen sicherzustellen.[222] Doch bewährt sich auch gegenüber so enormen Gewalten die grosse Resistenzfähigkeit der Haut in mitunter ganz auffallender Weise.
In einem uns mitgetheilten Falle fand sich bei einem durch Zusammenstoss von zwei Bahnzügen verunglückten Manne der ganze Kopf zu einem flachen Kuchen zusammengedrückt, sämmtliche Knochen und Weichtheile zu Brei zermalmt, die Kopf- und Gesichtshaut jedoch, bis auf einige keineswegs ausgedehnte Einrisse, unverletzt. Wir hatten wiederholt Gelegenheit, Individuen zu untersuchen, denen Bahnzüge oder schwere Wägen gerade über den Hals gegangen waren. In einigen dieser Fälle war der Kopf vollkommen vom Rumpfe getrennt worden, in andern hatte sich jedoch die stellenweise aufgeschürfte Haut als Ganzes erhalten und bildete einen schlaffen Sack, durch welchen der Kopf mit dem Rumpfe in Verbindung stand, obwohl Wirbelknochen und Weichtheile des Halses zu Brei zerquetscht waren.
Aus dieser grossen Widerstandsfähigkeit der Haut erklärt sich auch die Seltenheit von isolirten Berstungen der Körperhöhlen[S. 285] nach Sturz von einer Höhe, Verschüttetwerden und ähnlichen Gewalten.
Wir haben dieselben erst dreimal beobachtet, und zwar einmal bei einem durch eine Erdmasse Verschütteten, bei welchem die Bauchhaut ihrer ganzen Breite nach aufgeplatzt war und die Gedärme sich vorgedrängt hatten, ein anderesmal bei einer geisteskranken Frau, die sich vom dritten Stockwerke auf das Strassenpflaster herabgestürzt hatte und offenbar senkrecht auf den Kopf gefallen war. Letzterer fand sich in sagittaler und vollkommen medianer Richtung so auffallend geborsten, dass der erste Eindruck ein solcher war, wie wenn der Kopf durch einen Schwerthieb in zwei seitliche Hälften gespalten worden wäre, umsomehr, als die mitten durch Stirn, Nase und Oberlippe geborstene Gesichtshaut und ebenso der vordere Theil der geborstenen Kopfhaut blos feingezackte Ränder zeigten. Die Ränder des hinteren Theiles der Berstung waren vielfach eingerissen, der Schädel in zahllose Stücke zertrümmert, und vom Gehirne waren nur noch unbedeutende Reste vorhanden. Der dritte Fall betraf eine Taglöhnerin, welche von einem 19 Klafter hohen Gerüste herabgestürzt war. Es fand sich nebst Zertrümmerung des Schädels und mehrfachen Fracturen der Extremitäten eine sagittale Berstung der Haut von der Mitte der Lendenwirbelsäule bis zum After, aus welcher das vielfach ecchymosirte und geborstene ganze Jejunum, ein Theil der S-förmigen Schlinge, das der Länge nach gebrochene Kreuzbein und — der Uterus in Form eines mannskopfgrossen Klumpens hervorragten. Auch in diesen Fällen ist es möglich, dass es sich weniger um eigentliche Berstungen der allgemeinen Decken, sondern nur um ein Einreissen derselben von Innen aus durch scharfe Knochenkanten handelte.
2. Schnitt- und Hiebwunden.
Reine Schnittwunden charakterisiren sich durch ihren meist geradlinigen Verlauf, durch scharfe, nicht gezackte Ränder, durch die meist bedeutend die übrigen Dimensionen der Wunde übertreffende Länge und das gegen die Tiefe keilförmig sich verschmälernde Querprofil der durch sie veranlassten Gewebstrennung.
Der geradlinige Verlauf kann fehlen bei Schnittwunden, die über gewölbte Körpertheile hinweggeführt wurden, die Beschaffenheit der Wundränder aber kann modificirt werden durch die Beschaffenheit des Werkzeuges. War z. B. das betreffende Messer stumpf oder gar schartig, so können die Ränder einer damit erzeugten Wunde mehr weniger gezackt, unter Umständen selbst eingerissen ausfallen. Eine gezackte Beschaffenheit der Wundränder kann sich auch bilden, wenn der Schnitt über Hautfalten schief hinweggegangen ist. Man erhält in diesem Falle, wenn man die Falte wieder ausgleicht, eine Z-förmige Trennung der Haut, die, wenn man die Ränder nicht zusammenfügt, respective die entstandenen Zipfel nicht richtig zusammenlegt, zwei und selbst drei Wunden vortäuschen kann, ein Verhalten, welches[S. 286] namentlich bei Schnittwunden am Halse zu berücksichtigen sein wird. Auch kann bei der Schnittführung das Faltenthal übersprungen werden, so dass durch einen Schnitt zwei, eventuell mehrere Wunden entstehen.
Wurde der Schnitt senkrecht auf die betreffende Stelle geführt, so sind die inneren Flächen der Schnittwunde von gleichmässiger Beschaffenheit; traf aber der Schnitt schief, dann erscheint der eine Wundrand abgeschrägt, der andere zugeschärft und der zugeschärfte Wundrand wird desto spitzwinkliger ausfallen, je schiefer der Schnitt geführt worden ist; auch kann derselbe bei flacher Führung der Klinge einen förmlichen Lappen bilden. Vorragende, insbesondere kleine Körpertheile, wie z. B. Nase, Fingerglieder, können vollkommen abgeschnitten werden und die Schnittwunde präsentirt dann eine mehr weniger ebene Fläche mit scharfen Rändern.
Die Tiefe einer Schnittwunde wird ausser durch die bei der Schnittführung angewandte Kraft und die Schärfe des Instrumentes auch durch die gegebene Möglichkeit des Eindringens bedingt. Häufig vereiteln Knochen ein tieferes Eindringen und ebenso nicht selten am Halse, wo verhältnissmässig am häufigsten und die tiefsten Schnittwunden vorkommen, der verknöcherte Kehlkopf. Grössere Körperhöhlen eröffnende Schnittwunden sind selten, häufiger solche, die in Gelenkshöhlen eingedrungen sind.
Der Grad, in welchem Schnittwunden klaffen, hängt von der Retractibilität der betreffenden Hautpartie ab, beziehungsweise von der Richtung der Fasern des Hautgewebes und von der Richtung, in welcher diese getrennt wurden. So klaffen z. B. Schnittwunden der Kopfhaut fast gar nicht, wohl aber, wenn sie auch die Galea durchtrennt haben. Nicht unberücksichtigt darf gelassen werden, dass auch die gestreckte oder gebeugte Stellung des verletzten Körpertheiles ein grösseres oder geringeres Klaffen einer Schnittwunde bewirken kann. Dies gilt insbesondere von Wunden des Vorderhalses und der Gelenksbeugen.
Die Bedeutung der Schnittwunden hängt vorzugsweise von ihrer Tiefe ab. Blossen Hautwunden kommt nur ausnahmsweise eine besondere Bedeutung zu. Die Heilung erfolgt in der Regel, wenn die Wunde nicht vernachlässigt wurde, per primam, mit Hinterlassung einer feinen linearen Narbe, deren geradliniger Verlauf und Verschiebbarkeit ihre Provenienz leicht erkennen lässt. Tiefe Schnittwunden werden insbesondere durch Verletzung grösserer Gefässe gefährlich, beziehungsweise tödtlich, und wir erinnern in dieser Beziehung namentlich an die Schnittwunden am Halse, durch welche häufig Selbstmord, nicht selten aber auch Mord verübt zu werden pflegt. Ausserdem veranlassen tiefere Schnittwunden mitunter langwierige oder bleibende Functionsstörungen, und können namentlich am Halse Sprachstörungen und an den Extremitäten eine Behinderung oder vollständige Aufhebung der Brauchbarkeit der betreffenden Extremität zur Folge haben.
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Hiebwunden werden ebenfalls durch mit einer Schneide versehene Werkzeuge zugefügt; während jedoch die Schnittwunden durch ziehenden Gebrauch des einem Körpertheil aufgesetzten schneidenden Werkzeuges entstehen, geschieht die Zufügung einer Hiebwunde in der Regel in einer gegen das Organ senkrechten Richtung. Schon diese Art der Anwendung, die gewöhnlich mit grosser Kraft erfolgt, noch mehr aber die Wucht der betreffenden Instrumente haben zur Folge, dass sich die Hiebwunden von den Schnittwunden schon durch eine verhältnissmässig grössere Tiefe unterscheiden, und dass, während Schnittwunden in der Regel durch Knochen u. dergl aufgehalten werden, Hiebwunden häufig dieselben durchdringen und eben dadurch einen viel gefährlicheren Charakter erhalten, als derselbe durchschnittlich den Schnittwunden zukommt.
Das äussere Verhalten einer Hiebwunde hängt zunächst von der Richtung ab, in welcher der Hieb geführt wurde. War dieselbe eine gegen das Organ senkrechte, so entstehen lineare, gleichmässig keilförmig gegen die Tiefe sich verjüngende Wunden; wird das Organ schief getroffen, so bilden sich mehr weniger stark abgeschrägte Lappen, die selbst vollständig durch den Hieb abgetragen werden können. Die Reinheit der Hiebwunde hängt von der Schärfe der Schneide ab und von der geringeren oder stärkeren Dicke des Keiles, der in die Schneide ausläuft, ausserdem aber auch von der Wucht der Waffe. Scharfe leichte Säbel erzeugen viel reinere Hiebwunden, als z. B. ein Beil. Namentlich sind Hiebwunden mit letzterem oder einem ihm ähnlichen Werkzeuge in der Regel mit Quetschung der Wundränder und mit Knochenbrüchen, sowie mit Absprengung und Depression von Splittern verbunden, welche sich allerdings meist von einer spaltförmigen Durchtrennung der Knochen verfolgen lassen. Bei Knochenwunden, die durch scharfe und nicht besonders wuchtige Werkzeuge, wie z. B. durch leichte Säbel, erzeugt wurden, ist Splitterung des verletzten Knochens seltener zu beobachten. Dagegen sind Splitterungen der Glastafel auch in diesem Falle sehr gewöhnlich.
Eine Hiebwunde des Knochens klafft desto mehr, unter je weniger spitzem Winkel die Seitenflächen der Hiebwaffe zur Schneide zusammenliefen. Je dicker aber der schneidige Keil, desto mehr treibt er die Knochenränder auseinander und desto leichter kommt es zu Absprengungen derselben oder zu einer Fortsetzung der Enden der Hiebspalten in einen Knochenriss. Fig. 47 zeigt ein Schädeldach mit zwei mittelst eines sogenannten Faschinenmessers[S. 288] erzeugten Hiebwunden, wovon die eine den rechten Scheitelbeinhöcker abgetragen hatte, die andere einen typischen Spalt darstellt, von dessen vorderem Ende ein Knochenriss abgeht.
Bei der Beurtheilung von Hiebwunden ist nicht blos die Qualität der getroffenen Theile, sowie der Umstand, ob sie etwa in Körperhöhlen penetriren, zu berücksichtigen, sondern auch die Wucht der Waffe und deren Einfluss. Insbesondere hat dieses bei Kopfhiebwunden zu geschehen, da bei diesen, wenn sie durch wuchtige Werkzeuge, z. B. durch ein Beil, erzeugt wurden, zu der aus der Trennung der Theile durch die Schneide des Instrumentes resultirenden Gefahr sich auch jene hinzugesellt, die durch die Erschütterung des Gehirns bewirkt worden ist.
3. Stichwunden.
Stichwunden entstehen durch spitzige, im Verhältniss zu ihrer Länge schmale Werkzeuge, welche in der Richtung ihrer Längsachse eingestossen wurden. Es sind vorzugsweise messerartige, einschneidige Werkzeuge, die in Betracht kommen, meistens gewöhnliche Taschenmesser, seltener dolchartige zwei- oder mehrschneidige oder konische Instrumente.[223]
An typischen Stichwunden lässt sich eine Eingangsöffnung und ein von dieser in die Tiefe sich fortsetzender Stichcanal unterscheiden.
Die Form der Eingangsöffnung in der Haut entspricht nur selten der Form des Querschnittes des betreffenden Werkzeuges. Dies ist eigentlich nur bei zweischneidigen Instrumenten der Fall, da bei letzteren in der That die schlitzförmige, beiderseits in einen spitzen Winkel auslaufende Gestalt der Stichöffnung der Form des Querschnittes der Stichwaffe gleicht. Man würde jedoch sehr irren, wenn man aus einer solchen Form der Eingangsöffnung schliessen wollte, dass das betreffende Werkzeug ein zweischneidiges gewesen war, da auch nach Stichen mit gewöhnlichen, also einschneidigen Taschenmessern oder solchen mit konischen und selbst nach jenen mit gewissen kantigen Instrumenten gerade solche schlitzförmige und an beiden Enden gleiche spitze Winkel bildende Eingangsöffnungen entstehen, wie sie mit zweischneidigen Stichwaffen zu[S. 289] Stande kommen. Am auffälligsten ist die Sache bei conischen Instrumenten. Bereits Dupuytren und Malgaigne hatten darauf aufmerksam gemacht, dass mit solchen Werkzeugen nicht, wie man erwarten sollte, rundliche, sondern schlitzförmige Trennungen der Haut entstehen und Filhos (Briand et Chaudé, Manuel de médecine légale. 1879, I, 473) hatte schon 1833 constatirt, dass diese Schlitze an verschiedenen Körperstellen eine verschiedene Richtung besitzen. Langer („Ueber die Spaltbarkeit der[S. 290] Cutis.“ Sitzungsber. der mathem.-naturw. Classe der kais. Akademie der Wissenschaften. 1861, XLIV) verfolgte dieses Verhalten weiter und fand reguläre Spaltbarkeit, indem er constatirte, dass die mit einem conischen Dorn erzeugten Stichöffnungen nicht blos immer spitzwinklige Schlitze darstellten, sondern dass die Längsachse dieser Schlitze an bestimmten Körperstellen immer eine bestimmte Richtung zeigte, so dass, wenn die gesammte Haut zerstochen wurde, regelmässige Figuren sich ergaben, die unverkennbar als der Ausdruck der regelmässigen Faserung und davon herrührenden regulären Spaltbarkeit der Haut genommen werden müssen (Fig. 48).
Die Form der durch conische Werkzeuge bewirkten Hautspalten ist ganz gleich derjenigen, wie sie nach Stichen mit messerartigen Instrumenten gewöhnlich zu Stande kommen, nämlich ein Schlitz mit scharfen, bogenförmig auseinanderweichenden und beiderseits zu einem spitzen Winkel zusammenlaufenden Rändern. Die Länge der Spalten ist proportional der Dicke des Instrumentes, so dass man, wenn sehr dicke Werkzeuge zur Anwendung kamen, selbst mehrere Centimeter lange Wundspalten erhalten kann, die dann eben ihrer Länge wegen noch leichter für Messerstiche gehalten werden können (Fig. 49).
Auch nach Stichen mit einschneidigen Instrumenten, insbesondere mit gewöhnlichen Taschenmessern, zeigt die Stichöffnung nur ausnahmsweise die Gestalt eines schmalen Keils, dessen Rücken jenem des Messers entspricht, sondern fast regelmässig die eines Schlitzes, indem die Wundränder in flachem Bogen auseinander treten und an beiden Enden spitzwinklig zusammenlaufen (Fig. 50). Die Ursache dieser Erscheinung liegt einfach in der Thatsache, dass die betreffende Stichöffnung nur von der Schneide des Messers erzeugt wird, so dass sie eigentlich nur eine Schnittwunde darstellt. Man kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn man sich an der Leiche eine Linie zieht und nun mit einem Messer in der Weise zusticht, dass die Spitze des Messers jene Linie trifft und die Schneide rechts oder links von dieser liegt. Man sieht dann, dass das eine Ende des erzeugten Wundschlitzes stets in die betreffende Linie fällt, der Wundspalt aber stets auf jene Seite, gegen welche die Schneide gekehrt gewesen war. Es folgt daraus, dass es in der Regel ganz unmöglich ist, aus der Hautwunde allein zu erkennen, wohin der Rücken und wohin die Schneide[S. 291] des Messers gekehrt gewesen war. Bei manchen Taschenmessern, z. B. bei den von Raufern besonders häufig gebrauchten „stellbaren“ Messern, hat auch der Rücken der Klinge schneidige Kanten. Das Instrument wirkt dann wie ein dreikantiges und erzeugt pfeilspitzenförmige Eingangsöffnungen, indem auch die Rückenkanten die Haut etwas einschneiden (Fig. 51).
Bei kantigen Werkzeugen, wie z. B. Stiletten, Feilen, gewissen Bajonetten, ist die Form der Stichöffnung und der Haut wesentlich bedingt durch die Beschaffenheit der Kanten. Sind dieselben schneidig, so wird die Haut durch das senkrecht eingestochene Instrument nach so vielen Richtungen aufgeschlitzt,[S. 292] als Schneiden vorhanden sind, und es entstehen daher im Allgemeinen sternförmige Wunden, an welchen die Zahl der Strahlen der Zahl der schneidenden Kanten entspricht (Fig. 52). Man überzeugt sich jedoch bei Versuchen leicht, dass auch bei scharfkantigen Stichwaffen dem geschilderten Verhalten gewisse Grenzen gesetzt sind, und zwar durch die Zahl der Kanten. Da nämlich mit der Zahl der Kanten die Schneidigkeit derselben abnimmt, weil die Winkel, unter welchen die Seitenflächen zur Schneide zusammenlaufen, wenn erstere nicht etwa gekehlt sind, immer stumpfer werden, so wird das Aufschlitzen der Haut durch die einzelnen Schneiden immer undeutlicher und hört schliesslich ganz auf, so dass vielkantige Stichwaffen schliesslich nicht mehr schneiden, sondern nur die Hautfasern in der Spaltbarkeitsrichtung auseinanderdrängen, d. h. in gleicher Weise einfache Schlitze erzeugen, wie dieses bei conischen Instrumenten der Fall ist (Fig. 53). Hatte das Instrument stumpfe oder abgerundete Kanten, dann wirkt dasselbe schon bei geringer Zahl der Kanten nur wie ein conisches Werkzeug, d. h. erzeugt einen einfachen Schlitz, doch kann man häufig aus Einkerbungen und Eindrücken der Ränder des letzteren nachträglich erkennen, dass ein mehrkantiges Werkzeug eingewirkt habe.
Von dem erwähnten typischen Verhalten der Form der Eingangsöffnungen kommen Abweichungen vor. So bei conischen Instrumenten insoferne, als an jenen Hautstellen, welche zwischen zusammenstossenden Systemen von Spaltbarkeitscurven der Haut meist als parabolische Dreiecke der Haut (Wirbel) zurückbleiben, nicht einfache Schlitze, sondern dreieckige oder pfeilspitzenförmige Wunden entstehen (Fig. 48).
Auch Messerstiche zeigen nicht immer die einfache Schlitzform. Nicht selten erscheinen sie winklig, was wohl dadurch geschieht, dass beim Herausziehen des Messers die Haut in einer anderen Richtung als der ursprünglichen aufgeschlitzt wird, wovon wieder die Ursache entweder in einer unmerklichen Wendung des Messers oder in einer Verschiebung oder Retraction der Haut selbst gelegen ist. Ebenso kann sich eine zickzackförmige Eingangsöffnung[S. 293] bilden, wenn der Stich eine Hautfalte schief getroffen hat. Fig. 54 zeigt diese beiden Formen.
Die Länge der Wundspalte entspricht nicht immer der Breite der Stichwaffe an der Stelle, bis zu welcher sie eingestochen wurde. Bei conischen, schmalen Instrumenten ist sie in der Regel etwas grösser, bei dicken dagegen mitunter bedeutend kleiner, weil die Spaltbarkeit der Haut gewisse Grenzen hat und beim Einstich eine Dehnung des ursprünglich gesetzten Wundspaltes stattfindet.
Mit Messern erhält man nur bei vorsichtigem Einstechen und Ausziehen derselben Schlitze, die in ihrer Länge der Breite der Klinge an der Stelle, bis zu welcher sie eingestochen wurde, entsprechen. Meist ist der Wundspalt länger, indem beim Ein- oder Ausstechen derselbe weiter aufgeschlitzt wurde. Unter Umständen können auf diese Weise colossale Wunden, respective Aufschlitzungen erfolgen.
Forensisch wichtig ist aber die Thatsache, dass auch bei messerartigen Instrumenten die Stichöffnung mitunter kürzer ausfallen kann, als die Breite des Messers. Häufig liegt nur eine Täuschung vor und die Kürze des Wundschlitzes ist blos bedingt durch die Retraction der, besonders in der Mitte, auseinander weichenden Ränder, daher solche Schlitze niemals im klaffenden Zustand, sondern nach Aneinanderlegung der Ränder gemessen werden dürfen. Unter Umständen kann jedoch der Schlitz absolut, und zwar mitunter um ein Beträchtliches kürzer ausfallen, und[S. 294] zwar dann, wenn das Messer eine stumpfe Schneide besass. Dies wird verständlich, wenn wir uns erinnern, dass jede typische Stichwunde eigentlich eine Schnittwunde ist, welche durch die Schneide des Messers entsteht, und dass diese normale Wirkung eines Messers desto weniger zur Geltung kommen und schliesslich ganz entfallen muss, je stumpfer die Schneide sich gestaltet. Das Instrument dehnt dann den durch die Spitze gemachten Wundschlitz einfach aus, wobei sich die Haut trichterförmig einstülpt und nach Ausziehung des Messers wieder retrahirt. Bei den plumpkantigen, messerartigen und zugleich breiten Instrumenten, z. B. bei einem ungeschliffenen sogenannten Haubajonet, ist das Missverhältniss zwischen Länge des Schlitzes und Breite der Klinge am auffälligsten, und wenn die Kante bis zur Spitze stumpf ist, so wirkt auch ein solches messerartiges Instrument schliesslich nur wie ein conisches, indem es nämlich die Haut nur in der localen Spaltbarkeitsrichtung auseinander treibt, und es kann dann geschehen, dass der erzeugte Schlitz eine ganz andere Richtung hat, als die Breite des Messers, wenn nämlich die Klinge nicht parallel mit der localen Spaltbarkeitsrichtung, sondern schief oder quer auf diese aufgesetzt worden war. Im letzteren Falle kommen entsprechende, von den Kanten des Messers herrührende Eindrücke an den Rändern des Wundschlitzes zu Stande.[224]
Der Einfluss der Retraction der durchtrennten Haut auf die Form einer Stichöffnung muss immer im Auge behalten werden. Eine stärkere Verziehung der Wunde durch dieselbe kann insbesondere dort stattfinden, wo die Haut über ihrer Unterlage leichter verschiebbar ist. Auch die Richtung, in welcher die Faserzüge einer Hautstelle durch einen Stich durchtrennt wurden, ist von Einfluss, weshalb Stichwunden, welche auf der Längsachse einer Extremität senkrecht stehen, im Allgemeinen mehr klaffen werden als die, welche mit ihr parallel verlaufen. Eine Verziehung kann auch dort vorkommen, wo die Haut, wie z. B. über Gelenken oder am Halse, durch Bewegungen dieser Theile verschoben wird. Dass durch den Heilungsvorgang, Eiterung etc. die ursprüngliche Form einer Stichöffnung vielfach verändert werden kann, bedarf keiner weiteren Besprechung.
Ungleich einfacher gestalten sich Stichöffnungen in Knochen, besonders am Schädel, wo Stiche verhältnissmässig häufig vorkommen. Hier entspricht die Form der Stichöffnung wegen der Plasticität, die das Knochengewebe bis zu einem gewissen Grade besitzt, in der Regel genau jener des Querschnittes des gebrauchten Instrumentes, so dass man in der Regel leicht entscheiden kann, nicht blos ob der Stich mit einem Messer, oder conischen, oder kantigen Werkzeug beigebracht wurde, und wohin bei Messern die Schneide gerichtet war, sondern auch mitunter, welches von[S. 295] zwei oder mehreren vorgewiesenen Messern etc. die Verletzung bewirkt haben konnte. Aus Anlass eines Falles von Todtschlag durch Stich in die linke Schläfe hatten wir nachträglich die Frage zu beantworten, ob das verletzende Werkzeug ein Taschenmesser oder die spitze Branche einer Schneiderscheere gewesen sei. Ein einfacher Vergleich der Form der Stichöffnung in der aufbewahrten Schläfeschuppe mit den vorgelegten Werkzeugen genügte, um die Möglichkeit, dass die Scheere diese Oeffnung erzeugt haben konnte, vollkommen auszuschliessen. In dem pag. 288 erwähnten Fall von Mord durch einen grossen Bilderhaken fanden sich regelmässige viereckige Oeffnungen im Schädel, in welche der Haken vollkommen genau hineinpasste. Bei Stichwunden am Schädel (auch bei Messerstichen) sind Absprengungen der Glastafel sehr gewöhnlich und solche der äusseren Tafel nicht selten. Weniger häufig setzen sich die Enden des Wundspaltes in Knochenrisse fort, wovon Fig. 55 ein exquisites Beispiel liefert, bezüglich dessen näherer Besprechung wir auf das Capitel „Hirnsubstanz auf Werkzeugen“ verweisen.
Was die Stichöffnungen in den Weichtheilen anbelangt, so gestalten sich dieselben im Allgemeinen in gleicher Weise, wie in der Haut. Auch hier hängt die Beschaffenheit der Stichöffnung von dem Umstande ab, ob die Stichwaffe eine schneidende war oder nicht. Im ersteren Falle treffen wir bei ein- und zweischneidigen Waffen scharfrandige Schlitze, bei mehrschneiden sternförmige Wunden, deren Strahlenzahl die Zahl der Schneiden erkennen lässt. War das Instrument ein conisches oder stumpfkantiges, wenn auch vielleicht messerartig geformtes, so drängt es die Fasern des getroffenen Gewebes einfach, entsprechend der localen Spaltbarkeitseinrichtung des letzteren, auseinander. Da nun die Spaltbarkeitsrichtung in den heterogenen Geweben eine verschiedene ist, so kommt die interessante Erscheinung zu Tage, dass durch einen und denselben Stich Schlitze zu Stande kommen, die, ohne dass etwa eine Verschiebung stattgefunden hätte, nicht blos in der Haut eine andere Richtung haben als in den inneren Organen, sondern auch in den verschiedenen Stratis der letzteren verschieden gestellt sind, ja sogar sich unter einem rechten Winkel kreuzen können. So erzeugt z. B. ein mit einem conischen Instrument[S. 296] bewirkter penetrirender Stich der Magenwand im Peritonealüberzug einen Schlitz, dessen Längsachse parallel zu den Curvaturen verläuft, in der Muscularis einen anderen, der meist quer auf dem erstgenannten steht und endlich in der Schleimhaut einen dritten, der wieder eine andere Richtung besitzt.
Inwiefern diese von Katayama (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVI) weiter verfolgte Thatsache für die Erkennung der Natur des verletzenden Werkzeuges benützt werden kann, liegt auf der Hand, und wir hatten unter Anderem Gelegenheit, sie in folgendem Fall zu verwerthen: Ein geisteskranker Optiker hatte seine Frau erstochen, war dann verschwunden und wurde erst einige Tage darnach als Leiche aus der Donau gezogen. Bei der Obduction der Frau fanden sich drei schlitzförmige Stichwunden von 10–12 Mm. Länge. Die eine am inneren Rande des oberen Antheils des rechten Kopfnickers parallel mit diesem, die zwei anderen am inneren Ende der linken Clavicula, beide mit der Längsachse der letzteren gleichlaufend. Die erste war in die Carotis interna eingedrungen und hatte dieselbe innerhalb ihrer partiell erhaltenen Scheide vollkommen quer durchtrennt, unter den zwei anderen fand sich eine vollkommen quere Durchtrennung der A. subclavia und 0·5 Cm. davon entfernt am centralen Antheil des durchtrennten Gefässes eine ebenfalls ganz quere schlitzförmige Durchbohrung der vorderen und hinteren Wand. Da sich somit die Hautschlitze mit den Trennungen in den darunterliegenden Arterien kreuzten, so war es klar, dass keine schneidige Stichwaffe, sondern ein conisches oder ein stumpfkantiges Werkzeug zur Anwendung gekommen war. In der That ergaben die Erhebungen, dass die Stiche mit einem myrthenblattförmigen, aus einer Feile (sogenannten Vogelzunge) gefertigten Polirinstrument mit schmalovalem Querschnitt beigebracht worden waren.
Der Verlauf des Stichcanals entspricht nicht immer der Richtung, in welcher der Stoss geführt wurde, da die Waffe auch abgeglitten sein konnte. Auch muss der Stichcanal, namentlich wenn er penetrirte und bewegliche Organe, wie z. B. jene des Thorax oder die Gedärme, betraf, nicht immer die unmittelbare Fortsetzung der Stichöffnung bilden, ein Umstand, der namentlich dann, wenn mehrere Stiche vorliegen, wohl zu beachten ist. Ein eigentlicher, nach allen Seiten abgeschlossener Stichcanal kann auch fehlen, so z. B. wenn ein Stich einen Körpertheil blos tangirte und, was natürlich nur bei einer schneidigen Stichwaffe geschehen kann, die Theile blos aufschlitzt, wodurch eine Schnittwunde vorgetäuscht werden kann. Am leichtesten kann dieses an gewölbten Körpertheilen, z. B. an den Extremitäten oder, besonders wenn das Messer an dem Knochen abgleitet, am Kopfe geschehen. Aber auch am Halse kann dieses vorkommen und Pilz (Ueber Stichverletzungen. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII. Suppl., pag. 192) bildet einen Fall ab, wo die Haut vor dem Kehlkopfe durch einen Messerstich quer aufgeschlitzt worden war, so dass es aussah, wie wenn der Versuch einer Halsdurchschneidung[S. 297] gemacht worden wäre. An inneren Körpertheilen sind solche Aufschlitzungen nicht selten, so haben wir einen Messerstich gesehen, der zwischen der 7. bis 8. Rippe in der Axillarlinie eingedrungen war, die linke Kuppe des Zwerchfells und den unteren Rand der linken Lunge aufgeschlitzt, an der Hinterfläche des Herzens beide Kammern eröffnet und das Septum durchtrennt hatte, so dass in keinem der verletzten inneren Organe ein eigentlicher Stichcanal, sondern rinnenförmige Trennungen gefunden wurden. Stichwunden, die einen grösseren Körpertheil, z. B. die Brust, vollkommen durchdringen, sind selten. Es kommt dies nur bei sehr langen Stichwaffen, z. B. Degen, Bajonetten, ganz ausnahmsweise auch bei langen Küchenmessern vor, nicht gar selten aber bei peripheren Körpertheilen, insbesondere an den Extremitäten, wenn sie mehr tangential getroffen werden. Auch kann dann das Instrument noch in einen anderen Körpertheil eindringen. Pilz bildet solche Fälle ab, die eine besondere Bedeutung auch dadurch besitzen, dass die Ausgangs-, respective secundären Oeffnungen für ebensoviele isolirte Stichwunden gehalten werden können.
Endlich haben wir in zwei Fällen von Messerstichen in’s Gehirn statt eines eigentlichen Stichcanals eine hämorrhagische Höhle gefunden, die offenbar durch das aus verletzten grösseren Hirnarterien ausströmende Blut in ähnlicher Weise durch Zerwühlung der Hirnsubstanz entstanden war, wie dies nach spontaner Berstung dieser Gefässe zu geschehen pflegt. Ein Steckenbleiben abgebrochener Klingen oder deren Spitzen in Knochen kommt häufig vor, besonders am Schädel. Sie heilen mitunter ohne Schaden ein, häufiger kommt es, und zwar manchmal erst nach längerer Zeit, zu Erweichungen, Abscessbildung etc. und zum Tod.
4. Schussverletzungen.
An einer Schusswunde kann man in der Regel die Eingangsöffnung (Einschuss) und den Schusscanal unterscheiden, welcher entweder blind endet oder in eine Ausgangsöffnung (Ausschuss) mündet.
Die Beschaffenheit der Eingangsöffnung hängt vorzugsweise von der Entfernung ab, aus welcher geschossen wurde. Bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe wirkt ausser dem Projectil (und dem Propf) auch die unmittelbare Gewalt der Explosionsgase und die Pulverflamme.
In Folge der combinirten Wirkung des Projectils und der directen Gewalt der Pulvergase ist der Einschuss in der Regel unverhältnissmässig gross und desto grösser, je mehr Pulver geladen war, daher wir nach Schüssen aus Gewehren oder Pistolen ungleich grössere, mitunter colossale Eingangsöffnungen finden, als nach einem Revolverschuss, und nach Schüssen aus sogenannten Taschenrevolvern kleinere als nach jenen, die aus Revolvern grösseren Kalibers abgefeuert wurden.
[S. 298]
Die Oeffnung erscheint entweder als Substanzverlust und dann meist vollkommen rund, wie mit einem Locheisen ausgeschlagen (Fig. 56 und 58) oder unregelmässig sternförmig eingerissen (Fig. 57 und 59). Letztere Form findet sich ungleich häufiger bei Pistolen- oder Gewehrschüssen als nach solchen aus Revolvern, und am häufigsten dann, wenn der Schuss eine Stelle traf, an welcher die Haut nahe über Knochen (Schädel, Rippen) gespannt gewesen war. Die Bildung solcher Lappen und Einrisse kommt wahrscheinlich dadurch zu Stande, dass die Explosionsgase sofort nach erfolgter Durchlöcherung der Haut durch das Projectil des geringeren Widerstandes wegen zwischen dieser und der festeren Unterlage sich ausbreiten, wodurch die Haut aufgehoben und vom Lochschuss aus zum Bersten gebracht wird. Dafür spricht die Thatsache, dass die Ränder sowohl der lappenförmig eingerissenen, als der runden Eingangsöffnungen fast immer mehr weniger unterminirt sind, und dass entsprechend diesen unterminirten Partien das Unterhautgewebe im weiten Umfange vom Pulver geschwärzt erscheint. In seltenen Fällen erfolgt eine einfache lineare Berstung der Haut, bei welcher die Spaltbarkeit derselben eine Rolle zu spielen scheint (Fig. 60).
Die Wirkung der Pulverflamme äussert sich durch Versengung der Haare oder Härchen in der nächsten Umgebung der Eingangsöffnung, eventuell auch durch Verbrennung der Kleidungsstücke. Auch die an der Leiche gewöhnlich als lederartiger, vertrockneter Saum sich präsentirende Zone der Einschussöffnung bringt man mit einer Verbrennung der Haut durch die Pulverflamme in ursächlichen Zusammenhang, sie als „Brandsaum“ bezeichnend. Doch verdankt derselbe nicht nur einer Verbrennung, sondern auch der[S. 299] Contusion und Aufschürfung der die Eingangsöffnung begrenzenden Hautpartie seine Entstehung. Man sieht einen solchen „Brandsaum“ besonders bei rundlichen und kleinen Schussöffnungen und kann dann, wie Fig. 58 zeigt, in der Regel zwei, meist scharf von einander getrennte Zonen unterscheiden, eine innere, verhältnissmässig schmale und dunkler gefärbte und eine äussere, viel breitere. Letztere entspricht offenbar der Basis des Luftdruck-, respective Flammenkegels, der die betreffende Hautpartie getroffen hatte, ersterer dagegen dem Umfange des Projectils, welches die Haut kegelförmig nach einwärts stülpte und an der Spitze des Kegels durchriss. Dieser Saum, dessen Bildung man sehr schön verfolgen kann, wenn man gegen Kautschukplatten schiesst, entsteht somit nur durch Quetschung und Aufschürfung der betreffenden Hautpartie und kommt auch bei Fernschüssen zur Entwicklung.
Ein weiterer Effect der Pulverflamme ist die Schwärzung der Umgebung des Einschusses, die theils durch den Pulverschmauch, theils durch eingesprengte, halbverbrannte Pulverkörner (Pulverkohle) bewirkt wird. Ersterer lässt sich abwischen, letztere aber nicht. Die eingesprengten Pulverpartikelchen sind meist schon mit freiem Auge, noch deutlicher aber mit der Loupe oder unter dem Mikroskop zu erkennen (Fig. 61). Die Schwärzung ist natürlich am deutlichsten, wenn die Waffe an den nackten Körper angelegt worden war, kann aber auch in diesem Falle mitunter sehr unscheinbar ausgebildet sein, dann nämlich, wenn die Mündung des Laufes fest angedrückt gewesen war und so der ganze Schuss sofort in das Innere eindrang. Dafür ist dann die Schwärzung unter der Haut und in der vorderen Partie des Schusscanals desto stärker. War die betreffende Stelle von Kleidungsstücken[S. 300] bedeckt gewesen, so ist die Schwärzung um den Einschuss desto weniger entwickelt, je dicker die ersteren gewesen waren. Schwärzung und der sogenannte „Brandsaum“ sind um die Einschussöffnung, wenn der Schuss senkrecht auf den betreffenden Körpertheil abgefeuert wurde, concentrisch angeordnet, excentrisch dagegen, wenn die Waffe schief aufgesetzt war. In diesem Falle bildet Schwärzung und Brandsaum ein mehr weniger lang-gezogenes Oval, dessen grösserer Antheil jenseits der Schussöffnung liegt und die Pulvereinsprengungen erscheinen mehr weniger beistrichförmig, mit dem dickeren Ende gegen die Mündung der Schusswaffe gekehrt (Poix, Étude médico-légale sur les plaies d’entré par coups de revolver. Lyon 1885).
Schliesslich kann, wie A. Paltauf[225] berichtet, auch der Kohlenoxydgehalt der Pulverflamme, der namentlich bei den feineren und kohlenreicheren Pulverarten ein ansehnlicher ist, durch Röthung des extravasirten Blutes und das für Kohlenoxydhämoglobin charakteristische spectrale Verhalten sich bemerkbar machen.
Nach Schüssen aus einiger Entfernung wird desto mehr nur das Projectil die Beschaffenheit der Eingangsöffnung bedingen und es wird desto mehr die Wirkung der anderen oben erwähnten Einflüsse entfallen, je grösser die Entfernung war, aus welcher gefeuert wurde.
Zuerst entfällt die unmittelbare Wirkung der Explosionsgase, deren Druck schon bei geringen Distanzen und desto früher sich[S. 301] nicht mehr geltend macht, je geringer die Pulverladung gewesen, also bei Revolvern früher als bei Pistolen. Dann verschwindet die wegwischbare Schwärzung durch Pulverschmauch, sowie die sengende und zündende Wirkung der Pulverflamme, und zwar auch diese bei Revolvern früher als bei Pistolen und bei diesen früher als bei Gewehren. Tourdes[226] konnte mit Pistolenschüssen (Sattelpistole) noch auf eine Distanz von einem halben Meter ein Papier entzünden, und wir haben nach Schüssen mit einem Revolver von 9 Mm. Durchmesser noch auf eine Entfernung von 10–15 Cm. ein Versengtwerden der Haare constatirt. Bei Pistolen und Gewehren kann ein Brandeffect auch durch den mitgerissenen brennenden Pfropf veranlasst werden, und zwar bei Gewehrschüssen noch auf ziemlich weite Distanzen. Zuletzt schwindet die Schwärzung der Haut durch eingebrannte Pulverkörner. Letztere stellen gewissermassen winzige Projectile dar, die ziemlich weit getragen werden können und einen Zerstreuungskegel bilden, wie wir dies im Grossen bei den Schrotschüssen sehen. Tourdes fand, wenn er mit einer gewöhnlichen Sattelpistole schoss, noch bei einer Entfernung von 2 Metern Pulverkörner eingesprengt, bei einem grösseren (amerikanischen) Revolver noch bei einer Entfernung von 1 Meter, nicht mehr aber, wenn diese 1½ Meter betrug; bei einem gewöhnlichen sechsläufigen Revolver Schwärzung blos bis zu 40 Cm. Mit letzterer Angabe stimmen auch unsere Versuche überein. Bezüglich der Schüsse aus Gewehren ist anzunehmen, dass die Pulverkörner ungleich weiter getragen werden.
Bei grösseren Entfernungen wirkt blos das Projectil, und es hängt, allerdings nicht ausnahmslos, so doch in der Regel von seiner Form ab, wie die Form der Eingangsöffnung ausfällt. Die Kugelschüsse erzeugen meist rundliche, mit Substanzverlust einhergehende Wunden, während sich, wenn mit Spitzkugeln geschossen wurde, häufig schlitzförmige Eingangsöffnungen finden. Letztere Form trifft man insbesondere bei Revolverschüssen, und bei diesen kann, namentlich wenn das Projectil klein war, mitunter eine ganz unbedeutende schlitzförmige Trennung der Haut entstehen, welcher selbst eine Aehnlichkeit mit einer Stichwunde zukommen[S. 302] kann. In der That ist die Verletzung des Victor Noir, der, wie bekannt, durch Peter Bonaparte mit einem Revolver erschossen wurde, anfangs für eine Stichwunde gehalten worden, und Braun[227] berichtet über eine Spitzkugelschusswunde, deren Eingangsöffnung wie eine Kratzwunde aussah und per primam heilte, wie er auch bei angestellten Versuchen fand, dass die mit Spitzkugeln erzeugten Wunden mitunter so aussehen, als wären sie mit der Lancette gemacht worden. Auch Casper-Liman[228] betonen die Verschiedenheit der Eingangsöffnung bei Schüssen mit gewöhnlichen Kugeln und solchen mit Spitzkugeln und erwähnen (pag. 289) eines Falles, wo die durch einen Spitzkugelschuss veranlasste Eingangsöffnung wie ein Stich aussah. Uns sind derartige Fälle wiederholt vorgekommen, sowie auch ein Fall, in dem die durch einen Taschenrevolver erzeugte Wunde der behaarten Kopfhaut ihrer Kleinheit wegen ganz übersehen und erst bei der Section entdeckt wurde. Die Fig. 62 bis 67 zeigen die verschiedenen Formen der Eingangsöffnungen bei Revolverschusswunden, insbesondere die Fig. 65, 66 und 67 Beispiele von solchen, die für Stichwunden gehalten werden könnten.
Sowohl bei den Kugel- als bei den Spitzkugelschüssen kommt die Dehn- und Spaltbarkeit der Haut in Betracht, welche der Grund ist, warum die Oeffnung gewöhnlich kleiner ist als das Projectil. Es ist in dieser Beziehung, wie auch die Versuche von Busch[229] mit Schüssen gegen Kautschukplatten ergaben, anzunehmen, dass jedes Projectil zunächst die Haut kegelförmig vor sich hertreibt und dieselbe an der Spitze des Kegels durchbohrt, worauf sich die Haut wieder retrahirt. Busch fand, wenn er mit einem Chassepotgewehr gegen eine Kautschukplatte schoss, nur ein winziges Loch, welches kaum ein Drittel des Durchmessers[S. 303] der Chassepotkugel hatte, aber einen schwärzlichen, dem Caliber der Kugel entsprechenden Hof besass. Letzterem Befund entspricht, wie bereits oben erwähnt, die Hautaufschürfung und Contusion, die als innerste Zone die Eingangsöffnungen von Kugel- sowohl als Spitzkugelschüssen einzusäumen pflegt.
Auch die Beschaffenheit des Schusscanals gestaltet sich, wenn aus unmittelbarer Nähe geschossen wurde, in der Regel anders, als wenn der Schuss aus grösserer Entfernung kam. Im ersteren Falle wirkt ausser dem Projectil auch die Pulverflamme, welche Schwärzung des Schusscanals in centripetal abnehmendem Grade bedingt, und die zertrümmernde Gewalt der Explosionsgase. Letztere meist in noch intensiverer Weise als an der Haut, weil sich die Explosionsgewalt kegelförmig verbreitert und weil nun auch die etwa mitgerissenen Gegenstände, wie insbesondere[S. 304] häufig die von den zunächst getroffenen Theilen herrührenden Knochensplitter, ebenfalls sich geltend machen. Ueberhaupt ist die Unterlage der zunächst getroffenen Stelle von wesentlichem Einfluss auf die Beschaffenheit einer aus unmittelbarer Nähe beigebrachten Schussverletzung. Wird diese Unterlage von Knochen gebildet, wie z. B. am Kopfe, so werden entweder Stücke des Knochens lochförmig herausgerissen und vorwärtsgetrieben oder die Knochen werden durch den Explosionsdruck auseinandergesprengt, wozu, wenn der Schuss gegen die Schädelhöhle abgefeuert wurde, auch der hydraulische Seitendruck des plötzlich auseinander getriebenen Inhaltes der Schädelhöhle hinzukommt, welche Momente in ihrem Zusammenwirken desto grössere Verwüstungen anrichten, je grösser die Pulvermenge gewesen ist, mit welcher geladen war, daher wir, z. B. nach Pistolenschüssen, sehr gewöhnlich den ganzen Schädel sammt den weichen Schädeldecken auseinandergesprengt und selbst das ganze Schädeldach abgerissen finden. Unter solchen Umständen ist ein eigentlicher Schusscanal gar nicht zu unterscheiden, und man hat mitunter Mühe, die Stelle zu erkennen, die vom Schuss zunächst getroffen wurde. Mit Revolvern werden so hochgradige Verwüstungen seltener erzeugt und nur, wenn Revolver grösseren Calibers benützt wurden. Die kleinen Taschenrevolver bewirken, auch wenn sie gegen den Schädel abgefeuert wurden, in der Regel nur einen Lochschuss, obgleich auch bei dieser häufig von der lochförmigen Oeffnung im Knochen abgehende Risse beobachtet werden.
Auch bei Nahschüssen gegen die Brust begegnen wir, wenn aus Pistolen oder grossen Revolvern geschossen wurde, bedeutenden Verwüstungen der inneren Organe, doch pflegt sich häufig die Gewalt in den zunächst liegenden Organen zu erschöpfen, so dass schliesslich doch nur das Projectil wirkt und, einen mehr weniger langen Schusscanal bildend, entweder irgendwo stecken bleibt oder penetrirt.
Bei Schüssen aus einiger Ferne wird der Schusscanal nur durch das Projectil veranlasst; allerdings ist aber auch in einem solchen Falle der Effect keineswegs immer der gleiche.
Werden blos Weichtheile getroffen, so findet sich in der Regel ein einfacher Schusscanal, der entweder blind endet oder zu einer Ausgangsöffnung führt. Wurden Knochen getroffen, so kommt es wohl mitunter zu einem einfachen Lochschuss, ungleich häufiger aber finden sich entweder von einem Lochschuss ausgehende Sprünge und Risse der Knochen, oder es werden letztere mehr weniger gesplittert und die Splitter mitgerissen, wodurch die weitere Beschaffenheit des Schusscanals wesentlich beeinflusst wird.
Bedeutende Splitterungen der Knochen werden vorzugsweise durch die modernen Hinterlader, insbesondere durch die jetzigen Militärgewehre, verursacht. Bekanntlich waren die Erfahrungen, die man in dem deutsch-französischen Kriege gegenüber dem Chassepotgewehre machte, derart, dass anfangs gegen die Franzosen die [S. 305]Beschuldigung erhoben wurde, dass sie mit Explosionskugeln geschossen hätten. Versuche aber, die sowohl mit dem Chassepotgewehre, als mit anderen Hinterladungsgewehren von Busch[230], Wahl[231], Küster[232], Richter[233], Heppner, Garfinkel[234] und später von Kocher (Virchow’s Jahrb. 1881, II, 319) angestellt wurden, haben ergeben, dass durch jene von diesen Gewehren, denen eine besonders hohe Propulsionskraft zukommt, wenn aus nicht sehr weiten Distanzen (20 Schritte, Busch) geschossen wird und die Kugel noch mit voller lebendiger Kraft aufschlägt, mitunter colossale Verwüstungen, z. B. Auseinanderreissungen des Schädels, erfolgen können.
Bezüglich der Ursache solcher Zerstörungen sind Einzelne (Busch) der Meinung, dass das, meist aus weichem Blei bestehende Projectil vermöge seiner Geschwindigkeit beim Durchtritt durch den festen Körper (Knochen) so erwärmt werde, dass von ihm, das schon in Folge der Reibung im Laufe und in der Luft erhitzt anlangt, Theilchen abschmelzen, die in einem Zerstreuungskegel auseinanderfahren. Manche lassen solche Theilchen mechanisch absplittern, während Andere, insbesondere Kocher, sich die Verwüstungen aus dem enorm schnellen Rotiren der Kugel erklären, dessen centrifugale Wirkung sich vorzugsweise im Gehirne, beziehungsweise im Knochenmark geltend macht und Schädel- und Röhrenknochen durch plötzlichen hydraulischen Druck auseinandersprengt. Höchst interessante und sinnreiche Versuche von Reger (Die Gewehrschusswunden der Neuzeit. Strassburg 1884), worüber derselbe auch in der Berliner Naturforscherversammlung berichtete, und von Beck (Ueber die Wirkung neuerer Gewehrprojectile etc. Leipzig 1885) bestätigen Kocher’s Anschauung, sowie die Thatsache, dass die Zerstörungen proportional sind mit der Weichheit des Geschossmaterials. Diese Beobachtungen haben insbesondere deshalb eine forensische Bedeutung, da man aus so bedeutenden Verwüstungen leicht schliessen könnte, dass der Schuss aus unmittelbarer Nähe gekommen sei. Es wäre jedoch anderseits irrig, zu meinen, dass Derartiges nur bei modernen Gewehren vorkommen könne. Auch Gewehre alten Systems können mitunter auf ziemlich weite Distanzen ungewöhnliche Zertrümmerungen, z. B. Auseinandersprengungen des Schädels, bewirken. Beweis dessen der in Fig. 68 abgebildete Fall, wo die hochgradige Zertrümmerung des Schädels bei einem Duell auf 30 Schritte durch den Schuss aus einer glatten Sattelpistole alten Systems mit fast haselnussgrosser Rundkugel zu Stande kam.
Eine besonders hohe Durchschlagkraft besitzen die neuen Kleinkaliber-Gewehre. So nach P. Bruns („Die Geschosswirkung der neuen Kleinkaliber-Gewehre.“ Tübingen 1889) das Mauser-Gewehr [S. 306]der belgischen Armee. Das 8 Mm. breite, aus einem Weichbleikern und einem Mantel aus Kupfernickelblech bestehende Geschoss vermag auf 100 Meter Distanz durch 4–5, auf 800–1200 Meter durch 2–3 Glieder einer Compagnie durchzudringen, selbst wenn hierbei die stärksten Knochen getroffen wurden. Doch sind die Erscheinungen von Sprengwirkung entschieden seltener und weniger ausgesprochen wie bisher und lassen die Schüsse auf den Schädel die höchsten Grade der Höhlenpressung wahrnehmen. Der Einschuss ist kreisrund und auch bei Nahschüssen (12–100 Meter) kleiner als der Durchmesser des Projectils, der Ausschuss stellt meist einen Hautriss dar, der bei Nahschüssen eine Länge von bis 15 Cm. erreichen kann. — Analoge Beobachtungen bezüglich des österr. 8 Mm. Mannlicher-Stahlmantelgeschosses wurden von dem k. u. k. Regimentsarzt Dr. Habart (Wien 1892) veröffentlicht.[235]
Die Richtung des Schusscanals entspricht nicht immer der Schussrichtung, da das Projectil, wenn es auf Knochen aufschlägt, entweder unter einem Winkel ricochetiren oder im Bogen abgelenkt werden und selbst entlang dieser um ganze Körpertheile herumgehen kann (Bogen-, Contour-, Ringelschuss). Eine solche Ablenkung kann unmittelbar unter dem Einschuss, aber auch erst im weiteren[S. 307] Verlaufe des Schusscanals stattfinden. Letzteres ist innerhalb des Schädels an dessen Concavität nicht selten der Fall. Ebenso ist die Möglichkeit nicht zu übersehen, dass ein Schuss gar nicht gegen die betreffende Person abgefeuert, sondern die Kugel irgendwo abgeprallt und gegen den Körper gelenkt worden sein konnte. Auch kann das Projectil in Folge seiner eigenen Schwere sich nachträglich senken.
Nicht unwichtig ist es ferner, zu wissen, dass am Schädel auch ausserhalb des Bereiches des Schusscanals Läsionen sowohl der Weichtheile als der Knochen durch sogenannten Contrecoup sich bilden können, und zwar sowohl bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe, als bei solchen aus grösserer Entfernung. Von den Verletzungen der Weichtheile erwähnen wir vorzugsweise die oberflächlichen Contusionen des Gehirns, die z. B. bei einem Schusse quer durch die Schläfe an der Spitze der Stirn- oder Hinterhauptlappen sitzen können, von den indirecten Knochenverletzungen namentlich die indirecten und isolirten Fracturen der Orbitaldächer. Solche entfernte Verletzungen bilden sich durch den plötzlich erhöhten Seitendruck im Innern des Schädels, der bei Schüssen aus der Ferne durch die centrifugale Rotationswirkung des Projectils, bei Nahschüssen ausserdem durch die seitliche Expansion der Pulvergase entsteht. Ueber solche indirecte Schussfracturen des Schädels hat Messerer (Centralbl. f. Chir. 1884, Nr. 19) geschrieben und zu den in der Literatur bekannten 17 Fällen einen neuen hinzugefügt. Unseren Beobachtungen zufolge sind dieselben, wenigstens bei Nahschüssen, keine Seltenheit.
Am blinden Ende eines Schusscanals findet sich das Projectil. Hatte der Betreffende die Kugel längere Zeit im Leibe getragen, so kann sich dieselbe senken und an einer ganz anderen als der ursprünglichen Stelle gefunden werden. Aber auch in frischen Fällen ist dieses möglich. So haben wir bereits in zwei Fällen von Revolverschüssen quer durch das Gehirn das Projectil nicht im Schusscanal, sondern im Hinterhorn des dem Ende des ersteren näheren Ventrikels gefunden. Das aufgefundene Projectil zeigt sich selten in seiner ursprünglichen Form erhalten, sondern in der Regel mehr weniger verändert, und zwar immer dann, wenn es Knochen durchbrochen hatte oder in Knochen stecken geblieben war.[236] Die Kugel wird in dem Augenblicke, in dem sie den Knochen berührt, plattgedrückt, woraus sich erklärt, dass[S. 308] die Schussöffnungen im Schädelknochen fast immer grösser sind als das Projectil, wie wir denn auch ein von einem Revolverschuss herrührendes Präparat besitzen, wo die kuchenförmig plattgedrückte Kugel dem Stirnbeine aufsitzt und letzteres darunter eine kreisförmige Fissur der äusseren Tafel von gleichem Durchmesser zeigt, welcher eine kreisförmige, jedoch noch einmal so grosse Absprengung der Glastafel entspricht. In anderen Fällen wird das Projectil nicht blos plattgedrückt, sondern halbirt oder gar in mehrere Stücke getheilt, wodurch, indem jedes Fragment weiterdringt, zwei oder mehrere Schusscanäle durch einen Schuss entstehen und dadurch, sowie durch die abgesprengten Knochenfragmente grosse Verwüstungen angerichtet werden können.
In einem 1877 obducirten Falle war eine Kellnerin von ihrem Liebhaber mittelst einer durch’s Fenster abgeschossenen Pistole getödtet worden. Die Kugel war in der linken seitlichen Stirngegend eingedrungen, hatte die betreffenden Knochen zertrümmert, sich aber gleichzeitig halbirt und die eine Hälfte der Kugel war zwischen den weichen Schädeldecken und dem Stirnbein bis zum rechten Stirnhöcker vorgedrungen, woselbst sie unter der Haut stecken blieb, während die andere in die Schädelhöhle eindrang und, beide Stirnlappen schief durchsetzend, an der Innenfläche des rechten Stirnbeines gefunden wurde. Einen analogen Fall, in welchem der Befund auf zwei Schüsse bezogen wurde, vide Annal. d’hygiène publ. 1887, pag. 465. Mehrere Oeffnungen können auch durch ein einziges Projectil dann entstehen, wenn dasselbe nach Penetration eines Körpertheiles in einen anderen eindringt. Am häufigsten geschieht dies, wenn zuerst Extremitäten getroffen wurden. Bei einer Frau, welche von ihrem Manne mit einem einzigen Revolverschuss aus grösserer Distanz getödtet worden war, fanden wir in der Herzgegend drei Oeffnungen. Das Projectil war nämlich durch die hängende Mamma und dann in die Brust eingedrungen.
Uebergänge zur völligen Spaltung findet man nicht selten, indem z. B. das zum Theile gespaltene Projectil auf irgend einer Knochenkante „reitet“. Ausser in dieser Richtung ist die Formveränderung des Projectils in gerichtsärztlicher Beziehung deshalb von Bedeutung, weil dadurch die mitunter wichtige Diagnose, ob mit einer Kugel, Spitzkugel oder mit gehacktem Blei geschossen wurde, erschwert werden kann. Doch sind die Spitzkugeln in der Regel trotz hochgradiger Formveränderung dennoch leicht als solche zu erkennen, da sich meist die basale Delle und der sie umgebende Ring erhält (Fig. 69). Ebenso ist auf die nachträgliche Formveränderung Rücksicht zu nehmen, wenn es sich um die Entscheidung[S. 309] handeln sollte, ob das gefundene Projectil aus einer bestimmten Schusswaffe abgeschossen worden sein konnte.[237]
Von anderen Dingen, die im Schusscanal gefunden werden können, sind ausser mitgerissenen Stücken der Kleider etc. bei Nahschüssen eingesprengte Pulverkörner und der Pfropf zu erwähnen. Letzterer Befund ist von besonderer Wichtigkeit, da derselbe nicht blos beweist, dass aus nächster Nähe geschossen wurde, sondern weil das Material des Pfropfes und etwaige besondere Merkmale, die derselbe an sich trägt, zur Entdeckung des Thäters beitragen können. Es ist daher angezeigt, jedesmal den gefundenen Pfropf, ebenso wie das Projectil, näher zu beschreiben und dann dem Gerichte zu übergeben.
Hat ein Schuss einen Körpertheil durchdrungen, so erwächst die Aufgabe, zu bestimmen, welche von den zwei Oeffnungen, die der Schusscanal verbindet, die Eingangs- und welche die Ausgangsöffnung (der Ausschuss) sei. In dieser Beziehung ist Folgendes zu beachten:
Bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe ist der Einschuss in der Regel durch die Versengung und Verbrennung der Nachbarschaft, durch die Schwärzung der Umgebung, insbesondere durch die eingesprengten Pulverkörner so gekennzeichnet, dass schon in diesen Befunden der Beweis liegt, dass die entgegengesetzte Oeffnung die Ausgangsöffnung sei. In diesem Falle ist auch der Einschuss in der Regel ungleich grösser als der Ausschuss, da ersterer nicht blos durch das Projectil, sondern auch durch die unmittelbar wirkenden Explosionsgase erzeugt worden ist, während beim Ausschuss entweder blos das Projectil oder ausser diesem nur die mitgerissenen Knochensplitter sich geltend machen. Eine Ausnahme von diesem Verhalten zeigen natürlich jene aus unmittelbarer Nähe entstandenen Schussverletzungen, durch welche ganze Körpertheile abgerissen oder unregelmässig zersprengt worden sind, bei welchen es eben der ausgebreiteten Zerstörung und des Mangels eines eigentlichen Schusscanals wegen, wenn nicht die Pulverschwärzung Aufschluss gibt, mitunter nicht leicht ist, die Stelle zu bestimmen, wo der Schuss eingedrungen ist.
Bei Schüssen aus der Ferne ist die Ausgangsöffnung meistens grösser als der Einschuss. Dies ist fast immer der Fall, wenn[S. 310] Knochen getroffen wurden, indem einestheils Knochensplitter mitgerissen werden, anderseits das Projectil, indem es plattgedrückt oder anderweitig in seiner Form verändert wird, an Breite gewinnt.
Sehr grosse Ausgangsöffnungen können insbesondere nach Schüssen aus Gewehren vorkommen, denen, wie z. B. den Militärhinterladern, eine grosse Propulsionskraft zukommt; der Schusscanal kann dann von der Stelle, wo die Kugel auf Knochen aufschlug, nach Art eines Kegels sich erweitern, dessen Basis eben die Ausgangsöffnung darstellt. Aber auch bei blossen Weichtheilwunden hat man bei den genannten Gewehren nach Schüssen aus nahen Distanzen eine kegelförmige Erweiterung des Schusscanals beobachtet. Bei Schüssen aus Vorderladern kann, wenn keine Knochen getroffen wurden, die Ausgangsöffnung ebenso weit und selbst kleiner ausfallen als der Einschuss, da die Eingangsöffnung häufig mit Substanzverlust verbunden ist, während die Ausgangsöffnung blos durch Berstung und nicht durch Substanzverlust entsteht (Pirogoff, Schmidt’s Jahrbuch. 1850, II, 116).
Die Angabe Devergie’s, dass die Ränder der Eingangsöffnung eingestülpt, jene der Ausgangsöffnung aber nach auswärts gekehrt sind, mag wohl für viele Fälle zutreffen, doch gewiss nicht immer. So haben Casper und Liman (l. c. II, 280) darauf hingewiesen, dass sowohl durch sich hervordrängendes Fett, als durch den Fäulnissprocess die Ränder einer Eingangsöffnung nach auswärts gestülpt werden können. Wir können Gleiches aus eigener Erfahrung bestätigen und möchten noch hinzufügen, dass bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe die Ränder der Eingangsöffnung dann fast immer nach auswärts gestülpt sind, wenn unter der getroffenen Stelle Knochen lagen, weil sich in diesem Falle, wie oben erwähnt wurde, die Explosionsgase zwischen Haut und harter Unterlage ausbreiten, dadurch erstere nach auswärts drängen und mitunter sogar auf diese Art zum Platzen bringen.
[S. 311]
Verhältnissmässig leicht lässt sich an Lochschusswunden der Knochen, insbesondere am Schädel erkennen, wo das Projectil ein- und wo es ausgedrungen ist, und diese Frage lässt sich sogar beantworten, wenn nur eine der im Schädel entstandenen Oeffnungen vorliegt. Jede dieser Oeffnungen ist nämlich auf der Seite, wo die Kugel zuerst aufschlug, kleiner als auf der entgegengesetzten und besitzt auf ersterer vollkommen scharfe, auf letzterer stark abgeschrägte Ränder, weil durch das Projectil aus begreiflichen Gründen ein flach kegelförmiges Knochenstück herausgeschlagen wird (Fig. 70 bis 72).
Das Gesagte gilt vorzugsweise von Kugelschüssen. Nächst diesen kommen am häufigsten Schrotschüsse vor. Aus unmittelbarer Nähe erzeugen dieselben noch grössere Zerstörungen als gewöhnliche Schüsse. Kam der Schuss aus einiger Entfernung, dann finden wir eine grössere oder geringere Zahl kleiner, mehr weniger auseinanderstehender Schussöffnungen, welche sich in die entsprechenden Schusscanäle fortsetzen. Da die Schrotladung in dem Momente, in welchem sie die Mündung des Gewehrlaufes verlässt, in einen langgestreckten Zerstreuungskegel auseinanderfährt, so ist es begreiflich, dass unter sonst gleichen Verhältnissen desto weniger Schrote den Körper treffen und die Eingangsöffnungen desto weiter auseinanderstehen werden, je grösser die Distanz gewesen war, aus welcher geschossen wurde. Dieses Verhalten schliesst jedoch die Möglichkeit nicht aus, dass auch auf grössere Distanzen mehrere Schrote beisammen bleiben können, wie denn nicht zu übersehen ist, dass die Dispersion der Projectile sich in den peripheren Partien des Zerstreuungskegels viel stärker bemerkbar machen wird als in den centralen.
Von anderweitigem Schussmaterial und gewissen atypischen Schussverletzungen werden wir bei Besprechung des Selbstmordes durch Erschiessen reden.
Hier sei nur noch der Prell- und der Streifschüsse erwähnt. Erstere entstehen durch das meist stumpfwinklige Anschlagen matter Geschosse, wodurch Contusionen veranlasst werden können. Gröbere äussere Verletzungen werden wohl, wenigstens bei Kleingewehrprojectilen, zu den grössten Seltenheiten gehören; bei[S. 312] groben Geschossen sind sie wiederholt beobachtet worden.[238] Dagegen sind Prellungen innerer Organe in der Nachbarschaft des Schusscanals nichts Seltenes. Hierher gehören ausser Contusionen am Herzen und der Lunge insbesondere die von uns wiederholt gesehenen Rupturen der Intima grösserer Arterien, namentlich der Aorta an jener Stelle des Gefässrohres, an welcher das Projectil knapp vorbeigefahren war. Es sind dies einfache oder mehrfache Querrupturen von verschiedener Ausdehnung, die sich nicht wesentlich von jenen unterscheiden, die nach Ligatur von Arterien oder in den Carotiden durch Strangulation zu Stande kommen.
Streifschüsse können entweder blosse Excoriationen oder rinnenförmige Schusscanäle erzeugen, die sich bilden, indem das Projectil blos tangential eine Körperstelle trifft. Ein solcher rinnenartiger Schusscanal könnte möglicher Weise eine Riss- oder selbst Schnittwunde vortäuschen. Bezüglich der sogenannten Luftstreifschüsse haben Grossmann und Pelikan (Schmidt’s Jahrb. 1858, 97, pag. 265) Versuche mit schweren Geschossen angestellt, jedoch keine oder eine mir ganz geringe Wirkung constatirt. Umsoweniger hat demnach die Sache bei Kleingewehrkugeln eine Bedeutung.
Zu den Schusswunden im weiteren Sinne gehören auch die durch Sprengstoffe, insbesondere Nitroglycerin und seine Präparate (Dynamit, Dualin etc.), verursachten Verletzungen. Dass mit diesen Mitteln nicht immer blos zufällige Verletzungen, beziehungsweise Tödtungen veranlasst werden, beweisen ausser dem bekannten Falle Thomas in Bremen und den Attentaten in Russland, England etc. die von Blumenstok publicirten Fälle (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1877, pag. 171), deren einer einen Mord durch eine auf die Brust gelegte Dualinpatrone, der andere eine Tödtung durch eine vielleicht absichtlich in den Ofen gesteckte Dynamitpatrone betrifft. Auch ein Selbstmord mittelst Dynamit wird erwähnt und auch uns ist ein solcher Fall bekannt. — Vor Kurzem obducirten wir eine Frau, welche in einer Kapselfabrik durch Explosion von Knallquecksilber verunglückt war. Sie hatte letzteres auf einer Zinktasse getragen, als die Explosion erfolgte. Stirnhaare und Wimpern waren versengt, das ganze Gesicht wie von Rauch geschwärzt und nach dem Abwischen zahlreiche punktförmige schwärzliche Einsprengungen zeigend. Die rechte Hand fast vollständig abgerissen, der Stumpf geschwärzt. In der rechten Leistengegend eine handflächengrosse Wunde, aus welcher ein Convolut mehrfach eingerissener Dünndarmschlingen und ein über handflächengrosses, verbogenes, scharfrandiges Zinkblech hervorragte, welches fest in der Wunde stak und die Art. iliaca ext. unmittelbar vor dem Schenkelring quer durchtrennt hatte. An der Vorderfläche des rechten Oberschenkels ein fingerweiter und eben so langer Canal mit einem Zinkblechstück im blinden Ende. Die abgerissene Hand lag in etwa 30 geschwärzten Trümmern vor. Bei Behandlung mit Wasser [S. 313]setzte sich ein Theil der schwärzenden Substanz als schwarzes Pulver ab, welches mikroskopisch keine Quecksilberkügelchen zeigte, aber, chemisch untersucht, Quecksilber ergab.
Nicht tödtliche Verletzungen.
Bei der forensischen Beurtheilung der nicht tödtlich gewordenen Verletzungen wäre die Aufgabe des Gerichtsarztes eine verhältnissmässig leichte, wenn es genügen würde, vom rein ärztlichen Standpunkte aus die vorübergehenden oder bleibenden Folgen auseinanderzusetzen, die eine Verletzung nach sich gezogen hat. Leider ist dies nicht der Fall. Da nämlich das Strafgesetz je nach der Art und den Folgen einer Verletzung bestimmte Verletzungskategorien unterscheidet, eine Unterscheidung, die aus allgemein strafrechtlichen sowohl als processualischen Gründen nothwendig erscheint, aber ihrer Natur nach ärztliche Mitwirkung fordert, so wird vom Gerichtsarzte verlangt, dass er eine concrete Verletzung nicht blos vom rein medicinischen Standpunkte begutachte, sondern auch im Sinne der strafgesetzlichen Unterscheidung classificire, eine Forderung, welche der gerichtsärztlichen Beurtheilung von Verletzungen einen ganz specifischen Charakter verleiht und sie wesentlich von der rein klinischen unterscheidet.
Das Princip, welches der strafrechtlichen Classification der Verletzungen zu Grunde liegt, ist nicht überall das gleiche. Während z. B. das französische Strafgesetzbuch (Code pénal) eine Verletzung blos nach der Dauer der Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit taxirt und das deutsche Strafgesetz vorzugsweise die Folgen einer Verletzung zum Ausgangspunkte seiner Classification nimmt, sehen wir im gegenwärtig in Oesterreich zu Recht bestehenden Strafgesetz und im Strafgesetz-Entwurf beide Principien zur Anwendung kommen, wobei wir überdies ausser der Wirkung, die eine Verletzung thatsächlich hatte, auch jene, welche möglicherweise hätte erfolgen können, in Betracht ziehen müssen, da auch dem Instrumente, mit welchem eine Verletzung beigebracht wurde und der mit dessen Gebrauche etwa verbundenen Lebensgefahr ein Einfluss auf die strafrechtliche Qualification einer Verletzung vindicirt worden ist.
Eine Uebereinstimmung des österr. Strafgesetzes und des Strafgesetz-Entwurfes mit dem deutschen Strafgesetz besteht auch darin, dass in allen der Ausdruck „schwere Verletzung“ vorkommt, gewissermassen die Grösseneinheit bildend, welche der gesammten strafrechtlichen Eintheilung der Verletzungen in Kategorien zu Grunde liegt.
Während jedoch im gegenwärtigen österr. Strafgesetz die „schwere Verletzung“ nur einen Bestandtheil des strafrechtlichen Begriffes der „schweren körperlichen Beschädigung“ bildet und[S. 314] nicht näher definirt wird, so dass dieser Begriff eine verhältnissmässig weite, jedenfalls nicht scharf begrenzte Anwendung zulässt, begegnen wir im österr. Strafgesetz-Entwurfe und im deutschen Strafgesetze der „schweren Körperverletzung“ in ungleich engerer Fassung, da unter diesen Begriff blos solche Verletzungen subsumirt werden, welche gewisse, vom Gesetze ausdrücklich angegebene Folgen nach sich gezogen haben, so dass alle anderen fortan als im strafrechtlichen Sinne „leichte Verletzungen“ bezeichnet werden müssen, obgleich darunter eine grosse Reihe solcher sich findet, die als „schwere Verletzungen“ im Sinne des gegenwärtigen österr. Strafgesetzes zu erklären kein Gerichtsarzt Bedenken tragen würde.
Diesen Verhältnissen zufolge scheint es uns oportun, zunächst die einschlägigen Bestimmungen des gegenwärtigen österr. Strafgesetzes zu besprechen und diesen die Behandlung der Bestimmungen des österr. Strafgesetz-Entwurfes und des deutschen Strafgesetzes folgen zu lassen.
Gerichtsärztliche Beurtheilung der nicht tödtlichen Verletzungen im Sinne des österr. Strafgesetzes.
Von den hierher gehörigen gesetzlichen Bestimmungen sind jene der §§. 152, 155 und 156 die wichtigsten. Der erstgenannte Paragraph enthält gleichsam die Definition des strafrechtlichen Begriffes der „schweren körperlichen Beschädigung“, die §§. 155 und 156 aber die Umstände, namentlich jene Folgen, bei deren Vorhandensein das österr. Strafgesetz höhere Strafsätze bestimmt, als bei einer nicht durch solche complicirten, also einfachen „schweren körperlichen Beschädigung“. Wir wollen dieselben der Kürze wegen als die erschwerenden Umstände bezeichnen.
Nach §. 152 ist der Thatbestand einer „schweren körperlichen Beschädigung“ vorhanden, wenn aus einer in feindseliger Absicht gegen einen Menschen unternommenen Handlung entweder a) eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens zwanzigtägiger Dauer oder b) eine Geisteszerrüttung oder c) eine schwere Verletzung desselben erfolgte.
Ad a) Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens zwanzigtägiger Dauer. Der strafrechtliche Begriff der Gesundheitsstörung ist keineswegs identisch mit Heilungsdauer. Da nämlich das Gesetz die Gesundheitsstörung von der Berufsunfähigkeit trennt, letztere aber ohne Vorhandensein einer organischen Störung nicht gedacht werden kann, so wäre, wenn der Gesetzgeber unter Gesundheitsstörung die Heilungsdauer verstanden hätte, die specielle Anführung der Berufsunfähigkeit neben[S. 315] der Gesundheitsstörung überflüssig und ein reiner Pleonasmus.[239] Es folgt daraus, dass Gesundheitsstörung gleichbedeutend mit „Krankheit“, mit einer Störung des Allgemeinbefindens, wie sie sich durch Fieber, Unwohlsein, Schmerz u. dergl. kundgibt, genommen werden muss, da im gegentheiligen Falle so manche unbedeutende Verletzung, z. B. eine einfache Sugillation, die häufig mehr als zwanzig Tage zum völligen Verschwinden braucht, schon als Gesundheitsstörung erachtet werden müsste, was sowohl den Intentionen des Gesetzes, als der vulgären Auffassung des Begriffes „Gesundheitsstörung“ widersprechen würde, während es wohl denkbar ist, dass eine verhältnissmässig unbedeutende Verletzung, ohne eine Krankheit zu bedingen, während ihres Bestandes mit Berufsunfähigkeit verbunden sein kann, so z. B. gewisse Verletzungen der Finger bei Individuen, welche derselben zu feiner Händearbeit (Nähen, Schreiben, Telegraphiren, Violinspielen etc.) bedürfen.
Unter „Berufsunfähigkeit“ ist die Unfähigkeit zur gewohnten oder pflichtmässigen Arbeit zu verstehen, insbesondere zu derjenigen, welche das betroffene Individuum bisher behufs Erwerbes ausgeübt hatte. Berufsunfähigkeit ist daher nicht Unfähigkeit zur Arbeitsleistung überhaupt, sondern zu einer speciellen Art von Arbeit, die nach dem Stande und der bisherigen Beschäftigung des Individuums eine verschiedene sein kann („Travail personnel“ des Code Napoléon).
Es folgt daraus, dass, wenn die Berufsunfähigkeit eines Individuums in Frage steht, einestheils die Art seiner Berufsarbeit und die dazu nothwendigen Organe oder Glieder in Betracht gezogen werden müssen, anderseits zu erwägen sein wird, ob die betreffende Verletzung eine solche ist, dass sie den Gebrauch jener Organe oder Glieder vollständig hindert, oder in der Art erschwert, dass die betreffende Arbeitsleistung nicht mit der nöthigen Kraftentwicklung oder Ausdauer erfolgen kann. Es gibt demnach eine vollständige und eine blos theilweise Berufsunfähigkeit; aus der Fassung des Gesetzes ist aber nicht zu entnehmen, ob dasselbe nur erstere oder auch die zweite im Auge hat, ein Umstand, der erfahrungsgemäss geeignet ist, die Begutachtung einschlägiger Fälle zu erschweren. Trotzdem wird der Gerichtsarzt nicht anstehen, jede wesentliche Erschwerung der betreffenden Arbeitsleistung als Berufsunfähigkeit zu erklären, da es doch nicht darauf ankommen kann, ob etwa das Individuum noch im Stande ist, mit Anstrengung und grosser Ueberwindung seinem Berufe nachzugehen und da eine absolute Berufsunfähigkeit verhältnissmässig selten vorhanden sein dürfte. In minder schweren Fällen erübrigt nichts Anderes, als dem Richter auseinanderzusetzen, in welchem Grade die Berufsfähigkeit im concreten Falle beeinträchtigt wurde, und es diesem zu überlassen, ob er eine Berufsunfähigkeit im Sinne des Strafgesetzes annehmen wolle oder nicht.
[S. 316]
Bei der Bestimmung, dass die Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit mindestens von zwanzigtägiger Dauer gewesen sein müsse, wenn die ihr zu Grunde liegende Handlung als schwere körperliche Beschädigung behandelt werden soll, waren einestheils rein juristische Gründe massgebend, die die Fixirung einer Grenze zwischen schwerer und leichter körperlicher Beschädigung forderten, etwa in gleicher Weise, wie der Diebstahl erst dann als Verbrechen qualificirt wird, wenn die gestohlene Summe einen vom Gesetze bestimmten Betrag ausmacht (§. 172), andererseits die chirurgische Erfahrung, dass Verletzungen, denen eine gewisse Bedeutung zukommt, gewöhnlich etwa 3 Wochen erfordern, bevor die durch sie veranlasste Krankheit oder Berufsunfähigkeit behoben erscheint.
Die civilrechtlichen Ansprüche der Verletzten, betreffend den durch die Verletzung erlittenen Schaden, insbesondere an der „Erwerbsfähigkeit“, sind einestheils durch die §§. 1325–1327 des österr. bürgerlichen Gesetzbuches (s. pag. 267), anderseits durch das Gesetz vom 28. December 1887 (Reichsgesetzbl. vom 1. Jänner 1888), betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, geregelt. Die wichtigsten Bestimmungen des letzteren lauten:
§. 6. Im Falle einer Körperverletzung soll der Schadenersatz in einer dem Verletzten vom Beginne der fünften Woche nach Eintritt des Unfalles angefangen für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Rente bestehen.
Für die Berechnung der Rente wird zunächst der Arbeitsverdienst ermittelt, welchen der Verletzte während des letzten Jahres seiner Beschäftigung in dem Betriebe, wo der Unfall sich ereignete, bezogen hat. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Die Rente beträgt:
a) im Falle gänzlicher Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben 60 Procent des Jahres-Arbeitsverdienstes;
b) im Falle theilweiser Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben einen Bruchtheil der unter a) festgesetzten Rente, welche nach dem Masse der verbliebenen Erwerbsfähigkeit zu bemessen ist, jedoch nicht über 60 Procent des Jahres-Arbeitsverdienstes betragen darf.
§. 7. Im Falle der Tod aus dem Betriebsunfalle erfolgt ist, soll der Schadenersatz ausser in den Leistungen, welche nach §. 6 dem Verletzten für die Zeit vor dem Eintritt des Todes etwa gebühren, noch bestehen: 1. in den Beerdigungskosten — — — 2. in einer den Hinterbliebenen des Getödteten zu gewährenden Rente.
§. 29. Von jedem in einem versicherungspflichtigen Betriebe vorkommenden Unfalle, durch welchen eine in demselben beschäftigte Person getödtet worden ist oder eine körperliche Verletzung erhalten hat, welche den Tod oder eine Arbeitsunfähigkeit von nicht weniger als drei Tagen zur Folge hatte, ist von dem Betriebs-Unternehmer oder -Leiter längstens binnen fünf Tagen die schriftliche Anzeige an die politische Behörde erster Instanz zu erstatten.
§. 31. Gelangt ein Unfall zur Anzeige, durch welchen eine versicherte Person getödtet wird oder eine Körperverletzung erleidet, welche voraussichtlich den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als vier Wochen zur Folge haben wird, so hat die politische Behörde durch geeignete Erhebungen so bald wie möglich insbesondere festzustellen: 1. die Veranlassung und Art des Unfalles; 2. die getödteten oder verletzten Personen; 3. den Arbeitsverdienst derselben; 4. die Art der vorgekommenen Verletzungen; 5. den Aufenthalt der verletzten Personen; 6. die Hinterbliebenen der durch den Unfall getödteten Personen, welche nach §. 7 zur Erhebung eines Ersatzanspruches berechtigt sind. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
[S. 317]
Die allfälligen Kosten der Erhebungen und namentlich jene, welche durch die erforderlichenfalls etwa beigezogenen Sachverständigen verursacht werden, sind von der Versicherungsanstalt zu tragen, das Ergebniss der gepflogenen Erhebungen ist der Versicherungsanstalt mitzutheilen.
§. 33. Sind versicherte Personen in Folge des Unfalles getödtet, so hat die Versicherungsanstalt sofort nach Abschluss der Erhebungen (§. 31) oder, falls der Tod erst später eintritt, sobald sie von demselben Kenntniss erlangt, die Feststellung der nach §. 7 zu leistenden Entschädigung vorzunehmen.
Sind versicherte Personen in Folge des Unfalles körperlich verletzt, so ist nach Ablauf von 4 Wochen nach dem Eintritte des Unfalles die Feststellung der nach §. 6 gebührenden Rente für diejenigen verletzten Personen vorzunehmen, welche zu dieser Zeit noch völlig oder theilweise erwerbsunfähig sind.
Für diejenigen verletzten Personen, welche sich nach Ablauf von vier Wochen noch in ärztlicher Behandlung behufs Heilung der erlittenen Verletzungen befinden, ist die Feststellung zunächst auf die bis zur Beendigung des Heilverfahrens zu leistenden Rentenzahlungen zu beschränken, im Uebrigen aber die Feststellung der Rente erst nach Beendigung des Heilverfahrens vorzunehmen.
§. 38. Für jede in Gemässheit dieses Gesetzes errichtete Versicherungsanstalt wird an dem Sitze derselben ein Schiedsgericht errichtet, welches zur Entscheidung über die gegen die Versicherungsanstalt erhobenen, von derselben nicht anerkannten Entschädigungsansprüche ausschliesslich zuständig ist.
Das Schiedsgericht besteht aus einem ständigen Vorsitzenden, 4 Beisitzern und den nöthigen Stellvertretern. — — — — — — — — — — — — —
Im Uebrigen wird die Zusammensetzung des Schiedsgerichtes und das Verfahren von demselben, sowie eine allfällige Entlohnung der Schiedsrichter im Verordnungswege geregelt.
Analoge Bestimmungen enthält das Unfallversicherungsgesetz für das deutsche Reich vom 6. Juli 1884. Bei den Untersuchungsverhandlungen (§§. 51 u. ff.) wird ausdrücklich bemerkt: „Ausserdem sind, soweit thunlich, die sonstigen Betheiligten und, auf Antrag und Kosten der Genossenschaft, Sachverständige beizuziehen.“ Doch ist letzteres keineswegs obligatorisch, wie es wohl gefordert werden sollte. Eine „Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nach Verletzungen mit Rücksicht auf das deutsche Unfallversicherungsgesetz“ hat L. Becker, Berlin 1888, herausgegeben, welche viel Schätzenswerthes in dieser Beziehung enthält. In noch höherem Masse gilt dies, weil vom Standpunkte des Chirurgen bearbeitet, von der Broschüre von A. Krecke: „Unfallversicherung und ärztliches Gutachten“, München 1889. Die meisten Versicherungsgesellschaften richten sich bei der Beurtheilung der vollständigen oder theilweisen Erwerbsunfähigkeit nach sogenannten Entschädigungstarifen. Becker bemerkt jedoch mit Recht, dass solche Tarife vielleicht als ungefähre allgemeine Anhaltspunkte für einzelne, öfters wiederkehrende Fälle von Verletzungen und deren Folgen dienen, aber selbst nach mehrfacher Ergänzung nicht für alle Fälle massgebend sein können. Es bleibt nichts übrig, als dem concreten Fall sein Recht einzuräumen, und auch das Reichs-Versicherungsamt ist bei seinen bisherigen Entscheidungen von dem gleichen Grundsatze ausgegangen.
Ad b) Geisteszerrüttung. Das Gesetz hat im §. 152 nur eine vorübergehende Geisteskrankheit im Auge, da es im §. 156 die Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung[S. 318] als besonders gravirender Verletzungsfolge ausdrücklich erwähnt. Es erscheint uns jedoch angezeigt, beide Arten der Geisteszerrüttung unter Einem zu behandeln.
Es ist zunächst klar, dass der strafrechtliche Ausdruck „Geisteszerrüttung“ nicht anders als im Sinne von „Geisteskrankheit“ genommen werden kann; dass demnach darunter nicht etwa blos vorübergehende Störungen des Bewusstseins, Ohnmachten u. dergl. zu verstehen sind, wie sie nach vielen Verletzungen und überdies keineswegs blos nach Verletzungen des Gehirns vorzukommen pflegen, sondern eine Geisteskrankheit im engeren Sinne, die nach Ablauf der acuten Symptome einer Verletzung[240] entweder im unmittelbaren Anschlusse an letztere zurückbleibt oder nachträglich sich entwickelt.
Geisteskrankheiten können nicht blos durch Kopfverletzungen, sondern auch durch Verletzungen entfernterer Organe und selbst durch den mit einer Misshandlung verbundenen psychischen Insult veranlasst werden.
Dass Kopf- (Gehirn-) Verletzungen nicht selten zur Entstehung einer Geisteskrankheit Veranlassung geben, ist eine allgemein anerkannte Thatsache. Schlager[241] ermittelte unter 500 Irren 49, bei denen die Entwicklung der Psychose zweifellos mit einer vorhergegangenen Körperverletzung im ursächlichen Zusammenhange stand. Nach Griesinger („Psychische Krankheiten.“ 3. Aufl., 1871, pag. 182) sind es nicht immer schwere Kopfverletzungen, die eine Geisteskrankheit nach sich ziehen können, doch macht die Verletzung der Schädelknochen die Wahrscheinlichkeit nachfolgender psychischer Störung viel grösser, als blosse Verletzung der Weichtheile. Selbstverständlich sind es zunächst directe oder indirecte Verletzungen des Vorderhirns, die solche Folgen haben können, und es genügen schon verhältnissmässig geringe primäre oder secundäre Läsionen der Hirnrinde, um sie zu bedingen. Die so häufigen Contusionen der Stirn-, Schläfe- und Scheitellappen an ihren convexesten Partien, dann intermeningeale Extravasate und mit Depression der Fragmente geheilte Fracturen scheinen eine besonders wichtige Rolle zu spielen, und es ist bemerkenswerth,[S. 319] dass umschriebene Hirnverletzungen latent verlaufen, d. h. bestehen und im chirurgischen Sinne heilen können, ohne wesentliche Erscheinungen zu veranlassen.
Die Geisteskrankheit kann entweder in ausgesprochener Weise unmittelbar aus der Verletzung sich entwickeln, in welchem Falle nach Krafft-Ebing[242] ausnahmslos primärer Blödsinn entsteht. Solche Fälle sind durchwegs sehr schwerer. in der Regel unheilbarer Art, bieten jedoch der Begutachtung keine Schwierigkeit, da der ursächliche Zusammenhang zwischen Verletzung und Psychose klar vorliegt und nicht bezweifelt werden kann.
Grössere Schwierigkeiten bietet die Begutachtung, wenn die Geistesstörung erst nachträglich aufgetreten war. Es ist in dieser Beziehung zu beachten, dass die zwischen der Kopfverletzung und ihren unmittelbaren Folgen und dem Ausbruche der Geisteskrankheit gelegene Zwischenzeit niemals vollkommen symptomfrei sich erweist, sondern dass schon in dieser immer gewisse Störungen der Hirnfunctionen sich bemerkbar machen, die als Prodromalsymptome gedeutet werden müssen. Als solche werden von Schlager und Krafft-Ebing bezeichnet: Störungen der Sinnesthätigkeit (Hyperästhesien des Auges, Ohrenklingen, Schwerhörigkeit), Schwindel, Kopfschmerz, Neigung zu Hirncongestionen, Intoleranz gegen Alcoholica, das Fortbestehen von Lähmungen und Anästhesien oder selbst deren Ausbreitung als Zeichen einer fortdauernden, durch das Trauma bedingten Herderkrankung, die dem ganzen Krankheitsbilde eine gewisse Aehnlichkeit mit Dementia paralytica geben können (Meynert, Wiener med. Blätter. 1879, pag. 667), die Fortdauer oder zeitweilige Wiederkehr von apoplectiformen oder epileptiformen Anfällen, in psychischer Beziehung aber Gedächtnissschwäche, rasche geistige Ermüdung, erhöhte Reizbarkeit, Veränderung der Stimmung und des Charakters des Verletzten. Letztere Symptome, namentlich das progressive Auftreten derselben, sind besonders zu beachten, auch insoferne, als sie unter dem Bilde des moralischen Irrseins auftreten können[243], und ihr Vorhandensein wird sich am deutlichsten dann herausstellen, wenn man den Gemüthszustand und den Charakter des Individuums mit jenem vergleicht, der vor der Verletzung bestand.
Wer wie wir Gelegenheit hat, eine grössere Zahl verwahrloster und als Säufer signalisirter Individuen zu obduciren, dem wird es auffallen, dass bei diesen Leuten verhältnissmässig häufig ausser chronischen, pachymeningitischen und meningitischen Processen, apoplectischen Cysten etc., auch Residuen verschiedener Hirntraumen, [S. 320]insbesondere von Contusionen der Stirn- und Schläfelappen, vorkommen. Es liegt nahe, daran zu denken, dass in diesen Fällen die moralische Verkommenheit und das sonstige Verhalten des Säufers mit dem betreffenden Trauma in einem causalen Nexus steht, wie wir auch überzeugt sind, dass die erwähnten chronischen, pachymeningitischen und meningitischen Processe keineswegs immer Folgen des Abusus von Alkohol sind, sondern dass in manchen derselben die betreffenden Processe das Primäre, die moralische und physische Decadenz aber das Secundäre gewesen ist, wobei die bei defecten Hirnen bekanntlich gewöhnliche Intoleranz gegen Alkoholica eine Rolle gespielt haben mag. Auch die leichte Reizbarkeit der Individuen, welche schwere Kopfverletzungen überstanden haben, ist ein sowohl diagnostisch werthvolles, als auch für die Frage der Zurechnungsfähigkeit solcher Personen wichtiges Symptom. Wir haben in der letzten Zeit drei Männer obducirt, von denen zwei an Herzverfettung und der eine an einer zufälligen Leuchtgasvergiftung gestorben war und bei denen die Obduction geheilte schwere Kopfverletzungen ergab. In dem einen Falle fanden sich geheilte Contusionen beider Stirn- und Schläfelappen, im zweiten eine solche des linken Stirnlappens mit geheilter Fractur des Orbitaldaches und im dritten ein geheilter Säbelhieb am linken Scheitelbein mit fast handflächengrosser Knochenlücke. In allen drei Fällen ergab die Anamnese, dass die betreffenden Personen sehr reizbar gewesen waren, sonst aber keine auffälligen Erscheinungen darboten. Im letzteren Falle, welcher einen Gensdarm betraf, der im 20. Jahre den Hieb erhalten hatte, hatte die Reizbarkeit in den letzten Jahren entschieden zugenommen. Interessant ist in dieser Beziehung die Thatsache, dass, wie Goltz (Med. Centralbl. 1882, pag. 782) mittheilt, auch bei Hunden nach der Zerstörung der Scheitellappen eine Veränderung der Gemüthsart ad pejus zurückbleibt.
Die Dauer dieses Prodromalstadiums kann Wochen und Monate betragen, bis es spontan oder unter dem Einflusse von Gelegenheitsursachen zum Ausbruche einer manifesten Geistesstörung kommt.
Die dann ausbrechende Geistesstörung kann sich in verschiedener Weise kundgeben. In einzelnen Fällen ist die zunehmende Demenz das Hauptsymptom, in anderen kommt es zu ausgesprochener Melancholie oder zur Entwicklung partieller Verrücktheit, besonders unter dem Bilde des Verfolgungswahnes, meistens aber zu transitorischen, anfallsweise wiederkehrenden Psychosen, die unter dem Bilde des epileptischen Irrseins verlaufen, d. h. an krampfartige (epileptoide oder deutlich epileptische) Anfälle sich anschliessen oder wenigstens von einer Aura eingeleitet werden und jene Eigenthümlichkeiten bieten, die wir bei Besprechung dieser auch anderweitig forensisch wichtigen Form der Geistesstörung a. a. O. kennen lernen werden.
Von grosser forensischer Wichtigkeit ist die Thatsache, dass auch nach peripheren Verletzungen Psychosen sich entwickeln können. Sie entstehen mitunter nach verhältnissmässig unbedeutenden[S. 321] Verletzungen, wenn durch diese, namentlich durch die aus ihnen sich bildende Narbe, eine Reizung peripherer Nervenendigungen gesetzt wird. Solche Psychosen gehören in die Kategorie der reflectorischen Störungen, ähnlich wie die vielfach beobachtete „periphere Epilepsie“. Eine Reihe derartiger Fälle, die meist geringfügige Verletzungen betrafen, stellt bereits Griesinger (l. c. 183) zusammen und spricht sich auch dahin aus, dass wahrscheinlich viele blos äusserliche Kopfwunden ebenfalls nur auf diese Weise zur Entstehung von Psychosen führen. Weitere solche Beobachtungen werden von Koeppe und Wendt beschrieben (Virchow’s Jahrb. 1874, II, 104) und mehrere andere werden wir bei den Kopfverletzungen mittheilen. Es wurden sowohl melancholische, als Exaltationszustände beobachtet und in einzelnen Fällen, wie namentlich in dem von Wendt beschriebenen (Schussverletzung der weichen Schädeldecken), trat die psychische Störung periodisch und anfallsweise auf, hatte somit einen deutlich epileptoiden Charakter, eine Beobachtung, die für die Erkennung und Begutachtung derartiger Fälle gut verwerthet werden kann.
In einer Reihe anderer Fälle ist es weniger die Verletzung als solche, als der mit ihrer Zufügung verbundene psychische Insult, der zur Entstehung der Psychose Anstoss gibt. Dass Angst und Schrecken Psychosen erzeugen können, ist eine anerkannte Thatsache. Noch mehr muss dies zugegeben werden, wenn sich derartige Gemüthsaufregungen mit körperlicher Misshandlung verbinden. Die auf diese Weise erzeugten psychischen Störungen betreffen weniger die Intelligenz als die Stimmung und combiniren sich häufig mit hysterischen oder epileptoiden Zufällen oder verlaufen unter dem später zu erwähnenden Bilde der „traumatischen Neurose“.
In allen Fällen, in denen Geistesstörung nach Verletzung oder Misshandlung auftrat, ist zu erwägen, ob nicht andere Ursachen des Ausbruches der Psychose sich nachweisen lassen, oder ob nicht die Verletzung oder Misshandlung nur deshalb die Geisteskrankheit bewirkte, weil bereits eine Prädisposition zu solchen Erkrankungen bestand. Zu diesem Behufe ist die Anamnese sehr genau zu erheben und auf alle jene Momente Rücksicht zu nehmen, welche erfahrungsgemäss entweder die primäre Veranlassung zur Entstehung von Geisteskrankheiten abgeben oder eine Prädisposition zu diesen bedingen können.
Da, wie oben bemerkt, das Gesetz zwischen vorübergehender Geistesstörung und solcher ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung unterscheidet, so ist in jedem einzelnen Falle auch die Prognose der psychischen Erkrankung zu erörtern. Primärer Blödsinn nach schweren Kopfverletzungen ist, wie bereits erwähnt, fast immer unheilbar. Aber auch die nachträglich nach Kopfverletzungen auftretenden Psychosen geben eine sehr ungünstige Prognose. Fast alle von Schlager beobachteten Fälle erwiesen sich als unheilbar und 7mal kam der Ausgang in Blödsinn und Paralyse vor. In einzelnen Fällen, besonders von epileptiformem[S. 322] Irrsein, das durch eine Depression der Fragmente geheilter umschriebener Schädelbrüche veranlasst worden war, wurde Genesung durch Trepanation erzielt. Günstiger gestaltet sich die Prognose bei durch periphere Verletzungen reflectorisch veranlassten Psychosen; insbesondere ist die auch von Koeppe (l. c.) constatirte Erfahrung zu berücksichtigen, dass durch Excision von Narben, die einen Reiz auf periphere Nervenendigungen ausüben, wesentliche Besserung und selbst Behebung des psychopathischen Zustandes erzielt werden kann. In jenen Fällen wieder, wo der psychische Insult die Hauptrolle bei der Entstehung der Psychose spielte, ist die Prognose in der Regel deshalb ungünstig, weil dieselben meist Individuen betreffen, bei denen von Haus aus eine Prädisposition zu geistiger Erkrankung bestand, die, wenn einmal Anstoss zu ihrem Ausbruche gegeben wurde, einen progressiven und selbst rapiden Verlauf zu nehmen pflegt. Solches hat auch Krafft-Ebing in den von ihm beschriebenen Fällen constatirt.
Ad c) Schwere Verletzung. Dieser Ausdruck ist derjenige, welcher die meisten Schwierigkeiten dem Gerichtsarzte bereitet und seit jeher zu einer ganzen Reihe der verschiedensten Auslegungen Veranlassung gegeben hat. Die Schwierigkeit ergibt sich einestheils aus dem Umstande, dass der Ausdruck „schwere körperliche Beschädigung“ und „schwere Verletzung“ im gewöhnlichen Sprachgebrauche Gleiches bedeuten, andererseits daraus, dass das Gesetz nirgends bestimmt, was unter „schwerer Verletzung“ verstanden werden soll.
Wir können uns diese gesetzliche Bestimmung zunächst nur so zurechtlegen, dass wir den Ausdruck „schwere körperliche Beschädigung“ als die Bezeichnung für den Gesammtbegriff des im §. 152 im Auge gehabten Verbrechens auffassen, unter „schwerer Verletzung“ aber eine solche verstehen, die vom rein ärztlichen Standpunkte, abgesehen von der Dauer der durch sie bewirkten Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit, als eine solche erklärt werden muss.
Es ist zwar auch der Arzt nicht im Stande, die Grenze zu bestimmen, wann eine Verletzung aufhört eine „leichte“ zu sein und eine „schwere“ wird, und eine solche Unterscheidung ist eigentlich der medicinischen Wissenschaft fremd; es folgt jedoch einestheils aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauche, dem zufolge der Ausdruck „schwer“ als identisch mit „wichtig“ genommen werden muss, anderseits aus dem Zusammenhange des §. 152 und aus der Gleichstellung der „schweren Verletzung“ mit zwanzigtägiger Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit, sowie mit Geisteszerrüttung, dass als schwere Verletzung nur solche erklärt werden können, durch welche entweder wichtige, wenn auch nur kurz dauernde Gesundheitsstörungen gesetzt oder wichtige vorübergehende oder bleibende Folgen veranlasst wurden.
Da der Ausdruck „wichtig“ ebenfalls eine genaue Abgrenzung nicht zulässt, so ist es begreiflich, dass der individuellen Auffassung[S. 323] des Gerichtsarztes ein grosser Spielraum gelassen wird, wie es denn tagtäglich vorkommt, dass Verletzungen, die von einem Arzte als schwer erklärt wurden, von dem anderen als blos leichte qualificirt werden. Derartige Controversen sind bei der unbestimmten Fassung des Gesetzes unvermeidlich, und ihr thatsächliches Vorkommen lässt es um so erfreulicher erscheinen, dass der neue Entwurf möglichst genau präcisirt, was er unter „schwerer Verletzung“ verstanden haben will.
Ein ausgezeichneter Commentator unseres gegenwärtigen Strafgesetzes, Herbst (l. c. 318), will unter schwerer Verletzung eine solche verstanden haben, „durch welche entweder ein für das Leben wichtiges Organ oder Organsystem getroffen und in seinen Functionen gestört wird, oder welche den Verlust oder die Unbrauchbarkeit des verletzten und zur Integrität des menschlichen Körpers nothwendigen Körpertheiles zur Folge hat“. Diese Definition stimmt in ihrem zweiten Theile mit der unserigen überein, mit dem ersten Theile aber können wir uns nicht ganz einverstanden erklären, da unserer Ansicht nach nicht die Wichtigkeit des verletzten Organes, sondern nur der Grad dessen Beschädigung, beziehungsweise Functionsstörung, die „Schwere“ der Verletzung bedingt. Es handelt sich nämlich, da zunächst nur die Frage, ob eine leichte oder schwere Verletzung vorliegt, zu beantworten ist, nicht darum, welche Folgen die betreffende Verletzung haben konnte, sondern welche sie thatsächlich hatte, dagegen wird erstere Möglichkeit zu erwägen sein, wenn in einem bestimmten Falle der im §. 155, lit. a) besonders hervorgehobene Umstand in Frage kommt. Auch ist es klar, dass nicht jeder Functionsstörung selbst eines sehr wichtigen Organs ein schwerer Charakter zugeschrieben werden kann. So entsteht z. B. durch ein in’s Auge geworfenes Sandkorn jedenfalls eine Functionsstörung eines wichtigen Sinnesorgans, es wird jedoch Niemandem einfallen, diese für eine schwere Verletzung zu erklären. Ebenso werden wir nicht jeden Ohnmachtsanfall, der nach einer Verletzung häufig vorkommt, sofort als schwere Verletzung auffassen und werden selbst bezüglich der sogenannten Gehirnerschütterung Unterscheidungen machen, da ja eine derartige augenblicklich vorübergehende Functionsstörung auch bei ganz unbedeutenden Insulten, z. B. nach Ohrfeigen, freilich nur in ihren niedersten Graden, eintreten kann.
Schliesslich wollen wir noch bemerken, dass behufs Qualification einer Verletzung als einer schweren nicht blos die unmittelbar durch sie verursachten Erscheinungen, worunter auch der mit ihrer Zufügung verbundene oder im Wundverlaufe aufgetretene Schmerz gehört, sondern auch die secundären Zufälle und selbst die etwa nothwendig gewordenen chirurgischen Eingriffe herangezogen werden müssen.
In allen Fällen, in denen der schwere Charakter einer Verletzung nicht ausgesprochen vorliegt, empfiehlt es sich, zu erwägen, ob die durch eine Verletzung primär oder secundär veranlassten Erscheinungen solche sind, dass ihre Bedeutung gleich hoch angeschlagen[S. 324] werden kann, wie die übrigen im §. 152 als Kriterien einer „schweren körperlichen Beschädigung“ angeführten Verletzungsfolgen, nämlich wie eine mindestens 20tägige Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit oder eine Geisteszerrüttung, ein Vergleich, der mitunter noch am ehesten geeignet ist, dem Arzt aus der schwierigen Lage herauszuhelfen, in die er in einzelnen Fällen in Folge der Unklarheit des Gesetzes gebracht werden kann.
Als ein solcher wird angesehen:
Lit. a): „Wenn die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist, oder auf andere Art die Absicht, einen der im §. 152 erwähnten schweren Erfolge herbeiführen, erwiesen wird, mag es auch nur bei dem Versuche geblieben sein.“
Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass das Gesetz einen erschwerenden Umstand darin erblickt, wenn die Verletzung nicht blos überhaupt in „feindseliger“, sondern in der Absicht, einen der im §. 152 erwähnten Erfolge herbeizuführen, zugefügt worden ist, und den Beweis hierfür unter Anderem auch dann für erbracht erachtet, wenn die betreffende Verletzung „mit einem solchen Werkzeuge und auf solche Art unternommen wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist“.
Es handelt sich in den einschlägigen Fällen um die Beantwortung von zwei Fragen: erstens ob das betreffende Werkzeug ein solches gewesen, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist, und zweitens, ob es auch in solcher Weise angewendet wurde, mit welcher gemeiniglich Lebensgefahr sich verbindet?
Was die erste Frage anbelangt, so handelt es sich nicht darum, zu entscheiden, ob es überhaupt möglich ist, mit dem betreffenden Werkzeuge eine lebensgefährliche Verletzung zuzufügen, sondern ob das Werkzeug ein solches war, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist, ein Ausdruck, der, wie aus dem Contexte obiger Bestimmung hervorgeht, nur so gedeutet werden kann: ob das Werkzeug eine solche Beschaffenheit hatte, dass derjenige, der dasselbe führte, schon zufolge dieser wissen konnte und wissen musste, dass mit dessen Gebrauche gegen einen Menschen sich in der Regel oder leicht Lebensgefahr für diesen verbinde. Es gehören somit hierher alle Werkzeuge, die zum Zwecke des Tödtens eigens verfertigt sind, also die Waffen im engeren Sinne, worunter ausser den verschiedensten Schuss-, Stich- und Hiebwaffen auch die sogenannten „Todtschläger“ (Lifepreserver) zu rechnen sind, aber auch Instrumente, die zwar zu friedlichen Zwecken gefertigt, doch derart sind, dass sie sehr wohl als gefährliche Waffen benützt werden können und thatsächlich häufig benützt werden, wie z. B. die Taschenmesser, Beile u. dergl.
[S. 325]
Zweifellos müssen aber auch Werkzeuge ganz anderer Art hierher gerechnet werden, wenn sie solche Eigenschaften besitzen, dass es jedem vernünftigen Menschen einleuchten muss, dass mit ihrem in gewisser Weise ausgeführten Gebrauche Lebensgefahr verbunden ist.
So nahmen wir keinen Anstand, in einem Falle, in welchem einem Manne eine schwere Kopfverletzung mit einer 1·5 Meter langen, 3 Cm. dicken, vierkantigen Eisenstange zugefügt worden war, das Werkzeug für ein solches zu erklären, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist. Dagegen äusserten wir uns in einem anderen Falle, in welchem ein etwa 2 Kilo schwerer Pflasterstein gegen einen Geistlichen geworfen wurde und diesen nur leicht verletzte, dass dieser Stein nicht als ein gemeiniglich lebensgefährliches Werkzeug angesehen werden könne.
Auch Messer und andere spitzige Werkzeuge sind nicht unter allen Umständen so beschaffen, dass man sie als „gemeiniglich lebensgefährliche Werkzeuge“ erklären kann. So hatte in einem Falle ein in ein Arbeitshaus eingelieferter Trunkenbold gegen eine barmherzige Schwester einen Stich mit einem Taschenmesser geführt und dieser einen unbedeutenden Ritz an der Stirne beigebracht. Das betreffende Taschenmesser war ein sehr altes und defectes. Die Klinge sowohl als der Griff blos je 5 Cm. lang und erstere in letzterem im hohen Grade schlotternd, ausserdem ganz stumpf und insbesondere an der ehemaligen Spitze durch langen Gebrauch stumpf und abgerundet. Mit Rücksicht auf diese Eigenschaften sprachen wir uns dahin aus, dass dieses Messer kein solches Werkzeug sei, mit dessen Anwendung „gemeiniglich“ Lebensgefahr verbunden ist. Ebenso gaben wir ein gleiches Gutachten, als uns dieselbe Frage bezüglich einer alten Schusterahle vorgelegt wurde, mit welcher Jemandem eine leichte Stichwunde in die Bauchhaut versetzt worden war.
Dass auch bei Schusswaffen die Frage nach der Lebensgefährlichkeit derselben vorkommen kann, beweist folgender Fall: Ein 36jähriger Mann hatte aus einem winzigen, sogenannten Faust-Revolver, der nur aus einer drei Querfinger breiten sechsläufigen Patronenwelle bestand, zweimal auf seine Geliebte und dann auf einen Sicherheitswachmann geschossen, ohne dass diese, obgleich getroffen, verletzt worden wären, und hatte dann die übrigen Läufe gegen seinen Kopf abgefeuert. Hierauf sah man ihn durch’s Fenster noch einmal laden und hörte mehrere Schüsse. Als die Thür erbrochen wurde, war der Mann bewusstlos, kam jedoch bald zu sich und blieb es fortan. Im Inquisitenspitale fanden sich fünf Schussöffnungen in der rechten Kopfseite, eine sechste in der linken Schläfegegend und eine siebente am Hinterhaupt in der Mittellinie desselben. Es wurden vier Kugeln extrahirt, die ganz oberflächlich sassen, während die anderen Wunden gar keine enthielten. Hirnstörungen traten nicht auf, nur acht Tage nach der Verletzung gab der Mann an, gelb zu sehen, eine Erscheinung, die schon am nächsten Tage verschwand. Bei der Hauptverhandlung wurde sowohl den Sachverständigen im Waffenfache, als den Gerichtsärzten[S. 326] die Frage vorgelegt, ob die betreffende Waffe überhaupt eine lebensgefährliche sei. Von ersteren wurde erklärt, dass schon auf drei bis fünf Schritte keine Treffsicherheit gegeben und die Treffkraft so gering sei, dass das Projectil nicht einmal in ein weiches Brett eindringe, dass daher auch ein Mensch auf eine solche oder noch weitere Distanz mit dieser Waffe nicht erheblich verletzt werden könne.
Auch die Gerichtsärzte sprachen sich ähnlich aus und hoben mit Recht hervor, dass die sieben gegen den Kopf aus nächster Nähe und dennoch fruchtlos abgefeuerten Schüsse zur Evidenz beweisen, dass ein Schuss aus einem solchen Revolver nur unter ganz besonderen Umständen, z. B. wenn das Projectil gerade das Auge getroffen hätte, keineswegs aber „gemeiniglich“ Lebensgefahr bedingen könne. Trotzdem wurde der Betreffende wegen versuchten Mordes verurtheilt.
Was die zweite Frage betrifft, ob das als lebensgefährlich erkannte Werkzeug auch „auf eine solche Art angewendet wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist“, so ergibt sich die Beantwortung derselben aus der Erwägung einerseits der Richtung in, anderseits der Kraft, mit welcher das Werkzeug geführt worden war. Wir werden diese Frage namentlich dann bejahen, wenn der Hieb, Stich, Schlag u. dergl. direct gegen Organe geführt wurde, deren Lebenswichtigkeit Jedermann bekannt ist, so gegen Kopf, Hals, Brust, Bauch, und wir werden behufs Constatirung einer solchen Richtung nicht blos auf den Sitz der Verletzung überhaupt, sondern auch auf den Verlauf des Wundcanals und andere Merkmale von Wunden unser Augenmerk lenken, aus welchen sich ein Schluss auf die Richtung ziehen lässt, in welcher der Hieb, Stich etc. geführt wurde, wobei wir die Möglichkeit nicht übersehen werden, dass das Werkzeug aus seiner ursprünglichen Richtung abgelenkt worden sein konnte, und zwar sowohl in der Weise, dass durch die Ablenkung eine lebensgefährliche Verletzung verhindert wurde, als umgekehrt, dass eine ursprünglich nicht gegen lebenswichtige Organe gerichtete Verletzung diese Richtung erst durch Ablenkung bekam. Ersterer Vorgang ist der bei weitem häufigere, daher vorzugsweise zu beachtende und die Ablenkung kann sowohl durch Pariren, Ausweichen, als auch durch Abgleiten des Instrumentes an zur Bekleidung gehörigen oder zufälliger Weise vor der getroffenen Stelle befindlichen harten Gegenständen (Knöpfen, Schnallen, in den Taschen getragenen Dingen u. dergl.), aber auch an Knochen (Rippen, Schädelknochen) erfolgen.
Dass das Werkzeug mit einer gewissen Kraft gegen den betreffenden Körpertheil geführt wurde, kann aus der Beschaffenheit der Verletzung selbst hervorgehen, so z. B. wenn das Instrument Knochen durchdrungen hatte, ebenso wird sich aber dies ergeben aus der Erwägung der Dinge, die das Instrument etwa zu durchdringen hatte, bevor es zur Körperoberfläche gelangte, oder die das tiefere Eindringen desselben verhindert hatten, und es wird aus der eventuellen Beschädigung dieser, mitunter mit[S. 327] grosser Bestimmtheit der Schluss sich ziehen lassen, dass der Stoss, Schlag u. dergl. mit grosser Kraft geführt und nur dadurch, dass auf diese Art der Stoss oder Schlag aufgehalten wurde, eine tiefere Verletzung verhütet worden ist.
In einem uns bekannten Falle hatte ein gegen die Herzgegend geführter Messerstich ein Actenbündel getroffen, welches der Betreffende zufälliger Weise in der linken Seitentasche seines Rockes trug, hatte dieses trotz seiner Dicke und die darunter liegenden Kleidungsstücke durchbohrt und war noch auf 1 Cm. in die Haut eingedrungen. Es konnte unter diesen Umständen nicht daran gezweifelt werden, dass sowohl Instrument als auch die Art seiner Anwendung lebensgefährlich gewesen war. In einem anderen analogen Falle hatte eine stählerne Uhrkette, in einem dritten ein starker lederner Flintenriemen den Stoss aufgehalten, und der Fälle, in welchen die Kopfbedeckung den schweren Ausgang eines gegen den Kopf geführten Hiebes oder Stiches verhütet hatte, gibt es eine Menge.
Erwähnt sei noch, dass, wie aus dem Contexte der lit. a) des §. 155 hervorgeht, die eben behandelte Frage dem Gerichtsarzte sowohl bei schweren als bei leichten Verletzungen und selbst dann gestellt werden kann, wenn gar keine Verletzung eingetreten ist.
Einen instructiven Fall dieser Art bringt Reinsberg (Zeitschr. d. böhm. Aerzte. 1879, pag. 19). Zwei Bauern geriethen miteinander in heftigen Streit, während dessen der eine auf seinen Gegner losstürzte und mit seiner schweren Haue einen heftigen Hieb gegen dessen Kopf führte. Der Angefallene, der gerade bei einem Birnbaum stand, wich aus, so dass ihn die Haue blos am Scheitel streifte, dafür aber mit solcher Gewalt in den Baum fuhr, dass von diesem ein grosses Stück Rinde und sogar ein grosser Splitter vom Holz abgeschlagen wurde. Mit Recht erklärten die Gerichtsärzte die Verletzung für eine leichte, die aber mit einem solchen Werkzeuge und auf eine solche Art beigebracht wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr sich verbindet. — Endlich sind hierher ausser den directen Verletzungen gewisse andere mit Lebensgefahr verbundene Acte zu rechnen, so z. B. das Herabstürzen aus grossen Höhen, in tiefes Wasser u. dergl., vorausgesetzt, dass die betreffende Handlung nur in der Absicht, zu beschädigen, nicht aber vielleicht zu tödten, geschah.
Ist das Werfen eines Messers gegen einen Menschen eine Handlung, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist? Diese Frage wurde uns aus Anlass eines Falles vorgelegt, wo ein Mann einen tödtlichen Stich in die Leber mit einem Greisslermesser erhalten hatte, und von Seite des Thäters behauptet wurde, dass er nicht direct zugestochen, sondern das Messer im Zorne gegen seinen etwa 1 Meter entfernten Gegner geworfen habe. Wir haben erklärt, dass es in solchen Fällen, ausser auf die Beschaffenheit des Messers, vorzugsweise darauf ankomme, wie das Messer geworfen, respective beim Wurf gehalten wurde. Wurde das Messer, gewissermassen zielend, mit der Spitze gegen den Angegriffenen geworfen, dann ist die Anwendung desselben entschieden eine solche, die als eine gemeiniglich[S. 328] lebensgefährliche bezeichnet werden muss, während, wenn das Messer beim Wurf quer gehalten oder mit dem Griff nach vorn gerichtet geworfen würde, nur ausnahmsweise eine schwere Beschädigung erfolgt.
Lit. b): „Wenn aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens dreissigtägiger Dauer erfolgte.“ Bei Beurtheilung dieses Umstandes müssen die gleichen Principien berücksichtigt werden, die wir bei Besprechung des §. 152, respective der zwanzigtägigen Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit auseinandergesetzt haben.
Lit. c): „Wenn die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten verbunden war.“ Das Gesetz meint hier keineswegs die Qualen, die Jemand erst nachträglich im weiteren Verlaufe der Verletzung, z. B. durch die Entzündung oder durch etwa nöthig gewordene schmerzhafte Operationen, auszustehen hatte, sondern nur jene, die mit der Handlung, also mit der Zufügung der Verletzung, verbunden waren. Da das Gesetz ferner von besonderen Qualen spricht, so ist darunter nicht der nothwendig mit jeder einzelnen Verletzung verbundene Schmerz zu verstehen, wohl aber, wenn Jemand nicht blos einfach verletzt, sondern durch absichtliche Multiplication der Verletzungen oder durch absichtliche Verlängerung des mit einer Verletzung verbundenen Schmerzes gemartert worden ist.
Ersteres kommt namentlich beim sogenannten Lynchen vor, auch mitunter bei Misshandlung von Kindern. Einen Fall letzterer Art hatten wir zu begutachten. Er betraf einen Bäckermeister, der bei einem Streite mit seinem Gesellen, einem sehr starken Individuum, von diesem mit den Zähnen beim Daumen gepackt und trotz seines Schreiens und Flehens, und trotzdem sich verschiedene Personen bemühten, ihn von seinem Peiniger zu befreien, von diesem durch mehrere Minuten festgehalten und dabei der Daumen so zerquetscht wurde, dass er später durch Gangrän verloren ging. Da hier eine absichtliche Verlängerung des mit der Verletzung verbundenen Schmerzes vorlag, unterliessen wir nicht, zu erklären, dass die Zufügung derselben mit besonderen Qualen verbunden war. Dieselbe Erklärung gab Blumenstok (Lehre von den Verletzungen in Maschka’s Handb. I, 121) bei einem Manne ab, der von einem Ehepaare zu Boden geworfen worden war und vom Manne, der auf seiner Brust kniete, gewürgt wurde, während das Weib ihm die Genitalien entblösste und mit beiden Händen die Hoden comprimirte, durch welche mehrere Minuten dauernde Manipulation ihm unsäglicher Schmerz bereitet wurde. Die Untersuchung ergab noch nach sechs Tagen nebst Würgespuren am Halse eine linksseitige Orchitis und Gelbfärbung der Scrotalhaut. — Grausame Fesselungen, absichtlich längeres Hungern- und Durstenlassen, Aussetzen extremen Temperaturen und andere derartige Roheiten werden ebenfalls als Handlungen bezeichnet werden können, die mit „besonderen Qualen“ verbunden sind, und es ist kein Zweifel, dass eventuell auch psychische Qualen unter diesen Begriff zu subsumiren wären.
[S. 329]
Lit. e): „Wenn die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde.“ Diese Bestimmung bereitet dem Gerichtsarzte nicht geringe Schwierigkeiten. Herbst (l. c. 322) commentirt dieselbe folgendermassen: „Eine schwere Verletzung wird dann zur lebensgefährlichen, wenn das durch sie beschädigte und in seinen Functionen gestörte Organ oder Organsystem mit seinen Functionen für das Leben nicht blos wichtig, sondern unumgänglich nothwendig ist.“ Diese Definition ist nicht geeignet, die Schwierigkeiten zu beheben; denn einestheils können auch Verletzungen nicht lebenswichtiger Organe lebensgefährlich werden und selbst letal ablaufen, und es ist bekannt, dass selbst ganz geringfügige Verletzungen mitunter einen solchen Verlauf nehmen (z. B. Quetschwunden der Finger durch Hinzutritt von Tetanus), anderseits muss nicht jede Verletzung eines zum Leben unumgänglich nothwendigen Organes lebensgefährliche und nicht einmal immer schwere Erscheinungen hervorrufen.
Wir sind der Meinung, dass hier der strenge Wortlaut des Gesetzes zu beachten und nur jene Verletzung für eine lebensgefährliche zu erklären ist, welche durch ihre Folgen lebensgefährlich wurde, d. h. durch welche Symptome veranlasst wurden, welche für das Leben des Verletzten fürchten liessen. Sind solche Symptome nicht eingetreten, dann liegt kein Grund vor, die Verletzung für eine lebensgefährliche zu erklären, auch wenn ein zum Leben unumgänglich nothwendiges Organ verletzt worden ist, denn eine lebensgefährliche Verletzung ohne lebensgefährliche Symptome wäre ein innerer Widerspruch.
Aber auch in solcher Auffassung bietet die gesetzliche Bestimmung dem Gerichtsarzte viele Verlegenheiten, da sich der Begriff „lebensgefährlich“ nicht genau definiren und nicht genau bestimmen lässt, welche Symptome als lebensgefährlich aufgefasst werden müssen. Auch hier wird der individuellen Auffassung des Untersuchenden ein grosser Spielraum gelassen und erfahrungsgemäss zu mannigfachen und unliebsamen Controversen Veranlassung gegeben, wie überall dort, wo der Arzt gezwungen wird, das unsichere Gebiet der Prognose zu betreten.
Im Allgemeinen muss den Gerichtsarzt die klinische Erfahrung leiten und er wird eine Verletzung dann für lebensgefährlich erklären, wenn Symptome aufgetreten sind, die dieser Erfahrung entsprechend die Befürchtung aufkommen liessen, dass ein letaler Ausgang bevorstehe. Die in dieser Beziehung gegebenen Möglichkeiten zu besprechen, erscheint uns unthunlich und, da beim Gerichtsarzte speciell klinisches Wissen vorausgesetzt wird, auch überflüssig.
Der §. 156 führt jene bleibenden Verletzungsfolgen auf, deren Vorhandensein das höchste Strafausmass, schweren Kerker zwischen 5 und 10 Jahren, bedingt.
[S. 330]
Als solche werden bezeichnet:
Lit. a): „Verlust oder bleibende Schwäche der Sprache, des Gesichtes oder Gehöres, der Verlust der Zeugungsfähigkeit, eines Auges, Armes oder einer Hand, oder eine andere auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung.“
Verlust oder bleibende Schwächung der Sprache. Was unter Verlust der Sprache zu verstehen sei, bedarf keiner näheren Erörterung, und man wird an dem Vorhandensein desselben selbst dann nicht zweifeln, wenn etwa das Individuum noch im Stande wäre, mit Mühe einige mehr weniger verständliche Laute hervorzubringen. Dagegen ist der Begriff „Schwächung der Sprache“ sehr dehnbar, da, wenn wir denselben gleichbedeutend mit Erschwerung des deutlichen Sprechens nehmen, auch z. B. schon jene, wie sie durch Verlust von Vorderzähnen bedingt wird, hierher gezählt werden könnte. Offenbar hat jedoch das Gesetz nicht solche geringe und überdies zu behebende Sprachstörungen, sondern, wie schon aus der Zusammenstellung mit Verlust der Sprache und mit den anderen im §. 156 erwähnten schweren Folgen hervorgeht, nur wichtige Sprachbehinderungen im Auge.
Dieselben können veranlasst werden zunächst durch unmittelbare Verletzung der lautbildenden Organe, so durch ausgebreitete Zerstörungen der Zunge, des Gaumens, überhaupt der Mundhöhle, insbesondere aber des Kehlkopfes[244]; ferner durch Verletzung der bei der Sprachbildung betheiligten Nerven, insbesondere des N. hypoglossus (N. loquens!) und des N. recurrens.[245]
Einen Fall letzterer Art haben wir selbst beobachtet. Ein Bauernbursche, der früher eine kräftige Bassstimme gehabt hatte, erhielt einen Messerstich in den Hals an der inneren Seite des rechten Kopfnickers, der die Trachea etwa 3 Cm. unter der rechten Hälfte des Ringknorpels eröffnete. Der Verletzte war in den ersten Tagen nicht im Stande, zu sprechen, was mit der Eröffnung der Trachea in Verbindung gebracht wurde. Aber auch nach Verheilung der Trachealwunde war die Sprache mühsam und heiser und, obgleich sich der Zustand etwas gebessert hatte, so fanden wir doch noch nach ¾ Jahren, als der Fall zur Hauptverhandlung kam, eine auffallend heisere Stimme und bei der nachträglich vorgenommenen laryngoskopischen [S. 331]Untersuchung Lähmung des rechten Stimmbandes. Wir schlossen auf Verletzung des N. recurrens, und obgleich wir zugaben, dass möglicherweise der Zustand sich bessern könne, so erklärten wir doch eine vollständige Wiederherstellung der Stimme für unwahrscheinlich und nahmen daher eine „bleibende Schwächung der Sprache“ als vorhanden an.
Bemerkenswerth ist ferner die Aphasie nach Gehirnverletzungen, insbesondere des linken Lobus frontalis.[246] Eine Reihe von solchen Fällen hat Bonafont (Schmidt’s Jahrb. 1847, LVI, 10) zusammengestellt. Einen anderen Fall beschreibt Wernheer (Virchow’s Archiv. 1872, pag. 289). Auch Clarus („Ueber Aphasie bei Kindern.“ Jahrb. f. Kinderheilk. 1874, VII, 369) führt fünf Fälle von Aphasie bei Kindern nach Kopfverletzungen auf, worunter zwei vollständige und eine unvollständige Heilung, und weitere Beobachtungen nebst Bemerkungen über forensische Beurtheilung der Aphasie bringen Blumenstok (Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 363 und Maschka’s Handbuch, l. c. pag. 125), Soulouwiac (Wiener med. Blätter. 1884, pag. 306) und v. Limbeck (Aphasie nach Schuss. Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 45).
Endlich ist zu erwähnen, dass Verlust und Schwächung der Sprache auch durch plötzlichen Schreck u. dergl. veranlasst werden kann.
In allen derartigen Fällen ist ausser dem Grade der Sprachstörung zu erwägen, ob der Verlust oder die Schwächung der Sprache als bleibend zu erachten sind, da sie nur in diesem Falle unter den §. 156 a) subsumirt werden könnten. Die letzterwähnten Sprachstörungen, die überdies in der Regel nur bei schon früher neuropathisch gewesenen Individuen, insbesondere bei hysterischen Frauen vorzukommen pflegen und auch simulirt werden können, werden selten als „bleibende“ zu bezeichnen sein[247], aber auch bei den aus anderen Ursachen entstandenen wird man mit dem Ausspruche, dass die Sprachstörung eine bleibende sei, nicht allzu schnell sein dürfen, da es in der Natur der meisten der Sprachstörung zu Grunde liegenden pathologischen Processe begründet ist, dass die Restitutio ad integrum längere Zeit erfordert.
Verlust oder bleibende Schwächung des Gesichtes. Die Fassung dieser Bestimmung hat insoferne zu Meinungsverschiedenheiten Veranlassung gegeben, als Einzelne dieselbe nur auf Verlust oder bleibende Schwächung des Sehvermögens auf beiden Augen bezogen, während Andere auch schon die Zerstörung oder Beeinträchtigung des Sehvermögens blos auf einem[S. 332] Auge darunter subsumirt wissen wollten. Wir schliessen uns letzterer Ansicht insoferne an, als wir den Verlust oder schwere Beeinträchtigung des Sehvermögens auch nur auf einem Auge als „Schwächung des Gesichtes“ auffassen, da auch vom rein ärztlichen Standpunkte zugegeben werden muss, dass, wenn das Sehvermögen auf einem Auge verloren ging oder wesentlich beeinträchtigt wurde, auch das „Gesicht“ im Allgemeinen ein minder gutes, also „geschwächtes“ geworden ist, da ferner der in derselben Alinea gebrauchte Ausdruck „Verlust eines Auges“, wie aus dem Nachsatze „oder eine andere Verstümmelung oder Verunstaltung“ hervorgeht, sich auf den Verlust des ganzen Bulbus und die dadurch bewirkte Entstellung bezieht, und weil auch von juristischer Seite wiederholt betont wurde, dass schon der Verlust oder die Störung des Sehvermögens nur auf einem Auge als „Schwächung des Gesichtes“ im Sinne des Gesetzes aufgefasst werden müsse[248], eine Auffassung, die auch dadurch ihre nachträgliche Bestätigung erhielt, dass sowohl das deutsche Strafgesetz als der österreichische Strafgesetz-Entwurf eine „schwere Verletzung“ im neueren Sinne annehmen, möge durch dieselbe das Sehvermögen auf beiden oder nur auf einem Auge verloren gegangen sein.
Da der Begriff „Schwächung“ ein sehr dehnbarer ist, so wird festzuhalten sein, dass, wie schon aus der Gleichstellung der Schwächung des Gesichtes mit vollständigem Verlust desselben und mit den anderen im §. 156 angeführten schweren Folgen hervorgeht, nur höhere Grade von Beeinträchtigung des Sehvermögens hierher gezählt werden können.
Verlust oder bleibende Schwächung des Gehöres. Obgleich nicht zu zweifeln ist, dass auch schon der Verlust oder die hochgradige Beeinträchtigung des Gehöres auf einer Seite eine Schwächung des ganzen Gehöres bildet, so kann doch einem solchen Verluste keine so hohe Bedeutung zugeschrieben werden. wie dem Verluste des Sehvermögens auf einem Auge.
Offenbar hatte der Gesetzgeber den Sinn als Ganzes im Auge und auch im neuen Entwurf, sowie im deutschen Strafgesetz wird nur vom Gehör im Allgemeinen gesprochen, nicht aber zwischen dem Gehör auf einem oder beiden Ohren unterschieden, wie dies bezüglich des Sehvermögens geschah.
Auch hier werden wir festhalten, dass nur erhebliche Beeinträchtigung des Gehöres als Schwächung des Gehöres im Sinne des betreffenden Gesetzes begutachtet werden kann und dass es sich ebenso wie bezüglich der Schwächung des Gesichtes empfiehlt, in zweifelhaften Fällen sich blos auf die Auseinandersetzung der Natur und des Grades der Störung der Function des betreffenden Sinnesorganes zu beschränken und es dem Richter, beziehungsweise[S. 333] den Geschworenen zu überlassen, ob sie auf Grund dieser Auseinandersetzung den concreten Fall unter die Alinea a) des §. 156 subsumiren wollen oder nicht.
Verlust der Zeugungsfähigkeit. Das Gesetz spricht nur von Verlust der Zeugungsfähigkeit, nicht aber, wie bei der Sprache, dem Gesichte und Gehöre, auch von blosser bleibender Schwächung dieser Fähigkeit. Es macht ferner keinen Unterschied zwischen Verlust der Fähigkeit zum Beischlaf und jenem der Fähigkeit zur Befruchtung, beziehungsweise zur Conception, doch unterliegt es keinem Zweifel, dass der Verlust jeder einzelnen dieser Fähigkeiten als Verlust der Zeugungsfähigkeit begutachtet werden müsste. Erfahrungsgemäss kommt eine solche Verletzungsfolge nur selten vor, am ehesten noch bei Männern, deren Genitalien bei Raufereien, aber auch bei rohen Spässen häufig genug Gegenstand des Angriffes werden, wobei es jedoch nur ausnahmsweise zu solchen Verletzungen kommt, die, wie z. B. Verlust des Penis, beiderseitige Castration oder Quetschung beider Hoden, Verlust der Zeugungsfähigkeit nach sich ziehen oder ziehen können. Ein Fall, in welchem einem jungen Manne von seiner früheren Geliebten, die er verlassen hatte, der Penis an der Wurzel vollkommen abgeschnitten wurde, ist unlängst in Wien vorgekommen und die Verletzung wurde selbstverständlich für eine solche erklärt, die Verlust der Zeugungsfähigkeit nach sich gezogen hatte.
Noch seltener kommt bei Weibern der Verlust der Zeugungsfähigkeit als Verletzungsfolge in Frage. Hochgradige und unheilbare Verwachsungen der Scheide nach Zerreissungen oder anderweitigen Verletzungen derselben könnten sie bedingen.
In einem von Casper-Liman (l. c. I, 362) mitgetheilten, einzig dastehenden Falle wurde ein junges Mädchen von drei Knechten überfallen und demselben durch Einbohren der Finger, sowie durch Einstopfen von Sand und Steinen in die Genitalien das Mittelfleisch und der Scheideneingang so zerrissen, dass erst nach langer Krankheit und vorgenommener plastischer Operation Genesung erfolgte mit Zurücklassung einer grossen Narbe des Perineums, jedoch ohne Beeinträchtigung der Zugänglichkeit des Scheideneinganges und der Scheide selbst. Casper erklärte in der Schwurgerichtsverhandlung, dass zwar die Betreffende sowohl beischlafs- als conceptionsfähig sei, dass aber dieselbe trotzdem durch die Verletzung der Zeugungsfähigkeit im weiteren Sinne beraubt worden sei, da „die Gebärfähigkeit“, welche doch einen wesentlichen Factor der Fortpflanzungsfähigkeit des Weibes bildet, hier in solcher Weise gelitten habe, dass zu befürchten steht, dass bei einer erfolgenden Geburt das vernarbte Mittelfleisch wieder zerreissen und die Person für ihr ganzes Leben wieder elend verstümmelt sein werde. Staatsanwalt und Geschworene acceptirten diese Interpretation des Begriffes der Zeugungsfähigkeit und der Thäter wurde zu 12 Jahren Zuchthaus verurtheilt.
Verlust eines Auges, Armes oder einer Hand oder eine andere auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung.[S. 334] Unter Verstümmelung im weiteren Sinne ist der Verlust von Gliedern oder Gliedmassen zu verstehen. Zweifellos ist jedoch dieser Begriff im Sinne der lit. a) des §. 156 enger zu nehmen, indem, wie aus dem offenbar als Beispiel angeführten Verlust eines Armes oder einer Hand hervorgeht, nur der Verlust wichtigerer Glieder des Körpers, insbesondere ganzer Gliedmassen oder grösserer Theile derselben, hierher gerechnet werden kann, nicht aber auch schon der Verlust z. B. eines Fingers oder gar einzelner Fingerglieder. Ob das Gesetz unter Verlust nur die vollständige Abtrennung des betreffenden Gliedes vom Körper oder auch schon das Unbrauchbarwerden desselben versteht, ist fraglich. Da jedoch begreiflicher Weise dem Unbrauchbarwerden eines Armes, einer Hand etc. für den Verletzten eine wesentlich gleiche Bedeutung zukommt, wie dem vollständigen Verluste desselben, so erscheint es auch von ärztlicher Seite gerechtfertigt, beide Verletzungsfolgen zu identificiren, beziehungsweise die Analogie derselben dem Richter oder den Geschworenen auseinanderzusetzen.
Die Verunstaltung definirt Herbst (l. c.) als eine widerliche Veränderung der menschlichen Gestalt, Geyer[249] als eine bedeutende Gestaltsveränderung eines mehr in die Augen fallenden Körpertheile, Liman (l. c. I, 311) als eine unheilbare Formveränderung eines Körpertheils, die einen widrigen und unangenehmen Eindruck macht.
Es handelt sich demnach bei dem Begriffe der Verunstaltung oder, was gleichbedeutend ist, der Entstellung, um einen als Verletzungsfolge zurückgebliebenen Schönheitsfehler, also um ein rein „ästhetisches Moment“, dessen Beurtheilung eigentlich gar nicht mehr ausschliesslich medicinischer Natur ist, sondern auch den Laien, insbesondere den Geschwornen überlassen werden könnte, was schon deshalb zweckmässig wäre, da es doch nur auf den allgemeinen Eindruck ankommt, den das Individuum in Folge der erlittenen Veränderung seiner äusseren Körperbeschaffenheit. und zwar zunächst auf das Laienpublicum, gewährt.
Sowohl die Verunstaltung als die Verstümmelung muss eine auffallende sein, wenn sie in die lit. a) des §. 156 einbezogen werden soll. Allerdings ist es unmöglich zu bestimmen, wann eine Verunstaltung aufhört oder anfängt auffallend zu sein oder nicht, doch empfiehlt es sich, den Auseinandersetzungen der Commentatoren (Herbst, l. c. 322) entsprechend, das betreffende Individuum im bekleideten und nicht im nackten Zustande zu beurtheilen, und zu erwägen, ob die durch die Verletzung verursachte Körperveränderung derart ist, dass sie auch im bekleideten Zustande sofort an dem Individuum sich bemerkbar macht. Jedenfalls werden Defecte, die sich leicht verbergen oder corrigiren lassen, nicht hierher zu rechnen sein.
[S. 335]
Als Beispiel einer auffallenden Verunstaltung wird von Seite des Gesetzes der Verlust eines Auges angeführt und im gleichen Sinne werden wir den Verlust der Nase, ausgebreitete Narben im Gesichte, wie sie namentlich nach Verbrennungen und Verätzungen vorkommen, aber auch hochgradige Verschiebungen des Rumpfes, wie wir eine solche nach ausgebreiteter Verbrennung sahen, sowie ein in Folge von Verletzungen der unteren Extremitäten zurückgebliebenes auffallendes Hinken u. dergl. als auffallende Verunstaltung erklären können.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass bei der Begutachtung einer Verletzungsfolge als Verunstaltung überhaupt und als auffallende insbesondere auch das Individuum selbst in Betracht gezogen werden muss. So ist es klar, dass Narben im Gesichte, die wir beim Manne als eine auffallende Entstellung zu erklären Anstand nehmen werden, bei einem jungen Mädchen eine solche bilden können, da bei diesem eine Entstellung des Gesichtes durch Narben nicht blos mehr auffällt, sondern auch mehr bedeutet, als beim Manne, wie denn auch das bürgerl. G. B. diesen Umstand beachtet, da es im §. 1326 bestimmt, dass, wenn die betreffende Person durch die Misshandlung verunstaltet wurde, auf die Entstellung, zumal wenn die Person weiblichen Geschlechtes ist, insoferne Rücksicht genommen werden soll, als ihr besseres Fortkommen dadurch verhindert werden kann.
Ebenso können bei Mädchen und jungen Frauen Entstellungen der Arme und der Brust auffallende Verunstaltungen im Sinne des §. 156 a) bilden, während gleichen Veränderungen beim Manne möglicherweise nur eine untergeordnete Bedeutung zugeschrieben werden könnte.
Ueberdies ist, insbesondere was die Entstellungen des Gesichtes anbelangt, auch der frühere Zustand des letzteren zu beachten, und wir werden Narben im Gesichte einer jungen Person anders beurtheilen, als im Gesichte einer Greisin oder einer Person, die schon früher im Gesichte in auffallender Weise entstellt gewesen war.
Lit. b): Immerwährendes Siechthum oder eine unheilbare Krankheit oder eine Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung. Entschieden wäre es viel einfacher gewesen, wenn das Gesetz, statt vorstehende Unterscheidungen zu machen, nur die unheilbare geistige oder körperliche Krankheit als besonders gravirende Verletzungsfolge hervorgehoben hätte. Dass es dies nicht that, davon scheint uns der Grund darin zu liegen, dass das Gesetz durch besondere Erwähnung des immerwährenden Siechthums und der unheilbaren Geistesstörung angedeutet haben wollte, dass überhaupt unter diese Alinea blos unheilbare Krankheiten von höherer Bedeutung zu subsumiren sind, nicht aber alle unheilbaren Krankheiten ohne Unterschied.
Mit dem Begriffe „Siechthum“ verbindet man dem gewöhnlichen Sprachgebrauche zufolge nicht blos den einer chronischen Krankheit, sondern auch den der Schwäche und Hinfälligkeit und[S. 336] dadurch bewirkter Unfähigkeit zu ausgiebiger Arbeitsleistung und zum Lebensgenuss. Da das Gesetz nur von „immerwährendem“ Siechthum spricht, so kommen nur unheilbare Zustände der erwähnten Art in Betracht. Als solche wären insbesondere Lähmungen des ganzen Körpers oder von Körperhälften zu betrachten, wie sie nach Kopf- und Rückenmarksverletzungen, aber auch nach Intoxicationen zurückbleiben können, ebenso epileptische Zustände, Stricturen der Trachea oder des Oesophagus, wie sie theils nach Verletzungen, theils nach Verätzungen auftreten, Koth- und Harnfisteln u. dergl.
Dass „Siechthum“ und „unheilbare Krankheit“ sich von einander nicht scharf trennen lassen und dass auch die genaue Präcisirung des letzteren Begriffes zu den Unmöglichkeiten gehört, bedarf keines weiteren Beweises, doch sei bemerkt, dass rücksichtlich des Begriffes „unheilbare Krankheit“ sich der oberste Gerichtshof mit Erkenntniss vom 18. Januar 1854[250] dahin ausgesprochen hat, dass unter „Krankheit“ nicht, wie gewöhnlich, blos innerliche, sondern auch äussere (sogenannte chirurgische) Krankheiten zu verstehen seien.
Ueber die „Geistesstörung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung“ haben wir uns bereits oben ausgesprochen.
Lit. c): Auch die immerwährende Berufsunfähigkeit bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung, da wir den Begriff der Berufsunfähigkeit bereits bei Besprechung der §§. 152 und 155 auseinandergesetzt haben und die Feststellung der immerwährenden Natur, respective Unheilbarkeit der Berufsunfähigkeit keiner besonderen Erörterung bedarf.
Anschliessend an die Besprechung der gerichtsärztlichen Beurtheilung der Verletzungen am Lebenden im Sinne des gegenwärtigen österr. St. G. muss noch die Bestimmung des §. 132 der österr. St. P. O. erwähnt werden, welche verlangt, dass die betreffenden Sachverständigen sich auszusprechen haben, „welche von den vorhandenen Körperverletzungen oder Gesundheitsstörungen an und für sich oder in ihrem Zusammenwirken unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles als leichte, schwere oder lebensgefährliche anzusehen seien“.
Dass Verletzungen, von denen jede einzelne nur als leichte aufzufassen wäre, in ihrem Zusammenwirken eine schwere, beziehungsweise lebensgefährliche bilden können, ist begreiflich und kommt auch thatsächlich nicht selten vor. Es gehören hierher insbesondere Stock-, Ruthen-, Peitschenhiebe u. dergl., von denen jedem einzelnen eine Bedeutung in der Regel nicht zugeschrieben werden kann, die aber zusammengenommen mitunter schwere und selbst lebensgefährliche Erscheinungen zu bewirken im Stande sind. Ebenso kann eine aus mehreren Wunden gleichzeitig erfolgte Blutung einen schweren Charakter erhalten, während dem Blutverlust[S. 337] aus nur einer von denselben ein solcher Charakter nicht zufällt. Auch bedarf es keiner Auseinandersetzung, dass auch der weitere Verlauf einer Verletzung durch eine oder mehrere gleichzeitig gesetzte Verletzungen wesentlich beeinflusst werden kann.
Eine solche combinirte Wirkung von mehreren Verletzungen kann sowohl bei Misshandlungen durch ein einzelnes Individuum vorkommen, als, und zwar verhältnissmässig häufiger, bei Schlägereien oder beim Lynchen, wo die Misshandlung durch mehrere Individuen an einer und derselben Person verübt worden ist. Darauf bezieht sich auch der §. 157 des St. G., welcher bestimmt, dass, wenn bei einer zwischen mehreren Leuten entstandenen Schlägerei etc. die schwere körperliche Beschädigung nur durch das Zusammenwirken der Verletzungen oder Misshandlungen von Mehreren erfolgte — — — — —, Alle, welche an den Misshandelten Hand angelegt haben, des Verbrechens der schweren körperlichen Beschädigung schuldig erkannt werden sollen.
Eine grössere Schwierigkeit bietet die Interpretation der unbedingt oder nur unter den besonderen Umständen des Falles leichten, schweren oder lebensgefährlichen Verletzung.
Wenn wir berücksichtigen, dass im gleichen Paragraph der Gesetzgeber auch zu wissen verlangt, „welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle daraus hervorgegangen sind“, und damit zusammenhalten, dass auch im §. 129, der sich auf die tödtlich gewordenen Verletzungen bezieht, offenbar in gleicher Intention verlangt wird, dass der Arzt sich erkläre, „ob die einer tödtlichen Verletzung zu Grunde liegende Handlung a) schon ihrer allgemeinen Natur nach, oder b) vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaffenheit oder eines besonderen Zustandes des Verletzten, oder c) wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder d) vermöge zufällig hinzugekommener, jedoch durch sie veranlasster oder aus ihr entstandener Zwischenursachen den Tod herbeigeführt habe, und ob endlich e) der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte abgewendet werden können“, so scheint es uns klar, dass unter „unbedingt“ schweren oder lebensgefährlichen Verletzungen nur solche zu verstehen sind, die ihrer „allgemeinen Natur nach“ es geworden sind, während als „bedingt, oder nur unter den besonderen Umständen schwere oder lebensgefährliche Verletzungen“ solche zu bezeichnen sein werden, welche diese Qualität nur wegen der im §. 129 St. P. O. sub b bis e angeführten Umstände erlangt haben.
Die Berücksichtigung dieser Umstände wurde vielfach perhorrescirt, da sie an die alten, glücklicherweise abgethanen „Letalitätsgrade“ erinnert, und es wurde insbesondere bezüglich der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ von Seite eines englischen Richters mit Recht bemerkt: „dass Niemand verpflichtet werden kann, seine Gesundheit in einem solchen Zustande zu halten, dass er gegen alle üblen Folgen einer durch einen Dritten zugefügten Körperverletzung geschützt
[S. 338]
wäre“ (Taylor, Med. Jurispr. 1865, pag. 485). Trotzdem wird dieselbe in der Praxis nicht umgangen werden können, und wenn auch z. B. die deutsche St. P. O. analoge Bestimmungen nicht enthält[251], so lehrt doch die Erfahrung, dass die Gerichtsärzte in ihren Gutachten derartige Umstände berücksichtigen, beziehungsweise hervorheben, und dass auch der Richter bei dem ihm innerhalb gewisser Grenzen überlassenen Strafausmasse dieselben in die Wagschale legt.
Wir wollen diese Umstände sowohl in Bezug auf die am Lebenden zur Beurtheilung gelangenden, als auf die tödtlichen Verletzungen unter Einem besprechen.
Sowohl aus dem Contexte der erwähnten Gesetzesstellen als aus der allgemeinen Erfahrung geht hervor, dass zweierlei in Betracht kommt: 1. ob die Handlung, welche die Verletzung bewirkte, eine solche war, dass sie ihrer allgemeinen Natur nach (unbedingt) letztere bewirken musste, und 2. ob der Verlauf, beziehungsweise Ausgang der Verletzung einzig in der allgemeinen Natur dieser oder in anderen Umständen begründet war.
Ad 1. Wenn die Verletzung mit Anwendung grosser Kraft und mit solchen Werkzeugen zugefügt wurde, deren allgemeinen Eigenschaften nach der Thäter wissen konnte und musste, dass durch ihren Gebrauch schwere und lebensgefährliche Verletzungen entstehen können, wie insbesondere mit Waffen oder sehr wuchtigen Werkzeugen, dann ergibt sich die bejahende Beantwortung dieser Frage von selbst. Dagegen wird dieselbe negativ ausfallen, wenn verhältnissmässig unbedeutende und als unschädlich allgemein bekannte Gewalten, wie Ohrfeigen, Stösse mit der Faust u. dgl., schwere oder gar lebensgefährliche oder tödtliche Verletzungen bewirkten, und sich herausstellt, dass eben ganz besondere, dem Thäter unbekannte Körperverhältnisse der Grund eines so ungewöhnlichen und unerwarteten Ausganges der Misshandlung gewesen sind. Derartige Verhältnisse sind eben als „eigenthümliche persönliche Beschaffenheit“ oder, wie der gewöhnliche Ausdruck lautet, als „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ im Sinne der St. P. O. aufzufassen und besonders zu erörtern.
Eine derartige eigenthümliche Leibesbeschaffenheit ist der Grund, warum z. B. manchmal unbedeutende Erschütterungen des Kopfes durch Schläge mit der Hand oder mit der Faust, ja sogar durch „Contrecoup“ einen unglücklichen Ausgang nehmen können. Werner (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1863, XXIV, 117) berichtet über einen Fall, wo aus Anlass eines Streites ein Mann einen Faustschlag gegen das Hinterhaupt erhielt und sofort todt zusammenstürzte. Bei der Section fand sich ein Sarcom der Dura mater, welches an derselben Stelle, die vom Faustschlage getroffen wurde, den Schädelknochen usurirt[S. 339] gehabt hatte. Als eigenthümliche Leibesbeschaffenheit wäre auch die bei Säufern so häufige Pachymeningitis vasculosa aufzufassen, bei welcher der Natur des Leidens zufolge schon geringe Erschütterungen genügen, um die zarten Gefässe, aus denen die pachymeningitischen Membranen bestehen, zur Ruptur zu bringen. Einen einschlägigen Fall haben wir in der Wr. med. Presse, 1876, Nr. 45, publicirt und einen anderen, wo die Hämorrhagie nach einer gewöhnlichen Ohrfeige eingetreten war, unlängst obducirt. Ebenso obducirten wir am selben Tage einen mit hochgradigem paralytischen Blödsinn Behafteten, der in der Irrenanstalt vom Wärter bei Seite geschoben worden war, als er sich einem unrechten Bette näherte und in Folge dessen so heftig hinstürzte, dass er sich die Nasenbeine zerbrach, eine Quetschwunde an der Oberlippe zufügte, sofort somnolent wurde und am anderen Tage starb. Die Obduction ergab ausser den genannten Verletzungen keine weiteren, sondern nur den bekannten Hirnschwund der Paralytiker. Hier war eine eigenthümliche Leibesbeschaffenheit zunächst Ursache, dass das einfache Wegschieben ein so wuchtiges Hinstürzen veranlasste, und andererseits zugleich der Grund, dass schon die einfache Hirnerschütterung den Tod herbeiführte. Auch hydrocephalische Zustände, sowie die durch vorzeitige Nahtverwachsung bedingten Behinderungen des Hirnwachsthums kommen in dieser Beziehung in Betracht, und häufig sind diese im Spiele, wenn, was nicht selten vorkommt, nach gewissen Misshandlungen von Kindern von Seite der Lehrer (Kopfstücke, Ziehen bei den Haaren und Ohren) schwere Zufälle auftreten. Wir haben einen Fall obducirt, in welchem ein 14jähriger, hochgradig hydrocephalischer und mit angeborener Amaurose behafteter Knabe, der auf einer kaum einen Meter vom Boden entfernten Stufe sass, von einem anderen Knaben herabgestossen wurde, und obgleich er nur auf das Gesäss fiel und nirgends mit dem Kopfe angeschlagen hatte, sofort bewusstlos wurde, Convulsionen bekam und nach einer Stunde starb, ohne dass bei der Section etwas Anderes als ein hochgradiger Hydrocephalus gefunden worden wäre. In einem anderen Falle hatte ein epileptischer Bursche von seinem Kameraden im Scherze einen Schlag mit der flachen Hand auf den mit einer Kappe bedeckten Scheitel erhalten, war sofort unter Convulsionen zusammengestürzt, bekam einen epileptischen Anfall nach dem anderen und starb am nächsten Tage. Die Obduction ergab im linken Scheitelbein ein thalergrosses Loch mit theils wulstig abgerundeten, theils zackig in das Lumen vorstehenden Rändern und über dem Defect eine schwielige, mit den Meningen verwachsene Narbe. Anamnestisch wurde constatirt, dass der Untersuchte als kleiner Knabe durch einen Steinwurf am Kopfe verwundet worden war, lange Zeit bewusstlos darniederlag und seitdem an Epilepsie gelitten hatte, sowie dass der Schlag offenbar gerade die betreffende Narbe, an welcher der Bursche stets sehr empfindlich war, getroffen hatte.
Ebenso müsste man die eigenthümliche Leibesbeschaffenheit betonen, wenn ein unbedeutender Stoss ein bestehendes Aneurysma oder ein Darmgeschwür zur Ruptur gebracht hätte, ferner abnorme[S. 340] Brüchigkeit der Knochen, die Hämophilie, aber auch acute sowohl als chronische Erkrankungen anderer Art, wie Tuberculose, Alkoholismus u. dergl. Unlängst obducirten wir eine alte Frau, die von einem Omnibus niedergestossen und wenige Augenblicke darnach, wie es in der Polizeianzeige hiess, an Verblutung aus einer grossen Rissquetschwunde des Unterschenkels gestorben war. Die Obduction ergab nur ein grosses callöses Fussgeschwür und in dessen Grunde einen 2 Cm. langen Querriss, welcher einen Varix eröffnet hatte, sonst keine Spur einer Verletzung. Zwischen dem Niedergestossenwerden und der betreffenden Risswunde bestand offenbar ein ursächlicher Zusammenhang, doch hatte ersteres nicht seiner „allgemeinen Natur nach“, sondern nur wegen der eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit den betreffenden Effect herbeigeführt.
Der im §. 129 sub 2b) erwähnte Begriff des „besonderen Zustandes“ des Verletzten bezieht sich im Gegensatze zu habituellen offenbar nur auf vorübergehende Zustände, in denen sich das Individuum gerade zur Zeit der That befand. Hierher könnte vielleicht unter Umständen die Schwangerschaft gerechnet werden, insbesondere z. B. eine Tubarschwangerschaft, bei welcher die betreffende Tuba möglicherweise schon durch einen unbedeutenden Stoss auf den Unterleib oder ähnlichen Insult zum Bersten gebracht werden kann. Auch die Trunkenheit gehört hierher. So hatte in einem der Facultät übergebenen Falle ein schwer betrunkener Mann, nachdem er bereits wiederholt niedergestürzt war, sich wieder erhoben und einen andern angegriffen, worauf er von diesem gepackt und niedergeworfen wurde. Hierbei fiel er auf den vorspringenden Balken eines Webstuhles, blieb sofort ruhig und starb nach wenigen Stunden im Sopor. Die Obduction ergab intermeningeale Hämorrhagie und mehrfache Contusionen des Gehirnes ohne Schädelfractur. Der ursächliche Zusammenhang zwischen letzteren Befunden und dem Aufschlagen des Kopfes an den Balken, respective dem Hinwerfen auf diesen, unterlag keinem Zweifel, ebensowenig aber auch der Umstand, dass bei dem Ausfall letzterer Handlung, die doch an und für sich nicht als eine lebensgefährliche angesehen werden konnte, der schwer betrunkene Zustand des Betreffenden eine wesentliche Rolle mitgespielt habe, weil derselbe dadurch weniger im Stande war, sich aufrecht und im Gleichgewicht zu erhalten und auch das Hinstürzen mit grösserer Gewalt als sonst erfolgen musste.
Unter „zufälligen Umständen“ im Sinne des Gesetzes sind äussere Zufälligkeiten zu verstehen, durch welche eine sonst minder zu qualificirende Verletzung einen schweren Effect nach sich gezogen hat, z. B. das Hinstürzen eines durch einen Schlag vorübergehend Betäubten auf einen spitzen Gegenstand, oder in eine Tiefe, oder in eine Flüssigkeit.
Ad 2. Die Fälle sind nicht selten, in denen der Grund des ungünstigen Verlaufes einer Verletzung insbesondere der langen Dauer der Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit in individuellen oder in accessorischen Momenten gesucht werden muss.
[S. 341]
Zu den individuellen Momenten gehören bereits viele der allgemeinen oder localen pathologischen Zustände, die wir als eigenthümliche Leibesbeschaffenheit bezeichnet haben, vor Allem aber der chronische Alkoholismus, welcher bekanntlich auf den Verlauf von Verletzungen den ungünstigsten Einfluss auszuüben pflegt, insbesondere wegen Ausbruch des Delirium tremens. In Folge letzteren Umstandes kommt es häufig genug zum Tode bei Verletzungen, die sonst eine günstige Prognose geboten hätten. Die Beurtheilung solcher Fälle ist deshalb nicht leicht, weil sich dabei die bekannte und noch keineswegs erledigte Streitfrage aufwirft, ob der Ausbruch des Delirium tremens der Verletzung oder nur der meist eingeleiteten Entziehung des gewohnten Alkoholgenusses zuzuschreiben sei und im letzteren Falle der Einwurf nahe liegt, dass, wenn man den Alkoholgenuss gestattet hätte, das Delirium tremens und daher der letale Ausgang ausgeblieben wäre, und dass nach einer solchen Entziehung das Delirium ausbrechen und zum Tode hätte führen können, auch wenn gar keine Verletzung bestanden haben würde. Die concreten Verhältnisse des Falles müssen entscheiden, ob auf die Entziehung des Alkohols oder auf den Einfluss der Verletzung das Hauptgewicht gelegt werden soll.
Zu den accessorischen Momenten gehören in erster Linie die sog. accidentellen Wundkrankheiten. Wie sehr sich gerade in dieser Beziehung die Anschauungen geändert haben, ist bekannt. Während man bis vor Kurzem diese Krankheiten als natürliche, d. h. in der Wunde selbst gelegene Processe betrachtete, weiss man gegenwärtig, dass die letzteren sämmtlich mit den betreffenden, noch so schweren Verletzungen in keinem nothwendigen Zusammenhange stehen, sondern stets durch andere erst zur Wunde von aussen hinzugekommene, und was das Wichtigste ist, durch entsprechende (antiseptische) Wundbehandlung verhütbare Schädlichkeiten bedingt werden. „Im Augenblicke,“ sagt Bergmann in seiner Berliner Antrittsvorlesung, „nimmt die Chirurgie an, dass jede Verletzung und jede Verwundung, wenn sie nur nicht die Function eines lebenswichtigen Organes aufhebt, ohne Lebensgefahr, ja ohne wesentliche Erschütterung der Gesundheit ausheilen muss, und dass, wenn sie das nicht thut, andere, nicht durch das Trauma bedingte Momente mitspielen“, und weiter: „Ist nun irgend eine Continuitätstrennung, gleichviel ob eine unterhäutige oder eine offene Wunde, vorhanden, so gross als sie wolle, so ist auch das Leben des Patienten nicht anders als durch ein sog. Accidens bedroht.“ Schon früher hat v. Nussbaum („Sonst und jetzt; Einfluss der modernen Wundbehandlung.“ Ann. der städt. allg. Krankenhäuser zu München. I, 1878, und „Einfluss der Antiseptik auf die gerichtliche Medicin.“ Aerztl. Intelligenzblatt f. Bayern. 1880, Nr. 19 u. 20) die bezüglich der Auffassung der Wundkrankheiten gegenwärtig wesentlich geänderten Verhältnisse hervorgehoben und den Wunsch ausgesprochen, „dass auch[S. 342] die gerichtliche Medicin diesen grossen Fund der Chirurgie (die antiseptische Wundbehandlung) nicht mehr länger ignorire, sondern zum Wohle der Betheiligten ausnütze“.
Es geht daraus hervor, dass wir gegenwärtig in allen Fällen, in welchen Erysipel, Phlegmone, Lymphangioitis, Septicämie, Pyämie etc. auftreten, beziehungsweise zum Tode führen, diese Processe unter die in der Alinea d) des §. 129 der österr. St. P. O. erwähnten, zur Verletzung „zufällig hinzugekommenen, jedoch durch sie veranlassten oder aus ihr entstandenen Zwischenursachen“ zu rechnen und in diesem Sinne unser Gutachten abzugeben haben. Daran muss sich aber sofort die Beantwortung einer zweiten bereits in der Alinea e) des §. 129 gestellten Frage anschliessen: „ob der Tod (respective die accidentelle Wundkrankheit) durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte abgewendet werden können?“ und in der Beantwortung dieser Frage liegt die Schwierigkeit der Sache. In vielen Fällen stehen die Verhältnisse allerdings so, dass man mit Rücksicht auf die massenhaften Erfahrungen der modernen Chirurgie erklären kann, dass, wenn die concrete Wunde correct antiseptisch behandelt worden wäre, höchst wahrscheinlich die betreffende accidentelle Wundkrankheit und ihre Folgen nicht eingetreten wären. Es gehören hierher die meisten leicht zugänglichen Verletzungen peripherer Körpertheile, unter anderen die Wunden der weichen Schädeldecken, welche früher wegen der „leicht hinzutretenden Erysipele und Meningitiden“ so gefürchtet waren und gegenwärtig in kürzester Zeit zur vollständigen Heilung gebracht werden. Dass aber auch in solchen Fällen selbst die correcteste antiseptische Behandlung manchmal den Eintritt der Wundkrankheiten nicht verhüten kann, ist zur Genüge bekannt. Namentlich kann dieses geschehen, wenn der antiseptische Verband nicht bald genug zur Anwendung kam, ein Umstand, der gerade in forensischen Fällen verhältnissmässig leicht und auch ohne Verschulden des Verletzten oder eines Andern sich ereignen kann. Ueberdies können ja schon durch das verletzende Werkzeug infectiöse Stoffe in die Wunde gelangen. Eine Reihe anderer Verletzungen, insbesondere die in Körperhöhlen eindringenden, sind gegenwärtig der Antiseptik schwer zugänglich und wieder andere tragen wegen gewisser, schon im Momente der Zufügung gegebener Complicationen den Keim infectiöser Erkrankung in sich, so z. B. die in den Verdauungscanal penetrirenden Wunden. Bedenkt man dazu, dass über die Dignität der einzelnen Antiseptica und antiseptischen Verbandmethoden auch unter den Chirurgen selbst noch manche Differenzen bestehen, so wird es trotz der grossartigen Erfolge, welche die Chirurgie mit der Antiseptik aufzuweisen hat, dennoch im concreten Fall mitunter recht schwer fallen, ja unmöglich sein, positiv zu erklären, dass das Auftreten der betreffenden accidentellen Wundkrankheit zu verhüten gewesen wäre.
Es handelt sich auch gar nicht darum, ob die betreffende Verletzungsfolge überhaupt, sondern ob sie unter den concreten[S. 343] Verhältnissen des vorliegenden Falles verhütet werden konnte, namentlich aber darum, ob, wenn dies möglich war, die Unterlassung der dazu nöthigen Vorkehrungen durch positives Verschulden des Verletzten selbst oder eines Anderen[252] geschah; denn nur in letzteren Fällen dürfte obige Erklärung auf die weitere Behandlung des Thäters, respective des Ausmasses der Strafe durch das erkennende Gericht von Einfluss sein.
Wie von Seite der Juristen die Sache aufgefasst wird, geht deutlich aus der Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes vom 25. October 1881 hervor, in einem Falle, wo es sich um fahrlässige Tödtung eines Kindes durch Verbrühung handelte, aber von Seite des Landgerichtes ein nothwendiger Causal-Zusammenhang zwischen Verbrühung[S. 344] und Tod deshalb nicht angenommen worden war, weil der Sachverständige erklärt hatte, dass, wenn sofort antiseptische Mittel angewendet worden wären, das Kind wahrscheinlich am Leben geblieben sein würde. Das Reichsgericht hob dieses freisprechende Urtheil auf, weil es auf einer falschen Auffassung des Begriffes „Causal-Zusammenhang“ beruht. „Causal,“ sagt das Reichsgericht, „ist jede Handlung, welche zur Hervorbringung eines bestimmten Erfolges mit wirksam gewesen ist. Dass die Handlung den Erfolg allein und unmittelbar herbeigeführt habe, ist nicht erforderlich, es genügt vielmehr, dass sie in der Weise mitwirkende Ursache gewesen sei, dass ohne dieselbe der Erfolg nicht eingetreten sein würde. Hiervon ausgehend würde der vermisste Causal-Zusammenhang unbedenklich vorliegen, sobald nur feststeht, dass die Blutvergiftung ohne die Verbrennung des Kindes nicht eingetreten wäre. Denn unter dieser Voraussetzung würde der Tod des Kindes eine Folge der Blutvergiftung, die Blutvergiftung eine Folge der Verbrennung und endlich die Verbrennung eine Folge des fahrlässigen Verhaltens gewesen sein“ (Deutsche Medicinal-Zeitung. 1882, Nr. 5).
Gerichtsärztliche Behandlung der nicht tödtlichen Verletzungen im Sinne des österr. Strafgesetzentwurfes und des deutschen Strafgesetzes.
Die einschlägigen Bestimmungen beider Gesetze sind im Wesentlichen conform, gestatten daher eine gemeinschaftliche Besprechung. Beide unterscheiden die „Körperverletzung“ im Allgemeinen und die „schwere Körperverletzung“, indem sie als letztere solche Körperverletzungen bezeichnen, welche ganz besonders schwere und im Gesetz ausdrücklich genannte Folgen nach sich gezogen haben.
Ein Blick auf den §. 232 des österr. Entw. und den §. 224 des deutschen St. G. zeigt uns sofort, dass der Begriff der „schweren Körperverletzung“ im Sinne dieser Gesetze ungleich enger genommen ist und viel genauer präcisirt erscheint, als jener der „schweren Verletzung“ im Sinne des §. 152 des gegenwärtigen österr. Strafgesetzes. Während, wie wir oben sahen, im letzteren der Begriff der „schweren Verletzung“ nicht definirt und dem Gerichtsarzte überlassen wird, sich denselben zu commentiren, jedenfalls aber sehr dehnbar erscheint, finden wir, dass im österr. Entw. und im deutschen St. G. eine Körperverletzung nur dann als „schwere“ im strafrechtlichen Sinne aufgefasst wird, wenn sie gewisse, im §. 232 des österr. Entw. und im §. 224 des deutschen St. G. ausdrücklich bezeichnete Folgen nach sich gezogen hatte, woraus sich zugleich ergibt, dass fortan der Arzt nicht wie bisher[S. 345] zu erklären haben wird, ob eine Verletzung eine schwere sei oder nicht, sondern nur, ob jene Folgen aufgetreten sind, unter welchen das St. G. eine Verletzung als eine „schwere“ auffasst und bestraft.
Die betreffenden Folgen, welche im Allgemeinen denjenigen entsprechen, welche wir im §. 156 des gegenwärtigen österr. St. G. kennen gelernt haben, sind nachstehende:
a) Verlust eines wichtigen Gliedes des Körpers. Da der vom deutschen Gesetze gebrauchte Ausdruck „wichtig“ Deutungen zulässt, so ist die Fassung des österr. Entw. entschieden viel besser, welche die Glieder, deren Verlust sie als besonders gravirend auffasst, nennt, und als solche einen Arm, eine Hand, ein Bein, einen Fuss und die Nase bezeichnet.
Zweifellos wäre der Verlust dieser vom österr. Entwurf ausdrücklich genannten Glieder auch im Sinne des deutschen St. G. als Verlust „wichtiger“ Glieder des Körpers zu bezeichnen, der Verlust anderer aber, z. B. mehrerer oder aller Finger einer Hand, je nach der concreten Natur des Falles entweder ebenfalls als „Verlust wichtiger Glieder“ zu erklären oder unter den Begriff der „bleibenden Verunstaltung“ (österr. Entw.) oder „erheblichen und dauernden Entstellung“ (deutsch. St. G.) zu subsumiren. Dem Verlust einzelner Finger oder einzelner Fingerglieder wird wohl kaum eine solche Bedeutung zugeschrieben werden können.
In einem Falle, wo es sich um Verlust von zwei Gliedern des rechten Zeigefingers handelte, verneinte das Reichsgericht, dass der Verlust eines „wichtigen Gliedes“ vorliege, indem es Folgendes hinzufügte: „Für den Begriff der „Wichtigkeit“ kommt nicht der relative Werth in Betracht, welchen der Besitz oder Verlust eines Körpergliedes für den Verletzten besitzt und dasselbe Glied kann nicht für den Einen werthvoll und für den Anderen werthlos sein. Im Sinne des §. 224 muss auch für das einzelne Körperglied das Werthverhältniss entscheiden, in welchem dasselbe seiner Wichtigkeit nach noch zu dem Gesammtorganismus steht und insbesondere das grössere oder geringere Mass von Unterbrechung oder Beeinträchtigung erwogen werden, welche die regelmässigen Functionen aller Einzelorgane des gesammten Körpers durch den Mangel eines oder einzelner derselben durchschnittlich erleiden.“
Zufolge Erkenntniss des I. Strafsenates vom 15. November 1880 (s. Wellenstein, „Die für den Gerichtsarzt interessanten Erkenntnisse des Reichsgerichtes in Strafsachen.“ Vierteljahrschrift f. ger. Med. XXXVI, pag. 49) setzt die Anwendung des §. 224 den physischen Verlust eines Gliedes des menschlichen Körpers voraus und umfasst daher nicht den Fall, wenn dieses Glied als ein Theil des menschlichen Körpers physisch fortdauernd vorhanden, dasselbe jedoch zu seinen Functionen, sei es völlig oder in erheblicher Weise unbrauchbar ist; z. B. eine Verletzung, welche die Steifheit von 3 Fingern zur Folge hatte, gehört nicht hierher.[253]
[S. 346]
b) Verlust des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen. Diese präcise Fassung kann nur begrüsst werden, da sie den oben geschilderten Schwierigkeiten, die sich aus den diesbezüglichen Bestimmungen des bisherigen österr. St. G. ergaben, ein Ende macht. Allerdings ist auch der Begriff des „Verlustes des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen“ keineswegs einer scharfen Begrenzung fähig, doch würde wohl kein Arzt anstehen, das Sehvermögen für verloren zu erklären, wenn auch etwa der Betreffende noch im Stande wäre, mit Mühe grosse Gegenstände zu unterscheiden, da, wenn man eine solche Auffassung nicht gelten lassen möchte, man gezwungen wäre, den Verlust des Sehvermögens im strengsten Sinne sogar zu negiren, wenn von letzterem nichts als blos die quantitative Lichtempfindung geblieben wäre. Sollten in irgend einem Falle Zweifel entstehen, ob man die Beeinträchtigung des Sehvermögens als Verlust desselben zu bezeichnen hätte, so wird sich der Gerichtsarzt damit begnügen, den Grad und die Bedeutung einer solchen Beeinträchtigung dem Richter oder den Geschworenen auseinanderzusetzen und diesen die weitere Classificirung der concreten Verletzung zu überlassen, was er um so leichter thun kann, als der Richter, auch wenn die Verletzung nicht als eine „schwere Körperverletzung“ erklärt wird, das höchste Strafausmass eintreten lassen kann, auf welches den gesetzlichen Bestimmungen zufolge für die als nicht „schwer“ erklärten Verletzungen erkannt werden darf.
c) Bezüglich des Verlustes des Gehöres, der Sprache oder der Fortpflanzungsfähigkeit (Zeugungsfähigkeit) verweisen wir auf das bei der Erörterung der gleichen Bestimmungen des gegenwärtigen österr. St. G. Gesagte (pag. 332).
d) Verfall in Siechthum oder Lähmung. Wir haben oben versucht, den Begriff des „Siechthums“ zu definiren, und es unterliegt keinem Zweifel, dass die gleiche Definition auch hier zur Anwendung kommen muss. Während jedoch das österr. Gesetz (§. 106 b) von „immerwährendem Siechthum“ spricht, findet sich im österr. Entwurf, sowie im deutschen St. G. dieses Epitheton nicht, und es erscheint demnach fraglich, ob diese Gesetze unter Siechthum ein unheilbares Leiden von den oben auseinandergesetzten Qualitäten oder auch nur einen längere Zeit andauernden, d. h. chronischen Krankheitszustand dieser Art im Auge hatten, selbst wenn dessen Heilbarkeit nicht ausgeschlossen ist. Letztere Auffassung ist vielleicht die richtigere, da in das deutsche Gesetz der von der Berliner wissenschaftlichen Deputation beantragte Zusatz „anhaltendes“ nicht aufgenommen wurde mit der Motivirung: „weil der Zustand des Siechthums an sich schon eine lange Dauer voraussetzt,[S. 347] und der Zusatz leicht Veranlassung zu einer schwankenden Auslegung geben könnte“.
In einem 1877 abgegebenen „Superarbitrium über einen in Siechthum verfallenen Verletzten“ hat sich die k. wissenschaftliche Deputation folgendermassen geäussert (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., XXVII, 385, Ref. Skrzecka):
„Was die Frage betrifft, wie lange ein chronisches Leiden andauern müsse, um mit Recht als Siechthum bezeichnet zu werden, so muss zunächst hervorgehoben werden, dass im Worte „Siechthum“ der Begriff der Unheilbarkeit nicht unbedingt liegt, da man auch von der Genesung eines Menschen nach langem Siechthum spricht, wiewohl dann meist von einer ungewöhnlichen ausserordentlichen Thatsache. Ein bestimmtes Zeitmass für die minimale Dauer eines als Siechthum zu bezeichnenden Krankheitszustandes lässt sich begreiflicherweise nicht aufstellen, doch leidet hierunter keineswegs die forensische Brauchbarkeit der Bezeichnung „Siechthum“. Ein Krankheitszustand, welcher in Folge einer Verletzung eingetreten, zu der Zeit aber, wann die Begutachtung der Folgen der Verletzung dem Gerichtsarzte aufgetragen wird, bereits wieder beseitigt ist, wird kaum jemals als ein „Siechthum“ zu bezeichnen sein, dürfte ausschliesslich in solchen Fällen aufgeworfen werden, in denen ihre Beantwortung ein prognostisches Urtheil der Sachverständigen erforderlich macht. Wenn der Gerichtsarzt in einem solchen Falle von einem zur Zeit bestehenden schweren chronischen Leiden im Stande ist, mit einiger Sicherheit vorauszusetzen, dass es werde geheilt werden, so wird er auch der Natur der Sache nach im Stande sein, anzugeben, wann die Heilung zu erwarten stehe, und diese Frist wird nie eine besonders lange sein können, weil sich bei solchen Zuständen ein Urtheil im Voraus auf lange Zeit hinaus nicht wohl fällen lässt. Auf eine solche Krankheit, deren Heilung in bemessener Frist — und sollte dieselbe auch Monate betragen — von vornherein mindestens mit Wahrscheinlichkeit in Aussicht gestellt werden kann, würde die Bezeichnung des Siechthums nicht anwendbar sein, vielmehr wird dieselbe beschränkt bleiben müssen auf diejenigen schweren chronischen Krankheitszustände, von denen sich, wenn sie nicht überhaupt für unheilbar erklärt werden können, doch nicht auch nur mit einiger Sicherheit vorhersagen lässt, ob dieselben überhaupt jemals beseitigt werden können, oder wenn dieser günstige Fall eintreten sollte, in welcher Frist dieses möglicherweise geschehen könnte.“
Die meisten Schwierigkeiten hat der sowohl im österr. Entwurf, als im deutschen St. G. vorkommende Ausdruck „Verfall in Lähmung“ geboten, da es nicht klar war, ob nur eine Lähmung im streng physiologischen Sinne oder auch anderweitige Beeinträchtigung oder Aufhebung der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körpertheile gemeint seien und welche Körpertheile gelähmt, beziehungsweise zur Bewegung unfähig sein müssen, wenn der Zustand als „Verfall in Lähmung“ aufgefasst werden soll. Diese Schwierigkeiten hat das Reichsgericht behoben, indem es
[S. 348]
(v. Wellenstein, l. c., 1885, XLIII, pag. 365 u. f.) aus Anlass eines Falles, wo es sich um Lähmung des linken Armes in Folge eines Stiches in den Kopf handelte, entschied: „dass in der Lähmung eines Armes an sich und ohne dass hieraus eingreifende Bewegungsstörungen für den Gesammtorganismus sich ergeben, ein „Verfall in Lähmung“ im Sinne des §. 224 nicht gefunden werden kann, denn §. 224 versteht unter „Verfall in Lähmung“ nicht die Beschränkung oder völlige Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit irgend eines einzelnen Gliedes des menschlichen Körpers, sondern nur eine derartige Affection, welche den Organismus in einer umfassenden Weise angreift, welche mit ausgedehnter Wirkung Organe des Körpers der freien Aeusserung ihrer naturgemässen Thätigkeit beraubt, obgleich nicht ausgeschlossen ist, dass auch die Lähmung einzelner Gliedmassen den Begriff „Verfall in Lähmung“ erfüllen kann, soferne sie nämlich bezüglich der Bewegungsfähigkeit des ganzen Menschen von eingreifender Wirkung ist“.
Auch bezüglich des Verfalls in Lähmung wird nicht fixirt, ob nur unheilbare oder blos länger dauernde Lähmung darunter zu verstehen sei, und es gilt demnach das Gleiche, was bezüglich des „Verfalls in Siechthum“ gesagt worden ist.
e) Bezüglich des „Verfalls in Geisteskrankheit“ müssen wir auf die Besprechung der vorübergehenden und bleibenden Geistesstörung in Folge von Verletzungen im Sinne der §§. 152 und 156 b des jetzigen österr. St. G. (pag. 319) verweisen. Die neuere gesetzliche Bestimmung unterscheidet sich von der genannten nur dadurch, dass ein Unterschied zwischen vorübergehender Geistesstörung und solcher „ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung“ nicht mehr gedacht wird, und zwar, wie aus unseren obigen Auseinandersetzungen hervorgeht, mit vollem Recht, ein Umstand, der übrigens seinerseits auch dafür spricht, dass die Gesetzgeber bei der Aufnahme der Begriffe „Verfall in Siechthum oder Lähmung“ nicht ausschliesslich unheilbare Zustände vor Augen hatten.
f) „Bleibende Verunstaltung“ (österr. Entw.), „erhebliche und dauernde Entstellung“ (deutsches St. G.). Auch bezüglich dieser Bestimmungen haben wir dem bereits oben Gesagten nichts Weiteres hinzuzufügen.
Hat die „Körperverletzung“ nicht jene Folgen erzeugt, welche dieselbe als „schwere Körperverletzung“ im Sinne des Strafgesetzes qualificiren würde, und auch nicht den Tod bewirkt, so wird sie als „Körperverletzung“ schlechtweg, beziehungsweise als „leichte Körperverletzung“ bezeichnet. Es dürfte sich empfehlen, letzteren Ausdruck auch in der österreichischen gerichtsärztlichen Praxis einzuführen, obgleich er im Entwurf des neuen St. G. nirgends vorkommt, da es logisch erscheint, der „schweren“ Körperverletzung die „leichte“ entgegenzustellen.
[S. 349]
Als „leichte Körperverletzung“ wären demnach alle Verletzungen zu bezeichnen, welche weder den Tod, noch die im §. 232 des österr. Entw. und im §. 224 des deutschen St. G. ausdrücklich erwähnten Folgen nach sich gezogen haben. Daraus ist ersichtlich, dass fortan der Begriff der „leichten Verletzung“ ein ganz anderer, namentlich ein viel weiterer sein wird, als er bis jetzt, d. h. solange noch das jetzige österr. St. G. gilt, gewesen ist. Es ergibt sich aber auch daraus, dass wir durch diese weitere Anwendung des Ausdruckes „leichte Verletzung“ einigermassen mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch in Collision kommen, da unter den Begriff der leichten Verletzung fortan nicht blos ganz unbedeutende, sondern auch eine Reihe solcher Verletzungen fallen wird, die der vulgären und auch der medicinischen Auffassung zufolge keineswegs als unbedeutend, sondern geradezu als schwer bezeichnet zu werden pflegen.
In seiner ursprünglichen Fassung hatte das deutsche St. G. keine Kategorien der „leichten“ Körperverletzung aufgestellt, sondern es dem Richter überlassen, je nach den Umständen des Falles auf Gefängniss bis zu 3 Jahren oder auf eine Geldstrafe bis zu 300 Thalern zu erkennen. In der Praxis hat sich jedoch die Nothwendigkeit ergeben, auch zwischen den „leichten“ Verletzungen eine im Strafgesetz ausdrücklich hervorgehobene Unterscheidung zu machen, beziehungsweise für gewisse Arten derselben einen höheren Strafsatz zu bestimmen. Es wurde deshalb (1876) zwischen den §. 223 und den §. 224 ein §. 223 a eingeschaltet, welcher heisst:
„Ist die Körperverletzung mittelst einer Waffe, insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges, oder mittelst eines hinterlistigen Ueberfalles, oder von Mehreren gemeinschaftlich oder mittelst einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter drei Monaten ein.“
Der österr. St. G.-Entwurf hat von vornherein die Nothwendigkeit einer solchen Unterscheidung eingesehen, indem er im §. 231 gewisse Umstände bezeichnet, bei deren Bestand in allen Fällen Gefängnissstrafe zu verhängen ist, während auf „Körperverletzungen“, denen diese Qualität nicht zukommt, nur eine Strafe von 6 Monaten Gefängniss oder an Geld bis zu 500 fl. gesetzt wird.
Dieser Paragraph lautet:
„Die Körperverletzung wird mit Gefängniss bestraft:
1. Wenn sie eine über eine Woche anhaltende Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit zur Folge hatte, oder mit besonderen Qualen verbunden war;
2. wenn sie mit Werkzeugen oder unter Umständen verübt wurde, welche Lebensgefahr begründen;
3. wenn sie an Verwandten aufsteigender Linie begangen ward.“
Die Bestimmungen des §. 231 des österr. St. G.-Entwurfes bedürfen keiner näheren Erörterung, da ihnen identische im §. 155[S. 350] des gegenwärtigen St. G. B. vorkommen, die auf pag. 324 besprochen worden sind.
Jene des §. 223 a des deutschen St. G. B. weichen von denen des analogen Paragraphen des österr. St. G.-Entwurfes insoferne ab, als schon die Anwendung eines „gefährlichen“, nicht erst eines „lebensgefährlichen“ Werkzeuges als Gravamen angesehen und die „das Leben gefährdende Behandlung“ besonders erwähnt wird.
Dass unter „gefährlichen Werkzeugen“ nicht blos diejenigen, deren Anwendung mit Lebensgefahr verbunden ist, gemeint werden, wie man wegen der ausdrücklichen Erwähnung der „Waffen und insbesondere des Messers“ und der Gleichstellung mit „einer das Leben gefährdenden Behandlung“ glauben sollte, geht aus wiederholt erflossenen Entscheidungen des Reichsgerichtes hervor, welche sich dahin ausgesprochen haben, dass „unter einem gefährlichen Werkzeug ein solches zu verstehen sei, welches, wenn es als Mittel zu einer Körperverletzung benutzt wird, nach seiner objectiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung geeignet ist, erheblichere Körperverletzungen zu bewirken“. Im Sinne dieser Auffassung hat das Reichsgericht in verschiedenen Entscheidungen ein Bierglas, ein zugeklapptes (!) Taschenmesser, einen mit einer Schneide versehenen Gegenstand, dessen sonstige Beschaffenheit aus der Natur der Verletzung nicht erkannt werden konnte, mit ungenagelten Stiefeln bekleidete Füsse im Zusammenhange mit dem von ihnen gemachten Gebrauch (Stösse gegen den Kopf eines am Boden Liegenden), ein umgekehrtes Billardqueue u. dergl. als ein „gefährliches Werkzeug“ im Sinne des §. 253 a bezeichnet (vergl. die Zusammenstellung der reichsgerichtlichen Entscheidungen von Wellenstein und Fröhlich).
Im Allgemeinen werden daher zwar dieselben Grundsätze zu beobachten sein wie bei der Beurtheilung des österr. St. G., nur wird es sich nicht darum handeln, ob mit dem betreffenden Werkzeug leicht oder wahrscheinlich eine „lebensgefährliche“, sondern nur, ob damit leicht oder wahrscheinlich eine „erhebliche“ Verletzung zugefügt werden kann.
Was den Ausdruck „das Leben gefährdende Behandlung“ betrifft, so hat ihn der deutsche Reichstag aus Anlass der Beschlussfassung über den nachträglich im deutschen St. G. zugefügten §. 223 a so commentirt, „ob die Behandlung Seitens des Thäters eine solche war, dass nach dem Ausspruche des Arztes das Leben bei dieser Behandlung gefährdet war“ (Liman, l. c. I, pag. 386) und Mair (Virchow’s Jahresb. 1885, I, 502) sprach sich unter Berufung auf eine Entscheidung des Reichsgerichtes dahin aus, dass man den Beweis der Lebensgefährdung durch eine Handlung nur aus dem vorauszusehenden, höchst wahrscheinlichen Eintreten solcher Zustände führen dürfe, welche den Tod mittelbar oder unmittelbar zur gewissen oder wahrscheinlichen[S. 351] Folge haben müssen, wobei nicht die Voraussicht des Thäters, sondern nur die allgemeine Voraussicht der objectiven (Lebens-) Gefährlichkeit in Betracht kommt.
Der §. 231 des österr. Entwurfes enthält ausser der eben besprochenen auch noch die Bestimmung, dass eine Erhöhung des Strafausmasses einzutreten habe, „wenn die Körperverletzung eine über eine Woche anhaltende Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit zur Folge hatte oder mit besonderen Qualen verbunden war“. Auch diese Begriffe bedürfen keiner besonderen Auseinandersetzung, da dieselben im gleichen Sinne vom gegenwärtigen österr. Strafgesetze gebraucht werden und ausführlich erörtert worden sind (v. pag. 328).
Im deutschen Strafgesetze werden besondere Qualen nicht ausdrücklich als erschwerender Umstand erwähnt, dagegen wird im §. 251 die Zuchthausstrafe festgesetzt, „wenn bei einem Raube ein Mensch gemartert wurde“, während im §. 251 des österreichischen Entwurfes aus gleichem Anlasse der Ausdruck „körperlich gepeinigt“ gebraucht wird, Ausdrücke, die ihrerseits geeignet sind, zu commentiren, was der Gesetzgeber unter „besonderen Qualen“, die mit einer Misshandlung verbunden waren, verstanden haben will.
Endlich sei noch erwähnt, dass sowohl der österreichische Entwurf (§. 233) als das deutsche Strafgesetz (§. 225) bis zehnjährige Zuchthausstrafe festsetzt, wenn bei einer Körperverletzung eine der im §. 232 des österreichischen Entwurfes oder im §. 224 des deutschen Strafgesetzes bezeichneten Folgen, also eine „schwere Körperverletzung“, herbeizuführen beabsichtigt gewesen war.
In den meisten Fällen ist es Sache des Richters, die Absicht des Thäters, die erwähnten Folgen zu erzeugen, herauszubringen. Sollte dem Arzte eine dahin gerichtete Frage gestellt werden, so wird er sich, wie wir (pag. 324) bei Besprechung des §. 155 a des österreichischen Strafgesetzes erwähnt haben, darauf beschränken, zu constatiren, dass die Gewalt gegen ein anerkannt lebenswichtiges Organ gerichtet war, dass die Führung des Werkzeuges mit grosser Kraft geschah u. dergl., wird es jedoch dem Richter, beziehungsweise den Geschworenen überlassen, diese Daten für den Beweis zu verwerthen, dass der Thäter bei seinem Vorgehen die Absicht hatte, die erwähnten Folgen herbeizuführen.
Tödtliche Verletzungen.
Jede Verletzung, die den Tod bewirkt hat, ist eine tödtliche Verletzung. Hierbei ist es für die Bezeichnung der Verletzung als einer tödtlichen gleichgiltig, ob sie den Tod unmittelbar oder mittelbar bewirkte, ebenso ob dieselbe vielleicht in irgend einem anderen Falle nicht tödtlich abgelaufen wäre. Mit anderen Worten: es wird eine Verletzung dann eine tödtliche genannt werden, wenn sie im concreten Falle mit dem Tod im ursächlichen Zusammenhang[S. 352] steht, wobei die allgemeine oder durchschnittliche Tödtlichkeit derselben zunächst ausser Betracht kommt, da die Erwägung dieser und die Gründe, warum die concrete Verletzung im concreten Falle den Tod herbeigeführt hatte, erst in die weiteren Theile des Gutachtens gehört.
Im Allgemeinen handelt es sich, wenn der gewaltsame Tod in Folge mechanischer Verletzung Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung und Beurtheilung wird, um die Beantwortung dreier Hauptfragen, die insbesondere aus den Bestimmungen des §. 129 der österreichischen Strafprocess-Ordnung entnommen werden können und wie folgt lauten:
1. Was war die nächste Todesursache, oder woran ist der Obducirte zunächst gestorben?
2. Wurde diese nächste Todesursache durch eine Verletzung und durch welche veranlasst? und im bejahenden Falle:
3. Ist diese Verletzung durch die Handlung eines Anderen zugefügt worden, oder auf welche andere Weise?
„Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in dem vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod zunächst bewirkende Ursache gewesen und wodurch dieselbe erzeugt worden sei“, sagt der §. 129 der österr. St. P. O., und ebenso bestimmt der §. 29 des preussischen Regulativs, dass „auf jeden Fall das Gutachten zuerst auf die Todesursache, und zwar nach Massgabe desjenigen, was sich aus dem objectiven Befunde ergibt, nächstdem aber auf die Frage der verbrecherischen Veranlassung zu richten ist. Ist die Todesursache nicht aufgefunden worden, so muss dies ausdrücklich angegeben werden. Niemals genügt es, zu sagen, der Tod sei aus innerer Ursache oder aus Krankheit erfolgt; es ist vielmehr die letztere anzugeben“.
Die Bestimmung der nächsten Todesursache, d. h. der Ursache, woran ein Mensch in Folge einer Verletzung zunächst gestorben ist, ist keineswegs immer leicht, namentlich dann nicht, wenn dieselbe nicht durch materielle Veränderung lebenswichtiger Organe, sondern durch anatomisch nicht nachweisbare oder nur schwer erkennbare Störungen lebenswichtiger Functionen erzeugt worden ist. In letzteren Fällen sind wir nicht selten gezwungen, die nächste Todesursache weniger aus dem Sectionsresultate als aus der Anamnese herauszulesen, beziehungsweise mit Rücksicht auf pathologische und physiologische Erfahrungen, zusammengehalten mit der Natur der betreffenden Verletzung, zu construiren.
Man kann im Allgemeinen die nächsten Todesursachen nach Verletzungen unterscheiden in primäre oder unmittelbare Todesursachen und in secundäre oder mittelbare, ohne dass man im Stande wäre, dieselben scharf zu trennen.
Zu den primären oder unmittelbaren nächsten Todesursachen gehört:
[S. 353]
a) Die Vernichtung oder grobe Beschädigung eines oder mehrerer zum Leben unumgänglich nothwendiger Organe, z. B. des Gehirns, des Rückenmarks, der Lungen oder des Herzens, deren höchsten Grad wir in den Zerfetzungen des ganzen Körpers sehen, die nach Explosionen und ähnlichen enormen Gewalten zur Beobachtung gelangen.
Die Zerstörung der betreffenden Organe und die dadurch sofort bewirkte Functionsaufhebung derselben ist so klar, dass es genügt, diese Zerstörung als nächste Todesursache zu bezeichnen und vollkommen überflüssig erscheint, etwa noch eine nähere in streng physiologischem Sinne herbeizuziehen.
b) Anderweitige mechanische Störungen der Functionsfähigkeit zum Leben unumgänglich nothwendiger Organe, wie des Gehirns und Rückenmarks, durch Druck von Extravasaten, der Lungen durch Eröffnung des Thorax mit oder ohne gleichzeitige Verletzung der Lungen, des Herzens in Folge Behinderung der Bewegungen desselben durch in den Herzbeutel sich ergiessendes Blut u. dergl.
c) Verblutung, eine der häufigsten nächsten Todesursachen nach mechanischer Verletzung. Sie tritt ein nach Verletzungen des Herzens oder grösserer Gefässe, aber auch nach Verletzung von blutreichen parenchymatösen Organen, von denen insbesondere die Leber, Milz und die Lungen zu nennen sind.
Man kann eine äussere und eine innere Verblutung unterscheiden, indem man von ersterer spricht, wenn das aus einer Verletzung austretende Blut den Körper verlässt, von letzterer aber, wenn dasselbe in Körperhöhlen oder in der Form der sogenannten Hämatome subcutan in durch Zertrümmerung oder Auseinanderdrängung von Organen gebildete Räume sich ergiesst.
Die Diagnose einer eingetretenen Verblutung ergibt sich einestheils aus der Natur der betreffenden Verletzung, sowie aus dem Nachweis grösserer Mengen ausgetretenen Blutes ausserhalb des Körpers des betreffenden oder in gewissen Körperhöhlen, dann aber aus der hochgradigen Anämie der Leiche, welche sich schon äusserlich durch die auffallende Blässe der Haut und der sichtbaren Schleimhäute, auch durch die geringe Entwicklung und selbst den gänzlichen Mangel von Todtenflecken, innerlich durch die geringe Menge von Blut im Herzen und den grösseren Gefässen, namentlich aber durch die meist augenfällige Blutarmuth und daher Blässe und Trockenheit der parenchymatösen Organe kundgibt.
In exquisiten Fällen von Verblutung ist dieselbe nicht zu verkennen, doch ist festzuhalten, dass bei keiner Form der Verblutung alles Blut den Körper verlässt, sondern jedesmal noch welches zurückbleibt, dass jedoch die Menge des letzteren vielfach variirt.[254] Am meisten pflegt die Anämie ausgesprochen zu sein[S. 354] bei der „äusseren Verblutung“, und wir haben bereits wiederholt sie soweit gediehen gesehen, dass trotz mehrtägigen Liegens der Leiche keine Spur von Todtenflecken gefunden wurde. Seltener ist sie bei „innerer“ Verblutung so hochgradig, da einestheils die Raumverhältnisse den Körperhöhlen die Ansammlung allzu grosser Blutmengen nicht gestatten, und da in solchen Fällen durch das sich ergiessende Blut häufig andere Functionen, z. B. die Herzbewegungen oder die Ausdehnung der Lungen, behindert werden und dadurch der Eintritt des Todes beschleunigt wird. Abgesehen von diesen Umständen scheinen auch individuelle Verhältnisse in dieser Beziehung sich geltend zu machen, da es wahrscheinlich von diesen abhängt, nach wie grossen Blutverlusten schon der Tod, respective das Aufhören der Herzthätigkeit erfolgt. Auch lehrt die Erfahrung, dass im Allgemeinen durch länger dauernde, aber allmälig sich vollziehende oder in Intervallen auftretende Blutungen höhere Grade der Anämie zu Stande kommen, als durch acute Verblutung.
Bei der Verwerthung des Befundes von Anämie für die Diagnose einer stattgehabten Verblutung ist nicht zu übersehen, dass das Individuum auch früher anämisch gewesen sein konnte, und dass es eine ganze Reihe von anderweitigen Zuständen gibt, die hochgradige Anämie erzeugen können (Carcinom, Tuberculose, Leucämie, Chlorose), Zustände, die allerdings in der Regel leicht auszuschliessen sein werden. Bei einer schweren, nach 8 Tagen letal gewordenen Anämie nach Leberruptur fand Mittenzweig (Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1889, pag. 159) kernhaltige rothe Blutkörper, welche den von Ehrlich bei perniciöser Anämie constatirten Megalocythen ähnlich sind und sich ebenso wie diese färben lassen. Ihr Vorkommen lässt auf eine schwere Anämie als Causa mortis schliessen.
Gegenüber faulen oder macerirten Leichen ist auch im Auge zu behalten, dass eine Blutleere des Herzens und der grossen[S. 355] Gefässe auch als Theilerscheinung bereits weitgediehener Fäulniss oder Maceration sich findet und dadurch bewirkt wird, dass das verflüssigte und zersetzte Blut in die Gefässwände und durch diese in die Nachbargewebe sich imbibirt, beziehungsweise in die verschiedenen serösen Säcke und durch die Haut, namentlich durch verletzte Haut, nach aussen transsudirt. Es wäre demnach ein grober Fehler, bei vorgerückter Fäulniss oder Maceration aus der Blutleere des Herzens und der grossen Gefässe allein die Diagnose einer stattgehabten Verblutung zu stellen.
d) Zu den primären nächsten Todesursachen nach Verletzungen gehört auch der sogenannte Shok, worunter man den Stillstand des Herzens (Herzlähmung) versteht, der auf reflectorischem Wege durch intensive Reizung peripherer Endigungen sensibler Nerven erzeugt wird.[255] Man kann den Tod durch Shok vorzugsweise nach grossen Verletzungen beobachten, verhältnissmässig am häufigsten jedoch nach kleinen, aber zahlreichen und sowohl einzeln für sich, als durch ihre in rascher Aufeinanderfolge schmerzhaften Verletzungen der Haut, wie sie bei Misshandlungen durch fortgesetzte Stockschläge, Ruthenhiebe etc. sich ergeben.
Die Section ergibt unter solchen Umständen ausser den Verletzungen einen negativen Befund, und es ist begreiflich, dass bei der Natur einer solchen nächsten Todesursache von einem anatomischen Nachweis derselben nicht die Rede sein kann, sondern dass dieselbe nur aus dem Zusammenhalten aller Umstände des Falles erschlossen werden muss. Ein solcher Schluss ist namentlich dann gestattet, wenn das betreffende Individuum während oder unmittelbar nach erlittener Misshandlung oder Verwundung gestorben ist. Ist der Tod nachträglich erfolgt, dann wird man mit der Annahme eines Shoks desto mehr zurückhalten, ein je längeres Intervall von relativem Wohlbefinden zwischen der Verletzung und dem Tode gelegen war, da die Erfahrung zeigte, dass in vielen solchen Fällen, wo man früher wegen Abgang auffallender, als nächste Todesursache aufzufassender Befunde den Tod vom Shok herleitete, doch bei genauerer Nachforschung andere Vorgänge als nächste Todesursache gefunden wurden.
Es ist insbesondere das Verdienst Nussbaum’s und seiner Schüler (Wagner, Rusch, Halm), die allzu häufig gewordene Annahme eines Shoks etwas eingedämmt zu haben, indem er zeigte[256], dass in vielen solchen Fällen nicht der Shok, sondern in einzelnen ein durch vehemente Resorption septischer Stoffe erzeugter Collapsus, in anderen die bereits durch Virchow u. A.[257][S. 356] nach Knochenzermalmungen constatirten Embolien der Capillargefässe, insbesondere jener der Lungen mit resorbirtem Markfett, bei grossen Bauchwunden wieder die von Wegner nachgewiesene Abkühlung des Peritoneums die nächste Todesursache bilden.
Nach Zenker (Deutsche Zeitschr. f. prakt. Med. 1874, Nr. 41) kann auch durch Blutungen in das Pankreas, die sowohl aus natürlicher Ursache als durch Erschütterungen eintreten können, plötzlicher Tod veranlasst werden durch Betheiligung des nahegelegenen Plexus solaris, und Ganglion semilunare. Reubold („Ueber Pankreasblutungen vom gerichtsärztlichen Standpunkt.“ Aus der Festschrift für A. v. Kölliker. 1887) theilt diese Ansicht nicht und meint, dass dem Pankreas in Fällen plötzlichen Todes nur deshalb eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sei, weil es auf circulatorische Störungen leicht und öfter sogar isolirt durch Blutung reagirt, somit zur Diagnose jener beitragen kann. Auch Dittrich (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. LII, 43) hält den Einfluss von Pankreasblutungen bei plötzlichem Tod für hypothetisch. Solche Blutungen scheinen insbesondere bei Alkoholikern spontan sowohl als nach verschiedenen Gelegenheitsursachen in Folge parenchymatöser, entzündlicher oder brandiger Degeneration und bei sogenannter Fettnekrose des Pankreas vorzukommen (H. Chiari, Seitz). Wir haben eine solche bei einem erhängten Selbstmörder beobachtet.
In anderen Fällen scheinen zur Herzlähmung prädisponirende Momente eine wesentliche Rolle zu spielen, insbesondere die so häufige fettige und körnige Degeneration des Herzens, wie sie namentlich nach Endarteriitis deformans sich entwickelt, so dass dann der mechanische (eventuell auch psychische) Insult nur eine der verschiedenen Gelegenheitsursachen bildet, die ein so erkranktes Herz zum plötzlichen Stillstand bringen können. Ist ja die Herzlähmung oder der „Herzschlag“ in Folge von parenchymatösen[S. 357] Erkrankungen des Herzfleisches die häufigste Ursache des plötzlichen natürlichen Todes, und es lässt sich häufig nachweisen, dass stärkere Ansprüche an das Herz (angestrengte Arbeit, Heben von Lasten, Stiegensteigen, Laufen, psychischer Affect, künstliche Narkose und selbst Coitus) die Gelegenheitsursache zum Eintritte der Herzparalyse abgegeben haben.
Eine auch forensisch beachtenswerthe Form des Shok ist die durch traumatische Erschütterung bedingte Lähmung von Gefässnerven, insbesondere des Splanchnicusgebietes, wodurch plötzliche Abdominalplethora und consecutiv plötzliche Anämie in den übrigen Kreislaufgebieten entsteht. Bekannt ist in dieser Beziehung der Goltz’sche Klopfversuch, welcher darin besteht, dass bei Fröschen durch wiederholte Schläge gegen den Bauch das Herz zum diastolischen Stillstand gebracht wird, und es unterliegt keinem Zweifel, dass plötzliche Erschütterung des Unterleibes eines Menschen durch Stoss, Fall u. dergl. gleiche Folgen nach sich ziehen kann. Da, wie Goltz bei Thieren fand, die Abdominalgefässe hierbei das Sechzehnfache ihres früheren Inhaltes aufnehmen können, so lässt sich erwarten, dass auch beim Menschen diese Form des Shoks anatomisch nachweisbare Veränderungen, nämlich Erweiterung und Hyperämie der Abdominal-, insbesondere der Darmgefässe, zurücklassen wird, wie sie thatsächlich nach „Klopfversuch“ bei Thieren gefunden wurden (Wernich, „Ueber die als Neuroparalyse, Nervenschlag, Shok bezeichnete Todesart vom gerichtsärztlichen Standpunkte“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVII, pag. 285 u. ff.).
Wir hatten die seltene Gelegenheit, einen solchen glücklich abgelaufenen „Klopfversuch“ im Grossen am Menschen zu beobachten, da wir zufällig anwesend waren, als vor unseren Augen ein Arbeiter beim Verschieben der Waggons auf dem Innsbrucker Bahnhofe zwischen die Puffer gerieth, so dass ihm der untere Theil des Brustkorbes zusammengedrückt wurde. Der Mann hatte einen Schrei gethan und sofort Mageninhalt entleert, wurde augenblicklich unter unserer Mitwirkung hervorgezogen, war leichenblass und ohnmächtig. Herzschlag und Puls nicht zu fühlen. Durch Bespritzen mit kaltem Wasser wurde er nach einigen Augenblicken wieder zu sich gebracht und der Herzschlag, der mehrere Secunden lang nicht zu fühlen und nicht zu hören gewesen war, stellte sich zwar wieder ein, war jedoch ebenso wie der Puls schwach und durch mehrere Minuten unregelmässig. Der Verletzte wurde nach Hause getragen und war am anderen Tage wieder vollkommen hergestellt. Zwei Fälle von plötzlichem Tode nach Schlag gegen die Magengegend bringt Maschka (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1879, XXX, 231).
Zu den traumatischen vasomotorischen Reflexlähmungen, die ebenfalls den Tod bewirken können, gehört ferner die Commotio cerebri, von welcher wir bei den Kopfverletzungen sprechen werden.
e) Auch die Erstickung kann in vielen Fällen von Verletzungen als nächste Todesursache bezeichnet werden. Streng[S. 358] genommen gehört schon der eben besprochene Shok hierher, da auch bei diesem, sowie bei jedem plötzlichen Herzstillstand der Tod in letzter Linie durch Erstickung erfolgt. Ebenso tödten Verletzungen, die die Brusthöhle eröffnen und dadurch die Entfaltung der Lungen unmöglich machen, durch Erstickung. Ferner Verletzungen der Medulla oblongata, und es würde nicht schwer halten, die nächste, respective letzte Todesursache bei fast allen plötzlichen, durch Verletzung erzeugten Todesarten auf Erstickung zurückzuführen, da ja z. B. auch die Verblutung nur als Erstickungsform aufgefasst werden kann. Erstickung im engeren Sinne lässt sich nicht selten als nächste Todesursache erweisen bei Schnittwunden am Halse, wie solche besonders häufig bei Selbstmördern gefunden werden, und sie wird dadurch veranlasst, dass das aus den durchschnittenen Gefässen ausströmende Blut in die ebenfalls durchtrennten Luftwege geräth, beziehungsweise aspirirt wird.
Zu den secundären oder mittelbaren nächsten Todesursachen gehören:
a) Entzündliche Processe einzelner Organe, wie Meningitis, Encephalitis, Pneumonie, Pleuritis, Peritonitis, Osteomyelitis etc.
b) Pyämie, Septicämie, Urämie.
c) Der Tetanus. Da den neuesten Forschungen zufolge auch der Wundstarrkrampf durch Infection mit einem specifischen, namentlich in Gartenerde (nach Tamassia auch im Staube der Spinnweben), auf schmutzigen Kleidern u. dergl. vorkommenden Bacillus veranlasst wird, so ist man sowohl dem Verständniss dieser bisher in der Provenienz dunkel gewesenen accidentellen Wundkrankheit als ihrer anatomischen Diagnose näher gerückt, letzterer insbesondere durch die Möglichkeit der Erzeugung des Tetanus bei Versuchsthieren durch Ueberimpfung der betreffenden Wundflüssigkeit auf diese. Letztere, eventuell Weichtheile aus der Umgebung der Wunde wären, wenn die Ueberimpfung nicht in loco geschehen könnte, an eine centrale Untersuchungsstation einzusenden.
d) Die Erschöpfung, mit welchem Ausdruck man sich behelfen muss, wenn nach längerer, insbesondere mit Inanition, profuser Eiterung etc. verbundener Krankheit das Individuum stirbt, ohne dass sich ausser der Verletzung und der allgemeinen Anämie und Abmagerung ein pathologischer Befund ergäbe, der als nächste Todesursache bezeichnet werden könnte.
Der Nachweis, dass die verschiedenen nächsten Todesursachen in der That durch Verletzung, also auf gewaltsame Weise, bewirkt wurden, wird geführt, indem wir darlegen, dass die betreffende Verletzung noch während des Lebens des Individuums[S. 359] ihm zugefügt wurde, und dass sie geeignet war, jene Veränderungen oder Störungen im Organismus zu bewirken, die wir als nächste Todesursache erkannt haben, sowie dadurch, dass wir sowohl den natürlichen, als den etwa durch anderweitige Gewalten herbeigeführten Tod auszuschliessen uns bestreben.
Ueber den Beweis, dass eine bestimmte Verletzung (Misshandlung) geeignet war, die als nächste Todesursache erkannten Veränderungen zu setzen, wollen wir uns nicht weiter ausbreiten, da derselbe nur nach allgemein klinischen und pathologisch-anatomischen Grundsätzen geschehen kann, und da wir bei der Besprechung der Verletzung, je nach ihrem Sitze, Gelegenheit haben werden, das noch Nothwendige zu bemerken. Dagegen bedarf das erste und letztgenannte Moment einer näheren Behandlung.
Die Möglichkeit, dass eine bei der Obduction gefundene Verletzung erst an der Leiche entstanden sein konnte, ist immer im Auge zu behalten, namentlich bei der Untersuchung von Kindesleichen, da bei diesen durch die Art, wie sie beseitigt werden (Werfen in den Abort, Einzwängen in enge Verstecke, Vergraben und Beschweren mit Steinen u. dergl.), häufig Gelegenheit geboten ist zur Entstehung postmortaler Verletzungen. Aber auch bei Erwachsenen können solche sich finden und zu Täuschungen Veranlassung geben. Es gehören hierher z. B. die zufälligen Verletzungen, die bei vom Wasser fortgeschwemmten Leichen durch Schleifen über kiesigen Boden, durch Anstossen an Steine, Balken, Eisschollen u. dergl. sich bilden, und ebenso jene, die beim ungeschickten Abnehmen von Erhängten, in Folge des Herabfallens der Leiche, sowie auch die, welche unter gewissen Umständen durch Benagtwerden von Thieren[258] entstehen können. Auch ist[S. 360] es möglich, dass erst bei der Section gemachte Verletzungen für intra vitam entstandene genommen werden können. Hierher gehören ausser den Muskelzerreissungen beim Strecken oder Zerren todtenstarrer Glieder, von denen namentlich die der Kopfnicker leicht zu falschen Deutungen führen können (v. unseren Aufsatz: „Ueber postmortale Rupturen des Sternocleidomastoideus.“ Wiener med. Wochenschr. 1888, Nr. 39 u. ff.), die Sprengungen des Schädels bei ungeschickter Abnahme des Schädeldaches und die bei seniler Osteoporose so leicht sich bildenden Rippenbrüche, insbesondere aber die Fracturen der Halswirbelsäule an ihrer grössten Convexität, welche, wie wir uns wiederholt überzeugt haben, beim Ziehen der Leiche am Kopfe oder beim starken Rückwärtsbeugen des bereits entleerten Schädels, wie es zur Erleichterung der Eröffnung und Untersuchung des Halses geschieht, bei alten Leuten leicht zu Stande kommen. Es können ferner postmortale Verletzungen auch absichtlich zugefügt worden sein, so durch Zerstückeln der Leiche eines Getödteten, oder um einen Selbstmord vorzutäuschen, wie uns ein Fall bekannt ist, in welchem die Leiche einer höchst wahrscheinlich anderweitig getödteten Frauensperson in dieser Absicht auf die Schienen gelegt wurde.[259] Auch ist die Möglichkeit gegeben, dass in irgend einem Falle einem schon anderweitig getödteten Individuum eine Verletzung beigebracht worden sein konnte, in der Meinung, dass dasselbe noch am Leben sei.
So obducirten wir in Innsbruck die Leiche eines Italieners, der durch Zerschmetterung des Schädels ermordet worden war, der aber ausserdem ein langes Messer im Halse stecken hatte, welches offenbar erst nach dem Tode eingestochen worden war, da, trotzdem grössere Arterien und Venenzweige verletzt waren, keine Spur von Reactionserscheinungen an der Wunde gefunden wurde. Die Erkennung einer solchen Verletzung als einer postmortalen wäre namentlich dann von Wichtigkeit, wenn sie durch einen anderen Thäter veranlasst worden wäre, als die, welche während des Lebens zugefügt wurde und zum Tode führte.
Welche sonderbaren Möglichkeiten bezüglich der Entstehung postmortaler Verletzungen gegeben sind, zeigt der von Maschka [S. 361](Gutachten I) mitgetheilte Fall, wo die Leiche eines offenbar im epileptischen Anfalle umgekommenen Knaben, der durch einige Tage im Freien gelegen hatte und bis auf den hervorragenden Kopf verschneit war, von Wilddieben, die letzteren bei Mondbeleuchtung für einen Hasen gehalten hatten, angeschossen worden war und wo der Befund von gehacktem Blei in den Schädelknochen und im Gehirne, trotz ganz minimaler Reactionserscheinungen, die Gerichtsärzte veranlasst hatte, den Tod des Obducirten von der Schussverletzung herzuleiten, bis erst nachträglich der wahre Sachverhalt sichergestellt wurde. Ein analoger Fall von Anschiessen der von einem Baume herabgefallenen, in einem Gebüsche liegendes Leiche eines erhängten Selbstmörders wird von Späth (Württemb. Correspondenzbl. 1890, Nr. 14) mitgetheilt.
Sehr beachtenswerth und gewissermassen den Uebergang von vitalen zu postmortalen Verletzungen bildend, sind die Läsionen, welche beim Zusammenstürzen aus einer anderen, insbesondere auch aus natürlicher Todesursache entstehen können. Je plötzlicher und vollständiger die durch letztere gesetzte Bewusstlosigkeit, respective Bewegungsunfähigkeit eintritt, mit desto grösserer Gewalt stürzt der Körper zu Boden und desto leichter können durch dieses Zusammenstürzen Verletzungen sich bilden, denen begreiflicherweise namentlich der Kopf ausgesetzt ist. Einfache Contusionen oder Quetschwunden am Hinterkopf, an der Stirn und der seitlichen Scheitelgegend sind häufig. Fig. 46 gibt ein solches Beispiel. Ausserdem haben wir eine ganze Reihe anderer Verletzungen aus dieser Ursache beobachtet, so Brüche der Nasenbeine, Bruch des Processus zygom. sin., Fractur der Schneidezähne, zweimal Fractur des Oberarmes (beidemale bei Greisen mit seniler Osteoporose, einmal bei plötzlichem Tod durch Pneumonie, einmal bei Haemorrhagia cerebri), je einmal Luxation des Humerus bei plötzlichem natürlichen Tod und beim Selbstmord durch Schuss, einmal Fractur der Halswirbelsäule bei einem alten, am Abort an Haemorrhagia in pontem plötzlich gestorbenen Mann, der mit dem Rupfe gegen die Abortthüre gefallen war, endlich einen Sprung des Hinterhauptbeines mit Diastase der Lambdanaht bei einem auf der Strasse an Endocarditis mycotica und Embolie der rechten Coronararterie plötzlich Verstorbenen. Dass unter ungünstigen Umständen, z. B. wenn der Verstorbene gerade auf einer Treppe stand, oder wenn er auf hervorragende Gegenstände auffiel, noch schwerere Verletzungen entstehen können, liegt auf der Hand.
Zu den agonal oder postmortal entstandenen Verletzungen gehören auch die durch Wiederbelebungsversuche veranlassten. Bekannt sind in dieser Beziehung die durch Frottirungen entstehenden, an der Leiche als pergamentartige Vertrocknungen sich präsentirenden Hautaufschürfungen an den Beugeflächen der oberen Extremitäten, an der Vorderfläche der Brust und über den Schienbeinen, ferner die durch Aufträufeln von brennendem Siegellack auf die Brust und die durch Aderlässe bewirkten Verletzungen, die in ihrer Natur und Provenienz kaum zu verkennen sind. Wichtiger sind die durch subcutane[S. 362] Aether- oder andere zur Wiederbelebung gemachte Injectionen entstehenden Veränderungen an den betreffenden Hautstellen, da sie gelegenheitlich für etwas Anderes gehalten werden könnten. Diese Stellen präsentiren sich als bis thalergrosse rundliche oder ausgebuchtete, bleichgraue und derbe Stellen, an welchen beim Einschneiden Cutis sowohl als subcutanes Zellgewebe mehr weniger wie gekocht erscheinen. Dadurch sowohl, als noch mehr durch den häufig vorhandenen blassrothen Saum haben diese Stellen mitunter eine ganz auffallende Aehnlichkeit mit Verbrühungen dritten Grades oder mit den durch Schwefelsäure erzeugten Veränderungen. Auch können sie für Suffusionen gehalten werden, um so mehr, als mitunter wirklich eine vom Einstich herrührende Blutaustretung sich darunter findet. Auch mit gewissen Dermatosen ist eine Verwechslung nicht ausgeschlossen. Die Stichöffnung liegt fast immer excentrisch, häufig an der äussersten Peripherie der, wie erwähnt, veränderten Hautpartie und letztere zeigt beim Einschneiden meist den charakteristischen Geruch der Injectionsflüssigkeit, so dass bei einiger Aufmerksamkeit eine Verkennung des Befundes wohl vermieden werden kann.
Da wir bereits oben (pag. 270) das Verhalten vitaler und postmortaler Hautaufschürfungen besprochen haben und die Suffusionen bei den Wunden Erwähnung finden können, so wollen wir hier bei der Besprechung jener Momente, die geeignet sind, vitale von postmortalen Verletzungen zu unterscheiden, nur die Weichtheilwunden und die Knochenverletzungen im Auge behalten.
In dieser Beziehung ist zunächst die von Casper[260] zuerst hervorgehobene Thatsache zu beachten, dass an der Leiche sowohl Weichtheile als Knochen eine grössere Widerstandsfähigkeit gegen Gewalten, insbesondere gegen stumpfe Gewalten, zeigen, als dies während des Lebens der Fall ist. Diese Thatsache ist zwar von Krahmer[261] angezweifelt, dagegen von einer Reihe anderer Beobachter, wie insbesondere von F. Falk[262] und von Aeby[263], experimentell geprüft und bestätigt worden. Auch wir müssen auf Grund zahlreicher Versuche, die wir angestellt haben und jedes Jahr unseren Schülern vordemonstriren, mit den Angaben der genannten Beobachter übereinstimmen. Die Ursache dieser Erscheinung liegt unserer Meinung nach in der geringeren Turgescenz todter Gewebe und in der mehr teigigen Consistenz und grösseren Plasticität, die die Weichtheile in Folge der Todtenstarre erhalten.
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Weiter muss das Vorhandensein oder Fehlen der vitalen Reactionserscheinungen berücksichtigt werden. Ist zwischen der Zufügung der Verletzung und dem Tode längere Zeit verstrichen, dann sind in der Regel so deutliche Erscheinungen von entzündlicher Röthung, Schwellung, Eiterung oder von Verklebung oder Granulation vorhanden, dass die Erkennung einer Verletzung als vitaler keinen Schwierigkeiten unterliegt, die übrigens, da solche Fälle meistens von vornherein in dieser Richtung klar sind, dann nur selten Gegenstand der Frage wird, obgleich bemerkt werden muss, dass der Grad und die Natur der Reactionserscheinungen sich verschieden gestalten wird, je nachdem der Wundverlauf ein aseptischer war oder nicht, und dass auch ganz unzweifelhaft und unverkennbar vorhanden gewesene Reactionserscheinungen durch die Fäulniss verwischt oder schwer unterscheidbar werden können.
Ungleich schwieriger kann sich die Sache gestalten, wenn postmortale von unmittelbar vor dem Tode erzeugten Verletzungen unterschieden werden sollen. In einem solchen Falle ist zur Unterscheidung vorzugsweise die Erfahrung heranzuziehen, dass während des Lebens entstandene Verletzungen mit entsprechender Retraction der durchtrennten Weichtheile und mit mehr weniger starker Blutung verbunden sind, während beide Erscheinungen bei postmortalen Verletzungen gar nicht oder mindestens ungleich schwächer sich auszubilden pflegen.
Die vitale Retraction macht sich insbesondere an der Haut bemerklich und veranlasst das Klaffen der Wundränder. Der Grad, in welchem diese Erscheinung bei während des Lebens entstandenen Verletzungen eintritt, hängt von localen Verhältnissen der betreffenden Hautstelle ab, namentlich ausser von der Faser- (Spaltbarkeits-) Richtung davon, in welcher Weise die Anheftung der Haut an die darunter liegenden Gewebsschichten eine grössere oder geringere Retraction gestattet. Am meisten wird sie deshalb sich einstellen, wenn die Haut über der betreffenden Stelle leicht verschiebbar und nur durch lockeres, grossmaschiges Bindegewebe mit der Unterlage verbunden war, während an anderen Orten, wie z. B. namentlich an der Kopfhaut oder am Rücken, einestheils die dichtere und dickere Beschaffenheit der Haut selbst, andererseits das kurze und straffe Unterhautgewebe ein stärkeres Zurückziehen der getrennten Haut nicht gestattet. Es ist begreiflich, dass diese localen Verhältnisse auch bei postmortalen Verletzungen sich geltend machen werden, wie überhaupt festzuhalten ist, dass auch die todte Haut bis zu einem gewissen Grade ihre Elasticität und Retractibilität behält, und dass daher auch postmortale Wunden mehr weniger klaffen, aber im Allgemeinen nicht in dem Grade, wie wir dies bei während des Lebens erfolgten Trennungen in der Regel beobachten können, weshalb auch die Verziehung der ursprünglichen Form einer Hautwunde bei postmortalen Wunden in weniger auffallender Weise erfolgt als bei vitalen. Nicht unbeachtet darf übrigens bleiben, dass sowohl bei
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vitalen als bei postmortalen Trennungen der Haut das Abstehen der Wundränder durch die Lage und Stellung des betreffenden Körpertheiles vielfach modificirt werden kann.
Mit grosser Energie äussert sich bei während des Lebens beigebrachten Verletzungen die Retractibilität der Musculatur; aber gerade bezüglich dieser ist bekannt, dass sie noch einige Zeit nach dem Tode besteht und eigentlich erst, nachdem die Todtenstarre eingetreten ist, sich nicht mehr äussert, woraus folgt, dass eine Verletzung ganz wohl erst nach dem Tode entstanden sein konnte, obwohl die durchtrennten Muskelbäuche retrahirt gefunden wurden, wenn nämlich die Verletzung, z. B. die Zerstücklung einer Leiche, unmittelbar oder so kurz nach dem Tode vorgenommen wurde, dass die Retractibilität der Musculatur sich noch zu äussern vermochte. Ist einmal die Todtenstarre eingetreten oder dieselbe schon abgelaufen, dann retrahirt sich die Musculatur, wenn sie durchtrennt wird, wenig oder gar nicht. Uebrigens muss auch hier bemerkt werden, dass die Retractionsfähigkeit eines durchschnittenen Muskels vielfach beeinflusst wird durch die Art und Weise seiner Insertion und sein Verhalten zu den Nachbartheilen.
Einen wichtigeren Anhaltspunkt für die Beantwortung vorstehender Frage bietet der Nachweis einer stattgehabten Blutung, entweder nach aussen oder nach einwärts in Körperhöhlen oder in das Nachbargewebe (Suffusion), beziehungsweise das Fehlen dieser Erscheinungen.
Während des Lebens entstandene Wunden bluten mehr oder weniger. Wir finden daher an der Leiche theils flüssiges, theils coagulirtes oder eingetrocknetes Blut an der Wunde und ihrer nächsten Umgebung, und zwar theils ausserhalb des Körpers, so z. B. an den Kleidern, oder innerhalb desselben zwischen den getrennten Gewebsschichten oder in Körperhöhlen ergossen. Wird eine Verletzung einer Leiche beigebracht, so tritt eine stärkere Blutung in der Regel nur dann ein, wenn grössere, mit flüssigem Blute gefüllte Gefässe getroffen wurden. So sehen wir z. B. bei Abnahme des Schädeldaches aus dem eröffneten Sinus oder beim Aufschneiden der Venae anonymae bei der Abnahme des Brustblattes mitunter sehr bedeutende Blutmassen ausfliessen.
Ebenso können wir, wenn das Blut in der Leiche flüssig war, auch nach postmortalen Verletzungen blutreicher parenchymatöser Organe, wie z. B. der Milz, bedeutende Mengen Blut austreten sehen. Postmortale Verletzungen peripherer Theile, insbesondere der Haut, sind in der Regel mit keiner oder nur mit ganz geringfügiger Blutung verbunden, da, wie bekannt und wie das Erblassen der Haut zeigt, schon im Sterben und noch mehr nach dem Tode, das Blut aus den Capillaren und den kleineren peripheren Gefässen sich entleert und vorzugsweise im rechten Herzen und den grossen Venenstämmen sich ansammelt. Doch macht auch hier die Stelle, wo man eine Verletzung zufügt, einen[S. 365] Unterschied. Während nämlich Wunden nach aufwärts gelegener Hautstellen gar nicht bluten, kann an abhängigen Körperpartien, der daselbst entstandenen oder nachträglich entstehenden Senkungshyperämie wegen, eine Blutung eintreten, obgleich es auch da nur zu einem Durchsickern des Blutes, zu einer profusen Blutung aber nur dann kommt, wenn die Wunde tiefer drang und grössere Venenstämmchen des Unterhautgewebes oder anderer Weichtheile getroffen hatte, und wenn bei so günstiger Lage des Körpers dem Ausfliessen des sich von oben herabsenkenden Blutes genügende Zeit gegönnt war.
Es folgt demnach aus dem Gesagten, dass wir nicht berechtigt sind, blos aus dem Umstande, dass eine Wunde geblutet hatte, zu folgern, dass dieselbe noch während des Lebens entstanden ist, sondern dass wir behufs einer solchen Folgerung früher die Lage der Wunde, die Tiefe derselben und die Qualität der getroffenen Theile, die Beschaffenheit des Blutes der betreffenden Leiche, sowie die Menge des aus der Wunde ausgetretenen Blutes in Betracht ziehen müssen. Handelt es sich um eine Verletzung grösserer Gefässstämme oder sehr blutreicher Organe, dann wird ausserdem zu erwägen sein, dass eine postmortale Verletzung, auch wenn sie grosse und blutreiche Organe traf, niemals diejenigen Allgemeinerscheinungen bewirken kann, die an Leichen thatsächlich Verbluteter sich ergeben.
Seit jeher wird, und zwar mit vollem Rechte, bezüglich der Diagnose, ob eine Verletzung während des Lebens geschah, auf den Befund von Suffusion unterhalb der betreffenden Verletzung oder in dem Nachbargewebe ein grosser Werth gelegt. Doch ist auch bezüglich dieses Befundes Folgendes zu bemerken.
Zunächst die Thatsache, dass auch bei vital entstandenen Verletzungen stärkere Suffusionen der Nachbarschaft vorzugsweise nur bei contundirten Wunden sich finden, während sie bei Schnitt- oder Stichwunden in geringerem Grade zur Ausbildung gelangen. Bei Wunden letzterer Kategorie ergiesst sich das Blut aus den getrennten Gefässen frei in die Wunde hinein, beziehungsweise aus dieser heraus, imbibirt sich auch, wenn es nach dem Tode mit den durchtrennten Geweben in Verbindung bleibt, in diese, aber es ist begreiflich, dass nur, wenn lockeres Bindegewebe in der Nachbarschaft sich findet, und wenn grössere arterielle Gefässe verletzt waren, die Verhältnisse darnach angethan sein werden, dass das ausgetretene Blut auf weitere Strecken in die Maschen des umgebenden Zellgewebes oder zwischen die Schichten verschiedener Gewebe einzudringen vermag, schon aus dem Grunde, weil das Blut aus den durchtrennten Gefässen in der Richtung des geringsten Widerstandes, also in den Wundspalt, fliessen wird. Waren diese Bedingungen nicht gegeben, so kann es geschehen, dass thatsächlich im Leben entstandene Stichverletzungen, wenn, weil das Blut nach innen sich ergoss, wenig oder kein Blut in der Wunde zurückblieb, mitunter gar keine Reactionserscheinungen[S. 366] darbieten und sich in Folge ihrer Blässe, namentlich in Folge des Fehlens der Sugillation der Nachbarschaft, wie solche verhalten, die erst nach dem Tode entstanden sind. Diese Thatsache wurde schon von Casper und Liman (l. c. II, 140) hervorgehoben und mit Recht bemerkt, dass auch die Schnelligkeit des Todes hierbei eine wesentliche Rolle spiele, insofern, als desto weniger Suffusion sich entwickeln kann, je rascher der Tod erfolgt. Bei penetrirenden Wunden kommt häufig noch das Moment der inneren Verblutung dazu, wodurch der peripheren Wunde gleichsam das Material zur Entstehung der Suffusion entzogen wird. Gleiches geschieht, wenn sofort nach Zufügung einer Verletzung eine andere, mit rapidem Blutverlust verbundene, gesetzt wird. So obducirten wir eine Frau, die von ihrem Manne eingestandenermassen durch zahlreiche bis in’s Gehirn dringende weitklaffende Hiebe mit der Schneide einer Hacke und durch nachfolgendes Halsabschneiden getödtet worden war. Die Kopfwunden zeigten keine Spur von Suffusion und auch die Halswunde, durch welche sämmtliche Halsgefässe getrennt worden waren, war nur unbedeutend suffundirt. Auch Operationswunden sind in der Regel nicht suffundirt.
A. Paltauf („Ueber reactionslose vitale Verletzungen.“ Wr. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 37 und 39) hat auf eine bisher unbeachtet gebliebene Ursache des Ausbleibens einer Blutung in die Nachbarschaft peripherer Verletzungen aufmerksam gemacht und mehrere Beispiele dafür angeführt, nämlich auf den Einfluss einer gleichzeitigen Hirnerschütterung und der damit verbundenen intensiven Reizung des grossen Vasomotorencentrums, welcher später Gefäss- und Herzlähmung folgt. „Wir können uns,“ sagt Paltauf, „vorstellen, dass dem Blute nach dem Trauma zuerst durch die Verengerung, ja den Verschluss der Gefässe die Möglichkeit des Ausströmens benommen wird, hernach aber, in Folge der Erweiterung des Strombettes, des mangelnden Druckes und des Versagens des Herzens, der nöthige Druck zum Einströmen in die peripheren Gefässbezirke fehlt.“ Beim Hirndruck, der überdies meist mit Hirnerschütterung verbunden ist, kann Aehnliches durch andauernde Pulsverlangsamung und das stetige Sinken des Blutdruckes veranlasst werden; bei gewissen Formen des Shok durch die plötzliche Herzlähmung und bei traumatischer Lähmung des Splanchnicus durch diese.
An der Leiche kommen in der Regel solche Suffusionen nicht zu Stande, aus dem Grunde, weil in den Theilen gewöhnlich das Material zur Bildung von Sugillationen, das Blut, mangelt und weil auch, selbst wenn dieses vorhanden war, dem sich entleerenden Blute der Druck fehlt, der erforderlich ist, um eine Infiltration des Nachbargewebes mit demselben zu bedingen. Aber es ist klar, dass die zur Bildung einer Suffusion nöthigen Bedingungen mitunter auch an der Leiche gegeben sein können. Schon Engel[264] hat gefunden, dass, wenn man Leichen in[S. 367] Stellungen bringt, bei welchen der Kopf den niedrigst gelegenen Theil bildet, nicht blos intensive Senkungshyperämien in demselben erzeugt werden können, sondern dass es auch, wenn man den Versuch genügend lange fortsetzt, zu Rupturen kleiner Gefässe und dadurch zur Bildung von Sugillationen in der Kopfhaut und zur Bildung von Ecchymosen in der Conjunctiva kommen kann. Auch wir[265] haben auf gewisse subepidermoidale stecknadelkopf- bis hanfkorngrosse Extravasate aufmerksam gemacht, die an den unteren Extremitäten von Erhängten ziemlich häufig gefunden werden, wenn diese lange am Stricke geblieben waren und entweder aus kleinen, vital gebildeten Ecchymosen durch Nachsickerung des Blutes oder dadurch entstehen, dass die Hautcapillaren schliesslich unter dem Drucke der sich von oben herabsenkenden Blutsäule bersten. Dieser Vorgang, insbesondere die Vergrösserung vital entstandener kleinerer Ecchymosen durch agonale oder postmortale Nachsickerung des Blutes, ist aber auch bei anderen Körperlagen, z. B. bei der Rücken-, Bauch- oder Seitenlage, an den am tiefsten und zugleich frei liegenden Hautstellen eine durchaus nicht seltene Erscheinung und lässt sich auch an tiefgelegenen Schleimhäuten und in den betreffenden Partien des subcutanen und anderweitigen Zellgewebes beobachten. Besonders instructiv, weil in ihrer Provenienz unverkennbar, sieht man die Erscheinung an vielen Leichen von Personen, die plötzlich unter Erstickungssymptomen gestorben und längere Zeit mit dem ganzen Körper oder auch nur mit dem Kopfe auf der einen Seite liegen geblieben sind. In den typischen Fällen ist die nach aufwärts gelegene Gesichtshälfte blass, die andere livid durch bis linsengrosse Ecchymosen gefleckt, die Conjunctiva auf ersterer Seite schwach injicirt, mit den gewöhnlichen punktförmigen bis stecknadelkopfgrossen Ecchymosen, auf der anderen aber stark und dicht injicirt mit bis bohnengrossen (nicht etwa blos durch Imbibition vergrösserten) Ecchymosen und bei Abnahme der Schädeldecken finden sich diese bedeutend blutreicher auf der lividen Seite als auf der anderen und die lockeren Zellgewebsschichten, selbst jene unter der Scheide des Schläfemuskels, sind mit Blutaustritten durchsetzt, welche linsen- bis bohnengross sein können. Noch auffälliger ist das Bild in Fällen, wo die Leiche längere Zeit am Bauche oder gar mit herabhängendem Oberkörper liegen geblieben war, und kann dann die hochgradige livide, mit Dunsung verbundene Färbung der Haut des Gesichtes, Vorderhalses und Brustkorbes, sowie das Auftreten zahlreicher und grösserer Ecchymosen in und unter der Haut und selbst in den tiefer gelegenen Zellgewebsschichten, z. B. des Vorderhalses, zu fatalen Täuschungen führen, namentlich insoferne, als an gewaltsame Erstickung, besonders durch Erwürgen oder Erdrosseln, gedacht werden kann, obgleich nur ein natürlicher Tod vorliegt.
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Diesen Beobachtungen zufolge lässt sich erwarten, erstens, dass auch traumatisch unmittelbar vor dem Tode entstandene Extravasate sich postmortal bei entsprechender Lage durch Nachsickerung des Blutes vergrössern können und zweitens, dass auch nach postmortalen Verletzungen Extravasate sich bilden werden, wenn die verletzten Gefässe flüssiges Blut enthielten und die Leiche in eine solche Stellung gebracht wurde, bei welcher die verletzte Stelle, ohne einen Druck zu erleiden, nach abwärts zu liegen kam. In der That gelang es uns bei Hunden, die durch Erstickung getödtet wurden, durch selbst mehrere (2–4) Stunden nach dem Tode erzeugte Verletzungen der Kopfhaut durch Hammerschläge, noch mehr durch Einschlagen des Schädels, ausgebreitete Suffusionen der weichen Schädeldecke zu erhalten, wenn das Thier nach der Zufügung der postmortalen Verletzung bei den Füssen aufgehängt und in dieser Stellung mehrere Stunden belassen worden war. Ebenso konnten wir die Entstehung ausgebreiteter intra- und extrameningealer Extravasate post mortem und sogar von capillären Blutungen im Gehirne selbst beobachten, welche das bekannte Bild der Contusio cerebri darboten und, wie diese, vorzugsweise an der Spitze der Stirn- und Schläfelappen zu Stande kam. Modificirten wir aber den Versuch dahin, dass wir der Thierleiche mit einem Hammer die Knochen der unteren Extremitäten zerbrachen und die Leiche beim Halse aufhingen, so vermochten wir ausgebreitete Suffusionen in der Nachbarschaft der zertrümmerten Knochen und an den Knochenenden selbst zu constatiren, woraus folgt, dass wir nicht unbedingt berechtigt sind, blos aus dem Befunde einer Suffusion eine Verletzung für eine während des Lebens entstandene zu erklären, sondern auch erwägen müssen, ob nicht an der Leiche Bedingungen vorhanden waren, die das Zustandekommen einer postmortalen Suffusion ermöglichten.
Seit jeher wurde auf die geronnene Beschaffenheit des Blutes im Bereiche von Verletzungen ein besonderes Gewicht gelegt und dieses Verhalten als für vitale Verletzungen charakteristisch bezeichnet. Wenn man damit sagen wollte, dass das Leichenblut nicht gerinnen könne, so ist dies entschieden unrichtig, da man sich bei Sectionen jeden Augenblick überzeugen kann, wie das in den Gefässen gefundene flüssige Blut, auch Erstickungsblut, nach verhältnissmässig kurzer Zeit gerinnt, wenn es der Luft ausgesetzt bleibt; ebenso kann demnach das aus postmortalen Wunden ausfliessende oder aussickernde Blut gerinnen. Wir haben uns aber bei unseren Versuchen überzeugt, dass auch bei Contusionen und überhaupt bei Verletzungen, bei welchen die Haut nicht durchtrennt wurde, somit das in das Gewebe ausgetretene Blut mit der äusseren Luft nicht in Contact kam, die postmortale Suffusion aus geronnenem Blut bestand, ein Umstand, der, weil die Versuche an erstickten Thieren geschahen, bei denen somit das Blut im Herzen und in den Gefässen flüssig blieb, beweist, dass erst in den Partien, in welche das Blut ausgetreten war, die Bedingung (das Ferment)[S. 369] gesetzt wurde, welche nothwendig ist, um aus den sogenannten Fibringeneratoren (Schmidt) Fibrin zu erzeugen. Dieses stimmt auch mit den Beobachtungen von C. Seydel (Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr. 7), wonach die Gerinnung proportional zu sein scheint mit der Zerstörung, respective Veränderung der Gewebstheile, die mit dem Bluterguss in Berührung kommen. Doch muss bemerkt werden, dass wir bei unseren Versuchen immer nur lockergeronnenes Blut in den postmortalen Suffusionen fanden, niemals aber so feste Gerinnsel, wie sie bei vital erzeugten Extravasaten, wenn auch nicht immer, so doch meistens beobachtet werden. Die eintretende Gerinnung des Blutes in den Maschen der zerrissenen Gewebe ist mit ein Grund, warum der Vergrösserung der Extravasate durch postmortale Nachsickerung des Blutes gewisse Grenzen gesetzt sind.[266] Der gerinnungsbefördernde Einfluss der Luft kann sich bei offenen Wunden auf weite Strecken in den Körper, respective in die Gefässe hinein äussern. So von Wunden der grossen Halsgefässe aus bis in’s Herz. Bei einem kräftigen, wegen Schulterlage durch Decapitation geborenen Kinde fanden wir die Stümpfe suffundirt und in den Sinus der Dura mater und im Herzen geronnenes, sonst überall flüssiges Blut. Auch die gerinnungserregende Wirkung der Herzbeutelflüssigkeit kann sich bei mit dem Pericard communicirenden Verletzungen bemerkbar machen, vielleicht auch bei unverletztem Pericard durch Imbibition, respective Transsudation derselben.
Die Schwellung und reactive Hyperämie der Wundränder ist eine Erscheinung, zu deren Zustandekommen immer einige, wenn auch nur ganz kurze Zeit erforderlich ist; sie wird daher in jenen Fällen fehlen, in welchen der Tod sofort nach der Verletzung eingetreten war. Ueberdies kann eine Schwellung der Wundränder auch bei postmortalen Verletzungen entstehen, wenn diese an Stellen liegen, die in Folge von Hypostase succulenter erscheinen. Anderseits kann eine thatsächlich bestandene Schwellung an der Leiche verschwinden, theils durch Verdunstung, theils durch Senkung des Blutes und sonstiger Flüssigkeiten in die abwärtigen Theile, wie es ja bekannt ist, dass auch andere, namentlich ödematöse Schwellungen, die schon vor dem Tode bestanden, nach demselben durch Hypostase aus nach aufwärts gelegenen Hautstellen sich verlieren oder mindestens stark an Intensität abnehmen. Eine seröse Infiltration in der Umgebung von Blutextravasaten ist keineswegs ohne Weiteres als reactives Oedem aufzufassen, welches ein längeres Ueberleben der Verletzung voraussetzt, denn eine solche Infiltration kann sich auch bei unmittelbar vor dem Tode entstandenen Extravasaten finden und rührt nicht, wie Lesser („Ueber Lymphorrhagien in der Umgebung unmittelbar oder kurz vor dem Tode[S. 370] erlittener Verletzungen.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXIX, pag. 1), sowie M. Lavallée und Köhler („Décollement traumatique.“ Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1889, XXIX, pag. 44) meinten, von Lymphorrhagien her, sondern werden, wie wir bereits in der letzten Auflage dieses Buches andeuteten und wie von A. Paltauf („Ueber das falsche Lymphextravasat.“ Prager med. Wochenschr. 1892, Nr. 23) experimentell nachgewiesen und Drews (Berliner Diss. 1893) bestätigen konnte, durch den Gerinnungsvorgang im extravasirten Blute und Trennung des Blutserums vom Blutkuchen veranlasst.
Aus dem Gesagten ist zu entnehmen, dass die Unterscheidung vitaler von postmortalen Verletzungen und umgekehrt mitunter selbst an frischen Leichen recht schwierig werden kann und eine genaue Berücksichtigung aller erwähnten Verhältnisse erfordert, namentlich auch die Prüfung, ob sich, wie bei postmortalen Verletzungen gewöhnlich. das Blut leicht abspülen lässt oder nicht.
Noch schwieriger kann sich die Unterscheidung gestalten an faulen oder anderweitig, z. B. durch Verbrennung, Zerstücklung u. s. w. veränderten Leichen. Insbesondere werden die Schwierigkeiten bei faulen Leichen, namentlich faulen Wasserleichen, grösser, da bei diesen einestheils die sogenannten Imbibitions-Erscheinungen Suffusionen vortäuschen, anderseits aber in Folge der Fäulniss, eventuell Auswässerung, auch wirklich bestandene Extravasate geronnenen Blutes unkenntlich gemacht werden können, wozu noch der Umstand kommt, dass gerade an verletzten und gequetschten Stellen sowohl die Fäulniss, als auch (bei Wasserleichen) die Auswässerung früher zu beginnen und rascher zu verlaufen pflegt als an anderen. Es ergibt sich aber eben aus dieser Thatsache, dass, wenn wir bei einer Leiche trotz des hochgradig faulen, respective macerirten Zustandes derselben in der Umgebung einer Verletzung einer Suffusion von geronnenem Blut begegnen, wir schon aus diesem Befunde berechtigt sind, auf vitalen Ursprung der Verletzung zu schliessen, da, wenn die Verletzung der schon faulen Leiche zugefügt worden wäre, Gerinnungen nicht entstehen konnten, wenn dieselbe aber noch an der frischen Leiche entstand, die Gerinnungen weicher gewesen und daher der Verflüssigung durch Fäulniss leichter unterlegen wären.
Derselbe hat nicht blos andere gewaltsame Todesarten, sondern auch den natürlichen Tod zu betreffen. Es ist jedoch selbstverständlich, dass es nur in besonderen Fällen nothwendig sein wird, auf die Möglichkeit, dass blos ein natürlicher Tod vorliegen könnte, näher einzugehen; denn es ist klar, dass, wenn wir bei der Obduction einen vollkommen gesunden Organismus nachweisen und an diesem eine grobe, offenbar während des Lebens entstandene Verletzung lebenswichtiger Organe finden, die ihrer[S. 371] allgemeinen Natur nach geeignet ist, den Tod zu bewirken, gar kein Grund vorhanden ist, auch die Möglichkeit eines natürlichen Todes in Erwägung zu ziehen. Dagegen wird dies nothwendig erscheinen, wenn ausser der Verletzung und ihren Folgen noch anderweitige, früher bestandene oder nachträglich und unabhängig von der Verletzung eingetretene pathologische Processe sich finden, die erfahrungsgemäss auch den Tod bewirken können, oder wenn der als nächste Todesursache erkannte Befund ein solcher ist, dass er ebenso gut durch eine Verletzung (Misshandlung), als durch eine Krankheit im engeren Sinne hätte entstanden sein können.
So kann es geschehen und ist uns thatsächlich vorgekommen, dass ein altes marastisches Individuum während einer Rauferei, wo es Schläge gegen den Kopf erhielt oder bei den Haaren gerissen wurde, zusammenstürzt und sofort oder kurz darnach stirbt. Wenn man nun in einem solchen Falle als nächste Todesursache einen apoplectischen Erguss in’s Gehirn oder auf die Oberfläche desselben nachweist, so kann es recht schwer werden, zu bestimmen, ob die Ruptur des atheromatösen oder aneurysmatischen Hirngefässes durch die Misshandlung, beziehungsweise durch die mit derselben verbundene Erschütterung des Kopfes eingetreten ist, oder ob die während der Rauferei bestandene Gemüthsaufregung, gleichzeitiger Alkoholgenuss etc. die längst zu Rupturen disponirten Gefässe zur Berstung gebracht habe. In gleiche Lage könnten wir kommen, wenn die Misshandlung einen Alkoholiker betroffen hätte, und zwar nicht blos wegen der im Gefolge der chronischen Alkoholdyscrasie eintretenden fettigen Degeneration der Gefässe, sondern auch wenn die Blutung aus einer bei Säufern so häufigen Pachymeningitis vasculosa erfolgte, da Blutungen aus dieser sowohl spontan[267], als in Folge plötzlicher Erschütterungen eintreten können. Auch in solchen Fällen kann nur die sorgfältigste Erwägung aller Umstände nach einer oder der anderen Richtung ein Urtheil gestatten, doch ist es klar, dass meistens über eine blosse Wahrscheinlichkeitsdiagnose nicht wird hinausgegangen werden können, und dass, selbst wenn wir Grund haben, der Misshandlung die Hauptrolle bei der Entstehung der Hämorrhagie zuzuweisen, man doch jedesmal die „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ wird betonen müssen, die die Veranlassung war, dass die betreffende Misshandlung (wenn sie eine sonst geringfügige gewesen ist) einen letalen Ausgang genommen hatte.
Bei der Beurtheilung des causalen Zusammenhanges einer Infectionserkrankung mit einer Verletzung müssen nach P. Dittrich („Ueber Wundinfectionen, besonders Wundeiterungen[S. 372] und ihre Folgen vom forensischen Standpunkte.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, Suppl. pag. 1) in Betracht kommen: die Localisation der Infection, der Zeitraum zwischen der Verletzung und dem Auftreten der ersten Infectionserscheinungen und der Ausschluss anderweitiger Infectionsquellen. Bei von der Verletzung entfernten Entzündungen muss der Nachweis angestrebt werden, dass diese von der Wunde ausgegangen sind. Doch ist die anatomische (bakteriologisch-anatomische) Constatirung der Wege, auf welchen sich die Entzündungserreger fortpflanzten, keineswegs immer leicht. Auch ist es möglich, dass an der Wunde selbst keine oder nur geringe Infectionserscheinungen zu bemerken sind, obgleich die Infectionsstoffe von der Wunde aufgenommen worden waren, und entfernte Entzündungen erregt haben. Auch wurden von uns und von Anderen Fälle beobachtet, in denen die äussere Wunde per primam heilte, in der Tiefe aber die Eiterung fortdauerte oder nachträglich auftrat.
Anderseits kann ein Individuum zur Zeit der erlittenen Verletzung bereits inficirt gewesen oder es kann die infectiöse Erkrankung unabhängig von der Verletzung erfolgt sein, welche Möglichkeiten sämmtlich erwogen werden müssen.
Verhältnissmässig häufig sind namentlich Schulkinder betreffende Fälle, wo Meningitis mit kurz vor der Erkrankung erlittenen Züchtigungen oder sonstigen kleineren Misshandlungen oder Verletzungen in ursächlichen Zusammenhang gebracht wird. Wir haben in einer besonderen Arbeit und gestützt auf zahlreiche Beobachtungen (Wiener med. Wochenschr. 1888, Nr. 7–9) dargethan, wie bedenklich gerade hier das „post hoc, ergo propter hoc“ ist und wie man eigentlich nur dann berechtigt ist, einen causalen Zusammenhang zwischen Misshandlung und Meningitis als erwiesen anzunehmen, wenn es gelingt, eine äussere oder innere Läsion nachzuweisen und darzuthun, dass von dieser eine pyogene Infection ausgegangen ist. Aber auch in diesen Fällen muss die Meningitis nur als eine accidentelle Wundkrankheit begutachtet werden. Der Verlauf der Erkrankung ist für sich allein nach keiner Richtung beweisend. Insbesondere beweist das Eingetretensein der Krankheitssymptome ganz kurz nach einer Misshandlung für sich allein durchaus nicht einen causalen Zusammenhang mit diesen. In den meisten Fällen ist, ganz abgesehen von der tuberculösen und der durch Otitis media veranlassten Meningitis, eine spontane Erkrankung das näher Liegende, besonders, wenn zur Zeit spontane Meningitis häufiger vorkommt und die Anamnese oder die anatomische Untersuchung des Nasenrachenraumes und seiner Nebenhöhlen, die in solchen Fällen niemals zu unterlassen ist, ergibt, dass das Individuum, insbesondere das Kind, an einer catarrhalischen oder gar eitrigen Entzündungen der jene Höhlen auskleidenden Schleimhaut gelitten hat. Auch ist nicht zu übersehen, dass in Folge entfernterer Entzündungen Meningitiden auftreten können und dass insbesondere im Verlaufe[S. 373] croupöser Pneumonien nicht selten Meningitis sich einzustellen pflegt (Weichselbaum).
Hatte der Befund, den wir als nächste Todesursache erkannten, zu seinem Zustandekommen längere Zeit erfordert und es entsteht die Frage, ob derselbe mit einer früher erlittenen Misshandlung ursächlich zusammenhängt oder in Folge natürlicher Erkrankung entstand, so ist ausser auf die bisher besprochenen Momente besonders darauf Rücksicht zu nehmen, wann die ersten Erscheinungen des tödtlich gewordenen Leidens auftraten, ob diese mit der Misshandlung zusammenfielen oder kurz nach diesen oder im Gegentheil erst lange darnach begannen; denn es ist begreiflich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein krankhafter Zustand von einer Misshandlung herrühre, desto geringer wird, je längere Zeit zwischen dieser und den ersten Symptomen einer Krankheit verfloss, von je geringfügigeren unmittelbaren Folgen die Misshandlung begleitet war, und je mehr Momente sich aus der Anamnese ergeben, die erfahrungsgemäss auch ohne das Trauma (die Misshandlung) die betreffende Erkrankung haben veranlassen können. Bei der Beurtheilung solcher Processe ist die grösste Vorsicht zu beobachten und jedesmal genau zu erwägen, ob nicht jener pathologische Process, den der Obducent, weil er etwa in einem von dem verletzten entfernteren Organe liegt, als einen spontanen aufzufassen geneigt ist, doch nur eine durch die Verletzung veranlasste secundäre Erkrankung darstellt, und wir möchten insbesondere davor warnen, pneumonische Erkrankungen ohne Weiteres als primäre Processe zu nehmen, da es bekannt ist, dass gerade die Lungen zu den Organen gehören, welche im Verlaufe von Verletzungen am häufigsten zu erkranken pflegen, wie die hypostatischen Pneumonien, die im Laufe schwerer Verletzungen sehr gewöhnlich sich einstellen, ferner die lobulären (metastatischen) im Verlaufe pyämischer Erkrankungen und jene Pneumonien lehren, welche nach verschiedenen, mit vorübergehender oder länger dauernder Bewusstlosigkeit einhergehenden Erkrankungen, wie namentlich nach Kopfverletzungen, beobachtet werden, und die entweder einer neuroparalytischen Hyperämie in der Lunge oder aspirirten Mundflüssigkeiten ihren Ursprung verdanken (Traube). Es bedarf demnach einer sorgfältigen Erwägung aller Umstände, bevor man eine Lungenaffection für eine primäre und mit der (Kopf-) Verletzung nicht im Zusammenhange stehende erklärt. Was die typische croupöse Pneumonie betrifft, so bemerkt Rochs („Ueber Kopfverletzungen mit Berücksichtigung ihres Zusammenhanges mit consecutiver Lungenentzündung.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, pag. 12) mit Recht, dass in einem solchen Falle der Nachweis eines ursächlichen Zusammenhanges der Pneumonie mit einer Kopfverletzung überhaupt nicht zu führen ist.
Ein interessanter Fall hierhergehöriger Art war folgender: Der 13 Jahre alte J. T. soll 14 Tage vor seinem Tode von seinem Meister [S. 374]in der Art misshandelt worden sein, dass ihn dieser emporhob und zu Boden warf, ihn mit Füssen trat und mehrere Faustschläge gegen das Hinterhaupt versetzte. Am anderen Tage klagte er über Kopfschmerzen und Schmerzen im rechten Arm. Die linke Stirngegend soll geschwollen und blau gewesen sein. Acht Tage darauf nahm die Anschwellung zu, und es sollen am Kopfe und am übrigen Körper vereinzelte Pusteln aufgetreten sein, zu welchen im Verlaufe von drei weiteren Tagen noch andere hinzutraten. Am elften Tage verlor der Knabe die Besinnung und verblieb in diesem Zustande bis zu seinem Tode. Ein Arzt war nicht beigezogen worden. Bei der gerichtlichen Obduction ergab sich ein stark abgemagerter Körper mit etwas icterischen Hautdecken. Am linken Stirnhöcker eine thalergrosse geschwellte, oberflächlich vertrocknete fluctuirende Stelle. Das linke Augenlid geschwellt und verschlossen. Am ganzen Körper, besonders im Gesichte und an den Extremitäten, 30–50 zerstreute, erbsen- bis haselnussgrosse, schwappende, mit einer theils gelblichweissen, theils fleischwasserähnlichen Flüssigkeit gefüllte Pusteln, ohne Verhärtung der Umgebung. Nach Einstich entleert sich fast die ganze Pustel und fällt zusammen. Als weitere Metamorphosen dieser Pusteln sieht man besonders im Gesichte rundliche, bis in’s Unterhautzellgewebe dringende, mit einer Kruste bedeckte Geschwüre. Beim Einschnitt in die Stelle an der linken Stirne entleert sich viel dicker, gelber Eiter und es zeigen sich sämmtliche Weichtheile bis auf den Knochen mit Eiter durchsetzt. Auf der Schädelhöhe (?) unterhalb der Beinhaut ein kreuzergrosser Eiterherd. Schädeldach dünn, unverletzt. An der Innenfläche desselben, in der Gegend des vorderen oberen Winkels des linken Scheitelbeines, eine Schichte Eiter. Daselbst eine thalergrosse und etwas weiter nach vorn eine kleinere, zernagte, mit dickem Eiter belegte Stelle der Dura. Innere Meningen serös infiltrirt und ebenso wie das Gehirn blass. Schädelbasis unverletzt.
In beiden Lungen mehrere gelbliche, bis haselnussgrosse keilförmige Knoten; schlaffes Herz, Fettleber, sonst gewöhnliche Verhältnisse. Auf Grundlage dieser Befunde gab der Eine der Obducenten sein Gutachten dahin ab, dass J. T. zunächst an Pyämie in Folge von Quetschung und Vereiterung der weichen Schädeldecken der linken Stirngegend und consecutiver pyämischer Metastasen insbesondere der Haut gestorben sei. Der zweite Gerichtsarzt erklärte die Hautpusteln für Variola, die gerade in dem Orte herrschte und die Stelle an der linken Stirne für einen durch Variola confluens entstandenen brandigen Schorf und gutachtete, dass J. T. demnach an Variola und consecutiver Pyämie eines natürlichen Todes, keineswegs aber in Folge einer Misshandlung gestorben sei.
Das Gericht leitete den Fall an die Facultät, welche sich folgendermassen äusserte: Aus dem Sectionsbefunde geht zweifellos hervor, dass J. T. zunächst an eiteriger Entzündung der harten Hirnhaut und Pyämie in Folge des Stirnabscesses gestorben sei und dass dieser nicht durch Variola, sondern durch Quetschung veranlasst worden ist.
[S. 375]
Gegen die Annahme, dass die betreffenden Eruptionen Blattern gewesen sind, spreche eine Reihe von Gründen. Zunächst die Angabe der Mutter, dass die Pusteln nicht auf einmal, sondern im Laufe von vier Tagen aufgetreten waren, während sich die Eruption der Blattern ungleich rascher, keineswegs in so protrahirter Weise vollzieht; ferner der Umstand, dass einzelne der Pusteln bereits vertrocknet oder noch mit dünner Flüssigkeit gefüllt waren, da bei Blattern, eben weil sie sämmtlich ziemlich gleichzeitig auftreten, auch die weiteren Veränderungen fast gleichzeitig erfolgen; ebenen die Angabe, dass grössere und kleinere und sogar bis haselnussgrosse „Pusteln“ vorhanden waren, was der Erscheinungsweise der Blattern nicht entspricht, endlich, dass einzelne weisslichen, andere fleischwasserähnlichen Inhalt führten und nach dem Einstechen zusammenfielen, was bei Blattern nicht vorkommt. Bedenkt man dazu, dass Eruptionen, wie sie vor der Obduction an der Haut des J. T. beobachtet wurden, thatsächlich, wenn auch nur ausnahmsweise, bei Pyämischen auftreten, und dass exquisite sonstige Erscheinungen der Pyämie bestanden, so ist nicht zu bezweifeln, dass auch die von einem der Aerzte für Blattern gehaltenen Pusteln pyämische Hautaffectionen gewesen sind. Erwägt man weiter, dass J. T. bereits am Tage seiner Ankunft im Heimatsorte eine Schwellung und blaue Verfärbung der linken Stirngegend, somit ausgesprochene Erscheinungen einer Contusion dieser Stelle an sich trug, bereits damals über Unwohlsein, sowie über Schmerzen im Kopf und rechten Arm klagte und fortan liegen blieb, dass ferner der Ausbruch der Hautaffection mit einer Vergrösserung der Schwellung über dem linken Auge zusammenfiel, so ist es klar, dass die Entstehung des Abscesses der linken Stirne und damit die umschriebene eitrige Entzündung der harten Hirnhaut, sowie die consecutive Pyämie mit jener Contusion in ursächlichem Zusammenhange stehen, und dass somit J. T. eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Die betreffende Contusion war aber offenbar der Effect eines Stosses oder Schlages mit oder gegen einen stumpfen oder harten Gegenstand, und sie konnte in der That, wie der Knabe angab, durch 12 Tage vor dem Tode erlittene Schläge gegen den Kopf oder beim Niedergeworfenwerden und Aufschlagen mit dem Kopfe auf dem Boden entstanden sein.
Kann Tuberculose durch Trauma entstehen? Diese Frage ergibt sich in der gerichtsärztlichen Praxis immer häufiger und gehört nicht zu den leicht zu beantwortenden. Bei der Obduction eines dreijährigen, von seinem Stiefvater durch volle fünf Monate in allerrohester Weise misshandelten Mädchens fand Brand (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXII, pag. 259) zahlreiche Contusionen und Hautabschürfungen verschiedenen Datums, Miliartuberculose und einen bohnengrossen Hirntuberkel. Da Eiter- oder Käseherde nicht vorhanden waren, dagegen zahlreiche Verletzungen, durch welche Zerfall der Gewebe und daher Gelegenheit zur Verschwemmung von Detritusmassen durch den Kreislauf geboten war, wobei die schlechten hygienischen Verhältnisse begünstigend mitgewirkt haben konnten, so nahm Brand den ursächlichen Zusammenhang zwischen Miliartuberculose [S. 376]und Misshandlung als möglich und sogar als naheliegend an, worauf die Verurtheilung des Stiefvaters zum Tode erfolgte! Lebert (1872 und 1877), Brehmer („Die Aetiologie der chronischen Lungenschwindsucht“, Berlin 1885) und Mendelssohn („Traumatische Phthise.“ Zeitschr. f. klin. Med. 1885, X, pag. 108). Neun von Letzterem sehr eingehend analysirte Fälle sprechen sich für die Möglichkeit des Auftretens von Phthise nach Contusionen und Traumen der Lunge aus. Kraske („Ueber tuberculöse Erkrankung von Wunden.“ Centralbl. f. Chir. 1885, Nr. 47) hat Fälle beobachtet, in denen die tuberculöse Infection wahrscheinlich von Wunden aus erfolgte, und seitdem sind so viele einschlägige Beobachtungen gemacht worden, dass in dieser Beziehung kein Zweifel mehr bestehen kann. Besonders wichtig sind in dieser Hinsicht die Mittheilungen von Lehmann (Deutsche med. Wochenschr. 1886, Nr. 9) und Elsenberg (Berl. klin. Wochenschr. 1886, Nr. 35) über Inoculation der Tuberculose durch Beschneidung und die von Eiselsberg (Wiener med. Wochenschr. 1887, Nr. 53) über Impftuberculose, welcher einestheils eine reiche Literatur des Gegenstandes bringt, andererseits vier eigene Fälle von Einimpfung der Tuberculose durch unreine Instrumente (Nadel, Messer, Injectionsspritze) und durch Wäsche eines Tuberculösen mittheilt. (Siehe auch A. Salis, „Die Beziehungen der Hirntuberculose zu Traumen des Schädels“, Bern 1888, Diss. und Lacher, Friedreich’s Bl. 1891, pag. 321.) Neuere Arbeiten über den Gegenstand liegen vor von E. Grasser („Unfall als Ursache von Entzündungen und Gewächsen.“ Wiener med. Presse, 1893, Nr. 42) und P. Guder („Ueber den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, 1. und 2. Heft.) Am häufigsten scheint Tuberculose nach Brustverletzungen, insbesondere nach penetrirenden Brustwunden, sich zu entwickeln. Namentlich haben wir wiederholt Personen obducirt, die mehrere Wochen oder Monate, nachdem sie eine penetrirende Bruststichwunde erhielten, an tuberculöser Pleuritis und ihren Consequenzen gestorben waren. Der causale Nexus der Pleuritis als solcher mit der Stichverletzung ist in der Regel klar, weniger aber der Grund, warum dieselbe den tuberculösen Charakter bekam. War das Individuum zur Zeit der Verletzung entschieden tuberculös oder fanden sich bei der Obduction tuberculöse Schwielen, alte, käsige Herde in den Lungenspitzen oder verkäste Bronchialdrüsen u. dergl., dann ist die Annahme begründet, dass die Pleuritis wegen der bereits bestandenen Tuberculose oder wegen der Anlage hierzu, somit wegen „eigenthümlicher Leibesbeschaffenheit des Verletzten“, den tuberculösen Charakter erhalten hat. Ergeben sich solche Momente nicht, dann kann trotzdem kaum behauptet werden, dass die Verletzung „ihrer allgemeinen Natur nach“ die Tuberculose nach sich gezogen habe, sondern es muss erklärt werden, dass die durch die Verletzung bedingte Entzündung (die ja für sich allein auch keine absolut nothwendige Folge solcher Wunden ist) wegen gewisser mehr zufälliger und uns vorläufig unbekannter Verhältnisse den tuberculösen Charakter angenommen hat. Theoretisch muss zugestanden werden, dass sowohl [S. 377]das primäre Trauma, als die durch dasselbe herbeigeführten entzündlichen und Schwächezustände ein die Einwanderung von Tuberkelbacillen begünstigendes Moment bilden können, welche wieder dann leichter als sonst geschehen kann, wenn der Verletzte mit Tuberculösen im nahen Verkehre stand, weshalb von den erwähnten Beobachtern vor dem Zusammenlegen (Lungen-) Verletzter mit Phthisikern dringend gewarnt wird.
Dass Traumen, insbesondere Stösse u. dergl., Carcinome veranlassen können, ist eine bei den Laien sehr verbreitete Anschauung. Wissenschaftlich muss die Möglichkeit im Allgemeinen zugegeben werden, doch dürfte es in concreten Fällen nur beim Zusammentreffen besonderer Verhältnisse gestattet sein, sich über einen derartigen causalen Zusammenhang positiv auszusprechen. In neuerer Zeit hat Cremer (Würzburger Diss. 1885) über ein Nierencarcinom berichtet, welches seit dem Auffallen eines schweren Balkens auf den Rücken sich entwickelt hatte und 10 Monate nach dem Trauma zum Tode führte. Aus der Literatur citirt Cremer 15 verwandte Fälle. Auch ist es möglich, dass bei bereits bestehendem Krebs ein Trauma die Gelegenheitsursache zur Verschleppung von Krebskeimen (Krebsmetastasen) geben kann. Eine solche Möglichkeit bestand vielleicht bei einem von uns secirten Maurer, der 6 Wochen nach einem Sturz vom Gerüste unter paraplegischen Erscheinungen und Decubitus gestorben war und bei dem sich ein ulcerirendes Carcinom des Oesophagus und eine bohnengrosse Krebsmetastase im Conus des Rückenmarkes ergab.
Wurden ausser der als tödtlich erkannten Verletzung noch eine andere oder mehrere andere gefunden, so wird es nothwendig, auch die Möglichkeit auszuschliessen, dass die zweite oder die anderen Verletzungen den Tod herbeigeführt hätten, und die gleiche Nothwendigkeit ergibt sich, wenn der Sectionsbefund oder die besonderen Umstände des Falles noch auf andere, als im engeren Sinne traumatische Gewaltthätigkeiten denken lassen, die den Verstorbenen getroffen und für sich den Tod desselben herbeigeführt haben konnten.
Die Ausschliessung der letzterwähnten Todesarten erfordert die sorgfältige Erwägung der Symptome, die diese zu erzeugen pflegen, und da wir dieselben speciell behandeln werden, so müssen wir in dieser Beziehung auf die betreffenden Capitel verweisen, in welchen auch auf die Möglichkeit des gleichzeitigen Vorkommens von Verletzungen Rücksicht genommen werden wird. Hier sei nur bemerkt, dass das Zusammentreffen solcher concurrirender Todesursachen, wie Skrzeczka[268] diese Eventualität richtig[S. 378] benennt, nicht blos beim Selbstmord, obzwar bei diesem am häufigsten, sondern auch bei durch Andere veranlasster Tödtung vorkommen kann.
Wurden an einer Leiche mehrere Verletzungen gefunden, so kann sich zunächst der Fall ergeben, dass keine der gefundenen Verletzungen einzeln für sich im Stande war, den Tod herbeizuführen, dass aber alle Verletzungen zusammengenommen diesen bewirkt haben. Auf diese Möglichkeit bezieht sich der §. 143 des österr. St. G., ebenso der §. 236 des österr. St.-G.-Entwurfes und der §. 227 des deutschen St. G. Wir haben bereits oben auf solche Fälle aufmerksam gemacht und erwähnt, dass der Tod dann in der Regel durch Shok oder durch Summirung des Blutverlustes erfolgt.
Es kann ferner geschehen, dass neben einer offenbar letal gewordenen Verletzung eine oder mehrere andere leichte oder schwere, aber keine für sich oder im Zusammenwirken mit anderen lebensgefährliche Verletzungen gefunden werden. Auch solche Fälle bieten selten besondere Schwierigkeiten.
Hier haben wir aber vorzugsweise den Fall im Auge, dass an einem und demselben Individuum zwei oder mehrere Verletzungen sich finden, von denen jede für sich allein im Stande gewesen sein konnte, den Tod zu bewirken. Dies wäre eine „Concurrenz von Todesursachen“ im strengsten Sinne des Wortes und sie hätte insbesondere dann eine wichtige Bedeutung, wenn die betreffenden Verletzungen nicht alle von einem Thäter, sondern jede von einem anderen zugefügt worden wäre.
In solchen Fällen handelt es sich in der Regel um die Beantwortung von drei Fragen:
Ad 1. Die Schwierigkeit bei der Beantwortung dieser Frage liegt darin, dass wir nicht, wie bei einer einzigen Verletzung, zu erklären haben, ob dieselbe im vorliegenden Falle den Tod thatsächlich bewirkt habe, sondern ob von zwei oder mehreren vorgefundenen Verletzungen jede einzelne den Tod bewirken konnte, beziehungsweise musste, wodurch dem Gerichtsarzt nicht mehr, wie im erstgenannten Falle, blos die Aufgabe zufällt,[S. 379] den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Verletzung und Tod zu constatiren, sondern wodurch derselbe gezwungen wird, das Gebiet der Prognose zu betreten, dessen Unsicherheit sich nirgends mehr fühlbar macht, als in der gerichtsärztlichen Praxis.
Der §. 143 des österr. St. G. bestimmt, dass, wenn bei einer zwischen mehreren Personen entstandenen Schlägerei Jemand getödtet wurde, Jeder, der ihm eine (nicht die) tödtliche Verletzung zugefügt hatte, des Todtschlages schuldig sei. Aus dieser Fassung ergibt sich, dass das Gesetz unter einer „tödtlichen Verletzung“ nicht blos, wie wir dies bisher festgehalten haben, eine solche versteht, die den Tod wirklich zur Folge hatte, sondern auch eine solche, die ihn eventuell zur Folge gehabt hätte, und im gleichen Sinne äussert sich auch Herbst (l. c. 308) bei der Commentirung des §. 143, „dass unter tödtlicher Verletzung nur eine solche verstanden werden kann, welche für sich allein, nämlich unabhängig von den übrigen Verletzungen und Misshandlungen, den Tod herbeizuführen geeignet war“, indem er noch hinzufügt, dass, „wenn eine Verletzung diese Beschaffenheit hatte, es weiter nicht darauf ankommt, ob der Tod wirklich aus ihr oder aus einer von einem anderen Thäter zugefügten, gleichfalls tödtlichen Verletzung hervorging“. Wie unklar eine derartige Auffassung des Begriffes „tödtliche Verletzung“ ist, geht daraus hervor, dass einestheils bekanntlich häufig genug Verletzungen letal enden können, die anfangs die günstigste Prognose boten, anderseits aber selbst die lebensgefährlichsten Traumen heilen können, und dass es eigentlich nur wenige Verletzungen gibt, die als absolut letal bezeichnet werden müssen, woraus wieder folgt, dass die Gefahr gegeben ist, dass eine Verletzung für eine tödtliche im Sinne des genannten Paragraphes erklärt wird, die möglicher Weise, wenn das Individuum nicht durch eine andere Verletzung getödtet worden wäre, nicht mit dem Tode geendet hätte, sonach keine tödtliche gewesen wäre. So richtig aber dieser Einwurf ist, so werden wir doch in solchen Fällen mehr die Bedürfnisse der Strafrechtspflege, als die strengen Forderungen der Wissenschaft berücksichtigen und, wenn an der Leiche eine Concurrenz von Verletzungen sich ergibt, erklären, welche von diesen erfahrungsgemäss in der Regel den Tod herbeizuführen pflegt und daher auch im vorliegenden Falle geeignet war, für sich allein den Tod zu bewirken, und in diesem Sinne die Verletzung als eine tödtliche bezeichnen.
Ad 2. Die Frage, in welcher Aufeinanderfolge zwei oder mehrere tödtliche Verletzungen zugefügt wurden, erfordert zunächst die Erwägung des Grades der vitalen Reactionserscheinungen, welche die einzelnen Läsionen darbieten, da anzunehmen ist, dass im Allgemeinen Verletzungen, die den intacten Organismus getroffen hatten, verhältnissmässig in- und extensivere solche Erscheinungen zeigen werden, als später zugefügte. Dies trifft jedoch nur zu unter sonst gleichen Verhältnissen, denn da, wie wir oben[S. 380] erwähnt haben, die vitalen Reactionserscheinungen frischer Wunden vorzugsweise durch die Blutung aus der Wunde und in ihre Nachbarschaft veranlasst werden, so kann es ganz wohl geschehen, dass eine entschieden später zugefügte Verletzung ungleich stärkere Reactionssymptome zeigt, als eine früher beigebrachte, wenn diese blutgefässarmes, jene aber blutreiches Gewebe oder gar grössere Gefässe getroffen hatte. Am deutlichsten wird die Differenz in den Reactionssymptomen sich kundgeben, wenn eine zweite Verletzung in der Agone versetzt wurde, die durch eine andere veranlasst worden war, während Verletzungen, die nur in einem durch eine vorangegangene gesetzten Zustande von Bewusstlosigkeit oder Betäubung zugefügt wurden, nicht blos intensive, sondern noch intensivere Reactionserscheinungen bieten können als letztere, wie aus dem unten anzugebenden Fall erhellt.
In manchen Fällen sind es andere Momente, die es gestatten, die Aufeinanderfolge zweier oder mehrerer Verletzungen zu bestimmen. So bei Selbstmördern der Umstand, ob der betreffende, nachdem er sich eine bestimmte Verletzung beigebracht hatte, noch im Stande war, so viel Kraft zu entwickeln, um sich eine zweite ebenfalls lebensgefährliche zu versetzen, da es keinem Zweifel unterliegen kann, dass jene Verletzung die letzte war, welche bei einem Selbstmörder augenblicklichen Tod oder wenigstens sofortige Unfähigkeit zu weiteren Handlungen bewirken musste.
Ad 3. Um zu unterscheiden, welche von den gefundenen Verletzungen zunächst den Tod bewirkte, kommt zuerst zu erwägen, welche derselben schneller den Tod herbeizuführen geeignet war als die andere. Die allgemeine Erfahrung muss uns in dieser Beziehung leiten und es wird sowohl die unmittelbare Lebenswichtigkeit des getroffenen Organes oder Organtheiles als die In- und Extensität der Verletzung dieses Organes und die sogenannte „nächste“ Todesursache, wie wir sie oben ausführlich besprochen haben, in Betracht kommen.
Ist letztere, z. B. Verblutung, klar ausgesprochen und lässt sie sich nur auf eine bestimmte Verletzung zurückführen, dann ist die Beantwortung obiger Frage verhältnissmässig leicht.
Waren mehrere Verletzungen da, von denen jede geeignet war, Verblutung zu bewirken, dann kann man allerdings häufig sagen, aus welcher Wunde das Blut rascher und in grösseren Mengen ausströmen musste, welche daher bei verschiedenen Menschen, aber unter sonst gleichen Verhältnissen, früher den Tod herbeigeführt haben würde. Bei einem und demselben Individuum aber lassen sich in der Regel zwei oder mehr durch profuse Blutung sofort lebensgefährliche Verletzungen gar nicht von einander trennen, da eine die andere beeinflusst, die Verblutung schliesslich durch den gleichzeitigen Blutverlust aus allen Wunden und eben deshalb früher erfolgt, als sie sonst nur aus einer erfolgt wäre. Dagegen sind wir berechtigt, z. B. von zwei Wunden, von denen die eine verhältnissmässig langsam, die andere äusserst schnell Verblutung[S. 381] bewirken konnte, die letztere für die zunächst tödtliche zu erklären, wenn wir nachzuweisen im Stande sind, dass letztere entweder früher als die erstere oder gleichzeitig mit dieser oder unmittelbar darnach gesetzt wurde, während wir dieselbe desto weniger als solche werden begutachten können, je weiter bereits zur Zeit ihrer Zufügung die durch die erste Wunde gesetzten Verblutungserscheinungen gediehen waren.
Bezüglich anderer Verletzungen wollen wir nur erwähnen, dass gerade bei den wichtigsten und am häufigsten vorkommenden, nämlich bei den Kopfverletzungen, die Beantwortung der Frage, ob und wann nach einer bestimmten Verletzung der Tod eingetreten wäre, die grösste Schwierigkeit bietet. Wir werden an einer anderen Stelle hören, wie trügerisch sich die Prognose der Kopf- (Gehirn-) Verletzungen gestalten kann, wie einestheils Verletzungen, die anfangs keine oder nur unbedeutende und vorübergehende Symptome erzeugten, nachträglich einen letalen Ausgang nehmen können und dass andererseits gar nicht selten Hirnverletzungen heilen, die in der überwiegenden Mehrzahl ähnlicher Fälle den Tod nach sich zu ziehen pflegen. Da wir sonach häufig gar nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen können, ob eine bestimmte Kopfverletzung wirklich und nothwendig den Tod nach sich gezogen hätte, so sind wir noch weniger in der Lage, zu erklären, binnen welcher Zeit der Tod erfolgt wäre. Es wird also wieder nichts Anderes erübrigen, als eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose zu stellen und zu diesem Behufe die Ausdehnung und Art der Verletzung und die Beschaffenheit, respective die Lebenswichtigkeit der getroffenen Hirntheile zu erwägen. In ersterer Beziehung wissen wir, dass ausgebreitete Hirnläsionen viel rascher zum Tode führen, als umschriebene Verletzungen, sowie dass ausser der unmittelbaren Zusammenhangstrennung eines Hirntheiles auch der durch gleichzeitige Gefässtrennung erfolgende Blutaustritt, insbesondere aber bei vielen Verletzungen die mit der Zufügung der eigentlichen Verletzung verbundene Hirnerschütterung einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf einer Kopfverletzung nehmen, was umsomehr zu beachten ist, als die Commotio cerebri keine anatomischen Veränderungen erzeugt und nur aus der Beschaffenheit der sonstigen Verletzung und den übrigen Umständen des Falles erkannt werden kann. In der zweiten Beziehung ist es wieder bekannt, dass die centralen Hirntheile im Allgemeinen eine viel grössere Wichtigkeit für das animale Leben besitzen, als die peripheren und dass daher die Verletzung ersterer ungleich lebensgefährlicher ist, also auch schneller zum Tode führt, als jene anderer Hirntheile. Am schnellsten tödten bekanntlich Verletzungen der Brücke und des verlängerten Marks. Doch haben wir einen Mann obducirt, der einen Messerstich hinter das rechte Ohr erhalten hatte, welcher entlang der rechten Felsenbeinpyramide bis in’s Centrum der rechten Hälfte der Varolsbrücke gedrungen war, der zwar sofort bewusstlos zusammenstürzte, jedoch erst nach 3½ Tagen starb. Hätte dieser Mann gleichzeitig oder[S. 382] früher oder später eine andere tödtliche Verletzung erlitten und wäre sofort gestorben, so hätte man leicht geneigt sein können, den Stich in den Pons als die nächste Todesursache zu erklären, während die andere Verletzung den Tod bewirkt haben konnte. Dass spontane Hämorrhagien im Pons nicht immer sofort tödten, haben wir wiederholt gesehen und erst unlängst eine Frau obducirt, die, trotzdem die Varolsbrücke bis auf eine schmale corticale Schichte ganz zerstört war, dennoch die Hämorrhagie noch 12 Stunden überlebt hatte.
Wenn wir zu dem Gesagten noch erwägen, dass bezüglich der Schnelligkeit, mit welcher der Tod eintritt, auch verschiedene individuelle Verhältnisse eine Rolle spielen, insbesondere das Alter und der Gesundheitszustand, so bedarf es keiner weiteren Ausführung, um zu beweisen, wie sehr es nöthig ist, dass der Gerichtsarzt, wenn eine Concurrenz tödtlicher Verletzungen sich ergibt, alle Seiten des concreten Falles in Betracht ziehe, bevor er ein Urtheil dahin abgibt, dass gerade nur die eine der gefundenen Verletzungen den Tod veranlasst habe.
Als Beispiel einer Concurrenz mehrerer Todesursachen möge folgender unserer Fälle dienen:
Im October 1876 wurde in Wien ein Geldbriefträger ermordet und ausgeraubt. Bei der Obduction fand sich eine Schusswunde in der linken Schläfegegend, von einem Revolver kleinsten Calibers herrührend, wie aus der gleich hinter der Einschussöffnung im Knochen, in der Hirnrinde steckend gefundenen kleinen Spitzkugel geschlossen werden konnte. Die Verletzung des Gehirns war sonach keine ausgedehnte, doch war eine ziemlich starke Blutschichte zwischen den Meningen in der Umgegend, sowie an der Schädelbasis ausgetreten. Ferner fand sich eine klaffende, bis auf die Wirbelsäule durchdringende Schnittwunde am Vorderhalse, die zwischen Kehlkopf und Zungenbein eindrang, sämmtliche grossen Halsgefässe durchtrennt hatte und rechts bis in den Canalis arter. vertebralis eingedrungen war. Ausserdem eine deutliche Strangfurche unterhalb dieser Schnittwunde, welche die linke Hälfte des Halses umgreifend nach rechts und aufwärts aufsteigend sich einerseits am Kehlkopf in den rechten Theil der Halsschnittwunde, andererseits gerade in der Mittellinie des Nackens im behaarten Theile des Kopfes verlor.
Wir erklärten in unserem Gutachten, dass sämmtliche Verletzungen während des Lebens entstanden sind, dass jedoch der Tod zunächst in Folge der Durchschneidung des Halses durch Verblutung erfolgte, die bei der grossen Anämie der Leiche und da der Ermordete in einer grossen Blutlache gefunden worden war, keinem Zweifel unterlag. Ferner setzten wir auseinander, dass die Strangfurche offenbar vor Zufügung der Halswunde entstand, da, nachdem letztere erzeugt war, die um den Hals gelegte Schlinge keinen Halt mehr an der Haut des letzteren gefunden hätte. Bezüglich der Schussverletzung erklärten wir, dass sie zwar im höchsten Grade lebensgefährlich war, jedoch keineswegs sofort und nothwendig den Tod, wohl aber zunächst Bewusstlosigkeit[S. 383] herbeigeführt haben musste, und dass offenbar die Schnittwunde am Halse, erst als der Ermordete in Folge der Schussverletzung zusammengestürzt war, zugefügt wurde, da nicht abzusehen sei, warum der Thäter, nachdem er seinem Opfer eine so ausgedehnte und für jeden Laien als nothwendig und sofort tödtlich zu erkennende Schnittwunde am Halse zugefügt hatte, in ganz überflüssiger Weise diesem noch einen Schuss in den Kopf beigebracht haben sollte, der ihn durch den Knall zu verrathen im Stande war, während es sich gut denken lässt, warum der Thäter die Reihe der gegen den Ermordeten ausgeübten Gewaltacte mit einem Schuss gegen den Kopf eingeleitet haben mochte. In der That gestand der bald darauf eruirte Mörder, dass er den Briefträger zuerst mit einem Taschenrevolver niedergeschossen, dann ihn mit der Schnur gedrosselt, und als derselbe immer noch Lebenszeichen von sich gab, ihm endlich mit einem Jagdmesser den Hals durchschnitten habe.
Oesterr. St. P. O. §. 129: „Werden Verletzungen wahrgenommen, so ist insbesondere zu erörtern: 1. ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Anderen zugefügt wurden — — — —.“
Preuss. Regulativ, §. 29: „Auf jeden Fall ist das Gutachten zuerst auf die Todesursache — nächstdem aber auf die Frage der verbrecherischen Veranlassung zu richten.“
Da wir bereits oben über die Punkte gesprochen haben, aus welchen sich erkennen lässt, mit welchem Werkzeuge und auf welche Art eine Verletzung beigebracht wurde, und da wir noch bei der Behandlung der Verletzungen nach ihrem Sitze Gelegenheit haben werden, weitere Anhaltspunkte in dieser Richtung zu geben, so wollen wir uns hier blos darauf beschränken, den Selbstmord und seine Unterscheidung von anderen analogen Tödtungen zu besprechen, und ferner auf jene Untersuchungen einzugehen, welche geeignet sind, von ärztlicher Seite theils zur Eruirung des Thäters, theils zur Aufklärung besonderer Umstände des Falles beizutragen.
Wie häufig der Selbstmord geübt wird, ergibt die tägliche Erfahrung, und die Statistik lehrt, dass die Zahl der Selbstentleibungen in beständiger Zunahme begriffen ist, deren Grund nicht blos in dem Steigen der Population, sondern auch in anderen Verhältnissen gesucht werden muss. So kamen in den cisleithanischen Ländern Oesterreichs im Jahre 1871 in der Civilbevölkerung 1550, im Jahre 1872 1677 und im Jahre 1874 bereits 2151 Selbstmorde vor; in dem dichtbevölkerten Böhmen 1871 550, 1872 620 und 1874 767. In Wien allein sind zufolge den Physikatsberichten in den einzelnen Jahren 1870–1878 99, 132, 141, 152, 214, 205, 210, 198 und 193 Selbstmorde vorgekommen, in den Jahren 1881–1884 231, 224, 220 und 248, und in den Jahren 1888[S. 384] und 1889 345 und 366. Die gleiche Erscheinung zeigt sich auch in anderen Ländern. So kamen in Bayern[269] in der 7jährigen Periode von 1857–1863 80, in jener von 1864–1870 bereits 90 Selbstmorde auf je eine Million Einwohner; ebenso kamen auf je eine Million Einwohner in Preussen 1820–1834 88, 1835–1841 103, 1849–1852 108 und 1869 134; in Frankreich 1830–1832 61, 1841–1842 81, 1852 103, 1858 110 Selbstmorde.
Diese steigende Häufigkeit der Selbstmorde verdient auch in gerichtsärztlicher Beziehung Beachtung bei der Beurtheilung gewaltsamer Todesarten, umsomehr, als Fälle, in denen die Frage gestellt wird, ob Selbstmord vorliegt oder gewaltsame Tödtung durch einen Dritten, verhältnissmässig häufig vorzukommen pflegen.
Die Statistik aller Länder zeigt unter den Selbstmördern eine auffallende Prävalenz des männlichen Geschlechtes. So waren von den im Jahre 1871 in Oesterreich constatirten Selbstmördern 1291 männlichen und blos 269 weiblichen Geschlechtes; von jenen im Jahre 1872 1365 männlichen, 312 weiblichen Geschlechtes und auch im Jahre 1874 wurden 1802 Männer und nur 349 Weiber gezählt. In Böhmen ergab das Jahr 1871 461 männliche, 89 weibliche, das Jahr 1872 490 männliche und 130 weibliche, das Jahr 1874 639 männliche und 128 weibliche Selbstmörder, und in Wien betrug der Antheil des männlichen Geschlechtes an der Summe der Selbstmorde im Jahre 1871 70·5, 1872 72·4, 1873 68·4, 1874 76·6 und 1875 80 Procent.
Die Ursache dieser Erscheinung liegt vorzugsweise in der grösseren körperlichen und geistigen Schwäche des Weibes, in der geringeren Energie desselben, sowie in der grösseren Sanftmuth und Duldsamkeit, in der grösseren Scheu vor Schmerz und Begehung gewaltsamer Handlungen, aber auch in der meist secundären Rolle, die das Weib im Kampfe um’s Dasein spielt und die bewirkt, dass im Ganzen jene Momente weniger intensiv auf dasselbe einwirken, deren Anstürmen so häufig das männliche Individuum bewegt, seinem Dasein ein Ende zu machen, Umstände, die den Grund bilden, warum auch in der Verbrecherstatistik das Percentualverhältniss der Männer und Weiber in analoger Weise sich gestaltet.
Eine Uebersicht über die Zahl der Selbstmorde in den einzelnen Lebensaltern geben folgende Zusammenstellungen, die wir einerseits dem bekannten Werke Quetelet’s („Physique sociale de l’homme.“ 1869, Tom. II), andererseits der oben citirten Arbeit Majer’s über die Selbstmorde in Bayern entnehmen, wobei ersterer[S. 385] eine zehnjährige, letzterer eine vierzehnjährige Beobachtungsperiode zu Grunde gelegt ist.
Quetelet
|
||||
Männer
|
Weiber
|
|||
Unter 16 Jahren
|
147
|
45
|
||
von
|
16–21 „
|
862
|
469
|
|
„
|
21–30 „
|
3208
|
1121
|
|
„
|
30–40 „
|
5729
|
1045
|
|
„
|
40–50 „
|
4055
|
1270
|
|
„
|
50–60 „
|
3237
|
1156
|
|
„
|
60–70 „
|
2473
|
889
|
|
„
|
70–80 „
|
1287
|
422
|
|
„
|
80– u. s. w.
|
278
|
68
|
|
Summe
|
19276
|
6485
|
||
Majer
|
||||
Männer
|
Weiber
|
|||
Unter 20 Jahren
|
236
|
54
|
||
von
|
20–30 „
|
851
|
245
|
|
von
|
30–40 „
|
807
|
204
|
|
von
|
40–50 „
|
923
|
200
|
|
von
|
50–60 „
|
911
|
214
|
|
von
|
60–70 „
|
631
|
103
|
|
von
|
70–80 „
|
184
|
47
|
|
„
|
80 und darüber
|
38
|
6
|
|
Summe
|
4581
|
1073
|
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass die meisten Selbstmorde in die sogenannten besten Jahre fallen, und dass namentlich die Periode zwischen dem 40. und 50. Jahre die höchste Zahl der Selbstmorde aufweist, also die Zeit, in welcher zwar die Höhe des Lebens erreicht ist, aber auch die Sorgen um die eigene und der Familie Existenz am meisten sich zu häufen pflegen, und häufig auch eine gewisse Ernüchterung sich geltend macht, die das Erreichte und das noch zu Erwartende nicht im Verhältniss erscheinen lässt zu den Hoffnungen, die man in jüngeren Jahren hegte, und zu der Mühe und Arbeit, die darauf verwendet wurde.
Die grosse Zahl der Selbstmorde bei jungen Leuten resultirt aus der Prävalenz der Leidenschaften und Triebe, insbesondere aus sexuellen Einflüssen und aus der gesteigerten Genusssucht, also aus Momenten, die auch erklären, warum in grossen Städten gerade dieses Alter die grösste Menge der Selbstmörder liefert, weshalb sich hier das Altersverhältniss der Selbstmorde etwas anders gestaltet als im Grossen und Ganzen. So entfiel bei in Wien in den Jahren 1854–1878 vorgekommenen Selbstmorden das höchste Antheilsprocent (11·9) auf die Altersperiode von 20–25 Jahren; hierauf folgt in absteigender Ordnung die Altersgruppe von 25–30 Jahren (11·5), an welche sich jene von 15–20 Jahren (8·8) anschliesst. (S. Sedlaczek, „Die Selbstmorde in Wien in den Jahren 1854–1878“. Wiener statist. Monatschrift. 1879, IX u. X.)
Die Zeit vor erreichter Pubertät schliesst den Selbstmord keineswegs aus, es gibt vielmehr der bisher bekannten Selbstmorde von Kindern eine verhältnissmässig grosse Zahl.
Der jüngste Selbstmörder, den wir zu obduciren Gelegenheit hatten, war ein 12jähriger Knabe, der sich eines verunglückten Schulzeugnisses wegen erschossen hatte; in einem anderen Falle hatte sich ein 13jähriger, wahrscheinlich geisteskranker Gymnasiast vom zweiten Stockwerk herabgestürzt, und in einem dritten hatte die 13jährige Tochter eines Officiers sich erschossen — wegen unglücklicher Liebe.
[S. 386]
In Wien betrug die Zahl der Selbstmörder unter 15 Jahren in den letzten 25 Jahren 1·8% (Sedlaczek). Auch macht sich eine Zunahme solcher Fälle bemerkbar, da im Jahre 1889 3 Knaben von 14 Jahren sich erhenkten und 1 Knabe von 7 Jahren (!) und 1 Mädchen von 14 Jahren sich durch Sturz aus dem Fenster das Leben nahmen. Im Mai 1894 kam sogar ein Doppelselbstmord zweier Kinder, eines Mädchens von 12 und eines Knaben von 9 Jahren, vor, welche sich schlechter Schulausweise wegen in’s Wasser stürzten. Die Kinder gingen entlang des Donaucanals mit einer anderen 10jährigen Kameradin. Plötzlich entledigten sich die zwei Erstgenannten der Kopfbedeckungen und das Mädchen auch der Schuhe; letzteres drückte der Kameradin einen Zettel in die Hand und Beide liefen gegen den Canal, in den sie sich hineinstürzten und nicht mehr zum Vorschein kamen. Der Zettel enthielt die Worte: „Liebe Emilie! Ich danke dir für die Begleitung. Sage der Mutter, dass es wahr ist. Bitte meine Mutter, dass sie mir verzeihe. Anna.“ Im Hute des Mädchens fand sich ein zweiter Zettel, lautend: „Wir haben sich zusammen in die Donau gestürzt. Wohnort Langegasse 39, 1. Stock, Thür 8. Bitte meiner armen Mutter das zu geben.“ (!)
Nach Durand-Fardel („Ueber den Selbstmord bei Kindern.“ Annal. méd. psych. Janv. 1855) fielen von 25.760 in Frankreich vorgekommenen Selbstmorden 192 in das Alter vor das 16. Jahr. Von diesen hat D. 26 selbst untersucht. Darunter war ein Kind von 5 Jahren, 2 von 9, 2 von 10, 5 von 11, 7 von 12, 7 von 13 und 2 von 14 Jahren. Von diesen Kindern hatten sich 10 ertränkt, 10 erhängt und 2 erschossen. Alle Mädchen hatten sich ertränkt. In der Regel sind es die geringfügigsten Ursachen, die solche Kinder zum Selbstmord bewegen, so schlechte Schulzeugnisse, Furcht vor Strafe u. s. w. In dem einen Falle Durand-Fardel’s tödtete sich ein 9jähriger Knabe aus Kummer über den Verlust eines Vogels. Es ist in solchen Fällen nicht die allgemeine Bedeutung der Selbstmordursache zu würdigen, sondern jene, die dieselbe für das betreffende Kind hatte und zu berücksichtigen, dass solche in den Augen Erwachsener geringfügige Ursachen Kinder ganz wohl zu raschen Thaten bewegen können, besonders dann, wenn diese, wie sich auch in den meisten derartigen Fällen constatiren liess, schon von Haus aus reizbaren Charakters oder sonst originär abnorm gewesen sind.
Während die Zahl der Selbstmorde von der Pubertät bis zum 50. Jahre rasch ansteigt, nimmt sie gegen das hohe Alter zu noch rascher ab. Dies zeigt sich bei beiden Geschlechtern. Die Abnahme ist jedoch keine absolute und erklärt sich zunächst daraus, dass im Alter die Zahl der Individuen bedeutend abgenommen hat. Wenn man aber das Procentverhältniss der Selbstmorde unter den Individuen der einzelnen Altersclassen berechnet, so kann man constatiren, dass das Verhältniss der Selbstmorde zu der Zahl der Lebenden jeder Altersclasse mit dem Alter beständig zunimmt bis zum 70., ja 80. Jahre, wodurch die frühere[S. 387] Ansicht, dass der Selbstmord mit dem Alter ab- und die Liebe zum Leben zunehme, ihre Widerlegung findet.[270]
Von 100.000 Lebenden desselben Alters sind in Preussen durch Selbstmord gestorben (Morselli, l. c. pag. 208):
Im Alter von
|
1876
|
1877
|
1878
|
|||
männ-
liche |
weib-
liche |
männ-
liche |
weib-
liche |
männ-
liche |
weib-
liche |
|
Personen
|
Personen
|
Personen
|
||||
unter 15 Jahren
|
3
|
0·2
|
0·7
|
0·3
|
0·8
|
0·3
|
über 15–20 „
|
13
|
5
|
15
|
7
|
16
|
7
|
„ 20–25 „
|
29
|
9
|
32
|
8
|
31
|
9
|
„ 25–30 „
|
23
|
6
|
28
|
6
|
31
|
7
|
„ 30–40 „
|
33
|
6
|
32
|
7
|
37
|
8
|
„ 40–50 „
|
46
|
10
|
50
|
10
|
55
|
10
|
„ 50–60 „
|
58
|
12
|
75
|
9
|
73
|
13
|
„ 60–70 „
|
72
|
13
|
75
|
14
|
82
|
13
|
„ 70–80 „
|
72
|
13
|
67
|
13
|
75
|
19
|
80 und darüber
|
66
|
14
|
46
|
12
|
65
|
6
|
Was die Wahl der Todesart anbelangt, so lehrt die Erfahrung, dass gewisse Selbstmordarten gegenüber anderen ungemein prävaliren. Dies ergibt sich z. B. aus der Selbstmordstatistik für das Königreich Preussen pro 1869.[271]
Todesart
|
Männer
|
Weiber
|
Zusam-
men |
Procentverhältniss
|
||
Männer
|
Weiber
|
Zusam-
men |
||||
Erhängen
|
1641
|
266
|
1907
|
63·8
|
43·3
|
59·8
|
Ertränken
|
425
|
262
|
687
|
16·5
|
42·7
|
21·6
|
Erschiessen
|
320
|
1
|
321
|
32·4
|
0·1
|
10·1
|
Schnitt und Stich
|
89
|
22
|
111
|
3·5
|
3·6
|
3·5
|
Vergiften
|
61
|
52
|
113
|
2·4
|
8·5
|
3·5
|
Andere Mittel
|
37
|
11
|
48
|
1·4
|
1·8
|
1·5
|
Summe
|
2573
|
614
|
3187
|
100
|
100
|
100
|
Von den im Jahre 1871 in Frankreich constatirten Selbstmorden[272] geschahen 1991 durch Erhängen, 1278 durch Ertränken, 591 durch Erschiessen, 215 durch Kohlendunst, 152 durch Schnitt und Stich, 143 durch Herabstürzen von Monumenten und anderen Höhen, 70 durch Gift, 50 durch diverse andere Mittel. Von den 1871 in Böhmen vorgekommenen 551 Selbstmördern haben sich 316 erhängt, 107 erschossen, 49 ertränkt, 53 vergiftet, 3 erstochen, 14 haben sich durch Halsschnitt, 3 durch Aderöffnen, 3 durch Ueberfahren auf der Eisenbahn, 1 durch Ersticken und 2 durch Sprung in einen Schacht das Leben genommen.
[S. 388]
In Wien entfielen nach Sedlaczek von der Summe der Selbstmorde in Procenten:
Im Quinquennium
|
Er-
hängen |
Gift
|
Er-
schiessen |
Schnitt-
u. Stich- wunden |
Herab-
stürzen |
Er-
trinken |
Andere
Mittel |
1854–1858
|
48·0
|
14·2
|
6·7
|
16·1
|
9·2
|
5·0
|
0·8
|
1859–1863
|
43·6
|
16·6
|
9·3
|
13·3
|
9·5
|
5·2
|
2·5
|
1864–1868
|
35·2
|
30·1
|
9·9
|
7·8
|
7·8
|
7·8
|
1·4
|
1869–1873
|
29·2
|
31·2
|
16·3
|
8·3
|
6·8
|
7·1
|
1·1
|
1874–1878
|
38·0
|
26·9
|
20·2
|
7·0
|
5·7
|
6·6
|
0·6
|
Bezüglich des Geschlechtes entfielen von der Gesammtsumme:
von Männern
|
von Frauen
|
|||||
in Procenten
|
||||||
Auf
|
den
|
Selbstmord
|
durch
|
Erhängen
|
40·5
|
20·4
|
„
|
„
|
„
|
„
|
Gift
|
18·8
|
47·5
|
„
|
„
|
„
|
„
|
Erschiessen
|
17·9
|
3·2
|
„
|
„
|
„
|
„
|
Schnitt- u. Stichwunden
|
9·9
|
7·3
|
„
|
„
|
„
|
„
|
Herabstürzen
|
5·4
|
13·1
|
„
|
„
|
„
|
„
|
Ertränken
|
6·3
|
7·3
|
„
|
„
|
„
|
auf andere Weise
|
1·2
|
1·2
|
Was andere grosse Städte betrifft, so tödteten sich Personen in
Berlin
(1869–1872 und 1874–1876) |
Prag
(1874–1876) |
London
(1860–1878) |
Paris
(1874–1878) |
||
Durch
|
Erhängen
|
625
|
45
|
1460
|
1016
|
„
|
Ertränken
|
248
|
27
|
1001
|
723
|
„
|
Erschiessen
|
230
|
43
|
311
|
334
|
„
|
Gift
|
217
|
39
|
908
|
149
|
„
|
Sturz von einer Höhe
|
45
|
5
|
?
|
217
|
„
|
Schnitt- u. Stichwunden
|
40
|
9
|
1141
|
101
|
Auf andere Weise
|
51[273]
|
1
|
449
|
845[274]
|
Es ergibt sich aus vorstehenden statistischen Daten, dass überall das Erhängen die häufigste Selbstmordart bildet, dann aber im Allgemeinen das Ertränken und das Erschiessen folgt. Ferner ergibt sich, dass Weiber am häufigsten zum Ertränken, in grossen Städten zum Gift und dann zum Erhängen greifen, während Selbstmordarten durch Verletzungen, insbesondere durch Erschiessen, verhältnissmässig selten von ihnen gewählt werden. Die Häufigkeit des Erhängens und Ertränkens erklärt sich daraus, dass diese Selbstmordarten keiner besonderen Vorbereitungen und Hilfsmittel bedürfen, leicht auszuführen sind, den Tod sicher und[S. 389] schnell bewirken und auch als schmerzlos gelten. Bezüglich anderer Selbstmordarten machen sich verschiedene Einflüsse bemerkbar. So sehen wir den Selbstmord durch Erschiessen besonders bei Individuen vorkommen, die mit Feuerwaffen umzugehen verstehen, und denen sie leicht zur Hand sind. Dies beweist insbesondere die Selbstmordstatistik beim Militär. So weist der statistische Jahresbericht über die sanitären Verhältnisse des österreichischen Heeres vom Jahre 1869 229 Selbstmorde auf, von denen 173 durch Erschiessen, 44 durch Erhängen, 8 durch Ertränken, 2 durch Sturz von einer Höhe, 1 durch Vergiftung und 1 durch Ueberfahren auf der Eisenbahn geschahen. Die Häufigkeit des Selbstmordes durch Vergiftung in grossen Städten, wie namentlich in Wien, erklärt sich ungezwungen daraus, dass daselbst Gift ungleich leichter zu haben ist als auf dem Lande oder in kleineren Städten. Dass auch andere locale Verhältnisse verschiedener Orte und ganzer Länder sich in dieser Beziehung geltend machen, ergibt sich u. A. daraus, dass der Selbstmord durch Kohlenoxydgas (Kohlendunst) in Frankreich stark vertreten ist, während er in Deutschland (Berlin) nur selten, in Oesterreich, speciell in Wien, fast gar nicht vorkommt. Auch die Häufigkeit des Selbstmordes durch Sichherabstürzen von Monumenten und anderen Höhen bei den Franzosen mag in dem Charakter des Volkes liegen, welcher bewirkt, dass auch der Selbstmord mit mehr Ostentation ausgeübt wird, als dies anderwärts zu geschehen pflegt.
Ebenso ist auch der Einfluss des Beispieles unverkennbar. Es lässt sich dieser nicht blos an dem bereits im Alterthum beobachteten und auch gegenwärtig zeitweise vorkommenden epidemieartigen Auftreten der Selbstmorde erkennen, sondern auch daraus, dass auch bezüglich der Wahl der Todesart und sogar bezüglich der Wahl der Stelle, wo der Selbstmord ausgeführt wird[275] und bei Vergiftungen auch in der Wahl des Giftes sich die Nachahmung bemerkbar macht. So lehrt die Erfahrung, dass die Selbstmörder sich nicht selten von bestimmten Brücken in’s Wasser stürzen, und sogar dieselben Stellen der Brücke wählen, die bereits Andere vor ihnen benützt hatten, und jede grosse Stadt hat bestimmte Orte, Parke, Wälder etc., wo häufiger als anderswo Selbstmorde begangen werden.
Psychologisch interessant ist der gemeinschaftliche Selbstmord. Verhältnissmässig am häufigsten ist der Doppelselbstmord von Liebespaaren. Seltener ist der von Ehepaaren, welcher meist durch Nothlage bedingt ist und mitunter mit Selbstmord, häufiger mit Tödtung der Kinder sich combinirt. Noch seltener ist der von Geschwistern. Doch kam im Mai 1894 ein vierfacher solcher Selbstmord vor, indem sich ein bekannter Maler mit 3 Schwestern durch Cyankalium vergiftete. Gemeinschaftlicher Selbstmord von Individuen gleichen Geschlechtes[S. 390] gehört zu den seltensten Vorkommnissen und betrifft dann meistens weibliche und nur ausnahmsweise männliche Personen. Vor einigen Jahren nahmen sich in Wien 4 in Noth gerathene Frauen aus guter Gesellschaft (Mutter und 3 erwachsene Töchter) gleichzeitig durch Erschiessen das Leben und vor Kurzem tödteten sich zwei Freundinnen ebenfalls durch Revolverschüsse wegen unglücklicher Liebe. Ende 1884 tödteten sich in Wien zwei fallite Kaufleute (Brüder) in ihrem Geschäftslocal durch Erschiessen. Beide hatten sich mit einem Revolver in die rechte Schläfe geschossen und man hatte nur einen Schuss gehört, so dass die That offenbar auf ein verabredetes Zeichen geschah. Die forensische Bedeutung solcher auf eine Art „psychischer Infection“ zurückzuführender Fälle liegt, abgesehen von dem Umstand, dass mitunter die Priorität des Todes in Frage kommt (s. pag. 377), vorzugsweise darin, dass gegen den etwa überlebenden Theil die Anklage wegen Mord erhoben werden kann, was auch dann geschieht, wenn die zweite Person mit ihrer vollen Einwilligung von der überlebenden getödtet worden ist. Am häufigsten kommt Gift, Erschiessen und Ertränken in Anwendung, seltener andere Tödtungsarten. Vor einiger Zeit kam hier ein durch Halsabschneiden begangener Selbstmordversuch eines Liebespaares vor die Jury. Der 24jährige Mann hatte in einem Walde seiner Geliebten mit deren Einwilligung den Hals durchschnitten und dann sich selbst eine gleiche Wunde beigebracht. Beide waren noch im Stande, sich nach Hause zu schleppen und genasen nach längerer Krankheit. Der Mann wurde unter Berücksichtigung der mildernden Umstände nur zu einjährigem Kerker verurtheilt.
Die nächsten Ursachen des Selbstmordes sind sehr verschiedenartig, und es ist, wie wir schon bezüglich der Kinder angedeutet haben, ihre Bedeutung nicht vom allgemeinen Standpunkte aus zu beurtheilen, sondern mit Rücksicht auf die concreten Verhältnisse des betreffenden Individuums.
Zweifellos begeht eine grosse Zahl der Selbstmörder die Selbstentleibung im geistesgestörten Zustande, obgleich es irrig wäre, wenn man, wie dies insbesondere englische Psychiater thaten, jeden Selbstmord auf Geistesstörung zurückführen wollte. Der Natur der Sache zufolge sind es besonders melancholische Zustände, die mit Selbstmordsdrang einhergehen, Zustände, die schon in ihren ersten Stadien, ohne dass auffallende objective Symptome noch vorhanden wären, die Idee des Selbstmordes wecken und zur Ausführung bringen können, aber eben des Mangels objectiv auffallender Erscheinungen wegen nicht erkannt oder übersehen werden können. Ein grosses Contingent liefern die Alkoholiker, die Neurasthenischen, die Epileptiker und vielfach die originär Verrückten (Verfolgungswahn). Bekannt ist das häufige Vorkommen des Selbstmordes in einzelnen Familien als Theilerscheinung erblich degenerativer Zustände, neben moralischem Irrsein u. s. w.
In anderen, und zwar häufigeren Fällen lässt sich der Grund der Selbstentleibung auf Unglücksfälle, Vermögensverluste, drückende[S. 391] Sorgen zurückführen, die einestheils für sich im Stande sind, ein genügendes Motiv für die Begehung eines Selbstmordes zu bilden, andererseits zum Ausbruch von Geistesstörungen und dadurch mittelbar zum Selbstmord Veranlassung geben können. Weitere Motive bilden Furcht vor Strafe und Entehrung, heftige Gemüthsaufregungen in Folge von Familienzwistigkeiten und endlich unglückliche Liebe, die besonders in den ersten Jahren nach erreichter Pubertät, und namentlich beim weiblichen Geschlechte, verhältnissmässig häufig zur Selbstvernichtung führt. In wiederum anderen Fällen sind es körperliche Leiden, die das Individuum zum Selbstmord bewegen, besonders unheilbare und schmerzhafte Krankheiten, worunter syphilitische Erkrankungen eine grosse Rolle zu spielen scheinen.
Nach Majer tödteten sich von 5654 Selbstmördern 30·4% im Verlaufe einer Geistesstörung, 20·2 aus unbekannt gebliebenen Motiven, 18·6 wegen Kummer über Vermögensverluste und wegen Nahrungssorgen, 11·3 wegen körperlicher Leiden, 9·9 wegen Furcht vor Strafe, 5·2 aus Zorn und Rachsucht und 4·4 aus Furcht vor Entehrung. Bei den 4490 im Jahre 1871 in Frankreich vorgekommenen Selbstmorden konnte nur bei 4077 mit mehr weniger Gewissheit die Ursache des Selbstmordes sichergestellt werden und es ergaben sich als solche bei 1472 Gehirn- (Geistes-) Krankheiten, bei 950 schmerzhafte Zustände, bei 651 liederlicher Lebenswandel und Trunksucht, bei 620 Familienzwistigkeiten und bei 369 Unglücksfälle, ausserdem kam Selbstmord bei 15 Individuen vor, welche Capitalverbrechen begangen hatten.
Eigenthümlicher Weise fallen die meisten Selbstmorde auf die schönste Jahreszeit, und noch merkwürdiger ist es, dass nicht blos zufolge den Angaben Majer’s in Bayern der Mai die grösste Zahl der Selbstmörder lieferte, sondern auch in Wien durch drei Jahre hintereinander (1873 bis 1875) die meisten Selbstmorde im Mai verzeichnet wurden. Ganz besonders auffallend war dies im Jahre 1894, wo im Mai 39 Selbstmorde und 29 Selbstmordversuche vorkamen, darunter 6 an einem Tage (den 16.). Es scheint, dass ebenso wie in südlichen Ländern der Sirocco Unbehagen, Kopfschmerzen bewirkt und einen deprimirenden Einfluss auf die Stimmung ausübt, auch bei uns gewisse Witterungsverhältnisse (stürmische Perioden, tiefer Barometerstand) in ähnlicher Weise insbesondere auf neuro- und psychopathische Personen sich bemerkbar machen und so das periodisch häufigere Vorkommen der Selbstmorde erklären. — Es sind dies Perioden, in denen auch plötzliche Geistesstörung und Exacerbationen solcher häufiger vorkommen.[276] — Erfahrungsgemäss werden auch mehr Selbstmorde am Tage als in der Nacht begangen (nach Majer 60 gegen 40 Procent).
[S. 392]
Die meisten Selbstmorde geschehen heimlich, nicht selten an versteckten und abgelegenen Orten, in Kellern, am Dachboden, am Abort oder in anderen von innen verschliessbaren Localitäten. Mitunter wird aber der Selbstmord auch ganz ostentativ und in der offenbaren Absicht, Aufsehen zu erregen, vollbracht, so in Theatern, auf öffentlichen Spaziergängen. Andere geschehen in Hôtels, in öffentlichen Bädern, in Kirchen, im Wagen u. s. w., mitunter sogar bei Prostituirten. In einzelnen Fällen bemüht sich der Selbstmörder, die Sicherstellung seiner Person zu erschweren oder unmöglich zu machen, und es kommen sogar Fälle vor, in welchen der Selbstmord als solcher verheimlicht wird, entweder indem das Individuum die Ursache der noch während des Lebens gefundenen Verletzungen oder anderweitiger, insbesondere Vergiftungserscheinungen verschweigt oder absichtlich falsch angibt[277], oder indem dasselbe den Selbstmord in einer Weise ausübt, dass er für zufällig gewaltsamen (am häufigsten beim Tod durch Sturz) oder gar natürlichen Tod imponiren soll. So haben wir einen Mann obducirt, der im Kaffeehause, während er mit seiner gewohnten Gesellschaft Karten spielte und Kaffee trank, plötzlich zusammenstürzte und nach wenigen Augenblicken starb. Alles sprach für natürlichen Tod, die Obduction aber ergab eine exquisite Cyankaliumvergiftung. Die gleiche Todesart fand sich bei einem in bedrängten Verhältnissen befindlichen Fabrikanten, der in einem Tramwaywaggon todt, wie man meinte, vom Schlage gerührt, zusammengesunken war; ebenso bei einer versicherten Frau, die im Opernhause in einer Loge während der Vorstellung plötzlich zusammengesunken und in wenigen Augenblicken gestorben war. Es gibt verschiedene Gründe, die den Selbstmörder zur Verheimlichung seiner That veranlassen können, unter denen Rücksichten für die Hinterbliebenen die Hauptrolle spielen dürften, insbesondere die Bewahrung derselben vor socialem und materiellem Nachtheile (Verlust von Pensionen, Versicherungsprämien etc.).
Dass eine solche Verheimlichung nicht blos beim Selbstmord durch Verletzungen oder durch Gift vorkommen kann, beweist ein von Perl (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXVI, pag. 281) mitgetheilter Fall, in welchem ein 44jähriger Mann wenige Wochen, nachdem er sein Leben hoch versichert hatte, in einer Badeanstalt in einer Badewanne todt gefunden wurde, unter Umständen, die den Vertrauensarzt der Versicherungsgesellschaft veranlassten, zu erklären, dass ein Selbstmord durch Ertrinken vorliege und die Vermuthung auszusprechen, dass die seltsame Art der Ausführung auf das Bestreben hindeute, den Thatbestand des Selbstmordes zu verschleiern.
[S. 393]
Die angedeuteten Gründe können aber auch die Angehörigen veranlassen, den Selbstmord zu verheimlichen, was unseren Erfahrungen zufolge namentlich beim Selbstmord durch Gift und beim Erhängen verhältnissmässig am häufigsten vorkommt. Auch von Seite des Wartpersonale in Kranken- und Irrenanstalten wird der Selbstmord von Patienten mitunter verheimlicht, um sich der Verantwortung zu entziehen. In einem solchen Falle (Erhängen) haben wir den Sachverhalt erst bei der Section entdeckt.
Beim Selbstmord durch Schuss kommt nicht gar selten die Angabe vor, dass der Betreffende sich in Folge eines amerikanischen Duells das Leben genommen habe. Solche Angaben dürfen, auch wenn sie vom Thäter selbst mündlich oder schriftlich gemacht worden sind, nicht ohne Weiteres als wahr angenommen werden. Häufig sind dieselben nur eine Form der Dissimulation des gewöhnlichen Selbstmordes, was umso beachtenswerther ist, als solche Angaben gelegenheitlich zu strafrechtlicher Verfolgung der Betheiligten, und zwar sowohl des Selbstmörders, wenn seine That misslingt, als seines angeblichen Gegners führen können. Thatsächlich ist ein solcher Fall in Wien am 19. Februar 1886 zur Verhandlung gekommen. Auch in einem Falle von Cyankaliumvergiftung hatte der in Folge eines Traumas geisteskranke Selbstmörder in einem hinterlassenen Schreiben ein amerikanisches Duell als Ursache der That bezeichnet, was sich als ganz unwahr herausstellte.
Wir übergehen zur Besprechung der einzelnen Selbstmordformen, wobei wir hier nur den traumatischen Selbstmord im Auge haben, da von den übrigen Selbstmordarten an anderen Stellen gesprochen werden wird.
Eine der häufigsten derartigen Selbstentleibungen ist die durch Durchschneidung des Vorderhalses (Halsabschneiden). In der Regel werden dazu Rasirmesser genommen, aber auch gewöhnliche Taschenmesser, seltener andere schneidende Instrumente, wie Schlächtermesser, Jagdmesser u. dergl. In einem uns bekannten Falle war von einem Gefangenen das Bruchstück des Bodens eines Glasgefässes benützt worden. Der Schnitt wird in der Regel beim Stehen (mitunter vor dem Spiegel) oder im Sitzen und gewiss nur ganz ausnahmsweise im Liegen geführt. Indem der Selbstmörder den Hals streckt, beziehungsweise den Kopf zurückbeugt, setzt er, wenn er, wie gewöhnlich, mit der rechten Hand das Messer hält, dies links und oben am Kopfnicker an und führt dasselbe in einem Zuge über den oberen Theil des Vorderhalses nach rechts. In diesem Falle zeigt die Wunde in der Regel einen etwas schräg nach rechts und abwärts ziehenden Verlauf. Es ist jedoch nichts Ungewöhnliches, völlig queren Schnittwunden zu begegnen und es ist begreiflich, dass, wenn der Schnitt mit der linken Hand geführt wurde, die Wunde schräg von rechts und oben nach links und unten verlaufen kann. Ist der schräge Verlauf der Wunde gut ausgesprochen, so wird man kaum irren, wenn man als Anfangsstelle des Schnittes das höher gelegene[S. 394] Ende der Wunde bezeichnet. Bei der Beurtheilung der Schnittrichtung ist jedoch nicht zu vergessen, dass dieselbe durch die Retraction der Wundränder, insbesondere aber durch andere Schnitte, die geführt wurden, unkenntlich werden kann; auch ist nicht zu übersehen, dass, wenn der Selbstmörder im Momente der Schnittführung den Hals nicht gleichmässig streckte, sondern, wie es gar nicht überraschen kann, den Kopf zugleich nach der Seite beugte, welche jener, wo er das Messer ansetzt, entgegengesetzt ist, der Schnitt nicht blos leichter eine quere, sondern auch eine gegen das Ende der Wunde zu aufsteigende Richtung erhalten kann, ein Fall, den wir thatsächlich bei einem zweifellosen Selbstmord beobachtet haben und in der eben erwähnten Weise uns erklärten. Der Schnitt dringt in der überwiegendsten Zahl der Fälle zwischen Kehlkopf und Zungenbein ein oder er trifft den Kehlkopf; seltener dringt der Schnitt in die Trachea und am seltensten findet er sich über dem Zungenbein.[278]
Die Tiefe der Wunde hängt zunächst von der Kraft ab, mit welcher der Schnitt geführt wurde und von der Schärfe des gebrauchten Messers, wird aber ausserdem durch die Theile beeinflusst, die das letztere auf seinem Wege traf. Sehr häufig setzt der zunächst getroffene Kehlkopf dem tieferen Eindringen des Messers eine Grenze, wenn er bereits verknöchert ist oder zu verknöchern beginnt. Waren solche Hindernisse nicht vorhanden, so kann auch ein Selbstmörder mit einem scharfen, kräftig geführten Messer durch sämmtliche Weichtheile des Vorderhalses bis auf die Wirbelsäule gelangen und selbst noch in diese einschneiden. Wurde das Messer in einem Bogen und in raschem gleichmässigen Zuge über die prominenteste Stelle des Halses hinweggeführt, so kann die Wunde vollkommen symmetrisch ausfallen und in beiden Hälften gleiche Organe verletzen. Häufiger betrifft die Verletzung vorzugsweise die eine Seitenhälfte des Halses, besonders wie begreiflich diejenige, an welcher das Messer zunächst angesetzt und im tangentiellen Zuge über dieselbe hinweggeführt worden war. Im letzteren Falle sind die Chancen für eine Verletzung der grossen Halsgefässe günstiger, weil der Schnitt direct gegen sie tendirt und weil derselbe weniger leicht durch den Kehlkopf aufgehalten wird, während, wenn der Schnitt gleichmässiger und tangentiell über die Mittellinie des Halses hinwegging, verhältnissmässig häufig die grossen Halsgefässe unverletzt gefunden werden. Die besonders von Luschka hervorgehobene geschützte Lage der tiefen Halsgefässe erklärt diese häufige Thatsache. Man findet dann gewöhnlich einen Schnitt,[S. 395] der von einem Kopfnicker zum andern sich erstreckt, oder auch diese durchtrennt und ausser der Vena jugularis ext. auf einer oder auf beiden Seiten nur kleinere Gefässzweige, insbesondere jene der Art. thyreoid. sup., oder diese selbst verletzt. Der Blutverlust aus diesen Gefässen reicht aber hin, um den Tod zu bewirken, theils durch Verblutung, theils, was jedesmal bei der Beurtheilung von Halsschnittwunden berücksichtigt werden muss, durch Eindringen des ausströmenden Blutes in die durchtrennten Luftwege, Aspiration desselben und consecutive Erstickung. Letztere kann auch durch die abgeschnittene und in den Kehlkopf eingetretene Epiglottis veranlasst werden, wovon mehrere Beispiele beobachtet worden sind. Auch durch Aspiration von Luft durch die eröffneten Halsvenen kann rascher Tod erfolgen.
Ungleich häufiger als einem einzigen begegnen wir an dem Halse solcher Selbstmörder mehreren Schnitten, und zwar in der Regel neben einem tiefeindringenden Hauptschnitt mehreren kleinern, die entweder nur die Haut oder, was noch häufiger beobachtet werden kann, den durch die sich retrahirende Haut blossgelegten Kehlkopf betreffen. An letzterem lassen sie sich besonders gut unterscheiden, wobei man bemerken kann, dass sie ebenso häufig mit einander und der Hauptwunde parallel verlaufen, als verschiedene Richtungen zeigen oder sich kreuzen. Es kann auch geschehen, dass ein Schnitt in einen früheren geräth und auf diese Weise können selbst Schnitte an der Vorderfläche der Wirbelsäule zu Stande kommen, ebenso wie es geschehen kann, dass erst durch einen solchen Schnitt tiefere Gefässe verletzt werden, die nach dem früheren intact geblieben waren. Das häufige Vorkommen mehrerer Schnittwunden am Halse von Selbstmördern beweist, dass dieselben in der Regel, nachdem der erste und meist tiefste Schnitt geführt wurde, noch im Stande sind, sich andere zu versetzen, und dies ist besonders dann begreiflich, wenn, was, wie oben bemerkt, gewöhnlich geschieht, die tiefen Halsgefässe anfangs nicht verletzt wurden, obwohl auch in einem solchen Falle das Bewusstsein nicht sofort schwindet, sondern das Individuum noch ganz wohl im Stande ist, einige weitere rasche Schnitte zu führen. Aus der begreiflichen Hast und dem verwirrenden Einflusse des Momentes erklärt es sich, warum die secundären Schnitte häufig verschiedene Richtungen zeigen, und selbst andere Stellen als den Hals treffen können.
Ein Bauer, notorischer Trinker, war in seinem eigenen Keller mit durchschnittenem Halse todt aufgefunden worden. Es fand sich am Halse eine 2 Cm. unter dem linken Ohrläppchen beginnende, schief nach rechts und abwärts über die Mittellinie des Halses verlaufende 13 Cm. lange Schnittwunde, welche den linken Kopfnicker, die linke Carotis und die ersten Knorpelringe der Luftröhre durchtrennt hatte. Ausserdem fanden sich 2 je 10 Cm. lange, blos die Haut durchtrennende Schnittwunden auf der rechten Wange, welche unweit vom rechten Nasenflügel begannen und mit einander parallel schief zum rechten [S. 396]Unterkieferwinkel sich herabgezogen, und überdies zwischen sich eine dritte, blos die Epidermis durchdringende linienförmige Schnittwunde enthielten. Diese Wunden, sowie der Umstand, dass das neben der Leiche gefundene Rasirmesser nicht dem Verstorbenen, sondern einem Nachbar desselben gehörte, hatte den Verdacht erregt, dass nicht Selbstmord, sondern Mord vorliege.
Wir erklärten in unserem Gutachten, dass der Betreffende zunächst an Verblutung in Folge der grossen Schnittwunde am Halse gestorben sei, und dass letztere zufolge ihrer Lage und sonstigen Beschaffenheit ganz wohl von dem Verstorbenen sich selbst beigebracht worden sein konnte. Bezüglich der Schnittwunden an der rechten Wange äusserten wir uns, dass zwar ihr Sitz an einer Stelle, die auch von einem Laien nicht als lebenswichtige Organe enthaltend angesehen wird, allerdings eigenthümlich sei, aber der Annahme eines Selbstmordes nicht widerspreche, da sich dieser Befund dadurch erklären lasse, dass die betreffenden Wunden erst nach Zufügung jener am Halse und in der durch das Hervorstürzen des Blutes und die Gemüthsaufregung verursachten Verwirrung, die eine sichere Schnittführung nicht gestattete, von dem Verstorbenen erzeugt wurden, was umso leichter geschehen konnte, als in Folge der vollkommenen Durchschneidung des linken Kopfnickers der Kopf nach links gedreht und dadurch die rechte Wange in die Schnittrichtung gefallen sein konnte. Da ferner alle Schnitte an der Wange parallel verliefen und die gleiche Richtung zeigten, wie der tödtliche Schnitt am Halse, auch keine Spur einer geleisteten Gegenwehr bei dem grossen und noch rüstigen Manne gefunden wurde und für die Annahme, dass er damals berauscht oder anderweitig bewusstlos gewesen wäre, kein Grund vorlag, so gaben wir schliesslich unser Gutachten dahin ab, dass der Befund an der Leiche des Untersuchten der auch durch die Umstände nicht widerlegten Annahme, dass er einen Selbstmord begangen habe, nicht widerspreche.
In gleicher Weise wie weitere Halswunden, können sich Selbstmörder, nachdem sie sich einen Schnitt in den Hals beigebracht haben, auch andere Wunden beibringen; so insbesondere Schnitte in die Ellbogen- und Handgelenke, eine Combination, die verhältnissmässig häufig sich ergibt und in der Regel schon für sich allein den Fall als Selbstmord erscheinen lässt. Häufiger ist es jedoch, dass, nachdem der Selbstmord früher auf eine andere Weise versucht worden, aber misslungen war, jener durch Halsabschneiden ausgeführt wird. So haben wir zweimal die Leichen von Selbstmördern mit durchschnittenem Halse obducirt, die sich früher durch einen Schuss, und zwar beidesmal in den Mund, zu entleiben versucht hatten, ohne dass sie mehr als eine Zertrümmerung des Gaumens erzeugt hätten. In einem dritten Falle war ein Strangulationsversuch und in einem vierten ein Stich in die Leber vorausgegangen. Ebenso folgt aus dem Gesagten, dass derartige Selbstmörder keineswegs an derselben Stelle zusammenstürzen müssen, wo sie sich die Halswunden beigebracht haben, und es kann selbst dann[S. 397] nicht die Möglichkeit einer stattgefundenen Locomotion ganz geleugnet werden, wenn die tiefen Halsgefässe verletzt worden waren, besonders wenn nicht beide Carotiden, sondern nur eine getroffen worden war.
In dem oben angeführten Falle mit der Schnittwunde an der Wange war der Todte 14 Schritte von einem mit Blut bespritzten Fasse liegend aufgefunden worden, und es wurde uns deshalb die Frage vorgelegt, ob der Untersuchte, nachdem er sich die Halswunde beigebracht, noch 14 Schritte weit gehen konnte. Wir erklärten, dass diese Möglichkeit umsomehr zugegeben werden muss, als nur die eine Carotis verletzt, und zwar vollkommen durchschnitten war, so dass sie sich retrahiren und dadurch die Verblutung verzögert werden konnte, wobei wir auch erwähnten, dass diese Schritte kaum in langsamen, sondern im schnellen Tempo und offenbar in der Absicht, um zur Kellerthüre zu gelangen, zurückgelegt worden sein mochten.
Was Individuen mit durchschnittenem Halse mitunter noch leisten können, beweist der von Amos (Fischer, Verletzungen des Halses, pag. 72) mitgetheilte Fall, in welchem eine Frau nach Durchschneidung der Carotis und Jugularis auf einer Seite noch 23 Yards weit zu gehen vermochte und jener von Rust (Albert, Lehrb. der Chirurgie. I, 479) erwähnte: Ein Tischler hatte sich im freien Felde mit einem Rasirmesser den Hals durchschnitten. Von Reue gequält, warf er das Messer weg, kroch in einen Schupfen und blieb dort bei grosser Kälte über Tag und Nacht. Den folgenden Tag begibt er sich in die Stadt zurück, sinkt dort zusammen, wird in eine chirurgische Officin gebracht, wo man ihn für betrunken hält und nach Hause führen lässt. Dort erst wird die Wunde am Halse entdeckt und der Verletzte in’s Spital gebracht, woselbst er erst nach 14 Tagen starb. Die Section ergab, dass sowohl Larynx wie auch der Pharynx bis auf die Körper der Wirbelsäule durchschnitten waren. Trotzdem hatte der Mann einen weiten Weg zurückgelegt und war sogar in einer chirurgischen Officin gewesen, ohne dass man eine Ahnung hatte, welche Verletzung das Halstuch barg.
Mehrere Fälle, in denen trotz solcher tiefer Verletzungen nur ganz unerhebliche Blutung eingetreten war, werden von Güterbock (l. c. 31) angeführt. Wir glauben, dass hierbei besonders das je nach der Grösse der Schilddrüse ungemein variirende Caliber der Art. und Vena thyreoidea superior von Einfluss sein dürfte.
Mord durch Halsdurchschneidung ist kein besonders seltenes Vorkommniss. Am leichtesten ist derselbe bei schlafenden oder anderweitig bewusstlosen Personen ausführbar, und es ist begreiflich, dass in solchen Fällen selten Zeichen der Gegenwehr oder andere anatomische Anhaltspunkte für die Diagnose der durch einen Anderen bewirkten Tödtung sich ergeben werden. Am wenigsten wird die Richtung der Wunde am Halse Aufschluss geben, da dieselbe sich ebenso gestalten kann wie beim Selbstmorde, namentlich wenn der Mörder hinter dem Kopfe der schlafenden Person steht und[S. 398] das Messer mit der rechten Hand führt. Doch kann im Allgemeinen eher eine vollkommen quere und nach beiden Seiten zu symmetrische Wunde entstehen als bei einem Selbstmorde. Auch gelingt einer fremden Hand das Durchschneiden sämmtlicher Weichtheile des Vorderhalses mit einem Zuge bis auf die Wirbelsäule entschieden leichter als der eigenen. Eventuelle Schnitte in der Wirbelsäule können, wenn sie tief sind und zu ihrer Entstehung eine Kraft voraussetzen, die bei einem Selbstmörder nicht angenommen werden kann, für Mord sprechen.
In dem oben erwähnten Falle des ermordeten Briefträgers waren sämmtliche Weichtheile des Vorderhalses und links beide Gefässe, rechterseits nur die Carotis durchschnitten, und der Schnitt war zwischen den linken Querfortsätzen des dritten und vierten Halswirbels bis in den Canal für die Art. vertebr. sin. eingedrungen, ohne jedoch diese zu verletzen. Einen ganz gleichen Befund ergab die Leiche einer durch mehrere Halsschnittwunden ermordeten Frau, jedoch auf der rechten Seite (sie war im Stehen überfallen worden) und ausserdem den Umstand, dass blos die Vena jugularis interna und der N. vagus durchschnitten, von der Carotis aber blos die Adventitia angeschnitten war, obgleich die Carotis mit der Hälfte ihrer Breite das innere Ende des Schnittes bedeckte, der sich in der Wirbelsäule befand. Letztere Thatsache lässt sich daraus erklären, dass der Kopf im Momente der Schnittführung gegen die entgegengesetzte Seite gedreht gewesen sein musste, wodurch die betreffende Carotis mehr nach innen zu liegen kam und von dem über die rechte Halsseite geführten Schnitte nur tangirt wurde. — Von drei Kindern, welche ein Alkoholiker theils durch Hackenhiebe, theils durch Halsdurchschneiden getödtet hatte, zeigten zwei eine vollkommen durchschnittene Wirbelsäule, so dass der Kopf nur an der Nackenhaut hing, das eine Kind überdies einen tiefen Querschnitt in der Hinterhauptschuppe unmittelbar hinter dem Foramen occipitale!
Auch bei schlafenden oder anderweitig bewusstlosen Personen begnügt sich der Mörder nicht immer mit einem einzigen Schnitt, sondern führt nicht selten einen zweiten oder dritten, die jedoch meist in die Wunde selbst fallen, ähnlich wie dies auch Schächter zu thun pflegen, so dass in diesem Falle nur eine einzige Wunde vorhanden zu sein scheint, in deren Grunde jedoch die wiederholte Schnittführung sich erkennen lassen kann.
Die Ermordung wachender und wehrfähiger Personen ist ungleich schwieriger ausführbar; von vorne wohl nur unter besonderen Verhältnissen[279], eher dagegen, wenn der Thäter hinter dem Opfer steht und unerwartet von hinten den Schnitt führt, wodurch dieser, wie in unserem unten angeführten Falle, so weit nach rechts fallen[S. 399] kann, dass schon dadurch die Einwirkung einer fremden Hand und die Stellung des Thäters erkannt werden kann.
Es ist jedoch zu bemerken, dass Fälle vorkommen, in welchen auch Selbstmörder sich nicht in „typischer“ Weise den Hals durchschneiden, sondern den Schnitt seitwärts am Halse direct auf die grossen Halsgefässe zu führen, so dass der Schnitt wenig oder gar nicht über die Mittellinie des Vorderhalses hinüber reicht. Wir haben sogar einen Kellner obducirt, der sich beiderseits fast symmetrisch eine solche Wunde beigebracht hatte, zwischen deren inneren Enden die Kehlkopfpartie ganz intact geblieben war. Links war die Vorderwand der Vena jugularis interna, rechts nur Aeste der Art. und Vena thyreoidea superior durchschnitten. Es ist nicht unmöglich, dass bei einer derartigen Schnittführung der Selbstmörder bis zu der betreffenden Art. vertebralis gelangen und diese verletzen kann. Von Lacassagne und Jobert (Les Gauchers. Lyon 1855) wird ein solcher Fall erwähnt, wo allerdings die Verletzung mehr eine Stich- als eine Schnittwunde gewesen zu sein scheint. Der Mann war ein Linkshänder und hielt, als seine Leiche gefunden wurde, das Messer noch in der (linken) Hand. Die Wunde selbst sass rechts. Flintzer (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XXXIV, pag. 189) berichtet sogar über einen kaum glaublichen Fall von Selbstmord, wo der Schnitt im Nacken (!) sass, 12 Cm. lang war, die Articulatio atlanto-occipitalis eröffnet und das Rückenmark durchschnitten hatte (!!). Es lag somit, sagt Flintzer, eine halbe Decapitation vor. Am Rande des linken Unterkiefers fand sich eine seichte, von oben nach unten ziehende Incision. Die Leiche war in einer von Innen verschlossenen Bodenkammer gefunden worden, mit dem Messer in der Hand. Merkwürdig war auch der Befund bei einem 60jährigen, von uns im März 1888 secirten Manne, welcher sich mit zwei (!) gleichzeitig angesetzten Rasirmessern den Hals durchschnitten hatte. Es fand sich beiderseits symmetrisch eine klaffende Wunde, die beide in der Mittellinie des Nackens, 1 respective 1½ Querfinger unter der Haarwuchsgrenze begannen. Die rechte, höher gelegene, zog sich bis zum hinteren Rand des Kopfnickers, durchtrennte die ganze seitliche Halsmusculatur bis zu den Querfortsätzen der Wirbelsäule und die Vena jugularis zur Hälfte. Die linke erstreckte sich bis zur Mitte des hinteren Randes des Schildknorpels und durchschnitt hinten die ganze Musculatur, vorn aber nur die Haut und den hinteren Rand des Kopfnickers ohne Verletzung der tiefen Gefässe. Innerlich ergaben sich geheilte Contusionen und senile Atrophie des Gehirns, sowie hochgradige Atheromatose.
Eine solche That kann nicht gut ohne Widerstand von Seite der angegriffenen Person geschehen, welcher wieder das Zurückbleiben von Spuren derselben erwarten lässt.
Da in einem solchen Falle die angegriffene Person instinctiv dem Angreifer in die Arme, beziehungsweise in das Messer fällt, so können Schnittwunden an den Händen, insbesondere an der Innenfläche der Finger oder Hohlhände als Zeichen geleisteter Gegenwehr zurückbleiben, deren Befund, da er bei einem Selbstmorde[S. 400] kaum vorkommt, für sich allein sofort die Natur des Falles in’s Klare stellt.[280] Wir begegnen dann in der Regel auch am Halse mehreren Schnittwunden und deren Lage (in einem unserer Fälle auch im Nacken) und ungleichmässige Richtung kann ebenfalls die Einwirkung fremder Hand errathen lassen.
Wir hatten Gelegenheit, zwei solche Fälle zu beobachten. Der erste Fall betraf ein 29jähriges Freudenmädchen, welches eines Abends blutend und halb bewusstlos in einem öffentlichen Garten gefunden wurde. Bei der Untersuchung im Spitale fand sich in der vorderen Halsgegend eine 4½ Zoll lange Schnittwunde, die links unter dem Ohre begann und schief über den Kehlkopf zum Innenrande des rechten Kopfnickers zog und blos die Brustbein-Zungenbeinmuskeln blosslegte; dann unter dem rechten Unterkieferwinkel eine 1 Zoll lange, bis in den Pharynx dringende, stark blutende Stichwunde, ferner zwischen Zungenbein und Kehlkopf eine 1½ Zoll lange, blos die Haut durchtrennende Schnittwunde und endlich an beiden Händen zahlreiche, schief über die Innenseite der Finger hinwegziehende oberflächliche Schnittwunden. Dass hier ein Mordversuch vorlag, war klar, und die Verletzte gab auch an, von einem ihr ganz Unbekannten unmittelbar nach dem Coitus ohne alle Ursache auf die erwähnte Weise verletzt worden zu sein und blieb auch bei dieser Aussage, obgleich die sonderbaren Umstände des Falles keinen Zweifel darüber übrig liessen, dass ihr der Thäter durchaus nicht fremd gewesen war. Die Heilung erfolgte. Die Person, welche bereits früher Zeichen der Geistesstörung dargeboten hatte, verfiel später in ausgesprochene Geisteskrankheit.
In einem zweiten Falle wurde eine rüstige 45jährige Frau in ihrer Wohnung von einem Manne überfallen und ermordet. Es fand sich eine 10 Cm. lange, bis in den Wirbelsäule-Arteriencanal dringende horizontale Schnittwunde an der rechten Halsseite, welche die Vena jugularis int. und den Vagus durchtrennt, die Carotis aber blos angeschnitten hatte; ferner eine Schnittwunde, die vom linken Unterkieferwinkel schräg nach rechts und unten über das Ligam. conoideum verlief, dieses eröffnend, dann eine nach unten abgeschrägte 5 Cm. lange Schnittwunde, entlang dem rechten Unterkiefer bis auf den Knochen dringend und weiter je eine kleine scharfrandige lappige Ablösung der obersten Hautschichten an beiden Unterkiefern. Die Kuppe des linken Zeigefingers war bis auf den Knochen vollständig und in einer Ebene schief abgekappt und in der linken Handfläche [S. 401]befand sich eine geradlinige, blos die Haut durchdringende Schnittwunde, welche vom unteren Theile des Ulnarrandes schief gegen die Wurzel des linken Zeigefingers verlief, so dass kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass dieselbe, ebenso wie die Abkappung der Kuppe des linken Zeigefingers, durch das Greifen gegen das Messer des Thäters entstanden war. — Aehnliche Fälle werden von Taylor (l. c. I, pag. 492) beschrieben und abgebildet.
In einzelnen Fällen ist das Verhalten der Blutspuren an der betreffenden Leiche geeignet, Anhaltspunkte für die Unterscheidung, ob Selbstmord oder Mord vorliegt, zu bieten. So ist es begreiflich, dass, wenn der Hals durchschnitten wurde, während eine Person lag, was, wie oben erwähnt, beim Selbstmord nicht leicht vorkommt, das ausströmende Blut vorzugsweise zu einer oder zu beiden Seiten des Halses herabfliessen und auf der Unterlage sich verbreiten wird, während, wenn die Schnittwunden zugefügt wurden, als das Individuum stand oder sass, zu erwarten steht, dass das Blut nach abwärts, besonders über die Vorderfläche des Körpers, herabströmen werde. Doch ist zu beachten einestheils, dass eine Person, der im Liegen der Hals durchschnitten wurde, sich unter Umständen noch aufrichten kann, worauf das Blut auch über die Vorderfläche des Körpers herabfliesst, und dass umgekehrt Jemand, der sich z. B. im Bette sitzend den Hals durchschnitten hatte, sofort zurücksinken kann, worauf wieder die Hauptmasse des Blutes sich in derselben Richtung ergiesst, wie wenn das Halsdurchschneiden im Liegen geschehen wäre.
Auch die Besudlung der Hände der betreffenden Leiche mit Blut ist zu beachten. Findet sich z. B. die Hand, mit welcher, wenn ein Selbstmord vorläge, die betreffende Halswunde erzeugt worden sein musste, von Blut gänzlich frei, so ist der Fall schon durch diesen Umstand in hohem Grade verdächtig; denn es ist nicht gut denkbar, ausser wenn das Messer, insbesondere sein Griff, sehr lang war, dass die betreffende Hand während der Zufügung einer tödtlichen Wunde vollkommen blutfrei geblieben sein sollte, und zwar desto weniger, je grössere Gefässe verletzt worden sind; ganz auszuschliessen ist diese Möglichkeit aber nur dann, wenn mehrere tiefe Schnitte sich finden, da in einem solchen Falle die Hand der blutenden Stelle mehrmals genähert worden sein musste. Andererseits ist es begreiflich, dass auch bei thatsächlichem Mord die Hände des Opfers blutig sein können, sowohl in Folge der Gegenwehr, und dann in der Regel mit Wunden an den Fingern oder Hohlhänden verbunden, als auch in Folge des instinctiven Zugreifens an den verletzten Hals, und endlich einfach dadurch, dass die Hände nachträglich mit dem Blute in Berührung kamen, in welchem liegend die Leiche in der Regel gefunden wird. So fanden sich bei dem oben erwähnten Briefträger beide Hände über und über mit Blut besudelt, obwohl die Halswunde dem bereits durch einen Schuss[S. 402] gegen den Kopf Betäubten und auf dem Boden Liegenden beigebracht worden war.
Von anderen am Orte der That möglicherweise sich ergebenden Blutspuren werden wir später sprechen.
Dass ein Selbstmörder das Messer noch in der Hand behält, ist ein seltener Befund, der aber wiederholt beobachtet worden ist. Es ist jedoch thatsächlich vorgekommen, dass das Messer, mit welchem Jemand umgebracht wurde, erst nachträglich der Leiche in die Hand gegeben worden ist, um Selbstmord vorzuspiegeln. Ein solcher Fall wird von Taylor (l. c. I, 491) beschrieben und abgebildet. Derselbe war insoferne klar, als beide Hohlhände seichte, tiefe Schnitte zeigten und das betreffende Tischmesser verkehrt, d. h. mit dem Rücken gegen den Körper, in die Hand der Leiche gegeben worden war. Dass Taylor auch eines Falles erwähnt, in welchem einer Frau, die durch Erstickung getödtet worden war, nachträglich der Hals durchschnitten wurde, um den Tod als durch Selbstmord erfolgt hinzustellen, wurde bei der Besprechung der postmortalen Verletzungen angeführt. Bei einer 1885 in Pest sammt ihrer Tochter durch Halsdurchschneiden ermordeten Frau fanden sich ausgebrochene Stückchen der Schneide eines Rasirmessers in den angeschnittenen Halswirbeln. Ein solcher Befund ist begreiflicher Weise wichtig, kann aber auch bei Selbstmord, und zwar sowohl in den Wirbeln als im Kehlkopf, wenn dieser hart war, vorkommen, und zwar desto leichter, je feiner das (Rasir-) Messer gewesen war.
Schliesslich wollen wir noch die Frage erwähnen, ob Jemand, dem der Hals durchschnitten wurde, noch schreien kann. Liman (l. c. II, 356) beschreibt einen Fall von Mord durch Halsdurchschneiden, in welchem unter Anderem auch diese Frage gestellt wurde. Die betreffende 4 Zoll lange Wunde hatte links die grosse Blutader durchschnitten und die Luftröhre vollkommen durchtrennt, den Oesophagus jedoch unbeschädigt gelassen. Liman sprach sich dahin aus, dass die Ermordete nach Durchschneidung der Luftwege nicht mehr „mein Hals, mein Hals!“ habe rufen und überhaupt keinen Ton, geschweige denn articulirte Töne habe hervorbringen können. Da in diesem Falle die Trachea vollkommen durchtrennt und wahrscheinlich eine oder gar beide Nn. recurrentes durchschnitten waren, so muss man dem Gutachten Liman’s zustimmen.
Es wäre jedoch Unrecht, in anderen Fällen, blos weil die Wunde in den Kehlkopf oder in die Luftröhre eingedrungen ist, die Möglichkeit, dass der Betreffende noch habe schreien können, in Abrede zu stellen, da, wenn diese Organe blos angeschnitten sind, die Wunde theils durch darüber sich vorschiebendes Gewebe, theils durch Beugung des Halses sich einigermassen verschliessen kann, so dass ein Sprechen und selbst ein Schreien noch immer möglich ist. So konnte der Selbstmörder, dessen Rust erwähnt, noch sprechen, obwohl Larynx und Pharynx bis auf die Wirbelsäule durchschnitten waren, [S. 403]und Albert (l. c. 481) sah im Wiener Irrenhause einen Selbstmörder, der sich mit einem Rasirmesser den Kehlkopf oberhalb der Stimmbänder und den Oesophagus vollkommen durchtrennt und bis auf die Wirbelsäule eingeschnitten hatte; trotzdem gab der Mann einen continuirlichen, trompetenartig gellenden Schrei von sich, Tag und Nacht unaufhörlich, bis er am vierten Tage an beiderseitiger Pneumonie starb.
Selbstmord durch Durchschneidung der Adern in den Gelenksbeugen, insbesondere in den Ellenbogen- und Handgelenken, ist keineswegs selten. Am häufigsten betreffen die Schnitte die linke obere Extremität und sind dort auch am tiefsten. Das nicht seltene Vorkommen von Schnittwunden an beiden Armen beweist, dass die Betreffenden durch eine solche Aderdurchschneidung die Fähigkeit, ein Messer zu fassen und zu halten, beziehungsweise Schnitte zu führen, in der Regel nicht verlieren, was sich daraus erklärt, dass meist nur die Sehnen des oberflächlichen Fingerbeugers durchschnitten oder noch häufiger nur angeschnitten werden, die übrige Musculatur aber unverletzt bleibt, wobei ihre geschütztere Lage und insbesondere die oberflächliche Lage der Knochen und Gefässe eine Rolle spielt. Nur ausnahmsweise sind es noch andere oberflächlich gelegene Arterien, die der Selbstmörder durchschneidet. So obducirten wir die Leiche eines Arztes, der sich im Bade die Arterien in beiden Hand- und Ellenbeugen, aber auch beiderseits, und zwar mehrmals, die stark rigiden geschlängelten Art. temporales durchschnitten hatte, und in letzter Zeit kam hier ein Fall vor, wo bei einer Frau ausser Schnitten in beiden Ellen- und Handbeugen auch ein Schnitt unter jeder Mamma und ein weiterer über dem inneren linken Fussknöchel gefunden wurde. Am seltensten werden die Schnitte gegen die Kniekehlen gerichtet. Wir haben erst zwei solche Fälle gesehen, einmal bei einer Frau, die sich eine grosse Zahl leichter Schnitte in beiden Kniekehlen beigebracht, dann Hiebe mit einer Hacke gegen den Vorderkopf versetzt hatte und ein zweitesmal bei einer Frau, wo sich zahlreiche Schnitte an beiden Innenflächen der Kniegelenke fanden, gegen dort befindliche Varicositäten gerichtet waren und zwei der Varixknoten eröffnet hatten. Relativ häufig begegnet man an einem und demselben Individuum sowohl Schnitten am Halse als an den oberen Extremitäten, in welchem Falle diese meist später beigebracht worden sind als jene, und ein solcher Befund ist selbstverständlich in der Regel für sich genügend, um den Selbstmord klarzustellen, da wohl nur bei besonderem Raffinement des Thäters daran zu denken wäre, dass er einer von ihm durch Halsdurchschneiden getödteten Person noch Schnittwunden in den Gelenksbeugen beigebracht hätte, um der Sache den Anstrich eines Selbstmordes zu geben.
Doch ist die Möglichkeit, dass ein Mord durch Durchschneidung der Gelenksbeugen verübt werden könne, nicht unbedingt ausgeschlossen, wie ein in Prag vorgekommener Fall beweist, in welchem ein Vater vier seiner Kinder dadurch umbrachte,[S. 404] dass er ihnen theils den Hals, theils die Gelenksbeugen, darunter auch die Kniekehlen, durchschnitt, worauf er sich selbst durch Halsabschneiden das Leben nahm.
Die Schnitte laufen in der Regel entlang der betreffenden Gelenksbeugen. Doch haben wir bei einer Frau, die sich in einem von Innen versperrten Raum durch Leuchtgas getödtet hatte, ausser mehreren queren, mit einem bei der Leiche gefundenen Rasirmesser gemachten seichten Hautschnitten an der Innenfläche des linken Handgelenkes auch eine grosse Zahl paralleler, bis 6 Cm. langer, dicht bei einander stehender seichter Schnitte an der Innenfläche desselben Vorderarmes gefunden, die den Sehnen der Beuger der mittleren Finger entlang verliefen.
Die Möglichkeit, dass eine Wunde, wie sie sonst beim Selbstmord durch Schnitt in einer Gelenksbeuge vorkommt, auch zufällig erzeugt werden kann, ist nicht ausgeschlossen. So fanden wir bei einem Mann, der in schwer berauschtem Zustande in eine Glasthüre hineingefallen und verblutet in seinem Zimmer gefunden worden war, eine schief verlaufende lange Wunde im inneren Antheil der rechten Ellenbeuge, welche die Vena basilica durchschnitten hatte. Die Wunde unterschied sich nicht wesentlich von einer solchen, wie sie beim Selbstmord entsteht, und der Fall wurde anfangs wirklich für einen solchen gehalten.
Selbstentleibung durch Erstechen ist verhältnissmässig selten, dagegen der auf diese Art ausgeübte Mord und Todtschlag ungemein häufig, ein Missverhältniss, welches bei der Beurtheilung eines angeblichen Selbstmordes durch Stichverletzung die grösste Vorsicht gebietet. Die Stelle, welche Selbstmörder wählen, um sich zu erstechen, ist am häufigsten die Herzgegend, seltener der Hals oder andere Stellen, z. B. in einem unserer Fälle (Arzt) die Schenkelbeuge, in einem anderen die Ellenbeuge. Erstere Gegenden sind aber gerade diejenigen, gegen welche auch von Dritten am häufigsten Stiche geführt zu werden pflegen, was zu doppelter Vorsicht mahnt.
Im Allgemeinen wird in einem solchen Falle ausser den Umständen, die gerade hier in der Regel den Ausschlag geben, zu erwägen sein, ob die Stelle, wo die Wunde sitzt, eine solche ist, dass gegen dieselbe bequem von der eigenen Hand des Individuums ein Stich geführt werden konnte, und ob die Richtung des Stichcanals auch jener entspricht, die bei einem solchen Selbstmorde zu erwarten wäre. Auch der Umstand, ob vor der Erzeugung des Stiches die Kleider bei Seite geschoben waren oder nicht, muss erwogen werden. Ersteres würde eher für einen Selbstmord sprechen, während, wenn wir einen Stich finden, der, bevor er den Körper traf, mehrfache Lagen von Kleidungsstücken oder gar andere vorgelagerte Gegenstände, z. B. ein Taschentuch, durchdringen musste, der Selbstmord an Wahrscheinlichkeit verliert oder ganz auszuschliessen ist. Zahlreiche, auf eine umschriebene Stelle, insbesondere z. B. nur auf die Herzgegend beschränkte[S. 405] Stichwunden können zwar, wie Fig. 54 zeigt, auch durch fremde Hand vorkommen[281], ungleich häufiger ist aber dieser Befund beim Selbstmord. Bei letzterem, besonders wenn er von Geisteskranken ausgeübt wird, findet man mitunter massenhafte Stichwunden. So fand Laugier in einem solchen Falle 142, Maschka sogar 285 Messerstiche. Bei einem Manne, der sich im Blatterndelirium mit seinem Taschenmesser erstach, fanden wir 12 Stichwunden, ferner bei einem Geisteskranken, der sich in gleicher Weise umgebracht hatte, 4 penetrirende und 10 blos die Haut betreffende Stiche an der linken vorderen Brustwand, besonders in der Herzgegend, ausserdem am linken Rippenbogen 2 und an der Innenfläche des linken Handgelenkes zahlreiche quere parallele oberflächliche Hautschnitte, endlich bei einem anderen Geisteskranken 4 Stiche in der Herzgegend, sowie je 3 seichte Hautschnitte an beiden Handgelenken und einen 4. schief über der linken Brustwarze. Auch jene bei den Verletzungen des Herzens zu erwähnenden Fälle, wo einer Eingangsöffnung mehrere Stichcanäle entsprechen, weil die Stichwaffe wiederholt in eine und dieselbe Wunde eingestossen wurde, kommen fast nur beim Selbstmord vor.[282]
Gegenüber Angaben, dass Stichverletzungen zwar durch die Hand eines Zweiten, aber nur zufällig entstanden seien, ist natürlich die grösste Vorsicht zu empfehlen, insbesondere gegenüber der häufig vorkommenden, dass der Verletzte nur zufällig in das Messer des Anderen hineingerannt oder hineingefallen sei. Diese Möglichkeit könnte nur unter ganz besonderen Umständen zugegeben werden. In einem unserer Fälle war eine Frau angeklagt, ihren Mann mit einem Küchenmesser erstochen zu haben. Die Wunde sass zwischen der linken Axillarlinie und dem unteren linken Schulterblattwinkel und war durch den Latissimus dorsi und Serratus anticus major unter der achten Rippe in den Thorax eingedrungen und dann quer durch den obersten Theil des linken Unterlappens bis nahe unter die Innenfläche desselben. Der Tod war in wenigen Augenblicken durch Verblutung eingetreten. Die Frau gab an, sie sei, als sie Kartoffeln schälte, mit ihrem schwer betrunkenen Manne in Streit gerathen. Um zu verhindern, dass der Lärm gehört werde, habe sie das Fenster schliessen wollen, als sie von ihrem zwischen ihr und dem Fenster stehenden und mit dem Gesichte gegen letzteres gekehrten Manne einen Schlag mit dem Rücken der linken Hand über das Gesicht erhielt, wobei der Mann gleichzeitig auf sie stürzte, sie gegen die nahe Mauer andrückte und sich das Messer in den Leib rannte, ohne dass sie es verhindern [S. 406]konnte. — Da in diesem Falle das Messer scharf und spitzig war, der Mann nur mit dem Hemde bekleidet, notorisch schwer betrunken war und bei der Obduction eine über zuckererbsengrosse Neubildung (Angiom) im inneren Theile der linken hinteren Centralwindung sich ergab, die das Gleichgewichtsgefühl beeinträchtigt haben konnte (der Mann soll thatsächlich an Schwindel gelitten haben und sehr reizbar gewesen sein), da ferner die Situation der Frau im Momente, wo der Mann auf sie fiel, thatsächlich eine solche war, die sie am raschen Zurückziehen des Messers gehindert haben konnte, und die Richtung der Stichwunde eine solche, die besonders bei tieferer Stellung der linken Schulter und senkrechter Stellung des Messers zum Körper zu Stande kommen konnte, was wir durch mehrere Versuche an Leichen constatirten, so gaben wir angesichts der eigenthümlichen Verhältnisse des Falles die Möglichkeit zu, dass die betreffende Wunde nur zufällig auf die von der Frau angegebene Weise entstanden sein konnte, worauf mit Rücksicht auf die sonst unverdächtigen Umstände ein Einstellungsbeschluss gefasst wurde. — In einem anderen Falle hatte ein Mann seine Frau, welche ihm einen aufgesparten Nothpfennig gestohlen hatte, mit einem Tranchirmesser erstochen. Der Stich war durch die vordere Bauchwand in den Magen eingedrungen, und zwar von unten und vorne nach hinten und aufwärts. Der Mann gab an, dass er aus verschiedenen Anzeichen merkte, dass ihm die Frau Geld genommen haben müsse, und in grösster Aufregung das Messer ergriff, um den versperrten Kasten, in welchem er das Geld versteckt hatte, aufzubrechen. Auf der Stiege sei ihm aber sein Weib plötzlich entgegengekommen und wäre ihm in das Messer hineingerannt. Im Allgemeinen konnte die Möglichkeit eines solchen Vorganges nicht negirt werden, wohl aber musste dies geschehen mit Rücksicht auf die nicht besonders spitzige und scharfe Beschaffenheit des Messers und mit Rücksicht auf eine Reihe von Umständen, die dafür sprachen, dass die Verletzte die betreffende Wunde an einem anderen Orte als auf jener Stiege erhalten haben musste. — In einem dritten Falle hatte ein Officier in einer Gesellschaft einen Namenstag gefeiert und hatte nach Mitternacht beim Nachhausegehen letztere eingeladen, seine Waffensammlung anzusehen. In der Wohnung angelangt, kam dem Officier und einem Herrn aus der betreffenden Gesellschaft der Einfall, mit scharfen Säbeln ein Scheinfechten anzustellen, wobei jedoch der Officier das Unglück hatte, seinen Gegner mit dem Säbel am Kehlkopf zu verwunden, so dass derselbe zwei Stunden darauf, trotz herbeigeholter ärztlicher Hilfe, starb. Die Obduction ergab, dass die Säbelspitze unterhalb des rechten Schildknorpels durch den Kehlkopf bis in den Oesophagus eingedrungen war und eine rabenfederdicke Vene aufgeschlitzt hatte, und dass der Tod zunächst an Erstickung in Folge des aus diesem Gefässe in die Luftröhre eingedrungenen Blutes eingetreten war. Durch die Umstände dieses Falles, insbesondere dadurch, dass sich die ganze Scene vor einer grösseren Gesellschaft abspielte, war der Fall klargelegt und wurde auch nicht weiter verfolgt; aber man begreift, wie fatal die Situation für den Officier gewesen wäre, [S. 407]wenn das Unglück bei Abwesenheit von Zeugen sich ereignet hätte. — Ueber eine zufällige Stichverletzung, die dadurch zu Stande kam, dass ein im Zorne auf einen Verkaufstisch geschleudertes und davon abprallendes Messer einem eben in die Thür tretenden Knaben in den Kopf fuhr, berichtet Kumar (Wr. med. Blätter. 1879, pag. 891) und ein höchst interessanter Fall, in dem eine durch zufälliges Auffallen auf den eisernen Stiel eines Spucknapfes entstandene letale Bruststichwunde den Verdacht geschehener Ermordung erweckte, wird von Kuby (Friedreich’s Bl. 1879, pag. 214) mitgetheilt.
Zu den zufälligen Stichwunden gehören auch die nicht gar seltenen Durchbohrungen des Orbitaldaches von der Orbitalhöhle aus, die durch Auffallen oder Aufstossen auf vorspringende schmale Gegenstände oder durch zufälliges Eindringen solcher in die Orbita mit oder ohne Verletzung des Augapfels entstehen können. Von den uns vorgekommenen Gegenständen erwähnen wir Spitzen von Regenschirmen und Spazierstöcken, ein abgebrochenes Rapier, eine Pfeifenspitze, den Stiel eines Kinderhammers und einen beinernen Federstiel. Letzterer fand sich in einem Abscess des vorderen Stirnlappens steckend bei einem Kinde, welches mehrere Tage vor dem Tode, als es nachlässig schrieb, von seinem Vater einen Schlag mit der Hand auf den Hinterkopf erhalten hatte, wodurch das Gesicht plötzlich gegen den Federstiel und dieser in das Auge getrieben wurde, wobei er abbrach.
Zu den häufigsten Arten des Selbstmordes gehört der durch Erschiessen. In der überwiegendsten Zahl der Fälle sind es kurze Schusswaffen, welche zu diesem Zwecke benützt werden, Pistolen und der gegenwärtig so beliebte Revolver. Lange Gewehre, wie Jagd- und Soldatengewehre, kommen seltener zur Anwendung, weil sie weniger verbreitet und unbequemer zu handhaben sind, weshalb, wenn solche dennoch benützt werden und der Arm nicht ausreicht, um das Abdrücken zu bewirken, manchmal Vorrichtungen getroffen werden, die das Abdrücken ermöglichen sollen. Mitunter werden so eigenthümliche Schiesswerkzeuge gewählt, dass schon dadurch der Selbstmord ausser Zweifel gesetzt wird. So haben wir zweimal Selbstmörder obducirt, die sich mit einer aus einem hohlen grossen Schlüssel roh hergestellten Pistole erschossen hatten. In einem anderen Falle hatte ein Schlosser einen röhrenförmigen Maschinenbestandtheil, in welchen er ein Zündloch eingebohrt hatte, geladen, in einem Schraubstock eingezwängt und gegen sich abgefeuert, und in einem dritten hatte eine Kinderkanone dazu herhalten müssen. Manchmal wieder ist das Projectil von solcher Art, dass zunächst an Selbstmord gedacht werden muss. So haben wir wiederholt bei der Obduction erschossener Selbstmörder Steinchen, in einem Falle ausser einem Stück gehackten Bleies Sand, und in einem weiteren ein messingenes Quentchengewicht im Wundcanal gefunden. Ein origineller Befund ergab sich bei einem von uns obducirten Schlosser, der sich mit einem Revolver erschossen hatte. Es fand sich nämlich über der Herzgegend ein mit einer mit Flanell gepolsterten Pelotte[S. 408] versehenes Metallrohr, das mittelst eines um den Thorax verlaufenden Riemens befestigt war. Durch dieses Rohr, welches er sich selbst verfertigt hatte und welches ihm offenbar die Herzgegend markiren sollte, hatte der Selbstmörder den Schuss abgefeuert, der auch das Herz durchbohrte, aber ihn nicht sofort tödtete, worauf sich der Mann noch einen zweiten Schuss in die rechte Schläfe beibrachte.
Auch jene seltenen tödtlichen Schussverletzungen ohne Zusammenhangstrennung der äusseren Haut können wohl nur bei Selbstmördern vorkommen, die vielleicht in der Aufregung vergessen hatten, mit einem Projectil zu laden. Hierher gehört der in Wien vorgekommene und im Physikatsbericht vom Jahre 1871, pag. 123, erwähnte Fall, wo bei einem 40jährigen Manne, der sich durch einen Pistolenschuss das Leben genommen hatte, in der Gegend der linken Brustwarze eine handtellergrosse, schwarzbraune, trockene Hautstelle ohne Trennung des Zusammenhanges sich vorfand. Die hinter dieser Stelle gelegene Schicht der Brustwand war suffundirt und gequetscht, die Rippenknorpel gebrochen. Im Herzbeutel 1½ Pfund Blut, das Herz contrahirt, auf seiner Vorderseite in der Mitte des Sinus longitudinalis zwei etwa erbsengrosse Risse des Perikardiums, welche in die Höhlen beider Ventrikel führten.
In einem uns vorgekommenen Falle, wo leider die Section nicht gemacht werden durfte, fand sich bei dem betreffenden Selbstmörder, der sich mit einer Doppelpistole erschossen hatte, eine grosse Schussöffnung unter der linken Brustwarze und nach aussen und unten von dieser eine handflächengrosse geschwärzte, vertrocknete Stelle mit eingesprengten Pulverkörnern, die offenbar von einem blinden Schuss herrührte.
Um über die sogenannten Wasserschüsse, von denen bei Selbstmördern häufig die Rede ist, in’s Klare zu kommen, haben wir Versuche angestellt und darüber in der Wiener med. Wochenschr. 1878, Nr. 6 und 7, berichtet. Diese Versuche haben ergeben, dass, wenn ein wasserdichter, z. B. ein gefetteter Pfropf auf das Pulver aufgesetzt wird, allerdings statt eines festen Projectils auch Wasser geladen und der Schuss abgefeuert werden kann; dass aber die so verbreitete Ansicht von der besonderen, jener gewöhnlicher Projectile weit übersteigenden zerstörenden Wirkung geladenen Wassers jedenfalls eine übertriebene ist, indem auch bei Wasserschüssen, eben weil sie Nahschüsse sind[283], der Hauptantheil der Verwüstung, die sie erzeugen, [S. 409]der unmittelbaren Wirkung der Pulvergase zugeschrieben werden muss. Grossartig aber wäre die Zerstörung, wenn eine specifisch schwere Flüssigkeit, insbesondere Quecksilber, geladen würde. Im letzteren Falle würden die Quecksilberkügelchen in den zertrümmerten Körpertheil die Diagnose des Vorganges gestatten. Einen Wasserschuss jedoch zu diagnosticiren, ist wohl in der Regel unmöglich, höchstens könnte, wie dies bei unseren Versuchen constatirt wurde, die wie gespritzte Anordnung und in frischen Fällen noch feuchte Beschaffenheit der Pulverschwärzung um den Einschuss herum einen Anhaltspunkt gewähren. Aus der Verwüstung allein und aus dem Nichtauffinden eines Projectils auf einen „Wasserschuss“ zu schliessen, ist ganz unzulässig, da, wie unsere Versuche gezeigt haben, auch durch Pulver- oder Pfropfladung allein analoge Verwüstungen, z. B. beim Schuss in den Mund, Auseinandersprengungen des Schädels erzeugt werden können.[284]
Ein Fall, in welchem ein Selbstmörder sich den Mund mit Pulver ausstopfte und dieses anzündete, wurde von Casper beobachtet (l. c. II, 300).
Die Stelle, gegen welche Selbstmörder den Schuss abfeuern, ist in der Regel der Kopf oder die Herzgegend. Am Kopfe wird meistens die Stirn- und noch häufiger die Schläfegegend gewählt. Sehr häufig sind auch die Schüsse in den Mund, selten die gegen das Unterkinn oder in das Ohr. Draper (Boston Journ. 6. März 1890) sah sogar einen Schuss in das rechte Nasenloch. Nur ausnahmsweise wird die Waffe an Körperstellen angelegt, die unbequem zu erreichen sind. So hat Maschka in einem Fall, den auch wir zu sehen Gelegenheit hatten, bei einem zweifellosen Selbstmörder die Eingangsöffnung des Schusses rückwärts am Kopfe in der Gegend des Lambdanahtwinkels gefunden, und drei Schädeldächer, an deren zwei sich der Einschuss auf der rechten Scheitelhöhe und beim dritten am — Hinterkopf befindet (das letztere stammt von einem Manne, der sich coram populo in einem Kaffeegarten erschossen hatte), besitzt unsere Sammlung. Der Fall wurde von Haberda (Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1893, V, pag. 221) beschrieben und abgebildet. Wiederholt fanden wir den Einschuss in der Magengrube, die bekanntlich von den Laien auch mit dem Namen Herzgrube bezeichnet wird und einmal in der linken Axillarlinie in der Höhe des Herzens.
Fast ausnahmslos wird die Schusswaffe unmittelbar an die betreffende Körperstelle angesetzt, nachdem in der Regel bedeckende[S. 410] Kleidungsstücke entfernt oder bei Seite geschoben wurden. Die betreffenden Schussverletzungen tragen daher fast immer jenen Charakter an sich, den wir für Nahschüsse an einer anderen Stelle auseinandergesetzt haben. Aus diesem Grunde wird auch, namentlich wenn ein Vorderlader benützt worden war, ausser dem Projectil in der Regel der Pfropf oder Reste desselben in dem Schusscanal, beziehungsweise in der durch den Schuss erzeugten Zertrümmerung gefunden, der seinerseits, wie wir schon oben bemerkten, wichtige Aufschlüsse geben kann.[285]
Das Auffinden der abgefeuerten Waffe neben der Leiche eines Erschossenen beweist natürlich für sich allein nicht den Selbstmord, da dieselbe absichtlich hingelegt worden sein konnte, andererseits ist es nichts Seltenes, dass die Waffe sich bei der Leiche nicht findet, weil sie von Denjenigen, die zuerst hinkamen, weggenommen worden ist.
Von dem Festhalten der Schusswaffe in der Hand des betreffenden Selbstmörders gilt dasselbe, wie von dem Festhalten des Messers beim Selbstmord durch Halsabschneiden. Es scheint jedoch, dass dieser Befund beim Erschiessen häufiger vorkommt, als bei letzterer Selbstmordart. Selbst das krampfhafte Festhalten der Waffe ist für sich allein nicht absolut beweisend, da die Erscheinung auch zu Stande gekommen sein konnte, wenn der Betreffende, während er die Schusswaffe in der Hand hielt, von einem Anderen einen sofort tödtlichen Schuss erhielt, z. B. im Duell.
Die Hände sind jedesmal auf etwa vorhandene Pulverschwärzung zu untersuchen. Diese kann desto leichter zu Stande kommen, je mehr Pulver geladen war. Sie rührt theils vom Pulverrauch her, theils von zurücksprühenden Pulverkörnern, wovon wir uns bei unseren Schiessversuchen gegen Leichen überzeugt haben. Am meisten entwickelt sich dieser Befund bei Schüssen aus Pistolen, namentlich kurzen, aber auch bei grossen Revolvern, während bei kleineren die Schwärzung der betreffenden Hand entweder nur sehr gering ist oder ganz fehlt. In der Regel zeigt die rechte Hand die Pulverschwärzung, seltener die linke, in welchem Falle der Schluss berechtigt ist, dass der Betreffende ein Linkshänder gewesen. Bereits zweimal sahen wir die Pulverschwärzung an der linken Hand, während der Schuss die rechte Schläfe betraf, was vielleicht davon herrührte, dass der Betreffende mit der linken Hand den Lauf[S. 411] gegen die Schläfe andrückte, während die rechte den Kolben hielt. Selbstverständlich wäre auch auf andere Schwärzungen, die an den Händen vorkommen können, Rücksicht zu nehmen.
Ausser der Pulverschwärzung kann man an der Hand, mit welcher ein Selbstmörder einen Schuss gegen sich abfeuerte, auch Verletzungen finden, und zwar nicht blos jene meist gröberen Verletzungen, die durch Zerspringen der betreffenden, häufig überladenen Schusswaffe entstehen können, sondern häufiger kleine, als Hautaufschürfungen, Risse u. dergl. sich präsentirende Verletzungen, die meist am Daumen oder am Zeigefinger der betreffenden Hand ihren Sitz haben und gewöhnlich als durch den Rückstoss der überladenen Waffe und dann durch das Anprallen des Bügels oder anderer vorspringender Theile am Schlosse der Waffe erzeugt, gedeutet werden. Zweifellos können jedoch solche Verletzungen auch durch Zurückspringen von Knochensplittern gegen die in unmittelbarer Nähe befindliche Hand entstehen, und es ist uns nicht blos aufgefallen, dass namentlich nach Schüssen gegen den Kopf, die mit grossen Zertrümmerungen desselben verbunden waren, solche Verletzungen vorkamen, sondern wir haben auch in einem Falle ein hanfkorngrosses Knochenstückchen in der Haut des Daumens eingesprengt gefunden. Auch kann man, wenn man Schiessversuche gegen Leichen anstellt und die Waffe unmittelbar anlegt oder aus nächster Nähe abfeuert, fühlen und sehen, wie kleine, meist aus Pulverkörnchen, aber auch aus Gewebsresten bestehende Theilchen gegen die Hand zurückprallen, während es bekannt ist, dass z. B. beim Scheibenschiessen mit Pistolen, Revolvern u. dergl. von einem Zurücksprühen von Pulver etc. nichts zu bemerken ist.
Verletzungen an der Hand, eventuell auch anderwärts können bei einem Selbstmörder auch durch ungeschicktes hastiges Handhaben und vorzeitiges Losgehen der Waffe zu Stande kommen. Bei einem jungen Manne, der sich durch einen Schuss in die linke Schläfe umgebracht hatte, fanden wir die rechte Hohlhand geschwärzt und einen vom Daumenballen bis zum Capitulum ulnae dringenden geschwärzten Canal, in dessen blindem Ende eine Spitzkugel von gleicher Beschaffenheit wie im Schädel stak, ein Befund, der wohl nur auf die obige Weise sich erklären lässt. Bei einem Anderen ergab sich ausser der Schusswunde in der rechten Schläfe eine nicht geschwärzte am rechten Darmbeinkamm, welche in das rechte Hüftgelenk eingedrungen war. Bei diesem Individuum fanden sich als Spuren eines früheren Selbstmordversuches Narben von Schnitten an beiden Handgelenken!
Werden mehrere Schussverletzungen an der Leiche gefunden, so kann die Frage entstehen, ob der Betreffende, da an eine gleichzeitige Zufügung derselben nicht leicht gedacht werden kann[286],[S. 412] noch im Stande gewesen sein konnte, sich nach dem ersten Schuss noch einen zweiten und sogar noch andere beizubringen, eventuell ob er im Stande war, von Neuem zu laden und zu schiessen.
Es ist in solchen Fällen die Natur der einzelnen Verletzungen zu erwägen. Finden wir eine darunter, welche sofort das Individuum ausser Stand setzen musste, noch eine Handlung zu unternehmen, wie z. B. eine Zerschmetterung des Herzens oder des Kopfes, so ist es klar, dass diese die letzte gewesen sein musste, die von eigener Hand hatte zugefügt werden können. Ergibt sich noch eine zweite solche Wunde oder ein Anhaltspunkt dafür, dass die andere, nicht sofort tödtliche, erst später zugefügt wurde, dann ist natürlich Selbstmord auszuschliessen. Da, wie wir oben erwähnten, Pistolenschüsse ungleich grössere Verwüstungen anrichten als Schüsse aus Revolvern, und aus diesen rascher und mehrmals hintereinander gefeuert werden kann, so ist es begreiflich, warum bei ersteren verhältnissmässig seltener mehrere Schusswunden an einem Selbstmörder gefunden werden, als bei letzteren und bei diesen desto häufiger, je kleiner das Caliber des Revolvers gewesen ist und je weniger daher die unmittelbare Explosionsgewalt des Pulvers, sondern nur das meist kleine Projectil zur Wirkung gelangte. Dies gilt insbesondere von den Taschenrevolvern mit ihren winzigen Projectilen, die so enge Schusscanäle erzeugen, dass der Selbstmörder, selbst nachdem er bereits das Herz getroffen, nochmals zu feuern vermag. Fig. 73 zeigt die Eingangsöffnungen von zwei bei einem Selbstmörder gefundenen Revolverschüssen, von denen der eine durch die linke, der andere durch die rechte Herzkammer gegangen war, und unlängst kam ein Fall vor, wo an dem Selbstmörder, einem alten Officier, 6 Schussöffnungen sich fanden. Eine über der Glabella frontis, welche bis zur äusseren, eine kreisförmige Fissur zeigenden Tafel des 1 Cm. dicken compacten Schädels führte, der eine kuchenförmig plattgedrückte Spitzkugel von 7 Mm. Caliber aufsass, ferner eine zweite am rechten Jochbein, welche, ohne den Schädel zu eröffnen, in einen quer durch beide Orbiten ziehenden Canal führte, der beide Nn. optici durchtrennte und am linken Jochbein mit einer grossen Ausgangsöffnung endete und endlich 3 dicht beisammenstehende Einschüsse in der Herzgegend, von denen einer die linke Lunge und die zwei anderen die linke Herzkammer und die Brustaorta durchdrangen. Offenbar waren die 2 Schüsse in den Kopf die ersten, die Schüsse durch das Herz die letzten gewesen. Aus dem Gesagten erklärt sich, warum gegenwärtig ungleich häufiger verunglückte Selbstmordversuche durch Erschiessen und Heilungen solcher Selbstmörder vorkommen, als dies früher der Fall war, da sich herausstellt, dass die grösste Mehrzahl dieser Fälle Verletzungen betrifft, die mit Revolvern zugefügt waren.
[S. 413]
Einen Fall, in welchem ein Selbstmörder 4 Schüsse gegen seine Brust abfeuerte und doch mit dem Leben davon kam, hat Lorinser (Wiener med. Wochenschr. 1871, XXI, 12) veröffentlicht. Die Schusswaffe war ein vierläufiger Revolver. Ein Schuss war zwischen der 2. und 3. Rippe links neben dem Brustbein, ein zweiter zwischen der 3. und 4., der dritte zwischen der 4. und 5. und der vierte zwischen der 5. und 6. Rippe in den Thorax eingedrungen. Alle Wunden waren in der Umgebung geschwärzt; unterhalb des linken Schulterblattes eine blau sugillirte Stelle, darunter eine Kugel zu fühlen. Pneumothorax, Heilung ohne Extraction der Kugeln. Aehnliche Fälle hat Kumar (Bericht des Rudolfspitales für 1875 und Wiener med. Blätter. 1879, Nr. 28 u. s. f.) mitgetheilt. Ueber 7 Fälle geheilter Schussverletzungen des Thorax berichtet Nedopil (Wiener med. Wochenschr. 1877, Nr. 18 bis 20). Nur in einem einzigen derselben war die Waffe eine kleine Pistole, in allen übrigen ein kleiner Handrevolver.
Auch in einem von Casper-Liman (l. c. II, 74) mitgetheilten Falle, wo bei einem Selbstmörder zwei Schüsse in der Brust und ein Schuss mitten in der Stirne gefunden wurden, handelte es sich offenbar um Revolverschüsse, da unter dem linken Schulterblatt zwei Spitzkugeln extrahirt wurden. (Die Obduction wurde nicht gemacht.) Dagegen wird an einer anderen Stelle (pag. 297) ein Fall beschrieben, in welchem ein Mann, der sich einen Pistolenschuss in die Brust beigebracht hatte, der das Zwerchfell und die Milz durchbohrt hatte, noch im Stande war, den Rock und den Ueberrock bis an den Hals zuzuknöpfen und sich hierauf in einen wenige Schritte entfernten Teich zu stürzen.
Die Möglichkeit, dass Jemand, der sich eine perforirende Schusswunde am Schädel beigebracht, noch einen weiteren Schuss gegen sich abgeben kann, lässt sich nicht absolut negiren. Eine solche Möglichkeit ist vielmehr dann gegeben, wenn der Schuss mit keiner stärkeren Hirnerschütterung und keiner plötzlichen starken Blutung verbunden war und nur solche Hirntheile traf,[S. 414] deren Verletzung nicht sofort Bewusstlosigkeit oder Lähmung herbeiführt. Solche Bedingungen sind wieder bei kleinen Schusswaffen, namentlich kleinen Revolvern, gegeben, da bei diesen die unmittelbare Gewalt der Pulvergase weniger zur Geltung kommt und da daher nur das kleine Projectil wirkt, welches verhältnissmässig schmale canal- oder rinnenförmige Durchbohrungen erzeugt und der geringen Propulsionskraft wegen häufig genug nur in die peripheren Partien des getroffenen Hirntheiles eindringt. Nach solchen Verletzungen kann Handlungsfähigkeit noch bestehen, ebenso wie man diese, wie später erwähnt werden wird, auch bei anderen umschriebenen Verletzungen des Gehirnes, z. B. Stichwunden, und selbst nach Hiebwunden und mit Schädelfractur verbundenen Verletzungen mitunter in ganz auffälliger Weise beobachtet.
Nägeli (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884, XLI, pag. 231) berichtet über einen Fall, wo, weil zwei in’s Gehirn gedrungene Schusswunden sich fanden, an dem Selbstmord gezweifelt wurde. Der eine Schusscanal begann mit einer erbsengrossen Oeffnung an der linken Incisura supraorbitalis, und durchbohrte von links nach rechts ziehend den rechten Stirnlappen, den vorderen Winkel der rechten Sylvi’schen Grube und den vordersten Theil des rechten Schläfelappens, ohne die innere Kapsel oder die Centralwindungen zu verletzen, während der andere etwas unterhalb des inneren linken Augenwinkels beginnend von vorn nach hinten und etwas nach rechts unter der Schädelbasis bis zur rechten Seite des Clivus verlief, die Carotis im Sulcus caroticus durchriss und, das rechte Kleinhirn quetschend, ohne Verletzung der centralen Theile rechts etwa in der halben Höhe des Hinterhauptbeines endete. Nägeli und alle anderen befragten Experten sprachen sich dahin aus, dass, wenn der Schuss, der durch den rechten Stirnlappen drang, der erste war, die Möglichkeit nicht absolut ausgeschlossen werden kann, dass der Untersuchte sich noch den zweiten Schuss hat beibringen können. Complicirend und befremdend war aber der Umstand, dass der Revolver, der rechts von der Leiche gefunden wurde, wegen Federbruches nur bei nach abwärts gerichteter Mündung repetirte und sowohl beim Aufziehen als Abdrücken sehr schwer ging. Kappeler, der den Fall auch begutachtete, erwähnte mehrere Fälle aus der Literatur, wo nach ähnlichen Schüssen, wie der durch den rechten Stirnlappen, das Bewusstsein durch einige Zeit erhalten blieb und eine eigene Beobachtung, wo ebenfalls zwei perforirende Schädelwunden bei einem Selbstmörder sich fanden. Es war ein kleiner Revolver benutzt worden. Der eine Schusscanal begann über der Nasenwurzel, drang durch den oberen Theil der rechten Grosshirnhemisphäre und war mit Blutung in den rechten Seitenventrikel verbunden; der zweite begann in der rechten Schläfegegend und endete, den Knochen durchbohrend, mit einer 2 Francstückgrossen Quetschung des Schläfelappens 3 Cm. hinter der Spitze desselben. Wir selbst besitzen in unserer Sammlung ein Präparat, welches eclatant darthut, dass nach einer in’s Gehirn eingedrungenen Schusswunde Bewusstsein und Handlungsfähigkeit sich noch durch einige [S. 415]Zeit erhalten können. Dasselbe stammt von einem Manne, der in seinem Zimmer mit einem Revolver sich zu erschiessen versucht hatte. Man fand ihn Morgens in seinem Zimmer am Boden sitzend mit einer Wunde über dem Ohre, von der er angab, dass sie durch Fall gegen eine Sophaecke entstanden sei. Auf Albert’s Klinik gebracht, war er bei Bewusstsein und gab an, dass er durch Jemanden gestossen worden und gegen eine Sophaecke gefallen sei. Die Form der Wunde sprach nicht dagegen, da dieselbe pfeilspitzenförmig war (ähnlich der in Fig. 59 abgebildeten). Die Versengung der Haare aber und die Schwärzung charakterisirte die Schusswunde. Noch am selben Tage trat Bewusstlosigkeit ein und am anderen der Tod. Die Obduction ergab einen fingerweiten geschwärzten Schusscanal, der am Zusammenstoss des rechten grossen Keilbeinflügels mit dem Schläfe- und Scheitelbein begann, quer durch die hintere Partie des rechten Stirnlappens bis zum grossen Hirnspalt verlief, von dem er nur durch die Hirnrinde getrennt war, die Spitze des Vorderhorns des rechten Seitenventrikels eröffnet und das vordere Ende des rechten Corpus striatum gestreift hatte. Der Canal enthielt ein stark deformirtes, nahezu gespaltenes Spitzgeschoss von beträchtlicher Grösse (der betreffende Revolver hatte ein Caliber von 11 Mm.!). Das Projectil hatte offenbar den ziemlich dicken Schädel schief durchbohrt, war an der scharfen Kante der vorderen Peripherie der Schussöffnung im Knochen nahezu vollständig gespalten worden und hatte dadurch so viel an Propulsionskraft verloren, dass es nur bis zur Falx vorzudringen vermochte. In einem anderen 1888 obducirten Falle war ein junger Mann, nachdem er seiner Geliebten einen Schuss in den Kopf und in’s Herz und sich selbst einen in die Vorderohrgegend beigebracht hatte, welcher die Unterfläche des rechten Stirnlappens streifte, noch im Stande, sich zum Fenster zu begeben und sich herabzustürzen. Analoge Fälle werden von Hayes-Agnew (Virchow’s Jahrb. 1887, I, pag. 508) mitgetheilt.
Combination von Selbstmord, respective Selbstmordversuch durch Schuss mit anderen Tödtungsarten kommen nicht gar selten vor. Jene mit Ertrinken, wie der oben erwähnte Fall von Liman, sind verhältnissmässig am häufigsten, insbesondere solche, wo die Betreffenden im oder am Wasser sich erschiessen. Diese Fälle können am ehesten Verdacht erwecken, dass eine Einwirkung fremder Hand und nachträgliche Beseitigung der Leiche stattgefunden hat. Andere Combinationen sind in der Regel derart, dass sie als solche den Selbstmord ausser Zweifel stellen. In einem unserer Fälle hatte ein Mann einen blinden Schuss in den Mund abgefeuert und hierauf sich den Hals durchschnitten; in einem anderen hatte sich der Selbstmörder einen bis in das Herzfleisch dringenden Stich und einen Schnitt am linken Handgelenk beigebracht, worauf er sich durch einen Revolverschuss in die rechte Schläfe tödtete; in einem dritten wurde der Erschossene unter einem Baume mit einer Schlinge um den Hals gefunden, hatte sich daher entweder früher oder gleichzeitig zu erhängen versucht. Am seltensten ist die Combination von Erschiessen mit Vergiftung. Von Bělohradsky (Zeitschr. d. böhm. Aerzte. 1880, pag. 85) werden zwei [S. 416]solche Fälle aus dem Prager medicinisch-forensischen Institute mitgetheilt. In einem dieser Fälle ergab sich ausser der tödtlichen Schusswunde Phosphor-, im anderen Cyankaliumvergiftung. Anderseits berichtet Blumenstok (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1890, L, pag. 81) über einen Gensdarmen, bei dem ausser einer Schusswunde durch den Mund eine frische Hiebwunde am Kopfe gefunden wurde. Es war ihm kurz vor der That der Säbel entrissen und damit letztere Wunde beigebracht worden, worauf aus Kränkung darüber der Selbstmord erfolgte.
Nicht selten ist die absichtliche Selbsttödtung durch Sich-Herabstürzen von einer Höhe. In Wien betrug die Zahl solcher Fälle in den Jahren 1870–77 durchschnittlich 6·5 Procente aller Selbstmorde. In der Regel handelt es sich um Sturz aus dem Fenster, seltener besteigen Selbstmörder zu diesem Zwecke Höhen (Thürme, Monumente) oder stürzen sich in Abgründe. Der Sectionsbefund zeigt in der überwiegenden Zahl der Fälle keine auffallenden Verletzungen der allgemeinen Decken, mitunter sogar gar keine äusseren Verletzungen, ein Beweis der grossen Resistenzfähigkeit der Haut.
Meist finden sich blos Hautaufschürfungen, einzelne Sugillationen oder unbedeutende Hautwunden. Derartige geringfügige äussere Befunde ergeben sich insbesondere dann, wenn der Körper auf eine ebene Fläche auffiel. Doch sind offene Fracturen nichts Seltenes und wir haben besonders am Kopfe bei einer Geisteskranken, die aus dem Fenster gesprungen und gerade auf den Kopf gefallen war, ein vollständiges Auseinanderplatzen desselben in zwei fast symmetrische Hälften gesehen. Leichter können sich äussere Zusammenhangstrennungen entwickeln, wenn der Körper während des Fallens an vorspringende harte Gegenstände auffiel oder auf Steine oder ähnliche Dinge aufschlug.
Die Hauptbefunde ergeben sich bei der inneren Untersuchung und können bestehen in mehr weniger ausgebreiteten Fracturen oder Fissuren des Schädels, in Brüchen der Rippen, der Wirbelsäule und des Beckens, namentlich aber in Rupturen innerer Weichtheile in verschiedensten Combinationen.
Es ist selbstverständlich, dass sowohl die äusseren als die inneren Befunde die gleichen sein können, ob nun der betreffende Sturz durch Zufall oder in der Absicht, einen Selbstmord zu begehen, erfolgte, oder durch fremde Hand veranlasst wurde, dass daher die Obduction für sich allein nur selten im Stande ist, die Ursache des Sturzes nach einer dieser Richtungen aufzuklären[287], und nur von den sonstigen Umständen des Falles eine Aufklärung erwartet werden kann.
[S. 417]
Zufälliges Verunglücken durch Sturz ist namentlich in grossen Städten häufig. In Wien kamen im Jahre 1873 83, im Jahre 1874 52 und 1875 70 solche Fälle vor. Sie betrafen vorzugsweise Arbeiter, die bei Ausübung ihres Gewerbes von Dächern, Gerüsten etc., dann Dienstmägde, die beim Fensterputzen, und Kinder, die von Fenstern, Stiegenhäusern u. dergl. herabstürzten, seltener Individuen, die in unverwahrte Keller etc. hineingefallen waren.
Absichtliche Tödtung Anderer durch Herabstürzen kommt noch am häufigsten bei Neugeborenen vor und wir werden auf diesen Gegenstand bei der Besprechung der Sturzgeburt zurückkommen. Bei älteren Kindern oder gar bei Erwachsenen ist dieselbe selten.
In einem unserer Fälle hatte ein Vater in einem, einem Blatternausbruch vorangegangenen Delirium sein 4jähriges Kind aus dem dritten Stock auf die Strasse geworfen und dadurch getödtet. Aeusserlich fanden sich blos einige Hautaufschürfungen an der linken Wange, am Gesässe und am Rücken, innerlich ausgebreitete Suffusion der Kopfhaut und eine sagittale Fissur der Hinterhauptschuppe, Suffusionen der Hirnhäute, seichte Einrisse in beiden Lungen.
Wir hatten ferner einen Fall zu begutachten, in dem ein Weib beschuldigt wurde, ihren Mann an einem regnerischen Herbstabend von einem, längs eines 40 Schuh tiefen Abgrundes sich hinziehenden, unverwahrten und nur wenige Schuh breiten Bergpfade herabgestossen und dadurch getödtet zu haben. Der Mann war in einen Bach gefallen, hatte den Schädel zersplittert und bot zugleich Zeichen des Ertrinkungstodes. Der Fall war durch seine Umstände (nachgewiesener Ehebruch der Frau, Drohungen gegen ihren Mann etc.) im hohen Grade verdächtig; wir mussten jedoch erklären, dass vom ärztlichen Standpunkte, namentlich nur aus dem Sectionsbefunde, sich unmöglich entscheiden lasse, ob der Betreffende, wie die Frau angab, in der Dunkelheit und bei dem durch Regen schlüpfrigen Boden nur zufällig verunglückt oder von seinem Weibe absichtlich in die Tiefe heruntergestossen worden sei.
Bekannt ist der in Bozen zur Hauptverhandlung gelangte Fall Tourville, in welchem die Anklage erhoben wurde, dass T. seine Frau von der Stilfserjochstrasse in einen Abgrund gestürzt, beziehungsweise sie zuerst betäubt und dann zum Abgrund hingeschleift habe, während er selbst angab, dass seine Frau an der betreffenden Stelle einen Selbstmord begangen habe. Auch in diesem Falle waren es weniger die anatomischen Befunde an der Leiche, als die sonstigen Umstände des Falles, welche Verdacht erwecken mussten, dass kein Selbstmord vorliege. Sie bestanden unter Anderem darin, dass die Strasse an der betreffenden Stelle keineswegs senkrecht abfiel, sondern in eine allerdings stark geneigte, jedoch mit Steinen, Baumstrünken und ähnlichen Hindernissen besetzte Lehne überging, die erst in ziemlicher Entfernung in einen Absturz endete, so dass erstens die Stelle nicht wohl geeignet war zur Unternehmung eines Selbstmordes und dass sie auch die Angabe des Angeklagten, dass die Frau, nachdem sie von der kaum ein Meter über den Anfang der Lehne erhabenen Strasse herabgesprungen, eine weite Strecke heruntergerollt [S. 418]sei, nicht glaublich erscheinen liess; ferner in dem Umstande, dass schon in der nächsten Nähe der doch so niedrigen Strasse bereits Blutspuren bemerkt wurden, die in einer Linie sich bis zum Abgrund verfolgen liessen, und dass endlich zwischen dem Abgrund und dem Fusse der Lehne ein Streifen constatirt wurde, der zufolge seiner Breite und Gleichmässigkeit sich so verhielt, wie wenn er durch das Schleifen einer Person über den betreffenden Grasfleck erzeugt worden wäre.
Ungleich schwieriger war die Beurtheilung in dem von Kratter (Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 31) begutachteten Falle eines Touristen, dessen Leiche in einem Alpenthale unter einer 60 Meter hohen Felswand gefunden wurde und wo zu entscheiden war, ob Denatus zufällig abgestürzt und dann ausgeraubt oder früher umgebracht und dann herabgestürzt worden war, da die Leiche erst nach mehreren Wochen in hochgradig faulem Zustande zur Untersuchung kam und nur der Kopf, nicht aber auch die übrigen Körperhöhlen eröffnet worden waren.
Am 1. Mai 1892 secirten wir einen Arbeiter, der von einem Glasdache herabgestürzt und sofort todt geblieben war. Er hatte mit einem Zweiten Nieten an der Eisenconstruction einzuschlagen und Letzterer gab an, dass er fehlgeschlagen und zufällig seinen Kameraden mit dem Hammer auf die Brust getroffen habe, worauf dieser das Gleichgewicht verlor und herabstürzte. Es bestand aber der Verdacht, dass die Zwei am Dach in Streit gekommen waren und dabei der Sturz erfolgt sei. Positives konnte jedoch nicht herausgebracht werden.
Analoge Verletzungen wie beim Sturz von einer Höhe werden auch durch Ueberfahrenwerden erzeugt, eine Todesart, die nicht blos als zufällige häufig vorkommt, sondern in neuerer Zeit auch zum Behufe des Selbstmordes gar nicht selten gewählt wird. Fast ausnahmslos sind es Eisenbahntrains, von denen sich die Selbstmörder überfahren lassen. Die Verletzungen sind in der Regel colossal und lassen schon dadurch auf ihre Provenienz schliessen. Abtrennungen ganzer Körpertheile, auch des Kopfes, sind etwas sehr Gewöhnliches und lassen sich durch die Scheerenwirkung der Schiene einerseits und der Radkante anderseits erklären.
Zu bemerken ist, dass nicht alle Verletzungen, die an einer solchen Leiche gefunden werden, von den Rädern des Trains herrühren müssen, sondern dass auch die sogenannten Bahnräumer solche bewirken können, theils durch directe Beschädigung des Körpers, theils, indem sie denselben von der Bahn wegschleudern. Von verlässlicher Seite wird uns ein Fall mitgetheilt, in welchem sich bei einem offenbar im trunkenen Zustand von einem Zuge überfahrenen Mann ausser vielfachen Quetschungen und Zerreissungen auch eine Wunde am Halse befand, die ganz das Aussehen einer Stichwunde und eine beträchtliche Tiefe hatte, ohne jedoch wichtige Theile zu verletzen und wo sich mit grösster Wahrscheinlichkeit herausstellte, dass die Wunde durch einen der „Bahnräumer“, die aus steifen harten Besen bestanden, [S. 419]respective durch ein Reis dieses Besens erzeugt worden war. Uebrigens können, wie wir wiederholt bei von Trains Ueberfahrenen sahen, stichwundenähnliche Verletzungen sowohl der Haut, als innerer Organe durch Knochensplitter, insbesondere durch die eingedrungenen und wieder zurückgegangenen Bruchenden von Rippen, sich bilden.
In einem 1878 von uns obducirten Falle war eines Morgens ein Bahnwächter innerhalb eines der Wiener Bahnhöfe bewusstlos neben den Schienen gefunden worden, mit einer Impression in der rechten Hinterhauptgegend, und starb nach drei Tagen. Die Obduction ergab eine 2 Cm. breite, vollkommen kreisrunde Lochfractur der Hinterhauptschuppe, die auf ein, eine kugelige und kleine Oberfläche besitzendes Werkzeug schliessen liess. Zufolge den Erhebungen hatte sich der Betreffende in der Nähe der Schienen niedergelegt, um den ankommenden Zug zu hören, war aber von diesem überrascht und von dem abgerundeten und verhältnissmässig dünnen Ende einer der Kolbenstangen am Kopfe getroffen worden.
Auf die Möglichkeit, dass anderweitig getödtete Individuen auf die Schienen gelegt werden können, damit ein Selbstmord oder ein zufälliges Verunglücken vorgetäuscht werde, haben wir bereits oben aufmerksam gemacht.[288]
Von anderen selteneren Selbstmordsformen wollen wir nur den Selbstmord durch Hiebwunden erwähnen. Eine solche Selbstmordart gehört jedenfalls zu den ganz ungewöhnlichen, ist aber wiederholt beobachtet worden.
Casper-Liman (l. c. II, pag. 262) citiren drei solche Fälle, ebenso berichtet Schauenstein von einem Lohnbedienten, welcher sich mit einem Beile 17 Hiebe an der Stirne und am Schädeldache beigebracht, von welchen einige den Knochen durchdrangen und den Tod durch Meningitis veranlassten. Ein anderer Fall dieser Art findet sich im Bericht des k. k. allgemeinen Krankenhauses in Wien vom Jahre 1871, pag. 79. Ein 32jähriger Tischler hieb sich in selbstmörderischer Absicht mit einem Hammer auf die rechte Schläfegegend. Es fand sich eine thalergrosse, den Knochen nicht blosslegende Quetschwunde. Der Mann war bewusstlos, beide untere Extremitäten gefühllos, blass, paretisch. Den nächsten Tag Wiederkehr des Bewusstseins. Nach zwei Monaten vollständige Genesung.
Wir selbst haben eine alte Frau obducirt, die sich zuerst einen Stich in die Leber versetzt hatte und als der Tod nicht eintrat, ein Küchenbeil ergriff und theils mit der Schneide, theils mit dem Rücken desselben so lange gegen die Stirne und den Scheitel (!) hieb, bis sie bewusstlos zusammensank. Als sie in’s Spital gebracht wurde, war das Bewusstsein wiedergekehrt, es fanden sich theils lineare Trennungen der Kopfhaut, theils Quetschungen derselben, es kam zur Verjauchung und necrotischer Abstossung grosser Partien der Kopfhaut und der [S. 420]Tod erfolgte nach mehreren Tagen an Pyämie. Bei der Section konnte nachgewiesen werden, dass einzelne der mit der Schneide geführten Hiebe die äussere Knochentafel des Schädeldaches durchtrennt hatten. Ferner sahen wir einen Mann, der im geistesgestörten Zustand sein Kind mit der Hacke erschlagen, seine Geliebte schwer verwundet und hierauf sich selbst mit dem Rücken der Hacke vier Contusionen an der Stirne beigebracht hatte. Ueber eine Combination von Selbstmord durch Erhängen und Hiebwunden mit einer Axt bei einem Typhuskranken hat Haumeder (Wiener med. Wochenschr. 1882, Nr. 18) berichtet.
Frank (Wiener med. Wochenschr. 1885, Nr. 15–17)hat die in der Literatur enthaltenen derartigen Fälle gesammelt und einen neuen in unserem Institute obducirten Fall mitgetheilt und abgebildet, der eine alte Frau betraf, die sich mit der Schneide einer Hacke eine grosse Zahl zum Theile in den Schädel eindringender, parallel von vorn nach hinten verlaufender, dicht beisammen liegender Hiebe mitten in der hinteren Stirngegend und ausserdem seichte Schnittwunden an der Innenfläche beider Oberarme und in beiden Kniekehlen beigebracht hatte. Einen ähnlichen Fall hat Blumenstok (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, L, pag. 81) mitgetheilt und Cissel (Wiener klin. Wochenschr. 1892, Nr. 16) einen anderen, wo sich ein alter schwachsinniger Mann fünf Nägel in den Kopf eingeschlagen hatte, ohne dass auffällige Functionsstörungen eintraten. — In einem von Kornfeld (Friedreich’s Bl. 1891) begutachteten Falle war die Frage zu beantworten, ob der Nagel, welcher in den Scheitel bis in den Sinus eingedrungen war und den Tod veranlasst hatte, von dem Manne selbst eingetrieben wurde oder durch einen Schlag mit einer Latte, in welcher er gesteckt haben konnte. Wahrscheinlich lag Selbstmord vor, da der Mann Tags zuvor Phosphorzündhölzchenköpfchen genommen hatte.
Fälle dieser Art könnten, wenn sie nicht durch die Umstände klargelegt sind, die grössten Täuschungen veranlassen. In der Regel betreffen sie jedoch entweder Geisteskranke oder Individuen, denen, wie eben Geisteskranken oder Gefangenen, andere bequemere Mittel zum Selbstmorde nicht zu Gebote stehen, doch sind thatsächlich solche Vorgänge auch von Personen unternommen worden, denen die Möglichkeit, sich durch andere und bequemere Methoden umzubringen, nicht benommen war.
Blutspuren oder Flecke, die den Verdacht erregen, dass sie von Blut herrühren, können sich finden entweder beim Localaugenschein oder an Individuen, beziehungsweise ihnen gehörigen Gegenständen, insbesondere Waffen, die im Verdachte stehen, oder eben solcher Befunde wegen in den Verdacht kommen, die That begangen zu haben.
Das Verhalten der Blutspuren am Orte, wo eine vermeintlich verbrecherische That begangen wurde, kann mitunter die[S. 421] wichtigsten Aufklärungen geben über verschiedene, für die gerichtliche Untersuchung bedeutungsvolle Umstände, und es ist daher jedesmal darauf ein besonderes Augenmerk zu richten. Es ist sowohl das Verhalten der Blutspuren an der Leiche selbst, als in der Umgebung zu beachten.
Wir haben bereits bei der Besprechung des Selbstmordes durch Halsabschneiden darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig das Vertheiltsein der Blutspuren an der Leiche eines mit durchschnittenem Halse gefundenen Individuums für die Entscheidung der Frage sein kann, ob ein Selbstmord vorliegt oder ein Mord begangen wurde. Diese Verhältnisse sind sofort zu erheben, da es begreiflich ist, dass ihre Erhebung selten mehr einen Werth hat, wenn bereits mit der Leiche herummanipulirt worden war. Es ist ausser auf die Vertheilung des aus der Wunde herausgeflossenen Blutes und auf das Verhalten der Hände der Leiche auch darauf zu achten, ob sich nicht Spuren fremder blutiger Hände an der Leiche finden.
Hochinteressant in dieser Beziehung ist der von Taylor (l. c. I, 522) erwähnte Fall, wo auf dem Rücken der linken Hand eines mit durchschnittenem Halse todt gefundenen Individuums der Abdruck einer blutigen, ebenfalls linken Hand constatirt und dadurch der Mord ausser Zweifel gestellt wurde. In einem von uns begutachteten Falle (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., XIX, 89) ergaben sich an der Leiche eines erwürgten Mannes zahlreiche, blutig aufgekratzte Stellen in der Kehlkopfgegend, und am Hemde, mit welchem die Leiche allein bekleidet war, an beiden Oberarmen Blutspuren, die offenbar Abdrücke blutiger Hände darstellten, so dass kein Zweifel bestehen konnte, dass der Thäter mit seinen noch blutigen Händen den Erwürgten an den Oberarmen gefasst hatte, um gewisse Lageveränderungen vorzunehmen.
Blutspuren an anderen Stellen der Localität als an der, wo die Leiche lag, können Aufklärung darüber geben, wo die tödtliche oder zuerst eine andere Wunde gesetzt, respective das Individuum überfallen wurde, noch mehr, wenn von dieser Blutspur weitere Spuren bis zur Leiche sich verfolgen lassen, und es wäre dann weiter zu erwägen, ob von dieser Stelle der Verletzte noch selbst an den Ort, wo seine Leiche gefunden wurde, gelangen konnte oder hingebracht wurde. Der oben erwähnte Fall der angeblich von der Stilfserjochstrasse herabgestürzten Frau gibt ein solches Beispiel.
Wie wichtige Aufschlüsse in dieser Beziehung das Auffinden von Blutspuren bieten kann, zeigt ein von Taylor (l. c. I, 521) mitgetheilter Fall. Ein Weib wurde am Fusse einer Kellerstiege todt aufgefunden und die Section ergab, dass sie thatsächlich durch den Sturz an einer Fractur des Schädels und der Wirbelsäule gestorben war. Es fanden sich jedoch bei der Localbesichtigung an der obersten Stufe der Treppe in einer Höhe von 4–5 Fuss über dieser frische Blutspuren an der Ziegelwand, die zufolge ihrer Beschaffenheit offenbar [S. 422]von einer spritzenden Arterie herrührten. Die Leiche zeigte aber thatsächlich eine Wunde in der rechten Schläfegegend, welche die rechte Schläfearterie durchtrennt hatte. Es lag sonach nahe, zu erklären, dass das Weib diese Wunde oben auf der Stiege, während sie in der Nähe der betreffenden Wand stand, erhielt und dann erst in den Keller herabgestossen wurde, und diese Annahme wurde auch durch die weiteren Erhebungen bestätigt.
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die Blutspuren, die durch eine gegen eine Fläche schief spritzende Arterie an ersterer erzeugt werden, die Gestalt von in eine Spitze ausgezogenen Tropfen besitzen, deren dickeres abgerundetes Ende der Stelle entspricht, wo zuerst der ausspritzende Blutstropfen die Wand getroffen hatte, während die spitz auslaufende Fortsetzung dem bekannten Beharrungsbestreben des in Bewegung begriffenen Tropfens seine Entstehung verdankt, wobei die ganze Figur der Spur desto mehr in die Länge gezogen scheint, mit je grösserer Kraft der betreffende Tropfen gegen die Fläche angetrieben worden war. Die Beachtung dieses Verhaltens, zusammengehalten mit der Lage und dem Caliber der verletzt gefundenen Arterie, kann mitunter recht wichtige Schlüsse ergeben über die Stellung, die die betreffende Person in dem Momente eingenommen hatte, als sie jene Verletzung erhielt.
Wie wichtig das Auffinden blutiger Fussspuren oder von Abdrücken blutiger Hände am Orte der That werden kann, liegt auf der Hand.
In einem von Taylor (l. c. 517) mitgetheilten Falle fanden sich am Fussboden des Zimmers, in welchem eine offenbar ermordete Person lag, drei Spuren eines nackten blutigen Fusses, die ihrer Schmalheit wegen sofort den Verdacht erweckten, dass sie von einem weiblichen Fuss herrührten. Die eigenen Füsse der Ermordeten waren viel grösser und nicht blutig, konnten daher diese Spuren nicht erzeugt haben. Im Hause befanden sich nur noch zwei Personen, auf welche der Verdacht, die That begangen zu haben, fallen konnte, ein Mann und ein Weib. Die Füsse der Letzteren stimmten mit der Grösse der gefundenen Blutspuren überein, und als mit Rindsblut Versuche angestellt wurden, ergab sich, dass die so erzeugten Spuren sich in überraschender Weise gleich verhielten, wie jene, die im Zimmer der Ermordeten entdeckt worden waren. Dieser Befund war eines von den zahlreichen anderen Momenten, durch welches dieses Weib der That überführt wurde.
An gleicher Stelle wird von Taylor ein Fall mitgetheilt, in welchem sich von dem Hause, in welchem der Ermordete lag, Spuren blutiger Hände entlang des Hauses bis zu einem nach rückwärts gelegenen Wohnraume verfolgen liessen und so zur Entdeckung des Mörders führten, der, indem er in der Finsterniss der Nacht in seine Wohnung zurücktappte, jene Spuren hinterlassen hatte.
Bei der Verwerthung solcher Spuren ist natürlich niemals zu übersehen, dass sie erst nachträglich durch zur Leiche hinzugekommene [S. 423]Personen erzeugt worden sein konnten, und nur wenn diese Möglichkeit sicher auszuschliessen ist, erhalten die gefundenen Spuren die betreffende Bedeutung. Als warnendes Beispiel in dieser Beziehung wird von Bayard (Ann. d’hyg. publ. 1847, 2, 219) ein Fall erzählt, in welchem durch den zuerst herbeigerufenen Arzt (!), der in das Blut getreten war, Blutspuren von dem Zimmer, in welchem die Leiche lag, in ein Nachbarzimmer vertragen wurden, und dadurch nachträglich der Bewohner des letzteren in Verdacht gerieth, die That begangen zu haben. Uns kam ein Fall vor, in welchem es wichtig gewesen wäre, zu constatiren, ob der eines Raubmordes Verdächtige im Blut herumgetreten sei, wo aber, wenn der Nachweis von Blut an den Stiefeln des Betreffenden gelangen wäre, dieser Befund deshalb keine Beweiskraft gehabt hätte, weil man den Mann wenige Stunden nach der That an den Thatort geführt und mit der Leiche confrontirt hatte, wobei erst derselbe in das Blut hineingetreten sein konnte. In der That wurden auch 15 offenbar gespritzte Blutflecken, die sich an der Vorderseite des Oberrockes des Angeklagten fanden, von dem Vertheidiger daraus erklärt, dass erst bei jener Confrontirung durch das Eintreten des Mannes selbst oder Anderer in das noch feuchte Blut sein Rock damit bespritzt worden sei.
Auch die Möglichkeit, dass die gefundenen Blutspuren vom Verstorbenen selbst erzeugt worden sein konnten, ist nicht aus dem Auge zu lassen. Auch in dieser Beziehung finden wir im Taylor’schen Buche eine interessante Angabe, betreffend einen Mann, der erhängt gefunden wurde, ausserdem aber eine blutende Wunde am Halse zeigte. Es fand sich eine grosse Blutspur in einem anderen Raume und in einer geöffneten Lade mit Blut befleckte Stricke, woraus, sowie aus den übrigen Umständen des Falles sich herausstellte, dass der Betreffende zuerst versucht hatte, sich den Hals abzuschneiden, und als dies missglückte, mit seinen blutigen Händen einen Strick aus jener Lade holte und damit sich erhing.
Bei der Bedeutung, die dem Auffinden derartiger Spuren, insbesondere Fussspuren, für die Eruirung des Thäters zukommt, ist es angezeigt, dafür zu sorgen, dass eine Vergleichung dieser Objecte noch nachträglich ermöglicht werde. Lässt sich die Spur nicht als solche aufbewahren, so ist ihre genaue Aufnahme zu veranlassen, wozu sich am besten die von Caussé (Annal. d’hygiène, pag. 2, Sér. I, 175) angegebene Methode des „Netzzeichnens“ eignet, welche darin besteht, dass man die Spur mit einem Rechteck gerader Linien umzeichnet, die Seiten des Rechteckes in möglichst kleine gleiche Theile theilt und die Theilungspunkte mit den gegenüberliegenden durch gerade Linien verbindet. Die Spur erscheint dann mit einem Netz von Linien bedeckt und kann, wenn man sich ein gleiches und ebenso eingetheiltes Rechteck auf das Papier zeichnet, auf dieses auch von einem Nichtzeichner mit Leichtigkeit übertragen werden.[289] [S. 424]Auf die Bedeutung von Blutspuren bei gewissen Nothzuchtsfällen haben wir bereits in den betreffenden Capiteln hingewiesen und auf jene für die Diagnose einer stattgehabten Entbindung werden wir noch bei der Behandlung des Kindesmordes zurückkommen.
Die höchste Bedeutung kann der Befund von Blutspuren erlangen, wenn er sich an einem der That verdächtigen Individuum oder an diesem gehörenden Gegenständen ergibt. Dass in einer grossen Zahl der Fälle, in denen Jemand eine blutige That begeht, dieselbe auch Blutspuren am Thäter zurücklassen wird, ist begreiflich, doch wäre es irrig, sich der Meinung hinzugeben, dass nothwendig Blutspuren zurückbleiben müssen. Es wird dies abhängen zunächst von der Natur der Wunde oder der Wunden, und zwar einestheils von dem Blutverluste, der überhaupt, und zwar nach aussen, mit ihnen verbunden war, andererseits aber auch davon, ob das Blut aus der Wunde blos herausfloss oder spritzte. Ferner ist es klar, dass je nach der Stellung, die der Thäter zu seinem Opfer einnahm, in einem Falle leicht, in einem anderen schwerer und in einem dritten gar nicht Blutspuren zurückbleiben werden, ebenso dass, wenn einem Individuum im Schlafe der Hals[S. 425] abgeschnitten wurde, dies eher ohne Zurücklassung von Blutspuren an dem Thäter geschehen kann, als wenn dasselbe, während es wachte und sich wehren konnte, umgebracht worden ist. Dass ausserdem eine Menge anderer Zufälligkeiten mitwirken kann, liegt auf der Hand. Auch der Umstand, ob der Thäter die Leiche unangetastet liegen liess oder damit manipulirte, ferner das Raffinement des Thäters, die Vorsicht, mit der er vorgeht, sogar die Uebung, die er eventuell besitzt (Schlächter), können in dieser Beziehung sich geltend machen. Dies wird z. B. illustrirt durch die Thatsache, dass in einem von Taylor (l. c. I, 523) erwähnten Falle der Mord von einem Individuum begangen wurde, welches sich früher seiner Kleider vollständig entledigt hatte, und durch einen zweiten, welchen Dufour (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 654) mittheilt, wo der Thäter, ein an Verfolgungswahn leidender Geisteskranker (!), vor Begehung des Doppelmordes Leinwandfetzen über sein Gewand gezogen hatte, um dieses vor Besudlung mit Blut zu schützen!
Ausser den Kleidern und Wäschestücken des Thäters sind es vorzugsweise diesem gehörig verletzende Werkzeuge, z. B. Messer, an denen Blutspuren oder ihnen ähnliche Flecke gefunden werden können. Die Möglichkeit, dass ein Instrument, mit welchem eine Stich-, Schnitt- oder Hiebwunde beigebracht wurde, unblutig bleiben könne, lässt sich nicht ganz wegleugnen, namentlich dann nicht, wenn das Instrument mit raschem Zuge geführt wurde und grössere Gefässe nicht verletzt worden sind, oder wenn das Blut an den ebenfalls durchstochenen Kleidungsstücken etc. beim Zurückziehen des Messers wieder abgewischt wurde. Casper hat (l. c. II, 168) aus Anlass eines Falles, wo bei einem Individuum, das sich selbst den Hals durchschnitten hatte, ein ganz blutfreies Tischlermesser gefunden wurde, auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht. Doch dürfte dies jedenfalls nur ausnahmsweise vorkommen, da zahlreiche Versuche, die wir in dieser Richtung hin anstellten, immer negativ ausgefallen sind, obwohl allerdings die Menge des Blutes, die dem gebrauchten Instrumente anhaftete, eine sehr verschiedene gewesen ist, und wiederholt nur unbedeutende Spuren daran zurückgeblieben waren. Auch kann man sich bei solchen Versuchen überzeugen, dass, wie begreiflich, unter sonst gleichen Verhältnissen desto weniger Blut an der Klinge eines verletzenden Instrumentes zurückbleibt, je blanker und glatter dieselbe gewesen war. In der Regel erklärt sich das Fehlen von Blutspuren an einem thatsächlich gebrauchten Werkzeuge ungezwungen daraus, dass dasselbe nachträglich gereinigt worden ist. Wurde diese Reinigung nicht sorgfältig vorgenommen, so z. B. das Messer nur einfach abgewischt, dann können sich trotzdem Blutspuren an rauheren oder vertieften Stellen des Heftes, besonders in dem Einschnitte, der zum Oeffnen der Klinge bestimmt ist, oder in dem Charnier der Klinge, in dem Spalt des Messers u. s. w., erhalten, ebenso bei Beilen in den Vertiefungen zwischen Stiel und dem Loche des Beiles, durch welches[S. 426] dieser durchgesteckt ist, durchaus Stellen, die, wenn solche Untersuchungen vorkommen, besonders beachtet werden müssen.
Zweifellos gibt es eine grosse Reihe von Fällen, in denen schon die makroskopische Besichtigung einer Spur hinreicht, um dieselbe als durch Blut erzeugt erkennen zu lassen; dies gilt namentlich von den Spuren, die sich bei der Vornahme des ersten Localaugenscheines ergeben. Finden sich jedoch solche Spuren an dem Thäter oder ihm gehörenden Dingen, dann genügt selbstverständlich niemals die blosse makroskopische Untersuchung, sondern es ist die Natur des verdächtigen Fleckes anderweitig sicherzustellen.
Es ist zu diesem Behufe zweierlei anzustreben: erstens der mikroskopische Nachweis der charakteristischen Blutkörperchen und zweitens der Nachweis des ebenso charakteristischen Blutfarbstoffes, des Hämoglobins und seiner Derivate.
Das Auffinden der Blutkörperchen beweist nicht blos in absoluter Weise die Gegenwart von Blut, sondern ermöglicht auch die Beantwortung gewisser Detailfragen, welche sich auf die Abstammung des betreffenden Blutes beziehen. In frischen Fällen unterliegt dieser Nachweis keinen Schwierigkeiten, da es blos nothwendig ist, etwas von der Substanz, wenn sie etwa noch feucht ist[290], unmittelbar, wenn nicht, mit ½procentiger Kochsalzlösung, Zuckerwasser oder verdünntem Glycerin unter das Mikroskop zu bringen, um, wenn die Spur von Blut als solchem und nicht etwa, wie so häufig, blos von blutigem Wasser herrührt, in der Regel sofort die charakteristischen Formelemente des Blutes zu erkennen. In solchen Fällen ist es natürlich auch leicht, nicht blos die runden und kernlosen Blutkörperchen der Säugethiere von den ovalen und kernhältigen und überdies viel grösseren der anderen Thierclassen zu unterscheiden, sondern es können auch mikroskopische Messungen die Lösung der Frage gestatten, ob die Grösse der vorliegenden runden Blutkörperchen mit jener übereinstimmt, die den menschlichen zukommt.
Unter den Säugethierblutkörperchen sind bekanntlich die menschlichen die grössten. Ihr durchschnittlicher Durchmesser beträgt 0·0077 Mm. (0·0074–0·0080). Ihnen zunächst stehen die des Hundes mit 0·0074 Mm. (0·0060–0·0074), dann folgen die des Kaninchens mit 0·0064, des Schweines mit 0·0062, des Rindes mit 0·0058, des Pferdes mit 0·0057, der Katze mit 0·0056 und des Schafes mit 0·0045 Mm.
Da die Blutkörperchen sowohl des Menschen als der einzelnen Säugethiere nicht alle gleich gross sind, sondern ihre Grösse innerhalb gewisser Grenzen schwankt, so wird man sich selbstverständlich nicht mit der Messung einzelner Blutkörperchen begnügen, sondern eine möglichst grosse Reihe von Messungen unternehmen und aus dieser die Durchschnittszahl berechnen.
[S. 427]
Aber auch alte Blutspuren können den mikroskopischen Nachweis von Blutkörperchen gestatten, da sich dieselben im einfach eingetrockneten und weiter unverändert gebliebenen Blute selbst jahrelang erhalten, wovon man sich leicht und unmittelbar überzeugen kann, wenn man Blut in dünnen Schichten auf durchsichtigen Glasplatten eintrocknen lässt. Wir besitzen solche Präparate von Blutkörperchen sowohl des Menschen als verschiedener Thiere, die bereits mehr als zehn Jahre zu Demonstrationszwecken dienen und in welchen sich trotz dieser langen Zeit die Formelemente in ihrer charakteristischen Form unverändert erhalten haben. Hammerl[291] fand sogar, dass so angetrocknete Blutkörperchen selbst nach Erhitzung über 200° C. ihre Form erhalten.
In derartigen alten Blutspuren gelingt jedoch der Nachweis der Blutzellen nicht mehr so ohne Weiteres, wie bei frischen, sondern fordert eine bestimmte Behandlung des Objectes, namentlich mit gewissen Zusatzflüssigkeiten, die geeignet sind, die Blutkörperchen in der meist fest eingetrockneten und spröden Substanz wieder sichtbar zu machen.
Von diesen Zusatzflüssigkeiten können wir aus eigener Erfahrung[292] die etwas modificirte Pacini’sche Flüssigkeit (300 Theile Wasser, 100 Theile Glycerin, 2 Theile Kochsalz und 1 Theil Sublimat) empfehlen. Auch verdünnte, mit Glycerin versetzte Säuren leisten gute Dienste, so die von Roussin[293] angegebene Mischung von 3 Theilen Glycerin und 1 Theil concentrirter Schwefelsäure bis zum spec. Gewicht von 1·028 mit Wasser verdünnt.
Von Virchow (Archiv, XII, 336) wurde concentrirte 30procentige Kalilauge zu diesem Zwecke empfohlen, ebenso von Brücke (Vorlesungen, I, 76) und neuerdings wieder von A. Rollet[294], welcher fand, dass an eingetrocknetem Blute die rasch vorübergehenden Stadien der Schrumpfung und Quellung, welche man nach der Einwirkung concentrirter (32procentiger) Kalilauge an den feuchten Blutkörperchen hervortreten sieht, ausbleiben und dass hier sogleich das an feuchten Blutkörperchen jenen stürmischen Reactionen erst folgende Stadium der Härte auftritt, in welchem die Blutkörperchen sich lange Zeit in einer ihrer natürlichen Form ähnlichen Erscheinungsweise erhalten. Man kann auch concentrirte Cyankaliumlösung zu diesem Zwecke verwenden. H. Struve (Virchow’s Arch. 79. Bd., pag. 524) empfiehlt concentrirte Weinsäure oder noch besser die Anwendung der Kohlensäure. Zu diesem Behufe lässt er in einem Probirgläschen CO2 durch Wasser durchstreichen[S. 428] und legt dann die Spur sammt ihrer Unterlage in dieses hinein. Nach etwa 20 Stunden ist die Spur erweicht und kann untersucht werden. Rezzonico (Rivista sperim. XV, 214) hat mit 10procentiger Lösung von Oxalsäure gute Resultate erhalten.
Wir haben uns ferner bei einer grossen Zahl einschlägiger Untersuchungen überzeugt, dass, wenn schon sehr alte, hart gewordene Blutspuren vorliegen, auch die blosse Anwendung destillirten Wassers, welches bei frischen Blutspuren vermieden werden muss, da es sofort den Blutzellen den Farbstoff entzieht und diese durch Quellung verändert, sehr schöne Resultate ergibt, ein Verhalten, welches offenbar darin seinen Grund hat, dass die Blutkörperchen durch intensives Eintrocknen eine grössere Resistenz gegen Wassereinwirkung erlangen und auch die Löslichkeit des Hämoglobins und damit die Leichtigkeit, mit welcher es sonst durch Wasser den Blutkörperchen entzogen wird, sich vermindert.
Der Vorgang bei solchen Untersuchungen hat in der Weise zu geschehen, dass man zunächst winzige Partikelchen der betreffenden Substanz auf einen Objectträger bringt, indem man entweder mit einem Messerchen etwas von der angetrockneten Spur abschabt, oder, was sich besonders bei an Stoffen befindlichen Flecken empfiehlt, die Spuren unmittelbar über dem Objectträger mit einer Nadel ritzt, wobei, wenn wirklich Blut vorliegt, der braunrothe Strich auffällt, den die ritzende Nadel erzeugt und ein feines braunrothes Pulver auf den Objectträger fällt, welches sich zur weiteren Untersuchung vorzüglich eignet.
Man kann entweder sofort die auf dem Objectträger befindliche Substanz mit einer der erwähnten Zusatzflüssigkeiten behandeln oder früher, blos mit einem Deckgläschen bedeckt, unter das Mikroskop bringen und erst dann die Flüssigkeit zusetzen, ein Verfahren, das sich deshalb empfiehlt, weil man das Sichtbarwerden der Formelemente in den früher amorph erschienenen Schollen unmittelbar beobachten und auch das Verhalten der letzteren zu Wasser oder anderen Lösungsmitteln zu verfolgen im Stande ist.
In günstigen Fällen lässt sich nicht blos erkennen, dass die betreffenden Schollen aus gleichmässig grossen, meist dicht gedrängten, in ihrer Form und sonstigen Beschaffenheit jener der Blutkörperchen entsprechenden Elementen bestehen, sondern es kann auch gelingen, einzelne dieser Elemente isolirt zu Gesichte zu bekommen: letztere zeigen dann ihre charakteristische, ursprüngliche Form viel deutlicher, während die in den festen Schollen eingebetteten Blutkörperchen meist durch gegenseitigen Druck abgeplattet erscheinen und erst bei längerer Einwirkung einer entsprechenden Zusatzflüssigkeit aufzuquellen und dadurch eine der ursprünglichen sich nähernde Form anzunehmen pflegen.
Ausser den rothen Blutkörperchen lassen sich häufig in den betreffenden Schollen auch einzelne weisse unterscheiden, welche sogar eine grössere Resistenzfähigkeit zu besitzen scheinen, als[S. 429] erstere, da man sie mitunter noch findet, wenn bereits, wie z. B. bei stark verwitterten Blutspuren, die rothen schon durch feinkörnigen Zerfall mehr oder weniger unkenntlich geworden sind. Corin (Virchow’s Jahresb. 1893, I, pag. 486) fand die Angabe, dass die neutrophilen Körnchen in den Leucocythen, welche bei der Färbung des Blutes nach der Methode von Ehrlich sich violett und blau färben, nur beim Menschenblute vorkommen, bestätigt und empfiehlt daher diesen Nachweis zur Unterscheidung von Menschenblut vom Thierblut. Doch ergaben die Nachuntersuchungen von Tamassia[295], dass in dieser Beziehung kein Unterschied besteht.
Schwerer als die Säugethierblutkörperchen sind in alten Blutspuren die Blutkörperchen der übrigen Thierclassen in ihrer ursprünglichen Form zu erkennen, wovon die Ursache einestheils in der blässeren Färbung dieser Formelemente, dann aber besonders in der grösseren Geneigtheit derselben zu Schrumpfung beim Eintrocknen, sowie in dem weniger resistenten Verhalten des Stromas gegen die erwähnten Lösungsmittel gelegen ist, weshalb die Contouren der Blutkörperchen weniger scharf hervortreten, als dies unter sonst gleichen Verhältnissen bei den Menschen- und Säugethierblutkörperchen der Fall ist. Dagegen sind die von solchem Blut, insbesondere von Vogelblut, herrührenden Spuren durch die meist in grosser Menge in ihnen vorkommenden, das Licht stark brechenden Kerne charakterisirt, welche namentlich nach Zusatz schwacher Essigsäure deutlich hervortreten, während, wenn Säugethierblut vorliegt, die betreffenden Schollen nach einem solchen Zusatz sich sofort oder in wenigen Augenblicken auflösen und ein kaum erkennbares blasses Stroma zurücklassen.
Es ist begreiflich, dass, wenn die Blutkörperchen durch Eintrocknen verschrumpft und durch Anwendung der bezeichneten Flüssigkeit wieder sichtbar gemacht worden sind, die Unterscheidung, ob dieselben thatsächlich von Menschenblut oder von dem Blute von Säugethieren herrühren, grosse Schwierigkeiten haben wird. Da nämlich der Grad der Schrumpfung der Blutelemente von verschiedenen unberechenbaren Umständen abhängt und die Reconstruirung der Form und Grösse derselben mittelst obiger Reagentien auch nicht gleichmässig und vollständig erfolgt, übrigens auch von der Natur des Reagens und der Dauer seiner Einwirkung abhängt, und da es sich endlich bei der Unterscheidung von menschlichen Blutkörperchen von solchen der Säugethiere in der Regel nur um ganz minimale, zwischen 0·004 bis 0·008 schwankende Grössendifferenzen handelt, so lassen sich von mikroskopischen Messungen, selbst wenn sie mit aller Sachkenntniss und Accuratesse vorgenommen wurden, doch nur precäre Resultate erwarten, wie auch Struve (Virchow’s Archiv. 83. Bd.,[S. 430] pag. 146) auf Grund sehr eingehender Untersuchungen betont. Trotzdem wird man nicht unterlassen, vorkommenden Falles solche Messungen zu unternehmen, da ihr Resultat, namentlich wenn es auf zahlreichen Messungen basirt, doch nicht jedes Werthes entbehrt, besonders dann nicht, wenn es sich um Unterscheidung von Blut von Thieren, wie z. B. von Rindern, Katzen, Pferden und Schafen, handelt, deren Blutkörperchen doch um ein Erkleckliches kleiner sind, als jene des Menschen.[296]
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Sporen mancher niederen Pilze, insbesondere Schimmelpilze, eine grosse äussere Aehnlichkeit mit Blutkörperchen haben. So hat Erdmann die Aehnlichkeit mit Porphyridium cruentum und Rindfleisch die der Sporen von Achorion Schönleinii hervorgehoben. Wir können diese aus eigener Erfahrung bestätigen und müssen als unterscheidend auf die grosse Resistenzfähigkeit solcher Sporen gegen Säuren und Alkalien hinweisen. Auch Hefezellen und selbst Fetttröpfchen können Blutkörperchen vortäuschen. Zur Unterscheidung letzterer ist in zweifelhaften Fällen, wie schon Gwosdew rieth, Aether, Benzin u. dergl. zur Anwendung zu bringen.
Die weitere Untersuchung der betreffenden Spur bezweckt den Nachweis des Hämoglobins, des Blutroths, jenes eigenthümlichen eiweisshältigen Farbstoffes, welcher im normalen Zustande den Inhalt der Blutkörperchen bildet und dem Blute die charakteristische rothe Farbe verleiht. Dieser Nachweis kann nur gelingen, so lange das betreffende Blut seine Löslichkeit in Wasser bewahrt hat, denn das Fehlen dieser ist ein Beweis, dass die betreffende Spur nicht mehr den genuinen Blutfarbstoff, sondern allenfalls nur dessen Derivate, insbesondere das im Wasser unlösliche Hämatin, enthält. Das Hämoglobin kann aber seine Löslichkeit einbüssen, einerseits durch coagulirende Einflüsse, anderseits durch Alter.
Von ersteren ist insbesondere die Einwirkung kochenden Wassers zu erwähnen, die einer Blutspur sofort die Löslichkeit benimmt, aber auch dieselbe auf der Unterlage mehr fixirt, so dass sie weiteren Insulten gegenüber resistenter wird, als einfach eingetrocknetes Blut, welches bekanntlich in diesem Zustande eine[S. 431] spröde, leicht zerreibliche Masse bildet, welche durch Reiben und ähnliche Einwirkungen leicht von der Unterlage weggebracht werden kann. Interessant ist ein von Liman (Virchow’s Archiv. 1886, pag. 395) mitgetheilter Fall, wo die Unlöslichkeit der an einem Sacke befindlichen Flecke durch heisses Bügeln veranlasst worden war. Aus Anlass dieser Beobachtung von Katayama (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLIX) angestellte Untersuchungen ergaben, dass durch eine Stunde auf 120° erhitztes Blut sich in Wasser und Boraxlösung nicht mehr löst, auf 140° erhitztes auch nicht mehr in Cyankaliumlösung, dagegen noch am besten in Natronlauge und in Eisessig, und wie Kratter („Ueber den Werth des Hämatoporphyrinspectrums.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892, IV, 62), sowie Hammerl (Ibid. pag. 44) fanden, in concentrirter Salzsäure, besonders aber, selbst nach Erhitzung bis 210°, in concentrirter Schwefelsäure.
Was das Alter betrifft, so ist es bekannt, mit welcher Leichtigkeit frisches Blut im Wasser sich löst und welche Färbekraft demselben zukommt. Diese Löslichkeit behält eingetrocknetes Blut sehr lange und kann sie selbst Jahre lang bewahren, wenn von demselben die zersetzenden Einflüsse von Luft und Licht ferngehalten wurden. Blieb der Fleck der Luft frei ausgesetzt, so sind es die durch den Sauerstoff und das Ozon der Luft eingeleiteten langsamen Oxydationsvorgänge, vielleicht auch die in der Luft, namentlich in jener der Städte, enthaltenen Säuren (Sorby), insbesondere aber der Einfluss des Lichtes, welche die Löslichkeit der Spur allmälig vermindern und schliesslich ganz aufheben, indem sich das Hämoglobin anfangs unter Abscheidung von „Globulin“ zu noch in Wasser löslichem Methämoglobin und schliesslich zu unlöslichem Hämatin verwandelt. Die Schnelligkeit, mit welcher dies geschieht, hängt theils von der Dicke der betreffenden Blutspur ab, da die genannten Agentien desto rascher die Zersetzung erzeugen werden, je dünner und überhaupt je kleiner die betreffende Blutspur gewesen war, theils von der grösseren oder geringeren Intensität, mit welcher diese Agentien auf die Blutspur einwirken können. Am schnellsten und unseren Erfahrungen zufolge schon in wenigen Wochen, ja wenn derselbe klein war, schon in wenigen Tagen, kann ein Blutfleck unlöslich werden, wenn er dem directen Sonnenlicht ausgesetzt blieb, während unter anderen Umständen doch meistens lange Zeit hierzu erforderlich ist.
Sowohl die durch Coagulation, als die durch Luft- und Lichteinwirkung entstandenen Zersetzungen des Hämoglobins machen sich schon durch Veränderung der ursprünglichen Farbe der Blutspur kenntlich. Diese in verschiedenen Nuancen rothe und namentlich auf lichtem Untergrunde deutlich hervortretende Farbe wird durch Coagulation des Blutroths sofort missfärbig und bleibt es fortan. Durch die Einwirkung von Licht und Luft erhält jede Blutspur sehr bald einen Stich in’s Braunrothe, wird später immer mehr braun, dann graubraun und schliesslich vollkommen grau. Auch diese Farbenveränderungen [S. 432]erfolgen bei Einwirkung directen Sonnenlichtes ungleich rascher, und man kann dies in sehr instructiver Weise demonstriren, wenn man ein Stück in Blut getauchte Leinwand trocknet und nun in der Sonne liegen lässt. Man findet dann nach verhältnissmässig kurzer Zeit die der Sonne zugekehrte Seite der Blutspur grau, während die entgegengesetzte die ursprüngliche Blutfarbe noch fast unverändert zeigt. Bei Bestimmungen des Alters von Blutspuren ist es daher angezeigt, nicht blos den Grad der Löslichkeit und die Farbe derselben, sondern auch alle Momente zu erwägen, welche diese Veränderungen zu beschleunigen oder zu verzögern vermögen. In den meisten Fällen werden trotzdem solche Altersbestimmungen nur approximativ ausfallen können.
Die Untersuchung der aus einer verdächtigen Spur erhaltenen wässerigen Lösung geschieht mit dem Spectralapparat und hat den Zweck, die dem Hämoglobin zukommenden charakteristischen Absorptionserscheinungen zu constatiren. Seitdem Hoppe-Seyler[297] zuerst darauf aufmerksam machte, dass der Blutfarbstoff in eigenthümlicher Weise gewisse Strahlen des Spectrums absorbire, besitzen wir in der Spectralanalyse ein ausgezeichnetes und durch zahllose Beobachtungen bewährtes Mittel zur Erkennung von Blutspuren in forensischen Fällen.
Diese Absorptionserscheinungen bestehen bekanntlich darin, dass, wenn man Blut entsprechend mit Wasser verdünnt und die Lösung zwischen den Spalt eines Spectralapparates und eine Lichtquelle bringt, das violette Ende des normalen Spectrums wie ausgelöscht erscheint und zwei dunkle Absorptionsbänder in Gelb und an der Uebergangsstelle von Gelb in Grün zu bemerken sind, von denen das eine schmälere in Gelb unmittelbar neben der Stelle, wo im Sonnenspectrum die Fraunhofer’sche Linie D sich befindet und zwischen dieser und dem violetten Ende des Spectrums liegt, während das andere, fast noch einmal so breite, aber weniger scharf begrenzte und weniger dunkle an der Uebergangsstelle zwischen Gelb in Grün nahe bei der Fraunhofer’schen Linie E sich befindet (Fig. 74, 1). Dieses Spectrum ist das des sauerstoffhältigen Hämoglobins oder des Oxyhämoglobins.
Diese Absorptionserscheinung ist noch bei starker Verdünnung der Lösung zu bemerken, so zwar, dass ein geübtes Auge die Absorptionsstreifen noch unterscheiden kann, wenn die Lösung makroskopisch kaum mehr gefärbt erscheint. Wird die Verdünnung weiter fortgesetzt, so verschwindet zuerst der Streif im Grün und zuletzt erst der bei der Linie D.
Entzieht man der Lösung den Sauerstoff durch Hinzuthun reducirender Substanzen, wozu gewöhnlich Schwefelammonium benützt wird, so ändert sich das Spectrum, indem die Streifen des Sauerstoff-Hämoglobins gewissermassen zusammenfliessen und schliesslich nur ein einziges breites Absorptionsband zurückbleibt,[S. 433] welches den grössten Theil des Raumes zwischen den Fraunhofer’schen Linien D und E ausfüllt und ziemlich scharf von den übrigen Theilen des Spectrums sich abgrenzt (Fig. 74, 2). Es ist dies das Spectrum des sauerstofffreien Blutroths, des reducirten Hämoglobins, welches sofort in das des Oxyhämoglobins übergeht, wenn man die Lösung mit Luft schüttelt und so dem Sauerstoff wieder Zutritt verschafft.
Dieses spectrale Verhalten des Hämoglobins ist im hohen Grade charakteristisch und genügt für sich allein vollkommen, um einen aus einer verdächtigen Spur erhaltenen Farbstoff als Blut zu bezeichnen. Andere Farbstoffe zeigen entweder keine Absorptionsbänder oder solche, die sich wesentlich von denen des Blutroths unterscheiden. Nur eine ammoniakalische Carminlösung zeigt in starker Verdünnung Absorptionserscheinungen, die jenen des sauerstoffhältigen Hämoglobins gleichen, welche jedoch bei Zusatz von Schwefelammonium sich nicht verändern, ausserdem bei Zusatz von Essigsäure sich erhalten, während, wenn man zu einer Blutlösung diese hinzugibt, die Absorptionsstreifen sofort verschwinden.
Die spectrale Untersuchung unterliegt, wenn nicht zu geringe Mengen des Farbstoffes erhalten wurden, keinen besonderen Schwierigkeiten. Ist die Lösung, die man durch Maceration der Spur mit Wasser erhielt, wie bei älteren Flecken häufig, trüb, so empfiehlt es sich, eine Spur von Ammoniak zuzusetzen, wodurch dieselbe in der Regel sofort aufgehellt wird und auch brillanter roth erscheint.
Sind sehr kleine und wenig Farbstoff abgebende Blutspuren zu untersuchen, so sind entsprechend kleine Gefässe (dünne Röhrchen) mit der Lösung zu füllen und überhaupt bei der Behandlung so kleiner Flecke mit Lösungsmitteln das richtige Verhältniss zwischen der Menge dieser und der zu untersuchenden Substanz zu berücksichtigen. Allzu verdünnte Lösungen sind im Exsiccator einzuengen. Auch der nach dem vollständigen Eintrocknen der Lösung im Uhrglase zurückbleibende Fleck kann unmittelbar oder mit einer Spur von Wasser befeuchtet vor den Spectralapparat gebracht werden, obwohl[S. 434] die Methode sich meist nicht empfiehlt. Bei so geringen Mengen Farbstoffes ist das Mikrospectroskop besonders am Platze, mit welchem noch bei minimalen Mengen von Blut die charakteristischen Absorptionsstreifen erkannt werden können.
Andere als die spectralen Eigenschaften von Hämoglobinlösungen haben nur einen unterstützenden Werth. Hierher gehört der zuerst von Brücke constatirte Dichroismus, der namentlich nach Zusatz von etwas Kalilauge deutlich hervortritt und die z. B. in einem Uhrgläschen befindliche Lösung im reflectirten Lichte grünlich, im durchfallenden roth (meist burgunderroth) erscheinen lässt; ferner der durch Kochen oder durch Säuren, oder durch das Millon’sche Reagens nachweisbare Eiweissgehalt der Lösung, dann die Beständigkeit der Farbe gegen Ammoniak und schliesslich die ozonübertragende Eigenschaft des Hämoglobins. Auf letzterer Eigenschaft beruht die zuerst von van Deen und später auch von Taylor und Liman empfohlene sogenannte Guajacprobe oder Ozonprobe. Sie wird in der Weise vorgenommen, dass man zu einer alkoholischen bis zur weingelben Farbe verdünnten Lösung von Guajacharz, welche bekanntlich durch Ozon blau gefärbt wird und daher ein ausgezeichnetes Ozonreagens darstellt, einige Tropfen ozonisirten (d. h. länger unter nicht luftdichtem Verschluss an der Luft gestandenen) Terpentinöls[298] zusetzt und nun einen Tropfen der zu prüfenden Lösung hinzuträufelt. Wenn dieselbe Hämoglobin enthält, so färbt sich die Guajactinctur blau, indem ersteres die Eigenschaft besitzt, das im Terpentinöl festgehaltene Ozon frei zu machen, so dass es auf das Ozonreagens, die Guajactinctur, wirken kann und dieselbe bläut. Diese Probe ist sehr empfindlich, doch nicht vollkommen beweisend, da ausser dem Hämoglobin noch andere, wenn auch nur wenige Körper, die ozonübertragende Eigenschaft besitzen, wie z. B. der Eisenvitriol, und da es, was noch wichtiger ist, eine Reihe von Körpern gibt, die die Guajactinctur ohne Weiteres zu bläuen vermögen, wie z. B. Eisenchlorid, übermangansaures Kali u. a.
Von den Derivaten des Hämoglobins ist zunächst das Methämoglobin nochmals zu erwähnen, weil dasselbe gewisse spectrale Erscheinungen zeigt, denen wir bei der Untersuchung nicht ganz frischer Blutspuren sehr häufig begegnen. Wenn nämlich ein Blutfleck durch Einwirkung der Luft oder insbesondere des Lichtes seine Farbe bereits merklich in’s Braunrothe verändert hat, was bei günstigen Umständen schon nach 3–10 Tagen geschehen kann, zeigt die daraus erhaltene Lösung einen mehr weniger ausgesprochenen Stich in’s Braune und vor dem Spectralapparat ausser den Oxyhämoglobinbändern noch ein drittes schmales und weniger scharf begrenztes Band in Orange zwischen den Fraunhofer’schen Linien C und D, näher bei C (Fig. 75, 1). Dieses Band ist sehr ähnlich dem sogenannten Säurebande, welches besonders[S. 435] deutlich zu sehen ist, wenn trockenes Blut mit säurehältigem Alkohol behandelt, respective gelöst wird, und wird dem sogenannten Methämoglobin[299] zugeschrieben, einem Zwischenproduct der Umwandlung des Hämoglobins in Hämatin, das sich von letzterem besonders durch seine Löslichkeit im Wasser unterscheidet. Das Auftreten des Methämoglobins und seines Absorptionsbandes geht mit einer mehr weniger ausgesprochenen Trübung der nun zu erhaltenden Lösungen einher. Setzt man aber einen Tropfen Ammoniak zu, so klärt sich die Lösung meist sofort, verändert ihre anfangs braunrothe Farbe in eine mehr rothe und die Oxyhämoglobinstreifen, die gewöhnlich bei der ersten Untersuchung weniger deutlich sich repräsentirten, treten nun sehr schön hervor, während der Streif in Roth (Methämoglobinstreif) verschwindet.
Ein anderes Derivat des Hämoglobins, welches ein sehr charakteristisches spectrales Verhalten zeigt und deshalb zum Nachweis von Blut in verdächtigen, besonders in Wasser bereits unlöslichen Spuren sehr gut benützt werden kann, ist das reducirte Hämatin von Stokes.[300] Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich am besten, die zu untersuchende Substanz mit concentrirter Cyankaliumlösung,[301][S. 436] zu behandeln, und die so erhaltene, meist hellroth, braunroth oder röthlichbraun gefärbte Lösung vor den Spectralapparat zu bringen. Man sieht dann im Spectrum entweder ein deutliches breites Band in Grün, welches dem Bande des reducirten Hämoglobins sehr ähnlich ist, oder blos eine Beschattung dieses Theiles des Spectrums (Fig. 75, 2). Setzt man aber zu der Lösung einen oder einige Tropfen Schwefelammonium hinzu, so bemerkt man, wie sich sofort das breite Absorptionsband in zwei auflöst, welche auf den ersten Blick den Oxyhämoglobinstreifen gleichen, aber von diesen ausser durch ihre Genesis auch durch ihre dem violetten Ende des Spectrums näher gerückte Lage sich unterscheiden (Fig. 75, 3). Letzteres Spectrum kann man auch durch Anwendung concentrirter (32%) Kalilauge allein ohne Anwendung von Reductionsmitteln erhalten, und zwar schneller, wenn man mit Kalilauge kocht, als wenn man diese kalt anwendet. (Rollet, l. c.)
Der Nachweis des reducirten Hämatins auf spectroskopischem Wege, namentlich jener mit Cyankalium, welchem wir den Vorzug geben, ist nicht blos für die Anwesenheit von Blut ebenso beweisend, wie jener des Oxyhämoglobins, sondern gibt, wovon wir uns wiederholt überzeugt haben und betonen müssen, noch Resultate, wenn wegen Kleinheit des Objectes oder bereits in diesem stattgefundenen Zersetzungsprocessen der spectroskopische Nachweis des Sauerstoffhämoglobins nicht mehr gelingt. Bei sehr kleinen Flecken ist es daher rathsam, sofort auf reducirtes Hämatin zu untersuchen.
Den Untersuchungen von Kratter und Hammerl (l. c.) zufolge lässt sich aus verkohltem Blute, welches keine anderen Blutreactionen mehr gibt, durch Behandlung mit concentrirter Schwefelsäure noch das Hämatoporphyrinspectrum (Mulder, Hoppe-Seyler) darstellen. Dasselbe hat eine Aehnlichkeit mit dem Spectrum des Oxyhämoglobins, nur sind die Streifen weiter nach links verschoben, insbesondere der schmälere nach links von der Linie D.
Die isolirte Substanz wird mit 1–5 Ccm. concentrirter Schwefelsäure in einer Eprouvette wiederholt geschüttelt. Färbt sich die Säure schon in den ersten Minuten braungelb, so ist eine störende Beimischung vorhanden, die Säure ist dann abzugiessen und durch eine neue zu ersetzen. Ist das Object Blut, dann quillt dasselbe nach ½–1 Stunde auf, wird mehr weniger transparent und prächtig rothviolett. Meist hat sich auch die Säure zart violett gefärbt und gibt das erwähnte Spectrum, wobei zuerst das rechte breitere und dann das linke Absorptionsband auftritt. Hat sich die Säure nicht genügend gefärbt, dann gibt noch die zwischen 2 Glasplatten zerquetschte, gequollene Substanz das charakteristische Spectrum. Giesst man das in SO3 gelöste Hämatoporphyrin in die 10–20fache Menge destillirten [S. 437]Wassers, so fällt dasselbe in Form rothbrauner Flocken aus. Diese geben gewaschen und mit Alkalien gelöst das Spectrum des alkalischen Hämatoporphyrins, welches aus vier abwechselnd schmalen und breiten Absorptionsbändern besteht.
Eines der für den forensischen Nachweis von Blutspuren wichtigsten Derivate des Hämoglobins ist das Hämin, welches bei entsprechender Behandlung der Spur in Form der ungemein charakteristischen Häminkrystalle erhalten wird, die nach ihrem ersten Entdecker (1853) auch Teichmann’sche Blutkrystalle genannt werden. Diese Krystalle sind nach den Untersuchungen Hoppe-Seyler’s salzsaures Hämatin, für welches der Kürze wegen der Name Hämin allgemein gebräuchlich ist. Sie werden in der Weise dargestellt, dass man eine Partie der von der Unterlage losgelösten Substanz mit höchst concentrirter Essigsäure (sogenanntem Eisessig) unter Zusatz einer Spur Kochsalz in einem Uhrschälchen oder auf einem Objectträger unter dem Deckgläschen vorsichtig aufkocht und die so entstehende braune Lösung abdampft, worauf im Rückstande die Häminkrystalle mikroskopisch nachgewiesen werden können.
Struve (l. c.) empfiehlt die Darstellung der Häminkrystalle mittelst Tanninlösung, wobei er folgendermassen verfährt: Man behandelt den Fleck mit verdünnter Kalilauge, wobei man eine bräunliche Lösung erhält, welche filtrirt und darauf mit Tanninlösung versetzt wird, wodurch die Flüssigkeit sofort eine rothbraune Färbung annimmt. Darauf fällt man mit verdünnter Essigsäure bis zur deutlich sauren Reaction. Mit dem abfiltrirten und getrockneten Niederschlag verfährt man dann wie bei der gewöhnlichen Darstellung der Häminkrystalle.
Die Häminkrystalle finden sich in der Regel in grosser Menge und erscheinen als winzige, entweder vereinzelte (Fig. 76) oder zu Zwillingen und Mehrlingen verbundene (Fig. 77) rhombische Stäbchen, oder, wenn sie nicht vollständig ausgebildet sind, als hanfsamenförmige Krystalle (Fig. 78) von brauner Farbe in verschiedener Nuance. Sie sind unlöslich in Wasser, Aether und Alkohol, schwer löslich in Ammoniak, verdünnter Schwefelsäure und officineller Salpetersäure, leicht löslich in Kalilauge und englischer Schwefelsäure. Im polarisirten Lichte zeigen sie Pleochroismus und erscheinen, wie auch Jaumes hervorhebt, in verdunkeltem Gesichtsfeld wie Sterne leuchtend. Ihre Lösung in Eisessig zeigt Ozon übertragende Eigenschaften.
So leicht die Häminkrystalle in der Regel sich darstellen lassen, so kommt es doch manchmal vor, dass trotz zweifelloser Anwesenheit von Blut die Darstellung derselben nicht gelingt. Nach unseren Erfahrungen scheint es insbesondere die Beimengung fettiger Substanzen zu sein, welche dieselbe verhindert.[302] Wird[S. 438] diese vermuthet, so empfiehlt es sich, die zu untersuchenden Bröckchen früher mit Aether zu behandeln und dann nochmals die Darstellung der Häminkrystalle zu versuchen. Haftet Blut auf eisernen Werkzeugen, so kann auch die Rostbildung die Gewinnung der Krystalle erschweren und selbst ganz verhindern. Dagegen lassen sich dieselben aus durch siedendes Wasser u. dergl. für Wasser unlöslich gewordenen Blutspuren ganz gut darstellen.
Auch aus bis 140° und selbst darüber erhitzten Blutspuren konnten Katayama (l. c.) und Misuraca (Virchow’s Jahresb. 1889, I) noch Häminkrystalle gewinnen. Da in einem solchen Falle das coagulirte Blut fest an der Unterlage haftet, so kann man den Fleck sammt dieser mit Eisessig behandeln und so das Hämatin daraus gewinnen, was namentlich dann thunlich ist, wenn der Fleck auf Leinwand oder einem Stoffe sitzt, der durch Essigsäure nicht entfärbt wird. Höheres Alter der Spur hindert für sich allein die Gewinnung der Häminkrystalle nicht und wir haben solche noch aus Blutspuren dargestellt, die 5–6 Jahre alt und noch älter gewesen sind. Auch faules oder faul gewesenes und dann eingetrocknetes Blut gestattet diese Darstellung. Struve fand, dass Schimmelbildung die Darstellung von Häminkrystallen beeinträchtigt.
Die Darstellung der Hämoglobinkrystalle aus Blutspuren, welche auch zur Erkennung der Blutart höchst wichtig wäre, bietet noch viele Schwierigkeiten. Misuraca (l. c.) empfiehlt zu diesem [S. 439]Zwecke das langsame Eintrocknen eines Tropfens der mit einer Spur Ammoniak oder Kochsalz versetzten Blutlösung unter einem Deckgläschen. Moncton Copemann (Brit. med. Journ. 1889, July 27) bemerkt, dass sich die Hämoglobinkrystalle ausser durch ihre Form auch dadurch unterscheiden, dass die menschlichen nur aus reducirtem, die der Säugethiere, mit Ausnahme der Affen, nur aus Oxyhämoglobin bestehen. Er behandelt das frische oder mit etwas Wasser gelöste Blut mit bereits etwas zersetztem Blutserum oder Pericardialflüssigkeit oder mit Galle oder Aether und lässt dann einen Tropfen auf einer Glasplatte eintrocknen, nachdem derselbe im Beginne der Eintrocknung mit einem Deckgläschen bedeckt worden ist.
Die Erfahrung lehrt, dass alle möglichen röthlich oder braunröthlich gefärbten Flecke gelegenheitlich für Blutspuren gehalten werden können, so von Farben, insbesondere von Fruchtsäften oder Fruchtfleisch herrührende Flecken, sowie Rostflecke. Wiederholt erwiesen sich auf Holzprügeln oder dergleichen gefundene rothbraune Flecke als Rinden- (Bast-)reste. An den Kleidern eines aus dem Wasser gezogenen Mannes fanden sich ausser „Hautaufschürfungen“ im Gesichte, besonders am Mund und am Vorderhals zerstreute, wie Blutstropfen aussehende und auch als solche gedeutete Flecke. Die Obduction ergab Schwefelsäurevergiftung. Von der Säure rührten sowohl die „Hautaufschürfungen“ als die Flecke an den Kleidern her. Auch von Tabaksaft und sogar von Versengung herrührende Flecke wurden uns als blutverdächtig übergeben. Schliesslich können von Wanzen, Flöhen, Läusen oder Fliegen herrührende Flecke für Blutspuren gehalten werden. Dies ist um so wichtiger, als solche Spuren in der Regel die Blutreaction ergeben. Dass die Excremente solcher blutsaugenden Insecten Blut theils im zersetzten, theils im unzersetzten Zustande enthalten, ist lange bekannt und selbstverständlich. Insbesondere erwähnt schon A. Schauenstein in der zweiten Auflage seines Lehrbuches d. gerichtl. Med. 1875, pag. 484, dass man aus diesen Excrementen „stets Häminkrystalle, meist auch Blutzellen deutlich gewinnen kann“. Vor Kurzem hat Janeček[303] darauf aufmerksam gemacht, dass sich aus Excrementen von Fliegen leicht Häminkrystalle darstellen lassen und auch bei Behandlung mit der von uns empfohlenen Cyankaliumlösung (pag. 435), das Hämatinspectrum. Es ist dieses begreiflich, da die Fliegen sehr gewöhnlich Blut oder bluthältige Stoffe verzehren. Beachtenswerth ist diese Thatsache gewiss, eine Nichtbeachtung oder Verkennung derselben jedoch, bei den bekannten äusseren Eigenschaften solcher Excrementenflecke und bei gleichzeitiger und sich ergänzender mikroskopischer und chemischer Untersuchung durch gewiegte Sachverständige, kaum zu befürchten. Nicht selten sind in diesen Spuren Eier und Bruchstücke der betreffenden Thiere nachweisbar. Schöfer (Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 35) hatte eine Blutspur zu untersuchen, von welcher der [S. 440]des Mordes Angeklagte behauptete, dass sie von einer zerdrückten Wanze herrühre. Die Häminprobe ergab ein positives Resultat, auch liessen sich rothe, den menschlichen ähnliche Blutkörperchen nachweisen, aber auch Bruchstücke von Tracheen und Borsten, wie sie thatsächlich bei Wanzen vorkommen, so dass erklärt werden musste, dass die Spur thatsächlich von einer zerdrückten Wanze herrühren konnte, umsomehr, als auch ihre Form einer solchen Provenienz entsprach. In dem Halstheil eines von Läusen besudelten Hemdes konnte Schöfer Hämin- und Harnsäurekrystalle, hakenförmige Reste der Fresswerkzeuge und den Kleiderläusen eigenthümliche Borsten nachweisen.
Die Untersuchung von Haaren kann unter Umständen für den Verlauf eines Criminalfalles, insbesondere für die Eruirung des Thäters, eine ebenso hohe Bedeutung erlangen, wie jene von Blutspuren, namentlich dann, wenn sich auf verletzenden Werkzeugen, welche einem des Mordes verdächtigen Individuum gehören, Haare finden.
Eine Reihe derartiger Fälle hat Oesterlen („Das menschliche Haar und seine gerichtsärztliche Bedeutung.“ 1874, und Maschka’s Handb. der gerichtl. Med., pag. 511) gesammelt. Darunter befindet sich der Fall von Lender, betreffend einen an sechs Personen begangenen Raubmord, wo es gelang, aus Haaren, die an mehreren meilenweit vom Orte der That in einer Höhle verborgenen Beilen anklebend gefunden wurden, den Beweis zu liefern, dass mit diesen die blutige That begangen worden ist; ferner der Fall von Lassaigne, in welchem der Nachweis, dass ein Mann nicht im Walde durch Räuber, sondern in seinem eigenen Hause ermordet und dessen Leiche erst dann verschleppt wurde, dadurch hergestellt werden konnte, dass man bei der Untersuchung des Hauses an einem Thürpfosten einen blutigen Gewebsfetzen fand, in welchem Haare eingebettet waren, die als dem Verstorbenen angehörend erkannt wurden. Wir selbst hatten Gelegenheit, ein Handtuch zu untersuchen, welches bei einem Individuum gefunden wurde, das im Verdachte stand, einen Hausgenossen erwürgt zu haben und welches in seinem oberen Theile Blutspuren ergab, welche deutlich den Abdruck einer blutigen Hand zeigten, die an diesem Handtuche abgewischt worden war. In zweien jener nach aufwärts abgerundeten Flecke, welche den Abdruck der Fingerkuppen darstellten, fand sich je ein schwarzes, geronnenem Blute ähnliches Klümpchen, welches bei näherer Untersuchung sich als ein Epidermisfetzen erwies, in welchem noch jene zarte Härchen nachweisbar waren, welche in der Haut zu sitzen pflegen. Da die Haut am Halse des Erwürgten vielfach zerkratzt war und die Nägel des Angeklagten die Fingerspitzen überragten und hart waren, so lag die Deutung nahe, dass jene Epidermisreste mit den darin steckenden Härchen vom Halse des Ermordeten herrührten, beziehungsweise [S. 441]dem Mörder hinter den Nägeln stecken blieben und beim Abwischen der Hände auf das Handtuch kamen, ein Umstand, der wesentlich dazu beitrug, den Angeklagten der That zu überführen. (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. N. F. XIX, pag. 89.)
Kommen Haare zur gerichtsärztlichen Untersuchung, so handelt es sich zunächst um Beantwortung der Frage, ob Menschen- oder Thierhaare vorliegen? Denn es ist begreiflich, dass, wenn die betreffenden Haare als Menschenhaare erkannt werden, dadurch ein ebenso gravirendes Moment geliefert wird, wie im Gegentheil ein entlastendes, wenn diese sich als von einem Thiere herrührend herausstellen.
Ollivier (Oesterlen, l. c. 6) führte 1838 vor Gericht den Beweis, dass Haare an dem Beile eines des Mordes Verdächtigen keine Menschenhaare, sondern Thierhaare waren; dagegen wurden in einem anderen Falle an einem Hammer klebende Haare als Menschenhaare erkannt, obgleich man sie anfangs, da der Hammer auf einem Ziegenfell gelegen war, für Ziegenhaare gehalten hatte. — In einem Nothzuchtsfalle wurden uns zwei Haare übergeben, die die Mutter des angeblich genothzüchtigten Kindes am Hemde desselben gefunden hatte und für die Schamhaare des Mannes hielt, während sich dieselben bei der mikroskopischen Untersuchung als Thierhaare, höchst wahrscheinlich Hundshaare, herausstellten. — Unlängst wurde uns eine Hacke eingesendet, um zu constatiren, ob die daran befindlichen Flecken von Menschen- oder von Hasenblut herrühren. Der eines Mordversuches Beschuldigte hatte nämlich angegeben, er habe auf dem Felde einen todten Hasen gefunden und denselben, nachdem er den Balg abgezogen, mit der Hacke zerstückt, wobei die Blutflecke entstanden. Die mikroskopische Untersuchung ergab Blutkörperchen, die entschieden kleiner waren, als die menschlichen, so dass die Möglichkeit zugegeben werden musste, dass die Blutspuren von Hasenblut herrühren können. Entscheidend wäre aber erst das Auffinden der charakteristischen Hasenhaare an der Hacke gewesen, die sich aber trotz sorgfältiger Nachschau nirgends ergaben.
Unterziehen wir ein menschliches Haar (Kopfhaar) der mikroskopischen Untersuchung, so sind wir in der Regel im Stande, am Haarschaft drei Schichten zu unterscheiden: die Cuticula, die Rindensubstanz und die Marksubstanz. Die Cuticula oder das Oberhäutchen wird gebildet durch dachziegelförmig übereinanderliegende, äusserst feine Epidermisschuppen, welche, wenn sie mit ihren Spitzen etwas vom Schafte abstehen, diesem ein etwas gezähntes Aussehen geben. Da die Schuppen mit ihren abgerundeten Spitzen alle gegen das freie Ende des Haares gerichtet sind, so besitzen wir darin einen ausgezeichneten Anhaltspunkt, um vorkommenden Falles das periphere Ende eines Haares vom centralen zu unterscheiden. Die Rinden- oder Corticalsubstanz bildet die Haupt- und häufig die einzige Masse des menschlichen Haarschaftes. Sie besteht aus einem System langgestreckter, innig vereinter Hornzellen, die dem Haarschaft ein der Länge nach gestricheltes[S. 442] Aussehen geben, und zeigt je nach dem individuellen Colorit des betreffenden Haares eine verschiedene diffuse und meist gleichmässige Färbung, ausserdem besonders bei trockenen Haaren verschiedene Spalträume, die mit Luft gefüllt sind. Die Marksubstanz präsentirt sich, wenn gut entwickelt, entweder ohne weiters oder nach Behandlung mit aufhellenden Mitteln, wozu sich insbesondere verdünnte Salpetersäure eignet, als dunkler, ⅕–¼ der ganzen Haarbreite einnehmender, in der Regel aber ungleich dicker und mehr weniger unterbrochener Axenstrang, der meist vollkommen central gelegen ist. Die Marksubstanz bildet keinen constanten Bestandtheil des Haarschaftes, vielmehr fehlt sie ungemein häufig oder ist nur partiell entwickelt. Das Verhältniss der markhältigen zu den marklosen Haaren ist bei verschiedenen Individuen ein verschiedenes. Wie es scheint, überwiegen bei dunklen Haaren die markhältigen, während bei blonden das Umgekehrte der Fall ist. Constant fehlt die Marksubstanz bei den Wollhaaren und wahrscheinlich bei allen Haaren, die das neugeborene Kind zur Welt bringt.[304] Die Marksubstanz besteht aus winzigen Zellen, die an älteren Haaren Luft enthalten, wodurch dieselbe ein feinkörniges Aussehen und jene dunkle Farbe erhält, die man bis in die neueste Zeit irrthümlich als von Pigment herrührend gehalten, und davon die jeweilige Farbe des betreffenden Haares abgeleitet hat, während letztere nur durch die diffuse Pigmentirung der Rindensubstanz veranlasst wird.
Bei den Thierhaaren[305] begegnen wir im Allgemeinen denselben drei Schichten, die den menschlichen Haarschaft zusammensetzen; dieselben zeigen jedoch in ihrem Verhalten solche Unterschiede, dass es in der Regel gelingt, ein Thierhaar sofort als solches zu erkennen. Schon die Cuticula zeigt insofern Verschiedenheiten, als sie bei den meisten Thierhaaren in Folge ihrer absolut und relativ grösseren Zellen weit deutlicher hervortritt und der Oberfläche des Haares ein mitunter charakteristisches Aussehen verleiht, wie z. B. insbesondere die Schafwolle durch die grossen Zellen der Cuticula und die dadurch auffallend wellenförmige Zeichnung ihrer Oberfläche leicht zu erkennen ist (Fig. 79, 4 und 5). Bei gewissen Thierhaaren stehen die Spitzen der Cuticulaschuppen stark vom Haarschaft ab und geben dadurch dem Haare ein auffallend gezähntes oder sägeförmiges und selbst, wie u. A. bei den Fledermäusen, ein gefiedertes Aussehen (Fig. 79, 2).
Was die anderen Theile des Haarschaftes betrifft, so fällt zunächst das, jenem beim Menschenhaare ganz entgegengesetzte[S. 443] Massenverhältniss zwischen Rinden- und Marksubstanz in die Augen. Während beim menschlichen Haar die Corticalsubstanz die Hauptmasse des Haarschaftes bildet und die Marksubstanz nur einen dünnen, häufig gänzlich oder theilweise fehlenden Axenstrang darstellt, sehen wir bei den Thierhaaren als Regel, dass die grösste Masse des Haarschaftes von der ungewöhnlich breiten Marksubstanz eingenommen wird, während die Rindensubstanz nur eine dünne Schichte bildet und häufig sich auf einen saumartigen, meist wie hyalinen Streifen reducirt. Die Prävalenz des Markes zeigt sich besonders am eigentlichen Haarschaft, während gegen die Spitze zu die Rindensubstanz in dem Masse vorwiegt, als die Marksubstanz sich verdünnt und schliesslich noch vor dem Haarende vollkommen verschwindet.
Charakteristisch ist ferner der Bau der Marksubstanz. Während beim menschlichen Haar die zellige Structur derselben so undeutlich hervortritt, dass bis in die neuere Zeit darüber gestritten wurde, ob sie überhaupt eine solche besässe, sehen wir beim Thierhaare die Zellenstructur in so ausgesprochener Weise entwickelt, dass sie sofort und schon bei Anwendung schwacher Vergrösserungen sich bemerkbar macht und dem betreffenden Haare ein desto eigenthümlicheres Aussehen verleiht, je mehr die Rindensubstanz zurücktritt. Wir finden bald runde oder ovale, bald polygonale Zellen, und, indem häufig einzelne derselben lufthältig sind, andere nicht, erhält die Marksubstanz ein scheckiges Aussehen. Manche Haare zeigen eine sehr zierliche reihenförmige Anordnung der dann meist polygonalen Markzellen und wir begegnen dann in den dünnen, sogenannten Flaumhaaren oft nur einer einzigen, meist rosenkranzförmig angeordneten solchen Zellenreihe, während in den dickeren Haaren mehrere Längsreihen die Marksubstanz bilden und dabei häufig[S. 444] einen spiraligen Verlauf zeigen, wie z. B. beim Kaninchen, Hasen u. dergl. Dieses Verhalten der Marksubstanz ist bei verschiedenen Thieren verschieden und gestattet nicht blos ein Thierhaar als solches zu erkennen, sondern auch bei einiger Uebung die Thierclasse zu bestimmen, von der es herrührt (Fig. 79 und 80).
Doch gilt dies, wie auch neuestens Jaumes (l. c.) bestätigt, nicht unbedingt und ausnahmslos; es gibt vielmehr Thierhaare, welche ein gleiches oder wenigstens ähnliches Verhalten zeigen können, wie die Menschenhaare. Allerdings gibt es kein Thier, dessen Haare sämmtlich oder auch nur vorwaltend jenen des Menschen gleichen würden, da sich bei allen Thieren, selbst bei den dem Menschen am nächsten stehenden, z. B. den Affen, der beschriebene Thiertypus als Regel findet; wohl können aber einzelne Haare eines Thieres ein von diesem Typus abweichendes oder jenem des menschlichen Haares ähnliches Aussehen zeigen. Eine solche Aehnlichkeit kann besonders durch das Fehlen der Marksubstanz bewirkt werden. Letzteres kommt nämlich, freilich durchaus nicht so häufig als beim Menschen, auch bei Thieren vor, und damit fehlt eben der vorzugsweise charakteristische Theil des Haarschaftes, so dass die Unterscheidung desto schwieriger werden kann, je ähnlicher die Corticalsubstanz und die Cuticula jener sind, die wir am Menschenhaare finden. Namentlich sind es Hundehaare, die häufiger als andere Thierhaare eine mitunter auffallende Aehnlichkeit mit Menschenhaaren zeigen. Glücklicherweise sind es, wie gesagt, immer nur einzelne Haare, die sich so verhalten, so dass, wenn mehrere zur Untersuchung gelangen und keines den Thiertypus zeigt, mit Beruhigung erklärt werden kann, dass dieselben nicht von einem Thiere herstammen. Da auch bei Thieren die Marksubstanz nur partiell fehlen kann, was wieder namentlich[S. 445] beim Hundehaare vorkommt, so ist jedesmal das betreffende Haar seiner ganzen Länge nach, besonders unter Zusatz von verdünnter Salpetersäure, zu untersuchen, wobei es doch gelingen kann, an einzelnen Stellen dieselbe zu treffen und ihr Verhalten für die Diagnose zu benützen.
Wurden in einem gerichtlichen Falle die vorgelegten Haare als Menschenhaare erkannt, so entsteht die weitere Frage: von wem stammen die Haare und von welcher Stelle des Körpers. Der erste Theil der Frage verlangt eine Vergleichung der vorgelegten Haare mit jenen der betreffenden Person, eine Vergleichung, die sich natürlich nicht blos auf das makroskopische Verhalten derselben, sondern auch auf die mikroskopischen Eigenschaften wird erstrecken müssen.[306]
Was die Stelle betrifft, von welcher die Haare stammen, so kommen vorzugsweise Kopfhaare, Bart- und Schamhaare in Betracht, seltener andere, am menschlichen Körper vorkommende Haare, wie z. B. in unserem oben erwähnten Falle. Zur Unterscheidung ist die Länge des Haares, die Stärke, Form und die Beschaffenheit des freien Endes desselben zu berücksichtigen. Bezüglich der Länge ist es bekannt, dass die Kopf- und Barthaare im Längenwachsthum weniger beschränkt sind, als die Haare an anderen Körperstellen. Durch ihre grössere Länge lassen sich demnach in der Regel die erstgenannten Haare von den anderen unterscheiden und es sind namentlich die Frauenkopfhaare durch ihre bedeutende Länge meist sofort als solche zu erkennen. Die Stärke der Haare bietet nicht selten wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, was für Haare vorliegen. Am stärksten sind im Allgemeinen die Barthaare, welche 0·14–0·15 Mm. im Querdurchmesser betragen. Dann kommen die weiblichen Schamhaare mit 0·15 Mm., ferner die Augenwimpern mit 0·12, die männlichen Schamhaare mit O·11, schliesslich die männlichen und weiblichen Kopfhaare mit 0·08 und 0·06 Mm. durchschnittlicher Dicke. Doch unterliegt bekanntlich die Stärke der Haare ungemeinen individuellen Unterschieden, welche die Verwerthung der angegebenen Maasse sehr erschweren. Von diesen sind die Altersunterschiede die wichtigsten, da, wie bekannt, die Haare bei Neugeborenen ungleich dünner und zarter sind als die älterer Kinder und diese wieder dünner als jene von Erwachsenen. Ueberdies ist nicht zu vergessen, dass ein und dasselbe[S. 446] Haar verschiedene Querdurchmesser bieten kann, einestheils, indem es sich gegen die Spitze, mitunter auch gegen die Wurzel zu verschmälert, anderseits, weil viele Haare keine vollkommen cylindrische oder vielmehr conische Form besitzen. Ausgeprägt cylindrische Form bietet noch am häufigsten das Kopfhaar, die jedoch schon bei krausen Haaren in die plattgedrückte übergeht, so dass man statt runder ovale Querdurchschnitte erhält. Die Barthaare geben in der Regel dreieckige, die Schamhaare meist ovale Querdurchschnitte, obgleich verschiedene Uebergangsformen vorkommen.
Behufs Beantwortung gegenwärtiger Frage muss auch das Verhalten des freien Endes der betreffenden Haare untersucht werden. Normal endigt jedes menschliche Haar in eine Spitze. Sämmtliche Haare der Neugeborenen, sowie die in der Pubertätsperiode neu hervorsprossenden und überhaupt alle Haare, die in ihrem natürlichen Wachsthum durch keine Insulte gestört wurden, zeigen das spitze Ende, ein Umstand, der, zusammengehalten mit den Durchmessern des Haarschaftes, auch gestatten kann, annäherungsweise das Alter des Individuums zu bestimmen, von welchem die betreffenden Haare herrühren. Diese ursprüngliche Endigung der Haare wird im Laufe der Zeit vielfach verändert, so dass sie sich bei Erwachsenen ungemein selten findet. Die Veränderung geschieht beim Kopf- und Barthaar in der Regel frühzeitig durch das übliche Verschneiden. Die verschnittenen Haare zeigen an ihren Enden anfangs scharfe quere Trennungen, später runden sich die Contouren der Trennung vom Rand aus ab und das Haar bietet nach einiger Zeit entweder ein abgerundetes oder, wenn das Verschneiden lange ausgesetzt wurde, ein ausgefasertes Ende, ein Verhalten, das eventuell für die Bestimmung der Zeit verwerthet werden könnte, welche seit der letzten Verschneidung verflossen ist.
Abgesehen von dem Verschneiden wird die ursprüngliche Endigung der meisten Haare theils durch mechanische Insulte, theils durch die Einwirkung von Schmutz und ähnlichen Agentien verändert. Wiederholte mechanische Insulte, die das Haar getroffen haben, äussern sich als Ausfaserung oder als Abschleifung des[S. 447] freien Haarendes. Die Folgen ersterer Art sehen wir in exquisiter Weise an den freien Enden der Frauenkopfhaare (Fig. 81), die in der Regel nie oder nur sehr selten beschnitten werden. Schon makroskopisch lässt sich die Ausfaserung bemerken und noch deutlicher präsentirt sie sich unter dem Mikroskop. Die Abschleifung des Haarendes bemerken wir vorzugsweise an gewissen kurzen Haaren, die an Hautstellen sitzen, welche in Folge der Kleidung beständiger Reibung ausgesetzt sind, so an den Haaren der Extremitäten, welche in Folge dieser Usur eine mehr weniger abgerundete, meist keulenförmige Spitze zeigen (Fig. 82). Der Schweiss wirkt durch Maceration und Auflösung der Bindesubstanz der Hornfasern. Wir finden aus diesem Grunde Haare, welche an Stellen sitzen, die stark schwitzen und wo sich überdies meist noch die beständige Reibung geltend macht, wie z. B. in der Achselgegend, am After und an den Genitalien, nicht blos vielfach zerfasert und abgewetzt, sondern häufig gequollen und mit Schweisssedimenten wie incrustirt, die, indem sie sich zwischen die ausgefaserten Enden des Haarschaftes festsetzen, letzteren ein keulen- oder kolbenförmiges Aussehen verleihen, durchaus Befunde, die geeignet sind, auf die Provenienz vorgelegter Haare einen mehr weniger sicheren Schluss zu gestatten.
Entsteht die Frage, ob Haare ausgefallen oder ausgerissen wurden, so ist insbesondere das Verhalten der Haarwurzeln zu untersuchen. Ein sammt der Wurzel ausgerissenes gesundes Haar zeigt in der Regel eine nach unten offene, feuchte, kolbige Wurzel mit mehr weniger beträchtlichen Resten des Haarbalges, während ausgefallene Haare eine unten geschlossene, glatte, trockene atrophische Wurzel besitzen. Bei einzelnen Haaren kann die Untersuchung schwieriger sein, leicht ist sie, wenn ganze Haarbüschel als angeblich ausgerissen präsentirt werden, weil dann zahlreiche Wurzeln vorliegen und ihr Verhalten in der angegebenen Richtung geprüft werden kann. In den meisten der vorgekommenen Fälle (Maschka, Casper) wurden ausgekämmte Haare als ausgerissene Haarbüschel vorgelegt, jedoch als erstere sowohl bei der Besichtigung der Haare selbst, als des betreffenden Haarbodens erkannt.[307]
Von anderen Objecten, deren Untersuchung und Constatirung theils zur Eruirung des Thäters, theils zur Aufklärung gewisser [S. 448]Umstände der That beizutragen im Stande ist, wollen wir hier nur noch die Untersuchung verschiedener künstlicher Gewebe und die von Gehirnsubstanz erwähnen, aber bezüglich der, auch für die Bestimmung der Todesart wichtigen Untersuchungen von Meconium, Fruchtwasserbestandtheilen, sowie von Cloakeninhalt auf die Besprechung des Kindesmordes verweisen, woselbst diese nähere Behandlung finden sollen.
Die Untersuchung künstlicher Gewebe und Gewebsfasern reiht sich in vielen Beziehungen an die Untersuchung der Haare an, da eine grosse Zahl solcher Gewebe, wie insbesondere Kleiderstoffe, aus Thierhaaren verfertigt werden. Wie wichtig die Constatirung solcher Gewebe in einzelnen strafgerichtlichen Fällen werden kann, beweisen zwei von Taylor (l. c. I, 490 und 513) mitgetheilte Fälle. In dem einen wurde bei einem Manne, der im Verdachte stand, ein Weib durch Halsabschneiden umgebracht zu haben, ein Taschenmesser saisirt, an welchem nicht blos zwischen dessen Schalen eingetrocknetes Blut, sondern in diesem eingebettet noch einzelne rothbraun gefärbte Fasern sich fanden, welche sich als gefärbte Schafwolle und in ihrem makro- und mikroskopischen Verhalten sich als identisch erwiesen mit den Gewebsfasern einer Wolljacke, die die Ermordete getragen hatte. — In einem zweiten Falle wurde ein Mann, den man zwei Stunden früher in ein Haus gehen gesehen hatte, in der Nähe desselben auf den Schienen einer Bahn liegend als Leiche gefunden, mit eclatanten Zeichen des Erwürgungstodes und Blutaustritt aus Mund und Nase, ohne Hut. Bei der Untersuchung des verdächtigen Hauses fand man Blutspuren und unter anderen einen eisernen Rechen, an welchem die Reste eines offenbar angebrannten Gewebes sassen. Unter dem Mikroskope erwies sich dieses als ein Stückchen eines Filzes aus Hasenhaaren, die mit Schellack verklebt waren, welches, wie der Vergleich und die weiteren Nachforschungen ergaben, von dem bei der Leiche nicht gefundenen Hute des Ermordeten herrührte, welchen die Thäter verbrannt hatten.
Schafwolle und andere zu Geweben verarbeitete Thierhaare werden sich als solche leicht erkennen lassen, wie schon oben angeführt wurde. Baumwollfasern präsentiren sich unter dem Mikroskope als etwas spiralig gewundene flache Bänder mit doppelten Contouren, Leinenfasern als durch Internodien abgetheilte, solide, meist ausgefranzte Fasern und Seide in gleichmässig cylindrischen, nirgends unterbrochenen soliden und structurlosen Fäden. Die meisten dieser Gewebe sind künstlich gefärbt und ihre Fasern treten daher bei der mikroskopischen Untersuchung noch deutlicher hervor.
Wie wichtig die Constatirung von Hirnsubstanz an verletzenden Werkzeugen werden kann, zeigt folgender, uns vor einigen Jahren vorgekommener Fall. Bei einer zwischen mehreren Personen entstandenen Rauferei, wobei mehrere derselben Messer gezogen hatten, erhielt der eine der Raufenden drei Messerstiche in den Kopf und blieb todt am Platze. Bei der Obduction fand ich eine Stichwunde über dem rechten Stirnhöcker, welche zwischen Kopfhaut und [S. 449]Knochen auf 4 Cm. eingedrungen war, ohne die Schädelknochen zu verletzen, weiter eine Stichwunde vor dem linken Scheitelhöcker, welche die weichen Schädeldecken und das Schädeldach bis auf die unverletzte Dura mater durchdrungen und in ersterem die abgebrochene Messerspitze zurückgelassen hatte und 3 Cm. hinter dieser eine dritte Stichwunde, von welcher ein Stichcanal senkrecht durch die weichen Schädeldecken, durch den Knochen und die Hirnhäute, sowie durch den Scheitellappen des Gehirns in die linke seitliche Hirnkammer sich verfolgen liess, woselbst er noch auf 2 Cm. in den Boden derselben eingedrungen war. Die Stichöffnung im Knochen lief nach beiden Enden zu in je eine, mehrere Centimeter lange Fissur aus und war mit hervorgequollener Hirnsubstanz ausgefüllt. Gleich nach der Rauferei wurde am Thatorte ein geöffnetes grösseres Taschenmesser und eine kurze Brotklinge eines anderen Messers, jedoch ohne Heft, gefunden. Letztere war blank und hatte eine wohlerhaltene Spitze und eine scharfe Schneide. Von der Klinge des ersteren jedoch war die Spitze frisch abgebrochen und das Bruchende passte genau zu dem der im Schädel stecken gebliebenen Messerspitze. Ferner zeigte das Messer angetrocknete Blutspuren, die als solche mikroskopisch und chemisch erkannt wurden. Ausserdem liess sich aber an der einen Fläche der Klinge nahe der Schneide in geringer Entfernung von der abgebrochenen Spitze ein schmaler Streifen einer wie erstarrtes Fett aussehenden Substanz nachweisen, und als diese unter dem Mikroskope untersucht wurde, liessen sich in derselben Ganglienzellen, zarte Capillaren und feine Arterienzweigchen in einer feinkörnigen Zwischensubstanz erkennen, so dass kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass Hirnsubstanz vorlag, ein Befund, der für sich allein und zusammengehalten mit den Blutspuren mit Sicherheit den Schluss gestattete, dass die tödtliche Stichwunde mit diesem Messer zugefügt worden sei. Da ferner auch die im Schädelknochen steckende Messerspitze zu diesem Messer gehörte, somit auch diese Wunde von letzterem herrührte, und weil nicht anzunehmen war, dass die bis in das Gehirn eingedrungene Wunde mit einem Messer, dessen Spitze abgebrochen war, erzeugt worden sein konnte, so wurde das Gutachten dahin abgegeben, dass mit dem betreffenden Messer zuerst die tödtliche und hierauf erst diejenige Wunde beigebracht wurde, in welcher die Messerspitze stecken geblieben war.
Verletzungen nach ihrem Sitze.
Es erübrigt noch, die Verletzungen nach ihrem Sitze zu besprechen, da wir so Gelegenheit haben werden, einige für den Gerichtsarzt wichtige Punkte zu berühren, zu deren Behandlung sich bisher keine Gelegenheit ergab. Wir gedenken in anatomischer Ordnung vorzugehen und zuerst die Kopfverletzungen, dann die Verletzungen des Halses, der Brust, des Unterleibes und der Genitalien und schliesslich die der Extremitäten in ihren gerichtsärztlichen Beziehungen zu besprechen.
[S. 450]
Die Kopfverletzungen bilden gewiss die häufigsten zur forensischen Untersuchung gelangenden Verletzungen. Der Grund hiervon liegt einestheils in der exponirten Lage des Kopfes, zufolge welcher derselbe leichter von gewissen Gewalten getroffen wird als andere Organe, weiter in der Fragilität der knöchernen Schädelkapsel, sowie in der grossen Empfindlichkeit des Gehirns und anderer am Kopfe gelegenen Organe gegen Traumen, endlich aber auch in dem Umstande, dass der Kopf eben der bekannten Lebenswichtigkeit seiner Organe wegen häufiger der Zielpunkt gewaltsamer Angriffe wird als andere Körpertheile.
Wir unterscheiden die Verletzungen des Schädels und die Verletzungen des Gesichtes und der daselbst befindlichen Organe.
Bei der forensischen Beurtheilung der Schädelverletzungen ist ebenso wie bei der chirurgischen zunächst im Auge zu behalten, dass die Bedeutung jeder Kopfverletzung von dem Grade abhängt, in welchem dabei das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde; denn von der Mitleidenschaft des Gehirns hängt nicht blos der Verlauf einer Schädelverletzung ab, sondern auch die Erscheinungen, welche unmittelbar nach der Zufügung derselben auftreten, und es ist jedem Praktiker bekannt, dass eben diese ersten Erscheinungen häufig in foro Gegenstand der Frage werden, theils indem es sich darum handelt, zu beurtheilen, ob Jemand, nachdem er die betreffende Verletzung erhalten hatte, noch im Stande war, weiter zu gehen, gewisse Handlungen vorzunehmen, oder aber sofort zusammenstürzen musste, theils indem es sich frägt, wie bald nach zugefügter Verletzung der Tod eingetreten sein musste, oder indem in anderen Fällen die Erklärung verlangt wird, warum in einem concreten Falle die schweren Erscheinungen nicht sofort, sondern erst nachträglich und oft längere Zeit danach eingetreten sind.
Es ist in dieser Beziehung zu beachten, dass, wenn überhaupt bei einer Kopfverletzung das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wird, die Natur und Intensität der durch letztere hervorgerufenen unmittelbaren Erscheinungen durch drei Momente bedingt werden kann, erstens durch die Verletzung (Zusammenhangstrennung) der Hirnsubstanz selbst, resp. einzelner Hirntheile, zweitens durch die Hirnerschütterung und drittens durch den Druck, welcher auf die Gehirnoberfläche durch das aus den durchtrennten Meningealgefässen austretende Blut ausgeübt wird. Für die Anfangssymptome einer Schädelverletzung sind im Allgemeinen die zwei letztgenannten Momente von grösserer Bedeutung als die Zusammenhangstrennung des Gehirns selbst, wenn diese nicht ausgedehnte Gebiete der Hirnrinde oder der Stabkranzfasern oder wichtige motorische Centra oder Bahnen (Linsenkern, Streifenhügel, Hirnschenkel etc.) betraf. So erklärt sich, warum verhältnissmässig häufig Leute, die Messerstiche in den Kopf erhielten, unmittelbar nach dem Stiche nur geringfügige Erscheinungen darbieten, dieselben nicht weiter beachten, obgleich mitunter die abgebrochene[S. 451] Klinge im Gehirne stecken geblieben ist[308], ebenso wird es uns aber verständlich, warum Individuen nach einem gegen den Kopf erhaltenen Schlage bewusstlos zusammenstürzen, aber nach verhältnissmässig kurzer Zeit sich wieder erholen und entweder keine weiteren Erscheinungen einer Störung der Hirnfunctionen darbieten oder erst nachträglich solche zeigen können. Letzteres kann auch nach bedeutenden, insbesondere nach mit Schädelbrüchen verbundenen Verletzungen geschehen und die Literatur enthält eine ansehnliche Zahl von Fällen, in welchen derartige Verletzte anfangs gar nicht oder nur vorübergehend das Bewusstsein verloren und dann noch gewisse, selbst complicirte Handlungen mitunter überraschend lange zu verrichten im Stande waren. Die meisten dieser Fälle erklären sich daraus, dass die anfänglichen Symptome der Hirnerschütterung bald zurückgingen und eine intermeningeale Blutung nur allmälig und überhaupt erst später eintrat.
C. Emmert („Ueber die nächsten Folgen schwerer Schädelverletzungen.“ Friedreich’s Bl. 1884, pag. 241) hat über solche Fälle geschrieben. Maschka (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884, XLI, 1) berichtet über einen Mann, der Morgens in einer 180 Cm. tiefen gemauerten Grube, in welche er Nachts wahrscheinlich im berauschten Zustande gefallen war, herumgehend getroffen wurde, sich auf erfolgtes Anrufen selbst herausschwang, wie ein Betrunkener taumelte und, nach Hause geführt, noch am selben Tage starb, bei dessen Obduction eine vom rechten Seitenwandbein durch das rechte Schläfebein bis zum Türkensattel ziehende Fissur, ein Einriss am linken Schläfelappen mit starkem Intermeningealextravasat, Fractur der vierten bis siebenten Rippe und eine kleine Ruptur der rechten Niere sich ergab. Jaumes (Montpellier méd. 1885, pag. 523) erzählt von einem 30jährigen Manne, der um 6 Uhr Abends einen Schlag auf die linke Schläfe mit einem Steine erlitten hatte, ohne das Bewusstsein zu verlieren nach Hause gegangen war, dort mit seiner Familie genachtmahlt und sich dann in’s Theater begeben hatte, wo er bis 11 Uhr blieb und, nach Hause zurückgekehrt, erst um 2 Uhr zu klagen anfing und um 4 Uhr Morgens starb, an dessen Leiche eine mit Depression verbundene Fractur der linken Schläfeschuppe, Verletzung eines Astes der Art. meningea media mit grossem Extravasat zwischen Knochen und Dura [S. 452]und eine, 1 Frank grosse Contusion der Rinde am linken Scheitel gefunden wurde. Wir selbst begutachteten mehrere analoge Fälle, darunter einen, der eine Frau betraf, die in betrunkenem Zustande von ihrem Manne eine Ohrfeige erhielt, so dass sie hinstürzte und mit dem Kopfe gegen die massive Leiste einer geschlossenen Thüre fiel. Sie blutete sofort aus einer Wunde am Hinterkopfe und war bewusstlos, erholte sich aber, nachdem sie der Mann abgewaschen hatte, war dann noch im Stande, ihre häuslichen Geschäfte zu verrichten, zu nachtmahlen und Branntwein zu trinken und starb plötzlich erst am anderen Morgen, nachdem sie ihrem Manne noch Wasser gebracht hatte. Die Obduction ergab einen mit partieller Splitterung verbundenen Sprung des Schädels, der sich von der Mitte der Hinterhauptsschuppe in das rechte Scheitelbein erstreckte. Verletzung des Gehirns oder intrameningeales Extravasat soll nicht vorhanden gewesen sein.
Die Hauptsymptome der Hirnerschütterung, welche die neue Schule als vasomotorische Neurose auffasst und entweder durch traumatische Reflexparalyse der Hirngefässe (Fischer) oder durch Reizung und consecutive Lähmung des vasomotorischen Centrums (Koch und Filehne) sich erklärt, wobei die plötzliche, in der Richtung der comprimirenden Gewalt erfolgende Bewegung (Verdrängung) der Cerebrospinalflüssigkeit und die dadurch bewirkte mechanische Reizung namentlich des Bodens der vierten Kammer und der sensiblen Corpora restiformia eine wichtige Rolle zu spielen scheint (Duret, Gussenbauer), sind sofortige Bewusstlosigkeit, Coma, auffallend verlangsamter Puls, schwache Respiration, träg reagirende Pupillen und Blässe der Haut. In den meisten Fällen tritt sofort nach dem Insulte Erbrechen ein. Convulsionen sind selten. Die Bewusstlosigkeit kann nur minuten-, aber auch tagelang dauern (in einem Falle von Pirogoff sechs Wochen). Sehr constant ist ferner die zurückbleibende Amnesie.
Die Hirnerschütterung kann für sich allein, d. h. ohne auffällige anatomische Veränderungen bestehen, noch häufiger ist sie mit anderweitigen, wenn auch mitunter nur mikroskopischen Verletzungen des Gehirns, die ebenso wie die Hirnerschütterung als solche, sowie intermeningeale oder cerebrale Hämorrhagien auch ohne Verletzung des Schädels vorkommen können.
Zu ersteren gehören die capillaren Apoplexien in der Hirnsubstanz, die Rokitansky und Willigk nach heftigen Erschütterungen des Kopfes beobachteten, dann die Rhexis cerebri, die wir bereits bei Besprechung der Rupturen erwähnt haben, und ferner die so häufige Contusio cerebri. Den häufigsten Sitz der Contusio cerebri bilden die Stirnlappen, namentlich ihre untere und vordere Partie und die Spitzen und Aussenflächen der Schläfelappen, die Scheitelgegend und die hinteren Enden der Occipitallappen. Sie präsentirt sich in Form meist violett verfärbter, gewöhnlich zu Gruppen gestellter Stellen, an welchen die Rindensubstanz erweicht und von zahlreichen grösseren und kleineren punktförmigen Blutaustritten durchsetzt ist. Nach Duret ist die Wand und Umgebung der vierten Hirnkammer [S. 453]ein häufiger Sitz von traumatischen Hämorrhagien, weil bei plötzlichen Erschütterungen des Kopfes die Ventrikelflüssigkeit vorzugsweise gegen diese Partien hingedrängt wird. Auch die gewöhnliche Contusio cerebri entsteht sehr häufig durch Contrecoup und findet sich namentlich sehr gewöhnlich an jenen der Gewalteinwirkung entgegengesetzten Stellen. Bemerkenswerth ist die von Bollinger („Ueber traumatische Spätapoplexie.“ Festschrift zu Virchow’s 70. Geburtstag. II. Bd., pag. 233) gemachte Beobachtung von Erweichungsnecrosen in der Gegend des Aquaeductus Sylvii und am Boden der vierten Kammer nach Hirnerschütterung, welche Erweichungen nachträglich zu Apoplexien führen können. In einem Falle trat letztere am 32., in einem zweiten Falle erst am 52. Tage ein.
Der Grad, in welchem die einfache oder mit Contusio cerebri verbundene Hirnerschütterung erfolgt, wird einestheils von der Natur des gebrauchten Werkzeuges, anderseits von der Gewalt abhängen, mit welcher dasselbe geführt wurde. Bekanntlich sind vorzugsweise wuchtige stumpfe oder stumpfkantige Werkzeuge geeignet, Hirnerschütterung zu bewirken, und das plötzliche Zusammenstürzen der Individuen, die heftige Schläge mit solchen Werkzeugen gegen den Kopf erlitten haben, ist vorzugsweise auf die erfolgte Commotio cerebri zu beziehen, und zwar desto mehr, je geringfügiger die Läsionen waren, die das Gehirn selbst erlitten hatte, und mit je geringerer Blutung in die Schädelhöhle die Verletzung verbunden war. Bei Stichverletzungen spielt die Commotio cerebri in der Regel nur eine nebensächliche Rolle, eine wichtige dagegen bei den Schuss- und noch mehr bei den Hiebwunden. Bei letzteren zeigt sich der Einfluss der näheren Beschaffenheit des verletzenden Werkzeuges in exquisiter Weise, da z. B. bei Hieben mit einem Beil die Erscheinungen der Hirnerschütterung ungleich intensiver auftreten, als nach Hieben mit Säbeln und da auch bei letzteren ein wesentlicher Unterschied bezüglich des Auftretens der Symptome von Hirnerschütterung sich ergeben wird, je nachdem leichte oder schwere Säbel zur Anwendung gekommen sind. Aus diesem Grunde muss aber, und dies ist forensisch wichtig, zugegeben werden, dass unter sonst gleichen Umständen Jemand, der einen Hieb mit einem leichten und flachen Säbel erhielt, eher bei Bewusstsein bleiben kann oder noch eine Handlung zu unternehmen vermag, als Jemand, dem eine gleiche Wunde mit einem schweren und breitrückigen Säbel oder gar mit einem Beile zugefügt worden ist.[309]
[S. 454]
Da eine grosse Zahl der Raufereien, bei welchen es Kopfverletzungen setzt, sich in Wirthshäusern und in vom Alkohol erregtem Zustande ereignen, so ist es nicht überflüssig, auf die Aehnlichkeit aufmerksam zu machen, die den Symptomen eines schweren Rausches und denen der Hirnerschütterung zukommt, und zu bemerken, dass sowohl Symptome, die von Alkoholexcess herrührten, für Hirnerschütterung genommen wurden, als umgekehrt, und zwar noch häufiger Fälle vorkamen, in denen letztere als Rauschzustand aufgefasst wurden und dementsprechend mit dem Verletzten verfahren worden ist. Zur Unterscheidung müssen die genossenen Alkoholmengen und die eventuellen Rauscherscheinungen, die schon vor der Verletzung bestanden, erwogen werden, vorzugsweise aber die Symptome, die in dem Momente auftraten, als der Schlag auf den Kopf etc. erfolgte, sowie der weitere Verlauf des von diesem Zeitpunkte aus sich datirenden Betäubungszustandes.
Was die mit einer Kopfverletzung verbundene Blutung in die Schädelhöhle, beziehungsweise auf die Oberfläche des Gehirns betrifft, so wird dieselbe desto rascher und desto intensiver Erscheinungen des Hirndruckes bewirken, je grösser die Menge des ausgetretenen Blutes war, und je rascher sich das Extravasat gebildet hatte. Es ist daher nicht blos die Zahl und das Caliber der gleichzeitig verletzten Meningealgefässe zu berücksichtigen, sondern auch, ob dieselben arterielle oder venöse Gefässe gewesen sind. Von den grösseren Arterien, die verhältnissmässig häufig bei den verschiedenartigsten Kopfverletzungen durchtrennt werden und besonders intensive Blutung und, wenn nicht etwa eine stärkere Haftung der Dura am Knochen bestand oder nur kleine Aestchen verletzt wurden, sofortige oder baldige Erscheinungen schweren Hirndruckes bewirken, erwähnen wir besonders die Art. meningea media und ihre Verzweigungen, wodurch mächtige kuchenförmige, die betreffende Grosshirnhälfte muldenförmig abflachende Extravasate zwischen Dura mater und seitlicher Schädelwand entstehen und von den venösen Gefässen die grossen Sinus der Dura mater. In vielen Fällen nimmt die intermeningeale Blutung ihren Ausgang von Contusionen des Gehirns, über welchen die Meningen mehr weniger zerrissen sind und kann auch erst nachträglich in Folge Erweichung eintreten.
Die bei weitem grösste Zahl der Kopfverletzungen, welche zur forensischen Untersuchung gelangen, ist durch stumpfe oder durch stumpfkantige Werkzeuge veranlasst worden. Den geringsten Grad des Effectes des letzteren bilden die Suffusionen der Kopfhaut, von denen wieder die meisten im lockeren Zellgewebe unter der Galea zwischen dieser und dem Pericranium und unterhalb des letzteren vorzukommen pflegen. Zu ihrer Entstehung genügen bei dem Blutreichthum der Kopfhaut und wegen der harten Unterlage schon geringe Gewalten, wie wir namentlich an den Blutbeulen der Kinder, die sie sich beim Fallen zuziehen, sehr gewöhnlich beobachten können, und es ist insbesondere zu bemerken,[S. 455] dass sie sich häufig auch zufällig bei den verschiedensten, auch natürlichen, plötzlichen Todesarten beim Niederstürzen des Körpers und Aufschlagen des Kopfes an harte Gegenstände bilden können. Bezüglich der Wunden der Schädeldecken wurde bereits oben (pag. 278) hervorgehoben, dass dieselben nicht immer unregelmässige und gezackte Ränder besitzen müssen, sondern der Spannung und harten Unterlage wegen häufiger als an anderen Körperstellen auch lineare Trennungen bilden können, und es wurden zugleich jene Momente erwähnt, welche in einem solchen Falle trotz der linearen Beschaffenheit der Hautwunde doch die Diagnose gestatten können, dass dieselbe nicht mit einem schneidigen, sondern durch ein stumpfes Werkzeug entstanden sei.
Das „Nullum vulnus capitis contemnendum“ der älteren Chirurgen bezog sich vorzugsweise auf die Wunden der Schädeldecken und auf die Häufigkeit der accidentellen Wundkrankheiten im Gefolge derselben, welche die Prognose solcher Wunden so trügerisch gestaltete. Die Warnung der alten Praktiker verdient auch heutzutage alle Beachtung, insoferne als erfahrungsgemäss bei Kopfwunden besonders günstige Bedingungen für den Eintritt gefährlicher septischer Processe (Erysipelas, Meningitis etc.) gegeben sind. Da wir jedoch gegenwärtig wissen, dass diese Processe, wenn auch nicht immer, so doch in der Regel durch correcte (antiseptische) Behandlung vermieden werden können, so werden wir bei der gerichtsärztlichen Begutachtung solcher Verletzungen die ursprüngliche Bedeutung und den weiteren ungünstigen Verlauf derselben wohl auseinanderhalten, beziehungsweise dem Richter auseinandersetzen, dass die Ursache der ungünstigen Complication keineswegs in der „allgemeinen Natur der Verletzung“, sondern in äusseren Schädlichkeiten begründet war, deren Hinzutreten in der Regel durch richtige Behandlung verhindert werden kann.
Ein sehr häufiger Effect stumpfer Gewalten sind Continuitätstrennungen des Schädels. Besass das betreffende Werkzeug nur[S. 456] eine kleine, zufolge der Untersuchungen von A. Paltauf (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLVIII) 4 Quadratcentimeter nicht überschreitende Oberfläche, so können lochförmige Verletzungen, sogenannte Lochfracturen, entstehen, aus deren Form sich mitunter die nähere Natur desselben vermuthen lässt. So besitzen wir in unserer Sammlung einen Schädel, an welchem eine 3 Cm. breite, kreisrunde Scheibe aus der äusseren Tafel des linken Scheitelbeines herausgeschlagen und kegelstutzförmig deprimirt sich findet, während von der gegenüberliegenden Glastafel ein noch einmal so grosses und vielfach gesplittertes, aber ebenfalls kreisrundes Stück abgesprengt erscheint. Das verletzende Werkzeug war ein sogenannter Todtschläger — Life preserver — gewesen (Fig. 83 u. 84).
Eine ähnliche Verletzung bewirkt der runde Kopf eines Schusterhammers, wenn derselbe mit der vollen Fläche die betreffende Schädelstelle traf. Fig. 85 zeigt hiervon ein Beispiel. War letzteres, wie häufig, nicht der Fall, so entsteht, indem die untere runde Kante des Hammerkopfes zuerst in den Knochen eindringt, die in Fig. 86 abgebildete Lochfractur, die wir als die terrassenförmige[S. 457] bezeichnen möchten, weil das deprimirte Knochenstück parallele bogenförmige Sprünge zeigt, die ihre Concavität der Stelle zukehren, wo die Kante des Hammers eingedrungen ist und die zugleich am meisten deprimirt erscheint. Es liegt nahe, dass eine solche Beschaffenheit der Verletzung auch für die Bestimmung der Stellung des Thäters zum Getroffenen verwerthet werden kann.
Als Seitenstück zeigt Fig. 87 zwei Lochfracturen, die durch einen vierkantigen Hammerkopf veranlasst wurden, welcher einmal mit voller Fläche, das anderemal mit einer Ecke den Schädel getroffen hatte, und Fig. 88 und 89 eine andere, welche mit dem viereckigen Kopfe einer beilstockartig geformten Hacke bewirkt wurde, und zwar bei einem der zwei Knaben des Wechslers Eisert, die bekanntlich sammt ihrem Vater im Jahre 1884 durch Anarchisten ermordet worden sind. Bemerkenswerth ist hier der regelmässige Einbruch der Ränder des viereckigen Loches, welche wie ein Rahmen ein inneres kleineres, ebenso geformtes Loch umgeben. Ob und in welchem Grade die Form der Angriffsfläche des verletzenden Werkzeuges an der Lochfractur zur Ausprägung kommt, hängt, wie die Versuche von A. Paltauf (l. c.) ergaben, ausser von den bereits erwähnten Momenten auch von der Schärfe der Ecken und Kanten des Werkzeuges und von der Dicke des Knochens, insbesondere aber von der Dicke der den Schädel bedeckenden Zwischenlagen (Schädeldecken, Haarwuchs, Kopfbedeckung) ab, welche desto mehr die Ausprägung der Form des Werkzeuges verhindern, je dicker sie sind.
An die Lochfracturen schliessen sich die Zertrümmerungen grösserer Partien des Schädels oder des ganzen Schädels an, wie sie durch mit breiter Fläche einwirkende grosse Gewalten zu Stande kommen. Verhältnissmässig häufig sind die Fracturen des Planum temporale, so nach Sturz, Stoss oder Schlag auf oder gegen dieses. Sehr gewöhnlich kommt es dabei zu Rupturen von Aesten der Arteria meningea media und, wenn die Dura unverletzt bleibt, zu einem meist mächtigen Bluterguss zwischen diese und die Innenfläche des Schädels, wodurch die Dura abgehoben und die betreffende Grosshirnhälfte muldenförmig abgeflacht wird. Die grossartigsten Zertrümmerungen des Schädels finden sich nach Sturz von bedeutenden Höhen, Ueberfahrenwerden, besonders durch Waggons, und ähnlichen grossen Gewalteinwirkungen. Sehr häufig sind dann die Fracturen complicirte, indem mehr weniger zahlreiche[S. 458] Fragmente die Schädeldecke durchdringen. Ob letzterer Vorgang auch nach einem mit den Händen geführten Schlag, mit einem Knüttel, schweren Stein u. dergl. geschehen kann, ist zweifelhaft, nach wiederholten Schlägen wäre dieses nicht unmöglich. Dagegen ist zu beachten, dass auch nach einem einzigen Schlag mit einem solchen Gegenstande ein dünner oder spröder, z. B. seniler Schädel in zahlreiche Stücke auseinander gehen kann. So konnten wir 21 Scherben zählen bei einem Individuum, das einen einzigen Hieb mit einem dicken, schweren Prügel über den Kopf erhalten hatte und haben bei einem Manne, der in der Trunkenheit auf vorspringende Steine gefallen war, das Planum temporale in 12 grössere und mehrere kleinere Stücke zerbrochen gefunden, mit zwei einestheils in das betreffende Scheitelbein, anderseits durch die mittlere Schädelgrube bis zur Sella turcica sich erstreckenden Fissuren. In beiden Fällen war der Schädel dünn und compact. Ebenso fand Buchner (Lehrb. 1867, pag. 224) nach Schlag mit einer Zaunlatte den kaum 2 Linien dicken Schädel in 25 Stücke zerschlagen und in einem von Bujalsky (Bergmann, Kopfverletzungen, pag. 71) erwähnten Falle war ein im höchsten Grade verdünnter Schädel durch den Hufschlag eines Pferdes in 96 Fragmente getrennt. Bergmann selbst bildet den Schädel eines 13jährigen Mädchens ab, welcher durch Auffallen eines Steines in mehrere Stücke zerbrochen war. Auch Messerer (Friedreich’s Bl. 1888, pag. 374) berichtet über eine hochgradige Schädelzertrümmerung bei einem alten Manne, der sich nach einem Versuch der Aderndurchschneidung aus einer Höhe von nur 3 Meter auf eine Tenne herabgestürzt hatte.
Eine andere Kategorie von Schädelverletzungen entsteht durch Berstung des Schädels in Folge plötzlicher Compression. Die meisten Fissuren entstehen auf diese Weise. Interessante Versuche von N. Hermann, Schranz, insbesondere aber von Messerer[310] haben ergeben, dass nach plötzlich comprimirenden Gewalten der Schädel einfach berstet, etwa in ähnlicher Weise, wie man dieses z. B. bei einer comprimirten Haselnuss beobachten kann. Messerer fand dabei, dass solche Berstungen vom getroffenen Orte aus am Schädelsphäroid in der Richtung von Meridianen verlaufen, wobei Ablenkungen durch schwächere Stellen vorkommen können. Vom Scheitel aus können solche Fissuren sowohl quer als sagittal zur Basis ausstrahlen, dagegen entstehen Querfracturen der Schädelbasis, wie Messerer übereinstimmend mit Hermann[S. 459] fand, hauptsächlich durch eine seitliche, sagittale aber durch eine auf das Hinterhaupt oder die Stirn gerichtete Gewalt. Basisfracturen können aber auch durch plötzliche Einwirkung oder Eintreibung der Schädelbasis in das Lumen des Schädels, wie es beim Auffallen eines Gegenstandes auf den Kopf oder bei einem Fall auf den Scheitel, mitunter aber auch auf das untere Körperende erfolgt, zu Stande kommen. Eine besondere Kategorie derartiger Basisbrüche bilden die „Ringfracturen“, bei welchen die das Hinterhauptsloch umgebenden Partien herausgebrochen und nach einwärts getrieben wurden. Mitunter ist nur ein Theil des Ringes ausgebildet.
Combinationen von Fracturen und Fissuren sind häufig, insbesondere in der Art, dass von umschriebenen Einbrüchen eine oder mehrere Fissuren ausgehen. Die sogenannten Sternbrüche sind meistens solche Combinationen, indem von einer Stelle strahlenförmig Fissuren ausgehen und die um den Ausgangspunkt dieser Strahlen gelegenen Knochenpartien eingebrochen sind, mitunter in deutlich concentrisch angeordneter Weise. Auch bei einfachen Fissuren ist der Angriffspunkt der Gewalt, welche sie veranlasste, gewöhnlich durch mehr weniger ausgebildete umschriebene Fracturen oder Infractionen markirt, mitunter nur durch Absprengungen der Glastafel.
Durch Druck und Stoss können, wie die Versuche von Hermann und Messerer ergaben, auch indirecte, d. h. mit der Angriffsstelle der Gewalt nicht zusammenhängende Brüche entstehen. Zu ihrem Zustandekommen ist nach Messerer nöthig, dass die Gewalteinwirkung auf relativ starke Schädeltheile statthat, welche den Angriff auszuhalten und auf entferntere Theile zu übertragen vermögen, wo dann der indirecte Bruch entsteht. Unserer Meinung nach sind alle durch Berstung des Schädels veranlassten Fissuren indirecte, da die Berstung bei der plötzlichen Compression des Schädels nicht an dem Angriffspunkte der Gewalt, sondern entfernt davon an der Stelle der grössten Krümmung und Spannung der betreffenden Schädelpartie beginnt und erst von da aus in meridianer Richtung zur Stelle der Gewalteinwirkung sich fortsetzt. Daher klaffen auch solche Fissuren am meisten an den von dem Angriffspunkt der Gewalt entfernten Stellen, sind auch dort häufig am meisten suffundirt, während sie gegen letztere zu, sowie gegen das andere Ende der Zusammenhangstrennung zu sich verschmälern und in bis haarfeine Sprünge auslaufen.[311] Es kommen aber auch,[S. 460] obgleich bei Erwachsenen selten, Fissuren vor, die mit der Angriffsstelle der Gewalt in gar keiner Verbindung stehen. So haben wir bei einem 34jährigen Manne, dem ein Mörtelschaff gerade auf den Scheitel gefallen war und auf diesem eine 2·3 Cm. lange, bis zum Knochen dringende Quetschwunde erzeugt hatte, unter der getroffenen Stelle äusserlich am Scheitel keine Verletzung gefunden, dagegen einestheils eine Diastase des vorderen Drittels der Pfeilnaht, welche in einen bis über die Nasenwurzel reichenden und dort gegen die Augenhöhlen ziehenden Sprung überging, anderseits eine Diastase der linken Lambdanaht, von welcher am Uebergang des mittleren in das äussere Drittel ein Sprung senkrecht zur linken Hinterhauptsgrube zog und am Boden der letzteren endete. An der Innenfläche des Schädels war die vom Mörtelschaff getroffene Stelle durch eine 21 Mm. lange, senkrecht zur Pfeilnaht ziehende feine Fissur des linken Scheitelbeines markirt.
Verhältnissmässig am häufigsten kommen derartige indirecte Brüche bei Neugeborenen vor, bei welchen sich des radiären Baues der Schädeldeckknochen wegen, nach Fall oder Schlag auf den Scheitel sehr leicht „Compressionssprünge“ bilden, die in der Regel vom Tuber des Knochens, namentlich der Scheitelbeine ausgehen und zwischen den Ossificationsstrahlen verlaufen und häufig genug entweder gar nicht bis zur zunächst getroffenen Stelle reichen oder überhaupt gar nicht meridian, sondern, wenn man sich den Angriffspunkt als Pol des Schädelsphäroids denkt, in der Richtung von Breitekreisen verlaufen.
Von solchen Fracturen sind solche zu unterscheiden, die in der That durch Contrecoup entstehen. Hierher gehören die indirecten Brüche der Orbitaldächer durch Schuss (pag. 307), die auch durch einen heftigen Schlag oder Fall auf den Hinterkopf oder den Scheitel veranlasst werden können, aber auch dadurch, dass, während der Kopf auf einer festen Unterlage aufruht, auf die entgegengesetzte Seite eine Gewalt ausgeübt wird. Es kann darum geschehen, dass überhaupt nur an der dem Angriffspunkt der Gewalt entgegengesetzten Stelle eine Fractur entsteht.
Dass selbst haarfeine Fissuren im Momente ihrer Entstehung bedeutend klaffen müssen, beweisen die Haare, die man nicht selten in ihnen eingeklemmt findet. In den bogenförmigen Fissuren der sub Fig. 86 abgebildeten Lochfractur waren zahlreiche Haarstümpfe fest eingeklemmt und ragten palissadenartig über die Fissur heraus und ein gleicher Befund ergab sich bei einer durch ein Bierglas erzeugten Fissur und wiederholt fanden wir denselben an den haarfeinen Ausläufern von Berstungsfissuren an der Angriffsstelle der Gewalt, wenn sich dort gleichzeitig eine bis auf den Knochen dringende Wunde befand. Solche Befunde, auf welche schon Bruns (Oesterlen, „Das Haar etc.“ l. c. 143) aufmerksam gemacht hatte, gestatten einen [S. 461]doppelten Schluss: Erstens, dass die betreffende Gewalt gleichzeitig mit einer Wunde der Kopfhaut verbunden war, was namentlich dann von Wichtigkeit sein könnte, wenn die Weichtheile durch Fäulniss etc. zerstört oder unkenntlich geworden wären, und zweitens, dass die Verletzung mit einem nur in umschriebener Ausdehnung wirkenden und höchst wahrscheinlich kantigen Werkzeuge zugefügt worden sei, nicht aber durch Sturz mit dem Kopf auf eine Fläche und auch nicht durch Schlag mit einem breiten und flachen Werkzeuge entstanden sein konnte.[312]
Anschliessend an diesen Befund erwähnen wir, dass wir bei einem Selbstmörder, der sich mit einer Pistole in die Schläfe geschossen hatte, in einem von der Eingangsöffnung auslaufenden Knochensprunge ein grosses Stück der Dura mater eingeklemmt fanden, obgleich die Ränder des Sprunges nicht klafften, sowie, dass Friedberg (Virchow’s Archiv, LXIX, 93) einen Fall beschreibt, wo in einer Fractur der Schädelbasis die Arteria basilaris eingeklemmt gefunden wurde.
Die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit welcher Fissuren oder Fracturen entstehen, ist vielfach durch individuelle Verhältnisse bedingt. Wie leicht die dünnen und noch strahlenförmige Structur zeigenden Schädelknochen der Neugeborenen Continuitätstrennungen erleiden, werden wir bei der Lehre vom Kindesmorde erwähnen. Bei den Schädeln Erwachsener ist es wieder die verschiedene Dicke des Schädels, welche bewirkt, dass in einem Falle derselbe leichter bricht, als in einem anderen; auch ist es bekannt, dass einzelne Stellen der Schädelkapsel, da sie de norma dünner sind als andere, häufiger Fissuren und Fracturen unterliegen; so die Knochen der Schläfengegend.[313] Dass im Allgemeinen die Brüchigkeit des Schädels wächst, je mehr er sich consolidirt und eine starre Kapsel bildet, geht daraus hervor, dass bei Erwachsenen durch dieselben Gewalten leichter Fracturen entstehen als bei jugendlichen Individuen, besonders Kindern, insbesondere aber aus der Häufigkeit der Fissuren und Fracturen der Schädelbasis, die bei Erwachsenen so häufig, bei Kindern ungleich seltener, und bei Neugeborenen niemals, ausgenommen, wenn der ganze Schädel zerquetscht wurde, vorkommen.
War der Schädel an der zerbrochenen Stelle auffallend dünn, und die Gewalt eine unbedeutende, dann wäre die „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ hervorzuheben. Solche abnorm dünne Stellen können entweder angeboren sein oder sich später entwickelt haben, wie z. B. die Usuren, die man bei sehr alten Leuten an den [S. 462]früher am meisten gewölbten Partien der Scheitelbeine sich ausbilden sieht und die mitunter einen solchen Grad erreichen können, dass der Schädel an solchen Stellen durchscheinend und selbst durchbrochen wird. In gleicher Weise wären abnorme Oeffnungen im Schädel zu beurtheilen, wovon wir oben ein seltenes Beispiel anführen konnten, wie wir auch bei Besprechung der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ im Sinne der St. P. O. nicht unterlassen haben, auch auf die hydrocephalischen und anderen pathologischen Zustände des Gehirnes aufmerksam zu machen, welche bewirken können, dass verhältnissmässig unbedeutende Erschütterungen des Kopfes, wie sie namentlich bei Züchtigungen der Kinder zu Hause oder in der Schule sich ereignen, schwere und selbst letale Folgen nach sich ziehen.
Bezüglich der Stich-, Hieb- und Schussverletzungen des Schädels haben wir bereits bei der Besprechung dieser Verletzungen im Allgemeinen das Nöthige bemerkt. Hier wollen wir nur erwähnen, dass, wenn dieselben am Kopfe vorkommen, aber den Tod nicht nach sich gezogen haben, die Verletzung in der Regel als eine solche zu bezeichnen sein wird, welche mit einem solchen Werkzeuge und auf eine solche Art bewirkt wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist (Oesterr. St. G. B. 155a, St. G. Entw. §. 231, 2 und deutsch. St. G. §. 223a).
Von den Folgen der nicht letal endigenden Kopfverletzungen kommen ausser den bereits behandelten Geistesstörungen und der Aphasie noch die Lähmungen und die epileptischen und epileptoiden Zustände und der Diabetes in Betracht. Die Lähmungen, die nach Kopfverletzungen zurückbleiben, werden natürlich von dem Sitze und der Ausbreitung der Hirn-, respective Hirnnervenläsion abhängen. Man hat sowohl motorische Lähmungen als Anästhesien beobachtet. Zustände ersterer Art wären zweifellos „Lähmung“ im Sinne des Gesetzes (österr. Entw. §. 232, deutsch. St. G. §. 224), obgleich es eine Menge Gradunterschiede gibt, von unbedeutenden Paresen angefangen bis zur vollständigen Lähmung und daher vollständigen Unbrauchbarkeit der betreffenden Körpertheile. Der Umstand, dass erfahrungsgemäss solche Lähmungen im Laufe der Zeit wesentlich sich bessern und auch ganz verschwinden können, käme weniger in Betracht, da sie jedenfalls langwierige Leiden darstellen, und die genannten Gesetze nicht von unheilbarer, sondern nur von Lähmung überhaupt reden. Ob auch Anästhesien als „Lähmung“ im Sinne des Gesetzes aufzufassen wären, ist fraglich. Da jedoch solche Anästhesien gewiss nur ausnahmsweise für sich allein vorkommen, sondern meist mit motorischen Lähmungen sich combiniren, so wird eben dadurch die Schwierigkeit behoben. Dass viele solcher Zustände, z. B. die Hemiplegie, auch als „Siechthum“ aufzufassen sein werden, unterliegt keinem Zweifel.
Epileptische oder epileptoide Zustände nach Kopfverletzungen sind häufig. Diese Möglichkeit hat insbesondere durch die zahlreichen Studien über die psychomotorischen Rindencentren, namentlich durch die bekannten Versuche von Hitzig, eine festere Basis[S. 463] erhalten, bei welchen es gelang, durch Reizung der Grosshirnrinde allein epileptische Anfälle hervorzurufen. Insbesondere sind Verletzungen der Centralwindungen geeignet, Epilepsie nach sich zu ziehen (traumatische Rindenepilepsie). Auf die Möglichkeit von Entstehung von epileptischen Zuständen durch periphere Ursachen (Narben der Kopfhaut) wäre ebenfalls Rücksicht zu nehmen. Derartige Zustände wären wohl in der Regel unter den Begriff von „Siechthum“ zu subsumiren, da wir in epileptischen Anfällen, wenn sie auch nur in längeren Zwischenräumen auftreten, doch einen chronischen krankhaften Zustand erkennen müssen, der gewiss geeignet ist, das betreffende Individuum in, wenigstens temporäre Hilflosigkeit zu versetzen und ihm den Lebensgenuss zu verbittern, wobei auch zu bemerken ist, dass die traumatische Epilepsie von denselben psychischen Störungen begleitet sein kann und sogar gewöhnlich begleitet ist, wie wir sie bei Besprechung des „epileptischen Irrseins“ kennen lernen werden. Da, wie oben erwähnt, Geistesstörung vom Gesetze als eine besondere Verletzungsfolge ausdrücklich erwähnt wird und andererseits solche Individuen während und in Folge der epileptischen Geistesstörung strafbare Handlungen verüben können, so haben derartige Fälle eine besondere gerichtsärztliche Bedeutung.
Instructive Beispiele von traumatischer Epilepsie haben F. H. Rehm (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1882, pag. 440) und F. Zierl (Ibid. pag. 345) gebracht. Ersterer berichtet über einen 25jährigen Mann, welcher, bis dahin vollkommen gesund, am 1. Januar 1878 einen Schlag mit einem Prügel auf den Kopf erhalten hatte, wodurch eine Quetschwunde am linken Scheitel entstand. Er sank sofort bewusstlos zusammen und blieb es bis zum 7. Januar. Von da an begann das Bewusstsein wiederzukehren und er wurde am 22. als geheilt entlassen. Seitdem häufiger Kopfschmerz, blasses Aussehen, später zeitweilig starrer Blick und verminderte Sehkraft. Am 17. December maniakischer Anfall, der fünf Tage dauerte. Am 26. October 1881 wurde er in heftigen epileptischen Krämpfen liegend gefunden, welche sich innerhalb zweier Tage 16mal wiederholten. Am 8. November ein neuer Anfall, am 9. mehrere und fortan bis zum 13. zahlreiche mit nur 1–1½stündigen Zwischenpausen. Am 14. Tod im comatösen Zustand. Die Obduction ergab keine Spur einer Narbe am Kopfe, dagegen zu beiden Seiten des vorderen Endes der Pfeilnaht Verwachsungen der Dura mater mit den inneren Meningen und darunter beiderseits geheilte Contusionen der Hirnrinde in der bekannten Form der Plaques jaunes. Der causale Zusammenhang der Epilepsie und des Todes, respective der intermittirenden Geistesstörung mit dem vor fünf Jahren erlittenen Trauma war zweifellos und der Thäter wurde auch vom Schwurgericht wegen Todtschlag verurtheilt.
Zierl’s Fall gehört in die Kategorie der pag. 321 erwähnten „peripheren“ oder „Reflexepilepsie“ mit periodischem Irrsein und consecutiven verbrecherischen Handlungen. Der 34jährige, bis dahin ganz unbescholtene Colporteur und frühere Mühlbauer L. wurde seit [S. 464]dem Jahre 1872 11mal an verschiedenen Orten verurtheilt, und zwar 8mal wegen Unterschlagung und je einmal wegen Betrug, Diebstahl und Sachebeschädigung. Am 27. September 1881 wurde er in die Irrenanstalt gebracht, wo er sofort angab, dass er seit seiner Verwundung (Schuss) bei Sedan häufig an Schwindel und Kopfschmerz leide und eine grübchenförmige Narbe in der linken Schläfe zeigte, welche in den Knochen sich einsenkt und mit demselben verwachsen ist. Die Narbe selbst ist nicht empfindlich, wohl aber ein unter dieser gelegener Punkt. Anfangs zeigte L. nichts Krankhaftes, war heiter und benahm sich sehr anständig. Später zeigte er jedoch zeitweilig ein verändertes Wesen, wenn er seinen von ihm selbst so bezeichneten „Anfall“ bekam, welcher ganz plötzlich eintrat. L. wurde auf einmal still und ernst, auffallend blass und zog sich mürrisch zurück, wurde dann insolent, unartig, lärmend und begann über die unglückliche Lage, in die er durch seine Verwundung gerathen, in der heftigsten Weise zu raisonniren. Diese Anfälle, die mitunter weniger lärmend unter Trübsinn verliefen, verloren sich manchmal allmälig, meist aber verschwanden sie plötzlich. Für einzelne Vorgänge während des Anfalles fehlte die Erinnerung vollständig, für andere war sie nur im Allgemeinen vorhanden. Ausserdem wurden während 6 Wochen drei Krampfanfälle in einer Nacht beobachtet und L. will schon früher manchmal bemerkt haben, dass er sich in die Zunge gebissen habe, ohne zu wissen, wie das zugegangen war. Ueber die erst beschriebenen Anfälle macht L. folgende Angaben: Die Anfälle beginnen mit Kopfweh, das jedesmal von der Narbe oder eigentlich von einer etwas tiefer gelegenen Stelle ausgehe (!), zugleich wird der Kopf und bald der ganze Körper heiss; manchmal kommt Frost, oft Zittern. Im Kopfe wimmle und brause es durcheinander unter gleichzeitigem Druckgefühl, dass er sich nicht mehr auskenne; es kommt Schwindel, zu welchem er auch sonst geneigt sei, dabei verliere er allen Humor, fühle sich unglücklich, werde hitzig und empfindlich, habe einmal Selbstmord versucht und wiederholt während des Anfalles die Kleider oder die Bilder, die er colportirte, zerrissen, seine Uhr zertrümmert, in Wirthshäusern excedirt etc., ohne nachträglich etwas davon zu wissen. Ferner habe er in den meisten Anfällen einen unwiderstehlichen Zwang fortzulaufen und treibe sich dann zwecklos im Freien herum, wodurch er schon mehrere Stellen verloren habe! Häufig habe er gleichzeitig die Idee, sehr reich zu sein, und dass etwas, was er gerade vor sich sehe, auch ihm gehöre, was ihn mitunter zu unsinnigen Handlungen veranlasse! Seit einigen Jahren habe sein Gedächtniss und Denkvermögen gelitten, und er werde durch Alkoholica leichter berauscht als früher. Die Erhebungen ergaben, dass L. nach der Verwundung bei Sedan sofort bewusstlos wurde und es durch mehrere Tage blieb. Die Wunde heilte sehr langsam, wobei Knochensplitter abgingen. Seitdem Unfähigkeit zur früheren Berufsarbeit, Veränderung des Charakters und wiederholte strafbare Handlungen, die, wie aus dem Vorstehenden ersichtlich, offenbar alle während der Anfälle epileptischer Unbesinnlichkeit geschahen.
[S. 465]
Diabetes scheint zu den häufigen Folgen von Kopfverletzungen zu gehören. Brouardel (Annal. d’hygiène publ. 1888, XX, 401) hat 33 solche Beobachtungen zusammengestellt, wovon einige auch kleine Kinder betreffen. In 25 Fällen trat die Krankheit fast unmittelbar nach der Gewalteinwirkung auf, in 12 in den ersten zwei, in den anderen nach mehreren Wochen oder nach (2–11) Monaten. In letzteren Fällen entwickelten sich die Erscheinungen allmälig, in den ersteren trat frühzeitig grosser Durst und Polyurie auf. In einzelnen Fällen verloren die Kranken 500–700 Grm. Zucker in 24 Stunden. Häufig bestand Dyspepsie, Anorexie, Trockenheit im Halse, Pruritus etc. Impotenz war eines der ersten Symptome. Der Verlauf ist bei den acuten Fällen meist ein günstiger und geht in 2–3 Monaten in Genesung über, bei den erst nach längerer Zeit sich entwickelnden Fällen ist der Ausgang meist letal. In letzteren ist der Nachweis des ursächlichen Zusammenhanges der Krankheit mit dem Trauma desto schwerer, je längere Zeit seit diesem verflossen ist. Auch nach anderen als Kopfverletzungen hat Brouardel Diabetes beobachtet und Thomayer (Wiener med. Presse. 1889, Nr. 34) berichtet über 4 Fälle von Diabetes nach Traumen des Abdomens. Eine sehr ausführliche, zur Zeit der Drucklegung des gegenwärtigen Buches noch nicht abgeschlossene Arbeit von W. Ascher (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, pag. 219) behandelt das Krankheitsbild des traumatischen Diabetes vorwiegend vom forensischen Standpunkt.
Die Verletzungen des Gesichtes haben vorzugsweise zweier Folgen wegen, die sie zurücklassen können, eine besondere gerichtsärztliche Bedeutung. Diese sind die Verunstaltung (Entstellung) und der Verlust (beziehungsweise die Schwächung) der Functionsfähigkeit der im Gesichte befindlichen Sinnesorgane, also Folgen, die von den Gesetzen als besonders erschwerend ausdrücklich angeführt werden.
Bei der exponirten Lage des Kopfes überhaupt und des Gesichtes insbesondere, sowie bei der hohen Bedeutung, die der Integrität des letzteren für das Fortkommen des Individuums (besonders des weiblichen) zukommt, können schon hässliche Narben der Haut, die nach Verletzungen zurückbleiben, eine auffallende Verunstaltung (Entstellung) im Sinne des Gesetzes bedingen. Dass auch hier nicht blos die Ausdehnung der Narbe, sondern auch die individuellen Verhältnisse in Betracht gezogen werden müssen, haben wir bereits (pag. 335) auseinandergesetzt. Bemerkenswerth ist übrigens, dass gerade an Mädchen häufig genug Verletzungen verübt werden, in der ausgesprochenen Absicht, um eine Entstellung zu verursachen, und wir wollen in dieser Beziehung nur das Begiessen des Gesichtes mit Schwefelsäure erwähnen, welches, namentlich als Act weiblicher Rache, in grossen Städten nicht selten vorkommt und in der Regel die entsetzlichsten Verunstaltungen des Gesichtes nach sich zieht. Der Verlust der Nase wird im §. 232 des österr. Entwurfes ausdrücklich erwähnt, was jedoch überflüssig erscheint, da es wohl niemals zweifelhaft werden kann, dass ein solcher Verlust eine bleibende Verunstaltung (erhebliche Entstellung) [S. 466]bildet, weshalb auch die ausdrückliche Erwähnung dieser Folge im deutschen St. G. unterblieb. Ausser dem Verluste können auch auffallende Formveränderungen der Nase eine erhebliche Entstellung bilden, so starke Einsenkungen des Nasenrückens, wie sie nach Zerschmetterung der Nasenbeine u. dergl. Verletzungen zurückbleiben können.
Bei Verletzungen des Auges wird sowohl die eventuell zurückbleibende Entstellung, als die Störung des Sehvermögens in Betracht kommen. Das gegenwärtige österr. St. G. (§. 156 a) hat den Verlust eines Auges neben dem Verluste oder der bleibenden Schwächung des Gesichtes ausdrücklich erwähnt, um auch ein Beispiel einer auffallenden Verunstaltung zu geben; es kann jedoch eine solche Verunstaltung nicht blos durch den vollständigen Verlust eines Bulbus, sondern auch durch Narben der Cornea u. s. w. entstehen, ebenso aber auch durch Verletzung der Hilfsapparate des Auges, worunter vorzugsweise die Augenlider und an diesen z. B. die Narbenektropie und die traumatische Ptose zu nennen sind.
Verletzungen des Bulbus können zu Stande kommen durch Contusion, durch Verwundungen mit stechenden und anderen in das Auge eindringenden Werkzeugen und durch Verbrühung oder Verätzung. Am häufigsten kommen in forensischen Fällen Contusionen des Bulbus zur Beurtheilung. Als mögliche Effecte solcher Contusionen nennt Arlt[314] ausser den Sugillationen der Conjunctiva die Prellung der Cornea (häufig zur Abscedirung führend), Berstung der Binnenhäute (Iris, Zonula Zinnii, der Linsenkapsel und Luxation der Linse, der Chorioidea und Retina), ferner die noch fragliche Commotio retinae, die Iridoplegie und traumatische Accommodationslähmung, endlich die Ruptur des Bulbus. Von anderen Verletzungen sind die oberflächlichen Wunden der Cornea (Untersuchung mit Focalbeleuchtung angezeigt), die penetrirenden Wunden derselben, meist mit Vorfall der Iris, die Verletzungen des Ciliarkörpers, die sehr oft schleichende sowohl als acute Entzündungen und leicht sympathische Iridocyclitis des anderen Auges zur Folge haben, sowie die Verletzungen der Linse und die consecutiven Trübungen derselben zu erwähnen. Es ist hier nicht der Ort, um auf die Diagnose dieser Verletzungen näher einzugehen und wir verweisen in dieser Beziehung auf Arlt’s oben genanntes treffliches Werk. Bezüglich der Ermittlung der zurückgebliebenen Sehstörungen müssen wir bemerken, dass zwar häufig eine äussere Besichtigung des Auges genügt, den Verlust oder Schwächung des Sehvermögens zu constatiren, dass aber, wo derartige auffallende Veränderungen am Bulbus nicht vorhanden sind, eine sorgfältige Untersuchung des Auges mit dem Ophthalmoskop [S. 467]niemals unterlassen werden soll, und dass ferner jedesmal das Sehvermögen lege artis durch Leseproben, Anwendung entsprechender Gläser und überhaupt mit dem gesammten Apparat zu geschehen hat, dessen sich auch der Kliniker zur Constatirung des Sehvermögens bedient.
Bei einer grossen Zahl von solchen Fällen, namentlich bei Amaurosen und Accommodationsanomalien, ist auch auf die Möglichkeit einer Simulation Rücksicht zu nehmen. Bei simulirter Kurz- oder Schwachsichtigkeit sind die Sehproben mit verschiedenen Gläsern und die Untersuchung mit dem Augenspiegel im Stande, die Simulation zu constatiren. Bei Amaurosen aber ist die Reaction der Pupille zu beachten und sind nach dem Vorgange von Graefe prismatische Gläser zur Anwendung zu bringen, welche, wenn sie zuerst auf beiden und dann auf jedem einzelnen Auge geprüft werden, besonders geeignet sind, einen Simulanten zu entlarven, worüber in Arlt’s Werk das Nähere nachzulesen ist.[315]
Dass Verletzungen der Supraorbitalgegend reflectorisch Blindheit bewirken können, wird von Einzelnen zugegeben, von Anderen geleugnet. In den meisten dieser Fälle dürfte es sich weniger um ein reflectorisches Leiden, als vielmehr um retrobulbäre, durch die Commotion veranlasste Processe handeln, namentlich um Fracturen des Canalis opticus (Hölder, Berlin, Schmidt-Rimpler), um Neuritis optica und consecutive Sehnervenatrophie (Blumenstok). Drei Fälle von Erblindung nach Gehirnerschütterung werden von Bergmeister (Bericht über die Landesblindenschule in Purkersdorf pro 1883) und drei Fälle von sofortiger vorübergehender Erblindung nach Erschütterung des Sehnerven von Schweigger (Arch. f. Augenhk. 1883, 13, 2 u. 3) mitgetheilt. Pflüger (Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1885, pag. 139) beobachtete concentrische Einschränkung des Gesichtsfeldes am rechten Auge auf 10° nach einem Schlag über den Kopf, welche sich unter Strychninbehandlung auf 25° erweiterte. Es handelte sich um den von Graefe als Anaesthesia retinae bezeichneten Zustand.
Eine specifische Art von Augenverletzung kommt in den Alpenländern vor — das sogenannte Augenaushebeln, welches dadurch effectuirt wird, dass der Bulbus durch den in den inneren Augenwinkel eingesetzten Daumen aus der Orbita herausgedrängt (luxirt) wird. Wir haben in Innsbruck nur einmal Gelegenheit gehabt, einen einschlägigen Fall zu sehen, in welchem es aber nicht zur Luxation des [S. 468]Bulbus, sondern zur Verletzung der Cornea durch den Fingernagel und Prolapsus der Iris gekommen war. Verlässliche Angaben über den Effect des sogenannten Augenaushebelns konnten wir leider nicht erhalten. Wir haben uns jedoch durch Versuche an der Leiche überzeugt, dass ein solches Luxiren des Bulbus sich verhältnissmässig leicht vollführen lasse, ohne dass Zerreissung des Opticus oder gröbere Verletzungen desselben oder des Bulbus dadurch zu Stande kommen. Die Angabe, dass solche Verletzungen, da der Bulbus gewöhnlich sofort durch den Verletzten oder Andere reponirt werde, nur selten schwere Folgen nach sich ziehen, haben wir nicht für glaublich gehalten, doch wird von van Dooremaal (Med. Centralbl. 1888, pag. 903) über einen Metzger berichtet, dem durch Eindringen eines Fleischhakens der Augapfel so luxirt wurde, dass sich die Lider hinter demselben schlossen. Der Bulbus wurde in der Narkose reponirt und nach einigen Tagen wurde der Patient, der nach Abnahme des Druckverbandes einige Zeit lichtscheu war, mit voller Gesichtsschärfe geheilt entlassen. Aehnliche Fälle werden von Chalupecký und Barcal (Zeitschr. d. böhmischen Aerzte. 1892, pag. 373 und 406) mitgetheilt.
Von den Verletzungen des Ohres wäre zunächst der Verlust der Ohrmuschel zu erwähnen. Diese anderswo gewiss seltene Verletzungsfolge haben wir in Innsbruck dreimal zu begutachten Gelegenheit gehabt. Alle drei Fälle stammten aus einem bestimmten Thale, wo es Usus ist, Raufereien durch — Abbeissen der Ohrmuscheln auszutragen. Wir sprachen uns in diesen Fällen immer dahin aus, dass die Verunstaltung, welche der Betreffende erlitt, genüge, um die Verletzung als eine „schwere“ im Sinne des §. 152 des gegenwärtigen österr. St. G. zu erklären, dass aber die Verunstaltung nicht als eine „auffallende“ im Sinne des §. 152a) aufgefasst werden könne, da dieselbe erstens durch das Haar leicht zu verbergen sei und da man den Verlust einer Ohrmuschel doch nicht in gleiche Linie stellen könne mit den Beispielen von auffallender Verunstaltung, die der §. 156a) anführt, und auch nicht mit den anderen schweren Verletzungsfolgen, die noch weiter in diesem Paragraph besonders hervorgehoben werden. Dieser Auffassung schloss sich auch jedesmal der Gerichtshof an und die Richtigkeit derselben wurde dadurch in drastischer Weise illustrirt, dass in dem dritten Falle erst bei der Hauptverhandlung zufällig durch uns eruirt wurde, dass der Betreffende auch das zweite Ohr bereits in einer früheren solchen Affaire verloren hatte, ohne dass Jemand von den bei der Hauptverhandlung Anwesenden früher davon eine Ahnung gehabt hätte. Aus den erwähnten Gründen würde man auch, wenn eine solche Verletzung im Sinne des §. 232 des österr. Entw. oder im Sinne des §. 224 des deutschen St. G. zur Beurtheilung käme, anstehen, sie unter allen Umständen als eine bleibende Verunstaltung (österr. Entw.) zu bezeichnen, sondern nur dann, wenn die Umstände des concreten Falles dieses verlangen sollten. Bei der untergeordneten Bedeutung, die der Ohrmuschel[S. 469] beim Hören zukommt, könnte auch bei einem Verluste derselben nicht von bleibender Schwächung, noch weniger aber vom Verluste des Gehörs auf dem betreffenden Ohre die Rede sein. Quetschungen der Ohrmuschel können hochgradige Verkrüppelungen derselben veranlassen. Die sogenannte Ohrblutgeschwulst (Haematoma auriculae) und ihre Folgen gehören hierher, obgleich sie von Einzelnen, da sie namentlich bei geisteskranken und anderweitig herabgekommenen Personen beobachtet wurde, auch auf constitutionelle Ursachen zurückgeführt wird.
Häufiger gelangen Gehörsstörungen zur Untersuchung, die von erlittenen Schlägen gegen die Ohrgegend hergeleitet werden. Als Folgen solcher Insulte kommen insbesondere die Rupturen des Trommelfells und die Lähmung der Hörnerven in Betracht.
Die durch Schlag entstandene Trommelfellruptur findet sich nach Pollitzer (Wr. med. Wochenschr. 1872, Nr. 35) meist in der Mitte zwischen Hammergriff und Ringwulst, hat eine rundliche oder ovale Form und scharfe, mit Blut bedeckte Ränder. Die Erkennung einer traumatischen Ruptur als solcher ist nur in den ersten Tagen leicht; in der späteren Zeit hält es schwer oder ist sogar unmöglich, dieselbe von einer durch Suppuration entstandenen Perforation zu unterscheiden. Die traumatischen Rupturen heilen in der Regel in den ersten Wochen durch Vernarbung, seltener gehen sie in suppurative Entzündung über. Die nach einer Trommelfellruptur zu bemerkende Schwerhörigkeit hat schon kurz nach der Verletzung einen verschiedenen Grad und ist weniger durch die Läsion selbst als durch die gleichzeitige Erschütterung des Labyrinths bedingt. Nach erfolgter Vernarbung kann das Gehör vollkommen oder nahezu vollkommen zurückkehren. Nur selten tritt zu durch Ohrfeigen etc. erzeugten Trommelfellrupturen Entzündung des Mittelohrs hinzu; wohl aber leicht in Folge von Nichtschonung und ungünstigen äusseren Einflüssen anderer Art (ungeschickte therapeutische Eingriffe, Erkältungen etc.), in welchem Falle es zu lange dauernden entzündlichen Processen im Mittelohr kommen kann und auch schwere Hörstörungen zurückbleiben können.[316]
Erschütterungen des Labyrinths können mit und ohne Ruptur des Trommelfells erfolgen und sind gewöhnlich sofort von bedeutender Schwerhörigkeit gefolgt, die auch persistiren kann. Der Ton einer auf den Scheitel aufgesetzten Stimmgabel wird nur im normalen Ohr wahrgenommen, was bezüglich der Differentialdiagnose zwischen Rupturen des Trommelfelles mit und ohne Labyrintherschütterung benützt werden kann, da bei letzteren die Stimmgabel nur im verletzten Ohr empfunden wird.
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Aeusserst selten wird nach Schlag Lähmung des Hörnerven selbst beobachtet. Einen wahrscheinlich hierher gehörigen, von dem Münchener Medicinal-Comité begutachteten Fall bringen Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1876, pag. 409, betreffend ein Individuum, welches mehrmals bei beiden Ohren gerissen und mit dem Kopfe gegen eine Thür gestossen worden war, sofort das Gehör verlor, ohne dass eine Trommelfellruptur oder Gehirnerscheinungen nachgewiesen werden konnten und auch Simulation ausgeschlossen werden musste.
Auch bei angeblich nach Verletzungen zurückgebliebener Taubheit ist an Simulation zu denken, die gerade hier durchaus nichts Seltenes ist. Besteht ein solcher Verdacht, so empfiehlt es sich, ausser dem erwähnten Stimmgabelversuche jene Verfahren einzuschlagen, die sich insbesondere den Militärärzten zur Entlarvung von Simulanten bewährt haben.[317] So das gleichzeitige leise Sprechen in beide Ohren und Nachsprechenlassen des Gehörten. Ist thatsächlich das eine Ohr taub, so kann der Betreffende sehr gut das nachsprechen, was ihm in das gesunde Ohr hineingelispelt wird, während, wenn auch das andere gesund ist, die gleichzeitigen und differenten Schalleindrücke sich so verwirren, dass der Betreffende gar nicht oder nur verwirrt nachzusprechen im Stande ist. Kahsnitz (Würzburger Diss. 1883) hat diese von L. Müller angegebene Untersuchungsmethode einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und hat gefunden, dass die Ueberleitung der Schallwellen von einem Ohre zum anderen eine sehr minimale ist, was die Brauchbarkeit obigen Verfahrens zur Entdeckung der Simulation einseitiger Taubheit wesentlich erhöht. Ebenso spricht für Simulation, wenn der Betreffende eine Uhr auch dann nicht zu hören angibt, wenn sie dem angeblich kranken Ohr so weit genähert wurde, dass er sie schon mit dem gesunden hören müsste; auch kann der Umstand, dass der Simulant zwischen Tast- und Gehörseindrücken nicht zu unterscheiden versteht, zu seiner Entlarvung beitragen, wenn z. B. derselbe, nachdem plötzlich hinter ihm auf den Boden gestampft wurde, kein Zeichen eines wahrgenommenen Eindruckes verräth, obgleich auch ein Tauber, freilich nicht den Schall, wohl aber die Erschütterung wahrgenommen und darauf reagirt haben würde. Andere Methoden siehe Virchow’s Jahresb. 1891, I, pag. 497.
Auch Ohrenflüsse werden simulirt und meist durch mechanische Reizung des äusseren Gehörganges hervorgebracht. In einem von der Wiener Facultät begutachteten Falle gab eine Bauernmagd an, dass vier Monate nach einem erhaltenen Schlage auf den Kopf ein Ohrenfluss eingetreten sei, und producirte eine Menge kleiner Knochenstückchen, welche in der letzten Zeit aus dem Ohre abgegangen sein sollten. Diese Knochenstückchen waren auffallend gleich und einzelne zeigten deutliche Schnittränder. Die Annahme einer Simulation lag [S. 471]nahe und wurde auch durch unmittelbare Untersuchung der Magd ausser Zweifel gestellt.
Die Verletzungen der Lippen und der ziemlich häufig vorkommende Verlust von Zähnen durch Einschlagen mit den verschiedenartigsten stumpfen Werkzeugen können wegen der zurückbleibenden Entstellung eine gerichtsärztliche Bedeutung erhalten; man wird jedoch, wenigstens bezüglich des Verlustes von Zähnen, selten in der Lage sein, denselben als eine auffallende Verunstaltung, beziehungsweise für eine „erhebliche“ Entstellung zu erklären, weil es sich nur ausnahmsweise um den Verlust mehrerer Zähne oder einer ganzen Zahnreihe handelt, weil ferner ein solcher Verlust verhältnissmässig leicht künstlich ersetzt werden kann, und wohl auch darum, weil der Defect von Zähnen eine so häufige, freilich anderweitig veranlasste Erscheinung ist, dass er nicht gut in gleiche Linie mit jenen Verunstaltungen gesetzt werden kann, die das Gesetz offenbar vor Augen hatte. Ein „Verlust“ der Sprache kann durch Verletzungen der Lippen oder durch Verlust von Zähnen allein nicht entstehen, auch ist nicht wohl anzunehmen, dass nach derartigen Verletzungen eine solche Erschwerung oder Behinderung der Sprache zurückbleiben sollte, dass von „bleibender Schwächung der Sprache“ im Sinne des §. 156 allgem. österr. St. G. gesprochen werden könnte. Ob der Verlust von Zähnen, insbesondere von Vorderzähnen als eine „schwere Verletzung“ im Sinne des §. 152 des österr. St. G. zu erklären ist, wird von der Natur des concreten Falles abhängen, insbesondere auch von dem Umstand, ob die Zähne, respective das Gebiss vor derem Verluste gesund gewesen sind oder nicht.
Von den durch stumpfe Werkzeuge bewirkten Verletzungen am Halse scheiden wir hier jene, die durch Strangulation in ihren verschiedenen Formen entstehen, aus, da wir diese anderwärts ausführlich besprechen werden. Von anderen nennen wir zunächst die Contusionen des Kehlkopfes. Eine heftige Contusion des nervenreichen Kehlkopfes kann nach Fischer[318] auch ohne sonstige Beschädigung desselben plötzlich durch Shock oder durch Glottiskrampf tödten, eine Möglichkeit, auf die wir beim Erwürgungstode zurückkommen wollen. Fracturen des Kehlkopfes oder seiner Hörner können, wenn derselbe seine jugendliche Elasticität verloren hat, nicht blos durch Strangulation, insbesondere durch Würgen, sondern durch die verschiedensten directen Gewalten, wie Schlag, Fall, Tritt, zu Stande kommen, ausserdem aber auch, wie mehrfache von uns gemachte Beobachtungen[319] ergaben, indirect durch
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Fall auf den Kopf und analoge Gewalten, und selbst durch den bei Durchschneidung des Vorderhalses stattfindenden Druck von vorne nach hinten, wenn das Messer stumpf oder plump war oder zunächst den verknöcherten Kehlkopf getroffen hatte. Fracturen des Zungenbeines können durch Würgen oder auch durch andere Gewalten erfolgen. Verletzungen des Kehlkopfes sind meist gefährliche Verletzungen, in Folge der Dyspnoe, die theils durch die verschobenen Bruchenden der Fractur, theils durch die rasch auftretende Schwellung der Kehlkopfschleimhaut und ausserdem durch mitunter hinzutretendes Emphysem der Weichtheile des Halses sehr rasch sich einzustellen pflegt und zum Tode führt, wenn nicht bald chirurgische Hilfe geleistet wird. Daher erklärt sich, dass nach Bruch des Kehlkopfes 80 Procent Sterbefälle verzeichnet sind.
Continuitätstrennungen der Trachea sind ebenfalls selten und kommen nur nach grossen Gewalten vor. Gurlt hat nur 9 Fälle in der Literatur gefunden, 4 isolirte und 5 mit Fractur der übrigen, das Skelet des Vorderhalses bildenden Knorpel. Nur einmal erfolgte Genesung, und zwar nach vorgenommener Tracheotomie. Ein Fall von wahrscheinlichem Querriss der Trachea durch einen Hufschlag mit Heilung ohne Tracheotomie wird von Lauenstein (Med. Centralbl. 1870, 52) mitgetheilt. Wir selbst haben die Ruptur der Trachea wiederholt, doch jedesmal combinirt mit anderen schweren Verletzungen, gefunden.
Direct den Nacken treffende stumpfe Gewalten können Commotion des Halsmarkes bedingen, auch Contusion desselben ohne Verletzung der Wirbelsäule; doch sind solche Folgen ebenso wie die Fracturen und Luxationen der Halswirbel selten, häufiger dagegen nach indirecter Gewalteinwirkung, so nach Fall auf den Kopf oder Auffallen schwerer Gegenstände auf diesen. So haben wir eine Fractur des 2. bis 3. Halswirbels bei einem Turner gefunden, der vom Reck auf den Kopf gefallen und sofort todt geblieben war, ebenso eine Fractur des 6. Halswirbels bei einem Manne, dem man ein 80 Pfund schweres Heubündel aus einer Dachlucke auf den Kopf geworfen hatte, der aber erst nach 12 Stunden starb. Verrenkungen und Fracturen der Halswirbel, namentlich der obersten, können ferner geschehen durch plötzliches Niederdrücken des Kopfes nach vorn, oder durch Aufheben des Körpers beim Kopfe, aber auch durch plötzliche Rotation (Halsumdrehen).
Bei einer von uns obducirten Frau war eine Fractur des 5. Halswirbels dadurch entstanden, dass, während die Frau am Boden kniete, ihr Mann sie bei den Zöpfen packte und bei gleichzeitig zwischen den Schulterblättern eingesetztem Knie den Kopf plötzlich nach hinten riss. Auf die Möglichkeit des Entstehens von Zerreissungen der Halswirbelsäule durch den sogenannten Prager Handgriff bei nachfolgendem Kopfe und durch ähnliche Manipulationen, die von den heimlich Gebärenden selbst unternommen werden können, werden wir am geeigneten Orte zurückkommen. Verletzungen der erwähnten Art bewirken in den meisten Fällen entweder augenblicklichen[S. 473] oder bald eintretenden Tod in Folge der meist unvermeidlichen Quetschung des Rückenmarkes, doch sind Heilungen durchaus nicht selten, namentlich bei sehr jungen Individuen.
Ueber die Schnittwunden am Halse haben wir das Nöthige bei Besprechung des Selbstmordes durch Halsabschneiden erwähnt. Bezüglich der Stichwunden sei bemerkt, dass dieselben ausser durch Verletzung der Luftwege und der grossen Halsgefässe auch durch isolirte Durchtrennung von Nerven eine besondere Wichtigkeit erlangen können. Einen Fall von Verletzung des einen Recurrens mit zurückgebliebener „Schwächung der Sprache“ haben wir oben mitgetheilt. Gleiche Folgen kann eine Verletzung des Vagus bewirken, die jedoch isolirt auch nach Stich nicht so leicht vorkommen dürfte. Einseitige Verletzung des N. hypoglossus ist ebenfalls möglich und thatsächlich beobachtet worden. Die consecutive Lähmung der betreffenden Zungenhälfte wäre theils als solche, theils bezüglich ihres Einflusses auf die Sprache zu beurtheilen. Endlich ist die Verletzung der einzelnen Nerven des Plexus brachialis zu erwähnen, welche Lähmung und consecutive Atrophie der betreffenden Extremität nach sich zu ziehen vermag.
Im Nacken können stechende Werkzeuge, besonders in der Lücke zwischen der hinteren Peripherie des Hinterhauptloches und dem hinteren Bogen des ersten Halswirbels, leichter eindringen. Solche Verletzungen sind natürlich meist sofort tödtlich (Genickfang). Doch haben wir einen Fall bei der Prager Facultät begutachtet, in welchem ein sehr kräftiger Fleischhauer einen an dieser Stelle eingedrungenen Messerstich überstand, insoferne, als er, nachdem er sofort gelähmt zusammengebrochen war, nach mehrmonatlichem Krankenlager sich soweit erholte, dass nur eine Lähmung derjenigen Körperhälfte zurückblieb, von welcher aus der Stich eingedrungen war. Offenbar hatte derselbe nicht das Rückenmark selbst, sondern nur dessen Häute getroffen, und die schweren Erscheinungen wurden durch die Blutung aus den getroffenen Gefässen in den Rückenmarkscanal erzeugt und durch den Druck, den das ausgetretene Blut auf das Rückenmark ausgeübt hatte.
Heftige Erschütterung der vorderen Brustwand kann durch Shock gefährlich werden, über welchen bereits oben gesprochen wurde. Contusionen der Lunge, welche sich anatomisch entweder durch subpleurale oder durch parenchymatöse Blutextravasate in Verbindung mit interstitiellem Emphysem kundgeben, sind häufig. In letzterem Falle kann sich die Verletzung während des Lebens durch Hämoptoe, umschriebene Lungenverdichtung und Dyspnoe bemerkbar machen (siehe Demuth, „Zur Lehre von der Contusionspneumonie“. Münchener med. Wochenschr. 1888, XXV, Nr. 32), aber auch echte croupöse Pneumonien können sich, nach Litten, Weichselbaum (Wiener med. Jahrb. 1886, 8 und Wiener med. Wochenschr. 1886, Nr. 39), Petit (Gaz. hebdom. 1886, Nr. 7) u. A.[S. 474] entwickeln, indem durch die Contusion ein Locus minoris resistentiae für das entzündungserregende Agens geschaffen wird. Die Contusionen der Lunge, respective Läsionen der Alveolen können sowohl direct als auch indirect, d. h. an von den unmittelbar comprimirten Stellen des Organs entfernteren Partien durch plötzliches Eintreiben der Luft entstehen.
Eine ungemein häufige Folge von contundirenden Gewalten sind Rippenbrüche, deren häufigsten Sitz die grösste Convexität des Rippenbogens bildet. Es ist nichts Seltenes, alle Rippen einer Seite und selbst beider Seiten an dieser Stelle und daher in einer Linie gebrochen zu finden, wenn die Gewalt eine heftige und auf den ganzen Thorax wirkende gewesen war, wie z. B. beim Verschüttetwerden, Sturz von bedeutender Höhe u. dergl. Die geringere oder grössere Elasticität der Rippen hat einen wesentlichen Einfluss auf die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit welcher Rippenfracturen entstehen. So ist bekannt, wie verhältnissmässig leicht Rippen alter Leute brechen, während uns bereits wiederholt vorgekommen ist, dass schwere Wägen über den Brustkorb von Kindern hinweggegangen waren und Rupturen der Lunge etc., aber keine Rippenbrüche erzeugt hatten. Die Rippenbrüche als solche geben in der Regel eine günstige Prognose, ihre Bedeutung wird aber dann eine schwere, wenn durch die Fracturen die Intercostalgefässe oder die Lunge selbst eingerissen wurden. Rascher Tod durch innere Verblutung ist dann die gewöhnliche Folge. Verletzungen des Herzens durch eingedrungene Rippen- oder Brustbeinfragmente werden von Fischer (Langenbeck’s Archiv. IX) und von Schuster (Ueber Verletzungen der Brust durch stumpfe Gewalt. Prager Zeitschr. f. Heilkunde. I, pag. 417) angeführt. Wir selbst haben sie oft gesehen und obducirten einen Verschütteten, bei welchem Fracturen fast sämmtlicher Rippen in der Achsellinie eine ausgebreitete Zerreissung der linken Lunge bewirkt hatten und das hintere Bruchende der 7. Rippe durch die Lunge in den Herzbeutel bis in die Pulmonalarterie unmittelbar über den Klappen eingedrungen war.
Rupturen der Brustorgane sind keineswegs selten und betreffen vorzugsweise die Lungen, und zwar häufiger die äusseren Partien der Lappen als die Gegend des Hilus; doch haben wir schon die Lunge vom Hilus fast vollständig abgerissen gesehen, und haben gefunden, dass die Lungengefässe eine viel grössere Resistenz gegen die betreffenden Gewalten zeigen als die Bronchien. Auch Rupturen des Herzens kommen in allen möglichen Formen vor, doch gehören zu ihrer Entstehung, ebenso wie zu jener der Lungen, bedeutende Gewalten, wie Auffallen von Lasten, Sturz von bedeutender Höhe u. s. w., ausgenommen, wenn gewisse pathologische Processe im Herzfleische, wie z. B. Myocarditis, bestehen, in welchem Falle die Ruptur nicht blos spontan, sondern auch nach geringfügigen äusseren Veranlassungen eintreten kann, ebenso wie die Ruptur der ungleich häufiger vorkommenden[S. 475] Aneurysmen des Anfangsstückes der Aorta.[320] In Fällen letzterer Art wäre selbstverständlich, wenn eine unbedeutende Gewalt die Ruptur und dadurch den Tod veranlasste, die Handlung nicht als eine ihrer allgemeinen Natur nach, sondern nur wegen der eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit tödtlich gewordene zu begutachten. Die traumatischen Rupturen des Herzens betreffen in der Regel das rechte Herz seiner schwächeren Wandungen wegen, während der Hauptsitz der spontanen Rupturen im linken Herzen sich findet, dessen Wandungen, wenn die Circulation im Gange ist, den grössten Druck auszuhalten haben. Zu den Curiositäten gehört das vollständige Abreissen des Herzens von seinen Gefässen, wie es Fischer und Casper (l. c.) beschreiben. Letzterer obducirte sogar einen Fall, in welchem durch einen auffallenden Baumstamm der Thorax zum Bersten kam und das abgerissene Herz mehrere Schritte weit geschleudert wurde und Gleiches haben wir zweimal bei von Eisenbahntrains Zermalmten beobachtet. W. Stokes (Edinb. med. Journ. 1831) sah auch eine Dextrocardie bei einem Menschen entstehen, der unter ein Mühlrad gekommen war.
Rupturen des Herzens sind fast ausnahmslos sofort tödtliche Verletzungen. Sehr kleine oder blos partielle können einige Stunden überlebt werden.[321] Gleiches gilt in der Regel von den Rupturen der Lungen, obwohl bei diesen der Tod nicht immer augenblicklich eintreten muss, wenn dieselbe nur die eine Lunge[S. 476] betraf, grosse Gefässe nicht verletzt wurden oder die Lunge durch Adhäsionen an den Thorax fixirt war, da wir einen alten Mann zu obduciren Gelegenheit hatten, bei welchem die erwähnten Bedingungen bestanden und der, nachdem ihm durch Ueberfahren die Ruptur der einen Lunge zugefügt wurde, noch im Stande war, sich zu erheben und unter Beihilfe Anderer in ein nahe liegendes Haus zu gehen, woselbst er erst nach drei Stunden starb.
Von den Verletzungen der hinteren Brustwand sind ausser den Brüchen der Wirbelsäule, welche auch nur nach grossen Gewalten vorkommen, insbesondere die Läsionen des Rückenmarkes durch Erschütterung zu erwähnen, welche entweder in gröberen Contusionen etc., der Medulla oder ihrer Hüllen bestehen oder aus anatomisch unscheinbaren Veränderungen zu chronischen meningo-myelitischen Processen sich entwickeln und zu schweren Functionsstörungen, namentlich Lähmungserscheinungen, führen können.
Zu letzterer Kategorie wurde die insbesondere aus Anlass von Entschädigungsklagen vielfach genannte „Eisenbahnlähmung“ (Railway-spine) gerechnet, welche ihren Namen daher führt, weil sie vorzugsweise nach Zusammenstoss von Eisenbahnzügen und ähnlichen Unglücksfällen beobachtet worden ist.
Als „Eisenbahnlähmung“ im engeren Sinne (Erichsen, Erb, Riegler u. A.) wurden insbesondere Fälle bezeichnet, in welchen unmittelbar nach dem Trauma keine oder nur geringfügige Erscheinungen auftraten und erst nachträglich allmälig, aber progressiv schwere, theils somatische, insbesondere Lähmungserscheinungen, theils psychische Symptome sich entwickeln, welche vorzugsweise in hypochondrischer Verstimmung und fortschreitender Demenz bestehen, so dass das sich entwickelnde Krankheitsbild einigermassen dem des paralytischen Irrsinnes oder, wie Westphal bemerkt, dem der multiplen Sclerose ähnelt.
Als Beispiel eines solchen Falles von „Eisenbahnlähmung“ möge ein von Moebius (Memorabilien. 1882, pag. 71) beobachteter dienen. Der bisher ganz gesunde, kräftige, 40jährige C. wurde bei einem Eisenbahnunfall von der Bank geschleudert, ohne dass er das Bewusstsein verlor, musste sich, nachdem er noch einige Stationen mitgefahren war, krank melden und bot schon nach 11 Tagen steife Haltung, vorsichtigen Gang, Steifigkeit im Nacken und Rücken, Schmerzhaftigkeit der Brustwirbel, wozu sich bald paretische Erscheinungen hinzugesellten, die in progressiver Entwicklung den C. vollkommen dienstunfähig machten. Die nach drei Jahren von Moebius vorgenommene Untersuchung ergab: Alle Einzelbewegungen erschwert, besonders das Heben der Arme, das Strecken der Unterschenkel und das Beugen der Wirbelsäule. Gang vorsichtig, unsicher. Unterschenkel zuckt beim Beklopfen der Patellarsehne. Schmerz- und elektrische Empfindlichkeit hochgradig herabgesetzt, ebenso das Tastgefühl. Schwanken nach Schluss der Augen. Schmerzhafte Punkte am Kopfe und an der [S. 477]Wirbelsäule; Gürtelgefühl; Taubheitsgefühl in Händen und Füssen. Rasche Ermüdung. Mässige Verminderung der Hörschärfe; gemüthliche Reizbarkeit, rasche geistige Ermüdung und zunehmende Gedächtnissschwäche. Ein Jahr darnach bestand derselbe Zustand, doch war mässige Verschlimmerung zweifellos.
Zahlreiche neuere Beobachtungen, insbesondere von Moeli, Putnan, Thomsen, Oppenheim[322], Charcot, welcher die Erkrankung als Hysterie nach Schreck mit Autosuggestion auffasst, Page (traumatische Neurasthenie), Vibert (Annal. d’hygiène. 1887, 1888 und 2 Kinder betreffend 1892), Strümpell (Ueber die traumatische Neurose. Berliner Klinik. 1888, Heft 3), Meynert (Zum Verständniss der traumatischen Psychose. Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 24) u. A. haben ergeben, dass das als „Eisenbahnlähmung“ bezeichnete Krankheitsbild wahrscheinlich gar nicht durch die Erschütterung und dadurch gesetzte materielle Veränderungen veranlasst wird, sondern als eine durch den psychischen Shock hervorgerufene Psychose und functionelle Neurose aufzufassen ist, dass die functionellen Störungen vorzugsweise vom Grosshirn abzuleiten sind, und dass es daher correcter wäre, den Ausdruck Railway-spine durch Railway-brain zu ersetzen. Auch wird das Krankheitsbild gegenwärtig allgemein als „traumatische Neurose“ bezeichnet, umsomehr, als sich ergab, dass dasselbe nicht blos nach Eisenbahnunfällen, sondern auch nach Erschütterungen und Verletzungen anderer Art, insbesondere nach Kopfverletzungen (Oppenheim), sich einstellen kann.
Nach Oppenheim bilden hypochondrisch-melancholische Verstimmung und abnorme Reizbarkeit den Kern der sich entwickelnden Seelenstörung, wozu meistens Gedächtnissschwäche, Verworrenheit und mitunter ausgesprochene Demenz hinzutreten. Hysterische Symptome, Schwindel, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, Parästhesien, insbesondere aber Anästhesien (in den typischen Fällen Hemianästhesien) der Haut und der Sinnesorgane, concentrische Gesichtsfeldeinengung, umschriebene Hyperästhesien und paretische Erscheinungen verschiedener Art wurden beobachtet. Impotenz und Darniederliegen der Geschlechtslust besteht meist schon frühzeitig, Heilung ist nicht ausgeschlossen, doch scheint sie selten zu sein, vielleicht, wie Oppenheim meint, der ungünstigen[S. 478] Verhältnisse wegen, in welchen viele der Verunglückten in Folge ihres Unfalles und in Folge Verzögerung der beanspruchten Entschädigung hineingerathen. Auch mag der Umstand, dass man solche Personen häufig für Simulanten hält und dementsprechend behandelt, das Seinige dazu beitragen. Einen solchen Fall hat neuestens v. Bergmann (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1889, LI, pag. 1) mitgetheilt. Dieser Ansicht ist auch Löwenfeld (Münchener med. Wochenschr. 1889, Nr. 38–40), welcher die Nothwendigkeit der Annahme einer eigenartigen traumatischen Neurose nach Erschütterungen nicht anerkennt, da ein für die „traumatische Neurose“ pathognomonisches Symptom nicht existirt. Ebenso negirend verhält sich Seligmüller (Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 30–34), welcher die grösste Reserve empfiehlt, da sich schon jetzt 2–30 Procent der Fälle als Simulation erweist.
Bei der Schwierigkeit solcher Beurtheilungen ist regelrechte und längere Beobachtung in einem Krankenhause und durch Specialsachverständige dringend angezeigt.
Stichwunden der Brust sind häufig, namentlich jene der Herzgegend. Bezüglich dieser ist zunächst zu bemerken, dass nicht selten ein gegen die Brust gezielter Stoss nicht in den Brustkorb eindringt, weil das Instrument entweder Knochen (Brustbein, Rippen) traf oder an diesen abgeglitten war. Es wäre dies wieder ein Fall, in welchem mit Rücksicht auf den §. 155 a des österr. St. G., beziehungsweise auf den §. 231, 2, des österr. Entw. und den §. 223 a des deutschen St. G. erklärt werden müsste, dass die Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf solche Art beigebracht wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist.
Dass bei penetrirenden Stichwunden gerade am Thorax häufiger als anderswo eine Verschiebung der Stichöffnungen eines Stichcanals in den einzelnen Schichten der Brustwand eintreten kann, wurde bereits oben erwähnt. Penetrirende Stichwunden betreffen, von jenen der Wirbelsäule abgesehen, entweder die Lungen, oder das Herz oder die grossen Gefässe des Thorax. Stichwunden der Lunge erzeugen meist sofort Pneumothorax und je nach dem Caliber und der Zahl der getroffenen Lungengefässe mehr weniger intensive Blutung in den betreffenden Brustfellsack; gleichzeitig wird Blut ausgehustet. Die momentane Lebensgefahr ist vorzugsweise durch die innere Verblutung gesetzt, während, wenn diese nicht bedeutend ist, der Pneumothorax für sich allein den Tod nicht sofort herbeiführen muss. Einen wesentlichen Einfluss auf die Bedeutung einer Lungenstichwunde hat der Umstand, ob die betreffende Lunge überhaupt, namentlich aber an der getroffenen Stelle, frei war, oder ob Adhäsionen mit der Thoraxwand bestanden, da in letzterem Falle ein Pneumothorax nicht oder nicht so leicht sich bildet und die Lunge, wenn nicht grosse Gefässe verletzt wurden, weiter fungiren kann. Namentlich für die Beurtheilung des momentanen Erfolges einer Lungenstichwunde ist[S. 479] der erwähnte Umstand von Wichtigkeit, ebenso wie es begreiflich ist, dass pleuritische Schwarten desto mehr ein Eindringen des Stiches in die Lungen zu verhüten im Stande sein werden, je dicker und fester sie sind. Am Lebenden ist die Diagnose, dass eine Brustwunde penetrirt, durch Erwägung der Symptome, die sie veranlasst, sowie durch Percussion und Auscultation zu stellen, niemals aber durch Sondirung. In einem zur Oberbegutachtung an die Facultät gelangten Fall, eine Lungenstichwunde betreffend, wurde von dem betreffenden Referenten mit Recht hervorgehoben, dass wahrscheinlicher Weise der protrahirte und lebensgefährliche Verlauf, den die Verletzung genommen hatte, durch Untersuchung der Stichwunde mit der Sonde durch die Gerichtsärzte (!) veranlasst wurde, da der Betreffende sich bis zu dieser Untersuchung durch mehrere Tage relativ wohl befunden hatte und erst nach dieser septische Erscheinungen aufgetreten waren.
Stichwunden des Herzens gehören zu den lebensgefährlichsten Verletzungen und haben in der Regel nach wenigen Augenblicken den Tod zur Folge. Die Ursache des letzteren ist nicht immer Verblutung, sondern häufiger die Behinderung der Herzbewegung durch das in den Herzbeutel austretende und schnell coagulirende Blut. Die Schnelligkeit, mit welcher der Tod nach einer Herzverletzung eintritt, wird abhängen von der Schnelligkeit, mit welcher das Blut aus der Stichöffnung austritt, und diese ist wieder bedingt durch die Länge des Stichcanals in der Herzwand (ob schief oder senkrecht diese durchdringend), ferner durch den Umstand, ob der Stich im Herzen, etwa versteckt zwischen den Trabekeln, endet oder auch die entgegengesetzte Herzwand durchbohrt, und ob nur eine oder beide Herzkammern, respective Vorkammern, eröffnet wurden.
Der Umstand, ob der Stich in longitudinaler oder in querer oder schiefer Richtung die Oberfläche des Herzens traf, ist wohl für den Verlauf der Wunde gleichgiltig, da die Faserung des Herzens eine so complicirte und verfilzte ist, dass von einem prävalirenden Einfluss bestimmter Muskelfasern auf das Klaffen einer Herzwunde nicht wohl die Rede sein kann. Dagegen lässt sich nicht leugnen, dass Verletzungen der linken Herzhälfte unter sonst gleichen Verhältnissen rascher den Tod, respective Bewusstlosigkeit, herbeiführen, als jene der rechten, da es sich bei diesen um Verlust venösen, bei jenen aber um Verlust arteriellen Blutes handelt.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass nicht alle Herzverletzungen ein sofortiges Zusammenstürzen des Getroffenen bewirken müssen, sondern dass es ganz wohl denkbar ist, dass nach Manchen Jemand noch im Stande sein kann, eine Strecke weiter zu gehen oder andere Handlungen vorzunehmen. So konnte in einem Falle (Fischer l. c.) der Verletzte sich noch einige Zeit wehren, in einem anderen seinen Feind noch eine kurze Strecke verfolgen und wir selbst haben eine ganze Reihe von Fällen obducirt, in welchen der Tod, respective das Zusammenstürzen erst einige Zeit[S. 480] nach der Verletzung erfolgte, unter Anderen einen Mann, der, nachdem er bei einer Rauferei einen Messerstich in’s Herz (8 bis 9 Mm. langer penetrirender Querschlitz in der linken Kammerwand) erhalten hatte, vor der hinzugekommenen Polizei davongelaufen, in der zweiten Gasse erwischt und erst beim Rücktransport zusammengebrochen war; und weiter einen Selbstmörder, welcher nach dem Stiche das Messer zusammenklappen und in die Tasche zu stecken vermocht hatte, so dass dieses Umstandes wegen anfangs an Mord gedacht worden war. Auch enden keineswegs alle penetrirenden Herzwunden mit dem Tode.
Fischer fand unter 452 von ihm gesammelten Fällen von Herzverletzungen 72 Fälle von Heilung, und zwar 36 durch Section sichergestellt, 36 durch Symptome vermuthet. In 12 Fällen fanden sich fremde Körper im Herzen eingeheilt, und zwar 6mal Nadeln, 5mal Kugeln und 1mal ein Dorn. Bezüglich dieser Heilungen ist jedoch zu bemerken, dass sie auch nur unvollständig sein können, so z. B. darum, weil die vernarbte Stelle als Locus minoris resistentiae sich aneurysmatisch erweitern und nachträglich doch zum Tode führen kann. Ein höchst interessanter Fall einschlägiger Art ist der jenes, auch von Fischer erwähnten Schusters in Bologna, der zwar von einem Dolchstich, den er in das Herz bekam, genas, jedoch seitdem Zeichen der Insufficienz der Bicuspidalklappen darbot und nach mehreren Monaten in Folge dieses Leidens unter hydropischen Erscheinungen starb. Die Section ergab, dass das Messer in den linken Ventrikel eingedrungen war, die Zipfel der Bicuspidalis aufgeschlitzt und dadurch eine traumatische Insufficienz bewirkt hatte.
Nach unserem Gesetze wäre kein Zweifel, dass, wenn ein derartiger Fall noch während des Lebens zur Begutachtung käme, die Verletzungsfolge als „Verfall in Siechthum“ zu classificiren wäre.
Mitunter trifft man Fälle, wo bei einer Stichöffnung in der Haut zwei oder selbst mehrere in den Brustorganen, besonders im Herzen, sich finden. Bayard (Briand-Chaudé, Med. leg. 1879, I, 474), Elvert (Kopp’s Jahrb. I, 142) und Haschek (Wiener med. Bl. 1879, 671) theilen solche Fälle mit. Wir haben zweimal diesen Befund gesehen, und zwar jedesmal bei Selbstmördern; im ersten Fall war bei kleiner einfacher Hautöffnung die vordere Herzwand zweimal, im zweiten bei ebenfalls einfacher, jedoch 4 Cm. langer Hautwunde dreimal durchstochen. Ebenso fanden wir bei einem Gastwirth, der sich mit einem grossen Messer erstochen hatte, einen 5 Cm. langen Einstich in der linken Mamillarlinie über der achten Rippe, den betreffenden Rippenknorpel einfach schief durchschnitten, im Zwerchfell und im linken Leberlappen je drei, in der vorderen Magenwand fünf und in der hinteren Magenwand, sowie in der Vorderwand des oberen Stückes der Aorta je vier Stichöffnungen, welche nach hinten immer schmäler und in der Aorta nur 4–5 Mm. lang waren. Solche Befunde können zu Stande kommen, wenn die Stichwaffe wiederholt in eine und dieselbe Hautwunde eingestossen, oder nachdem sie theilweise herausgezogen, wieder vorgestossen wurde, [S. 481]wobei beidesmal auch eine Erweiterung der Hautwunde stattfinden kann. Blieb das spitzige Instrument in der Wunde stecken, so ist es auch möglich, dass die in die Herzwand gelangte Spitze bei einer Herzcontraction wieder frei werden und bei der Diastole die Herzwand angespiesst oder geritzt werden kann.
Bezüglich der Schussverletzungen des Herzens gilt in den meisten Beziehungen dasselbe, was von den Stichen gesagt wurde. Da solche Verletzungen meist mit Substanzverlust verbunden sind und in der Regel auch die entgegengesetzte Herzwand durchdringen, so sind sie meist von sofortigem Tod begleitet. Dass aber auch nach solchen Verletzungen die Betreffenden manchmal noch einige Schritte zurücklegen können, lehren sichergestellte Beobachtungen.
So erzählt Bartholin von einem Hirsch, der noch 50 Schritte lief, obgleich die Kugel beide Kammern und das Septum durchdrungen hatte. Ebenso berichtet Hyrtl von einem Hirsch, der, obgleich in’s Herz getroffen, noch über einen Fluss zu schwimmen vermochte. Dass Selbstmörder sich mit kleinen Schusswaffen, insbesondere mit Revolvern, mehrmals durch’s Herz schiessen können, wurde pag. 413 erörtert. Erst unlängst fanden wir bei einem 19jährigen Kellner drei dicht beisammen stehende geschwärzte Schusswunden in der Herzgegend, von denen zwei das Herz durchbohrten und die dritte das Fleisch der linken Herzkammer durchdrang. Dass Herzschusswunden auch heilen können, geht aus den angeführten Angaben Fischer’s hervor. Nach Verletzungen mit kleinen Spitzkugeln, namentlich aus Revolvern, kann ein solcher Ausnahmsfall gewiss leichter vorkommen, als bei Projectilen älterer Art, die grössere und weitere, mit Substanzverlust verbundene Oeffnungen erzeugen. Hierher gehört der Fall von Heilung eines Schusses durch den rechten und linken Ventrikel mit Zurücklassung einer Communication beider, über welchen Conor berichtet und der ein Seitenstück zu dem Falle des oben erwähnten Bologneser Schusters bildet (Virchow’s Jahresb. 1877, II, 295), ebenso ein von Kundrat (Anzeiger der k. k. Gesellschaft d. Aerzte in Wien vom 7. Februar 1884) mitgetheilter, wo nach einem nicht penetrirenden Nahschuss gegen die Herzgegend, bei einem bis dahin ganz gesunden Manne sich linksseitige Klappeninsufficienz und ein partielles Herzaneurysma an der äusseren Wand des linken Vorhofes über dem Klappenring entwickelt und nach fünf Monaten unter Erscheinungen von allgemeinem Hydrops zum Tode geführt hatte.
Traumatische Rupturen der Aorta sind selten und kommen in der Regel nur nach sehr bedeutenden Gewalten und combinirt mit anderen Verletzungen vor. Spontanrupturen der aufsteigenden Aorta haben wir in der Form des Aneurysma dissecans wiederholt gefunden, und zwar auch ohne auffällige endarteritische Erkrankung. Zweimal war angeborene Stenose des Isthmus die Ursache. In einem Falle (Endarteritis deformans der absteigenden Aorta) vermochte der Mann, da sich das Blut zunächst unter die Adventitia und erst an einer entfernteren Stelle in die linke Pleurahöhle ergossen hatte, noch seine und seines Arztes Adresse[S. 482] anzugeben. Verletzungen der Aorta durch Schuss sind bei Selbstmördern, die sich in die Brust geschossen haben, häufig; auch kommen bei diesen, wie bereits oben (pag. 312) erwähnt wurde, Rupturen der Intima, durch Prellung der Aorta durch das vorbeifahrende Projectil nicht gar selten vor. Stichwunden der aufsteigenden Brustaorta, eventuell der sonstigen grossen Brustgefässe, von vorn begegnet man verhältnissmässig häufig. In einem unserer Fälle war nur die Messerspitze in den Arcus aortae durch das vordere Mediastinum eingedrungen, so dass die Oeffnung in der Intima nur 1 Mm. betrug. Die Verletzung wurde, da keine auffälligen Erscheinungen bestanden, für eine leichte erklärt und der Mann starb erst am 16. Tage an Pericarditis. Ueber Fälle von geheilten oder in Vernarbung begriffenen Stichwunden der Brustaorta berichtet Emmert (Friedreich’s Bl. 1880, pag. 129), sowie (Ibid. 1882, pag. 161) über einen anderen, erst nach 12 Stunden letalen, wo die Messerklinge durch den 3. Brustwirbel in die Brustaorta eingedrungen war und bei der Section in das Lumen der letzteren hineinragend gefunden wurde.
Verletzungen des Zwerchfells können sowohl vom Brustkorb als von der Bauchhöhle aus erfolgen. Als isolirte Verletzungen kommen sie nur selten vor, am seltensten wohl die Rupturen, deren Entstehung eine bedeutende Gewalt erfordert, die wohl kaum andere Organe intact lassen wird. Stichverletzung der Zwerchfellkuppe haben wir wiederholt beobachtet, und es ist wohl denkbar, dass eine solche isolirt oder wenigstens ohne schwere Läsion anderer Organe vorkommen kann. Die Gefahr solcher Verletzungen liegt vorzugsweise in dem Austritte der Baucheingeweide in die Brusthöhle und in der dann leicht erfolgenden Incarceration. In den Schmidt’schen Jahrb. 1853, I, 56, wird über eine 14jährige russische Officierstochter berichtet, welche an einem eingeklemmten Zwerchfellbruch starb, der von Stich- und Hiebwunden her datirte, die sie als 2jähriges Kind durch Tscherkessen erhalten hatte. Angeborene Zwerchfellhernien haben wir wiederholt gesehen. Ausserdem kam ein Fall eines Mannes zur Section, der plötzlich an Herzverfettung gestorben war, bei dem sich ein kindskopfgrosses Dünndarmconvolut im linken Brustfellsacke fand, welches mit den Rändern einer grossen Zwerchfelllücke verwachsen war und keine Incarcerationserscheinungen darbot. Es blieb zweifelhaft, ob die Hernie angeboren oder etwa durch traumatische Ruptur entstanden war.
Des Shockes durch Erschütterung des Bauches, sowie der Rupturen der grossen Drüsen des Unterleibes wurde bereits oben (pag. 280 und 357) Erwähnung gethan. Rupturen des Magens sind selten. Wir haben eine solche isolirt noch nicht beobachtet, dagegen wiederholt combinirt mit anderen Rupturen nach Sturz von bedeutender Höhe und ähnlichen grossen Gewalten. Wiederholt[S. 483] haben wir traumatische, meist mit lappiger Ablösung verbundene Rupturen der Magenschleimhaut gesehen, dreimal combinirt mit Rupturen anderer Bauchorgane nach Gerathen zwischen Puffer, Auffallen eines schweren Steines und nach Pferdehufschlag, dann bei einem 45jährigen Manne, der beim Umwerfen eines Wagens unter diesen gerathen war und eine complicirte Fractur des Unterschenkels erlitten hatte und endlich combinirt mit Milzruptur bei einer überfahrenen alten Frau. Derartige Rupturen können vielleicht auch isolirt vorkommen und zur Entstehung von Magengeschwüren Veranlassung geben. In der That berichtet Duplay (Virchow’s Jahrb. 1881, II, 178) über 3 Fälle, in welchen nach Insulten der Magengegend alsbald Blutbrechen und dann Erscheinungen von Magengeschwür auftraten, und Leube (Wiener med. Blätter, 1886, pag. 143) über zwei andere, von denen der eine, in welchem die Zufälle seit einem durch das Sprengstück eines explodirten Maschinenkessels erfahrenen Insult bestanden, zu forensischer Untersuchung wegen Schadenersatz Veranlassung gegeben hatte. Ritter (Zeitschr. f. klin. Med. XII) hat die Sache experimentell verfolgt und es gelang ihm bei Hunden durch Hammerschläge gegen die Magengegend während der Verdauung Hämorrhagien zwischen Muscularis und Mucosa zu erzeugen. Bemerkenswerth ist, dass auch spontane Magenrupturen vorkommen, und Chiari, Lantschner und wir haben ziemlich gleichzeitig je einen solchen Fall beobachtet (Virchow’s Jahresb. 1881, I, 177). Key-Aberg (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1891) sah Magenrupturen nach forcirter Ausspülung des Magens entstehen. Bei seinen Versuchen waren sie stets schlitzförmig und entlang der kleinen Krümmung situirt.
Rupturen des Darms können im Allgemeinen desto leichter sich bilden, je mehr derselbe durch Gas oder sonstigen Inhalt ausgedehnt ist. Verhältnissmässig am häufigsten sind Rupturen des Duodenums und des Anfangsstückes des Jejunums und wir haben schon wiederholt eine vollständige Abreissung des letzteren vom ersteren, einmal sogar combinirt mit einem Querriss des Duodenums, gefunden. Die Fixirung dieser Darmschlinge einerseits und die harte Unterlage der Wirbelsäule anderseits spielen dabei offenbar eine wesentliche Rolle. Noch leichter können Darmrupturen entstehen, wenn in einem Bruchsack befindliche Darmschlingen von einer stumpfen Gewalt plötzlich getroffen werden, weil in diesem Falle der Darminhalt in Folge der momentan an der Bruchpforte entstehenden Knickung nicht in die Bauchhöhle entweichen kann. Wir haben drei solche Rupturen gesehen, von denen zwei durch Fusstritt und die dritte durch einen Pferdehufschlag veranlasst worden war.[323] Sind Geschwüre im Darm vorhanden, so reicht[S. 484] mitunter eine unbedeutende Gewalt hin, um dieselben zur Perforation zu bringen. In einem solchen, sowie in dem vorhergenannten Falle wäre die „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ hervorzuheben.
Beachtenswerth sind die von Zillner (Virchow’s Archiv, Bd. 96, pag. 307 und A. Paltauf (Ibidem Bd. 111, pag. 491) beobachteten Spontanrupturen des mit Meconium gefüllten Dickdarms bei Neugeborenen mit nachfolgender Peritonitis, die wahrscheinlich während des Geburtsactes und durch denselben entstehen. Sie können eventuell für Klysmenverletzungen gehalten werden. A. Ludewig (Diss., Greifswald 1891) hat eine solche bei Atresia ani beobachtet.
Rupturen der Harnblase als isolirte Verletzungen gehören zu den seltenen Vorkommnissen. Wir haben sie zweimal beobachtet, beide Male bei alten Männern, die im betrunkenen Zustande misshandelt worden waren, der eine durch Fusstritte, der andere, indem er aus dem Wirthshause über mehrere Stufen hinausgeworfen wurde. Beide Male sass die Ruptur am Scheitel der Blase näher der hinteren Fläche. Die meisten solcher in der Literatur enthaltenen Fälle sind durch Misshandlung oder Fall u. dergl. im trunkenen Zustande entstanden, und die Füllung der Blase mit Harn lässt dies erklärlich erscheinen. Ist die Blase entleert oder nur wenig gefüllt, so liegt sie so geschützt, dass nur ganz ausnahmsweise eine solche Ruptur wird entstehen können. Häufiger als die isolirten sind die secundären Rupturen der Harnblase bei Beckenzertrümmerungen, wovon wir mehrere Fälle und namentlich wiederholt vollständige Abreissung der Harnblase von der Urethra zu Gesichte bekamen. Auch durch forcirte Füllung der Harnblase, z. B. bei Steinoperationen, kann Ruptur der Blase eintreten (Ullmann, Wiener med. Wochenschr. 1887, Nr. 23).
Fracturen der Lendenwirbelsäule und des Beckens kommen nach Sturz von einer Höhe, bei Verschütteten und Ueberfahrenen sehr gewöhnlich vor, und lassen ihrer Natur nach immer auf das Stattgehabthaben einer grossen, mit einem stumpfen Werkzeuge ausgeübten Gewalt schliessen.
Verhältnissmässig häufig begegnen wir in der forensischen Praxis der Angabe, dass ein Individuum in Folge einer Misshandlung eine Hernie davongetragen habe. Die gerichtsärztliche Beurtheilung solcher Fälle hat zunächst von dem, von sämmtlichen Chirurgen der Neuzeit anerkannten Grundsatze auszugehen, dass bei einem normal gebauten Individuum eine Hernie nicht plötzlich entstehen könne, ausgenommen, es wären Rupturen der betreffenden Stelle der Bauchwand durch die Verletzung entstanden, sondern dass sich[S. 485] eine solche nur dort zu bilden vermöge, wo bereits ein Bruchsack durch angeborene Anlage[324] oder durch später erfolgte allmälige Entstehung (trichterförmiges Hervorgezogenwerden des Bauchfells durch Fettklümpchen und Erweiterung des Bruchsackes durch das Nachdrängen der Eingeweide, Cloquet, Emmert, Nussbaum, u. A.) vorgebildet sei, in welchem Falle allerdings das Heben schwerer Lasten, Fusstritte gegen den Unterleib, Knieen auf demselben und ähnliche Misshandlungen das Austreten einer Darmschlinge in die bereits vorhandene Bauchfellausstülpung veranlassen können. Es setzt demnach die Möglichkeit der Entstehung einer Hernie durch solche Misshandlungen immer eine bereits vorhandene Disposition des betreffenden Individuums zum Acquiriren eines solchen Leidens voraus, die zweifelsohne in die Kategorie der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ gehört und als solche in dem gerichtsärztlichen Gutachten jedesmal hervorgehoben werden müsste.
Die weitere Beurtheilung würde die Erwägung erfordern, ob thatsächlich erst die betreffende Misshandlung das Eintreten einer Darmschlinge in den bereits vorgebildeten Bruchsack bewirkt habe oder nicht. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass einestheils Jemand erst durch eine Misshandlung auf einen Bruch aufmerksam gemacht worden sein konnte, der bereits früher bestand, aber weil er klein war und keine Beschwerden veranlasste, von ihm übersehen wurde, und dass anderseits die Möglichkeit besteht, dass Jemand einen Bruch erst durch eine Misshandlung acquirirt zu haben behauptet, während er ihn schon lange besass und von seinem Vorhandensein auch Kenntniss hatte. Entstand ein Bruch erst durch eine Misshandlung, so ist nicht gut denkbar, dass die Bildung desselben, respective das Eintreten einer schon äusserlich merkbaren Darmschlinge in den vorgebildeten Bruchsack ohne subjective Symptome, namentlich ohne Schmerz an der betreffenden Stelle, erfolgt sein konnte. Auch objective Symptome, wie Erbrechen und Reactionserscheinungen am Bruche selbst, werden sich bemerkbar machen. Ergibt demnach die Anamnese solche Erscheinungen, dann unterstützen sie die Angabe des Verletzten, dass erst durch die Misshandlung der Bruch hervorgetreten sei, während anderseits eine solche Angabe keinen Glauben verdient, wenn erwiesen wird, dass der Betreffende unmittelbar nach der Misshandlung keine solchen[S. 486] Symptome darbot, sondern sich in einer Weise benahm, aus welcher hervorgeht, dass er keine Beschwerden gehabt haben konnte, oder wenn er gar angibt, dass erst einige Zeit nach der Misshandlung das Bestehen eines Bruches von ihm bemerkt worden sei. Auch die Grösse des Bruches muss in Betracht gezogen werden, da es natürlich ist, dass in Folge einer Misshandlung nur kleine Hernien entstehen werden, die sich, wie jede andere, erst nachträglich vergrössern können. Wenn demnach etwa bei Jemandem, der seine Hernie von einer Misshandlung herleitet, kurz nach letzterer eine Hernie gefunden wird, die bereits eine beträchtliche Grösse besitzt, eventuell schon in’s Scrotum herabsteigt, so kann nicht blos von einem causalen Zusammenhang zwischen Misshandlung und Hernie nicht die Rede sein, sondern es ist damit auch die Angabe widerlegt, dass der Betreffende früher das Vorhandensein eines Bruches nicht bemerkt habe.
Liesse sich constatiren, dass eine Misshandlung wirklich die Bildung einer Hernie, wenn auch nur wegen der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ des Verletzten, zur Folge gehabt habe, so wäre eine solche Verletzung wegen der grossen Belästigung, die das Bestehen einer Hernie sowohl für sich, als durch das Tragen eines Bruchbandes bewirkt, und weil ein solches Leiden anstrengende Arbeiten contraindicirt und den Betroffenen den Gefahren einer zufällig eintretenden Brucheinklemmung aussetzt, im Sinne des gegenwärtigen österr. St. G. nicht blos als eine „schwere Verletzung“, sondern auch als eine solche zu bezeichnen, die eine „unheilbare Krankheit“ (vide pag. 335) im Sinne des §. 156b nach sich gezogen hatte. Würde aber eine solche Verletzung im Sinne des österr. St. G.-Entwurfes oder im Sinne des deutschen St. G. zu begutachten sein, so könnte dieselbe nicht als „schwere Körperverletzung“ erklärt werden, da keine der Folgen, die der §. 232 des österr. St. G.-Entwurfes, beziehungsweise der §. 224 des deutschen St. G. erwähnt, hier als vorhanden angenommen werden könnte. Es sind nur zwei Ausdrücke in diesen Paragraphen, die in einem solchen Falle in Frage kommen könnten: die Entstellung und der Verfall in Siechthum. Von einer Entstellung kann aber nicht die Rede sein, da eine Hernie einestheils verhältnissmässig leicht verborgen werden kann und anderseits im bekleideten Zustande nicht auffällt; was aber den Verfall in Siechthum betrifft, so würde die Annahme einer solchen Verletzungsfolge mit der allgemeinen Erfahrung im Widerspruche stehen, welche lehrt, dass eine grosse Zahl von Individuen, die Hernien besitzen, durchaus nicht als Sieche gelten, sondern, wenn sie gute Bruchbänder tragen, sich in den meisten Dingen wie Gesunde verhalten und blos gewisse ungewöhnliche Anstrengungen vermeiden müssen. Daher könnte auch von einer bleibenden Berufsunfähigkeit (§. 156c des österr. St. G.) nur bei Individuen die Rede sein, deren Beruf schwere Körperarbeit, insbesondere starke Anstrengung der Bauchmusculatur, erfordert. In diesem Sinne hat sich auch anlässlich eines bestimmten[S. 487] Falles das Münchener Medicinal-Comité ausgesprochen[325] und es wurde in diesem Gutachten auch bemerkt, dass die Lebensversicherungs-Gesellschaften das Leben Bruchleidender, wenn dieselben nur passende Bruchbänder tragen, zu normaler Prämie versichern, woraus hervorgeht, dass die Lebensdauer solcher Individuen, wenn sie sonst das richtige Verhalten beobachten, durch das Bruchleiden erfahrungsgemäss nicht wesentlich verkürzt werde.
Dass bei einer bestehenden Hernie durch eine Quetschung des Bauches oder ähnliche Gewalten der Eintritt einer Incarceration veranlasst werden kann, kann wohl nicht bezweifelt werden. Eine solche Einklemmung wäre nach dem österr. Gesetz nur dann als „schwere“, eventuell lebensgefährlich gewordene Verletzung zu beurtheilen, wenn die Reposition nicht leicht und bald gelingt, doch wäre unter allen Umständen das Moment der „eigenthümlichen“, respective „krankhaften“ Leibesbeschaffenheit zu betonen.
Was die Beurtheilung der Hernien im Sinne des Unfall-Versicherungsgesetzes betrifft, so hat das deutsche Reichsversicherungsamt zu dieser häufigen Frage in wiederholten Entscheidungen eine grundsätzliche Stellung genommen. Hiernach muss einerseits ein Unfall im gesetzlichen Sinne vorliegen; der Bruchaustritt muss also ein zeitlich bestimmtes, in plötzlicher Entwicklung sich vollziehendes Ereigniss darstellen. Anderseits darf dieser Unfall nicht lediglich zeitlich oder örtlich, sondern er muss ursächlich mit einem versicherungspflichtigen Betriebe in Zusammenhang stehen, und zwar dergestalt, dass der Bruchaustritt im Anschluss an eine schwere körperliche Anstrengung erfolgt, welche zugleich über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hinausgeht. „Es hiesse,“ sagt das Reichs-Versicherungsamt, „den Berufsgenossenschaften ein ungebührliches Risico aufbürden, wenn ihnen Hernien, die bei natürlich erweiterter Bruchpforte schon im Anschlusse an die geringeren Anstrengungen des täglichen Lebens auszutreten geneigt sind, stets dann zur Entschädigung zugewiesen würden, wenn der Bruch in Folge einer nicht grösseren Anstrengung im Betriebe oder zwar in Folge einer schweren Arbeit, die aber dem mit der Bruchanlage behafteten Arbeiter geläufig ist, hervortritt.“ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1892, Nr. 15, Beilage.) Bei Einklemmung einer Hernie als „Unfall“ würde wohl nur dann eine dauernde Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit angenommen werden können, wenn durch die Einklemmung und deren Consequenzen das Bruchleiden wesentlich verschlechtert oder besondere Folgen, z. B. Anus praeternaturalis, zurückgeblieben wäre.
Penetrirende Bauchwunden können Lebensgefahr theils durch innere Verblutung, theils durch secundäre entzündliche Vorgänge bedingen. Im ersten Falle, wenn grosse Gefässe oder blutreiche[S. 488] Organe (Leber, Milz) getroffen werden, kann der Tod sehr bald nach der Verletzung eintreten. Secundär entzündliche Processe werden insbesondere durch Verletzungen des Magens oder des Darmes veranlasst in Folge von Austritt des betreffenden meist putriden Inhaltes in den Bauchfellsack, und machen in der Regel erst nach einigen Tagen, mitunter jedoch schon nach einigen (in einem unserer Fälle, der einen Stich in den Magen betraf, schon nach 8) Stunden unter Erscheinungen der Perforations-Peritonitis dem Leben ein Ende. Heilungen von Stich- oder Schussverletzungen des Magens sowohl als des Darmes sind schon in vorantiseptischer Zeit vorgekommen, gegenwärtig gelingen sie, wenn rechtzeitig eingeschritten wird, immer häufiger.
Absichtliche Verletzungen des Mastdarmes kommen nur äusserst selten vor. Uns ist nur ein solcher Fall bekannt, in welchem einem Manne, der einem Bauernweibe nachgestiegen war, von dem Gatten der Letzteren und mehreren Anderen aufgelauert und dann mit Hilfe eines Steines ein Holzpflock in den After eingetrieben worden war, welcher, da der Verletzte das Geschehniss verheimlichte, erst nach einigen Tagen durch einen Chirurgen, nicht ohne Mühe entfernt werden konnte, ohne dass schwere Erscheinungen aufgetreten wären. Der König Eduard II. von England wurde bekanntlich durch Einführung eines glühenden Eisens in den Mastdarm ermordet. Verletzungen des Mastdarmes durch ungeschickt gesetzte Klysmen sind nicht gar selten. Ein forensischer Fall dieser Art, in welchem der Tod einer Wöchnerin durch eine solche Ungeschicklichkeit oder Fahrlässigkeit erzeugt wurde, indem die Hebamme mit der Spitze der Spritze die Mastdarmwand durchbohrt und dann die Flüssigkeit eingetrieben hatte, findet sich in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1866, pag. 104 u. ff., ein anderer in Schmidt’s Jahrb. 1870, 182. Auch wir sahen einen solchen Fall, der durch die Ungeschicklichkeit eines Wärters veranlasst wurde, jedoch glücklicher Weise günstig verlief, während in den früher genannten Fällen Verjauchung der Beckenweichtheile und letale Peritonitis die Folge gewesen war.[326] Nordmann (Baseler Diss.[S. 489] 1887) hat zahlreiche solche Fälle zusammengestellt. Nach Esmarch (Krankh. des Mastdarmes und des Afters. 1887, pag. 47) kommen auch spontane Zerreissungen des Mastdarmes vor.
A. Männliche Genitalien. Attentate auf diese kommen verhältnissmässig selten vor und bestehen dann meist nur in Zerrungen oder Quetschungen derselben. Solche können, wenn sie die Hoden betreffen, Entzündungen dieser und Atrophie zur Folge haben, die, wenn beide Hoden auf diese Weise verletzt wurden oder der andere bereits früher functionsuntüchtig war, Zeugungs- (Befruchtungs-) Unfähigkeit zu bedingen vermögen. Ob auch ohne Atrophie der Hoden durch Quetschung derselben Aspermatozie entstehen kann, ist vorläufig noch fraglich. Auch Gangrän des Penis[327] sowohl als der Hoden kann nach bedeutenden Quetschungen eintreten und in ihren Folgen Beischlafs-, beziehungsweise Befruchtungsunfähigkeit bedingen. Castration oder Verlust des Penis durch Traumen würden bezüglich ihrer gerichtsärztlichen Beurtheilung keinen Schwierigkeiten unterliegen, namentlich was die Frage des Verlustes der Zeugungsfähigkeit betrifft, bezüglich welcher wir auf das an anderen Orten Gesagte verweisen.
Die ohne ärztliche Indication ausgeführte Castration und die Abtragung des Penis hat in neuerer Zeit eine ganz specifische forensische Bedeutung erhalten durch die in Russland aufgetauchte Secte der Skopzen, deren Adepten in Folge religiös-fanatischer Verblendung ihre Genitalien auf mannigfache Weise verstümmeln. Wir verdanken die nähere Kenntniss dieser merkwürdigen Secte Pelikan’s ausgezeichneter Arbeit: „Gerichtlich-medicinische Untersuchungen über das Skopzenthum in Russland“, Giessen 1876, in welcher eine ganze Reihe forensisch-medicinischer Fragen besprochen werden, die aus Anlass der strafrechtlichen Verfolgung dieser Secte sich ergeben haben, und die insbesondere um die Unterscheidung derartiger absichtlicher Verletzungen von durch chirurgische Operation oder durch pathologische Processe verursachten Defecten, sowie um Bestimmung der Zeit, wann und die Art, wie die Operation vorgenommen wurde, sich drehen und um die Folgen, die daraus für die Zeugungsfähigkeit [S. 490]entstehen. Wir verweisen bezüglich dieser hochinteressanten Fragen auf das genannte Werk und unsere Besprechung desselben in der Wiener med. Wochenschr. 1876, Nr. 50 u. ff. Vorläufig ist nicht anzunehmen, dass auch an unsere Gerichtsärzte die Nothwendigkeit herantreten werde, auf die erstgenannten Unterscheidungen Rücksicht zu nehmen; was jedoch die Erfahrungen betrifft, die aus Anlass der Beobachtungen an den Skopzen für die Lehre der Zeugungsfähigkeit gewonnen wurden, so haben wir nicht unterlassen, dieselben bei der Besprechung der Fortpflanzungsfähigkeit zu verwerthen.
Bei der Beurtheilung der Verletzungen an den männlichen Genitalien ist auch die bekannte Empfindlichkeit dieser Theile und der Blutverlust zu erwägen, der gewöhnlich mit solchen Verletzungen einherzugehen pflegt. Namentlich sind es die Verletzungen des Penis, bei welchen die Blutung, die theils aus den durchtrennten grösseren Gefässen (Dorsalgefässen), theils aus den cavernösen Körpern entsteht, selbst einen lebensgefährlichen Charakter erhalten kann.
Isolirte Verletzungen der männlichen Harnröhre, die sowohl durch schneidende Instrumente als auf andere Art, z. B. durch Strangulation des Penis, entstehen können, vermögen traumatische Hypospadie zu bewirken, die in der Regel noch weniger leicht eine Zeugungsunfähigkeit bedingen wird, als die angeborene Hypospadie, welche bekanntlich häufig mit einer Verkümmerung des Penis und hakenförmigen Krümmung desselben nach abwärts verbunden ist. Auch ist die traumatische Hypospadie gewöhnlich leicht durch Operation zu beseitigen, was von der angeborenen nicht immer gesagt werden kann.
Fahrlässige Verletzungen des Penis können auch durch die rituelle Circumcision erzeugt werden, und zwar entweder dadurch, dass mit der Vorhaut auch ein Theil der Eichel abgekappt oder dass durch unreine Instrumente Tuberculose oder Syphilis übertragen wird. Bei der Beurtheilung des letzteren Vorkommnisses, sowie wenn der weitere schlechte Verlauf einer Beschneidung in Folge von Erysipel, Gangrän etc. dem Beschneider zugeschoben wird, ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass entzündliche Infiltrationen in der Eichelfurche und am Frenulum syphilitische Sklerosen vortäuschen können und dass Erysipel etc. auch nach richtig ausgeführter Circumcision durch anderweitig hinzugekommene Schädlichkeiten hervorgerufen worden sein konnte.
B. Weibliche Genitalien. Wir sehen hier, sowie wir dies auch bei den männlichen Genitalien und bei der Besprechung der Verletzungen des Afters und Mastdarmes gethan haben, von jenen Beschädigungen ab, die diese Theile in Folge unzüchtiger Attentate erleiden können, da wir diese bei der Behandlung der gesetzwidrigen Befriedigung des Geschlechtstriebes ausführlich erörtert haben.
Von den Folgen, welche durch contundirende Gewalten, wenn sie entweder den Bauch oder die Scham selbst getroffen hatten, an den weiblichen Genitalien auftreten können, verdient[S. 491] nur die Entstehung von Vorfällen des Uterus oder der Scheide eine besondere Besprechung, da derartige Verletzungsfolgen nicht gar selten angegeben werden und deren Beurtheilung keineswegs immer eine leichte ist. Die Erfahrung lehrt, dass solche Vorfälle in der Regel allmälig sich bilden und sich somit analog verhalten, wie die Hernien. Ferner lehrt die Erfahrung, dass ihrer Entstehung gewöhnlich Momente vorausgehen, welche eine Erschlaffung des ganzen Genitalapparates, insbesondere aber eine Insufficienz derjenigen Apparate bedingen, die in normalem Zustande bestimmt sind, Uterus und Scheide in ihrer physiologischen Lage zu erhalten.[328] Hierher gehören insbesondere vorausgegangene, namentlich wiederholte Entbindungen, Dammrisse, vorzeitiges Verlassen des Wochenbettes u. dergl. Am häufigsten ist die Senkung der vorderen Scheidenwand die Folge von Schwangerschaft. Seltener ist die Senkung der hinteren Scheidenwand das Primäre und wird dann meist bedingt durch Dammriss und Schrumpfung der entstandenen Narbe. Die Senkung führt in ihrer weiteren Entwicklung zum Vorfall und nach und nach wird auch der Uterus hervorgezerrt (Martin). Dass, wenn einmal die Disposition zur Entstehung solcher Dislocationen der Scheide und des Uterus in Folge der genannten Momente gegeben ist, gewisse Misshandlungen, insbesondere Insulte, die den Bauch treffen und dessen Inhalt nach abwärts drängen, die Bildung eines Vorfalles oder, vielleicht häufiger, das stärkere Vortreten eines bereits in seinen Anfängen vorhandenen Vorfalles bewirken können, unterliegt keinem Zweifel. Aber es wäre in einem solchen Falle ebenso die „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ hervorzuheben, wie dies bei der gerichtsärztlichen Beurtheilung von aus ähnlichen Anlässen entstandenen Hernien angezeigt ist.[329] Ob auch bei einem Weibe, dessen Geschlechtsorgane normale Verhältnisse bieten, derartige Misshandlungen die[S. 492] Entstehung, insbesondere die plötzliche Entstehung von Senkungen oder Vorfällen der Scheide und des Uterus bewirken können, muss vorläufig noch fraglich erscheinen, dagegen ist nicht zu zweifeln, dass es gewisse Verletzungen gibt, die, wie z. B. jene des Dammes, des Scheideneinganges oder der Scheide selbst, theils indem sie die normalen Stützen der Scheide und des Uterus lädiren, theils durch den Zug der entstehenden Narben zur Bildung von Senkungen und Vorfällen die veranlassende Ursache werden können.
Auch in anderen Beziehungen wird bei der gerichtsärztlichen Beurtheilung solcher Verletzungsfolgen wie bei jener der Hernien vorzugehen sein. So werden die Natur und Gewalt der betreffenden Misshandlung und die eventuellen Spuren, die sie zurückliess, in Erwägung kommen müssen. Ferner ob und welche Erscheinungen sofort nach der Misshandlung im Allgemeinen sowohl, als besonders an den Genitalien auftraten und ob der betreffende Vorfall in seinen Eigenschaften die Behauptung der Misshandelten unterstützt, dass er thatsächlich zu jener Zeit, in welcher die Misshandlung stattfand, erst entstand, oder ob eben dieser Eigenschaften wegen geschlossen werden muss, dass die Betreffende schon früher und vielleicht schon seit Langem damit behaftet war. Zu letzteren Eigenschaften gehört der Abgang jeder Reaction, die leichte Reponirbarkeit, sowie die Grösse des Vorfalles, dann besonders die Beschaffenheit der Schleimhaut desselben, da bekanntlich bei Vorfällen, die aus der Schamspalte ausgetreten und den Einflüssen der Luft ausgesetzt sind, der Schleimhautüberzug vertrocknet und das Epithel einen epidermisartigen Charakter erhält.
Liesse sich der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Senkung oder einem Vorfall der genannten Theile und einer Misshandlung nachweisen, so müsste der bleibende Nachtheil, den die Verletzte dadurch erlitt, nach gleichen Grundsätzen beurtheilt werden, wie wir sie bezüglich der Hernien angeführt haben. Dass solche Senkungen und Vorfälle einen Verlust der Zeugungsfähigkeit nicht bedingen, haben wir an einer anderen Stelle bereits erwähnt.
Die Verwundungen der äusseren Genitalien haben eine grosse forensische Bedeutung der schweren und selbst lebensgefährlichen Blutungen wegen, die sie veranlassen können.
Die Zahl der in der Literatur verzeichneten Fälle von hochgradiger und selbst tödtlicher Verblutung aus verhältnissmässig unbedeutenden Verletzungen der äusseren Genitalien ist eine beträchtliche. Die von Müller und von Klapproth mitgetheilten Fälle haben wir bereits (pag. 121) angeführt. Eine Reihe anderer findet sich zusammengestellt in Schmidt’s Jahrb. 1872, CLIII, pag. 310, und 1873, CLVII, pag. 67. Wir selbst besitzen das Genitale einer Frau, welche im schwangeren Zustande auf eine Bettleiste auffiel, dabei sich einen 2 Cm. langen Schleimhautriss zwischen Clitoris und Harnröhrenmündung[S. 493] zuzog, welcher, da ärztliche Hilfe zu spät gesucht wurde, noch am selben Tage den Tod durch Verblutung zur Folge hatte. Wir verdanken das Präparat der Güte des Herrn Prof. Heschl. Ebenso obducirten wir vor einigen Jahren eine kräftige, nach der Entbindung an Verblutung gestorbene Frau, bei welcher ein Querriss der Schleimhaut an der Basis der Clitoris als Ursache der profusen Blutung nachgewiesen wurde. Sowohl unsere, als die meisten anderen Fälle betrafen Schleimhautrisse der Clitorisgegend und die Verblutung erklärt sich aus dem Gefässreichthum dieser Partie, vielleicht auch aus der klappenlosen Beschaffenheit der dortigen Venen (Parvin, Schmidt’s Jahrb. 1873, l. c.). In vielen Fällen, aber keineswegs in allen, waren es Schwangere, die auf solche Weise in Lebensgefahr kamen, so dass Grund vorhanden ist zur Annahme, dass die während der Schwangerschaft bestehende grössere Turgescenz jener Theile eine wichtige Rolle bei solchen Vorkommnissen spielt. Weltrubsky (Wiener med. Blätter. 1883, pag. 291) erwähnt eines Falles von Cramer, in welchem bei einer 35jährigen Schwangeren nach dem Coitus mit einem fremden Manne Genitalblutung und Tod eintrat in Folge eines geborstenen Varix der Clitorisgegend. Auch in dem Falle von Müller sprachen die Umstände dafür, dass der betreffende Schleimhautriss durch sexuelle Excesse (Manipulationen) veranlasst worden war.
Nicht immer sind es zufällige Verletzungen, um die es sich handelt. Niemann (Gerichtliche Leichenöffnung, drittes Hundert. Henke’s Zeitschr. XXXIX, 2, pag. 310 u. ff.) berichtet über eine absichtliche Tödtung einer Frau durch einen Schnitt in die äusseren Genitalien, welchen sie von ihrem eifersüchtigen Ehemann erhalten und der unmittelbar hinter der inneren linken Schamlefze 1" unter der Clitoris in der Länge von 1" die Schleimhaut bis in das Untergewebe durchschnitten hatte. Einen ähnlichen Fall hat Draper (Boston med. and surg. Journ. 1884, pag. 217) begutachtet, in welchem der Mann glauben machen wollte, dass sich sein Weib die Verletzung selbst bei einem Fruchtabtreibungsversuch zugefügt habe. Es fand sich jedoch ein leerer Uterus. Ferner sahen Watton und Mitchell Hill (Schauenstein, l. c. pag. 446) in kurzer Zeit nach einander zwei Ermordungen der Gattin durch den Ehegatten durch Schnitte in die Nymphen und die Scheide. In beiden Fällen hatten sich die Thäter durch die verborgene Stelle der Verletzung so sicher gefühlt, dass sie, als ihre Opfer im Sterben lagen, ärztliche Hilfe für diese gesucht hatten, um die Sache als natürliche Blutung hinzustellen. — Ueber Verletzungen der Genitalien bei weiblichen Skopzen berichten Pelikan (l. c.) und Lapin (Arch. f. Gyn. XVI, pag. 143).
Verletzungen der inneren Genitalien kommen ausser durch seltene Zufälligkeiten, wie Auffallen auf spitze und lange Gegenstände, verhältnissmässig noch am häufigsten bei der Fruchtabtreibung durch mechanische Mittel vor, wie wir bereits erwähnt haben. Absichtliche Verletzungen dieser Theile gelangen nur sehr selten zur Beobachtung.
[S. 494]
Schauenstein (l. c. pag. 447) erwähnt eines Mordes, der an einer durch einen Schlag betäubten Frau dadurch ausgeübt wurde, dass man ihr einen Holzkeil in die Scheide eintrieb, der das Scheidengewölbe durchriss und in die Bauchhöhle gelangte. Ebenso ist muthwilliges oder boshaftes Einbringen fremder Körper in die weiblichen Genitalien mit mehr weniger schweren nachfolgenden Erscheinungen beobachtet worden. So findet sich in Maschka’s Gutachten I ein Fall, in welchem einem Weibe nach dem Coitus ein Schilfrohr in die Genitalien gesteckt wurde, das nachträglich zur Bildung einer Blasenscheidenfistel Veranlassung gab. Hierher gehört auch der Fall des von Casper erwähnten Mädchens, welchem die Scheide mit Steinchen ausgestopft und dabei vielfach verletzt worden war. Ueber beim Coitus entstandene Scheidenverletzung wurde oben (pag. 127) gesprochen. Bei einer von uns obducirten Prostituirten, welche nach einem Coitus Blutungen bekam und im Spitale einige Tage darnach starb, fanden wir septische von einem 4 Cm. langen bis unter das Bauchfell sich vertiefenden Riss des rechten Scheidengewölbes ausgehende Erscheinungen. Das Mädchen und der Angeklagte gaben an, dass von letzterem zuerst der Finger eingeführt und dann der Coitus ausgeübt wurde. Offenbar war Verletzung durch brutales Einbohren des ersteren entstanden, wofür auch die trichterförmige Vertiefung der Wunde und ein deutlich halbmondförmiger, zweifellos von einem Fingernagel herrührender oberflächlicher Schleimhautriss in der Nachbarschaft sprach. Ueber Beschädigungen der inneren Genitalien durch Kunstfehler, namentlich durch ungeschicktes Anlegen der Zange oder bei der Wendung, s. den trefflichen Vortrag von Fritsch „Uterusruptur in foro“. Virchow’s Jahrb. 1891, I, 527.
Ausser der Lebensgefahr, die einzelne der genannten Verletzungen, insbesondere die perforirenden, zu bewirken pflegen[330], können andere bleibende und schwere Nachtheile zurücklassen. Insbesondere wären unheilbare Harn- und Kothfisteln zweifellos als „Siechthum“ im Sinne der Gesetze aufzufassen, da bei solchen Leiden alle jene Bedingungen zutreffen, unter denen von Siechthum gesprochen werden kann. Dass solche Verletzungen auch Zeugungsunfähigkeit, und zwar nicht blos Beischlafsunfähigkeit nach sich ziehen können, wurde bei Besprechung dieser erörtert.
Verhältnissmässig häufig wird ein Abortus mit erlittenen Misshandlungen in ursächlichen Zusammenhang gebracht, und es wurde mit Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 4. Juli 1855 ausgesprochen, dass eine „schwere Verletzung“ im Sinne des §. 152 des österr. St. G. unzweifelhaft auch dann vorhanden sei, wenn die Misshandlung einer Schwangeren eine Fehlgeburt zur[S. 495] Folge hatte. Dass direct den Unterleib, beziehungsweise den Uterus treffende intensive, namentlich wiederholte Insulte, wie Stösse, Fusstritte und Quetschungen der verschiedensten Art, Abortus bewirken können, unterliegt keinem Zweifel. Es kann dies geschehen durch Sprengung des Eies, durch Ablösung desselben von der Uteruswand, sowohl durch die directe Erschütterung als durch die consecutive Blutung zwischen Uterus und Placenta; vielleicht auch durch unmittelbare Tödtung der Frucht oder durch Uteruscontractionen, die durch die mechanische Irritation ausgelöst wurden. Auch der allgemeinen Gefäss- und Nervenaufregung, die mit Misshandlungen verbunden zu sein pflegt, kann ein Einfluss auf das Eintreten einer Fehlgeburt nicht abgesprochen werden. Bei Verwundungen der Genitalien sowohl als auch anderer Organe muss eine solche Möglichkeit noch eher zugegeben werden, da zu der unmittelbaren Wirkung der Verletzung auch die secundären Zufälle hinzukommen, die sie veranlassen kann.
Trotzdem lehrt die Erfahrung, dass sowohl die erst erwähnten Misshandlungen als auch Verwundungen der Genitalien oder anderer Körpertheile, die an Schwangeren geschehen, verhältnissmässig selten Abortus bewirken. So berichtet Thomann (Wiener med. Presse. 1867, Nr. 39 und „Schwangerschaft und Trauma“. Wien 1889) von einer ausgebreiteten Zerreissung des Dammes und des Mastdarmes, die sich ein im sechsten Monate schwangeres Weib durch Fall auf einen Gartenzaun zugezogen hatte, und die mit Heilung endete, ohne dass die Schwangerschaft unterbrochen worden wäre. Eine Reihe solcher Fälle, in welchen schwere Verletzungen der Genitalien, die durch Auffallen auf Zaunpflöcke, Stuhlbeine etc. entstanden waren, keine Fehl- oder Frühgeburt bewirkten, wird von Magacz im gleichen Blatte, 1872, 189, mitgetheilt.
Ueber den Einfluss grösserer chirurgischer Operationen auf den Verlauf der Schwangerschaft wurden von Cohnstein (Med. Centralbl. 1874, pag. 192) und von Massat in Paris (Schmidt’s Jahrb. 1874, CLXIV, pag. 265) Beobachtungen in grosser Zahl angestellt, welche lehrten, dass in mehr als der Hälfte der Fälle (54·5%, Cohnstein) die Schwangerschaft regelmässig verlief, dass aber der Ort der Operation sich insoferne bemerkbar mache, als die Fälle, an welchen an den Harn- und Geschlechtsorganen operirt wurde, das Hauptcontingent jener lieferten, die mit vorzeitiger Unterbrechung der Schwangerschaft endeten (von den 54·5% Cohnstein’s nicht weniger als 32%), Schröder und Veit (Virchow’s Jahrb. 1876, II, 558) sahen die Schwangerschaft ungestört normal verlaufen, trotz im siebenten Monat vorgenommener Ovariotomie, und nach Olshausen (Prager med. Wochenschr. 1878, pag. 352) trat bei 14 in der Schwangerschaft Ovariotomirten nur 4mal Unterbrechung der Schwangerschaft ein.
Es wäre in einem solchen Falle Aufgabe des Gerichtsarztes, die Art der Misshandlung zu erwägen, ferner die Erscheinungen, die unmittelbar nach dieser sich eingestellt hatten, sowie jene, die[S. 496] in der Zwischenzeit zwischen der Misshandlung und dem Abortus eingetreten waren, wobei insbesondere zu erheben wäre, ob die Erscheinungen in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge sich so gestalten, dass schon daraus ein causaler Zusammenhang zwischen Misshandlung und Abortus entnommen werden kann. Bezüglich der Zeit, wann nach einer Misshandlung ein Abortus erfolgen muss, um überhaupt noch auf erstere bezogen werden zu können, dürfte es wohl für die meisten Fälle gelten, dass, wenn der Abortus thatsächlich durch eine Misshandlung veranlasst wurde, derselbe entweder kurz nach dieser oder mindestens in den ersten Tagen eintreten werde; es ist jedoch ganz wohl denkbar, dass durch solche Insulte zwar der Anstoss zur Fehlgeburt gegeben wird, dass aber dieselbe erst einige Zeit darnach erfolgt. Dies kann besonders dann geschehen, wenn durch den Insult zunächst die Frucht zum Absterben gebracht wurde, da die abgestorbene Frucht bekanntlich längere Zeit im Uterus getragen werden kann. In einem solchen Falle würde die Frucht macerirt geboren werden, und es wäre dann zu erwägen, ob der Grad der Maceration mit der Zeit übereinstimmt, die zwischen Verletzung und Abortus verflossen ist. Ist durch eine Misshandlung zuerst eine Erkrankung der Schwangeren veranlasst worden, in Folge welcher erst der Abortus sich einstellte, dann würde es auch von der Natur und dem Verlaufe dieser Erkrankung abhängen, ob der Abgang des Eies früher oder später erfolgt.
Die forensische Bedeutung der Verletzungen der Gliedmassen beruht vorzugsweise in dem Einflusse derselben auf die Brauchbarkeit der betreffenden Extremität und in dem Umstande, dass sowohl die immerwährende Unbrauchbarkeit einer Gliedmasse als ihr vollständiger Verlust von allen Gesetzen als besonders schwere Verletzungsfolgen ausdrücklich hervorgehoben werden.
Von den Verletzungen der Weichtheile erwähnen wir zunächst die der grossen Gefässe, welche einerseits zu lebensgefährlichen und selbst tödtlichen Blutungen, andererseits zu secundären Processen und selbst zum Absterben ganzer Gliedmassen führen können. In ersterer Beziehung sind wir allerdings häufig in der Lage, zu erklären, dass, wenn sofort zweckmässige Hilfe bei der Hand gewesen wäre, die Verblutung hätte verhindert werden können, aber wir haben bei Besprechung des Absatzes 2, lit. e des §. 129 der österr. St. P. O. erwähnt, dass dieser Umstand nur dann in Betracht kommen könnte, wenn die Herbeiziehung sachverständiger Hilfe möglich gewesen, aber unterlassen worden wäre, während es selbstverständlich ist, dass, wenn grosse Gefässe durch Stich, Schnitt oder Schuss verletzt wurden, meist die Verblutung so schnell eintritt, dass jede Hilfe in der Regel zu spät kommt.
[S. 497]
Verletzungen von Nerven können Lähmungen, beziehungsweise Anästhesien ganzer Gliedmassen oder einzelner Theile derselben bewirken, und es wird von der Ausdehnung und Intensität der letzteren abhängen, ob und in welchem Grade dieselben die Brauchbarkeit der Gliedmassen beeinträchtigen, und ob sie als „Verfall in Lähmung“ im Sinne des österr. Entwurfes und des deutschen St. G. aufgefasst werden können. Bei der Beurtheilung solcher Lähmungen wird zu berücksichtigen sein, dass, wenn Nerven nur einfach, theilweise oder auch ganz durchtrennt wurden, die durchtrennten Enden wieder verheilen können und damit auch die Leistungsfähigkeit der betreffenden Nerven wieder hergestellt werden kann, obgleich die vollständige Restitutio ad integrum meist längere Zeit erfordert.
Was die Verletzungen der übrigen Weichtheile, insbesondere der Muskeln und Sehnen, betrifft, so können diese theils als solche temporär oder bleibend die betreffenden Muskeln oder Muskelgruppen ausser Function setzen, oder durch die mannigfachen secundären Processe, die sich nach solchen Verletzungen nicht selten einzustellen pflegen. Im letzteren Falle wäre im Gutachten darauf Rücksicht zu nehmen, ob der betreffende secundäre Process in der allgemeinen Natur der Verletzung begründet war, oder nur zufällig hinzugekommen ist oder durch äussere Schädlichkeiten veranlasst wurde. Die Gangrän bildet ein Beispiel aller dieser drei Möglichkeiten.
Bei den Verletzungen der Knochen sind Luxationen und Fracturen zu unterscheiden. Bei beiden kommt insbesondere die Dauer der durch die Verletzung bedingten Unbrauchbarkeit der Extremität in Betracht. Luxationen, namentlich der grösseren Knochen, erfordern, selbst wenn sie sofort eingerichtet werden, mehrwöchentliche Schonung der betreffenden Gliedmassen, und es kann daher leicht von einer 20- bis 30tägigen Berufsunfähigkeit im Sinne des §. 152 und §. 155 b des österr. St. G. die Rede sein, jedenfalls aber von einer über eine Woche anhaltenden Berufsunfähigkeit im Sinne des §. 231, 1, des österr. St. G.-Entwurfes, vorausgesetzt, dass die Ausübung des Berufes des Betreffenden thatsächlich an die Functionsfähigkeit der betreffenden Gliedmasse geknüpft ist.
Bei der Beurtheilung von Luxationen ist auch darauf Rücksicht zu nehmen, dass bei einem luxirt gewesenen Gelenke leicht eine Disposition zur Entstehung neuer Luxationen zurückbleibt, was auch insoferne wichtig ist, als, wenn ein Individuum wiederholt ein und dasselbe Gelenk luxirt gehabt hatte, einer neuerlichen Luxation, die etwa durch eine Misshandlung veranlasst wurde, eine wesentlich geringere und selbst gar keine Bedeutung zukommen kann. So berichtet Hyrtl von einem Lastträger, der sich den Humerus so oft luxirt gehabt hatte, dass er schliesslich, wenn die Luxation wieder entstand, durch eine gewisse Bewegung des Armes selbst im Stande war, sie wieder zu reponiren; und in der Prager Siechenanstalt befand sich [S. 498]ein epileptisches Mädchen, das sich fast jedesmal während des Anfalles eine Luxation des rechten Oberarmkopfes zuzog, die wir mindestens 30mal zu reponiren in der Lage waren, was jedesmal durch einfachen Handgriff leicht gelang. Es ist selbstverständlich, dass sowohl bei dem Lastträger als bei unserem Mädchen der Entstehung der betreffenden Luxation durch Misshandlung eine gerichtsärztliche Bedeutung nicht zugeschrieben werden könnte.
Knochenbrüche veranlassen Unbrauchbarkeit der betreffenden Extremität bis zur Verheilung derselben durch festen Callus. Hierzu sind bei einfachen Knochenbrüchen nach Gurlt durchschnittlich erforderlich: bei Bruch eines Fingergliedes zwei Wochen, eines Mittelhand- oder Mittelfussknochens drei Wochen, des Vorderarmes fünf Wochen, des Oberarmes sechs Wochen, des Oberarmhalses sieben Wochen, des Unterschenkels acht Wochen, des Schienbeines sieben Wochen, des Wadenbeines sechs Wochen, des Oberschenkels zehn Wochen, des Schenkelhalses zwölf Wochen. Auch nach fester Vereinigung der Bruchenden ist häufig die Brauchbarkeit der Extremität noch nicht vollkommen vorhanden, insbesondere bedarf es längerer Zeit, bis die durch die lange Unthätigkeit geschwächte Musculatur wieder ihre frühere Kraft gewinnt. Solche lähmungsartige Zustände können aber auch von Zerrung von Nerven herrühren, mit welcher die Fractur (Luxation) verbunden war. Nach Golebiewski’s Erfahrungen bei Unfällen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, pag. 122) konnte keiner seiner 70 Fälle von Radiusfracturen vor der 13. Woche für erwerbsfähig erklärt werden und die Zeit bis zur völlig erlangten Erwerbsfähigkeit erreichte die enorme Höhe von durchschnittlich 3–4 Monaten, während sie de norma gewöhnlich 6 Wochen beträgt. Die Ursache hiervon ist vielfach in Verkennen der Fractur zu suchen, die für Verstauchung u. dergl. gehalten wird, ferner im allzulangen Liegenlassen der Verbände oder Vernachlässigung.
Dass comminutive oder complicirte Fracturen eine ungleich längere Heilungsdauer erfordern und häufig einen ungünstigen Verlauf nehmen, ist bekannt. Aber auch bei einfachen Fracturen kann die Heilung ungünstig verlaufen, und es können Pseudarthrosen, Verkürzungen oder Verkrümmungen der Extremitäten u. s. w. zurückbleiben. In solchen Fällen wäre zu erheben, ob derartige Folgen nicht etwa in einer unzweckmässigen Behandlung oder in Vernachlässigung der Verletzung ihren Grund haben, dies umsomehr, als bei keiner Art von Verletzungen so häufig die Hilfe von verschiedenen Curpfuschern, Natur- und Beinbruchärzten in Anspruch genommen wird, als bei Verletzungen der Extremitäten überhaupt und bei Knochenbrüchen insbesondere.
Unheilbare Pseudarthrosen können hochgradige Unbrauchbarkeit der betreffenden Extremität bedingen und dieselbe wäre eventuell als „Lähmung“ aufzufassen. Bei Verkrümmungen der Extremitäten nach schlecht (unter einem Winkel) geheilten Fracturen und ebenso bei starken Verkürzungen besonders der unteren[S. 499] Extremitäten mit consecutivem Hinken müsste erwogen werden, ob diese Formveränderungen derart in die Augen springen, dass sie als auffallende Verunstaltung (erhebliche Entstellung) angesehen werden müssen.
Den Verlust von ganzen Extremitäten, sowie der Hand und des Fusses nennen die Gesetze ausdrücklich. Ob jener von Fingern oder Fingergliedern als Verunstaltung oder erhebliche Entstellung aufzufassen wäre, müssten die concreten Verhältnisse entscheiden. Der Umstand, dass im Gesetze blos vom Verlust des Armes, der Hand, eines Fusses etc. die Rede ist, schliesst die Möglichkeit nicht aus, dass auch der Verlust kleinerer Theile einer Extremität unter Umständen als erhebliche Entstellung (Verunstaltung) erklärt werden könnte.
Gewöhnlich versteht man unter Erstickung den durch mechanische Behinderung der Aspiration der atmosphärischen Luft veranlassten Tod, indem man dann unterscheidet: Erstickung durch Verschluss der Respirationsöffnungen durch feste Körper oder durch ein flüssiges Medium; Erstickung durch Verschluss der grösseren Respirationscanäle durch feste oder flüssige Körper oder durch von aussen wirkenden Druck (Strangulation), ferner Erstickung durch Behinderung der Excursionsfähigkeit der Brustwände (Erdrückt- und Verschüttetwerden) und endlich die Erstickung durch traumatischen Pneumothorax.
Es ist nicht zu leugnen, dass diese Erstickungsformen viel Eigenthümliches besitzen und dass man allen Grund hat, sie für sich zu behandeln; aber das Eigenthümliche liegt nicht in der letzten Todesursache, in der Erstickung, sondern in den specifischen äusseren, mechanischen Vorgängen, durch welche diese veranlasst wurde. Dies folgt aus der Thatsache, dass eine grosse Reihe anderer, von den erwähnten ganz verschiedener Vorgänge den Tod ebenfalls durch Sistirung des respiratorischen Gasaustausches, somit durch Erstickung herbeiführt.
So kann in gleich letaler Weise die Aspiration von Luft dadurch sistirt werden, dass der Respirationsmechanismus durch innere Vorgänge, so durch acutes Lungenödem, Pneumothorax oder durch Störungen der Innervation, ausser Thätigkeit gesetzt wird. In letzterer Weise äussert sich die Wirkung vieler Gifte, die entweder, wie z. B. das Curare, die Respirationsmuskeln lähmen, oder, wie das Strychnin, dieselben tetanisiren, oder die, wie fast alle sogenannten cerebrospinalen Gifte, das automatische Athmungscentrum mit oder ohne vorausgegangene Reizung in Lähmung versetzen.
Auch der Tod durch vasomotorischen Krampf (Epilepsie) und durch directe Reizung oder traumatische Lähmung der Medulla oblongata gehört hierher.
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Ausserdem gibt es eine Reihe von Processen, welche durch Sistirung der sogenannten „inneren Athmung“ den Tod durch Erstickung bewirken. Diese wird, wie bekannt, durch das circulirende Blut vermittelt, welches den Sauerstoff in den Lungen aufnimmt und den einzelnen Organen zuträgt, und es ergibt sich daraus, dass ebenfalls Erstickung erfolgen wird, wenn entweder die Blutcirculation sistirt, oder wenn die Quantität des die Lungen passirenden Blutes sich in einem solchen Grade verringert, dass die durch dieses aufgenommene Sauerstoffmenge nicht mehr genügt, um den Sauerstoffbedarf des Körpers zu decken, oder endlich, wenn das Blut die Fähigkeit verliert, Sauerstoff in den Lungen aufzunehmen und an die einzelnen Organe abzugeben. In ersterwähnter Weise erfolgt der Tod durch Erstickung bei Herzlähmung, möge nun diese durch Giftwirkung oder durch Shock oder fettige Degeneration der Herzmusculatur (eine sehr häufige Ursache des plötzlichen Todes) oder durch andere Herzkrankheiten bewirkt worden sein, ferner nach Embolie der Pulmonalarterienstämme; in zweiter Art sehen wir den Tod eintreten bei der Verblutung und für die dritte bietet uns die Kohlenoxydvergiftung ein ausgezeichnetes Beispiel, welche dadurch tödtet, dass das Kohlenoxyd sich mit dem Hämoglobin des Blutes verbindet und diesem so die Fähigkeit entzieht, den respiratorischen Gasaustausch zu vermitteln.
Es folgt daraus, dass wir unter Erstickung nur den Tod durch Aufhebung der Respiration überhaupt bezeichnen können und dass, wenn man, wie gewöhnlich, die Erstickung als den durch Behinderung der Aspiration der atmosphärischen Luft bewirkten Tod definirt, diese Definition nicht richtig ist, weil sie nicht für die Erstickung im Allgemeinen, sondern nur für gewisse, allerdings wohl charakterisirte Erstickungsformen zutrifft. Eine solche allzu enge Auffassung des Begriffes der Erstickung muss umsomehr aufgelassen werden, als in dem Festhalten an ihr der Hauptgrund liegt, weshalb bis in die neueste Zeit den einzelnen, die Diagnose der Erstickung zusammensetzenden Symptomen nicht immer die richtige Deutung zu Theil geworden ist.
Trotzdem wollen wir hier vorzugsweise nur die sogenannten mechanischen Erstickungsformen im Auge behalten, weil wir die anderweitig, insbesondere die durch Gift veranlassten, an einer anderen Stelle behandeln werden und weil die mechanischen Erstickungsformen nicht blos durch die Vorgänge, die sie bewirken, und die Spuren, die letztere zurücklassen, viel Specifisches bieten, sondern auch als Typus des Erstickungstodes überhaupt gelten können, da bei ihnen ausschliesslich die Entziehung der atmosphärischen Luft den Tod bewirkt, während bei den übrigen Erstickungsformen noch andere Momente im Spiele sind, oder mit anderen Worten, weil in den ersteren Fällen der Tod primär, in den letzteren secundär durch Erstickung veranlasst wird.
Die Erscheinungen, welche die Erstickung während des Lebens erzeugt, sind zwar vorzugsweise nur an Thieren studirt,[S. 501] trotzdem nicht minder werthvoll für die Beurtheilung des Ganges der Dinge bei der Erstickung des Menschen. Wir wollen die wichtigsten derselben kurz besprechen.
Wird bei unbehindertem Respirationsmechanismus der Zutritt der atmosphärischen Luft zu den Lungen abgesperrt, so stellt sich nach wenigen Augenblicken Athemnoth ein, welche sich durch angestrengte, rasch auf einander folgende stürmische Athembewegungen äussert und als Dyspnoe bezeichnet wird. Ihr Ursache liegt in dem Reiz, welchen Erstickungsblut, respective nach Pflüger gewisse, sonst durch den Respirationsact oxydirte Stoffe auf das in der Medulla oblongata gelegene automatische Athmungscentrum ausüben.
Die dyspnoischen Athembewegungen zeigen in der ersten Minute nach erfolgter Suspension der Athmung vorwiegend inspiratorischen Charakter, während im Anfang der zweiten Minute, zusammenfallend mit dem Auftreten der Bewusstlosigkeit und der Convulsionen, der exspiratorische prävalirt, welches Stadium gewöhnlich in der Mitte der zweiten Minute mit einem secundenlangen Exspirationskrampf und darauffolgender tiefer Inspiration endigt. Hierauf kann man in den meisten Fällen einen mitunter minutenlangen Stillstand der Respiration beobachten, wonach die Respirationsbewegungen als sogenannte terminale Athembewegungen wiederkehren, welche aus tiefen, aber kurzen, wie schnappenden, meist mit weitem Oeffnen des Mundes einhergehenden Inspirationen bestehen, die in immer länger werdenden, bei jungen Thieren selbst 1–3 Minuten dauernden Zwischenpausen auftreten, in abnehmender Intensität 5–10mal und selbst noch öfters erfolgen, um dann dauernd zu sistiren.
Die Reihenfolge dieser Erscheinungen ist eine sehr constante, ihre Dauer aber zeigt manche Abweichungen. Am constantesten ist das eigentliche dyspnoische Stadium, während die Dauer und Intensität der sogenannten terminalen Athembewegungen variirt, ebenso auch die Dauer des Intervalls, welches zwischen der eigentlichen Dyspnoe und dem Auftreten der letzterwähnten nachträglichen Inspirationen liegt. Es scheint hierbei weniger die Erstickungsform, als vielmehr die Individualität von Einfluss zu sein, insbesondere die grössere oder geringere Schnelligkeit, mit welcher das betreffende automatische Respirationscentrum seine Erregbarkeit einbüsst. Letzteres Moment scheint besonders vom Alter und Ernährungszustande abzuhängen, da wir im Allgemeinen an jüngeren und kräftigeren Thieren viel deutlicher die erwähnten Stadien unterscheiden können und durchschnittlich länger dauern sehen als bei alten und herabgekommenen, ebenso wie Versuche lehren, dass bei durch frühere Insulte oder Erstickungsversuche ermatteten Thieren die Respirationsbewegungen viel früher aufhören als unter sonst normalen Verhältnissen. Aus gleichem Grunde ist der Verlauf der Erscheinungen am Respirationsapparat bei allmälig erfolgender Erstickung ein anderer als bei acuter und wir sehen z. B. bei einem Thiere, das wir unter hermetisch abgeschlossener Glasglocke in seiner eigenen Exspirationsluft[S. 502] ersticken lassen, die Respirationsbewegungen allmälig anstrengender und schneller, dann ebenso allmälig seltener und flacher werden und schliesslich ganz sistiren, ohne dass sich ein Stadium „terminaler“ Athembewegungen oder eine zwischen diesem und der eigentlichen Dyspnoe auftretende Pause bemerken liesse. Auch bei Erstickung Narcotisirter (Berauschter) dürfte sich das gewöhnliche Erstickungsbild anders gestalten, wenigstens fand Leontjew („Ueber den Einfluss gewisser Substanzen auf den Verlauf des Erstickungstodes.“ Virchow’s Jahrb. 1888, I, 423), dass die Anwesenheit von Alkohol im thierischen Organismus die Erstickung durch Verlängerung der Athmung verzögere, was er nicht allein der Fähigkeit des Alkohols, die Desoxydation des Blutes aufzuhalten und die Kohlensäurebildung zu vermindern, zuschreibt, sondern auch dem Einfluss auf das Nervensystem gleich dem des Morphin.
Die Bewusstlosigkeit tritt nach plötzlicher Unterbrechung der Respiration sehr bald, meist schon vor Beendigung der ersten Minute, auf und ihr Eintreten fällt zusammen mit dem der allgemeinen Convulsionen und des Exspirationskrampfes, welche in der ersten Hälfte der zweiten Minute ihre Höhe zu erreichen pflegen.
Auch in dieser Beziehung werden sich unzweifelhaft individuelle Unterschiede geltend machen. Bekanntlich ist nicht Jedermann im Stande, gleich lange den Athem einzuhalten, die Meisten kaum länger als 30–40 Secunden, und es ist bekannt, dass selbst geübte Taucher niemals länger als 50 Secunden unter Wasser auszuhalten vermögen. Unter den aufregenden Einflüssen einer wirklichen Erstickung wird diese Frist noch kürzer ausfallen und die Bewusstlosigkeit, die dann eintritt, wird durch den Ausfall der Oxydationsvorgänge im Grosshirn veranlasst, welches bekanntlich auf solche Störungen ungemein rasch und empfindlich reagirt. Die von Rosenthal und Czermak hervorgehobene Thatsache, dass man ungleich länger den Athem einzuhalten vermag, wenn man durch vorhergegangene, rasch sich folgende und tiefe Inspirationen einen Ueberschuss von Sauerstoff dem Blute zugeführt hatte, als wenn dies nicht geschehen war, ist in forensischen Fällen vielleicht belanglos, mag aber immerhin als Beweis dienen, dass die Erstickungsnoth und die alsbald folgende Bewusstlosigkeit nicht immer gleich schnell eintreten muss.
Die Convulsionen sind sehr constante Begleiter des Erstickungstodes. Ihr Charakter ist ein vorwiegend clonischer, doch treten nicht selten in der Acme der Erstickung Anfälle von Opisthotonus auf, mit welchen das convulsive Stadium meist abschliesst. Die Intensität und Dauer der Convulsionen ist ebenfalls nicht immer gleich, wird vielmehr entschieden von individuellen Verhältnissen beeinflusst, namentlich wieder vom Alter und vom Kräftezustand. Bei sehr erschöpften Thieren können sie ganz ausfallen; ebenso haben wir den Tod ohne Convulsionen auftreten sehen, wenn wir Thiere früher narcotisirten oder in ihrer eigenen Exspirationsluft ersticken liessen. Somit lässt sich erwarten, dass auch[S. 503] bei der Erstickung von Berauschten oder anderweitig Betäubten oder bei allmälig, z. B. in irrespirablen Gasen, sich vollziehender Erstickung die Convulsionen ausbleiben oder nur schwach ausfallen können.[331]
Auf die Störungen, welche der Kreislauf während des Erstickens erleidet, insbesondere auf die Erhöhung des Blutdruckes und die Stauung im venösen Kreislauf, werden wir bei Besprechung der an der Leiche sich ergebenden Symptome zurückkommen; hier wollen wir zunächst nur erwähnen, dass in Folge der Reizung und nachträglichen Lähmung des Vaguskernes durch das Erstickungsblut die Herzbewegungen während der Höhe der Erstickung verlangsamt sind, hierauf etwas frequenter werden, um dann allmälig an Zahl und Intensität abzunehmen bis zum vollständigen Erlöschen. Letzteres erfolgt jedoch keineswegs gleichzeitig mit der Sistirung der Athembewegungen, sondern in der Regel erst einige, und zwar mitunter ziemlich lange Zeit nach dieser. Bei Thieren ist es nichts Seltenes, das Herz noch ¼½ Stunde nach der Erstickung schlagen zu sehen, und auch für den Menschen existiren solche Beobachtungen, die sich namentlich auf asphyktisch geborene Kinder beziehen, von denen einzelne, wie wir beim Kindesmorde erwähnen werden, mitunter überraschend lange Zeit den Herzschlag darbieten, ein Vorkommniss, auf welches wahrscheinlich die meisten Fälle von sogenanntem „Leben ohne Athmen“ zu beziehen sind. Bei einer Justification durch den Strang, über welche wir in der Wiener med. Wochenschr., 1876, Nr. 52, berichteten, schlug das Herz noch 3 Minuten nach der Suspension deutlich und seine Pulsationen konnten noch durch weitere 5 Minuten durch Auscultation, freilich immer schwächer werdend, nachgewiesen werden.[332]
Wir haben hier zunächst nur jene Befunde im Auge, welche durch die Erstickung im Allgemeinen veranlasst, nicht aber jene, die nur durch bestimmte Erstickungsformen erzeugt werden, da letztere eine besondere Behandlung finden sollen.
Wir können äussere und innere Befunde unterscheiden.
A. Aeussere Befunde. Von untergeordnetem Werthe ist die bereits von Casper-Liman hervorgehobene Thatsache, dass die Leichen Erstickter langsamer erkalten als andere, eine Thatsache, die sich ungezwungen aus dem Umstande, dass es sich meist um ganz gesunde und gut genährte Individuen handelt, in deren Körper die ganze Blutmenge zurückbleibt, erklärt.
Nicht unwichtig ist das frühzeitige Auftreten und die intensive Ausbildung der Todtenflecke. Da bei fast allen Erstickungsformen[S. 504] (ausgenommen die mit Verblutung sich combinirenden) die ganze Blutmenge im Körper zurückbleibt und das Blut überdies in der Regel seine flüssige Beschaffenheit behält, so sind zur Bildung der Senkungserscheinungen überhaupt, insbesondere aber jener in der Haut, die wir als äussere Leichenhypostasen (Todtenflecke) bezeichnen, die günstigsten Bedingungen gegeben. Da aber die volle Blutmenge und die flüssige Beschaffenheit des Blutes auch bei anderen, nicht durch Erstickung veranlassten Todesarten sich finden kann, so hat der Befund frühzeitig und intensiv entwickelter Hypostasen nur einen unterstützenden Werth, wobei überdies nicht vergessen werden darf, dass eine Erstickung auch eine anämische oder herabgekommene Person treffen kann.
Durch dieselbe Ursache, wie das frühzeitige und intensive Erscheinen der Todtenflecke, ist der frühzeitige Eintritt und rasche Verlauf der Fäulniss bedingt. Auch diese Erscheinung hat nur einen unterstützenden Werth und verlangt Berücksichtigung aller anderen, äusseren sowohl als inneren Umstände, die die Fäulniss zu befördern vermögen.
Seit jeher wurden die Cyanose des Gesichtes, die vorgetriebenen Augen und die injicirten Conjunctiven als Symptome des Erstickungstodes angeführt. Wer aber Gelegenheit hat, eine grössere Zahl von durch Erstickung Gestorbenen zu sehen, wird sich überzeugen, dass gerade bei den gewaltsam Erstickten solche Befunde nur ausnahmsweise vorkommen und das Gesicht in der Regel die gleiche Beschaffenheit zeigt, wie bei den meisten anderen Leichen. Der Grund dieser Erscheinung liegt einerseits darin, dass die während des Erstickens bestandene Cyanose schon während der Agone in Folge der Erlahmung der die Circulation unterhaltenden Kräfte, noch mehr aber nach dem Tode durch Senkung des Blutes in die abwärtigen Partien zum grossen Theile oder vollständig verschwindet, andererseits in dem Umstande, dass die während der Erstickung eintretende Cyanose keineswegs immer einen gleich hohen Grad erreicht. Bei Erstickungsversuchen kann man sehen, dass die Cyanose des Gesichtes, die starke Injection der Conjunctiven und der Exophthalmus mit dem convulsiven Stadium der Erstickung zusammenfallen, und es ist offenbar besonders der exspiratorische Krampf des Thorax, welcher, indem er den Rückfluss des Blutes zum rechten Herzen hindert, diese Erscheinungen erzeugt. Da nun aber, wie bereits erwähnt, gerade das convulsive Stadium des Erstickungstodes nicht immer gleiche Dauer und gleiche Intensität zeigt, so ergibt sich daraus, dass auch der Grad der Cyanose sich verschieden gestalten kann. Beim Erhängen verhindert die Compression der Halsgefässe das Zustandekommen einer Cyanose des Gesichtes desto mehr, je vollständiger sie sich gestaltet. Bei zwei durch den Strang Justificirten, bei welchen wir die sich einstellenden Erscheinungen aus unmittelbarer Nähe verfolgten, war die Cyanose des Gesichtes jedesmal nur eine unbedeutende und beschränkte sich eigentlich[S. 505] blos darauf, dass das Gesicht eine bleigraue, die Lippen eine blaue Farbe annahmen, eine Erscheinung, die um so mehr auch nur auf das Hypervenöswerden des Blutes bezogen werden kann, als ein Aufgedunsenwerden des Gesichtes nicht zu bemerken war.
Aus gleicher Quelle wie die Cyanose selbst stammen die Ecchymosen der Bindehäute, die sich nicht selten an der Leiche von Erstickten finden und denen eine ungleich höhere Bedeutung zukommt als der Cyanose, da sie, wenn einmal gebildet, sich erhalten und durch Hypostase nicht verschwinden können. Man kann bei Versuchen an Thieren leicht constatiren, dass diese Ecchymosen ebenfalls während des convulsiven Stadiums des Erstickens entstehen in Folge des gesteigerten Blutdruckes, der schliesslich Rupturen der Capillaren und dadurch jene capillaren Hämorrhagien veranlasst, die wir eben als Ecchymosen bezeichnen. Ihr Befund ist von grosser Wichtigkeit, da er beweist, dass zur Zeit des Todes eine bedeutende Blutstauung in den Gefässbezirken des Kopfes bestand, und dies noch zu einer Zeit, nachdem alle anderen Erscheinungen der Blutstauung gewöhnlich bereits verschwunden sind. Der Werth eines solchen Befundes ist um so grösser, wenn er sich auf blassen Bindehäuten findet, da in diesem Falle der in manchen Fällen berechtigte Einwand entfällt, dass die Ecchymosen erst postmortal als Theilerscheinung einer durch die abhängige Lage des Kopfes bedingten Leichenhypostase entstanden seien. Auch an der Schleimhaut der Lippen findet man mitunter Ecchymosen. In der Nasenschleimhaut scheinen sie häufig vorzukommen.
Ausser an den sichtbaren Schleimhäuten, insbesondere in den Conjunctiven, können sich kleine Ecchymosen in der Gesichtshaut selbst finden, namentlich an den Augenlidern. Sie erscheinen da meist nur als flohstichförmige, häufig dichtgestellte subepidermoidale Blutaustretungen und entsprechen offenbar Rupturen, welche die in den Papillarspitzen der Haut verlaufenden Capillarschlingen erlitten haben. Ausnahmsweise ist auch Hals und oberer Theil des Brustkorbes mehr weniger mit ihnen besetzt.
Auch an anderen Hautstellen scheinen Ecchymosen häufiger vorzukommen, als man gewöhnlich meint, doch fallen sie hier wegen grösserer Dicke der Haut, insbesondere der Epidermis, weniger in’s Auge. Wir haben schon in den früheren Auflagen dieses Buches auf Hautecchymosen aufmerksam gemacht, die sich bei Erstickten an abhängigen Körperstellen finden. Wir haben dieselben bis dahin als eine blosse Leichenerscheinung aufgefasst, welche durch Senkung des Blutes in die abhängigen Partien und durch Ruptur der durch beginnende Fäulniss bereits morsch gewordenen Hautcapillaren in Folge des Druckes der über ihnen lastenden Blutsäule entstehen. Seitdem haben wir uns jedoch durch systematische Verfolgung der Erscheinung und mikroskopische Untersuchung der betreffenden Hautstellen überzeugt, dass es sich um wirklich vital entstandene Ecchymosen handelt, die jedoch,[S. 506] ursprünglich klein und unscheinbar, erst post mortem durch Nachsickerung des Blutes und später durch Imbibition der Nachbarschaft sich vergrössern und dann als stecknadelkopf- bis linsengrosse, im Bereiche der Todtenflecke liegende, doch von diesen sich durch ihre bedeutend dunklere Farbe abhebende violette Stellen sich präsentiren. An Stellen, wo die Haut und das Unterhautgewebe ein lockeres Gefüge besitzt, wie im Gesichte, am Vorderhals und an der Vorderfläche des Brustkorbes, können bei abhängiger und länger andauernder Lage dieser Körperpartien die in vivo entstandenen Ecchymosen durch postmortale Nachsickerung des Blutes eine viel bedeutendere Grösse erreichen. Diese forensisch sehr beachtenswerthe Erscheinung haben wir wiederholt bei Leichen plötzlich eines suffocatorischen Todes Verstorbener constatirt, namentlich aber in ganz exquisiter Weise bei solchen, die in Bauchlage, mit aus dem Bette heraushängendem Oberkörper gefunden worden waren.
Das Verhalten der Pupillen an der Leiche von Erstickten zeigt keine Constanz. Am häufigsten finden sie sich mässig erweitert und beiderseits gleich. Nicht selten finden sich aber auch stark erweiterte oder mehr als gewöhnlich verengte Pupillen. Ungleichheit der Pupillen haben wir ebenfalls, obwohl nur in vereinzelten Fällen, beobachtet. Während des Erstickens von Thieren bemerkt man anfangs eine rasch vorübergehende Verengerung, dann während der Dyspnoe eine meist auffallende Erweiterung, die sich während der Asphyxie wieder ausgleicht, so dass an der Leiche die Pupillen das gewöhnliche Verhalten zeigen.
Der Austritt von Sperma aus der männlichen Harnröhre ist eine bei Erstickten häufige, aber auch bei den mannigfachsten anderen, sowohl gewaltsamen als natürlichen Todesarten keineswegs seltene Erscheinung. Sie beruht nicht auf einer förmlichen Ejaculation, die etwa während des Sterbens stattfand, sondern auf mechanischem Austritt des Sperma aus den Samenblasen nach Erschlaffung der betreffenden Sphincteren, weshalb sich auch Spermatozoiden häufiger im hinteren Theile der Harnröhre und selbst in der Harnblase nachweisen lassen, als an der Harnröhrenmündung. Bemerkenswerth ist die Thatsache, dass die Spermatozoiden, sowohl des in den Samenblasen befindlichen, als des in die Harnröhre ausgetretenen Spermas noch durch 36–70 Stunden nach dem Tode ihre Beweglichkeit erhalten können.[333] Sehr gewöhnlich ist bei Erstickten, ebenso wie bei vielen anderen acuten Todesarten die Entleerung der Excremente in der Agone, die auf einem Krampf der Blase, beziehungsweise der Darmmusculatur, zu beruhen scheint, da sie, wie Versuche an Thieren lehren, mit dem convulsiven Stadium zusammenfällt.
B. Die inneren Befunde. Drei von diesen sind es, denen seit jeher eine hohe Bedeutung für die Diagnose des Erstickungstodes[S. 507] zugeschrieben wird: 1. Die dunkelflüssige Beschaffenheit des Blutes; 2. die Stauungshyperämien in den inneren Organen, besonders in den Lungen, und 3. die Ecchymosen, insbesondere die der Brustorgane.
Ad 1. Die dunkelflüssige Beschaffenheit des Blutes ist in den Leichen Erstickter ein sehr constanter und diagnostisch werthvoller Befund, bedarf jedoch einer anderen Auffassung, als ihm bis jetzt zu Theil geworden ist. Was zunächst die dunkle Farbe des Erstickungsblutes anbelangt, so muss festgehalten werden, dass diese Farbe keineswegs ausschliesslich dem Erstickungstode zukommt, sondern dass dieselbe als die normale Farbe des Leichenblutes überhaupt aufgefasst werden muss. Bekanntlich hängt die Farbe des Blutes, wenn wir von pathologischen Färbungen, wie z. B. bei der Kohlenoxydvergiftung, absehen, von dem Sauerstoffgehalt desselben ab, und es erscheint desto dunkler, je weniger Sauerstoff dasselbe enthält oder mit anderen Worten, die dunkle Farbe ist die des reducirten, die hellrothe jene des sauerstoffhältigen Hämoglobins. Da aber bei jeder Todesart schon während der Agone die Aufnahme von Sauerstoff durch die Athmung immer schwächer wird und schliesslich ganz aufhört, während die Gewebe nicht blos während der Agone, sondern, wie durch Versuche nachgewiesen ist, auch noch nach dem Tode den Sauerstoff dem Blute entziehen und der etwa noch übrig bleibende durch die im Blute zuerst auftretenden Zersetzungsprocesse aufgezehrt wird, so muss jedes Leichenblut nur reducirtes Hämoglobin enthalten und daher die gleich dunkle (hypervenöse) Farbe zeigen wie Erstickungsblut, eine Thatsache, deren Beweis nicht blos makroskopisch, sondern auch dadurch geführt werden kann, dass man das Blut unter solchen Vorsichtsmassregeln der Leiche entnimmt, dass von aussen kein Sauerstoff in dasselbe zu gelangen vermag, in welchem Falle man sich dann durch sofortige spectrale Untersuchung überzeugt, dass jedes Leichenblut, wenn es nicht anderweitige chemische Veränderungen erlitten hat, nur reducirtes Hämoglobin enthält.[334]
Die flüssige Beschaffenheit des Blutes ist bei den acuten Erstickungsformen ein sehr constanter Befund. Auch dieser Befund ist für den Erstickungstod nicht absolut charakteristisch, kommt vielmehr fast allen plötzlichen Todesarten zu, möge die primäre Todesursache Sistirung der Respiration oder eine andere gewesen sein. Dieses Flüssigbleiben des Blutes bei plötzlichen Todesarten bezieht sich blos auf das in den Gefässen verbleibende Blut, während jenes, welches mit der Luft in Contact kommt oder in Körperhöhlen oder zwischen Gewebe (als Sugillation) sich ergiesst, gerinnt.
[S. 508]
Ueber die eigentliche Ursache des Flüssigbleibens des Blutes in der Leiche nach plötzlichen Todesarten, insbesondere nach Erstickung, wissen wir vorläufig nichts Positives. Da das aus den Gefässen, sowohl während des Lebens, als auch nach dem Tode gelassene Blut gerinnt (allerdings das erstere rascher und intensiver) und ebenso eine Gerinnung erfolgt, wenn das Blut innerhalb des Körpers in die Körperhöhlen[335] oder in das Zwischengewebe sich ergiesst, so liegt die Annahme nahe, dass erst durch das Hinzutreten eines äusseren Momentes die Gerinnung veranlasst wird, während unter sonst normalen Verhältnissen, wie auch neuere Versuche von Baumgarten (Med. Centralbl. 1877, pag. 131) lehren, das Blut dadurch, dass es in den Gefässen eingeschlossen ist, vor der Einwirkung jenes Momentes geschützt und daher flüssig bleibt. In der That hat Alexander Schmidt durch seine bekannten Untersuchungen über die Blutgerinnung nachgewiesen, dass zwar im Blute zwei Eiweisskörper vorhanden sind, welche das Material darstellen, aus dem sich der Faserstoff bildet, die fibrinogene und die fibrinoplastische Substanz, dass jedoch zum Zustandekommen der Gerinnung noch ein dritter Körper nothwendig sei, der die beiden Fibringeneratoren zum Zusammentritt zu Fibrin veranlasst, und er meint, dass dieses Ferment, welches erst nach Entfernung aus dem Körper sich im Blute bildet, beim Zerfall der Blutkörperchen, insbesondere der weissen, entsteht. Da dieser Zerfall auch in der Leiche, und zwar sehr bald, eintritt, so spricht eben das Flüssigbleiben des Blutes nach plötzlichem Tode dafür, dass nicht dieser Zerfall der Blutkörperchen allein, sondern noch ein anderes Etwas das „Ferment“ sein müsse.
Brücke (Vorlesungen. I, 82) legt das Hauptgewicht auf die auch noch einige Zeit nach dem Tode wirksamen Lebenseigenschaften der Gefässwände, die das Blut am Gerinnen verhindern. Diese Ansicht kann nur für die erste Zeit nach dem Tode gelten, nicht aber noch nach Tagen, wo von vitalen Eigenschaften der Gefässwände nicht mehr die Rede sein kann. Aeltere Anschauungen, darunter auch die frühere von A. Schmidt, gingen dahin, dass die im Erstickungsblute angehäufte Kohlensäure einen der Fibringeneratoren, nämlich die fibrinoplastische Substanz oder das Paraglobulin, ausfälle und dadurch das Gerinnen verhindere. Diese Anschauung wird zunächst dadurch hinfällig, dass zufolge der Gasanalysen, die Pflüger (Arch., „Ueber Dyspnoe“, 1869) sowohl während des Erstickens, als auch nach demselben anstellte, der Kohlensäuregehalt des Blutes keineswegs so auffallend sich vermehrt, wie man gewöhnlich annimmt, sondern dass die CO2-Menge zwar in der Regel etwas vermehrt, häufig jedoch nicht grösser als im gewöhnlichen Venenblut, ja sogar in einzelnen Fällen kleiner als in diesem gefunden wird. Weiter wird dieselbe aber widerlegt durch Versuche, die wir, um über diese Frage in’s [S. 509]Klare zu kommen, in der Weise anstellten, dass wir Thiere unter einer Glasglocke in ihrer eigenen Respirationsluft ersticken liessen, wo dann, trotzdem das Thier schliesslich eine mit Kohlensäure hochgradig gesättigte Luft athmete, dennoch das Blut im Herzen und den grossen Gefässen nicht flüssig, sondern coagulirt gefunden wurde. Dieser letztere, mehrere Stunden beanspruchende Versuch, sowie eine Reihe anderer, die wir an diesen anschlossen, ferner die Beobachtungen an einer grossen Zahl von Leichen Erstickter oder an anderen, meist gewaltsamen Todesarten Verstorbener brachte uns die Ueberzeugung bei, dass die bereits von älteren Beobachtern ausgesprochene, aber in Vergessenheit gerathene Ansicht, dass der Grad, in welchem das Blut in der Leiche geronnen sich findet, mit der Länge des Todeskampfes in geradem Verhältnisse stehe, die richtige sein dürfte. Daraus erklärt sich die Thatsache, dass, während in einzelnen Fällen von Erstickung das Blut vollkommen flüssig bleibt, in anderen, und zwar die gleiche Erstickungsform betreffenden Fällen sich mitunter gar nicht unbedeutende Blutgerinnsel im Herzen und auch in den grossen Gefässen finden können.
Der Grund dieser Erscheinung bedarf noch weiterer Studien, vorläufig erklären wir uns die Sache so, dass das Blut durch einen länger dauernden Erstickungsprocess oder überhaupt durch eine länger dauernde Agone sehr bald gewisse Veränderungen erleidet, die offenbar als Vorstadien jenes pathologischen Verhaltens des Blutes anzusehen sind, welche wir in vielen, namentlich in entzündlichen Krankheiten beobachten, bei welchen dann in der Leiche, sowohl im Herzen als in den grossen Gefässen, meist massenhafte Fibrinausscheidungen gefunden werden. Vielleicht hängt die Erscheinung mit der von Litten („Zur Pathologie des Blutes.“ Berliner klin. Wochenschr. 1883, Nr. 27) constatirten agonalen Leukocytose zusammen, die seinen Beobachtungen nach ein constantes, gewissermassen physiologisches präagonales und agonales Phänomen sein soll, von dem insbesondere die Fälle sehr kurzer Agonie eine Ausnahme bilden. Es kann auch vorkommen, dass während des Bestehens einer entzündlichen Erkrankung entweder durch diese (z. B. Bronchitis) oder auf gewaltsame Weise Erstickung erfolgt (z. B. Selbstmord im Fieberdelirium), und es ist begreiflich, dass sich in solchen Fällen der bestehenden Hyperinose wegen auch bei ganz acuter Erstickung mehr weniger mächtige Fibringerinnsel finden können.[336]
Die flüssige Beschaffenheit des Erstickungsblutes befördert, wie schon erwähnt, die Bildung der Hypostasen, sowie den Eintritt und Verlauf der Fäulniss. Beides gilt nicht blos bezüglich der äusseren, durch die erwähnten Vorgänge bewirkten Veränderungen, sondern auch von den inneren Hypostasen und den an diese sich anschliessenden Processen, wie Imbibitionen, Transsudationen[S. 510] und den bereits der Fäulniss angehörenden Vorgängen, eine Thatsache, welche sowohl bei der Beurtheilung von Leichen Erstickter als der meisten plötzlichen Todesfälle alle Beachtung verdient.
Ad 2. Was die venösen Hyperämien in den verschiedenen Organen, insbesondere aber in den Lungen, betrifft, so ergeben sich diese allerdings sehr häufig, doch wussten schon ältere Beobachter, dass sie nicht constant zur Entwicklung kommen, und man half sich gegenüber dieser Thatsache dadurch, dass man, wenn Lungen und Hirn gleichzeitig hyperämisch gefunden wurden, von Stickschlagfluss, wenn blos die Lungen oder blos das Gehirn eine Blutüberfüllung zeigten, von Stick-, beziehungsweise von Schlagfluss sprach, wenn jedoch nirgends eine ausgesprochene Hyperämie vorhanden war, das Individuum am Nervenschlag gestorben sein liess.
Am constantesten findet sich venöse Hyperämie der Lungen, auf deren Zustandekommen die Dyspnoe und die dabei stattfindenden heftigen Inspirationsbewegungen des Thorax den Haupteinfluss zu nehmen scheinen. Donders hat vorzugsweise diese Ansicht aufgestellt, indem er darauf hinwies, dass während des Erstickungstodes durch Verschluss der Respirationswege die Circulation des Blutes in den Lungen durch Luftdruck, unter welchen normal die Lungengefässe stehen, vermindert werde, wodurch es nothwendig zur Verminderung der Widerstände in denselben und folgerichtig zum stärkeren Blutzufluss gegen die Lunge kommen muss. Dieselbe Ursache aber, welche so bedeutend den Zufluss des Blutes erleichtert, erschwert auch den Abfluss desselben, da das Blut in den erschlafften Gefässen an Bewegungsgrösse verliert und nicht mit der nöthigen Schnelligkeit dem linken Herzen zuzuströmen vermag. Es muss unter solchen Umständen zur Ausbildung einer Hyperämie in den Lungen kommen, und zwar unter sonst gleichen Verhältnissen in desto höherem Grade, je länger die Dyspnoe dauert und je intensiver sich die fruchtlosen Excursionen des Thorax gestalten. Die Dauer und Intensität der Dyspnoe ist aber, wie wir oben bemerkt haben, keineswegs immer gleich, und es mag schon dieser Umstand die Differenzen in der Intensität der Lungenhyperämie, selbst bei einer und derselben Erstickungsform, erklären.
Ausserdem wird aber auch dem Umstande, ob der Verschluss der Respirationswege unmittelbar nach einer Inspiration oder Exspiration erfolgte, ein Einfluss zugeschrieben werden müssen; denn es ist klar, dass, wenn die Donders’sche Ansicht richtig ist, im letzten Falle eine bedeutendere Relaxation der Lungengefässe und daher eine stärkere Hyperämie entstehen wird, als wenn der Verschluss unmittelbar nach einer stattgefundenen Inspiration effectuirt wurde. Ferner ist es einleuchtend, dass, wenn, wie z. B. beim Erdrücktwerden, der Thorax an seinen Excursionen gehindert ist, die Bedingung ganz entfällt, welche nach der Donders’schen Anschauung bei Erstickung[S. 511] durch Verschluss der Respirationsöffnungen oder der Trachea die Lungenhyperämie veranlasst, und ebenso, wenn die Erstickung in einem irrespirablen (indifferenten) Gase erfolgt. Wurde aber der Verschluss der Respirationswege durch ein flüssiges Medium bewirkt, so müsste, wie schon Krahmer hervorhob, der Blutgehalt der Lungen im verkehrten Verhältnisse stehen zu dem Grade, in welchem das aspirirte Medium die sich ausdehnenden Lungen zu füllen im Stande ist, d. h. die Hyperämie wäre desto intensiver, je weniger beweglich das betreffende Medium gewesen ist, daher z. B. nach Ersticken in dickem Schlamm, Abtrittskoth etc. grösser, als nach Ertrinken im Wasser.
So plausibel die Donders’sche Theorie über die Entstehung der Lungenhyperämien beim Erstickungstode zu sein scheint und sich auch bei von Patenko (Annal. d’hygiène publ. 1885, pag. 209) angestellten Thierversuchen bestätigte, so stimmt sie doch nicht vollkommen mit den am Sectionstisch sich ergebenden Beobachtungen, welche lehren, dass selbst unter Umständen, wo die von Donders hervorgehobenen Bedingungen zur Entstehung von Lungenhyperämien scheinbar die günstigsten sind, wie z. B. beim Tode durch Erhängen, keine besonders blutreichen, sondern im Gegentheil entschieden anämische Lungen gefunden werden, wie wir uns ausser wiederholt bei Sectionen erhängter Selbstmörder, so auch bei zwei durch den Strang justificirten kräftigen, jungen, vollkommen gesunden Männern, die wir 3–4 Stunden nach dem Tode zu obduciren Gelegenheit hatten, überzeugten. Wahrscheinlich erklärt sich dies daraus, dass der äussere Atmosphärendruck auf die Lungen nicht so vollständig entfällt, wie Donders annimmt, sondern vom Bauche aus ausgeglichen wird, indem letzterer in dem Masse einsinkt, als die seitlichen Brustwände sich erweitern und den äusseren Luftdruck überwinden.
Ist die Hyperämie in den Lungen stark entwickelt, so erscheinen dieselben nicht blos dunkler gefärbt, sondern auch succulenter. Letztere Erscheinung wird häufig als Oedem der Lungen aufgefasst, jedoch mit Unrecht, da jede blutreiche Lunge auch stärker durchfeuchtet erscheinen muss. Bei einer rasch verlaufenden Erstickung fehlt ein eigentliches Oedem, zu dessen Entwicklung es auch an Zeit gebricht, da sich ja die ganze Scene in wenigen Minuten abspielt. Wohl kommt aber ein echtes, d. h. durch während des Lebens erfolgte Transsudation von Serum durch die Gefässwandungen in das Zwischengewebe und auf die innere Lungenoberfläche, entstandenes Oedem (zu unterscheiden von Leichenödem) zur Entwicklung, wenn der Process nicht ganz acut verlief und die Agone lange dauerte. In solchen Fällen kommt es auch zur Bildung reichlichen Schaumes in den Bronchien, und wir finden denselben nicht blos in der Trachea, sondern in manchen Fällen auch im Rachen und vor dem Munde, ein Befund, der von einzelnen Beobachtern als bei Leichen Erstickter häufig vorkommend angegeben wird, während er unserer Erfahrung nach (vom Ertrinkungstode abgesehen) nur[S. 512] ausgesprochen ist, wenn das Individuum nicht sofort, sondern erst nach längerer Erstickungsnoth gestorben war.[337]
Eine weitere Consequenz der beim Erstickungstode meist sich einstellenden venösen Stase in den Lungen ist eine Stauung des Blutes im rechten Herzen und den zu und von diesem führenden grossen Gefässen. Bei der Beurtheilung dieses Befundes ist nicht zu übersehen, dass es zur Norm gehört, dass schon während der Agone und theilweise noch nach derselben[338] das Blut aus den Arterien in die Venen sich entleert, und dass bei jenen Erstickungsformen, in denen das Herz primär gelähmt wird, häufig gerade das linke Herz die grössere Blutmenge zu enthalten pflegt.[339]
Ebenfalls als Theilerscheinung der Stauung des Blutes in den Lungen ist die Injection der Schleimhaut der Trachea aufzufassen, auf welche Casper aufmerksam machte, die aber in ihrer Intensität ebenso verschieden sich gestaltet, wie die Lungenhyperämie selbst.
Was die venösen Hyperämien in entfernteren Organen, namentlich im Gehirn und in den Unterleibsorganen, betrifft, so hat man diese ebenfalls einfach als Theilerscheinung, respective Folge der Stase in den Lungen und im rechten Herzen aufgefasst. Zweifellos sind aber bezüglich des Blutgehaltes dieser Organe noch andere Einflüsse im Spiele, die vorzugsweise auf einen vasomotorischen Krampf zu beziehen sind, der während der Erstickung fast regelmässig aufzutreten und namentlich durch lebhafte Verengerung der kleinen Arterien peripherer Gefässbezirke sich kundzugeben pflegt.
Ueber den Blutgehalt des Gehirnes und seiner Häute während der Erstickung existiren insbesondere zwei Reihen directer, bei geschlossenem Schädel angestellter Beobachtungen, die von Donders [S. 513](Schmidt’s Jahrb. 1851, LXIX, 16) und die von Ackermann (Virchow’s Archiv. XV), welche Beide ihre Studien an Kaninchen anstellten, denen sie eine kleine Glasscheibe in den trepanirten Schädel eingeheilt hatten. Leider stimmen die Resultate dieser beiderseitigen Beobachtungen nicht überein. Während Donders schon 10 Secunden nach der Behinderung der Respiration eine stärkere Röthung der Pia beobachtete, die über 2 Minuten lang anhielt, sah Ackermann nach Unterbrechung der Athmung manchmal, jedoch nicht immer, eine kurz andauernde Cyanose, aber 10–20 Secunden vor dem Tode durchaus constant ein auffallendes Erblassen der Pia eintreten, so dass er den Satz aufstellte, dass bei der Erstickung jedesmal mit dem Eintritte des Todes eine deutliche Anämie des Gehirns zusammenfalle.
Die praktische Erfahrung an den Leichen erstickter Menschen scheint mehr die Beobachtung Donders’ zu bestätigen, denn Hyperämien des Gehirns und seiner Häute sind ein ziemlich häufiger Befund, obwohl keineswegs constant und durchaus nicht so häufig, wie gewöhnlich angenommen wird, während ausgesprochene Anämien verhältnissmässig selten zu beobachten sind. Trotzdem ist an der Richtigkeit der Angabe Ackermann’s nicht zu zweifeln, da auch die Beobachtung mit dem Augenspiegel lehrt, dass während der Dyspnoe in der That die Retinalgefässe regelmässig an Füllung abnehmen, eine Erscheinung, die ebenso wie die Verengerung der Piagefässe auf vasomotorischen Krampf zurückgeführt wird.
Ein gleicher Vorgang lässt sich, und zwar viel leichter, an den Organen des Unterleibes beobachten. Wenn man zunächst an curarisirten Thieren den Bauch eröffnet und die künstliche Respiration aussetzt, so sieht man die Gefässe der Darmwandungen durch einige Augenblicke stärker sich füllen, auf der Höhe der Dyspnoe jedoch sichtlich anämisch werden und bleiben, bis die gleichzeitig vermehrten peristaltischen Bewegungen sich wieder beruhigen, worauf, zusammenfallend mit dem Beginn der Asphyxie, die Gefässe sich wieder etwas füllen, ohne dass jedoch die Injection einen solchen Grad erreichen würde, dass man von Hyperämie sprechen könnte. Wenn trotzdem die Gedärme cyanotisch erscheinen, so wird dieses nicht durch stärkere Blutfüllung, sondern durch die hypervenöse Beschaffenheit des Blutes bedingt. Ebenso wie die Gedärme, sieht man, wie schon Szabinsky (1865) hervorhob, auch die Milz auf der Höhe der Erstickung ganz constant anämisch werden, sich ausserdem verkleinern und an der Oberfläche sich runzeln, und man kann weiter bemerken, wie, selbst nachdem die Contraction der Gefässe in Erschlaffung übergegangen ist, die Milz doch blass bleibt und auch jene glatte Oberfläche nicht mehr vollständig erhält, die sie früher besessen hatte. Es ergibt sich daraus, dass schon bei Erstickung durch Behinderung der Excursionsfähigkeit des Thorax eher ein verminderter als ein vermehrter Blutgehalt der Eingeweide zu erwarten ist. Noch mehr muss sich aber der Blutgehalt in diesen Organen vermindern, wenn während des Erstickungsactes die Excursionsfähigkeit des Thorax nicht behindert war; denn es ist natürlich, dass, wenn unter diesen Umständen durch [S. 514]die dyspnoischen Athembewegungen grössere Blutmengen in die Lungen geworfen werden, die ausserhalb des Thorax gelegenen Organe, auch jene des Unterleibes, eine Verminderung ihres Blutgehaltes erfahren müssen.
Ad 3. Als subpleurale, beziehungsweise als subpericardiale Ecchymosen bezeichnet man kleine Blutaustretungen unter der Pleura und unter dem Pericardium, die, wenn sie gut entwickelt sind, den betreffenden Organen ein geflecktes, wie mit Blut bespritztes Aussehen verleihen. Ihre Grösse schwankt von jener eines Flohstiches bis zur Hanfkorn- und selbst Linsengrösse. Sie entstehen durch Rupturen der Capillaren in dem subserösen Bindegewebe der Pleura und des Pericardiums und finden sich meistens unter den visceralen, seltener unter den parietalen Blättern, besonders an den äusseren und hinteren Partien der Lungen und in den zwischen den einzelnen Lungenlappen gelegenen Spalten; am Herzen ist ihr Hauptsitz an der Herzkrone, besonders an der Hinterfläche. Auch in der Adventitia der grossen Gefässe innerhalb des Herzbeutels sind sie häufig und nicht selten in dem Bindegewebe des Mediastinums, insbesondere in dem um die Brustaorta, wo sie theils des lockeren Gewebes, theils der postmortalen Nachsickerung des Blutes wegen eine beträchtliche, mitunter Suffusionen vortäuschende Grösse erreichen können.[340] Die postmortale Nachsickerung des Blutes ist auch der Grund, warum die Ecchymosen an den hinteren Partien der Lunge und des Herzens in der Regel grösser sind als an den vorderen.
Seit in Deutschland zuerst Röderer[341] (1753), später Bernt (1828), Weber, Elsässer und Casper, in Frankreich Bayard (1841), Caussé (1842) und Tardieu (1853) auf diesen Befund in den Leichen Erstickter aufmerksam gemacht hatten, wurde derselbe in der Regel als Theilerscheinung der venösen Stauung in der Lunge und im rechten Herzen aufgefasst, indem man annahm, dass, wenn die Stauung einen gewissen Grad übersteigt, einzelne Capillargefässe dem Drucke nicht zu widerstehen vermögen und bersten. Von Anderen wurde wieder im Sinne der Donders’schen Theorie über das Entstehen der Lungenhyperämie der aspiratorische Zug hervorgehoben, den der Thorax bei seinen fruchtlosen inspiratorischen Excursionen auf die Lungenoberfläche ausübt und die Entstehung der Ecchymosen von dieser, mit jener eines aufgesetzten Schröpfkopfes ähnlichen Wirkung der Thoraxwand abgeleitet (Krahmer). Wenn auch diesen zwei Momenten eine Mitwirkung bei der Entstehung der Ecchymosen nicht abgesprochen werden kann, so spielen sie doch nicht die Hauptrolle; diese fällt vielmehr dem auf der Höhe der Erstickung sich einstellenden vasomotorischen Krampf zu und der bedeutenden[S. 515] Vermehrung des Seitendruckes, den dadurch die Gefässwandungen auszuhalten haben, der um so leichter zur Berstung von feinen Gefässästchen führen kann, als gleichzeitig eine Stauung im Kreislaufe besteht, die nicht blos durch den vasomotorischen Krampf selbst und die oben erwähnten anderen Momente, sondern auch durch die allgemeinen Convulsionen und den Krampf der Exspirationsmusculatur veranlasst wird. Thatsächlich kann man sich, wie wir dies schon bezüglich der subconjunctivalen Ecchymosen angegeben haben, durch entsprechend eingerichtete Versuche überzeugen, dass die Bildung der subpleuralen und subpericardialen Ecchymosen in das convulsive Stadium des Erstickungstodes fällt, also in eine Zeit, in welcher auch die Dyspnoe weniger durch tiefe Inspirationen, als durch krampfhafte Exspirationen sich zu äussern pflegt. Unterbricht man die Erstickung vor dem Eintritte dieses Stadiums, so findet man keine oder nur vereinzelte Ecchymosen. Ebenso findet man die Ecchymosen nicht, wenn der Erstickungstod ohne Krämpfe verlief, was allerdings nur ausnahmsweise geschieht.
Nach Corin[342], der die Entstehung der Erstickungsecchymosen an Thieren mit künstlich, durch Peptoneinspritzungen, flüssiger gemachtem Blute studirte, bilden sich dieselben zu der Zeit, wo die Erhöhung des Blutdruckes in den Pulmonalarterien mit Stillstand der Respiration und Immobilisirung der Lunge zusammenfällt. Muskelkrämpfe seien hierbei nicht von wesentlichem Einflusse, da die Ecchymosen sich auch bei (nicht zu tief) curarisirten und narcotisirten Thieren bildeten. Die Entstehung der von uns oben (pag. 514) erwähnten Ecchymosen in dem Bindegewebe um die Brustaorta erklärt sich Kratter (Tagblatt der Wiener Naturforscherversammlung, pag. 244) aus der mechanischen Zerrung und der mechanischen Zerreissung der kleinen Gefässe um die Aorta während der Dyspnoe besonders bei kräftigen Individuen. Dieser rein mechanische Vorgang ist immerhin möglich und findet vielleicht auch bei der Bildung der Ecchymosen entlang der Intercostalgefässe statt. Der Angabe jedoch, dass sich dieselben nur bei erstickten Erwachsenen, aber nicht bei Kindern der ersten Lebensperiode finden, können wir nicht beistimmen, doch sind diese Ecchymosen bei Kindern begreiflicher Weise kleiner als bei Erwachsenen.
Die genannten Ecchymosen sind keineswegs nur bestimmten Erstickungsformen eigen, sondern können bei allen möglichen vorkommen, weil die Convulsionen überhaupt und der vasomotorische Krampf insbesondere zum typischen Bilde der Erstickung gehören und nur unter besonderen mehr exceptionellen Verhältnissen nicht eintreten.
Daher können wir sie nicht blos beim sogenannten mechanischen Erstickungstod, sondern auch bei dem aus inneren Ursachen, z. B. Epilepsie, entstandenen, sowie auch bei demjenigen[S. 516] finden, der durch Giftwirkung eingetreten ist, und im letzteren Falle besonders nach solchen Vergiftungen, die mit Convulsionen einhergegangen sind. Damit fällt auch die von Tardieu aufgestellte, von Liman und Anderen mit Recht angefochtene Behauptung, dass die Lungenecchymosen nur der „Erstickung im engeren Sinne“, nämlich der durch Verschluss der Respirationsöffnungen bewirken, eigenthümlich zukommen. Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, dass diese Ecchymosen in ihrem Auftreten ausser von den genannten Momenten auch von gewissen individuellen Bedingungen beeinflusst werden. Zu diesen gehört insbesondere eine gewisse Zerreisslichkeit, respective Zartheit der Gewebe und Gefässe, und dies ist der Grund, warum sich die subpleuralen Ecchymosen so häufig und fast regelmässig in den Leichen erstickter Neugeborener oder Säuglinge finden, im Knaben- und Jünglingsalter seltener werden und im Mannesalter am seltensten vorkommen, um dann im höheren Alter, in welchem aus pathologischen Gründen die Gefässe brüchiger werden, wieder häufiger auftreten. Subpericardiale Ecchymosen dagegen, sowie solche auf Schleimhäuten und im hinteren Mediastinalgewebe sind bei Erwachsenen nicht wesentlich seltener als bei Kindern.
Ausser an den Lungen, dem Herzen und in den Conjunctiven und bei Kindern, besonders neugeborenen, an der Thymusdrüse, können sich die Ecchymosen noch an anderen Stellen finden. So an der Schleimhaut der Respirationsorgane, an der Epiglottis, im Kehlkopf und in der Trachea. Ferner in der Nasenschleimhaut, in der Schleimhaut der Paukenhöhlen, an beiden Flächen des Trommelfelles und selbst in der Cutisauskleidung der hinteren Partien des äusseren Gehörganges. Häufig sind sie zwischen den weichen Schädeldecken und an der Magenschleimhaut, seltener in jener des Darmes. Der vasomotorische Krampf in den Gedärmen und besonders in der Milz scheint zur Stauung in den Magengefässen und zur Entstehung dieser Ecchymosen Veranlassung zu geben.
Am Peritoneum haben wir nur ganz ausnahmsweise und nur isolirte Ecchymosen beobachtet, dagegen bereits zweimal bei Erhängten, darunter bei einem durch den Strang Hingerichteten, solche in der Dura an der Innenfläche derselben, in der mittleren Schädelgrube, entsprechend den Verästlungen der Art. meningea media. Legroux (l. c.) und Tammasia („Della morte nel vuoto.“ Rivista sperim. di med. legale. IV, 451, und Virchow’s Jahresb. 1881, I, pag. 560) sahen Ecchymosen an der Retina von erstickten Thieren. Vom Erwachsenen sind solche Befunde nicht bekannt und Maschka (Handbuch, I, 570) fand bei seinen allein und gemeinschaftlich mit Hasner vorgenommenen Untersuchungen von Augen Erstickter blos zweimal bei Erhängten ein linsengrosses Extravasat im retrobulbären Bindegewebe, niemals aber Blutaustritt im Auge selbst. Bei erstickten Neugeborenen finden sich nach Nobiling (Aerztliches Intelligenzblatt für Bayern, 1884,[S. 517] Nr. 38–40) häufig Ecchymosen in der Retina. Unter günstigen Bedingungen (besonders intensive und plötzliche Blutstauung, Zartheit des Ueberzuges) können die den subepithelialen Ecchymosen zu Grunde liegenden Extravasate zum Durchbruch des Epithelüberzuges und dadurch zu Blutungen auf die freie Fläche der betreffenden Schleimhaut führen. Dieses scheint häufig an der Nasenschleimhaut zu geschehen, aber auch, besonders bei Kindern. an der Schleimhaut der Bronchien, woher der nicht seltene blutige Ausfluss aus der Nase, beziehungsweise die blutige Tingirung des Schaums in der Luftröhre und in exquisiten Fällen der Befund von aspirirtem Blut in einzelnen Lungenacinis sich erklärt. Häufig kommt es auch zu Blutungen in den Paukenhöhlen und in einzelnen Fällen, besonders bei Erdrückten und hier und da bei Strangulirten, zu Blutungen aus dem äusseren Gehörgang, wie wir sowohl bei Erhängten („Blutung aus den Ohren eines Erhängten, nebst Mittheilungen über analoge Befunde.“ Wiener med. Presse, 1880, pag. 202) als bei Selbsterdrosslung wiederholt beobachtet haben. Maschka (l. c. 592) sah einmal eine Blutung aus den Ohren, und zwar bei einer Selbsterdrosslung, ebenso Schleissner (Virchow’s Jahresb. 1887, II, 522). Auch im interstitiellen Gewebe der Lungen und der Thymus können Ecchymosen zu Stande kommen, wie wir, insbesondere bei erstickten Kindern, wiederholt gesehen haben. Patenko (l. c.) hat bei erstickten Hunden auch im verlängerten Mark mikroskopische Blutaustritte gefunden.
Die Ecchymosen sind kein dem Erstickungstode ausschliesslich zukommender Befund, sondern können auch bei anderen Todesarten vorkommen, bei welchen irgend eine der Ursachen gegeben ist, welche zur Ruptur kleiner Gefässe und consecutiver Bildung der bezeichneten Extravasate führen kann. So finden sich häufig in der Nähe durch heftige Gewalten entstandener Verletzungen kleine Extravasate verschiedener Grösse, die offenbar nicht durch directe Gewalt, sondern durch Erschütterung entstanden sind; hierher gehören unter Anderem die Ecchymosen der Conjunctiva, die sich nicht selten bei Selbstmördern finden, die sich durch einen Schuss in den Kopf getödtet haben. Auch bei der pag. 312 erwähnten, durch Explosion von Knallquecksilber Umgekommenen fanden wir massenhafte punktförmige Ecchymosen in der Gesichtshaut, insbesondere der Augenlider, und zahlreiche bis linsengrosse in den Conjunctiven. Ebenso können bei Verschütteten oder Herabgestürzten an den verschiedensten Organen durch blosse Erschütterung Ecchymosen entstehen. Auch die so gewöhnlichen Ecchymosen in den weichen Schädeldecken Neugeborener sind traumatischen Ursprunges. Massenhaft können sich bei durch plötzliche Compression des Thorax und Zerquetschung innerer Organe Getödteten Ecchymosen oberhalb der comprimirten Stelle finden, welche rein mechanisch durch plötzlichen Rückstoss der Blutwelle entstanden sind. Ferner ergibt sich dieser Befund nach Processen, bei welchen die Widerstandsfähigkeit der Gefässwandungen pathologisch herabgesetzt ist, [S. 518]so bei Scorbut, Hämophilie, bei Septikämie und anderen infectiösen Processen (z. B. Variola haemorrhagica), nach Verbrennungen, insbesondere aber bei der Phosphorvergiftung, bei welcher mit der allgemeinen Verfettung der Organe auch eine fettige Degeneration der Gefässe einhergeht und aus dieser Ursache Rupturen der peripheren, insbesondere der subserösen und submucösen Gefässe und die consecutiven Ecchymosen zum Gesammtbilde des Leichenbefundes gehören. Auch die Ecchymosen, wie sie bei frischer Entzündung der Pleura und anderer seröser Häute gefunden werden, gehören hierher.
Der Tod durch Strangulation.
Unter Strangulation (constringere gulam) versteht man die Erstickung durch Compression der Luftwege am Halse. Man unterscheidet durch Hauptformen der Strangulation: das Erhängen, das Erdrosseln und das Erwürgen. Bei der ersten und zweiten Strangulationsart geschieht die Compression durch ein strangartiges Werkzeug; beim Erwürgen durch die Hand. Erhängen und Erdrosseln aber unterscheiden sich dadurch, dass beim ersteren das um den Hals gelegte Band durch die eigene Schwere des Körpers, beim letzteren durch eine andere Kraft zusammengezogen wird.
Das Erhängen erfolgt in der Weise, dass der Betreffende, nachdem er sich eine mit ihren Enden irgendwo befestigte Schlinge um den Hals gelegt, die Schwere des Körpers wirken lässt, wodurch der Vorderhals von dem Strange eingeschnürt wird, sofort oder in wenigen Augenblicken Bewusstlosigkeit und hierauf der Tod erfolgt.
Die auf solche Art bewerkstelligte Einschnürung des Halses hat den Verschluss der Respirationswege, ausserdem aber auch die Compression anderer am Halse gelegener wichtiger Organe zur Folge. Da, wie wir später hören werden und wie sich auch aus localen Gründen leicht begreift, die Schlinge fast immer über dem Kehlkopf, zwischen diesem und dem Zungenbein zu liegen kommt, so kann der Verschluss der Respirationswege nicht oder nur ausnahmsweise durch Compression des Kehlkopfes oder gar der Trachea geschehen, sondern muss auf andere Weise stattfinden, und zwar so, dass der Zungengrund gegen die hintere Rachenwand angepresst wird, wobei die Theile gleichzeitig nach oben gezerrt und verschoben werden, ein Sachverhalt, von welchem man sich leicht an sagittalen Durchschnitten gefrorener Cadaver von Erhängten überzeugen kann (Fig. 90). Langreuter (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLV, pag. 294) hat diesen Verschlussmechanismus direct beobachtet, indem er Leichen suspendirte und die von der Schädelbasis aus eröffnete Rachenhöhle mit dem Reflector eines Kehlkopfspiegels beleuchtete, wobei er fand, dass schon bei geringem Anziehen der Schlinge der Zungengrund[S. 519] nach oben und gegen die Wirbelsäule gedrückt wird und den Nasen- und Rachenraum tamponirt. Ausserdem wird beim typischen Erhängen, wie Haumeder[343] in unserem Institute durch Präparation des Halses suspendirter Leichen während der Suspension sich überzeugte, durch den Druck auf das Lig. hyothyreoideum der Kehlkopf je nach seiner Consistenz in seinem oberen Antheil mehr weniger plattgedrückt, wobei die Schildknorpelplatten nach auswärts ausweichen und mit ihren Hörnern zwischen Wirbelsäule und die grossen Halsgefässe sich hineindrängen und der Kehlkopf, indem die oberen Ränder der Schildknorpel an die Wirbelsäule angepresst werden, eine Drehung um seine Querachse erfährt, die eine Prominenz der Spange des Ringknorpels bedingt.[344] Dieser Verschluss der Respirationswege am Halse ist für sich allein im Stande, alsbald Erstickungserscheinungen und den Tod zu bewirken. Trotzdem muss auch der Compression anderer am Halse gelegener Organe, insbesondere der grossen Halsgefässe, eine Rolle bei dieser Todesart zugeschrieben werden.
Dass beim Erhängen die grossen Gefässe am Halse, insbesondere die Carotiden, eine Compression erfahren, muss schon aus der anatomischen Lage derselben und aus den beim Erhängen obwaltenden mechanischen Verhältnissen geschlossen werden. Ausserdem spricht dafür die manchmal entsprechend der Strangulationsrinne zu findende Ruptur der Intima carotis und endlich der directe, von uns wiederholt und immer mit dem gleichen Resultate angestellte und neuerdings mit Rücksicht auf von Ignatowski (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1893, VI, pag. 250) erhobene Einwände[S. 520] von Haberda und Reiner (Ibid. 1894, VIII. Suppl., pag. 126) in erweiterter Weise ausgeführte Versuch[345], welcher lehrt, dass man bei in typischer Weise suspendirten Leichen nicht im Stande ist, Flüssigkeit durch die Carotiden durchzutreiben, es sei denn, dass man, wie z. B. bei Kindesleichen möglich ist, einen Druck anwendet, der das Gewicht des Körpers überwindet und daher den Blutdruck weit übersteigt. Die Stelle, an welcher die Carotis comprimirt wird, liegt in der Regel unmittelbar vor ihrer Bifurcation, ist somit dieselbe, an welcher die Ruptur der Intima carotis vorzugsweise beobachtet wurde. Dass unter solchen Umständen auch die Jugularvenen bis zur Undurchgängigkeit comprimirt werden, kann nicht gut bezweifelt werden. Ist aber erwiesen, dass beim Erhängen die Gefässe am Halse comprimirt werden, so müssen wir nothwendig dieser Compression einen wichtigen Einfluss bei dieser Todesart zuschreiben, da wir wissen, dass dieselbe schon für sich allein schwere Symptome zu bewirken im Stande ist.
Schon Aristoteles erwähnt, dass: „quibus in collo venae apprehenduntur insensibiles fiunt.“ Von neueren Aerzten (Parry, Lewis, Romberg, Trousseau) wurde die Compression der Carotiden zur Coupirung des epileptischen Anfalles empfohlen und angewendet. Man beobachtete dabei Verdunklung des Gesichtes, Schwindel, Betäubung, Ohnmacht, endlich Bewusstlosigkeit und Zusammensinken. Gleiche Erscheinungen sahen Kussmaul und Tenner nach Compression der Carotiden auftreten. Flemming (Vulpian, l. c. 146) constatirte an sich und an anderen Personen, dass die Compression der Halspulsadern einen schlafartigen Zustand herbeiführe. Ferner fand Schiff (Med. Centralbl. 1873, pag. 18), dass die durch die Compression der Carotiden erzeugte Gehirnanämie als starker Reiz auf das Gefässsystem wirke und sowohl Blutdruck als Pulsfrequenz vermehre, und Filehne (Ibid. 1875, 810) sah nach Compression der Carotiden das Cheyne-Stokes’sche Athemphänomen auftreten. Pilz (Langenbeck’s Archiv. IX) bemerkt, dass unter 600 Fällen von Unterbindung der Carotis auf einer oder beiden Seiten bei 32% Hirnerscheinungen auftraten und die Mortalitätsziffer 33½% betrug. Auch Bergmann (Kopfverletzungen, 1880, pag. 337) erwähnt solcher Folgen der plötzlichen Sistirung des Kreislaufes in der Schädelhöhle. Bei diesen Beobachtungen sehen wir schon nach Abschluss der Carotiden allein Hirnsymptome auftreten, noch mehr sind solche zu erwarten, wenn, wie bei der Suspension, gleichzeitig auch die Jugularvenen comprimirt werden. Zufluss sowohl als Abfluss des Blutes zum und vom Gehirn wird dadurch mit einem Schlage unterbrochen, und es ist dann, da das Gehirn bekanntlich ungemein fein auf Ernährungs- (Oxydations-)Störungen reagirt, natürlich und wohl begreiflich, dass alsbald Hirnerscheinungen, insbesondere Bewusstlosigkeit, auftreten müssen, [S. 521]und zwar früher, als sie bei einfachem Verschluss der Respirationswege eingetreten wären, da bei letzterem die Oxydationsprocesse im Gehirn secundär, hier aber primär aufgehoben werden. Dies würde, selbst wenn die Vertebralarterien und Vertebralvenen wegsam blieben, der Fall sein, denn es ist klar, dass, wenn bei Compression der Carotiden gleichzeitig der Abfluss des Blutes aus den Jugularvenen gehemmt wird, ein Collateralkreislauf durch die im Caliber unverhältnissmässig schwächeren Vertebralgefässe nicht sofort sich etabliren kann, da ja früher das im Gehirn plötzlich abgesperrte und schnell hypervenös werdende Blut verdrängt werden müsste. Es haben aber überdies die Untersuchungen und Experimente von Haberda und Reiner (l. c.) ergeben, dass beim typischen Erhängen auch die Vertebralarterien, und zwar in dem zwischen erstem und zweitem Halswirbel gelegenen Stücke comprimirt werden, so dass dann eine vollständige Unterbrechung des Kreislaufes im Gehirne stattfindet.
Auch die Möglichkeit einer Compression des Vagus, der ja mit der Carotis und Jugularis interna in einer Scheide liegt, ist nicht zu übersehen. Dass eine solche nicht gleichgiltig sein wird, ist bei der Bedeutung dieses Nerven, namentlich als Hemmungsnerv des Herzens, begreiflich, und es ist in dieser Beziehung bemerkenswerth, dass Waller (Prager Vierteljahrschr. 1871, III, 88) die Compression des Vagus als Anästheticum anwandte, da die Betreffenden „nach mässigem Druck auf den Vagus wie vom Blitze getroffen zu Boden fielen“, und dass Professor Thanhofer in Budapest (Med. Centralbl. 1875: „Die beiderseitige mechanische Reizung des Vagus beim Menschen“) einen Studenten, der sich zu physiologischen Zwecken in seiner Gegenwart wiederholt einen Vagus mit dem Fingernagel comprimirt und es darin zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte (ähnlich wie wir dies bei dem verstorbenen Professor Czermak gesehen haben), bewusst- und pulslos werden sah, als derselbe eines Tages sich beide Vagi comprimirt gehabt hatte.[346] Ferner haben Tamassia (Virchow’s Jahresb. 1881, I, 560) und Misuraca (ibidem 1888, I, 478) den Gegenstand an Thieren experimentell geprüft und gefunden, dass intensive Compression beider Vagi dieselben Erscheinungen bedingt, wie die Durchschneidung derselben, nämlich Herabsetzung der Athemfrequenz und Vermehrung und Schwäche der Herzpulsationen, und dass durch dieselbe der Eintritt des Todes bei der Strangulation beschleunigt wird. Den Untersuchungen von Ignatowski, Haberda und Reiner zufolge ist mehr die mechanische Reizung des Vagus und consecutiver Herzstillstand in der Diastole im Spiele, die den Vagusstamm entweder direct oder, wie Ignatowski findet, wahrscheinlich vom Laryngeus und seinen Verzweigungen aus reflectorisch trifft.
[S. 522]
Es folgt aus dem Gesagten, dass der Tod durch Erhängen keineswegs blos als eine durch Verschluss der Respirationswege bewirkte Erstickung angesehen werden kann, sondern dass bei dieser Todesart jedenfalls der durch die Compression der Halsgefässe gesetzten plötzlichen Unterbrechung der Circulation im Gehirn und möglicherweise auch der durch gleichzeitigen Druck bewirkten Reizung und in den höheren Graden Lähmung des N. vagus und der dadurch bedingten Störungen der Herzbewegungen ein Einfluss zugeschrieben werden muss. Aus demselben Grunde werden wir festhalten, dass beim Erhängen Bewusstlosigkeit und der Tod viel rascher erfolgen, als durchschnittlich bei anderen mechanischen Erstickungsarten, und dass insbesondere erstere, wenigstens bei typischer Lage des Stranges, sich wahrscheinlich sofort in dem Momente einstellt, in welchem die Zusammenschnürung der um den Hals gelegten Schlinge erfolgt.
Das schnelle Eintreten der Bewusstlosigkeit beweisen zunächst die Aussagen der Geretteten, die übereinstimmend dahin gehen, dass sofort nach der Zuschnürung des Halses das Bewusstsein schwand, so dass sie sich von diesem Augenblicke an an nichts mehr zu erinnern wissen. Ferner spricht hierfür auch die Thatsache, dass, obwohl sehr viele und vielleicht die meisten Individuen sich in der Art aufhängen, dass der Körper nicht frei hängt, sondern meist in einer Entfernung vom Boden, die geringer ist als die des Halses von letzterem, doch bis jetzt kein Fall bekannt ist, dass ein solcher Selbstmörder sich selbst aus der Schlinge befreit hätte, während, wenn die Bewusstlosigkeit nicht alsbald eintreten möchte, doch vielleicht hier und da ein Fall vorkäme, dass, wie wir dies bei anderen Selbstmordarten gar nicht selten sehen, das Individuum von Angst, Schmerz etc. bewogen, den bereits begonnenen Selbstmord unterbrechen würde, da, um dieses zu effectuiren, blos nothwendig wäre, sich wieder auf die Füsse zu stellen, wozu dem Individuum bei der erwähnten Hängungsart die physische Möglichkeit, und bei dem Umstande, als man die Unterbrechung der Respiration durch 30–40 Secunden ertragen kann, ohne das Bewusstsein zu verlieren, auch die Zeit geboten wäre. Interessant in dieser Beziehung ist eine von Laurent (Virchow’s Jahresb. 1888, I, 463) mitgetheilte Simulation von Selbstmord, da der Betreffende trotz raffinirter Vorsichtsmassregeln doch das Bewusstsein verlor. Auch ist im August 1888 in Wien ein Fall vorgekommen, in welchem der Erhängte einen scharf geladenen Revolver in der Hand hielt. Offenbar wollte er sich gleichzeitig erschiessen, konnte jedoch der plötzlich eingetretenen Bewusstlosigkeit wegen diesen Plan nicht mehr ausführen.
Die sonstigen Erscheinungen, welche während des Erhängens auftreten, weichen im Wesentlichen nicht ab von denjenigen, die wir beim Erstickungstode überhaupt kennen gelernt haben. Wir haben dieselben bei zwei Justificationen durch den Strang aus unmittelbarer Nähe verfolgt, und in beiden Fällen sowohl die Dyspnoe als auch die Convulsionen in gewöhnlicher Weise auftreten[S. 523] gesehen. Ueber die Intensität der letzteren konnten wir uns kein Urtheil bilden, da in beiden Fällen die oberen Extremitäten gebunden waren, die unteren aber gehalten und angezogen wurden. Eine auffallende Cyanose des Gesichtes konnten wir nicht beobachten und zum Eintritt derselben fehlen bei vollständiger Compression der Halsgefässe auch die Bedingungen. Dagegen muss es zu hochgradigen Stauungs-Erscheinungen (Cyanose, Ecchymosen) im Gesichte kommen, wenn, wie bei asymmetrischer Lage des Stranges, namentlich bei weit nach vorne liegendem Knoten möglich, nur die Gefässe der einen Seite oder mehr und früher die Venen als die Arterien comprimirt worden sind.
Der Leichenbefund bei Erhängten.
Das äussere Aussehen der Leichen Erhängter ist, wenn man von den localen Befunden am Halse absieht, in der überwiegenden Zahl der Fälle kein anderes als das der meisten anderen Leichen. Das Gesicht zeigt in der Regel die gewöhnliche Leichenblässe und auch die Conjunctiven sind nicht ecchymosirt. In einzelnen Fällen, besonders bei asymmetrischer Lage des Stranges, findet sich mehr weniger ausgesprochene Cyanose der Gesichtshaut, sowie Ecchymosirung derselben und der Conjunctiven. In seltenen Fällen wird Blutung aus den Ohren beobachtet, die aber nicht, wie ältere Beobachter meinen, von einer Ruptur des Trommelfelles herrührt, sondern, wie bereits oben erwähnt, von subepidermoidaler Gefässberstung und Durchbruch des extravasirten Blutes durch den dünnen und meist macerirten Epidermisüberzug des Trommelfelles, beziehungsweise der hintersten Partien des äusseren Gehörganges. Das Verhalten der Pupillen zeigt nichts Charakteristisches. Die Lippen sind in der Regel bleich, häufig mit eingetrocknetem oder feuchtem Schleim bedeckt, der aus der Mundhöhle kommt. Derselbe besteht, wie wir uns auch bei den zwei Gehenkten überzeugten, aus Speichel, der mechanisch aus den Speicheldrüsen ausgedrückt wird und zum Munde herausfliesst. Die Zunge ist meist etwas vorgefallen und zwischen den Kiefern eingeklemmt, ein Befund, dessen Zustandekommen sich aus rein mechanischen Gründen zur Genüge erklärt, aber nicht dem Erhängungstode allein zukommt, sondern bei den verschiedensten Todesarten, und zwar gar nicht selten, beobachtet wird.
Wird die Leiche in den ersten Stunden nach erfolgter Suspension abgenommen und in der gewöhnlichen Weise gelagert, so ist die Vertheilung der Todtenflecke die gleiche, wie wir sie an anderen Leichen beobachten können; blieb jedoch der Körper durch längere Zeit suspendirt, so senkt sich das Blut gegen die untere Körperhälfte und wir finden dann letztere, insbesondere die unteren Extremitäten, desto livider verfärbt, je länger die Leiche gehangen, ausserdem manchmal mit subepidermoidalen Ecchymosen besetzt, die sich entweder postmortal durch Ruptur der[S. 524] Capillaren des Papillarkörpers der Haut bilden oder wenigstens aus früher unscheinbar gewesenen, aber in vivo entstandenen Ecchymosen durch postmortale Nachsickerung des Blutes zu grösseren und grossen sich entwickeln und deren wir bereits oben Erwähnung gethan haben. Ein solcher Befund, der, wenn die Leiche abgenommen wird, sich trotzdem erhält, berechtigt zum Schlusse, dass die Leiche nicht etwa nur einige Augenblicke oder nur wenige Stunden, sondern längere Zeit gehangen haben musste, ein Umstand, dessen Constatirung in einzelnen Fällen wichtig sein kann. In einem solchen Falle bekommen auch die Hände eine livide Farbe, indem sich das Blut aus den oberen Theilen der betreffenden Extremitäten in die Hände herabsenkt.
Der wichtigste äussere Befund bei Erhängten ist die Strangfurche am Halse. Wie schon der Name ausdrückt, ist dies jener um den Hals verlaufende, furchenartig vertiefte Eindruck, der als Spur des den Hals zusammenschnürenden Stranges zurückgeblieben ist.
In der Regel verläuft dieselbe quer über den Vorderhals, steigt beiderseits ziemlich steil hinter den Ohren, und zwar meist hinter den warzenförmigen Fortsätzen gegen den Nacken auf, woselbst die Enden der Furche entweder in der Mittellinie des Nackens zusammentreffen, oder noch bevor sie diese erreichen, sich in der behaarten Kopfhaut verlieren.
Am Vorderhalse kommt der Strang so hoch zu liegen, als es die anatomischen Verhältnisse gestatten, respective bis die hinaufgeschobene Schlinge hinter den Unterkieferwinkeln ihren Halt findet. Sie verläuft dann gerade zwischen Kehlkopf und Zungenbein, seltener über dem letzteren. Nur ganz ausnahmsweise kann der Strang auf den Kehlkopf selbst oder noch tiefer zu liegen kommen. Es könnte dies dann geschehen, wenn die Schlinge, bevor die Schwere des Körpers zur Wirkung kam, fest um den Hals gelegt und so das Hinaufrutschen derselben verhindert wurde. Auch das stärkere Prominiren des Kehlkopfes, namentlich des verknöcherten, kann letzteres bewirken. Endlich kann die Schlinge auf den Kehlkopf zu liegen kommen, wenn ein sehr breites Strangwerkzeug genommen wurde oder wenn dasselbe nicht um den blossen, sondern, wie hier und da vorkommt, um den mit einem Tuche umwundenen oder durch einen dichten Bart geschützten Hals gelegt und eben durch diese Unterlage die Verschiebung der Schlinge nach aufwärts behindert worden war; am leichtesten aber, wenn Tumoren am Halse eine tiefere Lagerung der Schlinge bedingten.
Wir haben zwei Fälle letzterer Art obducirt. Der eine betraf ein altes, mit einem starken Cystenkropfe behaftetes Weib, welches sich den Strick unter dem Kropf angelegt hatte, der andere einen vierzigjährigen, an einem Riemen suspendirt gefundenen Mann mit einer fast strausseneigrossen Dermoidcyste unter dem linken Unterkiefer. Bei dem Manne verlief die Strangfurche quer über die Mitte des Kehlkopfes, bei dem Weibe sogar unter dem Kehlkopfe über die [S. 525]Trachea. Auch bei dem in Raab durch den Strang hingerichteten und nach der Abnahme wieder belebten Mörder Takács bestanden grosse Drüsentumoren am Halse (Wiener med. Wochenschr. 1880, Nr. 17), und es ist möglich, dass dieselben den genügend intensiven Verschluss der Luftwege, sowie der Gefässe am Halse behindert und dadurch die Wiederbelebung des allerdings schon nach 10 Minuten abgenommenen Justificirten ermöglicht hatten.
Bei der Bestimmung der Lage der Strangfurche am Vorderhalse ist aber niemals zu übersehen, dass letztere an der horizontal gelagerten Leiche immer tiefer liegt, als sie während des Hängens gelegen war. Man findet sie daher ungemein häufig quer auf dem Kehlkopf liegend, während man, wenn man den Strang in situ sich denkt, sich sofort überzeugt, dass die Furche viel höher gelegen sein musste. Auf diesen ganz natürlichen Vorgang ist umsomehr Rücksicht zu nehmen, je weniger ein localer Grund nachweisbar ist, der die Schlinge verhindert haben konnte, die höchst mögliche Lage einzunehmen.
Der weitere Verlauf der Strangfurche verhält sich in typischen Fällen in der Art, dass dieselbe beiderseits unter den Warzenfortsätzen gegen den Nacken zu aufsteigt und in der Mittellinie desselben, beziehungsweise des Hinterhauptes, zu einem mit[S. 526] dem Scheitel nach oben gerichteten Winkel sich vereinigt. Dies ist wenigstens bei einer sogenannten durchlaufenden Schlinge oder wenn ein Knoten geknüpft wurde, der Fall, während bei einer sogenannten offenen Schlinge die Enden der Strangfurchen sich nicht vereinigen, sondern blos mehr weniger hinter den Warzenfortsätzen convergiren. Ebenso häufig und vielleicht noch häufiger ist der asymmetrische Verlauf der Strangfurche, indem die Enden derselben nicht gegen die Mittellinie des Nackens, sondern seitwärts von dieser convergiren, respective zu einem Winkel zusammentreten. Sehr gewöhnlich findet letzteres hinter einem Ohr statt, und zwischen diesem Verlaufe der Strangfurche und dem typischen gibt es vielfache Uebergänge. In einzelnen, nicht gerade sehr seltenen Fällen kann der Knoten der Schlinge, respective der Winkel der Strangfurche, vor dem einen Ohre und sogar nahe am Kinn zu liegen kommen. Wir haben wiederholt solche Fälle beobachtet, von denen wir einen vom Polizeiarzt Dr. v. Britto aufgenommenen in Fig. 91, einen andern, der mit liegender Stellung combinirt war, an späterer Stelle abbilden. Einen weiteren (Fig. 92) entlehnen wir einer Publication Tardieu’s (Ann. d’hyg. publ. 1870, pag. 94) und den in Fig. 93 abgebildeten, der wohl ein Unicum darstellen dürfte, verdanken wir Herrn Dr. v. Rosen in Odessa, welcher die Güte hatte, uns die betreffende, beim Localaugenscheine aufgenommene Photographie zur Verfügung zu stellen. Der Fall betrifft einen 21jährigen Mann und ein 17jähriges Mädchen, welche sich in einem Hôtel gemeinschaftlich durch Erhängen an einem Strangulationsbande das Leben genommen haben. Ein Sessel war zum geöffneten Flügel einer Doppelthüre gerückt und über diesen das aus einem Bettlacken und einem schwarzen Wolltuche geknüpfte Strangulationsband hinübergeworfen, an dessen beiden zu einer Schlinge zusammengebundenen Enden je eine Leiche hing. Bei dem Manne lag der Knoten im Nacken, bei dem Mädchen aber unter dem Kinn und dem entsprechend war der Kopf bei jenem nach vorn, bei diesem aber stark nach rückwärts gebeugt. Einem hinterlassenen Zettel zufolge hatten Beide zuerst mit Kupferspähnen[S. 527] und Phosphorzündhölzchen in starkem Essig und dann durch Kohlendunst sich zu tödten versucht und erst als diese Versuche misslungen, sich aufgehängt! Deininger (Friedreich’s Blätter. 1884, pag. 47) sah einen hierher gehörigen Fall. Die 61jährige Frau war in halb liegender Stellung mit dem Gesicht nach oben hängend gefunden worden. Der Knoten war gerade unter dem Kinn, der Kopf nach rückwärts gestreckt, Vorderhals und Kehlkopfgegend frei, die Strangfurche am stärksten im Nacken ausgebildet. Versuche, die Deininger an Lebenden und an Leichen anstellte, ergaben, dass bei einer solchen Stranglage die Luftwege zwar seitlich verengt, doch nicht vollkommen verschlossen werden, wohl aber die grossen Halsgefässe. Diese Fälle haben auch deshalb eine specielle Bedeutung, weil die Strangmarke auch den Nacken quer durchfurcht und daher, wie dies in zweien unserer Fälle wirklich geschehen ist, für eine Erdrosselungsspur gehalten werden kann.[347]
Die Strangfurche ist in der Regel an den dem Knoten gegenüber liegenden Halspartien, und zwar desto mehr ausgeprägt, je mehr das Strangulationsband geeignet war, den Hals einzuschnüren, d. h. in die Haut einzuschneiden. Dies ist desto mehr der Fall, je dünner und gleichmässiger dasselbe gewesen ist. In der überwiegenden Zahl der Fälle werden zum Erhängen Stricke (meist sogenannte Rebschnüre) verwendet und die Strangfurche stellt dann eine von parallelen Rändern scharf begrenzte, schmale, rinnenartige Furche dar, welche sich in auffallender Weise von ihrer Umgebung abhebt. Je dünner und daher je einschneidender der Strick, desto schmäler, aber auch desto tiefer und schärfer markirt ist die zurückbleibende Furche. Schulze sah einen Selbstmörder, der sich an einem Eisendraht erhängt hatte, und in Wien kam im Laufe des Jahres 1876 ein Fall vor, in welchem das Erhängen an einem Messingdrahte geschah. Leider wurde uns nicht Gelegenheit geboten, letzteren Fall selbst zu untersuchen, es ist jedoch kein Zweifel, dass unter allen Strangulationswerkzeugen ein Draht besonders geeignet ist, eine sehr tiefe und schmale Strangfurche zu erzeugen, und es wäre wohl denkbar, dass bei dieser Gelegenheit sogar die Haut durchschnitten und dadurch eine anderweitig entstandene Schnittwunde vorgetäuscht werden könnte.
Nicht selten wird der Strick doppelt oder mehrfach genommen und man findet dann eine doppelte oder mehrfache Strangfurche. In der Regel liegen die Touren des Strickes enge aneinander und[S. 528] daher auch die ihnen entsprechenden Strangfurchen, so zwar, dass diese nur durch eine schmale kammartige Hautleiste von einander getrennt sind. Diese Leiste verläuft, wenn die Stricktouren neben einander lagen, mit den Rändern der rinnenförmigen Strangfurchen parallel, kreuzt sich aber mit diesen, wenn dies auch mit den Stricktouren der Fall war. Nur ausnahmsweise liegen bei doppelt oder mehrfach genommenem Strick die Touren weiter auseinander, so dass zwischen den einzelnen Strangfurchen bandartige Hautstreifen sich finden. Letztere sind dann begreiflicherweise wulstig vorgetrieben und ebenso wie die oben erwähnten Hautkämme mehr weniger injicirt und selbst punktförmig ecchymosirt. In seltenen Fällen kann es in Folge der seitlichen Compression zu bläschenförmigen, mit blassem oder bluthältigem Serum gefüllten Abhebungen der Epidermis kommen. Wir haben einen einzigen solchen Fall gesehen und Riecke (Ann. der Staatsarzneikunde, 1838, III, pag. 537) beschreibt einen zweiten. Verhältnissmässig häufiger scheint, was wir gleich hier erwähnen wollen, diese Erscheinung beim Erdrosseln vorzukommen, denn Liman (Handb. 7. Aufl., II, 70 und 682) sah dieselbe zweimal und wir einmal nach Selbsterdrosslung. Ein Oedem der eingeklemmten Hautpartie haben wir bis jetzt nicht beobachtet, vielleicht nur deshalb, weil es nach Abnahme der Leiche sich wieder durch Senkung verliert. Lesser (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. XXXII, pag. 9) sah ein solches einmal bei einem erdrosselten Neugeborenen.
Wurde ein Riemen benützt, so findet man eine entsprechend breite, glatte, parallelrandige Strangfurche, innerhalb welcher die Haut excavirt und blass erscheint, ausgenommen an jenen Stellen, die etwa den Riemenlöchern oder der Schnalle entsprechen, die vorgetrieben, stark injicirt und meistens auch ecchymosirt sind.
Geschah das Erhängen an einem Tuche (Halstuch, Sacktuch, Handtuch, zusammengebundene Servietten etc.), so ist die Strangfurche desto breiter und flacher, und desto weniger scharf begrenzt, je breiter, weicher und je weniger gleichmässig das Würgeband war. Hatte das Tuch Knoten, Nähte oder andere theils vorspringende, theils weniger nachgiebige Stellen, so erscheinen diese in der Strangfurche mehr weniger ausgeprägt. Gleiches gilt bezüglich der Windungen, wenn das Tuch strickartig zusammengedreht gewesen war. Auch wenn Stricke, besonders neue, zur Anwendung kamen, lassen sich in der Strangfurche häufig, und zwar häufiger als bei zusammengedrehten Tüchern, die Windungen als parallele schiefe Leistchen erkennen, welche jenen Hautpartien entsprechen, die zwischen je zwei vorspringende und daher comprimirende Windungen des Strickes zu liegen kamen. Da nicht selten zusammengebundene Stricke zum Erhängen genommen werden, oder das eine Ende des Strickes zu einer Schlinge geknüpft ist, durch welche das andere Ende hindurchläuft, so werden auch die betreffenden Knoten an der Strangfurche sich ausprägen, beziehungsweise das gleichmässige Verhalten derselben unterbrechen. In einem[S. 529] von Tardieu beschriebenen Falle war das eine Ende des Stranges durch einen am anderen befestigten Metallring durchgezogen und der Abdruck dieses Ringes an der Leiche deutlich erkennbar.
Ausser von den genannten Umständen hängt das mehr weniger deutliche Ausgeprägtsein der Strangfurche auch von dem Körpergewichte des Erhängten ab, ferner davon, ob dieses, wie beim freien Hängen, vollständig zur Geltung hat kommen können, oder ob der Körper, nachdem der Tod eingetreten war, eine Stütze irgendwo gefunden hatte, was namentlich in jenen häufigen Fällen geschieht, wo die Betreffenden an niedrigen Gegenständen (Thürdrückern u. s. w.) sich aufgehängt hatten. Auch der Umstand, ob die Leiche kürzer oder länger hängen blieb, ist von Einfluss, und schliesslich ist nicht zu übersehen, dass die Strangfurche immer an der dem Knoten entgegengesetzten Stelle des Halses am deutlichsten ausgeprägt sein muss, weil hier die Compression am grössten ist, dass aber diese Stelle eine verschiedene ist, je nachdem das Erhängen in typischer Weise oder so geschah, dass der Knoten hinter dem einen Ohre oder gar vor dasselbe zu liegen kam.
An der Leiche erscheint die Strangfurche entweder lederartig (pergamentartig) vertrocknet und dann mehr weniger braungelb bis braunroth verfärbt, oder weich, in diesem Falle entweder eine schmutzig-bläuliche oder die gewöhnliche, nur etwas blässere Hautfarbe bietend. Die lederartige oder mumificirte Beschaffenheit der Strangfurche bildet sich erst an der Leiche, ist demnach eine sogenannte Leichenerscheinung; ihr Zustandekommen setzt aber gewisse Bedingungen voraus, die ein derartiges postmortales Vertrocknen ermöglichen.
Zu diesen Bedingungen gehört in erster Linie eine genügend starke Compression des betreffenden Hautstreifens. Durch eine solche Compression wird nämlich der Hautstreif nicht blos anämisch, sondern es wird auch jede andere Feuchtigkeit aus demselben herausgepresst, was zur Folge hat, dass dieser Hautstreif, der seine comprimirte Beschaffenheit auch nach dem Tode behält, an der Leiche früher eintrocknet als die umgebende Haut. Da bei schmalen Strangulationsbändern die Compression des Halses am intensivsten ist, so begreift es sich auch aus diesem Grunde, warum besonders, wenn ein Strick benützt wurde, die pergamentartige Strangfurche gefunden zu werden pflegt. Ausserdem spielt die Aufschürfung der Haut in der Strangfurche eine Rolle, indem das Corium mehr weniger blossgelegt wird und an der Leiche ebenso eintrocknet, wie dies bekanntlich bei den Hautaufschürfungen geschieht (pag. 270). Je rauher und einschneidender das betreffende Strangulationsband war, desto leichter kann eine Abschindung der Epidermis zu Stande kommen, daher besonders häufig, wenn das Erhängen mit einem Stricke, namentlich einem neuen, geschah.
Die weiche Strangfurche präsentirt sich entweder als ein bläulicher, vertiefter, oder als ein mehr flacher anämischer Hautstreifen. Beide kommen zu Stande, wenn die Entstehung der[S. 530] Strangfurche weder mit Hautabschindung, noch mit besonders starker Compression der betreffenden Hautpartie verbunden war, daher vorzugsweise, wenn breite und weiche Strangwerkzeuge, wie Tücher u. dergl., benützt worden sind. Die blasse Farbe der Strangfurche rührt von der Anämie her, die durch die Compression des betreffenden Hautstreifens veranlasst wurde; die blaue Verfärbung ist nur ein höherer Grad dieser Compressionserscheinung und kommt theils zu Stande, indem die Haut durch den Druck verdünnt wird und die Musculatur durchscheint, theils dadurch, dass die comprimirte und dadurch verdichtete Haut selbst, wie man sich durch Versuche leicht überzeugen kann, eine blaugraue Farbe anzunehmen pflegt.
Da die pergamentartige Vertrocknung der Strangfurche eine blosse Leichenerscheinung ist und zu ihrer Entstehung einige Zeit erfordert, so folgt daraus, dass wir selbst aufgeschürfte oder hochgradig comprimirte Strangfurchen noch weich finden können, wenn wir die Untersuchung bald nach der Suspension vornehmen, oder wenn die Eintrocknung durch äussere Verhältnisse verlangsamt oder verhindert worden war. Verzögert kann die Eintrocknung werden schon durch das Hängenbleiben selbst, indem der Strang die betreffende Furche deckt und dadurch die Einwirkung der äusseren Luft für einige Zeit abhält. Ebenso wird in feuchter Luft oder im Wasser die Vertrocknung nicht erfolgen und es wird sogar eine schon lederartig vertrocknet gewesene Strangfurche wieder weich, wenn sie der Einwirkung von Wasser oder anderen Feuchtigkeiten ausgesetzt wird. Diese Umstände dürften bei Wasserleichen nicht übersehen werden.
Zwischen der weichen und pergamentartig vertrockneten Strangfurche gibt es eine Menge Combinationen und Uebergänge, und es kommt ungemein häufig vor, namentlich wenn nicht Stricke, sondern zusammengedrehte Tücher, Leibriemen, Hosenträger, Gurten, Vorhangschnüre und derartige Strangwerkzeuge benützt worden waren, dass eine und dieselbe Strangfurche sowohl weiche als vertrocknete Stellen zeigt, so dass sie wie unterbrochen erscheint.
Eine mit Hautaufschürfung oder starker und gleichmässiger Compression der Haut verbundene Strangfurche tritt deutlich am Halse hervor und verschwindet auch bei längerem Liegen der Leiche nicht, und selbst an faulen Leichen ist sie, wie wir uns wiederholt überzeugt haben, meist noch sehr deutlich zu erkennen. Jene weichen und undeutlich begrenzten Strangfurchen aber, wie sie durch Tücher, namentlich durch dicke wollene Tücher (Shawls), entstehen, sind häufig sehr undeutlich ausgeprägt und der flache, blos anämische Eindruck, den sie veranlassen, kann sich an der abgenommenen Leiche sogar so vollkommen ausgleichen, dass nachträglich keine Spur mehr von einer Strangfurche zu sehen ist.
Hatte sich der Betreffende an niedrigen Gegenständen aufgehängt, so dass nach dem Tode der Körper Unterstützung fand[S. 531] und daher dessen Schwere nicht zur vollen Geltung kommen konnte, dann kann sich die bezeichnete Eventualität noch leichter ereignen.
Ein Mann wurde im Walde mit seinem Sacktuch an einem Aste so hängend gefunden, dass er nicht blos mit den ausgestreckten Füssen den Boden berührte, sondern auch mit dem Gesässe auf einer Moosbank theilweise aufruhte, welche sich am Fusse des betreffenden Baumes befand. Das Abnehmen der Leiche geschah unter Intervention eines Arztes, der in seinem Berichte die Strangfurche als flachen blassen Eindruck beschrieb. Bei der Obduction wurde keine Spur einer Strangfurche gefunden, weshalb die Obducenten nicht blos den Tod durch Erhängen ausschlossen, sondern auch den erstuntersuchenden Arzt beschuldigten, schlecht gesehen zu haben. Das Fehlen der Strangfurche liess sich aber, wie in dem Facultätsgutachten auseinandergesetzt wurde, ungezwungen aus den Verhältnisses erklären, unter welchen der Betreffende erhängt gefunden wurde und die wir oben erwähnt haben. — Ebenso fanden wir keine Strangfurche bei einem Manne, der in ähnlicher Stellung wie der Vorige an einem alten Traggurt sich erhängt hatte, und Casper-Liman (l. c. 667) erwähnen mehrerer solcher Fälle.
Ein theilweises Fehlen der Strangfurche ist noch häufiger und kommt namentlich dann wieder vor, wenn zusammengelegte oder zusammengedrehte Tücher das Würgeband gebildet hatten.
Die Strangfurche kann auch dann fehlen oder undeutlich ausgeprägt sein, wenn das Würgeband nicht über den blossen Hals gelegt wurde, sondern zwischen diesem und dem Strangwerkzeug weiche Gegenstände sich befanden. So werden wir unten eines Falles erwähnen, wo Abdrücke von Hemdknöpfen für Würgespuren genommen wurden und der Erhängungstod deshalb ausgeschlossen wurde, weil eine Strangfurche fehlte. Dieses Fehlen liess sich aber ungezwungen daraus erklären, dass der Betreffende den dicken Zugstrang, an dem er sich erhängte, über ein mehrfach gefaltetes Tuch gelegt hatte, das noch am Halse gefunden worden war. — Auch ein dichter Bart am Vorderhalse kann die deutliche Ausbildung einer Strangfurche verhindern. Schliesslich kann sie durch Liegen im Wasser oder durch Fäulniss mehr weniger unkenntlich werden. Bei einer Frau, die sich an einem Stricke erhängt hatte und nach 2 Monaten exhumirt wurde, weil das (unbegründete) Gerede entstand, dass sie von ihrem Manne umgebracht und dann aufgehängt worden sei, fand sich keine Spur der bei der ersten Todtenbeschau sehr deutlich gewesenen Strangfurche, wohl aber eine Fractur beider oberer Kehlkopfhörner.
Von den inneren Befunden wollen wir die localen am Halse als die wichtigsten zunächst besprechen.
Die Haut der Strangfurche und das Unterhautgewebe daselbst erscheinen comprimirt, blutleer und trocken. Suffusionen im Unterhautbindegewebe unter der Strangfurche gehören zu den seltensten Befunden, sind uns jedoch bereits mehrmals vorgekommen, darunter einmal im Nacken und zwischen den Nackenmuskeln,[S. 532] in einem Falle, wo der Knoten fast unter dem Kinne lag.[348] Die Seltenheit derselben erklärt sich daraus, dass in der Regel die Gefässe in und unmittelbar neben der Strangfurche nur eine Compression, respective mässige Zerrung erleiden, aber nicht zerrissen werden, woraus sich auch begreift, warum auch bei Wiederbelebten in der Regel nur reactive Röthung und Schwellung der strangulirten Hautpartie und nur ausnahmsweise Suffusion beobachtet wird. Wenn in älteren Büchern von blutrünstigen Strangfurchen gesprochen wird, so liegt der Grund darin, dass entweder die manchmal blaue Färbung der Strangfurche, deren Erklärung wir oben gegeben haben, für eine Suffusion gehalten wurde oder, was noch wahrscheinlicher ist, dass man jenen lividen Saum dafür nahm, der sich nicht selten, namentlich wenn die Leiche lange gehangen hatte, am oberen Rande der durch den Strang veranlassten Einschnürung zu finden pflegt, der aber eine sehr erklärliche Leichenerscheinung, eine Hypostase, darstellt, die dadurch entsteht, dass das aus dem Kopfe sich herabsenkende Blut über der eingeschnürten Stelle sich ansammelt und dort jene Verfärbung der Haut veranlasst, die wir an „Todtenflecken“ überhaupt zu sehen gewohnt sind.
Häufiger, obwohl im Grossen und Ganzen doch nur ausnahmsweise, kommen Ecchymosen in anderen Theilen des Zellgewebes, in oder neben der Strangulationsebene des Halses vor, verhältnissmässig am häufigsten in den Scheiden der tiefen Halsgefässe und im intermusculären Bindegewebe, sehr selten in oder unter den Schleimhäuten. Eine beträchtlichere Grösse erreichen dieselben niemals, da einestheils der Tod rasch eintritt und anderseits, wenigstens in typischen Fällen, die plötzliche und gleichzeitige Compression der grossen, sowohl venösen, als arteriellen Gefässe am Halse den Kreislauf fast vollständig sistirt, woraus sich erklärt, warum selbst grössere Läsionen, die mitunter beim Erhängen entstehen, wie z. B. die Fracturen der Kehlkopf- und Zungenbeinhörner, meist ganz unbedeutend suffundirt erscheinen.
Zerreissungen der Muskeln am Halse haben wir wiederholt gesehen; meist war der Kopfnicker, und zwar entweder beiderseits oder bei asymmetrisch angelegter Schlinge an der dem Knoten entgegengesetzten Stelle, einmal ein Musculus thyreohyoideus zerrissen, respective in den äusseren Portionen eingerissen und in einem Falle (Fig. 94), in welchem der Strick quer auf dem Ligamentum cricothyreoideum gelegen war, ergab sich ausser einem Doppelbruch der Spange des Ringknorpels eine partielle Zerreissung beider Kopfnicker und ein furchenartiger Eindruck beiderseits an den Brust- und Zungenbeinmuskeln. Lesser[349] fand bei[S. 533] 50 Erhängten 11 Mal Muskelrupturen, und zwar 7 Mal eines, 3 Mal beider Kopfnicker, 5 Mal des Platysma, 2 Mal der Musculi sternohyoidei und thyreoidei und 1 Mal des Omohyoideus. Diese Muskelrupturen können, doch nur selten, in vivo entstehen und sind dann mehr weniger suffundirt, in der Regel sind sie ganz reactionslos und sind dann offenbar erst postmortal, und zwar meistens erst bei der Section durch das Strecken und Drehen des todtenstarren Halses, wie es insbesondere beim Eröffnen des Schädels und den diesem vorangegangenen Manipulationen stattfindet, künstlich an den eingeschnürt gewesenen Stellen erzeugt worden. Auch bei suffundirten solchen Rupturen ist die Möglichkeit einer postmortalen Entstehung nicht sofort ausgeschlossen, da auch letztere, wenn gleichzeitig bluthältige Gefässe zerrissen sind und dem Austritte des Blutes einige Zeit gegönnt war, wie suffundirt erscheinen können.[350]
[S. 534]
Auch bei den zwei mehrfach erwähnten Justificirten fanden wir die Kehlkopf-Zungenbeinmusculatur rechterseits zerquetscht, was aber durch einen Knoten erzeugt worden war, den der Scharfrichter an dieser Stelle des Stranges angebracht und während des Hängens mit aller Kraft gegen den Kehlkopf gedrückt hatte. Diese Scharfrichterpraxis scheint sehr alt zu sein, denn schon Morgagni (l. c. Epist. XIX) berichtet, dass bei einer solchen Hinrichtung: Carnificis laqueus musculos, qui os hyoides cum larynge proximisque partibus connectunt, disruperat, ut illud os ab larynge esset separatum. Muskelzerreissungen bei 4 Hinrichtungen beschreibt auch Maschka (l. c. 602) und bemerkt, dass er solche bei Selbstmördern niemals beobachtet habe.
Fracturen der Zungenbeinhörner trifft man häufig, meist nahe an ihren hinteren Enden. Ebenfalls häufig sind, wie wir bereits in der zweiten Auflage dieses Buches (1881, pag. 482) hervorhoben, die Fracturen der oberen Kehlkopfhörner, besonders wenn sie bereits verknöchert sind, und zwar entweder vor ihrem peripheren Ende oder an der Basis (Fig. 95). Diese Fracturen entstehen wenigstens beim typischen Erhängen nicht, wie man meinen könnte, durch directen Druck des Stranges, sondern, wie in unserem Institute, insbesondere durch Haumeder (l. c.), nachgewiesen wurde, indirect, d. h. als Theilerscheinung und Folge des oben erwähnten Angedrücktwerdens des Ligamentum thyreohyoideum medium an die Wirbelsäule und consecutive Zerrung der Ligamenta[S. 535] hyothyreoidea lateralia, die sich bekanntlich an den Enden des Zungenbeines einerseits und der Kehlkopfhörner andererseits inseriren. Daher sind auch die Oeffnungen der Fracturwinkel bei letzteren stets nach oben, beim ersteren in der Regel nach unten gekehrt.
Beschädigungen des eigentlichen Kehlkopfes sind beim typischen Erhängen sehr selten, doch ist ihr Zustandekommen aus dem erwähnten Angedrücktwerden des oberen Kehlkopfrandes an die Wirbelsäule und consecutivem Auseinanderweichen der Schildknorpelplatten begreiflich, besonders bei fragilen (älteren) Kehlköpfen. Wir selbst haben noch keinen solchen Fall beobachtet, Lesser dagegen sah zweimal Infractionen der Schildknorpelplatten.
Am günstigsten ist die Gelegenheit für Entstehung von Kehlkopfbrüchen dann, wenn der Strang direct auf den Kehlkopf, insbesondere auf die Membrana crico-thyreoidea, zu liegen kommt. In diesem Falle werden nicht blos die Schildknorpel direct gequetscht, sondern die vordere Spange des Ringknorpels nach rückwärts gezerrt, so dass leicht Fracturen, namentlich des letzteren, entstehen können. Lesser bildet eine so entstandene Doppelfractur des Ringknorpels ab und eine gleiche von uns beobachtete zeigt Fig. 94 und 96.
Zu den localen Befunden, die sich bei Erhängten an den Weichtheilen des Halses ergeben können, gehört auch die Ruptur der Intima carotis. Amussat hat zuerst auf diese Ruptur aufmerksam gemacht und seitdem wurde sie nicht blos bei Erhängten beobachtet, sondern auch bei Erhängungsversuchen mit Leichen künstlich erzeugt.[351] Nach der Zusammenstellung von Peham („Ueber Carotisrupturen bei Erhängten.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, Suppl. pag. 176) fanden sich in unserem Institute solche Rupturen in 8·06 Procent, bei Justificirten unter 7 Fällen 5mal. Im Ganzen gehören sie demnach bei Selbstmördern nicht zu den häufigen Befunden, obgleich Simon sie bei sechs Erhängten zwei Mal und Lesser in 50 Fällen sieben Mal gesehen hat. In sämmtlichen unserer Fälle, sowie in fast allen der von Anderen beobachteten befand sich die Ruptur unmittelbar unter der Theilungsstelle der Carotis, also dort, wo, wie wir uns durch die oben erwähnten Versuche überzeugt haben, die Carotiden durch das Würgeband bis zur Undurchgängigkeit comprimirt und gegen die Wirbelsäule angepresst werden, doch kann sie auch in den Aesten der Carotis vorkommen. Dieser Druck und die gleichzeitige Zerrung des Gefässrohrs nach oben bewirkt die Ruptur. Ignatowski (l. c.) legt das Hauptgewicht auf die Zerrung, während den Versuchen[S. 536] Peham’s zufolge diesem Moment nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Die Ruptur ist immer quergestellt, einfach oder mehrfach, und betrifft in der Regel nur einen Theil der Peripherie des Gefässlumens (Fig. 97), selten die ganze. In den meisten unserer Fälle war der betreffende Riss etwas, doch immer nur unbedeutend, sugillirt. Es scheint, dass namentlich dünne und daher stark einschnürende Strangwerkzeuge solche Rupturen bewirken können; denn in allen unseren Fällen, mit Ausnahme eines einzigen, wo ein Riemen in Anwendung kam, hatten sich die Betreffenden an einem Strick aufgehängt. Dass eine gewisse Rigidität der Arterien, insbesondere ein bestehender atheromatöser Process, das Zustandekommen der Ruptur erleichtere, können wir nicht bestätigen, denn die meisten Individuen, bei denen wir sie sahen, befanden sich noch im jüngeren Alter. Auch können wir nicht behaupten, dass die grössere oder geringere Stärke des Halses dabei von wesentlichem Einfluss sei. Leicht können solche Rupturen beim unvorsichtigen Aufschlitzen der Carotiden entstehen, worauf zu achten wäre.
Fracturen, Luxationen oder Zerreissungen der Wirbelsäule gehören beim Selbstmord durch Erhängen zu den allergrössten Seltenheiten und kommen wohl nur bei ganz besonderen Verhältnissen vor. Lesser fand einmal eine partielle Zerreissung der vierten Zwischenwirbelscheibe mit Fractur der darüber befindlichen periostitischen Osteophyten bei einer 61jährigen Frau und wir eine Abreissung der Bandscheibe zwischen dem 3. und 4. Halswirbel vom letzteren zugleich mit der angrenzenden Corticalis des sehr porotischen Wirbelkörpers bei einem 83jährigen marastischen Manne, den wir als Leiche aufgehängt hatten.[352] Doch können, wie wir bereits oben (pag. 360) bemerkten, bei so brüchigen Knochen die Fracturen der Halswirbelsäule auch erst am Obductionstisch geschehen. Auch bei der gewöhnlichen Justification durch den Strang kommen Beschädigungen der Halswirbelsäule wohl nur ausnahmsweise vor. Dagegen wurden, wie Kinkead (Virchow’s Jahrb. 1885, I, pag. 527) und Pellereau (Annal. d’hygiène publ. 1886, XVI, pag. 108) berichten, bei der englischen Hängemethode, bei welcher der Delinquent aus bedeutender Höhe an einem langen dicken, unter dem Kinn geknüpften Strick plötzlich[S. 537] fallen gelassen wird, vollständige Abreissungen der Halswirbelsäule beobachtet. In einem Falle war sogar fast der ganze Kopf abgerissen.[353]
In einem zur Prager Facultät gelangten Falle wurde ein hochschwangeres Bauernmädchen in einem Glockenthurme zwischen dem Glockenstuhl und dem Boden des Thurmes an einem Glockenseil frei hängend gefunden, und es bestand der Verdacht, dass sie von ihrem Schwängerer auf die Art umgebracht worden sei, dass er ihr die Schlinge unversehens um den Hals geworfen und sie dann vom Glockenstuhl in die Tiefe herabgestossen hatte. Der Fall war höchst wahrscheinlich nur ein Selbstmord und das Gutachten der Facultät wurde auch in diesem Sinne abgegeben. Wir erwähnen ihn aber deshalb, weil hier gewiss die günstigsten Bedingungen zur Entstehung einer Zerreissung der Wirbelsäule gegeben waren. Leider hatten die Obducenten unterlassen, letztere zu untersuchen, so dass dadurch eine der interessantesten und für die Lehre vom Erhängungstode ungemein wichtigen Beobachtungen der Wissenschaft entgangen ist.
Auch wenn Jemand, selbst bei kurzem Sturz mit der Schlinge um den Hals von einer Höhe herabspringt, kann es zu Beschädigungen der Halswirbelsäule kommen. So fand Liman eine solche bei einem Manne, der mit um den Hals gelegten Riemen von einem Stiegengeländer herabgesprungen war, allerdings aber nach dem Abschneiden aus einer Höhe von 12 Fuss auf den gepflasterten Hof gestürzt war. Einen anderen Fall von Zerreissung der Lig. intervertebralia bei Selbstmord durch Erhängen soll Ansiaux in Lüttich beobachtet haben (Schmidt’s Jahrb. 1843, XL, 370). Ferner wird über solche, nichts weniger als sichergestellte Fälle berichtet: in den Annalen der Staatsarzneikunde, X, 701, und in der Zeitschrift für Staatsarzneikunde, 1851, N. F., IX, 153. Aeltere Literaturangaben über den Gegenstand, sowie Berichte über in dieser Beziehung angestellte Versuche finden sich in Orfila’s Lehrb. d. gerichtl. Med., übers. v. Krupp, 1849, II, 380 u. s. f.
Die übrigen Sectionsbefunde sind die dem acuten Erstickungstode überhaupt zukommenden. Hyperämien des Gehirns und seiner Häute sind keineswegs constant, obzwar man sie, da die Halsgefässe comprimirt werden, jene der Wirbelsäule aber offen bleiben, erwarten sollte. Ecchymosen der harten Hirnhaut haben wir zweimal beobachtet. Ueber die Inconstanz des Befundes von Hyperämie in den Lungen haben wir uns bereits oben ausgesprochen. Ecchymosen an den Lungen sind bei Erwachsenen verhältnissmässig selten. Die Unterleibsorgane zeigen, wenn die Leiche bald nach der Suspension abgenommen und in die gewöhnliche[S. 538] Rückenlage gebracht wurde, ein ganz gewöhnliches Verhalten. Je länger jedoch die Leiche hing, desto blutreicher erweisen sich diese Organe, ein Befund, der nur als Leichenhypostase aufgefasst werden darf.
Eine stärkere Hyperämie der Nieren, wie sie Casper bei Erhängten angibt, haben wir ebenfalls nur bei Leichen gefunden, die länger gehangen hatten. Ebenso fanden wir auffallende Hyperämie der Darmschleimhaut, selbst mit (wahrscheinlich postmortalen) Extravasaten auf dieser, wie sie Samson-Himmelstiern (Schmidt’s Jahrb. 1885, 7 Heft) und schon früher Hölder (Prager Vierteljahrschr. XXXVI, Annal. 80) beschrieben, nur unter den erwähnten Umständen. Dagegen constatirten wir wiederholt stärkere Injection der Magenschleimhaut und Ecchymosirung des Fundus auch unter Umständen, wo an eine blosse Hypostase nicht zu denken war, so dass dieselben mit dem während der Erstickung erfolgenden vasomotorischen Krampf, namentlich mit jenem im Bereiche der Gefässe des Darms und der Milz, in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden müssen.[354] Auch Pancreasblutungen wurden beobachtet (pag. 356).
Entsteht in irgend einem Falle die Frage, ob Selbstmord oder Tödtung durch fremde Hand vorliegt, so wird man sich zunächst erinnern, dass, wie schon bei der Besprechung des Selbstmordes hervorgehoben wurde, jener durch Erhängen zu den häufigsten Selbstmordarten gehört, so dass in der überwiegendsten Zahl der Fälle schon dieser Umstand die Annahme des Selbstmordes nahe legt. Da es ferner nur unter besonders günstigen Umständen (wie z. B. bei dem im Glockenthurme erhängt gefundenen Mädchen), bei Kindern oder Bewusstlosen oder bei Intervention mehrerer Personen gelingen könnte, ein Individuum ohne heftige Gegenwehr von dessen Seite durch Erhängen zu tödten, so sind wir, wenn die erwähnten Umstände sich nicht constatiren lassen und wenn keine Zeichen einer geleisteten Gegenwehr oder einer anderen Todesart an der Leiche gefunden werden, nicht berechtigt, den Tod von der Einwirkung fremder Hand herzuleiten.[355]
Im April 1875 hatte ein Schneider in Wien seine fünf Kinder im Alter von 8 Monaten, 2, 6, 8 und 9 Jahren und dann sich selbst durch Erhängen getödtet. Eine gleiche That hatte im April 1877 ein geisteskranker Schuldiener an seinen 13 und 6 Jahre alten Kindern [S. 539](Mädchen) vollbracht, die er höchst wahrscheinlich im Schlafe überfallen hatte. Die von einem Strick herrührende Strangfurche zeigte bei beiden Kindern den gewöhnlich bei Erhängten zu findenden Verlauf. Es fand sich jedoch bei beiden Kindern eine kreuzergrosse Blutaustretung unter der Galea über der Hinterhauptsschuppe und bei dem älteren Mädchen ausserdem eine bohnengrosse Hautaufschürfung am vorderen Rande des rechtes Kopfnickers in der Höhe des Kehlkopfes, ferner eine ebenso grosse Hautvertrocknung an der Stirne und an der Nasenwurzel und endlich eine erbsengrosse Blutaustretung unter der Haut der rechten Wange, woraus zu ersehen, dass wenigstens bei dem älteren Kinde die Tödtung nicht ohne Zurücklassung anderer, als blos von der Strangfurche herrührender Spuren gelungen ist. — Ueber einen an einem alten, sehr herabgekommenen und durch Misshandlungen geschwächten Mann begangenen Mord durch Erhängen berichtet Rehm (Friedreich’s Bl. 1884, pag. 322). — In einem unlängst von der Wiener med. Facultät begutachteten Falle stand ein Mann im Verdacht, sein Weib aufgehängt zu haben, da die Frau an jenem Tage schwer betrunken war, in halb knieender Stellung erhängt gefunden wurde und eine Tour des sehr langen, dicken, an einem Dachsparren befestigten und doppelt genommenen Strickes quer durch den Mund verlief. Da nicht erwiesen werden konnte, dass die Frau auch zur Zeit der That betrunken war, da ferner keine Verletzungen gefunden wurden und die eine Tour der Doppelschlinge auch nur zufällig beim hastigen Erhängen in den Mund gerathen sein konnte, so vermochte die Facultät die Möglichkeit des Selbstmordes nicht auszuschliessen.
Häufiger dagegen kommt es vor, dass anderweitig Umgebrachte aufgehängt werden, um den Todesfall als Selbstmord erscheinen zu lassen.
Ist die Tödtung durch eine mechanische Verletzung bewirkt worden, so ist die Diagnose eine verhältnissmässig leichte, da ja das Auffinden der Verletzung und ihrer Folgen (z. B. der Verblutung) den Fall meist sofort klarstellen wird.
So wurde, wie Casper erzählt, ein Matrose in einem Bordell durch einen Messerstich getödtet, seine Leiche aber von den Mädchen, die den Fall vertuschen wollten, gewaschen, mit einem frischen Hemd bekleidet und aufgehängt. In den Maschka’schen Gutachten findet sich ein Fall, wo ein Bursche auf einem Weidenbaum, mehrere Fuss von der Erde entfernt, hängend gefunden wurde, während die Untersuchung der mit Vorsicht abgenommenen Leiche eine Fractur des Schädels mit beträchtlichem Blutaustritt ergab. Ein 64jähriger Bienenzüchter, über welchen Lafargue (Annal. d’hygiène publ. 1885, XIII, pag. 455) berichtet, wurde auf einer Eiche in nahezu sitzender Stellung hängend gefunden, mit einer Maske am Kopfe, wie sie die Bienenzüchter benützen, jedoch so, dass das Visir den Scheitel und die Leinwand das Gesicht bedeckte; der Strick, an welchem die Leiche hing, war ebenso wie der Baumstamm mit Blut befleckt, doppelt genommen und verlief über das Gesicht, respective die dasselbe bedeckende [S. 540]Leinwand, quer durch den Mund (!). Hinter dem linken Ohre fand sich eine suffundirte Quetschwunde und darunter eine Zertrümmerung des Schädels mit Eintreibung der Bruchstücke in das Gehirn und hochgradigem intra- und extracraniellem Extravasat. In diesen Fällen konnte an der Tödtung durch fremde Hand und nachträglicher Aufknüpfung nicht gezweifelt werden.
Bei der Beurtheilung solcher Befunde an Leichen Erhängter ist jedoch wohl zu beachten, dass sich Verletzungen verschiedener Art auch bei zweifellosen Selbstmördern finden können.
Es können zunächst Verletzungen schon vor dem Erhängen bestanden haben, und diese können sowohl durch Zufall, als durch fremde und selbst durch des Selbstmörders eigene Hand beigebracht worden sei.
Bei einem Alkoholiker, der sich erhängt hatte, fanden wir die ganze rechte Augengegend geschwollen und sugillirt; es wurde jedoch sichergestellt, dass der Betreffende zwei Tage früher im betrunkenen Zustande von einer Stiege herabgefallen und dabei sich die erwähnte Verletzung zugezogen hatte. — In einem anderen Falle hatte sich ein Lehrjunge aus Verdruss über eine von seinem Lehrherrn erhaltene Züchtigung aufgehängt, und es wurden an seiner Leiche mehrere Striemen am Rücken und an den Extremitäten gefunden, die von Stockschlägen herrührten, ausserdem zwei kreuzergrosse Extravasate in der behaarten Kopfhaut. Sämmtliche Verletzungen rührten zweifellos von der kurz vor dem Erhängen stattgefundenen Züchtigung her. — Ein Mann (Säufer) hatte acht Tage früher, bevor er sich erhängte, von seinem Weibe einen Schlag über den Kopf mit dem Rücken eines Küchenbeiles erhalten und hatte dabei stark geblutet. Da die Meinung ausgesprochen wurde, dass dieser Schlag eine Gemüthskrankheit beim Manne hervorgerufen und auf diese Weise zur Begehung des zweifellos sichergestellten Selbstmordes Veranlassung gegeben haben konnte, wurde die gerichtliche Obduction veranlasst. Es fand sich eine 2 Cm. lange, mit missfärbigem Eiter belegte Trennung der Kopfhaut hinter dem linken Ohre mit beträchtlicher Suffusion, beide rechte Augenlider mit Blut unterlaufen und ausserdem eine thalergrosse flache Blutaustretung ober der Mitte des Brustbeingriffes. — Ein Wirth erhing sich zwei Tage später, nachdem er von seinem Hausherrn einen Schlag mit einem Schlüssel auf die Stirne erhalten hatte. Der Selbstmord wurde von der angeblichen Hirnerschütterung abgeleitet. Die Obduction ergab blos eine bohnengrosse, nicht suffundirte Borke auf der Stirne. — Einen analogen Fall bringt Maschka (Gutachten. IV, 20), wo, allerdings erst fünf Monate nach über den Kopf erhaltenen Hieben mit einer Sense, der Selbstmord verübt wurde, aber ebenfalls die seltene Frage vorgelegt wurde, ob die betreffende Verletzung eine Geistesstörung und dadurch den Selbstmord veranlasst habe? Sowohl in diesem, als in unseren Fällen wurde erklärt, dass sich dieses weder mit Bestimmtheit, noch mit Wahrscheinlichkeit behaupten lasse. — Liman (Handbuch. II, 7. Aufl., 758) berichtet über Selbsterhängen eines von Jägern angeschossenen Holzdiebes.
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Von eigener Hand des Entleibten können Verletzungen herrühren, wenn derselbe früher auf eine andere Art sich umzubringen versuchte, da ihm aber dieses misslang, erst zum Stricke griff. So fand Casper (l. c. 718) bei einer alten Jungfer, die sich an ihrem wollenen Shawl erhängt hatte, zwei Stichwunden in der linken Brustgegend, welche bis in den Herzbeutel eingedrungen waren und von denen die eine die Fettschichte des Herzens oberflächlich durchtrennt hatte. Die Wunde hatte sich die Betreffende mit einen Tischmesser beigebracht, sich dann gewaschen und hierauf erst aufgehängt. — Bei einem offenbar dem Arbeiterstande angehörigen Unbekannten, der im Prater erhängt gefunden wurde, ergab sich an der rechten Hand eine ausgedehnte, ganz frische, unverbundene Rissquetschwunde. Es handelte sich entweder um eine Maschinenverletzung, die den Mann zum Tode getrieben hatte, oder um einen vorausgegangenen Selbstmordversuch durch Erschiessen, wobei die Waffe gesprungen war. Erhängen mit gleichzeitigem Erschiessen ist uns einmal vorgekommen. Die Rebschnur war doppelt genommen und dementsprechend fanden sich zwei Strangfurchen mit einer stark injicirten Hautleiste dazwischen. Die rechte Schläfe war durch einen Pistolenschuss zertrümmert und ebenso wie die rechte Hand von Pulver geschwärzt. — Oben haben wir einen Fall von Taylor mitgetheilt, in welchem ein Mann sich früher den Hals zu durchschneiden versuchte und dann erst durch Suspension sich tödtete. — Ein interessanter Fall dieser Art kam 1874 in Wien vor und wurde uns vom Polizeiarzte Dr. v. Britto mitgetheilt. Er betraf einen älteren Mann, der in seinem von innen versperrten Zimmer am Thürpfosten hängend und todt gefunden wurde, mit den Fussspitzen den Boden berührend. Der Strick lief durch eine quere Hautschnittwunde hindurch, die jedoch die Luftwege nicht eröffnet hatte. In der linken (!) Ellenbeuge fand sich eine quere Hautschnittwunde und in der Magengrube eine schlitzförmige, ½ Zoll lange Wunde, welche, wie es schien, in die Bauchhöhle eindrang. Das Zimmer war über und über mit Blut bedeckt. Eine grössere Blutlache vor dem Spiegel und daselbst ein blutiges Taschenmesser auf dem Boden. An den Möbeln zahlreiche Blutspuren, selbst hinter dem Ofen Abdrücke blutiger Hände und Füsse. Eine Obduction wurde leider nicht veranlasst, da der Selbstmord ausser Zweifel stand. — Haumeder berichtet sogar (Wiener med. Wochenschrift. 1882, Nr. 18) über eine Combination von Selbstmord durch Erhängen mit zahlreichen, selbst zugefügten Hiebwunden am Kopfe bei einem mit Typhus ambulatorius Behafteten. — Weiter obducirten wir einen sehr kräftigen, erst nachträglich agnoscirten, etwa 24jährigen Mann, der sich in einem Hôtel an der Thüre mit einer Rebschnur erhängt hatte, bei welchem sich am Rücken des rechten Zeigefingers zwei schief und parallel verlaufende, frisch blutende Hautschnitte und als Fortsetzung des einen ein dritter am Rücken des rechten Mittelfingers ergaben. Die Provenienz dieser Schnitte blieb unaufgeklärt. Wahrscheinlich dürfte sich der Mann dieselben beim Zurichten (Abschneiden) des Strickes zugefügt haben.
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Dass während des Erhängens, insbesondere durch die mit dieser Todesart verbundenen Convulsionen und durch Anschlagen des Körpers an harte, namentlich vorspringende Gegenstände Verletzungen entstehen können, ist im Allgemeinen nicht unmöglich, doch zweifellos sehr selten, wenigstens haben wir nur einen Fall dieser Art gesehen, in welchem eine Hautaufschürfung mit unbedeutender Sugillation über dem einen Schulterblatte offenbar durch den vorspringenden Theil eines eisernen Gitters entstanden war, an welchem sich der Betreffende erhängt hatte. Gröbere Verletzungen können auf diese Art nicht entstehen.
Viel mehr Beachtung verdient der Umstand, dass erst postmortal verschiedene Verletzungen entstehen können, namentlich durch unvorsichtiges Abnehmen oder überhaupt durch ungeschicktes Behandeln der Leiche oder des Scheintodten.
In einem unserer Fälle wurde in einer Winternacht ein Mann an dem Fenstergitter des Parterre eines im Bau begriffenen Hauses von zufällig Vorübergehenden hängend gefunden. In übertriebenem Rettungseifer zog der Eine ein Messer und schnitt den Strick durch. In demselben Momente verschwand die Leiche, und es zeigte sich, dass sie in ein unter dem Fenster befindliches offenes Kellerloch gestürzt war. Bei der Obduction wurde ausser einer wohlausgeprägten Strangfurche und den Symptomen des Erstickungstodes eine Diastase der rechten Lambdanaht gefunden, welche sich in einem bis zum Foramen lacerum derselben Seite ziehenden Knochensprung fortsetzte und mit mässiger Sugillation der Kopfhaut am Hinterhaupt und nicht unbedeutendem Blutaustritt in die hinteren Schädelgruben verbunden war. Es unterlag keinem Zweifel, dass dieser Sprung erst nachträglich durch den Sturz des Erhängten in den ziemlich tiefen Keller entstanden war.
In einem zweiten uns bekannten Falle wurde bei der Obduction eines erhängten Unbekannten ausgetretenes Blut in der Bauchhöhle gefunden, welches aus einer ziemlich tiefen Leberruptur stammte. Die nachträglichen Erhebungen ergaben, dass ein Wachmann die Leiche in einer ansehnlichen Höhe an einem Baumaste hängend fand, und dass er hierauf mit seinem Säbel den Strang durchhieb, worauf die Leiche mit grosser Gewalt heruntergefallen war. Die Leberruptur war offenbar durch diesen Sturz entstanden und ebenso der consecutive Blutaustritt in die Bauchhöhle, der bei dem Blutreichthum, den die Leber auch postmortal zeigt, und bei der allgemein flüssigen Beschaffenheit des Erstickungsblutes wohl begreiflich erscheint und geeignet ist, das, was wir an einer anderen Stelle über postmortale Verletzungen gesagt haben, weiter zu illustriren.
In dem oben erwähnten Casper-Liman’schen Falle ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass der Bruch der Wirbelsäule erst durch den Sturz auf das Hofpflaster aus der Höhe von 12 Fuss entstanden war.
Als Beweis, wie mitunter mit Leichen Erhängter verfahren wird, möge ein in Friedreich’s Centralarchiv f. Staatsarzneikunde. 1845, [S. 543]pag. 442, mitgetheilter Fall dienen, in welchem Jemand erhängt auf dem Dachboden gefunden und, da das Heruntertragen der Leiche beschwerlich war, einfach aus der Dachlucke — herabgeworfen wurde, wobei bedeutende Verletzungen entstanden.
Auch die Möglichkeit ist zu erwägen, dass der Strang unter der Last des Körpers gerissen und letzterer beim Sturze sich beschädigt haben konnte. Dies kann sowohl unmittelbar nach dem Erhängen, als nachträglich geschehen. Ein Fall erster Art kam in Wien vor und betraf eine geisteskranke Frau, die mit einer Schlinge um den Hals soporös am Boden liegend gefunden wurde, während über ihr ein Stück eines abgerissenen Strickes an einem Nagel befestigt war. Die Frau starb am selben Tage und die Obduction ergab eine Diastase der Lambdanaht, die sich beiderseits in eine Fractur der Felsenbeine fortsetzte, welche in der Sella turcica sich vereinigte und offenbar beim Sturze in Folge des Reissens des Strickes, an welchem sich die Betreffende erhängen wollte, zu Stande gekommen war. — Ebenso ist es vorgekommen, dass, wenn die Fäulniss bis zu einem gewissen Grade gediehen war, der Kopf vom Rumpfe abriss und die Schlinge hängen blieb. Eines Falles dieser Art erwähnt Schauenstein (l. c. 579). Einen anderen haben wir obducirt. Die Ablösung war zwischen dem 6. und 7. Halswirbel erfolgt, die übrigen sammt dem Kehlkopfskelet befanden sich noch am Kopfe. Am ersteren waren die Kehlkopfhörner gebrochen. Der Schädel selbst war unverletzt.
Schwieriger kann sich die Beurtheilung gestalten, wenn das betreffende Individuum früher auf eine andere Weise gewaltsam erstickt und dann erst aufgehängt wurde, da insbesondere der allgemeine innere Befund der gleiche sein könnte, wie er bei Erhängten gewöhnlich getroffen wird. Es wäre in solchen Fällen vorzugsweise auf die Zeichen von Ueberwältigung, geleisteter Gegenwehr, namentlich aber auf das Vorhandensein von localen Spuren zu reagiren, die anderen Erstickungsformen, besonders dem Erdrosseln und Erwürgen, zukommen, die wir später ausführlich besprechen werden. Doch ist im Auge zu behalten, dass auch bei Selbstmördern ausser der Strangfurche noch andere Druckspuren sich bilden können, so z. B. durch Knoten oder durch zwischen den Strang und den Hals gerathene Gegenstände, so z. B. Hemdknöpfe, oder auch durch Verschiebung des Stranges während des Erhängens und dadurch bewirkte Aufschindung der Haut.
Ein interessanter Fall ersterer Art wird von Tardieu (Annal. d’hygiène publ. 1865, XXIII, 341) beschrieben und abgebildet. Er betraf eine Frau, die auf einem Speicher sitzend und an die Wand gelehnt todt gefunden wurde, während über ihr eine gerissene Schlinge (Strick) hing. Um den Hals verlief eine deutliche Strangfurche und unter derselben, entsprechend einer etwas nach oben ausgebauchten Stelle der letzteren, fand sich an der linken Halsseite eine Doppelreihe von 8 rundlichen, nahe bei einander, respective untereinander stehenden Eindrücken, die den Verdacht auf Erwürgung durch fremde [S. 544]Hand erweckte, während sie, wie Tardieu ausführt, offenbar von den Fingerknöcheln der linken Hand herrührten, die, im Moment des Erhängens zwischen Strick und Hals gelagert, durch das nachträgliche Reissen des Strickes aber wieder freigeworden war, eine Möglichkeit, die Tardieu noch plausibler macht durch die Abbildung eines Sträflings, der im Gefängniss hängend und todt gefunden wurde, während die rechte Hand noch zwischen Strick und Hals eingeklemmt war (Fig. 98) und wo an letzterem ähnliche Druckspuren wie bei der erwähnten Frau gefunden wurden.
Der Umstand, ob Jemand freihängend gefunden wurde oder mit den Füssen oder einem anderen Körpertheil irgendwo Unterstützung fand, kann für die Frage, ob Selbstmord oder Tödtung durch fremde Hand vorliegt, nicht verwerthet werden, da unzählige Erfahrungen lehren, dass der Selbstmord durch Suspension keineswegs immer in der Weise geschieht, dass dann der Körper frei an dem Strange hängt, sondern, dass ungemein viele Selbstmörder sich an Gegenständen erhängen, die viel niedriger angebracht sind, als die Entfernung des Halses vom Boden beträgt, so dass ihre Leichen in den verschiedenartigsten Stellungen gefunden werden, wobei sie mit den Füssen oder mit den Knien oder mit dem Gesässe auf dem Boden aufruhen.
Die hier angeschlossenen Abbildungen, welche wir theils einer älteren Arbeit von Marc (Annal. d’hygiène publ. 1830, V), theils einer neueren von Tardieu (Ibid. 1870 und Étude sur la pendaison, la strangulation et la suffocation. Paris 1879, 2. édit.), theils unserer eigenen Erfahrung entnahmen, mögen das Gesagte illustriren.
Fig. 99 (Marc) betrifft den Prinzen von Condé, welcher sich 1830 in Paris durch Erhängen das Leben nahm und dessen Selbstmord, weil die Leiche nicht frei suspendirt gefunden wurde, anfangs Verdacht auf Einwirkung fremder Hand erweckte und deshalb zu der Marc’schen Arbeit Anstoss gab. Der Prinz wurde eines Morgens an dem Riegel eines geschlossenen Fensterladens seines Schlafzimmers hängend und todt gefunden. Die Leiche war halb angekleidet und das Strangwerkzeug war die Cravatte, welche der Prinz gewöhnlich zu tragen pflegte, die mit einem zusammengedrehten Sacktuch verknüpft war. Der Körper hing nicht frei, sondern stand mit den Fussspitzen auf dem Boden, während die Beine leicht gebeugt waren. Neben der Leiche [S. 545]stand ein Sessel. Keine Spur von Verletzungen wurde gefunden, ebenso nichts Verdächtiges an den Kleidern oder im Zimmer, so dass die 5 Aerzte, die mit der gerichtlichen Untersuchung der Leiche betraut wurden, sich sämmtlich für Selbstmord aussprachen.
In Fig. 100 (Marc) sehen wir ein 40jähriges Weib an einem Stricke hängend, der an einem Topfgestelle befestigt ist. Die Stellung der Leiche ist eine besonders groteske, da die Beine weit auseinandergespreizt sind, wobei der rechte vollkommen ausgestreckte Fuss mit der Ferse, der halb im Knie gebogene linke aber mit den Zehenspitzen den Boden berührt.
Fig. 101 (Tardieu) zeigt einen erhängten Mann, dessen rechter Fuss auf einem Stuhle aufruht, während der andere frei in der Luft schwebt, so dass man den Eindruck erhält, wie wenn der Betreffende eben im Begriffe wäre, vom Stuhle herabzusteigen.
Fig. 102 (Marc) stellt einen Gefangenen dar, der sich am Fenstergitter seiner Zelle mittelst eines Shawls erhängt hatte. Die Stellung ist eine halbknieende, wobei nicht blos die Spitzen beider Füsse den Boden berühren, sondern auch das rechte Gesäss theilweise am Fensterbrette aufruht. Ausserdem sind die Hände mit einem Sacktuch gebunden, ein Befund, der bei Selbstmördern sehr selten vorkommt, dem wir aber auch in Fig. 109 begegnen.[356]
Fig. 103 (eigene Beobachtung) zeigt einen Mann, der an einem Wandnagel in hockender Stellung hängend gefunden wurde, in der Art, dass beide Fusssohlen vollständig am Boden aufstanden.
Fig. 104 (Marc) zeigt einen 18jährigen Stallpagen, welcher sich auf einem Heuboden erhängt hatte, und zwar an einem dicken Seil, welches zwischen den Dachsparren hinweggespannt war. Ueber dieses hatte er ein Tuch hinüber geworfen und die Enden desselben unter dem Kinn zusammengeknüpft. In dieser einfachen, gewissermassen[S. 546] ein um die Ohren gebundenes Tuch darstellenden Schlinge hing er in der Weise, dass die Knie etwa einen Schuh von dem am Boden liegenden Heu abstanden, die Fussspitzen aber den Boden berührten.
Eine ähnliche knieende Stellung, jedoch mit noch mehr gebeugten Knieen, zeigt Fig. 105 (Marc), auf welcher ein Mann dargestellt ist, der in seinem Bette die Suspension vorgenommen hatte mittelst eines Strickes, der um einen oberhalb des Bettes eingeschlagenen und zur Befestigung der Bettvorhänge dienenden Nagel geschlungen war.
In Fig. 106 (Marc) hängt die Leiche eines Mannes an einem Stricke, der an einem in der Decke eines gewölbten Gefängnisses angebrachten Fenstergitter befestigt ist. In Folge der geringen Höhe des letzteren einerseits und der bedeutenden Länge des Strickes anderseits ist das Gesäss kaum ein Schuh vom Boden entfernt und die Leiche scheint auf diesem mit ausgestreckten Beinen zu sitzen.
Fig. 107 (Tardieu) betrifft einen Gefangenen, der sich an einem Gashahn in der Art erhängt hatte, dass er, auf dem Boden des betreffenden Locales vollkommen sitzend, mit ausgestreckten Füssen gefunden wurde. Der Fall bot auch insoferne ein besonderes Interesse, als aus dem Munde ein Leinwandtampon hervorragte, welchen sich der Betreffende, offenbar in der Absicht, um den Tod zu befördern, hineingepresst hatte. Ein solcher Befund ist eine grosse Seltenheit und wurde von uns erst einmal beobachtet, und zwar bei einer Geisteskranken, die sich in der Irrenanstalt aufgehängt hatte. Von aussen war ausser der Strangfurche nichts zu bemerken, beim Herausnehmen [S. 547]der Zunge aber fand man tief im Hals einen hühnereigrossen und ebenso geformten Tampon, der aus einem Stückchen Holz bestand, um welches Charpie und verschiedene Fetzen herumgewickelt und mit einem Faden befestigt waren. Die betreffende Frau hatte bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen, das erste Mal durch einen Messerschnitt in die rechte Hüfte, das zweite Mal dadurch, dass sie sich das vordere Drittel der Zunge mit einem von einer Sardinenbüchse herrührenden Stück Blech abgeschnitten hatte. Ausser dem ist uns ein Fall vorgekommen, wo der betreffende Selbstmörder ein alter Herr, mit durch ein Sacktuch verhülltem Kopfe und Gesichte hängend gefunden wurde.
Fig. 108 (eigene Beobachtung) ist ein interessantes Beispiel von Erhängen in sitzender Stellung. Er betrifft einen 73jährigen Mann, der mit seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter im gemeinschaftlichen Haushalt lebte. Eines Vormittags wurde er von Letzterer auf der Kante einer 56 Cm. hohen Kiste in der Küche sitzend bewusstlos gefunden, mit dem Rücken an einen Thürpfosten gelehnt. Die Tochter war der Meinung, dem Vater sei übel geworden, rief die Mutter herbei und beide bemühten sich, ihn mittelst Essigwaschungen zu sich zu bringen. Erst während dieser Manipulation bemerkten sie, dass er an einem Tuche hänge, welches beiläufig 35 Cm. über dem Halse an einem Haken befestigt war. Das Tuch war mit seiner Mitte über [S. 548]den Haken gelegt und die Enden unter dem Kinn zusammengeknüpft, und dieser Verlauf hatte den Eindruck gemacht, wie wenn das Tuch nur zufällig an dem betreffenden Haken hinge und dadurch das Uebersehen der Sachlage veranlasst.
Fig. 109 (Tardieu) zeigt die Abbildung eines Gefangenen, der sich an einem niedrigen Gashahn in liegender Stellung in der Art aufgehängt hatte, dass das Gesicht nach abwärts gerichtet war und der Vorderhals der Schlinge auflag, wodurch, wie begreiflich, ein von dem gewöhnlichen ganz abweichender Verlauf der Strangfurche zu Stande kommen musste, indem dieselbe quer über den Kehlkopf oder die Trachea verlaufen konnte und nicht gegen den Nacken aufstieg, sondern horizontal den Hals, wenigstens dessen Vorder- und Seitenfläche, umkreisen musste. Auch hier hatte sich der Mann früher die Hände gebunden, und zwar, was den Fall noch interessanter macht, am Rücken.
Fig. 110 (eigene Beobachtung) betrifft eine dem Trunke ergebene 51 Jahre alte Lumpensammlerin, die am Geländer einer der Eingangsstiegen in den Alserbach-Hauptcanal erhängt gefunden wurde. Die Leiche befand sich in halbliegender Stellung, indem der ganze Unterkörper der leiterartigen, steilen Stiege auflag. Der Hals hing in der Schlinge eines alten Strickes, der an den Nagel des Stiegengeländers geknüpft war und deren Knoten vor dem linken Ohre sich befand, so dass die Strangfurche auch den Nacken umkreiste. Diese Umstände, sowie durch Ratten veranlasste Abnagungen der Haut an den ineinander gefaltenen Händen, die anfangs für vital entstandene Wunden gehalten wurden, hatten zur Einleitung der gerichtlichen Obduction geführt.
[S. 549]
Fig. 111 (eigene Beobachtung) betrifft einen Fall von Erhängen in liegender Stellung, über welchen ein Facultätsgutachten eingeholt wurde. Im Juli 1877 erstattete ein Gensdarm die Anzeige, dass die Bäuerin F. N. am Morgen desselben Tages in ihrem Bette halbliegend todt gefunden worden sei, wobei sich herausstellte, dass sie ein Tuch um das Genick geschlungen hatte, welches mit dem Bettvorhange verknotet war, als ob sie sich erhängt hätte. Da jedoch die Athmungsorgane hierdurch nicht beeinträchtigt und ganz frei waren und der Unterleib sehr angeschwollen war, sprach der Gensdarmeriebericht die Vermuthung aus, dass die Verstorbene auf eine andere Weise um’s Leben kam und erst später in jene Stellung gebracht wurde. Die Betreffende hatte zwei Tage vor ihrem Tode ein schwächliches Kind geboren, welches schon nach 24 Stunden starb. Am Abend vor ihrem Tode klagte die Frau über Frösteln und Kopfschmerzen, war in deprimirter Stimmung und soll sich geäussert haben: sie wisse ganz genau, dass sie nicht wieder gesund werde. Ihre Krankheit könne lange dauern, aber gesund werde sie nicht mehr. Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab ausser den Zeichen einer vor wenigen Tagen überstandenen Entbindung und einer starken Vergrösserung der rechten Schilddrüse eine um den Hals verlaufende tiefe Furche, welche auch den Nacken quer durchzog, besonders rechterseits ausgeprägt war und linkerseits am unteren Rande des Unterkiefers, entsprechend seiner Mitte, in eine grubenförmig vertiefte Ausbreitung überging. Von Verletzungen, Zeichen geleisteter Gegenwehr u. s. w. wurde keine Spur vorgefunden. Da das Gutachten der Obducenten nicht ganz bestimmt lautete und ein anderer Arzt sich geäussert haben sollte, dass wegen der eigenthümlichen Stellung, in welcher die Leiche[S. 550] gefunden wurde, ein Selbstmord nicht angenommen werden könne, beschloss das Gericht die Einholung des Facultätsgutachtens, indem es zugleich das Würgeband und eine rohe Zeichnung der Stellung, in welcher die F. N. gefunden wurde, beischloss. Zufolge dieser und der gegebenen Beschreibungen war die Situation eine solche, wie sie Fig. 111 darstellt, und der Fall zeigt somit zwei vom Gewöhnlichen abweichende Eigenthümlichkeiten, und zwar dieselben, wie wir sie auch bei dem in Fig. 110 abgebildeten Falle treffen, nämlich erstens die liegende Stellung und zweitens den Umstand, dass der Knoten der Schlinge nicht im Nacken oder, wie häufig, hinter dem Ohre, sondern vor letzterem an der Mitte des linken Unterkiefers lag. Da aber letztere Lagerung der Schlinge, wie wir oben erwähnten, bei Selbstmördern thatsächlich vorkommt und, wie von uns unternommene Versuche an Leichen lehren, eine vollkommene Verschliessung der Luftwege und auch an der dem Knoten entgegengesetzten Seite eine Compression der Halsgefässe zu bewirken vermag und schon, wie ebenfalls Versuche zeigten, das Gewicht des halbliegenden Körpers genügt, um diese zu bewirken, somit ganz wohl auf diese Art ein Selbstmord geschehen konnte, da ferner die F. N. ganz wohl im Stande war, sich den betreffenden Hängeapparat selbst herzurichten und weiter keine Spur einer anderen, insbesondere gewaltsamen Todesart gefunden wurde, überdies die Untersuchte sich eben im Wochenbette befand, also in einem Zustande, in welchem Antriebe zum Selbstmord entstehen und in That übergehen können, ausserdem das Tags zuvor erfolgte Absterben ihres Kindes den Entschluss, sich das Leben zu nehmen, geweckt und bestärkt haben konnte und die deprimirte Gemüthsstimmung aus den an jenem Tage gemachten Aeusserungen deutlich hervorgeht, so wurde[S. 551] das Gutachten dahin abgegeben, dass nichts der Annahme widerspreche, dass die F. N. sich selbst durch Erhängen das Leben genommen habe.
Fig. 112 (Mittheilung von Dr. Pontoni). Beamter, der sich 1884 in der eigenthümlichen Weise erhängte, dass er sich, auf einem Schemmel stehend, die Füsse mit dem einen Ende eines Strickes zusammenband, das andere, mit einer Schlinge versehene Ende über den Querbalken einer Thüre warf und um den Hals befestigte und dann den Schemel umstiess, so dass sein Körper in eine fast gondelartig hängende Stellung zu liegen kam.
Obgleich dem Gesagten zufolge zugegeben werden muss, dass ein Selbsterhängen selbst an ganz niedrigen Gegenständen möglich ist, so muss doch anderseits bedacht werden, dass, während das Aufhängen der Leiche eines Erwachsenen in grösserer Höhe nicht so leicht ausführbar ist, jenes an niedrigen Gegenständen ohne besondere Schwierigkeiten effectuirt werden kann, so dass, wenn noch anderweitige Befunde sich ergeben, die den Verdacht wecken, dass fremde Hand bei der Tödtung des Betreffenden mitgespielt habe, eine solche Stellung mit dazu beitragen kann, um diesen Verdacht zu bestärken. So kam vor einigen Jahren in Wien ein Fall vor, wo ein Mann seine Frau auf einem Grasplatz erdrosselt und dann die Schlinge, offenbar in der Absicht, einen Selbstmord vorzutäuschen, an die biegsamen[S. 552] Zweige eines niedrigen Strauches angebunden hatte, so dass die Leiche liegend gefunden wurde.
Ebenso bildet Taylor (l. c. II, 72) eine Frau ab, deren Leiche am Boden, mit dem Rücken an die Wand angelehnt, mit ausgestreckten Füssen sitzt und um deren Hals eine Schlinge gelegt ist, die schief und in beträchtlicher Länge zu einem hoch in der Mauer angebrachten Haken führt. Bei dieser Frau fanden sich nicht blos mehrfache Sugillationen und blutige Hautkratzer, sondern auch bei der inneren Untersuchung ein 1½ Zoll langer Riss in der Trachea, so dass der Fall als Mord sofort klargestellt worden ist.
Gegenüber der Möglichkeit, dass Jemand erst als Leiche aufgehängt worden sein konnte, liegt die Frage nahe, ob nicht aus der Beschaffenheit der Strangfurche erkannt werden könne, ob Jemand während des Lebens oder erst nach dem Tode an den Strang gekommen sei? Leider ist von dieser Seite nur in seltenen Fällen eine Aufklärung zu erwarten, da eine grosse Zahl von Versuchen, die sowohl von Anderen, namentlich von Casper (l. c. II, 657), als von uns angestellt wurden, das übereinstimmende Resultat ergaben, dass die zwei Hauptformen der Strangfurche, wie wir sie als bei Selbstmördern vorkommend beschrieben haben, auch an der Leiche erzeugt werden können, und dies ist leicht begreiflich, da die Strangfurche nur einen durch Compression erzeugten Eindruck darstellt, der, wie wir gehört haben, nur ganz ausnahmsweise Reactionserscheinungen, insbesondere Sugillation des Unterhautgewebes, darbietet, und da die übrigen Bedingungen, die, wie erörtert wurde, bei Selbstmördern[S. 553] einmal eine lederartig vertrocknete, harte, das anderemal eine weiche Strangfurche erzeugen, an der Leiche Gleiches bewirken können, umsomehr, als die mumificirte Strangfurche überhaupt erst an der Leiche durch Vertrocknung zur vollen Entwicklung kommt.
Neyding (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1870, XII, 341) hat die Strangfurche von erhängten Selbstmördern mikroskopisch untersucht und bei 25 von 30 Fällen winzige Extravasate in derselben gefunden, denen er, als während des Lebens entstehenden Erscheinungen, einen grossen diagnostischen Werth zuschreibt. Später hat Bremme (ibidem, XIII, 247) ähnliche Untersuchungen unter Leitung Liman’s und Skrzeczka’s angestellt und gefunden, dass solche mikroskopische Extravasate keineswegs immer in der Strangfurche lebend Erhängter sich finden, und dass sie sich auch dann in dieser ergeben können, wenn die Strangfurche erst postmortal erzeugt wurde. Zu ähnlichen Resultaten ist auch Obtulowicz (Virchow’s Jahrb. 1877, I, 487) und Maschka (l. c. 599) gekommen.
Auch wir haben solche Untersuchungen angestellt und schliessen uns der Ansicht Bremme’s an, dass der Befund solcher mikroskopischer Extravasate für die Unterscheidung, ob die Strangfurche während des Lebens oder erst nach dem Tode entstanden sei, nicht unbedingt verwerthet werden könne. Dagegen sahen wir wiederholt bei aufgeschürften Strangfurchen an der freien Oberfläche derselben kleine, offenbar aus der Verletzung der Gefässe der Hautpapillen entstandene angetrocknete Extravasate und können die Beobachtung Neyding’s bestätigen, dass, wenn eine durch einen doppelten oder mehrfachen Strick erzeugte Strangfurche vorliegt, die in der Regel auffällig injicirte und häufig punktförmig ecchymosirte Beschaffenheit des zwischen den Strangtouren gelegenen, meist nur kammartigen, seltener breiteren Hautwulstes (v. pag. 528) für die Diagnose, dass die Suspension während des Lebens geschah, verwerthet werden kann. Allerdings ist der der Erscheinung zu Grunde liegende Vorgang ein rein mechanischer, der auch an der Leiche stattfindet, aber eine intensivere Entwicklung der Erscheinung setzt einen gewissen Grad der Blutfüllung der Gefässe voraus, der an der Leiche deshalb in der Regel nicht gegeben ist, weil ein Blasswerden der Haut bekanntlich eines der ersten Symptome des eintretenden Todes bildet und auch im Gesichte und am Halse von Erhängten gewöhnlich eintritt, da ja, wie oben erwähnt, die Cyanose zu den Ausnahmen gehört. Dagegen kann Injection sowohl als Ecchymosenbildung auch an der Leiche in intensivem Grade zu Stande kommen, wenn die Haut des Vorderhalses der Leiche zur Zeit der Suspension durch Cyanose oder durch Hypostase stark bluthältig gewesen war. Daher stimmen wir im Allgemeinen mit der von Lesser (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXII, 2) ausgesprochenen Ansicht überein, dass Hyperämie und Ecchymosirung des zwischen zwei Strangtouren eingeklemmten Hautstreifens bei Blässe der Umgebung die Diagnose gestatte, dass die Suspension während des Lebens geschehen sei, wobei wir hinzufügen, dass die so entstandene Hyperämie, wenn die Leiche nicht allzufrüh abgenommen wurde, sich [S. 554]auch bei längerer Rückenlage der Leiche gut erhält, da das in der Hautfalte eingeklemmte Blut aus derselben nicht leicht durch Hypostase sich verlieren kann.[357] Auch der oben beschriebene, allerdings seltene Befund von Blasenbildung an dem Hautwulst kann wohl nur während des Lebens zu Stande kommen.
Wichtigere Aufschlüsse als von der Strangfurche allein sind eventuell von den inneren Befunden am Halse zu erwarten. Da nämlich bei erhängten Selbstmördern sich in der grössten Zahl der Fälle ein negativer Befund ergibt, so ist ein solcher geeignet, die Annahme, dass nur ein Selbstmord vorliegt, zu unterstützen, während, wenn sich Läsionen der inneren Organe ergeben, desto mehr an eine andere Gewalt gedacht werden muss, je weniger dieselben sowohl zufolge der allgemeinen Erfahrung, als bei den Umständen des concreten Falles durch einfaches Erhängen entstehen konnten. Dies gilt insbesondere von den Läsionen des Kehlkopfes, die verhältnissmässig häufig beim Erwürgen, aber ausgenommen jene der oberen Hörner des Schildknorpels, nur unter ganz besonderen und in jedem einzelnen Falle sicherzustellenden Umständen beim Erhängen sich ereignen können.
Bei dieser Todesart wird der Hals durch ein Würgeband comprimirt, welches jedoch nicht, oder wenigstens nicht ausschliesslich, durch die eigene Schwere des Körpers, sondern auf eine andere Weise zugeschnürt wird. Es kann dies, um nur einige von den mannigfachen Möglichkeiten zu erwähnen, entweder dadurch geschehen, dass die gekreuzten Enden eines um den Hals gelegten Stranges in entgegengesetzter Richtung angezogen oder zusammengeknotet werden, oder dadurch, dass ein zu diesem Zwecke um den Hals gelegtes oder schon früher dort befindliches, als Strang dienendes Werkzeug (Strick, Halstuch etc.) mittelst der Hand oder mittelst eines Knebels zugedreht wird, aber auch in der Weise, dass Jemand, dem eine Schlinge um den Hals geworfen wurde, an dieser emporgehoben wird. Letztere Methode, die gewissermassen eine Combination von Erhängen und Erdrosseln darstellt, ist von den berüchtigten Garotters geübt worden, die vor nicht gar langer Zeit in England ihr Wesen trieben.
In Spanien werden die Hinrichtungen durch Erdrosseln mit der sogenannten Garotte vollzogen, indem ein um den Hals gelegtes (eisernes) Band mittelst einer Schraube gegen einen hinter dem Delinquenten aufsteigenden Pfahl angezogen wird.
[S. 555]
Auch bei dieser Todesart erfolgt der Tod nicht immer ausschliesslich durch Verschluss der Respirationswege am Halse, sondern es muss auch der Compression der Halsgefässe und vielleicht auch der beim Erwürgen näher zu besprechenden traumatischen Reizung der Kehlkopfnerven eine Rolle zugeschrieben werden. Damit stimmen auch die Angaben der wenigen Personen überein, welche bei den sogenannten „Garotte robberies“ mit dem Leben davongekommen waren, welche dahin gehen, dass sie sofort bewusstlos wurden, als ihnen die Schlinge um den Hals zusammengezogen worden war. Auch haben wir uns durch Versuche an Leichen überzeugt, dass es in der That, wenn ein Würgeband mit der Hand oder noch besser mit einem Knebel um den Hals zugeschnürt wird, gelingt, die Carotiden bis zur Undurchgängigkeit zu comprimiren.
An der Leiche ist der wichtigste Befund die Strangfurche am Halse. Der Verlauf derselben wird, wie begreiflich, von der Art und Weise abhängen, wie die Strangulation vorgenommen wurde. Geschah dies in der Art, wie man sich das typische Erdrosseln vorstellt, d. h. durch horizontales Zusammenziehen einer um den Hals gelegten Schlinge oder durch Anwendung eines Knebels, so wird eine Marke zurückbleiben, die mehr weniger ausgeprägt horizontal um den ganzen Hals verläuft, somit nicht blos den Vorderhals, sondern auch den Nacken durchfurcht, wobei eine Ausbreitung der Strangmarke die Stelle bezeichnen kann, wo der Knoten oder der Knebel einen Druck ausgeübt hatte. Eine solche Marke würde über die stattgefundene Erdrosselung keinen Zweifel aufkommen lassen. Denn obgleich beim Erhängen, wie wir oben bemerkt haben, bei stark seitlicher Lage des Knotens, insbesondere vor dem Ohre, die Strangfurche auch den Nacken durchfurchen kann, so verläuft sie doch niemals, ausser beim Erhängen im Liegen, horizontal, sondern steigt gegen den Nacken oder die Seitentheile des Halses deutlich auf, woselbst sich die beiden Enden der Furche zu einem nach unten offenen Winkel vereinigen, wobei man bemerkt, dass, weil der Druck der Schlinge an der dem Knoten entgegengesetzten Stelle am grössten ist und gegen die Seiten an Intensität abnimmt, auch die zurückbleibende Marke gegen den Knoten zu weniger ausgeprägt zu sein pflegt, als an den ihm gegenüber liegenden Partien des Halses, während beim typischen Erdrosseln die Schlinge den Hals in der Regel gleichmässiger comprimirt und daher auch eine entsprechend ausgebildete Strangmarke zurücklässt. Endlich ist zu bemerken, dass bei der bezeichneten Methode des Erdrosselns der Strang leicht auf den Kehlkopf und selbst auf die Trachea fallen kann, während, wie wir gehört haben, beim Erhängen der Strang fast immer über dem Kehlkopf, zwischen diesem und dem Zungenbein, verläuft.
Wäre das Erdrosseln mit einer nach hinten offenen Schlinge verübt worden, dann wäre der Fall allerdings als solcher klar,[S. 556] wenn die Strangfurche vorne über den Hals, dann aber nach rückwärts nicht aufsteigend, sondern entweder horizontal oder gar nach abwärts ziehend verlaufen würde, wie dies z. B. geschehen könnte, wenn einem sitzenden oder stehenden Individuum eine Schlinge um den Hals geworfen und dasselbe mit dieser zu Boden gerissen oder etwa über die Lehne eines Stuhles oder Sophas u. dergl. herabgezogen worden wäre, da ein ähnlicher Verlauf höchstens bei so seltenen Fällen von Erhängen vorkommen könnte, wie ein solcher in Fig. 109 abgebildet ist. Wäre aber die Schlinge nach aufwärts gezogen, d. h. der Körper an derselben emporgehoben worden, dann könnte die Strangfurche ganz den gleichen Verlauf nehmen, wie er nach dem Erhängen gefunden wird.
Einen solchen Verlauf haben wir zweimal beobachtet, einmal bei dem (pag. 382) erwähnten Briefträger, den der Thäter zuerst durch einen Revolverschuss in den Kopf niedergestreckt hatte, dann zu erdrosseln versuchte und schliesslich durch Halsabschneiden tödtete. Ebenso bei einer alten Frau, die von ihrem eigenen Sohne in der Weise ermordet wurde, dass er der auf einem Stuhle Sitzenden eine doppelte Schlinge um den Hals warf, sie zu Boden riss und, indem er mit den Füssen auf die angezogenen Enden der Schlinge trat, die Frau ausserdem mit den Händen so lange würgte, bis sie todt war. Doch ergab sich in letzterem Falle ein Befund, der sofort erkennen liess, dass die Strangfurche nicht vom Erhängen, sondern vom Erdrosseln herrührte. Während nämlich die obere Strangfurche zwischen Kehlkopf und Zungenbein in der bei Erhängten gewöhnliches Weise verlief, bildete die andere einen nach abwärts gewölbten Bogen an der rechten Halsseite, dessen grösste Wölbung von der darüberliegenden 6 Cm. weit entfernt war, an den Enden aber mit der oberen Strangmarke sich vereinigte. Wir erklärten in unserem Gutachten, dass dieser Befund entweder dadurch entstand, dass eine doppelte, jedoch in ungleicher Länge genommene Schnur der Frau um den Hals geworfen wurde, oder dass ein einfacher Strang zu zwei verschiedenen Momenten und jedesmal an einer anderen Stelle des Halses angelegt und immer in gleicher Richtung angezogen worden war. Erstere Vermuthung hat sich durch das Geständniss des Thäters als richtig erwiesen.[358]
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Die sonstige Beschaffenheit der Strangfurche bei Erdrosselten ist die gleiche, wie sie sich bei Erhängten je nach dem Grade der Compression, der Beschaffenheit des Stranges u. s. w. ergeben kann. Suffusionen sind, ausgenommen bei Kindern, ebenfalls selten und haben sowohl in den meisten unseren, als in den zahlreichen von Casper und Liman beobachteten Fällen gefehlt. Auch Verletzungen tieferer Organe des Halses wurden beim Erdrosseln nur ausnahmsweise beobachtet, obwohl zugestanden werden muss, dass sie beim Erdrosseln häufiger entstehen können als beim Erhängen, da der Strang leichter auf den Kehlkopf oder auf die Trachea zu liegen kommt, als bei letzterer Todesart, und weil die Zerrung der Theile im Allgemeinen eine stärkere und weniger gleichmässig und in einem Moment sich vollziehende ist als beim Erhängen.
Der Mord durch Erdrosseln ist nicht gar selten, bei Kindern, besonders neugeborenen, sogar verhältnissmässig häufig und zweifellos auch bei Erwachsenen nicht besonders schwierig auszuführen, da, wie insbesondere die Erfahrungen bei den „Garotte robberies“ gelehrt haben, und auch aus der Analogie dieser Todesart mit dem Erhängen geschlossen werden kann, die Bewusstlosigkeit und daher Hilflosigkeit der Betreffenden, wenn die Schlinge rasch und mit Kraft zugezogen wurde, in wenigen Augenblicken eintritt. Daher kann eine solche Tödtung ganz wohl erfolgen, ohne dass Spuren einer anderen Gewalt oder Zeichen geleisteter Gegenwehr sich finden müssen, namentlich dann, wenn die Betreffenden im Schlafe oder während eines Rausches oder dadurch erdrosselt wurden, dass ihnen die Schlinge unversehens von rückwärts über den Hals geworfen und sofort zusammengezogen worden war. Die meisten der bisher beobachteten Fälle haben gelehrt, dass der Thäter sich meist mit dem einfachen Erdrosseln nicht begnügt, sondern dasselbe mit Würgen combinirt, wodurch in der Regel Befunde entstehen, die für sich geeignet sind, die Einwirkung fremder Hand zu verrathen.[359]
Selbstmord durch Erdrosseln kommt nur ganz ausnahmsweise vor. Casper-Liman beschreiben vier Fälle, und mehrere hat[S. 558] Maschka (Wiener med. Wochenschr. 1879, Nr. 22–26) publicirt. Wir selbst haben drei solche Fälle obducirt, die wir unten näher beschreiben. Einen vierten hat Haberda (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. 1893, V, 229) mitgetheilt. Die Seltenheit derselben ist vielleicht nur eine zufällige; denn es scheint uns, dass es verhältnissmässig leicht ist, durch eigenhändiges Zusammenschnüren des Halses mit einem Würgeband die Luftwege und wenigstens die venösen Gefässe bis zur Undurchgängigkeit zu comprimiren und rasch Bewusstlosigkeit zu bewirken, worauf, wenn die Zusammenschnürung mittelst eines Knotens oder Knebels oder überhaupt auf solche Art geschah, dass sie durch den Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht unterbrochen wurde, nothwendig der Tod erfolgen muss. Damit stimmt auch die Ansicht Jacquier’s[360] überein, welcher 17 Fälle von Selbsterdrosselung beschreibt und dazu bemerkt, dass die Seltenheit dieser Selbstmordart nicht von wirklicher, sondern von eingebildeter Schwierigkeit herrühre, was dadurch erwiesen wird, dass die Zahl der sich selbst Erdrosselnden in jenen Ländern eine viel grössere ist, wo die Todesstrafe durch Erdrosseln (garrot) dazu die Idee und sozusagen das Beispiel gibt.
Der erste der von uns obducirten Fälle von Selbsterdrosselung betraf ein 20jähriges, erst nachträglich agnoscirtes Dienstmädchen, welches am 15. April 1878 in eine öffentliche Badeanstalt gekommen war und sich in der ihr zugewiesenen Cabine eingeschlossen hatte. Nachdem sie nach Verlauf einer halben Stunde auf Klopfen und Rufen nicht antwortete, wurde die Cabine gewaltsam eröffnet und die Unbekannte nackt in der Badewanne gefunden, in der Art, dass der Kopf unter Wasser sich befand und das Gesäss aus letzterem hervorragte. Der Hals war mit einem dicken, in drei Touren herumgeschlungenen und vorn am Halse zweimal geknoteten Zuckerspagat so fest zusammengeschnürt, dass die Haut wulstartig über denselben hervorragte und mit Mühe ein Messer zwischen den Spagat und die Haut zu bringen war. Das Gesicht war blauroth angeschwollen und, wie der Polizeibericht angab, dadurch bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Bei der Obduction fand sich eine auffallende Cyanose des Gesichtes und der oberen Hälfte des Halses, die an der Strangfurche sich scharf abgrenzte. Die Augenlider gedunsen, mit punktförmigen Ecchymosen dicht besetzt. Die Bindehaut injicirt und stark ecchymosirt. Rings um den Hals verlief in der Höhe des unteren Endes der Kehlkopfkante eine mehrfache, der Dicke einer Rebschnur entsprechende Strangfurche, von theils blasser, theils pergamentartig vertrockneter Beschaffenheit, deren äusserer Verlauf aus Fig. 113 und 114 zu ersehen ist. Die weichen Schädeldecken waren sehr blutreich, mit Ecchymosen durchsetzt. Hirn und Hirnhäute sind blutreich. Im Unterhautzellgewebe und im Bindegewebe zwischen den Muskeln, entsprechend[S. 559] der lividen Verfärbung des Halses, zerstreute mohnkorn- bis hanfkorngrosse Ecchymosen (auch im Nacken), ferner eine bohnengrosse, entsprechend dem oberen Theile des rechten M. hyothyreoideus unter dessen Scheide, der Muskel selbst an dieser Stelle gequetscht und mit Blut infiltrirt. Je eine linsengrosse Ecchymose zwischen den beiden M. cricothyreoidei und dem unteren Rande des Schildknorpels, die Spange des Ringknorpels rechts von der Mitte leicht nach einwärts geknickt. Zahlreiche Ecchymosen in der Adventitia und im umgebenden Bindegewebe der Carotiden entsprechend ihrer Bifurcation. Zungenbein unverletzt, Schleimhäute des Halses ecchymosirt. Sonst ausgesprochener Erstickungsbefund. (Nähere Beschreibung des Falles nebst Bemerkungen über Selbsterdrosselung in der „Wiener med. Presse“, 1879, Nr. 1–6.)
Der zweite unserer Fälle betraf eine 33jährige, verwitwete Wirthin M. K., welche am Morgen des 20. März 1880 in ihrem Schanklocale auf der Erde liegend todt aufgefunden wurde. Die Leiche lag auf dem Rücken und war halb bekleidet. Im Munde befand sich ein aus einer kleinen Serviette gebildeter Knebel, von welchem ein nur etwa 3 Zoll langes Stück herausragte. Um den Hals war ein seidenes Tuch ziemlich fest geknüpft, und nach dessen Entfernung fand man darunter eine zweimal horizontal um den Hals geschlungene und am Kehlkopf zu einem Knoten gebundene Zuckerschnur, von deren herabhängenden Enden das eine eine 4–5 Cm. weite Schlinge bildete. Das Gesicht war gedunsen, stark cyanotisch und aus beiden Ohren war eine ziemlich starke Blutung bemerkbar. Die M. K. hatte eben menstruirt, war nach Aussage von Zeugen in der letzten Zeit trübsinnig gewesen und soll sich wiederholt geäussert haben: „dass man etwas erleben werde“. Auch war sie mit ihrer nicht im Hause wohnenden Schwiegermutter im Streite, weil diese sie zu einer Ehe [S. 560]zwingen wollte. Im Wäschkasten fand sich ein von der Verstorbenen selbst geschriebener Brief folgenden Inhalts: „Wertheste Frau Schwiegermutter! Die Vorwürfe, die Sie mir machten, konnte mein Herz nicht länger ertragen, weil ich sie mir nicht verdiente und schmerzte mich bis zu diesem Schritte. Der liebe Gott wird mir verzeihen und mein armes, armes unschuldiges Kind zu einer guten Christin werden lassen. O, Du armes, unvernünftiges Kind, zürne Deiner unglücklichen Mutter nicht, aber sie konnte keinen anderen Schritt thun. Gott segne Dich noch einmal, aber ich konnte mir nicht helfen.“ Der Selbstmord war sonach zweifellos.
Die Obduction ergab einen kräftigen Körper mit starkem Fettpolster, Gesicht cyanotisch, durch punktförmige Ecchymosen wie gestichelt. Die Bindehaut injicirt, zahlreiche bis linsengrosse und rechts eine fast bohnengrosse Ecchymose enthaltend. In der Aushöhlung beider Ohrmuscheln etwa ein Kaffeelöffel theils flüssigen, theils geronnenen frischen Blutes, mit welchem auch beide Gehörgänge gefüllt sind. Hals fett. An der Vorderfläche desselben eine zwischen Kehlkopf und Zungenbein quer verlaufende, 2–3 Mm. breite, blasse Furche, welche am vorderen Rande beider Kopfnicker sich verliert. Am oberen Rande dieser Furche findet sich links neben der Mittellinie eine quergestellte, 3 Mm. lange, 1 Mm. breite, braunroth vertrocknete Stelle und einen Querfinger davon nach aussen, ebenfalls dem oberen Rande der Furche entsprechend, eine gleiche, mit einem linsengrossen, sugillirten Hofe umgeben. Rechts erscheint der untere Saum der Furche vom vorderen Rande des Kopfnickers beginnend in einer Länge von 3 Cm. und einer Breite von 1–2 Mm. schmutzig violett verfärbt und die Oberhaut daselbst in mehrere, in einer der Furche parallelen Reihe nebeneinander gestellte, mit klarem Serum gefüllte Bläschen abgehoben, von denen zwei mittlere wickenkorngross, die seitlichen hirsekorngross sind. Am rechten Ellenbogen 3 Cm. lang eine schwach sugillirte Hautaufschürfung. In der rechten Ellenbeuge zwei linienförmige, lange Hautkratzer. An der Streckseite des linken Oberarmes neben und unter der Achselfalte eine kreuzergrosse, bläuliche sugillirte Stelle. Schädeldecke blutreich, stark ecchymosirt, ebenso beide Schläfemuskeln durch bis linsengrosse Ecchymosen wie getigert. Hirn und Hirnhäute blutreich. Die Schleimhaut beider Paukenhöhlen ecchymosirt, im Lumen der rechten flüssiges Blut. Trommelfelle unverletzt, doch jederseits ein kleiner Riss im [S. 561]Epidermisüberzuge. Die Epidermis der hintersten Partien beider äusserer Gehörgänge durch flüssiges Blut blasig abgehoben, stellenweise geborsten. Im Unterhautzellgewebe unter der Strangfurche keine Blutaustritte, wohl aber ein linsengrosser am vorderen Rande des linken Kopfnickers unter dessen Scheide, sowie je ein bohnengrosser in den Nackentheilen des M. cucullaris unterhalb dessen äusserer Scheide. Im Rachen und Kehlkopf blutiger Schleim. Die Schleimhaut dunkelviolett. Kehlkopf und Zungenbein unverletzt. Lungen angewachsen, blutreich. Herz contrahirt mit punktförmigen Ecchymosen.
Bemerkenswerth ist in beiden Fällen die hochgradige Blutstauung am Kopfe, die durch besonders starke Cyanose, Ecchymosenbildung und im zweiten Falle sogar durch Blutung aus den Ohren sich kundgab und sich daraus erklärt, dass durch das Würgeband vorzugsweise die Venen des Halses und weniger oder vielleicht gar nicht die Carotiden comprimirt worden sind.
Einen instructiven Fall von Selbsterdrosselung enthält Henke’s Zeitschrift, 1843, pag. 135, der sich an den bekannten des General Pichegru anschliesst.
Die Leiche eines Corporals, der wegen Dienstvergehen Bestrafung zu fürchten hatte, wurde in einem Gebüsche unter einem Baume auf dem Gesichte liegend gefunden. Zu beiden Seiten des Vorderhalses standen die Enden eines gewöhnlichen Soldatensäbels vor. Fünf Fuss von dem Kopfe der Leiche stand ein Baum mit einem in der Höhe von 10 Fuss abgehenden horizontalen starken Aste. An diesem war das eine Bein einer leinenen Hose fest angebunden, während das andere bis auf den Boden herabhing. Die Hosennaht war im Spalt auf 1½ Fuss eingerissen. Die Kleider der Leiche waren geordnet. Als man die Leiche umdrehte, fand man um den Hals ein baumwollenes Tuch fest zugeschnürt, aus welchem nach vorn eine Schlinge gebildet war, in welcher ein Militärsäbel mit der Scheide steckte. Rechts neben dem Kehlkopf war das Tuch zu einem festen Knoten geknüpft. Der unter das Tuch gesteckte Säbel war offenbar mehrmals herumgedreht worden, und stak so fest, dass er erst herausgezogen werden konnte, nachdem man die Klinge aus der Scheide entfernt hatte. Nach mühsamer Lösung des Knotens des Tuches fand sich am Halse eine horizontal um den Hals und gerade über den Kehlkopf ziehende, tief eingedrückte, ¾ Zoll breite Rinne, mit einer Ausbreitung, die dem Knoten des Tuches entsprach. Die Leiche war bereits stark faul und wurde nicht secirt, so dass über das weitere Verhalten der inneren Organe am Halse nichts zu ersehen ist. Offenbar hatte sich der Mann früher an seiner Hose zu erhängen versucht, und da diese die nöthige Tragkraft nicht besass, sondern im Schlitz zerriss, mit dem um den Hals gelegten und durch den Säbel als Knebel zusammengeschnürten Tuch sich erdrosselt, wobei der vorspringende Unterkiefer das Zurückschnellen des Säbels verhindert hatte.
Ein anderer, nicht minder instructiver Fall wird von Benetsch in der Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1862, XXI, pag. 351 mitgetheilt,
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der in einigen Beziehungen an den zweiten der von uns obducirten Fälle erinnert. Ein Matrose kam in ein Gasthaus, verlangte den Schlüssel vom Abort und wurde dort nach einer halben Stunde sitzend und todt gefunden. Er hatte früher versucht, mit einem Federmesser sich die Adern zu durchschneiden und hatte sich 7 Schnitte am linken Handgelenk beigebracht. Um den Hals war ein halbseidener Matrosenshawl mit einem Knoten fest zugebunden und fest um den Hals zugezogen. Das eine Ende des Shawls war in der Länge von 2 Fuss in den Mund hineingestopft und die Zähne hielten dasselbe so fest, dass es nur mit Mühe entfernt werden konnte. Um den Hals fand man 30 Stunden nach dem Tode eine Strangfurche horizontal verlaufend, welche unter dem Kehlkopfe verlief, daselbst 2½ Zoll breit und lederartig vertrocknet war, gegen den Nacken zu sich aber in einen blos ½ Zoll breiten Streifen verschmälerte.
Ein interessanter Fall von Selbsterdrosselung nach Selbstmordversuch durch Halsabschneiden wird von Schönfeld in Brüssel (Annal. d’hygiène publ. 1879, pag. 257) mitgetheilt. Der Strick fand sich noch in den Händen der Leiche und davon Eindrücke am Rücken der linken Hand. Auch verdient ein von Tardieu (l. c. 206) mitgetheilter Fall Rendu’s Erwähnung, weil bei der betreffenden Person (Frau) an der rechten Hand 4 Finger fehlten und diese trotzdem im Stande war, sich mit einem seidenen Halstuch zu erdrosseln. In Friedreich’s Blättern 1889 wird von Bollinger nebst einem interessanten Fall von Erhängen im Liegen auch eine Selbsterdrosselung in liegender Stellung abgebildet. Die um den Hals gelegte und mit dem einen Ende am Bettpfosten befestigte lange Schlinge war durch Anstemmen der Füsse gegen letzteren zugezogen worden.
An die Lehre von der Strangulation mittelst eines Würgebandes wollen wir noch anschliessen, dass sowohl Erhängen als Erdrosseln auch zufällig vorkommen kann.
Taylor erwähnt eines Knaben, der sich erhängte, als er, von einer Hinrichtung kommend, den Gang derselben versuchen wollte; ebenso eines anderen, der beim Spielen zufällig in eine Schlinge gerieth und hängen blieb, dann einen ähnlichen Fall von einem Manne, der in seinem Zimmer Turnübungen an einem Seile anzustellen pflegte. Man fand ihn hängend, das Seil nicht blos um den Hals, sondern auch mehrfach um den Körper geschlungen. Nach Tardieu (Annal. d’hygiène publ. 1870, XXXIII, pag. 98) soll Bacon einen Versuch, den er anstellte, um den Vorgang beim Erhängen zu studiren, fast mit dem Tode bezahlt haben, da er nur durch zufällige Hinzukunft eines Freundes gerettet wurde.
Von Zülch (Zeitschr. f. Medicinalb. 1894, pag. 190) werden zwei bemerkenswerthe Fälle von zufälligem Erhängen mitgetheilt. Der eine betraf einen 13jährigen Knaben, der, um nach seinem Vater auszuschauen, mit stark benützten, daher sehr glatte Sohlen besitzenden Schlappen auf eine Leiter gestiegen, ausgerutscht und mit seinem Shawl an einem Haken hängen geblieben war; der zweite betraf einen Knecht, der in betrunkenem Zustand von einer steilen Bodentreppe [S. 563]herabgefallen war, und in dem Winkel, welchen die geländerlose Treppe mit einem Pfahl bildete, am Halse hängend und todt gefunden wurde. Auch zufällige Erdrosselungen sind wiederholt vorgekommen.
So berichtet Taylor von einem Knaben, der sich damit unterhielt, dass er ein schweres Gewicht im Zimmer an einer um den Hals gelegten Schlinge herumtrug. Man fand ihn auf einem Stuhle sitzend todt. Das Gewicht war hinter die Stuhllehne gerutscht und hatte den Hals zugeschnürt. Ferner von einem Mädchen, welches einen Korb mit Fischen mittelst eines um den Hals geschlungenen Riemens trug. Man fand sie an einer niedrigen Mauer sitzend und todt. Der Riemen ging um den Hals und war durch die Schwere des Korbes zugeschnürt, welcher über die Mauer nach hinten zu heruntergefallen war. Wir obducirten ein 7 Monate altes, kräftiges Kind, welches von seinem Bettchen herabgerutscht war und mit dem Kopfe zwischen zwei Sprossen eines angestellten Stuhles steckend und mit dem Vorderhalse auf dessen Querleiste liegend todt gefunden wurde. Die Obduction ergab eine schwache Furche am Halse und Erstickungsbefunde. Andere Beispiele von zufälliger Strangulation finden sich bei Casper-Liman (l. c. 729) und Maschka (l. c. 608 und 623). — Auch Simulationen von Erhängen oder Erdrosseln kommen vor. Ein Fall letzterer Art war der von Roux in Montpellier (Maschka’s Handb. I, 627) und über einen Inculpaten, der, um die simulirte Geisteskrankheit glaublicher zu machen, Selbsterhängen vorzutäuschen versuchte, dabei aber trotz allem Raffinement das Bewusstsein verlor, berichtet Laurent (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 463).
Noch sei erwähnt, dass etwas fester am Halse anliegende Gegenstände, wie Hemdkrägen, Bänder, Schnüre, ebenfalls einen streifenförmig um den Hals verlaufenden Eindruck hinterlassen können. Es ist dies dann ein blasser, weicher, meist flacher Streif, der aber auch, wenn der Hals durch Fäulniss anschwillt und das Band nicht nachgibt, sich rinnenartig vertiefen kann. Bei faulen Wasserleichen hat man nicht selten Gelegenheit, dies zu beobachten. Die Provenienz eines solchen Streifens wird sich bei einiger Aufmerksamkeit leicht constatiren lassen.
Auch jene anämischen Streifen am Halse, die der Tiefe gewisser querer Hautfalten, namentlich bei wohlgenährten Personen, insbesondere aber bei Kindern, entsprechen, sind unschwer als solche zu erkennen, da man beim Strecken und Beugen des Halses sich überzeugen kann, dass sie einer solchen Hautfalte ihre Entstehung verdanken. Diese Streifen sind in der Regel weich und blass, anämisch; war jedoch die Stelle, wie bei kleinen Kindern häufig, nässelnd (Intertrigo), so kann sie nach dem Tode eintrocknen und mumificirt erscheinen, worauf sehr zu achten ist, da uns thatsächlich ein Fall vorkam, wo eben der lederartigen Beschaffenheit wegen eine solche natürliche Furche für eine Strangfurche gehalten wurde.
Auch durch Umschlingung der Nabelschnur um den Hals eines Kindes kann eine Strangfurche entstehen, entspricht aber dann der Breite der Nabelschnur, ist weich und lässt sich leicht ausgleichen; [S. 564]auch konnten wir in einem solchen Falle deutlich einen vom Halse über die Brust gegen den Nabel zu verlaufenden blassen Streifen unterscheiden, der die Provenienz der Furche am Halse aufgeklärt hätte, wenn auch nicht die Schnur noch um den Hals geschlungen gefunden worden wäre.
Auf eine andere Möglichkeit der Entstehung von Strangfurchen, ohne dass eine Strangulation in vivo stattgefunden hätte, werden wir beim Ertrinkungstod aufmerksam machen.
Das Erwürgen geschieht durch Compression des Vorderhalses, insbesondere der Kehlkopfgegend mit der Hand, entweder in der Weise, dass die betreffende Hand um den Kehlkopf sich zusammenkrallt und diesen seitlich comprimirt, wobei, wie Langreuter bei seinen oben erwähnten Beobachtungen mit dem Kehlkopfspiegel constatirte, schon ein äusserst geringer Druck zum vollkommenen Verschluss der Stimmritze genügt, oder indem derselbe, oder der Zungengrund, gegen die Wirbelsäule angedrückt oder nach oben gedrängt wird. Beide Vorgänge verbinden sich in der Regel gleichzeitig, wobei meistens Kopf und Nacken gegen eine feste Unterlage angepresst oder mit der anderen Hand der würgenden entgegengedrückt werden.
Ein solcher Verschluss genügt natürlich für sich allein, um in wenigen Augenblicken Erstickung zu bewirken. Trotzdem kann noch ein anderes Moment beim Erwürgen eine Rolle spielen, und zwar weniger die Compression der Gefässe am Halse, die meist gar nicht oder nur einseitig und keineswegs gleichmässig erfolgt, wohl aber die traumatische Reizung peripherer Vagusendigungen, insbesondere jener des N. laryngeus superior. Letzteren hat bereits J. Rosenthal als respiratorischen Hemmungsnerv bezeichnet und Claude-Bernard hat gefunden, dass thatsächlich durch traumatische Reizung des N. laryng. super. plötzlicher Athemstillstand erzeugt werden könne. Solche Versuche hat später F. Falk[361] mit gleichem Erfolge wiederholt und auch wir haben ebenfalls solche Resultate erzielt, wenn wir bei tracheotomirten Hunden den Kehlkopf mit dem Finger zusammenpressten, wobei wir allerdings, ebenso wie Falk, fanden, dass, wenn mit dem Druck sofort nachgelassen wurde, der Athemstillstand nur einige Augenblicke dauerte, indem die Respiration wiederkehrte, dass aber, wenn der Druck fortgesetzt wurde, nach kurzem Athemstillstand Dyspnoe sich einstellte, die dann aber meist kürzer dauerte als bei einfachem Verschluss der Trachea. Auch nach Reizung der Endigungen des N. recurrens beobachtete Falk Aehnliches, ebenso[S. 565] konnte Bert, wie wir bereits oben erwähnt haben, bei Thieren (Enten) sofortigen Tod hervorrufen, wenn er die Luftröhre zusammenschnürte, und schreibt dieses der centripetal fortgeleiteten Erregung der Nervenendigungen zu. Dass auch Fischer den Shock nach Contusion des Kehlkopfes hervorhob, haben wir bei Besprechung der Kehlkopfverletzungen angeführt.
Von diesen Beobachtungen ist bei der Beurtheilung des Erwürgungstodes beim Menschen jedenfalls Notiz zu nehmen, umsomehr, als mit Rücksicht auf die Angaben von Angeklagten die Frage, ob schon ein einmaliges Zufassen an den Hals eines Individuums, respective ein plötzliches, aber vorübergehendes Zusammendrücken des Kehlkopfs den Tod bewirken könne, bereits durch Casper (l. c. II, 653) ventilirt und dahin beantwortet worden ist, dass ein solcher Hergang zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich sei. Gegenwärtig müssen wir mit Rücksicht auf die erwähnten experimentellen Beobachtungen die schon von Casper zugestandene Möglichkeit noch mehr zugeben, und wenn wir auch gegenüber der Angabe, dass schon durch ein einmaliges Zudrücken des Kehlkopfes der Tod herbeigeführt wurde, höchst vorsichtig sein werden, so müssen wir doch zugestehen, dass eine sofortige Bewusstlosigkeit nach einem solchen Insult eintreten kann.
Für diese Möglichkeit spricht folgender Fall: Im Winter 1877 wurde eine Frau in ihrem Laden von einem Manne überfallen, der sie plötzlich beim Halse packte und, als sie sofort zu Boden stürzte, das Geld aus dem Pulte raubte und entfloh. Die Frau wurde nach einigen Augenblicken bewusstlos aufgefunden und zu sich gebracht. Sie wusste alle Details des Vorganges bis zum Momente, wo sie plötzlich am Halse gepackt wurde und erklärte, dass sie in demselben Augenblicke, in welchem sie die Hand des Mannes an ihrem Halse fühlte, sofort das Bewusstsein verlor, so dass sie weder Athemnoth, noch Schmerz gefühlt habe. An ihrem Halse fanden sich auch keine Spuren eines fortgesetzten Druckes, so dass in diesem Falle offenbar das plötzliche Zusammenpressen des Kehlkopfes und nicht die Erstickung das sofortige Zusammenstürzen und die Bewusstlosigkeit herbeigeführt hatte. Allerdings konnte in diesem, sowie in ähnlichen Fällen auch eine plötzliche Compression beider Carotiden und dadurch die Bewusstlosigkeit erzeugt worden sein.
Selbstmord durch Erwürgung ist nicht wohl denkbar; denn wenn auch zugegeben werden muss, dass Jemand im Stande sein kann, sich selbst bis zum Eintritte der Bewusstlosigkeit zu würgen, so muss doch zugestanden werden, dass letztere sofort den Erwürgungsact unterbrechen muss und dann die unbehinderte Respiration sich wieder einstellen wird. Doch berichtet Binner (Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, pag. 364) über eine Geisteskranke, der es, nachdem sie sich schon einmal bis zur schweren Bewusstlosigkeit gewürgt hatte, das zweitemal gelungen ist, sich auf diese Weise zu tödten. Sie wurde neben einem Bette in hockender Stellung gefunden, beide Hände am Halse haltend. Die Ellenbogen waren[S. 566] auf die Knie gestützt und der Kopf war nach vorne über gefallen, so dass das Gesicht auf dem Bette lag. In Folge dieser Lage hatte die Athmungsbehinderung auch nach dem Eintritte der Bewusstlosigkeit fortgedauert und so den Tod bewirkt.
Dagegen ist die gewaltsame Tödtung Anderer durch Erwürgen ein verhältnissmässig häufiges Vorkommniss. Die localen Befunde, welche nach einer solchen That am Halse zurückbleiben, bestehen äusserlich vorzugsweise aus Hautaufschürfungen am Vorderhalse, welche schon durch ihre Lage zu beiden Seiten des Kehlkopfes auffallen und nicht selten durch ihre Anordnung und ihre den Fingerkuppen oder Fingernägeln entsprechende Form ihre Entstehung durch eine würgende Hand deutlich erkennen lassen. Da das Würgen meist mit der rechten Hand ausgeführt wird, so finden wir in der Regel links am Halse zahlreichere Hautabschürfungen als rechts, wo nur der Daumen auflag, und es könnte ein gegentheiliges Verhalten den Schluss erlauben, dass mit der linken Hand gewürgt worden ist, was bezüglich der Eruirung des Thäters von Wichtigkeit wäre, wie aus einem von Taylor (l. c. II, 74) erwähnten Fall hervorgeht. In den von uns untersuchten Fällen von Ermordung durch Erwürgen entsprachen die Würgespuren meistens einer rechten Hand und es liessen sich jedesmal ausser verschiedenen unregelmässigen Hautaufschürfungen auch solche erkennen, die nach oben zu scharf begrenzt mit einem nach aufwärts convexen Bogen begannen und nach unten und innen zu wie verwischt endeten, sowie auch sehr charakteristische halbmondförmige, nach oben convexe Hautkratzer, die deutlich dem Abdruck von Fingernägeln entsprachen. Meist sassen sämmtliche Spuren am hinteren Rande der Schildknorpel zwischen diesem und den Kopfnickern und in den meisten Fällen in der Höhe der oberen Kehlkopfapertur und selbst unter dem unteren Rande des Unterkiefers nahe bei den Unterkieferwinkeln. Da der Thäter selten sich mit einem einzigen und dann continuirlich fortgesetzten Griffe begnügen und auch das Opfer sich durch Bewegung der Hand des Thäters zu entziehen trachten wird, so ist begreiflich, dass wir selten einen einfachen (sit venia verbo) Abdruck der Hand am Halse erwarten können, als vielmehr zahlreiche Hautaufschürfungen verschiedenster Art, die selbst an vom Kehlkopf entfernteren Stellen sich bemerkbar machen. Die Befunde, welche sich an der erwürgten Prostituirten fanden, über welche wir in der Wiener med. Wochenschr., 1882, Nr. 29 u. ff., berichteten, haben wir dort dargestellt. Bei kleinen Kindern, insbesondere neugeborenen, kann die erwürgende Hand eines Erwachsenen den ganzen Hals umfassen, was die Lage und Anordnung der Fingernägelabdrücke beeinflusst, welche sich, je nachdem der Hals von hinten, von der Seite oder von vorn umfasst wurde, vorn oder seitlich am Halse oder im Nacken sich finden können. Fig. 115 zeigt einen solchen Fall.
Die ungleichmässige und zugleich heftige Compression des Halses bewirkt fast immer tiefere Läsionen am Halse. So fanden[S. 567] wir in allen unseren Fällen Suffusionen im Unterhautgewebe unter einzelnen der Hautaufschürfungen, ebenso wiederholt Suffusionen in den tieferen Weichtheilen, so am Unterkieferrande, über dem Lig. thyreohyoideum und in der Scheide der Vorderhalsmuskeln.[362] Zweimal fanden wir Bruch des Kehlkopfes und einmal einen Bruch des Zungenbeins; in einem neueren Falle, wo der Thäter nachträglich noch auf den Hals getreten war, Fractur beider Kehlkopfhörner, des Adamsapfels entlang seiner Kante und einen Doppelbruch der Spange des Ringknorpels. Dass beim Würgen auch die Kopfschlagadern comprimirt und verletzt werden können, beweisen zwei interessante Fälle H. Friedberg’s („Ueber ein neues Zeichen des Erwürgungsversuches“, Virchow’s Arch. 1880, LXXIX), in deren einem bei der betreffenden erwürgten Person ein Bluterguss in der Wand der einen Carotis unterhalb ihrer Theilung, in dem anderen ausserdem eine Ruptur der Intima gefunden wurde. F. Falk („Zur Casuistik des Strangulationstodes.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, pag. 279) fand bei einem durch Erdrosseln und Erwürgen getödteten Manne ein 5 Pfennig[S. 568] grosses Extravasat im linken Musculus geniohyoideus und eine hämorrhagische Infiltration der linken Tonsille.
Das Würgen ist die bei weitem häufigste Entstehungsursache von Kehlkopfbrüchen. Sie betreffen entweder die Schildknorpel oder deren Hörner oder den Ringknorpel, den wir in zwei Fällen doppelt gebrochen fanden, oder auch nur die Aryknorpel; wie Schnitzler einen solchen Fall beschreibt. Dass aber solche Fracturen, insbesondere der Kehlkopfhörner, wenn der Kehlkopf seine jugendliche Elasticität verloren hat, auch durch verschiedene andere Gewalten und zwar auch indirect, z. B. durch Sturz auf den Kopf oder beim Halsabschneiden entstehen können, haben wir oben (pag. 471) erwähnt und wurde auch von Patenko (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLI, 192) dargethan.
Ecchymosen in den Conjunctiven und in der Gesichtshaut, namentlich in jener der Haut der Augenlider, finden sich bei Erwürgten sehr häufig, und es sind für die Entstehung derselben günstige Bedingungen gegeben, da es sich um eine Erstickung handelt, die, ausgenommen, wenn Shock erfolgt, durch keine anderweitigen Processe complicirt, daher besonders geeignet ist, das typische Bild des Erstickungstodes zu erzeugen.
Ausser den durch das Würgen selbst veranlassten Befunden können sich bei Erwürgten noch andere Verletzungen finden, die theils vom Niederwerfen des Körpers oder Andrücken desselben gegen eine feste Unterlage, Knien auf der Brust oder von anderen gleichzeitig erfolgten Misshandlungen herrühren können.
In dem einen unserer Fälle fanden wir bei der 83 Jahre alten erwürgten Frau ausser den Würgeeffecten das linke Auge sugillirt, Hautkratzer an beiden Händen und rechterseits die zweite, vierte und fünfte Rippe gebrochen. In einem anderen, ebenfalls eine alte Frau betreffenden Falle wurden zahlreiche Sugillationen der Kopfhaut, ein Einriss am rechten Ohrläppchen, eine Hautaufschürfung am rechten Schulterblatt, eine Blutunterlaufung am linken Handrücken und endlich zwei ausgeschlagene Schneidezähne gefunden, welche sammt einem quadratischen Holzspan tief im Rachen steckten und, wie sich aus dem Geständnisse des Angeklagten ergab, dorthin dadurch gerathen waren, dass er, als er die am Boden Liegende würgte, ihr gleichzeitig ein Stück Holz in den Mund eingestossen hatte; endlich in einem dritten ausser zahlreich zerkratzten Stellen im Gesichte und am Vorderhalse, an beiden Oberarmen und am linken Unterarme bohnengrosse Sugillationen, die zufolge ihrer Gruppirung und Zahl als Abdrücke einer fremden Hand nicht zu verkennen waren. Der Fall bot insoferne noch ein besonderes Interesse, als die Leiche, als sie aufgefunden wurde, mit dem Gesichte auf dem Rande eines blechernen Wassergefässes lag und deshalb anfangs daran gedacht wurde, dass die Hautaufschürfungen im Gesichte nur durch zufälliges Auffallen auf das betreffende Gefäss entstanden seien.
Dass auch anderweitig entstandene Hautaufschürfungen und Eindrücke am Halse Würgespuren vortäuschen können, beweist ein von [S. 569]Liman und auch von uns begutachteter Fall, in welchem bei einem Individuum, welches von seinem Vater an einem dicken, über das Halstuch gelegten Zugstrange hängend gefunden und abgenommen worden war, sich keine Strangfurche, aber auf dem Kehlkopf eine Gruppe von drei rundlichen, durch einen schmalen, über die Kehlkopfkante verlaufenden Streifen verbundenen Eindrücken fand, die als Würgespuren aufgefasst wurden, während sie, wie die Untersuchung des Hemdes ergab, von 3 Knöpfen herrührten, die am Hemdkragen angebracht waren und gerade auf den Kehlkopf zu liegen kamen. Auch die symmetrische Anordnung und regelmässige Beschaffenheit der Eindrücke, sowie besonders ihre Lage nahe der Kehlkopfkante musste die Provenienz der Eindrücke noch weiter klarstellen, und es gelang auch bei Hängeversuchen, die mit Leichen gemacht wurden, denen man ein gleiches Hemd angezogen hatte, ganz gleiche und ebenso angeordnete Marken zu erzeugen.
Die Erscheinungen, welche bei wiederbelebten Strangulirten oder bei solchen sich finden, die nur unvollständig gewürgt oder gedrosselt worden sind, können theils locale, theils allgemeine sein.
Die Strangfurche präsentirt sich in der Regel als excoriirter oder durch reactive Hyperämie gerötheter und geschwellter Streif, dessen Intensität und Dauer mit der Intensität der Strangulation, insbesondere mit dem Grade des „Einschneidens“ des Stranges, proportional zu sein pflegt. Wenn weiche Stränge benützt wurden, so können die betreffenden Druckmarken ganz unscheinbar ausfallen und selbst ganz fehlen. Nachträgliches Auftreten von Suffusionen in oder unter der Strangfurche wurde nach Erdrosseln beobachtet. Nach Erhängen bilden sich dieselben, soweit unsere Erfahrung reicht, nur ausnahmsweise. Schmerzhaftigkeit des Halses besteht gewöhnlich und kann, wenn Läsionen der Kehlkopf- oder Zungenbeinhörner entstanden waren, längere Zeit andauernd und insbesondere beim Schlucken sich äussern. Schwere Symptome, wie entzündliche Schwellungen, Glottisödem etc., treten wohl nur ausnahmsweise auf, leicht kann dies bei Verletzungen des eigentlichen Kehlkopfes geschehen und aus dieser Quelle noch nachträglich der Tod erfolgen, namentlich somit nach Drosseln und Würgen, bei welchen Strangulationsformen derartige Beschädigungen verhältnissmässig häufiger vorkommen, als beim Erhängen. Bei Gurlt (Lehre von den Knochenbrüchen. 1865, pag. 352) finden sich einige solche Fälle. C. Majer (Friedreich’s Bl. 1882, pag. 460) berichtet über einen Retropharyngealabscess, der bei einer Frau durch intensives Würgen entstand. Die Schlingbeschwerden waren für Hysterie gehalten worden. In einem von Pellier (Virchow’s Jahrb. 1883, I, pag. 525) mitgetheilten Falle blieb der Gerettete 4 Tage lang stimmlos, bekam eine heftige Bronchitis und weiter einen so fötid riechenden Ausfluss, dass er in’s Freie gelegt werden musste. Die Strangfurche war 15 Tage lang sichtbar. In einem Falle Maschka’s (ibidem) wurde eine letal verlaufende sphacelöse Parotitis und in einem von der Wiener Facultät begutachteten eine diffuse Halsphlegmone [S. 570]von stattgehabtem Würgen abgeleitet, ohne dass ein solcher Zusammenhang als erwiesen angenommen werden konnte. Dass sich aus Muskelrupturen, insbesondere aber aus Rupturen der Intima carotis, schwere Erscheinungen entwickeln können, muss zugestanden werden, obgleich die Literatur unseres Wissens keine einschlägige Beobachtung enthält.
Das Bewusstsein kehrt in vielen Fällen rasch zurück, in anderen Fällen besteht Sopor, der Stunden und Tage andauern und schliesslich selbst nach partiellem Erwachen des Bewusstseins dennoch zum Tode führen kann[363], wie insbesondere bei dem in Raab hingerichteten, nach der nach 10 Minuten vorgenommenen Abnahme wieder zum Leben zurückgekommenen und am anderen Tage gestorbenen Raubmörder (Wr. med. Wochenschr. 1880, Nr. 17) beobachtet wurde, ebenso an einem von uns auf Meynert’s Klinik gesehenen Manne, der erst nach 30 Tagen starb, ohne aus dem Sopor erwacht zu sein. („Zur Kenntniss der Befunde am Halse von Erhängten.“ Wr. med. Pr. 1881, Nr. 48 u. s. f., woselbst auch Literaturangaben über wiederbelebte Erhängte.) Convulsionen während des Sopors, insbesondere epileptiforme, wurden wiederholt beobachtet. Interessant ist das Auftreten von Geistesstörungen im engeren Sinne bei Wiederbelebten. Wir sahen unlängst auf Schrötter’s Klinik einen 14jährigen Knaben, der bewusstlos vom Strange abgeschnitten und wiederbelebt wurde und der unmittelbar nach dem Erwachen aus dem Sopor in einen tobsüchtigen Anfall verfiel, so dass er gebunden in’s Spital gebracht werden musste, woselbst er sich rasch beruhigte. Drei Tage darauf fanden wir eine breite, vielfach excoriirte, schwach geröthete, nicht sugillirte Strangfurche und Schmerzhaftigkeit in der Gegend der Basis des rechten Kehlkopfhornes beim Druck, woselbst auch eine Unebenheit zu fühlen war. Bei einem 25jährigen Mann, über welchen Griesinger (Patholog. u. Ther. d. psych. Krankh. 3. Aufl., pag. 325) berichtet, kehrte das Bewusstsein nach dem Abschneiden rasch zurück. Am folgenden Tage ist er still und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte rollende Augen, Krämpfe der Gesichtsmuskeln. Kein sinnlicher Eindruck scheint percipirt zu werden, der Kranke geht herum und isst, ohne Empfinden und Begehren auszudrücken. Erst nach mehreren Wochen kehrt das Bewusstsein plötzlich zurück. In einem anderen von Moreaud (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 648) verblieb der 21jährige Mann nahezu 3 Tage in Sopor mit intercurrirenden, epileptiformen Anfällen, erhob sich dann plötzlich, begann im Zimmer herumzulaufen, sprach verwirrt und aufgeregt, verfiel nach 2 Tagen in einen deprimirten, schweigsamen Zustand, der sich allmälig verlor. — Tardieu (Pendaison etc. 1879, pag. 14) beobachtete bei einem wiederbelebten Erhängten zweitägigen Sopor, hierauf [S. 571]Blasen- und Mastdarmlähmung mit Zuckungen und Schmerzen in den unteren Extremitäten, und in einem zweiten Fall zwar rasche Wiederkehr des Bewusstseins, doch durch 8 Tage zurückbleibendes Gefühl von Völle und Kälte der rechten Kopf- und Halsseite mit lancinirenden Schmerzen an verschiedenen Punkten des Gesichtes. — Petřina (Prager med. Wochenschr. 1880, Nr. 39) fand einen 57jährigen Mann, der sich mit einer Rebschnur zu erdrosseln versucht hatte, bewusstlos mit stark markirter, rother Strangfurche und Ecchymosen in der Conjunctiva. Die Bewusstlosigkeit hielt an bis zum nächsten Morgen, mit intercurrirenden, klonischen Krämpfen. Hierauf rechtsseitige Facialisparalyse und linksseitige Rumpflähmung und Empfindungslähmung, sowie Coordinationsstörungen, somit Erscheinungen, die auf eine Hämorrhagie im Pons Varoli schliessen lassen. — Vielleicht sind capilläre Hämorrhagien im Gehirn Erstickter nicht gar selten. Im Streifenhügel des gehängten Präsidentenmörders Guiteau wurden solche gefunden (Virchow’s Jahrb. 1883, I, 507) und bei einem ertrunkenen, sehr fetten, im Februar 1887 obducirten Manne haben wir den Kopf des rechten Streifenhügels in bohnengrosser Ausdehnung von zahlreichen punktförmigen Blutaustritten durchsetzt gesehen, so dass die Stelle wie eine Contusion aussah. Es war aber keine Spur einer sonstigen Verletzung vorhanden. Es wäre nicht unmöglich, dass sich nach langer Asphyxie ähnliche symmetrische Necrosen im Linsenkern entwickeln, wie sie nach protrahirter Kohlenoxydvergiftung wiederholt beobachtet wurden. Neuere Beobachtungen über Erscheinungen im Bereiche des Centralnervensystems bei wiederbelebten Erhängten bringt J. Wagner (Jahrb. f. Psych. 1889, VIII, und Wiener klin. Wochenschr. 1891, Nr. 53). Er betont namentlich die Häufigkeit des Auftretens von Convulsionen vor Wiederkehr des Bewusstseins und der Amnesie (unter 17 Fällen 11mal), welche retroactiv ist, da sie sich mehr oder weniger auf die Zeit vor dem Selbstmordversuche erstreckt.[364] In der letzterwähnten Publication berichtet Wagner über einen jungen Mann, der unmittelbar, nachdem er seinen Vater schwer verletzt hatte, sich erhängte, aber abgeschnitten und zum Leben gebracht wurde. Er zeigte darauf durch mehrere Tage ausgesprochene Zeichen von Geistesstörung, Unbesinnlichkeit und Amnesie. Da er wegen der schweren Verletzung des Vaters in Anklagestand versetzt wurde, entstand die Frage, ob der junge Mann nicht schon vor dem Selbstmordversuch geistesgestört war, was jedoch Wagner ausschliessen konnte.
[S. 572]
Wird der Zutritt der atmosphärischen Luft zu den Respirationsöffnungen durch ein flüssiges Medium abgesperrt, so dass Erstickung erfolgt, so spricht man von Tod durch Ertrinken. Damit dieser erfolge, ist es nicht nothwendig, dass der ganze Körper in die betreffende Flüssigkeit hineingerathe, sondern es genügt selbstverständlich, wenn nur der Kopf, ja selbst nur das Gesicht in dieselbe zu liegen kommen. Allerdings ist erstere Art des Ertrinkens die häufigste, aber auch letztere keineswegs selten, namentlich bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen, die, wie z. B. Berauschte, oder vom epileptischen Anfall Ergriffene oder anderweitig Hilf- oder Bewusstlose, selbst in ganz seichten Lacken u. dergl. ertrinken können. Das Ertrinken kann ausser wie gewöhnlich im Wasser, in allen möglichen anderen Flüssigkeiten geschehen, von denen insbesondere die Abortjauche zu nennen ist, in welcher zwar seltener Erwachsene, desto häufiger aber Kinder, namentlich Neugeborene, ihren Tod zu finden pflegen.
Den Vorgang beim Ertrinkungstode haben insbesondere F. Falk[365] und Bert[366] experimentell geprüft. Diesen sowohl als unseren eigenen Beobachtungen zufolge können wir bei dieser Todesart drei Stadien unterscheiden. Im ersten hält das Versuchsthier den Athem durch wenige Augenblicke ein, das zweite ist das Stadium der Dyspnoe und das dritte jenes der Asphyxie.
Das Einhalten des Athems im ersten Stadium geschieht wohl meistens instinctiv, doch fand F. Falk, dass auch der durch die plötzliche Einwirkung des Wassers veranlasste Hautreiz eine reflectorische Respirationslähmung bewirke, die, wenn das Thier bereits durch frühere Versuche erschöpft war, in andauernden Respirationsstillstand übergehen konnte, woraus Falk schliesst, dass Aehnliches auch beim Menschen, wenn Ermattung, psychische Aufregung u. dergl. Einflüsse dem Gerathen in’s Wasser vorhergingen, oder auch bei Neugeborenen sich ereignen könne. Im zweiten Stadium tritt Dyspnoe ein, bei welcher anfangs tiefe, jedoch kurze und von sofortigen Exspirationen gefolgte Inspirationen eintreten, während später krampfhafte Exspirationen sich einstellten, ein Verhalten, das analog ist demjenigen, das man bei der Dyspnoe anderer Erstickungsformen ebenfalls beobachtet. Im Anfang der Dyspnoe sind sowohl Bewusstsein als Reflexe erhalten und die kurzen stossweisen Exspirationen, die den ersten Inspirationen folgen, geschehen offenbar reflectorisch durch den Reiz des die Stimmritze berührenden Wassers. Das exspiratorische Stadium der Dyspnoe lässt sich beim Ertrinken ungleich deutlicher unterscheiden, als bei anderen Erstickungsformen, da der jedesmalige Exspirationskrampf durch Ausstossen von feinblasigem Schaum markirt [S. 573]wird. Convulsionen treten fast immer auf, doch sind sie von verschiedener Heftigkeit. Wir haben sowohl klonische als Streckkrämpfe beobachtet. Im dritten oder asphyctischen Stadium finden wir Bewusstlosigkeit und Darniederliegen der Reflexe, und begegnen im Anfang desselben jenen tiefen, in langen Intervallen sich wiederholenden Inspirationen, die mit Aufreissen des Mundes und Zusammenkrümmen des Körpers verbunden sind, die wir oben als terminale Athembewegungen bezeichnet haben. Letztere lassen sich beim Ertrinkungstode besonders deutlich verfolgen und treten in der Mehrzahl der Fälle auf, dauern jedoch nicht immer gleich lange und bleiben mitunter ganz aus, ohne dass man andere als innere (individuelle) Bedingungen dieser Differenzen annehmen kann.
Als äussere Leichenbefunde bei Ertrunkenen sind folgende zu erwähnen:
1. Die auffallende Kälte der Leiche. Dieses zuerst von Mertzdorf hervorgehobene Symptom erklärt sich aus der stärkeren Durchfeuchtung der Haut und den stärkeren Wärmeverlusten durch die rege Wasserverdunstung. Diese Erscheinung beweist selbstverständlich nicht den Ertrinkungstod, da sie auch zu Stande kommen wird, wenn ein Körper erst als Leiche in das Wasser gelangte.
2. Eine auffallende Blässe der Leiche, wie sie von älteren Autoren hervorgehoben und auf stärkere Contraction der Hautgefässe zurückgeführt wurde, konnten wir nicht beobachten, häufig dagegen erscheinen die Leichenflecken und mitunter die ganze Haut auffallend hellroth, wenn die Leiche in sehr kaltem Wasser gelegen ist, namentlich also im Winter.
3. Ecchymosen in der Conjunctiva und in der Gesichtshaut haben wir bei Wasserleichen nur ganz ausnahmsweise gesehen, dagegen dieselben wiederholt bei Individuen, besonders Kindern, beobachtet, die in Abortjauche oder ähnlichen dicklichen Flüssigkeiten erstickt waren.
4. Schaum vor Mund und Nase ist bei Ertrunkenen häufig, in frischen Fällen feinblasig und wenn das Ertrinken in gewöhnlichem Wasser geschah, rein weiss.
5. Die sogenannte Gänsehaut ist bei Ertrunkenen ein sehr constanter Befund. Sie ist offenbar ein Effect der Contraction der glatten Muskelfasern der Haut, wodurch die Mündungen der Haarbälge (und Hautdrüsen) stärker hervortreten. Es kann als sichergestellt angenommen werden, dass diese Contraction noch während des Lebens, theils in Folge der Kälte des Wassers, theils in Folge des Affectes, sich entwickelt, da es bekannt ist, dass beide diese Momente während des Lebens Gleiches bewirken, und das Persistiren dieser Erscheinung wird so gedeutet, dass die contrahirten Muskelfasern nach dem Tode nicht erschlaffen, sondern in ihrem contrahirten Zustande von der Todtenstarre ergriffen werden. Trotzdem ist die Gänsehaut für den Ertrinkungstod nicht charakteristisch, da sie sich nicht selten auch nach anderen Todesarten,[S. 574] insbesondere plötzlichen, findet und auch bei Ertrunkenen nicht immer in gleicher Intensität zur Entwicklung gelangt. Ueberdies kann sich die Gänsehaut auch erst postmortal bilden, wie einschlägige Beobachtungen Anderer (Robin’s) und unsere Versuche ergeben haben.
In gleicher Weise wie die „Gänsehaut“ entwickelt sich die Schrumpfung des Penis, des Hodensackes, sowie der Brustwarzen und Warzenhöfe. Der Reichthum der Haut dieser Organe an glatten Muskelfasern, sowie die Verschiebbarkeit der Haut bewirkt, dass an diesen Stellen sich die Contraction der Haut noch stärker entwickelt, als an der Haut des Rumpfes und der Extremitäten. Die Schrumpfung dieser Theile ist immerhin eine beachtenswerthe Erscheinung, doch können wir derselben keinen grossen Werth für die Diagnose des Ertrinkungstodes vindiciren, da wir uns durch Versuche an frischen Leichen überzeugt haben, dass das Phänomen auch postmortal zu Stande kommen kann.
6. Blieb eine Leiche nach dem Tode mindestens einige Stunden im Wasser, so bemerkt man, dass die Epidermis an solchen Stellen, wo sie dickere Schichten bildet, wie namentlich an den Hohlhänden und Plattfüssen, an der Innenfläche der Finger und Zehen, aber auch bei einzelnen Individuen an den Knien und Ellenbogen eigenthümlich ausgebleicht, verdickt und gerunzelt erscheint. Diese Veränderung ist eine Quellungs- (Imbibitions-) Erscheinung, die erst an der Leiche zu Stande kommt und auch sich bildet, wenn man z. B. abgetrennte Extremitäten in’s Wasser legt, oder auch nur mit feuchtgehaltenen Tüchern umhüllt. Sie beweist daher nur, dass die Leiche im Wasser gelegen war, und der Grad ihrer Entwicklung gestattet gewisse approximative Schlüsse auf die Zeit, wie lange die Leiche im Wasser gelegen haben mag. Je dicker die betreffenden Epidermislagen waren, desto früher und intensiver entwickelt sich das betreffende Symptom, daher bei Individuen der arbeitenden Classe mehr als bei solchen mit zarten und dünnen Händen.
Wir sehen sonach, dass alle die genannten äusseren Symptome zwar beweisen, dass eine Leiche im Wasser gelegen ist, und dass die Erwägung des Grades ihrer Entwicklung auch zu schliessen gestattet, wie lange dieselbe der Einwirkung des Wassers ausgesetzt war, dass aber darunter kein einziges sich befindet, welches als dem Ertrinkungstod pathognomonisch zukommend angesehen werden könnte.
Die inneren Befunde sind im Allgemeinen keine anderen, als wie sie nach jedem Erstickungstode vorkommen können: dunkelflüssiges Blut und venöse Hyperämien in einzelnen Organen, die jedoch keineswegs constant sind, eine Thatsache, die frühere Beobachter veranlasste, Ertrunkene bald an „Stickfluss“, bald an „Stickschlagfluss“, bald an „Nervenschlag“ sterben zu lassen.
Von den mehr specifischen Befunden verdient der Befund der Ertränkungsflüssigkeit in den Lungen, im Magen und in[S. 575] den Paukenhöhlen eine besondere Beachtung, weil derselbe, wenn mit Vorsicht verwerthet, noch am ehesten gestattet, die Frage zu beantworten, ob ein Individuum in einer Flüssigkeit ertrunken oder in dieselbe erst als Leiche gerathen ist.
Das Eindringen der Ertränkungsflüssigkeit in die Luftwege erfolgt in der Regel erst mit den terminalen Athembewegungen, nachdem die Bewusstlosigkeit eingetreten und die Reflexerregbarkeit, wenn auch nicht vollkommen erloschen, so doch bedeutend herabgesetzt worden ist. Während der Dyspnoe erfolgt die Aspiration der Ertränkungsflüssigkeit nicht, oder nur ausnahmsweise, weil der Reiz der eindringenden Flüssigkeit anfangs sofort rasche Exspirationen hervorruft, und in dem convulsiven Stadium der Dyspnoe durch den dabei sich einstellenden Exspirationskrampf mit dem Schaum auch die eventuell eingedrungene Flüssigkeit ausgetrieben wird. Von diesem Gange der Dinge kann man sich leicht durch den Versuch überzeugen. Legt man nämlich Thieren, bevor man sie in eine chemisch leicht nachweisbare Ertränkungsflüssigkeit (wir benützen dazu verdünnte Ferrocyankaliumlösungen, die bekanntlich mit Eisenchlorid einen intensiv blau gefärbten Niederschlag — Berlinerblau — geben) bringt, eine Schlinge um den Hals und zieht diese zu, bevor noch die terminalen Athembewegungen eingetreten sind, so findet man keine oder nur wenig Ertränkungsflüssigkeit in den Lungen, wohl aber bereits im Magen, während, wenn man die terminalen Athembewegungen ihren Verlauf nehmen lässt, die Flüssigkeit bis in die feinsten Bronchien, und gar nicht selten bis in die Alveolen hinein nachgewiesen werden kann, und zwar desto tiefer und in desto grösseren Mengen, je länger die terminalen Inspirationen gedauert hatten, und je intensiver sie gewesen sind.[367] Daraus geht hervor, dass auch bei ertrinkenden Menschen in der Regel die Ertrinkungsflüssigkeit aspirirt wird und daher in den Luftwegen gefunden werden kann. Gleichzeitig folgt aber aus dem Gesagten, dass nicht immer und nicht stets gleich grosse Mengen der Ertränkungsflüssigkeit aspirirt werden, da, wie wir oben bemerkt haben, die terminalen Athembewegungen bei verschiedenen Individuen verschieden lange dauern und selbst ganz ausbleiben können. Damit befinden sich auch die Beobachtungen von Seydel (Tagblatt der Wiener Naturforscherversammlung, pag. 243) in Uebereinstimmung, wonach bei narkotisirten Thieren grössere Mengen der Ertrinkungsflüssigkeit aspirirt werden und ebenso wenn das Ertränken im warmen statt im kalten Wasser geschah.
[S. 576]
Daraus erklären sich auch die verschiedenen Befunde bei Ertrunkenen. In der Mehrzahl der Fälle finden wir mehr weniger beträchtliche Mengen der Ertränkungsflüssigkeit in den Luftwegen, und zwar, wenn, wie gewöhnlich, das Ertrinken im Wasser geschah, letzteres theils als solches, theils in Form von Schaum, der entweder gleich beim Eröffnen des Kehlkopfes und der Luftröhre sich zeigt, oder aus dieser beim Druck auf den Brustkorb oder die Lungen mitunter in grossen Mengen hervorquillt. Ein solcher Befund verdient alle Beachtung, doch wird sein Werth dadurch eingeschränkt, dass sich Schaum und wässerige Flüssigkeit auch bei anderen Todesarten finden können, und zwar nicht blos bei natürlichen mit Lungenödem einhergehenden Todesarten, sondern auch beim gewaltsamen Erstickungstode, wenn die Agonie lange gedauert hatte.
Bei acuten gewaltsamen Erstickungen dagegen erreicht die Schaum- und Serumbildung in den Lungen niemals einen so hohen Grad, wie man ihn bei Ertrunkenen in typischen Fällen zu beobachten Gelegenheit hat. In Folge des in sie eingedrungenen Wassers verhalten sich die Lungen so, wie von acutem Oedem befallene, sie erscheinen nämlich mehr weniger gedunsen, collabiren nur unvollständig beim Eröffnen des Thorax, fühlen sich besonders in den abwärtigen Partien teigig an und entleeren am Durchschnitt schaumiges Serum in mitunter beträchtlichen Mengen. Diese Erscheinung (Hypervolumen, Balonirung der Lungen) hat Casper von einem acuten Emphysem, v. Cerardini (l. c.) und Lesser (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. XL, pag. 1) von einer während des Ertrinkens zu Stande kommenden starken Schleimabsonderung in den Bronchien abgeleitet, woher einestheils die Schaumbildung, anderntheils durch Verlegung der kleinen Bronchien das Ausbleiben des Lungencollaps herrühren soll. A. Paltauf („Ueber den Tod durch Ertrinken.“ 1888) dagegen hat gefunden, dass der Grund der „ballonartigen“ Auftreibung der Lungen vorzugsweise in einem schon während des Ertrinkens stattfindenden Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit aus den Alveolen in das Zwischengewebe zu suchen sei, welches theils auf präformirten Wegen (Kittleisten, Saftspalten), theils durch kleine Läsionen der Alveolarwand erfolgt. So erklärt sich auch die schon von Falk (Virchow’s Arch. XLVII und Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. XIX, pag. 228), sowie von Brouardel und Vibert (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 663) gemachte Beobachtung, dass ein Theil der Ertränkungsflüssigkeit bis in’s linke Herz und selbst darüber hinaus gelangen und dadurch, wie Brouardel und Vibert constatirten und Paltauf durch Untersuchungen mit dem Fleischel’schen Hämometer bestätigte, Blutverdünnung zu Stande kommen kann.[368]
[S. 577]
Derartige exquisite Fälle sind nicht allzu häufig. Nicht selten zeigen die Lungen eine gewöhnliche Beschaffenheit, und es finden sich nur geringe Mengen der Ertränkungsflüssigkeit als Schaum in den oberen Luftwegen und noch weniger davon in den Lungen selbst, wobei überdies zu bemerken ist, dass solche geringe Mengen der Ertränkungsflüssigkeit, wenn dies Wasser gewesen ist, sich gar nicht von gewöhnlichem Serum unterscheiden lassen[369], während specifische Flüssigkeiten (z. B. Abtrittsflüssigkeit, Blut, Fruchtwasser), selbst wenn nur geringe Mengen aspirirt wurden, bis in die feinsten Bronchien und manchmal bis in die Alveolen deutlich verfolgt und unterschieden werden können. Doch ist bezüglich letzterer zu bemerken, dass im Allgemeinen desto weniger davon tief in die Lungen aspirirt werden kann, je dicker und zäher sie gewesen sind.[370]
Bei längerem Liegen der Leiche im Wasser und mit fortschreitender Fäulniss, respective Maceration, verschwindet der Schaum aus den Luftwegen, ebenso verliert sich auch allmälig durch Imbibitions- und Transsudationsvorgänge das aspirirte Wasser aus den Lungen und man findet dann allerdings, dass letztere beim Eröffnen des Thorax sich aus diesem hervordrängen, diese Erscheinung ist aber nicht mehr durch stärkere Blähung der Lunge, sondern durch die blutig-serösen Transsudate im Pleurasack veranlasst, auf welchen die Lungen schwimmen und durch welche sie nach vorne gedrängt werden. Am Schnitt finden sich dann solche Lungen desto trockener, je weiter schon die Transsudation vorgeschritten ist.
Auch im Magen kann sich die Ertränkungsflüssigkeit finden. Sie gelangt dahin offenbar in den ersten Stadien der Dyspnoe, indem das eindringende Wasser theils instinctive, theils reflectorische Schlingbewegungen veranlasst. Die Mengen, die verschluckt werden, variiren sehr. Stärkere Anfüllungen des Magens mit Wasser haben wir nur ausnahmsweise beobachtet (mitunter sogar eine ausgesprochene Auswässerung der Magenschleimhaut), und bei kleinen Mengen ist es schwer, ja unmöglich, dieselben von anderweitiger Magenflüssigkeit zu unterscheiden, während, wenn das Ertrinken in specifischen Flüssigkeiten geschah, die Unterscheidung leicht gelingt. Bei faulen Leichen kann allerdings ein Theil und selbst das ganze aufgenommene Wasser durch Imbibition wieder verschwinden.
Bezüglich des Befundes der Ertränkungsflüssigkeit in den Lungen und im Magen liegt die Frage nahe, ob diese Stoffe[S. 578] nicht auch an der Leiche hineingelangen können. Diese Möglichkeit wurde vielfach bestritten, ist jedoch durch zahlreiche Versuche Liman’s, denen wir auch eine grosse Zahl unserer Versuche anschliessen können, thatsächlich sichergestellt. Am leichtesten dringen wässerige Flüssigkeiten ein, schwerer dagegen schlammige oder dicke und zähe, so dass, wenn letztere tief in den Bronchien gefunden werden, nicht anzunehmen ist, dass sie erst an der Leiche hineingelangten. Auch haben wir uns überzeugt, dass schon ein geringes Verlegtsein der Luftwege oder des Oesophagus mit Schleim genügt, um das tiefere Eindringen von Flüssigkeiten zu verhindern, sowie wir auch gefunden haben, dass postmortal niemals grosse Mengen der Flüssigkeit in die Lunge oder in den Magen eindrangen.[371] Engel hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass durch Compression und Nachlassen des Thorax der in einer Flüssigkeit liegenden Leiche die letztere künstlich aspirirt werden kann, ein Vorgang, der unabsichtlich beim Herausziehen von Leichen aus Flüssigkeiten sich ereignen könnte. Doch ist dies nicht erwiesen.
Nicht selten findet sich die Ertränkungsflüssigkeit im Duodenum und oberen Dünndarm und wir haben dieselbe sogar wiederholt bis in’s Ileum hinein verfolgen können, was namentlich bei specifischen Flüssigkeiten (Blut, Abortsjauche u. dergl.) leicht möglich ist. Ein solcher Befund ist von grösstem Werth und für das Ertrinken in der betreffenden Flüssigkeit fast absolut beweisend, da, wie in unserem Institute von Fagerlund („Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1890, LII) angestellte Versuche ergaben, ein postmortales Eindringen solcher Flüssigkeiten unter gewöhnlichen Verhältnissen niemals, sondern nur dann stattfindet, wenn dieselben unter starkem Druck in den Magen eingetrieben werden.
Nachdem, wie wir bei der Lehre vom Kindesmorde erwähnen werden, Wreden und Wendt die Behauptung aufgestellt hatten, dass beim sogenannten fötalen Erstickungstod der Früchte durch die dabei stattfindenden vorzeitigen Athembewegungen Fruchtwasser und Meconium nicht blos in die Lungen und in den Magen, sondern auch in die Paukenhöhlen gelangen könne, lag es nahe, dieses Verhalten auch für die Diagnose des Erstickungstodes zu verwerthen. Nachdem wir darauf aufmerksam gemacht hatten, konnte Blumenstok[372] bei einem Kinde, das von seiner Mutter in schmutzigem [S. 579]Wasser ertränkt worden war, die in diesem suspendirten fremden Substanzen auch in den Paukenhöhlen nachweisen; ebenso waren wir bereits wiederholt in der Lage, bei in Abortflüssigkeit oder Spülicht erstickten Kindern die Bestandtheile der letzteren (verschiedene Pflanzenzellen und Fasern, Reste quergestreifter Muskelfasern, Gallenfarbstoff, Amylumkörner, Tripelphosphate etc.) in den Paukenhöhlen aufzufinden. Dagegen gelang uns bei anderen ähnlichen Fällen dieser Nachweis nicht und ebenso auch nicht bei zwei Männern, die beim Canalräumen durch die Canalgase erstickt worden waren, obgleich in beiden Fällen sowohl in den Luftwegen als im Magen Canalinhalt gefunden wurde. Auch Lesser („Zur Würdigung der Ohrenprobe.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXX, 1) fand bei einem im Koth erstickten Neugeborenen Fruchtwasser im Mittelohr, aber keine Kothpartikel. Es scheint daher die Ertränkungsflüssigkeit beim Ertrinken keineswegs immer, sondern nur häufig einzudringen und im letzteren Falle wäre ein solcher Befund diagnostisch höchst werthvoll, vorausgesetzt, dass das Trommelfell unverletzt war, wenn die Möglichkeit eines postmortalen Eindringens der Ertränkungsflüssigkeit positiv ausgeschlossen werden könnte. Leider ergaben in unserem Institute von Hněvkovský ausgeführte Versuche[373], dass nicht blos klare, sondern auch corpusculäre Elemente enthaltende Flüssigkeiten auch erst postmortal in das Mittelohr eindringen können, indem bei 45 theils mit ganzen Kindesleichen, theils mit abgeschnittenen Köpfen Erwachsener unternommenen Submersionen in Ferrocyankaliumlösung, sowie in Stärkemehl oder Lycopodium enthaltenden oder aus zerriebenem Fleisch bereiteten Flüssigkeiten 13mal die betreffende Flüssigkeit, respective die in ihr suspendirten Fremdkörper in der Paukenhöhle nachgewiesen werden konnten. In den meisten Fällen fand sich die betreffende Flüssigkeit in beiden Paukenhöhlen, bei einigen war sie nur in die eine eingedrungen. Die so häufig bei Kindern vorkommende Entzündung des Mittelohres und der Tuben erschwerten in vielen Fällen das Eindringen der Flüssigkeit, woraus sich erklärt, dass bei den 28 Kindesleichen die Flüssigkeit nur siebenmal, bei den 17 Köpfen Erwachsener aber ebenfalls siebenmal, daher verhältnissmässig häufiger in den Paukenhöhlen gefunden wurde.
Wird eine Leiche aus dem Wasser oder einer anderen Flüssigkeit gezogen und finden sich an derselben keine anderen Erscheinungen als solche, wie sie gewöhnlich bei Ertrunkenen beobachtet werden, dann ist es selbstverständlich nicht möglich, blos aus dem Obductionsbefunde die Frage zu beantworten, ob das Individuum einen Selbstmord begangen habe, oder zufällig ertrunken oder durch Schuld eines Anderen in die Flüssigkeit gerathen sei, und es sind einzig und allein die Umstände des Falles, die in dieser Richtung Aufklärung zu geben im Stande sind.
Mord durch Ertränken kommt bei Erwachsenen nur selten vor, häufig dagegen bei Kindern, namentlich bei Neugeborenen.[S. 580] Selbstmord durch Ertränken ist sehr gewöhnlich und fast ebenso häufig, wie jener durch Erhängen, wobei sich die Betreffenden mitunter die Füsse und Hände zusammenbinden, sich mit Steinen, die sie am Halse oder an den Füssen, seltener an den Händen (bei einem 82jährigen Mann, der sich eines acquirirten Schankers wegen ertränkt hatte, war an jeder Hand ein Bügeleisenstahl angebunden) befestigen oder in die Taschen stecken, beschweren. Ebenso ist es bekannt, dass zufälliges Verunglücken durch Ertrinken ein sehr häufiges Ereigniss bildet, besonders im Rausche oder im Sommer beim Baden, in welchem letzteren Falle die Nacktheit der Leiche oder Schwimmkleider einen Anhaltspunkt bieten.[374]
Wurde das Individuum auf eine andere Weise getödtet und erst als Leiche in’s Wasser geworfen, so können Verletzungen oder Spuren anderweitig stattgefundener Gewalteinwirkung an der Leiche sich finden, die einen solchen Vorgang klarstellen. Bei der Beurtheilung derartiger Befunde sind jedoch analoge Vorsichten zu beobachten, wie wir sie aus gleichem Anlasse bei Erhängten zu beobachten empfohlen haben. Es ist zunächst möglich, dass Jemand thatsächlich früher durch fremde Hand eine Verletzung erlitt, so z. B. bei einer vorausgegangenen Rauferei, und bald darauf, etwa beim Nachhausegehen im berauschten Zustande, zufällig ertrank. Es ist ferner möglich, dass Jemand früher auf eine andere Weise sich umzubringen versuchte und dann erst in’s Wasser sprang, oder dass er absichtlich am Rande[S. 581] eines Wassers oder in diesem stehend sich erschoss, den Hals durchschnitt und dergleichen, also einen combinirten Selbstmord beging, der keineswegs zu den Seltenheiten gehört. Weiter besteht die Möglichkeit, dass eine an einer Wasserleiche gefundene Verletzung beim Sturz in’s Wasser und beim Auffallen auf harte, über oder unter dem Wasser befindliche Gegenstände entstanden sein konnte. Geschah der Sturz von bedeutender Höhe (von Brücken oder in Brunnen), so können schwere Verletzungen zu Stande kommen. So obducirten wir einen Mann, der beim Sprung von einer Brücke in den Fluss, wie Augenzeugen sahen, zuerst auf einen vorspringenden Mauerpfeiler und dann erst in’s Wasser gefallen war und wenige Augenblicke darnach todt herausgezogen wurde, bei dessen Section sich eine bis auf die Schädelbasis sich fortsetzende Fissur des Scheitelbeins mit Suffusion der Kopfhaut und Blutaustritt in die Schädelhöhle und ausserdem ein Bruch zweier Rippen fand, und einen anderen, der sich beim Sturz in den seichten Wienfluss einen hölzernen Pflock eingestossen hatte, der von der rechten Leistengegend bis in den rechten Schenkelkopf eingedrungen war. Dass auch das einfache Auffallen des Körpers auf das Wasser Verletzungen zu erzeugen im Stande wäre, kann nur bei Sturz aus bedeutender Höhe angenommen werden, und es wäre möglich, dass bei flachem Auffallen des Körpers Muskelzerreissungen oder Rupturen innerer Organe sich bilden könnten. Letztere haben wir bisher nicht gesehen, wohl aber wiederholt und mitunter zahlreiche Ecchymosen von bis Bohnen-, selbst Thalergrösse in der Musculatur, besonders der Hals- und Brustmuskeln, welche auch Dr. Paltauf (l. c.) erwähnt. Sie können vom Sturz in’s Wasser oder von der heftigen Muskelaction bei den Versuchen, sich zu retten, oder von den Erstickungskrämpfen, aber auch von Wiederbelebungsversuchen, z. B. nach Sylvester, herrühren.[375] Am häufigsten haben wir sie bei im Winter Ertrunkenen beobachtet, so dass wir meinen, dass auch die lebhafte Haut- und Muskelcontraction durch die Kälte mitwirken kann. Taylor hat bei einer Frau, die von einer Brücke in die Themse gesprungen war, eine Verrenkung beider Oberarme gefunden. Schädelbrüche und ähnliche Verletzungen können durch einen blossen Fall in’s Wasser, selbst wenn er aus bedeutender Höhe geschah, nicht entstehen. Ueber Fracturen und Luxationen der Halswirbelsäule, die durch Kopfsprung in seichtes Wasser entstanden, berichten Taylor und Bamberger („Wiener med. Presse.“ 1882, pag. 287). Chimani in Wien erwähnt in seinem Berichte über die 1867–1877 behandelten 5041 ohrenkranken Soldaten auch einen Fall von Trommelfellruptur durch Sturz in’s Wasser aus grosser Höhe.
[S. 582]
Ferner ist zu beobachten, dass an Wasserleichen gefundene Verletzungen auch erst nach dem Tode entstanden sein konnten. Zunächst dadurch, dass die Leiche durch stark strömendes Wasser über kiesigen Boden fortgeschleift wurde. Solche Verletzungen sahen wir bei einem 20jährigen Manne, der in Wien in den hochgehenden Donaucanal gesprungen war und noch am selben Tage an einer über ¼ Stunde entfernten Stelle an’s Ufer geschwemmt wurde. Wir fanden die ganze Stirne, den Nasenrücken und die Wangen aufgeschunden, ferner streifenförmige Hautaufschürfungen an beiden Handrücken und an beiden Knien, sämmtlich ohne Reactionserscheinungen. Ebenso können Verletzungen, namentlich am Kopfe, beim Treiben der Leiche durch Anstossen an feste Gegenstände, Brückenpfeiler, Eisschollen sich bilden und noch mehr, wenn sie unter Mühlräder, die Radschaufeln von Dampfschiffen[376] etc. geräth. Eine solche Entstehungsweise nahmen wir an bei einer Fissur des Stirnbeins, die vom For. supraorb. bis zur Kranznaht sich hinaufzog und bei einer hochgradig verfaulten Wasserleiche sich fand, deren Knochen, namentlich jene des Schädels, von Weichtheilen ganz entblösst waren und die höchst wahrscheinlich den Eisgang durchgemacht hatte.
Auch Verletzungen durch Wasserthiere sind möglich, solche durch Ratten in Cloaken häufig. Andere können erst beim Herausziehen der Leiche aus dem Wasser, beim Heraushacken aus dem Eise oder auch dadurch entstehen, dass die irgendwo angeschwemmte Leiche wieder in den Fluss zurückgestossen wird. Dass letzteres nicht selten geschieht, und zwar um Mühe und Begräbnisskosten zu ersparen, beweist die Thatsache, dass eine eigene Verordnung erlassen werden musste, welche den Bewohnern der unterhalb Wiens gelegenen Donauufer ein derartiges Gebahren verbietet.[377] Im Laufe weit vorgerückter Fäulniss lösen sich einzelne Theile ab, oder werden von der Wasserströmung abgerissen und fortgeschwemmt, weshalb die Verstümmlung alter Wasserleichen zu den gewöhnlichen Befunden gehört.
Bezüglich der Erkennung solcher Verletzungen als postmortaler müssen wir auf das an einer anderen Stelle (pag. 359) Gesagte verweisen.
Bei faulen Wasserleichen kommen mitunter ganz eigenthümliche postmortale Verletzungen vor. So obducirten wir die Leiche einer alten Frau (Selbstmörderin), die erwiesenermassen einen Monat im Wasser gelegen war. An zahlreichen Stellen des Körpers, insbesondere[S. 583] dicht stehend an der linken Scheitelgegend, hinter beiden Ohren, am Halse, an der rechten Seite des Bauches und am Promontorium fanden sich theils rundliche, theils schlitzförmige, hanfkorngrosse Oeffnungen in der Cutis, die bis zum Fettgewebe reichten, so dass die Haut wie zerstochen aussah. Offenbar waren diese Oeffnungen durch Herausfallen der Haar- und Drüsenbälge entstanden. Einen noch merkwürdigeren Befund ergab die nackte und stark macerirte Leiche eines 10–12jährigen Knaben, die im Juli aus dem Wasser gezogen wurde. Sie kam zur gerichtlichen Obduction, weil der Polizeiarzt „Stichwunden am Kopf und einen haarseilartig durch diese durchgezogenen Strick“ bemerkte. In der That war der Anblick ein ganz frappirender. Die Schädeldecken waren nahezu haarlos und bildeten einen schlaffen Sack, ähnlich wie man dieses bei macerirten Früchten gewöhnlich bemerkt. In beiden Scheitelgegenden fanden sich mehrere schlitzförmige, ½ bis 1½ Cm. lange, durch die Galea dringende Oeffnungen in der Kopfhaut, aus deren einer scheinbar ein macerirter Strick heraushing, der im Ganzen eine Länge von 29 Cm. besass. Bei näherer Besichtigung ergab sich jedoch, dass das innere Drittel dieses Strickes ein schnurartig zusammengedrehtes Stück des herausgeschwemmten Pericraniums war, an dessen Ende sich ein Stück macerirten Schilfrohres angehängt hatte. Auch fand sich, dass auch aus mehreren der übrigen Oeffnungen schnurartig zusammengedrehte Pericraniumreste heraushingen. Der Schädel war vollkommen unverletzt, auch sonst wurde keine Spur einer Gewaltthat gefunden. Es handelte sich somit um eine blosse Leichenerscheinung. Die Oeffnungen waren entweder aus den durch Herausfallen der Haarbälge gebildeten Lücken oder von Innen durch den Druck der Fäulnissgase entstanden, oder endlich durch Anstossen der Leiche an irgend welche Gegenstände, wobei zu bemerken ist, dass, wie Versuche ergaben, die Richtung der Schlitze genau der localen Spaltbarkeitsrichtung der Haut, respective der Galea entsprach.
Würden sich an einer Wasserleiche Strangulationsmarken finden, so wäre nicht zu übersehen, dass ähnliche Befunde sich auch anderweitig entwickeln können. Auf, von Hemdkrägen etc. herrührende Streifen am Halse, die, namentlich wenn die Fäulniss den Hals auftreibt, stärker sich entwickeln können, haben wir bereits aufmerksam gemacht. Eine wirkliche Strangmarke ohne Strangulation kann aber auch dadurch entstehen, dass der Betreffende sich absichtlich einen schweren Gegenstand um den Hals gebunden hatte.
So bekamen wir einen Mann zur Obduction, der wenige Tage, nachdem er sich ertränkt hatte, aus der Donau gezogen worden war. An seinem Halse hing an einem doppelten dünnen Strick ein mehrere Kilo schwerer Ziegelstein und ersterem entsprach eine scharf markirte doppelte Strangfurche, die einen gleichen Verlauf zeigte, wie man ihn bei Erhängten zu sehen pflegt. Würde sich die Schlinge im Wasser gelöst haben, so hätte der Befund der Strangmarke am Halse den Verdacht erregen können, dass der Betreffende durch einen Anderen strangulirt und dann in’s Wasser geworfen worden sei. In der That [S. 584]kam uns seitdem ein solcher Fall vor, betreffend einen 40jährigen Israeliten, dessen Leiche 7 Tage nach seinem Verschwinden mit einer losen Strickschlinge um den Hals aus der Donau gezogen worden war. Es bestand Verdacht auf Mord, weil der Mann angeblich Schulden eincassiren gegangen war; anderseits wurde constatirt, dass derselbe wiederholt Selbstmordgedanken geäussert habe. Am Halse der ziemlich faulen Leiche fand sich eine deutliche Strangrinne zwischen Kehlkopf und Zungenbein, wie bei Erhängten hinter den Ohren gegen die Mitte des Nackens verlaufend, ohne Verletzungen darunter. Auch sonst äusserlich keine Verletzung. Dagegen waren die Schädeldecken stark blutig imbibirt und an der vorderen Partie bis zur Mitte der Pfeilnaht deutlich suffundirt. Sonst keine innerliche Verletzung. Kyphoscoliosis, Schwielen in den Lungenspitzen, Herzhypertrophie und Cholelithiasis. Offenbar hatte der kranke Mann einen Selbstmord begangen und der am Strick befestigt gewesene Stein hatte sich abgelöst. Die Suffusion an der Stirnpartie des Schädels war durch den Sturz in’s Wasser leicht erklärlich. In der Wiener med. Wochenschr., 1862, Nr. 33 und 34, bringt Keckeis einen Fall, in welchem ein Ertrunkener in der Weise aus einem Brunnen herausgebracht wurde, dass man ihm die Kette des Brunneneimers um den Hals band und ihn dann mit der Winde heraufzog, worauf allerdings eine sehr ausgeprägte Strangfurche am Halse der Leiche gefunden worden ist.
Bei der Beantwortung der Frage, wie lange eine Leiche im Wasser gelegen sei, wird, wenn es sich um eine noch frische Leiche handelt, vorzugsweise das oben erwähnte Verhalten der Epidermis an den Händen und Füssen in Erwägung kommen. Am frühesten zeigt sich die Entfärbung, Quellung und Runzelung der Epidermis an den Fingerspitzen, und zwar schon nach 2–3 Stunden, und schreitet dann, indem sie sich auch an der Hohlhand, und zwar zunächst an den Ballen derselben, zeigt, successive vorwärts, so dass gewöhnlich in 2–3 Tagen die gesammte Epidermis der Innenseite der Hand in der erwähnten Weise verändert erscheint. Später quillt die Epidermis, und zwar auch am Handrücken, immer mehr auf, wird schliesslich (in 5–8 Tagen) kreideweiss und ihr Zusammenhang mit dem Corium beginnt sich zu lockern. An den Füssen geschehen die Veränderungen dann langsamer, wenn dieselben bekleidet waren, sonst aber der dickeren Epidermislage wegen meist rascher als an den Händen. Einfrieren hemmt den Eintritt dieser Macerationserscheinungen.
In den weiteren Perioden ist blos der Grad der Fäulniss, respective Maceration für die immer nur approximative, Zeitbestimmung zu verwerthen. So lange die Leiche unter Wasser bleibt, schreitet die Fäulniss nur langsam vorwärts, und zwar desto langsamer, je kälter die Jahreszeit, respective das betreffende Wasser ist. Auch im strömenden Wasser langsamer als im stehenden. Sobald aber die Leiche an die Oberfläche gelangt[378], nimmt die[S. 585] Fäulniss der Leiche einen desto rapideren Fortgang, je weiter die Maceration bereits gediehen war und je wärmer das Wasser sowohl als noch mehr die Luft ist. Dann erst entwickelt sich ungemein rasch die schmutzig-grüne Fäulnissfarbe und ein rapides Fäulnissemphysem, welches im Sommer in wenigen Stunden die Leiche, die, so lange sie unter Wasser war, noch ziemlich gut erhalten sein konnte, „gigantisch“ auftreibt und zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Auftreibung und Missfärbung betrifft vorzugsweise das Gesicht, den Hals, den oberen Theil des Brustkorbes und die äusseren Genitalien, besonders den Hodensack, wegen der lockeren Beschaffenheit des Unterhaut- und intermusculären Bindegewebes.
Die Veränderungen, denen die Leiche verfällt, wenn sie längere Zeit unter Wasser bleibt, bestehen zunächst in einem Fortschreiten der äusseren Macerationserscheinungen. Der Zusammenhang sowohl der gequollenen und ausgebleichten Epidermis der Hände und Füsse, als auch derjenigen am übrigen Körper wird mit der Cutis immer mehr gelockert, so dass später schon geringe Gewalten, z. B. die des strömenden Wassers, genügen, um grosse Partien der Epidermis sammt den Epidermoidalgebilden abzustreifen. Frühzeitig pflegen die Kopfhaare auszugehen, ebenso handschuhartig die Epidermis der Hände und Füsse sammt den Nägeln. Das Abgehen der Haare erfolgt nicht gleichförmig, sondern zuerst an den gewölbtesten und daher am meisten exponirten Partien[S. 586] des Kopfes, so dass man z. B. häufig an den Schläfen und am Hinterkopf Haare findet, während der übrige Schädel kahl ist, so dass ein kahlköpfig gewesenes Individuum vorzuliegen scheint; doch sind noch die Haarfollikel zu erkennen, die der Cutis ein wie mit Nadeln zerstochenes Aussehen verleihen. Auch finden sich häufig, trotz des Abganges der Epidermis, noch einzelne Haare in ihren Follikeln steckend.[379] Der Abgang der Epidermis sammt den Nägeln an den Händen und Füssen kann zu Täuschungen in Bezug des Standes des Individuums Veranlassung geben, da die blossliegende Cutis den Händen und Füssen ein zartes, wohlgepflegtes Aussehen verleiht und die blossliegenden Nagelbetten, die sogar eine Lunula zeigen, für schön gepflegte Nägel imponiren können. Längere Zeit im Wasser gelegene Leichen sind gewöhnlich mit „Schlamm“ überzogen, der häufig ziemlich fest adhärirt. Die nähere Untersuchung ergab jedoch, dass dieser „Schlamm“ wenigstens an den aus unseren Gewässern stammenden Leichen kein eigentlicher Schlamm, sondern ein sehr dichter, im collabirten und nicht mit wirklichem Schlamm verunreinigten Zustande wie nasse Watte aussehender Rasen fädiger Algen (nach Haberda Phycomyceten oder Algenpilze) ist, die, wie angestellte Versuche ergaben, in fliessendem Wasser sich mit Vorliebe auf Leichen und Leichentheilen ansetzen und eine sehr rege Wucherung zeigen. Vielleicht sind es dieselben Algen (Leptomites lacteus, Oscillaria alba), welche in stark mit organischen Substanzen, insbesondere mit den Abgängen von Zuckerfabriken, Bierbrauereien etc. verunreinigten Gewässern sich mitunter massenhaft entwickeln und sanitäre Uebelstände bedingen können (Eulenburg, Gesundheitswesen. II, pag. 1124). An einer in fliessendes Hochquellenwasser gelegten frischen Leiche eines Neugeborenen konnten wir schon am 8. Tage stellenweise einen feinen Algenflaum bemerken und schon am 11. zerstreute, bis nussgrosse Ballen eines pinselförmig angeordneten Algenrasens, der rapid wucherte, so dass schon am 18. Tage die Leiche in Pelz von Algen gehüllt war, welcher nach vollendeter Fructification (am 28. bis 30. Tage) collabirte, worauf nach etwa 8 Tagen eine neuerliche Wucherung erfolgte, die denselben Verlauf nahm, wie die frühere. Es dürfte somit diese Algenwucherung bei Zeitbestimmungen nicht unbeachtet bleiben. Ausser diesen fädigen Algen siedeln sich nach einigen (10–12) Tagen eigenthümliche Schleimpilze (Lycogale) an, welche als punktförmige prachtvoll anilinblau oder zinnoberroth gefärbte Flecken auftreten, die bis Linsengrösse erreichen können. Gleichzeitig mit den erwähnten Vorgängen geht ein Auswässerungsprocess der Cutis einher, so dass letztere an eben aus dem Wasser gezogenen Leichen blass fleischroth, wie frisch erscheint, [S. 587] eine Farbe, die später immer bleicher wird, aber allerdings an der Luft bald in die gewöhnliche schmutzig-grüne Fäulnissfarbe übergeht.
Im Innern des Körpers kommt es zunächst zu Imbibitions- und Transsudationsvorgängen, so dass im Verlaufe der ersten Wochen die Organe in ähnlicher Weise blutig imbibirt erscheinen und die serösen Säcke blutige Transsudate enthalten, wie wir dieses bei macerirt geborenen Früchten sehen. Später beginnt auch hier, indem das Blut theils durch die der Epidermis beraubte Cutis, theils durch die frühzeitig entstehenden Continuitätstrennungen der Haut austritt, eine Auswässerung und zugleich ein Zerfall durch Maceration und Fäulniss und schliesslich bleibt, nachdem auch die Cutis der Colliquation verfallen, ausser den Knochen und den sehnigen Gebilden, Muskelscheiden etc. nur das subcutane und anderweitige Fett, welches, indem es sich in Fettsäuren umwandelt, die sogenannte Adipocire oder das Leichenwachs darstellt, auf welches wir später noch zurückkommen werden.
Ueber die Erscheinungen bei vorläufig oder definitiv vom Erstickungstode Geretteten ist wenig bekannt. Viele sterben, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, nach kurzer Zeit, bei Anderen kehrt das Bewusstsein vorübergehend, mehr weniger vollständig zurück, sie sterben aber meist im Laufe des ersten Tages unter Erscheinungen des Lungenödems. Nachträglich können bronchitische oder pneumonische Processe eintreten, besonders wenn Schmutzflüssigkeiten aspirirt wurden. Dass auch epileptische Symptome und retroactive Amnesie sich einstellen können, wie bei wiederbelebten Strangulirten (s. pag. 570), beweist ein von Knopf (Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1894, pag. 625) mitgetheilter Fall. Gelegenheitlich kommen auch die Folgen des Schreckes und die Kältewirkung in Betracht. In einem von uns obducirten Falle wurde eine Lungentuberculose von einem 9 Monate vor dem Tode erfolgten Sturz in eine Senkgrube abgeleitet, und in einem anderen von gleicher Ursache der einige Tage darnach an Pneumonie und Meningitis eingetretene Tod eines älteren Mannes. In beiden Fällen konnte nur ein unbestimmtes Gutachten abgegeben werden. Am häufigsten kommt es vor, dass Neugeborene aus Aborten oder Canälen noch lebend herausgezogen werden und an pneumonischen Processen erkranken oder sterben. Der Nachweis des causalen Zusammenhanges ist auch in diesen Fällen nicht immer leicht, da bekanntlich bronchitische und pneumonische Processe gerade bei Neugeborenen sich leicht und häufig anderweitig entwickeln. Bei einem 9 Tage nach dem Sturz in den Abort gestorbenen Neugeborenen ergab die Obduction eiterige Mediastinitis anterior, Pleuritis, Pericarditis, Peritonitis superior und Bronchopneumonie. Der ursächliche Zusammenhang dieser Processe mit der Infection durch Abortstoffe konnte nicht bezweifelt werden, umsoweniger, als in der von der Lungenschnittfläche abgestreiften Flüssigkeit Steinzellen und andere Pflanzentheilchen mikroskopisch nachgewiesen wurden. — Die Resorption grösserer Mengen von Wasser von den Lungen aus (s. pag. 576) kann wohl für sich allein als irrelevant betrachtet werden.
[S. 588]
Von diesen wollen wir nur die, durch Verschluss der Respirationsöffnungen, ferner jene durch Verstopfung der Respirationswege durch fremde Körper und die Erstickung durch Behinderung der Excursionen des Thorax erwähnen.
Die Erstickung durch Verschluss der Respirationsöffnungen kann besonders bei kleinen Kindern vorkommen und entweder durch Zuhalten des Mundes und der Nase mit der Hand oder mit anderen, besonders weichen Gegenständen geschehen. Im ersteren Falle können Druckspuren zurückbleiben, deren Anordnung und etwa den Fingernägeln entsprechende Form allein im Stande wäre, über die Erstickungsursache Aufschluss zu geben. Bei Neugeborenen ist zu beachten, dass solche Spuren auch von Selbsthilfe der Gebärenden, d. h. davon herrühren können, dass die letzteren mit den Fingern den Kopf oder Körper des Kindes zu entwickeln bestrebt waren. Symmetrische und ausschliesslich um die Respirationsöffnungen gelagerte Druckspuren kommen auf diese Weise allerdings nicht zu Stande. Hüten wird sich der Gerichtsarzt, die Vertrocknung der Lippen, die als Leichenerscheinung bei kleinen Kindern ganz gewöhnlich vorkommt, auf einen auf diese Theile stattgefundenen Druck zu beziehen. Die Erstickung durch Verschluss der Respirationsöffnungen mit weichen Gegenständen, Tüchern, Betten u. dergl. kann sowohl absichtlich unternommen werden, als zufällig vorkommen dadurch, dass kleine Kinder unter Betten etc. gerathen oder auf das Gesicht zu liegen kommen. Da solche Vorgänge meist keine äusseren Spuren zurücklassen, so ist der Gerichtsarzt auch nicht in der Lage, dieselben aus dem Sectionsresultat zu erkennen, und er wird sich damit begnügen, zu erklären, dass der Tod an Erstickung erfolgt sei und dass keine innere Ursache derselben nachgewiesen werden konnte, worauf er nicht unterlassen wird, die Umstände des Falles zu verwerthen.
Die Erstickung durch Verstopfung der Luftwege durch fremde Körper ist meistens ein zufälliges Ereigniss. Auf diese Weise ausgeführter Selbstmord ist nur ganz ausnahmsweise beobachtet worden. Mehrere solche mit Strangulation combinirte Fälle haben wir oben mitgetheilt. Handyside (Schmidt’s Jahrb. 1843, XXXVIII, 232) berichtet über einen Selbstmord durch Ausstopfen des Rachens mit Baumwolle, Wosidlo (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., I, 293) über einen gleichen Fall, in welchem Heu eingestopft wurde, und eine Reihe sehr interessanter anderer Fälle, worunter auch ein Selbstmord durch einen in den Oesophagus eingezwängten Schlüssel, findet sich in Schmidt’s Jahrb. 1845, LXVIII, pag. 83 u. s. f. In unserer Sammlung bewahren wir ein Convolut von Halsschleifen (Cravatten), die ein Bursche in selbstmörderischer Absicht sich in den Rachen gestopft, dann aber verschluckt hatte und die dann per anum abgegangen waren.
[S. 589]
Noch seltener kommt die Tödtung Anderer durch Verstopfung der Luftwege zur Beobachtung und dann fast ausschliesslich nur bei neugeborenen Kindern. Wir selbst hatten ein Gutachten abzugeben über die Todesart eines sechsjährigen Knaben, in dessen Rachen zwei Stücke Brotkrume gefunden wurden, wobei der Verdacht bestand, dass der Stiefgrossvater dieselben gewaltsam dem Knaben eingestopft und ihn dadurch getödtet habe. Da ein zufälliges Steckenbleiben der Brotkrume im Rachen nicht ausgeschlossen werden konnte, blieb der Fall unentschieden, obgleich die Umstände sehr verdächtig waren.[380] Ferner obducirten wir die Leiche eines etwa sechsmonatlichen Kindes, welches im Prater mit durch Semmelkrume vollkommen ausgestopfter Mund- und Rachenhöhle todt aufgefunden worden war. Der Mund war weit geöffnet und die Backen so ausgestopft, dass schon das äussere Aussehen die absichtliche Ausstopfung erkennen liess.
Zufällig können solche Erstickungen erfolgen beim Steckenbleiben grosser Bissen im Schlund. Dies kann geschehen bei Kindern, bei Berauschten, Blödsinnigen u. s. w., seltener bei vollsinnigen Personen. Derartige Fälle gibt es eine grosse Menge und kommen uns solche jedes Jahr mehrmals vor. Namentlich sind es grosse sehnige Fleischstücke, die ihrer Grösse wegen den Schlund nicht passiven können, sich dann auf den Kehlkopfeingang legen und selbst in diesen hineinragend gefunden werden. In anderen Fällen sind es Substanzen, die während des Erbrechens in die Luftröhre geriethen, beziehungsweise aspirirt wurden. Auch dieses Vorkommniss betrifft vorzugsweise Säuglinge, die bekanntlich leicht erbrechen und dann, namentlich wenn das Erbrechen während des Schlafes erfolgt, die erbrochenen Substanzen leicht in die Luftwege bekommen und ersticken.
An gleicher Todesart sterben nicht selten schwer Betrunkene, ebenso anderweitig Bewusstlose, bei welchen einestheils die mit dem bewusstlosen Zustand verbundene Hilflosigkeit, anderseits das Darniederliegen der Reflexe das Eindringen der erwähnten Substanzen in die Luftwege erleichtern kann. Hier muss jedoch bemerkt werden, dass nicht in allen Fällen, in welchen Mageninhalt in den Luftwegen gefunden wird, davon der Tod abgeleitet werden darf; denn einestheils konnte erst während einer, durch eine andere Todesursache gesetzten Agone Erbrechen und Aspiration des Erbrochenen erfolgt, anderseits konnte der Mageninhalt erst an der Leiche theils durch Manipulationen mit derselben oder durch günstige Lage oder durch den Druck der im Unterleibe sich entwickelnden Fäulnissgase in den Rachen und von da aus in die Luftwege gelangt sein.
Auch andere Körper können die Luftwege obturiren, so z. B. zufällig hineingerathene Bohnen, Münzen u. dergl. Solche Fälle betreffen fast ausnahmslos Kinder und haben kaum ein forensisches Interesse. Wir hatten eine Frau zu obduciren, welche eines Morgens todt im [S. 590]Bette gefunden worden war. Die Section ergab Erstickung und als Ursache derselben ein falsches Gebiss, welches im Kehlkopf steckte und in der Stimmritze fest eingekeilt, somit nicht etwa, wie dieses häufig vorkommt, erst postmortal zufällig nach hinten gefallen war.
Als eine sehr häufige Ursache des plötzlichen Todes von Säuglingen ist noch die Verstopfung der Luftwege durch bronchitischen Schleim zu erwähnen. Es werden uns ungemein häufig Kinder zur Obduction übergeben, welche plötzlich meist unter „Fraisen“ gestorben waren, ohne ausser Husten irgend welche krankhafte Erscheinungen während des Lebens geboten zu haben und deren Obduction ausser den Zeichen der Erstickung, insbesondere, meist zahlreichen, Ecchymosen an den Lungen und am Herzen, blos eine Ansammlung von Bronchialsecret in den Bronchien und die sonstigen Merkmale der Bronchitis ergibt. Die grosse Geneigtheit der Säuglinge zu katarrhalischen Processen einerseits und die Hilflosigkeit (Muskelschwäche) der Kinder anderseits erklärt die Häufigkeit dieser Vorkommnisse. Grawitz (Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 22) fand bei zwei plötzlich verstorbenen Säuglingen eine vergrösserte Thymusdrüse und ist geneigt, in einer plötzlichen Anschwellung derselben und consecutivem Verschluss der Luftwege die Todesursache zu sehen. Nordmann (Schweizer Correspondenzbl. 1889, XIX) erklärt sich auf diese Weise den Tod eines jungen Mannes mit persistenter Thymusdrüse, der plötzlich nach einem Seebade gestorben war. A. Paltauf (Ueber die Beziehungen der Thymusdrüse zu plötzlichen Todesfällen. Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 46 und 1890, Nr. 9) dagegen führt auf Grund zahlreicher Beobachtungen aus, dass sich die Annahme eines Verschlusses der Luftwege durch eine abnorm grosse Thymusdrüse nicht rechtfertigen lasse, dass aber, wie auch Nordmann andeutet, die sogenannte „lymphatische Constitution“, die sich ausser durch Vergrösserung (Persistenz) der Thymusdrüse auch durch Schwellung der übrigen lymphatischen Apparate kundgibt, ein zum plötzlichen Tode disponirendes Moment bildet, der bei Hinzutritt von Gelegenheitsursachen (febrilen Erkrankungen, körperliche Anstrengung, Affect u. dergl.) wahrscheinlich durch „Herzlähmung“ erfolgt. Seydel (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, V, pag. 55) meint, dass bei rückwärts gestrecktem Halse eine plötzliche Thymusschwellung plötzlichen Tod veranlassen kann, welche Möglichkeit auch Kob (ibidem, VI, pag. 121) zugibt, während Tamassia (Atti del Istituto Veneto. 1894) der Meinung der meisten Kinderärzte sich anschliesst, dass das sogenannte Asthma thymicum und seine Consequenzen mit der Thymus als solcher nichts zu thun hat, vielmehr eine Neurose ist, die besonders bei rachitischen und lymphatischen Kindern vorkommt. Auch fand er bei seinen Versuchen, dass ein 15–20mal grösseres Gewicht als das der normalen Thymus erforderlich ist, um die Trachea des Neugeborenen in nennenswerthem Grade zu comprimiren. Hierher gehört auch der sogenannte Kropftod, d. h. eine Erstickung durch völligen Verschluss der durch eine Struma comprimirten Trachea, durch acute Schwellung der Trachealschleimhaut oder durch acute Anschwellung [S. 591]des Kropfes selbst, die durch Hyperämie, Entzündung oder Hämorrhagien erfolgen kann (S. Ewald, „Ueber Trachealcompression durch Struma und ihre Folgen“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII. Suppl. pag. 33). — Bei Kindern kann auch der Durchbruch verkäster Bronchialdrüsen in einen Bronchus plötzlichen Erstickungstod veranlassen.
Die Erstickung durch mechanische Behinderung der Excursionsfähigkeit des Thorax kann erfolgen beim Verschüttetwerden und beim Erdrücktwerden aus anderen Ursachen. Beim Verschüttetwerden erfolgt der Tod in der Regel durch mechanische Verletzungen, insbesondere durch Rupturen innerer Organe; er kann jedoch auch nur durch Ersticken eintreten, indem die auf dem Körper (Thorax und Unterleib) lastende Masse die Respirationsbewegungen unmöglich macht. Geschieht letzteres nicht oder nicht vollständig, so kann das verschüttete Individuum desto längere Zeit in der betreffenden Situation aushalten, je poröser die über dem Körper lagernde Masse ist, da durch dieselbe atmosphärische Luft den Respirationsorganen zugeführt wird. Daher konnte A. Berenguier[381] bei seinen Versuchen die in Asche, Mehl u. dergl. eingegrabenen Thiere noch 15 Stunden lang am Leben erhalten. So erklärt sich auch, dass verschüttete Erwachsene, aber auch eingegrabene Kinder noch nach vielen Stunden lebend zu Tage gefördert wurden. Bereits Bohn berichtet von zwei Neugeborenen, die nach der Geburt sogleich verscharrt und nach mehreren Stunden noch lebend ausgegraben wurden. Einen ähnlichen Fall erzählt Maschka, ebenso Bardinet (Schmidt’s Jahrb. 1886, II). In letzterem Falle hatte die Mutter das Kind, welches sie für todt hielt, in ein Tuch eingewickelt und 25 Cm. tief unter die Erde vergraben. Nach 8 Stunden (!) wurde es ausgegraben, zum Leben gebracht und lebte noch 4 Tage.
Besteht die Substanz, mit welcher der Körper bedeckt wurde, aus beweglichen Theilchen, so können dieselben aspirirt werden, besonders mit jenen Respirationsbewegungen, die im bewusstlosen Zustande noch erfolgen. Berenguier konnte in seinen oben angeführten Versuchen die staubförmigen Substanzen zwar im Rachen und im oberen Theile des Oesophagus, niemals aber in der Glottis oder im Magen nachweisen. Dagegen fanden wir bei einem Manne, der beim Einsturz eines Speichers durch mehrere hundert Zollcentner Kornfrucht verschüttet worden war, Kehlkopf und Trachea und deren beide Hauptäste mit Getreidekörnern verstopft und einzelne sogar in den grossen Bronchien der linken Lungenpforte. Da solche Stoffe auch an der Leiche ohne Schwierigkeit in die Mundhöhle gelangen können, so werden wir auf eine erfolgte Aspiration nur dann schliessen, wenn wir dieselben tief in den Luftwegen oder im Magen oder gar, wie Maschka (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLV, pag. 242) einen solchen Fall mittheilt, im Dünndarm finden.
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Erstickung durch Erdrücktwerden kann auch geschehen im Gedränge oder bei Kindern durch den Körper der Mutter oder einer anderen in demselben Bette schlafenden Person. Letztere Todesart ist nur selten durch die Section allein zu constatiren, sondern muss nur aus dem Zusammenhalten der Resultate dieser mit den Umständen des Falles erschlossen werden. Uebrigens wird diese Todesart ungleich häufiger angenommen, als sie wirklich vorkommt, da in den meisten der von uns obducirten Fälle eine natürliche Ursache des unerwarteten Absterbens, insbesondere Bronchitis, nachgewiesen wurde. Fälle, wo die Erstickung durch Auffallen schwerer Lasten (Wägen, Balken, Steine etc.) bewirkt wurde, haben wir wiederholt obducirt. Dass auch gegenüber solchen, in der Regel durch die Umstände klargestellten Fällen Vorsicht geboten ist, beweist eine Mittheilung Blumenstok’s (Maschka’s Handbuch. I, 422), betreffend einen durch Kopfverletzungen umgebrachten Bergmann, auf welchen nachträglich, um den Tod als zufällige Verunglückung hinzustellen, ein 5–6 Centner schwerer Felsblock gewälzt worden war!
Nach Tamassia’s Versuchen (1892) erfolgt der Tod nach blosser Belastung des Thorax, auch wenn dieselbe das Gewicht des Körpers um ½–⅓ übersteigt, erst nach ½–1¾; Stunden, früher, wenn zugleich der Bauch belastet wird, niemals aber plötzlich. Wenn letzteres geschieht, so hat noch eine andere Ursache mitgewirkt.
Die Zeit, wie lange ein Mensch ohne Nahrung auszuhalten vermag, ohne zu sterben, lässt sich nicht genau bestimmen. Alter, früherer Ernährungszustand und der Umstand, ob nur die Nahrung oder gleichzeitig auch das Getränk (Wasser) entzogen wurde, werden von Einfluss sein.
Wie lange neugeborene Kinder ohne Nahrung leben können, lässt sich aus den keineswegs seltenen Fällen von angeborener Atresie des Duodenums und der minder häufigen des Oesophagus schliessen. R. Meier (Klebs, Path. Anat. 165) sah ein Kind mit angeborener Abschnürung des oberen Stückes des Oesophagus vom unteren erst am siebenten Tage sterben. Eine grosse Reihe von Fällen von angeborenem Verschluss des Duodenums hat Hempel (Jahrb. f. Kinderheilkunde. 1873, VI, pag. 381), ebenso Theremin (Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie. 1877, VIII. pag. 34) zusammengestellt. Die Kinder starben durchschnittlich 3–5 Tage nach der Geburt, doch hatte das Leben in einem Falle 12 Tage gedauert. Von zwei von uns obducirten Kindern mit angeborener Verwachsung des Duodenums über dem Diverticulum Vateri lebte das erste einen, das andere 2½ Tage. Auch F. A. Falk fand bei seinen Studien an verhungernden Hunden (Med. Centralbl. 1876, pag. 472), dass neugeborene und junge Thiere ungleich rapider an Gewicht abnehmen und ungleich früher sterben, als ältere Hunde, von denen ein dreijähriger, der auch Wasser erhielt, erst am 61. Tage starb. [S. 593]Ob Greise, von denen schon Hippokrates sagt: „Senes facillime jejunium ferunt“, länger das Hungern ertragen, als Menschen im durchschnittlichen Alter, ist zwar nicht sichergestellt, kann jedoch mit Rücksicht darauf, dass der Stoffwechsel bei alten Leuten ein trägerer ist und dieselben thatsächlich weniger zu ihrer Ernährung brauchen, im Allgemeinen zugegeben werden.
Wie lange Erwachsene durchschnittlich das Hungern vertragen, lässt sich schwer bestimmen. Im Allgemeinen werden 7–8 Tage angenommen (Moleschott). Doch sah Schleifer (Oesterr. Wochenschr. 1843, Nr. 24) einen Gefangenen 17, Casper einen anderen 10 Tage lang hungern, ohne zu sterben, beide hatten jedoch Wasser getrunken. Caussé (Annal. d’hyg. publ. 1876, Nr. 92, pag. 328) erwähnt eines Mädchens, welches 11 Tage nach dem Einsturz eines Hauses lebend ausgegraben wurde. Ein Kind von 4 Monaten, welches sie auf dem Schosse hatte, war am vierten Tage gestorben. Falret und andere Irrenärzte wollen Kranke 40 Tage und länger alle Nahrung verweigern gesehen haben, ohne dass diese dabei zu Grunde gingen (Prager Vierteljahrschr. 1864, LXXXII, pag. 111), dagegen sagt Pellevoisin (ibidem. LXXXIII, pag. 95), dass in solchen Fällen der Tod bei beschränkter Nahrung in 60, bei gänzlicher Abstinenz in 8 Tagen erfolgt. Die bekannten Hungerproductionen Tanner’s und seiner Nachfolger (1886 und 1887) sprechen dafür, dass bei unbehinderter Zufuhr von Wasser der Mensch viel länger ohne Nahrung auszuhalten vermag, als gewöhnlich angenommen wird. Auch Laborde (Wr. med. Presse. 1887, pag. 183) konnte bei einem Hunde, dem er nach Belieben Wasser gab, das Fasten ohne Gefahr bis zum 40. Tage fortführen, während ein anderer Hund, dem zugleich das Getränk entzogen wurde, am 20. Tage verendete. Im Juli 1892 wurden bei Bilin mehrere Bergleute verschüttet und drei davon nach 17 Tagen noch lebend, obgleich sehr entkräftet, aufgefunden und am Leben erhalten. Sie hatten die ganze Zeit nur von Grubenwasser gelebt.
Von den während des Lebens eintretenden Erscheinungen ist zu erwähnen, dass das anfängliche Hungergefühl sehr bald schwindet. Dieses wurde in mehreren der erwähnten Fälle constatirt und auch Ranke[382] beobachtete bei einem an sich selbst angestellten Hungerversuch, dass das Hungergefühl schon am zweiten Tage verschwunden war. Dann erfolgt rascher Schwund des Fettes, Abnehmen der Kräfte, Obstipation, bei Abstinenz von Wasser auch Erhöhung des specifischen Gewichtes des Harns und Verminderung der Menge des Harns, in welchem der Harnstoff sich nicht oder wenigstens nicht constant vermindert, wohl aber die Chloride, welche auch ganz aus dem Harn verschwinden können.[383] Magendrücken, Brechneigung und das Auftreten eines fötiden Geruches[S. 594] aus dem Munde wurde ebenfalls beobachtet, ebenso die Bildung von Ecchymosen in der Conjunctiva und auf der Haut (Schleifer). Liessen sich in diesem Stadium die Individuen zum Essen bewegen, so erfolgte die Erholung sehr rasch und vollständig. In den späteren Stadien stellt sich unter hochgradiger Zunahme der Schwäche Somnolenz und Delirium ein und darauf der Tod (O. Schultze).
Die Leichen solcher Individuen faulen schnell (Recklinghausen), sind hochgradig abgemagert und anämisch, das Fett auch in den inneren Organen geschwunden (nach Cantalamessa 1893, niemals vollständig), Magen und Darm auffallend verengt, leer. Leber, Milz und Nieren, bei Kindern nach Seydel (1894) auch die Thymus verkleinert, blutarm, das Blut manchmal theerartig eingedickt.
Das Verhungern kommt in foro selten in Frage. Es kann dies geschehen bei Kindesweglegung, bei absichtlicher Verminderung oder vollständiger Entziehung der Nahrung, wie sie sowohl als unvernünftiges und herzloses Züchtigungsmittel, aber auch als grausame Tödtungsart hier und da vorzukommen pflegt[384], und fast immer entweder hilflose Kinder oder Geisteskranke, insbesondere Blödsinnige, betrifft. Viele solche Fälle erweisen sich bei näherer Untersuchung als Uebertreibungen, wie wir denn bereits zweimal Gelegenheit hatten, Kinder zu obduciren, die angeblich an absichtlicher Entziehung der Nahrung gestorben waren, während die Section in dem einen Falle eine käsige Pneumonie, im anderen Syphilis als Todesursache und in beiden Fällen grosse Mengen von fäculentem Darminhalt ergab. Ebenso könnte der nach Stricturen oder Verwachsungen des Oesophagus in Folge Vergiftung mit ätzenden Substanzen eintretende Inanitionstod zur gerichtlichen Verfolgung Veranlassung geben, und Casper berichtet über einen Fall, in welchem an einer Frau eine Inunctionscur in so leichtsinniger Weise durchgeführt wurde, dass Verwachsungen der Kiefer erfolgten und die Patientin schliesslich am Hungertode starb. Der fahrlässige Wundarzt wurde zu Festungsstrafe verurtheilt.
Selbstmord durch Verhungern ist wiederholt von Gefangenen, namentlich aber von Geisteskranken, unternommen, doch nur ausnahmsweise zu Ende geführt worden. Eine forensische Bedeutung kann auch der lange fortgesetzten Enthaltung von Nahrung zukommen, wenn sie als solche oder combinirt mit anderen auffälligen Erscheinungen, wie Ekstase, Stigmatisirung, vorkommt und als Wunder proclamirt wird. Solche Fälle kommen bekanntlich immer wieder von Zeit zu Zeit vor, und die Neuzeit hat ebenfalls solche geliefert. Die Mehrzahl derselben läuft auf Betrug hinaus und letzterer ist durch scharfe Controle als solcher sicherzustellen, welche sich nicht blos auf die heimliche Zusichnahme von Nahrung, sondern auch auf das Verhalten[S. 595] des Körpergewichtes, des Fettpolsters, insbesondere aber der Ausscheidungen (Harn, Koth) zu erstrecken hätte. In einer anderen Reihe von Fällen ist zweifellos gleichzeitig ein neuro-, beziehungsweise psychopathischer Zustand vorhanden, als Theilerscheinung dessen ein geringeres Nahrungsbedürfniss existirt, und in wieder anderen ist ein solcher Zustand mit Betrug combinirt und analog den bekannten Uebertreibungen, sowie der Sucht, Interesse und Aufsehen zu erregen, denen wir bei Hysterischen begegnen.
Durch Einwirkung hoher Temperatur auf den Körper erzeugte Läsionen bezeichnet man als Verbrennung. Dieselbe kann erfolgen durch Flamme, durch heisse Flüssigkeiten, durch heisse Gase und Dämpfe, durch glühende (geschmolzene) oder heisse, feste Körper, durch strahlende Wärme und durch die Wärme, die sich bei gewissen chemischen Zersetzungen entwickelt, wie insbesondere beim Kalklöschen. Die Verbrennung mit heissen Flüssigkeiten und heissen Dämpfen nennt man gewöhnlich Verbrühung.
Den genannten Agentien ähnlich wirken ätzende Flüssigkeiten, z. B. Schwefelsäure, Carbolsäure und Aetzlauge. Dieselben bewirken entweder erythematöse oder eczematöse Dermatitis oder mehr weniger tiefgehende Necrose (meist Coagulationsnecrose) der Haut, ganz ausnahmsweise Blasenbildung (Zillner nach Carbolsäureverätzung, Wiener med. Wochenschr. 1879, Nr. 47), niemals Verkohlung. Am häufigsten kommen Verätzungen durch Schwefelsäure vor, namentlich des Gesichtes durch absichtliches Schleudern der Flüssigkeit in letzteres aus Rache oder Eifersucht, worauf häufig höchst entstellende Narben, Ectropium der Augenlider und Narben der Cornea zurückbleiben.
Ferner muss bemerkt werden, dass auch mässig, d. h. nicht bis zum Verbrennungseffect gesteigerte Temperaturgrade unter Umständen gesundheitsschädliche Folgen und selbst den Tod herbeiführen können. Speck (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874) berichtet über einen solchen Fall, in welchem ein contractes 12jähriges Mädchen auf Rath eines Quacksalbers in eine frische Schafhaut gewickelt, mit Decken bedeckt und mit frisch gebackenen, heissen Broden umstellt, liegen gelassen und nach 3 Stunden todt gefunden wurde. Speck leitet den Tod von der Erhöhung der Eigenwärme ab und Eulenburg in einer dem Aufsatz zugefügten Anmerkung von einer durch die Erhöhung der Temperatur über die Blutwärme bewirkten Ausdehnung der Blutgase, welche bis zum Freiwerden der letzteren und zur Herzlähmung und Luftembolien führen können.
Hierher gehört auch der sogenannte Hitzschlag (Insolation, Sonnenstich), der theils auf der Erhöhung der Blutwärme durch die Sonnenhitze, theils auf der durch starken Wasserverlust bewirkten [S. 596]Eindickung des Blutes zu beruhen scheint.[385] Andererseits ist es bekannt, dass gewisse Feuerarbeiter bedeutende Temperaturgrade aushalten, so insbesondere die sogenannten Puddler, welche täglich 8 bis 10 Stunden in einer Temperatur von etwa 58 °C. arbeiten (Hirt, „Krankheiten der Arbeiter“. Gasinhalationskrankheiten. 1873, pag. 126). Ueber das Verhalten von Menschen in überhitzten Räumen (55–80 °C.) hat Hartwich (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 239) Versuche angestellt. Dittrich (Zeitschr. f. Heilkunde. 1893, XIV, 4. Heft) hat 12 Fälle von Hitzschlag obducirt und fand stets Ecchymosen am Endo- und Epicard, sowie in den Schädeldecken und an den Lungen, selten an den Schleimhäuten des Halses, fast immer pathologische Veränderungen des Herzens, die er als ein zum Hitzschlag disponirendes Moment ansieht.
In der Chirurgie unterscheidet man bekanntlich vier Verbrennungsgrade, von denen der erste durch Erythem, der zweite durch Blasenbildung, der dritte durch oberflächliche Verschorfung des Corium sich charakterisirt, der vierte alle weiteren Verbrennungseffecte umfasst, deren höchste, nämlich die Verkohlung ganzer Körpertheile oder des ganzen Körpers bis zur Calcinirung von Knochen, in der Chirurgie selten oder gar nicht, wohl aber in der forensischen Praxis vorkommen können.
Die Lebensgefahr nach Verbrennungen hängt weniger von dem Grade der Verbrennung, als von ihrer Ausbreitung ab, und es ist eine anerkannte Thatsache, dass selbst Verbrennungen der höchsten Grade, wenn sie blos auf einen umschriebenen Körpertheil sich beschränken, ungleich weniger gefährlich sind, als Verbrennungen des ersten und zweiten Grades, wenn diese grosse Strecken der Körperoberfläche betreffen. Bezüglich letzterer gilt bei den Chirurgen als Erfahrungssatz, dass, wenn die Verbrennung (Verbrühung) auf mehr als ein Drittel der Hautoberfläche sich erstreckt, der Tod erfolgt. Dieser Satz gilt nur für die überwiegende Zahl der Fälle und ist nicht so zu nehmen, dass bei einer solchen oder noch stärkeren Ausdehnung der Verbrennung eine Heilung absolut unmöglich wäre.
So hat Maschka einen Fall beschrieben, der einen jungen Mann betraf, welcher im hochgradig betrunkenen Zustande mit Branntwein übergossen wurde, den man dann muthwilligerweise anzündete. Die Verbrennung erstreckte sich auf mehr als die Hälfte der Körperoberfläche und doch erfolgte Genesung nach 9 Monaten. Es blieben jedoch ausgebreitete Narben zurück, von denen die am Bauche und in den Leistengegenden sich so contrahirten, dass der Betreffende nur in stark gebeugter Stellung zu gehen vermochte. Anderseits ist es gar nicht selten, dass namentlich kleine Kinder nach Verbrennungen sterben, die verhältnissmässig geringe Hautstrecken, so nur eine Extremität [S. 597]oder den Hals, betroffen haben, und zwar nicht immer erst in Folge der secundären Entzündungs- oder Eiterungsprocesse, sondern kurze Zeit nach erlittener Verbrennung.
Ueber die Ursache des bald nach Verbrennungen oder Verbrühungen der Haut meist unter Delirien und Somnolenz erfolgenden Todes ist viel geschrieben worden und trotzdem ist die Frage noch keineswegs erledigt. Die intensive Reizung der Hautnerven genügt für sich, durch Shock den Tod zu erklären. Andere legen ein grosses Gewicht auf die paralytische Erweiterung der massenhaften Hautgefässe und die consecutive plötzliche Erweiterung des Strombettes, die auch durch Sinken des Blutdruckes sich kundgibt, wodurch Insufficienz der Herzpumpe, Stauung im Kreislauf und der Tod entsteht (Goltz). Auch die hochgradigen Wärmeverluste durch die entblösste Haut werden mit dem Tode in Verbindung gebracht, ferner die aufgehobene Functionsthätigkeit der Haut als Ausscheidungsorgan für gewisse deletäre Stoffe, weiter mit Rücksicht auf die von Schultze und Rollet am erwärmten Objecttisch beobachtete Theilung der Blutkörperchen und das Absterben der Blutkörperchen bei Erwärmung auf 45 °C., diese Veränderungen des Blutes und die dadurch bewirkten Störungen (Ponfick), ferner auch die plötzliche Gerinnung des Blutes in der Haut, sowie des Muskelfibrins (Wärmestarre), endlich auch die rapide und massenhafte Aufnahme septischer Stoffe in den Kreislauf von der wunden Hautfläche aus. Chemisch wurde das Blut nach ausgedehnten Verbrennungen von Hoppe-Seyler und Tappeiner (Virchow’s Jahrb. 1881, I, pag. 237 und 251) untersucht. Ersterer fand in einem Falle 2·4, in einem anderen 5 Procent des gesammten Hämoglobingehaltes in das Serum übergetreten; letzterer in 4 Fällen eine starke Eindickung des Blutes theils durch Wasserverlust, theils durch enorme Transsudation von Blutplasma. Foa (ibidem, pag. 559) will den Tod durch Selbstintoxication mit fibrinogener Substanz erklären, welche in Folge Destruction des Blutes sich bildet. Nach Kijanitzin (Virchow’s Archiv 1893, CXXXI, pag. 436) findet sich nach ausgedehnten Hautverbrennungen wirklich ein Gift im Blut, in den Organen und im Harn, welches darstellbar ist und in seiner Function und Wirkung der Gruppe des Leichenmuscarins, Neurins und Peptotoxins entspricht. Das klinische Bild bei einer acut zum Tode führenden Verbrennung ist nicht constant, indem bald Symptome des Shocks, bald solche prävaliren, die auf localen Hyperämien oder auf Aufnahme pyrogener, vielleicht auch ptomaineartiger Stoffe in den Kreislauf zu beziehen sind. Das Auftreten von Hämaturie (in einem unserer Fälle schon nach 2 Stunden) und Nephritis im acuten Verlauf von Verbrennungen ist sehr constant und wurde besonders von Wertheim[386] experimentell geprüft. Im chronischen Verlauf von Verbrennungen kann der Tod durch Erschöpfung oder durch entzündliche[S. 598] und embolische Processe innerer Organe erfolgen, worunter insbesondere jene der Lungen zu erwähnen sind.
Ueber innere Verbrennungen, und zwar der Respirationswege und des Verdauungscanals hat Severi (Virchow’s Jahrb. 1885, II, 287) Versuche angestellt. Zweimal haben wir bei äusseren Verbrennungen auch solche zweiten Grades in der Mundhöhle und in den oberen Antheilen der Schling- und Respirationswege gefunden, und zwar einmal nach Verbrennung durch Flammen und das andere Mal bei einem Kinde, welches einen Topf mit heissem Wasser auf sich herabgerissen hatte.
Die äusseren Befunde an den Leichen Verbrannter werden von dem Verbrennungsgrade, von der Ursache der Verbrennung und von der Zeit abhängen, die von der Verbrennung bis zum Tode verflossen war.
Wir haben hier nur die acut zum Tode führenden Verbrennungen, und zwar nur die der ersten drei Grade im Auge, da wir auf die höhergradigen Verbrennungen und Verkohlungen später zurückkommen werden. Das durch Verbrennung oder Verbrühung erzeugte Hauterythem ist an der Leiche in der Regel nicht mehr zu erkennen, da es durch Hypostase verschwindet, doch bleibt, wenn der Tod nicht allzuschnell erfolgte, manchmal eine Schwellung der betreffenden Hautpartie, häufiger aber eine kleienförmige Abschilferung der Epidermis an jenen Stellen zurück, wo während des Lebens das Erythem gewesen war. Nach Verbrennungen zweiten Grades finden wir an der Leiche entweder ausgebildete, serumgefüllte Blasen oder dieselben geplatzt und collabirt oder von mehr weniger weiten Strecken der Haut die Epidermis in Fetzen abgelöst und den Rändern der so veränderten Hautpartie meist in geschrumpftem Zustande anhaftend. Von Händen und Füssen lässt sich mitunter die Epidermis sammt den Nägeln wie ein Handschuh abstreifen. Bleibt das Corium, von welchem die Epidermis abgehoben wurde, von letzterer bedeckt, so erscheint es an der Leiche meist feucht und blass, seltener und meist nur an abwärtigen Stellen geröthet. War jedoch eine solche Stelle frei der Luft ausgesetzt, so vertrocknet sie und erscheint nach einiger Zeit als eine leder- oder pergamentartige, hart zu schneidende und beim Anschlagen tönende, in verschiedenen Nuancen gelb, braun bis braunroth gefärbte, Netze durchscheinender Hautgefässe und mitunter Ecchymosen enthaltende Schwarte, somit in gleicher Weise verändert, wie wir dies bei Hautaufschürfungen oder bei auf andere Art von der Epidermis entblössten Stellen beobachten können. Die Verbrennungen dritten Grades sind im frischen Zustande durch die weissgraue, mehr weniger tief gehende Verschorfung sämmtlicher Hautschichten kenntlich, welche wie gekocht oder (nach Einwirkung von Flamme) wie leicht gebraten erscheinen.
Die übrigen äusseren Befunde hängen von der Art der Verbrennung ab. War diese durch Flamme entstanden, so finden wir[S. 599] Verrussung der Haut und Versengung der Haare, eventuell auch der Nägel an den getroffenen Stellen. Beides findet sich bei der Verbrühung mit heissen Flüssigkeiten und heissen Dämpfen nicht, was behufs der Differentialdiagnose zu beachten ist. Die Zerstörung der Haare kann auch bei Verbrennung mit glühenden Körpern, weniger leicht bei solchen mit ätzenden Flüssigkeiten erfolgen. In einzelnen Fällen findet sich die Substanz, welche die Verbrennung veranlasste, der Haut anhaftend. So sahen wir in einem Falle den grössten Theil des Körpers mit einer schwarzen, glänzenden Masse incrustirt, welche aus einem schwarzen Lack bestand, der während des Kochens aus dem Kessel geschleudert wurde und den Mann verbrannt hatte; bei einem mit schwarzem Kaffee verbrühten Kinde wurden zahlreiche Partikel des Kaffeesatzes gefunden, und bei einem Manne, der in eine Grube mit eben gelöschtem Kalk gefallen war, letzterer in verschieden dicker Schicht an der Haut. Die Verbrennungen durch Pulverflamme sind durch Schwärzung der betreffenden Stelle erkennbar, die nicht blos vom Pulverschmauch, sondern auch von eingesprengten Pulverkörnern herrührt.
Die Vertheilung der Verbrennung kann manchmal ebenfalls für die Erkennung der Provenienz derselben verwerthet werden. Geschah die Verbrennung durch Flamme, so lässt sich häufig erkennen, dass die Verbrennung von unten nach aufwärts ihren Gang genommen hatte, wie dies namentlich bei Kindern und Frauen, deren Kleider brennend wurden, begreiflich ist. Hier ist die Verbreitung mitunter schwimmhosenartig. Bei Verbrühungen, wenn diese im bekleideten Zustande geschahen, bleiben die von den Kleidern bedeckten Stellen entweder verschont oder zeigen geringe Verletzungsgrade, auch geht die Verbrühung häufig von oben nach abwärts, ausser es wäre das Individuum in eine heisse Flüssigkeit hineingefallen und nicht, wie gewöhnlich, blos damit begossen worden. Eng anliegende Kleidungsstücke bilden auch gegenüber der Flamme einigen Schutz, weshalb Verbrennung durch Fangen der Kleider beim männlichen Geschlecht ungleich seltener ist, als beim weiblichen, bei welchem das Abstehen der Kleider vom Leibe, besonders vom Unterkörper, das Aufgehen derselben in Flammen wesentlich erleichtert. Noch mehr erkennt man den Schutz eng anliegender Kleidungsstücke daraus, dass man sehr häufig entsprechend der Taille oder den Strumpfbändern Streifen wohlerhaltener Haut trifft, während die Umgebung oft die höchsten Verbrennungsgrade zeigt. Verbrennungen durch strahlende Wärme, durch heisse Luft oder explodirende Gase sind ebenfalls meist auf die unbedeckt getragenen Körpertheile beschränkt, doch kann auch die Wirkung durch diese durchgehen, sowie es z. B. bei Explosionen schlagender Wetter, wenn auch nur selten, geschieht, dass die Kleider selbst zu brennen anfangen.[387]
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Eine Verwechslung der beschriebenen, durch Verbrennung veranlassten Veränderungen der Haut mit anderen Processen ist bei einiger Aufmerksamkeit und Beachtung des eben Gesagten in der Regel zu vermeiden. Dass jene Ablösungen und blasigen Abhebungen der Epidermis, wie sie bei bereits weit gediehener Fäulniss vorkommen, für Verbrennungseffect gehalten würden, wäre ein unverzeihlicher Irrthum, ist aber in einem uns bekannten, ein neugeborenes, im Sommer aus einem Düngerhaufen (!) gezogenes Kind betreffenden Fall thatsächlich vorgekommen. Am ehesten wäre eine Verwechslung mit mit Hautröthung oder Blasenbildung einhergehenden Hautkrankheiten möglich. So beschrieben Casper-Liman (l. c. 320) und Friedberg (Gerichtsärztl. Gutachten. 1875, pag. 296) Fälle, wo durch Hebammen veranlasste Verbrühungen von Kindern als „Blätterrose“ erklärt worden waren und die Erstgenannten auch einen Fall, in welchem umgekehrt ein Hautausschlag für Verbrennung genommen wurde. In einem unserer Fälle stellte sich die angebliche Verbrennung eines Kindes im Bade als Pemphigus heraus, in einem anderen war Verbrennung diagnosticirt worden, während blos Decubitus vorlag und in einem dritten, in welchem die Amme dem Säugling den Mund mit heissem Camillenthee verbrüht haben sollte, fand sich ausgebreitete Rachendiphtherie. Ausgebreitete postmortale, theils blasige, theils fetzige Ablösungen der Epidermis können bei im Ausbruchsstadium acuter Exantheme Verstorbenen vorkommen und dann eine Verbrühung vortäuschen. Wir haben sie fast über den ganzen Körper ausgebreitet im Jänner 1886 bei einem kräftigen Manne gesehen, der unwohl und über Kreuzschmerzen klagend nach Hause gekommen und nach zwei Tagen unter auffallender Hautröthung gestorben war. Vor dem Tode hatte man keine Epidermisabhebungen beobachtet, der Todtenbeschauer fand sie jedoch bereits vor und bezeichnete den Befund als eine „seltene Form von Hautbrand“. Auch haben wir noch am Obductionstisch denselben für eine Verbrühung durch heissen Dampf oder heisse Umschläge gehalten, welche Annahme sich aber durch die weiteren Erhebungen als ganz unhaltbar erwies. Drei Monate darnach hatten wir Gelegenheit, einen ganz gleichen Befund bei einem Säugling zu beobachten, der unter Variolaverdacht gestorben war. Auch ist uns ein Fall vorgekommen, wo ein durch Petroleumumschläge veranlasstes Ekzem für Verbrennung gehalten wurde.
Der innere Befund ist in ganz acuten Fällen meist negativ. Franz fand bei 7 durch schlagende Wetter umgekommenen Bergleuten Ecchymosen am Herzen, doch dürfte bei diesen, wie Franz selbst zugiebt, die nächste Todesursache nicht Verbrennung, sondern Erstickung in irrespirablen Gasen gewesen sein. Dagegen finden sich Ecchymosen unter den serösen Häuten, aber auch auf Schleimhäuten ziemlich häufig bei Individuen, die noch einige Tage gelebt hatten, und ihre Bildung fällt mit der körnigen Degeneration zusammen, die sowohl die Gefässwände, als namentlich die Musculatur und die parenchymatösen Organe rasch ergreift. Von letzteren zeigt die Niere am frühesten sich verändert und bietet das Bild[S. 601] der „trüben Schwellung“. Bei dem oben erwähnten, durch siedenden Lack verbrannten Manne fanden wir sie nebst blutigem Harn, obwohl das Individuum die Verbrennung nur sechs Stunden überlebt hatte. Hyperämien innerer Organe sind nicht constant. Hyperämie der Meningen und Erscheinungen von Hirnödem haben wir wiederholt beobachtet. Das Blut ist fast ausnahmslos geronnen.
Haben die Individuen noch länger gelebt, so finden sich ausser noch weiter vorgeschrittener körniger (fettiger) Degeneration der Organe, namentlich pneumonische Processe häufig, welche theils hypostatischen, theils embolischen Ursprunges sind, aber auch durch bronchitische, selbst croupöse Processe, durch das Einathmen von Rauch und heisser Luft veranlasst werden. In noch weiteren Stadien marastische Erscheinungen. Das zuerst von Curling angegebene Duodenalgeschwür nach Verbrennungen haben wir wiederholt beobachtet. Wir halten dasselbe ebenso wie Klebs (Pathol. Anat. 278) für eine Corrosionserscheinung, die sich aus Ecchymosen bildet, welche an der Duodenalschleimhaut ebenso wie im Magengrunde, nicht blos nach ausgebreiteten Verbrennungen, sondern auch nach anderen mit Ecchymosenbildung einhergehenden Todesarten (Erstickung) häufiger als an anderen Stellen des Verdauungstractes aufzutreten pflegen.
Der Tod durch Verbrennung ist in den bei weitem meisten Fällen ein zufälliger oder wurde durch unabsichtliches Verschulden herbeigeführt. Selbstmord ist selten.
Zwei Fälle von Selbstmord durch Verbrühung, die beide Brauergesellen betrafen, welche sich in den Braukessel gestürzt hatten, theilt Bělohradsky (Prager Zeitschr. f. Heilk. 1880, pag. 47 und 48) mit. Wir haben mehrere einschlägige Fälle beobachtet. Der eine betraf eine 29jährige geisteskranke Frau, die Petroleum in einen Nachttopf gegossen, ihren Unterrock darin eingetaucht, diesen dann angezogen und angezündet hatte; der zweite einen in der Irrenanstalt untergebrachten Geisteskranken, der, nachdem er sich zwei oberflächliche Stiche in den Bauch versetzt hatte, den Kopf in ein Ofenloch hineinsteckte und auf die glühenden Kohlen legte, wodurch bis auf den Knochen dringende Verbrennungen der einen Kopfseite entstanden. Im ersten Fall erfolgte der Tod in 12 Stunden, im zweiten erst nach 12 Tagen. In einem dritten hatte eine junge Branntweinersgattin nach einem Streite mit ihrem Manne ihre Kleider mit Spiritus begossen und diese dann angezündet und in einem vierten wurde ein Mann, wie sich nachträglich herausstellte, ein 72jähriger pensionirter Officier, brennend in einem öffentlichen Pissoir angetroffen, wo er sich mit Petroleum übergossen und dann seine Kleider in Brand gesteckt hatte.
Ebenso selten ist der Mord durch Verbrennen. Ein Gattenmord, begangen durch Begiessen des Gatten mit Petroleum und Anzünden, kam im Winter 1876 in Znaim vor das Schwurgericht und endete mit Verurtheilung; ein anderer durch Anzünden des Bettes, in welchem der betrunkene Mann lag, wurde 1877 in[S. 602] Spandau verhandelt. Eine Reihe ähnlicher Fälle, worunter auch von durch Verbrühung versuchter Tödtung, bringt Taylor (l. c. I, 693 u. ff.). Auch Verbrennung Neugeborener ist vorgekommen.
Häufiger sind Fälle, in denen anderweitig getödtete Personen dem Feuer ausgesetzt wurden, entweder um die Leiche zu zerstören oder um ein zufälliges Verunglücken vorzutäuschen. In solchen Fällen ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, zu sehen, erstens ob die Verbrennung während des Lebens oder erst nach dem Tode entstanden ist und zweitens, ob sich nicht Zeichen einer anderen Todesart nachweisen lassen.
In ersterer Beziehung ist Folgendes zu erwägen: Das Hauterythem, welches den ersten Verbrennungsgrad darstellt, kann an der Leiche nicht entstehen, da es auf reactiver Hyperämie beruht. Finden wir daher ein solches Erythem namentlich in unmittelbarer Nähe höherer Verbrennungseffecte, so ist dies ein Befund, der den Schluss gestattet, dass die Einwirkung der Hitze noch während des Lebens stattgefunden habe. Leider schwindet die Injectionsröthe des ersten Verbrennungsgrades an der Leiche häufig entweder vollständig oder sie verblasst, wie dies auch mit anderen Exanthemen, wenn sie blos auf Hyperämie beruhen, der Fall ist. Im Allgemeinen ist das Erythem desto deutlicher vorhanden, je länger nach der Verbrennung das Individuum noch gelebt hatte. In dem Vorhandensein von „Brandblasen“, die dem zweiten Verbrennungsgrade zukommen, suchte man den absoluten Beweis, dass eine Verbrennung den noch lebenden Körper getroffen habe, indem man behauptete, dass an der Leiche zwar durch Flamme etc. ebenfalls blasige Abhebungen der Epidermis erzeugt werden können, dass aber diese entweder sofort platzen, oder wenn sie stehen bleiben, was nur ausnahmsweise geschieht, nur Gas, niemals aber Serum enthalten. Diese Behauptung wurde einigermassen durch die Versuche von Leuret, Champouillon, Maschka, Chambert und Wright erschüttert, denen es gelang, freilich nur ausnahmsweise, auch an Leichen serumgefüllte Blasen zu erzeugen, und Duvernoy[388] fand grosse Brandblasen am Halse eines Mannes, der sich mit einer Flinte in die Brust geschossen und dessen Kleider dabei Feuer gefangen hatten, obgleich, da Herz und Aorta gänzlich zerrissen und der zwölfte Brustwirbel zerschmettert war, der Tod, respective der Stillstand der Circulation, augenblicklich eingetreten sein musste, ebenso Bernt („Beiträge.“ 1818, I, 122) bei einem Mädchen, welches von ihrem Geliebten durch einen Schuss in’s Herz getödtet worden war. Casper-Liman dagegen (l. c. II, 306) sahen trotz zahlreicher Versuche niemals serumhältige Brandblasen nach dem Tode entstehen und auch uns ist dies niemals gelungen, weshalb der Befund von solchen mit grösster Wahrscheinlichkeit dafür sprechen wird, dass die Verbrennung noch während des Lebens (eventuell in der Agone) des Individuums entstanden ist.
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Die Röthung der Basis der Brandblasen ist für die Diagnose nicht zu verwerthen, da einestheils die während des Lebens bestandene Röthung an der Leiche meist verschwindet oder erblasst, anderseits auch die erst an der Leiche blossgelegte Cutis sich durch die Einwirkung der Luft etwas zu röthen vermag. Auch muss bemerkt werden, dass eben solche bald blässere, bald dunklere „Schwarten“, wie sie nach vitaler Verbrennung sich durch postmortale Vertrocknung bilden, auch nach Verbrennung der Leichenhaut entstehen können.
Sind Verbrennungen dritten Grades vorhanden, so kann die Untersuchung der noch frischen oder vertrockneten Schorfe wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung vorliegender Frage ergeben. Da nämlich, wenn höhere Hitzgrade die Haut treffen, während die Circulation noch im Gange ist, das in den Hautgefässen eben enthaltene Blut sofort durch die Hitze coagulirt, so finden wir die betreffende verschorfte Hautstelle wie injicirt, welche Injection sich, wenn diese Stelle zu einer Schwarte vertrocknet ist, theils makroskopisch durch ein sehr dichtes[389] Netz durchscheinender Gefässe kundgibt, noch mehr aber bei mikroskopischer Untersuchung der betreffenden „Schwarte“ zeigt, während, wenn die Hitze die todte Haut getroffen hatte, ein solches Bild höchstens an abhängigen Stellen, wo sich Senkungshyperämien bilden, zu Stande kommen kann, da sich, wie bekannt, die Hauptcapillaren schon während der Agone und noch mehr nach dem Tode entleeren. Nicht selten finden sich in den aus Verbrennungen 2. und 3. Grades entstandenen „Schwarten“ punktförmige bis hanfkorngrosse Ecchymosen, mitunter in grosser Zahl, deren Befund natürlich den vitalen Ursprung der Läsion beweist.
Die Verbrennungen höherer Grade bis zur Verkohlung geben keine Anhaltspunkte für die Unterscheidung und es ist begreiflich, dass diese, wenn sie einige Ausdehnung besitzen, überhaupt erst nach dem Tode zu Stande kommen können.
Wurde das Individuum früher getödtet und dann erst dem Feuer ausgesetzt, so können sich die Zeichen der anderweitigen Todesart ergeben.
Werden Verletzungen gefunden, so ist nicht zu übersehen, dass dieselben auch nur zufällig entstanden sein konnten, so z. B. beim Brande eines Hauses durch das Einstürzen von Balken, Mauern oder durch Sprung, respective Sturz von einer Höhe, welchen der von den Flammen Bedrohte unternahm. Diese Verletzungen und die sie begleitende Blutaustretung lassen sich mitunter noch bei stark verkohlten Leichen deutlich erkennen.
So fand Zillner (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXVII, 1 u. 2) an der hochgradig verkohlten, am Grunde eines Lichthofes des Ringtheaters gefundenen Leiche eines Mannes noch deutlich mit geronnenem [S. 604]Blut ausgefüllte Fracturen am Schädel, ein starkes Extravasat geronnenen Blutes zwischen den Meningen und auf diesen, sowie in der verkohlten Bauchhöhle und ein blutleeres Herz, so dass mit voller Bestimmtheit geschlossen werden konnte, dass der Mann nicht durch Verbrennung, und, da das spärliche Blut in den inneren Organen kein Kohlenoxyd enthielt, auch nicht durch Erstickung im Rauch, sondern durch Sturz in den Lichthof um’s Leben gekommen ist.
Bei Explosionen können Verletzungen auch durch die Gewalt dieser entstehen. So fand Franz unter 14 Bergleuten, die durch schlagende Wetter verunglückt waren, sieben, welche theils Schädelfracturen, theils Rupturen innerer Organe zeigten. Ferner ist zu beachten, dass die Einwirkung der Flamme auf Knochen, insbesondere auf den Schädel, nicht blos Abblätterungen der äusseren Tafel, sondern auch Sprünge des Knochens und, wie unsere Versuche ergaben, selbst Löcher im Schädeldach erzeugen kann, die theils durch Ausdehnung der Knochen in Folge der Hitze und die Aufblähung der verkohlenden, in den Knochen enthaltenen organischen Substanzen, theils aber auch von innen aus durch die Gewalt der innerhalb der Schädelhöhle entwickelten Dämpfe sich bilden.[390] Anderseits haben wir uns aus Anlass eines Falles, in welchem in einem Hause, wo vor drei Jahren ein Mann verschwunden war, in einem vermauerten Backofen ausser calcinirten Resten von Rippen das calcinirte Stück eines grösseren Röhrenknochens (Schienbeins?) gefunden wurde, an welchem deutliche scharfrandige und glatte Hiebscharten zu sehen waren, durch Versuche überzeugt, dass am feuchten Knochen erzeugte Hiebspalten, Sägeschnitte u. dergl. auch an calcinirten deutlich sich erhalten und leicht als solche zu erkennen sind. Auch Berstungen der Haut können durch die Einwirkung der Hitze zu Stande kommen, besonders in den Gelenksbeugen, wo sie sich auch erst nachträglich bei Streckversuchen leicht bilden. In einem von Curling mitgetheilten Falle, in welchem bei einem aus dem Brandschutte eines Hauses ausgegrabenen Knaben quere Sprünge der Haut in beiden Kniebeugen gefunden wurden, hatte man diese anfangs für Schnittwunden gehalten. Doch zeigte die nähere Besichtigung, worauf auch in anderen solchen Fällen zu achten wäre, dass in der Tiefe die Gefässe und Nerven unverletzt waren und brückenartig von einer Wundwand zur anderen verliefen. Wiederholt fanden wir bei verbrannten Kindern Berstungen der verbrannten Haut an der hinteren Peripherie des Scheideneinganges in der Mittellinie des Dammes, welche beim Auseinanderziehen der Beine sich vergrösserten oder erst dabei sich bildeten. Eine unrichtige Deutung solcher Befunde wäre möglich.
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Dass auch andere als durch mechanische Verletzung herbeigeführte gewaltsame Todesarten noch an verkohlten Leichen erkannt werden können, beweist ein von O. Schüppel veröffentlichter Fall, wo am Halse eines 10jährigen, als verkohlte Leiche aus dem Brandschutt eines Hauses hervorgezogenen Knaben noch deutlich eine Strangfurche erkannt werden konnte, und die Versuche Schüppel’s haben ergeben, dass sich die Strangrinne dann an verkohlten Körpertheilen erhielt, wenn das strangulirende Band (Strick) fest um den letzteren zusammengezogen und daran belassen worden war. Es ist dies eine analoge Erscheinung, wie das Erhaltenbleiben unversehrter Hautstreifen an der Taille von Frauen oder entsprechend den Strumpfbändern, worauf wir oben aufmerksam gemacht haben. Wie sich auch an sehr verkohlten Leichen einzelne, durch Kleider oder anderweitig, z. B. durch Beugung eines Körpertheiles oder durch Aufliegen geschützte Partien des Körpers erhalten können, haben zahlreiche der aus dem unglückseligen Ringtheaterbrande in Wien stammenden Leichen gezeigt, über die von uns in der Wiener med. Wochenschr., 1882, Nr. 2 u. ff. und von E. Zillner (l. c.) berichtet wurde. Diese Untersuchungen haben zugleich die von uns bereits 1876 (Wiener med. Wochenschr. Nr. 7 und 8) vertretene Ansicht bestätigt, dass in vielen solchen Fällen die Betreffenden entweder zunächst im Rauch ersticken oder, noch bevor sie in Folge der Verbrennungen sterben, mehr weniger Rauch einathmen, ein Vorgang, der sich an der Leiche durch Verrussung der Respirations-, eventuell auch Schlingwege, vorzugsweise aber durch den Kohlenoxydgehalt des Blutes kundgibt, so dass, was praktisch besonders wichtig, selbst an hochgradig verkohlten Leichen noch erkannt werden kann, dass die Individuen zur Zeit, als der Brand ausbrach, noch lebten, respective Gelegenheit hatten, einige Zeit Rauch einzuathmen. Auch die Leichen der 319 bei dem Grubenbrande in Přibram Verunglückten zeigten wie Křiz (Virchow’s Jahrb. 1892, I, pag. 479) mittheilt, sämmtlich kohlenoxydhältiges Blut. War diese Zeit nur ganz kurz, so ist trotz Flammentod kein Kohlenoxyd im Blute nachzuweisen. Zu bemerken ist, dass auch im ausgetretenen Leichenblut, das einer Rauchatmosphäre ausgesetzt ist, sich das Hämoglobin in Kohlenoxydhämoglobin verwandelt, dass aber, so lange das Blut in unverletzten Abschnitten des Gefässsystemes eingeschlossen ist, eine solche postmortale Veränderung nicht eintritt. Daher fand sich in dem oben erwähnten, von Zillner untersuchten Falle wohl in dem in der Bauchhöhle frei zu Tage liegenden Blutkuchen, nicht aber im Blute der Aorta Kohlenoxydhämoglobin. Die rothe Farbe des Blutes stark verbrannter Leichen beweist aber für sich allein nicht, dass dasselbe Kohlenoxyd enthält, da dieses auch durch die Einwirkung der Hitze allein postmortal eine auffallend rothe Farbe erhalten kann. Man kann dann zinnober- oder ziegelrothe Gerinnsel im Herzen und den grossen Gefässen finden, die keine Spur von CO enthalten. Falk[S. 606] (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. LXII, pag. 281 und 1888, XLIX, pag. 28) fand, dass diese Hellfärbung des Blutes von einer directen physikalischen Wirkung der Hitze auf das Blut herrührt, da sich auch flüssiges Blut beim langsamen Erhitzen im Wasserbad vor dem Eintritte der Coagulation auffallend hellroth färbt. Daher rührt wahrscheinlich auch die auffallend hellrothe Farbe der Muskeln unterhalb gebratener oder verkohlter Stellen.
Ueber die Zeit, welche erforderlich ist, um Verkohlung, beziehungsweise vollständige Verbrennung der Leiche oder einzelner Theile derselben zu bewirken, wurden aus Anlass des Processes gegen den Mörder der Gräfin Görlitz, welcher nach Tödtung dieser Feuer angelegt hatte, von verschiedenen Aerzten Versuche angestellt.[391] Unsere eigenen haben uns überzeugt, dass in einem grösseren, gut ziehenden, mit Holz geheizten Zimmerofen die Leiche eines neugeborenen Kindes oder Säuglings, wenn sie eine Stunde der Flamme und eine weitere der Kohlengluth ausgesetzt blieb, bis auf die calcinirten Knochen verbrannte. Auch bei einzelnen Körpertheilen Erwachsener, wie bei Extremitäten und abgeschnittenen Köpfen, genügte die erwähnte Zeit, um die äusseren Weichtheile zu zerstören und die Knochen zu calciniren. Die Verbrennung ganzer Leichen Erwachsener im gewöhnlichen Feuer ist keineswegs leicht, Beweis dessen, dass aus dem Schutt abgebrannter Häuser in der Regel verkohlte, keineswegs aber vollständig bis auf die calcinirten Knochen verbrannte Leichen herausgezogen werden. Wir wissen, dass bei den Alten mächtige Scheiterhaufen nöthig waren, um die überdies meist in brennbare Substanzen gehüllten Leichen zu verbrennen, und auch Filleau[392], der über eine Hinrichtung durch Feuer berichtet, sagt, dass nach Aussage des Scharfrichters, den er befragte, zwei Klafter Holz und noch mehr Reisig und Stroh erforderlich seien, um einen menschlichen Körper zu zerstören. Endlich haben die Versuche, die man in neuerer Zeit anstellte, um die Leichenverbrennung als Bestattungsmodus einzuführen, gelehrt, dass selbst im Siemens’schen Regenerationsofen mehr als eine Stunde erforderlich ist, um die Leiche zu verbrennen.[393]
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Im gewöhnlichen Feuer verkohlen die Haut und die obersten Schichten der Weichtheile, und diese Verkohlung hält, namentlich am Rumpfe, die Einwirkung der Hitze von den tieferen Organen ab, welche centripetal gebraten werden, und wenn die Hitze andauert, allmälig zusammenschrumpfen, ohne ihre Form zu verlieren. Letztere Thatsache ist am Gehirn bereits früher von Anderen (Günsburg) beobachtet und von uns experimentell geprüft worden, gilt aber auch für andere Organe. So wurde aus dem Schutte einer abgebrannten grossen Kerzenfabrik ein mit verkohlter Musculatur umgebenes männliches Becken und ein über mannskopfgrosser Klumpen verkohlter Weichtheile hervorgezogen. Letzterer erwies sich als aus den Lungen, dem Herzen, dem Magen und der Leber bestehend, welche Organe zwar bedeutend zusammengeschrumpft, aber nur oberflächlich verkohlt, sonst in ihrer Form und groben Structur gut erhalten waren. In einem andern Falle wurde die ganz verkohlte Leiche eines 48jährigen Mannes aus dem Brandschutt eines Hauses gezogen. Die Genitalien waren so geschrumpft, dass sie ein knabenhaftes Aussehen boten. Die Scrotalhaut war geborsten und geschrumpft, die Hoden blossgelegt, kaum haselnussgross. Dieses Verhalten hat sich auch an den Ringtheaterleichen im Grossen bestätigt und ist insofern wichtig, als es selbst noch bei stark verkohlten Leichen vor der Verbrennung bestandene Läsionen zu erkennen gestattet, wie durch den oben erwähnten Fall und durch entsprechende, von Jastrowitz (l. c.) angestellte Thierversuche constatirt ist, dann aber für den Fall, wenn die Altersbestimmung eines so verkohlten Individuums in Frage käme. In unserem Falle stammten die verkohlten Organe von einem erwachsenen Manne, und es wurde auch Niemand ausser ihm vermisst. Wäre dies nicht sichergestellt gewesen und hätte man nicht gleichzeitig das Becken eines erwachsenen Mannes gefunden, so wäre es möglich gewesen, dass man die so stark geschrumpften Organe als einem Kinde von 4–6 Jahren angehörend hätte ansehen können.
Ueber die Frage der Selbstverbrennung, d. h. Selbstentzündung des menschlichen Körpers durch innere Ursachen, worunter insbesondere der Alkoholismus hervorgehoben wurde, sind wohl die Acten geschlossen, trotzdem noch Bertholle (L’Union. 1870, 19) und A. Ogston (Schmidt’s Jahrb. 1870, Nr. 5, pag. 196) die Sache wieder anregten. Letzterer überzeugte sich in einem Falle, dass das in den Ventrikeln gefundene alkoholhältige Serum beim Nahen eines Lichtes Feuer fing. Diese Thatsache mag richtig sein, beweist aber nichts für die Möglichkeit einer Selbstverbrennung. Uebrigens sind unter Umständen auch Darm- und Fäulnissgase brennbar, und man kann insbesondere, wenn man einer hochfaulen Leiche die durch [S. 608]Fäulnissgase aufgetriebene Haut durchsticht, das ausströmende Gas entzünden und ein einige Zeit brennendes Flämmchen erhalten. Bei Säufern dürfte auch der grosse Fettreichthum die Verbrennbarkeit des Körpers erhöhen, wie Booth (Brit. Journ. April 1888, 21) aus Anlass eines von ihm mitgetheilten und abgebildeten Falles von sogenannter Selbstverbrennung hervorhebt.
Verletzungen und Tod durch Blitz bieten nur ein geringes forensisches Interesse. Nach letzterem wurden häufig gar keine oder nur unbedeutende Verletzungen gefunden, in einzelnen Fällen wieder blos Verbrennungen (Contusionen) oder vasoparalytische Veränderungen der Haut, die mitunter in jenen baumartigen Verästelungen sich präsentiren, die man als „Blitzfiguren“ bezeichnet, welche den Eindruck machen, dass der elektrische Funke in der Haut selbst durch seitliche Ausstrahlung sich erschöpft (Fig. 116). Quetschungen und Rupturen innerer Organe wurden wiederholt beobachtet, von Liman sogar eine Herzruptur, ganz ausnahmsweise aber Abreissungen von Gliedern oder ähnliche Verletzungen, während, wie bekannt, Zerreissungen und Spaltungen von Bäumen, die vom Blitze getroffen wurden, sehr gewöhnlich sind. Höchst interessant sind die Versuche B. Richardson’s (Med. Times. 1869, Nr. 985 u. 988) mit einem riesigen Inductionsapparat, welche lehrten, dass je nach der Art, wie die Entladung geschah, die Wirkung des Funkens eine ganz verschiedene war, d. h. in dem einen Falle starke Verbrennungen, im anderen sofortigen Tod veranlasste, während, wenn z. B. der secundäre Draht mit dem [S. 609]primären einfach geladen und dann entladen wurde, der obgleich 29 Zoll lange Funke für die Versuchsthiere sich fast unschädlich erwies.[394] Auch von anderen Beobachtern wird die Vermuthung ausgesprochen, dass es verschiedene Arten von Blitzschlag gebe, je nachdem positive oder negative Elektricität primär oder secundär zur Wirkung gekommen ist. In nicht letalen Fällen wurden kürzer oder länger dauernde Erscheinungen von Hirnerschütterung und diverse Neuropathien, auch Augenaffectionen (Pagenstecher), hysterische Erscheinungen (Charcot, Wiener med. Wochenschr. 1890, Nr. 1–3; Laveran, Med. Centralbl. 1892, pag. 239), sowie Lähmungen (Limbeck, Prager med. Wochenschr. 1891, Nr. 13) beobachtet, abgesehen von den gröberen Verletzungen und Verbrennungen. Für den Moment des Blitzschlages besteht in der Regel Amnesie und die meisten der betäubt Gewordenen geben an, weder den Blitz gesehen, noch den Donner gehört zu haben. Diese Thatsache wurde auch in dem von Heusner (Wiener med. Blätter. 1884, Nr. 40) mitgetheilten Falle constatirt, wo bei einem Wettrennen 20 Personen gleichzeitig vom Blitz getroffen wurden. Vier blieben todt, die übrigen erholten sich binnen wenigen Minuten bis zu einer Stunde, trugen aber der Mehrzahl nach erhebliche Beschädigungen davon, die theils in Verbrennungen und „Blitzfiguren“, bei vielen aber, was bisher nicht beobachtet oder wenigstens nicht beschrieben worden ist, in mehr weniger zahlreichen weissgrau umsäumten Durchlöcherungen der Haut an den Fusssohlen, besonders an den Fusskanten und den entsprechenden Stellen der Fussbekleidung bestanden, die wie die Löcher aussahen, welche der elektrische Funke durch Kartenblätter schlägt. In einem von Kratter (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1891, II, 18) mitgetheilten Falle fanden sich Kupfermünzen, die der vom Blitz Getroffene bei sich trug, zusammengeschmolzen, was für sich allein die Diagnose der Todesart gestattete. Bei Versuchen mit dem Strome eines elektrischen Beleuchtungsetablissements konnte Kratter ähnliche Zusammenschmelzungen erzielen.
Eine forensische Bedeutung könnte der Blitzschlag insoferne erhalten, als der durch ihn bewirkte Tod, beziehungsweise ein anderer Effect, auf andere Ursachen bezogen werden könnte, aber auch das Umgekehrte möglich wäre. Wie Blumenstok bei Besprechung der zweiten Auflage dieses Buches (Wiener med. Presse. 1881, pag. 181) bemerkt, erwähnt schon Fidelis (De relation. med. lib. IV, cap. ult.) eines einschlägigen Falles: „Iter extra urbem simul sodales faciebant; oborta tempestate unum ex his fulmen confecit; hujus propinqui miserium illum a suis sodalibus perditum enectumque fuisse suspicati, jure egerunt, ut digna de eis poena sumeretur; nec antea illi judicio [S. 610]soluti sunt, quam per medicorum relationes constitit, fulmine illum neque aliter fuisse percussum.“ — In Rouen geschah es 1845, dass während eines Gewitters mehrere Gebäude zerstört und einige darin befindliche Menschen getödtet wurden, und von der einen Seite die Zerstörung vom Blitz, von der Assecuranz aber, bei welcher die Gebäude versichert waren, von einem Wirbelwind hergeleitet wurde. Das von Pouillet abgegebene Gutachten schloss sich letzterer Ansicht an („Compt. rend.“ Sept. 1845). — In einem anderen von uns begutachteten Falle war im Juni 1879 während eines heftigen, von Hagelschlag begleiteten Gewitters ein Fensterflügel einer im dritten Stock gelegenen Wohnung so heftig zugeworfen worden, dass der Rahmen brach und sämmtliche Scheiben zertrümmert und weit in das Zimmer hineingeschleudert wurden. Zwei fingerlange, messerklingenartig geformte Glassplitter waren einem 17jährigen Mädchen unter der einen Clavicula in die Brust gedrungen und hatten sofortigen Tod durch innere Verblutung veranlasst. Obgleich ein im Zimmer anwesender Mann in dem Augenblicke, wo das Fenster in Trümmer ging, weder den Blitz gesehen, noch den Donner gehört hatte, so wurde doch von den herbeigeholten Angehörigen eine Tödtung durch Blitzschlag angenommen, ebenso von dem Todtenbeschauer, der auch in diesem Sinne den Todtenschein ausstellte, worauf die Beerdigung erfolgte. Erst nach drei Wochen wurde der Fall durch genauere Erhebungen aufgeklärt, leider aber, da derselbe nicht weiter verfolgt wurde, keine Obduction veranlasst. — Fredet endlich (Annal. d’hygiène publ. 1880, Nr. 21, pag. 247) erwähnt eines Falles, wo die durch den Blitz erzeugten Sugillationen am Vorderhalse eines Mannes jenen ähnlich sahen, wie sie nach Erwürgen vorkommen, und ausserdem hinter dem linken Ohre ein kleines Loch mit Suffusion der Umgebung und Versengung der Haare, somit eine Verletzung gefunden wurde, die eine Schusswunde vortäuschen konnte.
Tödtungen und Verletzungen durch elektrische Ströme, namentlich von elektrischen Leuchtapparaten kommen immer häufiger vor. Biraud (La mort et les accidents causés par les courents électriques de haute tension. Lyon 1892) hat im Ganzen 39 solche Fälle zusammengestellt, wozu seitdem mehrere neue hinzugekommen sind. Solche Unglücksfälle haben sich am häufigsten bei Wechselströmen mit hoher Spannung (Starkstromleitungen) ereignet. Der Tod erfolgt meist plötzlich durch plötzlichen Herz- und Respirationsstillstand, wahrscheinlich centralen Ursprungs. Die Obduction ergibt in der Regel Verbrennungen (Brandblasen) an den Contactstellen ohne sonstige äussere Verletzungen, innerlich wie es scheint in der Mehrzahl der Fälle ausser „Erstickungsbefunden“ keine auffälligen Veränderungen. In einzelnen Fällen wurden innere Hämorrhagien gefunden, so in einem von Kratter (Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 21) mitgetheilten Falle, wo bei dem durch Berührung des blanken Kabelendes einer Wechselstromanlage von 1600–2000 V. Spannung Verunglückten ausser Verbrennungen der Haut ausgebreitete[S. 611] symmetrische Blutaustritte entlang der Wirbelsäule und in der linken Vagusscheide gefunden wurden. Auch bei Thierversuchen fand Kratter solche Blutungen.
Grange (Annal. d’hygiène publ. XIII, pag. 53) berichtet über den Obductionsbefund von zwei Männern, die am 6. August 1882 bei einem grossen Feste im Tuilleriengarten, welcher mit alternativ wirkenden Siemens-Maschinen, respective -Lampen beleuchtet wurde, beim Uebersteigen der Gartenmauer in die in einem Graben liegenden Leitungsdrähte geriethen und sofort todt blieben. An der Leiche fanden sich in dem einen Falle Ecchymosen in der Haut, an den Lungen und am Herzen und ein furchenförmiger Eindruck, der von der linken Wange über den Hals bis zur linken Schulter zog, beim zweiten kleine streifige Verbrennungen an der linken Hand, bei beiden dunkelflüssiges Blut. Bei Versuchen mit einer 16pferdekräftigen, 16 Brush’sche Elemente enthaltenden Maschine fand Grange, dass der nicht unterbrochene Strom gut vertragen wurde, der mit multiplen Interruptionen aber sofort tödtete. Bei allen vier Versuchshunden fanden sich capilläre Hämorrhagien in der Medulla oblongata. Friedinger (Wr. klin. Wochenschr. 1891, Nr. 48) fand bei einem Manne, der mit durchnässten Kleidern in die Drähte einer mit 50.000 Volt-Ampère Stärke arbeitenden Wechselstrommaschine gerathen und sofort todt geblieben war, lochförmige Verbrennungen der Kleider und lochförmige geschwärzte Durchbohrungen der Haut an verschiedenen Stellen, die wie die von Heubner (s. oben) bei vom Blitz Erschlagenen beobachteten Durchlöcherungen aussahen. — Wir haben im Juni 1892 einen 32jährigen Arbeiter obducirt, der in der „Rheostatenkammer“ eines mit Wechselstrom grosser Spannung arbeitenden Elektricitätswerkes mit Ausschöpfen des in einer Grube angesammelten Wassers beschäftigt war, dicht neben dem Rheostaten stand und plötzlich mit einem gellenden Schrei auf das Gesicht hinfiel und sofort starb. Allem Anscheine nach hatte er sich an den Rheostaten angelehnt. Die Obduction ergab streifige Hautaufschürfungen an beiden Schultern mit gerötheter Umgebung, von denen einzelne deutliche Verschorfung und Andeutung von Blasenbildung zeigten und unter der rechten Achsel zwei stecknadelkopfgrosse Durchlöcherungen der Haut, von ähnlicher Beschaffenheit wie in dem von Friedinger publicirten Falle. Die sehr defecten Kleider waren nicht angebrannt, aber stark durchnässt. Die Spannung des Stromes betrug 2000 Volt. Bekanntlich wurde die Elektricität in Amerika auch zu Hinrichtungen („Elektrocution“) verwendet, worüber von Lecassagne, Biraud und insbesondere von Donald (Virchow’s Jahresb. 1892, I, pag. 480) berichtet wurde. Die Section der Hingerichteten ergab Brandblasen an den Applicationsstellen, dunkelflüssiges Blut und kleine Hämorrhagien im Gehirn und am Herzen, aber keine gröberen Verletzungen. Biraud führt auch einen Fall von Selbstmord durch den elektrischen Strom an. — Vorübergehende Betäubungen durch den elektrischen Strom sind wiederholt vorgekommen, meist ohne weitere Folgen. Mitunter sind Erscheinungen wie nach Blitzschlag zurückgeblieben, auch wurden solche [S. 612]von „traumatischer Neurose“ beobachtet. Andere Mittheilungen über den Gegenstand s. Med. Centralbl. 1887, pag. 596: „Ueber Hinrichtungen durch Elektricität.“ Ebenda. 1889, pag. 315, Virchow’s Jahresb. 1890, pag. 497 und Stricker, „Ueber strömende Elektricität“. Wien 1894, welcher Angaben über die Spannungsgrenzen macht, bei denen der elektrische Strom bei einseitiger Ableitung für den Menschen gefährlich werden kann. Er fand, dass ein Strom von nur 440 Volt Spannung bei Ableitung von einem Pole durch den Menschen zur Erde so heftige Zuckungen auslöst, dass er entschieden widerräth, dieses Experiment zu wiederholen, ausser wenn man, wie er es thut, zur Abschwächung der Wirkung einen Leiter zweiter Ordnung einschaltet. Wohl kommen solche heftige Wirkungen nur bei Ableitung von einem Pole zu einer empfindlichen Stelle vor, doch ist die Gefahr bei zufälliger Berührung einer solchen mit Kabelstellen oder nackten Polen gross, da ja, wie z. B. bei Arbeitern in elektrischen Anlagen, durch nasse Kleider und nassen Boden die Ableitung zur Erde erfolgen kann.
Dass der erwachsene Mensch bei guter Kleidung und unter sonst normalen Verhältnissen die strengsten Kältegrade zu ertragen vermag, lehren die Polarexpeditionen, bei welchen die Theilnehmer durch längere Zeit eine Kälte von 40 bis 50 Grad C. auszustehen hatten, ohne dass Jemand erfror. Dagegen ist es sichergestellt, dass unter gewissen Umständen eine geringere Resistenzfähigkeit gegen Kälte besteht, so dass selbst unbedeutende Kältegrade, und selbst noch über dem Gefrierpunkt stehende Temperaturen den Tod bewirken können.
Von diesen ist zunächst das Alter des Individuums zu erwähnen. Kinder, besonders neugeborene, sind sehr empfindlich gegen Kälte, und es kann bei letzteren, zumal wenn sie, wie gewöhnlich, unbedeckt und mit feuchter Haut liegen bleiben, schon eine den Gefrierpunkt noch nicht erreichende Temperatur der Aussenluft, namentlich wenn diese bewegt ist, eine solche Abkühlung des Körpers veranlassen, dass daraus der Tod erfolgt. Ebenso müssen wir annehmen, dass alte marastische Leute, bei welchen die wärmebildenden Processe bereits geschwächt sind, leichter der Kälte unterliegen werden, während jüngere, kräftige, gut genährte und namentlich einen stärkeren Fettpolster besitzende Individuen hohe Kältegrade mit Leichtigkeit ertragen können. Insbesondere ist es aber Krankheit, sowie Erschöpfung durch Hunger und Anstrengung, welche die Resistenzfähigkeit gegen Kälte herabsetzt und den Erfrierungstod begünstigt. Auch geistig deprimirenden Einflüssen muss eine solche Wirkung zugeschrieben werden, wie die Schicksale der flüchtigen französischen Armee in Russland beweisen.
Dass der Schlaf schon für sich allein die Resistenzfähigkeit gegen Kälte herabsetzt, muss im Allgemeinen zugegeben werden;[S. 613] doch ist der Schlaf, in welchen, wie zahlreiche Fälle lehren, die Individuen vor dem Erfrieren verfallen, kein normaler, sondern theils durch die Ermüdung und den herabgekommenen Zustand, theils aber auch durch die in Folge der Kälte selbst auftretende Somnolenz bedingt.
In welchem Grade ungenügende Bekleidung die Gefahr des Erfrierens erhöht, bedarf keiner weiteren Erörterung. Die schon früher verbreitete Ansicht, dass Alkoholgenuss das Erfrieren begünstigt, hat durch den Nachweis der temperatur-herabsetzenden Wirkung kleiner sowohl als grosser Alkoholdosen eine weitere Stütze gefunden. Am meisten wächst die Gefahr bei Berauschung durch die bekannten Symptome derselben.
Besonders gefährlich ist grosse Kälte bei starkem Wind. In den Karstländern ist in dieser Beziehung die Bora berüchtigt, ebenso die Schneestürme in den Alpenländern.
Ueber die Vorgänge, die nach Einwirkung starker Kälte im Organismus geschehen, sind zahlreiche Versuche angestellt worden.[395] Uebereinstimmend wird vor Allem eine Contraction der Hautgefässe angegeben, welche eine Congestion in den inneren Organen (Herz, Lungen, Gehirn) veranlassen soll, die von den meisten Beobachtern als hauptsächlichste Todesursache angesehen wird. Es scheint uns jedoch, dass die Contraction der Hautgefässe bei Einwirkung der Kälte nur anfangs eintritt, später aber einer Verminderung des Gefässtonus (Gefässlähmung) Platz macht, da die Haut nur anfangs blass, später aber meist livid gefärbt erscheint, wie wir uns im Winter an uns selbst zu überzeugen Gelegenheit haben. Damit stimmen auch die Untersuchungen Horwath’s überein, aus welchen hervorgeht, dass die Kälte vorzugsweise die glatten Muskeln lähme, und zwar schon zu einer Zeit, in welcher die quergestreiften ihre Contractionfähigkeit noch nicht eingebüsst haben. Auch die venösen Stauungen und localen Oedeme, die Beck bei seinen Versuchen sah, lassen sich auf Gefässlähmung zurückführen und ebenso die allgemeinen Erscheinungen, wie schwacher Herzschlag, Präcordialangst, Sinken des Blutdruckes, schwache Respiration, die gesteigerte Kohlensäureausscheidung (Wertheim) und der unter Lethargie auftretende Tod. Pouchet hat ferner gefunden, dass die Blutkörperchen durch die Kälte zerstört werden und spricht sich dahin aus, dass desto weniger Hoffnung auf die Rettung eines Erfrorenen bestehe, je grösser die Menge der Blutkörperchen ist, die durch die Kälte zerstört wurden. Crecchio betont die ertödtende Wirkung der Kälte auf die Nerven, [S. 614]Horwath wieder jene auf die Musculatur, wobei er mit Recht bemerkt, dass man bei der Beurtheilung der Erfrierungseffecte nicht blos die Temperatur des Mediums, sondern auch den Grad der Abkühlung des Körpers im Auge behalten muss, welche gegen die Tiefe zu immer langsamer erfolgt, so dass z. B. ein frisches Froschherz, welches er bis zur Steinhärte gefrieren liess, wieder zu pulsiren anfing, wenn es aufgethaut wurde, während wenn die Musculatur durchwegs auf nur -5° C. abgekühlt wurde, die Contractibilität derselben vollkommen erloschen war.[396]
Bezüglich des Leichenbefundes bei Erfrorenen ist zu erwähnen, dass die festgefrorene Beschaffenheit der Leiche für sich allein nicht beweist, dass Jemand erfroren ist, da eine solche Veränderung überhaupt erst nach dem Tode entstehen kann, möge dieser thatsächlich durch Kälte oder auf eine andere Art eingetreten sein. Ebenso ist ein Auseinandergewichensein der Kopfnähte, wie es Krajewski mehrmals bei Erfrorenen beobachtete, eine Leichenerscheinung, die durch die Ausdehnung des gefrierenden, stark wasserhältigen Gehirns zu Stande kommen kann. Auch können fest gefrorene, besonders periphere Körpertheile durch Manipulationen abbrechen. Bei einem bei strenger Kälte im Freien gefundenen erhängten Selbstmörder fanden wir an der Wurzel des Penis eine quere reactionslose Hautberstung, ebenso einen Querriss der Haut über der rechten Wade. Beide Verletzungen waren offenbar postmortal, letztere beim Stiefelausziehen entstanden. Von einzelnen Beobachtern (Ogston, Blumenstok) werden hellrothe Hautfärbungen (Todtenflecke) als Leichenbefund bei Erfrorenen angegeben. Dieselben sind zweifellos blosse Leichenerscheinungen, da sie auch an in Eiskellern aufbewahrten Leichen sich entwickeln. Ebenso bekommt, wie bekannt, auf Eis aufbewahrtes Fleisch eine rothe Farbe. Nach Falk’s Untersuchungen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLVII, pag. 76 und XLIX, pag. 28) wird die hellrothe Färbung der Todtenflecke durch Diffusion des Sauerstoffes von aussen und Fixirung desselben durch das Hämoglobin bewirkt. In die Tiefe, namentlich bis zum Herzen, dringt deshalb die Röthung nicht. Keferstein (Zeitschr. f. Medicinalb. 1893, pag. 201) legt einen Werth auf fleckige Röthungen an nicht abhängigen Stellen, die seiner Meinung nach dadurch entstehen, dass das Blut an den am meisten der Kälte exponirten Hautpartien erstarrt, durch das noch circulirende warme Blut aber wieder aufgethaut wird.
Von Blosfeld, Ogston, De Crecchio und von Blumenstok (Maschka’s Handb. I, 785) wird die hellrothe Farbe des Blutes in den inneren Organen hervorgehoben, von Anderen aber (Samson-Himelstiern) als nicht constant angegeben; auch Dieberg („Beitrag zur Lehre vom Tode durch Erfrieren“, Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XXXVIII, 1) gibt an, dass ihm bei[S. 615] den 31 von ihm ausgeführten Sectionen Erfrorener eine besonders helle Farbe des Blutes nicht aufgefallen sei, dass aber doch das Blut nicht jene dunkle Farbe besitzt wie Erstickungsblut. Ob dieser Erscheinung eine specifische Wirkung der Kälte auf das Hämoglobin zu Grunde liegt oder ein Zurückbleiben von Sauerstoff im Leichenblute, wie Alb. Schmidt (Med. Centralbl. 1874, pag. 725) meint, mag dahin gestellt bleiben. Wenn, wie Blumenstok angibt, die Färbung nur eine postmortal eintretende ist und auch bei absolut ausgeschlossenem Zutritt von Sauerstoff sich einstellt, dann wäre wohl nur an erstere Wirkung zu denken.
Das Blut ist nach Dieberg fast immer locker geronnen, was sich wohl aus dem protrahirten Verlauf des Todes erklärt, verflüssigt sich aber, wenn es gefroren war, beim Aufthauen. Derselbe Autor fand in allen seinen 31 Fällen von zweifellosem Erfrierungstod eine ungewöhnlich starke Ueberfüllung des Herzens in allen seinen Theilen mit Blut (durchschnittlich 0·293 Kgrm.) und hält daher diese Erscheinung, die er sich aus dem Zurückgedrängt werden des Blutes aus den peripheren Gebieten erklärt, für charakteristisch. In zwei von uns begutachteten Fällen wurden zahlreiche bis bohnengrosse Ecchymosen in der Musculatur des Halses und Brustkorbes gefunden, die schon während des Erfrierens, aber auch erst durch nachträgliche Manipulationen (Wiederbelebungsversuche, Transport) sich gebildet und durch Imbibition beim Aufthauen sich vergrössert haben konnten.
Von Blosfeld und auch von Brücke wurde angegeben, dass die Todtenstarre bei Erfrorenen das Aufthauen überdauern könne, eine Angabe, die von Anderen (Sommer) bestritten wurde. Aufgethaute Leichen faulen sehr rasch, namentlich machen die Imbibitions- und Transsudationsvorgänge rapide Fortschritte. Casper hat darauf aufmerksam gemacht (l. c. 785), dass, wenn man im Schnee oder Eis einen bereits in Verwesung übergegangenen Leichnam findet, daraus mit Sicherheit geschlossen werden könne, dass der Mensch nicht den Erfrierungstod gestorben sei, da in Schnee oder Eis liegende Leichen nicht faulen. Diese Angabe ist im Allgemeinen richtig, es ist jedoch dabei nicht zu übersehen, dass Jemand thatsächlich erfroren, dann beim Eintritt milder Witterung aufgethaut und in Fäulniss übergegangen, hierauf aber wieder verschneit und gefroren sein konnte. Es wären also auch die in der betreffenden Zeit bestandenen Witterungsverhältnisse in Betracht zu ziehen.
In unseren Gegenden kommt der zufällige Erfrierungstod, der in nördlichen Ländern häufig ist, nur selten zur Beobachtung. Von Selbstmord durch Erfrieren ist unseres Wissens kein Fall bekannt. Dagegen ist eine absichtliche Tödtung von hilflosen Individuen durch Aussetzen grosser Kälte möglich, und namentlich bei kleinen Kindern, besonders Neugeborenen, vorgekommen, bei welchen letzteren, wie schon erwähnt, geringe Kältegrade genügen, um den Tod herbeizuführen.
[S. 616]
Oesterr. Strafgesetz, §. 135: Arten des Mordes sind: 1. Meuchelmord, welcher durch Gift oder sonst tückischer Weise geschieht ...
Oesterr. Straf-P.-Ordnung, §. 131: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so sind der Erhebung des Thatbestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit auch zwei Chemiker beizuziehen. Die Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den Chemikern allein in einem hierzu geeigneten Locale vorgenommen werden.
Minist.-Vrdng. vom 2. August 1856, Nr. 145 R. G. Bl.: Sind Objecte zur Vornahme einer chemischen Untersuchung an einen anderen Ort zu versenden, so muss: 1. jedes Object, z. B. ein Organ, Organtheil, ein Giftstoff, Giftträger u. dergl. für sich, von jedem andern gesondert in einem eigenen Gefäss verpackt werden; 2. hierzu sind vor Allem Glas- und Porzellangefässe zu verwenden und durch zweckmässige äussere Verpackung vor Beschädigung zu verwahren; 3. die Gefässe sind mit einem geriebenen Glas- oder gereinigten Korkstöpsel zu verschliessen und die Stöpsel mit Siegellack derart luftdicht zu verkitten, dass weder von dem Inhalte etwas nach aussen, noch von aussen etwas zu dem Inhalte gelangen kann; 4. das zur Verpackung zu verwendende Material muss vollkommen rein sein, damit der zu untersuchende Gegenstand dadurch nicht verunreinigt oder vergiftet werde; 5. die Verpackung hat durch einen Sachverständigen, womöglich durch einen erfahrenen Chemiker zu geschehen.[397]
Oesterr. Straf-G.-Entwurf, §. 237: Wer einem Anderen, um dessen Gesundheit zu beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft. Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus von 5–15 Jahren, und wenn durch diese Handlung der Tod verursacht worden, auf Zuchthaus nicht unter 10 Jahren zu erkennen.
Deutsches Strafgesetz, §. 229: Im Wesentlichen gleichlautend mit §. 237 des österr. St.-G.-Entwurfes.
Deutsche St.-P.-Ordnung, §. 91: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen. Der Richter kann anordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines Arztes stattzufinden habe.
Regulativ vom 13. Februar 1875, §. 22: Bei Verdacht einer Vergiftung beginnt die innere Besichtigung mit der Bauchhöhle. Es ist dabei vor jedem weiteren Eingriff das äussere Aussehen der oberen Baucheingeweide, ihre Lage und Ausdehnung, die Füllung ihrer Gefässe und der etwaige Geruch zu ermitteln. In Bezug auf die Gefässe ist hier, wie an anderen wichtigen Organen, stets festzustellen, ob es sich um Arterien oder Venen handelt, ob auch die kleineren Verzweigungen oder nur Stämme und Stämmchen bis zu einer gewissen Grösse gefüllt sind, und ob die Ausdehnung der Gefässlichtung eine beträchtliche ist oder nicht. Alsdann werden um den untersten Theil der Speiseröhre, dicht über dem Magenmunde, sowie um den Zwölffingerdarm unterhalb der Einmündung des Gallenganges doppelte Ligaturen gelegt und beide Organe zwischen denselben durchgeschnitten. Hierauf wird der Magen mit dem Zwölffingerdarm im Zusammenhange herausgeschnitten, wobei jede Verletzung desselben sorgfältig zu vermeiden ist. Es wird sofort der Inhalt nach Menge, Consistenz, Farbe, Zusammensetzung, Reaction und Geruch bestimmt und in ein reines Gefäss von Glas oder Porzellan gethan.
Sodann wird die Schleimhaut abgespült und ihre Dicke, Farbe, Oberfläche, Zusammenhang untersucht, wobei sowohl dem Zustande der Blutgefässe, als auch [S. 617]dem Gefüge der Schleimhaut besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und jeder Hauptabschnitt für sich zu behandeln ist. Ganz besonders ist festzustellen, ob das vorhandene Blut innerhalb von Gefässen enthalten oder aus den Gefässen ausgetreten ist, ob es frisch oder durch Fäulniss oder Erweichung (Gährung) verändert und in diesem Zustande in benachbarte Gewebe eingedrungen (imbibirt) ist. Ist es ausgetreten, so ist festzustellen, wo es liegt, ob auf der Oberfläche oder im Gewebe, ob es geronnen ist oder nicht u. s. w. Endlich ist besonders Sorgfalt zu verwenden auf die Untersuchung des Zusammenhanges der Oberfläche, namentlich darauf, ob Substanzverluste, Abschürfungen (Erosionen), Geschwüre vorhanden sind. Die Frage, ob gewisse Veränderungen möglicherweise durch den natürlichen Gang der Zersetzung nach dem Tode, namentlich unter Entwicklung gährenden Mageninhaltes, zu Stande gekommen sind, ist stets im Auge zu behalten. — Nach Beendigung dieser Untersuchung werden der Magen und der Zwölffingerdarm in dasselbe Gefäss mit dem Mageninhalt gethan und dem Richter zur weiteren Veranlassung übergeben. In dasselbe Gefäss ist auch später die Speiseröhre, nachdem sie nahe am Halse unterbunden und über der Ligatur durchschnitten worden, nach vorgängiger anatomischer Untersuchung, sowie in dem Falle, dass wenig Mageninhalt vorhanden ist, der Inhalt des Leerdarmes zu bringen. — Endlich sind auch andere Substanzen und Organtheile, wie Blut, Harn, Stücke der Leber, der Nieren u. s. w., aus der Leiche zu entnehmen und dem Richter abgesondert zur weiteren Veranlassung zu übergeben. Der Harn ist für sich in einem Gefässe zu bewahren, Blut nur in dem Falle, dass von einer spectralanalytischen Untersuchung ein besonderer Aufschluss erwartet werden kann. Alle übrigen Theile sind zusammen in ein Gefäss zu bringen. — Jedes dieser Gefässe wird verschlossen, versiegelt und bezeichnet. — Ergibt die Betrachtung mit blossem Auge, dass die Magenschleimhaut durch besondere Trübung und Schwellung ausgezeichnet ist, so ist jedesmal, und zwar möglichst bald, eine mikroskopische Untersuchung der Schleimhaut, namentlich mit Bezug auf das Verhalten der Labdrüsen, zu veranstalten.
Auch in den Fällen, wo sich im Mageninhalt verdächtige Körper, z. B. Bestandtheile von Blättern oder sonstige Pflanzentheile, Ueberreste von thierischer Nahrung finden, sind dieselben einer mikroskopischen Untersuchung zu unterwerfen. — Bei Verdacht einer Trichinenvergiftung hat sich die mikroskopische Untersuchung zunächst mit dem Inhalt des Magens und des oberen Dünndarmes zu beschäftigen, jedoch ist zugleich ein Theil der Musculatur (Zwerchfell, Hals- und Brustmuskeln) zur weiteren Prüfung zurückzulegen.
Unter Giften versteht man Substanzen, welche, schon in verhältnissmässig kleiner Menge in den Organismus gebracht, auf andere als mechanische oder thermische Weise die Gesundheit zu schädigen oder den Tod herbeizuführen vermögen. Diese Begriffsbestimmung lässt zwar vom streng toxicologischen Standpunkte manchen Einwand zu, entspricht jedoch dem allgemeinen Sprachgebrauche und dürfte umsomehr genügen, als es bis jetzt nicht gelungen ist, den Begriff „Gift“ vollkommen genau zu definiren. Ueberdies hat der Wunsch nach einer genauen Präcisirung dieses Begriffes gegenwärtig dadurch an Dringlichkeit verloren, dass die neuen Gesetze (österr. Entw. §. 240 und deutsches St. G. §. 229) der Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit einer genauen Begriffsbestimmung von „Gift“ dadurch Rechnung tragen, dass sie nicht blos die Beibringung von Gift, sondern auch „anderer Stoffe, die die Gesundheit zu zerstören geeignet sind“, im Auge halten und mit Strafe belegen.
Absolute Gifte, d. h. Substanzen, die, in den Organismus gebracht, unter allen Umständen die Gesundheit oder das Leben zu zerstören im Stande wären, gibt es nicht, sondern es können[S. 618] jene Substanzen, die wir als Gifte bezeichnen, immer nur unter bestimmten Bedingungen ihre schädliche Wirkung äussern. Da aber von dem Grade, in welchem diese Bedingungen im concreten Falle gegeben sind, auch der Verlauf der Vergiftung, insbesondere die Intensität derselben und die Schnelligkeit, mit welcher die ersten Symptome auftreten, abhängen, so verdienen dieselben zuerst besprochen zu werden. Diese Bedingungen können liegen 1. in der Substanz selbst, 2. in der Art ihrer Beibringung und 3. in gewissen individuellen Verhältnissen.
Ad 1. Alle Substanzen, die wir als Gifte kennen, werden dies erst von einer gewissen Dosis angefangen. Die kleinste Menge der betreffenden Substanz, die bereits krankmachende Wirkungen äussert, nennen wir die Dosis toxica und jene, die bereits den Tod zu bewirken im Stande ist, die Dosis toxica letalis. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, wie schwierig es ist, beim Menschen sowohl die Dosis toxica als die Dosis letalis für jedes einzelne Gift zu bestimmen, und dass, wenn solche Dosen aufgestellt werden, dieselben sich immer nur auf durchschnittliche Verhältnisse beziehen können. Am leichtesten ist die Bestimmung solcher Dosen bei local wirkenden Giften, schwierig dagegen bei solchen, denen ausschliesslich oder vorzugsweise eine Wirkung zukommt, die erst durch Resorption der toxischen Substanz, also secundär, sich äussert. Da die experimentelle Toxicologie als Gesetz aufstellt, dass die Allgemeinwirkung eines Giftes eine der Grösse des Thieres proportionale Dosis erfordert, weshalb man mit Rücksicht auf die verschiedene Grösse der Thiere bestrebt ist, zu bestimmen, wie viel Gift im Stande ist, 1 Kilo des betreffenden Thieres krank zu machen oder zu tödten, so wäre in gleicher Weise auch beim Menschen vorzugehen und wenigstens zwischen der Dosis toxica bei Erwachsenen und jener bei Kindern eine Unterscheidung zu machen. Da die österreichische sowohl als andere Pharmakopöen die Maximaldosen der heroischen Arzneimittel zusammenstellen (siehe eine solche Zusammenstellung verschiedener Pharmakopöen in Eulenburg’s Real-Encyclop., Art. „Recept“), so empfiehlt es sich, wenn an den Gerichtsarzt die Frage herantritt, ob die Jemandem beigebrachte Menge einer Substanz schon im Stande war, schädliche Wirkungen hervorzubringen, von den bezeichneten Maximaldosen der behördlich autorisirten Pharmakopöen auszugehen.
Dass ausser der Dosis und ausser den allgemein chemischen Eigenschaften der betreffenden Substanz, wovon wir insbesondere den Aggregatzustand und die Löslichkeit, sowie die Reinheit derselben nennen, noch andere in der Substanz selbst gelegene Verhältnisse einen Einfluss auf die Wirkung der letzteren ausüben, zeigen namentlich giftige Pflanzentheile, von denen es bekannt ist, dass ihr Giftgehalt mit dem Alter und selbst mit dem Standort[398][S. 619] der Pflanze wechselt und dass viele derselben im frischen Zustande wirksamer sind als im getrockneten und durch längeres Liegen sogar jede Wirksamkeit verlieren können. Als Beispiel nennen wir die Frondes sabinae, welche frisch so giftig sich erweisen (pag. 235), während alten ausgetrockneten Zweigen, da aus ihnen das giftige ätherische Oel verflüchtigt ist, keine oder nur eine sehr geringe Giftwirkung zukommt. Gleiches gilt von vielen anderen Pflanzen, deren wirksames Princip ein ätherisches Oel bildet, und ebenso von Secale cornutum, das im Laufe der Zeit ebenfalls seine Wirksamkeit verliert. Auch bei giftigen Chemikalien kann im Laufe der Zeit unter gewissen Umständen eine Zersetzung eintreten, die die Giftigkeit derselben wesentlich zu ändern im Stande ist, wovon die Blausäure ein Beispiel liefert, die sich von selbst unter Bildung von ameisensaurem Ammonium zersetzt, ebenso das Cyankalium, welches beim Liegen an der Luft schon durch die Kohlensäure der letzteren zersetzt wird und dessen wässerige Lösung sich besonders bei Zutritt organischer Substanzen sehr bald in eine braune, nach Ammoniak riechende Flüssigkeit verwandelt.
Ad 2. Es kommt sowohl das Vehikel in Betracht, in welchem, als der Weg, auf welchem das Gift beigebracht worden ist.
In ersterer Beziehung lehrt die Erfahrung, dass die Gifte, ausgenommen die flüssigen, selten als solche, d. i. in Substanz, sondern meist in einem Vehikel genommen oder beigebracht werden. Insbesondere sind es verschiedene Getränke und Speisen, die als Vehikel des, namentlich heimlich beizubringenden Giftes dienen müssen. Ein solches Vehikel kann je nach seinen Eigenschaften die Giftwirkung bald befördern, bald verzögern oder abschwächen und selbst ganz aufheben. Ist die Substanz in dem Vehikel löslich, so wird die Wirkung des Giftes desto intensiver und desto früher eintreten, je vollständiger sich das Gift zu lösen vermochte, bevor es einverleibt wurde, was ausser von der Natur (auch Temperatur) des Vehikels, allerdings auch von der Löslichkeit der Substanz und von der Zeit, durch welche diese mit dem Vehikel in Berührung stand, abhängig sein wird. Welcher Einfluss dem erwähnten Umstande zukommt, lehrt am deutlichsten die Arsenikvergiftung. Wurde das bekanntlich schwer lösliche Gift sofort als solches oder Speisen beigemischt gegeben, so können selbst Stunden verfliessen, bevor die Giftwirkung sich zeigt und es prävaliren dann die Symptome der sogenannten Gastroenteritis toxica; wurde jedoch der Arsenik gelöst genommen, so tritt die Wirkung nicht blos ungleich früher auf, sondern sie zeigt nicht selten auch ein anderes Bild, das des sogenannten Arsenicismus cerebrospinalis, in welchem, weil die Resorption sehr rasch erfolgt, weniger die localen, als die secundären Symptome vorwiegen. Ebenso wird die Giftwirkung befördert werden, wenn das Vehikel aus einer an und für sich giftigen Verbindung einen noch giftigeren Körper frei macht. Bekanntlich wird Cyankalium schon durch die schwächsten Säuren[S. 620] zersetzt und entwickelt Blausäure und man kann sich sofort eine wässerige Blausäurelösung darstellen, wenn man grobgestossenes Cyankalium mit diluirter Weinsäure übergiesst (Clark). Der gleiche Vorgang wird aber stattfinden, wenn Jemand Cyankalium in saurem Wein nimmt, in welchem Falle nicht blos eine intensivere Wirkung des Giftes sich zeigt, sondern auch, da gleichzeitig das Kalium durch die Säure gebunden wird, jene aufquellende Wirkung des Kaliumhydroxyds entfällt oder abgeschwächt wird, welche, wenn wässerige Cyankaliumlösung genommen wurde, sich an der Magenschleimhaut gewöhnlich in auffallender Weise zu äussern pflegt.[399]
Eine Abschwächung, beziehungsweise Verzögerung der Giftwirkung kann durch das Vehikel zunächst insoferne veranlasst werden, als dasselbe das Gift diluirt, vertheilt oder einhüllt, und es wird sich dies desto mehr bemerkbar machen, je grösser die Menge des Vehikels war, in welchem das Gift genommen wurde. Es kann jedoch eine Abschwächung, ja selbst eine vollständige Aufhebung der Giftwirkung auch erfolgen, wenn das Vehikel das Gift chemisch zu binden oder zu neutralisiren vermag. Dies könnte geschehen, wenn z. B. Gifte, deren Wirkung vorzugsweise auf ihrer grossen Affinität zu Eiweisskörpern beruht, in einem eiweisshältigen Vehikel, z. B. Sublimat in einer Eierspeise, oder Gifte, die, wie viele Alkaloide, durch Tannin gefällt werden, in schwarzem Kaffee oder Theeabsud oder mit anderen Worten, wenn sie in einem solchen Vehikel gegeben würden, welches bei einer Vergiftung mit dem betreffenden Körper als Gegenmittel am Platze gewesen wäre.
Der häufigste Weg, auf welchem Gifte in den Organismus gelangen, ist der obere Theil des Verdauungstractes, d. h. sie werden geschluckt. Nur ganz ausnahmsweise werden sie durch den After eingebracht, z. B. durch Klysmen oder Suppositorien, oder beim Narcotisiren per rectum (Wiener med. Blätter. 1884, pag. 788). Ein Unicum ist der am 22. April 1878 vorgekommene Fall von (eingestandenem) Selbstmord eines jungen Mädchens durch — ein Klysma mit Wanzengift (alkoholische Sublimatlösung!). Medicinale Vergiftungen von der Scheide, respective von der Uterushöhle aus sind wiederholt vorgekommen, aber auch verbrecherische Einbringung von Gift auf diesem Wege wurde beobachtet, und zwar nicht blos zu Fruchtabtreibungszwecken, sondern auch behufs absichtlicher Tödtung. Insbesondere werden von Ansiaux und Mangor mehrere Fälle erzählt, in denen Frauen durch Einbringung von Arsenik in die Scheide umgebracht worden sind (Henke’s Zeitschr. I, 3. Heft). Auch von der äusseren Haut aus können Vergiftungen erfolgen, wobei das Gift entweder die unverletzte Haut durchdringt,[S. 621] oder zuerst die Haut erodirt, oder indem es mit von der Epidermis entblössten wunden Stellen der Haut in Berührung kommt oder subcutan beigebracht wird. Auf diese Weise können insbesondere medicinale Vergiftungen geschehen, so z. B. bei hypodermatischer sowohl als namentlich subcutaner Anwendung von Medicamenten oder bei der antiseptischen Wundbehandlung, insbesondere mit Sublimat oder mit Carbolsäure. Auch viele septische Vergiftungen und solche mit vergifteten Waffen, sowie die durch Biss giftiger oder wüthender Thiere gehören hierher und sind in vielen Beziehungen analog jenen, welche in der experimentellen Toxicologie durch unmittelbare Einbringung des Giftes in den Kreislauf erzeugt werden. Endlich sind die Respirationswege zu erwähnen, durch welche gasförmige oder flüchtige Gifte in den Körper gelangen können, eine Vergiftungsform, die nach jener per os am häufigsten vorzukommen pflegt.
Der Weg, auf welchem Gifte in den Organismus gebracht werden, ist keineswegs gleichgiltig, denn einestheils hängt die Schnelligkeit und Intensität der Giftwirkung von der Applicationsweise ab, anderseits aber gibt es Substanzen, die überhaupt nur dann eine giftige Wirkung äussern, wenn sie auf bestimmtem Wege eingeführt worden sind. Am schnellsten und intensivsten zeigt sich die Giftwirkung, wenn das Gift unmittelbar in den Kreislauf gelangte, da ja alle Gifte, ausser die local wirkenden, zuerst in’s Blut aufgenommen (resorbirt) werden müssen, wenn sie wirken sollen. Es gilt dies jedoch nicht ausnahmslos. So hat Strychnin, wie Leube und Rossbach (Med. Centralbl. 1873, Nr. 24) angeben, vom Magen aus eine intensivere Wirkung, als wenn es subcutan applicirt wird, und vom Arsenik sagt Boehm (Arch. f. exp. Path. 1874, pag. 96), dass die kleinste letale Dose bei Application per os noch nicht genügt, um, direct in eine Vene eingespritzt, ein gleiches Thier zu tödten, und dass bei letzterem Applicationsmodus der Tod immer etwas später erfolgt, als bei der Vergiftung durch den Magen. Ebenso hat Mosso (Virchow’s Jahrb. 1875, I, 463) die schon von Anderen beobachtete Thatsache bestätigt, dass der Brechweinstein von Venen aus erst nach viel grösseren Dosen (2–2½ Dgrm.) emetisch wirkt, als dies vom Magen aus der Fall ist.
Ein Beispiel für die Thatsache, dass manche Gifte, wenn sie auf bestimmtem Wege applicirt werden, ungleich giftiger wirken als auf anderen, liefern gewisse Kaliumsalze, die, wenn sie direct in den Kreislauf gebracht werden, sich als heftige Herzgifte erweisen, während vom Magen aus erst verhältnissmässig grosse Dosen giftige Wirkung äussern.
Die Ursache dieser Erscheinung ist nach L. Herrmann darin zu suchen, dass diese Salze vom Magen aus langsam resorbirt, dafür aber sehr rasch ausgeschieden werden, so dass bei Application des Salzes per os der Giftgehalt des Blutes nicht hoch genug steigt, um Allgemeinwirkungen hervorzurufen. Auch vom Curare werden, wenn dieses geschluckt wird, grosse Dosen ohne[S. 622] Schaden vertragen, während schon geringe Mengen in das Blut injicirt rasch die bekannte lähmende Wirkung äussern.
Ad 3. Von den individuellen Verhältnissen, die auf die Giftwirkung einen Einfluss üben können, kann man allgemeine und locale unterscheiden. Zu ersteren gehört insbesondere das Alter, und wir haben bereits oben erwähnt, dass Kinder auf ungleich kleinere Dosen eines Giftes reagiren als Erwachsene, auch lehrt die Erfahrung, dass gegenüber gewissen Giften, so namentlich gegenüber den Opiaten, die Empfindlichkeit der Kinder sogar eine unverhältnissmässig grosse sein kann.[400] Ebenso ist die Annahme berechtigt, dass Individuen, deren Resistenzfähigkeit durch Krankheit oder Alter herabgesetzt ist, auch empfindlicher gegen Gifte sich erweisen werden, als gesunde und kräftige Individuen. Von einer Idiosynkrasie gegen bestimmte giftige Substanzen könnte nur dann die Rede sein, wenn bei einem Individuum schon nach erfahrungsgemäss nicht toxischen Gaben derselben Intoxicationserscheinungen auftreten würden, ohne dass man einen Grund hierfür nachzuweisen im Stande wäre. Für die Möglichkeit einer solchen eigenthümlichen und ungewöhnlichen individuellen Reaction sprechen ausser dem erwähnten Verhalten kleiner Kinder gegen Opiate auch verschiedene Erfahrungen, die man in dieser Beziehung bei erwachsenen Patienten gegenüber bestimmten Heilmitteln, sowie auch bei gesunden Personen gegenüber entschieden unschädlichen Nahrungs- oder Genussmitteln zu machen in der Lage war.
Dass bis zu einem gewissen Grade auch eine Angewöhnung an einzelne Gifte möglich ist, so dass, wenn diese besteht, Dosen einer toxischen Substanz vertragen werden können, die sonst heftige und selbst lebensgefährliche Erscheinungen hervorgerufen hätten, ist eine vielfach sichergestellte Thatsache. Bekannt sind in dieser Beziehung die Arsenikesser in den Alpenländern[401], noch mehr aber die Erfahrungen bei der therapeutischen Anwendung des Morphins, welche lehren, dass im Laufe derselben mit der Dose gestiegen werden muss, wenn die betreffende Wirkung erzielt werden soll, und dass die Kranken schliesslich, allerdings nicht immer ohne Nachtheil (Morphinismus), bis zu Dosen gelangen können, die sonst bei denselben Individuen sich als letal erwiesen hätten und selbst zur Tödtung mehrerer Personen genügen[S. 623] würden. Ausserdem liefert uns aber der Alkohol und das Nicotin alltägliche Beispiele der Möglichkeit der Angewöhnung an Gifte, auch lehrt die experimentelle Toxicologie, dass Versuchsthiere auf neue Dosen gewisser Gifte häufig ungleich schwächer reagiren, als auf frühere, und dass manchmal, so z. B. beim Nicotin, auch nach der Restitution eine verminderte Empfänglichkeit, und zwar selbst durch lange Zeit, also eine „erworbene Immunität“, zurückbleibt.[402]
Von den localen, die Giftwirkung beeinflussenden Verhältnissen ist insbesondere der Zustand des Magens zu beachten. Zuvörderst ist es nicht gleichgiltig, ob der Magen zur Zeit, als das Gift gereicht wurde, leer oder mit Speisen gefüllt war. Im letzteren Falle kann die Giftwirkung verzögert und selbst bedeutend abgeschwächt werden, besonders wenn das Gift in Substanz gegeben wurde, während im ersteren, da das Gift sofort mit der Magenwand in Contact kommt, die Wirkung schnell und intensiv eintritt. Aber auch die chemische Beschaffenheit des Mageninhaltes ist von Wichtigkeit und kann in gleicher Weise die Giftwirkung entweder beschleunigen oder verzögern, wie wir dies vom Vehikel, in dem das Gift gegeben wurde, auseinandergesetzt haben. Ob auch der gesunden oder kranken Beschaffenheit der Magenschleimhaut ein wesentlicher Einfluss auf den Verlauf einer Vergiftung zugeschrieben werden kann, ist fraglich. Quetsch (Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 23) fand bei seinen Versuchen die Resorptionsfähigkeit des Magens bei chronischem Magencatarrh und bei Carcinom entschieden verlangsamt, bei Ulcus rotundum dagegen beschleunigt.
Die Diagnose, dass eine Vergiftung stattgefunden habe, insbesondere, dass Jemand den Vergiftungstod gestorben sei, muss sich stützen: 1. auf die Erwägung der dem Tode vorhergegangenen Krankheitserscheinungen, 2. auf das Resultat der Obduction, 3. auf das Resultat der chemischen Untersuchung der Leichentheile, und 4. auf die Erwägung der Umstände des Falles.
1. Die dem Tode vorausgegangenen Erscheinungen.
Dieselben werden zunächst abhängen von der Natur und Wirkungsart des betreffenden Giftes, die wir bei Besprechung der einzelnen Gifte kennen lernen werden. Hier wollen wir nur bemerken, dass sie im Allgemeinen von dem Umstande bedingt sind, ob die Veränderungen und Functionsstörungen, die das Gift veranlasst, zunächst nur die Applicationsstelle betreffen, oder erst secundär durch die Aufnahme des Giftes in’s Blut und Uebertragung[S. 624] auf andere entferntere Organe veranlasst werden. Ersterer Wirkung begegnen wir bei den sogenannten irritirenden, insbesondere bei den ätzenden Giften, und bezeichnen das ganze Krankheitsbild, welches durch die Ingestion dieser in dem Magen hervorgebracht wird, als „Gastroenteritis toxica“.
Die Symptome derselben bestehen im Allgemeinen in sofort oder bald nach der Ingestion des Giftes eintretenden Schmerzen in der Magengegend, beziehungsweise auch in den Schlingorganen, in Brechneigung und meist wirklichem und heftigem Erbrechen, zu welchem sich Spannung des Unterleibes, unstillbarer Durst, grosse Unruhe, häufig auch Diarrhöe und Tenesmus hinzugesellen, und führen diese meistens in wenigen Stunden unter Collapsus zum Tode, wenn sie nicht eine protrahirtere Erkrankung bedingen, welche entweder ebenfalls mit dem Tode oder mit vollständiger oder unvollständiger Genesung enden kann. Die genannten Symptome sind für sich allein weder für ein bestimmtes Gift, noch für eine Vergiftung überhaupt absolut charakteristisch, können vielmehr auch durch natürliche Erkrankung hervorgerufen werden, und zwar sowohl durch solche localer als allgemeiner Natur. Zu ersteren gehören acute Magen- und Darmcatarrhe, Incarcerationen, namentlich innere, und die Peritonitis, insbesondere die P. perforativa und, wie in einem von Späth (Württemb. Correspondenzbl. 1882, Nr. 26) mitgetheilten Falle, die Embolie des Stammes der Gekrösarterien, zu letzteren acute Infectionskrankheiten und von diesen in erster Linie die Cholera, und zwar sowohl die epidemische, als die Cholera nostras, deren Aehnlichkeit mit Arsenikvergiftung immer wieder und mit vollem Recht hervorgehoben wird. Auch die innere Verblutung, besonders die abdominale, wie sie nach Berstung der schwangeren Tuba, oder von Aneurysmen der Art. lienalis etc. nicht gar selten vorkommt, führt unter gastrischen Erscheinungen, namentlich auch unter Erbrechen, zum Tode.
Jene Gifte, welche erst nach erfolgter Resorption ihre Wirkung äussern, bewirken entweder Störungen im Stoffwechsel, oder sie rufen Reizung oder Lähmung von Nervenapparaten hervor.
Im ersteren Falle sehen wir entweder den Tod unter Erstickungserscheinungen erfolgen, so z. B. wenn durch das in das Blut gelangte Gift die respiratorische Function desselben unmöglich gemacht wurde, wie bei der Vergiftung mit Kohlenoxydgas, oder es treten subacute oder auch chronische Ernährungsstörungen auf, von denen viele auf körnige oder fettige Degeneration der Organe zurückgeführt werden können, wovon insbesondere die Phosphorvergiftung und die chronische Arsenikvergiftung ein Beispiel liefert. Im letzteren Falle ist der Verlauf der Vergiftung in der Regel ein sehr acuter, häufig ein fulminanter, ein Umstand, der bewirkt, dass von einer Beobachtung und Verfolgung der dem Tode vorausgegangenen klinischen Erscheinungen durch Andere, insbesondere durch einen Arzt, meist gar keine[S. 625] Rede sein kann und das Plötzliche oder Unerwartete des Eintrittes des Todes in der Regel das Einzige ist, was man zu erheben vermag. Bei so fulminantem Verlauf tritt der Tod fast immer unter den Erscheinungen der Erstickung auf, die sich durch Dyspnoe, rasche Bewusstlosigkeit und Convulsionen kundgibt. In nicht so rapiden Fällen lassen sich eher klinische Symptome constatiren, die diagnostisch verwerthet werden können; so die Erscheinungen der Narcose, die auf ein narcotisches Gift, die des Tetanus, die auf Strychnin und ihm verwandte Gifte schliessen lassen.
Auch die genannten Symptome sind für sich allein nicht im Stande, eine Vergiftung zu beweisen, da gleiche oder ähnliche auch bei verschiedenen natürlichen Erkrankungen, respective Todesarten, vorkommen können. So erinnern wir an die Aehnlichkeit des Krankheitsbildes der Phosphorvergiftung mit acuter Leberatrophie, mit pyämischen und septischen Processen und selbst mit jenen eines heftigen Gastroduodenalcatarrhs, und an die Thatsache, dass alle möglichen plötzlichen oder mindestens raschen Todesarten, wie Hirnhämorrhagie (besonders H. intermeningealis, welcher in der Regel Berstung eines Aneurysmas einer der Basilararterien zu Grunde liegt), der so häufige Tod durch Herzlähmung, ferner jener durch innere Verblutung, dann der plötzliche Tod im Wochenbett u. dergl. schon zum Verdacht bestehender Vergiftung Veranlassung gegeben haben, und dass auch Septicämie, Urämie (Eclampsie der Schwangeren), Acetonämie und manche andere acute Processe für eine äussere Intoxication gehalten werden können und thatsächlich gehalten wurden, wovon wir eine ganze Reihe von Fällen aus unserer eigenen Erfahrung anzuführen im Stande wären.[403] Unter diesen waren zwei, wo die in dem einen Falle durch Pericarditis, im anderen durch Pneumonie bewirkte Agonie für eine durch medicinale Anwendung von Morphium veranlasste letale Narcose gehalten worden war.
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Es ist ferner zu beachten, dass bei vielen Giften eine locale mit der Resorptionswirkung sich combinirt, und dass es, wie bereits vom Arsenik bemerkt wurde, auch nur von den Umständen abhängen kann, ob die eine oder die andere Wirkung stärker hervortritt, beides Thatsachen, die nicht geeignet sind, die Diagnose einer stattgehabten Vergiftung und noch weniger die Erkennung des Giftes selbst blos aus den während des Lebens aufgetretenen Erscheinungen zu erleichtern. Ausserdem ist noch zu bemerken, dass selbst dann, wenn Gelegenheit war, die Symptome während des Lebens zu beobachten, diese Beobachtung häufig nur durch Laien gemacht wird, nicht aber durch einen Arzt, der entweder gar nicht oder bereits zu spät gerufen wurde, wodurch die einschlägigen Angaben, abgesehen davon, dass sie auch absichtlich gefälscht werden können, an Verlässlichkeit und diagnostischem Werth einbüssen müssen.
Der Zeitpunkt des Eintrittes der ersten Intoxicationserscheinungen fällt keineswegs immer zusammen mit dem der Einverleibung des Giftes. Augenblickliche Wirkung treffen wir nur bei den stark ätzenden Giften, und diese macht sich schon geltend in dem Momente, in welchem die Substanz geschluckt wird. Bei allen übrigen Giften verstreicht zwischen der Einverleibung des Giftes und den ersten Intoxicationserscheinungen eine gewisse Zeit, die allerdings von wenigen Augenblicken bis zu mehreren Stunden variiren kann. Die Dauer derselben wird abhängen einerseits von der Natur der Giftsubstanz, anderseits von der Grösse der Gabe und den bereits oben erwähnten Verhältnissen, welche die Giftwirkung theils zu befördern, theils zu verzögern im Stande sind. Sehr rasch und in der Regel schon wenige Augenblicke nach der Ingestion treten die Vergiftungserscheinungen nach Blausäure und nach Cyankalium auf, doch werden wir Fälle kennen lernen, die zeigen, dass auch bei diesen Giften die Wirkung nicht immer sofort sich einstellt, sondern die betreffenden Individuen noch im Stande sein können, nicht blos eine Strecke zu gehen, sondern selbst complicirtere Handlungen zu unternehmen. Die Wirkung der metallischen Gifte sehen wir keineswegs immer schon in der ersten halben Stunde nach der Ingestion sich einstellen, sondern können häufig beobachten, dass über eine Stunde, mitunter selbst mehrere Stunden vergehen, bevor Vergiftungserscheinungen sich zeigen. Bei diesen Giften ist besonders der Umstand von Einfluss, ob dasselbe bereits im gelösten Zustande oder ungelöst gegeben wurde, und namentlich im letzteren Falle, ob der Magen gerade leer oder mit Speisen gefüllt gewesen ist. Bezüglich der giftigen Alkaloide wissen wir ebenfalls, dass die Wirkung selten früher als nach beiläufig einer halben Stunde eintritt und selbst stundenlang auf sich warten lassen kann; dies gilt besonders vom Morphium und vom Strychnin. Hierbei ist ausser der Dosis, dem Mageninhalt etc. auch der Umstand von Einfluss, ob das reine Alkaloid oder ein Salz desselben genommen wurde, da es bekannt ist, dass ersteres nur schwer, letzteres dagegen leicht im Wasser sich löst, daher dieses früher als jenes zur Resorption gelangen wird.
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Die Resorption von den Lungen aus geht sehr rasch vor sich, daher ist auch die Wirkung gasförmiger oder flüchtiger Gifte, die inspirirt werden, eine meist schnelle, und zwar eine desto schnellere, je mehr davon in der Respirationsluft enthalten ist. Kommen die giftigen Gase ausschliesslich oder nur mit wenig atmosphärischer Luft vermischt zur Einathmung, so kann das Zusammenstürzen schon nach wenigen Athemzügen erfolgen, wie dies z. B. häufig beim Reinigen von Abtrittsgruben oder Brunnen der Fall ist, während in einem Raume, in welchem die Luft mit dem giftigen Gase nicht übersättigt war, erst nach mehr weniger längerem Verweilen Intoxicationserscheinungen sich einstellen, die aber selten plötzlich dem Leben ein Ende machen, sondern erst nach fortgesetzter Inhalation zum Tode führen, wie wir z. B. bei der Vergiftung durch Kohlenoxydgas sehen.
Bei acuten und letal endenden Vergiftungen halten die Vergiftungserscheinungen in der Regel vom Momente ihres ersten Auftretens bis zum Tode an und nehmen an Intensität gleichmässig zu. Nur ausnahmsweise geschieht es, dass die Intoxicationserscheinungen für einige Zeit nachlassen, um, nachdem sich der Kranke scheinbar erholt, neuerlich und meist mit vermehrter Heftigkeit einzutreten. Solches wurde in ganz vereinzelten Fällen von Vergiftung mit mineralischen Giften beobachtet, wiederholt dagegen nach Vergiftungen mit Narcoticis und als remittirende Form der betreffenden Vergiftung beschrieben. Es handelt sich in solchen Fällen entweder um neuerliche Resorption von anfangs nicht mit den Schleimhäuten in Berührung gekommenen Giftmengen oder um Folgezustände, die durch die Vergiftung veranlasst wurden und die acut zum Tode führen können, nachdem der erste Sturm der Vergiftungserscheinungen bereits abgelaufen ist. Wir werden auf diesen Umstand bei Besprechung der narcotischen Gifte zurückkommen und wollen hier nur bemerken, dass ein solcher Verlauf deshalb von grosser Wichtigkeit ist, weil eine neuerliche Exacerbation der Erscheinungen auf eine abermalige Beibringung von Gift bezogen werden könnte, also auf einen Vorgang, der bei Giftmorden wiederholt eingeschlagen worden ist. Von solchen acuten Folgezuständen, die noch als primäre Giftwirkung aufgefasst werden können, sind die Erkrankungen zu unterscheiden, die erst nachträglich in Folge der durch das Gift gesetzten Veränderungen, insbesondere in Folge der reactiven entzündlichen Processe, eintreten und mitunter erst nach langer Zeit zum Tode führen können.
Der Ausgang in Genesung erfordert erstens die Ausscheidung des im Körper befindlichen Giftes und zweitens die Beseitigung der durch das Gift veranlassten Veränderungen. Ein gewisser Theil des Giftes wird häufig, noch bevor er zur Wirkung gelangt, durch Erbrechen aus dem Körper entfernt. Je früher das Erbrechen eintritt und je intensiver sich dasselbe gestaltet, von desto günstigerem Einflusse ist dasselbe und es kann allein dadurch besonders bei schwerer [S. 628]löslichen und schwerer resorbirbaren Substanzen die Wirkung grosser Giftdosen paralysirt oder wesentlich abgeschwächt werden. Solche Substanzen können aber auch unverändert in den Darm gelangen, und wenn sie nicht von hier aus zur Resorption kommen oder anderweitig gebunden oder zerstört werden, mit dem Stuhle abgehen. Die Ausscheidung resorbirter Gifte geschieht vorzugsweise durch die Nieren, ausserdem aber auch durch die Speicheldrüsen, die Galle, den Darmcanal und die äussere Haut, und, wodurch Vergiftung von Säuglingen erfolgen kann, auch durch die Milch (Brouardel, Annal. d’hygiène publ. 1885, pag. 73; Fehling, Arch. f. Gyn. XXVIII), jene der flüchtigen auch durch die Lungen. Die Ausscheidung der resorbirten Gifte durch den Darmcanal scheint häufiger vorzukommen als man bisher dachte. Vom Arsenik ist dieses schon lange bekannt, jetzt kann dieses auch vom Sublimat und anderen Quecksilberverbindungen als erwiesen angesehen werden und neuestens auch von der Carbolsäure.[404] Tauber (Arch. f. experim. Path. 1890, XXVII, pag. 335) hat dieses auch bezüglich des Morphins gefunden, insbesondere dargethan, dass subcutan einverleibtes Morphin unverändert durch den Magendarmcanal, respective durch die Fäces ausgeschieden wird. An den Ausscheidungsstellen kann es zu krankhaften Veränderungen kommen, so z. B. zu Nephritis, toxischen Dermatosen, katarrhalischen und selbst nekrotischen Erscheinungen an der Schleimhaut des Respirations- oder Darmtractus. Bei einzelnen Giften, namentlich bei den gasförmigen, sowie bei den Alkaloiden und bei den leichtlöslichen mineralischen Giften erfolgt die Ausscheidung schnell und die meisten lassen sich schon in den ersten Stunden, d. h. bald nach dem Auftreten der ersten Intoxicationserscheinungen im Harne nachweisen, eine Thatsache, die uns den Wink gibt, in allen solchen verdächtigen Krankheitsfällen zu trachten, den Harn zu sammeln und der chemischen Untersuchung zu übergeben. Bei Giften, welche mit den Bestandtheilen des Organismus festere Verbindungen eingehen, erfolgt die Ausscheidung ungleich langsamer. Hierher gehören viele metallische Gifte, die eine grosse Affinität zu den Eiweisskörpern besitzen oder durch Assimilation im Körper verbleiben, selbst in der Art, dass normale anorganische Bestandtheile des Körpers durch sie ersetzt werden können.[405]
Die meisten der forensisch wichtigen Gifte werden unverändert ausgeschieden, andere, nachdem sie im Körper gewisse Veränderungen, namentlich durch Oxydation erlitten haben. Zu ersteren gehören insbesondere die metallischen Gifte und Alkaloide[406], zu letzteren [S. 629]der Phosphor und das Kohlenoxydgas, dann die Säuren und Alkalien, welche im Harne und in anderen Ausscheidungen als Salze erscheinen.
Die Restitutio ad integrum erfolgt nach Vergiftung mit Alkaloiden, sowie mit flüchtigen und gasförmigen Giften in der Regel sehr bald und vollständig, keineswegs aber immer. Namentlich können in jenen Fällen, wo der Stoffwechsel wichtiger Nervencentren, insbesondere des Gehirns, durch längere Zeit gestört oder verhindert war, schwere Functionsstörungen zurückbleiben, an denen, wie z. B. schwere Kohlenoxydvergiftungen zeigen, die Betreffenden monate- und jahrelang zu laboriren haben. Die Vergiftungen mit mineralischen Giften zeigen nicht blos häufig einen protrahirten Verlauf, sondern enden auch nicht selten mit nur unvollständiger Genesung. Insbesondere sehen wir nach Vergiftungen mit ätzenden Substanzen Stricturen des Oesophagus, hochgradige Verdauungsstörungen und in deren Folge Zustände zurückbleiben, die sogar als „Siechthum“ im Sinne des Gesetzes bezeichnet werden müssen. Auch nach Vergiftungen mit metallischen Giften können langdauernde Ernährungsstörungen, namentlich in Folge der meist eingetretenen körnigen und fettigen Degenerationen, restiren, in anderen Fällen wieder Störungen der Nervenfunctionen, wie wir sie manchmal nach Arsenikvergiftung, am häufigsten aber nach Vergiftungen mit Bleisalzen beobachten können.
Bei einzelnen Vergiftungen zeigt schon die äussere Besichtigung der Leiche gewisse auffallende Befunde. Es gehört hierher die icterische Färbung der Haut und der Schleimhäute bei der Phosphorvergiftung und die auffallend hellrothe Farbe der Todtenflecke bei Individuen, die im Kohlenoxydgas um’s Leben gekommen sind, sowie die graue bei der typischen Vergiftung mit Kaliumchlorid. Ebenso sehen wir bei Vergiftungen mit ätzenden Flüssigkeiten, besonders mit Schwefelsäure, nicht blos die Lippen und die Mundschleimhaut verschorft, sondern können häufig von den Mundwinkeln herabziehende, lederartige, meist hellbraun verfärbte Streifen bemerken, die vom Ueberfliessen der ätzenden Flüssigkeit herrühren. In anderen Fällen kann die Leiche einen auffallenden Geruch, z. B. nach bitteren Mandeln, ausströmen, und es ist vorgekommen, dass bei sehr acuten Phosphorvergiftungen (mit Phosphorpaste) im Dunkeln[S. 630] leuchtende Dämpfe von der Leiche ausgingen und schon dadurch die Todesart ausser Zweifel stellten.
In den meisten Fällen unterscheiden sich die Leichen Vergifteter äusserlich nicht wesentlich von anderen, oder bieten wenigstens kein äusseres Merkmal, welches, wie einzelne der oben genannten, schon für sich allein den Schluss gestattet, dass eine Vergiftung stattgefunden habe.
Die innere Untersuchung kann locale oder solche Befunde ergeben, die erst durch Resorption des Giftes veranlasst wurden.
Der Sitz der wichtigsten localen Befunde ist der Magen, und es ist in dieser Beziehung sowohl der Mageninhalt als das Verhalten der Magenwand zu beachten.
Ersterer kann zunächst einen eigenthümlichen Geruch bieten, so z. B. nach Phosphor, nach bitteren Mandeln, nach Alkohol, Chloroform, Sabina, Opium etc. Solche Erscheinungen sind äusserst wichtig und machen sich besonders in dem Momente bemerkbar, in welchem man den Magen eröffnet, auch tritt der Geruch deutlicher hervor, wenn man den Mageninhalt in ein Gefäss verschliesst und nach einiger Zeit wieder dazu riecht.
Nicht jeder eigenthümliche Geruch, den der Mageninhalt bietet, ist auf eine stattgehabte Vergiftung zu beziehen. So findet sich der Alkoholgeruch ungemein häufig bei den verschiedensten Todesarten, welche mit dem Alkoholgenuss in keiner oder doch nur in entfernter Beziehung stehen; ebenso kann ein ätherischer oder diesem ähnlicher Geruch von Medicamenten herrühren, die gegeben wurden, und es sind uns nicht einmal, sondern wiederholt Fälle vorgekommen, wo nicht blos der Magen, sondern, wie dies auch bei vielen der erwähnten Vergiftungen häufig sich findet, auch die Lungen und das Gehirn einen eigenthümlichen Geruch entwickelten, obgleich die Personen zweifellos eines natürlichen Todes verstorben waren, und wo sich herausstellte, dass derselbe von belebenden Tropfen (meist Aethertropfen), die kurz vor dem Sterben gereicht worden waren, oder von subcutanen Aether- oder Kampherinjectionen herrührten. Einmal fanden wir einen auffallenden Geruch nach Moschus, der als Analepticum gegeben worden war und wiederholt den Geruch nach ätherischen Oelen, der von Genussmitteln herrührte.
Blutiger Mageninhalt ist nach Vergiftung mit ätzenden sowohl als mit irritirenden Giften sehr häufig und rührt meist von Läsionen der Gefässe der Magenschleimhaut her, die durch Arosion veranlasst wurden. Nicht selten kommt jedoch der blutige Mageninhalt erst postmortal zu Stande, entweder durch Transsudation des Blutes aus der hochgradig injicirten oder ecchymosirten Magenschleimhaut in die Magenhöhle, oder dadurch, dass der stark sauere oder alkalische Mageninhalt das Blut aus der hyperämischen Magenwand in sich aufnimmt, wobei das Hämoglobin gleichzeitig zum grössten Theile in Hämatin sich zersetzt. Je weiter diese Zersetzung, sei es schon während des Lebens oder erst nach dem Tode, gediehen ist, desto mehr ist[S. 631] das Blut in seiner Farbe verändert und kann schwarzbraun bis schwarz erscheinen. Doch kann auch die gewöhnliche Magensäure eine kaffeesatzfärbige Zersetzung des ausgetretenen Blutes bewirken. Nach gewissen Vergiftungen, wie z. B. nach Cyankaliumvergiftung, kann der blutige Mageninhalt auffallend roth oder braunroth erscheinen, was in einer specifischen Wirkung des Giftes auf den Blutfarbstoff seinen Grund hat.
Auch andere als durch Blut veranlasste und mitunter eigenthümliche Verfärbungen des Mageninhaltes können vorkommen, so grüne nach Vergiftung mit chlorophyllhaltigen Pflanzentheilen (Sabina) oder, wie wir wiederholt sahen, nach Vergiftungen mit Arsengrün, gelbe, wenn Laud. liq. Sydenhami, Jod oder chromsaures Kali, blaue, wenn Kupfervitriol genommen wurde u. s. w. Sie können auch von einem Farbstoff herrühren, mit welchem das Gift gemengt war, was z. B. bei Zündhölzchenköpfchen und bei Sublimatpastillen vorkommt.[407]
Die Reaction des Mageninhaltes zu prüfen darf niemals unterlassen werden, und kann namentlich bei Vergiftungen mit stark sauren oder stark alkalischen Substanzen eine hohe Bedeutung erlangen. Doch ist nicht zu übersehen, dass die ursprüngliche Reaction theils durch gereichte Gegengifte, theils erst nachträglich an der Leiche sich ändern kann. Von noch höherer Bedeutung sind verdächtige Substanzen, die im Magen gefunden werden können, so verdächtige Pflanzentheile, insbesondere aber körnige oder krystallinische Körper, die entweder im Mageninhalt oder in dem der Magenschleimhaut anhaftenden Schleime eingebettet sind. Letzterer Befund ergibt sich am häufigsten bei der Arsenikvergiftung und ist hier besonders in der schweren Löslichkeit des Arseniks begründet. Der Befund anderer Gifte in Körnchen- oder Krystallform ist im Ganzen selten, doch fanden wir in einem Falle Bleizucker, in einem anderen Sublimat in Substanz und in einem dritten eine Menge Krystalle von Strychninum purum. Grössere Körner oder Krystalle sind verhältnissmässig leicht aufzufinden, kleinere müssen mehr mit dem Gefühl, als mit den Augen aufgesucht werden, ein Verfahren, das uns schon wiederholt, namentlich bei Arsenikvergiftungen, ausgezeichnete Dienste geleistet hat. Bei sehr faulen, insbesondere bei exhumirten Leichen finden sich häufig krystallinische, sandig anzufühlende Niederschläge auf der Magen- und Darmschleimhaut und auf[S. 632] anderen freien Flächen, welche entweder aus Tyrosinkrystallen oder aus Tripelphosphaten bestehen und, wie auch Auerbach (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XL, pag. 66) angibt, für Arsenikkörnchen gehalten werden können. Unser Museum bewahrt schöne solche Präparate.
Von den Localbefunden an der Magenwand selbst, sowie an den übrigen Theilen des Verdauungstractes sind insbesondere diejenigen wichtig, welche durch Aetzgifte zu Stande kommen. Sie sind zunächst verschieden, je nachdem die primären oder bereits die secundären Aetzwirkungen vorliegen. Erstere präsentiren sich in der Regel als Coagulationsnecrose, als sogenannte graue Verätzung. Die betreffende Schleimhaut, insbesondere ihr epithelialer Ueberzug, erscheint weissgrau, getrübt, starrer, wie gekocht. Diese Veränderung ist eine reine Coagulationserscheinung, zu welcher sich bei jenen Aetzgiften, denen, wie z. B. der Schwefelsäure, eine starke wasserentziehende Eigenschaft zukommt, auch die Wirkung dieser hinzugesellt, welche eine gewisse Brüchigkeit, namentlich der zunächst getroffenen epithelialen Schichten, erzeugt, während sonst eine Consistenzvermehrung und dadurch bedingte lederartige Beschaffenheit sich findet. Die Intensität des Verätzungsbildes hängt zunächst theils von der Natur der ätzenden Substanz, theils von ihrer Concentration ab. In ersterer Beziehung ist es bekannt, dass einzelne Säuren viel intensiver ätzen, respective Eiweiss coaguliren als andere. Von den Mineralsäuren kommt insbesondere der Schwefel-, Salz- und Salpetersäure eine starke Aetzwirkung zu; auch unter den organischen Säuren besitzen einzelne eine hohe Aetzkraft, so die Oxalsäure, insbesondere aber die Carbolsäure, die auffallend weisse und derbe Schorfe erzeugt. Ebenso ätzt Sublimat und Chlorzink sehr stark, während Bleizucker, Alkohol, arsenige Säure in dieser Beziehung ungleich schwächer wirken. Die Intensität des primären Aetzungsbildes ist keineswegs bei allen corrosiven Giften proportional der Concentration, sondern nur bei solchen, welche das ausgeschiedene Eiweiss im Ueberschuss des Fällungsmittels nicht lösen. Bei anderen aber, die dies thun, kann die weissgraue Färbung bei starker Concentration der Substanz viel schwächer sich gestalten als nach Einwirkung diluirter Säure und sogar einer Aufhellung des Gewebes Platz machen. In exquisiter Weise sieht man dieses bei der Schwefelsäure. Träufelt man nämlich dieselbe im concentrirten Zustande auf eine Schleimhaut, so wird die getroffene Stelle aufgehellt und transparent, ähnlich wie dieses z. B. die Aetzlaugen thun und nur an den Rändern, wo sie durch den Wassergehalt des Gewebes sich verdünnt, bemerkt man weissgraue Verätzungen. Begiesst man aber die betroffene Stelle mit Wasser, so erscheint sofort das typische Verätzungsbild, indem die von der concentrirten Schwefelsäure gelösten Eiweisskörper durch den Wasserzusatz wieder ausgefällt werden.
Aetzgifte, welche die Eiweisskörper nicht coaguliren, sondern im Gegentheil lösen, also die Aetzalkalien (Kali- und Natronlauge,[S. 633] Ammoniak), können natürlich keine Coagulationsnecrose, respective die geschilderte graue Verätzung und wie gekochte Beschaffenheit als primäre Wirkung bedingen, sondern nur eine Quellung und Vermehrung der Transparenz des getroffenen Gewebes, dagegen können allerdings die auf diese Art mortificirten Gewebe nachträglich sich trüben und so ebenfalls das Bild der grauen Verätzung bieten, wenn die durch das Alkali in Lösung erhaltenen Eiweisskörper wieder ausgefällt werden, was schon durch Neutralisation oder schwache Ansäuerung geschieht.
Die secundären Erscheinungen, welche an und neben den verätzten Stellen eintreten, sind theils durch den nachträglich fortdauernden Contact der ätzenden Flüssigkeit, theils durch reactive Entzündung bedingt. Erstere werden begreiflicherweise besonders im Magen sich entwickeln.
Längerer Contact der corrosiven Flüssigkeit mit einer bestimmten Schleimhautpartie beeinflusst, abgesehen von den gleich zu besprechenden secundären Wirkungen, auch die Intensität des primären Verätzungsbildes. Zunächst die Tiefe der Aetzung. An Stellen, über welche, wie z. B. in den Schlingorganen, das Gift rasch hinweggleitet, ist auch die Verätzung eine oberflächlichere als an solchen, wo dasselbe durch einige Zeit verweilt, weil die ätzende Flüssigkeit im letzteren Falle in die tieferen Gewebsschichten sich imbibirt. Bei jenen Aetzgiften, welche die Eiweisskörper nur fällen, nimmt natürlich die Intensität der grauen Verätzung mit der Dauer der Einwirkung der Substanz zu bis zur Erschöpfung der Aetzkraft der letzteren; bei denjenigen, welche im Ueberschuss die ursprünglichen Eiweissfällungen wieder lösen, kann durch längere Einwirkung eine mehr weniger starke Wiederaufhellung und selbst Transparenz des Gewebes erfolgen, was namentlich bei der Oxalsäurevergiftung verhältnissmässig häufig zu geschehen scheint.
Im weiteren Verlaufe kann es durch die überschüssige Aetzflüssigkeit zu einem Zerfall der gebildeten Aetzschorfe kommen, namentlich bei Einwirkung von Schwefelsäure, welche, wie von A. Lesser[408] ganz richtig hervorgehoben wurde, weniger durch Zerfall der Gewebselemente, die in den Schorfen noch nachweisbar sind, als vielmehr durch Auflösung der Bindesubstanz erfolgt, eine Eigenschaft der (concentrirten) Schwefelsäure, die bekanntlich in der Mikroskopie schon lange zur Isolirung von Hornzellen und glatten Muskelfasern benützt wird. Dieser Zerfall kann für sich allein zum vollständigen Durchbruch der Magenwand führen, in anderen Fällen ist die Ursache des raschen Zerfalls der einzelnen geätzten Gewebsschichten die durch die Wasserentziehung bewirkte Brüchigkeit der Magenwand, die namentlich bei Einwirkung sehr concentrirter Schwefelsäure eine sehr hochgradige werden kann, in wieder anderen und vielleicht den meisten werden die necrotischen[S. 634] Partien einfach verdaut. Letzteres ist deshalb in der Regel möglich, weil nur ausnahmsweise die ganze Magenschleimhaut verätzt wird, sondern in der Regel grössere oder geringere Partien intact oder wenigstens minder lädirt bleiben, insbesondere die Vertiefungen zwischen den Falten und die etwa durch Mageninhalt geschützt gewesenen Stellen.[409]
Die weiteren Veränderungen, welche überschüssige Aetzgifte im Magen ausüben, hängen zunächst von der Wirkung ab, welche der betreffenden Flüssigkeit auf das Blut zukommt, und in dieser liegt die Hauptursache einestheils der Verschiedenheit des anatomischen Befundes im Magen bei verschiedenen Vergiftungen mit ätzenden Substanzen, anderseits der Grund, warum gewisse chemisch differente, ja sogar, wie z. B. die Säuren und die Aetzalkalien, einander entgegengesetzte Aetzgifte Befunde im Magen erzeugen, die wenigstens für den ersten Anblick einander ähnlich sind. In dieser Beziehung kann man zwei Hauptgruppen der Aetzgifte unterscheiden, die eine, deren Glieder das Blut einfach ohne Farbstoffentziehung coaguliren, wobei sich meist rothe oder braunrothe Gerinnsel bilden, die andere, deren Glieder mit oder ohne vorausgegangene Coagulation den Blutkörperchen den Blutfarbstoff entziehen, gewissermassen auslaugen und gleichzeitig in Hämatin in saurer, respective alkalischer, in der Regel schwarzer oder schwarzbrauner Lösung verwandeln. Zu den ersteren gehört vorzugsweise die Carbolsäure, das Sublimat, Bleizucker und der absolute Alkohol, zur zweiten Gruppe die käuflichen Mineralsäuren, von den Pflanzensäuren insbesondere die Oxalsäure und von den Alkalien insbesondere die Aetzlaugen und Ammoniak. Bei den Giften der ersten Kategorie erhält sich das primäre Verätzungsbild verhältnissmässig lange und ist, insbesondere in acuten Fällen, noch zur Zeit der Obduction deutlich ausgeprägt. Bei den Giften zweiter Kategorie gestaltet sich die Sache wesentlich anders. Da nämlich die Auslaugung des Blutes gleich nach erfolgter Verätzung[S. 635] beginnt, und desto rascher vorschreitet, je concentrirter die corrosive Flüssigkeit ist, und je grössere Mengen im Magen zurückbleiben, und da überdies diese Auslaugung nicht blos das durch die Corrosion ausgetretene, sondern auch das innerhalb der Gefässe der verätzten Partien zurückgebliebene Blut betrifft, so geht auch frühzeitig die ursprüngliche weissgraue Farbe der verätzten Gewebsschichten, wenn sie überhaupt vorhanden war, verloren und letztere erhalten die Farbe und das sonstige Aussehen, wie es der Imbibition derselben mit der betreffenden Hämatinlösung entspricht. Dem entsprechend erscheinen auch die verätzten Partien braun bis schwarz in verschiedenen Nuancen gefärbt, und es ist insbesondere die „wie verkohlte“ Farbe der Schorfe, der wir nach Schwefelsäure- oder Salzsäurevergiftung begegnen, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch vorzüglich durch die Imbibition der verschorften Magenwand mit Hämatin in saurer Lösung bedingt. Hat die Hämatinlösung in Folge specifischer Wirkung der corrosiven Substanz eine besondere Farbe, so kommt diese auch in dem imbibirten Gewebe zur Geltung, was wir insbesondere häufig bei der typischen Cyankaliumvergiftung sehen, wo der Mageninhalt und die gequollene Magenwand roth- bis rothbraun gefärbt, respective imbibirt erscheinen. Von diesen Färbungen sind diejenigen zu unterscheiden, welche durch directe Färbung der Schorfe durch gewisse Gifte erzeugt werden, so die Gelbfärbung, wie sie nach Chromsäurevergiftung und, von Xanthoproteïnsäurebildung herrührend, durch concentrirte Salpetersäure veranlasst wird.
Eine andere Kategorie von Veränderungen, welche secundär an den verätzten Partien eintreten, sind reactiver Natur und bestehen zunächst in reactiver Hyperämie, entzündlicher, respective ödematöser Schwellung der unter und neben den verschorften Partien gelegenen Gewebe, womit sich gewöhnlich Ecchymosenbildung verbindet. Von diesen Ecchymosen sind diejenigen wohl zu unterscheiden, welche durch directe Läsionen der Gefässe, durch Verätzung bewirkt werden, wie insbesondere die bei der Schwefelsäurevergiftung, welche bis Walnussgrösse und darüber erreichen, der Magenwand ein höckeriges Aussehen verleihen und eben ihrer Grösse wegen nur auf Läsion grösserer Gefässäste zurückgeführt werden können. Die Brüchigkeit der verätzten Partien, wahrscheinlich auch die starke Contraction des Magens in Folge des heftigen Reizes befördert das Zustandekommen solcher Rupturen. Reactive Hyperämie und Ecchymosenbildung kommen frühzeitig zu Stande, während die entzündliche Schwellung längere Zeit erfordert. Im weiteren Verlaufe kommt es zur Abstossung der necrotischen Partien, Geschwürsbildung und Vernarbung. Nicht gar selten kommt es zu phlegmonösen Entzündungen, in Folge welcher grosse Partien der Magen-, respective der Oesophagusschleimhaut, namentlich der letzteren, in Form von Fetzen oder Röhren abgestossen und ausgebrochen werden können. Noch häufiger sind[S. 636] croupöse Entzündungen besonders nach blos oberflächlichen Verätzungen. Insbesondere häufig haben wir sie bei Kindern, welche Laugenessenz getrunken hatten, im Rachen und am Kehlkopfeingang beobachtet. Sehr häufig übergreifen solche croupöse Entzündungen auf die Luftwege und sehr gewöhnlich sind es in beiden Fällen circumscripte (Aspirations-) Pneumonien, die meist die eigentliche Todesursache bilden. Auch Croup des Oesophagus und des Magens haben wir nach solchen Vergiftungen beobachtet, und es kann auch noch, nachdem die verätzte Schleimhaut abgestossen wurde, auf der blossliegenden Muscularis ein croupartiger Belag sich bilden.
Die zurückbleibenden Narben können noch nachträglich schwere Erscheinungen und selbst den Tod veranlassen, insbesondere durch Stricturen des Oesophagus.[410]
Eine weitere secundäre Wirkung der Aetzgifte besteht in der Transsudation derselben durch die Wände des Magens und Imbibition in die ihm anlagernden Organe. Dieselbe erfolgt meist erst postmortal, kann aber auch, wie sich Lesser durch directe Beobachtung überzeugte, schon während des Lebens eintreten. Wir werden auf dieselben bei den einzelnen Giften zurückkommen. In jenen Fällen, wo als höchster Grad der Aetzwirkung Durchbruch des Magens erfolgt, sei es noch während des Lebens oder postmortal, tritt der Mageninhalt frei in die Bauchhöhle aus und kann dort mehr weniger ausgebreitete Verätzungen, besonders an den abhängigen Stellen, bewirken.
Aetzgifte, die wegen starker Verdünnung wenig oder gar nicht mehr ätzen, können noch mehr weniger heftige Irritationserscheinungen hervorrufen. Sehr deutlich kann man dies bei Vergiftungen mit Mineralsäuren im Darm beobachten, wo verhältnissmässig häufig graue Verätzung sich findet, die, nach abwärts zu an Intensität abnehmend, allmälig in catarrhalische Schwellung und Röthung und diese wieder allmälig in die normale Beschaffenheit der Schleimhaut übergeht, ein Verhalten, das solche, blos durch locale Giftwirkung entstandenen Veränderungen wesentlich von jenen diffusen entzündlichen Veränderungen unterscheidet, die erst secundär durch Resorptionswirkung des Giftes veranlasst werden. Die irritative Wirkung der Aetzgifte ist keineswegs proportional der Aetzkraft der letzteren, scheint vielmehr von anderweitigen Eigenschaften der Substanz abzuhängen. So besitzt z. B.[S. 637] die arsenige Säure bei unbedeutender Aetzkraft eine hochgradige Irritationsfähigkeit. Auch gibt es Substanzen, die gar nicht ätzen, aber auf die Schleimhäute eine mehr weniger intensive Reizwirkung ausüben. Auch scheint zufolge den Beobachtungen Lesser’s die Irritabilität der einzelnen Schleimhäute eine verschiedene zu sein, insbesondere die der Magenschleimhaut eine grössere als jene der Schleimhaut des Darmcanals, was sich aus dem grösseren Gefässreichthum der ersteren ganz wohl begreift.
Von den Befunden im Magen, die irrthümlich auf die Einwirkung irritirender und ätzender Gifte bezogen werden können und schon wiederholt bezogen wurden, seien hier erwähnt die durch katarrhalische Processe oder durch Stauungshyperämie bewirkten Schwellungen und Röthungen der Magenschleimhaut, die „Verdauungsröthe“, die Injection und Ecchymosirung, wie sie so häufig gefunden wird; grosse hämorrhagische Erosionen (hämorrhagische Necrosen), die diphtheritische und die phlegmonöse Magenentzündung, endlich die an der Leiche durch Imbibition, sowie durch cadaveröse Verfärbung und Erweichung zu Stande kommenden Veränderungen, von denen wir insbesondere die sogenannte „Magenerweichung“ hervorheben wollen, und zwar sowohl die sogenannte weisse oder graue Erweichung, welche als reine Leichenerscheinung gewöhnlich bei Säuglingen, die mit vollem Magen gestorben sind, am Magengrunde sich findet und durch sauere Gährung des Mageninhaltes bedingt wird, als namentlich die mit Ecchymosen verbundene und wahrscheinlich aus hämorrhagischen Erosionen hervorgegangene oder wenigstens auf hyperämischer Grundlage entstandene sogenannte schwarze oder braune Erweichung, welche auch bei Erwachsenen, insbesondere häufig bei an schweren Hirnkrankheiten (auch Verletzungen) Gestorbenen sich findet und wahrscheinlich schon in der Agone sich zu entwickeln beginnt. Beide Formen können auch in den unteren Abschnitten des Oesophagus vorkommen und beide zum Durchbruch und Austritt des Mageninhaltes in die Bauch-, respective in die Brusthöhle führen. In beiden Fällen reagirt der Mageninhalt stark sauer, bewirkt opake Trübungen der serösen Häute, mit denen er in Contact kommt und zersetzt auch das Hämoglobin zu Hämatin, woraus sich bei der „schwarzen Erweichung“ die kaffeesatzartige Farbe der Ecchymosen, die braune und schwärzliche Imbibition der erweichten Gewebe und die schwarze Farbe der in ihr befindlichen Gefässnetze erklärt. Kommt ein solcher, bereits in saurer Gährung begriffener oder zu dieser geneigter Inhalt in die Lungen, was sowohl in den letzten Lebensmomenten als erst postmortal geschehen kann, so bewirkt er in dieser ähnliche Erweichungen. Wir haben solche wie gangränös aussehende Stellen insbesondere bei Säuglingen gesehen, denen Milch, Mehlbrei u. dergl. in die Lungen gerathen war. Auch wollen wir hier bemerken, dass wir bereits wiederholt ähnlich aussehende, jedoch nach Essig riechende, mitunter mit schwacher opaker Trübung der Schleimhäute des Halses verbundene Stellen in den Lungen bei plötzlich Verstorbenen begegneten, denen offenbar Essigsäure als Belebungsmittel gereicht worden war.
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Die durch Resorption von giftigen Stoffen veranlassten anatomischen Allgemeinbefunde betreffen entweder das Blut oder die Gewebe.
Das Blut spielt neben der Lymphe bei der Resorption von Giften die Hauptrolle, doch scheint ihm bei den meisten Vergiftungen nur die Rolle eines Trägers des Giftes zuzufallen, ohne dabei selbst wesentlich verändert zu werden. In einzelnen erleidet es aber auffallende Veränderungen, von welchen insbesondere jene forensisch wichtig sind, welche eine Alteration des normalen Verhaltens des Blutfarbstoffes des (Hämoglobins) bedingen, die sich theils makroskopisch durch Farbveränderung des Blutes, theils durch geändertes chemisches (spectrales) Verhalten kundgibt. Hierher gehört die Umwandlung des Hämoglobins in Kohlenoxydhämoglobin bei Vergiftungen mit Kohlenoxyd, ferner die mehr weniger ausgedehnte Zersetzung des Blutfarbstoffes zu Hämatin bei Vergiftung mit Säuren und Alkalien, mit chlorsaurem Kali etc.
Eine sehr beachtenswerthe, durch Resorption von gewissen Giften veranlasste Veränderung in den Geweben ist die körnige und fettige Degeneration derselben. Wir sehen sie vorzugsweise nach Phosphorvergiftung und dann nach Vergiftung mit Arsenik, aber auch bei subacuten Vergiftungen mit Säuren und Alkalien und den meisten metallischen Giften, dann bei fast allen chronischen Vergiftungen, von denen in erster Reihe die chronische Alkoholvergiftung zu nennen ist.
Wir haben hier vorzugsweise die acuten oder subacuten Degenerationen im Auge. Die körnige Degeneration zeigt sich besonders im Parenchym drüsiger Organe, namentlich an der Magenschleimhaut, an den Nieren und an der Leber. Diese Organe präsentiren in den höheren Graden der körnigen Degeneration ein Bild, welches Virchow sehr treffend als „trübe Schwellung“ bezeichnet. Die Magenschleimhaut erscheint etwas geschwellt, die Leber, insbesondere aber die Nieren, etwas vergrössert, dabei jedoch schlaff und zeigen sich eigenthümlich getrübt von matter, grauer oder graugelblicher Farbe, die namentlich an der Schnittfläche auffällt. Unter dem Mikroskope finden sich die Labdrüsen, beziehungsweise die Leberzellen und die Nierenepithelien etwas vergrössert, erstere mehr abgerundet und alle mit einer feinkörnigen Masse erfüllt, deren einzelne Körnchen das Licht stark brechen und unter dem Mikroskope schwarz erscheinen. Die körnige Degeneration ist nur eine Vorstufe der fettigen, bei welcher die Organe noch mehr an Volum zunehmen, immer deutlicher gelb sich färben, einen fettigen Glanz, sowie etwas teigige Consistenz annehmen und unter dem Mikroskop eine mehr weniger reichliche Ablagerung von Fetttröpfchen in den Drüsenzellen zeigen. Doch erhalten die Organe nicht jenes pralle Aussehen und jene rein gelbe und transparente Farbe, wie wir sie z. B. bei der einfachen Fettleber so häufig zu Gesicht bekommen. In den meisten Fällen begegnen wir den verschiedensten Uebergängen von körniger zu fettiger Degeneration. In den ersten Stadien der „trüben Schwellung“ löst sich ein Theil der [S. 639]die Drüsenzellen erfüllenden Körnchen noch in Essigsäure, später nur in kaustischen Alkalien, sowie in Alkohol, Aether u. dergl. Anfänglich sind dieselben daher wahrscheinlich albuminöser, später zweifellos fettiger Natur.
Gleichzeitig wie in den genannten Organen stellt sich die körnige und dann fettige Degeneration noch in anderen Geweben ein, vorzugsweise in den Muskeln, besonders im Herzen und in den Gefässwandungen. Das Herz erscheint in den vorgerückteren Graden schlaff, das Herzfleisch ist leicht zerreisslich, von eigenthümlich trübem Glanz und grauer, mitunter lehmartiger Farbe, und das Mikroskop zeigt undeutliche oder ganz unkenntlich gewordene Querstreifung der Muskelfasern und letztere in verschiedenen Stadien des körnigen und fettigen Zerfalles, in deren ersten die Muskelfasern wie bestäubt, in den späteren von deutlichen Fettkügelchen und das Licht stark brechenden Körnchen durchsetzt erscheinen. Gleiche Veränderungen, jedoch in verschiedener Intensität, zeigt die Musculatur des Stammes und der Extremitäten. Was die Gefässe betrifft, so lässt sich die körnige und fettige Degeneration vorzugsweise an den kleinen Gefässen der Pia, der Hirnsubstanz, sowie der serösen Membranen gut verfolgen und sowohl in der Adventitia als in der Muscularis bemerken. Mit der fettigen Entartung der Gefässwandungen geht eine grössere Zerreisslichkeit derselben einher, welche die Entstehung von Ecchymosen und selbst grösserer Hämorrhagien bedingen kann.
Ueber die Ursachen der acuten körnigen und fettigen Degeneration bei gewissen Vergiftungen ist man noch nicht vollständig im Klaren, doch neigt man sich gegenwärtig der Ansicht zu, dass jene Veränderungen eine partielle Mortification der Gewebe, namentlich des Inhaltes der Drüsenzellen, bedeuten, die theils durch die unmittelbare Wirkung des Giftes selbst, theils durch behinderte Sauerstoffzufuhr veranlasst wird.[411] Das Zusammenwirken beider Factoren bewirkt ein Missverhältniss zwischen Zersetzung der Eiweisskörper und Verbrennung der Zersetzungsproducte (worunter vorzugsweise Fett), welches in der fettigen Degeneration einen eclatanten Ausdruck findet (Fränkel).
Daraus folgt schon theoretisch, dass die betreffenden Veränderungen nicht ausschliesslich nach gewissen Vergiftungen vorkommen, sondern auch nach anderweitigen Erkrankungen sich entwickeln können, die mit Vermehrung des Eiweisszerfalles und Herabsetzung der Oxydationsvorgänge einhergehen. Thatsächlich finden wir die gleichen Degenerationserscheinungen sowohl bei einer Reihe natürlicher Todesarten, wovon wir insbesondere die acuten Infectionskrankheiten, namentlich die exanthematischen, dann die mit allgemeinen Ernährungsstörungen einhergehenden Krankheiten (Tuberculose, protrahirte Anämie) anführen, als auch nach gewissen gewaltsamen Todesfällen, von denen z. B. der Tod in Folge von Brandwunden und die septischen und [S. 640]pyämischen Processe zu nennen sind.[412] Auch die Fäulniss bewirkt Veränderungen, die der „trüben Schwellung“ sehr ähnlich sind, da auch durch sie die Organe anfangs succulenter werden, sich trüben und selbst einen Stich in’s Gelbliche annehmen und dann sowohl der Zelleninhalt, als die Musculatur mit körnigen Massen durchsetzt erscheinen, sie selbst zu kleinen Fetttröpfchen zusammentreten können.
Nach vielen Vergiftungen, namentlich nach solchen mit organischen Giften, ergibt die Obduction nichts Auffallendes, noch weniger aber Charakteristisches. Verhältnissmässig häufig ist der Befund jenem nach Erstickung ähnlich, was sich daraus erklärt, dass viele der betreffenden Gifte, so z. B. die meisten Alkaloide, sowie die gasförmigen und flüchtigen Gifte den Tod durch rasche Lähmung des Respirationsapparates bewirken.
Der chemische Nachweis von Gift in Leichentheilen ist nicht Sache des Gerichtsarztes, sondern des Gerichtschemikers, dagegen ist es Aufgabe des ersteren, diesem das Materiale für seine Untersuchung zu liefern. Wie dabei vorzugehen ist, ist aus den oben angeführten Verordnungen zu ersehen, aus welchen sich ergibt, dass nebst dem Magen- und Darminhalt auch der Magen und die Speiseröhre mit einem Stück des Darmes, ferner Stücke der einzelnen Organe, besonders der Leber und der Nieren[413], sowie Blut und Harn zur Untersuchung zurückgelegt werden sollen. Es empfiehlt sich und ist auch theilweise vorgeschrieben, die im Magen gefundenen verdächtigen Substanzen für sich in einem eigenen Gefässe aufzubewahren, ebenso den Magen und Zwölffingerdarm sammt Inhalt, geschieden von den eventuell ebenfalls zu übergebenden unteren Darmpartien und in gleicher Weise die Stücke der übrigen Organe. Weshalb das Regulativ die besondere Aufbewahrung des Harnes fordert, ist aus dem oben über die Ausscheidung der Gifte Gesagten ersichtlich. Eine gesonderte Reservirung des Blutes wird nur dann gefordert, wenn eine spectral-analytische Untersuchung angezeigt erscheint.
Sowohl das preussische Regulativ als die österreichische Vorschrift haben vorzugsweise nur die oberen Partien des Darmes im Auge. Die unteren sollten jedoch auch nicht vernachlässigt werden, namentlich nicht bei der Phosphorvergiftung, da es uns wiederholt gelungen ist, im unteren Ileum und im Dickdarm Phosphor nachzuweisen, während dies im Magen und den oberen Darmpartien nicht mehr möglich war. Die [S. 641]Behauptung Scolosuboff’s (Annal. d’hygiène publ. 1876), dass bei Arsenikvergiftung die grösste Menge des resorbirten Giftes im Gehirn und im Rückenmark sich finde und daher bei solchen und anderweitigen Vergiftungsfällen insbesondere die genannten Organe dem Gerichtschemiker übergeben werden sollen, muss in Folge der gründlichen Untersuchungen unseres Collegen Prof. E. Ludwig („Ueber die Localisation des Arsens im Organismus nach Einverleibung von arseniger Säure.“ Wiener med. Blätter. 1879, Nr. 48–52) als ganz unbegründet zurückgewiesen werden. Dagegen ist es bei Vergiftungen mit flüchtigen Substanzen, z. B. Chloroform, Blausäure, angezeigt, das Gehirn für sich aufzubewahren und chemisch zu untersuchen, da aus diesem der knöchernen Kapsel wegen, in welcher das Gehirn eingeschlossen ist, die genannten Stoffe schwerer verflüchtigen als aus anderen Organen. So vermochte E. Ludwig bei einem von uns obducirten Selbstmordfall durch Chloroform dieses noch im Gehirn, nicht aber in den übrigen Organen nachzuweisen. — In Fällen, wo die Vergiftung per rectum, per vaginam etc. geschah, ist es natürlich geboten, auch diese Organe separirt dem Chemiker zu übergeben. — Dass, insbesondere bei leicht zersetzbaren Giften, die Uebergabe der Leichentheile an den Chemiker thunlichst rasch erfolgen und daher von den Gerichtsärzten betrieben werden soll, ist selbstverständlich. Zusatz von Alkohol ist nur bei längerem Transport und zu befürchtender rapider Fäulniss (die auch die Gefässe sprengen kann) indicirt; in diesem Falle ist aber stets die Beigabe einer Probe des betreffenden Alkohols angezeigt.
Von Wichtigkeit, was auch den Kostenpunkt anbelangt, ist es, dass dem Chemiker von Seite der Gerichtsärzte im Einverständnisse mit dem Untersuchungsgericht eine Information über den concreten Fall und über die vom chemischen Standpunkte erforderlichen Aufklärungen gegeben werde, damit derselbe einestheils nicht überflüssige Untersuchungen anstellt und andererseits nicht allzu summarisch verfährt, so dass z. B. wohl ein Giftstoff nachgewiesen, aber nicht auf dessen quantitative Bestimmungen und auf die Vertheilung desselben in den verschiedenen Organen Rücksicht genommen wird.
Das Resultat der chemischen Untersuchung der Leichentheile kann entweder positiv oder negativ ausfallen, d. h. es wird entweder wirklich eine als giftig bekannte Substanz nachgewiesen oder es wird nichts gefunden.
Der positive Ausfall der chemischen Untersuchung ist natürlich von höchster Bedeutung und in der Regel für sich allein im Stande, den Thatbestand der Vergiftung ausser Zweifel zu stellen. Doch sind in jedem einzelnen Falle jene Möglichkeiten zu erwägen, durch welche die betreffende Substanz auch ohne Vergiftung, entweder noch während des Lebens oder erst nach dem Tode in die Leiche gelangt sein konnte.
In ersterer Beziehung wurde von Devergie und Orfila behauptet, dass kleine Mengen Arsen normal im menschlichen Körper, namentlich in den Knochen, vorkommen. Diese Behauptung[S. 642] ist in so weiter Fassung gewiss unrichtig, doch dürften bei der allgemeinen Verbreitung der Arsenikalien, insbesondere der arsenhältigen, auch zur Färbung von Nahrungs- und Genussmitteln benützten Farben, Spuren von Arsen im menschlichen Körper nicht besonders selten sein. Ungleich häufiger scheinen, besonders bei älteren Leuten, Spuren von Kupfer, Zink und von Blei vorzukommen, was bei der grossen Verbreitung dieser Metalle nicht verwundern kann.
Von grösserem Gewicht ist der Umstand, dass giftige Stoffe, weil sie als Medicamente genommen oder als Antiseptica angewendet wurden, im Organismus gefunden werden können. Auf diese Weise kann Arsen, das namentlich als Tinctura Fowlerii häufig gegeben wird und in manchen Mineralwässern (Roncegno, Levico, Guberquelle) in grösserer Menge enthalten ist, ebenso Antimon, Sublimat und metallisches Quecksilber, Blei, und von Alkaloiden besonders das so häufig gebrauchte Morphium in den Körper gelangen und dann bei der chemischen Untersuchung darin gefunden werden. Es handelt sich dabei nicht immer blos um kleine Mengen, da die betreffenden Medicamente häufig durch längere Zeit genommen werden und da man bei einzelnen mit der Dosis steigt und nicht selten so weit kommen kann, dass die schliesslich zur Anwendung kommenden Dosen die Dosis toxica letalis weit übersteigen, wie wir dies vom Arsen und vom Morphium bereits erwähnt haben.
In einem unserer Fälle hatte ein in Folge Nierenschrumpfung an hochgradiger Herzhypertrophie leidendes, sehr fettes Individuum kurz vor seinem Tode Tart. stib. genommen, welches ihm von einem Arzte als Brechmittel gegeben worden war. Dieser wurde sowohl im Magen als in den Gedärmen und in der Leber nachgewiesen. Bei einem mit Emphysem und chronischem Bronchialcatarrh behafteten und an Herzverfettung verstorbenen Fiaker zeigte die Magenschleimhaut orangenrothe Streifen einer pulverigen Substanz, welche sich als Sulf. aur. antim., dem Bestandtheil eines kurz vor dem Tode vorgenommenen Hustenpulvers, erwies. In drei anderen Fällen, in deren einem bei der Section Strictur der Harnröhre, Cystitis und Pyelitis, in dem anderen Tuberculose und im dritten Herzverfettung sich fand, wurde auch Morphium im Mageninhalt und in den Leichentheilen gefunden, da dasselbe von allen drei Kranken durch längere Zeit, und zwar von dem einen in subcutaner Injection, von den anderen in Pulverform gebraucht worden war. Nur in dem einen der drei Fälle (Tuberculose) konnte eine Vergiftung mit Morphium angenommen werden, da das Individuum unter entschiedener und länger dauernder Narcose gestorben war, bei den zwei anderen aber musste dies mit Rücksicht darauf, dass der rasche Tod auch durch die bei der Section nachgewiesene Erkrankung bewirkt worden sein konnte, unentschieden gelassen werden. Da bei allen dreien auch der Verdacht eines Selbstmordes bestand, so erklärten wir, dass, um sich in dieser Beziehung aussprechen zu können, einestheils die Menge des in den Leichentheilen [S. 643]vorhandenen Giftes, andererseits aber auch die Dosis bekannt sein müsste, bis zu welcher die Betreffenden bereits mit dem Morphium gekommen waren. Leider konnten weder nach der einen, noch nach der anderen Richtung sichere Anhaltspunkte gewonnen werden. Bourneville und Yvon (Med. Centralbl. 1875, pag. 830) fanden in der Leber einer ohne Erfolg mit Kupferoxydammoniak behandelten epileptischen Person die enorme Quantität von 0·295 Grm. Kupfer, dagegen in der Leber von zwei Individuen, die sich mit Kupfersalzen vergiftet hatten, blos 80, respective 120 Mgrm.
Käme die erwähnte Möglichkeit in Frage, so müsste auf die quantitative Bestimmung des in der Leiche gefundenen Giftes einerseits und die Anamnese anderseits besonderes Gewicht gelegt werden. Letztere hätte sich auf die Natur des Leidens, gegen welches das Medicament gebraucht wurde, zu beziehen; ferner darauf, wie lange die Anwendung schon dauerte, insbesondere aber darauf, zu welcher Dosis der Betreffende bereits gekommen war. Ausserdem dürfte die grössere oder geringere Schnelligkeit, mit welcher das Gift aus dem Körper ausgeschieden wird, nicht ausser Acht gelassen werden, da bei acuten Intoxicationen mit Giften, die erfahrungsgemäss rasch eliminirt werden, die Menge des in der Leiche gefundenen Giftes mit grösster Wahrscheinlichkeit, ja mit Bestimmtheit die Dosis gibt, die kurz vor dem Tode genommen wurde, während, wenn Gifte gefunden wurden, die schwer den Organismus verlassen, die nachgewiesene Menge nicht blos von den zuletzt genommenen, sondern auch von den bereits früher einverleibten, aber nicht ausgeschiedenen Dosen herrühren kann. Die Leiche selbst kann insoferne einen Anhaltspunkt für die Entscheidung liefern, als sie krankhafte Befunde ergibt, gegen welche erfahrungsgemäss häufig bestimmte gifthältige Medicamente angewendet werden, z. B. Syphilis, ebenso wenn sich Zeichen subcutaner Anwendung von Medicamenten finden, wie dies bei dem oben erwähnten Individuum der Fall war, bei welchem an den Armen und selbst an der Brust zahlreiche, theils geheilte, theils in Heilung begriffene, theils frische, feine Stichwunden constatirt wurden, wie sie nach subcutanen Injectionen zurückbleiben.
Eine andere zu erwägende Möglichkeit ist die, dass das Gift dadurch, dass der Verstorbene in Folge seines Geschäftes, Gewerbes etc. damit zu thun hatte, in den Körper desselben hineingelangt sein konnte. Diese Möglichkeit wäre bei Berg- und Hüttenarbeitern, bei Arbeitern in chemischen, Farbwaaren- oder in Spiegelfabriken[414] und bei zahlreichen Handwerken, Gewerben, die mit Gift zu thun haben, in Betracht zu ziehen und auf die Anamnese und die oben angeführten Momente Rücksicht zu nehmen. Gleiches hätte zu geschehen gegenüber Arsenessern, Opiophagen etc., obwohl an derartige Möglichkeiten nur unter besonderen Umständen[S. 644] gedacht werden könnte. In allen solchen Fällen ist nicht blos die Menge des in der Leiche gefundenen Giftes, soweit sie sichergestellt werden kann, sondern auch das Verhältniss der Menge des nicht resorbirten, respective des im Magen und Darm befindlichen Giftes zu der in den übrigen Organen nachweisbaren zu constatiren, da im Allgemeinen anzunehmen ist, dass bei chronischen Vergiftungen die letzteren, in acuten Fällen die ersteren prävaliren werden, woraus, sowie auch aus anderen bereits angedeuteten Gründen sich die Zweckmässigkeit der Forderung ergibt, dass die zur chemischen Untersuchung zurückgelegten Objecte separirt in Gefässe gegeben werden sollen.
Bei Beurtheilung und diagnostischer Verwerthung des Umstandes, ob und wieviel von einem Gifte bereits in die sogenannten zweiten Wege und wie weit dasselbe gelangt ist, ist die Erwägung wichtig, dass bei älteren, namentlich bei exhumirten Leichen, sowohl vom Magen als von anderen Stellen aus das gelöste Gift diffundiren und mitunter auf weite Strecken sich verbreiten kann, und zwar in weit ausgedehnterer Weise, als wir dies bereits bei den ätzenden Giften (pag. 636), kennen gelernt haben. Es ist das Verdienst von Torsellini (1889), Prescot und Reese (Virchow’s Jahrb. 1890, I, pag. 498), diesen Vorgang experimentell constatirt zu haben, indem sie Arsenik, Sublimat, Brechweinstein, welche sie todten Thieren mit einem Schlundrohr in den Magen injicirten, nach 3–7 Wochen in den Lungen, im Herzen, in Milz, Nieren und in der Harnblase nachweisen konnten. Strassmann hat mit Kirstein (Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1893, pag. 191, und Virchow’s Arch. 1894, CXXXVI, pag. 127) diese Angaben nachgeprüft und namentlich bezüglich des Arseniks bestätigt gefunden, der nach postmortaler Einführung in den Magen nach einigen, sicher nach 12 Tagen in den sogenannten zweiten Wegen nachgewiesen werden konnte, ebenso in unserem Institute Haberda und Wachholz (Zeitschr. f. Medicinalb., 1893, pag. 393) bezüglich Arsen, Antimon, Sublimat, Cuprum sulfuricum, Nitrobenzol und wahrscheinlich Kali chloricum. Die Diffusion geht durchaus stetig centrifugal vorwärts und folgt vorzugsweise den Gesetzen der Schwere. Zur Unterscheidung einer solchen postmortalen Imbibition von einer vitalen Resorption empfiehlt Strassmann die getrennte Untersuchung der paarigen Organe, insbesondere der Nieren auf ihren Giftgehalt.
Dem Einwurf, dass die von dem Chemiker gefundene giftige Substanz erst an der Leiche hineingerathen sein konnte, ist zunächst durch correcte Verpackung der Leichentheile zu begegnen, die in der Weise zu geschehen hat, dass weder von Aussen etwas zu den betreffenden Objecten gelangen, noch von diesen etwas verloren gehen kann. Man sollte principiell nur gläserne Gefässe mit eingeriebenen Glasstöpseln benützen, die gegenwärtig leicht zu haben sind und allen Anforderungen entsprechen. Im Nothfall sind gut gereinigte Glasflaschen und neue Korkstöpsel zu benützen.[S. 645] Zweckmässig ist das Ueberbinden des Stöpsels und Halses des betreffenden Gefässes mit Schweinsblase (auch Pergamentpapier), wie es die österr. Vorschrift verlangt. Darüber ist dann Papier zu binden und auf diesem der Inhalt des Gefässes zu signiren. Sache des Chemikers aber ist es, dafür zu sorgen, dass nur vollkommen reine und als solche geprüfte Reagentien zur Verwendung kommen, eine Vorsicht, die namentlich bei Untersuchungen auf Arsen nicht genug strenge zu beachten ist.
Stammen die zu untersuchenden Objecte von einer exhumirten Leiche, so ist auch die Möglichkeit zu erwägen, dass erst im Grabe eine giftige Substanz in die Leichentheile hineingelangt sein konnte.[415] Es ist zunächst daran zu denken, dass den Leichen verschiedene mit metallischen Farben gefärbte Dinge, wie künstliche Blumen und Blätter, Heiligenbilder, sowie metallische Gegenstände, insbesondere Kreuze, in’s Grab mitgegeben werden, dass häufig der Sarg metallische Verzierungen zu besitzen pflegt, und dass auch der Anstrich des Sarges mit metallischen Farben geschehen sein konnte. So lange Leiche und Sarg, sowie die mitgegebenen Dinge noch wohl erhalten sind, ist nicht anzunehmen, dass von letzteren aus giftige Stoffe in die Leiche gekommen sein konnten. Je weiter jedoch die Fäulniss und Verwesung der Leiche und damit auch die Zerstörung des Sarges und der mitgegebenen Dinge vorwärts schreitet, desto eher ist es möglich, dass die exhumirten Leichentheile aus dieser Quelle giftige Substanzen enthalten können. Man kann sich dieser Thatsache gegenüber nicht verschliessen, wenn auch zugegeben werden muss, dass grössere Mengen von Gift nicht wohl auf diese Art in das Innere der verwesenden Leiche gelangen, und dass es eher denkbar ist, dass nur local, d. h. dort, wo ein metallischer oder mit metallischen Farben gefärbter Gegenstand zu liegen kam, von diesem aus der giftige Körper in die Leichentheile gelangt sein konnte.
Schauenstein (l. c. pag. 547) fand im Inneren einer schmierigen Masse, die aus der Magengegend einer nach 7 Jahren exhumirten Leiche entnommen war, einen zerfressenen Messingknopf und die umgebenden Partien der erwähnten Masse enthielten deutliche Mengen von Kupfer und Zink, ausserdem aber auch, sowie die entfernteren Organe, Spuren von Arsen, welches in dem Knopfe allein nicht nachgewiesen werden konnte. Tardieu und Roussin (l. c. pag. 78) fanden in einem Falle eine kupferige Auflagerung an der Magenschleimhaut, die von einer Nadel herrührte, die nach der Section dort zurückgelassen worden war, und jener merkwürdige Fall Casper’s (l. c. II, 436), in welchem bei einer nach 11 Jahren ausgegrabenen Frau nur in den Kopfhaaren Arsen gefunden wurde, lässt sich [S. 646]kaum anders erklären, als durch die Annahme, dass arsenikhältige Gegenstände (Blumen, Nadeln etc.) in den Haaren staken, als die Leiche in’s Grab gelegt worden ist, wie dieses auch in einem von Ludwig und Mauthner (Wr. med. Bl. 1884, Nr. 1) mitgetheilten Falle nachgewiesen wurde, wo der Arsengehalt der Kopfhaut einer exhumirten Leiche von einem Kranz von künstlichen Blumen herrührte. Derartige Möglichkeiten zeigen wieder, wie nothwendig es ist, auch bei Exhumationen verschiedene Theile der Leiche zur chemischen Untersuchung zu übergeben und separirt zu verpacken, wie sie uns auch auffordern, bei Exhumationen nicht blos der Leiche selbst, sondern auch den Resten der ihr mitgegebenen Gegenstände ein besonderes Augenmerk zu schenken und alle derartigen Funde sowohl aufzubewahren, als in ihrer Lage und Beschaffenheit genau zu Protokoll zu bringen.
Auch der Möglichkeit, dass das Erdreich des betreffenden Begräbnissplatzes giftige Metalle, insbesondere Arsen, enthalten kann, welche dann in die lange in solcher Erde liegende Leiche gelangt sein konnten, ist Rechnung zu tragen. Dass das Erdreich einzelner Kirchhöfe Arsen enthält, ist eine vielfach constatirte Thatsache. Zufolge der Untersuchungen Sonnenschein’s[416] kann dasselbe schon primär im Boden enthalten sein und von arsenhältigem Eisenoxyd herrühren, welches wieder grösstentheils aus verwittertem Schwefelkies entsteht, der in der Regel Arsen zu enthalten pflegt. In anderen Fällen stammt der Arsenik noch von der Benützung des betreffenden Platzes als Feld, dem dieser und andere metallische Substanzen durch gegen Feldmäuse gestreutes Gift, oder wie wir hinzufügen, durch den (insbesondere aus den Aborten und Mistgruben der Städte stammenden) Dünger zugeführt worden sein konnten, während in wieder anderen der Arsenikgehalt von den Dämpfen benachbarter Sodafabriken stammt, die durch den herrschenden Wind über den betreffenden Friedhof geführt und dort niedergeschlagen wurden.[417] Die Bedeutung dieser Thatsache wird dadurch sehr abgeschwächt, dass zufolge der Untersuchungen Orfila’s und Sonnenschein’s der Arsenik[S. 647] im Boden nur in im Wasser unlöslichen Verbindungen vorkommt und auch, wenn er als solcher in das Erdreich gelangt, mit Thonerde, Kalk, Eisenoxyd etc. im Wasser unlösliche Verbindungen eingeht, was schon in den obersten Schichten des betreffenden Bodens geschieht, aus welchen beiden Umständen sich begreift, warum selbst bei Leichen, die thatsächlich durch 6–16 Monate in arsenikhältiger Friedhoferde gelegen waren, doch kein Arsenik aufgefunden werden konnte (siehe Sonnenschein, l. c. 146, und Mayet, Annal. d’hygiène publ. 1879, pag. 148). Ludwig und Mauthner (Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 36) fordern, dass in jedem Fall geprüft werden soll, ob das in der Friedhoferde enthaltene Arsen mit gewöhnlichem oder mit ammoniakalischem Wasser ausgezogen werden kann. Es ist daher bei jeder Exhumation dafür Sorge zu tragen, dass sowohl von dem den Sarg umgebenden Erdreich, als von dem an entfernteren Stellen des Friedhofes, Proben zur chemischen Untersuchung zurückgelegt werden, ersteres schon deshalb, weil es möglich und leicht begreiflich ist, dass bei der colliquativen Fäulniss mit den aus der Leiche austretenden Flüssigkeiten auch darin gelöste Giftstoffe in das umgebende Erdreich sich imbibiren und darin zurückbehalten werden können. Aus gleichem Grunde sind auch Stücke vom Sargholz, insbesondere von den abwärtigen Theilen desselben, für die chemische Untersuchung zu reserviren.
Der §. 109 der österreichischen Vorschrift für die gerichtliche Todtenbeschau bestimmt hierüber wie folgt: Ist wegen Verdacht einer Vergiftung eine bereits beerdigte Leiche zu exhumiren, so soll bei der Exhumation wenigstens einer der Chemiker, welche die chemische Untersuchung der Leiche vornehmen werden, gegenwärtig sein. Es wird dabei zu bestimmen sein, ob die Reinigung des Cadavers mit Bleichkalklösung zulässig ist, oder ob diese Desinfectionsart die Auffindung des Giftes unmöglich machen würde. — Handelt es sich um die Ausmittlung einer Vergiftung entweder mit Arsenik, oder mit Blei oder mit Kupfer, so sind, insbesondere bei der erstgenannten, vorzüglich solche Körpertheile zur chemischen Untersuchung zu wählen, welche mit der die Leiche umgebenden Graberde am wenigsten in Berührung kamen. — Ueberdies aber muss immer sowohl von der den Leichnam zunächst umgebenden, als auch von der entfernteren Graberde, sowie von der Erde an anderen Stellen des Friedhofes etwas mitgenommen und chemisch untersucht werden. Auch von dem Sargholze, vorzüglich von jenen Stellen, wo man bemerkt, dass eine grössere Ansammlung von Feuchtigkeit stattgefunden habe, sollen Stücke gesammelt und chemisch untersucht werden.
Ergibt die chemische Untersuchung ein negatives Resultat, so ist damit der Vergiftungstod keineswegs ausgeschlossen. Es gibt zunächst eine Reihe von Giften, die die Chemie gegenwärtig nachzuweisen noch nicht im Stande ist, z. B. die meisten thierischen und Pflanzengifte, weiter kann aber der Nachweis misslingen, weil das Gift bereits wieder ausgeschieden oder zersetzt[S. 648] worden ist. Ersteres geschieht schon zum grossen Theile durch das meist eintretende Erbrechen, sowie durch die Stuhlgänge, später aber durch den Harn und andere Excrete und desto vollständiger, je diffusibler das Gift gewesen war und je länger der Betreffende gelebt hatte. Die vollständige Ausscheidung des Giftes hindert nicht das Eintreten des Todes, da das Individuum zunächst nicht an Gift, sondern an den Veränderungen und Functionsstörungen in den Organen stirbt, die dasselbe veranlasst und die die Elimination des Giftes sehr wohl überdauern können, wie z. B. die Kohlenoxydvergiftung zeigt, die sehr häufig den Tod bedingt, obgleich der Betreffende noch lebend aus der giftigen Atmosphäre gebracht wurde und hierauf, wie die Spectralanalyse ergibt, sämmtliches Kohlenoxyd bereits aus dem Blute verschwunden war. Ueber die Veränderungen, die Gifte im Organismus erleiden und wodurch sie unkenntlich gemacht werden können, wurde bereits oben bei der Art der Elimination von Giften aus dem Körper gesprochen.
Bezüglich der Fäulniss ist bekannt, dass mineralische Gifte derselben in dem Grade widerstehen, dass sie, wenn die Leiche selbst bis auf die Knochen verwest ist, noch nachgewiesen werden können und thatsächlich nachgewiesen wurden. Aber auch viele Alkaloide zeigen einen grossen Widerstand gegen Fäulniss. So fand Stas Morphin in allen Theilen einer Leiche, die seit 13 Monaten begraben war, und ebenso konnte A. Taylor meconsaures Morphin, welches fäulnissfähigen Substanzen zugefügt war, die dann 14 Monate dem Luftzutritt ausgesetzt blieben, wieder auffinden. Strychnin konnte Tardieu („Die Vergiftungen“, pag. 533) in den faulenden Eingeweiden eines Stieres noch nach 11 Jahren nachweisen und E. Heintz[418] bestätigt die grosse Dauerhaftigkeit des salpetersauren Strychnins, da es ihm gelang, aus einem Stücke Fleisch, in welches einige Krystalle davon gelegt wurden, das Gift noch nach 3 Jahren darzustellen. Dagegen waren Jos. Ranke, L. A. Buchner, Wislicenus und Gorup-Besanez nicht im Stande, bei mit 0·1 Grm. salpetersaurem Strychnin vergifteten Hunden das Gift nachzuweisen, wenn die Thiere 100, 130, 200 bis 300 Tage in der Erde gelegen waren. Ipsen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, 1) ist der Meinung, dass das Gift einfach mit den Fäulnissflüssigkeiten aus den Objecten durch Diffusion verschwunden war, da es ihm bei Beachtung dieses Vorganges (siehe oben pag. 636 und 644) gelang, das Strychnin selbst nach jahrelanger Verwesung in Thier- und Kinderleichen nachzuweisen. Pellacani (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 530 und 1888, I, 479) konnte Physostigmin, Atropin, Pilocarpin und Daturin, welche er mit Blut faulen liess, noch nach 7, Picrotoxin, Veratrin, Santonin, Codein und Gurarin noch nach 4 Monaten nachweisen, nicht aber Digitalin. Severi (ibid. 1888, I, 480) konnte sogar[S. 649] Chloroform bei einem damit vergifteten und durch 103 Tage begrabenen Hunde noch in den Leichentheilen nachweisen. Ueber die Nachweisbarkeit der Blausäure und des Phosphors längere Zeit nach dem Tode werden wir später sprechen.
Für jene Fälle, in denen es nicht gelang, in der Leiche eine giftige Substanz chemisch nachzuweisen und dennoch der Verdacht einer stattgehabten Vergiftung besteht, empfahlen Tardieu und vor ihm schon Orfila, Magendie und Christison die Vornahme eines physiologischen Versuches an Thieren, und zwar letztere mit dem Mageninhalt als solchem, Tardieu aber mit den aus dem Mageninhalt oder aus den Leichentheilen gewonnenen Extracten. Es ist solchen Versuchen ein unterstützender Werth nicht abzustreiten, ebensowenig wie dem nicht selten vorkommenden Umstande, dass Thiere (Hühner, Hunde, Schweine etc.), die von dem von einem plötzlich erkrankten Individuum Erbrochenen oder von den betreffenden weggeschütteten Speisen genossen hatten, zu Grunde gingen. Ein solcher Werth kommt aber dem physiologischen Experimente nur dann zu, wenn die durch die Chemie aus den Organen extrahirte Substanz wenigstens einige chemische Eigenschaften zeigt, die diese als eine von aussen in den Körper hineingelangte und bekannten Giftstoffen analoge erkennen lassen, und die betreffenden Reactionen, nicht weil sie vollständig fehlen, sondern weil sie nicht ganz ausgesprochene Resultate liefern, einer Ergänzung bedürfen. So kann die durch den physiologischen Versuch constatirte, blasenziehende oder pupillenerweiternde oder die Herzaction verlangsamende oder die tetanisirende Wirkung einer Substanz jedenfalls ungemein viel dazu beitragen, um die Natur des betreffenden Giftes sicherzustellen, doch ist hierbei die verschiedene Empfindlichkeit und selbst Immunität einzelner Thiere gegen gewisse Gifte wohl zu beachten. So berechnet F. A. Falk (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874, XX) die niedrigste letale Dosis von Strychnin auf ein Kilo Thier bei der Ringelnatter mit 23·1, beim Weissfisch mit 12·5, beim Igel mit 2·97, beim Frosch mit 2·1, beim Hahn mit 2·0, bei der Katze mit 0·75, beim Kaninchen mit 0·6 und beim Hund schon mit 0·45 Mgrm. Besonders empfindlich gegen Strychnin sind junge weisse Mäuse, die nach Falk (ibidem. XLI, 345) noch nach 0·002 Strychninnitrat das charakteristische Muskelschwirren zeigen. Tauben sind gegen Solanin sehr empfindlich, während sie gegen Opium, Morphium und Atropin immun sich zeigen (Th. Husemann, Arch. f. experim. Path. IV, 313). Igel, sowie Hühner und Frösche fressen Canthariden ohne Schaden, ebenso Drosseln und Amseln Belladonnabeeren und Kaninchen Belladonna- und Tabakblätter, wobei zu bemerken ist, dass der Genuss des Fleisches solcher Thiere den Menschen vergiften kann.[419] Anderseits sind Fische gegen Pikrotoxin in so hohem Grade empfindlich, dass nach der Angabe Depaire’s ein Fisch von 200 Grm. Gewicht, den man in ein Gefäss mit 2 Liter [S. 650]Wasser gibt, welches nur 0·01 Pikrotoxin enthält, sich sofort auf den Rücken legt und stirbt (Roth und Lex, Militärgesundheitspflege, II, 681), ebenso Hühner gegen Blausäure, da wir diese schon nach dem Genusse einiger Pfirsichkerne verenden sahen. Rossbach („Ueber die feinsten Giftproben.“ Berliner klin. Wochenschr. 1880, pag. 509) findet, dass Infusorien ungemein empfindlich gegen Pflanzengifte reagiren und verspricht sich viel von der „Infusorienreaction“ für den physiologischen Nachweis der Alkaloidvergiftung[420], da z. B. bei Atropin Verdünnungen von 1 : 1000, bei Strychnin schon solche von 1 : 15.000 auf Infusorien giftig wirken. Andererseits wirken aber für den Menschen ungiftige Alkaloide, z. B., wie schon Binz nachwies, das Chinin in gleicher Weise toxisch auf die genannten Organismen und Langfeldt-Sommerfeldt (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 604) constatirte, dass auch Citronensäure in einer Verdünnung von 1 : 2000 Infusionsthiere binnen 2 Minuten tödtet.
Was jedoch die Verwerthung des physiologischen Versuches mit aus Leichentheilen gewonnenen und nicht näher chemisch bestimmbaren Extracten anbelangt, so muss gegenüber diesen nur die grösste Vorsicht angerathen werden, da die von Lussana, Moriggia und Bastini[421] angestellten Versuche ergeben haben, dass die aus frischen, noch mehr aber aus faulen Leichen mit Wasser, Alkohol und Amylalkohol (nicht aber mit Aether) gewonnenen Extracte an und für sich giftige Eigenschaften zeigen und Thiere zu tödten vermögen, und da weitere von Bangnatelli und C. Lombroso[422] gemachte Untersuchungen, welche ergaben, dass aus verdorbenem Mais sich mit Alkohol eine Substanz ausziehen lasse, welcher theils strychninartige, theils narcotische Eigenschaften zukommen, darauf hinweisen, dass sich bei den verschiedenen, durch Fäulniss und Verderbniss veranlassten Zersetzungen organischer Substanzen Körper zu bilden vermögen, die sich extrahiren lassen und giftige Eigenschaften zeigen können, womit auch die Untersuchungen von W. Zuelzer (Arch. f. experim. Path. VIII, 133) übereinstimmen, ebenso jene von Selmi über die von ihm „Ptomaine“ genannten Fäulnissalkaloide (Rivista sperim. di med. leg. Ann. IV, 777). Durch Arbeiten von Brouardel und Boutmy, Nencki, Gramm, Gautier, Brieger, Bocklisch u. A. wurde eine Reihe solcher Alkaloide isolirt, zugleich aber dargethan, dass nur verhältnissmässig wenige derselben giftig sind (Toxine) und diese mit Pflanzenalkaloiden nicht leicht verwechselt werden können, ausgenommen mit Muscarin und gewissen, der Pyridin- und Hydropyridinreihe angehörigen Alkaloiden, die auch als Ptomaine vorkommen können. Neuere Publicationen über die Bedeutung der Ptomaine für die gerichtliche Medicin von Wolff und Kratter s. Virchow’s Jahresb. 1890, I, 500. Ipsen (Tagbl. d. Wiener Naturforscherversamml., pag. 397) hat in mit [S. 651]Strychnin versetzten Culturen von Tetanusbacillen und anderer pathogener Bacterien, sowie in mit Tetanusgift und Strychnin vergifteten Thieren letzteres ohne weiteres nachweisen können.
Es gehören hierher alle die Umstände, die eben den Verdacht erweckt haben, dass eine Vergiftung vorliege und Veranlassung gaben, dass die gerichtliche Untersuchung eingeleitet worden ist. Diese Umstände sind allerdings häufig derart, dass sie auch der Laie zu beurtheilen und zu würdigen vermag, doch hat sie auch der Arzt zu prüfen und für die Begutachtung des Falles zu verwerthen. In der Regel ist es schon das Unerwartete oder gar Plötzliche des Todes, was auffällt, doch ist in dieser Beziehung zu bemerken, dass auch scheinbar kräftige und gesunde Individuen plötzlich und rasch eines natürlichen Todes sterben können, und dass andererseits Morde und Selbstmorde durch Gift keineswegs immer an und von ganz gesunden und rüstigen Leuten, sondern auch an und von alten gebrechlichen oder anderweitig kranken verübt werden. Dass die Krankheitserscheinungen, die durch Gifte hervorgerufen werden, auch durch natürliche Krankheiten erzeugt werden können, ist bereits erörtert worden, und dies ist umso wichtiger, wenn nach dem Tode des Individuums keine Section gemacht und die Exhumation vorgenommen wurde, nachdem die pathologisch-anatomische Untersuchung wegen vorgerückter Fäulniss oder Verwesung kein Resultat mehr zu geben, also eine natürliche Todesart nicht mehr auszuschliessen vermochte. Der Umstand, dass Jemand kurz nach einer Mahlzeit u. dergl. plötzlich starb, beweist für sich allein eine Vergiftung nicht, da der natürliche Tod in der Verdauung durch Herzlähmung, Apoplexie etc. ungemein häufig vorkommt und der vermehrten Peristaltik wegen auch Incarcerationen, Perforationen von Geschwüren u. dergl. leichter als sonst geschehen können. Wichtiger wäre es, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die erfahrungsgemäss nach Vergiftungen auftretenden Erscheinungen in mehr weniger langen Intervallen auftraten, und dass diese Verschlimmerungen des Zustandes immer zusammenfielen mit der Darreichung bestimmter Speisen oder Getränke, oder Medicamente, oder wenn die Speise oder das Getränk, nach dessen Genusse Jemand erkrankte, solche Erscheinungen darbot, dass aus diesen schon auf die Anwesenheit einer fremdartigen Substanz geschlossen werden musste, so einen auffallend bitteren oder brennenden Geschmack oder den Geruch nach Zündhölzchen zeigte, oder wenn ein Leuchten im Dunkeln[423], oder das Vorhandensein harter, zwischen den Zähnen knirschender[S. 652] Körnchen beobachtet worden wäre u. dergl. Ebenso wichtig wäre die Constatirung der Thatsache, dass Thiere, die von dem Erbrochenen oder Weggeworfenen gefressen hatten, erkrankten oder zu Grunde gingen. Auch die Thatsache, dass Gift in den angeblich genossenen Speisen oder Getränken, oder auch blos im Besitze des Verstorbenen selbst oder Anderer gefunden wurde, wäre in Erwägung zu ziehen, doch ist es klar, dass der Verwerthung solcher Umstände gewisse Grenzen gesetzt sind, die der Gerichtsarzt nicht überschreiten darf, wenn er nicht in die Rolle eines Untersuchungsrichters oder Anklägers oder in die eines Geschworenen fallen will.
Die Erwägung der genannten Umstände muss auch herangezogen werden behufs Entscheidung der Frage, ob eine Vergiftung zufällig oder in selbstmörderischer Absicht oder durch fremde Einwirkung zu Stande gekommen sei und es ist natürlich, dass in den meisten Vergiftungsfällen einzig und allein die äusseren Umstände im Stande sind, diese Frage zu lösen. Es ist begreiflich, dass zu Giftmorden vorzugsweise nur solche Gifte benützt werden, die heimlich beigebracht werden können, so dass, wenn eine Vergiftung mit einem Gifte vorliegt, welches, wie z. B. die ätzenden Säuren, schon auf den Lippen und auf der Zunge heftiges Brennen veranlasst, schon dieser Umstand den Selbstmord wahrscheinlicher macht als eine zufällige Vergiftung oder gar einen Giftmord; doch können solche Gifte Kindern und anderen hilflosen Personen[424] gewaltsam beigebracht werden und auch das zufällige Verschlucken ist nicht ausgeschlossen, kommt sogar bei einzelnen ätzenden Substanzen, wie z. B. bei der sogenannten Laugenessenz, häufig vor und ist sowohl von uns, als von Anderen selbst bei Schwefelsäure und Salzsäure beobachtet worden. Auch der Phosphor verleiht, wenn er Speisen oder Getränken beigemengt wird, diesen so auffallende Eigenschaften, dass man kaum glauben sollte, dass damit Giftmorde geschehen könnten; trotzdem sind solche wiederholt vorgekommen und wurden auch von uns beobachtet, vorzugsweise bei Kindern und solchen Leuten, die sich über den schlechten Geschmack einer Speise hinwegzusetzen vermögen oder wegen Hungers hinwegsetzen müssen. Auch kann Geschmack und Geruch durch das Vehikel verdeckt gewesen sein. Bei gewissen Alkaloiden, insbesondere bei Strychnin, ist es die enorme Bitterkeit, die auffällt. Dessen ungeachtet sind zahlreiche solche Giftmorde bekannt, und es ist klar, dass solche Stoffe, wenn auch nicht gut in Nahrungsmitteln und Getränken, so doch sehr leicht in Medicamenten oder als Medicamente heimlich beigebracht werden können.
[S. 653]
Mitunter ist es die grosse Menge des in der Leiche gefundenen Giftes, in anderen Fällen wieder der grobkörnige Zustand desselben, der für den Selbstmord spricht. So fanden wir in einem Falle von Arsenikvergiftung ausser einer Unzahl sandkorngrosser Arsenikstücke auch solche von Erbsen- bis Bohnengrösse; ebenso in einem zweiten, deren Gewicht 16·802 und mit dem im Erbrochenen gefundenen 91·878 Grm. (!) betrug, ausserdem in einem dritten noch einen zuckererbsengrossen Kieselstein, ferner bei einem Apotheker, der sich mit Strych. pur. vergiftet hatte, zahlreiche Krystalle davon, nicht blos im Magen, sondern auch im Munde, namentlich zwischen den Zähnen, durch welche Befunde in allen vier Fällen der Selbstmord ausser Zweifel gestellt wurde. Ebenso ist, wenn giftige Pflanzentheile, wie Beeren, Blätter, Zweige etc., im Magen gefunden werden, nicht leicht an Giftmord zu denken, wohl aber an zufällige Vergiftung oder unter Umständen an eine solche, die durch einen Fruchtabtreibungsversuch veranlasst worden ist.
Dass in solchen Fällen auch jene Umstände, welche eventuell das betreffende Individuum zum Selbstmord bewogen haben konnten, in Betracht zu ziehen sind, ist selbstverständlich.
Combination von Vergiftung und anderweitiger Gewalteinwirkung kommt wohl beim Selbstmord, aber nur ganz ausnahmsweise beim Mord vor. Bělohradský hat, wie er in einer Arbeit über den combinirten Selbstmord (Zeitschr. d. böhm. Aerzte. 1880, pag. 85) mittheilt, von Combination von Giftmord und anderweitiger Gewalt nur 2 Fälle in der Literatur gefunden, den einen in Casper-Liman’s Handbuch, betreffend den Buchbinder Melchior, der seine Frau und seine Kinder zuerst mit selbstbereiteter Blausäure vergiftet und dann erwürgt hatte und den zweiten in Friedreich’s Blätter, 1884, pag. 71, wo eine Frau einer anderen Arsenik in Branntwein gereicht, und, als die Vergiftungserscheinungen lange nicht eintraten, dieselbe in’s Wasser gestossen hatte. Wir obducirten unlängst einen Mann, der von seinem Schlafkameraden im Schlafe erwürgt und beraubt worden war. Letzterer gestand die That und dass er vor dem Erwürgen dem Schlafenden Cyankalium in den Mund zu schieben versucht hatte, welches jedoch ausgespuckt wurde. Thatsächlich wurden Stückchen von Cyankalium im Bette gefunden, die chemische Untersuchung des Magens und der Mundhöhle aber ergab in dieser Beziehung ein negatives Resultat. Hierher würde noch der von uns besprochene Todesfall der Prostituirten Ballogh (Wiener med. Wochenschrift. 1882, Nr. 29 u. ff.) gehören, wo der Thäter behauptete, dass er das Mädchen nur deshalb gewürgt habe, weil dasselbe einen mit Blausäure vermengten Kaffee, mit dem er sich selbst vergiften wollte, getrunken hatte und röchelnd zusammengestürzt war, — wenn diese Angabe nicht jeder Glaubwürdigkeit entbehren würde.
[S. 654]
Die einzelnen Gifte.
Die einzig richtige Eintheilung der Gifte wäre die, welche die Elementarwirkungen derselben zur Grundlage hätte. Die Kenntniss der letzteren ist aber leider noch eine so mangelhafte, dass vorläufig an eine auf ihnen beruhende Classification der Gifte gar nicht zu denken ist. Andere Eintheilungen haben nur einen relativen Werth und sind, wenn wir von der ganz werthlosen nach den Naturreichen absehen, nicht scharf durchführbar. Für forensische Zwecke ist eine systematische Eintheilung der Gifte keineswegs nothwendig, und es genügt, die einzelnen Gifte getrennt zu behandeln, wobei es allerdings opportun ist, zwischen local und den durch Resorption wirkenden Giften zu unterscheiden.
Vergiftungen mit käuflicher Schwefelsäure sind besonders in grossen Städten häufig, wo dieselbe nicht blos zum Reinigen metallischer Gegenstände, sondern auch in den verschiedensten Gewerben benützt wird und daher leicht zu haben ist. Da die Säure auf den Lippen sofort heftig brennt, so handelt es sich bei Erwachsenen fast immer um Selbstmord und nur ausnahmsweise um zufällige Vergiftung. Mord ist nur bei Kindern und hilflosen Personen beobachtet worden, und wurde bei diesen, ebenso wie die zufällige Vergiftung, sowohl durch Eingiessen von Schwefelsäure in den Mund, als auch in einzelnen Fällen durch Beibringung mittelst Klysma ausgeführt.[425]
Die Vergiftungserscheinungen treten augenblicklich nach dem Verschlucken auf und bestehen in einem heftigen brennenden Schmerz in den gesammten Schlingorganen und im Magen, in Würgebewegungen und meist sofort auftretendem Erbrechen, mit welchem stark saure und anfangs braun, später fast schwarz gefärbte Massen entleert werden. Der Gesichtsausdruck ängstlich. Haut blass und kühl, Puls schnell und klein, Bewusstsein erhalten, Harn- und Stuhlgang unterdrückt. Im Harn tritt sehr bald Eiweiss und Blut auf, und eine starke Vermehrung der schwefelsauren Salze, niemals aber freie Schwefelsäure. Der durch Säurezufuhr zum Blute bedingten Alkalientziehung, die der Körper nur bis zu einem gewissen Grade verträgt, wird von Salkowski, Lassar und Walter ein wesentlicher Einfluss auf den Eintritt des Todes zugeschrieben. Bei sehr acut verlaufenden Fällen tritt schon nach 2–3 Stunden, selten früher, häufiger später, Collapsus und bald darauf der Tod ein, der meist ruhig, seltener unter Convulsionen erfolgt.
[S. 655]
In einzelnen Fällen hört das heftige Erbrechen plötzlich auf, während die übrigen Erscheinungen noch stärker sich entwickeln; es ist dann Perforation des Magens eingetreten. Meist besteht Heiserkeit bis zur Stimmlosigkeit, nicht selten ist starke Athemnoth vorhanden und der Tod erfolgt unter Erstickungserscheinungen. Diese Symptome lassen auf Anätzung der Schleimhaut der Luftwege und auf Glottisödem schliessen.[426] Nicht selten ist der Verlauf ein protrahirter, und dauert nicht blos mehrere Tage, sondern auch noch länger. In solchen Fällen kommt es zur Abstossung verätzter Schleimhautpartien, namentlich des Oesophagus, die sogar in toto in Schlauchform ausgebrochen werden können, und in der Regel zu pneumonischen Processen. Eine sehr ausführliche Zusammenstellung der klinischen Symptome der Schwefelsäurevergiftung bringt Schuchardt in Maschka’s Handbuch, II, pag. 71.
An der Leiche finden sich häufig von den Mundwinkeln herabziehende braune lederartige Streifen, die durch das Ueberfliessen der Säure erzeugt wurden. Die Schleimhaut der Mundhöhle und des Oesophagus findet sich in frischen Fällen entweder nur oberflächlich oder bis in die tieferen Schichten wie gekocht oder gegerbt, d. h. weissgrau verfärbt, zäh, in starre Falten gelegt, trocken und von erstarrtes Blut enthaltenden Gefässen durchzogen. Der Magen fällt meist schon äusserlich durch seine schiefergraue Farbe und die Verdickung seiner Wandungen auf. Die Kranzgefässe erscheinen injicirt, das Blut in ihnen entweder theerartig eingedickt oder so eingetrocknet, dass sich dasselbe aus den durchschnittenen Gefässen in langen braunrothen bis schwarzbraunen bröcklichen Cylindern ausdrücken lässt. Im Magen findet sich ein meist kaffeesatzfärbiger, mitunter ganz schwarzer, stark sauer reagirender, theils breiiger, theils flüssiger Inhalt, die Innenwand des Magens in verschiedener Tiefe und Ausdehnung in einen durch Imbibition mit Hämatin schwarzbraun bis schwarz gefärbten Schorf verwandelt und unregelmässig höckerig. Letztere Eigenschaft rührt theils von der Ungleichmässigkeit der Verätzung und der durch sie bedingten entzündlichen Wandverdickung her, theils von nachträglicher partieller Abschmelzung (Erweichung, Verdauung) der necrotischen Schleimhaut, theils von den entstandenen submucösen Extravasaten, die eine bedeutende Grösse erreichen können und in denen das Blut durch Wasserentziehung ebenso eingetrocknet wird, wie das innerhalb der verschorften Partien in den Gefässen zurückgebliebene. Dementsprechend ist auch die Consistenz der Magenwand, respective ihrer Innenfläche, eine verschiedene und man kann dicht neben starren Partien erweichten und leicht zerreisslichen begegnen, ebenso Stellen, die nur von der Submucosa[S. 656] oder gar nur vom Peritoneum gebildet werden. Verhältnissmässig häufig ist der Magengrund durch die Säure zerstört und der Mageninhalt in die Bauchhöhle ausgetreten, woselbst die Organe an allen Stellen, welche mit demselben in Berührung kamen, getrübt erscheinen. Der Durchbruch des Magens erfolgt häufig schon während des Lebens, kann aber auch erst nach dem Tode entstehen durch fortdauernde Einwirkung der Säure. Nicht selten zerreisst er erst bei der Section. Die Wirkung der Säure lässt sich häufig weite Strecken in den Darm verfolgen, woselbst die Schleimhaut in nach abwärts abnehmendem Grade weissgrau, wie gekocht, starr, das submucöse Bindegewebe mehr weniger injicirt und nicht selten stellenweise blossgelegt und dann gallig oder blutig imbibirt und ecchymosirt sich erweist.
Die Nieren zeigen in der Regel das Bild der „trüben Schwellung“, und zwar desto ausgesprochener, je länger das Individuum gelebt hatte. Häufig finden sich Fibrincylinder. Das Blut in der Nähe des Magens reagirt häufig sauer, seltener in entfernteren Gebieten, ist auch in letzteren meist flüssig, in ersteren aber entweder locker coagulirt[427] oder auf die oben angegebene Art durch Eintrocknung verändert, und wir haben nicht selten das Blut nicht blos in den Kranzgefässen des Magens, sondern auch in der Vena cava ascendens und selbst noch im rechten Herzen zu einer in Cylindern ausdrückbaren, brüchigen Masse eingedickt gefunden. Diese Veränderung kommt theils während des Lebens, theils erst nach dem Tode durch Imbibition der Säure in die Nachbarschaft des Magens zu Stande, und ebenso die wie gegerbte Beschaffenheit der dem Magen anliegenden Organe, wie namentlich der Milz, der linken Niere, des linken Leberlappens, die nicht selten auch auf das Zwerchfell und den unteren Theil der linken Lunge übergreift und in einzelnen Fällen sich auch an der vorderen Bauchwand, sogar schon bei der äusseren Besichtigung derselben, bemerkbar machen kann. In gleicher Weise können die dem Magen oder verätzten Darmpartien anlagernden Darmschlingen durch Imbibition von ersteren aus verätzt werden, ebenso diejenigen, welche, wie insbesondere die im Becken gelagerten Schlingen, mit dem nach Durchbruch des Magens in die Bauchhöhle ausgetretenen noch stark saurem Mageninhalt durch längere Zeit in Berührung gestanden sind. In solchen Fällen kann man auch noch in tief nach abwärts gelegenen Darmpartien, insbesondere, wie wir wiederholt sahen, noch im Ileum oder Colon transversum, ja selbst im C. descendens circumscripten, mitunter intensiven Corrosionen der ganzen Darmwand begegnen, während dazwischen mehr weniger[S. 657] ausgedehnte intacte Darmpartien liegen. Es wäre ein grober Beobachtungsfehler, wenn man solche von aussen erzeugte discontinuirliche Darmverätzungen noch auf directe Wirkung des Aetzgiftes beziehen wollte.
In protrahirteren Fällen finden wir die necrotischen Schleimhautpartien in Abstossung begriffen, das darunter liegende Gewebe, insbesondere das submucöse, entweder hämorrhagisch infiltrirt, ödematös mit mehr weniger intensiver Hämatinimbibition, zu welcher sich auch häufig die gallige[428] hinzugesellt oder im weiteren Verlaufe in verschiedenen Stadien der Entzündung und Eiterung, und die parenchymatösen Organe sowohl als die Musculatur in verschiedenen Graden der körnigen und fettigen Degeneration, in den Lungen pneumonische Processe entweder hypostatischen oder croupösen Charakters.
Die Ursache der zerstörenden Wirkung der Schwefelsäure liegt vorzugsweise in ihrer Eiweisssubstanzen coagulirenden und wasserentziehenden Kraft. Erstere bedingt die Trübung und die wie gekochte Beschaffenheit der Gewebe durch Gerinnung des in ihnen enthaltenen Albumens und letztere die Trockenheit und Brüchigkeit der frisch verätzten Gewebe, sowie die eigenthümliche Eindickung und Eintrocknung des Blutes innerhalb der Gefässe der verätzten Partien. Wie bereits oben erwähnt, werden Eiweisskörper nur durch verdünnte Schwefelsäure gefällt, während concentrirte solche Fällungen wieder auflöst. Hämoglobin wird sowohl durch concentrirte, als durch verdünnte Schwefelsäure den Blutkörperchen entzogen und in braunes bis schwarzbraunes Hämatin verwandelt, und von diesem rührt die schwarzbraune bis schwarze Farbe des Mageninhaltes und der verschorften inneren Magenwand her. Doch entstehen bei längerer Einwirkung von concentrirter Schwefelsäure auch auf blutleere Organe braune und violette Verfärbungen in verschiedener Nuance, denen ein Einfluss auf die dunkle Färbung der Schwefelsäureschorfe im Magen nicht abgestritten werden kann, obgleich eine „Verkohlung“, wie sie bisher gewöhnlich angenommen wurde, nicht stattfindet. Da, wenn Schwefelsäure in Wasser gegossen wird, die Mischung sich stark erhitzt, so ist es für den Verlauf der Vergiftung nicht gleichgiltig, ob wässerige oder breiige Substanzen gerade im Magen sich befanden und das Vorhandensein der ersteren trotz der Verdünnung, welche die Säure erfährt, gefährlich. Die käufliche Schwefelsäure enthält häufig nicht unbeträchtliche Mengen von Arsenik, was einestheils das Krankheitsbild compliciren, anderseits, insbesondere bei Exhumationen, eine Arsenikvergiftung vortäuschen kann, wie ein von Schlagdenhauffen (Annal. d’hygiène publ. 1884, pag. 227) mitgetheilter Fall beweist.
Die Vergiftung mit Salzsäure unterscheidet sich nicht wesentlich von jener durch Schwefelsäure. Da selbst concentrirte [S. 658]Salzsäure die Haut nicht verätzt, so ist Husemann und mit ihm Lesser der Ansicht, dass das Fehlen von Hautanätzungen an den Mundwinkeln als differential-diagnostisches — wenn auch nicht als pathognomisches — Merkmal der Salzsäureintoxication gegenüber der durch Schwefelsäure aufzustellen ist. Leider kommen solche braune lederartige, von den Mundwinkeln herabziehende Streifen mitunter auch als blosse Leichenerscheinung vor, und wir haben unter Anderem einen Fall mit Chiari untersucht wo ein solcher Streif Verdacht auf Vergiftung erregt hatte, während er offenbar durch Ueberfliessen von in der Agone erbrochenem gewöhnlichen Mageninhalt entstanden war. Die frühere Durchfeuchtung und nachträgliche Eintrocknung hatte denselben bewirkt. Die inneren Befunde inclusive der eigenthümlichen Eindickung des Blutes in den Gefässen sind dieselben wie bei der Schwefelsäurevergiftung. In einem nach 5 Stunden letalen Falle (Salzsäure durch Destillation des Mageninhaltes nachgewiesen) fanden wir ausser nach abwärts abnehmender grauer Verätzung der Schleimhaut des oberen Dünndarmes ein über den ganzen übrigen Darm ausgebreitetes Oedem der Schleimhaut mit zahlreichen Ecchymosen in jener des Dickdarmes. Bei einem 5 Tage alten Kinde, welches gegen Hämatemesis Ferrum sesquichloratum (10 Tropfen auf 50 Aq.) erhalten hatte und am dritten Tage verstorben war, fanden wir blutroth geschwellte Lippen, die obere Hälfte des Oesophagus geschwellt, hellroth injicirt, mit zwei seitlichen, bohnengrossen, roth erweichten Stellen im Schlund; in der unteren Hälfte die Schleimhaut fast überall bis auf die Muscularis fehlend, die den Substanzverlust begrenzenden Ränder scharf, geröthet und geschwellt. Der Grund schwarzbraun mit schwarz injicirten Gefässen, welche trockene Blutcylinder enthalten. Im Magen viel frisch geronnenes Blut, ebenso im Darm. An der Pyloruspartie eine 3 Cm. breite, rundliche, missfärbige, fetzige Stelle mit schwarz injicirten Gefässen im Grunde. Ausserdem zahlreiche hämorrhagische bis linsengrosse Erosionen entlang der grossen Curvatur. Das Medicament ergab bei der Untersuchung stark sauere Reaction und freie Salzsäure. Sonach lag offenbar Combination von Vergiftung mit Salzsäure und bereits früher bestandenen hämorrhagischen Erosionen und consecutiver Meläna vor. Auch neutrales Eisenchlorid ätzt in stärkerer Concentration und bewirkt eine der Farbe des Ferrum sesquichloratum entsprechende Verfärbung der Schorfe.
Concentrirte Salpetersäure bewirkt durch Bildung von Xanthoproteinsäure die bekannte Gelbfärbung der verätzten Partien, verdünnte dagegen nur die einfache graue Verätzung mit ihren weiteren Consequenzen. Am ehesten kann man daher der Gelbfärbung im Schlunde und Oesophagus, wo noch die concentrirte Säure einwirkte, begegnen. Seltener findet man sie im Magen oder gar im Darm. Einen instructiven Fall ersterer Art, ein mit rauchender Salpetersäure absichtlich vergiftetes dreitägiges Kind betreffend, bildet Lesser im 1. Hefte seines Atlas ab, ebenso Ipsen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, VI, pag. 11), und zwei letzterer Art (Selbstmord) bewahrt unser Museum. Die sonstigen Befunde sind von jenen der Schwefel- und [S. 659]Salzsäurevergiftung nicht wesentlich verschieden, doch scheinen Hämatinimbibitionen von jener Schwärze und Intensität, wie sie bei den letztgenannten Vergiftungen so gewöhnlich zu sehen sind, nach Salpetersäure nicht vorzukommen, da letztere selbst im concentrirten Zustande das Blut nicht mit jener Leichtigkeit auflöst, wie dies Schwefel- und Salzsäure thun.
Eine Vergiftung mit concentrirter Essigsäure (Essigessenz) haben wir bei einem Epileptiker gefunden, dem während des Anfalles ein damit getränkter Schwamm an den Mund gehalten worden war; der Tod erfolgte nach 3 Tagen. Die Obduction ergab epitheliale weissgraue Verschorfung im Mund, Oesophagus und den Luftwegen und ausgebreitete Pneumonie, keinen Essiggeruch. Epitheliale Verätzungen durch gewöhnlich als Belebungsmittel angewendeten Essig haben wir wiederholt gesehen, unter Anderem bei einem in Steisslage todtgeborenen Kinde (Fractur des Oberarms und beider Orbitaldächer) im ganzen Schlingtractus und im Magen, der deutlich nach Essig roch.
Seitdem die Carbolsäure als Desinfections- und Verbandmittel so allgemein in Gebrauch kommt, sind zufällige, insbesondere medicinale, durch innerliche sowohl, als durch äusserliche Anwendung veranlasste Vergiftungen verhältnissmässig häufig vorgekommen.[429] Auch Selbstmorde sind nicht selten und wir haben bereits eine ansehnliche Zahl derselben obducirt, von denen drei Hebammen betrafen. Selbst ein Mord durch Carbolsäure ist uns vorgekommen. Derselbe wurde an einem kranken, im Bette liegenden Manne von einer Geisteskranken begangen, welche denselben zuerst durch Schläge mit einem Holzscheit betäubte und dann dem wahrscheinlich schon Agonisirenden Carbolsäure in den Mund goss, welche sie auch der hinzugekommenen Frau des Mannes in’s Gesicht spritzte. Die tödtliche Dosis bei Hunden wird von Bert und Joyet auf 2–3 Grm., von Ferrand (Schuchardt, l. c. 130) auf 10–20 Grm., bei Kaninchen schon auf 0·3 Grm. geschätzt. Die niedrigste letale Dosis für den erwachsenen Menschen soll 30–50 Grm. betragen. Kinder scheinen ungemein empfindlich zu sein. Bei externer Anwendung ist die Gefährlichkeit der Carbolsäure weniger mit der Concentration als mit der Zeit proportional, durch welche die Säure mit der Wundfläche etc. in Contact gelassen wird. Im Krankheitsbilde treten, obgleich die Carbolsäure schon in geringer Concentration im Munde Brennen verursacht, nach dem Verschlucken weniger die Symptome der Gastroenteritis toxica in die Erscheinung, sondern, wie nach externer Intoxication, intensive Allgemeinsymptome, insbesondere rasche Bewusstlosigkeit und Collapsus häufig mit Muskelzuckungen, seltener mit eigentlichen Convulsionen verbunden. Der Harn zeigt in nicht ganz acuten Fällen häufig, aber nicht immer, eine olivengrüne, von Zersetzungsproducten des Hydrochinons, respective der Hydrochinonschwefelsäure herrührende Farbe, die übrigens nach [S. 660]Ludwig (Wiener med. Blätter. 1883, pag. 445) auch am Kairinharn beobachtet wird, und enthält Carbolsäure. Die Section ergibt weisse Verätzung der Schleimhaut der Schlingorgane und des Magens (eventuell anderer Theile, z. B. von Wundflächen), Befunde, die durch die stark coagulirende Eigenschaft der Carbolsäure veranlasst werden. Die Schorfe nach reiner und nur in Wasser gelöster Carbolsäure zeichnen sich durch ihre in ihrer Intensität mit der Concentration der Säure proportionale, fast milchweisse Farbe aus, die sich auch im Magen gut erhält, da der Carbolsäure die Fähigkeit abgebt, Hämoglobin in gelöstes Hämatin zu verwandeln und damit die Schorfe zu imbibiren. Wurde rohe, rothbraune oder gar theerartig aussehende Carbolsäure benützt, so können die Schorfe mehr weniger braun erscheinen. Das durch Carbolsäure coagulirte Blut ist auffallend hellroth, weshalb die Verschorfungen und ihre Nachbarschaft einen eigenthümlichen röthlichen Stich darbieten und die grösseren Gefässe rothe Thromben erhalten. Diese Befunde und der lange haftende Geruch nach Carbolsäure werden die Diagnose gestatten. Ausserdem kann erstere durch Destillation der Leichentheile nachgewiesen werden, wie dies Salkowski auch bei dem Blute damit vergifteter Thiere gelang, ebenso im Harn, in welchem sich die Carbolsäure als phenylschwefelsaures Salz findet (Baumann, Sonnenberg, E. Ludwig), durch Destillation desselben mit verdünnten Mineralsäuren. Vergiftung unter Krämpfen nach Einathmung von Carbolsäuregas hat Schmitz (Med. Centralbl. 1886, pag. 784) zweimal beobachtet.
Aehnlich wie die Carbolsäure wirken die Carbolsäurepräparate, von denen insbesondere das jetzt stark verbreitete Lysol Erwähnung verdient. Das Lysol besteht nach M. Gruber („Oesterr. Sanitätswesen.“ 1892, Beilage zu Nr. 32) aus neutraler Kaliseife von Fettsäuren, etwas Wasser und circa 50 Volumprocenten Kresolen. Die anfänglich behauptete Ungiftigkeit hat sich nicht bestätigt. Es besitzt im unverdünnten Zustande, aber auch noch in 10–20procentigen Lösungen eine deutliche Aetzwirkung, namentlich auf Schleimhäute und seröse Membranen, doch ist die Aetzwirkung bedeutend geringer als bei Carbolsäure. Durch continuirliche Anwendung können auch hartnäckige Dermatitiden entstehen (Kämpfer, Deutsche med. Wochenschr. 1894, Nr. 34). Die Resorptionswirkungen zeigen keine wesentliche Verschiedenheit, wenigstens trat in den bisher beobachteten Fällen (s. diese zusammengestellt bei Fagerlund, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII. Suppl., pag. 64 und Friedberg, Centralbl. f. innere Med. 1894, Nr. 9) sowohl bei durch äussere als durch innere Anwendung verursachten Lysolvergiftungen fast stets rasch Bewusstlosigkeit ein, wie bei Carbol. In fast allen diesen Fällen war die Vergiftung zufällig entstanden, und zwar zweimal mit letalem Ausgang. Einen Selbstmord hat Fagerlund beobachtet und über einen an einem Kinde ausgeführten Mord hat Haberda auf der Wiener Naturforscherversammlung referirt. Das Sectionsbild war in diesen Fällen ziemlich gleich. Im Munde und in den oberen Schlingorganen fanden sich theils graue, theils bräunliche Verschorfungen des Epithels, in den tieferen Partien des Oesophagus und
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im Magen aber traten die durch Aetzung veranlassten Veränderungen zurück und es ergab ausser dem unangenehmen Geruch nach Lysol sich ein Befund, der an den nach Vergiftung von Laugenessenz erinnerte, da die Schleimhaut gequollen, braunroth und seifenartig schlüpfrig war, ein Befund, der offenbar von der Nachwirkung der Kaliseife herrührt.
Die Creoline sind nach Gruber im Wesentlichen Theeröle, welchen Seifen, besonders Harzseife, zugesetzt sind. Auch kommen Gemische von Carbolsäure oder Cresolen mit Schwefelsäure im Handel vor. Das von Hueppe eingeführte Solveol ist eine neutrale wässerige Lösung der Cresole in creolinsaurem Natron, das Solutol eine alkalische Auflösung der Cresole in Cresolalkali. Ersteres ätzt nach Gruber nicht, letzteres in unverdünntem Zustand. — Ueber eine letale, zufällige Vergiftung mit sogenanntem Carbolineum hat Flatten (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, pag. 316) berichtet. Verlauf und Sectionsbefunde entsprachen im Allgemeinen denen bei Carbolsäurevergiftung.
Vergiftungen mit Oxalsäure und deren Kalisalz (sogenanntes Kleesalz oder Zuckersäure) sind verhältnissmässig selten. Wir selbst haben erst eine gesehen. Die meisten sind medicinale, in Folge Verwechslung mit Bittersalz etc. geschehene Vergiftungen, doch wurden auch, besonders in Berlin, Selbstmorde wiederholt beobachtet. Als Dosis letalis für den Menschen werden 10–30 Grm. angenommen (Hermann). Der Säure, besonders der concentrirten, kommen heftig irritirende und ätzende, ausserdem aber auch Allgemeinwirkungen zu, namentlich, wie es scheint, lähmende auf das Centralnervensystem. Es werden demnach während des Lebens sowohl die Symptome der Gastroenteritis toxica, als Bewusstlosigkeit und Herzlähmung beobachtet. Doch stellt Sarganek (Berliner Dissert. 1883) auf Grund von fünf klinischen Beobachtungen eine specifische Wirkung der Oxalsäure auf das Herz in Abrede und in einem Falle von Strassmann konnte der Betreffende trotz der beträchtlichen Menge der genommenen Oxalsäure noch einen Selbstmord durch Erhängen verüben. Die Befunde an der Leiche können nach sehr verdünnten Lösungen ziemlich unscheinbar ausfallen, nach concentrirten findet sich weissgraue Verfärbung der Schleimhäute der Schlingorgane, brauner bis schwarzbrauner, stark saurer Mageninhalt, die Magenschleimhaut geschwollen, stark injicirt, blutig imbibirt und in verschieden hohem Grade verätzt. Die Schleimhaut ist sehr leicht, häufig schon durch blosses Abspülen zu entfernen und die Magenwand darunter eigenthümlich durchscheinend (Liman), von mit schwärzlichem Gerinnsel gefüllten Gefässen durchzogen. Nach Lesser (l. c.) erreichen sowohl die Irritations-, als die Verätzungserscheinungen niemals einen so hohen Grad, wie bei Schwefelsäurevergiftung. Fast regelmässig fand er auf der Schleimhaut weissliche Trübungen, die sich bei der mikroskopischen Untersuchung als Niederschläge von oxalsaurem Kalk erwiesen. Die Krystalle finden sich auch in den schwärzlichen Gerinnseln innerhalb der Blutgefässe der verätzten oder erweichten Partien und (übereinstimmend mit den Angaben von Robert, [S. 662]Küssner und Münzer) in den Harncanälchen. Im Dünndarm äussert sich die Wirkung des Giftes als weissgraue Verätzung, ebenso imbibirt sich die Säure auch in die Nachbarorgane und bewirkt dort ähnliche Veränderungen, wie wir sie z. B. bei der Schwefelsäurevergiftung so häufig sehen. Sie unterscheiden sich jedoch von letzterer durch den Befund von Krystallen von Kalkoxalat in den betreffenden Gefässen (Lesser). Perforationen des Magengrundes wurden wiederholt beobachtet, doch scheinen die meisten erst beim Herausheben des erweichten Magens entstanden zu sein.
Die Aetzlaugenvergiftung ist in grossen Städten nichts Seltenes und geschieht meistens mit der sogenannten „Laugenessenz“, einer Natronlauge, welche früher nur dann im Kleinhandel verkauft werden durfte, wenn sie das specifische Gewicht von 1·2 nicht überstieg (Min.-Erl. vom 16. Mai 1863). In Wien kommen die Selbstmorde mit Laugenessenz ebenso häufig vor, wie jene mit Schwefelsäure, meistens bei Weibern, und die Vergiftungen durch zufälliges Trinken derselben sind sehr gewöhnlich, namentlich bei Kindern. Im Jahre 1878 kam auch ein Mord durch Laugenessenz zur Beobachtung, begangen an einem 16jährigen, hochgradig tuberculösen Knaben durch die eigene Mutter desselben, die sich dann auf gleiche Weise tödtete, und im Jahre 1885 ein Fall, wo eine Mutter ihre 2 Kinder und dann sich selbst vergiftete. Die Vergiftungserscheinungen treten, wenn auch nicht immer sofort, doch in der Regel in wenigen Augenblicken ein und bieten das gewöhnliche Bild der Gastroenteritis toxica. Mit dem meist heftigen und andauernden Erbrechen werden stark alkalische, erst später blutige und dadurch braune bis schwarzbraune Massen entleert. Intermission des Erbrechens scheint häufiger vorzukommen, als bei der Schwefelsäurevergiftung. Diarrhöen können anfangs fehlen, später sind sie in der Regel vorhanden und sind nicht selten blutig. Harn spärlich, stark alkalisch. Der Verlauf ist seltener ein so acuter, wie bei den meisten Schwefelsäurevergiftungen, in der Regel erfolgt der Tod erst nach 2–3 Tagen unter Collapsus, häufig erst in Folge der Nachwirkungen der Verätzung.
In acut verlaufenden Fällen findet man an der Leiche das Epithel der Mundhöhle und des Oesophagus grau verfärbt, getrübt, gequollen, die oberen Schichten der Schleimhaut ebenfalls missfärbig und mehr weniger gequollen. Der Magen zusammengezogen, in den Wandungen verdickt, blutig-schleimige, meist gelatinöse, stark alkalische Massen von schwarzbrauner Farbe enthaltend. Wiederholt ist uns ein Geruch nach Häringslake (Trimethylamin) aufgefallen, den wir auch in einzelnen Fällen von Cyankaliumvergiftung bemerkt haben. Die Magenschleimhaut erscheint an den meisten lädirten Stellen in einen fast schwarzen,[S. 663] weichen Schorf verwandelt, an anderen dunkelbraunroth, gequollen, häufig auf der Faltenhöhe wie transparent und ebenso wie der Mageninhalt seifenartig anzufühlen, an den übrigen mehr weniger geröthet und geschwellt. Die Röthung der Magenschleimhaut ist durch Injection und Ecchymosirung, die Schwärzung, respective braunrothe Färbung der Schorfe durch Imbibition mit dem durch die Lauge gelösten (zu Hämatin in alkalischer Lösung verwandelten) Blutfarbstoff bedingt, während die Quellung, Transparenz und Weichheit dieser Partien durch die quellende und klärende Wirkung der Lauge sich erklärt und daher desto deutlicher ausgebildet ist, je mehr von letzterer noch im Magen zurückgeblieben war. Die Verschorfung dringt mehr weniger tief in die Schleimhaut, doch haben wir Perforation niemals beobachtet, dagegen wiederholt eine postmortale Transsudation der Lauge durch die Magenwand, in Folge welcher die anstossenden Organe, besonders Milz und linke Niere, eigenthümlich gequollen und transparent erschienen. Das Blut in den Kranzgefässen des Magens ist locker geronnen, häufig schmierig.
War der Verlauf, wie meistens, ein protrahirter, so tritt mit der Erschöpfung oder Neutralisation des Alkali dessen quellende und klärende Wirkung immer mehr zurück und die verschorften Partien unterscheiden sich nicht mehr wesentlich von anderweitigen mit Hämatin imbibirten Necrosen. Auch sind die nun eintretenden Entzündungserscheinungen und Abstossungsvorgänge die gleichen wie bei der Schwefel- und Salzsäurevergiftung. Doch kann noch in späteren Stadien die der letztgenannten Vergiftung eigenthümliche, der Aetzlaugenvergiftung aber nicht zukommende Eindickung des innerhalb der Gefässe befindlichen Blutes zu brüchigen Cylindern eine Differentialdiagnose ermöglichen. Auch kommt es bei der Laugenessenzvergiftung nicht leicht zu so mächtigen Extravasaten wie bei der Schwefelsäurevergiftung und natürlich auch nicht zu jener durch Coagulation und Wasserentziehung bedingten eigenthümlichen Härtung des extravasirten Blutes, wie sie gewöhnlich bei der Schwefelsäurevergiftung gefunden wird. Die Anätzung erstreckt sich manchmal ziemlich weit in den Darm hinein und gibt sich anfangs durch die eigenthümliche Quellung der Gewebe zu erkennen, in späteren Stadien ist sie von anderen Anätzungen nicht zu unterscheiden. Der übrige Darm zeigt meist umschriebenen oder diffusen Catarrh. „Trübe Schwellung“ in den Nieren und in der Leber tritt bei der Laugenvergiftung ebenso auf, wie nach jener mit Säuren und es zeigen besonders nach protrahirtem Verlaufe die betreffenden Organe, sowie auch die Musculatur die körnige und fettige Degeneration in mehr weniger ausgesprochener Weise. Pneumonische Processe sind ebenfalls häufig. Bemerkt sei noch, dass in einzelnen Fällen, ebenso wie wir dies manchmal bei der Schwefelsäurevergiftung beobachten können, die ätzende Substanz nur in den Oesophagus, aber nicht in den Magen gelangt, indem sie einestheils schon[S. 664] während des Schlingactes durch sofortige Würgebewegungen entleert wird, anderseits durch eben vorhandenen reichlichen, insbesondere breiigen Mageninhalt von der Magenwand abgehalten wird. Trotzdem können auch solche Fälle, namentlich bei Kindern, sowohl durch die Verätzung und consecutive, häufig croupöse oder phlegmonöse Entzündung der Schlingorgane, als durch Lungenaffection zum Tode führen, noch häufiger aber zur Entstehung von Stricturen Veranlassung geben.
Vergiftungen mit Ammoniak kommen hier und da als zufällige oder fahrlässige Vergiftung (z. B. bei ungeschickter Anwendung des Ammoniaks als Analepticum) vor und nur ganz ausnahmsweise als Selbstmord. Es reizt die Schleimhaut, insbesondere die der Respirationswege, in sehr heftiger Weise, ausserdem bewirkt es locale, meist nur auf das Epithel beschränkte Ertödtung der Gewebe, die aber, da Ammoniak Eiweisskörper nicht coagulirt, wenigstens nicht ursprünglich, als weissgraue mit Consistenzvermehrung einhergehende Trübung, sondern eher als Quellung und Aufhellung sich präsentirt. Dem Blute entzieht das Ammoniak das Hämoglobin in Form einer hellrothen, erst später sich bräunenden Hämatinlösung. Nach dem Verschlucken tritt sofort heftiges Brennen in den Schlingorganen ein und Symptome heftiger Bronchialreizung, frühzeitige Abstossung des Epithels und starke Röthung und Schwellung, im weiteren Verlauf croupöse Entzündung der Schleimhaut und dem entsprechende Sectionsbefunde. Die Magenbefunde scheinen in der Regel gegen die in den Schlingorganen und Respirationsorganen sehr zurückzutreten, da wohl nur selten grössere Mengen der Substanz geschluckt werden. Einen Selbstmord durch etwa einen Kaffeelöffel voll 10%ige Ammoniaklösung (Salmiakgeist) hat Kauders (Wiener med. Blätter. 1881, Nr. 17) mitgetheilt. Sofort waren heftige Schmerzen in den Schlingorganen, aber kein Erbrechen eingetreten. Nach drei Stunden fand Kauders fetzige Ablösung des Epithels der Mund- und Rachenschleimhaut, intensive Schwellung und Röthung der letzteren, Heiserkeit, Trachealrasseln, Speichelfluss; nach zwei Stunden plötzlich Erstickungserscheinungen und in wenigen Augenblicken Tod. Die Obduction ergab Blässe und gallertige Schwellung der Schleimhaut des Pharynx, des Kehlkopfeinganges und der Trachea mit theils fehlendem, theils leicht abstreifbarem Epithel, starke Röthung der des Epithels grösstentheils beraubten Schleimhaut des Oesophagus, blutige Schwellung und Röthung der Magenschleimhaut, weissliche Trübung des Epithels im Magen und im oberen Dünndarm. Kein Ammoniakgeruch. Gleiche Befunde ergab die von uns vorgenommene Section eines Mannes, der, statt zu einem Fläschchen mit Ammoniak, das ihm als Schnupfenmittel gereicht wurde, zu riechen, davon getrunken hatte und 2½ Stunden darnach unter Erscheinungen des Glottisödems gestorben war. — Auch durch Einathmen von Ammoniakgas, wie beim Springen von Ammoniakballons oder bei Explosion von Ammoniak-Eismaschinen, werden ähnliche Symptome veranlasst (Lehmann, Arch. f. Hygiene. V, pag. 59).
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Von den ätzenden Metallsalzen ist das Quecksilberchlorid (Hydrargyrum bichloratum corrosivum), gewöhnlich Sublimat genannt, das wichtigste, einestheils wegen seiner besonders heftigen Giftwirkung und anderseits wegen der seit der Einführung des Sublimats als Antisepticum und daher dessen stärkerer Verbreitung immer häufiger werdenden Vergiftungen mit demselben.
Man kann acute und subacute Vergiftungen unterscheiden. Acute, d. h. in wenigen Stunden oder im Laufe des ersten Tages letal ablaufende Fälle kommen als Selbstmord oder nach zufälligem Trinken stärkerer Sublimatlösungen vor. Es treten sofort Symptome der Gastroenteritis toxica auf, man bemerkt weissgraue Verschorfung der Mundschleimhaut und der Tod erfolgt unter Collaps. Der Obductionsbefund ist, da Sublimat ebenfalls blos coagulirt, aber Hämatin nicht löst, ähnlich wie nach acuter Vergiftung mit Carbolsäure, und ergibt eine wie gekochte, mehr weniger in die Tiefe dringende Beschaffenheit der Schleimhaut der Schlingwege und des Magens, die sich bis in den Dünndarm fortsetzen und durch Imbibition auch auf die Nachbarorgane des Magens übergehen kann, wie dies bei zwei von uns obducirten Selbstmördern der Fall war. Es fehlt jedoch der charakteristische Geruch und die Schorfe sind auch weniger weiss als die durch Carbolsäure erzeugten und bekommen namentlich beim Liegen an der Luft, im Wasser oder im Spiritus eine fast bleigraue Farbe. Das in den grösseren Gefässen der verschorften Partien befindliche coagulirte Blut ist ebenfalls eigenthümlich roth gefärbt. Geschah die Vergiftung, wie uns bereits zweimal vorkam, mit Sublimatpastillen, so kann sich die entsprechende meist anilinrothe Färbung auch am Mageninhalt und an der Magenwand finden.
Bei der subacuten Vergiftung stellen sich frühzeitig dysenterische Erscheinungen ein, die nach wenigen Tagen zum Tode führen. Die Obduction ergibt dann ausser eventuellen localen Verätzungsbefunden eine dysenterische Entzündung des unteren Ileums, insbesondere aber des Dickdarmes, die sich in ihrer Erscheinungsform von jener der gewöhnlichen Dysenterie nicht unterscheidet, namentlich wie diese vorzugsweise die Höhe der Falten betrifft. Diese Entzündung ist keineswegs eine Aetzwirkung, da sie sowohl nach Injection per os, als, und zwar häufiger, nach externer, subcutaner etc. Anwendung des Sublimats auftritt und auch bei unveränderter Beschaffenheit der oberen Partien des Verdauungstractes beobachtet wird. Schon Barthélemy (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 666) hat diese besondere Wirkung des Sublimats auf den Dickdarm hervorgehoben. Seitdem ist diese Thatsache von uns und zahlreichen anderen Beobachtern bestätigt worden, so u. A. in einer grösseren Zahl von Fällen von G. Braun, „Zur Verwendung des Sublimats in der Geburtshilfe“ (Wiener med. Wochenschr. 1886, Nr. 21 u. ff.), von Butte (Annal. d’hygiène publ. 1887, XVII,[S. 666] pag. 167, 20 Fälle), von Virchow (Sitzungsb. der Berliner med. Ges. vom 23. Nov. 1887; Berliner med. Wochenschr. 1888, Nr. 7) und Kaufmann, „Die Sublimatintoxication“ (Breslau 1888). Ueber die Ursache dieser Erscheinung ist vorläufig nichts Positives bekannt, doch werden locale Hyperämien (Virchow), embolische, respective thrombotische Vorgänge (Kaufmann) und heftige Contraction der Darmmusculatur (Grawitz) als solche angegeben. Falkenberg und Marchand (Virchow’s Archiv. CXXIII, pag. 567) konnten bei ihren Thierversuchen keinerlei Thrombosirungen der Darmgefässe nachweisen, wohl aber fand Marchand Quecksilber-Albuminatniederschläge in der Wand der oberflächlichen Schleimhautgefässe, von welcher er die Necrose des Epithels und der oberen Schleimhautschichten ableitet. Damit stimmen die Untersuchungen von Ludwig und Zillner (Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 30) überein, welche ergaben, dass in subacuten Vergiftungsfällen der Quecksilbergehalt im Dickdarm grösser ist als im Dünndarm. Alle diese Beobachtungen sprechen dafür, dass das resorbirte Quecksilber durch den Dickdarm ausgeschieden wird. Zu den häufigeren, jedoch nicht constanten Befunden gehören Kalkablagerungen in den Nieren (Senger, Virchow, Kaufmann, Neuberger). Dieser anatomische Befund im Darm und in den Nieren findet sich auch nach Vergiftung mit anderen Quecksilberpräparaten. Virchow hat ihn nach Intoxication mit Cyanquecksilber, Kraus (Deutsche med. Wochenschr. 1888, pag. 227) nach parenchymatöser Calomelinjection, Sackur (Berliner klin. Wochenschr. 1892, Nr. 25) nach Einreibung von (blos 5 Grm. bei Phlegmone) Unguentum cinereum beobachtet, ebenso wir bei einer Puerpera, welcher wegen pyämischer Metastase am Humerus der Ober- und Unterarm mit grauer Salbe eingerieben worden war. Auch wurde er bei einem im Wiener pathologisch-anatomischen Institut secirten Falle nach subcutaner Injection von Oleum cinereum constatirt, und einmal von uns nach Anwendung der Solutio Plenckii zum Aetzen von breiten Condylomen. Auch fanden wir in einem besonders typischen Falle von Sublimatvergiftung ausser der Sublimatdysenterie ausgesprochen Diphtheritis im Rachen und Oesophagus. Es handelte sich um Selbstmord und der Tod war nach 6 Tagen eingetreten. Eine ähnliche Wirkung auf den Dickdarm kommt den Beobachtungen von Steinfeld und H. Meyer zufolge (Arch. f. experim. Path. XX, pag. 40) auch dem Wismuth zu.
Von den Bleisalzen ist besonders das essigsaure Bleioxyd, der Bleizucker (Plumbum aceticum, Saccharum saturni) zu erwähnen, da sich dieser vorzugsweise zu acuten Vergiftungen eignet. Im Jahre 1862 ist in Köln eine absichtliche letale Vergiftung zweier Personen durch wiederholt beigebrachten Bleizucker vorgekommen. Zur Erzeugung acuter letaler Vergiftungen scheinen grössere Dosen des Salzes nöthig zu sein, wenigstens sind nach Husemann Fälle vorgekommen, in denen 1–2 Unzen Bleizucker ohne tödtlichen Ausgang genommen wurden und es ist bekannt, dass als Medicament grosse Dosen [S. 667](10–60 Gran täglich) gegeben und vertragen werden. Die Bleipräparate werden nur schwer und langsam aus dem Körper ausgeschieden; fortgesetzte, selbst kleinere Dosen sind daher im Stande, schliesslich Vergiftungserscheinungen zu bewirken. Von den Kupfersalzen haben namentlich der Kupfervitriol (schwefelsaures Kupferoxyd) und der Grünspan (essigsaures Kupferoxyd) vielfach zu ökonomischen Vergiftungen Veranlassung gegeben. Selbstmorde damit sind in Frankreich häufig, bei uns ungemein selten. Ebenso verhält es sich mit den Giftmorden. Nach Tardieu (l. c. 290) steht in der Verbrecherstatistik Frankreichs Kupfer gleich hinter Arsen und Phosphor, und es wurden allein in den Jahren 1851–1862 110 criminelle Vergiftungen gezählt, was bei der bekannten blauen oder grünen Farbe der Kupfersalze und dem intensiven Kupfergeschmack derselben immerhin auffällt. Kupfervitriol kann schon in Dosen von 60 Cgrm. angefangen Vergiftungserscheinungen hervorrufen, Grünspan in Dosen von 2–3 Grm. bedenkliche Zufälle und selbst den Tod. Die Vergiftungserscheinungen treten sehr rasch auf. Es werden grüne oder blaue Massen erbrochen. Heftige Kolik und andauernder Kupfergeschmack, kleiner Puls, Kopfschmerz, Schwindel, Convulsionen, Icterus werden als Symptome angegeben. Der Sectionsbefund ist nicht constant. In der Regel findet sich blos Injection, Ecchymosirung und Schwellung der Magenschleimhaut; in einzelnen Fällen wurden Ulcerationen und Verschorfungen beobachtet. Sind noch Kupfersalze im Magen- und Darminhalt vorhanden, so färbt sich derselbe nach Zusatz von Ammoniak blau, auch belegt sich, wenn eine blanke Messerklinge oder dergleichen in die angesäuerten Massen gebracht wird, dieselbe in kurzer Zeit mit einer dünnen Kupferschichte.
Das so häufig, insbesondere bei Hals- und Blasenleiden, angewendete und allgemein als unschädlich angesehene Kali chloricum hat sich in den letzten Jahren als eine in grösseren Dosen entschieden giftige Substanz erwiesen. Hofmeier (Deutsche med. Wochenschr. 1880, Nr. 38) konnte schon 35 solche Vergiftungsfälle aus der Literatur und eigenen Erfahrung zusammenstellen, und seitdem wird jedes Jahr über weitere, meist medicinale und nur ausnahmsweise zufällige (Verwechslung mit Bittersalz, Karlsbader Salz etc.) derartige Vergiftungen berichtet. Wir selbst haben zwei obducirt, von denen der eine durch E. Zillner (Wiener med. Wochenschr. 1882, Nr. 45) publicirt wurde. Auch zwei Selbstmorde mit chlorsaurem Kali sind schon vorgekommen (Schuchardt, Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 41) und in einem von Lacassagne mitgetheilten Falle wurde dasselbe als Fruchtabtreibungsmittel benützt. Bei Erwachsenen können schon Gaben von 15 bis 20 Grm. schwere Erscheinungen und den Tod bewirken; in unserem Falle war letzterer sogar schon nach 11·75 Grm. eingetreten. Kinder sind noch empfindlicher und es wurde letaler Ausgang[S. 668] schon nach 10, in einem Falle (bei einem einjährigen Kinde, Hall) schon nach 4·37 Grm. beobachtet. Jacobi (Virchow’s Jahrb. 1879, I, 411) fordert daher, dass Kindern unter 3 Jahren nie mehr als 2·0, Säuglingen 1·25 und Erwachsenen höchstens 8·0 Grm. pro die verabreicht werden sollen! Als Einzelngabe wird 0·5 bis 1·0 empfohlen.
Die Ursache der Giftigkeit des Kali chloricum liegt in der Zersetzung des Blutes, welche dasselbe bewirkt. Letzteres wird, wie zuerst Marchand (Virchow’s Archiv. 1877, Bd. 77, pag. 455) nachwies, wie man dies auch ausserhalb des Körpers nach Zusatz von Kali chloricum sehen kann, nach kurzer Zeit gallertig und braun, indem unter Ausscheidung von Globulin das Hämoglobin in Methämoglobin umgewandelt wird. Gleichzeitig findet eine Zerklüftung und ein Zerfall der rothen Blutkörperchen statt. Durch diese Veränderung des Blutes, welche nach v. Mering’s Untersuchungen (Berlin 1884, Monographie) auf einer Reduction des chlorsauren Kali zu Chlorkalium durch Oxyhämoglobin und Oxydation des letzteren zu Methämoglobin beruht[430], kommt es einerseits zu respiratorischen Störungen, anderseits zu Embolien, Hämaturie und Albuminurie, Icterus u. s. w. In einzelnen Fällen ist der Verlauf ein sehr acuter. So wurde in einem unserer Fälle der 31jährige, kräftige Mann, nachdem er sich einer Tonsillitis wegen durch fast 3 Tage mit Kali chloricum gegurgelt und dieses offenbar auch geschluckt hatte, plötzlich von Convulsionen befallen, die wie epileptische ausgesehen haben sollen, und starb bald nach Ankunft des Arztes. In anderen Fällen tritt violette, fleckige, später icterische Hautfärbung ein, gastrische Erscheinungen, Hämaturie und Albuminurie, der Harn enthält bräunliche, aus zerfallenem Blute bestehende Cylinder und Schollen.
Den wichtigsten Sectionsbefund bildet, wie sich sowohl bei den von Marchand vergifteten Thieren, als auch bei den von uns und von Lesser (Liman’s Handb. 7. Aufl., II, 559) obducirten menschlichen Leichen ergab, in acuten Fällen die eigenthümliche, durch die Methämoglobinbildung bedungene Verfärbung des Blutes, die je nach der Intensität der Blutzersetzung und je nach der Dicke der Schichte, als eine chocoladebraune, tabaksaft- bis[S. 669] kaffeesatzfärbige erscheinen kann. Diese Verfärbung des Blutes bedingt ein eigenthümlich graues Aussehen der ganzen Leiche, insbesondere graue oder grauviolette Todtenflecke, und eine entsprechende, meist höchst auffällige Verfärbung sämmtlicher innerer Organe, die theils grau, theils braun injicirt erscheinen. Insbesondere war bei dem von uns obducirten Mann das Gehirn wie mit Chocolade injicirt und sogar beide Substanzen der Knochen, sowie die Gelenksknorpel auffällig grau verfärbt. In minder acuten Fällen, zu welchen der zweite unserer Fälle, der ein Kind betraf, gehörte, finden sich charakteristische Infarctirungen der Harncanälchen mit braunen Blutgerinnseln, die insbesondere den Pyramiden ein braungestreiftes Aussehen geben, und Icterus, der schon am zweiten Tage vorhanden sein kann. In einzelnen Fällen starben die Kranken erst nach mehreren, sogar 14–15 Tagen (Hofmeier, Wegscheider). Die Veränderungen in den Nieren und der Icterus waren dann besonders hochgradig, und es war auch stets ein Milztumor vorhanden, der sich überhaupt frühzeitig zu entwickeln scheint. Das Blut zeigt in der Regel den Methämoglobinstreif. Die Zerklüftung und der Zerfall der Blutkörperchen scheint weniger mit der Schwere der Vergiftung als mit der Dauer des Verlaufes proportional zu sein.
In gleicher Weise wie das chlorsaure Kali wirkt auch das chlorsaure Natron (Marchand).
Der chemische Nachweis des Giftes gelingt nur in frischen Fällen. In dem ersten unserer Fälle wurde es durch Professor Ludwig und Nowak im Mageninhalt und im Harn, nicht aber im Blute nachgewiesen, im zweiten nur im Magen. In diesem Falle hatte der 2¾ Jahre alte Knabe innerhalb 2 Tagen wegen Halsentzündung 4 Flaschen von 5·0 Kali chlor. auf 120 Aq. verbraucht (stündlich 1 Kaffeelöffel). Am 3. Tage constatirte der Arzt grosse Schwäche, Cyanose des Gesichtes, livide Flecken in der Kreuzbeingegend, braunschwarzen, trüben, stark eiweisshaltigen Harn, am 4. spärliche Harnabsonderung, theerartige Stühle; am 5. Harnabsonderung ganz sistirt, Tod unter Convulsionen. Kein Icterus.
Obgleich Selbstentleibungen mit Arsenik jetzt nicht mehr so häufig vorkommen, wie dies früher der Fall war, und gegenüber jenen mit anderen Giften entschieden an Häufigkeit zurücktreten[431], so sind sie doch auch gegenwärtig keineswegs selten.[S. 670] Die verhältnissmässige Häufigkeit der Giftmorde durch Arsenik erklärt sich einestheils aus der Leichtigkeit, mit welcher das Gift, das bekanntlich in vielen Gewerben, sowie zum Vertilgen des Ungeziefers, gebraucht wird, zu erhalten ist, anderseits daraus, dass es seiner Geruch- und Geschmacklosigkeit wegen trotz seiner schweren Löslichkeit leicht heimlich beigebracht werden kann, und dass es, wie es auch den Laien wohl bekannt, schon in geringer Menge zu den lebensgefährlichsten Giften gehört. Die zufälligen Vergiftungen durch Arsenik kommen in Folge der Verbreitung des Arseniks selbst, insbesondere aber der arsenhältigen Farben, gegenwärtig noch häufiger vor, als früher.
Wir haben hier zunächst die typische Arsenvergiftung, jene mit arseniger Säure oder mit dem weissen Arsenik (Arsentrioxyd oder Arseniksäureanhydrid) im Auge und werden anderer Arsenvergiftungen am Schlusse erwähnen.
Der weisse Arsenik kommt im Handel entweder als weisses krystallinisches Pulver (Giftmehl) vor oder in amorphen glasartigen, durchscheinenden, farblosen oder schwach gelblichen Stücken mit muschligem Bruch, welche durch längeren Contact mit der Luft undurchsichtig milchweiss, wie Porzellan glänzend werden und eine krystallinische Beschaffenheit erhalten. Die arsenige Säure ist im kalten Wasser schwer löslich (1 Theil in etwa 75 Theilen Wasser), leichter in siedendem Wasser (1 Theil in 10–12 Theilen), woraus sie beim Erkalten grösstentheils wieder ausfällt. Die glasige arsenige Säure ist (dreimal) leichter löslich als die krystallinische. Auch in Säuren oder Alkalien ist das Arsentrioxyd leichter löslich. Die angesäuerte wässerige Lösung der arsenigen Säure gibt mit Schwefelwasserstoff sofort eine rein gelbe Fällung von Schwefelarsen. Bringt man ein Körnchen arseniger Säure in ein in eine Spitze ausgezogenes Glasröhrchen, schiebt darüber einen Splitter von Holzkohle und erhitzt zunächst letztere und dann die arsenige Säure zum Glühen, so wird diese reducirt und es bildet sich am oberen Theile der Röhre ein Spiegel von metallischem Arsen, gleichzeitig wird der charakteristische Knoblauchgeruch wahrnehmbar, der sich auch durch nochmaliges Erhitzen des Spiegels erzeugen lässt. Wird arsenige Säure gleichzeitig mit Zink und verdünnter Schwefelsäure im Marsh’schen Apparat zusammengebracht, so entwickelt sich Arsenwasserstoff, aus welchem sowohl durch Glühen des Rohres, durch welches das Gas entweicht, als durch Einhalten eines kalten Porzellanscherbens in das aus der Spitze des Rohres entweichende und angezündete Gas metallisches Arsen in Form des Arsenspiegels erhalten werden kann, welcher nach Betupfen mit unterchlorigsaurem Natron (auch Chlorkalklösung) sofort verschwindet (Unterschied vom Antimonspiegel).
Von arseniger Säure können schon 1–5 Cgrm. Vergiftungserscheinungen hervorrufen und 10–15 Cgrm. werden schon als letale Dosis angenommen. Die Maximaldosis der österr. Pharmakopöe beträgt für Erwachsene für die Einzelngabe 0·006, für die Tagesgabe 0·012, jene der deutschen Pharmakopöe für die Einzelngabe 0·005, für die Tagesgabe 0·01 Grm.
[S. 671]
Die Vergiftungserscheinungen treten selbst bei grossen Gaben nicht sofort auf, sondern in der Regel erst nach ½ bis 1 Stunde. In seltenen Fällen, in denen z. B. das Gift gelöst und auf nüchternen Magen genommen wurde, können die Erscheinungen schon früher auftreten, und zwar schon innerhalb der ersten Viertelstunde. Häufiger wurden Fälle beobachtet, in welchen mehr als eine Stunde, nach Taylor[432] 3–10 Stunden verflossen, bevor die ersten Intoxicationssymptome sich einstellten. Die schwere Löslichkeit des in Substanz genommenen Arseniks und die wahrscheinlich vorhanden gewesene Füllung des Magens mit genossenen Speisen etc. erklären solche Fälle, obgleich Taylor eines Falles erwähnt, in welchem die Symptome erst nach 3 Stunden auftraten, obwohl eine Drachme (ungelösten) Arseniks auf nüchternen Magen genommen worden war. Das klinische Bild der Arsenikvergiftung ist keineswegs immer gleich. In der Regel ist es das einer heftigen Gastroenteritis toxica. Es tritt ein brennendes oder kratzendes Gefühl im Rachen und im Oesophagus ein, dann heftige Schmerzen im Magen und heftiges Erbrechen schleimiger, selten und nur in den späteren Perioden blutig gestriemter Massen und profuse Diarrhöen, mit welchen wässerige, reiswasserähnliche, molkige, d. h. stark mit desquamirtem Epithel und Schleimflocken gemengte Stühle entleert werden. Dabei Tenesmus und unauslöschlicher Durst, häufig Kopfschmerz und in der Regel Ziehen im Kreuze und krampfartige Schmerzen in den Extremitäten (Wadenkrämpfe); die Haut ist kühl, mit Schweiss bedeckt, anfangs blass, später im Gesichte, sowie an den Händen und Füssen cyanotisch. Puls schwach und klein. Grosse Prostration und hierauf Tod unter allgemeinem Collapsus. In der Regel führen die erwähnten Symptome im continuirlichen Verlaufe zum Tode, welcher nach 5–20 Stunden erfolgt.
In anderen Fällen hören zwar Erbrechen und die übrigen acuten Symptome auf, dafür treten andere ein; darunter die Zeichen acuter parenchymatöser Nephritis (albumen- und bluthältiger Harn-, Epithelial- und selbst Fibrincylinder), weiter Symptome zunehmender Muskelschwäche, erschwertes Athmen, schwache Herzaction, icterische Färbung der Haut und der Schleimhaut, Symptome, die zum grössten Theile mit der bei der Arsenikvergiftung rasch sich einstellenden körnigen und fettigen Degeneration der parenchymatösen Organe und der Musculatur in ursächlichem Zusammenhange stehen, und unter denen in 3–10 Tagen nach der Vergiftung der Tod erfolgen kann.
In wieder anderen Fällen prävaliren gleich anfangs, sowie auch im weiteren Verlaufe weniger die Zeichen der Gastroenteritis, sondern die Erscheinungen einer Cerebrospinalaffection. Die Erkrankung beginnt mit Schwindel und Kopfschmerz, Ziehen in den Gliedern, Mydriasis, hierauf treten Ohnmachten und Betäubung[S. 672] ein, manchmal Delirien, ferner lähmungsartige Erscheinungen, manchmal aber auch Convulsionen, und zwar meist clonische, selten tetanische, endlich allgemeine Paralyse und der Tod, welcher bisweilen in der Zeit von 1–2, häufiger in 6–12 Stunden erfolgt (Husemann). Dieses Bild der Arsenikvergiftung nennt van Hasselt die paralytische Form der Arsenikintoxication, auch den Arsenicismus cerebrospinalis zum Unterschiede von dem gewöhnlichen Vergiftungsbilde, welches als Arsenicismus gastrointestinalis bezeichnet werden kann. Zwischen den genannten Formen der acuten Arsenikvergiftung gibt es vielfache Combinationen, und es ist insbesondere verhältnissmässig häufig, dass mit den Erscheinungen der Gastroenteritis auch cerebrospinale Symptome sich verbinden.
Es ist bisher nicht constatirt, warum in den einzelnen Fällen die ersteren und in anderen die letzteren prävaliren. Gegen die Annahme, dass nur die Menge des Giftes oder nur die Form, in der es beigebracht wurde (gelöst oder in Substanz), den Verlauf der Intoxication bedinge, sprechen verschiedene Beobachtungen; doch scheint es, dass alle jene Momente, welche eine rasche Resorption des Giftes und daher einen raschen Verlauf der Vergiftung begünstigen, wie grosse Dosis, flüssiger Aggregatzustand desselben und leerer Magen, das Prävaliren der cerebrospinalen Symptome bedingen. In einem unserer Fälle wurde ein Dienstmädchen noch um Mitternacht gesund und in voller Arbeit gesehen und um 3 Uhr Früh bereits todt und starr am Abort sitzend gefunden. In einem zweiten Falle hatte sich eine Försterstochter spät Abends gemeinschaftlich mit ihren Angehörigen gesund zu Bette gelegt: kurze Zeit darauf hörte man sie stöhnen und fand sie in Krämpfen liegen und sie gab an, Cyankalium genommen zu haben. Dann wurde sie „ganz steif“ und starb um ½-11 Uhr Nachts. In ihrem Besitze wurde ein Fläschchen mit Strychnin und in einem Papier eingewickelt Strychnin und Oxalsäure gefunden. Unter diesen Umständen wurde zunächst an Strychninvergiftung gedacht. Die chemische Untersuchung des Mageninhaltes ergab aber keines dieser Gifte, auch kein Cyankalium, sondern beträchtliche Mengen von Arsenik! Erbrechen und Diarrhoe waren in keinem dieser Fälle beobachtet worden und die Obduction ergab auch keine typischen Magen- und Darmbefunde.
Auch in jenen Fällen, in denen mehrere Individuen gleichzeitig und scheinbar unter gleichen Umständen mit verhältnissmässig kleinen Mengen vergiftet worden sind, wurden verschiedene Erscheinungen beobachtet. Taylor (l. c. 227) berichtet über eine Vergiftung von 340 Schulkindern mit arsenikhältiger Milch. Jedes Kind hatte etwa 1 Gran Arsenik bekommen. An fast allen kam Frostschauer, Schmerz im Magen und in den Eingeweiden, bei den meisten Erbrechen, bei anderen Kopfschmerzen, Coryza, bei sieben croupartiger Husten zur Beobachtung. Drei erbrachen Blut und bei einem ging Blut mit dem Stuhle ab. Eine gleichzeitige Vergiftung von 15 Personen mit arsenikhältigem Pudding hat Morley (Virchow’s Jahrb. 1873, I, 362) publicirt. [S. 673]Die Hauptsymptome waren bei allen Schwäche, Magenbeschwerden und intensive Schmerzen im Rücken (welche nach Anwendung eines Brechmittels nachliessen, aber wiederkehrten und bei den meisten 10 Stunden anhielten), bei vielen bestanden Schüttelfröste, bei einem Mädchen trat ein Ohnmachtsanfall ein, in einem Falle geringe Hämatemese. Injection der Bindehäute kam bei allen vor. Bei mehreren bestanden noch am zweiten Tage Sehstörungen (Scotomata), so dass Schreiben und Nähen unmöglich war. Bei einer Patientin wurde am 3. und 4. Tage excessives Hautjucken beobachtet. Leroy de Barres (ibid. 1886, I, 560) berichtet über eine Vergiftung von 270 Personen durch arsenikhaltiges Brod. Der Tod erfolgte in keinem Falle. Die Symptome waren: Uebelkeit und Diarrhöe, Durst, Brennen im Halse, entzündliche Röthe im Pharynx (am 2. Tage), Kopfschmerz, Klopfen in den Schläfen, Kreuzschmerzen, Abgeschlagenheit. Bei ziemlich vielen trat Anschwellung des Gesichtes (am 3. Tage), bei den meisten Anschwellung der Augenlider ein. Später fanden sich Hauteruptionen (4. Tag), Herpes, Erythem, Urticaria (am 6. Tage), Bläschen, Pusteln, Blasen (am 15. Tag). Ueber die Vergiftung einer grossen Zahl von Individuen in Hyères durch arsenikhaltigen Wein, sowie über die wahrscheinlich absichtlich herbeigeführte, in Havre vorgekommene Vergiftung von 15 Personen durch wiederholte kleine Gaben von Arsenik wurden von Brouardel und Pouchet (Annal. d’hygiène publ. 1889, XXII, pag. 137 u. ff.) ausführliche Mittheilungen gebracht. In den protrahirter verlaufenden Fällen liessen sich vier Perioden unterscheiden. In der ersten prävalirten die gastrischen, in der zweiten grippeartige Erscheinungen, in der dritten traten Kopfschmerzen, Ameisenlaufen, schmerzhafte Haut- und Muskelempfindungen und Sensibilitätsstörungen, inbesondere in den unteren Extremitäten auf. In der vierten Periode bestanden paralytische Symptome, Muskelschwäche, Schleudern der Füsse und Entartungsreaction. Zurückbleiben von Lähmungen nach Arsenvergiftungen wurde wiederholt beobachtet und von Mařik („Ueber Arsenlähmung.“ Wiener klin. Wochenschr. 1891, Nr. 31–40) ausführlich besprochen.
Der Sectionsbefund ergibt in den typischen Fällen eingefallene und halonirte Augen, manchmal Cyanose des Gesichtes, sowie der Hände und der Füsse. Sonstige äussere Befunde fehlen. Ebenso bietet die Schleimhaut der Schlingorgane nichts Abnormes. Dagegen finden sich in der Regel ausgesprochene Veränderungen im Magen, besonders aber im Darm. Die subperitonealen Gefässe des Magens und des Darms sind in der Regel stark mit dickflüssigem, dunklem Blute injicirt. Der Magen enthält meist gallertigen, fadenziehenden oder glasigen, mitunter wie geronnenen, gewöhnlich blutig tingirten Schleim. Die Schleimhaut erscheint in exquisiten Fällen gewulstet, gelockert und intensiv injicirt, häufig auch ecchymosirt. Die Veränderung kann über die ganze Magenschleimhaut gleichmässig verbreitet sein, oder ist nur auf gewisse Strecken, besonders auf den Magengrund und die untere Magenwand, beschränkt, oder auch nur auf der Höhe der Falten ausgesprochen.[S. 674] In dem gallertigen Schleime, welcher der Schleimhaut auflagert, sowie auf der Schleimhaut selbst lassen sich, wenn das Gift nicht etwa in Lösung genommen wurde, in der Regel harte weisse Arsenikkörnchen sehen, und noch leichter fühlen, und die Schleimhaut erscheint an jenen Stellen, denen solche Körnchen aufliegen, stärker geröthet, gewulstet und sammtartig gelockert. Ebenso lassen sich mikroskopisch Arsenikkrystalle nachweisen. Aehnliche Befunde ergibt gewöhnlich auch der Zwölffingerdarm und wir haben wiederholt in diesem grössere Mengen von Arsenikkörnchen in Schleimklumpen eingebettet gefunden. Förmliche Corrosionen haben wir niemals gefunden. Doch befindet sich im hiesigen pathologisch-anatomischen Museum ein so zu deutendes Präparat und von Dr. Felkl wurde uns mitgetheilt, dass er bei einem Weibe, welches zu Fruchtabtreibungszwecken (!) Arsenik genommen hatte, ein deutliches Corrosionsgeschwür gefunden habe. Auch Andere wollen solche beobachtet haben, namentlich Filehne (Virchow’s Arch. 83. Bd., pag. 1) bei Thieren, der jedoch die Destruction als eine peptische, in Folge der sauern Beschaffenheit des Mageninhaltes auftretende Erscheinung erklärt, die auch bei subcutaner Application von Arsenik sich einstellt, dagegen nicht eintritt, wenn der Mageninhalt dauernd alkalisch erhalten wird. Die Gedärme, namentlich die dünnen, sind gewöhnlich schwappend mit wässerigem, molkig getrübtem Inhalt gefüllt, während der Dickdarm ausserdem meist massenhaften gallertigen, wie geronnenen Schleim enthält, der die Schleimhaut in dicker Lage bedeckt und bei der mikroskopischen Untersuchung sich ausser mit reichlichen desquamirten Darmepithelien mit massenhaften lymphoiden Zellen durchsetzt erweist und stellenweise selbst einen croupösen Charakter besitzen kann. Die Schleimhaut des Dünndarms sowohl als des Dickdarms ist stark gelockert, in der Regel serös infiltrirt (ödematös), schlotternd, dabei bleich, wie ausgewässert. Die Gekrösdrüsen sind geschwellt. Die Nieren in den ersten Stadien der trüben Schwellung, fast constant Fibrincylinder enthaltend, das Blut im Herzen locker geronnen, in den peripheren Gefässen in Folge des grossen Wasserverlustes mehr weniger eingedickt, mitunter von syrup- bis theerartiger Consistenz. Die sonstigen Befunde, wie Hyperämie des Gehirns und seiner Häute, sowie der Lungen, sind weder constant, noch charakteristisch.
In protrahirteren Fällen finden sich körnige und fettige Degeneration der Magenlabdrüsen, der Nieren und der Leber, sowie der Musculatur, insbesondere jener des Herzens, und zwar desto ausgesprochener, je länger der Krankheitsverlauf gedauert hatte. Ecchymosen an den serösen Häuten, namentlich unter dem Peri- und Endocard, besonders an letzterem, sind häufig und wir haben sie schon in ganz acuten Fällen, unter Anderem bei einer Dienstmagd, die Abends noch gesund und am Morgen todt und bereits todtenstarr am Abort sitzend gefunden wurde, angetroffen. Bei einem 12jährigen Mädchen, welches Arsenik im gepulverten Zustand[S. 675] genommen hatte und nach 4 Tagen gestorben war, glich der Befund in vielen Beziehungen dem nach Phosphorvergiftung: leichter Icterus, fettige Degeneration des Herzens (leicht), der Leber (stärker) und der Nieren (sehr stark, wie bei der typischen Phosphorniere); keine in der willkürlichen Musculatur. Ecchymosen unter der Rachenschleimhaut und im Halszellgewebe, bohnengrosse unter der Pleura, zu beiden Seiten der Wirbelsäule und in beiden Mediastinalräumen, bis hanfkorngrosse am Herzen, besonders hinten. Hämorrhagische Erosionen und trübe Schwellung im Magen, wässerig-schleimiger, doch gallig gefärbter Inhalt in den Gedärmen und gelockerte schlotterige Schleimhaut. Auch wurden in vereinzelnten Fällen diphtheritische Zerstörungen im Dickdarm, besonders auf der Höhe der Falten, beobachtet.
Die Intensität der betreffenden Erscheinungen ist nicht immer die gleiche. Namentlich kann die Magenschleimhaut mitunter nur sehr geringfügige Veränderungen, insbesondere nur die Erscheinungen der trüben Schwellung, zeigen, während der Befund im Darm ungleich constanter ist, was mit der Thatsache übereinstimmt, dass nach Arsenikvergiftungen profuse Diarrhöen fast ausnahmslos sich einstellen.
Ueber die Ursache der giftigen Wirkung des Arseniks ist gegenwärtig nicht viel Positives bekannt. Bis in die neuere Zeit wurde das Gift als ein in erster Linie local irritirendes, ja ätzendes angesehen. Die irritirende Wirkung kann zwar nicht geleugnet werden, da entzündliche Röthung und Schwellung der Magenschleimhaut auch bei ganz acuter Vergiftung fast regelmässig, wenn auch nicht immer in gleich hohem Grade vorkommt und namentlich an solchen Stellen stärker zu bemerken ist, welchen Arsenikkörner auflagern. Auch spricht für die locale Wirkung der hochgradig entzündete und selbst brandige Zustand der Scheidenschleimhaut und des Muttermundes, der in solchen Fällen gefunden wurde, in denen bei Frauen entweder in mörderischer Absicht (Fälle von Ansiaux, vide Henke’s Zeitschr. 1821, II, 187) oder zu Fruchtabtreibungszwecken (Fälle: Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1864, XXV, 110, und Deutsche Klinik. 1873, Nr. 41), ferner bei Stuten, mit welchen man in dieser Richtung Versuche anstellte (Ansiaux, l. c.), Arsenik in die Scheide gebracht worden war. Trotzdem ist weniger die locale, als vielmehr die Allgemeinwirkung des Arseniks die Ursache seiner Giftigkeit, wofür ausser den nervösen Symptomen der Arsenvergiftung insbesondere der Umstand spricht, dass die klinischen und anatomischen Erscheinungen der Gastroenteritis, insbesondere die eigenthümlichen, über dessen ganze Länge gleichmässig ausgedehnten Veränderungen im Darmcanal in gleicher Weise sich entwickeln, ob nun das Gift per os oder auf anderem Wege, z. B. durch die Haut, beigebracht wurde.[433]
[S. 676]
In welcher Weise die körnige und fettige Degeneration bei der Arsenikvergiftung zu Stande kommt, ist bis jetzt nicht sichergestellt (vide pag. 638), ebensowenig, wodurch die cerebrospinalen Symptome veranlasst werden, die mitunter aufzutreten pflegen. Die eigenthümliche Eindickung des Blutes, die bei an Arsenikvergiftung Gestorbenen gewöhnlich gefunden wird, erklärt sich aus den profusen Diarrhöen, respective aus den mit diesen verbundenen grossen Wasserverlusten. In gleicher Weise kommt die Eindickung des Blutes bei profusen Darmcatarrhen, namentlich aber bei der Cholera zu Stande, mit welcher überhaupt das Bild der Arsenikvergiftung sowohl während des Lebens, als an der Leiche eine grosse Aehnlichkeit besitzt, worauf wiederholt und mit Recht hingewiesen wurde.[434] Sonstige Veränderungen des Blutes, insbesondere der Blutkörperchen, finden sich bei Arsenikvergiftungen nicht, obwohl Blut, wenn man es mit einer Lösung arseniger Säure zusammenbringt, sich bald dunkler färbt und das Hämatinspectrum zeigt.
In einzelnen Fällen von Arsenikvergiftung wurde Verzögerung der Fäulniss und bei exhumirten Leichen Mumification beobachtet, die sich theils aus den profusen Wasserverlusten, theils aus der bekannten conservirenden Wirkung des Arseniks erklärt, welch letztere selbstverständlich nur dort eintreten kann, wo grössere Mengen von Arsenik im Körper zurückgeblieben sind, während anderseits die Mumification auch aus anderen Ursachen (z. B. im trockenen, sandigen Boden) sich einzustellen vermag. Zaaijer (De Toestand der Lijken na Arsenicum-Vergifting. Amsterdam 1885 und Virchow’s Jahrb. 1885, I, 533) hat die exhumirten Leichen von 13, von einer gewissen Frau van der Linden vergifteten Personen untersucht und ausserdem 60 Fälle von Arsenikvergiftung aus der Literatur zusammengestellt und gefunden, dass sich die Leichen von an Arsenikvergiftung Verstorbenen weder vor, noch nach der Exhumation anders verhalten als gewöhnliche Leichen, weshalb er den Bestand einer sogenannten Arsenikmumification vollkommen in Abrede stellt. Auch verhielt sich die Schimmel- und Madenbildung wie bei anderen Leichen.
Die Ausscheidung des Arseniks aus dem Körper erfolgt im Allgemeinen schneller als bei anderen metallischen Giften. Der durchschnittliche Termin der vollständigen Elimination wurde von Orfila auf 30, von Chatin nur auf 12–15 Tage berechnet (Tardieu, l. c. 209) und nach Flandin (Casper-Liman, l. c. 421) waren bei Thieren 15 Gran sogar schon in 3 Tagen aus dem Körper verschwunden. Von Roussin (Journ. de pharm. et de chim. XLIII, 102) dagegen [S. 677]wurde angegeben, dass die Knochen das Arsen noch hartnäckig festhalten, nachdem es aus anderen Organen längst verschwunden ist. Nach Brouardel’s und Pouchet’s aus Anlass der Massenvergiftungen in Hyères und Havre (s. oben) angestellten Untersuchungen findet sich bei acuter Intoxication Arsen in der compacten, bei chronischer auch in der spongiösen Knochensubstanz. Von unserem Collegen Professor E. Ludwig werden uns folgende Beobachtungen mitgetheilt: Ein kräftiger Fleischerhund erhielt durch 20 Tage je 0·1 Grm. Arsenik; 39 Tage nach der letzten Arsenikgabe wurde das Thier getödtet. Bei der chemischen Untersuchung wurden aus der Leber noch einige starke Arsenspiegel erhalten, während Gehirn, Knochen und Muskeln schon arsenfrei waren. Ein zweiter Hund erhielt während 16 Tagen je 0·1 Grm. Arsenik; am 28. Tage nach der letzten Arsenikgabe wurde das Thier getödtet. Die chemische Untersuchung ergab hier im Harn noch eine sehr geringe Spur von Arsen, im Gehirn und Knochen gleichfalls noch nachweisbare Arsenmengen, aus der Leber wurden noch starke Arsenspiegel erhalten. Einem dritten Hunde wurden während 26 Tagen je 0·1 Grm. Arsenik gegeben, 22 Tage nach der letzten Arsenikgabe wurde das Thier getödtet; in diesem Falle wurden aus der Leber noch mehrere starke Arsenspiegel erhalten und auch Gehirn, Herz, Knochen und Harn erhielten noch leise Spuren von Arsen.
Im Allgemeinen ist es nicht undenkbar, dass ein Individuum an den Folgen einer Arsenikvergiftung stirbt, nachdem das Arsen bereits vollständig ausgeschieden ist. Noch eher ist es möglich, dass nur Spuren davon sich ergeben, wobei ausserdem doch zu erwägen kommt, dass ein grosser Theil des Giftes schon durch Erbrechen und den Stuhl entleert wird und ein anderer erst im Grabe im Laufe der Fäulniss und Verwesung dem Körper entzogen werden kann; durchaus Umstände, die, wenn es sich um die Diagnose einer Arsenikvergiftung überhaupt handelt oder speciell um die Frage, in welcher Menge das Gift beigebracht wurde, wohl in Betracht gezogen werden müssen.
Das metallische Arsen (Scherbenkobalt, Fliegenstein) ist als solches nicht giftig, oxydirt sich jedoch besonders in feuchter Luft, sowie im Wasser zu arseniger Säure (Fliegenwasser). Die Arsensäure (As2 O5) ist weniger giftig als die arsenige Säure, zeigt aber sonst gleiche Wirkungen wie diese. Bei ihrer beschränkten Verbreitung sind Vergiftungen mit derselben äusserst selten. Die Schwefelverbindungen des Arsens, das Zweifachschwefelarsen oder Realgar (As2 S2) und das Dreifachschwefelarsen oder das Auripigment (As2 S3) gelten im reinen Zustand als ungiftig, doch enthalten die käuflichen Sorten beträchtliche Mengen arseniger Säure und wirken daher wie diese. Bei Arsenikvergiftungen wird möglicherweise ein Theil der arsenigen Säure durch den Schwefelwasserstoff des Darmcanals in das Sulphid umgewandelt und dadurch unlöslich und unwirksam gemacht. Dass auch erst in der Leiche in Folge der Einwirkung des Schwefelwasserstoffes der Fäulnissgase solche Sulphide sich bilden können, haben Lerch und Buchner (Schmidt’s Jahrb. 1848, LX, 275; [S. 678]Friedreich’s Centralarch. 1849, pag. 696) dargethan; diese Umwandlung kann jedoch entgegen der früheren Annahme, wie ein von uns beobachteter Fall („Befund von gelbem Schwefelarsenik im Verdauungstractus nach Vergiftung mit weissem Arsenik.“ Wiener med. Wochenschrift 1886, Nr. 10–12) gezeigt hat, im Dickdarm, besonders im Cöcum schon vor der Beerdigung und vielleicht noch während des Lebens erfolgen. Bei mit weissem ungelösten Arsenik vergifteten und der Fäulniss überlassenen Hunden konnten wir diese Umwandlung schon nach 8–14 Tagen nachweisen und instructive Museumpräparate gewinnen. Pearson (Virchow’s Jahrb. 1888, I, 480) hat sie schon 7 Wochen nach dem Tode beobachtet. Sehr verbreitet sind die arsenikhaltigen grünen Farben: das Schweinfurtergrün (arseniksaures und essigsaures Kupferoxyd) und das Scheele’sche Grün (arseniksaures Kupfer). Damit gefärbte Spielwaaren, Esswaaren u. dergl., ebenso Kleider und Tapeten haben wiederholt sowohl zu acuten, als zu chronischen Vergiftungen Veranlassung gegeben. In einem unserer Fälle war Schweinfurtergrün in grossen Mengen zur Vertilgung von Ungeziefer angewendet worden und hatte eine acute Vergiftung erzeugt, ebenso haben wir zweimal Selbstmord mit dieser Farbe beobachtet. Die Substanz ist in Wasser unlöslich, löst sich aber im sauern Magensaft. Von den mit Arsengrün gefärbten Ballkleidern (Tarlatan) enthalten nach Ziurek 20 Ellen 300 Grm. Schweinfurtergrün mit 60 Grm. Arsenik. Beträchtliche Mengen von arseniger Säure enthalten die meisten Sorten des käuflichen Fuchsins, der bekannten rothen Anilinfarbe, die gegenwärtig stark zum Färben von Liqueuren, aber auch zur Weinverfälschung benützt wird.[435] Von arsenikhaltigen Medicamenten ist die Solutio arsenicalis Fowleri zu erwähnen, eine Lösung von arsensaurem Kali im Wasser (1 Grm. arseniger Säure in 90 Grm. der Solution nach der österr. Pharm., nach der deutschen 1 Theil auf 90 Theile). Der Arsenwasserstoff ist ein ungemein heftiges Gift. Beim Arbeiten damit sind Prof. Gehlen in München und Prof. Britton in Dublin um’s Leben gekommen. Ueber eine solche Vergiftung eines Chemikers und eines Arbeiters durch ein Knallgasgebläse, in dessen Wasserstoffapparat statt Schwefelsäure irrthümlich Arsensäure eingebracht worden war, wird im Jahresber. f. Pharm. 1870, pag. 522, berichtet; über eine andere von Frost in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XVIII, 269, welche 3 Arbeitern das Leben kostete und bei 6 anderen eine schwere Erkrankung veranlasste, und über eine neuere von Wächter (ibid. XXVIII, 251), welche 4 Italiener betraf, die sich mit der Füllung von Kinderballons mit Wasserstoff beschäftigten und sich zur Bereitung des letzteren arsenhältigen Zinks und käuflicher, zweifellos arsenhaltiger Schwefelsäure bedient hatten. Unwohlsein, Brechneigung, hochgradige Schwäche, [S. 679]flüssige Stühle, blutiger Urin, soporöser Zustand, auch Delirien und bei einzelnen Icterus[436] waren die hauptsächlichsten Erscheinungen. Die Section bot die Erscheinungen wie bei Vergiftung mit Arsenik. Wichtig ist auch die Beobachtung von C. Bischof (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVII, 163) über Bildung von Arsenwasserstoff aus Arsen durch Schimmelpilze, weil dieselbe bei manchen Vergiftungen durch arsenhaltige Tapeten eine Rolle spielen kann. Man hat erstere immer nur von dem sich ablösenden arsenhaltigen Farbenstaub abgeleitet. Viel gefährlicher jedoch scheinen aber auf feuchten Mauern klebende Tapeten zu sein, und zwar wegen des sich bildenden Arsenwasserstoffes. Ueber eine wahrscheinlich auf diese Weise zu Stande gekommene letale Vergiftung mehrerer Kinder berichtet Rossbach (Tod durch arsenhaltige Tapeten oder Vergiftung mit Phosphor. Jena 1890), welche deshalb eine besondere Bedeutung erhielt, weil der in manchen Beziehungen nicht ganz klargestellte Fall von anderen Sachverständigen für eine (absichtliche) Phosphorvergiftung gehalten wurde und noch gehalten wird.
Die chronische Arsenikvergiftung hat nur ein untergeordnetes forensisches Interesse, und wir verweisen bezüglich dieser auf die Handbücher der Toxikologie. Davon ist zu unterscheiden die langsame Vergiftung, welche durch wiederholt beigebrachte, nicht letale, doch toxische Gaben erzeugt worden ist, wie Flandin (Taylor, l. c. 202) einen solchen Fall erzählt, in welchem ein Weib ihrer Mitmagd täglich kleine Dosen von Arsenik in der Suppe beibrachte, die jedesmal Ueblichkeit und Erbrechen und schliesslich einen hochgradigen Schwächezustand erzeugten. Auch in dem berüchtigten Falle Duval in Paris (Annal. d’hygiène publ. 1878, Nr. 106, pag. 72) wurde dieser beschuldigt, dass er seine Frau durch wiederholt gereichte kleine Dosen vergiftet habe.
Eine gewisse Aehnlichkeit mit Arsenikvergiftungen zeigen Vergiftungen mit (im Magensaft) löslichen Baryumsalzen (Chlorbaryum, kohlensaurer Baryt). Seydel berichtet über einen Selbstmord mit kohlensaurem Baryt, der noch nach der Section für eine Arsenikvergiftung gehalten wurde (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXVII, 213) und Reincke (ibid. XXVIII, 248) über eine Vergiftung von mehreren Personen durch eine Torte, zu welcher mit kohlensaurem Baryt vermengtes Mehl genommen worden war. Brechdurchfall und Lähmungserscheinungen waren die Hauptsymptome. Die Section ergab in dem Falle Seydel’s eine hochgradig ecchymosirte Magenschleimhaut und sandige weisse Körnchen in dem sie bedeckenden Schleim, zahlreiche Ecchymosen im Duodenum, Schwellung und leichtes Oedem der Darmschleimhaut. Als Dosis letalis für Chlorbaryum werden von Husemann schon 15·0 Grm. angegeben.
[S. 680]
Man unterscheidet bekanntlich den gewöhnlichen, farblosen und den amorphen oder rothen Phosphor. Letzterer ist als solcher nicht giftig, ersterer dagegen gehört unter die heftigsten und zugleich tückischesten Gifte. Als Dosis toxica letalis werden 10–20 Cgrm. angenommen, doch haben weit geringere Dosen, namentlich bei Kindern, bereits den Tod herbeigeführt. So erhielt nach Kessler (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. IV, 271) ein siebenwöchentliches Kind 6–7 Zündhölzchenköpfchen (mit etwa 8 Mgrm. Phosphor) und starb nach 3–4 Stunden, und Sonnenschein berichtet sogar von einem 5 wöchentlichen Kinde, das schon in Folge des Verschluckens nur eines einzigen Zündhölzchenköpfchens gestorben sein soll. Die häufigsten Vergiftungen geschehen mit den Köpfchen der Phosphorzündhölzchen, die, da sie in jeder Haushaltung sich finden, immer zur Hand sind. Ihr Gehalt an Phosphor ist sehr variabel. Durchschnittlich beträgt derselbe bei der ursprünglichen Zündmasse 6–7 Procent und auf 100 Kuppen werden etwa 6–8 Cgrm. Phosphor berechnet. Fälle, in denen schon die Köpfchen eines Päckchens Zündhölzchen zu 80 bis 100 Stück eine tödtliche Vergiftung Erwachsener bewirkten, sind gewöhnlich. Die Zündmasse der sogenannten schwedischen Zündhölzchen enthält keinen Phosphor, sondern nur Kaliumchlorat, Mennige, Schwefelantimon und Kaliumbichromat. Die Reibfläche der Schachteln besteht aus amorphem Phosphor, der manchmal arsenhältig zu sein pflegt (Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1879, XXX, 382). Seltener geschieht die Vergiftung mit Phosphorpasta, einer Mischung von Phosphor mit Mehlteig in verschiedenen Verhältnissen, mit oder ohne Zusatz von Fett, welche als Mittel zur Vertilgung von Ratten, Mäusen u. s. w. zur Anwendung kommt. In fetten Oelen ist der Phosphor etwas löslich (Phosphoröl), weshalb, wenn der Phosphor mit fetten Substanzen genommen wurde, die Resorption und Allgemeinwirkung leichter und schneller eintreten kann, anderseits aber das Verabreichen von Oel und Fett (Milch) als Gegenmittel contraindicirt erscheint.
Die Symptome der Phosphorvergiftung können in einzelnen Fällen schon wenige Minuten nach dem Verschlucken des Giftes eintreten, in der Regel jedoch verfliesst einige Zeit, selbst mehrere Stunden und auch halbe, seltener ganze Tage, bevor dies geschieht. Druck und schmerzhaftes Gefühl in der Magenwand, Ueblichkeiten, Aufstossen nach Phosphor riechender und im Dunkeln leuchtender Dämpfe und hierauf Erbrechen[437] ebenso beschaffener Massen, grosser Durst sind die ersten Erscheinungen. Dieselben[S. 681] können in progressiver Steigerung schon in wenigen Stunden unter Collapsus zum Tode führen, und zwar, wie bei Kindern beobachtet wurde, schon nach 4–8 Stunden. Bei Erwachsenen ist ein so acuter Verlauf verhältnissmässig selten. In einem von uns untersuchten Falle starb ein Mädchen, welches die Köpfchen von 5 Päckchen Zündhölzchen genommen hatte, schon nach 8 Stunden, in einem anderen (Phosphorpasta) erfolgte der Tod schon nach 24, in einem dritten nach 27 und in einem vierten (Phosphor und Laugenessenz) in 40 Stunden. Auch Tüngel sah letalen Ausgang 9½ Stunden nach der Vergiftung, Axel Jäderholm nach 7, Maschka (Wiener med. Wochenschr. 1884) dreimal nach 8 Stunden, Hammer (Prager Wochenschr. 1888, Nr. 8) und A. Paltauf (Wiener klin. Wochenschr. Nr. 25) nach 9 Stunden eintreten. Im letzten Falle waren die Köpfchen von 10, im vorletzten sogar von 38 Päckchen Zündhölzchen genommen worden. In der Mehrzahl der Fälle ist der Verlauf ein subacuter und führt erst nach mehreren (meist 3–7) Tagen zum Tode. Das Erbrechen kann nachlassen oder es dauert fort und es werden dann meist kaffeesatzfärbige (bluthältige) Massen entleert. Die Magengegend ist etwas aufgetrieben und empfindlich. Der Stuhl anfangs meist zurückgehalten, während später von zersetztem Blut missfarbige Stoffe entleert werden. Sehr bald, manchmal schon am zweiten Tage, zeigt sich (hepatogener) Icterus[438], der sich rasch und intensiv entwickelt, wobei in der Regel eine Grössenzunahme der Leber nachweisbar ist, die am 4. bis 9. Tage in eine Verkleinerung übergehen kann. Enorme Muskelschwäche und Hinfälligkeit, kleiner frequenter Puls, schwacher Herzschlag. Die Temperatur, mässig erhöht, sinkt vor dem Tode auf die normale Körpertemperatur und selbst unter dieselbe. Die Harnabsonderung unterdrückt. Der Harn enthält frühzeitig Gallenpigment und in der Regel schon in den ersten Tagen Eiweiss und Blut. Faserstoffcylinder fehlen in der Regel, doch wird ihr Befund von Mannkopff (Wiener med. Wochenschr. 1883, Nr. 26, Beilage) angegeben. Der Harnstoffgehalt wurde in einzelnen Fällen vermindert und in anderen bedeutend vermehrt gefunden. Im ersteren Falle treten niedere Oxydationsproducte des Stickstoffes auf und nach Schulzen constant Fleischmilchsäure. Schütz (Prager med. Wochenschr. 1882, pag. 111) fand bei Phosphorvergiftung im Harn freies Fett, Selmi (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 440) phosphorhaltige Basen, nicht aber bei Icterus gravis. Das Bewusstsein bleibt meist[S. 682] bis zum Tode erhalten. In einzelnen Fällen waren Delirien kurz vor dem Tode und ein comatöser Zustand eingetreten.[439] Bemerkenswerth ist noch das vereinzelt beobachtete Auftreten von Ecchymosen in der Conjunctiva und unter der Haut unter dem Bilde der Purpura haemorrhagica. Genesung nach intensiver Phosphorvergiftung ist nicht häufig, wurde jedoch wiederholt und selbst in Fällen beobachtet, in denen bereits Icterus und Collapserscheinungen aufgetreten waren.[440]
Der Leichenbefund hängt wesentlich von der Dauer der durch die Vergiftung veranlassten Erkrankung ab. In sehr acuten Fällen kann sich ausgesprochener Phosphorgeruch des Magen- und Darminhaltes, sowie ein Leuchten desselben beim Schütteln im Dunkeln finden und man ist mitunter noch im Stande, Phosphorstückchen, beziehungsweise Zündhölzchenköpfchen zu erkennen. Noch leichter ist es, die Anwesenheit von Phosphor chemisch, insbesondere durch Destillation in dunklem Raume, nachzuweisen. Dafür sind die übrigen Befunde meist negativ, da die Organe ausser etwa trüber Schwellung der Magenschleimhaut keine auffallenden mikroskopischen Veränderungen bieten. Auch die mikroskopische Untersuchung kann ein ganz negatives Resultat ergeben, wie dies bei einem von uns obducirten Mädchen der Fall war, welches Abends Zündhölzchenköpfchen genommen und am frühen Morgen sich aus dem Fenster gestürzt hatte. Doch konnten wir bei dem oben erwähnten, schon nach acht Stunden verstorbenen Mädchen nicht blos „trübe Schwellung“ der Magenschleimhaut, sondern bereits körnige Degeneration der Leberzellen, sowie ein wie bestäubtes Aussehen der Nierenepithelien und der Herzmuskelfasern constatiren, noch ausgesprochener aber in den nach 24 oder 40 Stunden abgelaufenen Fällen.
[S. 683]
War jedoch, wie meistens, der Tod erst nach 3–5 Tagen eingetreten, so ist der Sectionsbefund ein sehr charakteristischer. Die Leiche ist auffallend icterisch[441] und die äussere Besichtigung lässt manchmal Ecchymosen in den Conjunctiven, und durch die Haut durchscheinend, im subcutanen Zellgewebe erkennen, die mitunter wie traumatische Suffusionen aussehen können. Die inneren Organe erscheinen mehr weniger icterisch und von diesen die meisten im Zustande hochgradiger acuter, fettiger Degeneration. Letztere ist namentlich in der Leber und in der Niere ausgesprochen, welche vergrössert, auffallend gelb von Farbe und von teigiger Consistenz erscheinen, am Durchschnitt fettig glänzen und deren Parenchymzellen unter dem Mikroskope von massenhaften Fetttröpfchen durchsetzt sich erweisen. Ebenso zeigen sich die Magenlabdrüsenzellen, insbesondere die Hauptzellen, hochgradig fettig degenerirt, so dass schon bei makroskopischer Besichtigung der Magenschleimhaut die Drüsenmündungen in Form gelblicher Punkte hervortreten (Virchow’s Gastradenitis phosphorica), während die Schleimhaut im Ganzen eigenthümlich bleichgelb, trüb und etwas geschwellt erscheint. Ecchymosen der Magenschleimhaut und hämorrhagische Errosionen finden sich häufig. Der Mageninhalt ist entweder eine graue trübe Flüssigkeit oder ist bluthaltig und dann chocoladebraun. Letzterer Inhalt findet sich häufig, und zwar im Allgemeinen häufiger als im Magen, im Darmcanal, und zwar mit und ohne Ecchymosirung der Darmschleimhaut. Diese erscheint in der Regel bleich oder noch häufiger gelblichgrau. Im Dickdarm finden sich in jenen Fällen, in denen Stuhlverhaltung bestand, lehmfarbige oder schiefergraue breiige Massen, in denen nicht selten der Nachweis von Phosphor in Substanz gelingt, während dies im Magen und übrigen Darminhalt in der Regel nicht mehr möglich ist. Ausser in den parenchymatösen Organen ist die fettige Degeneration auch in der Musculatur ausgesprochen, namentlich in jener des Herzens, aber auch in den Gefässwandungen, besonders in jenen der kleinen Gefässe. Auch die weissen Blutkörperchen zeigen sich von Fetttröpfchen durchsetzt. Das Blut ist theils flüssig, theils locker geronnen[442], dabei aber missfärbig, die Blutkörperchen sind vielfach verknittert und zerfallen, mit Wasser verdünnt erscheint das Blut auffallend trübe[S. 684] und setzt einen reichlichen feinkörnigen Bodensatz ab (Globulin?). Ob die Verknitterung und Auflösung der rothen Blutkörperchen schon während des Lebens stattfinde oder erst an der Leiche in Folge der meist frühzeitig eintretenden Fäulniss, ist nicht sichergestellt. Ersteres ist jedoch wahrscheinlich, wurde auch durch die Untersuchungen von Taussig (Arch. f. experim. Path. 1892, XXX, pag. 161) bestätigt und dieser Umstand zugleich mit der durch die fettige Degeneration bewirkten grösseren Zerreisslichkeit der Gefässe ist der Grund eines anderen, der Phosphorvergiftung sehr constant zukommenden Befundes, nämlich der Ecchymosen, welche unter den serösen Häuten, aber auch an anderen Stellen sich finden. Von ersteren ist es insbesondere das Peritoneum, welches namentlich zwischen den Blättern der Netze und Gekröse grössere und kleinere Ecchymosen enthält, ebenso die Pleura und das Pericardium. Häufig sind auch Ecchymosen im subcutanen, insbesondere aber im intermusculären Bindegewebe, namentlich an abhängigen Stellen, in den Mediastinalräumen, besonders den hinteren, ferner an den Schleimhäuten, so schon im Rachen und im Oesophagus gewöhnlich aber in der Magen- und Darmschleimhaut, sehr constant in den Nierenbecken. In einzelnen Fällen wurden Ecchymosen sogar im Ependym der Ventrikel beobachtet. Bei der Entstehung der Ecchymosen können auch mechanische Einflüsse mitwirken. So fand Seydel (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, VI, pag. 281) bei einer an subacuter Phosphorvergiftung gleich nach der Entbindung verstorbenen Frau die Ecchymosen besonders massenhaft in der vorderen Bauchwand und an einem Oberschenkel, was er einestheils von der vorgenommenen Placentarexpression, anderseits von einem Fall auf’s Knie herleitet, den die Untersuchte kurz vor ihrem Tode gemacht hatte. In den von uns secirten Fällen finden wir auffallend häufig Ecchymosen an den Rippeninsertionen der Brustmuskeln und an den Rippenbögen verzeichnet, bei deren Entstehung die Zerrung der Muskeln bei der angestrengten Athmung eine Rolle spielen dürfte.
Bemerkenswerth ist das in einzelnen Fällen beobachtete Auftreten von (symmetrischer) Hautgangrän an den Füssen. Ausser in einem 1882 von Ehrlich in Berlin veröffentlichten solchen Fall und in zwei von R. Paltauf und Kretz vor Kurzem beobachteten, aber noch nicht publicirten Fällen kam ein solcher Befund in unserem Institute zur Beobachtung und wurde von Haberda bei der Wiener Naturforscherversammlung (Wiener klin. Wochenschr. 1894, pag. 798) mitgetheilt. Er betraf ein nach Abortus verstorbenes Mädchen, bei welchem zwei Tage vor dem Tode an beiden Fussrücken gangränöse Flecken auftraten. Man dachte an eine Fruchtabtreibung durch Secale cornutum, während die Obduction eine zweifellose Phosphorvergiftung ergab. Haberda erklärt diese Gangränen aus der Blutzersetzung, aus den Veränderungen an den Gefässen, vorzugsweise aber aus der schwachen Herzaction.
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Zwischen diesen höchst ausgeprägten und kaum zu verkennenden Fällen von Phosphorvergiftung und jenen sehr acuten, die bei der Section keine auffallenden Veränderungen in den inneren Organen zeigen, gibt es andere, in denen die genannten Organe die verschiedenen Uebergänge zwischen „trüber Schwellung“ und fettiger Degeneration zeigen, und es muss festgehalten werden, dass der Tod in Folge einer Phosphorvergiftung in allen Stadien derselben erfolgen kann. Auch ist zu bemerken, dass der Tod noch vor vollständigem Ablauf der Vergiftung durch Hämorrhagien eintreten kann, die in Folge der fortschreitenden fettigen Degeneration der peripheren Gefässe sich einstellen können. So berichtete Heschl[443] über einen Fall, in welchem im Verlaufe einer Phosphorvergiftung eine tödtliche Hirnhämorrhagie auftrat, und einen gleichen Fall hatten auch wir zu obduciren Gelegenheit, sowie mehrere, in welchen es zu einer profusen Darmblutung gekommen war, die als nächste Todesursache aufgefasst werden musste.
Ueber die Ursache der giftigen Wirkung des Phosphors ist man noch sehr im Unklaren. Eine ätzende Wirkung namentlich auf die Magenschleimhaut kommt dem Phosphor nicht zu, und die Angaben Einzelner, dass sie angeätzte und selbst brandige Stellen im Magen fanden, stehen im Widerspruch mit den zahlreichen Beobachtungen Anderer, welche niemals ähnliche Befunde constatiren konnten, womit auch unsere an einer grossen Reihe von Phosphorleichen gemachten Erfahrungen übereinstimmen. Was die Allgemeinwirkungen des Phosphors betrifft, so verlangt das Verständniss dieser zunächst eine genauere Kenntniss über die Art und Weise, wie der Phosphor überhaupt zur Resorption gelangt. Da letzterer als im Wasser unlöslich angesehen wird, so ist eine Resorption schwer verständlich, weshalb einzelne Forscher (Munk und Leyden) die Ansicht aussprachen, dass der Phosphor im Magen sich zu phosphoriger und Phosphorsäure oxydire, und dass diese Säuren, weil sie im concentrirten Zustand resorbirt werden, giftig wirken. Diese Anschauung ist unhaltbar, weil sie eine Anätzung der Magenschleimhaut voraussetzt, die sich niemals findet. Schuchardt und Dybkowsky wieder sind der Meinung, dass sich im Magen die nichtentzündliche Varietät von Phosphorwasserstoff bilde und resorbirt giftig wirke, indem dieser auf Kosten des Sauerstoffes des Blutes zu phosphoriger Säure sich oxydire. Auch diese Anschauung hat wegen der geringen Mengen von Sauerstoff, die dem Blute dabei entzogen würden, nicht viel für sich. Am plausibelsten erscheint gegenwärtig die Annahme, dass der Phosphor als solcher in das Blut gelange, und zwar entweder als Phosphordampf, welcher nach Versuchen Bamberger’s thierische Membranen zu durchdringen im Stande ist, oder indem der Phosphor durch die im Magen oder im Darm befindlichen Fette gelöst wird und auf diese Weise zur Resorption kommt. Ueberdies neigen sich einzelne Beobachter zur Ansicht hin, dass der Phosphor doch nicht im Wasser so [S. 686]ganz unlöslich sei, wie gewöhnlich angenommen wird.[444] H. Meyer (Arch. f. exp. Path. XIV, 313) findet, dass dem Phosphor eine direct schwächende Einwirkung auf das Herznervensystem zukomme, ähnlich wie dem Arsen und dem Antimon, ausserdem eine Einwirkung auf die Blutgase, da die Grösse des Sauerstoffgehaltes des Blutes zwar normal bleibt, dagegen der Gehalt der gesammten und der auspumpbaren Kohlensäure ausserordentlich tief herabsinkt. Briliant wieder (ibid. XV, 39) kommt auf Grundlage seiner Thierversuche zum Schlusse, dass zwischen den Wirkungen des Phosphors und des Phosphorwasserstoffes kein wesentlicher Unterschied bestehe, und dass die Kreislaufstörungen bei diesen Vergiftungen analog sind denen bei Arsen- und Antimonvergiftung. Dagegen treten die Gastrointestinalerscheinungen gegen die nervösen Störungen sehr in den Hintergrund. Als charakteristisch bezeichnet er das Stadium tiefster Narcose, welches dem Tode bei Phosphor- oder Phosphorwasserstoffvergiftung unmittelbar vorausgeht, während, wie oben erwähnt, bei Menschen das Bewusstsein in der Regel bis zum Tode sich erhält. Neuere Ansichten über den „Mechanismus der Phosphorvergiftung“ hat Corput am 10. internationalen Congress in Berlin vorgebracht.
Die hochgradige Verfettung der inneren Organe, der Icterus und die Ecchymosen an den serösen Häuten und an den Schleimhäuten sind für die subacute Phosphorvergiftung sehr charakteristisch und gewähren ein so eigenthümliches Bild, dass dieses in den meisten Fällen für sich allein die Diagnose gestattet. Trotzdem gibt es einige Processe, die, wenn auch nicht gleiche, so doch ähnliche Sectionsbefunde gewähren. Es sind dies alle jene Erkrankungen, die ebenfalls eine acute körnige und fettige Degeneration der inneren Organe nach sich ziehen und die wir bereits oben (pag. 638) angeführt haben. Specielle Erwähnung verdient hier die „acute Leberatrophie“, deren Aehnlichkeit mit der Phosphorvergiftung seit jeher hervorgehoben worden ist. Dieselbe tritt bekanntlich am häufigsten bei Schwangeren und Wöchnerinnen auf und verläuft sehr acut unter dem Bilde des Icterus gravis, wobei schon während des Lebens eine Abnahme des Lebervolumens klinisch nachgewiesen werden kann. Die Section zeigt ebenfalls hochgradige, fettige Degeneration der Nieren und des Herzens, sowie der willkürlichen Musculatur und auch Ecchymosen unter den serösen Häuten und auf den Schleimhäuten, wenn auch nicht so constant wie bei der Phosphorvergiftung. Dagegen bietet, wie gewöhnlich behauptet wird, die Leber ein anderes Verhalten, als die Phosphorleber. Während letztere vergrössert erscheint und die teigige Consistenz der Fettleber zeigt,[S. 687] ist die acut atrophirte Leber, wie schon die Bezeichnung ausdrückt, verkleinert und dabei auffallend schlaff, die Oberfläche häufig stellenweise eingesunken. Während ferner die Phosphorleber eine reingelbe, gleichmässig mit Rothbraun oder Gelbbraun untermischte Farbe bietet, zeigt das Organ bei der acuten gelben Atrophie ein schmutziggelbbraunes, am Durchschnitte sowohl als an der Oberfläche von verwaschenen schmutzigrothen Flecken und Streifen unterbrochenes Aussehen. Die mikroskopische Untersuchung ergibt nicht eine einfache Infiltration der Leberzellen mit Fetttropfen, sondern gleichzeitig einen Zerfall der Leberzellen, die als solche grösstentheils unkenntlich erscheinen. Dabei sind sowohl in dem Detritus als in den feinsten Gallengängen massenhaft Bacterien vorhanden, deren Invasion sich auch in anderen Organen, so namentlich in den Nieren, im Herzen und in den Hirngefässen, nachweisen lässt (Waldeyer, Klebs). Endlich zeigt das interstitielle Lebergewebe eine reichliche Einlagerung kleiner Rundzellen, deren rapide Wucherung nach Ansicht Winiwarter’s Compression der Gefässe und Zerfall der Leberzellen bedingt, ein Befund, der sich bei der Phosphorleber gar nicht oder nur in sehr geringem Grade ergibt. Leider aber zeigt auch bei entschiedener Phosphorvergiftung die Leber mitunter ein gleiches Verhalten wie bei der acuten gelben Leberatrophie. Insbesondere kann auch bei dieser eine Verkleinerung und ein Matschwerden der Leber sich finden. So berichtet Ermann (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. 1880, XXXIII, pag. 61) über einen 19jährigen Mann, der die Köpfchen von 5 Bund Streichhölzchen verschluckt hatte und nach 10 Tagen starb, nachdem während des Lebens Chylurie (fetthaltiger Harn) eingetreten war, bei dem eine matsche, ungleichmässig gefärbte und stark verkleinerte Leber von nur 870 Grm. gefunden wurde. Hessler (l. c.) constatirte unter 48 Fällen während des Lebens 12mal eine Vergrösserung der Leber; in 2 Fällen gleich von Anfang eine Verkleinerung, in den übrigen mit oder ohne vorausgegangene Vergrösserung eine Verkleinerung vom 2. bis 9. Tage angefangen. Auch wir haben bei einem entschiedenen Phosphorvergiftungsfalle eine ausgesprochene Leberatrophie (690 Grm.) gefunden. Ossikovszky (Wiener med. Wochenschr. 1881, Nr. 33), der schon 1870 auf das Vorkommen von Leberatrophie bei protrahirteren Formen der Phosphorvergiftung aufmerksam machte, hält überhaupt die „acute Leberatrophie“ und die Phosphorvergiftung für identisch. Ob und in welcher Beziehung die „acute gelbe Leberatrophie“ zu der besonders bei Schwangeren und Wöchnerinnen von R. Paltauf, Jürgens und auch von uns beobachteten Fällen von „Hepatitis haemorrhagica“ steht, bedarf noch weiterer Studien.
Ein der Phosphorvergiftung ähnliches Bild erzeugt auch die Variola haemorrhagica, besonders wenn der Tod im sogenannten Ausbruchsstadium erfolgt. Bei einem 5½jährigen Mädchen fanden wir nur spärliche, von einem hämorrhagischen Hof umgebene Knötchen [S. 688]an der linken Gesichtshälfte, an den Seitentheilen des Thorax, am Bauche und den Oberschenkeln, aber bis bohnengrosse zahlreiche Hämorrhagien im subcutanen und intermusculären Bindegewebe, ebenso in beiden Mediastinalräumen und besonders in den Gekrösen, parenchymatöse Degeneration der Muskeln, der Leber und der Nieren, trübe Schwellung im Magen, acuten Milztumor, keinen Icterus.
Bezüglich des Nachweises des Phosphors wurde bereits erwähnt, dass in einzelnen Fällen die Anwesenheit von Phosphor im Magen- und Darminhalt durch das charakteristische Leuchten der im Dunkeln bei Luftzutritt geschüttelten Massen constatirt werden kann. Hier sei hinzugefügt, dass nur saure oder neutrale Massen leuchten, dass daher die Contenta, wenn sie, namentlich in Folge der Fäulniss, alkalisch reagiren, früher angesäuert werden müssen. Das Mitscherlich’sche Verfahren, den Phosphor in Leichentheilen nachzuweisen, besteht in Destillation der angesäuerten Massen im dunklen Raume. Ist Phosphor vorhanden, so zeigt sich, wenn die Masse im Kolben in’s Kochen geräth, an der Stelle, an welcher das vom Kolben abgehende Rohr in das Kühlrohr eintritt, das charakteristische Leuchten, eine Reaction, die so empfindlich ist, dass schon 1–2 Zündhölzchenköpfchen dieselbe geben. Das Leuchten kann jedoch verhindert werden durch Anwesenheit von Alkohol, Aether, Terpentinöl, Buttersäure und wahrscheinlich durch andere stark riechende Stoffe, die daher, bevor man den Versuch anstellt, entfernt werden müssen. Die Methode von Dussard und Blondlot beruht auf der Darstellung von Phosphorwasserstoff, die in analoger Weise ausgeführt wird, wie die des Arsenwasserstoffes im Marsh’schen Apparate, und bezweckt den Nachweis der charakteristischen, prächtig grünen Phosphorwasserstoffflamme.
Da der Phosphor sich im Organismus rasch oxydirt, ein Theil überdies theils durch Erbrechen und manchmal auch durch Diarrhöen entleert wird, so gelingt der chemische Nachweis des Phosphors als solcher in der Regel nur in acuteren Fällen, selten und dann nur im unteren Darm in jenen, die länger gedauert hatten. Doch kann dann noch der Nachweis von phosphoriger Säure, die im normalen Organismus nicht vorkommt, die Diagnose sicherstellen. In acut verlaufenden Fällen kann der Phosphor unter Umständen noch in der faulen Leiche unzersetzt sich erhalten. So haben Fischer und Müller (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1876, XXIV, 1) den Phosphor noch nach 8 Wochen und noch nach 12 Wochen phosphorige Säure in den Leichen damit vergifteter Thiere nachweisen können, und Elvers (ibid. XXV, 25) beschreibt einen Fall, in welchem es gelang, in der exhumirten Leiche einer mit Phosphorpasta vergifteten Frau noch 35 Tage nach dem Tode die Anwesenheit von Phosphor mittelst des Mitscherlich’schen Apparates zu constatiren. In dem von uns untersuchten, nach 8 Stunden letal abgelaufenen Fall zeigte der leicht verschlossen aufbewahrte, hochgradig faule Darminhalt noch nach 2 Monaten, in einem anderen (Tod nach 8 Tagen) die im Mastdarm gefundenen, erweichte Zündhölzchenköpfchen und Schwefelstückchen [S. 689]enthaltenden Fäces noch nach 5 Monaten ein deutliches Leuchten im Mitscherlich’schen Apparate; in einem weiteren (Phosphorpasta) war schon 7 Tage nach der Aufbewahrung kein Phosphor mehr nachweisbar. Friedberg (Virchow’s Arch. LXXXIII, 501) berichtet über einen Fall, in welchem nach 3 Monaten nach der Beerdigung die Phosphorvergiftung durch den Nachweis von phosphoriger Säure sichergestellt wurde. Die chemische Untersuchung ergab zugleich kleine Mengen von Arsen und Antimon, welche auch in dem in Beschlag genommenen Mäusegift (Phosphorbacillen) gefunden wurden.[445] Da die Zündhölzchenköpfchen durch Mennige gefärbt sind, sind die Leichentheile auch auf Blei zu untersuchen, welches sich bekanntlich leicht nachweisen lässt. Dieser Nachweis ist uns wiederholt im Darminhalt gelungen, nachdem bereits Phosphor als solcher nicht mehr vorhanden war. In einem von Tardieu (l. c. 264) mitgetheilten Falle konnte noch nach 1½ Jahren in der exhumirten Leiche Zinnober nachgewiesen werden, womit die betreffenden Zündhölzchen gefärbt gewesen waren. In einzelnen unserer Fälle gelang es, im Magen- und Darminhalt noch Stückchen der Hölzchen aufzufinden und auch unter dem Mikroskope als von Nadelholz herrührend, an den bekannten Tüpfelgefässen zu erkennen. Insbesondere fanden wir bei einem aus der Donau gezogenen Manne etwa 30 abgebrochene, bis 1·5 Cm. lange Zündhölzchenstücke im Dünndarm. Auch der Schwefel der gewöhnlichen Zündhölzchenköpfchen kann nachweisbar sein, doch kam hier auch ein Fall zur (pathologischen) Section, in welchem bei einer an Laugenessenzvergiftung verstorbenen Dienstmagd auch eine Menge von Schwefelstückchen im Magen gefunden wurde, indem dieselbe gestossenen Schwefel, weil sie diesen entweder für giftig hielt oder mit Phosphor verwechselte, der Laugenessenz beigemischt hatte.
Die hierher gehörenden, zur forensischen Untersuchung gelangenden Vergiftungen geschehen entweder mit dem Absud von Mohnköpfen oder mit Opium und seinen pharmaceutischen Präparaten oder mit dem wichtigsten und am meisten bekannten und benützten Alkaloid desselben, dem Morphin. Die Vergiftung durch Absud von Mohnköpfen betrifft fast ausnahmslos Kinder, denen derselbe als schmerzstillendes oder einschläferndes Mittel gereicht wurde, welcher gefährliche Usus so verbreitet ist und bereits so vielen Kindern das Leben kostete, dass das gegenwärtige österr. St.-G. sich veranlasst fand, im §. 377 die Anwendung des Absudes von Mohnköpfen bei Kindern ausdrücklich als Uebertretung, beziehungsweise als Vergehen zu bezeichnen und hervorzuheben. Zufolge der Untersuchung von Sydenham, Winkler und Menz[S. 690] sind in vier Stück unreifer und getrockneter Mohnköpfe 0·019 Grm. Morphium enthalten, doch ist bei der Verwerthung dieser Angabe ausser auf den wechselnden Morphiumgehalt der Mohnköpfe und des Opiums überhaupt, auch darauf Rücksicht zu nehmen, dass zerkleinerte Mohnköpfe, wenn sie gekocht werden, viel mehr Morphium abgeben, als wenn sie, wie häufig geschieht, in toto gekocht worden sind. Auch ist der Opiumgehalt der Mohnkapseln ein sehr verschiedener, insbesondere der der unreifen ein höherer als der reifen. Den Untersuchungen Bělohoubek’s zufolge (Virchow’s Jahresb. 1893, I, pag. 499) soll in den käuflichen Mohnköpfen auch eine strychninartige Substanz vorkommen. Ebenso giftig ist der bei uns früher im Handverkauf der Apotheker gestattete, aus Mohnkapseln bereitete Syrupus Diacodii, der unter dem Namen „Bockshörndlsaft“ häufig zur Beruhigung der Kinder angewendet wird. Wir haben mehrere damit vergiftete Kinder obducirt, darunter einen Säugling, der für 2 kr. (10 Grm.) des Syrups erhalten hatte. Fast unmittelbar nach der Darreichung erfolgte tiefer Schlaf, der in Sopor und Tod überging. Die Obduction ergab mässige Bronchitis, enge Pupillen, ausgedehnte Harnblase und geronnenes Blut. Die Vergiftung mit Opium als solchem, sowie die mit dessen pharmaceutischen Präparaten, wie Tinctura opii simplex und crocata, sind bei uns selten und kommen fast nur als medicinale Vergiftungen vor. In England sind Selbstmorde damit häufig. Als Dosis toxica letalis vom Opium wird 1–2 Grm. angenommen. Die Maximaldosis der österreichischen sowohl als der deutschen Pharmakopöe beträgt 0·15 in der Einzelgabe und 0·5 pro die. Von Morphium und seinen Salzen sind durchschnittlich 20–40 Cgrm. schon im Stande, einen Erwachsenen zu tödten.
Maximaldosis der österreichischen Pharmakopöe für Morphin. hydrochl. pro dosi 0·03 und pro die 0·12; jene der deutschen Pharmakopöe, sowohl für Morphin als für seine Salze 0·03 für die Einzelngabe und 0·12 pro die, ausserdem für subcutane Injectionen 0·006 bis 0·03. Kinder reagiren ungleich empfindlicher gegen Opiate als Erwachsene. Tardieu berichtet von einem 5½jährigen Kinde, das nach Genuss von 20 Cgrm. Opium in wenigen Stunden starb, und von einem anderen, bei welchem schon nach ¹⁄₂₀, ja schon nach ¹⁄₉₀ Gran Opium bei Säuglingen der Tod eintrat. Ebenso sind Fälle, in denen nach Bruchtheilen eines Grans von Morphium bei Kindern der Tod eintrat, in beträchtlicher Zahl bekannt (Zusammenstellungen von Dongall, s. Wiener med. Wochenschr. 1878, pag. 924). Anderseits wurden Genesungen nach 1–1·5 Grm. Morphin und nach 60 bis 192 Grm. Laudanum beobachtet.[446] Ferner ist es eine Thatsache, dass nach successiver Steigerung der Gabe schliesslich enorme Mengen von [S. 691]Morphium und Opium vertragen werden. Husemann sah in Göttingen eine Frau, der täglich 20 Gran Morphium gegeben wurden. Credé berichtet von einem Individuum, das täglich 52 Gran Morphium nahm, und nach L. Herrmann (l. c. 373) existirte bei Zürich eine Frau, welche sich täglich 1·2 Grm. Morphinsalz auf einmal einspritzte!
Die Vergiftungserscheinungen treten in der Regel erst nach einer halben bis einer Stunde ein, manchmal aber noch später und bestehen zunächst in Schwindel, Schwere des Kopfes, rauschartiger Aufregung, Sinnesdelirien und grosser Empfindlichkeit gegen Licht und Schall, manchmal auch Hautjucken (Husemann). Ueblichkeiten sind häufig, ebenso Erbrechen, können jedoch fehlen. Dieses Aufregungsstadium geht nach kurzer Dauer in das Depressionsstadium über, in dem sich Betäubung, tiefer, in Sopor übergehender Schlaf einstellt; die Reflexe sind erloschen, das Athmen nur langsam und später stertorös, der Puls meist frequent (Vaguslähmung), doch schwach, die Ausscheidungen sistirt (Blasenlähmung), die Pupillen meist hochgradig verengert, ein Symptom, auf welches Taylor und Husemann (Deutsche Klinik. 1874, Nr. 7 und 8) ein besonderes Gewicht legen, und das auch bei mehreren unserer Fälle constatirt worden ist. In einzelnen, besonders in nicht letal abgelaufenen Fällen wurden unscheinbare, wahrscheinlich auf Gefässlähmung beruhende Röthungen der Haut und Hautjucken beobachtet. (Ueber derartige und andere üble Zufälle nach Morphiuminjectionen vide insbesondere Schüle, Handb. d. Geisteskh. 1878, pag. 668.) Der Tod erfolgt unter Erscheinungen centraler Lähmung einige (5 bis 12) Stunden nach Beginn der ersten Intoxicationserscheinungen, bei Kindern in der Regel ungleich früher.
In einzelnen Fällen kommen die Individuen wieder zum Bewusstsein, um jedoch nach einiger Zeit wieder in Betäubung und Sopor zu verfallen, in welchem sie schliesslich, und zwar in der Regel erst auch mehreren Stunden und selbst Tagen, sterben. Taylor (l. c. III, 9) hat diesen Verlauf als remittirende Form der Opiumvergiftung beschrieben. Wir haben einen gleichen Verlauf bei einem Mädchen beobachtet, welches 2 Gran Morphium in Chloroform genommen hatte (Wiener med. Presse. 1877, Nr. 3–4), und erklären uns das neuerliche Auftreten von soporösen Erscheinungen aus pneumonischen Processen, die durch während der Betäubung und während des Darniederliegens der Reflexe erfolgende Aspiration von erbrochenen Substanzen sich ungemein rasch entwickeln, eine Anschauung, die in einem anderen Falle bestätigt wurde, in welchem bei einem Manne, der über 1 Grm. Morphium pur. genommen hatte und erst nach 8 Stunden starb, die Bronchien bis in die feinsten Verzweigungen geronnene Milch enthielten, die man ihm als Gegenmittel gereicht hatte. — Bei „nervösen“ Personen kann die Morphiumvergiftung mitunter einen ganz anormalen Verlauf nehmen und Pellacani (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 533) hat einen solchen beobachtet, wo nach subcutaner Injection Trismus und Opisthotonus aufgetreten waren.
[S. 692]
Der Leichenbefund bietet nichts Charakteristisches. Eine auffallende Pupillenverengerung haben wir nur in wenigen unserer Fälle gefunden und dies erklärt sich daraus, dass die anfangs in der Regel bestehende Pupillenverengerung in den letzten Stadien der Vergiftung sich wieder verliert. In einem Falle von Selbstmord durch Morphium war die eine Pupille mittelweit, die andere enge. Hirn- und Lungenhyperämien sind sehr constante Befunde und erklären sich aus der Gefässlähmung, die das Morphium bewirkt. Wenn Opium in Substanz oder als Tinctur genommen wurde, so kann der charakteristische Opiumgeruch im Magen sich finden, ebenso eine auffallend safrangelbe Färbung, wenn die Vergiftung mit Tinct. opii crocata geschah, wie wir in einem Falle beobachteten, wo eine Unze derselben statt Aq. laxat. Viennensis gegeben worden war. In einem anderen Falle, wo die Vergiftung mit Abkochung von Mohnköpfen geschah, vermochten wir noch Partikel der Mohnkapseln im Mageninhalt zu erkennen. Das Blut ist in sehr acuten Fällen flüssig, in subacuten locker geronnen. Dauerte die Agone lange und hatten sich bereits pneumonische Processe oder auch nur Lungenödem zu entwickeln begonnen, so kann man massigen Fibringerinnseln im rechten Herzen und den Pulmonalgefässen begegnen.[447]
Dem Morphin in seinen Wirkungen sehr ähnlich ist das Chloroform. Es sind meist medicinale Vergiftungen, die damit vorkommen. Insbesondere ist die Zahl der Fälle, in denen, während einer zu chirurgischen Zwecken eingeleiteten Chloroformnarcose, die Individuen starben, eine nicht unbedeutende. Ueber einen Fall, in welchem ein Chloroformliniment irrthümlich innerlich genommen wurde, berichtet Thomayer (Wiener med. Wochenschr. 1882, Nr. 39). Auch als Berauschungsmittel wurde in einzelnen Fällen das Chloroform angewandt. Selbstmord, sowohl durch Verschlucken von Chloroform als durch Inhalation desselben, ist wiederholt und mehrmals auch von uns beobachtet worden. In einem unserer Fälle wurde eine Frau in ihrem Bette todt aufgefunden. Vor dem Munde hatte sie einen nach Chloroform riechenden Schwamm, über welchen ein Stück Wachstaffet und dann ein Tuch gelegt und letzteres im Nacken zugebunden war. Das Chloroform war ihr angeblich von einem Arzte zu Inhalationen verschrieben worden. Es war jedoch aus der Art der Anwendung, die unmöglich von einem Arzte angerathen worden sein konnte, und aus den Umständen des Falles ungleich wahrscheinlicher, dass die Betreffende sich selbst um’s Leben gebracht hatte. Ganz zweifellos war dies bei einem im Jahre 1851 in seinem Zimmer todt gefundenen Spitalsarzte, der einen Chloroform enthaltenden Ballon mittelst Heftpflasterstreifen und Kautschuk am Munde befestigt hatte und bei [S. 693]welchem ausserdem beide Nasenlöcher mit Pfropfen von Charpie und darübergelegten Heftpflasterstreifen verschlossen sich fanden. In einem 1877 von uns obducirten Falle hatte ein 30jähriges blindes Mädchen nach einem Familienstreite sich in sein Zimmer begeben und war 6–10 Minuten darauf bereits röchelnd in seinem Bette gefunden worden, und es ergab sich, dass es 35–40 Grm. Chloroform getrunken hatte. Fälle von Mord durch Chloroform sind ungemein selten. Casper (l. c. 544) erwähnt eines solchen, in welchem ein Berliner Zahnarzt seine Frau, zwei Kinder und dann sich selbst um’s Leben brachte.
Wie viel Chloroform, wenn verschluckt, schon hinreicht, um einen Menschen zu tödten, lässt sich nicht genau bestimmen. Die maximale Einzelngabe wird von C. P. Falck mit 0·5–2·0, jene pro die mit 7·5 Grm. angegeben. Taylor sah bei einem 4jährigen Kinde nach blos 3 Grm. und bei einer Frau nach 15 Grm. den Tod eintreten, dagegen berichtet Tardieu (l. c. 467) von einem Manne, der zwei Unzen Chloroform verschluckt hatte und doch noch (mittelst Anwendung der Magenpumpe) gerettet wurde, aber erst nach 14 Tagen vollkommen genas. Nach dem Verschlucken tritt schon nach wenigen Augenblicken ein rauschartiger Zustand ein, der bei toxischen Gaben sofort oder in wenigen (5–10) Minuten in Narcose übergeht, die, wie in unserem Falle, schon innerhalb der ersten Stunde zum Tode führen kann. Ein remittirender Verlauf, wie wir ihn bei der Morphiumvergiftung erwähnt haben, ist ebenfalls beobachtet worden (Taylor). Einer unserer Fälle betraf einen an eiteriger Pericarditis erkrankten Tabiker, der irrthümlich statt Aq. chlorof. einen Esslöffel reines Chloroform erhalten hatte, rasch bewusstlos wurde und trotz sofortiger Hilfe in kurzer Zeit starb. Hier musste zugegeben werden, dass das Chloroform weniger als solches, sondern wegen des hochgradig krankhaften Zustandes des Mannes zum Tode geführt habe.
Was die Chloroformeinathmungen betrifft, so ist es aus der alltäglichen Erfahrung bekannt, dass, wenn correct vorgegangen wird, Individuen stundenlang ohne Schaden in der Narcose erhalten werden können. Andererseits sind die Fälle, in denen während der zu chirurgischen Zwecken eingeleiteten Chloroformnarcose schon nach wenigen Athemzügen der Tod eintrat, in beträchtlicher, allerdings aber gegenüber der Unmasse der gelungenen Narcosen verschwindend kleiner Zahl (nach Richardson kommt 1 Todesfall auf 3500 Narcosen) vorgekommen. Der Tod erfolgte fast in allen Fällen im Stadium der Excitation in Folge plötzlichen Aufhörens der Respirationsbewegungen und des Herzschlages, seltener unter Dyspnoe. Der Stillstand der Respiration wird auf reflectorische Lähmung des Respirationscentrums in der Medulla oblongata, der Stillstand des Herzens von Einzelnen auf reflectorische Reizung des Vaguskerns, von Anderen auf Lähmung der im Herzen selbst befindlichen motorischen Ganglien zurückgeführt. In der Mehrzahl der Fälle scheinen individuelle krankhafte Zustände (Herzkrankheiten) oder eine anormale Reaction des Individuums gegen Chloroform die Ursache eines so unglücklichen Ausfallens der Narcose [S. 694]zu sein[448], in einzelnen mag allzu plötzliche oder ungeschickte Anwendung des Chloroforms die Schuld getragen haben, namentlich vielleicht der Umstand, dass für genügenden Luftzutritt nicht genug Sorge getragen wurde.
Die Befunde an der Leiche sind in den Fällen, in welchen der Tod durch Inhalation von Chloroform erfolgte, in der Regel ganz negativ. Im Allgemeinen finden sich die Zeichen des acuten Erstickungstodes. Von Chloroformgeruch ist meist nichts zu bemerken. Doch lässt sich Chloroform mitunter noch chemisch nachweisen, wie dies aus dem Blute der oben erwähnten Frau gelang, die sich durch Vorbinden eines mit Chloroform getränkten Schwammes getödtet hatte. Wurde Chloroform geschluckt, so kann sich dieses noch im Magen durch den Geruch kundgeben. Bei dem blinden Mädchen, das etwa 40 Grm. Chloroform getrunken hatte, fanden wir fast die ganze Menge noch im Magen, als eine schwere, durch Galle grün gefärbte Schichte im Magengrunde. In diesem Falle war das Epithel des Rachens, des Kehlkopfeinganges und des Oesophagus missfärbig, theils abgängig, theils erweicht und leicht abstreifbar. Die Schleimhaut des Magengrundes an einer zweihandflächengrossen Stelle in einen mürben, grauen, bis in die tieferen Schichten der Schleimhaut dringenden Schorf verwandelt, die übrige Schleimhaut getrübt ohne Ecchymosen mit einer dicken Lage zu einer grauen Sulze geronnenen Schleims belegt, ebenso die Schleimhaut des Duodenums. Eine Verätzung der betreffenden Schleimhäute war hier unverkennbar und dieselbe ist auch bei der grossen Menge des geschluckten Chloroforms und bei dem Umstande, dass letzteres schon auf den Lippen heftig brennt, begreiflich. Auch haben wir gefunden, dass die Oberfläche von Organen durch Chloroform thatsächlich getrübt und grau verfärbt wird, womit sich die Angaben, dass Chloroform die Eiweisskörper nicht wesentlich verändert, nicht im Einklang befinden. Ob das Chloroform im vorliegenden Falle vielleicht salzsäurehaltig gewesen war, liess sich nicht eruiren, doch kann nicht angenommen werden, dass so grosse Mengen von Salzsäure darin gewesen wären, dass von diesen allein die Aetzwirkung ausgegangen ist. Auch Mygge (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 424) fand bei einem Potator, der 40 Grm. Chloroform[S. 695] verschluckt hatte und nach 5 Tagen an Pneumonie starb, ausgebreitete Ulcerationen im Magen und im Jejunum; ebenso Reuss (ibid. 1880, I, 456) bei einer Frau, die 27 Stunden, nachdem sie 50 bis 60 Grm. Chloroform in selbstmörderischer Absicht verschluckt hatte, gestorben war.
Das Blut ist in jenen Fällen, in denen der Tod plötzlich erfolgt, dunkelflüssig, wenn aber demselben eine längere Agonie vorausging, im Herzen und den grossen Gefässen locker geronnen, zeigt aber sonst kein von der Norm abweichendes Verhalten. Die Fäulniss scheint nach Chloroformvergiftung rasch einzutreten und davon rührt auch die Schlaffheit des Herzens her, sowie die Gasblasen im Blute, die von älteren Beobachtern als pathognomonisch für die Chloroformvergiftung angegeben wurden.
Die schon von Casper, Langenbeck u. A. hervorgehobene Möglichkeit einer längeren, insbesondere auch tödtlichen Nachwirkung von Chloroforminhalationen und nach Ablauf der Narcose ist von Ungar (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVII, Heft 1) und Strassmann (Virchow’s Arch. 1889, Bd. 115) experimentell an Hunden geprüft und bestätigt worden. Die Ursache derselben sind parenchymatöse Degenerationen, insbesondere der Leber und des Herzens. Auch Ostertag (Virchow’s Arch. CXVIII), sowie Thiem und Fischer (Deutsche Med.-Ztg. 1889, Nr. 96) haben solche Beobachtungen mitgetheilt und Kast und Mester (Zeitschr. f. klin. Med. XVIII, 469) experimentell andauernde Steigerung des Eiweisszerfalles nachgewiesen und die an 100 Chloroformirten vorgenommenen Untersuchungen von Friedländer (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, Suppl. 94) haben ergeben, dass unter 60 Fällen, deren Harn vor der Narcose vollständig normal war, 36 nach der Narcose eine kurze Zeit andauernde Albuminurie nachwiesen, von 47 Fällen aber, die früher bereits Eiweiss im Harn zeigten, nach der Narcose 22 keine Veränderung, 9 eine leichte Steigerung und 7 eine Verminderung des Eiweisses ergaben. — Drei Fälle von tödtlicher Nachwirkung der Bromäthylnarcose wurden, wie Mittenzweig (Zeitschr. f. Medicinalb. 1890, pag. 40) vorläufig mittheilt, kurz hintereinander in Berlin beobachtet. Die Narcose war nicht tief, die Dosis nicht allzugross (ca. 20 Grm.). Die Patienten erwachten ohne erhebliche Beschwerden, fühlten sich erst zu Hause schwach und unwohl, wurden schwindlich, schliesslich bewusstlos und starben nach circa 30 Stunden. In einem von Kollmar (Therapeut. Monatsh. 1889, 11) berichteten Falle war irrthümlich statt Aethylum bromatum das ausserordentlich giftige Aethylenum bromatum angewendet worden. Ueber eine grosse Zahl von Bromäthylnarcosen berichten Gleich (Wiener klin. Wochenschrift, 1891, Nr. 53) und R. v. Baracz (ibidem 1892, Nr. 26) in günstigster Weise; schon wenige Monate darauf war aber Gleich in der Lage, einen Todesfall mitzutheilen, der während einer solchen Narcose bei einem an Anthrax operirten Kranken vorkam und bei dem die von uns vorgenommene Obduction Bromäthylgeruch und parenchymatöse Degeneration des Herzens ergab (ibidem 1892, Nr. 11). [S. 696]Wir sind der Meinung, dass in den meisten Fällen von Tod in der Narcose derselbe nicht in Folge einer specifischen Wirkung des Narcoticums, sondern nur in Folge des durch die Narcose gesetzten Eingriffes in toto, wozu auch die Aufregung und Angst des Patienten gehört, eintritt und dass dieser Eingriff nur eine der vielen Gelegenheitsursachen bildet, welche bei zur Herzlähmung disponirten Individuen zu dieser führt. Deshalb wird es wahrscheinlich nie eine Form der Narcose, respective ein Narcoticum geben, welches als ein unter allen Umständen harmloses wird bezeichnet werden können. Thatsächlich gibt es fast kein Inhalationsanästheticum, bei welchem nicht derartige Unglücksfälle vorgekommen wären und auch bei dem neuesten, dem Pental, sind solche bereits vorgekommen.
Das jetzt so häufig zur Anwendung gelangende Chloralhydrat (Maximaldose nach Falck 4·0 pro dosi und 8·0 pro die) hat bereits wiederholt zu (medicinalen) Vergiftungen Veranlassung gegeben[449]; auch wir hatten Gelegenheit, eine Geisteskranke zu obduciren, welche, nachdem sie etwa 5 Grm. auf einmal verschluckt hatte, soporös wurde und in einigen Stunden starb. Der Chloralgeruch war im Magen deutlich und das Chloral wurde auch chemisch nachgewiesen. (Destillation des Mageninhaltes mit Kalilauge gab Chloroform). Die Magenschleimhaut war etwas stärker injicirt, namentlich im Fundus, zeigte jedoch weiter keine Veränderungen. Sonstiger Befund negativ.
Von den neuen Schlafmitteln ist das Sulfonal zu erwähnen, welches bis zur Maximaldose von 5 Grm. gegeben wird und ähnliche Wirkungen wie Chloral erzeugt. Schwere Betäubungen wurden schon nach „mässigen“ Dosen von 1–3 Grm. beobachtet. Nach grösseren Dosen oder nach längerem Gebrauch wird der Harn bluthältig (Hämatoporphyrin).
Alkohol coagulirt im concentrirten Zustande Eiweiss und entzieht den Geweben Wasser, wirkt daher ätzend. Einen Fall von absichtlicher Vergiftung zweier Kinder mit 30gradigem Spiritus hat Maschka (Prager med. Wochenschr. 1864, 46) veröffentlicht. Wir selbst haben einen Tischler obducirt, der in selbstmörderischer Absicht etwa 1 Seidel in starkem Alkohol aufgelösten Schellack (sog. Politur) ausgetrunken, und eine 80jährige Frau, die sich mit Arnicatinctur vergiftet hatte, ferner einen Branntweinschänker, der 1 Liter Alkohol in selbstmörderischer Absicht genommen und unmittelbar darauf sich von der Dampftramway überfahren liess. Im Magen fand sich reichlicher Alkohol und die Schleimhaut daselbst und in den Schlingorganen war weissgrau verätzt.
Aber auch mit gewöhnlichen alkoholischen Getränken sind letale Vergiftungen vorgekommen. So bei Kindern. Nach Taylor starb ein 7jähriger Knabe nach dem Genusse von 3–4 Unzen Gin (Wacholderbranntwein).[S. 697] Bei Erwachsenen ist der Tod im schweren Rausche nichts Seltenes. Meistens sind es Individuen, die an chronischem Alkoholismus leiden, die schliesslich ihren letzten Rausch mit dem Tode bezahlen, wobei bemerkt werden muss, dass bei Säufern die Intoleranz gegen Alkoholica in dem Grade zunimmt, als die Erscheinungen der Alkoholdyscrasie sich entwickeln, so dass schliesslich verhältnissmässig geringe Mengen von Alkohol genügen, um den Tod durch Lähmung herbeizuführen. Manchmal sind es jedoch auch gesunde Individuen, die übermässig genossenem Alkohol unterliegen. Namentlich sind wiederholt Fälle beobachtet worden, in denen unsinnige Trinkwetten zum Tode führten. In solchen Fällen tritt das Depressionsstadium des Rausches meist plötzlich ein. Die Individuen stürzen bewusstlos zusammen, athmen dyspnoisch, das Gesicht wird cyanotisch und schliesslich erfolgt der Tod, in der Regel unter Convulsionen. Die Section ergibt Befunde wie beim Erstickungstod und Alkoholgeruch nicht blos im Magen, sondern auch in entfernteren Organen, z. B. in den Lungen und im Gehirn. Als seltener Befund, der wohl nur bei Combination von acuter mit chronischer Alkoholvergiftung vorkommt, werden von Mitscherlich das Auftreten von brandblasenartigen Efflorescenzen an den peripheren Körpertheilen und von Heinrich der Befund von Ecchymosen im Zellgewebe und in den Muskeln angegeben. Wir haben bei einem 20jährigen tuberculösen Burschen, der, nachdem er im betrunkenen Zustande noch ⁵⁄₄ Liter Rum getrunken hatte, sterbend und cyanotisch auf der Strasse gefunden worden war, ausser Hyperämie des Gehirns und der Lungen starken Geruch nach Rum daselbst und im Magen, nussgrosse brandblasenartige Abhebungen der Epidermis mit gerötheter Umgebung am rechten Fussrist gefunden. Ob dieselben nicht etwa schon vor der Vergiftung bestanden als sogenannte abgedrückte Stellen, konnte nicht erhoben werden.
Der Genuss von denaturirtem Branntwein scheint, wie schon Strassmann (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag. 332) erwähnt, häufiger vorzukommen als gewöhnlich gedacht wird. Wir haben einen Schusterlehrling secirt, der nach reichlichem Branntweingenuss sterbend zusammengestürzt war. Mageninhalt, Lungen und Gehirn rochen nach denaturirtem Spiritus, auch wurde Methylalkohol chemisch nachgewiesen. Weiter secirten wir eine Frau, die sich mit in denaturirtem Branntwein gelösten Laugenstein vergiftet hatte und kurz darauf todt gefunden wurde. Es ergaben sich der Laugenessenz entsprechende Befunde und der charakteristische Geruch nach Methylalkohol und Pyridinbasen, mit welchen der Branntwein denaturirt wird. Da diese Substanzen zu den Cerebrospinalgiften gehören (Kobert, Intoxicationen, pag. 623), so musste in beiden Fällen erklärt werden, dass diese zum Eintritt des Todes beigetragen haben konnten.
Eine berauschende und vasoparalytische Wirkung kommt auch gewissen Kohlenwasserstoffen zu. Von diesen sind insbesondere das Benzin und die leicht destillirbaren Bestandtheile des Petroleums, [S. 698]die sogenannten Petroleumäther (Kerosolen, Ligroin etc.), zu nennen, deren anästhesirende Wirkung ausser Zweifel steht.
Bei einem zweijährigen Knaben, welcher einen Schluck Benzin gemacht hatte und nach 10 Minuten gestorben war, fand Falck (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. III, 199) Benzingeruch in der Bauchhöhle, sonst nichts Abnormes.
Kelynack (Med. Centralbl. 1894, pag. 288) sah nach der zufälligen Einnahme von 30 Grm. Benzin Bewusstlosigkeit, Cyanose und Tod nach 12 Stunden eintreten und constatirte bei der Obduction unerträglichen Anilingeruch, Ecchymosen in der Darm- und Bronchialschleimhaut, sonst nichts Abnormes.
Das gewöhnliche Petroleum ist nicht giftig und verursacht höchstens Ueblichkeiten, da nur von den erwähnten giftigen, zugleich flüchtigeren und leicht entzündbaren Bestandtheilen durch Destillation befreites Petroleum in den Handel gebracht werden darf. (Min.-V. v. 17. Juni 1865, R. G. Bl. Nr. 40.) Wenn daher Reihlen (Bayerisches Intellig.-Bl. 1885, Nr. 35) bei einer Dienstmagd, die 150 Grm. Petroleum in selbstmörderischer Absicht genommen hatte, mehrstündige Bewusstlosigkeit eintreten sah, so dürfte es sich um Petroleum gehandelt haben, welches noch reichlich leichte Kohlenwasserstoffe enthielt. Lewin („Ueber allgemeine und Hautvergiftung durch Petroleum.“ Virchow’s Arch. 1888, CXVII, pag. 35) findet, dass verschluckte Petroleumpräparate nur in grösserer Menge Krankheitserscheinungen hervorrufen, die dann rasch vorübergehen. Thierversuche ergaben, dass insbesondere jene Petroleumantheile, die über 250° C. sieden, und die an ihnen reichen schlechten Petroleumsorten die Schleimhäute in Entzündung zu versetzen vermögen. — Ein von uns 1879 obducirter, in Folge einer Oesophagusstenose verstorbener Knabe soll dieselbe durch drei Monate vor dem Tode geschehenes Trinken von Petroleum acquirirt haben. Bei der Aufnahme in’s Spital soll noch deutlicher Petroleumgeruch zu bemerken gewesen sein. Der Fall ist jedoch nicht genügend klargestellt worden.
Bei einer geisteskranken Potatrix, die sich mit ihrem Leintuch erdrosselt hatte, fand sich im Magen eine ½ Cm. dicke Schichte von Petroleum über dem Mageninhalt stehend, mit welchem sich die Untersuchte offenbar vor der Erdrosselung zu vergiften versucht hatte. Ausser leichtem Oedem am Kehlkopfeingang und einer geringen Röthung der Magenwand fand sich kein von der Vergiftung abzuleitender Befund. Ueber die Erkrankung von 55 Soldaten unter cholera-ähnlichen Erscheinungen, die einen statt mit gewöhnlichem Oel mit zwei Flaschen aus Petroleumrückständen dargestelltem „Gewehröl“ bereiteten Salat genossen hatten, berichtet Reboud (Gaz. des hôp. 1893, 7. Sept.).
Bei einem an Diphtheritis verstorbenen Kinde fand sich ein um den ganzen Hals herumlaufender brandwundenähnlicher Streifen, der von einem 14 Tage vor dem Tode applicirten Petroleumumschlag herrührte und bei einem anderen ähnliche auf Hals und Brust sich fortsetzende Stellen, die von herabgeflossenem Petroleum stammten, mit welchem wegen Läusen der Kopf eingeschmiert worden war.
[S. 699]
Seit der allgemeinen Anwendung des Jodoforms in der Chirurgie sind bereits zahlreiche Fälle von Intoxication mit demselben beobachtet worden. Mikulicz (Langenbeck’s Arch. XXVII) hat die ersten zwei Fälle von tödtlicher Jodoformintoxication mitgetheilt. König (Centralbl. f. Chirurgie. 1882, Nr. 7–17) konnte bereits 48 und Greussing (Prager med. Wochenschr. 1882, Nr. 37 u. ff.) bereits 63 Fälle von Jodoformintoxication zusammenstellen. Ueber die Menge des Jodoforms, welche von Wunden aus schon Vergiftungserscheinungen bewirken kann, ist nichts Positives bekannt. Es wurden solche schon nach Dosen unter 50, ja selbst unter 10 Grm. beobachtet, während andererseits Mengen von weit über 100 Grm. sich als unschädlich erwiesen. Es scheint somit weniger die Menge, als gewisse, vorläufig noch unbekannte individuelle Momente von Einfluss zu sein. Nach Greussing spielt die Lösung des Jodoforms in den Fetten der Applicationsstelle eine wesentliche Rolle. Nach König kommen in den schweren Formen nach plötzlich eingetretener Erhöhung der Erregung des Pulses Schlaflosigkeit, Unruhe, Delirien, Tobsucht, Melancholie etc. vor, Erscheinungen, welche nach zuweilen wochenlangem Verlauf zur Genesung oder durch Herz-, respective Lungenlähmung zum Tode führen oder es treten Erscheinungen von Meningo-Encephalitis auf. Die Autopsie ergibt parenchymatöse Degeneration von Herz, Leber und Nieren und sonst negative Befunde. In einem Falle traten durch Suppositorien von der unverletzten Schleimhaut aus Vergiftungserscheinungen auf. Die Maximaldosis von Jodoform beträgt nach der deutschen und österreichischen Pharmakopöe 0·2 pro dosi und 1·0 pro die.
Dieselbe kann erfolgen durch Einathmen entweder von Kohlendunst oder von Leuchtgas.
Die Vergiftungen durch Kohlendunst kommen vorzugsweise durch vorzeitiges Schliessen der Ofenklappe zu Stande, ebenso durch unvorsichtiges Umgehen mit glühenden Kohlen in geschlossenen Räumen, wie namentlich beim sogenannten Ausheizen von Neubauten oder überhaupt beim Heizen oder sonstigen Gebahren mit offenen Kohlenbecken in kleinen Räumen, z. B. beim Aufthauen von Wasserleitungen oder beim Löthen in Closets. Letzteren gleich zu achten ist die Heizung mit den sogenannten Carbonnatronöfen, welche wegen ihrer Gefährlichkeit sowohl in Deutschland als in Oesterreich verboten worden sind. Vergiftungen durch solche oder ähnliche, meist mit Briquets geheizte, keinen Abzug in’s Freie besitzenden kleinen Oefen sind namentlich in Badezimmern, aber auch in geheizten Fiakern vorgekommen, worüber Motet (Annal. d’hygiène publ. 1894, XXXI, pag. 258) berichtet. Ausserdem findet sich CO in der Atmosphäre von Darrhäusern, Kohlenmeilern, Kalk- und Ziegelöfen, ferner in Giessereien und Hütten, wo Metalloxyde durch Kohle reducirt werden, und auch beim Ersticken im Rauche, z. B. bei Bränden, spielt das Kohlenoxyd eine grosse Rolle. Ferner[S. 700] bildet dasselbe einen Bestandtheil der Gruben- und Minengase. Der Kohlendunst enthält nach Eulenberg (Die Lehre von den giftigen Gasen. 1865, pag. 108) 2·54% Kohlenoxyd und 24·68% Kohlensäure nebst geringen Mengen schweren Kohlenwasserstoffs, doch ist selbstverständlich, dass der Kohlenoxydgehalt je nach dem Brennmaterial variiren und ein desto grösserer sein wird, je mehr der Zutritt der atmosphärischen Luft zu den glühenden Stoffen erschwert und die vollständige Verbrennung des Kohlenstoffes zu Kohlensäure verhindert ist. Das Kohlenoxyd sowohl, als der reine Kohlendunst sind vollkommen geruchlos, es können daher reichliche Mengen davon in einem Raume angesammelt sein, ohne dass dies durch den Geruch zu merken ist. In vielen Fällen verräth sich allerdings die Anwesenheit von Kohlendunst durch gleichzeitige Beimischung von Rauch oder brenzlichen Stoffen.
Die Quelle des Kohlendunstes muss nicht immer in demselben Raume sich finden, in welchem die Vergiftung geschah, derselbe kann vielmehr auch von anderwärts eingedrungen sein, so z. B. aus einer Nachbarwohnung oder indem er aus tiefer gelegenen Localitäten in höhere gestiegen war.[450] Auch ist es möglich, dass, obgleich die Klappe eines Ofens nicht geschlossen war, doch die Verbrennungsgase in das Zimmer gedrungen sein konnten, weil entweder der Heizapparat schadhaft oder unzweckmässig construirt war, oder die Rauchröhren durch Russ etc. verlegt oder der genügende Abzug der Verbrennungsgase anderweitig, z. B. durch heftigen Wind, behindert war. Unglücksfälle letzterer Art, aber auch die früher genannten, können namentlich leicht bei der Heizung mit Coaks sich ereignen, weil dieses Brennmaterial besonders reich an Kohlenstoff ist und zur vollständigen Verbrennung sehr gut ziehender Oefen bedarf, und weil die Rauchentwicklung dabei im Allgemeinen geringer ist als bei Steinkohlenfeuerung und deshalb weniger auffällt oder beachtet wird. Die Behauptung, dass die glühenden Wände eiserner Oefen CO durchlassen oder entwickeln, ist durch Versuche insoferne widerlegt worden, als sich ergab, dass die aus unmittelbarer Nähe glühender Oefen durch Blut durchgesaugte Luft keine wesentlichen Veränderungen in diesem bewirkt.
Die grösste Zahl der Kohlendunstvergiftungen kommt zufällig zu Stande. Selbstmord ist bei uns so gut wie unbekannt, kommt dagegen in Frankreich häufig vor und nimmt an Häufigkeit beständig zu. Nach Quetelet kamen in den Jahren 1838 bis 1844 1886 solcher Selbstmorde vor. Im Jahre 1871 allein 215. Morde durch Kohlendunst gehören zu den grössten Seltenheiten. Ein Fall, in welchem eine Frau sich und ihrem 6jährigen Kinde durch Kohlendunst das Leben nehmen wollte, findet sich in Casper-Liman’s Handbuch (l. c. 587).
[S. 701]
Die Giftigkeit des Leuchtgases ist vorzugsweise, wenn auch nicht ausschliesslich, durch dessen Gehalt an Kohlenoxyd bedingt. Letzterer wechselt jedoch je nach der Bereitungsart und den dazu benützten Materialien. Nach Wagner fanden sich in 100 Raumtheilen des Heidelberger Steinkohlengases 5·56–5·73, des Bonner 4·66, in jenem von Chemnitz 4·45–5·02 und des Londoner Gases 6·8–7·5 Raumtheile Kohlenoxyd, während vier Analysen von gereinigtem Holzgas einen Kohlenoxydgehalt von 22·30–40·28% ergaben.
Auch die Leuchtgasvergiftungen sind fast ausschliesslich zufällige Vergiftungen. Doch sind auch Selbstmorde nicht selten. Wir haben deren bereits eine ansehnliche Zahl untersucht. Der eine betraf einen Lampenanzünder des Opernhauses; dieser hatte sich eines Abends in die sogenannte „Batteriekammer“ eingesperrt, hatte den Hahn eines Gasometers geöffnet und von diesem einen Schlauch in ein grosses, fassartiges Gefäss, eine sogenannte „Trommel“, die zur Bereitung des Drumond’schen Lichtes benützt wurde, geleitet, war dann in diese gekrochen und hatte den Deckel geschlossen. Hier wurde er dann am nächsten Tage todt aufgefunden. In 4 Fällen hatten die Betreffenden die Gashähne aufgedreht (3mal in einem kleinen Laden, 1mal am Abort) und in 3 weiteren das Gas unmittelbar aus dem Schlauche einer Gaslampe eingeathmet, der bei dem einen Selbstmörder um den Hals geschlungen und am Ende mit einem maskenartigen Recipienten versehen war, der mittelst eines Gummibandes am Gesichte festgehalten wurde. Ueber durch absichtlich herbeigeführte Leuchtgasausströmung bewirkte Morde ist uns vorläufig nichts bekannt, begreiflicherweise liegen aber solche keineswegs ausserhalb des Bereiches der Möglichkeit. Im Jahre 1893 kam in Wien ein simulirtes Raubmordattentat durch Leuchtgas vor, indem ein junger Bursche, nachdem er in der Nacht die Casse seines Vaters eröffnet und beraubt hatte, die Gashähne aufdrehte und als man auf sein Stöhnen erwachte, die Sache als ein durch Hausleute herbeigeführtes Attentat hinstellen wollte. In der That fiel der Verdacht auf eine Magd, die auch mehrere Tage in Untersuchungshaft blieb, bis die Wahrheit herauskam.
Die zufälligen Leuchtgasvergiftungen geschehen selten dadurch, dass Gashähne aufgedreht wurden oder offen geblieben waren, sondern am häufigsten durch das Ausströmen des Gases aus Lücken der Leitungsröhren, meist aus Undichten, die durch Lockerung der Verbindungsstellen zweier Röhren oder durch Bruch eines hohlgelegenen oder grossem Drucke von oben ausgesetzt gewesenen Rohres entstanden waren. In einem von Taylor beobachteten Falle war die Gasausströmung aus einer kleinen Oeffnung erfolgt, die durch das Einschlagen eines Nagels in den Fussboden und durch diesen in ein unter den Dielen verlaufendes Gasrohr entstand. Einen ähnlichen Fall aus Cöln, wo durch einen in die Wand eingeschlagenen Nagel eine Gasröhre getroffen und dadurch eine Leuchtgasvergiftung einer Magd veranlasst wurde, berichtet Eulenberg („Giftige Gase“, pag. 186).
[S. 702]
Ueberaus wichtig ist die Thatsache, dass von einer solchen Undichte das Gas nicht unmittelbar nach aussen ausströmen muss, sondern dass es unter der Erde weite Strecken durchdringen und schliesslich an Orten nach aussen gelangen und seine deletäre Wirkung äussern kann, die mitunter in bedeutender Entfernung von jenem Orte liegen, wo die Undichte in der Leitung geschah. So lehrt die Erfahrung, dass bei den meisten in Wohn-, besonders Schlafräumen erfolgten Leuchtgasvergiftungen die Gasausströmung von Rohrbrüchen und anderen Undichten ausgegangen war, die in der auf der Gasse unterirdisch verlaufenden Leitung zu Stande gekommen waren. Es zeigt sich dann in der Regel, dass das Gas wegen des dichten Strassenpflasters oder wegen geringer Durchlässigkeit der über der Leitung gelegenen Erdschichten, oder weil der Boden gefroren war, nicht ohneweiters nach aufwärts entweichen konnte und deshalb in den seitwärts gelegenen Erdschichten sich einen anderen Ausweg gesucht hatte. Wenn man dazu bedenkt, dass das Gas, besonders zur Nachtzeit, unter ziemlich starkem Drucke ausströmt, und dass durch geheizte Wohnräume auch eine Aspiration des Gases erfolgen kann[451], so werden uns solche Fälle verständlich, und es wird auch begreiflich, warum die meisten Leuchtgasvergiftungen im Winter geschehen.
Bekanntlich verrathen sich sehr kleine Mengen von Leuchtgas durch den eigenthümlichen Geruch. Trotzdem geschieht es nicht selten, dass dieser Geruch, wenn er nicht besonders intensiv ist, nicht beachtet wird. In einem von Pettenkofer mitgetheilten Falle wurde ein junger Mann am Typhus behandelt, während die betreffenden Symptome durch in den Schlafraum entweichendes Leuchtgas veranlasst worden waren. In einem anderen, von Wallisch (Deutsche Klinik. 1868, 128) publicirten Falle wurde der Tod von einer Kopfverletzung abgeleitet, obgleich eine Vergiftung durch Leuchtgas vorlag. In dieser Beziehung hat unseres Wissens zuerst Wesche (Schmidt’s Jahrb. December 1880) darauf aufmerksam gemacht, dass Leuchtgas beim Durchdringen von Erdschichten seinen charakteristischen Geruch verliert. Mit Rücksicht auf diese Angabe haben Biefel und Poleck („Ueber Kohlendunst- und Leuchtgasvergiftung.“ Zeitschr. f. Biologie. 1880) entsprechende Versuche angestellt und gefunden, dass in Folge des Durchströmens durch eine 3·35 Meter starke Erdschichte circa 75 Procent der schweren Kohlenwasserstoffe und mit ihnen die im Gase befindlichen riechenden Theerbestandtheile zurückbehalten werden.
Uebergang von CO aus Gasheizapparaten in die Luft von Wohnräumen wurde von Vlemingkx u. A. aus Anlass des Falles Peltzer constatirt (Virchow’s Jahrb. 1884, I, 461), wo in einem Zimmer der Gasofen durch volle 7 Tage fortgebrannt hatte und dadurch das in einem Lavoir befindliche, mit Wasser verdünnte Blut CO-hältig geworden war. Versuche in demselben Raume und mit demselben Ofen ergaben, dass das Blut schon nach 3 Tagen die spectrale CO-Reaction ergab. [S. 703]Im Jahre 1885 kam in Wien ein Fall vor, wo der CO-Tod eines Kutschers von einem Gasofen hergeleitet wurde. Hier war jedoch die Vergiftung wahrscheinlich durch „Zurückschlagen“ und Erlöschen der Gasflammen des Ofens und einfache Leuchtgasausströmung erfolgt.
Zufolge zahlreicher Versuche an Thieren, die namentlich von Eulenberg und Pokrowsky (Virchow’s Archiv. XXX) angestellt wurden, genügen schon ½-1% Kohlenoxyd, der Respirationsluft beigemengt, um den Tod zu bewirken, ebenso schon 10% Kohlendunst und 5% Leuchtgas. Nach den bisherigen Erfahrungen scheinen auch beim Menschen ebenso geringe Mengen zum letalen Ausgang zu genügen.[452] Die giftige Wirkung des Kohlenoxyds und daher auch der dasselbe enthaltenden Gasgemenge beruht darauf, dass dasselbe an Stelle des Sauerstoffes mit dem Hämoglobin des Blutes sich verbindet und dadurch dessen Fähigkeit, den respiratorischen Gasaustausch zu vermitteln, beeinträchtigt oder vollständig aufhebt. Diese Verbindung ist eine festere, als die des Sauerstoffes mit dem Hämoglobin, obgleich man durch längeres Schütteln mit atmosphärischer Luft das Kohlenoxyd theils auszutreiben, theils in Kohlensäure zu verwandeln vermag. Das Kohlenoxyd tödtet demnach durch Erstickung, indem es die Sauerstoffathmung unmöglich macht. Die Erscheinungen, welche während des Lebens eintreten, sind daher im Allgemeinen diejenigen, die wir auch bei anderen Erstickungen beobachten können, und sie treten desto schneller auf, je grössere Mengen von Kohlenoxydgas die betreffende Respirationsluft enthielt, und zwar auch dann, wenn noch genügende Mengen von Sauerstoff in letzterer vorhanden waren. Ist der Kohlenoxydgehalt der Luft kein grosser, so kann es längere Zeit dauern, bevor so viel CO in’s Blut aufgenommen wird, dass sich Athemnoth bemerkbar macht, und der Verlauf der Vergiftung ist ein anderer, als in acuten Fällen. Es tritt zuerst Kopfschmerz, Schwindel, Mattigkeit, Unvermögen, sich aufrecht zu erhalten, Betäubung und hierauf Bewusstlosigkeit ein. Erbrechen wird in der Regel und schon frühzeitig beobachtet. Der anfänglichen Athembeklemmung folgt röchelndes angestrengtes Athmen, welches desto länger währt, je allmäliger die Vergiftung erfolgt. In diesem Falle kann der Tod auch ohne Convulsionen[S. 704] eintreten (Pokrowsky). Da in der Regel die Einathmung des giftigen Gases während des Schlafes erfolgt, so kommen die Individuen entweder gar nicht wieder zum Bewusstsein, oder sie erwachen in bereits betäubtem Zustande, in welchem sie allerdings sich zu erheben und weiter zu taumeln, aber nicht mehr sich zu retten vermögen. Es geschieht häufig, dass von mehreren Personen, die in einem und demselben Raume und durch gleich lange Zeit der Einwirkung von Kohlendunst oder Leuchtgas ausgesetzt waren, die einen todt, andere nur betäubt gefunden werden. Manchmal sind dabei individuelle Verhältnisse im Spiel und es scheint mit Rücksicht auf wiederholt vorgekommene Fälle, dass namentlich Kinder eine grössere Resistenz zeigen; häufiger erklärt sich das Verhalten daraus, dass die Geretteten in der Nähe der Thüre oder des Fensters gelegen waren oder an einer Stelle, die von der Quelle, aus welcher das giftige Gas ausströmte, weiter entfernt gewesen war. Diese Fälle gewinnen dadurch an Wichtigkeit, weil es, wie Zenker, Rokitansky und auch Skrzecka mitgetheilt haben, vorgekommen ist, dass der Ueberlebende in Verdacht kam, seinen oder seine todt aufgefundenen Zimmergenossen umgebracht zu haben.
Lehrreich ist in dieser Beziehung ein von Brouardel, Descoust und Ogier (Annal. d’hygiène publ. 1894, XXXI, pag. 376) mitgetheilter Fall. Im Jahre 1887 wurden Passanten von einer Frau aus dem Fenster einer Kellerwohnung angerufen, welche angab, dass ihr Mann im Sterben liege. Man fand den Mann todt und die Leiche eines zweiten Mannes an der Eingangsthür. Die Frau schien betrunken zu sein. Bei der Obduction wurde die Schleimhaut des Magens und der Gedärme auffallend geröthet gefunden und daraus, obgleich die chemische Untersuchung negativ ausfiel, auf eine Vergiftung durch ein irritatives Gift geschlossen. Der Verdacht fiel auf die erwähnte Frau, welche zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt wurde. Erst nachdem im Laufe der Jahre mehrere analoge Todes-, respective Erkrankungsfälle in dieser Wohnung vorkamen, wurde herausgebracht, dass dieselben durch Emanationen eines anstossenden Kalkofens hervorgebracht wurden und es wurde durch die Untersuchung festgestellt, dass auch die ersten Fälle auf zufälliger Kohlengasvergiftung beruhten und dass daher die Frau, welche seit mehreren Jahren im Kerker schmachtete, unschuldig verurtheilt worden war. Ebenso berichtet Landgraf (Friedreich’s Blätter. 1894, pag. 172) über einen Fall, in welchem in einer Stube eine Frau todt und ihr Mann in einem verwirrten Zustand gefunden wurde, der anfänglich angab, seine Frau erschlagen zu haben, während sich an dieser keine Verletzungen ergaben und sich herausstellte, dass offenbar eine Kohlendunstvergiftung vorlag und die Angabe des Mannes theils durch seine Verwirrung, theils durch Suggestivfragen, die zu dieser Zeit an ihn gestellt wurden, veranlasst worden war.
Die Befunde an der Leiche sind in den meisten Fällen von Kohlenoxydvergiftung sehr charakteristisch und werden durch[S. 705] die eigenthümliche Veränderung bedingt, welche das Blut in Folge der Aufnahme von Kohlenoxyd erleidet. Da nämlich das Kohlenoxydhämoglobin eine hellrothe Farbe besitzt und diese auch nach dem Tode sich erhält, so fallen die Leichen der im Kohlenoxydgas Umgekommenen in der Regel durch die hellrothe Farbe der Todtenflecke, noch mehr aber durch die hellrothe Farbe des Blutes und der inneren Organe auf, umsomehr, als wir an einer anderen Stelle gehört haben, dass als die normale Farbe des Leichenblutes die venöse, dunkle angesehen werden muss. Die Organe zeigen schon oberflächlich eine hellrothe Farbe, die an den membranösen Organen sogar in’s Rosenrothe geht, wie wir an der Dura, an den serösen Häuten und unter diesen besonders am Peritoneum, sowie an den Schleimhäuten bemerken können. Beim Einschneiden entleert sich flüssiges, in dickeren Schichten kirschsaftähnliches, in dünneren hellrothes Blut. Letzteres fällt besonders dort durch seine Farbe auf, wo es auf weissem Grunde hervortritt, wie z. B. an Durchschnitten des Gehirnes, auf welchen die hervortretenden Blutpunkte fast zinnoberroth erscheinen.
Das spectrale Verhalten dieses in seiner Farbe so veränderten Blutes ist ebenfalls ein anderes als das des normalen, und dies ist besonders charakteristisch und daher diagnostisch wichtig. Bringt man nämlich das mit Wasser entsprechend verdünnte Kohlenoxydblut vor den Spectralapparat, so bemerkt man allerdings Absorptionserscheinungen, die von jenen des normalen Blutes sich nicht wesentlich unterscheiden. Während jedoch bei letzterem, wie bekannt, die zwei dem Oxyhämoglobin zukommenden Absorptionsbänder im Gelbgrün nach Zusatz reducirender Mittel (Schwefelammonium) zu einem einzigen Bande verschmelzen, welches dem reducirten Hämoglobin entspricht, bleiben, wenn Kohlenoxydhämoglobin vorliegt, die zwei Absorptionsbänder unverändert. Kohlenoxydhaltiges Blut zeigt ferner, wie Hoppe-Seyler zuerst angab, beim Behandeln mit Natronlauge ein anderes Verhalten als gewöhnliches Blut. Gibt man nämlich einige Tropfen gewöhnlichen Blutes auf eine Porzellanschale und fügt dazu das gleiche oder das doppelte Volum von concentrirter Natronlauge, so erhält man eine missfärbige Masse, die in dünner Schicht schmutzig-braungrün erscheint. Stellt man jedoch dieselbe Probe — die sogenannte Natronprobe — mit Kohlenoxydblut an, so erhält man eine rothe, wie geronnene Masse, welche auch in dünner Schichte eine zinnoberrothe Farbe zeigt. Auch nach Zusatz von Schwefelwasserstoffwasser behält, wie Salkowski angab, Kohlenoxydblut seine hellrothe Farbe, während gewöhnliches Blut sich dunkelgrün färbt. Versetzt man CO-hältiges Blut mit der Lösung eines Kupfersalzes, so entsteht nach Zaleski (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 112) eine ziegelrothe, dicke, flockige Masse, während gewöhnliches Blut chocoladebraun wird. Die Farbenunterschiede halten sich bei den letztgenannten zwei Proben, besonders bei der Schwefelwasserstoffprobe, in offenen Röhren tagelang, in zugeschmolzenen durch mehrere Wochen. Nach[S. 706] Kunkel und Wetzel (Würzburger Sitzungsber. 1888, 28. April und XXIII, Nr. 3) geben verschiedene Substanzen, insbesondere Tannin und Ferrocyankalium, nach Rubner (1890) auch Bleizucker rothe Fällungen, während die vom gewöhnlichen Blut braun sind. Nach Katayama (Virchow’s Archiv. CXIV, pag. 53) erhält kohlenoxydhältiges Blut nach Zusatz von orangefarbenem Schwefelammonium und Essigsäure eine schön hellrothe, gewöhnliches Blut aber eine grünliche oder röthlich-graue Farbe. Szigeti (Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 17) empfiehlt aus dem mit Alkalien und Schwefelammonium versetzten Blut das CO durch Erwärmen auszutreiben und in eine Hämochromogenlösung zu leiten, die sich nun in CO-Hämoglobin verwandelt. Landois (Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 44) versetzt drei Theile des Blutes mit 100 Theilen Aq. dest., gibt einige Tropfen verdünnter Kalilauge und dann wässerige Pyrogallollösung hinzu und schüttelt einmal um. Beim Stehen wird normales Blut schnell missfärbig-braun, CO-Blut bleibt roth.
Die hellrothe Farbe, das spectrale Verhalten, sowie jenes gegen Natronlauge etc. sind für Kohlenoxydblut ungemein charakteristisch, doch sind diese Erscheinungen keineswegs in allen Fällen in gleich exquisiter Weise entwickelt und können sogar vollkommen fehlen, obwohl zweifellos eine Kohlenoxydvergiftung vorliegt. Es ist zunächst ein wesentlicher Unterschied, ob das Individuum in der Kohlenoxydatmosphäre gestorben ist, oder erst nachträglich, nachdem, wie z. B. bei Kohlendunstvergiftung geschehen kann, die Kohlenoxydbildung im Locale wieder aufgehört hatte, oder nachdem der Betäubte aus dem betreffenden Raume entfernt worden war. In letzterem Falle wird das Blut desto weniger CO-Hämoglobin enthalten, je länger das Individuum noch gelebt und kohlenoxydfreie Luft geathmet hat. Bestimmtes über die Zeit, welche erforderlich ist, damit durch blosses Luftathmen das CO wieder aus dem Blut verschwinde, ist leider nicht bekannt. In einem schweren Falle von Leuchtgasvergiftung waren wir im Stande, in dem zwei Stunden nach der Auffindung des Betreffenden, respective nach dessen Uebertragung in das Innsbrucker Krankenhaus entnommenen Blute noch CO durch den Spectralapparat deutlich nachzuweisen. Pouchet (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 482) soll dieses sogar noch nach 60 (!?) und Koch („Zur Encephalomalacie nach CO-Vergiftung.“ Diss. Greifswald 1892) nach 10 Stunden gelungen sein. Wesche dagegen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876, XXV, pag. 276) konnte bei einer Frau, die, nachdem sie in einer Leuchtgasatmosphäre betäubt gefunden und höchstens zwei Stunden darnach gestorben war, nur undeutlich die spectrale Reaction des CO-Hämoglobin constatiren und fand bei Versuchen mit Kaninchen, die er durch drei Minuten lang dauerndes Einleiten von Leuchtgas unter einer Glasglocke betäubt hatte, dass, wenn die Thiere nur 15 Minuten reine Luft geathmet haben, die spectroskopische Untersuchung schon kein genaues Resultat ergab. Diese Beobachtung, sowie die Thatsache, dass kohlenoxydhaltiges Blut durch blosses Schütteln mit atmosphärischer Luft in [S. 707]gewöhnliches verwandelt werden kann (Liman, Med. Centralbl. 1876, pag. 353), lässt darauf schliessen, dass auch bei durch CO betäubten Menschen schon ein verhältnissmässig kurz dauerndes Athmen von frischer Luft genügt, um das CO aus dem Blut verschwinden zu machen, ein Umstand, der zugleich zeigt, dass wir in der Zuleitung frischer Luft und in energischer Einleitung der künstlichen Athmung die wichtigsten und ausgiebigsten Mittel zu erblicken haben, um solche Verunglückte zu retten.
Aber auch wenn die Individuen in der betreffenden Atmosphäre selbst umgekommen sind, wird der Befund modificirt durch die Menge des Kohlenoxyds, welches in das Blut aufgenommen wurde, respective durch die Menge des Hämoglobins, welches unverändert geblieben ist. Auch der Umstand, ob ausser dem CO noch andere giftige Gase der Atmosphäre beigemengt waren, ist sowohl bezüglich der Schnelligkeit, mit welcher der Tod eintritt, als bezüglich des Verhaltens des Blutes von Einfluss. Die exquisitesten Befunde liefert die Leuchtgasvergiftung, weil es sich dabei um grössere Kohlenoxydmengen handelt und vorzugsweise nur diese den Tod bedingen, während bei der Kohlendunstvergiftung, noch mehr aber bei der Erstickung im Rauch auch grosse Mengen von Kohlensäure mitwirken, die für sich allein den Tod bewirken können. Auch kann es geschehen, dass eine genügende Sättigung des Blutes mit CO deshalb nicht zu Stande kam, weil das Individuum in Folge Aspiration erbrochener Substanzen schon in früheren Perioden der Vergiftung gestorben ist. Enthält das Blut aus einem der angeführten Gründe nur wenig CO, so kann das spectrale Bild der wässerigen Blutlösung ein combinirtes sein, indem ein Theil des Blutes durch Schwefelammonium reducirt wird, ein anderer (das Kohlenoxydhämoglobin) aber nicht. Man sieht dann die ursprünglichen Absorptionsbänder sich erhalten, den Zwischenraum zwischen denselben aber sich desto mehr verdunkeln, je mehr Oxyhämoglobin in der Lösung gewesen war. Nach F. Falk (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. II, 260) hält sich das CO in den Muskeln länger als im Blute, ebenso in Extravasaten länger als im circulirenden Blut. So war in einem von uns secirten, und von Szigeti (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1893, VI, 64) publicirten Falle ein Laternenanzünder, welcher beim Durchblasen des Brenners einer Gaslaterne betäubt von der Leiter herabgestürzt war, nach 5 Stunden gestorben. Die Obduction ergab eine Schädelfissur und intermeningeales Extravasat als Todesursache. Im Blute konnte kein CO nachgewiesen werden, wohl aber in dem Extravasat und in den Suffusionen über der Fissur.
Der Fäulniss widersteht das Kohlenoxydhämoglobin lange. Wir waren wiederholt im Stande, wenn wir das Blut von in Leuchtgas oder Kohlendunst Umgekommenen in Reagensgläschen aufbewahrten, noch nach 2–3 Monaten zu bemerken, dass das Blut sowohl die rothe Farbe, als das dem Kohlenoxydhämoglobin zukommende spectrale Verhalten zeigte. In einem von Sarkawski (Virchow’s Jahrb. 1874, I, 576) mitgetheilten Falle konnte Blumenstok noch nach 51 Tagen Kohlenoxyd im Blute nachweisen. Die Nachweisbarkeit hat jedoch [S. 708]ihre Grenze, und wir möchten insbesondere davor warnen, dann, wenn das Blut bereits missfärbig geworden ist, aus dem Persistiren zweier Absorptionsstreifen nach Zusatz von Schwefelammonium auf die Anwesenheit von Kohlenoxydhämoglobin zu schliessen, da das durch Fäulniss, namentlich bei reichlicherer Gegenwart von Ammoniak, sich zersetzende Blut nach einiger Zeit in Hämatin umgewandelt wird, welches ein ähnliches spectrales Verhalten zeigt. Ein solches Blut ist jedoch missfärbig, trübt sich stark bei Verdünnung mit Wasser und zeigt anfangs entweder nur undeutliche Absorptionsbänder oder blos eine Schattirung von Grün und lässt erst nach Zusatz von Schwefelammonium zwei deutliche Absorptionsbänder erkennen, von denen besonders das zu Roth näher liegende durch seine Schwärze und seine scharfe Abgrenzung sich auszeichnet.
Noch wenig ventilirt ist die Frage, ob und inwieferne eine Differentialdiagnose zwischen Kohlendunst- und Leuchtgasvergiftung möglich ist. Zum ersten Male trat an uns die Frage heran aus Anlass eines schrecklichen Falles von Vergiftung von 19 Arbeitern durch Leuchtgas, da man von geklagter Seite die Möglichkeit plausibel machen wollte, dass die Genannten überhaupt nicht durch Leuchtgas, sondern durch Kohlendunst umgekommen seien. Diese Angabe erwies sich aber als gänzlich unhaltbar, denn es sprachen dagegen ausser den sonstigen Umständen einestheils die Erhebungen bezüglich der betreffenden Heizapparate, anderntheils der Obductionsbefund.
In ersterer Beziehung gingen die Aussagen der Geretteten dahin, dass am Mittag vor der Unglücksnacht zum letzten Male in den zwei in der betreffenden Kellerwohnung befindlichen englischen Oefen gekocht wurde, und dass spätestens um 2 Uhr Nachmittags in beiden Herden das Feuer erloschen und nicht mehr angefacht worden war. Unter diesen Umständen konnte nicht zugegeben werden, dass die erst zwischen 7 und 8 Uhr Abends begonnenen Erscheinungen der CO-Vergiftung von der zur Bereitung des Mittagmahles eingeleiteten Feuerung hergerührt haben konnten, da bis dahin der in die Respirationsluft etwa gekommene Kohlendunst schon lange wieder verschwunden sein musste. Da ausserdem ausdrücklich angegeben wurde, dass mehrere der Verunglückten noch Abends in den Herden nachschauten, ob der ihnen aufgefallene Geruch nicht etwa von Kohlendunst herrühre, die Oefen aber kalt und die Kohlen darin erloschen fanden, und dass sie sogar aus Vorsicht die Klappe in dem einen Ofen öffneten, während der andere überhaupt gar keinen Vorschieber besass, so folgt daraus, dass selbst, wenn später als Mittag noch Feuer in den Herden gewesen wäre, doch daraus keine Kohlendunstvergiftung resultiren konnte, weil der Abzug der Verbrennungsgase gar nicht gehindert war.
Was den Obductionsbefund betrifft, so ergab derselbe bei den acht Leichen hellrothe Todtenflecke, rosenrothe Schleimhäute, sowie eine auffallend hellrothe Farbe des Blutes und consecutiv lebhaft rothe Färbung sämmtlicher Organe. Die Kohlenoxydvergiftung stand somit ausser Zweifel, obgleich keine weitere Untersuchung des Blutes vorgenommen[S. 709] worden war. Aber es musste auch eben aus dem exquisiten Vorhandensein der genannten Erscheinungen bei so vielen Leichen und bei dem Umstande, dass noch zehn andere Personen hochgradige Vergiftungserscheinungen darboten, geschlossen werden, dass sehr grosse Mengen von CO im Spiele waren, wie sie ganz wohl und leicht durch die Leuchtgasausströmung, nicht aber unter den erwähnten Umständen und bei der geringen Menge der in den Oefen gefundenen Kohlen- und Aschenreste durch unvorsichtige Heizung der Oefen in die Kellerluft hineingelangt sein konnten.
Ueberhaupt ist festzuhalten, dass im Allgemeinen die Leuchtgasvergiftungen viel gefährlicher sind, als jene durch Kohlendunst, weil das Leuchtgas mehr CO enthält als letzterer, und weil das Zuströmen des Leuchtgases continuirlich erfolgt, beim Kohlendunst aber nur so lange, als die Kohle glüht, wobei ausserdem nicht zu übersehen ist, dass das Leuchtgas mit einem gewissen Drucke ausströmt, der, wie bekannt, gerade in der Nacht, also zur gefährlichsten Zeit, stärker ist, als am Tage. Daher bieten auch die Leichen der im Leuchtgas umgekommenen Personen in der Regel exquisitere Befunde dar, als jene der durch Kohlendunst Vergifteten, und es ist begreiflich, dass die oben erwähnte Möglichkeit, dass ein Individuum in einem bestimmten Raume an Kohlenoxydvergiftung gestorben sein konnte, ohne dass die Leiche die charakteristischen Erscheinungen der letzteren bietet, überhaupt nur bei der Kohlendunstvergiftung, kaum aber bei der Leuchtgasvergiftung vorkommen kann.[453]
Verrussung der Respirationsöffnungen, insbesondere der Nasenöffnungen, bei der Kohlendunstvergiftung, sowie russige Niederschläge auf der Schleimhaut der Respirationswege können selbstverständlich nur vorkommen, wenn die Erstickung in Rauch geschah, nicht aber bei der Kohlendunstvergiftung im engeren Sinne. Immerhin müsste man auf einen solchen Befund reagiren, der geeignet wäre, gegen eine Leuchtgasvergiftung zu sprechen. Einen Geruch nach Leuchtgas in den Lungen oder sonst im Körper haben wir in unseren Fällen niemals beobachtet.
In den meisten Fällen wird man bezüglich der Differentialdiagnose zwischen Leuchtgas- und Kohlendunstvergiftung blos auf die Erwägung der Umstände des Falles angewiesen sein, und diese sind auch in der Regel derart, dass sie ohne besondere Schwierigkeit die Entscheidung gestatten.
[S. 710]
Interessant war in dem von uns begutachteten Falle der Umstand, dass laut Aussage einzelner Zeugen, welche den betreffenden Kellerraum am Morgen nach der Katastrophe betraten, eine kleine Nachtlampe in einer Fensternische noch gebrannt haben soll und von geklagter Seite behauptet wurde, dass dieser Umstand gegen eine Leuchtgasvergiftung spreche, da es bei einer Leuchtgaseinströmung zu einer Explosion gekommen wäre. Dagegen musste jedoch eingewendet werden, dass das Zustandekommen einer Explosion die Anhäufung sehr grosser Gasmengen erfordert, zu welcher es bei der Entfernung des Locales von der Quelle der Ausströmung und bei der Ventilation desselben durch zwei Schlote, vier nicht hermetisch geschlossene Fenster und die Thüre nicht kommen konnte, dass aber eine weit unter der zur Explosion erforderlichen stehende Gasmenge genügte, um sämmtliche im Locale befindliche Individuen zu vergiften. In einem mehrere Personen betreffenden Vergiftungsfalle durch Leuchtgas war, wie Guillié (Annal. d’hygiène publ. 1893, XXIX, 364) berichtet, sogar eine Lampe, während mehrere Personen theils schon betäubt waren, theils Uebligkeiten zeigten, angezündet worden, ohne dass eine Explosion erfolgte.
Von den Nachkrankheiten, die nach CO-Vergiftung zurückbleiben können, wurden besonders croupöse Processe im Rachen beschrieben. Wir fanden die Anfänge derselben bereits bei einem Individuum, welches 17 Stunden nach seinem Auffinden in einer Kohlendunstatmosphäre gestorben war, ebenso bei einem kleinen Mädchen, das nach einem Zimmerbrande bewusstlos gefunden wurde (während sein Schwesterchen bereits todt war) und erst nach mehreren Tagen starb. In einem auch von Rochelt (Wiener med. Presse. 1875, Nr. 49) beschriebenen Falle sahen wir nach Leuchtgasvergiftung bei einem kräftigen Manne primären Blödsinn mit gleichzeitigem Verlust der Sensibilität der Haut und mit Parese zurückbleiben, der erst nach vielen Monaten in Genesung überging. Vorübergehende Glycosurie scheint zum typischen Bilde der Kohlenoxydvergiftung zu gehören, wie zuerst Hasse, dann H. Friedberg u. A., sowie Kahler (l. c.) und R. Jaksch (Prager med. Wochenschr. 1882, Nr. 17) nachgewiesen haben. Ueber einen Anfall von Mania transitoria im Kohlenoxydrausche hat Casper berichtet; ein anderer solcher Fall, einen im Leuchtgas betäubten Arbeiter betreffend, findet sich im Jahrbuch f. Pharmacie. 1870, pag. 540. Interessant ist die retrograde Amnesie, welche nach Kohlenoxydvergiftungen von Briand, Azam, Barthelemi etc. und neuestens von Fallot (Annal. d’hygiène publ. 1892, XXVII, pag. 244) beobachtet wurde. Im letzteren Falle konnte sich die Frau weder an den Selbstmord, noch an die Ereignisse der drei diesem vorangegangenen Tage erinnern. In schweren und protrahirten Fällen kommt es, wie Klebs (Virchow’s Archiv. XXXII) nachwies, zu vasomotorischen und trophischen Störungen der Haut verschiedener Art und verschiedenen Grades und daher leicht zur Entstehung von Hautnecrosen, insbesondere von Drucknecrosen (Kahler, Prager med. Wochenschr. 1881, Nr. 48) und zu symmetrischen Erweichungsherden [S. 711]in der inneren Kapsel und in den inneren Linsenkerngliedern. Zwei Fälle letzterer Art sah Klebs, ein anderer wird von Lesser (Atlas III) beschrieben und abgebildet, und einen ganz gleichen mit Dermatitis bullosa an beiden Händen verbundenen Befund constatirten wir bei einer im März 1885 obducirten Frau, welche an Kohlendunstvergiftung nach 5tägiger Asphyxie gestorben war. Einen weiteren (Tod nach 8 Tagen) beobachtete Poelchen (Virchow’s Archiv. CXII, pag. 26). Die Erweichung war beiderseits im mittleren Gliede des Linsenkernes hart an der inneren Kapsel. Es fand sich isolirte fettige Degeneration und Verkalkung der zuführenden Gefässe, deren Grund Poelchen darin sieht, dass letztere gleich an ihrem Ursprung sehr eng, ausserdem unverhältnissmässig lang, ohne Anastomosen, ohne Vasa vasorum und allein auf die Ernährung durch das kreisende Blut beschränkt sind. Die Degeneration dieser Gefässe ist das Primäre, die Erweichung in den Linsenkernen das Secundäre. Kolisko[454] findet die Ursache dieser Necrosen, von welchen Koch (Diss. Greifswald 1892) zwei neue Fälle mittheilt, in dem endarterienartigen Verlaufe der die Grosshirnganglien versorgenden Gefässäste (Centralarterien, deren Verschluss und schon die Schwächung des Blutstromes in ihnen zu Encephalomalacien führen kann. Vielleicht kommen solche Necrosen nach protrahirten anderweitigen Asphyxien auch vor. Sie können auch an sich zur Aufklärung gewisser Todesfälle beitragen. In einem unserer Fälle wurden 2 Arbeiter eines Morgens im April bewusstlos in einer Kammer gefunden. Es wurde aus äusseren Gründen an eine Ptomain- (Wurst-) Vergiftung gedacht und, da der eine nach 2 Tagen, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, starb, die gerichtliche Obduction eingeleitet. Da diese ausser leichtem Icterus und beginnender parenchymatöser Degeneration der Organe symmetrische Necrosen in den vorderen Partien beider Linsenkerne ergab und uns ausserdem mitgetheilt wurde, dass bei dem anderen Arbeiter eine brandblasenartige Dermatose am Rücken beider Hände und Füsse eingetreten sei, habe ich eine Kohlenoxydvergiftung diagnosticirt, die sich auch wirklich durch die Erhebungen bestätigte. — Die oben erwähnte nach CO-Vergiftung auftretende retrograde Amnesie kann auch nach anderen schweren Asphyxien vorkommen.
Vergiftung mit Kohlensäure kann geschehen in geschlossenen Räumen, in welchen organische Substanzen faulen (Grüfte) oder gähren (Bier- und Weinkeller), an Orten, wo Kohlensäure durch Selbstzersetzung von Kohlensäureverbindungen, besonders von kohlensaurem Kalk, sich bildet, wie z. B. in Brunnen[455], ferner in der Nähe von Kalk- und Ziegelöfen, Kohlenmeilern und in Localen, wo Individuen ihre eigene Exspirationsluft athmen müssen. Letzteres kann geschehen [S. 712]durch Einschliessen von Individuen, z. B. Kindern, in enge Räume (Kisten, Koffer) oder in geschlossenen Localen, wo unverhältnissmässig viele Menschen angesammelt sind. Entsetzliche solche Fälle finden sich in Husemann’s Toxikologie. So wurden im Fort William in Calcutta 146 Personen in einem blos 20 Quadratfuss messenden geschlossenen Raum eingesperrt. Bis zum Morgen fand man 123 todt. Im Jahre 1742 wurden in das Wachtzimmer von St. Martin in London, welches 6 Quadratfuss mass und blos 6 Fuss hoch war, 28 Personen gesperrt, von denen am anderen Tage 4 todt gefunden wurden. Auch im Kohlendunst und im sogenannten Cloakengas bildet die Kohlensäure einen wesentlichen Bestandtheil. Der Tod erfolgt unter den Erscheinungen der Erstickung, und zwar je nach dem Kohlensäuregehalt der Luft entweder plötzlich oder allmälig. Die Sectionsbefunde sind dieselben wie beim Erstickungstod. In den meisten solchen Fällen dürfte der Tod überhaupt weniger durch die Kohlensäure, als vielmehr durch den Mangel an Sauerstoff erfolgen, da nach Bert u. A. Thiere, wenn genügend Sauerstoff vorhanden ist, erst bei einem Gehalte von 30 bis 40% der Athmungsluft an Kohlensäure zu Grunde gehen und da Demarquay durch 10 Minuten eine Luft ohne Schaden athmen konnte, welche 12·5% CO2 enthielt. Dies haben auch Beobachtungen Körber’s (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLII, 49) bestätigt.
Vergiftungen mit Schwefelwasserstoff, von welchem nach Eulenberg 0·12%, nach Smirnow (Med. Centralbl. 1884, Nr. 37) ½%, der Atmosphäre beigemengt, Hunde zu tödten im Stande sind, kommen besonders durch sogenanntes Cloakengas beim Ausräumen lange verschlossen gewesener Abtrittsgruben vor, namentlich im Sommer. Dasselbe ist vorzugsweise ein Gemisch von Kohlensäure, Schwefelwasserstoff und atmosphärischer Luft, welches bis zu 8% Schwefelwasserstoff enthalten kann. Ferner bildet der Schwefelwasserstoff einen Hauptbestandtheil des sogenannten Lohgrubengases (bis 16%), neben grossen Mengen von Kohlensäure. Auch im Steinkohlenleuchtgas, sowie in den Pulver- (Minen-) Gasen ist dasselbe enthalten. Das Zusammenstürzen tritt in solchen Gasgemischen in der Regel plötzlich ein unter suffocatorischen Erscheinungen. Auch der Leichenbefund ist analog dem beim Erstickungstode, so dass wohl in der Regel das Zusammenstürzen, respective der Tod weniger durch die giftigen Gase als solche, sondern in Folge der durch ihre Ansammlung veranlassten Sauerstoffverdrängung aus den betreffenden Räumen zu erfolgen scheint. Als besonderes Symptom wird von Casper eine auffallend schwarze (tintenschwarze), von Anderen eine schmutziggrünliche Färbung des Blutes angegeben. In den von uns obducirten Fällen zeigte das Blut, wenn die Leichen frisch zur Obduction kamen, nur das Verhalten des gewöhnlichen Erstickungsblutes; auch eine Zerstörung der Blutkörperchen, wie sie von Einzelnen hervorgehoben wurde, fand sich nicht. Gleicher Befund ergab sich auch bei mehreren von uns angestellten Thierversuchen. Dagegen tritt die Fäulniss bei derartigen Leichen sehr rasch ein, nicht aber etwa wegen der Einwirkung des Schwefelwasserstoffes, denn dieser hat, wie Tamassia (Virchow’s [S. 713]Jahrb. 1880, I, 667), Froschauer (Wiener med. Presse. 1882, pag. 271) und Cantani (Med. Centralbl. 1882, pag. 277) nachweisen, an und für sich eine antiseptische Wirkung, sondern wegen der anderweitigen Verhältnisse, unter welchen solche Vergiftungen geschehen.[456] Bei den Unglücksfällen in Abortgruben kann auch der Tod zunächst durch Ertrinken in der Abortflüssigkeit erfolgen, in welche die durch das Cloakengas bewusstlos Gewordenen hineingerathen sind. Man findet dann meist in den Luftwegen aspirirte Cloakenstoffe und ebensolche verschluckt im Magen.
In forensischer Beziehung kommen die Blausäure als solche und die metallischen Cyanide in Betracht.
Die österreichische officinelle Blausäure enthält 2% wasserfreie Säure (Maximaldosis in Einzelngaben 0·05 Grm. oder gutt. 2, und 0·2 oder gutt. 8 pro die). Von der wasserfreien Blausäure werden 5–6 Cgrm. als letale Dosis für einen Erwachsenen angegeben. Die Blausäure bildet einen Bestandtheil der Aqua amygd. amararum (0·1%), der Aqua laurocerasi (0·07–0·1%) und der Aqua cerasorum nigr. (0·04%). Der Blausäuregehalt dieser Arzneistoffe stammt aus dem Amygdalin der betreffenden Pflanzentheile, welches bei Gegenwart von Wasser durch das in demselben ebenfalls enthaltene Emulsin in Blausäure, Bittermandelöl und Zucker gespalten wird. Aus diesem Grunde können auch die betreffenden Pflanzentheile selbst giftig werden, darunter namentlich die bitteren Mandeln, von denen nach Husemann 4–6 Stück hinreichen, um ein Kind zu vergiften. Ein von uns obducirter 3jähriger Knabe hatte 7–10 Stück bittere Mandeln eines im Freien wachsenden Baumes gegessen, war kurz darnach erkrankt und in 2 Stunden ohne ärztliche Behandlung gestorben. Im Magen fand sich eine reichliche Menge zerkauter Mandeln, aber kein Blausäuregeruch. Auch wurde keine Blausäure chemisch nachgewiesen und selbst die Guajacharzprobe ergab ein negatives Resultat. Ueber eine Vergiftung eines Erwachsenen mit 2 handvoll bitterer Mandeln berichtet[S. 714] Daker (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 457). Der Mann wurde gerettet und im ausgepumpten Mageninhalte Blausäure nachgewiesen. Auch Selbstmorde mit bitteren Mandeln sind vorgekommen. Maschka (Wiener med. Wochenschr. 1869, pag. 838) berichtet über einen solchen und einen zweiten haben wir im Jahre 1885 obducirt. Er betraf eine in misslichen Verhältnissen befindliche Frau, bei welcher Unmassen zerkauter Mandeln und starker Blausäuregeruch im Magen gefunden wurden. Das im Handel vorkommende Bittermandelöl enthält in der Regel ebenfalls Blausäure und ist deshalb im hohen Grade giftig, während reines Bittermandelöl nur nach Art ätherischer Oele und nur in grösserer Dosis schädlich wirkt. Blausäurehaltig sind auch gewisse Liqueure, wie Persico, Marasquino etc., zu deren Bereitung Kerne von Kirschen, Pfirsichen etc. genommen werden. Eine Vergiftung mit reichlich genossenen Pflaumenkernen hat Seferowitz (Wiener med. Blätter 1882, Nr. 13) beobachtet.
Von den metallischen Cyaniden sind vorzugsweise diejenigen giftig, welche schon in der Kälte mit Säuren Cyanwasserstoff entwickeln, und unter diesen nimmt das jetzt so verbreitete Cyankalium die erste Stelle ein. Das Ferrocyankalium (gelbe Blutlaugensalz) und ähnliche Doppelsalze werden in der Regel für ungiftig gehalten, weil sie angeblich nur beim Erhitzen mit Säuren Blausäure liefern. Es scheint jedoch, dass sie unter gewissen Umständen, namentlich wenn gelbes Blutlaugensalz mit Säuren genommen wurde, doch giftig wirken können, da Sonnenschein (l. c. 170), Jirusch (Zeitschr. d. böhmischen Aerzte, 1875, pag. 399), Volz (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1877, XXVI, pag. 57) und Landgraf (Friedreich’s Blätter, 1885, pag. 201) über solche Fälle berichten. Von Wichtigkeit ist die aus Anlass eines in Wien an einem Briefträger begangenen Giftmordes mit Cyankalium, durch Ludwig und Mauthner (Wiener med. Blätter, 1880, Nr. 44) gemachte Beobachtung, dass einzelne Sorten von Cyankalium gelbes Blutlaugensalz enthalten[457], worauf bei Untersuchung auf Blausäure insoferne Rücksicht genommen werden muss, als auch dieses Salz nicht blos mit stärkeren, sondern schon mit verdünnten Mineralsäuren und selbst mit Weinsäure destillirt ein blausäurehaltiges Destillat liefert. Es ist demnach bei Untersuchung auf Blausäure auf die etwaige Anwesenheit von gelbem Blutlaugensalz Rücksicht zu nehmen, beziehungsweise dieses vor der Destillation auszufällen.
Die Häufigkeit der Selbstmorde mit Cyankalium ist bekannt. In Wien allein kamen im Jahre 1874 32 und im Jahre 1875 27 solche Fälle vor, dagegen nur einmal, und zwar im Jahre 1875, eine Selbstvergiftung mit Blausäure. Diese Häufigkeit ist nicht blos in der auch dem Laien bekannten Thatsache begründet, dass das Gift ungemein rasch und sicher den Tod herbeiführt, sondern besonders darin, dass [S. 715]die Beischaffung desselben keinen Schwierigkeiten unterliegt, da Cyankalium gegenwärtig in der Industrie häufig, so namentlich in der Galvanoplastik und zu photographischen Zwecken, benützt wird. Die genannten Momente sind es aber, welche zugleich die Anwendung dieses Giftes zu verbrecherischen Zwecken ungemein erleichtern, umsomehr, als dasselbe ohne besondere Schwierigkeiten, so in Spirituosen und noch mehr in sauren Flüssigkeiten, heimlich beigebracht werden kann. In der That ist die Zahl der damit verübten Giftmorde eine ziemlich bedeutende, und zwar nicht blos einzelner Personen, sondern ganzer Familien. Von beiden haben wir je zwei Fälle untersucht, ebenso zwei andere, wo Verdacht auf Giftmord bestand, während wahrscheinlich nur Selbstmord vorlag. Auch gehört hierher der pag. 653 erwähnte Fall, wo der Mörder vor dem Erwürgen versucht hatte, seinem schlafenden Opfer Cyankalium in den Mund zu stecken. Zufällige Vergiftungen, die mit blausäurehaltigen Medicamenten oder Genussmitteln (Liqueuren) wiederholt geschahen, sind mit Cyankalium verhältnissmässig selten. Zu diesen gehört unter anderen auch der von Tardieu erwähnte Fall, einen Photographen betreffend, der, um Lapisflecke von seinen Fingern wegzubringen, Cyankalium in Substanz benützte und, da ihm dann ein Stückchen hinter den Nagel kam und die Haut daselbst aufschürfte, unter Erscheinungen der Blausäurevergiftung zusammenstürzte und 8 Stunden in Lebensgefahr sich befand.
Nach Husemann entsprechen 2½ Gran (18 Cgrm.) Cyankalium etwa 1 Gran (0·073 Grm.) Blausäure, müssen daher als Dosis letalis angesehen werden. (Als Normaleinzelgabe wird von Falck 0·003 bis 0·03 und als Tagesgabe 0·1 Grm. angegeben.) Das Cyankalium kommt gewöhnlich in jenen des Kali causticum ähnlichen[458] Stangen oder in Platten ausgegossen oder in unregelmässigen Stücken vor. Es ist weiss oder schmutzigweiss, von krystallinischer Structur und riecht stark nach Blausäure. Dieser Geruch rührt davon her, dass bereits die Kohlensäure der Luft das Salz zersetzt und Blausäure frei macht. Ebenso machen schon die schwächsten Säuren, z. B. jene des Weins, Essig, und noch mehr die Säure des Magens die Blausäure mit grosser Leichtigkeit frei, woraus sich die schnelle Wirkung erklärt. Der Geschmack ist scharf alkalisch. Es ist zerfliesslich, im Wasser sehr leicht, im schwachen Weingeist leicht löslich. Die wässerige Lösung zersetzt sich bei Gegenwart organischer Stoffe (Staub, Kork) sehr bald und wird braun, wobei sich Ammoniak und ameisensaures Kalium bildet.
Die Symptome, welche nach Blausäurevergiftung eintreten, sind jenen, die wir beim Ersticken beobachten, sehr ähnlich und treten in der Regel ebenso fulminant und mit ebenso raschem Verlaufe auf, wie dies nach Unterbrechung der Respiration geschieht. In der Regel stürzt das Individuum wenige Augenblicke nach dem Verschlucken des Giftes zusammen, wird dyspnoisch[S. 716] und bewusstlos, bekommt heftige clonische Krämpfe und stirbt nach wenigen Minuten. Terminale Athembewegungen und durch einige Zeit fortdauernden Herzschlag haben wir bei Thierversuchen fast immer beobachtet, ebenso in der Regel Würgebewegungen und häufig Erbrechen unmittelbar nach dem Zusammenstürzen, namentlich nach Vergiftung mit Cyankalium. Doch verlaufen Blausäure- (Cyankalium-) Vergiftungen keineswegs immer so fulminant, es wurden vielmehr wiederholt Fälle beobachtet, in denen nicht blos mehrere Secunden, sondern selbst mehrere Minuten verflossen, bevor die ersten Vergiftungserscheinungen auftraten, so dass die Betreffenden noch im Stande waren, verschiedene Handlungen zu unternehmen, ebenso mehrere, in welchen der Tod nicht gleich nach dem Auftreten der ersten Vergiftungserscheinungen, sondern erst einige Zeit, z. B. erst auf dem Transport in’s Spital oder in letzterem, erfolgte.
In einem von Casper mitgetheilten Falle war eine Frau, die (höchst wahrscheinlich bereits theilweise zersetztes) blausäurehaltiges Bittermandelöl getrunken hatte, noch im Stande, das Fläschchen in einen Secretär zu verschliessen; in einem anderen[459] konnte ein Gefangener, der sich in der Nacht vor seiner Hinrichtung vergiftet hatte, das Fläschchen mit Blausäure noch in seinem Stiefel verbergen, und in einem dritten ein Mann, in dessen Leiche die enorme Quantität von 7·24 Grm. Cyankalium gefunden wurde, nach vollbrachter That noch in das Schlafzimmer seiner Frau sich begeben und von ihr Abschied nehmen. In einem von Taylor mitgetheilten Falle vermochte sogar ein Individuum, das sogenannten Bittermandelgeist (1 Theil Bittermandelöl, 7 Theile Alkohol) verschluckt hatte, noch in den Hof zu gehen, Wasser zu pumpen und zwei Treppen hoch zu steigen, worauf es erst zusammenstürzte und nach 20 Minuten starb. Eine Reihe ähnlicher Beobachtungen haben wir in der Wiener med. Wochenschrift, 1880, Nr. 2, aus Anlass der Publication eines hier vorgekommenen Falles von Mord durch Cyankalium veröffentlicht, in welchem u. A. auch die Möglichkeit eines Selbstmordes herangezogen und in dieser Richtung betont wurde, dass der abscheulich caustische Geschmack des mit Cyankalium versetzten Liqueurs die Frau vom unwillkürlichen Austrinken desselben abgehalten haben würde. Es wurde jedoch erwidert, dass die Betreffende keine Ahnung von der giftigen Beimischung hatte und unter diesen Umständen schon ungleich schärfere und ätzendere Flüssigkeiten, z. B. Laugenessenz, getrunken worden sind, und dass der ekelhafte Geschmack erst nach erfolgtem Austrinken sich bemerkbar gemacht haben konnte. Durch Einathmen von Blausäure sind nicht blos acute, sondern auch chronische Vergiftungen vorgekommen. Bemerkenswerth ist in dieser Beziehung je ein von Martin (Friedreich’s Blätter. 1888, pag. 3) und Mittenzweig (Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, pag. 97) mitgetheilter Fall von chronischem Siechthum nach längerer Einathmung von Blausäure.
[S. 717]
Die Ursache der so eminenten Giftigkeit der Blausäure ist noch nicht aufgeklärt. Die auffallende Aehnlichkeit der Erscheinungen, unter welchen der Tod bei Blausäurevergiftung auftritt, mit jenen des Erstickungstodes lässt darauf schliessen, dass der Blausäure entweder eine reizende und dann sofort lähmende Wirkung auf das verlängerte Mark zukommt, oder dass schon Spuren derselben, wenn sie in’s Blut gelangen, die respiratorischen Vorgänge im Organismus erschweren oder aufheben. Letztere Vermuthung erhält eine Stütze in der von Schönbein gemachten Beobachtung, dass schon ganz geringe Mengen von Blausäure, dem Blute zugesetzt, im Stande sind, dessen katalysirende Wirkung auf Wasserstoffsuperoxyd aufzuheben, so dass letzteres eine Bräunung des Blutes bewirkt, dessen spectrale Absorptionserscheinungen verschwinden. Nach Hoppe-Seyler und Preyer geht die Blausäure mit dem Hämoglobin des Blutes eine chemische Verbindung ein, ähnlich wie das Kohlenoxyd, doch ist dieser Vorgang vorläufig noch nicht sichergestellt, und selbst wenn er es wäre, so ist es bei der ausserordentlichen Schnelligkeit, mit welcher schon ganz geringe Mengen von Blausäure den Tod bewirken, nicht wahrscheinlich, dass diesem Umstand die Hauptrolle bei der Blausäurevergiftung zukomme, da die Zeit fehlt, damit das Hämoglobin zahlreicher Blutkörperchen eine Verbindung mit der Blausäure eingehe. Ueberdies zeigt sich die fulminante Wirkung der Blausäure auch bei Fröschen, die bekanntlich eine Aufhebung der Function des Blutes lange Zeit zu vertragen vermögen.[460] Mehr plausibel ist die Ansicht Geppert’s, wonach die Blausäure den Geweben die Fähigkeit nimmt, dem Blute das O. zu entziehen. Auch ergaben die Untersuchungen von Corin und Ansiaux (Bull. de l’Acad. Belgique. 1893), dass sich die Blutdruckcurven bei dieser Vergiftung analog verhalten wie bei der Erstickung.
Bezüglich des Leichenbefundes ist zunächst die Blausäurevergiftung als solche und die Cyankaliumvergiftung auseinanderzuhalten. Erstere gibt in der Regel ausser dem nicht immer nachweisbaren, beim längeren Einathmen Halskratzen verursachenden Blausäuregeruch im Magen[461] und mitunter auch in anderen Organen und den Zeichen des Erstickungstodes meist negative Befunde, insbesondere zeigt die Magenschleimhaut ausser etwa stärkerer[S. 718] Injection und manchmal Ecchymosirung, die auch nur als Theilerscheinung der Erstickung gedeutet werden kann, keine Veränderungen, und dies ist auch, selbst wenn der Blausäure eine local reizende Wirkung zugeschrieben werden könnte, bei der grossen Schnelligkeit, mit welcher in der Regel der Tod eintritt, wohl begreiflich. Anders ist der Befund bei Cyankaliumvergiftung. In exquisiten Fällen derselben finden wir ausser dem charakteristischen Geruch die Magenschleimhaut allenthalben, besonders aber im Fundus und auf der Höhe der Falten, blutroth gefärbt, gewulstet und in dem Grade gequollen, dass die Faltenkämme stellenweise selbst transparent erscheinen können. Dabei sehen wir die Schleimhaut mit reichlichem, hellroth oder hellbraunroth tingirtem, fadenziehendem Schleim bedeckt, und wenn sonstiger Mageninhalt vorhanden ist, auch diesen blutig gefärbt und von limpider fadenziehender Beschaffenheit. Dabei reagirt der Mageninhalt stark alkalisch, ist seifenartig-schlüpfrig zum Anfühlen und verbreitet einen mehr weniger auffallenden Blausäuregeruch, der sich auch in anderen Organen, so im Gehirn und in den Lungen, bemerkbar zu machen pflegt. Meist ist zugleich ein Geruch nach Ammoniak bemerkbar, welches entweder schon in der Giftsubstanz vorhanden war oder erst im Magen durch Zersetzung der Blausäure sich bilden kann (Lacassagne). Die auffallende Röthung und Wulstung der Schleimhaut entwickelt sich durch das Zusammenwirken dreier Factoren, nämlich der reactiven Injection und Ecchymosirung der Magenschleimhaut, der Quellung des Schleimhautgewebes durch das Cyankalium und der Imbibition der oberen Schichten mit von Cyankalium gelöstem Blutfarbstoff. Von diesen Factoren bildet sich nur der erste während des Lebens und ist bedingt durch die stark alkalischen, jener des Kali causticum wenig nachstehenden, irritirenden und selbst ätzenden Eigenschaften des Cyankaliums, die schon in den wenigen Augenblicken, die bei dieser Todesart gegeben sind, Injectionsröthe und Ecchymosenbildung bewirken können. Die beiden anderen Factoren treten erst nach dem Tode in Wirksamkeit, da zum Zustandekommen der durch sie erzeugten Befunde, nämlich der Quellung und blutigen Imbibition der Magenschleimhaut, die, ähnlich wie bei der Laugenvergiftung, durch die stark alkalische Wirkung des Cyankaliums erzeugt werden, längere Zeit erforderlich ist. Dies lässt sich auch experimentell sicherstellen, da man bei Versuchsthieren, die man mit Cyankalium vergiftet, wenn sie sofort nach dem Tode untersucht werden, nichts von Quellung und blutiger Imbibition der Magenschleimhaut bemerkt, wohl aber, wenn die Section erst nach mehreren Stunden gemacht wird, und da man ähnliche Befunde auch erzeugen kann, wenn man in hyperämische Leichenmägen Cyankaliumlösung bringt und diese durch einige Stunden einwirken lässt.
Aus dem Gesagten ist begreiflich, dass die blutige Imbibition und Wulstung der Magenschleimhaut desto weniger entwickelt sein[S. 719] wird, je weniger von dem Gifte genommen wurde, und wir haben wiederholt Fälle obducirt, bei welchen eben der geringen Dosis wegen jene Befunde nur unbedeutend entwickelt waren. Dies ist namentlich bei Giftmorden zu beobachten, da bei diesen kaum so grosse Dosen zur Anwendung kommen, wie sie gewöhnlich von Selbstmördern benützt zu werden pflegen. Ferner ist es begreiflich dass die quellende und blutauflösende Wirkung, die doch nur dem starken Alkali zukommt, dann entfallen wird, wenn durch ein saueres Vehikel (sauren Wein, Limonade etc.), in welchem das Gift gereicht wurde, oder durch sauren Mageninhalt das Kali gebunden und in dieser Richtung unwirksam gemacht wurde. In solchen Fällen entzieht sich, wenn nicht etwa der Blausäuregeruch deutlich hervortritt, auch eine Cyankaliumvergiftung der anatomischen Diagnose und letztere kann nur durch chemische Untersuchung gestellt werden.
Eine ähnliche Quellung und blutrothe Durchtränkung der Magenschleimhaut kann ausser im Zwölffingerdarm, auch im Rachen und im Oesophagus, im Kehlkopf und in der Luftröhre und selbst in den Lungen vorkommen, dann nämlich, wenn durch Erbrechen oder vielleicht postmortal cyankaliumhaltige Stoffe in diese Organe geriethen, beziehungsweise aspirirt worden sind und daher dort nachträglich ihre quellende und blutauflösende Wirkung zur Geltung bringen konnten. In manchen Fällen sind die Kämme einzelner Schleimhautfalten des Magens schmutzig weissgrau verfärbt und getrübt, von zäherer Consistenz, während die Nachbarschaft in gewöhnlicher Weise blutig imbibirt und gequollen erscheint. Diese Veränderung ist eine secundäre und entsteht an jenen Faltenkämmen, die der quellenden und klärenden Wirkung des alkalischen Mageninhaltes weniger ausgesetzt waren, respective aus demselben hervorragten. Insbesondere finden sich solche Stellen dann, wenn der Mageninhalt neutral oder nur sehr schwach alkalich oder gar schon schwach sauer reagirt. Es handelt sich somit um eine nachträgliche Ausfällung der früher durch das Alkali gelöst erhaltenen Eiweisskörper, die man auch unmittelbar beobachten kann, wenn man die gequollenen und transparenten Partien neutralisirt oder schwach ansäuert oder auch nur auswässert. Auf dieselbe Weise sind die epithelialen Trübungen zu erklären, die sich mitunter in den Schlingorganen finden.
Das Blut zeigt sowohl bei der Blausäure als bei der Cyankaliumvergiftung die Eigenschaften des gewöhnlichen Erstickungsblutes, ist nämlich dunkelflüssig. Doch haben wir bereits wiederholt bei Cyankaliumvergiftung eine auffallend hellrothe Farbe des Blutes gefunden, so dass der Sectionsbefund eine grosse Aehnlichkeit mit jenem hatte, den wir nach Kohlenoxydvergiftung beobachten können. Derartige Fälle sind auch von Anderen beobachtet worden. Die Ursache dieser Erscheinung ist vorläufig unbekannt, namentlich ist es noch nicht sichergestellt, ob derselben eine Verbindung der Blausäure mit dem Hämoglobin (Hämatin) zu Grunde[S. 720] liegt oder ob, wie Hoppe-Seyler und mit ihm Gäthgens annimmt (Med.-chem. Unters. 1866 bis 1871, pag. 140, 258, 325 u. s. f.), die hellrothe Farbe des Blutes davon herrührt, dass nach Aufnahme von Blausäure in das Blut das Hämoglobin des letzteren seinen lose gebundenen Sauerstoff viel schwerer hergibt als im normalen Zustande. Wir haben bisher die hellrothe Farbe des Blutes, respective der Todtenflecke nur bei Cyankaliumvergiftungen beobachtet und meinen, dass vielleicht diese Färbung von der Hyperalkalescenz des Blutes herrührt, die namentlich leicht und schnell durch das Ammoniak bewirkt werden kann, welches jedes, insbesondere aber älteres, Cyankalium enthält. Dafür scheint uns auch die bekannte Thatsache zu sprechen, dass Spuren von Ammoniak Blutlösungen sofort hellroth färben und trüb gewesene gleichzeitig aufhellen (vgl. pag. 435). Die spectrale Untersuchung des Leichenblutes ergibt keine Abweichungen vom Normalen. Dagegen zeigt der blutige Mageninhalt häufig das Spectrum des Hämatins, d. h. ein dunkles schlecht contourirtes Band oder auch nur eine Schattirung in Grün, welche sich nach Zusatz von Schwefelammonium sofort in zwei Absorptionsstreifen im Gelbgrün auflöst, von denen namentlich der dem Roth nähere sehr dunkel und scharf ausgeprägt erscheint — Spectrum des reducirten Hämatins. Dieses spectrale Verhalten des Magenblutes ist keineswegs für die Cyankaliumvergiftung charakteristisch, ergibt sich vielmehr auch häufig bei anderen Vergiftungen mit Säuren oder Alkalien und auch bei anderen Todesarten, bei denen sich ein blutiger Mageninhalt findet, da das betreffende Blut schon durch die Magensäure theilweise oder vollständig zu Hämatin zersetzt wird. Kobert (Dorpater Ber. 1888. pag. 442) leitet die hellrothe Farbe des Blutes von der Bildung von Cyanwasserstoffhämoglobin her, welches ein dem des reducirten Hämoglobins ähnliches Spectrum gibt. Ausserdem empfiehlt er („Ueber Cyanmethämoglobin und den Nachweis von Blausäure.“ 1892) eine, seiner Angabe nach charakteristische Reaction, die auf Cyanmethämoglobinbildung beruht. Gibt man nämlich zu einer verdünnten Lösung gewöhnlichen Blutes einige Tropfen von Ferridcyankalium (rothen Blutlaugensalz) hinzu, so ändert sich die rothe Blutfarbe sofort in’s Braune und im Spectrum erscheinen der Methämoglobinstreif, fügt man jedoch eine Spur Blausäure oder Cyankalium hinzu, oder macht man die Reaction mit blausäurehältigem Blute, so wird die Lösung schön roth und gibt ein breites Band in Grün, welches nach Zusatz von Schwefelammonium in 2 sich auflöst. Die Untersuchungen von Becker, Szigeti, Richter und Wachholz bestätigen dieses Verhalten von Methämoglobinlösungen zu Cyan, finden jedoch, dass die so entstehende Röthung der Lösung nicht durch Bildung von Cyanmethämoglobin, sondern von Cyanhämatin bedingt sei.
Der Blausäurevergiftung, was den Geruch anbelangt, ähnlich ist jene mit Nitrobenzol. Dieses, auch unter dem Namen Mirbanöl oder falsches Bittermandelöl bekannt, kommt gegenwärtig häufig statt [S. 721]des echten Bittermandelöls in der Parfümerie, aber auch in der Conditorei, Liqueurfabrication etc. in Anwendung. Es ist eine ölige, gelbliche Flüssigkeit von auffallendem Geruch nach bitteren Mandeln. Ueber die letale Dosis ist wenig bekannt. Doch haben in einem von Bahrdt (Arch. f. Heilk. 1871, pag. 320) mitgetheilten Falle schon 20 Tropfen den Tod eines 19jährigen Mannes herbeigeführt. Aus den bisher beobachteten Fällen von Nitrobenzolvergiftung (Literatur v. in Filehne’s „Ueber die Giftwirkungen des Nitrobenzols“. Archiv f. experim. Path. IX, 329) ergibt sich, dass die Vergiftungserscheinungen manchmal erst nach 1–2 Stunden auftreten können und dass schon in dieser Periode eine eigenthümliche graublaue Hautverfärbung sich einstellt, die von Einzelnen (Letheby) von einer Reduction des Nitrobenzols zu Anilin hergeleitet wird, während Andere (Filehne) sie aus der behinderten Oxydation und braunen Verfärbung des Blutes durch Nitrobenzol erklären. Hierauf folgt in der Regel Leibschmerz und Erbrechen, Zusammenstürzen und Bewusstlosigkeit, Zuckungen, Dilatation der Pupillen, Tod unter Sopor. In einzelnen Fällen wurde vorübergehende Besserung, namentlich Wiederkehr des Bewusstseins, beobachtet (Bahrdt). Bei der Section wurde dunkelbraunes, flüssiges Blut gefunden (diese Farbe bot im Bahrdt’schen Falle schon das aus der Ader gelassene Blut), braune Verfärbung der Musculatur, Injection und Ecchymosirung der Magenschleimhaut und ein auffallender Bittermandelgeruch im Magen und in den übrigen Organen. Dieser Geruch ist intensiver und hält sich auch in der Leiche ungleich länger als der nach Blausäure. In einem von uns obducirten Falle von Nitrobenzolvergiftung (2jähriges Kind, welches von vergossenem Mirbanöl genascht hatte; erste Symptome nach 2 Stunden, Tod nach 9 Stunden) war der Geruch in den Lungen und im Magen auffallend und das Blut bräunlich. Sonst fand sich nichts Auffälliges. In einem zweiten Falle (Tod nach 3 Stunden) ergab sich derselbe Befund. Der Mann hatte gemeinschaftlich mit drei anderen Personen aus einer gefundenen, mit „Rum“ bezeichneten, aber Nitrobenzol enthaltenden Flasche getrunken. Seine Gefährten zeigten schwere Vergiftungssymptome, kamen aber mit dem Leben davon. Eine Vergiftung mit anilinhaltigem Nitrobenzol, bei welcher, trotzdem circa 16·0 genommen wurden, der Tod nicht eintrat, beschreibt Litten (Berliner klin. Wochenschr. 1881, pag. 23). Die Haut war blau bis graublau gefärbt, ebenso die Schleimhäute, namentlich der Conjunctiven. Dieser Befund bestand durch 3 Tage, während welcher Zeit die Exspirationsluft und der Harn Bittermandelgeruch zeigten. Aehnliche Fälle haben Mehrer (Wiener med. Presse. 1885, Nr. 1) und Müller (Med. Centralbl. 1887, pag. 301) beobachtet. In letzterem war der Obductionsbefund ähnlich wie nach Vergiftung mit chlorsaurem Kali. Auch fanden sich die Methämoglobininfarcte in den Nieren.
Die bereits wiederholt vorgekommenen Vergiftungen mit Nitroglycerin veranlassen uns auch dessen zu erwähnen. Sie geschehen theils mit flüssigem Nitroglycerin, welches eine klare, ölige, hellgelbe, [S. 722]süss und gewürzhaft schmeckende Substanz darstellt, oder mit dem gegenwärtig als Sprengmittel so verbreiteten Dynamit und Dualin. Ersteres ist Nitroglycerin mit ein Viertel seines Gewichtes Infusorienerde (Kieselguhr) gemischt, letzteres ein durch Tränkung von Sägespänen mit Nitroglycerin erzeugtes Präparat. Die Mehrzahl der Vergiftungen geschah zufällig (vgl. Zusammenstellung der Literatur bis 1868 von Husemann in Virchow’s Jahrb.; weitere Fälle ibidem, 1870, I, pag. 352 und 436; Bruel, „Rech. exp. sur les effets toxiques de la nitroglycérine et la dynamite“. Paris 1876; Eulenberg, Gewerbehygiene. 482), doch sind auch Morde und Mordversuche vorgekommen. Einen solchen Fall hat Husemann (Deutsche Klinik. 1867, Nr. 18) mitgetheilt, ein zweiter mit Dynamit unternommener findet sich in Maschka’s Gutachten, 1873, IV, 257, und einen dritten (Doppelmord durch Vergiftung mit Dynamit) hat Wolff publicirt (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXVIII, 1). Die Dosis toxica letalis ist noch unbestimmt. Es wird angegeben, dass schon ⅒–⅕ Gran reinen Nitroglycerins Vergiftungserscheinungen bewirken können. Ein tödtlicher Ausgang wurde nach dem Genusse von 1 Unze und ein anderer (Holst) nach 2 Mundvoll Sprengöl beobachtet. Doch ist es zweifellos, dass schon viel geringere Mengen letalen Ausgang herbeiführen können, da schon 2–3 Tropfen im Stande sind, einen Hund zu tödten. Die Erscheinungen, welche während des Lebens beobachtet wurden, waren Kopfschmerz, Leibschmerzen, Erbrechen und Diarrhöe, Geruch des Erbrochenen nach Nitroglycerin, starke Beschleunigung des Athmens, Frostanfälle, Schwindel, schlafartiger Zustand, Lähmung. In dem Falle von Holst starb der Mann 6½ Stunden nach Beginn der ersten Vergiftungserscheinungen, im Wolff’schen Fall die Frau 3, der Mann 4 Tage nach der Ingestion. Die Section ergab in diesen Fällen Injection und Ecchymosirung der Magenschleimhaut, sonst einen negativen Befund. Bei Vergiftungen mit Dynamit oder Dualin wäre nach dem charakteristischen Kieselguhr oder nach Sägespänen zu forschen. Ersteren in den gereichten Speisen nachzuweisen, war in dem von Maschka mitgetheilten Falle gelungen.
Von den strychninhaltigen Pflanzentheilen haben die Ignatiusbohnen und namentlich die sogenannten Krähenaugen — Nux vomica — die zur Vergiftung schädlicher Thiere von Jägern etc. angewendet werden, zu meist zufälligen Vergiftungen Veranlassung gegeben. Ueber einen, an einem kaum zwei Tage alten Kinde mittelst Krähenaugenpulver verübten Giftmord hat Führer (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1876, XXV, 290) berichtet. Als letale Dosis des Brechnusspulvers werden für Erwachsene 4–12 Grm. angegeben (Husemann). Die Maximaldose der deutschen Pharmakopöe beträgt einzeln 0·20, pro die 0·60.
Selbstmorde mit Strychnin oder Strychninsalzen sind in grosser Zahl in der Literatur verzeichnet; zufällige Vergiftungen[S. 723] sind des enorm bitteren Geschmackes wegen, der sich schon in den stärksten Verdünnungen bemerkbar macht, nicht häufig. Aus gleichem Grunde scheint es schwierig, ausgenommen etwa in Medicamenten, Jemandem Strychnin heimlich beizubringen. Trotzdem ist Giftmord durch Strychnin wiederholt vorgekommen. Bekannt sind in dieser Beziehung die Processe Palmer und Demme-Trümpy. Auch in Prag ist vor mehreren Jahren ein Fall vorgekommen, wo ein Apotheker seine Frau mit strychninhaltigem Malagawein vergiftete, den er ihr als ein Mittel gegen Epilepsie bereitet hatte. Als letale Dosis für Erwachsene werden 4–8 Cgrm., für Kinder schon 7–8 Mgrm. angesehen. Die Maximaldose für Erwachsene wird von der österr. Pharmakopöe einzeln mit 7 Mgrm. und pro die mit 2 Cgrm. angegeben, von der deutschen dagegen in der Einzelngabe mit 0·001 und in der Gesammttagesgabe mit 0·03; zur subcutanen Injection nach Falck mit 0·0015–0·006. Doch sind Fälle beobachtet worden, in denen Genesung noch nach 24–50 Cgrm. eingetreten ist.[462]
Die ersten Vergiftungserscheinungen treten in der Regel erst 15–20 Minuten nach der Einverleibung auf, können jedoch auch eine Stunde und selbst noch länger auf sich warten lassen. Ein verzögertes Eintreten der ersten Erscheinungen ist besonders dann zu erwarten, wenn Strychninum purum genommen wurde, da dieses so schwer löslich ist, dass nach Pelletier erst 6667 Theile kalten und 2500 Theile kochenden Wassers einen Theil Strychnin zu lösen vermögen, während die Salze leicht löslich sind. Die Erscheinungen beginnen mit Unwohlsein, Unruhe, Ziehen in den Muskeln, Steifwerden derselben, Suffocationsgefühl, Trismus und endlich Tetanus (meist Opisthotonus). Nur ganz ausnahmsweise, wenn die Gabe besonders gross und die Bedingungen zur raschen Resorption besonders günstig waren, kann schon im ersten und einzigen Anfalle der Tod eintreten. In der Regel lässt der Anfall nach 2–5 Minuten nach und es folgt eine Ruhepause, welche nach kürzerer oder längerer Dauer abermals in den Paroxysmus übergeht, welcher auch, in Folge der bedeutend gesteigerten Reflexerregbarkeit, schon nach geringen Erschütterungen oder anderweitigen Reizungen peripherer sensibler Nerven sofort hervorgerufen werden kann. Das Bewusstsein ist in der Regel intact, besonders in den Ruhepausen. Ausnahmsweise wurde Stupor oder gar complete Bewusstlosigkeit beobachtet.[463] Während des Anfalles[S. 724] ist die Respiration in Folge des Tetanus der Respirationsmusculatur mehr weniger sistirt, auch erfolgt der Tod in der Regel während eines Anfalles suffocatorisch, manchmal nach Sistirung oder Abschwächung der Paroxysmen unter Erscheinungen der Lähmung der Medulla oblongata und des Rückenmarks. Die Zeit, binnen welcher nach dem Auftreten des ersten Paroxysmus der Tod eintritt, ist desto kürzer, je grösser die Gabe und je günstiger die Resorptionsbedingungen gewesen waren. Es kann dann der Tod schon in der ersten Viertelstunde und nach wenigen tetanischen Anfällen erfolgen, während unter anderen Verhältnissen selbst zwei und mehr Stunden vergehen können.
Der Sectionsbefund bietet nichts Charakteristisches. Frühzeitiges Auftreten (Wachholz 1894), intensive Entwicklung und auffallend lange Persistenz der Todtenstarre wird angegeben. Ebenso eine krampfhafte Verdrehung der Glieder. Eine auffallende Einwärtskehrung der Fusssohlen bei gleichzeitiger starker Streckung der Füsse haben wir in zwei Fällen von Strychninvergiftung beobachtet, aber auch keineswegs selten bei anderen gewaltsamen Todesarten. Es ist noch fraglich, ob die durch den Tetanus bewirkte Contractur den Tod so lange überdauern kann, dass sie durch die eintretende Todtenstarre fixirt wird, ebenso wie das sofortige Eintreten der letzteren im Momente des Todes weder für die Strychninvergiftung, noch für andere Todesarten sichergestellt ist. Versuche an Thieren zeigen, dass auch, wenn der Tod im heftigsten Strychninparoxysmus erfolgt, doch nach dem Tode die Musculatur erschlafft und erst später durch die Todtenstarre wieder ersteift. Die übrigen Sectionsbefunde sind im Allgemeinen jene des Erstickungstodes, dunkelflüssiges Blut, venöse Hyperämien im Gehirn und in den Lungen und Ecchymosen. Die Entstehung letzterer erklärt sich nicht blos aus den Muskelkrämpfen, sondern auch aus der besonders heftigen Reizung des in der Medulla oblongata gelegenen vasomotorischen Centrums und den dadurch bedingten heftigen Gefässkrampf, welcher der Strychninvergiftung charakteristisch zukommt. Zur Erkennung etwa aufgefundener Strychninkrystalle kann das sehr charakteristische Verhalten des in concentrirter Schwefelsäure gelösten Strychnins gegen doppeltchromsaures Kali benützt werden. Man bringt zu diesem Zwecke den zu untersuchenden Krystall mit 1–2 Tropfen concentrirter Schwefelsäure auf ein Porzellanschälchen und fügt, wenn die Lösung vollständig oder auch nur theilweise erfolgt ist, ein kleines Stückchen doppeltchromsauren Kalis hinzu, worauf man bemerkt, dass sich die Umgebung desselben blau oder violett verfärbt und schön violette Streifen sich bilden, wenn man das Stückchen chromsauren Kali mit einem Glasstabe verschiebt.
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Aehnlich in seiner Wirkung mit dem Strychnin ist das Brucin, welches durch Salpetersäure schön roth sich färbt und neben Strychnin auch in Strychnos Nux vomica vorkommt.
Die Früchte von Menispermum coculus L., die sogenannten Kockelskörner, welche hier und da zur Betäubung der Fische, aber auch zur Bierverfälschung benützt werden und das in ihnen enthaltene Picrotoxin bewirken, letzteres in Dosen von 0·2 Grm. und mehr, Erbrechen und Convulsionen, sowohl tetanische als clonische, doch haben diese keinen reflectorischen Charakter, wie jene nach Strychnin.
Vergiftungen mit reinem Nicotin, welches eine ölige, nach einiger Zeit sich gelblich färbende Flüssigkeit darstellt und in den Tabakblättern zu 2–7% enthalten ist, sind ausserordentlich selten. Bekannt ist der 1850 vorgekommene Fall des Grafen Bocarmé, der seinen Schwager Fourgnies mit selbstbereitetem Nicotin vergiftete. Die letale Dosis für Erwachsene wird mit 8–16 Cgrm. angegeben. Nach Schroff bewirken schon ¹⁄₃₂–¹⁄₁₆ Gran bedeutende Vergiftungserscheinungen. Vergiftungen mit den äusserlich angewendeten Blättern sind wiederholt vorgekommen, ebenso mit Flüssigkeiten, in denen Tabakblätter macerirt wurden. Am häufigsten sind Vergiftungen mit Tabakrauch und Tabaksaft vorgekommen. Die Erscheinungen, welche nach den ersten Rauchversuchen einzutreten pflegen, sind bekannt. Doch wurden schwere und selbst tödtliche Vergiftungen auch bei Gewohnheitsrauchern beobachtet, namentlich nach Rauchwetten. Hellwig sah den Tod nach 18, respective 17 Pfeifen, die unmittelbar hintereinander geraucht wurden, eintreten. Der Fall betraf 2 Brüder, die eine Rauchwette eingegangen waren. Bezüglich des Tabaksaftes (Schmergel) wird von Brodis angegeben, dass schon 1 Tropfen davon Katzen zu tödten im Stande ist; auch Le Bon (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 471) fand, dass schon 2–3 Tropfen für kleine Thiere tödtlich sind, doch sah Deutsch (Schmidt’s Jahrb. 1851, LXX, 27) bei einem kräftigen Manne, der 1 Unze Tabaksaft als Mittel gegen Bandwurm genommen hatte, Genesung, allerdings nach sehr heftigen Intoxicationserscheinungen, erfolgen. Ein Fall von letaler Vergiftung eines kleinen Knaben mit muthwilliger Weise in einen Erdapfel gegebenem Tabakssaft ist vor einigen Jahren in Böhmen vorgekommen und wurde von Matouschek beschrieben. Nach Vohl und Eulenberg (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1871, XIV, 249) ist weder im Tabakrauch, noch im Tabaksaft Nicotin vorhanden, da dasselbe sich beim Rauchen zersetzt, dagegen finden sich in letzterem gewisse, den Anilinbasen homologe Picolin-, respective Pyridinbasen, welche in hohem Grade giftig sind. E. Ludwig (Arch. f. klin. Chir. XX, 363) fand im Tabakrauch neben grossen Mengen kohlensauren Ammoniaks auch essigsaures Ammoniak und Carbolsäure, dagegen weder Blausäure, noch SH. Die Vergiftungserscheinungen treten sehr bald auf und bestehen in Kratzen und Brennen im Schlund, vermehrter Speichelsecretion, Ueblichkeiten, Schmerzen in der Magengegend, Erbrechen, Blässe und Kühle der Haut, Kopfschmerz, in höherem Grade Betäubung und Bewusstlosigkeit und clonischen Convulsionen. Von [S. 726]physiologisch nachgewiesenen Wirkungen ist die Herabsetzung der Reflexerregbarkeit des Rückenmarks, heftiger Gefässkrampf und die Reizung der Centra für Darm- und Uterusbewegung zu erwähnen. Der Sectionsbefund bietet, wenn nicht etwa der Tabakgeruch im Magen auffällt, nichts Charakteristisches. Doch wurden in einzelnen Fällen, so im Falle Bocarmé, Befunde constatirt, die auf eine heftige Irritation der Schleimhaut der Schlingorgane und des Magens schliessen lassen.
Vergiftungen mit Atropin geschehen in der Regel entweder mit den Belladonnabeeren oder mit den in der Augenheilkunde vielfach gebrauchten und daher verbreiteten Lösungen des Alkaloids. Die Mehrzahl dieser Vergiftungen ist zufälliger oder fahrlässiger Natur, doch sind Giftmorde damit wiederholt vorgekommen. Berüchtigt ist der Fall der Jeanerett, welche als Krankenwärterin mehrere ihrer Patienten mit Atropin vergiftete. Ein versuchter Raubmord mit Atropin kam in Wien vor wenigen Jahren zu strafrechtlicher Untersuchung. Als letale Dosis von Atropin können 7–8 Cgrm. gelten. Die Maximaldose der österr. Pharm. beträgt einzeln 0·002, pro die 0·006, die der deutschen 0·001 und 0·003 Grm. Für subcutane Injectionen 0·001. Von den Beeren sollen schon, insbesondere bei Kindern, 3–10 Beeren, den Tod bringen können (van Hasselt). Apoiger hat an sich selbst nach 4 Beeren heftige Intoxicationserscheinungen beobachtet. Kauders (Wiener med. Wochenschr. 1881, Nr. 45) sah nach dem Genusse von 13 Stück Tollkirschen furibunde Delirien, dann aber Genesung eintreten. Die Vergiftungserscheinungen treten nach wenigen Minuten ein, bestehen in Muskelzittern, Betäubung, einem rauschartigen Zustand mit heiteren Delirien, Pulsbeschleunigung, Röthung des Gesichtes, enormer Pupillenerweiterung, anfangs Convulsionen, selbst Trismus, später örtlicher Muskelunthätigkeit, Unvermögen zu schlucken, schwacher Respiration, Tod unter allgemeiner Lähmung. In einem von Gross in Philadelphia (Friedreich’s Blätter. 1870, pag. 457) beschriebenen Falle trat bei einer Frau, die irrthümlich 3 Gran Atropin in einer Pille genommen hatte, der Tod unter den erwähnten Erscheinungen erst nach 15 Stunden ein. Die Section zeigt nach Vergiftung mit Atropin oder seinen Salzen ausser Pupillenerweiterung keinen diagnostisch verwerthbaren Befund. Nach Vergiftung mit Belladonnabeeren fand Kratter (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLIV, pag. 1) die Pharynxschleimhaut dunkelviolett, die des Oesophagus im unteren Drittel, sowie die Magenschleimhaut der Cardiahälfte entzündet und mit croupösem, bluthältigem Exsudate belegt, mit beginnender Geschwürsbildung an einzelnen Stellen der kleinen Curvatur. Auch in den oberen Partien des Dünndarms fanden sich Irritationserscheinungen in Form von Ecchymosen. Ausserdem fanden sich Reste von Tollkirschen im Dickdarm. Kratter schliesst aus seiner Beobachtung, dass den Belladonnabeeren, besonders im frischen Zustande, auch eine irritirende Wirkung zukommt, die dem Atropin und seinen Salzen gänzlich abgeht. A. Paltauf (Wiener klin. Wochenschr. 1888, pag. 113) hebt die differentialdiagnostische Bedeutung des in den Belladonnabeeren enthaltenen[S. 727] eigenthümlichen Schillerstoffes hervor, dessen Nachweis ihm in den Dejectis eines Mannes gelang, der Tollkirschen irrthümlich für Brombeeren gegessen hatte. Auch fand er übereinstimmend mit Pellacani, dass sich das Atropin in faulenden Substanzen noch nach längerer Zeit nachweisen lasse.
Die Pflanzentheile, besonders die Samen von Datura stramonium und Hyosciamus niger, sowie das aus ihnen gewonnene Alkaloid Daturin und Hyosciamin bewirken ähnliche Erscheinungen wie Atropin. Von den Samen haben 15–20 Stück bei Kindern bedenkliche Erscheinungen und selbst den Tod herbeigeführt.
Die Vergiftung mit Digitalin, dem wirksamen Bestandtheil des Fingerhuts (Digitalis purpurea L.), ist namentlich durch den von dem Arzte La Pommerais begangenen Giftmord Gegenstand besonderer Untersuchungen geworden. Medicinale Vergiftungen mit Digitalisblättern sind ebenfalls beobachtet worden. Neuestens hat Köhnborn[464] über die Vergiftung zweier Männer durch Digitalispulver berichtet, wovon die eine letal endete. Beide Männer hatten die Digitalis in Pillen genommen, die sie von einem Individuum gekauft hatten, um durch sie zu erkranken und dadurch vom Militärdienste frei zu werden, und die weitere Untersuchung hat herausgestellt, dass jenes Individuum bereits seit einem Jahrzehnt das Freimachen von Militärpflichtigen gewerbsmässig betrieben habe und als „Freimacher“ in der Gegend bekannt war, aber erst in den letzten Jahren Digitalispillen zu diesem Zwecke benützt hatte. Die Maximaleinzeldose von Pulv. fol. digit. für Erwachsene beträgt nach der österr. Pharm. 0·2, jene pro die 0·6, nach der deutschen Pharm. die erstere 0·3, die letztere 1·0 Grm. Vom Digitalin, von welchem mehrere Sorten im Handel vorkommen, beträgt die Maximaleinzeldose nach der österr. Pharm. 0·002, nach Falck 0·005, die pro die nach der österr. Pharm. 0·01, nach Falck 0·02 Grm. Die Vergiftungserscheinungen bestehen in Ueblichkeiten, Verlust des Appetites, Erbrechen, auch in Durchfällen, Herabsetzen der Pulsfrequenz, grosser Muskelschwäche, Benommenheit des Kopfes, später Ohnmachten, Schwindel, Sehstörungen (Dunkelsehen, Pupillenerweiterung ist nicht constant), auch Bewusstlosigkeit und schliesslich Herzlähmung. Die pulsverlangsamende Wirkung der Digitalis beruht auf Lähmung der intracardialen motorischen Herzcentren, die schliesslich diastolischen Herzstillstand herbeiführt. Bemerkenswerth ist die cumulative Wirkung der Digitalis, so dass fortgesetzte, einzeln unschädliche Dosen Vergiftungen bewirken können. Nach Vergiftungen mit Digitalin ergeben sich keine charakteristischen Befunde in der Leiche. In Köhnborn’s Falle fanden sich Zeichen eines Magencatarrhs, Injection und Ecchymosirung der Schleimhaut, ausserdem im Mageninhalt grünliche Partikelchen, welche unter dem Mikroskope sich als Theilchen von Digitalisblättern erwiesen und insbesondere an den für Digitalisblätter charakteristischen gegliederten Haaren als solche erkannt wurden.
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Auch den Theilen von Helleborus, Veratrum, Aconitum und Colchicum und ihren Alkaloiden scheint eine gleiche oder ähnliche Wirkung zuzukommen wie dem Digitalin.
Das als Bandwurmmittel und gegen Anchylostomum duodenale so häufig in Dosen von 2–10 Grm. in 2–4 Partien gebrauchte Extractum filicis maris aethereum hat sich als ein Mittel erwiesen, bei dessen Anwendung einige Vorsicht geboten ist. Aus den Zusammenstellungen von A. Paltauf („Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung von Vergiftungen durch Wurmfarnextract.“ Prager med. Wochenschr. 1892, Nr. 5 u. 6) und denen von K. Katayama und Okamato („Studien über die Filix-Amaurose.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII. Suppl., pag. 148) ergibt sich, dass bereits mehr als 40 mehr weniger schwere Vergiftungsfälle durch dieses Mittel, darunter 5 mit letalem Ausgang, vorgekommen sind, wozu noch ein weiterer (der dritte) in unserem Institute secirter hinzuzurechnen ist. In den letalen Fällen traten mit oder ohne gastroenteritischen Erscheinungen Bewusstseinsstörungen und Convulsionen (klonische sowohl als tonische) auf und der Tod erfolgt unter Sopor. Auch in den nicht letal abgelaufenen Fällen waren die Vergiftungssymptome weniger localer als centraler Natur und bestanden in Schwindel, Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Convulsionen und Collapserscheinungen. In 25 Fällen waren Sehstörungen eingetreten, darunter 14 Amaurosen, und 8 Fälle von Amblyopie. Hierbei scheint weniger das sonst ohne allen Schaden und so häufig angewendete Präparat, als individuelle Verhältnisse von Einfluss zu sein, da die Vergiftungen vorzugsweise bei schwächlichen Kindern und in ihrem Kräftezustand herabgekommenen Erwachsenen vorgekommen sind, und es ist in dieser Beziehung bezeichnend, dass nach Katayama die Mehrzahl der Sehstörungen bei Anchylostomakranken zur Beobachtung kamen, da diese gewöhnlich in mehr weniger hohem Grade anämisch und schwächlich sind. Auch wurden die Sehstörungen nach tagelang fortgesetztem Gebrauch häufiger beobachtet, als bei nur ein- oder zweimaliger Anwendung. Das wirksame und zugleich giftige Princip ist nach Poulsson die Filixsäure. Da diese in fetten Oelen löslich ist, widerräth Poulsson, hinter oder neben dem Extract Ricinusöl zu geben, wie dies allgemein üblich ist. Kobert (l. c. 669) empfiehlt die Mitverwendung des ätherischen Oeles der Farnwurzel, welches den Bandwurm tödtet, für den Menschen aber unschädlich ist. Grawitz (Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 52) hat nach Gebrauch des Extractes Icterus und Lebercirrhose beobachtet und schreibt demselben eine schädigende Wirkung auf das Lebergewebe zu.
Giftige Schwämme. Als wirksames Princip des Fliegenpilzes (Amanita muscaria) haben Schmiedeberg und Koppe[465] das Muscarin nachgewiesen, ein krystallisirendes, in Wasser und Alkohol [S. 729]leicht lösliches, zerfliessliches Alkaloid, durch welches Tanninsolution aus saueren Lösungen nicht ausgefällt wird. Das Muscarin, welches Katzen schon in Gaben von 0·002–0·004 Grm. tödtet, ist ein Herzgift und bewirkt Herzstillstand durch Erregung der im Herzen selbst gelegenen Hemmungsapparate. Es sind dies dieselben Apparate, die durch Atropin gelähmt werden, da Atropin den Muscarinherzstillstand beseitigt (L. Herrmann, l. c. 344). Ueber Vergiftungen mit Lorcheln (Morcheln, Helvella esculenta Kr.) liegen Beobachtungen von Boström (Med. Centralbl. 1881, pag. 396), Maurer (Bayer. Intelligenzbl. 1881, 1) und Ponfick (Virchow’s Arch. LXXXVIII, pag. 445) vor. Nach diesen durch Versuche an Hunden vervollständigten Untersuchungen ist das Morchelgift schwer löslich im kalten, leichter löslich in lauem und leicht löslich in heissem Wasser. Die heiss genommene Brühe ist daher besonders giftig, während die abgebrühten Schwämme unschädlich sind. Durch Eintrocknen der Schwämme, sowie durch Eindampfen der Brühe geht das giftige Princip verloren, ebenso scheint es nach Ponfick durch längeres Maceriren der Pilze zerstört oder wenigstens abgeschwächt zu werden.[466] Die Symptome der Vergiftung beginnen einige (nach Maurer 4–7 Stunden) nach der Mahlzeit und bestehen in Erbrechen, Diarrhöen, Schwäche, bald (in 10–12 Stunden) eintretendem Icterus, Hämoglobinurie und meist Delirien mit Trismus und Tetanus und Tod unter Coma. Die Section ergibt Icterus, fibrinarmes Blut, Ecchymosen in der Cutis (Maurer), Hyperämie in den Nieren, Hämoglobinurie, somit Befunde, die eine Aehnlichkeit mit jenen nach Phosphorvergiftung haben. Solche mit acuter fettiger Degeneration der Leber, der Nieren und der Musculatur verbundene Befunde, jedoch ohne Icterus, constatirten auch Sahli und Schaerer bei durch Amonita phalloides vergifteten Personen (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 435). Als wahrscheinlich wirksames Princip fanden Böhm und Külz (Arch. f. exp. Path. XIX, 403) eine Säure, die Helvellasäure, ausserdem auch reichliche Mengen von Cholin, welches auch in Amanites vorkommt und curareähnliche Wirkung besitzt und nach Gram (ibid. XX, 125) leicht in die stark giftige Vinylbase übergeht. Im Magen wäre nach Resten der genossenen Pilze zu forschen und deren botanische Bestimmung anzustreben. Bemerkenswerth ist ein von Taylor mitgetheilter Fall, in welchem eine Arsenikvergiftung für eine Vergiftung mit giftigen Schwämmen angesehen wurde.
Der §. 240 des ersten österr. St. G. E. und der §. 229 des deutschen St. G. spricht ausser von Giften auch von anderen Stoffen, die die Gesundheit zu zerstören im Stande sind. Das Gesetz versteht darunter einestheils Substanzen, die erst in grossen Gaben gesundheitsschädliche Wirkungen äussern und daher im gewöhnlichen[S. 730] Sinne nicht als „Gifte“ aufgefasst werden, anderseits aber offenbar auch die sogenannten mechanischen und endlich die organisirten Gifte.
Die mechanischen Gifte haben in älteren Toxikologien eine eigene Abtheilung gebildet. Man rechnete dazu Substanzen, die, innerlich beigebracht, auf mechanische Weise schädlich werden können. Unter diesen Substanzen spielt seit jeher gepulvertes Glas eine Rolle und dasselbe scheint thatsächlich beim Volke im Rufe giftiger Eigenschaften zu stehen, da es wiederholt in verbrecherischer Absicht namentlich Kindern beigebracht worden ist. Es ist in solchen Fällen zu unterscheiden, ob das Glas als sehr feines, mehlartiges, oder als gröberes Pulver gegeben wurde. Ersteres hält Husemann (l. c. 4) für unschädlich. Gröberes Glaspulver kann heftige Irritationserscheinungen an der Magen- und Darmschleimhaut hervorrufen. Solche Erscheinungen traten in einem von Maschka (Gutachten. II, 213) beschriebenen Falle bei einer 76jährigen Frau auf, der mehrmals gestossenes Glas theils in Suppe, theils in Kaffee beigebracht worden war. Einen ähnlichen Fall bringt Bronowski (Virchow’s Jahresb. 1893, I, pag. 505) und über einen an einem Kinde angeblich durch Beibringung von Nadeln und Stahlfederspitzen begangenen Mord hat die k. wissenschaftliche Deputation in Berlin ein Gutachten abgegeben (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, XLII, pag. 195).
Was die organisirten Gifte anbelangt, so wären darunter die den zymotischen Krankheiten zu Grunde liegenden Krankheitserreger und gewisse Entozoen und Parasiten zu rechnen. Es ist kaum anzunehmen, dass absichtliche Uebertragungen solcher Substanzen stattfinden würden, dagegen können fahrlässige, auf diese Weise bewirkte Gesundheitsschädigungen allerdings Gegenstand der gerichtlichen Verfolgung werden. So erwähnt Oesterlen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875, XXIII, 265) eines Falles, in welchem gegen mehrere Individuen die Anklage wegen fahrlässiger Verbreitung der Pockenkrankheit erhoben wurde, die zur Verurtheilung sämmtlicher Beschuldigten führte. Von den Entozoen sind insbesondere die Trichinen zu erwähnen, da die Häufigkeit der Trichinenübertragung das deutsche St. G. zu specieller Erwähnung derselben veranlasste, und zwar im §. 367, welcher lautet: „Mit Geldbusse bis zu 50 Thalern oder mit Haft wird bestraft ... 7. wer verfälschte oder verdorbene Esswaaren oder Getränke, insbesondere trichinenhaltiges Fleisch, feilhält oder verkauft.“ Auch der §. 22 des Regulativs (vide pag. 617) nimmt auf die Trichinenvergiftung ausdrücklich Rücksicht. Bei der grossen Zahl und allgemeinen Verbreitung der Publicationen über Trichinose beschränken wir uns blos darauf, zu erwähnen, dass die Trichinen, sobald sie mit dem halbverdauten Fleisch aus dem Magen in den Darm gekommen sind, aus ihrer Umhüllung ausschlüpfen und sich sofort mit erstaunlicher Schnelligkeit vermehren, indem eine einzige Muskeltrichine an 1000 lebende Junge zu gebären im Stande ist. Die neugeborenen Trichinen beginnen schon in der ersten Woche auszuwandern, indem sie die Darmwände durchdringen und von da [S. 731]aus die fleischigen Theile (Muskeln) aufsuchen, in welchen sie sich festsetzen, sich, wenn sie ausgewachsen sind, einrollen und später einkapseln. Die Auswanderung der Trichinen ist in der ersten bis zweiten Woche am lebhaftesten, kann jedoch bis vier Wochen und darüber andauern. In Folge dieser Vorgänge entwickeln sich bei den betreffenden Menschen in den ersten Wochen Erscheinungen der Darmreizung, später Fieber, reissende Schmerzen in den Gliedern mit Anschwellung derselben, Oedeme und Respirationsbeschwerden. Rupprecht[467] unterscheidet daher 3 Perioden: 1. die der Ingressionserscheinungen, 1. Woche bis zum 10. Tage (choleroides Stadium); 2. die Periode der Digressionserscheinungen, 3. bis 4. Woche (typhoides Stadium) und 3. das Regressions- oder rheumatoide Stadium von der 5. bis 6. Woche. Die Krankheit endet entweder mit dem Tode und dann meist im acuten Stadium der Erkrankung, oder in Genesung nach langwieriger Krankheit, indem sich die in die Muskeln eingewanderten Trichinen einkapseln und dort durch’s ganze Leben (fortpflanzungsfähig) verbleiben. Die Zahl der bis zum Jahre 1872 beim Menschen nachgewiesenen Trichinenerkrankungen beträgt 1500, wovon 300 tödtlich endeten. In derartigen Fällen wären der Inhalt des Magens und des oberen Dünndarmes und die Musculatur, insbesondere Zwerchfell, Brust- und Halsmuskeln mikroskopisch zu untersuchen und namentlich auf die Entwicklungsstadien der gefundenen Trichinen zu achten, welche, zusammengehalten mit der Ausbreitung der letzteren und mit der Zeit und Dauer der dem Tode vorausgegangenen Erkrankung, für die Beantwortung der Frage verwerthet werden müssen, ob die Trichinose mit dem Genusse eines bestimmten Fleisches im ursächlichen Zusammenhange stehe oder nicht.
Ferner gehören hierher die sogenannten Fleischvergiftungen, von welchen insbesondere in den letzten Jahren mehrere schreckliche Fälle vorgekommen sind. So die Kalbstyphus-Epidemie nach dem Sängerfest in Kloten (Wiener med. Blätter. 1878, pag. 730), sowie jene in Birmensdorf (ibid. 1879, pag. 823), die Fleischvergiftung im Bezirke Bregenz (Prager med. Wochenschr. 1877, 320) und die Erkrankung zahlreicher Personen in Wurzen (Sachsen) in Folge des Genusses milzbrandkranken Fleisches (ibid. 878), wegen dessen Verkaufes sowohl der betreffende Gutsbesitzer, als die betreffenden Fleischer zu empfindlichen Geldstrafen verurtheilt worden sind. Fast jedes Jahr bringt weitere solche Fälle.
Ueber den 1885 in Lauterbach vorgekommenen, welcher durch das Fleisch einer nothgeschlachteten, wahrscheinlich milzbrandkranken Kuh veranlasst wurde und etwa 50 Personen mit 3 Todesfällen betraf, hat C. Spamer berichtet, über jenen von Frankenhausen (1888, 59 Erkrankungen mit 1 Todesfall) Gärtner, welcher sowohl in dem Fleischsaft der betreffenden Kuh, als in der Milz des verstorbenen Mannes einen eigenen Bacillus fand, der Mäuse, Kaninchen und Meerschweinchen[S. 732] unter Erscheinungen der Enteritis tödtete und den er Bacillus enteritidis nennt.
In dem von Poels (Med. Centralbl. 1893, pag. 752) genannten Falle waren nach dem Genusse des Fleisches einer mit hämorrhagischer Enteritis behafteten Kuh 92 Personen unter choleraähnlichen Erscheinungen erkrankt; selbst solche, die das Fleisch in gebratenem Zustand gegessen hatten. Zahlreiche andere Personen, die von demselben Fleisch genossen hatten, blieben gesund. Die chemische und bacteriologische Untersuchung ergab kein positives Resultat.
Merkwürdig war es in den Fällen von Spamer, dass die Infection überall durch wohlausgekochtes Fleisch, in einigen Fällen sogar nur durch Fleischbrühe veranlasst wurde und dass in keinem einzigen Falle Carbunkelbildung vorkam. Berüchtigt sind ferner die durch verdorbene Selchwaaren, insbesondere Würste, veranlassten Vergiftungen mit sogenanntem Wurstgift (Botulismus). — In unserem Institute kommen jedes Jahr Fälle von angeblicher Wurstvergiftung vor. Haberda (Zeitschr. f. Medicinalb. 1893) hat deren 20 zusammengestellt. In 8 derselben ergab die Obduction eine natürliche Erkrankung als Todesursache, in je einem Phosphor- und Kohlenoxydvergiftung, in 2 Infection durch Milzbrand in Folge Berührens der Speise mit durch Milzbrandgift verunreinigten Händen (einen dieser Fälle hat Dittrich in der Wiener klin. Wochenschr. 1891, pag. 880 näher beschrieben), während in den übrigen, namentlich in einem eine ganze Familie betreffenden Falle die Möglichkeit einer Wurstvergiftung nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sicher bewiesen werden konnte. Ueber eine Vergiftung von 4 Personen durch schimmeligen Schinken und eine andere von 5 Personen durch verdorbenen Speck hat Roth (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXIX, pag. 240) berichtet. In allen Fällen, von denen zwei letal verliefen, traten ausser gastrischen Erscheinungen auch Sehstörungen, Pupillenerweiterung, Trockenheit und Röthung im Halse auf, so dass an Atropinvergiftung gedacht werden konnte. Die Reconvalescenz war eine protrahirte. In einem von Wiedner (Zeitschr. f. Medicinalb. 1890, 409) publicirten Falle erkrankte etwa die Hälfte von 180 Personen, die bei einem Feste Gänsebraten gegessen hatten, an krampfartigen Schmerzen, Erbrechen und Diarrhoe. Alle genasen. Fünfzehn der Gänse waren frisch geschlachtet durch 12 Stunden in einer Kiste verpackt gewesen und hatten sich wahrscheinlich Mikroben an der feuchten Haut angesiedelt. Aehnliche Vergiftungen wurden nach dem Genusse von verdorbenen Fischen (J. Schreiber, Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 11; Béranger-Féraud, Annal. d’hygiène publ. 1885, 331; Hirschfeld, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, LIII) und faulem Käse u. A. (Vaugham, Med. Centralblatt, 1886, 653) beobachtet. Dass auch sonst essbare, frische und nicht kranke Thiere mitunter giftige Eigenschaften annehmen können, zeigen die Erfahrungen an gewissen Fischen (Barben, Neunaugen u. a.; v. Knoch u. Kobert, Virchow’s Jahrb. 1885, I, 661) und insbesondere die in Wilhelmshaven 1885 vorgekommene Massenerkrankung[S. 733] (19 Personen, 5 Todesfälle) durch Miesmuscheln, die den Untersuchungen von Virchow, Salkowski, Brieger, Wolff u. A. zufolge wahrscheinlich durch ein Toxin veranlasst wurde, welches sich in den lebenden Thieren unter bisher noch unbekannten Umständen gebildet hatte. Gelegenheitlich könnten analoge Vergiftungen durch medicamentöse und anderweitige Intoxicationen der Schlacht- und anderer Thiere veranlasst werden. Möglichst frühzeitige chemische und bacteriologische Untersuchung ist in allen solchen Fällen dringend angezeigt.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass heftige, namentlich plötzliche psychische Insulte, wie Angst, Schreck und andere Affecte, Gesundheitsbeschädigungen erzeugen können. Wir haben bereits an einer anderen Stelle (pag. 162) die neuro- und psychopathischen Zustände besprochen, die in Folge der mit Nothzuchtsattentaten verbundenen intensiven Gemüthserregungen zur Ausbildung gelangen können; ferner (pag. 321) darauf hingewiesen, dass psychopathische Zustände nicht blos in Folge wirklicher Verletzungen, sondern auch in Folge des mit einer Misshandlung verbundenen psychischen Insultes sich zu entwickeln vermögen, und haben auch bei Besprechung des „Verlustes der Sprache als Misshandlungsfolge“ (pag. 331) darauf aufmerksam gemacht, dass derselbe auch durch plötzlichen Schreck u. dergl. veranlasst werden kann. Es handelt sich in solchen Fällen entweder um rein psychische Insulte, Angst, plötzlichen Schreck u. s. w., oder um eine Combination dieser mit Verletzungen im engeren Sinne, oder mit anderweitigen Misshandlungen, die wieder entweder blos in Schmerzzufügung oder in anderen Insulten, z. B., wie erwähnt, in unsittlichen Attentaten oder in Begiessen mit kaltem Wasser u. dergl. bestehen können.[468]
In Maschka’s Gutachten (IV, 17) findet sich ein interessanter Fall ersterer Art, in welchem ein früher gesunder, aber sehr furchtsamer 32jähriger Mann beim Anblick von drei Männern, die ihm Nachts im Walde begegneten, trotzdem zwei andere Männer ihn begleiteten, so erschrak, dass er heftig zu zittern anfing und, als erstere im Spass einen Ueberfall fingirten, davonlief, bei einem Baume ohnmächtig zusammenstürzte und nach Wiederkehr des Bewusstseins in einen Zustand der Exaltation gerieth, in welchem er sich wie rasend geberdete und erst nach drei Stunden sich beruhigte. Auch blieb Schlaflosigkeit, Zittern und Schwäche noch durch einige Tage zurück. Von den Aerzten wurde die Gesundheitsstörung für eine schwere Verletzung[S. 734] im Sinne des §. 152 des österr. St. G., von der Prager Facultät jedoch nur als „leichte Verletzung“ erklärt, die individuelle Disposition des Mannes hervorgehoben und bemerkt, dass der betreffende rohe Scherz nicht für eine solche Handlungsweise erklärt werden könne, welche schon nach ihren natürlichen, für Jedermann leicht erkennbaren Folgen eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit eines Menschen im Sinne des §. 335 St. G. herbeizuführen geeignet wäre.
Der Fälle, in denen neuro- und psychopathische Zustände nach plötzlichem Schreck etc. auftraten, ohne dass deshalb eine strafrechtliche Verfolgung eingetreten wäre, gibt es eine Menge, und es ist bekannt, dass seit jeher und mit Recht solche psychische Insulte mit der Entstehung von Geisteskrankheiten, namentlich aber mit convulsiven (epileptischen) Zuständen, in ursächliche Verbindung gebracht werden. Leidesdorf legte in einem am 26. Februar 1875 in der k. k. Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vortrage Tabellen über Epilepsie vor, woraus sich ergab, dass Schreck und Trauma auf den Kopf die häufigsten Ursachen waren. Krafft-Ebing hat nach heftigem Gemüthsaffect einen länger andauernden Zustand von Stupor beobachtet und Binswanger (Charité-Annalen, VI) berichtet über einen letal abgelaufenen Fall von Delirium acutum nach Schreck in Folge eines Selbstmordfalles. Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss von Gemüthsaffecten auf die Entstehung von Psychosen bringt aus Anlass der Ringtheaterkatastrophe Schlager (Wiener med. Ztg. 1882, Nr. 1–3). Sehr interessant sind in vorliegender Beziehung die Beobachtungen von Kohts über den Einfluss des Schreckens beim Bombardement von Strassburg auf die Entstehung von Krankheiten (Berliner klin. Wochenschr. 1873, Nr. 24–27; Med. Centralbl. 1873, pag. 826). Die mannigfaltigsten Krankheiten wurden in evidenter Weise durch plötzlichen Schreck (Einschlagen von Granaten in unmittelbarer Nähe etc.) entweder erzeugt oder erheblich verschlimmert. Unter den Affectionen des Centralnervensystems wurde 3mal Paralysis agitans und 5mal Paraplegie, auch plötzliche Lähmung einzelner Extremitäten[469], sowie heftiges Zittern und durch mehrere Stunden andauernde Sprachlosigkeit beobachtet. Von Affectionen des Genitalsystems beobachtete Kohts einmal Suppressio mensium mit consecutiven hysterischen Erscheinungen, viele Abortuse und einmal ein Aussetzen der Wehenthätigkeit durch volle 24 Stunden, nachdem der Kopf schon im Einschneiden begriffen war.[470] Bei einem bisher ganz gesunden Manne trat Unregelmässigkeit der Herzcontraction ein und am nächsten Tage Herzpalpitationen, ohne dass eine weitere Abnormität [S. 735]am Herzen entdeckt werden konnte. Endlich wurde das Auftreten von Hämoptoë und bei drei Frauen das eines Icterus constatirt, der bei allen dreien fast unmittelbar nach heftigem Schreck in einem Zeitraum von nur wenigen Stunden sich ausgebildet hatte.
Von anderen Umständen, die in Folge von Schreck beobachtet wurden, erwähnen wir die nervöse Dysphagie (Schlingkrämpfe), worunter auch die Hydrophobie aus Furcht gehört (Lorinser), ferner Anästhesien, darunter auch vorübergehende Anästhesie der Retina (Hirschler, Wiener med. Wochenschr. 1874, Nr. 42–44). Möglicherweise gehören auch gewisse „hypnotische“ Zustände hierher, die bereits Kirchner 1646 bei Thieren nach Angst und Schreck auftreten sah und dessen „Experimentum mirabile“ von Czermak (Pflüger’s Archiv. 1873, VII, 107) wiederholt und als „Hypnose“ gedeutet, von Preyer jedoch (Med. Centralbl. 1873, pag. 177) auf eine durch Angst bewirkte und bewusste Regungslosigkeit zurückgeführt wurde. Ueber eine Paraplegie, die bei einem Matrosen nach Erblicken eines Haifisches entstand, hat Pel (Berliner klin. Wochenschr. 1881, Nr. 23) berichtet. Anderweitige Literatur des Gegenstandes findet sich in Schauenstein’s Arbeit: „Ueber die Schädigung der Gesundheit und den Tod durch psychische Insulte“ in Maschka’s Handbuch.
Plötzlicher Tod in Folge von Schreck ist ebenfalls beobachtet worden. Kohts (l. c.) hat mehrere solche Fälle aus der Literatur zusammengestellt. Andere finden sich in Schmidt’s Jahrb. 1849, LXIII, pag. 97 und 1852, LXXIV, pag. 80. Taylor (l. c. I, 566) erzählt einen Fall, in welchem ein Mann des Todtschlages angeklagt wurde, weil er, indem er einem Knaben als Gespenst erschien, dessen Tod durch Schreck veranlasst hatte. Wir haben einen Mann obducirt, der Nachts von einem Wachmanne angetroffen wurde, als er auf offener Strasse den Stuhl absetzte und in dem Momente todt zusammenstürzte, als ihn der Wachmann verhaften wollte; ferner eine Frau, die todt hinfiel, als sie von einem sie attaquirenden Betrunkenen davonlief. In beiden Fällen fand sich excentrische Hypertrophie und parenchymatöse Degeneration des Herzens nach Endarteritis deformans. Bei derartigen Herzkranken können die verschiedensten, die Herzaction steigernden Gelegenheitsursachen, daher auch Schreck, plötzlichen Herzstillstand (Herzlähmung) bewirken.
Ueber die Art und Weise, in welcher psychische Insulte die erwähnten neuro- und psychopathischen Zustände, sowie Erkrankungen überhaupt und selbst den Tod bewirken können, wissen wir nicht viel Positives. Vorläufig müssen wir uns Gemüthsaffecte als Reize vorstellen, die bei plötzlicher oder intensiver Einwirkung im Stande sind, gewisse Nervencentren direct oder reflectorisch in abnorme Erregung zu versetzen, oder zu lähmen, oder die Leitungsvorgänge in den Nervenbahnen in Unordnung zu bringen. Ausser den psychischen Centren scheinen besonders jene in der Medulla oblongata und die vasomotorischen Apparate auf plötzliche Gemüthserschütterungen heftig zu reagiren, woraus sich[S. 736] erklärt, dass nach psychischen Insulten am häufigsten Psychosen, convulsive Zustände und Störungen der Herz- und Gefässaction zur Beobachtung gelangen. Dass psychische Vorgänge zu den Reflexerscheinungen in naher Beziehung stehen und besonders „Reflexhemmung“ erzeugen können, ist eine bekannte Thatsache. auf welche bei der Beurtheilung einschlägiger Fälle specielle Rücksicht genommen werden müsste.
Obzwar die Möglichkeit nicht bestritten werden kann, dass auch bei bis dahin vollkommen gesunden Personen in Folge psychischer Insulte die bezeichneten Gesundheitsstörungen und selbst der Tod eintreten können, so lehrt doch die Erfahrung, dass es vorzugsweise zu Neurosen oder Psychopathien disponirte oder bereits anderweitig kranke, insbesondere herzkranke Individuen sind, die in so ungewöhnlicher Weise auf Schreck u. dergl. reagiren, weshalb niemals zu unterlassen wäre, die Anamnese in dieser Richtung zu erheben und die eventuell bestehende „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ im Sinne des Gesetzes desto mehr zu betonen, je geringfügiger der betreffende psychische Insult, beziehungsweise die damit verbundene Misshandlung gewesen war. Auch die Möglichkeit einer Simulation wäre im Auge zu behalten, da es bekannt ist, dass Ohnmachten und Krämpfe zu den Zuständen gehören, welche am häufigsten, und zwar namentlich von Frauen, simulirt zu werden pflegen, obgleich man anderseits weiss, dass gerade das weibliche Geschlecht eine grössere Geneigtheit zu solchen Erkrankungen zeigt, und dass namentlich während gewisser physiologischer Zustände, wie Menstruation, Schwangerschaft, vielleicht auch im Climacterium, diese Geneigtheit eine höhere ist, als ausserhalb derselben.
Oesterr. Strafgesetz. §. 139. Gegen eine Mutter, die ihr Kind bei der Geburt tödtet oder durch absichtliche Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes umkommen lässt, ist, wenn der Mord an einem ehelichen Kinde geschehen, lebenslanger, schwerer Kerker zu verhängen. War das Kind unehelich, so hat im Falle der Tödtung 10–20jährige, wenn aber das Kind durch Unterlassung des nöthigen Beistandes umkam, 5–10jährige schwere Kerkerstrafe statt.
§. 339. Eine unverehelichte Frauensperson, die sich schwanger befindet, muss bei der Niederkunft eine Hebamme, einen Geburtshelfer oder sonst eine ehrbare Frau zum Beistande rufen. Wäre sie aber von der Niederkunft übereilt oder Beistand zu rufen verhindert worden und sie hätte entweder eine Fehlgeburt gethan, oder das lebendig geborene Kind wäre binnen 24 Stunden von der Zeit der Geburt an gestorben, so ist sie verbunden, einer zur Geburtshilfe berechtigten Person, oder wo eine solche nicht zur Hand ist, einer obrigkeitlichen Person von ihrer Niederkunft die Anzeige zu machen und derselben die unzeitige Geburt oder das todte Kind vorzuzeigen.
Oesterr. Strafprocessordnung. §. 130. Bei Verdacht einer Kindestödtung ist nebst den nach §. 129 zu pflegenden Erhebungen auch zu erforschen, ob das Kind lebendig geboren sei.
Oesterr. Strafgesetz-Entwurf. §. 222. Eine Mutter, welche während oder gleich nach der Geburt ihr Kind tödtet oder zur Tödtung desselben mitwirkt oder es durch absichtliche Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes um das Leben kommen lässt, wird mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder [S. 737]mit Gefängniss nicht unter einem Jahre bestraft. Theilnehmer werden nach den Bestimmungen über Mord und Todtschlag bestraft.
§. 458. Eine unverehelichte oder von ihrem Manne gerichtlich geschiedene Frauensperson, welche ein todtes Kind zur Welt bringt oder deren Kind binnen 24 Stunden nach der Geburt stirbt, ist, wenn sie die Anzeige hiervon einer zur Geburtshilfe berechtigten oder obrigkeitlichen Person zu machen unterlässt, oder derselben auf Verlangen das todte Kind nicht vorzeigt, mit Haft zu bestrafen.
Deutsches Strafgesetz. §. 217. Eine Mutter, welche ihr uneheliches Kind in oder gleich nach der Geburt vorsätzlich tödtet, wird mit Zuchthaus nicht unter 3 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 2 Jahren ein.
Deutsche Strafprocessordnung. §. 90. Bei Oeffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes ist die Untersuchung insbesondere auch darauf zu richten, ob dasselbe nach oder während der Geburt gelebt habe, und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des Mutterleibes fortzusetzen.
Unter Kindesmord (Kindestödtung) versteht man im strafrechtlichen Sinne die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter während oder gleich nach der Geburt. Der Kindesmord ist eine specielle Art des Mordes überhaupt und wird fast von allen Gesetzgebungen als solche besonders erwähnt und ungleich milder bestraft, als dies bei anderen Mordarten der Fall ist. Die mildere Auffassung dieses Verbrechens hat ihren Grund theils in der Erwägung der Motive des Kindesmordes, die doch von jenen anderer Mordthaten sich wesentlich unterscheiden, besonders aber in der Berücksichtigung des somatischen und psychischen Ausnahmszustandes, in denen sich eine Gebärende oder eben Entbundene befindet. Da alle diese Momente vorzugsweise bei unehelichen und ohne Zeugen sich abspielenden Entbindungen sich geltend machen, so ist es begreiflich, wenn das gegenwärtige österr. Strafgesetz die Tödtung eines ehelichen Kindes bei der Geburt durch die eigene Mutter schwerer ahndet, als jene eines unehelichen, und dass das deutsche Strafgesetz die mildere Qualification der Kindestödtung nur auf jene unehelicher Kinder ausdrücklich beschränkt. Trotzdem hat der österr. Strafgesetz-Entwurf die Unterscheidung zwischen Tödtung des ehelichen und unehelichen Kindes ganz fallen gelassen und spricht nur von Tödtung des Kindes überhaupt.
Bei wegen Verdacht auf Kindesmord veranlassten Obductionen ergeben sich folgende Hauptfragen:
A. Ist das untersuchte Kind lebend geboren worden?
B. Wie lange hat dasselbe nach der Geburt gelebt?
C. Was war die Todesursache?
Diese Frage ist eine so cardinale, dass es in der Regel schon von ihrer Beantwortung abhängt, ob eine weitere strafrechtliche Verfolgung wegen Kindesmord stattfindet oder nicht, und dass insbesondere die Verfolgung wegen des genannten Verbrechens dann eingestellt wird, wenn das ärztliche Gutachten dahin geht, dass das Kind bereits todt zur Welt gekommen ist.[S. 738] Eine Ausnahme würde nur dann statthaben, wenn sich constatiren liesse, dass von der Gebärenden, eventuell mit ihrem Wissen und Willen von einem Dritten, schon in oder während der Geburt die Frucht getödtet worden ist. Auf diese Möglichkeit nimmt das Gesetz ausdrücklich Rücksicht, da es nicht blos die Tödtung des Kindes gleich nach der Geburt, sondern auch in (während) derselben als Verbrechen der Kindestödtung qualificirt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass nur in ganz seltenen Fällen ein Grund vorhanden sein wird, an eine Tödtung während der Geburt zu denken, am allerwenigsten aber, wenn die Mutter allein ohne Intervention einer dritten Person gebar. Am ehesten wäre ein solcher Vorgang denkbar, wenn bereits Theile der Frucht vor die äusseren Genitalien ausgetreten wären und, während das Kind entweder mit den Schultern oder mit dem nachfolgenden Kopfe stecken blieb, der Mutter Zeit und Gelegenheit gegeben war, gewaltthätige Handlungen gegen diese zu unternehmen. Von Bellot wird ein solcher Fall mitgetheilt, der eine Person betraf, die heimlich Zwillinge gebar, den Erstgeborenen durch Schläge mit einem Holzschuh gegen den Kopf tödtete, beim zweiten jedoch die Vollendung der Geburt nicht abwartete, sondern demselben sofort nach Entwicklung des Kopfes den letzteren zerschmetterte (Schauenstein, l. c. 293). Douterpont (Friedreich’s Bl. 1887, pag. 403) berichtet über einen anderen, der eine rachitische Person betraf, die den vorgefallenen Arm abgeschnitten und dem Kinde einen Stich mit einem Messer versetzt hatte. Es musste aber dennoch die Wendung gemacht werden, die ein todtes Kind mit den entsprechenden Verletzungen zu Tage förderte. Ebenso ist es klar, dass, wenn thatsächlich eine solche Tödtung vorkommen würde, wir zwar im Stande sein könnten, durch den Sectionsbefund zu constatiren, dass die tödtende Handlung dem Kinde noch während es lebte zugefügt wurde, gewiss aber nur ausnahmsweise, dass diese schon vor vollendeter Geburt geschah.
Wenn wir das Verhalten eben geborener Kinder verfolgen, so bemerken wir unter normalen Verhältnissen sofort, nachdem das Kind zur Welt kommt, Aufschlagen der Augen, zuckende Bewegungen der Muskeln um Mund und Nase, sowie ein Zusammenziehen des Gesichtes wie zum Weinen, worauf zugleich die erste Inspiration folgt, wobei der Mund sich öffnet und Brust und Bauch sich hervorwölbt. Die ersten Inspirationen sind mitunter dyspnoeisch, nehmen jedoch bald den Rhythmus an, der ihnen de norma zukommt. Schon nach den ersten Inspirationen beginnt das Kind gewöhnlich zu schreien und gleichzeitig Harn und Meconium zu entleeren.
Als Ursache des ersten Athemzuges ist die Unterbrechung, beziehungsweise Aufhebung der Placentarrespiration anzusehen, welche theils durch die Contraction des von der Frucht entlasteten Uterus und durch die consecutive Verengerung der Uteringefässe, theils durch die Compression und Ablösung der Placenta veranlasst wird. Das nun [S. 739]hypervenös werdende Blut wirkt erregend auf das automatische Athmungscentrum in der Medulla oblongata und löst die erste Athembewegung aus, welcher dann, nachdem die Athemnoth, mit welcher die meisten Früchte geboren werden (Schwartz, Pflüger), sich gelegt hat, die normale, rhythmische Athmung folgt. Die ältere Physiologie war der Ansicht, dass insbesondere thermische und mechanische Hautreize, die auf das Kind bei der Geburt unmittelbar nach derselben einwirken, den ersten Athemzug auslösen. Ob jedoch solche Reize thatsächlich einen wesentlichen Einfluss in dieser Richtung ausüben, ist noch Gegenstand der Frage (vide Schwartz, Hirndruck und Hautreize. Arch. f. Gyn. I, 361). Während Einzelne (Poppel, Kehrer) der Meinung sind, dass Hautreize schon für sich Athembewegungen auslösen können, und auch Schwartz fand, dass bei Asphyktischen der Wiedereintritt der Inspirationen durch Hautreize gefördert werde, will Falk die Hautnervenreizung durch die kältere Atmosphäre nicht als ein adjutorisches, sondern vielmehr als ein hemmendes Moment für die erste Athmung des Neugeborenen betrachtet wissen. Neuere Untersuchungen über diesen Gegenstand von Cohnstein und Zuntz s. Pflüger’s Archiv. 1888, XLII, von Engström, Med. Centralbl. 1890, pag. 547. Ahlfeld, ibid. 1892, Nr. 6 und M. Runge, Arch. f. Gyn. 1894, XLVI, pag. 512, welcher die Angaben von Schwartz vollkommen bestätigt.
Auf das Geschrei des eben geborenen Kindes, als Beweis des Gelebthabens, wurde früher in civilrechtlicher Beziehung ein hohes Gewicht gelegt. So forderte das altgermanische Recht in Fällen, wo es sich um die Succession eines bald nach der Geburt verstorbenen Kindes handelte: „ut vox ejus audita sil intra quatuor parietes domus, in qua natus est.“ Bei Anklagen wegen Kindesmord kommt das Schreien des neugeborenen Kindes sehr häufig zur Sprache, entweder weil es von Zeugen gehört wurde, oder weil gefragt wird, ob, wenn die Mutter an einem bestimmten Orte gebar, das Geschrei desselben von nahe oder in demselben Locale befindlichen Personen hätte gehört werden müssen. In diesen Fällen wird man sich mit desto mehr Wahrscheinlichkeit dafür aussprechen können, dass das Kind geschrieen haben musste, je kräftiger dasselbe gewesen und je vollständiger dasselbe geathmet hatte. Bei schwächlichen Kindern, oder bei solchen, welche aus inneren oder äusseren Gründen nicht vollständig zu athmen vermögen, kann das Geschrei entweder ausbleiben oder so schwach ausfallen, dass es nur aus nächster Nähe gehört wird.
Die Veränderungen, welche in den Lungen Neugeborener durch den Beginn des Luftathmens sich einstellen, sind es, welche uns die wichtigsten Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage gewähren, ob ein zur Obduction gelangtes Kind lebend geboren worden ist. Diese Veränderungen, auf welchen alle sogenannten „Lungenproben“ basiren, werden dadurch veranlasst, dass erstens die bis dahin luftleer gewesenen Lungen mit Luft sich füllen, und zweitens, dass der kleine Kreislauf zur vollen Entwicklung gelangt.
[S. 740]
Die Veränderungen, welche fötale[471] Lungen durch die Aspiration von Luft erfahren, betreffen das Volumen, die Farbe, die Consistenz und das specifische Gewicht.
Es ist begreiflich, dass die Lungen desto mehr an räumlicher Ausdehnung, an Volumen gewinnen müssen, je vollständiger sie sich mit Luft füllen. In Folge dessen erscheinen die Lungen, die im fötalen Zustande als kleine lappige Organe blos den hinteren Thoraxraum einnehmen und deshalb bei Wegnahme des Brustblattes nicht sofort gesehen werden, wenn sie vollständig geathmet haben, in der Weise ausgedehnt, dass sie jetzt den grössten Theil des Brustraumes ausfüllen und mit ihren Rändern in der Weise in den vorderen Brustraum hineinragen, dass letztere die Seitentheile des Herzbeutels übergreifen, diesen desto mehr bedecken, je mehr sie sich gegenseitig nähern und in Folge dessen beim Eröffnen des Thorax sofort erblickt werden können. Dieses Aufblähen der Lunge verändert auch die Beschaffenheit der Oberfläche und der Ränder des Organs. Während nämlich die Oberfläche einer fötalen Lunge vollkommen glatt sich darstellt in gleicher Weise, wie z. B. jene der Leber, und während ihre Ränder gleichmässig unter einem sehr spitzen Winkel sich verdünnen und deshalb in ihren äussersten Partien häutig und transparent erscheinen, finden wir die durch Luftathmung aufgeblähte Lunge an ihrer Oberfläche wegen der Hervorwölbung der luftgefüllten Lungenbläschen weniger glatt und desto unebener, je ungleichmässiger die einzelnen Lungenläppchen von der aspirirten Luft ausgedehnt worden sind, dabei die aufgeblähten Ränder mehr weniger abgestumpft.
Die Farbe luftleerer Lungen ist wesentlich durch ihren Blutgehalt bedingt. Eigentlich fötale Lungen sind anämisch, da der kleine Kreislauf noch nicht zur vollen Entfaltung kam, zeigen deshalb jenen blassen Fleischton, der vielfach mit der Farbe einer Milchchocolade verglichen worden ist, sich aber doch mehr der rothbraunen zuneigt. Die gleiche Farbe finden wir auch bei luftleeren Lungen, die nachträglich anämisch geworden sind, so an den Lungen macerirter Früchte mit bereits reichlichem blutigen Transsudat in den Brustfellsäcken. Starb die Frucht suffocatorisch und unter vorzeitigen Athembewegungen, so wird die Farbe der[S. 741] Lungen desto dunkler erscheinen, je bluthaltiger dieselben geworden sind, und zeigt dann die verschiedensten Nuancen von Violett bis zum Dunkelblauroth. Die Farbe ist desto gleichmässiger, je anämischer das Organ ist, aber auch bei blutreichen solchen Lungen tritt die durch die Hypostase bewirkte dunklere Färbung der nach abwärts gelegenen Partien nicht so auffallend hervor, wie wir dies bei lufthaltigen Lungen gewöhnlich zu treffen pflegen.
Mit dem Beginne des Luftathmens ändert sich die Farbe der Lungen in’s Hellrothe, verliert zugleich ihre frühere Gleichmässigkeit und erhält eine marmorirte Beschaffenheit. Da diese Farbe sich zusammensetzt aus der Grundfarbe des bluthaltigen Lungengewebes und dem optischen Eindruck der in den Lungenbläschen enthaltenen Luft, so ist es begreiflich, dass verschiedene Farbennuancen entstehen werden, je nachdem das eine oder das andere Moment prävalirt. So gehört es zur Regel, dass die vorderen Partien der Lungen die hellrothe Farbe ausgesprochener zeigen als die abwärtigen, in welchen der Hypostase wegen der Blutgehalt vorwiegt. Aus gleichem Grunde werden anämische Lungen ungleich heller als blutreiche und ebenso werden wir die Lungen desto heller roth finden, je vollständiger sie geathmet haben, und umgekehrt desto dunkler, je weniger die Lungenbläschen von Luft ausgedehnt sind. Da in letzteren Fällen in der Regel des Suffocationstodes wegen Hyperämie der Lungen besteht, so können wir selbst auffallend dunkle Lungen zu Gesichte bekommen, obgleich sich dieselben, wenn auch nur wenig aufgebläht, so doch als lufthaltig erweisen. In der That haben wir in einzelnen Fällen bei gleich nach der Geburt erstickten Kindern Lungen gefunden, deren Farbe auf den ersten Blick wie jene von Kindern sich verhielt, die schon vor der Entbindung den sogenannten fötalen Erstickungstod gestorben waren, obgleich sowohl die nähere Besichtigung als die Lungenschwimmprobe eine gleichmässige, jedoch geringe Füllung der Lungenbläschen mit Luft ergab. Es folgt daraus, dass die Begriffe hell und dunkel einerseits und die lufthaltig und luftleer anderseits sich nicht unter allen Umständen decken, wie schon Falk[472] mit Recht hervorgehoben hat. Auch ist nicht zu übersehen, dass die hellere und dunklere Farbe der Lunge auch von dem grösseren oder geringeren Gehalt des Blutes an Sauerstoffhämoglobin, und dieser wieder davon abhängt, ob der Zutritt der atmosphärischen Luft zu den Lungen behindert war oder nicht. Daher kommt auch die bekannte Erscheinung, dass ebenso wie andere Organe auch die Lungen, wenn man sie an der Luft liegen lässt, eine hellere Färbung annehmen.
Betrachten wir eine durch Luftathmen lufthaltig gewordene Lungenpartie genauer, namentlich mit der Loupe, so sieht man,[S. 742] wie die scheinbar gleichmässige, in der Regel mehr weniger hellrothe Farbe sich in ein dichtes Netzwerk injicirter Gefässe auflöst, deren Maschen die luftgefüllten Alveolen umspinnen, wodurch eine Art Mosaik entsteht, die ein sehr charakteristisches Bild liefert. Da ferner zwischen den einzelnen Lungenläppchen stärkere Gefässe verlaufen, so erscheinen diese deutlicher abgegrenzt als im fötalen Zustande und die Lungenoberfläche erhält dadurch ein marmorirtes Aussehen, welches nicht zu verwechseln ist mit jenem, welches dann zu Stande kommt, wenn einzelne Lungenpartien mehr, andere weniger mit Luft sich füllen, oder zwischen lufthaltigen hellen, atelectatische, dunkle und dann eingesunkene Partien verbleiben. Auf das gleichmässige Verhalten der mit Luft gefüllten, wie Perlbläschen sich präsentirenden Alveolen (Fig. 117) ist sehr zu achten, da dasselbe schon für sich allein den Schluss gestattet, dass die Luft in die betreffende Lungenpartie nicht durch Fäulniss hineingekommen ist. Beim Druck auf die Umgebung treten sie stärker hervor und können schliesslich zum Bersten gebracht werden.
Eine weitere Veränderung, die die Lungen durch stattgehabte Luftathmung erfahren, betrifft ihre Consistenz. Luftleere Lungen zeigen eine mehr weniger fleischige Consistenz und ein gleichmässig festes, zähes Gefüge, lassen sich fleischartig einschneiden, erweisen sich am Durchschnitt gleichmässig dicht und entleeren aus letzterem beim Darüberstreifen schaumloses Blut. Solche, die Luft geathmet haben, fühlen sich polsterartig an, knistern beim Einschneiden, zeigen am Durchschnitt ein aufgelockertes schwammiges Gefüge und entleeren blutigen feinblasigen Schaum, welcher auch beim Einschneiden oder Drücken der Lungen unter Wasser aufsteigt und ausser im eigentlichen Lungenparenchym auch in den Bronchien sich findet. Auch diese Veränderung zeigt verschiedene Grade der Ausbildung, und ist desto deutlicher, je vollständiger das Kind zum Athmen gekommen ist.
Die diagnostisch wichtigste Veränderung der Lungen durch erfolgtes Luftathmen ist die Verminderung des specifischen Gewichtes, und diese Thatsache bildet die Grundlage der Lungenschwimmprobe oder hydrostatischen Lungenprobe, deren Vornahme, sowie der dabei zu beobachtende Vorgang sowohl in der österr. Vorschrift für die gerichtliche Todtenbeschau (§. 129 bis 131), als im preussischen Regulativ (§. 24) besonders vorgeschrieben ist.
Es wird angegeben, dass der Physikus Rayger in Pressburg 1670 der Erste war, welcher den Vorschlag machte, behufs Entscheidung[S. 743] der Frage, ob ein Kind lebend oder todt geboren wurde, die Lungen desselben auf ihre Schwimmfähigkeit zu prüfen, dass jedoch erst 1681 Schreyer im sächsischen Städtchen Zeitz diesen Vorschlag zum erstenmale bei der gerichtlichen Obduction eines Neugeborenen zur Ausführung brachte, aber erst 1683 durch einen Bericht über diese Obduction in die Literatur einführte.[473] Es ist jedoch zweifellos schon Galen die Veränderung des specifischen Gewichtes bekannt gewesen, da er die Veränderungen, welche die Lungen durch die erste Athmung erfahren, kurz und treffend mit den Worten bezeichnet: Substantia pulmonum (per respirationem) ex rubra, gravi ac densa in albam, levem et raram transfertur. Auch Bartholin (1663, Mende, l. c. I, 176) gab schon als bekannte Thatsache an, dass Lungen, die nicht geathmet haben, im Wasser untersinken, solche aber, die geathmet haben, schwimmen.
Die Vornahme der Lungenschwimmprobe geschieht nach der österreichischen Vorschrift in der Weise, dass man, nachdem der Stand des Zwerchfells erhoben, der Thorax eröffnet, die Ausdehnung der Lungen und ihr Lageverhältniss im Thorax constatirt wurde, erstens die Lungen sammt dem Herzen und der Thymus aus der Brusthöhle herausnimmt, das Verhalten ihrer Oberfläche, sowie der Bänder und der Consistenz beschreibt und hierauf alle genannten Organe in ungetrennter Verbindung in ein hinreichend tiefes, mit reinem kalten Wasser gefülltes Gefäss bringt und auf ihre Schwimmfähigkeit prüft, dann zweitens das Herz und die Thymus abtrennt und mit jeder einzelnen Lunge die Schwimmprobe vornimmt, wobei man nicht unterlassen darf, früher die Bronchien des Hylus auf ihren etwaigen Inhalt zu untersuchen. Hierauf wird drittens jede einzelne Lunge kunstgerecht eingeschnitten und untersucht und, nachdem alle Verhältnisse zu Protokoll gebracht wurden, in Stücke zerschnitten und gesehen, ob alle über dem Wasser sich erhalten, oder ob einzelne, und welche zu Boden sinken, oder ein Bestreben zum Sinken zeigen.
Das preussische Regulativ bestimmt über diesen Vorgang Folgendes:
§. 24. Ist anzunehmen, dass das Kind nach der 30. Woche geboren worden, so muss untersucht werden, ob es in oder nach der Geburt geathmet hat. Es ist deshalb die Athemprobe anzustellen und zu diesem Zwecke in nachstehender Reihenfolge vorzugehen:
a) Schon nach Oeffnung der Bauchhöhle ist der Stand des Zwerchfelles in Bezug auf die entsprechende Rippe zu ermitteln, weshalb bei Neugeborenen überall die Bauchhöhle zuerst und für sich und dann erst die Brust- und Kopfhöhle zu öffnen sind.
[S. 744]
b) Vor Oeffnung der Brusthöhle ist die Luftröhre oberhalb des Brustbeins einfach zu unterbinden.
c) Demnächst ist die Brusthöhle zu öffnen und die Ausdehnung und die von derselben abhängige Lage der Lunge (letztere namentlich in Beziehung zum Herzbeutel), sowie die Farbe und Consistenz der Lungen zu ermitteln.
d) Der Herzbeutel ist zu öffnen und sowohl sein Zustand, als die äussere Beschaffenheit des Herzens festzustellen.
e) Die einzelnen Abschnitte des Herzens sind zu öffnen, ihr Inhalt ist zu bestimmen und ihr sonstiger Zustand festzustellen.
f) Der Kehlkopf und der Theil der Luftröhre oberhalb der Ligatur ist durch einen Längenschnitt zu öffnen und sein etwaiger Inhalt, sowie die Beschaffenheit seiner Wandungen festzustellen.
g) Die Luftröhre ist oberhalb der Ligatur zu durchschneiden und in Verbindung mit den gesammten Brustorganen herauszunehmen.
h) Nach Beseitigung der Thymusdrüse und des Herzens ist die Lunge in einem geräumigen, mit reinem kalten Wasser gefüllten Gefäss auf ihre Schwimmfähigkeit zu prüfen.
i) Der untere Theil der Luftröhre und ihre Verzweigungen sind zu öffnen und namentlich in Bezug auf ihren Inhalt zu untersuchen.
k) In beide Lungen sind Einschnitte zu machen, wobei auf etwa wahrzunehmendes knisterndes Geräusch, sowie auf Menge und Beschaffenheit des bei gelindem Druck auf diese Schnittflächen hervorzuquellenden Blutes zu achten ist.
l) Die Lungen sind auch unterhalb des Wasserspiegels einzuschneiden, und zu beobachten, ob Luftbläschen aus den Schnittflächen emporsteigen.
m) Beide Lungen sind zunächst in ihre einzelnen Lappen, sodann noch in einzelne Stückchen zu zerschneiden und alle insgesammt auf ihre Schwimmfähigkeit zu prüfen.
n) Der Schlund ist zu öffnen und sein Zustand festzustellen. Endlich ist
o) falls sich der Verdacht ergibt, dass die Lungen wegen Anfüllung ihrer Räume mit krankhaften (Hepatisation) oder fremden (Kindsschleim, Kindspech) Stoffen Luft aufzunehmen nicht im Stande waren, eine mikroskopische Untersuchung derselben vorzunehmen.
Da das specifische Gewicht der Lungen (Gewebe + Blut) nach Krause nur 1·045–1·056 beträgt, so genügen schon geringe Luftmengen, um dieselben über Wasser zu erhalten, und die Schwimmprobe ist daher im Stande, schon geringen Luftgehalt der Lungen anzuzeigen.[474] Dieser Umstand, sowie der, dass bei correctem und systematischem Vorgehen die Schwimmfähigkeit der einzelnen Lungentheile uns sehr deutlich die Vertheilung der Luft in den einzelnen Lungenpartien demonstrirt, verleihen der Lungenschwimmprobe einen besonderen Werth als diagnostischem Hilfsmittel, welche jedoch niemals die Erhebung der anderen für oder gegen Luftgehalt sprechenden Verhältnisse, noch weniger aber die sonstige anatomische Untersuchung des Organs entbehrlich macht. Leider ist es nichts Seltenes, zu sehen, dass über der Prüfung der Lungen auf ihre Schwimmfähigkeit die Untersuchung[S. 745] der übrigen Verhältnisse, wenn auch nicht vollständig übergangen, so doch vernachlässigt wird, und dass es besonders häufig vorkommt, dass der letzte (dritte) Act der Lungenschwimmprobe, bei welchem die Lungen in Stückchen zerschnitten werden, um diese auf ihre Schwimmfähigkeit zu prüfen, vorgenommen wird, bevor die anatomische Untersuchung der einzelnen Lungenlappen geschah, wodurch diese selbstverständlich ganz unmöglich gemacht wird.
Die Lungen können bei der Vornahme der hydrostatischen Probe entweder mehr weniger schwimmfähig gefunden werden oder im Wasser untersinken. Im ersteren Falle ist vor Allem festzuhalten, dass die Schwimmfähigkeit der Lungen für sich allein nichts weiter beweist, als dass Luft in denselben sich befindet, keineswegs aber, dass diese Luft durch Athmen hineingekommen sei, und dass letzterer Schluss erst dann erlaubt ist, wenn andere Vorgänge, durch welche Luft in die Lungen gelangen konnte, ausgeschlossen werden können.
Diese Vorgänge sind aber a) die Fäulniss, b) ein etwa stattgehabtes künstliches Einbringen der Luft, insbesondere durch Lufteinblasen.
a) Die Möglichkeit, dass die Schwimmfähigkeit der Lungen von Fäulnissgasen herrühren könnte, ist selbstverständlich nur dann in Betracht zu ziehen, wenn die Leiche bereits Zeichen von Fäulniss zeigt und sie entfällt vollständig, wenn eine frische Leiche vorliegt. Ebenso entfällt eine solche Annahme, wenn bei bereits anderweitig begonnener Fäulniss die Lungen noch ein vollkommen frisches Aussehen bewahrt haben, namentlich noch nicht als missfärbig sich erweisen.
Wenn die Lungen zu faulen beginnen, so werden sie zunächst missfärbig, welche Farbenveränderung anfangs durch Imbibition, später durch die Fäulnissveränderungen des Lungengewebes selbst bedingt wird, vorzugsweise aber vom Blute ausgeht, dessen Hämoglobin in braunes Methämoglobin und dann in Hämatin und seine grün und schwarzbraun gefärbten Verbindungen sich zersetzt. Die ersten Fäulnissblasen zeigen sich im Blute der grossen Gefässe, welches dadurch eine schaumige Beschaffenheit zu erhalten beginnt, später tauchen solche sowohl einzeln, als in Gruppen im Lungenparenchym, namentlich in den blutig imbibirten Partien auf, sind unter der Pleura schon äusserlich sichtbar, indem sie diese später in grösseren oder kleineren, verschiebbaren Blasen abheben. In diesem Stadium der Fäulniss halten sich die Lungen desto leichter über Wasser, je mehr sie von Luftblasen durchsetzt sind.
Zur Unterscheidung fauler, von durch Athem lufthaltig gewordenen Lungen wird zunächst empfohlen, wenn nur grössere Luftblasen vorhanden sind, dieselben aufzustechen und dann die Schwimmfähigkeit zu untersuchen. Dieses Verfahren verdient jedenfalls Beachtung und gestattet, wenn nach erfolgtem Aufstechen[S. 746] der Luftblasen die Lunge sinkt, den Schluss, dass nur Fäulnissblasen vorgelegen sind. Doch ist in dieser Beziehung zu bemerken, dass diesem Verfahren nur in den früheren Stadien der Fäulniss ein Beweiswerth zukommt, da in den Endstadien derselben, wenn die Lunge bereits breiig zerfällt, auch früher lufthaltig gewesene Organe nur grössere Luftblasen enthalten, nach deren Entleerung sie im Wasser zu Boden sinken. In den früheren Stadien ist es auch angezeigt, zu versuchen, durch Fingerdruck die Luft aus den einzelnen Lungenstücken auszutreiben. Gelingt dies mit Leichtigkeit, so dass die ausgedrückten Stücke im Wasser sinken, so spricht dieses ebenfalls für Fäulnissgase, da es sehr schwer hält und nur durch vollständiges Zerquetschen der Lungen möglich ist, aus dem durch Athem aufgeblähten Gewebe die Luft durch Druck auszutreiben. Bei bereits begonnenem Zerfall des Lungengewebes hat auch dieser Vorgang keinen Werth.
Ungleich wichtiger für die Unterscheidung als das erwähnte Verhalten ist die Vertheilung der Luft im Lungengewebe, da eine gleichmässige Füllung der Alveolen mit Luft, wie sie Fig. 117 zeigt, nur durch Athmen, eventuell durch Lufteinblasen, niemals aber durch den Fäulnissprocess zu Stande kommen kann, und zwar deshalb nicht, weil einestheils der zur Füllung der Lungenbläschen nöthige gleichmässige Druck fehlt, anderseits aber die Bildung der Fäulnissgase mit gleichzeitigem Zerfall des Lungengewebes einhergeht, welcher dort, wo die Fäulniss bis zur Blasenbildung gediehen ist, die Lungenbläschen zerstört. Sind wir daher noch im Stande, bei Besichtigung der Lungen mit freiem Auge, noch mehr aber mit der Loupe eine gleichmässige Füllung der Alveolen mit Luft nachzuweisen, so sind wir umsomehr berechtigt, Fäulniss auszuschliessen, über je weitere Strecken dieses Verhalten ausgebreitet ist, während wenn im Lungengewebe nur unregelmässig vertheilte und ungleich grosse Luftblasen sich finden, die Fäulnissprovenienz derselben keinem Zweifel unterliegen kann. In den höheren Graden der Fäulniss, in welchen das Lungengewebe bereits zu einer breiigen, weichen, missfärbigen Masse verwandelt ist, entfällt selbstverständlich jede differentielle Diagnose, und es ist geboten, in jedem Falle, in welchem die erwähnten Anhaltspunkte nicht mehr verwerthet werden können, offen zu erklären, dass wegen allzuweit gediehener Fäulniss eine Entscheidung, ob das Kind nach der Geburt Luft geathmet habe, nicht mehr möglich sei.
Bei faulen Leichen Neugeborener sollte jedesmal auch mit der Leber und Milz, eventuell auch mit anderen Organen die Schwimmprobe vorgenommen und dieses im Protokoll notirt werden, da diese Organe in der Regel früher und rascher faulen als die Lungen und daher aus dem Umstande, dass nur letztere, nicht aber auch Leber, Milz etc. Luft enthielten, für sich allein in der Regel sich schliessen lässt, dass jener Luftgehalt nicht von Fäulniss herrührt und weil anderseits, wenn Leber, Milz etc. schwimmen, die Lungen aber nicht, [S. 747]dieses, seltene Fälle ausgenommen, klar beweist, dass ein Luftathmen nach der Geburt nicht stattgefunden hat. Bei einer während des Geburtsactes an Uterusruptur verstorbenen Frau, die hochgradig faul und „gigantisch“ gedunsen zur Obduction kam, fanden wir auch das in die Bauchhöhle ausgetretene und durch Fäulnissgase aufgetriebene, ungewöhnlich grosse und schwere Kind hochgradig faul. Es schwammen nicht blos Leber, Milz, Nieren, Magen und Darmcanal (!), sondern sogar die ganze Kindesleiche, nicht aber die Lungen, die nur blutig imbibirt und vollkommen atelectatisch waren.
b) Die Möglichkeit, dass der in der Lunge constatirte Luftgehalt von mittelst Lufteinblasens vorgenommenen Belebungsversuchen herrühren könnte, entfällt in der Regel von selbst, da nicht anzunehmen ist, dass eine heimlich Gebärende an dem todtgeborenen Kinde Belebungsversuche anstellen wird, und da, wenn dies von ihr oder von Anderen thatsächlich unternommen worden wäre, spontane Angaben darüber gemacht werden möchten.
Würde ein Fall vorkommen, in welchem die Möglichkeit eines stattgehabten Lufteinblasens in Betracht gezogen werden müsste, so wäre weniger das Verhalten der Lunge, als jenes des Verdauungstractus im Stande, Aufschluss in dieser Richtung zu geben. Da nämlich die experimentelle Erfahrung lehrt, dass, wenn Luft von Mund zu Mund, oder mit einer, nicht in den Kehlkopf, sondern blos in die Mundhöhle eingeführten Röhre eingeblasen wird, dieselbe in der Regel weniger in die Lungen als in den Magen und, wenn mit grosser Gewalt eingeblasen wird, auch in den Darmcanal gelangt und letzteren aufbläht, und da anderseits, wie später erwähnt werden wird, Magen und Darm eines todtgeborenen Kindes luftleer sind und daher im Wasser untersinken, so wird, wenn wir im concreten Falle Magen- und Darmcanal eines neugeborenen und nicht etwa faulen Kindes von Luft auffallend aufgebläht finden, dieser Befund die Angabe, dass Luft eingeblasen wurde, unterstützen, während dieselbe widerlegt erscheint, wenn weder im Darmcanal, noch in dem Magen Luft oder nur ganz geringe Mengen davon enthalten waren. Die Lungen selbst würden nur dann einen diagnostischen Anhaltspunkt gewähren, wenn durch forcirtes Lufteinblasen ein Emphysem, insbesondere interstitielles Emphysem, erzeugt worden wäre. Doch auch dieses wäre nur von geringem Werth, da interstitielle Emphyseme bei Neugeborenen auch auf andere Weise, so namentlich durch forcirte Exstirpationen, in Folge von in die Luftwege gerathenen fremden Körpern, entstehen können. Kotelewski (Wiener med. Blätter, 1882, Nr. 18) sieht in der durch die Injection der interalveolaren Gefässe bewirkten „rosafarbigen Marmorirung“ der Lungen ein charakteristisches Merkmal stattgehabter Athmung, wogegen das Fehlen dieses Merkmals ein Zeichen für künstliche Lufteinblasung sei. Nun ist aber zwar allerdings richtig, dass durch das Lufteinblasen wohl Luft in die Lungen gelangt, aber keine Vermehrung des Blutgehaltes eintritt, weil eben der beim
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Luftathmen gleichzeitige Beginn des kleinen Kreislaufes ausbleibt; da jedoch auch an der luftleeren Lunge die interalveolaren und interacinösen Gefässe Blut enthalten und namentlich bei asphyctisch geborenen Kindern viel Blut enthalten können, so wird auch bei aufgeblasenen Lungen die „rosafarbige Marmorirung“ nicht vollständig fehlen, allerdings aber desto unvollkommener entwickelt sein, je weniger Blut die interstitiellen Gefässe von dem Lufteinblasen enthielten und je weiter letzteres getrieben worden war.
Uns kam es bisher nur ein einzigesmal vor, dass eine des Kindesmordes Angeklagte mit der Angabe hervortrat, dass sie dem Kinde Luft eingeblasen habe. Letzteres war noch frisch in einer Abortsgrube gefunden worden, zeigte vollständig lufthaltige Lungen, freie Luft im Magen und im oberen Drittel des Dünndarmes, Cloakeninhalt in der Luftröhre und im Magen, endlich deutlich sugillirte Schädelfracturen. Unmittelbar nach der Verhaftung gab die Mutter an, sie habe über der Abtrittsbrille hockend geboren, die Nabelschnur abgerissen und das Kind in den Abort fallen lassen, welche Angabe sie später dahin modificirte, dass sie das Kind, an welchem sie kein Lebenszeichen bemerkte, in den Abortschlauch hineingezwängt habe. Bei der Hauptverhandlung dagegen gab sie an, sie habe stehend am Fussboden des Abortes geboren und im letzten Momente sich niedergehockt, dann die Schnur abgerissen, das Kind aufgehoben und demselben einigemale in den Mund hineingeblasen, nachdem sie diesen geöffnet hatte, weil sie gehört habe, dass man scheintodten Kindern dies zu thun pflege. Nach ½ Stunde hätte sie das Kind in den Abort geworfen, da sie es für todt hielt. Die Unwahrheit dieser Aussage konnte ausser durch die vollständige Füllung der Lungen mit Luft und die verhältnissmässig geringe des Darmcanals auch durch den Befund von Cloakenstoffen im Magen und die suffundirte Beschaffenheit der Schädelfracturen leicht erwiesen werden.
Die bisher wenig beachtete Frage, ob nicht auch durch anderweitige Methoden der künstlichen Respiration die Lungen eines todt geborenen Kindes lufthaltig werden können, wurde in der letzten Zeit durch M. Runge[475] angeregt und insbesondere bemerkt, dass vor Allem durch die sogenannten Schultze’schen Schwingungen, wobei das Neugeborene am Oberkörper gefasst und so nach aufwärts geschwungen wird, dass die untere Körperhälfte auf die obere fällt, die Lungen in ausserordentlich sicherer Weise in geringerer oder grösserer Ausdehnung mit Luft sich füllen, so dass sie sich von solchen, die Luft geathmet haben, nicht wesentlich unterscheiden. Wenn die Luft in die Lungen in der That so leicht eindringen würde, wie Runge angibt, so wäre dies natürlich von grosser Wichtigkeit. Denn wenn auch bei heimlichen Entbindungen die Möglichkeit, dass von Jemanden „Schwingungen“ unternommen würden,
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gewiss nur höchst ausnahmsweise in Betracht kommen dürfte, so müsste man doch per analogiam zugeben, dass ebenso wie durch Schwingungen auch durch andere alternirende Compressionen und Expansionen des Thorax, wie sie auch nur zufällig bei den mit der Leiche unternommenen Manipulationen geschehen können, Luft in die Lungen gebracht werden kann. Wir haben in der drittletzten Auflage dieses Buches unsere Zweifel ausgesprochen, ob die Sache selbst bei „Schwingungen“ so leicht geht, wie Runge meint, da Schwingungen, die wir an zweifellos vor dem Blasensprunge abgestorbenen oder erst bei der Obduction dem Mutterleib entnommenen Kindern unternahmen, resultatlos geblieben sind. Auch in den seitdem von uns an solchen Kindern angestellten Versuchen erhielten wir kein oder (in einem Falle, wo sich nicht positiv ausschliessen liess, dass der äusserst spärliche Luftgehalt der Lungen schon vor den Schwingungen bestand) nur ein unsicheres Resultat (siehe auch Wiener med. Blätter. 1884, Nr. 34 und Wiener med. Wochenschr. 1885, Nr. 10). Auch haben wir bei zwei vollkommen reifen todtgeborenen Kindern, an welchen auf Späth’s Klinik 10 und 15 Schwingungen gemacht worden waren, ganz anectatische Lungen gefunden. Unsere Zweifel haben Schauta (Wiener med. Blätter. 1884, Nr. 29), B. S. Schultze (ibid. 1885, Nr. 1), Nobiling (Wiener med. Wochenschr. 1885, Nr. 8), Torggler (Wiener med. Blätter. 1885, Nr. 8), Runge (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XLII, 1), Sommer (ibid. XLIII, 253), Skutsch (Deutsche Med.-Ztg. 1886, Nr. 1) und Reinsberg in Prag (Sbornik lékařský. 1886, pag. 131) zu Versuchen, respective Mittheilungen veranlasst, aus welchen hervorgeht, dass ihnen Allen, mit Ausnahme Nobiling’s, dessen Versuche negativ ausfielen, gelang, die Lungen todtgeborener, ausgetragener Kinder durch Schwingungen lufthältig zu machen. Unsere Misserfolge werden theils daraus erklärt, dass von uns meist unreife Kinder benützt wurden, während Schultze selbst bereits vor Jahren angegeben hatte, dass ihn seine Methode bei nicht reifen Kindern, wegen Weichheit des Thorax und der Trachealknorpeln, im Stiche gelassen habe, theils aus der Art der Ausführung unserer Versuche, da durch Schwingungen „keineswegs leicht Luft in die Lungen eintritt“ und die Ausführung, wenn sie Erfolg haben soll, auf das Minutiöseste nach Schultze’s Vorschrift geschehen muss (Skutsch), theils aus der geringen Zahl der von uns vorgenommenen Schwingungen, da bei Leichen „mindestens 30 Schwingungen stattfinden müssen, wenn ein nur halbwegs merklicher Erfolg erzielt werden soll“ (Reinsberg). Es geht aus diesen Einwänden hervor, dass unsere Zweifel nicht ungerechtfertigt waren, indem durch Schultze’sche Schwingungen weder immer, noch leicht Luft in die Lungen todtgeborener Kinder gebracht werden kann und jedenfalls an dem bereits einige Zeit todten Kinde schwerer als an dem eben verstorbenen.[476] Da jedoch diese Möglichkeit wirklich [S. 750]besteht, so ist mit derselben in Fällen, wo solche Schwingungen angeblich vorgenommen worden sind, zu rechnen und sind dabei jene Umstände zu erwägen, die den eben genannten Untersuchungen und Angaben zu Folge den Effect derselben zu begünstigen oder zu erschweren vermögen. Eine stärkere Blähung der Lungen scheint selbst nach energischen und zahlreichen Schwingungen nicht zu Stande zu kommen und eine vollständige Füllung der Lungen in allen ihren Theilen mit Luft wurde bisher nicht beobachtet.[477] Ein Eindringen von Luft in den Magen durch „Schwingungen“ konnte in der Regel nicht constatirt werden, nur Sommer fand in einem Falle im Magen so viel Luft, dass derselbe schwamm. Wir selbst fanden bei den zwei oben erwähnten Kindern, mit welchen auf Späth’s Klinik Schwingungen gemacht worden waren, zwar ganz atelectatische Lungen, aber bei beiden Luft im Magen, und zwar beim ersten eine erbsengrosse und eine kleinere Blase in dem im Magen enthaltenen Fruchtschleim, beim zweiten eine haselnussgrosse und mehrere kleinere. Nur im letzteren Falle schwamm der Magen und war auch schon vor der Obduction tympanitischer Schall über demselben nachweisbar.
Ob auch durch andere Methoden der künstlichen Respiration Luft in die Lungen todtgeborener Kinder einzudringen vermag, ist von Pellacani (Rivista sper. di freniatria e di med. leg. XV; Virchow’s Jahrb. 1889, I) bezüglich der Pacini’schen Methode und auf Anregung Messerer’s von Merkel (Friedreich’s Blätter. 1892, pag. 401) bezüglich der Methode von Marshall-Hall geprüft worden. Bei ersterer wurde schon bei der zweiten bis siebenten Respirationsbewegung das Eindringen der Luft vernommen. Pellacani schliesst jedoch aus seinen Versuchen, dass durch die genannte und ähnliche Methoden der künstlichen Respiration eine gleichmässige Luftfüllung der Lungen wie bei vollständigem Leben niemals zu Stande komme. In einem Falle waren 163 (!) Respirationsbewegungen gemacht worden und trotzdem war nur eine ungleichmässige Luftfüllung der Lunge zu Stande gekommen. Merkel konnte kein positives Resultat erzielen und fand in einem Falle trotz 50 Marshall-Hall’schen Schwingungen [S. 751]sowohl Lungen als den Magen luftleer. Unter diesen Umständen muss wohl die Möglichkeit, dass auch schon durch zufällige vorübergehende Compressionen des Thorax, wie sie beim Manipuliren mit der Leiche geschehen können, Luft in die bis dahin atelectatisch gewesenen Lungen gelangen kann, entschieden negirt werden.
Ist die Fäulniss, eventuell das Lufteinblasen u. dergl. ausgeschlossen, so kann man in den wegen Verdacht auf Kindesmord zur Obduction gelangenden Fällen mit Beruhigung erklären, dass das Kind nach der Geburt Luft geathmet habe, daher lebend geboren worden sei. Die Möglichkeit, dass ein Kind noch während der Geburt Luft athmen könne, kommt bei heimlichen Geburten nur insoferne in Betracht, als ein Kind, das nur mit dem Kopfe geboren ist, schon Luft zu athmen vermag. Dieses Ereigniss scheint sogar häufig vorzukommen, da Schwartz (l. c. 381) bemerkt, dass die Inspirationsbewegungen des Kindes meistens gleich nach dem Durchschneiden des Kopfes, nächstdem am häufigsten während des Durchganges des Fruchtkörpers durch die Schamspalte und nicht ganz selten auch erst nach völliger Austreibung des Kindes erfolgen. In der Regel folgt dem geborenen Kopfe sofort der übrige Körper, es kann sich jedoch ereignen, dass dies nicht geschieht, und dass das mit den Schultern stecken gebliebene Kind stirbt und todt geboren wird, obzwar es bereits Luft geathmet hatte. Teichmeyer bemerkt bereits in dieser Richtung (Inst. med. leg. 241): „Fieri potest, ut infans capite exclusus, antequam totus excludatur, respiraverit, statim vero, antequam reliquo corpore egressus fuerit, moriatur, et quidem absque malitia matris.“ Einen solchen Fall beschreibt Martin (Monatsschr. f. Geb. 1863, XXII, 204), einen anderen, verwachsene Zwillinge betreffend, Rothe (Arch. f. Gyn. 1870, I, 341; zahlreiche ältere Fälle von Henke, Lehrb, d. gerichtl. Med. 1841, pag. 373). In einem zur Facultät gekommenen und von uns mitbegutachteten Falle hatte eine Bauernmagd, die auf freiem Felde geboren hatte, angegeben, dass das Kind schon, als es mit dem Kopfe gekommen war, geschrieen habe, dass es aber, nachdem es nach einiger Zeit vollständig geboren wurde, nicht mehr schrie, sondern unter Röcheln verschied. Diese Angaben wurden von den Obducenten bestritten, mussten jedoch von der Facultät als wohl möglich zugegeben werden.
Ein Luftathmen des Kindes noch vor geborenem Kopfe kann allerdings dann erfolgen, wenn, wie dies bei schweren Geburten geschieht, durch Instrumente oder die Hand des Geburtshelfers Luft in den Uterus eingeführt wurde. In solchen Fällen kann das Kind noch im Uterus nicht blos Luft athmen, sondern selbst schreien (Vagitus uterinus). Es ist selbstverständlich, dass bei gewöhnlichen, verheimlichten Geburten etwas Aehnliches nicht geschehen kann. Da jedoch mehrere theils von Anderen, theils von uns beobachtete Fälle (vide Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875, XXII, pag. 58 u. 240) gezeigt haben, dass bei verzögerten Geburten schon das blosse Touchiren mit dem Finger genügt, um Luft zu den Respirationsöffnungen der Frucht [S. 752]zu bringen, und dass bei erschlafftem Uterus auch durch Lageveränderungen des Körpers ein Einsaugen von Luft in die Gebärmutter erfolgen kann (Schatz, Hegar), so wäre in solchen, gewiss nur äusserst selten vorkommenden Fällen, in denen eine verheimlichte Geburt verzögert verlief, oder während des Entbindens Manipulationen in den Genitalien durch eventuelle Helfershelfer stattfanden, zu erwägen, ob nicht auch schon während des Geburtsactes ein Luftathmen möglich gewesen war.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass auch ganz luftleere Lungen schwimmfähig sein können, so in Folge des Gefrorenseins oder durch längeres Liegen in Alkohol, da letzterer bekanntlich specifisch leichter ist als Wasser. Im ersteren Falle sinken die Lungen nach erfolgtem Aufthauen, im zweiten, nachdem sie einige Zeit im Wasser gelegen waren.
Es fragt sich nun, welche Schlüsse sind gestattet, wenn die Lungen luftleer gefunden werden. In der Regel beeilt man sich in einem solchen Falle zu erklären, dass das Kind bereits todt zur Welt gekommen ist. Ein solcher Schluss ist, wenn er sich blos auf die luftleere Beschaffenheit der Lungen stützt, keineswegs absolut berechtigt, da es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, die bewirken können, dass, trotzdem ein Kind lebend zur Welt gekommen ist, doch bei der Obduction luftleere Lungen sich ergeben. Es sind insbesondere drei Möglichkeiten, die in dieser Beziehung in Betracht kommen: 1. dass bei einem obgleich lebend geborenen Kinde die Respirationsbewegungen ausgeblieben sein konnten; 2. dass trotz normal erfolgter Athembewegungen die Aspiration von Luft behindert gewesen sein konnte, und 3. dass durch Athmung lufthaltig gewordene Lungen unter gewissen Umständen nachträglich wieder luftleer werden können.
Ad 1. Bei Früchten, die vor der 28.-30. Woche geboren werden, gehört es desto mehr zur Regel, dass dieselben, wenn sie auch lebend zur Welt kommen, sterben, ohne Respirationsbewegungen gemacht zu haben, je weiter sie noch von der erwähnten Periode entfernt sind. Die Ursache hiervon liegt wohl vorzugsweise in der noch ungenügenden Entwicklung und Leistungsfähigkeit der Respirationsmuskeln, aber auch darin, dass die anatomischen Athmungscentren noch nicht so weit ausgebildet sind, um auf die in Folge Aufhebung der Placentarrespiration eintretende Sauerstoffverarmung des Blutes mit Auslösung von Respirationsbewegungen zu reagiren. Daher kommt es, dass wir bei den meisten abortirten Früchten, auch wenn sie nicht vor der Geburt starben, luftleere Lungen finden.[478] Auch noch nach der 28. Woche, insbesondere in der ersten Zeit, kann eine solche Insufficienz der Respirationsmusculatur oder des Respirationscentrums bestehen und es fällt auf, dass die meisten Beobachtungen von luftleeren Lungen bei Kindern, die einige Zeit[S. 753] nach der Geburt gelebt haben, nicht ausgetragene Früchte betreffen. So berichtet Pellacani (l. c.) über 14 Neugeborene, worunter nur 3 ausgetragene, welche vollständig oder grösstentheils luftleere Lungen zeigten, obzwar sie lebend geboren wurden und meistens auch geschrieen hatten (einzelne durch 24 und mehr Stunden) und erklärt sich diese Erscheinung daraus, dass die „respiratorischen Kräfte“ nicht im Stande waren, eine Lungenblähung zu bewirken, respective die betreffenden Hindernisse zu überwinden, so dass nur eine Bronchialathmung stattfand. Auch die von Nikitin („Die zweite Lebensprobe.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag. 44) beobachteten 3 derartigen Fälle betrafen sämmtlich nicht ausgetragene Früchte, doch leitet Nikitin das Fehlen der Luft von einer „secundären Atelectase“ ab.
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Bei lebensfähigen Früchten kann der Beginn der extrauterinen Athmung sich verzögern. Nach K. Schröder[479] ist es der gewöhnliche Fall, dass ein neugeborenes, lebensfrisches Kind wenn auch nur kurze, so doch messbare Zeit extrauterin lebt, ohne zu athmen. Diese Angabe stimmt mit den oben angeführten Angaben von Schwartz, zufolge welchen die Kinder meistens schon beim Durchschneiden des Kopfes Athembewegungen machen, nicht überein, doch erwähnt auch dieser, dass nicht selten ganz lebensfrische Kinder, nachdem sie völlig geboren wurden, noch einige Zeit ruhig daliegen, die Augen aufschlagen und erst dann anfangen, mit successive zunehmender Energie zu respiriren. Einen solchen Fall hat Kehrer (Arch. f. Gyn. I, 478) ausführlich beschrieben. Die Ursache dieser Erscheinung ist die Apnoë, d. h. jener Zustand, in welchem die Sauerstoffverarmung des Blutes noch nicht einen solchen Grad erreicht, dass dadurch das Athemcentrum zur Auslösung von Athembewegungen angeregt wird, und dieser Zustand tritt bei Neugeborenen dann ein, wenn nach erfolgter Entbindung die Placenta mit dem Uterus in Verbindung bleibt und eine Wehenpause erfolgt, so dass die fötale Athmung durch die Placenta fortdauert. Dieser Zustand, der selbst minutenlang (im Kehrer’schen Falle 2 Minuten) andauern kann[480], unterscheidet sich von Asphyxie dadurch, dass, während bei dieser nur ein schwacher, seltener und unregelmässiger Herzschlag besteht, bei der Apnoë das Herz kräftig und in normaler Frequenz weiterschlägt. Derselbe hat unter normalen Verhältnissen keine Bedeutung, da nach kurzer Zeit die Lungenathmung von selbst sich einstellt, wohl aber insoferne, als während einer solchen Apnoë dem Leben des Kindes ein Ende gemacht werden kann, ohne dass es zum Luftathmen gelangt.
Eine der häufigsten Ursachen des Ausbleibens der Athembewegungen bei neugeborenen, obgleich noch lebenden Kindern ist die Asphyxie. Jene Vorgänge, welche, wie wir später hören werden, verhältnissmässig häufig während des Geburtsactes eintreten und vorzugsweise durch vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung den suffocatorischen Tod des Kindes noch vor Beendigung der Geburt herbeizuführen vermögen, bewirken auch häufig, dass die Kinder noch nicht vollkommen todt, sondern nur asphyctisch geboren werden. Solche Kinder können sich entweder wie todte verhalten oder das noch bestehende Leben durch gewisse Erscheinungen, wie z. B. schwache (terminale) Athembewegungen oder durch noch nachweisbaren Herzschlag, verrathen. Es lässt sich keine Grenze bestimmen, von welcher an man solche Kinder als unrettbar bezeichnen muss, es geht daher nicht an, wie vorgeschlagen wurde, dieselben als sterbend oder gar wie todtgeboren zu betrachten, da man mit Rücksicht darauf, dass die Asphyxie der Neugeborenen die verhältnissmässig günstigsten Chancen für die Wiederbelebung bietet und thatsächlich viele derartige Kinder wieder zum Leben gebracht wurden, niemals mit Bestimmtheit die Möglichkeit zu negiren vermag, dass das betreffende Kind vielleicht noch hätte gerettet werden können.
Endlich kann auch durch intermeningeale Extravasate bewirkter Hirndruck und consecutive Lähmung der Athmungscentren Ausbleiben oder ein verzögertes Eintreten der Respirationsbewegungen bedingen (Poppel, Kehrer).
Ad 2. Die Aspiration von Luft kann zunächst dadurch behindert sein, dass das Kind in unverletzten Eihäuten geboren wurde oder die Respirationsöffnungen durch Eihautstücke verlegt waren.
Ersteres ist bei bereits lebensfähigen, namentlich bei völlig ausgetragenen Früchten ungemein selten. Fälle dieser Art werden in Henke’s Zeitschr.[481] von Buttler Lane u. A.[482] angegeben. Vor einigen Jahren kam ein solcher Fall in Wien zur gerichtlichen Obduction und betraf eine Person, die im Eisenbahncoupé in Gegenwart zweier erwachsener Mädchen ein 44 Cm. langes und 1800 Grm. schweres Kind auf diese Weise geboren hatte. Sowohl die Entbundene, als die Zeugen gaben an, dass sie, wie dies auch im Buttler Lane’schen Falle geschah, nicht wussten, was die abgegangene Masse zu bedeuten habe und was sie damit anstellen sollten. Dies musste auch im Gutachten zugegeben werden, und wurde deshalb die Anklage wegen Tödtung des Kindes durch absichtliche Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes, respective der Befreiung des Kindes aus dem Eihautsack fallen gelassen. In einem zweiten Falle hatte die Hebamme unterlassen, das 42 Cm. lange Kind aus den unverletzten Eihäuten zu befreien, da sie es für todt hielt, weil der Inhalt des Eisackes „ganz [S. 755]schwarz“ erschien. Die auf Antrag des Todtenbeschauers eingeleitete gerichtliche Section ergab aber, dass die schwarze Färbung von Meconium herrührte und dass das Kind offenbar nur asphyctisch war. Verlegung der Respirationsöffnungen durch Eihautstücke ist häufiger beobachtet worden. Ein neuerer Fall wird von Schröder[483] mitgetheilt, welcher, zu einer Mehrgebärenden gerufen, dieselbe noch 10 Minuten nach der Geburt in der Lage fand, in welcher sie geboren hatte. Das Kind lag vor den Genitalien und dessen ganze obere Körperhälfte war von den Eihäuten bedeckt, namentlich das Gesicht und der Mund, in welchen sie hineingezogen waren. Das Kind war tief asphyctisch, rührte sich nicht und hatte einen langsamen Herzschlag, wurde jedoch nach einer Viertelstunde zu sich gebracht.
Weiter kann die Luftathmung durch Verstopfung der Luftwege mit während des Geburtsactes aspirirten Stoffen (Fruchtwasser, Fruchtschleim, Meconium) verhindert werden, dann nämlich, wenn Früchte, welche in Folge drohender „fötaler Erstickung“ vorzeitige Athembewegungen gemacht hatten, noch zu einer Zeit geboren wurden, in welcher die Erregbarkeit des Respirationscentrums noch nicht erloschen war und daher noch extrauterine Athembewegungen stattfinden konnten. Ebenso kann zufällig während des Geburtsactes Fruchtschleim in die Respirationsöffnungen gelangen und dann das Eindringen der Luft in die Lungen verhindern.
Ferner gibt es gewisse pathologische Processe, die trotz erfolgender Athembewegungen eine Aspiration von Luft unmöglich machen. Solche Processe können zunächst die Lunge selbst betreffen und ihre Entfaltbarkeit verhindern.
Das Vorkommen einer angeborenen Verwachsung der Alveolarwände, wie sie von Weber und Elsässer angenommen wurde, ist nicht erwiesen. Wohl aber können angeborene Hepatisationen der Lunge vorkommen, von denen wir insbesondere die weisse oder die sogenannte Pneumonia alba nennen, die wir bereits zweimal beobachtet haben. Letztere beruht auf einer krankhaften Wucherung des Alveolarepithels mit fettiger Metamorphose desselben, findet sich vorzugsweise, aber nicht ausschliesslich, bei Syphilitischen[484] und ist auch deshalb bemerkenswerth, weil einestheils die weissgelbliche Farbe solcher Lungen, anderseits die gleichmässige Füllung der Alveolen mit verfetteten Epithelien einen Luftgehalt derselben vortäuschen können. In zwei Fällen fanden wir hochgradige Hyperplasie des interstitiellen Zellgewebes, einmal combinirt mit partiellem Situs perversus viscerum (Leber median, Magen rechts, keine Milz), das anderemal mit hochgradigem Hautödem, Hydrothorax, Glottisödem und Lebercirrhose. Beide Kinder waren lebend geboren worden, starben jedoch sofort. Im ersten Falle fand sich sehr spärlicher Luftgehalt in den nicht schwimmfähigen [S. 756]Lungen, im zweiten Luftleere der Lungen, aber Luftblasen im Magen. In beiden Fällen handelte es sich wahrscheinlich um Syphilis. Verhältnissmässig häufiger finden sich in den Lungen Gummaknoten. Auch ausserhalb der Lungen bestehende Zustände können die Aspiration von Luft dadurch verhindern, dass sie eine Ausdehnung der Lungen nicht gestatten. Von einer manchmal vorkommenden auffallenden Vergrösserung des Thymus als Respirationshinderniss wird in der älteren Literatur viel gesprochen (Asthma thymicum), unseren Erfahrungen zufolge scheint jedoch eine solche Vergrösserung zu den grössten Seltenheiten zu gehören, da uns trotz der so hohen Zahl von Neugeborenen und Säuglingen, die wir zu obduciren Gelegenheit hatten, niemals eine so ungewöhnliche Vergrösserung dieses Organes vorkam. Dagegen kann ein angeborener Kropf ein Athmungshinderniss bilden, wie wir wiederholt gesehen haben. Von anderen Processen ist der angeborene Zwerchfellbruch und die angeborene Cystenniere zu nennen. Ersterer geht häufig mit verkümmerter Entwicklung der Lungen einher, kann aber auch, indem bei dem ersten Inspirationsversuche die Baucheingeweide in den Thorax gedrängt werden, die Aspiration der Luft verhindern. Ueber einen solchen Fall haben wir in der Vierteljahrschr. f. gerichtl Med., XIX, 429, berichtet. Die angeborene Cystenniere ist ein ziemlich häufiger Befund, und sie kann eine solche Grösse erreichen, dass sie nicht blos ein Respirations-, sondern sogar ein Geburtshinderniss zu bilden vermag.[485]
Die genannten Processe bilden im Allgemeinen keine Schwierigkeiten für die Diagnose. Ungleich wichtiger in forensischer Beziehung ist die Thatsache, dass die Aspiration der Luft nach erfolgter Geburt durch von aussen, sowohl zufällig, als absichtlich einwirkende Einflüsse verhindert werden kann. So, wenn das Kind sofort nach seiner Geburt in Flüssigkeiten geräth (Geburt im Bade, über mit Flüssigkeiten gefüllten Gefässen, Ertrinken im Fruchtwasser), oder wenn die Geburt unter Umhüllungen (Betten, Decken, Kleidern) erfolgt, die den Zutritt der atmosphärischen Luft nicht gestatten, ebenso wenn sofort nach Durchtritt des Kindskopfes die Respirationsöffnungen absichtlich verschlossen, der Hals zugeschnürt oder auf andere Weise die Respiration unmöglich gemacht werden würde. Einzelne dieser Vorgänge, worunter namentlich die erstgenannten, kommen verhältnissmässig häufig vor und es ist kein Zweifel, dass es sich keineswegs immer oder auch nur häufig um Zufälligkeiten, sondern mitunter um raffinirte Tödtungen Neugeborener handelt, und dass viele Fälle von angeblicher Sturzgeburt und das häufig vorgeschützte Gebären im bewusstlosen Zustande unter Decken etc. auf berechnete Handlungen hinauslaufen, wenn es auch in der Regel unmöglich ist, solche von blossen Zufälligkeiten zu unterscheiden.
Bei der Beurtheilung der erwähnten Vorkommnisse muss die grosse Resistenzfähigkeit berücksichtigt werden, welche Neugeborene[S. 757] gegen asphyxirende Einflüsse zu äussern vermögen. Für diese Thatsache sprechen sowohl Beobachtungen an Thieren, als solche bei menschlichen Neugeborenen. In erster Beziehung sind die Versuche von Legallois, Brown-Séquard und die neueren von Bert (vide unsere Zusammenstellung in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XIX, 246) bemerkenswerth, welche gelehrt haben, dass neugeborene Thiere 28–36 Minuten unter Wasser leben oder die Entfernung der Medulla oblongata überleben können, während erwachsene schon nach 3 Minuten sterben, wobei constatirt wurde, dass diese Resistenzfähigkeit von der Geburt an allmälig abnimmt, aber erst in 14 Tagen jener der erwachsenen Thiere gleichkommt. In letzterer Beziehung ist zu erwähnen, dass der Herzschlag bei asphyctischen Kindern mitunter noch überraschend lange Zeit persistirt, obgleich es nicht gelingt, die Kinder zum Leben zurückzubringen. Fälle, wo das Herz ½–¾ Stunde weiterschlägt, sind häufige Beobachtungen, wir haben diese Erscheinung in einem Falle noch durch 2 Stunden, bei einigen neugeborenen Thieren noch durch 5 Stunden (Wiener med. Presse. 1878, Nr. 10) verfolgen können. Maschka beschreibt sogar einen Fall, in welchem bei einem als todt beiseite gelegten neugeborenen Kinde noch nach 20 Stunden der Herzschlag durch Auscultation wahrgenommen wurde; ebenso sah Fili (Schmidt’s Jahrb. 1874, pag. 9) das Herz eines 17·5 Cm. langen Embryo noch nach 15 Stunden und Rawitz (Med. Centralbl. 1880, pag. 462) das eines 8 Cm. langen noch nach 4 Stunden fortpulsiren. Ferner gehören hierher die merkwürdigen Fälle, in denen Neugeborene unter den für die Respiration ungünstigsten Verhältnissen lebend sich erhielten. So berichtet Bohn von zwei Fällen, in denen Kinder, die gleich nach der Geburt verscharrt wurden, nach mehreren (7) Stunden noch lebend ausgegraben worden sind. Ein gleicher Fall, in welchem das Kind 8 Stunden lang 25 Cm. unter der Erde vergraben war, wird von Bardinet, und ein anderer, der ein 1 Schuh tief durch 5 Stunden vergraben gewesenes Kind betrifft, von Maschka beschrieben.
Die Ursache dieser Resistenzfähigkeit ist noch nicht aufgeklärt. Offenbar ist das Sauerstoffbedürfniss in der ersten Zeit nach der Geburt kein so grosses, wie in späterer Zeit, und dies stimmt auch mit der Beobachtung von Schwartz und Pflüger überein, dass die Sauerstoffaufnahme durch die Placenta eine so geringe ist, dass sie nicht einmal einen Farbenunterschied in dem Nabelvenenblut bedingt. Wahrscheinlich verhalten sich aber auch die einzelnen Organe des Neugeborenen, namentlich die centralen Nervenapparate, in vielen Beziehungen anders, als wir dies bei Erwachsenen constatiren können. Wenigstens lässt die noch auffallend weiche und wegen des grossen Wassergehaltes fast zerfliessliche Beschaffenheit des Gehirns und Rückenmarks, sowie die noch nicht eingetretene Scheidung zwischen weisser und grauer Substanz erwarten, dass diese Organe in ihrer Erregbarkeit sich anders verhalten werden, als in späteren Stadien ihrer Ausbildung. Thatsächlich hat O. Soltmann bei seinen interessanten Versuchen (Med. Centralbl. 1875, Nr. 14, 1876, Nr. 23, 1877, Nr. 26, 1878, [S. 758]Nr. 19) gefunden, dass Neugeborene (Hunde) auf Reize, und zwar wie Westphal (ibid. 1886, Nr. 943) nachwies, besonders gegen elektrische, ungleich schwächer reagiren als Erwachsene und ebenso hat Gusserow (Arch. f. Gyn. XIII, 66) constatirt, dass eben geborene Junge von Kaninchen, Hunden etc. nach Injection von Strychnin keine Krämpfe bekommen und Dosen von O·1–0·15 ohne besondere Erscheinungen überleben. — Auch Zuntz (Pflüger’s Arch. 1888, pag. 364) nimmt eine geringere Erregbarkeit des Athmungscentrums beim Fötus an, die erst nach der Geburt von Tag zu Tag sich steigert.
Ad 3. Die Frage, ob Lungen, die durch Athmen lufthältig geworden waren, wieder luftleer werden können, ist vielfach discutirt worden. Thatsächlich ist die Zahl der in der Literatur enthaltenen Fälle von Kindern, die einige Zeit nach der Geburt lebten, deutlich respirirten und selbst schrieen und dennoch bei der Obduction luftleere oder fast luftleere Lungen zeigten, keine geringe. Zu den älteren von Zeller, Heister, Torres, Loder, Remer, Schmitt, Orfila, Bardinet, Taylor u. A. mitgetheilten Fällen sind neuere hinzugekommen, die von Hudin, Pincus, Thomas, Leyden und insbesondere von Schröder (l. c.) beobachtet worden sind. Wir müssen in dieser Beziehung zunächst jene Fälle ausscheiden, in denen lufthaltig gewesene Lungen durch nachträglich hinzugetretene pathologisch entzündliche Processe (Hepatisation) oder durch Bildung von Pleuraexsudaten u. dergl. luftleer geworden sind. Derartige Processe entfallen in der Regel bei Neugeborenen und sind auch als solche unschwer zu erkennen; überdies betreffen sie niemals die gesammten Lungen, sondern entweder nur die eine, oder blos Theile beider, mitunter allerdings in so hohem Grade, dass nur wenige Partien der Lungen, besonders die Spitzen oder Ränder, lufthaltig bleiben. Da hepatisirte Lungenpartien des in ihnen enthaltenen Exsudates wegen ungleich schwerer sind als atelectatische, so können solche Lungen im Wasser sinken, obgleich noch beträchtliche Theile derselben Luft enthalten. Ebenso müssen wir absehen von partiellen Atelectasen, die ungemein häufig bei Neugeborenen vorkommen und sich als dunkelviolette eingesunkene Stellen präsentiren, die entweder wegen schwacher oder allzu kurz dauernder Respiration oder wegen Verlegung des zuführenden Bronchialastes nicht zur Aufblähung gekommen sind; solche Atelectasen können auch grössere Lungenpartien und selbst ganze Lungenlappen betreffen und es kann nicht Wunder nehmen, dass, trotzdem nur Theile der Lunge fungirten, die Kinder einige Zeit am Leben blieben, da wir ja oben gehört haben, dass Neugeborene mit einem Minimum von Sauerstoff für einige Zeit ihr Leben zu fristen vermögen, und es ist möglich, dass vielleicht, wie Krahmer, Tamassia (Del ritorno spontaneo del polmone allo stato atelectasico. Rivista sperim. di fren. et di med. leg. VIII, pag. 185) und Pellacani (l. c.) meinen, auch blos bronchiales Athmen[S. 759] solche Kinder durch einige Zeit am Leben erhalten kann. Wir haben so hochgradig atelectatische Lungen wiederholt bei im Gebärhause geborenen und erst einige Zeit nach der Geburt gestorbenen Kindern gefunden. Die meisten Fälle betrafen unausgetragene schwächliche Kinder, einzelne aber auch solche, die alle Zeichen der Reife an sich trugen.[486] In letzteren Fällen gelang es meist, die Verstopfung der betreffenden Bronchien durch Fruchtschleim nachzuweisen. Auch interstitielle Hämorrhagien können grössere Lungenpartien luftleer machen. Schröder erklärt seine Fälle, von denen einzelne Kinder betrafen, die ruhig geathmet und kräftig geschrieen hatten, in der Art, dass er annimmt, dass bei denselben die Inspirationsfähigkeit aus inneren, nicht nachweisbaren Ursachen erlahmte, so dass bei den durch die Elasticität des Lungengewebes bewirkten Exspirationen mehr Luft ausgetrieben wurde, als durch die jedesmalige Inspiration hineinbefördert werden konnte. Diese Anschauung ist bei der grossen Elasticität der Lungen, die bei Neugeborenen verhältnissmässig kräftiger sich geltend machen kann, als wenn die Lungen schon längere Zeit in Action waren, ziemlich plausibel. Auch Ungar (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXIX, 1) ist der Meinung, dass diese Fälle nicht anders gedeutet werden können, als dass die Luft aus den Lungen während des allmäligen Erlöschens der Athembewegungen verschwunden ist, kommt aber auf Grund seiner Versuche zum Schlusse, dass es sich vorzugsweise um Absorption der Lungenluft von Seite des in den Lungen circulirenden Blutes handelt, wobei einestheils der schon von Gerlach hervorgehobene Umstand in Betracht kommt, dass in der „exspiratorischen“ Lunge die Communication zwischen Lungenbläschen und Bronchien aufgehoben ist, und anderseits die Schnelligkeit, mit welcher sich die Luft aus abgesperrten Lungenpartien durch Absorption verliert.
Dass, wie Krahmer meint, Fäulnissgase in den Pleurasäcken sich anhäufen und durch ihren Druck die Lungen luftleer machen können, wird wohl nur ganz ausnahmsweise vorkommen. Dagegen sind die so häufigen blutig-serösen Transsudate, die im Verlaufe der Fäulniss in die Pleurasäcke erfolgen, im Stande, unter günstigen Bedingungen, z. B. wenn die Leiche im Wasser liegt, die Luft aus den Lungen auszutreiben, da dieselben nur auf Kosten des Lungenvolumens sich bilden können und die Menge des Transsudates im verkehrten Verhältniss stehen muss zum Luftgehalt der betreffenden Lunge. Dass ein solcher Vorgang thatsächlich stattfindet, davon haben wir uns durch Versuche überzeugt (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XIX, 261). Werden exenterirte Lungen in frisches fliessendes Wasser gelegt und darin belassen, so sinken dieselben nach einigen (3–8) Tagen unter. Diese Thatsache wäre zu berücksichtigen, wenn eine zerstückelte oder eine solche Kindesleiche im Wasser gefunden würde, [S. 760]bei welcher in Folge von Wunden dem Wasser der Eintritt in den Thorax gestattet war. (Aehnliche Beobachtungen bringt Giovanardi, Riv. sper. di med. legale. 1877, pag. 738, und auch der von Eberty, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, XLIII, 241, mitgetheilte Fall ist wohl nur auf diese Weise zu deuten.) Badstübner („Ueber Verschwinden der Luft aus den Lungen Neugeborener.“ Berliner Diss. 1893) hat bei Strassmann dieses Verhalten verfolgt und gefunden, dass nur in fliessendem Wasser bei eröffnetem Thorax sich die Lungen mit Wasser vollsaugen und untersinken, aber, wie auch Giovanardi angab, nach dem Trocknen wieder schwimmen. Was an der Luft liegende Lungen Neugeborener anbelangt, so hat Pellacani (l. c.) gefunden, dass dieselben, auch wenn sie vor dem Eintrocknen geschützt werden, nur in den peripheren Partien luftleer werden, und zwar desto langsamer, je vollständiger sie gebläht waren. Das Entweichen der Luft geschieht, wie Pellacani durch einen Versuch mit dem Pneumo-Plethismograph sich überzeugte, durch Diffusion und die so entstehende periphere Atelectasie verhindert das Luftleerwerden der centralen Partien. De Arcangelis aber (Giornale di medic. legale, 1894, I, pag. 22) dagegen fand, dass Lungen nicht ausgetragener Hunde in der feuchten Kammer nach 5–11 Tagen, ohne zu faulen, ihre Schwimmfähigkeit verloren, wie er meint, theils durch die eigene Elasticität, theils durch vermehrten interalveolaren Druck. Unserer Meinung nach kann die eigene Elasticität der Lunge das Verschwinden der Luft durch Diffusion etc. befördern, desto mehr, je weniger die Lunge gebläht war und je grösser die Elasticität der concreten Lunge gewesen ist. Dass in dieser Richtung individuelle Unterschiede bestehen, ist kaum zu bezweifeln. Namentlich in den bereits oben (pag. 755) erwähnten Fällen von stärkerer Entwicklung des interstitiellen Lungengewebes ist die Elasticität eine ungleich grössere als sonst und kann einestheils ein Respirationshinderniss bilden, anderseits das nachträgliche Entweichen der Luft befördern. Wir haben sogar bei einem 6monatlichen Kinde, welches eine Stunde gelebt und gewimmert hatte und luftleere, in der erwähnten Weise verdichtete Lungen zeigte, gesehen, wie letztere, nachdem sie mässig aufgeblasen worden waren, unter unseren Augen sofort sich contrahirten und wieder im Wasser untersanken, als mit der Insufflation ausgesetzt wurde. Endlich muss noch erwähnt werden, dass lufthaltige Lungen unter gleichzeitiger Schrumpfung auch durch Kochen und durch Flammenhitze[487], sowie durch Einlegen in Alkohol oder andere coagulirende Flüssigkeiten luftleer werden, worauf vorkommenden Falles Rücksicht genommen werden müsste.
Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass wir nicht mit gleicher Sicherheit, wie aus dem Luftgehalte der Lungen auf stattgehabtes extrauterines Leben, aus luftleeren Lungen auf Todtgeburt schliessen[S. 761] können, ja dass wir eigentlich nur bei macerirt geborenen Kindern berechtigt sind, mit absoluter Bestimmtheit zu erklären, dass das Kind bereits vollkommen todt zur Welt gekommen sei. Selbst wenn wir ausgesprochene Zeichen „fötaler Erstickung“, wie wir sie unten kennen lernen werden, finden, können wir nicht bestimmt behaupten, dass das betreffende Kind, als es geboren wurde, bereits vollkommen todt war, da es blos scheintodt gewesen sein konnte. Dagegen wären wir in dem Falle, wenn die Lungen zwar luftleer, aber in ihnen fremde Substanzen, wie Spülicht, Abtrittsinhalt etc., und zwar in solcher Weise sich fänden, dass sie nur extrauterin aspirirt worden sein konnten, in der Lage, uns trotz des negativen Ausfalles der Lungenschwimmprobe dahin auszusprechen, dass das Kind lebend geboren worden sei. Ebenso dann, wenn wir bei einem noch nicht faulen Kinde zwar keine Luft in den Lungen, wohl aber diese im Magen, oder in diesem und den obersten Darmschlingen finden würden, worauf wir noch zurückkommen werden, endlich wenn sich offenbar extrauterin entstandene Verletzungen mit deutlichen Zeichen vitaler Reaction finden würden. Ergeben sich keine Befunde solcher Art, so ist zwar die Todtgeburt wahrscheinlich, aber nicht gewiss, welcher Thatsache wir dadurch Rechnung tragen werden, dass wir in einem solchen Falle, wie dies Casper vorschlug, unser Gutachten in vorsichtiger Weise dahin abgeben: dass der Sectionsbefund, insbesondere der in den Lungen, keinen Anhaltspunkt geboten habe, aus welchem auf ein Leben nach der Geburt geschlossen werden könnte.
Die Veränderungen des Blutgehaltes der Lungen.
Die erste Inspiration hat nicht blos die Aspiration des umgebenden Mediums zur Folge, sondern auch die Entfaltung des kleinen Kreislaufes, weshalb die Lungen nach erfolgter Athmung mehr Blut enthalten müssen, als vor derselben. Diese zweifellos richtige Thatsache bildet die Grundlage der sogenannten „Lungenblutproben“, insbesondere jener von Daniel und von Ploucquet, welche Beide von dem Satz ausgehen, dass Lungen, die respirirt haben, schwerer sein müssen als vordem. Während jedoch Daniel nur das absolute Gewicht der Lungen im Auge hatte und angab, dass dieses bei fötalen Lungen durchschnittlich 469 Gran betrage, durch die Athmung aber um 2 Unzen zunehme, verglich Ploucquet das Gewicht der Lungen mit jenem des ganzen Kindeskörpers und stellte auf Grund seiner Wägungen den Satz auf, dass sich vor der Athmung das Gewicht der Lungen zum Gewichte des ganzen Körpers verhalte wie 1 : 70, nach dem Athmen aber wie 2 : 70. Die Verwerthung der Zunahme des absoluten Gewichtes für die Frage des Gelebt- oder des Nichtgelebthabens wurde als vielfach variirend bald verlassen; der Satz Ploucquet’s jedoch galt lange als Dogma, bis er durch zahlreiche, von Schmitt,[S. 762] Lecieux (400 Kinder in der Maternité von Paris), Elsässer, Devergie und Casper unternommene Wägungen als ganz unrichtig sich erwies. Später (1868) hat Ogston in Aberdeen solche Wägungen wieder aufgenommen und gefunden, dass sich das Verhältniss des Lungengewichtes zu jenem des ganzen Körpers verhalte: bei Todtgeborenen wie 1 : 50·302, bei Lebendgeborenen wie 1 : 53·819.
Solche Wägungen haben für die Lebensfrage so gut wie gar keinen Werth, und zwar nicht blos deshalb, weil, wie von den genannten Forschern hervorgehoben wurde, sowohl das absolute, als das relative Gewicht der Lungen vielfachen individuellen Schwankungen unterliegt und auch der Fäulnissgrad in dieser Beziehung einen Einfluss ausübt, sondern vorzugsweise aus dem Grunde, weil die meisten der todtgeborenen Kinder keine fötalen Lungen mehr besitzen, sondern solche, die durch vorzeitige Athembewegungen verändert worden sind, und weil gerade diese sehr blutreich sich erweisen, da bei den vorzeitigen Athembewegungen entweder gar kein oder nur ein zähes Medium in die Lungen eindringt, daher die Aufgabe, den durch die Thoraxerweiterung sich bilden wollenden Raum auszufüllen, vorzugsweise oder ausschliesslich dem Blute zukommt, weshalb auch solche Lungen dunkel von Farbe, etwas vergrössert und schwer erscheinen. Es kann daher nicht überraschen, wenn bei Wägungen nicht selten sowohl das absolute, als das relative Gewicht der Lungen bei todtgeborenen Kindern grösser gefunden wird, als durchschnittlich bei Kindern, die gelebt und Luft geathmet hatten.
Aus denselben Gründen erscheint auch die von Zaleski (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1888, XLVIII) angegebene „Eisenlungenprobe“ nicht verwerthbar, welche darauf beruht, dass Lungen, welche geathmet haben, mehr Blut und daher auch mehr Eisen enthalten müssen, als solche, die nicht zur Athmung gekommen waren. Zu diesem Urtheil ist sowohl Blumenstok (Internat. klin. Rundschau. 1888, Nr. 2) aus theoretischer Erwägung, als Jolin und Key-Aberg (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, LI, pag. 343) auf Grund positiver Untersuchungen gelangt.
Da, wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, das Verhalten der Lungen nicht unter allen Umständen darüber Aufschluss gibt, ob ein Kind lebend geboren wurde oder nicht, war man bemüht, in anderen Organen nach Anhaltspunkten für die Beantwortung dieser Frage zu suchen. Einigen Werth glaubte man in dieser Beziehung auf die erfolgte oder nicht erfolgte Entleerung von Harn und Meconium legen zu sollen, da die Erfahrung lehrt, dass Kinder in der Regel sofort, wie sie zur Welt kommen, jene Stoffe zu entleeren pflegen. Dieser Werth wird bedeutend eingeschränkt durch die Thatsache, dass sich nicht selten die Entleerung von Harn und noch mehr jene [S. 763]von Meconium verzögert, vorzugsweise aber durch den Umstand, dass die Kinder, welche während des Geburtsactes suffocatorisch sterben, während der Suffocation Harn und Meconium entleeren, wie ja bekanntlich der Abgang von Meconium während des Geburtsactes ein wichtiges Zeichen ist, dass sich das Kind in Lebensgefahr befindet. Daher ist es gar nichts Ungewöhnliches, gerade bei todtgeborenen Kindern die Blase vollkommen entleert und den Dickdarm theilweise oder ganz frei von Meconium zu finden.
Die sogenannte „Leberblutprobe“ von Schäffer, welche die Verminderung des Blutgehaltes und daher auch des Gewichtes der Leber nach erfolgter extrauteriner Athmung, respective Abnabelung zur Grundlage hatte, besitzt nur noch einen historischen Werth. Die im fötalen Zustande senkrechte Stellung des Magens ändert sich keineswegs, wie man glaubte, sofort nach der Geburt durch das Herabsteigen des Zwerchfells, sondern geht erst nachträglich und allmälig in die horizontale über. Das Verhalten der sogenannten fötalen Wege (Nabelgefässe, Foramen ovale und Ductus Botalli) ändert sich ebenfalls erst nachträglich, worauf wir noch zurückkommen werden. Darüber, ob ein neugeborenes Kind lebend oder todt zur Welt gekommen ist, geben sie keinen Aufschluss. Dem sogenannten Harnsäureinfarct in den Nieren, auf dessen Vorkommen zuerst Cless aufmerksam machte, und von welchem Schlossberger behauptete, dass er nur bei Kindern, die nach der Geburt gelebt haben, vorkomme, kommt eine Bedeutung als Lebensprobe nicht zu. Man bezeichnet als Harnsäureinfarct eine Anfüllung der Bellini’schen Röhrchen in den Nierenpyramiden mit orangerothem Harnsäuresediment, wodurch dieselben auf dem Durchschnitte wie geflammt erscheinen. Dieses Sediment findet sich dann in der Regel gleichzeitig in dem in der Harnblase enthaltenen Harn. Der Erscheinung liegt eine pathologische Vermehrung der Harnsäure bei fieberhaften Processen zu Grunde, welche nach Abfall des Fiebers und vielleicht zum grössten Theil postmortal aus dem ausgekühlten Harn ausfällt. Bei einem todtgeborenen Kinde haben wir noch niemals den Harnsäureinfarct gesehen, doch wurde derselbe wiederholt von Anderen beobachtet. (Vide Casper-Liman, l. c. II, 909; Birch-Hirschfeld, Lehrbuch d. path. Anat. 1877, pag. 1034, ebenso mündlicher Mittheilung zufolge einmal von Heschl und einmal 1887 von A. Paltauf bei einem Kinde, dessen Mutter gefiebert hatte.) Derselbe kommt zwar ungleich häufiger bei Kindern vor, die schon einige Tage gelebt haben, wir haben ihn jedoch schon bei einem Kinde gefunden, das 23 Stunden nach der Geburt an Erstickung während eines Brechactes gestorben war. Ausserdem fanden wir einmal bei einem 3950 Grm. schweren und 57 Cm. langen Kinde, welches nach 13stündiger Wehendauer spontan geboren wurde und 15 Minuten post partum starb und bei der Section nur partiell lufthaltige Lungen zeigte; die Nieren waren sehr blutreich und die eine obere Pyramide der linken durch in den Harncanälchen enthaltenes Harnsäuresediment orangeroth gestreift.
[S. 764]
Von ungleich höherem Werth als die genannten „Lebensproben“ ist die Breslau’sche Magendarm-Schwimmprobe. Sie beruht auf der lange übersehenen Thatsache, dass Magen und Darm der noch ungeborenen Frucht ebenso luftleer sind wie die Lunge, und dass erst nach der Geburt, gleichzeitig mit dem Beginn der selbstständigen Athmung, Luft auch in den Magen und in die obersten Darmschlingen gelangt und später von da aus durch den ganzen Darm sich verbreitet. Ob die ersten Luftblasen in den Magen durch Schlingbeschwerden gelangen oder aspirirt werden, ist noch nicht entschieden. Breslau, dem das Verdienst zufällt, 1866 zuerst auf diese Thatsache aufmerksam gemacht zu haben, hat vorgeschlagen, den Magen und Darmcanal ebenso durch die Schwimmprobe auf ihre Lufthaltigkeit zu prüfen, wie die Lungen, und sprach sich auf Grund seiner Beobachtungen dahin aus, dass dieser Magendarm-Schwimmprobe ein gleicher Werth als Lebensprobe zukomme, wie jener, die seit Langem mit den Lungen vorgenommen wird. Auch will er gefunden haben, dass der Grad des Luftgehaltes des Magens und des Darmes einen Schluss gestatte auf die Energie, mit welcher, und die Zeit, wie lange ein Kind nach der Geburt Luft geathmet habe, und stellte schliesslich die Behauptung auf, dass durch Fäulniss allein die genannten Organe nicht lufthaltig, beziehungsweise schwimmfähig werden, weshalb die Darmschwimmprobe auch bei faulen Kindesleichen verwerthet werden könne.
Eine grosse Reihe von Beobachtungen, die wir in dieser Richtung anstellten, hat uns zunächst die Richtigkeit des ersten der Breslau’schen Sätze bestätigt, dass in der Regel schon mit den ersten extrauterinen Athembewegungen Luft in den Magen gelange, und denselben schwimmfähig mache, weshalb wir dieser Thatsache einen hohen diagnostischen Werth zuschreiben müssen. Der Umstand, dass in vereinzelten Fällen auch bei Kindern, die nach der Geburt gelebt und Luft geathmet hatten, Magen und Darm luftleer gefunden wurden, ist nicht geeignet, den Werth der Breslau’schen Probe wesentlich zu vermindern, da wir ja auch in dem Verhalten der Lungen Ausnahmen begegnen, ohne deshalb den Werth der Lungenschwimmprobe zu unterschätzen. Unter Anderem ist es klar, dass Magen und Darm trotz stattgehabten extrauterinen Lebens dann luftleer bleiben werden, wenn durch irgend eine der oben erwähnten Ursachen der Zutritt der Luft zu den Respirationsöffnungen unmöglich war. Dagegen kann, und das ist eine besonders werthvolle Seite der Magendarm-Schwimmprobe, Luft in den Verdauungstractus auch dann gelangen, wenn eine Aspiration derselben in die Lungen wegen Muskelschwäche oder Verstopfung des Kehlkopfes oder der Trachea nicht möglich war, und wir haben aus mehrfachen Beobachtungen die Ueberzeugung gewonnen, dass gerade in solchen Fällen mehr Luft in den Magen und in den Darm gelangt, als bei unbehinderter Respiration. Wir haben in einzelnen Fällen, in welchen die Lungen wegen Lebensschwäche[S. 765] oder Verstopfung der Bronchien fast vollkommen atelectatisch blieben, den Magen und den ganzen Dünndarm luftgebläht gefunden, obgleich die Frucht wenige Augenblicke nach der Entbindung gestorben war, während bei Kindern, die, ohne dass die Lungenrespiration behindert war, gleich nach der Geburt starben, in der Regel nur im Magen und im Zwölffingerdarm, höchstens im Anfangsstücke des Jejunum und nur sehr selten tiefer herab Luft gefunden wird. Lebhafte Schluck- und Aspirationsbewegungen, sowie die vermehrte, noch nach dem Tode einige Augenblicke andauernde Darmperistaltik sind wohl die Ursache obiger Erscheinung, woraus sich auch erklärt, warum man bei sofort nach der Geburt in Abortsstoffen u. dergl. ertrunkenen Kindern die Ertränkungsflüssigkeit mitunter weit in den Dünndarm, sogar bis in’s untere Ileum hinein verfolgen kann (vide Fagerlund, l. c.). Maschka (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLV, 242) konnte bei einem lebend vergrabenen Neugeborenen Erde im Magen und auf weite Strecken im Dünndarm nachweisen und auch eine von Winter (l. c.) gemachte Beobachtung gehört hierher, die ein vor der Wendung nach dem Blasensprunge abgestorbenes ausgetragenes, Kind betraf, bei welchem die Trachea meconiumhältigen Schleim, die Lungen fast keine, der Magen aber und der Dünndarm bis kurz vor dem Colon viel Luft enthielten. Es geht daraus hervor, dass der zweite von Breslau aufgestellte Satz, dass der Luftgehalt des Magens und Darmcanals gleichen Schritt halte mit der Intensität der Luftathmung und der Dauer derselben, nicht so richtig ist wie der erste, und dass insbesondere wenn man den Grad der Luftfüllung des Verdauungstractus für Bestimmungen der Zeit, wie lange das Kind gelebt haben konnte, verwerthen wollte, jedesmal auch darauf Rücksicht genommen werden müsste, ob die Lungenrespiration frei oder behindert gewesen ist.
Der dritte Satz Breslau’s, dass ein luftleer gewesener Verdauungstractus auch bei vorgeschrittener Fäulniss luftleer bleibe, ist entschieden unrichtig. Wir haben zwar wiederholt bei todtgeborenen Kindern, die wir faulen liessen, Magen und Darm luftleer gefunden, konnten jedoch in den meisten Fällen die Entwicklung von Gasblasen nicht blos unter der Magen- und Darmschleimhaut, sondern im Lumen selbst beobachten und natürlich auch die Schwimmfähigkeit dieser Organe constatiren. Auch sahen wir wiederholt den Dickdarm schwimmen und das enthaltene Meconium mit Gasblasen durchsetzt, wie dies auch Falk (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XLII, 281) beobachtete. Es scheint auch, dass die Fruchtwässer rasch der Fäulniss unterliegen, und wenn sie geschluckt wurden bei todtgeborenen Kindern Fäulnissgase im Magen entwickeln und diesen aufblähen können. So erklären sich die von Mittenzweig und Strassmann (Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 6) beobachteten Fälle, in welchen bei in unverletzten Eihäuten geborenen und in diesen eine kurze Zeit liegen gelassenen Früchten Luft im Magen gefunden wurde. Auch[S. 766] im Uterus kann sich durch Fäulniss Luft entwickeln (Tympania uteri) und geschluckt werden, wie Winter einen solchen Fall mittheilt.
Dem Gesagten zufolge müssen wir in der Magendarm-Schwimmprobe ein werthvolles Mittel sehen zur Beantwortung der Frage, ob ein Kind nach der Geburt gelebt habe oder nicht, namentlich ein solches, welches die Lungenprobe, wenn auch nicht zu ersetzen, wohl aber zu unterstützen und zu ergänzen vermag. Die Vornahme dieser Probe ist daher niemals zu unterlassen, und geschieht in der Weise, dass man den Magen am Pylorus und an der Cardia unterbindet und ebenso wie die Darmschlingen herausnimmt und auf’s Wasser legt. Man kann dann sehr genau beobachten, ob und bis auf welche Strecke der Verdauungstractus Luft enthält.
Zu denselben Schlüssen sind E. Ungar (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVI, 62 und XLVIII, pag. 234) und Nikitin („Die zweite Lebensprobe.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag. 44) gelangt. Nach Ungar’s eingehenden Untersuchungen gelangt die Luft vorzugsweise durch Schluckbewegungen oder durch Combination dieser mit Athembewegungen in den Magen und ist schon im letzteren wenige Minuten nach der Geburt durch Percussion nachweisbar. Kehrer vermochte dieses schon nach dem ersten Athemzuge, was Ungar nicht bestätigen konnte. Auch fand er bei durch Sectio caesarea entwickelten und nach 4–7 Athemzügen getödteten Thierföten den Magen in der Regel noch luftleer. Anderseits ergaben sich ihm bei Föten Magen und ein Theil des Magens als lufthältig, nachdem die früher lufthältig gewesenen Lungen durch künstlichen Pneumothorax oder allmälige Ausschaltung der Athembewegungen wieder atelectatisch geworden waren (s. pag. 744). Einen analogen Fall beim menschlichen Neugeborenen hat Ermann (Virchow’s Archiv. LXVI, pag. 395) und einen anderen Winter (l. c. 7. Fall) beobachtet. Auch können, wie Ungar bemerkt und wie uns zahlreiche Beobachtungen bestätigen können, Neugeborene, welche wegen Unreife oder Lebensschwäche ihre Lungen nicht zu entfalten vermögen, dennoch Luft in ihren Magen hineinbringen. Auch bei „fötaler Erstickung“ kann, wenn zu dieser Zeit Luft vor den Respirationsöffnungen steht, diese durch vorzeitige Schluckbewegungen ebenso in den Magen gelangen wie durch vorzeitige Athembewegungen in die Lungen (pag. 764). Doch hat dies nur bei Entbindungen eine Bedeutung, bei welchen operirt oder wenigstens untersucht wurde. Winter (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1889, LI, pag. 101), Maschka (Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr. 30) und Pellacani (Virchow’s Jahrb. 1889, I) bringen solche Fälle. Auch durch Schultze’sche Schwingungen kann Luft in den Magen gebracht werden, wie wir, Winter (l. c.) und Haun („Ueber die Magen- und Darmschwimmprobe.“ Berl. Diss. 1889) gefunden haben, während dies nach Pellacani (l. c.) mit der Pacini’schen Methode nicht gelang. Durch die Peristaltik kann die Luft aus Magen und Darm nach abwärts getrieben werden; dass sie auch durch Aufsaugung verschwinden kann, geben [S. 767]sowohl Falk (l. c.) als Ungar zu, doch könnte dieses, unserer Meinung nach, nur von kleineren Luftmengen zugegeben werden.
Schliesslich ist noch die Wendt-Wreden’sche Paukenhöhlenprobe zu erwähnen. Nachdem zuerst Wreden (1868) darauf aufmerksam gemacht hatte, dass das fötale Schleimgewebe (fötale Sulze, Schleimhautpolster), welches, wie schon Tröltsch (1858) nachwies, die Paukenhöhle des Fötus vollkommen ausfüllt, schon in den ersten Stunden nach der Geburt sich rückbilde, wodurch die Paukenhöhle erst ein Lumen erhalte, trat Wendt[488] mit der Behauptung auf, dass die Verkleinerung des gallertigen Schleimhautpolsters und damit die Bildung eines Lumens in der Paukenhöhle sofort mit dem Eintritt kräftiger Athembewegungen erfolge, indem das aspirirte Medium gleichzeitig in die Paukenhöhle dringe und das Schleimhautpolster verdränge.
Durch die Arbeiten von Lesser (l. c.) und Hněvkovský[489], insbesondere durch letztere, ist die Ohrenprobenfrage endgiltig, und zwar zu ihrem Ungunsten, erledigt worden.
Aus letzterer, welche in unserem Institute ausgeführt wurde, ergibt sich Folgendes: Die embryonale Paukenhöhle ist thatsächlich von einem aus sogenanntem Virchow’schen Schleimgewebe bestehenden „Schleimhautpolster“ ausgefüllt. Dasselbe schwindet jedoch in der Regel frühzeitig (im 5.-7. Monat), indem es sich allmälig zur Paukenschleimhaut umbildet, wodurch ebenso allmälig die Paukenhöhle ein Lumen erhält, das theils durch von der Schleimhaut stammende Flüssigkeit, theils durch von der Tuba aus mechanisch oder bei den Schlingbewegungen des Fötus eindringende Fruchtwässer ausgefüllt wird. Nur ausnahmsweise erhält sich das Schleimhautpolster bis in die letzten Monate der Schwangerschaft. Auch in diesem Falle schwindet dasselbe und erfolgt die Bildung eines Paukenlumens nur allmälig, keineswegs aber schon mit den ersten Respirationsbewegungen und durch das Eindringen des Respirationsmediums, da das „Paukenhöhlenpolster“ seiner Structur wegen eine rasche Verdrängung desselben gar nicht gestattet, sondern, wie die directe Beobachtung erkennen lässt, eine nicht unbeträchtliche Resistenzfähigkeit zeigt. Ist das Lumen der Paukenhöhle, wie gewöhnlich, bereits gebildet, so kann das umgebende Medium allerdings in die Paukenhöhle eindringen; dies kann [S. 768]aber ebenso gut wie durch Respirations- oder Schlingbewegungen auch erst nach dem Tode mechanisch durch Diffusion der betreffenden Flüssigkeiten oder durch capillare Thätigkeit geschehen, da, wie Hněvkovský durch zahlreiche Versuche nachwies, auch wenn Leichen in Flüssigkeiten gelegt werden, letztere in die Paukenhöhle eindringen, was nicht blos von klaren, sondern auch von corpusculäre Elemente enthaltenden Flüssigkeiten gilt (vide pag. 579). Insbesondere durch letzteren Nachweis wird die sogenannte Paukenhöhlenprobe für die Diagnose des Gelebthabens, respective auch für die des Ertrinkungstodes, nahezu bedeutungslos.
Die Nothwendigkeit einer speciellen Beantwortung dieser Frage erhellt aus dem Begriffe des Kindesmordes. Da nämlich das Strafgesetz die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter nur dann als Kindesmord betrachtet und milder bestraft, wenn dieselbe bei, respective in (während) oder gleich nach der Geburt erfolgte, so ergibt sich daraus, dass die Tödtung als gewöhnlicher Mord behandelt wird, wenn sie erst einige Zeit nach der Geburt vorgenommen worden ist.
Die Zeit nach der Geburt, bis zu welcher die Tödtung eines Kindes durch die Mutter noch als Kindesmord behandelt wird, ist im Gesetze nirgends fixirt; es ergibt sich jedoch aus dem Umstande, dass, wie bereits oben erwähnt wurde, vorzugsweise die abnorme somatische und psychische Aufregung, in der sich eine Gebärende befindet, den Grund bildet, warum unser Strafgesetz dem Kindesmord eine mildere Auffassung zu Theil werden lässt, dass vom Kindesmord nur so lange die Rede sein sollte, als jener Zustand abnormer Aufregung besteht, wegen dessen das Gesetz eine mildere Auffassung der Tödtung platzgreifen lässt. Dass sich in dieser Beziehung eine bestimmte Frist nicht fixiren lässt, liegt in der Natur der Sache, und daher kommt es, dass die von älteren Gesetzbüchern aufgestellte Frist, binnen welcher die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter noch als Kindesmord qualificirt werden sollte, sehr verschieden ausgefallen ist. So betrug dieselbe nach dem bayerischen St.-G. 3 Tage, nach jenem für Sachsen, Württemberg, Braunschweig und Baden 24 Stunden. Das gegenwärtige österreichische St.-G. sowohl, als der St.-G.-Entw. und das deutsche St.-G. haben eine präcise Fristbestimmung nicht für nothwendig erachtet, doch unterliegt es keinem Zweifel, dass trotz des Ausdruckes „gleich nach der Geburt“, der sich offenbar nur auf die Zeit unmittelbar nach der Entbindung bezieht, dennoch die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter auch dann als Kindesmord behandelt werden würde, wenn dieselbe erst nachträglich, aber noch unter dem Einflusse des durch den Gebäract gesetzten somatischen und psychischen abnormen Zustandes, begangen worden wäre. Erfahrungsgemäss kommt aber eine nachträgliche Tödtung des Kindes nur ganz ausnahmsweise vor und wäre ein solcher Fall ganz concret zu beurtheilen.
[S. 769]
Eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 7. Juni 1854 erklärte aus Anlass eines derartigen Vorkommnisses für wünschenswerth, dass in jedem solchen zweifelhaften Falle sachverständige Aerzte befragt werden sollen, ob bei den vorwaltenden Verhältnissen nach medicinisch-psychologischen Grundsätzen anzunehmen sei, dass die Beschuldigte zur Zeit der That sich noch in jenem abnormen Zustande befunden habe, den das Gesetz bei Begehung eines Kindesmordes voraussetzt (Herbst, Commentar, pag. 300). Ein Fall, in welchem eine, erst eine Stunde nach der Entbindung begangene Tödtung des Kindes vom Oberlandesgericht doch noch als Kindesmord qualificirt wurde, wird in Nr. 15 der „Gerichtshalle“ vom Jahre 1873 mitgetheilt.
Im Allgemeinen werden wir zugeben müssen, dass die durch den Geburtsact gesetzte psychische Aufregung in der Regel noch mehrere Stunden nach der Geburt das Handeln der Entbundenen beeinflussen kann. Für die spätere Zeit könnte dies nur ausnahmsweise zugegeben werden und es wäre eine solche Ausnahme durch die concreten Verhältnisse des Falles zu motiviren. Bei der Beurtheilung solcher Fälle ist im Auge zu behalten, dass die Gemüthsaufregung, wegen welcher das Gesetz den Kindesmord milder behandelt als den gewöhnlichen Mord, von dem Gesetzgeber als ein bei Gebärenden, namentlich bei heimlich Gebärenden, gewissermassen de norma bestehender Zustand aufgefasst wird, dessen Dauer eine variable ist, dass aber darunter nicht Einflüsse gemeint sind, die pathologisch die freie Selbstbestimmungsfähigkeit einer eben Entbundenen oder einer Wöchnerin beeinträchtigen oder aufheben können, weshalb letztere, wenn sie vorhanden wären, speciell beurtheilt und als psychopathische Zustände im engeren Sinne behandelt werden müssten.
Ein Kind, das soeben zur Welt gekommen ist, nennt man ein neugeborenes und den Zustand desselben, den des Neugeborenseins. Bei Untersuchung von Kindesleichen wegen Verdacht auf Kindesmord handelt es sich eben darum, ob dieselben die Kennzeichen des genannten Zustandes bieten oder nicht. Zu diesem Behufe ist sowohl das äussere als das innere Verhalten der Leiche in Betracht zu ziehen.
Von den äusseren Kennzeichen des Neugeborenseins hat die Verunreinigung der Leichen mit Blut den geringsten Werth. Allerdings ist es sehr gewöhnlich, die Haut neugeborener Kinder mit Blut mehr oder weniger befleckt zu finden, welches theils von der Mutter, theils aus den durchtrennten Nabelgefässen, eventuell auch von der Placenta stammt. Häufig fehlt aber eine solche Besudlung, namentlich dann, wenn die Leiche in Flüssigkeiten gelegen war. Anderseits kann auch bei älteren Kindern die Haut sich besudelt zeigen, so z. B. in Folge einer Nabelblutung oder in Folge von Verletzungen.
Wichtiger ist der Befund von „käsiger Schmiere“ (Vernix caseosa). Es ist dies das fettige, mit Epidermisbestandtheilen vermengte Secret der Talgdrüsen, welches vorzugsweise in den[S. 770] Gelenkbeugen, namentlich in der Achsel- und Leistengegend, mehr angehäuft zu sein pflegt, aber auch an anderen Körperstellen, besonders am Kopfe und in den Falten des Halses, sich finden kann. Die Menge der Vernix caseosa ist bei verschiedenen Kindern verschieden. Mitunter sind dieselben damit ganz überzogen, nicht selten findet sich aber keine Spur davon, so dass die Kinder wie gewaschen erscheinen. Sie besteht unter dem Mikroskop aus einer grossen Menge von Fett, aus Fettkrystallen, worunter namentlich Cholesterinkrystalle, zahlreichen Epidermiszellen und aus Wollhaaren. Flocken derselben sind massenhaft dem Fruchtwasser und dem Fruchtschleim beigemengt und lassen letztere daran erkennen, wenn sie in den Lungen oder in den Paukenhöhlen sich finden. Das Vorhandensein der käsigen Schmiere auf der Haut beweist mit ziemlicher Sicherheit den neugeborenen Zustand des betreffenden Kindes, doch ist es begreiflich, dass die Vernix tagelang sich finden kann, wenn das Kind nicht gereinigt worden ist. Uebrigens ist die käsige Schmiere als fettige Masse nicht immer so leicht wegzubringen, was auch den Grund abgibt, warum wir sie mitunter noch bei Kindern sehen können, die einige Zeit im Wasser u. dergl. gelegen waren. Längeres Liegen in Flüssigkeiten, sowie die Fäulniss kann dieses Zeichen, das, wie gesagt, auch bei entschieden neugeborenen Kindern fehlen kann, zerstören.
Die Färbung der Haut der Leichen Neugeborener geht in der Regel etwas in’s Röthliche, respective Violette, und zwar bei frühzeitigen Kindern mehr als bei ausgetragenen, doch ist diese Färbung nicht constant und wird auch durch die Todesart, sowohl bei neugeborenen als bei älteren Kindern beeinflusst. Einige (2–10) Tage nach der Geburt beginnt sich die Oberhaut abzuschilfern, entweder kleienartig oder auch in grösseren Partien. Diese Erscheinung haben wir wiederholt schon bei kaum einen Tag alten Kindern und sogar einmal bei einem todtgeborenen Kinde beobachtet und sehen darin nur eine Austrocknung und consecutive Abschuppung der früher durchfeuchtet gewesenen obersten Schichte der Epidermis, aus deren Befund allein keineswegs auf ein mehrtägiges Leben des Kindes geschlossen werden kann.
Von den äusseren Befunden sind für die vorliegende Frage am wichtigsten diejenigen, die sich am Nabel und an der Nabelschnur ergeben. Findet sich mit dem Kinde noch die ganze Nabelschnur sammt der Placenta in Verbindung, dann ist der neugeborene Zustand des Kindes schon durch diesen Befund ausser Zweifel gesetzt. Gleiches ist der Fall, wenn der am Nabel haftende Nabelschnurrest noch vollkommen frisch sich erweist. Ist dieser Rest durch Fäulniss verändert oder im Vertrocknen begriffen oder schon vollkommen mumificirt, so lässt sich aus der Beschaffenheit der Nabelschnur allein nicht entscheiden, ob das Kind ein neugeborenes ist oder nicht, da beide Veränderungen eben so gut während des Lebens als bei einem wirklich neugeborenen erst nach dem Tode erfolgt sein konnten. Bleibt das Kind am Leben,[S. 771] so beginnt allerdings die Nabelschnur in der Regel schon am anderen Tage welk zu werden und einzutrocknen und mumificirt schliesslich zu einem starren, höckerigen, rothbraunen Strang; doch ist es gar nichts Seltenes, dass auch während des Lebens die Nabelschnur fault, besonders wenn sie dick und saftig war. Die Häufigkeit des ersteren Vorganges hat ihren Grund darin, dass der Nabelschnurrest trocken gehalten und eingehüllt wird durch Stoffe, welche die in ihm enthaltene Feuchtigkeit aufsaugen. An der Leiche eines Neugeborenen fault die Schnur in der Regel, weil meistens die Bedingungen dazu günstig sind; liegt jedoch der Körper in freier Luft oder an trockenen Orten, so mumificirt sie eben so schnell und unter Umständen noch schneller als im Leben, wobei ebenso wie im letzteren Falle die Vertrocknung vom freien Ende des Nabelschnurrestes beginnt und gegen den Nabel fortschreitet.
Bleibt das Kind am Leben, so erfolgt das Abfallen der, wie erwähnt veränderten, Nabelschnur durchschnittlich um den fünften Tag. Die Abstossung geschieht de norma ohne Entzündungserscheinungen, indem vom zweiten Tage angefangen centripetal die den Nabelstrang zusammensetzenden Schichten mortificiren und vom lebenden Gewebe des Nabels sich ablösen, so dass zuletzt die Nabelschnur nur an den Gefässen hängt, die schliesslich ebenfalls sich abstossen. Gleichzeitig scheint dabei eine Verengerung des Nabelringes und das Verkürzungsbestreben der im Bauche gelegenen Nabelgefässe, namentlich der Nabelarterien, eine Rolle zu spielen, respective die Abstossung des Nabelschnurrestes zu befördern. In welcher Weise dieses Verhalten des Nabelschnurrestes für die Bestimmung der Zeit verwerthet werden kann, wie lange ein Kind nach der Geburt gelebt habe, braucht nicht besonders erörtert zu werden, doch verdient zweierlei Erwähnung. Erstens, dass innerhalb der ersten 2 Tage aus dem Nabel und Nabelstrang, wenn letzterer nicht mehr frisch ist, nicht erkannt werden kann, ob das Kind gleich nach der Geburt oder später innerhalb der genannten Frist gestorben ist, da während dieser Zeit an den genannten Organen keine charakteristischen Veränderungen geschehen: und zweitens, dass ein Fehlen des Nabelstranges auch bei zweifellos Neugeborenen vorkommen kann, dann nämlich, wenn er entweder bei einer Sturzgeburt oder nachträglich von der Mutter ausgerissen worden ist. Im frischen Zustande ist dann die blutende Nabelwunde leicht als solche zu erkennen, namentlich wenn, wie gewöhnlich, Fetzen der Amnionscheide der Nabelschnur ihr noch anhaften, oder die Stümpfe der Nabelgefässe aus ihr hervorragen. Bei vorgerückter Fäulniss muss weniger die äussere Beschaffenheit des Nabels als das innere Verhalten desselben und der Nabelgefässe Aufschluss geben.
Von den inneren Befunden, die für die Bestimmung der Zeit, wie lange ein Kind nach der Geburt gelebt habe, verwerthet werden können, sind zunächst die in den Lungen zu erwähnen. Es ist in dieser Beziehung selbstverständlich, dass,[S. 772] wenn bei einem Kinde die Lungen luftleer gefunden werden und für die Annahme eines nachträglichen Verdrängtwordenseins der Luft kein Grund vorliegt, ein Zweifel über den neugeborenen Zustand des betreffenden Kindes nicht bestehen kann. Finden wir die Lungen lufthaltig, so werden wir zunächst vor der Frage stehen, ob schon ein einziger oder einige wenige Athemzüge genügen, um die Lungen eines eben geborenen Kindes vollständig zu füllen, oder ob dazu mehrere Inspirationen nothwendig sind. Diese Frage wurde uns in strafgerichtlichen Fällen wiederholt vorgelegt. Wir stehen nicht an, sie dahin zu beantworten, dass, wenn die Luftwege vollkommen frei sind, schon der erste kräftige Athemzug, jedenfalls aber einige wenige Athemzüge genügen, um alle Theile der Lungen lufthaltig zu machen. Dafür spricht nicht nur die grosse Zahl der Fälle, die von uns und von Anderen beobachtet wurden, in welchen, trotzdem die Kinder sofort nach der Geburt umgebracht worden waren, doch vollkommen lufthaltige Lungen sich fanden, sondern auch einige Thierversuche, welche ergaben, dass, wenn man der Reife nahe Früchte aus dem Uterus der lebenden Mutter rasch ausschneidet und dieselben sofort nach den ersten Inspirationsbewegungen erdrosselt, in allen Theilen lufthaltige Lungen sich finden, wenn nicht etwa, was bei solchen Vivisectionen leicht geschieht, vorzeitige Athembewegungen stattgefunden haben. Damit stimmen auch die Beobachtungen Ungar’s („Ueber den Nachweis der Zeitdauer des Lebens Neugeborener“, Vortrag in der Naturforscherversammlung in Wien 1894), welcher zugleich die Angaben von Dohrn, Eckerlein (1869), dass der Luftwechsel der Neugeborenen bei ruhiger Athmung am ersten Tage noch ein schwacher sei und erst im Laufe der nächsten Tage ansteige, bestätigt, diese Thatsache aber nicht wie die Genannten von unvollständiger Füllung der Lungen mit Luft, sondern nur von geringer Blähung der bereits entfalteten Alveolen ableitet. (Siehe auch die Bonner Diss. Büchner’s, 1892). Finden sich Atelektasen in den Lungen, so wird im Allgemeinen desto weniger ein längeres Gelebthaben angenommen werden können, je ausgedehnter die atelektatischen Partien gewesen sind. Ein solcher Schluss mag besonders dann gerechtfertigt sein, wenn die atelektatischen Partien über die lufthaltigen prävaliren. Doch ist zu berücksichtigen, dass Neugeborene ihres geringen Sauerstoffbedürfnisses wegen mit beträchtlichen Atelektasen lange fortleben können, und dass es nichts Seltenes ist, auch bei mehrere Tage und selbst Wochen alten Kindern solche Atelektasen zu finden, die allerdings erst nachträglich entstanden sein konnten.
Wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage nach der extrauterinen Lebensdauer kann der Verdauungstractus ergeben. So zunächst sein Luftgehalt. Wenn wir den ganzen Darmcanal eines Kindes mit Luft gefüllt finden und Lufteinblasen und Fäulniss ausgeschlossen ist, so können wir schon aus diesem Befunde schliessen, dass das Kind nicht gleich nach[S. 773] der Geburt gestorben sei, doch kann unserer Erfahrung zufolge schon im Verlaufe des ersten Tages der ganze Darmcanal Luft in sich aufnehmen. Dass der Luftgehalt des Verdauungstractus nicht immer gleichen Schritt hält mit der Intensität und der Dauer der ersten Athembewegungen, wurde bereits oben bemerkt. Anderseits ist es nichts Seltenes, auch bei Kindern, die mehrere Tage gelebt haben, einzelne Darmschlingen und, insbesondere wenn derselbe keine fäculenten Stoffe enthält und zusammgezogen ist, den ganzen Dickdarm luftleer zu finden. Meconium im Dickdarm spricht für den neugeborenen Zustand, da dasselbe in der Regel schon im Laufe des ersten Tages, aber nicht immer schon in den ersten Stunden entleert wird. Würde man entweder aus dem Magen- oder aus dem Darminhalt nachweisen können, dass dem Kinde bereits Nahrung gereicht wurde, dann würde selbstverständlich die Annahme, dass das Kind gleich nach der Geburt gestorben ist, entfallen, man wäre aber nicht berechtigt, aus diesem Befunde allein zu schliessen, dass das Kind mehrere Tage gelebt haben müsse, da dasselbe schon in den ersten Stunden nach der Geburt Nahrung bekommen haben konnte.[490]
Die sogenannten fötalen Wege, nämlich die Nabelarterien und die Nabelvenen, der Ductus Arantii, das Foramen ovale und der Ductus Botalli, gehen in den ersten Tagen nach der Geburt keine wesentlichen Veränderungen ein und schliessen sich erst nach Wochen vollständig. Ihr Verschluss würde daher allerdings beweisen, dass das Kind nicht blos nicht neugeboren, sondern schon mehrere Wochen alt ist. Am frühesten obliteriren die Nabelarterien, indem man diese schon zur Zeit des Nabelabfalles stark verengert und in ihren Wandungen relativ verdickt findet, wobei sich gleichzeitig ihre peripheren Enden vom Nabelringe zurückziehen, indem später nur noch die Adventitia zurückbleibt. Die Obliteration der Nabelarterien erfolgt nur bis zum Abgange der Collateraläste, welche der centrale Theil der Nabelarterien zur Blase abschickt, und sie geschieht in der Regel nicht durch Thrombusbildung, sondern durch allmälige Verengerung und Verwachsung. Pathologische Thrombose und Arteriitis umbilicalis ist häufig und betrifft immer den peripheren Theil der Nabelarterien, welche an der betreffenden Stelle meist schiefergrau verfärbt und spindelförmig aufgetrieben sind. Die Wandungen sind dann selbst verdickt und der von ihnen eingeschlossene Thrombus häufig eiterig zerfallen. Unter normalen Verhältnissen scheint die vollständige[S. 774] Obliteration des peripheren Theiles der Nabelarterien 4–6 Wochen zu beanspruchen.
Zu den inneren Kennzeichen des neugeborenen Zustandes gehört auch die Geburts-, insbesondere die Kopfgeschwulst (Caput succedaneum), welche, wenn sie nicht mit bedeutenden Extravasaten verbunden war, schon innerhalb des ersten Tages sich zurückzubilden oder wenigstens bedeutend abzuschwellen pflegt. Braune Färbung der extra- oder intracraniellen Extravate oder gar der Befund von Hämatoidinkrystallen in diesen oder der Befund des typischen Kephalhämatoms lassen auf längeres Leben nach der Geburt schliessen.
Das Skelet des Kindes erfährt in den ersten Tagen nach der Geburt keine wesentlichen Veränderungen, es wird daher das Skelet eines schon mehrere Tage alten Kindes von jenem eines neugeborenen kaum zu unterscheiden sein. Skelete von Kindern, die mehrere Wochen nach der Geburt gelebt hatten, werden sich in der Regel durch die jene reifer Neugeborener übertreffende Länge, sowie insbesondere durch die Grösse des Knochenkerns in den unteren Epiphysen der Oberschenkel erkennen lassen, dessen Durchmesser bei Neugeborenen 9 Mm. nur ganz ausnahmsweise übersteigt.
Vor Kurzem untersuchten wir eine bis auf die Knochen von Ratten zerfressene, in einem Abortcanal gefundene Kindesleiche. Die Umstände sowohl, als der Befund an der Leiche (4 Mm. breiter Knochenkern in der unteren Femurepiphyse) sprachen für den neugeborenen Zustand. Nachträglich ergab sich aber, dass das Kind bereits 11 Tage alt, von der Mutter durch Andrücken an die Brust getödtet und dann erst in den Abort geworfen worden war! Nach Filomusi-Guelfi (Virchow’s Jahrb. 1889, I) lässt ein Kern von 8 Mm. Durchmesser mit Wahrscheinlichkeit, ein solcher über 9 Mm. mit Gewissheit darauf schliessen, dass das Kind nach der Geburt längere Zeit gelebt habe. Fagerlund (Wiener med. Presse, 1890, Nr. 5) hat in unserem Institute an 40 Kindesleichen das Verhalten der Knochenkerne der Gliedmassen im ersten Lebensjahre studirt und gefunden, dass der Kern in der unteren Femurepiphyse so grossen Schwankungen in seiner Grösse unterliegt, dass aus ihm keine sicheren Schlüsse auf das Alter des Kindes gezogen werden können. Ebenso ist der Kern im Caput humeri wenig verwerthbar, denn wenn er auch regelmässig bei 11–12 Wochen alten Kindern gefunden wird, so kommt er doch häufig schon früher, mitunter schon am Ende des letzten Schwangerschaftsmonates vor. Dagegen scheint das Auftreten eines Kernes in der Eminentia capitata ossis humeri, im Os capitatum, Os hamatum, in der unteren Epiphyse der Tibia und im Caput femoris zu gewissen Schlüssen zu berechtigen, da der im Caput femoris nicht vor einem halben Jahr, die übrigen nicht vor 3 Monaten sich finden.
[S. 775]
Es ist Aufgabe des Gerichtsarztes, nicht blos denjenigen Vorgängen, welche erst nach der Geburt des Kindes dessen Tod bewirken können, sein Augenmerk zu schenken, sondern auch jenen, welche schon vor und namentlich während der Geburt den Tod herbeizuführen vermögen, umsomehr, als erst das Verständniss dieser, sowie die Kenntniss der Symptome, die sie an der Leiche zurücklassen, den Gerichtsarzt in den Stand setzt, die Todtgeburt zu diagnosticiren, da, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, es durchaus nicht angeht, blos aus der luftleeren Beschaffenheit der Lungen mit jener Bestimmtheit auf Todesgeburt zu schliessen, mit welcher leider so häufig darauf geschlossen wird.
Inwieferne Erkrankungen der Mutter oder der Frucht, sowie pathologische Processe in der Placenta und in der Nabelschnur das Absterben der Frucht bewirken können, haben wir bereits bei Besprechung der Ursachen des spontanen Abortus erörtert (pag. 224) und darauf aufmerksam gemacht, dass gerade in der Zeit, in welcher die Lebensfähigkeit bereits beginnt, das Absterben der Frucht häufig vorkomme. Dasselbe kann aber auch, obgleich seltener, in den späteren Perioden der Schwangerschaft und selbst kurz vor dem normalen Ende derselben erfolgen.
Die Möglichkeit, dass eine Frucht noch vor der Geburt auf gewaltsame Weise getödtet oder wenigstens verletzt werden könne, ohne dass dabei auch die Mutter das Leben verliert, muss sowohl vom theoretischen, als vom Standpunkt der Erfahrung zugegeben werden, obgleich derartige Fälle zu den durch die Umstände des Falles gewöhnlich klargelegten Curiositäten gehören, die eben deshalb nur eine untergeordnete gerichtsärztliche Bedeutung besitzen. Von der Vagina aus könnte selbstverständlich eine intrauterine Tödtung oder Verletzung am leichtesten vorkommen, und zwar in diesem Falle kaum durch Zufall, sondern in gleicher Intention, wie wir sie bei der mechanischen Fruchtabtreibung kennen gelernt haben. Durch die Bauchdecken bis in den schwangeren Uterus eindringende Verletzungen bewirken natürlich entweder den Tod der Mutter oder bringen diese in grosse Lebensgefahr, doch finden sich bei Gurlt[491] zwei Fälle, in deren einem die Schwangere und das Kind durch eine Sense, in dem anderen durch eine Heugabel verletzt wurden, in Folge dessen die Kinder getödtet wurden, die Mütter aber am Leben blieben. Eine solche Verletzung durch Schuss bringt Kehr (Med. Centralbl. 1894, pag. 336).
[S. 776]
Die Entstehung intrauteriner Beschädigungen der Frucht durch stumpfe Gewalten, die den Unterleib trafen und ohne Verletzung des letzteren, wird begreiflich, wenn wir uns erinnern, dass schwere Verletzungen innerer Organe und selbst Knochenzertrümmerungen ohne Spur von äusseren Continuitätstrennungen sich entwickeln können (pag. 283). Heftige Stösse gegen den Unterleib, namentlich aber Sturz von Höhen, sind geeignet, solche Verletzungen zu erzeugen. Dieselben können zunächst die Weichtheile betreffen. So fanden wir bei einer im fünften Monat Schwangeren, die sich vom vierten Stock herabgestürzt hatte, den Uterus unverletzt, dagegen die Placenta theilweise abgelöst und die Eihäute eingerissen, und an der äusserlich unverletzten Frucht eine hochgradige Zertrümmerung des rechten Leberlappens mit starkem Blutaustritt in die Bauchhöhle, und in einem andern analogen Falle an der sechsmonatlichen Frucht einen suffundirten Hautriss hinter dem linken Ohr, je eine bohnengrosse Ecchymose unter der Haut der rechten hinteren Brustseite und an der Vorderfläche des linken Oberschenkels und einen suffundirten Querriss des Peritoneums über dem rechten Leberlappen. Paul (Prager med. Wochenschr. 1894, Nr. 45) sah einen vollständigen Querriss der Bauchwand bei einem reifen Kinde, dessen Mutter 2 Tage vor der Entbindung von einer Treppe herabgefallen war und Charcot[492] eine Ruptur der Milz des Fötus in Folge eines Sturzes der Mutter. Dietrich (Württ. Corresp.-Bl. 1883, pag. 5) beschreibt einen Fall, in welchem sich bei dem Kinde einer Frau, welche in der 36. Woche ihrer Schwangerschaft von einer steilen Treppe herabgefallen war und 16 Tage darauf geboren hatte, auf beiden Stirnbeinhöckern eine Wunde von der Grösse eines Groschens fand, deren Rand in Vernarbung begriffen und deren Grund mit schönen Granulationen bedeckt war. Im Jahre 1872 hat Tarnier (Union médicale. 1872, Nr. 33) in der Pariser Société de chirurgie ein einen Tag altes Kind vorgestellt, welches mit einer Narbe am Scheitel zur Welt gekommen war. Die Provenienz dieser Narbe blieb unaufgeklärt, doch wurde unter Anderem auch die Vermuthung aufgestellt, dass die Narbe von einem mechanischen Fruchtabtreibungsversuche herrühren könne. Unserer Meinung nach handelte es sich in diesem und wahrscheinlich auch in dem früher angeführten Falle nur um angeborene Defecte der Kopfhaut, die wir bereits viermal beobachtet haben (darunter einen von Hebra in den Mittheilungen des Wiener embryol. Institutes. 1882, II, beschriebenen an beiden Kopfseiten) und von denen wir zwei in Fig. 118 und 119 abbilden, von welchen der erstere von einem mechanischen Fruchtabtreibungsversuche abgeleitet wurde. Diese Defecte sind wahrscheinlich durch fötale Anlöthungen der betreffenden Kopfpartien an die Eihäute entstanden.[493] Auch multiple solche Defecte haben wir beobachtet.
[S. 777]
Die intrauterinen Verletzungen des Skeletes betreffen vorzugsweise die langen Knochen, und die Zahl der Fälle, in welchen Neugeborene in Verheilung begriffene oder durch Callus geheilte Knochenbrüche der Extremitäten zur Welt brachten, ist eine beträchtliche, obgleich zweifellos so manche von Ossificationsdefecten oder sogenannter Rachitis congenita herrührende Beweglichkeit der Knochen, im Uterus entstandene Verkrümmung der Knochen, syphilitische Lockerung der Epiphysen etc. als Fractur genommen worden ist.[494] Beschädigungen der Schädelknochen aus solchen Anlässen gehören zu den grössten Seltenheiten. Dass sie vorkommen können, beweist insbesondere der Fall von Maschka (Prager Vierteljahrschr. 1856, IV, pag. 105), der ein im 8. Monat schwangeres Mädchen betraf, das vom zweiten Stock herabgesprungen war und 6 Stunden darauf starb. Bei der Section fanden sich an dem noch im Uterus befindlichen Fötus mehrfache Brüche beider Scheitelbeine mit Extravat. Ein ähnlicher Fall findet sich bei Neugebauer (Virchow’s Jahresb. 1890, I, 501) und bei Gurlt (l. c. 343).
Während der Schwangerschaft abgestorbene Früchte, namentlich diejenigen, welche aus natürlichen Ursachen starben, gehen nur ausnahmsweise bald nach erfolgtem Tode ab, sondern erst[S. 778] nach einiger Zeit, in welchem Falle sie dann im macerirten Zustande geboren werden.
Solche Früchte sind, wenn sie nicht nachträglich durch Fäulniss verändert worden sind, leicht zu erkennen. Sie erscheinen, wenn die abgestorbene Frucht mehrere Tage oder gar Wochen im Mutterleibe zugebracht hatte, auffallend matsch, in sich selbst zusammengesunken, in allen Gelenken auffallend biegsam. Die Oberhaut ist entweder in grossen Strecken fetzig abgelöst oder sehr leicht abgängig. Das darunter liegende Corium schmutzig braunroth imbibirt, welche Farbe in verschiedenen Nuancen, aber meist ziemlich gleichmässig, über den ganzen Körper oder grosse Strecken desselben verbreitet ist und namentlich bei unreifen Kindern besonders auffällt. Dabei ist das Corium feucht und schlüpfrig. Der Kopf wie plattgedrückt. Die Schädeldecken sackartig schlaff, durch dieselbe die aus ihren Nähten gelösten, verschiebbaren Schädelknochen zu fühlen. Die Bulbi[495] und Bindehäute blutig imbibirt. Der Hals sackartig, schlaff, der Unterleib seitlich überhängend, schlaff, schwappend, die Nabelschnur blutig, häufig auch gallig imbibirt. Bei der inneren Untersuchung finden wir alle Weichtheile und selbst die Knorpel blutig imbibirt und von gleichmässig schmutzig rothbrauner Farbe, in verschiedenen Nuancen; blutig-seröse Transsudate in allen serösen Säcken, besonders im Pleura- und im Peritonealsack, die Lungen luftleer, schlaff und mitunter als Zeichen vorzeitiger Athembewegungen und des suffocatorischen Todes, verwaschene Ecchymosen an der Pleura oder am Pericardium und Fruchtwässer in den Luftwegen, die allerdings auch erst post mortem hineingelangen können.
Je früher nach erfolgtem Absterben die Geburt eintrat, desto weniger sind die genannten Erscheinungen ausgebildet, und Kinder, die kurz vor dem Beginn des Geburtsactes abstarben, sind, wenn die Leiche nicht sofort zur Beobachtung kommt, was begreiflicher Weise in forensischen Fällen fast niemals geschieht, von während des Geburtsactes abgestorbenen meist nicht zu unterscheiden. Selbst der Befund einer Kopfgeschwulst würde nicht das erst während der Geburt erfolgte Absterben mit absoluter Gewissheit beweisen, da eine sulzige Infiltration der Kopfhaut auch bei abgestorbenen Kindern sich bildet, und zwar theils als Senkung, theils als postmortale Transsudationserscheinung, die überdies rasch zu Stande kommt.
In der Regel gehen die während der Schwangerschaft abgestorbenen Früchte sammt der Placenta ab. Dies erleichtert insoferne die Diagnose, als häufig die Ursache des Absterbens, die meist in Erkrankungen der Placenta oder in Torsionen der Nabelschnur gelegen ist, durch unmittelbare Untersuchung nachgewiesen werden kann. Dass mitunter die durch Maceration erzeugten Veränderungen für pathologische Processe gehalten wurden, beweist der alte Name [S. 779]„Hydrops foetus sanguinolentus“, mit welchem ältere Autoren die blutig-serösen Transsudate bezeichneten, die sich ganz gewöhnlich innerhalb der serösen Säcke macerirter Früchte finden. Ausserdem ist es vorgekommen, dass die Dislocation und Beweglichkeit der Schädelknochen einer macerirten Frucht für den Effect eines Trauma gehalten wurde (vide Annal. d’hyg. publ. 1876, Nr. 96, pag. 492). Anderseits ist es nicht überflüssig zu bemerken, dass mit angeborenem Pemphigus behaftete lebende (!) Früchte für macerirte gehalten worden sind. Solche Fälle werden in den Annalen der Staatsarzneikunde, 1838, pag. 555, und andere von Hammer („Beobachtungen über faultodte Früchte mit besonderer Berücksichtigung von 6 Fällen scheinbar faultodter Früchte.“ Leipziger Diss. 1870) mitgetheilt. Wirkliche Fäulniss tritt innerhalb der geschlossenen Eihäute nicht ein, und es ist ganz unrichtig, wenn man, wie es häufig geschieht, die Begriffe macerirt und faultodt identificirt. Wird die macerirende Frucht monatelang im Uterus oder in der Bauchhöhle zurückgehalten, so findet, indem das Blut durch Imbibitions- und Transsudationsvorgänge immer mehr sich aus dem Körper verliert, eine förmliche Ausbleichung der Frucht statt, die dem Körper ein wie verfettetes Aussehen verleiht und wahrscheinlich vielfach als sogenannte „lipoide Umwandlung“ genommen wurde, während die nähere Untersuchung zeigt, dass die Organe, z. B. insbesondere die Musculatur, jahrelang sich erhalten können. So fand Zillner bei einer 2½ Jahre nach der Extrauteringravidität durch Laparotomie entfernten, 44 Cm. langen Frucht die Organe nicht blos makroskopisch, sondern auch in ihrer mikroskopischen Structur noch erhalten (Arch. f. Gyn. XIX, 2. Heft), insbesondere noch die Querstreifung der Musculatur, welche H. Chiari sogar bei einem 50 Jahre getragenen Lithopädion noch nachzuweisen vermochte (Wr. med. Wochenschr. 1876, Nr. 42).
In dem Geburtsacte liegt eine Lebensgefahr für das Kind und es scheint, dass während der Geburt das Leben reifer oder der Reife naher Früchte mehr bedroht ist, als vor derselben. Nach einer genauen Statistik starben in Genf von 280 Todtgeborenen 136 (48%) vor und 144 (52%) während der Geburt, während nach einer minder genauen Zusammenstellung in Belgien die Zahl der vor der Geburt gestorbenen 64, jene der während der Geburt gestorbenen nur 36% betrug.[496] Es ist kein Zweifel, dass ebenso wie sich die Zahl der Todtgeburten überhaupt bei unehelichen Kindern fast 2 mal höher stellt, als bei ehelichen[497], auch die Zahl der während der Geburt gestorbenen unehelichen Kinder ungleich grösser sein wird als bei ehelichen Entbindungen, insbesondere[S. 780] aber bei heimlich Gebärenden, da bei diesen jede sachverständige Beihilfe entfällt, die durch ihre rechtzeitige Intervention nicht selten die Ursache der Lebensgefahr, in welcher das Kind schwebt, zu beseitigen, eventuell durch rasche Beendigung der Geburt das Kind zu retten vermag.
Während des Geburtsactes sind es zwei Momente, welche das Leben des Kindes bedrohen: 1. die vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung und 2. der Druck, den der Kopf des Kindes erleidet.
1. Die vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung.
Normal fällt die Aufhebung der Placentarrespiration zusammen mit der Ausstossung der Frucht, indem, sobald letztere erfolgt, der Uterus auf das vorläufig mögliche Minimum sich zusammenzieht und dadurch die, bereits durch die vorausgegangenen Wehen in ihrem Zusammenhang mit dem Uterus gelockerte Placenta sich löst. Erfolgt diese Aufhebung früher und wird das Kind nicht noch rechtzeitig geboren, so geht dasselbe suffocatorisch zu Grunde.
Die Vorgänge, welche während des Geburtsactes eine vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung zu bewirken vermögen, sind fast durchwegs solche, die auch bei leichten, demnach auch bei verheimlichten Geburten vorkommen können. Es gehört hierher zunächst die Compression der Nabelschnur, und zwar in erster Linie diejenige, welche durch Vorfall der letzteren bedingt wird. Bei 743 von Scanzoni zusammengestellten Nabelschnurvorfällen wurden 408mal die Kinder todt geboren, also fast 55 von 100. Bei den von Kleinwächter (Prager Vierteljahrschr. 1870, III, 84) beobachteten Fällen gestaltete sich das Verhältniss der Todtgeborenen zu den Lebendgeborenen sogar wie 56·62% zu 43·48%. Dass bei heimlich Gebärenden sich das Sterblichkeitsverhältniss ungleich höher stellen wird, liegt auf der Hand.
Weniger gefährlich sind Umschlingungen der Nabelschnur, obgleich nicht zu leugnen ist, dass dieselben ebenfalls eine bis zur vollständigen Unwegsamkeit der Nabelgefässe sich steigernde Compression der Nabelschnur bewirken können, insbesondere dann, wenn wegen Kürze der Nabelschnur oder mehrfacher Umschlingung, der Nabelstrang während des Vorrückens des Kindskörpers stark gespannt und fest um den betreffenden Kindstheil zusammengezogen wird. Nach Hohl (l. c. 456) kamen in 181 Fällen von Nabelschnurumschlingung 163 lebende und nur 18 todte Kinder zur Welt. Mayer (Casper-Liman’s Handb., pag. 940) berichtet aus der Nägele’schen Klinik sogar von 685 mit Nabelschnurumschlingungen geborenen Kindern, von denen nur 18 erweislich dadurch den Tod gefunden haben. Auch Kleinwächter beobachtete unter 20 Fällen nur einmal Todtgeburt. Doch wird auch hier die Zahl der Todtgeburten bei heimlich Gebärenden sich zweifellos weit höher stellen, zumal wenn man die Häufigkeit der Nabelschnurumschlingungen berücksichtigt. (Hohl hat unter[S. 781] 200 Geburten 181mal Nabelschnurumschlingungen gesehen.) Sehr leicht kann eine tödtliche Compression der Nabelschnur bei Beckenendlagen zu Stande kommen. Bei solchen Geburten kommt natürlich die Nabelschnur, abgesehen von dem nicht seltenen „Reiten auf der Nabelschnur“, jedesmal in’s Gedränge, da sie zwischen Beckenring und den nachfolgenden Kopf geräth, und es ist begreiflich, wie leicht dieser Umstand, wenn der Kopf stecken bleibt, für das betreffende Kind fatal werden kann. Bekanntlich wird von den Geburtshelfern eben aus diesem Grunde rasche Entwicklung des nachfolgenden Kopfes gefordert und zu diesem Zwecke eine Reihe besonderer Handgriffe empfohlen. Trotzdem ist selbst in Gebäranstalten die Zahl der Todtgeburten bei Beckenendlagen eine viel höhere als bei Schädellagen. In der Prager Gebäranstalt betrug nach Kleinwächter das Verhältniss der in der Steisslage lebend- und todtgeborenen Kinder 84·37 : 15·63%. Ungleich grösser ist natürlich die Lebensgefahr für das Kind bei heimlichen Entbindungen, wo Niemand bei der Hand ist, der den etwa steckengebliebenen Kopf sofort entwickelt, woraus sich ergibt, dass die Erforschung der Lage, in welcher das Kind geboren wurde, auch bei forensischen Untersuchungen wegen Verdacht auf Kindesmord nicht übergangen werden sollte, wozu einestheils die Erwägung des Sitzes der Geburtsgeschwulst, anderseits die Aussagen der Mutter zu verwerthen sind.
Eine andere, auch bei heimlichen Geburten mögliche Ursache der vorzeitigen Unterbrechung der fötalen Athmung ist die vorzeitige Lösung der Placenta. Die Gefahr für das Kind ist desto grösser, je vollständiger diese Lösung ist, d. h. je grösser die Fläche des Mutterkuchens war, die ihrer respiratorischen Function vorzeitig entzogen wurde, und je länger darauf die Ausstossung der Frucht sich verzögert. Stärkere Blutungen, welche schon während der Geburt sich einstellen, werden auf eine vorzeitige Lösung der Placenta den Schluss gestatten.
Schliesslich ist nicht zu vergessen, dass durch die Wehenthätigkeit selbst die Placentarrespiration in’s Gedränge gebracht wird, da bei jeder Contraction des Uterus die Gefässe desselben verengert und dadurch die Zufuhr sauerstoffhaltigen mütterlichen Blutes zur Placenta verringert wird, da ferner die Placenta selbst und ihre Gefässe eine Compression erleiden und überdies mit jeder Wehe die Lösung des Mutterkuchens vorwärts schreitet. Unter normalen Verhältnissen erreicht die während einer Wehe erfolgende Sauerstoffverarmung des fötalen Blutes keinen so hohen Grad, dass dadurch der Fötus in Erstickungsgefahr gerathen würde, wohl kann dies aber geschehen durch längere Dauer der einzelnen Wehen (Krampfwehen) oder durch verzögerte Ausstossung der Frucht.
Wird durch eine der erwähnten Ursachen die fötale Respiration vorzeitig und dauernd unterbrochen, so treten, indem das sauerstoffarme Blut die Medulla oblongata erregt, Athembewegungen[S. 782] (wahrscheinlich auch Convulsionen) auf, deren Dauer und Intensität von der Entwicklung des Körpers abhängen dürfte, worauf suffocatorische Asphyxie und, wenn die Geburt sich nicht noch rechtzeitig beendet, der Tod erfolgt. Jene „vorzeitigen Athembewegungen“[498] haben im Allgemeinen einen analogen Effect, wie wir ihn bei der normalen extrauterinen Athmung geschildert haben, nämlich die Aspiration des vor den Respirationsöffnungen des Fötus befindlichen Mediums und die Entfaltung des Lungenkreislaufes, respective die Vermehrung des Blutgehaltes der Lungen, und die dadurch entstehenden Veränderungen sind es, welche uns gestatten, an der Leiche mit grosser Sicherheit die Diagnose zu stellen, dass das betreffende Kind an „fötaler Erstickung“, d. h. in Folge vorzeitiger Unterbrechung der Placentarathmung gestorben ist.
Das Medium, dessen Aspiration unter solchen Umständen erfolgt, ist das Fruchtwasser oder der sogenannte Fruchtschleim mit oder ohne Beimengung von Blut oder Meconium. Letztere Beimengung ist häufig, namentlich bei Kopflagen, da das Meconium, welches die Frucht während der Erstickungsnoth entleert, sich sofort herabsenkt und dadurch zu den Respirationsöffnungen derselben gelangt. Wahrscheinlich werden diese Stoffe vorzugsweise erst durch die sogenannten terminalen, tiefen Inspirationen eingeathmet, wie wir dies auch beim Erstickungstode, mit welchem die „fötale Erstickung“ eine grosse Aehnlichkeit besitzt, gesehen haben. Je kräftiger und tiefer diese Inspirationen gewesen und je länger sie gedauert haben, desto mehr von den genannten Stoffen wird aspirirt und desto tiefer dringen sie ein, so dass man manchmal in der Lage ist, dieselben bis in die kleinsten Bronchien zu verfolgen. In der Regel gelangen sie aber blos in die grösseren Bronchien, da die zähe und meist dickliche Beschaffenheit der Substanzen ein tieferes Eindringen nicht gestattet. Mitunter finden sie sich nur in den Choanen und im Rachen, woselbst sie, namentlich der fadenziehende Fruchtschleim, den Eingang zum Kehlkopf verlegen. Aspirirte Fruchtwasserstoffe sind häufig schon makroskopisch als solche zu erkennen, insbesondere durch die beigemengten Bröckchen von Vernix caseosa und die besonders auf dunkler Unterlage mit blossem Auge zu erkennenden Wollhaare. Ist Meconium[499] beigemengt, so erscheinen die Stoffe[S. 783] mehr weniger grünlich und fallen mehr in die Augen. Doch ist zu bemerken, dass eine derartige Färbung auch andere, auf minder unschuldige Weise in die Luftwege gerathene Substanzen zeigen können, z. B. Cloakenstoffe. Entscheidend ist natürlich nur die mikroskopische Untersuchung, die daher niemals zu unterlassen ist. Man findet dann, wenn Fruchtwasserstoffe vorliegen, die Hauptbestandtheile der käsigen Schmiere, grosse, meist in Fetzen zusammenhängende Epidermiszellen, Fett und Fettkrystalle (Cholesterin) und Wollhaare, welche durch ihre Dünne und Kürze, sowie durch das Fehlen der Marksubstanz sich charakterisiren. Ist Meconium beigemengt, so findet man ausserdem Gallenpigment, meistens in Schollen, seltener in Form von Bilirubin- (Cholepyrrhin-) Krystallen, ausserdem einzelne zellige Elemente gallig imbibirt, ferner Cholesterinkrystalle in vermehrter Menge und auch Darmepithelien. Manchmal ist Blut beigemischt, namentlich wenn vorzeitige Placentarlösung die Ursache des fötalen Erstickungstodes gewesen war. Eine Verwechslung dieser Stoffe mit extrauterin in die Luftwege gerathenen Stoffen kann bei sachgemässer Untersuchung nicht wohl vorkommen. Namentlich wird sich Abtrittsinhalt, der einige Aehnlichkeit mit meconiumhaltigen Fruchtwässern besitzt, bei der mikroskopischen Untersuchung leicht unterscheiden lassen, insbesondere durch die heterogenen Bestandtheile (Reste pflanzlicher und thierischer Nahrung, sandige und kohlige Beimengungen, Tripelphosphate etc.), aus denen er zusammengesetzt ist.
Da, wie bereits an einer anderen Stelle erwähnt wurde, der Blutgehalt der Lungen im verkehrten Verhältnisse steht zu der Leichtigkeit, mit welcher das aspirirte Medium die Lungen zu füllen vermag, so ist es begreiflich, dass in Folge vorzeitiger Athembewegungen die Lungen desto blutreicher werden, je weniger die aspirirten Substanzen ihrer schleimigen und dicklichen Consistenz wegen einzudringen vermochten. In dem Falle, in welchem die betreffenden Substanzen nur in den Kehlkopf eindrangen, oder noch mehr dann, wenn trotz vorzeitiger Athembewegungen gar kein Medium aspirirt werden konnte (z. B. weil die Respirationsöffnungen durch die Wände der Geburtswege oder durch Eihäute verlegt, oder weil die Luftröhre durch starke Streckung des Halses [Gesichtslage], oder feste Umschlingung desselben durch die Nabelschnur[S. 784] undurchgängig war), muss natürlich die Blutüberfüllung in den Lungen den höchsten Grad erreichen, da unter solchen Umständen die Aufgabe, den Brustraum auszufüllen, dem Blute allein zufällt. Daher kommt es, dass die Lungen der während des Geburtsactes suffocatorisch gestorbenen Früchte dunkel von Farbe, schwer und etwas vergrössert erscheinen, und am Durchschnitt viel Blut entleeren, eine Thatsache, die am besten beweist, wie wenig von der angeführten Ploucquet’schen Lungenblutprobe zu halten ist.
Von anderen Erscheinungen, die sich bei während der Geburt in Folge vorzeitiger Unterbrechung der fötalen Athmung gestorbenen Kindern finden, erwähnen wir insbesondere die Ecchymosen in den Lungen und am Herzen, die zu den fast constanten Sectionsbefunden gehören und deren reiche Entwicklung sich einestheils aus der hochgradigen Blutstauung in den Brustorganen, anderseits aus der grossen Zartheit der kindlichen Gefässe erklärt, in Folge welcher diese, sowohl bei der ungeborenen, als bei der neugeborenen Frucht weniger leicht eine Steigerung des Blutdruckes auszuhalten vermögen, als dies später der Fall ist. Cyanose des Gesichtes, Injection und selbst Ecchymosirung der Conjunctiva sind ebenfalls häufige Befunde. Nobiling (Bayr. Aerztl. Intell.-Bl. 1884, Nr. 38), hat auch an anderen Stellen, insbesondere auch im peribulbären Fettgewebe und in der Retina, häufig Ecchymosen gefunden. Dass bei dieser Todesart Fruchtwasserbestandtheile, eventuell Meconium, auch in den Magen und in die Paukenhöhlen gelangen können, wurde bereits erwähnt. Häufig erscheint die Nabelschnur solcher Kinder gallig imbibirt, ein Befund, dessen schon Zittmann (Mende, I, 200), als den todtgeborenen Kindern eigenthümlich zukommend, erwähnt. Diese Verfärbung rührt vom entleerten Meconium her, kommt, wie wir uns durch Versuche überzeugt haben, sehr bald zu Stande und ist daher diagnostisch verwerthbar. Doch kann sie sich selbstverständlich auch bilden, wenn das bereits geborene Kind in meconiumhaltiges Fruchtwasser oder gallige Stoffe enthaltenden Abtrittsinhalt zu liegen kam.
Finden sich die genannten Erscheinungen, dabei luftleere Lungen und ein luftleerer Verdauungstractus, und fehlen zugleich alle Spuren einer Maceration, so kann man mit grösster Wahrscheinlichkeit sich dahin aussprechen, dass das untersuchte Kind schon während der Geburt an „fötaler Erstickung“ gestorben ist. Mit voller Bestimmtheit die Todtgeburt zu erklären, geht nicht an, da das Kind auch nur scheintodt zur Welt gekommen sein konnte.
Es liegt der Einwurf nahe, dass ein ähnlicher Befund, wie der beschriebene, auch durch extrauterine Erstickung in Fruchtwässern zu Stande kommen kann. In dieser Beziehung muss bemerkt werden, dass ein Ertrinken des bereits geborenen Kindes in Fruchtwässern zwar nicht unmöglich ist, dass jedoch an einen solchen Vorgang nur bei einem besonderen Verlaufe der Geburt gedacht werden könnte, so z. B. wenn dieselbe über einem schon Fruchtwässer enthaltenden [S. 785]Gefässe geschah, oder wenn in ein solches gleichzeitig mit dem Kinde auch die Fruchtwässer hineinstürzten, dass jedoch auch in einem solchen Falle meist Gelegenheit geboten ist, dass das Kind durch die extrauterinen Athembewegungen, die es macht, auch Luft in seine Lungen bekommen kann.
2. Die Compression des Kopfes.
Indem der kindliche Kopf durch den Beckencanal durchgepresst wird, erleidet er eine Compression, die sowohl zu einer vorübergehenden Verkleinerung des Kindesschädels als zu einer Formveränderung desselben führt. Diese Veränderung, welche in der Geburtshilfe als Configuration oder Modellirung des Schädels bezeichnet wird, geschieht vorzugsweise dadurch, dass das Hinterhauptbein und die Stirnbeine unter die Scheitelbeine und diese übereinander sich schieben, wobei sich die Kopfhaut mehr weniger faltet und der Mentooccipitaldurchmesser sich verlängert. Auch eine Abplattung der dem Promontorium anliegenden Stelle des Kopfes findet statt. Das Schädelvolumen wird hierbei absolut verkleinert, indem Cerebrospinalflüssigkeit verdrängt wird.[500] Für die gleichzeitig stattfindende Compression des Gehirns spricht die Verlangsamung des Fötalpulses während jeder Wehe, welche zwar von Schwartz von der durch die Wehe veranlassten Störung des Placentargasaustausches abgeleitet wurde, neueren Anschauungen und insbesondere den Experimenten von Leyden[501] zufolge aber auf Hirndruck bezogen werden muss.
Der Druck, den der Kindskopf während der Geburt erleidet, bewirkt, selbst wenn er die Grenzen des normalen nicht überschreitet, gewisse Veränderungen, denen eine gerichtsärztliche Bedeutung zukommt. Es gehört hierher die Kopfgeschwulst und die Ecchymosenbildung in den weichen Schädeldecken.
Das Caput succedaneum präsentirt sich als eine teigige, mehr weniger sich vorwölbende Geschwulst über jenem Theil des Schädels, welcher vorgelegen hatte, daher in der Regel über der kleinen Fontanelle oder über der hinteren und inneren Partie eines Scheitelbeines, der beim Einschneiden eine sulzige, seröse Infiltration des Zellgewebes der Schädeldecken entspricht, in welcher häufig kleinere oder grössere Extravasate eingebettet sind. Die Kopfgeschwulst gestattet nicht blos einen Schluss darauf, dass das Kind in einer Kopflage geboren wurde, sondern auch auf die Dauer des Geburtsactes, insoferne als der Mangel der Kopfgeschwulst auf einen raschen Verlauf der Entbindung hinweist. Je kleiner der Schädel des Kindes und je weiter das Becken, desto weniger ist die Kopfgeschwulst entwickelt. Daher fand Elsässer bei 340 in der Hinterhauptslage geborenen [S. 786]frühzeitigen Kindern nur 74mal eine Kopfgeschwulst, bei 3789 zeitigen aber 1502mal. Bei Beckenendlagen ist die Schwellung und seröse, mitunter auch hämorrhagische Infiltration des Scrotums, beziehungsweise der Labien oder des Gesässes eine analoge Erscheinung, die von Elsässer unter 130 Fällen 46mal constatirt wurde. Doch müssen wir bemerken, dass sich Oedeme des Scrotums verhältnissmässig häufig auch bei Kindern finden, die in der Kopflage geboren worden sind. Auch an anderen vorgelagerten Körperpartien entstehen analoge Veränderungen, die mitunter irrige Deutungen veranlassen können. So obducirten wir ein 8monatliches Kind, dessen linker Arm in der Ellenbogengegend blauroth geschwollen und theils serös, theils hämorrhagisch infiltrirt war. Dieses Befundes und der abnormen Beweglichkeit des Gelenkes wegen war die Sache für eine Fractur gehalten worden. Das Gesicht war stark cyanotisch, rechts am Kopfe ein starker Vorkopf und nach aussen am linken Scheitelhöcker eine bohnengrosse Hautvertrocknung mit thalergrosser Suffusion. Quetschungserscheinungen an der Sichel und am Promontorium. Offenbar war der Arm vorgelegen und die Geburt eine schwere, was auch durch die weiteren Erhebungen bestätigt wurde.
Ecchymosen in den Schädeldecken gehören zu den ganz gewöhnlichen Befunden, auch nach leichten Entbindungen. In der Regel sind es linsen- bis bohnengrosse Sugillationen, die entweder im Zellgewebe unter der Galea oder noch häufiger zwischen Pericranium und Knochen sitzen, namentlich in der Nähe der Nähte. Nicht selten kommen grössere Sugillationen vor und wir haben wiederholt auch nach leichten Entbindungen solche gesehen, die sich über grosse Strecken der Schädeloberfläche verbreiteten. Sie entstehen weniger durch directen Druck als durch Zerrung der Gefässe in Folge der Verschiebung, die die Theile bei der Modellirung des Schädels erleiden.[502] Ihre Bedeutung liegt einestheils darin, dass ihr Befund beweist, dass das Kind unter der Geburt noch lebte, andererseits darin, dass solche durch den Geburtsdruck entstandene Suffusionen für Effecte einer Gewalt angesehen werden könnten, die erst nach der Geburt den Kopf des Kindes getroffen hatte. Zeigen weder die Kopfhaut, noch die Schädelknochen Spuren von Verletzung, dann wird man nicht berechtigt sein, Suffusionen der Schädeldecken, selbst wenn sie über grössere Strecken sich ausbreiten, von extrauterin stattgehabten Gewalteinwirkungen herzuleiten. Das Cephalhämatom ist unserer Ansicht nach nur eine Blutaustretung zwischen Pericranium und Knochen, die nicht immer aus letzterem stammt, sich ursprünglich von einer gewöhnlichen Suffusion nicht unterscheidet, sondern erst später durch ihren eigenthümlichen Verlauf, welcher vielleicht nur von Zufälligkeiten veranlasst wird.
Ueberschreitet die Compression des Kindskopfes während des Geburtsactes ihre normale Grenze, dann können schwerere Erscheinungen eintreten. Zunächst kann die durch den Hirndruck[S. 787] veranlasste Hemmung der Herzbewegung einen solchen Grad erreichen, dass dadurch der respiratorische Gasaustausch erschwert und Sauerstoffverarmung des Blutes herbeigeführt wird. In diesem Falle kommt es ebenfalls zu vorzeitigen Athembewegungen, wie wir sie nach Unterbrechung des Placentarverkehres eintreten sahen. Ferner können durch allzu starke Uebereinanderschiebung der Schädeldeckknochen intermeningeale Extravasate entstehen, am häufigsten durch Zerreissung der zu den Sinus ziehenden Piagefässe, aber auch der Sinus selbst. Kundrat (Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 46) erklärt sich die Entstehung solcher Extravasate durch Compression des Sinus falciformis und consecutive Stauung des Blutes in den zuführenden Venen. Bei schweren Geburten sind solche Befunde häufig, werden aber auch bei leichten nicht gar selten beobachtet, und es scheint, dass sie insbesondere bei stürmischen Entbindungen, bei welchen die Configuration des Schädels nicht allmälig, sondern plötzlich sich vollzieht, leichter entstehen können. Solche Extravasate bewirken dauernden Hirndruck und können auch durch Verlangsamung der Herzpulsationen vorzeitige Athembewegungen auslösen; doch lehrt die Erfahrung, dass Kinder solche während des Geburtsactes erlittene Extravasate verhältnissmässig leichter ertragen als später, insbesondere dieselben tagelang überleben können. Ausheilungen sind offenbar häufig, da man Residuen derselben, insbesondere rostfarbigen Auflagerungen an der Innenfläche der Dura bei den Sectionen von Säuglingen öfter begegnet. Die insbesondere bei unreifen Früchten häufigen Blutungen in die Ventrikel aus zerrissenen Gefässen des Plexus chorioideus stammen offenbar von derselben Ursache, obgleich auch suffocatorische Stauung sie bewirken kann.
Beschädigungen der Schädelknochen während der Geburt, durch die Expulsionskraft des Uterus, sind wiederholt beobachtet worden, und zwar sowohl blosse Eindrücke oder Einbiegungen einzelner Schädelknochen, als wirkliche Continuitätstrennungen. Erstere präsentiren sich meist unter dem Bilde der sogenannten „löffelförmigen Eindrücke“ und betreffen zumeist das eine Scheitelbein oder das eine Stirnbein, welche entweder gegen das Promontorium oder gegen die vorspringende Symphyse ausgedrückt worden waren. Bei normalen Entbindungen kommen sie gewiss nur ganz ausnahmsweise vor, wohl aber leichter, wenn ein Missverhältniss zwischen dem Kindskopf und dem Beckencanal bestand, daher insbesondere bei engem Becken oder ungünstiger Kopflage. An der tiefsten Stelle des Eindruckes, sowie an den vom Tuber des Knochens abgehenden Rändern desselben sind sie gewöhnlich mit einer Infraction oder einer wirklichen Fractur des Knochens verbunden (Fig. 120). Am leichtesten können sich solche Eindrücke bilden, wenn der hochstehende, besonders der nachfolgende Kopf gewaltsam über das Promontorium herabgezogen oder beim Wigand-Martin’schen Handgriff von den Bauchdecken aus durch das Becken durchgepresst wird. Sie werden dann mitunter[S. 788] für Zangeneindrücke gehalten. Nähere Angaben über derartige Verletzungen haben Dittrich (Wiener klin. Wochenschr. 1892, Nr. 33–35) und Rosinski (Zeitschr. f. Geburtsh. 1893, XXVI, pag. 255) gebracht. Unter letzteren Fällen findet sich ein tiefer, trichterförmiger Eindruck am linken Scheitelbein mit mehrfachen Fissuren, der bei einem spontan geborenen Kinde sich ergab. Aehnliche Eindrücke können aber, wie von uns angestellte Versuche ergaben (Wiener med. Presse. 1885, Nr. 18–28), auch nach der Geburt durch Druck, z. B. mit dem zwischen Tuber und Nahtrand aufgesetzten Daumen oder durch einen Stiefelabsatz u. dergl. und selbst durch Auffallen eines eine umschriebene Angriffsfläche besitzenden Gegenstandes, oder durch Sturz mit dem Kopfe auf einen solchen erzeugt werden. Dieses ist insoferne wichtig, als schon Passauer (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXX, 260) über einen Fall berichtet, wo es sich darum handelte, ob eine Schädelimpression bei einem Neugeborenen vom Geburtsact oder von einem Eingriffe der Mutter herrührte, und als auch wir ein aus dem Abort gezogenes Kind untersuchten, das neben einer winkligen Fissur des einen Scheitelbeines eine löffelförmige Impression am anderen besass und daher zu erwägen war, ob letztere beim Geburtsact oder nachträglich durch Druck oder beim Durchzwängen durch den Abortstrichter oder durch den Sturz in den Canal entstanden war. Mit Rücksicht auf die Umstände musste man zugeben, dass die Impression gleichzeitig mit der Winkelfissur blos durch den Sturz auf einen vorspringenden Gegenstand veranlasst worden sein konnte.
Von Zusammenhangstrennungen der Kopfknochen, die blos durch den Geburtsact veranlasst worden waren, hat Gurlt 10 Fälle zusammengestellt. Meist bestanden dieselben in zwischen den Ossificationsstrahlen verlaufenden Fissuren, die am häufigsten vom Pfeilnahtrande des Scheitelbeines ausgingen, doch wurden in einzelnen Fällen auch Fracturen beobachtet, welche besonders den Nahtrand eines Knochens betrafen und offenbar durch allzustarke Uebereinanderschiebung der Knochen entstanden waren. Es waren durchaus verzögerte, zum Theile schwere Geburten, bei denen sich solche Befunde ergaben, obgleich sie alle ohne Kunsthilfe beendet wurden. Wir selbst haben bei ähnlichen Geburten zweimal eine 3 Cm. lange Fissur des Scheitelbeines beobachtet, die vom Pfeilnahtrande zwischen den Ossificationsstrahlen zum Scheitelhöcker[S. 789] hinzog. Ausserdem bei einem heimlich geborenen Kinde einen Knochensprung, der hinter der Mitte der Pfeilnaht, 0·5 Cm. links neben derselben, aus einer papierdünnen Stelle des Knochens entsprang und durch ähnlich verdünnte Partien bis fast zum Scheitelhöcker sich hinzog, von welchem wir zugeben mussten, dass er wegen der durch Ossificationsdefect bedingten abnormen Dünne der betreffenden Stelle des Scheitelbeines auch schon während der Geburt durch die starke Krümmung des Knochens entstanden sein konnte, wobei wir bemerkten, dass eben die einfache Beschaffenheit der Fissur und die geringfügige Ausdehnung derselben bei der grösseren Brüchigkeit der betreffenden Stelle des Knochens beweisen, dass dieselbe keiner directen und grösseren Gewalt ihre Entstehung verdanke und darauf hinwiesen, dass die Scheitelbeine und namentlich die mittleren Partien der Pfeilnahtränder durch die Compression des Kopfes im Becken stark vorgewölbt werden, wobei ein Auseinanderweichen des Knochens entlang der Ossificationsstrahlen hier leichter möglich ist, als an anderen Stellen.
Bei leichten Entbindungen können wir, ausgenommen wenn, wie im oben erwähnten Falle, Ossificationsdefecte und deshalb abnorm brüchige Stellen an den Schädelknochen sich fanden, nicht wohl zugeben, dass Fissuren oder gar Fracturen, die wir am Schädel eines Neugeborenen nachwiesen, durch den Geburtsdruck entstanden sein sollten. Nach schweren Geburten, namentlich bei engem Becken, werden wir mit Rücksicht auf obige Beobachtungen einfache Fissuren oder (an den Nahträndern) einfache Fracturen, die an solchen Stellen sitzen, die bei der Modellirung des Schädels eine grössere Spannung oder, wie die Nahtränder, eine stärkere Zerrung erleiden, vom Geburtsdruck ableiten können, weshalb Dittrich (l. c.) mit Recht behufs Differentialdiagnose von später entstandenen Brüchen die Erwägung empfiehlt, ob am Schädel sonstige Spuren einer stattgehabten grösseren Compression, besonders stärkere Uebereinanderschiebung der Nahtränder, zu bemerken sind. Dagegen werden wir mit einer solchen Annahme zögern, wenn ausgebreitete oder mehrfache Fracturen sich finden, oder wenn gleichzeitig ausgebreitete Quetschungen oder Continuitätstrennungen der weichen Schädeldecken sich ergeben. Losser (Bericht der Berliner gynäk. Gesellschaft. December 1883) hat auf Brüche der Orbitaldächer bei Zangengeburten aufmerksam gemacht. Bei der Dünnheit der Orbitaldächer wäre es nicht unmöglich, dass Fissuren derselben auch bei spontanen Geburten sich bilden könnten. Subperiostale Ecchymosen daselbst sind unseren Erfahrungen nach nicht selten, auch haben wir bei einem in Steisslage ohne Zange todtgeborenen Kinde, dem bei der Entwicklung der rechten oberen Extremität der Oberarm gebrochen wurde, suffundirte Fissuren beider Orbitaldächer gefunden.
Während der Geburt kann die Frucht auch an Verblutung zu Grunde gehen. Dies kann zunächst geschehen bei der keineswegs [S. 790]seltenen Insertio velamentosa der Nabelschnur, wenn der vorrückende Kindstheil das „Velamentum“ zerreisst. Hüter hat 12 solche Fälle zusammengestellt, wovon 10 schon während der Geburt starben. Einen anderen Fall bringt Valenta, Memorabilien, 1874, Nr. 5, und einen weiteren Langerhans (Arch. f. Gyn. XIII, 304). Nach Mironoff (Deutsche med. Wochenschr. 1882, Nr. 28) wurde in Dresden die Insertio velamentosa bei 0·46–0·57% der Schwangeren beobachtet. Doch wurde dadurch eine das Leben des Kindes bedrohende Blutung niemals bedingt. Ebenso kann Verblutung eintreten, wenn eine allzu kurze Nabelschnur abreisst. Es wurden Fälle beobachtet, in welchen die Nabelschnur blos 10 Mm. lang war (Sclafer) und solche, wo sie ganz fehlte (Stute, Monatsschr. f. Geb. 1856, VII, 1). Solch abnorme Kürze kann auch vorzeitige Lösung der Placenta bewirken. Endlich kann bei gemeinschaftlicher Placenta ein Zwilling nach Geburt des ersten sich verbluten, wenn dessen Nabelschnur nicht doppelt unterbunden wurde. Einen derartigen Fall hat Brachet in Lyon beobachtet. Ueber zwei Fälle von Verletzung der Nabelschnur während des Geburtsactes mit Blutung berichtet Westphalen (Arch. f. Gyn. 1893, XLV, pag. 94).
1. Tod durch Lebensunfähigkeit.
Ein Kind kann nach der Geburt zunächst deshalb sterben, weil es nicht die Fähigkeit besitzt, selbständig weiter zu leben. Die österr. St. P. O. vom Jahre 1853 (§. 90) forderte bei Verdacht auf Kindestödtung ausdrücklich die Erforschung der Lebensfähigkeit. Die neue St. P. O. enthält keine solche Bestimmung, dagegen verlangt der §. 90 der deutschen St. P. O., dass bei Oeffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes die Untersuchung insbesondere auch darauf gerichtet werde, ob es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des Mutterleibes fortzusetzen.
Letzterer Ausdrucksweise hatte sich auch die frühere österr. St. P. O. bedient, und es scheint daraus hervorzugehen, dass die Gesetzgeber hierbei vorzugsweise nur solche Früchte im Auge hatten, welche, weil sie zu früh geboren wurden, entweder sofort oder kurze Zeit nach der Geburt sterben müssen. Da jedoch eine Unfähigkeit zum selbstständigen Leben auch bei vollkommen reifen Kindern bestehen kann und sowohl diese, als auch wegen vorzeitiger Geburt lebensunfähige Kinder, obgleich sie den Keim des Todes in sich tragen, doch nicht immer sofort oder kurze Zeit nach der Geburt sterben müssen, so ist der Begriff der Lebensfähigkeit, respective Lebensunfähigkeit, selbst in der angegebenen Fassung, ein sehr verschwommener. Soviel steht jedoch sicher, dass auch ein Kind, welches binnen Kurzem wegen Unreife oder anderweitig bedingter Lebensunfähigkeit von selbst gestorben wäre, getödtet werden kann. Wie [S. 791]ein solcher Fall richterlicherseits aufgefasst werden würde, ist weder aus dem Strafgesetz, noch aus der St. P. O. zu ersehen. Doch lässt die Bestimmung des §. 23 des preussischen Regulativs: „dass, wenn sich aus der Beschaffenheit der Frucht ergibt, dass dieselbe vor Vollendung der 30. Woche geboren ist, von der Obduction Abstand genommen werden kann, wenn dieselbe nicht von dem Richter ausdrücklich gefordert wird“, darauf schliessen, dass eventuell auch bei zweifellos lebensunfähigen Früchten nach anderweitiger Todesursache geforscht und der absichtlich bewirkte Tod geahndet werden kann. Zweifellos könnte in einem solchen Falle die bestandene Lebensunfähigkeit den Thatbestand der Kindestödtung nicht alteriren, würde jedoch als Milderungsumstand in Betracht gezogen werden, wie dies einzelne ältere Strafgesetzbücher ausdrücklich bestimmten.
Die Lebensfähigkeit des Kindes kann zunächst bedingt sein durch mangelnde Reife desselben. Der Zeitpunkt der Schwangerschaft, von welchem an die Frucht bereits geeignet ist, selbstständig weiter zu leben, lässt sich nicht genau präcisiren, doch lehrt die Erfahrung, dass erst von der vollendeten 30. Woche angefangen die Früchte als lebensfähig angesehen werden können, eine Erfahrung, von welcher auch das oben erwähnte Regulativ ausgegangen ist.
Auch jüngere Früchte werden von der 20. Woche angefangen und selbst noch vor dieser meist lebend geboren (nach Kleinwächter 23·58%), wenn sie auch in der Regel sofort sterben. Ausnahmsweise wurden sogar Früchte aus der 25. Woche (D’Outrepont) und wiederholt solche aus der 27.-29. Woche (Ahlfeld, Arch. f. Gyn. 1875, VIII, 194) am Leben erhalten. Anderseits tritt auch nach Vollendung der 30. Woche die Lebensfähigkeit nicht mit einem Schlage und vollständig auf, sondern ist anfangs eine noch geringe, ebenso wie die Resistenzfähigkeit der Frucht gegen äussere Schädlichkeiten, und beide nehmen desto mehr zu, je mehr sich die Frucht ihrer vollkommenen Reife nähert. Daher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind eines natürlichen Todes (an Lebensschwäche) gestorben sei, desto grösser, je früher dasselbe vor dem normalen Ende der Schwangerschaft geboren worden ist.
Dass eine Frucht bereits die 30. Woche vollendet habe, schliessen wir zunächst aus der Länge, welche um diese Zeit mindestens 40 Cm. zu betragen pflegt. Früchte, die weniger als 40 Cm. messen, kann man schon aus diesem Grunde in der Regel für lebensunfähig erklären, selbst wenn andere Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Frucht die 30. Schwangerschaftswoche bereits überschritten habe. Das Gewicht beträgt 1500–2000 Grm. Die Haut ist stark mit Wollhaaren bedeckt, beginnt sich mit Fett zu unterpolstern, wodurch sie dicker und gegen früher weniger geröthet und die Formen des Körpers mehr abgerundet erscheinen; das Kopfhaar ist noch spärlich und kurz und die Pupillarmembran ist entweder vollständig verschwunden oder nur in Resten vorhanden.[S. 792][503] Bei männlichen Kindern sind die Hoden bereits aus dem Leistencanal ausgetreten oder wenigstens im Durchpassiren desselben begriffen und der Hodensack ist stärker gerunzelt; bei weiblichen Kindern beginnen die Labien durch Fettbildung sich stärker vorzuwölben. Die Nägel erreichen fast die Fingerspitzen und fangen an härter zu werden. Das Gehirn besitzt bereits ausgebildete Windungen und im Dickdarm findet sich reichliches dunkelgrünes Meconium. Im Fersenbein findet sich gewöhnlich ein Knochenkern von etwa 5 Mm. Durchmesser (Toldt, „Ueber die Altersbest. menschl. Embryonen“. Prager med. Wochenschr. 1879, pag. 121), im Sprungbein ein etwa um die Hälfte kleinerer. Das mittlere Gewicht des Mutterkuchens beträgt 451 Grm., die mittlere Nabelschnurlänge 46 Cm.
Am Ende des neunten Monates (36. Woche) hat das Kind eine Länge von 42–44 Cm. und ein mittleres Gewicht von 2000 Grm. Die Fettbildung hat zugenommen, das Gesicht ist weniger gerunzelt und bekommt ein volleres, freundlicheres Aussehen. Die Haut hat bereits das blassröthliche Aussehen wie bei reifen Neugeborenen. Die Wollhaare fangen an sich etwas zu verlieren. Im Sprungbein findet sich ein Ossificationskern von 5–6 Mm. (Toldt). Durchschnittliches Gewicht der Placenta 461 Grm., durchschnittliche Länge der Nabelschnur 47 Cm.
Das am Ende des 10. Monates geborene, also reife Kind ist durchschnittlich 50 Cm. lang und hat ein Gewicht von etwa 3000 Grm. Die Haut ist mit Fett reichlich unterpolstert, das Gesicht und die Gliedmassen sind voll und gerundet, die Gelenksbeugen tief, die Wollhaare an den Schultern meist noch ziemlich reichlich, sonst spärlich. Das Kopfhaar ist dicht, 1·5–2 Cm. lang. Die Kopfdurchmesser betragen nach Casper-Liman’s zahlreichen Messungen durchschnittlich: bei Knaben der quere 8·5, der gerade 10·8, der diagonale 12·6; bei Mädchen der quere 8·3, der gerade 10·0, der diagonale 12·0 Cm. Die Weite der Stirnfontanelle, d. h. den kürzesten Abstand der parallelen Seiten des Rhomboids berechnet Fehling[504] bei reifen Früchten auf etwa 2 Cm., den Occipitofrontalkopfumfang auf 34–35 Cm. Die Knorpel der Nase und der Ohren sind fest und elastisch. Die Schulterbreite beträgt[S. 793] durchschnittlich 12·5, der Trochanterenabstand 8 Cm. Die Entfernung des Nabels von der Symphyse schwankt nach Hecker zwischen 3 und 5·2, die von dem Schwertfortsatz zwischen 5·8 und 8·7 Cm. Die Hoden finden sich im gerunzelten Scrotum; bei Mädchen ist die Schamspalte geschlossen. Die Nägel sind hornig und überragen die Fingerspitzen, nicht aber die Spitzen der Zehen. Die unteren Epiphysen der Oberschenkelknochen enthalten in der Regel einen etwa 5 Mm. breiten Knochenkern. Häufig findet sich auch in der oberen Epiphyse der Tibia und im Würfelbein, ausnahmsweise auch schon in der Epiphyse des Humerus ein Ossificationspunkt (Toldt, l. c., auch Barkow, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XVI, 328). Das durchschnittliche Gewicht der Placenta beträgt 500 Grm., die durchschnittliche Länge der Nabelschnur 50 Cm.
Von diesen Zeichen der Reife sind am constantesten und daher verlässlichsten die Körperlänge und der Knochenkern in den unteren Epiphysen der Oberschenkelknochen. Doch auch diese zeigen selbst unter normalen Verhältnissen Differenzen. So fanden Casper-Liman als Minimum der Körperlänge 41·8, als Maximum bei Mädchen 56·6, bei Knaben sogar 62·4 Cm. Neugeborene Mädchen zeigen in der Regel eine geringere Länge als Knaben. Auch der Ernährungszustand der Mutter sowohl als des Kindes, sowie eventuelle Krankheiten machen sich in dieser Richtung bemerkbar. Ebenso zeigen Mehrlinge kürzere Längen als ebenso alte Einlinge. Der erwähnte Knochenkern ist eine erbsenförmige Ossification im Centrum der betreffenden Epiphyse, die aus faulen Epiphysen als rundlicher Körper ausgeschält werden kann. Er wird in der Weise aufgesucht, dass man das betreffende Kniegelenk durch einen Querschnitt eröffnet und, indem man die Weichtheile mit der einen Hand zurückzieht, mit der anderen den Epiphysenknorpel des Femur durch senkrecht auf die Längsachse des Knochens geführte Schnitte in dünne Scheiben zerlegt. Ist der Knochenkern vorhanden, so präsentirt er sich am Durchschnitt als eine kreisrunde, netzförmig ossificirte, blutreiche Scheibe von Fliegenkopf- bis Linsengrösse (Fig. 121), die bei frischen Leichen scharf von weissem Knorpel sich abhebt, weniger, wenn dieser in Folge von Fäulniss blutig imbibirt erscheint. Der Knochenkern tritt nur ausnahmsweise schon am Ende des 8. Monates (einmal fanden wir einen 4 Mm. breiten schon bei einem blos 45 Cm. und Hassenstein [Zeitschr. f. Medicinalb. 1892, pag. 129] sogar bei einem blos 40 Cm. langen Kind), häufiger im 9. und am häufigsten erst im 10. Schwangerschaftsmonate auf, so dass sein Vorhandensein mit grosser Sicherheit die Erklärung gestattet, dass die Frucht entweder reif oder dem Zeitpunkt der Reife auf 4–6 Wochen nahegerückt sei. Doch ist man nicht berechtigt, aus dem Fehlen des Knochenkernes allein die Reife der Frucht zu bestreiten, da es nicht gar selten ist, dass auch bei entschieden ausgetragenen[S. 794] Kindern der Knochenkern noch vollständig fehlt. Hartmann (Beitr. zur Osteol. der Neugeb. Tübinger Dissert. 1869) vermisste ihn bei 102 reifen Neugeborenen 12mal, Liman (l. c. 848) unter 413 Fällen 14mal. Wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht und noch häufiger beobachtet, dass bei entschieden reifen Kindern der Knochenkern nicht wie gewöhnlich 5 Mm., sondern nur 2–3 Mm. im Durchmesser betrug, was keineswegs nur bei schwächlichen, sondern auch, ebenso wie das vollständige Fehlen, bei ganz gut genährten und gesunden Kindern vorkam. Als äusserste Grösse des Knochenkernes bei Neugeborenen wird von Liman 9 Mm. angegeben. Letztere ist selten, doch haben wir bereits einmal einen Knochenkern von 9·5 Mm. gefunden. Das Gewicht neugeborener reifer Kinder variirt vielfach je nach dem Ernährungs- und Gesundheitszustande der Mutter sowohl, als des Kindes selbst. Als geringstes Gewicht fanden Casper-Liman 1750 und als höchstes 5250 Grm. Hecker fand unter 1096 Kindern nur zwei mit einem Gewichte von 5000–5500 Grm. Ein ganz ungewöhnliches Gewicht zeigte ein von A. Martin entbundenes Kind, welches noch nach der Enthirnung 7470 Grm. wog! (Virchow’s Jahresb. 1876, II, 591.) Unter vielen Tausenden Geburten auf G. Braun’s Klinik kamen nach dem Berichte von C. Fürst (Wiener med. Wochenschr. 1883, Nr. 12) nur zwei Fälle vor, in denen das Gewicht 5000 und etwas darüber (5300) betrug. Das erste Kind war 55½, das zweite 57 Cm. lang. Ein von uns untersuchtes, durch Ruptur des Cervix in die Bauchhöhle ausgetretenes Kind wog 5060 Grm., hatte eine Länge von 60 Cm. und einen 7·5 Cm. breiten Knochenkern in der unteren Epiphyse des Femur.[505] Die schon von Chaussier gemachte und neuerdings von Andern bestätigte Beobachtung, dass das neugeborene Kind in den ersten 2–5 Tagen nach der Geburt an Gewicht abnimmt (in Folge Wasserverdunstung und Fettschwund), verdient auch in forensischer Beziehung Beachtung[506], noch mehr aber die Thatsache, dass nicht blos durch Benagungen von Ratten u. dergl., sondern auch durch Fäulniss und Maceration, sowie durch Mumification, sich das ursprüngliche Gewicht bedeutend vermindern kann. Dupont („De la perte de poids des cadavres dans l’air atmosphérique“. Pariser These, 1889) und Ipsen („Ueber postmortale Gewichtsverluste bei menschlichen Früchten“, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, pag. 2), fanden, dass bei an der Luft liegenden Leichen besonders Neugeborener, die Gewichtsabnahme schon am ersten Tage beginnt, anfangs gering ist und mit eintretender Fäulniss rapid vorwärtsschreitet. Bei unreifen Früchten erfolgt die Gewichtsabnahme rascher. Verletzungen vermindern durch den Blut-, eventuell Substanzverlust, aber auch durch raschere Verdunstung und Transsudation das Eigengewicht.
[S. 795]
Die Lebensunfähigkeit kann ferner bedingt sein durch Mangel oder Verbildung oder angeborene Erkrankung der zum Leben unumgänglich nothwendigen Organe.
Es gehören hierher zunächst die Monstrositäten im engeren Sinne, welche schon äusserlich als solche auffallen. Dass auch diese nicht augenblicklich nach der Geburt absterben müssen, beweisen zwei Fälle von Taylor, in deren einem ein Kind mit zwei Köpfen, in dem anderen ein Hemicephalus lebend geboren und beidemal von den assistirenden Frauen — getödtet wurde. Ebenso berichtet Thompson (Schmidt’s Jahrb. 1875, II, 214) über ein Kind mit monströser Cyklopie, das noch 1½ Stunden lebte, und in Wien wurde ein auf Prof. G. Braun’s Klinik geborener Hemicephalus 7 Tage am Leben erhalten (Wiener med. Wochenschr. 1879, pag. 1290). Bei einem aus einem Abort gezogenen, ausgetragenen frischen Kinde fanden wir eine auffallende Mikrocephalie mit Verkümmerung des Grosshirns und Encephalocele anterior duplex. Das Kind dürfte kaum im gewöhnlichen Sinne lebensfähig gewesen sein. Trotzdem hatte dasselbe nach der Geburt gelebt und war eines gewaltsamen Todes durch Ertrinken gestorben, da Lungen und Magen lufthältig waren und Abortstoffe im Lungenparenchym, im Magen und 15 Cm. weit im Dünndarm gefunden wurden. Die Mutter wurde leider nicht eruirt, so dass dem Gerichte die seltene Gelegenheit entging, über einen an einem nicht lebensfähigen Neugeborenen begangenen Kindesmord zu verhandeln. Die Siamesischen Zwillinge, sowie die mit dem Rücken verwachsenen Misses Millie und Christine, die sich gegenwärtig zeigen, sind Beispiele, dass auffallende Monstrosität keineswegs identisch ist mit Lebensunfähigkeit. Anderseits gibt es eine Reihe angeborener Hemmungsbildungen und Verbildungen innerer Organe, die häufig äusserlich gar nicht auffallen und doch Lebensunfähigkeit bedingen, obgleich auch mit diesen das Kind nicht sofort nach der Geburt sterben muss. Hierher gehören u. A. die angeborenen Defecte des Herzens, namentlich jene des Septums, die wir, verbunden mit einer Transposition der Gefässe, bei einem 11tägigen und sogar bei einem 6monatlichen Kinde antrafen. Ferner die bereits erwähnten angeborenen Atresien des Duodenums, mit denen die betreffenden Kinder ebenfalls noch tagelang fortleben können. Ebenso gehören hierher viele Zwerchfellhernien und die bereits erwähnte angeborene Cystenniere höheren Grades, endlich die angeborenen meist syphilitischen Hepatisationen der Lunge (Pneumonia alba) und gewiss noch viele andere Erkrankungen, die die Frucht mit sich zur Welt bringt. Einen interessanten Fall dieser Art bringt Hecker (Friedreich’s Blätter. 1874, pag. 289), der eine hochgradig hydrocephalische Frucht betrifft, bei welcher es unentschieden bleiben musste, ob sie in Folge des Hydrocephalus eines natürlichen oder in Folge von Verletzungen eines gewaltsamen Todes gestorben war, wobei überdies auch die Möglichkeit sich nicht ableugnen liess, dass gewisse Fissuren der mangelhaft ossificirten Scheitelbeine nicht extrauterin, sondern während der Geburt durch den Geburtsdruck entstanden sein konnten. [S. 796]In unserem Institute wurde ein am 11. Tage nach der Geburt an Peritonitis verstorbenes Kind obducirt, welches bei annähernd normalem Schädel einen so hochgradigen Hydrocephalus congenitus zeigte, dass das Grosshirn fast vollständig fehlte (Zillner, Wiener med. Wochenschrift, 1880). Auch intermeningeale Extravasate, die die Frucht während der Geburt acquirirte, können den Tod erst nach der Geburt bewirken, also im weiteren Sinne Lebensunfähigkeit bedingen, ebenso die Encephalitis interstitialis, auf welche schon früher Rokitansky (Pathol. Anat. 3. Aufl., II, 436 und 462), ferner Virchow (Archiv. XLIV, 4. Heft, ebenso Arch. f. Psychiatrie. 1870, pag. 65 und Sitzung der Berliner med. Gesellsch. vom 17. October 1883, Wiener med. Blätter, 1883, Nr. 44), Jastrovitz (Prager Vierteljahrschr. 1871, III, 16) und Parrot (Schmidt’s Jahrb. 1871, CL, 55) aufmerksam machten und die wir wiederholt, wenn auch bisher noch nicht wie Virchow bei Neugeborenen, so doch bei Säuglingen aus den ersten Lebenstagen und Wochen beobachtet haben und die sich in Form blassgelblicher Herde in der weissen Substanz präsentirt und unter dem Mikroskope zahlreiche sogenannte Körnchenzellen ergibt. Ferner kann ein Kind durch vorzeitige Athembewegungen, die es gethan, in Folge der dadurch bewirkten Verstopfung der Luftwege mit Fruchtschleim etc., selbst wenn es noch lebend geboren wird, unfähig sein, weiter zu leben.
2. Tod durch extrauterine Vorgänge.
Es gibt zunächst eine Reihe von Vorgängen, die ohne Verschulden der Mutter den gewaltsamen Tod des Neugeborenen herbeiführen können. Von diesen verdient die Sturzgeburt und die Verblutung aus der Nabelschnur eine besondere Besprechung.
Die Sturzgeburt.
Die Möglichkeit, dass eine Schwangere in der Weise von der Geburt überrascht wird, dass das Kind, während sie sitzt, kniet oder steht, aus ihren Genitalien herausstürzt, wird gegenwärtig sowohl von den Geburtshelfern, als Gerichtsärzten allgemein zugegeben, da die Zahl der zweifellosen und unter unverdächtigen Umständen vorgekommenen Beobachtungen eines solchen Geburtsverlaufes, den man gewöhnlich als Sturzgeburt bezeichnet, eine beträchtliche ist und immer durch neue vermehrt wird.
Von älteren Aerzten, die sich um die Lehre von der Sturzgeburt Verdienste erwarben, verdient insbesondere Klein Erwähnung, der, um über die betreffende, immer wieder angezweifelte Möglichkeit in’s Reine zu kommen, im Jahre 1813 die Regierung von Württemberg bewog, im ganzen Reiche an die Medicinalpersonen eine Anfrage zu richten, ob ihnen bei unverdächtigen Personen Fälle von Geburt im Stehen oder Sitzen vorgekommen seien. Auf dieses Rescript wurden 183 Fälle erwiesener Sturzgeburt berichtet, von denen 155 im Stehen, [S. 797]22 im Sitzen und 6 im Knien verliefen (Mende, l. c. I, 228). Ebenso hat Cohen van Baren (Schmidt’s Jahrb. 1845, XLV, 84) und Schütz (ibid. 1852, LXXIII, 113) eine beträchtliche Zahl von solchen Fällen zusammengestellt; dagegen hat Hohl (l. c. 573) die Möglichkeit der Geburt im Stehen gänzlich geleugnet, indem er behauptete, dass Nichts die Schwangere hindere, im letzten Momente sich zu legen, und sich darauf berief, dass, obgleich er einen Preis dafür ausgeschrieben hatte, doch nur eine einzige von seinen Wöchnerinnen die Geburt im Stehen zu vollenden im Stande war.[507] Casper (l. c. 935) hat mit Recht auf die verschiedenen Verhältnisse hingewiesen, die in dieser Beziehung bei heimlich Gebärenden vorhanden sind, und war überdies in der Lage, 4 Fälle aus seiner eigenen Erfahrung mitzutheilen, in denen die Geburt vor Zeugen im Stehen und einmal beim Einsteigen in’s Bett geschah. In der Naturforscherversammlung zu Speyer (1861) wurde von Kuby über ein 16jähriges Mädchen referirt, das im Stehen entband, und Hecker, Lange und Spiegelberg fügten ähnliche von ihnen selbst beobachtete Fälle hinzu. Ebenso haben Klusemann (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1861, XX, 235), Olshausen (Monatschrift f. Geburtsk. 1860, XVI, 33), Reinhard (23 Fälle von präcipitirten, sogenannten Gassengeburten, darunter 6 Sturzgeburten, Marburger Dissert. 1871) und Kondratowicz (Virchow’s Jahresb. 1874, II, 806) über Entbindungen in aufrechter Stellung berichtet. Wir selbst haben in unserer Gegenwart die Entbindung einer verheirateten Frau so rasch verlaufen sehen, dass in dem Momente, als sie in’s Bett gebracht wurde, das Kind von ihr schoss. Ebenso kennen wir eine Frau, die während der Fahrt im Wagen gebar, wobei das Kind zu Boden fiel, und haben ein Kind gesehen, welches von seiner Mutter in dem Augenblicke geboren wurde, als sie vor dem Thore der Gebäranstalt aus dem Wagen stieg, so dass das Kind in den Schnee stürzte, der gerade in dicker Lage gefallen war, ohne sich hierbei zu beschädigen, ferner 1878 ein anderes obducirt, welches vor dem Wiener Gebärhause im Stehen geboren worden und auf den Boden gefallen war.
Die Geburten in sitzender, kauernder oder kniender Stellung haben nichts Ueberraschendes an sich, da es noch fraglich ist, ob nicht diese Stellungen, wenigstens für den Verlauf der Austreibungsperiode, zweckmässiger sind, als die Rücken- oder Seitenlage, in welcher man die Entbindung gewöhnlich verlaufen lässt (vide Schröder, Lehrb. 1871, pag. 151; Ploss: „Ueber die Lage und Stellung der Frau während der Geburt bei verschiedenen Völkern“, 1872, mit 6 Holzschnitten und Wiener med. Blätter, 1883, Nr. 42, und die Dissertation von Felkin, Marburg 1885, über denselben Gegenstand). Neuere, auch forensisch werthvolle Arbeiten über präcipitirte Geburten haben Winckel (München 1884, Festschrift) und G. Koch (Arch. f. Gyn. 1886, XXIX, 271) geliefert. Ersterer liegt ein Material von 216, letzterer von 37 Fällen zu Grunde, welches einem Procentsatz von 0·9 sämmtlicher Geburten entspricht.
[S. 798]
Eine Sturzgeburt kann für das Kind fatal werden entweder durch den Sturz selbst und die Beschädigungen, die das Kind, insbesondere dessen Kopf, dabei erleidet, oder dadurch, dass, wie namentlich bei der Geburt am Abtritt, das Kind in Flüssigkeiten hineinfällt[508], oder durch beide diese Momente zusammen. Die Gefahr der Verblutung aus der durchrissenen Nabelschnur kommt nur ausnahmsweise in Betracht.
Kommt eine Sturzgeburt in Frage, so sind die Befunde an der betreffenden Mutter, ferner jene am Kinde und endlich die Umstände des Falles zu erwägen.
Was die Mutter betrifft, so begegnet man häufig der Ansicht, dass bei Mehrgebärenden wegen der Weite ihrer Genitalien eine Sturzgeburt leichter stattfinden könne als bei Erstgebärenden. Dem entgegen lehrt die Erfahrung, dass die meisten Fälle von Sturzgeburt Erstgebärende betreffen, was sich vorzugsweise daraus erklärt, dass letztere die Zeichen bevorstehender Entbindung, die sie noch nicht kennen, leichter zu übersehen und zu verkennen vermögen als Mehrgebärende, die eine solche bereits durchgemacht haben. So ist es nichts Seltenes, dass die ersten Wehen von Erstgebärenden als Darmkolik, Stuhldrang u. s. w. aufgefasst werden, was sie veranlasst, sich auf den Abort etc. zu begeben, woselbst dann die Sturzgeburt erfolgen kann. Ueberdies gehört Drang zum Stuhl- und Harnlassen zu den Erscheinungen, die in der Regel den Geburtsact begleiten. Ferner muss festgehalten werden, dass es zwei Formen von Sturzgeburten gibt; die eine, bei welcher der ganze Geburtsact ungewöhnlich schnell verläuft, die präcipitirte Geburt im engeren Sinne, und die andere, bei welcher nur die Austreibung des Kindes plötzlich und unerwartet erfolgt. Die erstere Form der Sturzgeburt kann bei Missverhältniss zwischen den Dimensionen des Beckens und jenen der Frucht nicht zugegeben werden, während die zweite Form, obgleich leichter bei kleinen Früchten (Winckel, Koch), so doch auch bei grossen Kindern oder verhältnissmässiger Enge der Geburtswege sich ereignen kann und unserer Erfahrung zufolge bei heimlichen Geburten ungleich häufiger sich ereignet als die eigentliche überstürzte Geburt.
Am Kinde ist, ausser dessen Grösse, zunächst das Verhalten der Nabelschnur zu beachten. Erfolgt die Geburt derart, dass die Nabelschnur beim Sturze des Kindes gespannt wird, und hierzu ist begreiflicher Weise besonders bei der Geburt am Abtritt oder im Stehen Gelegenheit geboten, so wird entweder die Nabelschnur zerreissen oder es wird gleichzeitig die Placenta mitgerissen, wobei die Nabelschnur undurchtrennt bleibt. Beide Befunde sind geeignet, die Angabe, dass eine Sturzgeburt stattfand, zu unterstützen,[S. 799] sind aber keineswegs hinreichend, für sich allein das Stattgehabthaben einer solchen zu beweisen, da die Schnur auch von der Mutter abgerissen worden sein konnte und weil die Geburt des Kindes sammt der Placenta auch bei einer gewöhnlichen Entbindung sich ereignen kann.
Dass bei einer Sturzgeburt die Nabelschnur verhältnissmässig leicht zerreissen kann, unterliegt keinem Zweifel. Zwar haben Négrier (Annal d’hygiène publ. XXV, 126), Späth (Wiener med. Wochenschrift, 8. Nov. 1851), Schatz (Arch. f. Gyn. IX, 28), sowie Neville (Dublin Journ. of med. Sciences. Febr. 1883) gefunden, dass die Nabelschnur bei allmäliger Belastung im Mittel ein ungleich höheres Gewicht (durchschnittlich 4000 bis 5000 Grm.) zu ertragen vermöge, als das des reifen Neugeborenen beträgt, doch ist es selbstverständlich, dass es sich bei einer Sturzgeburt nicht um eine allmälige Dehnung der Nabelschnur, sondern um einen plötzlichen Ruck handelt, den dieselbe theils durch die Fallkraft des Kindes, theils durch die Gewalt erleidet, mit welcher das Kind ausgetrieben wird, und dass unter diesen Umständen nach physikalischen Gesetzen ein ungleich geringeres Gewicht genügt, um den Nabelstrang zum Zerreissen zu bringen. In der That haben sehr exacte Versuche, die von Pfannkuch (Arch. f. Gyn. 1875, VII, pag. 28) angestellt wurden, gezeigt, dass schon 1000 Grm. und weniger (2mal schon 500 Grm.) genügten, um durch ihre Fallkraft Zerreissung der Nabelschnur zu bewirken, womit auch die Resultate unserer eigenen Versuche, die wir jedes Jahr vor unseren Hörern anstellen, übereinstimmen, bei welchen die Nabelschnur nur ausnahmsweise das fallende Gewicht eines Kilo auszuhalten vermochte. Je länger die Nabelschnur ist, d. h. je grössere Fallgeschwindigkeit das Kind erreicht, desto leichter zerreisst die Schnur. Doch hat Pfannkuch gefunden, dass auch bei halber Länge der Nabelschnur (durchschnittlich 21 Cm.) in der Regel 1000 Grm. genügten, um Zerreissung derselben zu bewirken. Gewöhnlich erfolgt die Zerreissung im fötalen Theile der Nabelschnur, mitunter ganz nahe am Nabel und es kann die Schnur selbst ganz aus dem Nabel ausgerissen werden.[509] Die Zerreissung der Nabelschnur mit den Händen erfordert zwar an der Leiche immerhin einige Anstrengung, doch genügt ein kräftiger[S. 800] Ruck, um, wenn die Schnur fest gepackt wurde, sie zum Zerreissen zu bringen. Das Zerreissen einer lebenden, turgescirenden Nabelschnur muss zweifellos ungleich leichter gelingen, um so mehr, als die eine Hand der Mutter am Körper des Kindes eine Stütze findet. Auch in diesem Falle wird die Schnur in der Regel nahe am Körper des Kindes durchrissen und kann auch aus dem Nabel ausgerissen werden Bei sehr dünner Nabelschnur, wie sie sich z. B. bei unreifen Früchten findet, kann das Zerreissen der Schnur auch spontan oder beim Aufheben des Kindes oder bei Selbsthilfe oder durch sonstigen geringen Zug unabsichtlich erfolgen. Aber selbst bei reifen Früchten ist dies nicht ganz unmöglich. Koch (l. c. 283) hat drei, Budin (Virchow’s Jahrb. 1887, I, 518) zwei und Darène (ibid. 1888, I, 485) einen solchen Fall beobachtet, und auch auf Breisky’s Klinik in Wien sind kurz hintereinander zwei derartige Fälle vorgekommen. Auch beim Aufstehen der Entbundenen bei noch haftender Placenta könnte ausnahmsweise die Schnur reissen, ein Vorgang, der bei Thieren häufig vorkommen soll.
Die Frage, ob eine Nabelschnur durchrissen oder abgeschnitten wurde, lässt sich aus der Beschaffenheit des peripheren Endes derselben in der Regel leicht erkennen. Bei der durchschnittenen Nabelschnur zeigt nicht blos die Amnionscheide scharfe Trennungsränder, sondern es lässt sich auch constatiren, dass die übrigen Bestandtheile der Nabelschnur in einer Ebene durchtrennt worden sind, welche allerdings nicht mehr quer, sondern auch schief auf der Längsachse der Nabelschnur stehen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Strang mit einem Zug durchschnitten worden ist. Wurde mehrmals zugeschnitten, dann bildet allerdings die Trennungsfläche nicht eine Ebene, aber in der Scheide sind mehrere Einschnitte zu bemerken, die sich meist sehr deutlich präsentiren (Fig. 122). Wir konnten in einem Falle 5 solche scharfrandige und parallele Einschnitte, die wahrscheinlich von einer kurzen Scheere herrührten, constatiren; trotzdem blieb die Angeklagte hartnäckig dabei, dass das Kind, welches keine Spur einer Verletzung, wohl aber Zeichen von Erstickung zeigte, von ihr im Stehen geboren wurde, wobei die Schnur zerrissen sei. War die Schnur abgerissen, so zeigt die Amnionscheide fetzige, meist schräge, häufig in einen centripetalen Längsriss sich fortsetzende Ränder, während die Gefässe in ungleicher Höhe abgetrennt erscheinen. Die ausgezogenen Arterien ragen nicht selten, eine oder beide aus der Wunde heraus (Fig. 123). In der Regel reisst der Nabelstrang an der Concavität einer Windung, woselbst die Amnionscheide wie die Sehne eines Bogens beim Zuge sich spannt und auch [S. 801]zuerst einreisst, worauf zuerst Dehnung und hierauf Zerreissung der Gefässe und des übrigen Theiles der Nabelschnur erfolgt. Nur selten erfolgt der Riss quer, zeigt aber auch dann fetzige Ränder und unebene Trennungsfläche. Anderweitige Durchtrennungen der Nabelschnur, z. B. Durchquetschung derselben, kommen gewiss nur ausnahmsweise vor, schon deshalb, weil sie längere Zeit erfordern. Dagegen kann es, wie Huber (Friedreich’s Bl. 1884, pag. 391) mit Recht hervorhebt, geschehen, dass die Nabelschnur nur angeschnitten und der Rest durchrissen wird.
Im frischen Zustande ist die Beschaffenheit des Trennungsendes leicht zu erkennen. Ist die Nabelschnur mumificirt, so muss sie früher aufgeweicht werden, wozu kurze Zeit genügt. Auch weit gediehene Fäulniss macht die ursprüngliche Beschaffenheit des Endes unkenntlich, ebenso kann sie bei Leichen, die in Aborten lagen, durch Benagung von Ratten verändert werden.
Das Fehlen eines Vorkopfes unterstützt die Angabe, dass eine Sturzgeburt stattgefunden habe. Das Vorhandensein desselben spricht jedoch nicht dagegen, da, wie oben bemerkt, die Austreibungsperiode auch plötzlich verlaufen kann, obgleich der Kopf einige Zeit im Beckenring eingeklemmt gewesen war. Bei Beckenendlagen können präcipitirte Geburten, weil der nachfolgende Kopf in der Regel, wenn auch nur vielleicht für ganz kurze Zeit, stecken bleibt, nicht leicht vorkommen, doch wurden einzelne solche Fälle von Winckel (l. c.) thatsächlich beobachtet und auch uns ist ein solcher bei einer 22jährigen verheirateten (!) Primipara vorgekommen.
Verletzungen, insbesondere Kopfverletzungen, entstehen nicht immer; namentlich wird bei einer Geburt über einem Eimer oder sonstigen Gefäss es nicht auffällig sein, dass keine Verletzungen sich finden. Auch bei der Geburt im Stehen können sie ausbleiben, während sie sich beim Sturz in einen Abort desto leichter bilden werden, je tiefer derselbe war und je weniger Flüssigkeit etc. er gerade enthielt. In allen diesen Fällen wird es sich vorzugsweise darum handeln, zu erwägen, ob die Kopfverletzungen thatsächlich[S. 802] solche sind, wie sie durch einen einfachen Sturz entstehen können, oder ob sie Eigenschaften an sich tragen, die auf eine andere Gewalteinwirkung schliessen lassen. Die Fissuren und Fracturen des Schädels, welche durch einfachen Sturz eines neugeborenen Kindes sich bilden, betreffen, wie man sich durch Versuche leicht überzeugen kann, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch vorzugsweise die Scheitelbeine, und zwar ebenso häufig nur eins als beide Scheitelbeine. Am häufigsten findet man einen Sprung, der vom Pfeilnahtrande meist gegen die Mitte zu beginnt, zwischen den Ossificationsstrahlen radiär zum Scheitelhöcker hinzieht und von da aus unter einem nahezu rechten Winkel abermals radiär entweder gegen die Kranznaht oder gegen die Lambdanaht sich fortsetzt. Auch nur eine einfache solche Fissur kann sich bilden. Seltener sahen wir wirkliche zackige Fracturen entstehen, indem der Knochensprung schräg über die Ossificationsstrahlen hinwegzog, immer den inneren Theil des Seitenwandbeines betreffend. Manchmal fanden wir in dem einen Scheitelbein eine winklige Fissur, im anderen eine zackige Fractur, aber in allen Fällen hatten die betreffenden Schädelbrüche eine solche Beschaffenheit, dass sie deutlich ihre Entstehung aus plötzlicher Compression der Scheitelwölbung des Schädels erkennen liessen. Geschah der Sturz von einer bedeutenden Höhe und auf hartem Boden, so können entlang der Fissur nicht blos die Meningen, sondern auch die Schädeldecken, letztere durch die scharfen Knochenkanten, einreissen, wobei aus dem Risse Gehirn austreten kann. Eine unregelmässige oder mehrfache Zertrümmerung der Schädelknochen kann sich nur bei Sturz aus grossen Höhen bilden, während solche Beschädigungen bei absichtlicher Tödtung des Kindes leicht vorkommen können, da sich die betreffende Mutter, wenn sie ihr Kind durch eine gegen dessen Kopf gerichtete, mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen ausgeübte Gewalt tödtet, kaum mit einem einzigen Schlag oder Hieb, Tritt u. s. w. begnügt, sondern, um sicher zu gehen, diese Gewaltacte wiederholt. Wiederholt sahen wir bei den in den Abort gestürzten Neugeborenen ausser einfachen Fissuren der Scheitelbeine Fracturen des Orbitaldaches. Intermeningeale Blutungen, sowie Quetschungen des Gehirns können auch ohne Fissuren oder Fracturen geschehen. Bei einem von Koch untersuchten, im Stehen geborenen und nach 11 Tagen gestorbenen, 42 Cm. langen Kinde fand sich eine walnussgrosse Zertrümmerung des rechten Stirnlappens.
Endlich muss auch das Verhalten der Lungen herangezogen werden. Handelt es sich um eine Geburt am Abort, oder über einem mit Flüssigkeit genügend gefüllten Gefässe, so ist es begreiflich, dass, wenn thatsächlich eine Sturzgeburt stattfand und das Kind sofort aus den Genitalien der Mutter in eine Flüssigkeit fiel, die es vollständig bedecken musste, eine Luftathmung gar nicht oder nur unvollständig erfolgen kann, und dass wir daher, wenn wir die Lungen vollständig mit Luft aufgebläht, oder[S. 803] namentlich, wenn wir nicht blos den Magen, sondern auch einen Theil der Gedärme lufthaltig finden, berechtigt sind, eine Sturzgeburt auszuschliessen. Doch muss bemerkt werden, dass, wenn in den betreffenden Orten nur flache Schichten von Flüssigkeit angesammelt waren, oder dicker Koth u. dergl., welcher das sofortige Untersinken des Körpers nicht gestattete, das Kind auch noch nach dem Sturze Luft zu athmen im Stande sein kann. Dafür sprechen wiederholt beobachtete Fälle, in denen Neugeborene noch lebend aus dem Abort herausgezogen worden sind. Dass besonders zu erheben sein wird, ob das Kind noch lebend in die betreffende Flüssigkeit gelangte und darin ertrunken ist oder nicht, ist selbstverständlich, in welcher Beziehung wir auf das beim Ertrinkungstode Gesagte verweisen.
Handelt es sich um eine Sturzgeburt, wobei das Kind auf festen Boden gefallen sein und dabei sich tödtlich beschädigt haben soll, so wäre es irrig, aus dem Nachweis einer vollständig erfolgten Athmung zu schliessen, dass der angegebene Vorgang nicht stattgehabt haben konnte, da Neugeborene selbst nach beträchtlichen Schädelverletzungen nicht sofort sterben, sondern noch einige Zeit fortathmen können.
Dies beweisen insbesondere jene Fälle, in denen Kinder nach vorgenommener Perforation und Kephalotripsie noch lebend und athmend zur Welt gekommen sind. Einen solchen Fall beschreibt Wisbrand (Schmidt’s Jahrb., 3. Supplementbd., pag. 331), ferner Laborie (ibid. 1845, XLV, 191, das Kind lebte noch über eine Stunde) und wir selbst hatten zweimal Gelegenheit, solche Fälle zu obduciren, in denen die kephalotribirten Kinder nach der Geburt noch einige Athemzüge gemacht hatten und auch lufthaltige Lungen zeigten. Ebenso fanden wir bei der Obduction eines in der Hausflur todt gefundenen neugeborenen Kindes den Schädel in Stücke zerschmettert, das Gehirn zum grössten Theile zerstört und sämmtliche Weichtheile in so ausgedehnter Weise suffundirt, dass kein Zweifel bezüglich der vitalen Entstehung dieser Verletzungen bestehen konnte. Trotzdem fanden sich im Magen zwei Camillenblüthenköpfchen in einer trüben, wie die mikroskopische Untersuchung erwies, aus Spülicht bestehenden Flüssigkeit und eben diese nebst zwei Blüthenblättern der Camille in den Bronchien. Da nicht angenommen werden konnte, dass das Kind früher in das betreffende Spülicht gebracht und dann erst durch Schädelzerschmetterung getödtet wurde, so erschien es plausibel, dass die Mutter dem Kinde zuerst den Schädel zerschmettert und dasselbe dann erst in das Spülicht und die Reste eines kurz zuvor genommenen Camillenthees enthaltende Gefäss geworfen hatte, woselbst das Kind noch einige Schluck- und Athembewegungen zu machen im Stande war.
Die Erwägung der Umstände des Falles ist bei der gerichtsärztlichen Beurtheilung von angeblichen Sturzgeburten von grösster Wichtigkeit, und meistens geben diese nach der einen oder der anderen Richtung den Ausschlag. Es gehört hierher[S. 804] nicht blos eine genaue Prüfung der Angaben der betreffenden Mutter über Schwangerschaftsdauer und Geburtsverlauf, sondern insbesondere eine sorgfältige Erwägung der localen Verhältnisse, deren Erhebung namentlich bei angeblich am Abtritt stattgefundenen Sturzgeburten niemals umgangen werden sollte. Inwiefern Blutspuren verschiedene Aufschlüsse über den Ort, wo die Geburt stattgefunden, geben können, bedarf keiner besonderen Erörterung, ebenso wie es klar ist, dass von einer Sturzgeburt auf einem Abort nicht gut die Rede sein kann, wenn an demselben unmittelbar nach der Geburt von Zeugen nicht die geringsten Blutspuren bemerkt worden sind, und wenn auch die Annahme, dass solche etwa vertilgt wurden, entfällt. Noch wichtiger ist die Erhebung der Beschaffenheit, insbesondere der Weite der Abtrittsbrille, eventuell des darunter befindlichen Trichters oder der von ersterer oder von letzterem abgehenden Röhre. Je grösser die Weite dieser Oeffnungen und Canäle ist, desto eher kann eine Sturzgeburt zugegeben werden, zuweilen ergibt aber eine einfache Besichtigung derselben, dass theils der Enge, theils der Krümmung wegen ein einfaches Durchfallen des Kindes nicht angenommen werden kann, sondern letzteres durchgeschoben worden sein musste.
So betrug in einem unserer Fälle, in welchem die Angeklagte angab, über dem Abortsbrette hockend eine Sturzgeburt erlitten zu haben, der Durchmesser der runden Brillenöffnung blos 14 Cm. und die der unteren Apertur des etwas gebogenen darunter befindlichen Trichters blos 11 Cm. Da nun das Kind ein offenbar ausgetragenes war und die Schulterbreite desselben 12 Cm. betrug, so konnte nicht angenommen werden, dass das Kind einfach aus den Geburtswegen der Mutter in den Abort herabgefallen sei, und das Gutachten, dass es durchgeschoben worden ist, war um so gerechtfertigter, als sich an demselben eine handflächenbreite Hautaufschürfung am linken Schulterblatt fand, welche sich gegen das Gesäss zu verschmälerte und die, weil das Kind beim Fall in den Abortsraum nirgends anstossen konnte und in eine starke Schichte dicker Abortsstoffe gerathen war, offenbar nur beim Durchzwängen durch die untere Oeffnung des Aborttrichters entstanden sein musste. — In einem anderen Falle wurde ein ausgetragenes Kind in einem Topfe vergraben aufgefunden, und die sofort eruirte Mutter gab an, über diesem Topfe mit auseinandergespreizten Beinen stehend geboren zu haben, wobei das Kind sofort in den Topf fiel und daselbst blieb, worauf sie es als todt vergrub. Dieser Topf hatte aber eine Höhe von 30 Cm. und seine Oeffnung einen Durchmesser von blos 14 Cm., während die Länge des an der Leiche gefundenen abgerissenen Nabelschnurrestes zusammengenommen mit jenem an der, an einem anderen Orte gefundenen Placenta 60 Cm. betrug, und es musste unter diesen Umständen erklärt werden, dass es ein besonders merkwürdiger Zufall oder geradezu ein Kunststück gewesen wäre, bei einer Geburt in der von der Mutter angegebenen, an und für sich unwahrscheinlichen Stellung das Kind gerade in die verhältnissmässig enge Oeffnung des Topfes hineinzugebären,[S. 805] und dass, dies selbst zugegeben, bei der geringen Entfernung der Oeffnung des Topfes von den Genitalien und bei der Länge der Nabelschnur (wozu noch die halbe Länge der Frucht gerechnet werden muss) eine Zerreissung derselben umsoweniger hat erfolgen können, als der fallende Kindskörper jedenfalls beim Passiren der engen Oeffnung des Topfes aufgehalten worden wäre. — In einem dritten Falle sollte die Geburt in sitzender Stellung auf dem Abort erfolgt sein. Aus den Aussagen zweier Zeugen, die gerade vor dem betreffenden Abort standen, ging jedoch hervor, dass, während die Angeklagte sich im Abort befand, plötzlich an der Thüre gerüttelt wurde, wie wenn Jemand an der Klinke sich festhalten würde, und unmittelbar darnach ein Geschrei „wie von jungen Katzen“ zu hören war, das jedoch sofort verstummte, worauf nach einigen Augenblicken die Angeklagte heraustrat, wobei man sah, wie sie ihre blutigen Hände an der Schürze abwischte. Das aus dem Abort gezogene Kind zeigte eine winklige Fissur des rechten Scheitelbeins, vollkommen lufthaltige Lungen, Erstickungserscheinungen, ferner Abortsinhalt in der Luftröhre und eine knapp am Nabel abgerissene Nabelschnur. Im Gutachten wurde erklärt, dass, wenn auch bei einer Sturzgeburt ein Athmen des Kindes während des Falles nicht unmöglich erscheint doch ein Schreien desselben nicht zugegeben werden könne, dass also schon aus diesem Grunde und weil die Lungen vollständig aufgebläht waren, eine Sturzgeburt nicht angenommen werden kann. Noch mehr musste diese Annahme entfallen mit Rücksicht auf das Ergebniss der Localbesichtigung, da sich herausstellte, dass der vordere Rand des Abtrittssitzes von der Thüre 1·47 Meter entfernt war, weshalb die Angeklagte unmöglich zu der Zeit, wo sie auf der Abortsbrille sass, zugleich an der Thür gerüttelt haben konnte, während, wie das gleichzeitig vernommene Schreien des Kindes beweist, die Geburt offenbar in letzterem Momente vor sich gegangen war. — Bei Waterclosets ist auch die treibende Kraft des Wasserstrahles zu berücksichtigen, besonders in Fällen, wo die Angeklagten angeben, dass sie erst, als sie die Klappe öffneten, das Kind bemerkten, welches eben in dem selben Momente verschwand. Dass ein unwillkürliches Entschlüpfen der Frucht unter solchen Umständen möglich ist, lehrte der folgende Fall: Eine hochgradig tuberculöse, verheiratete Patientin eines hiesigen Spitales hatte am Abort unerwartet entbunden. Auf ihr Geschrei kam die barmherzige Schwester aus dem anstossenden Krankenzimmer herbei, hob die Kranke, von der sie meinte, sie sei unwohl geworden, vom Abort und sah in diesem Moment ein sich regendes Kind im Abortstrichter liegen. In ihrer Verwirrung ergriff sie die Handhabe der Klappe, die sich sofort öffnete, worauf im selben Augenblick das Kind hinabgespült wurde und verschwand, bevor die Nonne es erfassen konnte. Das mit der Placenta in Verbindung stehende Kind wurde mit zerschmettertem Kopfe aus dem zwei Stockwerke tiefen Abort hervorgeholt. In einem anderen Falle gab die Angeklagte an, sie hätte die Klappe geöffnet, um das Kind vom Blut zu reinigen, wobei ihr dasselbe entschlüpfte.
[S. 806]
Die Verblutung aus der Nabelschnur.
Ueber die Frage, ob eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur überhaupt, oder wenigstens leicht möglich sei, oder nur ausnahmsweise erfolgen könne, ist ungemein viel geschrieben worden. Gegenwärtig sind sowohl die Geburtshelfer, als die Gerichtsärzte darüber einig, dass sie nur sehr selten eintrete. Namentlich sprechen gerichtsärztliche Erfahrungen für diese Thatsache, welche lehren, dass, obgleich bei heimlichen Geburten die Nabelschnur in der Regel sofort durchtrennt und fast niemals unterbunden wird, doch nur ausnahmsweise Kinder vorkommen, bei welchen eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur angenommen werden kann.
Die Ursache, warum eine Verblutung aus der durchtrennten Nabelschnur für gewöhnlich nicht erfolgt, ist in erster Linie in der lebhaften Contraction der Nabelarterien zu suchen, deren mächtige Längs- und Quermuskelschichte bei geringer Entwicklung der elastischen Fasern sie besonders befähigt, sich sowohl zu verengern, als ein centripetales Verkürzungsbestreben zu äussern (Strawinski, „Ueber den Bau der Nabelgefässe und über ihr Verhalten nach der Geburt“. Sitzungsb. d. Akad. d. Wissensch. 1874, LXX, 3. Abth., Juliheft). Ausserdem scheint eine grössere Reizbarkeit dieser Gefässe zu bestehen, welche bewirkt, dass schon der Contact der äusseren Luft, vielleicht auch der mechanische Reiz bei der Trennung der Nabelschnur lebhafte und dauernde Contraction derselben zur Folge hat. Ob die Temperatur des umgebenden Mediums von Einfluss ist, ist fraglich, wenigstens sahen wir, wenn neugeborenen oder lebend aus dem Uterus herausgeschnittenen Hunden die Nabelschnur durchtrennt wurde, die Blutung aus dieser in wenigen Augenblicken sistiren, ob nun der Unterleib des Thieres früher in kaltes oder warmes Wasser getaucht worden war. Dagegen verengerten sich die Arterien lebhaft, wenn in dieselben eine Borste eingeführt wurde. Ein wesentlicher Einfluss auf den Stillstand der Blutung aus der durchtrennten Nabelschnur wird dem Beginn des kleinen Kreislaufes zugeschrieben, wodurch der Aorta descendens eine grosse Blutmasse entzogen und deshalb und weil der Druck der rechten Kammer entfällt, der Druck in sämmtlichen Gefässen des Aortensystems vermindert wird, welche Druckverminderung sich vorzugsweise peripher bemerkbar macht. Der Einfluss dieser Verminderung des Blutdruckes ist nicht zu unterschätzen, noch weniger die verhältnissmässige Schwäche des erst nach der Geburt hypertrophirenden linken Ventrikels, die bewirkt, dass auch andere Gefässe und selbst die Carotiden, wenn sie bei neugeborenen Thieren durchschnitten werden, nicht wie später, im starken Strahle spritzen, sondern ihr Blut mehr sprudelnd entleeren, wie wir uns durch directe Beobachtung an neugeborenen Hunden überzeugt haben, wobei wir zugleich fanden, dass die Nabelarterien in der Bauchhöhle noch einige Zeit (in dem einen Falle noch nach einer halben Stunde) fortpulsiren, nachdem Puls und Blutung im Nabelschnurreste bereits aufgehört haben und die Respiration in vollen Gang gekommen ist (Oesterr. Jahrb. f. Pädiatr. 1887, pag. 188).
[S. 807]
Letztere Beobachtung, sowie die geburtshilfliche Erfahrung, dass die Nabelschnur auch noch nach der Geburt einige Augenblicke, manchmal auch durch längere Zeit, fortpulsirt (Mende, l. c. III, 289; Hohl, l. c. 454), machen es ganz wohl möglich, dass in einzelnen Fällen eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur erfolgen kann, und diese Möglichkeit wird durch wiederholt gemachte Beobachtungen dieser Art bewiesen.[511] Die Ursache, warum die Blutung aus der durchtrennten Nabelschnur nicht wie gewöhnlich still stand oder nachträglich wieder auftrat, lässt sich nicht immer eruiren. Unvollkommene oder behinderte Respiration scheint den Eintritt einer Nabelschnurverblutung zu begünstigen, da der kleine Kreislauf sich nicht vollkommen entfaltet und daher der Blutdruck im Aortensystem nicht blos nicht sinkt, sondern im Gegentheil wie bei jeder Erstickung steigt. Ob ein warmes Medium, in welches die Frucht geräth, die Verblutung aus der Nabelschnur fördere, die Kälte aber diese verzögere, muss obigen Beobachtungen zufolge dahingestellt bleiben. Dass aus einer durchrissenen oder durchquetschten Nabelschnur weniger leicht eine letale Blutung erfolgen kann, als aus einer durchschnittenen, muss aus der Analogie mit anderen Wunden zugegeben werden. Die Stelle, wo der Nabelstrang durchtrennt wurde, ist nicht gleichgiltig, insoferne, als aus einem langen Nabelschnurrest weniger leicht ein starker Blutverlust zu befürchten ist, als aus einem kurzen, obgleich, wie zahlreiche Fälle lehren, selbst wenn die Nabelschnur aus dem Nabel ausgerissen wurde, nicht nothwendig Verblutung erfolgen muss. Ein anormaler Ursprung der Nabelarterien wäre ebenfalls zu beachten.
Nach Rokitansky (Path. Anat. 3. Aufl., III, 547) ist gar nicht selten nur eine Nabelarterie zugegen als unmittelbare Fortsetzung der Abdominalaorta. Wir selbst haben wiederholt nur eine Nabelarterie gefunden, die aber stets normal aus der Hypogastrica entsprang, jedoch noch einmal so stark war als gewöhnlich.
Die meisten in der Literatur enthaltenen Fälle von Verblutung aus den Nabelgefässen sind solche, in welchen die Verblutung erst nachträglich, und zwar während der Abstossung des mortificirten Nabelstranges oder bald darnach eingetreten war. Einzelnen dieser Fälle liegt ein anormaler Verlauf der Obliteration der Nabelgefässe zu Grunde, meistens aber ist die Blutung durch septische Processe am Nabel oder in den Nabelgefässen bedingt (Klebs, v. Ritter, Eppinger).
[S. 808]
An eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur kann bei der Untersuchung einer Kindesleiche selbstverständlich nur dann gedacht werden, wenn letztere ausgesprochene Zeichen der Anämie darbietet. Findet sich aber eine solche, so werden wir sie nur dann auf eine Verblutung aus der Nabelschnur beziehen, wenn andere Ursachen der Anämie, insbesondere Verletzungen grösserer Gefässe oder blutreicher Organe, sich nicht nachweisen lassen. Dabei ist der Umstand, dass der Nabelschnurrest etwa unterbunden gefunden wird, für sich allein nicht genügend, um eine Verblutung aus dieser Quelle auszuschliessen, da die Ligatur auch erst nachträglich angelegt worden sein konnte, und weil einzelne Fälle bekannt sind, in welchen trotz erfolgter Unterbindung, weil die Schlinge von selbst oder wegen Schwund der Sulze sich gelockert hätte, Verblutung eingetreten war.
Absichtliche Tödtung des Neugeborenen.
Der §. 139 des österr. St. P. unterscheidet eine Tödtung des Neugeborenen durch activen Eingriff der Mutter und eine solche durch Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes. Der österr. Entwurf (§. 222) enthält die gleiche Unterscheidung, ohne jedoch auf die Tödtung durch Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes eine geringere Strafe festzusetzen, wie dies merkwürdiger Weise im gegenwärtigen St. G. geschieht. Das deutsche St. G. spricht nur von „Tödtung“ schlechtweg, ohne die Art und Weise näher zu berühren, durch welche dieselbe bewirkt werden kann.
Von den activen Tödtungsarten, die bei Neugeborenen zur Anwendung kommen, ist die durch Verletzung des Schädels mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen eine der häufigeren, wobei die betreffenden Werkzeuge entweder gegen den Kopf des Kindes geführt werden oder dieser gegen harte Körper geschleudert wird. Die Folgen solcher Gewalteinwirkungen sind meist Continuitätstrennungen der Schädelknochen mit Extravasat in die Schädelhöhle. Die Beurtheilung dieser kann im Allgemeinen nach keinen anderen Grundsätzen geschehen, als die jener bei Erwachsenen. Doch bieten die Continuitätstrennungen am Schädel Neugeborener manches Eigenthümliche dar, und zwar, abgesehen davon, dass sie auch schon, wie bereits besprochen wurde, während des Geburtsactes und sogar vor demselben entstehen können, auch insoferne, als eine Verwechslung mit Ossificationslücken denkbar ist, und auch die Möglichkeit, dass die constatirten Läsionen erst nach dem Tode entstanden sein konnten, wegen der grossen Fragilität der Schädelknochen des Neugeborenen ganz besonders in Betracht gezogen werden muss.
Die Ossificationslücken zerfallen in spaltförmige oder anderweitig, d. h. rundlich oder unregelmässig geformte.
[S. 809]
Erstere kommen mit grosser Constanz an der Hinterhauptsschuppe vor und stehen wahrscheinlich mit der Anordnung der Vasa Santorini in einem ursächlichen Zusammenhang, während sie früher als Rest der ursprünglich paarigen Trennung der Ossificationskerne betrachtet wurden, aus denen sich die Hinterhauptsschuppe angeblich aufbaut. Man unterscheidet hier eine senkrechte und zwei seitliche Spalten (Fig. 124). Die senkrechte zieht von der Spitze der Hinterhauptsschuppe senkrecht herab zum Hinterhauptshöcker und ist selten länger als 1·5 Cm. Die seitlichen Spalten springen symmetrisch von beiden Seitenfontanellen in die Hinterhauptsschuppe ein, schief nach innen und oben in der Weise verlaufend, dass sie meist in der Höhe des Hinterhaupthöckers 1–1·5 Cm. von diesem entfernt enden. Ihre Länge beträgt selten weniger als 2 Cm. und ihr Verlauf ist nicht immer ein geradliniger, sondern häufig ein wellenförmiger. Ausserdem zeigt der untere Rand der Hinterhauptsschuppe fast immer eine Einkerbung gerade in seiner Mitte, welche zuweilen in eine nach aufwärts ziehende Spalte sich verlängert und in sehr seltenen Fällen sogar, mit der von oben kommenden Spalte sich vereinigend, eine Theilung der Schuppe in 2 seitliche Hälften bewirkt. Häufiger vereinigen sich die beiden seitlichen Spalten, wovon wir zwei Beispiele in unserer Sammlung besitzen (Fig. 125).
Auch die Scheitelbeine zeigen sehr gewöhnlich, wenn auch nicht so constant wie die Hinterhauptsschuppe, derartige „embryonale Spalten“. Am häufigsten sieht man solche im hinteren Drittel des Pfeilnahtrandes, und zwar jederseits ganz symmetrisch je eine, selten mehr als 1·5 Cm. lange, zwischen den Ossificationsstrahlen sich nach aussen ziehende Spalte, welche der Stelle entspricht, wo sich später die Foramina parietalia bilden. Indem die inneren Enden dieser Spalten häufig auseinanderweichen, bilden sie eine rhombische oder ovale Lücke in der Pfeilnaht, die man als „accessorische Fontanelle“ [S. 810]bezeichnet (Fig. 126). Ebenfalls häufig sieht man an der Uebergangsstelle des mittleren in das obere Drittel der Lambdanaht symmetrisch gelegene Spalten in die Scheitelbeine einspringen und nach vorn und aussen gegen das Tuber parietale verlaufen. Dieselben sind in der Regel nur kurz, können aber auch, wie wir einen solchen Fall beschrieben haben[512], bis nahe zum Scheitelhöcker verlaufen und dann eine überraschende Aehnlichkeit mit traumatischen Fissuren erhalten (Fig. 127).
Die Verwechslung solcher angeborener Spalten mit traumatischen Fissuren ist thatsächlich vorgekommen und wir haben einige solche Fälle in der eben citirten Arbeit zusammengestellt.[513] Die Unterscheidung ergibt sich zunächst aus dem stets constanten Sitze der Spalten und ihrer symmetrischen Anordnung, ferner aus der zugeschärften oder abgerundeten Beschaffenheit der Ränder derselben, die jedoch nicht immer gerade, sondern auch wellen- und selbst zickzackförmig verlaufen können, und bei frischen Schädeln ausserdem dadurch, dass der zwischen den Spalträndern bestehende Raum mit embryonalem Knorpel ausgefüllt ist, mit welchem, wie an den Nähten, einestheils das Pericranium, anderseits die Dura ziemlich fest verwachsen sind.
Die rundlichen oder unregelmässig geformten Ossificationslücken, welche nicht selten an den Schädelknochen Neugeborener vorkommen, verdanken einer mangelhaften Ossification ihre Entstehung und werden daher als Ossificationsdefecte schlechtweg bezeichnet (Fig. 128). Der häufigste Ort, wo dieselben vorkommen, ist das Scheitelbein, seltener das Stirnbein und nur ganz ausnahmsweise das Hinterhauptsbein. An den Scheitelbeinen sitzen die Defecte fast immer zwischen der Pfeilnaht und dem Tuber, näher der ersteren. Häufig ist dann [S. 811]der Defect beiderseitig, ohne deshalb einen gleichen Grad der Ausbildung zeigen zu müssen. Auch an dem Stirn- und Hinterhauptsbein sitzen die Ossificationsdefecte, wenn sie dort vorkommen, niemals im Tuber, sondern stets in den peripheren Partien des Knochens. Sie präsentiren sich entweder als rundliche oder unregelmässige Lücken im Knochen, gegen welche zu letzterer sich allmälig verdünnt, oder als papierdünne, durchsichtige Stellen, oder noch häufiger als Combinationen beider dieser Erscheinungsformen. Sie sind häufig schon durch die Kopfhaut als eindrückbare, manchmal wie crepitirende Stellen zu fühlen, und lassen sich am blossgelegten Schädelknochen am besten dann deutlich als solche erkennen, wenn man denselben nach Ablösung des Pericranium und der Dura gegen das Licht hält, wo man dann die durchscheinenden Partien des Knochens, sowie die allmälig gegen das Lumen sich verdünnenden Ränder der Lücken sehr gut erkennen kann. Dieses Verhalten, sowie die die Lücke ausfüllende, mit dem Pericranium und der Dura mater verwachsene Primordialmembran unterscheiden solche Oeffnungen von anderweitig (durch Trauma) erzeugten. Trotzdem sind Fälle vorgekommen, in denen eine solche, kaum zu entschuldigende Verwechslung stattgefunden hat. Eine andere forensisch wichtige Bedeutung solcher Ossificationsdefecte liegt in der Leichtigkeit, mit welcher an solchen Partien des Knochens der abnormen Dünne und Brüchigkeit wegen Fracturen und Fissuren entstehen können. Letztere können, wie bereits erwähnt, schon während des Geburtsactes entstehen, aber auch nach der Geburt reichen schon geringfügige Gewalten hin, um an solchen Stellen Continuitätstrennungen zu erzeugen, und es ist klar, dass sich dann die mit solchen Einwirkungen verbundene Erschütterung leichter durch das abnorm verdünnte oder durchbrochene Schädeldach auf das Gehirn fortpflanzen wird, als wenn dieses die normale Dicke und Festigkeit besessen hätte. Es ist dies ein Umstand, der insbesondere bei Beurtheilung des Effectes einer Sturzgeburt in Betracht zu ziehen ist.
Die Ossificationsdefecte können bei sonst ganz gesunden Kindern vorkommen, mitunter aber sind sie eine Theilerscheinung des Hydrocephalus, was ebenfalls Beachtung verdient. Erwähnung verdienen auch die als Rachitis congenita oder Osteogenesis imperfecta (Vrolik) beschriebenen Fälle, in welchen, als Theilerscheinung einer allgemein mangelhaften Ossification, die Schädeldeckknochen aus einer grossen Zahl kleiner und dünner, meist sternförmiger Knochenplatten bestehen, [S. 812]die entweder von einander getrennt sind oder die mannigfachsten Stadien der gegenseitigen Verschmelzung darbieten (Fig. 129). Solche Schädel können sich von aussen anfühlen, wie wenn sie in mehrere Stücke gebrochen wären. In der Regel bestehen auch die übrigen Knochen, insbesondere die Diaphysen der Extremitätenknochen, aus unregelmässig ossificirten Stücken (Fig. 130), welche ebenfalls Fracturen vortäuschen können, wie dies in dem abgebildeten Falle thatsächlich geschehen ist. Dabei ist zu bemerken, dass solche Knochen sehr spröde sind und daher ungemein leicht brechen, wie denn auch an dem abgebildeten Schädel wirkliche Fracturen sind, die wahrscheinlich während des Geburtsactes und durch diesen, vielleicht aber auch nachträglich durch die mit dem Kinde vorgenommenen gewöhnlichen Manipulationen entstanden sind.
Dass Fissuren oder Fracturen, die sich an einem Kindesschädel finden, möglicherweise erst nach dem Tode entstanden sein konnten, ist immer im Auge zu behalten, einestheils wegen der bereits erwähnten Leichtigkeit, mit welcher solche Continuitätstrennungen an den kindlichen Schädelknochen entstehen, anderseits deshalb, weil bei der Beseitigung oder Verbergung der Leichen Neugeborener häufig in einer Weise verfahren wird, dass ausgiebige Gelegenheit geboten ist zur Bildung solcher Verletzungen. So z. B. wenn die Leichen in Aborte, Gruben oder über Mauern geworfen, vergraben, mit Steinen beschwert, in enge Verstecke[S. 813] eingezwängt werden u. dergl. Es muss in solchen Fällen zunächst der Ort erwogen werden, wo die Leiche gefunden wurde, und ob das Gelangen dieser an jenen mit einer gewissen Gewalteinwirkung verbunden gewesen sein musste, ebenso eventuelle nachträgliche Gewalten, die namentlich beim Herausbefördern der Leiche eingewirkt haben konnten. So fanden wir an einem offenbar todtgeborenen, aus dem Abort herausgezogenen Kinde zahlreiche Hautaufschürfungen am Körper und mehrfache reactionslose Fissuren und Fracturen der Scheitelbeine, welche umsomehr als postmortal entstandene erklärt werden mussten, als sich herausstellte, dass die Kindesleiche in der Abortsröhre stecken geblieben war und dass man, um die Verstopfung der Röhre, deren Grund man nicht ahnte, zu beseitigen, das Hinderniss mit einer Stange herabgestossen hatte, was erst nach längerer Anstrengung gelang. In einem anderen ähnlichen Falle ergab sich ein schmaler Stichcanal, welcher den ganzen Rumpf schief durchdrang und von einem langen Drahte herrührte, mit welchem die Abortröhre, wo die Kindesleiche stak, sondirt worden war. Ausser solchen Erwägungen können nur der Befund oder das Fehlen vitaler Reactionserscheinungen entscheiden, ob es sich um eine während des Lebens oder erst postmortal entstandene Verletzung handelt.
Tödtungen des Kindes durch gegen andere Körpertheile gerichtete Schläge, Stösse, Tritte u. dergl., kommen nur ausnahmsweise und dann in der Regel combinirt mit Verletzungen des Schädels vor. Fälle von Tödtung Neugeborener durch Erzeugung von Leberrupturen haben Pincus, Bittner und Koehler (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875. XXII, pag. 1, XXIII, pag. 33 und 1877, XXVI, pag. 71), sowie Merner (ibid. 1882, XXXVI, 226) und neuestens Lindner (ibid. 242) beschrieben. Diese Fälle sind, abgesehen von ihrer Seltenheit, deshalb interessant, weil aus Anlass derselben die Frage angeregt wurde, ob eine Leberruptur auch beim Abreissen der Nabelschnur entstehen könne. Es kann dies wohl nicht leicht vorkommen, denn auch dann, wenn die Mutter, ihre Hand an dem Kinde stützend, die Nabelschnur abreisst, kann eine Ruptur durch den Druck der Hand nicht gut erfolgen, da die Zerreissung der Nabelschnur, wie bereits erwähnt, keine besondere Gewalt erfordert. Doch haben wir bei einem[S. 814] kurz vor Ankunft der zur (unehelichen) Entbindung gerufenen Hebamme geborenen Kinde die Nabelschnur aus dem Nabel und aus der Placenta ausgerissen und an der Convexität des rechten Leberlappens eine seichte Ruptur gefunden und in einem Falle von Sturzgeburt eine Abreissung der Nabelvene innerhalb der Bauchhöhle (pag. 799). Dagegen sind heftige Quetschungen der Lebergegend, wie sie beim Treten des Kindes und bei ähnlichen activen Gewalten stattfinden, ebenso aber auch ein Sturz von beträchtlicher Höhe auf harten Boden geeignet, solche Rupturen zu erzeugen, und es ist bei der unverhältnissmässigen Grösse der kindlichen Leber, dem Blutreichthum und der grösseren Zartheit der Gewebe zu verwundern, dass sie z. B. bei den aus Aborten gezogenen Kindern nicht häufiger beobachtet werden.
Sehr selten sind die Tödtungen Neugeborener durch schneidende oder stechende Werkzeuge. Doch haben wir mehrmals Gelegenheit gehabt, Fälle zu begutachten, in welchen die Mutter ihr neugeborenes Kind durch Halsabschneiden getödtet hatte, und einen, in welchem das Kind durch eine eiserne Schaufel tödtlich verletzt worden war. Erstechen ist uns bisher nicht vorgekommen.
Erstickung ist häufig. Wurde sie mit einigem Raffinement, z. B. durch Verschluss der Respirationsöffnungen mit weichen Gegenständen, Tüchern, Betten u. dergl., vorgenommen, dann können äussere Merkmale der Todesart vollkommen fehlen. Die Tödtung durch Zuhalten des Mundes oder der Nase mit den Händen könnten Fingernägeleindrücke und andere Hautaufschürfungen in der Nähe der Respirationsöffnungen verrathen. Doch wäre zu beachten, dass Hautkratzer im Gesichte durch Selbsthilfe entstehen können. Nicht gar selten sind die Tödtungen durch Verstopfung der Mund- und Rachenhöhle mit den Fingern oder anderen fremden Körpern, in welchen Fällen sich entweder letztere noch vorfinden oder mehr weniger ausgebreitete Quetschungen oder Zerreissungen des Rachens oder Gaumens den Vorgang verrathen. Wir haben eine beträchtliche Zahl solcher Fälle untersucht. Da in zweien derjenigen, wo kein fremder Körper vorgefunden wurde, auch am Vorderhalse Druckspuren sich fanden, haben wir auch die Möglichkeit erwogen, ob solche Zerreissungen des Rachens nicht auch durch brutales Würgen entstehen können und in dieser Richtung einige Versuche angestellt, jedoch mit negativem Resultate. Haberda (Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 45–47) hat die in unserem Institute vorgekommenen derartigen Fälle (im Ganzen 17) näher beschrieben und theilweise abgebildet und erörtert ausführlich die Differentialdiagnose solcher von blos zufällig entstandenen Verletzungen. Bezüglich der Spuren, die am Halse des Neugeborenen nach Erwürgen zurückbleiben können, verweisen wir auf die Besprechung dieser Todesart bei Erwachsenen. Jedoch muss bemerkt werden, dass Sugillationen zwischen den Weichtheilen des Halses, insbesondere in der Scheide des Sternocleidomastoideus (Haematoma st. cl. m.), sich auch bei Selbsthilfe in[S. 815] Folge heftiger Zerrung, respective Streckung des Halses, sowohl bei zuerst geborenem, als bei nachfolgendem Kopfe bilden können, wie durch wichtige Beobachtungen von Hirschsprung (Virchow’s Jahresb. 1869, II, 662), Skrzeczka (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1869, X, 129) und Fassbender (ibidem, 1874, XXI, 176) sichergestellt worden ist[514], wie denn auch forensisch nicht unbeachtet bleiben kann, dass bei Anwendung des sogenannten Prager Handgriffes zur Extraction des zuletzt kommenden Kopfes, von Schröder zweimal eine Lossprengung des Partes condyl. von der Hinterhauptsschuppe beobachtet wurde, ebenso einmal von Winckel bei gewöhnlicher Schädellage (Bergmann, Pitha-Billroth’s Handb. 1873, III, pag. 46). Aehnliche Beobachtungen von Sassen an 33 durch Extraction geborenen Kindern vide Virchow’s Jahresb. 1874, II, 803. Ueber Zerreissungen des Mundes und sogar Fracturen des Unterkiefers bei der Selbsthilfe, insbesondere beim nachfolgenden Kopf, respective durch Einführen der Finger in den Mund und Zug am Unterkiefer haben Skrzeczka (Maschka’s Handb. I, 956), Braxton-Hicks (Virchow’s Jahresb. 1885, I, 498) und Kop (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1886, XLV, pag. 87) berichtet. Bei Strangulationen mit einem Würgband können sich Sugillationen im Unterhautgewebe und in den tieferen Weichtheilen bei Neugeborenen, der grösseren Zartheit und Zerreisslichkeit der Gewebe wegen, leichter bilden, als bei Erwachsenen. In einem Falle, in welchem das Kind mit einem Kleiderärmel erdrosselt worden war, haben wir sie sehr deutlich ausgebildet gefunden. Dass eine (weiche) Strangfurche auch durch Umschlingung der Nabelschnur um den Hals entstehen und dass gut genährten Kindern der anämische Grund von Querfalten der Haut am Halse eine Strangfurche vortäuschen könne, wurde bereits erwähnt.
Anderweitige Tödtungsarten, die überdies ausser dem Ertränken nur ganz ausnahmsweise vorkommen, bieten keine specifischen Seiten und sind nach denselben Grundsätzen zu beurtheilen, die bei Besprechung der betreffenden Arten des gewaltsamen Todes bereits an anderer Stelle ihre Auseinandersetzung gefunden haben.
Die Tödtung des Neugeborenen durch Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes könnte geschehen durch absichtliche Unterlassung der Unterbindung der Nabelschnur, ferner durch absichtliche Unterlassung der Beseitigung von Respirationshindernissen und endlich durch Nichtbeschützen des Kindes gegen äussere schädliche Einflüsse.
[S. 816]
Es ist selbstverständlich, dass, wenn es auch gelang, zu constatiren, dass das betreffende neugeborene Kind an Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur gestorben ist, doch nur in den seltensten Fällen Anhaltspunkte gegeben sein werden, um den Nachweis zu führen, dass die Unterbindung absichtlich unterlassen wurde, umsoweniger, als man wenigstens bei Erstgebärenden, und um diese handelt es sich meistens, nur selten in der Lage sein wird, zu behaupten, dass die betreffende die Nothwendigkeit einer Unterbindung der Nabelschnur kennen musste, sowie auch, wie dieselbe vorzunehmen sei. Ebenso wird man, falls ein Kind in unverletzten Eihäuten oder mit durch Eihautstücke oder durch Fruchtschleim verlegten Respirationsöffnungen zur Welt kommt, es begreiflich finden, wenn die Mutter die Gefahr, in welcher das Kind schwebt, nicht erkennt und daher die Respirationshindernisse zu entfernen versäumt. Würde es sich um eine Sturzgeburt auf einem Gefässe, oder um eine Entbindung unter Betten u. dgl. handeln, dann muss man allerdings annehmen, dass der natürliche Verstand der Entbundenen sagen musste, dass das Kind aus der betreffenden Lage zu entfernen sei, wenn es am Leben erhalten werden solle. Hier begegnet man aber häufig der Angabe der Angeklagten, dass sie im Momente der Entbindung bewusstlos wurde, oder wegen Erschöpfung nicht im Stande war, dem Kinde Hilfe zu leisten. Die Möglichkeit einer Bewusstlosigkeit, insbesondere einer Ohnmacht während oder unmittelbar nach dem Geburtsacte, kann gegenwärtig nicht mehr bestritten werden. M. Freyer („Die Ohnmacht bei der Geburt vom gerichtsärztlichen Standpunkt.“ Berlin 1887) gebührt das Verdienst, jeden Zweifel in dieser Richtung beseitigt zu haben, indem es ihm gelang, in der Literatur 3 unantastbare, von Mende, Schmitt und Wildberg mitgetheilte Beispiele nachzuweisen, ferner bei streng kritischer Durchsicht einer grossen Zahl seit 1879 vorgekommenen, Kindsmord betreffenden Kriminalfällen 5 zu eruiren, in welchen die Angeklagten zur Zeit des Gebäractes von Zeugen im Ohnmachtszustande angetroffen wurden und 10 andere, in welchen die Angeklagten das Vorhandengewesensein einer Ohnmacht aufrecht erhielten, obgleich sie die Mordthat eingestanden. Ein einschlägiger Fall wird auch von Kornfeld (Friedreich’s Bl. 1888, pag. 64) berichtet. Aufrechte Körperstellung, grosser Schmerz, heftige Gemüthsbewegung, plötzliche Entleerung der Frucht und starke Blutung begünstigen das Eintreten einer Ohnmacht und diese Bedingungen können bei einer heimlichen Entbindung leichter in verschiedenen Combinationen vorkommen als bei gewöhnlichen Geburten. Man kann daher Angaben von heimlich Entbundenen, dass sie im Momente der Geburt das Bewusstsein verloren hätten, nicht ohne weiteres als Lüge oder Uebertreibung bezeichnen. Gleiches gilt gegenüber von Angaben, dass die Betreffenden wegen Erschöpfung für einige Zeit unfähig gewesen wären, dem Kinde zu helfen. Trotzdem werden wir in jedem einzelnen Falle nicht[S. 817] blos die allgemeine Möglichkeit der erwähnten Vorgänge im Auge behalten, sondern auch prüfen, ob die übrigen Umstände des Falles sich mit einer solchen Möglichkeit im Einklang befinden.[515] Eine Tödtung des Kindes durch Nichtbeschützung desselben vor äusseren schädlichen Einflüssen könnte vorzugsweise dadurch geschehen, wenn das Kind am Orte der Entbindung liegen gelassen worden und etwa durch die gerade herrschende Kälte umgekommen wäre. Wir haben bereits an einem anderen Orte erwähnt, dass bei Neugeborenen nicht gerade Gefrierkälte nöthig ist, um den Tod herbeizuführen, und zugleich auf die Schwierigkeit hingewiesen, die die Diagnose einer solchen Todesart bietet. Den Nachweis zu führen, dass das Kind absichtlich der Kälte ausgesetzt gelassen wurde, fällt begreiflicher Weise in einem solchen Falle weniger dem Arzte, als dem Untersuchungsrichter zu, da nur die äusseren Verhältnisse des Falles im Stande sind, in dieser Richtung Aufklärung zu geben. Auch verhungern kann ein Kind unter solchen Umständen. Diese Möglichkeit war bei einem von uns obducirten Kinde vorhanden, welches seine Mutter eingestandenermassen, trotzdem es schrie, im Keller liegen gelassen, dort, als sie erst nach 3 Tagen nachsah, todt gefunden und dann vergraben hatte.
Schliesslich sei noch bemerkt, dass nicht immer ganze Kindesleichen zur Obduction gelangen, sondern manchmal nur Theile derselben, während andere, sei es durch absichtliche Zerstücklung („Seltener Fall von grosser Verstümmelung eines neugeborenen Kindes; fehlender Kopf, fehlende Lungen, Schnitte in den Extremitäten.“ Meyer, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XII, 87. Ein anderer Fall, wo nur die untere Körperhälfte gefunden wurde, wird von Raimond mitgetheilt. Virchow’s Jahrb. 1889, 1) oder, was häufiger vorkommt, weil sie von Ratten oder anderen Thieren gefressen wurden, fehlen. In solchen Fällen wird es von der Natur der noch erhaltenen Theile abhängen, welche von den bei der Untersuchung Neugeborener sich ergebenden Fragen noch beantwortet werden können. Am ehesten lässt sich eruiren, ob das betreffende Kind ein neugeborenes war und ob es bereits die vollständige Reife besass oder nicht. Die Frage, ob dasselbe lebend geboren wurde, wird nur dann mit mehr weniger Sicherheit beantwortet werden können, wenn sich noch die Lungen oder der Verdauungstractus finden. Würde blos der Kopf vorliegen, so wären auch die Paukenhöhlen in der oben angegebenen Richtung zu untersuchen. Diese könnten, wenn sie fremde Substanzen enthielten, auch über die Todesart des Kindes Aufschluss geben, ebenso andere Körpertheile,[S. 818] wenn an ihnen Verletzungen sich fänden, die als während des Lebens entstandene sich erkennen lassen.
Es kann ferner vorkommen, dass sich gar kein Kind, sondern nur die Nachgeburt findet. In diesem Falle würde ausser der Untersuchung, der Mutter, die auch in den eben erwähnten Fällen nicht versäumt werden dürfte, die Grösse und das Gewicht der Placenta in Betracht zu ziehen sein, um daraus annäherungsweise das Fruchtalter zu bestimmen. Deshalb haben wir bei Beschreibung der Früchte aus den einzelnen Schwangerschaftsmonaten auch jedesmal das durchschnittliche Gewicht und den Durchmesser des Mutterkuchens angegeben. Würde sich eine doppelte Placenta finden, so wäre daraus nicht sofort auf eine Zwillingsgeburt zu schliessen, da bereits wiederholt auch bei einfacher Frucht ein doppelter Mutterkuchen beobachtet wurde, wobei allerdings jeder in der Regel nur halb so gross war, als der normale (Fälle vide Schmidt’s Jahrb., 1844, XLIII, pag. 44. 1851, II, 209 und 1854, LXXXIII, pag. 323). Der Nabelstrang theilt sich in solchen Fällen entweder unmittelbar vor der Placenta in zwei Hauptstämme, oder er bildet eine sogenannte Insertio velamentosa.
Fälle, in denen die Früchte von Schweinen vollkommen aufgefressen wurden und nur die Nachgeburt und die Mutter Gegenstand der Untersuchung war, finden sich u. A. in Autenrieth’s Aufsätzen, pag. 341 und in Friedreich’s Bl. 1871, pag. 436.
Es ist für den Gerichtsarzt unumgänglich nothwendig, jene Veränderungen zu kennen, welche nach dem Tode und in Folge desselben an der Leiche geschehen, einestheils, weil der Grad, in welchem sich diese Veränderungen ergeben, für die Bestimmung der Zeit, welche seit dem Tode verflossen ist, verwerthet werden kann, andererseits, weil die Kenntniss dieser Veränderungen der in forensen Fällen nicht genug zu vermeidenden Möglichkeit vorbeugt, dass einfache Leichenerscheinungen für pathologische Befunde genommen werden.
Ein Individuum ist todt von dem Momente, in welchem Respiration und Herzthätigkeit dauernd sistiren. Die dauernde Sistirung dieser beiden wichtigsten Lebenserscheinungen erfolgt keineswegs immer gleichzeitig. In der Regel überdauert der Herzschlag den Stillstand der Respiration um einige Augenblicke, manchmal, besonders bei Neugeborenen, selbst um längere Zeit (vide pag. 757). Seltener überdauern die Athembewegungen, so nach grösseren Herzverletzungen, oder nach dem Tode durch Herzlähmung. Bei decapitirten Thieren kann man ein schnappendes, in Pausen erfolgendes Oeffnen des Mundes durch längere Zeit beobachten, und Vezin hat solche Bewegungen an zwei abgeschlagenen Köpfen Hingerichteter 10 Minuten lang verfolgt; Gad (Med. Centralbl. 1885, 724) an einem anderen durch 1½ Minuten. Nach erfolgtem Stillstand des Herzens und der Respiration erhalten sich noch gewisse Lebensäusserungen in den Geweben durch einige Zeit. Hierher gehört die elektro-musculäre Reizbarkeit, [S. 819]die von Eppinger an Spitalsleichen noch 2–6 Stunden p. m., von Jeanselme und Drasche an Choleraleichen noch ½-2 Stunden und von älteren Beobachtern bei Hingerichteten noch nach längerer Zeit constatirt werden konnte; die Reizbarkeit der glatten Hautmuskeln, welche die postmortale Erzeugung einer Gänsehaut gestattet, die Reactionsfähigkeit der Pupille, welche nach Marschall (The Lancet, 1885, pag. 286) auf Atropin in den ersten 4, auf Eserin in den ersten 2 Stunden nach dem Tode noch reagirt, und nach Regnard und Loye (Progrès méd. 1885, pag. 33) bei Guillotinirten, bei Lichteinfall sich noch durch einige Zeit contrahirt[516], ferner die Fortdauer der Flimmerbewegung und die der Spermatozoen, die bei plötzlich Verstorbenen nicht selten noch 24–28 Stunden nach dem Tod und manchmal noch später beobachtet werden kann, endlich die bereits a. a. O. (pag. 506) erwähnte reducirende Kraft der Gewebe.
Von den Veränderungen, die unmittelbar oder schon in den ersten Stunden nach dem Tode an der Leiche vor sich gehen, sind als in forensischer Beziehung wichtig zu erwähnen: das Erkalten der Leiche, die Bildung von Hypostasen und die Todtenstarre.
Das Erkalten der Leichen erfolgt an der Oberfläche und blos für das Gefühl durchschnittlich in 8–17 Stunden (Casper); mit dem Thermometer gemessen erfordert die vollständige Abkühlung nach Seydeler durchschnittlich 23 Stunden. Ob das Erkalten der Leiche früher oder später erfolgt, hängt theils von individuellen, theils von anderen Verhältnissen ab. Leichen kleiner Kinder erkalten rascher als die von Erwachsenen und magere früher als fette. Von äusseren Momenten ist insbesondere die Temperatur des umgebenden Mediums von Einfluss, so die durch die Jahreszeit modificirte Temperatur der Luft im Freien sowohl, als in geschlossenen Localen. Im kühlen Wasser erfolgt das Erkalten sehr rasch, langsam dagegen in Abtrittsgruben u. dergl. Ausserdem wird zu berücksichtigen sein, ob die Leiche nackt oder bekleidet war, oder ob durch Betten, Heu, Stroh u. dergl., mit welchen die Leiche bedeckt war, der Wärmeverlust verzögert wurde. Die Temperatur einer Leiche gleicht sich nicht einfach mit jener der umgebenden Luft aus, sondern sinkt unter letztere in Folge der an der Oberfläche stattfindenden Verdunstung und der dadurch [S. 820]bewirkten Wärmebindung, weshalb sich die Leichen in der Regel mehr weniger kalt anfühlen.
Die früher allgemein geltende Ansicht, dass die Körperwärme schon während des Sterbens, noch mehr aber nach dem Tode gleichmässig sinke, bis sich die Temperatur der Leiche mit der des umgebenden Mediums ausgeglichen hat, ist durch den von Wunderlich und Anderen geführten Nachweis der prä- und postmortalen Temperatursteigerungen bei einzelnen Todesarten bedeutend alterirt worden. Bekanntlich wurden diese besonders nach infectiösen Krankheiten (Cholera), sowie nach Tetanus und nach Krankheiten des centralen Nervensystems beobachtet, und zwar bis 44 und mehr Grad C., mitunter 15–20 Minuten nach dem Tode anhaltend. Ob auch einzelne und welche acute gewaltsame Todesarten mit prä- oder postmortalen Temperatursteigerungen einhergehen, ist vorläufig noch nicht genügend sichergestellt, doch scheint dieselbe beim Erstickungstode, sowie bei gewissen unter Erstickungserscheinungen oder unter Convulsionen verlaufenden Vergiftungen, sowie nach Verletzungen des Gehirns und des oberen Theiles des Rückenmarkes aufzutreten, während bei Verblutung, beim Ertrinken und Erfrieren, sowie vielleicht nach Verbrennungen oder Verbrühungen (wenn wegen Abgang der Epidermis starke Wärmeverluste stattfinden) niedere Temperaturen sich erwarten lassen.[517]
Schon während des Sterbens ändert sich, wie das Blasswerden der Haut beweist, die Blutvertheilung theils in Folge der Erlahmung der die Circulation unterhaltenden activen Kräfte, theils weil die Schwere des Blutes sich zu äussern beginnt. Letztere kommt insbesondere nach dem Tode zur vollsten Geltung und bewirkt, dass das Blut aus den oberen Partien des Körpers in die abhängigen sich senkt. Daraus resultirt einestheils ein weiteres Erblassen der Haut an den höher gelegenen Körpertheilen und andererseits die Bildung von Senkungshyperämien in den tiefer situirten. Von letzteren oder den sogenannten Hypostasen unterscheidet man äussere und innere, indem man erstere mit dem vulgären Namen Todtenflecke bezeichnet. Je mehr Blut die Leiche enthält und je flüssiger dasselbe nach dem Tode geblieben ist, desto frühzeitiger treten die Todtenflecke auf. Durchschnittlich finden wir sie schon 3–10 Stunden nach dem Tode deutlich ausgebildet. Später werden sie desto intensiver, je mehr Blut sich in die betreffenden Hautpartien senkt und je mehr zu der anfänglichen Senkungshyperämie eine weitere Erscheinung, die Imbibition, das heisst die Durchtränkung der Gewebe mit blutigem Serum, hinzutritt. Bevor letztere eintritt, können die Todtenflecke durch Veränderung der Körperlage wieder zum Verschwinden gebracht werden und bilden sich dann anderwärts später, aber desto weniger, je mehr bereits die Imbibition [S. 821]ausgebildet ist. Tourdes (Dictionnaire encyclopédique des scienes médicales) fand, dass die Todtenflecke noch nach 4 Stunden durch Veränderung der Körperlage zum Verschwinden gebracht werden können und dann an einer anderen Stelle auftauchen. Nach 12–15 Stunden erblassen sie blos, ohne ganz zu verschwinden, nach 30 Stunden werden sie ebenfalls blässer, bilden sich aber nicht mehr von Neuem. Aehnliche Versuche wurden auch aus Anlass des Falles Bernay in Brüssel angestellt (Virchow’s Jahrb. 1884, I, 462), wobei sich ergab, dass, wenn eine Leiche nach 4, 6 und 12 Stunden aus der Rückenlage in eine andere gebracht wurde, noch ein „Déplacement“ der Todtenflecke stattfand, nicht mehr aber nach 23–28 Stunden. Auch beim Verblutungstode bilden sich in der Regel Todtenflecke, die dann meist spärlich und blass ausfallen und in seltenen Fällen sogar vollständig fehlen können, wie wir bereits wiederholt zu beobachten Gelegenheit hatten. Bei gewöhnlicher Lage der Leiche finden sich die Todtenflecke vorzugsweise an der Rückenfläche und den Seitentheilen des Körpers. Befand sich aber die Leiche längere Zeit nach dem Tode in einer anderen Lage, dann werden sich natürlich die Hypostasen an anderen Stellen entwickeln und es lassen sich demnach aus der Lage der Todtenflecke Schlüsse ziehen auf die Stellung, in welcher die Leiche längere Zeit nach dem Tode belassen wurde. Am häufigsten kommt eine andere Lage der Todtenflecke bei Erhängten zur Beobachtung, deren untere Körperhälfte eine desto lividere Färbung zeigt, je länger der Körper gehangen hatte. Zweimal obducirten wir Leichen von Personen, die in sitzender Stellung vom plötzlichen Tode ereilt wurden und die Nacht über in dieser Stellung verblieben waren. Die Todtenflecke waren vorzugsweise am Unterkörper entwickelt. In beiden Fällen war der eine Arm heruntergehangen und in Folge dessen auffallend livid und ecchymosirt. War die Leiche auf dem Gesichte liegen geblieben, so wird dieses und die Vorderfläche des Körpers die Todtenflecke bieten, die Rückenfläche aber die gewöhnliche Leichenfarbe. Sehr gewöhnlich ist es, die eine Gesichtshälfte livid und die Conjunctiva des betreffenden Auges injicirt zu finden, während die andere Gesichtshälfte und die Bindehaut des anderen Auges blass erscheinen. Dieser Befund entsteht bei dauernder Seitenlage des Kopfes und ist eine einfache Leichenerscheinung, die jedoch leicht zu Täuschungen Veranlassung geben kann. Dafür spricht namentlich eine Mittheilung Maschka’s Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXVIII, pag. 77), wonach bei einer alten, an Haemorrhagia cerebri verstorbenen Frau, deren Leiche im Bette auf der rechten Seite liegend gefunden worden war, die livide Verfärbung und Ecchymosirung der rechten Seite des Gesichtes, Halses und der Brust auf Erwürgen bezogen wurde.
Aus begreiflichen Gründen werden die Hypostasen an solchen Stellen der Haut fehlen oder weniger sich entwickeln, die einem Drucke ausgesetzt gewesen waren, sei es durch die Schwere des Körpers selbst oder durch andere Vorgänge. Zu den ersten Stellen gehören bei gewöhnlicher Rückenlage die Gegend der Schulterblätter, [S. 822]der Gesässbacken und die Waden, sowie alle den Kleiderfalten aufliegende Hautstellen; zu den letzteren Hautpartien, die durch ein Kleidungsstück, Band etc. comprimirt waren, z. B. die Taille oder die durch die Strumpfbänder gedrückte Haut. Am Halse kann eine solche Compression durch ein Würgeband, aber auch durch enganliegende Kleidungsstücke (Hemdkrägen) und selbst, wie bei fetten Personen, namentlich bei kleinen Kindern, in den, zwischen den natürlichen Hautfalten gelegenen Furchen zu Stande kommen. Derartige Stellen stechen durch ihre blasse Farbe von der Umgebung ab und können, besonders am Halse, zu falschen Deutungen Veranlassung geben. Auch kann sich über einer solchen comprimirten Stelle das sich herabsenkende Blut stauen, einen lividen Saum bilden, der dann für eine Sugillation gehalten werden kann (vide pag. 532).
Die gewöhnliche Farbe der Todtenflecke ist die bekannte livide in desto dunklerer Nuance, je länger sie bestehen und je reichlicher und flüssiger das Blut ist, welches in der Leiche zurückgeblieben war, also besonders bei Erstickten. Hat das Blut der Leiche eine andere als die gewöhnliche (hyper-) venöse Farbe, dann erhalten natürlich auch die Hauthypostasen ein anderes Colorit, so z. B. ein hellrothes bei der Kohlenoxydvergiftung, ein graues bei der durch chlorsaures Kali. Dass die Todtenflecke auch durch Kälte und stärkere Durchfeuchtung der Haut ein hellrothes Aussehen erhalten können, wurde beim Ertrinkungs- und Erfrierungstode erwähnt.
Ausser in den angedeuteten Beziehungen kommt den Todtenflecken auch insoferne eine gerichtsärztliche Bedeutung zu, als die durch sie bedingten Verfärbungen für Cyanose oder gar für Sugillation gehalten werden könnten. Ueber letztere Möglichkeit und über den behufs Unterscheidung einzuschlagenden und auch vorgeschriebenen Vorgang wurde bereits an anderen Orten (pag. 275) gesprochen. Die Unterscheidung einer durch Hypostase entstandenen Verfärbung von einer cyanotischen wird sich ausser durch den erwähnten Vorgang insbesondere aus der Erwägung der Lage und Ausbreitung, sowie aus der nach aufwärts allmälig abnehmenden Intensität der Verfärbung ergeben.
Gleichzeitig mit den „Todtenflecken“ und nach denselben Gesetzen bilden sich auch Hypostasen in den inneren Organen, die hier eine besondere gerichtsärztliche Bedeutung deshalb besitzen, weil sie pathologische Processe vortäuschen können. Ein gewöhnlicher Befund dieser Art ist am Kopfe schon der stärkere Blutreichthum und die stärkere Succulenz der abwärtigen Partien der Kopfschwarte und der darunter liegenden Bindegewebsschichten, ein Befund, der bei stark abhängiger Lage des Kopfes einen sehr hohen und, wie die Versuche Engel’s gezeigt haben, bis zur Ecchymosenbildung gehenden Grad erreichen kann. Noch häufiger, und zwar auch an der Körperoberfläche, kommt es vor, dass schon vital entstandene, jedoch ursprünglich klein gewesene Ecchymosen an den tief liegenden Partien des Körpers durch Nachsickern des Blutes sich vergrössern. Ferner gehört hierher die stärkere Füllung der abwärtigen Sinus der Dura [S. 823]mater mit Blut, insbesondere aber die intensivere Injection der Gefässnetze der Pia an ihren tiefer gelegenen Partien, die eine intra vitam entstandene Hyperämie vortäuschen kann. Am Halse machen sich die Hypostasen besonders in den abwärtigen, lockeren Zellgewebslagen unter der äusseren Haut und zwischen der Musculatur, ferner an der hinteren Rachenwand bemerkbar, ebenso an der hinteren Wand der Luftwege und des Oesophagus und dem zwischen diesem und der Wirbelsäule gelegenen Bindegewebe. In der Brusthöhle sind namentlich die Hypostasen in den Lungen von Wichtigkeit. Der Gefässreichthum der Lungen einerseits und die lockere, grossmaschige Beschaffenheit des Lungengewebes andererseits liefern ganz besonders günstige Bedingungen für die Entstehung von Senkungshyperämien, und es gehören daher mehr oder weniger ausgebildete Grade von Hypostasen in den Lungen zum regelmässigen, in keiner Leiche fehlenden Befund. In Folge derselben erscheinen auch ganz gesunde Lungen an ihrer Oberfläche in den abwärtigen Partien dunkler gefärbt als in den oberen, und diese Färbung geht nach aufwärts allmälig in eine lichtere über. Für das Gefühl erscheinen diese Partien derber und sind beim Einschneiden blutreicher, succulenter und weniger lufthältig als die anderen. Täuschungen mit Infarcten, Pneumonien und bei Kindern mit Atelectasen liegen hier nahe.[518] Wieder wird insbesondere die Lage der betreffenden Partie und der allmälig und immer in bestimmter Richtung, d. h. nach aufwärts sich vollziehende Uebergang des blutreichen, succulenten und weniger lufthaltigen Gewebes in normale Partien, nöthigenfalls die mikroskopische Untersuchung, die Unterscheidung bieten. Die geringere Lufthältigkeit solcher durch Hypostase veränderter Stellen ist namentlich bei Neugeborenen zu beachten. Es ist wohl möglich, dass unter Umständen durch blosse Senkung des Blutes tiefer gelegene, früher lufthältig gewesene Lungenpartien vollständig luftleer werden können. Weniger leicht wird dies bei erst nach dem Tode entstandenen Hypostasen sich ereignen, als bei solchen, deren Bildung bereits in der Agonie begonnen hat. Im Unterleibe sind insbesondere die Hypostasen an der hinteren Magenwand und an den abhängigen Stellen des Darmcanals, sowie an den im kleinen Becken gelagerten Schlingen zu berücksichtigen. Namentlich sind die Hypostasen im Magen von anderweitig entstandenen Hyperämien wohl zu unterscheiden. Auch die Nieren sind Hypostasen unterworfen und ihre tiefe Lage begünstigt die Entstehung derselben. An der hinteren Körperseite findet sich bei gewöhnlicher Rückenlage der Leiche sowohl das Unterhautbindegewebe als die betreffende Musculatur succulenter und mehr weniger auffallend blutreich. In einem unserer Fälle wurde dieser Befund als Congestionserscheinung aufgefasst und von Stockschlägen abgeleitet. Aus gleichem Grunde zeigen sich die spinalen [S. 824]Venenplexus in der Regel strotzend mit Blut gefüllt, und ebenso ist die Hypostase in den Venen der Pia mater des Rückenmarkes entwickelt. Eine falsche Deutung dieser Verhältnisse kann hier um so leichter erfolgen, als, wie Casper-Liman richtig bemerken, der Rückenmarkscanal nur sehr selten geöffnet wird und daher vielen Obducenten dieses ganz gewöhnliche Verhalten weniger bekannt ist.
Das geschilderte Verhalten der inneren Hypostasen bezieht sich auf Leichen, die nach dem Tode in der üblichen Rückenlage geblieben sind. Selbstverständlich werden diese Senkungserscheinungen die ganz entgegengesetzten Stellen einnehmen, wenn die Leiche auf dem Bauche gelegen war, und können dann leicht beirren. Bei Erhängten, wenn sie nicht bald abgeschnitten wurden, werden die Hypostasen natürlich vorzugsweise an der unteren Körperhälfte sich entwickeln. Wir finden dann die Gedärme stärker injicirt, die Nieren sehr blutreich und insbesondere die venösen Geflechte der Beckenhöhle strotzend mit Blut gefüllt, alles Erscheinungen, die als für den Erhängungstod pathognomonisch angegeben worden sind, ohne es im Geringsten zu sein, da sie, ebenso wie die früher so hochgehaltene Turgescenz der äusseren Genitalien, auch zu Stande kommen, wenn man eine frische Leiche in die hängende Lage bringt und einige Zeit in derselben belässt.
Eine bald nach dem Tode eintretende Leichenerscheinung ist die Todtenstarre. Bei den Leichen Erwachsener pflegt sie durchschnittlich schon in den ersten 2–4 Stunden zu beginnen und in weiteren 4–6 Stunden den ganzen Körper zu ergreifen. Die Angabe, dass die Leichen herabgekommener und alter Individuen früher von der Leichenstarre befallen werden als jene kräftiger Personen, bedarf noch weiterer Bestätigung. Dagegen scheinen Neugeborene und Säuglinge thatsächlich früher zu erstarren als Erwachsene (Feis, „Intrauterine Leichenstarre“. Arch. f. Gyn. 1894, XLVI, pag. 384). Aus analogen Erfahrungen bei Thieren lässt sich schliessen, dass nach rapider Verblutung, nach Verletzung des Halsmarkes, nach gewissen Vergiftungen (mit Säuren, mit Strychnin), vielleicht auch nach Insolation und Blitzschlag die Todtenstarre ungleich früher eintreten könne als sonst; doch fehlen auch in dieser Beziehung sichergestellte Beobachtungen an menschlichen Leichen. Bei abortirten Früchten scheint die Todtenstarre gar nicht einzutreten. Aber auch bei Erwachsenen kann sie mitunter ausbleiben oder nur ganz schwach sich bilden, so namentlich bei acuter parenchymatöser Degeneration der Musculatur, wie nach Phosphorvergiftung, nach manchen Vergiftungen mit Schwämmen (Sahli) und nach infectiösen und septischen Processen.
Da die Degeneration nicht alle Muskelgruppen gleichmässig ergreift, so erklärt sich auch, warum in solchen Fällen auch die Ausbildung des Rigor an verschiedenen Körpertheilen verschieden sich gestalten kann. Die von uns häufig gemachte Beobachtung findet ihr Analogon in dem Verhalten des Herzens, das so häufig und frühzeitig der parenchymatösen Degeneration verfällt und dann selbst bei Frühsectionen schlaff angetroffen wird, welche Schlaffheit proportional ist mit der Intensität der Degeneration.
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In neuerer Zeit wurde wiederholt die Frage angeregt, ob die Leichenstarre den ganzen Körper oder wenigstens einzelne Muskelgruppen auch schon im Momente des Todes ergreifen könne. Als Beweis für eine solche Möglichkeit wurden gewisse, auf den Schlachtfeldern der letzten Kriege gemachte Beobachtungen herangezogen, die Soldaten, aber auch Pferde betrafen, deren Leichen in Stellungen erstarrt gefunden wurden, welche, wie z. B. die des Ladens, Sturmlaufens, Sprungstellung, als im letzten Augenblicke des Lebens bestandene und gewollte aufgefasst wurden. Zuletzt hat Seydel (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1889, L, 76) über solche Fälle berichtet. Du Bois-Reymond hat für diese Art des Rigor mortis die Bezeichnung kataleptische Todtenstarre vorgeschlagen, welche, obgleich nicht ganz passend, der Kürze wegen acceptirt werden kann. Versuche, namentlich die von Schroff junior und von Falck angestellten (vide unsere Leichenerscheinungen l. c.), haben ergeben, dass bei Thieren, die durch Verletzung des oberen Theiles des Rückenmarkes getödtet wurden, die tetanische Contraction der Musculatur unmittelbar in die Todtenstarre überging, und es ist denkbar, dass auch beim Menschen nach analogen Verletzungen solches erfolgen kann[519]; ob jedoch auch die durch den Willen im Augenblicke des Todes bestandene Contraction von Muskelgruppen sofort durch den Rigor mortis fixirt oder einige Zeit nach dem Tode bis zum Eintritte desselben erhalten werden kann, muss noch dahingestellt bleiben. Vorläufig lassen sich die eben angeführten Beobachtungen viel ungezwungener daraus erklären, dass die betreffenden Leichen jene Stellungen nur zufällig beim Niederstürzen angenommen hatten und in diesen erstarrten, oder dass sie durch gewisse Zufälligkeiten am Niederstürzen gehindert worden waren. Thatsächlich kommen eigenthümliche Stellungen der Leichen und namentlich der Gliedmassen in der gewöhnlichen forensischen Praxis gar nicht selten vor, da die Leichen in denjenigen, mitunter ganz sonderbaren Stellungen erstarren, in denen sie nach dem Tode liegen geblieben waren, und diese Stellungen [S. 826]häufig derart sind, dass sie scheinbar gewollten entsprechen. Dazu kommt noch, dass die durch den Eintritt des Todes bewirkte Erschlaffung der Musculatur, respective gewisser Muskelgruppen, nicht immer von Lageveränderung der betreffenden Theile gefolgt sein muss, sondern dass sich die durch die letzte Muskelaction bewirkte Stellung eines Körpertheiles, wegen gleichzeitiger Erschlaffung der Antagonisten, dort erhalten kann, wo die Schwere der betreffenden Theile nicht zur Geltung kommt. So haben unsere Untersuchungen ergeben, dass die Faustbildung ungemein häufig, sowohl an den Händen der Leichen Erwachsener, als namentlich von Kindern vorkommt, ebenso andere, offenbar im Momente des Todes bestandene und noch durch vitale Contraction des Muskels entstandene Stellungen der Finger. Es liegt kein Grund vor, die Ursache der Persistenz dieser Stellungen, insbesondere der Faustbildung, in der Fortdauer der Contraction der betreffenden Muskeln nach dem Tode oder in plötzlich eingetretener Todtenstarre zu suchen, sondern einfach darin, dass die während des Todes geschlossen gewesene Faust auch nach erfolgtem Tode keineswegs sich öffnen muss, da gleichzeitig mit den Beugern auch die Strecker erschlaffen, also eine Lageveränderung nur durch die eigene Schwere der Theile erfolgen kann, die nicht immer zur Geltung kommt. Dieser Gang der Dinge hat nichts Besonderes an sich, da ja auch im Leben, nachdem wir die Finger zur Faust geballt haben, die Fingerbeuger erschlaffen können, ohne dabei die Faust öffnen zu müssen, und er wird noch weiter bestätigt durch die Thatsache, dass sich die Fauststellung auch erhält, nachdem die Todtenstarre bereits vollkommen verschwunden war. Daraus wird auch begreiflich, wie bei Leichen von Individuen, die sich selbst erschossen oder erstochen haben etc., die betreffende Waffe noch in der Hand derselben gefunden werden kann, ein Befund, der allerdings auch wird zu Stande kommen können, wenn der Betreffende, während er die Waffe o. dergl. in der Hand hielt, von Anderen getödtet worden ist.[520]
Die Leichenstarre befällt nicht die ganze Musculatur auf einmal, sondern beginnt fast immer zunächst im Nacken und am Unterkiefer und übergeht dann auf den Rumpf, dann auf die oberen und hierauf auf die unteren Extremitäten; Ausnahmen von diesem Gange, [S. 827]welcher sich unserer Ansicht nach aus der nach unten zunehmenden Masse der Musculatur erklärt, sind selten. Den Untersuchungen Pellacani’s zufolge (Virchow’s Jahrb. 1884, I, 462) scheint der Typus descendens die Norm bei kräftigen, der Typus ascendens die bei schwächlichen und herabgekommenen Individuen zu sein. Was die Dauer der Todtenstarre betrifft, kann als feststehend angenommen werden, dass letztere desto früher abläuft, je weniger die Musculatur entwickelt oder je mehr sie in ihrem Ernährungszustand herabgekommen war. Am schnellsten verläuft sie bei unreifen Früchten, so dass von diesen behauptet wurde, dass sie überhaupt nicht vom Rigor ergriffen würden. Bei reifen und gut genährten Neugeborenen kann man sie noch nach 24–36 Stunden, selten länger, finden. Bei Säuglingen beträgt die Dauer der Todtenstarre durchschnittlich etwa 40 Stunden und wird durch Alter und Ernährungszustand modificirt. Was die Leichen Erwachsener betrifft, so lehren unsere Erfahrungen, dass bei dem Gros derselben die Todtenstarre noch nach 48 Stunden vollkommen ausgebildet ist, dass sie von da an allmälig zu schwinden beginnt und dass die vollkommene Lösung derselben gewöhnlich zwischen die 72. und 84. Stunde nach dem Tode zu fallen pflegt. Bei abgezehrten und marastischen Leichen schwindet die Starre ungleich früher, ebenso bei wassersüchtigen. Dass der Eintritt der Fäulniss die Starre löse, ist insoferne unrichtig, als es nichts Seltenes ist, dieselbe noch bei grünfaulen und bereits stark aufgedunsenen Leichen zu finden. Trotzdem scheinen es doch in die Classe der Fäulnissvorgänge gehörige Processe zu sein, die das Myosin, dessen Gerinnung, wie die Physiologen lehren, die Todtenstarre bedingt[521], wieder lösen und so dem Rigor ein Ende machen, denn wenn man, wie wir seit einigen Jahren in unserem Institute zu thun im Stande sind, Leichen im Winter in kalten Räumen und unter Bedingungen aufbewahrt, wo sie nicht faulen, aber auch nicht gefrieren können, so kann man dieselben wochenlang in todtenstarrem Zustande erhalten. Das Gefrieren der Leiche macht die Verwerthung der Starre für Todeszeitbestimmungen illusorisch, wobei bemerkt werden muss, dass nach Brücke die Todtenstarre sogar das Aufthauen der betreffenden Leiche zu überdauern vermag.
Der Rigor mortis schwindet nicht überall gleichzeitig, sondern in der Regel in denjenigen Muskelgruppen früher, in welchen er früher aufgetreten war, doch ist es nichts Seltenes, die Starre in den [S. 828]Extremitäten früher schwinden zu sehen als am Kopfe und am Halse. Am längsten und sehr constant pflegt sich die Todtenstarre in den Sprunggelenken zu erhalten.
Zu den Leichenerscheinungen, die ebenfalls schon in der ersten Zeit nach dem Tode und noch vor Eintritt der Fäulniss sich einstellen können, gehören auch die Vertrocknungen der Haut, die sich an von der Epidermis entblössten, oder früher feucht gehaltenen oder auch comprimirt gewesenen Stellen in Folge der Einwirkung der Luft sehr bald entwickeln, deren wir bereits a. a. O. (pag. 271 und 529) erwähnt haben; ferner gewisse Veränderungen am Auge, die zunächst darin bestehen, dass das Auge meist schon gleich nach dem Tode seine Spannung und damit seinen Glanz in Etwas einbüsst, dass später der Bulbus zu collabiren beginnt und die Cornea sich trübt. Letztere erscheint anfangs wie bestäubt, dann legt sich die Oberfläche in feine Runzeln, worauf die Hornhaut immer trüber und undurchsichtiger wird, bis sie später eine ganz opake Beschaffenheit erhält. Sehr bald nach dem Tode beginnt auch die Conjunctiva, wenn die Lider nicht vollkommen geschlossen waren, an den mit der Luft in Berührung stehenden Stellen zu vertrocknen, wodurch gelblichbraune, dreieckige Flecken zu beiden Seiten der Cornea sich bilden, die wiederholt als verlässliche Zeichen des wirklich eingetretenen Todes hervorgehoben worden sind. Weiterhin collabirt der Bulbus immer mehr, indem der Glaskörper sich verflüssigt und die Häute des Augapfels sich blutig imbibiren, und man findet schliesslich letzteren als sackartiges Gebilde, welches seiner fibrösen Beschaffenheit wegen dann noch lange der Zerstörung widersteht. Alle diese Veränderungen scheinen bei geschlossenen Augenlidern langsamer vor sich zu gehen als bei offenen.
Die weiteren Veränderungen, die mit der Leiche geschehen, gehören der Fäulniss an. In der Haut äussert sich der Beginn derselben zuerst durch Imbibitionsvorgänge. Die Todtenflecke werden diffuser und missfärbig, und livide diffuse Flecken treten auch an anderen relativ abhängigen Körperstellen auf und nehmen an Ausdehnung zu. Gleichzeitig beginnt eine eigenthümliche schmutzig-grüne Verfärbung der Haut an einzelnen Stellen aufzutreten, und zwar gewöhnlich zuerst in den Leistengegenden, von wo aus sie sich zunächst über den Bauch und, indem sie auch anderwärts, insbesondere zunächst im Gesicht und am Oberkörper, auftritt, über den ganzen Körper verbreitet.[522] Mit dem Fortschreiten der Imbibition in der Haut wird diese, namentlich entsprechend den Hypostasen und den grünverfärbten Stellen, succulenter, und es beginnt die Transsudation missfärbigen blutigen (an weniger abhängigen Stellen mitunter nur leicht gelblich gefärbten) Serums auf die äussere Fläche des Corium, zwischen dieses und die Epidermis. Die Epidermis wird dadurch entweder in [S. 829]Blasen abgehoben oder der Zusammenhang zwischen ihr und dem Corium wird so gelockert, dass sich die Epidermis leicht in Fetzen abstreifen lässt. Es kommt dann, oder wenn die erwähnten Blasen platzen, das feuchte missfärbige, später schmierige Corium zum Vorschein, welches entweder der weiteren Colliquation anheimfällt oder durch die Einwirkung der Luft vertrocknet. Gleichzeitig mit den erwähnten Vorgängen beginnt die Entwicklung von Fäulnissgasen im Unterhautzellgewebe, das Fäulnissemphysem, besonders im Gesichte, am Halse, am oberen Theile des Brustkorbes, an den Genitalien und Extremitäten. Solche Stellen erscheinen aufgetrieben, elastisch, unter dem Fingerdrucke crepitirend und lassen in sich von Gasblasen ausgedehnte und in Folge der Imbibition der Gefässwand und der Nachbarschaft als missfärbige Streifen durchscheinende Venennetze erkennen. Da gleichzeitig der Unterleib meteoristisch vorgewölbt wird, so wird der ganze Körper schliesslich in solchem Grade aufgetrieben, dass er, wie Casper sehr bezeichnend sich ausdrückt, ein „gigantisches“ Aussehen erhält. Der Brennbarkeit der Fäulnissgase wurde bereits oben (pag. 607) Erwähnung gethan.
Die weiteren Veränderungen, welche mit der Leiche vor sich gehen, erfolgen verhältnissmässig zu den bisher geschilderten langsam. Die Epidermis löst sich in immer weiterer Ausdehnung vom durchfeuchteten und missfärbigen Corium ab, und Nägel und Haare werden so gelockert, dass sie einem leichten Zuge folgen; die grünen Hautstellen werden immer dunkler und schliesslich fast schwarz, die roth und braunroth imbibirten Partien immer missfärbiger, die Gasbildung im Unterhautgewebe und in den Körperhöhlen nimmt immer mehr zu, bis die Fäulnissgase an irgend einer Stelle durchbrechen, worauf der Leib zusammensinkt[523] und die Weichtheile der putriden Colliquation, eventuell der Eintrocknung und hierauf der Verwesung verfallen.
Auch in den inneren Organen sind es Imbibitions- und Transsudationserscheinungen, welche die Reihe der Fäulnissveränderungen eröffnen, und diese beginnen wieder zunächst an den Stellen, an welchen Hypostasen sich entwickelt haben, daher an den abwärtigen Partien der verschiedenen Organe, indem blutiges Serum durch die Gefässwandungen transsudirt und theils die Gewebe selbst durchtränkt, theils die Organe verlässt und ausserhalb dieser, besonders innerhalb [S. 830]der serösen Säcke, sich ansammelt. Frühzeitig bilden sich Imbibitionen an der Schleimhaut des Rachens, des Kehlkopfes und der Luftwege, ferner an der hinteren Wand des Magens, an den abhängigen Darmpartien, an der Intima der Gefässe und am Endocard, ebenso an den Meningen, und die dadurch sich bildenden diffusen, fleckigen oder streifigen Röthungen sind wohl zu unterscheiden von anderweitig entstandenen; ebenso die erst an der Leiche entstandene stärkere Durchfeuchtung und blutige Durchtränkung ganzer Organe, namentlich der Lungen, von pathologischen Processen. Dass die im Pleurasack sich bildenden Leichentranssudate bei Neugeborenen die Luft aus den Lungen zum grossen Theile und unter Umständen selbst gänzlich verdrängen können, wurde pag. 759 erwähnt. Je mehr die Fäulniss vorwärts schreitet, desto mehr verschwindet das Blut durch Imbibition und Transsudation aus den Gefässen, und es wäre daher ein unverzeihlicher Irrthum, bei einer hochfaulen Leiche aus der Leere der Gefässe und des Herzens etwa auf eine stattgehabte Verblutung zu schliessen. Je flüssiger das Blut ursprünglich war, desto schneller verschwindet es aus den Gefässen. Da die wässerigen Bestandtheile früher versickern als die festeren, so kommt es, wie wir uns wiederholt, besonders bei Leichen Erstickter, die längere Zeit, ohne zu faulen, gelegen sind, überzeugt haben, anfangs mitunter zu einer Eindickung des Blutes. Aber auch geronnenes Blut wird schliesslich durch Fäulniss verflüssigt, wobei sich nach Falk das Fibrin in Globulin verwandelt. Ebenso wie das Blut in den Gefässen, verflüssigt auch extravasirtes Blut und traumatische Blutaustretungen können bei hoher Fäulniss auf diese Weise vollkommen verschwinden oder wenigstens unkenntlich werden. Uebrigens verfallen auch andere Flüssigkeiten, wie z. B. seröse Ergüsse, Oedemflüssigkeit, Galle und andere gelöste Farbstoffe (pag. 631) und, wie oben (pag. 644) erwähnt, auch gelöste Gifte der Imbibition und Transsudation.
Die sonstigen makroskopischen Veränderungen, die sich in Folge der Fäulniss in den einzelnen Organen einstellen, bestehen im Allgemeinen ausser im Missfärbigwerden in einer fortschreitenden, mit Gasbildung einhergehenden Erweichung und schliesslich in vollkommenem Zerfall der betreffenden Gewebe in eine schmierige Masse.
Die mikroskopischen Veränderungen, welche die Gewebe durch die fortschreitende Fäulniss erleiden, sind vorzugsweise durch F. Falk und Tamassia, sowie auch durch uns (vide „Leichenerscheinungen“, l. c. pag. 259) verfolgt worden. Diese Beobachtungen haben ergeben, dass schon sehr frühzeitig die Muskelfasern sowohl, als die Drüsenepithelien sich trüben und von körnigen, stark lichtbrechenden Massen durchsetzt erscheinen, wodurch Bilder entstehen, die mit jenen, welche wir bei der sogenannten körnigen Degeneration oder „trüben Schwellung“ beschrieben haben, eine grosse Aehnlichkeit besitzen. Da letzterer eine hohe diagnostische Bedeutung bei gewissen Vergiftungen, aber auch für viele andere, namentlich infectiöse Erkrankungen zukommt, so ist die Thatsache, dass die Fäulniss ähnliche Bilder erzeugt, wohl im Auge zu behalten (vide pag. 640).
[S. 831]
Die Zeit des Eintrittes der Fäulniss und die Schnelligkeit ihres Verlaufes hängt von gewissen Bedingungen ab, deren Kenntniss von grösster Wichtigkeit ist, da nur bei sorgfältiger Berücksichtigung dieser Schlüsse aus dem Grade der Verwesung einer Leiche auf den Zeitpunkt des eingetretenen Todes gestattet sind. Man kann äussere und innere Fäulnissbedingungen unterscheiden.
Zu den äusseren, besonders wichtigen, gehören zunächst gewisse Luft-, Wasser- und Wärmeverhältnisse. Der Zutritt der atmosphärischen Luft ist zur Unterhaltung der Fäulniss unbedingt nothwendig, weil sie einestheils den nöthigen Sauerstoff, anderseits die Fäulnissfermente (Bakterienkeime) zuführt. Je freier derselbe gestattet ist, desto rascher geht unter sonst gleichen Verhältnissen die Zersetzung vor sich. Eine Ausnahme machen scharfe oder trockene Luftströmungen, die gerade das Gegentheil, nämlich Eintrocknen oder die sogenannte Mumification der Leiche, bewirken können, welche dann zunächst die am meisten exponirten und zugleich am wenigsten fleischigen Theile ergreift. So fanden wir bei einem Manne, der sich in einem luftigen Keller erhängt hatte und erst nach 20 Tagen gefunden wurde, den Kopf sammt dem Gesicht, die Hände und die nackten Füsse mumificirt, den sonstigen Körper verhältnissmässig frisch. Am raschesten beginnt und verläuft daher die Fäulniss, wenn die Leiche frei an der Luft liegen blieb, weniger rasch unter Wasser und bei vergrabenen Leichen; im letzteren Falle desto langsamer, je weniger der betreffende Boden die Luft durchlässt und je reichlicher die über der Leiche lagernde Schicht desselben ist. Dass sowohl bei freiliegenden als bei beerdigten Leichen auch die Kleidung und andere Hüllen die Fäulniss, wegen Erschwerung des Zutrittes der Luft, der Fäulnisskeime, der Fliegenmaden und anderer die Zerstörung befördernder Organismen verlangsamt, und zwar desto mehr, je dichter die Hülle ist, davon haben die Erfahrungen auf den französischen Schlachtfeldern Belege geliefert. Nach Créteur sollen Gummimäntel am meisten verzögernd gewirkt haben. Dass schon die gewöhnlichen Holzsärge einen verzögernden Einfluss auf die Fäulniss ausüben, wurde wiederholt constatirt; noch mehr macht sich derselbe unseren Erfahrungen zufolge bei den immer mehr in Anwendung kommenden Metallsärgen bemerkbar, da wir bei Exhumationen noch nach mehreren, in einem Falle noch nach 10 Jahren (!) die Leiche in stinkender Fäulniss und von Fäulnissjauche umgeben, vorfanden, ein Umstand, der unserer Ansicht nach die Anwendung von Metallsärgen bei gewöhnlichen Beerdigungen unstatthaft erscheinen lässt. Ein gewisser Grad von Feuchtigkeit ist zur Unterhaltung der Fäulniss unbedingt nothwendig. Da der menschliche Körper etwa 85 (nach Voit nur 63) Procent Wasser enthält, so genügt anfangs die eigene Körperfeuchtigkeit, um die Fäulniss einzuleiten und zu unterhalten. Geht aber, wie gewöhnlich, ein Theil der Fäulnissjauche durch Transsudation und Verdunstung verloren, wie an trockenen, luftigen Orten, oder wird diese von der Unterlage aufgesaugt, wie im trockenen, porösen Boden, so kommt bald ein Zeitpunkt, wo die eigene Feuchtigkeit der Leiche [S. 832]zur Unterhaltung der Fäulniss nicht mehr ausreicht. Es kommt dann zur Eintrocknung und langsamen Vermoderung der noch übrigen Theile. Eine Reihe der sogenannten natürlichen Mumien verdankt diesem Gange der Dinge ihre Entstehung. Eine gewisse Menge von aussen kommender Feuchtigkeit ist daher für den vollständigen Verlauf der Fäulniss in der Regel nothwendig, und je grösser sie ist, desto flotter gestaltet sich die letztere. Ausser der chemischen kommt hierbei auch die auflockernde macerirende Wirkung des Wassers in Betracht. Bleibt die Leiche unter Wasser, so wird der Eintritt und Verlauf der Fäulniss desto mehr verzögert, je frischer das Wasser ist, daher im strömenden Wasser mehr als im stehenden und in kühler Jahreszeit mehr als in der wärmeren. Auch bleibt die Leiche von Fliegenmaden und anderen nur in der Luft lebenden Organismen geschützt, was ebenfalls zu ihrer Conservirung beiträgt. Dafür verfällt die Leiche der sogenannten Maceration, worunter man theils die Auswässerung, theils gewisse, durch die lockernde und Imbibitionswirkung des Wassers bewirkte Veränderungen versteht. Der reinsten, das heisst mit Fäulniss nicht combinirten Form der Maceration begegnen wir bei während der Schwangerschaft abgestorbenen und bei uneröffneten Eihäuten im Uterus oder in der Bauchhöhle zurückgebliebenen Früchten. Dieselbe wird, wie bereits oben (pag. 778) beschrieben wurde, durch Imbibitions- und Transsudationsvorgänge eingeleitet, wozu frühzeitig eine Lockerung des Zusammenhanges der Epidermis, beziehungsweise Abhebung derselben durch Transsudat hinzutritt. Im weiteren Verlauf kommt es zu fortschreitender Entblutung und Entwässerung der Frucht mit consecutiver Auslaugung und Volumsverminderung derselben, während die Organe nicht blos in ihren groben, sondern selbst in feineren Eigenschaften jahrelang sich erhalten können und nur das Fett sich in Fettsäuren umwandelt. Solche Früchte werden fälschlich als in lipoider Umwandlung begriffen bezeichnet und können im weiteren Verlaufe, durch Resorption der flüssigen Theile und hinzutretender Abscheidung von Kalksalzen, zu sogenannten Lithopädien werden. Der Vorgang bei unter Wasser liegenden Leichen ist im Allgemeinen ein ähnlicher, wird jedoch einestheils durch die wenn auch langsam vorwärtsschreitende Fäulniss, anderntheils durch den Einfluss des beständigen Contactes mit Wasser, insbesondere durch die mit der Dauer des Contactes zunehmende, bleichende und lockernde, sowie auch bei strömendem Wasser durch die mechanisch trennende Wirkung des letzteren modificirt, durch welche Einflüsse ein allmäliger Zerfall der Leiche eingeleitet wird.
Hier ist der Ort, der sogenannten Fettwachsbildung oder Saponification von Leichen zu erwähnen. Seitdem zuerst Fourcroy aus Anlass der Ueberlegung des Friedhofes „des Innocents“ in Paris auf solche Befunde aufmerksam gemacht hatte, wurde die Fettwachs- (Leichenfett- Adipocire-) Bildung als ein Umwandlungsprocess sämmtlicher Weichtheile, namentlich der Muskeln, aufgefasst, indem man annahm, dass unter gewissen Bedingungen, zu welchen insbesondere das Liegen der Leiche im Wasser oder im feuchten Boden und [S. 833]ungenügender Luftzutritt gerechnet wird, die Weichtheile, statt der colliquativen Fäulniss zu verfallen, in Fett sich umwandeln, welches später verseift. An dieser Anschauung hält auch noch Kratter (Oesterr. ärztl. Vereins-Ztg. 1879, Nr. 11, Zeitschr. f. Biologie. 1880, XVI und „Berichte des X. internationalen medicinischen Congresses in Berlin“) fest.[524] Wir haben jedoch mit Rücksicht auf unsere Beobachtungen schon 1879 („Bemerkungen über das sogenannte Fettwachs.“ Wiener med. Wochenschr. Nr. 5–7) die Ansicht ausgesprochen, dass in vielen und vielleicht den meisten Fällen die als Fettwachs angesprochenen Massen nicht aus einer postmortalen Verfettung der Weichtheile hervorgegangen sind, sondern nur das subcutane und anderweitige Fett darstellen, welches nach der Colliquation der übrigen Weichtheile, besonders der Muskeln (deren Scheiden in einzelnen unserer Fälle noch ausgezeichnet erkennbar waren), zurückblieb, nachdem es sich in Fettsäuren verwandelt hatte. Weitere uns vorgekommene Fälle, von denen mehrere in unserem Museum aufgestellt sind, haben diese Anschauung bestätigt und wir haben darüber am X. internationalen Congress berichtet (Wiener med. Presse. 1890, Nr. 37). Ebenso gelangten E. Ludwig (Artikel „Leichenfett“ in Eulenburg’s Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. Wien 1881) auf Grund chemischer Untersuchung, H. Reinhard („Beobachtungen über die Zersetzungsvorgänge in den Grüften und Gräbern auf den Friedhöfen.“ 11. Jahresbericht über das Medicinalwesen in Sachsen auf das Jahr 1880, pag. 148, insbesondere Absatz „Fettwachsbildung“, pag. 165), Ermann (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVII, pag. 51 und 1884, XL, pag. 29) und Reubold (Sitzungsber. d. Würzburger physiol.-med. Gesellsch. 1885) auf Grund positiver Beobachtungen theils an beerdigten, theils an aus dem Wasser gezogenen Leichen zu gleichen Resultaten. Zweifellos gibt es verschiedene Zwischenstufen der sogenannten Fettwachsbildung. In den ausgeprägten Formen, d. h. nach mehrmonatlichem Liegen in Wasser, sieht der Körper wie versteinert aus und man findet bei näherer Untersuchung, dass das Skelet kürassartig von einer kalk- oder stearinartigen, meist grauweissen, an der Oberfläche grobkörnigen Masse umgeben ist, welche im frischen Zustande einen stark fäculenten, im getrockneten mehr ranzigen Geruch verbreitet, über Wasser schwimmt, beim Erhitzen schmilzt und bei der mikroskopischen Untersuchung vorzugsweise aus kugeligen, von radiär angeordneten, nadelförmigen Fettsäurekrystallen gebildeten Körnern bestehend sich erweist. Derartige Leichen wurden wegen der mitunter merkwürdig erhaltenen Körperformen, sowie wegen der festen Consistenz und des kalkartigen Aussehens der Fettwachsmassen schon wiederholt für „verkalkte“ Leichen [S. 834]gehalten und können noch nach Jahren Abdrücke von Kleidern, Riemen und selbst von Strangfurchen erkennen lassen (Ganner, Wiener med. Ztg. 1887, Nr. 8 und Kratter, Virchow’s Jahrb. 1887, I, pag. 511). Je stärker das Fett zur Zeit des Todes entwickelt war, desto leichter bilden sich compacte, die Form der Körpertheile conservirende Adipociremassen, doch scheint auch die Natur des Fettes, insbesondere der Gehalt desselben an Fettsäuren, von Einfluss zu sein. Namentlich bildet sich leicht Fettwachs bei Kindern und Potatoren. Schöne Präparate haben wir aus Säufer- und aus Phosphorlebern erhalten.
Den sehr eingehenden Untersuchungen zufolge, welche der leider so früh verstorbene Zillner (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, XLII, 1) in unserem Institute ausführte, spielt bei der Adipocirebildung ein Vorgang eine wichtige Rolle, welchen er als „Wanderung des Fettes während des Verwesungsprocesses“ bezeichnet, welcher darin besteht, dass in den späteren Stadien der Maceration die bei gewöhnlicher Temperatur flüssigen Neutralfette in ähnlicher Weise sich imbibiren und transsudiren, wie dieses in früheren Stadien die Blutflüssigkeiten thun, woher es kommt, dass sich dann Fett in Räumen findet, die früher leer oder von anderen Körpern (Muskeln) eingenommen waren.[525] Diese sowohl, als die in ihrer Heimat zurückgebliebenen Fette zersetzen sich zu Glycerin und freien Fettsäuren, von denen die bei gewöhnlicher Temperatur flüssige Oelsäure sammt dem Glycerin verschwindet und nur die höheren Fettsäuren in Krystallform zurückbleiben, welche sich theilweise mit Kalk und Magnesia zu einer Seife verbinden, wodurch, sowie durch Niederschläge aus dem Wasser, der Adipocirepanzer an Festigkeit gewinnt. Zillner wies ferner nach, dass die „mammelonirte“ Beschaffenheit der Oberfläche typischer Adipocireleichen davon herrührt, dass die Cutis wegfault und die körnige subcutane erstarrte Fettschichte nun blossliegt.
Eine weitere, für den Eintritt und Verlauf der Fäulniss wichtige Bedingung ist ein gewisser Grad von Wärme des umgebenden Mediums. Wärme, namentlich feuchtwarme Luft, ist besonders fördernd für Fäulnissprocesse, und es ist bekannt, wie sich gewisse Jahreszeiten in dieser Beziehung geltend machen. Ebenso tritt in geheizten Localen, aber auch in Düngerhaufen, Abtrittsgruben u. dergl. die Fäulniss ungemein[S. 835] rasch auf. Warme trockene Luft und noch mehr höhere Hitzegrade bewirken dagegen Eintrocknung und Mumification. Dass Gefrierkälte den Eintritt der Fäulniss verhindert oder die bereits eingetretene sistirt, ist bekannt.
Eine wichtige und offenbar die wesentlichste Rolle bei der fauligen Zerstörung von Leichen spielen thierische und pflanzliche Organismen. Constante Begleiter der stinkenden Fäulniss sind die Bacterien, und es ist bekannt, dass diese als die septische Processe einleitenden Fermente anzusehen sind.[526] Ihr Vorkommen gehört mit zum Begriffe der Fäulniss und diese Thatsache wird jedenfalls gegenüber den jetzt so häufig genannten mycotischen Processen wohl zu beachten sein. Fliegenmaden können sich im Sommer schon in den ersten 12 Stunden finden, namentlich in den Augen- und Mundwinkeln. Ihr zerstörender Einfluss ist bekannt. Die ganz frische Leiche eines 6 Wochen alten, gut genährten Kindes, welche wir am 12. Juli offen im Secirsaale liegen liessen, war bereits am 15. mit winzigen Maden besetzt, wimmelte am 18. von diesen und war am 22. von ihnen bis auf Haut, Sehnen und Knochen aufgezehrt. Durch weitere Versuche haben wir uns überzeugt, dass die Maden der Schmeissfliege schon am nächsten Tage nach der Deponirung der Eier auskriechen, ungemein rasch wachsen, schon am 8. Tage sich zu verpuppen beginnen, worauf nach weiteren 10 Tagen die Fliegen aus der Puppe auskriechen. Ausserdem helfen in der warmen Jahreszeit Raub- und Aaskäfer und deren Larven, sowie Ameisen an der Luft liegende Leichen zu zerstören.[527] Krahmer, Dommes und Locherer berichten von Leichen Erwachsener, die im Hochsommer, im freien Felde liegend, binnen 4–8 Wochen angeblich von Ameisen (unserer Meinung nach wohl zunächst durch Fliegenmaden) skelettirt worden waren. Dass Leichen von Ratten benagt und die von Kindern sogar grösstentheils aufgezehrt werden, kommt namentlich bei in oder nahe bei Düngerhaufen und Ställen oder in Abtritten liegenden Leichen ungemein häufig vor. Auch Raubthiere und Schweine können Leichen beschädigen, aufzehren und verschleppen. Begrabene Leichen werden ebenfalls von Fliegenmaden [S. 836]durchwühlt, die, wenn die Leiche nicht etwa nur oberflächlich verscharrt war, aus Eiern stammen, die, als die Leiche noch an der Luft lag, deponirt wurden. In zu einem schmierkäseähnlichen Brei verfaulten Weichtheilen exhumirter Leichen haben wir bis jetzt jedesmal massenhaft winzige, lebhaft sich bewegende Nematoden angetroffen, der Gattung Pelodera angehörig. Diese Nematoden leben nach Schneider in feuchter Erde und suchen in diese gelangende faulende Substanzen auf, die sie verzehren. Bei Wasserleichen kommen, so lange sie unter Wasser liegen, nur Wasserkäfer, Wasserratten und Krebse in Betracht. Fische sollen faules Fleisch verschmähen. Sobald jedoch die Leiche über Wasser kommt, etabliren sich, besonders im Sommer, sofort zahlreiche Maden und befördern die Zerstörung (vide auch pag. 817). Weisse und gelbe Schimmelpilze finden sich bei nach längerer Zeit exhumirten Leichen häufig. Aber auch in feuchter Luft liegen gebliebene Leichen schimmeln, so z. B. die in Kellern aufbewahrten, die nach einiger Zeit mit einem dichten Rasen von Schimmelpilzen bewachsen sein können. Letztere hat Heim (Annal. d’hygiène publ. 1893, XXX, pag. 97) näher bestimmt. Diese Pilze hinterlassen in abgestorbenem Zustande schwärzliche Flecke, welche der Haut und den Wäschestücken ein wie getigertes Aussehen geben können. Ueber die Algenbildung auf Wasserleichen wurde bereits oben gesprochen.
Was die inneren oder individuellen Fäulnissbedingungen betrifft, so kann zunächst als Regel gelten, dass die Fäulniss desto rascher die betreffende Leiche zerstört, je geringer die Masse des Körpers gewesen ist, daher die von Kindern früher als die von Erwachsenen. Auch die grössere Zartheit und der grössere Wassergehalt der Gewebe macht, dass erstere früher der Fäulniss unterliegen als letztere. Bei Neugeborenen kann der Umstand, dass die Gedärme noch keinen fäculenten Inhalt führen, eine verhältnissmässige Verzögerung des Eintrittes der Fäulniss bedingen. Weiter ist, ausser dem Ernährungszustand, besonders die Todesart von Einfluss. Vor Allem sind es die an septischen Processen Verstorbenen, die ungemein rasch der Fäulniss anheimfallen und die man, namentlich im Sommer, schon nach 12–24 Stunden in einem Grade grünfaul finden kann, zu welchem sonst mehrere Tage erforderlich sind. Frühzeitigen Eintritt und raschen Verlauf der Fäulniss sehen wir ferner bei Erstickten, und der reichliche Blutgehalt der Organe, sowie die flüssige Beschaffenheit des Blutes ist hiervon die Ursache. Gleiches beobachten wir bei Vergiftungen, die in letzter Linie durch Erstickung tödten oder nach welchen das Blut aus anderen Gründen flüssig bleibt, wie z. B. nach Phosphorvergiftung. Eine merkwürdige Verzögerung der Fäulniss will man nach Vergiftungen mit Carbolsäure, Alkohol, Arsenik und Sublimat beobachtet haben, ebenso nach Vergiftung mit Schwefelsäure. Dieselbe könnte wohl nur dann stattfinden, wenn grössere Mengen dieser antiseptischen Stoffe im Körper zurückblieben, und kann sich dann wohl local, z. B. im Magen, nicht leicht aber am ganzen Körper bemerkbar machen. Die rapide Fäulniss nach Insolation[S. 837] und Blitzschlag ist weniger in der Todesart als in den Umständen begründet, unter welchen sie sich ereignet. Hohe Beachtung verdient die schon von Casper hervorgehobene Thatsache, dass erheblich verletzte oder verstümmelte Leichen sehr schnell faulen, und sie ist begreiflich, wenn man bedenkt, dass die inneren Organe ihrer Gewebsbeschaffenheit und ihres Blutgehaltes wegen rasch der Fäulniss unterliegen, und dass bei Verletzungen der Schutz entfällt, den sonst die intacte Haut gegenüber der Fäulniss für einige Zeit gewährt. Die Fäulniss ergreift dann zunächst die blossgelegten Theile und schreitet von da aus rasch vorwärts. Ist aber die Haut unverletzt geblieben, so ist es wieder die gequetschte Beschaffenheit der verletzten Organe selbst, besonders die Durchtränkung derselben und der Nachbargewebe mit extravasirtem Blut, welche bewirken, dass an solchen Stellen frühzeitig Fäulnisserscheinungen auftreten und von hier aus rasch sich verbreiten. Von dieser Thatsache kann man sich schon bei oberflächlichen Sugillationen überzeugen.
Die Widerstandsfähigkeit der einzelnen Organe gegen Fäulniss ist keineswegs eine gleiche, vielmehr lehrt die Erfahrung, dass manche sehr lange sich erhalten, während andere verhältnissmässig viel früher unterliegen. Blutgehalt des betreffenden Organs, Festigkeit seines Gewebes und erleichterter oder erschwerter Luftzutritt ist in dieser Beziehung von Einfluss, Blut fault ungemein schnell und zuerst. Je blutreicher daher ein Organ, desto früher wird es von der Fäulniss ergriffen, und eben deshalb sehen wir die Fäulniss in der Regel von Hypostasen aus beginnen. Je fester die Structur eines Organs, desto widerstandsfähiger ist dasselbe gegen den Fäulnissprocess. Das lockere subcutane und intermusculäre Zellgewebe fault sehr rasch und wird auch frühzeitig von Fäulnissgasen durchsetzt. Fascien und Sehnen dagegen erhalten sich ausser den Knochen am längsten. Eine grosse Widerstandsfähigkeit zeigt auch die Haut und die Arterienstämme, insbesondere die Aorta. Auch der Uterus widersteht ungemein lange und kann mitunter noch gut erhalten gefunden werden, nachdem sämmtliche Weichtheile unkenntlich geworden sind. Bei einer wegen Verdacht auf Fruchtabtreibung nach einem Jahre exhumirten Frau konnten wir den dem 2. Schwangerschaftsmonat entsprechenden Uterus und ein Stück des Chorion deutlich erkennen. Wie sich der Luftgehalt der Organe bezüglich der Fäulniss geltend macht, ist namentlich am Magen und den Gedärmen ersichtlich; doch ist nicht zu übersehen, dass die dort enthaltene Luft schon ursprünglich den Charakter von Fäulnissgasen besitzt. Vom Fett fault nur das Zwischengewebe. Das eigentliche Fett fault nicht, sondern verwandelt sich in Fettsäuren (wird ranzig), welche, wenn sie in compacten Massen vorkommen, die oben erwähnte Adipocire (Leichenfett, Leichenwachs) darstellen, die den weiteren Zersetzungsvorgängen jahrelang zu widerstehen vermag. Auch die an Leichen zehrenden kleinen Organismen scheinen lieber die stickstoffhaltigen Organe als das Fett aufzusuchen, und wir haben bei den oben (pag. 586) erwähnten Versuchen mit unter Wasser liegenden Leichen Neugeborener bemerkt, dass die mit Vernix [S. 838]caseosa bedeckten Stellen vom Algenrasenansatz freigeblieben sind.[528] In ähnlicher Weise scheint sich das Gehirn zu verhalten, was sich aus seinem grossen Gehalt an Fett, Cholesterin und fettähnlichen Körpern (Lecithin, Cerebrin) erklärt. Wir haben deutlich als solche erkennbare Hirnreste bei einem durch Zertrümmerung des Schädels ermordeten und nach 2 Jahren in Gartenerde verscharrt gefundenen Manne gesehen, in einem anderen Falle noch nach 4 Jahren und bei Gelegenheit der Exhumationen auf einem alten Cholerafriedhofe als schwarze bröcklige, stellenweise aber noch schmierige Masse noch nach 50 Jahren! Zahlreiche Beobachtungen über das Erhaltensein des Gehirns bei nach 10 und mehr Jahren exhumirten Leichen bringen Moser, Schwandler und Kirn (vide unsere „Leichenerscheinungen“, l. c.) und neuere Reinhardt (l. c. pag. 160 und 164), sowie, Wasserleichen betreffend, Ermann in seiner oben citirten Arbeit: „Zur Kenntniss der Fettwachsbildung.“ Bei Leichen Erwachsener genügen durchschnittlich 2–3 Jahre Liegens in der Erde, um die Weichtheile verschwinden zu machen. Die Bänder und Knorpel halten sich länger und werden erst nach 5 und mehr Jahren vollkommen zerstört. Die weiteren Veränderungen in den Knochen gehen nur äusserst langsam vor sich und ihre Entfettung und Austrocknung beansprucht noch viele (durchschnittlich 10) Jahre. Noch später werden die Knochen morsch und brüchig, können sich aber unter günstigen Umständen durch Jahrzehnte und Jahrhunderte erhalten. Wichtig ist, zu wissen, dass auch uralte und selbst aus geologischen Zeiten stammende Knochen noch Knochenknorpel enthalten. 600 Jahre alte Menschenknochen, die Orfila untersuchte, gaben noch 27% Gallerte und beinahe 10% Fett. Auch Kornfeld (Wiener med. Wochenschr. 1886, Nr. 43) fand bei etwa 100jährigen ausgegrabenen Knochen nur geringe Unterschiede in ihrer Zusammensetzung im Vergleich mit frischen Menschenknochen.
Die genannten äusseren und inneren Momente werden sorgfältig zu erwägen sein, wenn es sich darum handeln sollte, aus dem Fäulnissgrade die Zeit zu bestimmen, die seit dem Tode eines Individuums verflossen ist; es ist jedoch aus der grossen Zahl dieser Momente und aus der Schwierigkeit, den Einfluss jedes einzelnen derselben zu bestimmen, begreiflich, dass in der Regel nur approximative Schlüsse gestattet sein werden, wobei festzuhalten ist, dass, bei dem Umstande, als die späteren Fäulnissveränderungen langsamer verlaufen als die ersten, die äussersten Grenzen des Zeitraumes, innerhalb dessen der Tod erfolgt sein konnte, desto weiter zu stecken sind, je weiter die [S. 839]Fäulniss oder Verwesung der Leiche bereits gediehen ist. Da die Möglichkeit und der Grad der Einwirkung der wichtigsten, nämlich der äusseren Fäulnissbedingungen, vorzugsweise durch das Medium beeinflusst werden, in welchem die Leiche lag, so ist besonders dieser Umstand zu berücksichtigen.
Oesterr. Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau vom 28. Januar 1855.
§. 11. Ehe zur Eröffnung der Leiche geschritten wird, ist, um deren Identität ausser Zweifel zu setzen, die Besichtigung der Leiche durch Personen, welche den Verstorbenen gekannt haben, sowie durch den etwa schon bekannten Beschuldigten zu veranlassen. Ist der Verstorbene ganz unbekannt und noch keine Beschreibung der Person, der Kleidungsstücke und der vorgefundenen Effecten vorhanden, so ist eine solche noch vor der Leichenöffnung zu verfassen, eine etwa von dem Todtenbeschauer bereits vorgelegte Beschreibung zu prüfen und das ihr Fehlende, wo es nöthig ist, zu ergänzen.
§. 15 bestimmt, dass der Kopf des Sectionsprotokolles auch die Anerkennung der Identität zu enthalten hat.
§. 31. Hierauf wird zur Untersuchung und Beschreibung der Kleidungsstücke geschritten, welche schon deshalb von besonderer Wichtigkeit ist, weil sie nebst der der übrigen vorgefundenen Effecten bei Unbekannten zur Constatirung der Identität der Person Aufschlüsse gibt.
§. 32. Die Beschreibung der Kleidungsstücke kann in derselben Ordnung, wie sie am Leibe getragen wurden, geschehen, und es müssen der Stoff, seine Färbung, der Schnitt, das Futter, die vorhandenen Taschen und ihr Inhalt, die alte und abgenützte oder neue und noch brauchbare Beschaffenheit derselben berücksichtigt werden. Bei Stücken, die gewöhnlich mit Märkzeichen versehen sind, ist diesen nachzuforschen, die vorgefundenen, so viel als möglich ähnlich mit Bemerkung ihrer Farbe und Art im Protokolle anzugeben, wo sie aber fehlen, ist auch dieser Umstand anzuführen.
§. 48. Bei Unbekannten hat die äussere Besichtigung mit der Personalbeschreibung zu beginnen, in welcher die Grösse mit genauer Angabe des Masses, das Geschlecht, das beiläufige Alter, die Körperbeschaffenheit überhaupt, die Farbe der Haare und Augen, die Form des Gesichtes, die Bildung der Stirne, der Nase, der Lippen und des Mundes, die Art des allenfalls vorhandenen Bartes, die Beschaffenheit der Zähne, andere auffallende Kennzeichen: als Narben, Warzen, Muttermäler, durchstochene Ohrläppchen, Missbildung u. s. w. aufzunehmen sind.
§. 127. St.-P.-O. bestimmt: ...... Ehe zur Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben und deren Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt haben, ausser Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung eine genaue Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der letztere unbekannt, so ist eine genaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt zu machen. Bei der Leichenschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen, dass die Lage und Beschaffenheit des Leichnams, der Ort, wo, und die Kleidung, worin er gefunden wurde, genau bemerkt, sowie Alles, was nach den Umständen für die Untersuchung von Bedeutung sein könnte, sorgfältig beobachtet werde.
Preussisches Regulativ vom 13. Februar 1875:
§. 10. ...... Die Obducenten sind verpflichtet, in den Fällen, in denen ihnen dies erforderlich scheint, den Richter rechtzeitig zu ersuchen, dass vor der Obduction ihnen Gelegenheit gegeben werde, die Kleidungsstücke, welche der Verstorbene bei seinem Auffinden getragen, zu besichtigen.
In der Regel wird es jedoch genügen, dass sie ein hierauf gerichtetes Ersuchen des Richters abwarten.
§. 13. ...... Demgemäss sind betreffend den Körper im Allgemeinen, soweit die Besichtigung solches ermöglicht, zu ermitteln und anzugeben: 1. Alter, [S. 840]Geschlecht, Körperbau, allgemeiner Ernährungszustand, etwa vorhandene Krankheitsresiduen, z. B. sogenannte Fussgeschwüre, besondere Abnormitäten (z. B. Mäler, Narben, Tätowirungen, Ueberzahl oder Mangel an Gliedmassen) ...... Betreffend die einzelnen Theile ist Folgendes festzustellen: 1. Bei Leichen unbekannter Personen die Farbe und sonstige Beschaffenheit der Haare (Kopf und Bart), sowie die Farbe der Augen.
Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zunächst, dass bei jeder Obduction die Identität der vorliegenden Leiche sicherzustellen und eine diesbezügliche Bemerkung in dem Kopfe des Protokolles einzuschalten ist. Ist die Person, wie in den meisten Fällen, bekannt, so ist es Sache des Untersuchungsrichters, die Agnoscirung durch Personen, welche den Verstorbenen während des Lebens gekannt haben, zu veranstalten. Gehört die Leiche einem unbekannten Individuum an, oder lässt sich die Identität vorläufig noch nicht mit genügender Bestimmtheit sicherstellen, so ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, eine möglichst genaue Personsbeschreibung aufzunehmen, damit auf Grundlage dieser noch nachträglich die Constatirung der Identität ermöglicht werden könnte, welche begreiflicher Weise nicht blos in strafrechtlicher, sondern auch in polizeilicher und civilrechtlicher Beziehung (Todeserklärung §. 24 a. B. G. B.) eine grosse Bedeutung besitzt.
Zu diesem Behufe sind zunächst die Kleidungsstücke zu beschreiben, ebenso die Effecten, die das Individuum bei sich hat. Die Wichtigkeit dieser Gegenstände für die Agnoscirung ist klar, es liesse sich jedoch darüber streiten, ob die Aufnahme und Beschreibung derselben in das Ressort des Gerichtsarztes und nicht vielmehr in das des Untersuchungsrichters gehöre. Vorläufig kommt nach den Bestimmungen der §§. 31 und 33 der citirten österr. Vorschrift die betreffende Aufgabe dem Gerichtsarzte zu und es ist dabei nach den in diesen Paragraphen enthaltenen Angaben vorzugehen.
Wie übrigens, wenn man bei Agnoscirung einer Leiche nur auf deren Kleider und Effecten Rücksicht nehmen wollte, fatale Irrthümer unterlaufen könnten, beweist folgender in Ungarn vorgekommener Fall: Im April 1880 wurde im Walde bei Neusohl die verstümmelte Leiche eines Mannes gefunden, der dort ermordet worden war. Bei dem Ermordeten wurden Kleider und Notizen des Viehhändlers G. aus Z. gefunden und wurde in der Leiche die Person des abgängigen G. agnoscirt. Auch G.’s Frau hatte die Leiche als die ihres Mannes sofort erkannt. G. hatte bei zwei Pester Assecuranzgesellschaften sein Leben versichert, und zwar bei der einen mit 10.000 fl., bei der anderen mit 5000 fl., welche Summen nach seinem Ableben seiner Frau ausbezahlt werden sollten. Eine der betreffenden Assecuranzen leitete auch ihrerseits die nöthigen Schritte zur Constatirung des Todes G.’s ein, und so gelangte sie auch in den Besitz der Photographie des Ermordeten. Die Aerzte der Assecuranzgesellschaft, welche G. früher beim Abschlusse des Lebensversicherungsvertrages untersuchten, und vier Verwandte G.’s konnten jedoch in der Photographie des Ermordeten G. nicht erkennen, ja nicht einmal eine Aehnlichkeit mit [S. 841]demselben herausfinden. In Folge dessen wurden genauere Nachforschungen gepflogen, und es stellte sich bald heraus, dass der ermordet geglaubte G. noch lebe. Nach einer telegraphischen Anzeige wurde derselbe auch bald eruirt und verhaftet. Wie nun hervorkam, hatte G. selbst im Walde bei Neusohl einen unbekannten Mann ermordet, demselben einen Theil seiner eigenen Kleider angezogen und auf den Namen G. lautende Notizen in dessen Tasche gesteckt, um die Behörden irrezuführen, augenscheinlich zu dem Zwecke, dass seiner Frau die erwähnten Lebensversicherungsprämien anstandslos ausbezahlt würden („N. Fr. Pr.“ 8. Mai). — Auch Ossiander (Maschka’s Handb. I, 656) berichtet über einen Fall, wo einer in’s Wasser geworfenen Leiche die Kleider eines von Werbern gewaltsam entführten Mannes angezogen wurden. Endlich ist es bekannt, dass auch im Tisza-Eszlár-Fall behauptet wurde, dass die aufgefischte Leiche nicht dem vermissten Mädchen, sondern einem anderen Individuum angehörte, dem man nur die Kleider des ersteren angezogen hätte. — Im Jahre 1893 hatte ein Kammerdiener defraudirt und war mit Hinterlassung eines Briefes verschwunden, worin er angab, dass er den Tod suchen wolle. Am nächsten Tage wurde ein Mann in Livré und mit nach Bedientenart ausrasirtem Bart erhängt in einem Vororte Wiens gefunden. Die Leiche wurde für die des verschwundenen Kammerdieners gehalten, welcher jedoch einige Tage darauf eruirt und verhaftet wurde.
In gleicher Weise, wie die Kleidungsstücke, sind auch andere Hüllen, in welche eingewickelt namentlich Kindesleichen häufig getroffen werden, aufzunehmen, ebenso das Bändchen, mit welchem etwa die Nabelschnur unterbunden war, u. dergl. Alle diese Dinge sind nach erfolgter Beschreibung dem Gerichtsbeamten zu übergeben.
Das Gesagte bezieht sich zwar zunächst auf gewöhnliche, mehr weniger frische und nicht weiter veränderte Leichen, es ist aber begreiflich, dass Resten von Kleidungsstücken und Effecten eine noch höhere Bedeutung zukommt, wenn es sich um die Constatirung der Identität hochgradig verfaulter, verstümmelter oder anderweitig unkenntlich gemachter Leichen handelt.
In drastischer Weise wurde dieses illustrirt durch einen von uns mitgetheilten Fall[529], der ein aus dem Wasser gezogenes, hochgradig verstümmeltes männliches Skelet betraf. Kopf, Hals und theilweise auch die Extremitäten fehlten und von Weichtheilen waren nur die Bandapparate und einige Adipocirereste vorhanden. Die Agnoscirung dieses Individuums wäre, trotzdem die unteren Extremitäten noch in Röhrenstiefeln steckten und ein Stück einer blauen Barchentunterhose, sowie ein um die Lenden geschnallter Riemen vorhanden war, kaum je möglich gewesen, wenn sich nicht im kleinen Becken (!) eine lederne Geldbörse mit Stahleinfassung gefunden hätte, die ausser verschiedenen Kleinigkeiten eine zusammengelegte, mit Nr. 710 bezeichnete Quittung einer Gesellencasse enthielt, die dem Zimmergesellen [S. 842]Mathias Thymal über einen für das erste Quartal 1877 eingezahlten Betrag von 40 Kreuzern ausgestellt und in allen ihren Details, inclusive Stampiglie der Casse, vollkommen deutlich zu lesen war. An der Hand der so gegebenen Daten gelang es mit Leichtigkeit, zu constatiren, dass das Skelet dem genannten Zimmergesellen angehörte, der seit 16. April 1877 vermisst wurde und somit nahezu sechs Monate im Wasser gelegen war.
Bei exhumirten Leichen lässt sich der Befund von Kleiderresten auch für die Bestimmung der Zeit verwerthen, die seit dem Verscharren verstrichen war. Im Allgemeinen lassen noch erhaltene Reste von Kleidern auf keinen allzu langen Zeitraum schliessen. Doch fand Moser[530] in einem seiner Fälle noch nach zwanzig Jahren die Sohlen der Fussbekleidung in ganz gutem Zustande, in einem anderen noch nach vierzehn Jahren von den Kleidungsstücken viele recht gut erhaltene Ueberreste, z. B. Bänder mit noch ganz frischen grünen und weissen Farben; die weissen baumwollenen Strümpfe noch wenig morsch und die Schuhe fast noch brauchbar. H. Reinhard bemerkt in seinen werthvollen: „Beobachtungen über die Zersetzungsvorgänge in den Gräbern und Grüften der Friedhöfe“[531]: „Der Zerfall der Kleidungsstücke geht, ausser bei Adipocireleichen, immer langsamer von statten, als der der Weichtheile und so findet man sie nicht selten in Särgen, wo von den Weichtheilen nur die Humusreste vorhanden sind, noch in erkennbarem Zustande vor, wenn auch zum Theile morsch, zerreisslich und dunkel gefärbt. Am frühesten verschwinden die aus vegetabilischen Fasern hergestellten, die leinenen und baumwollenen Stoffe. Später erst, d. h. nach acht bis zehn Jahren. sind die wollenen Stoffe bis zur Unkenntlichkeit zerstört und am längsten dauern die seidenen Stoffe, die oft noch nach zwanzig und mehr Jahren in ziemlich festem Zustande gefunden werden, während alle übrigen Theile der Bekleidung vollständig verschwunden sind.“
Unter den Knochen, die wir von einem seit etwa 80 Jahren aufgelassenen Friedhofe erhielten, fand sich auch ein dicker Zopf rothbrauner Haare, in welchen ein noch ganz gut erkennbares schwarzes Seidenband eingeflochten war.
Man darf jedoch nicht übersehen, dass diese Beobachtungen an in Särgen auf Friedhöfen beerdigten Leichen gemacht wurden. Bei ohne eine solche Hülle und oberflächlich verscharrten Leichen wird der Zerfall der Kleidungsstücke zweifellos rascher vor sich gehen.
In einem von Orfila und Lesueur[532] mitgetheilten Falle, der das nach kaum drei Jahren ausgegrabene Skelet eines unter[S. 843] verdächtigen Umständen verschwundenen Italieners betraf, fanden sich ausser einem zusammengelegten Taschenmesser, die Schuhe und einige hölzerne und metallene Knöpfe, sonst aber nur einige um den Hals geschlungene Fetzen und Reste von Tuch und Sammt. In einem anderen von diesen Autoren erwähnten Falle wurden an den verseiften Ueberresten einer in einem feuchten Keller durch beiläufig drei Jahre vergraben gewesenen männlichen Leiche nur Reste der Gamaschen und einige Fetzen grober Leinwand, sowie eine verrostete, an einem Stück Leder hängende Schnalle gefunden.
Ebenso konnten wir an dem Skelette eines vor zwei Jahren ermordeten und 1·5 Meter tief im Gartengrunde vergraben gewesenen Mannes, das wir zu untersuchen Gelegenheit hatten, ausser dem zu einer Doppelschlinge geknüpften Bande einer Unterhose mit einem Reste der letzteren, sowie zwei Knöpfen, nur unkenntliche, zunderartig morsche Reste der sonstigen Kleider vorfinden, dagegen aber ein um die linke Hand gebundenes Sack- oder Halstuch, welches, ausgebreitet, ursprüngliche Farbe und das Dessin in allen seinen Einzelheiten ganz gut erkennen liess.
Auch bei Flammen ausgesetzt gewesenen und mehr weniger verkohlten Leichen können sich mitunter noch ansehnliche Kleiderreste, Effecten u. s. w. wohl erhalten finden, wovon namentlich die von uns und Zillner untersuchten Ringtheaterleichen höchst interessante Beispiele lieferten, worüber a. a. O. nachzulesen ist.
Die zweite Aufgabe des Gerichtsarztes besteht in der Personsbeschreibung im engeren Sinne, d. h. in der Aufnahme jener Körpereigenschaften, welche die Agnoscirung der betreffenden Person ermöglichen. Auf welche Eigenschaften hierbei besonders Rücksicht zu nehmen ist, wird im §. 48 der oben angeführten Todtenbeschauordnung näher ausgeführt. Letztere hat zwar in dieser Bestimmung nur die äusseren Körpereigenschaften im Auge, es ist jedoch selbstverständlich, dass bei der Constatirung einzelner derselben auch auf den inneren Befund Rücksicht genommen werden muss, besonders dann, wenn wegen Fäulniss, Verstümmelung etc. die äussere Besichtigung keine genügende Aufklärung ergibt.
Es sind aufzunehmen: Die Körpergrösse, das Geschlecht, das beiläufige Alter, die Körperbeschaffenheit überhaupt, Kopf und Gesichtsbildung und endlich die besonderen Kennzeichen.
A. Die Körpergrösse. Die Aufnahme dieser ist nicht blos wegen der bekannten Verschiedenheiten der Statur der gleichalterigen Individuen von Wichtigkeit, sondern auch mit Rücksicht auf die Altersbestimmung von nicht erwachsenen Individuen. Die Aufnahme der Körperlänge hat durch Messung zu geschehen und erfolgt am besten mit einem steifen Massstabe, auf welchem die Leiche im gestreckten Zustande gelegt wird. Bei ganzen Leichen wird vom Scheitel bis zur Ferse gemessen, wobei der Fuss rechtwinklig[S. 844] zum Unterschenkel zu stellen ist.[533] Bei verstümmelten Leichen[534] misst man die einzelnen Körpertheile, soweit sie ein anatomisch abgeschlossenes Ganze bilden und einen Schluss auf die gesammte Körpergrösse gestatten.
Die Möglichkeit, dass eine Leiche selbst bei genauester Messung etwas länger erscheinen kann, als der Körper im Leben gewesen war, ist nicht abzuleugnen, da sowohl unmittelbar nach dem Tode, als insbesondere, wenn bereits die Todtenstarre nachgelassen und die Fäulniss begonnen hat, eine Erschlaffung der Weichtheile, insbesondere auch der Bandapparate besteht und bei faulen Leichen, namentlich bei Wasserleichen, noch die Schwellung der Haut und anderer Weichtheile hinzutritt. Grössere Längendifferenzen kommen jedoch auf diese Weise nicht zu Stande.
B. Das Geschlecht. Unter gewöhnlichen Verhältnissen unterliegt die Bestimmung desselben natürlich keinen Schwierigkeiten, wohl aber können sich solche bei hochgradig verfaulten, bei verstümmelten und bei verkohlten Leichen ergeben.
Auch bei sehr faulen, verstümmelten und selbst bei partiell verkohlten Leichen können schon die Kleider und ihre Reste, ebenso Schmucksachen, sowie der Haarwuchs das Geschlecht verrathen. Lange, nach Frauenzimmerart geflochtene und geknotete Haare lassen bezüglich des Geschlechtes kaum einen Zweifel übrig, und diese Verhältnisse sind noch nach sehr langer Zeit zu constatiren, da die Haare der Fäulniss sehr lange widerstehen. Beweis der oben angeführte, noch nach beiläufig 80 Jahren aufgefundene Zopf und zahlreiche Erfahrungen bei Exhumationen. So wurden z. B. nach Gaultier (Annal. d’hygiène publ. Janv. 1843) bei der nach 10 Jahren vorgenommenen Ausgrabung der Ueberreste der Juli-Gefallenen die Köpfe der Frauen sofort an den langen Haaren erkannt. Bartwuchs lässt den Mann desto zweifelloser erkennen, je mächtiger derselbe entwickelt ist. Dass auch bei Frauen, besonders bei älteren, mitunter Bartenwicklung vorkommt, ist allerdings nicht unberücksichtigt zu lassen. Eine Zusammenstellung exquisiter solcher Fälle bringt Taylor (Med. Jurisprudenz, 1873, II, 279). Beachtung verdient auch die sonstige Behaarung des Körpers, so der Vorderfläche der Brust und der Extremitäten, die im stärkeren Grade fast nur bei Männern vorkommt. Casper hat auch das Verhalten der Schamhaare zur Unterscheidung des[S. 845] Geschlechtes benützen wollen, indem nach seiner Angabe (Handb. 1876, II, 119) der umschriebene Kranz von Haaren auf dem Schamberge das Weib, die, wenn auch noch so geringe Fortsetzung des Haarwuchses vom Schamberge gegen den Nabel den Mann erweisen soll. B. Schultze dagegen (Jena’sche Zeitschrift. Bd. IV, 312) hat häufig Ausnahmen von dieser Regel gefunden, so bei 100 Frauen 5mal ein Hinaufreichen des Haarwuchses bis zum Nabel und unter 140 Soldaten wiederholt eine kranzartige Anordnung der Haare um den Schamberg, wie bei Weibern. Wir selbst haben ebenfalls solche Abweichungen vom Normalen bei beiden Geschlechtern beobachtet, unter Anderem bei einer 18jährigen Selbstmörderin, bei der sich zwischen den Brustdrüsen ein bis zum Brustbeingriff aufsteigender schmaler Streif ziemlich dichter, brauner, offenbar beschnittener (!) Haare fand, der sich nach unten in einen, über der Magengrube kaum angedeuteten, dann aber immer stärker und breiter werdenden, bis zu den Schamhaaren herabsteigenden Haarstreif fortsetzte (Wiener med. Presse. 1877, Nr. 3 bis 4). Auch sind wir der Meinung, dass, wenn in einem Falle noch derartige Details erkennbar sind, und nicht etwa blos die Bauchhaut vorliegt, wohl noch andere und wesentlichere Anhaltspunkte für die Geschlechtsbestimmung zu finden sein werden.
Bekannt ist es, dass bei Fäulniss und Maceration der Zusammenhang der Epidermis mit dem Corium sich lockert und diese dann sammt den Haaren und Nägeln theils von selbst abgeht, theils leicht abgestreift werden kann. In Folge dessen ist es insbesondere bei macerirten Wasserleichen sehr gewöhnlich, dass mit der Epidermis auch die Haare fehlen, wodurch die Geschlechts- und auch die Altersbestimmung aus dem äusseren Aussehen erschwert und mitunter ganz unmöglich gemacht wird.
Ebenso können die Haare an den Leichen Verbrannter fehlen, wenn die betreffenden Theile von der Flamme erreicht worden sind. Durch letztere kann selbst der ganze Haar- und Bartwuchs in wenigen Augenblicken vollständig weggesengt und dadurch Kopf und Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellt werden. Ein dichter Haarwuchs widersteht der Flamme länger als ein schütterer; geflochtene Haare (Zöpfe) länger als ungeflochtene, und, wie es scheint, auch gefettete länger als trockene. Aus dem Zusammentreffen solcher Momente erklärt sich, warum mitunter selbst bei stark verbrannten Leichen noch Haarreste gefunden wurden, wie dies bereits von anderen Beobachtern, neuerdings von Jastrowitz („Ueber den Tod durch Verbrennen.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1880, XXXII, pag. 11) bemerkt wird und auch bei den Ringtheaterleichen beobachtet wurde.
Auf den weiblichen oder männlichen „Habitus“ des ganzen Körpers oder seiner Theile allein ist nicht viel zu geben, da bei beiden Geschlechtern Abweichungen vorkommen, und bei noch nicht geschlechtsreifen Individuen kein wesentlicher Unterschied in dieser Beziehung besteht. Ueberdies können die ursprünglichen[S. 846] Körperformen durch Fäulniss, Verkohlung etc. ganz auffallende Veränderungen erleiden.
Entscheidend für die Geschlechtsbestimmung ist der Nachweis des weiblichen oder männlichen Geschlechtsapparates oder charakteristischer Theile desselben.
Der Nachweis der Mammae ist von begreiflicher Wichtigkeit, doch ist es bekannt, dass dieselben mitunter bei Mädchen und Frauen ganz unentwickelt bleiben oder nachträglich atrophiren können, während anderseits bei Männern, wenn auch seltener, eine Entwicklung der Drüsensubstanz, so doch häufig in Folge Wucherung des Fettpolsters eine Vorwölbung der Brustdrüsengegend vorkommt. Bei Neugeborenen oder Säuglingen aus einer Anschwellung der Brustdrüsen und aus dem Ausfliessen von milchartiger Flüssigkeit (Hexenmilch) beim Drucke auf weibliches Geschlecht des Kindes schliessen zu wollen, wäre ein Fehler, da diese Erscheinung bei beiden Geschlechtern gleich häufig sich findet.
Von den Genitalien können am leichtesten die äusseren unkenntlich werden. So zunächst durch colliquative Fäulniss, weniger durch Mumification, ferner durch Verstümmelung durch Fliegenmaden, Ratten u. dgl., was besonders häufig bei Kindesleichen vorkommt. Ganz unkenntlich können die äusseren Genitalien durch Verkohlung werden, wovon die Ringtheaterleichen zahlreiche Beispiele lieferten. Sowohl in diesen als in den früher genannten Fällen kann noch die innere Untersuchung positive Resultate ergeben. So zunächst das Auffinden des Uterus, welches wegen der bekannten Derbheit und Festigkeit des normalen Uterus selbst noch dann gelingen kann, wenn die übrigen Weichtheile durch Fäulniss bereits zur Unkenntlichkeit zerstört sind. Ein interessantes Beispiel dafür bringen Casper-Liman (l. c. II, 55).
Ein junges Dienstmädchen, das angeblich sehr hübsch gewesen sein sollte, war plötzlich verschwunden. Alle Nachforschungen nach ihr blieben vergeblich und ein auftauchendes Gerücht, dass sie von einem ihr nahestehenden verheirateten Manne im Hause geschwängert und von diesem beseitigt worden, machte den Fall noch bedenklicher. Nach fast 9 Monaten wurde die Abtrittsgrube des Hauses gereinigt. Ganz unerwartet fanden die Arbeiter bei dieser Gelegenheit im Kothe einen ganz und gar verwesten menschlichen Körper, und es lag die Vermuthung nahe, dass es der des verschwundenen Mädchens sei. „Einen höheren Grad von Verwesung,“ sagt Casper, „werde ich wohl nie wieder zur Beobachtung bekommen!“ Von einer eigentlichen Obduction musste natürlich Abstand genommen werden. Doch wurde die Bauchhöhle untersucht mit Rücksicht auf die aufgeworfene Frage, ob Denata zur Zeit ihres Todes schwanger gewesen sei oder nicht. Sämmtliche Gedärme, ebenso Leber, Milz und Nieren waren in eine unkenntliche schwarze, schmierige Masse verwandelt. Trotzdem fand sich noch der Uterus. Derselbe war hellroth gefärbt, hart und fest zu fühlen und zu schneiden, von jungfräulicher Form und Grösse und [S. 847]leer. Somit konnte wenigstens mit Gewissheit das Urtheil dahin abgegeben werden, dass Denata im Augenblicke ihres Todes nicht schwanger gewesen sein könne, womit jenes bei der Auffindung der Leiche mit Lebendigkeit wieder aufgetauchte Gerücht in Nichts zerfiel und der angezweifelte gute Ruf des angeblichen Schwängerers und muthmasslichen Mörders, eines bis dahin unbescholtenen Mannes, wieder hergestellt war.
Auch bei hochgradig verkohlten Leichen kann sich der Uterus noch finden, wovon ausser in der Festigkeit des Uterus, auch in der geschützten Lage desselben der Grund zu suchen ist. Bei einer Reihe der Ringtheaterleichen, bei denen die Bauchhöhle eröffnet und die Baucheingeweide ganz verkohlt gefunden wurden, liess sich trotzdem der Uterus, wenn auch äusserlich verkohlt, erkennen, und zwar nicht blos durch seine äussere Form, sondern auch durch seine Lagerung zu den Nachbarorganen, die ihrer geschützten Lage wegen ebenfalls weniger als andere Gebilde gelitten hatten. In einzelnen Fällen war der Uterus zu einem unförmlichen, äusserlich ganz harten Körper verkohlt, war jedoch beim Aufschneiden deutlich als solcher erkennbar und liess sogar Details, z. B. Gefässdurchschnitte, Endometrium, Plicae palmatae etc., unterscheiden. In anderen Fällen konnte schon aus dem Fehlen eines massigen Gebildes zwischen Harnblase und Rectum geschlossen werden, dass ein männliches Individuum vorliege.
Nicht selten waren trotz hochgradiger Verkohlung der Bauchorgane noch die Ovarien aufzufinden und an der Form, Lage, sowie am Durchschnitte als solche zu erkennen. Gleiches war bei der Harnblase der Fall und auch bezüglich des centralen Antheiles der Harnröhre, was insoferne wichtig, als an diesem wesentliche Geschlechtsunterschiede sich bemerkbar machen, nämlich beim Manne der Befund des Schnepfenkopfes, der an der weiblichen Harnröhre fehlt, und der Corpora cavernosa penis. Aus solchen Befunden allein können schon positive Schlüsse auf das Geschlecht des Individuums gemacht werden, und wir wollen hier bemerken, dass wir auch bei dem oben erwähnten, nach einem halben Jahre aus dem Wasser gezogenen Individuum in den scheinbar zur Unkenntlichkeit verfaulten Weichtheilen der Beckenhöhle noch deutliche Reste der Corpora cavernosa penis, sowie die hintere Partie der Harnröhre mit dem Schnepfenkopfe gefunden haben, welcher Nachweis für sich allein genügt haben würde, das Individuum für ein männliches zu erklären. Dagegen war bei dem, ebenfalls oben angeführten, vor 2 Jahren ermordeten und dann vergrabenen Manne von dem Urogenitalapparate nichts mehr zu erkennen.
Am Skelet lassen sich für die Geschlechtsbestimmung folgende Verhältnisse verwerthen: Im Allgemeinen ist beim Weibe das ganze Skelet kleiner und schwächer als das männliche und auch die einzelnen Knochen sind verhältnissmässig weniger stark entwickelt, doch ist es bekannt, in welcher Weise äussere und individuelle Verhältnisse dieses im Ganzen richtige Gesetz alteriren können.[S. 848] Der Thorax ist beim Weibe im Allgemeinen kürzer, aber weiter, besonders im oberen Theile. Nach Henle ist die Flächenkrümmung des hinteren Theiles der Rippen stärker, dagegen die Kantenkrümmung (nach unten) schwächer als beim Manne. Die erste und zweite Rippe sind absolut länger (Meckel). Das Brustbein ist meist kürzer und breiter als beim Manne, erscheint daher plump, während das des Mannes schlanker und graciler aussieht (M. Strauch). Die Längendifferenz beruht vorzugsweise auf der Kürze des Körpers des weiblichen Sternums.
Das Becken ist derjenige Theil des Skelettes, in welchem sich der Geschlechtsunterschied am bestimmtesten, und zwar ebensowohl in der Form, wie in den Dimensionen, ausspricht. Henle beschreibt diesen Unterschied folgendermassen: Die Flächen der Darmbeine nähern sich beim Weibe in der Regel mehr der horizontalen Lage als beim Manne; das Promontorium springt beim männlichen Becken meistens weiter vor, und so ist für das männliche Becken die Herzform, für das weibliche Becken die quer-elliptische Form der oberen Apertur die normale. Das untere Becken des Weibes ist absolut niedriger als das männliche, aber geräumiger. Bei beiden Geschlechtern nimmt die Weite der Höhle des unteren Beckens gegen den Ausgang ab, bei dem Manne aber in stärkerem Masse als beim Weibe, so dass also die untere Apertur des weiblichen Beckens absolut und relativ weiter ist. Hiermit steht in Verbindung, dass die unteren Ränder des Leistenbeins am männlichen Becken unter einem spitzigeren Winkel zusammenstossen als am weiblichen. Der Schambogen des Weibes ist eine Curve, der Schambogen des Mannes gleicht mehr einer gebrochenen Linie. Das weibliche Kreuzbein ist breiter und kürzer.
Nach Toldt (Maschka’s Handb. III, 562) können als die mittleren Masse für die wichtigsten Beckendurchmesser gelten:
Weib
|
Mann
|
|||||
Im Beckeneingang: Conjugata
vera
|
118
|
Mm.
|
113
|
Mm.
|
||
Querdurchmesser
|
135
|
„
|
127
|
„
|
||
Schräger Durchm.
|
124
|
„
|
120
|
„
|
||
Im Beckenraum: Gerader
Durchmesser
|
126
|
„
|
114
|
„
|
||
Querer „
|
124
|
„
|
120
|
„
|
||
Im Beckenausgang: Gerader „
|
90 –
|
110
|
„
|
75 –
|
95
|
„
|
Querer „
|
110
|
„
|
82
|
„
|
Alle diese Angaben beziehen sich auf das typisch-weibliche, respective männliche Becken, doch kommen Abweichungen und Zwischenformen vielfach vor. Auch ist es selbstverständlich, dass die genannten Geschlechtsunterschiede erst beim erwachsenen Weibe deutlicher ausgebildet sind, obgleich den Beobachtungen von Fehling zufolge schon das Becken neugeborener Mädchen und Knaben gewisse Verschiedenheiten bieten soll.
Die Richtigkeit der Angabe, dass beim Weibe der Winkel, der die Längsachse des Oberschenkelbeines mit der des Schenkelhalses[S. 849] bildet, ein nahezu rechter, beim Manne aber ein stumpfer ist, wird von Merkel bestritten.
C. Das Alter. Die oben citirte österreichische Instruction für die gerichtliche Todtenbeschau verlangt nur die Angabe des beiläufigen Alters, und zwar mit Recht, da wegen Mangel ganz zweifelloser und nur einzelnen Lebensjahren zukommender Kennzeichen blos eine Diagnose der Altersperiode, nicht aber des genauen Alters möglich ist. Selbst bei frischen und ganzen Leichen und nach Erwägung aller äusseren sowohl als inneren Merkmale ist stets nur eine approximative Schätzung innerhalb eines gewissen, je nach der Natur des Falles mehr weniger weiten Spielraumes zulässig. Noch mehr Vorsicht ist angezeigt, wenn es sich um verfaulte, verstümmelte oder verkohlte Leichen, oder gar nur um Reste derselben handelt.
Bei erhaltenen Leichen gestattet zwar schon das äussere Aussehen häufig einen approximativen Schluss auf das Alter des Individuums, und es können Länge des Körpers, Ernährungszustand, Beschaffenheit der Haare und der Zähne in dieser Beziehung verwerthet werden. Dass aber bei einseitiger Auffassung dieser Eigenschaften grosse Irrungen geschehen können, ist begreiflich. Die Statur schwankt bekanntlich in weiten Grenzen, ein Grauwerden oder Ausfallen der Haare in jüngeren Jahren ist nichts Seltenes und ebenso kann ein marastisches Aussehen auch bei verhältnissmässig jungen Personen vorkommen und man weiss, wie sehr auch das Verhalten der Zähne bezüglich ihrer Festigkeit, Gesundheit und sonstigen Aussehens variirt! Es muss daher auch bei solchen Leichen auf die inneren Verhältnisse recurrirt werden, noch mehr aber bei faulen oder anderweitig veränderten.
Diese Verhältnisse betreffen vorzugsweise die Knochen und die Knorpel, aber auch gewisse Weichtheile.
Für Altersbestimmungen innerhalb der Periode von der Geburt bis zum vollendeten Wachsthume muss die zunehmende Höhe des ganzen Skelettes und die wachsende Dimension der einzelnen Knochen, namentlich aber der Grad der Verknöcherung der einzelnen Skelettheile, herbeigezogen werden.
Die Höhe des Skelettes, respective des ganzen Körpers, unterliegt in den einzelnen Perioden des Wachsthums eben solchen Verschiedenheiten, wie nach Vollendung des letzteren, so dass in einer und derselben Altersclasse weit auseinanderstehende Körpergrössen vorkommen, wovon namentlich die Erfahrungen an Schulkindern eclatante Beispiele liefern. Die Verwerthung der Körperlänge für die Altersbestimmung muss daher immer mit Vorsicht und unter Berücksichtigung anderer Verhältnisse geschehen und kann überhaupt stets nur zu approximativen Schlüssen führen.
Unsere an Leichen vorgenommenen Messungen haben für die Periode von der Geburt bis zum vollendeten 6. Jahre folgende Körperlängen ergeben:
[S. 850]
Alter
|
Knaben
|
Mädchen
|
|||||||||
Zahl
der Be- obach- tungen |
Längenmasse in
Centimetern |
Zahl
der Be- obach- tungen |
Längenmasse in
Centimetern |
||||||||
Dschn.
|
Maxim.
|
Minim.
|
Dschn.
|
Maxim.
|
Minim.
|
||||||
bis
|
1
|
Mon.
|
280
|
50·9
|
64
|
35
|
245
|
50·1
|
56·5
|
35
|
|
1
|
–
|
2
|
„
|
78
|
53·3
|
61
|
40
|
62
|
53·7
|
68·5
|
47
|
2
|
–
|
3
|
„
|
54
|
55·4
|
69
|
41
|
60
|
54·7
|
63
|
47
|
3
|
–
|
4
|
„
|
61
|
57·5
|
72
|
50
|
61
|
57·4
|
74
|
50
|
4
|
–
|
5
|
„
|
40
|
57·9
|
67
|
45
|
37
|
57·7
|
72
|
47
|
5
|
–
|
6
|
„
|
33
|
60·8
|
68
|
52
|
20
|
58·8
|
75
|
52
|
6
|
–
|
7
|
„
|
27
|
62
|
75
|
56·5
|
26
|
61·6
|
67
|
56
|
7
|
–
|
8
|
„
|
23
|
63·5
|
72
|
54
|
15
|
61·2
|
70
|
53
|
8
|
–
|
9
|
„
|
22
|
62·5
|
71
|
53
|
15
|
62·2
|
69
|
56
|
9
|
–
|
10
|
„
|
11
|
65·8
|
70
|
60
|
14
|
61·7
|
68
|
54
|
10
|
–
|
11
|
„
|
8
|
66·8
|
72
|
63
|
10
|
64·7
|
71
|
52
|
11
|
–
|
12
|
„
|
9
|
66·5
|
74
|
56·5
|
7
|
66·4
|
70
|
61
|
1
|
–
|
1½
|
Jahr
|
48
|
70·9
|
85
|
51
|
51
|
69·2
|
80
|
54
|
1½
|
–
|
2
|
„
|
40
|
73·4
|
83
|
49
|
30
|
71·3
|
83
|
60
|
2
|
–
|
2½
|
„
|
34
|
76·2
|
88
|
68
|
34
|
75·2
|
86
|
61
|
2½
|
–
|
3
|
„
|
22
|
79·8
|
91
|
68
|
17
|
75·3
|
88
|
58
|
3
|
–
|
3½
|
„
|
22
|
83
|
102
|
68
|
16
|
79·1
|
88
|
53
|
3½
|
–
|
4
|
„
|
12
|
88·8
|
104
|
77
|
7
|
85·6
|
95
|
75
|
4
|
–
|
4½
|
„
|
20
|
89·9
|
106
|
60
|
25
|
88·5
|
100
|
72
|
4½
|
–
|
5
|
„
|
3
|
97·3
|
99
|
94
|
3
|
96·6
|
98
|
96
|
5
|
–
|
5½
|
„
|
12
|
100·4
|
111
|
93
|
9
|
97·1
|
108
|
92
|
5½
|
–
|
6
|
„
|
3
|
104·3
|
108
|
100
|
8
|
93·3
|
106
|
84
|
Alter
|
Knaben
|
||||||
Zahl
der Be- obach- tungen |
Längenmasse in
Centimetern |
||||||
Dschn.
|
Maxim.
|
Minim.
|
|||||
bis
|
1
|
Mon.
|
280
|
50·9
|
64
|
35
|
|
1
|
–
|
2
|
„
|
78
|
53·3
|
61
|
40
|
2
|
–
|
3
|
„
|
54
|
55·4
|
69
|
41
|
3
|
–
|
4
|
„
|
61
|
57·5
|
72
|
50
|
4
|
–
|
5
|
„
|
40
|
57·9
|
67
|
45
|
5
|
–
|
6
|
„
|
33
|
60·8
|
68
|
52
|
6
|
–
|
7
|
„
|
27
|
62
|
75
|
56·5
|
7
|
–
|
8
|
„
|
23
|
63·5
|
72
|
54
|
8
|
–
|
9
|
„
|
22
|
62·5
|
71
|
53
|
9
|
–
|
10
|
„
|
11
|
65·8
|
70
|
60
|
10
|
–
|
11
|
„
|
8
|
66·8
|
72
|
63
|
11
|
–
|
12
|
„
|
9
|
66·5
|
74
|
56·5
|
1
|
–
|
1½
|
Jahr
|
48
|
70·9
|
85
|
51
|
1½
|
–
|
2
|
„
|
40
|
73·4
|
83
|
49
|
2
|
–
|
2½
|
„
|
34
|
76·2
|
88
|
68
|
2½
|
–
|
3
|
„
|
22
|
79·8
|
91
|
68
|
3
|
–
|
3½
|
„
|
22
|
83
|
102
|
68
|
3½
|
–
|
4
|
„
|
12
|
88·8
|
104
|
77
|
4
|
–
|
4½
|
„
|
20
|
89·9
|
106
|
60
|
4½
|
–
|
5
|
„
|
3
|
97·3
|
99
|
94
|
5
|
–
|
5½
|
„
|
12
|
100·4
|
111
|
93
|
5½
|
–
|
6
|
„
|
3
|
104·3
|
108
|
100
|
Alter
|
Mädchen
|
||||||
Zahl
der Be- obach- tungen |
Längenmasse in
Centimetern |
||||||
Dschn.
|
Maxim.
|
Minim.
|
|||||
bis
|
1
|
Mon.
|
245
|
50·1
|
56·5
|
35
|
|
1
|
–
|
2
|
„
|
62
|
53·7
|
68·5
|
47
|
2
|
–
|
3
|
„
|
60
|
54·7
|
63
|
47
|
3
|
–
|
4
|
„
|
61
|
57·4
|
74
|
50
|
4
|
–
|
5
|
„
|
37
|
57·7
|
72
|
47
|
5
|
–
|
6
|
„
|
20
|
58·8
|
75
|
52
|
6
|
–
|
7
|
„
|
26
|
61·6
|
67
|
56
|
7
|
–
|
8
|
„
|
15
|
61·2
|
70
|
53
|
8
|
–
|
9
|
„
|
15
|
62·2
|
69
|
56
|
9
|
–
|
10
|
„
|
14
|
61·7
|
68
|
54
|
10
|
–
|
11
|
„
|
10
|
64·7
|
71
|
52
|
11
|
–
|
12
|
„
|
7
|
66·4
|
70
|
61
|
1
|
–
|
1½
|
Jahr
|
51
|
69·2
|
80
|
54
|
1½
|
–
|
2
|
„
|
30
|
71·3
|
83
|
60
|
2
|
–
|
2½
|
„
|
34
|
75·2
|
86
|
61
|
2½
|
–
|
3
|
„
|
17
|
75·3
|
88
|
58
|
3
|
–
|
3½
|
„
|
16
|
79·1
|
88
|
53
|
3½
|
–
|
4
|
„
|
7
|
85·6
|
95
|
75
|
4
|
–
|
4½
|
„
|
25
|
88·5
|
100
|
72
|
4½
|
–
|
5
|
„
|
3
|
96·6
|
98
|
96
|
5
|
–
|
5½
|
„
|
9
|
97·1
|
108
|
92
|
5½
|
–
|
6
|
„
|
8
|
93·3
|
106
|
84
|
Für die Körperhöhe in der Periode vom 6. bis zum 19. bis 20. Jahre existiren sehr zahlreiche und sorgfältig ausgeführte Messungen von Schulkindern, die insbesondere aus Anlass der Schulbankfrage in verschiedenen Ländern vorgenommen wurden. Von diesen mögen, weil auf grossen Zahlen beruhend, insbesondere die Messungen der Frankfurter Commission hier Aufnahme finden, welche die Jugend der Frankfurter öffentlichen Schulen, und zwar 3459 Knaben und 2448 Mädchen, umfassen (Vierteljahrschrift f. öffentl. Gesundheitspflege. IV, pag. 300).
Knaben.
Alter
|
Anzahl der
Gemessenen |
Durch-
schnittliche Körpergrösse |
Minimum
|
Maximum
|
6– 7
|
96
|
119·9
|
100·0
|
126·2
|
7– 8
|
349
|
117·3
|
103·0
|
134·5
|
8– 9
|
409
|
122·8
|
104·5
|
141·4
|
9–10
|
452
|
126·4
|
104·0
|
144·5
|
10–11
|
438
|
131·3
|
114·5
|
153·9
|
11–12
|
407
|
135·8
|
111·0
|
164·5
|
12–13
|
389
|
140·6
|
122·0
|
178·0
|
13–14
|
388
|
147·0
|
129·0
|
172·6
|
14–15
|
357
|
152·3
|
122·8
|
172·0
|
15–16
|
153
|
161·7
|
137·0
|
184·0
|
16–17
|
66
|
165·0
|
132·4
|
181·5
|
17–18
|
31
|
169·1
|
145·0
|
185·0
|
18–19
|
13
|
167·6
|
146·0
|
179·0
|
19–20
|
5
|
171·8
|
167·0
|
178·0
|
20–21
|
6
|
169·1
|
166·0
|
172·5
|
[S. 851]
Mädchen.
Alter
|
Anzahl der
Gemessenen |
Durch-
schnittliche Körpergrösse |
Minimum
|
Maximum
|
6– 7
|
44
|
115·0
|
101·5
|
124·9
|
7– 8
|
44
|
116·3
|
99·0
|
129·0
|
8– 9
|
353
|
121·2
|
106·0
|
139·9
|
9–10
|
335
|
125·1
|
106·0
|
140·1
|
10–11
|
345
|
129·8
|
112·0
|
156·5
|
11–12
|
307
|
135·7
|
118·0
|
154·0
|
12–13
|
305
|
141·1
|
124·0
|
161·0
|
13–14
|
233
|
143·4
|
119·0
|
170·0
|
14–15
|
151
|
150·9
|
122·0
|
169·0
|
15–16
|
49
|
156·6
|
142·0
|
172·2
|
16–17
|
16
|
156·5
|
151·0
|
168·8
|
17–18
|
4
|
161·2
|
153·8
|
170·0
|
18–19
|
2
|
155·5
|
154·0
|
157·0
|
Beim erwachsenen Mann beträgt die Länge des Skelettes zwischen 157 und 180 Cm. Beim erwachsenen Weib zwischen 153 und 166 Cm.
Wenn man von der Länge der reifen Neugeborenen von 50 Cm. ausgeht, erreicht der Mensch etwa im 5. Jahre die doppelte (100 Cm.), in weiteren 10 Jahren, nämlich bis zum 15. Lebensjahre, die dreifache Länge (150 Cm.) des Neugeborenen. Im ersten Jahre geschieht das Längenwachsthum am raschesten und beträgt monatlich 1–2, somit im Ganzen 12–24 Cm., vom 1. bis 5. Jahre jährlich blos 7–8, vom 5. bis 15. blos jährlich 5 Cm. Zur Zeit der Pubertät ist das Wachsthum wieder ein rascheres und erreicht der Körper nahezu die künftige Länge, zu welcher dann bis zur Beendigung des Wachsthums meist nur noch wenig hinzukommt.
Der Schluss aus den Dimensionen einzelner aufgefundener Knochen, respective Körpertheile, auf das Alter, respective die Statur des betreffenden Individuums ist natürlich stets ein prekärer und wird sich in der Regel noch in weiteren Grenzen bewegen müssen als bei ganzen Leichen, beziehungsweise vollständigen Skeletten.
Sue (Orfila’s Lehrbuch der gerichtl. Medicin. I, 103) hat in dieser Beziehung folgende Verhältnisse gefunden: Ein Kind von einem Jahre, dessen Grösse 66 Cm. betrug: Länge des Stammes 39 Cm., der oberen Extremitäten 27 Cm., der unteren Extremitäten 27 Cm. Kind von drei Jahren, dessen Grösse 99 Cm. betrug: Länge des Stammes 57 Cm., obere Extremitäten 42 Cm., untere 43 Cm. Kind von 10 Jahren, dessen Grösse 132 Cm. betrug: Länge des Stammes 72 Cm., der oberen Extremitäten 57 Cm., der unteren Extremitäten 61 Cm., Kind von 14 Jahren von 1 M. 65 Cm. Grösse: Länge des Stammes 84 Cm., der oberen Extremitäten 73 Cm., der unteren Extremitäten 81 Cm. Individuen von 20 bis 25 Jahren, deren Gesammthöhe 1 M. 92 Cm. betrug: Länge des Stammes 96 Cm., der oberen Extremitäten 90 Cm., der unteren Extremitäten 96 Cm.
[S. 852]
Tabellarische Zusammenstellungen des Verhältnisses der Dimensionen einzelner Knochen zur Höhe des ganzen Skelettes finden sich an der citirten Stelle bei Orfila, in Taylor’s Medical Jurisprudence, 1873, I, 154, bei Langer (Wachsthum des menschlichen Skelettes mit Bezug auf den Riesen. Denkschrift der k. Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftl. Classe. 1872, XXXI) und insbesondere bei Toldt (l. c. 531). Letzterer Autor constatirte an der Wirbelsäule und an den Extremitätenknochen folgende Maasse (in Millimetern):
Alter
|
Länge der
Wirbel- säule |
Clavi-
cula |
Scapula
|
Humerus
|
Ulna
|
Radius
|
Hand-
länge |
Hüftknochen
|
Femur
|
Tibia
|
Fibula
|
Fuss-
länge |
||
Länge
|
Breite
|
von Spina oss.
ilei ant. bis tuber ischii |
von Spina oss.
ilei post. zu Symph. oss. pub. |
|||||||||||
M. Embryo Ende des 6. Mon., K.-L. 30 Cm.
|
133
|
25
|
25
|
16
|
50
|
40
|
36·5
|
34
|
29
|
27
|
56
|
43
|
43
|
39
|
Knabe, Neugeb., reif, K.-L. 48·8 Cm.
|
235
|
43·5
|
41
|
29
|
80
|
70
|
61
|
61
|
51
|
46
|
90
|
73
|
71
|
70
|
Knabe, Neugeb., reif, K.-L. 52·5 Cm.
|
260
|
46
|
46
|
26·5
|
83
|
71
|
60
|
71
|
57
|
53
|
99
|
80
|
81
|
72
|
Mädchen, 1½ Jahre alt, K.-L. 74 Cm.
|
346
|
64
|
58
|
45
|
119·5
|
98
|
84
|
87
|
71
|
68
|
151
|
122
|
123
|
104
|
Mädchen, 2½ Jahre alt, K.-L. 83 Cm.
|
378
|
66
|
63
|
52
|
134
|
110
|
94
|
101
|
88
|
89
|
179
|
147
|
148
|
124
|
Mädchen, 4 Jahre alt, K.-L. 96 Cm.
|
444
|
80
|
80
|
64
|
166
|
125
|
110
|
110
|
100
|
106
|
213
|
178
|
181
|
140
|
Knabe, 6½ Jahre alt, K.-L. 106 Cm.
|
494
|
84
|
84
|
65
|
186
|
150
|
133
|
123
|
108
|
113
|
256
|
203
|
226
|
169
|
Knabe, 12 Jahre alt, K.-L. 137·8 Cm.
|
584
|
110
|
116
|
78
|
270
|
219
|
191
|
154
|
145
|
141
|
383
|
308
|
302
|
208
|
Knabe, 15 Jahre alt, K.-L. 152 Cm.
|
646
|
134
|
125
|
97
|
297
|
230
|
206
|
179
|
156
|
162
|
422
|
353
|
350
|
226
|
Mann, 24 Jahre alt, K.-L. 163 Cm.
|
765
|
140
|
141
|
113
|
300
|
236
|
221
|
175
|
161
|
175
|
417
|
335
|
342
|
225
|
Mann, 24 Jahre alt, K.-L. 175 Cm.
|
775
|
161
|
160
|
114
|
326
|
264
|
235
|
190
|
191
|
179
|
477
|
375
|
371
|
246
|
Alter
|
Länge der
Wirbel- säule |
Clavi-
cula |
Scapula
|
Humerus
|
Ulna
|
Radius
|
Hand-
länge |
|
Länge
|
Breite
|
|||||||
M. Embryo Ende des 6. Mon., K.-L. 30 Cm.
|
133
|
25
|
25
|
16
|
50
|
40
|
36·5
|
34
|
Knabe, Neugeb., reif, K.-L. 48·8 Cm.
|
235
|
43·5
|
41
|
29
|
80
|
70
|
61
|
61
|
Knabe, Neugeb., reif, K.-L. 52·5 Cm.
|
260
|
46
|
46
|
26·5
|
83
|
71
|
60
|
71
|
Mädchen, 1½ Jahre alt, K.-L. 74 Cm.
|
346
|
64
|
58
|
45
|
119·5
|
98
|
84
|
87
|
Mädchen, 2½ Jahre alt, K.-L. 83 Cm.
|
378
|
66
|
63
|
52
|
134
|
110
|
94
|
101
|
Mädchen, 4 Jahre alt, K.-L. 96 Cm.
|
444
|
80
|
80
|
64
|
166
|
125
|
110
|
110
|
Knabe, 6½ Jahre alt, K.-L. 106 Cm.
|
494
|
84
|
84
|
65
|
186
|
150
|
133
|
123
|
Knabe, 12 Jahre alt, K.-L. 137·8 Cm.
|
584
|
110
|
116
|
78
|
270
|
219
|
191
|
154
|
Knabe, 15 Jahre alt, K.-L. 152 Cm.
|
646
|
134
|
125
|
97
|
297
|
230
|
206
|
179
|
Mann, 24 Jahre alt, K.-L. 163 Cm.
|
765
|
140
|
141
|
113
|
300
|
236
|
221
|
175
|
Mann, 24 Jahre alt, K.-L. 175 Cm.
|
775
|
161
|
160
|
114
|
326
|
264
|
235
|
190
|
Alter
|
Hüftknochen
|
Femur
|
Tibia
|
Fibula
|
Fuss-
länge |
|
von Spina oss.
ilei ant. bis tuber ischii |
von Spina oss.
ilei post. zu Symph. oss. pub. |
|||||
M. Embryo Ende des 6. Mon., K.-L. 30 Cm.
|
29
|
27
|
56
|
43
|
43
|
39
|
Knabe, Neugeb., reif, K.-L. 48·8 Cm.
|
51
|
46
|
90
|
73
|
71
|
70
|
Knabe, Neugeb., reif, K.-L. 52·5 Cm.
|
57
|
53
|
99
|
80
|
81
|
72
|
Mädchen, 1½ Jahre alt, K.-L. 74 Cm.
|
71
|
68
|
151
|
122
|
123
|
104
|
Mädchen, 2½ Jahre alt, K.-L. 83 Cm.
|
88
|
89
|
179
|
147
|
148
|
124
|
Mädchen, 4 Jahre alt, K.-L. 96 Cm.
|
100
|
106
|
213
|
178
|
181
|
140
|
Knabe, 6½ Jahre alt, K.-L. 106 Cm.
|
108
|
113
|
256
|
203
|
226
|
169
|
Knabe, 12 Jahre alt, K.-L. 137·8 Cm.
|
145
|
141
|
383
|
308
|
302
|
208
|
Knabe, 15 Jahre alt, K.-L. 152 Cm.
|
156
|
162
|
422
|
353
|
350
|
226
|
Mann, 24 Jahre alt, K.-L. 163 Cm.
|
161
|
175
|
417
|
335
|
342
|
225
|
Mann, 24 Jahre alt, K.-L. 175 Cm.
|
191
|
179
|
477
|
375
|
371
|
246
|
Für die Kopfknochen fand Toldt folgende Maasse:
Alter
|
Hinter-
haupts- schuppe |
Scheitel-
bein |
Stirn-
bein- schuppe |
Schläfen-
bein- schuppe |
Querabstand
der Warzen- fortsätze |
Grösste
Breite des Keilbeines |
Grösste
Breite des Oberkie- fers |
Höhe
des Ober- kiefers |
Querab-
stand der Unterkie- ferwinkel |
Länge
des Un- terkiefers |
|||||
Höhe
|
Breite
|
Höhe
|
Breite
|
Höhe
|
Breite
|
Höhe
|
Breite
|
||||||||
Reifer neugeborener Knabe, K.-L. 51·6 Cm.
|
67
|
66
|
85
|
80
|
62
|
57
|
23
|
32
|
55
|
62
|
51
|
24
|
42
|
33
|
|
Mädchen, 3 Monate alt
|
78
|
83
|
111
|
94
|
76
|
65
|
24
|
37
|
71
|
86
|
57
|
31
|
51
|
40
|
|
Mädchen, 6 Monate alt
|
83
|
92
|
112
|
104
|
80
|
61
|
25
|
33
|
74
|
90
|
58
|
32
|
51
|
41
|
|
Mädchen, 9 Monate alt
|
91
|
104
|
123
|
120
|
95
|
75
|
40
|
46
|
79
|
101
|
64
|
39
|
59
|
51
|
|
Knabe, 13 Monate alt
|
91
|
108
|
113
|
117
|
93
|
72
|
33
|
50
|
85
|
99
|
64
|
41
|
59
|
47
|
|
Knabe, 2 Jahre alt
|
100
|
120
|
133
|
124
|
108
|
83
|
33
|
51
|
89
|
111
|
70
|
41
|
67
|
50
|
|
Knabe, 3 Jahre alt
|
108
|
115
|
131
|
121
|
116
|
81
|
45
|
52
|
84
|
100
|
75
|
43
|
59
|
50
|
|
Knabe, 4 Jahre alt
|
101
|
122
|
130
|
125
|
104
|
81
|
41
|
54
|
99
|
103
|
68
|
45
|
65
|
53
|
|
Knabe, 5 Jahre alt
|
105
|
131
|
133
|
125
|
116
|
90
|
42
|
55
|
108
|
115
|
76
|
54
|
76
|
60
|
|
Knabe, 7 Jahre alt
|
110
|
125
|
136
|
125
|
110
|
85
|
42
|
59
|
110
|
116
|
80
|
54
|
76
|
63
|
|
Knabe, 9 Jahre alt
|
115
|
128
|
130
|
129
|
111
|
84
|
43
|
61
|
116
|
114
|
86
|
51
|
77
|
69
|
|
Knabe, 12 Jahre alt
|
117
|
130
|
125
|
124
|
114
|
88
|
40
|
68
|
113
|
114
|
89
|
63
|
86
|
74
|
|
Knabe, 16 Jahre alt
|
112
|
128
|
137
|
139
|
121
|
91
|
42
|
62
|
112
|
124
|
86
|
60
|
84
|
72
|
|
Ausgewachsener Mann
|
105
|
128
|
130
|
120
|
108
|
80
|
42
|
60
|
120
|
120
|
90
|
69
|
86
|
72
|
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
||
120
|
145
|
140
|
142
|
125
|
94
|
54
|
80
|
130
|
136
|
98
|
73
|
102
|
86
|
||
Ausgewachsenes Weib
|
100
|
120
|
122
|
120
|
106
|
78
|
37
|
58
|
112
|
114
|
87
|
54
|
82
|
70
|
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
||
130
|
130
|
140
|
130
|
120
|
94
|
48
|
70
|
118
|
120
|
92
|
92
|
88
|
94
|
Alter
|
Hinter-
haupts- schuppe |
Scheitel-
bein |
Stirn-
bein- schuppe |
Schläfen-
bein- schuppe |
|||||
Höhe
|
Breite
|
Höhe
|
Breite
|
Höhe
|
Breite
|
Höhe
|
Breite
|
||
Reifer neugeborener Knabe, K.-L. 51·6 Cm.
|
67
|
66
|
85
|
80
|
62
|
57
|
23
|
32
|
|
Mädchen, 3 Monate alt
|
78
|
83
|
111
|
94
|
76
|
65
|
24
|
37
|
|
Mädchen, 6 Monate alt
|
83
|
92
|
112
|
104
|
80
|
61
|
25
|
33
|
|
Mädchen, 9 Monate alt
|
91
|
104
|
123
|
120
|
95
|
75
|
40
|
46
|
|
Knabe, 13 Monate alt
|
91
|
108
|
113
|
117
|
93
|
72
|
33
|
50
|
|
Knabe, 2 Jahre alt
|
100
|
120
|
133
|
124
|
108
|
83
|
33
|
51
|
|
Knabe, 3 Jahre alt
|
108
|
115
|
131
|
121
|
116
|
81
|
45
|
52
|
|
Knabe, 4 Jahre alt
|
101
|
122
|
130
|
125
|
104
|
81
|
41
|
54
|
|
Knabe, 5 Jahre alt
|
105
|
131
|
133
|
125
|
116
|
90
|
42
|
55
|
|
Knabe, 7 Jahre alt
|
110
|
125
|
136
|
125
|
110
|
85
|
42
|
59
|
|
Knabe, 9 Jahre alt
|
115
|
128
|
130
|
129
|
111
|
84
|
43
|
61
|
|
Knabe, 12 Jahre alt
|
117
|
130
|
125
|
124
|
114
|
88
|
40
|
68
|
|
Knabe, 16 Jahre alt
|
112
|
128
|
137
|
139
|
121
|
91
|
42
|
62
|
|
Ausgewachsener Mann
|
105
|
128
|
130
|
120
|
108
|
80
|
42
|
60
|
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
||
120
|
145
|
140
|
142
|
125
|
94
|
54
|
80
|
||
Ausgewachsenes Weib
|
100
|
120
|
122
|
120
|
106
|
78
|
37
|
58
|
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
||
130
|
130
|
140
|
130
|
120
|
94
|
48
|
70
|
Alter
|
Querabstand
der Warzen- fortsätze |
Grösste
Breite des Keilbeines |
Grösste
Breite des Oberkie- fers |
Höhe
des Ober- kiefers |
Querab-
stand der Unterkie- ferwinkel |
Länge
des Un- terkiefers |
|
Reifer neugeborener Knabe, K.-L. 51·6 Cm.
|
55
|
62
|
51
|
24
|
42
|
33
|
|
Mädchen, 3 Monate alt
|
71
|
86
|
57
|
31
|
51
|
40
|
|
Mädchen, 6 Monate alt
|
74
|
90
|
58
|
32
|
51
|
41
|
|
Mädchen, 9 Monate alt
|
79
|
101
|
64
|
39
|
59
|
51
|
|
Knabe, 13 Monate alt
|
85
|
99
|
64
|
41
|
59
|
47
|
|
Knabe, 2 Jahre alt
|
89
|
111
|
70
|
41
|
67
|
50
|
|
Knabe, 3 Jahre alt
|
84
|
100
|
75
|
43
|
59
|
50
|
|
Knabe, 4 Jahre alt
|
99
|
103
|
68
|
45
|
65
|
53
|
|
Knabe, 5 Jahre alt
|
108
|
115
|
76
|
54
|
76
|
60
|
|
Knabe, 7 Jahre alt
|
110
|
116
|
80
|
54
|
76
|
63
|
|
Knabe, 9 Jahre alt
|
116
|
114
|
86
|
51
|
77
|
69
|
|
Knabe, 12 Jahre alt
|
113
|
114
|
89
|
63
|
86
|
74
|
|
Knabe, 16 Jahre alt
|
112
|
124
|
86
|
60
|
84
|
72
|
|
Ausgewachsener Mann
|
120
|
120
|
90
|
69
|
86
|
72
|
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
||
130
|
136
|
98
|
73
|
102
|
86
|
||
Ausgewachsenes Weib
|
112
|
114
|
87
|
54
|
82
|
70
|
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
bis
|
||
118
|
120
|
92
|
92
|
88
|
94
|
[S. 853]
Die wichtigsten Anhaltspunkte für die Altersbestimmung ergeben die Ossificationsverhältnisse der einzelnen Skelettheile. Dieselben gestalten sich zufolge der Angaben Henle’s, Langer’s, Toldt’s u. A., sowie zufolge unserer eigenen Untersuchungen im Allgemeinen in nachstehender Weise, wobei jedoch bemerkt werden muss, dass individuelle, Geschlechts- und Racenverhältnisse den Gang der Ossification vielfach beeinflussen. Insbesondere scheint, wie auch Wachholz („Altersbestimmung aus dem Verhalten der Ossification des oberen Humerusendes“. Friedreich’s Bl. 1894) bestätigte, beim weiblichen Geschlechte die Ossification des Skelettes früher sich zu vollenden als beim männlichen, und bei Individuen (Racen) von kleiner Statur früher als bei solchen von grosser.
Im Laufe des ersten Lebensjahres beginnt die Verschmelzung der beiden Stirnbeinhälften vom unteren Ende der Stirnnaht aus und schon in den ersten Monaten nach der Geburt verschwinden die seitlichen Fontanellen, während sich die grosse verkleinert. Der Warzentheil verwächst mit dem übrigen Schläfebeine und es bildet sich die Andeutung eines Warzenfortsatzes. Die fötalen Spalten am Occiput verschwinden; die Temporalflügel des Keilbeines wachsen an den Körper an und es vereinigen sich die beiden Unterkieferhälften. Der vordere Bogen des Atlas enthält einen Knochenkern und es beginnt die knöcherne Vereinigung der Wirbelbögen zuerst an den Brust- und unteren Hals-, dann an den Bauchwirbeln und zuletzt am Atlas. Die Knochenkerne im Brustbeine vermehren sich und es entstehen neue im Proc. coracoideus, im Caput humeri und im Oberschenkelkopf. In der Regel im 7. Monate erfolgt der Durchbruch der Milchzähne meist in folgender Ordnung: Zuerst brechen die unteren mittleren Schneidezähne hervor und bald darauf die Schneidezähne des Oberkiefers; nach einigen Wochen die oberen äusseren Schneidezähne und dann die unteren äusseren, so dass mit Ende des ersten Jahres in der Regel alle 8 Schneidezähne zum Vorscheine gekommen sind.[535]
Im Verlaufe des zweiten Jahres verknöchert die Stirnnaht vollständig und am Ende desselben ist die Verschliessung der grossen Fontanelle vollendet. Die knöcherne Vereinigung der Wirbelbögen schreitet vor und Knochenkerne bilden sich im grösseren Höcker des Oberarmkopfes, in den unteren Enden des Radius, der Tibia und Fibula und in den Köpfchen der Mittelhand- und Mittelfussknochen. Der Durchbruch der Milchzähne macht weitere Fortschritte. Etwa im 15. Monate zeigen sich die ersten Backenzähne, im 18. bis 22. die Spitzzähne und zuletzt die zweiten Backenzähne, so dass mit Ende des zweiten Jahres in der Regel 20 Zähne in den Kiefern sich finden.
[S. 854]
Im dritten Lebensjahre verwächst die Hinterhauptsschuppe mit dem Körper; der Warzenfortsatz des Schläfenbeines erhält die dem reifen Zustande entsprechende Grösse, der Zahnfortsatz verschmilzt mit dem Körper des Epistropheus und die knöcherne Vereinigung der Wirbelbögen wird vollendet. Im vierten Jahre bilden sich Ossificationspunkte im schwertförmigen Fortsatze, Knochenkerne treten auf im kleinen Höcker des Oberarmkopfes (häufig schon Ende des dritten Jahres), im grossen Trochanter und im oberen Ende der Fibula und die Verknöcherung der Patella beginnt. Im fünften Jahre sind Kopf und Höcker des Humerus zu einer Epiphyse verwachsen; Knochenkerne bilden sich im medialen Epicondylus des unteren Endes des Humerus und im oberen Ende des Radius. Im sechsten Jahre synostosirt die vordere Interoccipitalfuge, zwischen Gelenk- und Basilartheil des Hinterhauptbeines (Toldt), beginnt Verknöcherung der beiden Enden der Ulna und die Verknöcherung der Patella und der aufsteigenden Aeste des Sitzbeines ist vollendet. Im siebenten Jahre erfolgt der Zahnwechsel. Nachdem bereits früher in der Regel der erste Mahlzahn durchgebrochen, fallen die abgenützten Milchzähne aus und werden durch die bleibenden ersetzt. Mit dem Beginne des achten Jahres sind meist sämmtliche bleibende Schneidezähne bereits zum Durchbruchs gekommen, denen dann die beiden Backenzähne und im 10. und 11. Jahre die wahren Eckzähne folgen. Um dieselbe Zeit vollzieht sich die Verknöcherung der Steisswirbel und beginnt die Verwachsung der Kreuzbeinwirbel, und zwar zuerst der unteren und der Querfortsätze früher als der Körper. Im 12. Jahre tritt ein Knochenkern im Olecranon und in der Trochlea des Oberarmbeins, im 13. und 14. Jahre ein solcher im lateralen Epicondylus dieses Knochens auf und es verknöchert gleichzeitig der kleine Trochanter. Der zweite Mahlzahn ist bereits vorhanden. Im 14. bis 15. Jahre bilden sich Knochenkerne im Processus coracoideus und im Acromion.
Um die Zeit der Pubertät finden sich unbeständige kleine Knochenkerne an den Spitzen der Dorn- und Querfortsätze sämmtlicher Wirbel; beständig besitzt jeder Wirbelkörper an der oberen und unteren Fläche eine scheibenförmige Epiphyse, welche ein zusammenhängendes Kalkplättchen enthält, das durch Verschmelzung kleiner Kalkeinlagerungen entsteht, die als distante Körnchen bereits vom 10. bis 11. Lebensjahre an sich finden (Toldt). Gleichzeitig entstehen an Köpfchen und Höcker der Rippen besondere Knochenkerne, welche bald mit dem Körper verschmelzen. Der Proc. coracoid. verwächst mit dem Schulterblatte und die wagrechte Fuge im oberen Theile der Gelenkspfanne des letzteren verstreicht. Die Knochenkerne des Acromion verschmelzen und verwachsen etwa im 18. bis 19. Jahre mit der Gräte, auch bildet sich ein Knochenstreif längs der Basis und ein Knochenkern im Winkel der Scapula. Am Sternalende der Clavicula tritt eine Epiphyse auf in Form einer dünnen Lamelle, welche einige Jahre[S. 855] später mit dem Körper verwächst. Die obere Epiphyse der Ulna verschmilzt mit der Diaphyse. In der Pfanne vereinigt sich das Darmbein mit dem Sitzbein, dann mit dem Schambein. Im 17. bis 18. Jahre verschmilzt das hintere Ende des Fersenbeins mit dem Vorderstücke. Im 18. bis 22. Lebensjahre verschmelzen die Kreuzwirbel mit einander vollkommen. Zwischen dem 16. bis 20. Jahre obliterirt die Naht zwischen Keil- und Hinterhauptbein, verschwindet die letzte Quernaht des Körpers, des Brustbeins[536] und verschmilzt die Epiphyse des Humerus[537] des unteren Endes der Ulna, des Radius, die Epiphysen des Femur, der Tibia und Fibula, sowie die der Mittelhand- und Mittelfussknochen und Phalangen mit den betreffenden Diaphysen. Vom 22. bis zum 25. Jahre erfolgt die vollständige Verknöcherung des Schulterblattes, die völlige Verwachsung der Epiphysenplatten der Wirbelkörper und endlich die vollständige Verwachsung der Epiphysen des Hüftbeins, am spätesten die der Epiphyse am oberen Rande des Darmbeins und am Schambeinwinkel, und die Entwicklung des Knochengerüstes ist vollendet. Um diese Zeit erfolgt häufig erst der Durchbruch des sogenannten Weisheitszahns, in der Regel aber schon um das 18. Jahr.
In der Periode bis zum 40. Lebensjahre treten keine wesentlichen Veränderungen am Skelette auf und der Grad der Abnützung der Zähne ist so ziemlich der einzige Anhaltspunkt, auf welchem Altersbestimmungen sich basiren können. In der Periode von 40 bis 50 Jahren verwächst Körper und Schwertfortsatz des Brustbeins, seltener Körper und Griff, und es beginnen häufig schon früher die Kehlkopfknorpeln und die Rippenknorpeln zu verknöchern.[538] Im höheren Alter findet eine Obliteration der Schädelnähte[S. 856] statt, welche von der inneren Tafel gegen die äussere fortschreitet, zuerst gewöhnlich in der Scheitelnaht, dann in der Kronen- und Hinterhauptsnaht, zuletzt in der Warzennaht, doch ist es nach Zuckerkandl (Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien. 1884, IV) nicht besonders selten, dass die Synostose der Pfeil- und Kranznaht schon im 20., die der Pfeilnaht schon um das 27. Lebensjahr beginnt. Auch Dwight (Medicinisches Centralblatt. 1890, pag. 624) erwähnt diesen Umstand und überhaupt den vielfach unregelmässigen Gang, welchen die Verwachsung der Schädelnähte nimmt. Die höchsten Altersstufen werden am Skelette durch den fortschreitenden senilen Schwund der Knochen gekennzeichnet. Derselbe macht sich in der Regel am Schädel am deutlichsten bemerkbar. Der Schädel wird im Ganzen leichter, seine Wandungen dünner. Der Schwund zeigt sich namentlich an schon früher dünn gewesenen Stellen des Schädels, so entsprechend den Pacchionischen Granulationen, an der Decke der Paukenhöhle, an den grossen Flügeln des Keilbeins, besonders aber an den Orbitalwänden, woselbst die Knochen papierdünn, durchscheinend und sehr häufig ganz durchbrochen werden. Häufig finden sich die Scheitelbeinhöcker durch Usur wie abgeschliffen. In Folge des Ausfallens der Zähne atrophiren und verstreichen schliesslich die Alveolarfortsätze, der Oberkiefer verschmälert sich und tritt immer mehr zurück; der Körper des Unterkiefers bildet, nachdem die Alveolen abgeschliffen sind, einen rippenförmigen Bogen, der mit seinem mittleren Theile immer weiter über den Rand des Oberkiefers hervortritt und seine Aeste bilden wieder mit dem Körper einen stumpfen Winkel, ähnlich wie in der ersten Zeit nach der Geburt. — Auch an den Knochen des Rumpfes wird der senile Schwund immer deutlicher. Die Knochen werden dünner, leichter und brüchiger und es schwindet die spongiöse Substanz, was sich in bekannter Weise besonders am oberen Ende der Oberschenkelknochen, dann am Schulterblatte und den Darmbeinen bemerkbar macht. Gleichzeitig schreitet die Ossification in dem Kehlkopfe und den Rippenknorpeln vor und schliesslich verknöchern auch die Zwischenwirbelscheiben.
Bei der Beurtheilung der letzterwähnten Befunde ist nicht zu vergessen, dass die senile Körperbeschaffenheit überhaupt nicht immer durch hohes Alter bedingt ist, und dass Schwund, der gesammten sowohl, als insbesondere nur gewisser Knochen, z. B. der Kiefer, sich auch aus anderen Ursachen ausbilden kann.
Auch das Verhalten der inneren Weichtheile kann bis zu einem gewissen Grade zu approximativen Altersbestimmungen verwerthet werden. So lässt sich in der Regel schon aus der Grösse[S. 857] der einzelnen Organe schliessen, ob sie einem Kinde oder einem älteren Individuum angehören. Vorsicht in dieser Beziehung ist nur gegenüber stark verkohlten Organen angezeigt, da dieselben in Folge der successiven Einwirkung der Flammenhitze unter Erhaltung ihrer Form so geschrumpft sein können, dass sie, obgleich erwachsenen Individuen angehörend, wie die von Kindern aussehen können (s. pag. 607).
Von den physiologischen Zuständen innerer Organe, welche gewisse Altersbestimmungen gestatten, wollen wir nur den Zustand des Herzens und der weiblichen Genitalien erwähnen. Bezüglich des ersteren muss zunächst auf das Verhalten der sogenannten fötalen Wege, worunter auch die Nabelgefässe gehören, hingewiesen werden, die erst mehrere Wochen nach der Geburt verwachsen und daher die Entscheidung gestatten, ob man es mit einem neugeborenen oder bereits älteren Kinde zu thun habe, ebenso auf die bekannte Thatsache, dass beim Neugeborenen eine Differenz der Ventrikel bezüglich der Dicke ihrer Wandungen nicht besteht, da der linke Ventrikel erst nachträglich hypertrophirt.
An den weiblichen Genitalien ist der infantile Uterus von dem geschlechtsreifen und von dem senilen zu unterscheiden, und ausserdem der jungfräuliche von dem gravid gewesenen, was ebenfalls für die beiläufige Altersbestimmung verwerthet werden kann, ebenso wie das Verhalten der Ovarien, aus deren fehlender, spärlicher oder stärkerer Kerbung man schliessen kann, ob und wie viele Ovulationsperioden beiläufig stattgefunden haben.
Dass eine Reihe pathologischer Zustände ausschliesslich oder vorzugsweise dem vorgerückteren Alter zukommt, ist bekannt und kann vorkommenden Falles für die Altersbestimmung benützt werden.
D. Die Körperbeschaffenheit überhaupt. Darunter versteht die Todtenbeschauordnung offenbar ausser den bei den „besonderen Kennzeichen“ zu erwähnenden Abweichungen vom normalen Körperbaue insbesondere den Ernährungszustand. Bei frischen Leichen unterliegt die Constatirung desselben natürlich keinen Schwierigkeiten, dagegen können bei faulen Leichen Täuschungen insoferne vorkommen, als die „gigantische“ Auftreibung des Körpers durch Fäulnissgase, insbesondere das subcutane Fäulnissemphysem und die dadurch bewirkte Volumsvermehrung und Prallheit der Theile für eine durch reichlichen Fettpolster und stark entwickelte Musculatur bewirkte imponiren kann.
Dies gilt namentlich von faulen Wasserleichen. Ganz magere und selbst marastische Individuen können hier ein wohlgenährtes Aussehen erhalten, und es ist begreiflich, wie sehr dadurch die Agnoscirung der Leiche erschwert werden kann, umsomehr, als die durch Fäulnissgase bewirkte Völle der Glieder, des Gesichtes, bei Frauen auch der Brüste, selbst bei ganz alten Leuten die Meinung vortäuschen kann, dass ein noch junges Individuum vorliege. Man darf sich daher in solchen Fällen nicht mit der blossen[S. 858] Inspection begnügen, sondern muss sich durch Einschneiden überzeugen, welcher Antheil an dem Volumen des betreffenden Theiles dem Fettpolster und der Musculatur und welcher der Auftreibung durch Fäulnissgase zukommt.
Das Gegentheil bewirkt die Mumification, die unter gewissen Bedingungen sowohl an der Luft als in der Erde eintreten kann. Die dabei stattfindende Einschrumpfung der Theile, insbesondere des Gesichtes, erzeugt ein greisenhaftes oder abgezehrtes Aussehen, das sowohl bei Bestimmung des Alters als bei der des ehemaligen Ernährungszustandes irreführen könnte.
Durch Verkohlung kann der Ernährungszustand ganz unkenntlich werden, um so leichter, als zu der Einschrumpfung durch Wasserverlust noch hinzukommt, dass das Fett theils schmilzt, theils, und zwar leichter als die übrigen Weichtheile, verbrennt.
E. Die Kopf- und Gesichtsbildung. Kopf und Gesicht sind bekanntlich die am meisten charakteristischen Körpertheile der einzelnen Individuen, und es ist begreiflich, dass der Beschreibung der Eigenschaft dieser Theile ein besonderes Augenmerk zugewendet werden muss.
Aber selbst die detaillirteste Beschreibung gibt nur eine unvollkommene Vorstellung des Aussehens der betreffenden Person und steht weit zurück hinter dem Werthe, der einer bildlichen Aufnahme zukommt. Ganz besonders ist hier die photographische Aufnahme am Platze, und von diesem gegenwärtig leicht ausführbaren Mittel sollte so viel als möglich Gebrauch gemacht werden, umsomehr, als die Vervielfältigung einer solchen Photographie keinen Schwierigkeiten unterliegt und eine Verbreitung, respective öffentliche Ausstellung gestattet, die ungleich mehr geeignet ist, die nachträgliche Agnoscirung einer Person zu ermöglichen, als selbst die ausführlichste Personsbeschreibung in den öffentlichen Blättern.[539]
Eventuell wäre auch die Abnahme einer Gypsmaske vortheilhaft und ist diese ebenfalls leicht ausführbar.
Doch ist weder die letztgenannte, noch die photographische Aufnahme im Stande, die unmittelbare Besichtigung des Originalobjectes vollkommen zu ersetzen, und letztere ist daher wenigstens in wichtigeren Fällen so lange als thunlich zu ermöglichen. Es ist daher angezeigt, die Beerdigung der Leichen unbekannter[S. 859] Personen so lange zu verschieben, als dies ohne sanitäre Gefahr zulässig erscheint. In Wien ist es Usus, unter gewöhnlichen Verhältnissen 3 Tage zuzuwarten, und wird diese Frist bei frischen Leichen und kalter Jahreszeit auch auf längere Zeit erstreckt. Auch ist es begreiflich, dass selbst in der warmen Jahreszeit, wenn es möglich ist, das Faulen der Leiche durch gewisse Vorkehrungen (Kälte, Balsamirung) zu hindern oder wenigstens zu verlangsamen, die Leiche lange Zeit im agnoscirbaren Zustande erhalten werden kann.
In grösseren Städten, wo häufig Leichen unbekannter Personen aufgefunden werden, empfiehlt sich eine analoge Einrichtung, wie sie in Paris als Morgue schon seit Decennien besteht, d. h. von Leichenhallen, in welchen die Leichen Unbekannter öffentlich ausgestellt werden unter Bedingungen, welche den Eintritt oder das Fortschreiten der Fäulniss so lange als möglich hintanzuhalten bestimmt sind.[540]
Ist die Aufbewahrung der ganzen Leiche nicht mehr möglich, so ist es in wichtigen Fällen angezeigt, wenigstens den Kopf zurückzubehalten und am besten in Alkohol zu conserviren, wie wir bereits mehrmals gethan haben.
Was nun die protokollarische Beschreibung des Kopfes und Gesichtes betrifft, so kommt die Kopf- und Gesichtsbildung im Allgemeinen in Betracht, ferner aber die nähere Beschaffenheit der Haare (Kopf- und Barthaare, Augenbrauen, eventuell auch Augenwimpern), der Gesichtshaut, der Augen, der Nase, der Zähne und der Ohren. Da die meisten Eigenschaften, auf welche hierbei Rücksicht zu nehmen ist, selbstverständlich sind, so wollen wir uns darauf beschränken, blos bezüglich der Haare, der Augen, der Nase und der Zähne Einiges zu bemerken.
Bei den Haaren kommt bekanntlich, ausser der Dichte, Länge, Stärke und Anordnung vorzugsweise die Farbe in Betracht. Aber gerade in Bezug auf diese Eigenschaft ist in vielen Fällen Vorsicht geboten. Dies gilt insbesondere bei exhumirten Leichen, bei welchen, wie bereits oben erwähnt wurde, die Haare noch nach vielen Jahren erhalten gefunden werden können und daher die Verwerthung ihrer Eigenschaften für die Sicherstellung der Identität besonders nahe liegt.
Es ist nämlich eine durch zahlreiche Beobachtungen constatirte Thatsache, dass die Haare durch langes Liegen im Grabe ihre Farbe verändern, und zwar fast immer in’s Rothbraune. Schon Chevalier (Annal. d’hygiène publ. 1856, pag. 444) hat in einem solchen Falle gefunden, dass weisse Haare sich in braune verwandelt hatten, ebenso beobachtete Moser (l. c. pag. 65) bei[S. 860] einer 79jährigen, seit 4 Jahren beerdigten Frau eine ähnliche Farbenveränderung. Auch Orfila und Lesueur berühren in ihren „Gerichtlichen Ausgrabungen“ diese Thatsache und Casper (l. c. pag. 121) fand bei einer nach 11 Jahren ausgegrabenen Leiche die Kopfhaare hellblondröthlich und die Verwandten erklärten, dass sich die Farbe im Grabe verändert haben müsse. Hauptmann (Virchow’s Archiv. XLVI) berichtet über die Exhumation der Leiche eines Mannes nach 20 Jahren, wobei die früher dunkelbraun gewesenen Haare jetzt roth gefunden wurden. Eine gleiche Veränderung constatirte Sonnenschein (Handbuch der gerichtl. Chemie. 1869, pag. 122 und 343) bei einer nach 24 Jahren ausgegrabenen Leiche. Auch die von uns an nach mehreren Jahren exhumirten Leichen beobachteten Haare waren sämmtlich rothbraun. Die Ursache dieser Verfärbung kann zunächst in der Einwirkung der Fäulnissjauche liegen, wie dieses auch Chevalier und insbesondere O. Oesterlen („Das menschliche Haar und seine gerichtsärztliche Bedeutung.“ Tübingen 1874, pag. 139) durch Versuche constatirten; Gleiches können aber auch die Humussubstanzen bewirken; endlich aber ist es bekannt, dass, wie das „Fuchsigwerden“ alter Perrücken beweist, todte Haare überhaupt im Laufe der Zeit röthlich werden. So sind auch die Haare der egyptischen Mumien fast durchaus rothbraun und H. Schaffhausen (Archiv f. Anthropol. V, pag. 125) fand in den Grüften einer Kirche zu Bonn aus dem 15. Jahrhunderte das Haar fast aller Leichen noch erhalten und in allen Fällen röthlich. Diese Verblassung des Haarpigmentes scheint in einzelnen Fällen bis zur vollkommenen Ausbleichung des Haares gehen zu können, da Moser (l. c. pag. 54) bei einem nach 7 Jahren exhumirten 37jährigen Manne und (pag. 64) bei einer 42jährigen, nach 6 Jahren exhumirten Frau die früher schwarzen, beziehungsweise braunen Kopfhaare nun weiss fand. Diese Beobachtungen stehen aber ganz vereinzelt da, so dass es nahe liegt, daran zu denken, dass vielleicht die Haare während des Lebens gefärbt gewesen sein mochten.
Dass die Haare auch durch grössere Hitze eine Farbenveränderung in’s Röthliche erleiden, ist bekannt, und kann beim sogenannten Brennen der Haare oft genug beobachtet werden. Bei den Leichen Verbrannter, wo mitunter, wie schon oben erwähnt, nur Reste der Haare gefunden werden, ist auf diesen Umstand Rücksicht zu nehmen. Wir haben dieses Verhalten an den Haaren der Ringtheaterleichen in verschiedenen Graden beobachtet, noch häufiger eine Verdeckung der eigentlichen Haarfarbe durch intensive Schwärzung durch Russ, so dass erstere erst nach Abwaschung des Haares zum Vorscheine kam.
Dass die Haare einer Leiche mitunter absichtlich entfernt werden, um die Agnoscirung des Individuums zu erschweren, beweist der unten anzuführende Fall. Doch kann auch andererseits ein erst nachträglich an der Leiche durch Maceration oder Fäulniss oder zufällige mechanische Insulte erfolgter Abgang der[S. 861] Haare als eine absichtlich vorgenommene Entfernung der Haare gedeutet werden. Bekannt ist in dieser Beziehung der bereits pag. 586 erwähnte Tisza-Eszlárer Fall, wo es sich um eine über 2 Monate im Wasser gelegene Leiche handelte und die Haare theils mit den Wurzeln abgegangen, theils an und in der Haut abgebrochen und abgerissen waren, welcher Befund auf ein stattgehabtes Abrasiren der Haare bezogen wurde. Auch hatten wir ein Gutachten über eine 3½ Monate im Freien gelegene weibliche Leiche abzugeben, bei welcher die Obducenten die offenbar durch die hochgradige Fäulniss und durch Thiere bewirkte Entblössung des Schädels von Weichtheilen und von Haaren von einer absichtlich zum Zwecke der Entstellung vorgenommenen Scalpirung der Leiche abgeleitet hatten, obgleich die betreffenden Haarzöpfe wenige Schritte von der Leiche entfernt gefunden worden waren!
Bei den Augen kommt namentlich die Farbe der Iris in Betracht. Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist dieselbe leicht zu constatiren, schwerer, wenn die Cornea durch Fäulniss oder anderweitig getrübt oder ganz undurchsichtig geworden ist. Im ersteren Falle kommt zur Trübung der Cornea noch die bald sich einstellende und fortschreitende blutige Imbibition der Iris, welche die ursprüngliche Farbe der Iris ganz unkenntlich machen kann.[541] Gleiches kann durch Einwirkung von Hitze geschehen.
Bei vielen der Ringtheaterleichen, mitunter selbst bei stark verbrannten, zeigten sich die Bulbi ganz unverletzt und man sah deutlich, dass die in allen Fällen geschlossen gefundenen Augenlider dieselben geschützt hatten. In vielen anderen dagegen, besonders bei den verkohlten Leichen, war die Cornea trotz geschlossener Augenlider in verschiedenem Grade milchig getrübt, welche Trübung, besonders in ihrer niederen Entwicklung, bei oberflächlicher Betrachtung „blaue
[S. 862]
Augen“ vortäuschte, obzwar die Iris braun war, wie dies auch bei faulen Leichen geschehen kann. In einigen dieser Fälle war durch die getrübte Cornea hindurch die gelblichweiss getrübte Linse zu erblicken, so dass das Auge wie ein cataractöses aussah.
Die milchige Trübung der Cornea betraf nur die epitheliale Schichte derselben, die mitunter in fetziger Ablösung begriffen war. Unter dieser war die Cornea, wenn der Bulbus noch nicht geschrumpft war, meist klar und durchsichtig. Die gleiche Erscheinung kann man, wie wir uns durch Versuche überzeugt haben, beobachten, wenn man den Augapfel in kochendes Wasser bringt. Sofort trübt sich die epitheliale Schichte milchig bis zur Undurchsichtigkeit und löst sich theilweise ab. Streift man diese Schichte ab, so kommt darunter die klare und durchsichtige Cornea zum Vorscheine, welche, was sich aus dem chondrinogenen Gewebe der Hornhaut erklärt, diese Beschaffenheit auch trotz minutenlangen Kochens behält, selbst dann noch, wenn bereits die Linse vollkommen gelblichweiss getrübt erscheint. Zu dieser Zeit ist der Bulbus so hart und gleichzeitig so elastisch, dass er, wenn man ihn auf den Boden fallen lässt, wie ein Gummiball bis auf ½ Meter in die Höhe springt. Schneidet man nun den Bulbus ein, so spritzt die unveränderte Glaskörperflüssigkeit im Strahle heraus, worauf der Bulbus und die Cornea zusammenschrumpfen und letztere ganz undurchsichtig wird.
Bei den hochgradig verkohlten Leichen fanden sich die Bulbi mehr weniger geschrumpft, und zwar mit Erhaltung ihrer Form, wie dies schon Ammon („Einfluss grösserer Hitze auf das Auge.“ Deutsche Klinik. 1851, 45, und Schmidt’s Jahrb. 1853, LXXVII, pag. 107) beobachtet und beschrieben hat.
Wie die Beschaffenheit der Nase zur individuellen Charakteristik des Gesichtes beiträgt, ist allgemein bekannt, weshalb deren Beschreibung eingehend vorzunehmen ist. Durch das Fehlen der Nase, häufig schon durch die Formveränderung, die letztere durch Fäulniss oder Maceration erleidet, wird ein Gesicht so entstellt, dass mitunter die nächsten Angehörigen das Individuum nicht zu erkennen vermögen. Zur Illustration dieser Thatsache, sowie dessen, dass Verbrecher bei Beseitigung der betreffenden Leichen auch absichtlich Verschiedenes unternehmen können, um die Agnoscirung der Leiche zu erschweren oder unmöglich zu machen, möge folgender von J. G. Pinkham (Boston med. and chirg. Journal. 9. Sept. 1880) publicirter Fall dienen:
„Am 27. Februar 1879 wurde im Sangus River unterhalb einer Brücke ein alter Korb gefunden und darin eine Leiche, welche später als die der Jennie Clarke erkannt wurde. Der Korb war mit Ziegeln und drei leeren Bierflaschen beschwert, von denen die eine verkorkt war und so als Boje gedient hatte. Die Nase der Leiche war abgeschnitten, ebenso das Kopfhaar, offenbar in der Absicht, die Erkennung der Leiche zu erschweren. Die Obduction ergab als Todesursache Peritonitis in Folge eines Abortus, weshalb sofort criminelle Fruchtabtreibung vermuthet wurde. In der That ergab sich, dass die J. C. [S. 863]im 4. Monate schwanger war, am 12. Februar von einem gewissen G. „operirt“ wurde, am 18. abortirte und am 25. im Hause eines gewissen K. starb, worauf sie in der erwähnten Weise verstümmelt und in’s Wasser geworfen wurde. Die Identificirung der Leiche war wesentlich erschwert durch das Fehlen der Nase, wodurch das Gesicht so verändert war, dass mehrere Personen die Leiche als die einer Angehörigen erklärten, bis endlich die Identität durch die noch in den Ohren befindlichen Ohrgehänge und durch mehrere kleine Merkmale am Körper, insbesondere aber durch gewisse äussere Umstände constatirt wurde. Bevor letzteres geschah, wurde aus den gut erhaltenen Zähnen und aus dem Umstande, dass nur einer der Weisheitszähne durchgebrochen, geschlossen, dass die Person nicht weit über 20 Jahre alt gewesen sein konnte, was sich nachträglich auch bestätigte. Ebenso wurde, weil die Leiche noch frisch war, obgleich nach Abortus und Peritonitis die Fäulniss rasch einzutreten pflegt, und bei dem Umstande, als nach dem Aufthauen der etwas gefrorenen Leiche noch Todtenstarre in den Kaumuskeln und einzelnen Gelenken nachweisbar war, erklärt, dass die Untersuchte bald nach dem Tode in den Fluss geworfen sein musste, und dass dieselbe mit Rücksicht auf die damaligen Witterungsverhältnisse vor 1–3 Tagen an den Fundort gelangt sein dürfte. Nachträglich wurde constatirt, dass der Tod 54 Stunden oder 2¼ Tage vor der Autopsie eingetreten war.“
Von grosser Wichtigkeit ist die Beschaffenheit der Zähne, umsomehr, als diese selbst an schon ganz verfaulten oder anderweitig entstellten Leichen unverändert nachweisbar sein können und überdies, wie schon oben bemerkt, gewisse Schlüsse auf das Alter des Individuums gestatten.
Interessante Fälle, in denen die Beschaffenheit der Zähne (auch künstlicher Gebisse) bei der Agnoscirung der betreffenden Leiche eine grosse Rolle spielte, finden sich bei Casper (l. c. 121) und insbesondere bei Taylor (l. c. I, 132, berühmter Mordprocess gegen Dr. Parkmann; 149, Fall der Karoline Walsh und 152, Fall der Lydia Atlee).
Die Eigenschaften, welche an den Zähnen zu constatiren sind, sind entweder physiologischer oder pathologischer Natur. Zu ersteren gehört das Vorhandensein von Milchzähnen, der bereits erfolgte Zahnwechsel, der Durchbruch der Weisheitszähne, die normale Abnützung der Zähne und endlich der senile Ausfall der Zähne mit der bekannten consecutiven Atrophie der Zahnfächer und der ganzen Kiefer, zu letzteren die verschiedenen abnormen Stellungen der Zähne, die so häufige Caries, die Abnormitäten des Zahnschmelzes (geriffte oder des Schmelzes beraubte Zähne), endlich auch die plombirten und die falschen Zähne, respective Gebisse.
Eine interessante und für die Agnoscirung wichtige Erscheinung ist die Calcination der Zähne bei verkohlten Leichen. Dieselbe zeigte sich bei den Ringtheaterleichen in verschiedenen Graden ausgebildet.
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In den höchsten Graden, die nur gleichzeitig mit hochgradiger Verkohlung oder mehr weniger ausgebildeter Calcination des Schädels vorkamen, ergaben sich nur völlig weiss gebrannte, beim Anfassen zerbröckelnde Stümpfe der Zähne, die ganz locker in den Alveolen sassen oder bereits herausgefallen waren. In anderen Fällen fand sich das verkohlte und mit der Wurzel noch im Alveolus steckende Zahnbein mit daran haftenden Resten des calcinirten Emails. In vielen Fällen aber fanden sich trotz mitunter bedeutender Verkohlung des Kopfes die Zähne noch vollständig in ihrer Form erhalten, aber eigenthümlich verändert. In einer Reihe dieser Fälle glaubte man normale Zähne vor sich zu haben und erst bei näherer Betrachtung ergab sich, dass der Glanz des Emails ein matterer war und die Farbe in’s Graue spielte; ausserdem liessen sich feine Risse erkennen, welche das Email durchzogen. Solche Zähne brachen beim festeren Anfassen mit den Fingern oder mit der Pincette entweder an der Wurzel ab, oder es liess sich auf diese Art das weiss gebrannte Email von dem mehr weniger verkohlten Zahnbeine in schaligen Stücken ablösen oder leicht absprengen. An den Bruchflächen stach die weisse Emailschichte in der Regel ganz scharf und auffallend von dem mehr weichen kohlschwarzen Zahnbeine ab. Diese Erscheinung erklärt sich einestheils aus der ungleich dichteren Structur der Emailschichte, vorzugsweise aber aus dem sehr geringen Gehalte des Schmelzes an organischen und daher verkohlungsfähigen Substanzen, an denen dagegen das Zahnbein fast ebenso reich ist, wie gewöhnlicher Knochen.
Endlich kamen Zähne vor, deren Kronen mit einer schwarzen oder schwarzbraunen, in der Regel fast metallisch glänzenden Masse wie überzogen waren. Diese Zähne befanden sich offenbar in den ersten Stadien der Verkohlung, und die erwähnte Masse rührte theils von Kohle, theils von theerartigen Producten der trockenen Destillation her, die sich beim Verkohlen organischer, insbesondere leimgebender Substanzen, die ja das Zahnbein enthält, entwickeln, welche theils noch in der Zahnmasse selbst enthalten sind, theils an der Oberfläche desselben gewissermassen ausschwitzen oder sich auf diese niederschlagen.
Diese Veränderungen der Zähne durch Flammenhitze sind für die Agnoscirung von begreiflicher Wichtigkeit. Einestheils weil die durch die Calcination noch während der Einwirkung des Feuers oder nachträglich bewirkte Abbröcklung der Zähne für einen anderweitigen, insbesondere durch Caries bedingten Defect gehalten werden kann, ferner wegen der erwähnten schwarzen Verfärbung der Zahnkronen, namentlich an ihren oberen Partien, die für jene Verfärbung genommen werden kann, die bekanntlich so häufig an den sogenannten „schwarzen Zähnen“ beobachtet wird. Ebenso ist aber umgekehrt eine Erschwerung der Agnoscirung dadurch möglich, wenn früher thatsächlich „schwarz“ gewesene Zähne durch Calcination weiss geworden sind, da ja der[S. 865] schwarze Belag solcher Zähne von organischen, also veraschungsfähigen Substanzen, oder von mit diesen stark verunreinigtem Zahnsteine herrührt. Versuche, die wir in dieser Richtung angestellt, haben diese Vermuthung bestätigt.[542]
An die Besprechung des Gesichtes und seiner Theile wollen wir noch die Bemerkung anschliessen, dass in solchen Fällen, wo wegen hochgradiger Fäulniss und dadurch bewirkter Missfärbung und Aufdunsung des Gesichtes letzteres so stark entstellt ist. dass die Agnoscirung schwierig und eine eventuelle photographische Aufnahme zwecklos wird, eine Reconstruction des ursprünglichen Aussehens des Gesichtes bis zu einem gewissen Grade möglich ist.
Solche Versuche haben zuerst Tourdes und Wilhelmi in Strassburg („Gerichtsärztlicher Erfundbericht und Gutachten, das Auffinden einer unbekannten Frau in einer Kiste auf der Eisenbahnstation Engersheim betreffend“. Henke’s Zeitschr. für Staatsarzneikunde. 1845, pag. 388) und später Richardson (Med. Times and Gaz. 1863, pag. 672) an einer aus der Themse herausgefischten Leiche angestellt, indem sie sowohl äusserlich als mittelst Injection theils coagulirende, theils bleichende Flüssigkeiten einwirken liessen.
Wir selbst haben wiederholt derartige Reconstructionsversuche vorgenommen, insbesondere zuerst in einem bereits 1876 publicirten Falle, der eine aus der Donau gezogene, gigantisch aufgetriebene Leiche betraf, bei welcher es wichtig war, zu entscheiden, ob dieselbe, wie sich thatsächlich herausstellte, einem bestimmten, wegen Mordversuches verfolgten Manne angehöre oder nicht. Da wir schon früher gefunden hatten, dass der grüne Farbstoff und seine Modification, welcher der bekannten faulgrünen Verfärbung der Haut zu Grunde liegt und hauptsächlich die Entstellung bedingt, im Wasser löslich ist, so verfuhren wir zunächst einfach in der Art, dass wir den in gewöhnlicher Weise geöffneten, abgeschnittenen[S. 866] Kopf, nachdem wir das Gehirn entfernt und in der Hinterhaupts- und Seitengegend des Kopfes einige tiefe Einschnitte gemacht hatten, in fliessendes Hochquellenwasser legten, um denselben auszuwässern. Nach 12 Stunden war durch diese einfache Procedur die grüne Verfärbung der Gesichtshaut zum grössten Theile verschwunden oder wenigstens stark abgeblasst, und auch die emphysematische Schwellung war bedeutend zurückgegangen. Hierauf wurde das Schädeldach wieder aufgesetzt, die Kopfhaut zugenäht und nun der ganze Kopf in concentrirte alkoholische Sublimatlösung eingelegt, in welcher nach weiteren 12 Stunden die grüne Färbung und das Fäulnissemphysem vollkommen zurückgingen, so dass schliesslich das Gesicht die normalen Formverhältnisse und jenes Aussehen bot, wie wir es bei einbalsamirten frischen Leichen beobachten.
Dieses Verfahren haben wir mit gleich günstigem Erfolge in zwei anderen Fällen angewandt, würden jedoch in weiteren Fällen statt Sublimat Chlorzink nehmen, da dieses bei gleichem sonstigen Effecte die Hände nicht angreift und insbesondere die Nägel nicht schwärzt, wie dies Sublimat in unangenehmer und lange dauernder Weise thut.
In Fällen, wo die Fäulniss noch nicht weit vorgeschritten ist, würde eine einfache Injection des Kopfes mit Sublimat oder Chlorzinklösung von den Carotiden aus gute Effecte erzielen; bei vorgerückter Fäulniss ist sie nicht angezeigt, da die Injectionsflüssigkeit wegen der grossen Zerreisslichkeit der kleinen Gefässe extravasirt.
Selbstverständlich hat die Möglichkeit der Reconstruction des Gesichtes ihre Grenzen. Insbesondere ist in den Fällen, wo bereits die Haare ausgegangen sind und Defecte in der Gesichtshaut sich zu bilden beginnen, in dieser Beziehung nichts mehr auszurichten.
F. Besondere Kennzeichen. Die Todtenbeschauordnung hat offenbar zunächst die verschiedenen pathologischen, schon äusserlich mehr weniger auffallenden Eigenthümlichkeiten im Auge. Es gehören hierher die Abnormitäten der ganzen Statur, z. B. die verschiedenen Verkrümmungen der Wirbelsäule und ihre Folgen und die der einzelnen Körpertheile. Von letzteren würden begreiflicher Weise namentlich Beachtung verdienen die Abnormitäten im Gesichte und am Kopfe überhaupt, also eventuelle Abweichungen von der normalen Kopfbildung (eine der Ringtheaterleichen wurde vorzugsweise an dem „Thurmkopfe“ erkannt). Besonderheiten in der Behaarung, Eigenthümlichkeiten der Gesichtshaut (Blatternarben, Finnen, Muttermäler, Narben), pathologische Befunde an den Augen, an der Nase (Defect, Acne rosacea etc.), an den Lippen (Hasenscharte) und die bereits besprochenen Abnormitäten an den Zähnen. Am Halse die so häufige Struma, am Thorax ausser den verschiedenen, insbesondere rhachitischen Verbildungen das Verhalten der Brustdrüsen, am Bauche die Schwangerschaftsnarben, sowie die Hernien, deren Bestehen ausser durch unmittelbare[S. 867] Beobachtung und Untersuchung auch durch angelegte Bruchbänder sich verrathen kann, und zwar begreiflicher Weise noch an verfaulten oder, wie dies bei einigen Opfern der Ringtheaterkatastrophe der Fall war, an hochgradig verkohlten Leichen. An den Genitalien kommt beim Weibe insbesondere der jungfräuliche oder deflorirte, oder der durch Entbindungen veränderte Zustand in Betracht, beim Manne ausser pathologischen Veränderungen am Penis und an den Hoden insbesondere das Vorhandensein oder Fehlen des Präputiums, da man aus letzterem Umstande schon für sich allein, noch mehr aber im Zusammenhange mit den anderweitigen bekannten Eigenthümlichkeiten einen ziemlich sicheren Schluss auf die Race, der das Individuum angehört, zu machen vermag.
An den Extremitäten kommen als besondere Kennzeichen in Betracht: Defecte derselben oder ihrer einzelnen Theile, Verkrümmungen, Verkürzungen und Anchylosen, Tätowirungen, in Beschaffenheit der Hände, Geschwüre und Narben, letztere besonders an den unteren Extremitäten.
Von diesen „besonderen Kennzeichen“ wollen wir nur die Tätowirungen und die an den Händen sich ergebenden Eigenthümlichkeiten näher besprechen.
Tätowirungen kommen nur ausnahmsweise bei Leuten aus besseren Ständen vor, nicht gar selten dagegen bei Handwerkern, Matrosen und Soldaten, häufig auch bei ehemaligen Inwohnern von Gefängnissen und mitunter auch bei Prostituirten der niedersten Classe. Nur ein einziges Mal haben wir eine Tätowirung bei einem Kinde, einem 10jährigen Knaben, gefunden, und zwar ein wahrscheinlich mit Tinte gemachtes Herz mit Buchstaben darinnen und der Jahreszahl darüber, aus welcher hervorging, dass der Knabe schon im 6. Lebensjahre tätowirt worden war.
Das Tätowiren geschieht nur ausnahmsweise mit „Tätowirpressen“, sondern in der Regel in der Weise, dass die betreffende Zeichnung mit einfachen oder zusammengebundenen Nadeln durch directes Einstechen, oder, indem man mit einem Gegenstande auf die Nadeln klopft und sie eintreibt, ausgestochen wird, worauf die frischen Stichöffnungen mit dem betreffenden Farbstoffe (Zinnober, Tusche, Tinte, Asche, Kohlenpulver, Schiesspulver, Berlinerblau etc.) eingerieben werden, welcher in den kleinen Wunden einheilt und so die Marke bildet. Letztere besteht entweder aus Buchstaben (Anfangsbuchstaben des eigenen oder des Namens von Geliebten, seltener aus ganzen Namen oder Sätzen) oder Jahreszahlen, häufig aber, und zwar meist mit Buchstaben und Zahlen combinirt, aus verschiedenen Zeichnungen, worunter besonders Herzen, Kronen, Kränze, Blumen und Kreuze, seltener Thiere (in unseren Fällen einmal ein Schwan, ein zweitesmal eine Schlange) eine Rolle spielen. Ebenso häufig sind Zeichnungen, die sich auf das Gewerbe oder den Stand des Tätowirten beziehen, so gekreuzte Gewehre und Säbel bei Soldaten, Anker bei Seeleuten, Beile bei[S. 868] Fleischern und Zimmerleuten, Hämmer bei Maurern und Schlossern etc. Nicht gar selten trifft man obscöne Zeichnungen mitunter der gemeinsten Art. Ausdehnung und Ausführung variiren sehr. Meist handelt es sich nur um kleine und roh ausgeführte Zeichnungen, mitunter findet man aber auch grössere und mit Geschick ausgeführte Tätowirungen.
Der Sitz der Tätowirung ist am häufigsten die Innenfläche des Ober- und Unterarmes, seltener die Brust oder der Handrücken, noch seltener andere Stellen, z. B. der Unterleib, die Gesässbacken oder gar der Penis, wie Lombroso in seinen „L’Uomo delinquente“ einen solchen Fall abbildet.[543]
Die Wichtigkeit des Befundes solcher Tätowirungen an der Leiche eines Unbekannten liegt auf der Hand. Sie erleichtern nicht blos die Agnoscirung des Individuums durch seine Angehörigen oder Bekannten, sondern gestatten mitunter an und für sich gewisse Schlüsse auf den Stand des Unbekannten oder auf gewisse andere Umstände, die für die weitere Verfolgung des Falles von Wichtigkeit sein können.
Ein besonderes forensisches Interesse haben solche Marken durch Casper erhalten, der in einem sehr complicirten Falle, in welchem es sich vorzugsweise um die Sicherstellung der Identität der Leiche des Ermordeten handelte (l. c. II, pag. 121 und 139), auch die Frage zu beantworten hatte, ob Tätowirungen, die im Leben vorhanden waren, im Laufe der Zeit wieder verschwinden können?
Dass Letzteres geschehen kann, unterliegt nach den Untersuchungen, die zuerst Casper und nach ihm Hutin und Tardieu an einer grossen Zahl tätowirter alter Soldaten anstellten, keinem Zweifel mehr. Casper fand, dass im Laufe der Zeit unter 9 Fällen einmal die betreffende Tätowirung verschwunden war, und ein ähnliches Verhältniss constatirte Hutin (1 : 10½), während Tardieu unter 25 Fällen nur einmal ein vollkommenes Verschwinden der Tätowirungsmarke beobachtete.
Das frühere oder spätere Verschwinden einer solchen Marke wird zweifellos zunächst von der Natur des betreffenden Farbstoffes[S. 869] abhängen. Lösliche Farbstoffe verschwinden sehr bald. Wir selbst haben bei einem 28jährigen Marineofficier, dem als 16jährigen Knaben ein Kreuz mit Tinte auf den Vorderarm tätowirt worden war, keine Spur mehr davon auffinden können. Unlösliche Farbstoffe halten sich länger, und zwar desto mehr, je mehr davon eingerieben wurde und je gröber die einzelnen Partikelchen gewesen sind.
Bei dem allmäligen Verschwinden von Tätowirungen spielen die Lymphgefässe die Hauptrolle. Follin (Bull. de l’Acad. 1848–49, T. XIV) hat zuerst die Einwanderung der Farbstoffpartikelchen in die Lymphdrüsen nachgewiesen, und gleiche Beobachtungen hat v. Meckel gemacht. Es hat diese Thatsache nichts Ueberraschendes in sich, da ja ungelöste Stoffe selbst von der unverletzten Haut, von serösen Häuten u. s. w. durch Vermittlung der Lymphgefässe resorbirt werden können.[544] Ueber die benachbarten Drüsen kommen solche Farbstoffe nach Virchow nie hinaus. Sie finden sich daher in diesen jedesmal und können darin noch nachgewiesen werden, nachdem die Marke in der Haut schon verschwunden war. Die Farbstoffpartikelchen sitzen vorzugsweise in den peripheren Partien der Drüsen und sind sowohl an der ganzen Drüse, als insbesondere an Durchschnitten derselben makroskopisch zu erkennen. Namentlich gibt der sehr häufig angewendete Zinnober ein hübsches Bild. Unter dem Mikroskope erhält man ebenfalls schöne Bilder, doch sei bemerkt, dass Zinnoberkörnchen nur bei auffallendem Lichte schön roth, beim durchfallenden aber schwarz erscheinen.
Tardieu hat darauf aufmerksam gemacht, dass man Tätowirungen auch künstlich wieder wegbringen könne, indem es ihm, den Angaben eines Gefangenen folgend, der seine Tätowirung so beseitigt hatte, gelang, bei einem Kranken mittelst ätzender Säuren ein tätowirtes Kreuz derart zu beseitigen, dass nur eine flache Narbe zurückblieb. Auch Parent-Duchatelet (l. c. pag. 125) erwähnt, dass Prostituirte, wenn sie ihre Liebhaber wechseln, die Namen des letzten wegbringen und die des neuen sich eintätowiren lassen. Die Verlöschung der alten Marken geschieht durch Bestreichung der Stelle mittelst eines Pinsels mit Indigoschwefelsäure, wonach nur eine flache Narbe zurückbleibt. Parent-Duchatelet sah im Gefängnisse St. Madelaine 15 solche Narben an den Armen, an der Brust und am Halse(!) einer erst 25 Jahre alten Prostituirten. Zweifellos wird es von der Tiefe, in welcher die Farbstoffpartikelchen in dem Corium sitzen, abhängen, ob zur Entfernung derselben ein mehr oder weniger energisches Verfahren nothwendig sein wird. In dem Falle von Tardieu muss die Marke jedenfalls ganz oberflächlich gesessen sein. Lacassagne (l. c. 103) sah 18 Fälle, wo mit mehr weniger Erfolg versucht worden war, die Marke wegzubringen, und zwar theils durch[S. 870] ätzende Säuren, theils durch Nachtätowirung mit Kleesalz oder Frauenmilch! Ebenso mehrere, wo die Marke durch neuerliche Tätowirung verändert worden war. Richardson hat Natriumäthylat zur Beseitigung von Tätowirungsmarken mit gutem Erfolge benützt (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 419) und wir sahen einen Lehrling, der sich einen Theil seiner Tätowirungen mit Laugenessenz weggeätzt hatte.
An der Leiche kann eine bestehende Tätowirung schwer erkennbar werden durch Missfärbung der betreffenden Hautstelle in Folge der Fäulniss. Doch haben wir bei einer grünfaulen Wasserleiche an dem blossgelegten, schon hochgradig missfarbigen Corium des Armes noch sehr deutlich die rothe Tätowirung unterscheiden können. Bei einem ausgeschnittenen tätowirten Hautstücke, welches wir im Wasser faulen liessen, wurde die Marke allerdings unkenntlich, aber blos in Folge der Quellung und Runzelung der Epidermis. Nach Entfernung der letzteren kam sie sofort wieder zum Vorscheine.
An vertrockneten Hautstücken präsentiren sich Tätowirungen weniger deutlich als an frischen, da die Farben von dem schmutzig-gelbbraunen Untergrunde nicht deutlich genug abstechen. In zweifelhaften Fällen dürfte Aufweichen des mumificirten Hautstückes und Entfernung der Epidermis angezeigt sein.
Nicht unwichtig für die Constatirung der Identität sind auch die nach Schröpfköpfen, Aderlässen, Baunscheidtismus, Morphininjectionen, Blutegeln[545] etc. zurückbleibenden Narben.
Beachtenswerth ist bei Leichen Unbekannter die Beschaffenheit der Hände, da diese gewisse Folgerungen auf den Stand und die Beschäftigung des betreffenden Individuums gestattet. An der frischen Leiche ist der schwere Handarbeiter sofort als solcher aus der Beschaffenheit seiner Hände zu erkennen und selbst an stark faulen, insbesondere an faulen Wasserleichen ist diese Diagnose noch möglich, so lange die Epidermis der Hände und die Nägel sich noch finden, wobei zu erwähnen ist, dass an den schwieligen Händen des Arbeiters die bekannten Quellungsveränderungen, welche an der Oberhaut der Innenfläche der Finger und der Hohlhände durch das Liegen im Wasser eintreten, früher und intensiver sich entwickeln, als an Händen mit dünner Epidermis. Ferner ist es bekannt, dass bei gewissen Professionen ganz bestimmte Veränderungen an den Händen sich ausbilden, aus deren Bestehen man daher mit grösserer oder geringerer Sicherheit auf den Beruf des Betreffenden schliessen kann. Studien über diese Veränderungen und ihre Beziehungen zur Identitätsfrage liegen vor von Tardieu[546] und insbesondere von M. Vernois[547],[S. 871] letztere mit hübschen colorirten Abbildungen. Es kommen in dieser Beziehung zunächst die verschiedenen theils abwaschbaren, theils durch längere Zeit persistirenden Verfärbungen der Hände in Betracht, wie sie bei Gerbern, Färbern, Ultramarinarbeitern u. dergl. vorkommen, ebenso auch die durch „Abbrennen“ der frei der Sonne ausgesetzt gewesenen Hände und Arme an diesen entstehende Farbenveränderung, weiter aber auch gewisse locale pathologische Veränderungen, die durch ganz bestimmte Werkzeuge oder Hantirungen erzeugt werden, wobei insbesondere die eigenthümlich localisirten Druckschwielen der verschiedenen Arbeiter und die bei Schlossern, Schmieden u. dergl. an den Händen und Vorderarmen zu findenden, von zurücksprühenden glühenden Eisentheilchen herrührenden, zahlreichen Narben gehören, ebenso der zerstochene linke Zeigefinger der Schneider etc. Liman geht zu weit, wenn er bei Erwähnung der Mittheilungen Tardieu’s und Vernois’ (l. c. II, 124) erklärt, die Verwerthung dieser Angaben zur Feststellung der Identität unbekannter Verstorbener deutschen Gerichtsärzten nicht empfehlen zu können, und wir glauben, dass er blos vor allzu gewagten Schlüssen warnen wollte. Haben ja auch deutsche Autoren die professionellen Veränderungen an der Haut, insbesondere der Hände, eingehender Beachtung gewürdigt und das Charakteristische mancher derselben für gewisse Berufsarten hervorgehoben, so Hebrag-Kaposi („Lehrb. d. Hautkrankheiten.“ Erlangen 1872), Kaposi („Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten.“ Wien 1880, pag. 508), I. Neumann („Lehrb. d. Hautkrankheiten.“ Wien 1880, pag. 349) und insbesondere L. Hirt („Die Krankheiten der Arbeiter.“ 2. Abth., pag. 10 u. ff.), welcher namentlich die verschiedenen Formen und die Localisationen der Schwielen bei den einzelnen Handwerkern ausführlich aufzählt und in Gruppen zusammenstellt.[548] Es wäre ganz ungerechtfertigt, diese Thatsachen in forensischen Fällen nicht zu verwerthen, und wir selbst waren wiederholt in der Lage, aus der Beschaffenheit der Hände einer unbekannten Leiche mit ziemlicher Sicherheit die Beschäftigung zu erkennen, welcher das Individuum ergeben war.
Nicht unwichtige Anhaltspunkte für die Agnoscirung eines unbekannten Individuums kann das Verhalten der Fingernägel ergeben und dieses ist jedesmal protokollarisch zu verzeichnen. Grobe und abgestossene Nägel charakterisiren die Hand des schweren Handarbeiters, während wohlgepflegte Nägel einen solchen Stand ausschliessen, wenn sie auch für sich allein keineswegs[S. 872] zum Schlusse berechtigen, dass das Individuum einer höheren gesellschaftlichen Stellung angehört haben müsse. Bei weiblichen Leichen wäre ein solcher Schluss noch voreiliger als beim Manne.
Bekanntlich variirt die Form der Nägel vielfach, so dass diese desto mehr zur Erkennung des Individuums beitragen kann, je mehr sie etwa von der gewöhnlichen abweicht. Hierher gehört insbesondere die eigenthümliche Veränderung, welche die Nägel durch die üble Gewohnheit des „Nägelbeissens“ erleiden. Die Nägel werden dadurch auffallend verkürzt, so dass mitunter nur Reste von der Grösse der „Lunula“ des normalen Nagels zurückbleiben und treten gleichzeitig immer weiter von der Kuppe der Finger zurück.
Zu bemerken ist noch, dass es Professionen gibt, durch welche nur die Nägel, nicht aber auch die Haut eigenthümliche Färbungen erhalten, welche eventuell verwerthet werden könnten. So findet man bei Gerbern braunrothe, bei den Kunsttischlern schwarzbraune, bei den Tabakarbeitern braune, bei den Indigoarbeitern blaue und bei den Arbeitern mit Pikrinsäure gelbe Nägel (Hirt, l. c. 11).
Auch können wir im Anschlusse an das Gesagte nicht unerwähnt lassen, dass in einem von Casper-Liman (l. c. II, 123) berichteten Falle die eigenthümliche Frage sich ergab, ob ein Trauring im Leben getragen oder erst der Leiche aufgesteckt worden war, ein Zweifel, der durch den Befund einer tiefen Rinne am Finger leicht gelöst wurde.
Zu den „besonderen Kennzeichen“, welche noch bei hochgradig veränderten Leichen, insbesondere aber noch nach Monaten und Jahren die Constatirung der Identität ermöglichen oder wenigstens wesentlich erleichtern können, gehören begreiflicher Weise Abnormitäten an den Knochen, denen daher, namentlich bei aufgefundenen Skeletten, eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. In der That haben solche Abnormitäten schon wiederholt eine Rolle bei der Agnoscirung von Skeletten und hochgradig faulen Leichen gespielt. Interessant in dieser Beziehung ist der in Orfila und Lesueur’s gerichtlichen Ausgrabungen, II, pag. 431, mitgetheilte Fall, wo die Identität des aufgefundenen Skelettes mit dem eines vor einigen Jahren verschwundenen Italieners, der rechts 6 Finger und 6 Zehen gehabt hatte, dadurch zweifellos sichergestellt wurde, dass am fünften Mittelbandknochen des betreffenden Gerippes in der That eine Theilung in zwei Aeste constatirt wurde, von denen jeder eine Gelenksfläche besass. In einem anderen, von diesen Autoren angeführten Falle zeigte das in einem Keller vergraben gefundene Skelet auffallende rhachitische Verkrümmung beider Unterschenkel. — Ebenso beschreibt Maschka im 4. Bande seiner Gutachten einen Fall, bei welchem als individuelle Eigenthümlichkeit des untersuchten Gerippes eine hochgradige Scoliose des Schädels gefunden wurde. Lehrreich ist auch ein von Casper-Liman (l. c. II, 781) mitgetheilter Fall, wo an[S. 873] einem nach 2 Jahren aufgefundenen Skelette eines Ertrunkenen die Recognition ausser durch einige Effecten insbesondere dadurch noch gelang, dass der Bruder des Betreffenden angab, Denatus habe eine Knochenauftreibung auf der linken Kopfseite gehabt, die sich denn auch am linken Scheitelbeine in der Form einer halb durchgeschnittenen kleinen Nuss wirklich vorfand. Auch die Leiche des in Paris ermordeten und bei Lyon gefundenen Gouffe wurde an einer Anomalie der Fusswurzelknochen, in Folge welcher Gouffe gehinkt hatte, erkannt (Virchow’s Jahrb. 1890, I, pag. 497). Uns selbst kamen 2 Fälle vor, bei denen Knochenanomalien bei der Agnoscirung der betreffenden Individuen eine wichtige Rolle spielten.
Im ersten, auch in anderer Beziehung instructiven Falle handelte es sich um die Leiche eines etwa 18jährigen Knaben, welche im Sommer 1878 in hochgradig faulem Zustande aus dem Donaucanale gezogen worden war. Die Leiche wurde von einem Ehepaare als die ihres vermissten Sohnes agnoscirt und feierlich bestattet. Als aber die Eltern von der Beerdigung nach Hause zurückgekehrt waren, stellte sich zu ihrer nicht geringen Ueberraschung auch der verloren geglaubte Sohn ein, und es unterlag sohin keinem Zweifel, dass sie eine fremde Leiche agnoscirt und bestattet hatten. Mittlerweile wurde ein anderer Junge gleichen Alters in einer anderen Familie vermisst und die Eltern, vermuthend, dass jene irrthümlich agnoscirte Leiche die ihres Sohnes sein dürfte, verlangten die Exhumirung, indem sie erklärten, ihren Sohn an einer Verkürzung des rechten Armes erkennen zu können. In der That ergab die unter Intervention unseres verehrten Collegen, Ober-Sanitätsrathes Nusser, vorgenommene Exhumation sofort eine offenbar in der Kindheit acquirirte Ankylose des rechten Ellenbogengelenkes, die der Verkürzung zu Grunde lag.
Der zweite Fall betraf das Skelet eines Mannes, welcher vor 2 Jahren durch Zertrümmerung des Schädels ermordet und dann in einem Garten verscharrt worden war. Die Untersuchung des Skelettes ergab eine ziemlich starke Scoliose der Wirbelsäule und Arthritis deformans der Lendenwirbel, sowie einzelner der Extremitätengelenke und durch die nachträglichen Erhebungen wurde in der That sichergestellt, dass der seit 2 Jahren vermisste 46jährige Mann eine etwas verschobene Haltung gehabt und an „Gicht“ gelitten habe.
Der Geisteszustand eines Individuums kommt vor Gericht in Frage:
1. Wenn nach Begehung einer strafbaren Handlung an der Zurechnungsfähigkeit des Thäters gezweifelt wird.
2. Bei fraglicher Dispositionsfähigkeit, d. h. wenn es sich darum handelt, ob Jemand die Fähigkeit, über seine Person,[S. 874] sein Vermögen oder seine sonstigen Interessen frei zu verfügen, besitzt oder besass.
3. Bei fraglicher Verhandlungsfähigkeit, wenn nämlich Zweifel darüber bestehen, ob den Aussagen eines Individuums jene Verlässlichkeit und Beweiskraft zugeschrieben werden kann, wie dieses bei Geistesgesunden gewöhnlich der Fall ist.
4. Wenn behauptet wird, dass Geistesstörung in Folge einer Verletzung eingetreten sei (Oesterr. St.-G. §§. 152 und 356, St.-G.-E. §. 232, Deutsches St.-G. §. 224).
5. Bei angesuchter Ehescheidung wegen Geistesstörung (Preuss. Allg. Landr. Thl. II, Tit. 1, §. 698).
6. Wenn ein Aufschub des Strafvollzuges wegen nach der Verurtheilung eingetretener Geistesstörung erfolgen soll (Oesterr. St.-P.-O. §. 398, Deutsche St.-P.-O. §§. 485 und 487).
7. Wenn es sich um Entlassung oder Transferirung während der Strafhaft geisteskrank gewordener Verbrecher handelt.
Von diesen Möglichkeiten bedürfen nur die drei ersten einer besonderen Behandlung, da die Geistesstörungen nach Verletzungen bereits a. a. O. (pag. 318) besprochen wurden, und die übrigen Möglichkeiten keine specifischen Seiten darbieten.
Oesterr. St.-G.-B.
§. 2. Die Handlung oder Unterlassung wird nicht als Verbrechen zugerechnet:
a) wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist;
b) wenn die That bei abwechselnder Sinnesverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte; oder
c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung (§§. 236 und 523) oder einer anderen Sinnesverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht bewusst war, begangen worden;
d) wenn der Thäter das vierzehnte Jahr noch nicht zurückgelegt hat (§§. 237 und 269). — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
§. 46. Milderungsumstände, welche auf die Person des Thäters Beziehung haben, sind:
a) wenn der Thäter in einem Alter unter zwanzig Jahren, wenn er schwach an Verstand oder seine Erziehung sehr vernachlässigt worden ist; — — —
b) wenn er auf Antrieb eines Dritten, aus Furcht oder Gehorsam das Verbrechen begangen hat;
c) wenn er in einer aus dem gewöhnlichen Menschengefühl entstandenen heftigen Gemüthsbewegung sich zu dem Verbrechen hat hinreissen lassen; — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
§. 52. — — — — — — Wenn der Verbrecher zur Zeit des begangenen Verbrechens das Alter von zwanzig Jahren noch nicht zurückgelegt hat, so ist anstatt der Todes- oder lebenslangen Kerkerstrafe auf schweren Kerker zwischen zehn und zwanzig Jahren zu erkennen.
§. 236. Obgleich Handlungen, die sonst Verbrechen sind, in einer zufälligen Trunkenheit verübt, nicht als Verbrechen angesehen werden können (§. 2), so wird in diesem Falle dennoch die Trunkenheit als eine Uebertretung bestraft (§. 523).
§. 237. Die strafbaren Handlungen, die von Kindern bis zu dem vollendeten zehnten Jahre begangen werden, sind blos der häuslichen Züchtigung zu überlassen; aber von dem angehenden zehnten bis zu dem vollendeten vierzehnten Jahre werden Handlungen, die nur wegen Unmündigkeit des Thäters nicht als Verbrechen angerechnet werden (§. 2, lit. d), als Uebertretungen bestraft.
[S. 875]
§. 269. Unmündige können auf zweifache Art schuldig werden:
a) durch strafbare Handlungen, welche nach ihrer Eigenschaft Verbrechen wären, aber wenn sie Unmündige begehen, nach §. 237 nur als Uebertretungen bestraft werden;
b) durch solche strafbare Handlungen, welche schon an sich nur Vergehen oder Uebertretungen sind.
§. 270. Die von unmündigen begangenen strafbaren Handlungen der ersten Art sind mit Verschliessung an einem abgesonderten Verwahrungsorte, nach Beschaffenheit der Umstände von einem Tage bis zu sechs Monaten zu bestrafen. Diese Strafe kann nach §. 253 verschärft werden.
§. 523. Trunkenheit ist an demjenigen als Uebertretung zu bestrafen, der in der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die ihm ausser diesem Zustande als Verbrechen zugerechnet würde (§. 236). Die Strafe ist Arrest von einem bis zu drei Monaten. War dem Trunkenen aus Erfahrung bewusst, dass er in der Berauschung heftigen Gemüthsbewegungen ausgesetzt sei, soll der Arrest verschärft, bei grösseren Uebelthaten bis zu sechs Monaten erkannt werden.
Oesterr. Strafprocess-Ordnung.
§. 134. Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch seiner Vernunft besitze, oder ob er an einer Geistesstörung leide, wodurch die Zurechnungsfähigkeit desselben aufgehoben sein könnte, so ist die Untersuchung des Geistes- und des Gemüthszustandes des Beschuldigten jederzeit durch zwei Aerzte zu veranlassen.
Dieselben haben über das Ergebniss ihrer Beobachtungen Bericht zu erstatten, alle für die Beurtheilung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschuldigten einflussreichen Thatsachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung, sowohl einzeln als im Zusammenhange zu prüfen und, falls sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestimmen, und sich sowohl nach den Acten als nach ihrer eigenen Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen die Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen des Beschuldigten geäussert habe und noch äussere, und ob und in welchem Masse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit der begangenen That bestanden habe.
§. 319. Ist behauptet worden, dass ein Zustand vorhanden gewesen oder eine Thatsache eingetreten sei, welche die Strafbarkeit ausschliessen oder aufheben würden, so ist — — — — eine dieser Behauptung entsprechende Frage (an die Geschworenen) zu stellen.
Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.
§. 56. Eine Handlung ist nicht strafbar, wenn derjenige, der sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Hemmung oder Störung der Geistesthätigkeit befand, welcher es ihm unmöglich machte, seinen Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung einzusehen.
§. 60. Auf Unmündige, welche bei Begehung einer Handlung das zwölfte Jahr noch nicht zurückgelegt haben, findet das Strafgesetz keine Anwendung.
Ist jedoch die Handlung mit einer Verbrechens- oder Vergehensstrafe bedroht, so kann die Sicherheitsbehörde nach Umständen die angemessene Bestrafung des Unmündigen durch dessen Eltern oder durch andere Personen verfügen und hat dieselbe mit Zustimmung der Pflegschaftsbehörde nöthigenfalls für die Unterbringung in einer Besserungs- oder Erziehungsanstalt Sorge zu tragen.
§. 61. Auf Personen, welche zur Zeit einer begangenen Handlung das zwölfte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt hatten, findet das Strafgesetz keine Anwendung, wenn ihnen die zur Erkenntniss der Strafbarkeit der Handlung erforderliche Einsicht gefehlt hat.
In diesem Falle findet die Bestimmung des §. 60, Absatz 2, Anwendung; doch kann auch das Gericht die Verwahrung des Beschuldigten in einer Besserungsanstalt anordnen, in welcher derselbe so lange, bis er Proben der Besserung abgelegt hat, jedoch niemals über das vollendete zwanzigste Lebensjahr angehalten werden darf.
[S. 876]
§. 63. Personen, welche zur Zeit der Verübung einer strafbaren Handlung das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt haben, sind, wenn sie die zur Erkenntniss der Strafbarkeit der That erforderliche Einsicht besassen, nach den folgenden Bestimmungen zu bestrafen:
1. Ist die Handlung mit dem Tode bedroht, so ist auf Gefängniss von drei bis zwanzig Jahren zu erkennen.
2. Ist die Handlung mit lebenslänglichem Staatsgefängniss oder Zuchthaus bedroht, so tritt im ersteren Falle Staatsgefängniss, im zweiten Falle Gefängniss in der Dauer von drei bis fünfzehn Jahren ein.
3. In anderen Fällen darf die Strafe die Hälfte des Höchstmasses der auf die Handlung gedrohten Strafe nicht übersteigen, und kann bis auf das gesetzliche Mindestmass der gedrohten Strafart herabgegangen werden. Statt Zuchthausstrafe ist jedoch Gefängniss in gleicher Dauer zu verhängen.
Bei der Vollziehung der Freiheitsstrafen sind solche jugendliche Personen von anderen Sträflingen, welche einen nachtheiligen Einfluss auf dieselben üben könnten, strenge gesondert zu halten.
Gegen denjenigen, welcher zu einer Zeit, wo er zwar das achtzehnte, aber nicht das zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hatte, eine That beging, auf welche das Gesetz die Todesstrafe oder lebenslängliche Freiheitsstrafe verhängt, ist im ersteren Falle auf Zuchthaus von zehn bis zwanzig Jahren, im zweiten Falle auf die angedrohte Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf bis zwanzig Jahren zu erkennen.
§. 452. Wer im Zustande einer die Zurechnung ausschliessenden vollen Trunkenheit (§. 56) eine Handlung verübt, welche das Gesetz mit einer Verbrechensstrafe bedroht, ist mit Haft zu bestrafen.
Deutsches St.-G.-B.
§. 51. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
§. 52. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter durch unwiderstehliche Gewalt — — — zu der Handlung genöthigt worden ist.
§. 55. Wer bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Gegen denselben können jedoch nach Massgabe der landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Massregeln getroffen werden. Insbesondere kann die Unterbringung in eine Erziehungs- und Besserungsanstalt erfolgen, nachdem durch Beschluss der Vormundschaftsbehörde die Begehung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist.
§. 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besass.
In dem Urtheile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste Lebensjahr.
§. 57. Wenn ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, bei Begehung derselben die zur Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besass, so kommen gegen ihn folgende Bestimmungen zur Anwendung:
1. Ist die Handlung mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht, so ist auf Gefängniss von drei bis fünfzehn Jahren zu erkennen;
2. ist die Handlung mit lebenslänglicher Festungshaft bedroht, so ist auf Festungshaft von drei bis fünfzehn Jahren zu erkennen;
3. ist die Handlung mit Zuchthaus oder mit einer anderen Strafart bedroht, so ist die Strafe zwischen dem gesetzlichen Mindestbetrage der angedrohten Strafart [S. 877]und der Hälfte des Höchstbetrages der angedrohten Strafe zu bestimmen. Ist die hier bestimmte Strafe Zuchthaus, so tritt Gefängnissstrafe von gleicher Dauer an ihre Stelle;
4. ist die Handlung ein Vergehen oder eine Uebertretung, so kann in besonders leichten Fällen auf Verweis erkannt werden;
5. auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt oder einzelner bürgerlicher Ehrenrechte, sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht ist nicht zu erkennen.
Die Freiheitsstrafe ist in besonderen, zur Verbüssung von Strafen jugendlicher Personen bestimmten Anstalten oder Räumen zu vollziehen.
§. 58. Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniss der Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besass, ist freizusprechen.
Deutsche Strafprocess-Ordnung.
§. 81. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Angeschuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach Anhören des Vertheidigers anordnen, dass der Angeschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde. Dem Angeschuldigten, welcher einen Vertheidiger nicht hat, ist ein solcher zu bestellen. Gegen den Beschluss findet sofortige Beschwerde statt. Dieselbe hat aufschiebende Wirkung. Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von 6 Wochen nicht übersteigen.
§. 262. — — — — Die Schuldfrage begreift auch solche vom Strafgesetze besonders vorgesehene Umstände, welche die Strafbarkeit ausschliessen, vermindern oder erhöhen.
§. 295. Ueber solche vom Strafgesetze besonders vorgesehene Umstände, welche die Strafbarkeit vermindern oder erhöhen, sind geeigneten Falles den Geschworenen besondere Fragen vorzulegen (Nebenfragen).
Eine Nebenfrage kann auch auf solche vom Strafgesetze besonders vorgesehene Umstände gerichtet werden, durch welche die Strafbarkeit wieder aufgehoben wird.
§. 298. Hatte ein Angeklagter zur Zeit der That noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet, so muss die Nebenfrage gestellt werden, ob er bei Begehung der That die zur Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen habe.
Dasselbe gilt, wenn ein Angeklagter taubstumm ist.
Sämmtliche Strafgesetzbücher gehen von der Erfahrung aus, dass der Mensch unter normalen Verhältnissen, nachdem er die Kinderjahre im engeren Sinne zurückgelegt hat, die Fähigkeit besitzt, das Strafbare gewisser Handlungen einzusehen und seinen Willen nach sittlichen und rechtlichen Grundsätzen zu bestimmen. Von diesem Zeitpunkte erscheint das Individuum vor dem Gesetze als zurechnungsfähig, wird wegen der von im begangenen gesetzlich verpönten Handlungen zur Verantwortung gezogen und bestraft. Einsicht in die Strafbarkeit verpönter Handlungen und Fähigkeit der Willensbestimmung im Sinne des Guten und Rechten bilden somit die Bedingungen der Imputabilität.
Die zur Erkenntniss der Strafbarkeit verpönter Handlungen erforderliche Einsicht setzt eine gewisse Entwicklung der Intelligenz, insbesondere einen gewissen Grad des Unterscheidungsvermögens zwischen Gutem und Bösen, Recht und Unrecht voraus, so dass das Individuum im Stande ist, nicht blos die allgemeine Bedeutung und Tragweite der betreffenden Handlungen zu erkennen, sondern auch die unsittliche und rechtswidrige Seite derselben; die Fähigkeit der Willensbestimmung, im Sinne dieser[S. 878] Erkenntniss aber eine gewisse Entwicklung des Vermögens, sinnliche Regungen, Leidenschaften etc. zu beherrschen, oder mit anderen Worten, die Kraft, seine egoistischen Antriebe höheren Forderungen unterzuordnen. Das Vorhandensein der Anlage zu beiden Fähigkeiten ist beim normalen Menschen selbstverständliche Voraussetzung, die Ausbildung derselben ergibt sich jedoch keineswegs von selbst, sondern erfordert Erziehung und Schulung, insoferne als erst durch diese sittliche und rechtliche Vorstellungen und Begriffe dem Bewusstsein zugeführt und der Mensch angeleitet und gewöhnt wird, sein Handeln nicht ausschliesslich nach den eigenen, sondern in erster Linie nach jenen Interessen einzurichten, welche die Grundlage des staatlichen Zusammenlebens bilden.
Wenn auch die Anlage zu den erwähnten Potenzen als eine allen Culturmenschen innewohnende Eigenschaft angesehen werden muss, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass die Entwicklungsfähigkeit derselben eben so vielfachen individuellen Verschiedenheiten unterliegt, wie die des psychischen Leistungsvermögens im Grossen und Ganzen. Wenn wir dazu bedenken, wie sehr variabel sich das zur weiteren Entfaltung der erwähnten Anlage nöthige äussere Moment der Erziehung gestaltet und wie mannigfach die genannten Fähigkeiten auch nachträglich nicht blos durch äussere, sondern auch durch innere Momente, d. h. durch Zustandsverhältnisse der psychischen Centren und des sonstigen Organismus beeinflusst werden, so können wir nicht zugeben, dass die Fähigkeit für die Begehung oder Unterlassung strafbarer Handlungen sich zu entscheiden, allen Menschen in gleichem Grade verliehen sei, es fordert vielmehr die logische Consequenz, dass wir die alten metaphysischen und theologischen Anschauungen, die dem Menschen eine absolute Willensfreiheit vindicirten, aufgeben und uns nur mit der Annahme einer relativen begnügen, so zwar, dass wir in der sogenannten Willensfreiheit nur ein beschränktes, namentlich körperlich vielfach bedingtes Vermögen sehen werden, welches einer beständigen Fortbildung fähig ist, dessen vollständige Ausbildung aber beim Menschen niemals gefunden, sondern nur ideal gedacht werden kann.
Diese Auffassung der „Willensfreiheit“ kommt gegenwärtig immer allgemeiner zum Durchbruch, und liegt insbesondere den neuen Strafgesetzbüchern, beziehungsweise den Entwürfen derselben, zu Grunde, wenn dies auch nicht immer mit gleicher Offenheit ausgesprochen wird, wie in dem Motivenbericht zum italienischen St.-G.-Entwurf.[549] Keineswegs aber ist man, wie dies in Folge einseitiger Auffassung der organischen Einflüsse, zum Theil auch in Folge unrichtiger Deutung der statistischen Thatsache, dass bei einem gegebenen Zustande einer Bevölkerung die jährliche Zahl von Heiraten, Selbstmorden, Verbrechen u. s. w. constant bleibt und sich förmlich voraus [S. 879]berechnen lässt[550], berechtigt, den Menschen als ein widerstandsloses Opfer seiner Organisation hinzustellen. Denn wenn auch dem Menschen nur eine beschränkte „Willensfreiheit“ zukommt, so ist er doch nicht willenlos, vielmehr lehrt die tägliche Erfahrung, dass jeder normale Mensch seine Neigungen zu beherrschen und seinen Willen nach anderen als blos egoistischen und sinnlichen Motiven zu lenken vermag. Ueberdies verlangt das Gesetz zur Zurechnungsfähigkeit keineswegs hohe Bildung oder die höchste Klarheit des Urtheils, sondern nur die Fähigkeit der Unterscheidung und des allgemeinen Verständnisses von Recht und Unrecht, sowie das Bewusstsein, dass das Individuum das Rechte üben, das Unrecht aber unterlassen solle und auch könne. Diese Eigenschaften sind aber beim normalen Menschen verhältnissmässig frühzeitig vorhanden, da selbst die primitivste Erziehung dieselben weckt und pflegt und da die täglichen Vorkommnisse in beständiger Wiederholung den Menschen an diese Fähigkeiten mahnen und zur Uebung derselben auffordern. Dass sowohl die weitere Ausbildung dieser Eigenschaften, als auch die Möglichkeit der Geltendmachung derselben gegenüber den concreten Impulsen sich verschieden gestalten kann, ja gestalten muss, soll nicht geleugnet werden; diese Thatsache beeinflusst aber nicht die Zurechnungsfähigkeit im Allgemeinen, respective die Schuldfrage, wohl aber kann dieselbe bei der Bemessung der Strafe in Betracht gezogen werden, und es wird ihr auch in allen Strafgesetzbüchern, insbesondere in den neueren, dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass für die einzelnen Delicte Maxima und Minima der Strafe bestimmt sind, zwischen welchen ein möglichst weiter Spielraum gestattet ist, während in anderen, insbesondere im gegenwärtigen öst. St.-G.-B. (§. 46), solche Verhältnisse als Milderungsumstände ausdrücklich angeführt werden.
Die vom Gesetze geforderten Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit, nämlich die Einsicht in die Strafbarkeit einer Handlung und die Selbstbestimmungs- (Selbstbeherrschungs-) Fähigkeit, beziehungsweise eine dieser Fähigkeiten, können, abgesehen von dem, nicht der ärztlichen Beurtheilung unterliegenden Falle eines äusseren Zwanges, sowie in Folge schlechter oder gar nicht erhaltener Erziehung fehlen, oder nicht in dem nöthigen Grade vorhanden sein:
A. In Folge noch nicht erreichter physiologischer Entwicklung, wie bei Kindern und jugendlichen Individuen.
B. In Folge angeborener oder in frühester Jugend erworbener psychopathologischer Zustände oder Sinnesdefecte.
C. Durch dauernde oder transitorische Störungen der psychischen Thätigkeiten, welche nach bereits erreichter psychischer Reife sich einstellen, wohin in erster Linie die Geisteskrankheiten im engeren Sinne gehören.
[S. 880]
Dass auch beim normalen Menschen erst mit einem gewissen Alter jene Bedingungen vorhanden sein können, welche die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit erfordert, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Schwierig dagegen ist es, die Grenze festzustellen, von welcher an jene Bedingungen als bereits vorhanden angenommen werden können.
Das gegenwärtig noch in Rechtskraft bestehende österreichische Strafgesetz fixirt das vollendete zehnte Lebensjahr als die Grenze, von welcher an die strafrechtliche Zurechnung beginnt (§. 237), verfügt jedoch, dass Handlungen, welche sonst Verbrechen bilden, bis zum vollendeten vierzehnten Jahre nicht als solche, sondern nur als Uebertretungen bestraft werden dürfen (§. 2, lit. d, §§. 237, 269 und 270). Ausserdem betrachtet dasselbe ein Alter des Verbrechers unter 20 Jahren als einen Milderungsumstand (§. 46) und verfügt insbesondere, dass bei solchen Verbrechern niemals auf Todesstrafe erkannt werden darf (§. 52).
Diese Bestimmung leidet zunächst an dem Fehler, dass sie die, wenn auch geminderte, strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit allzu früh beginnen lässt. Auch nach vollendetem zehnten Lebensjahre ist das Individuum körperlich und geistig noch viel zu wenig entwickelt und noch ein Kind im vollen Sinne des Wortes; die Erziehung, selbst die elementare Schulbildung, noch nicht vollendet und daher der gesammelte Vorrath von ethischen, moralischen und rechtlichen Begriffen noch so gering und noch so wenig in Fleisch und Blut gedrungen, dass einestheils die Einsicht in die Strafbarkeit verpönter Handlungen noch nicht in dem nöthigen Grade besteht, andererseits der sogenannte Charakter noch so wenig entwickelt ist, dass er gegenüber den sinnlichen Anregungen und Neigungen noch kein entsprechendes Uebergewicht zu äussern vermag. Selbst die Italiener haben bei Berathung des neuen Strafgesetzes gezaudert, trotz der in südlichen Ländern früher eintretenden Reife, den Beginn der Zurechnungsfähigkeit schon auf das vollendete zehnte Lebensjahr zu verlegen und wollten, dass mindestens noch ein halbes oder besser ein ganzes Jahr hinzugegeben werde.[551]
Eine zweite, und zwar viel wichtigere Schwäche, die obiger Bestimmung des österreichischen Strafgesetzes anhaftet, ist die, dass dieselbe den Beginn der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit einzig und allein von der Erreichung eines bestimmten Alters abhängig macht, was, wie einleuchtend, nur dann gerechtfertigt wäre, wenn die körperliche und geistige Entwicklung bei allen Kindern gleichen Schritt hielte, so dass anzunehmen wäre, dass mit Vollendung des zehnten, beziehungsweise des vierzehnten Lebensjahres[S. 881] bei allen sonst normalen Kindern jener Grad von Einsicht und Selbstbestimmungsfähigkeit bereits besteht, den das Gesetz für dieses Alter voraussetzt. Dies ist aber schon wegen der so verschiedenen, die Geistes- und Körperentwicklung beeinflussenden äusseren Umstände nicht anzunehmen, noch weniger aber, wenn man bedenkt, dass, ebenso wie verschiedene andere physiologische Vorgänge, wie z. B. das Wachsthum, das Zahnen, die Geschlechtsreife bei vielen Menschen sich verzögern, auch die psychische Entwicklung aus inneren, keineswegs immer pathologischen Gründen langsamer verlaufen kann, als sie sonst zu verlaufen pflegt.
Es kann daher die Annahme, dass mit einem bestimmten Lebensalter bei den Kindern bereits der entsprechende Grad von Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsvermögen vorhanden ist, nur für das Gros der unter annähernd gleichen äusseren Verhältnissen lebenden Menschen gelten; es ist jedoch billig, dass auch auf diejenigen Rücksicht genommen werde, bei welchen die geistige Entwicklung aus irgend einem Grunde langsamer sich entfaltet und daher später jenen Grad der Ausbildung erlangt, der für gewöhnlich in dem betreffenden Alter vorhanden ist.
Beiden Uebelständen hat sowohl das deutsche Strafgesetz als der österreichische Strafgesetz-Entwurf dadurch abgeholfen, dass sie zunächst erst vom vollendeten zwölften Lebensjahre eine strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen und Vergehen gestatten (§. 60 österr. Entw., §. 55 deutsch. St. G.), und weiter (§. 61 österr. Entw., §. 56 deutsch. St.-G.) verordnen, dass auch derjenige, der zur Zeit einer begangenen Handlung bereits das zwölfte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt hatte, dann straflos bleibt, wenn ihm die zur Erkenntniss der Strafbarkeit der Handlung erforderliche Einsicht gefehlt hat; und die Strafprocess-Ordnung für das deutsche Reich (§. 298) geht in ihrer Vorsicht so weit, dass sie bestimmt, dass, wenn ein Angeklagter zur Zeit der That noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, den Geschworenen die Nebenfrage, ob derselbe bei Begehung der That die zur Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen hatte, gestellt werden muss. Es wird daher im Sinne dieser Gesetze nicht mehr genügen, bei einem jugendlichen Verbrecher blos zu erwägen, ob er die von der Gesetzgebung festgehaltene Altersgrenze von zwölf Jahren bereits überschritten hat, sondern auch, wenn dieses thatsächlich der Fall, ob derselbe jenen Grad von Einsicht in die Strafbarkeit der betreffenden verpönten Handlung bereits besitzt, wie sie mit vollendetem zwölften Lebensjahre gewöhnlich vorhanden ist.
Das erforderliche Maass der Einsicht kann aber bei solchen Individuen sowohl aus äusseren als aus inneren Gründen noch fehlen, oder wegen Zusammentreffens beider.
Die Beurtheilung der äusseren Gründe, wie fehlende oder mangelhafte oder schlechte Erziehung, bedarf keiner ärztlichen[S. 882] Kenntnisse, und bleibt dem Gerichte, respective den Geschworenen überlassen.[552]
Zu den inneren, ärztlicher Beurtheilung unterliegenden Gründen gehört ausser dem bei den angeborenen psychischen Defecten zu besprechenden Schwachsinn, sowie dem angeborenen und in frühester Jugend erworbenen Sinnesmangel die Verzögerung der Intelligenzentwicklung, wie sie aus gewissen, nicht näher zu erkennenden physiologischen Ursachen, besonders in den ersten Jahren nach Ueberschreitung des vom Gesetze fixirten Alterstermines zur Geltung kommen kann, oder durch Krankheiten bewirkt wird, die das Kind am Schulbesuche verhinderten oder überhaupt bewirkten, dass der Unterricht nicht mit jener In- oder Extensität stattfinden konnte, die zur Erzielung des erforderlichen Intelligenz- (Einsichts-) Grades nothwendig erscheint.
Eigenthümlicher Weise und einigermassen im Widerspruche mit der sonstigen Auffassung der Zurechnungsfähigkeit macht das Gesetz letztere bei Individuen unter achtzehn Jahren nur abhängig von einer gewissen Entwicklung des Unterscheidungsvermögens, ohne zugleich eine gewisse Entwicklung des Selbstbeherrschungsvermögens zu fordern. Darin liegt jedenfalls eine Schwäche des Gesetzes. Eine gewisse Einsicht in die Strafbarkeit verpönter Handlungen ist nämlich beim Kinde verhältnissmässig frühzeitig vorhanden und sie verräth sich meist durch das heimliche, häufig sogar schlaue Vorgehen des Kindes bei der That. Was aber häufig trotzdem fehlt, das ist die genügende Willenskraft, um den Anreizungen zur That zu widerstehen. Zu dieser gehört bereits eine gewisse Consolidirung des Charakters und ein gewisses Uebergewicht ethischer, moralischer und rechtlicher Vorstellungen und Begriffe über egoistische Antriebe, und ob diese Bedingungen in dem dem betreffenden Alter sonst zukommenden Grade vorhanden sind oder nicht, sollte nicht unberücksichtigt bleiben.
Die Nothwendigkeit einer solchen Unterscheidung ergibt sich von selbst aus der Erwägung der Natur der strafbaren Handlungen, die von Kindern und jugendlichen Individuen begangen werden.
Eine Reihe dieser Handlungen lässt allerdings deutlich erkennen, dass das betreffende Individuum sich der Bedeutung und Tragweite derselben gar nicht oder nur undeutlich bewusst war und daher die zur Erkenntniss der Strafbarkeit der That erforderliche Einsicht nicht besass. Es gehören hierher z. B. die verschiedenen, aus Muthwillen und Uebermuth verübten (sogenannten dummen Jungen-) Streiche, viele Fälle, wo Steine auf die Bahn gelegt werden, gegen Züge geworfen oder geschossen wird, durch Reise-, Entdeckungs- und Abenteuerdrang veranlasste Handlungen, unsinnige Conspirationen und geheime Verbindungen, diverse Beschädigung[S. 883] fremden Eigenthums und selbst einzelne Brandlegungen. Andere und vielleicht die meisten der betreffenden Handlungen sind aber derart, dass man das Fehlen der erforderlichen Einsicht nicht annehmen kann. So bei fast allen von Kindern und jugendlichen Individuen begangenen Diebstählen und Betrugsfällen. Hier wird es sich nun darum handeln müssen, ob ausser der Einsicht auch der für das betreffende Alter vorausgesetzte Grad von Selbstbestimmungsfähigkeit, respective Stärke des Charakters und Schulung der Willenskraft vorhanden war oder nicht. Gerade in dieser Beziehung besteht aber in den meisten solchen Fällen ein Defect, und dass demselben Rechnung getragen werde, ist gewiss eine psychologisch sowohl als strafrechtlich gerechtfertigte Forderung. In Folge dieses Defectes kann eine weit unter der normalen Grenze stehende Selbstbestimmungsfähigkeit existiren, trotz gut entwickelter und selbst mehr als gewöhnlich entwickelter Intelligenz. Leider ist man aber in solchen Fällen geneigt, entsprechend dem alten Satze: malitia supplet aetatem, gerade aus der durch schlaues, ja mitunter raffinirtes Vorgehen des jugendlichen Thäters sich documentirenden Intelligenz sofort auf einen analogen Grad von Willensfreiheit zu schliessen, während einleuchtet, dass bei gleich mangelhafter sittlicher Basis des Charakters das geistig aufgewecktere Kind leichter auf Abwege gerathen kann, als das in dieser Beziehung schwächer angelegte, um so mehr, als bei ersterem die organischen Triebe in der Regel stärker sich zu äussern pflegen als bei letzteren, und überhaupt ein lebhafteres Temperament besteht.
Eine andere Kategorie von verbrecherischen Handlungen jugendlicher Individuen entspringt aus Affecten, insbesondere des Zornes und der Rache. Hier wird festzuhalten sein, dass auch schon bei Kindern bezüglich der grösseren und geringeren Leichtigkeit, mit welcher Affecte ausgelöst werden, sich individuelle Verschiedenheiten zeigen, die theils durch das angeborene Temperament bedingt sind, theils davon abhängen, ob das Kind in der Bewältigung der Affecte eingeübt wurde oder nicht. Fehler in der Erziehung machen sich gerade in dieser Beziehung so häufig bemerkbar, und die Selbstbestimmungsfähigkeit erscheint dann ebenso gemindert, wie durch eine angeborene grössere Geneigtheit zu heftigen Gemüthsschwankungen.
Unzüchtige Handlungen, begangen von Individuen unter achtzehn, beziehungsweise zwanzig Jahren, sind nicht selten. In den ersten der bereits die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit involvirenden Jahre fehlt in der Regel ein genügendes Verständniss für die Bedeutung der betreffenden strafbaren Handlung schon aus dem einfachen Grunde, weil die Geschlechtsreife meist noch nicht eingetreten ist. Ist aber die Geschlechtsreife bereits vorhanden, so kann der Geschlechtstrieb desto eher zu sträflichen Handlungen führen, je frühzeitiger sie sich eingestellt hatte und je weniger ein entsprechend starker Charakter die betreffenden[S. 884] Antriebe zu corrigiren vermag, was insbesondere bei den nicht seltenen Fällen von Frühreife wohl zu beachten sein wird.
Von den bisher besprochenen Verhältnissen, welche innerhalb der Breite psychischer Gesundheit das rechtzeitige Eintreten der Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit zu verzögern oder ganz zu verhindern vermögen und zu denen auch die leichte Bestimmbarkeit durch Andere hinzugefügt werden muss, sind die Geisteskrankheiten im engeren Sinne zu unterscheiden, welche auch bei kindlichen und jugendlichen Individuen bestehen und deren Zurechnungsfähigkeit aufheben können.
Es gehören hierher die psychischen Schwächezustände: Blödsinn und Schwachsinn, die sowohl in Folge angeborener Defecte in den psychischen Organen bestehen, als auch erst nachträglich insbesondere in Folge überstandener Erkrankungen des Gehirns und seiner Häute und nach Kopfverletzungen eintreten können. Ferner Zustände krankhaft erhöhter Reizbarkeit, welche entweder in Folge angeborener, in der Regel hereditär fehlerhafter Organisation, meist mit erhöhter motorischer Reflexerregbarkeit (Neigung zu Convulsionen), oder auch nach überstandenen Hirn- und anderweitigen schweren Erkrankungen, oder endlich in Folge der im Pubertätsstadium geschehenden Vorgänge sich finden, aber auch nach Schreck, Onanie oder in Folge gewisser Reize, z. B. Wurmreiz, sich entwickeln kann. Eine solche krankhafte Reizbarkeit kann ganz ungewöhnliche Reactionen bedingen und zu Gewaltthaten gegen Andere und die eigene Person führen. Eine Reihe der bereits an einem anderen Orte (pag. 386) erwähnten Selbstmorde von Kindern und jugendlichen Individuen gehören hierher. Das angeborene „moralische“ oder „impulsive Irrsein“, von dem später die Rede sein wird, äussert sich schon frühzeitig einestheils durch undisciplinirbares Verhalten, anderseits durch böse Neigungen und mitunter ganz perverse gewaltthätige Antriebe und Handlungen, zu welchen selbst Morde gehören.[553]
Melancholisches Irrsein wird seltener bei Kindern, häufiger dagegen in der Pubertätsperiode beobachtet. Im Verlaufe derselben kann Neigung zu Selbstmord bestehen und auch raptusartige Aufregung auftreten mit gemeinschädlichem Charakter. Maniakalische Zustände sind verhältnissmässig selten und beruhen dann meist auf choreatischer oder epileptischer Grundlage. Dagegen wurde wiederholt hallucinatorisches Irrsein, insbesondere in der Form des Verfolgungswahnes, sowohl in der Pubertätszeit, als bei Kindern beobachtet.
Auch in jenen Fällen, in denen bei jugendlichen Verbrechern die nöthige Einsicht und Selbstbestimmungsfähigkeit als vorhanden angenommen[S. 885] werden muss, trägt das Gesetz der noch nicht vollkommenen körperlichen und geistigen Entwicklung dadurch Rechnung, dass es den betreffenden Individuen eine mildere Behandlung zu Theil werden lässt als volljährigen Verbrechern. Das gegenwärtige österr. St.-G. erklärt im §. 46 lit. a ein Alter des Thäters unter 20 Jahren ausdrücklich als Milderungsumstand und bestimmt im §. 52, dass, wenn der Verbrecher zur Zeit des begangenen Verbrechens das Alter von 20 Jahren noch nicht zurückgelegt hat, anstatt der Todesstrafe oder lebenslangen Kerkerstrafe auf schweren Kerker zwischen 10 bis 20 Jahren zu erkennen ist. — Das deutsche Strafgesetz (§. 55–57) und der österr. St.-G.-Entwurf (§. 60–63) gehen noch humaner vor, indem sie für sämmtliche von Individuen unter 18 Jahren begangenen strafbaren Handlungen das Strafausmaass herabsetzen, insbesondere niemals Todesstrafe und statt der Zuchthausstrafe nur Gefängniss eintreten lassen und auch bei Individuen zwischen 18–20 Jahren statt der Todes- oder lebenslänglichen Freiheitsstrafe nur höchstens 20jährige Zuchthausstrafe fixiren, vorzugsweise aber durch die Verordnung, dass bei der Vollziehung der Freiheitsstrafen jugendliche Individuen unter 18 Jahren von anderen Sträflingen, welche einen nachtheiligen Einfluss auf dieselben ausüben könnten, strenge gesondert zu halten sind.[554]
Nicht unerwähnt soll die von verschiedenen Seiten, insbesondere neuestens bei Berathung des italienischen St.-G.-Entwurfes, gestellte Forderung bleiben, dass man auch im weiblichen Geschlechte eines zum Verbrecher gewordenen Individuums einen in das Gesetz ausdrücklich aufzunehmenden Strafmilderungsgrund erblicken solle. Keines der modernen Strafgesetzbücher, respective der betreffenden Entwürfe, ist auf diese Forderung eingegangen, wie wir glauben mit Recht, da beim Weibe im Allgemeinen weder in der Intelligenz, noch in der Selbstbestimmungsfähigkeit so wesentliche Unterschiede von denselben Eigenschaften des Mannes bestehen, wie etwa zwischen jenen jugendlicher oder gar kindlicher Individuen und Erwachsener. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass in einzelnen Fällen dem zarteren Fühlen des Weibes und namentlich seinen besonderen Sexualzuständen Rechnung getragen werden muss. Dass dies aber thatsächlich geschieht, zeigen insbesondere die milden Bestimmungen über den Kindesmord, die wir an einer anderen Stelle bereits kennen gelernt haben.
[S. 886]
Es gehört hierher die angeborene oder in der Kindheit erworbene Schwäche des Intellects oder der angeborene Blödsinn, die psychische Entwicklungshemmung, wie sie durch angeborenen oder in frühester Kindheit erworbenen Sinnesmangel veranlasst wird, und gewisse angeborene Defecte oder Fehler der psychischen Organisation specifischer Art, die, meist auf hereditärer Grundlage beruhend, sich vorzugsweise durch ein abnormes Fühlen und Wollen äussern und einestheils in dem moralischen, anderseits in dem impulsiven Irrsein ihre wichtigsten Repräsentanten finden.
Wir wollen alle diese Zustände schlechtweg als angeborene bezeichnen.
Man versteht darunter den Ausfall oder die Schwäche des Intellects, entweder in Folge angeboren fehlerhafter oder durch in frühester Jugend eingetretene Störungen gehemmter Hirnentwicklung. Es gibt eine Menge Grade dieses Defectes. In den schwersten Fällen fehlt die Intelligenz vollkommen und damit auch die Sprache — idiotische Stummheit. Solche Individuen führen ein vegetirendes Dasein, haben nur ein theilweises Bewusstsein von der Aussenwelt, verhalten sich meist ganz passiv, müssen sogar gefüttert werden u. s. w. Derartige Idioten sind zu Handlungen gar nicht fähig und haben deshalb für die Frage der Zurechnungsfähigkeit gar keine Bedeutung.
In anderen Formen ist die Perception der Aussenwelt und eine Unterscheidung der eigenen Persönlichkeit vorhanden, das Bewusstsein jedoch nur von sinnlichen, durch unmittelbare Wahrnehmung aufgenommenen Vorstellungen und daraus gebildeten primitiven Urtheilen und Begriffen erfüllt. Aber auch die Menge und der Umfang dieser ist ein sehr variabler, je nach der grösseren oder geringeren Schwierigkeit, mit welcher derartige Vorstellungen aufgenommen, im Bewusstsein festgehalten und verarbeitet werden. Die Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung abstracter (übersinnlicher) Vorstellungen und Urtheile fehlt, daher kann auch weder von Einsicht in die sittliche oder rechtliche Bedeutung von Handlungen, noch von der Beherrschung egoistisch-sinnlicher Antriebe durch diese die Rede sein.
Der Umstand, dass, wie insbesondere die Resultate der Idiotenanstalten zeigen, selbst hochgradig blödsinnige Kinder einer gewissen Erziehung fähig sind, kann nicht beirren, denn letztere bleibt doch schliesslich nur eine Art Dressur, wie sie auch bei Thieren bis zu einem gewissen Grade möglich ist, und man wird einen Idioten, der mühsam einzelnen seiner Antriebe zu widerstehen gelernt hat, ebenso wenig eine, wenn auch nur theilweise strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit vindiciren, wie etwa einem Jagdhunde,[S. 887] der vor dem Wilde zu stehen dressirt worden ist.[555] Auch wird man sich durch die wiederholt constatirte Thatsache nicht täuschen lassen, dass Idioten mitunter trotz hochgradig defecter Intelligenz einzelne mechanische Fertigkeiten und anderweitige, z. B. musikalische Talente zeigen können, ja dass sogar einseitige, mitunter überraschende Entwicklung des Gedächtnisses für Namen, Zahlen u. dergl. vorkommen kann, und dass solche Individuen keineswegs immer rücksichtslos und ohne alle Vorsicht, sondern auch mit einem gewissen Grad von Ueberlegung und selbst von Schlauheit zu handeln vermögen, wie ja Solches auch bei Thieren häufig beobachtet werden kann.
Die leichteren Formen des Blödsinns pflegt man gewöhnlich in den Begriff des Schwachsinns zusammenzufassen. Zwischen diesem und dem eigentlichen Blödsinn gibt es verschiedene allmälige Uebergänge, so dass eine scharfe Abgrenzung beider Formen unmöglich ist. Doch empfiehlt es sich mit Krafft-Ebing, das Auftreten übersinnlicher abstracter Vorstellungen und Begriffe als Unterscheidungsmerkmal des Schwachsinnes vom eigentlichen Blödsinn zu fixiren, so dass beim Schwachsinnigen bereits alle die Intelligenz zusammensetzenden Bedingungen gegeben sind, wie beim Vollsinnigen, aber nicht in dem Grade sich zu entwickeln vermögen, wie bei diesen. Es besteht demnach gegenüber dem eigentlich Blödsinnigen ein qualitativer, gegenüber dem Vollsinnigen nur ein quantitativer Unterschied.
Auch beim Schwachsinn gibt es eine Menge Abstufungen: Schwerere Formen, bei welchen die Bildung und Verarbeitung übersinnlicher Vorstellungen noch sehr schwierig und unvollständig vor sich geht, und leichtere Formen, die den Uebergang zur normalen psychischen Leistungsfähigkeit bilden und mitunter schwierig von jener geringen Entwicklung der Intelligenz sich unterscheiden, die in Folge äusserer Ursachen auch beim normalen Menschen vorkommen kann.
Die Analyse der Vorstellungsthätigkeit ergibt bei allen Schwachsinnigen mehr weniger auffallende Defecte. Schon die Aufnahme der Sinneseindrücke erfolgt nicht so präcis wie bei Vollsinnigen, sondern mit einer gewissen Schwerfälligkeit und Langsamkeit, was namentlich gegenüber feineren Wahrnehmungen auffällt. Mitunter besteht eine auffallende Stumpfheit einzelner Sinne.
Es erfolgt demnach schon die Bildung sinnlicher Vorstellungen und die Verarbeitung derselben zu sinnlichen Urtheilen[S. 888] und Begriffen mit unverhältnissmässiger Schwierigkeit, noch mehr jene der übersinnlichen. Es ist eben einestheils die Empfänglichkeit der psychischen Centren für von Aussen kommende Eindrücke eine mehr weniger geringere als beim normalen Menschen, andererseits sind dieselben weniger fähig, einmal aufgenommene Eindrücke festzuhalten (Gedächtnissschwäche); endlich aber besitzt der die Ideenassociation vermittelnde Apparat nicht jene Feinheit und Präcision der Leistungsfähigkeit, die ihm de norma zukommen sollte.
Diese Defecte machen sich schon zur Zeit des Schulbesuches bemerkbar. Das Kind begreift langsam, merkt sich das Gelernte nur schwer, reproducirt dasselbe nur mechanisch, ohne näheres Verständniss und bleibt in Folge dessen hinter den übrigen Kindern zurück, was sich desto mehr kundgibt, je schwieriger die Anforderungen im Laufe des Unterrichtes sich gestalten und je weniger der frühere aufgenommen worden war.[556] Ebenso träge und schwerfällig gestaltet sich die intellectuelle Thätigkeit auch im weiteren Leben, ja selbst noch träger und beschränkter, da nun die systematische Vermehrung des Bewusstseinsinhalts durch fremden Unterricht entfällt und das Individuum sich selbst überlassen bleibt. Der Vorrath von Intelligenzelementen, insbesondere von abstracten, den das betreffende Individuum besitzt, steht demnach sowohl an In- als Extensität hinter demjenigen zurück, der sich unter sonst gleichen Verhältnissen bei Anderen zu finden pflegt, um so mehr, als dasselbe auch durch Beobachtung und Verkehr mit anderen Menschen nur wenig oder gar nichts in sich aufnimmt. Doch ist auch hier zu bemerken, dass die Schwäche keineswegs in allen geistigen Leistungen vollkommen gleichmässig zu Tage treten muss, sondern in einzelnen mehr, in anderen weniger, und dass selbst bei hochgradigem Intelligenzdefect einseitige, insbesondere mechanische Fertigkeiten und Talente sich finden können. Auch ist der Defect gegenüber feinen psychischen Leistungen immer auffälliger als gegenüber gröberen, insbesondere bezüglich abstracter, übersinnlicher Vorstellungen und Urtheile unverhältnissmässig stärker als gegenüber den sinnlichen.
Dass unter solchen Umständen das moralische, ethische und rechtliche Verständniss immer nur ein mangelhaftes und der Charakter nur ein schwacher sein kann, und dass ein solches Individuum weniger im Stande sein wird, seine Handlungen nach höheren Principien zu regeln, d. h. seinen Willen gegenüber egoistischen Antrieben im Sinne des Guten und Rechten zu beherrschen, als der normale Mensch, ist begreiflich. Es wäre jedoch zu weit gegangen, wenn man die Schwachsinnigen unter[S. 889] allen Umständen als unzurechnungsfähig erklären wollte. Es gibt eine Menge Schwachsinniger, die sich im gewöhnlichen Leben, namentlich in gewissen, keinen besonderen geistigen Fond erfordernden Stellungen, gut und selbstständig fortbringen. Eben deshalb muss zugegeben werden, dass solche Individuen unter gewöhnlichen Verhältnissen die strafrechtliche Bedeutung gewisser einfacher Handlungen in genügender Weise begreifen können, und wenn die Reflexion ungestört verlaufen konnte, auch im Stande sind, sich für die Unterlassung einer solchen Handlung zu entscheiden. In Fällen von prämeditirtem Diebstahl und Betrug ist dies wohl zu beachten.
Anders gestaltet sich die Sache bei aussergewöhnlichen und mehr weniger plötzlich an das Individuum herantretenden verbrecherischen Impulsen. In solchen Fällen zeigt sich der Defect deutlich. Der schon unter gewöhnlichen Verhältnissen mühsam arbeitende Reflexionsapparat geräth leicht in Verwirrung oder Stockung und ein überlegtes besonnenes Handeln wird noch weniger möglich als unter ähnlichen Umständen bei vollsinnigen. Insbesondere erfolgt das Auftauchen der ohnehin spärlichen und schwachen contrastirenden Vorstellungen entweder gar nicht oder viel zu langsam, als dass sie den Willen zu bestimmen vermöchten. Dies ist insbesondere bei den im Affecte begangenen Handlungen zu erwägen und dabei zu beachten, dass, ebenso wie wir beim eigentlichen Blödsinn apathische, harmlose und reizbare gefährliche Formen unterscheiden, auch beim Schwachsinn keineswegs immer nur ein apathisches oder phlegmatisches Verhalten, sondern nicht selten eine erhöhte Reizbarkeit und daher eine grössere Geneigtheit zu Affecten besteht, in welchem Falle das Individuum mit desto unverhältnissmässigerer Heftigkeit auf wirkliche oder vermeintliche Kränkungen und anderweitige aufregende Vorkommnisse, besonders aber Schädigungen seiner leiblichen Interessen, reagirt, je mehr der Schwachsinn entwickelt ist.
Sehr häufig verleitet die Macht der Triebe die Schwachsinnigen zu strafbaren Handlungen, insbesondere der Geschlechts- oder der Nahrungstrieb.
Bezüglich des ersteren ist die Meinung sehr verbreitet, dass bei Blödsinnigen eine besonders starke Entwicklung des Geschlechtstriebes sich finde. Im Allgemeinen ist eher das Gegentheil der Fall, insbesondere bei den schwersten Formen des Blödsinns, in welchen man nicht selten verkümmerte Genitalien, mangelhafte oder fehlende Entwicklung der Scham- und Barthaare und persistirenden knabenhaften Habitus findet.[557] In den übrigen Fällen ist es meist nur die Rücksichtslosigkeit[S. 890] der Aeusserung des Geschlechtstriebes, welche für ungewöhnliche Stärke des Triebes imponirt. Trotzdem kann in einzelnen Fällen der Trieb sich stärker äussern als in anderen, wie ja auch beim normalen Menschen gerade in dieser Beziehung bedeutende individuelle Verschiedenheiten sich geltend machen, und es ist namentlich die Annahme nicht unberechtigt, dass bei den reizbaren Formen des Blödsinns und Schwachsinns auch eine regere Geschlechtsthätigkeit besteht als bei den apathischen. Ein genügendes Verständniss der Bedeutung geschlechtlicher Handlungen kann nur in den leichten Formen des Schwachsinns angenommen werden, in den schwereren, sowie beim eigentlichen Blödsinn kann von einem solchen nicht wohl die Rede sein. Auch handelt es sich in diesen Fällen seltener um normale Befriedigung des Geschlechtstriebes, sondern in der Regel um anderweitige unzüchtige Handlungen, besonders um onanistische Manipulationen, die dann fast ausschliesslich an Kindern vorgenommen werden, also um Acte, deren strafrechtliche Bedeutung einem Schwachsinnigen noch weniger verständlich sein wird, als die des wirklichen Coitus.
Was den Nahrungstrieb betrifft, so ist die Gefrässigkeit der meisten Blödsinnigen bekannt. Auch bei Schwachsinnigen wird sich derselbe desto stärker und rücksichtsloser äussern, je weniger von einer Ausbildung des Charakters die Rede sein kann. Es ist dabei nicht zu vergessen, dass auch beim normalen Menschen der Trieb nach Befriedigung des Nahrungs- und Genussbedürfnisses eine der häufigsten Ursachen strafbarer Handlungen bildet und dass daher dieser Trieb um so leichter bei Individuen zu solchen Handlungen führen kann, deren ganzes Leben und Streben in der Befriedigung der sinnlichen Regungen, wenn auch nicht wie bei Blödsinnigen vollkommen aufgeht, so doch vorzugsweise um diese sich dreht.
Nicht selten sind die betreffenden Handlungen Schwachsinniger so kindisch, naiv oder albern, dass sich aus ihnen selbst sofort der Schwachsinn ergibt. Es gehören hierher viele Fälle von Beschädigungen fremden Eigenthums, einzelne Betrugsfälle und selbst Fälschungen, die mitunter die naivsten Zumuthungen an die Leichtgläubigkeit der zu Betrügenden involviren.
Aus allem Gesagten ergibt sich, dass bei der Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit Schwachsinniger nicht einzig und allein die Constatirung des Schwachsinnes genügen kann, sondern zu erwägen sein wird, ob und in welchem Grade derselbe den betreffenden Schwachsinnigen verhinderte, bei der Begehung einer bestimmten Handlung das Strafbare derselben zu erkennen und für die Begehung oder Unterlassung derselben sich zu entscheiden. Zu diesem Behufe wird einestheils der allgemeine Grad des Schwachsinns zu erheben sein, anderseits die Natur der begangenen Handlung, ob und welchen Grad der Intelligenz die Einsicht in die Strafbarkeit derselben erforderte, beziehungsweise documentirt, ferner die Motive, durch welche sie veranlasst wurde, sowie das Verhältniss der Stärke dieser zu dem individuellen Charakter,[S. 891] respective zu dem Vorrath an moralischen und Rechtsbegriffen, und endlich ob den letzteren Gelegenheit und Zeit geboten war, sich geltend zu machen und den Widerstreit im Bewusstsein in ihrem Sinne zu entscheiden. Auch wird das eventuell jugendliche Alter, sowie der Umstand in Betracht zu ziehen sein, ob und welche Erziehung dem Individuum bereits zu Theil geworden ist. Sollte nach Abschätzung aller dieser Verhältnisse sich ergeben, dass sowohl Einsicht als die Willenskraft im entsprechenden Grade vorhanden waren, so ist der Schwachsinn des Individuums dennoch zu betonen, da, wenn auch von Seite des Richters oder der Geschworenen auf Zurechnungsfähigkeit erkannt wird, doch die geringe Intelligenzentwicklung beim Strafausmaass in Betracht gezogen wird und weil insbesondere der §. 46 des österr. St.-G.-B. lit. a die Schwäche des Verstandes ausdrücklich als Milderungsumstand erklärt.
Blödsinn und Schwachsinn kann bestehen trotz sonst normaler Verhältnisse. Häufiger ist derselbe mit anderen Anomalien combinirt. Hierher gehören insbesondere solche der äusseren Körperbildung, von denen namentlich jene am Kopfe wohl zu beachten sind, wie Hydrocephalus, durch vorzeitige oder asymmetrische Verwachsung der Nähte entstandene Verbildungen des Schädels, die Mikrocephalie u. s. w. Die mit erheblicher körperlicher Missstaltung und Kropf verbundene angeborene Idiotie bezeichnet man gewöhnlich als Cretinismus. Namentlich versteht man darunter den endemisch vorkommenden, mit solcher Missstaltung verbundenen Idiotismus, als dessen Prototyp der alpine Cretinismus gilt (infantiles Myxödem). Höchst beachtenswerth ist jedoch die von Klebs[558] hervorgehobene Beobachtung, dass ein anatomisch vollständig entwickelter Cretintypus auch ohne jede oder nur mit geringer geistiger Störung bestehen kann. Häufig finden sich andere Symptome anomaler Function der centralen Nervenapparate, insbesondere die sogenannte „neuropathische Constitution“ („reizbare Schwäche“), Convulsionen verschiedenen Charakters (epileptische und epileptoide Zustände, Veitstanz, gewisse eigenthümliche automatische Bewegungen), andererseits Lähmungen. Anamnestisch lassen sich mitunter die Anfänge der geistigen Schwäche auf in früher Jugend überstandene Erkrankungen oder Kopfverletzungen zurückführen und Residuen derselben, insbesondere der letzteren, noch anderweitig nachweisen.
Deutsches Straf-Gesetzbuch, §. 58: Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniss der Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besass, ist freizusprechen.
Deutsche Straf-Process-Ordnung, §. 298, vide pag. 877.
Vom angeborenen Sinnesmangel hat die angeborene Blindheit unter gewöhnlichen Umständen nur eine untergeordnete Bedeutung für die Frage der Zurechnungsfähigkeit, da durch dieselbe[S. 892] der Unterricht, insbesondere die Aufnahme von höheren Vorstellungen und Urtheilen in das Bewusstsein, nicht wesentlich behindert wird; wohl fällt dieselbe aber dann in’s Gewicht, wenn sie sich mit anderen Sinnesdefecten (z. B. Taubstummheit, Schwerhörigkeit oder mit Geistesschwäche) combinirt, sowie wenn kein entsprechender Unterricht stattgefunden hatte.
Von ungleich höherer Bedeutung ist der angeborene oder in frühester Jugend erworbene Mangel des Gehörs und die dadurch bedingte Taubstummheit, da durch diesen Defect der wichtigste Weg entfällt, auf welchem die Aufnahme der Bildungselemente erfolgt und weil durch den consecutiven Mangel der Sprache auch Reproduction und Mittheilung des Bewusstseinsinhaltes, daher auch die Correctur desselben durch Andere wesentlich erschwert ist. Besonders ist die Einverleibung übersinnlicher Vorstellungen und Urtheile in’s Bewusstsein schwierig, somit gerade jener Elemente des Charakters, die sinnlichen und egoistischen Antrieben das Gegengewicht halten sollen.
Im Allgemeinen besteht daher eine Analogie mit dem angeborenen Blödsinn und Schwachsinn. Während jedoch bei diesem der Defect im Gehirne selbst liegt und irreparabel ist, besitzt letzteres bei den gewöhnlichen Formen der Taubstummheit die Anlage zur normalen Leistungsfähigkeit, deren Entfaltung erschwert, aber nur der gewöhnlichen Unterrichtsmethode gegenüber unmöglich ist. Wird aber eine solche eingeschlagen, die, den Defect berücksichtigend, auf anderen Wegen die Bildungselemente dem Gehirne zuführt, dann können die psychischen Anlagen, wenn auch ungleich mühevoller als beim gewöhnlichen Unterricht, doch so weit ausgebildet werden, dass das Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsvermögen nicht wesentlich verschieden ist von demjenigen Vollsinniger. Welche überraschenden Resultate in dieser Beziehung erzielt werden können, zeigen die in allen Culturländern bestehenden und an Zahl immer mehr zunehmenden Taubstummen-Unterrichtsanstalten zur Genüge, ebenso die Thatsache, dass gegenwärtig zahlreiche Taubstumme die verschiedenartigsten bürgerlichen Stellungen bekleiden, sich verheiraten und ebenso gut sich fortbringen, wie ihre vollsinnigen Collegen, und dass einzelne sogar als Lehrer, Beamte u. s. w. verwendet werden und selbst literarische Leistungen aufzuweisen haben.
Es folgt daraus, dass bei Beurtheilung von Taubstummen wegen fraglicher Zurechnungsfähigkeit zunächst ein Unterschied zu machen sein wird zwischen solchen, die einen Taubstummen-Unterricht und solchen, die keinen genossen haben. Letztere sind den Blödsinnigen gleich zu achten, da ihr Bewusstsein keine oder nur spärliche und ganz unvollkommene übersinnliche Vorstellungen enthält und daher wohl unter Umständen von einer Dressur, nicht aber von einem Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsvermögen im strafrechtlichen Sinne die Rede sein kann.
[S. 893]
Anders gestaltet sich die Sache bei unterrichteten Taubstummen, da bei diesen die letztgenannten Eigenschaften desto mehr vorhanden sein werden, je vollständiger der Unterricht war, den sie genossen hatten. Doch ist zu bemerken, dass auch bei Taubstummen dieselben Unterschiede in der individuellen psychischen Leistungsfähigkeit bestehen müssen, wie bei Vollsinnigen, und dass bei dem schwereren und nur auf Umwegen zu erzielenden Unterricht die Differenz der individuellen Geistesgaben sich nothwendig intensiver geltend machen muss, als unter gleichen Umständen bei Vollsinnigen gegenüber dem gewöhnlichen Unterricht. Daraus ergibt sich aber folgerichtig, dass schon solche geringe Grade niederer intellectueller Leistungsfähigkeit, die beim Vollsinnigen noch in die Breite des Normalen fallen, bei Taubstummen den Unterricht in gleicher Weise erschweren können, wie wir dies sonst bei im pathologischen Sinne Schwachsinnigen zu constatiren vermögen, und weiter, dass aus gleichem Grunde im Allgemeinen der Unterricht einen langsameren Verlauf nehmen und der vom Gesetze als Minimum geforderte Grad von Einsicht durchschnittlich später vorhanden sein wird, als dies unter normalen Umständen das Gesetz annimmt, was bei der Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit taubstummer Kinder und jugendlicher Individuen im Auge behalten werden muss, ebenso wie der Umstand, dass sich die Taubstummheit mit angeborenem oder in frühester Jugend erworbenem Blödsinn und Schwachsinn, sowie mit angeborenen oder erworbenen psychischen Anomalien anderer Art combiniren und dann auch den besten Unterricht illusorisch machen kann. Es kann daher der Nachweis des stattgehabten Taubstummen-Unterrichtes für sich allein keineswegs zur Erklärung genügen, dass die Bedingungen zur Zurechnungsfähigkeit, insbesondere die vom deutschen Strafgesetze ausdrücklich geforderte „Einsicht“, vorhanden seien, sondern es muss an die Möglichkeit gedacht werden, dass trotz eines solchen in Folge einer oder mehrerer der erwähnten Verhältnisse, sowohl die Einsicht als die Selbstbestimmungsfähigkeit sowohl im Allgemeinen als gegenüber einer bestimmten strafbaren Handlung mangeln oder wesentlich vermindert sein kann. In letzterer Beziehung sind die gleichen Erwägungen am Platze, wie sie bezüglich der analogen Handlungen Unmündiger und Schwachsinniger auseinandergesetzt wurden, doch ist es selbstverständlich, dass die Prüfung des Intellects des betreffenden Taubstummen durch das Examen selten ohne Intervention eines Dolmetsch (Taubstummenlehrers) wird geschehen können, und dass selbst in solchen Fällen, wo ein schriftlicher Verkehr mit dem zu Untersuchenden möglich wäre, doch die Intervention des Dolmetsch nicht zu entbehren sein wird.
[S. 894]
Bekanntlich finden wir schon beim vollkommen normalen Menschen selbst unter sonst gleichen Verhältnissen vielfache originäre Unterschiede im psychischen Verhalten. Wir finden sie sowohl im Bereiche der Intelligenz, als des Fühlens und der Willensenergie. In erster Beziehung wissen wir, wie verschiedenartig sich die geistige Leistungsfähigkeit gestaltet und sprechen von grösseren oder geringeren Talenten, indem wir dabei bald nur die allgemeine Bildungsfähigkeit, bald nur den Sinn und das Geschick für besondere geistige Leistungen im Auge haben. Ebenso bekannt und gewöhnlich sind die Verschiedenheiten in der Willensenergie. Insbesondere auffallend sind aber die individuellen Verschiedenheiten im Bereiche des Fühlens, und dies ist um so wichtiger, als das Denken und Handeln, das ganze Wesen eines Individuums vorzugsweise durch sein Fühlen beeinflusst wird. Schon die Alten kannten die Verschiedenheit der „Temperamente“, unter welchen sie so wie wir nicht blos die habituelle Gemüthsanlage, sondern auch die grössere oder geringere Geneigtheit des Individuums zu Gemüthsaffecten und Leidenschaften verstanden. Insbesondere gibt es leicht erregbare und anderseits nach allen Richtungen phlegmatische Temperamente, weiche gefühlvolle und anderseits harte, abstossend strenge Naturen, und die tägliche Erfahrung lehrt, dass auch bezüglich des moralischen und ethischen Fühlens individuelle Unterschiede sich finden und welch verschiedene Färbung die relative Prävalenz der sogenannten altruistischen oder der egoistischen Gefühle den einzelnen Charakter verleiht.
Wir können ferner bemerken, dass auch im Bereiche des sinnlichen Empfindens die verschiedenartigsten Unterschiede und selbst Extreme vorkommen und dass insbesondere gewisse feinere Gefühlsqualitäten, z. B. musikalisches, künstlerisches Fühlen, bei einzelnen Individuen in hoher und höchster Entwicklung bestehen, bei anderen trotz gleicher und selbst höherer Intelligenz mehr weniger vollkommen fehlen können. Wenn wir dazu bedenken, dass auch die Stärke der organischen Triebe, insbesondere des wichtigsten derselben, des Geschlechtstriebes, bei verschiedenen Menschen verschieden sich gestaltet und anderseits erwägen, in wie eingreifender Weise gerade die thierischen Triebe das Gesammtfühlen des Menschen beeinflussen, so müssen wir Lotze vollkommen beistimmen, der da[559] sagt, dass „unsere angeborene Constitution durch individuell eigene und eigenartige Empfindungen einem Jeden sein individuelles Lebensgefühl bestimmt“, und werden auch in dessen weiterer Bemerkung, dass „der Einzelne das Lebensgefühl eines Anderen nie zu begreifen vermag“, keine Uebertreibung erblicken.
[S. 895]
Auch geht daraus hervor, wie sehr das in der modernen Strafrechtspflege immer mehr zum Durchbruch kommende Streben gerechtfertigt ist, bei der Beurtheilung der Strafbarkeit von Handlungen auch bei ganz normalen Individuen nicht den fictiven „Durchschnittsmenschen“ im Auge zu haben, sondern das einzelne Individuum, und zwar nicht blos in seinen äusseren Beziehungen, sondern auch in seiner concreten psychischen Organisation.
Ungleich wichtiger ist die Thatsache, dass, ganz abgesehen von den bereits besprochenen angeborenen psychischen Schwächezuständen, bei einzelnen Individuen schon von Haus aus, d. h. in Folge angeborener Organisation der psychischen Centren, Eigenthümlichkeiten der psychischen Grundthätigkeiten bestehen können, die als pathologisch aufgefasst werden müssen und das ganze Gebahren des Individuums und seinen Charakter beeinflussen. Solche Anomalien finden sich, wenn auch nicht immer, so doch vorzugsweise bei Individuen, die aus Familien stammen, in denen Irrsinn und andere Nervenleiden heimisch sind, so dass Alles darauf hinweist, dass wir in einem derartigen abnormen psychischen Verhalten die Aeusserungen einer hereditär überkommenen fehlerhaften Organisation und in der Regel den Ausdruck einer psychischen Degeneration zu erblicken haben (erbliche Belastung, Griesinger).
Die betreffenden Eigenthümlichkeiten können in ihrer Intensität sehr verschieden sich gestalten, auch in einzelnen psychischen Thätigkeiten mehr hervortreten, als in anderen, und es ist höchst bemerkenswerth, dass einzelne derselben sogar bei geistig hervorragenden, genialen Naturen sich ergeben, so bei Gelehrten, grossen Dichtern, Künstlern, von denen, wie Hohnbaum[560] bemerkt, Einzelne mitunter in eilf Dingen erhaben und im zwölften Idioten sind, oder durch besondere Verirrungen der Phantasie, Schrullen, fixe Ideen, Vorurtheile und selbst Aberglauben, grosse Reizbarkeit etc. auffallen, Beobachtungen, die beweisen, dass eine scharfe Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Irrsein gar nicht besteht, sondern dass es ein „Grenzgebiet“ (Maudsley) gibt, in welchem sich mannigfache Uebergänge beider Zustände finden.
Die Bedeutung solcher originärer Unterschiede des psychischen Verhaltens für die Frage der Zurechnungsfähigkeit liegt[S. 896] auf der Hand und sie wird noch speciell dadurch erhöht, dass die originäre psychopathische Constitution sich weniger durch Störungen der Intelligenz als durch abnormes Verhalten der übrigen psychischen Thätigkeiten kundgibt, somit gerade jenes Kriterium fehlt oder nicht genügend sich manifestirt, welches der Laie für die Erkennung abnormer Geisteszustände als das wichtigste und beweisendste hält und welches für ihn den Massstab bildet, nach welchem er den Grad einer Geistesstörung zu beurtheilen gewohnt ist.
Von den hierher gehörenden Zuständen wollen wir insbesondere das sogenannte „moralische Irrsein“ einer näheren Besprechung unterziehen, weil dasselbe eine besonders ausgeprägte Erscheinungsform der ersteren bildet und nur diese am eingehendsten studirt worden ist.
Man versteht darunter einen in Folge angeborener, meist hereditär überkommener, fehlerhafter Organisation der psychischen Centren bestehenden Defect im Bereiche des moralischen Sinnes, wodurch das betreffende Individuum, bei scheinbar intacter oder nicht auffallend gestörter Intelligenz, ausser Stande ist, ästhetisch, moralisch und rechtlich zu fühlen, im Sinne solcher Gefühle seinen Charakter zu entwickeln und seine Handlungen darnach zu richten. Man hat diesen Zustand noch als sittliche Insensibilität oder moralische Idiotie bezeichnet und vielfach mit der Farbenblindheit verglichen. Ebenso wie es bekanntlich Individuen gibt, die gewisse Farben, z. B. Roth, nicht zu unterscheiden vermögen, weil ihre Netzhaut für die betreffenden farbigen Lichtstrahlen unempfindlich ist, ebenso gibt es Menschen, die von Haus aus sittlich blind sind, und die nicht anders als nach egoistischen oder mechanisch eingelernten Motiven handeln können, weil sie jener Gefühle bar sind, welche den normalen Menschen unsittliche oder rechtswidrige Handlungen als solche erkennen und verstehen lassen und ihn bewegen sollen, dieselben zu unterlassen.
Die Aufstellung des moralischen Irrseins als eigene Irrsinnsform ist von Pinel, namentlich aber von Prichard ausgegangen, welcher zuerst die Bezeichnung „Moral Insanity“ einführte. Eine eingehende Bearbeitung fand das moralische Irrsein durch Morel, welcher dasselbe als eine der Erscheinungsformen seiner „Folie héreditaire“ beschrieb. In neuerer Zeit haben sich insbesondere Maudsley, Krafft-Ebing und Legrand du Saulle, der diese und analoge Psychopathien unter der Bezeichnung „Folie raisonnante“ zusammenfasst, ferner Livi, Lombroso, Tammassia und Andere Verdienste um das Studium dieser Psychose erworben.
Das Vorkommen eines solchen scheinbar isolirten Defectes wird uns verständlich, wenn wir Folgendes erwägen: Erstens, dass, worauf insbesondere die Ergebnisse neuester Forschungen hinweisen (s. die [S. 897]Lehre von der Aphasie, die psychomotorischen Centren Hitzig’s und Frisch’s, die Arbeiten von Charcot und von Ferrier etc.), den einzelnen psychischen Functionen wahrscheinlich bestimmte Hirntheile entsprechen, deren isolirte Erkrankung oder Entwicklungshemmung daher möglich ist, wenn wir auch über den Sitz des moralischen Sinnes oder des „Hemmungsapparates für das Begehrungsvermögen“ vorläufig kaum Vermuthungen haben; zweitens, dass, wie erwähnt, auch im Bereiche des normalen Fühlens die verschiedenartigsten Unterschiede und selbst Extreme vorkommen, dass auch bei anderen Psychosen eine tiefe Alteration des Fühlens bestehen kann, ohne auffallende Störung der Intelligenz, wie namentlich in den Anfangsstadien der Melancholie und der Manie; endlich aber, dass wir im moralischen Fühlen nicht nur die höchste Stufe der Gefühlsentwicklung allein, sondern die höchste und feinste geistige Leistung überhaupt zu sehen haben, deren Auftreten, wie Maudsley sich treffend ausdrückt, erst die eigentliche Menschwerdung bezeichnet und die erst durch Jahrhunderte lange Uebung, erbliche Uebertragung und Entwicklung zu jener Stufe der Ausbildung gedieh, welche die einzelnen Individuen der Culturvölker durchschnittlich besitzen, die aber eben als feinste Leistung des Menschenhirns eher als alle anderen erkranken oder entarten kann. Damit stimmt die Thatsache, dass eine Reihe von Geisteskrankheiten im engeren Sinne mit einer Veränderung des Charakters ad pejus beginnt, wie insbesondere das paralytische, das alkoholische und das senile Irrsein demonstrirt und dass nach Genesung von solchen oder von Apoplexien, Kopfverletzungen und anderen schweren Hirnerkrankungen, trotz wiedergekehrter Intelligenz, nicht selten ein moralischer Defect (erworbenes moralisches Irrsein) noch lange und selbst für immer zurückbleibt. Es leidet eben bei einer Hirnerkrankung die feinste Leistung zuerst und kehrt zuletzt und am schwierigsten wieder zur Norm zurück (Maudsley). In gleicher Weise aber wird es uns begreiflich, wenn die erworbenen psycho- und neuropathischen Zustände in hereditärer Uebertragung auch als moralisches Irrsein sich zu äussern vermögen, und wenn bei psychisch degenerirenden Familien die Reihenfolge der Degenerationserscheinungen so häufig mit ethischer Depravation beginnt.
Derartige Individuen zeigen meist schon in der Kindheit die Zeichen des Defectes. Sie sind halsstarrig, boshaft, grausam und nur durch Gewalt, nicht aber durch moralische Mittel disciplinirbar, durch Appellation an ihr Scham- und Schicklichkeitsgefühl, ihr Mitleid, ihre Eltern- und Geschwisterliebe etc. ist nichts auszurichten, weil sie solche nicht besitzen. Ebenso sind ihnen Ehrgeiz, Gewissensbisse, Reue fremd, die Werthschätzung durch Andere gleichgiltig und ihr ganzes Sinnen und Trachten nur durch Egoismus bedingt. Dass unter solchen Umständen die Erziehung, soweit sie die Einverleibung ethischer Elemente in’s Bewusstsein und die Bildung eines sittlichen und rechtlichen Charakters bezweckt, resultatlos bleiben muss, ist begreiflich.
[S. 898]
Dem entsprechend ist auch das Verhalten solcher Individuen in ihrem späteren Lebenslaufe. Hier zeigt sich der Mangel jedes sittlichen Halts und der Mangel altruistischer Gefühle desto intensiver, je mehr das Individuum sich selbst überlassen wird und je weniger dasselbe durch äussere Gründe an der Aeusserung seiner sinnlichen und egoistischen Neigungen behindert wird. Sie werden Taugenichtse, ergeben sich dem Trunke, sowie geschlechtlichen und anderen Excessen, zu welchen sie sich die Mittel auf die rücksichtsloseste Weise verschaffen, halten in keinem Amte, keiner Beschäftigung aus, ergeben sich der Vagabondage und bieten schliesslich das Bild ganz verkommener Individuen, die immer wieder in diesem Zustande verfallen, wenn sie aus dem Gefängniss oder einer sonstigen strengen Beaufsichtigung entlassen worden sind (Krafft-Ebing).
Dieses Bild lässt mannigfache Variationen zu und wird insbesondere durch den Grad des Defectes, das Verhalten des Intellects, durch das individuelle Temperament, sowie durch Erziehung und Stand modificirt.
Der Grad des Defectes im Bereiche des moralischen Fühlens lässt zweifellos Abstufungen zu. Schüle (Handb. d. Geisteskr. 1878, pag. 51) unterscheidet zwei Hauptformen; in der ersten fehlen sittliche Vorstellungen und sittliche Gefühle vollständig, in der zweiten sind die Vorstellungen wohl da, aber gleichsam als leblose, trockene Schemata ohne gemüthliche Betonung. Erstere Form ist jedenfalls die schwerere. Dabei ist, wie Schüle richtig bemerkt, zu beachten, dass niedrigere Gefühlswerthe in ungeschmälerter Entfaltung vorhanden sein können, während der Defect nur gegenüber höheren, feineren Gefühlen sich kundgibt.
Das Verhalten der Intelligenz ist ein verschiedenes. In den meisten Fällen besteht entschiedener Schwachsinn, der sich unter Anderem durch Leichtgläubigkeit, geringe Vorsicht bei dem Begehen strafbarer Handlungen, die mitunter für Muth imponirt, durch unverhältnissmässig hohe Vorstellung von der eigenen Bedeutung, vorzugsweise aber dadurch sich kundgibt, dass das Individuum das Unpassende und Thörichte, ja ganz Unzweckmässige seines Handelns nicht einsieht, ebenso auch nicht die materiellen und socialen Nachtheile, die ihm daraus erwachsen, sondern trotz aller Ermahnungen, Vorstellungen und selbst Zwangsmittel immer wieder in das frühere lasterhafte Leben verfällt, welches doch nichts weniger als Annehmlichkeit im gewöhnlichen Sinne zu bieten vermag. Deshalb wird auch das „moralische Irrsein“ von Meynert u. A. unter die Formen des angeborenen Schwachsinnes gerechnet und als „Imbecillität mit Gefühlsentartung“ bezeichnet, unter welche Bezeichnung jene Schwachsinnigen mit Aufregung fallen, welche vorzugsweise durch Unverständniss der familialen und socialen Beziehungen und Forderungen und Unfähigkeit zur Unterordnung unter letztere sich bemerkbar machen.
[S. 899]
In anderen Fällen ist der Intellect scheinbar intact, ja der Betreffende kann sogar mit einer gewissen Dialektik sein Benehmen zu motiviren im Stande sein: „Folie raisonnante.“ Der Verstand ist, wie sich Schüle (l. c. 81) geistreich ausspricht, zum advocatus diaboli der krankhaften Stimmungen und Triebe geworden. Doch auch in solchen Fällen documentirt die vollkommene Unzugänglichkeit für fremde Logik die geistige Schwäche, ebenso wie der Cynismus, mit welchem solche Individuen die unnatürlichsten Handlungen und Verbrechen als gerechtfertigte Thaten hinzustellen versuchen, das Alberne und Verkehrte ihres Fühlens manifestirt. Nicht selten finden sich anderweitige Anomalien des Vorstellens[561], ein abspringender Ideengang, phantastische oder fixe Ideen, sowie Störungen in der Reproductionstreue, die als Verlogenheit imponiren (Krafft-Ebing).
Von wesentlichem Einfluss auf das Gebahren der betreffenden Person ist das individuelle Temperament, respective die individuelle Reizbarkeit. Gleichwie man beim Blödsinn apathische, ruhige und agitirte gemeinschädliche Formen unterscheidet, so findet man auch bei der moralischen Idiotie Individuen, die mehr passiv sich verhalten und deshalb für die Gesellschaft weniger gefährlich erscheinen, anderseits aber solche von grösserer Reizbarkeit und Regsamkeit, die eben die typischen Formen der Anomalie repräsentiren und am ehesten zu Conflicten mit dem Strafgesetz führen können.
Auch Erziehung und Stand sind von Einfluss, insoferne als erstere, wenigstens bei den weniger schweren Formen durch Dressur Etwas zu leisten vermag, und letzterer in der Richtung, dass die moralische Verkommenheit im Allgemeinen desto mehr auffällt, je weniger sich solche in dem betreffenden Stande aus anderen Ursachen zu finden pflegt.[562]
Die hohe Bedeutung der moralischen Idiotie in strafrechtlicher Beziehung liegt auf der Hand, und es ist einleuchtend, dass bei solchen Individuen desto weniger von einer Einsicht in die Strafbarkeit bestimmter Handlungen und von der im Gesetze festgehaltenen Selbstbestimmungsfähigkeit die Rede sein kann, je hochgradiger sich der Defect gestaltet, da das Individuum[S. 900] unmöglich die That in ihrer sittlichen und rechtlichen Bedeutung erkennen, noch weniger aber nach sittlichen und rechtlichen Grundsätzen für die Begehung oder Unterlassung derselben sich entscheiden kann, wenn es nicht moralisch fühlt, und aus solchem Fühlen entspringende Vorstellungen und Urtheile seinem Charakter mangeln. Ueber die Unzurechnungsfähigkeit solcher Individuen dürften dann auch bei Richtern und Geschworenen kaum Zweifel bestehen, es sei denn, dass man, wie dies leider häufig genug geschieht, das blos oberflächliche Bewusstsein der Strafbarkeit einer That, und die etwa aus Furcht vor Strafe oder analoger Schädigung leiblicher Interessen des Individuums bis zu einem gewissen Grade mögliche Selbstbeherrschung für genügend erachten sollte, um auf Zurechnungsfähigkeit zu erkennen. Die Schwierigkeit der Beurtheilung solcher Fälle liegt aber darin, dass die Erkennung der moralischen Unempfindlichkeit oder Stumpfheit als eines angeborenen, in fehlerhafter Organisation der psychischen Centren begründeten Defectes und die Unterscheidung desselben von anderweitiger moralischer Verkommenheit keineswegs so leicht und sicher ist, wie es die Wichtigkeit der Sache wünschen lassen würde.
Wenn man im Allgemeinen desto mehr berechtigt ist, an einen pathologischen Defect im Bereiche des Fühlens zu denken, je mehr eine verbrecherische That dem menschlichen Gefühle widerstreitet, und wenn auch diese Berechtigung sich erhöht, wenn Jemand habituell dem Verbrechen oder einem lasterhaften Leben sich ergibt und als unverbesserlich sich erweist, und wenn auch anthropologische Studien der Verbrecher, wie sie in ausgezeichneter Weise von Despine, Thomson, Benedikt, Lombroso[563] u. A. vorliegen, höchst beachtenswerthe Resultate (auffallend hohe Morbilität und Mortalität, grössere Geneigtheit zu geistigen Erkrankungen, das häufige Vorkommen entschiedenen Schwachsinnes, namentlich aber das häufige Vorkommen gewisser Anomalien der körperlichen Bildung, die wir als körperliche Degenerationszeichen kennen lernen werden, und endlich die Häufigkeit der Recidiven) ergaben, so ist doch selbst das schwerste Verbrechen für sich allein kein Beweis von moralischem Irrsinn, da eine moralische Stumpfheit auch in Folge mangelnder oder schlechter Erziehung bestehen kann, da es ferner genug egoistische und wohl zu beherrschende Motive gibt, die den Menschen bewegen können, trotz richtigem ethischen Verständniss und trotz normalem moralischen und rechtlichen Fühlen die schwersten Handlungen zu begehen,[S. 901] und weil endlich auch die Möglichkeit einer Angewöhnung an das Laster und einer systematischen und wohlbewussten Zurückdrängung und Ueberwältigung des normalen psychischen Fühlens durch gewisse Annehmlichkeiten und Vortheile desselben nicht bestritten werden kann.
Es kann demnach von moralischem Irrsinn nur dann gesprochen werden, wenn die durch verbrecherische Handlungen sich documentirende moralische Gefühllosigkeit sich auf eine pathologische Ursache, respective auf eine fehlerhafte psychische Organisation zurückführen lässt. Dieses ist aber nur durch sorgfältige Erhebung der Anamnese, ferner durch genaue klinische Untersuchung des betreffenden Individuums und erst in dritter Linie durch Erwägung der verbrecherischen Handlung selbst möglich.
In anamnestischer Beziehung ist insbesondere darauf Rücksicht zu nehmen, dass der angeborene oder in frühester Jugend erworbene moralische Irrsinn fast immer als Ausdruck einer hereditär überkommenen defecten Organisation, insbesondere als Ausdruck und häufig erstes Symptom der in einer Familie bestehenden oder beginnenden Degeneration aufzutreten pflegt. Es sind daher zunächst die gesundheitlichen Verhältnisse der Familie zu erwägen, insbesondere der Umstand, ob in dieser psychische oder neurotische Erkrankungen vorgekommen sind, die erfahrungsgemäss hereditäre Uebertragung einer defecten Organisation der psychischen Centren bedingen können. Weiter ist das psychische und somatische Verhalten des Individuums während seiner Entwicklungsperiode in Betracht zu ziehen. Wie erwähnt, zeigt sich der angeborene Defect im Bereiche des moralischen Sinnes, ebenso auch die mit demselben meist combinirten anderweitigen psychischen Anomalien (Schwachsinn, perverse Triebe, neuropathische Constitution), schon frühzeitig insbesondere gegenüber der Erziehung im Haus und in der Schule und die moralische Verkehrtheit und Undisciplinirbarkeit fällt dann desto mehr auf, je besser und rationeller die Erziehung war, wie es denn bezeichnend ist, dass gerade die Fälle von moralischer Verkommenheit in den besten Familien, trotz bester Erziehung und günstigen äusseren Verhältnissen, es waren, die zuerst den Gedanken erweckten, dass erstere auch auf organischen Defecten der Nervencentren beruhen könne (Maudsley). In somatischer Beziehung ist aber insbesondere zu beachten, dass bei mit hereditär fehlerhafter Anlage behafteten Individuen die letztere anfangs wenig bemerkbar, gewissermassen latent sein kann, bis sie durch gewisse Einflüsse (Gelegenheitsursachen) zum Ausbruche kommt. Erkrankungen, Traumen, besonders Kopfverletzungen, aber auch psychische Insulte können diesen bewirken, insbesondere aber die Einflüsse der Pubertätsentwicklung. Auf die Gefahr, welche letztere für hereditär neuropathisch disponirte Individuen mit sich bringt, hat namentlich Falret und neuerlich Legrand du Saulle (l. c.) hingewiesen und hervorgehoben, dass[S. 902] nicht selten solche erblich belastete Kinder, die bis dahin in intellectueller Beziehung sich gut entwickelt hatten und selbst ausgezeichnete Schüler waren, in Folge der durch die Pubertät veranlassten Einwirkungen entweder dem Schwachsinn oder jener pathologischen Verkehrung des Charakters verfielen, die wir als moralisches Irrsein bezeichnen. Hierbei dürften allerdings auch die frühzeitigen und eingreifenden sexuellen Excesse, denen sich die Betreffenden hingeben, in erster Linie die Onanie, eine wichtige Rolle spielen.
In klinischer Beziehung zeigen solche Individuen häufig schon äusserlich mehr weniger auffallende Abweichungen vom Normaltypus. Hierher gehören insbesondere pathologische Schädelformen, so asymmetrische oder auffallend kleine Schädel, Schädel mit abgeplattetem Hinterhaupt, mit unverhältnissmässig entwickelten Kiefern und mit sogenannter fliehender Stirne.[564]
Von anderen physischen Anomalien werden asymmetrische oder unschöne Körper-, insbesondere Gesichtsbildung, auffallend grosse oder kleine Ohren, angewachsene oder fehlende Ohrläppchen (Griesinger, Lannois, Frigerio), Strabismus, mangelhafte Entwicklung der Genitalien, ferner Motilitätsstörungen (Gesichtskrämpfe, Chores, epileptische und epileptoide Zustände[565], Contracturen, partielle Lähmungen), Anästhesien und Hyperästhesien, vasomotorische Neurosen u. dergl. beobachtet, und wenn auch solche Befunde ohne jede geistige Störung vorkommen können und keineswegs unter allen Umständen als „Degenerationszeichen“ aufgefasst werden dürfen, so ist doch auf ihr Vorhandensein zu reagiren und dieses bei der klinischen Diagnose zu verwerthen, da die meisten solcher Zustände auf Hemmungen, beziehungsweise Störungen der Entwicklung der centralen Nervenapparate bezogen werden müssen, von welchen auch die psychischen Organe getroffen worden sein konnten.
[S. 903]
Gegen die allzu einseitige Auffassung der Degenerationszeichen, insbesondere der Asymmetrie des Schädels, haben Stadfeldt (Virchow’s Arch. XCIX, pag. 391) und Benedikt (Wr. med. Presse. 1886, Nr. 1 bis 4) mit Recht ihre Stimme erhoben; Ersterer, indem er darauf hinweist, dass Asymmetrien des Schädels auch bei ganz normalen Menschen ungemein häufig (etwa in 70%) vorkommen und Letzterer, indem er sich dahin ausspricht, dass es gar keine selbstständige Anthropologie der Verbrecher gebe, sondern dass die sogenannten biopathologischen Kennzeichen der Verbrecher nur jene des atypischen, untertypischen und degenerirten Menschen überhaupt sind. Viele dieser Kennzeichen sind überdies zweideutig, indem sie bald Perfection, bald Degeneration bedeuten, z. B. die Makrocephalie. Andere wieder, wie z. B. Asymmetrien des Schädels, können als Ausdruck einer Compensation aufgefasst werden. In sehr objectiver Weise hat auch Knecht (Allg. Zeitschr. f. Psych. 1883, pag. 584) die „Degenerationszeichen“ bei Verbrechern und Geisteskranken besprochen und nachgewiesen, dass sie bei letzteren ungleich häufiger (in etwa 80%) vorkommen, als bei ersteren (etwa 48%).
In psychischer Beziehung springt insbesondere das abnorme Verhalten des Fühlens mehr weniger in die Augen, und zwar zunächst die Gemüthsstumpfheit, welche in einzelnen Fällen bis zur vollständigen Gemüthslosigkeit gesteigert sein kann; dabei kann abnorme Reizbarkeit und eine Geneigtheit zu unmotivirtem Stimmungswechsel bestehen. Die Sensibilität ist bei Einzelnen krankhaft erhöht, bei Anderen wieder auffallend herabgesetzt (Lombroso).
Sehr beachtenswerth ist das Verhalten des geschlechtlichen Fühlens und die Aeusserung des Geschlechtstriebes. Wir wissen, dass schon unter normalen Verhältnissen die Qualität des geschlechtlichen Fühlens das Gesammtfühlen wesentlich beeinflusst, dass reges geschlechtliches Fühlen dem Charakter eines Individuums eine gewisse Energie verleiht, während anderseits, wie wir bei Eunuchen und Zwittern beobachten können, das Fehlen desselben mit Energie- und Charakterschwäche einhergeht. Auch ist es bekannt, welchen wichtigen Einfluss sowohl das Erwachen des Geschlechtstriebes (Pubertät) als das Erlöschen desselben (Climacterium) auf das körperliche und geistige Verhalten eines Individuums auszuüben vermag. Es kann daher nicht auffallen, wenn wir als Ausdruck und Theilerscheinung einer originär fehlerhaften psychischen Anlage, insbesondere des „moralischen Irrseins“, auch verschiedenen Anomalien des geschlechtlichen Fühlens begegnen, und man wird begreifen, welche abnorme Färbungen des Wesens und Handelns dadurch zu Stande kommen können.
Verhältnissmässig häufig findet sich auffallend frühzeitige Entwicklung des Geschlechtstriebes und ungewöhnlich hohe Erregbarkeit in dieser Beziehung. Frühzeitige geschlechtliche Excesse, insbesondere Onanie, mit ihrem weiteren so schädigenden Einfluss auf Körper und Geist, sind gewöhnlich die Folgen der Frühreife.[S. 904] Die geschlechtliche Erregbarkeit eines solchen Individuums bringt dasselbe um so leichter mit dem Strafgesetze in Conflict, je weniger es zufolge seines Defectes ethische Begriffe in seinen Charakter aufzunehmen im Stande war und je weniger äussere Momente der schrankenlosen Befriedigung des Geschlechtstriebes entgegentreten. Noch wichtiger sind gewisse Perversitäten des Geschlechtstriebes, die zu ganz abnormen geschlechtlichen Handlungen zu führen vermögen. Es gehören hierher die „conträre Sexualempfindung“ und die Fälle, in welchen die Betreffenden statt im Coitus oder ausser in diesem, in Misshandlung oder Tödtung, selbst Zerfleischung ihres Opfers und sogar in Anthropophagie und Leichenschändung eine geschlechtliche Befriedigung finden.
Als „conträre Sexualempfindung“ bezeichnet Westphal[566] „eine angeborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewusstsein der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung“. So charakterisirt wurde die letztere bisher nur bei mit anderweitiger angeborener neuro- oder psychopathischer Constitution behafteten Individuen beobachtet. Dass dieselbe auch als isolirte Erscheinung vorkommen könne, ist vollkommen unerwiesen, sehr beachtenswerth aber die Thatsache, dass sie auch ohne auffällige Intelligenzstörung bestehen kann. Sie wurde sowohl bei weiblichen als bei männlichen Individuen, und zwar häufiger bei letzteren, beobachtet, doch ist die Zahl der gut beobachteten Fälle eine noch viel zu geringe, als dass ein erschöpfendes Urtheil über diese eigenthümliche Anomalie des Geschlechtstriebes gestattet wäre.
Einen solchen Fall, ein weibliches Individuum betreffend, in welchem sehr auffällige anderweitige Erscheinungen einer angeborenen fehlerhaften Organisation sich ergaben, bringt Westphal (l. c.). Derselbe betrifft ein 35jähriges Fräulein, welches schon vom 8. Lebensjahre an sich von einzelnen Mädchen „wie magnetisch angezogen fühlte“, diesen förmlich die Cour machte und deren Genitalien zu betasten suchte. In der Zeit vom 18. bis 23. Jahre schlief sie durch 5 Wochen mit einer Cousine und trieb mit dieser ihr Wesen. Diese Zeit nennt sie die glücklichste ihres Lebens. Sich selbst liess sie niemals berühren. Später onanirte sie, besonders kurz vor und nach Eintritt der Periode, wobei sie sich ein geliebtes Mädchen vorstellte. Wenn sie dies zu thun unterliess, will sie stets einen widerwärtigen Geruch und Geschmack, wie von ihren Genitalien aufsteigend, empfunden haben. In ihren wollüstigen Träumen erschien sie sich selbst immer in der Situation eines Mannes. Sie gesteht ungefragt ihre Neigung zum eigenen Geschlechte, die ihr selbst schrecklich sei. Im Jahre 1863 fasste sie eine Leidenschaft für ein junges schönes Mädchen, welches sie wiederholt attaquirte und gerieth, als diese solche Zumuthungen entrüstet zurückwies, schliesslich in solche Aufregung, dass sie in eine Irrenanstalt gebracht werden musste. — Der Vater der Kranken [S. 905]endete durch Selbstmord. Der Kopf der Patientin ist klein, die Gesichtshälften etwas asymmetrisch, an der Oberlippe findet sich die Narbe von einer operirten Hasenscharte, der harte und weiche Gaumen sind vollständig gespalten. Aeusserer Habitus weiblich. Geschlechtstheile normal.[567] Hymen intact, lässt kaum die Spitze des kleinen Fingers eindringen. Die Kranke lernte in der Schule schwer, war eigensinnig, reizbar und heftig, was immer ihrem Unglück (dem Wolfsrachen) zugeschrieben und deshalb nachgesehen wurde. In den letzten Jahren zeigte sie periodische Anfälle von Schwermuth, denen Aufregungszustand folgte (Folie circulaire), ausserdem häufigen Kopfschmerz und Schwindelanfälle.
Von grösster Bedeutung ist das Vorkommen einer sogenannten conträren Sexualempfindung beim männlichen Geschlecht, da es nahe liegt, gewisse Fälle von Päderastie mit einer solchen Anomalie des Geschlechtstriebes in Verbindung zu bringen. Dass es eine Menge von Motiven gibt, die vollkommen normale Menschen zur Päderastie führen können, und dass es daher nicht angeht, in allen solchen Individuen pathologische Naturen zu sehen, wurde bereits a. a. O. (pag. 171) ausgeführt, dies darf jedoch nicht abhalten, daran zu denken, dass eine Neigung zu derartiger abnormer geschlechtlicher Befriedigung, sowie überhaupt eine auffällige geschlechtliche Zuneigung zu Individuen desselben Geschlechtes als Theilerscheinung einer angeborenen fehlerhaften Organisation thatsächlich bestehen kann, und dann ganz anders beurtheilt werden muss, als gewöhnliche Päderastie.
Einen einschlägigen, mit entschiedenem angeborenen Schwachsinn, moralischer Verkehrtheit und periodisch auftretenden Erregungszuständen (Folie circulaire) verbundenen Fall hat Servaes (Arch. f. Psych. 1876, VI, 485) mitgetheilt: Ein 25jähriger Mann, Franz E., wurde Abends auf der Strasse verhaftet, weil er an einen Nachtwächter unzüchtige Zumuthungen stellte, und da man Spuren von Geistesstörungen an ihm bemerkte, in die Beobachtungsabtheilung der Irrenanstalt gebracht. Es fand sich männlicher, mässig starker Habitus, aschblonde Haare, spärlicher blonder Bart, gesucht weibliche Stimme, auffallend lüsterner Blick. Der Untersuchte gibt sich sofort als Päderast zu erkennen und vertheidigt seine Gelüste mit unverholenem Cynismus, so dass sich deutlich der Mangel jeder Regulirung seiner Gedanken durch ein sittliches Gefühl kundgab. Die Mutter geistig beschränkt, bigott, Erziehung vernachlässigt. Im 9. Jahre päderastischer Missbrauch durch einen Hauslehrer, seitdem fortgesetzte (passive) Päderastie, die er als den köstlichsten und erhabensten aller Genüsse schildert. Niemals[S. 906] Neigung zu Frauen, deren Umgang er perhorrescirt. F. ist ein äusserst beschränkter Mensch, seine Schulkenntnisse im hohen Grade mangelhaft. Selbstständige geistige Arbeit unmöglich. Läppisches Wesen, unmotivirter Stimmungswechsel, hochgradige Gemüthlosigkeit, Hang zur Lüge. Während des Aufenthaltes in der Irrenanstalt periodische Exaltationszustände mit nachfolgender melancholischer Depression (Folie circulaire), während ersterer grosse sexuelle Erregung, keine anderen Gedanken als seine päderastischen Neigungen, die er mit grosser Redseligkeit vertheidigt.
Von hohem Interesse sind die Selbstbekenntnisse einzelner Päderasten, wie sie bei Casper-Liman (l. c. pag. 183 und 195) und bei Tardieu (Attent. aux moeurs. 7me édit. 1878, pag. 210) sich finden, weil aus diesen hervorgeht, dass ganz eigenthümliche und uns vorläufig ganz unverständliche Perversitäten im Bereiche des Geschlechtstriebes auch ohne auffallende Störungen der Intelligenz bestehen können, obgleich sich bei näherem Studium dieser „Selbstbekenntnisse“ meist unschwer erkennen lässt, dass die eigenthümliche Geschlechtsempfindung keineswegs ein isolirtes Symptom, sondern die Theilerscheinung eines originär oder erworben psychopathischen Zustandes und in einem der Fälle (Cajus) zweifellosen Schwachsinns gewesen ist. Sehr beachtenswerth sind die Worte, welche Tardieu der Mittheilung der „Selbstbekenntnisse“ des betreffenden Päderasten anschliesst: „Es gibt Fälle, in welchen es schwer fällt, bei Päderasten eine wirkliche und krankhafte Verkehrung der moralischen Gefühle zu negiren. Wenn man sieht, wie tief Menschen von Erziehung und Stellung sich erniedrigen und Individuen von empörendem Schmutz aufsuchen oder zulassen, so wird man häufig versucht, zu glauben, dass diese Menschen in ihrem Fühlen und in ihrem Verstande irre sind, und man kann nicht leicht daran zweifeln, wenn man Thatsachen erwägt, wie sie einer der in der Verfolgung von Päderasten geschicktesten und energischesten Beamten, C. Busserolles, berichtet. Einer dieser Unglücklichen stieg von einer hohen Stellung herab zum untersten Grad der Erniedrigung, lockte schmutzige Kinder von der Gasse zu sich, vor welchen er sich niederkniete und ihnen mit der tiefsten Leidenschaft die Füsse küsste, bevor er sie missbrauchte, und einem anderen verursachte es den höchsten Genuss, wenn er sich von einem Individuum der verächtlichsten Sorte — derbe Fusstritte auf den Hintern versetzen liess! Wie kann man solche monströse Handlungen begreifen, wenn man sie nicht auf Irrsinn bezieht?“
Neuere Beobachtungen bestätigen diese Anschauungen, und wir verweisen in dieser Beziehung, sowie was andere Perversitäten des Geschlechtstriebes anbelangt, insbesondere auf die monographischen Bearbeitungen des Gegenstandes von B. Tarnowsky („Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes“, Berlin 1885) und insbesondere auf das bekannte, bereits in mehreren Auflagen erschienene Werk von Krafft-Ebing: „Psychopathia sexualis.“ Stuttgart. Letzterer berichtet auch („Zur conträren Sexualempfindung in klinisch-forensischer Beziehung.“ Allg. Zeitschr. f. Psych. XXXVIII, [S. 907]pag. 211) über folgende Fälle: Beobachtung 1. Graf Z., 37 Jahre alt, hereditär belastet, Onanist, seit dem 13. Jahre an Neurasthenia spinalis, in den letzten Jahren an elektromagnetischem Verfolgungswahn leidend, fühlte sich seit dem 13. Jahre zu Männern hingezogen, bei deren Annäherung und Berührung er bis zur Extase wollüstig aufgeregt wird. Seit einem missglückten Beischlaf im 20. Jahre verabscheut er geschlechtlichen Verkehr mit Weibern. Patient ist weder unglücklich über seine verkehrte Geschlechtsempfindung, noch vermag er sie als eine krankhafte zu erkennen. Er zeigt einen männlichen Habitus, einen offenen, noblen Charakter und seine edle Empfindung gibt sich auch in seinen Gedichten kund. Nur gewisse Männer ziehen ihn an. Umarmung, Küssen genügt ihm und erzeugt Samenergiessung. Päderastie verabscheut er. Beobachtung 2. G., 50 Jahre alt, Dr. phil., wurde von einem Soldaten angezeigt, der sich ihm hingegeben hatte. Erblich veranlagt, cynisch, coquett, von männlichem Habitus, Onanist seit der Kindheit. Er berichtet mit grossem Behagen, dass er eine angeborene „conträre Sexualempfindung“ besitze! Schon mit 5 Jahren war es seine grösste Lust, sich als Mädchen zu kleiden, einen Penis zu sehen, weshalb er um die Anstandsorte herumlungerte. Neigung zu Weibern empfand er nie. Er sucht seine verkehrte Geschlechtsrichtung philosophisch zu erklären. Mit Entrüstung weist er die Zusammenwerfung der „Urninge“ mit Päderasten zurück. Der Verkehr der ersteren sei nur gegenseitige Onanie. G. macht den Eindruck eines originär verrückten Menschen. Beobachtung 3. Herr v. H., 30 Jahre alt, von einer neuropathischen Mutter stammend, selbst seit der Kindheit neuropathisch mit auffällig weiblichen Neigungen. Onanie wird geleugnet, ist aber wahrscheinlich. Seit der Pubertät schlaffe, weibliche, träumerische Gedankenrichtung, Neigung zu Tändeleien, kein Verständniss für ernste Angelegenheiten. Will im 22. Jahre mit Weibern geschlechtlich verkehrt, aber keine Befriedigung dabei gefunden haben. Dagegen empfindet er geschlechtliche Zuneigung zu Männern. Das Aeussere erinnert entschieden an weibliche Verhältnisse. Thorax und Becken weiblich, Körper fettreich, zart. Genitalien zwar gut entwickelt, doch der linke Hode im Leistencanal zurückgeblieben. Stimme hoch, spärlicher Bartwuchs, weibliche Züge, geziertes Wesen, bringt stundenlang am Toilettentisch zu. Neurasthenie, Mattigkeit, ziehende Schmerzen in den Extremitäten, Proc. spinosi der Brustwirbel empfindlich. Patient schrickt leicht zusammen und geräth bei Bewegung mit antipathischen Leuten in Zustände eigenthümlicher Angst und Verwirrung.
Zwei analoge, wegen widernatürlicher Unzucht verurtheilte Sträflinge betreffende Fälle werden von L. Kirn („Ueber die klinisch-forensische Bedeutung des perversen Sexualtriebes.“ Allg. Zeitschr. f. Psych. XXXIX, pag. 216) mitgetheilt. Der erste Fall betrifft einen 30jährigen Kattundrucker, ohne erbliche Anlage, von weiblichem Aussehen, normalen Genitalien, verstrichenen Afterfalten, eine weichliche poetische Natur. Als Kind mädchenhafte Neigungen, Vorliebe für Romanlectüre, Demoralisirung durch Umgang mit Fabriksarbeitern. [S. 908]Onanie seit dem 15. Jahre. Sah Männer immer auffallend gern, doch wurde ihm erst im 16. Jahre der Grund zu dieser Neigung klar, als ihn ein Herr auf’s Zimmer nahm. Seitdem wiederholt geschlechtlicher Verkehr mit Männern, der meist nur in gegenseitiger Onanie, selten in Päderastie bestand. Knüpfte absichtlich eine Bekanntschaft mit einem Mädchen an, um sich von seinem räthselhaften Triebe zu heilen, versuchte auch dreimal den Beischlaf ohne Erfolg, wobei er Abscheu und Ekel empfand. Schriftliche Selbstbekenntnisse liegen vor. In der Strafanstalt musterhaftes Betragen. Periodicität in der Herrschaft seiner sexuellen Richtung liess sich nicht feststellen, doch tritt dieselbe entschieden zeitweise mehr hervor, sowie auch Zustände leichter Exaltation mit solchen von Depression wechseln. — Der zweite Fall betrifft einen 31jährigen Naturforscher aus hochachtbarer Familie, welcher wiederholt Knaben an sich gelockt und deren Hinterbacken, niemals aber die Genitalien betastet hatte, wobei manchmal Samenergüsse eintraten. Päderastie hat er niemals geübt, auch nicht Onanie. Mütterlicherseits erbliche Veranlagung, im 6. Jahre schwere Hirnentzündung, an welche sich in den zwei folgenden Jahren nervöse und psychische Störungen, namentlich Gesichtsillusionen anschlossen. Auch litt er an Chorea und im 14. Jahre an nervösen Erscheinungen: Stottern, Absterben der Finger, Gefühl, als ob die Gegenstände seinen Auges zustrebten. Im 18. Jahre schwerer Typhus. War stets still und schüchtern, pflog nie geschlechtlichen Umgang mit Frauen, dagegen litt er schon als Student periodisch an lüsternem Begehren zur Betastung von Knaben, das ihm schon damals zum Selbstmordversuch bewog. Auch nach der Verhaftung Selbstmordversuch durch Stich in die Herzgegend, welcher Hämatopneumothorax zur Folge hatte. Inculpat ist mittelgross, von mässig kräftigem Körperbau, ohne Hemmungsbildungen. Schädel symmetrisch; timides, schülerhaftes Benehmen, unsicherer Blick, Stottern, sobald er in Verlegenheit kommt. Somit erbliche Belastung und organischer Zwang. Trotzdem Verurtheilung.
In anderen Fällen äussert sich die Perversität des Geschlechtstriebes darin, dass das betreffende Individuum statt im Coitus oder ausser in diesem in Misshandlung oder Tödtung und selbst Zerfleischung seines Opfers und sogar in Anthropophagie eine geschlechtliche Befriedigung findet. Die Literatur enthält wahrhaft entsetzliche Beispiele dieser Art, die fast alle Individuen betrafen, welche als originär psychisch abnorme Menschen angesehen werden müssen und auch sonstige Zeichen eines psychischen Degenerationszustandes darboten. Anderseits kommen Fälle vor, in denen ein Individuum in an ihm vom Weibe, respective Manne ausgeübten Misshandlungen (Flagellation etc.) sexuelle Befriedigung findet. v. Krafft-Ebing, bezeichnet diese Form als „Masochismus“.
Eine ausführliche Zusammenstellung solcher Fälle bringt insbesondere Krafft-Ebing („Psychopathia sexualis“), ferner Lombroso („Verzeni e Agnoletti.“ Roma 1873), ebenso Tardieu (Attent. aux moeurs, l. c. pag. 1882 u. s. f.).
[S. 909]
Der von Lombroso begutachtete Verzeni hatte in verschiedenen Zwischenräumen vier Frauen nahezu erwürgt, ferner ein 14jähriges Mädchen erstickt, die Leiche in ein Feld geschleppt, Gedärme und Genitalien herausgerissen, die Schenkel zerbissen und das Blut ausgesaugt und sogar ein Stück der rechten Wade, nachdem er es ausgesaugt, mitgenommen, um es zu Hause zu rösten; endlich eine 28jährige Frau in ähnlicher Weise überfallen, getödtet und verstümmelt. Verzeni war 22 Jahre alt, hatte einen asymmetrischen Schädel, enorm entwickelte Kieferknochen und schielte. Zwei Onkel sind Cretins, ein dritter Mikrocephal. Der Vater leidet an Hypochondria pellagrosa, ein Vetter an Hirncongestionen, ein anderer ist Gewohnheitsdieb. In der Untersuchungshaft zeigte V. gewöhnliche Intelligenz, war verschlossenen Wesens, cynisch und der Masturbation ergeben. Er gestand nach längerem Leugnen sämmtliche Thaten. Stuprirt habe er die Frauen nie, doch habe ihn schon das blosse Würgen unbeschreiblich aufgeregt und Erection und Samenergiessung verursacht, und das wollüstige Gefühl sei ein weit höheres gewesen, als wenn er onanirte. Es sei ihm gleich gewesen, ob die Frauen jung oder alt, schön oder hässlich waren. Gewöhnlich sei schon bei dem Würgen die Ejaculation eingetreten und dann habe er die Frauen am Leben gelassen, in den übrigen Fällen habe ihr Eintritt sich verzögert und dann habe er seine Opfer zu Tode gewürgt.
In einem analogen Falle hatte ein 24jähriger Winzer (Leger) ein 12jähriges Mädchen genothzüchtigt, die Geschlechtstheile verstümmelt, das Herz herausgerissen und verzehrt; in einem anderen, von Maschka begutachteten, ein 55jähriger Mann ein altes Weib erwürgt, ihr die Brüste und Genitalien abgeschnitten und zu Hause mit Knödeln und Brühe gegessen. Beide diese Monstra waren von Haus aus verschlossene, finstere und offenbar erblich belastete Individuen.
Aehnliche Verstümmelungen sind mit päderastischem Missbrauch auch an Knaben vorgekommen (vide den schrecklichen Fall Zastrow, Casper-Liman’s Handb. I, pag. 204, und den ebenso grässlichen, von Tardieu in den Attent. aux moeurs, pag. 272, mitgetheilten, der einen 3½jährigen Knaben betraf), und Lombroso (L’uomo delinquente, pag. 200) berichtet sogar von einem gewissen Artusio, der einen Knaben durch eine — Bauchwunde geschlechtlich missbrauchte, die er ihm zugefügt hatte!
Hierher gehört endlich auch der von Tardieu (Étude sur la folie. 1872, pag. 112, und Attent. aux moeurs. 1878, pag. 114) publicirte Fall des Sergeanten Bertrand, der eine entschieden originär und hereditär psychopathologische Natur und seit seinem 8. Lebensjahre Onanist, anfangs Thiere tödtete und während er ihnen die Gedärme ausriss, sich durch Masturbation befriedigte, später auf verschiedenen Friedhöfen Frankreichs eine grosse Zahl von weiblichen Leichen ausgrub und diese entweder geschlechtlich missbrauchte oder mit ihnen ebenso verfuhr, wie er es früher mit Thierleichen gethan hatte!
Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch manche Fälle von Sodomie auf ähnliche psychopathologische Zustände, insbesondere auf [S. 910]eine eigenthümliche Verkehrung des Geschlechtstriebes zu beziehen sind und wahrscheinlich auch jene merkwürdigen Fälle, in denen der Anblick von sterbenden oder in Schmerzen sich windenden Thieren mit wollüstigen Empfindungen sich verband. Viel Aufsehen erregte im Jahre 1878 in Wien der Process Steiner-Ballogh (Erwürgung einer Prostituirten) auch dadurch, dass mehrere Prostituirte übereinstimmend eines Mannes erwähnten, den sie als „Hendelmann“ bezeichneten, weil derselbe sich vor den geschlechtlichen Acten durch Martern und Tödten von Hühnern, Tauben, Gänsen und anderen Vögeln aufzuregen pflegte. Diese Thatsache steht nicht vereinzelt da, denn auch Lombroso (L’uomo delinquente, pag. 201) berichtet von 2 Individuen, die Ejaculationen bekamen, wenn sie Hühner und Tauben erdrosselten oder schlachteten, und von einem Dritten, einem ausgezeichneten Dichter, der beim Anblick des Zerlegens eines geschlachteten Kalbes und selbst beim Erblicken des aufgehängtes blutigen Fleisches in geschlechtliche Aufregung gerieth.
Mit den angeführten sind die bei originär psychopathischen Individuen möglichen perversen Aeusserungen des Geschlechtstriebes noch keineswegs erschöpft. Auch noch andere Erscheinungsformen kommen vor. In einem von Arndt (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F. XVII, pag. 49) beschriebenen Falle hatte ein 32jähriger Student wiederholt jungen Mädchen auf offener Strasse seine heraushängenden Genitalien gezeigt, indem er die Schösse seines Rockes auseinanderschlug. In einzelnen Fällen hatte er die Mädchen verfolgt, sich an sie herangedrängt und ohne ein Wort zu sprechen — sie mit seinem Urine beschmutzt. Mutter und Vater des jungen Mannes sind nervös, ein Bruder leidet an Epilepsie. Der Untersuchte selbst war seit der frühesten Jugend nervös und der Onanie ergeben, litt häufig an Ohnmachten und kataleptischen Zuständen, klagte während der Beobachtung über zeitweise melancholische Verstimmung, selbstquälerische Gedanken und perverse Antriebe, zu denen er selbst kein Motiv finden könne. — Analoge Unzuchtsacte scheinen in grossen Städten keine sehr seltene Erscheinung zu sein. Laségue nennt solche Individuen „Exhibitionisten“ und hat sie (Union médicale. 1877, Mai) ebenso wie Langier (Annal. d’hyg. publ. 1878, Nr. 106, pag. 164) zum Gegenstande eigener Abhandlungen gemacht.[568] Es wäre ein grosser Irrthum, alle derartigen Fälle auf psychopathische, insbesondere aber auf originär psychopathische Zustände zu beziehen, aber ein ebenso grosser Fehler, in solchen Acten nur den Ausdruck wohlbewusster unlauterer Absichten zu erblicken; es zeigen vielmehr gerade die „Exhibitionisten“, wie ein und dieselbe Handlung einmal als Symptom einer originär fehlerhaften psychopathischen Anlage, ein andermal als Symptom einer erworbenen Psychose (maniakische Exaltation, paralytisches Irrsein, erworbene psychische Schwächezustände) vorkommen[569], und ein drittesmal [S. 911]einen im vollkommen zurechnungsfähigen Zustande begangenen Act darstellen kann, dass somit nicht die Handlung für sich allein, so auffällig sie sein mag, den Schluss auf geistige Störung begründet, sondern nur die Erwägung ihrer psychischen Genese. So sind auch jene hier und da beobachteten Fälle der „Zopfabschneider“[570], „Mädchenstecher“ u. dergl. aufzufassen. In vielen dieser Fälle mag es sich blos um muthwillige oder boshafte Streiche gehandelt haben, wie Casper-Liman (l. c. I, 766) meinen, in einzelnen aber lag zweifellos eine geistige Störung, insbesondere ein originär psychopathischer Zustand der betreffenden Handlung zu Grunde, wie z. B. bei dem von Roser (Annal. der Staatsarzneikunde. 1842, VI. Jahrg.; Schmidt’s Jahrb. 1843, XXXVII, pag. 94) mitgetheilten Fall des Innsbrucker „Mädchenstechers“, der zu verschiedenen Zeiten 7 Mädchen mit einem Messer in die Schamgegend gestochen hatte, weil, wie es im Gutachten heisst: „sein periodisch (sic!) bis zur Wuth gesteigerter Geschlechtstrieb darin eine unnatürliche Befriedigung fand“. Es war dies ein von Haus aus anormales Individuum, das, seit dem 10. Jahre der Onanie ergeben, wiederholt unsittliche Acte mit unreifen Mädchen begangen und sogar Sodomie getrieben hatte.
Aus mehreren der bisher angeführten Fälle, insbesondere aus den letzteren, lassen sich bereits zwei weitere, wenn auch nicht absolut constante und charakteristische Eigenthümlichkeiten im psychischen Verhalten hereditär belasteter Individuen erkennen: das Instinctive, Triebartige mancher ihrer Handlungen und die periodische Wiederkehr der Antriebe zu diesen. Letztere sind bei Individuen der genannten Kategorie mitunter so auffällig und scheinbar so isolirt dastehend, dass von vielen Psychiatern ein impulsives Irrsein als eigene Aeusserungsform angeborener psychischer Degeneration aufgestellt wird. Man spricht von diesem insbesondere dann, wenn das Individuum Handlungen, z. B. Brandlegungen, Diebstähle, unzüchtige Acte, Selbstmorde oder gar Morde begeht, die mit seinem sonstigen Fühlen und Denken ganz contrastiren und zu welchen dasselbe nicht durch äussere begreifliche Motive, aber auch nicht durch Wahnvorstellungen oder überwältigt durch melancholische oder maniakische Verstimmungen,
[S. 912]
sondern durch unwiderstehliche und ihm selbst unverständliche Antriebe gezwungen wird. Das Vorkommen solcher Impulse ist auch den älteren Psychiatern nicht entgangen und hat in der Aufstellung einer Mania sine delirio, insbesondere aber in den sogenannten „Monomanien“ ihren Ausdruck gefunden, indem man das Vorkommen einer isolirten Mordmonomanie, Kleptomanie, Pyromanie u. s. w. annahm, eine Annahme, gegen welche von gerichtsärztlicher Seite sowohl (Casper-Liman), als noch mehr von juristischer Seite gekämpft und selbst entschieden protestirt wurde, was bei dem Missbrauch, welcher mit der Annahme solcher Monomanien getrieben werden konnte und thatsächlich getrieben wurde, wohl begreiflich erscheint. Heutzutage ist das Vorkommen solcher impulsiver Antriebe und die Möglichkeit der Ueberwältigung des Individuums durch diese zweifellos constatirt, und von den Psychiatern (Maudsley, Krafft-Ebing, Schüle, Legrand du Saulle) allgemein anerkannt, und es ist daher auch in der gerichtlichen Psychopathologie mit dieser Thatsache zu rechnen; doch wird man festhalten, dass solche impulsive Antriebe niemals als vollkommen isolirte krankhafte Erscheinungen auftreten, so sehr dieses mitunter den Anschein hat, sondern nur als Symptom einer auch anderweitig sich kundgebenden Erkrankung, insbesondere einer originär psychopathischen Constitution gemeinschaftlich mit anderen, mehr weniger deutlich hervortretenden Eigenthümlichkeiten der letzteren, deren Existenz nachzuweisen die Aufgabe des Gerichtsarztes sein wird. Der Antrieb kann ganz plötzlich auftreten und auch sofort in die betreffende Handlung übergehen, oder der Antrieb besteht längere Zeit, bis er sich den Uebergang in die That erzwingt. Im ersten Falle gehen fast ausnahmslos gewisse Symptome voraus, die den Anfall gewissermassen einleiten, namentlich Veränderung der Stimmung, unbestimmte Angst, grosse Reizbarkeit, Kopfschmerz oder Schwindel. Während der That ist der Betreffende der Handlung, die er begeht, entweder vollkommen sich bewusst, oder nur momentan verwirrt, und weiss sich auch des Geschehenen zu erinnern, obgleich er über die Ursache derselben sich selbst keine Rechenschaft zu geben vermag. Durch den Ausfall der Bewusstseinsstörung und der Amnesie unterscheidet sich das „Impulsive Irrsein“ von analogen impulsiven Acten, wie sie bei Epileptikern vorkommen, mit denen dasselbe auch wegen des periodischen Auftretens viele Aehnlichkeit hat[571], ebenso auch von den mitunter ganz plötzlichen Gewaltthaten, wie sie im Raptus melancholicus durch den melancholischen Angstanfall zu Stande kommen. Im zweiten Falle besteht der Antrieb durch einige, meist nur kurze Zeit, anfangs vielleicht nur als unbestimmter Drang, später in bestimmter Richtung, und der Kranke ist sich nicht blos desselben[S. 913] bewusst, sondern kann ihn auch noch beherrschen, bis sich derselbe den Uebergang in die That erzwingt. Die Aehnlichkeit mit den „Zwangsvorstellungen“ bei Melancholischen und den aus diesen hervorgehenden Acten ist eine auffällige und eine Unterscheidung häufig schwer, mitunter unmöglich.[572] Der Nachweis der originär psychopathischen Constitution, sowie die periodische Wiederkehr solcher Impulse muss für die Differentialdiagnose herangezogen werden.
Zu den Fällen erster Kategorie gehört der merkwürdige Fall Nichol’s (Krafft-Ebing, l. c. 174). Ein gewisser S. überfiel eines Morgens ein Mädchen auf der Strasse, riss ihr einen Schuh vom Fusse, entfloh und wurde unmittelbar darauf verhaftet und wegen Strassenraub angeklagt. Die That ist ihm erinnerlich, doch weiss er kein Motiv hierfür anzugeben. Es kam hervor, dass er bereits mehrmals solche Attentate ausgeübt hatte, und dass er alle 3–4 Monate von einem solchen Gelüste nach Schuhen ergriffen wurde. Einmal hatte er sogar seiner eigenen Schwester einen Schuh aus dem Schlafzimmer entwendet. S. war bei der Verhaftung stark aufgeregt, aber keineswegs geistesgestört. Sein moralisches Gebahren und seine Lebensweise waren untadelhaft. Seine Intelligenz gewöhnlich. Zahlreiche Irrsinnsfälle in der Ascendenz. Wiederholte Hirnerschütterung. Seit dem 14. Jahre Anfälle von Kopfweh mit jenen sonderbaren Antrieben. S. wurde freigesprochen und beging bald darauf einen ähnlichen Diebstahl — an seiner eigenen Frau.
Ein analoger Fall wurde vor einiger Zeit (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1878, XXVIII, pag. 61) von Passow mitgetheilt, der einen 45jährigen Mann betraf, der seit längerer Zeit eine grosse Menge Diebstähle begangen hatte, aber niemals etwas Anderes als Damenwäsche gestohlen und bei sich behalten hatte, so zwar, dass man schliesslich an 300 Stück diverser Damenhemden, Damenbeinkleider, Strumpfbänder, Corsette, Damenstrümpfe u. dergl. bei ihm fand. Eine erbliche Anlage zu Geistesstörungen liess sich nicht erweisen, doch war der Untersuchte seit frühester Jugend wunderlich und sonderbar in seinem Benehmen. Eigenthümlich ist in beiden Fällen die zweifellos sexuelle Färbung der betreffenden periodisch wiederkehrenden Antriebe.
Ein Beispiel der zweiten Kategorie bringt u. A. Legrand du Saulle (Annal. d’hygiène publ. 1875, Nr. 88, pag. 427). Ein gewisser Th., 24 Jahre alt, verliess am 11. Juni 1874 ohne einen Grund seinen Dienstgeber, irrte durch die Strassen, kaufte ein Taschenmesser und traf ein öffentliches Mädchen, mit welchem er die Nacht zubrachte. Am anderen Morgen, nach dem gemeinschaftlich genossenen Frühstück, zog er das Messer aus der Tasche, prüfte dasselbe und erwog, ob er nicht das Mädchen erstechen solle: da er jedoch fand, dass man seine That leicht als behufs Diebstahl ausgeführt nehmen könnte, und, wie [S. 914]er sich ausdrückte, nicht für einen elenden Mörder (égorgeur) Prostituirter genommen werden wollte, unterliess er dieselbe, streifte hierauf, das offene Messer in der Tasche haltend, in den Strassen herum, entschlossen, den ersten besten Passanten zu erstechen, ohne jedoch seinen Entschluss auszuführen. Mittags trat er in ein Restaurant, forderte ein Déjeuner und schrieb, während dieses bereitet wurde, nieder, dass er ein Verbrechen begehen müsse und nicht mehr widerstehen könne, dass er aber nicht wisse, ob er die Dame des Comptoirs oder die Kellnerin ermorden solle. Letztere stach er in der That nieder, als sie das Essen brachte. Sofort arretirt, betrug er sich ruhig und blieb es auch in der Untersuchungshaft, ohne seine That zu leugnen oder zu beschönigen. — Th. ist ein uneheliches Kind, wurde im Gefängniss St. Lazare geboren, seine Mutter war damals 15, sein Vater 63 Jahre alt, Letzterer war reich, geizig und gewaltthätig. Th. hatte ein sehr bewegtes Vorleben und hatte es mit verschiedenen Geschäften versucht. Seit dem 14. Lebensjahre wiederholte Ohnmachtsanfälle, später häufiger Schwindel. Seit einiger Zeit periodische Antriebe, Jemanden zu ermorden, gleichzeitig mit Unruhe und grosser Reizbarkeit. — Legrand du Saulle und Falret hielten den Fall für larvirte Epilepsie, Laségue, der dritte Sachverständige, sprach sich namentlich mit Rücksicht auf das vollkommen erhaltene Bewusstsein für „impulsives Irrsein“ aus und gegen Epilepsie.
Bekannt ist der von Marc mitgetheilte Fall des Chemikers und Dichters R., welcher selbst die Irrenanstalt aufsuchte, weil er durch den Trieb, Jemand zu morden, in Angst versetzt wurde, so dass er sich selbst vor den Altären niederwarf und Befreiung von dem entsetzlichen Triebe erflehte. Er beruhigte sich erst, nachdem man ihm die Hände gebunden hatte. Später machte er dennoch den Versuch, einen Freund zu ermorden und starb selbst im maniakischen Anfalle.
Eine weitere Eigenthümlichkeit der originär psychopathischen Zustände besteht in dem periodischen Auftreten gewisser anomaler Erscheinungen oder wenigstens in der Geneigtheit zu periodischen Exacerbationen gewisser mehr habitueller Zustände. Solche „Paroxysmen“ können spontan oder in Folge verschiedener Gelegenheitsursachen (von Affecten, Excessen, besonders in Alkoholicis, im Gefolge von sexualen Zuständen) auftreten, und besonders im ersten Falle an gewisse epileptiforme Zufälle sich anschliessen, was nicht überraschen kann, da Epilepsie und epileptoide Erscheinungen ebenfalls als Folge einer angeborenen und namentlich hereditär überkommenen fehlerhaften Constitution der centralen Nervenapparate bestehen und, wie wir hören werden, mit verschiedenen psychischen Störungen sich combiniren können. Diese Exacerbationen können in der Form der genuinen Melancholie oder Manie verlaufen oder in der Art, dass Manie und Melancholie unmittelbar aufeinander folgen, sich zu einem Anfalle verbinden, dann in ein Intervall übergehen, um nach kürzerer oder längerer Zeit abermals und in gleicher Reihenfolge aufzutreten. Diese Form des Irrseins wird als periodisches Irrsein und die letztere[S. 915] Erscheinungsform insbesondere als circuläres Irrsein („Folie circulaire“, Falret) bezeichnet. Beide Erscheinungsformen scheinen überhaupt nur bei originär bestehender psychischer Degeneration vorzukommen. Die periodische Melancholie oder Manie können Wochen bis Monate dauern, ebenso die aus Manie und consecutiver Melancholie sich zusammensetzenden Paroxysmen des circulären Irrseins. Die Dauer des Intervalls ist eine verschiedene, selbst Monate lange, in einem und demselben Falle aber eine ziemlich gleiche, beinahe gesetzmässige. Die Paroxysmen treten in der Regel ohne auffällige Prodromalsymptome ein und bestehen meist nur in den entsprechenden krankhaften Verstimmungen und den mit diesen einhergehenden Veränderungen des Charakters, ferner in impulsiven Antrieben zu verschiedenen Handlungen, während die Vorstellungsthätigkeit allerdings im Sinne der betreffenden Verstimmung formell gestört, aber inhaltlich meist wenig alterirt erscheint und insbesondere Wahnvorstellungen seltener aufzutreten pflegen als bei den analogen genuinen Formen des Irrseins. Diese Thatsache, sowie der Umstand, dass namentlich die periodische Manie sich nur in der Form der maniakischen Exaltation (vide diese) mit perversen Trieben und unsittlichen Neigungen zeigen kann, verleiht dem periodischen Irrsein ein besonderes forensisches Interesse, einestheils weil während dieser Paroxysmen das Individuum leicht Thaten begehen kann, die es mit dem Strafgesetz in Collision bringen, andererseits weil die maniakische Aufregung mit ihren Consequenzen als Psychopathie verkannt oder anderweitig gedeutet werden kann.
Im Allgemeinen lässt sich bei allen Individuen der hier im Auge gehaltenen Kategorien, selbst wenn sie noch kein auffallendes, im strengen Sinne pathologisches Verhalten des Geistes darbieten, eine ungleich grössere Labilität des psychischen Gleichgewichtes constatiren, vermöge dessen verhältnissmässig geringe Anlässe genügen, um letzteres zu stören, beziehungsweise Geistesstörung herbeizuführen. Daher die Geneigtheit (Disposition) solcher Individuen zu periodischen, aber auch zu dauernden Geisteskrankheiten, daher aber auch eine beachtenswerthe Eigenschaft derselben: die Intoleranz gegen Alkoholica, in Folge welcher einerseits schon geringe Quantitäten alkoholischer Getränke Rauschzustände veranlassen, andererseits letztere einen pathologischen Charakter annehmen können, worauf wir bei Besprechung der durch Alkohol bewirkten psychischen Störungen noch zurückkommen wollen.
Wir verstehen darunter die psychopathischen Zustände, von denen der Mensch nach bis dahin normaler psychischer Entwicklung, insbesondere nach bereits erlangter psychischer Reife, befallen werden kann, und zwar einestheils die Geisteskrankheiten[S. 916] katexochen, die sich in mehr weniger dauernden Krankheitsbildern kundgeben, andererseits die transitorischen Bewusstseinsstörungen, wie sie theils durch physiologische Zustände (Traum, Schlaftrunkenheit), theils durch toxische Einflüsse (Rausch) oder durch fieberhafte Erkrankungen veranlasst werden. Bei den Geisteskrankheiten katexochen erscheint es wieder opportun, die einfachen Geisteskrankheiten von jenen zu trennen, die mit anderweitigen Neuropathien sich compliciren und dadurch mitunter ein ganz eigenthümliches Gepräge erhalten.
Man unterscheidet primäre und secundäre Formen. Unter primären Geisteskrankheiten versteht man im Allgemeinen diejenigen Formen psychischer Störungen, die sich unmittelbar aus psychischer Gesundheit entwickelt haben, unter secundären aber solche, die aus den primären hervorgegangen sind und daher die Folgezustände der letzteren darstellen. Die primären Geisteskrankheiten sind dadurch charakterisirt, dass sich die Erkrankung vorzugsweise durch ein anormales Verhalten der Stimmung äussert, während intellectuelle Störungen, insbesondere fixirte Wahnvorstellungen oder Zeichen von Schwäche des Intellects, nicht, wenigstens nicht im auffallenden Grade, bestehen, und man unterscheidet dann, je nachdem die krankhafte Verstimmung sich gestaltet, die psychischen Depressions- und die psychischen Exaltationszustände, erstere unter der Bezeichnung Melancholie, letztere unter Manie zusammenfassend. Dagegen kennzeichnen sich die secundären Geisteskrankheiten durch Störungen des Intellects, welche entweder in fixirten Wahnvorstellungen bestehen, die, je nach der primären Form, aus welcher sie hervorgegangen, einen deprimirten oder exaltirten Charakter besitzen, oder in allgemein psychischer Schwäche verschiedenen Grades sich äussern. Erstere Zustände bezeichnet man als Wahnsinn, depressiven und exaltirten Wahnsinn unterscheidend, letztere als erworbene psychische Schwächezustände, als erworbenen Blödsinn.
Diese bisher ziemlich allgemein festgehaltene Eintheilung der Psychosen in primäre und secundäre, insbesondere aber die erwähnte allgemeine Charakterisirung derselben hat, abgesehen davon, dass sie den primär erworbenen Blödsinn ziemlich unberücksichtigt liess, in der neueren Zeit durch die von zahlreichen Psychiatern (Snell, Morel, Sander, Westphal, Meynert, Schüle u. A.) gewonnene Erkenntniss eine wesentliche Aenderung dadurch erfahren, dass bei einer grossen Zahl der das Bild des Wahnsinns (insbesondere des Verfolgungswahns) oder der sogenannten partiellen Verrücktheit bietenden Fälle, welche bisher als secundäre Formen im obigen Sinne erklärt wurden, die betreffenden Wahnvorstellungen keineswegs secundär, das heisst erst aus melancholischen oder maniakischen Zuständen sich bilden, sondern direct in Folge unmittelbarer Umwandlung von Vorstellungen oder Sinnesperceptionen zu fixirten Wahnvorstellungen [S. 917]entstehen, durch welche dann erst nachträglich die dem Inhalte des Wahnes entsprechende Verstimmung erzeugt wird, wobei die sonstige psychische Mechanik erhalten bleibt. Diese Psychosen werden als primäre Verrücktheit, Paranoia, bezeichnet und die ihnen ähnlichen secundären Wahnsinnsformen bereits zu den erworbenen psychischen Schwächezuständen gerechnet. Letztere unterscheiden sich von ersterer ausser durch die Genese dadurch, dass bei ihnen auch ausserhalb der betreffenden Wahnvorstellungen mehr weniger intellectuelle Schwäche besteht, insbesondere aber dadurch, dass sie in der Regel in exquisiten Blödsinn übergehen, während die primäre Verrücktheit, respective die sie constituirende Wahnvorstellung, das ganze Leben bei sonst nicht auffallend gestörter Intelligenz bestehen kann.
Diese veränderte Auffassung einzelner, und zwar häufig vorkommender Psychosen ist natürlich, sowie für das Verständniss der erworbenen Geistesstörungen überhaupt, so insbesondere auch für die gerichtsärztliche Beurtheilung von Wichtigkeit; da jedoch die primären und secundären intellectuellen Störungen gemeinschaftlich behandelt werden können, wollen wir aus Opportunitätsgründen uns an das alte Schema halten und nach diesem wenigstens die wichtigsten Erscheinungsformen der erworbenen Geisteskrankheit besprechen, wobei wir bemerken, dass vom Gerichtsarzte keineswegs verlangt wird, dass er, wie dies leider in civilrechtlichen Fällen noch das österr. bürgerl. Gesetzbuch (§§. 21, 48, 270, 566) fordert, eine bestimmte Form der Geistesstörung herausbringe, sondern im Sinne des §. 2a und b des österr., des §. 51 des deutschen St.-G. und des §. 56 des österr. St.-G.-Entwurfes, sowie entsprechend den Bestimmungen der Strafprocessordnung (österr. §. 134) constatire, ob überhaupt eine krankhafte Störung, beziehungsweise Hemmung der Geistesthätigkeit vorliegt und ob durch dieselbe das Individuum verhindert wurde, seinen Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung einzusehen.
Die Melancholie und der melancholische Wahnsinn.
Erschwerter Ablauf (Hemmung), sowie schmerzliches Empfinden der psychischen Vorgänge und die damit verbundene traurige, peinliche Verstimmung charakterisiren die Melancholie.
Eine äusserlich nicht motivirte traurige Verstimmung bildet das erste objectiv erkennbare Symptom der Erkrankung, und dem entsprechend zeigt sich das Verhalten des Individuums in mehr weniger auffälliger Weise verändert. Für den Kranken beginnt das Leiden mit vagen Gefühlen von Druck, Beklemmung und unbestimmtem Seelenschmerz, über die er sich keine Rechenschaft zu geben im Stande ist. Der Kranke fühlt, dass etwas mit ihm vorgeht, und wird desto mehr geängstigt, je mehr er sich der mit ihm geschehenden Veränderung, insbesondere der unheimlichen Veränderung, seines Fühlens, bewusst wird und je weniger er sich dieselbe zu erklären vermag. Im weiteren Verlaufe[S. 918] beherrschen peinliche Gefühle das Bewusstsein immer mehr, und da gleichzeitig die psychische Hyperästhesie zunimmt, erscheint dem Kranken die Aussenwelt in ganz verändertem trüben Lichte, und weil jeder Eindruck, selbst der früher angenehm gewesene, schmerzlich empfunden wird und überhaupt jede psychische Arbeit peinlich erscheint, ist es begreiflich, wenn der Kranke sich von der Gesellschaft und selbst von seiner eigenen Familie zurückzieht, die Berührung mit der Aussenwelt möglichst vermeidet, die Einsamkeit aufsucht, ein verschlossenes Wesen annimmt u. s. w., ebenso wenn er auf äussere, besonders an und für sich unangenehme Eindrücke, seiner Verstimmung entsprechend, d. h. unverhältnissmässig heftig reagirt.
Der peinliche Seelenzustand wird immer drückender und überwältigender, die Unlust und Traurigkeit steigert sich zu Affecten der Furcht und des Schreckens, die den geängstigten Kranken schliesslich zur Verzweiflung treiben oder zu einer solchen, mitunter plötzlichen Steigerung des Angstgefühles (besonders in der Form der Präcordialangst) führen, dass dadurch das Bewusstsein vollkommen aufgehoben wird und der Affect in sinnlosem Wüthen, dem sogenannten „Raptus melancholicus“, sich entladet. In anderen Fällen macht sich auch in motorischer Beziehung eine Hemmung, ein gewisses Gebundensein bemerkbar, welches sich durch Passivität und Energielähmung äussert. Die Willensschwäche kann bis zur vollkommenen Willenslähmung sich steigern (M. attonita) oder es können die Willensäusserungen einen ganz einseitigen, insbesondere einen gegen sich selbst oder Andere feindseligen Charakter annehmen.
Die Vorstellungsthätigkeit ist in den ersten Stadien blos formal gestört, insoferne als der Ablauf der Vorstellungen mehr weniger gehemmt ist. Diese Hemmung, welche der Kranke fühlt, wirkt für sich deprimirend auf das Gemüth des letzteren, andererseits bewirkt sie im Vereine mit der Verstimmung des Kranken, indem dieser nur mit Vorstellungen sich beschäftigt, die auf seinen Zustand sich beziehen und meist durch diesen hervorgerufen werden, eine gewisse Einseitigkeit der Vorstellungsthätigkeit, die bis zur Monotonie sich steigern kann. Mit dieser blos formalen Störung des Vorstellens kann der Zustand lange bestehen und selbst ablaufen. Wahnvorstellungen gehören meist nur den späteren Stadien der Erkrankung an.
Einen Uebergang zu diesen bilden die sogenannten Zwangsvorstellungen, d. h. entweder aus hypochondrischen Sensationen oder durch äussere Veranlassungen, z. B. Hinrichtungen, Selbstmorde, Erblicken von Waffen u. dgl. entstandene Vorstellungen mit peinlichem, meist provocirendem Inhalt, die sich immer wieder aufdrängen und schliesslich so fixiren, dass der Kranke ihrer nicht mehr los werden kann. Aehnliche Vorstellungen können zwar auch bei Gesunden auftreten, indem bei manchen Gelegenheiten, z. B. am Rande eines Abgrundes, beim Erblicken von Gift, Ergreifen[S. 919] geladener oder anderer Waffen unwillkürlich der Gedanke an Selbstmord oder Mord im Bewusstsein aufsteigt. Der Gesunde kennt solche Vorstellungen und weiss sie zu corrigiren, bemerkt jedoch nicht selten, dass dieselben nicht immer so rasch verschwinden, wie sie auftauchten, sondern dass sie nicht selten länger haften, ja dass man mitunter einige Mühe hat, solcher Ideen wieder los zu werden. Man wird es dann begreiflich finden, dass eine solche Vorstellung in einem kranken Gemüth sich fixiren und bei der bestehenden Einseitigkeit des Vorstellens zur That werden kann.
Eigentliche Wahnvorstellungen bilden sich meistens entweder aus der pathologischen Verstimmung selbst und den aus dieser sich entwickelnden Affecten oder aus Erklärungsversuchen des Kranken, oder aus Sinnestäuschungen. Meist wirken mehrere oder alle diese Momente zusammen.
In ersterer Beziehung kann die deprimirte Gemüthsstimmung für sich allein einen Kleinheitswahn hervorrufen, z. B. den Wahn, verloren oder verdammt zu sein. Die peinlichen Erwartungsaffecte (Bangigkeit, Furcht, Angst) veranlassen den Wahn drohenden Unglückes, bevorstehender Verluste an Geld oder des Amtes, den Wahn, die Familie nicht mehr ernähren zu können oder Hungers sterben zu müssen u. s. w., wobei häufig die thatsächlich bestehende und vom Kranken gefühlte Unfähigkeit zum Arbeiten und die Energielähmung eine Rolle spielt, indem sie dem Inhalt der Wahnvorstellung die entsprechende Färbung ertheilt. Da der Kranke den eigentlichen Grund der mit ihm vorgegangenen Veränderung, nämlich die Hirnerkrankung, nicht zu erkennen vermag, sucht er sich dieselbe anderweitig zu erklären. Er bringt dann mitunter die sonderbarsten äusseren oder inneren Einflüsse, respective Zustände, in ursächliche Verbindung mit seinem Leiden. Die betreffenden Vorstellungen haben, der pathologischen Verstimmung entsprechend, stets einen peinlichen Inhalt, entstehen mitunter plötzlich und nehmen zunächst den Charakter von Zwangsvorstellungen an, die der Kranke anfangs als unmotivirt noch zu erkennen vermag, später aber nicht mehr zu corrigiren im Stande ist und für reell nimmt. Auf diese Weise entwickelt sich der Wahn, schwere Verbrechen oder grosse Sünden begangen zu haben und analoge Wahnvorstellungen. Häufig lassen sich die Wahnvorstellungen auf Sinnestäuschungen zurückführen, denen Melancholische sehr gewöhnlich unterworfen sind. Es sind dies entweder Sinnestäuschungen im engeren Sinne, Hallucinationen, indem der betreffenden Wahrnehmung kein äusserer Sinneseindruck entspricht, sondern erstere im Gehirne selbst entstanden ist, oder Illusionen, indem äussere Sinneseindrücke ganz verfälscht wahrgenommen und gedeutet werden. Am häufigsten sind Sinnestäuschungen des Gesichtes (Gespenster, Dämone und Gestalten verschiedener Art, drohende oder höhnische Geberden etc.) und des Gehörs (Stimmen), nicht selten solche des Geschmackes und Geruches. Immer sind es unangenehme Wahrnehmungen und ihnen entsprechend gestaltet sich der Inhalt der aus diesen entstehenden Wahnvorstellungen.
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Wenn sich die auf eine oder die andere Weise entstandenen Wahnvorstellungen im Bewusstsein fixiren und nachdem die allgemein melancholische Verstimmung sich beruhigt, nur in ihrem Sinne das Bewusstsein verfälschen, während sonst normale oder wenigstens nicht auffallend gestörte Intelligenz besteht, so lässt sich der Zustand als melancholischer Wahnsinn bezeichnen. Entsprechend der pathologischen Verstimmung, aus welcher sie sich entwickelten, sind die betreffenden Wahnvorstellungen sämmtlich peinlichen, unangenehmen, finsteren Charakters. Der Hauptrepräsentant dieser Wahnsinnsform ist der Verfolgungswahn, das ist der Wahn der Bedrohung oder Schädigung der eigenen Individualität und ihrer Interessen durch Personen oder anderweitige Mächte. Nachstellung und Lebensdrohung durch eingebildete Feinde überhaupt oder durch bestimmte Personen spielt die Hauptrolle, häufig ist ferner der Vergiftungswahn, sowie der Wahn polizeilicher Beachtung und Verfolgung, dann der Wahn ehelicher Untreue, der Wahn der Beeinflussung durch elektromagnetische Kräfte (besonders häufig bei Onanisten) oder durch Dämone, welche Formen fast alle mit entsprechenden Hallucinationen und Illusionen einhergehen, welche der Betreffende ebensowenig zu corrigiren im Stande ist, wie die aus ihnen entstehenden Vorstellungen. Die betreffenden Ideen und die ihnen zu Grunde liegenden Sinnestäuschungen bestehen häufig in ganz latenter Weise und treten nur gelegentlich zu Tage. Der Kranke kann sie lange verbergen und die aus ihnen entspringenden Impulse beherrschen, so dass er desto mehr für einen geistig Gesunden gelten kann, je weniger seine sonstige Intelligenz von der Norm abweicht, was insbesondere bei jenen Formen der Fall, die gegenwärtig als primäre partielle Verrücktheit bezeichnet werden, bei welchen, wie pag. 917 erwähnt wurde, die betreffenden Wahnvorstellungen durch unmittelbare Verfälschung von Sinneswahrnehmungen oder Vorstellungen entstanden sind, wobei eine melancholische Verstimmung entweder gar nicht voranging oder unauffällig verlief.
Eine besondere Art des Verfolgungswahnes ist der sogenannte Querulantenwahn, bei welchem das betreffende Individuum von dem Wahne erlittenen Unrechtes, insbesondere durch behördliche Entscheidungen erlittenen Unrechtes, beherrscht wird und durch beständige Eingaben an die Gerichte und andere Behörden sein vermeintliches Recht zu erlangen sich bestrebt. Diesem Wahne liegen nicht selten wirkliche Vorkommnisse zu Grunde, die aber ganz entstellt aufgefasst und wiedergegeben werden. Dieser Umstand, sowie die durch neuerliche Abweisung gesteigerte Irritation, führt immer wieder zu neuen und immer schärferen Eingaben, sowie zu neuen Behelligungen und selbst Insultirungen der Behörden, bis endlich, und zwar nicht selten nachdem das Individuum wegen letztgenannter Delicte wiederholt in Untersuchung gezogen und bestraft worden ist, der Querulant als ein Wahnsinniger erkannt und entsprechend behandelt wird.
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Die Gewaltthaten Melancholischer können hervorgehen: 1. aus der melancholischen Verstimmung als solcher, 2. aus Angstgefühlen, besonders dem Raptus melancholicus, 3. aus Zwangs- und Wahnvorstellungen.
Ad 1. Die melancholische Verstimmung bewirkt zunächst eine veränderte Reaction gegen äussere Eindrücke. Da letztere überhaupt schmerzlich empfunden werden, selbst solche, die früher angenehm gewesen waren, so ist es begreiflich, dass insbesondere auf solche Eindrücke leicht unverhältnissmässig heftige Reactionen erfolgen können, die an und für sich provocirender Natur sind. Auf diese Art können äusserlich mehr weniger motivirt erscheinende Gewaltacte zu Stande kommen, deren pathologischer Charakter aber desto deutlicher hervortreten wird, je weniger die Heftigkeit der Reaction mit der äusseren Ursache derselben im Verhältnisse steht. Die veränderte Selbstempfindung, sowie die immer peinlicher sich gestaltenden Beziehungen zur Aussenwelt, welche nur im trüben Lichte und jedes Reizes bar erscheint, erklären die Häufigkeit des Selbstmordes schon in den ersten Stadien der Melancholie, da es für den Kranken nahe liegt, sich durch eine solche That von seiner Seelenqual zu befreien.
Dieselben Ursachen, sowie die bangen Erwartungsaffecte, von denen der Kranke beherrscht wird, können bewirken, dass demselben auch die Existenz und Zukunft seiner Angehörigen in einem so trüben Lichte erscheint, dass er darin ein Verdienst erblickt, sie aus einer solchen Existenz zu befreien und vor einer so traurigen Zukunft zu bewahren. Diese Logik kann den Melancholiker auch ohne eigentliche Wahnvorstellungen zum Morde seiner Angehörigen veranlassen und spielt insbesondere bei dem Morde der eigenen Kinder eine beachtenswerthe Rolle. Zu gleicher That kann jedoch den Kranken auch die häufig ganz begründete Befürchtung veranlassen, dass den Kindern eine Nothlage bevorstehe, wenn er, der bisherige Ernährer der Familie, einen Selbstmord begehe. Es wäre ein Fehler, wenn man aus einem solchen, für sich genommen richtigen Urtheile auf Zurechnungsfähigkeit des betreffenden Individuums schliessen wollte.
Weniger verständlich sind die bei Melancholikern wiederholt vorgekommenen, sogenannten „indirecten Selbstmorde“, d. h. Morde und andere Gewaltthaten, die in der Absicht begangen wurden, um dafür hingerichtet zu werden. Hier handelt es sich offenbar bereits um tiefere Störungen der Intelligenz, insbesondere um eine durch fehlerhafte Logik sich kundgebende Schwäche der Intelligenz und um eine eigenthümliche Verkehrung der Willensenergie, die dem Betreffenden nicht gestattet, sich selbst das Leben zu nehmen, wohl aber an Anderen eine solche That zu begehen.
Die peinliche Verstimmung kann jedoch den Kranken auch so überwältigen, dass er in seiner Verzweiflung in irgend einer Gewaltthat eine Erleichterung zu finden glaubt. Zerstörungen lebloser Gegenstände, aber auch Angriffe auf Lebende können in[S. 922] dieser Weise als „Entäusserungsversuche“ des Kranken zu Stande kommen, bei deren Beurtheilung nicht zu übersehen ist, dass die Verstimmung als solche nur ihr entsprechende Vorstellungen im Bewusstsein aufkommen lässt, und dass die Vorstellungsthätigkeit im Allgemeinen krankhaft gehemmt ist, wodurch insbesondere das rechtzeitige Auftauchen contrastirender Vorstellungen und damit die Correctur der betreffenden Impulse behindert wird.
Die Antriebe zu den durch die Verstimmung allein veranlassten Gewaltthaten können, besonders im letztgenannten Falle, plötzlich sich einstellen, und eben so rasch zur That führen. Häufiger trägt sich der Melancholische längere Zeit mit seinen Ideen, bis er sie zur Ausführung bringt, wobei gelegentliche Ursachen, äussere sowohl als innere, die nächste Anregung geben können. Ein planmässiges Vorgehen, ein Abpassen günstiger Gelegenheit kann dabei ganz gut vorkommen, in welchem Falle weniger die Handlung als solche, als vielmehr ihre Genese das Krankhafte erkennen lässt. Während der That ist das Bewusstsein erhalten oder wenigstens nicht auffallend getrübt; der Thäter erinnert sich daher an das Geschehene, sieht auch nachträglich das Unrechte und Strafbare seiner Handlung meistens ein und überliefert sich nicht selten selbst dem Gericht. Geschah die That in Folge der bis zur Verzweiflung gediehenen Verstimmung und als Entäusserungsversuch derselben, dann fühlt sich der Kranke nach Begehung derselben wirklich entlastet, doch meist nur für kurze Zeit, d. h. um nachträglich wieder in die Verstimmung zu verfallen, welche die Erinnerung an die begangene That nur noch düsterer gestaltet.
Ad 2. Sehr leicht kann es zu schweren Gewaltthaten kommen, wenn die die Melancholie begleitende Beklemmung zum Angstanfall sich steigert. Das entsetzliche, wahrscheinlich im vasomotorischen Krampf begründete Gefühl unsäglicher Angst fordert dringend Entlastung, welche schliesslich bei aufgehobenem Bewusstsein durch motorischen Reflex erfolgt. Die Natur der daraus resultirenden Gewalthandlung hängt von zufälligen Momenten ab, da letztere nicht ihrer selbst willen erfolgt. Möge aber die That welche immer sein, möge sie in Tödtung oder Verletzung Anderer, in mechanischer Zerstörung lebloser Objecte oder in Brandlegung u. s. w. bestehen, immer trägt sie mehr weniger den Charakter planlosen, blinden Wüthens an sich und lässt schon dadurch ihre Genesis wenigstens vermuthen.
Der Angstanfall erfolgt entweder ganz plötzlich oder es gehen demselben Prodromalsymptome voraus. In beiden Fällen liegt die Aehnlichkeit mit gewissen epileptischen Affectionen nahe, die später Besprechung finden sollen. Diese Aehnlichkeit wird noch gesteigert durch die Amnesie oder blos traumhafte Erinnerung gegenüber der That, die aus der hochgradigen Bewusstseinsstörung und selbst Bewusstseinsaufhebung auf der Höhe des Anfalles sich erklärt. Nach der That kehrt die Besinnung meistens ziemlich rasch, selbst plötzlich zurück. Der Kranke sieht dann die Bedeutung[S. 923] seiner That ein, fühlt Reue darüber und handelt dem entsprechend, indem er z. B. sich selbst dem Gerichte stellt oder einen Selbstmord begeht. In anderen, wie es scheint selteneren Fällen hält die Bewusstseinsstörung auch nach der That an und der Kranke kehrt allmälig zur Besinnung zurück.
Ad 3. Inwiefern Zwangsvorstellungen zu Gewaltthaten führen können, wurde bereits oben auseinandergesetzt. Mit einer solchen Vorstellung kann sich der Kranke mitunter lange tragen und den aus ihnen sich ergebenden Impulsen längere Zeit widerstehen, bis sie sich den Uebergang in die That erzwingt. Dabei ist sich derselbe des Unrechten eines solchen Antriebes wohl bewusst, und sowohl diese Thatsache, als der Gedanke an die Möglichkeit der Ausführung ängstigen den Kranken in der Art, dass dadurch dessen peinliche Verstimmung nur noch vermehrt wird und im weiteren Verlaufe, namentlich unmittelbar vor Begehung der That, ein Angstanfall der oben beschriebenen Art ausgelöst werden kann. Letzteres gilt noch mehr von den bei Melancholischen so häufig und mitunter ganz plötzlich auftauchenden Sinnestäuschungen. So bemerkt Schüle (l. c. 443), indem er hervorhebt, dass man wegen der leicht auftretenden Angstanfälle keinem Melancholiker trauen dürfe, dass insbesondere die mit Hallucinationen und Illusionen verbundenen Melancholien oft eine plötzliche Angst auslösen können, welche die Waffe des Selbstmordes oder der Lebensgefährdung Anderer sofort dem Kranken in die Hand drückt und hat einen Kranken beobachtet, der in einem solchen Augenblicke sein Kind, welches er plötzlich schwarz werden sah, zerschellte, aus Angst, dass soeben ein feindlicher Geist in dasselbe seinen Einzug halte. Von den eigentlichen Wahnvorstellungen sind es zunächst die aus langen Erwartungsaffecten entspringenden, welche den Kranken zu Gewaltacten, insbesondere zum Selbstmord und Tödtung der Angehörigen zu bewegen vermögen, so der Wahn, verhungern zu müssen, brodlos zu werden u. s. w. Ausserdem können, insbesondere unter dem Einfluss von Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen der verschiedensten Art auftauchen, die sämmtlich einen Inhalt besitzen, der der peinlichen und geängstigten Stimmung des Kranken entspricht.
Am häufigsten kommen religiöse, insbesondere dämonomanische Wahnvorstellungen und solche vor, deren Inhalt auf Beeinträchtigung oder Bedrohung der eigenen Persönlichkeit durch Feinde hinauslaufen, die, wenn sie im Bewusstsein sich fixiren, den Verfolgungswahn in seinen verschiedenen Formen constituiren, und es ist begreiflich, dass bei diesem die Verfolgungsideen desto leichter zu Gewaltthaten führen können, je ängstigender und provocirender ihr Inhalt sich gestaltet und je reeller sie dem Kranken erscheinen. Diese Kategorie von Irren gehört zu den gefährlichsten, umsomehr, als die betreffenden Wahnvorstellungen lange und von der Umgebung ungeahnt bestehen können, bis sie in einer Gewalthandlung zum Ausbruch kommen.
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Die Manie und der exaltirte Wahnsinn.
Die Manie ist in ihren Grundzügen das gerade Gegentheil von der Melancholie. Statt der die letztere charakterisirenden Depression des Gemüthes und der daraus sich ergebenden traurigen, peinlichen Affecte finden wir bei der Manie eine äusserlich unmotivirte heitere Stimmung, statt der Hemmung der psychischen Thätigkeit das Gefühl einer gewissen Leichtigkeit und Ungebundenheit derselben mit consecutiven Wonnegefühlen und statt der nur durch peinliche Affecte höchsten Grades zu überwindenden psychomotorischen Lähmung einen auffallenden, durch erhöhtes Kraft- (Muskel-) Gefühl bedingten Bewegungsdrang, der schliesslich in Tobsucht ausartet.
Man kann die einfache maniakalische Exaltation von der Manie auf der Höhe ihrer Entwicklung oder der Tobsucht unterscheiden.
Die maniakalische Exaltation kann längere Zeit für sich bestehen und auch ablaufen, ohne in eigentliche Tobsucht überzugehen. Ihrem Auftreten geht in der Regel ein melancholisches Stadium voraus, welches sich durch entsprechende Charakterveränderung kundgibt und daher in diagnostischer Beziehung werthvoll ist. Die Erscheinungen in den ersten Stadien der maniakischen Exaltation haben eine grosse Aehnlichkeit mit jenen, wie wir sie, allerdings vorübergehend, im Anfange von Rauschzuständen beobachten: die Stimmung wird eine heitere, aufgewecktere, die Vorstellungsthätigkeit ist erleichtert, der Kranke spricht viel und rasch, die Triebe sind erhöht und in Folge des gesteigerten Muskelgefühles besteht ein erhöhter Bewegungsdrang. Dieses Verhalten ruft nicht blos beim Kranken ein Wohlbehagen hervor, das ihn veranlasst, seinen Zustand zu loben und sich für gesünder als je zu halten, sondern kann auch bei der Umgebung den Eindruck voller geistiger Gesundheit hervorrufen oder es wird die erhöhte Lebhaftigkeit des Kranken als Alkoholwirkung aufgefasst, umsomehr, als die heitere Verstimmung das Individuum thatsächlich zum Alkoholgenusse verleitet, andererseits eine gewisse Intoleranz gegen Alcoholica besteht und schon geringe Mengen der letzteren das bereits kranke Gehirn zu afficiren vermögen. Im weiteren Verlaufe wird die Stimmung immer exaltirter, aufgeregter, die Verletzungen der Rücksichten der Convenienz und des Anstandes werden immer auffälliger, die Reizbarkeit und Geneigtheit zu Affecten, insbesondere des Zornes, nimmt zu, die anfangs erleichterte Vorstellungsthätigkeit erhält in Folge des Wegfalles jeglicher Hemmung immer mehr den Charakter des Ueberstürzten und gestaltet sich schliesslich zur förmlichen Ideenflucht, die motorische Aufregung wird immer auffälliger, sich durch Unruhe, Wandertrieb, scheinbar muthwillige Handlungen und Drang nach Zerstörung lebloser Objecte, aber auch durch unmotivirte Angriffe auf Personen äussernd, wozu die immer ungebundener sich äussernden Triebe, insbesondere der Geschlechtstrieb und die[S. 925] Leichtigkeit, mit welcher namentlich durch Widerstand Affecte ausgelöst werden, ihrerseits beitragen.
Die eigentliche Tobsucht charakterisirt sich durch die höchsten Grade motorischer Aufregung. Der Kranke lärmt und schreit. Der innere Drang nach Bewegungen explodirt förmlich zu diesen, ohne schliesslich mehr durch Vorstellungen vermittelt zu werden und die Bewegungen erhalten immer mehr den Charakter nicht intendirter Bewegungen, obgleich sie niemals wie krampfartige, sondern stets wie gewollte sich verhalten. Die Ideenflucht gestaltet sich zu einem ganz ungeordneten Auftauchen, Jagen und Verdrängen der Vorstellungen, deren Inhalt theils zufällig ganz verschieden und beständig wechselnd sich gestaltet, theils durch Hallucinationen und Illusionen beeinflusst wird. Letztere, sowie die daraus resultirenden Wahnvorstellungen, sind nur flüchtiger Natur und ebenso wechselnd wie die Stimmung, die ohne Uebergänge aus lärmend heiterer in die finstere und drohende überspringt und selbst durch melancholische Depressionszustände vorübergehend unterbrochen wird.
Es gibt vielfache Abweichungen von diesem Verlaufe der Manie, die insbesondere die Dauer der ganzen Erkrankung und ihre einzelnen Stadien betreffen, aber auch die einzelnen Symptome, wobei die Ursachen der Psychose, namentlich aber der Umstand, ob die nächste Krankheitsursache ein bisher gesundes, rüstiges Gehirn oder ein von Haus aus oder in Folge bereits überstandener oder noch bestehender Erkrankungen schon defectes getroffen hatte, eine wesentliche Rolle spielt.
In gerichtsärztlicher Beziehung hat im Allgemeinen die maniakische Exaltation eine viel grössere Bedeutung als die eigentliche Tobsucht, weil letztere sich meist durch ausgesprochene, auch dem Laien auffallende Symptome charakterisirt, während erstere besonders in ihren Anfängen leicht verkannt werden kann, und nicht selten selbst von den nächsten Angehörigen mitunter lange Zeit verkannt wird. Und doch ist leicht einzusehen, dass, wie schon die durch Alkoholgenuss bewirkte Exaltation, mit welcher die maniakische eine so grosse Aehnlichkeit besitzt, so häufig zu strafbaren Handlungen verleitet, noch leichter die maniakische zu Conflicten mit dem Strafgesetze führen kann, da es sich bei dieser meist um dauernde und zugleich viel intensivere Störungen des Fühlens und des Vorstellens handelt, denen gegenüber eine Correctur oder Beherrschung von Seite des Individuums schon frühzeitig nicht mehr möglich ist, was bei Rauschzuständen bekanntlich erst in den späteren Stadien geschieht. Die betreffenden Handlungen haben jedoch insofern eine gewisse Aehnlichkeit, als sie in beiden Fällen meist in Excessen verschiedener Art, Widersetzlichkeiten gegen behördliche Organe, Ehren- und Majestätsbeleidigungen, unsittlichen Attentaten, scheinbar muthwilligen Beschädigungen fremden Eigenthums, Misshandlungen und selbst Tödtungen von Personen bestehen, und in beiden Fällen theils[S. 926] durch die reizbare und übermüthige Stimmung, theils durch den erhöhten Drang nach Kraftäusserungen, theils durch die abnorm erhöhten Triebe veranlasst werden, während Sinnestäuschungen oder gar Wahnvorstellungen erst in den späteren Stadien des Krankheitsverlaufes in’s Spiel kommen.
Eine besondere Erwähnung verdient die sogenannte Mania acutissima oder transitoria. Es handelt sich nach Krafft-Ebing, der diese Form der Manie besonders eingehend behandelte[573], um einen bei vorher ganz Gesunden auftretenden, in 20 Minuten bis 6 Stunden verlaufenden Tobsuchtsanfall mit hochgradiger Verworrenheit, massenhaften Sinnesdelirien und nachfolgender vollständiger Amnesie. Charakteristisch ist auch die gleichsam kritische Lösung des Anfalles mit einem Stadium tiefen Schlafes, aus welchem der Betreffende psychisch wieder ganz frei erwacht. Solche im Leben des Betreffenden meist ganz vereinzelte Anfälle wurden fast ausschliesslich bei Männern, insbesondere bei jungen Männern beobachtet. Vollblütigkeit, Geneigtheit zu Congestionen gegen den Kopf scheinen ein prädisponirendes Moment zu bilden, und auch das den Anfall zunächst auslösende dürfte in acuten Hyperämien des Gehirnes und diese veranlassenden Ursachen, wie Alkoholgenuss, grosse Hitze (Sonnenstich), Affecte u. dergl. m., zu suchen sein. Es besteht eine grosse Aehnlichkeit solcher Anfälle mit gewissen, aus epileptischer Ursache auftretenden Manien, weshalb sie von Einzelnen auch als vereinzelt dastehende Anfälle psychischer Epilepsie aufgefasst wurden. Auch die Gewaltthätigkeit und Gefährlichkeit ist in beiden Fällen die gleiche. Jedenfalls wäre auf etwa schon früher bestandene Anfälle ähnlicher Art, sowie auf Epilepsie, insbesondere larvirte oder unbeachtet gebliebene, zu reagiren. Die Beurtheilung solcher Vorkommnisse kann auch nur nach den bei jener des einzelnen epileptischen Manieanfalles zu beobachtenden Grundsätzen erfolgen. Das Plötzliche und Unmotivirte des betreffenden Gebahrens, der wuthartige, planlose, verworrene Charakter desselben, dann der allerdings nicht so leicht zu liefernde Nachweis von Delirien und insbesondere der nie fehlenden Amnesie sind Momente, die die Unterscheidung eines solchen Anfalles von etwa blos in hochgradiger Gemüthserregung, Jähzorn etc. begangenen Handlungen gestatten werden.
Zwei Fälle dieser Art werden von Netolitzky (Prag. med. Wochenschr. 1879, pag. 310) mitgetheilt. Der erste Fall betraf einen 63jährigen, bisher ganz gesund gewesenen Holzhacker. Derselbe kaufte sich am 4. April Morgens um 4 Kreuzer Schnaps, trank gegen die Gewohnheit sofort die Hälfte aus, um sich wegen einer durch schwere Arbeit veranlassten Erschöpfung zu stärken, klagte über [S. 927]Kopfschmerzen und schickte sich an, in den Wald zu gehen. Er trank den Rest des Branntweines und gerieth alsbald mit seinem Weibe ohne Ursache in Streit. Die Nachbarn hörten ihn toben, sahen, wie er barfuss zum Schuster lief, der ihm Stiefel flicken sollte; er borgte unter Drohungen von einem Nachbar einen Schlitten, zerschlug seinen eigenen in Stücke, zankte heftig mit dem Nachbar, agirte mit den Händen, schien sich gegen eine ihn bedrohende Macht zu vertheidigen, rannte schliesslich in sein Haus, woselbst er unmittelbar darauf an einem Dachsparren hängend gefunden wurde. Abgeschnitten und zu Athem gebracht, verfiel er in einen 7stündigen Schlaf, aus welchem er mit vollständiger Amnesie erwachte.
Im zweiten Falle war eine kräftige, bisher stets gesunde Lehrersfrau, nachdem sie den ganzen Tag angestrengt gewaschen, bei starker Schwüle eine halbe Stunde weit gegangen und hatte darauf gegen ihre Gewohnheit einen halben Liter Bier getrunken. Zurückgekehrt klagte sie über Kopfschmerzen und legte sich um 10 Uhr in’s Bett. Gegen 1 Uhr erwachte ihr 7jähriger Knabe, sah die Mutter mit einem Stricke in der Hand im Zimmer herumlärmen, aus dem Kasten ein Messer hervorholen und die Schärfe desselben prüfen, wobei sie heftig gesticulirte und, nachdem sie mit drohender Miene zum Bette des Knaben getreten war, das Zimmer verliess. Der Knabe weckte den Vater, der ihr nacheilte und sie in der Dachkammer aus einer tiefen Halswunde blutend traf, als sie sich eben aufhängen wollte. N., sofort herbeigeholt, fand die Frau in grosser Unruhe, von schreckhaften Wahnideen befallen, mit geröthetem Gesichte. Um 3 Uhr Nachts verfiel die Frau in einen tiefen Schlaf, der 8 Stunden dauerte und aus dem sie ohne jegliche Erinnerung an das Vorgefallene erwachte. Epilepsie war in keinem dieser Fälle nachweisbar.
Wenn im weiteren Verlaufe der Manie die Aufregung sich legt und einzelne der Wahnvorstellungen sich fixiren, so entwickelt sich in analoger Weise, wie wir dies bei der Melancholie gesehen haben, als Ausgangsform der Tobsucht exaltirter Wahnsinn oder der Grössenwahn.
Die Wahnideen, von denen ein solches Individuum beherrscht wird, haben, entsprechend der exaltirten Stimmung, aus welcher sie hervorgingen, einen durchwegs exaltirten Charakter, während ihr sonstiger Inhalt je nach äusseren oder individuellen Umständen verschieden sich gestaltet. Am häufigsten kommt der Wahn grossen Besitzes an Geld und Gut vor, sowie der hohen Bedeutung und Macht, ebenso ungewöhnlich hoher geistiger oder körperlicher Leistungsfähigkeit, der bewirkt, dass sich der Kranke im ersteren Falle z. B. für einen bedeutenden Staatsmann, Gelehrten oder Dichter, im letzteren für einen Riesen oder einen Ausbund von Ausdauer, geschlechtlicher Potenz etc. hält. In anderen Fällen halten sich die Kranken für Kaiser, Könige etc., für weltbedeutende Reformatoren, Propheten oder Erfinder, und nicht selten geht der Wahn noch weiter, indem sich die Betreffenden mit wirklich bedeutenden, der Geschichte oder der Gegenwart angehörigen[S. 928] Personen identificiren. — Dass durch solche Wahnvorstellungen leicht Gewaltthaten veranlasst werden können, ist begreiflich. Trotzdem sind dieselben bei weitem nicht so gefährlich, wie jene des depressiven Wahnsinns, einestheils weil sie im Allgemeinen weniger provocirenden Charakters sind, als z. B. Verfolgungsideen, andererseits weil sie ihrer Natur nach nicht latent bleiben, sondern meist offen vorgebracht und dann von der Umgebung in der Regel leicht als Wahnideen erkannt und darnach behandelt werden, desto leichter, je mehr sie, wie meist der Fall, mit den factischen Verhältnissen im Widerspruche stehen.
Der erworbene Blödsinn.
Jene psychischen Schwächezustände, in welche der Mensch verfällt, nachdem er bereits die geistige Reife erreicht hatte, bezeichnet man als erworbenen Blödsinn und nennt denselben einen primären, wenn er sich unmittelbar aus geistiger Gesundheit entwickelte, einen secundären aber, wenn er als Ausgangsstadium anderweitiger Geistesstörung aufgetreten ist.
Primärer Blödsinn kann sowohl nach spontanen Erkrankungen, als nach gewaltsamen Einwirkungen auf die psychischen Centren sich entwickeln. In ersterer Beziehung sind zunächst die schweren, sowohl acuten als chronischen Erkrankungen des Gehirns und seiner Häute, wie Meningitis, Encephalitis, Neubildungen, insbesondere aber die senile Hirnatrophie und die Apoplexie, sowie die Embolie zu erwähnen, ferner schwere Allgemeinerkrankungen, z. B. Typhus, in letzterer vor Allem die Kopfverletzungen (pag. 318), aber auch Vergiftungen, sowohl acute, z. B. mit Kohlenoxyd, als chronische (Alkohol, Blei) und wie einzelne, allerdings seltene Fälle lehren, auch intensive Erstickungsgefahr, z. B. bei Strangulation (Erhängen, Fall: Griesinger, 3. Aufl., pag. 325).
Der secundäre Blödsinn bildet das Endstadium anderweitiger Psychosen, aus welchen er seltener unmittelbar, sondern meist mittelst der Durchgangsformen des Wahnsinnes (Verfolgungs- sowohl als Grössenwahnsinn) sich entwickelt.
Das Hauptsymptom aller Formen des erworbenen Blödsinns ist ebenso wie beim angeborenen die Schwäche der Intelligenz, welche wieder, wie bei letzterem, in verschiedenem Grade vorhanden sein kann. Man pflegt auch hier die weniger hochgradigen Fälle als Schwachsinn, die höheren als Blödsinn im engeren Sinne zu bezeichnen. Erstere sind forensisch ungleich wichtiger als die auch für Laien leicht als solche erkennbaren schweren Formen. Viele dieser Fälle sind derart, dass die Schwäche der Intelligenz gar nicht als solche auffällt und sich erst ergibt, wenn man die gegenwärtige psychische Leistungsfähigkeit mit jener vergleicht, die früher, z. B. vor der Verletzung oder schweren Hirnerkrankung, bestand, wobei sich ergibt, dass das gesammte Denken langsamer
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und schwerer erfolgt als früher, dass das Gedächtniss abgenommen habe, dass schon verhältnissmässig geringe geistige Anstrengungen ermüden, sowie dass die Urtheils- und Selbstbestimmungsfähigkeit, sowie die ganze geistige Energie eine geringere geworden ist. Diese geistige Decadenz ist desto auffälliger, je intelligenter und geistig lebhafter das Individuum früher gewesen war. Von diesen niederen Graden des Schwachsinns bis zum vollständigen Erlöschen jeder geistigen Thätigkeit gibt es eine Menge von Abstufungen. Dabei ist es eigenthümlich, dass selbst in den schweren Formen des erworbenen Blödsinns noch einzelne oder ganze Reihen correcter Vorstellungen und Urtheile aus der früheren gesunden Zeit sich erhalten können, was bei einseitiger Beurtheilung und oberflächlicher Prüfung das Individuum, namentlich Laien gegenüber, als ein geistig gesundes erscheinen lassen kann. Wahnvorstellungen sind namentlich bei jenen Formen des Blödsinns nicht selten, die sich entweder aus der Manie oder Melancholie entwickelt haben; ihr Inhalt zeigt dann die diesen Zuständen entsprechende Färbung, ohne dass jedoch die Stimmung und das Gebahren des Individuums derselben entsprechen würde, so dass es sich meistens nur um eine mechanische Reproduction der früher bestandenen Wahnvorstellungen depressiven oder exaltirten Charakters handelt, die meist weder untereinander, noch mit den sonstigen Vorstellungen in einem logischen Zusammenhange stehen und mitunter als systematisirter Unsinn zu Tage gefördert werden. Derartige Formen bilden die sogenannte secundäre Verrücktheit, zu welcher der secundäre Verfolgungs- und Grössenwahn nur die Uebergänge bildet. Von den Formen primären Blödsinns ist es insbesondere der Altersblödsinn, bei welchem Wahnvorstellungen auftauchen, insbesondere Verfolgungswahn; aber auch bei den übrigen können solche intercurrirend auftreten, und es muss überhaupt festgehalten werden, dass ebenso wie bei der angeborenen (namentlich hereditären) psychischen Degeneration auch bei dem nachträglich defect gewordenen Gehirn eine grössere psychische Labilität besteht als bei dem rüstigen, daher auch solche psychische Störungen leichter auftreten können, wie wir sie bei angeboren fehlerhafter psychischer Anlage theils als affectives und impulsives Irrsein, theils als primäre Verrücktheit kennen gelernt haben.
Was das Verhalten des Fühlens betrifft, so kann man ebenso wie beim angeborenen Blödsinn apathische und agitirte Formen unterscheiden. Doch kommen letztere ungleich häufiger vor, und die leichte Reizbarkeit gehört sogar zum charakteristischen Bilde mancher Formen des erworbenen Schwachsinns und Blödsinns, wie z. B. namentlich jenes nach Verletzungen, sowie in vielen Fällen des Blödsinns nach Apoplexie und des Greisenblödsinns. Weiter begegnen wir häufiger unmotivirtem Stimmungswechsel, der bis zu intercurrirenden Melancholien oder Aufregungszuständen mit oder ohne entsprechende Wahnvorstellungen (Verfolgungswahn bei Greisen und Apoplektikern häufig) sich steigern kann.[S. 930] Inwieferne, theils aus der Intelligenzschwäche, theils aus dem eben besprochenen krankhaften Verhalten der Stimmung, eventuell aus Wahnvorstellungen, Handlungen, die sonst strafbar sind, hervorgehen können, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung. Eine specielle Erwähnung verdient aber die forensisch äusserst wichtige Thatsache, dass die erworbenen Formen des Schwachsinns sich auch als moralisches Irrsein in der Weise kundgeben können, dass entweder nach der Genesung von einer schweren Affection, an welcher auch das Gehirn betheiligt war, eine gewisse moralische Insensibilität zurückbleibt, die mit mehr oder weniger ausgesprochenem Schwachsinn verbunden ist, oder, wie dies insbesondere beim Greisenblödsinn sich findet, das erste Symptom bildet, welches den psychischen Schwächezustand einleitet und lange bestehen kann, bevor noch die übrigen Erscheinungen des letzteren eclatant zu Tage treten. Es sind dies sehr beachtenswerthe Formen des sogenannten erworbenen moralischen Irrseins, auf welche bereits bei Besprechung der angeborenen moralischen Idiotie (pag. 897) hingewiesen wurde, welche sich vorzugsweise durch eine sonst unmotivirte Veränderung des Charakters ad pejus kundgeben und insbesondere auffallen, wenn man das Gebahren des Individuums mit dem früher bei demselben bemerkten vergleicht. Personen, die früher die Forderungen der Sitte, der Convenienz etc. beobachteten, fangen an, ihr Aeusseres zu vernachlässigen, die Gesetze des Anstandes zu verletzen, sich in Wirthshäusern herumzutreiben, in geschlechtlicher Beziehung zu excediren u. s. w. Verhältnissmässig häufig pflegt eine solche Charakterveränderung den Greisenblödsinn einzuleiten, und es ist insbesondere eine Reihe der von Greisen begangenen unzüchtigen Handlungen, anrüchiger Liaisonen etc. ausser auf die Schwäche der Intelligenz auf die pathologische Abnahme des moralischen Fühlens zurückzuführen, nicht aber, wie man gewöhnlich glaubt, auf eine Art Wiedererwachen des Geschlechtstriebes.
Es gehören hierher die paralytische Geistesstörung, das epileptische Irrsein, die Hysterie und das Irrsein der Säufer.
a) Die paralytische Geistesstörung.
Das paralytische Irrsein oder Irrsein mit progressiver Paralyse bildet eine gegenwärtig allgemein als specifisch anerkannte Form der Geistesstörung. Diese Geistesstörung, deren anatomische Grundlage noch nicht genügend aufgedeckt ist (Meynert, Erkrankung des Vorderhirns mit Atrophie; Leidesdorf, Chronische interstitielle diffuse Encephalitis), ist eine Krankheit der besten Jahre (meist zwischen 40–50) und betrifft vorzüglich Männer und nur ausnahmsweise Frauen. Die psychischen Störungen gehen in der Regel den paralytischen voraus oder beide treten gleichzeitig und allmälig auf. Sehr selten ist das Umgekehrte.
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Man kann bei dieser Geistesstörung ein Initialstadium, ein Stadium der vollen Entwicklung und ein Ausgangsstadium unterscheiden. Letzteres besteht immer in vollständigem Blödsinn, daher auch die ganze Krankheit häufig als paralytischer Blödsinn bezeichnet wird.
Das Initialstadium kann mehrere Jahre dauern und geht in der Regel mit Remissionen und Exacerbationen einher, von denen erstere Monate und selbst Jahre lang anhalten und daher Genesung vortäuschen können, während die Erfahrung lehrt, dass wenigstens die typische paralytische Geistesstörung (nicht etwa die ihr ähnliche, auf luetischer Grundlage oder auf Alkoholismus beruhende) zu den unheilbaren Erkrankungen gehört und den einmal von ihr Befallenen, trotz der langen Remissionen, allmälig, aber sicher dem Blödsinne und dem Tode zuführt.
Das erste Symptom der Erkrankung ist eine meist mit einem kurzen melancholischen Vorstadium beginnende, allmälig sich vollziehende Aenderung des bisherigen Wesens, insbesondere des Charakters. Das Individuum zeigt eine gewisse Unruhe, vermehrte Reizbarkeit, ein geändertes Verhalten in seinen Gewohnheiten, seinem Verkehre mit anderen und in seinen Geschäften, das mitunter nur in Kleinigkeiten oder Einzelheiten sich kundgibt und nur bei genauerer Beobachtung und Prüfung auffällt. Der Kranke fängt an, die Gesetze des Anstandes und der Convenienz zu verletzen, sein Aeusseres und die Reinlichkeit zu vernachlässigen oder Excesse in Baccho oder Venere zu begehen. Dabei macht sich schon frühzeitig in dem Gebahren des Individuums ein Accent des Blödsinns bemerkbar (Meynert), der im weiteren Verlaufe der Krankheit immer deutlicher hervortritt. Der Kranke wird vergesslich, macht Fehler in Rechnungen, lässt beim Schreiben einzelne Buchstaben, selbst Worte aus, irrt sich häufig im Datum, und in den Geschäften, Büchern etc. des Betreffenden vermisst man die gewohnte Pünktlichkeit und begegnet Fehlern, Lücken, Unregelmässigkeiten u. s. w. Bald machen sich die ersten Lähmungserscheinungen bemerkbar, Ungleichheit der Pupillen, Zittern der Lippen, Zittern der hervorgestreckten Zunge, leichte Behinderung der Sprache bis zum Stottern, erschwerte Articulation. Später treten die ersten Lähmungserscheinungen an den Extremitäten hinzu; zunächst an den oberen als Tremores oder atactische Störungen, die insbesondere gegenüber feineren, eine grössere Präcision erfordernden Bewegungen, z. B. beim Schreiben, Nähen, Clavierspielen, sich bemerkbar machen, während an den unteren der Beginn der Lähmung meist erst später als Unsicherheit des Ganges sich zeigt. Sämmtliche genannte Lähmungserscheinungen können während der Remissionen zurückgehen, um bei den Exacerbationen wieder und stärker hervorzutreten.
Letztere tragen im Allgemeinen den Charakter maniakalischer Exaltation an sich, doch ist die Verworrenheit und das confuse Wesen meist viel ausgesprochener als bei der gewöhnlichen Manie.[S. 932] Häufig zeigen solche Exacerbationen das Bild der Folie raisonnante, wobei bereits mehr weniger erkennbare Grössenwahnideen zum Vorschein kommen.
Collisionen mit der Polizei und dem Strafgesetz sind in diesem Stadium der Erkrankung häufig. Insbesondere führt die erhöhte Reizbarkeit, die durch Alkoholmissbrauch bei Intoleranz gegen Alkoholica noch gesteigert wird, und der gesteigerte Geschlechtstrieb zu denselben. Misshandlungen und Körperverletzungen Anderer, Injurien, Majestätsbeleidigungen, Widersetzlichkeiten gegen behördliche Organe, öffentliches Aergerniss erregende Unsittlichkeiten und geschlechtliche Excesse anderer Art kommen auf diese Weise zu Stande. Die Unruhe führt zur Vagabondage, die bereits bestehende Verworrenheit und Vergesslichkeit zu Aneignungen fremden Eigenthums, die als Diebstähle, sowie zu Fehlern in Rechnungen, in Geschäftsbüchern, die als absichtliche Fälschungen genommen werden können. Auch die zufälligen Brandlegungen, welche aus dieser Quelle stammen, können den Betreffenden als absichtliche imputirt werden.
Das Stadium der vollen Entwicklung ist charakterisirt durch meist exorbitanten Grössenwahn, hochgradige Verworrenheit mit maniakischer Aufregung und ausgesprochene Lähmungserscheinungen. Die Unruhe wird auffallend und die Kranken treiben sich auf den Strassen, in Wirthshäusern, Spaziergängen etc. herum, verfallen aus einer Unternehmung in die andere, machen zahlreiche zwecklose Besuche und entfalten überhaupt eine immer auffälligere äusserlich unmotivirte Lebhaftigkeit. Die Verworrenheit und Gedächtnissschwäche wird immer hochgradiger, und immer auffälligere für den Kranken und seine Umgebung gefährliche Handlungen, insbesondere Aneignungen fremden Eigenthumes, Brandlegungen etc. gehen daraus hervor. Die Rücksichten des Anstandes werden ganz bei Seite gesetzt, und ein solcher Kranker ist ebenso im Stande, mitten in feiner Gesellschaft über den Tisch zu spucken, als auf der Strasse seine Genitalien zur Schau zu stellen, zu onaniren u. s. w.
Dabei besteht aufdringliches, rechthaberisches Wesen, grosse Redseligkeit, mit Ueberstürzung oder Incohärenz des Vorgebrachten, insbesondere aber Grössenwahn, der ausser durch das Gebahren im Allgemeinen, durch immer exorbitanter sich gestaltende und eben dadurch den zunehmenden Schwachsinn documentirende Wahnideen sich kundgibt. Der Kranke fühlt sich als Ausbund an Kraft oder Gesundheit, ist enorm reich und lässt seinen Reichthum von Millionen zu Milliarden steigen, besitzt die kostbarsten Sachen, ist ein Mann von höchster Bedeutung, heiratet in die höchsten Familien, jene der regierenden Häuser nicht ausgenommen, ist in geschlechtlicher Beziehung, in Alcoholicis ganz enorm leistungsfähig u. s. w., während in Wahrheit die körperliche und geistige, sowie die gesellschaftliche Decadenz immer krasser zum Vorschein kommt und im grellen Widerspruche steht zu dem Gebahren und den Aeusserungen[S. 933] des armen Irren. Derartige Kranke entfalten nicht selten auch im Schreiben eine ungewöhnliche Rührigkeit, sie verfassen Eingaben, Projecte etc., deren Inhalt von Grössenwahnideen strotzt, und unterzeichnen sie mit eingebildeter Titulation. Solche Schriften sind ungemein werthvoll für die Diagnose, weil aus ihnen oder ihrem Inhalte nicht blos die krankhafte Vorstellungsthätigkeit leichter zu erkennen ist, sondern auch, weil die Schrift als solche, durch ihre Schleuderhaftigkeit, Incorrectheit, durch die Auslassung von Buchstaben, Worten und selbst Sätzen die geistige Verworrenheit und Ideenflucht ebenso documentirt, wie die zittrigen, schliesslich in Gekritzel ausartenden Schriftzüge, die zunehmende Lähmung. Letztere ist nun auffallend und gibt sich insbesondere durch schwankenden, taumelnden Gang, Zittern der Hände und der vorgestreckten Zunge, sowie durch auffallende Sprachstörungen (Stottern) kund.
Auch in diesem Stadium kommt es zu mitunter wochen- und selbst monatelangen Remissionen, die aber insoferne keine ganz vollständigen sind, als meist nur die Aufregung und das Delirium sich legt, während die geistige Schwäche und die Lähmungserscheinungen in mehr weniger erkennbarer Weise zurückbleiben. Diese Thatsache ist von grosser forensischer Wichtigkeit, weil es nahe liegt, dass eine solche Remission desto mehr für ein vollständiges Lucidum intervallum angesehen und eine darin begangene Handlung als vollkommen imputabel betrachtet werden könnte, je intensiver die psychischen Symptome zurückgegangen sind.
Das Endstadium ist charakterisirt durch ausgesprochenen Blödsinn bis zum vollständigen Erlöschen jeder psychischen Thätigkeit und hochgradige Lähmung bis zur vollständigen Unfähigkeit zu jeglicher Bewegung. Eine forensische Bedeutung kommt diesem Stadium kaum zu, da die Krankheit schon in den letzten Uebergangsformen zu diesem auch von Laien erkannt wird, die enorme Bewusstseinsstörung, der Mangel der Orientirungsfähigkeit, die grosse Unreinlichkeit etc. immer mehr auffällt und die Unterbringung solcher Individuen in Versorgungsanstalten etc. veranlasst und weil in den allerletzten Stadien der Kranke sich ganz passiv verhält und zu jeder Handlung unfähig ist.
b) Epileptisches Irrsein.
Das in Begleitung von Epilepsie auftretende Irrsein bildet eine der forensisch wichtigsten Irrseinsformen, deren nähere Kenntniss wir vorzugsweise neueren Studien verdanken.[574] Diesen zufolge[S. 934] muss man ein habituelles Irrsein der Epileptiker von demjenigen unterscheiden, welches transitorisch in Begleitung eines epileptischen Anfalles oder vicariirend statt diesem auftreten kann.
Unter habituellem Irrsein der Epileptiker oder, wie Krafft-Ebing sich ausdrückt, unter epileptischer Degeneration versteht man die allgemeine und dauernde Anomalie des psychischen Verhaltens der mit Epilepsie behafteten Personen. Es wäre irrig, zu meinen, dass bei allen Epileptikern solche Anomalien bestehen müssen, im Gegentheil lehrt die Erfahrung, dass es manche Epileptiker gibt, die ausserhalb der Anfälle kein vom gewöhnlichen abweichendes psychisches Verhalten zeigen, und man weiss, dass sogar geistig sehr hoch stehende Personen Epileptiker gewesen sind.
Trotzdem kann als das Häufigere angesehen werden, dass Epileptiker auch ausserhalb der Anfälle in ihrem psychischen Verhalten mehr weniger ausgesprochene Abweichungen vom Normalen zeigen. Diese Abweichungen betreffen im Allgemeinen weniger die Intelligenz, als vielmehr die Gefühls- und Willenssphäre, und können sich in einzelnen Fällen als erhöhte Reizbarkeit, misstrauisches, mürrisches, oder im Gegentheil exaltirtes Wesen, in anderen als habituelle oder intercurrirende melancholische Verstimmung mit Neigung zum Selbstmord, ferner als Hypochondrie oder Hysterie äussern, während bei einer weiteren Kategorie solcher Individuen sich die psychische Degeneration in der Form einer gewissen moralischen Verkehrtheit als „moralisches Irrsein“ mit triebartigen Impulsen kundgeben kann. Mit derartigen Charaktereigenthümlichkeiten, aber auch ohne diese, bestehen häufig intellectuelle Schwächezustände und nicht selten leiden Epileptiker an ausgesprochenem Blödsinn, wobei zu bemerken ist, dass der epileptische Schwachsinn und Blödsinn ungleich häufiger die Form des agitirten bietet, als des apathischen, weshalb auch solche Individuen ungleich gefährlicher sind als gewöhnliche Blödsinnige. Wird noch hinzugefügt, dass bei den Epileptikern häufig eine gewisse Intoleranz gegen Alcoholica besteht, insoferne als entweder schon geringe Quantitäten Rauschzustände veranlassen oder letztere abnorm sich gestalten, so haben wir allen Grund, bei der Beurtheilung des Geisteszustandes von Epileptikern auch ausserhalb der Anfallszeit vorsichtig zu sein.
Noch wichtiger sind die transitorischen Geistesstörungen, die mit den einzelnen epileptischen Anfällen in Beziehung stehen. Es muss hier zunächst vorausgeschickt werden, dass der epileptische Einzelninsult sich keineswegs immer unter dem bekannten Bilde der classischen Epilepsie präsentirt, sondern auch unter der Form unvollständiger (epileptiformer oder epileptoider) Anfälle auftreten kann, so insbesondere in der Form periodisch[S. 935] wiederkehrender Schwindelanfälle (Vertigo) mit vorübergehender Verworrenheit, ohne Convulsionen oder nur unbedeutenden motorischen Störungen, oder in der Form von periodischen Ohnmachtsanfällen, Congestionen, Präcordialangst u. dergl. Die Anfälle letzterer Art, welche man auch als abortive oder larvirte Epilepsie zu bezeichnen pflegt, haben insoferne eine besondere Wichtigkeit, weil sie leicht verkannt und selbst übersehen werden können, und weil gerade in Begleitung solcher Anfälle verhältnissmässig häufiger specifische Geistesstörungen vorzukommen pflegen, als bei den ausgesprochenen epileptischen Insulten. Auch ist zu bemerken, dass derartige epileptoide Formen häufig bei Individuen vorkommen, welche in ihrer Jugend an gewöhnlicher Epilepsie gelitten haben.
Eine transitorische Geistesstörung kann nun auftreten, entweder vor dem betreffenden Anfall oder nach demselben, oder endlich vicariirend statt diesem.
Vor dem Anfall ist sie verhältnissmässig selten, hat dann die Bedeutung einer Aura, wiederholt sich in ganz typischer Weise vor jedem folgenden (Krafft-Ebing) und besteht entweder in Hallucinationen, meist schreckhaften Charakters, oder in Angstgefühlen, melancholischer Depression, grosser Reizbarkeit, oder in Umnebelung des Bewusstseins, rauschartiger Verwirrtheit.
Mendel (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLII, 292) berichtet ausführlich über präepileptische psychische Störungen. Verhältnissmässig häufig sind Hallucinationen des Gesichtes (Lichterscheinungen: ein Kranker sah eine Frau im rothen Mantel auf sich zulaufen, welche ihm einen Schlag auf den Kopf versetzte, worauf er umfiel) und des Gehöres, seltener die der anderen Sinne. In anderen Fällen traten unter Trübung, nicht aber Aufhebung des Bewusstseins triebartige, den Zwangsvorstellungen analoge Ideen auf, so bei einem 16jährigen Burschen der Trieb, sich Frauenkleider anzuziehen. Er holte sich dann vom Boden die Kleider der Dienstboten und wurde wiederholt mit diesen angethan im epileptischen Anfall auf der Treppe getroffen.
Bei einem anderen Kranken trat, in der Regel schon mehrere Tage vor dem Anfalle, die Vorstellung auf, er müsse Jemanden umbringen, und er selbst bat, man möge entfernt von ihm bleiben. In einem dritten Falle kam einem epileptischen Alkoholiker in der Bodenkammer die Idee, Feuer anzulegen, seine Frau, mit der er in Unfrieden lebte, werde so seiner am besten los. Er holte Spähne, zündete sie an und ging dann in die Werkstatt, sah dort wild um sich, rollte die Augen und sein Gesicht war grauschwarz. Als man ihn auf sein Aussehen aufmerksam machte, verlangte er einen Spiegel, wollte dann am hellen Tage, weil er nichts sehe, Petroleum auf die Lampe giessen, holte Streichhölzer hervor, indem er sagte: „Jetzt stecke ich die Bude an“, und verfiel dann vor den Augen seiner Mitgesellen in einen epileptischen Anfall. Als dieser nach 5 Minuten vorüber, geht er in seine Wohnung und verlangt Mittagessen. Nun ertönt Feuerlärm, und jetzt kommt ihm der Gedanke, dass er Feuer gelegt habe. Er läuft in die brennende Etage, rettet, was er kann und stellt sich [S. 936]dann dem Gerichte. Mit dem Ertönen des Feuerlärmes ist erst der epileptische Anfall, der in der Bodenkammer mit präepileptischem Irrsein begann, vorüber.
Das postepileptische Irrsein erscheint entweder unter dem Bilde des von Falret sogenannten Petit mal oder des Grand mal, oder in der Form des postepileptischen Stupor (Samt), oder unter dem Bilde eigenthümlicher Dämmer- und Traumzustände (Krafft-Ebing, Legrand du Saulle). Das Petit mal äussert sich durch melancholische Verstimmung mit Angstanfällen, grosser Unruhe und Verworrenheit und hochgradiger Bewusstseinsstörung mit Antrieben zu gewaltsamen Handlungen, insbesondere Selbstmord und Mord, welcher in für diese Form des epileptischen Irrseins sehr charakteristischer Weise mit auffallender Brutalität, z. B. Zerfleischung des Opfers oder mehrerer Opfer, geübt wird. Aus diesem, in der Regel nur einige Stunden dauernden Anfall erwacht der Kranke ziemlich plötzlich, entweder ohne jede oder blos mit summarischer Erinnerung an das Vorgefallene, wobei es nach Samt auch geschehen kann, dass der Kranke unmittelbar nach der That sich des Geschehenen erinnert, dann aber in Stupor verfällt, aus welchem er mit vollkommener Amnesie erwacht. Das Grand mal verläuft unter dem Bilde einer furibunden, mit den schreckhaftesten Delirien und enormen Angstgefühlen verbundenen Tobsucht. Der Anfall tritt fast plötzlich ein und endet nach einigen Stunden, seltener Tagen, ebenso plötzlich mit vollständiger Amnesie. Während desselben sind die Kranken höchst gefährlich und die von ihnen begangenen Gewaltthaten zeigen ebenfalls einen höchst brutalen Charakter.
Hierher gehört der von Combes (Annal. médico-psychologique. 1880, IV, pag. 49) mitgetheilte Fall, welcher einen Epileptiker betrifft, der am 20. Mai in’s Spital aufgenommen worden war, woselbst in derselben Nacht drei, in der darauffolgenden Nacht zwei und in der dritten ein epileptischer Anfall erfolgte. Am nächsten Tage stürzte er sich plötzlich auf eine Nonne und verwundete sie mit einem Messer, ebenso eine zweite Nonne und einen Mann, die zur Hilfe herbeieilten, sprang hierauf, blos mit dem Hemde bekleidet, in den für Frauen bestimmten Krankensaal, wo er eine der Patientinnen durch einen Stich in den Hals tödtete, drei andere schwer verwundete und nur mit Mühe gebändigt werden konnte. Vollständige Amnesie. Bereits vor 7 Jahren hatte er eines Morgens, nachdem in der betreffenden Nacht epileptische Anfälle aufgetreten waren, ohne irgend ein Motiv Alles zertrümmert und mit einem Messer seine Angehörigen bedroht. In den letzten Jahren hatte er sein Weib verlassen und trieb sich unstät herum. Epileptische Anfälle wurden in dieser Zeit wiederholt beobachtet, und eine Zeugin sagt aus, dass er nach den Anfällen häufig verstimmt und verwirrt gewesen sei und einen wilden Blick gezeigt habe.
Der postepileptische Stupor (Samt) ist charakterisirt durch ein stummes, ängstliches Verhalten des Kranken, mit religiösen, um Höllenstrafen, Sünde u. s. w. sich drehenden Delirien und[S. 937] triebartiger Gewaltthätigkeit. Er kann Stunden und Tage dauern, um dann ebenfalls ziemlich brüsk zu verschwinden. Die epileptischen Dämmer- oder Traumzustände sind Zustände von meist kurzer, wenige Minuten oder Stunden, seltener 2–3 Tage anhaltender, traumartiger Geistesabwesenheit mit Hallucinationen, impulsiven Antrieben und nachträglicher vollständiger Amnesie, die sich namentlich an Anfälle sogenannter larvirter Epilepsie, besonders an den epileptischen Vertigo anschliessen. Diese Anfälle können entweder ruhig verlaufen oder die Individuen treiben sich zwecklos umher, oder sie verüben Handlungen, die mit ihrem sonstigen Charakter in auffallendem Widerspruche stehen, worunter insbesondere Aneignungen fremden Eigenthums (namentlich Ladendiebstähle) eine häufige Rolle spielen, wobei es eigenthümlich ist, dass bei jedem neuerlichen Anfall immer wieder dasselbe Gebahren sich zeigt und dieselben Handlungen verübt werden, wie bei den früheren.
Ein charakteristisches Beispiel eines solchen epileptischen Dämmerzustandes bringt Legrand du Saulle (Annal. d’hygiène publ. 1875, pag. 423). Es betraf einen jungen, sehr intelligenten Mann aus reicher Familie, von noblen Manieren und höchst anständigem Charakter. Drei- oder viermal des Jahres bekam er ein eigenthümliches Gefühl in der Magengegend, wurde einige Secunden darauf wie von einem Nebel umgeben, worauf er sofort das Bewusstsein verlor. Zu sich gekommen, nach wenigen Stunden, mitunter auch nach 2–3 Tagen, fand er sich zu seinem Erstaunen ganz abgeschlagen, fern von seiner Wohnung, auf der Eisenbahn oder im Gefängniss mit derangirten, schmutzigen Kleidern, ohne die geringste Erinnerung, wie er in diesen Zustand gekommen, mit Portemonnaies, Bijoux, Sacktüchern, Cigarrentaschen, Federmessern, Zahnstochern und eine Menge diverser anderer, mitunter ganz werthloser Dinge in den Taschen, deren Provenienz er nicht anzugeben vermochte. Wiederholt wurde der junge Mann wegen in Theatern, in Läden oder an anderen öffentlichen Orten begangener Diebstähle verhaftet und deren gerichtliche Verfolgung nur durch den zweifellos geführten Nachweis der periodischen, auf epileptischer Basis beruhenden Geistesstörung verhindert.
Ein anderer von uns beobachteter Fall betraf eine seit ihrer Kindheit halbseitig unvollständig gelähmte Frau, die im Prager Siechenhause versorgt war, aber öfters zu kleinen Botengängen verwendet wurde. Sie hatte in ihrer Kindheit an exquisiten epileptischen Anfällen gelitten, die später immer seltener wurden und alle Jahre kaum einmal in der Form mit Bewusstlosigkeit verbundener Krampfanfälle sich einstellten. Dafür traten zeitweilig abortive Anfälle auf, welche darin bestanden, dass die Frau plötzlich von Schwindel und Zuckungen in den Gesichtsmuskeln befallen wurde, wobei sie sich anhalten musste, einige Augenblicke in einem katalepsieartigen Zustande verharrte, dann mit ängstlichem Ausdruck im Gesichte anfing, die ersten besten Gegenstände, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden, zusammenzuraffen, mitunter auch bei ihr stehenden Personen [S. 938]aus den Händen zu reissen und damit sich hastig zu entfernen. Dieses Gebahren dauerte meist nur wenige Minuten, worauf die Frau wie aus einem Traum zu sich kam, sich die Gegenstände ruhig abnehmen liess und nicht die geringste Erinnerung von dem besass, was mit ihr geschehen war. Diese Anfälle und ihre Folgen waren im Hause wohlbekannt, führten aber zu Collisionen, wenn die betreffende Person auf der Gasse von ihnen befallen wurde, so dass ihr, namentlich als sie einmal in einem Fleischerladen, wo sie einen Einkauf zu besorgen hatte, sämmtliches am Verkauftisch aufliegende Fleisch zusammenpacken und damit sich aus dem Staube machen wollte, der Ausgang verboten werden musste.
Höchst bemerkenswerth ist die Thatsache, dass die eben besprochenen Geistesstörungen auch vicariirend statt eines epileptischen Anfalles auftreten können. Samt hat für diese die Bezeichnung „psychisch-epileptisches Aequivalent“ eingeführt, während Andere mit Vorliebe die Bezeichnung „psychische Epilepsie“ gebrauchen. Sie unterscheiden sich von den postepileptischen Irrseinsformen nur durch den Abgang eines vorhergehenden epileptischen Anfalles. Deshalb und weil die wirkliche Existenz eines solchen, besonders eines blos abortiven Anfalles auch übersehen und larvirt sein kann, leugnen Einzelne, insbesondere Legrand du Saulle, das vicariirende Vorkommen derartiger Psychosen und behaupten, dass Psychosen von dem Charakter der beschriebenen immer nur im Zusammenhange mit einem epileptischen oder epileptoiden Anfalle auftreten. Erfahrungen deutscher Forscher sprechen gegen die allgemeine Giltigkeit dieser Ansicht und dafür, dass der ganze epileptische Anfall nur unter dem Bilde der beschriebenen Psychosen verlaufen kann. Der epileptische Charakter der letzteren ergibt sich dann aus dem periodischen typischen und zugleich brüsken Auftreten der Psychose, aus der kurzen Dauer und dem fast plötzlichen Aufhören derselben, aus den ängstlichen Delirien, dem triebartigen, ganz unmotivirten Charakter der während des Anfalles begangenen Handlungen, der grossen Brutalität, mit welcher sie verübt werden, und endlich aus der hochgradigen Bewusstseinsstörung und consecutiven, meist vollständigen Amnesie oder wenigstens blos traumhaften, summarischen Erinnerung an das Vorgefallene.[575] Noch zweifelloser wird derselbe durch den Nachweis früher bestandener oder vielleicht noch bestehender gewöhnlicher epileptischer oder epileptiformer Anfälle. In dieser Beziehung ist festzuhalten, dass selbst in frühester Jugend bestandene und scheinbar geheilte Epilepsie noch im reifen Alter eine gewisse Geneigtheit zu periodischen Geistesstörungen bedingen kann und dass häufig die Anfälle evidenter Epilepsie zwar aufhören, dafür aber abortive (epileptoide) zurückbleiben,[S. 939] die mitunter so selten auftreten und unter so unscheinbaren Formen sich verbergen, dass sie der Umgebung gar nicht auffallen und sogar vom Kranken selbst nicht besonders beachtet werden. Insbesondere ist es der epileptische Vertigo, der am häufigsten verkannt wird. Aber auch Anfälle classischer Epilepsie können der Beobachtung entgehen, wenn sie während des Schlafes eintreten. Derartige Anfälle können sich aber durch periodisch eintretende nächtliche Urinincontinenz verrathen, auf welches Symptom, daher wie schon Trousseau hervorhob, reagirt werden muss, wenn der Verdacht auf Epilepsie besteht, ebenso wie darauf, ob nicht unmittelbar nach solchen Nächten an den betreffenden Individuen gewisse Veränderungen des psychischen Verhaltens, der Stimmung, Reizbarkeit oder andere Erscheinungen, wie Kopfschmerz u. dergl., bemerkt wurden. Zwei von Legrand du Saulle mitgetheilte Beispiele mögen das Gesagte illustriren.
Im Mai 1867 erstach ein gewisser Philibert V., 20 Jahre alt, einen friedlichen Familienvater, den er früher nie gesehen hatte, ohne allen Grund auf der Strasse, als dieser gerade aus einem öffentlichen Brunnen Wasser schöpfte. Er wurde in der nächsten Strasse eingeholt und mit dem blutigen Messer in der Hand arretirt. Als der Mann nach einem summarischen Verhör in die Irrenanstalt zur Prüfung seines Geisteszustandes gebracht worden war, fand Legrand du Saulle einen sanften und vernünftigen Burschen, der sich an nichts erinnerte, was mit ihm vorgegangen war, über die Einschliessung sich ganz verwundert zeigte und entlassen zu werden verlangte. Die Anamnese ergab, dass Philibert V., sonst ein fleissiger, ruhiger und nüchterner Arbeiter, von Zeit zu Zeit in eine reizbare, drohende Stimmung verfiel, im aufgeregten Zustand seine Wohnung verliess, meist in der Richtung gegen den Wald von Meudon forteilte und nach 24 bis 48 Stunden in ganz abgehetztem Zustande zurückkehrte, ohne beim besten Willen angeben zu können, was er während der Zeit gemacht, wo er gegessen und wo er geschlafen habe. Den Tag vor der That hatte er in der Weltausstellung zugebracht, hatte darauf die ganze Nacht gelesen, trotz wiederholter Aufforderung seiner Mutter, sich zur Ruhe zu begeben. Am Morgen war er höchst aufgeregt, hatte sich mit Lärm angekleidet, seine Mutter beschimpft und war dann, nachdem er sich in der Küche eines Messers bemächtigt hatte, auf die Strasse gerannt, woselbst er offenbar den ersten Besten, der ihm begegnete, niederstach. Die Amnesie war eine vollständige und auch in der Anstalt selbst wurde noch in demselben Jahre ein analoger Fall von Geistesstörung beobachtet. Der Vater des Mannes litt ebenfalls an Epilepsie und befand sich zur Zeit der That seines Sohnes in einem Irrenhause.
Der zweite Fall betrifft einen gewissen G., ehemaligen Soldaten und dann Cassadiener bei einem Notar. Dieser Mann, welcher während 18 Jahren ein musterhafter Soldat von exemplarischer Nüchternheit gewesen war, erschien von Zeit zu Zeit unruhig, verstimmt, abgespannt und gab dann stets in unbestimmter Weise zu verstehen, dass [S. 940]er wegen der grossen Verantwortung beim Cassadienst seine Stelle niederlegen wolle, erholte sich aber stets schnell von seiner Verstimmung und sprach über die Sache nicht mehr. Eines Tages legte er ganz unerwartet Rechnung, verliess das Haus des Notars, begab sich ganz aufgeregt zu seiner Schwester, sprach mit dieser freundschaftlich, fiel dann plötzlich ohne alle Ursache über sie her und ermordete sie durch 63 (!) Hiebe mit einem Hackmesser. Nach Bicêtre gebracht, wusste er seine That nicht zu erklären und konnte sich nur ganz dunkel an sie erinnern, war von einer herzbrechenden Traurigkeit, weinte häufig und sprach fast gar nicht. Es stellte sich heraus, dass G. schon als Soldat sich zeitweise in der Nacht bepisst hatte, und dass auch in Bicêtre dies von Zeit zu Zeit geschah, dass G. dann immer ganz ermattet erwachte und deshalb liegen blieb. Er selbst hatte wiederholt Militär- und Civilärzte der nächtlichen Harnincontinenz wegen consultirt, jedoch stets die Antwort erhalten, dies geschehe im Traume und könne Jedermann passiren. An Epilepsie dachte Niemand, die doch zweifellos bestand.
c) Das hysterische Irrsein.
Abnorm gesteigerte spinale Reflexerregbarkeit, Geneigtheit zu allgemeinen sowohl als localen Convulsionen, Hyperästhesien und Anästhesien, sowie ganz eigenthümliche Organgefühle bilden bekanntlich den Kern der in ihren Erscheinungsformen ungemein variablen Neurose, die wir Hysterie nennen, welche fast nur beim weiblichen Geschlechte vorkommt, obwohl das männliche davon nicht ganz ausgeschlossen ist (Morel, Charcot). Dieses anomale, wie es scheint, meist in angeborener (ererbter) fehlerhafter Organisation begründete Verhalten des Nervensystemes kommt bei den Hysterischen auch in psychischer Beziehung mehr weniger zum Ausdruck.
Die wichtigste Anomalie besteht im Bereiche des Fühlens als erhöhte Empfindlichkeit und Reizbarkeit, welche bedingt, dass schon durch verhältnissmässig geringe Veranlassungen Affecte ausgelöst werden. Charakteristisch ist der häufige und unmotivirte oder wenigstens unverhältnissmässige und meist in Extremen sich bewegende Stimmungswechsel, der sich unter Anderem auch durch krankhafte Neigung oder Abneigung gegen Personen, Thiere, Beschäftigungen etc., überhaupt durch Launenhaftigkeit kundgibt. In anderen Fällen findet sich eine gewisse Gemüthsstumpfheit, die sich durch boshafte, selbst grausame Handlungen äussert, und nicht selten erreicht die Gemüthlosigkeit, die moralische Verkehrtheit, sowie der daraus entspringende Egoismus einen solchen Grad, dass sich das Bild des moralischen Irrseins ergibt. Häufig sind gewisse Anomalien des geschlechtlichen Fühlens vorhanden, die man seit jeher mit den Begriffen der Hysterie verband, und welche entweder in erhöhter geschlechtlicher Erregbarkeit oder in perversen Aeusserungen des Geschlechtstriebes bestehen, häufig zu Onanie und anderen geschlechtlichen Excessen führen, die wieder für sich[S. 941] auf Körper und Geist ungleich schädigender einwirken als bei sonst gesunden Individuen. Zu den Abnormitäten des Fühlens gehören auch verschiedene eigenthümliche Gelüste, die bekanntlich ebenfalls den Hysterischen häufig zukommen, ebenso wie Capricen anderer Art. Von anderen Eigenschaften Hysterischer ist insbesondere die krankhaft erhöhte Einbildungskraft, die Sucht Aufsehen zu erregen, sowie der Hang zur Lüge und Uebertreibung zu erwähnen; doch ist in letzterer Beziehung zu bemerken, dass Angaben Hysterischer, die sich als unwahr oder als Uebertreibung herausstellen, keineswegs immer auf absichtlicher Feststellung der betreffenden Thatsachen beruhen müssen, sondern auch nur in exaltirter Auffassung des Geschehenen oder, worauf insbesondere Krafft-Ebing aufmerksam machte, in Fehlern der Reproductionstreue begründet sein können, so dass das Individuum von der Richtigkeit seiner Angaben vollkommen überzeugt sein kann, obzwar die Unrichtigkeit derselben ausser allem Zweifel steht.
Die forensische Beurtheilung der leichteren Formen der Hysterie, des sogenannten „hysterischen Temperamentes“, ist im Allgemeinen viel schwieriger, als die des eigentlichen hysterischen Irrsinnes, obwohl gerade erstere wegen der Unverträglichkeit, Reizbarkeit und der Gefühlsperversitäten der betreffenden Personen, ungemein häufig zu Collisionen Veranlassung geben. Insbesondere sind es Ehrenbeleidigungen, Verleumdungen, boshafte und selbst grausame Handlungen, deren sich solche Individuen schuldig machen, oder sie veranlassen Eifersuchts- und andere Scandalscenen, die mit ihrem krankhaften sexuellen Fühlen in irgend einem Nexus stehen, worunter auch fälschliche Anschuldigungen von an ihnen begangener Nothzucht eine Rolle spielen. Auch Diebstähle sind häufig, deren Ursache sich mitunter auf blosse Bosheit oder auf die erwähnten krankhaften Gelüste zurückführen lässt. Sämmtliche diese Handlungen tragen im Allgemeinen das Gepräge wohlbewusster und berechneter Acte, die desto mehr als solche imponiren, je deutlicher ein äusseres Motiv für ihre Begehung nachweisbar ist. Mitunter lässt allerdings das Missverhältniss zwischen letzterem und der That, und die habituelle Geneigtheit zu solchen Handlungen die krankhafte Basis dieser vermuthen, im Allgemeinen ist jedoch diese weniger aus der betreffenden einzelnen Handlung zu erkennen, sondern aus dem Vorhandensein der klinischen Symptome der Hysterie. Diese und ihren Grad zu constatiren und ihren Einfluss auf das Fühlen, Denken und Handeln des betreffenden Individuums zu erörtern, ist Aufgabe des Gerichtsarztes. Wohl selten wird er sich berechtigt fühlen, zu erklären, dass durch das abnorme Fühlen die freie Willensbestimmung vollkommen ausgeschlossen gewesen sei (§. 51 deutsch. St.-G.), oder ganz unmöglich geworden sei (§. 56 österr. St.-G.-E.), noch weniger aber, dass eine gänzliche Beraubung der Vernunft im Sinne des §. 2, lit. a, des gegenwärtigen österr. St.-G.-B. bestanden habe; dagegen wird er häufig zugeben müssen, dass die betreffende[S. 942] Person in Folge ihres Leidens weniger im Stande war, sich zu beherrschen, respective den durch äussere Motive oder durch innere Gefühle aufgetretenen Impulsen zu widerstehen, als unter analogen Verhältnissen der normale Mensch. Sache des Gerichtes wird es sein, diese Thatsache als Milderungsumstand aufzufassen und bei dem Ausmasse der Strafe in Anrechnung zu bringen.
In den schwereren Formen des Hysterismus sind Sinnesdelirien verschiedener Art eine häufige Erscheinung, und diese, sowie die verschiedenen hypochondrischen Sensationen können leicht zur Ausbildung entsprechender Wahnvorstellungen führen, da bei der Hysterie, ebenso wie bei anderen Erscheinungsformen der psychischen Degeneration eine grosse Geneigtheit zur einseitigen Fixirung gewisser Vorstellungen im Bewusstsein und zur primären Verfälschung desselben besteht. In der That ist das Bild, welches solche Individuen dann bieten, jenem der primären Verrücktheit sehr analog, und insbesondere ist hier wie dort der Verfolgungswahn eine häufige Erscheinung, sowie, und zwar noch häufiger, gewisse Formen des religiösen Wahnsinns, namentlich die Besessenheit und die visionär-ekstatischen Zustände.
Maniakische sowohl als melancholische Verstimmungen mit entsprechenden Delirien, sowie die letztgenannten Zustände können im Anschlusse an periodische Anfälle von „hysterischen Krämpfen“ auftreten, denselben vorangehen oder vicariirend für diese sich einstellen. In diesem Falle können wir denselben Aeusserungen begegnen, wie bei den besprochenen analogen Formen der Epilepsie, insbesondere denselben schreckhaften Delirien und Angsthandlungen. Doch sind die Details des ganzen Paroxysmus ungleich variabler als bei der Epilepsie und die Bewusstseinsstörung im Allgemeinen seltener so hochgradig als bei dieser, weshalb auch die Amnesie, welche bei den epileptischen Paroxysmen die Regel ist, bei den rein hysterischen die Ausnahme bildet (Schüle).
Von diesen Erscheinungsformen des hysterischen Irrseins haben die dämonomanischen, sowie die visionär-ekstatischen noch eine besondere Bedeutung einestheils insoferne, als dieselben gläubigen Seelen als Aeusserung der Einwirkung höherer Mächte imponiren, und von religiösen Fanatikern oder Proselytenmachern in ihrem Sinne ausgebeutet werden, anderseits aber, weil sie auch bei anderen disponirten Individuen den Anstoss zum Ausbruch ähnlicher psycho- oder neuropathischer Erscheinungen und so selbst zum Auftreten förmlicher hystero-dämonomanischer, insbesondere unter der Form des Besessenseins sich präsentirender Epidemien Veranlassung geben können, die keineswegs nur dem Mittelalter angehören, sondern auch in unseren Zeiten vorkommen und trotz aller Aufklärung immer wieder zu denselben Verwirrungen bezüglich ihrer Deutung führen.
Eine derartige Epidemie ist im Jahre 1878 und 1879 in Verzegnis in Oberitalien vorgekommen, worüber in der „Rivista sperimentale“, 1879, pag. 89 von Dr. Franzolini berichtet wird. Dieselbe[S. 943] ging aus von einem 26jährigen Mädchen Namens Vidusson, welches bereits seit 8 Jahren Symptome von Hysterie gezeigt hatte, insbesondere Globus hystericus und häufigen unmotivirten Stimmungswechsel. Seit Januar 1878 hatten sich hysterische Krämpfe eingestellt, die anfangs von Jedermann für krankhaft gehalten und darnach behandelt wurden. Allmälig entstand jedoch das Gerede, dass die Krämpfe und das mit diesen verbundene Schreien eine ungewöhnliche Ursache haben müsse und bald war das ganze Dorf sammt Umgebung der Ueberzeugung, dass die V. besessen sei, umsomehr, als auch die Geistlichkeit dieser Ansicht war und öffentliche Exorcismen einleitete, die das Uebel nur verschlimmerten. Trotzdem blieb die V. durch 7 Monate mit ihrer Krankheit isolirt. Erst im Juli fing ein anderes, ebenfalls schon früher hysterisch gewesenes Mädchen an, ähnliche Symptome zu zeigen und sofort darauf ein drittes und viertes, und nachdem diese Erkrankungen ruchbar geworden waren und einen grossen Zusammenlauf von Volk veranlasst hatten, namentlich aber, nachdem die Geistlichkeit im Hause und öffentlich zahlreiche Exorcismen vorgenommen hatte, wurde die Krankheit epidemisch, so dass im Ganzen etwa 40 Frauen und Mädchen von derselben ergriffen wurden. Bei allen bestanden schon früher Erscheinungen gewöhnlicher Hysterie, Globus hystericus, Hyperästhesien, allgemeine sowohl als einzelner Sinne, besonders des Gehörs, vorübergehende motorische und sensible Lähmungen, hohe Reizbarkeit etc. Unter dem Einflusse der obgenannten Umstände steigerten sich diese Erscheinungen nicht nur, sondern es traten auch neue auf in der Form von dämonomanischen, anfallsweise auftretenden Delirien von meist einstündiger Dauer, die meist durch Gemüthsaufregungen, insbesondere durch religiöse Vorgänge (Exorcismen) hervorgerufen wurden. Inhalt des Deliriums bildete stets die Idee des Besessenseins, wobei die Kranken von einem in ihrem Körper sich aufhaltenden bösen Geiste sprachen und sich so benahmen, wie wenn die Schreie und Schimpfworte, die sie ausstiessen, von diesem bösen Geiste ausgehen würden. Nach dem Anfalle verblieben einige in einem Zustand von Somnolenz oder Ermattung, andere dagegen boten ausser mässiger Erregung keine sonstigen Erscheinungen. Alle erklärten, nichts von dem zu wissen, was während des Anfalles mit ihnen geschah, was die untersuchenden Aerzte bezweifeln. Ueberhaupt zeigte sich in diesen wie in anderen Fällen ein sonderbares Gemisch von entschieden pathologischen Erscheinungen und zweifelloser Simulation, eine Thatsache, durch welche sich der begutachtende Arzt nicht beirren lassen wird, um so weniger, als gerade bei Hysterischen die Neigung zu Uebertreibungen, Entstellungen etc. mit zum Krankheitsbilde gehört und ebenso gegenüber thatsächlichen äusseren Vorkommnissen als gegenüber den eigenen Sensationen und pathologischen Symptomen sich geltend machen kann, wobei überdies nicht zu übersehen ist, dass manche Aeusserungen, die als Simulation imponiren, auch nur auf krankhafter Störung der Reproductionstreue beruhen können.
[S. 944]
Auch die visionär-ekstatischen Zustände entwickeln sich aus Hysterie und Hysteroepilepsie, treten ebenfalls anfallsweise auf, meist in Verbindung mit Convulsionen und bestehen in einseitiger traumhafter Fixirung des Bewusstseins durch religiöse Hallucinationen und Wahnvorstellungen in religiös-hallucinatorischer Verzückung mit mehr weniger vollständiger Amnesie für die Dauer des Anfalles. Auch hier begegnen wir, ebenso wie bei den „Besessenen“, in der Regel jener eigenthümlichen Combination mit offenbar simulirten Angaben und Handlungen, deren Grund meist auf von den Kranken selbst oder ihrer Umgebung beabsichtigte Irreführung oder Ausbeutung gläubiger Seelen zu beziehen ist, im besten Falle aus der durch die gefundene Beachtung und vermeintliche Bedeutung geweckten Eitelkeit sich erklärt.
Eine interessante Beobachtung dieser Form hysterischen Irrseins bringt Krafft-Ebing (Lehrb. d. for. Psychop., pag. 200, und Friedreich’s Blätter, 1874, pag. 374), betreffend eine 15jährige, schon als Kind schreckhafte, nervöse Bauerstochter, welche in der Entwicklungsperiode an polymorphen Krämpfen zu leiden hatte, zu welchen sich im weiteren Verlaufe Verlust des Bewusstseins und visionär-ekstatische Zustände hinzugesellten, während deren sie den messelesenden Priester und den Empfang himmlischer Speisung darstellt, später allerhand andere religiöse Pantomimen hinzufügt und im offenbaren Einverständnisse mit ihren Angehörigen eine vollständige Enthaltung von irdischer Nahrung simulirt hatte, weshalb sie wegen Betrug in Anklagestand versetzt wurde.
d) Die alkoholische Geistesstörung.
Es ist zu unterscheiden der Rausch oder die transitorische Geistesstörung, die durch den vereinzelten Genuss grösserer Mengen von alkoholischen Getränken zu Stande kommt, von dem eigentlichen alkoholischen Irrsein, welches in Folge habituellen Missbrauches derselben sich entwickelt.
Der Rausch.
Man kann eine Exaltations- und eine Depressionsperiode des Rausches unterscheiden. Das Exaltations- oder Excitationsstadium umfasst die verschiedenen Grade der erregenden Wirkung des Alkohols. Die niedersten Grade dieser Wirkung, wie sie nach mässigen Dosen dieses Reizmittels sich einstellen, sind allgemein bekannt und bestehen in Hebung der Stimmung, Erhöhung des Muskelgefühls und in Erleichterung der Vorstellungsthätigkeit, somit zunächst in einer Erhöhung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit, deren Erzielung den Hauptgrund des so verbreiteten Genusses alkoholischer Getränke bildet. Von dieser erwünschten Wirkung des Alkohols bis zum eigentlichen Rausche gibt es mannigfache Uebergänge. Die Stimmung wird immer erregter, übermüthiger, die Reizbarkeit wird erhöht, das Benehmen[S. 945] lärmend, streitsüchtig, die Vorstellungsthätigkeit anfangs abnorm beschleunigt, später überstürzt und ungeordnet und daher weniger im Stande, die Handlungen des Betreffenden zu reguliren, insbesondere die gleichzeitig erhöhten Triebe, namentlich den Geschlechtstrieb, in entsprechender Weise zu beherrschen. Mit diesen Erscheinungen geht eine zunehmende Röthung des Gesichtes und Pulserregung einher und die ersten Zeichen beginnender Störung im Bereiche der Sinnesperception, sowie motorische Störungen machen sich bemerkbar. Die Sinneswahrnehmungen, besonders jene des Gesichtes, stehen mit den betreffenden Objecten nicht mehr im richtigen Verhältnisse, werden unrichtig aufgefasst, es kommt zu Fehlern in der Localisation der Objecte, die Sprache wird überstürzt, später lallend, der Gang unsicher, das freie Stehen erschwert. Hiermit ist der Uebergang zum Depressionsstadium gegeben.
Die Sinnesperception wird immer trüber, matter, die Objecte erscheinen wie verschleiert und verschwommen und schliesslich werden nur die gröbsten Sinneseindrücke empfunden. Das Vorstellen wird ungeordnet, die Betäubung immer auffälliger, das Sprechen immer schwerer und geht schliesslich in unverständliches Lallen über; die Unfähigkeit zum Gehen und Stehen nimmt zu, bis endlich das Individuum bewusstlos zusammensinkt und in einen soporösen Zustand verfällt, aus welchem es selbst durch Rütteln, Schreien und ähnliche Eindrücke gar nicht oder nur unvollkommen erweckt werden kann und der dann in tiefen Schlaf übergeht.
Von den hier in Betracht genommenen Gesetzen erwähnt nur das gegenwärtige österr. St.-G. die Rauschzustände ausdrücklich, indem es in §. 2 c eine Handlung oder Unterlassung auch dann für nicht zurechenbar erklärt, wenn dieselbe in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen „vollen Berauschung“ begangen worden ist. Wie der Gesetzgeber diesen Ausdruck verstanden haben wollte, geht aus dem Nachsatze derselben Alinea hervor, welcher lautet: „oder einer anderen Sinnesverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht bewusst war“. Es wäre demnach dieser Begriff im Allgemeinen identisch mit dem der „Bewusstlosigkeit“, wie ihn der §. 56 des österr. St.-G.-E. und der §. 51 des deutschen St.-G. gebrauchen, ohne die Trunkenheit speciell zu erwähnen.[576]
Der Gesetzgeber scheint also ein berauschtes Individuum erst von dem Zeitpunkte an als unzurechnungsfähig anzusehen, von welchem an dessen Unterscheidungsvermögen (in dem oben auseinandergesetzten weiteren Sinne) als gänzlich aufgehoben oder wenigstens hochgradig getrübt anzusehen ist. Dies ist der Fall in den höheren Graden des Depressionsstadiums des Rausches; es[S. 946] unterliegt jedoch keinem Zweifel, dass schon in den früheren Stadien des Rauschzustandes und noch bevor das Unterscheidungsvermögen in dem vom Gesetze offenbar gemeinten Grade alienirt ist, die Fähigkeit des Betreffenden, gewissen Impulsen zu widerstehen, so wesentlich beeinträchtigt sein kann, dass auch schon deshalb die Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben angesehen werden muss. Dies muss umsomehr zugegeben werden, als sich aus dem Gebahren Berauschter unschwer erkennen lässt, dass überhaupt der Einfluss des Alkohols sich früher in Störungen der Selbstbestimmungs- (Selbstbeherrschungs-) Fähigkeit und in Alterationen des Fühlens bemerkbar macht, als in solchen der Intelligenz.[577]
Obgleich im Allgemeinen die verschiedenen Grade der Störung, die sowohl die Intelligenz, als die Selbstbestimmungsfähigkeit im Rausche erleidet, so bekannt sind, dass man meinen sollte, dass Richter und Geschworene allein im Stande wären, sich über das Vorhandensein derselben und ihren Einfluss auf die Zurechnungsfähigkeit selbst ein Urtheil zu bilden, und obzwar, weil diese Meinung allgemein verbreitet ist, in solchen Fällen, wo blos die Trunkenheit des Thäters in Frage kommt, in der Regel eine ärztliche Begutachtung des Geisteszustandes nicht gefordert wird, so ist doch die Beurtheilung solcher Fälle keineswegs eine leichte, einestheils der vielfachen Uebergänge wegen, die zwischen vollkommener und bereits beeinträchtigter Selbstbestimmungsfähigkeit, sowie noch mehr zwischen letzterer und vollkommener Aufhebung derselben existiren, anderseits weil schon unter normalen Verhältnissen eine ganze Reihe individueller und äusserer Umstände die Intensität der Alkoholwirkung beeinflusst, so z. B. von ersteren die Angewöhnung, von letzteren die Qualität (Stärke) des Getränkes, die Menge, die in einer bestimmten Zeit getrunken wurde, die Temperatur des betreffenden Raumes, anderweitige Aufregung etc. Auch ist leicht einzusehen, dass es im Verlaufe des Rausches, so lange das Individuum überhaupt noch handlungsfähig ist, keine Erscheinung gibt, deren Auftreten für sich allein etwa die Grenze zwischen blos geminderter und bereits aufgehobener Selbstbestimmungsfähigkeit bezeichnen würde. Eine solche Erscheinung[S. 947] wäre allerdings der Verlust der Erinnerung, und auf dieselbe zu reagiren ist von besonderer Wichtigkeit. Die Amnesie ist aber natürlich erst nachträglich constatirbar, ihr Nachweis auf objectivem Wege nicht leicht zu führen und Vorsicht in dieser Beziehung umsomehr angezeigt, als bei Individuen, die im Rausche irgend eine strafbare That begangen haben, nichts gewöhnlicher ist, als die naheliegende Angabe der Amnesie. Anderseits schliesst vollkommene Erinnerung an das Vorgefallene eine Unfähigkeit zur Selbstbestimmung keineswegs aus, da ja, wie oben erwähnt, letztere auch bestehen kann, ohne dass der Rausch bis zur „Bewusstlosigkeit“ gediehen sein musste. Letzterer Umstand ist auch deshalb beachtenswerth, weil man bei Laien ganz gewöhnlich der Ansicht begegnet, dass in hoher Trunkenheit begangene Handlungen nothwendig einen confusen verworrenen Charakter an sich tragen müssen, während trotz aufgehobener oder hochgradig beeinträchtigter Selbstbestimmungsfähigkeit noch Handlungen vorkommen können, die sich in ihrer äusseren Erscheinung von frei gewollten nicht wesentlich unterscheiden.
Das Verhalten nach der That ist bei bis zur Unzurechnungsfähigkeit Berauschten keineswegs immer gleich. In vielen Fällen bleibt das Gebahren des Individuums auch nach der That ein dem bisherigen entsprechendes und das Fortdauern dieses Gebahrens, respective das Fortdauern oder gar die Zunahme der Symptome der Trunkenheit ist von hoher diagnostischer Bedeutung, von noch grösserer das etwa bald auftretende Verfallen in jenen tiefen Schlaf, wie er schwere Rauschzustände abzuschliessen pflegt. In anderen Fällen folgt der That eine gewisse Ernüchterung, in Folge welcher der Betreffende die Bedeutung seiner Handlung erkennt und darnach sich zu benehmen vermag. Fälle dieser Art sind ungleich schwieriger zu beurtheilen als die erstangeführten, insbesondere die betreffenden Handlungen umsoweniger von blossen Affecthandlungen zu unterscheiden, je mehr sie in dieser Richtung motivirt erscheinen. Hier ist es besonders angezeigt, sich nicht etwa nur an einzelne Symptome, Motive etc. zu halten, sondern sämmtliche Momente in ihrem Zusammenwirken einer sorgfältigen Würdigung zu unterziehen, um zu einer Abschätzung des Geisteszustandes des Betreffenden im Momente der That zu gelangen.
Wir haben bisher den Alkoholrausch im Auge behalten, wie er sich unter gewöhnlichen Verhältnissen zu äussern pflegt. Forensisch ungemein wichtig ist aber die Thatsache, dass verhältnissmässig häufig abnorme Reactionen gegen Alkoholgenuss vorkommen, die sich entweder dadurch kundgeben, dass schon verhältnissmässig geringe Quantitäten von Alkohol Rauschzustände hervorrufen oder dadurch, dass im Verlaufe letzterer ungleich intensivere oder solche Geistesstörungen eintreten, die beim gewöhnlichen Rausche sich nicht einzustellen pflegen. Krafft-Ebing (l. c. 261) fasst solche abnorme Erscheinungsformen der Alkoholwirkung[S. 948] unter der Bezeichnung „der pathologischen Rauschzustände“ zusammen, eine Bezeichnung, die insoferne nicht ganz richtig ist, als ja auch der gewöhnliche Rausch als ein pathologischer Zustand aufgefasst werden muss.
Der Intoleranz gegen Alcoholica wegen nicht erfolgter Angewöhnung an diese wurde bereits Erwähnung gethan und sie muss insbesondere bei Frauen und sehr jugendlichen Individuen in Betracht gezogen werden. Eine solche kann aber auch aus pathologischen Gründen bestehen, insbesondere als Theilerscheinung einer abnorm labilen Gehirnorganisation, wie bei Hereditariern, bei Epileptikern, in den Anfangsstadien und im weiteren Verlauf von Psychosen, so namentlich in maniakischen Zuständen, beim paralytischen Irrsein, oder sie kann nach der Genesung von Psychosen oder anderen schweren Hirnerkrankungen, namentlich nach Kopfverletzungen, zurückbleiben oder endlich als Theilerscheinung des chronischen Alkoholismus selbst sich entwickeln. Verhältnissmässig geringe Mengen alkoholischer Getränke genügen, um die Functionen solcher defecter Hirne in Unordnung zu bringen, und derartige Individuen werden leicht für gewöhnliche Trunkenbolde gehalten, während der Leichtigkeit und Häufigkeit, mit welcher sie in Rausch verfallen, pathologische Hirnzustände zu Grunde liegen.
Die Rauschzustände selbst gestalten sich bei solchen Individuen leicht abnorm, entweder indem die Excitation den Charakter maniakischer Aufregung annimmt oder indem Delirien auftreten oder beide Zustände sich combiniren. Rauschzustände dieser Art sind meist gefährlichen Charakters und zeigen nicht selten eine gewisse Aehnlichkeit mit aus anderen Ursachen auftretenden transitorischen Manien, mit denen sie auch das Brüske des Auftretens, die tiefe Störung des Bewusstseins, den raschen Verlauf und den Ausgang in tiefen Schlaf mit nachträglicher Amnesie gemein haben.
Alkoholisches Irrsein im engeren Sinne.
Die Summe der krankhaften Veränderungen, die sich in Folge habituellen Uebergenusses alkoholischer Getränke einstellen, pflegt man als chronischen Alkoholismus zu bezeichnen. Das alkoholische Irrsein ist somit eine Theilerscheinung des letzteren.
Die somatischen Veränderungen in Folge chronischen Alkoholismus sind bekannt. Abnorme Fettbildung, sowohl im subcutanen Zellgewebe als insbesondere in den inneren Organen, Leber, Nieren, willkürlicher und unwillkürlicher Musculatur (Herz), sowie an den Gefässen als körnige und fettige Degeneration derselben bildet die klinisch und anatomisch am meisten hervortretende Veränderung. Ferner chronische Catarrhe des Magens, der Lungen, auch des Rachens und der Conjunctiven, Erweiterung der kleinen Gefässe mit consecutiven Stasen, sowohl in der Haut, besonders des Gesichtes, als in den inneren Organen, von denen namentlich die in der Pia meninx und die consecutiven chronischen Oedeme der inneren Hirnhäute,[S. 949] die Verdickungen derselben und die chronische Pachymeningitis zu erwähnen sind. Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, häufige Kopfschmerzen, Schwindel, zunehmende Sehschwäche, gestörter Schlaf, sensible und motorische Störungen, namentlich Muskelschwäche, Tremores, Herzpalpitationen, in schweren Formen lähmungsartige oder Collapsuszustände oder epileptische, beziehungsweise epileptiforme Anfälle vervollständigen das Bild.
Die psychischen Störungen im Verlaufe des chronischen Alkoholismus bestehen entweder in progressiv sich entwickelnder psychischer Schwäche oder in intercurrirenden, mehr weniger anfallsweise auftretenden Psychosen. Häufig sind Combinationen beider Zustände.
Die fortschreitende psychische Schwäche der Alkoholiker pflegt sich zuerst im Bereiche des sittlichen und ethischen Fühlens geltend zu machen, indem sich in dieser Beziehung eine gewisse Stumpfheit kundgibt, die bis zur moralischen Anästhesie sich steigern kann (Moral insanity). Veränderung des Charakters ist hiervon die nächste Folge, die desto mehr auffällt, je weniger sie zufolge des Standes, der Erziehung und des früheren Verhaltens des Individuums erwartet werden kann. Vernachlässigung der gewöhnlichen, früher auch beobachteten Forderungen der Sitte, des Anstandes, der Reinlichkeit inauguriren die geistige Decadenz und insbesondere jene sittliche und gesellschaftliche Verkommenheit, in welche der Trunkenbold schliesslich verfällt. Ungleich später zeigen sich auffallendere Zeichen von Beeinträchtigung der Intelligenz als progressiver Schwachsinn, die schliesslich selbst in Blödsinn übergehen kann. Exacerbationen und Remissionen machen sich bemerkbar; erstere insbesondere nach neuerlichen Alkoholexcessen, wobei die zunehmende Intoleranz gegen Alcoholica immer mehr sich kundgibt. Erhöhte Reizbarkeit, häufiger unmotivirter Stimmungswechsel und zeitweilige Anwandlungen von Sinnestäuschungen, besonders des Gesichtes, sowie von Verfolgungswahnideen sind häufige Erscheinungen. Charakteristisch ist die zunehmende Schwäche der Willenskraft, die den Betreffenden trotz noch vorhandenen Einsicht in das Verderbliche seines Gebahrens verhindert, dem physischen und psychischen Verfall durch Aufgeben oder Mässigen des Alkoholgenusses sich entreissen und ihn immer wieder den herantretenden Versuchen unterliegen lässt.
Man begreift, dass unter solchen Umständen die Fähigkeit, verbrecherischen Impulsen zu widerstehen, frühzeitig eine Beeinträchtigung erfahren muss und dass dieselbe, wenn die psychische Degeneration bereits weiter gediehen ist, leicht vollständig aufgehoben werden kann. Daraus erklärt sich auch das unverhältnissmässig grosse Contingent, welches dem Trunke ergebene Individuen zur Zahl der Verbrecher liefern und nicht minder die auffällig häufigen Recidiven bei diesen.
Von den transitorisch auftretenden psychischen Störungen der Alkoholiker ist zunächst das Delirium tremens seu potatorum[S. 950] zu erwähnen. Man versteht darunter acut auftretende Anfälle maniakischer Aufregung oder Angst von 2- bis 8tägiger Dauer mit specifischen Delirien unter gleichzeitiger Exacerbation der somatischen Symptome des Alkoholismus, besonders der Tremores. Die Anfälle werden meist durch besondere Ursachen ausgelöst, so durch einen starken Rausch, jedoch nicht immer im unmittelbaren Anschluss an diesen, sondern häufig erst 2–3 Tage nach dem Excess, ferner durch heftige Gemüthsaufregungen, durch Verletzungen, acute Erkrankungen, durch epileptische Anfälle, aber auch durch die plötzliche Entziehung des gewohnten Alkoholgenusses, überhaupt durch alle heftigen psychischen oder physischen Eingriffe, und zwar desto leichter, je öfter bereits Anfälle von Delirium tremens aufgetreten waren. In der Regel geht ein kurzes (1–2tägiges) Prodromalstadium voraus, bestehend in Unwohlsein, Kopfschmerz, gastrischen Erscheinungen und Schlaflosigkeit, worauf rasch der Ausbruch des Deliriums erfolgt; der Kranke wird ungemein aufgeregt, unruhig, ängstlich, sucht zu entfliehen, und es treten Hallucinationen auf, besonders des Gesichtes, die sehr häufig Thiervisionen, besonders grosse Mengen kleinerer, selten grösserer Thiere (Mäuse, Käfer, Schlangen, Wölfe), aber auch andere durchwegs schreckende Objecte fast immer in grosser Zahl, z. B. Schaaren von Polizisten, Gespenster u. dergl. zum Gegenstande haben. Das Bewusstsein ist nicht vollständig aufgehoben und man vermag auf lautes Anrufen mitunter verständige Antworten zu erhalten, worauf jedoch alsbald das Bewusstsein von den Hallucinationen occupirt wird. Auch die Erinnerung besteht und der Kranke ist in der Lage, nach erfolgter Genesung über die Vorgänge während des Deliriums ziemlich gut Auskunft zu geben. Während der Dauer des Anfalles besteht Schlaflosigkeit; mit dem ersten guten Schlafe verschwinden meist die Symptome, mitunter aber halten sie noch einige Zeit in abgeschwächtem Grade an. Fieber besteht nur ausnahmsweise, häufig dagegen Albuminurie. Das Delirium tremens findet sich am häufigsten im Mannesalter (zwischen 30–50 Jahren), nur ausnahmsweise bei jüngeren Männern und noch seltener bei Frauen. Habitueller Schnapsgenuss ist in dieser Beziehung ungleich gefährlicher, als der von Wein oder Bier, vielleicht weniger des hohen Alkoholgehaltes wegen, als wegen Mitwirkung des Amylalkohols (Fuselöls) oder, wie beim Absynth, gewisser ätherischer Oele. Auch verdient die Thatsache Beachtung, dass sowohl das Delirium tremens, als der Alkoholismus überhaupt weniger bei solchen Individuen sich einstellt, die isolirte Rausche sich antrinken, dazwischen aber immer nüchtern bleiben, als bei jenen, die in verhältnissmässig kurzen Zwischenräumen monate- oder gar jahrelang, wenn auch immer nur kleinere Quantitäten alkoholischer Getränke geniessen und daher fast perpetuell unter dem Einflusse des Alkohols stehen, wie z. B. Kellner, Gastwirthe, Kutscher etc.
Während des Deliriums sind die Betreffenden sowohl sich als Anderen gefährlich. Sich selbst theils wegen der gestörten[S. 951] Perception der Aussenwelt, die sie z. B. veranlasst, Fenster für Thüren anzusehen, theils in Folge der durch die schreckhaften Sinnesdelirien genährten Angst, die sie zu lebensgefährlichen Fluchtversuchen und nicht selten zum Selbstmorde treibt; Anderen durch Angsthandlungen, in Folge hallucinatorischer oder illusorischer Verkennung der Personen und ihres Gebahrens und der daraus sich ergebenden Wahnvorstellungen.
Eine zweite forensisch besonders wichtige und verhältnissmässig häufige Form von transitorischem Irrsein der Alkoholiker ist die des Verfolgungswahns. Es kommt auf Grundlage der durch den Alkoholismus bewirkten abnormen Sensationen und daraus entspringenden Illusionen oder in Folge aufgetretener Hallucinationen zu hypochondrischer und melancholischer Verstimmung und zu Verfälschungen des Bewusstseins durch Wahnvorstellungen, welche durchwegs eine Bedrohung der eigenen Persönlichkeit durch Andere zum Inhalte haben, ohne dass sonst die Logik des Denkens wesentlich beeinträchtigt wäre. Wir haben es demnach mit demselben Krankheitsbilde zu thun, wie wir es bereits als eine, und zwar häufige Erscheinungsform der primären Verrücktheit kennen gelernt haben. Es kommt eben dem Gehirn des Alkoholikers die gleiche Geneigtheit zu, äussere Eindrücke und innere Sensationen (Hallucinationen und Illusionen) unmittelbar zu Wahnvorstellungen umzusetzen, wie dem anderweitig, insbesondere durch angeborene, namentlich hereditäre Veranlagung defecten. Doch unterscheidet sich der aus Alkoholismus entsprungene Verfolgungswahn von der gleichen Form der primären Verrücktheit theils durch die Anamnese und das gleichzeitige Bestehen anderer Symptome des chronischen Alkoholismus, vorzugsweise aber durch das blos zeitweise oder wenigstens mit Exacerbationen und Remissionen verbundene Auftreten der Verfolgungsideen, sowie auch durch die fortschreitende psychische Decadenz, während der Verfolgungswahn der primären Verrücktheit einen mehr habituellen psychischen Zustand darstellt und durch das ganze Leben bestehen kann, ohne in Blödsinn oder Schwachsinn zu übergehen. Die Hallucinationen und Illusionen, sowie die daraus sich entwickelnden Wahnvorstellungen sind in beiden Fällen dieselben. Auffallend häufig ist der Wahn ehelicher Untreue, eine forensisch sehr beachtenswerthe Thatsache, weil gerade dieser Wahn leicht zu Gewaltthaten führen kann. Auch der Vergiftungswahn ist nicht selten und steht wahrscheinlich mit den so häufigen Catarrhen der Schling- und Verdauungsorgane in einem Zusammenhange.
Eine besondere, allerdings noch weitere Prüfung erfordernde Form transitorischen Irrseins der Alkoholiker sind die von Crothers und Beard (Virchow’s Jahrb. 1872, I, 489) als Trance state beschriebenen transitorischen Zustände der Alkoholiker, während welcher das Individuum sich wie ein bewusstes benimmt, aber nachträglich für das, was in dieser Zeit geschah, keine Erinnerung besitzt. Diese automatischen Zustände, welche in manchen Beziehungen an die bei [S. 952]Hypnotismus oder bei Epilepsie auftretenden erinnern, werden durch neuerlichen Alkoholgenuss hervorgerufen, der aber keineswegs ein übermässiger zu sein braucht. Nach Crothers und Beard ist diese Erscheinung häufig; insbesondere hat Crothers dieselbe in 62 Fällen beobachtet und ist überzeugt, dass eine Menge von verbrecherischen Handlungen in einem solchen die Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden „Trance state“ verübt wurden und, obgleich sie häufig mit dem sonstigen Charakter des Thäters im Widerspruche standen und auch sonst nicht motivirt erschienen, doch in der Regel zur Verurtheilung führten, weil keine schwere Berauschung nachgewiesen werden konnte und die behauptete Amnesie keinen Glauben fand. Crothers theilt seine Fälle in drei Kategorien: erstens solche, in welchen die Geistesthätigkeit während der „Trance“ in den gewohnten Bahnen des Denkens und Handelns verblieb; zweitens solche, in denen ungewohnte Gedanken und Handlungen sich äusserten; und drittens solche, in denen verbrecherische Impulse bestanden.
Die Dipsomanie oder der sogenannte Quartalsuff, d. h. die meist in längeren Intervallen paroxysmusweise sich einstellende Trinkwuth, während welcher sich der Kranke, der in den Intervallen der ordentlichste und nüchternste Mensch sein kann, dem sinnlosesten Trinken ergibt, wobei es ihm schliesslich gar nicht mehr auf die Qualität, sondern auf die Menge und Stärke des alkoholischen Getränkes ankommt, findet sich vorzugsweise bei erblich Belasteten und dürfte, wie vorzugsweise von Magnan und Tamburini (Virchow’s Jahrb. 1884, II, 52 und 1885, I, 515) ausgeführt wurde, nur eine der vielen Formen des hereditären periodischen Irrseins darstellen, welche mit paroxysmalen Trinkimpulsen einhergeht und mit Alkoholismus nur insoferne eine Beziehung hat, als die wiederholten und gehäuften Alkoholexcesse zu diesem und seinen Consequenzen führen können.
Analoge psychische Störungen, wie wir sie nach übermässigem Alkoholgenuss auftreten sehen, können auch in Folge der Einwirkung anderer in die Classe der narcotischen oder ihnen verwandten Gifte gehörenden Substanzen (der sogenannten Hirngifte) auftreten.
Zunächst kann man bei allen mit diesen zu Stande gekommenen acuten Vergiftungen ein Excitations- und ein Depressionsstadium unterscheiden und das erstere, welches nur beim Chloralhydrat vollkommen zu fehlen scheint (Schülle), bietet im Allgemeinen das Bild des Rausches mit mehr oder weniger entwickelter Aufregung und Sinnesdelirien, während dessen Gewaltthaten leicht vorkommen können. Am bekanntesten ist in dieser Beziehung der rauschartige Zustand und die damit verbundene, mitunter hochgradige Aufregung in den ersten Stadien der Chloroform- oder Aethernarcose und der Opiumrausch.
Aber auch nach grösseren Gaben von Morphium (0·015–0·05) wurden solche Zufälle beobachtet, ferner nach Vergiftung mit Solaneen (Hyosciamus, Belladonna, Datura etc.) oder giftigen Schwämmen; ferner nach Einwirkung von Kohlenoxydgas (auch von SH: Eulenberg[S. 953], Gewerbehyg. 143), endlich auch nach Einwirkung der leichten Kohlenwasserstoffe, besonders des Benzins (A. Gabalda, Sur les accid. causés par la Benzine et la Nitrobenzine. Paris 1879), wobei bemerkenswerth ist, dass maniakische Aufregungen auch erst nachträglich, nachdem das Individuum aus dem Betäubungszustande zu erwachen beginnt, auftreten können. Ein solcher Fall, betreffend einen durch Leuchtgas vergifteten und während der Wiederbelebungsversuche maniakalisch gewordenen Arbeiter, findet sich im Jahresbericht f. Pharmacie, 1870, pag. 540, ein anderer von Manie beim Erwachen aus einer Atropinnarcose in der Wiener med. Presse, 1878, Nr. 36.
Noch wichtiger ist die Thatsache, dass habitueller Missbrauch, respective chronische Einwirkung einzelner der genannten Stoffe analoge Veränderungen im Organismus, insbesondere analoge psychische Störungen hervorbringen kann, wie wir sie beim chronischen Alkoholismus kennen gelernt haben. Solche Zustände sind nach lange fortgesetzter Einwirkung von Chloroform, Aether, Benzin, insbesondere aber nach Missbrauch von Morphiuminjectionen beobachtet worden. Der auf letztere Weise herbeigeführte Zustand ist als Morphinismus bekannt. Man kann bei diesem ebenso wie beim Alkoholismus die allmälig zu Stande kommende somatische und psychische Veränderung, den Morphinismus im engeren Sinne, und gewisse intercurrirende, dem Delirium tremens analoge Exaltationszustände unterscheiden. Erstere ist im Allgemeinen ähnlich jener der Alkoholiker, doch fehlt die abnorme Fettbildung und die Kranken magern im Gegentheile ab (Fiedler, Levinstein). Die Hautfarbe wird blass und fahl, der Gesichtsausdruck schlaff, der Blick ausdruckslos, verschwommen. Unsicherer Gang und Tremores, besonders der Zunge, stellen sich ein. Appetit und Geschlechtstrieb schwinden, sensorische und sensible Anästhesie oder Hyperästhesie treten auf, ausserdem zunehmende psychische Schwäche, besonders Abnahme des Gedächtnisses und der Willensenergie, sowie Geneigtheit zu Illusionen und Hallucinationen und zu unmotivirtem Stimmungswechsel.
Die dem Delirium tremens analogen Excitationszustände treten insbesondere nach plötzlicher Entziehung der gewohnten Morphiuminjectionen ein. Es kommt zu hochgradiger Aufregung, Angst und Verzweiflung, Tremor, Hallucinationen und Neigung zum Selbstmord, meist mit Collapserscheinungen beiläufig 12 Stunden nach der Entziehung (Levinstein). Gewaltthaten gegen sich und Andere können in einem solchen Aufregungszustande leicht vorkommen und mit allem Grund empfiehlt Levinstein bei seiner Behandlungsmethode des Morphinismus durch plötzliche Entziehung des Morphiums die sorgfältigste persönliche Ueberwachung seitens des Arztes. Beim hiesigen Strafgericht sind bereits wiederholt Fälle vorgekommen, in welchen der Morphinismus einmal eine Rolle spielte. Einmal bei einem wegen Betruges zu 24stündiger Haft verurtheilten Photographen, bei dessen vorschriftsmässig vorgenommener Leibesvisitation eine Injectionsspritze und Morphiumlösung gefunden und trotz Protestation des Gefangenen [S. 954]verwahrt worden war. Am anderen Tage befand sich der Inhaftirte in der grössten Aufregung, tobte und schrie, er werde wahnsinnig und konnte in keiner Weise beruhigt werden. Der Zustand wurde als Morphinismus erkannt und, da die Haft abgelaufen war, dem Manne das Spritzchen und die Lösung ausgefolgt, worauf sein nächstes Beginnen war, sich noch auf dem Corridor des Gefängnisses eine Injection beizubringen. In einem zweiten Falle hatte ein bei einem Taschendiebstahl ergriffener Arzt (!) sich als Morphiophagen ausgegeben und behauptet, die That in einer durch Morphiummissbrauch (innerlich und durch Injectionen) bewirkten Geistesverwirrung begangen zu haben. Sämmtliche diesbezügliche Angaben wurden als Lügen constatirt und in dem gerichtsärztlichen Gutachten, als gegen Morphinismus sprechend, mit Recht der Umstand hervorgehoben, dass bei dem Betreffenden, obgleich er, während er sich in Beobachtung befand, kein Morphin zu nehmen in der Lage war, gleichwohl nicht jene Erscheinungen auftreten, die nach plötzlicher Entziehung des gewohnheitsmässigen Gebrauches von Morphium unausbleiblich sind. — Den Angaben neuerer Beobachter zufolge (Schmidbauer, Garnier, H. Smith u. A.) sind es vorzugsweise Hereditarier und andere neuropathische Individuen, welche zu Morphinismus, respective zu den dadurch veranlassten dauernden oder transitorischen psychischen Störungen disponiren, was auch bei Beurtheilung forensischer Fälle in Betracht kommen müsste.
Mit den durch toxische Stoffe bewirkten acuten und chronischen psychischen Störungen haben in vielen Beziehungen diejenigen eine Aehnlichkeit, welche durch infectiöse Erkrankungen zu Stande kommen können.
Wir meinen zunächst das Delirium bei acuten Erkrankungen dieser Art, welches in den fieberhaften Stadien bekanntlich zum Bilde vieler derselben gehört. Allgemein bekannt ist das Typhusdelirium und das Delirium bei den acuten Exanthemen, besonders der Scarlatina und der Variola, ferner beim Gesichtserysipel. Aber auch viele andere und darunter sehr gewöhnliche acute Erkrankungen können mitunter mit Delirien einhergehen; so die croupöse Pneumonie, der acute Gelenksrheumatismus und acute septicämische Processe, insbesondere das Puerperalfieber. Aufregung, Sinnestäuschung und hochgradige Bewusstseinsstörung bilden das gewöhnliche Bild des betreffenden Fieberdeliriums, welches auf eine Reizung des Gehirns theils durch die Infectionsstoffe selbst, theils durch die hohen Fiebertemperaturen zurückgeführt werden kann. Für die wesentliche Mitwirkung des letzteren Momentes spricht das Zusammenfallen der Delirien mit den höchsten Temperaturssteigungen und die bei der Insolation (Sonnenstich) gemachte Erfahrung, dass hohe Hitzegrade für sich allein nicht blos schwere Störungen der Hirnfunctionen im Allgemeinen, sondern insbesondere acute Geistesstörungen, theils depressiven, theils maniakischen Charakters herbeizuführen vermögen. Das Delirium muss aber keineswegs auf der Acme der Erkrankung[S. 955] eintreten, sondern kann bereits im Beginne derselben sich einfinden, was insbesondere im sogenannten Ausbruchsstadium der acuten Exantheme geschehen kann. Kinder und jugendliche Individuen bieten am häufigsten diese Erscheinung, aber auch bei Erwachsenen kann sie vorkommen, und es scheinen besonders Alkoholiker und überhaupt solche Individuen dazu zu disponiren, deren Gehirn zu geistiger Erkrankung eine originäre oder erworbene Geneigtheit besitzt.
So haben wir pag. 417 eines Kindes erwähnt, welches von seinem eigenen Vater in Folge eines im Ausbruchsstadium der Blattern aufgetretenen Deliriums aus dem Fenster geworfen worden war. Das gerichtsärztliche Gutachten über den damaligen Geisteszustand des Mannes hat Zippe (Wiener med. Wochenschr. 1877, pag. 128) mitgetheilt. Der Betreffende, M. E., 35 Jahre alt, hatte im Alter von 14 Jahren einen schweren Typhus durchgemacht und im 19. Jahre wurde er von den Flügeln einer Windmühle erfasst und dabei so verletzt, dass er durch mehrere Wochen bewusstlos gelegen haben soll. M. E. ist wirthschaftlich ganz herabgekommen, hat sein eigenes und seiner Frau Vermögen durchgebracht, ist dem Trunke ergeben und hat seit jeher excessiv gelebt. Am 15. October ging er, obgleich sich schon unwohl fühlend, wie gewöhnlich zur Arbeit, kam schon zeitlich Nachmittags nach Hause mit zerrissenen und beschmutzten Kleidern und sah nach Angabe seiner Kinder ganz verändert aus, als ob er krank wäre. Er misshandelte seine Kinder in rohester Weise, wie er es bis dahin nicht gethan hatte und drohte, sie Alle aufzuhängen. Abends erfolgte Nasenbluten. Den ganzen anderen Tag blieb er im Bette und in den ersten Morgenstunden der folgenden Nacht erfolgte die That, während die übrigen Kinder schliefen. Kurz nach derselben fand man M. E. angekleidet an sein Bett angelehnt und er antwortete auf die Frage, wie sein Kind auf die Strasse komme, in roher Weise: „Weil ich es heruntergeschmissen habe“, und weiter, dass er es nicht mehr ernähren könne. Letztere Erklärung gab er auch am Polizeicommissariate ab, woselbst er bis zum 19. Morgens verblieb, dann an das Landesgericht abgeliefert wurde, wo man zahlreiche frische Blatternpusteln an ihm bemerkte und sofort die Uebertragung in das Inquisitenspital veranlasste. Bei der später durch die Gerichtspsychiater vorgenommenen Untersuchung fanden sich zahlreiche noch frische Blatternnarben im Gesicht, und sowohl das Aussehen des Mannes, als die Anamnese liessen den Potator erkennen. Das Gutachten ging mit Recht dahin, dass die That im ersten Fieberdelirium vor dem Ausbruche einer Blatternerkrankung verübt wurde, und es wurde insbesondere ausgeführt, dass M. E. offenbar schon am 15. October erkrankt war und Fiebererscheinungen zeigte, die Vorboten des Blatternausbruches waren und bereits auf das Bewusstsein des M. E. störend eingewirkt hatten und noch mehr im weiteren Verlaufe einwirken konnten, um so leichter, als bei ihm in Folge früherer schwerer Hirnerkrankungen und der Trunksucht eine exquisite Disposition zu Bewusstseinsstörungen vorhanden war.
[S. 956]
Es können ferner die im Verlaufe der genannten Erkrankungen theils als gewöhnliches Delirium, aber auch in Form melancholischer oder maniakischer Psychosen auftretenden Geistesstörungen mit der Erkrankung selbst exacerbiren und remittiren, wie dies insbesondere während des acuten Gelenksrheumatismus wiederholt beobachtet und zuerst von Griesinger hervorgehoben wurde. In anderen Fällen kommt es erst in der Reconvalescenz zu Geistesstörungen, vorzugsweise zu Melancholien mit zeitweiligen Angstanfällen und schreckhaften Sinnesdelirien, seltener zu maniakischen Störungen. Dieselben sind entweder unmittelbare Folge der durch die Erkrankung gesetzten Erschöpfung und Anämie oder letztere sind die Ursache, dass äussere Eindrücke, insbesondere Gemüthsaufregungen, das psychische Gleichgewicht leichter zu stören vermögen als sonst. Die meisten der sogenannten Puerperalpsychosen dürfen sich auf diese Weise deuten lassen.
Bemerkenswerth sind die dauernden psychischen Schwächezustände, die nach schweren Erkrankungen desto leichter zurückbleiben können, je mehr und unmittelbarer dabei das Gehirn betheiligt war, noch mehr die gesteigerte Labilität des psychischen Gleichgewichtes und die Charakterveränderungen ad pejus, die, wie bereits bei der Besprechung des „moralischen Irrseins“ erwähnt wurde, auf Verlust oder Beeinträchtigung der Feinheit des moralischen Sinnes, des moralischen und ethischen Fühlens zurückzuführen sind und in forensischer Beziehung dieselbe Bedeutung besitzen, wie die angeborenen Defecte im Bereiche dieser feinsten Leistung des Menschenhirns. Sämmtliche dieser Folgezustände können in verschiedenen Graden ihrer Ausbildung vorkommen, und es können insbesondere die niederen übersehen oder nicht richtig gedeutet werden, während sie, wenigstens für den Arzt, auffallen und verständlich werden, wenn er das psychische Verhalten des Individuums mit demjenigen vergleicht, welches dasselbe vor seiner Erkrankung dargeboten hatte.
Erwähnung verdient noch die Schlaftrunkenheit, weil auch in diesem Zustande Gewaltthaten begangen werden können und thatsächlich begangen wurden.[578] Man versteht unter Schlaftrunkenheit jenen Zustand der Betäubung, in welchem man sich unmittelbar nach dem Erwachen aus tiefem Schlafe befindet. Gewöhnlich dauert dieser Zustand kaum einen Augenblick, um dann dem vollen Bewusstsein Platz zu machen. Unter gewissen Umständen kann die Betäubung und Unbesinnlichkeit einige Augenblicke andauern und durch die während derselben auftretenden Vorstellungen zu Gewaltthaten führen. Diese Vorstellungen sind entweder solche, die den Betreffenden gerade im Traum beschäftigt hatten, oder sie wurden durch äussere Eindrücke veranlasst, die in dem Augenblicke, in welchem sie das Erwachen des [S. 957]Schlafenden bewirkten, verfälscht in’s Bewusstsein gelangten, oder sie sind durch zufälliges Zusammentreffen beider Momente entstanden. So kann es z. B. geschehen, dass Jemand, der gerade von Mördern träumt, wenn er ganz unerwartet aus tiefem Schlaf geweckt wird, den Weckenden als den ihn bedrohenden Mörder ansieht und ihn darnach behandelt. So sehr man derartige Möglichkeiten zugeben muss, so ist doch einschlägigen Angaben gegenüber die grösste Vorsicht, insbesondere die sorgfältigste Erhebung und Berücksichtigung der concreten Umstände angezeigt, zu welchen u. A. ausser der That selbst und des Zeitpunktes ihrer Verübung, die Festigkeit des Schlafes, die Art und Zeit des Aufweckens, sowie auch das Alter des Individuums (junge Personen scheinen zu solchen Vorkommnissen mehr zu disponiren), gehören würden, ferner von anamnestischen Momenten das bisherige Verhalten des Individuums im Schlafe und die Erhebung, ob nicht etwa aus pathologischen Gründen (psycho- oder neuropathischer Constitution) eine abnorme Reaction auf die betreffenden Eindrücke erfolgt sein konnte.
Das Vorkommen des sogenannten Nachtwandelns soll nicht geleugnet werden, ebensowenig, dass während eines solchen Zustandes eventuell auch Gewaltthaten verübt werden können. Dass jedoch einschlägigen Behauptungen noch weniger unbedingt Glauben geschenkt werden darf, als den eben besprochenen, ist klar. Auch hier wird insbesondere auf die Anamnese und auf etwaige psycho- oder neuropathische Constitution besondere Rücksicht genommen werden müssen, einestheils weil analoge Erscheinungen, insbesondere bei mit letzterer behafteten Personen beobachtet wurden, andererseits weil, wie Maudsley („Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskr.“, pag. 243) richtig bemerkt, es sehr verdächtig erscheinen müsste, wenn der somnambulische Zustand damals, wo das Verbrechen verübt wurde, zum ersten Male aufgetreten sein soll.
Die Grundlage und Vorbedingung einer richtigen Beurtheilung des Geisteszustandes eines Individuums beim Begehen einer concreten Handlung ist die Kenntniss der ganzen psychischen Persönlichkeit, welche nur durch eine sorgfältige Erhebung der Anamnese und durch genaue klinische Untersuchung erlangt werden kann. [579]
[S. 958]
Die Anamnese hat in erster Linie eventuelle erbliche Einflüsse im Auge zu behalten, daher insbesondere zu erheben, ob in der Familie, namentlich bei den Eltern, psycho- oder neuropathische Zustände vorkamen, oder Erscheinungen, die auf solche den Schluss gestatten. Ist Geistesstörung bekannt von Seite des Vaters, der Mutter, der Geschwister oder anderer Familienmitglieder? Sind in der Familie auffallende Charaktereigenthümlichkeiten vorgekommen und welche? Hat ein Selbstmord oder Selbstmordversuch in der Familie stattgefunden, welcher Art, bei welchem Familienmitgliede und in welchem Alter? Waren die Eltern oder Grosseltern des Untersuchten zu einander blutsverwandt und in welchem Grade? Waren die Eltern der Trunksucht ergeben? War ein Familienmitglied mit einer Gehirn-, Rückenmarks- oder einer anderen nervösen Krankheit (Lähmung, Convulsionen, Epilepsie, Chores, Hysterie, Hypochondrie, Neuralgie etc.) behaftet? Leben die Eltern oder Geschwister noch, welche sind gestorben, woran und in welchem Alter? Dies sind die wichtigsten Fragen, welche sich ergeben, und es sind dieselben, welche laut Erlass der niederösterreichischen Statthalterei vom 4. November 1875 bei Abgabe eines Kranken in eine Irrenanstalt von dem diese Abgabe vermittelnden Arzte schriftlich beantwortet werden müssen.
Die weiteren Erhebungen haben sich zunächst zu beziehen auf den Gang der physischen und psychischen Entwicklung des Individuums, namentlich auf die Erziehung und die Erziehungsresultate.
Wie erwähnt, zeigen sich angeborene Schwächen der Intelligenz und andere angeborene psychische Anomalien sehr frühzeitig, sowohl beim Schulunterrichte, als bei der häuslichen Erziehung, und wenn auch das durch sie bewirkte Verhalten des Kindes häufig genug nicht verstanden und ganz unrichtig gedeutet wird, so ist doch gerade die nachträgliche Constatirung dieses Verhaltens nicht selten geeignet, zum Verständnisse des Falles beizutragen. In physischer Beziehung ist auf etwaige Anomalien in dem Eintreten physiologischer Entwicklungserscheinungen, wie des Gehens, Sprechens, Zahnens, insbesondere aber der Geschlechtsreife zu achten, da solche auch als Theilerscheinung einer fehlerhaften Organisation sich ergeben können.
Ebenso ist auf neuropathische Erscheinungen in der Kindheit oder während der erwähnten Entwicklungsperioden zu reagiren, und es sind dabei nicht blos schwere Zustände, z. B. die Epilepsie, im Auge zu behalten, sondern auch die sogenannten Fraisen der[S. 959] Kinder, die Chorea, dann die verschiedenen Formen der sogenannten epileptoiden Zustände, denen, wie bei Besprechung des epileptischen Irrseins erwähnt wurde, eine noch grössere Bedeutung zukommt als der eigentlichen Epilepsie.
Eine besondere Bedeutung besitzt der Nachweis solcher Vorgänge, die erfahrungsgemäss Geisteskrankheiten herbeizuführen oder eine Disposition zu diesen zurückzulassen vermögen. Es gehören hierher insbesondere die Kopfverletzungen (vergl. pag. 318) und eine grosse Reihe von Krankheiten, die die psychischen Centralorgane entweder unmittelbar betrafen oder mittelbar auf dieselben einwirken konnten (vergl. pag. 956), und es wäre hauptsächlich darauf zu achten, ob nicht erst, seitdem solche Einflüsse eingewirkt haben, eine Veränderung des Charakters und Gebahrens des Individuums bemerkt worden ist.
In gleicher Weise ist auf Trunkenheit (eventuell Intoleranz gegen Alcoholica) und auf Onanie oder andere geschlechtliche Ausschweifungen zu reagiren, endlich aber sind auch die äusseren Verhältnisse und Schicksale des Betreffenden einer eingehenden Würdigung und Prüfung zu unterziehen, da es bekannt ist, in welcher Weise dieselben auf die psychische Entwicklung im Allgemeinen und wenn sie sich ungünstig gestalten, auf die Entstehung von Geistesstörungen einzuwirken vermögen und weil eben aus dem Gebahren des Individuums innerhalb der ihm durch seine sociale Stellung angewiesenen Verhältnisse am ehesten die Intelligenz und Gemüthsart, überhaupt der ganze Charakter desselben erschlossen werden kann.
Die Untersuchung des Betreffenden hat sich nicht blos auf den psychischen, sondern auch auf den somatischen Zustand zu beziehen und hat überhaupt nach den Regeln streng klinischer Untersuchung zu geschehen. In somatischer Beziehung ist insbesondere aufzunehmen: 1. Das Alter, Körpergrösse und Körperbau, Ernährungszustand und Hautfarbe. 2. Schädelbildung, wobei insbesondere auf Abnormitäten derselben (Asymmetrien, abnorme Form und Grösse) zu achten ist. Die betreffenden Verhältnisse sind nicht blos durch allgemeine Beschreibung, sondern auch durch Messungen zu constatiren. 3. Gesichtsbildung, und zwar Verhältniss des Gesichtsskelettes zum Schädel, insbesondere Kieferbildung und eventuelle Asymmetrien, Hasenscharten, Spaltung und Asymmetrie des Gaumens, Gesichtsausdruck, motorisches Verhalten der Gesichtsmuskeln (Facialislähmungen, mimische Krämpfe), vasomotorisches Verhalten der Gesichtshaut (leichtes oder asymmetrisches Erröthen bei geringen Veranlassungen), Verhalten des Kopfhaares und Bartwuchses (vergl. pag. 902). 4. Sinnesorgane, besonders: Auge, Blick, Verhalten der Pupillen und der Augenmuskeln (Strabismus, eventuelle Gesichtsfeldeinengung, Daltonismus, Dyschromatopsie); Ohren (angewachsene Ohrläppchen, Fehlen des Helix, henkelförmig abstehende Ohrmuscheln. Gefühl: Hyperästhesien und Anästhesien. Verhalten des Tast- und Wärmegefühles. Gegen[S. 960] Druck empfindliche Stellen der Wirbelsäule besonders am Halse. 5. Verhalten der Zunge beim Hervorstrecken (Zittern), Sprechen: ob Narben an derselben, wie mitunter bei Epileptikern. 6. Verhalten der Musculatur, des Stammes und der Extremitäten, Lähmungserscheinungen (Tremores, Ataxie locomotrice), Zuckungen, automatische Bewegungen. 7. Geschlechtssphäre, Abnormitäten der Genitalien (Hypo-, Epispadie, Kryptorchie, Zwitterbildung, Verkümmerung der Genitalien, Mangel der Schamhaare), Menstruation, hysterogene Zonen, pathologische Processe der inneren Genitalien, insbesondere des Uterus, Aeusserung des Geschlechtstriebes. 8. Verhalten der vegetativen Functionen.
Bei der Untersuchung des psychischen Verhaltens empfiehlt es sich, von den psychischen Grundthätigkeiten, dem Vorstellen, Fühlen und Wollen auszugehen.
Das Vorstellungs- (Denk-) Vermögen ist sowohl in formeller als inhaltlicher Beziehung zu prüfen und daher einestheils zu untersuchen, ob die Aufnahme und Verarbeitung der Vorstellungen in abnorm beschleunigter Weise geschieht oder ob eine allgemeine oder einseitige Behinderung (Hemmung) dieser Thätigkeiten sich bemerkbar macht, und wie sich der logische Zusammenhang der einzelnen Vorstellungen gestaltet, anderseits welcher Vorrath von Wissen und welchen Inhaltes vorhanden ist, insbesondere aber ob Hallucinationen oder Illusionen oder spontan entstandene (objectlose) Ideen bestehen und in diesem Falle, ob der Betreffende sie noch zu corrigiren vermag oder ob sie den Charakter von Wahnvorstellungen angenommen haben. Die Prüfung des Fühlens hat sich nicht blos auf die Constatirung der (exaltirten oder deprimirten) Stimmung und der Geneigtheit zu Gemüthsschwankungen (Affecten) zu erstrecken, sondern auch auf das sittliche und ethische Fühlen, auf das Verhältniss der egoistischen zu den altruistischen Gefühlen und die dadurch bedingte Färbung des Charakters. Ferner auf das sinnliche Fühlen, insbesondere auf das Verhalten des Geschlechtstriebes. Bezüglich der Willenssphäre ist auf die Willensenergie zu reagiren, insbesondere ob, wie beim Blödsinn, Schwäche des Willens, oder wie bei melancholischen Zuständen Hemmung, oder wie bei maniakischer Exaltation Ungebundenheit desselben oder impulsiver triebartiger Drang zu gewissen Handlungen besteht und in welchem Grade der Untersuchte diese Antriebe zu beherrschen vermag.
Die Aeusserungen der psychischen Grundthätigkeiten sind nicht blos für sich allein zu erwägen, sondern auch in ihrem Zusammenhange mit den übrigen und bezüglich des gegenseitigen Einflusses derselben, insbesondere in der Richtung, ob zwischen ihnen ein logisch richtiges Verhältniss besteht oder nicht.
Der Vorgang, welchen man einzuschlagen hat, um zu Erkenntniss der besprochenen Verhältnisse zu gelangen, besteht in der Unterredung mit dem Betreffenden und in der Beobachtung seines Gebahrens.
[S. 961]
Es liegt in der Natur der einschlägigen Fälle, dass bei Einzelnen schon eine einmalige Untersuchung genügt, um die Abgabe eines Gutachtens über den Geisteszustand des betreffenden Individuums zu gestatten, bei anderen aber, und dahin gehört die Mehrzahl, wiederholte, in verschiedenen Zeitabschnitten vorzunehmende, oder eine längere ununterbrochene Beobachtung hierzu nothwendig erscheint. Letzteres ist wohl in der Regel nur in einer Irrenanstalt möglich, und dieser Umstand hat auch die deutsche Strafprocess-Ordnung bestimmt, im §. 81 zu gestatten, dass behufs Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand eines Angeklagten Letzterer durch Gerichtsbeschluss auf Antrag der Sachverständigen und nach Anhörung des Vertheidigers in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werden kann. Doch darf die Verwahrung daselbst 6 Wochen nicht überschreiten. Ist die continuirliche Beobachtung in einer Irrenanstalt nicht möglich oder nicht angezeigt, dann ist es Sache des Gerichtsarztes, sich durch wiederholte Untersuchung (Vorbesuche) über den Geisteszustand des Betreffenden zu instruiren, um dann (im Termin) sein schliessliches Gutachten abgeben zu können.[580] Ueber den Vorgang beim Examen des zu Untersuchenden lassen sich keine Regeln aufstellen; derselbe muss dem Verständniss und dem Tacte des betreffenden Arztes überlassen bleiben. Doch empfiehlt es sich, mit allgemeinen Fragen zu beginnen und erst im weiteren Verlaufe des Gespräches auf Details, insbesondere auf die incriminirte That überzugehen. Opportun erscheint es ferner, nach dem Vorleben, den Familienverhältnissen, Schicksalen etc. des Untersuchten sich zu erkundigen, einestheils weil man dadurch die Anamnese erhebt, anderseits das Vertrauen des Betreffenden erweckt und mit diesen Fragen häufig genug Verhältnisse berührt, die mit der betreffenden Geistesstörung in irgend einem Nexus stehen und deren Schilderung mitunter noch am ehesten den Kranken zur Aeusserung seines Charakters, insbesondere aber von Wahnvorstellungen bewegen kann, die er vielleicht sonst verbirgt. Dass man überhaupt auf Dissimulation von letzteren gefasst sein muss, wurde a. a. O. vielfach hervorgehoben.
Nachdem der Gerichtsarzt durch Erhebung der Anamnese und eigene Untersuchung der wichtigsten Anhaltspunkte für die Beurtheilung der psychischen Persönlichkeit des Angeklagten in ihrer Gesammtheit gewonnen, schreitet er zur Beurtheilung des Geisteszustandes zur Zeit der That, wegen welcher der Betreffende in Anklage steht. Dieselbe erfordert die Erwägung[S. 962] einestheils des psychischen Zustandes des Betreffenden zur Zeit der That, sowie der äusseren Einflüsse, die auf ihn gerade einwirkten, anderseits die der That selbst und des Verhaltens des Thäters vor, während und nach derselben.
In erster Beziehung kommen sowohl physiologische, als pathologische Zustände in Betracht; so das Pubertätsstadium, Menstruation, Schwangerschaft, Entbindungszustand, Wochenbett, Klimacterium, ferner eben bestehende acute oder chronische Erkrankung, sowie Trunkenheit, eventuell toxische Einwirkungen anderer Art. Auch der Einfluss der Hitze, die Ermüdung, Schlaftrunkenheit etc. wird nicht zu übersehen sein, noch weniger aber jener, der aus Zusammenwirkung mehrerer der genannten Momente, sowie dieser und äusserlich provocirter Gemüthsaufregung resultirt.
In zweiter Beziehung ist zu bemerken, dass, wenn es auch keine Handlungen gibt, die für sich allein den geisteskranken Zustand des Thäters beweisen würden, da selbst das Ausgraben und Schänden von Leichen, Menschenfresserei und Vampyrismus, Massenmord und andere Ungeheuerlichkeiten nicht unter allen Umständen Aeusserungen eines Geistesgestörten bilden, sondern auch ebenso, wie z. B. ganz entsetzliche Selbstverstümmelungen, auch nur aus Aberglauben, religiösem Fanatismus oder aus äusserlich bedingter Gemüthsrohheit und selbst, wie z. B. der Massenmord, aus egoistischer Berechnung hervorgegangen sein konnten, so ist doch bei dem Umstande, als Gefühlsstumpfheit auch in Folge angeborenen Defectes vorkommen kann, daran zu denken, ob nicht dieselbe und die durch sie bedingte That aus einem solchen resultirt. Auch wird man sich, wenn z. B. an dem betreffenden Opfer eine Unzahl von Verletzungen oder eine förmliche Zerfleischung gefunden wird, oder mehrere Personen hingeschlachtet wurden, erinnern, dass die Gewaltthaten gewisser Geisteskranker, namentlich der Epileptiker, sich durch ungewöhnliche Brutalität und blindes Wüthen auszeichnen, wenn wir auch zugeben müssen, dass Aehnliches auch nur aus heftigen Affecten hervorgegangen sein konnte.
Aeusserlich ganz unmotivirte Affecthandlungen müssen desto mehr den Verdacht von Geistesstörung erwecken, je schwerer der Charakter der betreffenden Handlung war, je weniger sie daher etwa in die Kategorie jener unbewussten oder halbbewussten Handlungen gerechnet werden kann, die auch von Geistesgesunden aus Zerstreutheit, momentaner „Gedankenabwesenheit“ begangen werden können. Wenn z. B. Jemand auf der Strasse eine ihm ganz fremde Person ohne alle Veranlassung ersticht oder erschiesst, so ist wohl gleich von vornherein die Vermuthung gerechtfertigt, dass man es mit einem Geisteskranken zu thun habe und insbesondere daran zu denken, dass solche Handlungen theils in Folge von Wahnvorstellungen von Verrückten, Wahnsinnigen oder Epileptikern und bei Mania transitoria, theils im Angstaffect von Melancholikern und Epileptikern (bei Ersteren auch als indirecter[S. 963] Selbstmord. d. h. in der Absicht, um hingerichtet zu werden), aber auch als rein impulsive Acte, als Theilerscheinung gewisser hereditär überkommener psychopathischer Zustände vorkommen können.
Ebenso werden gewisse Diebstähle, bei welchen der gestohlene Gegenstand für den Thäter vollkommen werthlos ist und bei welchem auch kein Grund für die Annahme besteht, dass die That nur geschah, um den Eigenthümer zu schädigen oder zu ärgern, den Verdacht auf Geistesstörung erwecken, und auch hier werden wir uns erinnern, dass derartige, im gewöhnlichen Sinne ganz unmotivirte Handlungen für gewisse Formen von Geistesstörung nahezu pathognomisch sind, so namentlich für die epileptische Verwirrtheit und für gewisse Stadien des paralytischen Irrseins.
Ein blosses Missverhältniss zwischen Motiv der That und der Schwere der letzteren beweist für sich allein durchaus nicht, dass dieselbe in geistesgestörtem Zustande begangen wurde, denn es ist bekannt, dass auch Geistesgesunde mitunter aus ganz unbedeutenden Beweggründen schwere Verbrechen begehen, wovon insbesondere die sogenannten Affecthandlungen zahlreiche Beispiele liefern. Morde wegen weniger Gulden und selbst Kreuzer sind auch bei Geistesgesunden keine ganz ungewöhnlichen Vorkommnisse, noch weniger Eigenthumsbeschädigungen, welche den Eigenthümer auf das Empfindlichste treffen, ja ruiniren, während der Thäter nur Unbedeutendes gewinnt. Es ist in solchen Fällen nicht blos die allgemeine Bedeutung des Motives, sondern zunächst diejenige zu erwägen, welche dasselbe für das betreffende Individuum hatte. Dabei wird man allerdings, insbesondere Affecthandlungen gegenüber, nicht vergessen, dass bei krankhaft erhöhter Reizbarkeit unbedeutende Ursachen ungleich leichter schwere Handlungen provociren können, als bei Gesunden, und dass solche ungewöhnliche Reactionen sogar bei vielen Geistesstörungen zum ganzen Bilde derselben gehören.
Viele Handlungen sind schon deshalb auch für Laien auffällig, als sie mit dem sonstigen Charakter des Individuums im Widerspruche stehen, und es empfiehlt sich deshalb allerdings, wie Casper hervorhob, jedenfalls zu erwägen, ob man sich von dem betreffenden Individuum einer solchen That versehen konnte oder nicht. Es wäre jedoch irrig, blos auf diesen Umstand ein Gewicht zu legen, da einestheils verschiedene Verhältnisse auch eine bisher tadellose Person zur Begehung ganz unerwarteter Handlungen bewegen können, anderseits weil eine habituell bestehende oder periodisch sich äussernde Charakterschlechtigkeit auch nur den Ausdruck, beziehungsweise die Theilerscheinung einer erworbenen oder angeborenen Geisteskrankheit bilden kann, wie ja a. a. O. wiederholt hervorgehoben wurde.
Ein grosses Gewicht wird in der Regel darauf gelegt, ob die betreffende That mit Ueberlegung, beziehungsweise mit einer gewissen Berechnung oder gar Planmässigkeit geschehen ist, indem[S. 964] insbesondere das Laienpublicum in dem Nachweis dieser Bedingungen das Hauptkriterion der Zurechnungsfähigkeit erblickt. Dies gilt jedoch keineswegs unbedingt. Auch Geisteskranke können mit Ueberlegung und Planmässigkeit handeln, insbesondere alle jene, bei denen nur ein krankhaftes Fühlen besteht oder isolirte Wahnvorstellungen vorhanden sind, ohne dass jedoch die Fähigkeit zum sonst logisch richtigen Denken verloren gegangen wäre. Insbesondere ist es von den an partieller Verrücktheit, namentlich an Verfolgungswahn Leidenden bekannt, dass sie ihre Wahnideen und auch die aus ihnen hervorgehenden Antriebe nicht blos lange zu verbergen, sondern auch die betreffenden Handlungen mit Berechnung und Planmässigkeit auszuführen verstehen. So berichtet Dufour (Virchow’s Jahresb. 1880, I, 654) über einen mit Verfolgungswahn behafteten Geisteskranken, der, um von seinen eingebildeten, ihn mit angeblichen Vergiftungsversuchen bedrohenden Feinden nach Amerika entfliehen zu können, ein altes, ihm als reich bekanntes Ehepaar überfallen und lebensgefährlich verletzt hatte und dabei so planmässig vorgegangen war, dass er schon mehrere Tage zuvor einen Hammer gekauft, unmittelbar vor der That sich das Gesicht geschwärzt und sogar ein eigenes Leinwandgewand über seine Kleider angezogen hatte, um, wie er nachträglich eingestand, sich dessen leichter entledigen zu können, falls er sich bei der That mit Blut besudeln würde. Ebenso wurde beim hysterischen Irrsein hervorgehoben, dass von Hysterischen die aus ihrem krankhaften Fühlen hervorgegangenen Handlungen nicht selten mit grossem Raffinement ausgeführt werden, um den Verdacht auf Andere zu wälzen. Auch Blödsinnige gehen gar nicht selten mit Berechnung und mitunter mit einer gewissen Schlauheit vor, wie wir ja schon bei ganz kleinen Kindern und selbst bei Thieren beobachten können. Anderseits sind ja sehr viele von entschieden zurechnungsfähigen Individuen verübte Handlungen Thaten des Augenblickes, bei welchen von einer längeren Ueberlegung oder Planmässigkeit nicht die Rede sein kann.
Ein weiterer Werth wird auf das Verhalten des betreffenden Individuums nach begangener That gelegt, und man ist insbesondere geneigt, aus unmittelbar nach der Handlung eingetretener Ernüchterung, Aeusserungen der Reue, Hilfeleistung, namentlich aber aus dem Bestreben, die That zu verbergen oder sich auf andere Art, z. B. durch Flucht, der Strafe zu entziehen, auf Zurechnungsfähigkeit zu schliessen. Man sieht jedoch leicht ein, dass ein derartiges Gebahren zunächst nur beweist, dass der Betreffende sich der bereits begangenen That bewusst geworden ist, nicht aber auch, dass dies in gleicher Weise schon vor und während der Begehung derselben der Fall gewesen war. Auch bei Individuen, die eine That im Zustande hochgradiger Bewusstseinsstörung begangen haben, kann nach derselben und durch dieselbe eine Ernüchterung und eine gewisse Erkenntniss des Vorgefallenen mit den daraus hervorgehenden Consequenzen von Reue, Flucht etc.[S. 965] sich einstellen. Im hochgradigen normalen, sowie im pathologischen Affect begangene Handlungen, zu welchen insbesondere die aus melancholischem Angstaffect hervorgegangenen gehören, sowie manche in der Trunkenheit geschehenen, liefern hiervon Beispiele, und auch bei entschieden Wahnsinnigen kann es geschehen, dass sie ihre That zu verbergen oder zu entstellen trachten.
Man wäre daher nicht berechtigt, aus dem Nachweis des bezeichneten Verhaltens ohne Weiteres positive Schlüsse auf normalen Geisteszustand des Thäters zu ziehen; dagegen läge es näher, an Geistesstörung zu denken, wenn das Verhalten des Thäters nach geschehener That in auffälliger Weise abweichen würde von demjenigen, wie es unter ähnlichen Verhältnissen von einem normalen Menschen erwartet werden sollte und in der Regel bei einem solchen beobachtet wird. Wenn Jemand trotz der eben geschehenen blutigen That fortfährt zu toben und nicht beruhigt werden kann, so müssen wir darin ein ebenso auffälliges Symptom erblicken, wie darin, wenn in einem anderen Falle der Thäter trotz dieser weder eine Aufregung, noch sonstige Gemüthsbewegung erkennen lässt. Letzteres bekundet, dass sich der Betreffende der begangenen Handlung entweder gar nicht bewusst geworden ist, oder eine solche Gemüthsstumpfheit, die desto mehr eine pathologische sein kann, je mehr sie den natürlichsten Regungen widerspricht. In dem berüchtigten Falle Hackler schlief derselbe, nachdem er seine Mutter auf grässliche Weise ermordet und die Leiche unter dem Bette versteckt hatte, in letzterem noch durch zwei Nächte, und zwar, wie er bei der Hauptverhandlung erklärte, so ruhig und gut, dass zwischen diesem und dem sonstigen Schlafe kein besonderer Unterschied zu bemerken war. Die Zwischenzeit hatte der Bursche mit dem Besuch von Wirthshäusern und Theatern ausgefüllt und nach seiner Verhaftung, sowie bei der Hauptverhandlung keine Spur von Reue gezeigt, im Gegentheil eine so hochgradige Gefühllosigkeit, dass er noch vor seiner Hinrichtung ruhig schlief und unmittelbar vor dieser eine reichliche Mahlzeit mit grossem Appetit zu verzehren vermochte! Unwillkürlich drängt sich hier die Annahme auf, dass diese wahrhaft ungeheuerliche Gefühllosigkeit einen pathologischen Grund gehabt haben konnte. In anderen Fällen kann das Unterlassen jeglicher Vorkehrung, um die That zu verbergen oder sich der Strafe zu entziehen, auf Geistesstörung hinweisen, noch mehr aber verworrenes Reden und confuses oder ganz unzweckmässiges Handeln. So wurde ein pensionirter Officier in einem Kaffeehaus betreten, wie er sich einen fremden Winterrock aneignen wollte. Schon am Tage vorher hatte er in demselben Kaffeehause einen Rock entwendet. Mit diesem Rock bekleidet, war er nun wieder erschienen, hatte dadurch selbstverständlich die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und es leicht gemacht, ihn bei dem zweiten Versuche zu ertappen. Die Untersuchung ergab weit gediehenen paralytischen Blödsinn.[S. 966] Ueber die Amnesie und ihre Verwerthung, sowie über den nach gewissen Paroxysmen auftretenden tiefen Schlaf haben wir bereits an anderen Orten gesprochen.
Simulation von Geisteskrankheit ist keineswegs so häufig, wie gewöhnlich angenommen wird, einestheils weil, wie Kreusser („Ueber Simulation von Geisteskrankheiten.“ Württemb. med. Correspondenzbl. 1882, pag. 283) richtig bemerkt, der Explorand sich in der Regel wohl bewusst ist, dass er, im Falle er für geisteskrank erklärt werden sollte, in eine Irrenanstalt kommen würde, was er begreiflicher Weise perhorrescirt, anderseits aber vorzugsweise deshalb, weil eine gelungene, d. h. auch den Sachverständigen zu täuschen geeignete Simulation einer Geistesstörung neben psychiatrischen Kenntnissen eine Energie und Ausdauer, eine Entfaltung von psychischer und physischer Anspannung erfordert, die kaum möglich ist.[581] In der Regel provociren die Simulanten in der Meinung, dass bei Geisteskranken Alles verkehrt sein müsse, die unsinnigsten Dinge, wodurch sie sich eben verrathen. So antwortete ein von Snell („Ueber Simulation von Geistesstörungen.“ Allg. Zeitschr. f. Psych. XXXVII, pag. 257) untersuchter Simulant auf die Frage, wie alt er sei: „100 Kilometer“, legte sich Abends verkehrt in’s Bett, behauptete, 5 Ohren, 5 Augen, 5 Pfund Nasen und 20 Finger zu haben, nannte einen grossen Thorschlüssel Uhrschlüssel, multiplicirte „2 mal 4 ist 6 und 2 mal 5 ist 8“ u. s. w. „Vergessen der gewöhnlichsten Dinge,“ sagt Snell, „kommt allerdings auch bei gewissen Krankheiten, z. B. Blödsinn, Paralyse, vor. Wenn aber ein Mensch, der noch vor wenigen Tagen oder Wochen im Besitze seiner vollen Gesundheit war, vorgibt, nicht mehr schreiben oder lesen zu können, Namen und Heimat nicht mehr weiss und consequent falsche Angaben macht, so ist damit die Simulation erwiesen.“ In zweifelhaften Fällen ist die Beobachtung in einer Anstalt angezeigt. Nicht zu übersehen ist, dass auch Geisteskranke simuliren und dissimuliren können, und dass Geisteskrankheit und Simulation sich keineswegs ausschliessen. Auch wird von den meisten Beobachtern (Lasègue, Snell, Garnier, Fritsch s. Virchow’s Jahrb., 1888, I, pag. 464) die Häufigkeit des Zusammentreffens von Simulation mit wirklicher geistiger Erkrankung betont, und es scheinen namentlich die originär abnormen Individuen hierbei das Hauptcontingent zu liefern.
Mit dem Nachweise, dass die incriminirte Handlung unter dem Einflusse eines anomalen Geisteszustandes geschehen ist, ist die Aufgabe des Gerichtsarztes keineswegs abgethan, sondern es erübrigt noch, einestheils den betreffenden Zustand unter die vom[S. 967] Gesetze gebrauchten Ausdrücke zu subsumiren, zweitens aber gewissen, aus den auf die Unzurechnungsfähigkeit bezüglichen Gesetzparagraphen sich ergebenden Anforderungen zu entsprechen.
Der §. 2 des gegenwärtigen österr. St.-G. rechnet eine Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zu: a) wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist; b) wenn die That bei abwechselnder Sinnesverrückung, zur Zeit, da die Verrückung dauerte, oder c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung oder einer anderen Sinnesverwirrung, in welcher sich der Thäter seiner Handlung nicht bewusst war, begangen worden ist. Dass diese Ausdrücke grösstentheils ganz veralteten Anschauungen entsprechen, bedarf keiner Auseinandersetzung, trotzdem hat sich der Gerichtsarzt denselben zu accommodiren. Dies ist insoferne nicht schwierig, als, wie sowohl aus dem Sprachgebrauche, als insbesondere aus der Fassung des ersten Absatzes des §. 134 der österr. St.-P.-O. (v. pag. 875) und der darin enthaltenen Gegenüberstellung der „Vernunftberaubung“ und der „Geistesstörung“ hervorgeht, der Gesetzgeber unter ersterer zunächst die hochgradigen psychischen Schwächezustände, insbesondere die schweren Formen des Blödsinns verstanden haben wollte, wobei der Ausdruck „ganz“ hinzugesetzt wurde, um solche Zustände von geringen Graden pathologischer und anderweitiger Intelligenzschwäche, der „Schwäche des Verstandes“ auseinander zu halten, die im §. 46 nur als Milderungszustand, keineswegs aber als Strafausschliessungsgrund erklärt wurden. Die Ausdrücke „Sinnesverrückung“ und „Sinnesverwirrung“ sind daher auf Geistesstörungen im engeren Sinne zu beziehen, und wird namentlich die Unterbringung der mit Wahnvorstellungen, überstürztem Vorstellen oder mit Unbesinnlichkeit, respective Verworrenheit verbundenen Geistesstörungen unter diese Bezeichnung keinen Schwierigkeiten unterliegen. Am schwierigsten ist die Einrangirung derjenigen psychopathischen Zustände, die weniger oder gar nicht mit Störungen des Intellects einhergehen, sondern vorzugsweise im abnormen Fühlen und Streben beruhen, wie z. B. der reinen Melancholie, der maniakalischen Exaltation, insbesondere aber der Formen des moralischen Irrseins. In diesen Fällen wird es, wenn sich der Zustand nicht etwa als „unwiderstehlicher Zwang“ im Sinne der lit. g des §. 2 auffassen lässt, angezeigt sein, eine solche Einreihung desselben unter die genannten Bezeichnungen ganz aufzugeben und sich nur auf die Darlegung und Beurtheilung des pathologischen Geistes- oder Gemüthszustandes als solchen und in Bezug auf die incriminirte That zu beschränken, wie dies auch der offenbar auf moderneren Anschauungen fussende §. 134 der St.-P.-O. fordert.
Ueber die „volle Berauschung“ haben wir uns bereits a. a. O. (pag. 945) geäussert.
Das deutsche Strafgesetz (§. 51) kennt nur zwei psychopathische Zustände, welche die Strafbarkeit einer That ausschliessen,[S. 968] nämlich: „die Bewusstlosigkeit“ und die „krankhafte Störung der Geistesthätigkeit“, wenn durch diese die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
Nach dieser Bestimmung ist vorhanden gewesene Bewusstlosigkeit unter allen Umständen Strafausschliessungsgrund, möge sie nun durch Krankheit (z. B. Delirium, Epilepsie) oder anderweitig, z. B. durch Berauschung, Intoxication oder durch Schlaftrunkenheit, bedingt worden sein, eine sonstige Störung der Geistesthätigkeit zunächst nur dann, wenn sie als krankhafte erkannt wird, durch welches Epitheton andere Störungen der Geistesthätigkeit, wie sie namentlich durch gewöhnliche Affecte veranlasst werden können, ausgeschlossen sind, welche, wenn sie sich innerhalb der Breite des Normalen abspielen, nur als Strafmilderungsgrund aufgefasst werden, analog dem §. 46 lit. d des österr. St.-G., der ausdrücklich als Milderungsgrund ansieht, wenn der Thäter „in einer aus dem gewöhnlichen Menschengefühle entstandenen heftigen Gemüthsbewegung“ sich zu dem Verbrechen hat hinreissen lassen.
Die genannten Bezeichnungen bedürfen keiner näheren Definition und ihre ausdrückliche Erwähnung erleichtert die Aufgabe des Gerichtsarztes ungemein. Trotzdem macht sich eine Lücke bezüglich der angeborenen psychischen Schwächezustände, des angeborenen Blödsinns bemerkbar, dessen Formen weder unter den Begriff der Bewusstlosigkeit, noch, wenigstens nicht ohne einigen Zwang, unter den der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit gebracht werden können, da beide Zustände sowohl nach dem allgemeinen Sprachgebrauche als in der im §. 51 gebrauchten Fassung die Annahme einer früher bestandenen normalen Geistesthätigkeit voraussetzen. Diese Lücke hat der §. 56 des österr. St.-G.-Entw. nach unserer Meinung glücklich beseitigt, indem er dem Ausdrucke „krankhafte Störung“ jenen der „krankhaften Hemmung oder Störung“ substituirte, unter welchen Ausdruck nicht nur blos der angeborene Blödsinn, sondern auch andere psychische Entwicklungshemmungen, insbesondere die Taubstummheit, leicht und in wissenschaftlich ganz correcter Weise untergebracht werden können, während im deutschen St.-G. bezüglich der Zurechnungsfähigkeit der Taubstummen ein eigener Paragraph (§. 58) aufgenommen werden musste.
Ob mit der Erklärung, dass eine Handlung im Zustande krankhafter Hemmung oder Störung der Geistesthätigkeit begangen wurde, die Aufgabe des Gerichtsarztes beendigt sei, oder ob er noch zu erörtern habe, ob durch dieselbe „die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ (§. 51 deutsches St.-G.), beziehungsweise ob dieselbe es dem Thäter „unmöglich machte, seinen Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung einzusehen“ (§. 56 österr. St.-G.-Entw.), ist Gegenstand vielfacher Erörterungen gewesen. In Deutschland scheint man weitere Erörterungen von Seite des Arztes grundsätzlich zu perhorresciren,[S. 969] wie insbesondere aus den Motiven zum §. 51 hervorgeht, in welchen erklärt wird, dass man bei der gewählten Fassung des Paragraphen mit den Schlussworten hat ausdrücken wollen, dass die Schlussfolgerung selbst, nach welcher die freie Willensbestimmung in Bezug auf die Handlung ausgeschlossen war, die Aufgabe des Richters ist (Liman, Handbuch. I, 423). Dagegen heisst es im Motivenbericht zum §. 56 des österr. St.-G.-Entw.: „Der Ausdruck „Unzurechnungsfähigkeit“ wurde im Gesetze mit Absicht vermieden und dadurch die Unzuträglichkeit beseitigt, dass der Gerichtsarzt gefragt wird, ob Jemand zur Zeit der Verübung einer That zurechnungsfähig war oder nicht. Die Zurechnungsfähigkeit ist nämlich ein rein juristischer Begriff; der Arzt hat darüber nichts auszusagen, sondern nur zu erklären, ob der Angeklagte zur Zeit der Verübung der That derart geisteskrank war, dass er seinen Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung nicht einzusehen vermochte.“ Diese Anschauung ist unstreitig die richtigere. Die Einmischung des Arztes in die Fällung des Schlussurtheils, ob die Handlung des Angeklagten zur Schuld und Strafe zuzurechnen sei oder nicht, das ist es, was der Jurist vermieden wissen will und was stets und mit Recht perhorrescirt worden ist; die Erörterung jedoch, ob und welchen Einfluss eine krankhafte Störung, respective Hemmung der Geistesthätigkeit auf die Einsicht und Willensbestimmung im Allgemeinen, sowie insbesondere bezüglich der betreffenden Handlungen ausgeübt habe, fällt zweifellos noch in das Bereich ärztlicher Beurtheilung und dieselbe ist erfahrungsgemäss nicht blos den Richtern und Geschworenen erwünscht, sondern geradezu unvermeidlich, ausserdem auch deshalb ohne Beeinträchtigung des richterlichen Wirkungskreises thunlich, weil ja schliesslich doch weder die Richter, noch die Geschworenen an das Gutachten des Arztes gebunden sind, sondern nach ihrer eigenen Ueberzeugung ihr Urtheil abzugeben haben. Für den österreichischen Gerichtsarzt ist sogar ein solcher Vorgang durch die St.-P.-O. ausdrücklich vorgeschrieben, da es im 2. Absatze des §. 134 heisst:
„— Die Gerichtsärzte haben über das Ergebniss ihrer Beobachtungen Bericht zu erstatten, alle für die Beurtheilung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschuldigten einflussreichen Thatsachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung sowohl einzeln, als im Zusammenhange zu prüfen und, falls sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestimmen und sich sowohl nach den Acten als nach ihrer eigenen Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen die Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen des Beschuldigten geäussert habe und noch äussere, und ob und in welchem Masse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit der begangenen That bestanden habe.“
Die heikle Seite bei der forensischen Beurtheilung einschlägiger Fälle liegt auch gar nicht in der Frage, wem die Erörterung des Einflusses des constatirt krankhaften Geisteszustandes auf die freie Willensbestimmung, beziehungsweise Einsicht zukomme, sondern erstens in der Unmöglichkeit einer genauen Definition und Abgrenzung des Begriffes „freie Willensbestimmung“ auch in der[S. 970] von uns (pag. 878) gegebenen Auffassung, zweitens in dem Fehlen einer scharfen Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit, drittens in der Thatsache, dass die Begriffe „krankhafte Störung (oder Hemmung) der Geistesthätigkeit“ und „Ausschluss, resp. Unmöglichkeit der freien Willensbestimmung oder Einsicht“ sich keineswegs decken, sondern erstere bis zu einem gewissen Grade auch ohne eine so intensive Beeinflussung des Willens, beziehungsweise der Einsicht, bestehen kann, wie sie der Gesetzgeber zufolge der Fassung der betreffenden Gesetzesstellen offenbar im Auge hatte, wovon der „Schwachsinn“, die niederen Grade des Rausches, insbesondere aber gewisse weniger intensive Grade theils angeborener, theils erworbener erhöhter Reizbarkeit oder Perversität des Fühlens zahlreiche und häufig vorkommende Beispiele liefern.
Dieser Thatsache gegenüber halfen sich einzelne Strafgesetze entweder, wie z. B. das frühere bayerische, durch die ausdrückliche Anerkennung einer „geminderten Zurechnungsfähigkeit“, oder, wie das gegenwärtige österreichische (§. 46), durch Aufnahme wenigstens einzelner solcher pathologischer Zustände (Verstandesschwäche) unter die Milderungsumstände, während das deutsche St.-G. und ebenso der österr. St.-G.-Entw. keines von beiden thun, indem sie offenbar voraussetzen, dass, wenn einmal das Individuum als zurechnungsfähig erkannt worden ist, die etwa trotzdem bestandenen pathologischen Verhältnisse und ihr Einfluss auf die Begehung der That vom Gerichte beim Strafausmass werden in Betracht gezogen werden, da beide Strafgesetze eben in Berücksichtigung der vielfachen Umstände, die eine strafbare That bald in milderem, bald in schwererem Lichte erscheinen lassen können, in dieser Beziehung dem Richter einen ungleich grösseren Spielraum gewähren, als dies in anderen Strafgesetzen der Fall ist.
Es ist gegenüber dem gegenwärtigen Standpunkt der Strafrechtspflege eine rein juristische Frage, welche der genannten Bestimmungen am zweckmässigsten erscheint. Für den Gerichtsarzt ist es wichtig, zu wissen, dass auch dann, wenn er anstehen muss, sich dafür auszusprechen, dass die Willensbestimmung oder Einsicht unmöglich (ausgeschlossen) waren, oder wenn das Gericht sein im letzteren Sinne abgegebenes Gutachten nicht acceptirt, dennoch die pathologischen Verhältnisse, die etwa die Begehung der incriminirten That beeinflussten, nicht ganz unberücksichtigt bleiben, sondern beim Strafausmass in die Waagschale gelegt werden, weil ihm diese Thatsache die Begutachtung zweifelhafter Fälle wesentlich erleichtert, indem sie ihn abhält, schon leichtere Beeinflussungen des Willens oder der Einsicht, blos weil sie krankhafter Natur sind, in gleich rigoroser Weise zu begutachten, wie dies gegenüber intensiveren angezeigt ist. Die richtige Grenze zu treffen ist selbst bei der gewissenhaftesten und sorgfältigsten Erwägung aller Umstände des concreten Falles nicht leicht, und eben deshalb muss es den ärztlichen Sachverständigen erwünscht[S. 971] sein, dass die endgiltige Entscheidung, ob die Willens- oder Einsichtsbehinderung in der That in dem vom Gesetzgeber zur Unzurechnungsfähigkeit erforderlichen Grade vorhanden war oder nicht, dem Gerichte selbst, beziehungsweise der subjectiven Ueberzeugung der Geschworenen vorbehalten bleibt.
Oesterr. Allg. bürgerl. G.-B.
§. 21. Diejenigen, welche wegen Mangel an Jahren, Gebrechen des Geistes oder anderer Verhältnisse wegen ihre Angelegenheiten selbst gehörig zu besorgen unfähig sind, stehen unter dem besonderen Schutze der Gesetze. Dahin gehören: Kinder, die das siebente, Unmündige, die das 14., Minderjährige, die das 24. Jahr ihres Lebens noch nicht zurückgelegt haben; dann Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige, welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder gänzlich beraubt oder wenigstens unvermögend sind, die Folgen ihrer Handlungen einzusehen.
§. 48. Rasende, Wahnsinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser Stande, einen giltigen Ehevertrag zu errichten.
§. 49. Minderjährige — — — sind auch unfähig, ohne Einwilligung ihres ehelichen Vaters (beziehungsweise der Gerichtsbehörde) sich giltig zu verehelichen.
§. 173. Gerechte Ursachen, die Fortdauer der väterlichen Gewalt bei Gericht anzusuchen, sind: wenn das Kind ungeachtet der Volljährigkeit wegen Leibes- oder Gemüthsgebrechen sich selbst zu verpflegen oder seine Angelegenheiten zu besorgen nicht vermag.
§. 176. Wenn ein Vater den Gebrauch der Vernunft verliert, — — — so kommt die väterliche Gewalt ausser Wirksamkeit und es wird ein Vormund bestellt.
§. 191. Untauglich zur Vormundschaft überhaupt sind diejenigen, welche wegen ihres minderjährigen Alters, wegen Leibes- oder Geistesgebrechen, oder aus anderen Gründen ihren eigenen Geschäften nicht vorstehen können.
§. 269. Für Personen, welche ihre Angelegenheiten nicht selbst besorgen und ihre Rechte nicht selbst verwahren können, hat das Gericht, wenn die väterliche oder vormundschaftliche Gewalt nicht Platz findet, einen Curator oder Sachwalter zu bestellen.
§. 270. Dieser Fall tritt ein: Bei Minderjährigen, die in einem besonderen Falle von dem Vater oder Vormunde nicht vertreten werden können; bei Volljährigen, die in Wahn- oder Blödsinn verfallen; bei erklärten Verschwendern; bei Ungeborenen, zuweilen bei Taubstummen.
§. 273. Für wahn- oder blödsinnig kann nur derjenige gehalten werden, welcher nach genauer Erforschung seines Betragens und nach Einvernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu verordneten Aerzte gerichtlich dafür erklärt wird.
§. 275. Taubstumme, wenn sie zugleich blödsinnig sind, bleiben beständig unter Vormundschaft; sind sie aber nach Antritt des fünfundzwanzigsten Jahres ihre Geschäfte zu verwalten fähig, so darf ihnen wider ihren Willen kein Curator gesetzt werden; nur sollen sie vor Gericht nie ohne einen Sachwalter erscheinen.
§. 283. Die Curatel hört auf, — — — wenn die Gründe aufhören, die den Pflegebefohlenen an der Verwaltung seiner Angelegenheiten verhindert haben. Ob ein Wahn- oder Blödsinniger den Gebrauch der Vernunft erhalten habe, — — — muss nach einer genauen Erforschung der Umstände, aus einer anhaltenden Erfahrung und zugleich aus den Zeugnissen der zur Untersuchung von dem Gerichte bestellten Aerzte entschieden werden.
§. 310. Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, sind an sich unfähig, einen Besitz zu erlangen. Sie werden durch einen Vormund oder Curator vertreten. Unmündige, welche die Jahre der Kindheit zurückgelegt haben, können für sich allein eine Sache in Besitz nehmen.
§. 565. Der Wille des Erblassers muss bestimmt, nicht durch blosse Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muss im Stande der vollen Besonnenheit, [S. 972]mit Ueberlegung und Ernst, frei von Zwang, Betrug und wesentlichem Irrthum erklärt werden.
§§. 566 und 567 (Testirfähigkeit Geisteskranker vide später).
§. 569. Unmündige sind zu testiren unfähig. Minderjährige, die das 18. Jahr noch nicht zurückgelegt haben, können nur mündlich vor Gericht testiren. Das Gericht muss durch eine angemessene Erforschung sich zu überzeugen suchen, dass die Erklärung des letzten Willens frei und mit Ueberlegung geschehe. Die Erklärung muss in ein Protokoll aufgenommen und dasjenige, was sich aus der Erforschung ergeben hat, beigerückt werden. Nach zurückgelegtem 18. Lebensjahre kann ohne weitere Einschränkung ein letzter Wille erklärt werden.
§. 591. Die Mitglieder eines geistlichen Ordens, Frauenspersonen und Jünglinge unter 18 Jahren, Sinnlose, Blinde, Taube oder Stumme, dann diejenigen, welche die Sprache des Erblassers nicht verstehen, können bei den letzten Anordnungen nicht Zeuge sein.
§. 597. Bei letzten Anordnungen, welche auf Schifffahrten und in Orten, wo die Pest oder ähnliche ansteckende Seuchen herrschen, errichtet werden, sind auch Mitglieder eines geistlichen Ordens, Frauenspersonen und Jünglinge, die das 14. Jahr zurückgelegt haben, giltige Zeugen.
§. 865. Wer den Gebrauch der Vernunft nicht hat, wie auch ein Kind unter 7 Jahren, ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder anzunehmen.
Oesterr. St.-G.-Entwurf.
§. 84. — — — für Minderjährige, für Geisteskranke und für Körperschaften übt dieses Recht (die Verfolgung zu beantragen) deren gesetzlicher Vertreter, und wenn dieser selbst der Schuldige ist, jene Person, welche von der Pflegschaft oder von der Aufsichtsbehörde hierzu bestimmt ist.
Minderjährige, welche das 18. Lebensjahr zurückgelegt haben, können das Recht auch selbstständig ausüben.
Deutsches St.-G.
§. 65. Der Verletzte, welcher das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist selbstständig zu dem Antrage auf Bestrafung berechtigt.
So lange der Verletzte minderjährig ist, hat der gesetzliche Vertreter desselben, unabhängig von der eigenen Befugniss des Verletzten, das Recht, den Antrag zu stellen.
Bei bevormundeten Geisteskranken und Taubstummen ist der Vormund nur zur Stellung des Antrages berechtigt.
Preuss. Allgem. Landrecht.
Thl. I, Tit. 1, §. 27. Rasende und Wahnsinnige heissen diejenigen, welche des Gebrauches ihrer Vernunft gänzlich beraubt sind.
§. 28. Menschen, welche das Vermögen, die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen, ermangelt, werden Blödsinnige genannt.
§. 29. Rasende und Wahnsinnige werden, in Ansehung der von dem Unterschiede des Alters abhängenden Rechte, den Kindern (unter 7 Jahren, vergl. Thl. I, Tit. 4, §. 23), Blödsinnige aber den Unmündigen gleich geachtet.
§. 31. Diejenigen, welche wegen nicht erlangter Volljährigkeit oder wegen eines Mangels an Seelenkräften ihre Angelegenheiten nicht gehörig wahrnehmen können, stehen unter der besonderen Aufsicht und Vorsorge des Staates.
Thl. I, Tit. 4, §. 28. Personen, welche durch den Trunk des Gebrauches ihrer Vernunft beraubt wurden, sind, so lange ihre Trunkenheit dauert, den Wahnsinnigen gleich zu achten.
§. 29. Den Wahnsinnigen gleich zu achten sind diejenigen, welche durch Schrecken, Furcht, Zorn oder andere heftige Leidenschaften in einen Zustand versetzt wurden, worin sie ihrer Vernunft nicht mächtig waren.
Thl. I, Tit. 12, §. 21. Personen, die wegen Wahnsinns oder Blödsinns unter Vormundschaft genommen worden, sind, so lange die Vormundschaft dauert, letztwillige Verordnungen zu verrichten unfähig.
§. 20. Personen, die nur zuweilen ihres Verstandes beraubt sind, können in lichten Zwischenräumen von Todeswegen rechtsgiltig verordnen.
§. 147. Ist dem Richter bekannt, dass der Testator zuweilen an Abwesenheit des Verstandes leide, so muss er sich vollständig überzeugen, dass derselbe [S. 973]in dem Zeitpunkte, wo er sein Testament aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstandes wirklich mächtig sei.
§. 148. Findet er dieses zweifelhaft, so muss er Sachverständige zuziehen.
Thl. II, Tit. 1, §. 698. Raserei und Wahnsinn, in welchen ein Ehegatte verfällt, können die Scheidung nur alsdann begründen, wenn sie über ein Jahr ohne wahrscheinliche Hoffnung zur Besserung fortdauern. (Blödsinn ist ein Scheidungsgrund.)
Tit. 18, §. 12. Wahnsinnige oder Blödsinnige, welche nicht unter Aufsicht eines Vaters oder Ehemannes stehen, müssen vom Staat unter Vormundschaft genommen werden.
§. 13. Wer für wahnsinnig oder blödsinnig zu erachten sei, muss der Richter mit Zuziehung sachverständiger Aerzte prüfen und festsetzen.
§. 15. Taubstumm Geborene, ingleichen diejenigen, welche vor zurückgelegtem 14. Jahre in diesen Zustand gerathen sind, müssen, sobald sie nicht mehr unter väterlicher Aufsicht stehen, vom Staate bevormundet werden.
§. 16. Diejenigen, welche erst in späteren Jahren taubstumm geworden sind, müssen nur alsdann unter Vormundschaft genommen werden, wenn sie sich durch allgemein verständliche Zeichen nicht ausdrücken können und daher ihre Angelegenheiten zu besorgen ganz unfähig sind.
§. 815. Die Vormundschaft über Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige muss aufgehoben werden, wenn dieselben zum völlig freien Gebrauch ihres Verstandes wieder gelangen.
§§. 816–817. Ob dieses geschehen sei, muss das vormundschaftliche Gericht sorgfältig untersuchen, wobei ein von dem Gericht ernannter Sachverständiger zuzuziehen ist.
§. 818. Die Vormundschaft über Taubstumme hört auf, wenn bei angestellter Untersuchung sich findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt sind.
§. 819. Wenn daher auch der Fehler von Gehör und an der Sprache gehoben worden, so muss dennoch erst untersucht werden, ob nicht etwa Blödsinn oder Schwäche des Verstandes die Fortsetzung der Vormundschaft nöthig machen.
Dispositionsfähig nennt man ein Individuum, welches die Fähigkeit besitzt, seine Angelegenheiten selbstständig zu besorgen und seine Interessen und Rechte selbst zu wahren; somit insbesondere sein Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen, rechtsgiltige Verträge abzuschliessen, eine Ehe einzugehen und zu testiren.
Die Dispositions- oder Verfügungsfähigkeit, erfordert im Allgemeinen dieselben Vorbedingungen, wie die Zurechnungsfähigkeit, d. h. erstens einen gewissen Grad körperlicher und geistiger Reife und zweitens einen normalen Geisteszustand.
In ersterer Beziehung unterscheidet das österr. bürgerl. Gesetzbuch (§. 21) und ebenso die meisten anderen Gesetzgebungen, insbesondere das Preuss. allgem. Landrecht (Thl. I, Tit. 4, §. 23): Kinder, die das siebente, Unmündige, die das vierzehnte und Minderjährige, die das 24. Jahr ihres Lebens noch nicht zurückgelegt haben. Erst mit vollendetem 24. Lebensjahre, nach erlangter „Volljährigkeit“, besitzt das Individuum die volle bürgerliche Selbstständigkeit, respective Verfügungsfreiheit, während ihm dieselbe bis zum 7. Lebensjahre gar nicht, zwischen dem 7. bis zum 24. nur in beschränkter Weise oder nur bezüglich gewisser Acte zugestanden wird. So z. B. kann dasselbe schon vom 7. Lebensjahre an Besitz erwerben oder ein Versprechen machen oder annehmen (§. 310 und 865 österr. bürgl. Gesetzbuch), wird Mädchen schon vom[S. 974] vollendeten 14. Lebensjahre die Fähigkeit vindicirt, ihre Geschlechtsehre selbst zu wahren[582] und allen Individuen vom 14. Jahre angefangen eine beschränkte und mit vollendetem 18. Jahre die volle Testirfähigkeit eingeräumt (§. 569 österr. bürgl. Gesetzbuch). Endlich sind auch Minderjährige, welche das 18. Lebensjahr zurückgelegt haben, berechtigt, im Falle einer erlittenen Verletzung selbstständig den Antrag auf Bestrafung zu stellen, während dies früher nur durch ihren gesetzlichen Vertreter geschehen kann (österr. St.-G.-Entw. §. 84, deutsches St.-G. §. 65).
Das Gesetz lässt somit, analog wie bei der Zurechnungsfähigkeit, auch die Dispositionsfähigkeit nur allmälig eintreten, gesteht aber die volle bürgerliche Verfügungsfreiheit erst später zu als die volle Zurechnungsfähigkeit, nämlich nicht wie diese schon mit vollendetem 20., sondern erst mit vollendetem 24. Lebensjahre, wobei dasselbe offenbar von der gewiss begründeten Anschauung ausging, dass die zur vollen Zurechnung erforderliche Einsicht in die Bedeutung strafbarer Handlungen und die Fähigkeit der Beherrschung egoistischer Impulse ungleich früher vorhanden ist, als das genügende Verständniss jener complicirteren Verhältnisse, die bei der Handhabung und Wahrung der bürgerlichen Rechte und Pflichten in Betracht kommen.
In zweiter Beziehung stellt das österr. allgem. bürgl. Gesetzbuch diejenigen, welche wegen „Gebrechen des Geistes“ ihre Angelegenheiten zu besorgen unfähig sind, unter den besonderen Schutz der Gesetze (§. 21) und bezeichnet als solche „Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige, welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder gänzlich beraubt oder wenigstens unfähig sind, die Folgen ihrer Handlungen einzusehen“, erklärt (§. 48) Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige ausser Stande, einen giltigen Ehevertrag abzuschliessen, stellt Wahn- und Blödsinnige, sowie überhaupt Personen, welche den Gebrauch der Vernunft nicht besitzen, unter Curatel (§§. 173, 269, 270, 275), erklärt sie für unfähig, Besitz zu erlangen und (§. 310) ein Versprechen zu machen oder es anzunehmen (§. 865), sowie zu testiren (§. 566).
Ebenso werden im Preuss. allgem. Landrecht Rasende und Wahnsinnige den Kindern unter 7 Jahren, Blödsinnige aber den Unmündigen (Kinder von 7–14 Jahren) gleich geachtet (Thl. I, Tit. 1, §. 19), unter Vormundschaft und die besondere Aufsicht und Vorsorge des Staates gestellt (Thl. I, Tit. 1, §. 31 und Thl. II, Tit. 18, §. 12) und zu letztwilligen Verordnungen für unfähig erklärt (Thl. I, Tit. 12, §. 21).
Ferner sind zufolge des preuss. allgem. Landrechtes Personen, welche durch den Trunk des Gebrauches ihrer Vernunft beraubt worden, so lange die Trunkenheit dauert, den Wahnsinnigen gleich zu achten, ebenso diejenigen, welche durch Schrecken, Furcht, Zorn oder andere heftige Leidenschaften in einen Zustand versetzt[S. 975] wurden, worin sie ihrer Vernunft nicht mächtig waren (Thl. I, Tit. 4, §§. 28 und 29), und auch das österr. allgem. bürgl. Gesetzbuch erklärt Rechtsacte, insbesondere testamentarische Verfügungen für ungiltig, wenn dieselben im Zustande der Trunkenheit geschehen sind (§. 566), endlich bestimmt das österr. Gesetz (§. 275), dass Taubstumme nur dann beständig unter Vormundschaft zu bleiben haben, wenn sie zugleich blödsinnig sind, dass ihnen aber, wenn sie nach Antritt des 25. Jahres ihre Geschäfte zu verwalten fähig sind, wider ihren Willen kein Curator gesetzt werden darf, und verlangt blos, dass sie vor Gericht nie ohne Sachwalter erscheinen sollen, und ebenso verfügt das preuss. allgem. Landrecht (Thl. II, Tit. 1, §§. 15 und 16), dass taubstumm Geborene, ingleichen diejenigen, welche vor zurückgelegtem 14. Jahre in diesen Zustand gerathen sind, vom Staate bevormundet werden sollen, ebenso auch diejenigen, die erst in späteren Jahren taubstumm geworden sind, wenn sie sich durch allgemein verständliche Zeichen nicht ausdrücken können und daher ihre Angelegenheiten zu besorgen ganz unfähig sind, dass aber (§. 818) die Vormundschaft über Taubstumme aufzuhören habe, wenn bei angestellter Untersuchung sich findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt sind.
Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass die Dispositionsfähigkeit in Frage kommen kann: 1. wenn ein Individuum unter Curatel gesetzt, beziehungsweise die bereits verhängte Curatel wieder aufgehoben werden soll, und 2. wenn behauptet wird, dass ein nicht unter Curatel stehendes Individuum zur Zeit eines von ihm ausgeführten civilrechtlichen Actes sich in einem Geisteszustand befand, bei Vorhandensein dessen das Gesetz solche Acte für ungiltig erklärt.[583]
Nach §§. 269 und 270 des österr. allgem. bürgl. Gesetzbuches ist für Personen, die in Wahn- oder Blödsinn verfallen, ein Curator oder Sachwalter zu bestellen. Für wahn- oder blödsinnig darf nach §. 273 nur derjenige gehalten werden, welcher nach genauer Erforschung seines Betragens und nach Einvernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu verordneten Aerzte dafür erklärt wird.
[S. 976]
Zur Bestellung des Curators und zur Führung der Curatel ist das Bezirksgericht des ordentlichen Wohnortes des Curanden berufen; die Entscheidung über Verhängung oder Aufhebung der Curatel wegen Geisteskrankheit steht aber jenem Landesgerichte zu, in dessen Sprengel der ordentliche Wohnort des Curanden sich befindet (Jurisdictionsnorm vom 18. Juni 1850, §. 96).
Der Antrag auf Stellung unter Curatel kann entweder von den Angehörigen (eventuell dem Vormunde) oder ex offo erfolgen, und es ist insbesondere ausdrücklich geboten (Hofkzld. vom 21. Juli 1825), dass, wenn eine Person in eine öffentliche oder Privatirrenanstalt gebracht wird, die Leitung verpflichtet ist, hiervon binnen 24 Stunden die Anzeige an den Gerichtshof erster Instanz, in dessen Sprengel die Anstalt gelegen ist, zu erstatten, und ebenso denselben von der Entlassung geheilter, unter Curatel stehender Kranken in Kenntniss zu setzen. Weiter ist es Pflicht der Gemeinde, Geisteskranke, welche nicht unter väterlicher oder vormundschaftlicher Gewalt stehen, dem Gerichtshofe erster Instanz, zu dessen Sprengel sie zugewiesen sind, behufs der weiteren Verfügung namhaft zu machen, und sind anderseits die Gerichtsbehörden verpflichtet, die Bestellung von Vormündern oder Curatoren für in Irrenanstallten befindliche Geisteskranke diesen Anstalten bekannt zu geben. (Verordnung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 14. Mai 1874, R.-G.-Bl. Nr. 71, §§. 9, 12, 23 und 25 und vom 4. Juli 1878, R.-G.-Bl. Nr. 87.)
Für das deutsche Reich ist „das Verfahren in Entmündigungssachen“ im zweiten Abschnitt der Civilprocessordnung vom Jahre 1877 normirt. Die wichtigsten dieser Bestimmungen lauten:
§. 593. Eine Person kann für geisteskrank (wahnsinnig, blödsinnig u. s. w.) nur durch Beschluss des Amtsgerichtes erklärt werden.
Der Beschluss wird nur auf Antrag erlassen.
§. 594. Das Amtsgericht, bei welchem der zu Entmündigende seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, ist ausschliesslich zuständig.
§. 596. Der Antrag — — — soll eine Angabe der ihn begründenden Thatsachen und die Bezeichnung der Beweismittel enthalten.
§. 597. Das Gericht hat unter Benutzung der in dem Antrag angegebenen Thatsachen und Beweismittel von Amtswegen die zur Feststellung des Geisteszustandes erforderlichen Ermittelungen zu veranstalten und die geeignet erscheinenden Beweismittel aufzunehmen.
Das Gericht kann vor Einleitung des Verfahrens die Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses anordnen.
Für die Vernehmung und Beeidigung der Zeugen und Sachverständigen kommen die Bestimmungen im 7. und 8. Titel des ersten Abschnittes des zweiten Buches (§. 367 ff.) zur Anwendung.[584]
§. 598. Der zu Entmündigende ist persönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sachverständigen zu vernehmen.
Die Vernehmung kann unterbleiben, wenn sie nach Ansicht des Gerichtes schwer ausführbar oder für die Entscheidung unerheblich oder für den Gesundheitszustand des zu Entmündigenden nachtheilig ist.
[S. 977]
§. 599. Die Entmündigung darf nicht ausgesprochen werden, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige über den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat.
§. 604. Gegen den Beschluss, durch welchen die Entmündigung abgelehnt wird, steht dem Antragsteller und dem Staatsanwalte die sofortig Beschwerde zu.
§. 605. Der die Entmündigung aussprechende Beschluss kann im Wege der Klage binnen der Frist eines Monates angefochten werden.
Das Recht zur Erhebung des Klage steht dem Entmündigten selbst, dem Vormunde desselben und den im §. 595 bezeichneten Personen zu.
§. 606. Für die Klage ist das Landesgericht, in dessen Bezirke das Amtsgericht seinen Sitz hat, ausschliesslich zuständig.
§. 612. Die Bestimmungen der §§. 598, 599 finden in dem Verfahren über die Anfechtungsklage entsprechende Anwendung.
Von der Vernehmung Sachverständiger darf das Gericht Abstand nehmen, wenn es das von dem Amtsgericht abgegebene Gutachten für genügend erachtet.
Aus diesen, sowie aus den bereits oben erwähnten Bestimmungen geht hervor, dass die Aufgabe des österreichischen Gerichtsarztes bei wegen Curatelverhängung aufgetragener Untersuchung darin besteht, zu erklären, ob das betreffende Individuum für wahn- oder blödsinnig zu halten sei (§. 273 allgem. bürgerl. Gesetzbuch). Wegen dieser stricten Forderung des Gesetzes ist der Arzt gezwungen, alle Geistesstörungen, die bezüglich der Verfügungsfreiheit in Betracht kommen können, entweder in der Rubrik des Wahnsinns oder in der des Blödsinns unterzubringen, wodurch er mitunter mit der modernen Begriffsbestimmung und Eintheilung der Geisteskrankheiten in Conflict gerathen kann, da es ja, wie wir wissen, Geistesstörungen gibt, die weniger die Intelligenz als die Gefühls- und Willenssphäre betreffen (melancholische und maniakische Verstimmungen und insbesondere die Formen der Folie raisonnante), und dennoch die Dispositionsfähigkeit eines Individuums wesentlich zu beeinträchtigen oder ganz aufzuheben vermögen. Es bleibt jedoch nichts übrig, als auch in solchen Fällen der gesetzlichen, auch für die weitere Behandlung des Falles massgebenden Terminologie sich zu fügen und nach correct wissenschaftlicher Beleuchtung des Falles den Geisteszustand je nach den vorwiegenden Erscheinungen im Bereiche des Intellects unter den Begriff des Wahnsinns oder Blödsinns im gesetzlichen Sinne zu subsumiren.
Noch schwieriger war in solchen Fällen die Stellung des preussischen Gerichtsarztes, da das allgemeine Landrecht (Theil I, Tit. 18, §§. 12 und 13) nicht nur ebenfalls blos Wahnsinnige und Blödsinnige unterscheidet, sondern weil im Gesetze (Theil I, Tit. 1, §§. 27 und 28) ausdrücklich angegeben ist, welche Individuen dasselbe als Wahnsinnige und welche als Blödsinnige erachtet, diese Definitionen aber noch antiquirter sind als die festgehaltene Unterscheidung überhaupt. Durch die Civilprocessordnung für das deutsche Reich wären diese Schwierigkeiten beseitigt, indem der §. 593 den Nachweis der Geisteskrankheit überhaupt fordert und den Wahnsinn und Blödsinn nur beispielsweise erwähnt.[585]
[S. 978]
Strenge genommen, hat der Gerichtsarzt in allen hierher gehörigen Fällen nur zu erklären, ob Geisteskrankheit, beziehungsweise welche Form derselben besteht, während die weitere Verwerthung dieser Erklärung für die Frage, ob das betreffende Individuum dispositionsfähig sei oder nicht, respective entmündigt werden müsse oder nicht, dem Gerichte zufällt.
Selbstverständlich wird jedoch der Arzt, da er nicht blos eine einfache Diagnose, sondern ein fachmännisch motivirtes Gutachten zu geben hat, bei der Beurtheilung und Motivirung des Falles auch den Zweck im Auge behalten, zu welchem er Bericht und Gutachten verfasst, und es kann dem Gerichte nur willkommen sein, wenn der Gerichtsarzt seinen Bericht und sein Gutachten nicht einzig und allein vom allgemeinen klinischen Standpunkte aus abgibt, sondern auch auseinandersetzt, ob und in welchem Grade die erwiesene Geistesstörung das Individuum in der Handhabung und Wahrung seiner bürgerlichen Rechte und Pflichten zu behindern vermag.
Am häufigsten sind es psychische Schwächezustände, um welche es sich handelt.
Die Beurtheilung der schweren Formen des angeborenen oder erworbenen Blödsinns unterliegt keiner Schwierigkeit. Nicht so leicht ist die des Schwachsinns. Es gibt viele Individuen, die trotz angeborenem Schwachsinn sich erfahrungsgemäss im Leben gut und selbstständig fortbringen; man überzeugt sich jedoch bei näherer Erwägung meistens, dass dieses nur deshalb der Fall ist, weil eben die äusseren Verhältnisse des Individuums sehr einfach sich gestalten, respective derart sind, dass die Orientirung innerhalb derselben nur ein geringes Mass von Intelligenz erfordert, dass aber die intellectuelle Insufficienz sofort zu Tage kommt, sobald complicirtere Verhältnisse herantreten, und zwar desto evidenter, je raschere Entscheidung dieselben erfordern. Mit anderen Worten: die Dispositionsfähigkeit, respective Unfähigkeit, kann auch nur eine relative sein, eine Thatsache, die am besten beweist, dass es nicht angeht, nur Geistesschwäche (Geisteskrankheit) als solche zu constatiren, sondern dass auch ihre Beziehung zu bestimmten äusseren Verhältnissen in das Bereich der ärztlichen Erwägung gezogen werden muss. So kann z. B. bei einem Taglöhner ein gewisser Grad von Schwachsinn existiren, ohne dessen Dispositionsfähigkeit zu beeinträchtigen, während ähnliche und vielleicht noch niedere Grade der psychischen Schwäche,[S. 979] wie sie z. B. nach einer schweren Hirnerkrankung zurückbleiben, bei einem Banquier, Kaufmann etc. die Entziehung der freien Verfügungsfreiheit nothwendig machen, wenn nicht wichtige Interessen des Kranken selbst oder seiner Familie, eventuell auch Anderer, Schaden leiden sollen.
In allen derartigen Fällen ist nicht blos die eventuelle Unfähigkeit des Individuums zur selbstständigen und richtigen Führung seiner Angelegenheiten im Auge zu behalten, sondern auch die mit dem Schwachsinn in der Regel einhergehende leichtere Bestimmbarkeit und die in Folge dessen mögliche Ausbeutung und absichtliche Irreführung des Betreffenden, aus welcher häufig viel grössere Nachtheile erwachsen, als aus den aus eigener Initiative des Individuums hervorgehenden Handlungen.
Es können, wie bereits angedeutet, sowohl angeborene, als erworbene Blödsinns-, respective Schwachsinnsformen in Betracht kommen. Erstere sind verhältnissmässig leichter zu beurtheilen, da sie frühzeitig, insbesondere schon beim Schulunterrichte, auffallen und weil die psychische Insufficienz successive noch deutlicher hervortritt, wenn das Individuum nach zurückgelegtem Kindesalter auf eigene Füsse sich stellen soll. Auch haben sie im Allgemeinen eine geringere Bedeutung, weil solche Individuen eben in Folge ihres Intelligenzdefectes gewisse Lebensstellungen gar nicht zu erlangen vermögen.
Vom erworbenen Blödsinn ist insbesondere der apoplectische und senile, sowie der paralytische bemerkenswerth.
Eine vollkommene Wiederkehr der früheren Intelligenz gehört nach apoplectischen Insulten, mögen denselben Hämorrhagien oder embolische Processe zu Grunde gelegen haben, zu den seltenen Erscheinungen. In der Regel bleiben Defecte derselben zurück, die allerdings bezüglich ihres Grades sich verschieden gestalten. Die schweren Formen bieten der Diagnose keine Schwierigkeit, und es kann auch nach Constatirung derselben darüber kein Zweifel bestehen, dass die Betreffenden der Dispositionsfähigkeit entbehren. Nicht so leicht ist die Sache in den weniger ausgesprochenen Formen.
Häufig ist die Einbusse, die das Individuum an seiner Intelligenz erlitten hat, nur eine relative, insofern als dasselbe nur weniger psychisch leistungsfähig ist, als es vor der Erkrankung gewesen war, ohne dass jedoch von absolutem Schwachsinn gesprochen werden könnte. Der Intelligenzdefect ergibt sich hier überhaupt nur beim Vergleichen der gegenwärtigen mit der früheren Intelligenz, und es kann deshalb ein solches Individuum auf Jemanden, der dasselbe nicht früher kannte, sehr wohl den Eindruck eines geistig normalen machen, während einem Anderen die psychische Decadenz sofort in die Augen springt.
Es geht nicht an, solche Individuen für blödsinnig zu erklären und ihre Dispositionsfähigkeit zu bestreiten, wenn wir auch zugeben müssen, dass sie gegenwärtig ihre Angelegenheiten weder[S. 980] mit jener Energie, noch mit jenem Verständniss zu führen vermögen, wie sie früher vermochten. In anderen Fällen ist die Intelligenz entschieden unter die Norm gesunken, und macht sich der betreffende Defect insbesondere durch Schwäche des Gedächtnisses, durch Ideenarmuth, leichte geistige Ermüdung bemerkbar, aber das Individuum ist noch im Stande, gewöhnliche Verhältnisse, insbesondere ihn selbst betreffende Angelegenheiten, richtig aufzufassen und seine Geschäfte, wenn auch nur mit einiger Anstrengung, selbst zu besorgen.
Auch hier würde man zu weit gehen, wenn man solchen Individuen die Fähigkeit zur Ausübung ihrer bürgerlichen Pflichten und Rechte ohne Weiteres bestreiten und sie für blödsinnig erklären wollte.
Dagegen wäre man hierzu berechtigt, wenn der Untersuchte die gewöhnlichsten Dinge vergisst, ihm bekannt gewesene Personen nicht mehr erkennt, grobe Irrthümer begeht und selbst einfache Verhältnisse nicht mehr oder nur schwierig zu begreifen vermag.
Bei der Beurtheilung aller Formen des apoplectischen Blödsinns, respective Schwachsinns, ist die wichtige Thatsache nicht zu übersehen, dass sich in vielen dieser Fälle mit der intellectuellen Schwäche noch andere psychische Störungen combiniren, und dass diese schon mitunter für sich allein, noch mehr aber im Zusammenhange mit ersterer die Dispositionsfähigkeit des Kranken zu beeinträchtigen vermögen. Wir meinen hier weniger die abnorme Reizbarkeit solcher Individuen und die Geneigtheit zu unmotivirtem Stimmungswechsel, als vielmehr die häufig bestehenden Defecte und Verkehrungen des moralischen Fühlens, insbesondere aber die Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen, die nicht selten auftreten und leicht zur Verrücktheit, namentlich unter dem Bilde des Verfolgungswahns, führen können.
In analoger Weise sind die senilen Zustände psychischer Schwäche zu beurtheilen. So lange letztere nur in einer allmäligen, gewissermassen physiologischen Abnahme der früheren psychischen Leistungsfähigkeit besteht, hat sie nur eine untergeordnete Bedeutung. Denn, wenn auch mit fortschreitendem Greisenalter das Gedächtniss allmälig abnimmt, die intellectuelle Leistungsfähigkeit sinkt und auch die Willensenergie sich successive vermindert, so erreicht doch die psychische Schwäche selten einen so hohen Grad, dass dieselbe als Blödsinn zu bezeichnen wäre und die tägliche Erfahrung lehrt, dass unter sonst normalen Verhältnissen der Mensch trotz der merklichen und immer vorwärtsschreitenden Abnahme seiner psychischen Leistungsfähigkeit bis in’s höchste Alter hinein jenen geistigen Fond sich bewahren kann, der zur selbstständigen Führung der eigenen Angelegenheiten erfordert wird. Mitunter ist jedoch der psychische Verfall ein intensiver und ein mehr weniger rapider. Letzterer Erscheinung liegen meist Gelegenheitsursachen zu Grunde, insbesondere schwere Erkrankungen verschiedener Art, von denen das Individuum zwar genest, aber von[S. 981] diesem Zeitpunkte an einem schnellen Marasmus verfällt. Die im Alter häufigen Pneumonien spielen in dieser Beziehung eine wichtige Rolle. Auch ist begreiflich, dass Erkrankungen, die mittelbar oder unmittelbar das Gehirn betrafen, bei Greisen leichter psychische Störungen, insbesondere psychische Schwächezustände, zurücklassen können als sonst. Unter solchen Umständen können sich hochgradige Formen des Blödsinns entwickeln und vorzugsweise durch hochgradige Gedächtnissschwäche bis zum Vergessen des eigenen Namens, Unfähigkeit sich zu orientiren, Ideenarmuth und kindisches Wesen sich documentiren und vollkommene Unfähigkeit zur Führung der eigenen Angelegenheiten bedingen.
Nicht minder wichtig als der einfache senile Verfall der Intelligenz sind anderweitige psychische Störungen, die sich mit demselben combiniren können, von denen insbesondere jene im Bereiche des moralischen Fühlens und die melancholische Verrücktheit für sich allein die Dispositionsfähigkeit des Individuums zu beeinträchtigen, respective aufzuheben vermögen. Defecte im Bereiche des ethischen und sittlichen Fühlens sind bei Greisen keine seltene Erscheinung und die dadurch bewirkte Veränderung des Charakters mitunter das erste Symptom des hereinbrechenden geistigen Marasmus. Die Individuen beginnen die Gesetze der Convenienz und des Anstandes zu verletzen, sich, wie man sagt, gehen zu lassen, ergeben sich ungeordneter Lebensweise und fangen an, lockere Verhältnisse anzuknüpfen, Bordelle aufzusuchen oder andere sexuelle Excesse auszuüben, selbst solche, die, wie bereits an anderem Orte erwähnt, sie mit dem Strafgericht in Collision bringen können. Durch dieses Gebahren können die Betreffenden sich und die Interessen Anderer wesentlich schädigen, und es ist insbesondere begreiflich, dass ihr sexuelles Verhalten sie theils freiwillig, theils in Folge berechneter Einwirkung Anderer zu Acten verleiten kann, die, wie z. B. Eheversprechen, Heiraten, Schenkungen etc., eine grosse Tragweite und Bedeutung besitzen.
Melancholien mit Angstgefühlen sind bei Greisen eine verhältnissmässig häufig Erscheinung, ebenso der aus ihnen sich entwickelnde Verfolgungswahn, welcher sich nicht selten auf die nächste Umgebung und die eigenen Verwandten bezieht. Das den Greisen eigenthümliche misstrauische Wesen und die so häufigen hypochondrischen Anwandlungen sind gewissermassen die ersten Anfänge der genannten Psychosen. Beide Formen combiniren sich in der Regel mit bereits entwickeltem Schwachsinn oder Blödsinn und treten meist anfallsweise auf, ebenso wie mitunter Zustände maniakischer Aufregung. In diesen Stadien sind die Betreffenden nicht blos sich und Anderen gefährlich, sondern können unter dem Einflusse ihrer krankhaft veränderten Stimmung, insbesondere aber unter jenem des Verfolgungswahns, in civilrechtlicher Beziehung sich und Anderen den grössten Schaden zufügen, namentlich durch Enterbungen der nächsten Anverwandten, durch in ihren Angstgefühlen[S. 982] und daraus resultirenden religiösen Wahnsinn an Kirchen etc., gemachte Legate, beziehungsweise Schenkungen u. s. w., um so leichter, da, wie die Erfahrung lehrt, sich häufig Leute finden, die aus der geistigen Schwäche und den sonstigen psychopathischen Zuständen der Greise Vortheile zu ziehen verstehen.
Von allen Formen des Blödsinns und vielleicht von allen Psychosen überhaupt ist in Bezug auf die Dispositionsfähigkeit die wichtigste der paralytische Blödsinn, einestheils wegen der leichten Verkennung des Initialstadiums des Leidens, welches, wie bereits an anderem Orte erwähnt, ganz allmälig und anfangs unscheinbar sich entwickelt und monatelange Remissionen zulässt, anderseits weil diese Psychose, insbesondere die maniakische Exaltation und der daraus resultirende, schon sehr frühzeitig sich manifestirende und schliesslich ganz exorbitante Grössenwahn, die Ursache der unsinnigsten Vermögensverschleuderungen und damit des finanziellen Ruins des Betreffenden, eventuell ganzer Familien werden kann. Die rechtzeitige Erkennung der Krankheit kann grosses Unheil verhüten, und schon die frühesten Stadien derselben fordern dringend die Stellung unter Curatel. Für den genau beobachtenden Arzt bieten sich, wie aus dem an anderem Orte Gesagten hervorgeht, schon frühzeitig Symptome, die wenigstens den Verdacht erwecken, dass paralytisches Irrsein sich zu entwickeln beginne, und die weitere Verfolgung des Falles lässt bald über die Natur des Leidens keinen Zweifel mehr aufkommen. Leider wird gerade in diesen Fällen ärztliche Intervention meist sehr spät herangezogen, da man in der Regel gar nicht daran denkt, dass das Individuum geisteskrank sei, sondern das veränderte Gebahren desselben sich anderweitig erklärt, und es kommt sogar vor, dass, selbst nachdem von ärztlicher Seite der Zustand erkannt und als solcher begutachtet worden war, Laien, selbst Richter, das Bestehen einer Geisteskrankheit nicht anerkennen wollen, wenn der Betreffende das Bild der Folie raisonnante darbietet, äussere Verhältnisse das Gebahren desselben motivirt erscheinen lassen, oder gerade eine der hier so häufigen Remissionsperioden besteht, während welcher bekanntlich sowohl die psychischen, als die paralytischen Symptome zurückgehen und selbst nahezu vollständig verschwinden können. Umsomehr ist es Sache des Arztes, auf längerer und fortgesetzter Beobachtung zu bestehen, den Beginn und Verlauf der Krankheit sorgfältig zu erörtern, die Möglichkeit von Remissionen oder Intermissionen zu betonen und insbesondere die eingetretene Charakteränderung, sowie das sonst Unmotivirte derselben zu beleuchten. Da, wie bereits erwähnt, schon in den ersten Stadien des paralytischen Irrseins das Gebahren des Kranken die Signatur der psychischen Schwäche an sich trägt, die im weiteren Verlaufe immer deutlicher zu Tage tritt, so ist insbesondere auf die Eruirung und Darstellung der für diese Thatsachen sprechenden Aeusserungen und Handlungen des Untersuchten ein Gewicht zu legen.
[S. 983]
Bei Beurtheilung des Blödsinns oder Schwachsinns ist die Thatsache zu beachten, dass es Zustände gibt, die für Blödsinn oder hochgradigen Schwachsinn imponiren können, ohne es zu sein. Ausser ganz vernachlässigter Erziehung gehört hierher insbesondere die Taubstummheit und die Aphasie.
Bezüglich der Taubstummen verordnet das österr. bürgerl. Gesetzbuch (§. 275), dass sie nur dann beständig unter Vormundschaft zu bleiben haben, wenn sie zugleich blödsinnig sind. Es wurde jedoch bereits bei Besprechung der Zurechnungsfähigkeit Taubstummer bemerkt, dass Taubstumme, welche keinen Unterricht genossen haben, den Blödsinnigen gleichzustellen sind. Derselbe Grundsatz wird wohl auch gegenüber der Dispositionsfähigkeit aufrecht erhalten werden müssen. Aber auch bei unterrichteten Taubstummen werden Unterscheidungen zu machen sein, da der Effect des Unterrichtes ein sehr geringer sein kann, wenn eine schwache Veranlagung bestand. Aus diesem Grunde ist die Verfügung des preuss. allgem. Landrechtes zu billigen, zufolge welcher die staatliche Vormundschaft über Taubstumme nur dann aufzuhören hat, wenn sich findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt sind, was somit in jedem einzelnen Falle erwiesen werden muss. Dies muss durch die Erwägung des bisherigen Verhaltens des Individuums, durch den Nachweis des erhaltenen Unterrichtes und die dabei gemachten Fortschritte und durch specielle Untersuchung und Prüfung desselben geschehen. Die Intervention eines Taubstummenlehrers oder einer anderen der Taubstummensprache kundigen Person wird nur dann unterbleiben können, wenn der zu untersuchende Taubstumme gut lesen und schreiben kann. In allen anderen ist sie schon deshalb angezeigt, weil das gegenseitige schwere Verständniss leicht für eine geistige Schwäche des betreffenden Taubstummen imponiren könnte. Diese Schwierigkeit der Verständigung ist auch der Grund, warum das österr. bürgerl. Gesetzbuch (§. 275) bestimmt, dass selbst als dispositionsfähig erkannte Taubstumme vor Gericht nie ohne Sachwalter erscheinen sollen.
Ein anderer Zustand, der trotz vorhandener normaler Intelligenz für Blödsinn gehalten werden könnte, ist die Aphasie, nämlich der Verlust der Sprache, die nach gewissen Hirnaffectionen, insbesondere nach (linksseitigen) Hirnhämorrhagien, aber auch nach Hirnverletzungen zurückbleiben kann. Dieser auch in strafrechtlicher Beziehung wichtige Zustand (pag. 331) ist bereits wiederholt wegen der Dispositionsfähigkeit der damit behafteten Personen Gegenstand von Erörterungen geworden.[586]
[S. 984]
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es Formen von Aphasie gibt, bei welchen trotz ungetrübtem Intellect das Individuum nicht im Stande ist, seinen Vorstellungen durch die Sprache Ausdruck zu geben, entweder weil der Sprechapparat seinen Dienst versagt (atactische Aphasie), oder weil für die einzelnen Begriffe die Worte verloren gegangen sind (amnestische Aphasie). Im letzteren Falle vermag der Kranke ihm vorgesagte Silben oder Worte nachzusprechen, im ersteren nicht. Beide Zustände können vollständig oder nur partiell sein (A. universalis und partialis) und mit ihnen kann mehr weniger vollständige Unfähigkeit, sich auch auf andere Weise zu verständigen, verbunden sein (Agraphie, Amimie), doch ist dies keineswegs unbedingt nothwendig; auch kann es vorkommen, dass Aphasische, selbst mit Agraphie Behaftete, gewisse andere Leistungen ohne Anstand verrichten, z. B. Karten oder Schach zu spielen vermögen. Derartige Leistungen sprechen für intacte Intelligenz und sind nicht etwa in gleiche Linie zu stellen mit den einseitigen mechanischen Fertigkeiten, die wir, wie oben (pag. 888) erwähnt, auch bei Blödsinnigen mitunter beobachten können. Ueberdies sind von Trousseau, Kussmaul, Maudsley, Blumenstok u. A. Fälle beobachtet worden, in denen Aphasische ihre bürgerlichen Angelegenheiten ganz gut zu versehen vermochten.
Die Fähigkeit hierzu würde wohl keinem Zweifel unterliegen, wenn das betreffende Individuum sich durch Schreiben (wenn auch, wie manchmal gesehen wurde, in Spiegelschrift) oder etwa wie in dem Falle Maudsley’s mittelst eines Wörterbuches, oder durch Zeichen seine Gedanken zum Ausdrucke zu bringen und dadurch seine intacte Intelligenz zu documentiren im Stande wäre.
Häufig gestaltet sich aber die Sache viel complicirter. Abgesehen davon, dass sich mit aphasischen Zuständen häufig auch mehr weniger vollständige Agraphie und Amimie combinirt, ist besonders bemerkenswerth, dass bei manchen Aphatikern das Vermögen, das richtige Wort zu finden, in der Weise gestört ist, dass sich statt des gesuchten Wortes andere einstellen, Paraphasie. Häufig werden ähnlich lautende gebraucht; statt ausziehen wird anziehen, statt Kopf wird Topf oder Ofen gesagt. Oder es kommt statt des gesuchten Wortes eines, das einen gleichen oder ähnlichen Sinn hat, zum Vorschein, so statt Kopf Haut, statt Daumen Zehe, statt Zehe Finger, oder ein mehr weniger entgegengesetztes, so statt Hand Fuss, statt Kopf Fuss, statt Tisch Stuhl, mitunter wieder statt des richtigen Wortes ein solches, welches sprachlich mit demselben häufig verbunden vorkommt, z. B. Stock statt Stein, Stein statt Bein, Land statt Leute. Doch kann das Unvermögen, das richtige Wort zu finden, auch so bedeutend sein, dass keine Verwandtschaft mehr zwischen dem gesuchten und dem gesprochenen[S. 985] Worte zu finden ist und dass für den Hörer nur ein ganz regelloses Durcheinander von gebräuchlichen und nicht gebräuchlichen Wörtern zur Vernehmung kommt.[587]
Es liegt in solchen Fällen die Gefahr nahe, dass die unrichtige Ausdrucksweise des Kranken als Beweis eines mangelhaften Verständnisses, einer unrichtigen Auffassung äusserer Verhältnisse gedeutet werden kann, desto mehr, je weniger derselbe im Stande ist, seinen Ideen anderweitig Ausdruck zu geben. Fortgesetzte und sorgfältige Beobachtung ist hier erforderlich. Auch ist zu beachten, dass einestheils die Umgebung des Kranken durch beständigen Verkehr mit diesem seine Sprache und seine Zeichen zu verstehen lernt, und dass der Kranke selbst durch fortgesetzte Uebung beides mehr weniger zu vervollkommnen vermag.
In einem von Falret (l. c.) beschriebenen Falle vermochte der Kranke bei der ersten Untersuchung nur die Silben: O, o, aqui hervorzubringen und antwortete auf Alles mit diesen, doch konnte er sich bereits durch verschiedene Betonung dieser Silben, sowie durch verschiedene Zeichen mit der linken Hand und dem Kopf einigermassen verständlich machen. Namentlich war dies seiner Frau gegenüber gut möglich. Nach 3 Monaten hatte die Sprache insofern sich gebessert, als er einige einsilbige Worte, wie: non, un auszusprechen vermochte, statt neuf sagte er jedoch noon, statt deux dous. Er konnte bis zehn an den Fingern zählen, die Worte stimmten jedoch nicht mit den Zahlen, auch schaltete er zwischen jeder die Silbe aquo ein. Dagegen hatte er bemerkenswerthe Fortschritte gemacht im Schreiben mit der linken Hand und vermochte selbst und richtig die Summen einzutragen, die er erhielt. Er machte täglich einen Spaziergang, besuchte ein Kaffeehaus und zahlte jedesmal seine Zeche, ohne sich je zu irren. Er gesellte sich gerne zu den kartenspielenden Gästen und gab sein Verständniss des Spieles durch zweifellose Zeichen zu erkennen, ja er nahm selbst die Karten in die Hand und spielte in ganz correcter Weise. Unter diesen Umständen wurde das Gutachten dahin abgegeben, dass der Untersuchte so viel Intelligenz und freien Willen besitze, dass er im weiteren Genusse seiner bürgerlichen Freiheit anstandslos belassen werden könne. Mit Recht wurde hervorgehoben, dass die sichtliche und von deutlichem Erfolg begleitete Mühe des Untersuchten, sich in der Zeichensprache und im Schreiben einzuüben, den deutlichsten Beweis liefere, dass die Geisteskräfte sich verhältnissmässig intact erhalten haben.
Immerhin erfordert die Beurtheilung solcher Fälle grosse Vorsicht, da es bekannt ist, dass nach Hämorrhagien in’s Gehirn auch wenn sie nicht von Aphasie gefolgt sind, sehr gewöhnlich psychische Schwäche verschiedenen Grades zurückbleibt und häufig auch anderweitige psychopathische Veränderungen (Defecte im moralischen Fühlen, abnorme Reizbarkeit, häufiger und unmotivirter[S. 986] Stimmungswechsel und consecutive Veränderung des ganzen Charakters, sowie Neigung zur primären Verrücktheit), die wir bereits a. a. O. besprochen haben. Das mitunter auffällig sich äussernde Bestreben der Aphatiker, für geistig normal zu gelten, darf, wie Blumenstok (l. c.) mit Recht bemerkt, den Untersuchenden nicht beirren, denn ein solches Bestreben ist bekanntlich auch bei notorisch Geisteskranken eine häufige Erscheinung.
Ist es gelungen, nachzuweisen, dass ein Aphasischer normale Intelligenz besitzt, dann ist die Frage nach dessen Dispositionsfähigkeit noch keineswegs gegenstandslos geworden; denn es ist klar, dass zu dieser sowohl im gewöhnlichen als im civilrechtlichen Sinne nicht blos normale Intelligenz gehört, sondern auch die Fähigkeit, sie zur Geltung zu bringen. Ist letztere gar nicht vorhanden oder in sehr hohem Grade beeinträchtigt, dann ist das Individuum trotz erhaltener Intelligenz in jeder Beziehung hilflos und daher auch nicht im Stande, seine eigenen Angelegenheiten zu besorgen. Solche Fälle scheint das österreichische Civilgesetzbuch im Auge gehabt zu haben, wenn es im §. 21 nicht blos diejenigen, welche wegen Mangels an Jahren oder Gebrechen des Geistes ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen unfähig sind, unter den besonderen Schutz der Gesetze stellt, sondern auch diejenigen, welche dieses „anderer Verhältnisse“ wegen nicht vermögen, und es liegt nahe, zu vermuthen, dass Zustände, die wir gegenwärtig als Aphasie bezeichnen, der Verfügung des preussischen Landrechtes (Th. II, Tit. I, §. 16) zu Grunde lagen, zufolge welcher „erst in späteren Jahren taubstumm Gewordene dann vom Staate bevormundet werden sollen, wenn sie sich durch allgemein verständliche Zeichen nicht ausdrücken können und daher ihre Angelegenheiten zu besorgen ganz unfähig sind“.[588] Bei der Constatirung des letzteren Umstandes wird der Richter der ärztlichen Intervention kaum entbehren können, umsoweniger, als auch die Frage sich ergeben wird, ob die Fähigkeit, sich verständlich zu machen, eine dauernde ist, oder eine Heilung oder wenigstens Besserung und binnen welcher Zeit erwarten lässt. Dass beides möglich, lehrt die Erfahrung, und es ist insbesondere bekannt, dass bereits wiederholt Aerzte, die an Aphasie gelitten, nach mitunter monatelanger Dauer derselben genasen und nachträglich über ihre Wahrnehmungen während des aphasischen Zustandes zu schreiben vermochten.
Von den übrigen Formen des Irrseins, die bezüglich der Dispositionsfähigkeit in Betracht kommen können, bedürfen nur die angeborenen fehlerhaften Organisationen und die Verrücktheit einer besonderen Besprechung.
Jene von Haus aus abnorm angelegten Naturen, die wir bei Besprechung des angeborenen affectiven (moralischen und impulsiven)[S. 987] Irrseins kennen gelernt haben, sind ebenso wie bezüglich der Zurechnungsfähigkeit, so auch bezüglich der Dispositionsfähigkeit schwierig zu beurtheilen.
Die Schwierigkeit liegt insbesondere darin, dass intellectuelle Störungen entweder gar nicht oder nicht in genügend ausgesprochener Weise vorhanden sind, und dass sogar bei vielen dieser Individuen eine solche Ausbildung der Intelligenz besteht, die den Laien zu imponiren vermag und von welcher der Kranke zur Vertheidigung seines Gebahrens und seiner geistigen Gesundheit und zur scheinbar plausiblen Darlegung des ihm angethanen Unrechtes ausgiebigen Gebrauch zu machen versteht.
Es ist aber bekannt, dass solche Individuen auch schon in intellectueller Beziehung vielfache Anomalien, insbesondere eine gewisse Verschrobenheit und häufig entschiedenen Schwachsinn, darbieten, anderseits ist nicht zu leugnen, dass das perverse Fühlen dieser Personen, sowie die verkehrten Antriebe und Passionen und die ganz abnorme Charaktergestaltung derselben, ebenso wie zu Collisionen mit dem Strafgesetz, auch zu Handlungen führen können, welche die civilrechtlichen Interessen des Kranken selbst oder anderer Personen im höchsten Grade zu schädigen vermögen. Leider ist es selbst in den ausgesprochensten Fällen dieser Art nicht leicht, die Laien von dem geisteskranken Zustande des Betreffenden zu überzeugen, und es liegen Beispiele vor, in welchen trotz übereinstimmendem Gutachten verschiedener Aerzte das Gericht sich entweder nicht entschliessen konnte, die Curatel zu verhängen, oder sich sogar bewogen fand, die bereits anderweitig verhängte wieder aufzuheben.[589]
Eine Unterscheidung leichter und schwerer Formen solcher psychopathischer Constitutionen ist sehr angezeigt. Ersteren begegnet man verhältnissmässig häufig und die Erfahrung lehrt, dass sie bestehen können, ohne das Individuum in seiner Dispositionsfähigkeit wesentlich zu beeinträchtigen, wie wir ja diese auch den Hysterischen, den Hypochondern blos ihres abnormen Fühlens wegen nicht absprechen werden, so lange das Individuum die daraus hervorgehenden Impulse noch genügend zu beherrschen vermag. Erst in den schweren Formen ist diese Fähigkeit so herabgesetzt, dass das Individuum den betreffenden Impulsen unverhältnissmässig leicht unterliegt, desto leichter, je mehr die Intelligenz in Mitleidenschaft gezogen ist, und dann ist es geboten, dass der Kranke unter behördlichen Schutz genommen werde. Die betreffende Geistesstörung wäre dort, wo das Gesetz nur Blödsinn und Wahnsinn unterscheidet, unter ersteren zu subsumiren, obgleich, wie erwähnt, die intellectuelle Schwäche nur ein nebensächliches Symptom bildet und häufig gar nicht auffallend sich kundgibt.
[S. 988]
Von den Formen der Verrücktheit unterliegt die Beurtheilung der secundären keiner besonderen Schwierigkeit, da ihre Erkennung durch die vorhergegangene anderweitige Geistesstörung erleichtert wird und die geistige Schwäche meist deutlich zu Tage tritt. Nicht so einfach gestaltet sich die Sache gegenüber der primären Verrücktheit, da diese nur auf einzelne Wahnvorstellungen beschränkt und wegen der sonst erhaltenen Intelligenz und der hier sehr gewöhnlichen Dissimulation der Wahnvorstellungen schon der Diagnose grosse Schwierigkeiten bieten kann.
Dies gilt weniger von den exaltirten Formen (Grössenwahn, religiöse Exaltation), die ihrer Natur nach in der Regel schon frühzeitig zum Ausdrucke kommen, sondern vorzugsweise vom Verfolgungswahn, der lange bestehen kann, bevor er sich nach aussen kundgibt. Scheues, verschlossenes Wesen ist zwar ein frühes Symptom und fällt mehr weniger der Umgebung auf, aber erst der Nachweis von Wahnvorstellungen gestattet die Diagnose, und gerade diese werden häufig dissimulirt. Eine längere Beobachtung und wiederholte Untersuchung ist gerade hier besonders angezeigt, ebenso sorgfältige Verfolgung des ganzen Gebahrens des Individuums, aus welchem sich mitunter deutlicher erkennen lässt, dass dasselbe an Verfolgungsideen leide, als aus seinen Angaben. Es empfiehlt sich deshalb, auch beim Examen nicht direct auf die vermeintliche Wahnvorstellung loszugehen, sondern auf Umwegen dieselbe zu berühren. In weiter gediehenen Fällen geben allerdings die Kranken ihre Verfolgungsideen kund und die Diagnose der Geistesstörung unterliegt keiner Schwierigkeit. Wohl aber kann sich trotzdem und noch mehr in den dissimulirten Fällen eine solche bezüglich der Dispositionsfähigkeit ergeben, insoferne als nur eine partielle Beeinträchtigung der letzteren behauptet werden könnte, in analoger Weise, wie man ja solche Kranke nicht für absolut unzurechnungsfähig zu halten geneigt ist, sondern nur bezüglich jener Handlungen, die mit der betreffenden Wahnvorstellung in Verbindung stehen. Bei der secundären Verrücktheit ist eine solche Annahme entschieden zurückzuweisen, da auch ausserhalb der betreffenden Wahnvorstellung psychische Schwäche besteht. Bei der primären Verrücktheit kann dieselbe nicht ohneweiters negirt werden, da, wie oben erwähnt, die betreffenden isolirten Wahnvorstellungen durch das ganze Leben ohne wesentliche Beeinträchtigung der sonstigen Intelligenz bestehen können. Da aber trotzdem in dem Umstande, dass der Kranke seine Wahnvorstellung nicht zu corrigiren, eventuell die aus ihr resultirenden Impulse nicht zu beherrschen vermag, ein Beweis psychischer Schwäche erblickt werden muss und der Einfluss der Wahnvorstellung auf das Gebahren des Individuums unberechenbar ist, so geht es desto weniger an, eine blos partielle Dispositionsunfähigkeit anzunehmen, je provocirender sich die Wahnvorstellung gestaltet und je häufiger sich dieselbe bemerkbar macht.
[S. 989]
Ob bei Individuen, die periodisch Geistesstörungen unterworfen sind, wie z. B. bei Epileptikern und Säufern, ausserhalb der betreffenden Anfälle eine ungetrübte Dispositionsfähigkeit angenommen werden kann, kann nur von Fall zu Fall mit Berücksichtigung des a. a. O. über das habituelle Verhalten solcher Individuen Gesagten entschieden werden.
Nach §. 283 des österr. a. b. G.-B. hört die Curatel auf, wenn die Gründe aufhören, die den Pflegebefohlenen an der Verwaltung seiner Angelegenheiten verhindert haben. Wurde die Curatel wegen Wahn- oder Blödsinn verfügt, so muss zufolge derselben Gesetzesstelle die Frage, ob der Betreffende „den Gebrauch der Vernunft wieder erhalten habe, nach einer genauen Erforschung der Umstände aus einer anhaltenden Erfahrung und zugleich aus dem Zeugnisse der zur Untersuchung von dem Gerichte bestellten Aerzte entschieden werden“.
Für das deutsche Reich ist das Verfahren durch folgende Paragraphe der Civilprocessordnung vom Jahre 1877 normirt:
§. 616. Die Wiederaufhebung der Entmündigung erfolgt auf Antrag des Entmündigten oder seines Vormundes oder des Staatsanwaltes durch Beschluss des Amtsgerichtes.
§. 617. — — — — die Bestimmungen der §§. 596–599 finden entsprechende Anwendung.
§. 620. Wird der Antrag auf Wiederaufhebung von dem Amtsgericht abgelehnt, so kann dieselbe im Wege der Klage beantragt werden.
Die Aufhebung der behördlich verfügten Curatel kann entweder von den Betheiligten, insbesondere von dem Entmündigten selbst oder seinem Curator oder ex offo von der Personalinstanz des Betreffenden eingeleitet, beziehungsweise beantragt werden, weshalb auch die Leiter von Irrenanstalten, wie bereits erwähnt, die Verpflichtung haben, von der Entlassung geheilter, unter Curatel stehender Kranken den Gerichtshof erster Instanz binnen 24 Stunden in Kenntniss zu setzen.
Der formelle Vorgang, der dann einzutreten hat, ist im Allgemeinen derselbe wie beim Entmündigungsverfahren und die Hauptaufgabe des Gerichtsarztes besteht darin, zu constatiren, dass der Geisteszustand des Individuums wieder ein normaler oder mindestens ein solcher geworden sei, der dasselbe wieder befähigt, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Die Aufgabe ist keineswegs eine leichte. Insbesondere wird niemals eine einzelne Untersuchung des Betreffenden genügen, um zu erklären, dass Letzterer genesen sei, vielmehr ist wiederholtes und zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen vorzunehmendes Examen, und ebenso ein genaues Verfolgen des gesammten Gebahrens des Individuums durch längere Zeit geboten, insbesondere in solchen Fällen, in denen der Kranke nicht, wie dies in Irrenanstalten der Fall ist, beständig unter ärztlicher Controle stand. Am meisten ist[S. 990] zu beachten, dass nicht blosse Remissionen oder Intermissionen, wie sie z. B., wie erwähnt, insbesondere im Verlaufe des paralytischen Irrseins vorkommen, für Genesung gehalten werden, ebenso die Geneigtheit zu Recidiven, die bekanntlich vielen und vielleicht den meisten Geistesstörungen zukommt. Nach Krafft-Ebing (Lehrb. d. gerichtl. Psychol., pag. 341) lassen sich als allgemeine Kennzeichen einer wirklichen Genesung von Geisteskrankheit die volle und offene Anerkennung der überstandenen Krankheit und die Wiederherstellung der alten psychischen Persönlichkeit mit allen ihren Charaktereigenthümlichkeiten, Vorzügen, Fehlern und Neigungen betrachten. Wir möchten jedoch hinzufügen, dass eine so vollständige Wiederherstellung, wie sie Krafft-Ebing hier im Auge hat, keineswegs häufig ist, dass vielmehr verhältnissmässig häufiger, trotzdem man das Individuum als genesen betrachten muss, gewisse Veränderungen zurückbleiben; so verminderte Leistungsfähigkeit in intellectueller Beziehung, geänderte habituelle Stimmung und insbesondere gewisse Charakterveränderungen, die namentlich auffallen, wenn man das psychische Verhalten mit demjenigen vergleicht, welches vor der Erkrankung bestand, die aber so gering sein können, dass von einer Beeinträchtigung der Dispositionsfähigkeit durch dieselben nicht die Rede sein kann. Dass es zwischen solchen und dem secundären Blödsinn, beziehungsweise der secundären Verrücktheit vielfache Uebergänge gibt, ist bekannt und trägt nicht dazu bei, die Aufgabe des Gerichtsarztes zu erleichtern.
Nicht überflüssig ist die Bemerkung, dass der untersuchende Arzt die Angaben der Angehörigen über angeblich vollständige Genesung nicht ohneweiters acceptiren darf, da theils Egoismus, theils falsches Mitleid mit dem unter Curatel Stehenden gerade die Anverwandten häufig veranlasst, entweder den Zustand des Kranken in allzu günstigem Lichte zu sehen, oder gar absichtlich als besser hinzustellen, als es wirklich ist, und es ist in dieser Beziehung bekannt, dass bei in Irrenanstalten untergebrachten Geisteskranken gerade die Angehörigen auf die Entlassung drängen und dieselbe, wenn auch gegen sogenannten Revers, durchzusetzen wissen, obgleich es gewöhnlich besser gewesen wäre, wenn man den Kranken in der Anstalt belassen hätte. Noch beachtenswerther ist die Thatsache, dass gewisse Geisteskranke ihre Wahnvorstellungen zu dissimuliren verstehen und deshalb für gesund gehalten werden können.
Die so häufige Thatsache, dass eine Form der Geisteskrankheit in eine andere übergehen kann, darf nicht unbeachtet bleiben, da es geschehen könnte, dass, weil in Folge dieses Verlaufes gewisse Symptome, z. B. Wahnvorstellungen oder gewisse Aufregungszustände, die vielleicht zunächst die Veranlassung zur Verhängung der Curatel waren, nun verschwunden sind, das Individuum für gesund oder wenigstens nicht mehr für curatelbedürftig gehalten werden könnte. Auch wäre es denkbar, dass, wenn in einem Falle, z. B. wegen Wahnsinn, die Entmündigung veranlasst worden[S. 991] und dieser in Blödsinn übergegangen wäre, mit Rücksicht auf den Wortlaut der bezüglichen Gesetze, Aufhebung der Entmündigung wegen Wahnsinn und ein neuerliches Entmündigungsverfahren wegen Blödsinns verlangt werden könnte. Gegenüber solchen in der civilrechtlichen Praxis thatsächlich vorgekommenen Eventualitäten muss man umsomehr begrüssen, dass neuere Gesetzgebungen, insbesondere die deutsche Civilprocess-Ordnung, nicht mehr an gewissen Formen der Geistesstörung starr festhält, sondern auf die Geistesstörung überhaupt das Gewicht legt (§. 593). Für den österreichischen Gerichtsarzt würde in einem solchen Falle das Hauptgewicht auf die im §. 285 des a. b. G.-B. gestellte Frage zu legen sein: ob der Betreffende „den Gebrauch seiner Vernunft erhalten habe“.
Oesterr. allgem. bürgerl. G.-B.
§. 48. Rasende, Wahnsinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser Stande, einen giltigen Ehevertrag zu errichten.
§. 310. Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, sind an sich unfähig, einen Besitz zu erlangen.
§. 565. Der Wille des Erblassers muss bestimmt, nicht durch blosse Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muss im Stande der vollen Besonnenheit, mit Ueberlegung und Ernst, frei von Zwang, Betrug und wesentlichem Irrthum erklärt werden.
§. 566. Wird bewiesen, dass die Erklärung im Zustande der Raserei, des Wahnsinns, Blödsinns oder der Trunkenheit geschehen sei, so ist sie ungiltig.
§. 567. Wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch des Verstandes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei voller Besonnenheit gewesen sei, so muss die Behauptung durch Kunstverständige oder durch obrigkeitliche Personen, die den Gemüthszustand des Erblassers genau erforschen, oder durch andere zuverlässige Beweise ausser Zweifel gesetzt werden.
§. 865. Wer den Gebrauch der Vernunft nicht hat, wie auch ein Kind unter 7 Jahren, ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder es anzunehmen.
Preuss. allgem. Landrecht.
Thl. I, Tit. 1, §§. 27, 28, 29, 31, Tit. 4, §§. 28 und 29 vide oben (pag. 972).
Thl. I, Tit. 12, §. 20. Personen, die nur zuweilen ihres Verstandes beraubt sind, können in lichten Zwischenräumen von Todeswegen rechtsgiltig verordnen.
§. 147. Ist dem Richter bekannt, dass der Testator zuweilen an Abwesenheit des Verstandes leide, so muss er sich vollständig überzeugen, dass derselbe in dem Zeitpunkte, wo er sein Testament aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstandes wirklich mächtig sei.
Es ist selbstverständlich, dass die verschiedenartigsten, eine civilrechtliche Bedeutung besitzenden Acte nachträglich wegen eines zur betreffenden Zeit angeblich bestandenen anomalen Geisteszustandes in ihrer rechtlichen Giltigkeit angefochten werden können, z. B. Käufe und Verkäufe, Schenkungen u. dergl.; am häufigsten sind es jedoch Eheschliessungen und insbesondere Testamente, die in dieser Beziehung in Betracht kommen. In allen diesen Fällen kann es sich entweder um Acte handeln, die mehr weniger lange Zeit vor dem Tode, beziehungsweise der zu diesem führenden Krankheit, ausgeführt wurden, oder um solche, welche während letzterer insbesondere in extremis zu Stande kamen.
[S. 992]
Fälle ersterer Art sind insoferne leichter zu beurtheilen, als sie entweder bei Lebzeiten des Betreffenden zur Verhandlung gelangen und daher noch eine klinische Untersuchung und Beobachtung gestatten, oder, wenn der Fall erst nach dem Tode des Individuums gerichtlich verfolgt wurde, das psychische Verhalten des Letzteren in der zwischen dem Acte und dem Tode liegenden Zeit constatirt und für die Beurtheilung verwerthet werden kann.
Es handelt sich entweder um Personen, die bis dahin für geistesgesund gegolten hatten, und bei welchen man erst durch die Handlung oder nachträglich auf die Vermuthung gerieth, dass eine Geistesstörung bestehe, oder um solche, die bereits früher Zeichen von Geistesstörung darboten, aber aus irgend einem Grunde nicht unter Curatel gesetzt worden waren, und in beiden Fällen können die in Frage stehenden Handlungen (Rechtsacte) entweder aus eigener Initiative des Betreffenden hervorgegangen oder durch angeblichen Missbrauch des geisteskranken Zustandes von Seite interessirter Personen veranlasst sein.
Letzteres ist natürlich vorzugsweise bei psychischen Schwächezuständen möglich, unter welchen der Altersblödsinn und die Dementia apoplectica eine besondere Rolle zu spielen scheinen, aber auch bei anderen Geistesstörungen, so z. B. in den Vorstadien der Manie, des paralytischen Irrseins, bei Grössenwahn und beim hysterischen Irrsein, wobei unter Anderem auch die sexuelle Erregung missbraucht werden kann. Von den Geistesstörungen, die in mehr activer Weise zu gewissen Acten Veranlassung geben können, gehören insbesondere die mit Wahnvorstellungen verbundenen hierher, und zwar einerseits der Grössenwahn, der seiner Natur nach zu den unsinnigsten Vermögensverschleuderungen etc. führen kann, anderseits der Verfolgungswahn, der, wie bereits erwähnt, sich nicht selten auf die nächsten Angehörigen bezieht und schon wiederholt zu Enterbungen Veranlassung gegeben hat.[590]
Allgemeine Regeln für die Beurtheilung aller dieser Fälle lassen sich nicht aufstellen, vielmehr ist jeder concret zu behandeln. Jedenfalls aber würden sich die Erhebungen nicht blos auf den Geisteszustand des Betreffenden zur Zeit der beanstandeten Handlung erstrecken, sondern auch auf denjenigen vor und nach derselben, wobei in ersterer Beziehung Erblichkeitsverhältnisse, der gesammte psychische Entwicklungsgang und Alles, was ihn beeinflussen konnte, ebenso sorgfältig zu erheben und zu verwerthen sein wird, wie bei Untersuchungen wegen fraglicher Zurechnungsfähigkeit. Die Constatirung des Gebahrens des Betreffenden in der zwischen dem betreffenden Acte und dem Tode, oder der ärztlichen Untersuchung verflossenen Zeit ist natürlich von grösster Wichtigkeit, und nicht selten ist es erst dieses Gebahren, welches den Verdacht erweckt, dass jener Act unter dem[S. 993] Einflusse einer Geistesstörung geschehen ist, ein Verdacht, der natürlich desto berechtigter erscheint, je deutlicher eine Geistesstörung nachträglich zur Entwicklung gekommen ist. Darauf bezieht sich eine Bestimmung des preuss. Allg. L.-R. (Thl. I, Tit. 12, §. 22), zufolge welcher, wenn unter Vormundschaft genommene Wahn- oder Blödsinnige innerhalb eines Jahres vor angeordneter Vormundschaft eine aussergerichtliche oder privilegirte Verordnung über ihren Nachlass gemacht haben, derjenige, welcher daraus einen nach den Gesetzen ihm nicht zukommenden Vortheil fordert, nachweisen muss, dass der Verfügende damals, als er die letztwillige Verordnung errichtete, seines Verstandes mächtig gewesen sei.
Der Act als solcher kann wichtige Aufschlüsse ergeben, insoferne als er den Stempel des Thörichten oder Unsinnigen an sich trägt, wenn er in auffälligem Widerspruche steht mit dem früheren Charakter und Gebahren des Individuums, die Interessen des Letzteren oder ihm nahestehender Personen in unbegreiflicher Weise schädigt u. s. w. In Schriftstücken zeigt mitunter der Inhalt und selbst die Form derselben in deutlicher Weise die Geistesstörung; so ist z. B. besonders in Testamenten der Einfluss des Verfolgungswahns mitunter unverkennbar, einestheils, in der unbegreiflichen Enterbung bestimmter Personen, oder in der Motivirung der ersteren, anderseits in Vermächtnissen an fernstehende Personen, Kirchen u. s. w.[591] In anderen Fällen tritt in solchen Schriftstücken der Schwachsinn oder die Verworrenheit deutlich zu Tage, und letztere kann sich nicht blos inhaltlich, sondern auch in der äusseren Form derselben kundgeben. So sind z. B. Schriftstücke Maniakischer, der Epileptiker, namentlich aber jene von an paralytischem Irrsein Leidenden sehr charakteristisch, einestheils durch die mehr weniger erkennbare Verworrenheit des Inhaltes, durch Auslassen einzelner Buchstaben, Worte und selbst ganzer Sätze, durch orthographische und grammatikalische Fehler, anderseits durch die eigenthümliche, schleuderische, unsichere, schliesslich ganz unleserlich werdende Schrift (Zitter- und ataktische Schrift), Kleckse, verschmierte Stellen u. dergl.[592]
Nicht jeder sonderbare Inhalt eines Testamentes berechtigt schon für sich allein zur Behauptung, dass der Betreffende geisteskrank [S. 994]gewesen sei. Es gibt bekanntlich Leute, die sich schon während des Lebens durch eigenthümliche, mitunter extravagante Anschauungen, durch gewisse Schrullen und Passionen, durch phantastisches oder im Gegentheil pedantisches Wesen von anderen Menschen unterscheiden. Solche Individuen gelten allerdings häufig als verrückt, ohne es jedoch zu sein, weshalb der Verständige sich begnügt, sie als „Sonderlinge“ zu bezeichnen, und es ist bekannt, dass gerade geistig hochstehende Individualitäten nicht selten derartige Eigenthümlichkeiten bieten, woraus allein sich schon ergibt, dass letztere auch bei ganz ungetrübter Intelligenz bestehen können. Solche „Sonderlinge“ wissen nicht blos während des Lebens, sondern auch noch nach dem Tode durch ihre Testamente aufzufallen, ohne dass man diese unbedingt als Producte eines kranken Gehirns aufzufassen berechtigt wäre. Legrand du Saulle (l. c. pag. 566 u. s. f.) bringt eine Zusammenstellung von 25 solcher sonderbaren Testamente, worunter insbesondere mehrere von Legaten an Pferde, Hunde, Katzen, Papageien und sogar an — einen Karpfen. In einem dieser Fälle hatte ein reicher Londoner Bürger sein ganzes Vermögen einer jungen Dame vermacht, „zum Dank für das unaussprechliche Vergnügen, welches ihm durch volle 3 Jahre die Betrachtung ihrer liebenswürdigen — Nase gemacht hatte“. Erst an der Leiche erkannte die Dame den Mann als denjenigen, der sie durch die ganze Zeit auf allen Spaziergängen verfolgt und mit Schmeicheleien und sogar Versen auf ihre Nase überhäuft hatte. Ein weiterer Fall betrifft den gelehrten Queensley in Cambridge, einen grossen Bewunderer der griechischen Poeten, welcher in seinem Testament bestimmt hatte, dass seine Haut, zu Pergament verarbeitet, mit der Iliade Homer’s beschrieben und dann im britischen Museum aufbewahrt werden solle. — Ein höchst merkwürdiges Testament einschlägiger Art lieferte 1866 ein 82jähriger Notar in Neufchâtel, der ausser seinem Notariat auch einen kleinen Weinhandel betrieben hatte. Mehrere Jahre (!) vor seinem Tode hatte er einem Geistlichen ein versiegeltes Päckchen übergeben, mit dem Auftrage, dasselbe erst nach seinem Tode öffnen zu lassen. Der Notar stirbt, man öffnet das Päckchen und findet darin eine Schrift folgenden Inhaltes: „Vertrag mit dem allmächtigen Gott einer- und einem seiner demüthigen Diener anderseits. Art. 1. Zweck dieses Vertrages ist der Handel mit Spirituosen. Art. 2. Mein grossmächtiger Associé wird geruhen, als Einlagecapital seinen Segen zu geben. Ich meinerseits werde mein Capital und meine Kraft dazu geben und über den Erfolg Buch führen. Art. 3. Der Gewinn wird zur Hälfte zwischen mir und meinem hohen Associé getheilt. Art. 4. Sobald mich Gott von dieser Welt abberuft, soll die Liquidation unverzüglich meinem Neffen anheimfallen und der Antheil meines hohen Associé den Geistlichen von N. zu Missionszwecken übergeben werden.“ So sonderbar dieses Testament ist, so kann man doch daraus nicht eine Geistesstörung des Verfassers deduciren. Vielmehr erklärt sich sowohl Form als Inhalt des Testamentes einestheils aus dem starken Glauben und innigen Gottvertrauen des Mannes, anderseits aus seiner pedantischen [S. 995]Genauigkeit, die ihn als Juristen veranlasste, seinem Legat die Form einer Vertragsurkunde zu geben. In der That stellte sich heraus, dass der Testator in den letzten Jahren keine Spur von Geistesstörung dargeboten, sondern sowohl sein Notariat als seinen Weinhandel ganz correct, allerdings mit pedantischer Gewissenhaftigkeit geführt hatte. Es fanden sich auch die Bücher in vollkommenster Ordnung und Gottes Antheil genau mit 7393 Francs eingetragen und verrechnet. Wenn demnach das Gericht das Testament als rechtsgiltig erkannte, so kann dem nur zugestimmt werden (Krafft-Ebing, Lehrbuch d. gerichtl. Psych., pag. 371).
Die Beurtheilung von in der zum Tode führenden Krankheit, insbesondere in extremis, vollbrachten civilrechtlichen Acten (Eheschliessungen, Testamenten) hat insoferne etwas Eigenthümliches, als der Einfluss einestheils der betreffenden Krankheit, anderseits der Agonie auf den Geisteszustand des Individuums, respective auf dessen Dispositionsfähigkeit in Betracht gezogen werden muss.[593]
Zunächst gibt es acute Krankheiten, bei welchen insbesondere auf der Höhe ihrer Entwicklung das Bewusstsein aufgehoben oder mehr weniger getrübt ist. Es gehören hierher zunächst die schweren Hirnerkrankungen, namentlich apoplectische, embolische und meningitische Processe, dann aber viele der acuten Infectionskrankheiten (Typhus, Exantheme), die bekanntlich auf der Höhe des Fiebers sehr gewöhnlich mit Delirien sich verbinden. Während des Bestandes der letzteren ist selbstverständlich jedes freie und bewusste Handeln ausgeschlossen, wenn auch solche Kranke mitunter auf Anschreien oder sehr laute Fragen einzelne richtige, allerdings nur kurze Antworten geben. Da jedoch die Delirien nicht immer continuirlich andauern, sondern ebenso wie die Fiebertemperaturen Remissionen und Intermissionen zulassen, so muss man zugeben, dass während der letzteren ungetrübtes oder wenigstens nicht wesentlich getrübtes Bewusstsein bestehen kann. Ob dies jedoch bei einem bestimmten Individuum wirklich der Fall war, kann nur aus der genauesten Erhebung und Erwägung aller Umstände erkannt werden, und es ist klar, dass man sich gegenüber in dieser Richtung gemachten fremden Angaben nicht genug reservirt verhalten kann. Gleiche Vorsicht ist gegenüber den Reconvalescenzstadien nach apoplectischen, embolischen und meningitischen Processen zu beobachten, da hier das partielle Erwachen des Bewusstseins für völlige Wiederkehr derselben genommen werden kann und weil wir wissen, dass gerade nach diesen Erkrankungen selbst nach vollständiger Genesung im gewöhnlichen Sinne intellectuelle Defecte sehr gewöhnlich zurückzubleiben pflegen.
[S. 996]
Der Einfluss schwerer Erkrankungen auf die Stimmung ist nicht zu unterschätzen: denn wenn sich dieser bekanntlich schon unter gewöhnlichen Umständen bemerkbar macht, so ist dies noch mehr zu erwarten, wenn durch die Natur der Erkrankung die Intelligenz in mehr weniger wesentlichem Grade in Mitleidenschaft gezogen wird. Indifferenz und consecutive grössere Bestimmbarkeit einerseits und erhöhte Reizbarkeit (Empfindlichkeit) anderseits können sich entwickeln und den Kranken in der Art beeinflussen, dass er Handlungen begeht, die er sonst niemals begangen haben würde.
Noch wichtiger ist die Thatsache, dass im Verlaufe acuter Erkrankungen und durch dieselben veranlasst typische Geistesstörungen auftreten können, die vorwiegend als Manien mit Sinnestäuschungen, Unruhe, Verworrenheit sich präsentiren, aber auch den Charakter von Melancholien mit Angstanfällen oder den von Verfolgungswahn annehmen können. Man hat solche Formen fast bei allen Arten von Erkrankungen beobachtet, unter anderen auch wiederholt bei der gewöhnlichen croupösen Pneumonie[594], und zwar selbst bei blos lobulären Formen. Es scheint, dass derartige Geistesstörungen insbesondere bei zu Psychosen veranlagten Individuen sich entwickeln, wie es bekannt ist, dass acute Erkrankungen bei Alkoholikern zum Ausbruche des Delirium tremens Veranlassung geben können. In welcher Weise durch derartige Geistesstörungen und ebenso durch die sogenannten Erschöpfungspsychosen die Dispositionsfähigkeit beeinträchtigt werden kann, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Handelt es sich um die Beurtheilung eines in extremis, d. h. unmittelbar vor dem Tode vollbrachten Actes, so ist ausser den erwähnten Einflüssen noch derjenige zu berücksichtigen, welcher durch die Agone oder den sogenannten Sterbezustand auf die Selbstbestimmungsfähigkeit und das Unterscheidungsvermögen ausgeübt wird.
Das Verhalten der Agonie ist keineswegs immer gleich, sondern insbesondere bezüglich der Dauer und der psychischen Symptome variabel. Ein wesentlicher Einfluss in beiden Beziehungen scheint der Natur der betreffenden Erkrankung zuzukommen. Beim rein marastischen Tode, sowie bei chronischen Krankheiten, wenn sie nicht etwa das Gehirn selbst betreffen, verläuft die Agone häufig unter dem Bilde eines allmäligen, mitunter aber mehr weniger unvermittelt eintretenden Collapsus, der entweder plötzlich oder mit einem kürzeren oder längeren soporösen Stadium in den Tod übergeht. Im ersteren Falle kann der Sterbende bis zum letzten Augenblicke, im letzteren bis zum Eintritte des Sopors sein Bewusstsein behalten und daher auch letztwillig verfügen. In[S. 997] anderen Fällen wird die Agone durch einen somnolenten Zustand eingeleitet, der entweder unmittelbar oder nach Uebergang in Sopor zum Tode führt. Das Bild hat eine gewisse Aehnlichkeit mit anderweitig erzeugter Narcose, wurde auch von älteren Autoren als „Kohlensäurenarcose“ aufgefasst, während neueren Erwägungen zufolge sich dasselbe schon aus der allmäligen Abnahme der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn erklärt. Während des somnolenten Stadiums besteht bereits eine gewisse Betäubung und ausserdem mehr weniger ausgesprochene Indifferenz, so dass civilrechtliche Acte selbstständig nicht mehr unternommen werden können. Auch kann trotz des Umstandes, dass die Betreffenden durch lautes Ansprechen, Rütteln u. dergl. aus ihrer Somnolenz für einige Augenblicke erweckt werden können, dennoch ein genügendes Begreifen der Bedeutung solcher Acte, zu denen die Kranken etwa durch Andere aufgefordert werden, nicht mehr zugestanden werden; am wenigstens aber dann, wenn, wie nicht selten, Spuren von Delirien sich kundgaben, die dann meist den Charakter musitirender Delirien zu haben pflegen. Bei acuten fieberhaften Krankheiten pflegt die Agone gewöhnlich mit Collapsus zu beginnen und mit Sopor zu enden. Waren schon früher Delirien vorhanden, so dauern sie gewöhnlich fort, indem sie den Charakter musitirender annehmen. In anderen Fällen treten solche erst während der Agone auf. Eine Erhaltung des Bewusstseins bis zum letzten Moment kommt bei acuten Erkrankungen ungleich seltener vor als bei chronischen, am ehesten bei solchen, die ohne oder nur mit geringem Fieber einhergehen, bei welchen die Agone auch protrahirter, insbesondere unter Somnolenz verlaufen kann.
Schon in älteren Schriften begegnen wir der Angabe, dass mitunter bei Sterbenden ein gewisses Aufleuchten der Intelligenz und bei Geisteskranken sogar eine Wiederkehr der Vernunft beobachtet wurde. Auch Krafft-Ebing (l. c. 358) und Legrand du Saulle (l. c., pag. 116) berühren diesen Gegenstand, worauf sich offenbar auch der oben erwähnte §. 567 des österr. allgem. bürgl. Gesetzbuches bezieht, welcher bestimmt, dass, wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch des Verstandes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei voller Besonnenheit gewesen sei, diese Behauptung durch Kunstverständige erforscht oder durch andere zuverlässige Beweise ausser Zweifel gesetzt werden muss. Krafft-Ebing bezweifelt mit Recht die Richtigkeit solcher Vorkommnisse, indem die Vermuthung nahe liegt, dass ein blosses Zurücktreten der früher bestandenen Delirien mit einem völligen Verschwinden derselben verwechselt wurde, wozu wir hinzufügen möchten, dass anderseits in der Agone auftretende Exaltationsphänomene für ein Wiedererwachen der Intelligenz genommen werden können, in welche Kategorie auch so manche der von Sterbenden ausgegangenen prophetischen etc. Sentenzen gehören werden, deren Legrand du Saulle erwähnt.
Eine besondere Erwähnung verdient die Dispositionsfähigkeit der Selbstmörder, einestheils weil der begangene Selbstmord[S. 998] Zweifel erwecken kann, ob gewisse vor Begehung desselben getroffene Verfügungen, z. B. Testamente, im Zustande geistiger Gesundheit geschahen, anderseits weil der Selbstmord als solcher gewisse Rechtsfolgen für die Hinterbliebenen, insbesondere Verlust der Ansprüche auf Pensionen oder Versicherungsprämien nach sich ziehen kann, wenn erkannt wird, dass die That im geistesgesunden Zustand geschah. Der Selbstmord beweist für sich allein keineswegs den geisteskranken Zustand des betreffenden Individuums, obgleich es stets Psychiater gab, die solches behaupteten, vielmehr muss sowohl aus theoretischen Gründen, als mit Rücksicht auf zweifellose Erfahrungen zugegeben werden, dass ein Selbstmord auch bei voller Ueberlegung und ungetrübter Geisteskraft geübt werden kann. Es wird daher, wenn der Geisteszustand eines Selbstmörders in Frage kommt, jeder Fall concret beurtheilt werden müssen, zu welchem Behufe ausser den anamnestischen Momenten die That als solche, dann die Prüfung eventuell hinterlassener Schriftstücke und wenn möglich das Resultat der Obduction heranzuziehen sind.
Die Anamnese hat sich nicht blos auf das Verhalten des Individuums vor der That, sondern auch auf das gesammte Vorleben desselben zu erstrecken. Was die That selbst betrifft, so ist allerdings zunächst nach einem Motiv derselben zu forschen. Der Nachweis eines äusseren Motivs genügt aber für sich allein nicht zum Ausschluss eines geisteskranken Zustandes, sondern es ist in einem solchen Falle erst zu erwägen, ob Motiv und That mit einander im Verhältnisse stehen, anderseits aber im Auge zu behalten, dass alle jene äusseren Motive, welche einen Geistesgesunden zum Selbstmord bewegen können, dieses ungleich leichter bei einem Geisteskranken zu bewirken vermögen. Gleiches gilt von somatischen Erkrankungen, insbesondere von chronischen, schmerzhaften oder, wie z. B. die Syphilis, anderweitig gefürchteten Krankheiten, die bekanntlich nicht selten den damit Behafteten zum Selbstmord bewegen, wobei noch zu bemerken ist, dass diese Krankheiten an und für sich, besonders aber bei dazu disponirten Individuen, theils durch ihren physischen, theils durch den psychischen Einfluss Geistesstörungen hervorzurufen vermögen. Die Selbstmordart ist nur ausnahmsweise eine solche, dass sie für sich allein an Geistesstörung denken lässt, so z. B. Selbstmord durch Hiebe gegen den Kopf oder Einrennen desselben, während andere bequemere Selbstmordarten leicht ausführbar waren, Selbstverstümmelungen oder zahlreiche ein blindes Wüthen gegen sich selbst verrathende Wunden, Verbrennungen auf einem Scheiterhaufen oder im Bette, Kreuzigung u. dergl.[595]
[S. 999]
Hinterlassene, insbesondere kurz oder unmittelbar vor dem Tode geschriebene Schriftstücke sind natürlich höchst wichtige Documente, indem sie häufig das Motiv des Selbstmordes enthalten, anderseits aber aus Inhalt, Form etc. wichtige Schlüsse auf den Geisteszustand des Selbstmörders gestatten können in analoger Weise, wie wir dies bezüglich anderer Schriftstücke oben (pag. 993) bemerkt haben.
Ueber die letzten Empfindungen von Selbstmördern, wie sie von denselben in ihren Schriften hinterlassen wurden, schrieb Bierre de Boismont (Annal. méd.-psych. Juli 1851; Schmidt’s Jahrb. 1852, LXXV, pag. 91, und 1853, LXXX, pag. 358). Unter 4595 Selbstmördern fanden sich 1328mal Briefe, Bemerkungen und sonstige Schriftstücke vor. Von diesen zeigten 55 von verschiedenen Graden geistiger Störung, 34 trugen das Gepräge entschiedenen Wahnsinns an sich; 85 Selbstmörder hatten ein Testament gemacht. Wir besitzen eine ansehnliche Sammlung hinterlassener Briefe von Selbstmördern, unter denen sich mehrere befinden, aus denen die Geistesstörung deutlich sich ergibt. So hinterliess ein allgemein geachteter, in den besten Verhältnissen lebender Staatsanwalt, der sich erschossen hatte, folgenden, an seinen Vorstand gerichteten Brief: „Hochwohlgeborener Herr und Gönner! Ich ertrage es nicht länger, ich bin zusammengebrochen. Ich bin einem schrecklichen Lose anheimgefallen. Das Verhängniss hat mich ereilt. Ich vermochte das Amt nicht in einen solchen Zustand zu bringen, dass ich mit Ehren vor der Welt bestehen kann. Verzweiflung ist mein Lohn und das treibt mich in den Tod. Möge mein Nachfolger glücklicher sein. In der Casse ist meines besten Wissens kein Abgang. Verurtheilen Sie mich nicht; bedauern Sie mich; mit patriotischer Brust erglühte ich für Alles Edle und doch bin ich bei einem so schrecklichen Ende angelangt! Gott erhalte Sie!“ Die melancholische Geistesstörung ist hier unverkennbar und die Aeusserung der Verzweiflung in Folge des grässlichen Gefühls der Unfähigkeit zur gewohnten Arbeitsleistung (vergl. pag. 921) ebenso charakteristisch, wie im folgenden Briefe, der von einem ausgezeichneten Koch eines grossen Wiener Hauses stammt, der sich durch einen Schuss das Leben nahm, weil er von dem Wahne befallen war, seinem Posten nicht mehr gewachsen zu sein:
Dienstag, 8 Uhr Abends.
Theure, gute, beste aller Frauen! Dir, die Du so viel dafür gethan hast, dass ich es zu etwas bringe, sagen zu müssen, dass ich so elend geworden bin, dass ich im Begriffe bin, mir das Leben zu nehmen! Ich sehe jetzt ein, dass ich Dich nicht mehr glücklich machen kann. Unserer kleinen theuren Tochter, die ich so innig liebe, wird Gott seinen Schutz angedeihen lassen, sowie Dir, meine theure, gute Mathilde. Was mich anbelangt, so ist mein Entschluss [S. 1000]unerschütterlich, mir das Leben zu nehmen. Ich kann nicht mehr leben, und wenn mir die Frau Baronin heute Abends keine Aufträge bezüglich eines Diners gibt, das wir morgen haben sollen, bin ich entschlossen, sofort zu sterben, denn ich kann nicht mehr ertragen, was mich erwartet. Du weisst, was ich gelitten habe, und ich bin überzeugt, dass mein Verstand von Tag zu Tag abnimmt, denn ich fühle mich alle Tage schlechter. Ich vergesse Alles, was man mir sagt; ich weiss nicht mehr, was ich mache, wie ein Toller laufe ich den ganzen Tag herum, ohne jede Ursache. Es ist mir unmöglich, weiter zu leben, da meine Stellung zu compromittirt ist. Ich muss mich für rettungslos verloren betrachten; ich schwöre vor Gott, dass mein Schritt ein nur allzu wohlbegründeter ist. Meine Existenz ist gänzlich vernichtet, und ich kann es nicht über mich bringen, Dich leiden zu sehen und unsere kleine Juliette. Mein Glück ist verloren für immerdar.... Ich bin ausser Stande, zu ertragen, zum Nichtsthun verurtheilt zu sein. Heute ging ich aus, um Commissionen zu besorgen. Ich wusste aber nicht, was ich that, was ich sprach.... Ich erwarte die Antwort der Frau Baronin. Wenn sie mir diesen Abend keine Aufträge geben will, ist Alles verfehlt. Ich bitte Dich, Tante Katherine tausendmillionenmal für mich zu umarmen, sowie unsere Kleine. Du weisst, dass die Schwierigkeiten, welche ich erleiden musste, sich verschlimmert haben, und ich hatte nicht einen einzigen Bedienten, der mir secundirt hätte — das heisst, der mich unterrichtet hätte. Schliesslich hätte das Niemandem etwas genützt, da ich Alles vergesse und nichts mehr verstehe. Bevor ich krank werde, will ich lieber so schnell als möglich meinem Leben ein Ende machen.
Adieu, meine Theure, Gott mache Dich glücklicher!
Dein Julius, der Dich sehr geliebt hat.
Die Obduction kann werthvolle Anhaltspunkte für die Beurtheilung des Geisteszustandes eines Selbstmörders ergeben, doch ist sie nur selten für sich allein im Stande, eine bestimmte Entscheidung nach der einen oder anderen Richtung zu gestatten.[596] Bekanntlich ist gerade bei den acuten Geistesstörungen der Sectionsbefund meistens ein negativer, man ist daher auch nicht berechtigt, daraus, dass keine wesentlicheren Veränderungen am Gehirne oder seinen Häuten gefunden wurden, zu schliessen, dass das Individuum[S. 1001] nothwendig ein geistesgesundes gewesen sein müsse. Anderseits wissen wir, dass mitunter selbst grobe pathologische Befunde am Gehirn und seinen Häuten sich bei Leuten ergeben, an denen bis zu ihrem Tode keine psychische Störung bemerkt wurde. Zu diesen gehören insbesondere die Veränderungen und Trübungen und serösen Infiltrationen der inneren Hirnhäute, die so häufig, namentlich bei Selbstmördern, als Beweis für Unzurechnungsfähigkeit herhalten müssen, während niedere und mittlere Grade derselben auch bei notorisch Geistesgesunden zu den gewöhnlichen Obductionsbefunden gehören. Begreiflicher Weise werden am meisten jene pathologischen Processe für bestandene Geistesstörung sprechen, die das Grosshirn betreffen, und zwar ausser angeborenen Anomalien in erster Linie solche der Hirnrinde, und zwar sowohl locale als diffuse, ferner die so häufigen Herderkrankungen im Linsenkern, diffuse oder localisirte Sclerosen, embolische und syphilitische Erkrankungen, graue Degenerationen, traumatische Processe u. dergl.
Endlich werden auch angeborene oder erworbene Deformitäten des Schädels und die bereits pag. 902 erwähnten sogenannten Degenerationszeichen, besonders Bildungshemmungen, nicht unverwerthet bleiben dürfen.
Selbstmord im Fieberdelirium ist bekanntlich ein häufiges Ereigniss und die Section ist dann im Stande, die häufig schon durch die Anamnese klare, dem Delirium zu Grunde liegende Erkrankung nachzuweisen. Am häufigsten sind es acute exanthematische Erkrankungen, insbesondere die Blattern, ferner typhöse Processe, um die es sich handelt, mitunter aber auch einfach entzündliche Erkrankungen, z. B. Pneumonien, Pleuritiden, Gelenksrheumatismus, welche bei Individuen mit labilem psychischen Gleichgewicht, unter welche namentlich die Alkoholiker und jene Individuen gehören, bei welchen Pachymeningitis oder in Folge einer überstandenen Meningitis Verwachsung der Meningen mit der Hirnrinde besteht, oder welche mit Residuen einer anderweitigen Hirnerkrankung (apoplectische Cysten, embolische Herde, geheilte Contusionen etc.) behaftet sind, gehören, schon in den ersten Stadien Delirien und dem entsprechende Handlungen, insbesondere auch Selbstmord, bedingen können. Die Obduction solcher Fälle, deren wir bereits eine ganze Reihe untersucht haben, ergibt dann ausser den durch den Selbstmordact gesetzten Läsionen, die betreffende acute Erkrankung (frische Pneumonie, Pleuritis etc.) und zugleich als anatomisches Substrat des labilen psychischen Gleichgewichtes die Zeichen des chronischen Alkoholismus oder einen der erwähnten chronisch-pathologischen Processe im Gehirn. Dass unter solchen Umständen ausser Selbstmord auch andere schwere Gewaltacten vorkommen können, zeigte die Obduction eines Potators, der seinen 3 Kindern und dann sich selbst den Hals durchschnitten hatte, welche eine frische fibrinöse Pleuritis ergab.
[S. 1002]
Auch chronische Erkrankungen verschiedener Organe können theils auf psychischem Wege, theils secundär, z. B. durch Ernährungs- oder Circulationsstörungen, zu Geistesstörungen führen, weshalb der Bestand solcher Erkrankungen ebenfalls in Betracht gezogen werden muss.
Oesterr. St.-P.-O.
§. 151. Als Zeugen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit ihrer Aussage nicht vernommen werden: — — — — 3. Personen, die zur Zeit, in welcher sie das Zeugniss ablegen sollen, wegen ihrer Leibes- oder Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande sind, die Wahrheit anzugeben.
§. 170. Folgende Personen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des Eides nicht beeidigt werden: — — — 4. Die zur Zeit ihrer Abhörung das 14. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben; 5. welche an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögens leiden.
Deutsch. St.-P.-O.
§. 56. Unbeeidigt sind zu vernehmen: Personen, welche zur Zeit der Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet oder wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche von dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben.
Die Verhandlungs- oder Vernehmungsfähigkeit kommt in psychischer Beziehung in Betracht, wenn Zweifel darüber bestehen, ob den Angaben des betreffenden Individuums jene Verlässlichkeit und Beweiskraft zugeschrieben werden kann, wie dies bei Geistesgesunden gewöhnlich der Fall ist, demnach insbesondere, wenn es sich um die Fähigkeit zur Zeugenaussage oder um die Glaubwürdigkeit von durch das betreffende Individuum gegen sich selbst oder gegen Andere gerichtete Anklagen handelt.
Wie aus der oben angeführten Gesetzesstelle hervorgeht, fordert das Gesetz von einem vollgiltigen, d. h. beeidungsfähigen Zeugen eine gewisse Verstandesreife und ein normales Verhalten des Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögens.
Die entsprechende Verstandesreife wird von der österr. St.-P.-O. schon mit Vollendung des 14., von der deutschen mit beendetem 16. Lebensjahre als vorhanden angenommen. Bezüglich des Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögens scheint das Gesetz, wie aus dem Wortlaute der betreffenden Stellen entnommen werden muss, nur die Schwäche dieser Fähigkeiten, also den Schwach- oder Blödsinn, im Auge gehabt zu haben. Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, dass bezüglich der Fähigkeit zur Zeugenaussage auch andere Geisteskrankheiten in Frage kommen können, da ja Geisteskranke verschiedener Art zufälliger Weise Zeugen gewisser zur straf- oder civilrechtlichen Verfolgung führender Geschehnisse gewesen sein konnten, oder zur Zeit des Geschehnisses geistesgesund gewesene Personen dann, wenn sie das Zeugniss ablegen sollen, geistesgestört sein können.[597] Die alte preussische Gerichtsordnung[S. 1003] hatte auf diese Möglichkeiten ausdrücklich Rücksicht genommen, indem sie im Thl. I, Tit. 10, §. 227, Rasende, Wahn- und Blödsinnige zur Ablegung eines Zeugnisses unfähig erklärte. Auch im §. 151 der österr. St.-P.-O. scheinen wenigstens bezüglich der zur Zeit, wo das Zeugniss abgelegt werden soll, bestehenden Zustände auch andere Geistesstörungen gemeint worden zu sein, da nicht wie im §. 170 nur von geistesschwachen, sondern überhaupt von solchen Personen gesprochen wird, „die wegen ihrer Leibes- oder Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande sind, die Wahrheit anzugeben“.
Bis zu welchem Grade Schwach- und Blödsinnigen oder anderweitig zur Zeit des Geschehnisses geisteskrank Gewesenen oder nachträglich geisteskrank Gewordenen die Fähigkeit zur Ablegung eines Zeugnisses zugesprochen werden kann, kann nur von Fall zu Fall und mit Rücksicht auf die concreten Verhältnisse entschieden werden.
Natur und Grad der Geistesstörung einerseits, Qualität dessen, worüber auszusagen ist, anderseits, muss in Betracht gezogen werden, ebenso die Zeit, die seit dem Geschehnisse verflossen ist. Im Allgemeinen ist es analog wie bei der Zurechnungs- und Dispositionsfähigkeit auch hier in letzter Linie Sache des Gerichtes, über die Vernehmungsfähigkeit zu entscheiden, während dem Arzte nur die Aufgabe zufällt, einestheils zu erklären, ob das Individuum geisteskrank ist oder war, und in welchem Grade durch die Krankheit das Wahrnehmungs-, beziehungsweise Erinnerungsvermögen, sowohl im Allgemeinen als bezüglich des in Frage stehenden Actes beeinträchtigt ist oder gewesen war. Die Unterscheidung, die das Gesetz zwischen Vernehmungsfähigkeit im Allgemeinen und Beeidigungsfähigkeit macht, wird auch der Gerichtsarzt nicht ausser Acht lassen.
[S. 1004]
Von letzterer kann keine Rede sein, sobald erklärt wird, dass das Individuum an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs- oder Erinnerungsvermögens leidet (litt) oder wegen seiner Verstandesschwäche (oder anderweitiger Geisteskrankheit) von dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung habe; dagegen kann ein solches Individuum trotzdem unbeeidigt vernommen werden, und es bleibt dem Richter, beziehungsweise den Geschworenen, überlassen, inwieweit sie mit Rücksicht auf den Geisteszustand des Individuums dessen Aussagen beim Urtheil verwerthen wollen oder nicht. Werden ja auch Kinder unter 14, beziehungsweise unter 16 Jahren zur Zeugenaussage zugelassen, obwohl sie nicht beeidigt werden dürfen. In allen diesen Fällen wird man nicht blos den Geisteszustand (Intelligenz) des Individuums überhaupt erwägen, sondern auch die innere Glaubwürdigkeit der concreten Aussage einer Prüfung unterziehen, die sich aus der Art der Schilderung des Sachverhaltes, aus der Uebereinstimmung der Angaben mit thatsächlich erhobenen Verhältnissen etc. ergeben muss.
Besondere Vorsicht ist gegenüber spontanen Angaben von geisteskranken Personen nothwendig, durch welche sich letztere selbst begangener Verbrechen anklagen oder Andere solcher beschuldigen, da solche Angaben nur auf Wahnvorstellungen, Fehlern der Reproductionstreue etc. beruhen können.[598]
Selbstbeschuldigungen kommen, wie bereits a. a. O. erwähnt, insbesondere bei Melancholie und bei (melancholischer) Verrücktheit vor, bei Hysterie und Hysterodämonomanie[599], seltener bei secundärem Schwach- oder Blödsinn.
[S. 1005]
Die der Selbstanklage zu Grunde liegenden Wahnideen können spontan, d. h. ganz objectlos, entstehen oder unter dem Einflusse thatsächlicher Vorkommnisse, die entweder früher Erlebtes betreffen oder kurz zuvor sich abgespielt haben.[600] Letztere Fälle sind insoferne von grösserer Bedeutung, als die allgemeine Thatsächlichkeit des Vorkommnisses die betreffende Angabe glaubwürdig erscheinen lassen kann, während im ersteren Falle schon die Objectlosigkeit der Selbstbeschuldigung die Sache erledigt. Verhältnissmässig häufig bildet die Tödtung von Kindern, namentlich der eigenen, Gegenstand der Selbstanklage und liefert instructive Beispiele für das eben Gesagte.
So erschien in Innsbruck eine Person vor Gericht und gab an, bereits zweimal geboren und jedesmal im Einverständnisse mit ihrem Geliebten das Kind umgebracht zu haben. Da sie als Letzteren bald einen Pfarrer, bald einen Italiener bezeichnete, das eine Mal Zwillinge geboren haben wollte und ganz auffallend sich geberdete, entstand sofort die Vermuthung, dass die Person geisteskrank sei. In der That ergab die ärztliche Beobachtung, sowie die Anamnese aus Melancholie hervorgegangene Verrücktheit und die Untersuchung der Genitalien, dass die Person noch gar nicht geboren haben konnte. Auch Krafft-Ebing (l. c. 293) citirt zwei Fälle, in denen Geisteskranke sich des Kindesmordes anklagten, während die Untersuchung ergab, dass sie niemals geboren hatten, und dass die Eine sogar noch Virgo war. — Einen Fall zweiterwähnter Kategorie berichtet Maschka (Gutachten, IV, 274). Derselbe betraf eine 26jährige Gärtnerstochter, die sich anklagte, vor 7 Jahren ihre damals 9jährige Schwester in einen Brunnen geworfen und ertränkt zu haben. Das Kind war damals thatsächlich aus dem Hausbrunnen todt hervorgezogen worden und man hatte allgemein geglaubt, dass dasselbe zufällig hineingefallen sei. Die Angabe der Gärtnerstochter schien plausibel, da Letztere die That in Abwesenheit der übrigen Hausbewohner und aus dem Grunde begangen, haben wollte, damit ihr allein die Wirthschaft der Eltern zufalle. Da sich jedoch herausstellte, dass die Betreffende seit ihrem 9. Lebensjahre in Folge einer überstandenen Gehirnaffection geistig zurückgeblieben war, seit ihrem 18. Lebensjahre an epileptiformen Anfällen litt, kurz zuvor einen Selbstmordversuch mit Arsenik gemacht hatte, sich in ihrer Angabe vielfach widersprach, stets einen gutmüthigen Charakter zeigte und ihrer Schwester in Liebe zugethan gewesen war, so wurde das Gutachten dahin abgegeben, dass die Selbstanklage auf einer Wahnvorstellung, die sich erst in der letzten Zeit entwickelte, beruhen dürfte. — Einschlägige Fälle dritter Kategorie liefern mitunter die Puerperal- oder andere Erschöpfungsmelancholien. Wir kennen aus eigener Erfahrung zwei Fälle, in denen bei Wöchnerinnen die Wahnidee sich einstellte, ihre Kinder umgebracht zu haben, und Morel (Krafft-Ebing, l. c.) erzählt von einer jungen Frau, welche, nachdem ihr ein 7jähriges rhachitisches Kind, welches sie mit rührender Sorgfalt gepflegt hatte, gestorben war, in Folge des Kummers gemüthskrank geworden war, eines Tages zu Gericht ging und mit allen Details und plausiblen Angaben das Geständniss ablegte, dass sie eine unnatürliche Mutter sei und ihr Kind durch Misshandlungen umgebracht habe.
Der Thatsache, dass Erlebnisse aus früherer, insbesondere aber aus jüngster Zeit in verschiedener Weise verfälscht als Wahnvorstellungen auftreten, begegnet man nicht blos bei eigentlichen Geisteskrankheiten, sondern auch bei den während gewisser acuter Erkrankungen auftretenden Delirien und sie haben insoferne eine forensische Bedeutung, als die daraus resultirenden Aeusserungen auch unter der Form von Selbstanklagen sich ergeben können.
[S. 1006]
Insbesondere ist es schon vorgekommen, dass Angeklagte, obwohl unschuldig, wenn nachträglich an Typhus etc. erkrankt, im Sinne der Anklage delirirten (Krafft-Ebing, l. c. 293). Aehnliches kommt ja sogar bei gewöhnlichen Träumen vor, und es wäre daher ganz ungerechtfertigt, wenn etwa im Schlafe gesprochene Worte eines Angeklagten als Beweis der Schuld desselben genommen werden würden. In der 1878 stattgefundenen Hauptverhandlung, betreffend die Ermordung einer Prostituirten (Balogh), wurde von einer Zeugin, die in der Untersuchungshaft mit einer der Angeklagten in einer Zelle schlief, angegeben, dass Letztere im Schlafe gerufen habe: „Mein Gott, mein Gott, zwei sind’s, den Einen weiss ich, den Anderen nicht, aber ich sage nichts.“ Mit Recht wurde auf diese Aussagen keine Rücksicht genommen, obgleich es nicht unmöglich war, dass die Angeklagte wirklich diese Worte im Schlafe gesprochen haben konnte.
Angaben von Hypnotisirten sind nach Lombroso und Algeri (1887) nicht zu verwerthen, da der Verbrecher, auch der geisteskranke, in der Hypnose ein eben solcher Lügner und Betrüger ist, wie ausserhalb derselben. Dass auch durch ungeschickte Fragen Selbstanklagen in Betäubte hineinsuggerirt werden können, beweist ein von Landgraf (Friedreich’s Bl. 1894, pag. 172) mitgetheilter Fall von Kohlendunstvergiftung eines Ehepaares, in welchem der betäubt gefundene Ehemann von den Hinzugekommenen beschuldigt wurde, sein Weib erschlagen zu haben und dies auch zugestand, was sich jedoch als unwahr erwies.
Anschuldigungen Anderer sind bei Geisteskranken noch häufiger als Selbstanklagen. Das Hauptcontingent liefern die verschiedenen Formen der Verrücktheit und von diesen insbesondere der Verfolgungs- und der Querulantenwahn und dann das hysterische Irrsein. Beim Verfolgungswahn ergibt sich die Möglichkeit der Beschuldigungen Anderer aus der Natur der betreffenden Wahnvorstellungen. Letztere sind in der Regel als solche so ausgesprochen, und die Art und Weise, wie sie der Kranke vorbringt, so charakteristisch, dass über den Fall kein Zweifel bestehen kann. Schwieriger kann die Beurtheilung sich gestalten, wenn die betreffenden Ideen eine gewisse äussere Berechtigung zu besitzen scheinen und in Folge der sonst normalen oder gar mehr als gewöhnlich entwickelten Intelligenz in plausibler, gewissermassen überzeugender Weise vorgebracht werden (Folie raisonnante). Namentlich können Laien getäuscht werden, und wiederholte Erfahrungen haben gelehrt, dass unter diesen Umständen und nicht selten unter Mitwirkung allzu eifriger Advocaten sich grosse Processe aus Angaben entwickeln können, die schliesslich nur auf systematisirten Wahnvorstellungen beruhen. Eine verhältnissmässig häufige Rolle spielen in dieser Beziehung Anklagen wegen widerrechtlicher Einsperrung in Irrenanstalten, und diese Anklagen können sowohl bei Individuen vorkommen, die zur Zeit, wo sie oder Andere die Anklage erheben, wieder ganz gesund[S. 1007] sind, als auch, und zwar häufiger, bei Solchen, die noch an Geistesstörung laboriren, aber für geistesgesund gelten wollen. Eine Cause célèbre dieser Art war der bekannte Fall des 1872 verstorbenen Advocaten Sandon, dessen Scandalprocess so viele Jahre Juristen und Aerzte und die Regierung Frankreichs beschäftigte, bis endlich die in der letzten Zeit eingetretenen Erscheinungen und die Obduction die von der Mehrzahl der Aerzte schon lange vertretene Ansicht zur Evidenz brachte, dass man es mit einen Geisteskranken zu thun gehabt hatte.[601]
Wie sehr Hysterische zu Beschuldigungen Anderer geneigt sind, wurde bereits oben erwähnt und bemerkt, dass besonders häufig solche sexuellen Inhaltes vorkommen, wobei einestheils die gesteigerte geschlechtliche Erregbarkeit oder andere Abnormitäten des geschlechtlichen Fühlens, anderseits die Geneigtheit zu Verfälschungen gewisser Vorkommnisse im Bewusstsein eine wesentliche Rolle spielen. In anderen Fällen sind die Anklagen auf die krankhafte Sucht, Aufsehen zu erregen, oder das perverse Fühlen, insbesondere die meist vorhandene, selbst bis zur moralischen Insensibilität entwickelte Gemüthsstumpfheit zurückzuführen. Die Beschuldigungen können eben so gut gegen ganz fingirte, als gegen bestimmte Personen gerichtet sein, und es kann nicht überraschen, wenn im letzteren Falle dies insbesondere solche sind, die wirklich mit den Hysterischen in irgend einem Conflicte gestanden sind. Hierbei gehen Letztere in der Regel mit grosser Schlauheit, ja sogar mit Raffinement vor, wissen nicht blos die ihrer Anklage zu Grunde liegenden Handlungen zu erfinden, sondern als wirklich vorgekommene darzustellen, respective gewissen Personen zuzuschreiben, oder gar von ihnen selbst in wohlberechneter Weise Begangenes diesen anzudichten und scheuen sich sogar nicht, Verletzungen, die sie sich selbst beigebracht haben, Anderen zu imputiren.[602]
[S. 1008]
Zu den auf pathologischer Grundlage beruhenden Beschuldigungen Anderer gehören schliesslich noch die, welche nach dem Erwachen aus zu ärztlichen Zwecken eingeleiteter Narcose, insbesondere nach Chloroformnarcose, vorgekommen sind und die bereits a. a. O. (pag. 151) erwähnt wurden.
In allen derartigen Fällen ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, zunächst zu constatiren, dass das betreffende Individuum in einem psychopathischen Zustande sich befindet oder befand, und zu erörtern, dass und in welcher Weise dieser zur Entstehung der betreffenden Ideen Veranlassung geben konnte. In zweiter Linie ist die Unglaubwürdigkeit der betreffenden Angaben darzulegen, wobei, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch vorzugsweise jene Seiten derselben geprüft und beleuchtet werden müssen, deren Beurtheilung ärztliche Kenntnisse erfordert, so z. B. das Verhalten der angeblich von fremder Hand erlittenen Verletzungen, bei angeschuldeten unsittlichen Attentaten das Verhalten der betreffenden Genitalien u. s. w.
[S. 1009]
(Die beigesetzten Ziffern bedeuten die Seitenzahl.)
Druck von Gottlieb Gistel & Comp. in Wien.
Fußnoten:
[1] Vide Mende, Handb. d. ger. Med. 1819, I; A. O. Goeliche, Medicina forensis cui praemissa est introductio in historiam litterariam scriptorum, qui medicinam forensem commentariis suis illustrarunt. Francof. ad viadrum 1723; C. L. Schweickhard, Tentamen catalogi rationalis dissertationum ad medicinam forensem et politiam medicam spectantium ab anno MDLXIX ad nostra usque tempora. Frankfurt a. M. 1796; Heinroth, System der psychisch-gerichtlichen Medicin. 1825, pag. 549; J. B. Friedreich, Handb. d. gerichtsärztl. Praxis. 1843, I, pag. 5; Sonnenkalb, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde. 1859, XIV. Bd., pag. 274; Krahmer, Handb. d. ger. Med. 1857, 2. Aufl., pag. 14; Legrand du Saulle, „Leçons médico-légale sur la folie. — Antiquité — Époque romaine.“ Gaz. des hôp. 1870, Nr. 6 v. 8. Sept., 5 v. 8. Nov.; Ortolan, „Débuts de la médecine légale en Europe“. Annal. d’hygiène publ. 1872, XXXVIII, 358; E. Buchner, Lehrb. d. ger. Med. 2. Aufl., 1872, pag. 7 u. s. f. (mit ausführl. Literaturangabe); auch A. Pauly, „Bibliographie des sciences médicales“, Paris 1874, III, pag. 1272 bis 1275; O. Oesterlen, „Ueber die früheste Entwicklung der gerichtlichen Medicin“. Schmidt’s Jahrb. d. gerichtl. Med. CLXXVI, 166; Kopp, „Skizze einer Geschichte der gerichtlichen Arzeneikunde“. Kopp’s Jahrb. I, 176; Chaumenton, „Esquisse historique de la médecine légale en France“. Im Original abgedruckt. Ibidem. II, 269; Ch. Desmaze, Histoire de la médecine légale en France. Paris 1880; H. Haeser, Lehrb. d. Gesch. d. Med. 1881, II, pag. 1080–86; L. Blumenstok, „Fortunatus Fidelis, der erste gerichtsärztliche Autor“. Ref. in Virchow-Hirsch’ Jahresber. pro 1873, I, pag. 306, und 1884, I, pag. 439; Ch. Masson, Essai sur I’histoire et le développement de la médecine légale. Lyon 1884: W. Reubold, Demonstration eines sogenannten „Leibzeichens“. Würzburger Berichte, October 1893 und „Zur Geschichte der gerichtlichen Section“. Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1894, Nr. 1. Werthvolle Daten über die Geschichte des gerichtlich-medicinischen Unterrichtes in Wien finden sich in J. Bernt’s „Beiträgen zur gerichtlichen Arzneikunde“. Wien 1818.
[2] In dieser Beziehung entnehmen wir den von der k. k. statistischen Centralcommission herausgegebenen Jahrbüchern, dass, abgesehen von den bei den Militärgerichten verhandelten Fällen, in den Jahren 1872 bis 1876 in sämmtlichen im Reichsrathe vertretenen Ländern unter anderen folgende Verurtheilungen stattfanden wegen:
1872
|
1873
|
1874
|
1875
|
1876
|
||
Verbrechen
|
Nothzucht,
Schändung etc. |
286
|
346
|
347
|
465
|
516
|
Kindsmord
|
97
|
110
|
97
|
103
|
96
|
|
Mord
|
137
|
185
|
171
|
166
|
198
|
|
Todtschlag
|
287
|
309
|
245
|
296
|
235
|
|
Abtreibung
der Leibesfrucht |
17
|
10
|
15
|
19
|
14
|
|
Weglegung
des Kindes |
33
|
37
|
30
|
32
|
30
|
|
Schwere
körperliche Beschädigung |
3870
|
4093
|
3447
|
4254
|
4732
|
|
Zweikampf
|
9
|
—
|
2
|
—
|
—
|
|
Vergehen
|
Fahrlässige
Tödtung |
423
|
408
|
313
|
409
|
452
|
Vergehen gegen
die Sicherheit des Lebens |
5
|
43
|
7
|
8
|
16
|
|
Summe
|
5173
|
5541
|
4676
|
5752
|
6289
|
Bedenkt man, dass unter diesen Zahlen nur die Verurtheilungen subsumirt sind, dass aber die Summe der Fälle, in denen eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet wurde, aber keine Verurtheilung stattfand, sich ebenfalls hoch beläuft; erwägt man ferner die Menge der civilgerichtlichen Fälle, welche ärztliche Begutachtung erfordern, und rechnet dazu die zahllosen polizeilichen Untersuchungen von Selbstmördern und verunglückten Personen (im Jahre 1873 kamen 1863 Selbstmorde und 6734 Verunglückungen und Todesarten aus unbekannter Ursache vor), so kann man sich eine genügende Vorstellung davon machen, wie häufig die gerichtsärztliche Thätigkeit in Anspruch genommen wird.
[3] Die betreffenden Paragraphe lauten:
§. 151. Als Zeugen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit ihrer Aussage nicht vernommen werden:
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
2. Staatsbeamte, wenn sie durch ihr Zeugniss das ihnen obliegende Amtsgeheimniss verletzen würden, insoferne sie dieser Pflicht nicht durch ihre Vorgesetzten entbunden sind;
3. Personen, die zur Zeit, in welcher sie das Zeugniss ablegen sollen, wegen ihrer Leibes- oder Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande sind, die Wahrheit anzugeben.
§. 152. Von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses sind befreit:
1. Die Verwandten und Verschwägerten des Beschuldigten in auf- und absteigender Linie, sein Ehegatte und dessen Geschwister, seine Geschwister und deren Geschwisterkinder, Adoptiv- und Pflegeeltern, Adoptiv- oder Pflegekinder, sein Vormund oder Mündel.
§. 170. Folgende Personen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des Eides nicht beeidigt werden:
1. welche selbst überwiesen sind oder im Verdachte stehen, dass sie die strafbare Handlung, wegen welcher sie abgehört werden, begangen oder daran theilgenommen haben;
2. die sich wegen eines Verbrechens in Untersuchung befinden oder wegen eines solchen zu einer Freiheitsstrafe verurtheilt sind, welche sie noch abzubüssen haben;
4. diejenigen, welche schon einmal wegen falschen Zeugnisses oder falschen Eides verurtheilt worden sind;
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
5. welche an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs- oder Erinnerungsvermögens leiden;
6. die mit dem Beschuldigten, gegen welchen sie aussagen, in einer Feindschaft leben, welche nach Massgabe der Persönlichkeiten und mit Rücksicht auf die Umstände geeignet ist, die volle Glaubwürdigkeit der Zeugen auszuschliessen.
[4] Die in diesem Tarife enthaltenen Gebühren für gerichtlich-chemische Untersuchungen haben insoferne eine Abänderung erfahren, als das Justizministerium auf Vorschlag des ob. Sanitätsrathes mit Erlass vom 30. Juni 1874 eine pauschalweise Entlohnung der Chemiker empfohlen hat. Dieselbe beträgt incl. der Vergütung für Vorauslagen: für die Untersuchung des Magens und Darmcanals sammt Inhalt 35 fl., anderer Eingeweide 40 fl., von Ueberresten exhumirter Leichen 45 fl., von Erbrochenem, Darmentleerungen oder Speisen 18 fl., von Getränken, Genussmitteln und Toiletteartikeln 15 fl., von Harn 10 fl., von Blutflecken 5 fl., von Graberde, eines bestimmten Giftes, von Sargholz, Kleidern etc. 10 fl., von anderen flüssigen oder festen Substanzen 5–10 fl.
[5] §. 22. Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen:
1. Wenn er selbst durch die strafbare Handlung verletzt ist; 2. wenn er Ehemann oder Vormund der beschuldigten oder der verletzten Person ist oder gewesen ist; 3. wenn er mit dem Beschuldigten oder mit dem Verletzten in gerader Linie verwandt, verschwägert oder durch Adoption verbunden, in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert ist, auch wenn die Ehe, durch welche die Schwägerschaft begründet ist, nicht mehr besteht; 4. — —; 5. wenn er in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist.
§. 24. Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgniss der Befangenheit abgelehnt werden.
[6] §. 51. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der Verlobte des Beschuldigten, 2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht, 3... (wie in §. 22, 3).
§. 52. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt — — — 3. — — Aerzte in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anvertraut ist — — — — wenn sie nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind.
[7] Zufolge Entscheidung des königl. Landgerichtes in Köln vom 20. März 1890 ist eine in Gemässheit des §. 3 des Regulativs vorgenommene äussere Besichtigung, respective Untersuchung einer Leiche als erster Haupttheil einer Obduction anzusehen, und haben die Gerichtsärzte die volle Obductionsgebühr zu beanspruchen, auch wenn gerichtlicherseits von der inneren Besichtigung der Leiche Abstand genommen wird. Zeitschr. f. Med.-Beamte. 1890, pag. 229. Nicht lebensfähige Früchte werden nicht als „Leichname“ angesehen und dürfen daher für die Besichtigung blos Taggelder und Reisekosten in Berechnung gebracht werden. Ibidem, 1892, pag. 550.
[8] Die abgelaufenen Gebühren werden in Oesterreich unter allen Umständen von Seite des betreffenden Gerichtes angewiesen und ausbezahlt. Eine gleiche Einrichtung ist in Deutschland getroffen. Doch haben die unmittelbar geladenen Sachverständigen auf eine Entschädigung aus Staatsmitteln keinen Anspruch, sind aber nur dann zum Erscheinen verpflichtet, wenn ihnen bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten und Versäumniss baar dargeboten oder deren Hinterlegung bei dem Gerichtsschreiber nachgewiesen wird (§. 219 der deutschen St. P. O.).
[9] Die bleibende Bestellung von Sachverständigen liegt in dem Wirkungskreise des Gerichtes, für welches sie bestellt sind. (Justiz-Min.-Erl. vom 1. Juni 1858, Z. 9744.)
[10] Es wäre dieses schon angezeigt wegen der dem Arzte gesetzlich auferlegten Verpflichtung zur Wahrung des Geheimnisses seiner Kranken. Gegenwärtig berechtigt diese Verpflichtung keineswegs zur Verweigerung der Zeugenschaft oder der Uebernahme einer Function als Sachverständiger, da der Arzt von derselben durch das Gericht entbunden werden kann (§. 498 der österr. St. P. O., §. 52 deutsche St. P. O., Zusatz zu Alinea 3).
[11] Der Vollständigkeit wegen erwähnen wir noch mit Rücksicht auf den zweiten Absatz des §. 127 der österr. St. P. O., der von eventueller dringender Gefahr für die Gesundheit von Personen spricht, die an einer Exhumation Theil nehmen sollen, dass von älteren Autoren in der That die Frage discutirt wurde, ob hochgradige Fäulniss einer Leiche für den Arzt einen Grund zur Verweigerung der amtlich geforderten Obduction bilden könne (vide Henke’s Zeitschrift für Staatsarzneikunde. 1824, 1). Der §. 4 des preuss. Regulativs vom Jahre 1875 enthält eine einschlägige Bestimmung, welche lautet: „Wegen vorhandener Fäulniss dürfen Obductionen in der Regel nicht unterlassen und von den gerichtlichen Aerzten nicht abgelehnt werden“; motivirt jedoch dieselbe nur damit, dass auch bei faulen Leichen sich in gewissen Beziehungen diagnostisch verwerthbare Befunde ergeben können. — Wir glauben nicht, dass Fäulniss oder eine andere Infectionsgefahr als solche den Arzt berechtigen könne, die Vornahme einer Obduction zu verweigern, denn eine gewisse Infectionsgefahr liegt in der Natur des ärztlichen Berufes überhaupt, und sich ihr auszusetzen, gehört in den Pflichtenkreis dieses Berufes. Doch muss man zugeben, dass mitunter eine mehr als gewöhnliche Infectionsgefahr für den Arzt bestehen und dann einen auch dem Gerichte einleuchtenden Ablehnungsgrund bilden kann, z. B. bei Verletzungen an den Händen einerseits und besonderer Infectionsfähigkeit des zu obducirenden Cadavers anderseits (Milzbrand, Rotz, septische Processe). Auch müsste ein triftiger Entschuldigungsgrund darin erblickt werden, wenn der Arzt sofort nach einer mit besonderer Infectionsgefahr verbundenen gerichtlichen Section geburtshilfliche oder grössere chirurgische Operationen vorzunehmen hätte.
[12] Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1870, pag. 336.
[13] Dass man auch von juristischer Seite einsah, dass an Gerichtsärzte höhere Ansprüche in wissenschaftlicher Beziehung gestellt werden müssen, beweist schon ein Decret des obersten Gerichtshofes vom 10. Juni 1820 (Hempel-Kürsinger, Sammlung der Medicinalgesetze, Artikel „Kunstgutachten“), welches bestimmt, dass die Criminalgerichte bei der Auswahl gerichtlicher Kunstverständiger vom Sanitätsfach bei criminalgerichtlichen Fällen mit aller Sorgfalt zu Werke zu gehen haben, und dass bei offenbarer Unkenntniss eines zugewiesenen Sanitätsindividuums um Abhilfe bei den höheren Behörden einzuschreiten sei.
[14] Zweckmässig sind in dieser Beziehung die von Laupp in Tübingen herausgegebenen „Schemata zum Einzeichnen von Befunden bei gerichtsärztlichen Untersuchungen“ (an Schädel und Gehirn).
[15] Rulf, Commentar zur St. P. O., pag. 126. Eine principielle diesbezügliche Entscheidung des österr. Cassationshofes ist aus Anlass eines speciellen Falles erflossen, in welchem, gegen das Gutachten der Gerichtsärzte, der Angeklagte nicht wegen schwerer Verletzung, sondern nur wegen Uebertretung nach §. 411 (leichte Verletzung bei Raufhandel) verurtheilt wurde. Der Cassationshof, heisst es in der Entscheidung, erkennt wohl, dass nach §. 258 St. P. O. die freie richterliche Ueberzeugung auch in technischen Fragen entscheide, dass ferner das Gericht befugt sei, den Befund und das Gutachten der Sachverständigen sowohl in Ansehung ihrer persönlichen und fachmännischen Vertrauenswürdigkeit, als nach Form und Inhalt zu prüfen, dass es jedoch bei vorwaltenden Bedenken vorerst im Sinne der §. 125 und 126 St. P. O. auf Beseitigung derselben hinzuwirken, und wenn dieselbe nicht gelingt und in Folge dessen dem Befunde oder Gutachten die beweismachende Wirkung versagt bleiben muss, jedenfalls die hierfür eintretenden Gründe in der Urtheilsausfertigung anzugeben habe. („Wiener med. Presse“, 1882, pag. 29.)
[16] Die genannten Fachbehörden haben aber noch eine andere, sehr wichtige Aufgabe. Es müssen nämlich alle Obductionsprotokolle der preussischen Gerichtsärzte, sammt den betreffenden Gutachten, ebenso alle Verhandlungen über Wahnsinns- und Blödsinnserklärungen in civilrechtlichen Fällen zunächst an das Medicinalcollegium der betreffenden Provinz und von diesem an die wissenschaftliche Deputation zur Revision, resp. Superrevision eingesendet werden, und die Ergebnisse dieser werden sowohl dem betreffenden Medicinalcollegium als den betreffenden Gerichtsärzten zur Kenntnissnahme, beziehungsweise für letztere zur Belehrung oder als Anerkennung und Aufmunterung mitgetheilt (Casper-Liman, Handb. der gerichtl. Med. 1876, II, 238). Es ist dies eine unseres Erachtens nach höchst erspriessliche Einrichtung, die gewiss Nachahmung verdient, weil dadurch die Thätigkeit der Gerichtsärzte gerade in den wichtigsten Functionen von besonders Berufenen überwacht und die Heranbildung tüchtiger Gerichtsärzte damit gefördert wird.
[17] Vide Christison (London and Edinburgh Journ. of med. Science Nov. 1851, pag 402), Young (Jurist) in The Boston medical and surgical Journ. 29. Juli 1869 und Tuke, Journ. of mental science April 1882.
[18] Dagegen darf das in der Voruntersuchung von den Sachverständigen abgegebene Gutachten nicht vorgelesen werden, ausser in den im §. 252 der österr. und §. 250 der deutschen St. P. O. angegebenen Fällen.
[19] Eine Mittheilung über andauernde Erection des Penis nach Schussverletzung des Kleinhirns findet sich im Med. Centralbl., 1865, pag. 910, ebenso andere Mittheilungen über Priapismus bei Wirbelsäulenfractur von Neumann, Rosenthal und Bamberger in dem Sitzungsber. der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom 24. Februar 1882.
[20] Bei einem von uns obducirten 62jährigen Israeliten fanden wir ausgebreitete tiefe und wulstige Hautnarben in beiden Leistengegenden, am Promontorium und an der Vorder- und Innenfläche des oberen Antheiles beider Oberschenkel, die wie Narben nach Brandwunden aussahen. Vom Penis war nur ein 2 Querfinger langer Stumpf vorhanden mit kaum kenntlichem Eichelreste, an dessen unterer rechter Seite die Harnröhre ausmündete. Der Mann war verheiratet und Vater eines Sohnes. Leider konnte über die Provenienz des Defectes nichts erhoben werden.
[21] Dass in dieser Beziehung Unglaubliches geschehen kann, beweist ein, Herrn Collegen G. Henke vorgekommener und mir durch Herrn Hofrath Suchier in Birstein freundlichst mitgetheilter, einen 60jährigen Mann betreffender Fall: „Der Mann,“ schreibt Dr. Henke, „bisher gesund, starker Trinker, doch kein Säufer, welcher den Coitus fast täglich auszuüben pflegte, erkrankte an einer flotten croupösen Pneumonie, und am 5. und 6. Tage, als er noch hoch fieberte, kam des Morgens seine Frau zu mir und frug mich, ob der Coitus, der an dem Tage vorgegangen war, ihm nicht schaden könnte. Es trat ganz sicher erst später Entfieberung ein, die übrigens nicht von Dauer war, weil ein anderer Lappen acut befallen wurde, woran dann der stark geschwächte Mann auch zu Grunde ging.“
[22] Wie Taylor angibt, fand Marshall unter 1000 Recruten blos einen Fall, in dem ein Hode in der Bauchhöhle zurückgeblieben war, und unter 10.000 blos einen von beiderseitiger Kryptorchie.
[23] Auch Liégeois vermisste bei einem 37jährigen kinderlosen Kryptorchen trotz zahlreicher Untersuchungen die Samenfäden. An einem alten Spirituspräparate des Wiener pathologisch-anatomischen Museums, das von einem 23jährigen Kryptorchen herrührte und welches uns Prof. Heschl freundlichst zur Verfügung stellte, fanden wir einen normal gebildeten, 6·5 Cm. langen, an der Wurzel mit dichten Schamhaaren umwachsenen Penis, die Samenblasen gut entwickelt, beiderseits 4 Cm. lang und 2 Cm. breit, die Hoden jedoch so klein wie bei Knaben von 10–12 Jahren. Der linke war platt und blos 2·2 Cm. lang, der rechte mehr rundlich, von 2·5 Cm. Durchmesser. Weder in den Hoden, noch in den Nebenhoden und Samenblasen konnten Spermatozoiden nachgewiesen werden. Vor Kurzem fanden wir beiderseitige Kryptorchie bei einem sehr kräftigen, 21jährigen, in Kohlendunst erstickten Mann. Die äusseren Genitalien waren sonst gut entwickelt und beide Hoden gross, von normalem Aussehen. Trotzdem enthielten weder sie, noch die Samenblasen Spermatozoen.
[24] Wir hatten Gelegenheit, die Leiche eines gerade 14jährigen Knaben, der an eitriger Meningitis gestorben war, zu obduciren. Obgleich der Habitus noch ein vollkommen infantiler und am Schamberg erst ein unbedeutender Flaum sichtbar war, fanden sich doch sowohl in den Hoden, als in den Samenblasen gut entwickelte, allerdings aber noch spärliche Spermatozoen. Von zwei 15jährigen Knaben, die beide gut entwickelte Pubes zeigten, besass der eine reichliche, der andere gar keine Samenfäden, und ebenso war der Befund bei zwei anderen 15jährigen Knaben, von denen keiner noch Pubes besass. — Ein 16jähriger Junge ohne Pubes zeigte keine, von drei anderen mit spärlichen Pubes der eine viele, die zwei übrigen spärliche Spermatozoen. Auch zwei weitere 16jährige Knaben mit gut behaartem Schamberg ergaben nur spärliche Zoospermien. In der Leiche eines 17jährigen Burschen mit reichlichem Schamhaar wurden reichliche Samenfäden nachgewiesen, ebenso in der eines 18jährigen, dagegen wurden in der eines zweiten 18jährigen mit ebenfalls gut behaartem Schamberg keine gefunden.
[25] Aehnliche Beobachtung von Montmollin vide Virchow’s Jahrb. 1876, II, 110.
[26] Interessant ist die Thatsache, dass auch bei Morphiumsucht, sowie bei Opiumrauchern verhältnissmässig frühzeitig Impotenz sich einstellt (Lewinstein, „Die Opiumsucht“. Monographie. Berlin 1877; Dudgeon, „Opium in relation to population.“ Virchow’s Jahrb. 1877, I, 436). Ob die Ursache dieser Erscheinung in allgemeinen oder in blos localen Störungen zu suchen ist, muss vorläufig dahingestellt bleiben. Thatsache ist, dass ebenso wie bei an Morphinismus leidenden Männern Impotenz, bei Frauen Amenorrhoe und Sterilität sich einstellt. Gabalda („Étude sur la Benzin et la Nitrobenzin.“ Paris 1879) sah auch bei chronischer Benzinvergiftung fast constant Impotenz eintreten.
[27] „Zur Histologie des menschlichen Sperma nebst forensischen Bemerkungen über Aspermatozie.“ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F. XXVII.)
[28] Unter die in ihren späteren Stadien mit Aspermatozie einhergehenden Krankheiten der männlichen Sexualorgane gehört nach Marris Wilson und Albert auch die Spermatorrhoe, bei welcher schon in früheren Stadien die Begattungsfähigkeit sowohl als die Befruchtungsfähigkeit durch allzu frühen Abgang des Samens beeinträchtigt sein kann. Zeissl, Lehrbuch der Syphilis. 1875, I, 91.
[29] Prager Vierteljahrsschr. 1864, 82. Bd., 114. Siehe auch Kopp, „Ueber Hypospadiäen und ihre Zeugungsfähigkeit“; mit ausführlicher Literatur. Kopp’s Jahrb. III, pag. 228.
[30] Prager Vierteljahrsschr. 52. Bd., pag. 103; Wiener med. Wochenschr. 1856. 18.
[31] Zwei derartige von Ziemssen mitgetheilte Fälle siehe Monatschr. f. Geburtsk. 1865, XXV, 240.
[32] Hierher gehört auch der von Hillebrand (Arch. f. Gyn. III, 221) beschriebene Fall von Krampf des Levator ani, den eine junge, sehr erregbare Frau jedesmal beim Coitus bekam, in der Art, dass der Penis gegen die vordere Beckenwand angepresst und so durch einige Zeit festgehalten wurde (Penis captivus). Zwei analoge Fälle wurden von Henrichsen (Ibid. XXIII, pag. 59) mitgetheilt. Der Coitus kann übrigens auch wegen chronischer Erkrankung der inneren Genitalien zu einem habituell schmerzhaften sich gestalten. So excidirte Trenholm (Med.-chir. Centralb. 1877, pag. 240) ein chronisch entzündetes Ovarium, welches den Coitus wegen damit verbundener Schmerzhaftigkeit unmöglich gemacht hatte, und wir haben 1878 eine ehemalige noch junge Prostituirte obducirt, von welcher die Anamnese ergab, dass sie ihr Gewerbe aufgeben musste, weil ihr der Beischlaf immer heftige Schmerzen verursachte. Die Obduction ergab beiderseitige chronische Salpingitis, sonst normale Genitalien.
[33] Ein Seitenstück zu diesem Falle bildet ein von Braxton Hicks (Virchow’s Jahresb. 1885, I, pag. 499) mitgetheilter, wo die Ausübung des Coitus unmöglich war, weil die Frau wegen angeborener Verkürzung der Adductoren die Beine nicht auseinander zu geben vermochte und auch die Anziehung der Oberschenkel an den Bauch nur in beschränktem Grade gestattet war.
[34] Belehrend in dieser Beziehung, sowie auch für die Frage der Conceptionsfähigkeit ist ein von Gusserow (Berliner klin. Wochenschr. 1879, Nr. 2) beschriebener, höchst interessanter Geburtsfall bei gespaltenem Becken und — hochgradiger Ectopia vesicae.
[35] Krafft-Ebing, Pollutionsartige Vorgänge beim Weibe. Wiener med. Presse. 1888, Nr. 14 und Hanc, Wiener med. Blätter. 1888, pag. 649. Als Curiosum sei hier die von Mundé behandelte Patientin erwähnt, welche jedesmal beim Coitus in tiefen comatösen Schlaf verfiel. Es fand sich eine Narbe am Muttermund, deren Berührung sofort jenen hypnotischen Zustand herbeiführte. Nach Excision der Narbe Heilung (Virchow’s Jahresb. 1883, II, 553).
[36] Andere Fälle vide: Virchow’s Jahrb. 1876, II, 625; 1878, II, 555; 1884, II, 607 und Wachs, Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn. I, 173, und einen von Stocker, Med. Centralbl. 1879, pag. 800, der umso interessanter ist, als er ein Zwillingskind betrifft. Schon im ersten Lebensjahre wurden geringe Blutspuren im Bettzeug wahrgenommen. Regelmässige Menstruation seit dem 3. Jahre von stets 3tägiger Dauer. Das Kind ist körperlich stark entwickelt, doch von geringerer Intelligenz als seine Altersgenossin. Wir selbst haben ein 2½jähriges, 74 Cm. langes Mädchen obducirt, welches blonde, ziemlich dichte und bis 1½ Cm. lange Haare am Mons veneris und an den stark entwickelten grossen Labien besass. Die inneren Genitalien aber zeigten eine dem Alter entsprechende Entwicklung.
[37] Ein interessanter, vom königl. Medicinalrath in Calm begutachteter Fall, in welchem es sich darum handelte, ob ein 12½jähriges Kind abortirt habe oder nicht, findet sich von Wiener mitgetheilt in der Deutschen med. Wochenschr. 1876, Nr. 44–45; ein ähnlicher, ein 10jähriges Mädchen betreffend, von Molitor beobachtet, bei Oesterlen in Maschka’s Handbuch der gerichtl. Med. III, pag. 44.
[38] Aehnliche Fälle s. Wiener med. Ztg. 1875, pag. 85 und Louis Mayer (Virchow’s Jahrb. 1875, II, 595).
[39] Dass übrigens zurückgebliebene kleine Partien normalen Ovariums noch eine Conception ermöglichen können, beweisen die von Badlehner (1883), Schatz (1885) und Robertson (1891) mitgetheilten Fälle von Schwangerschaft nach doppelseitiger Ovariotomie. Ueber das „Geschlechtsleben castrirter Frauen“ berichtet Keppler (Wiener med. Wochenschr. 1891, Nr. 37).
[40] In einem von Levi (Virchow’s Jahrb. 1888, II, 482) mitgetheilten Falle entschied der Turiner Cassationshof, dass der Mangel des Uterus einen Eheauflösungsgrund bilde.
[41] Die künstliche Befruchtung ist bereits Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung geworden, und zwar in einem von Leblond (Ann. d’hyg. publ. 1884, pag. 89) mitgetheilten Falle, in welchem ein Arzt in Bordeaux ein Honorar von 1500 Fr. für eine solche Operation eingeklagt hatte, aber mit seiner Forderung vom Gerichte abgewiesen wurde. Im Urtheil wurde erwähnt, dass der Kläger die Pflicht der Geheimhaltung verletzt habe, dass es unverträglich mit der Würde der Ehe wäre, wenn die künstliche Befruchtung aus dem Gebiete der Wissenschaft auf das der Praxis übertragen würde, dass dieser Vorgang im Falle des Missbrauches eine wirkliche sociale Gefahr bedingen und dass daher die Justiz Verpflichtungen aus solchen Vorgängen nicht sanctioniren könne. Leblond gibt zu, dass eine Verletzung der Pflicht der Geheimhaltung vorlag, da der Arzt, noch bevor das Gericht eine Information verlangte, die Details mittheilte. Was aber die künstliche Befruchtung als solche betrifft, so bemerkt er mit Recht, dass zu dieser von verschiedenen Methoden, welche die Beseitigung des Conceptionshindernisses bezwecken, z. B. der Erweiterung des Muttermundes, nur ein Schritt ist, und dass sie dort indicirt sei, wo letztere im Stiche lasse. Die Procedur werde von bedeutenden Gynäkologen ausgeführt, könne sehr einfach und in decenter Weise effectuirt werden und sei, wenn sie im gegenseitigen Einverständnisse der Eheleute und nur mit dem (gesunden) Samen des Gatten geschehe, nicht blos nicht zu verdammen, sondern im Gegentheil zu befürworten, da sie zur Fortpflanzung der Gattung beitrage und die Erzielung von Familienfreuden für solche ermögliche, welche sonst dieselben entbehren müssten.
[42] Debierre (l. c.) hat nicht Unrecht, wenn er, um solchen Situationen vorzubeugen, verlangt, dass jedes neugeborene Kind ärztlich untersucht, wenn das Geschlecht zweifelhaft ist, eine entsprechende Bemerkung im Geburtsscheine beigefügt und die definitive Geschlechtserklärung erst einer neuerlichen Untersuchung zur Zeit der Pubertät vorbehalten werden möge.
[43] Handb. der pathol. Anat. 1876, I, pag. 732 und 744.
[44] Beigel, „Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen“. Virchow’s Archiv, XLIV, 418; Durval, „Zwei Fälle von bärtigen Frauen“. Virchow’s Jahrb. 1877, II, 81.
[45] „Sopra un caso di apparenze virili in una donna.“ Il Morgagni. 1865.
[46] Virchow’s Jahrb. pro 1881, I, pag. 280, enthält mehrere neue Fälle von versuchter Geschlechtsbestimmung bei „Zwittern“, darunter einen Fall von Steinmann, ein erst 16jähriges Individuum betreffend, welches schon dreimal Wandlungen seiner gesellschaftlichen Stellung durchgemacht hat. Bei seiner Geburt wurde es als Knabe angesehen und auf den Namen Joseph getauft, von den Eltern ward es als Mädchen behandelt und Theresia genannt; im 10. Jahre wurde es ärztlicherseits als Knabe recognoscirt, und Steinmann wies ihm seinerseits jetzt wieder seinen Platz in der Mädchenschule an. Aeusserer Habitus weiblich, Hypospadie, regelmässige Menses, keine fühlbaren Sexualdrüsen in den Labien.
[47] Hierher gehört auch der von Klotz (Extraabdominale Hystero-Cystovariotomie bei einem wahren Hermaphroditen. Langenbeck’s Arch. 1879, XXIV, pag. 454) beschriebene Fall, in welchem der betreffende, regelmässig alle vier Wochen aus der Harnröhre und einer Fistelöffnung am rechten Hodensack menstruirende 24jährige „Zwitter“ gestand, seit mehreren Jahren von Zeit zu Zeit geschlechtliche Beziehungen zu kleinen Knaben und Mädchen gehabt zu haben, welche mit Erection seines Gliedes und Ejaculation ihren Abschluss fanden. (Oesterlen, l. c. 81, woselbst auch ein weiterer Fall von Blumhardt.)
[48] Vide Maudsley („Vortrag über med. Psychologie.“ Deutsche Klinik. 1873, Nr. 2 und 3); ferner Pelikan, „Das Skopzenthum in Russland“, pag. 104 u. ff. Ueber körperliche und geistige Veränderungen der Frauen nach Castration und Uterusentfernung hat Glaeveke (Arch. f. Gyn. 1889, pag. 89) geschrieben.
[49] Vide den über Verletzungen handelnden Hauptabschnitt.
[50] Henke’s Zeitschr. f. Staatsarzn. 1826, pag. 280.
[51] Ibid. 1874, 4. Heft. „Ueber Nothzucht“ von Müller.
[52] 24 und 25 Vict., c. 100, s. 63. Taylor, l. c. II, 464.
[53] Goltdammer’s Archiv, pag. 360, und Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXVI, pag. 50.
[54] Zeitschr. f. ration. Med. von Henle und Pfeuffer, XXVI.
[55] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XII, 329.
[56] Krankh. der weibl. Geschlechtsorgane. Ziemssen’s Handbuch der spec. Pathol. u. Ther. 1874, X, pag. 42 u. s. f.
[57] Med. Centralbl. 1875, pag. 869, und Zeitschr. f. Geburtshilfe. 1884, XI, I. Nach O. Schaeffer (Arch. f. Gyn. 1890) bildet sich das Hymen im 5. Monat aus einer vorderen und hinteren Lamelle.
[58] Solche Hymenformen hat auch Skrzeczka (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., V, pag. 54) beschrieben.
[59] 1871 und im Jahre 1872 in der Warschauer „Gazeta lekarska“ Nr. 3 et seq. in polnischer Sprache.
[60] Solche Fälle erwähnt Parent-Duchatelet (La prostit. dans la ville. Paris 1857), ebenso Rosenberg in einem Berichte über die Lustdirnen und das Bordellwesen in Petersburg (Schmidt’s Jahrb. 1848, 59. Bd., pag. 56).
[61] Schröder (Lehrb., pag. 391) sagt: „Ein vollständig unversehrt erhaltenes Hymen trifft man bei Erstgeschwängerten durchaus nicht auffallend selten.“ Credé (Verhandl. d. Gesellsch. f. Geburtsh. 1851) sah sogar in einem Falle den Hymen trotz des Geburtsactes erhalten. Einen Fall von Abortus eines viermonatlichen Embryo mit Erhaltensein des halbmondförmigen Hymen nach demselben beschreibt Steinhaus (Wiener Medicinalhalle. 1862, III, Nr. 16), und einen ähnlichen enthält unser Museum.
[62] Clemens, Schmidt’s Jahrb. 1884, Bd. 43, pag. 202; ebenso Oldham, Ibid. 1850. Bd. 66, 336.
[63] Handb. d. gerichtl. Med. IV, 436 und 444.
[64] Wochenblatt der Gesellsch. d. Aerzte. 1857, Nr. 42.
[65] Einen Fall von letaler Blutung in Folge eines wahrscheinlich beim Coitus entstandenen, 2 Cm. langen, ziemlich seichten Risses zwischen Clitoris und der Harnröhre und einschlägige früher beobachtete Fälle theilt Müller mit (Verh. der phys.-med. Gesellsch. in Würzburg. N. F., V, 1873, pag. 178). Einen ähnlichen Klapproth, Monatsschr. f. Geburtskunde. 1859, XIII, 1.
[66] Virchow’s Jahrb. 1873, II, 609.
[67] Auch Tardieu war dieser Ansicht; in der letzten Auflage seiner Attent. aux moeurs aber (1878, pag. 83) glaubt er, bei kleinen Kindern eine derartige Möglichkeit zugeben zu können, indem er, jedoch ganz flüchtig, zweier „zu seiner Kenntniss gekommener“ Fälle erwähnt, in welchen beim Sturz kleiner Kinder bei gleichzeitigem heftigen Auseinanderspreizen der Schenkel ein scharf begrenzter Einriss der untersten Partie der Vulva entstand, den Hymen und einen Theil der hinteren Commissur (Fourchette) begreifend. Diese Beobachtungen hätten wohl verdient, etwas genauer beschrieben zu werden. Jedenfalls wird in solchen Fällen früher die Commissur als der Hymen einreissen.
[68] Journ. f. Kinderheilk. Nov., Dec. 1860, XXVII, 321.
[69] Lancet. 14. April 1860, I.
[70] Wiener med. Wochenschr. 1865, Nr. 73, und 1866, Nr. 21 und 22.
[71] Separatabdruck, pag. 47.
[72] Casper-Liman, Handb. 1876, I, 121.
[73] Weiss, „Zerstörung des Hymen durch Diphtheritis.“ Prager med. Wochenschr. 1878, pag. 234.
[74] Barthelemy, Erkrankungen der weiblichen Genitalien bei Variola. Virchow’s Jahrb. 1881, II, pag. 535.
[75] Letzterer kann aber auch von anderen Ursachen herrühren. Siehe: Benike, Vorfall der Harnröhrenschleimhaut bei jungen Mädchen. Zeitschr. f. Geburtsh. XIX, pag. 301 und Kleinwächter, Ueber Prolaps der weiblichen Harnröhre. Ibidem, pag. 40.
[76] Virchow’s Jahrb. 1870, I, 425, und vollständiger bei A. Kocher: „La criminalité chez les arabes.“ Paris 1884, im Abschnitt: „Du viol dans le mariage“, pag. 194; ausserdem mehrere andere einschlägige Fälle.
[77] Arch. f. Gyn. 1873, VI, pag. 132.
[78] In einem Falle von Ermordung einer Prostituirten (Ballogh) fanden wir keine Spur von Spermatozoiden in den Genitalien. Trotzdem konnten wir die Möglichkeit, dass die Ermordete kurz vor ihrem Tode den Beischlaf zugelassen habe, nicht wegleugnen, weil bei dem Gewerbe der Betreffenden das Fehlen des Sperma in den Genitalien sich auch aus sofort nach dem Coitus erfolgter Ausspritzung oder daraus, dass letzterer mit Condom ausgeübt wurde, erklären liess. In einem anderen Fall von Raubmord an einer Prostituirten durch Halsabschneiden wurden zahlreiche Spermatozoiden im Scheidenschleim vorgefunden. Der bald eruirte Thäter gestand, den Mord in dem Momente begangen zu haben, als die Betreffende eben zur Zulassung des Coitus sich anschickte, leugnete jedoch entschieden, letzteren vollbracht zu haben, und es musste mit Rücksicht auf das Gewerbe der Getödteten zugegeben werden, dass das in ihrer Scheide gefundene Sperma auch von einem anderen kurz zuvor erfolgten Beischlaf herrühren konnte.
[79] Das Haar in forensischer Beziehung. Leipzig 1869, pag. 79. Auch auf Bettwäsche, Möbelüberzügen, Taschentücher u. dergl. können sich Samenflecke ergeben. Ein Unicum ist ein Fall von Langier (Ann. d’hyg. publ. 2. sér., XLVII, 130), in welchem Spermaspuren auf Dielen sich fanden und auch als solche constatirt wurden.
[80] Virchow’s Archiv. 1865, II.
[81] Nach Filomusi-Guelfi (Virchow’s Jahrb. 1892, I, pag. 470) zerstört nur die Salpetersäure die Samenfäden rasch, SO3 erst nach mehrtägiger, Salzsäure erst nach mehrmonatlicher Einwirkung. In Soda-, Kali- und Sublimatlösung bleiben die Samenfäden erhalten.
[82] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., V, 347.
[83] Eine Uebertragung von venerischem Virus auf die Genitalien, eventuell auch auf andere Körperstellen kann auch ohne Coitus erfolgen. Ryan berichtet über einen Fall, in welchem zwei Schwestern von 1 und 4 Jahren im Bade mit Gonorrhoe angesteckt wurden, und zwar durch einen Schwamm, mit welchem sich kurz zuvor eine mit Tripper behaftete Person die Genitalien gereinigt hatte. Bosc und Berggrün (Virchow’s Jahrb., 1893, I, pag. 475) und ebenso Haberda in seiner unten zu erwähnenden Arbeit über die Gonokokken theilen solche Fälle, die insbesondere bei Kindern möglich sind, mit; es wird demnach bei derartigen Untersuchungen auch die Möglichkeit einer solchen Provenienz im Auge zu behalten sein. Vor einigen Jahren wurde ein 10jähriges Mädchen und dessen Mutter auf die hiesige Klinik für Syphilis mit breiten Condylomen und Macula syphil. aufgenommen. Das Kind hatte angeblich die Mutter, mit der es in einem Bette zusammenschlief, angesteckt und behauptete, von seinem Stiefvater missbraucht worden zu sein. Bei letzterem, welcher mit seinem Weibe seit Monaten nicht mehr geschlechtlich verkehrte, wurde keine virulente Affection gefunden und er leugnete entschieden, das Kind missbraucht zu haben. Bei der Hauptverhandlung entschlug sich dieses der Aussage, und da sich herausstellte, dass die Familie im Hause eines vielbeschäftigten Syphilidiaters wohnte, und dass der zur Wohnung gehörende Abort von den Patienten des letzteren häufig benützt wurde, somit die Infection des Kindes am Abort als möglich zugegeben werden musste, erfolgte Freisprechung.
[84] Pott, Die specifische Vulvovaginitis im Kindesalter, Jahrb. f. Kinderhk., XIX. Brouardel, Annal. d’hygiène publ. 1883, pag. 60 und 146. Fränkl, Virchow’s Archiv, IC, pag. 251. v. Dusch, Wiener med. Presse, 1889, Nr. 48. Späth, Med. Centralbl., 1889, pag. 768. Vibert et Bordas, Annal. d’hygiène publ. 1891, pag. 443. Epstein, Med. Centralbl., 1891, pag. 891. Combry, Ibid. 1892, XXVI, pag. 66.
[85] Arch. f. Gyn. 1891, XL und 1892, XLII.
[86] Gerichtsärztliche Bemerkungen über die Gonorrhoe und ihren Nachweis. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII. Supplementheft, pag. 227.
[87] Das Auftreten tuberculöser Geschwüre am Präputium mehrerer Kinder nach der Beschneidung hat Lehmann (Deutsche med. Wochenschr. 1886, Nr. 9) beobachtet. Der hochgradig tuberculöse Beschneider hatte die Wunden ausgesaugt.
[88] l. c. II, 447. Eine Reihe ähnlicher Fälle wird von Casper-Liman, l. c. 136, citirt, ebenso von Brouardel (l. c.).
[89] Quaestionum med. leg. Tom. III.
[90] System der gerichtl. Arzneiwissensch. 2. Aufl. 1799, pag. 325.
[91] Die Leipziger med. Facultät. Mende l. c. I, 136.
[92] 3. Aufl. 1865, pag. 281.
[93] Vide einen solchen Fall in Casper’s Vierteljahrsschrift, 1854, von Reinhard mitgetheilt, und einen ähnlichen in Buchner’s Lehrbuch der gerichtl. Med. II. Aufl., 197. Vom Schwurgericht in Linz wurde im Jahre 1879 ein gewisser Michael Ernst wegen Raub und Nothzucht verurtheilt, die er an mehreren (wahrscheinlich gegen 40!) früher durch Würgen oder Drosseln betäubten Individuen verübt hatte.
[94] Bei Alberti findet sich (Syst. jurispr. méd. II, 200) ein Fall, in dem eine Jungfrau „angeblich“ durch einen aus den Samen von Datura bereiteten Schlaftrunk betäubt und stuprirt worden sein soll. Lombroso (sein Archiv. 1883, IV, pag. 335) berichtet über einen 50jährigen Wirth, welcher im Initialstadium der progressiven Paralyse Mädchen attaquirte und eines davon, um es zu gebrauchen, mit Morphium in Wein vergiftete, das er sich unter dem Vorwande, an Neuralgien zu leiden, aus mehreren Apotheken verschafft hatte.
[95] l. c. II, 458, auch Tourdes, Gaz. hebdom. 1866.
[96] Wiener med. Wochenschr. 1854, Nr. 1.
[97] Winkler, „Ueber Chloroformirung zum Zwecke der leichteren Verübung von Verbrechen“, Vierteljahrsschrift für gerichtl. Med. 1875, 23. Bd., pag. 98.
[98] Annal. d’hygiène publ. Januar 1874, XLI.
[99] In letzter Zeit berichtet Potter (Wr. med. Presse, 1889, Nr. 42), dass es ihm gelang, einen Knaben, der sich im wachen Zustand nicht narcotisiren lassen wollte, im Schlafe zu chloroformiren.
[100] Handbuch der gerichtl. Arzneikunde. 1846, 5. Aufl., pag. 72.
[101] Sammlung gerichtsärztl. Gutachten. 1867, III, pag. 300.
[102] Edinb. med. Journ. 1870, 220–230. Ein ganz analoger Fall kam am 9. November 1877 vor den Assisen von Northampton zur Verhandlung. Von der Vertheidigung war B. W. Richardson beigezogen worden, welcher mittheilte, dass einmal eine Dame in seiner Gegenwart, dann in der ihres Vaters und ihrer Mutter, sowie eines Assistenten, von einem Zahnarzte chloroformirt wurde und trotzdem nachträglich fest behauptete, dass Letzterer an ihr ein unsittliches Attentat verübt habe. In Folge dieser Auseinandersetzung wurde der angeklagte Arzt freigesprochen, und der Vorsitzende fand sich veranlasst, sowohl Klägerin als den Beklagten zu diesem Ausgange der Verhandlung zu beglückwünschen. („Times.“ 14. Nov.)
[103] Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 7. October 1852. Herbst, Commentar. I, pag. 282.
[104] l. c. II, 303.
[105] Psychologisch interessant ist die Thatsache, dass im Gegentheil mitunter ganz alte, nichts weniger als anziehende Frauen Opfer solcher Attentate geworden sind. Tardieu berichtet über Nothzüchtigung einer 63jährigen und Casper-Liman über die einer ebenso alten und überdies durch Pockennarben entstellten Person, und in Innsbruck wurde im Jahre 1875 ein 18jähriger Bursche wegen Nothzucht verurtheilt, die er an einem 70jährigen, ganz herabgekommenen Weibe begangen hatte, ebenso in Wien am 19. October 1878 ein 16jähriger Fleischergehilfe, der die That an einem 51jährigen und ein zweites Mal an einem 61jährigen Weibe beging.
[106] Weiss (Prager med. Wochenschr. 1878, pag. 234) berichtet über eine Atresie der Vagina, die bei einem 15jährigen Mädchen durch brutalen, von vier Personen hintereinander ausgeübten Coitus zu Stande gekommen war.
[107] Jacobi und Hamilton, „Nervöse Störungen bei masturbirenden Kindern“. Virchow’s Jahrb. 1876, II, 611; ebenso Fleischmann, „Onanie bei Säuglingen“. Wiener med. Presse. 1878, pag. 8.
[108] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874, XXI, 60. Einen andern Fall von Tamburini, „Lipemania suicida in sequito al oltraggio al pudore“, vide Virchow’s Jahrb. 1876, II, 64, und einen neuen von Maschka (l. c., pag. 161).
[109] Besonders merkwürdig ist ein von Blumenstok (Virchow’s Jahresb. 1887, I, 484) mitgetheilter Fall von Tod eines 24jährigen Mädchens durch Aneurysma dissecans, dessen Entstehung auf ein 11 Tage zuvor von zwei Männern ausgeübtes Nothzuchtsattentat zurückgeführt werden konnte.
[110] Im Jahre 1873 obducirte Tardieu (l. c. 86) ein 14jähriges Mädchen, welches an Bauchfellentzündung in Folge einer nach einem Nothzuchtsattentate eingetretenen heftigen Vaginitis gestorben war. Brouardel (l. c.) fand bei der Obduction eines 15jährigen Mädchens, welches, nachdem es von einem mit Tripper behafteten Manne wiederholt, das letzte Mal 8 Tage vor dem Tode, gebraucht worden, an einem Oedem der linken unteren Extremität erkrankt und plötzlich gestorben war, ausser purulenter Metritis und Vaginitis eine Thrombose der Vena iliaca sin. und eine Embolie der Pulmonalarterie durch ein losgerissenes Stück des betreffenden Thrombus.
[111] Casper-Liman, 7. Aufl., 102.
[112] Andere unter den Begriff der „Schändung“ zu subsumirende Unzuchtsacte sind verhältnissmässig selten. Nach Tardieu (Attent. aux moeurs, 1878, pag. 70) wurden 1866 mehrere Mägde und ihre Liebhaber verurtheilt, welche mit einem 7jährigen Mädchen und einem 5jährigen Knaben die schändlichste Unzucht getrieben hatten, indem sie ersterem ausser den Fingern verschiedene fremde Körper, u. A. Rüben, in die Scheide, letzterem ebensolche Gegenstände und selbst kleine Löffel, in den Anus einführten; und Fredet (Annal. d’hygiène publ. 1880, Nr. 21, pag. 247 u. ff.) berichtet über die Ligatur der Clitoris eines 8jährigen Kindes durch ein 18jähriges Mädchen. Es gehören hierher auch die von weiblichen Individuen mit Knaben ausgeübten Beischlafsversuche und die an Mädchen unter 14 Jahren, sowie an wehr- und bewusstlosen weiblichen Individuen unternommene Päderastie.
[113] Entscheidung des ob. Gerichtsh. vom 3. Februar 1858 und 8. März 1864. Herbst, l. c., pag. 285.
[114] Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1865, N. F., II, pag. 355.
[115] Wie Mayer (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1875, 41) mittheilt, berichtet Dr. Fischer, Hausarzt am Arbeitshause zu St. Georgen, ein sehr erfahrener Gefängnissarzt, es komme gar nicht selten vor, dass die an sexuelle Genüsse gewöhnten Mädchen in der Anstalt selbst Liebschaften etabliren, und sobald sie irgendwie Gelegenheit finden, sich zu vereinigen suchen. Ihre Leidenschaft entbrennt nach dieser Richtung merkwürdig, und sie machen alle Qualen der Liebe und Eifersucht durch, wie sie nur bei Verschiedenheit der Geschlechter hier und da im Leben vorzukommen pflegt. Aehnliche Angaben, betreffend Prostituirte und Inhaftirte, vide Andronico, Arch. di psich. scienze penali ed anthropologia criminale. Vol. III, pag. 145. Als „Saphismus“ bezeichnet Martineau („Leçons sur les déflorations vulvaires et anales produites par la masturbation, le saphisme, la défloration et la sodomie.“ Paris 1884) eine eigene Form der Tribadie, die in mit Saugen verbundener Friction der Clitoris mit der Zunge besteht. Diese Unzuchtsform soll in Paris häufig vorkommen und Martineau erklärt, dass dieselbe sogar als eine Form der Prostitution unter Frauen existirt.
[116] Dies geht deutlich aus dem psychologisch höchst interessanten Selbstbekenntniss eines den höheren Ständen angehörenden Päderasten hervor, dessen Mittheilung wir Casper verdanken (Liman’s Handb. I, 183). Im Jahre 1870 wurde in Innsbruck der Vorsteher eines Junggesellenbundes (in loco „Buben-Apis“ genannt) wegen widernatürlicher Unzucht verurtheilt, die er mit einer grossen Zahl halberwachsener Knaben getrieben hatte. Fast alle ihm zur Last gelegten Handlungen liefen auf onanistische Manipulationen hinaus, die er theils selbst an den Knaben vornahm, theils an sich vornehmen liess. Nur einmal hatte er die Immissio penis in den Anus eines Jungen unternommen, musste jedoch davon abstehen, als dieser wegen Schmerz zu schreien anfing. — Doch liegt eine Entscheidung des österr. Obersten Gerichtshofes vom 13. Juli 1878 und ein Erkenntniss des deutschen Reichsgerichtes vom Jahre 1884 (Virchow’s Jahrb. I, 440, Wellenstein) vor, wonach Onanie zwischen Männern nicht unter den §. 129, resp. 175 fällt.
[117] Im Cornelius Nepos finden sich folgende Stellen:
„Laudi in Graecia ducitur adolescentulis multos habere amatores.“ —
„Alcibiades ineunte adolescentia amatus est a multis more Graecorum.“
[118] Vide diese zusammengestellt von Krafft-Ebing, Arch. f. Psych. 1877, VII, pag. 291, insbesondere aber in seinem bekannten Werke „Psychopathia sexualis“ und eine ausführlichere Besprechung der psychologischen Seite der Päderastie in unserem gleichbenannten Artikel in Eulenburg’s Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde.
[119] Motive des deutschen St. G.-Entwurfes.
[120] F. Frisch, Gonorrhoea rectalis. Prager med. Wochenschr. 1892, pag. 52.
[121] S. auch Liman, Berichte des X. intern. med. Congresses.
[122] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. VII, 193.
[123] Meist sind es grössere Säugethiere, insbesondere Stuten, Kühe und Ziegen, seltener Hunde, die auf diese Weise missbraucht werden, keineswegs aber ausschliesslich. So wurde nach Tardieu (l. c. 10) 1876 in Paris ein 35jähriger Mann verurtheilt, der wiederholt — Hennen missbraucht hatte und bei frischer That erwischt wurde, und auch Schauenstein (Lehrb. der gerichtl. Med. 1875, pag. 161) und Kowalewsky (Jahrb. für Psych. 1887, VII, 289) erwähnen solche Fälle.
[124] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1865, II, pag. 355.
[125] Das Haar in forensischer Beziehung. 1866, pag. 79.
[126] Lehrb. d. gericht. Med. 1875, 161. Ausführlicheres über die Verbreitung der Sodomie mit männlichen Thieren in Paris findet sich bei Martineau (l. c.).
[127] Sonderbarer Weise gehört auch päderastische Unzucht von Männern mit männlichen Thieren nicht in das Bereich der Unmöglichkeiten, denn Tardieu berichtet (l. c. 12) über einen solchen 1872 vorgekommenen Fall, betreffend einen Bauer, der von einem anderen im Walde überrascht wurde, als er, wie Letzterer positiv angab, von einem grossen Hunde per anum sich gebrauchen liess. Der Angeklagte gestand das Factum, soweit es die Position betraf, zu, behauptete jedoch, er habe sich von dem Hunde blos belecken lassen, um die von einem Eczem herrührenden Schmerzen zu lindern. Analoge Fälle werden von Bouley und Brouardel (Annal. d’hygiène publ. 1884, pag. 528), Montalti (Virchow’s Jahresber. 1887, I, 483) und einem Anonymus (Ibid. 1888, 447) mitgetheilt. Im letzteren Falle war durch die Bemühungen des in actu Ueberraschten, vom Hunde loszukommen, eine starke Zerreissung des Afters entstanden.
[128] Lehrb. d. Geburtsh. 1855, pag. 111.
[129] Henke’s Zeitschr. Bd. 73, pag. 402.
[130] Med. Times. 4. Nov. 1871. Schmidt’s Jahrb. 1872, Nr. 1, pag. 49. Neuere Fälle, in welchen aber die betreffenden Blutungen fast sämmtlich als pathologische erkannt wurden, bringt Lewy: „Ueber Menstruation während der Schwangerschaft.“ Arch. f. Gyn. XV, 361. Auch in den von Säxinger (Maschka’s Handb., l. c. 200) untersuchten Fällen konnten die Blutungen auf pathologische Ursachen zurückgeführt werden.
[131] An der Leiche gelingt dies schon viel früher, mitunter, wie wir uns wiederholt überzeugt haben, schon im zweiten bis dritten Monate, und es verdient hervorgehoben zu werden, dass man auch bei während der Menstruation verstorbenen jungfräulichen Individuen mitunter im Stande ist, einen molkigen Tropfen aus der Brustdrüse herauszupressen.
[132] Statistische Resultate aus der Untersuchung von 3000 Schwangeren. Christiania 1866.
[133] Nach Ahlfeld (Monatsschrift für Geburtsk. XXXIV, 180) werden die Kindesbewegungen durchschnittlich am 132·77. Tage gefühlt, und zwar bei Erstgebärenden später (am 137·46. Tage) als bei Mehrgebärenden (am 130·73.).
[134] März, pag. 75 und November, pag. 354.
[135] Kritische Zusammenstellung älterer Angaben vide Casper-Liman, l. c. 230 ff.
[136] Monthly Journ. Juli 1853. — Schmidt’s Jahrb. 1853, II, 228.
[137] Arch. f. Gyn. 1872, III, pag. 456; v. auch Cohnstein, „Ueber Prädilectionszeiten der Schwangerschaft“. Ibid. XV, 220.
[138] Olshausen (Zeitschr. f. Geburtsh. 1889, XVI, pag. 202 und 207) verlangt, dass mindestens 310 Tage festgesetzt werden sollten, und daneben die Zulässigkeit des Wahrscheinlichkeitsbeweises einer 320tägigen Schwangerschaftsdauer.
[139] In einem von Rosenfeld (Wiener med. Presse. 1885, Nr. 34) mitgetheilten Falle von Spätgeburt (letzte Menstruation 10. Februar, Entbindung am 16. December) war das neugeborene Kind 59 Cm. lang und 5920 Grm. schwer, im Falle Bensinger’s (11monatliche Gravidität, Centralbl. f. Gyn. 1893, Nr. 35) betrug die Länge 58 Cm. und das Gewicht 6 Kgrm.
[140] Lobstein (Kopp’s Jahrb. 1810, IX, pag. 282) fand bei einem angeblich am 300. Tage geborenen Kinde sechs Schneidezähne in den Kiefern. Nach Dumur („Des dents dans les questions médico-légales“; Lyon 1882) kamen unter 17.578 Neugeborenen der Pariser Maternité nur drei Kinder mit Zähnen zur Welt.
[141] Bayr. med. Correspondenzblatt. 1844, Nr. 23 und 24.
[142] „Vom Mangel u. s. w. der Gebärmutter.“ Würzburg 1858, pag. 271 u. s. f. nebst ausführlicher Literaturangabe, bezüglich welcher auch auf Casper-Liman’s Handb. I. 237 u. ff. verwiesen wird.
[143] Med. Centralblatt. 1873, 720. Auch Weinlechner berichtete in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom 5. Jänner 1877 über einen Fall, in welchem nach doppelseitiger Ovariotomie die Menstruation noch durch neun Jahre fortdauerte.
[144] Fünf so benannte Fälle von Brachet in Schmidt’s Jahrb. 1849, 63. Bd., pag. 213. Hierher gehören auch die Fälle, in denen die bereits begonnene Entbindung wieder sistirte und Lithopädionbildung eintrat. Von solchen Fällen, die mit zum Verständniss sowohl der Spätgeburt als der Nachempfängniss beitragen und die bei Thieren häufiger vorkommen, stellt Oldham gegen 30 zusammen, wozu Henning (Arch. f. Gyn. XIII, 292) einen neuen hinzufügt.
[145] Kussmaul, l. c., ebenso Schmidt’s Jahrb. 1854, II, 61.
[146] Osiander (Handb. d. Entbindungsk., 1829) erwähnt eines Falles, in welchem eine trotz langjähriger Ehe kinderlose Frau, die ein fremdes Kind als das ihrige untergeschoben hatte, kurz darauf thatsächlich gebar und nun die Sache als Ueberfruchtung darstellen wollte. Ueber einen zweiten gerichtlichen Fall, in welchem auch an Superfötation gedacht wurde, und der eine wegen Kindesmord in Untersuchung befindliche Person betraf, die zwei Monate nach der betreffenden Entbindung in der Untersuchungshaft angeblich ein degenerirtes Ei gebar, berichtet Fischer in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., V, pag. 22; über einen dritten Friedberg (Virchow’s Jahrb. 1877, I, 378). Eine Frau gebar ein reifes Kind. Am dritten Tage fand man in der Nachgeburt einen macerirten viermonatlichen Fötus und an der Placenta zwei Nabelschnüre. Das Gericht dachte an eine Unterschiebung, die jedoch seitens der Aerzte wegen des Vorhandenseins zweier Nabelschnüre in Abrede gestellt wurde.
[147] Unter 45 von Hecker zusammengestellten Fällen (Arch. f. Gyn. XIII, 253) trat die Ruptur 26mal im zweiten, 11mal im dritten, 7mal im vierten Monat ein, wozu Fränkel einen neuen hinzufügt.
[148] Einen genau untersuchten solchen Fall siehe Welponer u. Zillner, Arch. f. Gyn. XIX, pag. 241.
[149] Aehnlich wie die Tubarschwangerschaft verhält sich die Schwangerschaft in dem verkümmerten Horne eines Uterus bicornis (Kussmaul, l. c.). Zur Unterscheidung einer solchen von einer eigentlichen Tubarschwangerschaft empfiehlt sich, die Lage des geborstenen Sackes zum Lig. rotundum zu beachten, das genau an der Stelle abgeht, welche die Grenze zwischen Tuba und Uterus bezeichnet. Ein solcher Fall kam uns im Juli 1877 vor und betraf ein 16jähriges Mädchen, welches unter Erbrechen und sich wiederholenden Ohnmachtsanfällen im Laufe weniger Stunden gestorben war. Es bestand Verdacht auf Schwangerschaft und durch medicamentöse Mittel versuchte Fruchtabtreibung. Die Obduction ergab Gravidität am Ende des dritten Monates in dem verkümmerten Horn eines zweihörnigen Uterus mit Berstung desselben und hochgradiger Hämorrhagie in die Bauchhöhle; kein Zeichen von Vergiftung. Einen ähnlichen Fall hat Maschka (Prager med. Wochenschr. 1882, Nr. 49) beschrieben und abgebildet, ebenso vier aus der älteren Literatur H. Coutagne (Des ruptures utérines pendant la grossesse et de leurs rapports avec l’avortement criminel. Paris 1882, pag. 9). Auch Kaltenbach (Wr. med. Blätter. 1883, Nr. 52) theilt eine solche Beobachtung mit, die anfangs für eine durch Misshandlung entstandene Ruptur gehalten wurde.
[150] Arch. f. Gyn. XIX, 3 und „Das tuberöse subchoriale Hämatom der Decidua. Eine typische Form der Molenschwangerschaft“, Wien 1892.
[151] Mitunter finden sich noch Eihautreste oder noch die Placenta. Letztere kann selbst mehrere Tage zurückgehalten werden und frisch bleiben. Ueber einen Fall von Retention der Placenta durch 3 Wochen, der zur gerichtlichen Untersuchung Veranlassung gab, berichtet Thoresen, und Heger führt an, dass die Placenta bis 103 Tage nach der Geburt der Frucht frisch im Uterus zurückgehalten werden kann (Virchow’s Jahresb. 1874, II, 806).
[152] Die mit einer Entbindung verbundene Blutung hat auch insoferne eine grosse forensische Wichtigkeit, als die Spuren, die sie zurücklässt, sowohl für die Erkennung des Ortes, wo die Geburt stattgefunden, als auch für die Begutachtung mancher anderer concreter Verhältnisse des Falles brauchbare Anhaltspunkte zu gewähren im Stande sind. Uns wurde wiederholt vom Gericht die Frage vorgelegt, ob mit einer Entbindung nothwendig Blutung verbunden sein müsse, und wie bedeutend dieselbe in der Regel wäre; so besonders in einem Falle, in welchem die Angeklagte angab, dass sie hinter einem Plankenzaun entbunden, und nachdem sie das angeblich todte Kind von sich abgetrennt hatte, sofort über den Zaun wieder zurückgestiegen sei, während sich an demselben unmittelbar darauf keine Spuren von blutigen Händen vorfanden, dagegen bei der Obduction sich herausstellte, dass das Kind lebend geboren und erwürgt worden sei. — Blutung ist mit jeder Entbindung verbunden, doch ist die Grösse derselben sehr verschieden. Die Stärke der Blutung aus dem Uterus hängt zunächst ab von der Energie, mit welcher sich derselbe nach der Ausstossung der Frucht und später der Placenta zusammenzieht, und es ist in dieser Beziehung die Angabe von Schröder (l. c. 561) bemerkenswerth, dass gerade bei sehr schnell verlaufenden Geburten (und viele heimliche Geburten sind es) nach Ausstossung des Kindes eine Atonie des Uterus eintreten kann, die stärkere Blutungen veranlasst. Ausserdem ist die Zahl und die Ausdehnung der Einrisse des Muttermundes auf die Quantität des sich ergiessenden Blutes von Einfluss, ferner auch jene der Einrisse am Scheideneingang, von denen zu bemerken ist, dass sie bei Erstgebärenden in der Regel zahlreicher und ausgebreiteter zu sein pflegen, sowie, dass insbesondere die Schleimhautrisse zwischen Clitoris und Urethra, wie wir bereits an einem anderen Orte erwähnt haben (pag. 120), und wie auch Schröder angibt (l. c. 567), des blutreichen und cavernösen Gewebes wegen mitunter bedeutende Blutungen herbeizuführen vermögen. Beachtenswerthe Untersuchungen über den „Blutverlust bei der Geburt“ hat Schauta (Wiener med. Blätter. 1886, Nr. 11) angestellt.
[153] Dass ein solcher Vorgang und nicht, wie man meist annimmt, eine subepidermoidale Zerreissung der Malpighi’schen Schichte stattfindet, hat Langer (Wr. med. Wochenschr. 1879, pag. 635) dargethan.
[154] Jena’sche Zeitschr. 1868, IV, pag. 577.
[155] Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1874, N. F., XXI, 229. Ebenso fand Fasbender (Zeitschr. f. Geburtsh. II, 43) bei 37·3 Procent der Erstgebärenden und bei 36·6 Procent der Mehrgebärenden das Frenulum erhalten. Die Frequenz der Dammrisse steigt nach Fasbender mit dem Alter der Erstgebärenden.
[156] Vide Mayrhofer, „Ueber die gelben Körper“ etc. Wien 1876. Ebenso Leopold, Archiv f. Gyn. 1877, XI, pag. 110 und XXI, pag. 347.
[157] Nach Henle, Handb. d. Anat. 1864, II, 453, beträgt die Höhe des jungfräulichen Uterus 6–8 Cm., der transversale Durchmesser des Fundus 4–5, der grösste sagittale 2–3 Cm.; bei Frauen, welche geboren haben, die Höhe 9 bis 19, der transversale Durchmesser 5½-6½, der sagittale 3–3½ Cm.
[158] S. Pichler, Wiener Allg. med. Ztg. 1860, Nr. 42; R. Lex, Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. 1866, N. F., IV, pag. 179 ff.; Ferri, „Evolutione dell’ omicidio“. Lombroso’s Archiv. Vol. III, 296; E. Verrier, Ibid. 1884, pag. 496; H. Ploss, „Zur Geschichte der Fruchtabtreibung“. 1883; Galliot, „Recherches histor. sur l’avortement criminel“. Paris 1884.
[159] „Persien und seine Bewohner.“ Leipzig 1865, I, 216.
[160] Virchow’s Archiv. XXIII, 313 und LXII, 272.
[161] Virchow’s Jahresbericht. 1869, pag. 628.
[162] „Sur la décroissance de la population en Turquie.“ 1872. Ullersperger in Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1873, pag. 240.
[163] „Étude méd.-lég. sur l’avortement.“ Paris 1863.
[164] Pfaff, Zeitschr. f. Staatsarzneik. XXVI, 1. Heft. In einem von Gallard (l. c. 30) mitgetheilten Fall hatte ein Ehemann, um die Frucht seiner schwangeren Frau abzutreiben, sich selbst eine eiserne Uterussonde verfertigt und seiner Frau versprochen, künftig eine silberne sich zu verschaffen und bei eventuellen neuen Schwangerschaften anzuwenden. Unglücklicher Weise verletzte er gleich das erstemal den Uterus, so dass die Frau zwar abortirte, aber in Folge der Verletzung starb. Häufiger dürften andere Mittel in Gebrauch sein, um übergrossen Kindersegen einzuschränken. Darüber berichten Lombard und Toulemont (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, N. F., 19, pag. 421 u. s. f.), und Letzterer bezeichnet die freiwillige Unfruchtbarmachung der Ehe, den „Malthusianisme pratique“, geradezu als ein „grand mal social“. — Derartige Mittel hat das preuss. Landrecht in dem oben (pag. 47) citirten §. 695 im Auge gehabt und als Scheidungsgrund bezeichnet. Vide darüber auch Beigel, Wiener med. Wochenschr. 1877, Nr. 36; Pincus, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1879, XXX, pag. 377; Stille, Die Bevölkerungsfrage. Berlin 1879, 2. Aufl., C. Hasse, Ueber facultative Sterilität. Das Pessarium occlusivum. Neuwied 1882–1883, 2 Theile, mit Abbildungen; Steinbach, Internat. Rundschau. 1889, Nr. 1.
[165] Ullersperger, l. c. — Ovid (Amor. II, 14) erwähnt, dass die römischen Damen die Frucht abtrieben, „ut careat rugarum crimine venter“.
[166] Im Falle eines blossen Versuches, ob die Betreffende wirklich schwanger sei oder gewesen ist. Es kommt gar nicht selten vor, dass von Frauenspersonen Fruchtabtreibungsversuche unternommen werden, weil sie glauben, schwanger zu sein, ohne dass dies thatsächlich der Fall wäre. Durch letzteren Nachweis wird eine Anklage auf Fruchtabtreibung gegenstandslos, da das Gesetz ausdrücklich von „Schwangeren“ spricht. Zufolge Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes vom 24. Mai 1880 ist jedoch die Strafbarkeit des Versuches der Kindesabtreibung dadurch nicht ausgeschlossen, dass der Thäter des beabsichtigten, aber nicht eingetretenen Erfolges sich absolut untauglicher Mittel bedient hat, und es ist ferner laut weiterer Entscheidung vom 10. Juni 1880 für die Strafbarkeit des Versuches gleichgiltig, ob die Vollendung des Verbrechens wegen Untauglichkeit des Objectes (z. B. todtes Kind) möglich war oder nicht. In einem Wiener Falle liess sich nachweisen, dass die Frucht zur Zeit des Eihautstiches schon todt (macerirt) war, in einem anderen von Paltauf (Archiv f. Gyn. XXX, 3. Heft) mitgetheilten, in welchem Einspritzungen in den Uterus gemacht worden waren, ergab die Obduction — Extrauteringravidität. In beiden Fällen wurden die betreffenden Hebammen nicht wegen Fruchtabtreibungsversuch, sondern nur wegen fahrlässiger Tödtung verurtheilt.
[167] Hausmann, Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie. Berlin 1872, I, 155.
[168] Leblond (Annal. d’hygiène publ. 1877, Nr 102, pag. 522), besonders aber Gallard (l. c. pag. 16 und 17).
[169] Auch Hohl (l. c. 1862, 2. Aufl., pag. 283) erwähnt diese Möglichkeit.
[170] Literatur über den Gegenstand vide Hausmann (l. c.) und Beigel, Arch. f. Gyn. IX, 84; Kleinwächter, Wiener Klinik. 1885, 2. Heft.
[171] Ziemssen’s Handb. X, 312. Vide auch Leopold, Archiv f. Gyn. 1876, X, 293.
[172] Hecker, Ueber das Gewicht des Fötus und seiner Anhänge in den verschiedenen Monaten der Schwangerschaft. Monatsschr. f. Geburtsk. 1866, XXVII, 266. Schröder l. c. 35. Casper-Liman l. c. II, 820. Toldt, Ueber Altersbestimmung menschlicher Embryonen. Prager med. Wochenschr. 1879, pag. 121.
[173] Nach Whitehead abortirten 37 Procent aller Schwangeren. Abegg zählt 1 Abortus auf 11, Henning (Schmidt’s Jahrb. 1873, 160, pag. 261) einen schon auf 10 Geburten.
[174] Whitehead, Lex (l. c. 211).
[175] Nach Rican’s Mittheilungen über die Pneumonia gravidarum (Virchow’s Jahresb. 1875, II, 591) erfolgten bei 28 Pneumonien vor dem 180. Schwangerschaftstage 23 Heilungen (6 mit, 17 ohne Abortus). Dagegen kamen bei 15 nach dem 180. Tage nur 8 Heilungen (5 mit, 3 ohne Frühgeburt) und 7 Todesfälle, unter denen nur 2 unentbunden, vor. Den Untersuchungen Runge’s zufolge (Arch. f. Gyn. XII und XXV) sind insbesondere hohe Fiebertemperaturen geeignet, ein Absterben der Frucht und dadurch Abortus zu bewirken. Wurde die Temperatur trächtiger Kaninchen längere Zeit auf 41·5 fixirt, so wurden regelmässig todte Junge extrahirt und zugleich ergab sich, dass bei hohen Hitzegraden die Jungen eher starben als das Mutterthier. Weitere Versuche Runge’s (Ibid. XIII, 143) machen es auch wahrscheinlich, dass durch dauernd erhöhte Temperaturen die Reizbarkeit des Uterus erhöht wird.
[176] Die acute Nephritis der Schwangeren verläuft in der Regel unter dem Bilde der Eclampsie und veranlasst häufig nicht blos Abortus, sondern auch den Tod der Schwangeren. Solche Fälle können dann den Verdacht eines absichtlich, insbesondere durch innerlich genommene Mittel veranlassten Abortus erwecken. Wir haben mehrere solche Fälle beobachtet, und ein derartiger findet sich in Maschka’s Gutachten. III, 234. Vide auch Hofmeier, Bedeutung der Nephritis in der Schwangerschaft. Zeitschr. f. Geburtsh. III, 259. Löblein, Bemerkungen zur Eclampsie-Frage. Ibid. IV, 89.
[177] Fehling, Habituelles Absterben der Frucht bei Nierenerkrankung. Wr. med. Blätter. 1885, Nr. 42.
[178] Virchow’s Jahresb. 1874, II, 757.
[179] Die Ansicht Ruge’s (Zeitschr. f. Geburtsh. I, Heft I und III, pag. 214), dass die Nabelschnurtorsionen bei macerirt geborenen Früchten grösstentheils erst postmortal entstanden sind, wurde durch Martin (Ibid. II), Dohrn und Kehrer (Arch. f. Gyn. XIII) ausführlich widerlegt.
[180] Fälle dieser Art finden sich bei Schröder (l. c. 214) zusammengestellt. Besonders interessant von diesen ist der von Fairbank publicirte, in dem eine Frau im sechsten Monate der Schwangerschaft eine colossale Quetschung des Unterleibes und Fractur des Beckens erlitt, aber von der damals abgestorbenen Frucht erst drei Monate später entbunden wurde. — Auch M‛Clintok (Virchow’s Jahrb. 1875, II, 595) hat zwei Fälle beschrieben, in denen die Ausstossung des abgestorbenen Eies erst drei, beziehungsweise sechs Monate später erfolgte. Zwei Fälle von je fünf und zwei Monate dauernder Retention finden sich im Arch. f. Gyn. 1877, XII, 482, und über einen von Retention der im vierten Monate abgestorbenen Frucht bis zum normalen Ende der Schwangerschaft berichtet Roth (Med. Centralbl. 1879, pag. 461), indem er gleichzeitig eine Reihe analoger Fälle aus der Literatur zusammenstellt. Einen neuen Fall dieser Art, betreffend eine fünfmonatliche Frucht, welche erst sechs Monate nach ihrem Absterben geboren wurde, bringt Depaul (Gaz. des hôp. 1881, Nr. 96).
[181] Schröder (l. c. 224).
[182] Pflüger’s Archiv. IX, 552.
[183] Pflüger’s Archiv. IX, 552.
[184] Oesterr. med. Jahrb. 1874, pag. 1.
[185] Zeitschr. f. rat. Med. 5. Folge, II, 1.
[186] Wiener med. Jahrb. 1872, I.
[187] Fehling (Arch. f. Gyn. XI, pag. 523) will zwar, wenn er trächtige Thiere Kohlenoxyd athmen liess, dieses auch im fötalen Blute gefunden haben; dieser Nachweis ist uns jedoch in einem gemeinschaftlich mit Professor Ludwig angestellten Versuche nicht gelungen, vielmehr zeigten, obzwar das Mutterthier eine Stunde lang CO geathmet hatte und in der CO-Atmosphäre verendet war, die fünf Jungen, mit denen dasselbe trächtig sich erwies, gewöhnliches Erstickungsblut, welches sowohl makroskopisch, als bei der spectralen Untersuchung ganz anders sich verhielt als das Blut des Mutterthieres. Auch haben wir ebenso wie Falk (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884) bei einer an CO-Vergiftung verstorbenen Schwangeren wohl im natürlichen, nicht aber im fötalen Blute CO gefunden. Wenn demnach Breslau (Monatsschr. f. Geburtsk. Juni 1859) einen Fall von frühzeitiger Geburt eines todten Kindes nach Leuchtgasvergiftung mit Erhaltung der Mutter beschreibt, so ist durchaus nicht erwiesen, dass das Leuchtgas auch in das Blut des Fötus gelangte und diesen vergiftete; es lässt sich vielmehr der Tod der Frucht auch einfach durch Erstickung erklären, welche erfolgte, weil dem fötalen Blute von Seite der Mutter nicht die nöthige Menge von Sauerstoff zugeführt wurde.
[188] Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, dass auch die Quecksilbercuren, insbesondere Inunctionscuren schwangerer Syphilitischer, als für die Frucht gefährlich bezeichnet wurden. Die Erfahrungen der Syphilidologen (wir berufen uns insbesondere auf diesbezügliche Mittheilungen Prof. v. Sigmund’s) lehren jedoch, dass derartige Curen ohne Schaden für die Frucht vorgenommen werden können, und dass, wenn Abortus eintritt, dieser in anderen Ursachen, insbesondere in der Syphilis selbst, seinen Grund hat. — F. Weber (Med. Centralbl. 1875, pag. 528) hat das Verhalten der Schwangerschaft bei den verschiedenen antisyphilitischen Behandlungsmethoden in 129 Fällen verfolgt. Die günstigsten Resultate erzielte die Schmiercur; denn von den so behandelten 35 Weibern kam keine einzige vorzeitig nieder, während bei anderen Methoden 15–36 Procent abortirten. Die ungünstigsten Resultate lieferte die Behandlung mit Jodkalium, nämlich 36 Procent. Tardieu citirt einen Fall, in welchem die Gerichtsärzte nicht anstanden, den im vierten Monate erfolgten Abortus mit einer genau vier Gramm Jodkalium enthaltenden Mixtur in causalen Zusammenhang zu bringen. Dagegen bemerkt Gallard (l. c. 20), dass er häufig noch beträchtlichere Dosen von Jodkalium bei Schwangeren verordnet habe, ohne den geringsten Schaden, will jedoch die abortive Wirkung des Jodkaliums dennoch nicht ganz bestreiten! Auch dem Chinin wurde eine abortive Wirkung zugeschrieben. Dagegen berichtet Goth (Virchow’s Jahrb. 1881, II, 561) über 46 wegen Malaria mit Chinin behandelte Schwangere und bemerkt, dass selbst bei grossen Dosen eine schädliche Einwirkung des Mittels auf die Frucht nicht beobachtet wurde.
[189] Stockes, Amer. Journ. 1871, pag. 599. — Schmidt’s Jahrb. 1871, 151, pag. 166.
[190] Dass derartige individuelle Einflüsse eine wichtige Rolle spielen, zeigen deutlich die in der neueren Zeit mit Pilocarpin, dem wirksamen Princip der Folia Jaborandi, gemachten Erfahrungen (vide diese zusammengestellt in Kleinwächter’s Aufsatz: „Mittheilungen über die Verwendung des Pilocarpinum muriaticum in der Geburtshilfe.“ Wr. med. Presse. 1879, Nr. 13 u. ff.). Während es einzelnen Geburtshelfern gelang, durch subcutane Injection 2procentiger Lösungen von Pilocarpin (bis 20 Milligramm pro dosi) Frühgeburt zu bewirken, und zwar im Ganzen in fünf Fällen, erzielten andere keinen Erfolg. Später hat Gigeollet durch Pilocarpininjection die künstliche Frühgeburt herbeigeführt, und zwar zweimal bei ein und derselben Frau. Ferner hat van der May durch Thierversuche sich überzeugt, dass das Pilocarpin sowohl bei subcutaner als bei intravenöser Injection Uteruscontractionen veranlasst (Virchow’s Jahrb. 1881, I. 455). Neueres über Pilocarpinwirkung bei Schwangeren siehe Schauta, Grundriss der operativen Geburtshilfe. 1885, pag. 48.
[191] Virchow’s Archiv. LVI, 505, und Beiträge zur Gynäkologie und Geburtshilfe. 1874, III, 1.
[192] Reiche Literaturangaben bei O. Egeln: „Ist Secale cornutum ein Abortivmittel?“ Diss. Bonn. 1892.
[193] Derselbe Fall wurde auch von Neubert publicirt (Husemann’s Toxikologie. 360).
[194] Husemann, l. c. Supplementh. 43.
[195] Zusammenstellung der Fälle (vide Lex, l. c. 243). Weitere Beobachtungen über Vergiftung von Thieren mit Taxusblättern finden sich in Virchow’s Jahrb. 1874, I, 489. Ebendaselbst eine nicht letal abgelaufene Vergiftung eines fünfjährigen Mädchens mit Taxusfrüchten.
[196] Med. Centralbl. 1876, pag. 97.
[197] Eine letale Vergiftung mit diesem als Abortivum genommenen Gewürz hat Schmidtmann (Berl. klin. Wochenschr. vom 11. Juni 1888) beobachtet.
[198] „Kurze Mittheilung einer acuten Phosphorvergiftung zum Zwecke der Fruchtabtreibung.“ Mittheilungen des Vereines der Aerzte in Niederösterreich. 1887, Nr. 15.
[199] Miura (Virchow’s Archiv. XCVI, 1) hat gefunden, dass bei Vergiftung trächtiger Kaninchen auch bei den Föten fettige Degenerationen sich entwickeln.
[200] Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 7. Jänner und 22. April 1852. Herbst, Strafrecht. I, 311. Ueber die modificirte Anschauung des deutschen Reichsgerichtes s. pag. 216.
[201] Lex, l. c. 254, vide auch Gallard, l. c. pag. 24. Daselbst auch ein Fall von Fruchtabtreibungs-Versuch durch zweimaliges sich Hinunterkollernlassen von einer Stiege und durch Stösse gegen den Bauch.
[202] Dass Contractionen sowohl des schwangeren als des nichtschwangeren Uterus nach mechanischen Reizen der Oberfläche desselben erfolgen, davon haben wir uns bei Hündinnen wiederholt überzeugt. Insbesondere war es der eigentliche Körper des Uterus, dessen Reizung durch Reiben mit einer Sonde sehr constant Contractionen desselben und jene Bewegungserscheinungen am Cervix hervorrief, die wir gemeinschaftlich mit v. Basch l. c. beschrieben haben.
[203] Henke’s Zeitschr. 1863, 122. Lex, l. c. 257.
[204] Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. I, 321, ebenso in zwei von Schoder (l. c.) publicirten.
[205] Zu diesen gehören auch die über die Gefühle, welche sie angeblich bei der an ihnen eingeleiteten Operation, insbesondere beim Eihautstich, empfunden haben. Gewöhnlich wollen die Schwangeren beim Einführen von Instrumenten einen Stich oder ein Bohren empfunden haben. P. Berger (Des sensations perçues par les femmes pendant les manoeuvres d’avortement. Annal. d’hygiène publ. pro 1881, Nr. 10, pag. 321) hat diesen Gegenstand sowohl bei leerem, als bei pathologische Geschwülste enthaltendem, schwangerem Uterus verfolgt und fand, dass sowohl der innere Muttermund, als das Collum uteri, sowie die Innenfläche des Uterus unempfindlich sind, und dass daher, wenn Sonden etc. vorsichtig eingeführt werden, die Betreffenden dabei keinen Schmerz, ja nicht einmal ein auffälliges Gefühl verspüren. Schmerzen treten aber sofort auf, wenn der Uterus gezerrt wird. Leicht dagegen entstehen Schmerzen bei Manövern in der Vagina, die dann häufig als „Stich“ empfunden werden. Schon die einfache Untersuchung mit Instrumenten oder selbst mit den Fingern kann dieses Gefühl erzeugen. Es ist auch begreiflich, dass die Schwangeren nicht immer präcise Angaben über die an ihnen vorgenommenen Operationen zu machen vermögen. So gab, wie Liman (l. c. I, 248) berichtet, eine Abortirte an, dass ihr die Hebamme eine Einspritzung mit Oel gemacht habe, während diese geständig war, einen Katheter in Oel getaucht und in die Gebärmutter eingeführt zu haben.
[206] Hohl (l. c. 1862, pag. 741). Eine ausführliche Zusammenstellung der Erfahrungen über den Zeitpunkt des Abortus nach den verschiedenen mechanischen Fruchtabtreibungsmethoden bringt Dölger (l. c.).
[207] Nach Krause (Lex, l. c. 261) bis zu 22 Tagen. Wie schwer es mitunter selbst Sachverständigen fällt, den Uterus zu Contractionen anzuregen, geht aus der Mittheilung von Baader (Virchow’s Jahrb. 1868, II, 633) hervor, der durch 11 Tage 43 Douchen anwandte, dazu noch am fünften Tage Schröpfköpfe auf die Warzen setzte und schliesslich doch zur Einführung des Katheters in den Uterus greifen musste, um am dreizehnten Tage (!) die Entbindung zu bewirken.
[208] Virchow’s Jahresb. 1868, II, 632.
[209] S. Fig. 44. Einen solchen Fall hat Winter in der Berliner gynäkologischen Gesellschaft am 12. November 1886 vorgezeigt und Richardière (Virchow’s Jahresb. 1888, I, 516) berichtet über einen anderen.
[210] Die Angaben über die Häufigkeit der spontanen Uterusruptur gehen sehr auseinander. Einzelnen Beobachtern zufolge kommt schon auf 300 Geburten eine Ruptur des Uterus, nach anderen eine erst auf 113.138 Entbindungen (Schröder, l. c. 539). Wie auch in dieser Beziehung statistische Berechnungen täuschen können, beweisen die Beobachtungen in der Maternité in Paris, woselbst in den Jahren 1839–1848 trotz 31.560 Geburten kein einziger Fall von Uterusruptur sich ereignete, während in den nächstfolgenden zehn Jahren bei blos 28.299 Geburten 11 Rupturen vorkamen (Lex, l. c. 254). Braun (Lehrb. der Gyn. 1881, pag. 695) sah auf seiner Klinik vom Jahre 1857–1860 unter 16.425 Gebärenden blos 4 Spontanrupturen. Von 1861–1874 kamen unter 59.217 Geburten 31 Uterusrupturen vor, von 1875–1878 unter 11.432 Geburten blos zwei.
[211] Monatschr. f. Geburtsk. XII, 408. Eine quere Cervixruptur im sechsten Lunarmonat sah Piering (Prager med. Wochenschr. 1888, Nr. 24).
[212] Bandl, Die Ruptur der Gebärmutter. Wien 1875. Rheinstädter, Die Uterusrupturen in foro (besonders mit Rücksicht auf angeschuldete Kunstfehler; mit reicher Literaturangabe). Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1882, XXXVII, pag. 80 und 247. Loewy, Uterusruptur in foro. Diss. Breslau 1888.
[213] Nachträglich (1876) hinzugefügt.
[214] Körber in Dorpat (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. 1883, pag. 266) fand bei der Obduction zweier gelynchter Pferdediebe unzählige mit Blut unterlaufene Striemen, bei dem einen auch eine Schädelfissur und intermeningeale Hämorrhagie am Scheitel und meint, dass in solchen Fällen der Tod zunächst durch Verblutung in Folge der ausgebreiteten Blutaustritte unter die Haut erfolgt.
[215] Aehnlichen, mitunter auffallend blauen Stellen begegnen wir auch bei abgemagerten Individuen dort, wo die dünne Haut über oberflächlich liegende Muskelbäuche sich hinwegspannt und letztere durchscheinen. So entsprechend dem M. tibilias ant. und über den Muskelbäuchen der kurzen Strecker der Zehen und der Kopfnicker.
[216] Ueber derartige Hauthämorrhagien schrieb v. Kogerer, Zeitschr. für klin. Med. X, 234.
[217] Vide über diesen Gegenstand unsere Besprechung der forensisch wichtigsten Leichenerscheinungen: Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1877, XXVI, pag. 264; ferner: Langhans, „Beobachtungen über Resorption der Extravasate.“ Virchow’s Archiv. 49. Bd. und Cordua, „Ueber den Mechanismus der Resorption aus Blutergüssen.“ Med. Centralbl. 1877, pag. 952. Rokitansky’s Handb. der pathol. Anatomie, 3. Aufl., I, 216; Eschweiler (Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. 1885, XXIII, pag. 94), welcher entgegen den sonstigen Anschauungen findet, dass die nach Blutextravasaten auftretenden Hautverfärbungen nichts mit Umwandlungen des Blutfarbstoffes zu thun haben, sondern nur von der mehr weniger oberflächlichen Lage und der Dicke der färbenden Schichte abhängen, und H. Dürk, Zur Lehre von den Veränderungen und der Altersbestimmung von Blutungen im Centralnervensystem. München 1892. Diss. aus Bollinger’s Institut.
[218] Das Aussehen der durch Hundebiss gesetzten Wunden hat H. Coutagne („Notes sur les morsures des animaux domestiques considérées au point de vue de la recherche médico-légale de l’identité.“ Annal. d’hyg. publ. 1879, pag. 508) zum Gegenstande einer näheren Prüfung gemacht, und zwar aus Anlass eines Falles, in welchem ein Mann bei einem Raubanfalle von dem kleinen Hunde des Angefallenen gebissen wurde und nach seiner Verhaftung, um sein Alibi zu beweisen, behauptete, dass er die betreffende Bisswunde allerdings zu gleicher Zeit, aber an einem anderen Orte und von einem grossen Neufundländer erhalten habe.
[219] An der Leber, seltener an anderen Organen, beobachtet man mitunter centrale oder subseröse Rupturen. Einmal sahen wir eine Ruptur des Ductus hepaticus und ein zweites Mal eine isolirte Ruptur des Ductus choledochus nach Ueberfahren. In letzterem Falle erfolgte der Tod erst nach 10 Tagen. Die Obduction ergab stark gallig gefärbtes Exsudat in der Bauchhöhle und lehmfarbige Fäces.
[220] Virchow’s Jahresb. 1874, I, 291. Zwei ähnliche Fälle (Ueberlebung einer Leberruptur durch 48 und einer Milzruptur durch 43 Tage; vide Wiener med. Wochenschr. 1879. Militärarzt. Beilage zu Nr. 2).
[221] Sitzungsbericht der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 26. Januar 1877 und Wiener med. Blätter. 1878, Nr. 13. Ferner: Hofmeier, Virchow’s Jahresb. 1876, I, 286.
[222] Vide Maschka’s Bericht über die Explosion der Dynamitfabrik bei Prag. Wiener med. Wochenschr. 1871, Nr. 8.
[223] Innerhalb sieben Jahren kamen an unserem Institute 58 an Stichverletzungen gestorbene Personen zur Obduction; siebenmal handelte es sich um Selbstmord, dreimal um Zufall, in allen übrigen Fällen um Mord oder Todtschlag. Das verletzende Werkzeug war vierzigmal ein Taschenmesser, einmal ein Federmesser, einmal ein dolchartiges Messer mit stellbarer Klinge, dreimal ein Fleischermesser, fünfmal ein Küchenmesser, je einmal ein Infanteriesäbel, ein Bistouri (Selbstmord eines Arztes durch Stich in die Art. femoralis), ein Schusterkneif, ein Tischlerschnitzer, ein Meissel und ein myrthenblattförmiges Polirinstrument, und in einem weiteren Falle musste unentschieden bleiben, ob die Verletzung mit einem Taschenmesser oder einem sogenannten Haubajonet beigebracht worden war. Endlich wurde eine Frau obducirt, die durch zahlreiche, mit einem starken vierkantigen Bilderhaken gegen Kopf und Hals geführte Stiche ermordet worden war.
[224] Näheres über den Gegenstand sammt entsprechenden Abbildungen von E. Hofmann: „Ueber Stichwunden in Bezug auf das verletzende Werkzeug und dessen Erkennung.“ Oesterr. med. Jahrb. 1881, Nr. 2, pag. 261.
[225] „Ueber die Einwirkung von Pulvergasen auf das Blut und einen neuen Befund beim Nahschusse.“ Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 51.
[226] „Observation de blessure mortelle fait an moyen d’un revolver avec quelques remarques médico-légales sur ce genre de blessure.“ Strassburg 1870. Aehnliche Versuche von Lombroso, Crespi und Tazon. Rivista clinica di Bologna. 1875, Maggio, pag. 136 und Rivista sperim. di freniatr. e med. leg. 1876, pag. 148, sowie von Caselli, ibid., pag. 6, und Du Mesnil, Annal. d’hyg. publ. 1877, pag. 465 (mit Abbildungen).
[227] In Friedreich’s Blättern, 1873, pag. 361, ebendaselbst, 1879, pag. 145, bringt Kuby einen höchst interessanten Fall, in welchem wieder eine entschiedene Stichwunde für eine Schusswunde gehalten worden war.
[228] l. c. pag. 281.
[229] Arch. f. klin. Chir. XVIII, pag. 201.
[230] Arch. f. klin. Chir. XVII, Heft 2 und XVIII, Heft 2.
[231] „Mechanik der Schussverletzungen.“ Ibidem. XVI u. XVII.
[232] „Ueber die Wirkungen der neueren Geschosse.“ Berliner klin. Wochenschrift, 1874, Nr. 15.
[233] „Chirurgie der Schussverletzungen.“ Med. Centralbl. 1874, pag. 601.
[234] „Untersuchungen über die Wirkungen der modernen Kleingewehrprojectile.“ Centralbl. f. Chir. Nr. 14 u. 15.
[235] Weitere Mittheilungen über die Geschosswirkung der Mannlichergewehre wurden von Bogdanik (Wiener Klinik, 1890, Heft 12) und von Habart („Die Geschosswirkung der 8 Millimeter-Handfeuerwaffen an Menschen und Pferden.“ Mit 5 Lichtdrucktafeln. Wien 1892) und aus dem Kriege in Chile (Wiener klin. Wochenschr. 1892, pag. 108) gebracht. Nahschüsse mit den modernen Gewehren, wie sie bei Selbstmördern jetzt häufig vorkommen, erzeugen, wie auch Perko (Prager med. Wochenschr. 1894, Nr. 19) bestätigt, keine wesentlich anderen Effecte, wie die mit gewöhnlichen Schusswaffen grösseren Kalibers.
[236] Auch die durch die „Züge“ des Laufes bewirkten Streifungen des Projectils können mitunter eine Bedeutung besitzen. In einem von Lacassagne (Arch. de l’anthrop. crimin. 1889, pag. 70) untersuchten Falle zeigte das in der Leiche eines Ermordeten gefundene Projectil 7 Längsstreifen und es wurde durch Waffenkundige sichergestellt, dass der Lauf des beim Thäter gefundenen Revolvers abweichend von sonstigen Revolverarten 7 Züge besass. In einem anderen Falle fand sich an jedem der 3 im Körper aufgefundenen Projectile, obgleich das eine nur Weichtheile durchdrungen hatte, eine auffallende Längsrinne, und die Untersuchung des Laufes des saisirten Revolvers ergab, dass dieselbe von einem Vorsprunge des Visirkornes herrührte.
[237] Ueber eine merkwürdige Schussverletzung und eigenthümliche Formveränderung der Kugel, wobei die Frage wichtig war, ob erstere durch directen Schuss oder durch Ricochetiren der Kugel entstanden war, berichtet Führer (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1877, XXVII, pag. 222). Hier sei auch bemerkt, dass aus der Auffindung einer Spitzkugel in einer Schusswunde nicht unbedingt auf ein Hinterladergewehr geschlossen werden kann, da eine solche auch in eine Schusswaffe alten Systems geladen worden sein konnte, wie uns bei Selbstmördern bereits zweimal vorkam, die sich mit einer gewöhnlichen Pistole erschossen hatten. Im zweiten Falle, wo sich eine hochgradige Zertrümmerung der rechten Schläfegegend und im Schusscanal nebst einem Papierpfropf eine kleine Spitzkugel fand, lautete der Polizeibericht: Schrotschuss mit Doppelpistole. Offenbar war also der zweite Lauf mit Schrot geladen gewesen.
[238] Wahl, Langenbeck’s Archiv. XV und XVII.
[239] Herbst, Commentar, pag. 317.
[240] Diese können allerdings auch in dem Bilde einer acuten Geistesstörung bestehen, welche von Wille und Guder („Die Geistesstörungen nach Kopfverletzungen.“ Jena 1886) als die acute Form des primär traumatischen Irrsinns bezeichnet wird und eine günstige Prognose bietet, da von 7 Fällen 6 genasen. Das Bewusstsein kehrt vorübergehend zurück, nachher folgt Somnolenz, aus welcher die Kranken in heftige hallucinatorische Angstzustände mit feindseligem Charakter übergehen. Allmälig werden die Kranken ruhiger, haben noch Kopfschmerz und allerhand Innervationsstörungen und genesen, indem sie für das Geschehene Erinnerungslücken behalten oder diese erst später durch die Erzählungen Anderer ausfüllen. Einen neueren solchen Fall von acutem hallucinatorischem Wahnsinn bei einem 18jährigen, im Wachsthum zurückgebliebenen und erblich belasteten Knaben nach Schlägen auf dem Kopfe bringt van Hoff (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1894, VIII, pag. 311). Hier war das Trauma die Gelegenheitsursache zum Ausbruch der Psychose, zu welcher bereits Veranlagung bestand.
[241] Zeitschr. d. k. k. Gesellsch. d. Aerzte in Wien. 1875, pag. 454.
[242] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874, XXI, pag. 56, ebenso ausser den bereits erwähnten Autoren Hartmann (Arch. f. Psych. XV, pag. 98) und Legrand du Saulle (Les traumatismes cérébraux. Gaz. des hôp. 1885, Nr. 103–112).
[243] Maudsley, „Physiologie und Pathologie der Seele.“ 1870, pag. 335. A. Pick, „Drei Fälle traumatischen Irrsinns“. Prager med. Wochenschr. 1879, Nr. 40 u. s. f., insbesondere pag. 402.
[244] P. Bruns („Die Laryngotomie.“ Berlin 1878) bezeichnet als die häufigste und unangenehmste, in 50 Procent der Fälle eintretende Folge der Laryngotomie die Beeinträchtigung oder den gänzlichen Verlust der Stimme, welcher Misserfolg schon der Spaltung des Schildknorpels allein zur Last falle. Noch leichter können diese Sprachstörungen nach Traumen des Kehlkopfes zurückbleiben, und zwar sowohl nach penetrirenden Wunden, als nach anderen Verletzungen. So beschreibt Schnitzler (Wiener med. Presse. 1874, Nr. 42 u. 44) bei einem Manne, der gewürgt worden war und seitdem seine Stimme verloren hatte, Bruch des Aryknorpels und Längsriss des rechten Stimmbandes.
[245] Schon Galen war dieser als ein wichtiger Nerv für die Stimmbildung bekannt, da er fand, dass, wenn er bei Schweinen denselben beiderseits durchschnitt, dieselben nicht mehr schreien konnten (Brücke’s Vorlesungen. II, 93).
[246] Auch die traumatischen, durch Erschütterung (directe sowohl als per Contrecoup) erzeugten Blutungen im Pons und Medulla oblongata (Duret).
[247] „Ueber transitorische Aphasie nach Gemüthsbewegungen.“ Schlangenhausen, Psych. Centralbl. 1876, pag. 26. — „Ueber simulirte Stimmlosigkeit und ihre Bedeutung für den Militär- und Gerichtsarzt.“ Sidlo, Wiener med. Presse. 1877, pag. 1611.
[248] Vide den Aufsatz von Blumenstok in „Gerichtshalle“, 1873, Nr. 35 und 39, in welchem allerdings B. die von juristischer Seite aufgestellte Ansicht zu widerlegen sich bestrebt.
[249] „Zur Revision der Bestimmungen des Reichs-Strafgesetzbuches über Körperverletzungen.“ Gerichtssaal. 1874, Heft 4.
[250] Herbst, l. c. pag. 322.
[251] Eine Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes (Wellenstein, V. f. gerichtl. Med. XXXVII, 353) lautet: „Verurtheilung aus §. 224 St. G. B. hat zu erfolgen, wenn der schwere Erfolg auf die vorsätzliche That als Ursache zurückzuführen ist, wenn auch Krankheitsanlagen des Verletzten einwirkten.“
[252] Ist die Unterlassung der „Antiseptik“ dem behandelnden Arzte als ein Verschulden oder „Kunstfehler“ anzurechnen? Einem aus der neuen Schule hervorgegangenen und in ihren antiseptischen Principien herangebildeten Arzt zweifellos, doch wäre es gewiss zu weit gegangen, wenn man die Verpflichtung auf bestimmte Verbandmethoden, respective auf die Anwendung ganz bestimmter antiseptischer Mittel, einengen wollte, da, wie bekannt, über die Dignität der einzelnen Methoden und Mittel noch vielfach gestritten wird und, wie es scheint, durch verschiedene derselben Gleiches erzielt werden kann. Aerzten älterer Schule kann, wenn sie sonst correct, insbesondere mit der unter allen Umständen nöthigen Reinlichkeit vorgegangen sind, die Unterlassung der Antiseptik nicht ohne Weiteres als Kunstfehler angerechnet werden, sondern es wird zu erwägen sein, ob und in welchem Grade sie im Stande waren, der Verpflichtung, sich über die Fortschritte der Wissenschaft möglichst im Laufenden zu erhalten, zu genügen. Beachtenswerth ist eine reichsgerichtliche Entscheidung (Wellenstein, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLIII, pag. 365), welche einen Arzt wegen fahrlässiger Tödtung, begangen durch Unterlassung der antiseptischen Behandlung, verurtheilt. Der Fall betraf einen Knecht, der 25 Tage, nachdem er einen Messerstich in der Brust erhalten hatte, an Pleuritis gestorben war. Der Arzt hatte sowohl den hermetischen Verschluss als die antiseptische Behandlung der Wunde unterlassen und das Reichsgericht nahm als erwiesen an, dass durch diese Unterlassung die letale Pleuritis veranlasst worden sei. „Das antiseptische Verfahren,“ heisst es in der Entscheidung, „gilt als eine anerkannte Regel der Heilkunde. Der ausübende Arzt muss sich so weit auf der Höhe der Wissenschaft halten, dass er von den Regeln der fraglichen Art genaue Kenntniss erlange und solche beobachte. Unterlässt er dieses, wie es hier der Fall war, so muss ihm Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden.“ Unserer Ansicht nach war der Arzt allerdings strafbar, weil er die antiseptische Behandlung unterliess, zur Begründung der „fahrlässigen Tödtung“ aber fehlt der Beweis, dass die tödtliche Pleuritis wirklich nur in Folge der Unterlassung der antiseptischen Behandlung eingetreten ist, der im vorliegenden Falle um so schwieriger zu liefern gewesen wäre, als gerade penetrirende Brustwunden verhältnissmässig häufig, trotz sofort und energisch eingeleiteter Antisepsis, durch Pleuritis zum Tode führen. — Die Nichtbeobachtung antiseptischer Cautelen, respective Nichtschonung des bereits angelegten antiseptischen Verbandes von Seite der untersuchenden Gerichtsärzte hat bereits zu unerquicklichen Auseinandersetzungen geführt (s. Virchow’s Jahrb. f. 1880, I, 645). Unserer Ansicht nach muss die Entscheidung, ob trotz angelegten Verbandes eine gerichtsärztliche Untersuchung der Verletzung stattzufinden habe, in jedem einzelnen Falle dem Gerichte im Einvernehmen mit dem Gerichtsarzte vorbehalten bleiben. Die Heranziehung des behandelnden Arztes ist, wo thunlich, stets angezeigt. Dass der Gerichtsarzt sowohl bei der Untersuchung einer frischen, als einer bereits verbundenen Verletzung mit der grössten Reinlichkeit und unter Beobachtung antiseptischer Vorsichten vorzugehen habe, ist eine selbstverständliche Forderung.
[253] Bezeichnend für die Dehnbarkeit aller allgemeinen Bezeichnungen ist der Umstand, dass in einem der von Wellenstein erwähnten Fälle von Seite eines Landgerichtes auch der Verlust eines Stückes des Schädelknochens als „Verlust eines wichtigen Gliedes“ aufgefasst wurde. Eine ausführliche Besprechung des §. 224, insbesondere seiner Schwächen, siehe auch W. Hauser (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XXXVIII, pag. 93).
[254] Bischoff fand bei Erwachsenen 7·7, Welker bei Kindern 5·2 Blut auf 100 Theile Körpergewicht, so dass also ein Mensch von 71·5 Kilo 5·5 Kilo Blut haben würde (Brücke, Vorlesungen. 1874, I, pag. 120). Nach Landois (Lehrbuch der Physiologie, pag. 73) kann Erwachsenen der Verlust ihrer halben Blutmenge lebensgefährlich werden. Thiere vertrugen nach Maydl’s Versuchen (Anzeiger d. Wiener Gesellsch. d. Aerzte. 1884, Nr. 22) den Verlust der Hälfte ihres Blutes fast ausnahmslos und mehr als die Hälfte der Versuchsthiere überlebte sogar den Verlust von zwei Drittel ihrer Blutmenge. Dass so starke und selbst stärkere Blutverluste vertragen werden, ist der Wirkung der Vasoconstrictoren zu verdanken, durch welche in Folge der Verengerung der Lumina gewisser Gefässe, insbesondere jener des Splanchnicusgebietes, die noch zurückgebliebene Blutmenge den centralen Nervenapparaten zu Gute kommt. Die Wirkung der Vasoconstrictoren erfolgt bei acuten Verblutungen präciser und energischer als bei allmäligen, weil bei letzteren das Regulirungsvermögen des Rückenmarkes erlischt. Deshalb werden acute, wenn auch bedeutendere Blutverluste besser vertragen, als eine länger andauernde, wenn auch schwache Blutung (v. Basch, „Ueber die Regulirung der Blutspannung und Blutvertheilung“. Vortrag, gehalten in der Jahresversammlung der k. k. Gesellschaft der Aerzte am 29. März 1878). Ausführliches über die physiologische Wirkung von Blutverlusten s. Jürgensen in Ziemssen’s Handb. 1880, I und Oesterlen, Tod durch Verblutung in Maschka’s Handb. d. gerichtl. Med. I, 699.
[255] Nach einer unter den Auspicien Bardeleben’s publicirten, sehr eingehenden kritischen Studie Gröningen’s über den Shok (Wiesbaden 1885) ist der Shok eine durch heftige Insulte bewirkte Erschöpfung der Medulla oblongata und des Rückenmarks.
[256] „Ueber den Shok grosser Verletzungen.“ Vortrag im ärztl. Bezirksverein in München. Wiener med. Presse. 1877, Nr. 16 und 17.
[257] Bergmann, Czerny, Uffelmann und Heschl, ferner Riedl, „Zur Fettembolie“. Zeitschr. f. Chir. VIII, 571. Scriba, „Untersuchungen über Fettembolie“. Ibid. 1879, XII, 118, Wiener, „Wesen und Schicksal der Fettembolie“. Arch. f. experim. Path. XI, 275 und Ribbert, „Ueber Fettembolie“. Med. Centralbl. 1894, Nr. 1. Diese Fettembolien können sich sehr rasch bilden, insbesondere bei Knochenfracturen schon unmittelbar nach der Verletzung, wovon wir zahlreiche Beispiele anführen könnten. Auch nach Weichtheilwunden, wenn sie fetthältige Organe betrafen, können Fettembolien entstehen. So fand Hamilton (Virchow’s Jahresber. 1877, I, 227) Fettembolien in den Lungen eines Schiffsjungen, welcher einige Stunden nach einem Fall aus beträchtlicher Höhe unter Dyspnoe und Coma gestorben war. Die Autopsie ergab Fettleber und kleine Rupturen in derselben. In einem von uns obducirten Falle von Leberruptur durch Ueberfahren ergab sich Lungenembolie durch zertrümmerte Lebersubstanz als nächste Todesursache. Auch bei Schädelfracturen wurden Fettembolien in der Lunge beobachtet, aber nur dann, wenn gleichzeitig Quetschung des Gehirns bestand, weshalb das Fett kaum aus der bekanntlich fettarmen Diploë, sondern aus dem Gehirne selbst gestammt haben dürfte. Hinzugefügt sei noch, dass auch durch Eintritt (Aspiration) von Luft in die Venen erfolgter plötzlicher Tod für Shok imponiren kann (Fischer, „Ueber die Gefahren des Lufteintrittes in die Venen“. Volkmann’s Samml. klin. Vortr. Nr. 113. Ferner Kézmarsky, „Lufteintritt in die Venen des puerperalen Uterus“. Arch. f. Gyn. 1878, XIII, 200 und Bergmann [l. c.]).
[258] Postmortale Beschädigungen durch Ratten kommen ungemein häufig zur Beobachtung, insbesondere bei aus Aborten herausgezogenen Kindesleichen. In einem später zu erwähnenden Falle, betreffend eine auf einer Canalstiege in liegender Stellung erhängt gefundene Hadernsammlerin, waren ausgebreitete, durch Ratten veranlasste Substanzverluste an den Händen für vital entstandene Wunden gehalten worden. Aber auch durch ganz kleine Thiere bewirkte, nur oberflächliche Benagungen können für vital entstandene Hautaufschürfungen imponiren, und, besonders wenn sie am Halse oder im Gesichte vorkommen, zu schwerwiegenden Täuschungen Veranlassung geben, wie namentlich der bedauerliche Fall Harbaum zeigt, in welchem Letzterer wegen angeblicher Vergiftung seines unehelichen Kindes mit Schwefelsäure acht Jahre im Kerker verbrachte, während sich nachträglich herausstellte, dass postmortale Magenerweichung vorgelegen war, und dass gewisse, theils rundliche, theils streifige, pergamentartige Vertrocknungen am Kinn, am Halse etc., welche die Obducenten von Schwefelsäureeinwirkung hergeleitet hatten, durch Benagung der Leiche durch Ameisen entstanden waren, von denen einige noch bei der Obduction im Munde gefunden wurden! (Skrzeczka, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVI, pag. 193). Die Aufdeckung dieses Justizirrthums wurde durch einen von Maschka (Ibid. 1881, XXXIV, pag. 193) publicirten ähnlichen Fall veranlasst, in welchem ebenfalls verschiedene, im Gesicht und am Halse einer Kindesleiche gefundene, zum Theile schwärzlich aussehende und sauer reagirende Excoriationen auf Schwefelsäureeinwirkung bezogen wurden, während sie, wie die Erwägung der Umstände, der Befund einer todten Ameise im Munde und der Nachweis von Ameisensäure in den überschickten Hautstückchen erwies, von Ameisen hergerührt haben. Ausserdem bringt Maschka einen zweiten Fall, wo es sich um Schaben handelte, am gleichen Orte, 1879, XXX, 238. Benagungen der im Sommer im Keller aufbewahrten Leichen durch Kellerasseln kamen uns so häufig vor, dass wir besondere Vorkehrungen dagegen treffen mussten.
[259] Taylor (l. c. I, 520) berichtet über eine Dame, welcher offenbar in gleicher Absicht der Hals durchschnitten wurde, nachdem sie früher durch Erstickung getödtet worden war. Die verhältnissmässig geringe Menge von Blut, welche aus der Wunde herausgeflossen war, hatte zuerst den Verdacht erweckt, dass nicht ein Mord, sondern Selbstmord vorliege.
[260] Handb. d. gerichtl. Med. 1864, 4. Aufl., II, 264.
[261] Handb. d. gerichtl. Med. 1875, 2. Aufl., 513.
[262] „Zur Frage der Widerstandsfähigkeit der Gewebe im Leben und nach dem Tode.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XVIII, 18.
[263] „Ueber die verschiedene Widerstandsfähigkeit der Knochen im todten und lebenden Zustande.“ Arch. f. Anat. und Phys. 1874, 510. Ebenso Med. Centralblatt. 1878, pag. 181, woselbst er unter Anderem angibt, dass aufschlagende Kugeln bei frischen Knochen vorherrschend auseinandertreibend wirken, während an trockenen vorherrschend Loch- und Rinnenschüsse erzeugt werden.
[264] „Leichenerscheinungen.“ Wien 1854.
[265] „Die forensisch wichtigsten Leichenerscheinungen.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876, XXV.
[266] Den Untersuchungen Corin’s („Ueber die Ursachen des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und anderen Todesarten.“ Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1893, V, 234) zufolge behält das Blut seine postmortale Gerinnungsfähigkeit nur einige, allerdings unbestimmt lange Zeit.
[267] Hierher gehört auch das sogenannte Hämatom der Dura mater, eine sackartige, mit flüssigem, braunrothem, vor dem Spectralapparate den Methämoglobinstreif zeigenden Blut gefüllte Auseinanderweichung der Schichten einer pachymeningitischen Auflagerung, welcher eine muldenförmige Abflachung der betreffenden Grosshirnhemisphäre entspricht. Solche Hämatome werden oft überraschend lange vertragen, ohne auffällige Symptome zu veranlassen.
[268] „Ueber concurrirende Todesursachen.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1866, V, 284. Liman (l. c. II, 60) gebraucht dafür die Bezeichnung „Priorität der Todesart“. Obwohl diese Bezeichnung ganz richtig ist, so liegt doch eine Verwechslung nahe mit der in civilrechtlicher Beziehung wichtigen Frage nach der „Priorität des Todes“, die sich ergibt, wenn Zweifel darüber entstehen: „welche von zwei oder mehreren verstorbenen Personen zuerst mit dem Tode abgegangen sei“ (§. 25 österr. b. G. B.), namentlich, „wenn zwei oder mehrere Menschen ihr Leben in einem gemeinsamen Unglücke oder auf andere Art gleichzeitig verloren haben“ (Preussisches allgemeines Landrecht. I, Tit. 1, §. 39). Es verdient daher die von Skrzeczka angegebene Bezeichnung den Vorzug. Einen Fall dieser Art, wo es sich um die Verunglückung eines Ehepaares bei einer Kahnfahrt, respective um die Ueberlebungsfrage, handelte, hat Lacassagne („Question de survie. Consultation médico-légale dans l’affaire Rivoire.“ Lyon 1883) begutachtet.
[269] C. Majer, „Statistische Studien über den Selbstmord in Bayern“. Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1872, 155. Die ausführlichsten Daten über die Statistik des Selbstmordes in Europa und den aussereuropäischen Ländern enthält das schöne Werk von H. Morselli, welches in deutscher Uebersetzung unter dem Titel: „Der Selbstmord. Ein Capitel aus der Moralstatistik“ 1881 bei Brockhaus in Leipzig erschienen ist.
[270] Oesterlen, „Handb. d. med. Statistik“. 1874, pag. 732.
[271] „Zeitschr. des königl. preuss. statist. Bureaus.“ 1871, pag. 98 u. s. f. Majer, l. c. 177.
[272] Annal. d’hygiène publ. 1875, II, 192.
[273] Darunter durch Kohlendampf 42.
[274] 823 Fälle von Erstickung bes. durch Kohlendunst. Sedlaczek, l. c.
[275] Interessante Beispiele finden sich bei Orfila (Lehrb. d. gerichtl. Med., übersetzt von Knapp. 1848, I, pag. 442).
[276] Siehe auch Morselli, l. c. pag. 72 u. s. f. und P. Gonzier, Action des courants telluriques, du magnétisme terrestre sur l’activité cérébrale. Arch. de l’anthropol. criminelle. 1891, pag. 349 und 466.
[277] Selbst Anschuldigungen Dritter kommen vor, s. z. B. Kuby, „Selbstmordversuch durch Halsabschneiden für Mordversuch ausgegeben“. Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 224. Wir selbst obducirten einen Mann, der, schwer krank in’s Spital aufgenommen, angab, von mehreren Personen misshandelt und in eine Senkgrube geworfen worden zu sein, und nach wenigen Stunden starb, während die gerichtliche Section eine exquisite Schwefelsäurevergiftung ergab.
[278] Damit stimmt auch die Statistik Durham’s (Güterbock, „Die Verletzungen des Halses“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, 19, pag. 33) über die Lage der Wunde bei 158 Fällen von theils durch Mord, theils durch Selbstmord erzeugten Halsdurchschneidungen überein. 11mal lag die Wunde über dem Zungenbein, 45mal auf der Membrana hyothyreoidea, 35mal auf dem Schildknorpel, 26mal auf dem Lig. conoideum oder dem Ringknorpel, 41mal auf der Trachea.
[279] Ein derartiger Fall kam uns 1879 zur Beobachtung. Er betraf eine Prostituirte, welcher, als sie eben zur Zulassung des Coitus sich anschickte, von dem über ihr knienden Thäter mit einem unbemerkt hervorgezogenen Fleischermesser der Vorderhals bis auf die Wirbelsäule, eingestandenermassen in einem Zuge, durchschnitten worden war.
[280] Dass auch solche Befunde nicht absolut den Mord beweisen, zeigt ein Fall von Porter-Wornum (Virchow’s Jahresb. 1887, I, 506), der zu einer Frau gerufen wurde, die sich den Hals durchschnitten hatte. Er fand die Frau mit angeschnittener Trachea im Zimmer stehend, mit einem Tischmesser in der Hand, womit sie sich noch in Gegenwart des Arztes in den rechten Vorderarm Schnitte beibrachte. Das Messer wurde ihr leicht genommen und die Frau in ein Spital gebracht, wo sie nach 9 Stunden starb. Die Obduction ergab die Trachea bis auf eine schmale hintere Brücke durchschnitten, zahlreiche Schnitte an beiden Vorderarmen und Handgelenken und jederseits einen Schnitt in der Falte zwischen Daumen und Zeigefinger!
[281] In unserem Museum bewahren wir den Schädel eines Ermordeten, an dem sich namentlich am Hinterkopf mehr als 20 Stichwunden finden.
[282] Tessier (Annal. d’hygiène publ. XXIV, pag. 5) sah bei einem im Duell Gefallenen eine Stichöffnung in der Brustwand und in der vorderen Wand der Aorta, dagegen drei in einem Dreieck gestellte, nur die oberen Schichten betreffende, in der Hinterwand der letzteren, und erwähnt eine Beobachtung von Coutagne, wo sich bei einem verwundeten Manne ein Stich in der Bauchwand und 2 in der Leber fanden.
[283] Auf weitere Distanzen ist von einem „Wasserschuss“ kein Effect zu erwarten. Eine interessante diesbezügliche Angabe findet sich in Brehm’s „Thierleben“, 1878, IV, 451: „In den alten Reisewerken und Naturgeschichten steht zu lesen, dass man Kolibris blos mit Sand oder Wasser schiessen könne. Audubon hat sich verleiten lassen, dies zu versuchen und gefunden, dass die aus Wasser bestehende Ladung wohl das Gewehr einschmutzt, nicht aber Kolibris tödtet.“ Eine kurze Mittheilung über einen Selbstmordversuch mittelst eines mit Wasser geladenen, in den Mund abgefeuerten Terzerols, wodurch nur Einrisse an den Mundwinkeln und Verwundungen der Mundschleimhaut entstanden, enthält der Wiedener Spitalsbericht pro 1880, pag. 258.
[284] Neuere Versuche über die Wirkung „blinder Schüsse“ hat Salzmann (Virchow’s Jahresb. 1881, II, 321) angestellt und gefunden, dass die sogenannten Platzpatronen, wie sie bei den Militärmanövern benützt werden, auf 2 Meter Schussdistanz leichte, auf 1 Meter schwere Verletzungen bewirken und auf 30 Cm. Knochenwände zu durchschlagen vermögen, wobei der Wachspfropf, mit dem die betreffenden Patronen geschlossen waren, wie ein Projectil wirkte. Nach Gerstacker (Prager Zeitschr. f. Heilk. 1887, VIII, 376) sind Selbstmorde mit Platzpatronen in der preussischen Armee häufig, wobei sich grosse Zerstörungen ergeben.
[285] Im Februar 1877 kam ein derartiger Fall in Prag zur Hauptverhandlung. Am 29. September war ein Heger im Walde erschossen gefunden worden. Die Section ergab, dass der Schuss aus nächster Nähe gegen die linke Brustseite abgefeuert worden war und Herz und Lunge zertrümmert hatte. In der Brusthöhle wurden zahlreiche Schrote und die Reste eines Papierpfropfens vorgefunden, welche als Stücke des Nationalkalenders vom Jahre 1876 erkannt wurden. In der Wohnung des der That verdächtigen Wilddiebes wurde ein solcher Nationalkalender gefunden, aus welchem mehrere Seiten, darunter auch die, aus welcher der Pfropfen bestand, herausgerissen waren, ein Umstand, der natürlich den Angeklagten schwer gravirte, obgleich dieser den Todesfall als Selbstmord hinzustellen sich bemühte.
[286] Trelat (Casper-Liman, II, 75) berichtet über einen Selbstmörder, der sich gleichzeitig zwei Pistolen an je einer Schläfe ansetzte und abfeuerte, und einen analogen Fall (gleichzeitiger Schuss gegen Kopf und Brust) findet man in Kopp’s Jahrb. d. St. A. K. XI, 123 (Siebenhaar’s Encyklop. Handb. I, 419). Auch in Wien hat sich 1893 ein Officier durch zwei gleichzeitig gegen die rechte und linke Schläfe abgefeuerte Revolverschüsse getödtet.
[287] So wäre z. B. der Fall als Selbstmord klargestellt, wenn die Obduction gleichzeitig Vergiftung ergeben würde, wie wir zwei solche Fälle obducirten, von denen der eine einen Mann betraf, der, wie man meinte, zufällig aus einem Dachfenster herabgestürzt war, und bei dem ausser groben Verletzungen eine Schwefelsäurevergiftung sich fand; der zweite ein Mädchen, welches zuerst Phosphor-Zündhölzchenköpfchen genommen und dann aus dem dritten Stockwerke sich herabgestürzt hatte.
[288] Zahlreiche Beispiele von Eisenbahnverletzungen und deren Folgen, sowie von und in Trains begangenen Verbrechen enthält das Werk von L. Borri: L’esercizio delle strade ferrate nei suoi rapporti con la medicina giudiciaria. Mailand 1894.
[289] Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass auch die Fixirung anderer Fussspuren u. dergl. von Wichtigkeit sein kann, wobei besonders der Gerichtsarzt im Stande ist, mit Rath und That behilflich zu sein, so, wenn Fussstapfen oder andere Eindrücke in Erde, Staub, Koth oder Schnee gefunden werden und ein Aufbewahren derselben nicht thunlich erscheint. Zur Fixirung dieser hat man die Herstellung eines Abgusses der Spur entweder mit Gyps oder mit einer Mischung von gleichen Theilen Cement und Sand empfohlen. Diese Substanzen werden fein gepulvert und mit ihnen am besten mittelst eines Siebes die Spur, aus welcher man das etwa darin befindliche Wasser mit Fliesspapier vorsichtig aufgesaugt hatte, ausgefüllt, so dass die Schichte das Niveau der Spur etwas überragt. Hierauf wird die Oberfläche etwas getrocknet, ein Leinwandlappen darüber gelegt und mittelst der Brause einer Giesskanne vorsichtig mit Wasser übergossen, bis die ganze Masse durchfeuchtet ist. Man gönnt hierauf der Masse die nöthige Zeit, um zu erstarren, und hebt dann vorsichtig den Ausguss heraus, der nach Bestreichung mit Oel wieder abgedrückt werden kann, so dass man einen genauen Abklatsch der ursprünglichen Spur erhält.
Unter Umständen kann man den Gyps- oder Cementbrei unmittelbar in die Spur eingiessen und erhärten lassen (Krahmer, Hodann). Hugoulin hat auch das Ausfüllen der Spur mit gepulverter Stearinsäure empfohlen, nachdem erstere früher durch ein darüber gehaltenes heisses Eisenblech erwärmt worden ist. Jaumes (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 657) modificirt dieses Verfahren dahin, dass er die Spur durch eine darüber gehaltene heisse Metallplatte erwärmt und vorsichtig mit feinem Stearinpulver bestreut, welches schmilzt und nach dem Erkalten die Erhöhungen und Vertiefungen der Spur in dünner Schichte überzieht. Letztere wird nun mit Oel bestrichen und die so bereitete Form mit nicht zu dickem Gypsbrei ausgegossen, welcher erstarrend einen genauen und leicht aufzubewahrenden Abdruck des Gegenstandes darstellt, von dem die Spur herrührt. Ausführlicheres über diesen Gegenstand s. Schauenstein, „Untersuchung der Spuren von Fussabdrücken und Werkzeugen“ in Maschka’s Handbuch der gerichtl. Med. I, 541; W. Zenker, „Die Fussspuren des Menschen. Grundzüge einer methodischen Untersuchung und forensischen Beurtheilung derselben.“ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. Nr. 4, XXX, pag. 80); Masson (Annal. d’hygiène publ. 1886, XVI, 336), welcher auf die Verlängerung der Spur eines und desselben Fusses, insbesondere des Abdruckes der grossen Zehe beim Gehen aufmerksam macht; Coutagne und Florence (Arch. de anthropol. crim. IV, 25) und Vocke (Friedreich’s Blätter. 1892, pag. 36).
[290] Im Innern mehrfach zusammengelegter Kleidungsstücke kann sich, wie Vibert hervorhebt, das Blut mitunter auffallend lange feucht erhalten.
[291] „Untersuchungen über einige den Blutnachweis störende Einflüsse.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1892, IV, 44.
[292] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., XIX, 113. Ausführliche Literaturangaben über forensische Untersuchungen von Blutspuren vide unseren Artikel über „Blutspuren“ in Eulenburg’s „Real-Encyclopädie der ges. Heilk.“
[293] Annal. d’hygiène publ. Januar 1885, 139.
[294] „Ueber das Verhalten des Blutes zu Kaliumhydroxyd.“ Mittheilungen des Vereines der Aerzte in Steiermark, 1875–1876.
[295] Valore delle granulazioni ventrofile dei globuli bianchi nella determinazione specifica dei sangue. 1894. Estratto dagli Atti del R. Istituto Veneto. Tom. V, Ser. VII.
[296] Die ihrer Zeit viel besprochene Behauptung Barruel’s (Annal. d’hygiène publ. 1829, Nr. 6 und 1854, pag. 413), dass man bei Behandlung einer Blutspur mit Schwefelsäure aus dem dabei sich ergebenden specifischen Geruche erkennen könne, ob das Blut vom Menschen oder von einem Thiere und von welchem abstamme, hat nur einen historischen Werth. Wichtig dagegen ist es, wenn es sich um die Provenienz von Blutspuren handelt, auf Beimengungen zu achten. So gab in einem unserer Fälle der Besitzer eines Messers an, dass die daran befindlichen Blutspuren entstanden seien, als er einige Tage zuvor eine Pferdeleber zerschnitt. In der That waren die Blutkörperchen klein und deutlich Leberzellen nachweisbar. In einem anderen wurde uns ein Papier mit Flecken übergeben, die grösstentheils gelblich, theilweise aber verwaschen röthlich aussahen und für Blut gehalten wurden. Der Angeschuldigte gab an, dass er auf diesem Papier geräuchertes Fleisch verzehrt habe, wovon die Flecke herrühren. Die mikroskopische Untersuchung bestätigte diese Angabe, da sie viel Fett, sowie Fetzen von Bindegewebe und quergestreiften Muskelfasern ergab.
[297] Arch. f. path. Anat. und Physiol. 1862, XXIII, pag. 446.
[298] Ladendorf (Berliner klin. Wochenschr. 1880, Nr. 35) empfiehlt statt des Terpentinöls das Ol. Eucalypti. Wahrscheinlich sind die meisten ätherischen Oele Ozonträger.
[299] Ueber die weiteren Eigenschaften dieses Körpers vide: Hoppe-Seyler (Handb. der physiol. und path.-chem. Analyse. 1865, pag. 220); Preyer (Blutkrystalle. 1871, pag. 191); A. Jäderholm (Zeitschr. f. Biologie. XVI) und unsere oben citirte Arbeit, pag. 133. Als bestes Lösungsmittel für Methämoglobin, und gleichzeitig für Oxyhämoglobin constatirte Klein (Dissert., Dorpat 1889) mit Kohlensäure gesättigtes destillirtes Wasser, welches schon Struve (l. c.) zum Sichtbarmachen der Blutkörperchen empfohlen hatte.
[300] Philos. Magazin. Ser. 4, XXVIII, pag. 391.
[301] Vide unseren Aufsatz: „Zur Kenntniss der Befunde nach Cyankaliumvergiftung.“ Wiener med. Wochenschr. 1876, Nr. 45 und 46. Als eine angeblich neue Methode zur Entdeckung von Blutspuren empfiehlt Cazeneuve (Compt. rendus. 5. März 1877) den gleichen Vorgang mit Ammoniak.
[302] Tamassia erwärmt die Substanz über Wasserdampf, unter Zusatz einer 3procentigen Kochsalzlösung, bedeckt mit einem Deckgläschen, und gibt dann durch 15–20 Minuten Eisessig hinzu, wobei er den Zutritt des Wasserdampfes vermindert. Dann wird das Object dem Verdampfen überlassen. Mit diesem Verfahren konnte, auch wenn Seife, Fett oder Fäulniss eingewirkt hatten, ein positives Resultat erhalten werden. Neuere Mittheilungen über den Einfluss von Rost und organischen Säuren siehe Virchow’s Jahrb. 1890, I, 488 und in der oben citirten Arbeit von Hammerl.
[303] „Die Grenzen der Beweiskraft des Hämatinspectrums und der Häminkrystalle für die Anwesenheit von Blut. Ein Beitrag zur Verhütung von Justizmorden.“ 1892.
[304] Ueber die Untersuchung eines Fetzens mit besonderer Rücksicht auf die Frage, ob die daran klebenden Haare von einem neugeborenen Kinde herstammen, hat Gallard berichtet (Annal. d’hygiène publ. 1879, 371). Neuestens behauptet Jaumes (De la distinction entre les poils de l’homme et les poils des animaux. Montpellier méd. April 1882, etc.), dass er ausnahmsweise die Kopfhaare der Neugeborenen markhältig gefunden habe.
[305] Vide unseren Aufsatz: „Ueber Haare in gerichtsärztlicher Beziehung.“ Prager Vierteljahrschr. CXII, 67.
[306] Bezüglich der Farbe muss bemerkt werden, dass Farbendifferenzen verhältnissmässig leicht zu constatiren sind, wenn ganze Haarbüschel vorliegen, schwer an einzelnen Haaren, am schwierigsten aber durch die mikroskopische Untersuchung, weil die Farbe desto weniger gesättigt erscheint, mit je stärkeren Vergrösserungen man untersucht. Mitunter trifft man, wie auch Jaumes ausführt, Menschen, die ganz anomale Haare besitzen, so z. B. scheckige oder knotige, von welchen letzteren wir ein Beispiel in unserer Sammlung besitzen. In solchen Fällen wäre die Constatirung, dass die gefundenen Haare von einem bestimmten Individuum herrühren, wesentlich leichter, anderseits könnten aber eben die ungewöhnlichen Eigenthümlichkeiten der Haare, wenn letztere allein vorliegen, die Meinung erwecken, dass es sich um Thierhaare handle.
[307] Auch an falsche und künstliche Haare wäre in solchen Fällen zu denken. Letztere sind gegenwärtig stark verbreitet und bestehen meist aus Angorawolle (den Haaren der Angoraziege), die unter dem Mikroskop sofort als solche erkannt werden kann.
[308] Als Beweis, wie umschriebene Läsionen des Gehirnes vertragen werden können, möge der Geisteskranke dienen, über welchen Carpenter berichtet (Virchow’s Jahresber. 1876, II, 71), der auf folgende Arten versuchte, sich das Leben zu nehmen. 1. Er bohrte oberhalb des rechten Ohres einen dicken Draht durch den Schädel 4¾ Zoll in das Gehirn hinein. 2. Er stiess sich einen Pfriem in den Scheitel. Beides ohne üble Folgen. 3. Durch die sub 1 gemachte Oeffnung bohrte er wieder einen Draht bis zur gegenüberliegenden Seite des Schädels, worauf eine linksseitige Hemiplegie erfolgte, die nach 14 Tagen verschwand. Endlich (nach mehreren Monaten) vergiftete er sich mit Morphium. Bei der Section fand man erstens im mittleren Lappen der rechten Hemisphäre neben einander horizontal liegend ein 2 Zoll langes Stück Draht und eine eingefädelte Nadel, zweitens im Vorderlappen vertical gestellt ein 2½ Zoll langes Stück Draht und daneben einen langen Nagel ohne Kopf.
[309] Auch durch wiederholte rasch aufeinanderfolgende Erschütterungen des Kopfes können ähnlich wie bei den Koch-Filehne’schen „Verhämmerungsversuchen“ die Symptome der Hirnerschütterung hervorgerufen werden. Seydel („Ueber Kopftraumen mit tödtlichem Erfolge ohne makroskopische Veränderungen“, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, S. 75) hat einen solchen wahrscheinlich in diese Kategorie gehörigen Fall begutachtet, der einen halbidiotischen Knaben betraf, der nach wiederholten rasch aufeinanderfolgenden Schlägen auf den Kopf bewusstlos wurde und nach etwa 6 Stunden comatös starb, ohne dass makroskopische Veränderungen am Gehirn gefunden werden konnten.
[310] Ausser in früheren Arbeiten auch in Friedreich’s Blätter. 1885, pag. 81: „Ueber die gerichtlich-medicinische Bedeutung verschiedener Knochenbruchformen.“ Weitere einschlägige Versuche wurden von Wahl und Greiffenhagen (Inaug.-Dissert. Dorpat 1887), sowie von Körber (Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1889, XXIX, pag. 545) und dessen Schüler v. Knorre („Casuistische Studien über Schädelfracturen.“ Mit 4 Tafeln. Dorpater Dissertation 1890) angestellt. S. auch Flatten, „Ueber einige bemerkenswerthe Brüche der Schädelbasis“. Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1892, IV. Suppl., pag. 29.
[311] Nach Körber (l. c.) beginnen bei doppelseitiger Compression des Schädels, die auch bei einseitigem Angriffe stattfindet, wenn die andere Seite auf einer festen Unterlage ruht oder durch die Wirbelsäule unterstützt wird, die Berstungsbrüche im Aequator, klaffen dort am meisten und verbinden beide Pole durch einen Meridian. Bei blos einseitiger Compression beginnen die Berstungsbrüche in der Nähe des Druckpols, klaffen dort am meisten und verjüngen sich, je mehr sie sich vom Druckpol entfernen. Unserer Ansicht nach bildet auch in diesem Falle eine vom Druckpol mehr weniger entfernte Partie des Schädels den anderen Pol und die Berstung erfolgt zunächst an einer zwischen beiden gelegenen Stelle. Klafft der Bruch am meisten an der Angriffsstelle selbst, so ist er überhaupt kein Berstungs-, sondern ein Biegungsbruch.
[312] Siehe auch: „Drei Fälle von Schädelverletzungen mit Einklemmung von Haaren“ von A. Schlemmer. Wiener med. Presse. 1876, Nr. 9–12.
[313] Eine häufige Folge von Fracturen oder Fissuren der Schläfegegend ist die Ruptura der Arteria meningea media mit consecutivem Blutaustritt zwischen Dura und den Knochen. Man findet dann ein mächtiges kuchenförmiges, gegen die peripheren Partien linsenförmig sich verdünnendes Blutgerinnsel zwischen Dura und Schädelwand, welches erstere vorwölbt und dementsprechend das Gehirn verdrängt und an der betreffenden Stelle muldenförmig abflacht.
[314] „Die Verletzungen des Auges in gerichtlicher Beziehung.“ Wiener med. Wochenschr. 1874, Nr. 5 u. ff., und als Broschüre Wien bei Braumüller. Ebenso O. Bergmeister, „Die Verletzungen des Auges mit besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse des Gerichtsarztes.“ Wiener Klinik. 1880, Heft 1 und 2 und Hasner, „Die Verletzungen des Auges in gerichtsärztlicher Hinsicht“ in Maschka’s Handb. d. gerichtl. Med. I, 307. Ohlemann, „Zur Frage der Aggravation von Augenverletzungen“. Zeitschr. f. Medicinalb. 1893, pag. 493 und 591 und Wilhelmi, ebenda pag. 591.
[315] Ein instructiver Aufsatz über Erkennung der Simulation einseitiger Amaurose von Schenkl findet sich auch im Prager ärztl. Correspondenzbl. 1875, Nr. 28. Von Haupt (Friedreich’s Blätter. 1887, pag. 433) u. A. wird die Anwendung farbiger Gläser empfohlen. Man gibt dem Betreffenden eine Brille, welche für das gesunde Auge ein rothes, für das angeblich blinde ein weisses Glas enthält und lässt ihn grüne Schrift auf schwarzem Grunde lesen. Der wirklich einseitig Blinde wird, da rothes Glas grüne Strahlen resorbirt, nichts sehen können, der Simulant aber wird die Schrift lesen und auch ihre Farbe angeben, weil er mit dem gesunden Auge zu lesen glaubt, während er thatsächlich mit dem anderen liest.
[316] Hassenstein, „Gerichtsärztliche Würdigung der Läsionen des Gehörorganes durch Schlag.“ Berliner klin. Wochenschr. 1871, Nr. 9; Urbantschitsch, „Das Hörorgan in forensischer Beziehung“. Wiener Klinik, 1880, Heft 1 und 2; Trautmann, „Verletzungen des Ohres in gerichtsärztlicher Beziehung“. Maschka’s Handbuch. I, pag. 379 und Sexton, Virchow’s Jahrb. 1887, I, 486. Hüttig, „Verletzungen des Ohres vom gerichtsärztlichen Standpunkt“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1891, VI, pag. 201.
[317] „Der Feldarzt.“ Beilage zur Allg. Wiener med. Ztg. 1875, Nr. 1–8. Hier sei bemerkt, dass Durchbohrung des Trommelfells auch als Selbstverstümmlung vorkommt. Karlinski (Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1888, pag. 66) berichtet über drei solche Beobachtungen.
[318] „Krankheiten des Halses.“ Pitha-Billroth’s Handbuch. III, I, pag. 58. Ebenso konnte Bert (Arch. de physiol. norm. et path. 1869) durch Zerdrücken der Trachea bei Thieren sofortigen Tod bewirken.
[319] „Zur Kenntniss der Entstehungsarten von Kehlkopffracturen.“ Wiener med. Wochenschr. 1887, Nr. 44 und 45.
[320] In den Berichten des Wiener Stadtphysikates aus den Siebziger-Jahren wird ein von Rokitansky secirter Fall mitgetheilt, wo bei einem älteren an Herzverfettung leidenden Mann, der sich erhängt hatte, eine Ruptur der linken Herzkammer gefunden wurde. Eine solche fand auch Haumeder einer mündlichen Mittheilung zufolge bei einem an Haemorrhagia cerebri gestorbenen Individuum. In der Pariser Société de médecine légale wurde im Jahre 1886 über einen von Monier (Annal. d’hygiène publ. XV, pag. 77) mitgetheilten Fall verhandelt, der ein angeblich erdrosseltes Kind betraf, bei dessen Section man eine unvollständige Querruptur der Vorderwand der linken Kammer gefunden hatte. Brouardel untersuchte das aufbewahrte Herz und fand, dass die Ruptur von einer ulcerösen Endokarditis und Myokarditis ausgegangen war und die Erhebungen machten es wahrscheinlicher, dass das Kind nicht erdrosselt, sondern aus seinem Bettchen herausgefallen war, neben welchem man es sterbend am Boden liegend gefunden hatte.
[321] Eine von uns obducirte, von einem Gerüst gestürzte Taglöhnerin starb erst nach 6 Stunden, obgleich die Obduction ausser intermeningealer Hämorrhagie und Rupturen der Leber und Milz, auch eine Ruptur des Herzbeutels und des linken Herzohres ergab. Nach Schuster (l. c.) erfolgte der Tod bei 82 Fällen von Herzrupturen 24mal augenblicklich, 29mal nach wenigen Minuten, so zwar, dass einzelne der Verletzten noch eine Strecke zu gehen oder zu laufen vermochten, in den übrigen Fällen erst nach längerer, selbst Stunden und Tage betragender Zeit. V. auch unseren Fall pag. 282. Isolirte Einrisse der Innenwand des Herzens oder des Septums sind selten, doch haben wir sie wiederholt, allerdings stets combinirt mit Verletzungen anderer Organe, beobachtet. Einmal fanden wir auch eine Zerreissung der mittleren Aortenklappe. Solche isolirte Einrisse können möglicherweise ausheilen. In einem von N. Rosenthal (Berliner klin. Wochenschrift. 1883, Nr. 15) mitgetheilten Falle hatte ein zwischen Puffer gerathener Arbeiter einen fingerweiten Riss des Septum ventriculorum durch 8 Tage überlebt.
[322] Ausführliche Angaben über die reiche Literatur des noch vielfach controversen Gegenstandes und Oppenheim’s eigene Untersuchungen finden sich in dessen Artikel „Railway-spine“ in der zweiten Auflage von Eulenburg’s Real-Encyclopädie. XVI, pag. 384, in jedem Jahrgang des Virchow-Hirsch’schen Jahresberichtes und in der von S. Placzek übersetzten Monographie von Page: „Eisenbahnverletzungen in forensischer und klinischer Beziehung.“ Berlin 1892. Vibert, „Traumatische Neurosen bei Kindern“. Virchow’s Jahresb. 1892, I, 459 und Derselbe, Knapp, Higier, ebenda 1893, 478. Besonders instructiv über den gegenwärtigen Standpunkt der Lehre von den „traumatischen Neurosen“ sind die am XII. Congress für innere Medicin vorgetragenen Referate A. Strümpell’s und K. Wernicke’s über diesen Gegenstand (Wiener med. Wochenschr. 1893, Nr. 23 und 25).
[323] Bei einem Manne, dem ein Zuckerhut auf die rechte Bauchseite gefallen und der unter Erscheinungen von Perforations-Peritonitis gestorben war, fanden wir Ruptur einer der linken Leistengegend anlagernden Schlinge des oberen Ileums. Die Ruptur war bohnengross und sass an der dem Gekrösansatze gegenüberliegenden Darmwand und ihr gegenüber fanden sich zwei dem Gekrösansatze parallel verlaufende, je 3 Cm. lange, zackige, mässig suffundirte Schleimhautrisse. Der Fall ist von Interesse, weil die Ruptur wahrscheinlich durch Contrecoup zu Stande gekommen ist und weil er beweist, dass ebenso wie im Magen, auch im Darm durch heftige Erschütterungen isolirte Schleimhautrisse entstehen können. Auch isolirte Einrisse des Peritonealüberzuges kommen vor.
[324] Roser hat seine Anschauungen in dieser Richtung in dem Satze zusammengefasst: „Wer nicht von Geburt aus eine Hernie hat, bekommt auch nie eine solche.“ Nach Wernher: „Geschichte und Theorie des Mechanismus der Bruchbildung“ (Langenbeck’s Archiv. XIV, 2. und 3. Heft) zeigt die äussere Leistenhernie, wenigstens beim männlichen Geschlecht, in den ersten fünf Lebensjahren die grösste absolute Verhältnisszahl der Frequenz, fällt aber von da an sehr rasch bis zum 10. Jahre und in einem grösseren Verhältnisse, als die Abnahme der Bevölkerungszahl erklären kann. Am Ende des zweiten Quinquenniums ist die Zahl der neuentstandenen Leistenhernien am kleinsten geworden, steigt aber von da wieder und erreicht bei beiden Geschlechtern in dem Alter von 25–30 Jahren die grösste absolute und relative Höhe.
[325] Friedreich’s Blätter f. ger. Med. 1873, pag. 26. Vide auch ein Gutachten von Nussbaum, ibid. 1869, pag. 156 und von Socin, Schweizer Correspondenzblatt. 1887, Nr. 18.
[326] Ein forensisches Interesse hat auch die Thatsache, dass fremde Körper verschiedener Art auch in unzüchtiger Absicht in den eigenen und fremden After eingeführt werden (Fälle vide u. A. bei Tardieu, Attent. aux moeurs. 1878, pag. 231, und den unerhörten von C. Majer in Friedreich’s Blättern f. gerichtl. Med. 1882, pag. 457, in welchem ein 16jähriges Mädchen aus Geilheit 4 Kindern durch Bohren mit den Fingern den Mastdarm zerrissen und das Gleiche auch an einer Kalbin und an einem jungen Schwein ausgeführt hatte). Von Verbrechern wird das Rectum nicht gar selten als Depôt für gestohlene Gegenstände, Feilen etc. benützt. (Albert, Lehrb. der Chir. III, 565.) Endlich gehört hierher auch die Simulation, respective künstliche Erzeugung von Mastdarmvorfall, wie sie von Tillenbaum bei galizischen Recruten beobachtet wurde. („Der Militärarzt.“ Nr. 7 und 8; Beilage zu Nr. 16 der Wiener med. Wochenschr. 1878.) Eine ausführliche Zusammenstellung von Mastdarmverletzungen bringt Mantzel, Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1893, V, 249. Einen 10 Cm. langen Mastdarmvorfall nach Quetschung der Kreuzbeingegend durch einen Scheunthorflügel hat Hirschberg (Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 14) beobachtet.
[327] Als Ursachen der Gangrän des Penis gibt Fournier (Le Semaine méd. 1883, Nr. 50) an: Diabetes (insbesondere Verletzungen bei Diabetikern), Typhus, Malaria, acute Exantheme, Trauma, Paraphimosis, Constrictionen durch Ringe, Ligaturen, Bajonnethülsen etc., Ligaturen des Präputiums (um Bettpissen zu verhindern, in einem Fall, um Befruchtungen zu vermeiden!), Phlegmone, fremde Körper in der Urethra. Ob nach übermässigem Coitus oder Onanie Gangrän entstehen könnte, lässt Fournier unentschieden. Eine seiner Beobachtungen spricht dafür: Ein junger Mann war nach mannigfachen Excessen im Bordell eingeschlafen und wurde während des Schlafes von einem Mädchen intensiv masturbirt. Am anderen Tage Gangrän, die Penis und Scrotum ergriff und am neunten Tage tödtlich endete. Fournier berichtet auch über einen Fall von foudroyanter Gangrän des Penis, für welche gar keine Ursache nachgewiesen werden konnte.
[328] Bezüglich dieser Apparate bemerkt Martin („Ueber Scheiden- und Gebärmuttervorfälle.“ Berliner klin. Wochenschr. 1872, IX, 30), dass schon Hohl die Ansicht zurückwies, dass die Gebärmutter von der Scheide getragen werde. Die eigentlichen Träger der Gebärmutter seien die an Muskelfasern sehr reichen Lig. sacro-uterina und pubo-vesico-uterina. Die Lig. uteri lata und rotunda sind ihrer Lage und Schlaffheit wegen zur Stütze des Uterus in Betreff des Höhestandes nicht geeignet.
[329] Uebrigens zeigen gerade solche Fälle die Dehnbarkeit des Begriffes der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“. Da wir nämlich zugeben müssen, dass bei allen Frauen, die bereits geboren haben, eine grössere Disposition zur Acquirirung von Vorfällen besteht, als bei solchen, die noch nicht entbunden haben, eine solche Disposition aber dann eine natürliche Folge physiologischer Vorgänge ist und daher ebenso wie Schwangerschaft und Geburt als ein im Bereiche des Normalen liegender Zustand aufgefasst werden muss, so könnte darüber gestritten werden, ob ein solcher Zustand noch als „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ im Sinne der Strafprocessordnung genommen werden kann, da das Gesetz höchst wahrscheinlich nur pathologische, nicht aber auch physiologische Zustände dabei im Auge gehabt haben mag, wenn auch viele dieser, wie z. B. das Pubertätsstadium, Wochenbett etc., zweifellos eine grössere Empfindlichkeit gegen gewisse Schädlichkeiten bedingen, als dies ausserhalb derselben der Fall ist.
[330] Auch bei forensischer Beurtheilung von Verletzungen der Genitalien ist die chirurgische Erfahrung im Auge zu behalten, dass nach Operationen an den Geschlechtsorganen, selbst nach geringfügigen, sich häufiger fieberhafte Zustände einstellen, als nach anderen. Es scheint, dass das Auftreten solcher Processe vorzugsweise mit einer acuten Erkrankung der Nieren zusammenhängt (acute Nephritis, Pyelitis), welche wieder der Aufnahme septischer Stoffe von der Wunde aus ihre Entstehung verdankt.
[331] Vide auch Högyes, „Ueber den Verlauf der Athembewegungen während der Erstickung“. Arch. f. experim. Path. 1876, und Stricker, Vorlesungen über allgemeine und experimentelle Pathologie. 1877, I, 177.
[332] Eine Reihe anderer derartiger Beobachtungen haben wir in der Wiener med. Presse, 1878, Nr. 11–12, zusammengestellt.
[333] Vide E. Hofmann, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXV, pag. 231; Eberty, Ebenda. 1892, III, pag. 175: Samenerguss mit Erection noch 4–6 Stunden nach dem Tode, und Heel, Ueber postmortale Ejaculationen. Dissert. Würzb. 1893.
[334] Kotelevski, Hoppe-Seyler u. A. Vide auch unsere Leichenerscheinungen. Eine Ausnahme macht der Tod durch Luftembolie, wie er namentlich nach Verletzungen der Halsvenen und post partum von den Uterusvenen aus erfolgen kann. Das Blut erscheint dann in den Luftblasen enthaltenden Gefässgebieten, besonders, wie wir erst unlängst bei einer Puerpera sahen, im rechten Herzen hellroth.
[335] Ueber das „Verhalten von Blutergüssen in serösen Höhlen“ hat Penzoldt (Arch. f. klin. Med. XVIII, pag. 642) interessante Versuche angestellt, welche ergaben, dass das in die Pleurahöhle und in den Bauchfellsack ergossene Blut nicht sofort gerinnt, sondern einige Zeit, selbst bis 24 Stunden, flüssig bleibt.
[336] Neuere Untersuchungen über die Ursache des Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und anderen Todesarten bringt Corin in der oben (pag. 369) citirten Arbeit.
[337] Experimentalpathologisches über das Lungenödem von Welch und S. Mayer s. Med. Centralbl. 1878, pag. 726. Wie schon Haller angab, hört das rechte Herz später zu schlagen auf als das linke und davon wurde auch die Häufigkeit des Lungenödems am Leichentische hergeleitet. F. Falk, Zur Pathogenese des Lungenödems (Virchow’s Archiv. 1883, XCI) scheint sich dieser Anschauung anzuschliessen, indem er zwei Fälle von Herzverletzung (Schuss des linken, Ruptur des rechten Ventrikels) bei jungen, gesunden Männern nebeneinanderstellt, die beide innerhalb ¼ Stunde zum Tode führten und hervorhebt, dass im ersten Falle Lungenödem, im zweiten aber keines gefunden wurde.
[338] Ueber diese Erscheinung vide insbesondere die Arbeit von Betzold und Gscheidlen: „Die Locomotion des Blutes durch die glatten Muskelfasern der Gefässe.“ Unters. aus dem Würzburger physiol. Laborat. 1867, II, Heft 347.
[339] Aehnliche Angaben in Virchow’s „Sectionstechnik“, 1876, pag. 38. Nach Strassmann’s Untersuchungen („Die Todtenstarre am Herzen.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1889, XLI, pag. 300) findet sich auch bei Erstickung, Blausäurevergiftung und mancher anderen gewaltsamen Todesart, selbst bei der Strychninvergiftung unmittelbar nach dem Tode das Herz beiderseits in Diastole, weich und blutgefüllt, ebenso wie bei dem Tode durch primäre Herzlähmung. Durch die Todtenstarre ändert sich aber dieses Verhältniss auch bei primärer Herzlähmung (wenn diese nicht durch parenchymatöse Degeneration veranlasst wurde) wesentlich, indem man dann den linken Ventrikel fest contrahirt und grösstentheils oder ganz seines Inhaltes entleert findet.
[340] Doch können solche wie Suffusionen aussehende Blutungen auch erst bei der Herausnahme der Brustaorta aus den dabei durchtrennten Gefässen, insbesondere den Intercostalarterien, entstehen.
[341] Observat. de suffocatis satura. 1753, und De infantibus in partu suffocatis. 1760; v. Schwarz, „Die vorzeitigen Athembewegungen“. 1858, pag. 20.
[342] „Sur le mécanisme de la production des ecchymoses sous-pleurales dans l’asphyxie aigue.“ Arch. de physiol. norm. et path. Januar 1894.
[343] Ueber den Entstehungsmechanismus der Verletzungen des Kehlkopfes und des Zungenbeins beim Erhängen. Wiener med. Blätter. 1882, Nr. 24 und 25.
[344] Beim typischen Erhängen ist der Kopf nach vorn, beim atypischen nach der dem Knoten entgegengesetzten Seite geneigt. In Folge dieses Umstandes ist das Kinn, respective die betreffende Seite des Unterkiefers dem Halse stark genähert, wodurch es geschehen kann, dass diese Theile auf den Rand des Hemdbesatzes oder des Hemdkragens etc. zu liegen kommen und gewissermassen gegen diesen angedrückt werden. Sind letztere steif, so können dadurch furchenartige Eindrücke entstehen, deren Deutung als Drosselmarken nicht unmöglich wäre!
[345] Der Bericht über diese Versuche findet sich in den „Mittheilungen des Vereines der Aerzte von Niederösterreich“ vom März 1876.
[346] Hierher gehören auch die Beobachtungen von Quincke und Wasylewski über mechanische Vagusreizung (Virchow’s Jahrb. pro 1875, II, 88 und pro 1876, I, 234).
[347] Doch müssen wir ausdrücklich bemerken, dass auch in Fällen, wo der sogenannte Knoten der Schlinge unmittelbar hinter dem Ohr lag, an der abgenommenen Leiche der entsprechende Eindruck, respective der Winkel der Strangfurchenenden vor dem Ohre liegen kann, weil, wenn die Leiche abgenommen wird, die zugeschnürt gewesenen Theile wieder in ihre frühere Lage zurückkehren. Man muss sich daher, um die Lage und den Verlauf des Stranges richtig zu verstehen, den Hals zugeschnürt, respective die Theile des Halses in jene Lage zurückgebracht denken, welche sie während der Suspension hatten.
[348] Casper und Liman haben niemals eine sugillirte Strangfurche gesehen, dagegen hat sie Neyding (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1871, XII, 349) fünfmal beobachtet, und zwar bei unzweifelhaften Selbstmördern.
[349] „Ueber die localen Befunde beim Selbstmord durch Erhängen.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1881, XXXV, pag. 201 (mit 2 Tafeln). Auch Nobiling (Aerztl. Intelligenzbl. 1884, Nr. 20) fand bei einem corpulenten Mann, der sich an einer mit Draht umflochtenen Rebschnur erhängt hatte und dabei etwa 15 Cm. hoch gefallen war, die Kopfnicker, die am Zungenbein sich inserirenden und die obersten hinteren Halsmuskeln zur Hälfte durchrissen und suffundirt.
[350] E. Hofmann, Ueber postmortale Rupturen des Sternocleidomastoideus. Wiener med. Wochenschr. 1888, Nr. 39.
[351] Literatur vide bei Simon: „Ueber die Zerreissung der Intima carotis bei Erhängten.“ Virchow’s Archiv. XI; ferner: Faber, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde.“ 1870, Heft 1. Neuere Beobachtungen dieser Art hat H. Friedberg publicirt und daran werthvolle Bemerkungen geknüpft („Gutachten“, pag. 222; P. Börner’s Deutsche med. Wochenschr. 1876, Nr. 16, 18 und 22, und Virchow’s Archiv. 1878, LXXIV).
[352] „Zur Kenntniss der Befunde am Halse von Erhängten.“ Wiener med. Presse. 1882, Nr. 48 u. ff.
[353] Näheres über die verschiedenen Hängemethoden v. G. Hammond: „On the proper method of executing the sentence of death by hanging.“ The New York med. Record. 1882, pag. 426. A. Calcins in den Berichten der gerichtsärztlichen Gesellschaft von New-York. 1882, pag. 254, und Friedreich, Handbuch der gerichtsärztlichen Praxis. 1844, II, 1218. Auch den Artikel „Hinrichtung“ in Eulenburg’s Real-Encyclopädie.
[354] Aehnlicher Befunde bei durch den Strang Hingerichteten erwähnt Taylor, l. c. II, 40.
[355] Ganz unmöglich ist die Sache nicht. Beweis dessen die sensationelle Affaire Gouffet (Virchow’s Jahresber. 1890, I, pag. 496), der in der Wohnung einer Prostituirten von dieser und ihren hinter einem Vorhang versteckten Geliebten in raffinirter Weise mittelst eines vorbereiteten Apparates aufgehängt wurde. Die Sache ging so schnell, dass, nach Geständniss der Thäter, G. keinen Laut von sich gab und keine Spur von Gegenwehr merken liess. Auch erwähnt v. Krafft-Ebing (Friedreich’s Blätter. 1893, pag. 393) einer schwachsinnigen Frau, die sich widerstandslos von ihrem Manne durch Erhängen auf einem Baumast tödten liess.
[356] Literatur über solche Fälle nebst Mittheilung eines Falles von Selbstmord, bei welchem Hände und Füsse gebunden waren und der Strick zwischen den Schenkeln durchgezogen war, findet sich in Bernt’s Beiträgen zur gerichtlichen Arzneikunde. IV, pag. 120. Taylor erwähnt eines Mannes, der sich vor dem Erhängen die Füsse mit einem Sacktuch zusammengebunden und ausserdem mit zwei Eisenstücken beschwert hatte.
[357] F. Strassmann (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLVI, 97) gelang es, postmortal einen hyperämischen Hautstreifen zu erzeugen, obgleich die betreffende Hautpartie hypostatisch nicht geröthet war. Trotzdem muss Hypostase bestanden haben, da trotz gewöhnlicher Stranganlegung die Erscheinung nur auf der einen Halbseite zu Stande kam. Bei 12 suspendirten Leichen erzielte Strassmann achtmal Fracturen der Kehlkopfhörner und eine Fractur des Zungenbeines; einmal war die Fractur etwas suffundirt! Aehnliche Resultate erhielt Patenko (l. c.).
[358] Seitdem haben wir aber wiederholt auch bei einem notorischen Selbstmörder einen ähnlichen Verlauf der doppelten Strangfurche beobachtet. Doch betrug die Distanz nur wenige Centimeter. Ferner fanden wir eine doppelte Strangfurche, trotzdem der Betreffende an einem einfachen Strick hing, bei einem Manne, der, wie die Localbesichtigung ergab, zuerst an einem Nagel und weil dieser ausgerissen war, an einem Comptoirgitter sich erhängt hatte. Erwähnung verdient auch hier der von Orfila (l. c. II, 357) notirte Fall, in welchem sich bei einem Erhängten deshalb eine horizontal um den Hals und eine zweite gewöhnlich verlaufende Strangrinne ergab, weil derselbe den Strang von hinten nach vorn um den Hals gelegt, die Enden am Vorderhalse gekreuzt, dann hinter den Ohren nach aufwärts geführt und daran sich suspendirt hatte. Solche Fälle haben wir wiederholt obducirt und ausserdem einen, wo sich zwei circulär und ziemlich parallel um den Hals verlaufende, zwischen Kehlkopf und Zungenbein sich kreuzende, im Nacken einen Querfinger von einander entfernte rinnenförmige Strangfurchen und noch eine dritte, wie beim typischen Erhängen verlaufende, ergaben, weil der Betreffende den Strick sich von vorn um den Hals gelegt, die Enden über den Nacken zurückgeführt, am Vorderhals gekreuzt und dann erst am Nagel befestigt hatte. Derartige Fälle wurden auch von Freund, Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 7, und Erhardt (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, 102) beschrieben und abgebildet.
[359] Da bekanntlich in verschiedenen Gewerben verschiedene Methoden der Knoten- und Schlingenbildung üblich sind (Seilerknoten, Matrosenknoten etc.), so wäre es denkbar, dass die Art der Knotenbildung den Thäter verrathen kann. Einen solchen Fall (Artillerieknoten) bringt Tardieu (Schmidt’s Jahrb. 1875, Nr. 2, 179). In unserer Sammlung besitzen wir eine Schlinge, woran sich eine „Seidenknüpferin“ erhängt hatte. Der Knoten daran ist ebenso kunstgerecht geknüpft, wie er sich an den Fransen von Shawltüchern zu finden pflegt.
[360] „Du suicide par strangulation sans suspension.“ Troyes 1851; Schmidt’s Jahrb. 1852, LXXV, 264.
[361] Zur experimentellen Pathologie des zehnten Gehirnnerven. Arch. f. experim. Path. 1883, VII. Siehe auch: Alpiger-Störck, „Shock nach Kehlkopfexstirpation.“ Langenbeck’s Archiv. 1890, XL, Heft 4, und Tamassia, „Sulla irritazione cardiaco-respiratoria di Brown-Séquard.“ 1891.
[362] Bei Neugeborenen können Hämatome unter der Scheide der Kopfnicker durch Torsion des Kopfes bei Selbsthilfe oder durch den Geburtsact als solchen entstehen. Aber auch bei Erwachsenen, die eines plötzlichen natürlichen Todes starben, haben wir sie wiederholt gesehen. Sie können zwar entstehen beim Zusammenstürzen durch zufällige Zerrung, sich aber auch postmortal mit Ruptur von Muskelfasern durch die auf pag. 533 erwähnten Manipulationen bilden.
[363] Ch. T. Hiecke, De suspensorum in vitam restitutorum morte subitanea ejusque causa, Jena 1799, hat bereits diese häufige Thatsache besprochen. Angaben über zwei in Wien Justificirte und auf der Anatomie wieder zu sich gekommene Gehenkte finden sich in der von Lamboy aus dem Lateinischen in’s Deutsche übersetzten Abhandlung Anton de Haen’s „Ueber die Art des Todes der Ertrunkenen, Erhängten und Erstickten“. Wien 1772, pag. 79.
[364] Moebius (Münchener med. Wochenschr. 1892, Nr. 36 und 1893, Nr. 127) hält die Krämpfe und die Amnesie für hysterische Symptome, die auch bei anderen Selbstmordsformen vorkommen und durch die heftige Gemüthserschütterung veranlasst werden, welcher Anschauung Wagner (ibid. 1893, Nr. 5 und pag. 129) widerspricht. Auch von Seydel (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, pag. 89) wird über Wiederbelebung einer Erhängten berichtet, bei welcher heftige eklamptische Anfälle, kleine und nach erlangtem Bewusstsein vollständige retroactive Amnesie beobachtet wurde.
[365] „Zur Lehre vom Ertrinkungstode.“ Virchow’s Archiv. XLVII.
[366] Leçons sur la Physiol. comparée de la respiration. Paris 1870; ausserdem Cerardini, „Della morte da sommersione“. Firenze 1873 und Bergeron und Montano, Annal. d’hygiène publ. 1877, pag. 332.
[367] Brouardel und Loye (Recherches expérim. sur la mort par submersion brusque. Arch. de Physiol. 1889, 1., 2. und 3.) bestimmten bei ihren Versuchen den Zeitpunkt und die Menge des Eindringens der Ertränkungsflüssigkeit durch graphische Darstellung an einer rotirenden Trommel. Sie notirten bei einem 25 Kilo schweren Hunde: in der 1. Phase (7 Sec.) Eindringen von 210 Ccm. Flüssigkeit; in der 2. (23 Sec.) war nichts eingedrungen; in der 3. (15 Sec.) 407 Ccm.; nach 2 Minuten folgten 45 Ccm., 90 in der 3. Minute und 30 in den restlichen 40 Secunden. Der grösste Theil wird daher in der 3. Phase innerhalb weniger Secunden eingeathmet.
[368] Nach Brouardel und Loye (l. c.) ist das Blut sofort nach dem Tode coagulirt, die Gerinnsel lösen sich aber nach dem Tode rasch. Die Flüssigkeit des Blutes sei daher nur eine Leichenerscheinung. Coutagne (1891) hat diese an sich unhaltbare Angabe durch positive Beobachtungen widerlegt.
[369] A. Paltauf (Berliner klin. Wochenschr. 1892, Nr. 13) versuchte dieses auf chemischem Wege und fand, dass selbst das Meerwasser trotz seiner 0·35 Procent Chlornatrium noch um mindestens ebenso viel an Salzgehalt hinter dem der Transsudate zurückbleibt.
[370] Zu den gewöhnlichen Befunden gehört bei Ertrunkenen ein Oedem der aryepiglottischen Falten. Ob dieses während des Ertrinkens oder, wie wahrscheinlich, erst postmortal durch Imbibition mit Wasser zu Stande kommt, ist noch unerwiesen.
[371] Bougier (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 529) hat dieses Verhalten an Leichen verfolgt, die in dem neuen Appareil frigorifique der Pariser Morgue in gefrorenen Zustand versetzt wurden. Bei frischen Leichen Ertrunkener fand er einen bis in die feinsten Bronchiolen reichenden Eisbaum, der in einem Falle kleine Pflanzentheilchen enthielt, und beträchtliche Eisklumpen im Magen, dagegen bei in fuchsingefärbtes Wasser oder in Jodkalium- oder Ferrocyankalium-Lösung gelegten und dann dem Gefrieren ausgesetzten Leichen die betreffenden Flüssigkeiten nur in den Bronchien, niemals aber im Lungengewebe oder im Magen.
[372] „Zur Verwerthung der Ohrenprobe für die Diagnose des Ertrinkungstodes.“ Friedreich’s Blätter. 1876, pag. 289.
[373] „Das Schleimhautpolster der Paukenhöhle beim Fötus und Neugeborenen und die Wreden-Wendt’sche Ohrenprobe.“ Wiener med. Blätter. 1883, Nr. 26 u. s. f.
[374] Es kann auch vorkommen, dass Jemand, der durch eine andere Ursache zusammenstürzt, unter Wasser oder eine andere Flüssigkeit geräth und erst in dieser stirbt. Alle jene Ursachen, welche in natürlicher Weise plötzliche Bewusstlosigkeit oder plötzlichen Tod bewirken können, wie Apoplexien, Herzlähmung, epileptischer Anfall, Ohnmacht u. dergl., können auch eintreten, während Jemand am oder im Wasser etc. sich befindet, und es ist insbesondere der natürliche Tod im Bade keine Seltenheit. Gleiches kann aber auch aus gewaltsamen Ursachen geschehen, so z. B. bei Kopfverletzungen oder wie beim Ausräumen von Cloaken durch giftige Gase. Da bei den Betroffenen, selbst wenn die Ursache des Zusammenstürzens für sich allein den Tod in wenigen Augenblicken zu bewirken im Stande gewesen wäre, doch die Agonie in der Flüssigkeit sich abspielt, insbesondere in dieser noch Athembewegungen erfolgen, so finden sich auch bei solchen Leichen die Zeichen des Ertrinkungstodes und es kann mitunter recht schwer sein, die Frage zu beantworten, woran der Untersuchte zunächst gestorben ist. Bei einer jungen, in ihrem von innen verschlossenen Badezimmer unter Wasser todt gefundenen Frau ergab sich auffallend rothes Blut und roth gefärbte Organe. Der Verdacht auf Kohlenoxydvergiftung wurde durch die spectrale Untersuchung bestätigt. Das giftige Gas stammte aus dem Heizapparat. Am 24. Januar 1881 obducirten wir einen im Eis des Donaucanals eingefroren gefundenen alten, marastischen Mann. Angeblich lag Selbstmord durch Ertrinken vor. Es fanden sich jedoch massenhafte Gerinnsel im Herzen und den grossen Gefässen, woraus auf einen protrahirten Tod geschlossen werden musste, und zwar entweder auf natürlichen Tod durch Marasmus oder auf Erfrieren. — Den Beobachtungen Naegeli’s zufolge (Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1880, Nr. 2) scheint die Ursache des Verunglückens Badender häufig darin zu liegen, dass, weil sie mit vollem Magen in’s Wasser gingen, während des Schwimmens Erbrechen und consecutive Aspiration des Erbrochenen eintritt.
[375] A. Paltauf (l. c.) weist auf diese Möglichkeit hin und wir haben einen zweifellosen solchen Fall bei einem 19jährigen Burschen beobachtet, bei welchem sich an beiden Oberarmen deutliche, vom Anfassen herrührende Spuren fanden (s. auch pag. 568).
[376] Einen interessanten Fall von bei einem im Wasser Verunglückten durch die Radschaufeln eines sich drehenden Mühlrades entstandener Gekrös- und Darmruptur bringt Kratter aus dem Grazer Institute für Staatsarzneikunde (Friedreich’s Blätter. 1877, 1); ebenso Beispiele von mannigfachen, insbesondere durch Dampfschiffsräder veranlassten Beschädigungen von Wasserleichen: Delens, „Des fractures etc. que l’on rencontre sur les cadavres retirés de la Seine.“ (Annal. d’hygiène publ. 1878, pag. 433).
[377] Hämmerle, Gesetzsammlung. 1869, pag. 57.
[378] Die Leichen Ertrunkener tauchen desto früher auf, je günstiger die Fäulnissbedingungen sind. Im Sommer kann dieses schon nach 2–3 Tagen, seltener schon nach einigen Stunden, geschehen, während im Winter die Leichen wochen- und monatelang unter Wasser bleiben können. Die Fettentwicklung, sowie die Menge der im Körper zur Zeit des Todes gewesenen Luft (Lungen- und Darmluft) ist hierbei ebenfalls von Einfluss. Enthielt der Körper keine Luft, wie z. B. bei todtgeborenen Kindern, so bleibt derselbe verhältnissmässig länger unter Wasser, als wenn Lungen und insbesondere der Darm Luft enthalten hatten. In manchen Fällen können Wasserleichen unter Flösse etc. gerathen, oder durch andere Gegenstände festgehalten werden, welche Möglichkeit ebenfalls in Betracht gezogen werden muss. Gleiches kann eine Beschwerung der Leiche bewirken, wie sie bei Selbstmördern, aber auch bei Beseitigung von Leichen vorkommt. Dass selbst raffinirte derartige Vorkehrungen das Aufsteigen der Leiche nicht absolut verhindern, beweist der im August 1882 in Paris behandelte Fall Aubert, dessen Leiche nach 11 Tagen auftauchte, obgleich sie von den Mördern mit Bleiröhren umwickelt, in die Seine geworfen worden war. Meistens scheint zuerst der Oberkörper aufzutauchen, einestheils wegen der Residualluft in den Lungen, anderseits wegen der raschen Gasentwicklung im subcutanen Zellgewebe des Oberkörpers. In einem von Freyer mitgetheilten Falle (Virchow’s Jahrb. 1886, I, pag. 506) stand die Leiche im Wasser, was zusammengenommen mit den übrigen Umständen des Falles den Verdacht erregte, dass die Untersuchte erdrosselt und dann in das Wasser gebracht worden war. In einem unserer Fälle war aber die Leiche eines in einem See Ertrunkenen 3 Tage darnach plötzlich neben einem Schiffer, der nach ihr gesucht hatte, aufgetaucht und stand senkrecht im Wasser. Ob die Leiche mit dem Rücken oder mit der Vorderfläche nach oben gekehrt im Wasser schwimmt und schliesslich auftaucht, wird vielleicht von Zufälligkeiten abhängen. Lacassagne (Virchow’s Jahrb. 1891, I, pag. 520) behauptet, dass bei weiblichen Leichen meistens letzteres, bei männlichen ersteres der Fall ist, da sich bei jenen meist die Fersentheile, bei diesen meist die vorderen Partien der Beschuhung abgewetzt finden. Auf der Wiener Naturforscherversammlung hat Haberda über das Auftauchen der Wasserleichen und darüber angestellte Beobachtungen berichtet.
[379] Mitunter werden die fester haftenden Haare an oder in der Haut abgerissen oder abgebrochen, wodurch die Hautstelle ein wie rasirtes Aussehen erhalten kann, ein Umstand, der bekanntlich im Tisza-Eszlár-Fall eine Rolle spielte. Siehe unser Gutachten darüber, sammt Abbildungen einer solchen Kopfhaut aus unserer Sammlung in der Wiener med. Wochenschr. 1883, Nr. 25 u. ff.
[380] Das Schwurgericht Osnabrück fällte am 9. März 1878 das Todesurtheil über eine Frau, welche den vier Wochen alten Knaben ihrer Tochter dadurch getödtet hatte, dass sie ihm einen zugespitzten Flaschenkork in den Rachen einpresste.
[381] Schmidt’s Jahrb. 1852, LXXIV, 242. Ebenso Versuche von Mattysen, Tardieu, sowie der med.-chir. Gesellschaft in London in Tardieu’s: „Sur la pendaison etc.“, pag. 292 u. ff., daselbst, sowie in Casper-Liman’s Handb. II, 633, einschlägige Fälle.
[382] Roth und Lex, Militärgesundheitspflege. 1875, II, 557.
[383] O. Schultze, „Zur Lehre vom Stoffwechsel bei Inanition“. Arch. f. Anat. 1863, pag. 31; ebenso F. A. Falk, l. c. Eine fleissige Zusammenstellung der „Veränderungen der Gewebe durch Inanition“, insbesondere der Atrophie der Leber, enthält die Dissertation von G. Kulisch, Halle 1891.
[384] So in England im berüchtigten „Penge-Fall“ 1877 und im Process gegen die Familie Barms, die der gewerbsmässigen Kindervertilgung angeklagt war (Prager med. Wochenschr. 1879, pag. 399).
[385] Eine ausführliche Darstellung der Theorien über die Ursache der Insolation findet sich in dem Werke von Jakubasch, „Sonnenstich und Hitzschlag“. Wien 1881.
[386] Wiener med. Wochenschr. 1867, pag. 144. Siehe auch die Arbeiten von Fraenkel, Deutsche med. Wochenschr. 1889, Nr. 2 und Silbermann, Med. Centralbl. 1889, Nr. 29.
[387] Ueber Verbrennungen durch schlagende Wetter, ein Mal 22, das andere Mal 14 Kohlengrubenarbeiter betreffend, berichtet K. Franz, Zeitsch. d. böhm. Aerzte. 1885, pag. 212 u. s. f., ferner Bourget, Virchow’s Jahresb. 1877, II, 229.
[388] Prager Vierteljahrschr. 1864, LXXXII, 114.
[389] Gröberen durchscheinenden Gefässnetzen begegnen wir auch bei postmortalen und dann vertrockneten Hautaufschürfungen.
[390] Wiener med. Wochenschr. 1875, Nr. 19 und 20, dann 1876, Nr. 7 und 8; ferner Blumenstok, Ibid. 1876, Nr. 15 und 16 und Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 347; Jastrowitz, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXII, pag. 1; die ausführliche Zusammenstellung der Befunde nach Verbrennung von Schjerning (Ibid. XLI und XLII) und die Arbeiten aus unserem Institute über den Befund an den Wiener Ringtheaterleichen.
[391] Zusammenstellung der Arbeiten von Graff, Günsburg, Bischoff und Maschka vide in Schmidt’s Jahrb. 1853, I, 105.
[392] In Sédillot’s „Journ. génér. de méd.“ März 1813.
[393] Laut eines von Anderle in der Sitzung der Section für öffentliche Gesundheitspflege des Wiener med. Doctoren-Collegiums vom 7. Jänner 1885 vorgetragenen Protokolls über die „Feuerbestattung“ einer Frau dauerte die Verbrennung 1 Stunde 24 Minuten und das Gewicht des grössten Theils aus ganz kleinen Knochenstückchen bestehenden Rückstandes betrug 1·5 Kgrm. — Aus Anlass des Processes Pel haben Brouardel und L’Hôte (Annal. d’hygiène publ. 1886, pag. 12 und 106) sich durch den Versuch überzeugt, dass man in einem eisernen Kochherd binnen 40 Stunden eine ganze, etwa 60 Kgrm. schwere, zerstückelte Leiche verbrennen könne, wobei etwa 6 Kgrm. Asche zurückblieb, und sich nach aussen kein auffälliger Geruch entwickelte. Die auf den französischen Schlachtfeldern angestellten Versuche, Thiercadaver durch Begiessen mit Theer und Petroleum zu verbrennen, haben entgegen den Angaben Créteur’s ungünstige Resultate ergeben, da es der Metzer Commission selbst nach fünfstündiger Bemühung und nachdem wiederholt Theer und Petroleum aufgegossen worden war, nicht gelang, Pferdecadaver vollständig zu verkohlen (Roth und Lex, l. c., I, 556.
[394] Ausführliches über „Blitzschlag“ vide unseren gleichbezeichneten Artikel in Eulenburg’s „Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde“ und in Oesterlen’s Arbeit über diesen Gegenstand in Maschka’s Handb. I, 795. Auch Eberty: „Ueber Blitzverletzungen.“ Deutsche med. Wochenschr. 1891, Nr. 37. Mit lithographirten Abbildungen, und die Monographie von Vincent: „Médecine légale des accidents de la fondre 1892. Gaz. des hôp. Nr. 98–138.
[395] Ausser den einschlägigen Arbeiten von Krajewski, Blosfeld, Samson-Himelstiern, Dieberg, Hoeche und Ogston siehe die von Pouchet (Med. Times. December 1865); De Crecchio („Della morte pel freddo.“ Morgagni 1866); Beck, Deutsche Klinik. 1868, Nr. 6–8; Wertheim, Wiener med. Wochenschr. 1870, Nr. 19–23; Horwath, „Beiträge zur Wärme-Inanition“. Allg. Wiener med. Ztg. 1870, Nr. 38 und 41; Colemann und M’Kendwick (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 239), die Angaben von Landois in seinem Lehrb. d. Physiol., pag. 413 und Paniénski, Virchow’s Jahresb. 1890, I, 490.
[396] Med. Centralbl. 1873, pag. 33.
[397] Der von der Vorschrift für die gerichtliche Todtenbeschau vom 28. Jänner 1855 im §. 105–107 vorgeschriebene Vorgang bei der Untersuchung des Magens und Mageninhaltes und bei der Uebergabe der Leichentheile an den Chemiker ist im Wesentlichen analog mit den sofort auszuführenden Bestimmungen des §. 22 des preussischen Regulativs vom Jahre 1875 und wir beschränken uns um so mehr auf diese hinzuweisen, als sie dem gegenwärtigen Standpunkt der Toxicologie mehr angepasst sind als jene. Auf die besonderen Bestimmungen bei Vornahme von Exhumationen werden wir zurückkommen.
[398] Der Einfluss dieses Momentes ist insbesondere bei Digitalis und Aconitum bekannt, und es wird behauptet, dass Linné in Lappland Aconitumkraut als Gemüse verspeist haben soll. (Virchow’s Jahrb. 1875, I, 452.)
[399] Dass Substanzen erst durch das Vehikel zu Giften gemacht werden können, zeigt das Amygdalin, welches für sich allein nicht giftig ist, jedoch in Mandelmilch gebracht, durch das darin enthaltene Emulsin schnell in Zucker, Bittermandelöl und Blausäure zerfällt.
[400] Gegenüber Strychnin scheinen sich die Verhältnisse anders zu gestalten, da nach Falck in Kiel (Arch. f. d. ges. Physiologie. XXXIV, pag. 531) bei neugeborenen Kaninchen nicht blos die krampfmachende, sondern auch die letale Dosis eine auffallend höhere ist als bei erwachsenen.
[401] Vide Werber über Arsenikesser. Deutsche Klinik, 1870, 19; ferner die Berichte der Grazer Naturforscherversammlung. Binz und Schulz, Arch. f. exper. Path. XI, 223 und Knapp, Med.-chir. Rundschau. 1886, 1. Heft. Dass das „Arsenikessen“ auch vor Gericht eine Rolle spielen kann, beweist der von Dittrich (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. VIII, Suppl. pag. 212) begutachtete Fall, in welchem ein Mann wegen Giftmord zum Tode verurtheilt, in einer neuerlichen Verhandlung jedoch einstimmig freigesprochen wurde, weil sich durch verlässliche Zeugen herausstellte, dass der Verstorbene Arsenik als Genussmittel zu nehmen pflegte.
[402] L. Herrmann, Lehrb. d. exper. Toxicologie. 1874, pag. 94.
[403] Bemerkenswerth ist, dass auch schwere entzündliche oder infectiöse Erkrankungen latent verlaufen und nachdem die Krankheit bereits einige Zeit gedauert hatte, zum unerwarteten, selbst plötzlichen Tode führen können. Vom Typhus ist dies längst bekannt, unseren Erfahrungen zufolge gibt es aber ebenso wie einen Typhus ambulatorius auch eine Pneumonia, eine Peritonitis und selbst eine Meningitis ambulatoria, da uns vorgerücktere Stadien aller dieser Erkrankungen bei Individuen vorkamen, die plötzlich — einzelne davon mitten in ihrer Arbeit — gestorben waren, ohne bis dahin besonders auffällige Erscheinungen gezeigt zu haben. Am häufigsten scheint die Pneumonie einen solchen latenten Verlauf zu nehmen. In den hierher gehörigen Fällen von Meningitis handelte es sich stets um Meningitis cerebrospinalis und in einem derselben war der kräftige, junge Mann, als er sich zur Arbeit begeben wollte, auf der Strasse zusammengestürzt und in einigen Augenblicken gestorben. Auch Lesser erwähnt im 1. Heft seines Atlas der gerichtl. Med. einer Person, die plötzlich beim Waschfass gestorben war und wo sich als Todesursache Peritonitis nach Ulcus perforans ergab. Dass auch schwere chronische lebenswichtige Organe betreffende Processe latent verlaufen können, zeigt u. A. ein während der Vorstellung plötzlich gestorbener Circus-Clown (!), bei dessen Section ein colossaler Hirntuberkel als Todesursache gefunden wurde.
[404] Langerhans, Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 48. Ungar, Tagblatt der Wiener Naturforscherversammlung, pag. 299 u. Wachholz, ebenda.
[405] Vertretung von Kalksalzen der Knochen durch isomorphe Blei- und Barytsalze und die Vertretung von phosphorsauren Salzen durch isomorphe arsensaure. Lud. Herrmann, l. c. 44.
[406] Ueber die Schicksale dieser im Organismus sind die Acten keineswegs geschlossen. So wird von Boyer (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 562) unter Berufung auf Vulpian eine Zersetzung des Strychnins im Blute als wahrscheinlich angenommen, von J. Kratter („Untersuchungen über die Ausscheidung von Strychnin durch den Harn.“ Wiener med. Wochenschr. 1882, Nr. 8 u. ff.), sowie von Ipsen („Untersuchungen über das Verhalten des Strychnins im Organismus.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1892, IV, pag. 15) in Abrede gestellt. Morphin wird nach Landsberg (Pflüger’s Arch. XXIII und Eliassow, Diss., Königsberg 1882) bei kleinen Gaben im Organismus völlig zersetzt und nur bei grösseren lässt sich unzersetztes Morphin im Harn nachweisen. Auch Donath (Wiener med. Presse. 1886, pag. 587) hat Gleiches gefunden. Neuere Untersuchungen über den Gegenstand von Pellacani s. Virchow’s Jahresb. 1892, I.
[407] Solche Verfärbungen sind nicht mit unschuldigen von Nahrungs- und Genussmitteln herrührenden zu verwechseln. So können grüne ausser von Galle von grünem Gemüse, rothe und violette von Weinbeeren, Rothkraut, Hollunderbeeren, rothen Rüben u. dergl. stammen. In dem gewöhnlich in saurer Gährung begriffenen Inhalte des Coecum und Colon ascendens, wo die Nahrungsstoffe auch länger verweilen, lösen sich die betreffenden Farbstoffe besonders intensiv und färben dann durch Imbibition die betreffenden Darmschlingen und das anstossende Peritoneum mitunter ganz auffallend wein- oder anilinroth, wegen welcher Färbung in einem uns mitgetheilten Falle von den Obducenten an eine Anilinvergiftung gedacht und deshalb die chemische Untersuchung eingeleitet worden war.
[408] Die anatomischen Veränderungen des Verdauungscanales durch Aetzgifte. Virchow’s Archiv. LXXXIII, pag. 193.
[409] Grosse Mengen wässerigen Mageninhaltes können bei schwacher Concentration des genommenen Aetzgiftes dasselbe so verdünnen, dass wohl Verätzung der Schleimhaut des Oesophagus, aber nicht mehr die des Magens erfolgt, so dass letztere entweder ganz intact bleibt oder nur irritative Veränderungen zeigt. Gleiches kann geschehen, wenn das Gift chemisch durch den Mageninhalt gebunden oder neutralisirt wird. Auch kann es unter solchen Umständen geschehen, dass die obere concentrirtere und noch ätzungsfähige Schichte des Mageninhaltes durch schnell eintretende Contraction des Magens noch in den Dünndarm gelangt, so dass im letzteren noch Verätzungen gefunden werden können, obgleich die Magenschleimhaut verhältnissmässig wenig beschädigt ist. In der That bewahren wir in unserer Sammlung den Magen eines 53jährigen Mannes, der 9 Wochen vor dem Tode Salzgeist (Salzsäure) irrthümlich statt Rum getrunken hatte, in welchem Falle die Schleimhaut des Magens mehrere longitudinale, schmale, in Form eines 3–10 Mm. breiten, fast continuirlichen Streifens entlang der kleinen Curvatur, von der Cardia bis zum Pylorus ziehende und dort mit einer Ausbreitung endigende, in Verheilung begriffene Substanzverluste zeigt, während im übrigen Magen mit Ausnahme einiger unbedeutender Narben an der Hinterwand des Fundus normale, im Duodenum aber wieder mit Narben durchzogene Schleimhaut sich findet.
[410] Letztere können ausser durch Inanition auch durch Perforation zum Tode führen, welche allerdings auch durch forcirte Sondirung, aber auch ganz unabhängig von dieser durch Geschwürs- oder Divertikelbildung, durch entzündliche Erweichung und durch periösophageale Abscesse zu Stande kommen kann. Solche Vorgänge können längere Zeit latent bestehen und es kann ihr Durchbruch zufällig mit einer Sondirung zusammenfallen oder die Perforation mit der Sonde dadurch wesentlich begünstigt werden. Bei Beurtheilung angeblich in dieser Richtung begangener „Kunstfehler“ ist daher besondere Vorsicht angezeigt. Eine einschlägige Beobachtung von Schuberg wurde in Friedreich’s Bl. 1888. pag. 199 und mehrere andere von uns mitgetheilt: Zeitschr. f. Medicinalbeamte. 1888, pag. 353.
[411] Vide u. A. Kossel, „Zur Kenntniss der Arsenwirkungen“. Arch. f. exp. Path. 1876, V, pag. 135, und Fränkel, „Ueber den Einfluss der verminderten Sauerstoffzufuhr zu den Geweben auf den Eiweisszerfall im Organismus.“ Med. Centralbl. 1875, pag. 739, und Virchow’s Archiv, 1876, LXVIII.
[412] Auch die acute Fettdegeneration bei Neugeborenen und Wöchnerinnen ist zu beachten. Vide Buhl, Klinik der Geburtskunde. 1861, I, pag. 296. Hecker, Monatsschr. f. Geburtskunde. 1867, pag. 321 und Arch. f. Gynäk. 1876. X, 537.
[413] Es empfiehlt sich, eine ganze Niere und etwa ein Drittel der Leber zu nehmen, was wir ausdrücklich bemerken, weil in einem hierher zur chemischen Untersuchung gelangten Falle von beiden Organen nur ein nussgrosses Stückchen eingeschickt worden war.
[414] Gorup-Besanez fand in der Leiche einer Frau, welche Spiegelarbeiterin gewesen, aber bereits über ein Jahr vor ihrem Tode den Dienst verlassen hatte, noch deutliche Spuren von Quecksilber. Schmidt’s Jahrb. 1850, II, 144.
[415] Auch vor der Beerdigung können auf und in die Leiche Giftstoffe hineingelangen, so durch „Balsamirung“, dann aber auch durch Desinfection der Leiche mit Carbolsäure, Sublimat u. dergl.; diese Stoffe können dabei auch in die Schling- und Respirationswege und von da durch nachträgliche Imbibition tiefer hineingelangen.
[416] Handbuch der gerichtl. Chemie. 1869, pag. 144 u. s. f. Ferner „Ueber die Verbreitung des Arseniks in der Natur“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., 1870, XIII, 169.
[417] Bekanntlich wurde zur „Einbalsamirung“ (Conservirung) der Leichen häufig Arsenik verwendet. Ein solcher Vorgang macht nicht blos die Erkennung einer stattgehabten Arsenikvergiftung bei der betreffenden Leiche unmöglich, sondern kann auch Arsenik in die Friedhofserde bringen. So berichtet Edling (Monatsblatt für öffentl. Gesundheitspflege und med. Statistik. Beilage zur Deutschen Klinik. 1874, Nr. 3), dass in Stockholm ein ganz enormer Consum von Arsenik zur Conservirung von Leichen stattfinde, dass im Jahre 1872 allein etwa 110 so conservirte Leichen begraben wurden, und dass, da für jede Leiche durchschnittlich 278 Grm. Arsenik gebraucht werden, jährlich etwa 63 Pfund Arsenik in die Friedhofserde gelangen! Seit 1876 ist dieser Vorgang verboten. — Die Thatsache, dass auch durch die Leichen Vergifteter mineralische Gifte der Friedhofserde zugeführt werden, ist insbesondere bei den Friedhöfen grösserer Städte und solchen mit bereits wiederholtem Turnus nicht ausser Acht zu lassen.
[418] Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1872, XVI, 328.
[419] „Vergiftung mit Atropin durch Kaninchenfleisch.“ Med. Centralbl. 1865, 832.
[420] Diese Reaction ist bereits von Joh. Andreas Scherer angegeben worden: Abhandl. der böhm. Ges. der Wissensch. auf das Jahr 1876, pag. 254–271 und Wiener med. Jahrb. 1832, II, pag. 353.
[421] Med. Centralbl. 1875, pag. 176 und Friedreich’s Bl. 1876, pag. 166.
[422] Med. Centralbl. 1876, pag. 228.
[423] Das Leuchten von aufbewahrten Nahrungsmitteln im Dunkeln wird mitunter durch Mikroorganismen veranlasst (Forster und Tilanus, 1888). Wir haben dasselbe unlängst an noch ziemlich frischen Kalbsknochen beobachtet.
[424] In einem unserer Fälle hatte ein 3jähriges Mädchen seinem in der Wiege liegenden Brüderchen Laugenessenz zu trinken gegeben, welche unter dem Bette stand, ebenso in einem zweiten ein 4jähriges Mädchen ihrer 1½ Jahre alten Schwester Scheidewasser, welches zum Putzen einer Uhrkette gekauft worden war.
[425] Eine zufällige Vergiftung von Mutter und Kind durch mit einem Klysma beigebrachte Schwefelsäure theilt Deutsch mit (Schmidt’s Jahrb. 1849, LXIII, 174). Wir haben einen gleichen Fall bei einem Kinde beobachtet, und einer, der eine gelähmte Frau betraf, welcher möglicherweise das Schwefelsäure-Klysma nicht irrthümlich, sondern absichtlich gesetzt worden war, findet sich in der älteren Literatur.
[426] Auch die unvorsichtige Darreichung von Gegenmitteln kann Erstickung bewirken, da wir mehrmals Kehlkopf- und Luftröhre bis tief in die Bronchien mit einem Brei von Magnesia usta ausgefüllt fanden, welche allzu hastig und nur unvollständig mit Wasser verrührt gegeben worden war.
[427] In einem sehr acuten Falle, wo offenbar grosse Mengen der Säure genommen worden waren (die Abends noch gesunde Frau war früh todt in ihrem Bette gefunden worden und vom Magen waren nur Fetzen vorhanden), waren die Todtenflecke auffallend hellroth, so dass anfangs an Kohlenoxydvergiftung gedacht wurde und das Blut himbeergeléeartig, welche Farbe das Blut auch im Reagensglase erhält, wenn es mit concentrirter SO3 versetzt wird.
[428] Diese kann Salpetersäurevergiftung vortäuschen, wie ein von Wunschheim publicirter Fall zeigt (Virchow’s Jahresb. 1891, pag. 520).
[429] Auch forensisch bemerkenswerth ist das Absterben von Fingern und Zehen nach unvorsichtiger äusserer Anwendung von Carbolsäure. Nach Freyer (Zeitschr. f. Medicinalb. 1891) kann dieses auch schon nach 2–3procentigen Lösungen erfolgen.
[430] Stokvis in Amsterdam (Arch. f. exp. Path. XXI, 169) negirt diese Reduction und Methämoglobinbildung, letztere erfolge vielmehr erst am abgestorbenen Blute und sei nur ein postmortales Phänomen. Die giftigen Eigenschaften des Kali chloricum beruhen nach ihm theils auf der Kaliwirkung (Kalisalpeter bewirkt in einer Dosis von 25 Grm., Kaliumsulfat in einer solchen von 37·5 Grm. den Tod unter ähnlichen Erscheinungen wie Kaliumchlorat in einer Menge von 30 Grm.), theils sei sie keine andere wie die der Salze überhaupt, auch des gewöhnlichen Kochsalzes, von welchem 8–10 Grm. auf ein Kilo Thier tödtlich wirken. Durch neuere Untersuchungen von Marchand u. A. (siehe diese zusammengestellt in Virchow’s Jahrb. 1888, I, 389) ist jedoch die vitale Bildung des Methämoglobins ausser Zweifel gesetzt. Mittenzweig (Zeitschrift f. Medicinalb. 1888, pag. 265) konnte in einem Falle auch das Auftreten kernhaltiger rother Blutkörperchen constatiren.
[431] Von den 63 Selbstmorden durch Gift, welche im Jahre 1874 in Wien vorkamen, wurden 32 durch Cyankalium, 11 durch Schwefelsäure, 6 durch Laugenessenz, 7 durch Phosphor, 5 durch Morphium und nur 2 durch Arsenik bewerkstelligt; und von den 1875 vorgekommenen (57) 1mal durch Blausäure, 7mal durch Cyankalium, 3mal durch Morphium, 2mal durch Strychnin, 6mal durch Schwefelsäure, 1mal durch Ammoniak, 11mal durch Kalilauge und 6mal durch Phosphor. Eine Arsenikvergiftung kam nicht vor, dagegen zweimal im Jahre 1876.
[432] „Die Gifte“, übersetzt von Seydeler, II, 196.
[433] Ueber die Ursache der Arsenikwirkung existirt eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten. So von Böhm und Unterberger (Arch. f. exp. Path. II, 89), von Lesser (Virchow’s Arch. 74. Bd.), Binz und Schulz (Arch. f. exp. Path. XI, 212, XIV, 345, XV, 322), Filehne (l. c.), Dogiel und Vrijens (Virchow’s Jahresb. 1881, I, 411) und Pistorius (Arch. f. exp. Path. XVI, 188). Letzerer fand bei Hunden und Katzen nach Application per os als auffälligste Veränderung pseudomembranöse Auflagerungen, welche den Dünndarm in grösserer oder geringerer Ausdehnung überziehen und durch reichliche subepitheliale Transsudation einer leicht gerinnbaren fibrinösen Flüssigkeit entstehen.
[434] Virchow’s Arch. XLVII, ferner E. Hofmann (Arsenikvergiftung für Cholera gehalten) ibidem, 4, 455. In einem von uns begutachteten Falle, der eine nach 8 Jahren exhumirte Frau betraf, war der Tod zur Cholerazeit erfolgt und deshalb nicht aufgefallen.
[435] Unter 6 von Prof. Ludwig untersuchten Fuchsinsorten fand sich nur eine arsenfrei; die übrigen enthielten 0·3–0·5 Procent arsenige Säure. (Vide E. Hofmann und Ludwig, „Ein Fall von chronischer Arsenikvergiftung“. Wiener med. Jahrb. 1877.)
[436] Stadelmann, „Die Arsenwasserstoffvergiftung“. Ein weiterer Beitrag zur Lehre vom Icterus. Arch. f. exp. Path. XIV, 221.
[437] Nach Hessler, welcher auf Grund von 48 eigenen Beobachtungen die klinischen Symptome der Phosphorvergiftung zusammenstellte (Vierteljahrschrift für gerichtl. Med. XXXV, 248), trat das Erbrechen meist in den ersten 24 Stunden, nur ausnahmsweise am 2. bis 4. Tage ein. Nur 6mal wurde Phosphor erbrochen, einmal war dieser im diarrhoischen Stuhl nachweisbar.
[438] Hessler beobachtete 26mal Icterus, und zwar 3mal am 2., 11mal am 3., je 3mal am 4. und 6., 2mal am 5. Tage. Petechien in der Haut kamen 3mal vor. Sehr häufig trat am 2. bis 3. Tage eine Besserung ein, die 1 bis 2 Tage dauerte, worauf abermals Verschlimmerung, insbesondere neuerliches Erbrechen. Diarrhöe trat nur 7mal ein, 16mal bestand Verstopfung. 3mal traten Blutungen aus der Nase und 5mal bei Frauen Blutungen aus den Genitalien auf. Der Tod trat ein nach 1 Tage in 3, nach 2 in 1, nach 3 in 3, nach 4 in 8, nach 5 in 7, nach 6 in 3, nach 7 in 4, nach 8 in 1, nach 9 in 3, nach 10 in 2, nach 11 in 3, nach 12 und 15 Tagen in je 2 Fällen.
[439] Ein solcher auch durch den Befund in den Nieren interessanter Fall kam uns im März 1887 vor. Er betraf einen 26jährigen kräftigen Mann, wahrscheinlich Potator, welcher Abends, wie es schien, in schwer berauschtem Zustande in’s Spital gebracht worden war und grosse Mengen stark nach Wein riechender Flüssigkeit erbrach, die Nacht hindurch schlief und am Morgen sich ruhig verhielt, dann aber zu toben anfing, so dass er, weil er sich auch den Hals abzuschneiden versuchte, auf die psychiatrische Abtheilung gebracht werden musste, wo er in Coma verfiel und am Abend starb. Während des Transportes gab er an, Phosphorpasta genommen zu haben. Die Obduction ergab zahlreiche und grosse Ecchymosen im subcutanen Zellgewebe zwischen den Schulterblättern, im hinteren Mediastinum, unter der parietalen Pleura und unter dem Pericard, trübe Schwellung in Oesophagus und Magen, fettige Degeneration der Thoraxmusculatur, des Herzens und der Leber, aber keinen Icterus und auch im Darm gallig-gefärbten normalen Inhalt, in welchem Phosphor chemisch nachgewiesen wurde. Die Nieren zeigten äusserlich normale Färbung und mikroskopisch nur mässige parenchymatöse Degeneration, dagegen waren die Pyramiden besonders in den Spitzenantheilen eigenthümlich bleich und ähnlich wie dies bei den Harnsäureinfarcten der Säuglinge der Fall ist, strahlig gestrichelt, und zwar durch ein bleiches, in den geraden Harncanälchen abgelagertes, ausstreifbares Sediment, welches fast nur aus Phosphaten und Fetttropfen bestand. Auch der spärliche Harn in der Harnblase, der leider verloren ging, zeigte ein kalkwasserartiges Aussehen.
[440] Virchow’s Jahrb. 1876, I, 404, insbesondere aber Med.-chir. Centralbl. 1879, Nr. 32 (4 Fälle von P.-Vergiftung mit Genesung aus Halla’s Klinik in Prag).
[441] Der Icterus kann ausnahmsweise auch bei protrahirteren Fällen nicht vorhanden sein. So fehlte er in einem von Reichel (Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 9) publicirten, von Kolisko secirten Fall, obwohl der Tod erst 72 Stunden nach dem Genuss von in Oel aufgelösten Köpfchen von 18 Päckchen Zündhölzchen eingetreten war. Reichel leitet dies von der Compression des Ductus thoracicus durch massenhafte Ecchymosen ab. Der Tod war unter Erscheinungen der Vaguslähmung (Tachykardie, Singultus) erfolgt und beide Vagi waren mit massenhaften Blutaustritten durchsetzt. Auffallender Weise zeigte auch keiner der von Corin und Ansiaux (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, 1) subacut vergifteten Hunde Icterus.
[442] Den Untersuchungen von Corin und Ansiaux zufolge ist das Blut nur bei subacuten Phosphorvergiftungen flüssig. Es zeichnet sich durch Mangel von Plasmafibrinogen, Fibrinferment und Prothrombin aus.
[443] Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. 1876, Nr. 23.
[444] L. Herrmann, l. c. 239. Da wässerige Aufgüsse von Phosphor (Zündhölzchen) nicht selten zur Vergiftung benützt werden und die Giftigkeit dieser bezweifelt wurde, hat Fischer (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876, XXV, 41) Versuche angestellt und gefunden, dass solche wässerige Aufgüsse, selbst wenn sie wiederholt colirt wurden, noch im Dunkeln stark leuchteten und eine Menge suspendirter feinster Phosphorpartikelchen enthielten.
[445] Beachtenswerth ist die von unserem Collegen Ludwig gemachte, noch nicht publicirte Beobachtung, dass der gewöhnliche Phosphor ansehnliche Mengen von Arsen enthält.
[446] Tardieu, l. c. 500; ein anderer Fall, in welchem 60 Grm. Laudanum auf nüchternem Magen genommen wurden und trotzdem erst nach 1½ Stunden Erbrechen eintrat, doch weder der Tod, ja nicht einmal Schlaf sich einstellte, ist von Dobbie im Brit. med. Journ., 9. Juli 1870, pag. 33, mitgetheilt worden.
[447] Morphium sowohl als seine neutralen Salze geben mit neutralem Eisenchlorid eine schön blaue Färbung. Bringt man zu den Krystallen oder ihren Lösungen Chloroform und ein Körnchen Jodsäure, so färbt sich ersteres beim Schütteln violett, da Morphium das Jod aus Jodsäure frei macht und dieses in Chloroform sich löst.
[448] Deutlich war dies in den zwei zuletzt von uns obducirten Fällen. Der erste betraf einen jungen Pharmaceuten, der wegen Gesichtsschmerz sich zu chloroformiren pflegte. Eines Morgens wurde er todt in seinem Bette gefunden, ein Tuch vor Mund und Nase haltend, während ein Chloroformfläschchen auf dem Nachttische stand. Die Obduction ergab Verdickung der inneren Meningen, excentrische Hypertrophie des linken Herzens und starke Nierengranulose, Erstickungsbefunde; Chloroform wurde vom Collegen Ludwig im Gehirn und in den Nieren nachgewiesen. Der zweite Fall betraf einen 14jährigen Knaben, der behufs Exstirpation cariöser Fusswurzelknochen chloroformirt und in der Narkose plötzlich gestorben war. Die Obduction constatirte einen ungemein aufgeschossenen schlanken Körper von 167·5 Cm. Länge, Spitzentuberkulose, Endarteriitis deformans, besonders an den Coronararterien, Hypertrophie und Verfettung des linken Herzens. Möglicherweise begünstigt auch der sogenannte „Status thymicus“ (siehe pag. 590) solche Todesfälle (vergl. die einschlägige Debatte in der Sitzung der k. k. Gesellschaft d. Aerzte vom 11. Mai 1894. Wiener klin. Wochenschr. Nr. 20).
[449] Eine Reihe solcher Fälle nach 5–8 und sogar nach 12·5 Grm. vide Prager Vierteljahrschr. 1871, III, 131; Virchow’s Jahrb. 1876, I, 414 und Schüle (l. c. 672). Der rasche Tod erklärt sich aus der exquisit gefässlähmenden Wirkung des Giftes und scheinen, wie beim Chloroform, insbesondere Alkoholiker dazu zu disponiren.
[450] Ueber eine CO-Vergiftung mehrerer Personen durch mehrere Tage, veranlasst durch in der Wand glimmendes Balkenwerk, berichtet Berthold, Zeitschrift f. Staatsarzneikunde. 1830, X, pag. 94.
[451] A. Sudakoff, „Ueber die Bewegung des Leuchtgases in der Richtung geheizter Wohnungen“. Arch. f. Hygiene. 1886, V.
[452] Gruber („Ueber den Nachweis und die Giftigkeit des Kohlenoxyds und sein Vorkommen in Wohnräumen.“ Sitzungsber. d. k. bayr. Akad. 1881, pag. 203) fand, dass Thiere schon beim Einathmen einer Luft von 0·06% Kohlenoxyd leichte Intoxicationserscheinungen, insbesondere Vermehrung der Respirationsbewegungen, zeigen, die bei 0·1% stärker auftritt und bei 0·15% mit Bewegungsschwäche sich verbindet. Doch halten Thiere selbst in einer Luft von 0·2–0·36% CO stundenlang aus. Steigt aber der CO-Gehalt auf 0·4–0·5%, dann verläuft die Vergiftung sehr rapid. Die Grenze der Schädlichkeit des CO liegt nach Gruber wahrscheinlich bei einer Verdünnung von 0·05, sicher aber von 0·02%. Eine Anhäufung von CO im Organismus, wie Fodor annimmt, findet nicht statt, da sich der Körper theils durch Dissociation, theils durch Oxydation zu Kohlensäure entledigt. Nach Gaglio (Arch. f. experim. Path. XXII, pag. 235) jedoch wird das CO vom Blute weder innerhalb, noch ausserhalb des Organismus oxydirt.
[453] Biefel und Poleck (l. c.) halten die Ansammlung von Kohlendunst in einem Raume für gefährlicher als die von Leuchtgas, weil bei letzterem die Luft, respective der Sauerstoff nur einfach verdrängt wird, während bei ersterem die chemische Zusammensetzung der Luft auf Kosten des Sauerstoffes geändert wird. Die aus acht Analysen berechnete mittlere Zusammensetzung des Kohlendunstes („die durch unvollkommene Verbrennung von Kohlen veränderte atmosphärische Luft eines abgeschlossenen Raumes“) ergab in 100 Volumtheilen: 6·75 CO2, 0·34 CO, 13·19 O und 79·72 N, somit wesentliche Verminderung des Sauerstoffes und starke Vermehrung der Kohlensäure, während die Analyse der Leuchtgasatmosphäre nahezu normalen O-Gehalt im Versuchsraum ergab.
[454] „Ueber die Beziehungen der Arteria chorioidea anterior zum hinteren Schenkel der inneren Kapsel des Gehirns.“ Sammlung von Vorträgen der Wiener klin. Wochenschr. 1891.
[455] Auch in sonstigen Wasserreservoirs und Wasserleitungskästen. So haben wir im September 1892 zwei Arbeiten secirt, die in einem sogenannten Wechselkasten der Hochquellenleitung durch die dort angehäufte Kohlensäure erstickt sind.
[456] Wenn man in frisches Blut SH einleitet, so wird das Blut bald grünlich missfarbig, indem sich der SH mit dem Blutfarbstoff (Hämatin oder Hämoglobin) zu einem grünlich gefärbten Körper verbindet. Das Blut zeigt dann ein eigenes Spectrum, nämlich verwaschene Hämoglobinstreifen und einen Absorptionsstreif in Roth. Dieses Spectrum wird bei in SH verunglückten Menschen, wenn ihre Leichen frisch sind, niemals gefunden, ebensowenig bei damit getödteten Thieren, und man überzeugt sich durch Versuche leicht, dass zur Erzeugung sowohl der grünen Verfärbung, als des eigenthümlichen Spectrums ein sehr hoher SH-Gehalt des Blutes nothwendig ist, zu welchem es bei SH-Vergiftungen niemals kommen kann. In einem unserer neueren Fälle, wo zwei Arbeiter beim Ausräumen eines Canales erstickt waren, wurde behauptet, dass dieselben nicht durch Cloaken-, sondern durch Leuchtgas um’s Leben gekommen wären. Die Obduction ergab aber nur gewöhnliche Erstickungsbefunde und aspirirte Cloakenstoffe, sehr dunkles Blut und in diesem keine Spur von CO, so dass letztere Angabe als unbegründet zurückgewiesen werden musste.
[457] In der That ist uns seitdem ein Fall vorgekommen, wo bei einem Selbstmörder der im Glase zurückgebliebene Rückstand sowohl die Reactionen der Blausäure, als die des Ferrocyankaliums ergab.
[458] Thatsächlich berichtet Bělohradský (Prager Zeitschr. f. Heilkunde. 1880, pag. 45) über einen Fall, wo irrthümlich Aetzkali statt Cyankalium genommen wurde.
[459] Friedreich’s Blätter. 1870, pag. 454.
[460] Vide Ludw. Hermann, Med. Centralbl. 1867, pag. 270.
[461] Die Deutlichkeit des Blausäuregeruches im Magen etc. hängt natürlich zuerst von der Menge der darin enthaltenen Blausäure ab. Ausserdem kann der Geruch leicht durch Fäulniss oder anderweitige dem betreffenden Mageninhalt (respective Giftvehikel) zukommende Gerüche verdeckt werden. Auch ist derselbe unter sonst gleichen Verhältnissen in acuten Fällen natürlich deutlicher, als in solchen, wo der Tod erst nach längerer Zeit erfolgt. Die Zersetzlichkeit der Blausäure in der Leiche ist keineswegs eine so hochgradige, wie gewöhnlich angegeben wird. In einem, in unserem Institute obducirten, von Zillner (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. October 1881) publicirten Fall wurde bei einem erst nach 4 Monaten gefundenen Selbstmörder noch Blausäure in der Leiche nachgewiesen, und die Literatur enthält mehrere Fälle, in denen dieser Nachweis noch nach 15–100 Tagen gelang. Struve vermochte sogar noch nach 18 Monaten in, mit Cyankalium versetztem und vergrabenem Fleisch die Blausäure aufzufinden.
[462] Nach Feser (Berliner Arch. f. Thierhk. 1881, VII, pag. 59) werden 0·2 Mgrm. Strychninnitrat pro Kilogramm vom gesunden Hund subcutan wohl noch vertragen, sind aber für kranke schon gefährlich; 0·3–0·4 Mgrm. pro Kilogramm erzeugen schon die stärksten Wirkungen mit häufig tödtlichem Ausgang. Der eventuelle Tod trat nach 12 Minuten bis 1½ Stunden ein. Durch 0·5 Mgrm. pro Kilogramm wird jeder Hund sicher getödtet. Tod in 10–50 Minuten. Innerlich bedingen schon 0·3–0·4 Mgrm. pro Kilogramm manchmal, 0·5–0·6 immer heftige Wirkungen; 1 Mgrm. pro Kilogramm wirkt bestimmt tödtlich.
[463] St. Clair Gray, Zusammenstellung von 143 in der Literatur enthaltenen Fällen von Strychninvergiftung. Schmidt’s Jahrb. 1873, CLX, pag. 15; ferner Kratter, „Fall von Strychninvergiftung“. Oesterr. ärztl. Vereins-Ztg. 1880, Nr. 6 u. 7.
[464] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876, XXIV, 278. Der Verstorbene hatte im Laufe von vier Wochen 137 Pillen mit ungefähr 16–17 Grm. Digitalispulver genommen.
[465] „Das Muscarin, das giftige Alkaloid des Fliegenpilzes“, Leipzig 1869, ferner „Ueber Fliegenpilzalkaloide“, Schmiedeberg und Harnack, Arch. f. experim. Path. IV, 168; Virchow’s Jahrb. 1876, I, 427 und Jordan, Arch. f. experim. Path. VIII, 15.
[466] Nach v. Wettstein (Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 15) ist die Angabe, dass auch die Speisemorchel (Morchella esculenta) giftige Eigenschaften zeigen könne, ganz unbegründet, dagegen enthalte jede Lorchel (Helvella esculenta), welche sich von der Morchel durch den unregelmässig faltigen, nicht regelmässig grubigen, stumpfen und dunklen Hut leicht unterscheidet, im frischen Zustande ein heftiges Gift, das allerdings nach mehrmaligem Brühen schwindet und durch Trocknen an Kraft verliert.
[467] „Eintritt und Ablauf der Krankheitserscheinungen bei Trichinose, sowie Eintritt und Art des Todes bei derselben.“ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXIII, 284.)
[468] Wir hatten zweimal Gelegenheit, mehrere Tage anhaltende Sprachlosigkeit nach plötzlichem Begiessen mit kaltem Wasser, ein drittes Mal nach zufälligem Sturze in’s Wasser zu beobachten. In einem der ersteren Fälle war das betreffende (chlorotische) Mädchen auf diese Weise aus dem Schlafe geweckt worden. Einen einschlägigen Fall (achttägige Sprachlosigkeit) bringt Maschka (Gutachten. III, 33).
[469] Einen ähnlichen, von Jelly berichteten Fall von plötzlicher Lähmung einer 22jährigen Dame durch Schreck beim unerwarteten Abfeuern einer Kanone in unmittelbarster Nähe vide Med. Centralbl. 1874, pag. 544.
[470] Ueber den Einfluss der Affecte auf die Cessation der Menses vide Schröder, Krankheiten der weiblichen Genitalien (Ziemssen’s Handb. X, 307). Anderseits werden Gebärmutterblutungen auch mit Schreck und Gemüthsaufregung in ursächliche Verbindung gebracht (Rokitansky, Wiener Klinik. 1875, IV, 129). Fälle von Unterbrechung der Schwangerschaft durch ein Erdbeben werden im Arch. f. Gyn. IV, 372, erwähnt.
[471] Eigentlich fötale, d. h. durch Athmung gar nicht veränderte Lungen kommen bei reifen oder der Reife nahen Früchten sehr selten vor. Da nämlich, wie wir hören werden, die meisten todtgeborenen Kinder eines suffocatorischen Todes in Folge vorzeitiger Unterbrechung der Placentarathmung sterben und vor dem Tode Athembewegungen machen, so wird die ursprüngliche fötale Beschaffenheit der Lungen schon durch die Todesart in mancher Beziehung geändert, namentlich aber ihr Blutgehalt und damit auch die ursprüngliche Farbe und das ursprüngliche Gewicht.
[472] „Ueber die verschiedene Farbe der Lungen Neugeborener.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1869, X, 1.
[473] Ausführliches hierüber findet sich in dem interessanten Aufsatze Blumenstok’s: „Zum 200jährigen Jubiläum der Lungenprobe.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXVIII, pag. 252. In der unter Maria Theresia 1768 ausgegebenen oder vielmehr aus dem Jahre 1733 reproducirten Instruction für gerichtliche Wund- oder Todtenbeschau wird die Lungenschwimmprobe noch gar nicht berücksichtigt. Dagegen wird in der Sammlung „Medicinischer Gutachten“ von Dr. Joh. Gottlieb Kühn, Adjunctus des kg. Collegii medici und sanitatis, Kreis- und Stadtphysicus, Breslau und Hirschberg 1791 in den Sectionsprotokollen über neugeborene Kinder die Lungenschwimmprobe ausdrücklich erwähnt und beschrieben.
[474] Man hat behufs Beantwortung der Frage, ob die Lunge geathmet habe oder nicht, das specifische Gewicht derselben auch volumetrisch bestimmt und auch das Volum für sich allein verwerthet. Schon Bernt (Handbuch der gerichtlichen Arzneikunde. 1846, 5. Aufl., 206 u. ff.) hat dies gethan. Neuestens hat H. Bernheim (Deutsche med. Wochenschr. 1869, Nr. 43) eine neue „Lungenathemprobe auf volumetrischem Wege“ angegeben. Ungar (Ebenda, Nr. 49) fand jedoch diese Probe bei minimalem Luftgehalt unsicher, ja bedenklich, bei reichlicherem aber überflüssig.
[475] „Luft in den Lungen todtgeborener Kinder.“ Berliner klin. Wochenschrift. 1882, Nr. 18 und Charité-Annalen. 1883, VIII, pag. 683.
[476] Auch in den von Winter (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVI, 81) mitgetheilten Fällen von fruchtlosen Wiederbelebungsversuchen tief asphyctischer Kinder, die dann lufthältige Lungen boten, hatten die vorwiegend aus Schwingungen bestehenden Belebungsvorgänge lange (in dem einen Falle 1¼ Stunde) gedauert, und es wurde auch die von uns a. a. O. geäusserte Befürchtung bezüglich der Gefährlichkeit der Schwingungen bestätigt, da in allen diesen drei Fällen Verletzungen zu Stande kamen, und zwar einmal eine Hämorrhagie in die Bauchhöhle, das zweite Mal eine Leberruptur und Bruch dreier Rippen, und das dritte Mal, wo auch die Methode des Zusammenbiegens und Ausstreckens des Kindes zur Anwendung kam, Leberruptur und Absprengung der Hinterhauptsschuppe (!). Runge (Petersburger med. Wochenschr. 1887, Nr. 19) betont trotzdem die Ungefährlichkeit der Schwingungen, indem er meint, dass jene Verletzungen entweder bei der Extraction oder durch ungeschickte Ausführung der Schwingungen entstanden seien. Doch haben auch Körber und Dittrich über solche Verletzungen berichtet.
[477] Klein („Ueber einige forensisch wichtige Befunde Neugeborener.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892, III, pag. 20) berichtet über einen solchen, der aber nicht einwandsfrei ist, da ein Theil der Luft schon intrauterin aspirirt worden sein konnte.
[478] Näheres darüber vide E. Hofmann, „Ueber vorzeitige Athembewegungen“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XIX, 233 u. s. f.
[479] „Ueber die Möglichkeit des vollständigen Entweichens der Luft aus den Lungen Neugeborener.“ Arch. f. klin. Med. 1869, VI, 398.
[480] Bossi (Virchow’s Jahrb. 1889, I, pag. 505) hat in 99 Fällen die Dauer des apnoischen Stadiums verfolgt und constatirt, dass die Dauer desselben 15mal kaum merkbar war, 22mal 1–20 Secunden, 18mal 21–40, 21mal 41–60, 8mal 61–80 und 1mal sogar 150 Secunden betrug.
[481] 1836, pag. 235 und 1837, pag. 280, 1840, Ergänzungsheft 203.
[482] 8monatliches Kind. Schmidt’s Jahrb. 1846, L, 235.
[483] Deutsches Arch. f. klin. Med. VI, 398.
[484] Virchow’s Archiv. 1867, XXXVIII, 135; 1868, XLIV, 472; „Geschwülste“, II, 469.
[485] Klebs, Path. Anat. 658. Ferner Schmidt’s Jahrb. 1856, II, 313.
[486] Winter (l. c.), Eckervogt (Zeitschr. f. Medicinalb. 1892, pag. 269), Olshausen und Pistor, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892, IV, Suppl. 1.
[487] Montali (Virchow’s Jahrb. 1887, I, 521 und 1890, I, 503) hat dieses durch Versuche constatirt und gefunden, dass dabei Berstungen der Alveolen zu Stande kommen, die sich nicht finden, wenn luftleere Lungen, respective todt geborene Kinder der Hitze ausgesetzt worden waren.
[488] „Ueber das Verhalten der Paukenhöhle beim Fötus und beim Neugeborenen.“ Arch. f. Heilk. 1873, XIV, pag. 97. Vide ferner: E. Hofmann, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XIX, pag. 236 u. 253; Wreden, Ibid. 1874, XXI, pag. 208; Blumenstok, Wiener med. Wochenschr. 1875, Nr. 40 u. ff.; Liman, l. c. 905; Ogston, Med. Centralbl. 1876, pag. 144 u. Moldenhauer, Ibid. 905; H. Schmaltz, Arch. d. Heilk. XVIII, pag. 251; Tröltsch, Lehrb. d. Ohrenhk. 1877, 6. Aufl., pag. 170 u. ff.; Lesser, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXX, 26.
[489] „Das Schleimhautpolster der Paukenhöhle beim Fötus und Neugeborenen und die Wreden-Wendt’sche Ohrenprobe.“ Wiener med. Blätter. 1883, Nr. 26–34. Brieflicher Mittheilung Prof. Kotelewski’s zufolge ist auch Med. Stud. J. Putermann in einer 1881 an der Warschauer medicinischen Facultät gekrönten Preisschrift zu gleichen Resultaten wie Hněvkovský gelangt.
[490] Einen Fall, in welchem die Mutter behauptete, sofort nach der heimlichen Entbindung das Kind gesäugt und dann erst getödtet zu haben, theilt Goeze mit (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875, XXII, pag. 262). In einem anderen von uns obducirten Falle hatte die Mutter das heimlich, angeblich todtgeborene Kind vorläufig in einem Kasten verborgen, nach einigen Stunden gewaschen, ihm die vorbereitete Kinderwäsche angezogen und dann dasselbe im Keller vergraben, wo es nach einer Woche aufgefunden und der Bekleidung wegen für ein Kind gehalten wurde, welches schon einige Tage gelebt hatte.
[491] „Ueber intrauterine Verletzungen des fötalen Knochengerüstes.“ Monatsschrift f. Geburtskunde. 1857, IX, 321 und 401. Weitere Literatur des Gegenstandes vide Buchner (Lehrbuch, 2. Aufl., 429), Bergmann (Pitha-Billroth’s Handbuch. 1873, III, 26), Casper-Liman (l. c. II, 930) und S. Rembold, Stuttgart 1881.
[492] Gaz. des hôp. 1858, 144. Schmidt’s Jahrb. 1859, CII, 42.
[493] E. Hofmann, „Zur Casuistik der intrauterinen Verletzungen der Frucht“. Wiener med. Presse. 1885, Nr. 18 u. ff. Seitdem haben wir wiederholt, in einem Falle sogar multiple solche Defecte gesehen und auch Dittrich hat einen solchen bei der Wiener Naturforscherversammlung demonstrirt und Hochstetter (Zeitschrift f. Geburtsh. XXVIII, pag. 403) fand einen derartigen, in der Umgebung narbigen Defect am Thorax. Die Mutter soll während der Schwangerschaft von einer Treppe herabgefallen sein.
[494] Braun (Arch. f. klin. Chir. XXXIV, pag. 668) und P. Link (Arch. f. Gyn. XXX), Wiener med. Wochenschr. 1892, Nr. 36 und Sperling, Zeitschr. f. Geburtsh. XXIV, 225.
[495] Nach Runge („Die Veränderungen der brechenden Medien des Auges bei macerirten Früchten.“ Berliner klin. Wochenschr. 1882, Nr. 34) färbt sich einige Tage nach dem Tode zuerst der Glaskörper, dann, und zwar centripetal, die Linse. Letztere zeigt nach 3 Wochen regelmässig einen rothen Farbenton.
[496] Oesterlein, Handb. d. med. Statistik, pag. 100.
[497] Ibidem, pag. 101. Die Zahl der Todtgeborenen beträgt 4–5% aller Geborenen, so dass durchschnittlich auf 20 Geburten eine Todtgeburt kommt.
[498] Literatur des Gegenstandes vide Krahmer’s Lehrb., 1875, pag. 132. Hecker, „Zur Lehre von der Todesart des Kindes während der Geburt.“ Verh. der Berliner Ges. f. Geburtsh. 1853, pag. 145. Schwartz, „Die vorzeitigen Athembewegungen.“ Leipzig 1858. Böhr, „Ueber das Athmen der Kinder vor der Geburt“. Henke’s Zeitschr. 1863, XLIII, pag. 1. B. S. Schultze, „Zur Kenntniss von der Einwirkung des Geburtsactes auf die Frucht etc.“ Arch. f. path. Anat. und Physiol. 1866, XXXVII, pag. 145. Senator, „Ueber den Tod des Kindes in der Geburt“. Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1886, IV, 99. E. Hofmann, „Ueber vorzeitige Athembewegungen in forensischer Beziehung“. Ibid. 1873, XIX, 217. Schwartz, Arch. f. Gyn. I, pag. 361.
[499] Das Meconium besteht vorzugsweise aus Vernix caseosa und Gallenfarbstoff, namentlich enthält es eine Menge schon makroskopisch kennbarer Wollhaare. Es kann daher kein Zweifel darüber bestehen, dass der Fötus auch noch in den späteren Perioden der Schwangerschaft Fruchtwasser schluckt. Zu welchem Zwecke ist allerdings vorläufig unbekannt. Bemerkt sei hier, dass nicht selten das Meconium nur in den unteren Abschnitten des Dickdarms die bekannte dunkelgrüne, in den oberen, namentlich im aufsteigenden Ast, eine gelblichbraune Farbe zeigt. Letzteres, welches vorzugsweise die Elemente geschluckten Fruchtwassers enthält, nennt Huber (Friedreich’s Bl. 1884, pag. 24) das M. amnioticum, ersteres aber das M. hepaticum, welches reichlichen Schleim, Gallenfarbstoff und abgestossene Darmepithelien enthält. Der Gallenfarbstoff findet sich theils diffus, theils in Schollen (Huber’s „Meconkörper“), die vielleicht nur gallig imbibirte gequollene Darmepithelien sind. — Der Darminhalt der Neugeborenen ist frei von Bacterien, doch finden sich solche schon 3–7 Stunden post partum im Inhalte des Rectums (Escherich, Virchow’s Jahrb. 1886, I, pag. 222).
[500] Untersuchungen über die Compression des Schädels bei der Geburt vide Fehling, Arch. f. Gyn. 1874, VI, pag. 68.
[501] Virchow’s Arch. XXXVII, 519.
[502] Skrzeczka, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1869, XI, pag. 75.
[503] Behufs Untersuchung der Pupillarmembran ist der Bulbus zu enucleiren und quer zu durchschneiden; hierauf wird unter Wasser die Chorioidea sammt Ciliarkörper und Iris mit dem Griff des Scalpells abgestreift, dann die Iris auf einem Objectträger ausgebreitet und die Pupille theils mit freiem Auge, theils mit der Loupe untersucht.
[504] „Die Stirnfontanellen und der Horizontalumfang des Schädels.“ Arch. f. Gyn. 1875, VII, 506. Fehling verwerthet den Horizontalumfang auch für die Bestimmung der Lebensfähigkeit und ist der Meinung, dass nur Früchte, die einen Horizontalumfang von mindestens 30 Cm. haben, mit einiger Wahrscheinlichkeit als lebensfähig erklärt werden können. Damit stimmen auch die sehr sorgfältigen Untersuchungen von Körber in Dorpat (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884, XL, 225) über Gewicht und Maasse Neugeborener mit Rücksicht auf die Frage der Lebensfähigkeit überein.
[505] Eine neuere Arbeit „Ueber den Werth der einzelnen Reifezeichen bei Neugeborenen“ von Frank s. Arch. f. Gyn. 1894, XXVIII, pag. 163.
[506] Monatschr. f. Geburtsk. 1860, XVI, 75; 1862, XIX, 339 und 1865 XXVI, 348. Arch. f. Gyn. 1871, II, 48 (Gregory), dt. 1873, V (Kézmárszky), pag. 547, Med. Centralbl. 1876, pag. 427 (Ingerslev) und Townsend (The so-called physiological lose in infants. Ibid. 1887, pag. 685.)
[507] Ein Fall von freiwilliger Entbindung einer Frau im Stehen wird von Cordwent (Arch. f. Gyn. XIII, 212) mitgetheilt.
[508] Wir obducirten ein unreifes Kind, welches an Verbrühung durch heissen Camillenthee gestorben war. Das Kind stammte von einem 16jährigen Mädchen, welches von seiner Mutter der vermeintlichen Kolikschmerzen wegen auf ein mit dem Theeaufguss gefülltes Gefäss gesetzt worden war und in dieser Lage entbunden hatte.
[509] Bei dem oben erwähnten, vor dem Wiener Gebärhaus im Stehen sammt der Placenta geborenen Kinde fanden wir blos die Nabelvene, und zwar innerhalb der Bauchhöhle unterhalb des Peritoneums durchrissen und letzteres entlang des Gefässes in weitem Umfang blutig suffundirt. Am Schädel fanden sich trotz vorhandenen Ossificationsdefecten nur zwei unbedeutende Fissuren des inneren Randes beider Scheitelbeine. Bei einem anderen im Hofe des allgemeinen Krankenhauses im Stehen geborenen und unbeschädigt gebliebenen Kinde war die uns von Dr. Pritzl überlassene Nabelschnur ziemlich in der Mitte gerissen. Auch Koch bringt einen solchen Fall, wo sich ausserdem noch 3 andere Einrisse am portalen Theile der Nabelschnur fanden (solche hat auch Winckel mehrfach beobachtet) und einen anderen, wo sich bei unverletzter Amnionscheide je eine Sugillation nahe am Nabel und an der Placentarinsertion fand.
[510] Von einem auf C. v. Braun’s Klinik vorgekommenen Falle. Die Frau war mit Zwillingen schwanger. Die Sturzgeburt erfolgte im Stehen in dem Momente, als die Kreissende sich ankleidete, um auf den Abort zu gehen. Die im Ganzen 42 Cm. lange Nabelschnur riss 12 Cm. vom Nabel, das 2200 Grm. schwere Kind fiel auf den Boden und erlitt eine Fissur des rechten Seitenwandbeines, blieb jedoch am Leben. Der zweite Zwilling wurde normal geboren. Placenta und Nabelschnur wurden unserem Museum überlassen.
[511] Wir haben ein Kind obducirt, welches, während sich die Hebamme mit der Entbundenen beschäftigte, sich aus der unterbundenen Nabelschnur verblutet hatte. Das Kind war nach der Abnabelung eingewickelt und bei Seite gelegt worden, und als die Hebamme nach etwa einer Stunde nachsah, war das Kind voll Blut und agonisirend. Ein gleicher Fall kam 1894 zur Beobachtung. In diesen Fällen muss untersucht werden, ob die Nabelschnur entweder gar nicht oder schlecht unterbunden war. Doch es kann auch vorkommen, dass die gut angelegt gewesene Schlinge durch Verdunstung oder Aufsaugung der Flüssigkeit des Nabelschnurendes sich nachträglich lockert.
[512] Prager Vierteljahrschr. CXXIII, 53: „Zur Kenntniss der natürlichen Spalten und Ossificationsdefecte am Schädel Neugeborener.“
[513] Ein anderer Fall, in welchem bei einem 6jährigen (!) Mädchen eine embryonale Hinterhauptsspalte für eine Fissur gehalten wurde, findet sich in Schmidt’s Jahrb. 1851, Bd. LXIX, 224.
[514] O. Küstner (Jena’sche Zeitschr. f. Naturw. 1866, XX, Suppl. I, pag. 9 und Centralbl. f. Gyn. 1886, Nr. 9 u. 25) hat die Bildung eines solchen Hämatoms im linken Sternocleidomastoideus bei einer Steissgeburt beobachtet, die ohne jeden Eingriff verlief und hat sich durch Versuche überzeugt, dass erhebliche Dehnungen dieses Muskels und daher solche Hämatome nicht durch Längsdehnung und Streckung des Halses, sondern durch Torsion desselben mit dem Gesichte nach der gleichnamigen Seite zu Stande kommen. Auch bei Selbsthilfe können sie nur durch eine solche Torsion oder durch directe Quetschung sich bilden.
[515] Auch die Verwirrung kann die Mutter mitunter verhindern, das richtige zu thun. So unterliess dieselbe in einem unserer Fälle, das Kind aus einem Schaff, in welches dasselbe gefallen war, herauszuziehen und rief statt dessen um Hilfe. Die Anklage behauptete, dass die Mutter absichtlich unterlassen habe, das Kind zu retten, es kam aber hervor, dass auch eine Zeugin, welche herbeigeeilt war und das Kind in der Flüssigkeit liegen sah, statt dasselbe herauszuziehen, erschreckt aus der Stube lief, um noch eine andere Frau herbeizuholen. Siehe auch den auf pag. 805 mitgetheilten Fall.
[516] In der Agonie und kurz nach dem Tode erweitern sich die Pupillen in der Regel, um sich dann wieder etwas zu verengern, welche Verengerung nach Marschall etwa 1 Stunde nach dem Tode beginnt, und durch 3–4 Tage andauert. Häufig ist die Contraction ungleich. Schmeichler (Wiener med. Wochenschrift. 1885, Nr. 39) fand, dass die Pupillen nach dem Tode immer etwas weiter werden als sie vor dem Tode sind und dass bei einem Paralytiker, dessen rechte Pupille während des Lebens seit längerer Zeit weiter als die linke war, bei der Section der Befund gerade umgekehrt war. Es scheint, dass diese postmortalen Veränderungen der Pupillenweite ausser durch Contraction, respective Erschlaffung der Irismuskeln, auch durch Veränderungen des intraoculären Druckes bedingt werden, dessen Abnahme auch Formveränderungen der Pupille erzeugte. Siehe auch Virchow’s Jahresb. 1888, I, 162 (Beobachtungen an abgeschlagenen Köpfen) und 1887, I, 503 (Verhalten der Augenlider nach dem Tode).
[517] Das Wenige über das Verhalten der Temperatur beim acuten gewaltsamen Tode Bekannte vide unsere „Leichenerscheinungen“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXV, 236, ebenso die Arbeit von Schlemmer und Tamassia, „Del decorso della temperatura nelle morti violenti“. Rivista sperim. di freniatria e med. legale. Anno II, Fascicolo V, VI, und Tamassia, „Temperatura negl’ avvelenamenti“. Ibidem, Anno III, Fasc. II, 265.
[518] Nach vernachlässigten Schulterlagen fanden wir wiederholt an dem todt extrahirten Kinde ausser der Geburtsgeschwulst in der vorgelagert gewesenen Schulter- und Brustgegend auch die betreffende Lunge dunkler und blutreicher, so dass sie auffallend von der anderen abstach. Offenbar handelte es sich ebenfalls um eine hypostatische Erscheinung.
[519] Die sogenannte Gänsehaut ist vielleicht eine Fixirung der vitalen Contraction glatter Muskelfasern durch die Todtenstarre. Bezüglich des Herzens hat Strassmann (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1889, LI, 300) an Thieren constatirt, dass es bei keiner Todesart zu einem systolischen Herzstillstand kommt. Immer, selbst nach Strychninvergiftung, fand sich das Herz in Diastole und weich. Erst durch die Todtenstarre ändert sich dieses Verhältniss und man findet bei der späteren Untersuchung fast stets den linken Ventrikel fest contrahirt und seines Inhaltes grösstentheils oder ganz entleert. Wir dagegen haben bei eben getödteten Thieren das Herz nicht selten contrahirt gefunden (Wiener med. Presse, 1890, Nr. 37). A. Paltauf (Prager med. Wochenschr. 1892, Nr. 6), fand, dass nach Strychninvergiftung mit geringen Dosen die Todtenstarre in gewöhnlicher Weise, nach grösseren schon nach 5 Minuten eintrete, ebenso nach Vergiftung mit Picrotoxin, nicht aber mit Veratrin und Physostigmin. In der Wiener Naturforscherversammlung berichtete aber Schlesinger über zwei genau beobachtete Fälle von Tetanie bei Magenerweiterung, in welchen der Tod im Krampfanfalle eingetreten war und sofortige Fixation der Krampfstellung durch die Todtenstarre constatirt wurde. Da Trismus bestanden hatte, öffnete sich auch der Mund an der Leiche nicht!
[520] Obgleich der erstarrende isolirte Muskel thatsächlich sich verkürzt, so wird doch, da an der Leiche gleichzeitig die Antagonisten erstarren, durch den Rigor mortis keine Locomotion grösserer Gliedmassen veranlasst. Auch die Locomotion kleiner Glieder, namentlich ein leichtes Beugen der Finger durch diese Ursache, ist noch keineswegs erwiesen, obgleich wegen Prävalenz der Beuger möglich. Zweifellos kommen Locomotionen bei der „Wärmestarre“, besonders wenn sie die Muskelgruppe ungleichmässig befällt, vor. An den Ringtheaterleichen wurden thatsächlich solche Bewegungen beobachtet und auch für vitale gehalten. Von den dadurch veranlassten Contractionen, welche, wie Becker (1894) fand, zunächst die oberflächlichen und massigen Muskeln betreffen, rühren die mitunter grotesken Stellungen her, in welchen halbverkohlte Leichen gefunden werden. Ob die nach Cholera beobachteten postmortalen Zuckungen der Finger mit der Todtenstarre in Verbindung stehen, ist noch fraglich.
[521] Brown-Séquard (Compt. rendus. C. III, pag. 602; Med. Centralbl. 1886, 948) zog in letzter Zeit diese Anschauung in Zweifel und hält die Todtenstarre für eine wirkliche, letzte Contraction des Muskels vor seinem Absterben. Auch Bierfreund (Pflüger’s Archiv. 1888, XLIII, pag. 195) gelangt zu demselben Schlusse und ebenso glaubt Tamassia (Virchow’s Jahrb. 1884. I, 462) auf Grund seiner Versuche, dass ausser physischen und chemischen Veränderungen des Myosins noch andere, vorläufig unbekannte Einflüsse eine Rolle spielen. Unserer Meinung nach wäre es, um endlich bezüglich des eigentlichen Wesens der Todtenstarre in’s Klare zu kommen, angezeigt, mit dem angeblichen Myosin als solchem Versuche anzustellen, insbesondere über die Bedingungen, unter welchen es gerinnt und wieder sich löst.
[522] Ueber die Ursache dieser Verfärbung s. unsere „Leichenerscheinungen“ und neuere Arbeiten von Pellacani (Virchow’s Jahresb. 1884, I, 463) und Schrank (Grüne Färbung fauler Eier. Wiener med. Jahrb. 1888, pag. 303).
[523] Bevor dies geschieht, können durch den Druck der Fäulnissgase verschiedene Veränderungen geschehen. Eine der gewöhnlichsten ist das Heraustreiben des Mageninhaltes durch den Oesophagus nach aussen, wodurch dieser dann auch in die Luftwege gelangen kann. Ebenso gewöhnlich ist die Vortreibung der Augäpfel. Weniger bekannt ist die Vortreibung der Schleimhaut des Mastdarms und der weiblichen Genitalien, welche Vorfälle vortäuschen kann. Mitunter können aber auch bei weiblichen sehr faulen Leichen Eingeweide durch das Becken herausgedrängt werden (Swaving in Batavia: „Austritt von Darmschlingen durch die Genitalien bei faulen Wasserleichen.“ Schmidt’s Jahrb. 1855, LXXXVIII, pag. 368), oder bei Schwangerschaft die betreffende Frucht. Dies scheint namentlich bei während der Entbindung Gestorbenen leichter vorzukommen. Einen derartigen Fall nebst Zusammenstellung zahlreicher Fälle von sogenannter „Sarggeburt“ bringt Bleisch (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892, III, pag. 38) und einen neueren von Perrando und Moriz (Virchow’s Jahrb. 1893, I, pag. 490).
[524] Seitdem haben Lehmann (Würzburger Sitzungsb. 1888, pag. 19) und Voit (Münchener Wochenschrift 1888, pag. 518) durch sorgfältige Versuche gefunden, dass sich in der That aus Eiweiss Fett bilden könne. Die Mengen sind aber so gering (nach Lehmann 3·70 und nach Voit 2 Fettsäuren pro 100 Fleisch), dass dieser Vorgang bei der Bildung compacter Fettwachsmassen keine wesentliche Rolle spielen kann.
[525] Zillner hat auch die Vermuthung ausgesprochen, dass diese Ortswanderung der Fette auch schon im früheren Stadium der colliquativen Fäulniss eintreten könne. Unsere weiteren Beobachtungen haben diese Vermuthung insoferne bestätigt, als wir fanden, dass, wie schon Tamassia (Virchow’s Jahrb. 1883, I, 517) erwähnt, schon frühzeitig mit dem beginnenden putriden Zerfall der Gewebe insbesondere im Fettgewebe massenhaft Fett frei wird, welches nicht blos in das Zwischengewebe und in seröse Säcke, sondern auch in das Lumen der Gefässe gelangen und in diesen sogar durch den Druck der Fäulnissgase weiter befördert werden kann. So fanden wir bei einer an CO-Vergiftung verstorbenen, erst mehrere Tage nach dem Tode in ihrer Wohnung gefundenen hochgradig durch Fäulniss gedunsenen alten Frau grosse Mengen wie geronnen aussehenden Fettes im rechten Sinus transversus, in der rechten V. jugularis, im rechten Herzen, vorzugsweise aber im oberen Antheil der Vena cava ascendens. Offenbar stammte das Fett aus der hochgradig faulenden Leber.
[526] Strassmann und Strecker, „Bacterien bei der Leichenfäulniss“. Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, pag 65. Hoffa, Münchner med. Wochenschr. 1891, Nr. 14, Ottolenghi und Kijanicin, Virchow’s Jahrb. 1892, I, pag. 472.
[527] Ueber das Auftreten der Insecten und deren Larven in an der Luft liegenden Leichen und die Verwerthung derselben für Todeszeitbestimmungen hat insbesondere Megnin (Virchow’s Jahrb. 1883, I, 517) geschrieben. Frühzeitig beginnen Fliegenmaden und einzelne Coleopteren (Sylphen) ihre Arbeit, welche die Weichtheile und das Fett aufzehren, dazu kommen die Larven von Dermestes, welche die Ueberbleibsel des Fettes consumiren. Die mumificirten Reste werden, und zwar gewöhnlich erst im zweiten Jahre, von Myriaden von Anthrenen und Acarinen attaquirt, welche schliesslich eine die Knochen bedeckende pulverige Masse zurücklassen, welche aus den Excrementen der betreffenden Insecten und ihrer Larven, sowie aus deren Häuten und Puppenhülsen bestehen. Weitere Angaben über die Gräberfauna von Reinhard, Megnin, Jovanovitsch und Handlirsch vide Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 467 und 1894. Daselbst auch eine Mittheilung von Raimondi und Rossi über Flohkrebse auf Wasserleichen.
[528] Flüssige Fette (Oele) dienen bekanntlich zur Conservirung verschiedener fäulnissfähiger Nahrungsmittel. Wahrscheinlich wurde im Alterthum das Oel hier und da auch zur Conservirung menschlicher Leichen angewendet. Ein interessantes Beispiel davon scheint die von H. Thode (Mittheilung des Institutes f. österr. Geschichtsforschung. 1883, IV, pag. 75) besprochene „römische Leiche vom Jahre 1485“ gewesen zu sein, welche in der Via Appia in einem mit Blei verlötheten Marmorsarkophage ausgegraben wurde, wohlerhalten war, biegsame Glieder hatte, von einer eingedickten wohlriechenden Flüssigkeit umgeben war und in der man Cicero’s Tochter Julie vermuthet.
[529] „Wiener med. Wochenschr.“ 1879, Nr. 5–7: „Zwei aus dem Wasser gezogene Skelette.“
[530] „Eine Zusammenstellung der Befunde an 45 exhumirten Leichen auf dem Friedhofe zu Hohenwart im Jahre 1864.“ Aerztl. Intelligenzblatt. 1886, pag. 50.
[531] Elfter Jahresbericht des sächsischen Landes-Medicinal-Collegiums. Leipzig 1881, pag. 174.
[532] Gerichtliche Ausgrabungen. II, pag. 431.
[533] Die Körpermessung zum Zwecke der Identification lebender und todter Personen wurde von A. Bertillon in ein System gebracht und ist in Frankreich, besonders in der Pariser Polizeipräfectur, als „Bertillonage“ eingeführt. Die Messungen betreffen nicht blos die Körper als Ganzes (Länge, Spannweite, Sitzhöhe), sondern auch die einzelnen Theile. Die Methode ist praktisch, leicht durchführbar und hat sich bereits bewährt. Näheres darüber mit Abbildungen: „Das anthropologische Signalement“ von A. Bertillon. Zweite Auflage. Autorisirte deutsche Ausgabe von Professor v. Sury in Basel. 1895.
[534] Eine ansehnliche Zahl von Fällen crimineller Zerstücklung von Leichen haben Lacassagne (Arch. de l’anthropol. crim. 1888, III, pag. 229) und Ravoux (Lyoner These. 1888) zusammengestellt.
[535] Ueber die zuerst von Zuckerkandl näher verfolgte Entwicklung der „Zahnsäckchen“ und „Zahnscherbchen“ beim Embryo und Neugeborenen siehe Mauczka: „Die Zähne vom gerichtsärztlichen Standpunkte.“ Oesterr. Vierteljahrschr. f. Zahnheilkunde, 1892, VIII.
[536] Dass sich diese Quernähte des Körpers des Brustbeins bis in’s höhere Alter hinein erhalten, ist ein sehr seltenes Vorkommniss. In unserem Museum befindet sich ein solcher Fall. Er betrifft das Skelet eines 43jährigen Mannes, welcher sein Weib erstochen und dann sich selbst ertränkt hatte.
[537] Im 20. Jahre ist die Verwachsung gewöhnlich vollendet, doch ist die Epiphyse von der Diaphyse am Durchschnitt noch einige Zeit durch hellere Farbe und lockeres Gefüge differenzirt und durch eine feine Knochenleiste getrennt. Nach Wachholz (l. c.) wird der vollständige Schwund der Knorpelfuge bei Frauen zwischen 17 und 18, bei Männern zwischen 20 und 21 Jahren beobachtet. Die Knochenleiste beginnt sich um das 15., beziehungsweise 17. Jahr zu bilden und erhält sich meist bis zum 30. Jahr. Die Diaphysen-Markhöhle reicht bei Frauen vom 28., bei Männern vom 30. Jahre an bis an’s Ende des Collum chirurgicum, vom 35. an bis zur ehemaligen Epiphysengrenze. — Interessant ist die Thatsache, dass bei manchen Zwergen und bei manchen Individuen mit verkümmerten Genitalien die Epiphysen auch im Mannesalter mit den Diaphysen nicht verwachsen. A. Paltauf, „Ueber den Zwergwuchs etc.“ Wien 1891.
[538] Beim Weibe bleiben Kehlkopf- und Rippenknorpel häufig bis in’s hohe Alter unverknöchert, respective unverkalkt, nur ausnahmsweise beim Manne; so haben wir einen 73jährigen schwächlich gebauten Mann secirt, bei welchem nur Verknöcherung der hinteren Bänder der Schildknorpel und der basalen Theile der Schildknorpelhörner, sowie der Ringknorpelplatte bestand und in den Rippenknorpeln nur Spuren davon sich fanden. Ausführliche Untersuchungen über das Verhalten des Kehlkopfes in den verschiedenen Lebensaltern und bei beiden Geschlechtern hat Patenko (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLI) angestellt. Es geht aus denselben hervor, dass die Verknöcherung keiner Gesetzmässigkeit unterliegt, sich aber im Allgemeinen beim Weibe langsamer und im geringeren Grade entwickelt als beim Manne. Gleiches ergab sich bezüglich der Rippenknorpel und bezüglich der Ankylose der grossen Zungenbeinhörner mit dem Körper.
[539] Für die thunlichst häufige Anwendung der Photographie in solchen Fällen, sowie bei der Aufnahme von Verletzungen und insbesondere des sogenannten Localaugenscheines haben sich Aerzte und Juristen wiederholt ausgesprochen, so Odebrecht, „Die Benützung der Photographie für das Verfahren in Strafsachen“. Archiv f. preuss. Strafrecht. 1864, pag. 660; Sander, „Die Photographie in der gerichtl. Medicin.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F. II, 179; Vernois, „Ueber Verwendung der Photographie zu med.-gerichtlichen Zwecken.“ Annal. d’hygiène publ. 1870, pag. 239; „Die Photographie im Dienste der Justiz.“ Wiener Juristen-Ztg. vom 15. April 1882 und Bertillon (l. c.), Anhang: „Die gerichtliche Photographie.“
[540] „Ueber die Pariser Morgue mit vergleichenden Hinblicken auf das Berliner Institut gleichen Namens“, vide Liman, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1868, VIII, pag. 308. Ueber neuere Einrichtungen daselbst (Appareils frigorifiques nach dem Systeme Giffard und Berger) siehe den Commissionsbericht von Brouardel (Annal. d’hygiène publ. 1880, pag. 69).
[541] Bemerkenswerth ist, dass in einem seinerzeit von uns begutachteten Falle die durch Fäulniss und Liegen im Wasser bewirkte Undurchsichtigkeit der Corneen eines von der Mutter ertränkten Säuglings die Gerichtsärzte veranlasst hatte, das Kind für ein — blindgeborenes zu erklären.
Die milchige Trübung der Cornea faulender Leichen wird durch Bacteriencolonien erzeugt, indem zuerst weissliche punktförmige Trübungen, besonders im Pupillarbereich, auftreten, die peripher sich vergrössern, schliesslich miteinander verschmelzen. Von dieser Trübung ist diejenige zu unterscheiden, welche durch Verlust der Spannung der Cornea und epitheliale Desquamation zu Stande kommt. Vielleicht gehören auch die von Seydel (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1890, LII, pag. 262) bei Wasserleichen beobachteten Trübungen und Abhebungen des Corneaepithels hierher. Wird der intraoculäre Druck nicht vermindert und sind die Bedingungen für Bacterienvegetation ungünstig, so kann die Cornea mitunter lange durchsichtig bleiben, respective das Auge ein frisches Aussehen bewahren. So fanden wir bei einem Manne, der sich im Winter in einem offenen Keller erhängt hatte und erst nach 20 Tagen gefunden wurde, das eine offene Auge collabirt und unkenntlich, das andere geschlossen gewesene noch vollkommen frisch. — Bei faulen, respective blutig imbibirten Bulbis ergibt auch die innere Untersuchung der letzteren keine positiven Aufschlüsse über die ursprüngliche Farbe der Iris, da, wie unsere Versuche gezeigt haben, unter solchen Umständen auch die pigmentlos gewesene, daher blau oder graublau erschienene Regenbogenhaut durch verschwemmtes Chorioidealpigment und Imbibition mehr weniger braun erscheint.
[542] Die durch Calcination bewirkten Veränderungen der Zähne sind bisher unseres Wissens noch wenig gewürdigt worden. Nur bei Dégranges („Ueber das Verhalten verschiedener Körpertheile bei der Verbrennung.“ Schmidt’s Jahrbuch 1856, XC, pag. 97) finden wir die Angabe, dass bei einer seiner verkohlten Leichen „die wohlerhaltenen Zähne in hohem Grade brüchig waren, besonders die Schneidezähne“, ebenso die Bemerkung, dass „die Knochensubstanz der Zähne frühzeitiger zerstört wird als der Schmelz“. Dagegen treffen wir einschlägige Angaben in einem Aufsatze von Friedrich Küchenmeister in Dresden über die Feuerbestattung (Allg. Zeitschrift für Epidemiologie, 1875, II, pag. 129), die sich auf Beobachtungen beziehen, welche beim Verbrennen von Leichen im Siemens’schen Ofen gemacht wurden. „Die Zähne,“ heisst es in diesem Berichte, „halten in ihren Alveolen stets sehr lange aus; man erkennt sogar ihren Schmelz. Aber sobald der Schädel zerbröckelt — was schon beim Durchfallen durch den Rost in den Aschenraum erfolgt — fallen sie aus und zerbrechen selbst, so dass es selten gelingt, dergleichen in der Asche aufzufinden.“ Und in einer Anmerkung zu diesem Passus heisst es: „Dieses Umstandes wegen machte Herr Siemens einmal den Versuch, Zähne von Pferden allein und in grösserer Menge zu verbrennen. Auch hier fand sich kein einziger erhaltener Zahn in der Asche. Zähne von jungen Thieren erhalten sich viel besser.“
[543] Ausführliches über Tätowirungen in forensisch-medicinischer und anthropologischer Beziehung bringt Lacassagne in „Ricerche sur 1333 tatuaggi di delinquenti.“ Archivio de Psychiatra, anthropologia criminale e scienze penali. 1880, pag. 438 und „Les Tatouages, étude anthropologique et médico-légale.“ Paris 1881 und 1886, sowie in Lombroso’s „L’homme criminelle“, 1887 und dem dazu gehörigen Atlas. Lacassagne fand die betreffenden 1333 Tätowirungen an 360 Soldaten eines algierischen Strafbataillons und 18 Gefangenen der Militärstrafhäuser. Diese Tätowirungen befanden sich 1mal auf beiden Armen und am Bauche, 4mal auf beiden Armen und am Gesässe, 8mal auf der Brust, 4mal am Bauche, 11mal am Penis, 29mal am ganzen Körper, 45mal auf beiden Armen und auf der Brust, 88mal am rechten Arme allein, 59mal an linken Arme allein und 127mal auf beiden Armen allein. In letzter Zeit hat Leppmann: „Die criminal-psychologische und criminal-praktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, pag. 193, diesen Gegenstand behandelt.
[544] Vide H. Auspitz, „Ueber Resorption ungelöster Stoffe bei Säugethieren“. Wiener med. Jahrb. 1871.
[545] Ueber die Persistenz von Blutegelbissnarben hat De Castro (Annal. d’hygiène publ. 1887, XVIII, pag. 48) Untersuchungen angestellt.
[546] „Mémoire sur les modifications, que déterminé dans certaines parties du corps l’exercice des diverses professions.“ Annal. d’hygiène publ. 1849, XLII, 388.
[547] „De la main des ouvriers et des artisans au point de vue de l’hygiène et de la médecine légale.“ Paris 1862.
[548] Derartige Schwielen finden sich bei einzelnen Berufsclassen auch an anderen Stellen. Hierher gehören die Schwielen an den Oberschenkeln der Schuster und die mit Verdickungen des Periost verbundenen Schwielen über den Dornfortsätzen der ersten Brust- und der Lendenwirbel, die von Lombroso und Cougnet („Studi sui segni professionali dei Facchini.“ Torino 1879) an Lastträgern beobachtet und zum Gegenstande besonderer Studien gemacht wurden.
[549] Tamassia, „Gli ultimi studii italiani sulla imputabilità“. Rivista sperim. di freniatr. e med. legale. Anno III, 646.
[550] Wappäus, „Allgemeine Bevölkerungsstatistik“. 1861, II, pag. 215. A. Wagner, „Die Gesetzmässigkeit der scheinbar willkürlichen Handlungen“. Hamburg 1864. Wendt, „Grundzüge der physiologischen Psychologie“. Leipzig 1874, pag. 834. Ferner: „Die Selbstmorde in Preussen 1869–1872.“ Zeitschrift des preuss. statist. Bureaus. 1874, Heft II u. III.
[551] Tamassia, l. c., pag. 680.
[552] Im §. 46, lit. a des österr. St.-G.-B. wird die vernachlässigte Erziehung ausdrücklich als Milderungsumstand bezeichnet.
[553] Mittheilungen über Mörder im Kindesalter von Man und Kraus siehe Ortloff’s Sammlung von Gutachten, 1888, IV. Ueber kindliches Irrsein vide Wiener med. Blätter, 1879, pag. 824 und P. Moreau: „Der Irrsinn im Kindesalter.“ Deutsche Ausgabe von Galatti. 1889.
[554] Der Entwurf eines deutschen Gefängnissgesetzes kennt besondere Anstalten für die Abbüssung von gegen jugendliche Individuen verhängten Strafen, in welchen nur Personen unter 18 Jahren aufgenommen, aber nur bis zum 20. Jahre festgehalten werden dürfen. Derselbe Entwurf bestimmt auch (§. 15), dass Sträflinge unter 18 Jahren bis zur Dauer von 3 Monaten in Einzelhaft gehalten werden können. Zu einer Verlängerung derselben bedarf es der Genehmigung der Aufsichtsbehörden.
[555] Die Zurechnungs- und Dispositionsfähigkeit unterrichteter Idioten kam in einem von Shuttleworth (Journ. of ment. sc. 1884, pag. 467) mitgetheilten Falle zur Sprache. Im Royal Albert-Asylum hatte ein blödsinniger Knabe einen anderen erschlagen, der ihm die Bettdecke weggezogen hatte. Beim Coroner-Inquest wurden drei bei der That gegenwärtig gewesene blödsinnige Knaben als Zeugen beeidigt (!) und verhört, und der Thäter selbst vor die Assisen gebracht, wo erst die Jury fand, dass „the prisoner was not able to plead“ und hinzufügte: „that he was not answerable for his acts.“
[556] Beachtenswerth ist die von Berkhan (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, pag. 106) gemachte Beobachtung, dass manche Schwachsinnige eine auffällige Schreibweise zeigen, indem sie z. B. einzelne Buchstaben, mitunter auch ganze Silben und Worte, auslassen, verstellen oder durch andere ersetzen. Diese Schreibstörung hält er für analog mit gewissen Sprachstörungen, z. B. dem Stammeln.
[557] Im Gegensatze zu diesen Erfahrungen bei männlichen Idioten fand Voisin („Conformation des organes génitaux chez les idiots et les imbéciles.“ Annal. d’hygiène publ. 1894, XXXI, pag. 525), dass bei weiblichen Idioten die Pubertät keineswegs verzögert, sondern mitunter ungewöhnlich früh sich einstellt. Masturbation ist sehr häufig und in etwa ¼ der Fälle fand Voisin davon herrührende meist rechts gelegene Hymenverletzungen.
[558] „Ueber die Verbreitung des Cretinismus im Böhmen.“ Aerztliches Correspondenzblatt des Vereines deutscher Aerzte in Prag. 1875, Nr. 28.
[559] R. Wagner’s Handwörterbuch. V, 201.
[560] „Psychische Gesundheit und Irrsein in ihren Uebergängen.“ Schmidt’s Jahrb. 1846, II, pag. 263. „Entre un homme de génie et un fou il n’y a pas l’épaisseur de six liards. Il faut que je prenne garde de tomber entre vos mains,“ sagte Napoleon I. zu Pinel, und Maudsley („Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken.“ Leipzig 1875, pag. 46) bemerkt: „Merkwürdiger Weise führt eine tiefer eingehende Untersuchung zu dem Ergebniss, dass originelle Anregungen, entschiedene Aeusserungen eines Talentes oder gar eines Genies vielfach von Individuen ausgingen, die einer Familie entstammten, worin eine gewisse Prädisposition zur Irrsinnigkeit vorkam, und es ist bekannt, dass den Visionen und Ekstasen grosser Reformatoren pathologische Exaltationszustände zu Grunde lagen und dass einzelne dieser und anderer berühmter Männer (z. B. Mohamed, Cäsar) Epileptiker waren.“ Vide darüber auch Lombroso, „Genio e Folia“, 2. edit. Milano 1872.
[561] A. Holländer (Zur Lehre von der Moral insanity. Jahrb. f. Psych. 1882, IV, pag. 1) fasst die sogenannte „Moral insanity“ als einfachen Grössenwahn auf. „An letzteren schliesst sich, wenn er auch nicht in fixirter Form zu Tage trat, jene sittlich incorrecte Handlungsweise an, welche man mit dem Namen Moral insanity bezeichnet. Wir haben es nicht mit Leuten zu thun, welche nicht sittlich handeln, weil sie nicht altruistisch fühlen, keine sittlichen Vorstellungen bilden können, sondern mit Kranken, bei welchen der Grössenwahn, ein erhöhtes Machtgefühl die Wurzel ist, aus welcher sich der Kampf mit den Satzungen der Gesellschaft naturgemäss entwickeln muss.“ Auch Klendgen und Schlöss (1889) betrachten das sogenannte moralische Irrsein nicht als eine eigene Irrsinnsform.
[562] Den Einfluss des Standes oder der Lebensschicksale auf die Entwicklung oder Aeusserung des moralischen Irrseins hat namentlich Legrand du Saulle beleuchtet, „Les signes physiques de folies raisonnantes.“ Annal. méd. psychol. Mai 1876.
[563] „L’uomo delinquente“ und das Organ der von ihm gegründeten criminal-anthropologischen Schule: „Archivio di psichiatria, di anthropologia criminale e di scienze penali.“ Ueber die im letzteren enthaltenen Arbeiten wird seit 1881 in Virchow’s Jahrb. von uns referirt. Eine analoge Tendenz verfolgen die von Lacassagne und Coutagne herausgegebenen „Archives de l’anthropologie criminelle et des sciences pénales.“ Siehe auch die Berichte über den criminal-anthropologischen Congress in Rom 1886 und in Paris 1889.
[564] Derartige Schädelbildungen, von denen Legrand du Saulle (l. c.) versichert, dass unter 100 Fällen 50mal zwischen ihnen und Geistesanomalien eine Beziehung besteht, erinneren vielfach an diejenigen niederer Menschenracen und jene von Thieren, insbesondere von Affen, und werden deshalb von mehreren anderen Autoren als Atavismus aufgefasst, d. h. als ein Rückfall in Verhältnisse, wie sie in den früheren Entwicklungsstadien derselben Race bestanden. Hierfür wurde auch herangezogen, dass manche habituelle Verbrecher noch andere körperliche Eigenthümlichkeiten aufweisen, die sich bei niederen Menschenracen als Norm finden, so nach Lombroso eine dunklere Färbung der Haut, ein auffallend dichtes und gekraustes Kopfhaar, spärliches Barthaar, grosse, vom Kopf abstehende Ohren und eine grössere Aehnlichkeit der Körperbildung beider Geschlechter. Die Anschauungen sind nicht ohne Berechtigung, doch lässt sich darüber ebenso streiten, wie über die Frage, ob die merkwürdigste Schädelmissbildung, die Mikrocephalie, als Atavismus oder als pathologische Erscheinungsform im engeren Sinne aufgefasst werden soll.
[565] Westphal, „Die conträre Sexualempfindung“, Arch. f. Psychol., II, 107, bemerkt in dieser Beziehung, dass er sich kaum einen Fall von sogenannter Moral insanity gesehen zu haben erinnere, in welchem nicht epileptische Anfälle zur Evidenz nachweisbar gewesen wären. Lombroso vertritt seit 1885 sogar die Identität der Epilepsie und des moralischen Irrseins.
[566] Arch. f. Psych. u. Nervenkh. 1869, II, pag. 73.
[567] Dieser Umstand muss hervorgehoben werden, da in solchen Fällen auch an die Möglichkeit gedacht werden muss, dass ein männliches Individuum mit verbildeten äusseren Genitalien, eine Hermaphrodisie, vorliegt. (Vide pag. 84, insbesondere den pag. 94 erwähnten Fall von Martini, der eine Hebamme(!) betraf, die mit Wöchnerinnen und anderen Weibern Unzucht getrieben hatte, bis sie als ein (männlicher) Zwitter erkannt wurde. Auch die Integrität des Hymen trotz lange geübter Onanie ist beachtenswerth und bestätigt das pag. 124 Gesagte.)
[568] Andere Fälle von Hotzen, Schuchard, Freyer u. A. s. Virchow’s Jahrb., 1890, I, pag. 482.
[569] Von zwei durch Liman untersuchten Fällen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVIII, pag. 193) betraf der eine einen 28jährigen Gymnasiallehrer, der mit entblössten Genitalien im Thiergarten herumgelaufen war. Derselbe war erblich veranlagt, früher Onanist, mit hypochondrischen Vorstellungen und Sensationen sexueller Natur behaftet und zeitweilig von dem Triebe erfüllt, mit entblössten Genitalien herumzulaufen, was ihm Erleichterung verschaffte. „Der Untersuchte“, sagt Liman, „gehört zu einer Classe von Individuen mit eigenthümlicher hypochondrischer Anlage, deren Aufmerksamkeit von gewissen körperlichen Empfindungen und Vorgängen in abnormer Weise in Anspruch genommen wird, welche über solche grübeln, allerlei sonderbare Vorstellungen daran knüpfen und auf ebenso sonderbare Mittel zur Bekämpfung ihrer Sensationen und Ideen verfallen.“ Im zweiten Falle handelte es sich um einen 30jährigen Hereditarier mit unvollkommen epileptischen Anfällen, periodischem Wandertrieb und Dämmerzustand, während dessen er mehrmals in fremde Häuser ging, seine Genitalien entblösste und Mädchen zeigte. Partielle Amnesie.
[570] Neuere Fälle dieser Art werden in den Annal. d’hygiène publ. 1890 und 1891 mitgetheilt.
[571] Fritsch, Casuistische Beiträge zur Lehre vom impulsiven Irrsein. Jahrb. f. Psych. 1887, VII, pag. 196.
[572] Meynert rechnet solche Fälle zu den complicirten Geistesstörungen, und zwar zur „Geistesstörung mit Neurasthenie“. Darunter subsumirt er die Hypochondrie oder Pathophobie und das reiche Gebiet der Zwangsvorstellungen (Phobien): Grübelsucht, Fragesucht und die „conträre Sexualempfindung“.
[573] „Die Lehre von der Mania transitoria“, Monographie, 1865, ferner „Die Lehre von den transitorischen Störungen des Selbstbewusstseins“, 1868, und Lehrb. f. forens. Psychol., pag. 111; auch Schwarzer, „Die transitorische Tobsucht, eine klinisch-forensische Studie“, Wien 1880.
[574] Von den zahlreichen einschlägigen Arbeiten sind insbesondere zu erwähnen: Falret, De l’état mental des épil. 1861, Morel, D’une forme de délire, se rattachant à une variété d’épilepsie, 1860 und Sur épilepsie larvée. Annal. méd. psych. 1873, I. Griesinger, „Ueber epileptoide Zustände“. Arch. f. Psych. 1868, I. Legrand du Saulle, „Des actes commis par les épileptiques“. Annal. d’hygiène publ. 1875, pag. 412. Legroux, ibidem, pag. 220. Samt, „Epileptische Irrseinsformen“. Arch. f. psychol. 1875, V. Krafft-Ebing, „Ueber epileptische Dämmer- und Traumzustände“. Friedreich’s Blätter, 1876, und Allg. Zeitschr. f. Psych., XXXIII, Legrand du Saulle, „Étude médico-lég. sur les épileptiques“. Paris 1877. Schüle, Handbuch, pag. 407.
[575] Doch bringt Tamburini (Rivista sperim. 1878, pag. 597 u. ff.: „L’Amnesia non e caraterre costante dell’ epilessia larvata“) Fälle, in welchen die Erinnerung für die psychischen Aequivalente vollständig erhalten war.
[576] Dagegen findet sich der Ausdruck „volle Trunkenheit“ im §. 452 des österr. St.-G.-E., jedoch unter ausdrücklicher Beziehung auf den §. 56 des betreffenden Gesetzes.
[577] Dies hat auch der mit der Berathung des österr. St.-G.-E. betraute Ausschuss zugegeben und beschlossen, die Worte „voller Trunkenheit“ wieder aufzunehmen, mit der Motivirung, „weil einerseits die Volltrunkenheit doch nicht als eine „krankhafte Hemmung“ der Geistesthätigkeit betrachtet werden kann und weil anderseits die Volltrunkenheit nicht zur Bewusstlosigkeit gehen muss, um eine darin begangene strafbare Handlung als nicht strafbar zu erklären, da der Volltrunkene straflos bleiben muss, wenn er auch ein gewisses Bewusstsein noch beibehalten, die Trunkenheit aber doch einen solchen Grad erreicht hat, dass der Thäter das Strafbare seiner Handlung nicht einzusehen oder seinen Willen nicht frei zu bestimmen vermag“. Wir selbst halten die specielle Erwähnung der Trunkenheit im §. 56 des St.-G.-E. für überflüssig, da die durch die Trunkenheit veranlassten Zustände ganz gut unter den Begriff „Störung der Geistesthätigkeit“ subsumirt werden können, zumal wenn man das Epitheton „krankhafte“ weglassen würde. Eine ähnliche Abänderung wäre auch im §. 51 des deutschen St.-G. angezeigt.
[578] Literatur und Casuistik: Arens, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. X, 327; Schillinger, ibidem. XII, 327; Krafft-Ebing, l. c. 249. Ferner: „Ein Gutachten der Wiener medicinischen Facultät.“ Prag. Vierteljahrschr. 1857, LIV, pag. 107, Annal.
[579] Eine Untersuchung des Geisteszustandes eines Angeklagten findet statt, wenn im Laufe des processualen Verfahrens, wie sich die österr. St.-P.-O. (§. 134) ausdrückt, Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit entstehen, und es hängt somit vorzugsweise von den Ansichten und Eindrücken von Laien ab, ob eine Untersuchung des Geisteszustandes des Inculpaten für nothwendig erachtet wird oder nicht. Unter diesen Umständen ist es wohl begreiflich, dass entschiedene Geisteskranke verurtheilt werden können, die nie gerichtsärztlich untersucht worden sind. Umsomehr erscheint die bereits von verschiedenen Seiten (v. Krafft-Ebing, v. Wyss, Freymuth u. A.) aufgestellte Forderung berechtigt, dass der Untersuchungsrichter in gewissen Fällen gesetzlich verpflichtet werde, gerichtsärztlich einen genauen „Status“ erheben zu lassen, der alle Momente zu berücksichtigen hätte, welche auf die geistige Entwicklung und den Geisteszustand des Angeklagten Beziehung haben. Die Aufnahme eines solchen Status sollte z. B. ausnahmslos verlangt werden: bei allen, besonders schweren Verbrechen, bei Verbrechen, die von Personen unter 18 Jahren begangen wurden, bei Trunksüchtigen, Epileptikern, Hysterischen, nach überstandenen Kopfverletzungen und schweren Erkrankungen u. s. w.
[580] „Ob zu einer verlangten fachkundigen Ermittlung besondere Vorbesuche nothwendig sind, bleibt dem pflichtgemässen Ermessen der Medicinalbeamten überlassen. Sie dürfen 3 Vorbesuche ohne besondere Requisition des Gerichtes machen und dafür liquidiren. Findet der Arzt mehr als 3 Besuche nothwendig, so hat er die Genehmigung der Behörde zur Fortsetzung der Besuche einzuholen.“ Liman, Commentar zu §. 6 des preussischen Gesetzes vom 9. März 1872, betreffend die Vergütung an Medicinalbeamte für Besorgung gerichtsärztlicher etc. Geschäfte.
[581] Doch hat Fürstner (Arch. f. Psych. 1888, XIX, pag. 601) von 25 Untersuchungsgefangenen, die ihm zur psychiatrischen Untersuchung übergeben wurden, 12 als Simulanten erkannt. Drei davon hatten die entsprechenden Geisteskrankheiten im Gefängnisslazareth kennen gelernt. Auch Lutzenberger (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 463) erwähnt eines Säufers, der an 40mal wegen Delirium tremens in die Irrenanstalt gebracht worden war und sich dort mit der Epilepsie und psychopathischen Erscheinungen so vertraut gemacht hatte, dass er diese später nicht ohne Geschick zu simuliren vermochte.
[583] Da der §. 567 des österr. allgem. bürgerl. Gesetzbuches bestimmt, dass, wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch der Vernunft verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei voller Besonnenheit gewesen sei, diese Behauptung durch Sachverständige oder durch obrigkeitliche Personen, oder durch andere zuverlässige Beweise ausser Zweifel gesetzt werden soll, so wäre es nicht unmöglich, dass trotz verhängter Curatel doch die Testirfähigkeit des betreffenden Individuums noch Gegenstand einer besonderen ärztlichen Untersuchung werden könnte.
[584] Dieselben sind conform den in der St.-P.-O. festgesetzten. Bezüglich der Vorbesuche, sowie bezüglich der Abgabe der Gutachten ist auch der Erlass des Min. f. geistliche Angelegenheiten vom 28. April und 31. Mai 1887, betreffend das Entmündigungsverfahren, zu beobachten. Siehe Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med., XLVIII, pag. 384 und 385.
[585] Besprechungen der auf Geisteskranke überhaupt und das Entmündigungsverfahren insbesondere bezüglichen Bestimmungen des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich von Roth, Mendel und Mittenzweig s. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLVIII, pag. 1; XLIX, pag. 222 und L, pag. 101. Einer Entscheidung des Reichsgerichtes zufolge (Freyer, Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1894, pag. 101) ist für den Begriff des „Wahnsinns“ das häufigere oder seltenere Vorkommen der Tobsuchtsanfälle nicht massgebend und es wird der §. 698 des Allg. Landr. Anwendung finden müssen, wenn der Beklagte über ein Jahr ohne wahrscheinliche Hoffnung auf Besserung an zeitweilig wiederkehrenden, mit gänzlichem Mangel des Gebrauches seiner Vernunft verbundenen Tobsuchtsanfällen gelitten hat.
[586] Falret, „Rapport sur un cas d’aphasie, pour lequel on demande l’interdiction.“ Annal. d’hygiène publ. 1869, pag. 431. Lefort (Avocat à la cour de Paris), „Remarques sur l’interdiction des Aphasiques.“ Ibid. 1872, pag. 417. Blumenstok, „Ein Fall von traumatischer amnestischer Aphasie und gerichtsärztliche Bemerkung über Aphasie überhaupt“. Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 363. Jolly, „Ueber den Einfluss der Aphasie auf die Fähigkeit zur Testamentserrichtung“. Wiener med. Bl. 1882, pag. 1168, und Frischauer, „Die Testirfähigkeit Aphasischer“ nach österr. Rechte. Ibidem, pag. 1260.
[587] R. Arndt, Artikel „Aphasie“ in Eulenburg’s Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. I, 436.
[588] Der Entwurf eines neuen deutschen bürgerlichen Gesetzbuches bedient sich des Ausdruckes „Geschäftsfähigkeit“.
[589] S. einen einschlägigen Fall Wiener med. Presse, 1878, Nr. 1, und den Fall Sandon (Legrand du Saulle, „Les signes physiques des folies raisonnantes“. 1878, pag. 30, und „Étude médico-lég. sur les testaments.“ 1879, pag. 482.
[590] Interessante Fälle vide Legrand du Saulle, „Étude méd.-lég. sur les testaments“. 1879, pag. 354 u. ff.
[591] „Es ist traurig,“ sagt Legrand du Saulle (l. c. 362), „dass wir gestehen müssen, dass zwei Fünftel derjenigen, die ganz unerwarteter Weise an Spitäler oder Anstalten Legate vermachen, nur unfreiwillige Wohlthäter sind. Diese unvermutheten Menschenfreunde haben eine Familie, die sie enterben, verdächtigen, anschuldigen und ohne Gnade zu Gunsten jener Institute berauben, und es ergibt sich, dass sie während des Lebens mürrische, misstrauische, egoistische und geizige Individuen waren. Ich habe den Muth, zu gestehen, dass meine Ueberzeugung dahin geht, dass die grossen Vermächtnisse an Hospitäler häufig nichts Anderes sind, als der Ausdruck intellectueller moralischer oder affectiver Läsion.“
[592] A. Erlenmeyer, „Die Schrift. Grundzüge ihrer Physiologie und Pathologie.“ Stuttgart 1879. Tardieu, „Étude méd. lég. sur la folie.“ 2me édition 1880. Beide Arbeiten mit zahlreichen Facsimiles. Ueber Schreibstörungen bei Schwachsinnigen, s. pag. 888.
[593] Es kann auch vorkommen, dass der scheinbar sterbende genest und selbst gegen die Rechtsgiltigkeit der von ihm während der schweren Erkrankung abgeschlossenen Acte protestirt. Ueber einen solchen seltenen Fall hat die königl. wissenschaftliche Deputation in Berlin (Ref. Leyden) ein Gutachten abgegeben. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1890, LIII, pag. 217.
[594] v. Schüle (l. c. 319 u. ff.). Wir haben in mehreren solchen Fällen Verwachsungen der Meningen mit der Hirnrinde gefunden. In mehreren derselben war der Delirien und Convulsionen wegen, unter welchen der Tod eintrat, Meningitis diagnosticirt worden.
[595] Hierher gehört der von Rokitansky (Schmidt’s Jahrb. 1855, LXXXVII, pag. 85) beschriebene Selbstmord eines Melancholikers durch Bauchaufschlitzen und Herausreissen der Gedärme, ferner auch der sonderbare, im Wiener Physikatsberichte vom Jahre 1871, pag. 122, erwähnte Selbstmord eines 56jährigen Sparcassabeamten, der sich dadurch getödtet hatte, dass er einen mit Büchern schwer belasteten Kasten mit Stricken versah und an letzteren anziehend denselben auf sich stürzte, nachdem er sich mit dem Kopfe auf ein prismatisches Holzscheit gelagert hatte.
[596] Zufolge der österr. Pensionsvorschriften, insbesondere zufolge der Circ.-Verordnung des k. k. Finanzministeriums vom 30. August 1852, Z. 14.497, werden Witwen und Waisen jener Staatsdiener, welche in der activen Dienstleistung als „freiwillige“ Selbstmörder ihr Leben enden, ihrer Pensionsansprüche verlustig, und mit Erlass des Ministeriums des Innern vom 17. October 1868, Z. 20.476, wird bestimmt, dass in solchen Fällen von Selbstmord, in welchen bei einem Staatsbeamten der zur Begründung der Versorgungsansprüche der Witwen und Waisen erforderliche Nachweis über die Unzurechnungsfähigkeit selbst durch die Leichen-Obduction geliefert werden kann und soll, eine sanitätspolizeiliche Obduction vorzunehmen sei. Ebenso Verordnung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 8. April 1857, R.-G.-Bl. Nr. 73.
[597] Es gehören hierher auch die Fälle, in denen Personen, die schwere, von sofortiger oder nachträglich eingetretener Bewusstlosigkeit gefolgte Misshandlungen, insbesondere mit Hirnerschütterung verbundene Kopfverletzungen erlitten haben, nach ihrer Genesung über das Vorkommniss aussagen sollen. Nach intensiven Hirnerschütterungen ist auch nach vollständiger Restitutio ad integrum die Erinnerung an die letzten Vorgänge in der Regel nur eine summarische, in anderen Fällen kann die Erinnerung bis zum Moment des Eintrittes der Bewusstlosigkeit erhalten bleiben. In einem von uns begutachteten Falle hatte ein Mann, der sich nachträglich als Paralytiker herausstellte, sein Kind mit der Hacke erschlagen und seiner Geliebten die linke Schläfe zertrümmert. Die Frau lag mehrere Wochen bewusstlos, genas jedoch schliesslich mit zurückbleibender Lähmung der rechten Körperhälfte. Bei der Hauptverhandlung gab sie über ihr Vorleben ganz präcise Auskunft, hatte jedoch von den Vorgängen unmittelbar vor der That nur nebelhafte Erinnerung. Einen Schmerz hatte sie nicht verspürt und weiss gar nicht, dass sie einen Hieb erhielt. In allen solchen Fällen (vide einen einschlägigen in Friedreich’s Bl., 1874, pag. 1) ist aber natürlich auch zu erwägen, ob nicht in Folge der Verletzung psychische Defecte zurückgeblieben sind, die die richtige Beurtheilung früherer Vorkommnisse beeinträchtigen oder ganz unmöglich machen. Beobachtungen über Ausfall von Erinnerungsbildern nach Commotio cerebri hat Gussenbauer (Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 43) mitgetheilt. Retroactive Amnesie findet sich auch bei nach Asphyxie Genesenen, insbesondere nach Strangulation und nach CO-Vergiftung (vide pag. 571, 587 und 710).
[598] Insbesondere bei der sogenannten Besessenheit. Instructive Fälle dieser Art, wo die Betreffenden sich sogar auf den Scheiterhaufen brachten, lieferten die mittelalterlichen Hexenprocesse. S. Leubuscher, „Der Wahnsinn in den vier letzten Jahrhunderten“. Halle 1848.
[599] Eine solche Vorsicht ist auch gegenüber Kindern angezeigt, die mitunter die schwersten Anklagen gegen sich oder andere vorbringen, ohne dass dieselben objectiv begründet wären. Die pathologische Grundlage solcher Angaben ist manchmal schwer oder gar nicht nachweisbar. Motet (Les faux témoignages des enfants dévant la justice. Annal. d’hygiène publ. 1887, XVII) berichtet über solche Fälle.
[600] Bei Melancholischen können Selbstanklagen auch als indirecter Selbstmordversuch vorkommen, d. h. in der Absicht geschehen, um hingerichtet zu werden.
[601] Legrand du Saulle, „Folies raisonnantes“ (État mental de Sandon). Paris 1878.
[602] Letztere Angabe kommt übrigens auch bei Nichthysterischen nach verunglückten Selbstmordversuchen gar nicht selten vor, indem sich die Betreffenden aus irgend welchen Gründen scheuen, zu gestehen, dass sie einen Selbstmord begehen wollten. Doch wurden in solchen Fällen unseres Wissens niemals bestimmte, sondern immer fingirte Personen als Urheber der betreffenden Verletzung bezeichnet. Uns sind mehrere einschlägige Fälle bekannt. Einer derselben betraf ein 25jähr. Mädchen, welches in einem der hiesigen Parks Nachts liegend gefunden wurde. Sie hatte 3 Messerstiche in der linken Brustseite, von denen jedoch keiner penetrirte. Auf das Polizeicommissariat gebracht, gab sie an, dass, als sie auf einer Bank ausruhte, plötzlich ein Mann aus dem Gebüsche gesprungen sei, ihr ein mit einer betäubenden Substanz getränktes Sacktuch unter die Nase gehalten und sie dadurch bewusstlos gemacht habe. Nach dem Erwachen habe sie zu ihrem Schrecken bemerkt, dass sie gestochen worden sei. Natürlich erschien diese Angabe unglaubwürdig und die Betreffende gestand auch im Spitale, dass sie sich selbst das Leben nehmen wollte und nur aus Scham den Ueberfall ersonnen habe. S. auch pag. 392.