The Project Gutenberg eBook of Experimentelle Psychologie

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Title: Experimentelle Psychologie

Author: Johannes Lindworsky

Release date: July 25, 2024 [eBook #74123]

Language: German

Original publication: München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE PSYCHOLOGIE ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1923 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

Der Übersichtlichkeit halber wurden die Fußnoten an das Ende der jeweiligen Kapitel, das Inhaltsverzeichnis dagegen an den Anfang des Texts verschoben.

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Original-Einband

Philosophische Handbibliothek

Band V

Verlagssignet

P H I L O S O P H I S C H E
H A N D B I B L I O T H E K

Dekoration

Herausgegeben von

Clemens Baeumker
Ludwig Baur
Max Ettlinger

unter Mitarbeit von

Matthias Baumgartner / Adolf Dyroff
Godehard Jos. Ebers / Josef Ant. Endres / Josef Geyser
Martin Grabmann / Johannes Lindworsky / Hans Meyer
Franz Sawicki / Josef Schwertschlager
Johann Peter Steffes / Michael Wittmann

Verlagssignet

1 9 2 3


Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G. München
Verlagsabteilung
Kempten

E X P E R I M E N T E L L E
P S Y C H O L O G I E

von

Johannes Lindworsky S. J.

Dekoration

Dritte, durchgesehene Auflage

Band V
der Philosophischen
Handbibliothek

Verlagssignet

1 9 2 3


Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G. München
Verlagsabteilung
Kempten

Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck verboten

Made in Germany
*
Copyright 1923 by Josef Kösel & Friedrich Pustet, K.-G. München

Dekoration

Buchdruckerei des Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet, Kommandit-Ges.
Zweigniederlassung Kaufbeuren

[S. V]

Vorwort zur dritten Auflage

Ein doppeltes Ziel hatte sich diese Arbeit gesteckt: kurz und verlässig zu berichten, was bisher über das Seelenleben des Erwachsenen erforscht war, und die in diesem Bilde noch klaffenden Lücken sei es durch eigene Untersuchungen, sei es durch Hypothesenbildung auszufüllen. Die günstige Aufnahme, die das Buch gefunden — auch die zweite Auflage war vor Ablauf eines Jahres vergriffen —, dürfte beweisen, daß jenes Doppelziel im wesentlichen erreicht wurde.

In der dritten Auflage wurden die inzwischen gezeitigten Forschungsergebnisse verwertet, insoweit sie dem Plane des Buches entsprechen und eine gewisse Abgeschlossenheit erlangt haben.

Zwei Wünsche, die mir von geschätzter Seite vorgetragen wurden, konnte ich nicht erfüllen. Zunächst durfte ich ob des beschränkten Raumes nicht mit solcher Breite schreiben, daß das Buch mühelos von jedem Gebildeten gelesen werden könnte. Wer es als Leitfaden neben den Vorlesungen benützt — und für Hochschüler ist die „Philosophische Handbibliothek“ in erster Linie gedacht — wird keine Schwierigkeiten beim Studium finden. Andere Leser dürften bei etwas besinnlicher Lektüre den Inhalt gleichfalls bewältigen und dann um so größeren Gewinn davontragen. Zweitens wurde ein Abriß der Methoden, etwa als Anhang gewünscht. Allein, was an Methodik für das Verständnis der Tatsachen notwendig ist, wird stets an seinem Ort mitgeteilt. Im übrigen möchte ich nicht der Täuschung Vorschub leisten, die Befähigung zu psychologischer Forschungsarbeit lasse sich leichthin erwerben. Wer eine genauere Einführung in die Anfangsgründe der Methodik wünscht, sei auf das gediegene Werk von R. Pauli, „Psychologisches Praktikum“ 3. Aufl. 1923, verwiesen, das sich u. a. auch durch ausgedehnte Literaturnachweise auszeichnet. Noch weiter führende Literaturangaben[S. VI] finden sich bei J. Fröbes, „Lehrbuch der experimentellen Psychologie“ 2. Aufl. 1922/23. — Der S. 90 zitierte Aufsatz ist zwar schon seit geraumer Zeit gedruckt, wird aber vielleicht erst im nächsten Jahr erscheinen.

Köln, im September 1923.

Johannes Lindworsky S. J.

Dekoration

Druckfehlerberichtigung:

S. 104 Zeile 2 von unten lies: „objektiven“ statt „subjektiven“.

[S. VII]

INHALTSVERZEICHNIS

 
Seite
Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
 
1.
Die Eigenart der experimentellen Psychologie
2.
Die geschichtliche Entwicklung der experimentellen Psychologie
3.
Gegenstand und Aufgabe der experimentellen Psychologie
4.
Quellen und Methoden der experimentellen Psychologie
5.
Überblick über die verschiedenen Zweige der experimentellen Psychologie
Erster Abschnitt: Die Empfindungen
 
 
1.
Kap. Die Empfindung im allgemeinen
 
2.
 
 
A.
 
 
1.
Qualitative Betrachtung der Gesichtsempfindungen
 
2.
Die Beziehung der Farbenempfindung zu den äußeren Reizen
 
3.
Die Gesetze der Farbenmischung
 
4.
Der Simultankontrast
 
5.
Die Umstimmung der Netzhaut
 
6.
Die zeitlichen Verhältnisse der Lichtwirkung
 
7.
Die örtlichen Verhältnisse der Lichtwirkung
 
8.
Die Farbenblindheiten
 
9.
Die Theorie des Hell- und Dunkelsehens. Duplizitätstheorie
 
10.
Theorien des Farbensehens
 
B.
 
 
1.
Qualitative Betrachtung der Gehörempfindungen
 
2.
Die Beziehung der Tonempfindungen zu den äußeren Reizen
 
3.
Die Theorie der Gehörempfindung
 
3.
 
 
A.
 
 
1.
Qualitative Betrachtung der Geschmacksempfindungen
 
2.
Reize und Organe des Geschmacksinnes
[S. VIII]  
B.
Die Geruchsempfindungen
 
C.
Die Temperaturempfindungen
 
D.
Die Druckempfindung
 
E.
Die Schmerzempfindung
 
F.
Die Organempfindungen
 
G.
Die statischen Empfindungen
 
H.
Die kinästhetischen Empfindungen
 
4.
Kap. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie
 
5.
 
 
1.
Aufgaben und Methoden der Psychophysik
 
2.
Das Webersche und das Fechnersche Gesetz
Zweiter Abschnitt: Empfindungskomplexe
 
 
1.
 
 
1.
Die Tatsache der Tonverschmelzung
 
2.
Gesetze der Tonverschmelzung
 
3.
Die Erklärung der Konsonanz
 
2.
Kap. Die optischen Raumeindrücke
 
A.
 
 
1.
Das Flächenelement. Nativismus und Empirismus
 
2.
Der blinde Fleck
 
3.
Die kleinsten unterscheidbaren Raumgrößen in der Fläche
 
4.
Unvollkommenheiten des Einauges
 
B.
 
 
1.
Das Aufrechtsehen und die horizontale Ordnung
 
2.
Das Tiefensehen
 
C.
 
 
1.
Doppeltsehen und Einfachsehen
 
2.
Die Sehrichtung des Doppelauges
 
3.
Das Tiefensehen mit zwei Augen
 
4.
Der Ursprung der binokularen Tiefenwahrnehmung
 
3.
 
 
1.
Der Raumsinn der Haut
 
2.
Der Tastraum der Blinden
 
3.
Theorie des Tastraumes
Dritter Abschnitt: Die absoluten Vorstellungen
Vierter Abschnitt: Verbindung der Vorstellungen mit Empfindungen und Empfindungskomplexen
 
1.
Die Synästhesien
 
2.
Erscheinungsweisen der Farben
 
3.
Die Sehgröße
 
4.
 
 
a)
Ortssinn und Lagewahrnehmung
 
b)
Die Raumlokalisation im allgemeinen
[S. IX]
Fünfter Abschnitt: Elementare Denkfunktionen
 
 
1.
Die Beziehungserkenntnis
 
2.
Das aktive Beziehen
 
3.
Die Abstraktion
 
 
1.
Kap. Die Gestaltwahrnehmung
 
2.
Kap. Die Zeitwahrnehmung
 
3.
Kap. Die Bewegungswahrnehmung
Siebter Abschnitt: Elementare Gefühle
 
 
1.
Abgrenzung der elementaren oder sinnlichen Gefühle
 
2.
Die Eigenart der sinnlichen Gefühle
 
3.
Die Gefühlsdimensionen und -qualitäten
 
4.
Die Beziehungen zwischen Empfindung und Gefühl
 
5.
Verbindung und Lösung der Gefühle
 
6.
Die physiologischen Begleiterscheinungen der Gefühle
 
7.
Theorie der sinnlichen Gefühle
Achter Abschnitt: Das elementare Wollen
 
1.
Überblick über die verschiedenen Willenstheorien
 
2.
Die experimentelle Untersuchung des Willens
 
3.
Das elementare Wollen nach den experimentellen Ergebnissen
Erster Abschnitt: Die allgemeinen Gesetze der Vorstellungserneuerung
Zweiter Abschnitt: Die Assoziation als Grundlage der Reproduktion
 
1.
 
 
1.
Das Nervensystem
 
2.
Die Zuordnung einzelner Gehirnteile zu psychischen Funktionen
 
2.
 
 
1.
Die Methodik der Assoziationsforschung
 
2.
 
 
a)
Die Beziehungen zwischen der Zahl der Wiederholungen und der Assoziationsstärke
 
b)
Einfluß des Lernstoffes
 
c)
Die Gesetzmäßigkeiten des Vergessens
 
d)
Die Bedeutung des allgemeinen psychischen Verhaltens
 
e)
Nebenassoziationen
[S. X]  
3.
 
 
1.
Die Konstellation
 
a)
Die Hilfen
 
b)
Die Hemmungen
 
2.
Die Komplexbildung
 
 
1.
Kap. Die Vergleichung
 
2.
Kap. Die Dingerfassung
 
3.
Kap. Wahrnehmung und Vorstellung
 
4.
Kap. Begriffe und Kategorien
 
5.
Kap. Die Gewißheit
 
6.
Kap. Das schlußfolgernde Denken
 
7.
Kap. Das produktive Denken
 
8.
 
 
1.
Das Urteil
 
2.
Die Annahme
 
3.
Die Frage
 
9.
 
 
1.
Erinnerung und Wiedererkennen
 
2.
Erinnerungstäuschungen
 
3.
Die Aussage
 
10.
Kap. Das Ichbewußtsein
Zweiter Abschnitt: Die höheren Gefühle
 
 
1.
Eigenart der höheren Gefühle
 
2.
Theorie und Einteilung der höheren Gefühle
 
3.
Bemerkenswerte Arten der Gefühle
 
4.
Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens
 
5.
Die Beziehungen des Gefühls zu anderen Funktionen
Dritter Abschnitt: Das Willensleben
 
 
1.
Kap. Die Vorbereitung des Willensaktes
 
1.
Das Wesen des Motives
 
2.
Einteilung der Motive
 
3.
Vorbedingungen für die Wirksamkeit von Motiven
 
2.
 
 
1.
Die determinierenden Tendenzen
 
2.
Das Gesetz der speziellen Determination
 
3.
Die Messung der Willenskraft. Das assoziative Äquivalent
 
3.
 
 
1.
Die äußere Willenshandlung
[S. XI]  
2.
 
 
a)
Die Aufmerksamkeitsbewegung
 
1.
Begriff und Arten der Aufmerksamkeit
 
2.
Eigenschaften der Aufmerksamkeit
 
3.
Die Bedingungen der Aufmerksamkeit
 
4.
Die Wirkungen der Aufmerksamkeit
 
5.
Die Theorie der Aufmerksamkeit
 
a)
Die bisherigen Theorien
 
b)
Die genetische Aufmerksamkeitstheorie
 
b)
Die Vorstellungsbewegung
 
1.
Die gebundene Vorstellungsbewegung
 
2.
 
 
a)
Die Gestaltung der freien Vorstellungsbewegung
 
b)
Freie Vorstellungsbewegung und Phantasie
Erster Abschnitt: Die Sprache
 
 
1.
Die Leistungen der Sprache
 
2.
Die Entstehung der Sprache
 
3.
Die Sprachentwicklung
Zweiter Abschnitt: Die Sitte
 
 
1.
Gebräuche
 
2.
Die Konstanz der Kultur
 
3.
Recht und Sittlichkeit
Dritter Abschnitt: Die Kunst
 
1.
Das Schöne
 
2.
Der ästhetische Eindruck
 
3.
Die Entstehung und Entwicklung der Kunst
Vierter Abschnitt: Die Religion
 
1.
Der Gottesglaube
 
2.
Das Gebet
 
3.
Religiöse Entwicklungen
Erster Abschnitt: Der Schlaf
Zweiter Abschnitt: Der Traum
Dritter Abschnitt: Die Hypnose
Namenregister
Sachregister

[S. XII]

ABKÜRZUNGEN

APs: Archiv für die gesamte Psychologie.
CgEPs: Bericht über den ... Kongreß für experimentelle Psychologie.
FPs: Fortschritte der Psychologie
ZaPs: Zeitschrift für angewandte Psychologie.
ZPaPs: Zeitschrift für Pathopsychologie.
ZPs: Zeitschrift für Psychologie.

[S. 1]

Einleitung

1. Die Eigenart der experimentellen Psychologie

In diesem Buche wird von seelischen Vorkommnissen die Rede sein: wie wir die Farben sehen und die Töne hören; wie unsere Phantasie arbeitet; wie das Gedächtnis seine Schätze gewinnt und verliert; wie sich unser Gemüt regt; wie das menschliche Denken von Erkenntnis zu Erkenntnis vordringt und unser Wille seine Ziele verfolgt. Solche und ähnliche Vorgänge zu beobachten, sie im einzelnen kennen zu lernen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, das ist, allgemein gesprochen, die Forscheraufgabe des Experimentalpsychologen. Anders lauten die Fragen, die sich der Philosoph über das Seelische stellt: Woher stammen die seelischen Vorkommnisse? Was ist die Seele? Ist die Seele geistig, unsterblich, mit Freiheit begabt? Wie verhalten sich Leib und Seele? Der charakteristische Unterschied zwischen den Interessen des Philosophen und des Experimentalpsychologen springt in die Augen. Dieser schaut auf die seelischen Einzeltatsachen, auf das Wie der psychischen Erscheinungen. Der Philosoph hingegen bemüht sich um ihre letzten Gründe: die Seele als Urgrund der Bewußtseinserscheinungen ist sein eigentlicher Forschungsgegenstand.

Der verschiedene Gesichtspunkt, von dem aus beide das nämliche Seelenleben betrachten, bedingt die Entstehung zweier verschiedener Wissenschaften. Weil aber der Experimentalpsychologe sich um Einzeltatsachen kümmert, weil er nicht nach letzten Gründen und allgemeinsten Gesetzen fragt, darum kann seine Wissenschaft nicht als Philosophie gelten. Sie steht aber im engsten Zusammenhang mit der philosophischen Psychologie. Der Experimentalpsychologe muß wenigstens einen Teil seiner Aufgabe gelöst haben, ehe der Philosoph die seinige auch nur beginnen kann; wenigstens einige Einzeltatsachen des Seelenlebens müssen festgestellt, beobachtet und beschrieben sein, ehe sich Schlüsse[S. 2] auf die letzten Ursachen solcher Tatsachen ziehen lassen. Und noch vor jeder genaueren Kenntnis beider Wissenschaften darf man vermuten, daß die Schlußfolgerungen des Philosophen um so mannigfacher und sicherer sein werden, je mehr Tatsachenmaterial der Experimentalpsychologe zutage gefördert hat. Die experimentelle Psychologie ist somit eine unentbehrliche Hilfswissenschaft der Philosophie.

Mit dieser vorläufigen Bestimmung ist auch schon die Eigenart der Experimentalpsychologie kundgetan: sie muß ihrer ganzen Natur nach darauf ausgehen, mit möglichst großer Sicherheit und in reichster Fülle seelische Tatsachen festzustellen. Es stehen ihr zu dieser Aufgabe, wie wir später noch im einzelnen sehen werden, mancherlei Methoden zu Gebote. Von der idealsten dieser Methoden, dem Experiment, hat sie ihren Namen erhalten. Diese Bezeichnung ist freilich ein Notbehelf; denn nicht alle Probleme unserer Wissenschaft können durch das Experiment gelöst werden. Gleichwohl sagt man besser experimentelle als empirische Psychologie, da auch die philosophische Psychologie empirisch sein muß; auch sie hat von Tatsachen auszugehen, wenn anders sie eine wissenschaftliche Psychologie sein will.

2. Die geschichtliche Entwicklung der experimentellen Psychologie

Die experimentelle Psychologie, wie sie soeben von uns aufgefaßt wurde, hat noch keine Geschichte, ja genau genommen, liegt sie selbst noch in der Zukunft. Die experimentelle Psychologie ist nämlich zurzeit in dem Prozeß der Loslösung von der Philosophie begriffen, den die Physik schon lange hinter sich hat. Gegenwärtig will ein Teil der Autoren nur die experimentelle Psychologie allein gelten lassen, während die Mehrheit die reinen Tatsachenfragen zusammen mit den philosophischen behandelt, freilich zum Schaden beider. Nur wenige entschließen sich zur klaren Sonderung beider Wissenschaften. Läßt sich sonach eine Geschichte der experimentellen Psychologie noch nicht schreiben, so kann man doch die Entwicklung kenntlich machen, die bis zu dem gegenwärtigen Stadium der allmählichen Verselbständigung geführt hat.

[S. 3]

Die Psychologie hat niemals völlig der empirischen Grundlage entbehrt. Erfahrungen wie Träume, Erinnerungen u. ä. bildeten häufig den Ausgangspunkt und die Anregung zu den psychologischen Erwägungen der alten griechischen Philosophen. Man wird aber kaum sagen können, daß selbst ein Aristoteles, dem doch schon eine Formulierung der Assoziationsgesetze gelang, in ähnlicher Weise darauf ausgegangen wäre, psychische Tatsachen zu sammeln, wie er biologische und zoologische Beobachtungen beigebracht oder überliefert hat. Und so blieb es auch in der Hauptsache im Mittelalter. Einige wenige leicht zugängliche Selbstbeobachtungen waren der Unterbau, auf dem sich alsbald das spekulativ erarbeitete System der lebenswichtigen philosophisch-psychologischen Fragen erhob. Das braucht nicht zu befremden. Denn dies sind Fragen, zu denen jeder Mensch irgendwie Stellung nimmt, während die psychischen Einzelerscheinungen eine solche Bedeutung zumeist nicht beanspruchen und infolge ihrer Alltäglichkeit und engsten Zugehörigkeit zu unserem Ich nicht einmal unsere Verwunderung erregen — die doch nach Aristoteles allein den Anstoß zur Forschung gibt.

Um die Aufmerksamkeit der Forscher auf die seelischen Prozesse zu lenken, genügte die Abwendung Descartes’ von der herkömmlichen Psychologie noch nicht, obwohl er in der Seele nicht mehr das Prinzip des Lebens, sondern das des Bewußtseins sah; es bedurfte der Opposition der englischen Aufklärungsphilosophie, die in ihrem tendenziösen Kampfe gegen die grundlegenden Begriffe der Substanz und Kausalität die Tatsachen der Assoziation in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte. So entstand die Assoziationspsychologie, begründet von Locke, Hume und Hartley, erneuert von J. St. Mill und zuletzt durch Bain glänzend vertreten. Mit ihrer Leugnung des Denkens und Wollens regte sie zu lebhaftem Widerspruch an und sah sich auch selbst gezwungen, in stets erneuten Versuchen die seelischen Erscheinungen allein durch Empfindung und Vorstellung verständlich zu machen. So hat sie sich ohne Zweifel um das Studium der Bewußtseinsphänomene verdient gemacht. Sie stand jedoch der tieferen Einsicht ins Seelenleben im Wege,[S. 4] wo immer sie jede Erörterung über die seelischen Elemente in dogmatischer Befangenheit von vorneherein ablehnte und die widerstrebenden Tatsachen mit der Zwangsjacke sensistischer Terminologie vergewaltigte.

Eine zweite Wurzel der heutigen experimentellen Psychologie hat man in der Anbahnung einer physiologischen Psychologie zu erblicken. Es waren zunächst Theoretiker, die von der Physiologie wertvolle Aufschlüsse erwarteten. Die extremsten unter ihnen waren allerdings auf dem besten Wege, die Psychologie zugrunde zu richten. So schon der Assoziationspsychologe Priestley, der die psychologische Analyse durch die Physik des Nervensystems abgelöst wissen wollte, und ähnlich Comte, der an jeder Selbstbeobachtung verzweifelnd, Physiologie und Phrenologie an die Stelle der Psychologie setzte. Besonnener gingen Lotze, Horwicz und Maudsley voran. Die eigentliche Befruchtung durch die Physiologie ist aber den experimentierenden Physiologen wie Helmholtz, Weber, Hering zu danken. Sie bildeten wichtige Methoden aus, deren sich später die Psychologen bedienten.

Das Geburtsjahr der experimentellen Psychologie ist das Jahr 1860, wo Fechners „Elemente der Psychophysik“ erschienen. Angeregt durch E. H. Webers Untersuchungen über den Tastsinn, hat Gustav Theodor Fechner mit bewußter Absicht das Experiment zur Erzielung psychologischer Erkenntnisse angewandt und die Grundlage zu der ausgedehnten experimentellen Methodik geschaffen, deren sich heute die Psychologen erfreuen. Mit stärkerer Heranziehung der Physiologie setzte W. Wundt das Werk Fechners fort und erwarb sich namentlich durch die Gründung des ersten psychologischen Laboratoriums bleibende Verdienste um die neue Wissenschaft. Seitdem hat sie, gepflegt von einer stattlichen Zahl hervorragender Forscher und empfohlen durch die Fülle der von ihr in kurzer Frist festgestellten Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten, sich ihren Platz im System der Wissenschaften gesichert. Ein Markstein in ihrer Entwicklung wird durch den Namen Oswald Külpe bezeichnet, insofern Külpe mit Entschiedenheit für die Verselbständigung[S. 5] der experimentellen Psychologie als Einzelwissenschaft eintrat.

Gegenwärtig bahnt sich eine neue Entwicklung der Psychologie an. Wie sich die Physik allmählich von der Naturphilosophie loslöste und zur Experimentalphysik wurde, dann aber eine theoretische Physik ausbildete, der nicht zuletzt die großen Fortschritte der gesamten Physik zu danken sind, so melden sich heute die Ansätze zu einer theoretischen Psychologie. Während die experimentelle Psychologie die Haupterscheinungen des Seelenlebens erforscht, sucht die theoretische auf Grund der experimentellen Befunde die allgemeinsten Gesetze des Psychischen aufzustellen, aus denen sich dann die Einzelerscheinungen begreifen und ableiten lassen[1].

Hinsichtlich der bevorzugten Methoden lassen sich unter den heutigen Psychologen drei Gruppen unterscheiden. Neben der großen Zahl der prinzipiell experimentierenden Forscher finden sich solche, die wie Lipps und Brentano nur die schlichte Selbstbeobachtung heranziehen. Ihnen steht die phänomenologische Richtung nahe, deren bedeutsamster Vertreter Husserl ist. Sie geht allerdings nicht auf die Herausstellung von psychischen Einzeltatsachen aus, sondern bemüht sich, durch „Wesensschauung“ den Kern, das Wesentliche der seelischen Erlebnisse aufzuzeigen. Der besonnene Experimentalpsychologe wird weder die schlichte Selbstbeobachtung noch die phänomenologische Wesensschauung aus seiner Werkstätte verbannen. Namentlich die letztere kann ihm zur Vorbereitung wie zur Kontrolle der experimentellen Forschung schätzenswerte Dienste leisten. Jedoch der Erfolg dürfte schon heute dahin entschieden haben, daß beide Methoden für sich allein kein ausreichendes Fundament mehr abgeben für den weitauslagernden Bau der Tatsachenpsychologie.

Verwandt mit der Sonderung infolge der Methodik ist die durch den theoretischen Standpunkt hervorgerufene. Hier haben wir die „reinen“ Psychologen, die eine Ergänzung unseres psychologischen Wissens durch die Physiologie ablehnen und nur auf die bewußten Prozesse das psychologische[S. 6] Lehrgebäude errichten wollen. Dementsprechend verzichten sie auch auf die Klärungen, die von der Physiologie zu erhoffen sind. Ihnen gegenüber weist die größere Mehrzahl darauf hin, daß die Kette der Bewußtseinserscheinungen nicht lückenlos ist und daß sich außerdem gesetzmäßige Beziehungen zwischen physiologischen Zuständen und gewissen Seelenvorgängen nachweisen lassen. Diese Gruppe heißt also jeden Aufschluß willkommen, den die Physiologie zu geben vermag; gleichwohl betont auch sie, je länger je mehr, daß die seelischen Erscheinungen in erster Linie zu beachten sind. Innerhalb dieser Gruppe stehen sich nun wieder zwei oder drei Richtungen gegenüber. Die eine bekennt sich rundweg zur Assoziationspsychologie und weigert sich vorerst noch, elementare Denk- und Wollenserlebnisse anzunehmen. Die Schar ihrer Anhänger lichtet sich mit jedem Jahr; ihr bedeutendster Vertreter ist heute Th. Ziehen. Über sie suchte der angebliche Voluntarismus Wundts hinauszukommen, ohne jedoch mit seiner Apperzeptionslehre außerhalb des engsten Schülerkreises Anklang zu finden. Die dritte Gruppe endlich ging namentlich aus der Schule Külpes hervor. Wie sie jede wissenschaftliche Methode auszunutzen gewillt ist, so sträubt sie sich auch nicht, neue seelische Grundphänomene anzuerkennen, wenn anders sie durch zuverlässige Beobachtungen verbürgt sind. Infolgedessen hat sie, von der Wundtschen Richtung ausgehend, ihren Standpunkt bezüglich der Probleme des Denkens und Wollens in stets neu aufgegriffenen Untersuchungen allmählich wesentlich geändert und damit die Verbindung mit den von der aristotelischen Philosophie herkommenden Forschern gewonnen.

Literatur

M. Dessoir, Abriß einer Geschichte der Psychologie. 1911.

O. Klemm, Geschichte der Psychologie. 1911.

3. Gegenstand und Aufgabe der experimentellen Psychologie

Wir haben als den Gegenstand der experimentellen Psychologie schon oben im allgemeinen die seelischen Vorkommnisse[S. 7] gekennzeichnet. Um ihn schärfer zu umschreiben und gegen die Objekte anderer Wissenschaften, namentlich der Naturwissenschaft, abzugrenzen, müssen wir von der naiven Auffassung des Erwachsenen ausgehen.

Der von psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen noch unberührte Erwachsene sieht sich einer Welt von äußeren Dingen gegenübergestellt, die mit seinem Ich nichts zu tun haben. Seiner Auffassung nach sind ihm nicht zuerst seine Bewußtseinserscheinungen gegeben, sondern jene greifbaren Gegenstände, die er vor sich sieht. Erlebnisse wie Schmerz und Freude lenken ihn erst auf seine Innenwelt hin. Hat er weiterhin Gelegenheit, festzustellen, daß ein anderer Dinge als rot bezeichnet, die er etwa gelb nennt, so wird er auf den subjektiven Beitrag aufmerksam, den jeder Mensch zur Wahrnehmung der äußeren Dinge hinzubringt. Die Abhängigkeit vom Subjekt wird ihm noch deutlicher, sobald er einmal beobachtet, wie er selbst den nämlichen äußeren Gegenstand unmittelbar nacheinander, ohne daß sich an dem Objekt oder an den äußeren Bedingungen der Wahrnehmung etwas ändert, bald so, bald anders erblickt, wie er z. B. die Drehungsrichtung eines Windrades jetzt auf sich zu-, jetzt von sich abgewandt sieht. Nimmt er noch hinzu, daß sich bei geschlossenen Augen oder im Traum ganz ähnliche Ausblicke darbieten, wie bei offenen Augen und im Wachzustand, dann wird ihm klar, daß die Bilder der äußeren Gegenstände fast mehr von ihm stammen als von den fremden Objekten. Trotzdem hören die äußeren Dinge nicht auf, dem wahrnehmenden Ich wie etwas Fremdes, Getrenntes gegenüberzustehen, und dieser Eindruck bliebe erhalten, auch wenn das Subjekt zur Überzeugung käme, daß die Außenwelt in Wirklichkeit nicht bestünde.

Diese beiden Umstände: die relative Subjektivität von Schmerz, Freude, Wahrnehmungen u. ä. einerseits und die unzerstörbare Gegensätzlichkeit des betrachtenden Subjektes und der Außenwelt anderseits ermöglichen es, den Gegenstand der experimentellen Psychologie scharf zu umschreiben. Alle seelischen Vorkommnisse sind einem Subjekt zugehörig; sie alle sind[S. 8] einem Bewußtsein immanent, so daß kein anderer Mensch ein unmittelbares Wissen von ihnen hat. Diese Eigenart kommt nicht nur meinen Bewußtseinsvorgängen, sondern allen zu, die es vielleicht gibt; sie läßt sich aber in keiner Weise von den Dingen aussagen, die dem Ich fremd gegenüberstehen; sie seien denn Erlebnisse eines anderen Bewußtseins. Gegenstand der experimentellen Psychologie sind sonach alle jene Phänomene, die ihrer Natur nach bewußtseinsimmanent und unmittelbar nur für das erlebende Subjekt erfaßbar sind. Dabei sehen wir natürlich von ihrer etwaigen Erfaßbarkeit durch höhere als menschliche Wesen ab. Alle anderen Dinge, auf welche diese Kennzeichnung nicht zutrifft, bilden den Gegenstand anderer Wissenschaften; die körperlichen unter ihnen insbesondere geben das Objekt für die Naturwissenschaften ab.

Der Gegenstand der experimentellen Psychologie ist also nicht die substantielle Seele; denn zu ihr gelangen wir nur unter der Führung der philosophischen Psychologie, die auf Grund der Bewußtseinserscheinungen nachzuweisen hat, daß die psychischen Erlebnisse einen substantiellen Träger voraussetzen. Wir können aber auch nicht die gesamte Erfahrung als Gegenstand der Psychologie bezeichnen, auch nicht mit der Einschränkung: insoweit die Erfahrung von unserem Ich abhängig ist. Zu unserer Erfahrung gehören nämlich auch die Dinge außerhalb des Ich. Sie stehen aber in unserer Auffassung, von der wir als Psychologen auszugehen haben, als etwas Wirkliches und von dem Ich Unabhängiges vor uns. Auch die naive Auffassung unterscheidet, sobald sie nur einmal darauf hingewiesen wird, sehr wohl zwischen dem Gesichtsbild des Tisches, das sich je nach dem Standpunkt des Betrachtenden beständig ändert, und dem unverändert bleibenden Tisch, der diese verschiedenen Gesichtsbilder bedingt. Die äußere Erfahrung und die Bewußtseinsinhalte sind somit zwei ganz getrennte Gegenstandsgebiete. Wir wenden uns aber auch drittens gegen jene Psychologen, die z. B. die Farben aus dem Stoffgebiete unserer Wissenschaft ausscheiden wollen. Allerdings sprechen uns die Farben als objektive Eigenschaften der Außendinge an, und wir müssen hier von diesem unmittelbaren Eindruck ausgehen. Es wird sonach eine Wissenschaft erforderlich sein, die sich mit den Körperfarben befaßt. Allein wir stellen auch fest, daß es Farben als immanente Bewußtseinsinhalte gibt, so immanent, daß die individuelle Verschiedenheit des Farbensehens sich jahrhundertelang versteckt hielt und immer nur sehr indirekt nachgewiesen werden kann. Farben und Töne gehören darum sehr wohl zu dem Forschungsgegenstand der experimentellen Psychologie.

[S. 9]

Die Aufgabe der experimentellen Psychologie deckt sich im allgemeinen mit der einer jeden Tatsachenwissenschaft: sie heißt Beschreiben, Gruppieren, Erklären. Die bewußtseinsimmanenten Erlebnisse sind möglichst adäquat zu beschreiben. Was eine solche Beschreibung voraussetzt und welchen Schwierigkeiten sie gerade in der Psychologie begegnet, davon soll hier noch keine Rede sein. Die induktive Art unserer Einführung wird sie uns noch oft fühlbar machen. Gelingt aber die Beschreibung der Erlebnisse, so wird ein Vergleich dieser Beschreibungen zeigen, ob immer wieder neuartige, voneinander verschiedene Phänomene auftauchen — in diesem Falle müßte man an der Begründung einer wissenschaftlichen experimentellen Psychologie verzweifeln — oder ob sich gleiche bzw. verwandte Erlebnisse finden, die sich in fest umgrenzten Gruppen anordnen lassen. Auch hier hat die Psychologie größere Hindernisse zu überwinden als andere Einzelwissenschaften. Die Erlebnisse als ganze gleichen einander sehr wenig, und es bedarf der Analyse, um zu psychischen Einheiten oder gar zu psychischen Elementen vorzudringen, die dann als gleich behandelt werden können. Endlich hat die Experimentalpsychologie auch eine Erklärung der Bewußtseinserscheinungen zu versuchen. Doch ist der Begriff dieser Aufgabe des Erklärens kein einheitlicher. Im Sinne der positivistischen Naturwissenschaft nennt man es eine Erklärung, wenn es gelingt, die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen aufzuweisen. Sobald diese bekannt sind, ist man imstande, beim Auftreten eines bestimmten Phänomens die Bedingungen anzugeben, die es herbeigeführt haben, wie man auch umgekehrt, sobald gewisse Bedingungen erfüllt sind, voraussagen kann, welche Folge sich einstellen wird. Diese Art der Erklärung setzt also die Beobachtung von Gesetzmäßigkeiten im psychischen Geschehen voraus. Ob solche Gesetzmäßigkeiten überhaupt im Bewußtseinsleben vorliegen, das kann erst die folgende Untersuchung lehren. Sie ohne weiteres und auf allen Gebieten dieser Disziplin voraussetzen, wie dies z. B. James tut, nur deshalb, weil sonst eine wissenschaftliche Psychologie unmöglich sei, das kann nicht mehr[S. 10] als vorurteilslose Forschung gelten. Eine andere Art der Erklärung greift über den Bereich der Bewußtseinstatsachen hinaus und sucht z. B. in dem physikalischen Reiz und in der Beschaffenheit der nervösen Substanz die Ursachen bzw. die Bedingungen der Empfindung. Auch diese Art muß die Psychologie, wenn sie nicht reine, sondern physiologische Psychologie ist, verwerten. In diesem Sinne wird oft nach der Ursache einer psychologischen Gesetzmäßigkeit zu forschen sein; ob z. B. die Gesetzmäßigkeiten des Farbenkontrastes letztlich auf seelische oder auf körperliche Faktoren zurückzuführen sind.

4. Quellen und Methoden der experimentellen Psychologie

Weil unser Forschungsgegenstand die Bewußtseinserscheinungen sind, so erblicken wir in der Bewußtseinswelt, jener Welt, die in eigenartiger Weise neben dem Reich der sichtbaren Dinge besteht, die naturgemäße und wesentliche Quelle der psychologischen Wissenschaft. Wo immer sich Bewußtsein findet, da kann der Psychologe versuchen, Kenntnisse zu schöpfen. Der Bewußtseinswelten gibt es aber unzählbare: bei jedem Menschen, jedem Tiere, und selbst die Bewußtseinswelten höherer Wesen brauchen nicht notwendig von vorneherein unberücksichtigt zu bleiben. Dieser erfreuliche Quellenreichtum wird nun leider in seinem Werte dadurch vermindert, daß all diese Milliarden von Quellen bis auf eine einzige fest ummauerte und versiegelte Quellen sind. Nur in sein eigenes Bewußtsein eröffnet sich dem Forscher ein unmittelbarer, freier Einblick. Wir sind jedoch zu der Annahme berechtigt, daß das Bewußtseinsleben in einem mehr oder weniger eindeutigen Zusammenhang mit seinen Äußerungen steht. Der Einzelne bemerkt auf jeden Fall, wie sich regelmäßig mit einem Erlebnis der Freude ein bestimmter, äußerlich wahrnehmbarer Ausdruck verbindet; bei schmerzlichen Erlebnissen hingegen stellt sich mit derselben Regelmäßigkeit ein merklich verschiedener Ausdruck ein. Ähnliche Ausdruckserscheinungen gewahre ich nun bei den andern Menschen[S. 11] und vielfach auch bei Tieren und gelange so mit einem Analogieschluß dahin, auch bei diesen die gleichen oder verwandte Bewußtseinserscheinungen anzunehmen. Richten wir unser praktisches Verhalten zur Umwelt nach diesen Analogieschlüssen ein, so gibt uns die Erfahrung recht. Unsere Überzeugung von dem Vorhandensein und der Gestaltung des fremden Bewußtseins wird dann naturgemäß so lebendig, daß wir unmittelbar in die fremde Seele zu schauen meinen und die Mittelbarkeit unseres Wissens oft zum eigenen Nachteil vergessen.

Neben der primären Quelle psychologischer Forschung, dem Bewußtsein, lernen wir also die Äußerungen des Bewußtseins als sekundäre Quellen kennen. Die Äußerungen des Bewußtseins sind entweder fließende und begleiten einen gleichzeitig verlaufenden psychischen Vorgang, oder sie verbleiben als dauernde Wirkungen früherer Bewußtseinserscheinungen. Zu ersteren gehören die lebendige Sprache, die willkürlichen Bewegungen, die unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen u. a., zu letzteren die Sprachdenkmäler, die Erzeugnisse von Kunst, Religion und Volksleben u. ä. m. Eine dieser sekundären Quellen, die lebendige Sprache, namentlich wenn sie, durch Frage und Antwort unterstützt, uns die Selbstbeobachtungen anderer mitteilt, gestattet uns einen so klaren Einblick in das fremde Bewußtsein, daß man mit Grund die Behauptung wagen kann: wenigstens innerhalb gewisser Grenzen handle es sich da schon nicht mehr um eine sekundäre Quelle, sondern die mitgeteilte Selbstbeobachtung eines Fremden sei der eigenen Selbstbeobachtung des Forschers gleichwertig. Dieses Problem restlos zu lösen, ist Aufgabe der speziellen Erkenntnistheorie.

Die Methoden der experimentellen Psychologie richten sich nach ihren Quellen. Weil das Bewußtsein die primäre Quelle ist, ist folgerichtig die Selbstbeobachtung die primäre Methode. Sie gewährt die unmittelbarste Kenntnis der Seelenprozesse und bleibt letzten Endes der Schlüssel zum Verständnis aller Ergebnisse, die durch andere Methoden erzielt werden. Die Selbstbeobachtung kann beabsichtigt oder unbeabsichtigt sein. Unbeabsichtigt[S. 12] wird sie stets nur gelegentlich auftreten und darum nur spärliche Beiträge liefern. Die beabsichtigte Selbstbeobachtung wird nun häufig während des zu beobachtenden Erlebnisses angestellt. Dadurch wird aber ihr Wert recht zweifelhaft. Man braucht zwar nicht wie manche Autoren die absolute Unmöglichkeit einer gleichzeitigen Selbstbeobachtung anzunehmen, aber das läßt sich auch experimentell nachweisen, daß die gleichzeitige Beobachtung modifizierend, wenn auch nicht notwendig fälschend auf das Erlebnis einwirkt. Die gelegentliche Beobachtung hingegen stellt sich in der Regel nicht während, sondern unmittelbar nach Ablauf des seelischen Vorganges ein. Man kann sich leicht davon überzeugen, daß ein Bewußtseinsphänomen unmittelbar nach seinem Ablauf nicht gänzlich unserem Wissen entschwunden ist. Es steht gewissermaßen in seiner Gesamtheit noch vor uns, ohne daß wir es im eigentlichen Sinne zu reproduzieren brauchten. Man lasse sich z. B. eine mittelschwere Kopfrechnung vorlegen, löse sie schnell und frage sich, wie man zur Lösung gelangt ist. Man wird dann leicht angeben können, ob man einen rechnerischen Kunstgriff gebraucht hat, ob man die Zahlen im Geiste gesehen oder sie sogar phantasiemäßig niedergeschrieben usw. Die Zuverlässigkeit solcher Angaben wird für uns über jeden Zweifel erhaben sein. Ebensowenig wird man befürchten, die rückschauende Beobachtung könne nachträglich das Erlebnis umgestalten. Das vermag nicht einmal die Absicht zur rückschauenden Beobachtung, wenigstens solange sie nicht eine bestimmte Erwartung einschließt.

Die primäre wissenschaftliche Methode der experimentellen Psychologie ist somit die rückschauende Selbstbeobachtung. Da aber eine bloß gelegentliche Selbstbeobachtung nicht ausgiebig genug ist, um auf sie eine ganze Wissenschaft aufzubauen, hat man sie zur systematischen und experimentellen umgestaltet. Das Wesen des Experimentes beruht nun in der willkürlichen Herbeiführung eines Vorganges zum Zwecke der wissenschaftlichen Beobachtung. Es macht den Forscher von der Gunst des Zufalles unabhängig und ermöglicht eine[S. 13] wiederholte und darum zuverlässige Beobachtung. Das psychologische Experiment, das sich zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter abspielt, hat überdies den Vorteil, daß der beobachtenden Versuchsperson die Absichten und Erwartungen des Versuchsleiters verborgen bleiben können, wodurch ein unvoreingenommenes Erleben und Beobachten seitens der Versuchsperson möglich wird. Das psychologische Experiment kann nun einen doppelten Zweck verfolgen: es kann darauf ausgehen, einen seelischen Prozeß überhaupt nur herbeizuführen, damit er genau beobachtet werde. In diesem Falle ist es nach neuerer Terminologie (Baade) ein Darstellungsexperiment. Die eingehendste Selbstbeobachtung ist bei ihm die Hauptsache. Der Forscher kann aber auch erkunden wollen, wie verschiedene psychische (oder auch psychische und physische) Faktoren aufeinander einwirken: wie z. B. das Lernen bei gleichzeitiger Ablenkung der Aufmerksamkeit erfolgt — in diesem Falle bezeichnet man den Versuch als Kausalexperiment. Auch dies ist ohne jede Selbstbeobachtung nicht auszuführen. Aber sie tritt hier wesentlich zurück. Die Hauptsache ist hier die Leistung der Versuchsperson, etwa die Bewältigung der Lernaufgabe mit und ohne Störung. Auf diese Weise kann der Psychologe planmäßig den verschiedenen Erlebnissen und Erlebnisseiten, wie auch dem kausalen Nexus unter ihnen nachgehen und dadurch seine Beobachtung zu einer systematischen machen. Dementsprechend ist beim Kausalexperiment die Variation der Versuchsbedingungen wesentlich, beim Darstellungsexperiment hingegen entbehrlich.

In einem umfassenderen Sinne läßt sich das psychologische Experiment folgendermaßen einteilen. Hinsichtlich seines Zweckes: Das Prüfungsexperiment (Test) fragt nach dem Gelingen einer Leistung. Das Forschungsexperiment nach der Natur eines psychischen Vorganges, und zwar als messendes (psychophysisches) nach dessen Größenverhältnissen, als darstellendes nach dessen Beschaffenheit, als Kausalexperiment nach dessen Abhängigkeit von verschiedenen Bedingungen. Eine zweite Teilung ergibt sich aus dem Verhalten der Versuchsperson (Vp). Je nachdem diese von dem Zweck und der Anlage des Experimentes weiß, ist das[S. 14] Verfahren ein wissentliches, halbwissentliches oder unwissentliches. Je nachdem ferner die Vp an dem Zustandekommen des seelischen Erlebnisses beteiligt ist, kann man das Experiment als ein auslösendes (ein Sinnesreiz ruft ohne weiteres eine Empfindung oder ein Gefühl hervor), ein ausführendes (die Vp bringt willkürlich die gewünschte Erscheinung hervor, z. B. sie erinnert sich willkürlich) oder ein gemischtes nennen. Das ausführende Experiment ist entweder ein unvollkommenes, wenn die Vp willkürlich ein Erlebnis nachzumachen sucht (Schreibtischexperiment), oder ein vollkommenes, wenn sie durch die Versuchsanordnung in eine Lage gebracht wird, in der sie naturgemäß zu jenem Erlebnis gelangt.

Durch das Experiment ist nun die bloß gelegentliche Beobachtung nicht völlig außer Kurs gesetzt. Gerade sie weist oft dem Psychologen neue Probleme zur experimentellen Nachprüfung und sie bleibt der einzige Zeuge für all jene Seelenvorgänge, die sich nicht willkürlich herbeiführen lassen. Um nun auch die bloß gelegentlichen Selbstbeobachtungen der Forschung dienstbar zu machen, ist man auf ihre planmäßige Sammlung bedacht. Man verwendet dazu zweckmäßig den Fragebogen. Je genauer dem Aussender eines solchen Bogens die Zuverlässigkeit der Beantworter bekannt ist, je zugänglicher die erfragten Erlebnisse einer durchschnittlichen Beobachtungsgabe sind und je mehr die Fassung der Fragen, frei von jeder Suggestion, den Beantworter zur Angabe von Tatsachen anleitet, von theoretisierenden Äußerungen hingegen fernhält, um so brauchbarer wird das Ergebnis einer solchen Rundfrage sein.

Insoweit die sekundären Quellen nicht eine Fixierung der Selbstbeobachtung sind und somit zur primären Quelle hinleiten, können sie alle als Wirkungen psychischer Prozesse gelten, Wirkungen, aus denen sich mancherlei Schlüsse auf ihre Ursachen ziehen lassen. Sie sind fertige geistige Produkte und demnach keinem experimentellen Eingriff mehr zugänglich. Ihnen gegenüber sind nur noch die Methoden der Analyse, des Vergleiches und der statistischen Verarbeitung möglich. Von besonderem Werte ist dabei der Vergleich, der sich nach Aufstellung einer Entwicklungsreihe des betreffenden psychischen Produktes, etwa der Kinderzeichnungen, ausführen läßt.

[S. 15]

Literatur

R. Pauli, Psychologisches Praktikum. 3. Aufl. 1923.

W. Stern, Die differentielle Psychologie. 3. Aufl. 1921.

5. Überblick über die verschiedenen Zweige der experimentellen Psychologie

Wir geben im Anschluß an Titchener einen Überblick über die verschiedenen Zweige der experimentellen Psychologie.

I. Die Psychologie des normalen Seelenlebens.

A. Die individuelle Psychologie.

  1. Die Psychologie des Menschen.
    1. Allgemeine Psychologie: die Psychologie des Erwachsenen.
    2. Die spezielle Psychologie der einzelnen Entwicklungsstadien (des Kindes, des Greises u. ä.).
    3. Die differentielle Psychologie; sie behandelt die psychischen Unterschiede der Individuen.
    4. Die genetische Psychologie; sie erforscht die Entwicklung der Psyche im Laufe des Lebens.
  2. Die Tierpsychologie. Ihre Unterabteilungen ähnlich wie bei 1.
  3. Die vergleichende Psychologie. Sie befaßt sich mit der Vergleichung der verschiedenen Entwicklungsstufen der Seele bei Tier und Mensch.

B. Die kollektive Psychologie.

  1. Die Völkerpsychologie schildert die Erscheinungsweise des Seelischen in der Gemeinschaft.
  2. Die ethnologische Psychologie oder die differentielle Psychologie der verschiedenen Völker und Rassen.
  3. Die Klassenpsychologie oder die differentielle Psychologie der Gesellschaftsklassen und Berufe.

II. Die Psychologie des kranken, anormalen Seelenlebens.

Diese Einteilung wählt das Subjekt der psychischen Vorgänge zum leitenden Gesichtspunkt. Sie kann ergänzt werden durch zwei andere Einteilungen, die entweder die psychischen Funktionen oder die Gegenstände der psychischen Funktionen berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Psychologie der Vorstellung, des Willens usw. auf der einen Seite, und eine Sprach-, Kunst-, Religionspsychologie auf der anderen. Die Einteilung nach Gegenständen führt theoretisch zu unbegrenzt vielen Zweigen der Psychologie. Praktisch werden indes nur jene bestehen können, die sich auf einen bedeutsamen Gegenstand beziehen oder eigenartige psychische Erscheinungen betreffen.

Wir besprechen im folgenden in erster Linie die Psychologie des normalen und gebildeten Erwachsenen. Doch werden wir an gegebener Stelle auch die andern Zweige der Psychologie zu Rate ziehen.

[1] Vgl. des Verfassers, „Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie“ 2. Aufl. 1923.

[S. 16]

I. Buch
PSYCHISCHE ELEMENTE UND ELEMENTARE VERBINDUNGEN

ERSTER ABSCHNITT
Die Empfindungen

1. Kap. Die Empfindung im allgemeinen

Die Erlebnisse, die den Gegenstand der Psychologie bilden, zeigen sich uns als eine so vielgestaltige, stets wechselnde Mannigfaltigkeit, daß es auf den ersten Blick als unmöglich erscheinen möchte, sie wissenschaftlich zu beherrschen. Wie soll man das kaleidoskopartige Geschehen festhalten, beschreiben, benennen, in die Ordnung eines Systems bannen und gar noch Gesetzmäßigkeiten bei ihm entdecken? Dazu kommt, daß die seelischen Vorgänge vollendete Einheiten zu sein scheinen. Mehr oder weniger selbständige Glieder, wie bei einem Organismus, oder gar abgeschlossene Teile, wie die Bausteine eines Hauses, bieten sich dem ersten Blicke nicht dar. Alles ist eng miteinander verwachsen, eines scheint kontinuierlich ins andere überzugehen. Dennoch bleibt ein Weg, der, wenn auch mühsam, durch das nahezu unentwirrbare Dickicht führt: Wir können gleiche, ähnliche oder wenigstens verwandte Seiten der verschiedenen Erlebnisse feststellen.

Auf diesem Wege der Abstraktion gelangt schon das vorwissenschaftliche Denken dazu, größere Gruppen seelischer Vorgänge zusammenzufassen; es spricht von Erkennen, Wollen, Fühlen u. dgl. Wir verwerten diese Absonderungen und suchen nunmehr in der Gruppe der Erkenntnisvorgänge so weit mit der Abstraktion vorzudringen, als es überhaupt möglich ist. Bei den Erkenntnisvorgängen läßt sich nun[S. 17] Inhalt und Akt unterscheiden: sehe ich eine blaue Blume, so ist mein Sehen der Akt, die blaue Blume der Inhalt dieser Wahrnehmung. Unsere weitere Abstraktion soll sich nur auf den Inhalt beziehen, und zwar in einer einzigen Richtung. Wir beachten das eigenartige Blau der gesehenen Blume. Ich finde diesen Inhalt bei anderen Individuen derselben Gattung, vielleicht aber auch bei Blumen einer anderen Gattung und bei Erzeugnissen der menschlichen Kunst. Der Inhalt „blau“ ist somit für sein Bewußtwerden von seiner sonstigen Umgebung, von einer bestimmten Gestalt u. ä. m. unabhängig. Er steht mir auch wieder vor der Seele, wenn ich von ähnlichen Dingen träume. Vielleicht bin ich sogar imstande, bei geschlossenen Augen die blaue Blume vor mir zu sehen. Der Inhalt „blau“ ist also auch unabhängig und loslösbar von dem Akt des Wahrnehmens, Träumens oder Vorstellens. Damit ist nicht gesagt, daß wir den Inhalt „blau“ außerhalb eines dieser Akte erleben könnten, es ist aber gezeigt, daß er von einem jeden einzelnen dieser Akte relativ unabhängig ist. In entsprechender Weise läßt sich dartun, daß jener Inhalt auch bewußtseinsmäßig gegeben sein kann, ohne notwendig bestimmte andere Inhalte bei sich zu haben, wie etwa den der räumlichen oder zeitlichen Lokalisation. Wir stellen somit als eine charakteristische Eigenschaft dieses Bewußtseinsinhaltes fest, daß er andern Inhalten gegenüber relativ selbständig ist. Wir können das „blau“ nicht nur in unserer Auffassung von solchen andern Inhalten unterscheiden, wie da sind ein bestimmter Träger dieser Farbe, eine bestimmte Form u. ä., sondern er selbst kann erlebnismäßig ohne einen bestimmten aus ihnen vorkommen. Wir können nun in der Abstraktion noch weiter gehen und etwa den Farbenton blau von seiner Ausdehnung unterscheiden. Allein dieser begrifflich bzw. auffassungsmäßig möglichen Unterscheidung vermag die erlebnismäßige Sonderung nicht zu folgen. Wo immer wir den Inhalt blau erleben: wir finden ihn wenigstens an ein Minimum von Ausdehnung gekettet. Wir bezeichnen darum die Ausdehnung als eine Eigenschaft dieses Bewußtseinsinhaltes und stellen fest, daß wir mit der erlebnismäßigen Abstraktion an ein Ende gelangt[S. 18] sind: blau ist als ein einfaches Erlebniselement anzusehen. Vergleicht man sodann diesen Inhalt mit dem Namen oder dem Begriff „blau“, so stellt sich heraus, daß der Name und der Begriff als Prädikat der verschiedensten Blaunuancen anwendbar ist, er hat eine gewisse Allgemeinheit. Das von mir erlebte Blau hingegen ist stets etwas Konkretes, Individuelles, eine bestimmte Nuance, die mit keiner andern verwechselbar ist. Es hat weiterhin eine Eigenart, die nur durch sich selbst charakterisierbar ist: eine gewisse Greifbarkeit, Anschaulichkeit, verglichen mit der „Blässe des Gedankens“. Wenn wir ferner den Bewußtseinsinhalt „blau“ mit einem Gefühlserlebnis vergleichen, so finden wir, daß wir ihn gewissermaßen uns selbst gegenüberstellen und anschauen können, ohne befürchten zu müssen, daß unsere Aufmerksamkeit ihn zugrunde richtet, wie das bei Gefühlen und Willensakten der Fall zu sein scheint: das Erlebnis besitzt eine gewisse Objektivität. Fassen wir all diese Eigentümlichkeiten des Blau-Erlebnisses zusammen: die relative Selbständigkeit, Einfachheit, Konkretheit, Anschaulichkeit und Objektivität, und studieren die mannigfachen Seiten unserer Gesamterlebnisse, so werden wir entdecken, daß eine überaus stattliche Reihe von ihnen die genannten Eigenschaften aufweist. Wir fassen diese Erlebniselemente unter dem gemeinsamen Namen der Empfindungen zusammen. Eine Empfindung ist somit ein relativ selbständiger, einfacher, konkreter, anschaulicher, objektiver Bewußtseinsinhalt.

Ebenso wie die Blauempfindung lassen auch alle anderen Empfindungen verschiedene Eigenschaften erkennen. Als allgemeine Eigenschaften der Empfindung zählt man gewöhnlich auf: Qualität, Intensität, zeitliche Dauer und räumliche Ausdehnung. Die bedeutsamste dieser Eigenschaften ist sicher die Qualität. Sie ist gewissermaßen der Kern des Empfindungserlebnisses; sie ist das, was das Süß zum Süß, das Blau zum Blau macht. Die Qualität einer Empfindung kann nicht geändert werden, ohne daß zugleich die Empfindung selbst geändert wird, obwohl es verschiedene Grade der Qualitätsänderung einer Erlebnisseite gibt. Statt[S. 19] des einen bestimmten Blau kann eine andere Nuance eintreten: die neue Empfindung ist der vorigen noch ähnlich. Es kann aber auch ein Rot erscheinen: die neue Empfindung ist spezifisch verschieden. Oder die Farbenempfindung wird durch eine Tonempfindung ersetzt: die neue Empfindung ist zur früheren disparat. Nach der noch verbreiteten Sprechweise von Helmholtz wäre in dem vorletzten Falle eine neue Qualität, im letzten eine neue Modalität erschienen. Schon weniger durchsichtig sind die Verhältnisse bei der zweiten Eigenschaft der Empfindung, der Intensität. Von der Intensität irgendeines Vorganges zu reden, scheint vielen nur dann einen Sinn zu haben, wenn dieser Vorgang eine reine Intensitätsänderung zuläßt, d. h. wenn seine Intensität sich ändern kann, ohne daß sich gleichzeitig auch die Qualität verändert. Eine solche reine Intensitätsänderung wird allgemein angenommen bei den Tönen, hingegen bei den Farbenempfindungen vielfach angezweifelt, weshalb auch die Intensität als allgemeine Eigenschaft der Empfindung angefochten wird. Die Frage nach der zeitlichen Dauer, der dritten allgemeinen Eigenschaft, darf nicht mit der Frage nach der Dauer des Reizes verwechselt werden, die erforderlich ist, damit eine bestimmte Empfindung im Bewußtsein hervorgerufen werden könne. Es fragt sich vielmehr, ob die voll entfaltete Empfindung, deren Dauer bekanntlich sehr verschieden sein kann, überhaupt erlebbar sei, wenn ihre zeitliche Dauer auf Null reduziert würde und die Empfindung in einem unteilbaren Moment erlebt werden müßte. Eine beweisbare Antwort wird sich auf diese Frage in keinem Sinne geben lassen. Es bleibt darum auch fraglich, ob die zeitliche Ausdehnung eine allgemeine Eigenschaft der Empfindung ist. Einer Empfindungseigenschaft ist es nämlich wesentlich, daß sie nicht auf Null gebracht werden kann, ohne daß damit die Empfindung selbst ihr Ende erreicht. Daß endlich die räumliche Ausdehnung keine allgemeine Eigenschaft der Empfindung ist, dürfte kaum bestritten werden. So wenig die Farbenempfindung ohne eine räumliche Ausdehnung verwirklicht werden kann, so wenig scheint die Tonempfindung ihrer zu bedürfen oder auch nur fähig zu[S. 20] sein. Man erkennt hieraus, daß sich zwar die Empfindungserlebnisse unter einen allgemeinen Begriff zusammenfassen lassen, daß dieser Begriff aber noch sehr verschieden geartete Bewußtseinserscheinungen einschließt. Als wirklich allgemeine Eigenschaft dieser verschiedenen Erlebnisse läßt sich eben nur die Qualität und, in einem erweiterten Sinne, die Intensität nennen.

Literatur

A. Messer, Empfindung und Denken. 1908.

A. Pfänder, Einführung in die Psychologie.² 1920.

2. Kap. Die höheren Empfindungen

A. Die Gesichtsempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Gesichtsempfindungen

Unter den zahlreichen Inhalten, die wir als Empfindungen bezeichnen, sondert sich leicht und scharf umgrenzt die umfangreiche Gruppe aus, welche der Sprachgebrauch als Farben zusammenfaßt. Eine rein psychologische Beschreibung dieser Empfindungen läßt sich nicht geben. Sie sind ein letztes Erlebnisdatum, das nur durch sich selbst hinreichend gekennzeichnet wird. Für den Farbentüchtigen zerfallen sie in zwei Hauptarten, in die farblosen Lichter, auch neutrale oder tonfreie Farben genannt, und in die bunten Farben. Die farblosen Lichter lassen sich nach ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit in eine kontinuierliche Reihe (Qualitätenreihe) ordnen, an deren einem Ende das tiefste Schwarz, an deren anderem Ende das blendendste Weiß zu stehen kommt, während die verschiedenen Abstufungen des Grau beide Enden verbinden. Geometrisch und symbolisch wäre diese Qualitätenreihe durch eine begrenzte Gerade darzustellen. Prüfen wir die verschiedenen Abschnitte der Schwarz-Weißreihe darauf, ob die betreffenden Inhalte der Definition der Empfindung genügen, so erhebt sich nur die eine Schwierigkeit, ob wirklich die Graunuancen als einfache Inhalte anzusprechen sind. Weist doch eine jede[S. 21] eine Ähnlichkeit sowohl mit Schwarz wie mit Weiß auf. Allein ähnlich sein bedeutet noch nicht zusammengesetzt sein. Nur wo sich im erlebten Inhalt Teile absondern, die als solche psychisch zu verwirklichen sind, da liegt eine Mehrheit von Empfindungen vor. Dieser Gesichtspunkt gilt auch für die noch zu besprechenden Abstufungen der bunten Farben.

Um die bunten Farben zu ordnen, denken wir uns, wir erlebten sie in ihrer größtmöglichen Ausgesprochenheit. Zunächst sei ein reines Rot, ein reines Gelb und zahlreiche Schattierungen von Orange gegeben. Bringt man diese in eine Qualitätenreihe, so beginnt sie etwa mit Rot; dann folgen jene Arten von Orange, die dem Rot ähnlicher sind als dem Gelb, dann ein Orange, das gleichviel Ähnlichkeit mit Rot wie mit Gelb hat, weiter Nuancen, die mehr dem Gelb als dem Rot verwandt sind, und endlich das reine Gelb. Die beiden Enden der Reihe zeigen keine derartige Ähnlichkeit miteinander, die Zwischenfarben hingegen haben Ähnlichkeit mit Rot wie mit Gelb. Ausgehend vom Rot läßt sich feststellen, daß die Rotähnlichkeit immer mehr ab- und die Gelbähnlichkeit immer mehr zunimmt. Ebenso wie die Schwarz-Weißreihe wäre auch die Rot-Gelbreihe durch eine begrenzte Gerade zu symbolisieren. Die nämliche Betrachtung wiederholt sich bei den zwischen Gelb und Grün, Grün und Blau, Blau und Rot einzuschließenden Farbentönen. Die geometrische Symbolisierung ergibt also vier Gerade, deren Endpunkte je zwei Geraden gemeinsam sind und die darum ein geschlossenes Viereck bilden. An seinen Endpunkten liegen die vier Urfarben (Hering) Rot, Gelb, Grün, Blau. Sie weisen miteinander keine Ähnlichkeit nach Art der Zwischenfarben auf und bedingen darum je einen Richtungswechsel in der gesamten Farbenreihe: das von Rot bis an das Gelb vorhandene Rotmoment hört mit dem Gelb auf und ist in der Gelb-Grünreihe nicht mehr zu beobachten usf. Ob die Seiten des Farbenviereckes als gleich lang anzunehmen sind, wäre davon abhängig, ob in jeder der vier Farbenreihen gleichviel unterscheidbare Farbentöne erlebt werden können.

[S. 22]

Wie von jeder Urfarbe zu ihren beiden Nachbarfarben, so gibt es auch direkte Übergänge von den Urfarben und den eingeschlossenen Tönen zu Weiß, zu Schwarz und zu sämtlichen Graunuancen. Dieser Tatsache verleiht man einen passenden Ausdruck, indem man die Schwarz-Weißlinie zu ungefähr gleichen Teilen nach oben und unten durch das Farbenviereck gehen und somit die Längsachse eines Oktaeders bilden läßt. (Fig. 1.) In diesem Farbenoktaeder haben alle erlebbaren Farben ihren bestimmten Platz: die obere Spitze nimmt das Weiß, die untere das Schwarz ein, während die Urfarben an den Ecken der mittleren Ebene liegen. Da aber das Gelb dem Weiß ähnlicher ist als das Blau, so ist die Farbenebene nicht senkrecht, sondern schräg zur Schwarz-Weißlinie einzuzeichnen.

Fig. 1. Die Farbenpyramide.
Nach Titchener, Lehrbuch der Psychologie S. 63. Leipzig 1910, Barth.

Jede Farbe kann prinzipiell durch drei Momente bestimmt und in das Farbenoktaeder eingeordnet werden: durch den Farbenton, d. h. durch ihre Ähnlichkeit mit einer der vier Urfarben, durch ihre Helligkeit, d. h. durch ihre Ähnlichkeit mit Weiß und durch ihre Sättigung, d. h. durch die Deutlichkeit der Buntheit bzw. ihre Unähnlichkeit mit den Tönen der Schwarz-Weißreihe.

Ein anderes Problem bildet die Frage nach der Intensität der Farbenempfindungen. Man wird hier zweckmäßig zwei Fragen auseinanderhalten: Gibt es bei der Farbenempfindung eine Intensitätssteigerung? und: Kann den Farbenempfindungen wenigstens eine Intensitätsstufe zuerkannt werden? War unsere Anordnung der Farben in das Oktaeder richtig, so ist die erste Frage zu verneinen; denn wir bestimmten jede Farbe nur aus den drei Momenten der spezifischen Qualität, der Helligkeit und der Sättigung; für eine Intensitätssteigerung bleibt kein Raum. Auch wenn irgendeine der Farben auf dem kürzesten Weg zum Verschwinden gebracht wird, so geschieht das nicht durch Herabsetzung ihrer Intensität, sondern dadurch, daß eine andere Empfindung an ihre Stelle tritt, mag[S. 23] diese andere Empfindung eine bunte Farbe oder auch Schwarz sein. Denn auch Schwarz ist als positive Empfindung anzusehen. Wird es ja ebenso wie alle andern Farben erlebt und draußen scharf umgrenzt vorgefunden, zum Unterschied von dem bloßen Ausfallen, dem Nichthaben einer Empfindung. Darum kann auch die Schwarz-Weißreihe nicht als eine Intensitätsreihe angesprochen werden, wie Helmholtz meinte. Man muß sich bei dieser Erwägung vor verschiedenen Verwechslungen hüten. Ganz außerhalb der Erörterung hat die Intensität des die Empfindung hervorrufenden Reizes zu bleiben, da es sich nur um die psychischen Inhalte handelt. Ferner darf man die Intensität der Farbe nicht ihrer Helligkeit, d. h. ihrer Ähnlichkeit mit Weiß gleichsetzen. Auch die als Eindringlichkeit bezeichnete Fähigkeit einer Empfindung, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gehört in einen ganz anderen Problemkreis. Es muß vielmehr nach einer Empfindungseigenschaft gesucht werden, wie sie deutlich bei den Tönen erlebt wird, die bei gleichbleibender Qualität eine verschiedene Stärke besitzen können. Fassen wir diese Intensität als Abstand von Null auf, so werden wir jedem Ton eine bestimmte Intensität zuerkennen müssen, auch wenn es einmal aus irgendeinem Grunde unmöglich würde, die Intensität des Tones wie früher zu verändern. Aus dem gleichen Grunde wird man auch jeder Farbenempfindung eine gewisse Intensitätsstufe zuerkennen müssen, obwohl es unmöglich bleibt, diese herauf- oder herabzusetzen. Neuerdings tritt Stumpf für eine Intensitätsänderung der Farben innerhalb enger Grenzen ein. (Vgl. Stumpf, Die Attribute der Gesichtsempfindungen. 1917.)

2. Die Beziehung der Farbenempfindung zu den äußeren Reizen

Da die Empfindungen eine letzte psychische Gegebenheit sind, ist es unmöglich, sie psychologisch zu erklären. Wir können aber über manche ihrer Bedingungen Aufschlüsse gewinnen, wenn wir den rein psychologischen Standpunkt verlassen und auf das körperliche Organ wie auf die äußeren Reize achten, die an dem Zustandekommen der Empfindungen beteiligt sind. Diese Grenzüberschreitung ist geboten, weil wir ohne sie gewisse Gesetzmäßigkeiten nicht verstehen können, die sich an den Bewußtseinsinhalten selbst zeigen.

Das Organ, durch welches die Farbeninhalte erstmals in unserem Bewußtsein geweckt werden, ist das Auge. Sein Bau wird hier als bekannt vorausgesetzt. Als normale Reize wirken auf das Auge die Ätherwellen ein.[S. 24] Diese unterscheiden sich voneinander durch ihre verschiedene Länge, ihre verschiedene Intensität (Amplitude) und durch ihre größere oder geringere Reinheit. Im allgemeinen hängt der Farbenton von der Wellenlänge, die Helligkeit von der Intensität und die Sättigung von der Reinheit ab. Stellt man im Spektralapparat die reinen Farben her, so beginnen diese mit Rot, dem eine mittlere Wellenlänge von rund 700 µµ entspricht. Urgelb entfällt dann auf die Wellenlänge 580, Urgrün auf 500, Urblau auf 480. Für ultrarote und ultraviolette Strahlen ist unser Auge nicht empfänglich. Alle Farben, die nicht im Spektrum enthalten sind, müssen durch die Zusammensetzung verschiedene Wellen erzeugt werden. So namentlich Weiß und Purpur. Übrigens können auch jene bunten Farben, die im Spektrum eine eigene Wellenlänge haben, durch die Vereinigung anderer Wellen hervorgerufen werden. Nur der Schwarzempfindung entspricht kein äußerer Reiz. Gleichwohl kann man durch bloßes Schließen der Augen oder durch den Aufenthalt in einem lichtleeren Kaum noch nicht die tiefste Schwarzempfindung erzeugen. Diese entsteht vielmehr, wenn man ein dunkles Grau durch den Kontrast mit einem umgebenden Weiß vertieft.

Die Helligkeit der bunten Farben ist von zwei Faktoren abhängig. Zunächst von der Wellenlänge; denn Gelb ist heller als Blau und Rot (die spezifische Helligkeit der Farben). Sodann von der Intensität der Reize. Nimmt die Intensität z. B. eines roten Lichtes zu, so wächst innerhalb mittlerer Grenzen die Helligkeit (Weißlichkeit) des Rot. Müssen wir schon diese Wirkung der mittleren Intensitätssteigerung als eine qualitative Änderung der Farbenempfindung bezeichnen, so erst recht die bei größerer Änderung der Intensität eintretende Änderung der Farbe: Eine starke Vermehrung oder Verminderung der Intensität des Farbenreizes beeinträchtigt auch den Farbenton. Rot und Grün werden mit zunehmender Intensität des Lichtes direkt weiß; alle andern Töne nähern sich dem Gelb oder Blau und gehen dann in Weiß über. Bei starker Intensitätsabnahme hingegen dehnen sich im Spektrum Rot und Grün aus. Ebenso verschiebt[S. 25] sich die Helligkeitsverteilung. Das Maximum der Helligkeit rückt von Gelb nach Grün. Erscheint bei guter Beleuchtung eine rote Fläche heller als eine blaue, so kehrt sich das Helligkeitsverhältnis um, sobald man die beiden Farben sowie das Auge verdunkelt. (Purkinjesches Phänomen.) Setzt man am Spektralapparat die Lichtintensität noch weiter herab, so schwinden alle Farben, und es bleibt ein farbloses Band zurück mit dem Helligkeitsmaximum an der Stelle, wo zuvor das Grün gestanden hat.

Zur bequemeren Besprechung der Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung mußten wir auf die Farbenwahrnehmung übergreifen. Eine isolierte Empfindung ist ja im Grunde nur ein Abstraktionsprodukt. Sie läßt sich einigermaßen annähernd veranschaulichen, doch nicht als solche herstellen. (Vgl. W. Baade, Gibt es isolierte Empfindungen? 6. Kongreßbericht 1914.) — Zum Studium der Farbenempfindungen eignen sich nicht die Oberflächenfarben der Gegenstände, da diese durch ihre Verbindung mit den Dingen und durch unser Wissen davon in ihrer Erscheinungsweise beeinflußt werden. Tauglicher sind die von Katz als Flächenfarben bezeichneten Eindrücke, wie sie am Spektralapparat oder bei Betrachtung einer farbigen Fläche durch das Loch eines Schirmes erzielt werden. — Die Vergleichung bunter Farben auf ihre Helligkeit ist auf direktem Wege nur sehr schwer möglich. Man hilft sich, indem man versucht, jede der bunten Farben zwischen ein Grau aus einer Grauskala einzuschließen, das sicher heller, und ein anderes, das sicher dunkler ist als die betreffende Farbe. Durch Übung kann man die Grenzen immer enger ziehen und gewinnt so indirekt einen Maßstab für die Helligkeit der beiden Farben. Über andere Methoden siehe Langfeld, Über heterochrome Helligkeitsvergleichung ZPs 33. R. Pauli, Grundfragen der Photometrie. (Die Naturwissenschaften Heft 41, 1913.)

3. Die Gesetze der Farbenmischung

Wirken mehrere Töne auf das Ohr ein, so entsteht eine Tonverbindung, aus der sich die Einzeltöne bei etwas Übung leicht heraushören lassen. Wirken jedoch mehrere farbige Lichter gleichzeitig auf den Sehnerv ein, so entsteht im Bewußtsein nur eine einzige einfache Empfindung. Nur die Rücksicht auf ihre Entstehung berechtigt die psychologisch unzulässige Bezeichnung solcher Farben als Mischfarben. Die Gesetze der Farbenmischung bilden die Hauptgrundlage für jede Theorie der Gesichtsempfindung. Sie wurden darum schon[S. 26] von älteren Forschern wie Newton, Graßmann, Helmholtz eingehend behandelt.

Eine Mischfarbe läßt sich erzeugen, indem man auf einer farbigen Kreisscheibe einen andersfarbigen Sektor anbringt und beide rotieren läßt. Befestigt man darüber eine kleinere, konzentrische Scheibe, so hat man die Möglichkeit, die am Rande erzeugte Mischfarbe mit der Farbe der inneren Scheibe bequem zu vergleichen. Durch geeignete Wahl der farbigen Scheiben ist es nun erreichbar, die Farbe des äußeren Ringes der der inneren Scheibe gleichzumachen, d. h. eine Farbengleichung herzustellen. Sie wird durch die Summe der Bogengrade der Mischfarben einerseits und durch die verglichene Farbe anderseits ausgedrückt. Mischt man auf die besagte Weise Rot mit Blau in bestimmter Nuancierung, so erhält man Purpur, eine Farbe, die im Spektrum nicht vorkommt. Nimmt man dagegen zu Rot Blaunuancen, die mehr nach Grün zu liegen, so wird die Mischung immer ungesättigter — wie überhaupt die Mischfarben in der Regel weniger gesättigt sind als ihre Komponenten — und dem Grau ähnlicher, bis bei einem gewissen Grün eine tonfreie Farbe entsteht: Ein bestimmtes Rot, mit einem bestimmten Grün gemischt, ergibt ein bestimmtes Grau. Es läßt sich nun zeigen, daß für jede Farbe eine andere existiert, die, mit ihr gemischt, Grau ergibt. (Satz der komplementären Farben.) Mischt man jedoch zwei nichtkomplementäre Farben, so erhält man eine bunte Mischfarbe, und zwar jene, die innerhalb des Farbenviereckes auf der kürzeren Verbindungsstrecke der beiden gemischten Farben liegt. (Satz der Mischfarben.) Wählt man darum drei Farben so aus, daß die komplementäre einer jeden auf dem Farbenviereck oder dem Farbenkreis zwischen den beiden andern liegt, so kann man durch passende Mischungsverhältnisse alle Farbentöne hervorrufen. Um möglichst gesättigte Mischfarben herzustellen, muß man gewisse nichtkomplementäre Nuancen von Rot und Grün nebst Blauviolett als Mischfarben benutzen. Auf Grund dieser Tatsachen ist endlich der dritte Satz verständlich, daß gleich aussehende Farben, miteinander gemischt, gleich aussehende Mischungen ergeben.

[S. 27]

Über die verschiedenen Methoden zur Herstellung der Farbenmischungen vgl. Fröbes I 51 f. Unstatthaft ist die Mischung von farbigen Pigmenten oder Flüssigkeiten. — Die Farbengleichungen verschiedener Beobachter sind individuell etwas verschieden, weil die Netzhautmitte der einzelnen Individuen eine verschieden starke Gelbpigmentierung aufweist.

4. Der Simultankontrast

Legt man auf einen roten Grund ein kleineres Stück graues Papier und fixiert etwa dessen Mitte während 1–2 Sekunden, so erscheint das graue Papier grün gefärbt. Wiederholt man den Versuch mit den verschiedensten Farben, so ergibt sich der Satz, daß jede Farbe in ihrer Umgebung ihre komplementäre Farbe induziert (Farbenkontrast). Die Erscheinung wird weit auffälliger, wenn man das bunte Umfeld und das graue Infeld mit einem durchsichtigen Seidenpapier bedeckt (Florkontrast). Entsprechend wird ein mittelgraues Papier auf weißem Grund verdunkelt, auf schwarzem Grund aufgehellt (Helligkeitskontrast). Ist das kontrastleidende Infeld gleichfalls gefärbt, so entsteht nach den Gesetzen des vorigen Abschnittes eine Farbenmischung. Da nun die Tendenz zur Induktion der Gegenfarbe von jedem Teilstück einer farbigen oder hellen Fläche gilt, so läßt sich leicht ableiten, daß die Sättigung bzw. Helligkeit innerhalb einer Fläche geringer sein muß als am Rand (Binnenkontrast und Randkontrast). Dabei wird stets eine Fixation des Blickes während einiger Sekunden vorausgesetzt. Der Simultankontrast entsteht momentan, ist anfangs am deutlichsten und geht dann rasch zurück. Entfernt man die beiden kontrastierenden Felder ein wenig voneinander oder trennt man sie durch eine schwarze Grenzlinie, so verringert sich der Kontrast oder verschwindet ganz.

Der Simultankontrast könnte auf den ersten Blick als eine Beeinträchtigung unseres Sehens erscheinen. In Wirklichkeit kommt er diesem sehr zustatten. Ohne den Simultankontrast wären nämlich alle unsere Gesichtswahrnehmungen arg verschwommen. Infolge der verschiedensten[S. 28] Unregelmäßigkeiten der brechenden Medien entsteht nämlich auf der Netzhaut eine sehr unscharfe Abbildung des äußeren Gegenstandes, der auch nur ein Gesichtsbild mit sehr ungenauen Umrissen entsprechen könnte. Durch die Induktion der Gegenfarbe werden nun die schwächeren, über das wahre Bild hinausragenden „Verzeichnungen“ mehr oder weniger aufgehoben. Vom Standpunkt der noch zu besprechenden Heringschen Farbentheorie beruht ein weiterer Vorteil des Simultankontrastes darin, daß durch ihn die Netzhaut für die Aufnahme des wandernden Farbeneindruckes gewissermaßen vorbereitet wird: die Stelle der Netzhaut, die soeben infolge des Kontrastes zu einem roten Objekt grün empfindet, ist in der besten Verfassung, um alsbald das rote Objekt wahrzunehmen.

Die Tatsachen des Simultankontrastes erklärt man heute allgemein mit Hering, Mach und älteren Forschern physiologisch. Man denkt sich die benachbarten Stellen der Netzhaut oder eines andern Teiles des nervösen Apparates in funktioneller Wechselwirkung zueinander stehend, ähnlich wie die Wassersäulen in einer Manometerröhre: sinkt die eine Wassersäule, so muß die Nachbarsäule steigen. Entspricht nun dem Sinken die Empfindung der einen Gegenfarbe, so ist mit dem Steigen die der andern verbunden; empfindet ein Netzhautelement rot, so muß darum das Nachbarelement grün empfinden. Helmholtz wollte die Kontrasterscheinungen psychologisch als „Urteilstäuschung“ oder, wie man heute sagen müßte, als Resultat der Auffassung deuten. Gegen diese nicht mehr haltbare Anschauung sei nur ein durchschlagender Beweis von G. E. Müller angeführt. Einem Grünblinden wurden zwei Hintergründe vorgelegt, ein grüner und ein grauer, die er beide für gleich grau ansah. Auf beiden brachte man nun ein kleineres graues Quadrat an. Während nun das Quadrat auf dem grauen Hintergrunde seine Farbe nicht änderte, sah der Grünblinde das Quadrat auf dem grünen Hintergrund in roter Farbe.

Die Tatsachen, auf die sich Helmholtz stützte, gehören zumeist in den Bereich der Oberflächenfarben (s. S. 25), wo wirklich die[S. 29] Auffassung eine bedeutsame Rolle spielt, wie später noch zu zeigen ist. Die hier besprochenen Gesetzmäßigkeiten werden aber in erster Linie stets von den Flächenfarben verstanden. Die auffällige Erhöhung des Kontrastes durch die Überdeckung mit einem (weißen oder schwarzen) Flor dürfte auch darin begründet sein, daß er die Farben als Flächenfarben erscheinen läßt. — Andere beachtenswerte Anschauungen über den Kontrast von E. R. Jaensch (6. Kongreßbericht 1914) und F. W. Fröhlich („Grundzüge einer Lehre vom Licht und Farbensinn“ 1921). — Übrigens leistet der heute freilich eingebürgerte Ausdruck des Farbenkontrastes einer Begriffsverwirrung Vorschub. Die Farbeninhalte rot-grün, gelb-blau besagen nämlich keinerlei Gegensatz; ebensowenig die physikalischen Reize.

5. Die Umstimmung der Netzhaut

Ein Lichtreiz, der auf eine bestimmte Stelle der Netzhaut einwirkt, ruft, wie soeben geschildert, gleichzeitig eine Erregung der nicht unmittelbar gereizten Netzhautteile hervor. Er verursacht aber auch, nachdem er selbst schon vergangen ist, auf der unmittelbar gereizten Stelle eine nachdauernde Erregung, der mannigfache Nachempfindungen entsprechen.

Blickt man für einen Moment in ein sehr helles Licht und schließt alsbald das Auge, so sieht man für eine Weile noch das Bild des Lichtes. (Positives Nachbild.) So erscheint auch ein im Dunkeln rasch bewegter Funke nicht als wandernder Punkt, sondern als Lichtlinie. Fixiert man einen farbigen Gegenstand etwa eine halbe Minute lang und schaut dann auf eine helle Wand, so hat man das Bild des Gegenstandes in komplementärer Farbe vor sich, und zwar um so lebhafter, je intensiver und anhaltender der Reiz war. (Negatives Nachbild, sukzessiver Kontrast.) Betrachtet man eine Landschaft durch ein gelbes Glas, so schwindet allmählich die gelbliche Färbung der Gegenstände; sie erscheinen nach und nach in ihrer objektiven Belichtung. Die Netzhaut ist für Gelb ermüdet. Richtet man nach Entfernung des gelben Glases das Auge auf eine farblose Fläche, so zeigt sie das komplementäre Blau. Diese als Umstimmung der Netzhaut bezeichnete Erscheinung ist ganz allgemein: jede Lichteinwirkung setzt die Aufnahmefähigkeit für das einwirkende Licht[S. 30] herab und erhöht die für das gegenfarbige Licht. Darum erscheint auch farbiges Lampenlicht nach kurzer Zeit als weiß. (Vgl. jedoch S. 109.) Im Zusammenhange damit steht die sog. gleichsinnige Lichtinduktion: Fixiert man eine farblose Scheibe auf farbigem Grund, so läßt sie zuerst die Kontrastfarbe erkennen. Nach einiger Zeit aber tritt an die Stelle der Kontrastfarbe die komplementäre, d. h. die Farbe des Umfeldes, so daß Grund und Scheibe in dem gleichen Lichte erscheinen.

Die Erklärung der Umstimmungserscheinungen wird durchgängig auf dem Gebiete der Physiologie gesucht. Sie ist je nach der allgemeinen Farbentheorie, welche die einzelnen Autoren vertreten, verschieden. An dieser Stelle genügt uns die schon bei dem Simultankontrast verwertete Hilfsvorstellung der kommunizierenden Röhren. Lassen wir die Farbenempfindung nicht nur von dem auf der einen Wassersäule ruhenden Druck, sondern auch von der Menge des in der Röhre befindlichen Wassers abhängig sein, so hat man eine Veranschaulichung dafür, daß mit der Andauer des Reizes die geweckte Farbenempfindung schwächer werden und die Disposition zur Empfindung der Gegenfarbe anwachsen muß. Eine Ausnahme macht dann allerdings die Schwarz-Weißempfindung, deren Verhalten die Zuhilfenahme neuer Hypothesen erfordert.

6. Die zeitlichen Verhältnisse der Lichtwirkung

Exponiert man eine weiße Scheibe weniger als ⅒ Sekunde, so wird sie nicht als volles Weiß, sondern als Grau gesehen. Exponiert man auf dieselbe Weise (tachistoskopisch) eine farbige Scheibe, so erscheint sie farblos, und erst, wenn der farbige Reiz etwa ½ Sekunde lang auf das Auge einwirkt, wird er richtig wahrgenommen. Man spricht hier von dem Ansteigen der Empfindung. Der Reiz muß eine gewisse (zeitliche) Schwelle überschreiten, damit die Farbe nicht nur als Licht (generelle Schwelle), sondern auch als Farbe (spezifische Schwelle) erscheine.

Hört der Lichtreiz auf, so schwindet damit noch nicht sofort die Lichtempfindung, sondern sie klingt allmählich ab. Der schlichten Beobachtung scheint dieses Abklingen ein bloßes Nachlassen der eigentlichen Empfindung zu sein. Genauere Untersuchungen lassen es[S. 31] als möglich erscheinen, daß das Abklingen der Empfindung mit dem positiven Nachbild zusammenfällt, daß aber zwischen dem positiven Nachbild und der eigentlichen durch den Lichtreiz unmittelbar hervorgerufenen Empfindung dem primären Bild, noch eine andere Erregung, das sekundäre Bild, liegt. (Vgl. v. Kries, Die Gesichtsempfindungen, in Nagels Handbuch der Physiologie III. Bd. 8, Seite 101 ff.) Auf das positive Nachbild folgt dann, wie oben beschrieben, das negative.

Wechseln auf einer rotierenden Scheibe weiße und schwarze Sektoren miteinander ab, so hat das entstehende Grau die gleiche Helligkeit, wie wenn das Weiß seine Helligkeit der ganzen Scheibe mitteilen müßte. Hat also der weiße Sektor den Umfang von 180°, und wäre der schwarze Sektor absolut dunkel, so erscheint die rotierende Scheibe so hell, wie wenn die halbe Intensität der 180° Weiß auf die ganze Scheibe verteilt wäre. (Talbotsches Gesetz.) Es verhält sich somit das Auge in dieser Beziehung wie eine photographische Platte, die um so länger exponiert werden muß, je schwächer die Beleuchtung ist, falls der gleiche Wirkungsgrad erzielt werden soll.

Zu den zeitlichen Verhältnissen der Lichtreize können wir auch die merkwürdigen Erscheinungen rechnen, die sich bei längerem Aufenthalt im Dunkeln oder im Hellen ergeben. Tritt man aus einem hell erleuchteten Raum in einen dunkeln, so kann man zunächst in ihm nichts unterscheiden. Allmählich wird jedoch das Auge für die schwachen Reize empfindlich, es herrscht die Dunkeladaptation oder das Dämmerungssehen. Nach einem Aufenthalt von etwa 20 Minuten hat sich die Empfindlichkeit gegenüber dem Anfangszustand um das 8000fache vermehrt. — Verläßt man nun den dunkeln Raum, so wird man von der Helle empfindlich geblendet und vermag nichts zu sehen. Nach kurzer Zeit gewöhnt sich jedoch das Auge wieder an das Licht: es ist helladaptiert.

Wie schon oben erwähnt, werden bei Dunkeladaptation keine Farben-, sondern nur noch Helligkeitsverschiedenheiten empfunden. Dabei ruht das Helligkeitsmaximum nicht mehr im Gelb, sondern im Grün; Blau erscheint heller als Rot. Aus diesem Grunde werden auch Farbengleichungen für das dunkeladaptierte Auge unwahr. Nach den bisherigen Forschungen gilt letzteres indessen nicht für den gelben Fleck, die Stelle des deutlichsten Sehens. Diese für die Theorie der Lichtempfindungen höchst bedeutsame Ausnahme wird freilich von Hering bestritten. (Archiv f. Ophthalmologie Bd. 90, S. 1 ff.)

7. Die örtlichen Verhältnisse der Lichtwirkung

Das Auge ist nicht allein auf die Leistungsfähigkeit der Netzhautmitte angewiesen. Wieviel wir dem Sehen mit den seitlichen und peripheren Teilen verdanken, können wir uns veranschaulichen, wenn wir[S. 32] eine enge Röhre vor das Auge halten. Es läßt sich leicht ausmessen, wie weit die Ausdehnung des nichteingeengten Gesichtsfeldes reicht. Man stelle einen halbkreisförmigen Reif so vor das Auge, daß dieses sich im Kreiszentrum befindet und die Mitte des in der horizontalen Ebene aufgestellten Ringes fixiert. Nähert man jetzt einen kleinen Gegenstand ruckweise vom äußeren Ende den Ring entlang der Mitte, so findet man den Punkt, wo der Gegenstand erstmals gesehen wird. Drückt man die Entfernung dieses Punktes von der Reifmitte in Bogengraden aus, so hat man die seitliche Ausdehnung des Gesichtsfeldes nach innen bzw. nach außen gemessen. Dreht man alsdann den Reif um 90°, so daß er in der Vertikalebene liegt, so kann man die obere und untere Grenze ermitteln. Ein nach diesem Prinzip gebautes Instrument nennt man Perimeter.

Untersucht man nun mit Hilfe des Perimeters die Helligkeitsempfindlichkeit der Netzhaut bei Dunkeladaptation, so ergibt sich, daß diese an der Stelle des deutlichsten Sehens am geringsten ist und innerhalb gewisser Grenzen nach der Peripherie zu ansteigt. Dazu stimmt die Praxis der Astronomen, lichtschwache Sterne nicht zu fixieren, sondern durch „Vorbeisehen“ zu betrachten. Bei Helladaptation besteht kein Unterschied der Hellempfindlichkeit für die Mitte und die seitlichen Partien, dagegen zeigen sich überraschende Verschiedenheiten für die Farbenempfindungen. Bringt man bunte Scheibchen der Reihe nach an verschiedenen Stellen des Perimeters an, so verschwinden in einer gewissen Zone bestimmte Schattierungen von Rot und Grün, während andere in Gelb und Blau übergehen: die Zone der Rot-Grün-Blindheit. Rückt man die Farbenscheibchen noch weiter hinaus, so verschwinden alle Farben. Die Netzhautperipherie ist total farbenblind. Dabei ist der Umstand bedeutsam, daß die Helligkeitsverteilung auf dieser äußersten Zone mit der auf der Netzhautmitte übereinstimmt. Also auch hier ist Gelb die hellste Empfindung, während bei der Dunkeladaptation, wo gleichfalls die Farben in Grau übergehen, die größte Helligkeit an der Stelle des Grün beobachtet wird. Auch das ist beachtenswert, daß ausgedehntere farbige Objekte ebenso wie intensiver beleuchtete weiter peripherwärts farbig erscheinen, als solche von geringerem Umfang bzw. geringerer Intensität. Es entspricht endlich den bisher genannten Tatsachen, wenn die für die Netzhautmitte hergestellten Farbengleichungen sich auch auf den seitlichen Teilen als gültig erweisen. Auch dies ist ein für die Theorie bedeutsamer Gegensatz zu den Verhältnissen bei der Dunkeladaptation.

8. Die Farbenblindheiten

Bevor sich eine Theorie der Gesichtswahrnehmungen versuchen läßt, müssen noch die Tatsachen aufgezählt werden, die aus dem experimentum naturae bekannt geworden sind. Infolge angeborener[S. 33] Mängel, seltener infolge von Krankheit (Vergiftung), stellen sich mannigfache Abnormitäten im Farbensehen ein. Je leichter sich nun diese aus einer Theorie verständlich machen lassen, um so mehr gewinnt die betreffende Theorie an innerer Wahrscheinlichkeit. Breitet man vor verschiedenen Individuen eine Anzahl farbiger Wollbündel aus und greift man aus dieser Menge ein grünes Wollbündel heraus mit der Aufforderung, alle gleichfarbigen neben das grüne zu legen, so werden sich immer Individuen finden, die neben das grüne auch graue und braune Wollfäden legen. Diese Individuen halten grau und grün für gleich, weil sie eben grün überhaupt nicht empfinden. Wiederholt man den Versuch mit einer andern Farbe, so wird man bei einer hinreichend großen Zahl von Prüflingen solche finden, die für andere Farben unempfänglich sind. Diese Anomalien des Farbensehens, die Farbenblindheiten, wurden erst 1794 von Dalton entdeckt. Sie konnten so lange unbekannt bleiben, weil die Farbenblinden in der Regel auch jene Farben richtig benennen, die sie als solche gar nicht empfinden. Sie stützen sich dabei auf andere Merkmale und bezeichnen etwa ihr helleres „Rot“ ebenso wie der Normale als Gelb.

Wie die fortschreitenden Untersuchungen ergeben, sind die Arten der Farbenblindheiten sehr mannigfaltig. Zu einer ersten Orientierung genügt es indes, die drei wichtigsten und verbreitetsten Klassen aufzuzählen: die Rot-Grün-Blindheit, die Gelb-Blau-Blindheit und die totale Farbenblindheit. Die erste ist die häufigste. Sie findet sich bei nahezu 4% aller Männer; bei Frauen jedoch sehr selten, obwohl sie durch die Mutter vererbt wird. Der Rot-Grün-Blinde sieht an der Stelle des Spektrums, wo für den Normalen das Grün liegt, weiß. Links von dieser Stelle erblickt er nur Gelbnuancen, rechts nur Abschattungen von Blau. Für die seltener anzutreffenden Gelb-Blau-Blinden existieren nur die verschiedenen Arten von Rot und Grün. Den total Farbenblinden endlich erscheint die Außenwelt grau in grau, ähnlich wie sich dem Normalen ein photographisches Bild darstellt. Das Spektrum der total Farbenblinden weist nicht bei allen die gleiche Helligkeitsverteilung auf. Manche haben, um nur die wichtigsten zu erwähnen, die gleiche Helligkeitsverteilung wie das normale helladaptierte Auge, andere empfinden die Helligkeitsabstufungen wie das dunkeladaptierte Auge.

Über verschiedene Abarten der Farbenanomalien, ihre Klassifikation und andere Methoden ihrer Feststellung siehe Fröbes, I, 81 ff.

9. Die Theorie des Hell- und Dunkelsehens. Duplizitätstheorie

Wir beginnen die Darstellung der Theorie der Gesichtsempfindung mit jener theoretischen Anschauung, die an letzter Stelle ausgebildet wurde. Die Endteile des in der Netzhaut sich aufspaltenden und ausbreitenden Sehnerven[S. 34] sind in der Hauptsache zwei anatomisch verschieden gebaute Organe: die spindelförmigen Stäbchen und die flaschenförmigen Zapfen. (Fig. 2.) Sie sind nicht gleichmäßig über die Netzhaut verteilt, sondern die Netzhautmitte (fovea) enthält auf der Stelle des deutlichsten Sehens (auf einer Fläche von etwa ½ mm Durchmesser) nur Zapfen, während nach der Peripherie hin die Zapfen immer spärlicher werden.

Die schon erwähnten Gesetzmäßigkeiten der Hell- und Dunkeladaptation, insbesondere die verschiedene Helligkeitsverteilung im Spektrum während dieser Zustände, die geringe Helligkeitsempfindlichkeit der Netzhautmitte des dunkeladaptierten Auges, die totale Farbenblindheit mit der Helligkeitsverteilung des Dunkelauges, die Tatsache, daß in der Dämmerung ein fixierter weißlicher Fleck auf dunklem Grunde verschwindet und umgekehrt ein schwarzer Fleck auf weißem Grunde ganz ausfällt (K. L. Schaefer), alle diese Umstände führten zu der Annahme, daß den anatomisch verschieden gebauten Endorganen auch eine verschiedene Funktion zukomme: den Stäbchen die Wahrnehmung der Schwarz-Weißreihe bei sehr schwacher Beleuchtung (der Dämmerungsapparat), den Zapfen die Wahrnehmung aller Farben bei hellem Licht (der Hellapparat). Diese Theorie wurde von M. Schultze (1866) angedeutet und durch Parinaud und namentlich v. Kries ausgestaltet (Duplizitätstheorie).

Fig. 2. Schematischer Querschnitt durch die Retina nach Ramon y Cajal. a und b Stäbchen und Zapfen. c und d Zapfenzellen und Stäbchenzellen. e und f bipolare Zellen. g, h, i, j, k Ganglienzellen des Sehnerven. H Optikusfasern. t Müllersche Stützfasern. s zentrifugale Nervenfasern.
Nach Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie I 3. Aufl. Seite 187. Berlin, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co.

Die Duplizitätstheorie erhielt eine eigenartige Bestätigung in der Entdeckung des Sehpurpurs. Diese Substanz findet sich nur bei den Stäbchen. Vom Licht bestrahlt,[S. 35] zersetzt sie sich augenblicklich und bildet sich aufs neue, wenn dem Auge das helle Licht entzogen wird. Es ließ sich nun nachweisen, daß die Unterscheidungsfähigkeit des Dunkelauges in genau dem gleichen Maße wächst, wie sich der Sehpurpur mit der Dauer des Aufenthaltes im Dunkeln vermehrt. Nimmt man nun an, die Zersetzung des Sehpurpurs rufe direkt oder indirekt die Weißempfindung hervor, so werden die Adaptationserscheinungen leicht verständlich. Beim Eintritt in das Dunkel ist noch kein Sehpurpur vorhanden, und da die Zapfen nur auf starke Reize ansprechen, entbehrt man gewissermaßen jedes Organ zum Sehen. Allmählich bildet sich der Sehpurpur; man unterscheidet langsam die Gegenstände im schwach beleuchteten Raum. Tritt man nun ins Helle, so ruft die lebhafte Zersetzung eine intensive Weißempfindung hervor, durch die man wie geblendet und zum Erkennen der Dinge unfähig gemacht ist. Sobald aber der Sehstoff aufgebraucht ist, hört die Blendung auf und der Hellapparat vermittelt die Farbenempfindungen. Die totale Farbenblindheit mit dem Helligkeitsmaximum im Grün erklärt sich nach der Duplizitätstheorie sehr einfach durch das Nichtfunktionieren des Zapfenapparates.

Die Duplizitätstheorie gewann neue Stützen aus der Erforschung des Tierauges. So fand man Nachttiere mit gut entwickeltem Stäbchenapparat und nachtblinde (hemeralope) Tiere, die wie die Hühner wenig Stäbchen besitzen. Allein neben solchen Bestätigungen ergaben sich auch mancherlei Schwierigkeiten. So will man bei den nachtblinden Hühnern (wie auch neuerdings bei der Fovea des menschlichen Auges) das Purkinjesche Phänomen festgestellt haben, und die der Stäbchen entbehrenden Schildkrötenaugen sollen Dunkeladaptation aufweisen.

10. Die Theorien des Farbensehens

Die ältere Young-Helmholtzsche Theorie nimmt im Sehnerven drei Faserarten an, deren Erregung die Rot-, Grün- und Violett- bzw. Blauempfindung vermittelt. Jeder Lichtreiz wirkt auf alle drei Fasern ein, erregt aber je nach seiner Wellenlänge eine der drei Fasern besonders lebhaft. Das langwellige Licht z. B. erregt gleichmäßig Rot-, Grün- und Blaufasern, am stärksten jedoch die Rotfasern, weshalb bei seiner Einwirkung Rot empfunden wird. So[S. 36] erklären sich sehr einfach die Gesetze der Farbenmischung. Um den Farbenkontrast verständlich zu machen, mußte Helmholtz, wie wir sahen, zu einer psychologischen Deutung greifen, die nicht allen Tatsachen gerecht wird. Das negative Nachbild rührt nach dieser Theorie von der Ermüdung her: Hat das Auge eine Zeitlang rot empfunden, so waren zwar alle drei Faserarten tätig, aber die am stärksten erregte Rotfaser wurde auch am meisten ermüdet. Wendet sich das Auge nun auf einen weißlichen Hintergrund, so ist die Grün- und die Violettfaser leistungsfähiger als die Rotfaser, weshalb ein komplementäres Grünblau gesehen wird. Allein von einer solchen Ermüdung kann nach neueren Untersuchungen nicht die Rede sein. Selbst nach zehnstündigem Aufenthalt im Hellen ist das Auge nicht merklich ermüdet. Und doch stellt sich der Kontrast schon nach kurzer Zeit ein.

Am wenigsten leistet die Helmholtzsche Theorie für die Erklärung der Farbenblindheiten. Man kann diese im allgemeinen zurückführen entweder auf eine anormale Absorption: wie beim Normalen eine gelbe Pigmentierung vor der Netzhaut liegt, so beim Anormalen eine andere Färbung, die gewisse Lichtstrahlen absorbiert; oder auf eine eigenartige Änderung der Netzhaut- bzw. der Nervenprozesse; oder auf den Ausfall bestimmter optischer Organe oder Funktionen. Ob eine anormale Pigmentierung vorliegt, wird sich im Einzelfall feststellen lassen. Die große Mehrzahl der Anomalien kann jedoch auf diese Weise nicht erklärt werden. Man hat somit entweder eine Änderung der Funktionsweise oder den Ausfall von Funktionen anzurufen. Vor der ersten Hypothese scheut jedoch ein streng wissenschaftliches Denken zurück, da mit der Einführung unkontrollierbarer neuer Faktoren schier alles erklärt werden kann. Wo immer sich darum eine organische Änderung nicht unmittelbar feststellen läßt, ist jene hypothetische Erklärung zu bevorzugen, welche die Anomalien mit dem Ausfall schon bekannter Faktoren zu deuten vermag. Dazu ist nun die Helmholtzsche Theorie nicht imstande, was hier jedoch im einzelnen nicht nachgewiesen werden kann. (Vgl.[S. 37] Fröbes I, S. 87.) Ebensowenig vermag sie die Frage zu beantworten, warum die Farbenempfindungen stets paarweise einander zugeordnet sind.

Gerade von der paarweisen Gegensätzlichkeit der Farbenempfindungen nimmt die Heringsche Theorie ihren Ausgang. Sie fordert drei Sehsubstanzen: eine Weiß-Schwarz-, eine Rot-Grün- und eine Blau-Gelbsubstanz. Reize, die auf diese Substanzen dissimilierend einwirken, verursachen die Weiß-, die Rot- und die Blauempfindung; assimilierend wirksame Reize hingegen rufen die Grün- und Gelbempfindung hervor. Auf die Weiß-Schwarzsubstanz wirken die äußeren Reize jedoch nur dissimilierend ein. Schwarz wird nur auf innere Reize hin empfunden. Jedes farbige Licht besitzt auch eine Weißvalenz. Beachtet man nun, daß die entgegengesetzten Prozesse der Dissimilation und Assimilation die Tendenz haben, nach Aufhören der Reize ineinander umzuschlagen, wie wir das schon an dem Bild des Manometers veranschaulicht haben, so ergibt sich eine befriedigende Deutung der wichtigsten Tatsachen. So versteht man leicht die Farbenmischung, das Bestehen von Komplementärfarben, deren Mischung Weiß als Restphänomen bestehen läßt, sowie die Wendepunkte in der Qualitätenreihe der Farben. Ebenso begreift sich, daß an der Peripherie der Netzhaut die Gegenfarben gleichzeitig verschwinden und bei der Intensitätssteigerung des äußeren farbigen Reizes auch paarweise in Weiß übergehen. Wird eine der Sehsubstanzen fortdauernd dissimiliert, so wird schließlich das dissimilierbare Material erschöpft, die betreffende Farbenempfindung verblaßt und nähert sich dem Grau (Lokaladaptation). Hört nun der äußere Reiz auf, so setzt von selbst der umgekehrte Prozeß ein, weshalb das negative Nachbild auftritt. Da aber durch die Dissimilation der Assimilationsstoff auch in der Nachbarschaft der erregten Netzhautstelle angehäuft wird und jede Anhäufung des Assimilationsmaterials den Assimilationsprozeß zur Folge hat — Entsprechendes gilt von der Dissimilation —, so beginnt alsbald neben jeder gereizten Netzhautstelle der entgegengesetzte Prozeß, und wir erleben den Simultankontrast.[S. 38] Die Farbenblindheiten erklären sich nach dieser Theorie im großen und ganzen als Ausfallserscheinungen. Für gewisse Anomalien versagt indes die Heringsche Theorie. G. E. Müller hat sie darum weiter ausgebaut, indem er außer antagonistischen Netzhautprozessen noch innere Nervenerregungen mit verschiedenen Valenzen annahm. (Vgl. Fröbes I, 61 ff. u. 81 ff.)

Literatur

E. Hering, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinne. Handbuch der ges. Augenheilkunde. 1905/13.

F. W. Fröhlich, Grundzüge einer Lehre vom Licht- und Farbensinn. 1921.

B. Die Gehörempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Gehörempfindungen

Als wesentlich anderer Bewußtseinsinhalt steht übergangslos neben den Farben das Reich der Schallwahrnehmungen. Wollen wir in ihm bis zu den Empfindungen mit der Analyse vordringen, so scheidet sich die Menge dieser Eindrücke leicht in zwei große Gruppen, in Klänge und Geräusche, die schon das vorwissenschaftliche Denken als musikalische und unmusikalische Eindrücke auseinanderhält. In der Analyse der Geräusche ist man noch nicht weit fortgeschritten. Man unterscheidet Momentan- und Dauergeräusche, schreibt ihnen die Eigenschaften der Stärke und Höhe zu, ist aber noch nicht imstande, endgültig zu entscheiden, ob das Geräusch stets ein zusammengesetzter Eindruck ist, oder ob es Geräuschempfindungen gibt, und ob im ersteren Falle die Geräusche auf Töne zurückführbar sind. Man kann allerdings durch Häufung kurz dauernder Töne ein Geräusch erzeugen. Allein damit wird die Frage nicht entschieden, da die Verbindung solcher Empfindungen bzw. ihrer Reize möglicherweise einen ganz neuen und andersartigen Bewußtseinsinhalt bedingt. Eine Lösung dieser Frage kann nur durch den unmittelbaren Vergleich des Geräuscheindruckes mit den Tonwahrnehmungen angestrebt werden.

[S. 39]

Bei den Klängen glaubt man jedoch sehr bald auf wahre Empfindungen zu stoßen, an denen sich nur noch die bekannten Eigenschaften der Höhe, der Stärke und der Klangfarbe beobachten ließen. Sieht man aber genauer zu, so findet man, daß die Verschiedenheit des a der Violine von dem a der Trompete, abgesehen von den Streich- und Blasegeräuschen, auch darauf beruht, daß sich mit dem a der Violine andere Teiltöne verbinden als mit dem der Trompete. Gelingt es, durch künstlich herbeigeführte Interferenzwirkungen diese Teiltöne auszuscheiden, so verschwindet auch die Klangfarbe als eine Empfindungseigenschaft, und es bleiben nur die beiden andern übrig. Davon ist die Tonstärke leicht erfaßbar: das gleiche a einer Stimmgabel kann stärker und weniger stark ertönen. Die verschiedenen Stärkegrade sind in einer eindimensionalen Geraden adäquat darstellbar. Sehr viele Probleme birgt indes die zweite Eigenschaft der Tonhöhe, die noch keineswegs befriedigend zu lösen sind.

Vorab ist die Bezeichnung Tonhöhe für die rein psychologische Betrachtung hinderlich. Wir verbinden mit dem Wort „Höhe“ in der Regel den Begriff eines Maßes oder eines Vergleiches, Bewußtseinsinhalte, die, wie später zu zeigen ist, in den Bereich der Gedanken, nicht der Empfindungen gehören. Die Empfindung als solche liefert uns nur eine eigenartige Tonqualität, und wenn mehrere Töne nacheinander geboten werden, eine Anzahl in sich verschiedener Tonqualitäten. Von einem oben und unten, hoch und niedrig enthält die reine Empfindung nichts. Es fragt sich nun, ist diese Tonqualität ein Letztes, Einheitliches? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die mannigfachen uns bekannten Töne nebeneinander halten. Da stoßen wir auf die mißliche Tatsache, daß die Sprache für das Reich der Töne keine Benennungen geschaffen hat außer allgemeinen, wenig zweckdienlichen wie „hoch“ und „niedrig“. Die Musik, nicht die Psychologie, hat sich zu helfen gesucht, indem sie aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Töne gewisse herausgriff und mit willkürlichen Namen a, b, c usw. belegte. Böte man nun einem normal hörenden, aber jede musikalische Erfahrung entbehrenden Menschen eine größere Anzahl solcher Töne in bunter Reihenfolge und ließe ihn eine Qualitätenreihe herstellen, wobei er die Töne, ähnlich wie zuvor die Farben, nach ihrer qualitativen Zusammengehörigkeit zu gruppieren hätte, so könnten wir wohl zwei Tatsachen feststellen: als zusammengehörig würden einmal jene Töne bezeichnet, wie sie auch von der Musik innerhalb der Tonleiter aneinander gereiht werden; zweitens verriete sich die Neigung, Töne als nächst ähnlich paarweise zusammenzufassen oder[S. 40] gar miteinander zu verwechseln, die in der Musik als Oktaven oder Quinten bekannt sind. Es ergibt sich somit die merkwürdige Erscheinung, daß derselbe Ton c′ sich von c in einer Hinsicht weiter entfernt hat als etwa a, in anderer Hinsicht dem Grundton c näher liegt als a. Es muß also die Tonqualität eine doppelte Seite aufweisen: eine, die sich gleichmäßig fortschreitend ändert, und eine, die nach dem Ausgangspunkt zurückstrebt. Eine räumliche Darstellung beider Tendenzen in ihrer Vereinigung böte etwa eine auf einem Zylinder aufgezeichnete Schraubenlinie. Dringlicher indes als eine räumliche Symbolisierung dieser Verhältnisse ist die psychologische Charakterisierung der beiden Seiten der sog. Tonhöhe. Man hat für die geradlinig fortschreitende den Ausdruck Höhe im engeren Sinne oder besser „Helligkeit“, für die periodisch wiederkehrende die Bezeichnung Qualität versucht. W. Köhler machte auf die unverkennbare Ähnlichkeit aufmerksam, welche die verschiedenen Töne mit den Vokalen haben: die tiefen mit u, o, die hohen mit e, i und wollte die Töne allein durch ihre „Vokalität“ charakterisieren. Aber vielleicht ist es richtiger, die Vokale durch die Töne zu charakterisieren; erhalten sie ihren Charakter doch durch bestimmte Töne, die Formanten (Stumpf, Die Struktur der Vokale, 1918). Weil uns jedoch die Vokale geläufiger sind als die reinen Töne, hören wir in diese leichter Vokale hinein, als umgekehrt die Töne aus den Vokalen heraus. Auch ist mit der Vokalität die ganze Eigenart des Tones nicht erfaßt; namentlich die zwischen den Oktaven und Quinten zu dem Grundton bestehende Ähnlichkeit bleibt unberücksichtigt. Wie auf den Vokalcharakter so hat man auch auf den Raumcharakter der Töne hingewiesen: die tieferen Töne haben etwas Breites, Ausgedehntes, die höheren etwas Spitzes an sich.

Obwohl Qualität und Höhe sich verschieden verhalten, in pathologischen Fällen sogar getrennt voneinander auftreten sollen (G. Révész), sind sie doch keine selbständigen Bewußtseinsinhalte und darum auch nicht Empfindungen, sondern nur unselbständige Momente oder Seiten der Tonempfindungen, ebenso wie der Farbenton und die Helligkeit, die eine ungeteilte Farbenempfindung ausmachen. Wenn pathologisch in der Parakusie oder normal in den Regionen der tiefsten und höchsten Töne zwar das Steigen und Fallen noch erkannt wird, die Qualität hingegen unbestimmbar ist, so liegen ähnliche Verhältnisse vor wie bei der Farbenblindheit mit normaler Helligkeitsverteilung: es wird nicht die Helligkeit allein empfunden, sondern verbunden mit einer bestimmten, sich nahezu gleichbleibenden Qualität.

[S. 41]

Die Qualitätenreihe der Töne, von der oben die Rede war, enthält eine überaus große Mannigfaltigkeit von unterscheidbaren Einzeltönen. Vergleicht man nun, von einem beliebigen Ton ausgehend, der Reihe nach die aufeinanderfolgenden Töne mit dem Ausgangston, so findet man, daß gewisse Töne so innig mit ihm verschmelzen, daß nur ein geübtes Ohr die Zweiheit der Töne bemerkt, während bei dem Zusammenklingen anderer die Zweiheit sofort hervortritt. Wir nennen nun den Tonabstand, bei dem die innigste Verschmelzung eintritt, der Musiklehre folgend, eine Oktav, den hinsichtlich des Verschmelzungsgrades nächstfolgenden eine Quint, der sich die Quart, die große Terz, die Sext, die Sekunde und die Septim anschließen. Der Zusammenklang der beiden letztgenannten Intervalle ist für uns unlustbetont; wir sprechen von Dissonanzen, während die erstgenannte Intervalle die wohlgefälligen Konsonanzen ergeben.

Wie bei der Besprechung der Konsonanz, so überschreiten wir nochmals das enge Gebiet der eigentlichen Empfindung, indem wir uns der Klangfarbe zuwenden. Doch ist diese zweifache Gebietsüberschreitung hier berechtigt, weil wir durch sie die Tonempfindung selbst näher kennen lernen. Helmholtz wies experimentell nach, daß mit den Tönen, die wir erzeugen, gewisse „Obertöne“ verbunden sind, und zwar gesellt sich für gewöhnlich der nächste Oktavton, die Quint von dieser Oktav, ferner die zweite Oktav usw. hinzu. Es sind immer nur ganz bestimmte Töne, die sich mit dem Grundton vereinigen, aber nicht alle Obertöne sind in jedem Falle vorhanden und nicht alle sind jedesmal in der nämlichen Stärke gegeben. Wegen dieser doppelten Variationsmöglichkeit klingen gleich hohe Töne auf verschiedenen Instrumenten ganz verschieden. Mit Hilfe der Helmholtzschen Resonatoren, metallener Hohlkugeln mit einer Öffnung zum Auffangen und einer kleineren zur Abgabe des Tones in den Gehörgang, lassen sich die Teiltöne aus dem Klangganzen heraushören. So gelangt man zu einer Charakteristik des einfachen Tones gegenüber dem zusammengesetzten Klang. Der einfache Ton ist angenehm, ohne Rauhigkeit, unkräftig, in der Tiefe weich und dumpf, in höheren Lagen hell und spitz. Der menschliche Mund beim Pfeifen und die Flöte der Orgel erzeugen Klänge, die dem einfachen Ton sehr nahestehen. Verbindet sich mit dem Grundton eine Anzahl niederer Obertöne, so ergibt sich ein reicher musikalischer Klang wie bei der offenen Orgelpfeife. Ungeradzahlige Teiltöne machen den Klang hohl und bei größerer Anzahl näselnd. Ist der Grundton zugleich der stärkste, so bezeichnen wir den Klang als voll, andernfalls als leer. Werden endlich die jenseits[S. 42] des sechsten liegenden Obertöne sehr intensiv, so erhalten wir den scharfen, rauhen Klang der Blechmusik.

2. Die Beziehung der Tonempfindungen zu den äußeren Reizen

Als allgemeiner Reiz für die Entstehung der Schallwahrnehmungen gelten schwingende Luftmassen. Dem einfachen Ton entspricht die einfache Sinusschwingung, und zwar wird die Gesamtqualität des Tones oder die Tonhöhe durch die Zahl der in einer Sekunde erfolgenden Schwingungen und die Intensität des Tones durch die Amplitude bedingt. Für die Intensitätsregel ist allerdings zu beachten, daß sie in dieser einfachen Form nur für Töne gleicher Höhe gilt. Denn die lebendige Kraft, von der die Stärke des Tones abhängt, richtet sich sowohl nach der Amplitude wie nach der Schwingungszahl; je größer diese ist, um so geringer kann jene sein. Darum klingt von zwei Tönen gleicher Amplitude der höhere lauter (Helmholtz), weshalb z. B. eine Piccoloflöte oder ein guter Sopran ein stark besetztes Orchester zu übertönen vermag.

Die Zahl der Luftschwingungen in der Sekunde bestimmt die Höhe des Tones. 435 Doppelschwingungen in der Sekunde ergeben z. B. den Wiener Kammerton a. Die Raschheit der Schwingungen muß nun so groß sein, daß auf eine Sekunde wenigstens 15 Schwingungen kommen, wenn überhaupt ein Ton gehört werden soll (Ellis). Als oberste Schwingungszahl, die auf uns noch den Eindruck eines Tones macht, gibt man 20000 (König) oder 50000 (Edelmann) Schwingungen an. Im Alter rücken diese Grenzen ein wenig zusammen (Zwaardemaker). Wenn nun als untere Grenze 15 Schwingungen für die Sekunde genannt werden, so ist damit nicht gesagt, daß tatsächlich wenigstens 15 Luftstöße unser Ohr treffen müßten, sondern es ist nur ausgesprochen, mit welcher Geschwindigkeit diese Stöße einander zu folgen haben, damit überhaupt ein musikalischer oder doch ein akustischer Eindruck entsteht. Es genügen nach den neueren Untersuchungen in Wirklichkeit schon zwei aufeinanderfolgende Luftstöße zur Erzeugung einer Tonempfindung. Allerdings ist der Charakter dieser Tonempfindung noch nicht völlig bestimmt. Aber schon mit 16 Schwingungen ist der höchste Grad der Bestimmtheit erreicht. Eine ähnliche Feinheit zeigt das Ohr in dem mittleren Gebiet für die Unterschiede der Geschwindigkeit der Luftstöße. Beträgt der Unterschied auch nur eine halbe Schwingung in der Sekunde, so wird der Ton als ein qualitativ anderer erkannt, wenngleich die Bestimmung seiner Höhe unsicher sein kann.[S. 43] Es lassen sich darum in einer mittleren Oktave über 1000 Töne unterscheiden. Bei etwa 40 Schwingungen irrt man allerdings um eine ganze Schwingung und an den oberen Grenzen vollends um Tausende bei der Bestimmung der Tonhöhen.

Höchst beachtenswert sind die Beziehungen, die zwischen den Schwingungszahlen jener Töne bestehen, die wir oben rein psychologisch als mehr oder weniger miteinander verschmelzend, mehr oder weniger konsonant herausgestellt haben. Die Schwingungszahl eines beliebigen Tones verhält sich zu der seiner Oktav, seiner Quint, seiner Quart, großen Terz, kleinen Terz usw. wie 1 : 2, 2 : 3, 3 : 4, 4 : 5, 5 : 6 usf. Ähnlich einfache Verhältnisse finden sich bei den Schwingungszahlen des Grundtones und der Obertöne. Diese verhalten sich der Reihe nach wie 1 : 2 : 3 : 4 : 5 usf. Aus solchen Tatsachen darf man jedoch nicht den Schluß ziehen, unser Ohr fasse diese eigenartigen Zahlenverhältnisse auf, oder ein konsonantes Intervall erscheine uns deshalb wohlgefällig, weil das Verhältnis der Schwingungszahlen ein sehr einfaches sei. In dem Bewußtsein des über die Tonreize nicht unterrichteten Menschen ist nichts vorhanden als der angenehme oder unangenehme Zusammenklang zweier Töne. Dagegen besitzt unser Ohr eine merkwürdige Fähigkeit, die kompliziertesten Luftwellen zu zerlegen. Ertönt eine Stimmgabel, so werden die benachbarten Luftteilchen in Transversalschwingungen versetzt, die sich geometrisch als einfache Sinusschwingungen nach ihren einzelnen Phasen wiedergeben lassen. Erklingt nun gleichzeitig eine zweite Stimmgabel, so erfassen die von ihr ausgehenden Stöße das nämliche Luftteilchen. Auch sie möchten ihm eine Sinusschwingung erteilen. Da es jedoch nunmehr beiden Antrieben folgen muß, so wird seine Bewegung eine sehr eigenartige, und das Kurvenbild der Totalbewegung wird ein recht kompliziertes, das mit der ursprünglichen Sinuskurve kaum noch eine Ähnlichkeit aufweist. Aber wie sich mathematisch jede Kurve in Sinuskurven zerlegen läßt (Fourrier 1822), so wird auch der verwickelte Gesamtreiz im Ohr in seine einfachen Komponenten zerlegt. Und darum verschmelzen zwei gleichzeitig erklingende Töne nicht zu einem Mischton wie zwei Farben zu einer Mischfarbe verschmelzen, sondern jeder Ton bleibt für sich bestehen. Aus demselben Grunde macht es für das Hören keinen Unterschied, ob zwei Töne gleichzeitig oder nacheinander einsetzen, so sehr sich auch die entstehende Gesamtkurve infolge einer Phasenverschiebung verändert.

Man hat den der Tonempfindung bzw. dem musikalischen Eindruck zugehörigen Reiz vielfach als periodische Luftschwingung dem ein Geräusch verursachenden Reiz gegenübergestellt und diesen als unperiodischen gekennzeichnet. Drückt man aber eine Anzahl benachbarter Klaviertasten gleichzeitig nieder, so vernimmt man ein Geräusch, obwohl hier aus der Summe periodischer Teilreize wieder ein periodischer Gesamtreiz entstehen muß. Anderseits hört man beim Ausklingen[S. 44] einer Sirene zweifellos einen musikalischen Klang, und doch folgen sich hier nicht periodische Schwingungen, da die Reize sich beständig ändern. Man wird also den musikalischen Reiz als den einfacheren gegenüber dem sehr komplizierten Geräuschreiz zu betrachten haben, ohne vorerst eine scharfe Grenzlinie ziehen zu können.

Bevor wir nun die Theorie der Gehörempfindungen darstellen können, müssen wir noch zwei Tatsachengruppen besprechen, die über die Einzelempfindung hinausführen, die Schwebungen und die Kombinationstöne. Erklingen zwei benachbarte Töne gleichzeitig, so bemerkt man rhythmische Intensitätsschwankungen: bei sehr nahe zusammenliegenden Tönen ein allmähliches Ab- und Zunehmen der Intensität, bei entfernteren vernimmt man abgegrenzte Stöße oder endlich ein verworrenes Schwirren. Zählt man ab, wieviele Schwebungen auf die Sekunde entfallen, so stellt sich heraus, daß die Zahl der Schwebungen gleich der Differenz der Schwingungszahlen der beiden Töne ist. Je näher also die Töne einander liegen, um so geringer ist die Zahl der Schwebungen. Schwebungen bei hohen und bei niederen Tönen unterscheiden sich durch die größere Rauhigkeit in den oberen Regionen. Merkwürdigerweise ruft auch ein kräftiger Oberton Schwebungen mit dem Grundton hervor, wodurch also ein neues, die Klangfarbe mitbestimmendes Element gegeben ist.

Die Erklärung der Schwebungen möchte man zunächst bei den äußeren Reizen suchen. Vereinigt man zwei wenig voneinander unterschiedene Sinuskurven, so ergibt sich eine neue Kurve, die periodisch ein Maximum und ein Minimum der Amplitude aufweist. Es wird also wirklich die Luftwelle durch Interferenz abwechselnd geschwächt und verstärkt. Allein diesem Deutungsversuch widerspricht die oben mitgeteilte Tatsache, daß das Ohr von der durch Kombination der Schwingungen entstandenen Form der Kurve unabhängig ist, da es aus dieser die ursprünglichen Komponenten herausanalysiert. Somit müssen die Schwebungen im Ohr selbst entstehen. Die Theorie der Gehörempfindungen hat dies verständlich zu machen.

In eigenartiger Weise geht unser Sinnesorgan über die objektiv vorhandenen Reize hinaus und bleibt doch wiederum in streng gesetzmäßiger Beziehung zu den Reizen bei den sogenannten Kombinationstönen. Wird gleichzeitig ein hoher (h) und ein tiefer (t) Ton geboten, so hört man unter Umständen noch einen dritten Ton von der Schwingungszahl h−t, den Differenzton. Außerdem[S. 45] ist ein Ton von der Schwingungszahl h+t vernehmbar, der Summationston. Sorgfältige Beobachtungen ergaben nun, daß sich zwischen dem Ton t und dem tieferen Differenzton h−t ein neuer Differenzton bildet von der Schwingungszahl t−(h−t) = 2t−h. Man nennt ihn den zweiten Differenzton. Wie man sieht, lassen sich nach diesem Prinzip noch eine Reihe anderer Kombinationstöne rein rechnerisch ableiten. Man will sie zum Teil auch beobachtet haben. Von größerer Bedeutung sind indes nur die drei genannten Kombinationstöne. Zu ihrer einwandfreien Feststellung hat namentlich Stumpf eine exakte Methode ausgearbeitet, auf die wegen ihrer vorbildlichen Sorgfalt hier wenigstens aufmerksam gemacht sei. (Stumpf, Beobachtungen über Kombinationstöne ZPs. 55 [1910], S. 1 ff.)

Die Kombinationstöne, von denen hier die Rede ist, lassen sich nicht aus äußeren Reizen erklären, die sich etwa infolge des Zusammenwirkens zweier Schallquellen bilden. Eine derartige Entstehung eines neuen objektiven Reizes ist allerdings möglich, z. B. wenn man zwei Stimmgabeln auf einer gemeinsamen Unterlage befestigt oder wenn im Harmonium zwei Pfeifen von einer gemeinsamen Windlade aus gespeist werden. Die so entstehenden Kombinationstöne verlangen keine weitere psychologische oder physiologische Erklärung. Sie sind daran als objektive Töne zu erkennen, daß sie durch einen Helmholtzschen Resonator verstärkt werden, während der subjektive Kombinationston gleich laut bleibt. Sind aber die Schallquellen sorgfältig getrennt, so kann sich ein neuer äußerer Reiz nicht bilden, es sei denn, man setze besonders empfindliche und geeignete elastische Körper beiden Reizen aus. So fand man, daß auch bei getrennten Schallquellen empfindliche Flammen, Telephonplatten und Membranen nach dem Muster des Trommelfelles mit dem Kombinationston reagieren. Die Vermutung ist darum berechtigt, daß die Kombinationstöne auf die nämliche Weise im Trommelfell entstehen. Wenn man nun auch nach Wegfall des Trommelfelles Kombinationstöne gehört hat, so könnten sie in einer andern Membran des Mittelohres, etwa in dem runden Fenster am Eingang der Schnecke, erzeugt worden sein.

3. Die Theorie der Gehörempfindung

Der äußere Gehörgang wird von dem Trommelfell, einer schräg verlaufenden, trichterförmig nach innen eingezogenen Membran abgeschlossen. Wie physikalische Untersuchungen lehren, sind Membranen dieser Bauart am geeignetsten, die verschiedenartigsten Schwingungen der umgebenden Medien aufzunehmen, ohne zu sehr in Eigenschwingungen zu geraten, wodurch sie zur getreuen Vermittlung der fremden Schwingungen untauglich würden. Innen liegt dem Trommelfell der Hammer an, der einerseits dessen Eigenschwingungen[S. 46] zu dämpfen, anderseits die dem Trommelfell von außen erteilten Schwingungen vermittels der beiden andern Gehörknöchelchen, des Amboß und des Steigbügels, auf die Membran des zum Vorhof führenden ovalen Fensters zu übertragen hat (Fig. 3). Das innere Ohr ist mit einer Flüssigkeit erfüllt. Somit erzeugen die Schwingungen am ovalen Fenster Flüssigkeitswellen, die sich durch das ganze innere Ohr und namentlich durch die Schnecke fortpflanzen. Dort teilen sie sich der mit Endolymphe angefüllten häutigen Schnecke mit und erregen deren Grundmembran, auf welcher der Hörnerv endigt. Die Grundmembran enthält etwa 20000 straff gespannte, zur Schneckenspindel radiär verlaufende Fasern, deren Länge nach der Schneckenspitze hin zunimmt.

Fig. 3. Schema des Gehörorgans (nach Nagel). 1. der Hörnerv. 3. Utriculus. 4. ein Bogengang. 5. Sacculus. 10. das knöcherne Labyrinth. 11. das Felsenbein. 12. das ovale, 13. das runde Fenster. 15, 16. der äussere Gehörgang. 17. das Trommelfell. 18–20. Hammer, Amboß, Steigbügel. 21–23. Paukenhöhle und Eustachische Röhre.
Aus Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen III, 2 S. 542. Braunschweig, Vieweg & Sohn.

Nach der Helmholtzschen Theorie soll nun jede dieser Fasern wie die Saiten eines Klaviers auf einen bestimmten Ton abgestimmt sein: die am Ausgang der[S. 47] Schnecke liegenden kürzeren auf die höheren, die an der Spitze liegenden längeren Fasern auf die tieferen Töne. Bei einer rhythmischen Erregung der Endolymphe würden dann nur jene Fasern in Schwingung geraten, die auf diese Wellenbewegung abgestimmt sind, ähnlich wie beim Hineinsingen in ein Klavier nur die den gesungenen Tönen entsprechenden Saiten mitschwingen. Die Schwingung der Hautfaser reizt den auf ihr endigenden Hörnerven, wodurch schließlich im Gehirn ein der Gehörempfindung entsprechender psychophysischer Prozeß hervorgerufen wird. Diese Ansicht wird durch Tierexperimente bestätigt: Zerstörung der Schneckenspitze verursachte Taubheit für tiefe, Zerstörung der Schneckenbasis Unempfänglichkeit für hohe Töne. Den Haupteinwand gegen die Theorie, so winzige Fäserchen könnten nicht auf die tiefen Töne abgestimmt sein, hat Helmholtz durch mathematische Untersuchungen zurückgewiesen.

Die Resonanztheorie macht nun zunächst die Tonlücken und Toninseln, d. h. den krankhaften Ausfall gewisser Partien der Tonreihe, leicht verständlich. Es versagen da die entsprechenden Teile der Grundmembran. Ferner erklärt die Theorie ganz einfach die Tatsache der Klanganalyse: mag die Gesamtwelle wie immer gestaltet sein, sie kann nur jene Teile des Resonators in Schwingung versetzen, die auch durch ihre Komponenten erregt würden. Helmholtz nahm nun an, jeder Faser der Grundmembran entspreche eine bestimmte Nervenfaser, die stets mit demselben Ton antworte. Anderseits glaubte er, bei jeder Erregung würde nicht nur eine isolierte Faser in Schwingung versetzt, sondern auch die ihr zunächst anliegenden. Diese Annahmen vertragen sich nicht mit der Tatsache, daß wir einfache Töne zu hören imstande sind (Stumpf). Man läßt darum heute die gleiche Nervenfaser innerhalb enger Grenzen mit einer veränderlichen Erregung reagieren. So versteht man auch die Schwebungen. Beim Erklingen zweier benachbarter Töne werden nicht nur zwei vereinzelte Fasern erregt, sondern auch die Nachbargebiete dieser beiden Fasern. Greifen diese nun übereinander, so müssen die mittleren Fasern, die[S. 48] beiden Antrieben unterliegen, der Interferenz zufolge bald ein Maximum, bald ein Minimum der Erregung aufweisen. Die Dauergeräusche sodann würden durch eine gleichzeitige Erregung größerer Strecken der Grundmembran verständlich, wobei ein Tongewirre entstehen müßte, verbunden mit mannigfaltigen Interferenzerscheinungen, die den Charakter des Unruhigen und Rauhen bedingten. Die Momentangeräusche hingegen würden durch Reize erzeugt, die kürzer sind als eine Schwingung und darum keinen Ton hervorrufen.

Die Helmholtzsche Theorie hat sich trotz mancher inneren Schwierigkeiten bis heute zu behaupten vermocht. Als einzige beachtenswerte Rivalin steht ihr heute die geistvolle Theorie von Ewald gegenüber. Ewald läßt durch jeden Reiz die ganze Grundmembran in Schwingung geraten, und zwar so, daß sie in eine Reihe stehender Wellen zerlegt wird. Die verschiedenen Reize erregen sie aber in verschiedener Weise. Somit gehört zu jedem Klang ein ganz charakteristisches Wellenbild. Können sich keine stehenden Wellen bilden, so vernehmen wir ein Geräusch. Ewald konnte zeigen, daß eine von Wasser umgebene Membran nach Art der Grundmembran tatsächlich solche Wellenbilder gibt. Gleichwohl wird diese Theorie von der Helmholtzschen durch die Zahl der erklärbaren Probleme übertroffen. Zuletzt sei noch erwähnt, daß manche Forscher zu der Annahme eines besonderen Organs für die Wahrnehmung der Geräusche neigen.

Literatur

C. Stumpf, Tonpsychologie 1883 u. 1890.

3. Kap. Die niederen Empfindungen

A. Die Geschmacksempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Geschmacksempfindungen

Es bereitet keine Schwierigkeit, die Inhalte der Geschmacksempfindung von denen der höheren Sinne, des Gesichtes und des Gehörs, zu sondern. Durch das, was man gemeinhin Geschmack nennt, wird unser Bewußtsein in ganz eigenartiger Weise bereichert. Die Verlegenheit beginnt erst, wenn wir uns bemühen, aus den im Alltagsleben als Geschmäcke benannten Eindrücken die eigentlichen Geschmacksempfindungen herauszulösen. Die Spielarten des Geschmackes der Speisen und Getränke scheinen unbegrenzt zu sein. Schaltet man jedoch den Geruchsinn beim[S. 49] Schmecken aus, so schrumpft ihre Zahl schon beträchtlich zusammen. Bei zugehaltener Nase läßt sich ein Stück Zwiebel von einem Stück Apfel nicht unterscheiden, und auch die Blume des Weines verschwindet. Weiter läßt sich leicht erkennen, daß Wärme und Kälte den einzelnen Geschmackseindruck mitbestimmen, ohne selbst Geschmack zu sein. Auch das Beißende, Prickelnde, Stechende mancher Geschmackserlebnisse verrät sich leicht als Bestand anderer Empfindungen, da wir solche Eindrücke für sich allein, etwa auf unserer Hand, erfahren können, wo wir niemals versucht sind, sie als Geschmäcke zu beurteilen. Nach all diesen Ausscheidungen bleiben heute als allgemein anerkannt nun vier Qualitäten des Geschmackes übrig: süß, sauer, salzig, bitter.

Daß hier noch ungelöste Probleme liegen, kann man sich durch die Frage zum Bewußtsein bringen: Wodurch unterscheidet sich rein inhaltlich die Geschmacksempfindung von den Geruchs- und den verschiedenen Arten der noch zu besprechenden Hautempfindungen? Dabei müssen wir den Gedanken an die aufnehmenden Organe, an die verursachenden Reize und an die körperlichen Begleit- oder Folgeerscheinungen (man denke an die Würgbewegungen bei „ekelhaften“ Geschmäcken) gänzlich beiseite lassen. Allerdings kann die Antwort auf obige Frage nur lauten: Sie unterscheiden sich durch sich selbst. Es erhebt sich aber die weitere Frage: Ist dieser inhaltliche Unterschied so groß, daß wir uns nicht einen Übergang zwischen den Qualitäten vorstellen können? So versteht man auch, wie bis auf die Gegenwart über den Empfindungscharakter von metallisch und alkalisch Zweifel herrschen konnte. Letztere betrachtet man heute nicht mehr als einfache Geschmacksempfindungen.

Die vier Geschmacksqualitäten haben keine Unterarten und stehen unverbunden einander gegenüber. Graphisch wären sie vielleicht durch vier isolierte Punkte darzustellen, von denen jedoch die Repräsentanten von sauer, salzig und bitter näher beieinander liegen.[2] Die Mischung der Geschmäcke vergleicht man mit den Mischungen der Töne: Die beiden Komponenten bestehen nebeneinander fort. Nur die Mischung von süß und salzig soll den Mischgeschmack „fade“ ergeben. Es findet sich auch eine der[S. 50] Umstimmung der Netzhaut vergleichbare Erscheinung: nach Einwirkung von schwacher Natronlauge schmeckt destilliertes Wasser süß.

2. Reize und Organe des Geschmacksinnes

Geschmacksreize sind gelöste Stoffe, Dämpfe und Gase. Jedoch ist es noch ganz unklar, in welchem Zusammenhang die chemische Beschaffenheit eines Stoffes mit seinem Geschmack steht. Vielleicht wird die spätere Forschung verhältnismäßig einfache Beziehungen finden, auf die sich alsdann eine Theorie der Geschmacksempfindung aufbauen läßt. Als sogenannten inadäquaten Reiz bezeichnete man oft den elektrischen Strom, da er an der Anode den Eindruck sauer, an der Kathode den Eindruck bitter oder alkalisch hervorruft. Es scheint indes der elektrische Strom nur mittelbar, durch die elektrolytische Zersetzung des Speichels zum Geschmacksreiz zu werden.

Die Organe des Geschmacksinnes befinden sich beim Erwachsenen auf der Zunge, dem weichen Gaumen, der Rückseite des Gaumensegels und im Schlund. Beim Kinde scheinen noch andere Partien des inneren Mundes für die Aufnahme von Geschmacksreizen befähigt zu sein. Man unterscheidet drei Arten der sogenannten Geschmacksknospen: hinten auf der Zunge die größten und seltenen papillae circumvallatae, die besonders für bitter empfänglich sind; an den seitlichen Rändern die papillae foliatae und vorne die papillae fungiformes, die für süß empfindlich sind. Sauer und salzig soll man besonders an den Rändern und an der Spitze der Zunge empfinden. Zwischen den Geschmacksbechern liegen unempfindliche Stellen. Nach neueren Untersuchungen soll bei Reizung der Nachbarstellen eine ähnliche Ausfüllung der unempfindlichen Partien stattfinden wie auf dem blinden Fleck auf der Netzhaut. (Ponzo. Vgl. Zentralbl. für Psych. II, Nr. 20.)

Literatur

W. Nagel, Der Geschmackssinn, in Nagels Handbuch der Physiologie III, 1905.

[S. 51]

B. Die Geruchsempfindungen

Die Geruchsempfindungen mischen sich leicht mit den Meldungen der niederen, d. h. vorwiegend den vegetativen Funktionen dienenden Sinne. So kennt der Sprachgebrauch stechende Gerüche, die in Wahrheit eine Verbindung von Geruch- und Tastempfindungen sind. Pathologische Erfahrungen (Anosmie) lehren beide auseinanderhalten, da der Geruch ausfallen kann, während die stechende oder brennende Empfindung bestehen bleibt. Ebenso redet man von süßlichem und säuerlichem Geruch. Durch künstliche Eingriffe wie durch das experimentum naturae wissen wir jetzt, daß diese Mischempfindungen durch die namentlich auf der hinteren Seite des Gaumensegels ausgelösten Geschmacksempfindungen zustande kommen. Schließt man also die begleitenden Druck-, Stich-, Temperatur- und Geschmacksempfindungen aus, so steht man den reinen Geruchsempfindungen gegenüber, die auch nach dieser Loslösung noch eine unübersehbare Mannigfaltigkeit darstellen.

Es wurden die verschiedensten Versuche unternommen, in die an immer neuen Eindrücken reiche Welt der Gerüche eine beherrschende Ordnung und Einteilung zu bringen. Bis heute hat noch keiner dieser Versuche allgemeine Anerkennung gefunden. Am bekanntesten ist die etwas einseitig nach der Botanik orientierte Einteilung Linnés (1759), die neuerdings Zwaardemaker unter Hinzufügung von zwei weiteren Klassen wieder aufgegriffen hat. Zwaardemaker teilt alle Gerüche in Nahrungs- und Zersetzungsgerüche ein. Zu ersteren gehören vier Klassen: 1. Ätherische Gerüche (Fruchtäther, Wachs, Äther); 2. Aromatische Gerüche (Kampfer, Gewürze); 3. Blumengerüche (Reseda, Vanille); 4. Moschusgerüche (Moschus, Ambra). Fünf weitere Klassen bilden die Zersetzungsgerüche: 1. Lauchgerüche (Knoblauch, asa foetida); 2. Brenzliche Gerüche[S. 52] (Tabak, Teer); 3. Bockgerüche (Käse, Schweiß); 4. Widerliche Gerüche (Wanzen); 5. Ekelhafte Gerüche (Aas, Faeces). — Die neueste Untersuchung (Henning) gelangt zu sechs Grundklassen der Gerüche und ordnet sie einem regelmäßigen trigonalen Prisma ein: würzig, harzig, brenzlich sind die drei Ecken seiner Grundfläche; blumig, fruchtig, faulig die entsprechenden der oberen Schnittfläche. Auf die Kanten und Flächen dieses Geruchskörpers kommen Gerüche zu liegen, die in sich einfache Empfindungen sind, jedoch Ähnlichkeit zu den verschiedenen Nachbarpunkten zeigen. Von diesen unzerlegbaren Übergangsgerüchen sind die analysierbaren Mischgerüche zu unterscheiden, die in dem Geruchsprisma keine Stelle finden. Eine bestätigende Nachprüfung der Henningschen Gruppierung bleibt abzuwarten.

Bei länger anhaltendem Geruchsreiz nimmt die Intensität der Empfindung ab, und die Empfänglichkeit für andere Gerüche wird gleichfalls herabgesetzt, doch ist die Erklärung dieser Tatsache keine einheitliche, sondern teils in der Ermüdung des Endapparates, teils in der Abstumpfung der Aufmerksamkeit zu suchen. Doch steigt die Ermüdung nicht bis zur völligen Unempfindlichkeit für stärkere Gerüche, falls man absieht von einer toxischen Lähmung der Riechschleimhaut, wie sie etwa durch Chloroform herbeigeführt wird. Bei gleichzeitigem Einwirken mehrerer Geruchsreize beobachtet man teils eine Mischung der Komponenten von verschieden hohem Verschmelzungsgrad, teils einen Wettstreit der Teilgerüche, teils eine wechselseitige Aufhebung. Erfolgt letztere wegen der physikalischen Paralysierung der Reize, so bietet sie kein besonderes psychologisches Interesse. Es soll aber auch eine physiologische bzw. psychologische Kompensation der Geruchsempfindungen vorkommen, was indes von Henning entschieden verneint wird.

Als Reize kommen für den Geruchsinn die materiellen Teilchen in Betracht, welche die riechende Substanz aussendet. Ob sie jedoch notwendig in gasförmigem Zustand die Nervenendigung erreichen müssen, der ob diese auch durch Flüssigkeiten unmittelbar erregt werden kann, ist heute[S. 53] noch umstritten. Auch die Beziehungen zwischen der chemischen Konstitution der Riechstoffe und den Gerüchen bildet noch ein offenes Feld der Forschung. Obwohl Vertreter derselben chemischen Familie verschieden, und solche verschiedener Familien ähnlich riechen können, scheint doch die Ähnlichkeit des inneren Aufbaues auch eine Ähnlichkeit des Geruches zu bedingen.

Das Organ des Geruchsinnes ist die braungelbe Riechschleimhaut in der obersten der drei Nasenmuscheln. Ihre Gesamtgröße beträgt nur etwa 5 qcm. Von hier aus führen die Riechnerven direkt durch die Öffnungen des Siebbeins in die Schädelkapsel zu den lobi olfactorii, den Riechkolben. In der Riechschleimhaut münden aber auch Trigeminusfasern, die Vermittler der mit den Gerüchen verbundenen Tastempfindungen. — Zu einer Theorie der Geruchsempfindungen sind kaum erste Ansätze vorhanden. Manche Forscher nehmen an, daß ähnlich wie beim Farbensinn so auch hier entweder verschiedene Fasern oder doch verschiedene Riechsinnsubstanzen für die verschiedenen Klassen von Geruchsempfindungen vorhanden seien. Anders und einfacher denkt sich Henning den Vorgang der Geruchsauslösung. Der eigentliche Geruchsreiz besteht in der Aufspaltung des Riechstoffmoleküls an der Oberfläche der Riechzelle. Nun entspricht den sechs Grundgerüchen je eine besondere Art der molekularen Bindung der Riechstoffe. Somit ergeben sich auch sechs verschiedene Arten der Spaltungen oder sechs verschiedene Arten der Reizung ein und derselben Nervenfaser.

Literatur

H. Henning, Der Geruch. 1916.

C. Die Temperaturempfindungen

Kälte- und Wärmeeindrücke sind uns im allgemeinen ihrem Wesen nach geläufig. Sie heben sich im Bewußtsein leicht von andern Empfindungen wie Geruch, Geschmack, Druck, Schmerz ab. Ob wir nun Kälte und Wärme als zwei gesonderte Empfindungsarten oder als Qualitäten einer[S. 54] Empfindungsklasse ansehen sollen, ist für die rein psychologische Betrachtung, die weder auf den verursachenden Reiz, noch auf dessen einheitliche Messung durch das Thermometer, noch auf die empfänglichen Organe oder die biologische Bedeutung dieser Eindrücke achten darf, nicht leicht zu entscheiden. Sicher stehen beide Empfindungen einander näher als alle anderen Modalitäten der Empfindung. Die Psychologie der Alltagssprache hebt die Intensitätsstufen von warm und kalt hervor (lau, warm, heiß, kühl, kalt, eisig) und weiß namentlich von den Extremen auch Abarten anzugeben, wie „sengend heiß“, „schneidend kalt“. Man erkennt indes sehr leicht, daß solche Unterarten nur durch die Vereinigung von Temperatur- und anderen Eindrücken zustande kommen. Somit gibt es bei warm und kalt nur die eindimensionale Intensitätssteigerung. Ein genaueres Studium der Temperaturempfindungen ist jedoch nur durch gesonderte Reizung einzelner kleiner Hautstellen möglich. Dabei ergibt sich, daß die Kälteempfindung nicht mit kühl, sondern mit kalt schlechthin beginnt. Wird eine größere Fläche dem Kältereiz ausgesetzt, so hat man den Eindruck „naß“, den man auch erfährt, wenn man die Stirne längere Zeit von einem kalten Gegenstand berühren läßt und diesen alsdann entfernt. Sonach scheint der Eindruck „naß“ Kälte ohne Berührung zu besagen, ein Erlebnis, das wir in der Regel nur infolge Einwirkung einer Flüssigkeit haben. Die Vorstellung „naß“ koppelt also für unser Bewußtsein die reine Kälteempfindung mit der Vorstellung des sie bedingenden Reizes zusammen. Sehr intensive Kältereize bewirken eine Mischempfindung von Kälte und Schmerz. Die Steigerung der Wärmeempfindung endigt mit dem Eindruck der Hitze. Diese kann man jedoch nicht als eine Verbindung von Wärme- und Schmerzempfindung auffassen; denn bei einer Temperatur von 36° redet man zwar von Hitze, nicht aber von Schmerz. Wie namentlich die Untersuchungen von Alrutz lehren, ist die Hitzeempfindung eine Verschmelzung der Kalt- und Warmempfindung. Zum genaueren Verständnis müssen wir die Organe der Temperaturempfindungen berücksichtigen.

[S. 55]

Betastet man mit einem Bleistift der Reihe nach verschiedene Hautstellen, so beobachtet man an gewissen Punkten ein augenblickliches Aufblitzen der Kälteempfindung. Man ist auf einen „Kältepunkt“ gestoßen. Untersucht man auf die gleiche Weise mit einem gleichmäßig warm gehaltenen Metallstift, so entdeckt man andere Punkte, wo die Wärme besonders verspürt wird; wenn auch die Wärmeempfindung nicht so jäh ansteigt wie die Kälteempfindung. Es gibt somit besondere Nerven zur Vermittlung der beiden Temperaturempfindungen. Ihre Aufnahmeorgane liegen voneinander getrennt, und zwar kommen auf einen Quadratzentimeter der Haut durchschnittlich 12–13 Kälte- und nur 1–2 Wärmepunkte. Die Kältepunkte liegen der Hautoberfläche näher als die Wärmepunkte, was ebenso wie ihre größere Zahl der Erhaltung des Organismus dient, dem die Kälte nachteiliger werden kann als die Wärme. Läßt man nun auf einen Kältepunkt einen Wärmereiz von 35° einwirken, so empfindet man nicht Wärme, sondern Kälte, die „paradoxe Kälteempfindung“. Eine paradoxe Wärmeempfindung zu erzeugen, erscheint zwar als grundsätzlich möglich, läßt sich aber wegen der tiefen Lage der Wärmepunkte nicht gut verwirklichen. Aus diesen Tatsachen erklärt sich dann leicht, wie bei Einwirkung eines ausgedehnten Wärmereizes höherer Temperatur die Hitzeempfindung als eine Verschmelzung der beiden andern auftreten kann.

Als die normalen Reize des Temperatursinnes bezeichnet man die objektiven Temperaturunterschiede. In der Gegend von 28–29° liegt eine Indifferenzzone, bei der weder kalt noch warm empfunden wird. Sie schwankt übrigens je nach der Ausbildung der Endorgane an der einzelnen Körperstelle und der augenblicklichen Adaptation an eine Temperatur. Der Indifferenzpunkt der Haut steigt nämlich oder sinkt, wenn auf dieselbe Stelle längere Zeit eine höhere oder niedere Temperatur eingewirkt hat. Hält man darum die eine Hand etwa eine Minute lang in kühles, die andere gleichzeitig in warmes Wasser und taucht alsdann beide in Wasser mittlerer Temperatur, so empfindet man an der ersten Wärme, an der andern Kälte. — Die Theorie[S. 56] der Temperaturempfindungen ist noch wenig geklärt. Die Ansichten von Weber und Hering kombinierend könnte man etwa sagen: der Wärmeapparat reagiert nur auf Reize über, der Kälteapparat nur auf Reize unter dem Indifferenzpunkt. Zunächst wird nur das Steigen und Sinken der Temperatur gemeldet (Weber). Aber auch die absolute (stationäre) Temperatur wird wahrgenommen (Hering), bis sich der Indifferenzpunkt der Haut dem einwirkenden Reiz angeglichen hat. Allerdings bleibt auch so noch ungeklärt, daß wir stundenlang Kälte oder Hitze in einem Körperglied empfinden können. Die weitere Annahme Herings, daß die Kälteempfindung auf assimilative, die Wärmeempfindung auf dissimilative Vorgänge zurückführbar seien, ist nach der Entdeckung der getrennten Sinnesorgane für beide Empfindungen nicht mehr haltbar.

Literatur

T. Thunberg, Physiologie der Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen, in Nagels Handbuch der Physiologie III, 1905.

D. Die Druckempfindung

Die Druckempfindung scheint von einer einzigen Qualität zu sein. In ihrem schwächsten Grade nennen wir sie Berührung. Auf einem einzelnen Punkt der Körperhaut hervorgerufen, scheint sie doch immer eine gewisse flächenhafte Ausdehnung zu besitzen und hat bei zunehmender Intensität etwas Körniges an sich, als werde ein Sandkorn in die Haut gedrückt. Reine Druckempfindungen sind selten zu beobachten. Spitz-stumpf, rauh-glatt, hart-weich sind zusammengesetzte Eindrücke, die überdies von uns den Gegenständen selbst beigelegt werden. Sehr umstritten ist die Frage, welcher Empfindungsklasse der Kitzel und das Jucken angehören. Die meisten Forscher neigen dahin, ersteren zu den Druck-, letzteres zu den Schmerzempfindungen zu rechnen.

Geringere Druckempfindungen dauern nicht lange an, auch wenn der äußere Reiz fortwirkt. So gewöhnen wir uns rasch an den Druck der Kleider, der Brille u. ä. Stärkere[S. 57] Empfindungen werden jedoch längere Zeit erlebt. Merkwürdigerweise können diese den äußeren Reiz überdauern.

Als adäquater Reiz gilt der mechanische Druck oder richtiger das durch Deformation der Haut bewirkte Druckgefälle. Je stärker dieses ist, je rascher der Druckreiz einwirkt und je größer die von ihm betroffene Stelle ist, um so stärker ist die Druckempfindung. Wird jedoch die dem Druckreiz ausgesetzte Fläche zu groß, so tritt die Empfindung nicht auf, weil keine Deformation der Haut entsteht. Darum empfinden wir im Bad den Wasserdruck nicht, es sei denn an der Stelle der Haut, wo diese gleichzeitig mit der Luft in Berührung tritt. Auf die Deformation der Haut infolge der anhaltenden Verschiebung der Gewebeflüssigkeit ist wohl auch das Druckbild zurückzuführen, wie man es z. B. nach Abnahme des festeingepreßten Hutes noch eine Zeitlang haben kann.

Als Organe des Drucksinnes lassen sich zurzeit die jeden Haarbalg wie ein Korbgeflecht umgebenden Nerven und an den unbehaarten Stellen die Meißnerschen Tastkörperchen nennen. Letztere findet man, wenn man mit abgestumpften Pferdehaaren die Hautfläche abtastet.

Literatur

M. v. Frey, Neuere Untersuchungen über die Sinnesleistungen der menschlichen Haut. FPs. II S. 201 ff. 1914.

E. Die Schmerzempfindung

Zur Aufstellung eigener Schmerzempfindungen reicht die einfache Selbstbeobachtung nicht hin. Sie führte im Gegenteil zu der Annahme, der Schmerz sei keine Empfindung, sondern ein Unlustgefühl, das sich bei den höhere Intensitätsstufen aller Empfindungen einstelle. Die Pathologie machte uns nun mit Fällen von Analgesie ohne Anästhesie bekannt, wo der Druckreiz zwar verspürt wurde, aber auch bei großer Stärke nicht schmerzte. Anderseits entdeckte die Physiologie eigene Schmerzorgane, die mit den Druck-, Kälte- und Wärmepunkten nicht identisch sind. Betastet man mit einer Nadel oder einem zugespitzten[S. 58] Pferdehaar die mit Seife gewaschene und feucht gehaltene Haut, so empfindet man leichte Stiche, die sich qualitativ nicht von schmerzenden Stichen unterscheiden. In diesem Fall kann also der Schmerz nicht von einer zu heftigen Empfindung oder einer Zerstörung der Organe herrühren. Anderseits bleibt er aus, wenn man mit einer Nadel selbst tiefer in Temperaturpunkte einsticht.

Durch die Reizung der Schmerzpunkte ist man also in der Lage, die Schmerzempfindung zu beobachten. Ebbinghaus charakterisiert sie als Stichempfindung, die langsam anschwillt und langsam abklingt. Als eigentliche Schmerzqualitäten nennt man allgemein den stechenden und den dumpfen Schmerz. Den ersteren erlebt man bei oberflächlichen Reizen, von dem letzteren kann man sich ein Bild machen, wenn man eine in die Höhe gezogene Hautfalte zusammenkneift. Becher will am sensiblen Dentin eine von den genannten deutlich verschiedene Schmerzqualität beobachtet haben. Die sonst oft erwähnten Arten des Schmerzes: der stechende, brennende, schneidende Schmerz sind Verbindungen verschiedenartiger Empfindungen. Der Schmerzempfindung ist es eigentümlich, daß sie schon bei geringer Heftigkeit unlustvoll ist. Dennoch ist die Unlust weder stets noch immer eindeutig mit ihr verbunden. Leichte Stichempfindungen können indifferent oder auch lustbetont sein, während anderseits die nämliche stärkere Schmerzempfindung bald höhere, bald niedere Unlust mit sich bringt, je nachdem man das Steigen oder Abnehmen des Schmerzes erwartet (Becher).

Schmerzerregend können bekanntlich die verschiedensten Reize wirken: mechanische, thermische, elektrische und chemische. Die schmerzempfindlichen Punkte scheinen alle andern Hautsinnespunkte an Zahl zu übertreffen. Ist so für den Schutz des Organismus gesorgt, so verhindert die größere Latenzzeit, daß wir durch zu häufige Schmerzempfindungen belästigt werden. Von den Hautsinnen wird nämlich bei gleichzeitiger Reizung zuerst Druck, dann Kälte, dann Wärme und erst an letzter Stelle Schmerz empfunden.

[S. 59]

Literatur

T. Thunberg, Physiologie der Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen, in Nagels Handbuch der Physiologie III, 1905.

F. Die Organempfindungen

Bislang war es immer möglich, die besprochenen Empfindungen im Bewußtsein auffindbar zu machen und bis zu einem gewissen Grade zu isolieren. Das wird bei den sog. Organempfindungen seine beträchtlichen Schwierigkeiten haben. Auch schwebte demjenigen, der den Namen „Organempfindungen“ in die Psychologie einführte, keineswegs der streng formulierte Empfindungsbegriff vor, wie wir ihn oben aufstellten. Man versteht vielmehr unter diesem Worte die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke, die uns über den inneren Zustand des Organismus unterrichten: Ermüdung und Frische, Hunger, Durst, Sättigung und Übelkeit, Atemnot und Herzaffektionen, Empfindungen des Genitalsystems u. ä. m. Wie man sieht, hat man es hier mit einem Komplex von Empfindungen zu tun, demgegenüber die Psychologie zwei Aufgaben zu lösen hat: sie muß erstens feststellen, welche Teilempfindungen in die einzelnen Komplexe eingehen; sie muß zweitens untersuchen, ob bei der Analyse der genannten Gesamteindrücke neue Arten der Empfindung zu entdecken sind. Beide Aufgaben sind noch kaum in Angriff genommen. Das ganze Gebiet wird zurzeit noch fast ausschließlich von der Physiologie beherrscht. Daß bei den meisten Organempfindungen Druck, Kitzel, Schmerz und Temperaturempfindungen eine Komponente bilden, ist leicht zu erkennen. Einen von diesen verschiedenen Sinnesinhalt konnte man indes bis heute noch nicht mit Sicherheit aufzeigen.

Ebensowenig wie eine eigenartige Empfindung läßt sich ein besonderes Organ dieser Empfindungen nennen. Erwähnenswert ist vorerst nur die vielumstrittene Frage, ob die inneren Organe überhaupt empfindungsbegabt seien. Manche chirurgische Erfahrungen sprachen dafür, daß z. B. die Organe des Verdauungssystems völlig unempfindlich[S. 60] seien. Die großen Schmerzen bei Darmerkrankungen schienen nur von der umgebenden höchst empfindlichen Bauchwand herzurühren. Es dürften jedoch die inneren Organe nur gegen eine bestimmte Art von äußeren Reizen unempfindlich sein, während sie auf die ihnen entsprechenden inneren Reize im normalen Zustande mit mäßigen Empfindungen, in entzündetem Zustande mit heftigen Schmerzen reagieren.

Literatur

E. Becher, Über die Sensibilität der inneren Organe, ZPs. 49 (1908), 341 ff.

G. Die statischen Empfindungen

War es bei den Organempfindungen wenigstens möglich, auf gewisse Empfindungskomplexe hinzuweisen, so müssen wir hier, um einen Anknüpfungspunkt zu gewinnen, Bewußtseinstatsachen heranziehen, die weit das Gebiet der Empfindungen überschreiten. Wir sind imstande, mit ziemlich großer Genauigkeit auch bei verschlossenen Augen die Lage zu beurteilen, die unser Gesamtkörper im Raume einnimmt. Dieses Urteil gründet sich nicht auf die Druckempfindungen allein, die der Körper je nach der Richtung der Schwerkraft erleidet. Denn einmal kann man die Druckempfindungen möglichst ausschalten, und zum andern zeigt sich, daß bei gewissen Erkrankungen trotz der vorhandenen Druckempfindungen völlige Nichtorientierung herrscht. Zweitens wissen wir auch bei geschlossenen Augen Bescheid über Bewegungen, die der Körper als Ganzes ohne Bewegung seiner Glieder macht, mag sie nun eine geradlinige oder eine Drehbewegung sein. Allerdings muß die bedeutsame Einschränkung hinzugefügt werden, daß wir immer nur die Beschleunigung der Geschwindigkeit und mit dieser auch die Richtung der Bewegung wahrnehmen, während wir bei gleichmäßiger Bewegung ohne derartige Wahrnehmungen bleiben und bei Verlangsamung leicht der Täuschung einer scheinbar entgegengesetzten Bewegung verfallen. Wendet man aber bei gleichförmiger Bewegung den Kopf oder den ganzen Körper, so erkennt[S. 61] man augenblicklich die tatsächlich vorhandene Bewegungsrichtung wieder. All diese Wahrnehmungen von der Lage des Körpers können nun gewiß nicht der Inhalt irgendwelcher Empfindung sein, sondern schließen, wie später darzutun ist, sogar Denkprozesse ein; allein es muß sich mit der Lage oder der Beschleunigung des Körpers wenigstens ein eindeutiger Empfindungskomplex verbinden, auf den sich unser Urteil stützt. Es stellt sich nämlich heraus, daß auch die Tiere sinnliche Anhaltspunkte für die Körperlage besitzen, und anderseits geht der Verlust des Lagebewußtseins parallel mit dem Verlust gewisser nervöser Organe.

Dieser nervöse Apparat befindet sich neben der Gehörschnecke. Er besteht aus drei halbkreisförmigen Kanälen, den Bogengängen, die in drei Ebenen nahezu senkrecht aufeinanderstehen. Diese Kanälchen sind mit Flüssigkeit gefüllt und erweitern sich an ihren Enden zu den sog. Ampullen, von deren Innenwand feine Härchen in die Flüssigkeit der Bogengänge hineinragen. Unmittelbar neben den Bogengängen liegen die beiden Säckchen, das elliptische und das runde, die gleichfalls mit Endolymphe gefüllt sind und in denen feine Kalkplättchen, die sog. Otolithen, auf zarten Härchen ruhen. In diese drei miteinander nicht kommunizierende Räume, in die Bogengänge und die beiden Säckchen, mündet der nervus vestibularis. Schneidet man nun diese Organe bei Tieren heraus, so werden diese gegen ihre Körperlage gleichgültig: die Katze, die zuvor Schaukelbewegungen nicht vertragen konnte, schläft jetzt ruhig in der Schaukel ein. Beseitigt man nur einzelne Bogengänge oder reizt man sie künstlich, so erscheinen Störungen in der Lageauffassung der betreffenden Ebene. In einem sehr hübschen Tierexperiment wies Kreidl die Bedeutung der Otolithen nach: Krebse verlieren manchmal ihre Otolithen und erhalten neue aus dem Material ihrer Umgebung. Kreidl richtete es nun so ein, daß Eisenteilchen an Stelle der Otolithen traten. Brachte er dann einen Magneten von einer Seite her in die Nähe des Tieres, so warf es sich auf die andere Seite, offenbar weil es den Eindruck hatte, in die Richtung des Magneten zu fallen.[S. 62] Wurden die Eisenteilchen jedoch nur außen an den Kopf des Tieres geklebt, so blieb es gleichgültig gegen die Einwirkung des Magneten oder wurde passiv angezogen. Endlich entbehren Taubstumme ohne Labyrinth des Drehschwindels, der sich bei Normalen nach mehreren Drehbewegungen einstellt, wie sie anderseits im Wasser untergetaucht, ihre Körperlage nicht beurteilen können. All diesen Tatsachen sucht man in folgender Auffassung gerecht zu werden.

Beginnt der Kopf eine Bewegung in einer der drei Ebenen der Bogengänge, so bleibt für den Anfang das Labyrinthwasser ein wenig zurück und übt so einen Druck bzw. Zug auf die Härchen in den Ampullen aus. Wird die Bewegung gleichförmig, so muß nach physikalischen Gesetzen dieser Zug aufhören, um wieder einzusetzen, sobald die Bewegung merklich langsamer wird oder plötzlich aufhört. Nimmt man nun an, daß die Verbiegung der Sinneshaare in jeder Ebene eine charakteristische Empfindung oder einen eigenartigen Empfindungskomplex bedingen — die Drehung des Kopfes können sie unmittelbar nicht melden —, so erklären sich leicht die oben aufgezählten Wahrnehmungen der Körperbewegungen. Eine andere Aufgabe haben die Otolithen. Sie drücken bei aufrechter Haltung nach unten. Wird der Körper oder der Kopf für sich schief geneigt, so verbiegen sie die Haare, und diese Verbiegung bleibt, im Gegensatz zu der Biegung der Haare in den Ampullen, solange die schiefe Haltung eingenommen wird. Die Otolithen dürften also die dauernden Lageempfindungen vermitteln.

Es scheint nun ziemlich sicher zu sein, daß die Reizungen des Vestibularnerven mancherlei Reflexbewegungen auslösen, durch die sich die Sinneswesen gegen Lagestörungen schützen können. Aber es ist noch umstritten, ob sie auch Empfindungen hervorrufen. Die meisten Forscher entscheiden sich für letzteres und weisen auf die eigentümlichen Inhalte hin, die man hat, wenn man sich nach längerer Drehung plötzlich ganz ruhig hält und auf die Eindrücke im Kopfe achtet. Gibt man nun das Vorhandensein charakteristischer Eindrücke zu, so fragt es sich weiter, ob diese von den Tastempfindungen verschieden sind oder nur eine besondere Qualität bzw. Verbindung von Tastempfindungen darstellen. Letzteres hält Wundt für wahrscheinlich, während Nagel und andere in ihnen eine neue Empfindungsart erblicken. Wie immer auch diese Frage zu beantworten ist, so ist doch festzuhalten,[S. 63] daß die statischen Empfindungen aus sich weder einen räumlichen Charakter besitzen, noch viel weniger unmittelbar eine Lage, eine Drehung u. ä. zu melden vermögen, da die Inhalte „Lage“ und „Bewegung“ Relationen einschließen, die nur das Denken erfassen kann.

Literatur

A. Kreidl, Die Funktion des Vestibularorgans, Ergebnisse der Physiologie V (1906), 572.

H. Die kinästhetischen Empfindungen

Die Bezeichnung „kinästhetische Empfindungen“ ist ein Sammelname für jene Sinnesangaben, die uns von der Lage und der Bewegung der verschiedenen Körperteile zueinander Kunde geben. Im engeren Sinne schließt er die Gesichtsempfindungen aus und läßt es dahingestellt, ob neben den schon bekannten Hautempfindungen eine neue Art von Sinneseindrücken besonderen Anspruch auf diesen Namen erheben kann. Die Aufstellung einer neuen Empfindungsklasse begegnet hier noch größeren Schwierigkeiten als bei den statischen Empfindungen. Denn hier ist es weder möglich auf bestimmte Bewußtseinserscheinungen noch auf ein bestimmtes Organ hinzuweisen. Wir müssen darum von gewissen Leistungen der Seele ausgehen und prüfen, ob sich diese mit dem bisher gefundenen Empfindungsmaterial verständlich machen lassen.

Wir Erwachsene sind imstande, die Lage der verschiedenen Körperglieder zueinander auch ohne die Hilfe des Gesichtssinnes ziemlich genau zu beurteilen. Daß dies nichts Selbstverständliches ist, offenbaren uns Krankheitsfälle, wo der Patient bei geschlossenen Augen zwar seinen Arm bewegen, aber nichts über dessen Haltung aussagen kann und ihn in den unbequemsten Lagen beläßt, die ein anderer ihm gibt. Wir wissen sodann von den aktiven und passiven Bewegungen unserer Glieder, und zwar ist dieses Wissen ein recht genaues. Der an Ataxie Leidende hingegen scheint gerade die feinere Kenntnis seiner Gliedbewegungen zu entbehren; denn alle seine Bewegungen sind unvollkommen und schleudernd. Weiter verspüren wir den Widerstand elastischer und fester Gegenstände, ein Erlebnis, das nicht allein durch die Druckempfindungen der[S. 64] Haut zu erklären ist, da es auch bei Unempfindlichmachung der Haut bestehen bleibt. Daß der Hautsinn hier nicht in Frage kommt, zeigt auch die von Goldscheider beschriebene paradoxe Widerstandsempfindung. „Hält man an einem Faden ein nicht zu leichtes Gewicht und macht damit eine schnelle Abwärtsbewegung, so hat man im Augenblick des Auftreffens des Gewichtes auf den Boden die Empfindung eines Widerstandes ... Es ist, als ob man mit einem Stock aufstieße. Setzt man die Abwärtsbewegung weiter fort, so hat man die Empfindung, als ob man eine Federkraft zu überwinden habe.“ (Fröbes I, 155.) Endlich schätzen wir die Gewichte der von uns gehobenen Körper und die von uns zum Ziehen oder Drücken verwendete Kraft, weshalb man von Schwere-, Spannungs- und Kraftempfindungen redet. Es fragt sich nun, welchen Sinnesdaten sind alle diese Leistungen zu verdanken?

Zweifellos tragen die Hautempfindungen einen Teil zu den genannten Kenntnissen bei. Dennoch kann man sie nicht an erster Stelle dafür verantwortlich machen, wie es die ältesten Erklärungen wollten, da bei künstlicher oder krankhafter Ausschaltung der Hautsinne die kinästhetischen Wahrnehmungen nicht wesentlich beeinträchtigt werden. — Spätere Forscher, wie Bell und E. H. Weber, sahen in den sensorischen Muskelnerven die Quelle des hier zu erklärenden Wissens: Entsprechend der verschieden starken Muskelspannung treten verschiedene Spannungsempfindungen auf und liefern so einen Anhaltspunkt zur Beurteilung der Gliedlage. Dagegen sprachen indes Fälle von Muskeldegeneration, in denen gleichwohl die Lage der Glieder und der Unterschied von Gewichten angegeben werden konnte. Zudem hängt ja auch die Lage eines Gliedes nicht eindeutig von der Kontraktion des Muskels ab: bei einer passiven Bewegung werden die Muskeln überhaupt nicht kontrahiert, und dieselbe Lage eines Gliedes kann bei großer wie bei geringer Muskelspannung eingehalten werden. — Ein dritter Erklärungsversuch führte die Innervationsempfindungen ein: es soll uns der motorische Impuls bewußt werden, den wir den Muskeln erteilen. Wird sich ja auch ein Kranker, der sein gelähmtes Bein bewegen will, einer Kraftanstrengung bewußt, obwohl in dem Muskel selbst keinerlei Kontraktion erfolgt. Allein die verspürte Kraftanstrengung kann auf andere, gleichzeitig miterregte Muskeln zurückzuführen sein und verliert somit jede Beweiskraft. Dagegen werden die Innervationsempfindungen unwahrscheinlich, da Kranke vielfach ihre Glieder richtig gebrauchen, sie also richtig innervieren, ohne darum über die Lage und[S. 65] Bewegung ein Wissen zu erlangen. Daß wir von dem Impuls, den wir unseren Bewegungen erteilen, nichts wissen, veranschaulicht eine bekannte Gewichtstäuschung: Hebt man zwei gleich schwere, aber verschieden große Gewichte, indem man auf sie hinblickt, so kann man sich von dem Eindruck nicht freimachen, das kleinste Gewicht sei das schwerste. Wir heben nämlich unwillkürlich das größere Gewicht mit einem größeren Krafteinsatz. Käme uns nun der erteilte Impuls zu Bewußtsein, so könnten wir ihn bei der Gewichtsvergleichung beachten und uns so über die Täuschung hinweghelfen.

Nach Erledigung der Innervationsempfindungen erlangte die Goldscheidersche Theorie nahezu allgemeine Anerkennung: Die Gelenke sollen sehr dicht mit den Vater-Paccinischen Tastkörperchen besetzt sein. Drehen sich nun bei einer Bewegung zwei Gelenkflächen gegeneinander, so werden die Tastkörperchen stets an einer anderen Stelle gedrückt. Jeder Stellung des Gliedes entspricht darum eine eigenartige Reizung der Vater-Paccinischen Körperchen. Somit kann sich diese qualitativ eigenartige Empfindung eindeutig mit dem optischen Bild von der Bewegung des Gliedes verbinden und so allmählich zu einer ausreichenden Kunde von der gegenseitigen Stellung der Glieder werden. So erklärt sich auch leicht die Widerstandsempfindung als ein Gelenkdruck. Zur Deutung der paradoxen Widerstandsempfindung aber ist noch zu beachten, daß der Zug des Gewichtes eine gleichgroße entgegengerichtete Muskelspannung bedingt. Berührt nun das herabgelassene Gewicht den Boden, so hört der Zug auf, während jene Muskelspannung noch andauert, dadurch die Gelenke aneinander preßt und so denselben Eindruck wie ein äußerer Widerstand hervorruft.

Auch diese Theorie, deren positive Beweise man schon bald angegriffen hat, wurde neuerdings stark erschüttert, als es gelang, die freigelegten Gelenkflächen Operierter verschiedenen Reizen auszusetzen. Dabei ergab sich, daß von den Gelenkflächen aus überhaupt keine Empfindungen zu wecken waren. Wenn darum die Gelenk-Organe überhaupt Träger von Bewegungsempfindungen sind, so müssen diese in den die Gelenke umspannenden Gelenkkapseln ausgelöst werden, die allerdings reichlich mit Nerven versehen sind. Die eindeutige Zuordnung bestimmter Empfindungskomplexe dieser Art zu bestimmten Lagen der Glieder wäre vielleicht auch hier möglich. Indes die bestechende Einfachheit der alten Goldscheiderschen Auffassung ist dahin.

So ist also heute die Frage der kinästhetischen Empfindungen noch ungeklärt. Die neuesten Untersuchungen Störrings lassen den Beitrag des Drucksinnes der Haut für feinere Bestimmungen wieder bedeutsamer erscheinen, während die Forschungen v. Freys den Kraftsinn aufs[S. 66] neue zu Ehren bringen. Daß wir wirklich Muskel- oder Sehnenempfindungen haben, die von dem aufgewandten Kraftmaß Kunde geben, beweist ein schlichter Versuch: Hat der steifgehaltene Arm ein aufgesetztes Gewicht zu heben, so erscheint es schwerer, wenn es weiter von dem Drehgelenk entfernt aufgelegt wird, als wenn näher. Hier sind die Gelenkempfindungen die nämlichen, weil der Arm sich in beiden Fällen um gleichviel Grade hebt; die Druckempfindungen, die das aufgesetzte Gewicht auf der Haut hervorruft, können ausgeschaltet werden, und die inneren Spannungsempfindungen, d. h. jene Empfindungen, die der Druck des kontrahierten Muskels von innen auf die Haut auslöst, sind auch jedesmal die gleichen. Verschieden ist nur die aufgewandte Kraft. Vorerst lassen sich somit die kinästhetischen Empfindungen noch nicht ausschließlich oder vorwiegend einem Organ zuschreiben. Alle genannten Organe, die Haut, die Gelenke und die Muskeln, sind in gewissem Grade befähigt, Lage- und Bewegungsempfindungen zu vermitteln.

Über die Qualität dieser Empfindungen, ob sie untereinander gleich und ob unter ihnen ganz neuartige Phänomene sind, läßt sich heute noch nichts ausmachen. Aber auch hier ist zu betonen, daß der Inhalt dieser Empfindungen in sich nichts von einer Lagebestimmung enthalten kann.

Literatur

Ebbinghaus-Bühler, Grundzüge der Psychologie I⁴ § 32. Die Kraft- und Bewegungsempfindungen.

[2] Anders H. Henning, Der Geruch 1916 S. 491 ff., der ein Geschmackstetraeder aufstellt.

4. Kap. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie

Läßt man einen Wärmereiz auf einen Kältepunkt einwirken, so entsteht, wie wir sahen, eine paradoxe Kälteempfindung. Drückt man die hinter dem Trommelfell herziehende Chorda tympani, die unter anderem Fasern des Geschmacksnerven enthält, so erlebt man eine Geschmacksempfindung. Das gleiche geschieht, wenn man diesen Nerv elektrisch oder chemisch reizt. Der Sehnerv antwortet bei elektrischer, chemischer und mechanischer Reizung mit einer Lichtempfindung. Solche und ähnliche Beobachtungen führten[S. 67] zur Aufstellung des Satzes von den spezifischen Sinnesenergien durch Joh. Müller (1826): Der gleiche Reiz ruft in verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen hervor, je nach der Natur des Sinnes; verschiedene Reize rufen in dem gleichen Sinne die gleiche Empfindung hervor. Was besagt dieser Satz? Er besagt, daß der Empfindungsinhalt, das Quale der Empfindung, aus dem empfindenden Subjekt stammt. Es wird nicht eine Eigenschaft eines äußeren Gegenstandes gleichsam durch die Sinne nur hindurchgeleitet zur wahrnehmenden Seele, sondern die Seele antwortet in verschiedener Weise auf die einwirkenden Gegenstände, je nach der Sinnespforte, bei der sie anklopfen. Ein psychologisch und erkenntnistheoretisch höchst bedeutsamer Satz.

Man muß sich indes vor einer unberechtigten Verallgemeinerung dieses Satzes hüten. Er besagt nicht, daß unsere Seele oder ihre Sinne völlig gleichgültig seien gegen die einwirkenden Reize, womit einem extremen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet wäre. Es sind nämlich nur die einem jeden Sinne entsprechenden, die adäquaten Reize begünstigt. Vor den inadäquaten Reizen sind die meisten Organe schon durch äußere Schutzvorrichtungen für gewöhnlich bewahrt (Ettlinger). Außerdem vermögen die inadäquaten Reize nur unabgestufte, unklare Eindrücke hervorzurufen. Bei den adäquaten Reizen hingegen zeigt sich eine streng gesetzmäßige Zuordnung von Reiz und Empfindung. Einen Beweis dafür boten die Qualitäten des Farbensinnes, die ganz eindeutig an bestimmte Wellenlängen gebunden sind. Andere Belege dafür wird uns die Psychophysik liefern.

Weitere Probleme, die der Müllersche Satz aufwirft, sind von einer endgültigen Antwort noch mehr oder weniger entfernt. So vor allem die Frage, was man sich unter der spezifischen Energie eines Sinnesnerven zu denken habe. Man wird da nicht an eine geheimnisvolle Kraft denken dürfen, die in dem Nerven wohnt, sondern eher an einen eigenartigen physiologischen Zustand, der bewirkt, daß der Nerv, wenn er überhaupt erregt wird, immer nur in eine bestimmte Art der Erregung versetzt werden kann; wie etwa eine Klaviersaite[S. 68] oder ein Resonanzboden, wenn sie durch irgendwelchen Druck oder Stoß überhaupt in eine selbständige Bewegung geraten, immer nur eine bestimmte Form der Erschütterung aufweisen. — Allerdings steht es nicht fest, ob es der periphere Nerv ist, der, wie wir soeben voraussetzten, in eine spezifische Erregung gerät, oder ob diese nur im Gehirn ausgelöst wird, während der Nerv als indifferenter Leiter jeden Reiz zu übermitteln imstande ist. Für die letztere Ansicht werden die Halluzinationen, subjektive Erregungen, die sicher im Gehirn entstehen, geltend gemacht. Aber mit dem Bestand solcher zentraler Erregungen ist noch nichts für die Beschaffenheit der peripheren Nerven entschieden. Für die spezifisch verschiedene Erregbarkeit der Leitungsnerven hingegen bildet ihre mit Sicherheit festzustellende verschiedene Organisation ein beachtenswertes Argument. — Endlich läßt sich die Frage, ob die spezifische Energie den Sinnen angeboren oder erst im Laufe des Lebens erworben sei, nicht lösen. Die Erwerbung der spezifischen Sinnesenergie im Verlauf des Lebens hat die Beobachtung für sich, daß bei Blinden oder Tauben, denen von Geburt an diese Empfindungen abgehen, eine inadäquate Reizung der Nervenstränge keine Licht- oder Schallempfindung bewirken. Es scheint somit, als müsse der adäquate Reiz, der durch das äußere Organ leicht in den Sinnesnerven eintritt, diesen erst in seiner Weise bearbeiten und disponieren, so daß er später auch auf inadäquate Reize nicht mehr anders als in dieser vorgebildeten Art ansprechen kann. Wäre dies der Fall, dann käme den äußeren Reizen eine noch größere Bedeutung zu, als wir ihnen soeben einräumten. Die Reize schüfen sich geradezu die Reaktion. Sodann wäre die von manchen Entwicklungstheoretikern vertretene Hypothese glaubhafter, daß sich nämlich die Vielheit der Sinne aus einem einzigen primitiven Sinne durch beständiges Einwirken der verschiedenen äußeren Reize herausdifferenziert habe. Allein die genannte Beobachtung an Blind- und Taubgeborenen ist kein durchschlagender Beweis, da ein Gehirnzentrum degenerieren kann, wenn es nicht geübt wird.

Literatur

R. Weinmann, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, 1895.

N. Brühl, Die spezifischen Sinnesenergien nach Joh. Müller im Lichte der Tatsachen, 1915.

5. Kap. Die Psychophysik

Zündet man in einem nur von einer elektrischen Lampe dürftig erhellten Saal eine zweite gleichstarke Lampe an, so ist die Beleuchtungssteigerung ganz auffällig. Wird jedoch zu hundert Lampen eine weitere hinzugefügt, so wird niemand die größere Helligkeit zu bemerken imstande sein.[S. 69] Diese auf allen Empfindungsgebieten zu beobachtende Tatsache erlangte eine für die Entwicklung der gesamten Psychologie grundlegende Bedeutung, als der Physiologe E. H. Weber (1846) bei Untersuchung des Hautsinnes fand, daß sie einer bestimmten Gesetzmäßigkeit folgt: Muß man zu einem Druck von der Stärke 100 einen solchen von der Stärke 1 hinzufügen, damit der Unterschied im Druck überhaupt gemerkt wird, so muß bei einem solchen von der Stärke 200 ein Druck von der Stärke 2 hinzukommen, soll nunmehr die Verstärkung des Druckes eben bemerkbar sein. Oder: das Verhältnis von Reizzuwachs, bei dem eben eine Empfindungszunahme eintritt, zum Anfangsreiz ist konstant (¹⁄₁₀₀ = ²⁄₂₀₀). Diese Entdeckung legte für G. Th. Fechner den Gedanken nahe, von hier aus ein brauchbares Maß der Empfindung zu gewinnen. Und es war ein Lieblingstraum von ihm, von diesen vielversprechenden Anfängen aus das ganze psychische Leben mit der mathematischen Formel zu beherrschen. Es sollte in Zukunft nicht mehr von Psychologie, sondern von Psychophysik die Rede sein. Dieser Wunsch hat sich nun freilich nicht erfüllt. Dagegen wurde er die gesegnete Quelle der meisten psychologischen Forschungsmethoden und die Anregung, auch auf andere Gebiete die quantitativen Arbeitsweisen zu übertragen. Diese Methoden verstehen wir jedoch im Folgenden nicht unter Psychophysik.

1. Aufgaben und Methoden der Psychophysik

Die unmittelbare Aufgabe der Psychophysik besteht in der Ermittlung bestimmter Reizgrößen. Nicht jeder physikalische Reiz löst schon eine Empfindung aus. Erst wenn ein Licht, eine Schallschwingung, ein Gewicht eine gewisse Größe erreicht, empfinden wir etwas. Man nennt diese von dem Reiz zu erreichende Größe die absolute Schwelle der betreffenden Empfindung. Sie ist bei den verschiedenen Sinnen verschieden und innerhalb desselben Sinnes je nach dem Ort der Reizung bzw. nach den erregten[S. 70] Nervenfasern verschieden. Die absolute Schwelle kann als Maß der Empfindlichkeit dienen. Denn je niedriger für einen Sinn bzw. für ein bestimmtes Nervengebiet die Reizschwelle ist, um so größer ist seine Empfindlichkeit.

Eine zweite Aufgabe liegt in der Ermittlung der Unterschiedsschwelle. Wie groß muß der zu einem schon wahrgenommenen Reiz hinzutretende Reizzuwachs sein, damit ein Unterschied in der Empfindung erkennbar werde? Es wäre da zu untersuchen, ob jeder Unterschied der Reize bemerkt wird, ob stets der gleiche Reizzuwachs einen Empfindungsunterschied herbeiführt, wie sich die einzelnen Sinne in dieser Hinsicht verhalten usw. Drittens sind die äquivalenten Reize zu bestimmen. Die zu beantwortende Frage lautet hier: Welche Reize lösen die gleiche Empfindung aus? Erscheint z. B. der Abstand zweier Zirkelspitzen gleich groß, wenn der Tastzirkel an verschiedenen Stellen aufgesetzt wird? Weiter sind die äquivalenten Reizunterschiede zu finden: gegeben sind zwei Paare veränderlicher Reize und man soll erkunden, unter welchen Bedingungen die von je zwei Reizen gebildeten Empfindungsunterschiede einander gleich erscheinen. Endlich die Ermittlung gleichwertig erscheinender Reizverhältnisse: zu drei gegebenen Reizen A, B, a muß der vierte b gefunden werden, so daß A : B = a : b (Bühler).

Die Methoden zur Lösung der vier Hauptaufgaben teilt man nach Ebbinghaus ein in die Methoden der Reizfindung und der Urteilsfindung, d. h. entweder ist die Empfindungsgröße schon bestimmt und es bleibt der Reiz zu suchen, der sie herbeiführt, z. B. gesucht ist der Reiz, der eine ebenmerkliche, übermerkliche, einer andern gleiche Empfindung bewirkt — oder die Reize sind gegeben und das Urteil über sie wird erfragt, z. B. gegeben sind drei Gewichte a, b, c, und es ist zu beurteilen, ob der Schwereunterschied bei den Reizen a−b dem bei den Reizen b−c gleich sei oder nicht. Die allgemeine Methode der Reizfindung teilt sich in die zwei besonderen: die Methode der Herstellung und die Grenzmethode. Bei der ersteren hat der Beobachter den gewünschten Reiz selbst[S. 71] herzustellen. Er verschiebt z. B. auf einer Geraden eine Trennungsmarke, bis sie im Mittelpunkte zu stehen scheint. Bei der Grenzmethode hingegen bietet der Versuchsleiter (Vl) den zu vergleichenden bzw. zu beurteilenden Reiz dar, indem er sich allmählich jener Grenze nähert, bei welcher das festgesetzte Urteil abgegeben wird. Es wird also z. B. gefragt, bei welcher Spitzendistanz des Tastzirkels zwei Punkte wahrgenommen werden. (Vgl. S. 96.) Der Vl berührt dann die Haut der Vp bei so engem Abstand der Spitzen, daß gewiß nur ein einziger Punkt wahrgenommen werden kann. Allmählich vergrößert er dann den Abstand, bis die Vp den Eindruck von zwei Berührungen hat. Den so gefundenen Abstand bezeichnet man als die untere Raumschwelle. Darauf wird der Tastzirkel von neuem aufgesetzt, und zwar diesmal mit einer Entfernung der Spitzen, die beträchtlich größer ist als die untere Raumschwelle, so daß die Vp notwendig den Zweiheitseindruck gewinnt. Nunmehr wird die Zirkelweite in gleichmäßigen Schritten immer mehr vermindert, bis die Vp wieder das Urteil abgibt: einfache Berührung. Der Abstand, bei welchem dies geschieht, gilt dann als obere Raumschwelle, und das arithmetische Mittel aus unterer und oberer Schwelle wird als die Raumschwelle schlechthin angesehen. — Die Methode der Urteilsfindung ist nur in der sog. Konstanzmethode vertreten. Der Vl bereitet eine größere Anzahl von Reizen vor und wendet sie in planvollem Wechsel an. Er legt sich etwa zehn Zirkelabstände zurecht und setzt in buntem Wechsel bald einen kleinen, bald einen großen Abstand auf und läßt die Vp jedesmal beurteilen, ob eine oder zwei Spitzen empfunden wurden. Dabei kommt jeder Abstand wiederholt vor.

Die Konstanzmethode ist die verlässigste, weil sie die Vp über den Sachverhalt völlig in Unwissenheit hält. Dagegen ist die Berechnung der verschiedenen Empfindungsgrößen bei ihr nicht sehr einfach. Auch verlangt sie eine sehr große Zahl von Einzelversuchen. Bei gewissen Versuchsanordnungen muß jeder Reiz etwa vierzigmal verwendet werden, somit sind bei zehn Reizstufen schon 400 Einzelversuche[S. 72] notwendig. Die beiden andern Methoden hingegen führen mit ungleich weniger Versuchen zum Ziel und erlauben die Berechnung der Empfindungsgrößen durch einfache Mittelziehung (arithmetisches Mittel oder Zentralwert). Dafür aber sind beide kein unwissentliches Verfahren. Die Herstellungsmethode ist naturnotwendig ganz wissentlich, und bei der Grenzmethode merkt die Vp sehr bald, ob die angewandten Reize steigen oder fallen. Zur sicheren Verwendung der psychophysischen Methoden sind nun noch eine Anzahl von Vorsichtsmaßregeln notwendig. Aus der räumlichen und zeitlichen Folge der Reize, sowie aus dem Verhalten der Vp entspringen Fehlerquellen, die unschädlich gemacht werden müssen. Dafür, so wie für die genauere mathematische Behandlung der Ergebnisse sei auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen.

Literatur

G. Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, 2 Bde., 1860.

G. E. Müller, Die Gesichtspunkte und Tatsachen der psychophysischen Methodik, 1903.

2. Das Webersche und das Fechnersche Gesetz

Nachdem die oben schon angeführte Entdeckung E. H. Webers von Fechner aufgegriffen wurde, der sie auch mit dem Namen Webersches Gesetz versah, wurde ihre Gültigkeit auf allen Sinnesgebieten geprüft. Abgesehen von sehr starken und sehr schwachen Reizen, hat man nun das Webersche Gesetz auf allen Sinnesgebieten mit Ausnahme von Geschmack und Geruch annähernd bestätigt gefunden. Und zwar gilt es im großen und ganzen nicht allein für ebenmerkliche, sondern auch für übermerkliche Empfindungsunterschiede. Diese Gesetzmäßigkeit kommt uns zu statten, wenn die Beleuchtung der Gegenstände schwankt. Obwohl in solchen Fällen die Helligkeit der einzelnen Teile eine ganz andere wird, bleibt der Gegenstand für uns doch gleich gut erkennbar, da es für uns in erster Linie auf die Verhältnisse der Helligkeiten ankommt.

[S. 73]

Für das Webersche Gesetz wurde eine dreifache Erklärung versucht. Eine psychophysische von Fechner: das Gesetz beruht auf dem Übergang vom Physischen zum Psychischen. Eine psychologische von Wundt: die Empfindungen entsprechen immer genau den Reizen, aber bei der vergleichenden Beurteilung der Empfindungen tritt die Größenverschiebung ein. Die Fechnersche Theorie muß als unbegründet fallen. Die Wundtsche erklärt nicht, warum die Unterschiedsempfindlichkeit auf verschiedenen Sinnesgebieten verschieden groß ist. Es dürfte also nur die physiologische Deutung übrig bleiben, nach der die stärker beanspruchten Nerven einen höheren Reizzuwachs verlangen, um aufs neue zu reagieren, ähnlich wie eine stärker belastete Wage auch ein größeres Übergewicht braucht, um auszuschlagen. Für diese Auffassung sprechen auch mancherlei Analogien aus Physiologie und Chemie.

Fig. 4. Graphische Darstellung des Fechnerschen Gesetzes.
Nach Titchner, Lehrbuch d. Psychologie Fig. 27, S. 219, Leipzig, J. A. Barth.

Ausgehend von dem Weberschen Gesetz und unter der Voraussetzung, daß die ebenmerklichen Empfindungszuwüchse, in denen eine Empfindung vom Nullpunkt bis zu einem beliebigen Intensitätsgrade ansteigt, einander gleich seien, hat Fechner eine „Maßformel“ abgeleitet, die in ihrer einfachsten Form lautet: s = log r; in Worten: wenn die Empfindungen arithmetisch zunehmen, so steigen die zugehörigen Reize in einer logarithmischen Kurve an. (Fechnersches Gesetz.) (Fig. 4.) Mit dieser Formel wäre die prinzipielle Möglichkeit geboten, die Empfindung zu messen. Man hat nun sowohl die Gültigkeit der erwähnten Fechnerschen Voraussetzung wie auch die Größennatur und die Meßbarkeit der Empfindungsintensität angezweifelt. Allein die Gleichheit der ebenmerklichen Empfindungszuwüchse ist zum wenigsten eine sehr naheliegende Annahme, und die[S. 74] Empfindungsintensitäten erscheinen dem Unvoreingenommenen als wahre Größen, zwar nicht extensiver, aber doch intensiver Natur. Der Schall des Donners erscheint uns wirklich stärker als der eines umfallenden Ofenschirmes. Ebenso können wir mit Sicherheit zwei Druckempfindungen als gleich oder ungleich beurteilen. Übrigens hat das Fechnersche Gesetz in der weiteren Entwicklung der Psychologie keine größere Bedeutung erlangt. Sein Wert liegt in dem energischen Versuch, Maß und Zahl in die Psychologie einzuführen, ein Ziel, das die Psychologie seither nicht aus dem Auge verloren hat und auch grundsätzlich festhalten muß, will sie eine wahrhaft empirische Wissenschaft bleiben.

Außer der Empfindungsintensität hat man keine andere psychische Größe mehr mit Erfolg zu messen versucht. Die Messung der Willenskraft durch Ach muß als verfehlt gelten. (S. unten.). Dagegen liefert die Häufigkeit, die Dauer und die Güte eines seelischen Vorganges bzw. der von ihm vollbrachten Leistung Zahlenwerte, die sehr großen Aufschluß versprechen. Die Behandlungsweise solcher Zahlenwerte kann hier nicht dargestellt werden. Nur auf die Korrelationsrechnung sei noch kurz verwiesen. Auch wo sich geistige Leistungen nicht unmittelbar messen lassen, bleibt es doch zumeist möglich, sie nach ihrer Güte in Rangstufen anzuordnen, oder festzustellen, wie oft sich gewisse Merkmale mit anderen verbinden. Die Mathematik hat nun Formeln erarbeitet, mit denen der Grad der Beziehung berechnet werden kann, in der zwei Rangordnungen oder mehrere Merkmale zueinander stehen.

Literatur

R. Pauli, Über psychische Gesetzmäßigkeit. 1920.

W. Betz, Über Korrelation. 3. Beiheft zur ZAngPs. (1911).

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ZWEITER ABSCHNITT
Empfindungskomplexe

Faßt man die Empfindungen als die elementaren Bausteine des anschaulichen Erkennens auf, so läßt sich die Frage aufwerfen, wie sich die Verbindung solcher Elemente gestalten werde: Wird sie eine reine Addition von Empfindungen sein, oder werden bei dem Zusammensein von Empfindungen neue Gesetzmäßigkeiten auftreten? Bei der Untersuchung dieser Frage könnte man wie bei der Empfindungslehre immer streng von dem psychisch Gegebenen ausgehen, Empfindungskomplexe aufsuchen und sie erforschen. Statt dieses analytischen Weges, der mancherlei Schwierigkeiten bietet, steht uns aber auch der bequemere synthetische offen. Wir kennen schon die Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung und dürften auch durch die vorausgegangenen Betrachtungen gegen den „stimulus-error“ (Titchener), d. h. gegen die Verwechslung von physikalischem Reiz und psychischem Erlebnis geschützt sein. Man könnte also systematisch durch gleichzeitige Verwendung mehrerer Reize Empfindungskomplexe hervorzurufen bedacht sein. Dabei müßten zwei oder mehr Reize zunächst auf dasselbe Sinnesorgan und dann auf verschiedene Organe einwirken. In manchen Fällen, wo mehrere adäquate Reize nicht allein dasselbe Organ, sondern auch dieselben Nervenfasern erregen, wird wie bei dem Auge nur eine einzige Empfindung entstehen. Diese Fälle gehören nicht hierher und wurden auch schon bei der Empfindungslehre besprochen; alle anderen Fälle sind jedoch hier zu berücksichtigen. Allerdings liegt eine systematische Durchforschung des Gesamtgebietes noch nicht vor. Das wenige über die Verbindung der niederen Sinnesempfindungen, wie der Gerüche und Geschmäcke, wurde schon oben gelegentlich gestreift. Beide Empfindungsarten gehen miteinander auf jeden Fall eine sehr innige Verbindung ein, die der Unkundige nicht leicht zu analysieren vermag. Immerhin scheint es hier bei einer einfachen Addition der Empfindungen zu bleiben. Doch stehen genauere Untersuchungen noch aus. Bei den andern Sinnen hingegen werden durch das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Sinnesreize seelische Gebilde bedingt, die schon immer die Aufmerksamkeit der Psychologen erregten und darum eingehender erforscht sind. Von diesen Empfindungskomplexen sind die aus Tönen bestehenden verhältnismäßig die einfachsten: fehlt doch bei ihnen das räumliche Moment. Mit ihnen soll darum bei der Besprechung der Empfindungskomplexe begonnen werden.

[S. 76]

1. Kap. Die gleichzeitigen Tonverbindungen

1. Die Tatsache der Tonverschmelzung

Läßt man gleichzeitig zwei oder mehrere Töne erklingen, so verschmelzen gewisse Töne oder Tongruppen so innig miteinander, daß ein neues einheitliches Tongebilde aus ihnen entstanden zu sein scheint, ähnlich wie aus der Vereinigung mehrerer Farbenreize eine neue Empfindung, die Mischfarbe, entsteht. Diese neue Empfindung scheint eine eigene Qualität, Intensität, ja sogar eine eigene Tonhöhe zu haben. Indes sind doch nur musikalisch weniger begabte Psychologen, wie Fechner, für den Empfindungscharakter solcher Tonverbindungen eingetreten. Für Musiker und musikalisch hochbefähigte Forscher, wie Helmholtz und Stumpf, steht es außer Frage, daß auch in diesen Verschmelzungen eine Mehrheit von Empfindungen vorliegt. Anders als bei der einheitlichen Mischfarbe lassen sich hier die Teilempfindungen herausanalysieren, und zwar nicht nur infolge der Bekanntschaft mit den Tonverbindungen; denn ein geübter Musiker vermag auch aus den fremdartigen Klängen eines ihm unbekannten Instrumentes die Teiltöne herauszuhören.

Allein trotz der inhaltlichen Mehrheit läßt sich eine gewisse Einheit und Bindung des Tonkomplexes nicht bestreiten, auch dann, wenn er sich nicht aus den am stärksten verschmelzenden Tönen zusammensetzt. Solange ein solcher Tonkomplex nicht analysiert wird, legt man ihm als Ganzem unwillkürlich bestimmte Eigenschaften bei. Schärferes Zusehen führt jedoch zu mehrfachen Berichtigungen. Nach den besten Beurteilern kommt der Tonverbindung keine eigene Intensität zu; auf jeden Fall ist der Mehrklang nicht stärker als der Teilton, wohl aber voller und reicher. Die Höhe, die das Tonganze zu haben scheint, richtet sich nach dem tiefsten Teiltone. Erklingen Grundton und Oktav zusammen und bleibt dann der Oktavton aus, so hat man nicht den Eindruck, als ob sich die Höhe des Zweiklanges verändert habe; umgekehrt erlebt man aber einen überraschenden Aufstieg, wenn der Grundton wegfällt. Folgen zwei Akkorde[S. 77] aufeinander, so wird der Höhenschritt der Akkorde nach dem Schritt jener Stimme beurteilt, die am meisten steigt. Diese Tatsachen, sowie der Umstand, daß man gewisse Eigenschaften hoher Obertöne, wie das Schrille, Dissonante u. ä. auf den ganzen Klang überträgt, beweisen, daß wir es hier nicht mit Eigenschaften zu tun haben, die dem Empfindungskomplex als solchem zukommen, sondern daß Auffassungs- und Beurteilungsphänomene vorliegen, deren Verständnis erst später erschlossen werden kann.

2. Gesetze der Tonverschmelzung

Nicht alle Tonpaare verschmelzen gleich innig, d. h. nicht alle nähern sich gleichviel dem Einklang. Unter Verschmelzung verstehen wir nämlich mit Stumpf die Annäherung an den Einklang. Gewisse Tonpaare unterscheidet auch ein musikalisch normales Ohr nicht ohne weiteres vom Einklang, während andere auch von Unmusikalischen sofort als Zweiklang gehört werden. Die genauere Untersuchung ergibt folgende Gesetze der Tonverschmelzung. Sie hängt zunächst von der Höhe der beiden Töne ab. Nach der Innigkeit der Verschmelzung scheinen fünf Stufen zu bestehen: Oktav, Quint, Quart, Terzen und Sexten, endlich alle übrigen Intervalle, die untereinander keinen Unterschied des Verschmelzungsgrades aufweisen. Die Verschmelzungserscheinung ist sodann in allen Tonlagen zu beobachten, extrem hohe und tiefe Lagen vielleicht ausgenommen. Drittens gilt das Erweiterungsgesetz: ein Intervall läßt sich um eine Oktav erweitern, ohne seinen Verschmelzungsgrad einzubüßen. Die Non hat darum die gleiche Verschmelzung wie die Sekund, C und c wie C und c¹. Viertens ist der Verschmelzungsgrad unabhängig von der Stärke wie von der Zahl der Teiltöne. Die Einheitlichkeit eines Zweiklanges vermindert sich also nicht, wenn beide Töne oder einer von ihnen stärker bzw. schwächer wird; sie leidet auch nicht darunter, daß ein dritter Ton hinzutritt.

Konsonanz und Dissonanz. Unter Konsonanz versteht der Sprachgebrauch sowohl die innige Verbindung zweier Töne, wie auch die Annehmlichkeit, die einer solchen Verbindung eigen ist. Sieht man von letzterem als einem Gefühlsmoment ab, es wechselt nämlich je nach dem Beurteiler, so kann man die Konsonanz der Verschmelzung in unserem Sinne gleichsetzen. Die Stufenfolge in der Vollkommenheit der Konsonanz, welche die Musikwissenschaft aufgestellt hat, stimmt nämlich mit der Reihenfolge der Verschmelzungsgrade überein. Nach der Musiktheorie sind Oktav, Quint und Quart vollkommene Konsonanzen, Terzen und Sexten unvollkommene, alle andern Dissonanzen.[S. 78] Ein prinzipieller Gegensatz zwischen Konsonanzen und Dissonanzen ließ sich jedoch experimentell nicht nachweisen. Somit darf die Dissonanz als mangelnde Einheitlichkeit zweier oder mehrerer Töne gelten. Empfindungsmäßig erscheint die Konsonanz als das Klare, Einfache, während die Dissonanz als rauh, unklar, zwiespältig anspricht.

3. Die Erklärung der Konsonanz

Eine kurze Besprechung der verschiedenen Erklärungsversuche wird uns zugleich noch einzelne Faktoren kennen lehren, die den Gesamteindruck mitbestimmen. Der älteste Erklärungsversuch beachtete besonders die einfachen Verhältnisse, die zwischen den Schwingungszahlen konsonanter Töne herrschen; einfache übersichtliche Verhältnisse seien uns angenehm (Leibniz). Allein die Konsonanz empfindet auch derjenige, der von den mathematischen Verhältnissen der Schwingungszahlen keine Ahnung hat. Ebensowenig wie von den Schwingungszahlen entdecken wir etwas von der Rhythmik der harmonischen Töne (Lipps). Verständlicher ist die Erklärung, welche die harmonischen Intervalle unmittelbar ein Lust-, die unharmonischen unmittelbar ein Unlustgefühl hervorrufen läßt. In der Tat begleitet jene in der Regel ein unmittelbares Lust-, diese ein unmittelbares Unlustgefühl. Doch ist dieser Zusammenhang ein unauflöslicher. Im Altertum soll die Oktav, im Mittelalter die Quint als angenehmstes Intervall gegolten haben, während heute die Terz bevorzugt wird. Und wie die Lust, so kann auch die Unlust wandern: Freunde moderner Musik können an dissonanten Intervallen Gefallen finden. Helmholtz hatte auf die große Bedeutung der Obertöne für die Klänge hingewiesen. Ein gewisser Reichtum an Obertönen scheint in Wirklichkeit den Gesamteindruck der Konsonanz zu verstärken. Zwischen Obertönen und Grundtönen entstehen ferner, wie oben gezeigt wurde, Differenztöne, die ihrerseits Schwebungen verursachen können. Diese verleihen dem Gesamteindruck etwas Rauhes. Darum erblickte Helmholtz das Wesen der Dissonanz in den Schwebungen, das der Konsonanz in der Freiheit von solchen. Allein abgesehen von der Mißlichkeit, daß der positive Eindruck[S. 79] der Annehmlichkeit, wie ihn etwa die Terz gewährt, durch etwas rein Negatives verständlich gemacht werden soll, verträgt sich diese bedeutsame Theorie nicht mit den Tatsachen. Denn Stumpf gelang der Nachweis, daß es schwebungsfreie Dissonanzen und von Schwebungen begleitete Konsonanzen gibt. Helmholtz versuchte noch eine zweite Erklärung durch die Klangverwandtschaft. Zwei Töne sind um so ähnlicher, je mehr gemeinsame Obertöne sie haben. Nun sind gerade die konsonantesten Töne auch die im genannten Sinne ähnlichsten. Konsonanz ist darum als Ähnlichkeit der Töne zu verstehen. Indes, auch obertonfreie Töne verschmelzen. Auf eine andere Art der Klangverwandtschaft machte Wundt aufmerksam und suchte sie zur Theorie der Konsonanz zu verwerten: zwei Töne sind indirekt miteinander verwandt, wenn sie Obertöne desselben Grundtones sind. Tatsächlich wird auch bei einem Zweiklang der Grundton als Differenzton mitempfunden. Auch diese Theorie weist zwar neue Elemente auf, die bei dem Gesamteindruck mitspielen, läßt jedoch das Grundphänomen unerklärt. Der gemeinsame Grundton fügt zu den beiden andern nur einen dritten hinzu, besagt aber noch nicht eine Konsonanz der Primärtöne. Nach Ablehnung all dieser scharfsinnigen und für die Erkenntnis der Konsonanzerscheinungen wertvollen Erklärungsversuche kommt schließlich Stumpf dazu, in der Verschmelzung eine letzte psychologische Tatsache zu erblicken, die also psychologisch nicht weiter gedeutet werden kann und höchstens eine weitere physiologische Erklärung zuläßt. Vermutlich entsprechen den stärker verschmelzenden Tönen einheitlichere physiologische Vorgänge, die darum auch einen einheitlicheren psychischen Vorgang bedingen.

Literatur

C. Stumpf, Tonpsychologie. 2 Bde. 1883/1890.

2. Kap. Die optischen Raumeindrücke

Eine Mehrheit optischer Reize, die gleichzeitig auf das Auge einwirken, bedingen durch ihre Vielheit einen ganz[S. 80] anderen Eindruck als eine Mehrheit akustischer Reize. Mögen noch so viele und vielartige Luftwellen unser Ohr treffen, es entsteht niemals ein räumlich ausgedehnter Klang; der Klang gewinnt niemals etwas Flächenhaftes. Das Auge hingegen empfängt den unmittelbaren Eindruck einer sich in die Breite und Tiefe erstreckenden Ausdehnung; wenigstens ist dies so bei dem normalen Erwachsenen, von dem unsere Betrachtung stets ausgeht. Es wird sich empfehlen, zunächst den optischen Eindruck der Fläche zu studieren.

A. Der optische Eindruck der Fläche
1. Das Flächenelement. Nativismus und Empirismus

Als erstes Problem drängt sich die Frage auf: Woher stammt das Räumliche beim Zusammentritt mehrerer Gesichtsempfindungen, oder genauer: bei der Reizung benachbarter Netzhautelemente? Bewirkt schon die Reizung einer einzigen Optikusfaser einen flächenhaften Eindruck? Ein solcher Versuch müßte wohl an einem Blindgeborenen angestellt werden, um etwaige Einflüsse der Entwicklung auszuschließen; allein mit unseren gegenwärtigen Mitteln ist er nicht ausführbar. Wir gehen darum besser von der uns bekannten Gesichtsempfindung selbst aus, die wir uns zunächst mit einem Raumwert ausgezeichnet vorstellen. Versuchen wir nun das Flächenhafte eines Rot auf Null zu reduzieren, so leuchtet ein, daß damit die Empfindung selbst verschwinden muß. Die Ausdehnung scheint somit eine der Gesichtsempfindung ursprünglich zukommende Eigenschaft zu sein.

Damit, daß das Empfindungselement von Haus aus flächenhaft ausgedehnt ist, ist noch nicht verständlich gemacht, warum die Reizung mehrerer nebeneinander liegender Netzhautelemente eine Summation der Flächeneindrücke ergibt, mit andern Worten, weshalb wir in diesem Falle eine ausgedehntere Fläche wahrnehmen. Noch viel weniger ist damit erklärt, wieso die räumliche Ordnung der Gesichtseindrücke der räumlichen Anordnung der gereizten Netzhautelemente[S. 81] entspricht. Namentlich um diese beiden letzten Fragen dreht sich auch heute noch der Streit zwischen Empirismus und Nativismus.

Teils aus metaphysischen Gründen, mit Rücksicht auf die Einfachheit der Seele (Herbart, Lotze), teils aus dem methodischen Gedanken heraus, mit möglichst wenigen Elementen des Seelenlebens auszukommen (die englischen Assoziationspsychologen), erkennt der Empirismus der ursprünglichen Gesichtsempfindung keine Ausdehnung zu. Die Entstehung der räumlichen Ordnung des Gesichtsbildes suchte Lotze durch die geistvolle Theorie der Lokalzeichen zu erklären: Wird eine exzentrisch gelegene Netzhautstelle von einem Lichtreiz getroffen, so wendet das Auge unwillkürlich die Netzhautmitte der Lichtquelle zu. Es führt dabei eine ganz bestimmte Muskelbewegung aus, die immer nur dann vorhanden ist, wenn nach anfänglicher Reizung jener bestimmten Stelle die Netzhautmitte dem Lichtreiz ausgesetzt werden soll. Werden andere exzentrische Stellen getroffen, so erfolgen andere Bewegungen und dementsprechend andere Muskelkontraktionen. Jede Muskelkontraktion ruft aber in der Seele eine eigenartige Spannungsempfindung hervor. Somit verbindet sich mit der Reizung einer jeden Netzhautstelle eine eigenartige Spannungsempfindung: dem System der Netzhautstellen entspricht ein System von Spannungsempfindungen. Wie die Bücher einer Bibliothek durch ihre Etiketten, so sind die qualitativen Erregungen der einzelnen Netzhautorte durch ihre Spannungsempfindungen gekennzeichnet. Und genau so wie eine solche Bibliothek in beliebiger Ordnung verpackt und doch in der früheren Ordnung in einem andern Raume wieder aufgestellt werden kann, so können auch in der Nervenleitung die Erregungen einen beliebigen Weg nehmen: die Seele weiß dann doch die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. — Wundt baute diese Theorie zu der der komplexen Lokalzeichen aus. Die Farbenqualitäten, die von dem gleichen Reiz auf verschiedenen Orten der Netzhaut erregt werden, sind nicht gleich; bekanntlich verlieren sich nach der Peripherie zu sogar einzelne Farbentöne. Für jeden Punkt der Netzhaut gibt es eine charakteristische lokale Färbung. Mit dieser verbinden sich die gleichfalls charakteristischen Spannungsempfindungen. Und die Verschmelzung beider ergibt in der Seele ein völlig neues Produkt: die Ausdehnung samt der Ordnung. Allerdings soll sich dieser Vorgang nicht in der Entwicklung des Individuums, sondern in der des Stammes vollzogen haben.

Allein die von den Empiristen vorgebrachten Gründe sind nicht überzeugend, und anderseits stehen ihrer Erklärung die größten Schwierigkeiten im Wege. Die Einfachheit der Seele kann diese sicher nicht hindern, ein Ausgedehntes abzubilden. Hingegen ist es unbegreiflich, wie die Summation unräumlicher Empfindungen jemals die Vorstellung einer[S. 82] Fläche liefern soll. Auch bleibt unfaßbar, daß die Verschmelzung von Licht- und Spannungsempfindungen das ganz anders geartete Produkt des Räumlichen ergibt. Der methodische Vorteil, mit weniger Elementen eine Erscheinung zu erklären, darf nicht durch die Einführung unbegreiflicher Annahmen erkauft werden. Weiter, die Lokalzeichentheorie muß eine Empfindlichkeit für kleinste Augenbewegungen ansetzen, die mit unseren sonstigen Erfahrungen nicht übereinstimmt. Überdies ist die Feinheit der Lokalisation gerade bei der Stelle der Netzhaut am größten, die keine Bewegungen zur Erreichung besserer Sichtbarkeit auszuführen braucht, nämlich beim gelben Fleck. Aus diesen Gründen neigt darum heute die Mehrzahl der Psychologen hinsichtlich der Flächenwahrnehmung dem Nativismus zu: Es ist eine letzte, nicht weiter zu erklärende Tatsache, daß der Reizung eines Netzhautelementes eine räumliche Lichtempfindung entspricht. Es ist ferner eine letzte Tatsache, daß die von räumlich getrennten Netzhautelementen erregten Empfindungen sich nicht über-, sondern flächenhaft aneinanderlegen, und zwar in der gleichen Reihenfolge und Richtung, in welcher die von den Lichtwellen getroffenen Nervenzellen angeordnet sind. Jeder Reizung einer bestimmten Netzhautstelle entspricht ein bestimmter Ortswert. Eine begünstigende Bedingung, nicht eine Erklärung dafür, liegt in der Tatsache, daß das Linsensystem des Auges die einzelnen Lichtstrahlen geordnet auf der Netzhaut verteilt, und daß die isolierte Nervenleitung die einzelnen Erregungen gesondert zum Gehirn weiterführt. Ist somit nach nativistischer Auffassung der Ortswert einer Netzhauterregung von Anfang an mitgegeben, so kann doch die weitere Entwicklung eine Verfeinerung der Ortsauffassung bewirken. Beides veranschaulicht sehr hübsch die pathologische Erfahrung bei Loslösung und Verschiebung der Netzhaut. Weil die Netzhautelemente ihren bestimmten Ortswert haben, erscheint dem Kranken ein regelmäßig gezeichnetes Gitter als verzerrt. Nach einiger Zeit soll sich jedoch wieder das normale Bild einstellen, weil nunmehr die verschobene Netzhautpartie einen andern Ortswert erlangt hat.

[S. 83]

Die soeben dargestellte nativistische Auffassung muß sich heute wohl einige Abstriche gefallen lassen. Die Annahme, daß die Erregungen des einzelnen Sehnerven schon einen ausgebreiteten (das Wort „flächenhaft“ legt schon den Begriff des „ebenen“ nahe, der hier verfrüht ist; vgl. S. 87) Eindruck bedingen, und die Tatsache, daß dank des dioptrischen Apparates jedes Netzhautelement von einem vorbeiziehenden Objekt in jener zeitlichen Reihenfolge gereizt wird, die dem objektiven Sachverhalt entspricht, erklären die fraglichen Erscheinungen. Ohne Rücksicht auf den weiteren Verlauf der Sehnerven oder deren Einstrahlung ins Sehzentrum muß sich das Sehding ausgebreitet und richtig orientiert aufbauen[3]. Das Nebeneinander, die Richtung und die Reihenfolge der „Flächenelemente“ ist keine letzte Tatsache, sondern eine notwendige Folge der beiden genannten Faktoren. Darum bedarf es auch keines angeborenen „Ortswertes“, es genügt ein erworbener.

2. Der blinde Fleck

Die Sehsphäre im Gehirn erleidet mancherlei Unterbrechungen, so schon durch die unempfindliche Stützsubstanz, die Neuroglia. Auch die Netzhaut enthält verschiedene unempfindliche Stellen. Trifft das Bild kleinster Punkte auf sie, so verschwinden die Punkte; sie tauchen gleichsam unter. Dennoch zeigt das anschauliche Gesichtsfeld selbst keinerlei Unterbrechungen. Daraus ergibt sich das interessante Problem, wie solche Lücken von der Seele ergänzt werden. Am meisten wurde dieses Problem am blinden Fleck untersucht. Blinder Fleck heißt die unweit von der Netzhautmitte gelegene Eintrittsstelle des Sehnerven. Zeichnet man etwa 5 cm voneinander entfernt zwei nahezu in einer Horizontalen liegende Kreuze und fixiert bei geschlossenem linken Auge das links liegende aus etwa 17 cm Entfernung, so verschwindet das rechts liegende, um bei geringer Verschiebung des Auges sofort aufzutauchen. Das rechts angebrachte Kreuz kann auch durch einen Kreis von 1 cm Durchmesser ersetzt werden. Es ist also eine beträchtliche Ausdehnung, die so zum Verschwinden gebracht wird. Was wir nun an dem blinden Fleck sehen, möge der Leser durch eigene Versuche finden.

3. Die kleinsten unterscheidbaren Raumgrößen in der Fläche

Eine linear angeordnete Reihe von Lichtreizen erzeugt das seelische Bild einer Lichtlinie. Es fragt sich nun: wie ist die Zuordnung[S. 84] der einzelnen Netzhautelemente zu den Teilen des gesehenen Bildes? Läßt man zwei getrennte Lichtreize auf eng benachbarte Netzhautstellen einwirken, so erscheinen sie als zwei gesonderte Punkte, wenn sie den Gesichtswinkel von etwa 1′ bilden. Man nimmt an, daß zwischen den beiden gereizten Elementen wenigstens ein anderes liegen und von einem merklich verschiedenen Reiz getroffen werden muß, falls so nahe beieinanderliegende Punkte „aufgelöst“ werden sollen. Doch steigt die Feinheit des Auflösungsvermögens mit der Stärke der einwirkenden Reize und mit der Größe des Helligkeitskontrastes zwischen den leuchtenden Punkten und dem Grund, unter günstigen Bedingungen bis zu einem Auflösungswinkel von 10″. Für diesen Fall würde allerdings die obige Annahme der Trennung zweier Eindrücke durch ein dazwischen liegendes Netzhautelement nicht mehr ausreichen[4]. Die Sehschärfe wird noch größer, wenn es sich darum handelt, die verschiedene Lage zweier Geraden zu erkennen; nach Hering deshalb, weil bei verschiedener Lage sofort eine andere Reihe von Netzhautelementen erregt wird. Die Sehschärfe ist am größten in der Netzhautmitte; bei 20° Entfernung ist sie (nach Dor) nur ¹⁄₄₀, in 40° nur ¹⁄₂₀₀ von dieser.

Unter „Augenmaß“ versteht man die Fähigkeit, Richtung und Größe einer Linie zu beurteilen. Im Zusammenhang mit unserem Grundproblem interessiert uns vor allem der Geradheitseindruck, den eine objektiv gerade Linie hervorruft. Er ist keineswegs immer vorhanden. Hält man ein Lineal so vor das Auge, daß man es fixiert und es gleichzeitig einen rechten Winkel zur Blicklinie bilden läßt, so erscheint das Lineal gerade. Verschiebt man es jedoch gegen den Fixationspunkt, so zeigt es eine konkave Krümmung gegen diesen. Den Ursprung des Geradheitseindruckes wollte Helmholtz aus den Augenbewegungen erklären: bewegt man das Auge einer geraden Linie entlang, so verschiebt sich das Netzhautbild in sich selbst, was bei einer gekrümmten nicht der Fall ist. Bei der Geraden entsteht so eine Linie, bei der gekrümmten müßte ein breites Band erzeugt werden. Allein wir erkennen die Gerade auch mit ruhendem Auge, und bei nicht allzu schneller Bewegung läßt auch die krumme Linie kein Band entstehen (Bühler). Auch hier wird man mit Hering auf eine ursprüngliche Zuordnung bestimmt gelagerter Netzhautelemente zu dem Eindruck der Geradheit schließen müssen.

4. Unvollkommenheiten des Einauges

Daß eine einäugig betrachtete, nicht fixierte Gerade als gebogen erscheint, und daß dementsprechend eine aus hyperbolischen Kurven hergestellte Schachbrettfigur unter bestimmten Bedingungen wie eine normale gesehen wird (Helmholtz), das sind Widersprüche zwischen der gegenständlichen Welt und ihrem psychischen Abbild,[S. 85] Empfindungsinadäquatheiten, wie österreichische Psychologen sich ausdrücken. Sie werden allerdings durch das zweiäugige Sehen und durch andere Hilfsmittel zumeist ausgeglichen. Eine andere Empfindungsinadäquatheit stellt sich heraus, wenn man eine Horizontale bei einäugiger Betrachtung nach dem Augenmaß teilen will. Der nach der Körpermitte zu gelegene Teil der Linie wird dann zu klein gemacht. Er hat also für das Auge einen größeren Wert als der andere Teil. Da aber sein Bild stets auf die nach auswärts gelegene Hälfte der Netzhaut fällt, kann man auch sagen: die Breitenwerte wachsen auf der äußeren Hälfte der Netzhaut rascher als auf der inneren. Ebenso wird bei Halbierung einer Vertikalen der obere Abschnitt zu klein genommen. Die Höhenwerte wachsen also auf der unteren Netzhauthälfte rascher als auf der oberen. In ähnlicher Weise fanden sich Richtungstäuschungen, so beim Herstellen einer Vertikalen oder einer Horizontalen allein mit Hilfe eines Auges und unter Ausschluß äußerer Anhaltspunkte. Wie diese Erscheinungen, so sind auch einzelne geometrisch-optische Täuschungen unmittelbar auf Unvollkommenheiten des Auges zurückzuführen. So erscheint ein weißes Quadrat auf schwarzem Grund größer als ein schwarzes auf weißem Grund, wie überhaupt helle Flächen gegenüber dunklen überschätzt werden. Offenbar ergreift da der Reiz durch Irradiation auch die benachbarten Netzhautelemente, die nicht direkt von dem Lichtstrahl getroffen werden. Die Vertikale wird gegenüber der Horizontalen überschätzt. Ein wirkliches Quadrat erscheint den meisten Beurteilern als zu hoch. Bei dieser Täuschung könnten jedoch auch die verschieden großen Bewegungsanstrengungen mitspielen, die man bei beiden Richtungen aufzuwenden hat, weshalb manche Forscher hier von Assoziationstäuschungen sprechen. Dagegen dürfte es auf die vertikale Teilungstäuschung hinauskommen, wenn uns die gedruckte 8 und das gedruckte S als symmetrisch gebaut anspricht, während sich doch durch einfache Umkehrung die größere Ausdehnung des unteren Teiles unschwer erkennen läßt. Andere geometrisch-optische Täuschungen als die genannten setzen höhere geistige Prozesse voraus.

B. Die Erfassung der drei Dimensionen durch das Einauge
1. Das Aufrechtsehen und die horizontale Ordnung

Der Begriff „aufrecht“ besagt eine Beziehung der Lage eines Dinges zu einem andern. Beziehungen (als solche) zu erfassen, ist aber nicht Sache der Sinne — eine Tatsache, die wir später ausführlich nachzuweisen haben. Wenn wir darum in der Empfindungslehre an die Frage herantreten,[S. 86] warum wir aufrecht sehen, ist es erforderlich, vorab darüber klar zu werden, welcher anschauliche Tatbestand vorliegt, wenn wir die Lage irgendeines Dinges als aufrecht bezeichnen. Da ergibt sich, daß aufrecht soviel bedeutet wie der gewöhnlichen stehenden Lage unseres Körpers gleichgerichtet. Als unten gelegen charakterisieren wir dabei jene Teile, die unseren Füßen und dem Boden, auf dem wir stehen, am nächsten sind, während die entgegengesetzt liegenden sich „oben“ befinden. Senkt sich der Blick, so erscheint die Wurzel eines Baumes z. B. nahe bei unseren Füßen, die Krone hingegen strebt, wie unser Haupt, dem Himmelsgewölbe zu. Treten wir dagegen vor einen gefällten Baum hin, so erstreckt sich der gesehene Baum horizontal. Seine Krone liegt jetzt vielleicht in der Nähe unserer rechten Hand und sein Stamm in der Nähe unserer linken. Die Orientierung nach diesen beiden Richtungen geschieht somit nach der Lage unseres eigenen Körpers. Da sich nun die von unten und oben, von rechts und links kommenden Lichtstrahlen im Knotenpunkt des Auges kreuzen und erst nach dieser Kreuzung die Netzhaut treffen, so hat das Netzhautbild eine andere Lage als der gesehene Baum: seine unteren Teile bilden sich auf der oberen, seine rechten Teile auf der linken Hälfte der Netzhaut ab, und umgekehrt.

Unsere Darlegung hält sich streng an die Bewußtseinstatsachen. Da nun unser Bewußtsein nichts von der Existenz eines Netzhautbildes meldet, so gibt es für uns kein „Problem des Aufrechtsehens“. Dieses entstand erst, als die Wissenschaft das Netzhautbild entdeckte, indes noch nicht echt psychologisch denken gelernt hatte. Man versuchte die Lösung des vermeintlichen Problems durch eine Projektionstheorie. Nach ihr verlegt das Auge dem Lichtstrahl rückwärts folgend, das Objekt dorthin, woher der Strahl kommt. Allein diese Theorie ist ebenso überflüssig wie unhaltbar. Denn einmal wissen wir nichts von einer solchen Rückverfolgung der einfallenden Lichtstrahlen. Sodann gelangten wir auch dabei, wie die Ausführungen des vorigen Abschnittes zeigen, gar nicht immer an die Orte der Lichtreize, da die einzelnen Regionen der Netzhaut nicht gleichwertig sind und darum das „Sehding“ (Hering) dem wirklichen Ding nicht völlig entspricht. Einen andern durchschlagenden Beweis gegen die Projektionstheorie werden wir später kennen lernen. Ebenso unhaltbar sind die Vermutungen über eine Wiederumkehrung des Netzhautbildes auf dem Wege zum Gehirn, und die über eine Korrektur des umgekehrten[S. 87] Bildes durch den Tastsinn. — Einen experimentellen Beweis für den empirischen Ursprung der Lageauffassung erbrachte der Amerikaner Stratton. Er hielt ein Auge verschlossen und versah das andere mit einer Linsenkombination, die das Netzhautbild umkehrte. Anfangs erblickte er die Umgebung umgekehrt. Allein schon nach wenigen Tagen verlor sich dieser Eindruck; die Dinge fingen an, denselben Eindruck des „aufrecht“ zu machen wie normal. Die Lage des Netzhautbildes ist also für unser Sehen im Grunde nebensächlich. Nur infolge der Gewöhnung bilden sich auch für die einzelnen Teile der Netzhaut Lagewerte aus. Und darum erscheint bei Gebrauch einer das Netzhautbild umkehrenden Linse die Außenwelt auf dem Kopf stehend. Diese Lagewerte sind indes nur durch Angewöhnung erworben und können deshalb durch eine entgegengesetzte Gewöhnung überwunden und durch gegenteilige ersetzt werden.

2. Das Tiefensehen

Größere Schwierigkeiten als die erörterten bereitet die Erklärung der Tiefendimension. Auch der von Geburt aus Einäugige hat eine anschauliche Tiefenwahrnehmung. Von einer Tiefenempfindung kann man hier nicht wohl sprechen; denn man wüßte beim Einauge keine physiologische Erregung zu nennen, der diese Empfindung entspräche. Es wird darum der empfindungsmäßige Flächeneindruck durch Vorstellungselemente eine Ergänzung erfahren. Vielleicht kann man sich, ehe experimentelle Untersuchungen zu Gebote stehen, den anschaulichen Tiefeneindruck des Einäugigen folgendermaßen entstanden denken. Man stelle sich einige Schritte vor eine Zimmerwand. Man sieht diese Wand als eine Fläche in einer bestimmten Entfernung. Neigt man den Kopf zur Erde, so erblickt man den Boden in der nämlichen Weise als Fläche wie zuvor die Wand. Will der Einäugige nun einen in der Schnittlinie dieser beiden Flächen befindlichen Gegenstand erreichen, so muß er sich zu ihm hinbewegen. Hält er dabei den Kopf gesenkt, so gewinnt er ein anschauliches Maß seiner Entfernung von der Wand (also der Tiefendimension) durch die Flächenwerte, die sein zum Boden geneigtes Auge erfaßt. Allerdings haben wir hier der leichteren Verständlichkeit zulieb zwei nicht zutreffende Voraussetzungen gemacht: einmal, daß der Einäugige Wand und Boden in einer[S. 88] bestimmten Entfernung sähe, — damit besäße er ja schon die Tiefenwahrnehmung; sodann, daß er Wand und Boden als ebene Flächen erblicke, — die Anschauung einer ebenen Fläche ist auch nicht möglich ohne die sinnlich fundierte Erkenntnis, daß die seitwärts des Blickpunktes liegenden Teile der Ebene weiter vom Betrachtenden entfernt sind als die unmittelbar fixierten. Beide Voraussetzungen lassen sich jedoch leicht entbehren. Es genügt, daß die objektiven Flächen der Wand und des Bodens entfernungslos erscheinen, wie etwa dichter Nebel, der das Auge umgibt, und ferner, daß sich aus dieser entfernungslosen, verschiedenfarbigen Fläche die Fixationspunkte auf Wand und Boden sowie die Schnittlinie der beiden Flächen und der auf ihr gelegene Gegenstand für das Auge abheben. Sieht nun auch der Einäugige keine ausgedehnte Fläche vor sich, so erfaßt sein Blick doch jeweils Flächenelemente, deren Summe eine anschauliche Wahrnehmung der dritten Dimension ermöglicht. So oder ähnlich mag sich der Prozeß bei dem einäugigen Kinde vollziehen. Die so anfänglich wahrgenommenen Tiefendimensionen sind natürlich von sehr geringer Ausdehnung. Es genügt indes, daß sie überhaupt wahrgenommen wird, um sich dann gleichzeitig mit der Erfassung der beiden andern Dimensionen zu entwickeln. Ist einmal der unmittelbare Tiefeneindruck auf diese oder ähnliche Weise gewonnen, so bilden sich auch leicht die sekundären Faktoren der Tiefenwahrnehmung aus.

Als deren erster ist auch für das Einauge die Winkelverschiebung (Parallaxe) zu nennen, welche die Sehstrahlen erfahren, wenn sich das Auge vor den verschieden tief gelegenen Gegenständen bewegt. Sodann gewöhnen wir uns daran, Dinge, die wir unter einem kleinen Gesichtswinkel sehen, die also ein kleines Bild auf der Netzhaut entwerfen, wenn anders uns ihre wahre Größe bekannt ist, für entfernt zu halten. Weiter wird die Deutlichkeit der Umrisse zum Kriterium der Nähe, die Verschwommenheit zum Kriterium der Ferne (Luftperspektive). Endlich vermittelt die gegenseitige Verdeckung und Beschattung der Körper ein Wissen von ihrer relativen Entfernung.

Nach neueren Untersuchungen ist die Tiefenwahrnehmung des Einäugigen besser als die monokulare des Normalen. Dabei helfen dem Einäugigen weit weniger die Muskelempfindungen, die durch die Akkomodation[S. 89] des Auges, d. h. durch die Einstellung auf die Nähe oder die Ferne bedingt werden, als vielmehr die Kopfbewegungen. — Dank der sekundären empirischen Faktoren des Tiefensehens können auch gemalte Bilder körperlich wirken. Um diesen Eindruck des Plastischen zu steigern, betrachtet man sie durch eine enge Röhre, wodurch der störende Rand des Bildes ausgeschaltet wird. Sehr schöne plastische Eindrücke liefert der Verant, eine eigenartig geschliffene Linse, die, nahe vor das Einauge gebracht, die von einem dahinterliegenden Bilde ausgehenden Strahlen so bricht, daß sie dasselbe Netzhautbild erzeugen, wie es auch von dem wirklichen Gegenstand hervorgerufen würde. Vermittels des Veranten kann man sich davon überzeugen, daß die Anschaulichkeit der Tiefenwahrnehmung des Einauges nicht hinter der des Doppelauges zurückzustehen braucht, eine theoretisch bedeutsame Feststellung.

C. Das Sehen mit beiden Augen
1. Doppeltsehen und Einfachsehen
Die Augen fixieren den   näheren Punkt
Fig. 5 a
Die Augen fixieren den   entfernteren Punkt
Fig. 5 b

Welche Bewußtseinsinhalte gewinnen wir, wenn wir mit zwei Augen sehen? Hält man zwei Finger in einer Linie, aber in verschiedener Entfernung vor beide Augen und fixiert den nächstgelegenen, so erscheint der entferntere doppelt; richtet man jedoch den Blick auf den entfernteren, so sieht man den näheren doppelt. Die vereinte Tätigkeit beider Augen kann somit sowohl einfache wie doppelte Bilder liefern. Es fragt sich also: Wann sehen wir einfach und wann sehen wir doppelt? Entwirft man eine schematische Zeichnung von der Lage beider Augen und dem Gang der Lichtstrahlen in den beiden genannten Fällen, so findet man: das Bild der fixierten Punkte fällt jedesmal auf den nämlichen Punkt der Netzhaut, auf die Netzhautmitte. (Fig. 5.) Die Bilder der nicht fixierten[S. 90] Punkte treffen nicht auf gleichgelagerte Stellen: wird der entferntere Finger fixiert, so bildet sich der nähere in dem linken Auge links, in dem rechten Auge rechts von der Netzhautmitte ab; wird der nähere fixiert, so fällt das Bild des entfernteren in dem linken Auge rechts und in dem rechten links von der Netzhautmitte. Richten wir beide Augen statt auf einen einzelnen Punkt auf einen ausgedehnten Gegenstand, so sehen wir den ganzen Gegenstand einfach. Das schematische Bild des Strahlenganges läßt erkennen, daß z. B. die von dem rechten Ende eines Pfeiles ausgehenden Lichtstrahlen auf jeder Netzhaut Punkte treffen, die in gleicher Richtung und in (ungefähr) gleichem Abstand von der Netzhautmitte gelegen sind; es sind das gleichgelagerte oder korrespondierende Punkte, auch identische oder Deckpunkte genannt. Da ihre Erregung durch gleichfarbige Lichtstrahlen dem Bewußtsein die nämliche Empfindungsqualität vermittelt, so kann nur ein Sehding bewußt sein[5]. Anders ist es bei der Reizung von nichtkorrespondierenden Stellen der Retina. Bei gleicher Empfindungsqualität haben sie doch einen verschiedenen Ortswert zu melden und erzeugen darum ein doppeltes Bild. — Würde man rein mathematisch die Gesamtheit der Schnittpunkte jener Linien aufsuchen, die von korrespondierenden Netzhautpunkten ausgehen und je durch die Knotenpunkte der beiden Augen geführt sind, so erhielte man die Gesamtheit all jener Punkte, die bei einer bestimmten Augenstellung einfach gesehen werden; es wäre dies der mathematische Horopter. Allein wir haben oben schon gefunden, daß die beiden Netzhauthälften nicht ganz gleichwertig sind. Da nun jeweils die innere Netzhauthälfte des einen Auges zu der äußeren des andern Auges in Beziehung gebracht werden muß, so werden weder die Deckpunkte exakt die gleiche Lage zur Netzhautmitte haben, noch wird der mathematische mit dem empirischen Horopter ganz übereinstimmen. Überhaupt ist festzuhalten, daß die Deckpunkte einen gewissen Spielraum zulassen, innerhalb dessen noch einfach gesehen wird.

[S. 91]

Da wir immer nur einen Teil des Sehfeldes fixieren können, so müßten wir nach dem Gesagten immer Doppelbilder haben, von den Dingen, die vor dem Fixierpunkt, und von denen, die hinter ihm liegen. Und doch bemerken wir für gewöhnlich nichts von ihnen. Woher dies? Wer das anfangs erwähnte Experiment anstellt, wird finden, daß es eine gewisse Mühe macht, einen Punkt zu fixieren und einen andern daneben zu beachten. In demselben Maße, wie es gelingt, die nicht fixierten Punkte zu beachten, nimmt die Klarheit des Doppelbildes zu. Da wir nun im praktischen Leben immer nur den fixierten Gegenständen die größere Aufmerksamkeit zu widmen pflegen, so entwickeln sich die Doppelbilder nicht zu merklicher Klarheit. Dazu kommt, daß wir unsere Fixation fortwährend wandern lassen und daß die von beiden Netzhäuten herrührenden Bilder häufig nicht gleich stark sind, weshalb das schwächere von dem stärkeren verdrängt wird.

Werden die korrespondierenden Punkte von gleichartigen Reizen getroffen, so steht im Bewußtsein nur ein Bild. Man kann darum den Versuch machen, zwei Deckpunkte durch verschiedenartige Reize zu erregen. Es erfolgt dann eine Mischung und Vereinigung beider Eindrücke, wo diese leicht möglich ist. So verbindet sich eine Druckschrift bequem mit einem weißen oder farbigen Hintergrund. Auch nichtkomplementäre Farben lassen häufig die entsprechende Mischfarbe erkennen. Komplementäre ergänzen sich unter gewissen Bedingungen zu grau. Aber namentlich bei ihnen zeigt sich gern der sogenannte Wettstreit der Sehfelder: es erscheint nicht die Mischung beider, sondern abwechselnd bald die eine und bald die andere Farbe allein. Eine geringe Verschiebung des gegenseitigen Stärkeverhältnisses oder auch die Bevorzugung des einen Reizes durch die Aufmerksamkeit läßt diesen alsbald über den Konkurrenten obsiegen.

2. Die Sehrichtung des Doppelauges

Fixieren wir ein näher gelegenes Objekt, so konvergieren die Blicklinien beider Augen, d. h. die Verbindungslinien des fixierten Punktes mit der Netzhautmitte eines jeden Auges bilden zusammen einen Winkel, wie sich aus der schematischen Zeichnung ersehen läßt. (Fig. 5.) Es ergibt sich also das Problem: In welcher Richtung sehen wir bei Verwendung beider Augen die Gegenstände, da doch jedes Auge in eine andere Richtung weist? Man bringe an einer Fensterscheibe einen kleinen Fleck an, schließe das linke Auge und fixiere mit dem rechten den Fleck auf der Scheibe und merke sich gleichzeitig jenes Objekt der äußeren Umgebung, das man beim Fixieren des Fleckes miterblickt. Darauf schließe man das rechte Auge und fixiere mit dem linken. Man sieht dann hinter dem Fleck ein anderes äußeres Objekt, das von dem soeben wahrgenommenen beträchtlich nach rechts gelegen ist. Nunmehr fixiere man den Fleck auf der Scheibe ein drittes[S. 92] Mal, aber jetzt mit beiden Augen. Dann scheinen die beiden zuvor gesehenen Objekte nicht voneinander entfernt, sondern in derselben Richtung hinter dem Fleck zu liegen. Alle Gegenstände, die auf der Sehrichtung des einen Auges liegen, werden mit denen, die auf der zugehörigen Sehrichtung des andern Auges liegen, in eine gemeinsame Sehrichtung vereinigt. Dies ist das Gesetz der identischen Sehrichtungen (Hering). Das Doppelauge lokalisiert so, als ob es ein einziges, zwischen den beiden Augen gelegenes wäre. (Das „Zyklopenauge“.) Durch diese Tatsache ist die oben erwähnte Projektionstheorie endgültig erledigt.

3. Das Tiefensehen mit zwei Augen

Denkt man sich durch den Fixationspunkt senkrecht zur Blicklinie des Zyklopenauges eine Ebene gelegt, so bilden sich außer dem Fixationspunkt auch die auf dieser „Kernfläche“ befindlichen Punkte auf identischen Netzhautstellen ab und werden somit einfach gesehen. Fixiere ich darum von zwei Nadeln, die in der Kernfläche sind, die eine, so erhalte ich auch von der nicht fixierten ein einfaches Bild. Verschiebt man nun diese Nadel ein wenig vor oder hinter die Kernfläche, so bleibt ihr optisches Bild dennoch einfach, doch wird ihre Tiefenlage vor oder hinter der Kernfläche wahrgenommen. Verschiebt man die Nadel jedoch etwas mehr aus der Kernfläche heraus, so wird sie alsbald doppelt gesehen. Der Strahlengang bei den drei erwähnten Lagen der nicht fixierten Nadel läßt sich sehr leicht zeichnen. Aus dem schematischen Bild kann man nun unmittelbar folgenden Satz ablesen: Das Einfachsehen nicht fixierter Punkte ist nicht streng an die identischen Netzhautstellen gebunden; werden indes zwei nur ungefähr identische Punkte der Netzhäute gereizt, so scheint das Objekt, von dem diese Reizung ausgeht, vor bzw. hinter der Kernfläche zu liegen.

Die Gegenprobe und den vollen Beweis zu diesem Satz erbringt ein von Hering angegebener Versuch, in dem eine Reizung nahezu identischer Punkte ermöglicht wird, ohne daß sie, wie soeben, von einem objektiv außerhalb der Kernfläche liegenden Ding bewirkt wird. Man zeichne auf zwei Papiere je drei einander parallele und gleichweit abstehende Gerade und bringe beide Zeichnungen in einem Stereoskop an Stelle der stereoskopischen Bilder symmetrisch an, so daß[S. 93] die Geraden senkrecht von oben nach unten verlaufen. Fixiert man jetzt die mittleren Linien, so erblickt man statt der sechs vorhandenen nur drei in einer Ebene liegende Gerade. Zeichnet man nun auf einem der Papiere die mittlere Gerade ein wenig nach rechts oder links, so bildet beim Hineinschauen das eine Auge die mittlere Gerade genau im mittleren Längskreise ab, während das andere sein Bild ein wenig links oder rechts von der Netzhautmitte hat, — die Richtung beider Augen bleibt nämlich nach wie vor dieselbe. Die psychische Wirkung dieser Reizungsart ist nun die, daß nunmehr nicht etwa vier Striche gesehen werden, sondern daß nur drei Gerade erscheinen, deren mittlere jedoch vor oder hinter den anderen zu liegen scheint.

Die zwei soeben geschilderten Versuche gestatten auch eine Messung der Tiefensehschärfe. Man rückt von drei in der Kernfläche befindlichen Nadeln die mittlere so weit aus der Kernfläche, bis ihre verschiedene Tiefe eben bemerkt wird. Oder man mißt, wie weit bei dem stereoskopischen Versuch die mittlere Senkrechte seitlich verschoben werden muß, bis ein Tiefeneindruck entsteht. Es stellte sich heraus, daß das Tiefensehen durch die Übung die Feinheit der Sehschärfe erreichen kann: eine Lagedifferenz der beiden Netzhautbilder von 10″ vermag schon einen Tiefeneindruck zu bewirken. Je weiter die zu beurteilenden Dinge vom Auge entfernt sind, um so größer muß ihr gegenseitiger Abstand sein, soll er noch als Tiefenunterschied erkannt werden: auf 1 m 0,4 mm, auf 50 m 1 m, auf 420 m 80 m, während über 2600 m kein Tiefenunterschied mehr aufgefaßt wird. Der Sehraum entspricht somit auch in dieser Hinsicht nicht dem geometrischen Raum.

Zu beachten ist noch, daß nur die feinen Lageunterschiede der Bilder auf den Querschnitten der Netzhaut den Tiefeneindruck hervorrufen. Solche Bilder heißen querdisparat, und die gekennzeichnete Lageverschiedenheit heißt Querdisparation. Die Verschiebung der Netzhautbilder infolge ihrer Verrückung aus der Kernfläche führt auch den Namen der binokularen Parallaxe.

Eine Anwendung der binokularen Parallaxe ist das Stereoskop. In geringem Abstand wird jedem Auge ein eigenes Bild dargeboten. Durch eine Prismenkombination wird nun erreicht, daß die nebeneinander liegenden Teilbilder auf die Deckpunkte beider Augen fallen. Diese Bilder wurden hergestellt, indem man etwa denselben Gegenstand gleichzeitig durch zwei in Augenweite voneinander entfernte Kameras photographierte. Somit erhält jedes Auge ein eigenes Bild, das jedoch nur wenig von seinem Gegenstück abweicht. Die solchermaßen gesicherte Querdisparation verursacht den körperlichen Eindruck des gesehenen Bildes. Darum kann umgekehrt das Stereoskop auch prüfen, ob zwei Bilder genau gleich oder auch nur um ein weniges voneinander verschieden sind. Echte Banknoten z. B. stammen aus derselben Druckerpresse. Symmetrisch unter das Stereoskop gebracht,[S. 94] müssen sie darum ein unkörperliches Bild ergeben. Springen jedoch einzelne Buchstaben und Striche aus der Bildebene hervor, so ist die Ungleichheit der Bilder und damit der verschiedenartige Ursprung der Drucke erwiesen.

4. Der Ursprung der binokularen Tiefenwahrnehmung

An dieser Stelle kehrt die Streitfrage wieder, ob unsere Tiefenwahrnehmung angeboren oder erworben sei. Nachdem wir schon ausgeführt haben, daß und wie das Einauge eine vollkommene Tiefenwahrnehmung erlangen kann, dürfen wir von der historischen Entwicklung der Kontroverse absehen und können sogleich die Kernfrage nennen, um die sich heute der ganze Streit dreht. Auch der Nativist gibt heute zu, daß allein mit den Mitteln des Einauges tatsächlich eine Tiefenwahrnehmung zu erzielen ist. Er behauptet jedoch, daß die Querdisparation eine unmittelbare und wahre Empfindung der Tiefe vermittle, eine Empfindung, die uns zwar nicht die absolute Entfernung der Dinge vom Auge unmittelbar kennen lehrt, die jedoch die Lage der Gegenstände zu der Kernfläche zeigt. Aus diesem Grundkapital entwickle sich die vollkommene Tiefenwahrnehmung des Erwachsenen, für den schließlich die Querdisparation das feinste und eigentlichste Mittel zur Erkennung der Tiefenunterschiede wird. Man braucht ja nur ein Auge zu schließen, um alsbald eine beträchtliche Herabsetzung unseres Körperlichsehens festzustellen.

Dem Nativismus stehen für seine Ansicht schwerwiegende Gründe zu Gebote. Ihr wuchtigster dürfte der oben (S. 91 f.) beschriebene Stereoskopversuch sein: die einfache Reizung querdisparater Netzhautpunkte bewirkt ohne irgendwelche anderen objektiven oder subjektiven Anhaltspunkte eine Tiefenwahrnehmung. Dazu kommt die große Schwierigkeit, den unleugbar anschaulichen Charakter des Tiefeneindruckes aus Vorstellungselementen verständlich zu machen. — Indes durchschlagend sind diese Beweise nicht. Solange es nicht möglich ist, bei einem operierten Blindgeborenen den Heringschen Stereoskopversuch mit Erfolg anzustellen,[S. 95] bleibt es erlaubt, den Tiefeneindruck bei querdisparater Reizung aus der Erfahrung herzuleiten: wie für den Einäugigen die monokulare Parallaxe, so entwickelt sich beim Normalen die binokulare zum Kriterium des Tiefensehens. Die Unmittelbarkeit des Tiefeneindruckes braucht dabei nicht zu überraschen. Denn ebenso unmittelbar lokalisieren wir auch einen Tastreiz, was uns nur auf Grund der Erfahrung möglich ist. Ferner glauben wir auch gezeigt zu haben, wie der Einäugige zu dem anschaulichen Inhalt seiner Tiefenwahrnehmung gelangt. Endlich dürfte noch zu beachten sein, daß die Tiefenauffassung, wenigstens bei dem erwachsenen Menschen, nicht auf die gleiche Stufe wie die Flächenwahrnehmung zu setzen ist. Wir möchten sie vielmehr der Gestaltwahrnehmung (s. unten) nahebringen. Auch bei dieser erleben wir unmittelbar und in gewissem Sinne anschauliche Eindrücke, die aber gleichwohl nicht als Empfindungen angesprochen werden können.

Die Empiristen berufen sich ihrerseits auf die vollkommene Tiefenanschauung der Einäugigen, mit der gewiß die Notwendigkeit, aber nicht eine etwa nachweisbare Tatsächlichkeit der Tiefenempfindung auszuschließen ist. Es liegen aber aus der jüngsten Zeit verschiedene Experimente vor, die den Empfindungscharakter querdisparater Erregungen als zweifelhaft erscheinen lassen. So wies Karpinska nach, daß sich die räumliche Auffassung bei stereoskopischer Betrachtung nur allmählich ausbildet, somit auch mehr Zeit benötigt als die Gesichtsempfindungen; daß sie an Schnelligkeit von der durch den Veranten vermittelten plastischen Auffassung übertroffen wird, bei dem bekanntlich nur Erfahrungskriterien wirksam sind; daß sie endlich durch die Einstellung des Subjektes ganz unterdrückt werden kann. Das Pseudoskop ferner, das durch Vertauschung der stereoskopischen Bilder das Relief der Dinge umkehrt, einen runden Balken sonach als Hohlrinne erscheinen läßt, vermag diese Umkehrung bei dem Bilde des menschlichen Gesichtes nicht zu erreichen; die Erfahrungsmomente überwinden hier also die Querdisparation. Sodann läßt sich der Effekt der Querdisparation an bloß einem Auge dadurch erzielen, daß man[S. 96] die für die beiden Augen bestimmten stereoskopischen Bilder in rascher Folge demselben Auge exponiert (Straub). Schließlich will Poppelreuter das flächenhafte, „malerische“ Sehen, das monokular leicht zu bewerkstelligen ist, nach einiger Übung auch binokular erlernt haben. Es lassen sich aber wohl Vorstellungen, nicht jedoch Empfindungen unter dergleichen Voraussetzungen unterdrücken. Nach dem Gesagten tragen wir kein Bedenken, die Position des Empirismus als die zur Zeit günstigere anzusehen.

Literatur

Über die nativistisch-empiristische Kontroverse und die ältere Literatur zu dieser vgl. Fröbes I, 2. Aufl., S. 331 ff.

[3] Vgl. die S. 90 zitierte Arbeit.

[4] Eine Erklärungsmöglichkeit bietet die S. 90 zitierte Arbeit.

[5] Vgl. J. Lindworsky, Zur Theorie des binokularen Einfachsehens und verwandter Erscheinungen. ZPs 1923.

3. Kap. Empfindungskomplexe des Tastsinnes

1. Der Raumsinn der Haut

Die Reizung eines Druckpunktes oder einer beliebigen Hautstelle ruft eine flächenförmig ausgedehnte Empfindung hervor. Wir können uns bei dieser Feststellung nur auf den unmittelbaren Eindruck stützen, werden aber die Richtigkeit dieser Beobachtung aus den alsbald zu nennenden Tatsachen bestätigt finden. Was geschieht nun, wenn man gleichzeitig mehrere Stellen der Haut reizt? Setzt man die beiden Spitzen eines Zirkels (man verwendet dazu eigens hergestellte Tastzirkel oder Ästhesiometer) nahe beieinander auf die Haut, so verspürt man einen einfachen Druck, als wenn nur ein einziger Punkt gereizt worden wäre. Rückt man nun die Zirkelspitzen ein wenig auseinander und setzt sie von neuem auf, so wird der wahrgenommene Punkt etwas breiter, dehnt sich zu einer Fläche, wird dann eine Linie, und erst bei einer gewissen Zirkelweite hat man den Eindruck, daß zwei getrennte Punkte der Haut gereizt worden sind. Eben diesen Abstand, den zwei gleichzeitig einwirkende Tastreize wahren müssen, um als zwei bemerkt zu werden, bezeichnet man als die Raumschwelle. Sie ist an verschiedenen Körperteilen verschieden groß: an der Zungenspitze 1 mm, an der Fingerspitze 2 mm, am größten[S. 97] am Rücken und an den Gliedmaßen, etwa 6 mm am Oberarm. Die Raumschwelle mißt die Feinheit unseres Raumsinnes, d. h. der „Fähigkeit, Form, Größe, Zahl, Bewegung der unsere Hautoberfläche berührenden Gegenstände mittels der Tastempfindung zu erkennen“. Je kleiner die Schwelle, um so feiner der Raumsinn.

Die Raumschwelle ist bei Kindern kleiner als bei Erwachsenen. Sie wechselt auch bei den einzelnen Individuen. Um die simultane Raumschwelle sicher zu erhalten, muß man übrigens die beiden Zirkelspitzen gleichzeitig und mit gleich starkem Druck aufsetzen. Sukzessive und ungleich starke Berührung verkleinert die Schwelle. Auch Wärme und Blutfülle macht die Haut empfindlicher, während Kälte und Blutleere die Empfindlichkeit herabsetzt. Im gleichen Sinne wie diese Faktoren wirken Übung und Ermüdung. Allerdings nicht so, daß die Übung, wie man früher vielfach glaubte, das Sinnesorgan selbst verfeinerte. Im Grunde wird nur die Einstellung auf die Unterscheidung der beiden Eindrücke geübt. Das zeigte sich bei der Untersuchung von Blinden. Bei ihnen nahm man vielfach eine außergewöhnliche Verfeinerung des Hautsinnes an, da sie diesen Sinn so außerordentlich übten, und da man überdies meinte, der Ausfall eines Sinnes komme den übrigbleibenden zugute. Es stellte sich nun heraus, daß bei gleicher Aufmerksamkeitsanspannung der Raumsinn der Blinden infolge des beständigen Tastens stumpfer war als der der Sehenden. Ebenso scheint die Vergrößerung der Raumschwelle infolge der Ermüdung in erster Linie auf die Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit zurückzuführen zu sein. Wenn man darum mit den experimentierenden Pädagogen (Griesbach) die Bestimmung der Raumschwelle zum Nachweis der Ermüdung benutzen will, muß man die Schwelle unmittelbar nach der ermüdenden Arbeit bestimmen, weil sonst die „Aufmerksamkeit“ sich alsbald wieder erholt.

2. Der Tastraum der Blinden

Es ist für den Sehenden sehr schwer, sich zu veranschaulichen, was eine Mehrheit von Tastempfindungen ihm von der Außenwelt mitteilt. Will man sich darüber Rechenschaft geben, so drängen sich stets die Angaben des Gesichtsinnes dazwischen. Man wird darum besser die Blindgeborenen befragen. Da ist nun entgegen vereinzelten Ansichten älterer Psychologen vor allem festzustellen, daß die Blindgeborenen allmählich zu einer Raumanschauung in demselben Sinne wie die Sehenden gelangen. Operierte Blindgeborene sind nämlich durchaus nicht der Ansicht, daß sie mit der nunmehr[S. 98] optisch vermittelten Raumanschauung etwas absolut Neues in sich aufnähmen. Ebenso spricht dagegen die Existenz blindgeborener Mathematiker, die sich ohne besondere Schwierigkeit die doch aus dem anschaulichen Raum gewonnenen geometrischen Begriffe aneignen. Auch die Modellier- und Schnitzleistungen Blindgeborener wären ohne persönliche Raumanschauung kaum zu verstehen.

Mit der Raumanschauung ist nun zunächst gegeben, daß eine Vielheit benachbarter Tastempfindungen einen flächenhaften Eindruck bewirkt. Allerdings ist die simultane Erfassung der Flächen nicht sonderlich entwickelt. Viel leichter ist die Erkennung punktförmiger Eindrücke, weshalb auch die dem Blinden am meisten entsprechende (Braillesche) Schrift punktförmige Reize verwertet, die in der Zahl von 1 bis 6 nach Art der Dominofiguren angeordnet sind. Um die Form eines flächenhaften Reizes, etwa eines Polygons aus Karton, zu erkennen, führt der Blinde Tastzuckungen längs der Umrisse aus. Damit verwandelt er freilich die simultane Auffassung in eine sukzessive und führt gleichzeitig höhere psychische Prozesse ein, die wir jetzt noch nicht analysieren können. Körperliche Objekte kleineren Umfanges lehrt ihn das umschließende Tasten kennen. Hier treten zu den Eindrücken des Hautsinnes diejenigen der Bewegungssinne. Zweifellos vermag der Tastsinn allein eine Anschauung von der dritten Dimension nicht zu geben. Ebenso sicher ist die Mitwirkung des kinästhetischen Apparates. Wie jedoch im einzelnen die dreidimensionale Raumanschauung des Blinden zustandekommt, ist uns noch weniger durchsichtig, als es bei dem Gesichtssinn der Fall war. Zur genaueren Untersuchung der räumlichen Verhältnisse dienen sodann bei kleineren Maßen die Finger mit ihren Konvergenzbewegungen, bei größeren die ebenso fungierenden Arme. Damit ist auch der Umfang des vom Blinden leicht zu beherrschenden Anschauungsraumes gegeben. Größere Räume kann er durch Schrittbewegungen in die Länge und Breite sowie durch Steig- oder Kletterbewegungen in die Höhe oder Tiefe ausmessen, doch vermag er diese Eindrücke nur schwer zu einem geschlossenen anschaulichen Bild zu vereinigen. Der Tastsinn ist eben[S. 99] ein Nahsinn. Der Blinde hilft sich deshalb mit der „Tastraumzusammenziehung“. Er verkleinert in seiner Anschauung die Objekte und stellt sie sich in ihren Proportionen nach Art der von Hand und Arm unmittelbar erfaßten vor.

Literatur

Näheres über die hier berührte Blindenpsychologie bei J. Fröbes I, 2. Aufl., S. 361 ff.

3. Theorie des Tastraumes

Zwei Probleme sind hier zu lösen. Zuerst das Problem der Raumschwelle: Warum läßt sich zwar an jedem Punkt der Haut, praktisch genommen, eine Tastempfindung auslösen, während die Berührung zweier Punkte nur dann zwei Eindrücke verursacht, wenn die beiden Punkte eine bestimmte Entfernung haben?

E. H. Weber erdachte zur Beantwortung dieser Frage die Theorie der Empfindungskreise. Je ein Tastnerv ist einem bestimmten Hautkreis zugeordnet. Alle Reizungen innerhalb dieses Kreises erregen den gleichen Nerv, bedingen somit dieselben Tastempfindungen und bleiben deshalb ununterscheidbar. Das stimmt recht gut zu dem anatomischen Befund einzelner Druckpunkte und erklärt auch die Tatsache, daß nur in einer gewissen Distanz zweier Druckreize zwei Tasteindrücke entstehen. Allein die Raumschwelle müßte nach dieser Theorie an derselben Hautstelle beträchtlich schwanken. Denn berührten die Zirkelspitzen die beiden Empfindungskreise dort, wo sie mit ihrer Peripherie zusammenstoßen, so müßte eine verschwindend kleine Schwelle gefunden werden, während sie unvergleichlich zunähme, wenn sie zwei möglichst entfernte Punkte träfen. Weber änderte darum später seine Theorie dahin ab, daß er jeden Empfindungskreis aus einer Anzahl Elementarkreise bestehen läßt und zur Entstehung eines zweiten gesonderten Eindruckes verlangt, daß zwischen den beiden Reizstellen eine gewisse Zahl von Elementarkreisen eingeschlossen werde. So wird er zwar den Tatsachen gerecht, doch kann er sich für diese Zusatzhypothese nicht auf anatomische Befunde berufen.

Das Problem ist jedoch genau wie das des binokularen Einfachsehens psychologisch zu lösen (vgl. S. 81 f.). Gleiche Sinnesmeldungen bedingen nur ein psychisches Ding. Die Tastqualität aus räumlich benachbarten Tastnerven ist nun nahezu gleich. Solange sie sich darum nicht mit verschiedenartigen[S. 100] Eindrücken anderer Sinne verbinden kann (vgl. S. 111 ff.), bietet sie nicht die Grundlage zu einer Mehrheitsunterscheidung.

Zweitens hat die psychologische Theorie zu erklären, welcher Art die elementaren Raumeindrücke sind und wie aus diesen Elementen sich zuletzt der psychische Inhalt des Tastraumes ergibt. Auch hier streitet der extreme Empirismus mit einem gemäßigten Nativismus. Die oben ausführlicher dargestellte Theorie Lotzes von den Lokalzeichen und ihre Abänderung durch Wundt wird mit nur geringen Variationen auf den Tastraum angewendet. Nach ihnen enthält die elementare Tastempfindung nichts von Ausdehnung. Aber jede einzelne Tastempfindung hat je nach der Körperstelle, auf der sie ausgelöst wird, eine charakteristische Abtönung infolge der Mitempfindungen, die an jedem Teil des Körpers andere sind — eine bis zu gewissem Grade zutreffende Annahme. Die Raumwerte erwachsen diesen Tastempfindungen nur durch die erfahrungsmäßige Verbindung mit den visuellen Ortsvorstellungen: bei Reizung einer bestimmten Körperstelle wird eine qualitativ charakteristische Tastempfindung hervorgerufen, und diese weckt die visuelle Vorstellung von dem betreffenden Körperteil. Indes auf diesem Wege könnten Blindgeborene niemals zu einer Tastraumvorstellung gelangen.

Wundt gesellt darum auch hier den qualitativ eigenartigen Tastempfindungen die Bewegungsempfindungen oder genauer die Innervationsgefühle bestimmter Bewegungen zu, die von den Tastempfindungen angeregt würden. Die „psychische Synthese“ beider soll dann auch hier eine Raumanschauung erzeugen. Die innere Unwahrscheinlichkeit dieser Theorie ist natürlich beim Tastraum nicht geringer als beim Sehraum.

Man wird deshalb auch hier genau wie bei der optischen Raumwahrnehmung ein nativistisches Grundkapital zugestehen müssen. Die einzelne Tastempfindung liefert an sich schon eine räumliche flächenhafte Ausdehnung. Daß sich diese Flächenelemente nebeneinander legen, und zwar in[S. 101] einer bestimmten und gleichmäßigen Richtung, erklärt sich wie beim Auge (s. S. 83).

Bisher haben wir nur die Raumanschauung des Blindgeborenen berücksichtigt. Um die des Sehenden völlig zu verstehen, müssen wir zuvor von einer Gruppe seelischer Inhalte sprechen, die uns als solche bisher noch nicht bekannt wurden, wenn wir auch nicht umhin konnten, sie gelegentlich zu streifen: die Vorstellungen.

Literatur

C. Spearman, Fortschritte auf dem Gebiet der räumlichen Vorstellungen. ArGsPs 8 (1906).

O. Klemm, Über die Lokalisation von Schallreizen. 6. CgEPs (1914).

[S. 102]

DRITTER ABSCHNITT
Die absoluten Vorstellungen

Ohne jede erkenntnistheoretische Überlegung ist dem Bewußtsein auch des primitiven Menschen oder des Kindes gegeben, daß zwischen den äußeren Geschehnissen und unseren Eindrücken ein gewisser Zusammenhang besteht: zündet man vor meinen Augen ein Streichholz an, so sehe ich eine Flamme; setzt man ein Musikinstrument in Tätigkeit, so vernehme ich Töne. Wir stellen aber auch fest, daß das Gegenstandsbewußtsein bisweilen Inhalte erlebt, für deren Erscheinen sich kein äußerer Reiz verantwortlich machen läßt. Es können uns auch bei geschlossenen Augen und im Traum Dinge sichtbar erscheinen, oder wir können Melodien hören, die allem Anschein nach nicht in der Außenwelt erzeugt werden. Solche Erlebnisse des Gegenstandsbewußtseins, die nicht unmittelbar von einem äußeren, oder genauer gesprochen von einem peripheren Sinnesreiz abhängig sind, bezeichnet man als Vorstellungen. Um jedoch auszudrücken, daß wir hier von diesen Erlebnissen sprechen, insofern sie noch nicht von der Seele weiterhin bearbeitet sind, heißen wir sie die absoluten Vorstellungen, ein Ausdruck, der erst später ganz verständlich gemacht werden kann.

Um die Einteilung dieser Vorstellungen in Erinnerungs- und Phantasievorstellungen kümmern wir uns hier ebensowenig wie um ihren Ursprung. Nur das sei als allgemein zugestandene Erfahrungstatsache erwähnt, daß zum wenigsten die Elemente dieser Vorstellungen ursprünglich infolge peripherer Sinneserregung im Bewußtsein erweckt worden sein müssen; denn Blindgeborene können sich von keinen Farben, Taubgeborene von keinen Tönen eine Vorstellung machen. Im übrigen beachten wir an dieser Stelle nur die inhaltlichen Eigenschaften.

[S. 103]

Als charakteristische Eigenschaft pflegt man da zunächst die „Blässe“ und „Mattigkeit“ der Vorstellungen zu betonen. Und im allgemeinen werden auch die unmittelbar von dem äußeren Reiz abhängigen Eindrücke unvergleichlich lebhafter sein als die nur mittelbar reizbedingten. Allein man hat diese Blässe doch zu sehr betont. Solange die Psychologie nur auf den dürftigen Selbstbeobachtungen der Philosophen aufgebaut wurde, pflegte man allen Menschen so matte Vorstellungen zuzuschreiben, wie sie den in abstrakten Gedankengängen sich bewegenden Philosophen eigen sind. Sobald man aber mit Fechner und später mit Galton auch Angehörige anderer Berufe nach ihren Vorstellungen befragte, ergab sich, daß manchmal die Lebhaftigkeit der Vorstellungen nicht geringer war als die der Wahrnehmungen. Insbesondere hatte man angezweifelt, daß die in die Vorstellungen eingehenden Empfindungsinhalte in dem gleichen Sinne Intensität besäßen wie die reizbedingten Empfindungen. Man konnte das um so eher bezweifeln, als bei dem gewöhnlichen Gebrauch der Vorstellungen der Empfindungsinhalt stark vernachlässigt wird. Sind uns die schematischen Umrisse einer Vorstellung gegeben, so haben wir in der Regel genug für unsere geistige Arbeit, zu der wir jene Vorstellungen benötigen. Es wäre Zeit- und Energievergeudung, wollten wir noch die verschiedenen Empfindungsinhalte zur ursprünglichen Intensität ansteigen lassen. Und je abstrakter unser Denken wird, um so mehr dürfen wir die Empfindungsinhalte vernachlässigen, um so mehr wird uns aber auch die Befähigung zum intensiven anschaulichen Vorstellen verloren gehen. Läßt man jedoch die Empfindungsinhalte der Vorstellungen sich entwickeln, so zeigen sie die gleiche Art der Intensität wie die unmittelbar durch einen peripheren Sinnesreiz hervorgerufenen. So ließ Schaub dargebotene Klänge vorstellen und dann die Intensität dieser Vorstellungen mit der Intensität des zum zweiten Mal dargebotenen Reizes vergleichen. Die Aufgabe wurde von allen Versuchspersonen gelöst, was nicht möglich wäre, ginge den Vorstellungen eine wahre Intensität ab, und öfters wurde in der Vorstellung dieselbe Intensität erreicht wie in der Wahrnehmung. Das stimmt auch ganz dazu, daß bei den anderen reizunabhängigen Erlebnissen, beim Traum und in der Halluzination, vollste Intensität und Lebendigkeit erlebt wird.

Sodann macht man auf die Flüchtigkeit und Unbeständigkeit der Vorstellungen aufmerksam. Die Standuhr auf meinem Schreibtisch bleibt in unveränderter Weise stehen. Solange ich sie anblicke, habe ich den nämlichen klaren Eindruck. Anders, wenn ich den Blick abwende und die Uhr vorstelle. Da wird das Bild gar bald verschwinden, um von einem andern verdrängt zu werden, oder auch nach einer Zwischenzeit wieder aufzutauchen. Zweifellos ist die Unbeständigkeit eines der gewöhnlichsten Kennzeichen der Vorstellung. Nur darf man nicht behaupten, jede Wahrnehmung sei beständig und jede Vorstellung unbeständig. Namentlich Wahrnehmungen geringer Intensität — etwa das Ticken einer vom Ohr entfernten Taschenuhr — schwanken[S. 104] außerordentlich, während anderseits Vorstellungen eine geradezu belästigende Konstanz erlangen können. Namentlich gilt das von krankhaft fixierten Vorstellungen. Ähnliches ist über die Lückenhaftigkeit dieser Bewußtseinsinhalte zu sagen: für gewöhnlich sind die Vorstellungen inhaltsarm und unvollständig; allein einen grundsätzlichen Unterschied gegenüber der Wahrnehmung bedingt das nicht. Denn jeder einzelne Zug in dieser kann Inhalt einer Vorstellung werden. In der Tat findet man bei besonders vorstellungsbegabten Individuen eine erstaunliche Fülle der inneren Bilder. So soll ein französischer Porträtmaler imstande gewesen sein, nach einer halbstündigen Sitzung ein Porträt aus dem Gedächtnis zu malen und auf diese Weise an 300 Bilder im Jahre ausgeführt haben. Noch ausgesprochener begegnet man den naturgetreuen Vorstellungen im Traum und in der Halluzination. Freilich täuscht sich der in der psychologischen Beobachtung Ungeschulte leicht über die Ausführlichkeit seiner Vorstellungen, indem er anschaulich vorzustellen meint, was er in Wirklichkeit nur unanschaulich über den Gegenstand weiß, oder indem er Surrogatvorstellungen für echte hält. So vermeint mancher, einen Geruch vorzustellen, während er in Wirklichkeit nur weiß, wie das Objekt riecht und gleichzeitig Schnüffelbewegungen ausführt. Oder man versucht, anschaulich Schmerz zu erleben, stellt sich in Wahrheit aber nur Körperbewegungen vor, welche die Begleiterscheinung des Schmerzes bzw. seine Ausdrucksbewegungen wären, oder macht gar Ansätze zu ihnen.

Die Vorstellungen sind ferner häufig von dem Bewußtsein der Anstrengung oder der Tätigkeit des Subjektes begleitet. Bemühen wir uns nicht um sie, so entstehen sie sehr oft nicht oder verschwinden bzw. verändern sich gar bald. Aber wesentlich ist eine solche Tätigkeit dem Vorstellungserlebnis nicht. Bekannt sind ja die Zwangsvorstellungen, die uns gegen unseren Willen verfolgen, und dem rechten Künstler stehen die Kinder seiner Muse in der Regel ungerufen vor der Seele. Anderseits drängen sich auch die Wahrnehmungen uns nicht immer auf, sondern fordern, namentlich wenn sie von geringer Intensität sind, die Anspannung der Aufmerksamkeit.

Lange Zeit hielt man es für ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal von Wahrnehmung und Vorstellung, daß erstere im objektiven, letztere im subjektiven oder im Vorstellungsraum lokalisiert sei. Sehr viele Menschen richten in der Tat die Aufmerksamkeit nach innen, gewissermaßen in das Innere ihres Kopfes, wenn sie Vorstellungen erzeugen wollen. Auch scheinen namentlich die Vorstellungen kleiner und vereinzelter Gegenstände umgebungslos in einem nebelartigen Raum zu schweben, dem „Vorstellungsraum“. Indes sehen Vorstellungsbegabte häufig die vorgestellten Dinge unmittelbar vor sich im objektiven Raum, können sie bei offenen Augen an einen beliebigen Ort lokalisieren (die „Eidetiker“ Jaenschs), und auch den[S. 105] weniger Begabten gelingt es auf jeden Fall, ergänzende Teilvorstellungen mit dem wahrgenommenen Objekt zu verbinden und auf diese Weise im wirklichen Raum vor sich zu sehen. Das Isolierterscheinen kleiner Gegenstände dürfte nur auf einer unvollendeten Reproduktion beruhen.

Wie der Vorstellungsraum eingehender experimenteller Untersuchung gegenüber nicht standhält, so muß auch das den Vorstellungen oft zugeschriebene Merkmal der Bildhaftigkeit preisgegeben werden. Bei der normal entwickelten Vorstellung hat man durchaus nicht den Eindruck, ein Bild vor sich zu haben, sondern man glaubt dem Ding selbst gegenüberzustehen.

So ergibt sich also, ganz im Gegensatz zu den früheren Anschauungen, daß sich die Eindrücke, die unmittelbar durch periphere Sinnesreizung hervorgerufen werden, in keinem Stücke prinzipiell von den nur mittelbar reizbedingten unterscheiden. Es gibt keine Eigenschaft der Wahrnehmungen, die nicht auch an den Vorstellungen nachzuweisen wäre, und umgekehrt findet sich keine Eigentümlichkeit der Vorstellung, die nicht ebenso einer Wahrnehmung anhaften könnte. Die praktische Scheidung beider Erlebnisse wird nun dadurch ermöglicht, daß gewisse Züge bei der Wahrnehmung und andere bei der Vorstellung für gewöhnlich stärker ausgeprägt sind. Das gilt freilich nur für die Durchschnittswahrnehmungen und -vorstellungen. Gewisse schwächere Wahrnehmungen können allein auf Grund ihres anschaulichen Inhaltes nicht von den Vorstellungen, gewisse lebhaftere Vorstellungen nicht von den Wahrnehmungen unterschieden werden. Hier helfen nur verstandesmäßige Überlegungen. Wie wir später noch sehen werden, nimmt übrigens die Seele die absoluten Wahrnehmungen und die absoluten Vorstellungen in Arbeit und ermöglicht so ein leichtes und sicheres Unterscheiden beider. Diese verarbeiteten Erlebnisse meint man in der Regel, wenn man von Wahrnehmung und Vorstellung schlechthin spricht.

Die Fähigkeit, Vorstellungen in sich wachzurufen, ist nicht bei allen Individuen gleich groß. Zu diesem Unterschied tragen ursprüngliche Anlage und Übung bei. Wie Jaensch und Kroh fanden, ist die „eidetische“ Anlage verhältnismäßig oft bei Jugendlichen anzutreffen, doch nicht[S. 106] in allen Gegenden gleich häufig. Außerdem differenzieren sich die Individuen noch dadurch, daß die Vorstellungsfähigkeit nicht auf allen Sinnesgebieten gleich mächtig ist. Einzelne sind imstande, mit Leichtigkeit Gesichtsvorstellungen zu erzeugen, bei andern sind die inneren Gehöreindrücke gut ausgebildet, andere wiederum stellen sich leicht Bewegungen vor. Je nachdem eines dieser Sinnesgebiete einseitig entwickelt ist, spricht man von dem visuellen, dem akustischen und dem motorischen Typus. Nur ganz selten findet man Vertreter eines ausgesprochenen Typus, doch pflegt bei den meisten Menschen eine der drei Seiten bevorzugt zu sein. Da, wie erwähnt, auch die Übung von Bedeutung ist, versteht man, daß für das Gebiet der Wortvorstellungen der akustische Typ, für die Sachvorstellungen der optische vorherrscht. Auf dem Gebiete des Geruches, Geschmackes und des Hautsinnes ist das Vorstellungsleben des Menschen nur sehr schwach entwickelt, vielleicht sogar zurückgebildet. Es lohnt sich darum nicht, hier nach besonderen Vorstellungstypen zu suchen.

Literatur

J. Segal, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen. Münchener Stud. 4. Heft. 1916.

J. Lindworsky, Wahrnehmung und Vorstellung. ZPs 80 (1918).

O. Kroh, Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen. 1922.

[S. 107]

VIERTER ABSCHNITT
Verbindung der Vorstellungen mit Empfindungen und Empfindungskomplexen

Ebensowenig wie eine systematisch durchgeführte Erforschung der Empfindungskomplexe steht uns eine solche für die Verbindung von Empfindungen und Empfindungskomplexen mit Vorstellungen zu Gebote. Wir können darum nur an einzelnen Beispielen das Ergebnis einer solchen psychischen Synthese veranschaulichen.

1. Die Synästhesien

Manche Personen berichten, daß ihnen beim Hören von Vokalen oder auch beim Sehen von Schriftzeichen bestimmte Farben mitgegeben sind. So erschien Fechner der Vokal e gelb, a weiß, u schwarz, der Trompetenton rot, der Flötenklang blau. Genauere Erhebungen über dieses sog. Farbenhören ergaben die mannigfachsten Abarten dieser nicht allzu seltenen Erscheinung. Es zeigt sich bei den verschiedenen mit ihr begabten Persönlichkeiten keinerlei Konstanz der Paarung von Klängen und Farben. Auch sieht der eine die Farben an dem Schriftbild, der andere an der Tonquelle, ein dritter irgendwo im Außenraum. Auch die Deutlichkeit der Farben ist wechselnd. In einem extremen Fall (Lemaitre) sollen sie sogar das Sehen der Umgebung gestört haben: wenn andere sprachen, konnte der Betreffende sein Bild im Spiegel nicht sehen. Andere erblicken beim Anhören musikalischer Gebilde charakteristisch wechselnde Figuren. In den gleichen Zusammenhang gehören die sog. sekundären Geschmacksempfindungen beim Sehen einer Speise, das Hören des Windes beim Anblick eines im Gemälde dargestellten Sturmes u. dgl.

Man hat die Erklärung der Synästhesien früher mehr auf physiologischem Gebiet gesucht. Eine enge Verbindung der den einzelnen Empfindungen zugehörigen Teile des nervösen Zentralorgans[S. 108] sollte überhaupt die allgemeine Tendenz einer jeden Sinneserregung begründen, in benachbarte Gebiete überzustrahlen. Wo immer zu dieser allgemeinen Tendenz noch eine individuelle Veranlagung zur leichten Ansprechbarkeit des zentralen Apparates hinzukomme, da würden sich die Sekundärempfindungen einstellen. Indes, wenn dem so wäre, müßte sich doch eine weit größere Übereinstimmung in der Verbindung bestimmter Klänge mit bestimmten Farben beobachten lassen. Statt dessen ist häufig der Ursprung der Erscheinung aus der Erfahrung des Individuums nachweisbar. So, wenn beim Ton eines Instrumentes gerade jene Farbe gesehen wird, die dem Instrument selbst eigentümlich ist, oder wenn die Vokalfarbe sich mit der Muttersprache verändert. Wenn vollends Monats- oder Tagesnamen, genau so wie sonst die einfachen Vokale, charakteristische Farben annehmen, dann kann von einem physiologischen Zusammenhang schon gar nicht mehr die Rede sein. Die naturgemäßeste Erklärung ist darum die aus der Verbindung jener Wahrnehmungen mit den Vorstellungen der betreffenden Farben. In der Lebenserfahrung des Individuums haben sich infolge besonderer Umstände einmal die Wahrnehmungen gewisser Klänge mit der Wahrnehmung bestimmter Farben verbunden. Nach den später noch zu besprechenden Assoziationsgesetzen ruft dann die erneute Wahrnehmung des Klanges die Vorstellung der damals gleichzeitig gesehenen Farbe wach. Psychologisch bedeutsam ist hier, daß in solchen Fällen die Vorstellung sehr lebhaft wird und die Intensität der Klangempfindung erreicht, weshalb man ja auch von Sekundär- oder Pseudoempfindungen spricht. Eine Schwierigkeit liegt jedoch darin nicht, wir sahen ja schon, daß die Vorstellung nicht notwendig hinter der Intensität der Empfindung zurückbleiben muß.

Literatur

E. Bleuler, Zur Theorie der Sekundärempfindungen. ZPs 65.

K. Lenzberg, Zur Theorie der Sekundärempfindungen und zur Bleulerschen Theorie im besondern. ZaPs 21.

2. Erscheinungsweisen der Farben

Betrachtet man die eintönige Farbe eines Gegenstandes, etwa einer mit buntem Papier überzogenen Pappschachtel, das eine Mal mit freiem Auge und das andere Mal durch einen durchlochten Schirm derart, daß man nur die farbige Fläche erblickt, die Form und die Stellung des Gegenstandes jedoch nicht zu erkennen imstande ist, so wird man einen namhaften Unterschied gewahr werden. Bei freier Betrachtung hat die Farbe eine feste Lokalisation, erscheint selbst wie etwas Festes und weist u. U. Glanz oder Lichter auf. Durch einen Schirm gesehen, verliert sie die bestimmte Lokalisation, die Farbe scheint uns frontalparallel gegenüberzustehen, gewinnt an Zartheit,[S. 109] tritt nicht als Eigenschaft eines anderen Dinges auf und erlaubt dem Blick, gewissermaßen in sie einzudringen. Katz, der diese Unterschiede zuerst eingehend erforschte, spricht von verschiedenen Erscheinungsweisen der Farben und nennt die frei gesehenen „Oberflächenfarben“, die anderen „Flächenfarben“. Wir haben es da nicht mit anderen Empfindungen zu tun, sondern mit der Modifikation dieser Empfindungen infolge des Hinzutretens der Vorstellungen. Es können nämlich alle von den oben (S. 20) beschriebenen Farbenempfindungen abweichenden Erscheinungsweisen der Farben durch Betrachten mit einem Schirm auf die Empfindungen des Farbenoktaeders zurückgeführt werden. Ohne diese Reduktion jedoch lassen sie sich nicht in die Qualitätenreihen des Farbenoktaeders einreihen. Namentlich zeigen sie eine ganz neue, bei den Empfindungen nicht zu entdeckende Qualität: die Ausgeprägtheit der Farbe. Die nämliche Farbe erscheint als Oberflächenfarbe, in verschiedener Entfernung von der Lichtquelle gesehen, verschieden stark ausgeprägt, in größerer Entfernung gewissermaßen „mit Dunkelheit verhüllt“. — Entsprechende Erscheinungsweisen hat Katz bei den Tast- und Henning bei den Geruchserlebnissen gefunden.

Obwohl bei wechselnder Beleuchtung die Gegenstände sehr verschiedenartige Reize ins Auge senden, erscheinen sie uns im allgemeinen nicht verändert: ein Stück Kohle in der Mittagssonne erscheint schwarz, ein Blatt Papier in der Dämmerung weiß, und doch reflektiert ersteres vielleicht mehr Licht als letzteres. Diese Konstanz der Farben suchte Hering durch die „Gedächtnisfarben“ zu erklären: wir haben von den uns geläufigen Dingen Standardvorstellungen, und diese verbinden sich mit den objektiven Eindrücken und meistern sie. Dazu treten noch andere Faktoren wie die Pupillenerweiterung bei abnehmender Helligkeit und die Kontrastwirkung (s. S. 29).

Allein da wir auch bei unbekannten Objekten die wechselnde Beleuchtung gleichsam in Rechnung stellen, befriedigt diese Theorie nicht ganz. Katz versuchte eine Aufmerksamkeitstheorie, und Bühler will neuerdings die Wahrnehmung der Farbe eines Objekts von der seiner Beleuchtung ganz trennen (Zweifaktorentheorie). Eine Entscheidung ist heute noch nicht möglich. Nur andeutungsweise und bildhaft läßt sich sagen, in welche Richtung die geklärten Tatsachen und die fruchtbaren Gesichtspunkte aller Theorien weisen: Wir „sehen“ nicht so sehr die Dinge, wir bauen sie vielmehr draußen auf. Zu jeder Empfindung tritt etwas Vorstellungsmäßiges hinzu: was und wieviel, das regelt sich durch den Gesamteindruck und die Einstellung des Subjektes. In dem Maße, als wir die Anhaltspunkte zum Aufbau des Sehdinges verlieren (später können wir statt dessen sagen: in dem Maße, als das Reproduktionsmotiv, z. B. durch den Doppelschirm, verringert wird, s. S. 154 f.), kommen die Empfindungen als solche zur[S. 110] Geltung. Die Geschwindigkeit der hier stattfindenden Vorstellungserweckung reicht zum Aufbau des Sehdinges vollkommen aus.

Während also im Fall der Synäthesien die Vorstellung der Wahrnehmung mehr äußerlich anhaftet, greift sie bei den soeben besprochenen Erscheinungen abändernd in die Wahrnehmung ein, ergänzt gewissermaßen die Wahrnehmung, und zwar teilweise entgegen dem objektiven Sachverhalt. Die gleiche Rolle spielt die Vorstellung bei der Illusion: eine Wahrnehmung wird durch die hinzutretenden Vorstellungen derart ergänzt, daß wir uns über den Gegenstand täuschen. Ein im Finstern gesehener Baumstrunk erscheint als Wegelagerer. Wir haben es hier übrigens nicht mit Ausnahmefällen zu tun. Die eingehendere experimentelle Forschung und zuverlässige Gelegenheitsbeobachtungen ergeben, daß praktisch zu allen Wahrnehmungen des psychisch fertigen Menschen ergänzende Vorstellungen hinzutreten.

Es wäre nun eine ganz schiefe Auffassung, wollte man meinen, die Rolle der ergänzenden Vorstellungen sei im allgemeinen eine störende. In der Mehrzahl der Fälle ist sie eine überaus fördernde. Wie man unter Berücksichtigung der später zu behandelnden Assoziationsgesetze leicht erkennen kann, vervollständigen die Vorstellungen die unvollkommenen Wahrnehmungen in der Regel ganz im Sinne des objektiven Sachverhaltes und ermöglichen darum eine Kraftersparnis bei den Wahrnehmungsprozessen. Wir entdecken nur die alle unsere Wahrnehmungen beständig begleitenden Vorstellungen nicht, solange sie mit dem objektiven Sachverhalt übereinstimmen, werden aber auf sie aufmerksam, wenn sie uns gelegentlich in die Irre führen.

Literatur

D. Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben. 1911.

K. Bühler, Die Erscheinungsweisen der Farben. 1923.

3. Die Sehgröße

Auch in die so rätselhaften Erlebnisse des Größeneindruckes kommt Klarheit, wenn wir sie als Verschmelzungsprodukte von peripher bedingten Empfindungskomplexen mit den absoluten Vorstellungen auffassen. Unterscheiden wir zunächst die wirkliche, in Metern angebbare Größe eines Gegenstandes von der geschätzten, d. h. der vermuteten wirklichen, und der scheinbaren, der Sehgröße. Nur mit dieser haben wir es zu tun. So erscheint uns der Mond am Horizont groß, im Zenit klein, obwohl die Entfernung und der Sehwinkel beidemal unverändert bleiben. Einem tieferen Verständnis dieser und ähnlicher Erlebnisse steht nun das Wort „Sehgröße“ im Wege. Größe als Erlebnis setzt[S. 111] immer Verhältniserfassungen, also gedankliche Elemente voraus. Da aber die Tiere ähnliche „Größeneindrücke“ zu haben scheinen, müssen wir uns nach einem andern Terminus umsehen und sprechen statt von der Größe von der Mächtigkeit einer Ausdehnung im Gesichtsfeld. Innerhalb desselben Raumes ist die Mächtigkeit einer Ausdehnung um so größer, je größer der zugehörige Sehwinkel ist.

In den ersten Jahren seines Lebens lernt nun das Kind ein Doppeltes: Es lernt verschiedene Räume kennen, und zwar Räume von typischer Verschiedenheit. Erlaubt man eine etwas krasse Typisierung, so könnte man von einem Stubenraum, einem Straßenraum und einem Landschaftsraum sprechen, ähnlich wie man von einem Finger-, Arm- und Schrittraum beim Blinden redet. Zweitens lernt das Kind innerhalb eines jeden Raumes die Mächtigkeit anschaulich kennen, die den einzelnen Teilen des Gesichtsfeldes entspricht: die Türe hat eine andere Mächtigkeit als die Wand, das Haus eine andere als die Straße. Dies „anders und anders“ besagt jedoch keinen Vergleich, sondern nur, daß bald diese, bald jene anschaulichen Vorstellungen geweckt werden, wie sie etwa beim Abtasten und Abschreiten gewonnen wurden. Fügen wir nun hinzu, daß nach den Assoziationsgesetzen durch die peripher bedingten Empfindungskomplexe bald diese, bald jene Raumvorstellung geweckt wird und mit ebendiesen Empfindungskomplexen verschmilzt, so haben wir die einfache Formel für alle Größeneindrücke und -täuschungen gefunden, die uns mit den Tieren gemeinsam sind.

Durchgehen wir einige Erscheinungen. Wohlvertraute Gegenstände erscheinen im Nahraum nicht kleiner, auch wenn sie sich entfernen und somit ihr Sehwinkel kleiner wird; sie verbleiben im Nahraum, wo ihre Mächtigkeit uns wohlbekannt ist. Betrachten wir ein Bild an der Wand durch einen verstellbaren Rahmen, den wir bald in diese, bald in jene Entfernung vom Auge bringen, so sehen wir dasselbe Bild beim nämlichen Sehwinkel und derselben objektiven Entfernung bald größer, bald kleiner, bald näher, bald ferner, je nach der Raumvorstellung, die mit Hilfe des vorgehaltenen Rahmens geweckt wird. Aus demselben Grunde erscheinen uns Inschriften innerhalb eines beleuchteten Tramwagens bisweilen als riesige Mauerplakate, wenn ihr Spiegelbild auf eine Häuserwand projiziert wird. v. Sterneck[S. 112] hat darum das ganze Problem der Sehgröße, ähnlich wie wir, doch mit der Annahme von „Referenzflächen“ lösen wollen. Aber von solchen Referenzflächen wissen wir z. B. bei der Betrachtung des Mondes im Zenit nichts. Die Referenzfläche ist eben nur ein Bestandstück des vorgestellten Raumes, das fehlen kann. Warum erscheint uns also der hochstehende Mond kleiner als der niedrig stehende? Weil unsere Erfahrung in der senkrechten Richtung uns nicht die nämlichen Raumvorstellungen liefert wie in der wagrechten. Haben wir hier einen Stuben-, Straßen- und Landschaftsraum kennen gelernt, so wird uns dort nur ein Stuben- und Haus- oder Turmraum geläufig. Der hochstehende Mond gewinnt darum nur die Mächtigkeit, die seinem Sehwinkel im zweiten Raum entspricht, während er am Horizont die Mächtigkeit des dritten Raumes erlangt. Übrigens erleben wir die gleiche Erscheinung auch bei irdischen Gegenständen. Ich sah den zierlichen Adler vom Bismarcksturm am Starnbergersee als einen erschreckend großen Vogel auf dem Kamm eines nahen Hügels stehen, als der Turm, auf dem er thront, von diesem Hügel verdeckt wurde. Ob sich übrigens diese Größentäuschung bei Fliegern, die ja auch Erfahrungen beim senkrechten Aufsteigen sammeln, vermindert?

Unsere ganze Erklärung wird indes von einem Einwand bedroht. Nach dem Gesagten muß die Mächtigkeit bekannter Objekte in allen Räumen die nämliche bleiben, und doch erscheinen uns die Menschen, von der Galerie eines Theaters oder von einem hohen Berg gesehen, als Puppen. Nun, hier handelt es sich auch wieder um die uns unbekannte Höhenrichtung, für die uns keine geläufige Raumvorstellung zu Gebote steht, ja, wir bringen sogar häufig an diese Eindrücke die Vorstellung des Nahraumes heran, z. B. wenn sie von dem Aufsteigen im Treppenhaus noch im Bewußtsein steht. In der horizontalen Richtung hingegen begegnet uns dieser frappante Kleinheitseindruck solange nicht, als wir nicht mit den Denkprozessen an die Sehdinge herantreten und eigentliche Vergleiche anstellen. Solche Vergleichungen der Sehgröße eines fernen Gegenstandes mit einem nahen sind bekanntlich schwierig und ergeben sehr abweichende Urteile, weil die Mächtigkeit eines Sehdinges nur durch Einbeziehung in einen bestimmten Raum zur vergleichbaren Größe wird, dieser Raum aber keine scharf begrenzte, objektive Größe ist.

Literatur

A. Müller, Die Referenzflächen des Himmels und der Gestirne. 1918.

4. Die nicht-optische Raumanschauung des Sehenden
a) Ortssinn und Lagewahrnehmung

Werden wir an irgendeiner Körperstelle berührt, so können wir im allgemeinen ziemlich genau den Ort der Berührung[S. 113] angeben. Man bezeichnet diese Fähigkeit als den Ortssinn. Daß diese Leistung nicht mit der des oben besprochenen Raumsinnes der Haut zusammenfällt, geht aus pathologischen Tatsachen hervor, wo bei normalem Ortssinn die simultane und selbst die sukzessive Raumschwelle abnorm hoch sind. In einem anderen Falle (Spearman) wurde sehr gut lokalisiert, während selbst sukzessive Reize an demselben Glied nicht auseinandergehalten werden konnten. Dennoch darf man sich den Ortssinn nicht als eine einfache seelische Fähigkeit denken. Er ist gewiß noch komplizierter als der Raumsinn, der sich vielleicht noch aus einfachen anatomischen Grundbedingungen verstehen läßt. Die Lokalisation eines Tastreizes erfolgt meist so, daß die Tastempfindung von einem schematischen visuellen Vorstellungsbild der betreffenden Körpergegend begleitet ist. Infolge der unbeschränkt häufigen Erfahrung brauchen wir aber, gemäß einem noch zu erwähnenden Assoziationsgesetz, nicht mehr bewußt auf die qualitative Eigenart der Tastempfindung zu achten, sondern unmittelbar an die betreffende Reizung schließt sich das visuelle Bild der gereizten Körperstelle an. Darum hängt auch die Genauigkeit der Lokalisation und selbst die Größenschätzung der von der Haut berührten Objekte von der Güte der Visualisation ab: wer bessere optische Vorstellungen von den berührten Körperteilen in sich erzeugen kann, lokalisiert besser und schätzt die Größen richtiger.

Die Leistungen des Ortssinnes möchten nach dem Gesagten wohl als nahezu selbstverständlich erscheinen und kein nennenswertes Problem einschließen. Allein man darf nicht vergessen, daß diese relativ einfachen Erklärungen erst in mühevoller Einzelforschung erarbeitet werden mußten, um allmählich die Auffassung von jener rätselhaften Fähigkeit der Tastnerven zu verdrängen, vermöge deren sie unmittelbar von jeder einzelnen Körperstelle Kunde bringen sollten.

Es bereitet nunmehr keine Schwierigkeit, eigenartige Täuschungen auf dem Gebiete des Tastsinnes zu verstehen. Verschiebt man die Lippen horizontal gegeneinander und berührt sie dann gleichzeitig mit einem vertikal gehaltenen Bleistift, so entsteht der Eindruck, es sei der Bleistift schräg geneigt (Czermak). Oder die bekannte aristotelische Täuschung: kreuzt man Zeige- und Mittelfinger und rollt mit den so gekreuzten Fingern ein Kügelchen, so glaubt man deutlich zwei Kügelchen unter den Fingern zu haben. Die Täuschung[S. 114] wird um so stärker, je weniger man auf die Lage der Finger achtet, und verschwindet, wenn man auf die Finger sieht. In beiden Fällen steht die durch die Erfahrung geleitete Meldung des Ortssinnes in Widerspruch mit dem wirklichen Sachverhalt und bedingt so eine falsche Auffassung, zu der allerdings außer dem Ortssinn noch höhere Funktionen mitwirken.

Hat der Ortssinn nur anzugeben, welche Körperstelle berührt wird, so wird uns in der Lagewahrnehmung außerdem noch vermittelt, welche Stellung im Raum ein Körperteil in dem Augenblick einnimmt, wo ihn ein Tastreiz trifft. Nach der trefflichen Analyse Spearmans besagt jede Lagewahrnehmung ein Dreifaches: 1) die Angabe des Ortssinnes, an welcher Stelle des Körpers der Reiz auftraf (die segmentale Bestimmung); 2) die Kunde über die von den Gelenken gebildeten Winkel (die artikuläre Bestimmung); 3) ein Wissen von der Länge der Zwischenglieder (die intermediäre Bestimmung). Über die segmentale Bestimmung ist nichts hinzuzufügen. Die intermediäre Bestimmung wird durch die festliegenden Vorstellungen des Gesamtkörpers besorgt. Schwierigkeiten bereitet nur die artikuläre Bestimmung, namentlich wenn man sie mit Spearman auf die Gelenkempfindungen zurückführt. Nach dem, was oben (S. 63 f.) über die kinästhetischen Empfindungen gesagt wurde, wird man auch hier vorerst statt der Gelenkempfindungen die vereinigten Wahrnehmungen der Haut- und Kraftempfindungen heranziehen müssen. Sie sind auch in der Ruhelage der Glieder vorhanden und können sich mit der visuellen Vorstellung von der Haltung des Gliedes verbinden.

Bei der experimentellen Untersuchung der Lagevorstellungen zeigte sich immer eine große Unmittelbarkeit in der Erkenntnis der Lage. Es brauchten nicht erst die Vorstellungen der zentralen Körperteile wachgerufen zu werden, damit von da aus eine Orientierung ermöglicht würde. Daraus schloß man auf eine direkte physiologische Assoziation, die sich zwischen einer bestimmten physiologischen Erregung der Gelenknerven und der Lagevorstellung ausgebildet hätte. Für die Möglichkeit solcher „physiologischer“ Assoziationen sprechen allerdings verschiedene Tatsachen. Allein die neueren Untersuchungen der Vorstellungen deuten doch darauf hin, daß diese schon in einem recht primitiven Stadium der Reproduktion außerordentlich viel zur Orientierung beitragen können. In der Tat berichten auch die Versuchspersonen Spearmans, die zentralen Körperteile seien konfus vorgestellt worden. Solange man unser ganzes Erkennen in die Vorstellungen verlegte, war man berechtigt, die Funktion bloß konfuser Vorstellungen gering zu bewerten. Heute, wo man wieder die Bedeutung eines von den Vorstellungen verschiedenen Denkens anerkennt und sich darüber klar ist, daß diese höhere Funktion bei der konkreten Lageerfassung nicht auszuschalten ist, wird man auch die Bedeutung der konfusen Vorstellung der zentralen Körperteile höher einschätzen müssen und[S. 115] vermutlich eine physiologische Assoziation entbehrlich finden. Die Unmittelbarkeit und Promptheit der Lokalisation verschlägt demgegenüber nichts; sie zeigt sich auch bei ähnlich gelagerten Verhältnissen, wie etwa bei dem später zu besprechenden Wortverständnis.

b) Die Raumlokalisation im allgemeinen

Die Grundtatsache der Verbindung der Vorstellungen mit Empfindungen macht nun ohne weiteres das allgemeine Lokalisationsgesetz verständlich: „Die Empfindung E wird an denjenigen Ort des Gesichtsraumes lokalisiert, dessen visuelle Vorstellung V durch die gegebene Empfindung E in das Bewußtsein eingeführt wird und mit ihr verschmilzt, sei es weil beide in der Erfahrung sich miteinander assoziiert haben, sei es weil V unter den gegebenen Umständen sich in einer besonders hohen Bereitschaft befindet“ (Fröbes).

Erinnert man sich nun hier des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergie, demzufolge ein Sinnesnerv stets mit der gleichen Empfindung antwortet, einerlei wie und wo er gereizt wird, so begreift man leicht folgende Tatsache: Bei durchbohrtem Trommelfell ist die hinter diesem liegende Chorda tympani einer unmittelbaren Reizung zugänglich. Reizt man nun diesen Nervenstrang, der auch Fasern des Geschmacksnerven führt, so vermeint man auf der Zunge zu schmecken. Ganz allgemein verlegen wir innere Reize der Empfindungsnerven an die uns aus der Erfahrung bekannten Orte der peripheren Reizung. Wenn man hier von einem „Gesetz der exzentrischen Projektion“ redet, darf man nicht glauben, wir nähmen den Reiz zuerst innerhalb der Nervenbahn wahr und verlegten ihn dann wieder hinaus an das Nervenende, sondern unmittelbar mit der Erregung des Nerven taucht das Bild der durch die Erfahrung bekannten normalen Reizungsstelle wieder auf. Es ist somit dieses Gesetz nur ein besonderer Fall des allgemeinen Lokalisationsgesetzes. Hiermit erklären sich auch einfach die bekannten Täuschungen Amputierter, die in den vielleicht schon Jahre lang abgenommenen Gliedern noch Schmerz und Druck u. ä. zu empfinden meinen.

Aus dem allgemeinen Lokalisationsgesetz versteht man auch die scheinbare Raumwahrnehmung anderer Sinne. In Wirklichkeit bietet nur der Gesichts- und der Tastsinn räumliche Inhalte. Wer beide Sinne entbehrte, könnte nie zu einer Raumanschauung gelangen. Sie bliebe ihm ebenso unbekannt wie dem Blindgeborenen die Farben. Die richtige Lokalisation der Geschmacks-, Schmerz- und Temperaturreize (wobei bemerkt sein mag, daß die Lokalisation um so schärfer ist, je lebenswichtiger der Reiz) bedarf keiner weiteren Erläuterung.[S. 116] Der Raum, der sich aus solchen einzelnen Raumdaten ergeben könnte, wäre beim Sehenden letztlich nur der Gesichtsraum, beim Blindgeborenen der Tastraum. Das nämliche gilt aber auch vom Ohr, das uns über die Entfernung und Richtung unsichtbarer Schallquellen benachrichtigt. Die besondere Aufgabe der Forschung besteht hier nur darin, die empirischen Anhaltspunkte zu ermitteln, nach denen im einzelnen Entfernung und Richtung der Schallquelle beurteilt wird. Ein erster Anhaltspunkt für die Entfernung ist die Intensität des Reizes: je schwächer ein bekannter Reiz, um so weiter muß er entfernt sein. Es besteht hier ein ganz ähnliches Verhältnis wie zwischen der Sehgröße und der Entfernung. Darum kann man sich auch hier ebenso täuschen wie dort: ein leises Pochen an der Türe erscheint als furchtbarer, doch weit entfernter Kanonendonner, und auch das Umgekehrte bleibt an sich möglich, je nachdem wir entweder die tatsächliche Entfernung oder die wirkliche Stärke des Schallreizes falsch ansetzen. In Wirklichkeit zeigt sich indes nicht immer dieses einfache Verhältnis eingehalten. Gleichartige, aber verschieden starke Töne werden nicht notwendig in verschiedene Entfernung lokalisiert. Zu dieser Verbesserung der Lokalisation verhelfen die jeden Ton begleitenden Obertöne. Diese sind bekanntlich nicht alle gleich laut und werden darum je in verschieden weiter Entfernung unhörbar: die niederen verstummen zuerst. Aus diesem Umstand entwickelt sich ein tatsächlich benutztes, aber als solches nicht erkanntes Kriterium für die Schätzung der Entfernung. Ernst Mach hat das mit einem treffenden Ausdruck als die „Luftperspektive für Töne“ bezeichnet. Deshalb läßt sich auch umgekehrt durch Verstärkung der Obertöne eines Klanges der Eindruck größerer Entfernung erzielen. Von höchster Bedeutung für die Lokalisation ist die Richtung der Aufmerksamkeit. Wird durch irgendeinen Umstand unsere Aufmerksamkeit auf ein Ding gelenkt, das als Schallquelle in Frage kommen kann, so sind wir auch geneigt, es als solche anzusprechen. Darauf beruht ein Hauptkunstgriff der Bauchredner.

Literatur

C. Spearman, Fortschritte auf dem Gebiete der räumlichen Vorstellungen. APs 8 (1906).

O. Klemm, Über die Lokalisation von Schallreizen. 6. CgEPs (1914).

[S. 117]

FÜNFTER ABSCHNITT
Elementare Denkfunktionen

1. Die Beziehungserkenntnis

Vergleichen wir zwei Linien, zwei Figuren oder sonstige Dinge miteinander, so entdecken wir, daß sie entweder gleich oder ungleich, verschieden oder ähnlich sind. Wir sprechen da von Sachverhalten. Der Satz: A ist größer als B, bezeichnet einen Sachverhalt. Mit den Ausdrücken gleichsein, größersein, oberhalb-, rechts davon sein u. ä. verbinden wir einen ganz bestimmten Inhalt. Wir meinen damit etwas anderes als die bloße Summe der beiden erkannten Dinge: wir meinen eben die zwischen ihnen herrschende Beziehung. Die experimentelle Untersuchung hat gezeigt, daß man an zwei Dinge denken, sie anschaulich vorstellen und sogar beachten kann, ohne gleichzeitig und notwendig auch die Beziehung zu erfassen, die zwischen ihnen obwaltet. Man kann z. B. zwei Figuren unter mehreren sehen und beachten, die objektiv einander gleich sind, ohne deren Gleichheit gewahr zu werden. Die Beziehungserkenntnis ist somit mehr als die bloße bewußtseinsmäßige Erfassung der in Beziehung stehenden Gegenstände: das Relationsbewußtsein enthält mehr als die Termini der Relation.

Der Beziehungsgedanke, wie wir kurz sagen wollen, ist aber zweitens auch ein wahrer Bewußtseinsinhalt: wir sprechen keine leeren Worte aus, wenn wir von Gleichheit, von Ähnlichkeit usw. reden, sondern meinen damit etwas ganz Bestimmtes. Diese Tatsache bliebe bestehen, auch wenn wir Gleichsein, Verschiedensein usw. überhaupt nicht denken könnten, ohne gleichzeitig an Dinge zu denken, die gleich oder verschieden sind. Die eingehendere Forschung machte uns jedoch mit Erlebnissen bekannt, wo der Beziehungsinhalt als solcher im Mittelpunkt des Bewußtseins steht. Es erwächst darum die Aufgabe, zu prüfen, ob sich diese Beziehungsgedanken auf die bisher besprochenen Erkenntniselemente[S. 118] zurückführen lassen, oder ob sie als neue Elemente anzusprechen sind, und wenn sich letzteres ergeben sollte, zu untersuchen, in welchem Verhältnisse diese neuen Erkenntniselemente zu den schon bekannten stehen.

Die von älteren Psychologen oft ausgesprochene Meinung, Beziehungserkenntnisse (wir unterscheiden auch hier zwischen Erkenntnisakt und Erkenntnisinhalt und beschäftigen uns hier zunächst nur mit dem Inhalt) seien kein Plus gegenüber dem Bewußtsein der Termini: mit dem Bewußtsein von zwei Strecken sei auch das Bewußtsein ihrer Gleichheit oder Verschiedenheit unmittelbar gegeben, braucht nach den erwähnten experimentellen Befunden nicht mehr widerlegt zu werden. Man hat sodann hie und da geglaubt, solche Relationen seien nichts anderes als die Worte oder die symbolischen Zeichen, mit denen wir sie zum mündlichen oder schriftlichen Ausdruck bringen. Allein Worte wie Zeichen sind weder Bedeutungen noch wesentlich mit solchen verknüpft. Wir müssen ja die Bedeutung der Worte der Muttersprache wie der fremden Sprachen eigens lernen. Ganz dasselbe gilt für irgendwelche Körperbewegungen. Allerdings schütteln wir zuweilen den Kopf, um den Gegensatz unserer Ansicht zu einer soeben geäußerten kundzutun. Aber das Kopfschütteln als solches besagt doch nicht den Gegensatz. Das Kopfschütteln liefert unserm Bewußtsein nur eine Anzahl von Spannungs- und Bewegungsempfindungen, niemals aber die Bedeutung „nein!“, „falsch!“ oder Ähnliches. (Bei manchen Stämmen bedeutet Kopfschütteln „ja“, Kopfnicken „nein“.) Erfassen wir nicht zuvor selbständig diese Relation, so werden wir niemals das Bedürfnis verspüren, sie durch eine Ausdrucksbewegung kundzugeben.

Wir können nun versuchen, beliebige der uns bekannten Empfindungen oder Empfindungskomplexe in irgendwelcher Zusammensetzung oder Abänderung ins Bewußtsein einzuführen: niemals wird sich aus solchen Elementen ein Beziehungsinhalt ergeben. Allen Empfindungen — und ebenso den später zu besprechenden Gefühlen — versagt gewissermaßen die Sprache, wenn wir sie zum Ausdruck einer Beziehung nötigen wollen. Es ist darum die Beziehungserkenntnis nicht[S. 119] nur ein selbständiger, auf die bekannten Empfindungen nicht zurückführbarer Bewußtseinsinhalt, sondern auch ein Erlebnis, das sich überhaupt nicht mit Empfindungsmitteln wiedergeben läßt. Den Empfindungen ist nämlich, wie wir sahen, die Anschaulichkeit wesentlich: Farben, Gerüche, Töne usw. haben etwas Handgreifliches, während Gleichheit, Verschiedenheit, Gegensatz als Bewußtseinsinhalte abstrakt, schemenhaft sind. Empfindungen haben eine, wenn nicht gar mehrere Intensitätsstufen, von einer Intensität der Beziehungserkenntnisse zu reden, verliert jeden Sinn: Beziehungen werden erkannt oder nicht erkannt. Jeder Empfindungsinhalt ist etwas Konkretes, bestimmt Nuanciertes: Gleichheit, Ähnlichkeit, Lagebeziehung sind als Bewußtseinsinhalte stets etwas Allgemeines, auch wenn wir damit nur das Gleichsein usw. anschaulicher Dinge meinen. Aus all diesen Gründen lassen sich die Relationserkenntnisse mit den Empfindungen und Vorstellungen bzw. deren Komplexen nicht auf die gleiche Stufe stellen. Sie gehören einer von jenen Erlebnissen scharf getrennten Klasse an, und da sich kein Übergang zwischen diesen Klassen aufzeigen oder auch nur ausdenken läßt, ist die Verschiedenheit beider als eine wesentliche zu bezeichnen. Wir behalten für die Erlebnisse der höheren Klasse den Ausdruck „denken“ vor, mit dem ja auch der vorwissenschaftliche Sprachgebrauch eine höhere Erkenntnisweise auszeichnet.

Es empfiehlt sich, schon hier zwei Erlebnisse auseinanderzuhalten: das Entdecken von Beziehungen und das Erkennen von Sachverhalten. Sind die Gegenstände A und B gegeben und ich erfasse zum ersten Mal eine Beziehung zwischen ihnen, und zwar eine Beziehung, die ich nie zuvor erlebt habe, so liegt eine ursprüngliche Beziehungserfassung oder die Entdeckung einer Beziehung vor. Finde ich dieselbe Beziehung dann bei den Gegenständen C und D, so kann ein Erkennen von Sachverhalten vorliegen: ich erlebe die Beziehung zwischen C und D und erkenne sie als gleich mit der früher erfahrenen. Sachverhaltsfeststellungen setzen somit eine doppelte Beziehungserfassung voraus; sie sind uns Erwachsenen geläufiger als die Beziehungsentdeckungen, von denen hier zunächst die Rede ist.

2. Das aktive Beziehen

Sehr oft drängen sich uns die zwischen den Dingen herrschenden Beziehungen ganz von selbst auf. Die Verschiedenheit[S. 120] eines roten Papierstreifens von einem grünen kann kaum übersehen werden. Stellt man uns aber die Aufgabe, zu einer bestimmten Farbe aus einer Reihe von Farben und Farbenstufen die jener ersten gleichartige herauszufinden, dann werden wir vielleicht jede einzelne Vergleichsfarbe mit dem Muster in Beziehung bringen; sei es, daß wir beide nebeneinander legen, sei es, daß wir nur den Blick von der einen zur andern wandern lassen, sei es, daß wir mit ruhendem Blick unsere Beachtung bald dem einen, bald dem andern Vergleichsobjekte zuwenden. Dieses Aufeinanderbeziehen ist ein wirklicher Vorgang, ein reales Erlebnis, das z. B. in den Denkexperimenten eine hervorragende Rolle spielt. Es ist ferner etwas ganz anderes als die zuvor behandelte Beziehungserfassung. Denn diese kann aufleuchten, ohne daß wir die Termini zuvor aktiv in Beziehung bringen müßten, und umgekehrt kann das aktive Beziehen vorgenommen werden, ohne daß sich unserem Geiste ein Verhältnis zwischen den Beziehungsgegenständen offenbart. Am meisten Ähnlichkeit hat dieses Erlebnis mit der aktiven Blickwanderung, aber man kann auch bei ruhendem Blick, ja sogar ohne jede Beteiligung des Auges oder irgendeines anderen Sinnes aktiv beziehen, z. B. wenn man Begriffe wie Tapferkeit und Geduld miteinander vergleicht. Das Beziehen ist auch nicht identisch mit willkürlicher Aufmerksamkeit. Zwar wird man in der Regel den aufeinander bezogenen Dingen Aufmerksamkeit widmen, doch können wir selbst mehreren Gegenständen unsere Aufmerksamkeit zuwenden, ohne sie deshalb schon aufeinander zu beziehen. Man denke etwa an die Versuche über den Umfang der Aufmerksamkeit, bei denen mehrere Einzelobjekte bei raschester Darbietung von der Aufmerksamkeit umspannt werden müssen. Endlich ist das Beziehen nicht gleichbedeutend mit dem Wollen. Wir können freilich das aktive Beziehen wollen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß das aktive Beziehen immer von dem Wollen abhängig ist, aber der Wille betätigt sich auch in andern Funktionen, z. B. in der Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Objekt oder in einer Körperbewegung u. dgl.

[S. 121]

Vielleicht eröffnet jedoch folgender Gedankengang ein Verständnis des aktiven Beziehens ohne Annahme einer neuen elementaren Denkfunktion. Haben wir dank der elementaren Fähigkeit der Beziehungserfassung mehrmals Beziehungen zwischen verschiedenen Gegenständen entdeckt, so kann eine solche Entdeckung ein Ziel unseres Wollens werden. Richten wir darum willkürlich mit dem Wunsche, eine etwa vorhandene Beziehung zu erfassen, unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenstände — wie dies möglich ist, hat die Willenslehre zu zeigen —, so üben wir das einfachste aktive Beziehen. Die weitere Erfahrung belehrt uns, daß ein Wandern der Aufmerksamkeit von einem Glied zum andern hier zweckdienlich sein kann, und wir lernen so eine höhere Art des aktiven Beziehens. Sind wir sodann mit den verschiedenen Arten der Beziehungsinhalte, wie Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit, vertraut geworden, so wird auch der allgemeine Wunsch, eine etwa vorhandene Beziehung aufzufinden, durch die besonderen Gesichtspunkte, ob Gleichheit, Verschiedenheit usf., ersetzt.

3. Die Abstraktion

Erfassen einer Beziehung und aktives Beziehen haben beide zur Voraussetzung, daß die Gesamtheit unserer Eindrücke nicht ein unauflösbares Ganzes sind, sondern daß sich aus dieser Gesamtheit Teileindrücke herausheben oder doch herauslösen lassen. Nur so erhalten wir eine Mehrheit von Erkenntnisdingen, die wir miteinander in Beziehung bringen können. Man könnte meinen, das sei durch die Verschiedenheit der Sinneseindrücke schon hinreichend sichergestellt; ein blauer Farbring, der um einen gelben gelegt ist, hebt sich von selbst von diesem ab. Ganz gewiß bedeutet die objektive Verschiedenheit der sinnlichen Eindrücke, der Sinnesdinge, eine namhafte Hilfe für das Herauslösen von Teileindrücken. Bedenkt man indes, daß wir auch aus einer ganz gleichmäßig gefärbten Fläche beliebige Partien allein durch die Beachtung herausgreifen können, so legt das nahe, daß wir es mit einer anderen Funktion als dem rein sinnlichen Erfassen zu tun haben; ganz abgesehen davon, daß sich dieses Herausgreifen nicht notwendig auf Sinnesdinge erstrecken muß.

Auch die Abstraktion können wir versuchsweise auf andere Funktionen zurückführen, so daß von den drei genannten nur die Beziehungserfassung als einzige elementare Denkfunktion übrigbleibt. Zu diesem Zwecke setzen wir voraus, die unwillkürliche Aufmerksamkeit sei eine[S. 122] psychische Verhaltungsweise, die auch willkürlich eingenommen werden kann. Bei der Lehre von der Aufmerksamkeit haben wir dies näher zu klären und zu beweisen. Ist uns nun zum erstenmal die Verschiedenheit eines blauen von einem gelben Farbenton aufgefallen, so mag die blaue und die gelbe Farbe die Aufmerksamkeit auf sich lenken, und zwar nur auf sich und ohne Zutun unseres zielsetzenden Wollens. Ist das mehrmals geschehen, so haben wir ein Verhalten kennen gelernt, das wir nun auf jeden Teilinhalt des Bewußtseins anwenden können: wir haben abstrahieren gelernt. Somit wäre die Abstraktion nichts anderes als die Zuwendung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand. Neueste Untersuchungen (M. v. Kuenburg) über die Abstraktion des Kindes sind dieser Auffassung günstig.

Wir haben soeben die Abstraktion in ihren ersten Anfängen geschildert. Der Erwachsene abstrahiert in der Regel, indem er einen Gesichtspunkt an die Gegenstände heranbringt, z. B. in der Form einer Frage: wo ist der Eingang? Ein solcher Gesichtspunkt wirkt als antizipierendes Schema (siehe unten S. 173), er gibt der Aufmerksamkeit eine bestimmte Richtung und bereitet die Wahrnehmung der Relationsfundamente vor, indem er verwandte Vorstellungen in Bereitschaft setzt.

Über die Leistung der Abstraktion haben die Experimente schon mancherlei ergeben. Külpe bot seinen Vpn verschiedenfarbige in einer bestimmten Figur angeordnete Buchstaben. Die Vpn hatten bald auf die Gesamtanordnung, bald auf die Farbe der Buchstaben, bald auf deren Form zu achten. Es zeigte sich nun, daß die sogenannte positive Abstraktion, das Herausgreifen der zu beachtenden Teile, außerordentlich gut gelingt. Wenn die Beobachter auch gar nichts oder nur sehr wenig von der Form und der Farbe der Buchstaben zu berichten wußten, so konnten sie doch die Gesamtanordnung sehr genau angeben und umgekehrt. Das Absehen von den nicht zu beachtenden Momenten kann auch willkürlich geschehen und heißt dann negative Abstraktion. Sie scheint mehr zu sein als ein einfaches Nichtbeachten der Elemente, vermutlich handelt es sich dabei um eine Unterdrückung oder Hemmung. Die Abstraktion wird freilich um so schwerer, je enger zwei Elemente miteinander verbunden sind. So ist Form und Farbe der Buchstaben abstraktiv schwerer zu trennen als Form und Gesamtanordnung.

Literatur

J. Lindworsky, Das schlußfolgernde Denken. Freiburg 1916. II. Teil, 4. Abschnitt: Beiträge zur Psychologie der Beziehungserkenntnis.

F. Seifert, Zur Psychologie der Abstraktion und Gestaltauffassung. ZPs 78 (1918).

[S. 123]

SECHSTER ABSCHNITT
Die Verbindung der Beziehungsfunktion mit den Empfindungskomplexen

1. Kap. Die Gestaltwahrnehmung

Die sensistische Richtung in der experimentellen Psychologie, die alle Erlebnisse nur aus den sinnlichen Elementen verständlich machen will, ging lange Zeit unachtsam an einer höchst geläufigen Erscheinung des Alltags vorüber, die übrigens jeder Psychologenschule schwere Rätsel aufgibt. Es ist das Verdienst Chr. v. Ehrenfels’, nachdrücklich die Aufmerksamkeit auf das Problem der Gestaltwahrnehmung gelenkt zu haben. Seit seinem Aufsatz „Über Gestaltqualitäten“ (1890) ist die Erörterung dieses Problems noch nicht zum Stillstand, aber auch noch nicht zu einer allseitig befriedigenden Lösung gekommen. Betrachtet man vier Punkte in dieser Anordnung , so kann man sie als Kreuz und als Quadrat auffassen. Die Sinnesdaten sind in beiden Fällen die nämlichen, die sich ergebenden Gestalten sind verschieden, und jede einzelne ist offenbar mehr als die Summe der vier punktförmigen Eindrücke. Noch deutlicher wird das bei der Melodie. Man kann ein Lied so transponieren, daß kein einziger Ton derselbe bleibt, und doch erkennt jedermann sofort die alte Melodie wieder. Die melodische Gestalt ist also offenbar etwas anderes als die Summe der Einzeltöne.

Der Versuch einer Analyse des Gestalteindruckes wird heute wohl folgende Faktoren aufzählen können. Erste Voraussetzung ist eine Mehrheit sinnlicher Daten, die im Raum oder in der Zeit verteilt sind. Ihre Qualität und Intensität ist von untergeordneter Bedeutung, wie schon die Transposition einer Melodie zeigt; auch die vier Punkte in obiger Figur könnten eine beliebige Farbe haben,[S. 124] wenn auch zu beachten bleibt, daß Qualität und Intensität auf die normale Gestaltbildung von Einfluß ist: ist z. B. der letzte Ton eines Tonpaares höher, so werden die Töne in der Regel in jambischer Gestalt aufgefaßt. Zweitens: Bei unseren vier Punkten wäre es möglich, daß die (früher erworbene) Vorstellung eines Rhombus, eines Kreuzes, zweier Parallelen je nach ihrer Bereitschaft auftauchte und die Auffassung der Punkte bestimmte. Allein damit ist das Problem nicht zu lösen. Wir können ja den Einzeleindrücken völlig neue Gestalten entnehmen, von denen wir noch keine Vorstellung haben.

Wichtiger als die Vorstellungen in Bereitschaft sind (drittens) die aktiven Beziehungsakte. Dieses aktive Beziehen oder Zusammenfassen ist nicht mit der Aufmerksamkeitsbeachtung zu verwechseln. Das Beachten eines jeden einzelnen Tones einer Tonfolge macht aus ihr keine Melodie, sondern kann eine solche eher in ihre Teile wieder zerfallen lassen. Aus dem aktiven Aufeinanderbeziehen ergibt sich (viertens) eine Beziehungserfassung. Zwar besagt eine derartige Beziehungserfassung nichts über das abstrakte Verhältnis der Längen zweier Geraden, der Schwingungszahlen zweier Töne usw., aber wir erleben, wie die anschaulichen Termini der Beziehung sich zueinander verhalten. Wäre der Ausdruck nicht mißverständlich, so möchte man von anschaulichen Beziehungen reden. Wir hören nicht bloß einen Ton und dann den anderen, wir erfassen es vielmehr, wie nah oder wie fern die Qualität des zweiten zu der des ersten steht. Zweifellos steigert solch bewußtes Erfassen der Aufeinanderfolge von sinnlichen Eindrücken die Gefühlswirkung, die sich ohnedies schon an eine Empfindungsfolge anschließt. Doch machen die Gefühle nicht die Gestaltqualität aus: ein Fünfeck unterscheidet sich von einem Sechseck nicht so sehr durch seine Gefühlswirkungen als eben durch seine Gestalt.

Wir haben bisher die Faktoren aufzuzählen gesucht, die beim Auffassen einer neuen Gestalt wirksam sind. Man hat früher gestritten, ob Gestalten analytisch oder synthetisch aufgefaßt würden. Einzelne Autoren meinten, wir seien immer auf das synthetische Fortschreiten[S. 125] von den Teilen zum Ganzen angewiesen. Die Experimente ergaben, daß beide Auffassungsweisen möglich sind. Doch dürfte bei völlig neuen und zeitlich sich entwickelnden Gestalten, wie Rhythmus und Melodie, die Synthese vorherrschen. Es ist das ein ganz eigenartiges Erlebnis, wenn etwa eine Folge von vier Tönen, die anfangs ungeordnet und unübersehbar sind und darum wohl auch den Eindruck einer größeren Anzahl machen, Gestalt annimmt. Eine lustbetonte Klarheit und Einfachheit tritt ein, und man staunt über die geringe Zahl der Einheiten, die sich leicht beherrschen lassen: die vier Töne waren eben nur die zweimalige Wiederholung der nämlichen Terz.

Ist die Gestaltauffassung mehr als der rein sinnliche Eindruck, dann werden wohl auch die Täuschungen über die objektiv gegebenen Gestalten nicht ausschließlich auf Inadäquatheiten der Sinnesfunktionen beruhen. Den sicher erweisbaren Anteil der Sinne an diesen Täuschungen haben wir oben besprochen (S. 81 f.). Was durch die Unvollkommenheiten der Organe nicht erklärt werden konnte — und es ist dies der größere und bedeutsamere Teil —, hat man durch Assoziationstheorien, Augenbewegungstheorien, Aufmerksamkeits- und Urteilstheorien zu fassen gesucht, Theorien, die oft den Anspruch auf Alleinherrschaft machten. Ist unsere Analyse der Gestaltwahrnehmung auch nur einigermaßen richtig, dann sind nahezu ebensoviel Faktoren bei der Fälschung der Gestaltwahrnehmung, wie bei ihrer Entstehung am Werke. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer einzigen der genannten Theorien auszukommen, ist darum nicht groß. Eine systematische Durchprüfung aller Wahrnehmungstäuschungen auf die einzelnen Faktoren mit dem Versuch einer Variation derselben wäre noch anzustellen. Auf Einzelnes hat man indessen schon aufmerksam gemacht, so auf die Verwechslung der Beziehungspunkte, namentlich beim Vergleich zweier Gestalten: ein auf der Spitze stehendes Quadrat erscheint größer als ein liegendes, weil man statt der Flächen die beiden von Punkten der Figuren begrenzten Senkrechten aufeinander bezieht (Schumann); erscheint länger als , weil man den von den Schrägen eingeschlossenen Raum mit einbezieht (Müller-Lyer).

Literatur

K. Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen I (1913).

M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. Psychol. Forschung (1922) I, S. 41 ff. (vgl. unten S. 131 ff.).

2. Kap. Die Zeitwahrnehmung

Wohl auf keinem anderen Gebiete der experimentellen Psychologie ist eine vorausgehende Besinnung und begriffliche Klärung über den Untersuchungsgegenstand so unerläßlich wie bei der Darstellung des „Zeitsinnes“. Auch hier[S. 126] beginnen wir mit dem, was uns unmittelbar in der Erfahrung gegeben ist. Da finden wir nun, daß die ganze, unserem Gegenstandsbewußtsein zugängliche Welt, wir selbst und unser Erleben nicht ausgenommen, einem zeitlichen Verlauf unterworfen ist. Diese objektive Zeit erforscht die Psychologie nicht. Die Psychologie fragt nur: Wie erfassen und erleben wir die objektive Zeit?

Aus dem Gebiet des Zeitlichen erobert unser Bewußtsein nun mancherlei. Wir sprechen von der Zeit im allgemeinen und von verschiedenen Zeitstrecken, geradeso wie wir von dem Raum im allgemeinen und von verschiedenen räumlichen Erstreckungen reden. Da haben wir es mit der letzten dem Bewußtsein möglichen Eroberung eines Erlebnisses zu tun: wir sind zur begrifflichen Erfassung der Zeit vorgedrungen, eine Leistung, die wir erst bei Behandlung der Begriffe würdigen können. Wir beherrschen zweitens die zeitlichen Beziehungen: das Nacheinander, das Früher, Später, die Gleichzeitigkeit, das Jetzt. Sehen wir davon ab, daß namentlich bei der sprachlichen Verwertung dieser Dinge gleichfalls eine hohe begriffliche Verarbeitung der Zeiterlebnisse vorausgegangen sein muß, so braucht es doch keinen langen Nachweis, daß wir diese Verhältnisse auch vor aller Sprache und Begriffsbildung zu erkennen imstande sind. Das kleine Kind dürfte schon ohne Sprache und ohne weitläufige Begriffsbildung bemerken, daß das Heranbringen der Milchflasche vor dem Trinken und das Zubettgelegtwerden nach dem Trinken kommt. Es ist dies eine Beziehungserfassung, die ohne Denkfähigkeit nicht möglich ist. Und weil solche Beziehungserfassungen auch bei der Zeitwahrnehmung, wie sie die Experimente untersuchten, eine so große Rolle spielen, darum weisen wir der Zeitwahrnehmung entgegen dem bisherigen Gebrauch diese Stelle innerhalb der systematischen Darlegung an. Aus dem gleichen Grunde müssen wir auch dem Tier die Erfassung des Vorher, Nachher, des Jetzt und der Gleichzeitigkeit absprechen.

Drittens nehmen wir unmittelbar die Dauer wahr: das, was die Sinne uns zeigen, wird uns als dauernd vorgestellt,[S. 127] und auch die Erlebnisse in uns, das Suchen und Forschen, das Lieben und Leiden, tritt immer nur als ein dauerndes Erleben auf. Das Dauern ist uns in allen unseren Erlebnissen gegeben, wie das Ausgedehntsein in den Erlebnissen des Gesichts- und Tastsinnes gegeben ist. So verstanden, erlebt auch das Tier die Dauer. Sobald man jedoch nur diese eine Eigenschaft aller seelischen Geschehnisse für sich betrachtet, hat man eine Abstraktionsleistung vollzogen, deren wir das Tier nicht für fähig halten. Diese für sich allein genommene Seite individueller Bewußtseinsvorgänge ist es, die den eigentlichen Gegenstand der Zeitsinnuntersuchungen bildet. Man erkennt sofort, daß die Bezeichnung Zeitsinn eine sehr wenig glückliche war. Es geht nicht an, für die Erfassung eines unselbständigen Merkmals einen besonderen Sinn anzusetzen, man müßte sonst auch einen eigenen Raumsinn oder gar einen Intensitätssinn einführen. Dank dieser prinzipiellen Gleichstellung der Dauer mit den Sinneseindrücken, wie sie der sensistischen Psychologie geläufig war, stellte man dem Experiment zwei Hauptaufgaben: die Bestimmung der Zeitschwelle und die Vergleichung von Zeitstrecken. Für das Kernproblem, die Erfassung der Dauer, konnten diese Untersuchungen nicht sehr viel auswerfen; den reichsten Gewinn erzielt dabei die Psychologie des Urteils. Das Wichtigste sei kurz mitgeteilt.

Wenn man feststellt, daß das Auge schwache Lichtblitze als zwei erkennt, die sich in einem Zeitintervall von rund 45 σ (1 σ = ¹⁄₁₀₀₀ Sekunde), oder bei Einwirkung auf verschiedene Netzhautpunkte von 10 σ (Pauli) folgen, daß der Tastsinn zu derselben Leistung 27 σ, das Gehör nur 16 σ oder gar nur 2 σ benötigt, dann hat man im Grunde das zeitliche Auflösungsvermögen dieser Sinne gefunden. Man weiß nun, wieviel Zeit ein jeder braucht, um einen Reiz genügend abklingen zu lassen, damit ein folgender von jenem unterschieden werden kann — an sich höchst bedeutsame Ergebnisse. Hinsichtlich der Dauerschwelle erfahren wir hieraus indessen nur, daß sie unter 2 σ liegen muß.

Bei der Beurteilung von Zeitstrecken empfiehlt es sich, drei Hauptfälle auseinander zu halten: man beachtet die Dauer gleichzeitig während des Erlebens; man beurteilt sie erst beim Rückblick auf das Erlebte; man beurteilt sie vorausschauend und den Eintritt eines bestimmten Ereignisses abwartend.

[S. 128]

Zu dem ersten Hauptfall gehören namentlich die experimentellen Vergleichungen zweier Zeitstrecken. Sind diese sehr kurz, dann achtet man in Wirklichkeit nicht auf die Dauer, sondern auf die Geschwindigkeit, mit der sich die die Zeitstrecke begrenzenden Reize folgen. Bei längeren Zeitintervallen, etwa bis zu 3″, scheint ein unmittelbarer anschaulicher Vergleich der Dauer möglich zu sein. Bei noch größerem Zeitabstand wird der unmittelbare Vergleich schwerer. Der Beobachter muß die Grenzreize, z. B. die Metronomschläge, mit sichtlicher Bemühung zusammenhalten, damit die Vergleichung zuverlässig bleibt. Das weist darauf hin, daß größere Strecken überhaupt nur an den sie ausfüllenden Erlebnissen gemessen werden können. Das ist nach unserer Auffassung der Dauer als eines unselbständigen Momentes zu erwarten und ist im Grunde auch bei dem Vergleich der kleineren Zeiten vorhanden. Nur daß hier die wenig ausgesprochenen Erlebnisse des Allgemeinbefindens hinreichen, während bei längerer Dauer charakteristische Dinge, wie aktives Bemühen, Nachkonstruieren der Zeitstrecke, Beachtung der Atembewegungen, der wachsenden Spannung u. ä., zu Hilfe genommen werden. Als allgemeine Regel ergab sich bei diesen Zeitvergleichungen: kleine Zeiten werden überschätzt, große werden unterschätzt; zwischen beiden liegt eine Indifferenzzone von 1–2″, die nahezu richtig beurteilt wird. Auf den Zeitvergleich wirken mancherlei Faktoren bestimmend ein: so die verschiedene Stärke der das Zeitintervall abgrenzenden Signale; das intensivere Signal verkürzt das Intervall, wenn es an dessen Anfang steht, es verlängert es, wenn es das Intervall abschließt. Doch gehören diese Dinge in die Psychologie des Vergleiches.

Erlebt man vielerlei während einer bestimmten Spanne objektiver Zeit und achtet gleichzeitig auf die Dauer, so erscheint sie einem lang; achtet man hingegen nicht auf die Zeit, so wird man von dem Ende der Zeitspanne überrascht. Daher auch der große Unterschied bei dem Vergleich von leeren und ausgefüllten Zeitstrecken, der sich aber je nach der Aufmerksamkeitsrichtung des Beobachters anders geltend macht. In der Erinnerung hingegen wird eine erlebnisreiche Zeitspanne größer erscheinen als eine erlebnisarme. Da uns für die Wahrnehmung der Zeit kein besonderes Sensorium zur Verfügung steht, und der absolute Eindruck des Langen oder Kurzen nur aus der Menge der durchschnittlich in der Zeiteinheit erlebbaren Ereignisse entsteht, so begreift man auch, daß bei einer außergewöhnlichen Steigerung des Vorstellungslebens, wie sie etwa der Haschischgenuß hervorruft, die Dauer geläufiger Verrichtungen merkwürdig gesteigert zu sein scheint: das Passieren einer Straße will kein Ende nehmen, weil außergewöhnlich viele Bilder durch den Geist des Gehenden ziehen.

Im dritten Hauptfall erwarten wir ein zukünftiges Ereignis. An sich verfließt uns da die Zeit nicht langsamer als sonst, aber wir konstatieren immer wieder, daß unser Verlangen noch nicht erfüllt ist.[S. 129] Damit verdrängen wir gleichzeitig Gedanken und Beschäftigungen, die uns zerstreuen könnten, und es entsteht die Langeweile.

Offenbaren die genannten Verhältnisse die Relativität und Subjektivität unserer Zeitschätzung, so zeigt die „Zeitverschiebung“ unsere Unfähigkeit, ein Jetzt zu fixieren, wenn es durch zwei disparate Sinneseindrücke gekennzeichnet wird. Diese Tatsache ist unter dem Namen der persönlichen Gleichung schon lange in der Astronomie bekannt: zwei Beobachter werden niemals in übereinstimmender Weise angeben, an welcher Stelle des Fadenkreuzes der durchgehende Stern beim Ertönen des Sekundenschlages stand. Wundt prüfte dies genauer durch „Komplikationsversuche“. Die Vp hat einen sich bewegenden Zeiger zu beobachten und festzustellen, wo der Zeiger stand, als ein Glockensignal ertönte. Anfangs wird in der Regel eine Stellung vor der richtigen, später eine solche hinter der zutreffenden genannt. Man hört also im Anfang gewissermaßen das Signal, bevor es gegeben ist, und später scheinbar erst, nachdem es schon erklungen. Die Erklärung des Phänomens ist noch umstritten. Man wird es nicht einfach mit Wundt auf die verschieden lange Apperzeptionszeit der beiden Reize zurückführen können, sondern beachten müssen, auf welchen Reiz der Beobachter jeweils eingestellt ist: die Auffassung jenes Sinnesreizes, den die Vp zunächst erwartet, ist begünstigt und erfolgt darum vor der des anderen Reizes (Michotte). Erhellt man die Fensterreihe eines Schirmes gleichzeitig durch eine Geißlerröhre und läßt eines der Fenster beachten, so scheint die Aufhellung von dieser Stelle auszugehen (Bethe).

Eine weitere Ungenauigkeit in der Zeitauffassung, die jedoch unserem ganzen Denken und Leben zum Heile gereicht, begehen wir bei der Auffassung des Jetzt. Das objektive Jetzt kann nur in einem unteilbaren Augenblick bestehen, das subjektive Jetzt, die „psychische Präsenzzeit“ hingegen umfaßt mehrere Sekunden. Das in dem punktförmigen Jetzt Erlebte entschwindet nämlich beim Gesunden nicht stracks dem Bewußtsein. Es verweilt zwar nicht mehr im Mittelpunkt, es verliert auch je länger, je mehr an Klarheit und Ausgeprägtheit, aber es steht doch noch so vor unserem Geiste, daß wir es nicht zu reproduzieren, sondern nur zu beachten brauchen, falls wir es noch einmal zu besehen wünschen, während wir die Erlebnisse der früheren Vergangenheit überhaupt erst wieder ins Bewußtsein zurückführen müssen. Der große Vorteil dieser Einrichtung liegt auf der Hand und wird besonders gewürdigt, wenn krankhafte[S. 130] Übermüdung des Gehirns den Faden der psychischen Kontinuität abreißen läßt.

Das stufenweise Verblassen der eben dagewesenen Erlebnisse verleiht diesen gewissermaßen Temporalzeichen, an denen ihre zeitliche Folge erkennbar bleibt: je verblaßter der Bewußtseinsinhalt, um so älter ist er. Vermittels dieser Temporalzeichen glaubte man eine streng empiristische Zeittheorie entwerfen zu können, ganz ähnlich wie Lotze es beim Raum versucht hatte: die Dauer würde nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern entstünde erst aus den Bewußtseinsinhalten samt ihren Temporalzeichen. Allein wenn wir den Übergang von dem Jetzt in die Vergangenheit oder vielleicht auch nur von dem Sosein in das Anderssein nicht unmittelbar als solchen erleben, werden wir aus den genannten Elementen ebensowenig die Zeit integrieren, wie wir den Raum aus den Lokalzeichen gewinnen konnten. Man muß darum auch bei der Zeit- bzw. der Veränderungswahrnehmung ein geringes Anfangskapital im Sinne des Nativismus voraussetzen. Alles weitere — und das ist das wichtigste Ergebnis der Experimente — wird in der Erfahrung gewonnen.

Wie wir Abgrenzungen des Raumes zu Raumgestalten vereinigen, so fassen wir Abgrenzungen der Zeit zu Zeitgestalten zusammen: zwei Zeitmarken (Taktschläge, Lichter, Berührungen) bilden zusammen mit ihrem zeitlichen Intervall eine Zeitstrecke. Mehrere Zeitstrecken schließen sich zu einer rhythmischen Gestalt zusammen. Dabei pflegt eine oder mehrere der Zeitmarken durch die Beachtung betont zu werden. Diese Hervorhebung einzelner Zeitmarken kommt praktisch einer Intensitätssteigerung gleich, ist mit ihr jedoch nicht identisch: sie kann ja auch den merklich schwächeren Reizen zugewiesen werden.

Da viele unserer Bewegungen, namentlich unser Gang, rhythmisch gegliedert sind, lösen rhythmische Eindrücke alsbald unwillkürliche Bewegungen aus. Darum meinte G. E. Müller, die rhythmische Auffassung objektiv völlig gleichmäßiger Reize sei nur eine Folge früherer Erfahrungen. Koffka versuchte diese Ansicht experimentell zu widerlegen: optische Eindrücke sollen mit Ausschluß jeglicher Bewegungsimpulse dennoch rhythmisch erlebt werden können. Es wird schwer sein, hierfür einen unanfechtbaren experimentellen Beweis zu liefern. Aber da der Gedanke G. E. Müllers auf dem Gebiet der übrigen Gestaltwahrnehmungen versagt und das Rhythmuserlebnis den[S. 131] gleichen Charakter wie die anderen Gestaltwahrnehmungen trägt, werden wir es wie diese in der Hauptsache auf das aktive Zusammenfassen und auf das Erleben der Beziehungen zwischen anschaulichen Elementen zurückführen, während wir der subjektiven Betonung der objektiv gleichmäßigen Zeitmarken nur eine vorbereitende Rolle zuteilen.

Literatur

V. Benussi, Psychologie der Zeitauffassung. 1913.

H. Werner, Über optische Rhythmik. APs 38 (1918).

3. Kap. Die Bewegungswahrnehmung

Ganz ähnlich wie bei der Zeitwahrnehmung läßt sich auch hier eine begriffliche Sonderung vornehmen. Wir brauchen darum nur auf die obigen Ausführungen zu verweisen. Die Hauptprobleme werden sich alsdann an die unmittelbar wahrzunehmende Bewegung knüpfen und vor allem das psychologische Wesen der Bewegungswahrnehmung zu ergründen haben. Es empfiehlt sich für unsere Zwecke nicht, hier induktiv voranzugehen, wir hätten der Tatsachen zu viele mitzuteilen, bevor der Leser imstande wäre, sie zu würdigen und zu überschauen. Wir werden darum zuerst die Theorie der Bewegungswahrnehmung erörtern, um uns darauf mit eigenartigen Fällen aus dem Gebiet der Bewegungswahrnehmung abzufinden.

Ältere Autoren versuchten die Bewegungswahrnehmung als einen Schluß aus den Wahrnehmungen der veränderten Lage desselben Körpers zu verstehen. In der Tat schließen wir bei sehr langsamen Bewegungen (Gletscherbewegungen, Umlauf des Stundenzeigers) aus den verschiedenen Lagen auf eine vorausgegangene Bewegung. Aber so läßt sich das Erlebnis der gewöhnlichen Bewegungswahrnehmung nicht deuten. Denn nicht vergangene, sondern gegenwärtige Bewegungen sehen wir da. Überdies wissen wir heute, daß ein Schluß uns immer nur Beziehungen zwischen bekannten Gliedern mitzuteilen, niemals aber anschauliche Inhalte, die uns nicht schon die Wahrnehmung geliefert hätte, vorzuführen vermag. Und etwas Anschauliches ist zweifellos in der Bewegungswahrnehmung geboten.

Es lag daher nahe, eine besondere Bewegungsempfindung anzusetzen (Exner), oder doch die Bewegung ein unselbständiges Moment der Empfindungen sein zu lassen, ähnlich wie die Intensität (Schumann). Mancherlei Tatsachen sprechen für solche Theorien.

Die Feinheit der Bewegungswahrnehmung ist in der Netzhautmitte etwa fünfmal so groß wie an der Peripherie. Die Fähigkeit, zwei bewegte[S. 132] Objekte auseinander zu halten, ist auf dem gelben Fleck ebenso groß wie die Sehschärfe, mit der zwei ruhende Punkte aufgelöst werden. An der Peripherie hingegen werden die bewegten Sehdinge viermal besser unterschieden als die unbewegten. Doch lassen sich diese Verhältnisse rein physiologisch verständlich machen (Lasersohn).

Außerdem widerstreitet den Empfindungstheorien dieses: Wo immer der adäquate Reiz für das Auftreten einer Empfindung bzw. die Veränderung eines Empfindungsmomentes gegeben ist, tritt bei normalen Verhältnissen auch die Empfindung bzw. die Veränderung des Empfindungsmomentes ein. Der einzige adäquate Reiz — wir bleiben vorerst immer bei der optischen Bewegungswahrnehmung — wäre hier nun die sukzessive Erregung benachbarter Netzhautstellen durch die gleichen Lichtwellen. So oft sie statt hätte, müßte auch Bewegung gesehen werden. Dem ist jedoch nicht so. Bewege ich mein Auge über einen Gegenstand hin, so nehme ich zumeist optisch keine Bewegung wahr.

Andere Theorien verzichten auf die Einführung eines neuen psychischen Elementarvorganges. So glaubt Linke (wir modifizieren ein wenig seinen Gedanken), die Wahrnehmung der jeweils anderen Lage des bewegten Gegenstandes zu seiner Umgebung mache die Bewegungswahrnehmung aus. Sinnlich wäre uns jeden Augenblick ein anderes Lagebild geboten. Dazu kämen zwei Beziehungserfassungen, die nur gedanklich zu leisten sind: einmal die Lageerfassung, sodann die Identifikation des objektiv bewegten Gegenstandes in den wechselnden Lagen. In Worte gefaßt, wäre also das Erlebnis: „Jetzt hier, jetzt da, jetzt dort! ...“ Man hat diese Theorie mit untauglichen Waffen bekämpft. Der Identifikationsprozeß ist nichts „Logizistisches“. Identifizieren ist ein wirkliches Erlebnis. Zwar geben wir es nicht immer durch Worte kund, ja wir konstatieren es nicht einmal immer — wie wir auch die Verschiedenheit der vor uns ausgebreiteten Farben geistig erfassen, ohne sie immer zu konstatieren. Auch sind wir bei Beobachtung eines bewegten Gegenstandes hinreichend auf die Erfassung der Identität eingestellt. Daß es Scheinbewegungen zwischen zwei nacheinander aufleuchtenden Grenzlinien gibt, ohne daß diese für identisch gehalten werden (Wertheimer), bedeutet keine unüberwindliche Schwierigkeit, da dieses Erlebnis nur bei solchen beobachtet wird, die schon eine reiche Erfahrung im Bewegungssehen hinter sich haben. Dagegen vermißt man eher eine Erklärung des anschaulichen Überganges von einer Lage in die andere, der doch wirklich gesehen wird.

Am meisten befriedigt wohl eine in der Hauptsache von Stern begründete Theorie. Stern nimmt eine unmittelbare Wahrnehmung der Veränderung an: wir sehen, wie ein Licht verblaßt, wie ein Abstand zunimmt oder[S. 133] sich verkleinert. Voraussetzung einer solchen Veränderungswahrnehmung ist einerseits das Erleben der sich kontinuierlich ändernden Empfindungen, anderseits eine Art Identifikation, die Dingerfassung. Bewegt sich nun ein Gegenstand auf einer sichtbaren Strecke, so erkennen wir an den sinnlichen Daten nicht nur die Veränderung der Lage, sondern auch unmittelbar das Zunehmen der einen und das Abnehmen der andern Distanz auf der sichtbaren Strecke. Damit wäre wohl auch der anschauliche Charakter der Bewegungswahrnehmung erklärt, ohne daß neue Erkenntniselemente angesetzt werden müßten.

Gegen diese Theorie bedeutete die Wahrnehmung eines bewegten leuchtenden Punktes im Dunkeln, also ohne unterscheidbare Anhaltspunkte für die Lageauffassung, erst dann eine Schwierigkeit, wenn sie an einem Individuum ohne jede Erfahrung auf dem Gebiet des Bewegungssehens oder gar der Bewegungswahrnehmung überhaupt festgestellt würde. Für den Erwachsenen gewinnen nämlich die einzelnen Netzhautpunkte einen Ortswert (s. S. 81 f.), und ebenso können die verschiedenen Phasen des Nachbildes, das der leuchtende Punkt hinterläßt, und endlich die Bewegungen, die erforderlich sind, um ihm mit der Blickrichtung zu folgen, zu Kriterien des Bewegungseindruckes werden. Übrigens muß die Bewegung im Dunkeln rascher verlaufen als im Hellen, um wahrgenommen zu werden.

Da wir die Bewegungswahrnehmung in der Hauptsache auf höhere Prozesse zurückführen, müssen wir sie folgerecht zu unserem Standpunkt dem Tier aberkennen. Es genügt aber auch zur Erklärung der Tatsachen, wenn der kontinuierlich sich ändernde Gesichtseindruck, den z. B. die Katze von der laufenden Maus erhält, das Tier in jedem Augenblick zu anderen zweckmäßigen Bewegungen veranlaßt. — Aus dem Relativitätscharakter der Bewegungswahrnehmung ergibt sich ferner, daß wir kein zwingendes sinnliches Merkmal dafür haben, ob sich der zufällig beachtete Punkt oder der Hintergrund bewegt. Unsere allgemeine Erfahrung legt uns nahe, die Bewegung im allgemeinen auf den kleineren Gegenstand zu beziehen und den größeren Hintergrund als ruhend aufzufassen. Darum scheint uns der Mond, an dem zerrissene Wolken vorbeijagen, häufig in eiliger Bewegung begriffen. Im allgemeinen läßt sich sagen: der Träger der Bewegung wird durch Erfahrungskriterien bestimmt; beim Widerstreit der Kriterien kann es zu Täuschungen kommen.

Wir haben uns nunmehr mit einer Reihe eigentümlicher Erscheinungen auf dem Gebiet des Bewegungssehens auseinanderzusetzen. Verfolgen wir mit fixierendem Blick einen Vogel am wolkenlosen Himmel, so nehmen wir die Bewegung wahr, ohne daß sich auf der[S. 134] Netzhaut die Reize nennenswert ändern. In diesem Falle wird der Bewegungseindruck durch die gleichzeitigen Bewegungen des Auges oder des Kopfes hervorgerufen. Aus der optischen Wahrnehmung unserer bewegten Glieder gewinnen nämlich die kinästhetischen Empfindungen ihre Bedeutung als Bewegungsempfindungen, während beim Blindgeborenen einfach an die Stelle der Netzhaut die Tastorgane treten. — Beobachten wir ruhende Objekte mit bewegtem Auge, so erscheinen uns die Dinge bald ruhend, bald bewegt, je nachdem unsere Augenbewegungen, einerlei ob sie aktiv oder passiv sind, als Reproduktionsmotive für die Ruhe bzw. Bewegungsauffassung mit in Konkurrenz treten. Es kann sogar gleichzeitig ein Teil des Gesamtbildes ruhend und ein anderer als bewegt gesehen werden: lese ich z. B. einen gedruckten Anschlag, der dicht neben einem geschlossenen Rolladen angebracht ist, so bleibt trotz der Lesebewegungen des Auges der Druck wie immer auf derselben Stelle, während der Rolladen zur Seite in die Höhe zu steigen scheint. — Weiterhin kann unter Umständen Bewegung wahrgenommen werden, ohne daß sich in der Außenwelt oder auf der Netzhaut irgend etwas verändert. Wer bei gelähmten Augenmuskeln ein seitlich erblicktes Objekt fixieren will, hat den Eindruck, daß es vor ihm flieht, und doch behielt das Objekt sowohl wie das gelähmte Auge seine frühere Lage bei. Ähnliches erlebt man beim Drehschwindel. Es handelt sich hier um eine sekundäre Bewegungstäuschung: wer sich erfolglos bemüht, ein Ding durch Bewegung zu erreichen, weiß, daß es sich bewegt, und erlebt auch anschaulich einen Bewegungseindruck. Der Gelähmte bemüht sich nun gleichfalls erfolglos um die optische Erreichung jenes Sehdinges und erfährt darum den Eindruck des Fliehens.

Ein sehr sorgfältiges Studium hat man neuerdings einer anderen Klasse von Scheinbewegungen gewidmet. Läßt man zwei benachbarte Objekte, etwa parallele Striche nacheinander sichtbar werden und steigert allmählich die Schnelligkeit der Sukzession, so scheint bei einer gewissen Geschwindigkeit etwas von dem ersten Strich zum zweiten herüberzuspringen. Doch vermeint man nicht, das nämliche Ding von der Ausgangs- zur Endlage kommen zu sehen, vielmehr mutet einem der Vorgang eher wie eine Bewegung ohne Bewegtes an. Bei noch größerer Geschwindigkeit, unter 30 σ verschwindet diese Scheinbewegung, und die beiden Striche werden gleichzeitig und ruhend gesehen. Wertheimer versucht solche Scheinbewegungen vermittels einer physiologischen Theorie zu erklären: Die den beiden Parallelen entsprechenden Erregungen im Gehirn breiten sich allseitig aus. Infolgedessen treffen die Ausstrahlungen von beiden Erregungen aufeinander, verstärken sich und erwecken den Eindruck einer Bewegung. Folgen die beiden Reize zu langsam, so ist die Ausstrahlung des ersten schon abgeklungen, ehe die zweite einsetzt; folgen sie zu schnell, so treten die Ausstrahlungen nahezu gleichzeitig auf, so daß sich keine Richtung der Bewegung herausbilden kann. Diese physiologische[S. 135] „Querfunktion“ soll auch die Grundlage der Gestaltauffassung sein. Innerhalb gewisser Grenzen mag diese geistvolle Theorie dem Sachverhalt entsprechen. Es stehen ihr jedoch manche Tatsachen entgegen. Setzt man statt der parallelen Striche parallele, aber entgegengesetzt gerichtete Pfeile, so scheint der erste Pfeil nicht nur herüberzuspringen, sondern auch eine Wendung zu machen, was mit der Theorie nicht recht verträglich ist. Auch wird die Erscheinung bei kurz dauernder und sehr intensiver Exposition der einzelnen Reize weniger deutlich als bei sehr rascher und wenig intensiver Darbietung. Diese und andere Umstände weisen darauf hin, daß nicht ausstrahlende Gehirnreize, sondern ergänzende Vorstellungen die Grundlage der Scheinbewegungen sind. Eine genauere Begründung dieser Ansicht kann indes hier nicht geboten werden.

Sehr viele Rätsel gibt das Stroboskop (Kinematograph) den Psychologen auf. Es sind viele Bilder dargeboten, und doch wird nur ein bewegtes Ding gesehen; es werden prinzipiell ruhende Bilder gezeigt, und doch nimmt man Bewegung wahr; es werden die Bilder von getrennten Phasen der Bewegung vorgeführt, und doch erscheint eine zusammenhängende Bewegung. Eine allseitig befriedigende Lösung der Probleme liegt noch nicht vor. In der Hauptsache sind jene höheren Prozesse zu betonen, die auch bei der einfachen Bewegungswahrnehmung die erste Rolle spielen. Dazu kommen ähnlich wie bei den Scheinbewegungen die ergänzenden Vorstellungen aus der sonstigen Erfahrung, und endlich sind außer der Trägheit der Netzhautprozesse wohl auch die positiven Nachbilder und die dem bewegten Bilde folgenden Blickbewegungen an dem Gesamtergebnis beteiligt.

Noch merkwürdiger sind die autokinetischen Bewegungen. Der Beobachter befindet sich im Dunkelraum und fixiert einen Leuchtpunkt. Mit einemmal beginnt der Leuchtpunkt sich zu bewegen, obwohl die Lichtquelle ihren Standort nicht verändert hat, und obwohl die meßbaren Fixationsschwankungen des Beobachters so gering sind, daß sie für die wahrgenommene Bewegung gar nicht in Frage kommen. Die Erklärung liegt auch hier bei den ergänzenden Vorstellungen. Der Beobachter tritt mit einer gewissen Vorstellung von der Lage des umgebenden Raumes in das Dunkelzimmer. Da er im Dunkeln keine Anhaltspunkte, „Verankerungen“ (Wertheimer), für diese seine Vorstellung hat, kann sie unter Umständen durch eine andere verdrängt werden, was sehr leicht geschieht, wenn etwa durch ein Geräusch am Boden die Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird. Wie nun die Lageveränderung zu dem gesehenen Raum, so wird auch die Lageveränderung zum vorgestellten Raum als Bewegung aufgefaßt.

Blickt man eine Zeitlang auf einen Wasserfall, oder auf den Boden vor den Füßen beim Gehen oder auf sonst einen bewegten großflächigen Gegenstand und richtet dann das Auge auf ein ruhendes Objekt, so scheint dieses sich für Augenblicke im entgegengesetzten[S. 136] Sinne zu bewegen. Dieses negative Bewegungsnachbild hat eine stattliche Reihe von experimentellen Untersuchungen veranlaßt. Es dürfte nicht in allen Fällen auf die gleichen Bedingungen zurückzuführen sein. Bisweilen werden unbeachtete Augenbewegungen, eine Nachwirkung des längeren Hinsehens auf die bewegte Fläche (Nystagmus), der Grund sein. Doch nicht immer; so nicht bei dem an einer Spirale gewonnenen Nachbild, das sich gleichzeitig in entgegengesetzter Richtung auszudehnen und wieder zusammenzuziehen scheint. Da dürften die abklingenden Netzhautprozesse eine Rolle spielen. In anderen Fällen werden ergänzende Vorstellungen mitwirken, und endlich kann die einseitige Muskelanspannung ähnlich wie bei dem Gelähmten eine Bewegung vortäuschen.

Literatur

W. Lasersohn, Kritik der hauptsächlichsten Theorien über den unmittelbaren Bewegungseindruck. ZPs 61 (1912).

M. Wertheimer, Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung. ZPs 61 (1912).

[S. 137]

SIEBTER ABSCHNITT
Elementare Gefühle

1. Abgrenzung der elementaren oder sinnlichen Gefühle

Was man mit dem Wort Gefühl oder Emotion meint, wird einigermaßen verständlich, wenn man bekannte Erfahrungstatsachen zusammenstellt, wie die Annehmlichkeit des Süßen, die Widrigkeit des Bitteren, die Wonne idealer Begeisterung, die Ergriffenheit der Andacht, der Schmerz des Verlustes, die Freude des Erfolges. Das sind freilich sehr komplexe Erlebnisse, aber wenn wir in Gedanken alles an ihnen wegnehmen, was sie von Sinneseindrücken, Vorstellungen und Gedanken einerseits, an Absichten, Entschlüssen und Strebungen anderseits enthalten, so scheint es, bleibt doch noch etwas übrig, was all diesen Bewußtseinsvorgängen gemeinsam ist, nämlich die eigenartige Affektion des Erlebenden. Oder stellen wir eine Bedeutungsanalyse der Begriffe angenehm und unangenehm an, so finden wir nichts, was mit Recht als Erkenntnis oder als Willensvorgang bezeichnet werden dürfte, und doch ist jeder Unbefangene davon überzeugt, daß mit diesen Worten auf wirkliche Erlebnisse oder Erlebnisbestandteile hingewiesen wird.

Es erscheint nun aussichtslos, alles, was in der Literatur und im Leben als Gefühl genannt wird, miteinander vergleichen und aus diesem Vergleich die elementaren Gefühle ableiten zu wollen. Dafür sind diese Gesamterscheinungen viel zu verwickelt. Da nun normalerweise immer etwas angenehm oder unangenehm ist, gehen wir zweckmäßiger von den einfachsten Erkenntnisgegenständen, den Empfindungen, aus und untersuchen, ob sich Gefühle an sie anschließen. Wir würden solche Gefühle dann als sinnliche bezeichnen. Das Recht, von „sinnlichen oder elementaren“ Gefühlen zu reden, kann uns eine solche Prüfung allerdings nicht geben. Dazu müssen wir hier voraussetzen, was später glaubhaft[S. 138] gemacht werden soll, daß diese Gefühle nicht weiter in Teilgefühle zerlegbar sind und daß sie auch die letzten Bestandteile der sog. höheren Gefühle, wie der logischen, sozialen oder religiösen, bilden.

2. Die Eigenart der sinnlichen Gefühle

Läßt man einen Sinneseindruck möglichst isoliert auf sich einwirken, so wird man in vielen Fällen von einem solchen Eindruck angenehm oder unangenehm berührt, und zwar nicht allein von den Erregungen der niederen Sinne, wie Brentano meinte. Auch eine leuchtende Farbe, ein süßer Ton kann bei der experimentellen Darbietung geradezu wonnig sein. Man hat nun früher die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit als eine Eigenschaft der Empfindung aufgefaßt; wie man Qualität, Dauer, Intensität als Seiten der Empfindung kennt, so fügte man als weitere den Gefühlston hinzu (Ziehen). Der Irrtum rührt von der Schwierigkeit her, Erlebnisse wie Annehmlichkeit zu beobachten. Unsere Auffassung verbindet nachträglich zu gern die Wirkung eines Eindruckes mit diesem selbst: wir sehen es scheinbar dem Zucker an, nicht nur, daß er süß, sondern auch, daß er gut schmeckt. Bemüht man sich indes, das Erlebnis nicht in seiner nachträglichen Verarbeitung, sondern in seiner gegenwärtigen Erscheinung zu erfassen, so will es nicht gelingen, die Annehmlichkeit des Zuckers uns ebenso gegenüberzustellen wie seine Süßigkeit. Dazu kommen noch die beachtenswerten Einwände Külpes gegen diese Auffassung: Das Gefühl zeigt dieselben Eigenschaften wie die Empfindung, nämlich Qualität, Intensität, Dauer; es kann also nicht selbst Eigenschaft der Empfindung sein. Sodann können die anderen Eigenschaften der Empfindung nie zu null werden, ohne daß die Empfindung selbst null würde; das Gefühl aber kann ohne Beeinträchtigung der Empfindung verschwinden. Endlich ist die Empfindung durch Qualität, Intensität und Dauer hinlänglich charakterisiert; das Gefühl trägt zu ihrer Kenntnis nichts Neues bei, sondern verhält sich in dieser Hinsicht ähnlich wie eine zweite Empfindung, die zu einer andern hinzutritt.

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Eine andere Auffassung will in dem Gefühl nicht eine Eigenschaft einer schon vorhandenen Empfindung erblicken, sondern eine neue oder Begleitempfindung, die sich mit der zunächst gegebenen verbindet. So suchte schon James die Gefühle bei den Organempfindungen, und neuerdings will Stumpf, wenigstens für die sinnlichen Gefühle (zentrale) Mitempfindungen einführen. Schmerz und Wohlsein seien die einzigen Qualitäten dieser Mitempfindungen, die sich zu den einzelnen Empfindungen der anderen Sinne hinzugesellten. Dagegen spricht jedoch außer dem ganz hypothetischen Charakter dieser Auffassung und der Fremdartigkeit dieser „Sinne“, für die keine Organe nachzuweisen sind, vor allem der Bewußtseinsbefund. Stumpf läßt die höheren Gefühle, wie Freude am Erfolg, als eine eigene Klasse neben den Erkenntnis- und Willensvorgängen bestehen. Wenn man nun z. B. aus dem Erlebnis der nichtsinnlichen Freude alle Erkenntnis- und Willensmomente hinwegnimmt und auch die Mitempfindung des Wohlseins, die nach Stumpf auch solchen Erlebnissen beigemischt ist, so fragt es sich, ob überhaupt noch ein Erlebnisrest bleibt. Bleibt aber ein solcher, dann ist die erscheinungsmäßige Verwandtschaft, die zwischen ihm und den „Mitempfindungen“ herrscht, eine unvergleichlich engere als die zwischen den Mitempfindungen und den eigentlichen Empfindungen. — Derselbe Gedanke entzieht auch der James-Langeschen Theorie den Boden. Sind wir wirklich nur darum traurig, weil wir weinen (James), oder weil wir irgendwelche Organempfindungen haben (Lange), so bleibt unerklärt, wie denn das merkwürdige Moment des Angenehmen oder Unangenehmen in unser Bewußtsein gelangen soll, da es weder eine Empfindung noch eine Eigenschaft der Empfindung sein kann. Ist doch auch das Gefühl in einer ganz anderen Weise subjektiv, als es irgendwelche Empfindung sein kann.

3. Die Gefühlsdimensionen und -qualitäten

Wie Helmholtz bei den Empfindungen von Modalitäten (die verschiedenen Sinne) und Qualitäten (die verschiedenen[S. 140] Empfindungen desselben Sinnes) sprach, so redet man von verschiedenen Dimensionen der Gefühle überhaupt und von den verschiedenen Qualitäten innerhalb der Dimensionen. Die Zahl der Dimensionen ist nach einigen praktisch unbegrenzt, da die Seele auf jeden Erkenntnisgegenstand anders reagiert. Wundt hingegen zählt drei Gefühlsdimensionen auf: Lust-Unlust, Erregung-Beruhigung, Spannung-Lösung. Die Mehrzahl der Psychologen aber bekennt sich zu der eindimensionalen oder der Lust-Unlusttheorie. Innerhalb der Dimensionen nehmen nun manche Autoren eine Mehrheit von Qualitäten an, so namentlich Wundt, während andere nur je eine Qualität gelten lassen, wie Külpe.

Es wird genügen, hier die Gründe gegen die Dreidimensionalität anzuführen, weil sie gleichzeitig gegen jede Mehrdimensionalität sprechen. Man leugnet nicht, daß es neben Lust-Unlust noch Erregung-Beruhigung, Spannung-Lösung gibt, vermag aber in den beiden letzten Erlebnispaaren nicht elementare Gefühlsvorgänge zu erblicken. Zweifellos herrschen bei diesen Zuständen ausgesprochene Organempfindungen, wie sie schon durch die Beschleunigung und nachherige Verlangsamung des Pulses, durch das Anhalten und nachfolgende Vertiefen des Atmens gegeben sind. Auch gedankliche Momente können namentlich bei der Spannung vorhanden sein. Alle diese Faktoren pflegen von leichten Lust-Unlustgefühlen begleitet zu sein. Sieht man davon ab, so scheint für ein weiteres elementares Gefühl nichts übrigzubleiben.

Gegen die Mehrheit der Qualitäten aber spricht folgendes: Wenn die Gefühle etwa mit den Empfindungen wechselten, so müßte es ihrer eine unglaublich große Zahl geben. Dann wäre es aber schwer begreiflich, daß wir nur so wenige Qualitäten feststellen können, während wir doch bei den ebenfalls sehr mannigfachen und nur wenig voneinander verschiedenen Farbentönen eine gar große Zahl mit Sicherheit herausgreifen. Auch bereitet es keine Schwierigkeit, alle Arten der Lust direkt miteinander zu vergleichen. Übrigens dürfte es auch biologisch hinreichen, wenn die Gefühle nur bekunden, daß unsere Natur durch einen Eindruck angenehm oder unangenehm berührt wird, da ja die Mannigfaltigkeit der Eindrücke durch die Empfindungen ausgiebig zu Worte kommt (Külpe). So beachtenswert solche Gründe auch sind, so schließen sie die Möglichkeit nicht aus, daß einmal durch einwandfreie Beobachtungen die Mehrdimensionalität der Gefühle erwiesen wird. Leider stehen viele der bisher angestellten Versuche zu sehr unter der Herrschaft der Schule, der die Beobachter angehören.

[S. 141]

4. Die Beziehungen zwischen Empfindung und Gefühl

Die Abhängigkeit der Gefühle von den Empfindungen wird experimentell durch die Eindrucksmethode geprüft: man läßt eine Empfindung auf die Vp einwirken und von ihr das entstehende Gefühl beschreiben. Andere Methoden erlauben ein mehr objektives Verfahren. So die Methode der Herstellung: die Vp hat etwa am Spektralapparat die ihr wohlgefälligste Farbe einzustellen. Die Methode der Wahl: aus mehreren Gegenständen, die gleichzeitig geboten sind, ist der wohlgefälligste oder mißfälligste herauszunehmen, oder alle Gegenstände sind ihrer Wohlgefälligkeit nach in eine Rangordnung zu bringen. Endlich die Reihenmethode: aus je einem Paar von Objekten ist das Gefälligere zu bestimmen; wenn dann jedes Objekt mit jedem anderen gleich oft verglichen ist, so gibt die Häufigkeit der Vorzugsurteile für die einzelnen Objekte einen gewissen Maßstab für die Lebhaftigkeit des durch sie geweckten Gefühles. Die objektiven Methoden sind allerdings weniger rein und müssen durch die subjektive ergänzt werden, um die Einflüsse der Erfahrung (den assoziativen Faktor) einigermaßen auszuschließen.

Nach den genannten Methoden läßt sich nun die Abhängigkeit des Gefühles von den Eigenschaften der Empfindung, der Qualität, Intensität und Extensität und der Dauer bestimmen. Welche Empfindungsqualitäten lustvoll, und welche unlustvoll sind, ist in der Hauptsache schon aus dem Alltagsleben bekannt: das Süße, Glatte, Warme usw. ist uns angenehm, das Bittere, Kalte, Rauhe eher unangenehm. Wichtiger ist, daß die niederen Sinne lebhaftere Gefühle hervorrufen als die höheren. Ihre Meldungen sind ja auch im allgemeinen von größerer unmittelbarer Bedeutsamkeit für das Leben, während die Gesichts- und Gehörempfindungen als Bausteine umfangreicherer Erkenntnisse zurücktreten: ob das Automobil, das mich zu überfahren droht, rot oder gelb ist, ist mir zunächst gleichgültig. Es steigert sich darum auch die Gefühlswirkung der Farben und Töne, wenn sie im Experiment isoliert geboten werden.

Die Abhängigkeit des Gefühles von der Empfindungsintensität hat Lehmann genauer untersucht. Die Empfindung muß die „intensive Schwelle“ übersteigen, d. h. sie muß eine gewisse Stärke erreichen, um überhaupt gefühlsbetont zu sein. Mit wachsender Intensität steigt dann Lust und Unlust. Während aber die Lust bei einem gewissen Intensitätsgrad ihren Höhe- und Wendepunkt erreicht, von dem aus sie abnimmt, um schließlich zur Unlust zu werden, scheint diese nur einfachhin zuzunehmen. Der Umschlag der Lust in Unlust brauchte aber nicht auf der Intensitätszunahme[S. 142] als solcher zu beruhen. Es dürften vielmehr allmählich andere Empfindungen hinzutreten, wie bei der Intensitätssteigerung des Lichtes der Blendungsschmerz, die unangenehm sind. — Zu bemerken ist noch, daß manche Empfindungsqualitäten, die im allgemeinen als unlustvoll gelten, stark herabgesetzt, angenehm werden, so manche Gerüche, während andere, die allgemein als lustvoll bekannt sind, bei größerer Intensität unangenehm werden, so das Süß. Beide Tatsachen lassen sich aber auch den soeben dargestellten Gesetzmäßigkeiten zwischen Gefühl und Empfindungsintensität unterordnen, wenn man annimmt, daß z. B. jene Gerüche sich für gewöhnlich in einem zu hohen Intensitätsgrade befinden.

Ähnlich wie bei der Intensität verläuft die Gefühlskurve bei der Dauer. Nachdem die Zeitschwelle überschritten ist, steigen die Gefühle an. Nach einiger Zeit tritt Abstumpfung ein, jedoch bei der Unlust später als bei der Lust. Der schließliche Wandel der Lust in Unlust scheint auch hier nur auf indirektem Wege bewirkt zu werden.

5. Verbindung und Lösung der Gefühle

Wer mehrere Gefühlsdimensionen annimmt, kann ohne weiteres die Verbindung mehrerer Gefühle aus verschiedenen Dimensionen einräumen: lustvolle Erregung, bange Spannung sind uns aus der Erfahrung wohl bekannt. Umstritten ist jedoch die Vereinigung verschiedener Gefühle derselben Dimensionen. Wundt glaubt an eine solche Verbindung zu einem Totalgefühl. Ähnlich wie nach ihm Empfindungen zu einem wesentlich neuen Eindruck verschmelzen, so vereinigen sich nach dem Prinzip der Einheit der Gemütslage die Partialgefühle nicht wie Summanden, sondern wie die Elemente einer chemischen Verbindung. Die Experimente deuten jedoch eher darauf hin, daß wenigstens Lust und Unlust sich nicht einfachhin mischen. Sie wechseln vielmehr ab, je nachdem der die Lust oder der die Unlust bedingende Eindruck beachtet wird. Dagegen dürfte eine Zusammensetzung von Teilgefühlen gleicher Qualität vorkommen, z. B. in dem Gemein- oder Lebensgefühl, das aus den verschiedenen Organempfindungen entspringt.

Von hoher Bedeutung für unser Willensleben ist die Übertragung der Gefühlstöne. Ein Ort, an dem wir Unwillkommenes erlebt, wird uns selbst unlieb u. ä. m.[S. 143] Man hat diese Tatsache bisweilen nach dem Schema der assoziativen Verbindung zu erklären versucht: wie sich eine Vorstellung a mit der Vorstellung b assoziiert, wenn beide gleichzeitig im Bewußtsein sind, so verknüpfe sich das anderweitig verursachte Gefühl mit der Vorstellung, die zufällig gleichzeitig im Bewußtsein sind, so verknüpfe sich das an der des Ortes. Allein die Gefühle sind nicht als derartig selbständige Bewußtseinsinhalte zu erweisen. Im Gegenteil, die Unmöglichkeit, Gefühle für sich allein oder überhaupt zu reproduzieren — wir können uns wohl gedanklich daran erinnern, ein bestimmtes Gefühl verspürt zu haben, aber wir können uns jenes Gefühl selbst nur dadurch wieder anschaulich vergegenwärtigen, daß wir uns das veranlassende Erlebnis vorstellen — zeigt das Gefühl als eine Folgeerscheinung, nicht als selbständigen Vorgang. Auch die Theorie der Gefühle, zu denen die anderweitigen Beobachtungen hindrängen, verträgt sich nur schwer mit dieser Erklärung. Es dürfte vielmehr durch die Wahrnehmung des Ortes die Erinnerung an jenes Erlebnis mit angeregt werden und aus dieser mehr oder weniger bewußten Erinnerung das Gefühl stammen, das wir dann auf den Ort als seine Quelle beziehen. Denn einerseits steht fest, daß die Gefühle dem vollen Bewußtwerden der zugehörigen Vorstellungen vorauseilen, und anderseits werden wir bei der Besprechung der Assoziationen sehen, wie vielerlei Begleitvorstellungen jede Wahrnehmung wachruft. Es wäre übrigens eine bedeutsame Aufgabe, festzustellen, wieviel nur übertragene Gefühlstöne unsere Umwelt aufzuweisen hat und welches Lebensalter für diese Übertragung am empfänglichsten ist.

Die sog. Analogien der Empfindung, das „schreiende“ Rot, das „düstere“ Schwarz, die „freudigen“ Töne usw., beruhen primär nicht auf der Übertragung des Gefühlstones. Es gleichen sich vielmehr die analogen Empfindungen in den Gefühlen, die sie in uns erwecken: düstere Farben und tiefe Töne stimmen ernst, leuchtende Farben und hohe Töne erregen und heitern auf. Diese ursprünglichen Wirkungen bedingen nun ihre zweckbewußte Verwendung, und erst dieser Umstand läßt auch die Übertragung des Gefühlstones ins Spiel treten: Wir verwenden das Schwarz als Zeichen der Trauer, weil es der Trauer entsprechende Stimmungen fördert, aber wegen dieser Verbindung des[S. 144] Schwarz mit den Trauerfällen des Lebens vertieft sich durch Gefühlsübertragung der Stimmungswert des Schwarz.

6. Die physiologischen Begleiterscheinungen der Gefühle

Die Gefühle verschaffen sich auf mannigfache Weise in dem Verhalten des menschlichen Körpers Ausdruck. Sie beeinflussen den Herzschlag (Puls), das Atmen, die Blutverteilung, die Muskelkraft. Es bestand nun die frohe Hoffnung, an bestimmte Gefühle möchte in eindeutiger Weise eine bestimmte physiologische Veränderung gebunden sein. Gelang es dann durch die unmittelbare sinnliche Einwirkung (Eindrucksmethode) oder durch die willkürliche Erinnerung der Vp (Reproduktionsmethode), ein beliebiges Gefühl zu verursachen, so konnte man mit Leichtigkeit die zugehörige körperliche Veränderung als das Symptom jenes Gefühles entdecken, eine Entdeckung, die später den umgekehrten Weg von der Feststellung des Symptoms zur Erkenntnis des herrschenden Gefühles eröffnet hätte. Der Herzschlag ließ sich durch den Kardiographen, der Puls durch den Sphygmographen, die Atmung durch den Pneumographen und die Blutverteilung durch den Plethysmographen nachweisen. Die drei ersten Apparate übertragen den von den verschiedenen Organen ausgehenden Druck pneumatisch oder mechanisch auf einen Hebel, dessen freies Ende mit einer Schreibfeder versehen ist, die einer rotierenden Papierschleife anliegt. Der Plethysmograph ist im wesentlichen ein mit Wasser gefülltes Gefäß, in welches ein Körperglied unter wasserdichtem Verschluß eingeführt wird. Bei manchen seelischen Erregungen drängt nun das Blut in die Extremitäten hinein, bei andern zieht es sich aus ihnen zurück. Dadurch wird das Volumen des Gliedes im Plethysmographen größer oder geringer, was nach außen durch das Fallen oder Steigen des Wassers im Apparate bemerkbar ist. Weiter zeigt das Galvanometer einen Ausschlag, wenn die im Stromkreis befindliche Vp lebhaftere Gefühle verspürt (psychogalvanisches Phänomen). Die Muskelkraft endlich wird durch Hebeleistungen am Ergographen oder durch Druckleistungen am Dynamometer gemessen.

Die Erwartungen, die man an diese Methoden geknüpft hatte, schienen zunächst durchaus erfüllt, bei tieferem Eindringen aber völlig enttäuscht zu werden. Die Versuchsresultate widersprachen sich. Je mehr indes die Selbstbeobachtung der Vp herangezogen wurde, um so mehr lösten sich die Widersprüche. Zunächst sind die physiologischen Schwankungen nicht allein an die Gefühle gebunden, sondern auch an die psychische Tätigkeit, insbesondere an die willkürliche Bewegung. Außerdem ist das Verhalten der Vpn bei den in ihnen erzeugten Erlebnissen nicht immer das gleiche, wodurch notwendig auch die äußere Reaktion eine andere werden muß. Berücksichtigt man diese[S. 145] und andere Fehlerquellen, so ergibt sich doch eine verhältnismäßig hohe Übereinstimmung der Versuchsresultate (Leschke). Es mag genügen, folgende zu erwähnen. Die Lust beschleunigt die Atmung und macht sie flacher, erhöht und verlängert in der Regel auch den Puls; das Blut wird gegen die Peripherie und zum Gehirn verschoben. Diese Veränderungen lassen sich als eine Tendenz zur Erhaltung der Lust deuten; denn „die bessere Blutversorgung in Peripherie und Gehirn bewirkt eine größere periphere wie zentrale Aufnahmefähigkeit für den lustbetonten Reiz“ (Fröbes). Bei Unlustreizen verhalten sich die Vpn verschieden, entweder abwehrend oder sich ergebend. Demgemäß ist die Atmung entweder flach und gehemmt, oder nach anfänglicher Stockung tiefer und langsamer. Die Pulse sind verkürzt und erniedrigt; das Armvolum sinkt; im Gehirn herrscht Anämie, wodurch die Unlustreize schließlich unwirksam werden[6].

7. Theorie der sinnlichen Gefühle

Wir dürfen hier von jenen theoretischen Anschauungen absehen, die wie die James-Langesche oder Stumpfsche Theorie die Gefühle überhaupt als besondere Bewußtseinserscheinungen beseitigen. Auch die Bestimmung älterer Philosophen, das Gefühl sei die Erkenntnis des Nutzens oder Schadens eines Reizes, leugnet die Eigenart der sinnlichen Gefühle, indem sie diese zu Erkenntnisvorgängen macht. Man wird zwar behaupten können, daß sich die Lust im allgemeinen an förderliche, die Unlust im allgemeinen an schädliche Reize anschließe, aber darum ist das Gefühl noch keine Erkenntnis dieser Zweckmäßigkeit. Dasselbe gilt von der Herbartschen Meinung, das Gefühl sei das unmittelbare Innewerden der Hemmung oder Förderung der Vorstellungen (Nahlowsky). Auch diese Theorie ist nicht aus der Beobachtung der Wirklichkeit geschöpft.

Der Grundgedanke der heutigen Theorien lautet: Lust ist Funktionslust, Unlust ist Funktionsunlust, d. h. dem Gefühl entspricht nicht ein besonderer physiologischer Vorgang, sondern eine bestimmte Weise jener physiologischen Prozesse, die der Empfindung dienen. Und zwar kommen dabei die zentralen, nicht die peripheren Prozesse in Betracht,[S. 146] da zwischen den peripher und den zentral erregten Gefühlen kein Unterschied besteht. A. Lehmann hat diese Theorie etwas weiter ausgebaut: Wird der Energieumsatz durch den Stoffwechsel ausgeglichen, dann ist der psychophysische Prozeß von Lust begleitet, andernfalls von Unlust. Einzelne Psychologen schränken diesen Gedanken auf die Organempfindungen ein: nicht etwa die Farbenempfindung selbst, sondern die mit der Farbenempfindung vorhandene Organempfindung ist lust- oder unlustvoll. Je nachdem man nun annimmt, daß die Seele nur auf die Funktionsweise der der Empfindung dienenden Prozesse mit einem Gefühl reagiert, oder daß auch die Funktionsweise anderer Vorgänge ihren Widerhall im Gefühl findet, wird man berechtigt sein, Gefühle ohne Vorstellungsgrundlage anzuerkennen oder nicht. Die bisher beigebrachten Beobachtungen von völlig grundlosen Gefühlen der Angst oder der Freude schließen diffuse, wenig beachtete Organempfindungen nicht mit Sicherheit aus, um so weniger, wenn man auch hier die Möglichkeit berücksichtigt, daß die Gefühle früher klar bewußt werden als die Vorstellungen. Läßt man sie nun gar (im pathologischen Zustand) die Bewußtseinsschwelle vor den Empfindungen erreichen, dann hat man wohl den besten Ausgleich beider Ansichten.

Literatur

A. Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens. 2. Aufl. 1914.

G. Störring, Psychologie des Gefühlslebens. 1916.

[6] E. Küppers (Über die Deutung der plethysmographischen Kurve). ZPs 81 [1919] ordnet die Blutverschiebungen nicht den Gefühlen, sondern den Verhaltungsweisen des Erlebenden zu.

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ACHTER ABSCHNITT
Das elementare Wollen

Seit alters drängte sich dem vorwissenschaftlichen Denken wie der zünftigen Philosophie die Überzeugung auf, daß es im Seelenleben Erscheinungen gibt, deren Kern auf keine der bisher besprochenen Erlebnisformen zurückführbar ist, die darum als besondere Klasse unter den psychischen Elementen aufgezählt werden müssen. Die Sprache hat für diese Phänomene den Ausdruck Wollen oder Streben geschaffen. Während nun in früheren Zeiten kein Zweifel gegen diese allgemeine Überzeugung aufkommen konnte, legte man in der ersten Blütezeit der experimentellen Psychologie keinen besonderen Wert auf diese allgemeine Übereinstimmung, sondern schloß sich dem englischen Sensismus an, der das Wollen als Elementarvorgang entschieden ablehnte. Heute, wo man Wesen und Wert der Selbstbeobachtung inner- und außerhalb des Experimentes wissenschaftlich erfaßt hat, trägt man Bedenken, einer so allgemeinen Anschauung leichthin zu widersprechen, und das um so mehr, als auch die experimentellen Untersuchungen in wichtigen Punkten zu der vorexperimentellen Meinung zurückführen. Gleichwohl sind wir von einer Einheitlichkeit der Lehre noch weit entfernt.

1. Überblick über die verschiedenen Willenstheorien

Kein Psychologe bestreitet das Vorhandensein von Erlebnissen, die als Ganzes den Namen von Willensvorgängen verdienen. Sehr viele der neueren Psychologen hingegen glauben diese Vorgänge auf Erkenntnis oder Gefühl zurückführen zu können. So meint Spencer, die willkürliche Handlung unterscheide sich nur dadurch von der unwillkürlichen, daß bei ihr die auszuführende Bewegung zuvor vorgestellt wird; im übrigen aber sei jede Willenshandlung nichts anderes als eine Folge von Vorstellungen, an die sich dank angeborener Dispositionen die äußere Handlung anschließt. Wir werden später Tatsachen kennen lernen, die zugunsten einer solchen Auffassung sprechen. Ganz ähnlich urteilt Th. Ziehen. Statt des Willensaktes nimmt er[S. 148] nur eine „intensive, von starken Gefühlstönen begleitete Zielvorstellung“ an. Auch Meumann gehört neben Ebbinghaus, Ribot und Janet zu dieser ersten Gruppe. Wenn Meumann auch von der „Zustimmung“ als dem Ursprung der willkürlichen Handlung spricht, so will er damit doch kein nichterkenntnismäßiges Element einführen. Münsterberg hingegen suchte das Charakteristische der Strebevorgänge in den Spannungsempfindungen, die der erwarteten Bewegung vorausgehen. Als grundsätzlichen Gegner der Genannten betrachtet sich Wundt. Er bezeichnet seine Psychologie mit Vorliebe als voluntaristische, da erst sie der Eigenart des Wollens gerecht werde. Der Willensvorgang ist nach ihm ein Affekt, der in seinem eigenen Verlauf seine Lösung findet. Es sind also Gefühle, in die Wundt das Wesen des Wollens verlegt. Eine letzte Gruppe endlich erklärt das Wollen als einen von Vorstellungen und Gefühlen wesentlich verschiedenen Vorgang. So außer den Aristotelikern namentlich Lotze und von den neueren Pfänder, Schwarz, Ach und Michotte.

2. Die experimentelle Untersuchung des Willens

So beachtenswert die einhellige Annahme eines ursprünglichen Wollens durch die überwiegende Mehrheit der älteren Philosophen auch war, sie verlor an Bedeutung, als man einerseits die Schwierigkeit und Unzuverlässigkeit einer unkontrollierbaren Selbstbeobachtung, anderseits gewisse Tatsachen kennen lernte, die ein eigentliches Wollen überflüssig erscheinen ließen. Man beobachtete nämlich, wie sich bisweilen die äußere Handlung rein mechanisch ohne Dazwischenkunft eines besonderen Willensaktes, ja vielfach ganz gegen die Absicht des Handelnden an bestimmte Vorstellungen anschloß. Als man später die Willenshandlung in der Form einfachster Reaktionsbewegungen, wobei etwa auf das Hören eines Signals ein Taster niederzudrücken war, dem Experiment unterwarf, stellte sich heraus, daß die Vpn nichts von einem Willensakt erlebten. Die fortschreitende Technik des psychologischen Experimentes zeigte allerdings, daß hier ein doppelter Fehler begangen war. Erstens braucht der bestimmende Willensakt nicht während der gewollten Handlung aufzutreten. Ach zeigte vielmehr, daß von dem Vorsatz determinierende Tendenzen ausgehen, die den Verlauf der Willenshandlung auch ohne Erneuerung des Willensaktes sicherstellen. Man hatte sonach den Willensakt an einer verkehrten Stelle erwartet: nicht bei der Ausführung des Versuches, sondern bei der willkürlichen Übernahme der Anweisung des Versuchsleiters hätte er gesucht werden müssen. Zweitens hatte man mechanisierte Vorgänge mit von Haus aus einfachen verwechselt: geläufige Fingerbewegungen enthalten kaum noch irgendwelche bedeutsamen Erlebnisse, sind also zum Studium des Willensvorganges ungeeignet. Ach führte[S. 149] darum die fruchtbare Neuerung ein, durch vorgeschobene Hindernisse einen möglichst ausgesprochenen Willensakt zu veranlassen. Er ließ zuvor Silbenpaare einprägen, bot alsdann die erste der gelernten Silben mit der Anweisung, nicht die hinzugelernte auszusprechen, sondern eine beliebige andere Silbe zu nennen bzw. zu der ersten einen Reim zu bilden u. dgl. Die vorausgehende Einprägung schuf ein Hindernis für die Ausführung der Vp. Um dieses zu überwinden, bemühte sie sich, namentlich wenn sie erfahren, wie die eingeprägte Silbe sich gegen jede Absicht durchzusetzen suchte, mit einem recht energischen Willensakte die verlangte Reaktion sicherzustellen. Auf die Bedenklichkeiten dieses experimentellen Verfahrens brauchen wir hier nicht einzugehen. Es war jedenfalls insofern erfolggekrönt, als es Ach zum erstenmal gelang, den Willensakt wirklich beobachten zu lassen. Einen andern glücklichen Versuch unternahm Michotte. Er führte experimentell einen Wahlakt herbei, indem er seinen Vpn je zwei Zahlen bot mit der Aufforderung, sich auf ernsthafte Gründe hin zu entscheiden, ob sie die vorgezeigten Zahlen addieren oder subtrahieren, bzw. in anderen Versuchen multiplizieren oder dividieren wollten. Statt der Ausführung der von den Vpn gewählten Rechenoperation verlangte er eine Reaktion mit dem Morsetaster. So gewann er gegenüber Ach den Vorteil, den Willensakt in die sogen. Hauptperiode des Versuches zu bekommen, während bei Ach der energische Vorsatz jedesmal unmittelbar vor dem eigentlichen Experiment lag, und zweitens gestattete der Verzicht auf die Verwirklichung der gewählten Rechenoperation, den Versuch sofort nach dem Wahlakt abzubrechen, wodurch die schwierige Beobachtung dieses Aktes ungemein gefördert wurde. Trotz der Geringfügigkeit des Wahlgegenstandes erlebten alle Vpn eine ernsthafte Wahl, die mit den Entschließungen des Alltags grundsätzlich vergleichbar war. Auch verschlug es nichts, daß die Vpn die Rechnung nicht ausführen mußten; denn die Tasterreaktion nahm ganz und gar den Charakter einer Verwirklichung des Vorsatzes an. Aber nur ganz allmählich erlernten die Vpn ihr flüchtiges Erlebnis beobachten und beschreiben.

3. Das elementare Wollen nach den experimentellen Ergebnissen

Die Untersuchungen von Michotte sowie die von Ach und seinen Schülern führten einhellig zu dem Resultat: es gibt ein eigentliches Erlebnis des Wollens. Vorstellungen, Spannungsempfindungen und Gefühle können es gelegentlich begleiten, sind ihm jedoch nicht wesentlich. Auch unterscheidet sich dieses Erlebnis deutlich von jeder rein assoziativen Folge von Vorstellungen oder Bewegungen. Seine[S. 150] Eigenart beruht darin, daß es eine innere Tätigkeit ist, und zwar eine solche, die man nur dann richtig beschreibt, wenn man das Ich als Subjekt oder Ausgangspunkt dieser Tätigkeit nennt. Diese Betätigung des Subjektes ist durchaus nicht mit der Konstatierung „ich will“ zu verwechseln. Sie ist vielmehr die Stellungnahme des Subjektes zu einem Ziel, sie ist das, was wir als „Streben“ bezeichnen. Es ist ihr aber nicht wesentlich, wie Ach meinte, daß sie sich stets auf ein zukünftiges Tun bezieht; die Wahlentscheidungen bei Michotte waren Willensakte, die ausschließlich die Gegenwart berücksichtigten.

Man wird die genannten Verschiedenheiten des Wollens wohl kaum als Qualitäten des Willensaktes auffassen dürfen. Als solche findet man öfters Wollen und Widerstreben genannt. Leider kann sich diese Unterscheidung vorerst noch nicht auf experimentelle Befunde stützen, weshalb der Anerkennung eines negativen Wollens gleichmäßig seine Verwerfung gegenübersteht, indem man behauptet, das Widerstreben sei nur das Wollen eines andern Zieles.

Sehr geläufig ist dagegen der Alltagserfahrung die Unterscheidung verschiedener Intensitäten des Wollens. Wir kennen energisches und flaues Wollen. Auch Ach unterscheidet das ausgeprägte primäre und das schwache Wollen. Allein die hier ganz wesentliche Frage, ob die gemeinhin wahrzunehmende Steigerung des gesamten Willensaktes auch seinem inneren Kern, nämlich dem elementaren Wollen beizulegen ist, oder ob nur die Ausstaffierung des Willensaktes durch lebhaftere Gefühle, stärkere Spannungsempfindungen, lautere Beteuerungen eine Intensitätssteigerung vortäuscht, ist heute noch nicht mit Sicherheit zu beantworten. Manche Versuchsergebnisse deuten eher in die Richtung, daß der Willensakt nicht intensiver, sondern nur unbedingter werden kann, d. h. daß er sein Ziel nicht mit vermehrter Kraft, sondern um höheren Preis anstrebt.

Sehr bedeutsam für die Auffassung des Willensaktes ist endlich die Beobachtung Michottes, die sich im Grunde auch bei Ach finden läßt, daß das Wollen nicht an eine bestimmte gewissermaßen äußere Art des Erlebens gebunden[S. 151] ist. Das charakteristische Tätigkeitserlebnis des Wollens kann vielmehr gleichsam die Seele der verschiedensten Prozesse bilden: Worte, Gesten, inneres Meinen, inneres Hinzielen ist bald ein willentlicher, bald ein unwillentlicher Vorgang, je nachdem sich das eigentliche Wollen mit ihnen verbindet oder nicht. Anderseits sprechen gute Beobachtungen dafür, daß es ein isoliertes Wollen, einen reinen Willensakt nicht gibt: wie die Seele den Körper, so braucht der Willensakt eine Verhaltungsweise, in der er sich kundgibt.

Das von Ach und Michotte untersuchte Wollenserlebnis ist zwar nicht als elementares zu bezeichnen, sondern als vollbewußtes. Weitere Untersuchungen zeigen jedoch, daß der „Willenszug“ bei ihm der gleiche ist wie beim triebhaften Wollen. Beide unterscheiden sich nur durch das zum Willensakt hinzutretende Wissen vom Wollen und seinen Zielen. Der Trieb ist das naturhafte, nach Akt und Ziel nicht beachtete Streben.

Literatur

N. Ach, Über den Willensakt und das Temperament. 1910.

A. Michotte et N. Prüm, Etude expérimentale sur le choix volontaire et ses antécédents immédiats. Arch. de Psych., Bd. 10. 1910.

J. Lindworsky, Der Wille.³ 1923.

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II. Buch
DIE VORSTELLUNGSERNEUERUNG ALS GRUNDLAGE DER HÖHEREN PSYCHISCHEN LEISTUNGEN

Verfügten wir nur über die bisher aufgezählten Fähigkeiten des Seelenlebens, dann wäre ein nennenswerter Fortschritt nicht zu erreichen. Ein ungefähres, aber längst nicht ausreichendes Bild von der Hilflosigkeit eines solchen Geistes gibt uns der Zustand greisenhafter Gedächtnisschwäche, bei der kein neuer Eindruck haften bleibt. Die psychologische Tatsache also, die wir bei der Analyse und Erklärung der bis jetzt beschriebenen Bewußtseinserscheinungen ganz oder fast ganz unbeachtet ließen, die wir jedoch bei der Besprechung der höheren Leistungen nicht mehr missen können, ist die Tatsache der Vorstellungserneuerung. Wenn wir wie immer von dem unmittelbar Gegebenen ausgehen, dann treffen wir bei dem Erwachsenen die Überzeugung, daß uns früher Erlebtes wieder in den Sinn kommt. Die erkenntniskritische Frage, ob diese Erinnerungen mit der tatsächlichen Vergangenheit übereinstimmen, und die erkenntnispsychologische Frage, wie es überhaupt zu dem Bewußtseinsinhalt „mein früheres Erlebnis“ kommt, darf an dieser Stelle ausgeschaltet werden.

ERSTER ABSCHNITT
Die allgemeinen Gesetze der Vorstellungserneuerung

1. Die Wiedervergegenwärtigung vergangener Erlebnisse ist eine überaus mannigfache, allzu mannigfach, so möchte es scheinen, als daß sie sich irgendwelchen Gesetzen einordnen ließe. Fragen wir uns aber zunächst einmal nach den[S. 153] Erlebnisarten, die sich reproduzieren lassen, so vermissen wir darunter alsbald Willensakte und Gefühle. Wir erinnern uns zwar an die Tatsache, daß wir einen Entschluß gefaßt haben und daß wir traurig waren, ja bei dem Gefühl ist noch etwas mehr vorhanden: taucht die Erinnerung an den Anlaß der früher erlebten Trauer auf, dann werden wir aufs neue traurig, aber dieses Gefühl trägt nicht den Erinnerungscharakter, wie die es veranlassende Vorstellung. Auch sind wir nicht imstande, ein Gefühl unmittelbar und für sich wieder lebendig zu machen, sondern müssen uns zuvor an seinen Anlaß erinnern. Diese Unmöglichkeit, sich des Gefühles zu erinnern, stimmt auch ganz zu der theoretischen Auffassung, die wir uns über das Wesen des Gefühls bildeten, ebenso wie es in der Natur der Akte (des Erkennens und Wollens) liegt, nicht reproduzierbar zu sein. Es bleiben somit für die Reproduktion übrig jene Eindrücke, die unmittelbar von Empfindungen herrühren. Es hat sich aber bei Reproduktionsversuchen gezeigt, daß nicht nur die sinnlichen Eindrücke wieder ins Bewußtsein gerufen werden können, sondern auch die Beziehungen, die wir an ihnen entdeckt haben: wir erinnern uns auch an Sachverhalte. Oft ist es sogar zunächst ein Sachverhalt, der sich bei der Bemühung um eine Reproduktion einstellt: so besinnen wir uns auf einen Namen und finden zunächst, er sei ganz ähnlich einem anderen. Es muß hier allerdings noch dahingestellt bleiben, ob die Reproduktion eines Sachverhaltes gleich unmittelbar ist wie die von sinnlichen Eindrücken.

2. Vorstellungen und Sachverhalte tauchen beim Besinnen oder gelegentlich auch ungesucht in unserer Erinnerung auf. Sammelt man solche Erinnerungserlebnisse in genügender Zahl, so offenbart sich trotz aller Buntheit der Einfälle eine gewisse Gesetzmäßigkeit, die zum Teil schon Aristoteles aufgefallen ist. Eine Wahrnehmung oder auch eine Vorstellung ist häufig von einer Reproduktion gefolgt, deren Gegenstand in örtlicher oder zeitlicher Berührung mit dem Gegenstand der vorausgehenden Wahrnehmung oder Vorstellung sich befand; der Anblick[S. 154] einer Straße ist gefolgt von der Erinnerung an einen Unfall, der sich dort abgespielt. Die Regelmäßigkeit, mit der unter solchen Bedingungen eine Vorstellungserneuerung eintritt, und die eigenartige Erlebnisweise, die manchmal dabei zu beobachten ist: die vorausgehende Wahrnehmung berührt uns merkwürdig; ist inhaltsschwerer als andere; läßt uns nicht so schnell los; wir spüren, wie in unserem Bewußtsein sich irgend etwas herausarbeitet usw.; all dies bestimmt uns sehr bald, in der vorausgehenden Wahrnehmung die Ursache jener Vorstellungserneuerung zu erblicken. Wir sagen: jene Wahrnehmung erinnert mich an, wir bezeichnen sie als das Reproduktionsmotiv und behaupten, es gehe von ihr eine Tendenz aus, die mit ihrem Gegenstand zeitlich und örtlich verknüpften Gegenstände ins Bewußtsein zu rufen. Eine gleiche Tendenz entdeckte sodann Aristoteles hinsichtlich der dem Wahrnehmungsgegenstand entgegengesetzten und endlich der ihm ähnlichen Dinge: Gegensätzliches und Ähnliches rufen sich wechselseitig ins Bewußtsein.

Zu diesen drei fand man in unserer Zeit noch andere Reproduktionsfälle. Nicht nur Vorstellungen von Gegenständen, die örtlich oder zeitlich mit andern Gegenständen verknüpft sind, werden zum Reproduktionsmotiv für die Vorstellungen eben jener Gegenstände, auch Vorstellungen, die ersteren nur inhaltlich ähnlich sind, rufen letztere herbei: Die Farbe blau ruft die Wortvorstellung blau ins Bewußtsein, aber auch die Farbe violett soll von dem Kinde, das sie zum erstenmal sieht, blau benannt werden; hier hätte also die Wahrnehmung violett dieselbe Vorstellung reproduziert, wie das ihm ähnliche blau. Dieses Gesetz der Substitution ist natürlich nicht mit dem aristotelischen Gesetz der Ähnlichkeit zu verwechseln. Weiterhin werden bisweilen Vorstellungen bewußt, ohne daß eines der genannten vier Gesetze dafür verantwortlich gemacht werden kann. Es sind das immer Vorstellungen, die kurze Zeit zuvor erlebt wurden. Man spricht da von der Perseverationstendenz (G. E. Müller): eine Vorstellung, die einmal im Bewußtsein war, hat die Neigung, bald wieder bewußt zu werden. Endlich treten hie und da Vorstellungen ins Bewußtsein ohne jedes erkennbare Reproduktionsmotiv. Man nannte sie freisteigende Vorstellungen. Die Zahl der sicher erwiesenen Fälle von freisteigenden Vorstellungen ist indes nicht so groß — zumeist hatte man das Reproduktionsmotiv übersehen oder wieder vergessen —, daß durch sie die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Vorstellungserneuerung in Frage gestellt würde.

[S. 155]

3. Man versuchte nun, die drei aristotelischen Gesetze auf eines zurückzuführen. Zunächst das Kontrastgesetz. Gegensätze finden sich bisweilen in der Natur beieinander, so Berg und Tal, Festes und Flüssiges. Sodann machen Gegensätze einen starken Eindruck auf den Erlebenden. Man wird darum eher auf sie aufmerksam und vereinigt so die gegensätzlichen Inhalte im Bewußtsein, während nichtgegensätzliche Inhalte unter sonst gleichen Bedingungen nur vereinzelt und getrennt aufgefaßt werden. Aus dem nämlichen Grunde stellt die Sprache so häufig die Gegensätze nebeneinander: jung und alt, arm und reich. Es lassen sich also gar manche Fälle der Kontrastreproduktion auf die Berührung in Raum und Zeit zurückführen. In andern Fällen weisen die Gegensätze Ähnlichkeiten auf: schwarz und weiß sind darin einander verwandt, daß sie beide neutrale Farben sind und beide an einem Ende der neutralen Qualitätenreihe stehen. Hier bleibt sonach eine Reduktion auf das Ähnlichkeitsgesetz möglich. Aus diesem Grunde läßt man das Kontrastgesetz heute nicht mehr als ursprüngliches Reproduktionsgesetz gelten.

Auch das Ähnlichkeitsgesetz dürfte sich als nicht elementar erweisen. Die bis jetzt bekannten Fälle, wo eine Vorstellung nicht eine mit ihr örtlich oder zeitlich verbundene, sondern eine nur ähnliche Vorstellung weckt, zeigen alle eine partielle Gleichheit beider Vorstellungen: Wenn die Silbe pön statt der gleichzeitig mit ihr gesehenen Silbe ref die Silbe lön ins Bewußtsein ruft, so ist dem Reproduktionsmotiv pön und der reproduzierten Vorstellung lön der Teil ön gemeinsam. Dieser Teil perseveriert aus der ersten Vorstellung und zieht nach dem Gesetz der raum-zeitlichen Berührung den früher mit ön gleichzeitig gesehenen Bestandteil l nach sich (Peters). Partielle Gleichheit kann vorhanden sein, auch wenn die Dinge nicht so einfach liegen wie in diesem Fall. Es möge eine kleine schwarze Sicherheitsnadel die Vorstellung einer großen weißen reproduzieren. Auch da haben wir außer der Zweckgleichheit die Gleichheit der Behandlungsweise und der Gestalt. Endlich wird in vielen Fällen die Reproduktion zwischen ähnlichen Vorstellungen keine unmittelbare sein, sondern durch die Reproduktion eines Sachverhaltes bedingt werden: an die Wahrnehmung der Vorstellung eines Dinges schließt sich das Wissen an: hierzu gibt es etwas Ähnliches. Überdies können, wie Selz gezeigt hat, die meisten der bisher erwiesenen Fälle der Ähnlichkeitsreproduktion aus dem später zu besprechenden Gesetz der Komplexergänzung erklärt werden.

Somit bleibt von den drei aristotelischen Gesetzen nur das Berührungsgesetz als fundamentales übrig. Damit ist auch die Unebenheit ausgeglichen, daß die beiden ersten Gesetze sich auf inhaltliche Momente stützen, während das letzte dem Inhalt gegenüber völlig indifferent ist und nur auf das zufällige Zusammensein mehrerer Inhalte im Bewußtsein Bezug nimmt. Auch dieses Gesetz[S. 156] hat man durch Ausscheidung des Raummomentes zu vereinfachen und durch Ausweitung des Begriffes der zeitlichen Berührung jenen Tatsachen anzupassen gesucht, in denen eine Reproduktion von aufeinanderfolgenden Vorstellungen beobachtet wurde. In der Tat ist das Raummoment, wie leicht zu finden, überflüssig. Anderseits ist die Ausdehnung der zeitlichen Berührung auf nahe zeitliche Folge unnötig. Wie wir gesehen haben, entfallen die Erlebnisse nicht sofort dem Bewußtsein, sondern klingen langsam ab. Darum findet ein nach kurzer Pause aufgenommener Eindruck die unmittelbar vorausgegangenen noch vor und wird mit ihnen zu einem Bewußtseinsinhalt vereinigt. Beachtet man zudem, wie sich bei freier Reproduktion die Vorstellungen aneinanderschließen, so wird man sie nicht so sehr als einzelne für sich abgeschlossene Bewußtseinsinhalte, denn vielmehr als Teile eines Gesamtbewußtseins betrachten und den Nachdruck nicht auf die zeitliche Berührung, sondern auf die Zugehörigkeit zu einem Gesamtbild legen (Poppelreuter). Wir kommen so zu dem einen Hauptgesetz der Reproduktion: ein bewußt gewordener Teil eines früheren Gesamtbewußtseins hat die Tendenz, die übrigen Teile jenes Gesamtbewußtseins nach sich zu ziehen.

Es scheint nicht ausgeschlossen, auch die meisten Perseverationserscheinungen diesem Hauptgesetz unterzuordnen. Die Tatsache, daß eine bestimmte Vorstellung immer wieder ins Bewußtsein drängt, ist häufig durch die Reproduktion allein verständlich: im Hause des Verstorbenen wird man beständig an den Toten erinnert. Hat gar ein Erlebnis starke Organempfindungen hervorgerufen, so trage ich in den bekanntlich länger anhaltenden körperlichen Erregungen das Reproduktionsmotiv für die Vorstellung jenes Erlebnisses im eigenen Leibe mit mir herum. Der Vorgang kann aber auch anders verlaufen. Gewisse Vorstellungen mögen das Bewußtsein beschäftigt haben und durch andere abgelöst worden sein. Läßt nun letzteren gegenüber die Aufmerksamkeit nach, so kann wieder eine der früheren Vorstellungen bewußt werden, ohne im bisherigen Sinne reproduziert zu sein. Nehmen wir nun an, diese Vorstellung sei nicht ganz aus dem Bewußtsein geschwunden gewesen, sondern nur zurückgetreten, und ihr wende sich jetzt wieder die Aufmerksamkeit zu, so wäre sie eben der bevorzugte Bewußtseinsinhalt und würde sich als solcher nach dem allgemeinen Reproduktionsgesetz wieder zu entfalten suchen. In manchen Fällen kann man allerdings kaum voraussetzen, daß sich die frühere Vorstellung im Bewußtsein erhalten habe. Wir müssen dann annehmen, die dem bewußten Phänomen entsprechende Gehirnerregung habe noch fortbestanden und dank des Zurücktretens der anderen Bewußtseinsinhalte die Vorstellungserneuerung veranlaßt.

In ähnlicher Weise deutet auch die Substitution auf die (partielle) Gleichheit physiologischer Prozesse hin, wenn anders sie sich überhaupt bestätigt. Die bisher beigebrachten Nachweise sind[S. 157] noch zu dürftig. Denn die sinnlosen Silben, an denen Müller und Pilzecker sie entdeckten, enthalten immer gleiche Elemente: wenn die Silbe pön eine zu lön gelernte Silbe herbeiführt, so könnte dies daher kommen, daß nur der beiden Silben gemeinsame Teil ön für die Reproduktion ausschlaggebend wird. Das gleiche gilt von der Reproduktion eines Liedtextes durch eine transponierte Melodie. Gewiß mögen bei dieser alle Noten andere sein als die urspünglich mit dem Text verbundenen, aber es bleibt noch die in beiden Fällen gleiche Gestalt, die Melodie, die zweifellos für die Reproduktion des Textes verantwortlich ist. Als beweiskräftig erübrigt nur noch die Substitution ähnlicher Farben und Gerüche. Leider ist nirgendwo ein exakter Beweis für eine solche Substitution erbracht. Ein solcher hätte übrigens auch eine mittelbare Reproduktion (etwa infolge gleicher Wirkungen auf den Organismus) auszuschließen.

Auch die kleine Zahl von wirklich freisteigenden Vorstellungen muß wohl durch eine besondere Konstellation physiologischer Prozesse erklärt werden. Wie man sich dies im einzelnen zu denken hat, kann erst weiter unten besprochen werden.

Kann die Frage nach dem Hauptgesetz der Reproduktion, d. h. die Frage, welche Inhalte uns bei der Vorstellungserneuerung bewußt werden, als gelöst gelten, so ist die weitere Frage nach dem Wie der Vorstellungsentfaltung noch kaum in Angriff genommen. Nur den einen Satz kann man aufstellen: die Vorstellungsentfaltung vollzieht sich meist vom Allgemeinen zum Besondern. Jedoch sind die Bedingungen noch aufzufinden, unter denen dieser Satz aus einer Regel zu einem Gesetz wird.

Literatur

W. Poppelreuter, Über die Ordnung des Vorstellungsablaufes. APs 25 (1912).

J. Lindworsky, Beiträge zur Lehre von den Vorstellungen. APs 42 (1921).

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ZWEITER ABSCHNITT
Die Assoziation als Grundlage der Reproduktion

Die Tatsache, daß früher gewonnene Eindrücke wieder aufleben, nötigt zur Annahme, solche Eindrücke oder Wahrnehmungen seien nicht einfachhin verloren gegangen, sondern würden irgendwie in uns unbewußterweise aufbewahrt. Die weitere Tatsache, daß das Bewußtwerden eines Teiles einer früheren Wahrnehmung die Bedingung für das Bewußtwerden des übrigen Teiles ist, beweist, daß zwischen den Teilen der Gesamtwahrnehmung irgendwelche Verbindung besteht. In früheren Zeiten, wo man diese Teile der Gesamtwahrnehmung als in sich abgeschlossene Vorstellungen oder gar Ideen auffaßte, prägte man die Bezeichnung „Vorstellungs-“ oder gar „Ideenassoziation“. Wir können den Ausdruck Assoziation der Vorstellungen beibehalten, ohne deshalb die einzelnen Vorstellungen fälschlich als in sich abgeschlossene Dinge zu nehmen. Es fragt sich nunmehr: wie kommt jene Aufbewahrung der früheren Eindrücke und die Verbindung ihrer Teile zustande? Sind sie dem Untergrund des Bewußtseins, etwa der substantiellen Seele zuzuschreiben oder den Gehirnvorgängen oder beiden? Eine endgültige Antwort auf diese Frage kann die experimentelle Psychologie nicht geben. Sie kann aber das Tatsachenmaterial vorlegen, auf das sich jeder verständige und wissenschaftliche Lösungsversuch zu stützen hat. An dieser Stelle nun dürfen wir die Berücksichtigung der körperlichen Vorgänge, die mit den seelischen in Verbindung stehen, nicht länger umgehen.

[S. 159]

1. Kap. Gehirn und Bewußtsein

1. Das Nervensystem

Die Reizung der Sinnesorgane, des Auges, der Haut usw. bedingt einen seelischen Eindruck. Diese Sinnesorgane sind nun, wie die Anatomie nachweist, durch feinste Verbindungen, die Nerven, an das Zentralnervensystem, d. h. an das Rückenmark, das verlängerte Mark und das Gehirn, angeschlossen: die Durchschneidung dieser Verbindung macht das Auftreten einer Empfindung unmöglich. Diese Verbindung der Peripherie mit dem Zentrum ist aber nicht eine ununterbrochene Leitung, sondern setzt sich aus mehreren Neuronen (Fig. 6) zusammen. Das Neuron besteht aus einer Nervenzelle (Ganglienzelle) und deren Fortsätzen, nämlich den kürzeren Verästelungen (Dendriten) und dem langen Achsenzylinder, durch den sich die Erregung der Ganglienzelle fortpflanzt. An seinem freien Ende splittert sich der Achsenzylinder in feine Endbäumchen auf, die sich manchmal wie ein korbartiges Geflecht um die Ganglienzelle eines anderen Neuron legen. Somit scheint die Übertragung der Nervenerregung nicht durch direkte Leitung, sondern durch eine Art Induktion zu erfolgen.

Fig. 6. Schema eines Neuron (nach E. Becher, Gehirn u. Seele. C. Winters Verlag. Heidelberg). K Kern der Ganglienzellen, d Dendriten, n Achsenzylinder, k seitliche Fortsetzung, e Endbäumchen.

Nicht immer wird die von der Körperoberfläche kommende Erregung bis zum Gehirn fortgeleitet. Dringt sie z. B. durch die hintere (sensible) Wurzel eines Rückenmarksnerven in das Rückenmark, so kann sie dort schon auf einen motorischen Nerv übertragen und durch die vordere (motorische) Wurzel der Rückenmarksnerven wieder nach außen, und zwar zu einem Muskel, geführt werden, der sich alsbald bewegt, wenn ihn die Erregung trifft. So entsteht der einfache Reflexbogen (Fig. 7) der Rückenmarksreflexe, die ohne jedes Bewußtsein verlaufen. Sie funktionieren, auch wenn man das Groß- [S. 160]und das Mittelhirn abgetrennt hat. Ist der periphere Reiz stärker, so beschränkt er sich nicht auf diesen einfachen Bogen. Er steigt vielmehr im Rückenmark auf ein höheres Niveau und erregt dort einen motorischen Nerven. Darum fängt der geköpfte Frosch allmählich mit allen Gliedmaßen zu strampeln an, wenn man eine Hautstelle stärker und stärker reizt. Die stärksten Sinnesreize gelangen bis zur dünnen (3–5 mm beim Menschen) Gehirnrinde. In ihr befinden sich ungezählte Ganglienzellen, die ihr die graue Färbung verleihen, während die markhaltigen Leitungsfasern (Achsenzylinder) dem Durchschnitt der Leitungsstränge, zu denen sie sich vereinigen, ein weißes Aussehen geben. Die Ganglienzellen der Hirnrinde stehen auch untereinander durch die sogenannten Assoziationsfasern in Verbindung. Soviel man heute weiß, entspricht nur der Erregung der grauen Hirnrinde ein Bewußtseinsvorgang.

Fig. 7. Schema des Reflexbogens (nach E. Becher, Gehirn und Seele C. Winters Verlag, Heidelberg). w weiße Substanz, gr graue Substanz des Rückenmarks, s sensible, m motorische Nervenfasern, sg Spinalganglien der sensiblen Faser, a Achsenzylinder, k seitl. Fortsetzung, e Aufsplitterung des Achsenzylinders, mz motorische Ganglienzelle.
2. Die Zuordnung einzelner Gehirnteile zu psychischen Funktionen

Die Sektionsbefunde nach geistigen Störungen, die Exstirpation einzelner Gehirnpartien an lebenden Tieren, die Reizung zufällig bloßgelegter Gehirnteile, die anatomische Verfolgung der nervösen Bahnen, die Vergleichung der Gehirnentwicklung in der gesamten Tierreihe, diese und andere Methoden der Gehirnforschung ergeben ziemlich enge Beziehungen zwischen Gehirn und Geistesleben. Je besser das Zentralorgan, namentlich die graue Hirnrinde ausgebildet ist, um so höher steht das geistige Leben des Individuums. Man darf zwar weder das absolute Gewicht des Gehirns als Maß der geistigen Bedeutung nehmen — es stünde dann der Elefant an der Spitze —, noch darf man das Verhältnis des Gehirn- zum Körpergewicht allein berücksichtigen — dann überträfen die kleinen Vögel den Menschen —, stellt man aber mit Lehmann beide Faktoren in Rechnung, so ergibt das Produkt beider, H H/K = H²/K (H = Hirngewicht, K = Körpergewicht), ein ungefähres Maß der geistigen Höhe.

Es zeigt sich zweitens, daß bestimmte Gebiete der grauen Hirnrinde ziemlich eng mit bestimmten psychischen Vorgängen verbunden[S. 161] sind. (Fig. 8.) So dient der Hinterhauptslappen beider Hirnhemisphären den Gesichtseindrücken, der Schläfenlappen dem Hören, ein Teil der dritten linken Stirnwindung (Brocasches Zentrum) ist den Sprechbewegungen, ein Teil der ersten linken Schläfenwindung (Wernicke) dem Sprachverständnis zugeordnet, während die Scheitelgegend den Körperbewegungen zugehört. Manche Funktionen scheinen, wie die schon erwähnten der Sprechbewegungen und des Sprachverständnisses, vorwiegend einseitig lokalisiert zu sein, bei Rechtshändern links und umgekehrt bei Linkshändern rechts; andere, wie Sehen und Hören, sind gleichmäßig auf beide Hälften der Hirnrinde verteilt, und zwar dient beim Sehen der linke Hinterhauptslappen der linken Netzhauthälfte beider Augen und der rechte der rechten; ein Teil der optischen Nerven verläuft also gekreuzt. Da aber beide Gehirnhemisphären miteinander durch besondere Leitungswege verbunden sind und ein Teil der Nervenfasern auch direkt in die andere Hälfte einmündet, so kann bei Versagen des einen Teiles der andere zur Not aushelfen und allmählich ausgebildet werden.

Fig. 8. Schema der Gehirnwindungen (nach E. Becher, Gehirn und Seele. C. Winters Verlag, Heidelberg).

In der Beurteilung des Zusammenhanges von Gehirn und psychischen Funktionen hat man sich vor zwei Extremen zu hüten. Es ist einerseits verkehrt, jede Zuordnung bestimmter Regionen zu bestimmten Tätigkeiten zu bestreiten. Trotz mancher Schwankungen und Unklarheiten bestätigen sich die genannten Beziehungen immer wieder. Die bisweilen zu beobachtende Stellvertretung beschädigter Gehirnpartien durch andere ist nicht durch ein freies Wandern der psychischen Funktionen über die Gehirnrinde, sondern dadurch zu erklären, daß die stellvertretenden Gebiete auch schon früher, wenngleich schwächer, an der psychischen Funktion beteiligt waren. Die Koppelung[S. 162] von Hirnvorgang und seelischer Erregung scheint vielmehr eine recht enge und scharf umschriebene zu sein. Nur so versteht man, daß infolge gewisser Krankheiten sauber umgrenzte Gebiete unseres Wissens, wie einzelne fremde Sprachen, ausfallen können. Das gleiche beweisen die Abarten der Aphasie, bei denen teils nur das Selbstsprechen, teils nur das Nachsprechen oder das Sprachverständnis gestört sein kann; ferner die Lesestörungen (Alexie), wo nur das Leseverständnis oder das laute Lesen, endlich die Schreibstörungen, wo infolge von Gehirndefekten entweder nur das Spontanschreiben oder nur das Abschreiben oder nur das Diktatschreiben versagen kann (Agraphie).

Anderseits darf man die Lokalisation der psychischen Vorgänge auch nicht übertreiben. Zunächst ist es durchaus unpsychologisch, so komplizierte Dinge wie Freundschaft, Vaterlandsliebe u. dgl. an umschriebene Gehirnteile bannen zu wollen, wie es Galls Phrenologie und später Flechsigs Theorien taten. Alle Erfahrungen weisen vielmehr auf eine Lokalisation nach Elementen der Bewußtseinserscheinungen hin. Man hat darum auch ganz die Anschauung fallen gelassen, als ob sich die einzelnen Vorstellungen als Ganze in einzelne Zellen einschlössen. Es dürften vielmehr bei der Erneuerung einer Vorstellung ebenso wie bei dem ersten Eindruck stets eine Reihe von Hirnzellen, und zwar an entlegenen Teilen der Rinde, in Mitleidenschaft gezogen werden. Denn einmal vereinigen manche Vorstellungen sowohl optische wie akustische Elemente, die bekanntlich an getrennte Regionen geknüpft sind; sodann können infolge von Erkrankungen auch einzelne Elemente wieder ausfallen, so die Farben der Vorstellungen; endlich ist gar kein Grund abzusehen, warum sich die zu den einzelnen Vorstellungen gehörigen Nervenerregungen bzw. die von diesen in der Rinde zurückgelassenen Spuren nun gerade so gegeneinander abschließen sollten, wie es den wahrgenommenen Gegenständen entspricht, — wir werden später sehen, daß die Dingauffassung durchaus noch nicht mit dem sinnlichen Eindruck gegeben ist. Würde aber stets der optische oder akustische Gesamteindruck in eine Zelle oder Zellgruppe lokalisiert, so wäre die Reproduktionserscheinung, daß wir von einem Teil eines Gesamteindruckes auf andere Gesamteindrücke geraten, die mit dem ersten sonst nichts zu tun haben, schwer verständlich. Was endlich die Lokalisation der anschaulichen Elemente betrifft, so wird man zweckmäßigerweise vorerst noch auf eine genauere Vorstellung verzichten. Auch von den heute bekannten Bewegungszentren kann man nicht mehr behaupten, als daß sie von hoher Bedeutung für das Zustandekommen der Bewegung sind und unversehrt sein müssen, damit diese erfolge.

Nach dem bisher Gesagten dürfen wir mit Sicherheit erwarten, daß der Vorstellungsverbindung, auf die wir durch die Reproduktionsgesetze geführt wurden, zum wenigsten auch eine physiologische Bindung[S. 163] jener nervösen Elemente im Gehirn entspricht, die bei dem ersten Eindruck erregt worden sind. Das beweisen die pathologischen Fälle der Aphasie, Alexie, Agraphie, das stimmt zu dem Hauptgesetz der Reproduktion, welches gegen den Sinn der Vorstellungen indifferent ist, das geht endlich mit Wahrscheinlichkeit aus der völligen Mechanisierung eingeprägter Vorstellungsfolgen hervor. Wir nehmen also an, ein erstmaliger Eindruck lasse im Gehirn eine Spur oder Disposition zurück: die bei ihm erregten Zellen seien infolge der Erregung nicht mehr in demselben Zustand wie zuvor — wir mögen uns diese Veränderung als Erhöhung ihrer Reizbarkeit denken —, außerdem bestehe eine physiologische Verbindung zwischen den gleichzeitig einmal beanspruchten Zellen. Diese Verbindung könnte durch eigentliche Leitungsbahnen wie auch rein dynamisch hergestellt sein; der Vergleich mit der drahtlosen Telegraphie oder mit der indirekten Erregung von Stimmgabeln liegt nahe. Mit diesen Hilfsvorstellungen treten wir an die Untersuchung der besonderen Gesetze der Reproduktion bzw. der Assoziation heran.

2. Kap. Die Untersuchung besonderer Assoziationsgesetze

1. Die Methodik der Assoziationsforschung

Die inhaltliche Erforschung der aufeinander spontan folgenden Vorstellungen ergab die drei bzw. fünf Reproduktionsgesetze, die sich auf eines bzw. zwei zurückführen ließen. Die qualitative Erforschung des Reproduktionsvorganges ist noch kaum in Angriff genommen, vielfach gar nicht als besondere Aufgabe erkannt. Die quantitative Forschung hingegen ist an dem Spezialfall der willkürlichen Einprägung ausgiebig untersucht worden. Bahnbrecher war hier H. Ebbinghaus, während G. E. Müller das Verdienst der kritischen Nachprüfung und allseitigen Ausgestaltung der Ebbinghausschen Gedanken zukommt.

Ebbinghaus’ großer Gedanke war der, Maß und Zahl an die Einprägungsvorgänge, durch die bekanntlich Assoziationen gestiftet werden, heranzubringen. Der Versuch, dies bei der Erlernung von Gedichten zu tun, zeigte alsbald, daß das Lernmaterial zu ungleich war, als daß die einzelnen Lernversuche und ihre Ergebnisse miteinander hätten verglichen werden dürfen. Ebbinghaus bildete darum aus je einem Vokal und zwei Konsonanten sinnlose Silben (lap) und setzte[S. 164] sie zu Silbenreihen zusammen. Später druckte man diese Silben untereinander auf einen Streifen und ließ sie ruckweise hinter einem Lesespalt erscheinen. Bei diesem Vorgang ist nun eine mannigfache Messung möglich. Desgleichen sind die Aufgaben sehr verschieden, die man der Vp stellen kann. Aufgabe und Messung charakterisieren nun die verschiedenen Methoden der Assoziationsforschung.

Die Erlernungsmethode stellt als Methode des unmittelbaren Erlernens die Aufgabe, eine Silbenreihe bis zum glatten Aufsagen zu erlernen. Dabei wird die ganze Silbenreihe stets auf einmal gelesen und als ganze eingeprägt. Hier ist die Zahl der erforderlichen Wiederholungen sowie die Schnelligkeit des einprägenden Lesens das quantitative Element. — Das Ersparnisverfahren setzt einmal erlernte und teilweise wieder vergessene Reihen voraus und zählt, wieviele Wiederholungen aufgewandt werden müssen, bis die Reihe wieder ohne Anstoß hergesagt werden kann. Aus der Anwendung beider Methoden läßt sich etwa ermitteln, wie das Vergessen eines eingeprägten Stoffes voranschreitet. Allerdings nur unter der Voraussetzung, daß gleich lange Reihen unter sonst gleichen Bedingungen durchschnittlich dieselbe Anzahl von Wiederholungen benötigen, um erstmals eingeprägt zu werden. In der Tat gilt diese Voraussetzung: die Wiederholungszahlen der verschiedenen Lernversuche scharen sich verhältnismäßig dicht um einen Hauptwert, etwa das arithmetische Mittel, ein Beweis, daß auf diesem Gebiete eine strenge Gesetzmäßigkeit herrscht. — Will man die Reihe nicht vollständig auswendig lernen lassen, so bietet man nach einer gewissen Zahl von Wiederholungen einzelne Silben der Reihe dar und läßt die auf sie folgende Silbe aussprechen. Das Verhältnis der richtigen Treffer (daher der Name Treffermethode) r zur Zahl aller Prüfungen n, also r/n, gibt ein Maß der Assoziationsstärke. Auch die Geschwindigkeit, mit der auf die vorgezeigte Silbe die zu ihr gehörige ausgesprochen wird, ist von Bedeutung. Natürlich erhält man durch keine der genannten Messungen eine absolute Wertangabe für die Stärke der Assoziation, sondern nur eine relative. Auch sind die Ergebnisse der Erlernungs- und der Treffermethode nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar, weil das subjektive Verhalten bei beiden nicht genau dasselbe ist. Andere Methoden, wie die der behaltenen Glieder und die der Hilfen, die entweder die von einer Reihe behaltenen Glieder oder die Anzahl der Hilfen zählt, welche der Vl gewähren muß, damit eine Reihe ganz aufgesagt werde, ebenso die Wiedererkennungsmethode, die nach wenigen Wiederholungen einer Reihe deren Silben vorführt und angeben läßt, ob man sie als Bestandteile der früheren Reihe wiedererkennt, sind von untergeordnetem Werte und nur für bestimmte Versuchszwecke passend.

[S. 165]

Die bis jetzt genannten Methoden erforschen nur die unter ganz bestimmten und bekannten Bedingungen gestifteten Assoziationen, und zwar sowohl den Prozeß der Assoziationsstiftung, wie auch den Grad der Assoziationsfestigkeit und deren Verfall. Andere Methoden untersuchen die Stärke jener Assoziationen, die das Leben gestiftet hat: die Assoziationsreaktionen. Bietet man optisch oder akustisch einer Vp ein Wort dar mit der Anweisung, das nächst einfallende Wort auszusprechen, und wiederholt diesen Versuch bei möglichst vielen Individuen, so stellt sich heraus, daß ein hoher Prozentsatz der Vpn auf das nämliche Reizwort mit demselben Reaktionswort reagiert, auf „Blitz“ wird die Mehrzahl der Erwachsenen mit „Donner“ antworten. Je mehr Individuen sich auf die gleiche Reaktion einigen, um so stärker ist die Assoziation zwischen dem Reiz- und dem Reaktionswort. An diesem Grundschema der Assoziationsreaktion lassen sich nun mannigfache Variationen anbringen: Man kann die Reizvorstellung und die Art ihrer Darbietung verändern (Wort- oder Sachvorstellung, akustische oder optische Darbietung); man kann ferner die Art der Reaktionsvorstellung ganz in das Belieben der Vp stellen oder sie mehr und weniger einschränken, indem man z. B. eine verwandte oder entgegengesetzte Vorstellung finden läßt; man kann statt einer Vorstellung eine Reihe solcher sich entwickeln lassen. Bei all diesen Versuchen ist die Messung der Reaktionszeiten lehrreich. Nur darf man sich nicht mit den Angaben der Reaktionsvorstellungen begnügen, sondern muß auf Grund der rückschauenden Selbstbeobachtung jedesmal das ganze Erlebnis schildern lassen. Sehr häufig ist nämlich das Reaktionswort gar nicht die erste durch die Reizvorstellung ausgelöste Vorstellung, weil die Vp, ohne sich recht darüber klar zu sein, gewisse Anforderungen an die Reaktionsvorstellungen heranbringt. Selbstverständlich kann man auch den subjektiven Zustand der Vp variieren, indem man die Versuche entweder im frischen oder im ermüdeten oder in einem durch Alkohol u. dgl. beeinflußten Zustand ausführt.

2. Hauptergebnisse der Assoziationsforschung
a) Die Beziehungen zwischen der Zahl der Wiederholungen und der Assoziationsstärke

Ein einmaliges Bewußtwerden eines Erlebnisses kann bekanntlich dies dauernd einprägen, falls das Vorkommnis sehr eindrucksvoll ist. Die einmalige Vorführung indifferenter Inhalte jedoch, wie sinnlose Silben, Zahlen, zusammenhanglose Worte, ist nur dann von Erfolg, wenn es sich um eine geringe Zahl solcher Inhalte handelt: 6–7 sinnlose[S. 166] Silben, 10–12 Zahlen oder Buchstaben können von Erwachsenen nach einmaligem Lesen oder Hören aufgesagt werden; von sinnvollen oder gar zusammenhängenden Worten kann ungleich viel mehr behalten werden. Wir fassen eben die Wörter nicht nach ihren Elementen, den Buchstaben, und die Sätze nicht nach ihren einzelnen Wörtern auf, sondern beachten und behalten jedesmal die Einheiten. Indes wird durch einmaliges Darbieten einer solchen kurzen Reihe keine bleibende Assoziation gestiftet. Die wahrgenommenen Elemente verharren vielmehr im Sekundärerlebnis noch eine kurze Zeitspanne, so daß die etwa dargebotenen sechs sinnlosen Silben gleichzeitig im Bewußtsein stehen und darum nochmals wiedergegeben werden können. Man spricht hier vom unmittelbaren Behalten. Wird jedoch dessen Spannweite überschritten, werden statt sechs etwa neun sinnlose Silben vorgeführt, dann werden nicht etwa sechs behalten und drei vergessen, sondern von den neun lassen sich kaum zwei bis drei nennen. Die Spannweite des unmittelbaren Behaltens ist nach Alter, Individuum und Frische sehr verschieden.

Überschreitet die Silbenreihe eine gewisse Länge, so sind zu ihrer Einprägung mehrere Wiederholungen erforderlich; für eine 12silbige Reihe etwa 16 Wiederholungen. Es fragt sich nun: wie wächst die Zahl der zur Einprägung notwendigen Wiederholungen, wenn die zu erlernende Reihe vergrößert wird? Man könnte erwarten, daß die Zahl der Wiederholungen in gleicher Weise steigen würde wie die der Silben. Anderseits wäre es aber auch möglich, daß die Wiederholungszahl nicht anwüchse, da bei jeder Reihenlänge doch immer nur die Assoziation zwischen je zwei Silben zu stiften, somit die gleiche Leistung zu vollbringen ist. Aber keine dieser Möglichkeiten verwirklicht sich, sondern die Wiederholungszahl steigt anfangs sehr schnell, später langsamer. Ebbinghaus gibt folgende Zahlen an: Anzahl der Silben: 7, 12, 16, 24, 36; notwendige Wiederholungen: 1, 16,6, 30, 44, 55. Eine ganz befriedigende Erklärung dieser Gesetzmäßigkeiten gibt es noch nicht. Sicherlich ist die Erlernung von 36 Silben eine größere Leistung als die von drei Zwölferreihen,[S. 167] da im ersten Fall 36, im letzten nur je 12 Silben am Ende der Reihe gleichzeitig gewußt werden müssen.

Schon die Alltagserfahrung besagte: je öfter man einen Lernstoff wiederholt, um so tiefer prägt er sich ein. Die Experimente bestätigen diese allgemeine Regel, zeigen aber auch, daß nicht einfachhin eine Proportionalität zwischen der Anzahl und dem Einprägungswert der Wiederholungen herrscht. Die erste Lesung hat bei sinnlosem Material den größten Einprägungswert; bei sinnvollem gilt dies von der zweiten, da die erste der Orientierung dient. Ist die Reihe einmal gelernt, so prägen die überschüssigen Wiederholungen sie verhältnismäßig nicht viel mehr ein, sind darum weniger zweckmäßig.

b) Einfluß des Lernstoffes

Zunächst ist die Stellung der einzelnen Elemente von Bedeutung. Anfang und Ende einer Silbenreihe werden zuerst behalten, die Mitte wird regelmäßig am schwersten gelernt. Unmittelbar vorausgehende und unmittelbar nachfolgende Einprägungen scheinen einer weiteren Assoziationsstiftung nachteilig zu sein. Je geläufiger sodann die einzelnen Silben einer Reihe oder überhaupt die Elemente eines Lernstoffes sind, um so leichter prägen sie sich ein: eine Reihe, die aus bekannten Silben aufgebaut ist, wird leichter erlernt als eine aus unbekannten. Das ist übrigens auch ein Grund, weshalb die Einprägung längerer Reihen mehr Wiederholungen beansprucht als die kürzerer. Je stärker ferner und je eindringlicher die Elemente dargeboten werden, um so besser werden sie behalten. Das gilt in gewissem Sinne auch für die Dauer der Einwirkung: bleiben die einzelnen Silben längere Zeit sichtbar, so vermehren sich die Treffer. Anderseits werden die Reihen unter sonst gleichen Bedingungen aber doch schneller erlernt, wenn sie schneller gelesen werden. Man hat dieses Paradox durch den Einfluß der Perseveration zu klären gesucht: bei dem Trefferverfahren, das 5 Minuten nach der Darbietung einsetzt, spielt die Perseveration eine größere Rolle als bei dem Erlernungsverfahren, wo die ganze Reihe unmittelbar nach der Einprägung aufgesagt wird. Nun ist die Perseveration um so stärker, je länger der Eindruck währte. Sie kann also bei langsamer Darbietung mehr zur Geltung kommen als bei schneller (Ephrussi). Vielleicht kann noch folgender Umstand berücksichtigt werden. Bei dem Trefferverfahren kommt es (auch subjektiv) darauf an, nur je ein Silbenpaar einzuprägen, und dafür ist eine längere Darbietung vorteilhaft. Bei dem Erlernungsverfahren hingegen soll immer die ganze Reihe behalten werden. Wenn nun wirklich, wie wir oben annahmen, die Hauptbedingung für die Assoziationsstiftung in der gleichzeitigen[S. 168] Vereinigung der Inhalte im Bewußtsein besteht, dann wird innerhalb gewisser Grenzen eine schneller gelesene Reihe sich leichter zu einem Gesamtbewußtseinsinhalt vereinigen lassen als eine langsam gelesene, und es ist zu erwarten, daß die Reproduktion der Teilinhalte eines Gesamtbewußtseins gegenüber der Reproduktion mehrerer aufeinanderfolgender Bewußtseinszustände im Vorteil ist.

c) Die Gesetzmäßigkeiten des Vergessens

Das Abnehmen der Assoziationsfestigkeit bestimmte zuerst Ebbinghaus vermittels der Methode der Ersparnisse: Mehrere gleichartige Reihen werden erlernt. Nach zwanzig Minuten wird eine von ihnen so oft wiederholt, bis sie wieder aufgesagt werden kann; nach einer Stunde wird eine zweite auf die gleiche Weise wieder aufgefrischt; nach acht Stunden eine dritte usf. Es stellte sich heraus, daß die erlernten Reihen — Ähnliches gilt von allen anschaulichen Vorstellungsfolgen, z. B. auch von Handfertigkeiten — anfangs sehr rasch und später sehr langsam vergessen werden. Daraus ergibt sich unmittelbar: sind uns zwei Lernstoffe augenblicklich gleich geläufig, so werden wir nach einiger Zeit denjenigen von beiden besser wissen bzw. weniger vergessen haben, den wir zuerst gelernt haben.

Da sich innerhalb gewisser Grenzen auch ein dauerndes Behalten erzielen läßt, das keine Wiederholungen mehr erfordert, so kann eine bis zum eben Hersagen erlernte und jeden Tag bis zu demselben Punkte wieder aufgefrischte Reihe nicht jedesmal gleichviel an ihrer Assoziationsstärke verlieren. Somit werden alte Assoziationen durch gleich viele Wiederholungen mehr gestärkt als junge (Jost). Das Experiment lehrt aber außerdem noch, daß das rasche Sinken der Assoziationsstärke namentlich durch die erste Wiedererlernung aufgehalten wird (Meumann). Mit dem Jostschen Satz hängt die wichtige Tatsache zusammen, daß es für die Einprägung vorteilhafter ist, die Wiederholungen möglichst zu verteilen, als den Lernstoff auf einmal zu bewältigen. Von besonders hohem Einprägungswert sind ferner jene Wiederholungen, die in Aufsageversuchen bestehen. Rezitationen, die zwischen einfache Wiederholungen eingeschoben werden, ersparen eine beträchtliche Zahl Wiederholungen. Die Aufsageversuche nämlich machen die schwachen Stellen kenntlich, lenken somit bei weiteren Einprägungen die Aufmerksamkeit auf sie und leiten zur Gruppenbildung an. Damit kommen wir zu neuen Lernbedingungen. die mit der Wiederholung als solcher nichts gemein haben.

[S. 169]

d) Die Bedeutung des allgemeinen psychischen Verhaltens

Ein großes Hindernis der Einprägung bildet die geistige Ermüdung. Der späte Abend eignet sich durchschnittlich ebensowenig wie die Zeit der Verdauung zum Memorieren. Weiterhin stören Unlustgefühle gewaltig den Lernprozeß, während eine nicht allzu lebhafte Freude fördert. Das Interesse beschleunigt die Einprägung wohl in erster Linie wegen der Aufmerksamkeitssteigerung, die es bedingt. Zwar läßt sich nicht behaupten, ohne Aufmerksamkeit sei jegliches Behalten ausgeschlossen, aber im Bereiche der willkürlichen Einprägung bildet die Aufmerksamkeitskonzentration einen ausschlaggebenden Faktor, weshalb auch die Gedächtnispädagogen in erster Linie zur Beherrschung der Aufmerksamkeit erziehen. Ähnliches gilt von dem Willen zur Einprägung. Ohne diesen bringen auch recht zahlreiche Wiederholungen nicht merklich voran. Neuere Untersuchungen legen endlich nahe, daß es ein Behalten auf bestimmte Fristen gibt: was nur für einen bestimmten Termin eingeprägt ist, scheint rascher vergessen zu werden als das für immer Gelernte. Doch bedarf diese Frage noch weiterer Untersuchungen.

Die oben (S. 102 f.) erwähnten Vorstellungstypen machen sich auch für das Lernen geltend. Im allgemeinen gilt: jene Darbietungsweise ist die günstigste, welche dem Vorstellungstypus des Lernenden entspricht. Diese allgemeine Regel erleidet aber durch die besonderen Umstände zahlreiche Ausnahmen. So wird der Visuelle eine Reihe römischer Zahlen akustisch einprägen, weil ihm die akustischen Zahlvorstellungen geläufiger sind als die römischen Zahlbilder. Umgekehrt wird der Akustiker sich des visuellen Gedächtnisses bedienen, wenn ihm mehrere optische Bilder vorgeführt werden, für die er keinen Namen besitzt. Beides wegen des oben (S. 167) genannten Gesetzes, daß sich eine Reihe aus bekannten Elementen leichter merken läßt als eine aus völlig neuen gebildete.

e) Nebenassoziationen

Außer der Assoziation, die von einem Teile der dargebotenen Reihe zum nächstfolgenden führt und die sich als Hauptassoziation bezeichnen läßt, weil sie den Weg vorschreibt, den die Reproduktion beim Aufsagen der Reihe in der Regel nimmt, entdeckte schon Ebbinghaus noch andere Assoziationen. Es ist nicht nur die erste[S. 170] Silbe mit der zweiten, sondern auch die erste mit der dritten, der vierten und sogar nachweislich mit der siebten Silbe verbunden (überspringende Assoziationen). Allerdings wird die Stärke der Assoziation um so geringer, je weiter der ursprüngliche Abstand der Silben ist. Sodann fand sich eine rückläufige Assoziation: es besteht auch eine Reproduktionstendenz von der nachfolgenden zur vorausgehenden Silbe. Endlich die Stellenassoziation: man merkt sich außer der Silbe auch ihre Stelle in der Reihe, entweder durch das Zahlwort: dritte Silbe, oder visuell: in der Mitte, oder akustisch, insofern als den rhythmisch ausgesprochenen Taktteilen eine charakteristische Betonung zukommt. Alle diese Nebenassoziationen verraten sich teils im Trefferverfahren, wenn man die falschen Reaktionen auf ihre Herkunft untersucht, teils im Ersparnisverfahren, wenn man Reihen bildet, in denen entweder die mittelbar aufeinanderfolgenden Silben oder die Stellenwerte erhalten bleiben. Übrigens stimmt die Tatsache der Nebenassoziationen sehr gut zu der oben dargelegten Auffassung der Simultanassoziation (S. 156), denn alle durch Nebenassoziation verbundene Glieder waren einmal gleichzeitig im Bewußtsein. Somit wäre uns durch die überspringenden Assoziationen ein Maß für den „sukzessiven“ Bewußtseinsumfang gegeben, und falls unsere Auffassung richtig ist, müßten bei rascherem einprägendem Lesen die überspringenden Assoziationen sich weiter erstrecken als bei langsamem.

3. Kap. Ausdehnung der Betrachtung auf das Gesamtbewußtsein

1. Die Konstellation

Die willkürlich hergestellte Assoziation zwischen den Gliedern einer Reihe gibt noch kein vollständiges Bild der Assoziationsverhältnisse im Gesamtbewußtsein. Die Vorstellungen der Reihenelemente sind nur künstlich isoliert und erhalten so eine stärkere Beachtung und assoziative Verbindung; namentlich wird aber bei der Reproduktion nur ihnen Beachtung geschenkt, wodurch sie besonders gefördert und andere Vorstellungen, die gleichzeitig auftauchen möchten, vernachlässigt werden. Die Vorstellungsverbindungen, welche das Leben stiftet, lassen sich nicht durch das Kettenschema der Silbenreihen, sondern eher durch ein Netzschema veranschaulichen. Es geht ja von jeder Teilvorstellung eine assoziative Verbindung nach allen Seiten aus, wenn auch diese Verbindungen nicht alle gleich stark sind. Dementsprechend[S. 171] strahlen von einer Teilvorstellung auch nach allen Seiten Reproduktionstendenzen aus. Nun ist unserem Bewußtsein aber niemals nur eine Vorstellung gegeben. Stets ist eine Mehrheit an Vorstellungen vorhanden. Sehr viele von ihnen haben wir schon früher einmal gehabt. Von ihnen gehen deshalb gleichzeitig die verschiedenartigsten Reproduktionstendenzen aus, die sich gegenseitig teils fördern, teils hemmen.

a) Die Hilfen

Die Gesetzmäßigkeiten des Vergessens zeigen, daß nichterneuerte Assoziationen zwar geschwächt werden, aber nicht völlig verschwinden. Das läßt vermuten, daß ein erfolgloser Reproduktionsversuch auch nicht gänzlich wirkungslos bleibe. In der Tat fällt einem ein gesuchter Name bisweilen kurze Zeit darauf in einem anderen Zusammenhang ein. Der Reproduktionsversuch hat diesen Namen in höhere Bereitschaft gestellt. Wenn nun nach dem gesuchten Namen nicht nur von einer, sondern von mehreren Vorstellungen aus Reproduktionstendenzen hinstrahlen, so läßt sich erwarten, daß er endlich ins Bewußtsein gehoben wird, auch wenn keine der verschiedenen Reproduktionstendenzen für sich allein dies hätte vollbringen können. Die Reproduktion des Namens gelingt infolge der Konstellation. So erteilt man in der Schule bisweilen Gedächtnishilfen: will der Name Finsteraarhorn nicht einfallen, so fragt man nach dem dort entspringenden Fluß, der Aar.

b) Die Hemmungen

Wie es die Reproduktion fördert, wenn von zwei Teilvorstellungen Reproduktionstendenzen auf die zu erneuernde Vorstellung hinführen, so wird es umgekehrt der Reproduktion der Vorstellung b durch die Vorstellung a hinderlich sein, wenn von a gleichzeitig zwei Reproduktionstendenzen ausgehen, nach b und nach c. In der Tat läßt sich diese assoziative Hemmung experimentell nachweisen, und zwar in doppelter Art: ist a schon mit b assoziiert und soll noch mit c verbunden werden, so ist die Assoziation ac schwerer zu bilden als sonst (generative Hemmung); sodann wird durch die neue Verknüpfung ac die ältere Assoziation ab geschwächt (effektuelle Hemmung). Diese herkömmliche Ausdrucksweise ist allerdings ungenau, da wir streng genommen nur von der Reproduktion etwas aussagen können, nämlich: die Reproduktionsmöglichkeiten des c wie des b mit a als Reproduktionsmotiv sind herabgesetzt. Daß die Assoziation als solche nicht beeinträchtigt ist, beweisen die später zu besprechenden Versuche über Komplexbildung, nach denen beide Hemmungen nur unter bestimmten Bedingungen eintreten. Damit verschwindet auch das[S. 172] Bedenken, unser ganzes Vorstellungsleben müsse unter diesen beiden Hemmungen leiden oder gar unmöglich werden. Wo aber die assoziativen Hemmungen eingreifen, wo von einer Vorstellung tatsächlich gleichzeitig verschiedene Reproduktionstendenzen ausgehen, da kommt es zur Konkurrenz der assoziierten Vorstellungen, indem die überwertige obsiegt, oder es treten Mischwirkungen zutage, wie „Kreuz und Rüben“ aus kreuz und quer und Kraut und Rüben.

Die rückwirkende Hemmung ist jedoch den assoziativen nicht gleichzustellen. Läßt man unmittelbar nach Einprägung einer Reihe eine intensive geistige Beschäftigung wie Memorieren oder aufmerksames Betrachten von Bildern folgen, so wird von dem erlernten Stoff ungleich mehr vergessen als ohne diese nachfolgende Tätigkeit. Hier werden wirklich die Assoziationen geschwächt; denn die Reproduktion ist unter allen Bedingungen erschwert, auch dann, wenn die Vorstellungen aus der nachfolgenden Beschäftigung nicht als störende Konkurrenten auftreten. Daher die Bedeutung der Pausen nach dem Auswendiglernen. Die frisch gebildete Assoziation braucht Zeit, um sich zu befestigen und — zu verstärken. Merkwürdigerweise verbessert sich nämlich unser Gedächtniswissen im Verlauf der Zeit: in Versuchen von Boldt war das Ergebnis der Prüfung nach einem Tag besser als nach einer Viertelstunde, und da besser als nach 5 Minuten. Ebbinghaus war diese Tatsache entgangen, weil er stets mehrere Reihen hintereinander lernen ließ, die sich gegenseitig hemmten. Für diese auffallende Erscheinung ist einstweilen folgende Erklärungsmöglichkeit vorhanden: Gleichzeitig mit dem eigentlichen Lernstoff werden eine Reihe anderer Vorstellungen aus der gesamten Lernsituation miteingeprägt. Sie werden beim Hersagen der Reihe ebenfalls in Bereitschaft gesetzt und hemmen darum den glatten Ablauf. Nun unterliegen beide Vorstellungsreihen, die Haupt- wie die Nebenvorstellungen, dem Vergessen. Weil aber die Nebenvorstellungen weniger beachtet waren, stand ihnen von Anfang an eine schwächere Assoziation zu Gebote wie den Hauptvorstellungen. Somit erreicht bei ersteren die Reproduktionstendenz bald den Nullpunkt, während sie für die letzteren noch wirksam bleibt. Vielleicht hat man außer diesem Umstand noch ein Ausreifen der physiologischen Dispositionen zur Erklärung heranzuziehen.

2. Die Komplexbildung

Teilt man eine Silbenreihe in Gruppen zu je drei Silben, läßt sie in anapästischem Rhythmus () lesen und bietet später der Vp eine der betonten Silben mit der Aufforderung, die nächsteinfallende Silbe auszusprechen, so wird die zweitvorhergehende Silbe häufiger reproduziert als die unmittelbar vorausgehende (initiale Reproduktionstendenz).[S. 173] Es besteht sonach eine Tendenz, ausgehend von einem Glied des Komplexes, den ganzen Komplex ins Bewußtsein zu heben. Läßt man eine Silbe aus einem solchen Komplex in einer zweiten Reihe sich mit einer komplexfremden Silbe assoziieren, so läßt sich die generative und effektuelle Hemmung, die nach dem obigen zu erwarten wäre, an jener Silbe nicht nachweisen, sobald sie innerhalb des Komplexes reproduziert wird (Frings). Es wird also offenbar beim Aufsagen einer in Komplexe eingeteilten Reihe nicht jede Silbe für sich reproduziert, sondern der Komplex, in dem sie sich befindet, wird als Ganzes wieder erneuert. Ähnliche Beobachtungen macht man auch bei der freien und gebundenen Reproduktion bedeutungshaltiger Vorstellungen. Wir müssen somit unsere Auffassung der Assoziationen dahin erweitern, daß sich nicht nur an ein einzelnes Element nach verschiedenen Richtungen hin andere Elemente anschließen, sondern daß auch häufig eine Mehrheit von Elementen in einem Komplex vereinigt sind und daß solche Komplexe ähnlich wie die Elemente untereinander assoziativ verknüpft sind.

Einen Komplex hat man sich jedoch nicht wie eine eingeprägte Silbenreihe zu denken, deren letzte Silbe man wieder mit der ersten assoziiert hätte und deren Glieder umso fester miteinander verknüpft sind, je häufiger sie wiederholt werden. Dem Komplex ist es vielmehr charakteristisch, daß er als ein Ganzes eingeprägt und als ein Ganzes reproduziert wird. Ist nun ein Teil eines solchen Komplexes gegeben, so geht die Reproduktion nicht so sehr auf den nächstfolgenden Teil als vielmehr auf den ganzen Komplex. Häufig ist uns jedoch nicht ein Teil, sondern eine schematische Antizipation des Komplexes gegeben; wir haben ihn gleichsam in Umrissen, ähnlich wie wir von einer entfernten Inschrift nur die Umrisse der Wortbilder sehen. Ein solches antizipierendes Schema hat nun gleichfalls die Tendenz, den zugehörigen Komplex zu reproduzieren. So tritt uns bisweilen aus dem in seinen Einzelheiten nicht erkannten Wortbild das Wort selbst ins Bewußtsein, ohne daß die Buchstaben deutlich zu werden brauchen. (Gesetze der Komplexergänzung.) So versteht man, daß unser[S. 174] Vorstellungsleben der von der mannigfachen Verknüpfung der Elemente ausgehenden Hemmung nicht unterliegt. So erklären sich auch die beim unmittelbaren Behalten erwähnten Tatsachen: wir prägen uns eine Anzahl Wörter fast ebenso leicht ein wie die nämliche Anzahl Buchstaben. Gleichwohl sind die Elemente in dem gesamten Reproduktionsvorgang nicht ohne Bedeutung: die von ihnen ausgehenden Reproduktionstendenzen geben oft den Ausschlag, wenn mehrere zu demselben antizipierenden Schema passende Komplexe miteinander konkurrieren.

Die Einführung der Komplexe im soeben dargelegten Sinne stellt die Gedächtnisforschung vor ganz neue Probleme. Vielleicht muß einmal die gesamte Gedächtnislehre auf diesem Begriff neu aufgebaut werden, da wir unsere Eindrücke möglicherweise überhaupt nur in Komplexen aufnehmen[7]. Wie dem auch sei, zwei Bedingungen lassen sich heute schon angeben, welche die Bildung von Komplexen fördern. Ohne Zutun des Subjektes muß sich ein Komplex bilden, wenn in der Menge wechselnder Eindrücke ein Empfindungsganzes häufig unverändert wiederkehrt. So hebt sich für das junge Tier wohl allmählich das Bild des Futters, des Herrn usw. heraus. Mit dem Zutun des Subjektes entstehen Komplexe durch Zusammenfassung (s. S. 124). Ganz von selbst teilen die Vpn eine Silbenreihe in einzelne Gruppen ab; die rhythmische Betonung bestimmter Silben leistet dabei eine große Hilfe: die einfache Zusammenfassung wird zur Gestaltauffassung. Je größer bei gleicher Übersichtlichkeit ein Komplex gemacht werden kann, um so leichter wird die ganze Reihe erlernt.

Auch das sinnvolle Lernen versteht man am besten als einen Sonderfall der Komplexassoziation. Sinnvolles Lernen ist nämlich nur dadurch möglich, daß eine Beziehung zwischen den beiden einzuprägenden Vorstellungen hergestellt und das so entstandene Beziehungsganze eingeprägt wird. Allerdings kann man auch zwei Vorstellungen zu einer sinnvollen Gesamtvorstellung vereinigen, Muster und Neffe zu Musterneffe; man bildet so durch einfache Addition zweier Komplexe einen größeren, doch ist hier der Sinn des neuen Komplexes von untergeordneter Bedeutung, lassen sich ja auch mit demselben Nutzen sinnlose Verbindungen dieser Art, wie „Kliometerthal“, verwerten. Sobald aber eine Beziehung zwischen den einzuprägenden Vorstellungen gefunden ist, hat man einen Sachverhalt und damit einen eigenartigen sinnvollen Komplex gewonnen. Dieser Komplex wird tatsächlich reproduziert. Es fragt sich aber noch, ob der Beziehungsgedanke als solcher eingeprägt wird. Wäre dies der Fall, so[S. 175] hätte man neben den Residuen anschaulicher Vorstellungen noch ein neues Gedächtniselement anzuerkennen: die unanschaulichen Dispositionen unanschaulicher Gedanken. Die sachliche Schwierigkeit dieser Annahme reicht nicht aus, sie a limine abzuweisen. Indes ist die Frage heute noch nicht spruchreif. Es bleiben nämlich zur Erklärung der heute bekannten Tatsachen noch mancherlei Möglichkeiten. Zunächst kann das Wissen um einen Sachverhalt vermittels eines Satzes oder Wortes eingeprägt werden. Weiterhin kann der Beziehungsgedanke schon früher eine anschauliche Repräsentation z. B. durch Schemata, wie Gleichheitszeichen u. ä., gefunden haben, so daß es jetzt genügt, wenn die zwei Vorstellungen mit jenem geläufigen anschaulichen Symbol zu einem assoziativen Komplex verbunden werden. Ferner kann die Sachverhaltserfassung die beiden Vorstellungen bzw. ihre in Beziehung zueinander tretenden Seiten so hervorheben, daß bei ihrer Reproduktion der früher erkannte Sachverhalt gar nicht mehr übersehen werden kann. Befinden sich z. B. unter einer Anzahl gleichzeitig dargebotener Figuren zwei formgleiche, so kostet es anfangs vielleicht Mühe, diesen Sachverhalt aufzufassen. Hebt man alsdann die gleichen Figuren durch Verstärkung ihrer Umrisse heraus, dann wird man die Zeichnung kaum noch ansehen können, ohne die Gleichheit jener Figuren geradezu unmittelbar wahrzunehmen. Es wäre nun möglich, daß infolge der Sachverhaltserfassung die Gedächtnisspuren zweier Vorstellungen in ähnlicher Weise herausgehoben würden, wie die Umrisse jener Figuren. Endlich mag in vielen Fällen die scheinbar eingeprägte Beziehung beim Wiederauftauchen der Vorstellungen neu erfaßt werden. Erst wenn das Gebiet der eben bewußtwerdenden Vorstellungen näher bekannt ist, wird eine endgültige Stellungnahme möglich sein. Wir wissen auf jeden Fall heute schon, daß die eben auftauchenden Vorstellungen eine hohe Bedeutung im Seelenleben haben und daß aller Wahrscheinlichkeit nach Beziehungen zwischen Vorstellungen erfaßbar sind, bevor diese selbst zur klaren Bewußtheit gelangen.

Literatur

M. Offner, Das Gedächtnis. 3. Aufl. 1913.

O. Selz, Die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, 1913.

E. Becher, Gehirn und Seele, 1911.

J. Lindworsky, Fordern die Reproduktionserscheinungen ein psychisches Gedächtnis? Phil. Jahrbuch 1920.

[7] Vgl. meine Besprechung von O. Selz, Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums, in ZPs 93 (1923).

[S. 176]

III. Buch
DIE HÖHEREN SEELISCHEN LEISTUNGEN DES EINZELNEN

ERSTER ABSCHNITT
Die höheren Erkenntnisleistungen

1. Kap. Die Vergleichung

Das Zusammenwirken von Gedächtnis und Erkenntnisfähigkeiten ermöglicht die höheren Erkenntnisleistungen, deren wichtigste im folgenden besprochen werden sollen. Die Vergleichung zweier unmittelbar und gleichzeitig gegebener Bewußtseinsinhalte oder äußerer Gegenstände, der sog. Simultanvergleich, beansprucht allerdings fast gar nicht das Gedächtnis, wenn wir von seinem sprachlichen Ausdruck etwa absehen. Er scheint sogar vielen überhaupt nicht über die sinnliche Wahrnehmung hinauszugehen: wenn das Auge nebeneinander rot und grün erblickt, so meint man, müsse es auch notwendig die Verschiedenheit dieser Farben auffassen. Die innere Unmöglichkeit dieser Anschauung haben wir schon dargetan (S. 108 ff.). Hier betonen wir nur, daß auch bei einem so einfachen Erlebnis eine Mehrheit von seelischen Funktionen, allerdings reduziert und in ein einheitliches Phänomen verschmolzen, vorliegt. Die Experimente lehren nämlich, daß zwei objektiv gleiche Gegenstände nicht nur im Bewußtsein stehen, sondern sogar eigens beachtet werden können, ohne darum als gleich erkannt werden zu müssen. Wenn sich auch die ersten und einfachsten Verschiedenheiten z. B. ohne weiteres aufdrängen werden, so ist für gewöhnlich zum Zustandekommen eines Vergleiches vor allem der Gesichtspunkt (die Aufgabe) notwendig, unter dem die zu vergleichenden Gegenstände betrachtet werden müssen. Bisweilen ist sodann ein wiederholtes Zusehen erforderlich. Hat man einmal den Gesichtspunkt der vergleichenden[S. 177] Betrachtung geübt, so verharrt er häufig als Einstellung, und unwillkürlich drängt sich alsdann auch bei anderen Wahrnehmungen die objektiv bestehende Beziehung der Gleichheit, Ungleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit usw. auf und bedingt die Täuschung, der Vergleichsakt sei nichts Neues gegenüber der schlichten Wahrnehmung.

Ganz neue und schwierige Probleme enthüllte die experimentelle Untersuchung des Sukzessivvergleiches. Bislang glaubte man, wenn man zwei nacheinander erlebte Eindrücke vergleiche, so stelle man der Wahrnehmung des zweiten Reizes das Erinnerungsbild des ersten gegenüber, und es wiederholten sich die Vorgänge des Simultanvergleiches. Bei sehr schwierigen oder gestörten Vergleichen geht man bisweilen in der Tat so voran. Aber nach den einstimmigen Befunden aller Forscher werden die richtigsten und sichersten Vergleichsurteile dann gefällt, wenn die Vpn gar nicht an den vorausgegangenen Eindruck denken, wenn sie ihn ganz bestimmt nicht mehr im Bewußtsein gehabt zu haben erklären. Ist das Gedächtnisbild des ersten Reizes vorhanden, so verbessert es nicht die Vergleichsleistung. Ja, es kann sogar ein solches Gedächtnisbild vorhanden sein und selbst als ungenau erkannt werden.

Schumann suchte das Problem durch die Verwertung der Nebeneindrücke zu lösen. Tatsächlich begründen die Vpn manchmal ihr Vergleichsurteil mit dem Auftreten eines Nebeneindruckes: die zu zweit gesehene Kreisfläche scheint zusammenzuschrumpfen und wird darum als kleiner beurteilt; der dritte Schlag eines Schallhammers überrascht, und darum muß die Zeitspanne zwischen dem zweiten und dritten Schlag kleiner sein als die zwischen dem ersten und dem zweiten. Solche Nebeneindrücke seien bei den ersten Simultanvergleichen des Kindes aufgetreten, hätten sich darum mit den Urteilen kleiner-größer verknüpft und dienten jetzt umgekehrt zur Begründung dieser Urteile. Hie und da mag dem in der Tat so sein. Allein längst nicht bei allen Sukzessivvergleichungen sind Nebeneindrücke bezeugt, und sehr viele der bezeugten Nebeneindrücke sind beim eigentlichen Simultanvergleich ganz unmöglich, so das Zusammenschrumpfen und Anschwellen einer Fläche u. a. Brunswig glaubte darum, es genüge die Erfassung des zweiten Eindruckes mit einer Richtung auf den ersten und einem latenten Wissen von diesem. Eine beträchtliche Erklärung ist indes damit nicht geboten. Neuere Befunde dürften die merkwürdige Erscheinung aufhellen. Unsere Bewußtseinsinhalte befinden[S. 178] sich auf verschiedenen Stufen der Klarheit und Beachtung (Westphal). Außerdem ist stets eine Gruppe von Vorstellungen im Begriff, über die Schwelle des Bewußtseins zu steigen bzw. unter sie zu sinken; schon eine geringe Veränderung der Konstellation kann sie unbewußt oder schwach bewußt machen. Es ist nun, wie Michotte und der Verfasser selbst gefunden haben, eine Beziehungserkenntnis möglich, bevor die bezogenen Bewußtseinsinhalte klar erfaßt sind. So wird also der zweite Eindruck nicht mit dem Gedächtnisbild, d. h. einer reproduzierten und als solcher bewußten Vorstellung der ersten Wahrnehmung verglichen, sondern mit dem der Schwelle nahen und darum nicht mehr oder noch nicht beachteten ersten Eindruck.

Läßt man paarweise Gewichte miteinander vergleichen, so wird bisweilen das zuerst gehobene sofort als „schwer“ bzw. „leicht“ oder gar als schwerer, leichter beurteilt, noch bevor der Vergleichsreiz gegeben ist. Maßgebend für ein solches Urteil ist der „absolute Eindruck“. Die genauere Untersuchung ließ erkennen, daß in dergleichen Fällen durch die häufigen Hebungen eine Vorstellung entweder des unveränderten Vergleichsgewichtes oder eine Vorstellung eines mittleren Gewichtes in Bereitschaft gesetzt wurde. Diese tritt nun bei der Hebung des Gewichtes über die Schwelle und ermöglicht in der nämlichen Weise, wie es bei dem Sukzessivvergleich beschrieben wurde, die Einsicht: schwer. Dieser absolute Eindruck kommt auf den verschiedensten Gebieten vor und ist für die Entwicklung unseres geistigen Lebens von allerhöchster Bedeutung. Es ist also im Grunde der absolute Eindruck nur ein sehr abgekürzter Vergleich des neuen Reizes mit einem nicht klar als solchen erkannten Durchschnittswert. Er wäre darum richtiger ein relativer Eindruck zu nennen.

Was hier über die Vergleichung gesagt wurde, dürfte in der Hauptsache von allen Beziehungserfassungen gelten. Auch bei den anderen Relationen ist eine Beziehungserfassung möglich, schon bevor der zweite Beziehungspunkt klar bewußt ist. Auch bei ihnen wird es absolute Eindrücke geben, denen man allerdings heute noch nicht weiter nachgespürt hat. Und endlich können alle Beziehungserfassungen zu einem reproduzierbaren Beziehungs- oder Sachverhaltswissen werden.

Die Gesichtspunkte, mit deren Hilfe man eine Beziehung leichter findet, z. B. die Frage: sind a und b einander gleich?, stammen natürlich aus früheren Beziehungserfassungen. Somit muß die erstmalige Entdeckung einer Beziehung stets ohne vorausgehenden Gesichtspunkt zustande kommen. Aber wir würden diese erstmalige Entdeckung nicht leisten, blickten wir nicht „zufällig“ in jener geistigen Sehrichtung[S. 179] auf die Dinge, die später willkürlich vermittels des Gesichtspunktes herbeigeführt werden kann.

Übrigens erfassen wir nicht alle Beziehungen direkt an den Außendingen. Gleichheits- und Lagebeziehungen z. B. „sehen“ wir unmittelbar in der Außenwelt. Die Relation der Ursächlichkeit hingegen erfassen wir direkt nur bei unserer inneren Willenstätigkeit. Da wir nun vermittels einer Gleichheitserfassung bemerken, daß Körper, die zueinander in räumliche Berührung kommen, unter gewissen Bedingungen — schematisch gesprochen — sich so verhalten wie Willensentschluß und Willenshaltung, so sehen wir nach dem Gesetz der Komplexergänzung (S. 173) unsere Tätigkeit in die Dinge hinein und vermeinen fast, die Relation der Ursächlichkeit unmittelbar zu erfassen. Aber diese Beziehungserfassung, deren Kerngedanke durch spätere Erfahrungen und Überlegungen gerechtfertigt wird, ist nur eine indirekte.

Literatur

K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes³ (1922), § 15: Das Vergleichen und die Relationswahrnehmung.

2. Kap. Die Dingerfassung

Wir müssen uns wohl an den Neugeborenen wenden, um etwas über die Entstehung der Dingerfassung zu erfahren; uns Erwachsenen scheint es ja eine ganz unmittelbare, unableitbare Gegebenheit zu sein, daß wir außer uns nicht Eindrücke, sondern Dinge gewahren. Manche Philosophen lehrten sogar, der Substanzbegriff sei das erste, unmittelbar Gegebene. Wenn es aber gelingt, die Dingauffassung aus elementaren Funktionen verständlich zu machen, so wäre unsere Anschauung bis auf weiteres gesichert.

Nach allem, was wir vom Neugeborenen wissen, ist ihm zunächst nur eine bunte Mannigfaltigkeit von Eindrücken gegeben, ein „Zusammen“, das weder Struktur noch „Undverbindung“ ist. Irgendwie kristallisiert sich aus dieser Mannigfaltigkeit ein Ichbewußtsein primitivster Art heraus. Genaueres läßt sich heute noch nicht darüber angeben, aber die Unableitbarkeit des Ichbewußtseins überhaupt, die wir anderswo aufzuzeigen haben, verlangt, daß es auch beim Kinde in irgendeiner Form angenommen werde. Von diesem Ansatz aus läßt sich dann die Dingauffassung leicht gewinnen. Das Kind hat ungezählte Gelegenheiten zu beobachten, wie[S. 180] sich ein Teil seines Empfindungskomplexes anders verhält als es selbst: gewisse Teile seines Empfindungskomplexes verändern sich, andere bleiben. Dieser Erfassung des Gegensatzes dürfte die Erfassung einer gewissen Gleichheit parallel gehen. In der Tat liegen ja viele Gleichheitsbeziehungen vor: die Menschen der Umgebung vollführen ähnliche Bewegungen wie das Kind, lassen ähnliche Laute vernehmen usf. Finden wir nun schon beim Erwachsenen, daß er bei Feststellung etwaiger Gleichheit stets geneigt ist, das Vorhandensein größerer Gleichheit anzunehmen, d. h. dem zweiten in einer Hinsicht als gleich erkannten Gegenstand noch weitere Züge des ersten beizulegen, so wird dies beim Kinde auch zu erwarten sein. Das Kind wird hinter dem teils gleich-, teils andersartigen Eindruck Züge seines eigenen Ich vermuten. Das Nächste, was ihm seine Beziehungserfassungen liefern, sind also nicht Dinge, sondern Neben-iche. Der animistische Zug, den die Kinderforscher immer wieder feststellen, dürfte ein Rest davon sein. Allmählich schreitet nun die Beziehungserfassung fort, entdeckt immer neue Verschiedenheiten von dem eigenen Ich, und auf dem Weg der später zu schildernden Begriffsbildung wird aus dem Neben-ich ein sehr abstraktes „Ding“.

3. Kap. Wahrnehmung und Vorstellung

Die peripher erregten Eindrücke unterscheiden sich, wie oben ausgeführt wurde, von den zentral bedingten nur graduell. Es gibt kein Charakteristikum, das nur der einen von beiden Erlebnisklassen eigen wäre. Dennoch verwechseln wir im gesunden Zustande nur ganz selten Wahrnehmung und Vorstellung. Im Gegenteil schreibt das vorwissenschaftliche Denken der Wahrnehmung ganz andere Eigenschaften zu als der Vorstellung: in der Wahrnehmung stehen wir dem Gegenstande selbst gegenüber, in der Vorstellung nicht; die Wahrnehmung hat Wirklichkeitscharakter, die Vorstellung gibt sich als bloßer Schein. Und zwar unmittelbar, ohne besondere Überlegung. Es fragt sich also: wie kommen solche Unterschiede zustande, wenn die inhaltlichen Merkmale bei beiden Erlebnisklassen wesentlich die gleichen sind?

[S. 181]

Wir haben oben schon bemerkt, daß gewisse inhaltliche Züge der Wahrnehmung, andere der Vorstellung in höherem, ausgeprägterem Grade eignen: die Empfindungsintensität ist bei der Wahrnehmung im allgemeinen größer als bei der Vorstellung; die Konstanz und Fülle der Inhalte desgleichen; an die Wahrnehmung schließen sich bisweilen Erlebnisse an, die bei der Vorstellung ausbleiben; wahrgenommenes Feuer brennt, vorgestelltes nicht. Diese graduelle Verschiedenheit der Durchschnittswahrnehmung von der Durchschnittsvorstellung kann nun in einem beziehenden Akte erkannt werden: das Kind kann die Wahrnehmungseindrücke einer brennenden Kerze mit den Vorstellungseindrücken vergleichen und deren Verschiedenheit erkennen. Diese einmalige Einsicht vermag sich als Sachverhaltswissen (vgl. S. 178 f.) einzuprägen. Vermittels einer weiteren Beziehungserfassung kann es, fußend auf dem genannten Sachverhaltswissen, zu der Erkenntnis vordringen: Erlebnisse bei geschlossenen Augen unterscheiden sich in bestimmter Weise von Erlebnissen bei offenen Augen. Es braucht jetzt nur von seiner Umgebung einen Sammelnamen für beide Erlebnisarten zu erfahren, um dauernd zu wissen: Wahrnehmungen unterscheiden sich in einer bestimmten Weise von Vorstellungen. Noch ein Moment ist hinzuzufügen, um diese Erfahrung zu einer stets verwendbaren zu gestalten: Wir sahen, bei wiederholten Vergleichungen bildet sich aus dem Durchschnitt der Erlebnisse ein unbemerkter Maßstab heraus, an dem ein neuer Eindruck unwillkürlich gemessen wird; man hat dann den absoluten Eindruck der Schwere, der Kälte usw. Dieser absolute Eindruck haftet scheinbar an dem wahrgenommenen Gegenstand selbst, erscheint wie eine seiner Eigenschaften. In genau der gleichen Weise kann sich auch bei den vielen beabsichtigten und unbeabsichtigten Vergleichungen von Erlebnissen der einen (Wahrnehmungs-) zu denen der andern (Vorstellungs-) Gruppe ein absoluter Eindruck des Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungsmäßigen herausbilden. Wir wissen dann sofort, noch vor jeder Erinnerung und Vergleichung, ob wir es mit einer Wahrnehmung oder Vorstellung zu tun haben.

Es ist also die entwickelte Wahrnehmung ebensowenig wie die Vorstellung ein einfaches und von vornherein fertiges Erlebnis, sondern neue Relationserkenntnisse treten zu der Dingerfassung hinzu und machen aus ihr entweder eine Wahrnehmung oder eine Vorstellung. Aus diesem Grunde begreift sich nun einerseits, wie es nicht immer zu einer Wahrnehmung oder Vorstellung kommen kann, z. B. wenn die Eindrücke von den Durchschnittserlebnissen abweichen, indem etwa die Wahrnehmung sehr schwach oder die zentral erregte Vorstellung sehr lebhaft ist. Ein absoluter Eindruck[S. 182] kommt da nicht auf, und auch ein absichtlicher Vergleich führt nicht immer zur Entscheidung darüber, ob wir wahrnehmen oder vorstellen. Anderseits wird verständlich, daß es auch bei ausgesprochenen Erlebnissen nicht immer zum Wahrnehmungserlebnis kommen muß. Beziehungserkenntnisse können nämlich ausbleiben, namentlich wenn der Gesichtspunkt für sie fortfällt. Ein Dichter hat bisweilen durchaus nicht den Eindruck, daß er die Personen seiner Dichtung und deren Handlungen nur vorstelle, und umgekehrt vermag der Inhalt des Wahrgenommenen uns bisweilen so zu fesseln, daß wir uns fragen: wache ich, oder träume ich? Und endlich versteht man so die Täuschungen über Wahrnehmung und Vorstellung. Sind die Züge, die bei der Wahrnehmung durchschnittlich stärker auftreten als bei der Vorstellung, infolge besonderer Umstände einmal bei den zentral erregten Bewußtseinserscheinungen stärker ausgebildet, dann stellen sich Illusionen oder Halluzinationen ein. Bei der Illusion wird die wirkliche Wahrnehmung durch nur Vorgestelltes ergänzt: eine wirklich gesehene Klingel hören wir fälschlicherweise auch tönen. Der Halluzinant hingegen glaubt Dinge im objektiven Raum wahrzunehmen, die ganz und gar seiner subjektiven Vorstellungstätigkeit entspringen.

Namentlich solche Täuschungen weisen uns darauf hin, daß unsere Wahrnehmungen den Charakter der Wirklichkeit tragen, die Vorstellungen den des „nur Eingebildeten“. In den Wahrnehmungen vermeinen wir den wahrgenommenen Gegenstand selbst zu ergreifen, in den Vorstellungen nicht so. Auch diese Züge sind keine den beiden Erlebnisweisen absolut zukommende. Die Erfahrung lehrt uns vielmehr: bei Erlebnissen der einen Klasse, für die wir später den Namen „Wahrnehmungen“ lernen, zeichnet sich der Gegenstand des Bewußtseins durch größere Dauer aus; eine nähere Beschäftigung mit ihm hat auch andere Folgen als mit einem solchen der anderen Erlebnisklasse: ein Berühren der Kerzenflamme in der Wahrnehmung verläuft anders als in der Vorstellung. So gewinnen wir einen Einblick in einen besonderen Beziehungszusammenhang. Auch diese Einsicht kann als Erfahrung dem Beziehungsgedächtnis anvertraut werden. Auch sie wird, was allerdings durch die experimentelle Forschung noch eigens nachzuweisen bleibt, einen absoluten Eindruck erzeugen. Auf diese Weise gestalten sich die peripher bedingten und die zentral bedingten Eindrücke allmählich durch die Beziehungserfassungen, durch das Beziehungswissen und durch den absoluten Eindruck zu verschiedenartigen[S. 183] Erlebnissen aus, die praktisch nur in seltenen Fällen verwechselt werden können. Es empfiehlt sich darum, auch die Worte Wahrnehmung und Vorstellung nur von den so ausgestalteten Erlebnissen zu gebrauchen und die noch nicht durch Relationserfassungen ergänzten Eindrücke als absolute Wahrnehmungen bzw. absolute Vorstellungen zu bezeichnen. Unter Anwendung dieses Sprachgebrauches gilt dann: zwischen absoluten Wahrnehmungen und absoluten Vorstellungen besteht kein wesentlicher Unterschied; sie gehen unmerklich ineinander über — zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen besteht ein wesentlicher Unterschied; sie sind durch eine übergangslose Kluft getrennt.

Literatur

J. Lindworsky, Wahrnehmung und Vorstellung. ZPs 80 (1918).

4. Kap. Begriffe und Kategorien

Aristoteles und nach ihm Thomas von Aquin mit seiner Schule faßten die Begriffe (Pferd, Seele, Gerechtigkeit) als species intelligibiles, als einzelne unsinnliche Bewußtseinsinhalte, die uns das Wesen der Dinge zeigen. Sie fußen auf der unbezweifelbaren Beobachtung, daß wir bei dem Anhören solcher Begriffswörter einen ganz positiven Bewußtseinsinhalt erleben. Die experimentellen und pathologischen Erfahrungen über das Wortverständnis geben ihnen Recht: von der ungestalteten Klangwahrnehmung geht es über die gestaltete Worterfassung zum sinnvollen Verständnis, und jede dieser Stufen kann für sich versagen. Außerdem betonten die Thomisten schon gegenüber den Nominalisten, die Bedeutung der Begriffswörter gehe nicht nur über den Wortklang als solchen hinaus, sie sei auch durch kein Phantasma wiederzugeben; denn jedes Phantasma, jede anschauliche Vorstellung ist individuell, die Begriffe hingegen sind wesentlich allgemein, ihr Inhalt kann unverändert auf jedes Individuum angewandt werden. Damit hatten sie eigentlich den Streit zwischen Locke und Berkeley schon vorweggenommen. Die Erfahrung lehrte sie aber auch die Unentbehrlichkeit der anschaulichen Vorstellungen kennen. Sie vereinigten darum beide Erkenntnisse in der Lehre, der Verstand könne im gegenwärtigen Zustand nur durch Hinwendung[S. 184] zu den Phantasmata etwas erkennen. Hiermit war mit bewundernswerter Schärfe herausgestellt, was eine Theorie der Begriffe zu leisten hat: es muß erklärt werden, woher die allgemeingültigen, durch keine anschauliche Vorstellung zu ersetzenden Bewußtseinsinhalte kommen und wie zu diesen Tatsachen die Behinderung des Denkens infolge der Behinderung des Vorstellens paßt.

Den Allgemeinvorstellungen Lockes, den Typenbildern Galtons sowie allen Verdichtungs- und Möglichkeitstheorien war damit schon der Boden entzogen. Die Klarheit der Begriffe erlaubt eben nicht, sie als eine Zusammenziehung verschiedener Individualvorstellungen auszugeben; der tatsächlich vorhandene Bewußtseinsinhalt widerspricht der Deutung, der Begriff Pferd sei in der Möglichkeit beschlossen, zu dem Wort Pferd die verschiedensten anschaulichen Vorstellungen zu reproduzieren: ein nur möglicher Bewußtseinsinhalt kann mir nichts sagen. Anderseits weckte die Lehre von der Unentbehrlichkeit der Phantasmen auch Zweifel an den Versuchsergebnissen Bühlers, dessen Vpn absolut unanschauliche Gedanken frei von jeder Vorstellung erlebt haben wollten. Dazu kamen die Beobachtungen anderer Experimentatoren, die wenigstens bei länger dauernden Vergegenwärtigungen von Begriffen stets die Entwicklung anschaulicher Vorstellungen fanden (Schwiete). Aber auch die im übrigen bestechende Theorie (Witaseks), wir beachteten nur das den verschiedenen Individuen Gemeinsame und abstrahierten negativ von den Verschiedenheiten, genügt nicht ganz. Welches anschauliche Gemeinsame halten wir denn zurück, wenn wir aus verschiedenen Grünschattierungen den Allgemeinbegriff grün gewinnen?

Die Lösung dieses Problems dürfte in dem Erlebnis der Beziehungserfassungen und in der Fähigkeit zum Sachverhaltswissen ruhen. Im Umgang mit dem Pferde z. B. erfassen wir mancherlei Sachverhalte, die sich auf es beziehen: es hat eine bestimmte Größe, vier Beine, einen langen Schweif usw. Haben wir nun sechs Pferde kennen gelernt, so können wir eine Anzahl dieser Sachverhalte auf alle anwenden, manche jedoch nur auf einen Teil. Die Summe jener Sachverhalte, die von allen sechs Tieren gelten, ist dann unser Begriff vom[S. 185] Pferde. So erklärt sich wohl das meiste: Die auf die sechs Pferde anwendbaren Sachverhalte sind ihrer Natur nach allgemein; wie sie auf ungezählte Individuen anwendbar sind, so sind sie anderseits durch keine anschauliche Vorstellung adäquat wiederzugeben. Dennoch sind sie weder erstmalig zu erlangen, noch später gedächtnismäßig zu verwerten ohne Vorstellungen. Sachverhalte schließen ja Beziehungen ein. Beziehungen lassen sich aber erstmalig nur an anschaulichen Inhalten abstrahieren, und niemals wird ein realer Gegenstand restlos in Beziehungen aufgelöst und darum auch nicht durch Beziehungsinhalte allein wiedergegeben werden können.

So erhellt ferner, wie unsere Begriffe einer beständigen Ergänzung und Berichtigung durch die Erfahrung unterliegen. Weiter: setzt sich der Begriff aus einer Summe von Sachverhaltserfassungen zusammen, so kann bei der Verwendung des Begriffes die Reproduktion von einzelnen Teilen dieser Summe versagen und somit irrige Urteile verschulden, obwohl man sich zuvor den richtigen Begriff angeeignet hat, eine Tatsache, die bei der Annahme einfacher geistiger Begriffsgrößen nur schwer zu deuten ist. Auch die widersprechenden Ergebnisse Bühlers und Schwietes sind nunmehr zu vereinbaren: Wir wissen heute, daß Beziehungen erfaßbar sind, noch bevor die Fundamente der Beziehungen klar im Bewußtsein stehen. Bei einer komplexen Denktätigkeit haben nun die einzelnen anschaulichen Vorstellungen, die uns die Beziehungserkenntnisse liefern, keine Zeit, sich zu entfalten; sie sinken alsbald wieder unter die Schwelle, und auch die beste Vp wird unter gewöhnlichen Verhältnissen mit Sicherheit behaupten, der Gedanke sei jeglicher Vorstellungen bar erlebt worden. Es gelang uns ja nur ganz zufällig, unter außer gewöhnlichen Bedingungen, die anschaulichen Vorstellungen zu entdecken, die, kaum bewußt, die Grundlagen von Beziehungserfassungen bilden. Bietet man den Vpn jedoch nur einzelne Wörter, so bleibt den Vorstellungen Raum und Energie, sich zu entfalten. Ist endlich für solche Entwicklung keine volle, sondern nur eine spärliche Möglichkeit belassen, so begreift man, wie sich infolge der zufällig herrschenden Konstellation nur einzelne Teile der zugehörigen oder der mitangeregten Vorstellungen höher über die Schwelle heben; möglicherweise sind diese Teile für das Wesentliche des Begriffes ganz nebensächlich, und wir gelangen so zu der schon lang als Paraphantasie bekannten Erscheinung.

Von hier aus klärt sich auch das Erlebnis des Erkennens von wahrgenommenen Gegenständen. Man hat richtig hervorgehoben, es genüge zum Erkennen von Dingen nicht, ihr sinnliches Bild in uns aufzunehmen, das Ausschlaggebende sei die zum Sinneseindruck hinzukommende Bedeutung; derselbe Sinneseindruck vertrage sich etwa mit der Auffassung Tonscherbe und Speckschwarte[S. 186] (Schapp). Wir können jetzt angeben, was diese geheimnisvolle Bedeutung ist: nichts anderes als das Wissen von den Beziehungen, in denen der sinnliche Eindruck zu andern Dingen steht. Das sind zunächst jene allgemeinen Beziehungen, die ihm den Charakter des Dinges, und zwar des wahrgenommenen Dinges, verleihen. Dann etwa Beziehungen zu seiner Verwendung, seiner Herkunft usw. Wenn aber solche Beziehungen überhaupt nicht vorhanden oder doch von uns nicht gewußt wären? Dann hätten wir gleichwohl den Gegenstand wahrgenommen, nur bliebe er uns unverständlich. Zur Wahrnehmung gehört mithin wesentlich nur, daß der Eindruck als von einem unabhängig von uns existierenden Dinge herrührend erkannt wird. Seine weitere Bedeutung ermöglicht nur die verständnisvolle Erfassung. Und diese Bedeutung schwebt nicht wie die platonischen Ideen irgendwo, sondern ist assoziativ mit dem Sinneseindruck verbunden. Man darf auch nicht behaupten, sie sei immer das Ausschlaggebende für den Sinneseindruck. Normalerweise wird der Eindruck die mit ihm assoziativ verknüpften Fundamente der Beziehungen und damit diese selbst ins Bewußtsein ziehen. Es kann aber auch infolge der Konstellation z. B. infolge der Erwartung die Bedeutung zuerst gegeben sein und so den undeutlichen Sinneseindruck entweder richtig ergänzen oder wie in der Illusion unzweckmäßig ausstaffieren oder abändern.

Der Begriff ist ein Wissen von Sachverhalten. Nach der Art, wie Sachverhalte gewonnen sein können, lassen sich darum auch verschiedene Gruppen von Begriffen auseinanderhalten. Sachverhalte lassen sich gewinnen, indem man von dem Gegenstand in möglichst allgemeinem Sinne ausgeht, ihn etwa als Ding auffaßt und nun seine Beziehungen zu andern Dingen aufsucht, und zwar wiederum möglichst allgemeine Beziehungen. So läßt sich ein Gegenstand eindeutig, aber indirekt bestimmen. Wir können dann von ihm reden, ganz klare Urteile über ihn fällen, ohne auch nur die geringste Vorstellung zu haben, die uns sein anschauliches Bild vorführte. So kann der Blindgeborene richtig von Rot sprechen, wenn er es als einen im normalen Auge durch Ätherwellen von der Länge 762 bis 855 µµ bewirkten Eindruck bezeichnet. Eine andere Art der Begriffsbildung ist folgende: Man stellt sich anschaulich eine ganz bestimmte Schattierung des Rot vor und erklärt: rot sind jene Farben,[S. 187] die diesem individuellen Rot qualitativ ähnlich sind. Das ist ein richtiger Allgemeinbegriff, aber wesentlich auf einen besonderen Fall aufgebaut. Einen solchen Begriff kann nur der Sehende bilden. Endlich kann ich auch die anschauliche Wirkung als Fundament jener Beziehung nehmen, die einen Gegenstand charakterisieren soll. Auf diese Weise ist es möglich, sogar das Gefühl als Bestandstück in die Begriffsbestimmung mit aufzunehmen. Definiert man z. B. das Schöne als das, was eine ästhetische Wirkung ausübt, so kann ich diese Wirkung entweder durch die Beziehungen, die sie zu andern Erlebnissen oder andern Dingen überhaupt hat, mehr oder weniger abstrakt festlegen, ich kann sie mir aber auch nach Kräften anschaulich vergegenwärtigen und erklären: schön ist das, was „so“ auf mich wirkt, demgegenüber mir „so“ zumute ist. So stehen also den abstrakten Begriffen solche mit anschaulichem Einschlag zur Seite. Für die wissenschaftliche Arbeit sind letztere wenig geeignet, da sie verhältnismäßig viel Zeit und Kraft verbrauchen. In der künstlerischen und religiösen Betrachtung hingegen spielen sie eine große Rolle.

Sollten nicht die Kategorien, die allgemeinsten Begriffe von Gleichheit, Verschiedenheit, auf diesem Wege in unser Geistesleben eingeführt worden sein? Der Umstand, daß statt einer erwarteten Speise etwa eine andere kommt, bedingt Empfindungen ganz eigener Art, die keineswegs die Beziehungserfassung der Andersartigkeit zur Grundlage zu haben brauchen. Unter günstigen Verhältnissen läßt sich sehr deutlich beobachten, wie das Zusammentreffen eines neuen Eindruckes mit einer fremdartigen Einstellung ausgesprochene innere Empfindungen hervorruft, die zumeist auch von charakteristischen Gefühlen begleitet sind. Mit dieser anschaulichen Wirkung der Verschiedenheit verbindet das Kind die von den Erwachsenen übernommene Bezeichnung „anders“, „verschieden“ (dem Urmenschen mag die der gleichen Gefühlswirkung entsprechende gleichmäßige Kundgabe allmählich zum Namen dieses Sachverhaltes geworden sein). „Anders“, „verschieden“ ist also am Platze und stellt sich überdies assoziativ ein, wenn es „so tut“. Es tut aber so, wenn das nicht kommt, was man bewußt oder unbewußt erwartete. So erlangt das Wort „verschieden“ dank der wachsenden Erfahrung seinen abstrakten Sinn. Es würde zu weit führen, diesen Gedanken für alle Kategorien auszuwerten.

Literatur

K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes³. 1922.

J. Lindworsky, Zur Psychologie der Begriffe. Philos. Jahrbuch (1919) und Umrißskizze zu einer theoret. Psychologie². 1923. S. 31 ff.

N. Ach, Über die Begriffsbildung. 1921.

[S. 188]

5. Kap. Die Gewißheit

Man hat die Gewißheit bisweilen als eine Eigenschaft der Erkenntnis, bisweilen als ein besonderes Gefühl hingestellt. Tiefergehende empirische Untersuchungen liegen darüber noch nicht vor. Wir beschreiten darum den Weg der Synthese; zeigen, wie die uns bekannten Faktoren notwendig wirken müssen, und prüfen, ob die Vereinigung dieser Faktoren ausreicht die anderweitig bekannten Erscheinungen zu erklären. Nehmen wir an, es gäbe kein elementares Gewißheitserlebnis, dann hätte ein denkendes Individuum am Anfang seiner Denktätigkeit wohl etwa die Einsicht: A größer als B, aber diese Einsicht wäre weder gewiß noch ungewiß, sondern schlicht und unangefochten gegeben. Machte nun ein solcher Mensch die Erfahrung, daß etwa bei flüchtigem Hinschauen Einsichten gewonnen werden, die sich bei sorgfältiger Auffassung nicht bestätigen, so hätte er eine neue Zusammenhangsbeziehung erkannt: flüchtiges Hinsehen ist verbunden mit der Unbeständigkeit der so erlangten Einsichten, genaues Hinsehen ist verbunden mit der Beständigkeit der Einsicht. Würde ihm nun die Frage vorgelegt, ob seine Erkenntnis: A größer als B, auch gewiß, d. h. von Bestand sei, so würde er prüfen, ob er flüchtig oder genau hingesehen hatte, und mit dieser Beziehungseinsicht begründen, daß A wirklich größer als B sei. Die Gewißheit bestände hier also in einer zweiten Beziehungserfassung, die sich auf die Art und Weise, wie die erste gewonnen wurde, erstreckt. Die fortschreitende Erfahrung lehrt noch andere Umstände kennen, durch welche die Zuverlässigkeit einer Beziehungserfassung in Frage gestellt werden kann. Sind solche Hindernisse einer zuverlässigen Erkenntnis nicht zu entdecken, so herrscht wieder Gewißheit. Erkenntnistheoretische Überlegungen werfen erst später das Problem auf, ob denn die Dauerhaftigkeit einer Einsicht deren absolute Richtigkeit verbürge; es wäre ja möglich, daß die bisher für gewiß gehaltene Einsicht, nämlich die unmittelbare und ungehindert vollzogene Beziehungserfassung, zwar die beste Erkenntnis sei, die uns Menschen möglich ist, aber keine Gewähr biete,[S. 189] der absoluten Wirklichkeit zu entsprechen. Mit andern Worten, die Zurückführung einer Erkenntnis auf eine unmittelbare, ungestörte Beziehungserfassung gebe zwar eine natürliche, aber keine philosophische Gewißheit. Dieses Problem ist durch erkenntnistheoretische Erwägungen zu lösen, deren Ergebnis entweder zur Ergänzung der natürlichen durch die philosophische Gewißheit oder zum Verzicht auf letztere führt.

Die Gewißheit besteht nach dem Gesagten in neuen Sachverhaltserfassungen über die Art und Weise, wie dieser als gewiß zu beurteilende Sachverhalt selbst erkannt wurde. Die Gewißheit kann sich darum steigern, zwar nicht als Einsicht; denn Einsichten sind entweder vorhanden oder nicht vorhanden, wohl aber hinsichtlich der Begründung dieser Einsicht. Die Einsicht, daß wir uns nicht geirrt haben, pflegt aber auch von Gefühlen begleitet zu sein, von Lust- und Tätigkeitsgefühlen, wie sie den Wanderer überkommen, der sich davon überzeugt, daß er den rechten Weg eingeschlagen. Diese Gefühle lassen nun eine erhebliche Steigerung zu, und an sie denken wir zumeist, wenn wir von Gewißheit sprechen.

Wo immer die gleichen oder verwandte Sachverhalte erfaßt werden, kürzt sich auf die Dauer dieser Prozeß ab. Wie das geschieht, wurde oben dargestellt (S. 178). Hier dürften namentlich die Kriterien eine bedeutende Rolle spielen. Das rasche und klare Auftreten einer Einsicht wird uns z. B. zum Kriterium dafür, daß alle Bedingungen für eine sichere Erkenntnis erfüllt waren. An das Wissen darüber, vielleicht auch an diese Kriterien selbst können sich nun assoziativ die Träger des Gewißheitsgefühles anschließen und so bisweilen eine subjektive Sicherheit erzeugen, über die man im einzelnen nur schwer Rechenschaft ablegen kann.

6. Kap. Das schlußfolgernde Denken

Nachdem sich uns der lang verborgene Vorgang des naturgemäßen Schlußfolgerns enthüllt hat, ist es auch klar geworden, daß die psychologische Erörterung dieses Prozesses nicht mit der Besprechung des Syllogismus anheben darf. Der Syllogismus ist ein Kunstprodukt und verlangt ein sehr eindringliches Studium und feinste Selbstbeobachtung, um das in ihm verhüllte psychologische Rätsel zu lösen. Nur das eine offenbart er uns leicht, was ein Schluß zu leisten hat: aus schon vorhandenem Wissen wird ohne Zuhilfenahme der Wahrnehmung ein neues Wissen erschlossen. Damit[S. 190] ist der Weg für die experimentelle Forschung gewiesen: man veranlasse die Vpn, in freier Weise aus ihrem bisherigen Wissen zu neuen Einsichten zu gelangen. Die mannigfaltigsten Aufgaben mußten durchprobiert, aus der Fülle der Erlebnisse mußten alle rein reproduktiven Vorgänge ausgeschieden werden, bis man endlich zu der unter Vorstellungen und Gefühlen ganz vergrabenen Seele des Prozesses vordrang. So ergab sich denn folgendes.

Der naturgemäße Schluß läßt sich als eine Beziehungserfassung an gewußten Sachverhalten definieren. Er ist somit kein Elementarvorgang, sondern setzt sich aus den schon bekannten Erscheinungen des Relationswissens und der Relationserfassung zusammen. Das Vermittelte, Abgeleitete des Schlusses beruht darin, daß die neue Beziehungserfassung an dem schon vorhandenen Wissen erfolgt. Seine einfachste Form ist etwa in folgendem Beispiel erkennbar: A liegt über B, das weiß ich, und ich erfasse neu daran: also B unter A. Auf dieses Schema lassen sich alle schlußmäßig gewonnenen Erkenntnisfortschritte, auch die innerhalb verwickelter Aufgaben, zurückführen. Dabei kann man füglich drei Hauptarten unterscheiden, in denen der naturgemäße Schluß auftritt. Erstens: der gewußte Sachverhalt wird anschaulich dargestellt, und an dieser anschaulichen Darstellung wird wie an einer Wahrnehmung eine neue Beziehung erfaßt. A über B wird etwa wie auf einer Tafel geschrieben gesehen, und an diesem inneren Bilde wird dann abgelesen: B unter A. Dieselbe Beziehung kann aber auch ohne jede Veranschaulichung rein begrifflich erfaßt werden. Und drittens kann sich rein assoziativ an den ersten Satz bzw. an das „oberhalb“ das „unterhalb“ anschließen und als richtige Folgerung erkannt werden. Namentlich diese dritte Art ist sehr häufig. Es bewahrheitet sich bei ihr das Dichterwort von der „gebildeten Sprache, die für uns dichtet und denkt“. Aber gerade in solchen Fällen wird unter den günstigen Bedingungen des Experimentes bisweilen handgreiflich deutlich, daß der Schlußakt etwas anderes ist als die einfache assoziative Folge von Subjekt und Prädikat. Ist nämlich die Beziehungserfassung „ist gleich“ nicht erfolgt, dann erscheint[S. 191] die rein assoziativ dargebotene Ergänzung wie ein Lösungsvorschlag, der erst geprüft werden muß, und aus der Schlußaufgabe wird ein Begründungsvorgang.

Der Schlußvorgang kann auch folgendermaßen beschrieben werden: Wissensmäßig ist uns ein Sachverhalt gegeben. Dieser Sachverhalt besitzt eine weitere Seite, die bisher noch nicht beachtet wurde. Ich weiß z. B., mein Freund A hat die Gicht. Mit dem Sachverhalt „Gicht haben“ ist aber der andere „mürrisch sein“ verbunden, doch habe ich bis jetzt nicht darauf geachtet. Jetzt fällt mein beziehendes Blicken auf diese neue Seite des Sachverhaltes „A ist gichtig“, und ich erkenne: A ist mürrisch. So angesehen, lassen sich zwei Hauptfälle unterscheiden: Die neue Seite des Sachverhaltes ist entweder von vorneherein dem Bewußtsein gegeben, nur ist die Beziehung zwischen dem Ausgangspunkt und dieser anderen Seite noch nicht erfaßt, oder die neue Seite des Sachverhaltes entfaltet sich erst während des Denkens. Beidemal kann der Sachverhalt anschaulich oder auch begrifflich gegeben sein. Im ersteren Fall nähert sich die Schlußfolgerung der einfachen Wahrnehmung, im letzteren Fall verschwindet sie häufig fast ganz hinter dem inneren Sprechen. Zudem kann die eigentliche Seele des Schlusses, die neugewonnene Beziehungserkenntnis, dadurch noch mehr zurücktreten, daß die Blickrichtung schon von vorneherein festgelegt ist, so wenn ich mich frage: was haben wir von der gegenwärtigen Lage zu erwarten? In dieser Einstellung ist schon das Schema „A ist ...“ angelegt. Es braucht nur noch durch eine neu auftauchende Seite des Sachverhaltes ausgefüllt zu werden. Darum fällt auch der Nachdruck des Erlebnisses auf die Reproduktion dieser neuen Seite und nicht auf die Erfassung der Beziehung, obwohl ohne diese von einem Erkenntnisfortschritt nicht die Rede sein kann.

Die zuletzt beschriebenen Fälle des in Worte gekleideten Denkens hat die Gelegenheitsbeobachtung schon herausgegriffen, als sie die Behauptung aufstellte: wir denken in Enthymemen. Die experimentelle Beobachtung mußte demgegenüber nachweisen, daß das Enthymem nur eine der verschiedenen Schlußweisen ist. Übrigens vermochte die Heraushebung solcher enthymemartiger Schlüsse noch kein rechtes Bild von dem Wesen des Schlußvorganges zu vermitteln. Denn einerseits hat sie den wichtigsten Teil des Prozesses, eben die Beziehungserfassung, nicht ans Licht gezogen, anderseits legte sie unverdienten Nachdruck auf das „also“. Logische Erwägungen und die Art der Darstellung der Schlüsse ließen bisher glauben, im Vordergrunde des Schlußerlebens stehe die Betonung des Zusammenhanges zwischen der Ausgangs- und der Schlußerkenntnis. Dem ist aber keineswegs so, wie das Experiment gezeigt hat. Das Wichtigste ist für den Erlebenden die neue Erkenntnis selbst. Erst wenn er an ihrer Richtigkeit zweifelt oder wenn er sie für einen anderen begründen will, wird das „also“,[S. 192] wird der innere Zusammenhang zwischen Voraussetzung und Folgerung hervorgehoben. Die logische Richtigkeit ist beim naturgemäßen Schließen überhaupt eine spätere Sorge. Das zeigt sich namentlich bei den Zusammenhangsrelationen. Wir schließen da in der Regel auf das (alleinige) Bestehen jenes Zusammenhanges, der sich uns gerade dank der Konstellation anbietet. So folgert man etwa aus dem Satz „A ist Schwager“: also hat er eine verheiratete Schwester.

Es bedingt nun gar keinen Unterschied, ob der Ausgangssachverhalt durch einen oder mehrere Sätze (oder Wahrnehmungen) beschafft wird. Zwischen der sog. unmittelbaren Folgerung A über B, also B unter A, und der mittelbaren Folgerung A über C, C über B, also B unter A, besteht gar kein Wesensunterschied. Beidemal wird ein Sachverhalt in unser Wissen eingeführt, und an dem so gewonnenen Sachverhaltswissen wird eine neue Beziehung erfaßt. Ähnlich verhält es sich mit dem regelrechten Syllogismus der Logik. Auch seine Prämissen dienen nur dazu, den Gesamtsachverhalt vorzulegen. Das syllogistische Schließen unterscheidet sich von dem naturgemäßen auf doppelte Weise. Hier ist häufig der Gesamtsachverhalt von Anfang an noch nicht gegeben, die neue Seite des Sachverhaltes, auf die sich das beziehende Blicken richtet, ist noch nicht entfaltet, und es bleibt oft der zufälligen Konstellation anheimgegeben, welche der verschiedenen Seiten des Sachverhaltes sich darbieten werden. Dieser Zufälligkeit beugt der Syllogismus vor, indem er durch einen der Vordersätze gerade jene Seite des Sachverhaltes bewußt macht, auf die der Schluß gehen soll. Außerdem wird die Beziehungsrichtung durch die begünstigte Stellung von S und P vorbereitet. Es kann nun auch beim Syllogismus der Schluß vermittels einer Beziehungserfassung an einem anschaulich gegebenen Gesamtsachverhalt gewonnen werden, oder es können die begrifflichen Beziehungen im Vordergrunde stehen, oder es kann die sprachliche Form besonders betont sein. Daraus ergeben sich mannigfache, aber ziemlich gesetzmäßig sich bildende Variationen, die hier im einzelnen nicht aufgezählt werden können. Doch sei noch folgende lehrreiche Beobachtung erwähnt: Man kann an Hand der wohlverstandenen Prämissen zu dem Schlußergebnis gelangen, ohne den oben geschilderten Prozeß durchzumachen. Die Beobachter erklären in solchen Fällen einhellig, sie hätten kein Schlußerlebnis gehabt. Wenn nämlich der Mittelbegriff infolge des Obersatzes prägnant wird, wenn z. B. in dem bekannten Syllogismus von dem sterblichen Menschen das Wort Mensch im Untersatz „Cajus ist ein Mensch“ sich schon mit der Bedeutung „sterblich“ versehen darbietet, wird die Sterblichkeit des Cajus ohne jene neue Beziehungserfassung erkannt, in der wir die Seele des Syllogismus und des Schlusses überhaupt erblicken.

Verwandt mit dem Schließen ist das Begründen. Nur ist hier das Ziel der Denkarbeit in dem zu ermittelnden[S. 193] Sachverhalt schon gegeben. Der Begründungsvorgang verläuft nun im allgemeinen so, daß der Denkende durch eine Analyse des Sachverhaltes zu einem anderen, sicher feststehenden Sachverhalt vorzudringen sucht, von dem aus er durch einen eigentlichen Schluß den zu begründenden Sachverhalt wiedergewinnt. Ähnlich wie bei dem Schlußprozeß das „also“, tritt hier das „denn“ in den Hintergrund.

Literatur

G. Störring, Experim. Untersuchungen über einfache Schlußprozesse. ArPs 11, 1908.

J. Lindworsky, Das schlußfolgernde Denken. 1916.

7. Kap. Das produktive Denken

Unter produktivem Denken verstehen wir hier ganz allgemein das Denken im Dienste bestimmter Aufgaben. Solches Denken ist ganz wesentlich eine Willenshandlung und muß unter diesem Gesichtspunkt später noch eigens betrachtet werden. Hier berücksichtigen wir nur die Erkenntnisvorgänge. Früher glaubte man, eine gestellte Aufgabe lasse alle möglichen mit dem Aufgabewort assoziierten Vorstellungen auftauchen; man ginge dann die einzelnen Vorstellungen durch, verwerfe die unpassenden und greife die passende heraus. Nun hat aber Selz gezeigt, daß von einer solchen diffusen Vorstellungsreproduktion keine Rede sein kann. Nicht unzusammenhängende Einzelvorstellungen tauchen auf, sondern das methodische Verfahren, das wir zur Lösung der Aufgabe früher erlernt haben, wird uns bewußt. Die Vorstellung des Verfahrens wirkt nun als antizipierendes Schema und liefert uns gleichfalls keine diffusen, sondern nur die mit ihm einen Komplex bildenden sachdienlichen Vorstellungen. Sie werden mit der Aufgabe verglichen, und wenn durch eine Beziehungserfassung ihre Übereinstimmung mit der Aufgabe erkannt ist, werden sie angenommen, andernfalls wird methodisch weiter gesucht.

Wir fanden diese Ergebnisse auf einem von Selz nicht untersuchten Gebiet bestätigt. Unseren Vpn war die Aufgabe gestellt, Vergleiche zu finden, z. B. was läßt sich mit einem Bügeleisen vergleichen? Es drängen sich nun keineswegs[S. 194] alle möglichen mit „Bügeleisen“ assoziierten Vorstellungen auf, sondern die Vpn fragen sich in der Regel: was tut das Bügeleisen? Sie abstrahieren also einen bestimmten Sachverhalt, z. B. den des Glättens. Dieser Zug dient nun als antizipierendes Schema für eine weitere Komplexergänzung: was glättet auch? Der Komplex ergänzt sich etwa durch die Vorstellung: sanfte Worte.

Allgemein gesprochen handelt es sich also bei der Lösung von Aufgaben darum, Ziel und Mittel zusammen zu bringen. O. Selz unterscheidet hier vier mögliche Fälle. 1) Das zu erreichende Ziel und die zum Ziel führenden Mittel können dem Denker bekannt und gegenwärtig sein. Weiß er außerdem noch die Zuordnung jener Mittel im allgemeinen zu dieser bestimmten Art von Zielen, so braucht er einfach diese anzuwenden. Ein Beispiel: Sind vielstellige Zahlen zu multiplizieren, so braucht man sich nur an den Sachverhalt zu erinnern, daß eine bestimmte logarithmische Rechnungsweise zum Ziel führt und sich jenes Verfahren selbst wieder zu vergegenwärtigen und anzuwenden. Es sind also in der Hauptsache Sachverhalts-, d. h. Komplexreproduktionen (S. 173), die hier in Frage kommen. 2) Ist das Ziel gegeben, ein zweckdienliches Mittel jedoch noch nicht bekannt, so werden ebenfalls vermittels Komplexreproduktionen mannigfache Mittel ins Gedächtnis gerufen, die allenfalls in Frage kommen könnten, und diese werden einzeln auf ihre Tauglichkeit geprüft. So hätte man sich etwa zu fragen: sind Logarithmen zur Addition verwendbar? Hier muß also zur Reproduktion noch die Beziehungserfassung der Geeignetheit, wohl zumeist eine Erfassung der Gleichheit, hinzutreten. Dabei wird häufig ein Schlußprozeß eingreifen. Jedes Mittel stellt nämlich für uns einen Sachverhalt dar. Zeigt sich nun dieser Sachverhalt von einer Seite, die für unsere Zwecke wertlos ist, so verwerfen wir es als ungeeignet. Durch schlußfolgerndes Denken entdecken wir aber unter Umständen an diesem Sachverhalt eine neue Beziehung, wie wir sie brauchen, und anerkennen nun das Mittel als das erwünschte. Wir suchen z. B. nach einem Werkzeug, das uns die Dienste einer Zange leistet. Wir finden eine Schere. Ihre[S. 195] Geeignetheit zum Schneiden befriedigt uns nicht. Da entdecken wir, daß sie, quergestellt, zum Packen und Heben verwendbar sei, und sind so zum Ziele gelangt. Es befreit uns also der Schluß aus den Fesseln der Assoziationen, wenngleich sein Zustandekommen gar häufig auch von assoziativen Bedingungen abhängt. 3) Birgt aber unser Gedächtnis kein taugliches Mittel, so sind wir auf die Gnade des Zufalls angewiesen. Dank der Determination zur Lösung der uns vorschwebenden Aufgabe, von der bei den Willenshandlungen noch die Rede sein wird, bleiben wir nämlich auf das Entdecken eines geeigneten Mittels eingestellt und richten gleichsam an alle Dinge, die uns begegnen, die Frage, ob sie nicht für unsere Zwecke verwendbar seien. Der weitere Verlauf ist derselbe wie im vorigen Falle: entweder wir erkennen die Untauglichkeit des Mittels oder wir entdecken durch unmittelbare oder mittelbare Beziehungserfassung seine Brauchbarkeit und rufen erfreut unser Heureka. 4) Endlich kann uns ein Mittel und sein Erfolg als etwas Tatsächliches, aber von uns nicht Erstrebtes zufällig dargeboten werden. So bemüht sich der Primitive, ein Tongefäß in einem geflochtenen Korb zu formen, der Korb aber hinterläßt ornamental wirkende Eindrücke in der Tonmasse. Eine dreifache Relationserfassung wird hier das schöpferische Denken ausmachen: die regelmäßigen Eindrücke müssen als die Ursache des ästhetischen Genusses, der Korb als Ursache der Toneindrücke und die Erzeugung solcher Eindrücke als ein mögliches Ziel eigener Tätigkeit erkannt werden.

Komplexergänzung, Beziehungserfassung und Willensvorgänge sind die drei Faktoren, die in das produktive Denken Richtung, Ordnung und Abkürzung hineinbringen. Wollte man es ohne die beiden letzten Faktoren oder gar einzig und allein mit Elementarassoziationen begreifen, so wäre das ein ebenso aussichtsloses Beginnen, wie wenn man Goethes Faust aus blindlings hingeworfenen Buchstaben zu erhalten hoffte.

Aus dem bisher Gesagten können wir leicht zwei Arten der Begabung für das produktive Denken ableiten: die Begabung zum Entdecken und die zum Erfinden. Am vorgegebenen Inhalt müssen Beziehungen erfaßt werden, das[S. 196] ist die Sache des Entdeckers; das nur wenig bestimmte antizipierende Schema muß sich leicht mit einem bestimmteren Inhalt füllen, das ist die Begabung des Erfinders. Man wird aber die Befähigung des Entdeckers nicht im Gegensatz zu der des Erfinders auf dem Gebiet des „Intellektes“, d. h. der Beziehungserfassung selbst zu suchen haben. Soweit mein Beobachtungsmaterial reicht, beruht die Entdeckergabe nicht so sehr darauf, daß man an zwei schon vorliegenden Inhalten Beziehungen erfaßt, als vielmehr darauf, daß der eine gegenwärtige Inhalt leicht einen zweiten verwandten ins Bewußtsein ruft, anders gesagt: daß die allgemeineren Züge eines gegebenen Vorstellungsinhaltes leicht die eines anderen Vorstellungskomplexes miterregen. Die Beziehungserfassung folgt dann nach und vollendet die Entdeckung. — Die Absicht und die Einstellung zu erfinden oder zu entdecken ist für den Erfolg von höchster Bedeutung und kann bis zu einem gewissen Grad die Begabung ersetzen. Aber nur selten wird sich ohne diese Begabung Erfinderfreude und Entdeckereinstellung ausbilden.

Literatur

O. Selz, Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums. 1922.

J. Lindworsky, Vorzüge und Mängel bei der Lösung von Denkaufgaben. ZaPs 18 (1921).

8. Kap. Urteil, Annahme und Frage

1. Das Urteil

Der seelische Vorgang beim Urteilen ist noch keineswegs mit Sicherheit erkannt. Man hat in den psychophysischen Experimenten die Vpn immer und immer wieder urteilen lassen, freilich ohne den Urteilsvorgang als solchen zum Gegenstand der rückschauenden Beobachtung zu machen, aber auch als Nebenresultat haben diese Versuche für das psychologische Wesen des Urteils kaum einen Ertrag gehabt. Die Untersuchung Marbes jedoch, die unmittelbar dem Urteil als solchem gewidmet war und zum erstenmal die systematische Selbstbeobachtung darauf anwendete, scheiterte an der allzuweiten Bestimmung des Gegenstandes:[S. 197] jeder psychische Vorgang, auf den das Prädikat richtig oder falsch sinngemäß anwendbar sei, sollte als Urteil gelten. Das mußte notwendig zu Marbes Ergebnis führen: es gibt kein für das Urteil charakteristisches Erlebnis. Überdies fehlte es den Vpn Marbes damals noch an der erforderlichen Schulung in der Selbstbeobachtung für diese überaus schwierige Aufgabe. Ergebnisreicher war eine Arbeit von Messer. Sie sicherte den erlebnismäßigen Unterschied des Urteils von jeder rein assoziativ bedingten Wortfolge wie von der attributiven Beziehung und ließ den aktiven Charakter des Urteils erkennen. Seit dieser Zeit wurde der Urteilsakt nicht mehr experimentell erforscht, so daß wir uns einstweilen noch mit einer phänomenologischen Analyse unter Verwertung anderweitiger experimenteller Ergebnisse behelfen müssen.

Da die Sprachwissenschaft ebenso wie die Logik sich mit dem Urteil abgeben, erstreckt sich die Bezeichnung „Urteil“ nicht auf gleichartige Erlebnisse: ein nachgesprochener Satz ist gewiß eine andere Bewußtseinserscheinung als etwa ein „freventliches Urteil“. Was hier untersucht werden soll, ist die ausgesprochenste Erlebnisweise, wie sie in dem „überzeugten“, dem „abschließenden“, dem sittlich bewertbaren Urteil vorliegt. Von diesen Urteilen kann nun heute als feststehend gelten, daß sie mehr sind als eine bloß assoziativ bedingte Wortfolge. Man kann sie ferner weder als eine Verbindung zweier Vorstellungen, noch als die Zerlegung einer Gesamtvorstellung in ihre Teile (Wundt) auffassen. Wir verweisen hier auf die scharfe Kritik, die Franz Brentano an den alten, unzulänglichen Urteilstheorien geübt hat. Das haben ja auch die Vpn Messers deutlich bekundet, und das ergibt sich aus der allgemein zugestandenen Tatsache, daß ein Urteil immer einen Sachverhalt betrifft. Auch die Impersonalien wie „Feuer!“, „es blitzt“ stellen uns nicht Vorstellungen bzw. Dinge dar, sondern eigentliche Sachverhalte: der Vorgang selbst ist ein Sachverhalt und enthält überdies noch mannigfache Beziehungen, so zu Raum und Zeit: es blitzt hier, es regnet jetzt. Sachverhalte lassen sich aber, wie oben gezeigt wurde, bewußtseinsmäßig nicht mit Vorstellungen allein wiedergeben. Zu einem Urteil gehört somit auf jeden Fall eine Sachverhalts-, eine Beziehungserkenntnis. Man wollte darum schon umgekehrt das Urteil der Beziehungserfassung gleichsetzen.

Indes nicht jede Beziehungserfassung kann ein Urteil genannt werden. Lege ich jemand ein aus verschiedenfarbigen Strichen hergestelltes Vieleck vor und lasse dessen Regelmäßigkeit beurteilen, so kann auch die Verschiedenheit der Farben als solche erkannt werden.[S. 198] Wie nun die Untersuchungen über Haupt- und Nebenaufgaben gelehrt haben, kann diese zweite Erkenntnis auf den verschiedensten Bewußtseinsstufen erlangt werden, und zwar auf so tiefen, daß zwar noch eine rechte Beziehungserfassung vorhanden, aber von dem charakteristischen Urteilserlebnis keine Spur zu bemerken ist. Anderseits bedarf es zum Urteil keiner originalen Beziehungserfassung, sondern es genügt das Verständnis der im Urteil ausgesprochenen Beziehung. Ohne eigene Einsicht kann ich die Meinung eines anderen zu meinem Urteil machen oder ein früher gewonnenes Urteil ohne Einblick in seine sachliche Begründung mit voller Überzeugung von neuem fällen.

Zu der wenigstens verstehenden Kenntnisnahme von einem Sachverhalt (er heiße „Grundsachverhalt“) tritt aber in einem echten Urteil, wie schon von altersher bemerkt wurde, eine persönliche Überzeugung oder wenigstens eine Gewißheit des Urteilenden. Das nur verstehende Aussprechen eines Satzes ist kein Urteil. Da aber, wie eben bewiesen, die selbständige Beziehungserfassung auch nicht das Wesen des Urteils ausmacht, so scheint nichts übrig zu bleiben als die Gewißheit, die entweder auf eigener Einsicht oder auf fremder Autorität beruht. Wir haben oben (S. 181 f.) gezeigt, wie Gewißheit zustandekommen und in welchen Erlebnissen sie bestehen kann. Das alles ist zweifellos beim echten Urteil vorhanden. Aber ist damit das ganze Urteilserlebnis erschöpft?

Die experimentelle Untersuchung hebt ein aktives Moment beim Urteil als besonders charakteristisch hervor. Dasselbe betonen fast alle Psychologen, die das Wesentliche des Urteils in dem Bejahen und Verneinen erblicken. Nun liegt ja schon in der Beziehungserfassung etwas Aktives, und man könnte meinen, die zwar nicht immer, aber doch häufig beim Urteil auftretenden originalen Beziehungserfassungen machten, vielleicht im Verein mit dem aktiven Aussprechen, den Charakter des Urteils aus. Allein Versuche mit Beziehungserfassungen lehrten, daß der Aktcharakter der Beziehungen unter Umständen zurücktritt, bisweilen von den Vpn völlig verkannt wird. Er müßte darum ganz verschwinden bei Urteilen, deren Grundsachverhalt ebenso wie ihre Gewißheit (Begleitsachverhalt) in einem statischen Wissen und nicht in einem dynamischen Erfassen gegeben sind. Und was die Entleihung des aktiven Charakters aus vorhandenen oder intendierten Sprechmuskelbewegungen betrifft, so lassen sich diese herabsetzen, ohne daß der aktive Charakter Einbuße leidet. Wir müssen darum nach weiteren Zügen des Urteilserlebnisses suchen.

Beachtet man, wie sich die Menschen bisweilen für eine bloße Behauptung ereifern können, so kann man nicht daran zweifeln, daß für das Zustandekommen eines ausgeprägten Urteils das Wollen von Bedeutung ist. Was will aber der Urteilende? Unterscheiden wir vorgreifend das Wollen als ein Lieben und als ein Tunwollen. Das Objekt des Liebens braucht nicht der Grundsachverhalt zu sein; man[S. 199] behauptet ja auch sehr unliebsame Grundsachverhalte. Es kann aber sehr wohl der Begleitsachverhalt sein, nämlich daß wir die Wahrheit gefunden haben; denn das ist zweifellos ein Wert. Aber auch das Tunwollen verlangt sein Objekt. Es ist nun ein erstrebenswertes Ziel, daß andere erfahren und glauben, daß wir die Wahrheit gefunden und was wir als Wahrheit gefunden. Das naturgemäße Mittel hierzu ist die sprachliche Äußerung von Grund- und Begleitsachverhalt, wobei letzterer in der Regel nicht eigens formuliert, sondern nur durch die Art und Weise, wie wir den Grundsachverhalt aussprechen, kundgegeben wird. Bezweifelt man die Richtigkeit unserer Aussage, so heben wir den Begleitsachverhalt eigens hervor oder beweisen ihn. Diese Momente dürften für Urteile, deren Grund- und Begleitsachverhalt uns evident erscheint, genügen. Bei andern hingegen, insbesondere bei Urteilen, die ich auf fremde Autorität hin fälle, vollendet erst der willkürliche Akt des Zustimmens das eigentliche Urteilserlebnis.

Von diesem Standpunkt aus läßt sich nun mancherlei klar überschauen: Neben der erkannten Gewißheit gibt es noch eine Sicherheit des Urteilens. Sie dürfte, abgesehen von den Gefühlsmomenten, die sich aus der Gewißheit ergeben, wesentlich in der Entschiedenheit und Unbedingtheit des Wollens liegen. Die verschiedenen Arten des Urteils, positives, negatives, wahrscheinliches, existenziales und kategorisches Urteil, wären darnach nicht Abarten des Urteilsaktes, sondern des Urteilsgegenstandes und darum in der Psychologie nicht zu erörtern[8]. Allerdings kann sich bei dem negativen Urteil ebensogut wie bei dem positiven ein Wollen auch auf den Grundsachverhalt erstrecken und dem Urteilserlebnis noch eine besondere Färbung geben: „ich habe gesiegt“, „ich bin nicht verloren“. Aber diese Beimischung hat mit dem Urteilscharakter als solchem nichts zu tun, wie man sofort erkennt, wenn man die Grundsachverhalte umtauscht: „ich bin verloren“, „ich habe nicht gesiegt“.

2. Die Annahme

Die Annahme wird häufig mit dem Urteil zusammengebracht, weil sich ihre äußere Form, der Satz, mit der äußeren Form des Urteils teilweise deckt. Wir erfassen sie indes wohl gründlicher, wenn wir sie mit der selbsttätigen Beziehungserkenntnis vergleichen. Die letztere ist nur möglich an einem vorgegebenen Sachverhalt und bedeutet eben ein Entdecken einer in einem objektiven Sachverhalt steckenden[S. 200] Beziehung. Nachdem wir aus solchen Beziehungserfassungen die weitere Beziehung abstrahiert haben, daß es Beziehungen gibt, welches ihr allgemeines Schema ist und welches ihre Bestandteile sind, sind wir in der Lage, in Gedanken Beziehungen herzustellen. Wir brauchen dazu nur bestimmte Glieder gedanklich in ein beliebiges Verhältnis zueinander zu bringen, wobei wir uns um die objektive Verwirklichung dieser Beziehungen nicht kümmern. Die Annahme ist also eine willkürlich in Gedanken hergestellte Beziehung zwischen beliebigen Gegenständen. Ihren sprachlichen Ausdruck findet sie in dem abhängigen Aussagesatz.

3. Die Frage

Das psychologische Wesen der Frage bietet nunmehr keine Schwierigkeit. Die eigentliche Frage ist offenbar der (geäußerte) Wunsch, den herrschenden Sachverhalt kennen zu lernen. Das gilt für die allgemeine Frage: Was gibt’s? Dieser Wunsch hat sich in der Sprache eine charakteristische Ausdrucksform geschaffen und ist mit dieser ebenso innig verschmolzen wie das Wollen mit dem ausgeprägten Urteil. Wir stellen aber auch spezielle Fragen: Regnet’s? Diese Art zu fragen wird uns nur durch die Fähigkeit, Annahmen zu bilden, ermöglicht. Eine solche bestimmte Frage ist ja nichts anderes als der geäußerte Wunsch, das Verhältnis des tatsächlich bestehenden zu einem schlicht angenommenen Sachverhalt kennen zu lernen. Dieser Frage nach dem Grundsachverhalt tritt die Frage nach dem Begleitsachverhalt: „Wirklich?“ an die Seite (Überzeugungsfrage).

Wie es scheinbare Urteile gibt, so gibt es auch scheinbare Fragen. In solchen beobachten wir die uns bekannte Verhaltungsweise des Fragenden, beabsichtigen aber damit nicht den erfragten Sachverhalt kennen zu lernen, sondern verfolgen andere Zwecke: Der Examinator will die Beziehung zwischen dem Wissen des Gefragten und dem in der Frage gemeinten Sachverhalt erfahren; andern dient die Frage dazu, den Gefragten zu irgendwelchen Reaktionen zu veranlassen.

Literatur

F. Brentano, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene. 1911.

K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes³, 1922, S. 341 ff.

[8] Damit wird die bekannte Schwierigkeit der negativen Urteile der Erklärung der negativen Sätze zugeschoben. Die negativen Sätze lassen sich wohl am einfachsten als der in der Sprachentwicklung herausgebildete Ausdruck für den Sachverhalt der Andersartigkeit zwischen einem angenommenen und dem tatsächlich bestehenden Sachverhalt auffassen.

[S. 201]

9. Kap. Die höheren Gedächtnisleistungen

1. Erinnerung und Wiedererkennen

Aus der Erforschung der Reproduktionsvorgänge wissen wir, wie es geschehen kann, daß etwa der Anblick eines Apfels mich an einen Landaufenthalt erinnern oder, genauer gesprochen, die Vorstellung jenes Landaufenthaltes wachrufen kann. Es weckt da nicht der Anblick des gesehenen Apfels die Vorstellung eines anderen, damals gesehenen, und die Vorstellung von diesem die mit ihr vereinigten Bilder der Umgebung jenes früher gesehenen Apfels, sondern unmittelbar bringt der wahrgenommene Apfel die gesamte Erinnerungsvorstellung ins Bewußtsein, nach jenem allgemeinen Gesetz: eine Vorstellung hat die Tendenz, sich zur Gesamtvorstellung zu ergänzen. Damit ist nun freilich wohl der Reproduktionsvorgang, aber noch nicht die Gedächtnisleistung erklärt. Denn jede Gedächtnisleistung besagt, daß ich das reproduzierte Bild als mein früheres Erlebnis erkenne. Außer der Vorstellungserneuerung ist also begreiflich zu machen, warum die reproduzierte Vorstellung als mein Erlebnis und warum sie als mein früheres Erlebnis erscheint.

Das erste Problem ist nach den neueren Untersuchungen über die Vorstellungen gelöst bzw. auf ein allgemeineres verschoben: da die absolute Vorstellung sich nicht von der absoluten Wahrnehmung unterscheidet (S. 102 ff.), so finde ich mich in der Vorstellung auf dieselbe Weise gegenwärtig wie in der Wahrnehmung. Und ebenso wie ich in der Wahrnehmung in der Regel eine Beziehung auf mein Ich vorfinde, so auch in der Vorstellung. An diesem Umstande ändern auch die zur absoluten Vorstellung hinzukommenden Beziehungserfassungen nichts. Wenigstens gilt dies für die entwickelte Situationsvorstellung. Die Vorstellung eines vereinzelten Gegenstandes jedoch wird entweder nicht als mein Erlebnis bewußt oder sie gewinnt diesen Zug aus anderen Kriterien, die die Erfahrung uns als unseren Erlebnissen anhaftend kennen lehrte.

Schwieriger abzuleiten ist der andere Zug, das Vergangenheitsmoment. Wie kommt überhaupt eine zeitliche Bestimmung in das Vorstellungsbild hinein? Ein Bild ist doch an und für sich zeitlos; es kann ebensogut ein niemals geschehendes, wie ein vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Ereignis darstellen. Ein erster Lösungsversuch[S. 202] berief sich auf ein Bekanntheitsgefühl oder eine Bekanntheitsqualität, die früher wahrgenommenen Dingen ebenso anhaftet wie vertrauten Vorstellungen früherer Erlebnisse (Höffding). In der Tat verspüren wir oft ein solches Gefühl, und es vermittelt uns wirklich und scheinbar ohne weiteres die Sicherheit, einem alten Bekannten gegenüberzustehen. Man erklärte dann dieses Gefühl dadurch, daß der früher schon erlebte Eindruck lebhafter und allseitiger als nichterlebte die Reproduktion der mit ihm verbundenen Vorstellungen anrege, was in uns ein eigenartiges Gefühl des Angenehmen wecke. Die angeführte Tatsache wie ihre weitere Deutung wird man gelten lassen müssen, aber wie daraus der Vergangenheitscharakter entspringen soll, ist nicht einzusehen; es sei denn, jenes Bekanntheitsgefühl erwecke unmittelbar auf Grund einer apriorischen Zuordnung die angeborene Idee der Vergangenheit.

A. Lehmann zeigte experimentell, daß Gerüche als bekannt beurteilt wurden, wenn sie assoziativ Vorstellungen früherer Erlebnisse wachriefen. Aber nehmen wir auch an, von dem Bild des früheren Erlebnisses führe eine lückenlose Reihe anderer Erlebnisvorstellungen bis auf meine gegenwärtige Situation, so hätte ich in dieser Vorstellungskette doch noch nicht das zeitliche Moment, wenn es nicht von vornherein in jeder einzelnen Vorstellung wäre. Es könnte ja eine solche Bilderreihe reine Phantasie sein, und wie soll man spontan auftretende Phantasiebilder von Erinnerungen unterscheiden, wenn nicht gerade durch den zeitlichen Charakter? Darum hilft auch der Lösungsversuch Claparèdes u. a. nichts, die Bekanntheit in der Verbindung mit dem Ich zu suchen. Denn auch die Phantasievorstellungen können aufs innigste mit dem Ich des Bewußtseins verbunden sein.

Das Rätsel des Sicherinnerns läßt sich lösen, wenn man zwei Faktoren berücksichtigt, welche die bisherige Diskussion außer acht ließ: das Beziehungswissen und das Zeiterleben. Lassen wir einen Ton für einen Augenblick erklingen, so ist die in uns geweckte Tonempfindung nicht mit dem Aufhören des physikalischen Reizes schon verschwunden; sie steht noch im unmittelbaren Gedächtnis, und wir können ihr allmähliches Verlöschen beobachten. Die einzelnen Stadien dieses Verlöschens sind uns nicht diskontinuierlich wie mikroskopische Schnitte gegeben, sondern wir erleben das Verlöschen des Klangbildes kontinuierlich mit: wir erleben[S. 203] es, daß der Eindruck, der stark war, schwach wird (vgl. S. 130 f.). In solchen anschaulichen Zeiterlebnissen erfassen wir die Zusammenhangsrelation: zu einer Bewußtseinserscheinung von eigenartiger Schwäche, Verblasenheit usw. gehört eine andere, lebhaftere, aus der jene schwache hervorging. Aus der Verallgemeinerung dieser Erfahrungen werden Eigentümlichkeiten wie die Verblasenheit von Bewußtseinserscheinungen zu einem Kriterium der Zugehörigkeit zu einem anderen Eindruck, aus dem sie hervorgingen, d. h. eben zu einem Kriterium der Vergangenheit.

Zu diesen Fundamentalkriterien treten im Verlauf der Entwicklung andere hinzu, die sich in der Regel mit ihnen vereint finden. So die relative Festigkeit einer Erinnerungsvorstellung gegenüber einer Phantasievorstellung, die Möglichkeit, von der Erinnerungsvorstellung bis auf die augenblickliche Lage des Subjektes eine geschlossene Bildreihe herzustellen, die Tatsache, daß Erwartungen, die von Erinnerungsvorstellungen geweckt werden, sich durch die folgende Wahrnehmung bestätigen, endlich das eigenartige Vertrautheitsgefühl, das Erinnerungsvorstellungen häufig begleitet. G. E. Müller hat aus den Selbstbeobachtungen bei Gedächtnisversuchen eine erstaunliche Menge derartiger Kriterien gesammelt. Die meisten dieser Kriterien dürften sekundärer Natur sein. Es können also die verschiedenen älteren Erklärungsversuche nebeneinander bestehen, nur weisen sie nicht auf den Kernpunkt, die Entstehung des Zeitmerkmales in einer Vorstellung hin.

Das Wiedererkennen verhält sich zur Erinnerung ähnlich wie die Begründung zum Schluß. Nehmen wir einen früher gesehenen Gegenstand wahr, so weckt sein Bild vielleicht die Vorstellung von jener ersten Wahrnehmung, und zwar erscheint nach dem Gesagten jene Wahrnehmungssituation als mein früheres Erlebnis. Die Identität des Gegenstandes ist uns dabei implizite gegeben, und wir wissen deshalb: der in der Wahrnehmung vor mir stehende Gegenstand ist derselbe, mit dem ich es schon einmal, und zwar bei jener Gelegenheit, zu tun hatte. Aus solchen ausführlichen Wiedererkennungsvorgängen lernen wir die mit ihnen regelmäßig verbundenen Begleiterscheinungen als Kriterien der Bekanntheit kennen. Noch bevor die ausführliche Wiedererkennung eintritt, verspüren wir die eigenartigen Zustände der einsetzenden Reproduktion (man denke an den[S. 204] Zustand, den wir durchmachen, wenn uns ein gesuchter Name „auf der Zunge liegt“), schwache Lustgefühle, eine merkwürdige Steigerung unseres Interesses für jenen Gegenstand. Da solche Erlebnisse in der Regel von dem Wiedererkennen gefolgt sind, werden sie uns selbst zu den Symptomen der Bekanntheit (Bekanntheitsqualität). Aber nur darum, weil sich mit ihnen das Beziehungswissen verbindet: solche Zustände sind die Wirkung bekannter Eindrücke, vermitteln sie uns das Bekanntheitsbewußtsein. Ohne ein solches Wissen käme es höchstens wie beim Tier zu einer besonderen Weise der Reaktion, wie sie gewohnten und darum zumeist auch lustbetonten Eindrücken gegenüber zu beobachten ist.

Nach unserer Darlegung müßte in der Entwicklung des Menschen zuerst die Erinnerung und dann das Wiedererkennen auftreten. Es wird schwer sein, dies beim Kinde festzustellen, da zweifellos beim Kinde die soeben genannten, auch beim Tier zu beobachtenden Reaktionsweisen gegenüber gewohnten Dingen zuerst einsetzen und ein Wiedererkennen vorzutäuschen imstande sind.

Auch unsere Erklärung der Erinnerung wie des Wiedererkennens greift auf die Reproduktionsvorgänge zurück. Das könnte bedenklich erscheinen, weil Reproduktion und Erinnerung verschiedenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Allein die Leistung ist in beiden Fällen eine ganz andere: die Reproduktion hat einen bestimmten Vorstellungsinhalt selbst vorzuführen; mit Stellvertretern, Symptomen u. dgl. ist ihr nicht gedient. Das Wiedererkennen hingegen hat ein Beziehungswissen zu wecken und kann sich dazu mannigfacher Symptome bedienen. Und drittens können diese Symptome — wohl nach einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Beziehungserlebnisse (vgl. S. 178) — schon wirksam werden, wenn sie eben die Bewußtseinsschwelle überschritten haben, während eine Reproduktionsaufgabe in diesem Zustande noch nicht als gelöst gelten kann.

2. Erinnerungstäuschungen

Reproduktion früherer Eindrücke, anhebende Reproduktionen, Gefühle, die durch letztere angeregt werden, Beziehungserfassungen, Reproduktion eines Beziehungswissens und endlich, was bisher noch nicht genannt wurde, Beurteilungen und Schlüsse auf Grund mannigfacher Kriterien können zusammenwirken, um eine Vorstellung als Bild eines früheren Erlebnisses oder einen neuen Eindruck als die Wahrnehmung[S. 205] eines bekannten Gegenstandes erscheinen zu lassen. Von jedem einzelnen dieser Faktoren wissen wir nun, daß er gelegentlich versagen kann, und dürfen darum erwarten, daß aus solchem Versagen Erinnerungstäuschungen bzw. Erinnerungsausfälle entstehen.

Klingen die Reproduktionstendenzen an, ist aber die vollständige Reproduktion behindert, so erscheint uns ein Gegenstand bekannt, aber wir wissen nicht, „wo wir ihn hintun sollen“. Werden auch die ersten Ansätze zur Reproduktion nicht lebendig, so halten wir den Gegenstand für neu. Wir können aber anderswoher wissen, daß der betreffende Gegenstand uns doch bekannt sein muß, und so mag das eigenartige Fremdfinden bedingt sein: spricht man ein geläufiges Wort der Muttersprache oftmals rasch hintereinander aus, so klingt es mit einemmal merkwürdig fremd und sinnlos. Vermutlich werden durch das rasche Aufsagen die mit dem Wort assoziierten Vorstellungen nicht mehr angeregt, entsprechend dem allgemeinen Gesetz der Bahnung; das Wort besagt uns also nichts mehr, während wir doch gleichzeitig wissen, daß es einen Sinn hat. Die sog. Entfremdung der Wahrnehmungswelt dürfte jedoch damit nur teilweise erklärt sein.

Dem Ausfall der Erinnerung steht deren Fälschung gegenüber. Man könnte füglich eine teilweise und eine vollständige unterscheiden. Bei der teilweisen Fälschung vermischen sich infolge der Konstellation fremde Vorstellungselemente mit der Erinnerungsvorstellung. Tragen diese eingeschobenen Elemente keine von der Erinnerungsvorstellung stark abweichenden Züge, so werden auch sie als Bilder früherer Erlebnisse genommen, namentlich wenn die Gesamtvorstellung unmittelbar als Erinnerung aufgefaßt wird. Findet eine eigentliche Beurteilung, ob wirklich erlebt oder nicht, statt, so wird es unter anderem auch von der Begabung des Individuums abhängen, ob es einer Erinnerungstäuschung verfällt oder nicht. Kinder unterliegen deshalb leichter diesen Täuschungen als Erwachsene. Bei ihnen kommt auch die totale Erinnerungsfälschung in der Form der Phantasielügen häufig vor: während sie am Erzählen sind, drängt sich ihnen das Phantasiebild mit der gleichen Leichtigkeit und Klarheit wie das Erinnerungsbild auf und wird darum als solches ausgegeben. Wegen ihrer reicheren Phantasiebegabung sind darum auch Frauen derartigen Täuschungen mehr ausgesetzt als Männer.

Eine andere Art der Erinnerungsanomalie täuscht nicht hinsichtlich des Inhaltes, sondern des Aktes: ein neuer Eindruck erscheint fälschlich als bekannt. Namentlich in pathologischen Fällen wird die Bekanntheitsqualität durch neue Eindrücke ausgelöst, ohne daß der Kranke von der Neuheit der Eindrücke überzeugt ist. (Reduplizierende Paramnesie.) Anders bei dem oft besprochenen déjà vu: obwohl[S. 206] wir genau wissen, daß die Lage, in der wir uns augenblicklich befinden, völlig neu ist, haben wir doch den überwältigenden Eindruck, genau das gleiche schon einmal erlebt zu haben. Bekanntlich stützt sich die Lehre von der Seelenwanderung mit Vorliebe auf solche Erlebnisse. Die allgemeine Erklärung dieser Erscheinung ist wohl folgende: Durch irgendeinen Umstand wird der Bekanntheitseindruck hervorgerufen, während wir doch gleichzeitig, auf andere Gründe gestützt, genau wissen, daß wir zum erstenmal dies erleben. Ist der Bekanntheitseindruck von einem lebhaften Gefühl begleitet, so mag er durch einen ganz nebensächlichen Zug an dem Erlebnis ausgelöst sein, er wird sich über das Gesamterlebnis ausbreiten und dieses selbst als bekannt erscheinen lassen. Nach meinen bisherigen Beobachtungen möchte ich zwei Arten des déjà vu unterscheiden: Bei der ersten regt ein (nebensächlicher) Zug der Wahrnehmung eine Reproduktion an, die weiter nicht beachtet wird, aber das Bekanntheitsgefühl auslöst, das fälschlich auf das Gesamterlebnis bezogen wird. Diese Fälle sind niemals so überraschend wie die alsbald zu besprechenden. Es gelingt auch häufig, den Reproduktionsvorgang rückschauend festzustellen. Dementsprechend zeigen sich allmähliche Übergänge von dem falschen Wiedererkennen zu der ganz normalen Reproduktion im Anschluß an eine Wahrnehmung. Die andere Art habe ich vor Jahren zum erstenmal auf Grund einer zuverlässigen Beobachtung beschrieben (ArPs 15 [1909]) und kann sie heute durch neue Beobachtungen sicherstellen. Das Schema des ganzen Vorganges ist dieses: Eine flüchtige Wahrnehmung wird unterbrochen oder eine alsbald erfolgende Wahrnehmung wird in der Vorstellung vorweggenommen. Darauf tritt eine Ablenkung ein, durch die der Bewußtseinszusammenhang bei dem ermüdeten oder psychasthenischen Individuum für einen Augenblick abgebrochen wird. — Die nervöse Erschöpfung ist nach den Untersuchungen Heymans eine besonders günstige Vorbedingung des falschen Wiedererkennens, weshalb auch diese Erscheinung in der Pubertätszeit besonders häufig ist. — Gleich nach der kurzen Ablenkung wendet man sich wieder der Wahrnehmung zu. Da somit derselbe Bewußtseinsinhalt wiederkehrt, der unmittelbar vor der Ablenkung uns beschäftigte, erscheint das Erlebnis als bekannt, ohne daß wir den Bekanntheitseindruck erklären können, während wir anderseits sehr wohl wissen: die Situation ist neu. Ein Beispiel. Ich gehe mit einigen Begleitern einen Gartenweg entlang. „Haben Sie schon gehört ...“, beginnt einer von ihnen und kündigt eine mir sehr wohl bekannte Geschichte an, die mir nunmehr als Ganzes im Bewußtsein steht. Weil sie mich aber langweilt, befasse ich mich beim Weitergehen mit den Blumen am Wege. Als wir nun am Ende des Weges umkehren wollen, erlebe ich ein ganz ausgesprochenes déjà vu, und zwar besagt es: genau diese individuelle Situation mit all ihren Einzelheiten hast du schon erlebt. Da ich damals schon meine Theorie[S. 207] der Fausse Reconnaissance veröffentlicht hatte, besinne ich mich darauf, wo eine Wiederholung eines Teiles der Wahrnehmung vorliege, finde jedoch keine und stelle mit Bedauern fest, daß die Theorie hier versage. Erst nach einiger Zeit kommt mir der Augenblick wieder zu Bewußtsein, wo die Erzählung angekündigt worden war. Die Erklärung des Phänomens lag nun zutage. Bei der Ankündigung der Erzählung hatte ich sie in der Vorstellung vorweggenommen. Dann wurde ich durch das Betrachten der Blumenbeete abgelenkt. Als ich am Ende des Weges wohl oder übel wieder einen Teil der Erzählung anhören mußte, wurde die Eingangssituation reproduktiv angeregt, konnte aber infolge einer an diesem Tage sehr merklichen Schlaffheit, sowie wegen der unmittelbar vorausgegangenen Ablenkung nicht hinreichend reproduziert werden, weshalb ein unerklärliches Bekanntheitsgefühl verspürt wurde, das sich nach Art aller Gefühle auf die gesamte Lage verbreitete. Wegen der augenblicklichen Reproduktionsstörung konnte natürlich auch die das ganze Erlebnis bedingende Eingangslage nicht sofort wieder bewußt werden, die Theorie mußte für den Augenblick als unzureichend erscheinen, wodurch eine ganz vorzügliche Kontrolle der Zuverlässigkeit der Beobachtung gegeben war. Die wichtige Voraussetzung dieser Erklärung, daß durch die vorstellungsmäßige Vorwegnahme einer Wahrnehmung schon ein Bekanntheitseindruck bedingt wird, läßt sich übrigens experimentell nachweisen.

Literatur

M. Rosenberg, Über die Erinnerungstäuschungen usw. ZPaPs 1 (1912).

3. Die Aussage

Ein wichtiges Anwendungsgebiet unseres Problems hat eingehende experimentelle Untersuchung erfahren, die Zeugenaussage. Man ließ Kinder und Erwachsene Bilder betrachten oder zuvor verabredeten Begebenheiten beiwohnen und teils unmittelbar darauf, teils nach bestimmter Frist frei über das Erfahrene berichten, sowie in einem sorgfältig vorbereiteten Verhör entsprechende Fragen beantworten. Die Erinnerungstäuschungen, die hierbei unterliefen, waren nun überraschend zahlreich. Allgemeingültige Zahlenwerte lassen sich begreiflicherweise nicht anführen, da die Fehlermenge sich ebensowohl mit dem Subjekt wie mit dem Gegenstand wie endlich mit der Art der Aussage ändert. Im allgemeinen gilt etwa folgendes: Ein Zeugnis ist niemals im ganzen zu bewerten, da auch ein zuverlässiger Zeuge Erinnerungstäuschungen unterworfen ist. Der unbeeinflußte Bericht kann bisweilen genau sein, von einem Verhör darf man das nie erwarten. Fragt man, wie in den Versuchen, nach allen Einzelheiten eines Erlebnisses, so darf man mit ungefähr einem Drittel falscher Antworten rechnen. Die Fehlerzahl steigt, wenn die Fragen eine bestimmte Antwort[S. 208] nahelegen (Suggestivfragen), namentlich bei Kindern. Kinderaussagen sind überhaupt nur mit größter Vorsicht zu veranlassen und zu bewerten. Werden dieselben Fragen in einem Verhör wiederholt, so wächst die Zahl der Antworten, aber auch die der Fehler. Hinsichtlich des zu berichtenden Vorfalles gilt, daß Aussagen über Vorgänge nur dann zuverlässig sind, wenn die Vorgänge mit Aufmerksamkeit und ohne zu große Gemütsbeteiligung beobachtet wurden. Aussagen über Nebenumstände sind überhaupt von fraglichem Wert, namentlich über Farben, Zeit- und Größenverhältnisse. Diese Versuche bestätigen sehr hübsch die theoretisch bedeutsame Tatsache, daß uns keine gesonderten Erinnerungsvorstellungen zu Gebote stehen, sondern daß alle unsere Vorstellungen zu Erinnerungen werden können, je nachdem sie sich mit den Kriterien der Erinnerungen auszustatten vermögen.

Die Aussage ist aber mehr als eine Erinnerung. Sie ist ein Urteil, das gleichzeitig über den vorgestellten Sachverhalt abgegeben wird, daß man ihn eben erlebt habe. Es hängt darum die Aussage nicht allein von den Erinnerungskriterien ab, die sich an die auftauchenden oder nahegelegten Vorstellungen anschließen; es müssen diese Kriterien auch beurteilt werden. Da macht sich nun stark die individuelle Urteilsbereitschaft geltend, ferner die Urteilseinstellung auf die Behauptung, etwas erlebt zu haben, endlich alle die Beweggründe, die zu einem Urteil führen können: das Interesse an dem Grundsachverhalt, das Interesse an dem Begleitsachverhalt, der Gewißheit, und an dem Urteilsakt, wie etwa der Wunsch, ein ergiebiger Zeuge zu sein.

Literatur

W. Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage. 2 Bde. 1903/6.

W. und Cl. Stern, Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit. 1909.

10. Kap. Das Ichbewußtsein

Dem Worte Ich entsprechen mancherlei Bedeutungen. Wir greifen drei von ihnen heraus und untersuchen, wie das Individuum zu den drei Bedeutungserlebnissen gelangt. In dem Satze: ich heiße Müller und wohne usw. bezeichnet „ich“ das gesellschaftliche Ich, die ganze Persönlichkeit, den Körper inbegriffen. Sagt jemand: ich bin ein Gemütsmensch, so denkt er weniger an sein Äußeres, sondern vorab an seine Seele, an sein Inneres, wie es regelmäßig mit einer Anzahl konstanter Eigenschaften verbunden erscheint. Man könnte es das persönliche Ich nennen. In Sätzen wie „ich denke“, „ich verlange“ hingegen sieht man auch von den[S. 209] dauernden Eigentümlichkeiten des Innenmenschen ab und hat nur das Subjekt jener seelischen Akte im Auge, von denen gerade die Rede ist. Wir können hier von dem reinen Ich sprechen.

Es läßt sich leicht verfolgen, wie die Bezeichnung „ich“ in der Entwicklung des Individuums auftritt. Sie wird heute von der Umgebung übernommen und zunächst für das gesellschaftliche Ich verwendet, und zwar früher, wenn ältere Geschwister das Kind umgeben, als wenn sich die Eltern allein mit dem Kinde befassen. Aber lange bevor der Gebrauch des Wortes „ich“ erlernt ist, verrät sich schon deutlich ein ausgesprochenes Ichbewußtsein, das dem reinen Ich näher steht als den beiden anderen. Ganz entsprechend liegt auch die Schwierigkeit des Ichproblems in dem Auftreten des reinen Ich. Es bildet den Kern der andern Ichbedeutungen, die ohne diesen Kern als Inbegriff gewisser Wahrnehmungen an der eigenen Persönlichkeit gelten könnten.

Hinsichtlich des reinen Ich sind nun drei Fragen möglich. Gibt es überhaupt einen erlebnismäßig erfaßbaren Gegenstand, der dem Worte „ich“ entspricht, oder wird dieser Gegenstand erst durch unser Denken geschaffen wie etwa eine Vierergruppe, die wir willkürlich und rein gedanklich aus einer regelmäßigen Anordnung von Punkten herausgreifen? Zweitens: falls das Ich erlebbar ist, erleben wir es ebenso unmittelbar und isoliert, wie es unsere Ausdrucksweise vermuten läßt? Und drittens: wenn das Ich nicht unmittelbar und isoliert erlebt wird, wie wird dann das unmittelbar Erlebte verarbeitet?

Hume und einige Sensisten versuchten jedes unmittelbare Erleben des Ich zu leugnen: das Ich sei nur ein Bündel von Vorstellungen. Aber ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, aus einem solchen Bündel von Vorstellungen jene Einheit des Bewußtseins zu konstruieren, die wir tatsächlich erleben — eine Unmöglichkeit, die Hume selbst eingestand —, widerspricht diese Auffassung den einfachsten Beobachtungstatsachen. Es läßt sich kein Gedanke, kein Verlangen, keine Empfindung, kein Gefühl aufzeigen, das nicht mein Erlebnis wäre; es ist unmöglich, ein Erlebnis in sich hervorzurufen oder in der rückschauenden Beobachtung zu entdecken, das nicht zugleich das Erlebnis eines Bewußtseins, eines Subjektes wäre. Das wird heute auch nahezu allgemein zugegeben.

Anderseits kann aber auch niemand ein so isoliertes Ich in sich entdecken, wie es das begriffliche Ich ist. Denn da kein einziger Bewußtseinsvorgang frei vom Ich bleibt, ist auch das Ich stets ein anderes und ganz und gar durch die augenblicklichen Erlebnisse bestimmt, so[S. 210] daß man nicht leicht bleibende Eigenschaften des reinen Ich aufzählen kann. Das Ich zeigt sich uns immer nur in den Erlebnissen, wie etwa die Intensität oder die Ausdehnung sich nur an der Empfindung offenbart. Kommen wir doch zu einem isolierten Ich, so liegt dies an unserer Fähigkeit, den immer wiederkehrenden Ichzug aus den verschiedenen Erlebnissen herauszuheben. Es ist also die Befähigung zur Abstraktion, d. h. letztlich zur Beziehungserfassung (vgl. S. 121 f.), die uns den Ichzug unserer Erlebnisse erkennen läßt. Denken wir uns diese Fähigkeit hinweg, so haben wir wohl ein erlebendes Subjekt, aber kein Ich; denn das Ich ist eben das herausgeschälte Subjekt. Dieser Zustand verwirklicht sich nach unserer Auffassung beim Tier und dürfte daran schuld sein, daß Freud und Schmerz bei ihm ganz wesentlich geringer sind als beim Menschen. — Wenn wir den Ichcharakter unserer Erlebnisse mit der Intensität oder der Ausdehnung einer Empfindung verglichen haben, so gilt das nur hinsichtlich seiner innigen Verschmelzung mit den Bewußtseinserscheinungen, aber nicht hinsichtlich der Unterordnung dieser unselbständigen Momente. Das Ich erscheint nämlich nicht immer so bescheiden im Hintergrund wie etwa bei einer Wahrnehmung, die uns ganz gefangen hält. Es wird auffälliger bei den Gefühlszuständen, es gibt sich endlich als das tätige bei den Willensakten. An ihnen gewinnen wir wohl zuerst die Auffassung von dem Ich als dem Träger unserer Erlebnisse, als dem ersten soliden Etwas, das für uns der Prototyp eines Dinges wird.

Es bleibt nunmehr die normale Einheit des Ich zu erklären. Greifen wir einen Querschnitt des Seelenlebens heraus, so bildet die hier herrschende Einheit des Ich in den gleichzeitig vorhandenen Empfindungen, Gefühlen und Strebungen kein sonderliches Problem. Denn alle diese Erlebnisse sind ja nur künstlich abstrahierte Züge eines unteilbaren Gesamtzustandes des Ich. Wir haben darum nicht verständlich zu machen, wieso das vor mir sichtbare Grün und Braun von demselben Ich empfunden werden kann. Anders verhält es sich mit dem Längsschnitt der Erlebnisse, mit den zeitlich sich folgenden Bewußtseinserscheinungen. Da wiederholen sich nun die Erwägungen, die wir beim Zeitbewußtsein und bei dem Problem der Erinnerung anstellten. Die unbefangene Selbstbeobachtung lehrt uns ebenso wie andere Überlegungen, daß unser Erlebnisstrom kein diskontinuierlicher, sondern ein stetig fließender ist, daß wir den Übergang von einer lauten Tonwahrnehmung in eine leisere u. ä. unmittelbar wahrnehmen. Da aber alle unsere Wahrnehmungen mit[S. 211] dem Ichcharakter unzertrennlich verbunden sind, müssen wir auch unmittelbar das Verharren des Ich von einem Zeitmoment zum andern wahrnehmen. Wenn wir nun bei der Erinnerung an auseinanderliegende Erlebnisse zu der Überzeugung kommen „mein früheres Erlebnis“, so setzen wir mittels des uns geläufigen Schlußverfahrens den sich uns zunächst darbietenden Zusammenhang als den einzig möglichen an (S. 192). In der Erkenntnis „mein früheres Erlebnis“ erfassen wir mit einem logisch noch nicht ganz gesicherten Schluß die Identität unseres Ich mit dem Subjekt des früheren Erlebnisses. Eine unmittelbare Evidenz kann dieser Schluß nicht bieten: es könnte ja ein Wechsel des Subjektes stattgefunden haben, und dem neuen Subjekt könnten die Erinnerungen des alten mitgeteilt sein. Indes naheliegende philosophische Gründe rechtfertigen nachträglich den naturgemäß vollzogenen Schluß.

Auch die Substantialität des Ich erfassen wir nicht unmittelbar. Gewiß ist für uns das Ich das Allersolideste, was wir kennen. Aber den Begriff der Substanz bilden wir uns doch erst mit Hilfe unserer Erfahrungen an der Außenwelt.

Unsere Erklärung des Ichbewußtseins läßt nun die Anomalien des Selbstbewußtseins leicht verstehen. Auch hier gehen die normalen Zustände unvermerkt in die pathologischen über. Wir sagten, das helle Ichbewußtsein ist das Ergebnis einer Beziehungserfassung. Beziehungserfassungen und ebenso das aus ihnen sich herleitende Wissen, von dem wir hier absahen, sind nicht immer aktuell, sondern können gelegentlich zurücktreten. Sie werden es in der Regel dann tun, wenn andere Inhalte in erhöhtem Maße die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das ist kaum möglich bei Gefühlserlebnissen, leichter bei Willenshandlungen und sehr wahrscheinlich, wenn wir uns wie in der Wahrnehmung oder auch im Vorstellungsleben mit den Gegenständen befassen. In solchen Zuständen sagen nicht nur die Dichter, sondern auch die Vpn in experimentell herbeigeführten Erlebnissen: nicht ich denke, sondern es denkt in mir. Man muß nach derartigen Bewußtseinsvorgängen wieder „zu sich kommen“. Natürlich war auch bei ihnen der Ichzug niemals vollständig verschwunden.

Noch weiter entfernt sich vom normalen Zustand die Depersonalisation, die Entfremdung des Ich. Jeder einzelne ist an eine gewisse Summe ziemlich gleichbleibender Körperempfindungen und der durch diese bedingten Gefühle gewöhnt. Zusammen mit dem[S. 212] begrifflichen Wissen von unserem Ich und seiner Identität in der Zeit sind sie daran schuld, daß das Ich unserer Auffassung, das „persönliche“ Ich, sich nicht mit jeder neuen Wahrnehmung ändert. Das wird anders bei sehr großartigen und überraschenden Wahrnehmungen. Ein ergreifendes Schauspiel, eine überwältigende Landschaft, ein neuer weitgespannter Gedankengang vermag die Summe der gewohnten Empfindungen in den Hintergrund zu drängen: wir fühlen uns dann als andere Menschen, „wie ausgewechselt“. Ein noch stärkerer Eindruck wird erzielt, wenn die sonst konstanten Körperempfindungen verändert werden. Wasser im Gehörgang, Ohrensausen u. dgl. geben uns schon eine Ahnung von diesem Zustand, wenngleich diese umschriebenen Störungen nach einiger Zeit überwunden werden. Ändert sich jedoch die konstante Empfindungsmasse in höherem Grade, so kommen wir uns selbst als andere vor, leben wie in einer andern Welt, sehen alles wie durch einen Nebel. Man kann heute noch nicht angeben, welche Empfindungen insbesondere in Mitleidenschaft gezogen werden müssen, damit dieser Zustand eintritt. Man hat an die Organempfindungen, an die uns stets begleitenden Reproduktionstendenzen bzw. ihre Spiegelung im Bewußtsein und namentlich an Gefühle (Österreich) gedacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird nicht die Alteration einer bestimmten Empfindungs- oder Gefühlsgruppe die Depersonalisation bewirken, sondern der Ausfall, die Änderung oder vielleicht auch die Vermehrung der konstanten Empfindungen, die wir an unserem „persönlichen“ Ich gewöhnt sind, muß in irgendeiner Weise ein bestimmtes Maß erreichen, damit wir uns als andere Menschen fühlen.

Würden die Bewußtseinsinhalte in einem Subjekt sämtlich verändert — womit zugleich die Reproduktion der früheren Zustände praktisch wegfiele —, so wäre zwar das substantielle Ich dasselbe geblieben, das persönliche (und oft auch das gesellschaftliche) Ich des zweiten Zustandes hingegen wäre ein völlig anderes geworden, ohne sich jedoch dieser Spaltung bewußt werden zu können. Lassen wir nun dem Ich einen kleinen Teil seiner konstanten Empfindungen, geben ihm aber im übrigen einen neuen Bewußtseinsinhalt und erschweren ihm die Reproduktion des früheren Bewußtseinsinhaltes, so ist das persönliche Ich dieses Menschen gespalten. Je nachdem er sich nun in dem einen oder in dem anderen Bewußtseinsinhalt bewegt, wird er ein anderer Mensch sein, eine andere Rolle spielen. Und er wird sich der Spaltung seines Ich bewußt werden, sobald ihm irgendwelche Erinnerung an den andern Zustand möglich ist. Wenn diese Bedingungen zu verwirklichen sind, dann muß es nicht nur ein Doppel-Ich, sondern ein drei-, vier- und mehrfaches Ich geben können. In der Tat weist die Pathologie solche Fälle auf. Verändert eine Krankheit die Organempfindungen wesentlich, so beginnt der Kranke ein neues Bewußtseinsdasein, zumeist mit völliger Erinnerungsunfähigkeit (Amnesie) für die Zeit vor[S. 213] der Erkrankung. Ähnliches läßt sich durch Hypnose erzielen und bei Hysterischen auch durch mehr oder weniger freiwillige Autohypnose. Wie ein Schauspieler willkürlich eine von ihm einstudierte Rolle geben kann, so geraten jene Kranken unwillkürlich in eine der Rollen hinein, die ihnen aus ihrer Erfahrung, ihrer Romanlektüre oder ihren Träumereien geläufig ist, doch mit dem Unterschied, daß der Schauspieler sich jeden Augenblick auf sein bürgerliches Ich besinnen kann, während dem Kranken infolge der Konstellation der Rückweg verlegt ist, wie auch der Normale nicht ohne weiteres von einer Melodie in eine beliebige andere übergehen kann.

Literatur

K. Österreich, Phänomenologie des Ich. I. 1910.

[S. 214]

ZWEITER ABSCHNITT
Die höheren Gefühle

1. Kap. Die Vergleichung

1. Eigenart der höheren Gefühle

Als elementare Gefühle hatten wir Lust und Unlust kennen gelernt. Nur wenige Psychologen setzen außer diesen beiden noch andere niedere Elementargefühle an, und auch sie beschränken deren Zahl zumeist auf einige wenige. An höheren Gefühlen dagegen werden immer eine fast unübersehbare Menge aufgezählt: Liebe, Haß, Furcht, Vertrauen, Kindesliebe, Elternliebe, Gottesliebe, ästhetische, logische, religiöse, soziale Gefühle usw. So wenig es gelingt, diese Mannigfaltigkeit auf einige Fundamentalgruppen zurückzuführen, so scharf lassen sie sich von den niederen Gefühlen absondern: Lust und Unlust schließen sich völlig grundlos an bestimmte Empfindungen an. Es hat innerhalb der psychologischen Betrachtung keinen Sinn zu fragen, warum uns eine Farbe angenehmer sei als eine andere, warum gewisse Klänge lustvoller sind als andere. Das sind letzte Tatsachen. Auch die Zuträglichkeit eines Reizes gibt dafür keine psychologische Erklärung, allenfalls eine teleologische; denn vor jeder Einsicht in die Zuträglichkeit oder Unzuträglichkeit eines Reizes und selbst wider eine solche Einsicht vermag er eine lust- oder unlustbetonte Empfindung zu wecken. Anders bei den höheren Gefühlen. Sie erscheinen, von seltenen Ausnahmen abgesehen, immer als begründet.

Ihre Erscheinungsweise hat Bain gegenüber den niederen Gefühlen treffend gekennzeichnet. Sie steigen langsamer an als die sinnlichen Gefühle; hängen stark von der herrschenden Stimmung ab; sind leichter willkürlich zu unterdrücken; enthalten mehr Reproduktionen und sind gewissermaßen ausgedehnter und unschärfer als jene, darum auch leichter und länger zu ertragen. Die Richtigkeit dieser Bemerkungen[S. 215] leuchtet sofort ein, wenn man einen körperlichen mit einem seelischen Schmerz vergleicht.

2. Theorie und Einteilung der höheren Gefühle

Eine befriedigende Theorie der höheren Gefühle sollte sich eigentlich auf eine erschöpfende Aufzählung, Beschreibung, Gruppierung und Analyse sämtlicher höheren Gefühle stützen. Dazu fehlen jedoch die Vorarbeiten. Wir streben darum auf kürzerem Wege eine vorerst noch hypothetische Auffassung der höheren Gefühle an, die uns zugleich ermöglicht, die Mannigfaltigkeit der Gefühle zu überblicken.

Vor allem fragt es sich, ob es höhere Elementargefühle gibt, ähnlich wie es höhere Erkenntnisleistungen elementarer Natur gibt. Wir verneinen bis auf weiteres diese Frage. Denn bis heute ist es noch nicht gelungen, solche höhere Gefühlselemente aufzuzeigen, ähnlich wie man Lust und Unlust aufzeigen kann. Die Unmöglichkeit, eine befriedigende Einteilung der Gefühle vom inhaltlichen bzw. qualitativen Gesichtspunkt aus zu gewinnen, spricht auch dafür. Die Zahl der höheren Gefühle scheint praktisch unbegrenzt zu sein, da fast jeder Sachverhalt ein besonderes Gefühl nach sich zieht. Neben all den ästhetischen, religiösen, logischen Gefühlen lassen sich mit ebensoviel Recht besondere Gefühle für jeden Stand und jede Lebenslage finden: von einem Hochzeits- und Begräbnisgefühl kann man ebensogut reden wie von einem Sextaner-, Quintaner-Gefühl usw. Das beweist, daß das Charakteristische der höheren Gefühle in der Regel in dem Sachverhalt liegt, auf den sie sich beziehen. Und wären Gefühle, die weder der Einsicht dienen, noch — von Lust, Unlust abgesehen — das Streben leiten sollen, nicht ein wahrer Luxus? Auch die von Bain genannten Eigentümlichkeiten der höheren Gefühle deuten auf ihre Zusammensetzung und Ableitbarkeit hin. Endlich sprechen dafür pathologische Fälle, bei denen die Einsicht in die Erfreulichkeit oder Unerfreulichkeit eines Sachverhaltes klar erfaßt wurde, ohne daß ein merkliches Gefühl zu beobachten war. Wie hier die körperliche Erkrankung, so weist[S. 216] die Förderung und Hemmung auch höherer Gefühle durch Alkohol oder Brom darauf hin, daß das emotionale Moment ebenso wie bei den niederen Gefühlen in enger Berührung mit den physiologischen Vorgängen steht. Es wird aber nicht angehen, sie einfachhin als eine Verbindung von Sachverhaltserfassungen mit den sinnlichen Gefühlen anzusprechen. Dem steht einerseits der bezeichnende Unterschied von Ernst- und Phantasiegefühlen (der nur phantasierte Sachverhalt erweckt andere Gefühle als der wirklich erlebte), anderseits das scheinbare Vorkommen höherer Gefühle, wie Furcht, Anhänglichkeit u. ä. bei Tieren, entgegen, denen wir bekanntlich die Sachverhaltserfassung abstreiten. Wir müssen also einen andern Weg versuchen.

Wir sahen, Empfindungen sind zumeist von einem stärkeren oder schwächeren Gefühlston begleitet, und zwar faßten wir die Gefühlsreaktion nicht als eine einsichtige Antwort der Seele auf die Empfindung, sondern als den psychischen Parallelvorgang zu einem mit der sensorischen Erregung irgendwie funktionell verbundenen Nervenprozeß auf. Es muß darum auch die Summe von Empfindungen zu irgendwelcher, vielleicht algebraischen Summe von Gefühlen führen. Zwischen den Empfindungen und den Elementen der absoluten Vorstellung (S. 102 ff.) machten wir aber keinen Unterschied. Es wird darum auch die Vorstellung eine Gefühlssumme mit sich bringen. Und die Assoziation von Vorstellungen wird auch die Vermehrung der Gefühlsmasse bedeuten. Wir glauben nun, daß aus diesen Gefühlsreserven unser ganzes emotionales Leben gespeist wird. Also jede Gefühlserregung hätte demnach die Mitarbeit des Reproduktionsapparates zur Voraussetzung. Das wird weniger befremden, wenn man bedenkt, daß bei all unserer geistigen Tätigkeit die Reproduktion weit stärker beteiligt ist, als es die uns auffälligen Reproduktionsinhalte vermuten lassen, und wenn man zweitens berücksichtigt, daß die zu einer Reproduktion gehörigen Gefühle weit schneller in den Blickpunkt des Bewußtseins treten als die sie auslösenden Vorstellungen: Sehr oft überflutet uns ein scheinbar unbegründetes Gefühl, und wenn wir rückschauend das Bewußtsein absuchen, finden[S. 217] wir bisweilen einen eben angeklungenen Namen u. dgl., der das Lust- oder Unlustgefühl mit sich gebracht hat. Die Bedeutung der Vorstellungen als Gefühlserreger wächst nun beim Menschen beträchtlich durch seine Fähigkeit zur Beziehungserfassung. Nehmen wir an, es seien ihm zwei Vorstellungen von verschiedenen unlustvollen Sachverhalten gegenwärtig. Nur auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit in einem Bewußtseinszustand würden sie sich vielleicht nicht allzu eng miteinander verknüpfen. Erfaßt das Individuum aber ihre Ähnlichkeit oder sonstige Beziehungen zwischen den beiden Sachverhalten, so werden sie fest miteinander assoziiert. Verknüpft sich mit beiden noch der gemeinsame Name „Unglück“, so ist später dieses Wort imstande, den Gefühlston beider Vorstellungen wachzurufen. So gleicht also das Gefühl einem Strome, der um so gewaltiger ist, je zahlreicher die Flüsse und Bächlein sind, die in ihn münden.

Wenn wir keine elementaren höheren Gefühle anerkennen, sondern die Empfindungen die Quellen, die Empfindungskomplexe die Staubecken aller Gefühle sein lassen, so ist damit auch die Einteilung aller Gefühle für uns gegeben: Die nur durch Empfindungskomplexe ausgelösten Gefühle bezeichnen wir als niedere, während höhere Gefühle alle jene sind, bei denen eine Beziehungserfassung ein neues Staubecken anschließt und eröffnet. So hat der Komplex „Mutter“ seine eigenen Gefühlsmassen. Ebenso der Komplex „Totsein“. Die Beziehungserfassung: Mutter ist tot, bewirkt aber nicht nur eine Summierung beider Gefühlsmassen, sondern öffnet das Staubecken „Verlust“. So denken wir uns, in grober Schematisierung dargestellt, das Zustandekommen der höheren Gefühle.

Auch die höheren Gefühle zerfallen in qualitativer Hinsicht nur in die beiden Hauptgruppen der Lust- und Unlustgefühle, an die sich allenfalls noch die gemischten Gefühle anreihen. Mustert man die Beziehungserfassungen, durch welche eine Gefühlsmasse relaisartig angeschlossen wird, so scheinen es nur zwei Arten zu sein: entweder erfaßt man die mögliche Förderung bzw. Beeinträchtigung des Subjektes durch einen Gegenstand, oder die tatsächliche, sich vollziehende oder schon erfolgte Förderung bzw. Beeinträchtigung. Die erste Art der Beziehungserfassung begründet die Wert-, Unwertgefühle, die zweite die Gewinn-, Verlustgefühle, wie wir der Kürze halber sagen wollen. Man darf wohl annehmen, daß die Erfahrung uns einen größeren Vorrat an Gefühlsmassen für die letztere Beziehungserfassung zu Gebote stellt. Alle vier Gefühlsarten können nun aus Ursachen, die später zu besprechen sind, vorübergehend oder[S. 218] dauernd sein. Weiterhin können sie durch untergeordnete, aber recht charakteristische Begleiterscheinungen ausgestattet sein. Es können Empfindungen, insbesondere Organempfindungen, und vasomotorische Veränderungen hinzutreten, ferner Instinktbewegungen, unwillkürliches und willkürliches Streben, unwillkürliche und willkürliche Ausdrucksbewegungen. Überdies können diese Begleiterscheinungen, insoweit sie nicht willkürlich sind, sich auch mit den niederen Gefühlen verbinden. Es ergäbe sich also folgendes Schema:

Niedere Gefühle
Höhere Gefühle
Lust
Geschweifte Klammer, nach rechts zeigend
aus Empfindungen
Wert-, Unwertgefühle
Unlust
und Empfindungs-
Gewinn-, Verlustgefühle
Gemischte G.
komplexen
Gemischte Gefühle
Verbinden
sich
Große geschweifte Klammer, nach links zeigend
1.
miteinander
 
2.
mit
Organempfindungen
3.
Instinktreaktionen
4.
unwillkürl. Streben
5.
 
willkürlichem Streben
6.
unwillkürlichen Aus­drucksbewegungen
 
7.
 
willkürlichen Handlungen
8.
Empfindungen bzw. Einsichten, die selbst nicht gefühlsbetont sind.[9]
3. Bemerkenswerte Arten der Gefühle

Mit Recht stellt man Schein- oder Phantasie- und Ernstgefühle gegenüber. Es ist nicht das gleiche, ob man sich über Ereignisse in der Phantasiewelt oder über solche in der Wirklichkeit freut oder abhärmt. Es kehren hier übrigens dieselben Betrachtungen wieder, die bei dem Problem Wahrnehmung — Vorstellung angestellt wurden. Der ursprüngliche Zustand ist weder Schein noch Wirklichkeit, sondern einfachhin die Gegebenheit. Alle Gefühle, die diese Gegebenheiten auslösen, sind echt: der seelische Schmerz im Traum des Erwachsenen übertrifft, da alle Hemmungen wegfallen, den im Wachzustand erlebten oft ganz beträchtlich. Das Problem der Schein- und Ernstgefühle besteht hier also noch nicht. Erst wenn wir Schein und Wirklichkeit zu[S. 219] unterscheiden gelernt haben, sind wir fähig, Scheingefühle zu erleben. Die erkenntnismäßige Grundlage der Ernstgefühle sind dann echte Beziehungserfassungen, die der Scheingefühle nur Annahmen. Darum kann auch niemals ein Scheingefühl dem Ernstgefühl gleichkommen, weil ihm der nur durch eine echte Sachverhaltserfassung mögliche Anschluß neuer Gefühlsmassen versagt bleibt. Und doch enthalten die Scheingefühle mehr als die algebraische Summe der zugrunde liegenden Empfindungskomplexe. Woher dieser Überschuß? Mit den höheren wie mit den niederen Gefühlen verbinden sich gewisse Verhaltungsweisen: man senkt den Blick bei Trauer, erhebt das Haupt bei Freude u. ä. m. Diese Verhaltungsweise lernen wir durch die Erfahrung kennen und führen sie willkürlich ein, insoweit sie sich nicht rein assoziativ von selbst einstellt. Diese Verhaltungsweise selbst aber ist wiederum assoziativ mit Vorstellungen von demselben Gefühlston verbunden: so oft wir diese oder jene Verhaltungsweise einschlugen, beschäftigten uns ja fröhliche oder traurige Dinge.

Unter den Verhaltungsweisen, die sich an Lust oder Unlust anschließen, sind viele angeboren, manche sind sogar eigentliche Instinkte, nur wenige sind anerzogen oder gar von dem Subjekt absichtlich gewählt. Die Verbindung der Empfindungskomplexgefühle mit angeborenen Verhaltungsweisen oder Instinkten täuschen nun die Wesensgleichheit gewisser höherer menschlicher Gefühle mit denen der Tiere vor: ein Hund scheint sich in gleicher Weise zu freuen und zu fürchten wie ein Mensch. Und doch dürfen wir ihm nach unserer Sprechweise keine höheren Gefühle zuschreiben. Es fehlt ihm eben die Beziehungserfassung, welche Freude oder Trauer begründet erscheinen läßt und darum dem Erlebnis neue Gefühlsströme zuleitet. Es ist darum auch das Gefühlsleben der Tiere höchstwahrscheinlich weniger tief als das der Menschen, wenn schon die zu Lust und Unlust gehörenden Instinkte sich hemmungsloser und darum auch lebhafter austoben als beim Menschen. Das Kind nähert sich in dieser Beziehung mehr dem Tiere.

Starke Gefühle, verbunden mit einer Störung des normalen Vorstellungsverlaufes und begleitet von merklichen körperlichen Veränderungen, nennt man Affekte, die passiones der Alten. Der Affekt setzt mit einem Gefühlsstoß ein, dann wird er zumeist stumm, die Vorstellungen werden für[S. 220] Augenblicke gehemmt, um dann bei Lust rascher zu verlaufen und bei Unlust gehemmt zu bleiben. Bei Lustgefühlen ist sodann ein Steigen, bei Unlust ein Sinken der Pulse zu beobachten. Bei manchen Affekten steigert sich die Muskelspannung (sthenische Affekte), so beim Zorn, während sie beim Schreck gehemmt wird (asthenischer Affekt). Bei sthenischen Affekten erhöht sich nach Wundt das Volum der Blutgefäße, die Pulse sind kräftig, die Atmung heftig und unregelmäßig. Im asthenischen Affekt hingegen erscheint die Atembewegung beschleunigt und flach, die Pulse herabgesetzt, das Gesamtvolumen der Gefäße verringert. Einzelne Affekte haben zudem noch ganz charakteristische Begleiterscheinungen, so die Furcht das Herzklopfen, starker Schreck die Erschlaffung der Muskeln.

Zweifellos müssen diese organischen Begleiterscheinungen den Affekten ein ganz eigenartiges Gepräge verleihen. Die James-Langesche Theorie der Affekte ging in ihrer Bewertung sogar so weit, in ihnen das Wesen dieser Gemütsbewegungen zu sehen: wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Diese Theorie schoß in doppelter Hinsicht über das Ziel hinaus. Zunächst übersah sie die von allen Organempfindungen wesentlich verschiedenen Gefühlstöne der Lust und Unlust. Sodann beachtete sie nicht das Begründungsverhältnis, das tatsächlich in jedem Affekt normalerweise vorhanden ist: wir sind uns dessen bewußt, daß wir wirklich wegen des Verlustes traurig oder wegen des Gewinnes freudig sind. Gleichwohl nähert sich unsere Auffassung der Affekte in beiden Rücksichten wieder mehr der James-Langeschen Theorie. Da wir die unterscheidenden Merkmale der verschiedenen höheren Gefühle nicht in spezifischen Gefühlsqualitäten, sondern in den sie begleitenden Bewußtseinsvorgängen suchen, schreiben wir notwendig den organischen Erscheinungen beim Affekt eine größere Bedeutung zu. Sodann erkennen wir zwar das Begründungsverhältnis des unbefangenen Bewußtseins an: ich freue mich, weil ich Erfolg habe, aber wir teilen nicht die Ausweitung dieses Zusammenhanges, die das naive Bewußtsein vornimmt. Dem naiven Menschen erscheint die gefühlsmäßige Freude oder Trauer ebensosehr als die unmittelbare und notwendige Antwort der Seele auf die Einsicht in den vorausgehenden Erfolg oder Mißerfolg, wie die Erkenntnis der Gleichheit oder Ungleichheit die unmittelbare und notwendige Reaktion der Seele ist, wenn ihr zwei gleiche oder verschiedene Inhalte mit der Aufgabe zu vergleichen gegeben sind. Es braucht aber nur wenig kritischen Blick, um zu erkennen, daß zwischen den Inhalten „Erfolg“ und[S. 221] „Freude“ ebensowenig ein denknotwendiger Zusammenhang besteht wie zwischen einem Rot und dem mit ihm kontrastierenden Grün. In der Tat kann ja auch infolge krankhafter Störungen die normalerweise zu erwartende Gefühlsreaktion bei der Wahrnehmung eines Erfolges oder Mißerfolges ausbleiben. Die Grundlage zu einer jeden Gefühlsreaktion bildet eben nicht ein logischer, sondern ein physiologischer Zusammenhang, nämlich der zwischen Empfindung und Empfindungsgefühl.

Den Affekten stellt man die Stimmungen gegenüber. Während man unter Affekt einen stärkeren, aber akuten Seelenzustand versteht, denkt man bei Stimmung an eine mäßigere, aber dauernde Verfassung ähnlicher Art. Dabei ist dem Affekt der Sachverhalt, um dessentwillen er sich entwickelt hat, gegenwärtig, während er der Stimmung wieder entschwunden sein kann. Zumeist dürfte die Stimmung aus einem Affekt hervorgehen. Die charakteristischen Organempfindungen pflegen nämlich länger standzuhalten als die sie hervorrufenden Erkenntnisse, und da sie selbst zumeist von ähnlichem Gefühlscharakter sind, rücken sie teils immer wieder, sobald man sie beachtet, das betreffende Gefühl in den Vordergrund des Bewußtseins, teils führen sie die Erinnerung an den die Stimmung auslösenden Sachverhalt herbei.

Die Leidenschaften sind nicht mehr den Gefühlen oder Affekten beizuzählen. Unter Leidenschaft versteht der Sprachgebrauch vielmehr ein vorherrschendes Interesse, das stark genug ist, um zu schwierigen, gelegentlich auch zu wenig überlegten Handlungen anzutreiben.

Das Vorhandensein von Gefühlsdispositionen zeigt sich darin, daß einzelne Individuen zu bestimmten Gefühlen mehr hinneigen als andere. Die Ursache hiervon wird an physiologischen Zuständen liegen. Es läßt sich denken, daß die beiden Funktionsweisen des nervösen Apparates, an welche Lust bzw. Unlust gebunden ist, nicht bei jedem Individuum gleich gut entwickelt seien. Sodann können abnorme Körperzustände dauernd eine gewisse Menge einseitig gefühlsbetonter Empfindungen liefern und somit eine Steigerung der Gefühle in der einen oder der anderen Richtung veranlassen. So sind Schwindsüchtige mehr zur Heiterkeit, Diabetiker zur Verdrossenheit disponiert. Endlich dürfen auch die psychischen Dispositionen nicht übersehen werden. Wer sehr viel Leid erfahren hat, dem stehen mit diesen Erinnerungen ebensoviele Quellen zu Unlustgefühlen zur Verfügung.

[S. 222]

4. Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens

Nach unserer Auffassung sind die höheren Gefühle etwas sehr Kompliziertes. Man wird darum bei ihnen auch keine einfachen und klar umschriebenen Gesetze erwarten dürfen. Außerdem werden sich diese Gesetze häufiger auf den dem Gefühle zugrunde liegenden Sachverhalt als auf das emotionale Moment beziehen.

Das Kontrastgesetz: ein Gefühl wird durch sein Kontrastgefühl gesteigert. Die Lust am warmen, erleuchteten Zimmer wird gesteigert durch die Wahrnehmung des unfreundlichen Wetters; die Unlust über solches Wetter, durch welches man marschieren muß, infolge des Anblickes einer gemütlichen Wohnung. Man erkennt hier leicht, daß bei solchen Kontrasten auch ganz neue Sachverhalte erfaßt werden, die dann ihrerseits den Zuwachs des Lust- oder Unlustgefühles verschulden. — Der Folgesatz: eine Reihe von Lust- oder Unlustgefühlen bedeutet nur dann eine merkliche Steigerung des betreffenden Gefühles, wenn jedesmal ein stärkeres Gefühl erzeugt wird. Der Satz gilt zweifellos nur im allgemeinen und ist in der Hauptsache wohl psychologisch durch die Herabsetzung der Bewertung häufig erscheinender Dinge zu erklären, wenn auch die Abstumpfung gegen den Gefühlston, die er auch voraussetzt, physiologisch bedingt sein muß.

Noch wenig geklärt sind die Gesetze der gleichzeitigen Verbindung mehrerer Gefühle. Gleichartige Gefühle scheinen sich irgendwie zu summieren. Doch nicht in einfacher algebraischer Weise. Sie behalten stets eine gewisse Selbständigkeit. Ihre Vereinigung ist um so inniger, je mehr die Erkenntnisgrundlagen miteinander verschmelzen. Das Gefühl wird eben stärker, je mehr sich unsere Aufmerksamkeit dem Gefühlserreger zuwenden kann, was bei der Abhängigkeit des Gefühls von seinen Reproduktionsgrundlagen leicht verständlich ist. Die mannigfachen Reize eines Festmahles kann man nicht alle gleichzeitig in größter Intensität auf sich einwirken lassen. Darum scheinen die von ihnen erweckten Gefühle eher nebeneinander zu stehen. Bei einem Ornament hingegen kann Form und Farbe gleichzeitig und fast in vollster Intensität im Blickpunkt der Beachtung stehen, und darum scheint es ein einheitliches Gefühl hervorzurufen. Aus demselben Grunde will sich Lust und Unlust aus verschiedenen Quellen nicht recht mischen. Sie treten vielmehr abwechselnd in den[S. 223] Vordergrund, je nachdem wir dem einen oder dem andern mehr Beachtung schenken. Dennoch erscheinen sie nicht einfachhin voneinander getrennt, sondern die Unlust verleidet uns die Freude, und die Lust läßt vermutlich das Leid nicht zur vollen Entwicklung gelangen. Anders bei den sog. gemischten Gefühlen, wie dem Spannenden, Romantischen, Tragischen, wo die Unlust eine notwendige Vorbedingung des angenehmen Gefühles ist. Allerdings darf man hier nicht übersehen, daß diese vorausgehende Unlust eher ein Scheingefühl ist oder doch wenigstens durch die bestimmte Erwartung des glücklichen Ausganges gemildert wird. Sonst zerfällt das gemischte Gefühl in zwei gesonderte Phasen, der Unlust und der Lust.

Praktisch bedeutsam ist die zeitliche und gegenständliche Verschiebung des Gefühles. Zeitlich verschiebt sich das Gefühl, indem es einer Erinnerungsvorstellung vorauszueilen scheint. Genauere Beobachtung und der Vergleich mit erstmaligen Wahrnehmungen, die Gefühle wecken, noch ehe sie selbst zur klaren Entfaltung gelangt sind, lehrt indes, daß diese Verschiebung nur eine scheinbare ist. Es genügt aber eine gerade überschwellige Reproduktion, damit schon ein merkliches Gefühl verspürt werde. Dieses lenkt nun sofort die Aufmerksamkeit auf sich, wodurch dann häufig die angefangene Reproduktion wieder versagt und das Gefühl als ein völlig unbegründetes erscheinen läßt. Die gegenständliche Verschiebung ist unter dem Namen der Gefühlsübertragung oder der Irradiation des Gefühlstones bekannt und schon bei den elementaren Gefühlen besprochen worden (S. 141 f.).

Ebenso stimmt es zu unseren theoretischen Anschauungen sehr wohl, daß sich ein eigentliches Gefühlsgedächtnis nicht nachweisen läßt. Ein Gefühlserlebnis ist immer nur durch die Vergegenwärtigung seiner erkenntnismäßigen Grundlage zu erneuern. Dabei werden bezeichnenderweise die einfacheren Gefühle schwerer reproduziert als die zusammengesetzten: die Vergegenwärtigung der Lust an einer Speise ist weit schwächer als die an einer Melodie oder an einem Erfolg. Die Lust an einem Sinneseindruck gründet sich nämlich einzig auf diesen isolierten Reiz, und dieser ist bekanntlich nicht mehr in gleicher Stärke zu reproduzieren. Die Lust an einem Erfolg hingegen ist in der[S. 224] Hauptsache eine Beziehungslust, die schon beim ersten Erleben nicht aus dem unmittelbaren Sinneseindruck, sondern reproduktiv aus den Gefühlsvorräten geschöpft wurde. Diese sind aber heute noch ebenso reichhaltig wie beim ersten Erleben.

5. Die Beziehungen des Gefühls zu andern Funktionen

Gefühle schaffen Werte, sobald sie sich mit einem Gegenstand verbinden, mag diese Verbindung eine ursprüngliche oder durch Gefühlsübertragung entstandene sein. Dementsprechend beeinflussen sie auch alle Werturteile, d. h. sie begründen Werturteile. Ebenso unmittelbar ist ihr Einfluß auf das Streben, das ja stets auf einen Wert gerichtet ist. Wenig geklärt ist jedoch ihre Bedeutung für die Entstehung eines Entschlusses oder einer Willenshandlung, wenn die Gefühle sich nicht mit dem Ziel des Strebens verbinden, sondern gewissermaßen das Milieu sind, in dem die Willenshandlung geboren wird. Erregende Gefühle, Unlust ebensowohl wie Lust, scheinen zum Entschluß und zur Handlung anzutreiben, niederdrückende scheinen sie zu hemmen.

Deutlich ist die Einwirkung der Gefühle auf die Vorstellungen. Lustgefühle vermehren den Reichtum an Vorstellungen, Unlustgefühle erschweren die Vorstellungsreproduktion, vermutlich deshalb, weil Lust die Blutzufuhr nach dem Gehirn steigert, Unlust sie herabsetzt. Die Gefühle wirken sodann stark konstellierend, d. h. sie bestimmen die Auswahl der Vorstellungen. Ein Affekt läßt nur solche Vorstellungen aufkommen, die ihm entsprechen: ein Unglück weckt traurige, ein Glücksfall fröhliche Erinnerungen. Das erklärt sich teils aus der assoziativen Verbindung, welche Vorstellungskomplexe gleicher Gefühlsbetonung eingehen, teils aus den gleichartigen Affekten gemeinsamen Organempfindungen, die ihrerseits wieder zu Reproduktionsmotiven der früheren Erlebnisse werden, teils daraus, daß uns in einem Affekt Erinnerungen bzw. Vorstellungen von[S. 225] andersartigem Gefühlston unwillkommen sind und darum schon auf der Schwelle unterdrückt werden.

Sodann sind die Gefühle bedeutungsvoll für die Erinnerung. Erlebnisse, die gefühlsbetont sind, haben, wie experimentelle Untersuchungen lehrten, größere Erinnerungsfestigkeit als indifferente, vielleicht weil sie größere Aufmerksamkeit fanden, vielleicht weil man sich willkürlich mehr mit ihnen beschäftigte. Dabei werden lustbetonte häufiger erinnert als unlustbetonte (Erinnerungsoptimismus), wohl darum, weil wir uns willkürlich von der aufsteigenden Erinnerung unlustvoller Erlebnisse abwenden. Nur wenn das unliebsame Geschehnis von sehr großer Bedeutung für den Erlebenden war, verschafft es sich eine bevorzugte Stelle unter den Erinnerungen.

Literatur

Th. Ribot, Psychologie der Gefühle. 1903.

G. Störring, Psychologie des menschlichen Gefühlslebens. 1916.

A. Mosso, Die Furcht. 1899.

[9] Die besonderen Formen der Zusammensetzung dieser Inhalte berücksichtigt die phänomenologische Einteilung Schelers, der sinnliche Gefühle, Lebensgefühle (Gefahr), seelische Gefühle (Freude) und geistige Gefühle (Seligkeit) unterscheidet. Vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.

[S. 226]

DRITTER ABSCHNITT
Das Willensleben

1. Kap. Die Vorbereitung des Willensaktes

Während ein Akt der absoluten Wahrnehmung keinerlei Vorbereitung im Bewußtsein voraussetzt, sondern theoretisch wenigstens ein erster Bewußtseinsvorgang sein kann, ist ein Willensakt nicht denkbar, der nicht ein gewisses Vorspiel in der Seele hätte. Von den Inhalten nun, die einem Willensakt vorausgehen, scheinen einige in nur zufälliger, andere in notwendiger Verbindung mit ihm zu stehen. Man nannte letztere die Motive des Wollens.

1. Das Wesen des Motives

Die wenigen Forscher, die den Motivationsvorgängen experimentell beizukommen suchten, konnten sich noch nicht auf eine Begriffsbestimmung des Motivs einigen. Sie zählten darunter sowohl verstandesmäßige Beweggründe, wie unwillkürliche Strebungen, Gefühle und Bewegungsvorgänge. Vergleicht man jedoch die von ihnen als Motive bezeichneten Erlebnisse miteinander, so stellt sich heraus, daß man die Vorbedingungen der äußeren Willenshandlung, in der sich der Willensakt kundgab, mit denen des inneren Willensaktes verwechselte und dabei die Wirkursachen reproduktiver Vorgänge nicht von den Beweggründen des Entschlusses unterschied. Führt man diese Unterscheidung durch, so ergibt sich ein einheitlicher Begriff des Motives: Motiv des Willensaktes ist alles, was sich der Seele als ein durch den Willensakt zu verwirklichender Wert vorstellt. Dabei verstehen wir unter Wert alles, was für das betreffende Individuum vorteilhaft ist.

[S. 227]

Diese Art Motive sind nun von verschiedener Gestaltung. Die niederste Stufe von ihnen wird durch einfache Sinneseindrücke oder richtiger durch einfachste, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände gebildet. Sie müssen aber lustbetont sein, damit ihr Besitz als ein Vorteil für das Subjekt erscheinen kann. Auf dieser Stufe ist das niedere Gefühl ausschlaggebend. Nicht als ob das Gefühl als solches erstrebt würde, erstrebt wird immer nur der gefühlsbetonte Gegenstand; aber würde dieser Gegenstand nicht ein Lustgefühl wecken, wäre er nicht tatsächlich ein „Bringer der Lust“, so hätten seine übrigen Eigenschaften keine Anziehungskraft. Andere Gegenstände erwecken nicht unmittelbar als solche ein merkliches Gefühl, und nur verstandesmäßig und mit einer gewissen Nüchternheit werden sie als vorteilhafte Dinge erkannt. Allein entgegen den früheren Ansichten reicht diese kühle Einsicht hin, das Verlangen nach ihnen auszulösen. So erkennt man das Studium als eine dem Individuum zuträgliche Sache und wendet sich ihm zu, auch wenn kein erkennbares Lustgefühl uns diese Arbeit angenehm macht. Ebensowenig wie ein Gefühl ist eine besondere Anschaulichkeit der Motivwerte erforderlich; auch ganz abstrakt erfaßte Vorteile können entschiedene Willensentschlüsse hervorrufen.

2. Einteilung der Motive

Als niedere oder elementare Motive können wir solche bezeichnen, deren ganzer Wert in dem unmittelbar von ihnen erregten Lustgefühl beruht. Höhere Motive hingegen sind diejenigen, deren Wert erst durch eine Beziehungserfassung erkennbar ist. Diese psychologische Einteilung deckt sich natürlich nicht mit einer gleichlautenden aus der Ethik oder der Wertlehre: ein psychologisch hoher Wert kann ein ethischer Unwert sein.

Innere Motive sind solche, die dem Willensziel selbst entnommen sind, etwa die Schönheit oder die Nützlichkeit der Ordnung, falls diese der Gegenstand des Entschlusses ist. Äußere Motive wären in diesem Falle die Rücksicht auf andere Menschen, der Wunsch, seiner bisherigen Gewohnheit zur Ordnung nicht untreu zu werden, oder auch ein rein subjektives Verlangen, eine Art Laune, jetzt einmal sich für die Ordnung zu entscheiden. Die bisher besprochenen Motive werden von positiven Werten gebildet. Ein negativer Wert, ein Unwert[S. 228] hat keine Anziehungskraft. Es muß aber vorerst die Frage noch offen bleiben, ob ein negativer Wert ein Motiv für ein negatives Streben bilden kann. Die experimentellen Forschungen reichen noch nicht hin, die Tatsächlichkeit eines besonderen negativen Strebens zu beweisen. Es könnte sein, daß die Flucht vor einem Unwert psychologisch derselbe Vorgang wäre wie das positive Streben, dessen Richtung nur in unserer Auffassung doppelt gekennzeichnet wäre, nämlich durch den Ausgangspunkt und durch den Zielpunkt. Dann würde auch der zu meidende Unwert nicht als solcher willensbestimmend wirken, sondern das Gut, der Vorteil, der in dieser Flucht vor dem Unwert enthalten ist.

3. Vorbedingungen für die Wirksamkeit von Motiven

Als allgemeinste Vorbedingung ist das Bewußtwerden der Motive zu nennen. Werte, Vorteile sind keine Wirkursachen, die sich geltend machen können, ohne selbst bewußt zu sein, wie das bei den Reproduktionstendenzen der Fall ist. Diese gehören zu dem Mechanismus unseres geistigen Lebens, sie wirken ohne selbst erkannt zu sein. In der Motivation hingegen treten die Inhalte vor die Seele. Sie gehören also in eine ganz andere Gattung der seelischen Kräfte. Darum kann es streng genommen keine unbewußten Motive geben. Doch kann der Wert oder Unwert in sehr verschiedener Weise bewußt werden: Er wird z. B. vorstellungsmäßig im voraus verkostet, oder der Gedanke an ihn weckt ein Gefühl, und dieses bleibt als Motiv stehen, während der Gedanke schwindet. Sehr häufig ist uns jedoch ohne besondere Gefühle mehr oder weniger die Bedeutung des Zieles gedanklich gegenwärtig; Gedanken, die freilich um so abstrakter werden, je häufiger sie wiederkehren. Bedenkt man nun, daß uns verschiedene Seiten eines Wertes oder Unwertes gleichzeitig, und zwar auf verschiedene Weise gegeben sein können, daß sich ferner diese gleichzeitigen Werterlebnisse häufig auf verschiedenen Bewußtseinsstufen befinden, so versteht man die bisweilen festzustellende Unklarheit über die eigenen Ziele und die „Lüge des Bewußtseins“, d. h. die Täuschungen über die wirklich ausschlaggebenden Motive unseres Handelns.

Weitere interessante Einzelheiten über die Erschließung eines Wertes ergeben die Untersuchungen von Michotte und Prüm.

So ist es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge mehrere werthaltige Gegenstände vorgelegt werden, wenn es sich darum handelt, zwischen ihnen eine Wahl zu treffen. Und auch die Art und Weise der Wertprüfung ist von Bedeutung. Sie kann nämlich entweder analytisch zergliedern oder mehr großzügig aufs Ganze gehen. Trägt der zu prüfende Gegenstand seinen Wert ziemlich offen zur Schau, so ist es im allgemeinen günstig, ihn an erster Stelle vorzulegen. Man entscheidet sich dann leicht für ihn ohne eingehendere Prüfung. Will[S. 229] man dagegen, daß der Wählende sich für einen Gegenstand von nicht offenkundigem Wert entschließe, so ist es ratsam, ihm zunächst einen anderen mit offenkundigen Mängeln vorzuhalten. Er wird dann in der Regel diesen ersten nach einer oberflächlichen Besichtigung ablehnen, den zweiten hingegen einer ins einzelne gehenden Prüfung unterwerfen, bei der sich dann der Wert des zweiten deutlicher herausstellt.

Eine andere Vorbedingung für das Wirksamwerden der Motive ist die Erreichung einer entsprechenden Kraft. Soweit unser jetziges Wissen reicht, kann man nicht behaupten, daß angesichts einer bestimmten Werthöhe notwendig ein Willensakt ausgelöst werde, aber daß nicht jedes Motiv stark genug ist, unter allen Umständen uns zu einem bestimmten Entschluß zu vermögen, das offenbarte sich auch schon in den Wahlversuchen. In solchen Fällen hilft dann die gegenseitige Verstärkung der Motive über den toten Punkt hinweg. Die Vereinigung mehrerer Motive kann nämlich einen Gesamtwert ergeben, angesichts dessen der Entschluß zustande kommt. Dabei gewinnen die äußeren Motive ihre hervorragende Bedeutung. So namentlich die Rücksicht auf die bisherige Gewöhnung. Damit eröffnet sich ein doppelter Weg zur Beeinflussung des Willens: ein direkter durch unmittelbares Vorhalten der Motive und ein indirekter durch die Gewöhnung, der dann ein äußeres Motiv entnommen werden kann, nämlich die Gleichförmigkeit des eigenen Handelns.

2. Kap. Die unmittelbaren Wirkungen des Willensaktes

1. Die determinierenden Tendenzen

Das Wesen des Willensaktes wurde schon oben bei Darstellung der elementaren Funktionen besprochen. Während nun die anderen seelischen Elemente sich zu höheren Leistungen komplizieren können, scheint der Willensakt als solcher stets der gleiche zu bleiben. Eine besondere Ausgestaltung scheinen nur die Objekte des Wollens zu erfahren. Wir wenden uns darum gleich den Wirkungen des Willensaktes zu.

In den verschiedenartigsten Reaktionsversuchen hatte es sich immer deutlicher herausgestellt, daß der Verlauf des ganzen Erlebnisses in eigenartiger Abhängigkeit stand von der Aufgabe, welche die Vp übernahm. Am auffälligsten wurde das in hypnotischen Versuchen. Da erhält z. B. die Vp die Aufgabe, die ihr nach der Hypnose vorzulegenden Zahlen zu multiplizieren. Aufgeweckt, erblickt sie das Zahlenpaar 5/7 und spricht augenblicklich die Zahl 35 aus, ohne[S. 230] im geringsten angeben zu können, was sie zum Aussprechen dieser Zahl veranlaßt hat. Ach wollte diesem Vorgang durch die Aufstellung der determinierenden Tendenzen (im folgenden det. T.) gerecht werden. Der in der Übernahme einer Aufgabe liegende Willensakt erzeugt die det. T. zur Ausführung dieser Aufgabe. Diese Tendenzen sind nach Ach weder mit den assoziativen noch mit den perseverierenden Reproduktionstendenzen gleichzusetzen, sondern stellen eine ganz neue Art von Tendenzen dar. Sie wirken im Unbewußten und ziehen ein spontanes Auftreten der determinierten (d. h. von der Aufgabe verlangten) Vorstellung nach sich. Nach Achs Vorgang stellte später Koffka eine ganze Reihe von det. T. auf, darunter auch solche, die nicht von einem Willensakte, sondern von einem Gedanken ausgehen sollten.

Zweifellos haben Ach und die ihm nahestehenden Forscher eine wichtige Tatsache mit dem Namen der det. T. gekennzeichnet. Die Zielstrebigkeit, die in unserem Denk- und Handlungsverlauf herrscht, sobald ein bestimmter Willensentschluß gefaßt worden ist, ist derart, daß man nicht recht glauben mag, sie könne durch die konstellierende Kraft einer Obervorstellung (Liepmann) bewirkt werden. Es muß eine ordnende Kraft in den Ausführungen unserer Entschlüsse herrschen. Es ist aber nicht erwiesen, daß dies eine neuartige, von der Zielvorstellung ausgehende Tendenz sei. Denn die Leistungen, die insbesondere dieser Tendenz zugeschrieben werden, lassen sich auch durch die bekannten Reproduktionstendenzen verständlich machen. Die Aufgabe bildet nämlich als antizipierendes Schema (S. 173) ein Reproduktionsmotiv für das Erscheinen der determinierten Vorstellungen, und die oft unvermittelt und ohne Erinnerung an die Aufgabe erscheinende richtige Lösung findet ihre Parallele bei offenkundigen Reproduktionsvorgängen, die keiner Aufgabe entsprungen sind.

Anderseits ist die Willkürhandlung doch nicht rein assoziativ bedingt. Sie müßte sonst ebenso leicht entgleisen wie ausschließlich assoziativ geleitete Reproduktionen. Den „Einfällen“, die uns die Assoziationen liefern, ist es ja charakteristisch, daß sie sehr wenig vom Sinn beherrscht sind und „vom Hundertsten ins Tausendste“ führen. Vor allem aber muß dem in den Willensexperimenten beobachteten Erlebnis des „ich will“ seine Stelle und Bedeutung in dem ganzen Vorgang werden. Wir müssen uns da freilich noch mit Hypothesen[S. 231] begnügen und denken uns den einfachen Willensvorgang folgendermaßen. Die Vp habe sich in der Vorperiode dazu entschlossen, beim Erscheinen eines bestimmten Reizes den niedergedrückten Taster loszulassen. Der Reiz erscheint, die Vp erkennt ihn als das vereinbarte Zeichen und erblickt angesichts der Gesamtlage in dem Loslassen des Tasters ein zu wollendes Ziel. Jetzt erfolge der eigentliche Willensakt: die Vp will das Loslassen. Nehmen wir nun an, der Vp sei dabei neben anderen Vorstellungen auch die zum Loslassen des Tasters erforderliche Bewegungsvorstellung gegenwärtig, so ist zu erklären, warum von den verschiedenen ihr gegenwärtigen Vorstellungen nur diejenige zum Ausgangspunkt einer Reproduktion wird, die sich auf das Loslassen des Tasters bezieht. Der Assoziationspsychologe behauptet hier: der aufgetauchte Reiz reproduziert den in der Vorperiode gefaßten Vorsatz und damit die Vorstellung des Loslassens, und so wird diese verstärkt und vor allen anderen zum Reproduktionsmotiv. Wir bestreiten nun durchaus nicht, daß ein solcher assoziativ bedingter Vorgang stattfindet und in gewissen Fällen sogar die Bewegung herbeiführen kann. Aber das gilt doch nur für jene Fälle, wo die Zielvorstellung auf diese Weise hinreichend intensiv gemacht werden kann. Es erklärt aber nicht die Zielstrebigkeit unserer Vorstellungen und Bewegungen, wie sie sich etwa auf einem Geschäftsgang mitten durch die lebhaftesten Eindrücke einer Großstadt, und zwar bei nahezu völligem Zurücktreten des Zielgedankens, zeigt. Ferner wird so nicht verständlich, warum alle unsere Willenshandlungen von einer Bedeutung beherrscht sind, und endlich wäre der tatsächlich vorhandene Willensakt in dieser Auffassung höchst überflüssig. Wir nehmen darum an, das „ich will loslassen“ sei eine Hinwendung zu der Bewegungsvorstellung und verstärke durch diese Hinwendung unmittelbar diese Vorstellung, so daß sie zu einem wirksamen Reproduktionsmotiv für die weiterhin notwendigen Bewegungsvorstellungen werden kann. Die gleiche Leistung, die unter anderen Bedingungen die assoziative Konstellation vollbringt, schreiben wir also dem Willensakt zu. Wir stützen uns für diese Annahme[S. 232] auf eine Reihe von Beobachtungen (von Stumpf, G. E. Müller u. a.), nach denen die willkürliche Beachtung einer Empfindung oder Vorstellung diese verstärkt.

Bei zusammengesetzten Willenshandlungen wird der Beginn auf die nämliche Weise von statten gehen. Ist dann eine gewisse Reihe von Vorstellungen abgelaufen, so stockt die Willenshandlung. Rein reproduktiv taucht nun wieder die Aufgabe bzw. der Vorsatz auf und reproduziert dadurch eine weitere Reihe von Vorstellungen, denen gegenüber sich der Willensakt wie bei der einfachen Willenshandlung wiederholt. Geschieht dies nicht oder wird die Zielvorstellung nicht aufs neue lebendig, so kommt es zu den merkwürdigen, rein assoziativ bedingten Fehlhandlungen, oder man fragt sich verwundert: Was wollte ich doch? Ein Akt des Besinnens leitet dann zur alten Fährte zurück. Der Wille verhütet also, daß unsere Handlungen nicht einzig von der zufälligen Intensität der Vorstellungen abhängen. Er befreit uns darum aus dem Banne der Assoziationen. Er sorgt auch dafür, daß unsere Willenshandlungen nicht beständigen Stockungen unterliegen, wie das Aufsagen eines schlecht gelernten Gedichtes. Das Perseverieren der Aufgabe oder ihre öftere Zurückführung ins Bewußtsein ermöglicht uns sodann, durch einen Vergleich unserer Handlungsweise mit dem vorgesteckten Ziele deren Richtigkeit zu kontrollieren.

2. Das Gesetz der speziellen Determination

War den Vpn Achs die Aufgabe gestellt, mit einer beliebigen Silbe zu reagieren, so benötigten sie dazu in der Regel mehr Zeit, als wenn sie eine Silbe auszusprechen hatten, die noch gewissen Bedingungen genügen mußte; auf die dargebotene sinnlose Silbe mit einer Reimsilbe zu antworten, war leichter, als irgendeine sinnlose Silbe auszusprechen. Ach faßte diese Tatsachen in dem Gesetz der speziellen Determination zusammen: Je spezieller die Determination, desto rascher und sicherer wird die Verwirklichung erreicht.

Gegen dieses Gesetz hat man den einleuchtenden Einwand erhoben: es ist zweifellos leichter, irgendeine Stadt Deutschlands zu nennen, als eine Stadt mit 85300 Einwohnern. Anderseits schien sich die Beobachtung Achs bei den verschiedensten Versuchen immer wieder zu bestätigen. Eine genauere Betrachtung der betreffenden Versuchserlebnisse dürfte indes Klarheit schaffen. Da Ach in den det. T. eigenartige Vorgänge erblickte, trug er kein Bedenken, so verschiedene Tätigkeiten, wie das Aussprechen irgendeiner sinnlosen Silbe und das Reimen zu einer schon gegebenen Silbe, unmittelbar miteinander zu[S. 233] vergleichen. Wir erkennen die Eigenart der det. T. nicht an, müssen darum auf die verschiedenen Erlebnisse selbst eingehen. Da finden wir nun, daß die genannten zwei Reaktionsweisen sehr verschiedene Erlebnisse sind: in dem einen Falle ist reproduktiv eine ganze Silbe herbeizuschaffen, in dem andern braucht nur ein einziger Konsonant gefunden zu werden, der, als Anfangskonsonant in die schon gebotene sinnlose Silbe eingesetzt, unmittelbar die geforderte Reimsilbe liefert. Es ist somit nicht zu verwundern, wenn diese speziellere Aufgabe rascher und sicherer gelöst wird als die allgemeinere, mit irgendeiner Silbe zu antworten. Es können also nur gleichartige Aufgaben miteinander verglichen werden, etwa die Aufgabe zu reproduzieren. Hier bewährt sich nun das Achsche Gesetz sehr deutlich, während anderseits der obige Einwand in voller Kraft bestehen bleibt. Beide Umstände lassen sich nun folgendermaßen in Einklang bringen, und zwar ohne Verwertung von det. Tendenzen. Jede Aufgabe kann als antizipierendes Schema für einen geforderten Reproduktionsprozeß gelten, muß ja doch wenigstens eine bestimmte Verhaltungsweise reproduziert werden. Je spezieller nun eine Aufgabe ist, um so reichhaltiger ist das antizipierende Schema, ein um so wirksameres Reproduktionsmotiv gewährt es für die Ausführung der Aufgabe. Allerdings stellt auch jene besondere Seite der Aufgabe eine Bedingung, der die Lösung genügen muß, und diese Bedingungen sind nicht immer gleich leicht zu erfüllen.

Berücksichtigt man alle diese Umstände, so läßt sich das Gesetz der speziellen Determination folgendermaßen aussprechen: Die spezielle Determination wird schneller und sicherer verwirklicht, insofern sie induktionskräftige, konvergierende Reproduktionsmotive bietet und nicht geläufigere Reproduktionen ausschließt. Es ist also im Grunde ein Reproduktionsgesetz, nicht ein Willensgesetz. Da es aber namentlich für die Willensleitung von besonderem Werte ist, findet es in dem Kapitel über den Willen eine passende Stelle.

3. Die Messung der Willenskraft. Das assoziative Äquivalent

Ach hatte den fruchtbaren Gedanken, der Verwirklichung einer Absicht Hindernisse in den Weg zu legen und an der Überwindung dieser Hindernisse die Willenskraft zu messen. Hat eine Vp ein Paar sinnloser Silben fest eingeprägt, so geht von der ersten der erlernten Silben eine starke Reproduktionstendenz zur zweiten. So oft die Vp die erste[S. 234] Silbe hört oder ausspricht, ist sie versucht, auch die zweite auszusprechen. Hat sie nun die Aufgabe übernommen, auf die zugerufene Silbe mit einem Reim oder mit einer gänzlich neuen Silbe zu antworten, so werden, meinte Ach, zwei Tendenzen miteinander in Widerstreit geraten. Die Reproduktionstendenz sucht die hinzugelernte Silbe herbeizuführen, die aus der Aufgabe stammende det. Tendenz hingegen sucht die Lösung der Aufgabe zu bewirken. Die stärkere Tendenz von beiden wird siegen. Da man nun die Reproduktionstendenz durch Häufung der Wiederholungen des einzuprägenden Silbenpaares in beliebiger Stärke herstellen kann, so wird sich ein Stärkegrad schaffen lassen, demgegenüber auch das energischste Wollen versagt und die Aufgabe durch die obsiegende Reproduktion vereitelt wird: das assoziative Äquivalent der Determination bzw. der Willenskraft ist erreicht, ein Maß für die Willenskraft ist somit gefunden. — Der überaus einleuchtende Gedankengang Achs schien durch die Ergebnisse der Versuche bestätigt zu werden: in der Regel ließ sich durch die Verstärkung der Assoziation eine so kräftige Reproduktionstendenz erzeugen, daß der redlichste Vorsatz der Vpn an ihr zuschanden ward. Nur einige wenige Vpn verstanden es, trotz stärkster Reproduktionstendenzen ihren Willen durchzusetzen, und zwar merkwürdigerweise ohne besonders energische Willensanstrengung.

Konnten wir schon die Achsche Voraussetzung zur Messung der Willensstärke, nämlich die Eigenart der det. Tendenz, nicht anerkennen, so muß der zuletzt erwähnte Umstand uns erst recht skeptisch machen. Prüft man darum das Verhalten der Vpn näher, so ergibt sich, daß man es in beiden Fällen mit einem ganz verschiedenen Benehmen zu tun hat: die Vpn, bei denen das assoziative Äquivalent erreicht wird, fassen in der Vorperiode des Versuches ihren Vorsatz, bemühen sich dann aber nicht, ihn im Bewußtsein zu halten, sondern überlassen sich dann ganz dem Eindruck der Versuchssituation und den von ihr geweckten Reproduktionstendenzen; andere hingegen halten ihren Entschluß, wenn auch noch so schwach, bewußt und können darum die[S. 235] auftauchenden Reproduktionstendenzen leicht unterdrücken. Wie neuere Untersuchungen (Lewin, Sigmar) gelehrt haben, kommen diese Reproduktionstendenzen trotz des Vorsatzes überhaupt nicht auf, wenn es gelingt, die Vp abzulenken. Es mißt also das assoziative Äquivalent gar nicht die Willenskraft, sondern höchstens das Stärkeverhältnis zweier Reproduktionstendenzen, nämlich der von der Einprägung bedingten und der von dem Vorsatz in derselben assoziativen Weise grundgelegten Reproduktionstendenz.

Selz hat den Versuchen Achs gegenüber gemeint, die Willenskraft sei überhaupt auf einem ganz anderen Gebiet zu erproben als auf dem der Ausführung eines Vorsatzes: die erstmalige Setzung eines Entschlusses sei der Ort, wo sich die Willenskraft bewähre. In der Tat scheint es einen stärkeren Willen zu erfordern, sich zu einer Arbeit oder gar zu einem Leiden zu entschließen, als zu einem Vergnügen. Der erste Eindruck spricht allerdings dafür, daß in jenen Fällen eine größere Willensintensität wirksam werde. Sieht man aber genauer zu, so rührt dieser Eindruck zum Teil daher, daß man bei der Übernahme unlustvoller Dinge gern äußere Ausdrucksbewegungen von größerer Intensität zuhilfe nimmt, wie krampfhafte Muskelbewegungen. Sie können gewiß den inneren Willensakt nicht zu einem intensiveren gestalten und werden auch von rechten Künstlern des Wollens lieber vermieden. Zum andern Teil rührt der Eindruck daher, daß nach dem einmaligen Entschluß zum Opfer sich die unangenehme Seite immer wieder von neuem aufdrängt und zur Zurücknahme des Entschlusses bewegen möchte, wie man sich auch umgekehrt einen solchen Entschluß erleichtern kann, wenn man den Blick unverwandt auf den für das Opfer sprechenden Beweggrund richtet. Auf jeden Fall läßt sich auf die besagte Weise ein gewaltsamer Willensakt umgehen. Versuche des Verfassers über den Entschluß zum Unliebsamen sprechen entschieden gegen das Vorhandensein und die Bedeutung intensiver Willensakte. Unser Wollen scheint somit nicht einem kräftigen Hammerschlag, sondern einer sicheren Weichenstellung oder einer Einschaltung eines Kontaktes vergleichbar zu sein, wozu auch keine besondere Kraft benötigt wird. Die gesamte Willensstärke dürfte in der Bereitstellung kräftiger Beweggründe und in einer geschickten Lenkung der Aufmerksamkeit beruhen. Damit lassen sich manche Tatsachen befriedigend erklären. So der Umstand, daß die Willensstärke keinem Alter oder Geschlecht allein vorbehalten bleibt, oder die andere, daß Menschen, die auf einem Gebiet sehr willensstark sind, auf anderen völlig versagen: nicht die vorhandene oder mangelnde Willensstärke, sondern die bereitstehenden oder fehlenden Motive geben den Schlüssel zum Verständnis solch widerspruchsvollen Verhaltens.

[S. 236]

3. Kap. Die Willenshandlung als Folge des Willensaktes

1. Die äußere Willenshandlung

Es war ein dornenvolles Problem für die Assoziationspsychologie, wie auf den in Vorstellungen oder Gefühle aufgelösten Willensakt die erwünschte äußere Bewegung folgen könnte. Da verrieten experimentelle Untersuchungen, daß man kaum einen anschaulichen Gegenstand oder gar eine Bewegung vorstellen könne, ohne völlig unbewußte Bewegungen auszuführen, die dem vorgestellten Objekt entsprechen. Man stellte also den Satz auf: jede Vorstellung hat die Tendenz, eine Bewegung hervorzurufen oder gar das von ihr gemeinte Objekt zu verwirklichen. Das Problem wäre dann nicht darin zu suchen, daß auf die Zielvorstellung eine Bewegung folgt, sondern eher darin, warum nicht auf jede Vorstellung hin eine Bewegung eintritt. Indes setzen alle Fälle einer durch eine Vorstellung ausgelösten (ideomotorischen) Bewegung schon eine Übung in dieser Bewegung voraus. Nur wenn eine Vorstellung häufig von einer Bewegung gefolgt war, hat sie die Tendenz, eine solche wieder hervorzurufen. Es ist das somit nur ein Sonderfall des allgemeinen Assoziationsgesetzes. Man käme auch von diesem Standpunkt aus zu den merkwürdigsten Folgerungen: Zunächst würde der tatsächlich vorhandene Willensakt gänzlich bedeutungslos. Sodann müßte die innere Verbindung zwischen Vorstellung und Handlung erklärt werden. Man hat dies durch eine Ähnlichkeitsassoziation zu erreichen versucht. Aber worin soll die Ähnlichkeit beider bestehen? Gewiß nicht in ihrer psychologischen Natur; denn die Vorstellung einer Bewegung ist etwas ganz anderes als die Bewegung selbst. Es bleibt also nur eine Ähnlichkeit zwischen dem Inhalt, der Bedeutung der Vorstellung und der Handlung. Allein ganz abgesehen davon, daß das Gesetz der Ähnlichkeitsassoziation so nicht zu verstehen ist, erwächst so die neue Schwierigkeit, warum denn nicht jegliche Bedeutung zur Verwirklichung dieser Bedeutung führt, warum insbesondere gewisse einfachste Bewegungen auch beim entschiedensten Willen und bei unversehrtem Bewegungsapparat nicht[S. 237] zu verwirklichen sind, man denke an die willkürliche Bewegung der Ohren. Hier bliebe nur die Annahme einer zuvor angelegten Verbindung zwischen Vorstellungen und Bewegungen möglich, womit dann freilich die wissenschaftliche Erklärung ihr Ende erreicht hätte. Allerdings die eben genannte Tatsache, daß viele Menschen gewisse Bewegungen, zu denen sie an sich befähigt sind, trotz besten Willens nicht auszuführen vermögen, beweist anderseits, daß die Willenshandlung mit dem bloßen Hinweis auf die bestehende Willensabsicht nicht erklärbar ist.

Vor jedem Erklärungsversuch wird es sich empfehlen, eine Übersicht über die verschiedenen Arten der Bewegungen zu geben, die zu unserem Seelenleben in Beziehung stehen. Zunächst sind die Reflexbewegungen zu berücksichtigen. Einige von diesen, wie die Verdauungs- und Herzbewegungen, vollziehen sich ganz unabhängig von unserem Bewußtsein. Wir bemerken sie höchstens, wenn sie krankhaft gestört sind. Andere Reflexbewegungen, wie das Niesen, der unwillkürliche Lidschluß, treten erst dann ein, wenn ein entsprechender Reiz gewisse Empfindungen auslöst. Dennoch ist die Reflexbewegung in ihrem Eintritt in der Regel von unserem Willen ganz unabhängig; höchstens können wir einzelne von ihnen indirekt durch Einführung oder Beachtung anderer Reize hemmen. Alle Reflexbewegungen sind angeboren. Schon beim kleinen Kind sind sie zu beobachten: bei Lichteinfall schließen sich krampfhaft die Augenlider, bei Berührung des Handtellers ballt sich die Faust, süße Geschmacksreize rufen Schlucken, bittere das Öffnen des Mundes oder gar das Ausstoßen der Reize hervor. Über den Reflexbewegungen stehen die Instinktbewegungen. Darunter „versteht man komplizierte Bewegungen, die von Anfang an, d. i. ohne vorausgehende Übung, wohlgeordnet ausgeführt werden und in hohem Grade den Stempel der objektiven Zweckmäßigkeit an sich tragen“ (Bühler). Solche Instinktbewegungen sind uns aus dem Leben der Tiere sehr wohl bekannt: der Nestbau der Tiere, ihre Verteidigungskünste u. ä. Auch der Mensch verfügt über Instinktbewegungen, doch sind sie bei ihm verhältnismäßig gering an Zahl und einfach. Sie dienen hauptsächlich dem Ernährungs- und dem Atmungsprozeß. Auch die Instinktbewegungen sind angeboren. Ihre Verbindung mit dem Bewußtsein ist jedoch enger als die der Reflexe. Die Instinktbewegungen treten erst dann auf, wenn bestimmte innere oder äußere Reize sich im Bewußtsein geltend machen. Das junge Entchen beginnt zu schwimmen, sobald es zum Wasser kommt, und die Nahrungsaufnahme des Tieres wird beendet, sobald sich die Sättigungsempfindungen einstellen. Die Instinkthandlungen sind auch dadurch vom Bewußtsein abhängig, daß sie von dem[S. 238] erwachsenen Menschen leicht willkürlich unterdrückt und beim Tier durch die Dressur gehemmt werden können[10].

Von beiden Gruppen sind die eigentlichen Willkürhandlungen wesentlich verschieden. Sie sind vor allem nicht als solche angeboren, sondern müssen neu erlernt werden; sie liegen nicht in ihrem Verlauf fest, so daß auf bestimmte Eindrücke hin eine bestimmte Bewegungsfolge erschiene. Allerdings erlauben auch die Instinktbewegungen der Tiere, namentlich der höheren, eine gewisse Anpassung: nicht nur ein fest umrissener Eindruck, sondern auch ein diesem nur ähnlicher vermag innerhalb gewisser Grenzen den Instinkt auszulösen, und auch dieser hat eine gewisse Variationsbreite. Gleichwohl herrscht doch eine unverkennbare Einförmigkeit der Handlungsweise. Bei den gewollten Bewegungsfolgen aber wird für jede neue Lage ein anderes Verhalten eingeschlagen. Wird endlich eine erlernte Bewegung durch ausgedehnte Übung sehr geläufig, so entzieht sie sich wieder dem Bewußtsein mehr und mehr, sie wird automatisch.

Aus dieser Übersicht der Bewegungen geht hervor, daß das oben aufgeworfene Problem: wie kommt es vom Willensakt zur gewollten Bewegung, nur für die dritte Art der Bewegungen gilt. Die heute allgemein angenommene Beantwortung des Problems ist nun diese: Von Geburt aus stehen dem Kind eine Anzahl von Reflex- und Instinktbewegungen zu Gebote, die es auf einzelne Reize hin ausübt und dann aus Spielfreude unzähligemale wiederholt. Jede Bewegung hinterläßt nun eine Vorstellung von sich, und diese Vorstellung assoziiert sich physiologisch mit den motorischen Erregungen, die zur Bewegung führen. Und zwar wird diese Assoziation in beiden Richtungen ausgebildet: von der Bewegung zum Bewegungsbild und umgekehrt. Dieses Bewegungsbild kann ein kinästhetisches im engeren Sinne sein (S. 63) oder auch ein optisches Bild. Sobald das Kind einmal die Vorstellung von seinen Bewegungen erlangt hat, können diese Ziel seines Wollens werden. Es will die Bewegung, und dieses innerliche Wollen, diese Hinwendung zur Bewegungsvorstellung versetzt diese nach unserer Annahme in die Möglichkeit, den assoziativen Prozeß von der Bewegungsvorstellung zur motorischen Erregung einzuleiten. Soweit wäre die einfache und als solche schon angeborene[S. 239] Bewegung verständlich. Die nichtangeborenen Bewegungen lassen sich nun als Zusammensetzungen aus angeborenen auffassen. Sie werden dem Kinde teils von seiner Umgebung beigebracht, teils mehr zufällig von ihm erworben. Das Schema des Vorganges ist ganz das gleiche wie zuvor. Nur daß wir statt einer einfachen eine zusammengesetzte Bewegungsvorstellung oder, wenn man lieber will, die Vorstellung einer zusammengesetzten Bewegung einführen müssen. So erklären sich die beiden wichtigen Tatsachen: einmal die zum Teil recht mühsame Erlernung neuer Bewegungen, die nur durch zahlreiche Wiederholungen geläufig werden und sich in dieser Beziehung geradeso wie andere Gedächtnisleistungen verhalten; sodann die Unmöglichkeit, gewisse einfache Bewegungen auszuführen, zu denen zwar der motorische Apparat vorhanden wäre, die aber als solche nicht angeboren sind. Es fehlt in letzterem Falle eben die Bewegungsvorstellung, das assoziative Bindeglied zwischen Willensakt und motorischer Erregung. Sobald dieses herbeigeschafft ist, und es läßt sich herbeischaffen, werden auch solche Bewegungen erlernt.

Man hat nun heiß darüber gestritten, welchem Sinnesgebiet die Bewegungsvorstellung angehöre. Zunächst glaubte man sie unter den im engeren Sinne kinästhetisch zu nennenden Vorstellungen suchen zu müssen. Die experimentelle Selbstbeobachtung entdeckte indes kaum etwas von diesen Vorstellungen. Auch das optische Bild unserer Muskelbewegungen, an das man an zweiter Stelle dachte, tritt nur verhältnismäßig selten auf, zumeist nur, wenn es sich um ungewohnte Bewegungen handelt. Sehr häufig werden die äußeren Handlungen durch die Betonung dieser Vorstellungen eher gehemmt, dagegen gelingen sie in der Regel am besten, wenn man sich nur mit dem äußeren zu erreichenden Effekt befaßt. Manche Autoren wollten darum überhaupt die Bedeutung der Bewegungsvorstellungen anzweifeln. Allein da hat man mit ungeeigneten Waffen gekämpft. Das steht auf jeden Fall fest, daß von der Vorstellung des Endzieles zu seiner Verwirklichung kein direkter Weg führt. Sonst müßte jeder Normale beliebig die Ohren bewegen können. Ferner[S. 240] darf man nicht übersehen, daß alle diesbezüglichen experimentellen Untersuchungen an Erwachsenen und deren geläufigen Bewegungen angestellt wurden. Vielleicht geht man hier synthetisch sicherer voran. Zweifellos haben wir kinästhetische Empfindungen und dementsprechend bei den verschiedenen Bewegungen eindeutig verschiedene Komplexe solcher kinästhetischer Empfindungen. Es liegt nun durchaus kein Grund vor, daß diese kinästhetischen Empfindungskomplexe nicht ebenso wie alle anderen Empfindungen später als Vorstellungen reproduzierbar seien. Außer diesen kinästhetischen Vorstellungen erwerben wir aber auch die mit ihnen sich assoziierenden optischen Bewegungsvorstellungen, die Vorstellungen von den Namen dieser Bewegungen und die von der Wirkung, dem Ziel solcher Bewegungen. Alle diese Bilder sind miteinander assoziativ verbunden. Soll nun eine eingeübte Bewegung ausgeführt werden, so empfiehlt es sich, nur das Endziel im Auge zu haben: der geschickte Tennisspieler denkt nicht an den Schlag, den er demnächst ausführen will, sondern an die Stelle, wohin er den aufgefangenen Ball senden muß. Die an die Vorstellung von dem Endziel gebundenen weiteren Vorstellungen sind gut assoziiert und werden sich ganz von selbst der Reihe nach einfinden; eine besondere Aufmerksamkeitsrichtung auf sie könnte den Ablauf ebenso stören, wie es das Aufsagen eines gut erlernten Gedichtes stört, wenn man auf die Einzelheiten der Worte achtet. Dennoch sind die optischen und kinästhetischen Vorstellungen, die sich an die Zielvorstellung anreihen, nicht überflüssig. Denn wird die beabsichtigte Bewegung ein wenig gestört, so kann sich die Aufmerksamkeit ihnen zuwenden und die richtige Weiterführung der Bewegung vermitteln. Vielleicht beruht aber die Hauptbedeutung, namentlich der kinästhetischen Vorstellung, in folgendem. Besitzen wir von irgendeiner Erscheinung geläufige Vorstellungen, so werden diese ins Bewußtsein gerufen, sobald sich jene Erscheinung aufs neue zeigt. Damit ist die Möglichkeit geboten, die wiederholte Erscheinung mit der Vorstellung von ihr zu vergleichen, oder wenigstens ein Abweichen beider als etwas irgendwie Befremdliches zu[S. 241] verspüren. Durch diese Differenzen, die wir gar nicht als solche zu erkennen brauchen, werden wir also auf die Einzelheiten der Bewegung aufmerksam gemacht, sobald sich ihre Ausführung von ihrer Vorlage entfernt, und können somit durch Hinwendung unserer Aufmerksamkeit eine Entgleisung verhüten. Nach dieser Auffassung dienen sonach die kinästhetischen Vorstellungen der feinsten, die optischen der gröberen Korrektur der jeweils vollzogenen Bewegungen.

Das wird bestätigt durch einige Beobachtungen aus der Pathologie. Sind die Lageempfindungen gestört, so können bisweilen die Kranken das betreffende Glied nicht bewegen. Ein solcher Kranker läßt z. B. Gegenstände, die er in der Hand hat, fallen, sobald er nicht auf seinen Arm schaut. Offenbar können die kinästhetischen Vorstellungen, die zur entsprechenden motorischen Erregung hinleiten, auf doppeltem Wege geweckt werden: durch die kinästhetischen Empfindungen und durch die optischen Vorstellungen. Wären aber die kinästhetischen Vorstellungen überflüssig und könnte die motorische Erregung ebenso leicht durch die optischen Vorstellungen ausgelöst werden, so verstünde man nicht, wie bei der Ataxie der Ausfall oder die Störung der kinästhetischen Empfindungen die wohlbekannte Bewegung so sehr beeinträchtigen könnte. Für die Auslösung der Bewegung wären sie ja überflüssig. Sie könnten also nur noch der feineren Kontrolle dienen. Dann müßte aber das optische Bild der Bewegung mit dem durch die jeweiligen Lageempfindungen erzeugten kinästhetischen verglichen werden, ein Vorgang, der weder durch die Selbstbeobachtung bekundet wird, noch der sonst herrschenden Zweckmäßigkeit des psychischen Lebens entspricht. Gegen die kinästhetischen Vorstellungen darf man auch nicht geltend machen, sie ließen sich nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Neuere Beobachtungen haben uns Vorstellungen kennen gelehrt, die sich nur wenig über die Bewußtseinsschwelle erheben und nur unter ganz besonderen Verhältnissen überhaupt zu entdecken sind. Vermutlich gehören die kinästhetischen Vorstellungen zu ihnen: man wird „den Faden finden“ müssen, um sie überhaupt ans Licht zu ziehen, ähnlich wie man oft die Worte eines Liedes nur von der Melodie aus reproduzieren kann.

Literatur

H. Liepmann, Die Störungen des Handelns bei Gehirnkranken. 1905.

J. Lindworsky, Der Wille. 3. Aufl. 1923.

2. Die innere Willenshandlung
a) Die Aufmerksamkeitsbewegung

Die Lehre von der Aufmerksamkeit ist trotz zahlreicher Untersuchungen immer noch eines der unbefriedigendsten[S. 242] Kapitel der experimentellen Psychologie. Wenn wir sie bei der Psychologie der Willenshandlung unterbringen, so glauben wir nicht, daß jede Aufmerksamkeitserscheinung als innere Willenshandlung aufzufassen sei, wir hoffen aber von hier aus einen sicheren Zugang zum Verständnis aller Aufmerksamkeitserlebnisse zu gewinnen, da sich die wichtigsten von ihnen nur als Willensäußerungen erklären lassen.

1) Begriff und Arten der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit spielt eine so große Rolle im täglichen Leben, daß jedermann einen hinreichenden Begriff von ihr besitzt. Die Inhalte, die wir mit Aufmerksamkeit bedenken, werden der Mittelpunkt unseres Bewußtseinslebens. Ihr Gegenteil, die Zerstreutheit, läßt keine innere Sammlung, kein Verharren bei dem nämlichen Gegenstand aufkommen. Sie ist mit der berühmten Zerstreutheit des Gelehrten nicht zu verwechseln, die in Wahrheit ein sehr hoher Grad der Aufmerksamkeit zu sein pflegt, sich aber nicht auf jene Dinge richtet, mit denen es der „Zerstreute“ gerade äußerlich zu tun hat. — Hinsichtlich des Gegenstandes, dem sich die Aufmerksamkeit zuwendet, unterscheidet man die sinnliche von der geistigen Aufmerksamkeit, eine Unterscheidung, die in anderem Zusammenhang auch auf die sinnliche oder die geistige Erkenntnisfähigkeit bezogen wird, die aufmerksam ist. Weit geläufiger und bedeutsamer ist die Unterscheidung einer willkürlichen und einer unwillkürlichen Aufmerksamkeit. Die willkürliche wird bisweilen auch der aktiven, die unwillkürliche der passiven Aufmerksamkeit gleichgesetzt, womit allerdings der Theorie schon namhaft vorgegriffen ist.

Es wird die Untersuchung wesentlich erleichtern, wenn wir von vornherein Wesen, Hilfsmittel, Folgen und Begleiterscheinungen der Aufmerksamkeit unterscheiden. Das Wesentliche der Aufmerksamkeit sieht schon der vorwissenschaftliche Sprachgebrauch in einem gewissen willkürlichen oder unwillkürlichen Verhalten des Individuums. Als Hilfsmittel können mancherlei Einstellungs- und Anpassungsbewegungen der Sinnesorgane gelten, so oft es sich um die aufmerksame sinnliche Wahrnehmung handelt. Diese Hilfsmittel werden teils willkürlich angewandt, teils treten sie durch angeborene Reflexe ins Spiel. Die Verwendung dieser Hilfsmittel erlaubt noch[S. 243] keinen Schluß auf das Bestehen der Aufmerksamkeit; denn man kann willkürlich seine Aufmerksamkeit einem ganz anderen Gegenstande zuwenden als dem, auf welchen man die Sinnesorgane einstellt, und anderseits erscheinen schon beim Neugeborenen und beim jungen Tiere Reflexbewegungen, die zwar der Aufmerksamkeit dienen können, ihr Vorhandensein indes nicht wahrscheinlich machen. Dasselbe gilt von den wohl angeborenen Hemmungsmechanismen: das schreiende Kind kommt plötzlich zur Ruhe, wenn ein starker Licht-, Schall- oder Druckreiz unvermittelt einsetzt: der starke Reiz unterbricht da die begonnene Tätigkeit und verhindert andere Reize bis zum Bewußtsein vorzudringen. Als Folge der Aufmerksamkeit gilt gewöhnlich die größere Intensität oder auch die größere Klarheit eines mit Aufmerksamkeit bedachten Bewußtseinsinhaltes. Beides kann aber auch durch andere Umstände wie die größere Intensität des Reizes bedingt sein. Man wird darum die Klarheit und die Intensität der Bewußtseinsinhalte nicht einfachhin dem Aufmerksamkeitszustande gleichsetzen dürfen. Kann es doch auch geschehen, daß die beachteten Inhalte trotz der größten Aufmerksamkeit nicht zu nennenswerter Klarheit und Deutlichkeit zu erheben sind. Endlich darf man die Begleiterscheinungen der Aufmerksamkeit, wie das Stirnrunzeln oder andere Muskelspannungen oder auch die bei der Aufmerksamkeit häufig zu beobachtenden Puls- und Atmungserscheinungen (der Atem wird schneller und oberflächlicher; das Blut drängt zum Gehirn) nicht mit dem Aufmerksamkeitszustand selbst verwechseln. Es herrscht nicht einmal eine eindeutige Zuordnung beider Dinge. Im Gegenteil können die körperlichen Begleiterscheinungen der Aufmerksamkeit oftmals hemmend im Wege stehen.

2) Eigenschaften der Aufmerksamkeit. Sie lassen sich nach den Gesichtspunkten der Extensität, der Intensität und der zeitlichen Verhältnisse betrachten.

Unser Bewußtsein enthält stets eine Menge von Einzelinhalten, doch nicht alle von ihnen sind gleichzeitig Gegenstand der Aufmerksamkeit. Es scheint sogar, daß immer nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bewußtseinsinhalte aufmerksam beachtet werden kann. (Die Enge des Bewußtseins.) Dieser Umfang der Aufmerksamkeit ist nicht bei allen Menschen und wohl auch nicht bei demselben Individuum zu allen Zeiten gleich groß. Manche Hysterische sind zu keiner weiteren Wahrnehmung mehr fähig, wenn man mit ihnen spricht. Es wurden die verschiedensten Versuche angestellt, um den Umfang der Aufmerksamkeit zu messen. Ein absolutes Maß läßt sich jedoch hier niemals gewinnen.[S. 244] Ein relatives Maß erhält man, indem man der Vp eine Aufgabe stellt, die sie nur bei aufmerksamer Beachtung der Reize lösen kann, und die in einer so kurzen Zeit zu erledigen ist, daß Aufmerksamkeitswanderungen ausgeschlossen sind. Ist dann die Leistung an sich den verschiedenen Vpn gleich geläufig, so läßt der verschiedene Umfang der Leistung einen verschiedenen Umfang der Aufmerksamkeit erkennen. So vermag der Erwachsene bei tachistoskopischer Darbietung 4–6 unverbundene Buchstaben oder Striche deutlich zu erkennen, während ein Kind von zwölf Jahren nur 3–4 auffassen kann. Werden dagegen mehrere Teilinhalte zu Einheiten verbunden, so kann eine unvergleichlich größere Menge von Teilinhalten beachtet werden; man denke an die Fülle der Eindrücke, die bei einer Orchestermusik gleichzeitig mit Aufmerksamkeit bedacht werden.

Als zweite Eigenschaft der Aufmerksamkeit kommt ihre Intensität in Betracht. Nach allgemeiner Auffassung steht der Umfang der Aufmerksamkeit in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Intensität. Das bestätigen im großen und ganzen auch die Experimente, solange wenigstens unter der Aufmerksamkeit nichts anderes verstanden wird als die Hinwendung zum Bewußtseinsinhalt. Sobald aber außer der schlichten Hinwendung auch noch besondere Auffassungsprozesse in das Aufmerksamkeitserlebnis mithineinbezogen werden, dürfte jenes Reziprozitätsverhältnis nicht mehr gelten. Die Intensität oder die Konzentration der Aufmerksamkeit kann nun eine verschieden hohe sein, doch ist es nicht leicht, ein brauchbares Maß hierfür zu finden.

Die Aufmerksamkeitskonzentration läßt sich am wenigsten an den begleitenden Spannungsempfindungen und anderen Ausdrucksbewegungen zuverlässig beurteilen. Sie bringen ja sehr oft störende Inhalte ins Bewußtsein. Einwandfreier geben unter sonst gleichen Umständen die erzielten Klarheitsgrade Auskunft über die Intensität der Aufmerksamkeit, durch die sie erreicht wurden. Indes bleibt man hierbei auf die subjektive Schätzung angewiesen. Man suchte darum in dem objektiven Ausfall einer Aufmerksamkeit erfordernden Leistung einen indirekten, aber zahlenmäßigen Ausdruck zu gewinnen. Oder man führte Schwellenbestimmungen aus, während die Vp sich aufmerksam mit[S. 245] einer andern Arbeit beschäftigte: je größer die Konzentration war, um so größer fiel auch der Schwellenwert aus. Endlich hoffte man durch Störungsversuche die Aufmerksamkeitsintensität messen zu können: je größer die Konzentration sei, um so größer müßte auch der Störungsreiz ausfallen, bei dem die Ablenkung zuerst gelang. Da zeigte sich nun, daß längst nicht jede Störung eine Verschlechterung der Leistung bedeutet. Oft gewöhnt man sich an den Störungsreiz, oder er wird sogar der Antrieb zu größerer Hingabe an die Arbeit, so daß diese im Gegenteil verbessert wird. Nur gegen unregelmäßige Störungsreize und solche, die an sich schon das Interesse der Vp wecken, kann man sich schwer wehren. Übrigens fragt es sich noch, ob die Ablenkbarkeit wirklich immer im umgekehrten Verhältnis zur Intensität der Aufmerksamkeit steht. Es wäre ja möglich, daß jemand sowohl einer hohen Aufmerksamkeitsintensität wie einer großen Ablenkbarkeit fähig wäre.

Die Ablenkbarkeit führt uns zu den Eigenschaften der Aufmerksamkeit, die der zeitlichen Ordnung angehören: der Konstanz der Aufmerksamkeit, der Schnelligkeit der Aufmerksamkeitswanderung bzw. Aufmerksamkeitsanpassung, und der Aufmerksamkeitsschwankung. Ist die Aufgabe gestellt, bei dem einmal gegebenen Bewußtseinsinhalt zu verharren, so machen sich die Aufmerksamkeitsschwankungen bemerklich. Sie zeigen sich hinsichtlich des Umfanges, hinsichtlich des Gegenstandes, der im Blickpunkt der Aufmerksamkeit steht, und hinsichtlich der Klarheit des fixierten Objektes. Beachtet man sehr schwache Empfindungen, so verschwinden diese in gleichmäßigen Zeitabschnitten, so das Ticken der Taschenuhr bei größerem Abstand vom Ohr. Es ist noch umstritten, ob diese Schwankungen vorwiegend zentraler oder peripherer Natur sind; vielleicht beruhen sie auf der periodisch schwankenden Blutzufuhr nach dem Gehirn. Es ist aber auch nicht möglich, bei demselben Gegenstand unbegrenzt lang mit der Aufmerksamkeit zu verharren. Diese Schwankungen werden teils durch die Ermüdung, teils durch die Interesselosigkeit bedingt. Kinder, Kranke und Geschwächte können nur schwer bei demselben Objekt länger verweilen, zweifellos wegen der Schwäche des psychophysischen Apparates. Gesunden hingegen wird es schwer, demselben einfachen Sinnesinhalte, etwa einer Farbe, längere Zeit ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Daß sie von einer solchen Betrachtung nicht eigentlich ermüdet sind, geht aus der Leistungsfähigkeit hervor, die sie unmittelbar darnach beweisen können. Offenbar übten andere Gegenstände, die sich inzwischen der Wahrnehmung oder der Vorstellung anboten, eine größere Anziehungskraft aus. Dementsprechend gelingt es, denselben Gegenstand um so länger zu beachten, je mehr Teilinhalte er bietet, oder je mehr auf ihn bezügliche Vorstellungen er ins Bewußtsein ruft. Hauptsächlich aus dem letzteren Grunde und nicht so sehr wegen der nervösen Ermüdung können sich Kinder weniger lang mit der Betrachtung eines Bildes[S. 246] beschäftigen als Erwachsene. Handelt es sich aber darum, einem neuen Gegenstande die Aufmerksamkeit zuzuwenden, so erheben sich vor allem zwei Fragen: Wie schnell kann überhaupt die Aufmerksamkeit wandern? Und: Gelingt es allen Menschen gleich schnell, sich auf die Beachtung eines neuen Objektes einzustellen?

Früher setzte man die Geschwindigkeit des Aufmerksamkeitsschrittes sehr hoch an; genauere Versuche ergaben indes, daß er nicht kürzer als eine Drittel Sekunde ist. Die Adaptationsfähigkeit der Aufmerksamkeit kann man feststellen, indem man sonst gleich guten Lernern einen schwierigen Memorierstoff vorlegt und zusieht, wieviel bei den ersten Wiederholungen haften bleibt: Individuen mit guter Anpassung der Aufmerksamkeit werden mehr behalten als solche mit geringer Einstellungsfähigkeit. Es wird sich hierbei wohl in erster Linie um assoziative Faktoren handeln: je rascher die Vorstellungskomplexe bereitgestellt sind, die zur rechten Auffassung und zum Überschauen des Lernstoffes benötigt werden, um so eher wird das Subjekt auf den neuen Stoff eingestellt sein.

3) Die Bedingungen der Aufmerksamkeit. Die eine wesentliche Bedingung der willkürlichen Aufmerksamkeit ist der Entschluß, auf einen Gegenstand zu achten. Wie dieser Entschluß verwirklicht werden kann, wird später zu untersuchen sein. Was immer dann Bedingung der unwillkürlichen Aufmerksamkeit ist, kann auch die Erreichung der willkürlichen fördern. Mehr disponierend und die Aufmerksamkeit nur begünstigend sind die physiologischen Faktoren wie Frische oder Erregtheit durch Reizmittel wie Tee. Auch die krankhafte Erregbarkeit der Nerven kann die Aufmerksamkeit fördern. Man nennt sodann die Intensität und die Wiederholung der Reize als Bedingungen der Aufmerksamkeit. Allein es ist zu beachten, daß beide rein psychophysisch und ohne Vermittlung der Aufmerksamkeit eine größere Intensität des psychischen Eindruckes bewirken können: der starke und der wiederholte Reiz setzt sich besser durch. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß Intensität und Wiederholung eines Reizes gelegentlich auch die Aufmerksamkeit fesseln. Allerdings herrscht da kein einfaches Abhängigkeitsverhältnis: nicht immer erregen diese Faktoren die Aufmerksamkeit. Ein Lehrer, der nur mit stärkster Stimme seine Schüler anzureden pflegt, der immer dieselben Schreckmittel wiederholt, findet[S. 247] schließlich keine Beachtung mehr. Ein ähnlicher Gegensatz besteht zwischen Neuheit und Vertrautheit des Reizes, zwischen dem Fehlen anderweitiger Vorstellungen und ihrem Gegebensein. Beides kann, je nach den Umständen, sowohl die Aufmerksamkeit herausfordern, als auch sie unberührt lassen, und so scheint die Aufmerksamkeit jeder Regel zu spotten. Gleichwohl dürfte folgende Überlegung eine klare Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. Es gibt nur eine Bedingung für die Erregung der unwillkürlichen Aufmerksamkeit: die Bedeutsamkeit des wahrgenommenen Gegenstandes. Alle anderen Faktoren sind entweder nur disponierend oder haben rein psychophysisch die gleiche Wirkung wie die Aufmerksamkeit, nämlich die Verstärkung des Eindruckes. Manche der letzteren können nun, abgesehen von dieser psychophysischen Wirkung, unter gewissen Umständen dem Wahrnehmungsgegenstand eine Bedeutsamkeit verleihen: so ist im allgemeinen ein stärkerer Eindruck bedeutsamer als ein schwacher. Haben wir aber einmal die Unbedeutsamkeit eines Dinges trotz seiner Auffälligkeit erkannt, so wird zwar die psychophysische Wirkung noch eintreten, aber das Bewußtsein verschafft sich durch Nichtbeachtung gewissermaßen ein Ventil. So versteht man, wie die entgegengesetzten Bedingungen die gleiche Wirkung haben können: ein sehr leise ausgesprochenes Wort kann in demselben Maße die Aufmerksamkeit erregen wie ein sehr laut gesprochenes. Und damit werden wir darauf hingewiesen, daß wir das innerste Wesen der Aufmerksamkeit nicht im Bereiche der physiologischen Wirkursachen, sondern in dem der Bedeutungen zu suchen haben.

4) Die Wirkungen der Aufmerksamkeit. Nach zuverlässigen experimentellen Beobachtungen werden schwache Empfindungen durch die Aufmerksamkeit verstärkt. Damit ist noch nicht gesagt, daß auch starke merklich gesteigert werden müßten. Denn bestünde die Funktion der Aufmerksamkeit darin, die vorhandene psychophysische Energie auf die beachteten Inhalte zu konzentrieren, so könnte dadurch den Empfindungen nur ein beschränkter Zuwachs verliehen werden, der bei höheren Intensitätsstufen der Empfindungen unbeachtet bleiben müßte. Sodann beschleunigt die Aufmerksamkeit den Empfindungsprozeß, sie bahnt gewissermaßen den Reizen einen Weg. Denn läßt[S. 248] man einem von zwei gleichzeitig auftretenden Reizen, etwa einem optischen und einem akustischen, die besondere Aufmerksamkeit zuwenden, so tritt immer der jeweils beachtete zuerst ins Bewußtsein (Komplikationsversuche S. 129). Fernerhin wird die Stiftung von Assoziationen sowie die Reproduktion der Vorstellungen durch die Aufmerksamkeit begünstigt. Nur die Gefühle scheinen durch sie nicht gefördert, sondern eher zerstört zu werden. Ein Affekt, den man analysieren will, verschwindet. Das kann nach unserer Auffassung der Gefühle, auch der höheren, nicht befremden. Wäre das Gefühl ein selbständiger Bewußtseinsvorgang, eine selbstherrliche Reaktion der Seele auf einen Eindruck, dann verstünde man freilich nicht, warum es nicht willkürlich aufrechterhalten werden könnte, trotz der darauf gerichteten Aufmerksamkeit. Wir faßten aber die Gefühle als den Bewußtseinsreflex bestimmter Funktionsweisen der Vorstellungen auf. Ein Gefühl kann es somit nur dann geben, wenn eine Vorstellung bewußt ist. Richtet sich darum die Aufmerksamkeit auf das Gefühl, so muß naturnotwendig die Vorstellung und damit auch das durch sie bedingte Gefühl aus dem Bewußtsein schwinden.

5) Die Theorie der Aufmerksamkeit. Die meisten der heutigen Aufmerksamkeitstheorien setzen sich zur Aufgabe, zu erklären, wie die Aufmerksamkeit einen Bewußtseinsinhalt zu größerer Klarheit erheben kann. Dagegen achten sie weniger auf eine befriedigende Einordnung des Erlebnisses in die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge und auf eine einleuchtende Gruppierung und Deutung der Aufmerksamkeitsstörungen. Nach einem Überblick über die wichtigsten Aufmerksamkeitstheorien werden wir versuchen, auch diese Aufgaben zu lösen.

a) Die bisherigen Theorien. Dürr unterscheidet recht übersichtlich Hemmungs-, Unterstützungs- und Bahnungstheorien. Nach der Hemmungstheorie werden alle Inhalte außer dem beachteten gehemmt. Wundt weist diese Hemmungsaufgabe dem in dem Stirnhirn lokalisierten Apperzeptionszentrum zu. Nun gibt es freilich eine wechselseitige Hemmung von Bewußtseinsinhalten (vgl. S. 171 f.), allein man sieht nicht recht ein, warum nun gerade diese und nicht andere oder gar alle Vorstellungen in gleicher Weise gehemmt werden. Auch die Einführung des hypothetischen Apperzeptionszentrums gewährt keine größere Klarheit. Die ganze Theorie erscheint nur als eine wenig glückliche Umschreibung der Tatsachen. — Von den Unterstützungstheorien bedarf die Machs, wonach die Aufmerksamkeit nichts weiter ist als die Einstellung der Sinnesorgane, keine Widerlegung. Ribot bildete eine motorische Theorie aus: Die körperlichen[S. 249] Begleiterscheinungen der Aufmerksamkeit sind mehr als bloße Zugaben, sie sind das Wesentliche der Aufmerksamkeit. Denn sie senden Bewegungsempfindungen ins Bewußtsein und steigern so die bewußten Zustände. Unterdrückt man alle diese begleitenden Bewegungen, so beseitigt man die Aufmerksamkeit selbst. Allein man versteht nicht, wie ein Bewußtseinsinhalt durch Hinzufügung ganz verschiedenartiger Inhalte verstärkt werden kann. Die Erfahrung beweist das Gegenteil, wenn man von einzelnen Grenzfällen absieht, wo gleichzeitige Empfindungen eine gewisse Anregung zu geben scheinen. Verständlicher ist die zentrosensorische Theorie von G. E. Müller. Beim Aufmerken auf einen Inhalt führt man jenen Zustand herbei, den das Bewußtsein hatte, als es früher jenen Inhalt erlebte. Dadurch vereinigt sich die aus dem gegenwärtigen Reiz stammende Erregung mit der aus der Vorstellung herrührenden, und die Intensität des Eindruckes wächst. Damit ist zweifellos auf ein Hilfsmittel hingewiesen, das der willkürlichen Aufmerksamkeit zu Gebote steht, namentlich wenn sie sich auf sinnliche und anschauliche Objekte richtet. Es versagt aber in vielen Fällen der unwillkürlichen Aufmerksamkeit und macht uns das charakteristische Verhalten bei der Aufmerksamkeit nicht verständlich. — Die Bahnungstheorie (Ebbinghaus, Dürr) läßt durch wiederholte Erregung derselben Gehirnpartien die Bahnen des Reizes immer geläufiger werden, so daß die Erregung sich immer weniger seitlich verliert und ganz in der Hauptbahn verbleibt, wodurch der seelische Eindruck immer klarer wird. Damit wird aber die Aufmerksamkeit in eine Abhängigkeit von der Übung gebracht, die durch die Tatsachen nicht gerechtfertigt wird. Wir können auch ungewohnten und schwächsten Eindrücken unsere Aufmerksamkeit zuwenden und sie dadurch zu größerer Klarheit erheben.

b) Die genetische Aufmerksamkeitstheorie. Wir machen den Versuch, außer den Wirkungen der Aufmerksamkeit auch das dieser eigentümliche Verhalten zu verstehen. Gibt es ein erlernbares Aufmerksamkeitsverhalten, dann bereitet die Erklärung der willkürlichen Aufmerksamkeit keine besonderen Schwierigkeiten. Sie ist dann eben das gewollte Aufmerksamkeitsverhalten. Das ganze Problem wird deshalb auf die unwillkürliche Aufmerksamkeit zurückgeschoben. Versuchen wir nun zunächst einmal, die Aufmerksamkeit als einen eigenartigen seelischen Vorgang überhaupt entbehrlich zu machen, indem wir sie mit dem spontanen Wollen identifizieren: die Seele gewahrt einen Wert und will ihn. Von diesem Wollen mußten wir oben hypothetisch behaupten, es steigere die Intensität eines[S. 250] Bewußtseinsinhaltes. Dazu berechtigte uns erstens die von den besten Beobachtern festgestellte Tatsache, daß es ein willkürliches Steigern dieser Art gibt, wobei wir es dahingestellt sein ließen, ob es auf Rechnung der Willenstätigkeit selbst oder der von ihr abhängigen Aufmerksamkeit zu schreiben sei. Wir wurden zu dieser Annahme sodann zweitens genötigt, weil nur so dem beobachteten Wollenserlebnis eine gebührende Stelle eingeräumt und dem Sinn und der Bedeutung eine entsprechende Rolle in unserem Leben zugewiesen werden konnte. Es standen dieser Annahme auch keine metaphysischen Schwierigkeiten, etwa aus der Vermehrung der Energie, im Wege; denn es genügt, daß durch diesen Eingriff des Willens die vorhandene psychophysische Energie nur in ihrer Bewegungsrichtung beeinflußt werde. Will also die Seele einen ihr erscheinenden Wert, so wird diese Vorstellung gefördert und nimmt darum auch an Klarheit zu. Damit dürfte aber auch das gegeben sein, was man bildlich als eine Hinwendung der Seele zu einem Inhalt bezeichnet. Es wird nämlich auf dasselbe hinauskommen, ob die Seele sich einem Inhalte eigens zuwendet, oder ob sie ihn wollend klarer werden läßt. Der Sprachgebrauch also, der ein Hinwenden der Aufmerksamkeit kennt, brauchte uns nicht irre zu machen. Kommen wir aber im übrigen mit dem Wollen allein aus? Wenn Aufmerken nichts anderes ist als einfaches Wollen, dann ist ein willkürliches Aufmerken, das nicht zugleich ein Wollen des beachteten Gegenstandes ist, unmöglich. Allein wir können unsere Aufmerksamkeit willkürlich Dingen schenken, die wir ganz und gar nicht wollen. Es kann somit das Aufmerken nicht einfachhin mit dem Wollen identisch sein.

Wir dürften nun auf das Rechte stoßen, wenn wir einen von der neueren experimentellen Forschung aufgezeigten allgemeinen Zug des Seelenlebens berücksichtigen. Fast überall läßt sich in unserem Bewußtsein Inhalt und Form auseinanderhalten, und sehr häufig läßt sich die Form für sich ohne den Inhalt seelisch verwirklichen. Und so will es uns scheinen, das Kind kenne ursprünglich, von angeborenen Reflexbewegungen abgesehen, kein Aufmerksamkeitsverhalten,[S. 251] weder ein willkürliches noch ein unwillkürliches, sondern nur ein triebhaftes Wollen. Mit diesem Wollen verwirklicht es aber jedesmal eine bestimmte Haltung der Seele, eben jenes Hingegebensein an einen Gegenstand, das tatsächlich für das Erfassen des Gegenstandes am vorteilhaftesten ist. So lernt es durch seine Willensakte diese Haltung kennen. Sie läßt sich nun, wie so manche andere Bewußtseinsform, für sich erzeugen, und das Kind wird sie darum später auch willkürlich einnehmen, sobald sie ihm zu einem erstrebenswerten Willensziel geworden ist. Wir unterscheiden also bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit deren Wirkung: das Klarerwerden des beachteten Inhaltes, das durch jenes seelische Verhalten bedingt wird, und das Aufmerksamkeitsverhalten selbst. Das nur äußerliche Aufmerksamkeitsverhalten besteht in den angeborenen und den angelernten, der inneren Aufmerksamkeit dienenden Bewegungen. Das innere und eigentliche Aufmerksamkeitsverhalten besteht in der genannten seelischen Haltung, die anfänglich mit dem triebhaften Streben zu einem ungeteilten Akte verschmolzen ist, später für sich allein willkürlich herbeigeführt wird. Im letzteren Falle ist sie in der Regel nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Ziel. Die Aufmerksamkeitshaltung ist somit ein aktiver Vorgang wie der Willensakt. Zwar redet man bisweilen von passiver Aufmerksamkeit, von einem Hingerissenwerden, allein genau besehen liegt hier doch immer ein triebhafter Willensakt vor. Die Aufmerksamkeitshaltung braucht darum in solchen Fällen nicht eigens hervorgebracht zu werden, da sie in dem Willensakt schon verwirklicht ist, und so entsteht der charakteristische Unterschied zwischen willkürlicher oder aktiver und unwillkürlicher oder passiver Aufmerksamkeit.

Die Verbindung der inneren Aufmerksamkeit mit den äußeren Aufmerksamkeitsbewegungen oder auch mit jenen inneren Hilfsmitteln, die von den bisherigen Theorien mit Recht genannt wurden, bedarf keiner besonderen Erörterung. Nur auf das Apperzeptionsproblem sei noch hingewiesen, da es mit dem der Aufmerksamkeit in engem Zusammenhange steht. Namentlich Herbart betonte die Apperzeption der Eindrücke durch die bereitstehenden Vorstellungsmassen: der Mathematiker versteht das Wort „Wurzel“[S. 252] anders als der Botaniker. H. Münsterberg zeigte, wie man sogar den Sinneseindruck beeinflussen könne, je nachdem man eine andere Vorstellungskonstellation erzeugt. Hat man einer Vp das Wort „Kummer“ zugerufen, so wird sie das tachistoskopisch dargebotene Wort „Triest“ leicht als Trost lesen. Neben dieser anschaulichen Apperzeption gibt es auch eine solche des Denkens. Legt man einer Vp statt einer Vorstellung einen Gesichtspunkt, also eine Relation nahe, so wird sie die ins Bewußtsein tretenden Inhalte zumeist unter diesem Gesichtspunkt auffassen und darum mehr an ihnen bemerken, als ohne diesen Gesichtspunkt. So läßt sich etwa das Verhältnis zur sittlichen Ordnung, zum guten Geschmack, zur Nützlichkeit als leitender Gesichtspunkt einfügen, und der Erlebende wird seine Eindrücke sehr oft um die jenen Gesichtspunkten entsprechenden Beziehungserfassungen bereichern. Diese Erhöhung der Leistung darf also nicht der Aufmerksamkeit als solcher zugeschrieben werden, wie es bisweilen geschieht. Denn wenn auch diese gedankliche Apperzeption bei den beachteten Inhalten häufiger sein wird als bei den nichtbeachteten, so hat doch die Apperzeption in dem üblichen Sinne nichts mit Aufmerksamkeit zu tun. Nur Wundt gebraucht die Ausdrücke „apperzipieren“ und „in den Blickpunkt des Bewußtseins rücken“ als gleichbedeutend.

6) Störungen der Aufmerksamkeit. Von dem soeben gewonnenen theoretischen Standpunkt aus wird sich auch ein einigermaßen befriedigender Überblick über die Störungen der Aufmerksamkeit geben lassen. Wir sehen in der Aufmerksamkeit eine seelische Haltung, die in bewußter oder unbewußter Abhängigkeit vom Willen eingenommen wird. Diese Haltung hat sodann eine Lenkung der psychophysischen Energie zur Folge. Damit sind die Angriffspunkte für mögliche Schädigungen genannt. Sie befinden sich teils bei den den Willen beeinflussenden Motiven, teils bei den nervösen Elementen, auf die sich die Einwirkung der Haltung erstreckt. Wir haben aber keinen Anlaß, sie beim Willensakt oder bei der Aufmerksamkeitshaltung selbst zu suchen. Die willkürliche Aufmerksamkeit wird gestört oder unmöglich gemacht, sobald das Individuum nicht über ausreichende Motive verfügt, um die Aufmerksamkeitshaltung ihrer selbst willen oder als Mittel zu einem fernerliegenden Ziele einzunehmen. So bei Kindern, vorausgesetzt, daß sie die Aufmerksamkeitshaltung überhaupt schon erlernt haben, und bei kindisch Gewordenen. Diesem Mangel läßt sich ein Übermaß zur Seite stellen, wenn etwa eine Phobie oder ein Verfolgungswahn zu unablässiger Wachsamkeit treibt. Doch wird dieses Übermaß nicht so sehr als Fehler der Aufmerksamkeit gelten wie der zuerst erwähnte Mangel. Deutlicher wird das Zuviel und das Zuwenig bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit. Es handelt sich dabei stets, wie wir sahen, um ein triebartiges Wollen. Der Mangel an überragenden Werten bedingt die Unrast und Unstetigkeit der Kinder und der Idioten. Abnorm hohe Werte führen zu den bei fixen Ideen[S. 253] beobachteten Aufmerksamkeitsstörungen. Die willkürliche wie die unwillkürliche Aufmerksamkeit kann nun durch Mängel des nervösen Apparates beeinträchtigt werden. Eine allgemeine Verminderung der psychophysischen Energie, wie sie bei Erschöpften und Kindern wahrscheinlich ist, könnte die Aufmerksamkeitsleistung in jeder Hinsicht herabdrücken. Namentlich dürfte der Aufmerksamkeitsumfang darunter leiden. Sodann pflegt sich die nervöse Ermüdung bei der Perseveration wie bei der Reproduktion zu zeigen. Der Mangel an Perseveration zerreißt die Kontinuität des Bewußtseins und muß darum die Konstanz der Aufmerksamkeit erschweren. Die einseitig gesteigerte Perseveration hingegen erschwert den für das normale Geistesleben erforderlichen Fluß der Aufmerksamkeit. Die Reproduktionshemmung ferner erlaubt nicht, daß sich hinreichend schnell und leicht solche Vorstellungen einfinden, die mit der beachteten in einem Bedeutungszusammenhang stehen. Der Erlebende sieht sich darum ganz dem Zwange der Assoziationen preisgegeben; er „kann seine Gedanken nicht zusammenhalten“ und muß in der Richtung des geringsten Widerstandes nachgeben. Eine abnorme Steigerung der Reproduktion hingegen wird die Aufmerksamkeitsleistung nicht unmittelbar schädigen, sondern sie nur gefährden, und zwar dadurch, daß ihr allzuviele lockende Ziele vorgehalten werden. Sind dann — um Achs prägnanten Ausdruck zu gebrauchen — die determinierenden Tendenzen zu schwach, so kommt es zur Ideenflucht. Auf eine Störung des nervösen Apparates ist es auch zurückzuführen, wenn sich an die Vorstellungen übermäßige Gefühle anschließen. Es treten dann die Anomalien auf, die wir oben aus der Überhöhung der Werte ableiteten, und außerdem ist eine Einengung des Bewußtseins bzw. des Aufmerksamkeitsfeldes zu erwarten, vermutlich darum, weil die in solchen Fällen ohnedies beschränkte psychophysische Energie einseitig der gefühlsbetonten Vorstellung zugewandt wird.

Literatur

E. Dürr, Zur Lehre der Aufmerksamkeit. 1907.

A. Mager, Die Enge des Bewußtseins. 1920.

b) Die Vorstellungsbewegung

Die innere Willenshandlung gliche dem Vogel im Käfig, könnte sie sich nur in der Aufmerksamkeitsbewegung verwirklichen, sie wäre dann stets auf das unmittelbar Gegebene beschränkt. Es ist uns aber ermöglicht, entsprechend unseren Absichten und Willenstrieben in unseren Gedanken und Vorstellungen voranzuschreiten, und zwar sowohl in gebundener wie in freier Vorstellungsbewegung.

[S. 254]

1) Die gebundene Vorstellungsbewegung. Unter einer gebundenen Vorstellungsbewegung verstehen wir die unter der Leitung einer Aufgabe stehenden Gedankengänge. Hier sind namentlich drei Fragen zu beantworten: Woher der Fortschritt? Woher die Zielstrebigkeit? Woher die Grenzen?

Die Ausgangsvorstellung bei der gebundenen Bewegung ist die Aufgabe. Wir haben sie schon oben als antizipierendes Schema aufgefaßt. Mit diesem antizipierenden Schema sind sowohl die Methoden zur Lösung der Aufgabe wie auch jene Vorstellungen assoziiert, die das Material zur Lösung bieten. So verbindet sich mit der Aufgabe, die Jahreszinsen von 1200 Mark zu 4% zu berechnen, die bekannte Methode der Regeldetri, und mit der dabei verwendeten Vorstellungsgruppe 4. 12 ist die Vorstellung 48 zu einem Komplex verbunden. Es fragt sich nun: wie kommt es von dem antizipierenden Schema der Aufgabe zur Reproduktion der zugehörigen Methode? Die Antwort wurde schon bei der Behandlung des produktiven Denkens (S. 191 f.) gegeben: Das antizipierende Schema entfaltet sich nach den Gesetzen der Komplexergänzung, doch unter ganz wesentlichem Einfluß der zielstrebigen Aufmerksamkeit, d. h. also des Willens, der die Richtung der Vorstellungsentfaltung mitbestimmt. (Vgl. S. 229 ff.) Denn nicht alle antizipierenden Schemata sind so eindeutig mit einer erfüllenden Vorstellung verknüpft wie die als Beispiel genannte Rechenaufgabe. Sind mehrere erfüllende Vorstellungen mit demselben antizipierenden Schema verbunden, so entscheidet die zufällige höhere Bereitschaft (Konstellation), welche Komplexergänzung eintritt. Dank der kontrollierenden Relationserfassung wird nun alsbald erkannt, ob die reproduzierte Vorstellung der Lösung der Aufgabe dient, d. h. ob zwischen den Forderungen der Aufgabe und den Eigenschaften des Lösungsvorschlages Gleichheit besteht. Wenn dies nicht zutrifft, müssen Methoden zur Abänderung auftauchen und gewählt werden, oder man beginnt die Aufgabe von neuem. Der Fortschritt in der gebundenen Vorstellungsbewegung kommt sonach von dem Willen zur Lösung, die Zielstrebigkeit von der[S. 255] im Bewußtsein festgehaltenen Absicht, und die Grenze der Vorstellungsreihe wird entweder mit dem die Lösung begleitenden Erfüllungsbewußtsein erreicht oder mit der Einsicht, daß die zur Lösung erforderlichen Vorstellungen versagen, „es fällt einem nichts mehr ein“ oder auch dadurch, daß die Absicht zur Aufgabelösung verlassen wird oder gar dem Bewußtsein entfällt.

Literatur

O. Selz, Die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. 1913.

J. Lindworsky, Das schlußfolgernde Denken, II. Teil, 1916.

O. Selz, Zur Psychologie des produktiven Denkens. 1922.

2) Die freie Vorstellungsbewegung. Die Phantasie.

a) Die Gestaltung der freien Vorstellungsbewegung. Auch wenn wir keine Aufgabe übernommen haben, bleiben wir doch nicht bei ein und derselben Vorstellung stehen. Es wechseln die Bilder und die Gedanken. Wo aber sind die treibenden Kräfte in diesem Wechsel? Wahrscheinlich ist die psychophysische Energie, die einen Teil des zentralen Apparates soweit erregt, daß ein Bewußtseinsvorgang eintritt, sehr labil. Eine leichte Ermüdung, eine Verminderung der Blutzufuhr kann den augenblicklichen Bewußtseinszustand aufhören lassen und einem anderen das Feld frei machen. Wäre dies die einzige Bedingung des Vorstellungswechsels, so müßte sich dieser allein aus dem Assoziationsgesetz verstehen lassen. Wir kennen in der Tat Bewußtseinsvorgänge dieser Art. Es sind das die Vorstellungsreihen Ideenflüchtiger.

Man sieht aber sofort, wie wenig eine solche Vorstellungsbewegung mit der freien Gedankenfolge eines Normalen zu tun hat. Wenn wir uns ohne jede Zielsetzung planlos unseren Gedanken überlassen, ertappen wir uns allerdings auf mancherlei Gedankensprüngen, über die wir uns bisweilen recht belustigen können. Aber gerade dieser Eindruck, den sie auf uns machen, beweist, daß das Sprunghafte, Unzusammenhängende auch bei diesen Träumereien in gewissem Sinne eine Ausnahme bildet. Etwas „Sinn“ steckt immer hinter[S. 256] jenen Bildern; sie dürften sogar der geradeste Zugang zum innersten Wesen eines Menschen sein. Diesen Erscheinungen gegenüber bleibt also zu erklären, wieso bei ihnen ein Gedankenfortschritt zustande kommt, wodurch dessen Richtung bestimmt wird und was die Richtungsstörungen bedingt.

Gehen wir spazieren, so mag eine Zeitlang die äußere Umgebung und ihr Wechsel allein unser Gegenstandsbewußtsein erfüllen. Sehr bald aber wird irgendein Sachverhalt, den wir in der Vorstellung weiter tragen, unser Interesse erregen. Wir wenden uns ihm aufmerkend oder sogar strebend zu, und damit wird er zum Reproduktionsmotiv, das eine neue Vorstellung weckt. Vielleicht bietet auch diese neue Vorstellung Anziehungspunkte und damit die Bedingung zu weiteren Reproduktionen. Das Fortschreiten in den Vorstellungen kommt also von der unwillkürlich erregten Aufmerksamkeit her, und die Triebfeder des Ganzen ist zumeist unreflektiertes Wollen. Da sich nun die Gegenstände des jeweiligen Interesses nach der augenblicklichen Gesamtverfassung richten und diese beim Gesunden nicht allzu sprunghaft wechselt, so wird innerhalb gewisser Grenzen auch eine gewisse Gleichförmigkeit und Einheitlichkeit des Gedankenganges herrschen, ganz abgesehen von der Einheitlichkeit, die oft durch die Entstehungsgeschichte unserer Assoziationen, namentlich der Komplexe, bedingt ist. Bisweilen erhebt sich aber auch das triebhafte Wollen zum überlegten, und wir stellen uns inmitten unserer Träumereien und um ihretwillen Zwischenaufgaben: wir besinnen uns oder stellen uns ein Problem, und so wird der Gedankenzusammenhang auf eine weitere Strecke verbürgt. Da aber jene Interessen in der Regel nicht allzu groß sind, unterliegen sie, sobald sich ein stärkerer Konkurrent erhebt. Das Nichtvorhandensein oder die Geringwertigkeit der Zwischenziele ist auch der Grund, weshalb sich in dem Gesamtverlauf die Spuren der Assoziationen bemerklich machen. Anderseits verrät der aus dem triebhaften Wollen stammende Richtungsfaktor in der Tat, welche Dinge das Interesse des betreffenden Menschen erwecken.

b) Freie Vorstellungsbewegung und Phantasie. Die Volkssprache hat sich des Ausdruckes Phantasie bemächtigt, hat diese „Fähigkeit“ für alles verantwortlich gemacht, was sie mit den populären Begriffen Verstand und Gedächtnis nicht bewältigen konnte und damit diesem Wort einen so mannigfach schillernden Sinn verschafft, daß die wissenschaftliche Psychologie es kaum verwerten kann. Zur Klärung fragen wir zunächst, welche psychischen Erscheinungen auf Rechnung der Phantasie gesetzt werden, sodann, auf[S. 257] welchem Wege man diese Erscheinungen verständlich zu machen sucht, um dann unsere eigene Stellung einzunehmen.

Einer besonderen Phantasiebegabung schreibt man es zu, wenn jemand sehr anschauliche und lebhafte Vorstellungen erzeugen kann. Weiter ist es die „kühne Seglerin Phantasie“, die ihre unerwarteten und jeglicher Regel Hohn sprechenden Fahrten macht. Sodann ist sie die begnadete Schöpferin großer Werke und Erfindungen, namentlich ästhetischer Natur. Bisweilen wird sie einfachhin dem höchsten Denken gleichgesetzt.

Allein von den Leistungen und Eigenschaften, die man der Phantasie zuschreibt, kann nur die relative Ungebundenheit und Regellosigkeit oder auch ihr Spielcharakter allgemeine Bedeutung beanspruchen. Denn die große Lebhaftigkeit der Vorstellungen ist entbehrlich für den mathematischen Denker und den technischen Erfinder, den man gemeinhin auch vorwiegend mit der Phantasie arbeiten läßt. Auch die Schöpferkraft der Phantasie braucht nicht als übermäßig groß angenommen zu werden. Denn auch die bescheidenste Ausmalung eines geträumten Erfolges zählt man schon unter die Phantasieleistungen. Der Vorgang also, der zu erklären bleibt, ist die Erzeugung von Gedanken und Vorstellungskomplexen, die als solche nicht der Erinnerung entnommen, aber auch nicht durch methodische Denkschritte gewonnen sind. Und zwar sind es Vorgänge solcher Art, daß sich bei ihnen gelegentlich lebhafteste Anschaulichkeit und überraschende Produktivität finden kann.

Die Leistungen der Phantasie sucht man bald durch eine besondere Fähigkeit, bald durch eine besondere Funktionsweise der bekannten Fähigkeiten zu erklären. Die allzu starre Auffassung, die man von der „Erinnerungsfähigkeit“ hatte, verlangte eine neue psychische Kraft, um jene Bilder zu verstehen, die keine Erinnerungen waren. Andere begnügten sich mit einer freien Verwendung der aus der Erinnerung stammenden Vorstellungselemente. So glaubte Berkeley, die Erinnerungsvorstellungen zersetzten sich im Laufe der Zeit und würden mit Elementen aus anderen Erinnerungen durchdrungen. Andere sehen das Wesen der Phantasietätigkeit in der Analogiebildung: aus der Vorstellung eines gewöhnlichen Menschen wird das analoge Bild eines Riesen. Andere glaubten mit der Ähnlichkeitsassoziation auszukommen.

[S. 258]

Durchmustern wir nun diese Lösungsversuche. Wir haben die Erinnerung nicht einer geschlossenen Erinnerungsfähigkeit zugeschrieben, sondern erklärten sie aus dem Zusammenwirken der Vorstellungen mit der Beziehungserfassung. Die Vorstellungen sind somit für uns nicht unzertrennlich an die Erinnerung gebunden, wir können sie ebensogut für die Phantasieleistungen heranziehen. Allerdings mit einem bloßen Zerfall der früheren Erinnerungsvorstellungen und deren Durchsetzung mit Elementen aus anderen Erinnerungen lassen sich die Phantasieleistungen nicht verständlich machen. Nicht einmal mit der gewiß des öfteren wirksamen Analogiebildung. Denn der schlichteste Wachtraum ist mehr als eine einfache Umformung alter Vorstellungen und auch mehr als eine einfache Kombination aus ihnen. Noch viel weniger reicht die Ähnlichkeitsassoziation hin, etwa die Phantasielüge eines Kindes zu erklären. Assoziationen allein bringen niemals den bei Phantasiestücken beobachteten Sinn zustande. Aber auch die Gleichsetzung der Phantasie mit dem höchsten produktiven Denken kann nicht befriedigen. Denn einmal kennen wir jetzt die wichtigsten Faktoren und Gesetze des schöpferischen Denkens und wissen, daß sie sich auch in einem ganz nüchternen und methodischen Gedankengang betätigen können, der mit Phantasie durchaus nichts gemein hat. Anderseits ist die höchste Art des produktiven Denkens, wie wir sahen, durchaus kein Wesenszug der Phantasie. Eine neue Auffassung der Phantasieleistung hat J. Segal versucht: Phantasie sei „ein Denken, Fühlen und Wollen in vorgestellten Situationen mit Wirklichkeits- und Gegenwartscharakter“. Eine sehr bestechende Definition. Aber dann „phantasiert“ der Klavierspieler nicht, solange er sich seiner wirklichen Situation bewußt bleibt.

Vielleicht kommen wir zu einem wissenschaftlich brauchbaren Begriff, wenn wir die Phantasietätigkeit als die Ausfüllung eines nicht vollständig spezialisierten antizipierenden Schemas definieren. Diese Definition läßt eine engere und eine weitere Betrachtungsweise zu. Im engeren Sinne würde darunter die anschauliche Ausführung eines einzelnen weniger determinierten Schemas verstanden. Dem Künstler ist z. B. das Thema: „frische Rosen“ gegeben. Dieses Schema ist nach Zahl, Maß, Farbe, Gestalt usw. unbestimmt. Ein nur technisch befähigter Maler könnte es wegen dieser Vagheit nicht aus eigenem ausfüllen. Dem wahrhaft Phantasiebegabten, dem Erfinder (vgl. S. 195 f.) füllt sich das Schema von selbst.

Im weiteren Sinne gestattet unsere Definition die Phantasietätigkeit mit der soeben beschriebenen[S. 259] freien Vorstellungsbewegung zu identifizieren. In der freien Vorstellungsbewegung haben wir einen Komplex scharf umschriebener Bedingungen, die sich sonst nirgendwo so zusammenfinden: die erkennenden Funktionen außerhalb einer straffen Gesamtaufgabe und unter dem Einfluß des triebhaften Wollens und der Assoziationen. Damit ist, wie wir gezeigt haben, der spielhafte, teils ungebundene, teils gebundene Gedankenfortschritt gegeben. Gebunden wird er immer dann, wenn eine Zwischenaufgabe für den Augenblick zum Willensziel wird, doch so, daß der ganze Vorstellungsverlauf nicht in feste Regeln eingeschlossen ist. In der freien Vorstellungsbewegung ist auch Gelegenheit zu Neubildungen. Zum kleineren Teil dürften diese aus den Zufälligkeiten der assoziativ bedingten Reproduktionsvorgänge stammen. Den größeren Teil liefern sicher die Relationserfassungen und die Annahmen. Die letzteren werden als willkürliche Verbindungen beliebiger Gegenstände zum antizipierenden Schema für die Reproduktion anschaulicher Vorstellungen: wie ein gezeichnetes Stickmuster geben sie den Ort im Bewußtsein an, wo sich die anschauliche Begabung des Individuums auswirken kann. Unsere Auffassung läßt also die Anschaulichkeit zu ihrem Rechte kommen. Wir begreifen jetzt aber auch, daß man das produktive Denken in so enge Beziehung zur Phantasie gebracht hat: Wie sich bei den Schlußuntersuchungen herausstellte, stehen uns für das fortschreitende Denken, auch wenn es von einer ganz bestimmten Aufgabe beherrscht wird, nur wenige spezialisierte Methoden zur Verfügung. Darum muß auch das ernste Denken streckenweise phantasiemäßig arbeiten, wie umgekehrt die Phantasie streckenweise aufgabenmäßig vorgeht. Die außergewöhnlichen schöpferischen Leistungen der großen Dichter und Künstler sind zwar der Phantasie nicht wesentlich, gedeihen aber auf dem Boden der von uns genannten Bedingungen, sobald noch die eine oder die andere Sonderbedingung hinzutritt. Große Lebhaftigkeit der Vorstellungen, tiefes Gefühl und Raschheit der Vorstellungsbewegung scheinen die wichtigsten davon zu sein, die bald einzeln, bald zusammen das Phantasieleben des gottbegnadeten[S. 260] Künstlers über das anderer Sterblicher hinausheben. Sehr oft wird diese Begabung noch durch besondere Studien unterstützt. Man erzählt von manchen Dichtern, daß sie schon in früher Jugend sich in der Weltliteratur sehr wohl auskannten, wodurch natürlich ihr Vorstellungsschatz mit einer Unzahl von Motiven, Bildern und Wendungen bereichert war. Von Mozart ist es nachgewiesen, wie sehr sein Schaffen durch die zeitgenössische Musik befruchtet wurde. Was endlich die oft bewunderte geheimnisvolle Entstehung so mancher künstlerischen Konzeption betrifft, die dem Menschen eher eingegeben als von ihm selbst hervorgebracht zu sein scheint, so sind uns heute doch schon die ersten Spuren dieser verborgenen Wege des Genius sichtbar: Zumeist hat sich der Künstler schon längere Zeit mit seinem Plan getragen, ohne daß ihm eine befriedigende Ausführung kommen wollte. Doch die Arbeit war nur scheinbar vergebens. Er hat so eine Menge von dienlichen Vorstellungen in Bereitschaft gesetzt, die je und dann seinen Geist beschäftigten. Eines Tages blitzt ihm eine neue Beziehungserfassung auf: eine Ähnlichkeit, eine Gleichheit, ein Gegensatz usf. Wir sahen, daß solche Beziehungserfassungen aufleuchten können, noch bevor ihre anschaulichen Fundamente klar bewußt sind. Der Erlebende kann darum auch nicht sagen, wie er auf den Gedanken kam. Aber es bleibt nicht bei dem abstrakten Gedanken; er ist nur das antizipierende Schema, in das jetzt mit Macht die anschaulichen Vorstellungen drängen: kein dürres gedankliches Gerippe, sondern lebendiges Fleisch und Blut steht vor der Seele. Nur selten wird es ob der nachdrängenden Bilder gelingen, den einleitenden Beziehungsgedanken zu erhaschen, und die eigene Schöpfung wird dem Meister wie ein gnädiges Geschenk, eine köstliche Inspiration einer huldvollen Muse erscheinen.

Literatur

Th. Ribot, Die Schöpferkraft der Phantasie. 1902.

R. Müller-Freienfels, Psychologie der Kunst I, 1912.

H. Henning, Experimentelle Untersuchungen zur Denkpsychologie I. ZPs 81 (1919).

[10] Zur Auffassung der tierischen Instinkte vgl. m. „Umrißskizze zu einer theoret. Psychologie“, S. 41 ff.

[S. 261]

IV. Buch
DIE VON DER GEMEINSCHAFT BEEINFLUSSTEN SEELISCHEN LEISTUNGEN

Die bisher besprochenen höheren seelischen Leistungen würden sich im wesentlichen in gleicher Weise herausbilden, ob der Mensch nun vereinzelt oder in Gemeinschaft lebte. Nicht so die noch höher stehenden komplizierten Leistungen, von denen im folgenden die Rede sein soll. Sie würden zwar auch beim Einzelnen nicht völlig ausbleiben; denn die Einzelseele trägt die Befähigung zu ihnen in sich, und nichts ist törichter, als ihr Entstehen einer phantastisch ersonnenen Gemeinseele zuzuschreiben. Allein die frühzeitige Anregung, die wirksame Förderung und die eigenartige Beeinflussung dieser Leistungen geht nur von der Masse aus: so wie sie nun einmal sind und wurden, sind und wurden sie nur durch das Zusammenwirken vieler Menschen. Sprache, Sitte, Kunst und Religion sind die bedeutsamsten dieser Massenleistungen. Unsere Darstellung muß sich darauf beschränken, die wichtigsten Probleme aus diesen vier Gebieten zu nennen. Denn so umfangreich auch naturgemäß die bisherigen Untersuchungen auf diesen Gebieten ausgefallen sind, so wenig können diese jüngsten Zweige der Psychologie ausgereifte Früchte darbieten.

ERSTER ABSCHNITT
Die Sprache

1. Die Leistungen der Sprache

Die Frage nach den Leistungen der Sprache ist kein ausschließlich psychologisches Problem, auch der Biologe und der Philologe kann sie aufwerfen. Sie muß aber zur allgemeinen Orientierung an die Spitze der psychologischen Untersuchung[S. 262] gestellt werden, wie sich alsbald zeigen wird. Die Sprache hat nach Bühlers[11] trefflicher Unterscheidung eine dreifache Aufgabe: kundzugeben, was in der Seele des Sprechenden vorgeht; auszulösen im Hörenden, was an seelischen Vorgängen der augenblicklichen Lage entspricht, und Sachverhalte darzustellen, die der Sprechende erfaßt hat. Das Letztgenannte, die Erfassung des Sachverhaltes durch den Sprechenden, halten wir für einen notwendigen Zusatz, um zu einer Leistungsdefinition der Sprache zu kommen, die diese von den im Effekt gleichen Leistungen eines mechanischen Apparates oder den Dressurleistungen der Tiere unterscheidet.

2. Die Entstehung der Sprache

Man hat es sich auf verschiedene Weise zurechtgelegt, wie der Mensch aus einem sprachlosen Zustand in den sprachbegabten kommen könne. Ganz unpsychologisch dachte zunächst die Erfindungstheorie an die absichtliche Beschaffung von Darstellungsmitteln. Die Nachahmungstheorie hingegen sah den Ursprung der Sprache in der Nachahmung der Dinge durch die Worte, was natürlich nur für einen verschwindend kleinen Teil der Worte zutreffen kann. Endlich die Naturlauttheorie glaubt, beim Anblick bestimmter Dinge seien zufällig oder aus einem Gefühlsdrang heraus naturhafte Laute ausgestoßen worden; diese hätten sich dann mit der Vorstellung jener Dinge fest assoziiert, so daß diese Vorstellungen jene Laute und die Laute hinwiederum die Vorstellungen ins Bewußtsein riefen.

Man braucht solche Theorien über Vorgänge, von denen uns jede Kunde für immer versagt bleibt und die man auch nicht, etwa durch die Abschließung normaler Kinder von jeder sprachlichen Beeinflussung, willkürlich herbeiführen wird, nicht für müßige Spielereien zu halten. Sie haben Wert, wenn nicht nach dem tatsächlichen, historischen, sondern[S. 263] nach dem psychologisch möglichen Verlauf gefragt wird. Läßt sich die Entstehung der Sprache aus den uns bekannten Gesetzen und Funktionen restlos ableiten? Die Unzulänglichkeiten, die sich bei der Beantwortung dieser Frage vielleicht herausstellen, offenbaren dann die noch vorhandenen Lücken unseres Wissens. Fragt man so, wie eben gesagt, dann wird man die beiden methodischen Grundfehler der genannten Theorien vermeiden: Man wird sich nicht auf eine psychische Funktion oder eine einzige Gesetzmäßigkeit zur Lösung des Problems festlegen. Man wird zweitens auch nicht einseitig die Darstellungsfunktion der Sprache ins Auge fassen.

Die Entstehung der Kundgabefunktion ist dann wohl an erster Stelle zu besprechen. Wir finden ja diese Funktion bei den Tieren, die ihrer Freude, ihrer Furcht, ihrem Schmerz, ihrer Erwartung usf. lebhaften und ziemlich eindeutigen Ausdruck geben können, ohne sich einer wahren Sprache zu erfreuen. Die Kundgabe ist also das Einfachere und Frühere an der Sprache. Ihre Mittel sind die Ausdrucksbewegungen. Damit bezeichnet man zunächst unwillkürliche Bewegungen, die sich bei Gemütsbewegungen von selbst einstellen, wie Freuden- und Schmerzensrufe, die Mimik des Gesichtes, Bewegungen der Gliedmaßen und die Haltung des ganzen Körpers. Viele der Ausdrucksbewegungen sind angeboren. Sie finden sich bei allen Menschenrassen in der gleichen Weise. Andere sind ohne jede Absicht von der Umgebung übernommen und darum oft nach Stämmen oder gar Familien verschieden. Wir teilen die Ausdrucksbewegungen ein in die unmittelbaren oder reflektorischen und in die übertragenen. Die unmittelbaren, wie Herzklopfen, Erröten, Bewegungsdrang und schließlich Hemmung der Funktionen, erklären sich am einfachsten als Ausstrahlungen der durch den Affekt verursachten Erregung. Diese ist allen Affekten gemeinsam ohne Rücksicht auf deren Qualität und bewirkt auch bei allen, wenn sie eine gewisse Intensitätsstufe erreichen, eine Hemmung oder Lähmung der anderen Funktionen. Die übertragenen Ausdrucksbewegungen sind ursprünglich zweckmäßige, aber für eine andere Situation bestimmte Bewegungen, teils angeboren, wie das Mundspitzen beim süßen Geschmack, das diesen möglichst auszukosten erlaubt, oder die Flucht- und Abwehrbewegungen beim Tiere, teils erworben, wie das Ballen der Fäuste. Die angeborenen denkt man sich nun auf assoziativem Wege übertragen: das gleiche wohlige Befinden führt assoziativ das nämliche Mundspitzen herbei wie der süße Geschmack, der unangenehme Eindruck unlieber Erfahrungen das Mundöffnen wie zum Ausstoßen des bitteren Reizes. Die erworbenen dagegen stellen sich teils assoziativ,[S. 264] teils triebartig ein. Man befindet sich ja in einer Lage, wo solche Bewegungen sehr angebracht sind. Daß diese Lage zumeist nur in der Vorstellung besteht, tut wenig zur Sache, und außerdem bleibt, wenn z. B. das Niederschlagen des Gegners in Wirklichkeit nicht möglich ist, die dazu führende Teilhandlung des Fäusteballens immer noch ein sehr wünschenswertes Ziel.

Die Ausdrucksbewegungen erfüllen nun sehr leicht die Funktion der Auslösung. Reflektorisch werden die Sinnesorgane auf sie eingestellt, und unwillkürlich richtet sich auch die innere Aufmerksamkeit auf sie. Rein assoziativ können sodann gewisse angeborene Äußerungen ihnen ähnliche und damit auch die zugehörige Stimmung beim Zuhörer oder Zuschauer auslösen: ein Hund oder ein kleines Kind, dem man weinerlich zuredet, fängt an zu winseln bzw. zu weinen. Endlich vermöge seiner Relationserkenntnis erfaßt der Mensch die Gleichheit solcher Äußerungen mit denen, die er selbst früher getan, und erschließt unschwer nach dem Verfahren bei Zusammenhangsrelationen den seelischen Zustand in dem Mitmenschen oder im Tier. Sobald dieses Verständnis einmal gewonnen ist, kann ein Verhalten willkürlich eingeschlagen werden, sowohl zum Zwecke der Auslösung wie der Darstellung. Und das ist der berechtigte Kern der Naturlauttheorie. Er schließt die Nachahmungstheorie für alle jene Fälle nicht aus, wo es überhaupt möglich war, die Dinge durch Laute nachzuahmen, was der Mensch vor jeder Darstellungsabsicht aus reiner Freude an der spielerischen Nachahmung üben konnte. Wichtiger und früher als die Erfindung von Worten wird die Entdeckung von Darstellungsmitteln sein, wie sie uns die Kinderpsychologie schildert: ein kleines Kind will mit einem Löffel im Sande einen geraden Strich ziehen, wird aber wegen seiner schwachen Kräfte in die krumme Linie abgedrängt, kommt auf diese Weise zufällig zu einem geschlossenen Oval und ruft plötzlich freudestrahlend aus: „agag“ — es hat ein Darstellungsmittel für das Ding „Ei“ entdeckt (Krötzsch). Auch der Zufall wird gerade wie bei der Entwicklung der Kindersprache eine bedeutsame Rolle spielen: Preyers Kind schnappte das Wort burtsa (Geburtstag) auf, ohne es natürlich zu verstehen, und verwandte dieses Wort fortan, wo immer es etwas Freudiges gab. So kann auch der Urmensch Laute, die er beim erstmaligen Anblick eines Dinges zufällig vernahm, willkürlich zum Namen dieses Dinges gemacht haben. Das sind auf jeden Fall mögliche Wege der Sprachentstehung.

3. Die Sprachentwicklung

Auch für diese Problemgruppe ist uns die Kinderpsychologie ein besserer Führer als die Geschichte, wenigstens insoweit es sich um die ersten Entwicklungsstufen handelt. Erscheinen[S. 265] zuerst die Worte oder die Sätze? Der äußeren Form nach verwendet das Kind zuerst nur Worte, aber seine Worte haben den Sinn von Sätzen, und zwar verwendet es bis in die Mitte des zweiten Jahres mit bewunderungswürdiger Gleichförmigkeit nur Einwortsätze, wie „tul“ (ich will auf den Stuhl); von da ab eine Zeitlang nur Zweiwortsätze, bis es dann zu den Mehrwortsätzen übergeht. Ganz ähnlich wird man sich die sprachlichen Anfänge der Menschheit zu denken haben, nur daß das Bedürfnis zur Dingbenennung ein größeres war. Wenn wir so den Satz an den Anfang der Entwicklung stellen, so bestimmen wir das Wesen des Satzes nicht nach der eigenartigen Gliederung in Subjekt und Prädikat, die er im weiteren Verlauf der Entwicklung gewinnt, sondern nach seiner Leistung, indem wir uns das Wort Bühlers zu eigen machen: „Sätze sind die einfachen, selbständigen, in sich abgeschlossenen Leistungseinheiten oder kurz die Sinneinheiten der Rede.“ Da aber die Sätze zunächst wohl nur in einem einzigen Wort ihren Ausdruck finden, so steht hinsichtlich der sprachlichen Form das Wort am Anfang der Entwicklung.

Für die weitere Entwicklung der Wörter geben uns die beim Kinde beliebten, oft sehr treffenden und originellen Zusammensetzungen einen Fingerzeig. So bezeichnet ein Kind namens Hilda mit „mama-bäh“ ein altes und mit „ilda-bäh“ ein junges Schaf. Die Gleichheit der Wortformen bestimmter Gruppen versteht man aus der schon oben (S. 173) erwähnten Verselbständigung und Loslösung des Wortschemas. Dieser Prozeß offenbart sich beim Kinde, wenn es Wörter bildet wie „mappler“ (Bote mit Mappe), „die rauche“ (Zigarre), die „summe“ (Biene), oder die Komparative „güter“, „vieler“, „hocher“, die es gewiß nicht von den Erwachsenen gehört hat.

Endlich ist das Problem der Sprachänderung zu nennen, und zwar der Wortlaut- wie der Bedeutungsänderung, insofern beide nicht durch äußere Bedingungen, wie das Zusammentreffen mit anderssprachigen Völkern, zu erklären sind. Der Lautwandel kann sich auf alle Teile des Wortes erstrecken, auf die Vokale, Konsonanten, die Quantitäten, Tonhöhen und Akzente, und endlich auf die Wortmelodie. Vorerst können wir jedoch nur auf einige psychologische Gesetzmäßigkeiten hinweisen, die bei der Lautveränderung mitspielen. Die Perseveration der Vokale, die sogar bei der Wortwahl in der geordneten Rede zu beobachten ist, wird daran schuld sein, daß in den ural-altaischen Sprachen das Suffix denselben Vokal annimmt wie die Stammsilbe.[S. 266] Die enge Verbindung des Lautbildes mit den motorischen Einstellungen bzw. den Sprechbewegungen, verbunden mit der Tatsache, daß sich die Aufmerksamkeit einem späteren Wortbestandteil zuwendet, kann bewirken, daß aus subcurro succurro, aus dem lateinischen octo das italienische otto wird; wenigstens finden sich beim Verschreiben ganz analoge Fälle, die auf Grund der Selbstbeobachtung die genannte Erklärung fordern. Die oft erwähnte Analogiebildung — nach dem regelmäßigen „des Tags“ wird das grammatisch minder richtige „des Nachts“, nach septentrionalis meridionalis statt meridialis gebildet — ist nichts anderes als die soeben genannte Loslösung des Schemas: je häufiger eine Wortform ist, um so mehr sucht sie sich die weniger gebrauchten anzugleichen. Endlich die Kontamination (aus die Fohle und das Füllen wird das Fohlen) ist uns schon als assoziative Mischwirkung (S. 172) bekannt. Über den Lautwandel hingegen, wie ihn das Gesetz der germanischen Lautverschiebung ausspricht, läßt sich noch nichts Überzeugendes sagen.

Die genannten beim Lautwandel wirksamen psychischen Faktoren sind individual-psychologischer Natur, d. h. sie würden sich geltend machen, wenn auch die Umgebung nicht auf den Sprecher einwirkte. Anders ist es beim Bedeutungswandel. In der Regel geht der abweichende Gebrauch eines Wortes wohl von einem einzelnen aus, wird dann aber von der Umgebung übernommen, sei es, weil die dargebotene Neuheit gefällt oder einem oft gespürten Bedürfnis entspricht, wenn etwa die Zeitverhältnisse einen neuen Begriff ausgebildet haben, für den noch kein Wort besteht, sei es, weil die Neubildung Mode wird. Eine andere Frage indes ist die, welche psychologischen Gesetze den Bedeutungswandel selbst regeln. Hier betont man besonders die Ähnlichkeitsbeziehung und die Berührungsassoziation. Eine Ähnlichkeits- oder Gleichheitsbeziehung wird erfaßt, wenn man von dem „Kopf“ des Salates, den „Augen“ des Würfels spricht. Eine Berührungsassoziation hingegen ist am Werk gewesen, als die Münze von den Römern moneta genannt wurde, weil die römische Münzstätte neben dem Tempel der Juno Moneta lag. Freilich hat die Berührungsassoziation in solchen Fällen nur die Vorarbeit geleistet, indem sie die Vorstellung des Tempels und seines Namens dem vom Geld Sprechenden nahelegte. Die Bedeutung ist hier schon vorhanden; das Wort, das sie einfangen soll, muß gefunden werden. So gewinnen bisweilen auch Synonyma einen verschiedenen Sinn, wenn ihre Bedeutung sich aufspaltet und nach einer neuen Bezeichnung verlangt.

Literatur

W. Wundt, Völkerpsychologie, Die Sprache. 1904.

C. u. W. Stern, Die Kindersprache. 1907.

H. Werner, Vom Ursprung der Metapher. 1920.

[11] Vgl. K. Bühler, Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes. Indog. Jahrbuch 1918, und: Vom Wesen der Syntax in „Idealistische Neuphilologie“, 1922.

[S. 267]

ZWEITER ABSCHNITT
Die Sitte

1. Gebräuche

Gebräuche pflegt man mitzumachen, ohne sich über sie Rechenschaft zu geben. Ein Beispiel: In einer protestantischen Kirche Norddeutschlands war es Brauch, nach dem Empfang des Abendmahles nach einer bestimmten Richtung hin eine Verbeugung zu machen. Kein Mensch hätte einen vernünftigen Grund für diese Zeremonie angeben können, aber niemand fragte auch nach einem solchen. Seit undenklichen Zeiten hatten alle Glieder der Gemeinde diese Verbeugung mit der geziemenden Ehrfurcht wiederholt. Was dem Psychologen daran auffallen muß, ist die Irrationalität, die Gleichförmigkeit und die Dauerhaftigkeit dieser Verhaltungsweise. Daß das menschliche Verhalten überhaupt irrational sei, läßt sich aus solchen Vorkommnissen nicht schließen. Denn in der Regel war es früher einmal recht zweckmäßig oder in sich begründet. Die Irrationalität kommt nur dadurch hinein, daß ein früher angemessenes Verhalten zur bleibenden Gewohnheit wird, auch wenn der begründende Anlaß geschwunden ist. So entdeckte man bei einer Restauration jener Kirche unter der Tünche ein Marienbild, und der Ursprung jener eigentümlichen Sitte aus der vorreformatorischen Zeit lag offen zur Schau. Aber warum hält man solche Gebräuche bei, auch wenn sie keinen Sinn mehr haben? Zum Teil und anfangs ist die mechanische Gewohnheit schuld. Der Kampf gegen eine äußere Gewohnheit ist unlustvoll. Außerdem wird die Gewohnheit als solche, wie die Willensexperimente gezeigt haben, zu einem wirklichen Beweggrund, einem äußeren Motiv: sich gleichförmig zu bleiben ist ein eigentlicher Wert. Der neu Hinzukommende fügt sich dem Brauch teils in gedankenloser Nachahmung, teils um nicht aufzufallen oder anzustoßen, teils weil er sich sagt: wenn man mir auch keinen inneren Grund anzugeben vermag[S. 268] — es wird schon seinen Grund haben. Dazu kommt die relative Unwichtigkeit der Sache: es kostet in der Regel wenig Mühe, sich einem Brauch zu fügen, und die eigenen Lebensinteressen lassen für den Kampf gegen solche Dinge keinen Raum. Es braucht also einen außergewöhnlichen Anlaß oder einen allgemeinen Umsturz, um irrationale Gepflogenheiten zu beseitigen. Doch nur ganz selten sind sie völlig irrational. Sehr oft haftet ihnen wenigstens ein ästhetischer Wert an. Und fast immer wird der Brauch zum Träger oder doch zum Reproduktionsmotiv für gewisse festliche Stimmungen, und damit gewinnt er ein Recht aufs Dasein trotz aller sonstigen Irrationalität.

2. Die Konstanz der Kultur

Das Verständnis für die Konstanz der Gebräuche läßt auch die merkwürdige Tatsache begreiflicher erscheinen, daß ein Volk auf einer verhältnismäßig niedrigen Kulturstufe stehen bleiben kann, obwohl es in seiner geistigen Veranlagung das Prinzip zu immer weiterem Fortschritt in sich trägt. Beispiele dafür bietet bei jeder Nation die bäuerliche Bevölkerung, sodann namentlich das chinesische Volk, in ganz auffallender Weise aber die sog. primitiven Völker. Alle die Faktoren, die wir soeben nannten, sind auch hier am Werk. Nur darf man auch das niedere Kulturleben nicht als irrational auffassen. Es verkörpert vielmehr eine beträchtliche Menge ganz hervorragender Werte, die man erst dann würdigt, wenn man es mit der Lebensweise der höchststehenden Tiere vergleicht. Und diese Werte: auskömmliche Nahrung, Kleidung und Schutz, sowie die Befriedigung der elementarsten seelischen Bedürfnisse sind der eigentliche Grund, weshalb kein weiterer Fortschritt mehr gemacht wird: es liegt keine Not, kein Bedürfnis vor, das zur Anstrengung der erfinderischen Gaben zwänge. Kein Fortschritt sodann ohne Relationserfassung. Aber diese ist in einem abgeschlossenen Kreise sehr bald nicht mehr möglich. Denn die nächstliegenden Beziehungen sind schon alle erfaßt, und vor der Einsicht in die entfernteren bewahrt die assoziative Bahnung, die durch die Überlieferung der Einsichten anderer wie[S. 269] durch die Gewohnheiten und Gebräuche geschaffen wurde. Je mehr solche Kreise durch die Natur oder den eigenen Wunsch vom fremden Wissen abgeschlossen bleiben, je seltener ihnen somit die Fundamente zu neuen Beziehungserfassungen geboten werden, um so stabiler wird ihr Kulturzustand bleiben. Darum ist auch der Gang der Kulturentwicklung selten ein rationaler, sondern durch Zufälligkeiten bedingt: das zufällige Zusammentreffen mit Vertretern höherer Kulturkreise, nicht der innere Gang der Entwicklung, ist oft für die Richtung des weiteren Fortschrittes maßgebend.

Ob damit auch der ethische Entwicklungsstillstand zu erklären ist? Die Frage ist heute noch nicht spruchreif. Sollten nicht die sozialen Bedürfnisse einerseits, die Zugeständnisse an die menschliche Schwachheit anderseits häufig den Anstoß zur Bildung gewisser religiöser Meinungen gegeben haben, die zwar jenen Bedürfnissen gerecht wurden, aber auch der sittlichen Höherentwicklung den Riegel vorschoben?

Literatur

E. Franke, Die geistige Entwicklung der Negerkinder. 1915.

C. u. W. Stern, Die Kindersprache. 1907.

A. Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel. 1908.

3. Recht und Sittlichkeit

In jeder Gemeinschaft von Menschen gelten gewisse Satzungen als das Recht dieser Gemeinschaft. Man mag sie mit Ebbinghaus als Zwangsbestimmungen auffassen, die die Gesellschaft zur Sicherung ihres eigenen Bestandes getroffen hat. Damit ist das fundamentalste Interesse, das der Psychologe an ihnen hat, erschöpft. Denn die psychischen Kräfte, die zu solchen Bestimmungen führen, sind uns bekannt. Beziehungserfassungen, die anfangs sehr unzulänglich sind und durch beständige Korrekturen präzisiert und erweitert werden müssen, und der Trieb zur Selbsterhaltung wie zur Erhöhung des Lebensgenusses reichen zu ihrer Erklärung hin. Wichtiger jedoch sind folgende Tatsachen. Ganz abgesehen von den Rechtsbestimmungen der Gemeinschaft, werden gewisse Handlungen, und mögen sie auch nur innere Willensakte sein, für erlaubt, andere für nicht[S. 270] erlaubt gehalten, und manche der erlaubten gelten als gut, während alle nicht erlaubten als böse beurteilt werden. Und zwar werden diese Urteile einschränkungslos gefällt. Ferner fühlen wir uns bedingungslos zu gewissen guten Handlungen verpflichtet und von der Vollbringung böser abgeschreckt. Über beides belehrt uns unser Gewissen. Die Stimme dieses Gewissens lautet wenigstens in seinen elementarsten Forderungen bei allen Menschen aller Zeiten und aller Rassen gleich, in Einzelfällen jedoch kann dem einen eine Tat als sittlich erscheinen, die dem anderen ein Greuel ist.

Mit den genannten Erscheinungen befaßte sich bisher vor allem die Ethik, während sie neuerdings von manchen Psychologen als zu ihrem Gebiet gehörig beansprucht werden. Pflichtbewußtsein, Gewissen und Gewissensbisse, Befriedigung und Reue sind nun zweifellos seelische Vorkommnisse, über deren Entstehung zunächst der Psychologe Auskunft geben muß. Aber gehört auch das ganze System der ethischen Sätze in die Psychologie? Das wird wohl ganz von dem Ursprung dieser Sätze abhängen. Sind sie in der Hauptsache von nicht-seelischen Sachverhalten abstrahiert, so fallen sie außerhalb des Rahmens der Psychologie geradeso wie die Sätze der Mathematik, der Völkerkunde, des Rechts. Sind sie aber nur aus dunklen Gefühlen, angeborenen Instinkten und undurchsichtigen latenten Einstellungen hervorgegangen, dann muß die Psychologie über jeden einzelnen von ihnen Rechenschaft geben, und die Ethik wäre höchstens eine Zusatzwissenschaft der Psychologie, die gewissermaßen das Inventar dieser Sitze aufzunehmen und über die zwischen ihnen obwaltenden Beziehungen zu spekulieren hätte. Trifft jedoch diese Auffassung nicht das Richtige, dann hat der Psychologe nur die allgemeinen Quellen zu bezeichnen, denen die ethischen Einsichten — denn das müssen sie in diesem Falle sein — entspringen, und die auffallendsten Züge des sittlichen Lebens verständlich zu machen.

Es wäre nun mit keinerlei Tatsachen zu belegen, wollte man das sittliche Bewußtsein aus einem apriorischen sittlichen Gefühl ableiten. Gefühle bauen sich ja immer auf Erkenntnisgrundlagen auf. Schon eher könnte man etwa wegen der bei Tieren zu beobachtenden Anhänglichkeit zwischen Alten und Jungen an Instinkte denken. Und zweifellos ist auch die menschliche Eltern- und Kindesliebe von instinktiven Trieben stark gefördert. Allein der Instinkt — und dasselbe gälte von ererbten oder anerzogenen Gewohnheiten und latenten Einstellungen — verleiht wohl eine triebhafte Neigung zu einer bestimmten Verhaltungsweise, sowie eine gewisse Sicherheit und Gleichförmigkeit in ihr, aber niemals das Bewußtsein der Verpflichtung. Hingegen lassen[S. 271] sich alle fundamentalen sittlichen Gebote aus dem gegebenen Sachverhalt der Notwendigkeit zu leben und leben zu lassen als Beziehungserkenntnisse gewinnen. Aber damit ist nur der Inhalt dieser Gebote, nicht der Charakter absoluter Verbindlichkeit gegeben. Dieser erklärt sich hinreichend aus der allgemein menschlichen Überzeugung von einer übernatürlichen, göttlichen Macht, deren Werk diese Welt mitsamt der auf ihr lebenden Menschheit ist, eine persönliche, allwissende Macht, die es nicht duldet, daß ihr Werk durch einen Frevler ungestraft gefährdet wird. So ist der tiefste Grund aller Sittlichkeit der absolute Wille zur Erhaltung der realsten Werte, und die Erkenntnisquelle für die sittlichen Gebote ist darum keine andere als die von Gott geschaffene Natur. So erklärt sich die Gleichförmigkeit des sittlichen Bewußtseins in den Grundanschauungen und die Abweichungen gegenüber verwickelteren Verhältnissen. Das Gewissen ist dann nichts anderes als das lebendige Wissen von dem, was sittlich gut ist. Es spielt dieselbe Rolle wie die Aufgabe im psychologischen Versuch und kann wie diese bald bewußt, bald dem Bewußtsein entschwunden, bald ganz, bald teilweise bewußt sein. Die Erscheinungen der Reue und des guten Gewissens bedürfen von diesem Standpunkt aus keiner besonderen Erklärung. Das Gefühlsmäßige an der Reue kann allerdings oft höchst irrational sein. Das wäre nicht recht zu verstehen, wenn das Gefühl eine unmittelbare Antwort der Seele auf die vorausgehende Einsicht wäre, begreift sich aber sehr leicht auf Grund der oben dargelegten Theorie der höheren Gefühle, die der Zufälligkeit der assoziativen Verkettungen einen beträchtlichen Spielraum zuweist. Darum kann es einen Menschen bis an sein Lebensende bitter schmerzen, wenn er sich vielleicht einer durchaus entschuldbaren Härte gegen ein Tier erinnert, während er schwerwiegender sittlicher Verfehlungen zwar mit Mißbilligung, doch höchst gelassenen Gemütes gedenkt. Ein anderes irrationales Moment schleicht sich in unser sittliches Handeln dadurch ein, daß die Güte oder die Verwerflichkeit einer Willenshandlung auf die äußere Tat bezogen wird statt auf den inneren Willensakt. Die äußere Tat wird darum in diesem Falle entweder mit frommer Scheu beibehalten oder mit heiligem Entsetzen gemieden, auch wenn sie durch die veränderten Umstände zwecklos oder sittlich gleichgültig geworden. Dabei trägt außer der falschen Beziehung des sittlichen Charakters auf die äußere Handlung auch die aus der Gewöhnung stammende Lust bzw. die mit der Verleugnung einer Gewöhnung verbundene Unlust ihren Teil der Schuld an der Entstehung eines sittlich irrationalen Verhaltens.

Literatur

V. Cathrein, Moralphilosophie⁵. 1911.

[S. 272]

DRITTER ABSCHNITT
Die Kunst

Vorbedingung und Quelle des Kunstschaffens ist der Kunstgenuß. Erst wenn wir das Schöne und den Genuß des Schönen verstanden haben, können wir die Frage nach der Entstehung der Kunst aufwerfen.

1. Das Schöne

Die Ansicht, daß es eine absolute Schönheit gebe, findet heute keine Verteidiger mehr. Das braucht indes niemand zu erschrecken; denn es handelt sich bei der Aufstellung dieses Satzes nicht darum, die Welt um einen absoluten Wert ärmer zu machen, sondern um eine ganz schlichte Bedeutungsanalyse des Wortes „schön“. „Schön“ besagt eben, wie Fechner richtig betonte, etwas wesentlich Relatives, geradeso wie „heilsam“. Es war darum den Vertretern der absoluten Schönheit niemals möglich, diesen Begriff zu bestimmen, ohne die Beziehung auf das genießende Subjekt heranzuziehen. Wer den Versuch macht, greift gern nach dem Begriff „vollkommen“, wird aber nicht geneigt sein, etwa eine vollkommene Kröte schön zu finden. Schön ist also das, was gefällt, was einen „ästhetischen Eindruck“ hervorruft.

2. Der ästhetische Eindruck

Man ist sich darüber einig, daß das Schönheitserlebnis ein uninteressiertes Gefallen ist, eine Freude an einem Gegenstand seiner selbst wegen, die in sich eine gewisse Ruhe findet. Zu weiteren allgemein anerkannten Bestimmungen ist die psychologische Analyse nicht vorgedrungen. Versuchen wir tiefer zu graben, indem wir zunächst die Gegenstände des ästhetischen Genießens aufzählen. Die einfachen Empfindungen der Farben, Töne, Gerüche[S. 273] können einen ausgesprochenen Schönheitseindruck hinterlassen, wie man in der Abgeschiedenheit des psychologischen Versuches immer wieder feststellen kann. Weiter die Gestalten, d. h. aufeinander bezogene anschauliche Inhalte: Farbenharmonien, Figuren, Rhythmen. Sie bilden die gewöhnliche Quelle des ästhetischen Genusses, weshalb man oft das anschauliche Moment als sein wesentliches Bestandstück genannt findet. Aber ist das Gefallen als solches ein wesentlich anderes, wenn es sich auf Anschauliches, als wenn es sich auf Unanschauliches bezieht? Mir scheint, die Freude, die ich an der Eleganz eines wissenschaftlichen Verfahrens erlebe, ist keine andere als die an der gelungenen Farbenharmonie. Also auch unanschauliche Beziehungen wie Eleganz und Normgemäßheit können schön sein. Andere Gegenstände lassen sich nicht aufzeigen.

Es gibt somit keinen spezifisch ästhetischen Reiz, und das Schönheitserlebnis muß mehr als andere durch das Verhalten des Erlebenden bedingt sein. Aber dem Tier trauen wir kein Schönheitserlebnis zu. Liegt das daran, daß das Tier nicht uneigennützig bei dem Gefallen stehen bleibt, oder daran, daß in dem ästhetischen Genuß eine Denkleistung verborgen ist, zu der das Tier unfähig ist? Das Erstere dürfte kaum den Knoten lösen. Ist doch der Riechgenuß beim Tier wie beim Menschen häufig die Endstation des Erlebnisses, und daß das Riechen dem Tier lustvoll sein kann, ist ebenso gewiß wie, daß es dem Menschen ein wirklich ästhetisches Gefallen zu bereiten vermag. Es muß also ein geistiger Akt im Schönheitserlebnis stecken. In der Tat finden wir bei ihm eine doppelte Beziehungserfassung: wir erkennen, daß wir eine Freude erleben (womit nach unserer Gefühlstheorie eine neue Freude erregt wird, ohne jedoch einen processus in infinitum einzuleiten), und wir erkennen die Quelle unserer Freude. Erst diese doppelte Relationserfassung erlaubt es uns, uns die Beschaffung einer Freude zum Willensziel zu machen und willkürlich bei der Freude selbst stehen zu bleiben. Das ästhetische Erlebnis ist also die bewußt und um ihrer selbst willen genossene Freude. Der Gegenstand, der sie erweckt, ist gleichgültig.

[S. 274]

Aber dann wäre auch die Geschmacksfreude und der geschlechtliche Genuß einzubeziehen? Grundsätzlich könnte man dies einräumen, wären nicht diese Erlebnisse derart mit Trieben und Reflexen verkoppelt, daß ein ruhiges Stehenbleiben bei dem Genuß praktisch unmöglich ist. — Von dem Standpunkt, den wir gewonnen, ist es nun leicht, zu heißumstrittenen Fragen Stellung zu nehmen. Auf der Erlebnisseite erweisen sich als unwesentlich die Einfühlung, die Kontemplation, die innere Nachahmung, die ästhetische Illusion und was man sonst noch als die Seele des ästhetischen Genusses bezeichnet hat. Ihre Bedeutsamkeit zur Vervielfältigung des Schönheitseindruckes soll darum nicht bestritten werden. Mit der Einfühlung denken wir uns z. B. selbst in die tragende Säule hinein und erleben ein freudiges Kraftbewußtsein. Kontemplative Wonnen treten hinzu, wenn der schöne Gegenstand eine Flut von Gedanken anschwellen läßt. Die innere Nachahmung stellt sich beim Anblick des Diskuswerfers unwillkürlich ein und reißt uns aus unserer eigenen Welt heraus. Auch die bewußte Selbsttäuschung erhöht vielleicht hie und da, insbesondere im Theater, den Genuß. Aber all dies begründet nicht erstmals das ästhetische Erleben. — Weiter, bezüglich des Gegenstandes leuchtet nunmehr ein, daß es keinen Gegenstand gibt, der nicht dann und wann, für diesen oder jenen den Eindruck des Schönen machen könnte. Denn einerseits verändert sich die subjektive Verfassung: derselbe Reiz kann heute lustvoll, morgen unlustbetont sein. Anderseits kommt uns die Fähigkeit des Abstrahierens zu Hilfe. An jedem Gegenstand lassen sich gar viele anschauliche Züge und geradezu unzählige unanschauliche Beziehungen auffinden: unter diesen Momenten wird wenigstens eines sein, das einen freuen kann. Und dieses eine kann ich für sich beachten. Darum kann selbst ein Schurkenstreich durch seine Genialität Gefallen erwecken. Das Auffinden solcher Beziehungen und ihre Loslösung muß freilich erlernt werden, und deshalb beobachten wir, daß gewisse ästhetische Genüsse, wie die Freude an der Landschaft und gar an einer schaurigen Landschaft, verhältnismäßig spät auftreten. — Sodann schlichtet sich der Streit um den Primat von der Form oder der Idee. Beide können zu Quellen der ästhetischen Freude werden. Sie können darum auch einzeln jedes für sich betont werden; achtet aber der Genießende auf beide zugleich, so wird ein Mißverhältnis zwischen ihnen Unlust erregen und darum den ästhetischen Eindruck mindern. Ganz ähnlich ist das Verhältnis des direkten zu dem assoziativen Faktor. Als direkten Faktor bezeichnet Fechner den unmittelbar gegebenen Reiz, der den Gefälligkeitseindruck bewirkt, etwa die Melodie; der assoziative Faktor besteht dann in den Vorstellungen und Gedanken, die durch die Melodie geweckt werden. Beide tragen zu dem ästhetischen Gesamteindruck bei und haben darum ihr gutes Recht. Gar manches Lied, das ohne den assoziativen Faktor uns[S. 275] nicht ansprechen würde, gefällt wegen der trauten Erinnerungen, die es wachruft. — Endlich erhellt, daß an und für sich in Geschmacksfragen ein objektiv, d. h. für den Normalmenschen gültiges Urteil wohl möglich ist. Die mannigfachen Abweichungen der ästhetischen Urteile rühren teils von der verschiedenen augenblicklichen Verfassung des Individuums, teils von der verschieden großen Empfänglichkeit für die anschaulichen Inhalte, teils von der ungleichen Fähigkeit, Beziehungen an dem Objekte zu entdecken, teils von der größeren oder geringeren Menge von Gesichtspunkten, unter denen das Kunstwerk betrachtet wird, teils — und das ist die Hauptsache — von der Verschiedenheit dessen her, was am Gegenstand ins Auge gefaßt wird: das Ganze oder einzelne Züge, dieselben oder verschiedene Züge. Je mehr sich zwei Beurteiler in den genannten Stücken gleichen, um so einstimmiger wird das Geschmacksurteil ausfallen.

3. Die Entstehung und Entwicklung der Kunst

Es ist eine bedenkliche Einseitigkeit, wenn man die Kunst aus einem bestimmten Lebensbedürfnis, etwa aus der Religion, ableiten will, ein Irrtum, der aus der unzulänglichen Auffassung des ästhetischen Erlebens stammt. Es läßt sich vielmehr die Entstehung und Entwicklung der Kunst in eine einzige allgemeine Formel einkleiden: der ästhetische Genuß muß entdeckt und zum Ziel des Wollens gemacht werden. Der Mensch mußte also erstens sich über einen Gegenstand freuen; zweitens diese Tatsache bewußt auffassen; drittens die Bedingungen dieses Erlebnisses erkennen; viertens diese Bedingungen willkürlich herbeiführen, um jene Freude wieder zu genießen. Das Grunderlebnis kann nun auf den allerverschiedensten Gebieten liegen. Eine notwendige Geh- oder Springbewegung kann ihn die Freude an Bewegungen und Rhythmus und damit die Anfänge der Tanzkunst entdecken lassen; ein zufälliger Ruf, die Nachahmung einer Tierstimme kann ihn zur Musik führen; die Abdrücke eines Korbgeflechtes in der Tonerde, die er vermittels jenes Korbes zu einem Gefäß zu formen suchte, ließ ihn die Elemente der Ornamentik finden usf. Je häufiger nun der Mensch solche ästhetische Entdeckungen machte, um so mehr steigerte sich sein Schönheitssinn. Denn es bilden sich in der oben (S. 221 f.) beschriebenen[S. 276] Weise Gefühlsdispositionen für das ästhetische Erleben aus, und es mehren sich die Gesichtspunkte, welche seine ästhetische Betrachtung leiten und ihn zu häufigerem Genuß führen. Das Kunstgenießen wie das Kunstschaffen bliebe aber auf einer kümmerlichen Stufe stehen, wenn der Einfluß der Gesellschaft fehlte. Wie wenige Bilder würden gemalt, wie wenige Lieder gesungen, wenn es nur ein einziges Menschenwesen gäbe. Doch abgesehen von der Freude, die in der Mitteilung des eigenen ästhetischen Genusses liegt, und von dem Ansporn, der dem Ehrgeiz des Künstlers durch Lob und Tadel zuteil wird, waren es die verschiedenen Bedürfnisse der Gesellschaft, die zur Entstehung ausgesprochener Kunstzweige den wirksamsten Anstoß gaben. Der Aberglaube brauchte Abbildungen von Menschen und Tieren, denen man durch Bildzauber beizukommen hoffte — was man dem Bilde zufügte, mußte der Abgebildete selbst erleiden —, und so entstand die bildende Kunst als ein besonderer Zweig des Kunstschaffens. Die Gesellschaft brauchte Wohnhäuser für die Familien und öffentliche Gebäude für die Zwecke der Gemeinschaft: und so entstand die Baukunst. Und darum gilt ganz allgemein, daß die Anfänge der Kunst ein mehr soziales Gepräge tragen.

Literatur

G. Th. Fechner, Vorschule der Ästhetik. 1876.

O. Külpe, Grundlagen der Ästhetik. 1921.

[S. 277]

VIERTER ABSCHNITT
Die Religion

Auch auf die Probleme der Religionspsychologie läßt sich heute nur erst hinweisen. Die allseitige und möglichst exakte Behandlung dieser Fragen bleibt der Zukunft vorbehalten.

1. Der Gottesglaube

Unterscheiden wir hier den Glauben an eine außerweltliche Macht von dem an einen persönlichen Gott. Solange man den Problemen der Denkpsychologie nicht näher nachgespürt hatte, wurde das Gefühl oder auch die Phantasie für den Ursprung des Gottesglaubens im allgemeinen verantwortlich gemacht. Wer indes auf dem Boden der Tatsachen bleibt, begreift alsbald, daß die Überzeugung von einem oder mehreren jenseitigen Wesen ein Erkenntnisinhalt ist. Erkenntnisse sind aber niemals unmittelbar aus Gefühlen abzuleiten. Noch weniger ist mit der Herleitung aus der Phantasie gedient. Ein regelloses, dem Zufall überlassenes Spiel der anschaulichen Vorstellung — so und nicht anders verstand man in diesem Zusammenhang die Phantasie — ergibt nicht jene Überzeugungen, die den Grundstock einer jeden Religion ausmachen. Dagegen zeigt uns die Beobachtung des schlußfolgernden Denkens bei Zusammenhangsrelationen den geraden und einfachen Weg, auf dem selbst das primitivste Bewußtsein zu der Annahme überirdischer Mächte gelangen kann. Die in der sichtbaren Welt immer wieder erlebte Verbindung eines außergewöhnlichen, nicht mit erkennbarer Regelmäßigkeit erfolgenden Geschehens mit einer willkürlich handelnden Ursache zwingt geradezu zu dem Schluß von den außergewöhnlichen Ereignissen, wie Gewitter, Erdbeben, auf einen (unsichtbaren) Urheber. Wenn[S. 278] nun die Gesetzmäßigkeiten des Schließens auch schon für den Primitiven gelten — und es liegt kein Grund vor, weshalb sie nicht gelten sollen —, dann muß dieser Unsichtbare die Züge des Menschen tragen. In der Tat bestätigen die Gebete der niedrigst stehenden sowie der ältesten uns bekannten Erdbewohner, daß sie den Gottheiten durchaus menschliche Eigenschaften beilegen. Wenn nun auch dasselbe Denken, das den Kulturmenschen leitet, den Primitiven zur Annahme göttlicher Mächte geführt hat, so mag doch das Gefühl, namentlich Furcht und Schrecken bei erschütternden Naturereignissen, ein gewaltiger Ansporn gewesen sein, sich mit diesen Urhebern der außergewöhnlichen Vorkommnisse eingehender zu befassen. Und bei der gedanklichen Ausstattung dieser höheren Wesen mit Eigenschaften und Erscheinungsformen werden die des öfteren als Phantasie bezeichneten Funktionen des Bewußtseins ihre Dienste angeboten haben.

Ob jedoch die sich selbst überlassenen Urmenschen eher auf die Annahme eines Gottes oder einer Vielheit von Göttern gekommen wären, läßt sich auf Grund unserer sonstigen psychologischen Kenntnisse kaum entscheiden. Es könnten für beide Möglichkeiten einleuchtende Gründe vorgebracht werden. Die Ethnologen entschieden sich in früheren Jahren zumeist für einen anfänglichen Polytheismus, der sich dann bei einigen erlesenen Rassen zum Monotheismus emporgearbeitet habe. Man ging dabei von der Annahme aus, daß die uns bekannten, schon seit Jahrtausenden auf derselben niederen Kulturstufe verweilenden Primitiven uns auch ein Bild der Anfänge der menschlichen Kultur überhaupt zu liefern imstande wären. Diese schienen nun dem Götzendienst zu huldigen, wenn sie überhaupt von Religion etwas erkennen ließen. Indes die späteren Forscher, denen es gelang, das Vertrauen der Eingeborenen zu gewinnen, mußten feststellen, daß sie niemals religionslos waren und daß bei den meisten über dem Götterhimmel noch ein höchster Gott thronte, der Urvater. Er gilt zumeist als der Urheber der Welt und als der Hüter der sittlichen Ordnung. Sein Bild trägt die würdigsten Züge, die dem Gottesbegriff der Kulturvölker sehr nahekommen. Darum ist heute die Theorie des Urmonotheismus wieder zu Ehren gelangt. Einer allseitig befriedigenden Lösung harrt jedoch noch das Problem, warum die Urväter in dem offiziellen Kult der Primitiven eine verhältnismäßig geringe Rolle spielen und weshalb sich der Wilde nur in den Augenblicken höchster persönlicher Not in spontanem Gebet an sie wendet.

[S. 279]

2. Das Gebet

Aus demselben rationalen Ursprung, dem der Gottesglaube erwächst, entspringt auch das Gebet. Überzeugt sein von der Existenz eines überweltlichen höheren Wesens, in dessen Hand man mitsamt der Welt auf Gnade und Ungnade gegeben ist, und sich bittweise an es wenden, das sind zwei Dinge, die durchaus logisch zusammenhängen. Das Irrationale kommt hier wie bei der Sitte erst dadurch hinein, daß die Gebetsweise sich nicht in gleichem Schritt mit dem Gottesbegriff entwickelt, sondern wie alles in anschauliche Formen Gekleidete und Fixierte jeder Abänderung größeren Widerstand entgegensetzt. So glaubt man zwar allmählich an die Allgegenwart des höchsten Wesens, vermeint aber mit lautem Rufen wirkungsvoller zu beten. Auch die Zufälligkeiten der Assoziationen bedingen hier wie beim Denken überhaupt manch irrationales Moment: der fortgeschrittene Gottesbegriff enthält zwar das Attribut der Unveränderlichkeit, dem naiven Beter ist es aber oft so, als müsse er Gott von einem vorgefaßten Entschluß erst abbringen.

Vom Gebet zum Opfer ist nur ein kleiner Schritt, zu dem auch ganz ähnliche Überlegungen und Affekte vermögen. Hier setzt aber auch der soziale Faktor ein. Das gemeinsame Anliegen einer Familie eines Stammes führt zu gemeinsamem Gebet und gemeinsamem Opfer. Damit erhält auch die gemeinsame Überzeugung einen Ausdruck und eine Festlegung: die Volksreligion entsteht und wird, wie jede andere Gewohnheit und Sitte, zur maßgeblichen, die Allgemeinheit bestimmenden und zwingenden Norm, an der man nicht rühren kann, ohne sich zugleich an den heiligsten Interessen der Gesamtheit zu vergreifen.

Eine ganz andere Form als dieses jedem Menschen natürliche Bittgebet samt dem naturgemäß zu ihm gehörenden Lob- und Dankgebet entwickelt sich aus dem lebendigen Glauben an Gottes Nähe und aus dem lebendigen Bewußtsein von dem überragenden Werte Gottes: das beschauliche oder mystische Gebet. Es will uns nicht einleuchten, daß, wie E. Lehmann meint, der Wunsch, an Gottes Kraft teilzuhaben,[S. 280] die Quelle aller Mystik sei. Eher möchten wir diesen Wunsch und was damit zusammenhängt als einen minder wertvollen Auswuchs aus der beschaulichen Vereinigung mit Gott ansehen. Vom rein psychologischen Standpunkt aus ist die Beschauung das aufmerksame liebevolle Verweilen bei dem als gegenwärtig geglaubten und oft auch als gegenwärtig erlebten Gott. Das letztgenannte Phänomen läßt sich in seinen Anfängen mit dem von Jaspers als leibhaftige Bewußtheit bezeichneten zusammenbringen: man ist aus irgendwelchen Gründen von der Anwesenheit eines nicht wahrnehmbaren Wesens überzeugt, vermag es zu lokalisieren und erlebt dabei die mit jener Lokalisation verbundenen Spannungsempfindungen, die als solche zumeist nicht erkannt, deren Realität aber häufig für die Realität der Anwesenheit jener Person genommen wird. Das große Problem der Beschauung, soweit es überhaupt psychologisch faßbar ist, ist nun dies: Unter welchen Voraussetzungen vermag der Glaube an die unmittelbare Gegenwart Gottes die Aufmerksamkeit in dem hohen Grade zu fesseln, den wir auch bei nichtchristlichen Mystikern feststellen? Und unter welchen Bedingungen kann das Durchdrungensein von Gottes Gegenwart die außergewöhnlichen Glückszustände der Beschaulichen, die oft mit den merkwürdigsten körperlichen Begleiterscheinungen verbunden sind, hervorrufen? Eine befriedigende, durch Tatsachen begründete Antwort läßt sich zurzeit noch nicht geben.

3. Religiöse Entwicklungen

An erster Stelle hat die religiöse Entwicklung des Jugendlichen Beachtung gefunden. Im Zusammenhang mit der Pubertätsperiode setzt nach den Ermittlungen Starbucks teils ein regeres religiöses Leben, teils eine Zeit der Zweifel ein. Der Tatbestand ist noch nicht allseitig und verlässig genug herausgestellt, wenn er auch im großen und ganzen nicht angezweifelt werden darf. Seine Erklärung wird sich nicht aus einer einzigen psychologischen Bedingung gewinnen lassen. Es sind gewiß sehr verwickelte Verhältnisse, bei denen das im Reifeprozeß lebhafter ansprechende Gefühl eine Hauptrolle spielt.

Ist die Periode des Zweifels ohne Verlust der religiösen Stimmung überwunden, dann vertieft sich in der Regel die Religiosität mit zunehmendem Alter. Dabei gehen die Individuen nach verschiedenen Richtungen[S. 281] auseinander. William James hat zuerst versucht, religiöse Typen herauszustellen. Er unterscheidet namentlich den optimistischen und den pessimistischen Typ. Daneben läuft eine andere Einteilung, die sich durch die religiösen Berufe, namentlich durch die verschiedenen Orden herausgebildet hat: die beschaulichen, mehr dem Gebet und der Betrachtung zugewandten und die tätigen Frommen. Für diese Entwicklung ist erstlich der individuelle Charakter, dann aber besonders der durch die Umgebung ausgeübte Einfluß maßgebend.

Ein genaueres Studium verlangt noch die Entwicklung zur Heiligkeit. Hier fragt es sich zunächst, welches sind die psychologischen Vorbedingungen dafür, daß die religiösen Werte bei gewissen Menschen eine so viel höhere Geltung gewinnen als beim Durchschnitt. Das kann nicht am Lebensalter, nicht am Geschlecht, nicht am Stand, nicht an der Umgebung usf. liegen. Es muß also im Heiligen oder, wie man mit einer weiteren Fassung des Begriffes auch gerne sagt, im religiösen Genie begründet sein. Auch hier gälte es wieder, nach den Typen der Heiligkeit und nach ihrem Entwicklungsgang zu forschen. Es fehlen hier noch die empirischen Untersuchungen, die sich nicht mit Stichproben und geistreichen Auffassungen genügen lassen, sondern in unverdrossenem Sammeleifer, hauptsächlich nach den Methoden der Statistik und der Korrelationsrechnung, wohlbegründete Ergebnisse anstreben.

Literatur

W. James, The varieties of religious experience. 13. Aufl. 1907.

A. Rademacher, Das Seelenleben der Heiligen. 1917.

F. Heiler, Das Gebet. 2. Aufl. 1920.

[S. 282]

V. Buch
AUSNAHMEZUSTÄNDE DER SEELE

ERSTER ABSCHNITT
Der Schlaf

Der Schlaf ist zweifellos in erster Linie ein eigenartiger Zustand unseres Organismus. Dennoch ist er, abgesehen von den unwesentlichen sichtbaren Erscheinungen der veränderten Körperhaltung, Augenstellung, Atmung, Blutverteilung, die wir hier nicht berücksichtigen, uns besser nach der psychischen als nach der physiologischen Seite bekannt. Psychologisch erscheint er uns als eine charakteristische Störung, Herabsetzung und Unterbrechung der uns wohlbekannten Seelentätigkeit im Wachzustand, und namentlich als eine weitgehende Ausschaltung der Bewegungsfähigkeit. Der Schlaf wird herbeigeführt durch gewisse Schlafreize, vorab durch Ermüdung, dann durch Ruhe, Dunkelheit und gleichförmige Reize. Aber auch der Anblick des hergerichteten Lagers und der Wille zu schlafen ruft ihn herbei, wie umgekehrt lebhafte Vorstellungen und die Absicht, wach zu bleiben, den Schlaf verscheuchen. Nach einer kurzen Spanne der Schläfrigkeit, die bei manchen Individuen von lebhaften Schlummerbildern erfüllt ist — traumartige Gebilde, die häufig durch äußere Reize ausgelöst werden —, überfällt uns der eigentliche Schlaf, ohne daß wir den genauen Zeitpunkt seines Eintrittes erhaschen könnten.

Man hat den Verlauf des Schlafes, insbesondere seine Tiefe, mittels verschiedener Methoden bestimmt. So suchte man zunächst nach der Weckschwelle: wie stark muß der Weckreiz sein, um den Schläfer nach verschiedenen Schlafzeiten zu wecken? Zweitens fragte man: wie schreitet die Erholung für verschiedene Arbeiten, wie Addieren, Auswendiglernen, mit der Länge des Schlafes voran? Endlich prüfte man[S. 283] verschiedene Funktionen: die Erschlaffung der Muskeln, die Erregbarkeit für Reflexe. Das Verhalten des Schläfers ist in den verschiedenen genannten Beziehungen nicht gleich. Hinsichtlich der Weckschwelle fand man zwei Typen: der Morgenarbeiter versinkt alsbald (nach etwa einer Stunde) in den tiefsten Schlaf, während der Abendarbeiter erst nach zwei Stunden oder später die größte Schlaftiefe erreicht. Die Erholung für leichte Arbeit wird sehr bald (½ Stunde), für schwere Arbeit erst nach mehreren Stunden gewonnen. Die Muskelerschlaffung steigt allmählich an und verbleibt in diesem Zustand bis zum Erwachen. Die Reflexe sind zu Beginn und Ende des Schlafes unvermindert, in der mittleren Periode hingegen am meisten herabgesetzt.

Sehr umstritten ist die Frage, ob im Schlafe jemals das Bewußtsein gänzlich aussetze, mit andern Worten, ob es einen völlig traumlosen Schlaf gebe. Die meisten Traumforscher sind geneigt, dies abzulehnen. Wann immer sie sich wecken ließen, vermochten sie sich an ausführliche Träume zu erinnern; am wenigsten freilich im Tiefschlaf. Wenn auch diese Beobachtungen größeres Gewicht haben als z. B. die Aussagen Lessings, der von sich behauptete, er träume nie, so sind sie doch nicht endgültig beweisend für die Frage, ob niemals wenigstens ein Teil des Schlafes traumlos sei. Denn der Weckreiz könnte sehr oft die Veranlassung eines Traumes sein, und die Gewohnheit der systematischen Traumbeobachtung dürfte die Disposition zum Träumen verstärken. Dagegen läßt die Tatsache, daß der Schlaf das Bewußtsein um so mehr einschränkt, je tiefer er ist, die Möglichkeit offen, daß er es in seiner tiefsten Periode ganz ausschaltet.

Eine befriedigende Theorie des Schlafes kann heute noch nicht entworfen werden. Sie hat namentlich folgende scheinbar sich widersprechende Tatsachen zu berücksichtigen. Der Schlaf hängt von psychischen Faktoren ab; denn der Wille zu schlafen ist von sehr großem Einfluß. Ferner tritt auch ohne körperliche Ermüdung Schlaf ein, wenn man bei Tieren alle Sinnesreize ausschließt — etwas Ähnliches begegnete einem an Anästhesie leidenden Kranken Strümpells: er schlief ein, sobald man ihm seine einzigen Sinnespforten, die Augen, zuhielt. Andererseits sind die physiologischen Faktoren nicht zu unterschätzen; denn großhirnlose Tiere, also Tiere ohne Bewußtsein, wachen und schlafen mit großer Regelmäßigkeit.

Die bisherigen Theorien widersprechen darum auch einander in vielen Stücken. Manche betonen das Psychische auf Kosten des Physischen, andere begehen den umgekehrten Fehler. Von den physiologischen Theorien lassen die einen den Schlaf auf Hyperämie, die andern[S. 284] auf Anämie, wieder andere auf einer Vergiftung des Gehirnes durch die Ermüdungsstoffe, andere durch eine Lähmung der Zellen infolge einer inneren Sekretion beruhen. Großen Anklang fand die Theorie Claparèdes. Der Schlaf ist nach ihm eine positive Leistung der Seele, und zwar eine Instinkthandlung, mit der sie sich vor Erschöpfung schützt. Die mannigfachen Ähnlichkeiten, die zwischen dem Schlaf und den Instinkthandlungen bestehen, sollen diese Auffassung begründen. Wie der Instinkt, so ist der Schlaf zweckmäßig, ohne daß wir ihn, zunächst wenigstens, seiner erkannten Zweckmäßigkeit wegen aufsuchten. Er paßt sich ferner den Umständen an, läßt sich verschieben, wenn andere lebenswichtige Interessen den Wachzustand fordern. Allein der bestechende Gedanke hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Der Schlaf hat wohl hinsichtlich seiner Zweckmäßigkeit mancherlei Ähnlichkeit mit den Instinkthandlungen, indes das trifft auch auf viele vegetative Vorgänge zu: bei einer Verletzung der Pflanze werden die Ernährungstätigkeiten zweckmäßig abgeändert, und alle Teile des Lebewesens steuern zur Heilung des verletzten Gliedes bei. Verständigerweise wird hier niemand von einem Pflanzeninstinkt reden; denn es fehlt geradeso wie beim Schlaf das wichtigste Glied des Vergleiches, die bewußte Tätigkeit. Instinkthandlungen sind bewußte Tätigkeiten. Der Schlaf erscheint uns hingegen durchaus als ein Zustand, nicht als bewußte Tätigkeit. Die Vorbereitungen zum Schlafen sind allerdings bei vielen Tieren Instinkthandlungen. Die Instinkttheorie empfiehlt sich auch darum nicht, weil sie jedem tieferen Eindringen gar zu leicht im Wege steht. Sobald wir einen Instinkt feststellen müssen, sind wir in der Regel bei einem letzten Datum angelangt. Fassen wir nun den Schlaf als Instinkt, dann sind wir nicht wenig geneigt, so eigenartige Tatsachen wie das Erwachen des Müllers beim Stehenbleiben der Mühle, das Erwachen zu einer vorausbestimmten Stunde schlechtweg als Leistungen des Instinktes zu erklären.

Wir ziehen es darum vor, uns mit einer Rahmentheorie des Schlafes zu begnügen, deren Ausfüllung wir der zukünftigen Forschung überlassen. Die erste und normale Bedingung für den Eintritt des Schlafes ist die Ermüdung. Die Natur läßt es aber nicht zu einer völligen Vergiftung des Gehirnes durch die Ermüdungsstoffe kommen, sondern sobald diese ein gewisses Quantum erreicht haben, wirken sie als Reiz für einen Ausschaltungsmechanismus, der vor allem den am meisten Energie verbrauchenden Bewegungsapparat zur Ruhe bringen soll. Die Ausschaltung entzieht aber überhaupt den höheren Zentren des Nervensystems die zur normalen Betätigung erforderliche psychophysische[S. 285] Energie, und zwar um so mehr, je mehr das Individuum gerade schlafbedürftig ist. Der kleine Rest von psychophysischer Energie, der in den höheren Zentren verbleibt, reicht aus für das Traumleben, ist aber in der Regel zu gering, um von den Sinneszentren nach den motorischen überstrahlend diese wirksam zu erregen.

Den Ausschaltungsmechanismus kann man sich als eine vasomotorische Erregung denken, die entweder Hyper- oder Anämie herbeiführt; man kann ihn aber auch in einer inneren Sekretion bestehen lassen. Damit werden wir den physiologischen Erscheinungen gerecht. Der Ausschaltungsmechanismus muß aber zweitens derart sein, daß sich zwischen ihm und den Begleitumständen, in denen er für gewöhnlich in Tätigkeit versetzt wird, eine Assoziation herausbilden kann. Eine solche Assoziation entsteht z. B. zwischen dem Erröten und den Begleitumständen, in denen es erlebt wird. Ebenso zwischen mancherlei an sich rein physiologisch bedingten Absonderungs- und Ausscheidungsprozessen und den bewußt gewordenen Begleitumständen. Da nun der Ausschaltungsmechanismus in der Regel bei Dunkelheit, in der Nähe der Lagerstätte usf. funktioniert, so bildet sich zwischen diesen Wahrnehmungen und der genannten Funktion eine assoziative Verknüpfung, und darum werden wir schläfrig, sobald wir das aufgedeckte Bett vor uns sehen. In derselben Weise erklärt sich das Einschlafen der Tiere, deren Sinneswahrnehmungen man ausschließt. Das Erwachen beruht dann auf dem umgekehrten Prozeß. Da der Energieverbrauch geringer ist als die Nahrungszufuhr, so erholt sich das Gehirn; es sammelt psychophysische Energie. Ist sie hinreichend groß geworden, so vermag die durch einen kleinen Reiz im Sensorium hervorgerufene psychophysische Erregung die Ausschaltung zu überwinden, indem sie auf die motorischen Zentren überstrahlt. Ist das Gehirn jedoch noch wenig erholt, so reicht ein schwacher Reiz dazu nicht hin, ein starker Reiz hingegen sammelt den trotz der Ausschaltung im Gehirn verbliebenen Energierest und dringt mit ihm bis zu den motorischen Zentren vor. Die Intensität eines Reizes läßt sich nun durch seine Bedeutung oder richtiger durch die aus der Bedeutung stammenden Dispositionen ersetzen. Hat uns eine Sache viel beschäftigt, so gehört zu ihr ein Komplex wohlgebahnter Dispositionen, die eine rasche Sammlung der psychophysischen Energie und eine leichtere Überleitung in die zugehörigen motorischen Zentren erlauben. Und darum dürfte die neben dem Kind schlafende Mutter so schnell erwachen, wenn das Kind nur ein wenig unruhig wird, während sie weit stärkere Geräusche unbeachtet läßt. — Das Aufwachen des Müllers, wenn die Mühle stehen bleibt, und das Erwachen zur festgesetzten Stunde können wir jedoch erst erklären, wenn wir den Traum besprochen haben.

[S. 286]

Es bleibt noch der Einfluß des Willens auf das Einschlafen und das Wachsein verständlich zu machen. Doch brauchen wir uns nur an das zu erinnern, was gelegentlich des assoziativen Äquivalentes und der äußeren Bewegungen gesagt wurde. Wie dort, so hat der Wille auch hier keinen unmittelbaren Einfluß. Soll das „ich will schlafen“ von Erfolg begleitet sein, so muß es sich solchen Vorstellungen zuwenden, die wie die Begleitumstände des Einschlafens die physiologische Assoziation zwischen diesen Vorstellungen und dem Ausschaltmechanismus wirksam werden lassen. Und das „ich will wachbleiben“ nützt nur dann, wenn es zu Bewußtseinsinhalten führt, die sehr lebhaft sind und darum vermöge ihrer Ausstrahlung nach den motorischen Zentren die Wirksamkeit des Ausschaltungsmechanismus vereiteln.

Literatur

E. Trömner, Das Problem des Schlafes. 1912.

[S. 287]

ZWEITER ABSCHNITT
Der Traum

Wenn etwas das psychologische Interesse der Menschen wecken konnte, dann war es der Traum: allen bekannt, jeden dann und wann aufs tiefste erschütternd und doch für alle ein Rätsel. Die günstigsten Bedingungen für die Entstehung einer Wissenschaft — wäre nur das Rätsel nicht allzu dunkel! So stauten sich die Wogen des wissenschaftlichen Interesses an diesem Wall, und da sie ihn weder zu übersteigen noch zu durchbrechen vermochten, nahmen sie ihren Abfluß durch die Niederungen des Aberglaubens und der Dichtung. Auch heute, wo wir im Begriffe sind, die Traumrätsel zu lösen, hat sich in der Freudschen Traumdeutung noch einmal die Phantastik ihrer bemächtigt. Doch sprechen wir zunächst von den Eigentümlichkeiten des Traumes, um uns dann mit den Erklärungsversuchen zu befassen.

Solange die Psychologen nur Gelegenheitsbeobachtungen über den Traum sammelten, widersprachen die Angaben vielfach einander. Sobald man jedoch begann, den Traum systematisch und experimentell zu untersuchen, d. h. den Schlafenden häufig und zu den verschiedensten Zeiten der Nacht zu wecken und ferner ihn während des Schlafes mannigfachen Reizen auszusetzen, stimmten die Ergebnisse untereinander und auch mit den älteren Gelegenheitsbeobachtungen überein. Der Traum zeigt nämlich in der Tat die verschiedensten Seiten, je nach den obwaltenden Umständen, und der Fehler der älteren Forscher hatte, wie so oft, darin bestanden, daß sie ihre vereinzelten, nur unter bestimmten Bedingungen gültigen Beobachtungen ohne weiteres verallgemeinerten.

Der Traum ist, im allgemeinen besehen, zunächst das Urbild der Regellosigkeit und des unvermittelten Wechsels. Die Szenerien wechseln bisweilen ebenso schroff wie im Kino. Die Märchenforscher haben nicht mit Unrecht auf die Verwandtschaft zwischen Traum und Märchen in diesem Punkte hingewiesen. Die Leitung des Traumes durch eine Aufgabe fehlt nach den Beobachtungen Hackers ganz, kommt jedoch nach denen Köhlers bisweilen vor, ein Widerspruch,[S. 288] der sich ausgleicht, wenn man beachtet, daß Hacker einen beträchtlich tieferen Schlaf hatte als Köhler. Von manchen Träumen wird berichtet, daß sie unglaublich schnell verlaufen sein müssen. So träumte Weygandt von einem Spaziergang am Sonntag Morgen, einem Besuch auf dem Friedhof an einer Kirche, dem sinnigen Betrachten dieser Kirche und des Kirchturmes, dessen Glocke mit einemmal zu läuten beginnt. Der Träumer erwacht und hört seinen Wecker läuten. Die näheren Umstände machten es sehr wahrscheinlich, daß der ganze Traum von dem Läuten des Weckers ausgelöst worden. Daneben, nicht dagegen, stehen andere Beobachtungen, nach denen der Traum nicht schneller abläuft, als unsere gewöhnlichen Vorstellungen. Im allgemeinen herrschen die „dummen“ Träume vor, doch berichtet man auch von außerordentlichen intellektuellen Leistungen des Traumes.

Etwas eingehender hat man sich mit den Traumelementen befaßt. Unter den Vorstellungen sind die optischen am häufigsten vertreten; doch stehen nicht allen Träumern bunte Farbenvorstellungen zu Gebote. Weit seltener als optische und akustische Vorstellungen sind die kinästhetischen und taktilen, am seltensten die von Geruch und Geschmack. Die Vorstellungen haben zumeist halluzinatorischen Charakter. Die Forscher streiten aber darüber, ob sie die Empfindungen des Wachzustandes an Intensität übertreffen. Die Rolle der Gedanken im Traum ist in einer kurzen Formulierung nicht anzugeben. Es kommen sämtliche Denkfunktionen im Traum vor, sogar ein sorgfältiges und richtiges Überlegen. Mir kam inmitten eines ganz andersartigen Traumes einmal die Sorge, ob ich am Vortag einer gewissen Verpflichtung nachgekommen sei. Da erinnerte ich mich während des Traumzustandes, daß ich an einem bestimmten Ort mit einem bestimmten Bekannten zusammentraf, als ich mich anschickte, jener Verpflichtung zu genügen; es fiel mir weiter ein, wie ich sie dann wirklich zu Ende geführt hatte, und dabei beruhigte ich mich. Anderseits ist der Traum oft unglaublich töricht. Der Träumer nimmt mit der Urteilslosigkeit eines Geisteskranken die ungereimtesten Dinge für bare Münze hin, ängstigt oder freut sich ihretwegen. Es ist aber eine feine Beobachtung und ein Fingerzeig zur Lösung des ganzen Problems, wenn ein Traumforscher bemerkt, wir seien nur für den Traumanfang, nicht aber für das neu Hinzukommende kritiklos. Das Regiment scheinen im Traumablauf nicht die Gedanken, sondern die assoziativen Faktoren zu haben; denn man kann bisweilen die Wendepunkte des Traumes herausheben und erhält dann eine Reihe rein äußerlicher oder einfacher Klangassoziationen, ähnlich der Gedankenkette eines Ideenflüchtigen. Hinwiederum sind aber auch oft die Gedanken an dem Auftauchen der Traumvorstellungen schuld. Mir träumte jüngst, ich blute im Bette liegend aus der Nase. Ich spürte nur das Fließen, sah aber nichts, denn ich lag im Dunkeln. Da regte sich der Zweifel, ob es denn wirklich Nasenbluten sei, und alsbald sah ich auf dem weißen Kopfkissen eine gewaltige[S. 289] Blutlache und stellte mit Bedauern die Tatsächlichkeit des Nasenblutens fest. Sehr merkwürdig verhält sich das Bedeutungsbewußtsein: bald ist es vorhanden, bald fehlt es. Man glaubt bisweilen zu lesen oder gar mit einer andern Person in einer fremden Sprache geläufig zu sprechen, oft mit sichtlicher Befriedigung, während man selbst jene Sprache nur kümmerlich meistern, jene andere Person, deren Leistungen ja gleichfalls auf unser Konto zu setzen sind, sie überhaupt nicht verwenden kann. Hier hängt sich an irgendwelchen Wortsalat die Bedeutung einer fremden Sprache.

Die Gefühle sind im allgemeinen schwächer als in der Wirklichkeit. Doch sind auch hier auffällige Ausnahmen zu melden. Arg trockene Gesellen können im Traum in Tränen zerfließen und Zustände der Rührseligkeit erleben, deren sie sich im Wachzustande nicht wenig schämen würden. In derselben gegensätzlichen Weise zeigt sich der Wille manchmal wie ohnmächtig und läßt Taten geschehen, die er im Wachzustande niemals verantworten möchte, während er in andern Fällen sich energisch gegen solche Dinge sträuben kann. Die Beweglichkeit ist herabgesetzt. Die Träume im Tiefschlaf lassen uns überhaupt nicht handelnd, sondern nur sehend auftreten. Im leichteren Schlaf glauben wir fälschlich, unsere Glieder zu bewegen, und nur der eigenartige als Somnambulismus bekannte Traumzustand erlaubt es dem Träumer, gewisse Bewegungen auch wirklich auszuführen.

Sehr rätselhaft ist die Auswahl des Traumgegenstandes. Die Ereignisse des Vortages scheinen bevorzugt zu sein. Doch nicht die bedeutsamen: man träumt nicht von dem, wovon man gern träumen möchte. Befindet sich der Schlafende an einem neuen Aufenthaltsort, so sollen die Erlebnisse an jenem neuen Ort erst später im Traum auftauchen. Außerdem liegt nach Hacker der Trauminhalt um so weiter zurück, je tiefer der Schlaf ist. Lange Zeit meinte man, alle Träume seien durch einen zufälligen Reiz verursacht, dem der Schlafende gerade unterliegt. In der Tat konnte man den Traum experimentell durch solche Reize beeinflussen. Ist z. B. die Fußsohle unempfindlich geworden, so meint der Träumende, er schwebe. Ebenso schließen sich an gewisse Organempfindungen wie bei Atemnot, Herzbeklemmung charakteristische Träume an. Dennoch sind nicht alle Träume Reizträume. Sehr viele sind Erinnerungsträume, die sich durch die zufälligen und einförmigen Reize nicht erklären lassen.

Wie soll man nun dieses vielgestaltige, widerspruchsvolle Erlebnis, das wir Traum nennen, auffassen? Ähnlich wie Claparède den Schlaf, denkt sich Freud den Traum als eine positive Leistung, und zwar des Unterbewußten. Im Unterbewußten schlummern die Wünsche, denen der Wachende zumeist aus sittlicher Scheu kein Gehör schenken durfte. Sie verlangen nach Erfüllung. Darum schickt sie das Unterbewußte während des Schlafes herauf ins Bewußtsein. Allein vor der Schwelle des Bewußtseins da waltet die Zensur. Die würde diese[S. 290] Wünsche in ihrer unverfälschten Natur die Schwelle des Bewußtseins nicht überschreiten lassen; sie sind ja zumeist sexueller Art. Darum verkleidet das Unterbewußtsein die Wünsche in symbolische Formen und täuscht so die Zensur. Und darum ist jeder Traum symbolisch zu verstehen, und jeder Traum ist eine Wunscherfüllung; in der Regel die Erfüllung eines erotischen Wunsches aus der Kinderzeit. Diese Begriffsdichtung einer ausschweifenden Phantasie hat in psychologisch ungeschulten Kreisen eine ganz außergewöhnliche Verbreitung gefunden. Da sie frei ersonnen ist, brauchen wir sie nicht besonders zu widerlegen. Doch mag sie uns auf einige Umstände aufmerksam machen, denen auch unsere Traumtheorie genügen muß.

Unsere Traumtheorie läßt sich mit einem Satze aussprechen. Der Traum ist Phantasietätigkeit in dem oben (S. 258) von uns dargelegten Sinne, die sich jedoch unter den besonderen Bedingungen des Schlafens abspielt, nämlich unter der Wirkung des Ausschaltungsmechanismus mit seiner Absperrung des motorischen Apparates und seiner Verminderung der psychophysischen Energie im Zentralnervensystem. Daraus lassen sich alle festgestellten Erscheinungen mitsamt ihren scheinbaren Widersprüchen ableiten.

Die Regellosigkeit und den unvermittelten Wechsel hat der Traum mit der Phantasie gemein. Nur sind beide noch bedeutend erhöht, weil das Versagen der psychophysischen Energie die längere Verfolgung eines Motives unmöglich macht: ein äußerer Reiz mag das bißchen Energie auf eine andere Bahn lenken, und das ganze Traumbild ist zerstört. Im allgemeinen steht die Phantasietätigkeit nicht unter der Leitung einer Aufgabe, streckenweise und vorübergehend nimmt sie jedoch Aufgaben in ihren Spielplan auf. Darum finden wir die Aufgaben gelegentlich im leichteren Schlaf, während sie im tieferen, wo dem Zentralorgan nur ganz wenig Energie geblieben ist, nicht aufkommen können. Die fabelhafte Schnelligkeit mancher Träume gewinnt durch Berücksichtigung folgender zwei Umstände an Wahrscheinlichkeit. Zunächst ziehen die Vorstellungen nicht immer im Gänsemarsch durchs Bewußtsein, sondern es kann ein ganzer Komplex mehr oder weniger gleichzeitig lebendig werden (S. 172 ff.). Sodann sahen wir, daß Relationserfassungen erstehen können, noch bevor die zugehörigen Fundamente klar ins Bewußtsein getreten sind. Wenn nun etwa die Weckuhr ertönt, so kann zwischen diesem Reiz und einer in Bereitschaft stehenden Vorstellung eine Beziehung hergestellt werden, die für die Aktualisierung eines ganzen Komplexes richtunggebend wird. Steht nun der Komplex mit seinen verschiedenen Einzelheiten im Bewußtsein, so braucht nur die Aufmerksamkeit darüber zu gleiten wie das Auge über ein Rundgemälde, und wir haben den komplizierten, aber[S. 291] auffallend schnellen Traum. Daneben bleibt die normale Traumgeschwindigkeit von dem Tempo unserer Phantasien ruhig bestehen.

Noch weniger Schwierigkeiten bereitet die Erklärung der im Traum festgestellten Elemente. Die relative Häufigkeit der verschiedenen Sinnesqualitäten dürfte mit deren Auftreten beim Phantasieren übereinstimmen. Ihr halluzinatorischer Charakter ergibt sich aus dem, was wir über das Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung ausgeführt haben (S. 102 ff.). Die Traumwelt ist eben die einzige, die sich uns auftut. Wegen der geringen, dem Zentralorgan belassenen Energie werden jene zahlreichen Begleitvorstellungen, auf die sich der absolute Eindruck des Unwirklichen stützen könnte, nicht lebendig. Aber diese Reproduktionsschwäche ist keine absolute; sie ist bald größer, bald geringer. Darum regen sich bisweilen doch Zweifel an der Echtheit des Wahrnehmungscharakters der Traumerlebnisse. — Die außergewöhnliche Empfindungsintensität, von der hie und da berichtet wird, erlaubt verschiedene Erklärungen. Manchmal, doch selten, mögen außergewöhnlich starke Erregungen einzelner Teile des Nervensystems vorliegen. Sehr oft wird die scheinbare Intensität ähnlich wie die Sehgröße (S. 110 ff.) und die Schallstärke (S. 115 f.) auf die apperzipierenden Vorstellungen zurückzuführen sein. Endlich kann der Bericht von abnormen Intensitäten auf einer falschen Beurteilung beruhen, sei es, weil die Vergleichsreize fehlten, sei es, weil man die Intensität des Eindrucks nach dessen Wirkung oder dessen Begleiterscheinungen, dem Erschrecken u. ä. bemaß.

Daß wir im Traum alle Denkfunktionen betätigen, ergibt sich nach unserer Theorie von selbst, ebenso wie die Behinderung dieser Tätigkeiten durch den Ausfall und das Versagen der zu ihnen erforderlichen Reproduktionen. Letztere erklären auch die Urteilslosigkeit im Traum, die wir schon bei dem Wirklichkeitscharakter des Traumbildes besprachen. Aus unserer Auffassung folgt aber auch notwendig die oben angeführte Beobachtung, daß wir zumeist nur gegenüber dem Traumanfang, nicht gegenüber dem zum Traumbild Hinzukommenden kritiklos seien. Sodann ist es nicht zu verwundern, daß der Traumablauf der Vorstellungsfolge bei Ideenflüchtigen noch näher steht als die Phantasie im Wachzustand. Die Assoziationen sind vielfach ausschlaggebend, was indes einer streckenweisen Leitung durch Gedanken nicht im Wege steht: der auftauchende Gedanke wird eine neue Szene herbeiführen, falls der psychophysische Apparat ihn nicht im Stiche läßt. Die Leitung des Vorstellungsverlaufes durch die Gedanken dürfte übrigens in sehr vielen Fällen an dem unvermittelten Szenenwechsel schuld sein. Das merkwürdige Verhalten des Bedeutungsbewußtseins darf nach der oben (S. 181 f.) dargelegten Anschauung nicht befremden. Die Bedeutung besteht in einem Wissen von Beziehungen, das assoziativ angeschlossen ist einerseits an den Gegenstand, anderseits an dessen Bezeichnung. Wie beim Verkennen eines[S. 292] Gegenstandes im wachen Zustande, so wird auch im Traum das Bedeutungsbewußtsein lebendig, wenn nur ein Teil, nur ein Zug des ihm zugehörigen Gegenstandes wahrgenommen wird: ein auf dem Wege liegender gebogener Zweig wird aus der Ferne für eine Schlange gehalten.

Wenn unsere Theorie der höheren Gefühle richtig ist (S. 214 f.), müssen sie im Traum wegen der allgemeinen Reproduktionsschwäche sehr mäßig sein, bisweilen sogar gänzlich ausfallen. Insofern sie aber auf einer gleichzeitigen Organempfindung beruhen, die, wie Atembeschwerden, Herzbeklemmung u. ä. m., durch einen zufälligen Reiz hervorgerufen werden und wegen des Schlafzustandes nicht zu beseitigen sind, müssen sie das gewohnte Durchschnittsmaß überschreiten. Der Wille endlich benimmt sich im Traum geradeso wie in der Phantasietätigkeit. Er wendet sich dem ihm Angenehmen zu und bedingt durch diese Zuwendung eine Entwicklung der Vorstellungen in der betreffenden Richtung, wenn anders die zu Gebote stehende psychophysische Energie es zuläßt. Er vermag sogar zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Aber von einer verantwortlichen Wahl kann keine Rede sein, weil ihm wegen der beschränkten Reproduktion nur ein Teil der Motive vorgeführt wird. Eine Willenslähmung braucht man hier nicht anzunehmen. Der Wille funktioniert ganz intakt, nur gleicht er einem Feldherrn mit unzulänglichen Truppenmassen und mangelhaftem Meldedienst. So und nicht anders ist auch die Bewegungslosigkeit im Schlaf und Traum zu verstehen. Der Wille tut das Seinige. Allein der Zugang zum motorischen Apparat ist versperrt. Nur wenn ein partieller Defekt in dem Ausschaltungsmechanismus vorhanden ist, gelingen größere Bewegungen, und wir haben den Somnambulen vor uns.

Die Auswahl des Traumgegenstandes bereitet in unserer Auffassung auch keine besonderen Schwierigkeiten mehr. Nach dem, was wir über die Assoziationen wissen, können die bedeutsamen Ereignisse des Vortages für gewöhnlich nicht den Traumgegenstand abgeben. Läßt man nämlich Vpn (Kinder) eindrucksvolle Erlebnisse durchmachen und bietet ihnen am folgenden Tag im Assoziationsversuch unter indifferenten auch auf diese Erlebnisse bezügliche Reizwörter, so werden sie fast gar nicht mit Wörtern reagieren, die sich auf jene Erlebnisse beziehen (H. Saedler). Die neuen Erlebnisse bilden eben abgeschlossene Komplexe für sich, von denen noch keine gangbaren Bahnen zu jenen Reizwörtern führen. Aus demselben Grunde werden die bedeutsameren zu einem Komplex zusammengeschlossenen Ereignisse des Vortages im Traum nicht reproduziert werden können, falls nicht außergewöhnliche Perseverationserscheinungen auftreten. Da ferner unter sonst gleichen Verhältnissen die älteren Assoziationen vor den jüngeren begünstigt sind (S. 168), so werden im allgemeinen im tieferen Schlaf die älteren Erlebnisse auftauchen.

Aus dem Gesagten erhellt auch, welche Grundgedanken der Psychoanalytiker richtig sind: Der Traum läßt unter[S. 293] Umständen körperliche Dispositionen, auch Krankheiten erkennen. Er verrät, welche Vorstellungen ein gewisses Übergewicht in dem Bewußtsein haben und zu welchen Dingen eine spontane Willensneigung besteht. Bisweilen greift er auch in die Kindheit zurück; ist manchmal der Ausdruck eines gerade herrschenden Wunsches; findet hie und da auf dem Wege der Assoziation Vorstellungen, die dem augenblicklichen Zustand analog sind: so wenn der an Herzbeschwerden Leidende träumt, in einer unangenehmen Lage zu sein. Aber die ganze Phantastik der willkürlichen symbolischen Ausdeutung des Trauminhaltes auf sexuelle oder andere Wünsche, die Auffassung eines jeden Traumes als die Erfüllung eines Wunsches usw. entbehrt jeder wissenschaftlichen Begründung.

Endlich können wir auch an das Problem des infolge des Stillstehens der Mühle erwachenden Müllers und des Erwachens zur vorgenommenen Stunde herantreten. Beides wird im Tiefschlaf wohl nicht vorkommen. Im leichteren Schlaf aber wird, wie so manches andere, auch das Aufhören des Mühlengeräusches samt den Übergangsempfindungen, die es begleiten, wahrgenommen. Aber das Stehenbleiben einer Pendeluhr im Schlafzimmer hat keine Bedeutung für den Müller; es schließt sich darum auch kein Vorsatz an diese Wahrnehmung, und wenn er vielleicht auftauchte, so fehlte ihm die Kraft, den Ausschaltungsmechanismus zu überwinden. Anders der Vorsatz, nach dem Rechten zu schauen, wenn das Mühlengeklapper verstummt. Die Bedeutung der Sache und die Gewohnheit, in diesem Falle tätig einzugreifen, haben bevorzugte Dispositionen geschaffen. Dem Traumwillen, hier etwas zu tun, stellt sich darum die genügende Energiemenge zur Verfügung und strahlt in die motorischen Zentren über: der Schlafende öffnet die Augen. Ähnlich steht es mit dem Erwachen zur festgesetzten Stunde. Daß dieser Vorsatz einen unruhigen Schlaf verursachen kann, in dem man des öfteren nach der Uhr schaut, bedürfte keiner Erklärung. Wenn man aber nach einem verhältnismäßig ruhigen Schlaf nur einmal und gerade zur rechten Zeit erwacht, dann müssen Anhaltspunkte vorhanden sein, die im Traum erkannt werden und zum Erwachen führen. Als solche Anhaltspunkte könnte eine gewisse Helligkeit, ein Uhrschlag, vielleicht sogar ein gewisses körperliches Befinden dienen.

Literatur

Fr. Hacker, Systematische Traumbeobachtungen. APs 21 (1911).

M. Vold, Über den Traum. 2 Bde. 1910–1912.

[S. 294]

DRITTER ABSCHNITT
Die Hypnose

Den hypnotischen Zustand führte man früher durch mancherlei äußere Manipulationen, durch Bestreichen mit Magneten u. ä. herbei. Später ließ man glänzende Gegenstände längere Zeit fixieren, bis man endlich erkannte, daß die Wirksamkeit all dieser Mittel nur daher stammte, daß man dem Individuum die Überzeugung beibrachte, es werde dem hypnotischen Schlaf verfallen. Deshalb bemüht man sich heute direkt, diese Überzeugung in dem Patienten hervorzurufen und bedient sich der äußerlichen Mittel nur, um die Entstehung dieser Überzeugung zu begünstigen.

Der Hypnotisierte steht dann unter dem Banne des Hypnotiseurs. Bringt dieser die Glieder der Vp in die verdrehtesten Stellungen und erklärt, sie seien gelähmt, so kann sie der Hypnotisierte nicht mehr in ihre natürliche Lage zurückbewegen. Man reicht ihm eine rohe Kartoffel, bezeichnet sie als einen Apfel, und er verspeist die Kartoffel mit sichtlichem Genuß. Gegen Schmerzen kann er unempfindlich gemacht werden, die vor ihm stehenden Dinge kann man seinen Blicken entziehen. Innerhalb der Hypnose erinnert er sich unter Umständen leichter und getreuer an frühere Erlebnisse. An die Vorgänge in der Hypnose selbst hat er jedoch nach dem Erwachen keine Erinnerung. Die Verstandestätigkeit ist erhalten, aber ähnlich wie im Traum beschränkt. Der Wille ist bis zu einem gewissen Grade in die Hand des Hypnotiseurs gegeben. Man hat heftig über die Frage gestritten, ob der Hypnotisierte auch zu Verbrechen benützt werden könnte, die er im Wachzustande ganz und gar verabscheuen würde. Heute wird man mit Moll sagen können: je mehr eine Handlung dem Charakter der Vp widerstrebt, um so mehr wird diese sich gegen die Ausführung[S. 295] sträuben und unter Umständen infolge dieses Sträubens aus der Hypnose erwachen. Die verschiedenen Individuen verhalten sich hierin verschieden, und zwar ist die Abhängigkeit vom Hypnotiseur um so größer, je häufiger jemand hypnotisiert wurde. Französische Psychiater haben früher eine ganze Reihe von Stufen der Hypnose unterschieden. Es waren das aber, wie sich später herausstellte, nur Kunstprodukte, die sie, ohne es zu wollen, durch ihre Suggestionen hervorgerufen hatten. A. Forel nennt heute drei Stufen: die Somnolenz, die durch Schlaffheit und angenehme Ruhe gekennzeichnet wird, die Hypotaxie, bei der die Vp sich den Befehlen des Hypnotisators fügt, und den Somnambulismus oder den tiefen Schlaf, der mit Erinnerungslosigkeit verbunden ist. Sehr geheimnisvoll muten die posthypnotischen Suggestionen oder Termineingebungen an: der Vp wird in der Hypnose ein Auftrag erteilt, den sie nach dem Erwachen auszuführen hat, bisweilen mit Angabe eines entfernten Termines, nach so und so viel Stunden oder Tagen. Ist der Augenblick gekommen, dann schickt sich die Vp an, den Auftrag zu erledigen, ohne sich an die frühere Hypnose zu erinnern; sie glaubt vielmehr aus eigenem Antrieb zu handeln.

Um ein wenig hinter die Geheimnisse der Hypnose zu kommen, muß man die Einschläferung der Vp und die infolge dieser Einschläferung entstehende Befehlsautomatie auseinanderhalten. Die Einschläferung ist eine eigenartige Einwirkung auf die noch wachende Vp, sie ist darum der Wachsuggestion gleichzusetzen. Mit ihr haben wir uns zunächst zu befassen. Die Verkennung des namhaften Unterschiedes zwischen Denken und anschaulichem Vorstellen ließ keine rechte Klarheit in dieser Frage aufkommen. Wenn ich jemandem suggeriere: dort auf dem Boden liegt eine Münze, und der Betreffende daraufhin eine Münze sieht und sie mir im einzelnen beschreibt, so liegen da zwei ganz verschiedene Prozesse vor: die Überzeugung von dem Vorhandensein der Münze und deren anschauliche Vorstellung. Beide können unabhängig voneinander erzeugt werden. Ein Individuum von scharfen Sinnen, aber schwacher Vorstellungsbegabung oder abgelenkter Einstellung, wird vielleicht meinen Worten glauben, weil es gar keinen Grund hat, an ihnen zu zweifeln, wird aber antworten: ich kann sie nicht entdecken. Anderseits kann ich die Vorstellungskonstellation einer Vp wenigstens grundsätzlich so leiten, daß sie, wenn ich sie später auf einen Gegenstand hinweise und sie ohne jede Suggestion befrage: was sehen Sie dort? antwortet: eine Münze. Die Erzeugung[S. 296] einer nur subjektiv bedingten Vorstellung ist also etwas anderes als die Suggestion. Erstere ist prinzipiell auch bei einem Tiere möglich, letztere nicht. Die Suggestion setzt stets eine Einsicht voraus: einmal, weil sie dem Subjekt einen Sachverhalt beibringt, der, wie oben gezeigt wurde, nur mittels des Denkens zu erfassen ist; zweitens, weil sie zu einer nicht einfachhin unbegründeten Überzeugung führt. Die suggestiv beeinflußte Person stützt sich zum wenigsten auf die Autorität des Sprechenden. Die Suggestion wird darum begünstigt durch alles, was die Autorität des Suggerierenden erhöht, sowie durch alles, was eine kritische Haltung der Vp ausschließt. Darum sind Kinder, Frauen und Ungebildete leichter suggestiv zu behandeln als an kritisches Denken gewöhnte Erwachsene. Die bekannte Definition der Suggestion als der Einführung einer kritiklos aufgenommenen Vorstellung, die sich unbehindert auswirken kann, legt darum eine irrige Anschauung nahe. Es handelt sich nicht um die Erzeugung von Vorstellungen, sondern um die von Gedanken, von Überzeugungen, allerdings unter Ausschaltung der Kritik. Der suggerierte Inhalt lebt sich sodann nicht, einem eingeführten Bazillus vergleichbar, automatisch aus, sondern das Individuum benimmt sich ganz rational der erworbenen Überzeugung gemäß. Dabei unterstützen sich Überzeugung und anschauliche Vorstellung gegenseitig. Die Überzeugung von dem Vorhandensein einer Münze veranlaßt das illusionsartige Auftreten der anschaulichen Vorstellung der Münze, und dies hinwiederum bekräftigt die Überzeugung.

Anders ist wohl folgende Suggestionswirkung zu verstehen. Der Arzt hebt den Arm eines Kranken hoch mit den Worten: Ihr Arm ist ja gelähmt, und der Kranke vermag den Arm nicht mehr herabzulassen. Hier wird auch eine Überzeugung in dem Patienten geweckt. Indes nach all unserem Wissen hat eine Überzeugung keinen unmittelbaren Einfluß auf das Können oder Nichtkönnen. Hier haben wir es wohl mit einer Störung des assoziativen Ablaufes zu tun. Auch die best erlernte Reihe kann durch eine gründliche Ablenkung gestört werden: Der Geistliche, der sein Vaterunser schon tausendemal für sich und hundertemal laut vor der Gemeinde gebetet hat, wird stecken bleiben, wenn ihm während des Betens ernsthaft die Sorge kommt, ob er die Worte wohl richtig aufsagen werde. Die intensive Ablenkung der Aufmerksamkeit, namentlich wenn sie mit stärkeren Gefühlen verbunden ist, leitet die psychophysische Energie, so müssen wir es uns im Einklang mit allem Früheren denken, von den betreffenden Vorstellungsbahnen ab und sammelt sie auf einen anderen Punkt. Der Glaube an die Worte des Arztes, verbunden mit dem nicht geringen Schreck, läßt den Patienten seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Mitteilung richten und entzieht ihm die zur Armbewegung benötigte psychophysische Energie.

Die Einleitung der Hypnose bedient sich nun zunächst der eigentlichen Suggestion: Sie werden müde werden und[S. 297] einschlafen. Dann sucht sie aber auch die zum Schlafkomplex gehörigen anschaulichen Vorstellungen zu wecken: die Vp muß sich bequem hinlegen; sie muß die hochgehaltenen Finger des Hypnotiseurs fixieren und dadurch ihre Augenmuskeln ermüden; sie folgt dann den unbemerkt sich senkenden Fingern mit den Augen, wodurch ein Zufallen der Augenlider aus Schläfrigkeit vorgetäuscht und andere zum Einschlafen gehörige Vorstellungen reproduziert werden. Dies alles stärkt natürlich die Überzeugung von der suggestiven Macht des Hypnotisators. Ganz ähnlich wie der Mittagsschlaf gelingt auch der hypnotische nach mehreren Wiederholungen besser. Die Erscheinungen im hypnotischen Schlaf werden nun im wesentlichen begreiflich, wenn wir uns ihre Bedingungen vergegenwärtigen. Die Hypnose ist ein Schlafzustand. Es gilt also alles, was über Schlaf und Traum gesagt wurde. Sie ist jedoch kein voller aus der Ermüdung stammender Schlaf, sondern ein assoziativ herbeigeführter. Somit wird dem Zentralorgan nur ein Teil seiner Energie entzogen, und die Ausschaltung des motorischen Apparates ist keine vollständige. Weiterhin ist es ein Schlaf, in welchem die Bewußtseinsinhalte einer systematischen Leitung von außen unterliegen. Und endlich ein Zustand, bei dem die Suggestion im eigentlichen Sinne wirksam bleibt. Vielleicht ist es gerade aus dem letztgenannten Grunde so wichtig, daß die Hypnose nicht durch irgendwelche Einschläferungsmittel, sondern durch die Einsicht der Vp, daß sie einschlafen werde, eingeleitet wird. Aus den aufgezählten Bedingungen wird man nun die verschiedenen Erscheinungen der Hypnose ohne Schwierigkeit ableiten können. Nur auf einzelne Fragen sei noch kurz eingegangen.

Es schien, als ob die Vpn auch gegen ihren Willen hypnotisierbar seien; denn trotz ihres entschiedenen Widerwillens verfielen sie dem hypnotischen Schlaf. Erinnern wir uns an die Ausführungen über das assoziative Äquivalent, so wird uns weder diese Tatsache noch die entgegengesetzte Behauptung wundernehmen. Das bloße „ich will nicht“ nützt eben nichts, wenn nicht auch die Verhaltungsweise[S. 298] bereit steht, durch die es in die Tat umgesetzt wird. Wer nicht hypnotisiert sein will, muß eben ein Verhalten annehmen, das der Einschläferung durch einen fremden Willen widerstreitet: er darf nicht an die Versicherung des Hypnotisators, er, der Patient, werde bald einschlafen, glauben und darf jene seelische und körperliche Haltung nicht annehmen, die man zum Zwecke des Einschlafens aufsucht. Daran lassen es solche fehlen, die gegen ihren Willen hypnotisiert werden. Eine eigentliche Willenslähmung in der Hypnose selbst brauchen wir ebensowenig anzusetzen wie beim Traum. Nur sind ähnlich wie dort die zu einer besonnenen Wahl erforderlichen Reproduktionen eingeengt. Auch die posthypnotischen Suggestionen lassen die Willenskraft des Individuums unangetastet. In der Hypnose wird nämlich der spätere Zeitpunkt assoziativ mit der auszuführenden Handlung bzw. der ihr zugehörigen Zielvorstellung verknüpft. Naht dann der Augenblick, so steigt in der Vp jene Zielvorstellung wie ein Einfall auf, und sie verspürt eine Neigung zu jener Handlung. Dieser Neigung gibt sie nach, falls die Handlung ihr nicht gar zu sehr widerstrebt. Eine Behinderung der persönlichen Freiheit und Verantwortlichkeit liegt darin nicht. Denn der Hypnotisator hat ihr nur den Gedanken und eine gewisse Neigung zur Ausführung beigebracht; nur kennt die Vp den Ursprung dieser Neigung nicht. Die Ausführung hingegen liegt ganz bei ihr, gerade so, wie wenn sie im Wachzustand von einem Dritten zu einer bestimmten Handlung überredet werden soll. Übrigens gelingt die Termineingebung nicht bei allen Individuen. Verlangt aber die posthypnotische Suggestion eine sehr umständliche Handlung, so sollen manche Individuen von selbst in den hypnotischen Zustand zurückfallen.

Literatur

A. Forel, Der Hypnotismus (1911).

[S. 299]

NAMENVERZEICHNIS

[S. 302]

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Dr. J. Lindworsky

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seine Erscheinung und seine Beherrschung

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Die dritte, stark erweiterte Auflage bringt an neuem Stoff u. a. Berichte über schwer zugängliche Zeitschriften-Literatur, insbesondere amerikanischen Ursprungs, sodann über Untersuchungen von O. Selz, K. Lewin und dem Verfasser selbst. Diese neueren Arbeiten ermöglichen es, nunmehr so zentrale Fragen wie die nach der Erlebnisweise der Motive, dem Ursprung des Willensaktes, der Kraft des Entschlusses, sowie eine Theorie der Willenshandlung vom empirischen Standpunkt aus anzugreifen. Außerdem findet sich ein völlig neuer Abschnitt: „Die Willensdefekte vom Standpunkte der Normalpsychologie“ und ein Anhang: „Grundsätzliches zur Willensprüfung“, der namentlich das Interesse der Psychotechniker berührt.

Deutsche Reichszeitung“: Die Bedeutung dieser Arbeit liegt darin, daß der Verfasser hier erstmalig die neuere experimentelle Willensforschung aufarbeitet. Die Ergebnisse dieses knapp zwei Jahrzehnte alten modernsten Zweiges der Psychologie werden gründlich überprüft und in ihrem bleibenden Gehalt zusammengetragen, Literaturhinweise geleiten sie sicher durch die Wege der Forschung. Nächst dem Psychologen wird der Erzieher dem Verfasser danken, daß er sorgsam die Gesichtspunkte entwickelt, unter denen die Charaktererziehung als wichtigster Teil der Pädagogik auf die Seelenforschung sich gründen und von ihr aus weiterkommen kann und muß. Seelenerkenntnis und Seelenführung schließen einen engen Arbeitsbund. — Für die Kernaufgabe der Pädagogik, die Charakter- und Willensbildung, ist hier ein Grundwerk gegeben; es gehört in die Bibliothek auch des Erziehers, des Geistlichen, der Seminare usw.

Katholische Schulblätter“: Darum darf eine solche tiefgründige Studie von vornherein darauf rechnen, beachtet zu werden. Eine Arbeit, die, wie Lindworskys, ein vollständiges Bild der experimentellen Willensforschung bietet und so scharf ihr bisheriges Ergebnis herausstellt, gab es bisher noch nicht. Dieses ist auch beachtenswert, ja bedeutend genug, um hier mitgeteilt zu werden.

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