Title: Röschen, Jaköble und andere kleine Leute
Ein Geschichtenbuch für Kinder und Kinderfreunde
Author: Anna Schieber
Illustrator: Amalie Bauerle
Release date: March 20, 2025 [eBook #75672]
Language: German
Original publication: Stuttgart: Verlag von D. Gundert, 1923
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind korrigiert worden.
Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Textes verschoben.
Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt
.Ein Geschichtenbuch für Kinder und Kinderfreunde
von
Anna Schieber
Mit Bildern von Amalie Bauerle
9.-16. Tausend
1923
Verlag von D. Gundert in Stuttgart
Druck: Christliches Verlagshaus, G. m. b. H., Stuttgart
Seite | ||
1. Was das Röschen zu verschenken hatte | 3 | |
2. Die Geschichte vom dummen Frieder | 11 | |
3. Wer die Mutter am liebsten hatte | 17 | |
4. Vom Jaköble, der nicht »Ja« sagen konnte | 22 | |
5. Kätterles Christbaum | 34 | |
6. Die Gottswillenkinder | 43 | |
7. Zweierlei Reichtum | 85 | |
8. Gretels Ferientage | 115 | |
9. Wie Heini den Rückweg fand | 123 | |
10. Ein Ersatz | 140 | |
11. Eine Reise in die Welt | 158 | |
12. Die Botenflori | 173 | |
13. Augenblicklich | 184 | |
14. Angelika | 191 | |
15. In die Sonne | 205 | |
16. Aus dürrem Erdreich | 221 |
[S. 3]
Ganz am Ende des Dorfes stand ein kleines Häuschen. Es sah ein bißchen wackelig aus, es lehnte nur so an einer Mauer, auf der Gras und allerlei Unkraut wuchs. Dem Röschen machte das aber keinen Kummer, das lebte ganz vergnügt und zufrieden in den Tag hinein und besann sich gar nicht, ob es am Ende Kinder gebe, die besseres Essen und schönere Kleider haben und ein schöneres Haus, um darin zu wohnen. Das Röschen war das einzige Kind im Hause. Der Vater saß den ganzen Tag auf seinem Stühlchen und flickte Schuhe und Stiefel, wenn er welche hatte, und die Mutter kochte und wusch und besorgte die Geiß und das Äckerlein. Und alle beide, der Vater und die Mutter, jammerten oft, daß sie so arm seien und das Häuschen so schlecht, und wenn das Röschen sang und sprang und immer lustig war, schüttelten beide den Kopf und sagten: »Das wird's schon noch anders lernen!«
Eines Morgens war das Röschen früh aufgestanden und hatte sich schnell fertig gemacht. Das war allerdings bald geschehen gewesen, denn es hatte nur ein einziges Röcklein anzuziehen und die Füßchen blieben bloß. Jetzt im Sommer, wo es warm war, gingen viele Kinder barfuß.
Jetzt stand das Röschen unter der Haustür und besann sich, ob es lieber zuerst in den Stall wolle und nach der Geiß sehen oder lieber gleich auf ein Schemelchen steigen und der Mutter ein wenig am Waschzuber helfen. Das war beides sehr vergnüglich. Dann entschloß es sich, ganz zuerst sein Stück[S. 4] Brot zu essen, das es in der Hand hielt, denn es hatte seine Milch nur leer ausgetrunken.
Da schlürfte ein alter Mann an das Häuschen heran, der steckte in einem ganz zerrissenen Kittel und zu den Schuhen guckten die Zehen heraus. »Guten Morgen, Kind,« sagte er, »ist die Mutter daheim? So geh und frag sie einmal, ob sie einem armen Mann ein bißchen was zu essen habe. Ich komme schon weit her heute und habe noch nichts gehabt.«
»Hab' nichts zu verschenken, hab' gar nichts zu verschenken,« rief die Mutter aus dem Häuschen. »Ich wär' selber froh, wenn mir einer etwas schenkte. Jawohl, die Mauer will einfallen und der Gartenzaun ist kaput und alle Hemden haben Löcher und nirgends ist ein Geld zu neuen. Gibt reiche Leut' genug, geht zu denen; wir sind selber arm.« Der alte Mann wollte traurig weitergehen, da legte ihm Röschen schnell sein Brot in die Hand und sprang ins Häuschen zurück, eh' er sich noch bedanken konnte.
Die Mutter hatte es aber gerade noch gemerkt und zankte nun auch mit dem Röschen.
»Du darfst kein Brot verschenken,« sagte sie, »ich hab' kein Geld zu so viel Brot! Sei froh, wenn du selber hast.«
Das Röschen war ein wenig rot geworden. »Ich habe keinen so argen Hunger,« sagte es, »es ist gleich, wenn ich jetzt kein Brot bekomme.«
»Ja, dann bist du am Mittagessen um so ausgehungerter,« sagte nun auch der Vater. »Also du merkst dir's, du hast dein Brot nicht zum Verschenken, sondern zum Selberessen!«
Zuerst war das Kind ein wenig betrübt, denn es hatte nicht unartig sein wollen, der arme Mann hatte ihm so leid getan, und es mochte überhaupt so gern etwas verschenken. So gern!
Aber dann vergaß es seinen Kummer wieder. Draußen auf der Straße wackelte der kleine dicke Philipp daher, Röschens[S. 5] ganz guter Kamerad und Schützling, das Büblein des reichen Schafbauern. Der Philipp lachte über sein ganzes rundes Gesicht, als er sein Röschen sah. Er strebte, wo er nur konnte, zu ihm hin, denn das Röschen konnte so nett mit ihm spielen und sogar Geschichten erzählen. »Vom Wolf und den sieben Geißlein« und »vom Hänsel und Gretel« und noch anderes.
Die Mutter zankte zwar manchmal. »Sollen sich selber eine Kindsmagd halten, so reiche Leut,« sagte sie, wenn der Philipp angewackelt kam: »Rösle, 'schicht zählen!«
Aber dann freute sie sich allemal doch auch wieder, wenn die Kinder so einträchtig zusammenhausten und das Röschen so recht wie ein Mütterlein für den Kleinen sorgte. Heute kam der Philipp in einem besondern Aufzug. An einem Fuß hatte er einen flammroten Strumpf und sonst nichts, der andere steckte in einem mächtig großen Pantoffel, der offenbar seiner Mutter gehörte. Den zweiten Strumpf trug er in der Hand und dann noch etwas Glitzerndes. Als Röschen näher hinsah, war es eine silberne Taschenuhr, die der kleine Schelm jedenfalls heimlich mitgeschleppt hatte. »Tiktak machen,« sagte er ganz fröhlich. Daß der Philipp von daheim durchgegangen sei, sah Röschen wohl, und daß man ihn sogleich wieder heimbefördern mußte, wußte sie auch. Aber der kleine Ausreißer war nicht gesonnen, sich heimführen zu lassen. Und die Uhr, die das verständige Röschen[S. 6] gerne tragen wollte, mochte er auch nicht aus den Händen lassen. Und doch mußte es sein!
Röschen wußte aber einen Rat. Entschlossen griff sie in ihre Tasche und holte da ein Bildchen heraus, schön farbig, mit Schäfchen auf der Weide und Kindern mit Blumenkränzen auf dem Kopf dabei. »Da, Philipple, komm, gib mir das Tiktak, so kriegst du das Bildchen dafür. Aber dann mußt du ganz brav mit heimgehen.«
Das wirkte Wunder. Das widerspenstige Geschrei hörte auf, und die beiden trotteten Hand in Hand des Schafbauern Haus zu.
Es hatte dem Röschen zuerst ein wenig leid getan, das Bildchen in die Hand des kleinen Buben zu stecken. Es war in einem Zichorienpäckchen gewesen und Röschen hatte es eigentlich morgen der Mutter schenken wollen. Denn da war der Geburtstag der Mutter, und diese hatte erst noch neulich, als man im Pfarrhaus den Geburtstag der Frau Pfarrerin gefeiert hatte, gesagt: »Jetzt so ein Lebtag, wie das ist in dem Haus! Jawohl, mein Geburtstag ist auch bald und mir schenkt niemand nichts!« Seither hatte Röschen das Bildchen als Schatz gehütet und oft gedacht: »Ja, ja, du wirst dann schon sehen, daß dir auch jemand was schenkt, Mutter!«
Aber das Röschen konnte nichts dafür! Wenn es etwas zu verschenken hatte, so kribbelte ihm das so lange in der Tasche und in den Händen, bis es richtig draußen war. Dann war es wieder so vergnügt wie der Hans im Glück. Und jetzt hatte sie doch das Büblein beruhigen müssen.
Die Schafbäuerin stand schon unter der Haustür und schaute nach ihrem Kleinen aus, als die zwei ankamen.
Sie hatte schon das ganze Haus nach dem Philipp ausgesucht und war jetzt nur froh, daß er wieder da war. Eben kam auch der Bauer unter die Tür. »Wo kann nur auch[S. 7] meine Uhr sein?« fragte er. »Ich suche sie schon allenthalben.« Da streckte das Röschen die Uhr hin, die sie sorglich im Schürzchen getragen hatte, und erzählte den Hergang. »Du bist brav, Rösle,« lobte der Bauer, »so ist's recht. Komm aber, komm, du mußt auch ein paar schöne Äpfel haben, weil du so gut aufgepaßt hast.« Und das Röschen ließ sich vergnügt sein Schürzchen füllen mit so schönen rot und gelben Äpfeln, wie es noch gar nie gehabt hatte. Dann zog es schnell wieder ab, denn es war ein neuer Gedanke in ihm aufgestiegen.
Die Äpfel konnte man heute gut verstecken und am Morgen der Mutter auf einen Teller legen. Das war noch ganz anders als ein Bildchen! Und dann sollte sie noch einmal sagen: »Mir schenkt niemand nichts!«
Aber unterwegs begegneten dem Röschen zwei kleine Geschwister; die weinten so herzbrechend, daß es das Röschen ganz erbarmte. »Drum ist der Jaköble hingefallen und hat sich die Hosen so zerrissen, daß man sie vielleicht nicht mehr flicken kann,« sagte das Schwesterlein, »und jetzt kriegen wir vielleicht alle beide Schläge.« Und dann weinten sie wieder zur Gesellschaft alle zwei weiter. Das war schlimm, das sah das Röschen auch ein. Aber dann fiel ihm auf einmal ein, daß es eine schöne Stecknadel mit einem blauen Glasknopf an seinem Tuch stecken hatte. Die hatte es gestern gefunden. Sie war zwar ein bißchen rostig, aber man konnte doch gut den allergrößten Lappen damit hinaufstecken, man sah es gar nicht mehr so arg. So lang hatte das kleine Mädchen das Schürzchen halten müssen, daß die Äpfel nicht herausfielen; jetzt sah das Röschen wohl, wie verlangend alle zwei nach den schönen Äpfeln sahen. »Da, so habt ihr jedes einen,« sagte es schnell, damit es sich nicht noch anders besinne, und gab zwei der schönen Äpfel hin. »Es sind immer noch viel,« tröstete es sich. »Am Ende hätten nicht einmal alle auf einem Teller Platz gehabt.«
[S. 8]
Und vergnügt kam es an seinem Häuschen an, ging aber nicht vornen zur Haustür hinein, sondern schlüpfte durch ein Loch in dem Zaun, um die Äpfel hinten an der Mauer zu verstecken. Auf einmal hörte es ein Geräusch hinter sich. Da stand ein fremder Herr mit einer Brille und einem Rucksack, der hatte ganz merkwürdige Blumen in der Hand. »Keine schönen,« dachte das Röschen, »und überall sind noch die Wurzeln dran und noch Erde.« Der Herr sagte ganz freundlich »guten Tag« zu Röschen und fragte dann gleich: »Hör, Kleine, da droben auf der Mauer wächst eine Pflanze, sieh die mit den haarigen Blättern und der kleinen gelben Blüte! Die muß ich haben, die fehlt mir in meiner Sammlung, kann ich mir sie holen?« Das Röschen war ganz erstaunt, daß der Herr die Blume wollte, die doch gar nicht schön aussah, und es sagte ganz bereitwillig: »Du kannst auch eine schönere haben, vornen am Haus sind auch Astern, blaue und rote.«
»Astern brauche ich nicht,« sagte der Herr, »gerade die möchte ich haben, willst du mir sie geben?«
»Ja freilich,« lachte Röschen; »Blumen darf ich schon herschenken, da zankt die Mutter nicht, nur Brot nicht und nichts, was man um Geld kaufen muß, weil man keins hat.« Und damit stieg sie auch schon an der verwitterten Mauer in die Höhe; man konnte das gut, es stand da und dort ein[S. 9] Stein weit hervor. »Nicht abreißen, hörst du?« rief ihr der Herr nach. »Mit der Wurzel ausziehen, ganz sachte, so!« Triumphierend brachte das Röschen die ganze Pflanze in der Hand daher, ihr Gesicht strahlte. »Was freut dich denn so, Kleine?« sagte der Herr wohlgefällig; es gefiel ihm, daß das Röschen so bereitwillig war. »Alles freut mich,« erklärte Röschen. »Daß ich morgen der Mutter die Äpfel geben kann und daß es doch noch einen für das Jaköble und seine Schwester gelangt hat, und daß dem Philipp mein schönes Bildle so gefallen hat und dir die Blume — und alles!« Röschen mußte einen tiefen Atemzug tun, denn es hatte sehr viel auf einmal gesagt und das war es nicht gewohnt. In dem Gesicht des fremden Herrn hatte es ein paarmal gezuckt, so, als ob er das Lachen verbeißen müßte. Aber dann wurde er wieder ganz ernsthaft, denn es fiel ihm ein, daß daheim seine Buben und Mädchen viel schönere und bessere Sachen hatten als das Röschen, und daß es ihnen nicht einfiel, sich zu besinnen, wem sie eine Freude damit machen könnten.
So legte er jetzt ganz väterlich seine Hand auf den Kopf des kleinen Mädchens und sagte: »So ist's recht, Röschen, so ist's recht! Aber weißt du, mich freut's auch, wenn ich etwas herschenken kann. Sieh, das nagelneue Fünfzigpfennigstück, das schenke ich dir, da kannst du dir selber etwas drum kaufen, das dir Freude macht!«
Das Röschen war ganz rot geworden vor Freude. »Was ich nur will und muß niemand fragen?« sagte es und streckte die Hand aus nach dem Schatz. »Ja,« sagte der Herr, »aber lieber keine Bonbons, das gibt schwarze Zähne.«
Das Röschen war aber noch keinen Augenblick gesonnen gewesen, sich Bonbons zu kaufen. Es sah ganz verwundert auf, daß man an so etwas denken konnte. Dann konnte es aber nicht mehr länger stehen bleiben, denn es hatte einen[S. 10] Gedanken auszuführen, den das Geldstück in ihm hervorgerufen hatte. So sagte es nur noch: »Vergelt's Gott und Ade!« zu dem Herrn und lief dann davon, schnell, schnell die Dorfgasse hinauf.
Das war am andern Morgen ein Verwundern in dem Häuschen! Die Mutter war aufgestanden und zuerst in den Stall gegangen wie gewöhnlich. Aber als sie wieder in die Stube kam, lag auf dem Tisch eine riesige Brezel, von einem Kranz von Äpfeln umgeben. Und von der Hängeampel herunter baumelte, an einem roten Schnürchen angebunden, eine Wurst! Und das Röschen stand daneben und lachte wie ein Kobold. »Das ist dein Geburtstag, Mutter,« rief es und klatschte in die Hände. »Jetzt hast du's auch wie die Frau Pfarrer, jetzt ist auch ein Lebtag bei uns.« Die Mutter mußte sich setzen, so sehr hatte sie die Bescherung angegriffen. Und der Vater kam mit der Schuhbürste in der Hand heran und hätte gern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn er sie frei gehabt hätte. »Ja, woher denn und wieso das alles?« wollten aber beide Eltern jetzt wissen. »Uns schenkt doch niemand nichts!«
Aber das Röschen wußte es besser. Und wir wissen's auch. Denn wer etwas zu verschenken hat, bekommt allemal wieder etwas und wenn's nur ein fröhliches Herz ist.
[S. 11]
Es war einmal ein Büblein, das saß auf einem Mäuerchen ganz nahe bei dem großen Spielplatz, wo die Kinder des Dorfes Ringelreihe spielten und »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« und noch vieles andere. Es sah immerfort zu den lustigen Kameraden hinüber, denn es hätte gar zu gern auch mitgetan. Aber das durfte es nicht. Denn die andern Kinder sagten es ihm alle Tage und seine eigenen Brüder sagten es auch, daß es zu dumm dazu sei. Ja, sie hießen das Büblein nur den dummen Frieder. Die Brüder und die Nachbarsbuben und alle Kinder, die der Frieder kannte, gingen in die Schule, lernten lesen und schreiben und auch singen. Und das hätte der Frieder auch sehr gern getan, aber dazu war er auch zu dumm. Er konnte die Buchstaben nicht verstehen und konnte nicht behalten, daß zweimal zwei vier ist. Der Herr Lehrer wollte den Frieder nicht in der Schule haben, und so blieb er denn zu Hause. Oder vielmehr, er zog alle Tage, an denen es nicht regnete, mit dem Kinderwägelchen hinaus an das Mäuerchen unter der großen Linde. In dem Wägelchen saßen die beiden kleinen Geschwister, die der Frieder zu hüten hatte. Denn das konnte er am besten, und die Base, die für ihn und die Geschwister sorgte, sagte immer, das sei das einzige, wozu er zu gebrauchen sei. Der Vater ging immer schon am frühen Morgen auf Arbeit aus und eine Mutter hatten die Kinder nicht mehr. Sie war gestorben, als das allerkleinste noch im Tragkissen lag, und seither gab es keinen Menschen mehr, der den dummen Frieder lieb gehabt hätte. Er konnte nichts[S. 12] recht behalten, er vergaß sehr oft, was man zu ihm sagte; aber daran dachte er doch noch oft, wie ihm die Mutter allemal mit der Hand über den Kopf gefahren war und gesagt hatte: »Sei du nur brav und folgsam, Friederle, dann habe ich dich gerade so lieb wie die andern! Und der liebe Gott auch!«
So sagte jetzt niemand mehr. Der Vater sagte nur manchmal: »Wenn ich nur wüßte, was man aus dem Buben machen soll, er ist zu allem zu dumm!« Und die Brüder schoben ihn dahin und dorthin und ließen ihn nicht mitspielen und nicht mitarbeiten, wenn sie Futter schnitten für die Kuh oder[S. 13] Gras holten an den Rainen für die Geiß und für ihre braunen Hasen.
Nur der ganz kleine Hannes, der noch nicht recht allein gehen konnte, hing sich immer an ihn und wollte getragen sein. Und das allerkleinste Annele, das noch nichts sagen konnte als »adda«, zappelte aus Leibeskräften, wenn es den Frieder sah, und rief so lange sein einziges Wort, bis er seine Kappe nahm und mit ihm hinausfuhr, immer an das gleiche Plätzchen. Dort saß er dann und trug den Kleinen Steinchen zusammen zum Spielen und grüne Blätter. Sie konnten sich allein vergnügen, denn der Frieder sprach nicht viel mit ihnen. Er sah nur immerfort auf das Wägelchen, und wenn der Hannes nicht mehr darin sitzen wollte, nahm er ihn heraus und auf den Arm.
Man konnte von hier aus hören, wenn die Kinder in der Schule sangen. Das war dem dummen Frieder die größte Freude. Dann machte er den Kleinen mit dem Finger ein Zeichen, daß sie still sein sollten, und alle drei horchten mäuschenstill, bis der Gesang zu Ende war.
Weil aber nun die andern Dorfkinder wußten, daß der Frieder das Kinderhüten verstehe und sonst nichts, so dachten sie, es sei dann gleich, ob er noch ein paar mehr zu hüten habe oder nicht. Und weil sie selber gern spielen wollten, so stellten sie nur eins ums andere von ihren Kinderwägelchen samt den Kleinen darin unter die Linde: »Da, Frieder, paß auf mein Rösle auf, aber laß es nicht 'rausfallen!« »Frieder, guck auch nach meinem Georg, daß ihm niemand nichts tut.«
Und der Frieder lachte noch ganz vergnügt dazu. Dazu war er doch nicht zu dumm! Und dann trug er seine glatten Kieselsteinchen der Reihe nach zu allen Kleinen, und wenn eins aufstehen wollte oder auf dem Boden nach den Brennesseln zurutschte, dann hob er den Zeigfinger auf und sagte:[S. 14] »Bscht! Mußt auch brav sein und folgsam! Dann mag ich dich auch so wie die andern und der liebe Gott auch!« Ich weiß nicht, ob das die Kleinen recht verstanden haben, aber gefolgt haben sie dem Frieder besser, als ihren klugen Brüdern und Schwestern.
An einem schönen Abend saß der Frieder auch an seinem Plätzchen und hatte eine ganze Reihe von Wägelchen um sich her, und auf dem Boden und an dem Mäuerchen umher spielten und krabbelten lauter kleine Buben und Mädchen. Die großen spielten: »Als ich einst reiste aus dem Savoyerland,« und Frieder konnte sich nicht satt hören und sehen. Auf einmal hörte er ein lautes Wagengerassel und als er hinsah, kam den Berg herunter ein Fuhrwerk ohne Fuhrmann. Die Pferde rasten, wie wenn sie wild geworden wären, und der Fuhrmann kam erst weit hintendrein. Und als der Frieder noch näher hinsah, merkte er erst, daß ein kleines Büblein mitten im Weg saß und mit Steinen spielte. Sein Kindsmägdlein aber sang mit den andern und hörte und sah nichts davon. Was sollte der dumme Frieder machen? Er fürchtete sich vor Pferden und doch wußte er wohl, daß der kleine Adam überfahren werde, wenn er ihn nicht weghole.
Und es fiel ihm auch noch ein, daß die Mutter immer gesagt hatte: »Wenn der Frieder dabei ist, passiert den Kleinen nichts. Der läßt keinem etwas geschehen.«
Jetzt lachte er vergnügt in der Erinnerung. Nein, er ließ keinem etwas geschehen. Viel schneller, als schon jemand den dummen Frieder hatte laufen sehen, war er auf der Straße, gerade vor den wilden Pferden, und riß den kleinen Adam in die Höhe und auf die Seite. Aber so schnell konnte er's doch nicht tun, daß nicht der eine Schimmel noch Zeit gehabt hätte, ihn mit dem Fuß zu schlagen! Das tat einen Augenblick sehr weh, aber dann spürte er gar nichts mehr. —[S. 15] Als der Frieder wieder aufwachte, lag er in seinem Bett. Dahin hatte man ihn getragen, weil er gar nichts mehr von sich gewußt hatte und wie tot dagelegen war, als ihn das Pferd gestoßen hatte. Es fiel ihm nicht gleich wieder ein, warum er im Bett sei, und überhaupt nichts von dem, was geschehen war, da hörte er den Vater sagen: »Das ist noch gut gegangen! Der dumme Bub' hätte ja zu tot gefahren werden können. Läuft gar noch den Gäulen vor die Füße und unter die Wagenräder.«
Da fiel es dem Frieder wieder ein, was ihm begegnet war, und er wollte gerade sagen: »Man darf den Kleinen nichts passieren lassen, die Mutter hat's gesagt!« Da kam eine junge Frau in die Stube. »Wo ist der Frieder?« fragte sie. Und dann kam sie an sein Bett und küßte ihn und streichelte sein Haar, gerade wie die Mutter, und sagte: »Kein Mensch soll dich mehr dummer Frieder heißen! Du hast mir mein Büblein vor den wilden Gäulen errettet, und wenn du das nicht getan hättest, dann hätte ich jetzt kein Kind mehr.« Der Frieder machte die Augen zu und lachte still vor sich hin. Es war ihm, wie wenn seine Mutter wieder da wäre. Aber die Bäuerin ging noch nicht. Sie sagte zum Vater: »Wenn der Frieder wieder aufstehen kann, dann gebet ihn doch mir. Ich will ihn ganz versorgen und er soll es gut haben bei mir. Mein Mann ist auch damit einig. Euch ist er ja doch eine Last!«
Das wollte der Vater zuerst nicht, und auch die Base und die Brüder nicht. Denn dann hatte man niemand mehr, der die Kleinen hüten konnte, und das hatte der dumme Frieder am besten verstanden.
Aber die Bäuerin ließ nicht nach. Und als der Frieder wieder gesund war, holte sie ihn auf ihren Hof. Da durfte er allerlei lernen, und der Bauer sagte oft: »Der Frieder ist[S. 16] gar nicht so dumm, wie er aussieht.« Er durfte im Stall und auf dem Feld und in den Obstgärten helfen und konnte ganz tun, als ob er zu Hause wäre.
Aber am glücklichsten war er doch, wenn die Bäuerin nach der Stadt oder aufs Feld wollte und dem Frieder vorher mit der Hand über das Haar strich, wie seine Mutter getan hatte, und dann zu dem Bauern sagte: »Da kann man ruhig sein. Dem Adam passiert nichts, wenn der Frieder dabei ist. Der läßt keinem Kleinen etwas geschehen!«
[S. 17]
In einer großen, freundlichen Schlafstube standen vier Bettchen, immer eins etwas größer als das andere. Und in den Bettchen lagen vier Kinder, auch immer eins größer als das andere. Sie schliefen aber noch nicht, obgleich sie schon ihr Nachtgebet gesprochen hatten, sondern jedes sah ganz erwartungsvoll nach der Türe. Denn die Mutter war von Kathrine, der Köchin, in die Küche geholt worden, und ehe man einschlief, mußte sie noch einmal kommen und jedem Kind einen Gutenachtkuß geben. Das konnte man sich gar nicht anders denken. Hänschen, der kleinste, rieb sich immerfort die Äuglein, denn die wollten ihm zufallen; da kam die Mutter herein. »Wer wacht noch von meinen kleinen Schelmen?« fragte sie. »Ich, ich,« riefen alle und jedes wollte die Mutter zuerst bei sich haben. »Mütterlein, ich habe dich doch am aller-allerliebsten,« sagte Gustav. Er war schon zehn Jahre alt und ein fleißiger Schüler. Und er machte heimlich einen schönen Lampenschirm für die Mutter, den sollte sie morgen bekommen; deshalb dachte er, er habe die Mutter am liebsten, denn so etwas konnten die Kleinen nicht tun. Aber diese wollten sich's nicht gefallen lassen; sie wollten die Mutter auch am liebsten[S. 18] haben, und es hätte beinah' Streit gegeben unter den Geschwistern.
Da sagte die Mutter: »Für heute seid ihr nun alle zusammen ganz still und schlafet flugs ein! Morgen am Tag will ich's dann sehen, wer mich am liebsten hat!« Und sie küßte ein jedes Kind und ging hinaus. Gustav mußte leise vor sich hinlachen. »Das wird sich freilich zeigen morgen!« dachte er. Aber die andern besannen sich auch, jedes für sich, wie sie es anstellen könnten, daß die Mutter es merke, und darüber schliefen sie ein. Nur Gretchen, das siebenjährige Schwesterlein, konnte noch nicht gleich einschlafen. Es war heut am Tage unartig gewesen, hatte den kleinen Hans geschlagen und trotzig mit dem Fuß gestampft, weil es nicht mit Kathrine zum Kaufmann gehen durfte. Das fiel ihm jetzt ein und es dachte: »Da glaubt's dann die Mutter freilich nicht, daß ich sie am liebsten habe! Und ich habe sie doch so lieb, daß ich's gar nicht sagen kann, wie. Aber morgen will ich gewiß sehr lieb und folgsam sein!« Und Gretchen drehte sich auch gegen die Wand und schlief ein. Weil die Mutter aber gesagt hatte, daß man ganz zuletzt vor dem Einschlafen noch beten sollte, so legte es noch die Händlein zusammen und fing an: »Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich — —.« Da schlief sie schon.
Am andern Tag war ein Sonntag. Da mußte man nicht in die Schule und der Vater nicht aufs Kontor, und Vater und Mutter gehörten, wenn sie von der Kirche kamen, den ganzen Tag ihren Kindern. Am Sonntag war es doch am allerschönsten! Die Mutter brachte schon früh die Sonntagskleider an die Bettchen und dann wollte jedes Kind zuerst fertig sein, und das summte und wimmelte durcheinander, wie bei den Bienen und den Ameisen. Heute war Moritz zuallererst fertig. Er hatte das Amt, die Milchbrote beim Bäcker zu holen, und Sonntags gab es da allemal eine Brezel für ihn als Dreingabe.[S. 19] Mit dieser hatte er heute etwas Besonderes vor. Ganz verstohlen legte er die glänzend-braune, schön gezuckerte Brezel auf die Tasse der Mutter. Da würde sie dann schon merken, daß er sie am liebsten habe. Inzwischen hatte Gustav schon den bunten Lampenschirm, mit einer Winterlandschaft darauf und verschneiten Häuschen und einer Kirche, über die Hängelampe gestülpt; er konnte kaum erwarten, bis ihn die Mutter entdecken würde. Gretchen hatte nichts zu verschenken. Sie merkte auch gar nicht, daß die Brüder etwas hatten. Sie hatte sich leise und schnell angezogen und kein einziges Mal »au« geschrieen, als ihr die Mutter die Haare kämmte. Das tat sie sonst sehr oft. Und dann machte sie sich daran, Hänschen anzuziehen, der erst fünf Jahre alt war und noch nicht allein fertig wurde. Die Mutter sah es wohl, aber sie sagte nichts darüber. Sie sah auch, daß Hänschen sehr mutwillig war und das Schwesterlein an den Haaren zog und in die Arme kniff, und daß Gretchen nur ganz verständig sagte: »Du mußt auch lieb sein, Hänschen; weißt du, nachher läßt Vater dich auf der Achsel reiten!«
Beim Frühstück entdeckte die Mutter die Geschenke und freute sich sehr darüber, und als Hänschen das sah, schleppte er sein großes Bilderbuch und seinen Frachtwagen herbei: »Da, Mutter, das schenke ich dir! Nimm's nur, das Christkindlein bringt mir dann schon wieder einen neuen!« Er wollte von allen am meisten geliebt sein und streckte sein rotes Mäulchen zum Kusse her, noch ehe er sein Geschenk losgelassen hatte. Gretchen war ein wenig still, weil ihr im Augenblick nichts zu verschenken einfiel; denn so groß war sie schon, daß sie wußte, die Mutter könne nichts mit Puppen und Bilderbüchern anfangen.
So ging sie nach dem Frühstück mit Hänschen in den Garten, zog sich und ihm große Schutzschürzen an und fing an, mit ihm ein Gärtchen aus Sand und Steinen und mit Gänseblümchen anzulegen. Das mußte man sie sonst sehr oft heißen,[S. 20] weil sie viel lieber mit andern Kindern spielte, als mit dem kleinen Bruder. Aber sie wollte ja nicht mehr unfolgsam sein, der Mutter zulieb. Sie wurden beide ganz vergnügt und merkten kaum, daß schon die Kirche aus war und die Mutter hinter ihnen stand und ihnen zusah.
Die großen Brüder aber hatten die freie Zeit dazu benützt, Seifenblasen zu machen, und sich sehr mit Kathrine herumgestritten, die das nicht in ihrer schön gefegten Küche gestatten wollte. Und zum Schluß hatten sie gar noch miteinander Streit bekommen und die schöne, große Porzellan-Waschschüssel zerbrochen, in der sie ihren Seifenschaum angerührt hatten, obgleich das verboten war. Sie hätten ein irdenes Schüsselchen nehmen sollen. Die Mutter hörte den Lärm und das Klirren im Garten und kam herein. Da hatten sich die beiden gerade an den Haaren und jeder rief: »Du bist schuld, ich nicht!« Und als die Mutter den Streit schlichten wollte, blieb jeder dabei: »Er hat die Schüssel umgestoßen, ich nicht!«
Es war kein schöner Sonntag, denn die zwei Brüder machten gegenseitig Trotzköpfe aneinander hin, und es dauerte lang, bis sie wieder einig waren. Gretchen mußte den kleinen[S. 21] Hans allein unterhalten, die Großen saßen jeder für sich in einer Ecke und lasen. Und die Eltern konnten gerade heute nicht mit den Kindern spielen, denn es kam Besuch zu Vater und Mutter.
Aber als am Abend die Kinder in ihren Bettchen lagen und die Mutter zu ihnen kam, fragte sie: »Wer hat denn nun die Mutter am liebsten?« Und nur der kleine Hans rief laut und fröhlich: »Ich!« Denn Gretchen wollte nichts sagen; es dachte, die Mutter sollte es selber spüren, daß es ihm ernst sei. Und das tat sie auch. Die Brüder waren ganz still, denn es fiel ihnen auf einmal ein, daß man den ganzen Tag über nicht viel von ihrer Liebe gespürt hatte, und sie hatten doch beide am deutlichsten zeigen wollen, jeder für sich, daß er die Mutter am liebsten habe. Und sie merkten es der Mutter gut an, daß sie nicht mit ihnen zufrieden sei, trotz des Lampenschirms und der Brezel.
Aber sie horchten hoch auf, als die Mutter das Gretchen küßte und sagte: »Du hast mir heut' Freude gemacht, so ist's recht!« »Mich auch Freude gemacht,« rief Hänschen. Er wollte immer von allem seinen Anteil haben. Und den bekam er auch. Gustav und Moritz aber zogen ein jeder die Mutter zu sich herab und flüsterten: »Sicher, ich will auch nicht mehr streiten, ich will auch morgen den ganzen Tag brav sein, nicht nur morgens!« »Das ist recht,« sagte die Mutter, »denn wenn die Mutter keine Freude an euch haben kann, kann's der liebe Gott auch nicht!« Das Gretchen war schon fröhlich eingeschlafen, da sagte Gustav leise zu Moritz: »Du, hör', ich habe die Schüssel doch umgestoßen!« »Ich auch,« sagte Moritz. Dann schliefen sie auch ein, sie wollten ja morgen früh gleich damit anfangen, auch auf Gretchens Weise die Mutter lieb zu haben.
Und morgen am Tag wollen wir sehen, ob sie Wort halten!
[S. 22]
Der Jaköble hätte eins von den vergnügtesten Kindern im ganzen Dorf sein können, wenn er gewollt hätte.
Seinem Vater gehörte das große Bauernhaus am Weidenbach, den man so nannte, weil er hüben und drüben von Weidenbüschen eingefaßt war. An das Haus war eine große Scheuer angebaut und auf der andern Seite ein Stall, der enthielt so viel Schönes, daß man sich wirklich daran freuen konnte. Erstens zwei feste, starke Mohrenschimmel, dann fünf Kühe und etliche Kälbchen, und außerdem noch in besonderen Verschlägen allerlei, was dem Jaköble und seinen Geschwistern zu eigen gehörte. Einen kohlschwarzen Geißbock, Namens Hannes, und ein weißes, wolliges Schäflein mit einem Glöckchen am Hals, und dann noch viele, viele graue und braune und weiße Stallhasen.
Es war auch sonst noch viel Erfreuliches um das Haus herum zu finden. Da war der Garten vornen am Haus mit dem großen Nußbaum und der Stachelbeerhecke und den Blumenrabatten voll Pfingstnelken und Levkoyen oder Gelbveigelein, je nach der Jahreszeit. Und ging man hinten zur Haustüre hinaus, so befand man sich schon auf der großen Wiese, durch die der Bach floß und auf der nicht nur Schlüsselblumen wuchsen und Vergißmeinnicht, sondern auch Äpfel und Birnen, Kirschen und Zwetschgen. Wie gesagt, der Jaköble hätte gewiß vergnügt sein können. Wenn man so eine schöne, behagliche Heimat hat und dazu liebe Eltern und fröhliche Geschwister und einen alten Vetter Andres, der einen auf dem Schimmel[S. 23] reiten läßt, so oft man ihn bittet, und der Geschichten weiß, — mehr als der Pelzmärtel Nüsse in seinem Sack hat. Und das sind nicht wenig, hat der Andres selber gesagt.
Aber der Jaköble war doch nicht vergnügt, wenigstens nicht oft. Wenn die Liese, seine Schwester, den ganzen Tag lachte und sang, einerlei, ob sie Strümpfe flickte oder ihr Schäfchen auf die Weide führte oder der Mutter im Haus half, so stand er da, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah so nachdenklich aus, als ob er sich über ungeheuer schwierige Dinge zu besinnen habe. Und wenn der dicke Ludwig, sein Brüderlein, herangewackelt kam und sagte: »Komm, Jaköble, mach' mir eine Peitsch' aus dem Stecken und der Schnur da, so tun wir dann Gäules,« so schüttelte der Jaköble nur den Kopf und sagte nichts als: »Hm — m;« das sollte heißen: »Nein, das tu' ich nicht,« aber es war leichter zu sagen, man mußte da den Mund nicht so weit aufmachen. Fuhr der Knecht mit den Schimmeln auf die Au, um Heu zu holen, und sagte: »Geh her, Jaköble, sitz auf, mein', das ist lustig!« so brummte der nur: »Es holpert so,« und blieb am gleichen Fleck stehen. Manchmal reute es ihn gleich nachher und er hätte gern noch »Ja« gesagt, aber das brachte er dann nicht heraus, durchaus nicht.
[S. 24]
Der Vater und die Mutter hatten es schon auf alle Weise probiert, den mockigen Buben ein wenig zu ändern. Denn so konnte man keine rechte Freude an ihm haben. Aber es half bis jetzt alles nichts. Sagte die Mutter: »Jaköble, trag mir auch einen Arm voll Holz in die Küche,« so sagte er zuerst trutzig: »Nein;« und wenn er es auch nach einer Weile doch noch tat, so wies es die Mutter doch lieber die Luise an, die kein so finsteres Gesicht dazu machte.
Der Vater ging manchmal in die Stadt, weil er da zu tun hatte. Dann fragte er allemal vorher die Kinder: »Soll ich euch etwas mitbringen?« Und Ludwig und Luise riefen laut und lustig: »Ja, ja, etwas Gutes und Schönes,« und hatten allerlei Wünsche.
Der Jaköble hatte auch Wünsche, aber als er sie sagen wollte, fiel ihm auf einmal ein, daß er gestern vom Vater Schläge bekommen hatte, weil er nicht getan hatte, was er mußte. Und gleich biß er trotzig die Zähne zusammen und sagte nichts, denn er dachte: »Es ist mir dann auch gleich, wenn ich nichts bekomme.«
Es war ihm aber nicht gleich, sondern er konnte je länger, je weniger vergnügt sein. Er mußte ja sehen, wie lustig alles um ihn her war, die Geschwister und der kleine Stallbub und sogar die Gänse und Enten im Bach. Nur er hatte immer etwas, warum er nicht vergnügt sein konnte, und alle erzürnten ihn und taten, als ob er gar nicht dazu gehöre, und niemand mochte ihn leiden. So dachte der Jaköble, und das je länger, je mehr. Denn wenn man einmal anfängt, eigensinnige und trotzige Gedanken in seinem Herzen zu haben, und jagt sie nicht davon, so werden sie immer größer und machen einen immer unglücklicher. Der Vetter Andres hatte den Jaköble einmal ein Verslein lehren wollen und gesagt: »Paß auf, Jaköble, das ist etwas für dich, das mußt du lernen,« aber er hatte nur gesagt: »Ich[S. 25] muß jetzt in den Stall und den Hannes herauslassen,« und der Vetter Andres mußte sein Verslein auf spätere Zeiten aufheben.
So war der Jaköble sechs Jahre alt geworden. An seinem Geburtstag war ein schöner Schulranzen erschienen mit allem darin, was ein ABC-Schütze in der Schule braucht. Denn aufs Frühjahr sollte er in die Schule kommen, und die Eltern hofften, daß er da ein bißchen munterer und fügsamer und auch fröhlicher werden würde. »Da schleift einer den andern ab,« sagte der Vater. »Der eine hat da Ecken und der andere dort, und wenn sie sich aneinander reiben, so werden sie glatt wie zwei Mühlsteine.« Der Jaköble wollte aber nicht gern in die Schule, denn nun dachte er auf einmal, es sei viel schöner im Garten und auf dem Heuboden und im Stall, als in dem großen Schulhaus. Und darum hatte er auch keine rechte Freude an dem schönen Ranzen mit dem Fellüberzug und den goldenen Buchstaben drauf. Es war ihm ganz schwer ums Herz, und als der kleine Ludwig schmeichelnd sagte: »Laß mich ein bißle beißen von dei'm Herzlebkuchen,« stieß er ihn weg und sagte: »Wenn ich dumm wäre.« Er hatte nicht bös gegen das Brüderlein sein wollen, er war nur sonst schon widerwärtig aufgelegt.
Die Mutter sah es, aber sie sagte nichts, denn sie wollte heute nicht zanken. Sie gab nur dem Kleinen eine Birne in die Hand und sagte: »Komm, du darfst mir helfen Küchlein backen.«
Nachher erzählte sie es aber dem Vater, und beide Eltern beschlossen, daß der Jaköble nun einmal mit Güte oder Strenge anders werden müsse. So gehe das nicht fort.
Zuerst wollte es der Vater noch einmal mit einer rechten Freude probieren, die er dem Buben machen wollte. Er mußte am Nachmittag in die Stadt. Da dachte er, die Schimmel an das blaue Bernerwägelein zu spannen, und die beiden größeren Kinder, Liese und Jaköble, mitzunehmen. Das hätte nun den Jaköble freuen können, wie nicht leicht etwas. Denn so fröhlich[S. 26] und liebevoll, wie der Vater immer war, wenn er frei von Sorgen und Geschäften mit seinen Kindern zusammen sein konnte, so konnte man nicht leicht wieder einen finden.
Liese hüpfte auch immerfort bald auf dem rechten, bald auf dem linken Fuß ums Haus herum, nur um ihrer Freude Luft zu machen, und dann rannte sie allemal wieder zu der Mutter in die Küche und fragte sie immer wieder etwas Neues. Denn sie wollte sich gern die zu erwartenden Freuden genau ausmalen.
Der Jaköble war gerade bei Hannes im Stall gewesen, als Liese herangehüpft kam und ihm die große Neuigkeit erzählte. Er wollte sich gerade anfangen zu freuen, da sagte Liese zum Unglück noch: »Gelt, mir geht's gut! Wie mein Geburtstag gewesen ist, habe ich mit dem Andresvetter zur Taufe nach Holzingen dürfen. Und heut' ist deiner, und da darf ich mit in die Stadt!«
Dann hüpfte sie weiter. Sie hatte den Jaköble gewiß nicht ärgern wollen, er ärgerte sich nur selbst darüber. »Dann kann der Vater auch meinetwegen allein mit der Liese fahren, wenn sie doch überall mit soll,« dachte er, und konnte sich kein bißchen freuen. Denn er mußte nun bei allem Schönen, was er sich vorstellen wollte, die Liese vor sich sehen, die sich so freute, als ob ihr Geburtstag sei. Und es war doch seiner!
Nach einer Weile kam der Vater, der sich vorgenommen hatte, den Jaköble recht liebreich anzufassen und ihm die große Freude recht anschaulich zu machen, und der dann auch noch gedacht hatte, er könne sein Büblein bei dieser Gelegenheit auch ein wenig ermahnen.
Aber der Jaköble drehte nur immerfort an dem Peitschenstiel, den er in der Hand hielt, so, als ob er eine bestimmte Zahl mal zu drehen hätte, und sah gar nicht in die Höhe. »Das weiß ich,« sagte er nur, »die Liese hat's gesagt.« »So, aber gelt, das wird schön?« sagte der Vater immer noch[S. 27] freundlich, obgleich es ihn verdroß, daß der Bub' gar nicht erfreut tat.
»Ich darf auch nicht mit, wenn der Liese ihr Geburtstag ist,« brachte der Jaköble endlich heraus. Das war nun dem Vater zu viel, daß der Jaköble selbst an dieser erfreulichen Gelegenheit nur etwas zum Brummen fand und nichts zum Freuen.
»Hör' einmal,« sagte er ein wenig streng, »ich muß dir jetzt etwas sagen. Ich habe noch nie ein Kind gekannt, das es so gut gehabt hätte wie du, und dabei so verdrießlich und undankbar gewesen wäre. Ich hätte als kleiner Bub' einen Luftsprung gemacht, wenn mich mein Vater extra zum Vergnügen an meinem Geburtstag spazieren geführt hätte. Und wenn ich so ein nettes, liebes Schwesterlein gehabt hätte wie du, so hätte ich dann so lang gebettelt, bis es der Vater auch mitgenommen hätte.«
»Die Liese bettelt auch nicht, daß ich mitdarf,« dachte Jaköble. Und das sah man ihm an, denn er sah nun noch ein wenig trotziger aus als vorher.
»So, nun merk auf,« sagte der Vater erzürnt, weil alles Zureden nichts half; »so, mit diesem Gesicht nehme ich dich nicht mit. Sie könnten sonst in der Stadt denken, man habe bei uns da draußen lauter solche Starrköpfe. Wenn du willst, daß etwas aus der Sache wird, so kannst du zu mir kommen und es sagen. Sonst fahre ich allein mit der Liese.«
Der Vater hielt ein wenig inne, denn er wollte sehen, was das, was er gesagt hatte, für einen Eindruck gemacht habe. Er sah es dem Jaköble wohl an, daß er sehr gern mitgefahren wäre. Und er wollte es ihm gern erleichtern.
»Besinne dich jetzt gleich,« sagte er noch einmal. »Willst du mit? Du darfst nur ›Ja‹ sagen, wenn du willst, sonst nichts.«
Der Jaköble drückte und würgte, aber es kam kein »Ja« heraus. Er sah ganz deutlich die Herrlichkeiten der Stadt vor[S. 28] sich und den Weg durch die Kornfelder und am Bach hin und das Wirtshaus unterwegs, wo der Vater einzukehren pflegte.
Aber nachgeben? Freundlich sein und den Mund aufmachen und »Ja« sagen? Das dünkte dem Jaköble das allerschwerste zu sein, das wollte er lieber gar nicht probieren.
»Kannst du nicht ›Ja‹ sagen?« Eine solche Stimme, kam es dem Buben vor, habe der Vater noch gar nie gehabt. Halb zornig und halb traurig klang sie, und dann wandte er sich zum Gehen.
»Was wird der Bub' noch einmal durchzumachen haben,« sagte er vor sich hin. Dann sah er noch einmal herum.
»Denk daran, wenn du einmal groß bist und vielleicht in der Fremde, und hast niemand mehr, der es gut mit dir meint, denk dann daran, wie du dir selber deine schönste Zeit verdorben hast. Und deinen Eltern und Geschwistern auch die ihrige.«
Und dann ging der Vater langsam hinaus, denn er hoffte immer noch, daß sich der Jaköble noch besinne und »Ja« sage.
Aber das geschah nicht. Als er schon lang allein war, stand er immer noch auf demselben Fleck und starrte den Hannes an, und alle beiden machten Bocksköpfe aneinander hin. Der kleine Stallbub' kam gerade mit einem Korb voll Häckerling zur Türe herein. Er hatte alles mitangehört und sagte nun: »So dumm sein aber auch! Wenn man nur darf ›Ja‹ sagen und dann kann man die schönste Fahrt machen! Ich tät hunderttausendmal ja sagen, wenn ich dann so etwas dürfte!« Der hatte aber gut reden, dem bot es niemand an. Der hatte keine Eltern mehr und niemand auf der ganzen Welt. Der mußte sein Essen verdienen und seine Kleider und Schuhe.
»Dich geht es nichts an,« war die ganze Antwort des Jaköble. Dann nahm er die lange Weidenrute, die er gerade zur Hand hatte, und zog dem Hannes eins über den Rücken, daß der einen hohen Satz machte.
[S. 29]
Als er allein war, schlich sich der Jaköble zum Stall hinaus und durch die große Wiese hinunter an den Bach. Es stand ein ganz alter Weidenbaum dort, der hatte einen stark ausgehöhlten Stamm, man konnte ganz und gar hineinschlüpfen. Das tat der Jaköble jetzt auch. Er kam sich so unglücklich vor und ganz verlassen, und darüber wollte er nun ungestört nachdenken. Er setzte sich auf den Boden und lehnte den Kopf an die Baumwand und seufzte. »Das soll dann ein Geburtstag sein! Zuerst bekommt man einen Ranzen und will doch nicht in die Schule. Dann ist die Mutter bös, weil ich dem Ludwig nicht gleich meinen Herzlebkuchen gebe; dann ärgert einen die Liese! Der ihr Geburtstag ist doch nicht, es ist doch meiner! Dann ist der Vater so — so, auch bös ist er, ich weiß schon! Was hat er nur auch gemeint? Wann ich in der Fremde sei und habe gar niemand mehr, dann, was soll ich dann?«
Der Jaköble hatte vor lauter Herzeleid und Nachdenken[S. 30] gar nicht bemerkt, daß ein Handwerksbursche zu ihm herangekommen war. Er sah etwas merkwürdig aus, seine Kleider waren ihm viel zu klein und eng und auf dem Rücken trug er einen Schulranzen statt des Felleisens, das sonst die Handwerksburschen haben. Der Handwerksbursche setzte sich gerade vor Jaköble ins Gras, denn er war sehr müde und sein Gesicht sah finster aus.
»Was willst du auf meiner Wiese?« fragte Jaköble. Er konnte nicht leiden, daß sich so ein fremder Mensch da hersetze. Der Fremde fuhr erschreckt zusammen. »So sagen alle Leute,« sagte er. »Niemand kann mich leiden, niemand.« — »So geht mir's auch,« sagte der Jaköble, da konnte er gut mitreden. Der Handwerksbursche lachte. »Das weiß ich,« sagte er; »gelt, du kannst auch nicht ›Ja‹ sagen? Ich auch nicht, ich hab's gleich gar nicht probiert, es ist zu schwer! Und in die Schule hätt' ich sollen, aber ich hab's nicht getan. Ich bin lieber fortgegangen, weit fort. Es findet mich kein Mensch mehr. Und meinen Herzlebkuchen ess' ich selber, siehst du, ich hab' ihn in der Tasche!« Dem Jaköble grauste vor dem Handwerksburschen. Er sah ihn scheu an; da sagte dieser: »Dir sag' ich's ganz allein; ich täte jetzt gern alles, was man wollte, alles! Aber es ist niemand mehr da, der es gut mit mir meint. Und wenn ich hundertmal sagen wollte: ›Ja, ja, ja, du kannst nur befehlen, Vater, ich tu's gern, siehst du, ich mache ein freundliches Gesicht dazu‹ — so nützt das nichts. Denn der Vater ist tot und die Mutter auch. Und die Liese ist weit fort. Sie hat mich gern gehabt; alle haben mich gern gehabt, ich weiß wohl, aber das nützt nichts mehr, ich habe eben nicht ›Ja‹ sagen können. Und auf dem Hof ist der Ludwig. Der ist jetzt groß, er will aber nichts von mir. Ich gehe gar nicht hinein, er sagt sonst: ›Wenn ich dumm wäre, dann gäbe ich dir etwas.‹ So habe ich auch immer zu ihm gesagt, wie er noch ganz klein war.«
[S. 31]
Der Jaköble zitterte vor Angst. Der Handwerksbursche hatte ja seinen Schulranzen auf, er war nur arg verdorben, und im Gesicht kam er ihm auch so bekannt vor. Er getraute sich kaum den Mund aufzumachen, aber endlich brachte er doch heraus: »Wer bist du denn?« »Das geht dich nichts an,« sagte der Handwerksbursche grob. Als er aber sah, wie sehr der Jaköble sich fürchtete, wurde er ein wenig milder und sagte: »Ich hab' einmal Jaköble geheißen, des reichen Weidenbauern Jaköble haben mich auch die Leute geheißen. Jetzt hab' ich keinen Namen mehr und keinen Vater und keine Heimat und nichts.«
Da tat der Jaköble einen lauten Schrei und rief: »Nein, ich bin der Jaköble selber, du bist er nicht.« Aber der Handwerksbursche sagte: »Nein, nein, ich bin's, ich weiß gewiß. Ich muß jetzt immer an meine schöne Zeit denken und wie ich die verdorben habe. Nur weil ich den Mund nicht aufmachen konnte und nicht ›Ja‹ sagen. Du kannst auch nicht, ich seh' dir's an!«
Aber der Jaköble war von dem allem so entsetzt, daß er sich gar nicht mehr besinnen konnte. Er rief nur laut hinaus:
»Doch, ich kann ›Ja‹ sagen! Alles kann ich sagen! Und ich bin der Jaköble, du bist er nicht!« Und dann fing er an, ganz laut Ja zu rufen, und immer noch lauter, damit er's ja nicht mehr verlerne.
Da sprang der Handwerksbursche auf vom Gras und Jaköble sah ihn auf einmal nicht mehr. Und statt seiner sah er den Andresvetter, der vor ihm stand und sagte: »Komm ins Haus, Büblein, komm! Du wirst mir nicht krank werden wollen, du schreist ja ganz laut im Schlaf! Wer setzt sich auch an den Bach zum Schlafen?«
Jaköble rieb sich verwundert die Augen. »Wo ist der Handwerksbursch?« fragte er. »Es ist weit und breit kein Handwerksbursche,« beruhigte ihn der Andresvetter und fühlte[S. 32] dem Buben an den Kopf, ob er Hitze habe. »Ich bin nicht krank,« sagte der Jaköble, »und ich habe nur so laut geschrien, weil der Handwerksbursche gesagt hat, ich könne nicht ›Ja‹ sagen und er sei selber der Jaköble.«
Und nun mußte der Andresvetter den ganzen Traum hören, denn der Jaköble war in seinem Weidenbaum eingeschlafen gewesen und hatte das alles geträumt.
»Aber du kannst froh sein, Büblein,« sagte der Vetter. »Du kannst Gott Lob und Dank sagen! Siehst du, gerade so hätt's kommen können, wenn es so fortgegangen wäre wie in der letzten Zeit! Gerade so, und dann wärst du dein Leben lang unglücklich! Aber gelt, jetzt merkst du dir's, jetzt kommt's anders?« Der Jaköble nickte mit dem Kopf, aber dann fiel ihm ein, daß er ja jetzt »Ja« sagen könne und er sagte noch hintennach laut und deutlich »Ja«. »So komm, so wollen wir ins Haus gehen,« sagte der Vetter. »Das Mittagessen ist lang vorbei, man hat dich nirgends gefunden.« »Ist der Vater in die Stadt mit der Liese?« fragte Jaköble. Es fiel ihm doch ein wenig schwer. »Nein, sie sind nicht gefahren,« sagte der Andresvetter. »Die Liese hat nicht ohne dich wollen, sie hat so lang gebettelt, bis der Vater versprochen hat, wenn es dir nachher noch leid sei, dann dürfest du es immer noch sagen und dann fahre man morgen.« »Ist das wahr?« Der Jaköble machte nun auch einen Luftsprung, denn es wurde ihm so leicht, wie schon lange nicht. Er ließ die Hand des Andresvetters los und lief voran ins Haus. Dort traf er den Vater unter der Stubentür. Der sah ihn ernsthaft an, aber der Jaköble ließ ihm gar keine Zeit, etwas zu sagen, er rief gleich laut und fröhlich: »Ja, ja,« denn sonst fiel ihm nicht gleich etwas ein. Aber der Vater verstand ihn gut und sein vergnügtes Gesicht sagte auch noch einiges. So gingen sie miteinander zur Mutter. Die fütterte eben den kleinen Ludwig[S. 33] und rief erfreut: »Da kommt er ja! Wo bist du denn gesteckt, Jaköble, du dummes Büblein?« »Er will jetzt brav sein und vergnügt,« sagte der Vater, »gelt, das willst du?« Und Jaköble sagte »Ja«, denn es kam ihm immer wieder in den Sinn, daß der Handwerksbursche gesagt hatte, er könne nicht »Ja« sagen. Er spürte aber gut, daß es nicht an dem einzigen Wörtlein liege, sondern daß er nicht mehr so trotzig und mürrisch und undankbar sein dürfe. Und das sagte ihm auch die Mutter am Abend, als er in seinem Bettchen lag.
So wohl war es dem Jaköble schon lang nicht mehr gewesen, alle waren so lieb und gut gegen ihn, auch die Liese; warum hatte er nur gemeint, es könne ihn niemand leiden? »Das hat der Eigensinn gemacht,« sagte der Andresvetter, als ihn der Jaköble am andern Tag darum fragte. »Und jetzt will ich dir einmal das Verslein sagen, das ich schon lang wollte, ich meine, du könntest es jetzt gut lernen.« Und Jaköble sagte dem Andresvetter Wort für Wort nach:
Das hat dem Jaköble noch besser geholfen, als der Traum von dem Handwerksburschen. Denn den Eigensinn muß man gründlich vertreiben, sonst kann man nicht fröhlich sein.
Das ist die Geschichte vom Jaköble, der nicht »Ja« sagen konnte. Jetzt kann er's.
[S. 34]
Mitten in der großen Stadt in einer engen Straße stand ein hohes, hohes Haus mit vielen Fenstern und grünen Läden. Es wohnten viele Leute darin, so viele, daß nicht alle einander kannten. Unten im Haus war ein Laden und das Glöckchen an der Ladentür bimmelte den ganzen Tag. Denn die Tür ging immer auf — zu, auf — zu, und jedesmal kamen Leute herein und kauften ein. Zucker und Kaffee konnte man haben, und Reis und Gerste. Aber auch Mandeln und Rosinen und Schokolade. Am Schaufenster stand ein großer, kohlschwarzer Neger, kein lebendiger, er war aus Pappdeckel und angemalt, der trug einen Korb vor sich her mit Orangen und Datteln, und um den Hals hatte er eine Kette von Feigen. Und alle kleinen Buben und Mädchen, die da vorbei mußten, standen einen Augenblick still und sahen sich den Neger an, und ich weiß einen, der sagte dann jedesmal: »O, wenn ich doch auch eine Halskette von Feigen hätte, ich wüßte, was ich damit täte!«
Aber von dem allem hörte und sah das kleine Kätterle nichts, obgleich es auch in demselben Haus mit dem großen Neger wohnte. Und das war kein Wunder, denn um in ihre Stube zu kommen, mußte man vier Treppen hoch steigen und dann durch einen dunklen Gang gehen, bis man dann vielleicht mit dem Kopf an die Türe stieß. Das taten fast alle Leute, die zu Kätterles Großmutter kamen, weil es so finster war. Innen war's freilich nicht finster, da waren zwei helle Fenster. An dem einen saß die Großmutter und nähte, denn sie war[S. 35] eine Flicknähterin, und die Leute brachten ihr ganze Körbe voll zerrissener Sachen. Und an dem andern Fenster stand gewöhnlich das Kätterle und sah in den Hof hinunter. Denn sonst gab es da nichts zu sehen. Das Haus gegenüber hatte die Fenster nach der andern Seite und hier heraus gingen nur die Küchenfenster, die meist noch mit Vorhängchen verhüllt waren. Aber in dem Hof geschah manches, was Kätterle gern sehen wollte. Kisten wurden abgeladen und ausgepackt, und der große Hofhund Zamba trieb sich dazwischen herum und bellte laut und lustig. Am lustigsten, wenn die Kinder aus den unteren Stockwerken im Hof spielten, denn mit denen war er gut Freund und sie fürchteten sich kein bißchen vor ihm. Kätterle hielt fast den Atem an, wenn einer der größeren Buben das mächtige Tier an sich heraufspringen ließ und ihm einen Knochen dreimal wegnahm und es dreimal darnach springen ließ, ehe es ihn abnagen durfte. So von weitem zuzusehen war aber ganz vergnüglich, besonders wenn man sonst keinerlei Vergnügungen hatte. Geschwister und Kameraden hatte das Kätterle noch nie gehabt, es wohnte da oben, seit es sich denken konnte, und war fast immer so am Fenster gestanden, und jetzt war es fünf Jahre alt.
Die Großmutter ging oft den ganzen Tag aus. Sie nähte dann in den Häusern, und dann war das Kätterle ganz allein. Wenn sie zu Hause war, sprach sie auch nicht viel, denn sie hörte nur ganz wenig und war auch nicht aufgelegt zum Sprechen. Nur manchmal sah sie das Kätterle an, schüttelte den Kopf und sagte: »Armes Kind!« Die Kleine wußte nicht, warum die Großmutter so sagte, sie besann sich auch nicht darüber. Vielleicht meinte die Großmutter, deswegen, weil[S. 36] das Kätterle seine Eltern nie gekannt habe und weil es sonst niemand habe auf der ganzen Welt als sie, sei es ein armes Kind. Und das war auch so, denn die Großmutter war schon sehr alt und oft recht schwach, und man konnte gar nicht wissen, wie lang sie noch so für die Leute nähen konnte. Und wer sollte dann Geld verdienen für alle beide?
Aber daran dachte das Kind nicht. Eines Tages, als es an sein Guckfenster kam, waren die Dächer und Fenstersimsen voll Schnee, der in der Nacht gefallen war. Und es wirbelten immer noch weiße Flocken in der Luft umher und setzten sich dann ganz sachte nieder, immer ein Flöckchen aufs andere. Aus dem Hof schallten lustige Stimmen herauf. Die Buben schleppten ganze Traglasten Schnee zusammen, und an der Mauer erhob sich nach und nach, immer deutlicher erkennbar, ein Schneemann. Kätterle mochte kein Auge abwenden. Jetzt setzten die Kinder dem Schneemann gar noch einen hohen schwarzen Hut auf und gaben ihm einen Stock in den Arm, und dann jubelten sie laut hinaus vor Vergnügen. Vor lauter Lust am Zusehen hatte das Kätterle ganz überhört, daß die Großmutter schon dreimal gerufen hatte, und das war doch etwas Seltenes und geschah nicht oft. »Kind, so hör doch,« sagte die Großmutter nun, so laut sie konnte, so daß sich die Kleine wirklich umkehrte und erstaunt aufhorchte. »Da nimm einmal mein warmes Tuch und binde es ganz um dich herum,« fuhr die Großmutter fort. »Und dann geh hinunter in den Laden, ganz unten im Haus und hol mir Kaffee für das eingewickelte Geld. Ich kann nicht selber, meine Füße zittern so und es ist mir ganz elend!« Das war nun etwas völlig Neues für Kätterle. Die Großmutter brachte sonst immer alles, was sie brauchte, selbst mit und die Kleine war fast noch nie drunten gewesen, allein noch gar nie. »Aber wenn Zamba kommt?« fragte sie ein wenig zaghaft. »Kommt nicht,« beschwichtigte[S. 37] die Großmutter, und Kätterle machte sich auf die Reise. Wie weit es da hinunter ging! Immer noch eine Treppe und dann mußte man schließlich zur Haustür hinaus und vornen zur Ladentür hinein. Ganz verwundert blieb Kätterle stehen, als sie die nach der Straße zu führende Türe geöffnet hatte. Was konnte nur sein, daß alle Leute so schnell gingen? Und fast alle trugen Pakete unter dem Arm und einige sogar Tannenbäume. Und im Schaufenster stand heute anstatt des Negers ein schön aufgeputzter Christbaum mit Zuckerfiguren und roten Äpfelein, und Kätterle konnte sich fast nicht von dem Anblick trennen. Als sie in den Laden trat, fragte die Frau: »Gehörst du nicht unserer alten Flickkatharine droben?« Das Kind nickte, denn es hatte die Großmutter schon manchmal so nennen hören. »Warum kommt sie denn nicht selber heute?« wollte die Frau wissen. »Ihre Füße zittern so und es ist ihr so elend,« berichtete Kätterle, denn das war alles, was es wußte. »Armes Kind,« sagte die Frau und wandte sich an ihren Mann: »Man muß dem alten Weib ein wenig aufhelfen mit einem Wein oder so! Sie treibt's so wie so nimmer lang!«
Dann gab sie dem Kind die Düte und noch eine Feige in die Hand und sagte noch: »Einen Christbaum habt ihr doch auch noch nicht? Ja, dazu langt's freilich nicht bei so armen Leuten!« Das Kätterle war schon wieder hinausgeschlüpft und besann sich nun unterwegs, während es in seine Feige biß, über alles Neue, was es gesehen und gehört hatte. Der Christbaum! War der schön! Kätterle mußte tief aufatmen! Die Großmutter hatte ihm auch einmal einen geputzt, mit etlichen Lichtchen und Bretzeln dran, ein kleines Bäumlein, aber es war doch eine Freude und Herrlichkeit gewesen. Und jetzt kam scheint's der Christtag wieder. Kätterle nahm sich vor, das der Großmutter sogleich beim Hinaufkommen[S. 38] auseinanderzusetzen, wahrscheinlich hatte sie es nur vergessen.
Eifrig stieg das Kind die Treppen empor. Da, es hatte schon drei erstiegen, ging eine Glastür auf und eine alte Dame, die ganz in einem bunten Schlafrock steckte, kam heraus. Sie sah etwas sonderbar aus, denn am Kopf hatte sie lauter weiße Papierchen und darüber waren die Haare gewickelt.
Kätterle mußte genau hinsehen, denn so etwas hatte sie noch nie erblickt. Aber Fräulein Glöckler, so hieß die alte Dame, war sehr in Aufregung. »Sag einmal, Kind,« fing sie sogleich an, »gehörst du der alten Frau, die ganz oben wohnt? Gehen eure Fenster auf den Hof? Und habt ihr ein Schnittlauchkistchen vor dem einen Fenster?« Kätterle konnte nur immerfort nicken, denn es stimmte alles, und die Fragen kamen so schnell aufeinander, daß man sonst gar nichts sagen konnte.
»Dann muß ich mit dir hinaufgehen! Denn dann kann man das Kätzchen von eurem Fenster aus holen! Es hat sich verstiegen, das arme Tierchen, und sitzt nun ganz oben am Dach und schreit so kläglich. Komm mit, komm schnell mit, Kind, und zeig mir den Weg.«
Kätterle ging bereitwillig voran und die Dame keuchte hintendrein, aber in dem langen Gang mußte sie Kätterles Hand erfassen, sonst hätte sie sich bei jedem Schritt gefürchtet.
Jetzt machte das Kind die Tür auf und Fräulein Glöckler eilte noch vor ihm in die Stube, denn sie hatte es sehr eilig, zu dem Kätzchen zu kommen. Aber auf einmal blieb sie stehen. »Was ist das?« rief sie erschrocken und eilte auf die Großmutter zu. Die saß noch an ihrem gleichen Fensterplätzchen, aber sie sah aus, als ob sie fest schlafe, denn der Kopf hing ihr ganz tief über die Brust herunter. Fräulein Glöckler schüttelte sie und rief laut: »So wachen Sie doch auf, Frau! Was ist denn nur?« »Sie hört nichts,« berichtete das Kind,[S. 39] »man muß ganz laut und oft rufen!« Aber das lebhafte Fräulein war auf einmal ganz still geworden.
»Das nützt nichts, laut zu rufen,« sagte sie nur zu Kätterle, »die Großmutter wacht nicht mehr auf.« Das wunderte das Kätterle sehr, denn es konnte nicht verstehen, was damit gemeint sei. Daß nämlich die Großmutter jetzt gerade, so lang es drunten war, gestorben sei und nie, gar nie mehr aufwachen würde. Dann fuhr das Fräulein fort: »Wen hast du sonst noch? Hast du einen Vater oder einen Onkel? Oder wen muß man rufen, daß er das Nötige besorgt?«
»Man muß niemand rufen, als nur der Großmutter und sonst ist auch gar niemand,« sagte das Kätterle. Das Fräulein sah wohl, daß das Kind nicht wußte, wie es dran war. So holte sie sich jetzt ihr Kätzchen, das man wirklich vom Fenster aus gut erreichen konnte, und nahm es auf den Arm. Zu Kätterle sagte sie: »Setz dich nur einstweilen still hin, ich schicke dir jemand.« Dann ging sie, um der Kaufmannsfrau unten alles mitzuteilen. Das Kätterle saß auch wirklich still. Es hatte so viel erlebt und mußte sich jetzt über alles besinnen. Es kam ihm so merkwürdig vor, daß die Großmutter noch immer ganz gleich dasaß und sich nicht rührte. Und dann das Fräulein mit dem sonderbaren Kopfschmuck! Und dieses wollte wieder jemand schicken! Und über all den vielen Gedanken schlief das Kind auf seinem Tritt am Fenster sitzend ein und träumte etwas ganz Wunderschönes. Denn der Christbaum vom Laden unten stand auf seinem Tisch und alle Lichtchen brannten und der Baum gehörte ihm, dem Kätterle. Und dann war auch das Fräulein Glöckler da, aber mit einem netten Spitzenhäubchen auf, und sprach ganz freundlich mit Kätterle, und das schwarz- und weißgefleckte Kätzchen schnurrte dazu.
Auf einmal machte das Kind verwundert die Augen auf, es hatte fremde Stimmen gehört und jetzt waren zwei Männer[S. 40] da und noch die Kaufmannsfrau von unten. »Tot ist sie, darüber ist kein Zweifel,« sagte der eine Mann. Und der andere fügte hinzu: »Da könnte man dann sogleich alles besorgen, daß die Sache erledigt ist.« Die Frau strich dem Kind über das Haar und sagte: »Jetzt bist du erst ganz verlassen, armes Ding! Bleib nur einstweilen ganz ruhig an deinem Fenster, ich schicke dir eine Suppe herauf. Und was dann aus dir wird, das weiß freilich der liebe Gott! Ich muß jetzt schnell wieder in meinen Laden hinunter, und drunten kann ich dich nicht brauchen, verstehst du?«
Ach nein, das Kätterle verstand nichts von allem, gar nichts! Am allerwenigsten das, warum die fremden Leute jetzt die Großmutter in einen dunkeln Kasten legten und forttrugen. Jetzt erst fing es an, bitterlich zu weinen, denn es kam sich nun wirklich einsam und verlassen vor, ganz anders als sonst, wenn die Großmutter ganze Tage lang fortgewesen war.
Aber die Kaufmannsfrau hatte gesagt: »Was dann aus dir wird, weiß nur der liebe Gott.« Und das war auch wahr, und es war ganz genug, daß er es wußte.
Das Fräulein Glöckler unten hatte sich einstweilen ihre Haare abgewickelt, es hatte schöne Locken gegeben, und dann hatte sie ein hübsches Kleid angezogen und ein kleines Spitzenhäubchen aufgesetzt. Denn sie wollte gern festlich aussehen, weil heute der heilige Abend war. Auf dem Tisch stand ein kleines Tannenbäumchen, das war mit Lichtchen und Zuckersachen und vielen kleinen Würstchen behängt, und das sollte für ihr Kätzchen sein. Denn das Fräulein hatte niemand auf der ganzen Welt und liebte nur ihr Kätzchen, das Mimi hieß und in einem gepolsterten Körbchen schlief. Aber auf einmal hörte das Fräulein ein leises Weinen; das kam von oben her, wo das verlassene Kind so bitterlich schluchzte, daß man's durch die Decke hörte. Fräulein Glöckler ging ins andere[S. 41] Zimmer; sie wollte nicht gern das Weinen hören. Aber da hörte sie es auch und sie ging unruhig hin und her und nahm immer wieder einen Augenblick das Kätzchen auf den Arm und setzte es dann wieder hin. Denn sie mußte immer wieder daran denken, daß das Kind gesagt hatte: »Man kann niemand rufen als nur der Großmutter und sonst ist niemand da.«
Es wurde schon dunkel, da nahm Fräulein Glöckler das Christbäumchen und löste alle Würstchen aus den Zweigen und dafür holte sie aus einer Schublade Glaskugeln und einen kleinen Wachsengel und zwei Silbersterne. Das alles hängte sie an das Bäumchen und zündete die Lichtchen an. Dann stieg sie die Treppe hinauf, tastete sich durch den dunklen Gang und fand auch richtig die Tür. Da saß das Kätterle und hatte sich in den Schlaf geweint. Und es schlief so fest, daß es gar nicht merkte, wie es von dem alten Fräulein auf den Arm genommen und hinuntergetragen wurde. Es machte erst die Augen auf, als es in der Sofaecke saß und der Glanz der brennenden Lichtlein auf sein Gesicht fiel.
Kätterle rieb sich verwundert die Augen und das Fräulein lachte ganz vergnügt und das Kätzchen schnurrte dazu. Das hatte seine Würstchen auf einem Teller vor sich und war ganz zufrieden damit. Denn Katzen wissen nichts mit Christbäumen anzufangen, und der liebe Gott hatte gewollt, daß das Bäumchen für das Kind und nicht für das Kätzchen sein sollte.
[S. 42]
Bald war das Kätterle so vergnügt, wie andere Kinder auch am heiligen Abend. Denn das Fräulein hatte ihm einen ganzen Teller voll guter Sachen geschenkt und dann so lieb und freundlich mit ihm gesprochen, wie sogar die Großmutter nie getan hatte.
Am andern Tag kam das Kätzchen heran, als Kätterle auf Fräulein Glöcklers Schoß saß und sich von ihr Bilder zeigen ließ. Es schnurrte, so laut es konnte, denn das war ihm noch nie begegnet, daß seine Herrin stundenlang gar nichts mit ihm gesprochen hatte. Aber diese merkte es gar nicht, so vergnügt war sie über ihr neues Pflegekind. Und das hatte der liebe Gott auch so gewollt, denn sie waren alle beide verlassen und einsam gewesen, und jetzt war beiden geholfen.
Ein paar Tage später kam die Kaufmannsfrau von unten und sagte: »Das war recht, daß Sie sich so um das Kleine angenommen haben. Es fällt Ihnen nun nicht mehr lang zur Last, es soll ins Waisenhaus kommen!« »Ei behüte,« sagte das Fräulein und nahm das Kind fest in den Arm. »Ich geb's nicht mehr her, gelt, Kätterle, wir bleiben beisammen?«
Und das Kind nickte mit strahlendem Gesicht.
»Das muß wahr sein,« sagte die Kaufmannsfrau, als sie wieder in ihren Laden ging, »es passieren doch merkwürdige Sachen! Das weiß der liebe Gott!«
[S. 43]
Da, wo sich im Badener Land der Schwarzwald gegen das Rheintal hin öffnet, liegt ein stattliches Dorf. Es schaut von einer Anhöhe herab und freundlich und heimelig ins Land hinein mit seinen sauberen, schindelgedeckten Häusern, die helle Fenster haben und blühende Blumengärtlein zu beiden Seiten der Haustür.
Gleich hinter dem Dorfe fängt der Wald an. Er steht wie eine schützende Mauer hinter den Häusern, während sich die fruchtbaren Felder talabwärts, in die Ebene hinein, erstrecken. Dort, ein wenig vom Ende des Dorfs entfernt, schon fast im Schatten des Waldes, steht ein kleines, weißes Haus mit grünen Läden und einer zierlichen Veranda. Die Tür ist von Efeu umrankt und das Häuschen sieht so fröhlich aus, als ob gar niemals etwas Düsteres darin Platz finden könnte. Ehe die Sonne untergeht, winkt sie allemal noch einen freundlichen Abschiedsgruß herüber und dann glänzen alle Fensterscheiben so golden, als wäre das Häuschen ganz mit Sonnenschein angefüllt.
Einst, vor Jahren schon, konnte man an solchen sonnigen Abenden eine dunkle Frauengestalt unter der Türe sitzen sehen. Sie sah ganz und gar nicht aus, als ob sie viel von Sonnenschein wisse. Denn ihr Gesicht hatte einen tieftraurigen Ausdruck und manchmal legte sie die Hand vor die Augen und stöhnte leise. Man konnte von ihrem Sitz aus so viel Schönes sehen, daß wohl mancher froh gewesen wäre, es sehen zu können.[S. 44] Da glitzerte ganz unten im Tal der Rheinstrom wie Silber und Gold, wenn die Sonne hineinschien, und dahinter waren wieder Berge, die Vogesen, die am Morgen weiße Nebelschleier trugen, und am Abend, wenn die Sonne unterging, rot und golden angemalt schienen. Aber die traurige Frau sah nichts von all der Pracht und Herrlichkeit. Wenn die Sonne hinunter war, stand sie auf und ging ein wenig am Waldrand entlang. Dann kehrte sie wieder in ihr Haus zurück.
Im Frühling war ein alter Herr ins Dorf gekommen und hatte das Häuschen, das gerade leer stand, gekauft. Dann hatte er Arbeiter geschickt, die alles freundlich und sauber herrichten mußten. Und bald darauf war die Frau eingezogen. Eine alte Magd kam mit ihr, die das Hauswesen besorgte und die Einkäufe im Dorfe machte.
Manche Leute behaupteten, daß »das weiße Häuschen«, wie es im Dorfe hieß, noch einen Bewohner habe. Sicher wußte es niemand, denn es kam kein Mensch zu der fremden Frau. Aber die Dorfbuben, die bei der Ankunft der Fremden zugesehen hatten, sagten, daß die Ursula, so hieß die Magd, eine kleine, verhüllte Gestalt aus dem Wagen und ins Haus getragen habe.
Von Ursula selbst erfuhr man nichts. Ihre Sprache klang ganz anders, als die der Leute in der Gegend. Und sie hielt sich nie lang auf, wenn sie ins Dorf kam. So machten sich die Leute selbst ihre Gedanken über die Bewohner des weißen Häuschens. Und alle waren darin einig, daß die Frau gemütskrank sein müsse. »Denn sonst wäre sie doch unter die Leute gekommen und täte nicht, als ob sie ganz allein auf der Welt wäre,« sagte eine Bäuerin zur andern. Jetzt ging es gegen den Herbst hin. Man sprach im Dorf schon nicht mehr so viel von den Fremden, und diese lebten still vor sich hin wie immer.
[S. 45]
Es war ein so schöner, sonniger Abend wie man ihn sich nur denken konnte. Die ganze Rheinebene lag glänzend und klar ausgebreitet und die Vogesen hatten einen bläulichen Schimmer. Vom Dorfe her tönten die lauten, lustigen Stimmen der Kinder, die auf dem freien Platz vor der Kirche spielten. Im Gras zirpten die Grillen, und in der Luft summten zahllose Mücklein. Es sah aus, als ob alles, alles sich seines Lebens freue. Das war die Zeit, wo es die traurige Frau nicht auf ihrem Sitz vor dem Häuschen aushielt. Denn sie konnte keine fröhlichen Kinderstimmen mehr hören, seit man ihre eigenen Kinder, die blonde, sanfte Irma und den lustigen Krauskopf Hellmut, begraben hatte. Sie lagen weit, weit von hier in zwei kleinen Gräbern nebeneinander. Die traurige Frau hatte auch keinen Mann mehr; der war als Offizier im Krieg gefallen. Und sie dachte, daß es nun und für alle Zeit für sie mit aller Freude am Leben ganz vorbei sei.
Jetzt stand sie auf und schritt dem Walde zu, ihren täglichen Weg, einen schmalen, moosigen Pfad zwischen niedrigen Stechpalmen. Am Eingang des Hochwaldes war ein glatter Baumstumpf, da ließ sie sich nieder und sah wieder unbeweglich vor sich hin.
Plötzlich hörte sie Kinderstimmen. Ein kleiner Bube schrie kläglich in seinem Wägelchen, das sich, von einem Mädchen geschoben, knarrend den Berg herunterbewegte. Es saß noch ein dickes, rotbackiges Mägdlein in dem Wägelchen, das sah die Frau, als sie flüchtig aufsah. Dann bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.
Die Kinder hatten die dunkle Gestalt noch nicht gesehen. Jetzt stand das Wägelchen still, ganz in der Nähe der Fremden, aber durch einen dichten Busch verdeckt. »Sei still, Daniel,« sagte die Mädchenstimme, »und du auch, Regele, ich sing euch eins. Heim dürfen wir noch nicht. 's ist ja Sonntag heut.[S. 46] Da will man daheim seine Ruh, hat die Bäuerin gesagt. Wann die Betglocke läutet, dann gehen wir heim.«
Das Geschrei verstummte, denn das Kindsmägdlein hatte den Schreier herausgenommen und auf den Schoß gesetzt. Nun fing es an zu singen. Es war ein dünnes Stimmlein, aber es klang doch lieblich. Die Frau horchte mit gespannten Zügen. Sie hatte geräuschlos weggehen wollen, aber nun vergaß sie das ganz.
»Der Pilger aus der Ferne zieht seiner Heimat zu,
Dort leuchten seine Sterne, dort sucht er seine Ruh.«
So fing das Lied an. Es war kein Kinderlied. Die traurige Frau hatte noch nie solch ernsthafte Töne von einem Kinde gehört. Sie mußte ein wenig durch das Gebüsch blicken. Da saß die kleine Sängerin auf dem weichen Moos am Boden, die Kinder horchten aufmerksam. Es war ein zartes, schmächtiges Ding von etwa acht Jahren, hatte bloße Füße und ein mageres, bräunliches Gesichtchen, in das aber während des[S. 47] Singens ein ganz fröhlicher Ausdruck kam. Nur einen kurzen Augenblick atmete das Kind auf, dann sang es weiter:
Der bleichen Frau liefen die Tränen über die Wangen. Sie hatte schon lange nicht mehr geweint, nun kam es ihr vor, als ob sie nie mehr aufhören könne. Aber die Sängerin hörte erschrocken auf, als sie neben sich leise schluchzen hörte. Sie sah erst jetzt die Fremde und wollte schnell weitergehen, denn es war ihr unheimlich, daß die Frau so stark weinte.
Da sagte diese: »Singe nur weiter, liebes Kind. Du tust mir wohl und nicht weh damit. Ich habe das Lied schon lang, lang gekannt.«
Das Mädchen sah die Frau aufmerksam an, so, als ob sie ihr bekannt vorkäme. Die beiden Pfleglinge waren vor lauter Staunen mäuschenstill. Und die Sängerin sagte: »Die andern Verse kann der Konrad besser als ich. Den hat sie die Mutter noch gelehrt. Und du siehst —« da hörte sie auf einmal auf zu sprechen und wurde dunkelrot. Sie hatte sagen wollen: »Und du siehst fast gar auch so aus, wie die Mutter.« Aber es war ihr dann unschicklich vorgekommen, das zu der fremden Frau zu sagen.
Diese wußte gar nicht, wie es ihr heute ging. Sie hatte seit dem Tod ihrer Kinder gar keine Kinder mehr sehen können. Ja, sie war so weit von daheim weggezogen, nur um allen Bekannten aus dem Weg zu gehen, die noch fröhlich mit den Ihrigen leben konnten. Aber das ernsthafte Gesichtchen des kleinen Kindsmägdleins und sein ungewöhnliches Lied, das zog sie beides mächtig an. Ursula hätte sich gewiß entsetzt,[S. 48] wenn sie gesehen hätte, wie ihre Herrin dem kleinen Mädchen neben sich auf dem Baumstumpf Platz machte und sagte: »Was hast du sagen wollen? Sag's nur kecklich. Komm, setze dich ein wenig daher zu mir und sag mir, wer der Konrad ist und wie du heißt.«
»Mein Bruder ist's,« sagte das Kind und sah dabei der fremden Frau unerschrocken ins Gesicht. Hersetzen wollte es sich nicht. »Ich heiße Veronika. Man sagt mir aber nur Vronik.«
»So, und warum betrachtest du mich so aufmerksam?« fragte die Frau weiter. Das konnte nun Vronik nicht wohl sagen. Denn im Dorf hatte sie schon öfters sagen hören, die Frau im weißen Häuschen sei »nicht ganz bei Trost«. Das hatte sie nie ganz verstanden. Als die Mutter noch lebte, hatte sie hie und da gesagt: »Das ist mir ein Trost; daß ich weiß, der liebe Gott sorgt für euch, wenn ich von euch fort muß. Und das soll auch immer euer Trost sein. Er verläßt euch nicht.« Sonst hatte Vronik noch nie etwas von Trost gehört. Und als sie nun die Fremde so traurig sah, dachte sie, am Ende habe diese richtig vergessen, was einem ein Trost sein könne. Und doch glich sie der Mutter, denn sie war auch bleich und zart wie diese und trug auch ein schwarzes Kleid. Nur hatte Vroniks Mutter freundliche, friedliche Züge gehabt und einen ganz andern Ausdruck darin, als die fremde Frau.
»Kannst du mir's nicht sagen?« ermunterte diese jetzt das Kind. »Du mußt dich nicht fürchten, du kannst es ruhig aussprechen.«
»Weißt du etwa nicht mehr recht, was ein Trost ist?« fragte Vronik statt der Antwort. Denn sie konnte nichts anderes sagen, als das, was sie gerade dachte.
Die Frau sah erstaunt auf. »Ach nein, das weiß ich nicht,« sagte sie. »Aber wie kommst du darauf? Weißt du es vielleicht?«
[S. 49]
»Ja,« sagte das Kind ganz bestimmt. »Daß der liebe Gott bei einem bleibt und einen nicht verläßt, wenn man auch ganz allein ist, das ist einer. Die Mutter hat's gesagt.«
Die Frau hatte schon wieder Tränen in den Augen, aber sie kämpfte sie nieder, um das Kind nicht zu erschrecken. Denn sie wollte noch mehr hören. Es hatten schon viele Leute versucht, sie zu trösten. Aber denen hatte sie immer gesagt: »Ihr könnt gut reden. Ihr seid froh und glücklich und versteht nicht, wie es mir sein muß.« Das war bei dem Kind anders. Denn das hatte es nicht leicht auf der Welt, so viel konnte man wohl sehen. So sagte die Frau jetzt zu ihm: »Da hat dir die Mutter etwas Gutes gesagt, daran denke nur immer. Wo ist sie denn? Ich möchte sie wohl einmal sehen.«
Das Kind machte die Augen weit auf. Die fremde Frau wußte scheint's nicht, daß es ein Gottswillenkind sei, das heißt, eines, das gar niemand eigenes mehr auf der Welt habe, der für es sorgen könnte und das man darum »um Gotteswillen« umsonst aufgenommen habe. Es war der Vronik etwas ganz Neues, daß das jemand nicht wußte. Im Dorfe wurde sie oft genug daran gemahnt.
»Die Mutter ist zum lieben Gott gegangen,« sagte sie nach einer kleinen Weile. »Ganz bald nachher, als wir von der Schweiz kamen. Da hat sie immer gehustet. Und dann hat sie's oft gesagt, daß sie fortgehe. Jetzt ist der Konrad beim Lammwirt und ich bin beim Pfleghofbauern um der Gottswillen.«
Vronik mußte tief aufatmen, denn es war lange her, daß jemand so viel von ihr hatte wissen wollen. Aber die Frau sah so teilnehmend aus, es wurde dem Kinde ganz warm ums Herz.
»Aber die Mutter hat auch noch gesagt: wir werden schon wieder zusammenkommen, der Konrad und ich. Weil wir doch[S. 50] sonst gar niemand haben als nur einander. Wann der Konrad groß ist, dann verdient er Geld und dann müssen wir beieinander wohnen,« berichtete Vronik weiter. Sie hätte jetzt alles sagen können. Aber ihre Pfleglinge wurden ganz unruhig und ließen sich nicht mehr beschwichtigen, und vom Dorfe her hallten laute Klänge durch die klare Herbstluft. Das war die Abendglocke, und die Kinder mußten nach Hause.
Die fremde Frau erhob sich. Zum erstenmal hatte wieder ein anderer Gedanke als der an ihr Unglück in ihr Raum gefunden. Jetzt sagte sie: »Kommst du morgen wieder hierher, Vronik? Du mußt mir dann noch mehr sagen.«
Vronik schüttelte leise den Kopf. »Nein, das darf ich nur am Sonntag,« sagte sie. »Am Werktag hütet die Ahne die Kinder. Da muß ich auf dem Feld helfen und im Stall und in der Küche und überall.«
Der fröhliche Ausdruck war wieder ganz aus dem mageren Gesichtchen geschwunden, Vronik sah jetzt so ernsthaft aus, als ob sie schon schwere Sorgen habe. »So komm gewiß am Sonntag wieder,« sagte die Frau. »Vielleicht weißt du mir dann auch so einen guten Trost.« Dann schieden die beiden, und das Wägelein holperte jetzt schnell den Weg hinab, denn es hatte beinahe ausgeläutet.
Es war schon spät am Abend. In dem Heimwesen des Pfleghofbauern war schon alles zur Ruhe gegangen. Nur Vronik war noch einmal zur Hintertür hinausgeschlüpft. Das tat sie immer, ehe sie sich niederlegte. Denn da kam oft der Konrad noch ein Weilchen in den Hof. Und das war die einzige Zeit, wo die verlassenen Kinder einander sehen und sprechen konnten. Es war nicht nur, weil die Mutter so oft gesagt hatte: »Haltet zusammen, Kinder, wenn ich nicht mehr[S. 51] da bin,« daß die beiden so aneinander hingen. Sie hatten alle beide Heimweh nach den alten, schönen Tagen, wo sie mit den Eltern fröhlich zusammen gelebt hatten in der eigenen Heimat. Die Zeit lag freilich jetzt weit dahinten. Aber nach des Vaters Tod war doch noch eine Zeit gekommen, wo die Mutter für ihre Kinder sorgte. Sie war mit ihnen in ihre alte Jugendheimat zurückgekehrt. Aber es lebte niemand mehr von den alten Freunden. Und als der liebe Gott die Mutter zu sich holte, da wußte sie ihren Kindern keinen andern Trost zu hinterlassen als den, den die Vronik so treulich bewahrt hatte, nämlich, daß der liebe Gott für sie sorgen und sie nicht verlassen werde.
Vronik hatte ein fröhliches Herzlein. Und das war viel wert für das einsame Kind. Auf dem großen Hof waren so viele Knechte und Mägde, und sie waren nicht eben böse gegen das Gottswillenkind. Aber sie dachten, es müsse froh sein, wenn es überhaupt einen Unterschlupf habe, und es solle sich nur beizeiten daran gewöhnen, sich in anderer Leute Willen zu schicken. So übten sie es denn alle miteinander darin, daß es sich schicken lerne. »Vronik, treib die Hühner zusammen,« »Vronik, du kannst mir meine Stiefel schmieren,« »wo ist die Vronik? sie soll Kartoffeln waschen,« so hieß es den ganzen Tag. Und Vronik ließ sich das nicht zu sehr anfechten; sie war immer bei der Hand und wenn sie nicht zu müde war, sang sie noch zu ihrer Arbeit irgend eines der schönen Lieder, die sie die Mutter noch gelehrt hatte. Die schönste Zeit für sie war, wenn sie am Sonntag nachmittag mit den Kindern hinausziehen durfte an ein schönes Plätzchen. Da gab sie den Kleinen Blumen und Steinchen zum Spielen und dann konnte sie sich hinsetzen und viel Schönes ausdenken. Wie es früher gewesen war, und wie es später werden würde, wenn der Konrad groß war und Geld verdiente. Ja, daß der Konrad[S. 52] nicht in den Wald konnte, das war freilich betrübt. Der mußte am Sonntag fast noch fleißiger sein als am Werktag; denn da mußte er den Bauernburschen die Kegel aufsetzen und noch vieles andere tun. Und dann kam er immer am späten Abend so verzagt heran, und Vroniks Trost wollte gar nicht bei ihm verfangen. Auch heute nicht. Er machte ein düsteres Gesicht und sagte: »Wenn wir nur fort könnten, Vronik. Wenn wir nur wieder in die Schweiz könnten oder irgendwohin, wo es anders ist. Der Lammwirt hat mich heute so oft am Ohr gerissen und dann noch gesagt: ›Du bist ein Nichtsnutz und dein Essen verdienst du nicht einmal.‹ Und ich habe immer Schlaf und immer Hunger. Ans Lernen komme ich auch nicht. Wenn ich dann im Winter wieder in die Schule muß, so setzt mich der Lehrer zu den Nichtskönnern. Und ich möchte doch so gern lernen.«
Vronik wußte auch nicht gleich zu raten. Sie hätte ja gern Konrads Hand genommen und wäre mit ihm ins Land hinausgewandert. Die Sternlein schienen so hell und freundlich am Himmel und in den Bäumen rauschte der Nachtwind ganz weich und lieblich. Sie hätte sich nicht gefürchtet. Aber wohin? Und dann fiel ihr auch ein, daß die Mutter oft gesagt hatte: »Man muß mit dem zufrieden sein, was einem der liebe Gott gibt. Wenn man immer etwas anderes will, so kann er einem dann nicht mehr helfen.«
So sagte Vronik nach einem Weilchen: »Nein, Konrad, fortgehen, das dürfen wir nicht. Und wir wissen auch nicht, wohin? Es dauert sicher nicht mehr so lang, bis du dann groß bist und Geld verdienen kannst. Und dann ziehen wir zusammen.«
Dem Konrad schien das Leben immer wieder erträglich zu sein, wenn er bei Vronik war; denn sie fand an allem eine gute Seite heraus, wenn sie auch noch klein war und[S. 53] jünger als er. Und sie wußte immer etwas zu erzählen, was sie erlebt hatte, so daß der Konrad oft nur zu staunen hatte.
Heute wurde natürlich das Erlebnis im Walde ausführlich berichtet. In Vroniks Herzlein war ein großes Mitleid für die arme Frau aufgewacht, die nicht einmal mehr wußte, was ein Trost ist.
»Wenn ich nur etwas wüßte, daß sie wieder ein bißchen froh wird,« sagte Vronik, als sie ihren Bericht vollendet hatte. »Und du auch, Konrad. Wenn ich vergnügt sein will, dann fällt mir immer der Lammwirt ein, wie er dich am Ohr reißt und daß du dann so ein trutziges Gesicht machst. Und jetzt auch noch die Frau da droben. Ich möchte nur allen helfen können.«
»Der liebe Gott kann allen helfen,« hatte die Mutter oft gesagt.
Und oft hilft er einem traurigen Menschenkind durch das andere, daß dann beide wieder fröhlich sein können. Man muß nur warten können, er macht es schon noch gut. —
Als die beiden Waisenkinder sich in dieser Nacht trennten, waren sie beide fröhlicher als vorher; denn es war ihnen wieder in den Sinn gekommen, daß schon alles noch gut werde. Und als sie dann in ihrem Kämmerlein lagen und ihr Nachtgebet sprachen, da winkten die Sternlein tröstlich zu ihnen herein und die Gottswillenkinder schliefen so sanft, wie nur irgend wohlbehütete Kinder unter den Augen ihrer Eltern schlafen können.
Ursula hantierte am frühen Morgen geräuschlos in dem weißen Häuschen herum. Sie fegte und stäubte ab und manchmal warf sie einen wohlgefälligen Blick auf die schöne Gegend, die sich an dem strahlenden Herbstmorgen so lieblich vor den Augen ausbreitete, wenn man nur zum Fenster hinaussah.[S. 54] Drinnen im Schlafzimmer rührte sich noch nichts und Ursula war das gewöhnt; denn seit nicht mehr die fröhlichen Kinderstimmen in aller Frühe wach wurden und das Haus lebendig machten, wollte Frau Behrens den Morgen nicht mehr ansehen.
»Ich habe keinen Mut mehr zum Aufstehen,« klagte sie oft. »Es treibt mich ja nichts mehr heraus.«
Sie hätte wohl noch eine Pflicht gehabt, aber es war eine, die der armen Frau das Herz noch schwerer machte als es schon vorher war. In Ursulas Stübchen stand noch ein kleines Bett. Darin lag eine schmale, kleine Gestalt mit einem weißen, farblosen Gesichtchen, darin nichts lebendig schien, als ein Paar große, braune Augen. Sie lag Tag für Tag still und unbeweglich da, die kleine Gertrud, und man fürchtete, daß es auch niemals anders mit ihr werden würde. Das war das einzige Kind, das der armen Frau noch am Leben geblieben war. Es konnte nicht reden, sich nicht bewegen, lachte und weinte nicht. Frau Behrens konnte es nicht lieb haben. »Warum hat mir Gott die gesunden Kinder genommen und dieses gelassen, das nur zum Jammer auf der Welt ist, sich und mir zum Jammer?« So klagte sie oft, und Ursula hatte es längst aufgegeben, ihr zuzureden. Sie tat dem hilflosen Geschöpfchen alles, was sie konnte. Sie gab ihm die Nahrung, hielt es sauber und sorgte ihm für ein gutes Lager. »Wenn man nur wüßte, ob es einen versteht,« dachte sie oft, wenn die braunen Augen so ausdrucksvoll auf sie gerichtet waren.
Eben hatte Ursula ein paar wimmernde Töne vernommen. Diese waren immer das Zeichen, daß Gertrud erwacht war. Sie wollte eben hineingehen, da sah sie eine kleine Gestalt unter der Haustür. Ein mächtiger Strauß fiel auf die Steinstaffel und dann huschte die Gestalt wieder hinunter. »Halt einmal, was ist denn da los?« fragte Ursula erstaunt, und schon hatte sie Vronik, denn diese war es, am Röckchen erfaßt.
[S. 55]
Das Kind strebte weiter; es war dunkelrot im Gesicht. »Laß mich,« sagte es, »ich muß schnell heim, die Bäuerin zankt sonst. Es ist nichts Böses, ich hab nur der Frau einen Strauß gebracht, weil sie so arm ist.« »Was weißt du, ob Frau Behrens arm ist,« sagte Ursula ein wenig unfreundlich. Denn sie wußte nichts von der Begegnung im Walde und dachte, es könne ihrer Herrin vielleicht unangenehm sein, wenn sich jemand um sie bekümmere. »Wo ist sie?« fragte Vronik etwas erschrocken. »Sie kennt mich schon und sie hat gesagt« — hier stockte sie. Denn Frau Behrens trat unter die Tür. Sie hatte das Kind gehört und winkte ihm freundlich zu. Ursula schüttelte erstaunt den Kopf. Hatte man so etwas je erlebt? Das barfüßige Mädchen kam strahlend auf die Dame zu und sagte fröhlich: »Ich habe dir den Strauß geholt. Ich habe den Knechten die Morgensuppe in die Au gebracht. Und es ist noch so lang bis an den Sonntag, drei Tage noch. Da hab' ich schnell das Heidekraut gepflückt. Und der Konrad hat gesagt, wenn[S. 56] man nicht mehr wisse, was ein Trost sei, so müsse man es dem lieben Gott sagen, der wisse es dann schon. Der Konrad hat es auch nicht mehr gewußt, den reißt der Lammwirt oft am Ohr, daß es weh tut.«
»So,« sagte Frau Behrens, »das ist freilich schlimm, wenn er das tut. Aber weiß denn der Konrad jetzt, was ihm gut tun kann?« »Ja, er weiß es schon,« sagte Vronik. »Er vergißt's nur allemal wieder, daß man alles dem lieben Gott sagen kann. Daß er machen soll, daß der Konrad lernen darf, weil er das so gern möchte. Und daß es nicht mehr lang dauert, bis er groß ist und Geld verdient.«
Ursula traute ihren Augen und Ohren nicht, als nun Frau Behrens dem Kinde warm die Hand gab und sagte: »Den Konrad muß ich auch sehen. Und am Sonntag kommst du in den Wald. Vielleicht können wir schon etwas ausfindig machen, daß dein Bruder mehr lernen darf, wenn er das so gern will.«
Vronik eilte leichtfüßig davon. Denn es war jetzt keine Zeit zum Plaudern. Im Pfleghof war große Wäsche, und Vronik hätte sich verdreifachen können und doch kaum alle Befehle ausführen, die man ihr gab. Aber sie tat heute alles noch viel vergnügter als sonst. Sie mußte an einemfort vor sich hinsingen. Sogar die alte Obermagd, die sonst nicht viel sagte, fragte verwundert:
»Was freut jetzt auch das Mädchen so? Das hat doch einen Leichtsinn, man sollt's nicht glauben. Und hat's erst gar nicht nötig, das Leichtsinnigsein. Wenn man keinen Menschen hat und keinen Pfennig Geld.« Vronik brauchte aber gar kein Geld zum Vergnügtsein. Und daß eben erst, heute schon, ein Mensch freundlich und teilnehmend mit dem armen Gottswillenkind gesprochen hatte, das wußte die alte Obermagd nicht. Vronik hörte es immerfort noch in den Ohren[S. 57] tönen: »Wir können dann vielleicht schon noch etwas ausfindig machen, daß der Konrad mehr lernen kann, wenn er das so gern möchte.«
Das war ganz genug, um den ganzen Tag fröhlich zu sein, bis dann am Abend der Konrad kam und man es ihm mitteilen konnte. Vronik konnte sich nicht besinnen, was Frau Behrens wohl dazu tun könnte, daß der Konrad mehr lernen dürfe. Sie freute sich nur darüber und glaubte ganz sicher, daß es wahr werde. »Der liebe Gott kann alles machen,« hatte die Mutter oft gesagt, und Vronik zweifelte gar nicht, daß er das machen könne.
Aber am Abend kam der Konrad nicht in den Hof und auch nicht an den beiden folgenden. Vronik wartete lange auf ihn und wurde immer unruhiger. Ins Lamm gehen, das durfte sie nicht. Der Lammwirt hatte ihr einmal gesagt: »Das Zusammengeläufe verbitte ich mir, und dich will ich nicht in meinem Haus antreffen.« Und dazu hatte der große Metzgerhund Flox so grimmig geknurrt, als ob er hätte sagen wollen: »Und ich dich auch nicht oder es geht dir dann schlecht.« Seither fürchtete sich das Kind vor beiden, dem Mann und dem Hund. Aber am Sonntagmorgen hielt es Vronik nicht mehr aus. Sobald sie ein Weilchen abkommen konnte, ging sie doch hinunter auf den freien Platz, an dem das stattliche Wirtshaus stand, dessen goldenes Lamm in der Sonne glänzte. Sie wollte nur sehen, ob sie nicht an irgend einem Fenster den Konrad entdecken könne. Aber da kam gerade der gefürchtete Lammwirt in hohen, blankgewichsten Stiefeln zum Haus heraus. Er führte den Hund an der Leine, hatte einen festen Stock in der Hand und eine Schildkappe auf und ging mit großen Schritten die Straße hinunter. Vronik hatte sich zitternd an die Wand gedrückt, als sie die beiden sah, nun atmete sie leicht auf, denn nun war nichts zu befürchten. Sie huschte schnell ins Haus,[S. 58] sah sich im Flur und im Schenkraum um und fand endlich den Bruder in der Küche. Er saß auf einem Bänkchen und putzte Rüben. Sein Fuß lag auf einem Holzklotz und war dick mit Lappen umwickelt und sein Gesicht war noch blässer und finsterer als sonst. Vronik erschrak, als sie ihn so fand. »Was hast du, was ist, daß du nicht kommst?« sagte sie ängstlich. »Hat er dir etwas getan?« Konrad schüttelte den Kopf und sah sich zuerst nach allen Seiten um, ehe er antwortete. »Ich habe ein Glas zerbrochen, und bin noch in einen Scherben getreten,« sagte er. »Jetzt ist mein Fuß dick geschwollen. Und Schläge habe ich auch bekommen. O wenn ich nur gar nicht mehr am Leben wäre.« Und dabei rollten dem Konrad dicke Tränen über die bleichen Backen.
Es war ein wenig schwer für Vronik, hier eine gute Seite an der Sache zu finden. Denn niemand pflegte den Konrad recht. Der Lammwirt hatte keine Frau. Vor seiner alten Mutter fürchteten sich die Kinder fast ebensosehr, wie vor dem Lammwirt selbst, denn sie hatte eine sehr unfreundliche Gemütsart. Und die Köchin dachte, der Fuß werde schon von selbst wieder gut werden. So war es kein Wunder, daß dem Konrad das Herz noch schwerer war, als sonst schon vorher. Denn er kam sich jetzt so verlassen und unglücklich vor, als ob es auch für ihn keinen Trost mehr gebe auf der ganzen Welt. Das konnte aber Vronik nicht ertragen.
»Ich habe dir zwei Birnen gebracht,« sagte sie. »Sie sind gut, ich hab sie vom Stallknecht, weil ich ihm die Stiefel gewaschen habe. Du mußt jetzt nicht weinen. Ich habe ein frisches Halstüchlein, das mache ich naß und binde es um den Fuß, das tut dir gut.«
Der Fuß war entzündet und tat weh. Und Konrads trauriges Herz konnte auch Vronik nicht so schnell hell und fröhlich machen. Aber es war doch gut, daß sie gekommen[S. 59] war. Denn jetzt setzte sie sich noch ein Weilchen zu dem Bruder auf das niedrige Bänklein. Und wenn er sagte: »Es hilft doch nichts, wenn man sich auch Mühe gibt, so viel man kann. Und es dauert so lang, bis man groß wird, daß man es fast nicht erleben kann,« so wußte sie doch immer wieder einen Trost. Und heute hatte sie ja noch einen besonderen. »Die Frau Behrens hat gesagt, sie wolle dann schon etwas ausfindig machen, daß du lernen dürfest,« erzählte sie. »Vielleicht will sie den Lammwirt fragen, ob er's nicht erlaube.« »Der erlaubt's nicht,« sagte Konrad mutlos. »Jetzt mußt du dich einmal gar nicht mehr besinnen, die Frau Behrens besinnt sich schon selber,« ermahnte Vronik. »Heute nachmittag seh' ich sie im Wald. Und dann komme ich bald wieder zu dir und sage dir alles.«
Vronik mußte gehen. Denn sie hatte auf dem Hof noch viel zu tun. Und sie wollte auch lieber nicht abwarten, bis der Herr des Hauses mit dem Hund zurückkäme.
Konrad blieb in seiner trübseligen Küche allein. Aber er[S. 60] sah nicht mehr so finster aus als zuvor. Vronik hatte ihn ein wenig aufgeheitert mit ihrem Besuch und mit dem, was sie gesagt hatte. Und nun fingen die Glocken an zu läuten und auf dem Fenstersims zwitscherte lustig ein dicker Spatz, und ein heller Sonnenstrahl fiel auf den Steinboden der Küche und tanzte dort hin und her. Da kam es dem einsamen Buben wieder tröstlich in den Sinn, daß der liebe Gott sein Vater sein wolle und es schon noch gut mit ihm machen werde. Er wollte nur nicht immer vergessen, sich an ihn zu halten.
Die Köchin war auch in sonntäglicher Stimmung. Sie konnte zwar nicht in die Kirche gehen, aber sie kam doch mit einer frischen Schürze angetan aus ihrer Kammer herunter und summte ein schönes Lied vor sich hin, als sie am Herde hantierte. Und als sie Waffeln buk, geschah das Unerhörte, daß sie dem Konrad eine davon, die noch warm und goldbraun war, mit Zucker bestreute und gab. »Da, du armer Schlucker,« sagte, »daß du auch weißt, daß Sonntag ist.«
Nein, heute wollte der Konrad nicht mehr verdrießlich sein! Und er wußte erst noch nicht, daß schon alles auf dem besten Wege war für ihn und er nur noch ein Weilchen warten mußte, bis ihm der liebe Gott helfen wollte.
Der Abend dämmerte schon. Den schmalen Fußpfad vom Dorfe her nach dem »weißen Häuschen« ging langsam, mit gesenktem Kopf, ein kleines, barfüßiges Mädchen. Es war Vronik. Sie hatte ihre Schutzbefohlenen, den Daniel und das Regele, nach Hause geführt. Nun durfte sie noch ein Weilchen tun, was sie gern wollte.
Vronik hatte den ganzen, langen Nachmittag im Wald an dem bekannten Plätzchen gewartet, ob Frau Behrens nicht komme, aber umsonst. Die Kinder konnten heute nicht so befriedigt[S. 61] sein von ihrer Hüterin wie gewöhnlich. Denn diese horchte an einem fort, ob sich kein Tritt hören lasse, und dann ging sie wieder ein Stückchen weit den Berg hinauf, um zu sehen, ob nirgends eine schwarze Gestalt aus den Büschen trete. Denn sie hatte so viel auf dem Herzen, und es ist nicht leicht, ganz umsonst auf den einzigen Menschen zu warten, von dem man glaubt, daß er einem helfen könnte. Und Vronik wußte ja, daß es nun wieder eine ganze Woche anstehen werde, bis sie Frau Behrens sehen könne. Da war es nicht zu verwundern, daß sie nicht wie sonst auf die vielen Wünsche und Fragen der Kinder hörte, sondern nur allemal wieder sagte: »Ja, ja, spielet jetzt nur auch ein wenig allein. Immer kann ich euch auch nicht vorsingen.« So hatte die Vronik heute gar kein so sonntägliches Gefühl wie sonst, als sie ihr Wägelchen nach Hause schob. Sie mußte nur immer denken: »Warum ist die Frau nicht gekommen? Hat sie am Ende ganz vergessen, daß sie sich auf etwas Gutes für den Konrad besinnen wollte?«
Unter solchen Gedanken hatte die Vronik fast unbewußt den Waldweg eingeschlagen, als sie nun freie Zeit hatte. Nun stand sie vor dem Häuschen. Es saß niemand mehr auf dem Bänkchen vor der Türe, denn es war schon Dämmerung und kühl. Ein heller Lichtschein fiel aus dem Fenster. Da drinnen im Zimmer würde nun wohl die fremde Frau sitzen, die nicht mehr wußte, was ein Trost ist und die doch dem armen Kinde schon ein Trost[S. 62] geworden war. Vronik konnte es nicht lassen, sie mußte sich auf das Bänkchen stellen, das gerade unter dem erleuchteten Fenster stand. Nur einen Augenblick hineinsehen wollte sie, es würde es ja niemand merken. Nur geschwind sehen, ob die Frau etwa krank sei oder ob sie nun gerade so traurig, wie sonst, vor dem Haus am Tisch unter der Lampe sitze und vor sich hinstarre.
Es sah aber ein wenig anders aus in dem Zimmer, als Vronik sich vorgestellt hatte. So etwas Behagliches, Heimliches hatte das Kind noch nie gesehen, dem seither das einfache Stübchen daheim bei der Mutter und von noch früher her das Arbeiterhäuschen in der Schweiz als das Schönste, was es geben konnte, vorgeschwebt war.
Vronik drückte das Gesicht fest an die Scheiben, um nur alles genau sehen zu können, die Bilder an den Wänden, die Blumen in Töpfen und Schalen, die da überall herumstanden, den ganzen zierlichen, behaglichen Schmuck des wohleingerichteten Wohnzimmers. Frau Behrens saß aber nicht allein darin. Ein alter Herr mit freundlichem Gesicht und schneeweißen Haaren saß neben ihr auf dem Sofa und hielt ihre Hand gefaßt. Und neben den Beiden lag, gerade hell vom Licht der Lampe beschienen, in einem Korbwagen eine kleine, schmale, weißgekleidete Gestalt, die gar nicht ausgesehen hätte, als ob sie lebe, wenn nicht die großen, aufmerksamen Augen sich ein wenig bewegt hätten. Vronik vergaß ganz, was sie da heraufgetrieben hatte, und auch, daß sie hatte gleich wieder heimgehen wollen. Sie sah nur immerfort auf die kleine Gruppe in dem erleuchteten Zimmer. Ursula ging hin und her, deckte den Tisch zum Abendessen und zupfte hier und da, wenn sie an dem Korbwagen vorüberging, eine Spitze an dem Kleidchen der kleinen Gertrud zurecht, weil sie dem Kinde jetzt gerade sonst nichts Gutes antun konnte.
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In Vronik stieg ein brennendes Heimwehgefühl auf. Sie hatte sich so zu der fremden, traurigen Frau hingezogen gefühlt, weil sie glauben mußte, diese stehe ganz allein auf der Welt und weil sie gut wußte, wie es tut, verlassen zu sein. Und nun sah sie den alten Herrn bei ihr sitzen, der so väterlich die Hand der traurigen Frau hielt, sah das Kind in dem Wagen, das ein so feines, zartes Gesichtchen hatte und das doch wohl Frau Behrens gehören mußte, und das trauliche Zimmer, in dem diese Leute ungestört beisammensitzen konnten.
»Da wird sie's freilich wohl vergessen haben, daß sie kommen wollte,« dachte das arme Gottswillenkind.
»Vielleicht bleibt jetzt der alte Herr immer bei ihr und macht sie wieder ganz fröhlich. Und dann wird sie wohl nichts ausfindig machen für den Konrad.«
Es wurde spät. Vronik war auf das Bänkchen niedergekniet, hatte den Kopf auf die Arme gestützt und mit begierigen Augen ins Zimmer gesehen, bis ihr die Augen zugefallen waren. Es sah so heimatlich aus da drin und wenn das Kind auch wußte, daß es da nicht hingehöre, so wollte es doch noch ein kleines Weilchen hineinsehen und ein wenig vergessen, daß es so allein sei. Und darüber war es eingeschlafen. Jetzt wogten die weißen Abendnebel um die schlafende Gestalt her und am Himmel glänzten die Sterne. Und Vronik träumte von einer Heimat, wo sie wirklich hingehörte, wo man sie lieb hatte und den Bruder auch.
Drinnen im Zimmer saß der alte Herr, der ein Doktor war und ein väterlicher Freund der Frau Behrens, soweit diese sich zurückerinnern konnte, noch lange bei ihr auf dem Sofa. Er hatte im Frühjahr den Ankauf des weißen Häuschens besorgt, weil ihn die junge Frau gebeten hatte: »Lassen Sie mich fort, Herr Doktor, von allen Menschen weg. Vielleicht kann ich mich in der Einsamkeit besser zurechtfinden.«
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Nun war er gekommen, um wieder einmal nach seiner Schutzbefohlenen zu sehen. Ursula hatte ihm heimlich geschrieben, weil sie den stummen Jammer nicht mehr so allein mitansehen konnte und weil sie auch hoffte, daß der Herr Doktor etwas für die kleine Gertrud zu tun wisse.
Es war kein fröhlicher Tag gewesen für den alten Herrn, der ein so warmes, mitfühlendes Herz hatte und gern allen Traurigen geholfen hätte. Denn Frau Behrens sagte auf all seine liebreichen Worte nur: »Seien Sie mir nicht böse, ich kann nicht anders als traurig sein und niemand kann mir helfen.«
Nun hatte der Herr Doktor heute abend noch ein Mittel versucht, Frau Behrens ein wenig aufzurütteln. Er hatte den Wagen mit der kleinen Gertrud ins Zimmer bringen lassen, und die Mutter selbst hatte ihm helfen müssen, das Kind ganz eingehend zu untersuchen. Sie hatte die Kleidchen auf- und zuknöpfen und die leichte Gestalt in den Armen halten müssen. Und nun sagte der Herr Doktor ernsthaft: »So, nun hören Sie mir einmal zu. Kein Mensch auf der ganzen Welt darf sich so hinsetzen und sein Leben mit Klagen zubringen. Der liebe Gott weiß, was er getan hat. Und er weiß auch, warum er Gertrud am Leben ließ und nicht eines von den gesunden Kindern, und niemand kann im voraus sagen, eines sei unnütz auf der Welt. Fangen Sie einmal an, das Kind lieb zu haben. Singen Sie ihm etwas vor. Nehmen Sie es in die Arme, es spürt vielleicht gut, wenn man es lieb hat. Es kann auch noch kräftiger werden, man weiß nie, was unser Herrgott noch im Sinn hat mit so einem schwachen Kindlein.«
Und als Frau Behrens stumm vor sich hinsah, fuhr der alte Herr fort: »Wenn Sie es noch nicht recht lieb haben können, so tun Sie es um Gotteswillen; weil er es will. Es wird ihnen noch ein Trost werden, das weiß ich.«
Frau Behrens hätte nicht gut sagen können, welche Gedanken[S. 65] ihr an dem Abend schon durch den Sinn gegangen waren. Es war nicht mehr ganz so dunkel in ihrem Herzen wie vorher. Seit sie mit dem armen Gottswillenkind zusammengetroffen war, hatte sich manches in ihr geregt, was sie lang vergessen hatte. Und Vroniks Trost war ihr oft eingefallen, wenn sie auch selbst noch nicht recht sagen konnte: »daß der liebe Gott bei einem ist und einen nie verläßt, wenn man auch sonst allein ist, das ist ein Trost.« Nun bei den letzten Worten des Doktors fiel ihr das Gottswillenkind wieder ein. Das hatte man ja auch, samt seinem Bruder, »um Gotteswillen« aufgenommen und Frau Behrens wußte, daß es die Beiden nicht gut hatten. Und es kam ihr beschämend in den Sinn, daß sie ihr eigenes, armes Kind auch nicht liebevoller behandle, und sie dachte mit Recht, daß es doch Kinder, die man dem lieben Gott zulieb versorgen will, am besten von allen haben sollten.
Frau Behrens hatte noch gar keine Antwort auf die ermahnenden Worte des Doktors gegeben. Denn sie kämpfte mit sich selbst und konnte noch nicht recht mit ihrer Traurigkeit fertig werden.
Da kam Ursula ins Zimmer. Sie war hinausgegangen, um die Läden zu schließen. Nun trat sie etwas erregt ein und sagte: »Was soll man da anfangen? Es ist ein schlafendes Kind auf dem Bänkchen vor dem Hause. Das ist's, das schon einmal hier war. Man kann es doch nicht draußen lassen.«
Ursula und der Doktor sahen einander erstaunt an, als hier Frau Behrens lebhaft aufstand und sagte: »Bring's herein, Ursula. Oder nein, ich will es selbst holen. Es kennt mich; es hat auf mich gewartet, das weiß ich.«
Der Doktor sah ihr vergnügt nach, denn er dachte: »Man kann nicht wissen, auf welche Weise ihr der liebe Gott helfen will.«
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Eine kleine Weile später trat Frau Behrens ein. Sie trat leise und sachte auf und trug auf beiden Armen das barfüßige Bauernkind. Sie legte es aufs Sofa nieder und dann sagte sie flüsternd: »Man darf es nicht wecken, es schläft so tief und fest. Ursula soll ins Dorf gehen und sagen, daß man das Kind nicht vergeblich sucht. Und morgen sieht man weiter.«
Als der Herr Doktor in dieser Nacht zur Ruhe ging, oben in dem freundlichen Balkonzimmer, stand er noch eine Weile still am Fenster und sah in die schweigende Gegend hinaus. »Du machst es nicht, wie wir gedacht, du machst es besser als wir denken,« sagte er vor sich hin. Denn er hatte schon gemerkt, daß der liebe Gott beiden helfen wollte, den Kleinen und Großen, da konnte er sich wohl freuen.
Das war am andern Morgen ein erstauntes Gesicht, mit dem sich Vronik beim Erwachen umsah. Sie glaubte immer noch zu träumen. Die Sonne schien hell durch die blanken Fenster und blütenweißen Vorhänge, beschien die weißen Kissen, in denen das arme Gottswillenkind lag, und das ganze, freundliche Zimmer. An der Wand hing ein großes Bild. Es war der Heiland, der ein Schäflein auf der Schulter trägt. Das mußte Vronik unverwandt ansehen. Das Schäflein schmiegte sich so dicht an den guten Hirten, der es trug, es wurde einem wohl, wenn man es nur ansah. Und Vronik fiel das Lied ein, das die Mutter so oft mit ihren Kindern gesungen hatte, die Stelle, wo es hieß: »Und nach diesen schönen Tagen werd ich endlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß, Amen, ja, mein Glück ist groß.« Es war dem Kinde einen Augenblick zumute, als ob es auch »heimgetragen« wäre. Aber dann fiel ihm der ganze gestrige Abend wieder ein. Seine Kleider lagen auf dem Stuhl neben dem Sofa, und dann wußte Vronik
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plötzlich, daß sie wieder ins Dorf hinunter müsse, in den Pfleghof, wo jetzt längst die Gänse und Enten und Hühner auf ihr Futter warteten und wo alles nach der Vronik rief. Sie konnte nur gar nicht begreifen, wie sie da hereingekommen war. Sie hatte doch gestern abend nur zum Fenster hereingesehen. Leise schlüpfte sie in ihr Röckchen, da ging die Tür zum Nebenzimmer auf und Ursula kam herein. Sie machte heute ein ganz freundliches Gesicht, denn sie liebte die Kinder und es kam ihr vor, als ob etwas besonderes mit diesem Kinde sei. Und das war auch wahr. Denn wenn der liebe Gott ein barfüßiges Waisenkind an der Hand nimmt und führt es einer traurigen Mutter zu, daß sie einander wieder fröhlich machen sollen, so ist das schon etwas besonderes. Das wußte nun zwar Ursula noch nicht, daß ihre Herrin die ganze Nacht wach gelegen war und viele Gedanken in sich bewegt hatte. Daß sie sich vorgenommen hatte, nun nicht mehr an einem fort zu klagen und traurig zu sein, sondern den Trost hereinzulassen, der in ihr Herz hinein wollte. Ursula half dem Kind ein wenig beim Haarmachen, obgleich Vronik das sonst immer selbst tun mußte.[S. 68] Dann nahm sie es mit in das Zimmer, wo die kleine Gertrud lag. »Da sieh,« sagte Ursula, »du hast's noch lang gut gegen dem armen Tröpflein, das nur immer so daliegen muß.«
Vroniks weiches Herzlein war gleich ganz voll Teilnahme. »O, kann es nichts tun, gar nichts?« sagte sie. »Kann man nicht mit ihm spielen und lachen und ihm etwas vorsingen, daß es auch eine Freude hat?« Ursula sah verwundert in das lebhafte Gesichtchen. Zum Spielen und Lachen und Singen war man in dem weißen Häuschen schon lang nicht mehr aufgelegt gewesen. Es war alles so geräuschlos als möglich zugegangen. »Ich muß nun das Wohnzimmer schön machen,« sagte sie. »Du kannst so lang hier bleiben. Frau Behrens hat gesagt, daß ich dich nicht gehen lassen soll, ehe sie mit dir gesprochen hat. Angst brauchst du nicht zu haben. Es geschieht dir nichts im Pfleghof. Ich habe gesagt, daß du nicht so früh kommst.«
Damit ging sie hinaus und Vronik blieb allein mit dem kranken Kinde. Es kam ihr alles ganz wunderbar vor, was mit ihr geschah. Am wunderbarsten aber erschien ihr dieses stille Gesichtchen, das nur so aufmerksame Augen hatte. Sie hätte so gern einen Versuch gemacht, mit Gertrud zu sprechen. Aber sie scheute sich davor, es zu probieren. So verfiel sie auf ihr altes Mittel, mit dem sie immer die Kinder im Pfleghof zu unterhalten wußte. Sie setzte sich auf das niedrige Stühlchen, das neben dem Wagen stand, und fing leise an zu singen. Vronik hatte ein liebliches Stimmchen und sie konnte viele schöne Lieder von der Mutter her. Jetzt sang sie:
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Vronik war gewöhnt zu singen, deshalb kam es ihr ganz natürlich vor, daß sie es tat. Aber den anderen Hausbewohnern waren das ganz neue Töne. Der Herr Doktor kam gerade von oben herunter und blieb auf seinem Gang nach dem Wohnzimmer horchend stehen, Frau Behrens trat auf die Schwelle des Zimmers und lauschte leise, und Ursula hörte auf abzustäuben.
Aber plötzlich hörte der Gesang auf, Vronik stieß einen fröhlichen Ruf aus. »Es lacht,« rief sie. »Es will noch mehr hören.« Man kann es kaum sagen, wie schnell die drei Leute von allen Seiten an das Wägelchen herankamen, um das Wunderbare zu sehen. Ja, es war so. Das bleiche Köpfchen hatte sich langsam nach der Seite gewendet, wo Vronik saß, und das Gesichtchen war zu einem Lächeln verzogen. Es war ganz deutlich. »Sing noch etwas, Kind, hör noch nicht auf,« sagte der Herr Doktor zu Vronik. Denn er wollte gern recht deutlich sehen, was das für eine Wirkung habe. Und aufs neue sahen alle drei Großen aufmerksam zu, wie Gertruds Augen so strahlend an Vronik hingen, als diese sang. Vronik hatte das kleine Händchen gefaßt und da geschah das weitere Wunder, daß sich die mageren Fingerlein um das braune Händchen des Bauernkindes schlossen.
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»Jetzt erleben wir noch viel Schönes,« sagte der Doktor vergnügt. »Das wird man schon sehen.« Frau Behrens nahm Vronik an der Hand. »Dich müssen wir bei uns haben so viel wir nur können,« sagte sie liebreich. »Dich hat mir der liebe Gott zum Trost geschickt.« Vronik schüttelte leise den Kopf. »Ich habe keine Zeit zum Heraufkommen,« sagte sie. »Und jetzt muß ich schnell heimgehen, sonst zankt die Bäuerin.«
Der Konrad fiel ihr ein, wie er so traurig in seiner Küche gesessen hatte, und es fiel ihr schwer aufs Herz, daß sie ihm noch keinen Bescheid gebracht hatte. Die Leute hier hatten einander, aber der Konrad hatte nur seine Vronik, sonst niemand. Und Frau Behrens schien ihn ganz vergessen zu haben.
»Ich will die Bäuerin fragen, ob sie dich nicht manchmal kommen läßt,« sagte Frau Behrens jetzt. »Ich will selbst mit ihr reden.«
Da platzte Vronik heraus: »Dann rede noch lieber mit dem Lammwirt, daß der Konrad in die Schule darf und daß er ihn nicht so oft schlägt und« — Vronik mußte gewaltig schlucken, sonst hätte sie hier vor den fremden Leuten angefangen zu weinen.
»Nur heraus mit allem,« ermunterte der Herr Doktor freundlich. Er war ein großer Kinderfreund und konnte keine traurigen Gesichter sehen, ohne daß er hätte versuchen müssen, sie fröhlich zu machen. Und in Vronik sah er überhaupt eine Bundesgenossin. So kam denn alles an den Tag, was Vroniks Herzlein bedrückte, alles. Frau Behrens hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, und Ursula vergaß ganz, wieder hinauszugehen, und ballte zornig die Faust, als sie hörte, daß niemand den kranken Fuß des Konrad pflege.
»Da müssen wir abhelfen, soviel ist sicher,« sagte der Herr Doktor väterlich, als Vronik mit ihrem Bericht zu Ende war.
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»Ich gehe mit dir ins Dorf und zu dem Lammwirt. Was meinst du, mir wird der Hund schon nichts tun? Und dann wollen wir weiter sehen.« Vronik nickte ganz einverstanden. Sie hatte ja schon lange gewußt, daß der liebe Gott alles machen könne, da verwunderte sie sich jetzt nicht so sehr, daß er es nun auch tat. Und sie dachte nur, daß jetzt alles gut komme, über das Wie machte sie sich keine Gedanken.
Das gab ein großes Staunen im Dorf, als Vronik an der Hand des fremden alten Herrn durch die Straße ging. Das kümmerte aber die beiden wenig. Denn sie hatten einander unterwegs so vieles mitzuteilen, daß sie gar keine Zeit hatten, nach den Leuten zu sehen. Hand in Hand schritten sie nach dem »goldenen Lamm«. Der Wirt stand unter der Tür. Er sah verwundert auf das Gottswillenkind, machte aber doch einen tiefen Bückling vor dem feingekleideten Herrn. »Sie haben einen Kranken im Haus, höre ich?« sagte der Herr Doktor sogleich. »Führen Sie mich zu ihm.« »Wenn der Herr den Buben meint, der ist im Keller und spült Flaschen,« antwortete der Wirt. »Krank ist er nicht, du meine Güte. Wegen so einem bißchen Geschwulst am Fuß macht man mit so einem Knirps nicht soviel Aufhebens.« »Ich bitte, daß Sie mir den Konrad in die Schenkstube bringen,« beharrte der Herr Doktor. »Was zu tun ist, wollen wir dann schon sehen; ich bin Arzt und gedenke schon zu sehen, was nötig ist.«
Der Wirt zog brummend ab, nicht ohne daß er vorher noch bemerkt hatte: »Wer den Doktor bestellt hat, weiß ich nicht. Es wird dann niemand verlangen, daß ich ihm noch den Weg bezahle für so einen Bettelbuben.«
Vronik nickte dem Konrad ermunternd zu, als er bald darauf hereinhinkte, bleich und ängstlich. Der Herr Doktor war aber keiner von denen, die nicht mit schüchternen Kindern[S. 72] fertig werden. Er streckte dem verlegenen Buben ganz freundlich die Hand hin. »So, das ist ja ganz geschickt, daß ich gerade hier bin,« sagte er fröhlich, dann untersuchte er den kranken Fuß, machte aber ein ernsthaftes Gesicht dazu und schüttelte den Kopf. »Ganz unverantwortlich vernachlässigt ist die Wunde,« sagte er vor sich hin. Dann nahm er den Lammwirt besonders in ein Nebenzimmer und sprach dort eine Weile sehr erregt mit ihm. Als er wieder herauskam, wandte er sich an die Kinder. »So, nun seid einmal recht vernünftig,« sagte er. »Den Konrad muß ich mit mir nehmen in meinem Wagen. Drunten in der großen Stadt, in der ich lebe, ist ein schönes helles Haus, in dem kranke Kinder gepflegt und versorgt werden, daß sie dann wieder gesund und fröhlich werden können. Da will ich den Konrad hinbringen. Er hat's auch sonst nötig, denn er ist viel zu bleich und mager für so einen Buben. Da komme ich dann täglich zu ihm und sehe nach dem Fuß. Und schöne Bücher gibt's da und Spiele.« Der Herr Doktor hielt es für nötig, alles so schön auszumalen. Denn er war gewöhnt, daß sich die Kinder davor fürchteten, ins Krankenhaus zu kommen. Aber der Konrad saß mit leuchtenden Augen da, und man konnte ihm wohl ansehen, daß er mit dem freundlichen Herrn hingegangen wäre, wo dieser ihn hingebracht hätte.
Vronik hatte zwar zu schlucken und zu drücken, daß keine Tränen heraufkommen konnten, denn sie wußte wohl, daß sie dann gar niemand mehr habe, wenn der Konrad fort sei. Aber als sie hörte, wie gut er es bekommen solle, da mußte sie sich so mitfreuen, daß sie fürs erste ihren eigenen Kummer ganz vergaß. Der Herr Doktor vergaß aber seine kleine Freundin nicht. Denn sie mußte ihm ja helfen, die traurige Frau in dem weißen Häuschen wieder fröhlich zu machen. Und er wußte schon lange, daß der liebe Gott dazu arme und reiche[S. 73] Leute untereinander auf der Welt sein läßt, daß sie Liebe aneinander üben sollen und alle reich und glücklich werden. So sagte der Doktor jetzt dem Konrad, daß er in einer Stunde mit dem Wagen kommen und ihn abholen wolle, und nahm dann Vronik bei der Hand. »Sag jetzt deinem Bruder Lebewohl,« sagte er freundlich. »Und laß dich's nicht zu sehr anfechten; ich will dann schon sorgen, daß du ihn bald wieder siehst. Was meinst du, wenn du inzwischen ein Kindsmädchen für unsere arme Gertrud würdest? Wenn du ihr noch öfters etwas singen würdest, daß sie doch auch eine Freude hat?«
Vronik wurde dunkelrot vor Freude. Sie war im Pfleghof nie am Ohr gerissen, nie gestoßen und geschlagen worden. Aber daheim sein war wieder ganz anders, ganz anders. Und in dem weißen Häuschen konnte man daheim sein, das hatte das Kind diesen Morgen beim Erwachen gefühlt.
Sie klammerte sich einen Augenblick fest an Konrad an und flüsterte ihm zu: »Jetzt kommt's. Alles kommt. Die Mutter hat's gut gewußt. Freu dich nur, Konrad, jetzt wird alles noch viel schöner, man weiß noch gar nicht, wie schön es wird.«
»So, und jetzt behüt dich Gott,« sagte der Herr Doktor liebreich zu Vronik. »Geh jetzt nur ganz fröhlich auf den Pfleghof. Da hast du ganz recht, es kommt alles, wie es gut ist, man muß nur ein wenig warten können. Du wirst dann schon hören, was weiter kommt.«
Und Vronik ging und besann sich wieder nicht lange, wie es weiter komme. Denn sie wußte ja schon, daß eins ums andere ganz von selber komme und sie gar nichts dazu zu tun brauche. Im Pfleghof schnatterten die Enten und die Gänse, als Vronik ankam. Der Daniel und das Regele spielten vor dem Haus und die Ahne saß bei ihnen und sagte: »Eine ordentliche Tracht Schläge hättest du schon verdient[S. 74] diesmal. Wenn man in der Nacht herumläuft und vor anderer Leute Haus schläft anstatt in seinem Bett.« Vronik machte sich nun schnell an ihre Arbeit und tat alles, was man ihr auftrug, so willig, daß der Bäuerin und den Mägden der Ärger bald wieder verging und sie zueinander sagten: »Für einmal hat sie genug am Fortlaufen, das sieht man deutlich. Man muß sie nur ein wenig drunten halten, daß sie daran denkt, daß man sie um Gottswillen im Haus hat. Dann kommen ihr keine hoffärtigen Gelüste mehr. So eins soll nur froh sein, wenn es überhaupt weiß, wo es hingehört.«
Es war am Nachmittag des andern Tages. Vronik saß in der Küche und hatte eine riesige Schüssel voll Kartoffeln vor sich, die sie schälen sollte. Die Obermagd hatte schon zweimal den Kopf durchs Fenster hereingestreckt und nachgesehen, ob die Arbeit noch nicht fertig sei. Denn sie hatte auch noch Wünsche, und dann hatte die Ahne heraussagen lassen, es sei die höchste Zeit, daß ihr die Vronik ein Weilchen die Kinder abnehme. Vronik mußte sich tüchtig rühren, um fertig zu werden. Aber es war heute ganz gut für sie. Denn das Heimweh regte sich immer stärker in dem Kinde. Der Konrad war fort und der Herr Doktor mit. Und niemand hatte nach Vronik gefragt. Wie gern wäre sie nur geschwind nach dem weißen Häuschen gelaufen, nur um zu sehen, daß es noch dastehe und alles noch gut kommen könne. Aber das war ihr streng untersagt worden. Darum war es ganz gut, daß Vronik so viel zu tun hatte, daß nur immer eine Arbeit nach der andern abgetan werden mußte und gar keine Zeit zu müßigen Gedanken blieb.
Jetzt waren die Kartoffeln fertig, und Vronik kehrte die Schalen zusammen, um sie den Schweinen zu bringen, da hörte sie plötzlich eine wohlbekannte Stimme. »Ich möchte mit der Bäuerin selbst reden,« sagte Frau Behrens, denn sie war es,[S. 75] die im Hof draußen sprach zu der Magd, die da hantierte. Vronik stand wie angewurzelt. Sie wäre am liebsten in den Hof geeilt, denn sie fühlte wohl, daß Frau Behrens ihretwegen kam. Aber man hatte noch nicht nach ihr gefragt, und hier im Hause war sich Vronik in einemfort bewußt, daß sie nicht zur Familie gehöre. Da wagte sie sich nicht so hervor. So blieb sie denn am gleichen Fleck stehen, bis die Fremde in der Wohnstube verschwunden war und die Obermagd hereinrief: »Was ist denn eigentlich mit dir? Ich glaube, du schläfst am hellen Tag und mit offenen Augen wie die Hasen.«
Da raffte Vronik ihre Arbeit zusammen und ging in den Stall und von da in den Keller und auf den Heuboden, wo man sie hinschickte. Aber ihr Herz klopfte stark, und ihre Gedanken waren immer in der großen Wohnstube. Was würde man über sie beschließen? Wann würde man sie hineinrufen? Sonst konnte sie nichts mehr denken. Da rief die Stimme der Ahne von der Haustüre her über den Hof hin: »Wo steckt nur auch das Mädchen? Vronik, geh einmal her, man muß etwas mit dir reden.«
Vronik konnte kaum antworten, so stark klopfte ihr Herz. Aber dann kam sie doch mit eiligen Schritten heran und folgte der Ahne in die Wohnstube. Die Bäuerin saß mit Frau Behrens auf dem lederbezogenen Sofa und sah die Vronik nicht eben sehr freundlich an. »Ich meine dann nicht, daß du es schlecht gehabt hast bei uns,« sagte sie zu ihr. »Gekocht wird genug alle Tage, und niemand mißt den Leuten das Brot vor. Und ich denke, so als Gottswillenkind hättest du es schlechter antreffen können als bei uns.« — »Das glaube ich gern,« fiel Frau Behrens rasch ein. »Aber Sie brauchen die Veronika ja nicht, das sagen Sie selbst. Und mir könnte das Kind ein Trost und eine Freude sein. Veronika, komm[S. 76] einmal her zu mir,« fuhr sie, zu Vronik gewendet, fort. »Siehst du, ich könnte dich notwendig brauchen und mein armes Kind auch. Und wenn dir's recht ist, dann kannst du bei mir daheim sein.« Vroniks Augen glänzten. Ihr kam es nicht so wunderbar vor, wie der Bäuerin und der Ahne, daß der liebe Gott es der einsamen, traurigen Frau ins Herz gegeben hatte, sich das Waisenkind ins Haus zu holen. Sie legte vertrauensvoll ihr braunes Händchen in die zarte, weiße Hand der Frau Behrens.
»Ja, das will ich gern,« sagte sie. »Die Mutter hat's schon gewußt, daß es dann noch einmal gut kommt.«
Frau Behrens hatte das nicht immer gewußt, das wissen wir schon. Aber das tut nichts. Der liebe Gott weiß es ja besser als wir alle, wie er uns helfen kann. Er hatte jetzt in ihr verzagtes Herz hinein eine neue Zuversicht gegeben, jetzt konnte es immer noch besser kommen.
Es war ein halbes Jahr später. Seit Vronik an der Hand ihrer neuen Beschützerin aus dem Pfleghof nach dem Waldhäuschen gezogen war, hatte der Schnee Wald und Flur bedeckt, hatte den Pfad nach dem Dorfe und den grünen Waldweg fast ungangbar gemacht und die kleine Familie dort draußen ganz nah um den warmen Ofen versammelt. Es waren aber keine sehnsüchtigen, traurigen Gesichter mehr, die da unter dem schönen Bild des guten Hirten beisammen waren. Frau Behrens hatte es noch nie bereut, daß sie das Gottswillenkind in ihr Haus geholt hatte. Wenn die Hängelampe brannte und die lebensgroßen Bilder von Hellmuth und Irma fast noch lebendiger als am Tage von der Wand heruntersahen, so starrte die Mutter jetzt nicht mehr unbeweglich vor sich hin, dazu hatte sie gar keine Zeit mehr. Sie mußte die[S. 77] kleine Gertrud pflegen und versorgen, denn das tat sie jetzt immer selbst. Und Gertrud hatte noch allerlei Neues dazu gelernt, seit sie an jenem Morgen bei Vroniks Gesang gelächelt hatte. Sie konnte das Köpfchen ein wenig heben, konnte einen Ton hervorbringen, der wie »Mama« klang, und konnte mit den Händchen an einer Troddel spielen, die von der Decke herabhing. Die Mutter und Vronik fanden immer wieder etwas Neues zu bewundern, und Ursula teilte den Jubel getreulich. Ja, und Vronik! Es tat einem wohl, sie nur anzusehen, so wohl war es ihr in der neuen Heimat.
Das Singen hatte sie nicht verlernt, denn das übte sie täglich, und es kam ihr jetzt recht von innen heraus, so fröhlich konnte sie sein. Und noch viel anderes lernte sie dazu, denn die Mutter wollte ihr eine rechte Mutter sein, und sie wollte eine geschickte, fleißige Tochter heranziehen. Sie hatte es immer besser verstanden, was es heißt, wenn man ein Kind um Gottswillen aufnimmt, und sie wurde immer fröhlicher und dankbarer dabei.
Die Dorfleute konnten jetzt nicht mehr sagen, daß die fremde Frau nicht »bei Trost« sei, denn Frau Behrens konnte jetzt sogar noch andere Menschen trösten, die betrübt und in Not waren. Es war schon manches Arme hungrig in das weiße Häuschen gegangen und war satt und froh wieder herausgekommen.
Jetzt schmolz der Schnee, und der Frühling kam wieder. An den Rainen guckte überall das grüne Gras heraus, und an sonnigen Stellen blühten schon Gänseblümchen und sogar Veilchen. Die Vogesen hatten zwar noch weiße Schneekappen auf den hohen Gipfeln, aber sonst schimmerte die schöne Rheinebene schon in frischem Grün. Es konnte einem recht wohl zumute werden, wenn man in das schöne Land hinaussah. Auf dem Bänkchen vor dem Hause saß Vronik oder vielmehr Veronika, wie sie jetzt hieß, denn die [S. 78] Mutter sprach den schönen Namen gern ganz aus. Sie hatte ein Strickzeug in den Händen, und während die Nadeln eifrig klapperten, sang sie ein fröhliches Liedchen dazu. Und danebenher konnte Veronika noch ganz gut den Weg zum Dorfe übersehen, dort schien sie nach jemand auszuschauen. Der ließ denn auch nicht lang auf sich warten. Es war der Briefbote, der immer um diese Zeit mit den Zeitungen ankam und der ein ganz guter Freund von Veronika war. Denn oft brachte er auch Briefe mit in seiner ledernen Tasche, und es war schon hie und da vorgekommen, daß einer an das kleine Mädchen dabei gewesen war. Der kam allemal vom Konrad, und es war darum kein Wunder, daß Veronika so oft den Weg hinuntersah, wenn es Zeit für den Briefboten war. Denn die Kinder hielten auch jetzt noch getreulich zusammen, obgleich sie einander fern waren. Heute streckte der Briefbote schon von weitem einen Brief in die Höhe, als er Veronika auf dem Bänkchen erblickte. Er hatte selbst auch Kinder, und es freute ihn immer, wenn er sah,[S. 79] wie fröhlich das arme Gottswillenkind aufblühte in seiner neuen Heimat. Veronika ließ das Strickzeug fallen, daß der Garnknäuel über den Boden hinrollte, und rannte mit großen Sprüngen dem Boten entgegen. »O vom Konrad!« rief sie schon von weitem. »Gib ihn her, er ist an mich.« Die Mutter stand lächelnd am Fenster und nickte dem Boten freundlich zu. Sie trug jetzt eine weiße Schürze auf dem schwarzen Kleide und eine kleine weiße Krause am Hals. Kein Mensch hätte mehr die traurige Frau vom vorigen Jahr erkannt. »O Mutter,« rief Veronika während des Lesens, »es kommt so viel Schönes, man kann gar nicht alles aufzählen.« Und sie schwang den Brief hoch in der Luft.
»Liebe Vronik!« schrieb Konrad.
»Diesmal mußt Du staunen, das weiß ich sicher. Denn ich muß Dir sehr viel sagen. Wenn ich noch acht Tage damit gewartet hätte, so hätte ich Dir alles selbst erzählen können. Und das wollte der Herr Doktor eigentlich auch gern haben, denn er freute sich darauf, daß er dann Dein vergnügtes Gesicht sehen könnte. Aber ich kann nicht mehr warten. Und wenn wir kommen, gibt es auch noch genug zu freuen, das habe ich dem Herrn Doktor gesagt. Also das weißt Du, daß mein Fuß wieder ganz gut ist. Es hat lang gedauert. Aber es war mir eigentlich ganz recht, denn ich glaubte immer im stillen, wann ich dann gesund sei, so müsse ich wieder zu dem Lammwirt oder sonst so. Ich mochte es zu keinem Menschen sagen, nicht zu Schwester Lore und nicht zu dem Herrn Doktor. Aber als sich beide so freuten, daß die Wunde endlich heile, da konnte ich gar nicht mehr vergnügt sein. Ich mochte kein Buch mehr ansehen und nicht essen und nicht spielen. Denn ich dachte immer: ›Jetzt ist ja doch alles aus.‹ Da kam einmal der Herr Doktor, ließ mich im Saal auf und ab marschieren[S. 80] und sagte dann: ›Ja, da ist nun nichts mehr zu tun für den Doktor, der Bub ist gesund. Das kann einen freuen.‹ Ich habe vielleicht kein sehr erfreutes Gesicht gemacht, Vronik, denn ich hätte nächstens angefangen zu weinen, weil ich glaubte, jetzt schicke mich der Herr Doktor wieder zurück. Da sagte er aber: ›Und da habe ich denn gedacht, wenn du doch wieder so gut gehen kannst, so könntest du mir deine Füße ein wenig leihen, denn die meinigen wollen nicht mehr so recht fort.‹ Und dann sagte er mir, daß er mich mit sich in sein schönes Haus nehmen und in die Schule schicken wolle. Und in den Freistunden solle ich dann im Garten helfen, denn der Herr Doktor ist ein ganz besonders geschickter Gärtner. Du hast oft gesagt, Vronik, ich soll's nicht immer wieder vergessen, daß der liebe Gott alles machen kann, und daß er an uns denkt. Und die Mutter hat's auch immer gesagt. Und ich hab's doch vergessen und war so betrübt in der Zeit. Vielleicht kann ich's jetzt gut behalten. Denn das hat doch sicher der liebe Gott gemacht, daß ich's jetzt so gut habe und so viel lernen kann. Mein Herr Doktor hat in seinem Schlafzimmer einen Spruch hängen, der heißt: ›Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.‹ Jetzt schäme ich mich gar nicht mehr wie früher, daß ich ein Gottswillenkind bin. Solch einen großen Brief habe ich noch nie geschrieben. Aber ich mußte es Dir alles sagen. Und am nächsten Sonntag kommen wir beide, mein Herr Doktor und ich, auf Besuch zu euch. Ich will sehen, ob Du auch sagst, daß ich so stark gewachsen sei. Man wird es schon erleben können, bis ich dann groß bin.
Jetzt grüßt Dich Dein treuer Bruder Konrad.«
[S. 81]
Das war alles schon vor zehn Jahren. Seither hat sich äußerlich nichts an dem weißen Häuschen verändert, wenn man nicht die vielen blühenden Pflanzen, die vor allen Fenstern stehen, für eine Veränderung gelten lassen will. Hinter dem Hause, ja, da ist das dichte Gestrüpp ausgerottet und ein freundliches Gärtlein ist erstanden mit einer Laube und blumigen Rabatten und mit sauberen Gemüsebeeten. An einem hellen, sonnigen Sommermorgen hantiert ein blühendes, junges Mädchen fleißig darin. Sie hat dicke, braune Zöpfe, die ihr den Rücken hinabhängen und singt leise ein Liedchen vor sich hin zu ihrer Arbeit. Wär's nicht an dem, so könnte man die magere, bleiche Vronik von einst nicht mehr erkennen, so groß und stattlich ist sie geworden und so rund und rot sind ihre Wangen. Vom Bücken sind sie jetzt fast so rot wie die Monatrettiche, die sie aus der Erde zieht und triumphierend in die Höhe hält. Unter der Türe steht eine Frau mit freundlichem, liebreichem Gesicht, die bewundernd die Hände zusammenschlägt ob den wohlgeratenen Früchten des Gartens. »Wenn du jetzt kommen könntest, Veronika,« ruft sie dann. »Es ist warm genug für Gertrud, um in der Sonne zu sitzen. Und du kannst sie leichter heben als ich, das weißt du.« »Will's meinen, Mütterlein,« erwidert Veronika fröhlich. »Das soll mir niemand abnehmen.« Und sie läuft eilig dem Hause zu.
Gertrud ist nicht mehr das elende Kindlein, das wir vor zehn Jahren im Wagen liegen sahen und dessen größtes Kunststück es war, mit den Händchen zu spielen.
Es ist ein feines, bleiches Gesichtchen immer noch, das von den Kissen des bequemen Lehnstuhls aufsieht, als Veronika eintritt. Aber es strahlt ihr zu, wie einst bei dem ersten Gesang des Gottswillenkindes. Das Lächeln hat Gertrud nicht mehr verlernt, ja, man kann manchmal ein leises, fröhliches Lachen von ihr hören. Jetzt ist Gertrud dreizehn Jahre alt.[S. 82] Ihre Glieder sind immer noch schwach, sie kann nicht allein gehen und stehen. Aber es fällt der Mutter nicht mehr ein, zu sagen, das Kind sei sich selbst und ihr zum Jammer auf der Welt. Nein, das blasse, zarte Mägdlein ist so recht der Mittelpunkt des ganzen Hauses geworden. Wenn sie so still und geduldig daliegt in den Zeiten, wo sie Schmerzen am Rücken und in den Gliedern hat, und wenn sie an leichten, guten Tagen sich an jedem Blümlein freut und an jedem Sonnenstrahl, dann streicht die Mutter oft sachte mit der Hand über das blonde Haar und sagt: »Mein Trostkind.« Denn dann fällt es ihr wieder ein, wie an jenem Sonntagabend der alte Herr Doktor gesagt hatte: »Das Kind kann ihnen noch ein rechter Trost werden.« Und das ist nun auch wahr geworden. Sie wollen alle beide gern und fröhlich ihre Last tragen, die Mutter und das Kind, sie haben ja doch einander, und »der liebe Gott wird wissen, warum er mich so sein läßt und nicht anders,« sagt Gertrud zuversichtlich, wann es der Mutter doch einmal schwer fallen will, daß ihr Töchterlein nicht fröhlich herumspielen, nicht stark und groß werden soll, wie Veronika und all die andern Kinder des Dorfes.
Veronika hat es nie anders gewußt, als daß man dem lieben Gott ganz fröhlich vertrauen könne, und so hat sie es ganz einfach und natürlich auch dem Schwesterlein Gertrud wieder gesagt, als es nach und nach heranwuchs und doch zart blieb. Und Gertrud, die nie schwere Schulaufgaben lernen konnte, hat doch ihre eigene Lebensaufgabe gut begriffen, die manchen als das Allerschwerste erscheint, was man lernen kann, nämlich ohne Fragen und Zagen dem lieben Gott zu vertrauen, auch wenn er es anders macht, als wir gern möchten. Aber heute ist Sonnenschein auf der Welt draußen, und Gertrud soll hinaus und freut sich schon darauf. Sie läßt sich so gern anscheinen und ganz durchwärmen und sieht so gern den[S. 83] Schwalben nach, die oben an der Dachrinne nisten, wenn sie hinausfliegen in die schöne Welt und sich hoch, hoch im Blau verlieren.
Veronika hat heute nicht zum erstenmal das Amt, Gertrud hinauszubetten, das kann man wohl sehen. So leicht und sachte stützt und hebt sie das schwache Kind, so bequem legt sie es in den Stuhl, der schon eine ganze Weile im Sonnenschein steht — kein Mensch könnte sorglicher und geschickter damit umgehen. Die Mutter weiß es wohl. Sie hat schon oft im stillen dem lieben Gott gedankt, daß er ihr das verlassene Kind zugeführt hat, das ihr nun zur Hilfe und Freude herangewachsen ist. Ursula ist schon seit Jahren nicht mehr in dem weißen Häuschen. Ihre alten Eltern riefen sie nach Hause. »Ich ginge ja nicht, ich verließe meine Gertrud nicht,« sagte sie beim Abschied unter Schluchzen, »aber Veronika kann sie besser versorgen als ich, das muß man ihr lassen.« Jetzt hantiert ein junges Mägdlein aus dem Dorfe im Haus und in der Küche. Und Veronika geht es immer noch manchmal, wie einst im Pfleghof, daß sie mehr Arme und Füße brauchen könnte, um alles auszuführen, was getan sein sollte. Denn die Mutter ist oft recht schonungsbedürftig. Die schweren Zeiten sind doch nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Aber es ist ein fröhliches Schaffen für Veronika, und das haben wir schon gehört, sie singt immer noch zu ihrer Arbeit.
Der Briefbote, der ist in all den Jahren ihr immer besserer Freund geworden. Denn er trägt ja immer noch in seiner Tasche die Nachrichten von dem fernen Bruder zu ihr. Konrad ist kräftig herangewachsen in der guten heimatlichen Luft, die ihn bei seinem Herrn Doktor umgab. Er hat auch fleißig gelernt und gute Zeugnisse mitgebracht. Aber als es dann Zeit war, an einen Beruf zu denken, da stellte es sich doch heraus, daß er sein Latein am liebsten dazu verwenden[S. 84] wollte, seine lieben Blumen und seltenen Pflanzen mit gelehrten Namen zu nennen. Er wollte ein Gärtner werden. »Aber einer aus dem Fundament.« sagte der Herr Doktor. Und das erste Fundament, die Liebe zu den Pflanzen und das Verständnis für ihr Wachsen und Gedeihen, das hatte der Herr Doktor selbst in den Konrad gelegt. Die beiden waren hie und da miteinander in den Schwarzwald gereist und hatten in dem weißen Häuschen fröhliche Feiertage erlebt. Jetzt ist Konrad in der Fremde, um da und dort noch Neues zu seinem schönen Handwerk hinzuzulernen. Und seine Briefe sind immer die Freude der Schwester und ihr Glück. Sie pflegt inzwischen die Blumen in den Töpfen am Fenster, sein Vermächtnis. Denn es ist ihr Stolz, sie recht üppig und gedeihlich zu erhalten, bis Konrad dann wieder einmal kommt. Wenn die Zeit kommt, daß die Geschwister einmal ganz zusammenleben, das kann noch niemand sagen. Aber das tut nichts. Sie wissen beide, daß es kommt, wie es gut ist. Und sie wollen gern ihr Lebenlang »Gottswillenkinder« bleiben, nämlich solche, die fröhlich in der guten Zuversicht leben: »Sein Will', der ist der beste.«
[S. 85]
Der Bandweber Hartmann wohnte in einem niedrigen Häuschen, das zwischen zwei hohen Gebäuden so eingeklemmt stand, als ob es jetzt gleich erdrückt werden sollte. Gerade gegenüber stand ebenfalls ein hohes Haus, das mit seinen hellen blanken Fenstern, an denen luftige Vorhänge befestigt waren, vornehm auf das kleine Häuschen heruntersah. Zwar blanke Fenster hatte das auch, nur waren sie niedrig, wie alles an dem Häuschen, und statt der eleganten Vorhänge waren nur ganz kleine, kurze Vorhängchen dran, solche, die man Neidhämmel heißt. Sie waren nur zum Schutz da, daß nicht alle Leute, die vorbeigingen, durch die Fenster in die Stube sehen konnten.
Es war Abend und die Familie saß um den Tisch, auf dem schon das dampfende Essen stand. Die Mutter hatte den kleinsten Buben auf dem Schoß und hatte nur immerfort den Breilöffel aus dem Teller ins Mäulchen des Kleinen und von da wieder in den Teller zu führen, so hungrig war der Dicke. Die größeren Kinder warteten noch, denn die Mahlzeit sollte, erst beginnen, wann der Vater kam. Man hörte immer noch den Webstuhl rasseln, an dem er arbeitete, und die Mutter schüttelte ein wenig den Kopf: »Er macht heute wieder lang keinen Feierabend.« Dann sagte sie zu Mariele, dem größten Töchterlein: »Geh einmal hinein und frag den Vater, ob er noch nicht komme!« »Ja und ich sag auch, daß man gebrannte Suppe hat und Kartoffeln und Butter,« sagte Mariele noch im Hineingehen, »das ist sein Leibessen!«
[S. 86]
Es war eine ziemlich lebhafte Unterhaltung am Tisch. Paul, der neunjährige Schüler, hatte ein glänzendes Zwanzigpfennigstück in der Hand und beriet schon seit einer halben Stunde mit dem jüngeren Eugen, was man damit anfangen könne. Es war ein ziemlich schwieriger Fall, denn es kam fast nie vor, daß eins der Kinder Geld in der Hand hatte zur freien Verfügung. Heute aber war Pauls Patin dagewesen und hatte ihm das Geldstück ausdrücklich mit dem Bemerken gegeben: »Du mußt dir etwas dafür kaufen, was dir Freude macht.«
Eugen hatte vorgeschlagen, sieben Laugenbretzeln dafür zu kaufen oder dann eine große Wurst. Denn das dünkte ihm die beste Verwendung für das Geld zu sein. »Aber wenn man's gegessen hat, ist's vorbei,« sagte Paul verständig, und das mußte auch zugegeben werden. »Einen Gummiball möchte ich auch schon lang und ein rotes Federnbüchschen. Oder einen Bleistift zum Einschieben mit einem Radiergummi dran. Oder eine Farbenschachtel, aber zu dem langt das Geld nicht.« Paul mußte tief aufseufzen. Denn man konnte das Geld nur einmal[S. 87] ausgeben, und solang man es in der Hand hatte, war noch die Wahl zwischen all den begehrten Dingen offen. »O wenn ich nur eine große Kiste voll Zwanzigpfennigstücke hätte,« brach er auf einmal los. »Dann könnte ich alles kaufen, was ich möchte, und noch vieles andere. Auch für dich, Mutter, und für den Vater und die Kleinen.«
Die kleinen Geschwister horchten mit glänzenden Augen. Es war sehr genußreich, sich auszudenken, was man alles um eine Kiste voll Zwanziger kaufen könnte.
»Gelt, Mutter, das wär' recht, wenn wir das hätten?« wandte sich nun Paul an die Mutter, die eben anfing, den Kleinen auszuziehen, der seine Äuglein kaum noch offen halten konnte. Die Mutter sah ein wenig müde aus. Sie hatte den ganzen Nachmittag gebügelt und dazwischen den kleinen Laden besorgt. Jetzt sagte sie nur: »Es gäbe noch vieles, was einem recht wäre, man kann aber auch so vergnügt und zufrieden sein!« Paul war nicht so ganz zufrieden mit der Antwort. Die Mutter sagte immer so etwas Ähnliches, wenn man sich manchmal gern gewünscht hätte, ein wenig reicher zu sein.
»Und wenn wir alles hätten, was wir jetzt gern möchten,« sagte sie oft, »dann fiele uns auf einmal noch etwas ein, was wir auch noch wollten und dann noch etwas und dann wären wir erst nicht glücklich, weil wir ja doch nicht alles haben können.«
»Aber Mutter,« hob Paul noch einmal an, »viel Geld haben ist auch schön. Die Hofrats drüben haben viel. Der Alfred hat zu seinem Geburtstag eine Uhr bekommen, die ganz richtig geht, und eine Kette dazu. Und einen Schlitten haben sie mit einer Eisbärendecke und mit silbernen Glöckchen.« »Ja,« fiel Eugen ein, »und heute hat der Konditor eine Schokoladentorte ins Haus hineingetragen. Der Erich ist unter der[S. 88] Haustüre gestanden und hat noch das Gesicht verzogen und gesagt: ›Das mag ich erst nicht besonders.‹«
Die Kleinen staunten. Denn das dünkte ihnen der Gipfel des Guthabens zu sein, wenn man nicht einmal mehr Schokoladentorte möge.
Die Mutter hatte nichts mehr erwidert, sie hatte genug mit dem Kleinen zu tun, und jetzt kam der Vater herein. Er sah fröhlich aus, denn er war froh, daß er sein Tagewerk vollendet hatte, und freute sich nun, die Kinder alle so gesund und rotbackig um den Tisch her sitzen zu sehen. »Jetzt soll mir's aber schmecken,« sagte er. Dann sprach er das Tischgebet und die Mahlzeit konnte beginnen.
Eine Weile hörte man nur die Löffel hin- und hergehen. Aber lang dauerte die Stille nie in dem lebhaften Kinderkreis. »Vater, morgen ist Examen in der Schule,« fing Mariele an, »die Eltern sollen auch kommen. Kommst du?«
»Das werde ich wohl lassen müssen,« sagte der Vater, »die Arbeit eilt gerade und dann, da sind andere Leute genug. Vornehmere und klügere, die würden schön aufsehen, wenn ich käme.« Mariele war ein fleißiges und begabtes Kind und die Eltern schickten sie in eine gute Schule, damit sie etwas Tüchtiges lernen solle. Sie kam auch gut voran, das Lernen machte ihr Freude, aber da gab es daneben noch etwas zu lernen, das manchmal sehr bitter war. Denn in der Schule waren so viele Kinder wohlhabender Eltern, die schönere Kleider und Bücher hatten und in schöneren Häusern wohnten. Und da kam sich das Mariele manchmal ein wenig beklagenswert vor, wenn es nicht auch Geburtstagsvisiten halten und hübsche Geschenke machen und von schönen Ausflügen erzählen konnte, wie die andern Mädchen.
»Das tut nichts,« sagte die Mutter zwar. »Wir haben so viel Vergnügen daheim, daß wir sonst gar nichts brauchen.[S. 89] Martha Heinrichs wäre glücklich, wenn sie ein nettes, kleines Brüderlein zu hüten hätte wie unser Fritz ist. Und Hofrats Ella, was meinst du, wie die sich freuen würde, wenn ihre Eltern mit ihr und den Brüdern am Sonntag spazieren gehen und abends Gesellschaftsspiele machen würden? Du hast soviel Gutes, daß man gar nicht alles aufzählen kann, wenn man anfängt.«
Mariele gab das aber nicht immer zu. Es ging ihr wie Paul. Viel Geld haben ist aber auch schön! Und sie dachte sich gern aus, wie herrlich das wäre, wenn sie des reichen Hofrats Töchterlein wäre und all die schönen Sachen besitzen könnte, die der Ella gar nicht so viel Freude zu machen schienen. Natürlich die Eltern müßten mit dabei sein und die Geschwister.
Daß man nicht alles Gute auf einmal haben kann, sah Mariele noch nicht recht ein, und was das beste von allem ist, was alle Menschen haben können, das verstand sie auch noch nicht so recht. Die Mutter verstand es, aber sie dachte, sie wolle es den Kindern nur immer an sich selber zeigen, wie man vergnügt und zufrieden sein könne, dann würde ihnen das so gefallen, daß sie dann von selber auch anfangen würden, darnach zu streben.
Dem Vater ging es auch so. Er war den ganzen Tag an der Arbeit am Webstuhl, und wenn dieser recht rasselte, so sang er gern mit seiner schönen vollen Stimme ein Lied dazu und das machte ihn immer wieder fröhlich, wenn er auch manchmal ein wenig sorgenvoll war.
Die Mutter besorgte den Hausstand, und so oft das Glöckchen an der Ladentür bimmelte, ging sie da hinaus und bediente die Kunden. Man konnte neben den selbstgewobenen Bändern auch noch Knöpfe und Faden und Nadeln in dem Laden haben. Die Leute kamen gern zu der freundlichen Frau,[S. 90] und so war immer alles Nötige in dem kleinen Häuschen. Die Schüsseln waren immer zur rechten Zeit auf dem Tisch und auch genug darin für die hungrige Kinderschar.
»Ich kann's nicht begreifen, daß der Erich so etwas Gutes nicht gern ißt,« sagte jetzt Eugen, der völlig satt war und dem nun wieder die Torte vorschwebte. »Aber ich kann,« sagte der Vater. »Wenn du einmal ein paar Tage in eine Kammer voll süßer Sachen eingesperrt würdest und sonst nichts bekämest, als nur Torte und dergleichen, dann hättest du für lange Zeit genug davon, und ein Stück schwarzes Brot käme dir dann als der größte Leckerbissen vor.« Die Kinder lachten und hätten gern einmal die Probe gemacht. Dann wurden die Schulaufgaben vollendet, die Mutter brachte inzwischen die kleinen Buben und das dreijährige Lieschen zur Ruhe und dann kam die Reihe des Zubettgehens an die Großen.
»Mutter, singst du uns noch etwas? gelt, ja?« bettelten die Brüder. Das war der größte Genuß, den es geben konnte, behaglich zugedeckt im Bett zu liegen und den schönen Liedern der Mutter zu lauschen, bis man daran einschlief.
Die Mutter wollte gern. Sie machte den Kindern gern eine Freude, und ein schönes Lied machte sie selbst immer wieder frisch und munter. So setzte sie sich zwischen die Betten und fing an:
Bei den ersten Tönen des Liedes hatte der Vater seine Zeitung weggelegt und andächtig zugehört. Dann griff er nach der Flöte, die an der Wand hing, und als die Mutter den[S. 91] zweiten Vers anfing, begleitete er sie mit weichen, lieblichen Tönen. Das Lied hieß weiter:
Die Mutter horchte nach den Betten hin. Aus denen der Buben drangen tiefe regelmäßige Atemzüge. Das Lied hatte sie in den Schlaf gewiegt. Mariele rief halblaut aus ihrem Kämmerlein: »Das war schön! Gute Nacht, Mutter!« Dann wurde alles still. Der Vater drückte der Mutter die Hand.
»Ich wollte, die Kinder wüßten, wie gut sie es haben,« sagte er. »Sie werden's schon noch einsehen lernen,« sagte die Mutter freundlich. »Wir haben's ja auch nur nach und nach gemerkt!«
Aus dem stattlichen Nachbarhause drang auch Musik in die stille Nacht hinaus. Rauschende, volle Klänge von Geigen und einem prachtvollen Flügel waren es. Die hohen Fenster warfen trotz der Verhüllung einen hellen Schein auf die Straße und hinter den Vorhängen schwebten tanzende Gestalten vorüber. Es war der Geburtstag des Herrn Hofrat und eine vornehme Gesellschaft war zu der Feier desselben eingeladen. Als die Nachbarskinder in ihren Bettchen dem Gesang ihrer Mutter lauschten, wurden die drei Kinder dieses Hauses eben von Fräulein Weiß, Ellas Erzieherin, in den Empfangssalon geführt, um sich der Gesellschaft vorzustellen. Sie waren im schönsten Staat und durften sich, als sie allen Bekannten höfliche Knixe und Diener gemacht hatten, im Speisezimmer an ein zierlich gedecktes Tischchen mit allerlei guten Sachen setzen.[S. 92] »So, ihr dürft euch selbst vorlegen,« sagte Fräulein Weiß. »In einer Viertelstunde hole ich euch zu Bett. Seid artig und manierlich und laßt's euch schmecken! Ella, mache dir keine Flecken in das Kleid!« Damit ging sie und die kleine Tafelrunde war sich selbst überlassen.
Das wäre nun an sich ein seltener Genuß gewesen. Denn die Kinder speisten sonst nie allein, sondern immer mit Fräulein Weiß oder auch manchmal mit den Eltern.
Ella hätte nun das Hausmütterchen machen und die Brüder versorgen können. Aber sie hatte ein wenig Zahnweh und dann war sie auch böse auf Erich, der gesagt hatte: »Du benimmst dich wie ein Affe.« Sie hatte zwar darauf gesagt: »Und du dich wie ein Bär,« aber sie glaubte doch noch mit Recht zu zürnen, denn Erich war wirklich ein wenig zu plump und Ella hatte doch schon Tanzstunde und wußte, wie man auftreten mußte.
Alfred allein horchte auf die Musik und saß ganz ruhig da, denn er liebte Musik über alles. Er sagte zu den beiden[S. 93] Streitenden nur: »Seid doch endlich still, daß man auch zuhören kann,« und davon wurden sie zwar still, aber nicht vergnügt.
Alfred war der Älteste von den drei Kindern. Er war schon zwölf Jahre alt und ein sehr strebsamer Schüler, den man nie zum Lernen zwingen mußte, wie Ella und Erich, die alle beide nicht viel Geschmack daran fanden. Erich mochte sich am allerliebsten im Stall bei den Pferden aufhalten oder auch mit andern Kindern seines Alters auf der Straße spielen. Daß er beides nicht sollte, ärgerte ihn fortwährend und so war er selten vergnügt zu sehen. Ella war immer ein wenig bleich und mager und erkältete sich sehr leicht, so daß sie dann öfters die Schule versäumen mußte. Deshalb hatte sie nun seit einiger Zeit eine eigene Erzieherin, die ihr im Haus Stunden gab, mit ihr im Wagen oder Schlitten ausfuhr und auch die Brüder beaufsichtigte.
Denn die Mama hatte nur sehr selten Zeit, nach den Kindern zu sehen. Sie mußte immer sehr viele Besuche machen und es kamen auch so oft Gäste ins Haus und blieben noch da, wenn die Kinder längst schliefen. Da war dann die Mama morgens meist sehr müde und mußte Ruhe haben und so kam es, daß die Kinder fast immer mit Fräulein Weiß zusammen waren. Das heißt, die Brüder gingen ja in die Schule, aber wenn sie dann nach Hause kamen, so saßen alle drei zusammen im Lernzimmer und machten ihre Aufgaben und nachher konnten sie sich mit den vielen schönen Büchern und Spielsachen vergnügen, die in den hohen Schränken hinter grünen Vorhängen bereit waren. Es war auch ein hübscher Garten hinten am Haus, mit schön gepflegten Blumenbeeten und einem Springbrunnen. Er zog aber die Kinder nicht so sehr an, weil da nicht viel Gelegenheit zum Spielen und Lustigsein war. Nur Alfred setzte sich manchmal mit seinen Büchern[S. 94] in die Rosenlaube, da konnte er ganz ungestört lernen. Jetzt, im Winter, konnte man das freilich nicht tun und Alfred hatte an diesem Abend schon mehrmals Fräulein Weiß zu Hilfe holen müssen, weil es ihn störte, wenn Erich und Ella neben ihm laut sprachen und sich auf ihre Weise vergnügten. So war die Gesellschaft an dem kleinen Tischchen im Speisezimmer nicht so vergnügt, als man hätte denken können. Und als Fräulein Weiß wieder kam, um mitzuteilen, daß es nun Schlafenszeit sei, dachte sie bei sich selbst, sie möchte wohl wissen, was man noch anfangen müsse, um diese verdrossenen Gesichter hell und fröhlich zu machen.
Fräulein Weiß liebte die Kinder so auf ihre Art, sie wußte es nur nicht recht zu zeigen und dachte, wenn man, wie diese Kinder, alles um sich her habe, was man sich nur Erfreuliches denken könne, so müsse man auch vergnügt und befriedigt sein, oder es sei dann nicht zu helfen.
Sie zündete jetzt den Brüdern das Licht in ihrem Schlafzimmer an, gab Ella ein schmerzstillendes Mittel gegen das Zahnweh und zog sich dann auch zurück.
»Du, Alfred,« fing Erich an, als er mit einem großen Sprung sein Bett eingenommen hatte, »ich gehe nicht mehr hinunter, wenn so was ist wie heute. Es ist schauderhaft langweilig!«
»Bei dir ist alles schauderhaft langweilig, was ein wenig fein ist,« sagte Alfred weise. Er mochte sehr gern belehrend mit den jungen Geschwistern sprechen.
»O, dir war's auch langweilig, du sagst's nur nicht,« beharrte Erich. »Der Ella auch. Es ist zwar fast alles langweilig; ich möchte am liebsten Pferdebahnkutscher sein oder dann Seemann. Eins von beiden.«
»Das sieht dir ähnlich,« sagte Alfred etwas verächtlich. »Natürlich, wenn man zweitletzt ist in der Klasse und außerdem[S. 95] der reinste Gassenbub. Will der Paul Hartmann auch Kutscher werden? Mit dem hast du ja so eine große Freundschaft.«
Erich war zuerst ein wenig zornig aufgefahren, als Alfred so von oben herunter sprach. Aber als dieser dann den Nachbarsohn nannte, wurde er auf einmal wieder ruhig und lachte wohlgefällig. »Ja der,« sagte er, »der und Kutscher! Der ist anders gescheit! So viel kann fast keiner in der ganzen Klasse, wie der Hartmann. Schon zweimal hat er ein Prämium gekriegt. Und erst noch ein ganz netter Kerl ist's, gar kein Tugendbold!«
Das letzte sollte auf Alfred gemünzt sein, der sich immer sehr vollkommen vorkam.
Dieser tat aber gar nicht, als ob er es merke, sondern zog sich ruhig vollends aus und suchte ebenfalls sein Lager auf.
Erich war aber noch nicht gesonnen, sich zum Schlafen hinzulegen. »Du, Alfred,« begann er nochmals, »bei Hartmanns ist's erst noch nett! Du kannst's glauben! Die Buben haben in ihrem Hof so eine nette Mühle, die man von der Wasserleitung treiben lassen kann. Ihr Vater hat ihnen daran geholfen. Und abends und Sonntags machen sie alle zusammen Spiele. Es ist ihnen nie langweilig.« »Mir auch nicht,« bemerkte Alfred. »Ja, aber weißt du,« fuhr Erich unbeirrt fort, »Papa kann ja natürlich nicht ›Schwarzer Peter‹ spielen und so Sachen, Mama auch nicht, das könnte ich mir nicht denken. Aber nett ist das doch, ich wollte, es wäre bei uns auch so.«
»Sag's zu Fräulein Weiß, sie soll mit dir spielen,« schlug Alfred vor. »Die muß, wenn wir wollen, ich glaube schon, daß sie Domino kann und so etwas.«
Erich sah groß auf. »Sie habe ich nicht gemeint,« sagte er dann und drehte sich gegen die Wand. Er hätte gern noch[S. 96] etwas anderes erzählt. Die Buben drüben konnten jederzeit zu ihrer Mutter gelangen und ihr alle Schulgeschichten und alles, was sie wollten, erzählen. Und sie nahm an allem Anteil, so wichtig, als ob sie selbst noch mit Steinnüssen spielen und in der Schule hinauf- oder hinunterkommen könnte. Aber Erich wollte es nun doch nicht sagen. Er schloß nur die Augen und fing an, sich auszudenken — was, wußte er am andern Morgen selbst nicht mehr.
Fräulein Weiß ging rastlos durch das ganze Haus. Treppauf, treppab, so oft, daß man es gar nicht zählen konnte. Sie trug ganze Lasten von Kleidern und Wäsche zusammen, alle in ein Zimmer zu ebener Erde, wo große Koffer standen, die gepackt werden sollten. Minna, das Stubenmädchen, saß am Fenster und stichelte eifrig drauf los, und die Frau Hofrätin saß in einem blauen Morgenrock auf einem niedrigen Stühlchen und überwachte alle Arbeiten, die in diesem Zimmer vor sich gingen. Heinrich, der Diener, schloß soeben einen gepackten Koffer und Fräulein Weiß sagte aufatmend: »So, ich denke, nun ist hier alles beisammen, Minna und Sie können ebenfalls anfangen zu packen.«
Es war nicht das Amt von Fräulein Weiß, all die vielen Sachen, die man zu einer Reise braucht, aus Kisten und Kasten zusammenzutragen. Aber die Sache hatte Eile, da mußte sich jedes beteiligen. Denn der Herr Hofrat hatte eine Reise nach Italien zu machen, zum Teil in Geschäften. Und nun hatte er sich auf einmal entschlossen, diese Reise nicht, wie er anfangs wollte, in wenigen Tagen auszuführen und dann wieder heimzukehren, sondern er wollte nun etwa fünf bis sechs Wochen fortbleiben und seine Frau sollte ihn begleiten. Für diese lange Zeit war nun vieles erforderlich, und der Frau[S. 97] Hofrätin fiel immer noch anderes ein, was man mitnehmen mußte. Dazwischen hatte sie noch viele Vorschriften zu geben für die Zeit ihrer Abwesenheit, und Fräulein Weiß, die das ganze Haus überwachen sollte, hatte gewiß schon fünfzigmal gesagt: »Jawohl, Frau Hofrat, das soll genau so geschehen, wie Sie wünschen!« Sie wußte nächstens selber nicht mehr, was sie alles versprochen hatte.
Oben im Lernzimmer war großer Aufruhr. Der Papa hatte die wichtige Neuigkeit erst vorhin verkündigt und heute Nacht schon wollten die Eltern abreisen. Jetzt waren die drei Geschwister allein. »Und gerade noch über Weihnachten bleiben sie fort,« sagte Ella kläglich, und Erich fügte hinzu: »Ja und dann wird man sehen, wie langweilig es bei uns ist. Ich wollte nur —« Das übrige verschluckte er, denn die Mama trat ein.
»O, o Mama,« rief ihr Ella entgegen, »warum sollen wir ganz allein mit Fräulein Weiß bleiben? Das ist schrecklich!«
Und Alfred sah von seiner Zeichnung auf und sagte: »Weshalb soll ich nicht mitkommen? Papa hat mir schon lang eine Reise versprochen. Sag doch, daß ich mitdarf!«
»Du bist nicht klug, mein Junge,« sagte die Mama. »Wir reisen soviel hin und her, da können wir dich gewiß nicht gebrauchen.«
»Wir werden selbst sehr froh sein, wenn wir glücklich zurück sind. Und auf Weihnachten kommt eine große Kiste an mit schönen Sachen. Ihr werdet sehen, was das für eine Lust sein wird, sie auszupacken.«
Diese Aussicht beschwichtigte die aufgeregten Gemüter wieder etwas. Man konnte sich so herrliche Dinge wünschen, die in der Kiste ankommen sollten, und die Mama versprach, sich alles zu merken.
[S. 98]
Es war noch drei Tage bis Weihnachten. Draußen wirbelten die Schneeflocken so lustig in der Luft herum, als ob eine zur andern sagen wollte: »Freust du dich?« und die zweite zur dritten: »Wie magst du nur fragen?«
Wenn es aber auch selbstverständlich ist, daß man sich freut, so ist es einem doch manchmal eine Erleichterung, wenn man so fragen kann. Denn die freudige Erwartung läßt sich eher aushalten, wenn man sich immer wieder versichert, daß es anderen Leuten ganz gleich geht, wie einem selbst.
Es war also nicht zu verwundern, daß die Hartmannschen Kinder in diesen Tagen immer wieder die gleiche Frage aneinander stellten. Jetzt eben ging es sehr festlich her im Hause. Der Laden war eben geschlossen worden und der Webstuhl rasselte auch nicht mehr, aber der Vater war doch noch in der Werkstatt, und die Mutter hatte ihm soeben mit ganz geheimnisvollem Lächeln heißen Leim in einem Pfännchen hineingetragen. Natürlich durfte ihr keines der Kinder dorthin folgen, denn der Vater hatte mit dem Christkindchen Geheimnisvolles zu schaffen. Es war aber auch ohnehin jedes emsig beschäftigt. Denn heute wurden Springerlein gebacken und das konnte nur geschehen, wenn alle Kinder mithalfen, die Teigschüssel beim Rühren hielten, den Anis auslasen und zuletzt, aber das war nur den drei Großen gestattet, mit kleinen Teigstückchen wunderbare Gebilde aus den tiefen Mödeln hervorbrachten.
Dieses Werk ging in der Küche vor sich, und Tante Luise führte hier den Vorsitz. Tante Luise war die Schwester des Vaters und war heute angekommen, um über die ganzen Feiertage, bis nach dem Neujahrsfest dazubleiben. Ihr Dasein erhöhte die Festfreude sehr, denn man konnte sich keine heiterere Gefährtin bei allen Spielen denken, als sie war, und mit niemand, als natürlich mit der Mutter, konnte man so eingehend beraten, wie es dieses Jahr werden würde.
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Tante Luise war Lehrerin an einer Dorfschule, und nicht mehr jung. Sie hatte schon zu beiden Seiten der Stirne ein wenig graues Haar und mußte eine Brille tragen. Aber es fiel keinem Menschen ein, zu denken, sie passe nicht mehr recht zum Spielen und Geschichtenerzählen; behüte, sie war die allervergnügteste von allen, und sie wußte auch verdrießliche Leute damit anzustecken.
Heute war außer ihren eigenen Neffen und Nichten noch ein Festteilnehmer bei dem wichtigen Werk anwesend. Erich, der Nachbarssohn, hatte sich's flehentlich von Fräulein Weiß erbeten, bis zum Abendessen hier bleiben zu dürfen.
Man hatte in dem reichen Hause schon große Massen von feinem Konfekt gebacken, Erich wußte es. Aber das ging in der Küche vor sich, die im Erdgeschoß lag, und dorthin zog es die Kinder nie, denn da waren sie nur im Wege.
Hier aber, bei Hartmanns, gestaltete sich alles zu einem Fest, und Erich fühlte sich nie wohler als in den niedrigen Räumen unter der vergnügten Schar.
»Gelt, Tante, man muß noch dreimal schlafen, bis es Christtag ist?« fragte der vierjährige Ludwig zum soundsovieltenmal. »Wenn ich nur gewiß wüßte, ob ich eine Farbenschachtel bekomme,« seufzte Eugen und hüpfte vor Ungeduld von einem Fuß auf den andern. »O Tantele,« rief Mariele und schlang von hinten her den Arm um die Tante, »ist das nicht herrlich? ich bin mit allen Arbeiten fertig und,« flüsterte sie ihr ins Ohr, »ich habe für alle etwas, sogar für der Huberin ihr krankes Kind und für die Knorpsbuben!« Das Flüstern war etwas deutlich gewesen, Paul kam von der andern Seite heran und konnte desgleichen versichern, daß er das ganze Haus und noch darüber hinaus zu bedenken habe.
»Ei seht, was wir für reiche Leute sind,« sagte die Tante[S. 100] wohlgefällig, und alle Kinder lachten. Denn das war ihnen ein ganz neuer Gedanke, daß sie reich sein sollten.
»Es ist mir ernst damit,« fuhr die Tante fort und sah ganz ernsthaft aus. »Wenn man hat, was man braucht, und sogar noch etwas zu verschenken, so ist man reich.«
»Ja, aber es sind nur angemalte Papiersoldaten und gestrickte Pulswärmer und so Sachen,« sagten die Kinder ein wenig zaghaft, »reiche Leute schenken Geld her und ganze Körbe voll guter Sachen, es ist erst so eine Geschichte im ›Jugendfreund‹ gestanden.«
Aber die Tante wußte herrlich zu trösten und nach und nach alle zu überzeugen, daß es eigentlich gar nicht so sehr darauf ankomme, ob man viel oder wenig herzugeben habe.
»Wenn man nur spürt, daß es aus Liebe geschieht,« sagte sie, »das ist die Hauptsache.« Und damit mußte für heute die Sache erledigt sein, denn jetzt war das letzte Springerlein aufs Brett gesetzt, und es war hohe Zeit, daß die kleine Schar ihr Abendessen bekam und ins Bett geschafft wurde.
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Erich mußte nun auch nach Hause. Er konnte sich fast nicht trennen und zögerte immer noch ein wenig. Das fiel der Tante auf; es war ihr schon den ganzen Abend aufgefallen, daß er so still unter der lebhaften Schar gewesen war.
»Wenn du willst, kannst du morgen wiederkommen,« sagte sie freundlich. »Du kannst uns helfen, silberne und farbige Sterne und Körbchen an unser Verschenkbäumchen zu machen.«
Erich nickte glücklich und reichte der Tante die Hand, da bog sich diese plötzlich zu dem kleinen Buben herunter und küßte ihn auf die Stirne. »Grüße Fräulein Weiß, ich kenne sie gut,« sagte sie zum Abschied. »Und nun geh und freue dich auf das Christfest, ich komme dann einmal hinüber und sehe mir an, was dir das Christkind gebracht hat.«
Das Christfest war gekommen und alles war so schön gewesen, wie nur einmal. Es war ans Tageslicht, oder vielmehr ans Christbaumlicht gekommen, was der Vater so geheimnisvoll in der Werkstatt geschafft hatte. Eine solch schöne Krippe mit einer ganzen Landschaft drum herum hatte noch keines der Kinder gesehen. Da war der Stall, ganz aus Rinde erbaut, mit einer Futterraufe für die Ochsen und Esel, und unter der Tür saß Maria und sah mit Joseph dem Jesuskindlein in dem heiligen Kripplein zu. Dann führte ein Weg über steinerne Felsen zu einem Moos- und Rasenplatz, wo die Schäflein weideten und Schäfer die Schalmei bliesen, und über einen kleinen See führte ein zierliches Brücklein, dem schritten von weitem her die Weisen aus dem Morgenlande zu. Und über dem Ganzen schwebte von der Decke herunter ein golden glänzender Stern, der funkelte im Christbaumlicht so hell wie die Augen der Kinder. Heute dachte[S. 102] niemand mehr daran, daß es vielleicht anderswo reichere Gaben und größere Pracht gebe. O nein, es konnte nirgends, nirgends schöner sein als hier. Und nichts war erfreulicher, als die neuen Mützen und Hosenträger der Buben und die rosafarbigen Schürzchen der Mädchen. Nur einmal, als man sich zum Gesang um den Vater mit der Flöte sammelte, zupfte Paul seinen Bruder Eugen am Ärmel. »Du, jetzt ist der Erich doch nicht gekommen. Er hat's doch versprochen.« Und Eugen gab zurück: »Vielleicht ist jetzt gerade die italienische Kiste angekommen, da wird er den ganzen Abend auszupacken haben.« Denn in den Gedanken der Kinder war die Kiste immer größer geworden, und stellten sie sich dieselbe ungefähr so groß wie ein Schilderhaus vor.
Es war aber nicht die Kiste, die den Erich abgehalten hatte, zur Bescherung zu kommen. Als im Hartmannschen Hause der Christbaum brannte und alle in Liebe und Freude vereinigt waren, lag er im matt erhellten Zimmer zu Bett, und Minna, das Stubenmädchen, machte ihm Umschläge um die fieberheiße Stirne. Eben war der Arzt dagewesen, hatte den Kranken untersucht und gesagt: »Es wird wohl Scharlachfieber geben oder so etwas. Natürlich darf keines von den andern Kindern ins Zimmer.« Das war nun ein trauriger Heiligabend! Man hatte die Kiste, die richtig angekommen war, in den Saal getragen und den Kronleuchter angezündet. Der Christbaum stand schön geputzt auf dem Boden und reichte bis zur Decke. Aber es mochte ihn niemand anzünden. Alfred und Ella saßen am Boden vor der geöffneten Kiste, die allerdings sehr viel Schönes enthielt. Aber es war keine rechte Freude, das alles auszupacken, wenn Erich krank zu Bette[S. 103] lag, Fräulein Weiß sorgenvoll und bekümmert umherging und die Eltern in weiter Ferne waren. Für Ella war ein prachtvoller Anzug eines italienischen Bauernmädchens angekommen, alles in Samt und Seide und mit goldenen Behängen. Alfred bekam eine wertvolle Muschelsammlung, ein schönes Buch mit vielen Bildern und noch allerlei. Und dazwischen duftete es in allen Ecken nach Veilchen und Rosen, die zwischen den Gaben lagen, und der Boden der Kiste war ganz mit Orangen und Datteln ausgelegt. Mit fröhlichen Gefährten und in glücklicher Stimmung hätte es ein Genuß sein müssen, die Kiste auszupacken, und ich wüßte manchen, der da gern mitgetan hätte. Aber es fehlte den reichen Kindern beides. Fräulein Weiß hatte Erichs Anteil an den Geschenken auf die Seite getan und zu Alfred und Ella gesagt: »So, nun freut euch an den schönen Sachen; es gibt nicht viele Kinder, die so reich beschenkt werden.« Aber damit hatte sie den Kindern noch nicht gezeigt, wie sie es machen sollten, sich zu freuen. Und von selbst wußten sie es nicht recht.
Man konnte es nicht anders verlangen von Fräulein Weiß. Sie war wirklich in schwerer Sorge wegen des kranken Erich und wußte nicht, ob sie den Eltern von der Sache schreiben sollte oder nicht. Dazu kam noch die Frage, wer den Kranken pflegen solle. Denn sich selbst ganz abzusondern vom Haus und den größeren Kindern, das erschien ihr unausführbar. Und dann hatte sie selbst auch noch nie Scharlachfieber gehabt und fürchtete sich ein wenig vor der Ansteckung.
Da konnte sie denn nicht auch noch eine aufheiternde Gefährtin sein. Den Dienstboten bescherte sie die für sie bestimmten Geschenke ohne rechte Festfeier im Saal; dann sah sie ab und zu in das Zimmer hinein, wo der kranke Erich lag, zog sich aber jedesmal wieder rasch zurück, denn da besorgte für jetzt noch Minna das Nötige. Morgen mußte[S. 104] eine Pflegerin her, das hatte sich Fräulein Weiß schon ausgedacht.
Alfred und Ella standen ein wenig verdrossen vor ihren prächtigen Sachen und hatten auch nicht recht Lust, all die Süßigkeiten zu versuchen, die in silbernen Körbchen auf dem Tisch standen. Sie hatten beide Heimweh, ohne daß sie es recht wußten.
Da wurde auf dem Vorplatz eine freundliche Stimme hörbar. »Wo habt ihr denn das arme Büblein?« fragte Tante Luise, die vom Nachbarhaus herübergekommen war, als sie durch eins der Dienstmädchen von Erichs Krankheit gehört hatte. Tante Luise war von früher her gut bekannt mit Fräulein Weiß. Nun wollte sie ihr ein wenig beistehen in dieser Sorgenzeit.
Ella öffnete neugierig die Türe und sah etwas erstaunt auf das fremde Fräulein. Aber Tante Luise war nicht so verlegen, wie ihre kleinen Neffen und Nichten den reichen Kindern gegenüber waren. Sie sah sogleich, um wieviel reicher und glücklicher die Kinder des kleinen Häuschens drüben waren, als die Kinder des reichen Hauses, die heute am Heiligabend allein und freudlos unter dem funkelnden Kronleuchter standen trotz der schönen Geschenke. Und in Tante Luisens Herzen wallte ein großes Mitleid auf.
»Darf ich zuerst ein bißchen zu euch hereinkommen?« sagte sie freundlich und trat in den Saal. »Habt ihr die Christbaumlichter schon wieder ausgelöscht?« fragte sie erstaunt. »Ach nein, was seh' ich, die haben ja noch gar nicht gebrannt!« fuhr sie lebhaft fort. »Das müssen wir noch nachholen. Ich glaub's wohl, daß niemand dazu Zeit hatte, und auch keine Lust. Aber so traurig wollen wir doch nicht sein am Heiligabend. Christtag ist's doch, wenn auch der arme Erich krank ist. Der liebe Gott macht ihn hoffentlich bald wieder gesund.[S. 105] Ich will ihn helfen pflegen. Und jetzt singen wir zuerst ein Weihnachtslied, das könnt ihr doch?« Während sie das sagte, hatte Tante Luise schon angefangen, an dem hohen Baum die Lichter anzustecken. Nun brannten sie hell und licht, wie das ja alle Christbaumlichter tun, und Tante Luise sah sich fragend um: »Wollt ihr nicht auch den Diener heraufrufen und den Kutscher und vielleicht die Köchin? Die würden gewiß auch gern mitsingen.« »O ja, das würden wir gern,« sagte hier auf einmal Franz, der Diener, der sich gerade am Ofen zu schaffen gemacht hatte. Und er ging schnell, die anderen zu holen. Das war jetzt doch auch noch ein fröhlicher Kreis, der sich um das Klavier sammelte, und es klang feierlich in die Nacht hinaus: »Halleluja, denn uns ist heut ein göttlich Kind geboren.« Fräulein Weiß hatte sich auch eingefunden. Und wenn sie auch einen Augenblick dachte, daß das eigentlich ihre Sache gewesen wäre, so fühlte sie sich doch ein wenig erleichtert. Alfred und Ella wußten nicht recht, wie ihnen geschah. Zuerst hatten sie gedacht, Tante Luise sehe etwas einfach aus, lange nicht so elegant wie Fräulein Weiß oder gar die Mama. Aber es tat ihnen doch wohl, daß sie so frisch und lebendig da hereinkam und für eine richtige Christfeier sorgte, so, als ob sie schon lange im Hause sei. Jetzt kamen ihnen auch die Gaben der Eltern wieder begehrenswert vor, da Tante Luise sie so aufrichtig bewunderte. Zwar wunderte es Ella ein wenig, daß diese so viel Aufhebens von einem goldgerahmten Bildchen, Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß darstellend, machte. Der Anzug war doch gewiß viel kostbarer. Aber das schien Tante Luise gar nicht zu bedenken. »Das Bildchen hängen wir nachher über deinem Bett auf, Ella,« sagte sie. »Dann kannst du dich immer daran freuen. Und auf einmal ist dann die Zeit da, wo deine Mutter wiederkommt, und dann kannst du es gerade so machen wie das[S. 106] Jesuskindlein auf dem Bilde. Wenn du auch ein bißchen groß bist für ein Schoßkindchen,« fügte sie lächelnd hinzu.
Ella schüttelte leise den Kopf. Das war doch wieder ein bißchen anders bei ihnen. Was wohl Mama gesagt hätte, wenn sie begehrt hätte, auf ihren Schoß zu sitzen? Aber das wußte ja Tante Luise nicht so genau. Sie kannte wohl nur das trauliche Familienleben in dem kleinen Häuschen drüben, wo die Mutter immer für alle zu haben war und sonst gar keine Pflichten hatte, als nur für ihre Lieben zu sorgen.
Alfred hatte den Gesang mit seiner Violine begleitet. Jetzt sagte er: »Wenn Sie mich begleiten würden, würde ich gern noch ein Weihnachtslied spielen. Ich kann schon manches.«
Es war ihm kaum schon einmal so erfreulich gewesen wie heute, daß er ein wenig Musik machen konnte. Denn in Gesellschaft durfte er ja noch nicht spielen, dazu hatte er noch nicht genug gelernt. Und im Lernzimmer oben waren nur die Geschwister und etwa Fräulein Weiß, und keins von ihnen hatte eine rechte Freude an seinem Spiel. Heute aber, wo er etwas zur Erhöhung der Festfreude beitragen konnte, machte ihn das stolz und glücklich. »So,« sagte Tante Luise, als der letzte Ton des Liedes »Stille Nacht, heilige Nacht« verklungen war, »nun will ich zu Erich gehen. Ich denke, ich bleibe die Nacht bei ihm. Seine Bescherung können wir erst später halten. Das könnt ihr beiden nun euch recht hübsch ausdenken.«
Das war nun alles völlig neu, sowohl für die Kinder als für Fräulein Weiß. Denn es war keines von ihnen daran gewöhnt, so einfach fröhlich zu sein, so ohne besondere Veranstaltungen sich zu freuen und festlich zu fühlen. Und auch das nicht, was Tante Luise zuletzt noch gesagt hatte, nämlich sich darauf zu besinnen, womit man einander erfreuen könne. Aber es war ihnen allen angenehm und wohltuend gewesen,[S. 107] so zu sein wie heute abend. Fräulein Weiß gab Ella sogar einen Kuß, als diese warm zugedeckt im Bett lag, und sagte zu ihr: »Was meinst du, wenn wir morgen nachmittag den großen Kochherd herunterholten und einmal tüchtig kochten?« Und Ella wollte gern und besann sich noch im Einschlafen auf das Fest.
Alfred hatte ein wunderliches Gefühl, als er allein in der Eltern Schlafzimmer trat, das er während Erichs Krankheit benützen sollte. Er war sich gar nicht mehr recht als Kind vorgekommen in letzter Zeit. Er wurde im Haus schon so viel als junger Herr behandelt, und alles, was kindlich war, hatte ihm langweilig geschienen. Aber er wußte nichts Rechtes, was ihn denn dafür hätte erfreuen können. Erich, ja der hatte Gefallen an Knabenspielen und allerlei lustigem Zeitvertreib, sei's auch nur mit dem Kutscher oder sogar mit Ella, dem empfindlichen Mädchen. Das kam Alfred immer ein wenig verächtlich vor. Und doch fiel es ihm noch hie und da ein, wie er einmal bei Hartmanns durch die zurückgeschobene Gardine gesehen hatte, wie die ganze Familie, sein Bruder Erich mitten darunter, sich um den Tisch geschart und das »Fuchs- und Hühnerspiel« um Nüsse eifrig betrieben hatte. Und wie ihn damals auch nach so etwas verlangt hatte, wenn er's auch nicht gestand. Als Erich damals nach Hause kam, hatte er ihn verhöhnt: »Willst du nicht lieber ganz da hinüberziehen, wenn dir das vornehm genug ist? Nüsse könntest du auch daheim haben und dann gleich mehr.«
Und Erich hatte nur erwidert: »Du weißt etwas Rechtes vom Vergnügtsein! Da sei nur ganz still davon.«
Das kam dem Alfred heute abend wieder in den Sinn. Es war wahr, er wußte etwas Rechtes vom Vergnügtsein! Und es stieg eine Sehnsucht in ihm auf, nach was, das wußte er selbst noch nicht so recht. Es ist nur gut, daß der liebe Gott[S. 108] besser weiß als die Menschenkinder, was ihnen fehlt. Er hatte jetzt auch Tante Luise herübergeschickt, damit man in dem reichen Hause erfahre, daß man ohne rechte Liebe und ohne die Zufriedenheit, die tief im Herzen wohnen muß, arm ist bei aller Pracht und Herrlichkeit.
Es war an einem stillen, dämmerigen Nachmittag. Draußen wirbelte der Schnee in der Luft umher und legte sich dann leise und sachte auf die Erde, wo schon eine dicke, weiche Decke davon lag. Drinnen im Krankenzimmer saß Tante Luise an Erichs Bett, hatte den Arm um den kleinen Buben geschlungen und plauderte mit ihm von allerlei, was ihm schon lang am Herzen lag. So schön hätte sich Erich das Kranksein gewiß nicht träumen lassen. Die schlimmsten Fiebertage waren glücklich überstanden, davon wußte er nicht mehr viel, wußte kaum noch, daß ein paar Nächte lang eine Diakonissin an seinem Bett gewaltet und ihn gepflegt hatte. Das konnte er sich eher noch denken, daß am Tag Fräulein Weiß und Tante Luise miteinander abgewechselt hatten, und daß letztere ihn allemal wieder wie ein kleines Kind in den Schlaf gesungen hatte. Aber jetzt, jetzt konnte es der Erich gar nicht schöner begehren, als er's schon hatte. Denn er mußte zwar noch ganz ruhig im Bett liegen, aber das wollte er ja gern tun, wenn er dazu die allerbeste, liebste Gesellschaft hatte, die man sich denken konnte. Denn Tante Luise hatte wirklich ihre schönen Vakanztage dazu hergegeben, den kleinen Burschen zu verpflegen, der sie doch eigentlich gar nichts anging, nur weil er sonst nicht viel Liebe um sich her hatte.
Jetzt saß sie an seinem Bett, und Erich hielt ihre Hand fest, so, als wäre sie im Begriff, ihm gleich wieder zu entschlüpfen,[S. 109] und er müßte es mit seiner schwachen Kraft verhindern. Tante Luise dachte aber nicht ans Entschlüpfen. Sie hatte frische, rote Backen, denn sie war eben erst von einem Ausgang heimgekommen. Da sie der Ansteckung wegen nicht mehr zu ihren Angehörigen in das kleine Häuschen hinüber durfte, so hatten sie alle zusammen sich im Freien getroffen, am Saum eines kleinen Wäldchens in der Nähe der Stadt, wo die Kinder sich mit Schneeballwerfen belustigten und die die Großen in einer Schutzhütte miteinander plaudern konnten. »Und denk einmal, was wir für ein Genesungsfest ausgemacht haben!« erzählte Tante Luise, nachdem sie das alles berichtet hatte. »Weißt du, Alfred ist mein ganz guter Freund geworden und mit Ella ist das auch auf dem besten Wege. Da haben wir nun ein Fest geplant, zu dem wir alle Hartmannschen Kinder laden wollen. Das halten wir im Saal. Alfred[S. 110] will seine Laterna magica vorführen, so etwas haben die kleinen Buben noch nie gesehen. Und dann singe ich den Struwelpeter und Alfred geigt dazu. Natürlich gibt es dann auch etwas Gutes zu schnabulieren, und wir machen zusammen die hübschesten Spiele, die uns nur einfallen. Und zum Schluß zünden wir den Christbaum an. Denn das Christkind kommt dann erst noch zu dir. Es hat ja nicht herein dürfen,« setzte sie lachend hinzu.
»Aber du, Tante Luise, gelt?« sagte Erich vergnügt. Es war jetzt alles und jedes ein Fest, und er wunderte sich kaum noch, daß Alfred es nicht zu langweilig und zu gewöhnlich fand, den kleinen Buben vom Nachbarhaus seine Herrlichkeiten vorzuführen.
Alfred hatte es ja nur nicht gewußt, wie man recht vergnügt sein könne. Und Erich war froh, daß nun jemand da war, um es ihm zu zeigen.
Er hatte aber noch viel auf dem Herzen, was heute besprochen werden mußte. So fing er sogleich wieder an:
»Wenn du nur immer dabliebest. Wenn du nur gar nie mehr in deine Schule müßtest. Du glaubst nicht, wie es bei uns ist. Dann sitzt Alfred mit seinem Buch am Tisch, und Ella gähnt hinter der Hand, weil sie Französisch lernen soll, und ich soll immer still sein und manierlich. Und Fräulein Weiß sagt dann jedesmal, wenn wir mit den Aufgaben fertig sind: ›So verdrießliche Kinder sind mir noch nie vorgekommen, wie ihr seid.‹« Tante Luise dachte einen Augenblick an die fröhliche Tafelrunde bei ihren Verwandten. Sie wußte wohl, wo es fehlte, daß es in dem reichen Hause niemals heiter zuging wie dort. Und sie konnte es nicht gut ertragen, wenn Kinder nicht so vergnügt waren, wie sie eigentlich sein konnten.
»Ja, da möchte ich freilich manchmal dabei sein,« sagte sie liebevoll. »Da möchte ich schon hie und da nachsehen, wo[S. 111] das fehlt. Aber weißt du, ich kann dir doch ein Mittelchen sagen, daß es nicht so unlustig bleibt bei euch, wie seither. Fang du selbst einmal an, dir immer etwas Schönes auszudenken, das nun anzufangen ist. Zum Beispiel, bis die Eltern heimkommen; da kann man sich schon wieder besinnen, womit man sie erfreuen will, daß sie merken, ihr habt an sie gedacht, solang sie so herumreisen mußten mitten im Winter.«
Erich horchte auf. Denn der Gedanke war ihm neu, daß es die Eltern am Ende freuen könne, wenn sie sähen, daß man an sie gedacht habe. Sie kamen ihm beide gar nicht recht eigen vor, so wie den Hartmannskindern Vater und Mutter. Und es dünkte ihn plötzlich ein Reichtum zu sein, daß er das auch habe.
»Und,« fuhr Tante Luise fort, »Fräulein Weiß kann man auch zeigen, daß es denn schon noch verdrießlichere Kinder gibt, als ihr seid. Übernächste Woche ist ihr Geburtstag. Da soll ihr Alfred ein hübsches Gedicht machen, und du kannst ihr ein auswendiggelerntes hersagen, und ein bekränzter Kuchen müßte mir her an deiner Stelle und allerlei kleine Geschenke. Das kann man alles so vergnüglich gestalten, daß immer wieder ein Fest kommt, ehe man sich's versieht. Merk dir's nur, man muß nur alle Leute lieb haben, die um einen herum sind, dann kann es gar nie langweilig sein, weil einem dann immer etwas einfällt, das man ihnen zu Gefallen tun kann.«
Es ist merkwürdig, aber es ist wahr: Ein liebevolles und fröhliches Gemüt ist wie ein Zauberstäbchen. Wen man damit berührt, der wird angesteckt. Und da Tante Luise allen Hausgenossen mit ihrem heiteren Wesen nahegekommen war, so fingen auch alle an, ihr ein wenig nachzustreben. Fräulein Weiß dachte immer: »Wenn ich auch so wäre, so wären gewiß[S. 112] alle vergnügter und ich mit.« Und sie bat den lieben Gott, sie auch so frisch und liebevoll zu machen. Und solche Bitten erhört er gern.
Wenn aber alle zusammenhelfen, so muß man sich nur wundern, wie schnell es anders wird im Haus.
Das Genesungsfest war gekommen. Die Frau Hofrat hatte gern erlaubt, daß die Kinder des Nachbarhauses eingeladen wurden. Denn sie war sehr froh, daß sie hörte, Erich habe die Krankheit so gut überstanden und Tante Luise habe ihn so gut gepflegt. Sie hatte nun allmählich auch Heimweh nach ihren Kindern. Fräulein Weiß hatte den sehr liebevollen Brief vorgelesen und gesagt: »So, nun können wir uns jeden Tag freuen, bis die Eltern kommen. Ich habe schon einen schönen Plan zum Empfang.« Denn Fräulein Weiß wollte jetzt nicht mehr warten, ob sich die Kinder von selbst freuten, sondern sie wollte ihnen den Weg dazu zeigen.
Nun war die Familie Hartmann da. Erich hatte schon lang mit verlangendem Blick nach der Tür gesehen. Nicht nur wegen seines Freundes Paul. Der hatte ihn schon einmal besucht und Alfred hatte nachher gesagt: »Der Hartmann ist erst noch ganz nett. Man kann schon etwas mit ihm anfangen.« Das war ein großes Zugeständnis. Aber heute wartete Erich noch auf jemand anderes, der erst ganz zuletzt kam. Das war die Mutter, die den Kleinen trug. Sie kam auch sogleich zu dem bleichen Erich her und sagte liebreich: »Gottlob, daß du wieder so weit bist. Und jetzt wollen wir uns recht freuen.« Auf diesen Augenblick hatte Erich gewartet, denn er trug den Brief von seiner Mutter in der Tasche und nun zeigte er ihn mit großem Stolz. Er hatte das Gefühl, als ob ihn diese glücklichen Leute ein wenig bemitleideten. Und das war ja nun nicht nötig, wenn doch seine Mutter auch Heimweh nach ihm hatte!
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Jetzt war er erst recht imstand, das fröhliche Fest mitzugenießen. Vergnügtere Menschen hatte der elegante Saal wohl noch nie gesehen, soviele Gesellschaften schon darin gewesen waren. Heute kam die Fröhlichkeit recht von Herzen. Ella schloß große Freundschaft mit Mariele und sagte nur dazwischenhinein immer wieder: »O wenn ich nur auch so ein herziges Brüderlein hätte, wie dein Fritz ist. Das wäre mir dann schon noch lieber, als alle Puppen.« Und Mariele sagte ganz verständig darauf: »Ja, alles kann man auch nicht haben, sagte meine Mutter immer. Sonst fällt einem immer noch etwas ein und dann noch etwas. Und dann ist man erst nicht zufrieden.« Die Mutter mußte vor sich hin lachen, als sie dieses Zwiegespräch mit anhörte. Denn sie wußte gut, daß ihr Töchterlein manchmal gern getauscht hätte. Und sie wußte auch, daß alle großen und kleinen Leute von ihrem Vater im Himmel das bekommen, was gut für sie ist, und daß alle erst nach und nach lernen müssen, das allerbeste davon herauszufinden. Nämlich das, daß sie ganz getrost und zufrieden sein können, weil er für sie sorgt und sie lieb hat. Und die Leute, die das wissen, sind dann am reichsten von allen.
Nun möchte man gern noch erzählen, daß Mariele von nun an ganz zufrieden und fröhlich gewesen sei, trotz ihrer einfachen Kleider und trotz den engen niedrigen Stuben und den vielen kleinen Geschwistern.
Und daß die reichen Kinder von jetzt an ihre rechte Freude und Zufriedenheit darin gesucht hätten, einander Liebes und Gutes zu erweisen. Daß das Familienleben des großen Hauses nun so warm und innig geworden sei, wie das des kleinen.
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Aber das geht nicht nur so.
Wenn ein Samenkörnlein anfängt zu treiben, so kommt zuerst ein zartes, hellgrünes Keimlein aus dem Boden. Und wer Augen dafür hat, der kann sich wohl daran freuen. Aber bis dann ein Halm hervorwächst und eine Ähre treibt, und die Ähre reif wird, das dauert noch lange.
Und bei den Menschenkindern muß man auch warten, bis die Samenkörnlein aufgehen und Liebe und Freude daraus hervorwachsen. Wer weiß, was aus Erichs Krankheitszeit für fröhliche Saat aufwächst in den jungen und alten Herzen? Das muß man jetzt erst abwarten.
Und wer weiß, was aus den schönen Liedern der Mutter und dem liebevollen Wesen der beiden Eltern und dem fröhlichen Gesicht der Tante Luise für ein Blumengärtlein treibt in dem kleinen Hause? Vielleicht erfahren wir's noch.
Und einstweilen wollen wir unser eigenes Gärtlein pflegen. Denn wir sind alle reicher, als wir wissen.
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Gretel stand im Hof hinter dem Haus, sah durch das Eisengitter in das trübe Gäßchen, das da vorbeiführte, und war beschäftigt, ihr rotes Zopfband immer wieder um den Finger und wieder herunterzuwickeln. Das war keine besonders vergnügliche Beschäftigung, es konnte einen nicht wundern, daß Gretel gar kein sehr heiteres Gesicht dazu machte. Sie hätte gern etwas anderes getan, wenn sie etwas gewußt hätte. Aber das war gerade das Traurige, daß ihr kein Mensch sagen konnte, was sie mit ihrem Vormittag beginnen sollte. Gretel hatte Schulferien, heute war der zweite Tag davon, und vier Wochen lang sollten sie dauern. Sie hatte sich schon lange auf diese Zeit gefreut und immer ausgerechnet, wie lang es noch sei, bis sie komme, und nun fing sie gar nicht schön an. Alle Leute im Haus hatten ihre Beschäftigung. Der Vater ging gleich nach dem Frühstück ins Kontor, Bruder Ernst gleichfalls; die Mutter war fast den ganzen Tag im Laden, bediente die Kunden und regierte die Ladenfräulein. Da hätte sich Gretel auch sehr gern aufgehalten, aber das war ihr verboten. Es war so nett, zuzuhören, was die Leute sagten, und zuzusehen, wie sie sich Stoffe vorlegen ließen, wie sie wählten und kauften. »Aber das ist kein Aufenthalt für Kinder,« sagten die Eltern, und dabei blieb es. In der Küche regierte die Christine. Es war alles hell und glänzend sauber darin, nur schade, daß Christine so bärbeißig war und für Gretels Wunsch, ihr manchmal ein bißchen Gesellschaft zu leisten, immer[S. 116] die gleiche Rede hatte: »Kann keine Kinder unter den Füßen herum haben, bin froh, wenn ich fertig werde.«
Dann war noch Lotte da, das Zimmermädchen. Die konnte ja nichts dagegen haben, wenn Gretel im Zimmer war. Aber heute war sie böse. Gretel hatte beim Aufräumen helfen wollen und dabei ein Glas vom Waschtisch zerbrochen und Wasser auf den frisch gewichsten Boden verschüttet. Und Lotte hatte gesagt: »Es gibt gewiß kein so unmüßiges, langweiliges Kind mehr, wie du eins bist. Wenn man so viel schöne Bücher hat und Spielsachen und so eine nette Häkelarbeit und es ist einem doch noch langweilig!«
Nun stand Gretel da und seufzte. Sie hatte ein gutes Vesperbrot neben sich liegen und ein neues Kleid an und ihre Backen waren rot und rund. Und doch kam sie sich ein wenig beklagenswert vor. Sie hatte wohl auch Freundinnen, aber die waren zum Teil verreist und zum Teil wohnten sie in einem ganz andern Stadtteil; zum Spielen zusammen kommen konnte man da nicht. Der Hausknecht ging vorbei, er hieß Frieder und war sonst ein ganz guter Freund von Gretel. Heute brummte er: »Du hast gewiß die große Papierschere verschleppt, Gretel. Man kann sie nirgends finden, und nun soll ich sie verräumt haben.« Gretel hatte die Schere nicht gehabt, und daß Frieder nun auch noch unfreundlich gegen sie war, machte sie nicht vergnügter. Und sie dachte im stillen, es sei noch lang nicht das Ärgste, in der dumpfen Schulstube zu sitzen. Dort wußte man wenigstens den ganzen Tag, was anfangen.
Da hörte sie auf einmal ein lautes, klägliches Geschrei. Es kam aus dem Gäßchen, das Gretel kaum je betrat, und in dem lauter alte, ärmliche Häuser standen. Ein kleines Geschwisterpaar kam aus dem nächsten Haus heraus. Es war ein Bube und ein Mädchen, und alle beide waren etwas[S. 117] schmierig anzusehen. Das Mädchen konnte etwa sechs Jahre alt sein und zog aus Leibeskräften das dreijährige Brüderlein hinter sich her, das auf krummen Beinen mühsam daher wackelte. Oben herunter schallte aus einem geöffneten Fenster eine scheltende Stimme: »Daß ihr mir nicht mehr unter die Augen kommt, bis ich euch rufe! Es ist ein Elend mit euch unnützen Dingern.«
Und dann fingen alle beide Kinder wieder an zu weinen und aufs Geratewohl in das Gäßchen hineinzulaufen. Gretel mußte genau hinsehen. Sonst hatte sie sich nie um die Bewohner des Gäßchens bekümmert; vorne lag ihr Elternhaus an einem schönen, freien Platz, wo in gelben Sandwegen unter grünen Büschen gut gekleidete Kinder spielten, und wo hübsche Häuser standen, deren Bewohner ganz anders aussahen, als die »Gäßlesleut«. Aber heute war das anders. Gretel wußte ja auch nicht recht, wo sie hingehörte, da konnte sie mitfühlen. Sie drängte ihr Gesicht dicht an das Gitter und fragte das Mädchen: »Warum weinet ihr alle zwei?« Die Kinder blieben erstaunt stehen. Der Kleine rieb sich mit beiden Fäusten die Tränen im Gesicht herum, und das Mädchen sagte: »Weil wir immer auf d' Gaß sollen, und mein Fritzle hat so Hunger und ich einen bösen Finger.« Das war viel Jammer auf einmal. Gretel vergaß ganz, Mitleid mit sich zu haben. Sie streckte ihr Butterbrot durchs Gitter hinaus. »Da,« sagte sie, »ich kann mir wieder eins holen. Wenn ihr wollet, dann könnet ihr ein wenig in den Hof herein kommen. Der Tyras tut euch nichts.« Der Tyras war ein großer Hofhund, der in seiner Hütte an der Kette lag und verdächtig damit rasselte. Aber Gretel gab ihm nur im Vorbeigehen einen kleinen Schlag auf den zottigen Kopf. »Sei fein still,« sagte sie, »sonst haben die armen Kinder Angst.« Dann ging sie und öffnete das Türchen. Merkwürdig, auf einmal kam es ihr wieder in den Sinn, wie viel Gutes sie habe. Da[S. 118] war das kleine Gärtchen, das an den Hof anstieß. Es war nicht sehr sonnig, und viel Blumen gab es auch nicht darin. Aber es hatte eine Laube, und darin stand ein Tisch mit einer Schublade voll alten Spielzeugs, das längst unbeachtet dalag. Dorthin zog sie ihre Schützlinge. Fritz hatte längst seine Tränen getrocknet und sah mit großen Augen auf die neue Herrlichkeit. Gretel gab ihm einen Haufen farbiger Bauklötzchen und rückte ihm ein Kistchen vor die Bank hin. »Da, nun baust du einen Turm,« sagte sie. »Vorher kannst du noch das Butterbrot essen.« Das ließ sich der kleine Bursche nicht zweimal sagen. Das Mädchen hieß Sofie. Es sah fröhlich zu, wie der Kleine in sein Brot einbiß und wickelte daneben die Schürze um den entzündeten Finger.
Gretel kam sich wie ein Mütterlein vor. »Bleibt einmal ruhig sitzen,« sagte sie. »Lotte hat eine gute Salbe, und ich will dir den Finger verbinden. Dann hole ich einen ganzen Pack farbige Flecke, und wir machen miteinander ein Kleid für meine Ida.« Letzteres war eine alte Puppe, die auch in der Schublade des Gartentisches lag und allerdings ein neues Kleid nötig hatte.
Sofie kam sich vor wie im Traum. Sie ging noch nicht in die Schule, und es war jeden Tag ihre Pflicht, das Brüderlein zu hüten, und gezankt wurde sie auch jeden Tag. Die Mutter nähte Handschuhe für eine Fabrik, und der Vater war auch in einer Fabrik, und eigentlich sollten die Kinder nur zum Essen und Schlafen heimkommen. Da saßen sie denn meistens miteinander auf einer Hausstaffel und sahen zu, was sich auf der Straße ereignete, und das war nicht gerade viel. Und jetzt saßen sie in dem Gärtchen, das ihnen wunderschön vorkam, und das Mädchen in dem schönen blauen Kleid spielte mit ihnen, und man wußte gar nicht, was nun alles noch kommen würde.
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Für einmal begann nun ein fröhliches Spiel der drei miteinander. Fritzchens trübseliges Gesicht leuchtete hell auf, als ihm Gretel einen hohen Turm bauen half, den er dann mit glatten Kieselsteinen wieder einstürzen durfte. Und Sofie drückte die Puppe Ida so zärtlich an sich, daß Gretel großmütig sagte: »Du kannst sie behalten, ich habe noch viele.« Das neue Kleid war etwas mangelhaft geraten, man mußte es hinten künstlich zusammenbinden, daß es hielt, aber dem armen Kinde dünkte es ein Prachtstück zu sein. »Ja ganz behalten und mit heimnehmen?« fragte Sofie zaghaft. »Ja, freilich.« Gretel mußte ein wenig lachen. »Und heute Nachmittag kommet ihr wieder und alle Tage, so lang ich Vakanz habe.«
Da ertönte im Haus die Essensglocke, Gretel mußte hinein, und aus dem hochgelegenen Fenster des trübseligen Hauses, in dem die Kinder wohnten, rief eine Männerstimme: »Wo steckt ihr nur auch? Flugs zum Essen!«
Man konnte es kaum glauben, daß der Vormittag schon vergangen sei, der so trüb und langweilig begonnen hatte. Die armen Kinder waren noch nicht leicht so vergnügt ihre Treppen hinaufgestolpert wie heute, und sie hatten immer noch etwas zu erzählen und dann noch etwas, als sie dann mit Vater und Mutter am Tisch saßen. Die Mutter hatte das kleinste Brüderlein aus dem Wagen genommen. Sie sah auch ein wenig aufgeheitert aus, denn sie hatte heute vormittag so ungestört arbeiten können, wie schon lang nicht mehr. Der Kleine hatte geschlafen, und die beiden größeren Kinder hatten sich auch nicht blicken lassen. Und daß diese jetzt so vergnügt heimkamen, freute die Mutter auch. Sie wollte ja nicht böse sein und hatte ihre Kinder auch lieb, aber sie mußte helfen, Geld zu verdienen, da wußte sie oft nicht recht, wo anfangen, und schob dann die Kinder aus dem Weg, wo sie nur konnte.
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»Und heut nachmittag dürfen wir wieder kommen und alle Tage,« schloß Sofie ihren Bericht, und Fritz fügte hinzu: »Ja und ein Gesälzbrot kriegen wir; die Gretel hat's gesagt.«
Daheim hatte man sich nicht wenig gewundert, als Gretel so vergnügt zum Essen kam. Sie hatte den ganzen langen Vormittag niemand belästigt und keinerlei Unfug angestiftet, und nun erklärte sie, daß sie auch am Nachmittag so viel zu tun habe, daß sie kaum wisse, wo beginnen. Die Mutter sah erfreut auf ihr Töchterlein. Sie war selbst so viel in Anspruch genommen, und es bedrückte sie oft, daß sie sich nicht mehr um Gretel annehmen konnte, und über diese Vakanzzeit hatte sie sich schon viele Gedanken gemacht. Jetzt sagte sie liebreich: »Das ist recht, Gretel, daß du so ein nettes Amt gefunden hast. Ich komme dann einmal zu euch hinaus und sehe nach, was das für Kinder sind und was ihr treibet. Und an einem Vesperbrot soll's auch nicht fehlen.« Das war der erste schöne Tag, und ihm folgten noch viele. Gretel hat niemand mehr langweilig und verdrießlich gesehen. Denn früh am Morgen mußten die Aufgaben gemacht werden, darauf hielt die Mutter streng. Und dann ließ sich Gretel mit großer Bereitwilligkeit zum Bäcker und Metzger schicken, denn es lag ihr daran, die mächtige Christine gut zu stimmen; es gab so oft etwas Gutes, das sie gern ihren Schützlingen bringen wollte.
Diese standen, wenn Gretel hinunterkam, allemal schon wartend am Gitterpförtchen, jetzt immer mit glänzend sauberen Gesichtern und reinen Schürzen, und dann ging das Freudenleben immer wieder von neuem an. Das einjährige Brüderlein war jetzt auch oft dabei. Sofie hatte es eines Tages auf dem Arm gehabt und zaghaft gefragt: »Dürfen wir mit dem Kleinen auch noch herein? Ich muß ihn jetzt auch hüten!« Sie hatte nicht begreifen können, daß Gretel in hellen Jubel ausgebrochen war. Ihr kam es nie so besonders nett vor, den[S. 121] schweren Paul zu schleppen, und sonst wußte sie nichts mit ihm anzufangen. Gretel hatte sich aber schon lang ein kleines Brüderlein gewünscht, und nun trug sie in lauter Freude den kleinen Buben ins Gärtchen, spielte mit ihm am Sandhaufen, ließ sich die Haare von ihm zausen und erfand immer wieder neue Belustigungen. Sofie hatte nur zu staunen. So unterhaltend war ihr das Brüderlein noch nie vorgekommen. »Mutter,« sagte sie eines Tages beim Heimkommen, »die Gretel sagt, Paul sei das nettste Kindlein, das es geben könne, sie möchte es nur ganz behalten.« »Das glaube ich,« sagte die Mutter, »daß sie das möchte.« Sie nahm den Kleinen auf den Schoß und zog eins seiner blonden Löckchen über den Finger: »Aber wir geben's nicht her, gelt?«
Die Mutter war überhaupt viel vergnügter seit einiger Zeit. Sofie fürchtete sich gar nicht mehr vor dem Heimkommen. Sie wußte nicht, daß die Mutter oft dachte, wenn andere Leute so eine Freude an ihren Kindern haben, so könne sie es wohl auch, denn ihr gehören sie ja doch zuerst. Und der Vater sah auch heiterer aus, wenn er heimkam, und jedes etwas Vergnügliches zu erzählen wußte, und die Kinder so sauber aussahen, und die Stube aufgeräumt war. —
Es war an einem der letzten Ferientage, da kam Sofie eines Nachmittags allein an. »Wir können heut nicht kommen,« sagte sie. »Der Vater hat im Geschäft frei und jetzt machen wir einen Spaziergang alle miteinander. Man nimmt den Kinderwagen mit, und dann kommen wir vielleicht bis in den Wald.« Sofie sah stolz und glücklich aus und sprang lustig davon. Merkwürdig, Gretel war gar nicht betrübt, daß heute ihre kleine Gesellschaft nicht kam. Sie hatte heute morgen eine ihrer Schulfreundinnen entdeckt, die von der Reise zurück war, und es gelüstete sie nun stark, einmal wieder mit Mädchen ihres Alters zu spielen und zu plaudern. Sie war doch auch[S. 122] schon zehn Jahre alt, und den armen Kindern gegenüber war sie immer so eine Art von Mütterlein gewesen. So sah sie ganz vergnügt zu, wie die Familie drüben miteinander auszog, und als bald nachher die Freundin kam, meinte sie, noch nie so vergnügt gespielt zu haben, wie heute. Aber als Klara, so hieß die Freundin, von den Freuden ihrer Reise erzählte und ein wenig mitleidig sagte: »Dir wird's auch oft langweilig gewesen sein!« da schüttelte Gretel den Kopf. »Behüte,« sagte sie, »ich habe so viel Nettes erlebt, man kann es gar nicht aufzählen. Aber auf die Schule freue ich mich doch auch wieder.«
Jetzt hat die Schule schon lang wieder angefangen, und wer weiß, ob Gretel nicht die nächste Ferienzeit irgendwo auf dem Lande verlebt. Denn eine liebe Tante hat sie schon lang eingeladen. Aber so oder so, vor Langeweile braucht sie sich nie mehr zu fürchten. Es gibt überall große oder kleine Leute, denen man eine Freude machen kann, es müssen nicht gerade ein paar arme »Gäßleskinder« sein. Und wer andern Freude macht, wird selber auch vergnügt, das weiß man schon lang, und Gretel weiß es auch.
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Der Heini stand ganz oben auf der Bühne, sah zu einem kleinen Guckfenster hinaus und seufzte. Man hätte sich ein wenig wundern können, daß er seufzte, denn er sah gar nicht aus, als ob ihm etwas fehle. Er hatte dicke rote Backen und war stark und gesund. Und dazu steckte er in einem nagelneuen, blau und weiß gestreiften Anzug und neben ihm auf einer Kiste lag ein mächtig großes Butterbrot. Der kleine Eseltreiber, der unten am Haus vorbeizog, wäre glücklich gewesen, wenn er es gehabt hätte. Aber der Heini war noch eher geneigt, den Eseltreiber zu beneiden, als daß er sich selbst beneidenswert vorgekommen wäre. Denn der Hansjörg konnte doch mit seinem Esel nach Herzenslust die schönen Wälder durchstreifen und kam auf all die hohen Berge, die der Heini nur von unten ansehen durfte, und keine ängstliche Tante rief den ganzen Tag hinter ihm drein: »Heini, geh mir ja nicht zu weit! Heini, iß nur ja keine Beeren im Wald! Falle mir nur ja nicht an der Ruine hinunter!«
So arg, wie sich das der Heini nun ausdachte, war es in Wirklichkeit auch nicht. Er steigerte sich nur jetzt unmutig in den Gedanken hinein, daß er zu bedauern sei, und wenn man das tut, so vergißt man dann ganz, wie viel Gutes und Schönes man hat.
Heini war seit vierzehn Tagen hier in einem wunderschön gelegenen Luftkurort im Schwarzwald. Seine Tante hatte ihn mitgenommen und er sollte die ganze lange Sommervakanz[S. 124] hier zubringen dürfen. Sein Name stand gedruckt in der Fremdenliste: Heinrich Speidel aus Stuttgart. Und Heini hatte die Liste mit Stolz an seinen besten Kameraden nach Hause geschickt und fühlte sich sehr als Badegast. Dazu bewohnte er ein kleines Stübchen ganz allein und konnte darin treiben, was er nur wollte. Zu Hause teilte er das Zimmer mit den beiden jüngeren Brüdern, und ein eigenes Kämmerchen war schon lang seine Sehnsucht. Daheim hatte man vom Fenster aus nur den Metzgerladen gegenüber gesehen, hier brauchte Heini nur im Bett die Augen zu öffnen, um dann schon die prächtigen, bewaldeten Vorberge des Blauen zu sehen, auf denen zum Teil noch Ruinen alter Ritterburgen waren. Diese Aussicht war wirklich etwas sehr Erfreuliches; wäre sie nur nicht gar so verlockend gewesen! Den Heini trieb Tag und Nacht das Verlangen, einmal selbst auf diesen Gipfeln zu sein, in dem alten Gemäuer umherzustreichen und dann vielleicht wunderbare Entdeckungen zu machen. Aber die Tante hatte ihn bis jetzt immer auf später vertröstet. Sie war ein wenig leidend und sollte in den ersten Wochen ihres Aufenthalts nicht so große Wege machen. Und sie wollte den achtjährigen Buben durchaus nicht, wie er sich so stürmisch wünschte, allein oder auch nur mit ein paar Kameraden ausziehen lassen, die nicht viel älter waren als er selbst.
Heute waren drei der hier gewonnenen Freunde zusammen nach dem Neuenfels gewandert, einer bewaldeten Bergkuppe, auf der sich eine besonders weitläufige, guterhaltene Ruine befand. Und sie waren für den ganzen Tag ausgezogen, mit kaltem Mittagessen in den Tornistern! Heini hatte flehentlich gebeten, mitzudürfen, umsonst. »Die hiesige Ruine ist noch viel schöner,« hatte die Tante gesagt. »Und du hast dir noch nicht die Hälfte von all den wunderschönen Wegen, Sitz- und Spielplätzen angesehen, die es rings um den Ort her gibt!«[S. 125] Dabei war sie geblieben, trotz allen Aufwands an Bitten und Tränen und zornigem Fußstampfen, den der Heini veranstaltet hatte.
Das war der Schmerz, der den Heini so tief aufseufzen ließ an seinem Guckloch auf der Bühne. Er hatte, soweit man von hier aus konnte, den Weg seiner Freunde mit den Augen verfolgt und dabei düstere Gedanken ausgebrütet. Er wollte doch noch auf den Neuenfels kommen! Auch ohne die Tante! Er war kein solches Wickelkindchen mehr, das man immer an der Hand führen mußte!
Dabei war er gerade, als Fräulein Jettchen auf die Bühne kam, eine der drei alten Schwestern, denen die Fremdenpension gehörte. Fräulein Jettchen war sonst eine sehr gute Freundin von Heini. Sie besorgte die Küche und es verging nicht leicht ein Tag, wo sie das Büblein nicht heranrief: »Komm, komm, Kleiner, da hast du ein warmes Flädchen! Guck einmal, Heini, da habe ich nun gerade noch so ein kleines Lebküchlein gefunden, das mußt du haben!« Sie hatte eine humoristische Art und alle drei Schwestern hatten die Kinder lieb und der Heini konnte es bei ihnen so gut haben, wie er sich nur denken konnte.
Jetzt war Fräulein Jettchen hoch erstaunt, den Wildfang Heini einsam da oben zu finden. Er war sonst fast nur bei den Mahlzeiten im Hause und hatte so viele Kameraden, daß er sie kaum aufzählen konnte.
»Ja, was in aller Welt hat denn das Büblein da oben zu schaffen? Und gar kein vergnügtes Gesicht? Und das Vesperbrot noch unberührt?« Fräulein Jettchen setzte ihren Korb mit Dörrbohnen ab und trat zu Heini heran. Der biß sich fest auf die Unterlippe und sah angelegentlich vor sich hin. Er konnte nicht gut sagen, was er soeben gedacht hatte.
»Unzufrieden? Ei, ei, ei!« Nun mußte das alte Fräulein sehr bedenklich den Kopf schütteln.
»Wenn man's so gut hat, wie du! So eine schöne[S. 126] Vakanzzeit und eine so liebe Tante, die einem so viel Freude macht!«
»Ja, aber auf den Neuenfels hat sie mich nicht mitgelassen,« murrte Heini, »die andern Buben lachen mich aus! Ich hätte gut so weit laufen können! Und ich gehe doch auch noch hin, ich bin auch nicht mehr so klein!«
Fräulein Jettchen hatte sich auf einen Koffer gesetzt und sah sehr feierlich aus. Manche Leute sagten, sie habe manchmal eine Stimme wie ein Pfarrer, und das hatte sie jetzt auch, als sie warnend den Finger aufhob und sagte:
»Kind, Kind, paß wohl auf, daß du dich nicht verläufst! Wenn die Schäflein gar nicht mehr wissen, wie gut sie es auf der Weide haben und wollen's immer noch besser finden, dann verirren sie sich und der Schäfer muß den Hund hinter ihnen drein jagen. Und manchmal sind sie dann so weit von der Herde weg, daß man sie gar nimmer findet, und dann möchten sie wohl wieder gehorsam und zufrieden auf der Weide sein, wenn sie nur wieder könnten.«
»Ich bin kein Schaf,« sagte Heini trutzig, »und verirren tue ich mich auch nicht, ich finde den Weg schon!«
»Du hast dich schon ein bißchen verirrt, Büblein,« sagte Fräulein Jettchen liebreich, »du bist trutzig und eigensinnig und weißt schon gar nicht mehr recht, wie gut du es hast. Komm jetzt mit mir, Heini, komm! Wir wollen es der Tante gar nicht sagen, daß du unartig gewesen bist, es würde sie betrüben, sie ist schon so gar nicht wohl! Wer weiß, wenn du jetzt fröhlich und dankbar bist, dann freut sie sich so, daß sie ganz bald mit dir auf die hohen Berge kann, und dann kannst du dich ganz anders freuen!«
Damit faßte das alte Fräulein den Trotzkopf Heini bei der Hand und stieg mit ihm die Treppe hinunter.
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»Was denken Sie, Herr Doktor, könnte ich nicht morgen eine Fahrt nach dem Blauen machen? Es ist mir nicht um mich, ich könnte schon noch warten mit solchen Ausflügen. Aber mein kleiner Neffe brennt so sehr darauf, ein bißchen in die Umgegend zu kommen! Es ist noch ein kleiner Kerl, aber ein fester, stämmiger Bursch, und ich möchte gern, daß er mit recht viel Freude an diese Zeit hier zurückdenkt!«
Tante Julie saß in einem Korbstuhl an der sonnigsten Stelle des Gartens und sah erwartungsvoll den alten Doktor an, der im Vorübergehen ein kleines Gespräch mit ihr angefangen hatte. Doktor Stieler schüttelte ein klein wenig den Kopf. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn Sie noch eine Woche gewartet hätten,« sagte er dann. »Die Ruhe scheint Ihnen so gut zu bekommen.«
»Meines Bruders Geburtstag ist morgen,« fuhr die Tante fort, »der wird zu Hause auch festlich begangen. Aber freilich, wir wollen ja nicht unvernünftig sein!« — Der Doktor sah zuerst prüfend den Himmel und dann seine Patientin an. »Wenn sehr schönes Wetter ist und Sie eine gute Nacht haben, so will ich denn auf morgen nichts dagegen einwenden,« war seine Antwort. Und freundlich grüßend schritt der Doktor weiter.
Tante Julie saß noch ein Weilchen ruhig in dem warmen Sonnenschein und überlegte sich ihren Plan auf morgen.
Sie wollte noch eine Bekannte zu der Fahrt einladen, die mit ihrem eigenen kleinen Jungen, einem schmächtigen, zarten Kind in Heinis Alter, ebenfalls zur Kur hier war. Und dann wollte sie einen Esel dazu bestellen, den Liebling aller jugendlichen Gäste, »Lips«, samt seinem sonnverbrannten Führer, Hansjörg. Da konnten dann die kleinen Buben abwechselnd daneben herreiten, und Tante Julie lächelte vergnügt vor sich hin, wenn sie sich Heinis Jubel vorstellte. Eselreiten! das war auch einer der sehnsüchtig erstrebten Genüsse!
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Wo der Junge nur steckte? Er hatte sich seit dem abgeschlagenen »Sturm auf den Neuenfels« nicht mehr sehen lassen! Es tat der Tante aber keinen Augenblick leid, daß sie nicht nachgegeben hatte. Im Gegenteil! Heute wollte sie den Heini ganz ruhig seinem Trotzkopf überlassen und dann morgen, ehe sie ihm die große Freude verkündete, ein paar ernsthafte Worte mit ihm reden. Tante Julie verstand sehr gut mit Kindern umzugehen und Heinis Neigung zum Eigensinn war ihr gar nichts Neues. »Es wird schon noch eine Weile dauern, bis er einsieht, daß man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann,« dachte sie. Dann stand sie auf und ging ins Haus.
Inzwischen hatte sich der Heini langweilig vor dem Haus umhergetrieben. Er hätte Erlaubnis gehabt, auf den Spielplatz im Kurpark zu gehen, wo es immer viele Unterhaltung gab. Oder er hätte die Tante gut um Erlaubnis fragen können, ob er mit dem Kutscher Ernst ins Heu fahren dürfe. Das hätte sie gern gestattet. Aber es gefiel ihm besser, sich auszudenken, wie hart die Tante sei und wie schlecht er es habe. Und dann dachte er sich noch etwas anderes aus. Der Hansjörg war dem Heini einmal vor kurzem begegnet, als er gleich nach dem Frühstück mit der Tante in den Wald ging. »Woher kommst du schon so bald?« hatte damals die Tante gefragt, die mit allen Leuten gern ein freundliches Wort sprach. Der Hansjörg hatte staubige Füße gehabt und gesagt: »Vom Neuenfels.« »Ist's möglich?« hatte sich Tante Julie gewundert, »da mußt du ja vor Tag aufgestanden sein?« »Vor Tag nicht. Um drei Uhr ist's schon fast hell und ich bin erst um vier Uhr fortgegangen,« sagte der Hansjörg. »Es ist ein Fräulein auf dem Esel hinaufgeritten, das will nachher zu Fuß heimgehen. Und ich muß jetzt gleich mit dem ›Lips‹[S. 129] auf den ›alten Mann‹!« Damit war der Eseltreiber wichtig weitergeschritten, denn das Geschäft blühte jetzt.
Daran dachte der Heini, als er sich jetzt so allein herumtrieb. Er konnte so gut wie der Eseltreiber, der noch den störrigen »Lips« zu besorgen hatte, in aller Morgenfrühe die Wanderung unternehmen und wieder da sein, ehe man ihn vermißte. Die Tante stand manchmal sehr spät auf, und das tat sie vielleicht morgen auch. Die Richtung, die man einzuschlagen hatte, kannte der Heini gut, und dann sah man ja auch die Ruine immer vor Augen und konnte sich gewiß nicht verirren. Er kam immer mehr in seinen Plan hinein und saß, gegen seine Gewohnheit, eine ganze Weile still auf der Hausstaffel, um sich alles genau auszudenken.
Zwar dem Vater hatte er versprochen, der Tante in allen Stücken zu gehorchen. »Aber ich glaube sicher, der Vater hätte mich mitgelassen,« beschwichtigte der Heini sein mahnendes Gewissen; »und dann, ich bin ja schon wieder da, wenn die Tante aufwacht! Warum ist sie auch so ängstlich und erlaubt einem gar nichts!« Und Heini beschloß, nicht mehr auf die unangenehmen Stimmen zu hören und sich »wie andere Buben auch« auf die Wanderung zu freuen. »Und der Papa kann's erst noch leiden, wenn man kein so Hasenfuß ist! Und ich will auch keiner sein!« — Damit schloß der Heini seine Selbstbetrachtung. Fräulein Jettchen rief eben zum Abendessen.
Es war ein strahlend sonniger Morgen. Heini glaubte, als er erwachte, noch ganz unerhört früh daran zu sein und staunte höchlich, daß andere Leute auch schon wach waren. Auf der Wiese, die sich hinter dem Haus hinaufzog, saß der Taglöhner Friedrich und dengelte seine Sense; er hatte schon ein großes Stück gemäht. Und im Hof hörte der Heini das Küchenmädchen[S. 130] am Pumpbrunnen. Leise, um die Tante nicht zu wecken, schlüpfte Heini in seine Kleider und schlich sich zur Tür hinaus, die er nur anlehnte. Tante Julie schlief nämlich im Zimmer daneben und sagte oft, daß sie einen sehr leichten Schlaf habe und gut höre, was um sie her vorgehe.
Merkwürdig, es zog den Heini jetzt am Morgen nicht mehr halb so sehr, wie am Tag zuvor, nach dem ersehnten Neuenfels. Und einen Augenblick besann er sich, ob er nicht lieber dableiben wolle. Es war doch auch sehr hübsch in der Nähe. Und das Frühstück im Garten und die Trompetermusik im Kurpark, das war doch auch beides ein Genuß! Aber dann regte sich der böse Trotz wieder. »Ich will aber,« sagte Heini halblaut und schlüpfte zu der angelehnten Haustüre hinaus.
Da lag die Straße vor ihm im hellen Morgensonnenschein. An allen Gräslein und Büschen und Bäumen hingen noch die schimmernden, glitzernden Tautropfen und an den Bergen wogten noch die Morgennebel hin und her, wie weiße Schleier. Und gerade vor dem Heini, hell beschienen, weiß glänzend, stand der Neuenfels, dessen Steinmassen und Mauerstücke aus dem grünen Wald förmlich herausleuchteten. Es sah aus, als ob er ganz nah da wäre. »O, ich kann noch zum Frühstück wieder da sein,« dachte Heini und fing an zu rennen. Er wollte sich die Sache absolut nicht gereuen lassen.
Die weiße, staubige Landstraße, mit frisch gemähten Wiesen zu beiden Seiten, lag hinter dem kleinen Wandersmann. Er trat jetzt in den dämmerigen, kühlen Wald ein, den er auf dieser Seite noch nie betreten hatte. »Fehlen kann man da nicht,« dachte Heini, »die Straße geht ja ganz gleich weiter und der nette kleine Fußweg läuft gerade daneben her, und der ist ganz weich und moosig.« Er schlug jetzt diesen ein, man konnte so schnell gehen auf dem weichen Teppich.
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Es war ganz still im Wald, nur hie und da huschte ein Eichhörnchen an den hohen Stämmen hinauf. Deren gab es viele in der Gegend. Heini hätte schon so lange gern eins besessen. Eben jetzt kam ein ganz reizendes Tierchen mit langem buschigem Schwanz ganz nahe heran. Es machte einen possierlichen Satz um den andern, flüchtete sich dann wieder in die Höhe und schwang sich von einem Baum zum andern. Der Heini war ganz hingerissen. »O, o, wenn ich nur so ein Tierchen hätte,« sagte er laut. »O, wenn ich nur eins mit heimnehmen könnte!«
Man kam sehr schnell vorwärts auf diese Art. Nur hatte der Heini gar nicht bemerkt, daß der Fußweg schon lange von der weißen Straße abgebogen war. Er sah es erst, als das Eichhörnchen ganz in der hohen Krone einer riesigen Eiche verschwand. Zuerst erschrak er ein wenig, denn er hatte ja immer der Straße nach gehen wollen. Aber dann sah er wieder etwas Weißes durch die Stämme leuchten und ging gleich darauf zu. Es war auch eine Straße, aber es war nicht die richtige, das wußte aber der Heini nicht. Er ging nun lange auf dieser weiter und wunderte sich nur immer im stillen, daß es so lange eben fortging. Der Berg hätte seiner Meinung nach schon längst beginnen sollen.
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Heini fing auch schon an, etwas müde zu werden. »Ich könnte ein ganz klein wenig hinsitzen,« dachte er. »Nicht lange, sonst komme ich am Ende doch zu spät.«
Es gab schöne Brombeeren am Wege. Sie waren erst halbreif, aber dem Heini schmeckten sie doch. Es war sonderbar, er hatte Hunger, und es konnte doch noch lange nicht Frühstückszeit sein. »Das kommt vom Frühaufstehen,« dachte Heini. »Ich bin es nicht gewöhnt.«
Dann zog er wieder weiter. Er hatte jetzt einen schmalen Fußweg gefunden, der richtig ziemlich steil in die Höhe ging. »Auf der langweiligen Straße hätte ich noch lang weiterlaufen können,« sagte sich Heini. Er war ganz froh, daß es wenigstens jetzt in die Höhe ging. »Ein bißchen weit ist's doch,« gab er jetzt zu. »Hätte mich Tante Julie mit den andern Buben gelassen, so müßte ich jetzt nicht allein auf diesen Neuenfels!« Merkwürdig, nächstens mußte die Tante noch schuldig sein, daß der Heini davonlief! Der Fußweg machte wieder allerlei Windungen; manchmal war er fast ganz überhangen von Brombeergesträuch und endlich hörte er ganz auf. Da stand nun der Heini mitten im Wald und nichts rührte sich weit und breit um ihn her. Doch, oben über den Tannen flogen ein paar Raben und krächzten laut. Und er wußte nicht weiter. Den Neuenfels sah man ja schon lange nicht mehr, und Heini hatte nur immer gehofft, der Wald werde sich jetzt dann auf einmal lichten und dann werde er gerade an der Ruine herauskommen. Jetzt getraute er sich gar nicht mehr vorwärts. Es war überall hoher, dichter Tannenwald. Und durch die hohen Stämme drang das Sonnenlicht in einzelnen Strahlen. Da fiel dem Heini ein, daß es wohl schon jetzt Frühstückszeit sei, und daß die Tante ihn nun suchen würde. Und Fräulein Jettchen und Luischen und Lina würden ebenfalls nach ihm suchen und ihn überall rufen: »Heini, Büblein, so komm doch, komm!«
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Und er stand im Wald und hatte sich verirrt! Das hatte er, es war so! Was hatte Fräulein Jettchen gestern gesagt?
O, es fiel dem Heini wieder alles ein, sie hatte es so feierlich gesagt wie ein Herr Pfarrer. Er hatte es nicht ausstehen können, aber es war doch wahr. Und jetzt hatte er sich richtig verirrt und mußte noch froh sein, wenn er sich schnell wieder auf dem gleichen Weg heimfand. Den andern Buben wollte es der Heini lieber gar nicht sagen, daß er den Weg nicht gefunden habe. Und die Tante würde ja wohl zanken! Oder am Ende machte sie auch so ein betrübtes Gesicht, wie die Mama zu Hause allemal tat, wenn der Heini eigensinnig und trotzig war. »Da möcht' ich dann schon noch lieber gezankt werden,« dachte der kleine Ausreißer.
»Vielleicht, wenn ich ganz schnell auf dem gleichen Weg zurücklaufe, immerfort, ohne Aufhören, dann komme ich doch noch bald genug. Und dann kann Tante Julie nichts sagen, nein, dann kann sie nicht! Denn dann bin ich gar nicht auf dem Neuenfels gewesen, nur im Wald!« Unter solchen Gedanken war der Heini umgekehrt, hatte auch endlich die ebene Straße wieder erreicht und rannte darauf fort, so müde er auch war. »Lieber Gott, laß mich auch noch bald genug heimkommen,« betete er drunter hinein. Aber dann kam man an so sonderbaren Felsstücken vorbei und an einer kleinen Schutzhütte, die der Heini noch nie gesehen hatte, und auf einmal merkte er, daß er wieder die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Und da war es ganz zu Ende mit allem kecken Mut und allem Trotz des kleinen Buben. Er setzte sich ganz hilflos auf einen Rain und fing an zu weinen.
»Manche verlaufen sich auch so weit, daß man sie gar nimmer finden kann,« hatte Fräulein Jettchen gesagt. »Und dann möchten sie gerne zufrieden und dankbar auf der Weide sein, wenn sie nur könnten.« Und dann hatte sie auch noch[S. 134] gesagt: »Du bist auch jetzt schon ein bißchen verirrt, Büblein. Denn du bist unzufrieden und trutzig und siehst nicht recht, wie gut du es hast.«
Als das dem Heini alles nacheinander einfiel, weinte er immer noch stärker. Jetzt war es so, jetzt konnte man ihn vielleicht gar nicht mehr finden! Und die Tante mußte nach Hause schreiben: »Der Heini ist im Wald verloren gegangen. Er war unfolgsam.« Und dann würde die Mutter immer zu den Kleinen sagen: »Machet es nur niemals wie der Heini!«
Und dann fiel ihm auch noch ein, wie gut und lieb die Tante immer gegen ihn gewesen war. Ja, gestern abend noch, beim Gutenachtsagen, da hatte sie zu ihm gesagt: Du wirst schon noch sehen, was wir noch Schönes zusammen erleben. Er hatte sich aber gegen die Wand gekehrt und nur ganz schnell sein Vaterunser hergesagt. Und dann war er trutzig eingeschlafen. Ja, das Vaterunser! Das hatte der Heini natürlich heute morgen auch vergessen! Wenn man etwas vorhat, das nicht recht ist, denkt man nicht an den lieben Gott. Und der liebe Gott will auch nicht hören, daß man sagt: Dein Wille geschehe, wenn man jetzt gerade so ernstlich denkt: Ich will aber tun, was ich will!
Heini war gar nicht recht so keck, jetzt noch das Vaterunser zu beten. Und doch wollte er so gern, daß der liebe Gott ihm wieder helfe, und er wollte auch ganz gewiß nicht mehr unzufrieden sein und trotzig und unfolgsam. Da fiel ihm ein Verslein ein, er sagte es laut mit gefalteten Händen unter sein Schluchzen hinein:
Und dann fügte er noch hinzu: »Und mach auch, daß die Tante keine so arge Angst hat und daß sie mir's gewiß glaubt, daß ich jetzt brav sein will.«
[S. 135]
Als der Heini so gebetet hatte, war er schon ein wenig getroster geworden. Das Verslein hatte er immer als kleines Büblein gebetet. Seit er in der Schule das Vaterunser gelernt hatte, überließ er das »Kleinkinderverslein«, wie er sagte, den Kleinen. Er durfte nun immer am Morgen und Abend das Vaterunser laut beten. Nur dachte er oft gar nicht an seinen schönen Inhalt. Die Gedanken flogen oft schon voraus auf den Spielplatz oder zu einem Geschichtenbuch. So kam es, daß der Heini im Vaterunser gar nicht so recht daheim war. Aber solang er mit der Mutter »alle Schritt und alle Tritt« gebetet hatte, da hatte diese ihm jedesmal dann nachher einen Kuß gegeben und gesagt: »So wird dir dann auch nichts geschehen! Und jetzt geh und sei vergnügt und brav!« Und der Heini setzte in Gedanken nun auch hinzu: So wird mir dann auch nichts geschehen! Es war ihm jetzt viel leichter als vorher, es kam ihm gar nicht mehr vor, als ob er den Heimweg nicht finden könnte. Er hatte ja auch schon den Rückweg von seinem bösen Eigensinn gefunden, da konnte es ihm freilich wohler sein als zuvor.
Als er sich gerade daran machen wollte, auf dem seitherigen Weg zurückzugehen, und immer noch ein wenig vor sich hinschluchzte, da hörte er hinter sich ein lautes: »Hüoh!« Ein schwerer Wagen rumpelte daher und der Fuhrmann im langen blauen Leinenkittel ging daneben her und rauchte seine kurze Pfeife dazu. Heini atmete tief auf. Jetzt war doch ein Mensch da, mit dem man sprechen konnte! Bescheidentlich ging er auf den Bauern zu: »Möchten Sie mir vielleicht sagen, wo der Weg nach Badenweiler geht? Ich — ich habe auf den Neuenfels gewollt und jetzt —« Heini konnte seine Tränen nicht mehr hinunterschlucken, sie stürzten jetzt wieder ganz unaufhaltsam hervor.
»Auf den Neuenfels? Du meine Güte, Büblein! Der[S. 136] liegt ja ganz da drüben!« Der Fuhrmann beschrieb einen großen Bogen mit seinem Peitschenstiel. »Und ganz allein bist du? Und kommst von Badenweiler? Am Ende durchgegangen, was?«
Heini konnte nur immer nicken, es drückte ihn doch noch sehr, daß er so weit weg war von daheim. Der Fuhrmann nahm den Heini aber jetzt ganz väterlich bei der Hand. Er hatte selber einen kleinen Buben daheim und Heini sah so zerknirscht aus, daß er ihm keine Strafrede halten konnte. »Da sitz auf, Kleiner,« sagte er. »Du wirst wohl müde sein. In fünf Minuten ist auf dieser Seite der Wald aus und dann sieht man Badenweiler liegen. Nur kommst du jetzt gerade von der andern Seite hinein, als du herausgegangen bist. Wenn du schnell gehst, langt's noch zum Mittagessen.«
Heini hätte lachen und weinen mögen auf einmal. Lachen, weil er richtig nach kurzer Frist die bekannte Schloßruine und alle die bekannten Häuser vor sich liegen sah und er gar kein großes Stück mehr zu gehen hatte, um heimzukommen. Und weinen, weil es schon nächstens Mittagszeit war und die Tante gewiß schon nach allen Richtungen hin nach ihm geschickt hatte und nun in großen Ängsten war.
Es war aber anders gegangen daheim, als der Heini befürchtete. Tante Julie hatte eine schlechte Nacht gehabt und war erst am frühen Morgen eingeschlafen. Als sie erwachte, war schon ein gutes Stück vom Vormittag vorbei. »Der Heini ist so still heute,« hatte sie zu Anna, dem Stubenmädchen, gesagt, das ihr den Kaffee brachte. »Ist er denn schon fort? Das ist mir ganz merkwürdig!«
Anna war ein wenig verlegen. Es war ihr streng anbefohlen, nichts von dem Fehlen des Buben zu sagen; Fräulein[S. 137] Jettchen hatte schon da und dorthin geschickt, wo man ihn vermutete, und wartete nun erst auf die Boten. So sagte Anna nur: »Ich denke, er wird auf dem Spielplatz sein,« und die Tante nickte müde. Eigentlich war sie froh, daß der kleine Plagegeist gerade heute so ruhig war. Sie hatte immer noch Kopfweh und konnte notwendig etwas Ruhe brauchen. »Es tut mir leid, aber es kann nichts aus der Blauenfahrt werden für heute,« dachte sie noch. »Ich bin doch froh, daß ich's ihm noch nicht gesagt habe.« Dann schloß sie die Augen wieder und ließ die Zeit ganz still an sich vorbeigehen. Auf einmal fuhr sie erschreckt auf.
Auf der Straße wurden allerlei Stimmen laut, die tiefe, starke von Fräulein Jettchen und dann die hohe von Fräulein Lina und noch die liebevolle von Fräulein Luischen. »Ach Gott, das Büblein? Aber Heini, was ist das mit dir? Halb tot ist man vor lauter Angst um dich!« So tönte es durcheinander. Den Heini hörte man gar nicht gleich. Endlich vernahm die Tante seine Stimme, aber sie tat so leise, man verstand kein Wort oben. Was konnte nur mit dem Jungen sein? Ehe sich die Tante aber recht besinnen konnte, flog die Tür auf und der Heini herein. »Ach Tantele, sei doch nur wieder gut, ich will ganz gewiß nicht mehr fortlaufen! Und auch nicht mehr so sein, so, du weißt schon wie! Und schreib's auch nicht heim, gelt?« Die Tante wußte sich fast nicht zu retten vor den stürmischen Umarmungen des stämmigen Heini. »So sag mir nur zuerst, was du hast und wo du gewesen bist?« sagte sie. Und der Heini mußte nun seine ganze Geschichte von Anfang an erzählen. Er stockte manchmal ein wenig, denn er mußte sich doch noch schämen, daß er so böse Gedanken gehabt und sie dann auch ausgeführt hatte. Die Tante half ihm aber ganz liebreich wieder zurecht. »So wirst du's ja jetzt selber wissen, was ich dir heute noch sagen wollte,«[S. 138] sagte sie. »Du hast jetzt selber gesehen, wie's einem geht, wenn man im Trotz erzwingen will, was man nicht soll. Dann läuft man sich ab und wird müde und macht einen weiten Umweg und kommt erst nicht dahin, wo man gerne hinwollte. Am Ende muß man dann noch recht froh sein, wenn man den Heimweg wieder findet.« Der Heini verstand das jetzt sehr gut. Er wollte sich die Lehre auch sein Leben lang merken.
Es kam dann später noch einmal ein wunderschöner Tag, an dem die Blauenfahrt richtig zur Ausführung kam.
Heini ritt stramm neben dem Wagen her auf seinem Esel, denn der kleine Kamerad, der miteingeladen war, saß lieber auf den weichen Polstern und begehrte nicht zu reiten.
Den Heini dünkte aber Reiten und durch die Wälder streifen das Allerschönste, und weil er es heute mit gutem Gewissen konnte, so war er auch so fröhlich, daß er laut hinausjodeln mußte. Und das Echo gab jeden Ton getreulich wieder.
Heini hätte fast wieder angefangen, den Hansjörg zu beneiden, der barfuß neben ihm herschritt. Der mußte ja nicht wieder nach Hause, in die Stadt und in die Schule, sondern konnte immer hier bleiben und alle Tage in den Wäldern umherschweifen.
Das sagte er auch zu ihm. Aber der Hansjörg schüttelte den Kopf. »Und ich gäbe gleich den Lips her und noch mein Schnitzmesser dazu, wenn ich's hätte wie du,« sagte er. »Immer genug zu essen und lernen dürfen, soviel man will, und deine Tante ist immer brav und schlägt dich nie!« »Nein,« gab Heini zu, »das tut sie nie, und meine Mama schlägt mich auch nie und der Papa nur selten, wenn es sein muß. Es muß aber natürlich fast nie sein. Ich bin ja nicht mehr so klein.«
[S. 139]
»Du hast's lang gut,« seufzte der Hansjörg. »Ich habe niemand als nur die Base und den Vetter. Ich kriege oft Schläge und — —«
In diesem Augenblick machte Lips einen gewaltigen Satz und das Gespräch wurde abgebrochen.
Dem Heini ging es aber noch lang durch den Kopf. Als er am Abend seine Freundin, Fräulein Jettchen, in der Küche besuchte, um ihr von dem schönen Tag zu berichten, konnte er fast kein Ende finden. »Es war einfach alles schön,« sagte Heini, »nicht einmal der Hansjörg möchte ich mehr sein, und keiner von den andern Buben, ich möchte am liebsten ich selbst sein, denn ich hab's doch am allerbesten!«
Fräulein Jettchen warf gerade Küchlein in heißes Schmalz und ließ sie goldbraun backen. So konnte sie jetzt nicht viel sagen. Sie nickte nur ganz zustimmend: »Das ist auch wahr.« Und es war auch so, denn der Heini hatte jetzt ein zufriedenes und dankbares Herz. Und besser als ein zufriedener und dankbarer Mensch kann's überhaupt niemand haben, er sei groß oder klein.
[S. 140]
»Großmutterle, denk dir nur, das Dorle kommt in die Hölle! Weißt du, das Dorle, das immer bei Wolfs im Stall ist und die Milch ausmißt!«
Agnes stellte ihren vollen Milchtopf sehr energisch auf den Tisch und atmete tief auf. Es war keine Kleinigkeit gewesen, diese wichtige Mitteilung bis ins Haus und noch zwei Treppen hoch zu tragen und dabei noch aufzupassen, daß man nichts verschüttete. Jetzt pflanzte sie sich mit blitzenden Augen vor der Großmutter auf.
»So, so,« sagte diese, »das ist aber sehr betrübt! Woher weiß man's denn so genau?«
»Wilhelm Schluchter hat's gesagt! Der geht schon in die große Schule. Sechs Junge hat Wolfs Katze gehabt, o so nette Tierlein, graue und schwarze und ein gelbes und dann noch ein schwarz und weißes. Das Dorle hat ihr aber alle genommen bis auf eines und hat sie in einen Sack mit Steinen getan und in den Neckar geworfen! Wilhelm Schluchter hat gesagt, es sei eine Sünde und eine Schande. Wenn man so etwas tut, kommt man in die Hölle, hat er gesagt. Und das geschieht ihr auch recht!«
Agnes hatte das alles hervorgesprudelt, ohne abzusetzen, denn die Sache lag ihr sehr am Herzen.
»Da bin ich nun gar nicht mit dem Wilhelm einig,« sagte die Großmutter bedächtig und strich dem aufgeregten Kind über das kurzgeschnittene braune Haar, das sich förmlich in die Höhe gestellt hatte vor Eifer.
[S. 141]
»Siehst du, wenn nun diese Kätzlein alle am Leben geblieben wären und wären alle groß geworden, so hätte sie dann das Dorle auch alle füttern müssen. Denk einmal, wieviel Milch man da an jedem Tag gebraucht hätte und wieviel Brot!«
»Und es gibt so viel arme Kinder, die froh sind, wenn sie sich satt essen können. Da gibt dann das Dorle lieber den Kindern der armen Meierin eine Milch oder ein Brot und da tut sie ganz recht daran. Kätzlein gibt es auch so noch genug auf der Welt!«
Agnes hatte dieser Erklärung aufmerksam gelauscht und auch ein paarmal einverstanden genickt.
»So will ich das dem Schluchter sagen,« schlug sie vor. »Er wird's nicht so recht gewußt haben. Er hat keine Großmutter, nur seine Mutter und die ist fast gar nie daheim.« Aber dann stieg noch ein neuer Gedanke in Agnes auf, den der letzte Satz der Großmutter erweckt hatte: »Es gibt noch Kätzlein genug auf der Welt.«
»Großmutter,« fing sie wieder an, »wir haben aber keins. Das schwarz und weiße lebt noch. Es ist das nettste von allen, es hat so ein herziges rotes Zünglein. O wenn ich das nur hätte! Großmutter, glaubst du, daß die Mutter erlaubt, daß ich mir das Kätzlein holen darf? Das Dorle gibt mir's sicher! Es hat gesagt, an der alten Katze sei es ganz genug im Haus.«
Die Großmutter zweifelte nicht, daß die Mutter die Aufnahme des Kätzleins gestatten werde, und sprach das auch aus. In diesem Augenblick rief die Mutter auch schon nach der kleinen Tochter, und diese folgte dem Ruf diesmal sehr schnell und sehr willig, denn sie wollte gerne auch gleich ihre Bitte vortragen. Man hörte schon auf der Treppe ihre erregte Stimme: »O Mutter, das muß ich dir ganz zuerst sagen — — —«
Die Großmutter blieb allein zurück. Sie strickte an einem braunen Kinderstrumpf. Wer sie oft gesehen hätte, der hätte[S. 142] am Ende denken können, sie brauche sehr lang, bis dieser Strumpf fertig sei. Es war aber allemal wieder ein neuer, denn es waren so viele Füße zu bedenken, daß die Großmutter niemals mit Stricken fertig werden konnte. Da waren schon große Enkelsöhne, die nur in den Ferien nach Hause kamen, dann trippelte es im Hause selbst den ganzen Tag von Buben und Mädchen. Sie gingen zum Teil schon in die Schule, zum Teil waren sie noch klein und mußten gehütet werden. Aber alle wußten gut den Weg zur Großmutter, die im zweiten Stock wohnte und die immer für die Großen und für die Kleinen zu sprechen war.
Agnes war nun nicht mehr so klein, daß man sie hüten mußte wie die beiden jüngsten Schwesterlein. Für die Schule war sie aber auch noch nicht groß genug, da sollte sie erst nächsten Frühling hinkommen. So konnte sie sehr oft die Treppe zur Großmutter hinaufsteigen, denn diese wußte fast immer etwas, mit dem sich das lebhafte Kind unterhalten konnte. Und der »Sturmwind«, wie Agnes von den Brüdern geheißen war, weil sie so schnell hin- und herfuhr, konnte hier oben wirklich manchmal eine ganze Weile stillsitzen und sich auf ruhige Art beschäftigen.
Jetzt nickte die Großmutter ganz befriedigt vor sich hin. »Das ist ganz gut für das Kind, wenn es das Kätzlein zu versorgen hat,« sagte sie zu sich selbst, »das gibt eine gute Übung.«
Daß es eine gute Übung gäbe, daran hatte nun Agnes allerdings nicht gedacht. Sir hatte ein Wohlgefallen an dem munteren, zierlichen Tierchen gefunden, und sie dachte sich nun, solang sie zum Bäcker und Kaufmann unterwegs war, mit großem Genuß aus, wie man mit dem Kätzlein spielen könne, es im Puppenwagen ausfahren, mit einem Halsbändchen schmücken und — ja, wie konnte man es nur heißen? Das gab sehr vielen Stoff zum Nachdenken!
[S. 143]
»Siehst du, Großmutter, da ist's! Ist es nicht herzig?« Agnes kam am andern Tag in aller Frühe mit strahlendem Gesicht an. Das Kätzchen, das sich noch ein wenig scheu und ängstlich zeigte, trug sie sachte im Schürzchen. »Man muß jetzt immer ›Mimi‹ zu ihm sagen, Großmutter. So heißt's jetzt, gelt, das ist ein schöner Name! Soll ich eine Taufe halten, was meinst du? Tätest du es bei dir in deinem Bett schlafen lassen, Großmutter, wenn du mich wärest?«
Die Großmutter hatte lächelnd all die vielen Fragen an sich vorbeischwirren lassen, jetzt sagte sie: »Das ist ein bißchen viel auf einmal gefragt, Kind! Eine Taufe hält man nicht bei Katzen. Ich habe einmal eine gehabt, die hieß Peter. Mimi ist aber auch schön. Ins Bett darfst du das Kätzlein aber nie nehmen, nicht einmal ins Schlafzimmer. Es könnte einmal dem Schwesterlein aufs Gesicht sitzen und es tot drücken. Aber ich weiß doch ein nettes Plätzchen. Sieh, da habe ich ein altes Körbchen, das darfst du halb mit Spreuer füllen auf der Bühne. Und dann legen wir noch ein kleines Deckchen aus der Puppenwiege hinein, das ist dann ein prächtiges Bett. Und dann stellen wir's in die Kammer, wo die Kleiderkästen stehen, da kann das Kätzlein —« »Großmutter, du mußt jetzt immer sagen: die Mimi«, fiel Agnes ein, — »da kann die Mimi nichts verderben,« vollendete die Großmutter gelassen ihren Satz. »Und siehst du, jetzt muß ich dir gleich noch etwas sagen,« fuhr sie fort, »du hast jetzt die Mimi ganz allein zu versorgen. Das ist noch ganz anders, als wenn man Puppen hat, die nie Hunger bekommen. Katzen sind etwas lebendiges und müssen ihr Futter haben. Und an das mußt du immer denken. Sieh, da habe ich ein ganz nettes Schüsselchen. Es hat nur keine Handhabe mehr, aber es sind Rosen darauf gemalt. Das soll der Mimi ihr Trögchen sein, und eh' du dich ans Essen setzt, mußt du immer denken, daß dein Pflegling auch etwas braucht. Und immer das Bettchen[S. 144] und das Schüsselchen sauber halten und« — »Ja, ja, das tu' ich ganz gewiß immer,« versicherte Agnes, »und ich tue sonst noch vieles mit der Mimi, ich hab' mir schon alles ausgedacht.«
Mimi hatte sich bald im Hause eingelebt und wuchs schnell heran. Bei Kätzlein dauert es nicht sehr lang, bis sie alles gelernt haben, was sie wissen müssen. Mimi konnte sehr hübsch mit einem Ball spielen und ihrem eigenen Schwanz nachjagen und wenn man sagte: Gib ein Pfötchen! so streckte sie ihr weiches Tätzchen aus und man konnte es dann in die Hand nehmen. Agnes war sehr beglückt von ihrem Pflegling und die Großmutter freute sich im stillen über das Kind, denn es vergaß nie, für Mimis Futter zu sorgen und hob auch sorgfältig übrige Fleisch- und Brotbröckchen dazu auf. Nur konnte sich Agnes oft recht schwer von dem interessanten Spiel mit dem Kätzchen trennen, wenn die Mutter rief oder die kleinen Schwestern gerne ein wenig unterhalten sein wollten.
Eines Morgens kam sie aber sehr erstaunt aus der Kammer, in der Mimis Bettchen stand: »Mimi ist nicht da und ihr Schüsselchen ist von gestern Abend her noch voll!« Und nun begann ein großes Suchen, Rufen und Locken durchs ganze Haus.
»Wenn du deine Katze suchst,« sagte Gottlieb, der Knecht, »die habe ich auf der Gartenmauer gesehen. Ich glaube, sie geht auf die Vögel, sie lauert, das sieht man ihr an!«
»O, o,« rief Agnes entrüstet, »meine Mimi braucht nicht auf Vögel zu lauern und das tut sie auch nicht! Ich habe ihr gestern Abend mein Wursträdchen gegeben und überhaupt, so ein liebes Kätzchen, wie sie ist! Es fällt ihr nicht ein, so etwas zu tun!« Es war aber doch so. Mimi ging auf die Jagd nach Vögeln, und alle Bitten ihrer kleinen Pflegerin konnten sie nicht davon abhalten. Wenn sie entwischen konnte, huschte sie auf die[S. 145] Mauer und horchte in den Nachbargarten hinüber, wo die Vögelein ganz fröhlich in den Zweigen sangen und an keine Gefahr dachten. Einmal hatte sie einen Blutfleck an dem schönen schwarz und weißen Pelz und der Vater sagte, als er zum Mittagessen kam: »Du mußt die Mimi gut hüten, Agnes. Der Nachbar hat gesagt, er wolle sie schon abhalten, seine Finken zu ermorden. Er wisse schon ein Mittel.«
Aber es half alles nichts. Eines Morgens saß Agnes im Gärtchen hinter dem Haus. Sie hatte zwei Freundinnen bei sich und einen großen Korb voll Feuerbohnen neben sich. Es war eine sehr nette Beschäftigung, die glänzenden, gesprenkelten Kerne, die die Mutter zu Samen fürs nächste Jahr aufheben wollte, aus den dürren Hülsen herauszuschälen und die Kinder waren ganz vergnügt dabei. Plötzlich knallte im Nachbargarten ein Schuß. Und als die kleinen Mädchen erschreckt aufsahen, konnten sie eben noch sehen, wie Mimi auf der Mauer einen hohen Sprung machte, und dann, sich überpurzelnd, herunterfiel, gerade in den Rosenbusch, der unter der Mauer stand. »Meine Mimi, mein Kätzlein!« schrie Agnes entsetzt und stürzte sich auf den Rosenbusch. Da war nun nichts mehr zu machen. Mimi hatte ihre Raublust mit dem Leben bezahlen müssen.
Agnes war in großem Jammer. Die Freundinnen waren nach Hause gegangen und hatten dort erzählt, daß »Mimi Schieber« gestorben sei, und daß man sie morgen im Hof begraben wolle. Und das Begräbnis war auch noch ein wichtiges Ereignis, auf das es sehr viel vorzubereiten gab. Aber dann war alles aus und Agnes saß schon eine ganze Weile still auf ihrem Schemelchen bei der Großmutter und seufzte zuweilen tief auf. Das ging der Großmutter zu Herzen. Sie hatte schon versucht, das Kind auf ihre liebreiche Art zu trösten; es wollte aber nicht recht gelingen. Jetzt fiel ihr ein guter Gedanke[S. 146] ein. »So, nun mußt du nicht immer an das tote Kätzlein denken,« sagte sie freundlich, aber entschieden. »Es gibt sonst noch genug zu schaffen auf der Welt, als nur die Mimi zu besorgen.« »Ich will keine neue Mimi,« sagte Agnes kläglich. »Des Wolfen Katze hat schon wieder Junge, ich könnte alle haben, aber ich will keins davon. Sonst werden sie auch groß und stehlen auch Vögel und werden auch erschossen!«
»Das meine ich auch gar nicht,« sagte die Großmutter und mußte ein wenig lachen. »Ich weiß etwas ganz anderes. Denk einmal, die Leute im Hinterhaus haben ein kleines Kindchen! Ein ganz kleines, in einem Tragkissen und mit winzigen Fäustchen und blauen Äuglein.« »Das man herumtragen muß und ihm die Milch geben und so?« Agnes sah ganz begierig auf.
»Ja,« bestätigte die Großmutter, »aber die Leute können gar nicht vergnügt sein darüber. Die Frau ist so krank, daß man noch gar nicht weiß, ob sie nur wieder gesund wird, und niemand ist da, der das Kindlein ein wenig wiegt, wenn es schreit, und ihm die Milch gibt, wenn es Hunger hat, und der ein wenig auf das größere Büblein achtgibt.« »Warum haben sie keine Magd?« wollte Agnes wissen. Sie fing schon an, über den Fall nachzudenken.
»Ja, siehst du, das ist gerade das Traurige,« sagte die Großmutter. »Die Leute haben kein Geld dazu. Der Mann kann selber nur ganz wenig verdienen, und jetzt muß man noch Arznei holen und den Herrn Doktor zahlen und die Milch für das kleine Kindlein.«
»So will ich das Kindlein zu uns herüberholen,« schlug Agnes vor. »Ich möchte schon lang gern ein Schwesterlein, ein ganz kleines, das noch nicht laufen kann und noch gar nichts als lachen und schreien.«
»Das geht nicht nur so, wie du meinst,« sagte die Großmutter. »Glaubst du, die Leute geben ihr liebes Kindlein her[S. 147] das ihnen der liebe Gott erst geschenkt hat? Und glaubst du, deine Mutter wolle noch so ein winziges Schwesterlein besorgen? Sie weiß selber kaum, wo anfangen mit euch allen! Nein, nein, so macht man das nicht! Aber siehst du, ich gehe nachher ein wenig hinüber, und da könntest du mich begleiten. Und ich will dir dann zeigen, wie du ein wenig helfen kannst, das Kleine zu versorgen und das größere Büblein zu hüten und noch allerlei!«
Agnes war sehr einverstanden. Sie zog die Großmutter noch am Kleid voran, als diese unterwegs ein wenig mit dem Vater sprach, der eben zur Haustüre hereinkam, so wichtig war es ihr, schnell ins Hinterhaus und zu dem kleinen Kindlein zu kommen.
Da war nun freilich für die Großmutter vieles zu tun. Der Mann war heute nicht in die Fabrik gegangen, weil er die Frau zu pflegen hatte. Er stand aber eben am Ofen, der mächtig rauchte, und hielt ein Pfännchen in der Hand, aus dem ein ganz angebrannter Geruch kam. »Gottlob!« sagte er, als er die Großmutter sah, »ich habe meiner Frau die Suppe aufwärmen wollen, die noch von gestern Abend da ist. Aber es hat sich alles am Pfännchen angehängt. So kann man die Suppe nicht mehr essen und ich weiß nicht, was ich anfangen soll.«
Er sah ganz sorgenvoll und bekümmert aus, Agnes mußte ihn mit rechtem Mitleid betrachten.
»Für heute habe ich nun schon eine Suppe besorgt, die für alle reicht,« sagte die Großmutter freundlich. »Und für morgen und die ganze nächste Zeit muß eben Rat geschafft werden. Jetzt wollen wir zuerst das Kleine besorgen, das wird nicht umsonst so schreien.«
Damit nahm sie auch schon das großgeblumte Tragkissen mit dem laut schreienden Kindlein aus der Wiege, packte dieses in saubere, trockene Windeln, wärmte ihm die Milch und zeigte[S. 148] dann Agnes, wie sie dem Kleinen das Fläschchen hinhalten solle. Diese war auch bald mit rechtem Eifer bei der Sache und vergaß für jetzt ganz den Kummer um die tote Mimi.
Das kleine dreijährige Büblein, das bisher trübselig in einer Ecke gesessen hatte, wackelte jetzt auch herbei und sah dem merkwürdigen Vergnügen zu.
»Gibst du mir dein Schwesterlein?« fragte Agnes, als das Kleine seine Milch getrunken hatte und sofort wieder die Augen schloß.
»Nein,« sagte Ernstchen entschieden und schüttelte den Kopf.
»Ich möcht's aber gern,« sagte Agnes, »ich gebe dir, was du willst, dafür.« Statt aller Antwort fing Ernstchen an, ganz jämmerlich zu weinen, daß die Großmutter nur schnell kommen und trösten mußte.
»Gehet ein bißchen miteinander hinaus, ihr zwei,« sagte die Großmutter dann. »Spiele du ein wenig mit dem Büblein, Agnes, man muß jetzt hier ein wenig Ruhe haben.«
Das war nur gar nicht nach Agnes' Geschmack. Sie hätte viel lieber das kleine Kindlein gewiegt oder gar ein wenig herumgetragen, und jetzt fiel ihr plötzlich Mimi wieder ein. Sie setzte sich auf die Treppe und seufzte.
[S. 149]
»Jetzt spiel mit mir!« begehrte Ernstchen.
»Ich mag nicht spielen, meine Mimi ist gestorben,« sagte Agnes und seufzte wieder.
»Wer ist das, deine Mimi?« fragte der Kleine.
»Das ist so ein nettes Kätzlein, wie du noch gar keins gesehen hast,« fing Agnes an, und ehe sie sich's versah, war sie mitten drin, dem mäuschenstill aufhorchenden Ernstchen alles zu erzählen, was man nur von der Mimi sagen konnte, und auch ihr trauriges Ende. Die Großmutter fand die beiden einträchtig auf der Treppe sitzend und sagte wohlgefällig: »So ist's recht, so gefällt mir's, Agnes, das kannst du noch öfter tun.«
Dann gingen die beiden wieder zusammen ins Vorderhaus.
»Großmutter, das möchte ich lieber nicht noch öfter tun,« fing Agnes an, als sie am nächsten Morgen ihren Besuch bei der Großmutter abstattete.
Diese wußte zwar nicht gleich, um was es sich handelte, aber sie wußte schon, daß es noch kommen werde, und so strickte sie ruhig weiter. »Großmutter,« sagte Agnes ein wenig dringlicher, »ich möchte viel lieber das ganz kleine Kindlein herumtragen und ihm seine Milch geben und zusehen, wenn man es badet, als mit dem Ernstchen spielen. Das ist ein bißchen langweilig!«
»So?« Die Großmutter sah das Kind freundlich an, dann sagte sie: »Wenn aber das ganz Kleine schlafen soll und die kranke Frau auch und der Ernstchen ist unruhig und stört sie alle beide? Gelt, dann willst du gern ganz vernünftig und lieb sein und aufpassen, daß der kleine Bub' ruhig ist, und ein wenig mit ihm spielen?«
Agnes zögerte ein wenig. »Ja, schon,« sagte sie, »aber das Kleine ist viel netter!«
[S. 150]
»Jetzt muß ich dir etwas sagen« — die Großmutter legte ihr Strickzeug einen Augenblick in den Schoß und hob das Gesichtchen, das im Augenblick ein wenig finster aussah, in die Höhe. »Weißt, liebes Kind, das müssen schon kleine Leute lernen, daß man nicht nur immer so tun kann, wie man möchte. Und das mußt du auch! Ich möchte gern, daß du mir ein bißchen hilfst, den armen Leuten da drüben zu helfen. Und ich will dir auch sagen wie?«
Agnes sah erwartungsvoll aus. Sie mochte immer sehr gern neue Pläne machen.
»Die kranke Frau hatte nichts Ordentliches zu essen,« fuhr die Großmutter fort, »und der Mann und Ernstchen auch nicht.«
»So will ich gleich zur Mutter sagen, daß sie hinüberschickt,« sagte Agnes schnell. Der Gedanke war ihr sofort gekommen, denn es durfte doch nicht sein, daß jemand nichts zu essen hatte.
»Nein, nein,« beschwichtigte die Großmutter. »So alle Tage kann die Mutter doch nicht für die ganze Familie kochen! Denk' einmal, wie große Schüsseln voll ihr selber brauchet! Da müßte man reicher sein, als wir sind, um noch eine Familie versorgen zu können, aber —«
»Ich weiß was,« fiel das Kind wieder eifrig ein, »das Dorle soll wieder seine Kätzlein ins Wasser werfen und alle Milch und alles Brot dafür hergeben!«
»Jetzt mußt du mich einmal sagen lassen, was ich für einen Plan habe, und mich nicht immer unterbrechen,« sagte die Großmutter. »Sieh, weil es soviel arme Leute gibt, denen man helfen möchte, haben sich wohlhabende Frauen zusammengetan, die wechseln dann miteinander ab im Kochen. So kann man dann am Montag bei der einen das Essen holen, am Dienstag bei der andern und so fort bis zum Sonntag. Und am Montag fängt man wieder vornen an.«
[S. 151]
Das konnte Agnes sehr gut verstehen und es gefiel ihr auch wohl. Aber es kam noch etwas nach.
»So habe ich denn unsere armen Leute auch dazu angemeldet,« fuhr die Großmutter fort. »Die Mutter macht den Anfang und dann habe ich noch sechs andere Frauen aufgeschrieben. Es ist aber niemand, der das Essen holen könnte, denn der Mann muß in die Fabrik und das Ernstchen ist noch zu klein.«
Agnes merkte allmählich, was kommen sollte, und rückte unruhig auf ihrem niedrigen Stühlchen hin und her.
»Und da möchte ich nun, daß mein großes Mädele den armen Leuten ein wenig helfen soll. Was meinst du, wenn du alle Tage um zwölf Uhr den netten emaillierten Einsatz nähmest und das Essen holtest? Und dann würde der kranken Frau das gute Essen so schmecken, daß sie vielleicht bald wieder aufstehen könnte. Und der Mann könnte sich freuen, wenn er heimkäme und wüßte, daß etwas da ist für seinen großen Hunger. Was meinst du?«
»O Großmutterle, das kann ich doch nicht! Das kann ich gewiß nicht!« Agnes war ganz erregt aufgestanden und sah sehr kläglich aus. »Ich geniere mich so und vielleicht verschütte ich fast alles, weil du immer sagst, daß ich so schnell laufe. Und ich muß auch den Tisch decken!«
»Dann kann eben die arme Frau ihr Essen nicht haben, und die guten Frauen kochen alles umsonst,« sagte die Großmutter ruhig. »Du mußt aber nicht, wenn du nicht kannst, ich habe nur geglaubt, du wollest mir helfen.«
Agnes zupfte unruhig an den Fransen der Tischdecke. »Ich muß jetzt schnell auf die Gasse, die Mutter hat's gesagt. Ich soll nur vorher ›Guten Morgen‹ sagen,« brachte sie dann heraus.
»Ja, dann mußt du freilich gehen,« gab die Großmutter in unveränderter Freundlichkeit zu. »Sei nur recht vergnügt und lieb und erzähle mir nachher auch etwas Nettes.«
[S. 152]
Agnes ging. Sie war aber nicht so lustig wie sonst. Zuerst besuchte sie Mimis Grab. Die hineingesteckten Blumen hingen welk die Köpfe, und das schöngeschriebene Kärtchen mit der Aufschrift: »Hier ruht Mimi,« war vom Regen, der in der Nacht gefallen war, durchweicht.
Es waren schon allerlei vergnügte Kinder auf dem großen Spielplatz in der Nähe des Hauses, wohin sich Agnes nun begab. Ein paar kleine Mädchen kamen ihr sogleich entgegen. »Komm, wir wollen Seil springen; wenn du willst, darfst du anfangen.« »Es ist mir gleich,« sagte Agnes in so freudlosem Ton, daß man gut merkte, daß sie etwas drücke.
»Ist's wegen deiner Mimi?« fragte ihre allerbeste Freundin Lydia teilnehmend. »Nein,« sagte Agnes, »wegen gar nichts.«
Sie konnte nicht gut sagen, was ihr fehlte. Jetzt fing eine Glocke an zu läuten. »Ist das zwölf Uhr?« fragte Agnes erschrocken. »Behüte, erst elf Uhr,« sagte Lydia, »und überhaupt, dir ruft man ja immer, wenn du kommen sollst.«
»Elf Uhr,« dachte Agnes. »Da kann ich mich schon noch ein Weilchen besinnen. Und das Essenholen ist das Allerärgste, was es gibt, ich möchte lieber weiß nicht was tun!«
Es gibt viele Leute, auch manchmal große, die lieber — weiß nicht was — täten, als was sie jetzt gerade tun sollen. Das ging Agnes nicht allein so.
Und sie konnte auch keinen Augenblick mehr so recht vergnügt spielen. Sie mußte immer den leeren Tisch vor sich sehen, den der Mann beim Heimkommen finden würde, und dann dachte sie an das gute Essen, das nun umsonst auf dem Herd stand und das der kranken Frau nichts helfen konnte.
Und plötzlich konnte sie es nicht mehr aushalten. Mit einem großen Satz sprang sie aus dem Seil, in dem noch mehr Mädchen im Takte hüpften, und lief schnell davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
[S. 153]
»Wohin? Warum gehst du?« rief es ihr von allen Seiten nach, aber Agnes hörte schon nicht mehr viel. Sie wollte sich jetzt nicht über die Sache besinnen.
»Großmutter,« rief sie schon auf der Treppe, »wo ist der Einsatz? Es ist gewiß gleich zwölf Uhr, ich muß schnell gehen.«
Die Großmutter sah das Kind mit strahlendem Gesicht an; sie hatte schon gewußt, daß es noch so weit kommen werde.
»Ja, so geh,« sagte sie nur. »Heute ist die Frau Rektor Pfaff dran, die kennst du gut! Sag ihr einen recht schönen Gruß, und komm, du kannst ihr auch ein paar Äpfel mitnehmen. Das sei ein Muster von den diesjährigen Fleinern.«
Agnes zog ab. Zu Frau Rektor Pfaff wollte sie gern gehen, das war eine ganz gute Freundin der Großmutter und ebenso liebreich und freundlich wie diese.
Sie kam strahlend zurück. »Gut ist's gegangen,« sagte sie schon unten zur Mutter und dann oben noch einmal zur Großmutter. »Das sei aber recht, daß ich selber komme, hat die Frau Rektor gesagt. Und ob ich schon in die große Schule gehe, hat sie gefragt. Vielleicht hat sie gedacht, daß ich gut hinein könnte, wenn ich schon den großen Einsatz tragen kann.«
Noch viel größer war der Jubel, als Agnes aus dem Hinterhaus wiederkam, wo der reichliche Inhalt der Schüsseln so dankbar aufgenommen worden war, daß es ihr nun erst recht leicht wurde. Es war zwar immer noch ein wenig schmerzlich, daß keine Veranlassung mehr vorlag, das Rosenschüsselchen mit Suppe zu füllen, aber Agnes hatte nun wieder so viel anderes zu denken, daß die Trauer um Mimi doch ziemlich in den Hintergrund trat.
Der Vater wußte auch von der Unternehmung mit dem Einsatz und sagte zufrieden: »Man kann dich scheint's doch schon zu etwas brauchen, das ist recht.« Ein väterliches Lob war selten, das tat Agnes in allen Tiefen wohl.
[S. 154]
Die erste Woche war glücklich vorbei. Es war je länger, je besser gegangen. »Es war nur, bis ich mich nicht mehr geniert habe,« gab Agnes selber zu. Im Hinterhaus waltete jetzt einige Stunden am Tage eine freundliche Diakonissin, Schwester Margarete. »Ich könnte ja gar nicht fertig werden ohne mein kleines Mägdelein,« sagte diese oft. Damit meinte sie Agnes, die es schon lang nicht mehr langweilig fand, mit Ernstchen zu spielen. »Er ist so drollig, du glaubst nicht, wie,« versicherte sie der Großmutter eines Tages.
»So, aber das freut mich,« sagte die Großmutter, »so war es zuerst nicht, gelt?«
»Nein,« sagte Agnes nachdenklich, »gar nicht. Am Anfang hat er mich gar nicht gern gehabt und jetzt läßt er mich fast nicht mehr von sich weg.« Die Großmutter konnte sich wohl denken, wodurch sich der kleine Bube so verändert habe. Sie sagte aber nichts, denn Agnes dachte gar nicht daran, daß sie selber jetzt so nett und heiter mit Ernstchen verkehrte, wie sie vorher nie getan hatte.
Das gute Essen und die sorgfältige Pflege hatten bei der kranken Frau sehr gut angeschlagen. Sie konnte wieder aufstehen und als Agnes eines Morgens hinüberkam, saß sie unter der Haustüre im warmen Herbstsonnenschein und hatte das kleine Kindlein auf dem Schoß.
»O, darf es jetzt spazieren getragen werden?« rief Agnes fröhlich. »Darf es auf die Gasse, daß es alle anderen Kinder auch sehen?« Sie bewunderte das kleine Kindlein immer noch so sehr wie im Anfang oder noch mehr, und sie hätte den Anblick auch andern gegönnt.
Die Frau lächelte vergnügt und sagte: »Komm, setz dich ein bißchen her zu mir, Kind, ich muß dir etwas sagen!«
Agnes wollte aber nicht sitzen, sie stellte sich erwartungsvoll vor der Frau auf und diese begann: »Es ist jetzt schon vier[S. 155] Wochen alt, das Kleine. Und es gedeiht, siehst du, wie dick und rund seine Bäckchen sind? Aber es ist ja noch nicht getauft. Das muß jetzt sein, man hat's nur immer hinausgeschoben, weil ich so krank war. Und jetzt soll am Sonntag die Taufe sein, das habe ich dir sagen wollen.« Agnes nahm diese Nachricht sehr wichtig auf, aber die Frau fuhr noch fort:
»Ich habe gedacht, du könntest, wenn du gerne wolltest, das Kindlein in die Kirche tragen. Schwester Margarete geht dann mit dir und nimmt es gleich, wenn dir's zu schwer wird.«
»O, das wird mir nicht zu schwer,« rief Agnes in lautem Jubel. »So ein kleines Dinglein ist nicht schwer. Der Einsatz ist auch nicht so leicht,« setzte sie mit bescheidenem Stolz hinzu.
»Ja, ich weiß,« sagte die Frau. »Den brauchst du jetzt aber auch nur noch diese Woche zu holen. Dann kann ich wieder selber kochen. Gott Lob und Dank für alles! Und dir danke ich auch für alles!«
Agnes wurde rot; es brachte sie in Verlegenheit, daß die Frau so sagte, so kürzte sie das Gespräch ab und hüpfte weiter. Die Freundinnen mußten es ja auch gleich wissen, daß sie das Kindlein tragen dürfe. Und dann war es noch der Mutter zu erzählen und der Großmutter und dann noch den Geschwistern und Mina, der Magd, und Gottlieb, dem Knecht. Dem Vater konnte man es erst am Mittagessen sagen, er war nicht früher zu Hause.
Diese Mitteilung war am Mittwoch gemacht worden und Agnes konnte den Sonntag kaum erwarten.
An Mimi zu denken, war gar keine Zeit mehr. Sie konnte sogar ohne Schmerz die netten, übereinander purzelnden Kätzlein ansehen, die das Dorle noch immer am Leben ließ, vielleicht in der Hoffnung, daß jemand das eine oder das andere aufziehen wolle. Denn das Dorle war eine große[S. 156] Tierfreundin und Wilhelm Schluchter hatte ihr damals sehr Unrecht getan. Am Samstag traf Agnes diesen, der ein großer, kräftiger Bube war, im Stall, als sie die Milch holte.
Er hatte eben zwei Kätzlein auf dem Arm. »Wohin damit?« wollte Agnes wissen. »Das Dorle hat sie mir geschenkt,« sagte er.
»Ich verhandle sie in der Schule um Äpfel.« »Au, du drückst sie ja ganz zusammen,« rief Agnes. »Du plagst die Tierchen. Und in der Schule plagen sie die Buben gewiß auch.«
»Das geht dich nichts an,« sagte der große Bube. »Umbringen tue ich keins!« Damit rannte er davon. Agnes gelüstete es stark, die andern Kätzlein mit nach Hause zu nehmen, denn sie wollte gern ein jedes beschützen, daß es nicht in die Hände der Buben falle.
»Aber ich kann gewiß keins brauchen,« dachte sie und trat mit ihrem Milchtopf den Heimweg an. Sie hatte noch so viel zu tun, daß sie nicht wußte, wo anfangen, und die Mutter hatte schon oft gesagt, daß man nicht so vielerlei auf einmal beginnen solle.
Der Sonntag kam und auch die Zeit des Kirchgangs. Agnes schritt stolz und glücklich mit ihrer Last zur Kirche. Ein bißchen schwer wurde ihr das Kindlein doch nach und nach, aber sie hielt wacker aus. Erst in der Kirche nahm es Schwester Margarete auf den Arm. Sie war die Patin und das Kindlein bekam auch ihren Namen, und seine Mutter sagte: »Wenn es nur so geschickt und fromm und fröhlich wird wie seine Patin, dann kann man zufrieden sein!«
»O Großmutter,« sagte Agnes am Abend, als sie miteinander von dem Festkaffee, den die Großmutter gespendet hatte, nach Haus gingen, »o Großmutter, manchmal denke ich, daß es immer netter wird! Zuerst habe ich immer nur die Puppen gehabt, dann die Mimi, das war auch sehr nett! Und[S. 157] jetzt habe ich das kleine Margretle! Seine Mutter sagt, es gehöre mir auch mit! Und man kann noch gar nicht wissen, was dann noch kommt!«
»Das ist wahr,« sagte die Großmutter. »Es kommt gewiß noch viel Schönes.« Und Agnes legte sich glücklich und froh zur Ruhe und dachte noch im Einschlafen daran, daß gewiß noch viel Schönes komme. Und es kam auch eins nach dem andern. Man sah nicht immer gleich, daß es schön war, man mußte oft etwas hergeben, aber dann gab der liebe Gott etwas zum Ersatz dafür und das war allemal schöner als das vorige.
[S. 158]
Im Pfarrgarten zu Teufenrot wurde eine wichtige Beratung gehalten. Auf einem niedrigen Mäuerchen saß das Pfarriele und hatte einen Strickstrumpf in der Hand, ohne zu stricken.
Das Pfarriele hieß eigentlich Maria, aber da man im Haus Mariele zu ihm sagte, so hatten die Leute im Dorf auch angefangen so zu sagen und da es zu umständlich war, jedesmal »des Herrn Pfarrers Mariele« zu sagen, und man doch wissen mußte, von welchem Mariele man sprach, so hatte man alles in ein Wort zusammengezogen und Marie hieß im ganzen Dorf »Pfarriele.« Also das Pfarriele strickte nicht, sondern unterhielt sich sehr eifrig mit ihrem Bruder Rudolf, der den ganzen Inhalt seiner Taschen, Schnüre, Kürbiskerne, einen blauen Glasscherben und dergleichen wertvolle Dinge, auf dem Mäuerchen ausgebreitet hatte. »Ich brauche fast alles,« sagte Rudolf jetzt ernsthaft, »ich muß alles, bis auf die alten Brotrinden, in meine Sonntagshosen stecken. Man kann nie wissen, was man unterwegs braucht.« »Aber man kriegt vielleicht auch etwas geschenkt,« sagte Pfarriele. »Und dann hast du gar keinen Platz in den Taschen.« Das war nun auch wieder wahr und das Ende vom Lied war, daß Rudolf die Kürbiskerne in die Obhut seiner Schwester gab. »Den Scherben brauche ich aber nötig, ich will in der Eisenbahn immer durch das blaue Glas sehen, es ist so schön, wenn alles blau aussieht, die Bäume und die Häuser und alles,« meinte er und dawider konnte Pfarriele nichts sagen. Die Pfarrerskinder[S. 159] hatten, seit sie lebten, die Welt immer grün gesehen, das kam ihnen nun nicht mehr so besonders prächtig vor. Teufenrot liegt ganz tief im Schwarzwald versteckt. Gleich am Ende des Dorfes fängt der Wald an, hoher, dichter, prächtiger Tannenwald. Es ist nicht aufzuzählen, wieviel Schönes und Lustiges der Wald bot. Erdbeeren und Heidelbeeren konnte man in Menge finden und später auch Himbeeren und Brombeeren. Und Stechpalmenzweige mit roten Beeren daran konnte man ins Haus holen und im Winter alle Stuben damit schmücken, so daß es immer festlich aussah. Wie gesagt, man kann lang nicht alles aufzählen. Aber die Kinder waren doch mit ihren Gedanken viel in der Welt draußen und stellten sich das Land, das gleich hinter dem Schwarzwald anfange, ganz wunderschön vor.
Daran war zum großen Teil die Babett schuldig, die einst zwanzig Jahre lang bei der Tante Oberkonsistorialrätin in Stuttgart gedient hatte. Jetzt war sie, seit Mariele auf der Welt war, im Pfarrhaus in Teufenrot und versorgte Küche und Garten und half der Frau Pfarrer bei den Kindern und im Haus, als ob sie ihr Leben lang Pfarrmagd gewesen wäre. Aber das hielt sie nicht ab, den aufhorchenden Kindern immer[S. 160] wieder aufs neue vorzuerzählen, wie so gar schön und prächtig es sei in Stuttgart. Vom Königsschloß und den Springbrunnen und Blumenbeeten auf dem Schloßplatz, von den Anlagen und dem Schwanenteich, vom Tiergarten ganz besonders, und dann noch von den Soldaten in blitzenden Uniformen und von der Musik der Wachtparade, von dem allem wußte die Babette immer wieder neues zu sagen. Da war es denn kein Wunder, daß Rudolf und Mariele kein höheres Verlangen mehr kannten, als einmal diese Herrlichkeit mit Augen zu sehen. Das sollte nun morgen dem Rudolf widerfahren. Mariele war älter, sie war schon sieben Jahre alt und Rudolf erst sechs, und es war der Schwester zuerst etwas bedenklich gewesen, daß sie nicht zuerst verreisen dürfe. Aber der Papa mußte mit Rudolf zum Arzt, denn dieser hatte ein schlimmes Ohr. »Ein Trommelfell hab ich drin,« hatte Rudolf den Bauernbuben erzählt, und diese hatten es zu Hause weitergesagt und im ganzen Dorf war großes Bedauern, daß das Pfarrersbüblein so etwas ungutes in sich drin habe. Denn sie verstanden die Sache nicht so recht. Da aber das Trommelfell nicht weh tat und sonst sehr viel Verlockendes mit der Reise zusammenhing, so konnte sich Rudolf ungestört auf dieselbe freuen. Und Mariele, das die Mutter ermahnte, es solle froh und dankbar sein, daß es ganz gesund sei, freute sich mit und hatte mit Rudolf eine ganze Menge zu bereden, lauter Dinge, die das große Ereignis betrafen.
Jetzt kam Eduard, das kleine Brüderlein, von der Mama ausgesandt. »Ihr sollet jetzt auch zum Nachtessen kommen,« berichtete er. »Man ißt heute bald, weil du morgen früh aufstehen mußt, Rudolf, wann es noch Nacht ist.« Das war auch wieder etwas Neues! Zunachtessen, wann noch ganz heller Tag ist! Um sechs Uhr, statt um sieben!
»Mama, ich täte lieber gar nicht ins Bett gehen,« meinte[S. 161] Rudolf zwar. »Bis ich mich ganz richte, ist die Nacht bald herum. Man könnte sonst am Ende verschlafen.«
Aber davon wollte die Mama nichts wissen. »Mein Bub schläft jetzt gleich ein und schläft die ganze Nacht,« sagte sie. »Und am Morgen weckt ihn der Papa und fertig ist man schnell.« Dabei blieb's. Und Rudolf lag auch wirklich bald in tiefem, gesundem Schlaf.
Es war fast noch ganz dunkel, als am andern Morgen der Vater seinen Sohn auf das Wägelein hob, das die Reisenden nach der Station führen sollte.
Am Himmel stand noch die blasse Mondsichel und es wehte ein kühler Wind. Und in Rudolf stieg ein wonnevolles Gruseln auf; was konnte man alles erleben an diesem Tag!
»Behüt euch Gott miteinander,« rief die Mama nochmals zum Fenster hinaus. »Und kommet mir gesund wieder!«
Dann zog des Lindenwirts »Bläß«, der vor das Wägelein gespannt war, an, und fort ging's in die weite Welt.
So lang der Weg durch den Wald ging, immer zwischen hohen Tannen bergab, war er dem Rudolf nicht so besonders interessant; diese Gegend kannte er wohl. Und der Papa mußte unzählige Fragen beantworten über alles, was wahrscheinlich geschehen werde und was nicht. Aber als man ins Tal kam, wo nun die Sonne hell und freundlich schien, an einer Sägmühle vorbei mit hohen Bretterstößen davor und einem rauschenden Bächlein, das die Säge trieb, als der Weg durch einen kleinen Luftkurort führte, mit zierlichen Villen und lustwandelnden Menschen, da verstummten für einmal alle Fragen. Rudolf hatte nur immer nach rechts und links zu sehen, um alles im Vorüberfahren zu erfassen. Und da tauchte auch schon das rote Stationsgebäude auf und im Sonnenschein[S. 162] glänzten die Schienen und durch die frische Morgenluft drang ein langer Pfiff der Lokomotive.
Das war nun erst der richtige Hochgenuß, im Eisenbahnwagen zu sitzen und durchs Land zu sausen.
»Papa, die Bäume fahren auch mit, sieh nur und das Bahnwärterhäuschen,« rief Rudolf zuerst und mußte sich nun erst belehren lassen, daß nur er sich fortbewege und alles andere, was er sehe, stillstehe. Es gab jetzt immerfort viel Wichtiges zu sehen. Zuerst noch hohe Berge voll dunkler Tannen und verstreute Häuser mit tief heruntergehenden Schindeldächern, dann kamen breite Kornfelder und grüne Wiesen, Wäldchen von Obstbäumen und dann brauste der Zug über eine breite eiserne Brücke, unter der rauschend der Neckar floß. Rudolf kam keinen Augenblick vom Fenster weg. Es war alles so interessant, die vielen Dörfer und kleinen Städte, an denen man vorbeisauste, ohne anzuhalten, die farbenreichen Gärtchen der Bahnwärterhäuschen, die Neckarfähre, die einen Wagen samt den Pferden übersetzte. Es regte sich dann auch der Hunger, und die Vorräte, die Rudolf in der grünen Botanisierbüchse trug, mußten hervorgeholt werden. »O Papa, was würde der Wagnerhansjörg sagen und der Philipp, wenn sie das alles sehen könnten! Die wissen gewiß gar nicht, daß es so viel Sach gibt.« Dazu mußte Rudolf tief aufseufzen. Er konnte es doch nicht gut erwarten, bis er wieder nach Hause kam und allen Menschen erzählen konnte, wie es aussehe »auf der Welt draußen«.
»Ich möchte nur immerfort Eisenbahn fahren und sonst nichts, Papa.« »Ich werde vielleicht dann, wenn ich groß bin, Kondukteur.« Der Papa mußte ein wenig lachen, denn er wußte schon, daß diese Berufswahl heut am Tag wohl noch ein paarmal würde umgestoßen werden; es stand ja noch viel Neues bevor.
Jetzt holte der Sohn seinen blauen Glasscherben heraus.[S. 163] Man fuhr gerade an schönen hellgrünen Weinbergen vorbei und darüber hingen am Himmel lichte weiße Wolken. Die mußten sich schön machen in der blauen Beleuchtung.
»O, o sieh nur wie schön! Alles ist blau, Papa, alles,« rief er entzückt. Aber in lauter Hast, dem Papa diesen merkwürdigen Genuß auch zu verschaffen, machte Rudolf eine ungeschickte Bewegung und draußen lag der wertvolle Scherben und kollerte über den Bahndamm hinunter.
»Schadet nichts, mein Sohn,« tröstete der Papa. »Siehst du, deswegen hat der liebe Gott die Weinberge grün gemacht und die Sonne golden und die Wolken weiß, daß wir uns an den schönen Farben erfreuen sollen. Es wäre ja sehr langweilig, wenn alles ganz gleich aussähe, das mußt du dir nicht wünschen.« Rudolf hatte sich auch gleich wieder beruhigt, denn nun hielt der Zug in einem großen Bahnhof und so viele Leute wimmelten da umher, wie er noch gar nie auf einem Fleck beisammen gesehen hatte. »Ist das jetzt Stuttgart, Papa? Müssen wir jetzt aussteigen?« fragte er dringlich. Er hatte das schon fast an jeder Station gefragt. »Nein,« sagte der Papa, »aber wenn's wieder hält, dann. Mach dich nur bereit.«
Rudolf setzte seinen Strohhut auf und faßte die Botanisierbüchse mit beiden Händen, damit sie ihm nicht etwa abhanden komme. Sonst war nichts zu rüsten, denn Gepäckstücke waren für den einen Tag nicht mitgenommen worden. Jetzt tat die Lokomotive einen langen Pfiff, Rudolf meinte, sie habe »Juhuu« gerufen und er hätte es ihr gern nachgetan. Denn nun tauchten so endlos viele Häuser auf, der Zug fuhr langsamer, jetzt in eine hohe, glasbedeckte Halle ein, dann hielt er. Man war in Stuttgart.
Ein wenig betäubt und verwirrt war das Schwarzwaldbüblein doch, als es an des Vaters Hand durch das Gewühl der aussteigenden. und abholenden Menschen schritt. Es mochte[S. 164] jetzt nicht rechts und nicht links sehen, es konnte nur sein kleines Händchen ganz fest in die beschützende Hand des Vaters stecken. So hohe Häuser, eins am andern! Und immer kamen noch neue! Und dazwischen auf den Straßen, wo kamen nur all die vielen Leute her? Sie sahen alle aus, als ob sie in den Sonntagskleidern wären! Und die Menge Kutschen und Wagen! Es war wirklich kein Wunder, daß Rudolf sich in eine ganz neue Welt versetzt glaubte, in der er noch gar nicht zu Hause war.
Es war Zeit zur Sprechstunde, so suchten die beiden zuerst den Arzt auf, der in einer freundlichen, etwas stilleren Straße wohnte. »Tut er mir nichts, Papa? Bleibst du dabei, daß er mir nichts tun kann?« fragte Rudolf ein wenig ängstlich, als er im Wartezimmer saß, das durch dunkelgrüne Vorhänge und grün bezogene Möbel einen etwas feierlichen Anstrich bekam. Der Vater versicherte alles Gute und die Angst verging auch von selbst, als der Herr Doktor dem Büblein freundlich die Hand gab. Er sah ganz und gar nicht aus, als ob etwas von ihm zu befürchten sei, und Rudolf war bald wieder so zutraulich und fröhlich, wie sonst.
Als die Untersuchung des kranken Ohres vorbei war, wollte der Vater noch ein wenig allein mit dem Herrn Doktor reden. Das Sprechzimmer hatte eine Türe, die in den Garten führte. »Komm, Kleiner, du kannst so lang da hinaus,« sagte der Herr Doktor freundlich, denn er hatte schon gemerkt, daß Rudolf ein großes Verlangen hatte, so viel als möglich von all dem Neuen zu sehen, das auf der Straße vor sich ging. »Du kannst durch das Gitter auf die Straße sehen! Paß auf, was da alles zu sehen ist!«
Rudolf wollte das gern und die Herren unterredeten sich eine Zeitlang miteinander, denn der Vater hatte auch sonst noch allerlei Anliegen und der Herr Doktor war ein alter[S. 165] Freund von ihm. Rudolf hatte sich gehorsam an das Eisengitter gestellt und drückte nun seinen Kopf fest an die Stäbe, um ja nichts zu versäumen, das etwa draußen vor sich gehen konnte. Da kam etwas die Straße entlang gesaust, das ihn in höchstes Erstaunen versetzte. Es war ein Wagen mit einer langen Fensterreihe, fast wie ein Postwagen anzusehen, nur größer. Und es waren keine Pferde dran! Er lief auf Schienen, es konnte am Ende auch ein Eisenbahnwagen sein, aber dann fehlte die Lokomotive! Das versetzte Rudolf in einige Aufregung. »O, ein Wagen ohne Pferd und alles und kann selber laufen,« rief er unwillkürlich laut aus und dann fiel es ihm erst ein, daß ihn der Vater jetzt nicht hören konnte. Der Wagen hielt an der nächsten Ecke. Es stiegen Leute aus und andere ein und Rudolf ergriff ein mächtiges Verlangen, das Wunderbare nur auch einen Augenblick in der Nähe zu sehen.
Den Garten zu verlassen, war ihm nicht verboten worden, es hatte keiner der beiden Herren an diese Möglichkeit gedacht.
»Nur ganz geschwind dorthin laufen und den Wagen ansehen,« dachte Rudolf und klinkte das Türchen auf. Aber als er an die Ecke kam, fuhr der Wagen ab und ein anderer, der auch dagestanden war, schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Das war so schade und Rudolf machte ein ganz enttäuschtes Gesicht. »Hast du etwa mitfahren wollen?« fragte ein etwas größerer Knabe, der mit dem Schulranzen auf dem Rücken des Wegs daher kam, den Kleinen. Denn es kam ihm so vor, weil er so einen betrübten Blick hinter dem Wagen hersandte. Rudolf schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er, »ich habe ihn nur ansehen wollen, weil er selber laufen kann ohne Pferde.« »Das ist ja ein elektrischer Wagen,« belehrte der Stuttgarter das Landkind. »Das weiß mein kleiner Bruder schon, der ist erst drei!« Rudolf wußte gar nicht, was ein elektrischer Wagen sei, aber er mochte nicht mehr fragen, weil es der dreijährige[S. 166] Bruder schon wußte. So wollte er denn wieder umkehren, denn der Papa konnte nun am Ende beim Herrn Doktor fertig sein. Er sah sich prüfend um, hier mündeten so viele Straßen, welche war nun die richtige?
»Wo mußt du denn hin?« fragte der neue Kamerad. »Wieder zum Herrn Doktor, mein Papa ist dort,« sagte Rudolf und sah sich immer ängstlicher um. »O das weiß ich gut, der wohnt ganz gerade aus,« sagte der Stuttgarter zuversichtlich. »Es ist ein Haus in einem Garten, gelt?« Rudolf nickte. »Ja und eine goldene Kugel zum Herausziehen an der Haustüre.« »Das ist die Glocke, du weißt auch noch nicht viel,« lachte der Schüler. »Jetzt geh nur ganz geradeaus, siehst du, das ist das Haus, das ein wenig vorsteht. Den Garten sieht man erst von der andern Seite, nicht von hier aus.« Es kam Rudolf nicht ganz so vor, aber der große Junge mußte es ja wissen, so ging er denn auf das bezeichnete Haus los.
Der Wegweiser hatte es aber nicht recht gewußt. Er hatte nicht daran gedacht, daß es viele Doktoren gibt in der großen Stadt, und der Arzt, der hier wohnte, war ein anderer als der, bei dem Rudolf vorher gewesen war. Ratlos sah sich das Büblein um, denn es wußte nun gar nicht mehr, wo es hergekommen war. So viele fremde Leute gingen vorüber, keiner achtete darauf, daß der kleine Fremdling angefangen hatte. bitterlich zu weinen.
Plötzlich kam ein Soldat auf Rudolf zu. Er hatte einen Helm auf und glänzende Knöpfe an seinem Rock und sein Gesicht glänzte auch, aber vor Freude. »Grüß Gott, Rudölfle,« sagte er, »ja wie kommst denn du daher? Und weinst so?« Es war Stiftungspflegers Gottlieb von Teufenrot, ein ganz guter Freund der Pfarrerskinder, der hier beim Regiment stand.
Rudolf lachte durch seine Tränen hindurch. Denn der Gottlieb kam ihm vor wie ein Engel, er faßte seine Hand ganz[S. 167] fest. »Ich bin mit dem Papa gekommen, er ist noch im Zimmer beim Herrn Doktor und ich habe den Wagen sehen wollen, der von selber laufen kann. Und jetzt weiß ich nicht mehr, wo er wohnt, zeig mir's jetzt!«
Das war nun nicht ganz so leicht für den Gottlieb, und wenn nicht der Herr Pfarrer soeben eilig und atemlos an der Straßenkreuzung erschienen wäre, um nach allen Seiten hin zu spähen, so wäre es mit dem Wiedersehen am Ende nicht so schnell gegangen.
Der Vater konnte nicht viel sagen, als: »Gott Lob und Dank!«
Denn er konnte den Rudolf im Augenblick nicht zanken, daß er aus dem Garten gegangen war. Landkinder wissen nicht so recht, wie leicht man in einer großen Stadt weit, weit auseinander kommen kann, und diese Belehrung bekam Rudolf erst, als er mit dem Papa und Gottlieb zusammen beim Mittagessen saß. Daß der Junge einmal fürs erste nicht mehr von ihm weichen würde, konnte der Herr Pfarrer deutlich merken, denn Rudolf hielt mit der einen Hand den Löffel und mit der andern den Ärmel des väterlichen Rocks gefaßt und verwandte keinen Blick von dem Vater.
Jetzt kam mit Trommeln und Trompeten die Wachtparade gezogen. Rudolf war längst wieder soweit getröstet, daß er sich für so etwas Herrliches begeistern konnte. Im Nu war er mit dem Vater auf der Straße und marschierte, immer die beschützende Hand festhaltend, »in gleichem Schritt und Tritt,« so gut es die kleinen Füße erlaubten, mit die Königstraße hinunter bis zum Schloßplatz. Da sprangen die Wasser der Springbrunnen hoch in die Höhe, und die kunstreichen Beete leuchteten in allen Farben, und im Trompeterhäuschen schmetterte die Musik, und dem Büblein zersprengte es fast das Herz vor Hochgefühl. »O, wenn nur die Mama da wäre und das Mariele[S. 168] und die Babett,« brachte er endlich heraus. »Und dann noch der Philipp und der Hansjörg!«
Denn der Rudolf sah wohl ein, daß er es dann doch nicht ganz so sagen könne, wenn er nach Hause komme. Ganz so schön, wie es in Wirklichkeit war! Ein kleiner Trost war noch, daß der Vater eine Schokoladetafel kaufte für das Mariele, mit einem schönen, bunten Bild des Schloßplatzes darauf.
Es kam immer noch schöner. Rudolfs Patin sollte besucht werden, und da diese weit weg, fast am Ende der Stadt wohnte, da, wo diese sich am Hasenberg hinaufzieht, so stieg der Vater mit ihm in einen der interessanten Wagen. Das war fast noch schöner als Eisenbahnfahren. So durch die ganze Stadt zu sausen durch schöne Straßen mit hohen Häusern und prachtvollen Läden! Der Wagenführer, ja der kam Rudolf nun wieder beneidenswert vor! Den ganzen Tag nichts zu tun, als auf dem luftigen Vorplatz stehen und mit der Glocke bimmeln, daß alle Leute schnell ausweichen, und dazu hin und her sausen, schnell wie der Wind! Wenn sich Rudolf nicht erst vor einer Weile entschlossen gehabt hätte, Trommler oder Trompeter bei den Soldaten zu werden, so hätte er jetzt gewiß gleich mit dem Papa ausgemacht, daß er Wagenführer werden wolle.
Jetzt war man bei der Patin angelangt. Sie wohnte in einem hohen, stattlichen Hause. »Gelt, Papa, das ist noch viel höher als des Königs Schloß?« meinte der Sohn, und das mußte der Vater auch zugeben. Des Königs Schloß hatte aber jedenfalls den Vorzug, daß es da nicht so viele Treppen zu ersteigen gab, wie bei der Patin. Denn diese wohnte im vierten Stock.
»Warum wohnt sie ganz oben auf der Bühne?« wollte Rudolf wissen und erstaunte sehr, daß es da oben gar nicht aussah wie auf der Bühne, sondern recht zierlich und hell und freundlich. Die Patin war schon einmal in Teufenrot gewesen, Rudolf kannte sie wohl. »Aber da war ich noch ein bißchen[S. 169] klein,« sagte er nur. »Ja,« sagte die Patin und mußte ein wenig lachen, »jetzt bist du freilich schon recht groß, du kannst schon auf den Tisch heraufsehen!«
Es waren auch Kinder da, ein Töchterlein Adele, das einen langen Hängezopf hatte und französisch lernte, drei Buben von sieben, acht und neun Jahren und dann noch ein fünfjähriges Schwesterlein. Rudolf war bald daheim unter der lustigen Schar, besah sich mit ihr vom Balkon aus die Stadt, die dem Landkind fast unendlich vorkam und staunte nur, daß das kleine Annchen schon so sicher alle Kirchtürme und Aussichtspunkte zeigen konnte.
Überhaupt kam es ihm immer begehrenswerter vor, in der Stadt zu leben! Die Buben erzählten vom Tiergarten, den Affen, Eisbären und Löwen, die es da gibt. »Wir können hinein, so oft wir wollen, wir sind abonniert,« sagte Richard, der älteste der Brüder.
Und Hans setzte hinzu: »Ja und der Elefant kennt uns schon!« Das dünkte den Rudolf ein unerreichbares Glück! Was waren dagegen die Eichhörnchen im Teufenroter Wald? Und die Hasen und Rehe, die man hie und da durchs Gebüsch huschen sah?
Rudolf wußte nicht, daß die Erwachsenen einstweilen im Zimmer wirklich Pläne schmiedeten, die ihn betrafen und die davon handelten, ihn aus dem Stillleben der Heimat in die Stadt zu versetzen. Er sollte ja jetzt ein Schüler werden und die Eltern hatten beschlossen, ihn das erste Jahr in Teufenrot in die Schule zu schicken, dann wollte ihn die Patin aufnehmen und das Patchen sollte ein fleißiger Stuttgarter Schüler werden.
Aber davon wußte, wie gesagt, Rudolf nichts. Heute hätte ihn der Plan vielleicht gefreut, weil er sich schwer von den neuentdeckten Herrlichkeiten trennte. Wir wollen aber[S. 170] einmal in zwei Jahren wieder anfragen, ob da nicht manchmal ein kleiner Junge mit dem Ranzen auf dem Rücken daherkommt und unterwegs noch einmal seine Aufgabe wiederholt und nebenher ein wenig seufzt: »O wenn ich nur wieder daheim wäre und könnte ganz tief in den Wald hineinlaufen und Heidelbeeren schmausen, frisch vom Stock!« Denn es ist nicht allemal schön und herrlich, wenn unsere Wünsche in Erfüllung gehen, das müssen auch schon kleine Leute erfahren.
Für jetzt sah der Rudolf aber noch lauter Freude und Sonnenschein um sich her. Der Papa trat auch zu der jugendlichen Schar und fragte lächelnd: »Nun, Buben, wer von euch will denn nächsten Sommer in der langen Vakanz zu uns in den Schwarzwald kommen. Sagt's nur,« fuhr er ermunternd fort, als die Buben vor Freude dunkelrote Köpfe bekamen und sich doch nicht getrauten, hinauszujubeln, denn das konnte ja nicht im Ernst gemeint sein! Die ganze lange Vakanz durch aufs Land! Und in einem Pfarrhaus wohnen, das ganz in einem großen Garten steht! Und Schiffchen schwimmen lassen im Röhrenbrunnen! Und Eichhörnchen fangen im Wald!
Die Mutter nickte bestätigend, und daraufhin riefen alle drei mit solchem Jauchzen: »Ich, ich, ich!« daß der Herr Pfarrer befriedigt sagte: »Am guten Willen fehlt's da nicht, das sehe ich schon.« Und es wurde gleich beschlossen, daß im nächsten Sommer alle drei Brüder über die ganze Vakanzzeit nach Teufenrot kommen sollten, denn wenn der Herr Pfarrer aus guten Gründen darnach strebte, seinen Sohn in die Stadt zu bringen, so wollten die Eltern der Stadtkinder dagegen gern, daß diese eine Zeitlang aufs Land kommen sollten. Und dazu hatten sie auch gute Gründe; denn die Backen der drei Schüler waren etwas schmal und blaß und Rudolfs dagegen so frisch und rund, daß es einen wohl gelüsten konnte, auch solche zu bekommen!
[S. 171]
»Aber jetzt wird Abschied genommen, es ist höchste Zeit,« mahnte der Papa und sah nach der Uhr. Und die Patin steckte dem Rudolf alles, was er von den guten Vesperbrocken nicht hatte aufessen können, in die Botanisierbüchse für unterwegs. »Und siehst du,« sagte sie noch, »da sind drei Orangen, eine für die Mama, eine für Mariele und eine für den Eduard. Die kannst du vielleicht in die Tasche stecken!« Das konnte Rudolf. Es war doch gut, daß er die Kürbiskerne nicht eingesteckt hatte, Mariele hatte doch recht gehabt!
Jetzt saßen die Reisenden wieder im Eisenbahnwagen. Rudolf war etwas müde, er warf kaum einen Blick zum Fenster hinaus. Immer näher kroch er an den Vater heran, jetzt lehnte er den Kopf an dessen Arm und dann schlief er ein, tief und fest.
An der Station stand das wohlbekannte Wägelein, als der Zug ankam. Der Mond stand hoch am Himmel und sah zu, wie ein schlafendes Büblein aus einem Wagen in den andern getragen wurde. Dann knallte die Peitsche und der »Bläß« schlug einen munteren Trab an, denn er wußte wohl, daß es dem Stall zuging und freute sich gerade so gut auf seine Streu und den Haber und das Heu in der Krippe, als ein müdes und hungriges Menschenkind auf sein Bett und auf ein warmes Abendessen. Nur daß das Menschenkind von einer lieben Mama in Empfang genommen und gepflegt, erquickt und sorglich zugedeckt wird.
Das Pfarriele schlief schon lang, als die Reisenden ankamen. Die Babett stand unter der Haustüre und leuchtete, und die Mama rief, wie beim Abschied, zum Fenster heraus: »Grüß Gott! Jetzt seid ihr doch wieder glücklich da! Gott Lob und Dank!« Rudolf ließ sich wie im Traum mit warmer Milch und Weißbrot füttern und ins Bett legen. Erst, als am andern Morgen der kleine Bruder hereinkam, weil er gar nicht mehr warten konnte und leise sagte: »Rudolf, du mußt nicht aufwachen,[S. 172] du mußt mir bloß geschwind geben, was du mir mitgebracht hast!« da fuhr er verwundert in die Höhe und sah, daß er wieder daheim war. Er hatte soeben geträumt, er stehe mit einer Trommel in der Hand auf einem Straßenbahnwagen und besinne sich, ob er lieber trommeln oder lieber mit der Glocke klingeln sollte. Denn beides war sehr verlockend.
Aber daheim zu sein, war auch schön! So schön, daß er's gar nicht mehr recht gewußt hatte, so lang er fort war.
Und Rudolf schlang beide Arme um die Mama, die eben zu ihm trat und sagte: »O Mama, es ist so schön gewesen, man kann es gar nicht recht sagen, wie schön! Und der Elefant kennt die Buben schon, den Richard und den Hans und den Julius. Und es gibt Postwägen mit einer Schelle dran, die selber laufen können und ich werde dann vielleicht ein Wagenführer. Du darfst dann immer umsonst fahren, Mama! Und du auch, Mariele!« Denn die Schwester war auch dazu gekommen und freute sich sehr über diese Aussicht.
Aber als die Mama sagte: »Ja, möchte denn mein Bub' immer in Stuttgart bleiben und lieber gar nicht mehr hier sein, und nicht mehr in den Wald können und in den Garten und zu den Spatzen auf den Kirchturm?« — da kam das Heimatsgefühl wieder, das dem Rudolf schon vorhin beim Erwachen aufgestiegen war, und er sagte mit einem tiefen Atemzug: »Nein, nein, das möchte ich gar nicht! Ich möchte nur daheim sein und sonst nirgends auf der ganzen Welt!«
[S. 173]
Die Botenflori saß vor ihrem Häuslein auf einem dreibeinigen Stühlchen und ließ sich von der Sonne anscheinen. Sonst tat sie anscheinend nichts; die Hände hatte sie in den Schoß gelegt und den Kopf an die Wand des Häusleins gelehnt. Das war man sonst an der Flori nicht gewöhnt. Sie war ein altes Weiblein, und so lang sich die Leute im Dorf denken konnten, war sie jeden Tag mit ihrem Tragkorb auf dem Rücken in die Stadt gewandert und hatte dort alles eingekauft, was die Leute etwa brauchten, und außerdem noch die Postsachen mit heraufgebracht. Die Flori hieß eigentlich Floriane, man hatte ihren Namen nur so abgekürzt, weil das bequemer zu sagen war. Sie war in allen Häusern des Dorfes gut bekannt, und wer sie so mit ihrem schweren Korb daherkommen sah, sagte dann allemal freundlich zu ihr: »Ei, grüß Gott, Flori! So munter, wie Ihr, ist kein Junges! Und wenn Ihr einmal Feierabend macht, dann habt Ihr ihn auch verdient!«
Aber die Flori wollte noch keinen Feierabend machen. Sie wollte gern noch arbeiten und meinte, niemand könne so gut wie sie alles in den Läden besorgen und so gut die Postsachen austeilen. Und doch atmete sie so schwer, wenn es den Berg heraufging, und da und dort sagte eine Bäuerin: »Bei der Flori nimmt das Gedächtnis auch ab, das merkt man wohl! Sie hat mir heute schwarzes Garn gebracht anstatt braunem, und die Düte mit dem Griesmehl ist ihr unterwegs aufgegangen! Es tut's nicht mehr lang so!«
[S. 174]
So hatten die Leute nichts dagegen, als in dem Frühjahr, von dem jetzt gesagt ist, die Nachricht vom Städtlein heraufkam, daß von jetzt an ein wohlbestellter Postbote jeden Tag heraufkommen solle, ein fester, starker Mann, der einen verschlossenen Karren mit sich zu führen hatte, in dem dann alles, was zu besorgen war, bequem Platz finden konnte.
Aber der Flori war die Nachricht ein harter Schlag. Es kam ihr vor, als ob ihr ein großes Unrecht widerfahren und als ob die ganze Welt undankbar und schlecht sei. »Jetzt hab' ich mich geplagt und geschunden meiner Lebtag,« sagte sie zum Herrn Pfarrer, der sie in ihrem Häuslein besucht hatte, »und zum Dank dafür wird man einfach abgedankt. Bei Lebzeiten noch abgedankt.« Und die Flori fing an zu weinen, und es half nicht viel, daß der Herr Pfarrer tröstend sagte: »Ei, Flori, der liebe Gott meint's gut mit Euch, daß er Euch noch einen ruhigen Feierabend gönnen will! Und Mangel leiden müsset Ihr sicher nicht! Dafür sorgt das ganze Dorf miteinander.«
Denn es war dem fleißigen Weiblein nicht nur ums tägliche Brot zu tun, es hätte gern noch etwas nützen wollen auf der Welt, und sein Beruf lag ihm am Herzen.
Heute war nun zum erstenmal der neue Bote ins Dorf gekommen. Er hatte einen blauen Rock an mit blanken Knöpfen und eine Mütze auf mit einer Silberborte, und sein Schiebkarren war schön grün angestrichen. Jetzt kam es der Flori erst recht in den Sinn, daß sie gar kein Amt mehr habe, und das drückte sie schwer. So kam es, daß sie am hellen Werktag vor ihrem Häuslein saß und die Hände in den Schoß legte. Es kam ihr vor, als ob sie nun gar nichts mehr zu tun habe im Leben, und sie dachte, daß sie dann am liebsten gleich sterben möchte. Weil sie so starr auf ihre Hände sah und nicht rechts und nicht links, hatte die Flori gar nicht bemerkt, daß ein kleines[S. 175] Fuhrwerk des Wegs dahergekommen war und ganz in ihrer Nähe hielt. Es war ein kleines, höchst einfaches Pritschenwägelchen, darin zwei dicke, kleine Buben von ein und zwei Jahren saßen. An der Deichsel zog ein barfüßiges Mädchen, das ungefähr acht Jahre alt war und dem noch ein dreijähriger Bube am Kleid hing. Das Mädchen sah bleich und mager aus und hatte ein finsteres Gesicht, und als es jetzt stehen blieb, um ein wenig auszuruhen, sah man, daß es hart atmete, so, als ob es sehr müde sei.
Die Flori sah erst auf, als der dreijährige Bube weinerlich sagte: »Trag mich, Christine, ich sag's der Mutter sonst!«
»Ich kann nicht, Peterle, du mußt laufen,« sagte das Mädchen, »guck, dort kommt bald ein Rain, da sitzen wir hin.«
Aber der Dicke wollte jetzt getragen sein und fing aus Leibeskräften an zu schreien. Das mußte er schon öfters probiert haben, denn das Schreien half, und Christine bückte sich mit einem ganz verzagten Gesicht herunter, um den schweren Buben auf den Arm zu nehmen.
Flori hatte sich eigentlich nicht um die Kinder bekümmern wollen, sie hatte sich fest vorgenommen, daß sie jetzt von niemand mehr etwas wissen wolle, wenn doch die Leute so undankbar seien. Aber daß das schwächliche Mägdelein den dicken Schreier auf den Arm nahm, das konnte sie doch nicht sehen, da mußte sie[S. 176] schon eine Ausnahme machen. »Bist du im Augenblick still und stehst fest auf deine dicken Füße?« rief sie mit grimmiger Stimme zu dem Dicken hinüber. Der strampelte immer noch, die kleine Kindsmagd konnte ihn kaum regieren. Da mußte sich die Flori schon erheben. Im Augenblick war sie an dem Wägelchen, nahm den Peterle auf den Arm und stellte ihn so nachdrücklich auf den Boden, daß er wohl einsah, daß er da fürs erste zu bleiben habe. Christine sah ein wenig erleichtert aus, aber sie war zu verlegen, um etwas zu sagen, so zog sie nur wieder an ihrer Deichsel, um weiter zu kommen.
Aber nun war die Flori schon in Tätigkeit. Sie kannte die Kinder wohl. Sie kamen aus einem der ärmlichsten Häuschen am andern Ende des Dorfes. Hier wenigstens hatte sie keine Kundschaft verloren, denn die Frau des Wegknechts Häberle brauchte selten etwas aus der Stadt, und wenn es dann sein mußte, so trug sie etliche Büschel Kienholz oder Wacholderbeeren auf den Markt und brachte dafür das Nötigste mit. Das Mägdlein war ein Bruderkind des Wegknechts, das verwaist war und gegen ein billiges Kostgeld, das die Gemeinde bezahlte, von ihm aufgenommen war.
Es machte nicht umsonst ein so finsteres Gesicht und es war auch kein Wunder, daß es mager und bleich aussah. Denn in dem Häuslein des Wegknechts ging es nicht sehr freudenreich zu. Die Frau war nicht gerade böse, aber sie hatte von Natur ein etwas unfreundliches Wesen und dann konnte sie auch die Arbeit mit den drei kleinen Buben und der Haushaltung und dem Äckerlein nicht gut bewältigen. Da hatte sie sich denn angewöhnt, fast den ganzen Tag zu brummen und zu zanken, und besonders Christine hatte noch nicht viel gute Worte von ihr gehört. Diese ging jetzt in die Schule, aber da war fast immer ein Grund vorhanden, daß sie zum[S. 177] Lehrer gehen und um Urlaub anhalten solle. Das war dem Lehrer auch nicht lieb und so war er denn auch nicht besonders freundlich gegen das Kind. War sie dann im Haus, so hatte die Christine fast den ganzen Tag eines der Kleinen auf dem Arm. Herumspielen mit anderen Kindern, das gab es nicht für sie. »Möcht dann auch wissen, zu was ich die viele Last und Mühe mit dem Mädchen haben soll, wenn sie mir nicht ein bißchen hilft,« sagte die Base oft und dachte nicht daran, daß Christine selber noch ein zartes, schwächliches Kind sei, das so nicht kräftig und groß werden konnte. Es gab ja auch nicht viel anderes zu essen für sie als Kartoffeln. Denn die Milch brauchte man für die Kleinen und das Stückchen Speck oder Fleisch, das man hie und da kaufen konnte, mußten nötig die Hauseltern haben, die hart arbeiten mußten. Christine hatte sich nach und nach daran gewöhnt, daß ein Tag um den andern gleich dahinging und nichts Erfreuliches geschah. Aber sie hatte dabei einen so freudlosen Ausdruck in ihr Gesicht bekommen, daß die Leute, die sie sahen, öfters zueinander sagten: »Wie nur ein so junges Kind schon so verdrießlich und unfreundlich aussehen kann!« Und sie sagten dann zu ihren Kindern, die fröhlich herumsprangen: »Merket's euch nur, daß man so nicht sein darf, sondern daß man vergnügt und dankbar sein muß.«
Die Botenflori hatte sich noch nie besonders für Christine umgesehen, so lang sie ihre täglichen Gänge machte. Da hatte sie viel wichtigeres zu bedenken als so ein armes Waisenkind.
Heute, wo sie selber so traurig war und auch gut Zeit zum Aufmerken hatte, fiel es ihr plötzlich auf, wie elend das Mädchen aussah. Sie konnte die Christine nicht nur so vorbeigehen lassen. So sagte sie freundlich zu ihr: »Wo willst du denn hin mit deinem Wagen voll Leut? Komm, da sitz ein bißchen auf mein Bänklein ab. Den Dicken darfst du nicht[S. 178] tragen, es könnte dir ja einen Schaden antun.« Christine sah verwundert auf. Es war schon lang her, seit jemand so freundlich mit ihr gesprochen hatte. Es tat ihr aber wohl und sie nickte bereitwillig und zog ihr Wägelchen dicht an das Häuslein her. Peterle bekam eine Hand voll Waschklammern zum spielen und Christine durfte zur Flori auf das Bänklein sitzen. Es kam dieser nun selbst verwunderlich vor, daß sie sich diesen Besuch herbeigeholt hatte, sie hatte doch allein sein wollen. Aber jetzt wollte sie sich nicht mehr lang besinnen, es gab außer ihr noch mehr betrübte Leute auf der Welt, das merkte sie wohl. »Also jetzt, wohin hast du gewollt mit deinem Buben?« fragte sie nochmals. »Weiß selber nicht,« gab Christine zurück. »Wir sollen den ganzen Nachmittag fortbleiben, bis es dunkel wird. Die Base liegt im Bett, man hat wieder einen kleinen Buben.«
»Ei, was du sagst!« Flori nahm diese Nachricht sehr lebhaft auf. »Und da freust du dich gar kein bißchen und machst so ein Gesicht dazu?« Daß man sich da freuen könne, hatte Christine nicht gewußt. Der Wegknecht hatte mürrisch gesagt: »Jetzt wird mir's nächstens zu viel mit dem Geschrei,« und die Base hatte auch gebrummelt: »Wenn's noch ein Mädchen wär, daß man auch eine Hilfe bekäme!«
Und sie selber, die Christine, wußte nur, daß es noch einen kleinen Schreihals herumzutragen gebe. Nein, erfreulich war ihr das nicht vorgekommen. So sah sie die Flori erstaunt an und schüttelte den Kopf. »Es ist mir ganz entleidet,« sagte sie statt aller Antwort.
Der Flori war es erst vorhin auch noch ganz entleidet gewesen, sie wußte gut, wie das ist. Aber daran dachte sie jetzt nicht mehr. »So darf man nicht sagen, das ist eine Sünde,« sagte sie strafend. »Das Büblein hat euch der liebe Gott geschickt und was der einem schickt, darf einem nicht entleidet sein.[S. 179] Und es ist gewiß ein nettes Kindlein, du hast's nur noch nicht recht angesehen. Gib acht, wenn es die Äuglein auf und zu macht und mit den Füßen zappelt, wenn man's badet.«
Christine mußte sich immer mehr wundern, so hatte sie freilich das Kindlein noch nicht angesehen.
»Und die größeren darfst du jetzt ganz allein versorgen wie ein rechtes Mütterlein,« fuhr die Flori fort. »Das ist gewiß ein nettes Geschäft, das freut dich sicher.« Christine schüttelte wieder den Kopf. »Sie schreien so,« sagte sie, »und der Peterle kratzt mich und die Base zankt mich immer.«
»Ei, du wirst's noch nicht recht können,« sagte Flori. »Wart einmal, morgen früh will ich einmal zu euch kommen, dann tun wir's miteinander. Das gibt ein Vergnügen!«
In Christines Gesicht war ein ganz anderer Ausdruck gekommen, sie kam sich jetzt schon nicht mehr so allein und hilflos vor. Und zu der Flori konnte sie ein rechtes Vertrauen fassen, denn sie war der erste Mensch, der liebreich mit ihr gesprochen hatte, seit sie aus ihrer Heimat fort war.
So tat sie der Flori recht ihr Herz auf und erzählte ihr noch vieles von ihrem Leben und auch, wie sie's daheim, als ihre Eltern noch lebten, so gut und schön gehabt habe. Und in der Flori stieg ein fester Entschluß auf, dem armen Kind ein wenig aufzuhelfen, so gut als möglich.
Es war ihr am andern Tag lang nicht so schmerzlich wie gestern, als sie dem Postboten mit seinem Karren begegnete. Sie war auf dem Weg nach dem Häuslein des Wegknechts und ging gar nicht so daher wie jemand, der nichts mehr zu schaffen hat, sondern mit recht gewichtigen Schritten. Wer sie sah, konnte denken, die Flori habe etwas Wichtiges vor. Und das konnte sie wohl auch haben, denn in dem Raum, in den sie nun eintrat, sah es ganz so aus, als ob man eine rechte Hilfe brauchen könne. Peterle saß am Boden und schrie aus[S. 180] Leibeskräften und der zweijährige Georg schrie in seinem Bett zur Gesellschaft mit. Den einjährigen Michel hatte Christine auf dem Arm und mühte sich zugleich mit dem Feuer im Ofen ab, das nicht brennen wollte. Es rauchte und roch nach Ruß in der Stube und die Frau rief mit scharfer Stimme aus dem Bett: »So ein ungeschicktes Ding, wie du bist, ist mir noch nicht vorgekommen. Gar keine Hilfe hat man an dir!«
»Guten Morgen, beieinander,« sagte in diesem Augenblick die Flori, die bei dem Lärm ungehört hereingekommen war. Sie trat an das Bett der Frau und sagte freundlich: »Am Ende könnte ich ein bißchen nach der Sache sehen, die Christine ist noch wohl klein zur Haushälterin.« Das war der Frau noch nie vorgekommen, daß sich jemand um ihre Haushaltung angenommen hatte. Es konnte ihr schon recht sein, sie sagte aber brummig: »Wir könnten schon allein fertig werden. Arme Leute haben keine Zeit zum Kranksein, ich stehe dann schon wieder auf.« Aber die Flori ließ sich nicht draus bringen. Zuerst half sie dem Feuer auf, daß dieses lustig flammte, und kochte die Morgensuppe; dann ging es an die Reinigung der kleinen Schreihälse. Christine wußte nicht, wie ihr geschah, so hatte ihr noch niemand gezeigt, wie man alles angreifen mußte. Heute ging es noch einmal so leicht. »Jetzt lassen wir aber auch den schönen Sonnenschein herein,« sagte Flori und öffnete das Fenster, denn draußen schien jetzt die Sonne warm und hell, gerade auf den Tisch, auf dem jetzt die Suppe stand. Christine meinte, so gut sei noch keine Suppe gewesen und die Stube noch nie so freundlich wie heute, und die Kinder noch nie so folgsam. Sie mußte einmal ums andere tief aufatmen, und das sah die Flori mit Wohlgefallen. Auch die Frau legte sich behaglich in die Kissen zurück und ließ sich versorgen, denn sie wußte nun, daß für heute einmal alles Nötige geschehe. Sie wollte ja nicht böse sein, sie hatte nur immer so[S. 181] viele Sorgen und viele Arbeit, und dann hatte sie schon lang nicht mehr gesehen, wie gut es tut, wenn man freundlich und liebreich ist. Das sah sie nun an der Flori, die gar nicht viel zu sagen brauchte, so folgten ihr die Kinder, und die die ungeschickte Christine so nett und verständig anwies, daß die Arbeit ging wie am Schnürchen. Jetzt war die Stube gefegt und das kleinste Kindlein gebadet. Es war wirklich so, wie die Flori gestern gesagt hatte, es gefiel der Christine sehr, wie das Kleine mit den Gliedern zappelte in dem warmen Wasser und mit den blauen Äuglein die Flori groß ansah. Überhaupt kam ihr heute das Leben viel erfreulicher vor als seither, sogar die größeren Buben sahen so nett und frisch aus. Christine mußte dem kleinen Michele einen Kuß geben. Da sah er sie groß an und verzog das Mäulchen zum Lachen.
»So, den Peterle und den Georg nehme ich mit mir,« sagte die Flori, als alles sauber und in Ordnung war. »Ich koche dann einen Milchbrei zum Mittagessen für die ganze Haushaltung. Den Michele läßt man im Wägelein schlafen draußen vor dem Hans, der ist schon wieder müde. Und die Christine bleibt bei der Hand, daß die Base jemand hat, der ihr etwas bringen kann.«
Damit zog sie ab.
Christine setzte sich mit ihrer Schreibtafel auf die Staffel vor der Haustüre. Sie lernte gern und hätte nie die Schule versäumt, wenn sie nicht gemußt hätte. So war sie bald sehr im Eifer an ihrer Arbeit; sie schrieb schöne lange Zahlenreihen untereinander und rechnete sie dann zusammen.
Auf einmal stand der Herr Schullehrer vor ihr, der mit Verwunderung gesehen hatte, wie wichtig dieser Schülerin, die so oft fehlte, das Lernen war. Christine erschrak ein wenig, aber der Lehrer sagte freundlich: »So ist's recht! Gib dir nur recht Mühe, dann kommst du schon noch nach. Ich will[S. 182] dann bald einmal mit dem Wegknecht sprechen, daß du nicht so oft die Schule versäumen mußt.« Darauf reichte er dem Kinde ganz väterlich die Hand, und Christine blieb so glücklich zurück, wie sie schon lange nicht mehr gewesen war.
Diesem schönen Morgen folgten noch viele solche. Denn was die Flori einmal unternahm, das führte sie gern auch aus. So erschien sie jeden Morgen, solang die Frau noch nicht so gesund war, in dem Häuslein des Wegknechts, versorgte die Frau und die Kinder, zeigte Christine liebreich, wie sie alles, was zu tun war, machen müsse. »Siehst du, mit Klötzchen und Steinen spielen sie ganz nett allein,« sagte sie, »und dann kannst du ein wenig stricken oder rechnen.« Christine war eine ganz neue Welt aufgegangen, seit sie so eine treue Hilfe hatte. Sie sah gar nicht mehr finster und verzagt aus und manchmal konnte sie sogar mit den Kleinen lustig lachen.
Es war auch wunderbar; die Base zankte gar nicht mehr oft, sie war viel freundlicher geworden, und seither hätte ihr die Christine alles zuliebe getan, was sie nur gewußt hätte.
Denn die Botenflori hatte einmal, als sie recht geruhig allein mit der Frau zusammen in der Stube saß, recht eindringlich mit dieser gesprochen und ihr gesagt, daß sie mit Freundlichkeit noch einmal so viel erreiche, als mit Zorn. Und die Frau konnte sich das wohl sagen lassen, denn die Flori hatte es ihr zuerst vorgemacht. So sagte sie nur ganz bewegt: »Euch hat mir der liebe Gott geschickt, Flori! Vergelt's Gott, tausendmal.«
Als an diesem Abend die Flori heimwärts wanderte, war sie so froh und glücklich, wie sie nie mehr gewesen war, seit sie die Sache mit dem Postboten gedrückt hatte, und auch vorher lange nicht. Denn Flori hatte es selber gut gespürt, daß es nicht mehr gehe, und hatte sich immerfort dagegen gewehrt, ihr Amt abzutreten. So war sie oft recht elend gewesen, trotzdem[S. 183] sie sich in den vielen Jahren etwas Ordentliches erspart hatte und keine Not zu fürchten brauchte. Jetzt hatte ihr der liebe Gott die Last abgenommen und hatte ihr gezeigt, daß er doch noch da und dort etwas für sie zu tun habe. Und weil die Flori das nun einsah, war sie so getrost und fröhlich und ließ ruhig den neuen Postboten seinen Schiebkarren den Berg heraufschieben, es tat ihr nicht mehr weh.
Die Kinder hingen an ihr wie die Kletten, und als das die andern Kinder im Dorf sahen, machten sie es auch so. Aber die Christine blieb doch ihre beste Freundin, denn die beiden, Flori und Christine, hatten einander dazu verholfen, daß sie wieder fröhlich sein konnten.
Man kann die Flori jetzt auch noch Botenflori heißen, denn sie ist ja des lieben Gottes Botin bei den armen Leuten geworden.
[S. 184]
»Else, Kind, es ist Zeit zum Tischdecken! Fang gleich an, du weißt, der Vater ärgert sich, wenn er nach Hause kommt und es ist nicht fertig!« Die Mutter steckte einen Augenblick ihr vom Herdfeuer erhitztes Gesicht durch die Türöffnung. »Gleich, Mutter, im Augenblick,« antwortete Else, die an einer zierlichen Handarbeit stichelte, ohne damit aufzuhören. Die Mutter ging wieder an ihre Arbeit zurück. Else sah nach der Wanduhr. Erst halb zwölf! Und fünf Minuten nach zwölf kommt der Vater nach Hause, zehn Minuten allerhöchstens brauche ich zum Tischdecken, also kann ich ruhig noch die Schleifen an das Kissen nähen. Was sich nur Mama denkt, wie lang' ich brauche?
Else war schon zwölf Jahre alt, die Älteste von fünf Geschwistern, und fand, daß sie's im allgemeinen doch recht unruhig habe! Alle Augenblicke begehrte jemand anderes ihre Dienste, von einer schönen Geschichte konnte sie wohl zehnmal abgerufen werden. Sie wußte keine von all' ihren Freundinnen, der so viel zugemutet wurde. Heute war sie mit einer Geburtstagsarbeit für Alice Baumann, ihre liebste Freundin, beschäftigt; sie wurde so hübsch, Else mochte sich nicht von dem zierlichen Nadelkissen trennen, eh' es fertig war. Blaue Seide mit weißen Spitzen und Schleifchen! Sie hob wieder den Blick zur Uhr. Dreiviertel! Da reichte es gut auch noch zur Aufhängeschnur. Nein, wie diese dumme Schnur sich verwickelte! Einen so aufzuhalten! Und nun hatte sie dieselbe[S. 185] gar auf die verkehrte Seite genäht vor Aufregung und Eile! Wenn man sich auch so abhetzen muß! Else hatte ordentlich Mitleid mit sich selbst. Zwei Minuten bis zwölf! Jetzt galt es aber, voran zu machen. Schnell das Tischtuch aus dem Schrank, die Teller vom Büffet, wie dumm das Salzfaß im Wege stand, es fiel bei der kleinsten Berührung mit dem Ellbogen um und streute seinen Inhalt auf den Fußboden! Zum Aufkehren hatte man jetzt keine Zeit, nur schnell das ganze Häufchen unter den Schrank, gleich nach Tisch wollte Else es wegnehmen. Da, ein Geschrei im Nebenzimmer. Natürlich, nun mußte Hans aufwachen, er wachte ja immer auf, wenn er möglichst ungeschickt kam. Else hatte das Amt, ihn alsdann in sein Kleidchen zu stecken und ihm, ehe sich die Großen zu Tisch setzten, seine Suppe zu geben. Das hatte sie vorhin in ihrer Zeitrechnung vergessen, wer kann aber auch an alles denken? »Sei still, Hänschen,« rief sie eilig ins Schlafzimmer hinein, »ich komme im Augenblick.« Der Kleine fuhr aber fort zu schreien und die Mutter ließ ihre Küche im Stich, um nachzusehen, wo es fehle. In diesem Augenblick ging die Haustür, der Vater trat ein, gefolgt von einem Herrn, den er als Gast mitbrachte. Er ließ auch zugleich Max und Konrad, die aus der Schule kamen und Klein-Gretchen, das sich im Garten vergnügt hatte, herein. »Else, weshalb siehst du nicht nach dem Kleinen?« rief die Mutter; aber sie schwieg traurig, als sie den ungedeckten Tisch sah, der erst schwache Anfänge zu einer Eßgelegenheit zeigte. Nun wußte sie schon, woran sie war. »Komm Konrad, hilf schnell, den Tisch zu decken, aber sieh, daß nichts fehlt,« damit eilte die Mutter nochmals in die Küche, um dem Mädchen die letzten Anweisungen zu geben, und dann zu Hänschen, um ihn zu beruhigen und anzuziehen. Der Vater war mit dem Gast eingetreten. Er liebte es sehr, wenn er in den wenigen Stunden,[S. 186] die er im Kreis seiner Familie zubringen konnte, alles gemütlich und hübsch in Ordnung, die Kinder fröhlich, den Tisch gedeckt und seine Frau »für ihn zu haben« fand. Und dazu heute, wo er einen Jugendfreund, den er lange nicht gesehen hatte, mitbrachte! So zog er unwillig die Augenbrauen zusammen, als im Wohnzimmer ein Gelaufe, wie im Ameisenhaufen, war. Konrad vollzog seine Mithilfe an der Arbeit mit großem Geräusch und nicht ohne anzügliche Bemerkungen gegen Else. »Wieder einmal gelesen?« fragte er sachverständig. Else hatte aber nicht gelesen, sondern fleißig gearbeitet und brauchte sich derartige Bemerkungen nicht gefallen zu lassen. Sie war überhaupt aufgeregt, gab dem Bruder eine heftige Antwort und zerbrach auch ein Glas, eins von den geschliffenen, die Mama zu Ehren des Gastes herausgegeben hatte.
Die Mutter erschien, als sie den Kleinen endlich beruhigt und sich selbst und Hänschen etwas präsentabel gemacht hatte, müde und abgespannt bei Tisch und mußte Hänschen auf dem Schoß haben, weil er seine Suppe nun erst mit den Großen essen konnte.
Schade, es war lang nicht so gemütlich wie sonst, der Gast hätte einen besseren Eindruck vom Hause bekommen können, und das bedrückte die Mutter, die wohl wußte, wie viel der Vater darauf hielt. Die Herren mußten auch gleich nach Tisch wieder fort, es hatte vorher so lang gedauert; nun war auch das behagliche Viertelstündchen nach Tisch, das der Vater so liebte, für heute verscherzt. Else ging mit unglücklichem Gesicht umher, sie hätte gern gewußt, ob es noch jemanden gehe wie ihr. Immer kam alles Unangenehme zusammen! Die Mutter hatte nicht gescholten, sie hatte nur gesagt: »Wann wirst du je anfangen, zuverlässig zu werden?« Und Else leistete doch so viel für ihr Alter, nur allerdings nicht immer gerade das, was man von ihr voraussetzte und nicht immer genau zu der Zeit, wo man es erwartete.
[S. 187]
Es war am Nachmittag, der heute schulfrei war. Auf vier Uhr war Else zu der Geburtstagfeier eingeladen. Das Kissen lag hübsch verpackt in Seidenpapier, warum war ihr nur die ganze Freude daran verdorben? Elsens Blick fiel auf den Bücherschrank. Eigentlich hätte sie jetzt ihre Aufgaben machen sollen, ja so, und die Mutter hatte sie gebeten, Hänschen ein wenig zu beaufsichtigen, da sie ein Weilchen ruhen wollte. Aber da war noch das Buch, das Max, wie er sagte, heute abend seinem Kameraden zurückgeben wollte, und Else hatte solch eine schöne Geschichte darin angefangen. Das ließ sich ja auch alles ganz gut vereinigen. Mit den Aufgaben wurde sie noch lange fertig und im Notfall konnten sie auch abends gemacht werden. Ausnahmsweise, gewöhnlich sollte das ja nicht sein. Und Hänschen? Nun der krabbelte vergnüglich am Boden umher und konnte sich ganz schön selbst beschäftigen. Else fand, daß er viel liebenswürdiger war, wenn man ihn sich selbst überließ. So konnte sie gut ein Weilchen lesen. Einen Augenblick hatte sie zwar ein unbestimmtes Gefühl, als ob es vorher noch etwas Dringendes für sie zu erledigen gäbe; was war es nur gleich? Ach richtig, das Salzhäufchen unter dem Schrank! Das mußte weg, gleich nachher. Dann war sie mitten im Urwald, unter Schlangen und mutigen Reisenden, die große Taten vollbrachten. Was waren das für herrliche Menschen! Else wollte später auch viel Gutes und Schönes ausführen, sie wußte nur für den Augenblick nicht recht, was? Aber das fand sich!
Aus der einen Geschichte wurden zwei. Else saß mit glühendem Gesicht und atmete kaum. Es waren zu schöne Geschichten! Und Hänschen war so artig und still, wunderbar! Aber jetzt war's halb vier Uhr. Und Else mußte sich noch umziehen, die Mutter hatte das neue Sonntagskleid gestattet. Flugs hinein, das Kissen zur Hand und dann fort! Denn[S. 188] Alice wohnte ziemlich weit weg und Else wollte nicht zuletzt kommen.
So ganz behaglich war's ihr diesmal nicht in der fröhlichen Gesellschaft. Erstens hatte sie einen ganz heißen Kopf und erregte Sinne von dem hastigen Lesen, dann waren auch noch die Schulaufgaben sämtlich unerledigt und dann, sie hatte gar nicht gemerkt, daß Mama das am Ofen sitzende Hänschen mit beschmutztem Kleidchen und schwarzen Händchen weggenommen und stillschweigend gereinigt hatte. Sie hatte es erst nachträglich durch Max erfahren, natürlich nicht ohne brüderliche Seitenhiebe. Aber es war doch nicht ganz angenehm. Wenn Mama nicht schalt, war sie traurig, und merkwürdig, das war noch viel unbehaglicher, obgleich sich Else nicht gern schelten ließ.
In der Gesellschaft war viel die Rede von einem großen Zirkus, der für einige Zeit in der Stadt war. Else wußte auch davon, der Vater hatte so halb und halb versprochen, einmal mit seinen drei größeren Kindern und der Mutter hinzugehen, und sie freute sich längst darauf. Sie nahm sich auch vor, gleich heute noch beim Abendessen den Vater darum zu bestürmen, es war ein großartiges, anziehendes Programm, das mußte man gesehen haben.
Ganz hingenommen von diesen Gedanken kam sie nach Hause.
Die Brüder hatten Sonntagskleider an, blätterten in merkwürdiger Eintracht in dem großen zoologischen Atlas des Vaters und machten dazu eifrige Bemerkungen. Else wunderte sich darüber, bekam aber sogleich die Mahnung: »Leise, Hänschen ist krank, Mama sitzt bei ihm am Bettchen.«
»Du kannst dein Sonntagskleid anbehalten, Else,« empfing die Mutter das Töchterlein, »Papa will mit euch dreien und seinem Freund, der auch ein Töchterlein mit hierher gebracht hat, in den Zirkus gehen.«
[S. 189]
»Deine Aufgaben sind ja doch wohl fertig? Eigentlich sollte ich dir heute das Vergnügen nicht gestatten, denn du versäumst jetzt gerade so oft deine kleinen Pflichten, aber ich hoffe, du merkst dir's endlich — ich kann ja leider auch nicht mitgehen. Hänschen ist nicht wohl, ich weiß nicht, was mit dem Kind ist, es muß etwas Unpassendes gegessen haben.« Else wurde es heiß und kalt! Erstens keine Möglichkeit, mit in den Zirkus zu gehen, denn die Aufgaben standen noch riesengroß da zur Erledigung. Und der Vater, wie würde der unzufrieden sein! Und die Brüder würden spotten! Und auf morgen früh verschieben ging nicht, das gestatteten die Eltern nie.
Und zudem! Was hatte Hänschen wohl geschluckt? Else erinnerte sich jetzt deutlich, daß sie während des Lesens immer ein Gefühl gehabt habe, als stecke der kleine Bursche etwas ins Mäulchen, das nicht hineingehöre, es hatte so geknirscht! Ja richtig, das Salz! Else stürzte fort, die Mutter kam ihr erstaunt nach. Da kniete sie am Boden und brachte die Reste des Häufchens zum Vorschein, den weitaus größten Teil hatte der Kleine geschluckt.
Erstaunt und betrübt hörte die Mutter den Bericht mit an, den Else gab. Es war eine Kette von kleinen Versäumnissen. Else hatte alles tun wollen, was sie sollte, »im Augenblick,« nur nicht im zunächstliegenden, und so war es dann gar nicht geschehen.
Das war ein gestörter Abend. Der Vater ging mit den Brüdern allein, er hatte nur gesagt: »Hoffentlich muß der arme kleine Kerl nicht zu sehr den Leichtsinn seiner Schwester büßen,« nichts davon, daß es ihm leid sei, Else nicht mitnehmen zu können.
Das war dieser noch das härteste. Sie saß im einsamen Wohnzimmer und schrieb und rechnete, aber dazwischen tropften schwere Tränen auf die Hefte. Da trat die Mutter ein.[S. 190] »Hänschen schläft jetzt,« sagte sie, »ich hoffe, es schadet ihm weiter nichts; nun ich wußte, womit er sich den Magen verdorben, konnte ich dagegen wirken.«
Dann gegenseitige Stille. Else kämpfte mit sich. Eigentlich hatte sie doch nichts verbrochen, es war nur ungeschickt gegangen! Nein, doch, sie wußte es ja besser, gewiß, es sollte anders werden.
»Mama,« Else hob das verweinte Gesicht. »Ja? Was ist's?« fragte die Mutter ein wenig müde, sie hatte heute schon so viel Aufregung gehabt. »Ich möchte, — ich will gewiß, — ach, Mama, kannst du mich denn noch lieb haben?«
Jetzt war Else ein ganzes Kind, reuig, trost- und liebebedürftig; sie hatte den Kopf in der Mutter Schoß gelegt und schluchzte sich alles vom Herzen herunter, was Drückendes, Unartiges, Störendes drin war. Und die Mutter tröstete jetzt das große Kind, wie vorher das kleine, und half ihm mit mütterlichen Worten ins rechte Geleise. Denn es ist bei der Mutter gleich, ob sich die Kleinen oder die Großen verirren, die Hauptsache ist, daß das Kind den Heimweg sucht und dazu nach der Hand der Mutter greift.
Und als Else hernach beschwichtigt und erleichtert in ihrem Bett lag, gab ihr die Mutter noch als Schutz- und Trutzmittel für den neuen Weg, den sie wandern wollte, ein Verslein mit, »das bete jeden Tag von Herzen, so wird dir's der liebe Gott gelingen lassen:
[S. 191]
»Aufgepaßt!«
Christian, der stämmige Stallknecht, rief aus den dichten Zweigen des großen Apfelbaums, der so voll hing mit reifen Äpfeln, daß er im Sonnenschein aussah wie ein rotes Dach. Dann rüttelte und schüttelte er so nachdrücklich an den Ästen, daß es anfing zu prasseln und in kurzer Zeit der Boden ringsumher ganz bedeckt war mit den schönen Früchten.
»Au, au, hör auf! Hör einmal auf, Christian! Die Äpfel zerfallen aufeinander, so viele liegen schon da! Man muß zuerst diese auflesen!«
So tönte es nun durcheinander, denn es war eine große Gesellschaft in dem Obstgarten versammelt. Da waren zuerst die sechs Kinder des Herrn Amtmanns, dem der Garten gehörte, von Wilhelm, dem großen Lateinschüler an, bis herab zu dem jüngsten, zweijährigen Schwesterlein. Dann waren noch die Buben aus dem Pfarrhaus da und die Kinder des Herrn Schultheißen. Es war ein lustiges, lebhaftes Häuflein, das da durcheinander purzelte, krabbelte, lachte und sich neben der fleißigen Arbeit her die Äpfel schmecken ließ.
Das Oberkommando führte Heinerike, die alte Magd des Amtshauses. Sie verstand das Regieren aus dem Fundament, und wenn ihr auch selber das Bücken ein wenig sauer geschah, so konnte sie die Kinder um so besser dazu anleiten. So wurde in hellem Vergnügen ein Sack nach dem andern gefüllt. Angelika, das siebenjährige Töchterlein des Hauses, hatte schon seit einer[S. 192] Weile angefangen, die allergrößten Äpfel auf ein besonderes Häufchen zu legen. Jetzt schienen es genug zu sein, denn sie packte alle zusammen in ihre weite Ärmelschürze und steuerte, so schnell es mit der gewaltigen Last ging, auf das Lattentürchen zu, das aus dem Obstgarten nach dem Blumengärtlein hinführte. Dort stand eine dichtbewachsene Laube und in diese trat Angelika ein.
»Großvater,« rief sie schon von weitem, »sieh nur, Großvater, so große prachtvolle Äpfel gibt's heute! Ich habe dir die allerschönsten herausgelesen, du mußt sie behalten!«
Der Großvater stellte lächelnd seine lange Pfeife neben sich an die Wand und strich leise mit der Hand über die frischen runden Backen des kleinen Mädchens.
»So, und die schönsten bringst du mir? Das ist brav,« lobte er dann. »Aber was soll denn der Großvater damit anfangen? Er kann die Äpfel ja nicht mehr beißen!«
Daran hatte Angelika freilich nicht gedacht. Sie sah bedauernd in ihr Schürzchen und sagte dann: »Dann mußt du sie wenigstens ansehen, Großvater! Sie sind ganz furchtbar groß, du siehst sie schon!« Und sie hielt dem Großvater einen der schönsten ganz dicht vor die Augen.
Der Großvater griff mit der Hand nach dem Apfel. »Daß er groß ist, das fühle ich schon,« sagte er. »Aber sehen kann ich ihn doch nicht. Du mußt aber deswegen nicht traurig sein. Ich habe in meinem Leben schon so viele schöne Äpfel gesehen, da kann ich mir nun ganz gut denken, wie dieser aussieht.«
Der Großvater war nämlich schwer krank gewesen und als es ihm sonst wieder besser ging, da waren seine Augen ganz allmählich immer schwächer geworden. Jetzt hatte er noch einen Schein in dem einen Auge, so daß er unterscheiden konnte, ob es hell oder dunkel um ihn her sei.
Weil er aber schon die ganze Zeit seines Lebens in diesem Haus und Garten gewohnt hatte, so konnte er, ohne daß man[S. 193] ihn führte, umhergehen und seine Lieblingsplätzchen aufsuchen. Am liebsten saß er in der Laube, und die Kinder waren dann oft bei ihm, besonders Angelika.
Den Großvater hatte seine Blindheit nicht unglücklich oder auch verdrießlich und mürrisch gemacht. Er dachte, der liebe Gott werde schon wissen, wozu er ihm das geschickt habe, und so wolle er dann damit zufrieden und geduldig sein. Und dann fiel dem Großvater, wenn er so still für sich dasaß, so vieles aus seinem vergangenen Leben ein, er dachte an alle seine Lieben, die niemand auf der Welt mehr sehen konnte, weil sie schon lang vom lieben Gott heimgeholt worden waren. Und alles wurde ihm so lebendig, daß er es wirklich zu sehen meinte; da vergaß er dann manchmal ganz, daß er blind war.
Für Angelika war es herrlich, daß der Großvater so viel Zeit hatte. Es ereignete sich immer so viel, was notwendig mit jemand besprochen werden mußte; das konnte man alles sehr gut beim Großvater anbringen. Und es war schöner als alle Geschichten, die es gab, wenn der Großvater anfing, aus seiner Kindheit zu erzählen. Aus dem Hungerjahr, wo die Leute Klee- und Baumrinde unter das Brotmehl mischten, und aus Kriegszeiten und dann auch noch viel Erfreuliches.
Heute hatte das Kind etwas Besonderes auf dem Herzen. Es legte die Äpfel alle auf den Tisch, zog sich dann ein Schemelchen heran und sagte: »Großvater, warum heiße ich Angelika? Niemand heißt so, als nur ich! Des Schultheißen Christoph hat gesagt, vielleicht habe einmal, wie ich noch klein gewesen sei, jemand so geheißen und dann habe man mich deshalb so getauft.«
»Da hat der Christoph nicht so unrecht,« sagte der Großvater. »Es hat einmal jemand so geheißen wie du, aber das ist schon so lange her, so lang, daß außer mir niemand mehr lebt, der sie gekannt hat.«
[S. 194]
Es war so ein merkwürdiger Ausdruck in des Großvaters Gesicht gekommen, wie ihn Angelika noch nie gesehen hatte. Fast wie wenn er weinen wollte. Das durfte nicht sein! »Großvater, sei nur zufrieden, es macht nichts. Ich will dann gern so heißen. Die Mutter hat auch gesagt, es sei gar nicht ungeschickt, man wisse gleich, wen man meine, wenn sonst niemand da sei, der Angelika heiße.«
Aber der Großvater war noch nicht gleich wieder wie sonst. Er fühlte den dicken braunen Zopf an, der bei Angelika hinten gerade hinausstand und die kurzen, krausen Härchen, die sich überall herausdrängten, und schüttelte immer den Kopf dazu. »Sie sah ganz anders aus,« sagte er leise vor sich hin, »ganz anders.«
Das alles erweckte Angelikas Interesse. »Wer, Großvater?« fragte sie fast ein wenig schüchtern.
»Die, nach der man dich geheißen hat,« sagte der Großvater.[S. 195] »Sie war mein Schwesterlein, ich habe nie mehr so etwas Liebliches gesehen.«
»O, erzähl' mir von ihr? War sie so groß wie ich? O, erzähl' mir alles, was du weißt von ihr!« Angelika kam ganz in Eifer, denn nun auf einmal von jemand zu hören, der so hieß wie sie, und der keine alte Frau war, sondern ein kleines Mädchen, das war ein wichtiges Ereignis.
»Sie war so groß wie du, als sie zu den Engelein ging,« sagte der Großvater. »Hast du schon deine Aufgaben gelernt? Ja? Dann kannst du dableiben und ich will dir von ihr erzählen.«
»Ich war,« fing der Großvater an, »vier Jahre alt, so alt wie Martin jetzt ist, aber größer und fester als er. Geschwister hatte ich noch nicht und ich dachte auch nicht daran, daß mir das fehle. An einem Sonntagmorgen aber kam der Vater an mein Bettchen und hielt ein großes, weißes Bündel im Arm. Das war ein Tragkissen, und darin lag ein ganz kleines, zartes Menschenkindlein, das guckte mit großen blauen Augen hell um sich. ›Freu dich, Hermann,‹ sagte der Vater, ›Du hast ein Schwesterlein bekommen. Gib ihm einen Kuß aufs Bäckchen, aber sachte, sachte, daß es nicht schreit.‹
»War das ein Jubel! Es gab so viel Neues, Ungewohntes jetzt, das Schwesterlein war so interessant! Wenn es gebadet wurde und dann wohlig plätscherte und strampelte, oder wenn es seine Milch trank und nachher anfing zu ›krägeln‹, du weißt ja, wie das ist.« »Ja, ja, man meint, es wolle anfangen zu sprechen und kann doch noch nicht,« sagte Angelika eifrig. Sie war ganz bei der Sache.
»Einmal fragte ich die Mutter: ›Sag, heißt es nur Schwesterlein und sonst nichts?‹ Da lachte sie und sagte: ›Am Sonntag soll es getauft werden! Paß nur gut auf, wie der Herr Pfarrer dann sagt, so heißt es dann immer.‹ Von da[S. 196] an war ich sehr begierig auf den Sonntag. In der Nacht hörte ich aber ein Gespräch der Eltern mit an.
»›Nein, nicht nach mir,‹ sagte die Mutter. ›Siehst du, es ist so zart und lieblich und fein, es sieht aus wie die Engelein, und da möchte ich so gern, daß es auch der Engelein Namen trage. Wir wollen es Angelika heißen.‹
»›Ich habe nichts dagegen,‹ sagte der Vater. ›Und Gott behüte unser Kindlein, daß die Engelein allezeit bei ihm bleiben.‹
»Da wußte ich, wie der Herr Pfarrer das Schwesterlein heißen werde. Das wuchs fröhlich heran. Ich sei, sagte die Mutter, ein rechter kleiner Schreihals gewesen, da kam es ihr fast wunderbar vor, wie sanft und still das Schwesterlein war. Es konnte stundenlang in seinem Wägelchen liegen und mit den Händchen spielen, und wenn man dann herkam, lachte es einen an. Ich war ganz glücklich, als es mich zum erstenmal am Haar zupfte und meine Finger mit seinen Händchen umschloß. ›Gelt, es ist nur mein Schwesterlein und sonst gar niemands?‹ fragte ich die Mutter immer wieder und dann war ich froh und stolz, wenn sie es bejahte.
»Als es ein Jahr alt war, trippelte mein Schwesterlein schon ganz flink auf seinen eigenen Füßchen daher. Ich brauchte ihm nur einen Finger zu geben, so durchwanderte es den ganzen Garten mit mir.
»Wir hatten damals einen alten Kutscher Namens Leonhard. Der blieb allemal stehen, wenn das Kleine aus dem Haus kam und kratzte sich hinter den Ohren. ›Wenn's nur nicht davonfliegt, das Engelein,‹ sagte er dann vor sich hin. ›Es tun ihm nur noch die Flügel fehlen.‹
»Ich lachte vergnügt darüber, denn das gefiel mir, daß der alte Brummbär das Schwesterlein mit einem Engelein verglich. Mit dem Davonfliegen, dachte ich, habe das keine Not.
[S. 197]
»Ja, gelt, es hat ja keine Flügel gehabt,« bestätigte Angelika.
»Wenigstens damals noch nicht,« sagte der Großvater so vor sich hin. Dann fuhr er fort: »Ich kann dir das nicht mehr alles erzählen, obgleich ich's noch ganz genau weiß, wie es sprechen lernte und fast von selbst alle kleinen Liedchen der Mutter nachsingen konnte. Und wie es dann anfing, mit seinen Puppen gerade so zu hausen, wie es das bei den großen Leuten sah. Als ich sechs Jahre alt war, mußte ich zur Schule. Und es gab einen großen Jammer, als das Schwesterlein einsehen mußte, daß es da nicht mit konnte.
»Aber eines Tages ging die Türe auf, als wir tüchtig am Einmaleins waren und herein trippelte, gerade auf mich los, ›das Engele‹, wie es im Dorf allgemein hieß, mein kleines Schwesterlein mit seinen langen goldigen Locken. Es trug ein Stückchen Backwerk im Händchen. Das hatte es geschenkt bekommen und ich sollte, wie immer, die Hälfte abbeißen.
»Von da an neckten mich die Buben immer. Und ich dachte dann machmal, daß ich nun auch zu groß sei, um immer mit einem kleinen Mädchen zu spielen. Auf dem großen Spielplatz am Brunnen war es so lustig. Ich war der Anführer bei allen wilden Spielen, und Angelika konnte da nicht mittun. Sie blieb daheim bei der Mutter und unterhielt sich stundenlang allein im Garten. Wenn ich manchmal am Sonntag oder so mit ihr hinunterging, so war ich ganz verwundert, was sie mir alles zu erzählen wußte.
»Du bist ein Fabelhans, Engele,« sagte ich einmal, als sie mir ganz ernsthaft berichtete, was ihr die Vögelein, die ihr Nest in der Stachelbeerhecke bauten, erzählt hätten und daß das grüne Eidechschen, das zu unsern Füßen durchs Laub raschelte, eine Mama sei und kleine Kinder zu Haus habe.
»Angelika war vier Jahre alt, als des Bachbauern Liesle starb, ein kleines schwächliches Dinglein. ›Dem armen Tröpfle[S. 198] ist's wohlgegangen,‹ sagte Kätter unsere Magd, als sie von der Beerdigung heimkam.
»Angelika war mitgewesen. ›Warum ist's ihm wohlgegangen?‹ wollte sie wissen. ›Wenn man's doch in das tiefe Loch hinunter getan hat?‹ ›Ach du lieber Gott, paßt das Kind auf,‹ sagte die Kätter, und die Mutter erklärte: ›Der liebe Heiland läßt es nicht in dem Loch, er schickt seine Engelein, die tragen es in den Himmel.‹
»Am andern Tag begrub Angelika ihre liebste Puppe Toni im Garten unter einem Himbeerbusch. Dann saß sie lange mäuschenstill gegenüber. Und als ich sie holen wollte, legte sie ihr Fingerchen auf den Mund: ›Bscht! Sei leise! Ich muß warten, bis die Engelein kommen und die Toni in den Himmel tragen.‹ Damals war ich schon ein großer Schüler, der nächstens in die Stadtschule kommen sollte, so konnte ich mit großer Weisheit erklären: ›Dumms Dingle, Puppen kommen nicht in den Himmel.‹
»Ich nehme aber die Toni mit, wenn ich hineingehe, beharrte Angelika und dabei blieb sie, obgleich ich versicherte, wenn man einmal ganz alt sei und in den Himmel komme, brauche man keine Puppen mehr.
»Als ich das erstemal nach halbjähriger Abwesenheit wieder nach Hause kam, war Angelika fünf Jahre alt. Ich war jetzt für die ganze Schulzeit bei dem Onkel in der Stadt einquartiert und kam nur in den Ferien heim. In der Stadt lebte ich mit so viel Buben zusammen und Mädchen sah ich nur von weitem. Da war ich's gar nicht mehr gewöhnt, mit Puppen und Kochgeschirren umzugehen, und sagte das auch dem Schwesterlein, als es mich feierlich zum Puppenvater ernannte.
»Das ›Engele‹ sah mich mit seinen großen blauen Augen nachdenklich an, dann sagte es: ›O das tut nichts; die Kinder setzen wir nur ins Rondell, sie sind sehr artig. Dann kann ich[S. 199] gut mit dir spazieren gehen, Hermännle. Es sind junge Geißlein bei der Webergret, die müssen wir ansehen.‹ Da wußte ich, daß Angelika ganz und gar Beschlag auf mich legen wollte, und es fiel mir ein, daß es nur mein Schwesterlein sei und sonst niemand's, und wir verbrachten unsere Zeit wieder zusammen, wie früher.
»Bei der Webergret war es nun allerdings genußreich. Die zwei kleinen Geißlein, die im Stall herumhüpften, waren so zierlich und possierlich, daß wir uns fast nicht trennen konnten. Angelika sprach mit ihnen wie mit Menschen. ›Komm, komm, du Kleines,‹ sagte sie und tätschelte das Weiße mit ihrem kleinen Händchen, ›du mußt das Schwarze auch zum Tröglein herlassen! Denk einmal, wie bös das ist, wenn man alles allein haben will!‹
»Die Webergret sah immerfort ganz entzückt mein Schwesterlein an. Das tat mir wohl, es war mir fast, als ob ich mit schuld sei, daß es so herzig war. Aber dann schüttelte das Weib ernsthaft den Kopf. ›Auch gar nichts hinwachsen tut an das Kindlein,‹ brummte es. ›So feine Gliedlein wie von Wachs, und so Augen, so Augen! Und hat doch eine Pfleg! ich weiß, eine Pfleg wie ein Prinzeßlein!‹ Es wurde mir ein wenig unheimlich, ich zog das Engele mit mir fort und erzählte daheim bei Tisch den Eltern, was die Webergret gesagt habe. Sie tauschten einen langen Blick und die Mutter drückte heftig das blonde Köpflein an sich. Ich verstand das damals nicht, es ist mir aber später noch oft eingefallen.«
Der Großvater schwieg eine Weile und nickte ein paarmal mit dem Kopf, so, als ob ihm immer wieder etwas einfalle, was zu der Geschichte gehöre. Das wilde kleine Mädchen, das sonst, wie jedes behauptete, gar nicht wußte, was still sein heißt, rührte sich nicht. Es hatte sich so in des Großvaters Erzählung hineingelebt, daß es nicht mehr daran dachte, daß[S. 200] man drüben im Garten Äpfel schüttle und daß es sich hatte ein ›Maugennest‹ anlegen wollen. »Weiter, o weiter, Großvater,« sagte Angelika endlich und tat einen tiefen Atemzug.
»Ja so, ja,« sagte der Großvater.
»Einmal kam ich auch in die Vakanz. Es war einige Tage vor Ostern. Ich war nicht recht wohl, hatte Kopfweh und war müde und der Vater sagte: ›Das ist wohl vom Wachsen und vom Lernen zusammen.‹ ›Wollen ihn schon herauspflegen,‹ sagte die Kätter, die gerade durchs Zimmer ging. Angelika war ein wenig blaß und war gewachsen, seit ich sie nicht gesehen hatte. ›Sie ist fast den ganzen Winter im Zimmer gewesen,‹ sagte die Mutter. ›Sie hatte soviel Husten. Aber jetzt, wo die Sonne so warm scheint, darf mein Vögelein wieder hinaus.‹ Da wurden die schmalen Bäckchen rot vor Freude. ›Hermännle,‹ sagte Angelika, ›am allerschönsten ist's draußen am Steinbühl. Dort gibt's jetzt Palmkätzchen und Schäfchen und Schlüsselblumen. Gelt, wir gehen gleich nach dem Essen hinaus? Es ist nicht so weit, das ist recht, weil du so müde bist. Und ich auch,‹ setzte sie hinzu.
»Es war ein wunderschöner Frühlingstag, der Gründonnerstag, an dem wir zwei Hand in Hand an den Steinbühl gingen. Leonhard stand unter der Stalltüre, als wir den Hof verließen. Er hatte inzwischen ganz weiße Haare bekommen und hatte sich angewöhnt, halblaut vor sich hin zu reden. Als er uns beide sah, fuhr er sich über die Augen und sagte: ›Ja, ja, werden's schon sehen! Hab's schon lang gesagt! Es fliegt schon noch davon! Werden's schon sehen!‹
»Da lachte das ›Engele‹ hell und lustig: ›Wer fliegt davon, Leonhard? Paß auch gut auf, wenn der Osterhase in den Garten läuft, daß du ihn nicht verscheuchst! Und sag: er soll mir ein Springseil legen und einen Bücherranzen, ich komme jetzt dann in die große Schule!‹ Aber der Alte brummelte weiter und wir zogen aus.
[S. 201]
»›Weißt du, Hermännle,‹ plauderte Angelika, als wir auf der Lattenbank unter der Buche am Steinbühl saßen, ›weißt du, manches ist so sonderbar! Gestern hat die Kätter Zwiebel gesteckt und Gelbrüben gesät. Wie können denn da große Stöcke herauswachsen aus so kleinen Kernlein?‹ ›Das läßt eben der liebe Gott wachsen,‹ sagte ich ein wenig gedankenlos. Ich wollte gern von lustigeren Sachen schwatzen. Aber mein Schwesterlein war noch nicht fertig. ›Die Kätter sagt,‹ fuhr sie fort, ›die Engelein kommen in der Nacht und gießen mit silbernen Kannen Wasser auf die Beete. Ich möchte sie nur ein einziges Mal sehen und den lieben Gott!‹ ›Das kann man nicht,‹ belehrte ich. ›Das kann man erst im Himmel. Komm, wir nehmen junge Brennessel mit heim für die Hasen. Man kann sie mit dem Taschentuch abrupfen.‹
»Angelika legte gehorsam mit Hand an und pflückte dann noch ein Sträußchen für die Mutter. Auf einmal tat sie einen lauten Ausruf des Entzückens. ›O, o, sieh nur,‹ rief sie. ›Lauter weiße und rosa und goldene Wölkchen am Himmel. Da wo er aufhört, es ist gar nicht weit! O, wenn wir nur geschwind hinlaufen könnten! Die Kätter hat gesagt, wenn es so aussehe, dann sei das Himmelsfenster offen und die Engelein sehen heraus!‹
»›Die Kätter versteht etwas rechtes davon,‹ sagte ich etwas brummig. Es war mir gar nicht wohl und ich wollte viel lieber nach Haus, als den Engelein nachlaufen, die man ja doch nicht finden konnte. Als ich das sagte, sah mich Angelika so eigen an, daß ich beinahe nachgegeben hätte. Aber dann sagte sie: ›Weißt du was, Hermännle, dann geh du voraus heim. Ich muß nur noch ein ganz kleines Weilchen zusehen. Siehst du, man sieht die Sonne gut noch! Und die Mutter hat gesagt, ich dürfe draußen bleiben, so lang die Sonne scheint!‹
»Ich wollte nicht gern allein nach Hause, aber ich fühlte[S. 202] mich immer übler und Angelika konnte ja schon noch eine Weile die farbigen Wölkchen ansehen. So ging ich richtig voraus. Als ich mich noch einmal umsah, stand sie immer noch am gleichen Fleck und sah regungslos in den Himmel hinein.«
Der Großvater machte wieder eine Pause. Dann sagte er: »Und dann habe ich sie nicht mehr gesehen. Als ich nach Hause kam, schlugen mir die Zähne zusammen vor Frost und mein Kopf glühte. ›Ich sag's ja, der Bub ist krank und das rechtschaffen,‹ rief die Kätter, als sie mich sah. Dann wurde ich zu Bett geschafft und der Leonhard nach dem Doktor geschickt. ›Wo ist Angelika?‹ fragte die Mutter, und wie im Traum sagte ich: ›Sie kommt dann gleich nach!‹ Als ich wieder erwachte, saß die Mutter an meinem Bett und hatte ein schwarzes Kleid an. Sie küßte mich viele Male und rief den Vater herbei und der schloß mich auch in die Arme. ›Wo ist Angelika?‹ begehrte ich dann zu wissen und wunderte mich, daß sich die Mutter abwandte und der Vater so ernst sagte: ›Du kannst sie jetzt nicht sehen!‹ Aber dann schloß ich wieder die Augen. Ich war noch so müde, denn ich war am Scharlachfieber lange krank gewesen, ohne etwas von mir zu wissen.«
»Aber wo war denn die Angelika,« rief die Enkelin in großer Erregung. »Ist sie damals nicht heimgekommen?«
»Doch,« sagte der Großvater. »Sie kam, als es dunkel war, in des Doktors Wagen nach Hause. Das weiß ich, die Mutter hat mir's später erzählt. Sie hatte lange die flammenden Wölkchen angesehen und es war ein immer größeres Verlangen in ihr aufgestiegen, sie in der Nähe zu betrachten, da, wo sie die Erde berührten. Es könnte ja am Ende doch sein, daß die Engelein da herausschauen, dachte sie. So fing sie an, zu laufen. Über die Brachfelder hin, dem Wald zu, über dem der Himmel in flammender Röte stand. Nur zog sich der Weg so sehr in die Länge und Angelika wurde immer[S. 203] müder. Es fing auch an, dunkel zu werden und nun schwand eines der prächtigen Wölkchen nach dem andern. Da blieb das Kind auf dem Felde stehen und schaute sehnsüchtig nach der verschwindenden Pracht. So fand es der Doktor, der, zu mir gerufen, vorbeifuhr und dem die kleine Gestalt bekannt vorkam. »Ich bringe noch einen Patienten mit,« sagte er, als ihn der Vater an der Haustüre empfing. Das ›Engele‹ war blaß und müde und hustete stark. Am Abend kam ein heftiges Fieber und am Osterfest haben die Engelein unser ›Engele‹ in den Himmel getragen. ›Du darfst nicht böse sein, Mutter, ich wollte nur geschwind die Engelein sehen,‹ sagte Angelika einmal in ihrer Krankheit. ›Ich möchte sie so gern sehen.‹ ›Sie kommen zu dir, liebes Kind, du brauchst sie nicht zu suchen,‹ antwortete die Mutter. Da glänzten die großen blauen Augen noch einmal wie früher. Und dann schlossen sie sich, um sich im Himmel wieder aufzutun. Als ich wieder hinaus durfte in den Sonnenschein, führte mich die Mutter an der Hand. Es war schon acht Wochen her, seit unser ›Engele‹ davongeflogen war. Wir gingen durch das dunkle Gitter in den sonnigen Friedhof und setzten uns auf ein Mäuerchen, dem kleinen Grab gegenüber. Es hatte heute ein weißes Marmorkreuz bekommen mit goldenen Buchstaben.
›Angelika‹
las ich.
›Heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß.‹
Und wir weinten zusammen.«
Es war fast dunkel geworden in der Laube, als der Großvater seine Erzählung beendigt hatte. Angelika schmiegte sich an ihn und er hatte seine Hand an ihren Kopf gelegt.
»Großvater, ist das wahr,« fragte das Kind nach einer Weile, »ist das wahr, daß die Engel zu den rosa Wölkchen[S. 204] heraussehen? Ich werde nicht müde, ich könnte gut so weit laufen, ich möchte sie auch so gern sehen.«
Der Großvater schüttelte den Kopf. »Die Engel kann man nicht sehen, solang man auf der Welt ist. Es ist auch nicht nötig. Wenn es der liebe Gott wollte, so würde er sie uns schon zeigen. Sie sind aber doch da. Bitte nur den lieben Gott, daß er dir ein frommes und gehorsames, liebevolles Herz schenkt, so sind auch die Engelein um dich her. Und nun wollen wir miteinander hineingehen.«
»Das Kind wird mir doch nicht krank werden,« sagte Heinerike kopfschüttelnd, als Angelika am Abend so gar fügsam und willig war beim Zubettegehen. Sie war sonst ein wenig heftig und eigenwillig und Heinerike hatte viel zu brutteln über das Mädchen. Die Mutter hörte es und sagte ruhig: »Nein, es wird nicht krank. Es hat nur etwas gelernt heute!«
Angelika ist schon lang kein kleines Mädchen mehr. Sie ist eine fleißige, große Tochter.
Neulich kam ich zu einer alten Frau, der sie einen großen Strauß Frühlingsblumen gebracht hatte und eine Schüssel Suppe dazu.
»Es ist mir alleweil, als ob ein guter Engel komme, so oft das Fräulein kommt,« sagte die Alte.
So haben scheint's die Engelein den Weg zu Angelika gefunden.
[S. 205]
Der Tag fing erst an zu grauen. Der Mond stand noch blaß und übernächtig am Himmel und in den Bäumen rauschte der Morgenwind. Aber in dem niederen Häuslein der Frau Judith, das ganz allein draußen im Felde stand, brannte schon ein lustiges Feuer auf dem Herd und das Lämpchen warf seinen Lichtschein durch die Fensterscheiben. Frau Judith kochte die Morgensuppe für sich und ihr Büblein und daneben noch einen Brei, der zum Mittagessen für den Jockele bestimmt war. Denn sie mußte heut ihr Büblein den ganzen Tag allein lassen und da sorgte sie denn, derweil es noch schlief, daß ihm nichts Nötiges fehle. Judith war eine geschickte Näherin und verdiente das Brot für sich und das Kind mit ihrer Hände Arbeit. Manchmal nähte sie in den Bauernhäusern der Nachbardörfer, und das war ihr am liebsten, obgleich es weniger eintrug, denn da konnte sie den Jockele mitnehmen und auf ihn acht haben. Aber sehr oft führte sie ihr Tagewerk auch in die Stadt und da durfte sie ihr Büblein nicht mitbringen und es war ihr nicht zu verdenken, daß sie heute morgen ein wenig seufzte, wenn sie daran denken mußte, daß das Kind nun wieder den ganzen Tag ohne Schutz und Aufsicht ganz allein in dem Häuschen sei. Sie reinigte nun noch die Stube mit dem Besen und brachte alles in gehörige Ordnung, dann setzte sie sich an den Tisch und fing an, ein Paar zerrissene Höschen zu flicken, die auch dem Jockele gehörten. Und dabei seufzte sie so tief und schwer, daß es der Jockele in der Kammer hörte und[S. 206] schnell aus seinem Bettchen stieg, um zu sehen, was etwa der Mutter zugestoßen sein könnte. Da saß sie am Tisch und hatte den Kopf in die eine Hand gestützt und schaute so kummervoll vor sich hin, wie es der Jockele noch gar nie gesehen hatte. »Mutter, was hast du denn?« sagte er verwundert, »tust du vielleicht so wegen den Hosen? Sicher, ich habe sie nicht zerreißen wollen, sie sind von selber so aufgeplatzt.« Und dabei drängte er sich ganz nah an die Mutter her und streckte sich an ihr in die Höhe, um ihr Gesicht zu streicheln.
»Ach du arm's Büblein,« sagte die Mutter und fuhr dem Jockele durch sein dichtes, blondes Lockenhaar, »die Höschen, die kann ich wieder flicken, da wollte ich nicht seufzen; wenn ich nur alles, was auseinander ist, so zusammennähen könnte!« »Was ist denn sonst noch auseinander?« wollte der Jockele wissen, »und warum sagst du immer ›arm's Büblein‹ zu mir?« »Weil du noch so klein bist und hast schon deinen Vater verloren, und er ist erst nicht beim lieben Gott, sondern in der weiten Welt — und ich kann auch nicht bei dir bleiben, weil ich Geld verdienen muß zu Brot und Kleidern und kann dich nicht beschützen und zum Guten erziehen — und es könnte dir etwas passieren, so lang ich fort bin.« Judith sah so niedergeschlagen und unglücklich aus, daß das Büblein gewaltsam nach einem Trostgrund suchte. »Mutter,« sagte es nach einer Weile, »sei du nur wieder ganz fröhlich, ich will fortgehen und den Vater suchen und dann sage ich ihm, daß er wieder zu uns kommen muß, und dann kannst du wieder bei mir bleiben, alle Tage, und alles wird wieder, wie es vorher war.« Der Jockele war noch klein, erst fünf Jahr alt, aber er war ein sinniges, nachdenkliches Kind und er mochte am liebsten bei der Mutter sitzen und sich mit ihr unterhalten. Da hatte er dann, solang der Vater da war, es schön gehabt. Da hatte die Mutter immer Zeit für ihn gehabt, er war ihr,[S. 207] wenn sie im Hause herumhantierte, den ganzen Tag nachgelaufen, aus der Küche in die Stube und aus der Stube ins Gärtchen und umgekehrt. Und wenn die Hausarbeit getan war und die Mutter setzte sich nieder mit einer Näharbeit, dann zog der Jockele sein Bänkchen herbei und die Mutter mußte Geschichten erzählen, alte und neue, davon hatte er nie genug bekommen. Vom Vater hatte er wenig gewußt, er schlief immer schon, wenn dieser abends von der Arbeit nach Hause kam. Das schwebte ihm noch dunkel vor, daß er manchmal nachts an einem lauten Gepolter und Geschrei erwacht war und des Vaters Stimme war ihm dann unheimlich und furchterregend gewesen. Aber weil das schon lange her war, und weil, seit der Vater eines Tages nicht nach Hause gekommen und dann ganz ausgeblieben war, die Mutter fast gar keine Zeit mehr für den Jockele hatte, sondern nur immer Geld verdienen mußte, so wob sich in seinem Kopf die Zeit, da er noch einen Vater hatte, zu einem Bild voll Behagen zusammen und es kam ihm ganz ausführbar vor, daß er den Vater wieder holen und damit die alten Zustände wieder einsetzen könne. — Die Mutter schüttelte den Kopf und zog den Jockele an sich. »Ach damit ist's nichts, Kind,« sagte sie. »Wir wissen ja gar nicht, wo wir den Vater suchen müßten, die Welt ist groß und weit und kein Mensch weiß, wo er hingewandert ist. Und er will ja gar nicht mehr heim zu uns; das ist ja grad' das Elend, daß er nur für sich allein leben will und hätte doch daheim ein Häuslein und ein Weib und so ein herziges Büblein. Nein, nein, holen kannst du den Vater nicht, auch wenn du größer wärest und könntest so in die weite Welt gehen. Bleib' du nur bei mir und sei mein Trost und meine Freude und werde recht brav und fromm, dann können wir zusammen auch wieder fröhlich werden.« Jetzt waren unterdessen die Löcher gestopft und der Jockele konnte[S. 208] mit den Höslein bekleidet werden. Sonst brauchte er nichts anzuziehen, als ein leichtes Kittelchen, denn es war trotz des Herbstes noch warmes, sonniges Wetter und er lief leichter davon mit seinen nackten Füßchen, als wenn er Schuhe und Strümpfe angehabt hätte. Dann wurde noch die Morgensuppe miteinander gegessen und zum Schluß betete die Mutter noch einen andächtigen Morgensegen mit dem Kinde und befahl es in die Hut des Vaters im Himmel, daß der ihm seine Engelein zu Wächtern bestelle, und darüber wurde es ihr selbst auch leichter ums Herz.
Sie mußte sich jetzt auf den Weg machen, denn sie hatte fast eine Stunde zu gehen und es war inzwischen heller, sonniger Morgen geworden. So befahl sie dem Jockele noch einmal an, sich ja nicht zu verlaufen und auf alles gut acht zu geben, und trat dann ihre Wanderung an. Sie hatte gar vieles zu bedenken bei sich selbst, wie sie da so ganz allein auf der Landstraße dahinschritt. Das Gespräch mit dem Kinde hatte wieder alle vergangenen Zeiten in ihr wachgerufen. Wie sie einst als junges, fröhliches Mädchen im Dienst in der Stadt ihren Daniel kennen gelernt und sich gegen den Willen seiner Eltern, die dem einzigen Sohn eine reiche Partie gewünscht hatten, mit ihm verheiratet hatte; wie sie dann zuerst in allem Glück mit ihm in dem kleinen Häuschen gewohnt und sich nicht viel darum gekümmert hatte, daß die Eltern ihres Mannes jeden Verkehr mit ihnen abgebrochen hatten. Dann kamen trübe Bilder vor ihre Augen, Zeiten, in denen der Daniel, der sonst ein fleißiger, geschickter Zimmerarbeiter war, sich, von bösen Kameraden verführt, ans Wirtshausleben gewöhnt und ihr und dem kleinen Büblein, das inzwischen geboren war, das Leben gar sehr verbittert hatte. Es war noch viel schlimmer gekommen; Daniel, bei der fetten Küche und dem stets offenen Keller eines Wirtshauses aufgewachsen, bereute jetzt nachträglich, daß er ein armes Mädchen geheiratet[S. 209] und sich damit ein einfaches Los bereitet hatte; die Eltern hatten ihn verstoßen, das Weib daheim bat und weinte, die Kameraden hetzten —, da faßte er eines Tages den Entschluß, allem Elend zu entlaufen und sich in der Neuen Welt ein neues Leben voll Freiheit und Genuß zu verschaffen. —
Seither lebte Frau Judith mit ihrem Büblein allein in dem Häuschen, mühte sich redlich, das tägliche Brot für sich und das Kind zu erwerben und den Zins für das Häuschen aufzubringen — es war ein arbeitsvolles Leben, und ihre einzige Freude und ihr Trost war der fröhlich gedeihende Bub' mit den lachenden blauen Augen und dem blonden Krauskopf. Frau Judiths Augen wurden feucht, wenn sie an ihr Büblein dachte, und sie faltete fast unbewußt die Hände; sie wollte so gern etwas Rechtes, Tüchtiges aus ihm machen und ihn fromm und gottesfürchtig heranziehen, daß er ihr nicht auch einmal Kummer und Herzweh machte, wie der Daniel seinen Eltern. Denn das hatte sie in all' der Trübsal längst eingesehen, daß der Elternsegen ihrem Haus gefehlt hatte, und es zog sie mächtig, mit den alten Eltern ihres Daniel ins Einvernehmen zu kommen, aber deren Haus war ja für sie verschlossen. —
Inzwischen hatte der Jockele zu Haus genußreiche Stunden verlebt. Allein gewesen war er schon oft, es war ihm gar nicht bänglich. Zuerst fütterte er die drei Hühner, das einzige lebende Besitztum des Hauses, dann lief er hinunter an den Bach und warf Kiesel in das klare Wasser, vergnüglich die Ringe und Blasen betrachtend, die sich darin bildeten. Das nahm ihn solang in Anspruch, bis er Hunger verspürte. Dann ging er ins Häuschen zurück und aß seinen Brei, unbekümmert, ob es schon Mittag war oder nicht. Er hatte keine andere Uhr als seinen Magen, wenn der sich bemerkbar machte, dann aß er. Nach der Mahlzeit grub er in seinem kleinen Gärtchen und setzte abgebrochene Blumen hinein, dann fiel ihm wieder[S. 210] das Gespräch mit der Mutter und ihr trauriges Gesicht ein, und er mußte stark nachdenken, wie es wäre, wenn's anders wäre. Das wollte dem Jockele nicht recht einleuchten, daß es gar nicht möglich sein sollte, den Vater wieder zu holen. Man mußte nur suchen, bis man ihn fand, und ihm dann sagen, daß die Mutter seinetwegen so seufze, dann würde er schon mitkommen. Wenn er nur gewußt hätte, wo hinaus man gehen müßte! Rechts ging der Weg in die Stadt, dort war er nicht, denn die Mutter ging ja so oft dorthin und hatte ihn noch nie gesehen, links kam man in einen großen Wald und vor ihm und hinter ihm dehnte sich weithin das Ackerland aus. Jockele nahm sich vor, alle Leute, die des Wegs daher kämen, zu fragen, vielleicht hatte doch einer den Vater gesehen. Es kam aber lang niemand. Erst gegen Abend kam die Kräuterliese mit einem Korb voll Hagebutten aus dem Wald. Die lachte nur auf Jockeles Frage: »O Kind,« sagte sie, »das weiß nur der liebe Herrgott, wo dein Vater hin ist! Guck, dahinten am Wald kommt gerade der Mond herauf, wenn man da hinaufsteigen und heruntersehen könnte, da könnte man ihn vielleicht finden. Sei du nur froh, Büblein, daß du allein mit deiner Mutter bist, so ein Gutedel, wie dein Vater war!« Damit trottete sie weiter. Jockele wußte nicht, was ein Gutedel sei, es war ihm auch eins, er hatte nur verstanden, daß man vom Mond aus vielleicht sehen könnte, wo der Vater sei, und da gerade jetzt die leuchtende Kugel ganz hinten am Berg heraufkam, so dachte er, wenn man nur schnell auf den Berg liefe, so könnte man ganz leicht hineinsteigen. Das war ja nicht sehr weit, bis die Mutter heimkäme, konnte man wieder zurück sein.
Jockele besann sich nicht lang, er lief nur noch schnell ins Haus und holte sich seine Kappe, dann zog er aus, gerade auf den Mond zu, in den dichten Wald hinein. Er war schon ein[S. 211] gutes Stück fortmarschiert, der Weg ging längst zwischen hohen Tannen dahin, nun machte er eine scharfe Biegung; von dort aus kam man nicht zum Mond, merkte Jockele, so verließ er die Straße und schlüpfte zwischen den Bäumen durch, immer das silberne Licht im Auge, das da durchschimmerte. Es stieg höher und höher, nun schwebte die silberne Kugel hoch über den Tannen, sonst war es ganz dunkel geworden. Das erschreckte den Jockele, so hoch hinauf konnte er nicht klettern, das sah er wohl und er mußte nun wohl wieder umkehren. Aber woher war er denn gekommen und wo war denn die Straße geblieben? Jockele fing an zu laufen, immer — immerfort, nur wußte er nicht, daß es gerade die verkehrte Richtung war, die er eingeschlagen hatte. Der Wald wollte gar kein Ende nehmen, die Füße taten ihm weh und er hatte auch Hunger. Da lichtete sich plötzlich das Dickicht, er stand an einem Kreuzweg, den er noch nie gesehen hatte und daran war ein Wegzeiger mit einem Ruhebänklein drunter. Es war auch ganz hell, denn der Mond stand jetzt ganz hoch am Himmel und lachte dem Jockele freundlich zu. Das tröstete das verlassene Büblein wieder ein wenig; nun wollte er immer auf dem Weg fortlaufen, bis der Wald ein Ende hatte, und am Ende des Waldes sah man ja schon das Häuslein, wo die Mutter war. Nur vorher ein wenig ausruhen mußte der Jockele, er war sehr müde geworden; so setzte er sich auf das Bänkchen, lehnte den Lockenkopf an den Wegzeiger — und schlief ein, süß und fest.
»Hü, Schimmel, vorwärts,« schallte es durch den Wald, eine Peitsche knallte und ein schwerer Wagen knarrte auf der stillen Straße. Ein weißer Spitzerhund sprang bellend voran, plötzlich blieb er stehen, umschnüffelte das Ruhebänklein von allen Seiten und schlug ein solch lebhaftes Gekläff an, daß der Fuhrmann verwundert seine Pfeife aus dem Mund nahm:[S. 212] »Was hast du nur, Spitz?« fragte er, aber da sah er auch schon das schlafende Büblein, das sich durch keinen Lärm in seiner Ruhe hatte stören lassen. »Potz tausend,« sagte der Sonnenwirt von Kaltenbach, das war der Fuhrmann, und kratzte sich hinter den Ohren, »was macht man jetzt da? Ich schätz', das Büble kann man nicht so allein liegen lassen, es muß ja doch einem gehören!« Er war abgestiegen und zupfte den Jockele an seinem Lockenhaar. »Wem g'hörst, Kleiner?« »Meiner Mutter,« sagte der Kleine und blinzelte schlaftrunken in das Licht der Wagenlaterne, mit der ihn der Sonnenwirt beleuchtete. »Wie heißt denn?« ging das Examen weiter. »Jockele,« war die Antwort. »Wie weiter, du mußt doch auch sonst noch einen Namen haben? Ruhig, Spitz, kusch dich,« sagte der Sonnenwirt, als er sah, daß Jockele mit ängstlichen Augen auf den Hund sah. »Nein, sonst heiße ich nichts mehr,« sagte der Jockele nun bestimmt. Er war völlig wach geworden und sah groß um sich. »Ja, wo willst denn hin heut nacht noch und wo wohnst du?« Jetzt fiel dem Jockele wieder alles ein. »Drum hab' ich wollen geschwind in den Mond hineinsteigen, ob ich mein' Vater nicht sehe, aber er ist so hoch hinaufgestiegen, da hab' ich nimmer weiter können. Und jetzt muß ich ganz schnell heim zur Mutter, sie ist jetzt daheim. Zeig' mir den Weg, ich weiß ihn nimmer,« sagte er ganz unerschrocken. Der Sonnenwirt war ein bißchen ängstlich geworden, er betrachtete den Buben forschend, ob er im Fieber spreche oder am Ende einen »Mondstich« habe. Der stand aber schon auf den Füßen und faßte nach seiner Hand und sah so hell um sich, krank oder verwirrt war der nicht, das sah man wohl.
»Jetzt will ich dir etwas sagen, Büble,« sagte der Sonnenwirt nach kurzem Bedenken, »heim kannst du heut nacht nimmer, du weißt den Weg nicht und ich auch nicht und 's ist schon nach Mitternacht. Jetzt sitzst du da hinauf auf mein' Wagen[S. 213] und kommst mit mir heim in mein Haus, da kannst bei mir schlafen.« Der Kleine ließ sich willig in den Wagen heben, wo ihm der Sonnenwirt ein Lager von Säcken machte, und schlief bald wieder weiter, fest und tief. Er erwachte auch nicht, als ihn sein Beschützer aus dem Wagen nahm und ins Haus hineintrug, auch nicht, als er entkleidet und in das mächtig große Himmelbett gelegt wurde. Er schlief noch lang in den hellen Morgen hinein. Als er erwachte, saß in dem Großvaterstuhl an seinem Bett eine alte Frau, die hatte die Hände und Füße dick mit Tüchern umwickelt und betrachtete ihn aufmerksam. Der Sonnenwirt ging auch schon mit schwerem Tritt in der Stube auf und ab.
»Und ich sage dir, das ist dem Daniel sein Bub' und kein anderer,« sagte die Sonnenwirtin, denn sie war es, die in dem Großvaterstuhl saß, »so sieh doch nur einmal die Augen an und das Kraushaar und das ganze Gesicht, der ausgeschnittene Daniel.« »Was weiß man denn, was man sich da bei der Nacht ins Haus führt,« sagte der Sonnenwirt mürrisch, »so ist's, wenn man so ein mitleidiges Herz hat! Und jetzt wie machen, daß man den kleinen Racker wieder los wird?« »Sag' jetzt einmal, Büble,« sagte die Sonnenwirtin, als sie sah, daß der Jockele erwacht war und mit großen Augen um sich sah, »sag' jetzt einmal, wie deine Mutter heißt und wer dein Vater ist und warum du ihn hast suchen wollen.« Sofort richtete sich der Jockele auf und berichtete haarklein das Gespräch mit der Mutter, und wie er am Abend ausgezogen sei, den Vater zu suchen, und verschwieg auch nicht, daß er eben gar keinen anderen Wunsch habe, als daß die Mutter wieder immer bei ihm sei.
Das Ehepaar sah einander an, da war ja gar kein Zweifel mehr, das war ihr Enkelein; ganz genau das verjüngte Abbild des Sohnes, der einst ihres Herzens Freude[S. 214] und nun der Kummer ihrer alten Tage war. »Warum hast du deine Händ' so eingewickelt und deine Füß?« unterbrach Jockele, der nicht lang still sein konnte, das verlegene Schweigen der beiden Alten. »Weil ich die Gicht drin habe und so arge Schmerzen,« seufzte die Sonnenwirtin. »Meine Mutter kann einem immer wieder wohl machen, wenn's einem weh tut,« sagte Jockele mitleidig, »ich will's ihr nur sagen, so kommt sie zu dir; soll sie?«
Die Alten sahen einander wieder an, es hatte jedes so seine Gedanken für sich und mochte doch nicht anfangen, sie auszusprechen. »Meine Mutter kann gut laufen, der tun die Füße nicht weh und die Hände auch nicht, sie kann den ganzen Tag schaffen; kannst du gar nicht?« Jockele wurde plötzlich von einem großen Mitleid erfaßt, daß die Sonnenwirtin nun so den ganzen Tag dasitzen müsse und sich nicht rühren könne, und er hätte ihr am liebsten sogleich die Mutter hergebracht, die nach seiner Meinung für alle Schäden Rat und Hilfe wußte. »Nein, du gut's Büblein, ich kann nicht laufen und nicht schaffen, alles tut mir weh,« sagte die Sonnenwirtin; »aber da wollt' ich noch gar nicht klagen, das könnt' ich schon aushalten, aber der ärgste Schmerz, der sitzt mir da drinnen, da hab' ich einen Kummer, und da kann mir niemand helfen,« und dabei machte sie gerade so ein trostloses Gesicht, wie die Mutter gestern früh. »Ach laß doch, das versteht so ein Kleines nicht,« sagte der Mann ein bißchen brummig, aber Jockele wußte gut, wie es war, wenn man einen Kummer hatte, die Mutter hatte ja auch einen; so sagte er ganz verständnisvoll: »Die Mutter hat gesagt, ich soll nur brav sein und immer folgen, dann werde sie auch wieder fröhlich. Hast du kein Büble?« »Das ist ja gerad' mein Kummer, daß ich einmal eins gehabt habe und als es groß war, ist's von mir fortgegangen, weit, weit in die Welt hinaus, kein Mensch weiß,[S. 215] wohin.« »Der liebe Gott weiß es aber doch, die Mutter hat's gesagt, der wisse alles. Die Kräuterliese hat gesagt, man könne es auch sehen, wenn man in den Mond steigt und heruntersieht, aber ich komme nicht hinauf. Vielleicht könntest du mit einer Leiter hinauf,« wandte sich Jockele an den Sonnenwirt.
Die Alten mußten ein wenig lachen bei dem Vorschlag, die Frau aber zupfte ihren Ehegatten verstohlen am Ärmel: »Mein', was das für ein gescheiter Kerl ist und so weichherzig. Ich hätte so meine Gedanken; den hast du nicht umsonst heut nacht finden müssen. Das Weib muß sich plagen und schinden, die wäre am Ende froh, wenn wir für den Buben sorgten. Jockele, willst du nicht bei uns bleiben und unser Büble sein, da hättest du's gut und dürftest mit den Gäulen fahren und kriegtest zu essen, was du magst?« Sie zog bei diesen Worten den Kleinen näher an sich und sah ihn erwartungsvoll an. Auch der Sonnenwirt machte ein gespanntes Gesicht und stellte sich vor die beiden hin. Jockele war gleich fertig mit seinem Entschluß. »Ja, das will ich ganz gern,« sagte er bereitwillig, »so komm, so wollen wir gleich fortfahren und die Mutter holen. Kann sie dann auch immer mit den Gäulen fahren und alles so gut haben?« So war's nicht gemeint gewesen, die Alten hatten nur das Büblein gewollt, die Mutter aber nicht; sie sahen sich ein wenig verblüfft an, der Jockele fuhr aber fort: »und dann macht sie auch gleich, daß deine Hände und Füße nicht mehr so arg weh tun müssen und — sie kann dann auch deine Stube ein wenig sauber machen, die Mutter macht immer alles ganz sauber.« »Der weiß, wie eine Sache sein muß,« sagte beifällig der Sonnenwirt, »der hat nicht umsonst so helle Augen im Kopf!« Es war wahr, es sah nicht am schönsten aus in der Schlafstube; seit die Frau immer von Gicht geplagt war und selber nichts tun konnte, ging es mit der Haushaltung ein wenig zurück. Die Mägde hatten[S. 216] mit dem Feld und dem Vieh und der Wirtschaft zu tun, es war da auch nicht, wie es sein sollte. Da hätten ein paar junge Hände und Füße und ein guter Wille vieles zu bessern und zu helfen gefunden. Die Gedanken gingen in aller Eile durch die Köpfe der beiden Gatten, sie wußten aber nicht recht, was sie dazu sagen sollten, so schwiegen sie wieder still.
Das war nicht nach Jockeles Geschmack, der immer auf alle seine Fragen von der Mutter Antwort bekam. Er sprang eifrig aus dem Bett, fing an, sich anzuziehen und ermahnte den Sonnenwirt noch einmal: »So komm doch und mach' dich auch fertig, ich muß jetzt gleich zur Mutter, sie hat sonst Angst, wenn ich so lang nicht heimkomme.« Jetzt fing der Mann endlich an zu reden, er hatte einen großen Anlauf dazu nehmen müssen: »Weißt, Büblein,« sagte er, »deine Mutter will gar nicht zu uns, zu so alten Leuten, die will lieber immer in die Stadt gehen und nähen, du könntest ganz gut allein bei uns bleiben, dann wäre ich dein Großvater und das deine Großmutter. Paß auf, wieviel Schönes du da findest, ich kaufe dir eine Trommel und eine Peitsche und was du sonst noch willst.« »Nein, nein, das will meine Mutter gar nicht, sie will nur bei mir bleiben,« sagte Jockele entrüstet. »Und ich habe auch selber einen Großvater und eine Großmutter, ich muß alle Abend beten: Und mach' auch, lieber Gott, daß meine Großeltern nicht mehr bös sind auf die Mutter und mich.« »So, so, das betest du? Ja warum sind denn die Großeltern bös auf euch?« fragte die Frau, es war ein eigentümlicher Ausdruck in ihr Gesicht gekommen, man wußte nicht, ob sie lachen oder weinen wollte. »Weil sie so reich sind und so viel Geld haben, und meine Mutter hat keins und ich auch nicht, deswegen wollen sie uns gar nicht sehen. Aber der liebe Gott kann schon noch machen, daß sie uns noch[S. 217] lieb haben, hat die Mutter gesagt. Und ich muß sie auch lieb haben, denn sie sind so arm, weil sie keinen Menschen mehr haben, der ihnen gehört,« berichtete Jockele ernsthaft. Der Sonnenwirtin waren Tränen in die Augen getreten, und ihr Gatte ging mit starken Schritten auf und ab und räusperte sich stark.
Der Sonnenwirt blieb vor dem Jockele stehen, strich ihm mit der Hand über das Lockenhaar und sagte: »Geh du jetzt nur einmal hinaus und sag der Küchenmagd, daß sie dir ein großes Butterbrot und eine Schüssel Milch geben soll. Und dann gehst du zu dem Johann in den Stall und siehst, ob die Gäule schon gefressen haben. Ich rufe dir dann, wann ich fertig bin.« Das war eine neue Aussicht! Jockele ging eifrig auf den Vorschlag ein, und nun waren die Alten allein. »Was sagst du jetzt dazu, Mann? so red' doch auch ein Wort,« fing endlich die Frau an, als der Sonnenwirt immer am Fenster stand und so angelegentlich hinaussah, als ob da draußen etwas ganz Neues, Interessantes zu sehen wäre. Der Angeredete drehte sich um: »Das sag' ich dazu, daß wir alle beide uns selber den größten Schaden täten, wenn wir das Büblein nicht zu uns nähmen. Ist's doch unser leibhaftiges Enkelein, und ich meine, wir haben nicht viel übriges an eigenen Leuten. Der Bub hat mir ganz wohl gemacht, so etwas haben wir schon lang nicht mehr um uns gehabt.« »Aber die Mutter, die Judith?« warf die Frau zweifelnd ein; »du siehst's ja, der Bub will nicht bei uns sein ohne sie und sie selber — ich sag' dir, die gibt das Kind nicht her und wenn man ihr die Stube mit Talern pflastern wollte.«
»Ja, siehst du,« der Sonnenwirt stockte ein wenig, es fiel ihm gerade nicht leicht, das zu sagen, was er jetzt wollte — »siehst du, mit der Judith — ich hab' schon oft gedacht, ob wir nicht doch einen Fehler gemacht haben mit ihr. Sie soll[S. 218] so brav sein und fleißig, hab' ich schon oft sagen hören, und wenn ich sehe, wie sie den Buben aufzieht und lehrt ihn gegen uns auch gar keinen Groll und Zorn hegen, es ist ein Prachtskerl! Und dann hab' ich gedacht, sie hat junge Füße und Hände und könnte bei uns nach dem Rechten sehen, wenn du doch nicht fort kannst!« Die Sonnenwirtin ließ den Mann nicht ausreden. »Komm her zu mir, Alter,« sagte sie, »und gib mir eine Hand! Wenn die Judith will — und wegen dem Kind wird sie wohl wollen, so soll sie uns Gottwillkommen sein im Haus. Und jetzt spanne nur gleich ein, ich denke nicht, es könnte uns gereuen, aber denk, in was für einer Angst das Weib sein muß um den kleinen Buben. Das muß ihr ja fast das Herz abdrücken!«
Es dauerte kaum fünf Minuten, so standen die stattlichen Braunen im Geschirr vor dem Bernerwägele, und Jockele saß stolz auf dem Kutscherbock und hatte die Zügel in den Händen. »Da sieh, was das für einen Fuhrwerker gibt,« sagte der Sonnenwirt wohlgefällig zu seiner Frau, die sich nicht satt sehen konnte an dem Buben. »Bring ihn auch gewiß wieder mit, komm mir nicht heim ohne ihn,« sagte sie immer wieder, sie wäre am liebsten selbst mitgefahren. »Ich sag's ihm erst unterwegs, daß wir die Großeltern sind, ich muß ihn vorher noch zutraulicher machen,« sagte der Sonnenwirt beim Abschied. Er nahm sich vor, beim Krämer des großen Marktfleckens, durch den sie zu fahren hatten, allerlei einzukaufen, was ein Kinderherz erfreuen konnte. Der alte Mann hatte plötzlich in seinem Herzen einen ganzen Schatz von Liebe für den helläugigen Burschen entdeckt, es war ihm ganz warm geworden davon. Jockele sah aber nicht aus, als ob er zutraulich gemacht werden müßte. Er lachte mit dem ganzen Gesicht, als die Braunen anzogen! »Adieu, wir kommen ganz bald wieder und bringen die Mutter mit,« rief er der nachschauenden[S. 219] Sonnenwirtin fröhlich zu bei der Abfahrt. Dann entschwand das Fuhrwerk ihren Blicken.
Frau Judith war in großem Jammer gewesen, als sie bei ihrer Heimkunft das Häuschen leer fand und auch ihr Büblein nicht an seinem gewohnten Spielplatz am Bächlein entdecken konnte. Sie hatte überall gesucht, wo sie nur denken konnte, daß er möglicherweise zu finden sein könnte. Bis in die tiefe Nacht hinein war sie gelaufen und gelaufen, an den Erdbeerplatz im Wald, wo sie mit Jockele einmal gewesen war, ins nächste Dorf, wo er schon mit ihr in einige Kundenhäuser gegangen war — umsonst. Niemand hatte den Kleinen gesehen, keine Spur fand sich von ihm. Sie kehrte immer wieder ins Häuschen zurück, jedes Winkelchen aussuchend, wohl hundertmal seinen Namen rufend. Dann machte sie der Jammer ganz starr. Auf dem Bänklein vor dem Haus saß sie vollends die ganze Nacht, zusammenfahrend, so oft ein Vögelein schlaftrunken in seinem Nest zwitscherte oder ein fernes Wagengerassel sich hören ließ. »Das ist eine Strafe von Gott, der dir jetzt auch noch dein einziges Kind wegnimmt, wie du den Eltern deines Mannes das einzige Kind genommen hast,« kam es über sie und wieder ging sie ruhelos auf und ab und rief lauthin durch die Nacht: »Jockele, mein Büble, wo bist du?« — bis sie, übermüdet, auf dem Bänklein einschlief, noch im Halbschlaf betend, als säße sie am Bettchen ihres Kindes: »Breit aus die Flügel beide, o Jesu meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will es der Feind verschlingen, so laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein!«
Die Sonne stand hoch am Himmel. Frau Judith hatte sich eben zum Fortgehen gerüstet. Sie wollte in alle Nachbardörfer gehen und Anzeige machen; spurlos konnte ja doch so ein Kind nicht verschwinden. Da fuhr mit lautem Peitschenknall ein Wagen vor dem Häuschen vor und — Frau Judith[S. 220] mußte sich am Tisch halten, so zitterte ihr das Herz vor Freude — schon von weitem hallte laut die fröhliche Stimme ihres Bübleins: »Mutterle, Mutterle! da bin ich und das ist der Großvater und bös ist er gar nicht mehr!« Das war ein fröhliches Wiedersehen! Frau Judith verstand's zwar nicht gleich, was es heißen sollte, als Jockele anfing zu erzählen: »Weißt, Mutterle, zuerst habe ich wollen in den Mond hineinsteigen und den Vater suchen, aber ich habe dann doch nicht können — und dann ist der Großvater gekommen, aber ich habe nicht gewußt, daß er's ist, und dann habe ich in der Sonne geschlafen, die gehört dem Großvater. Und du mußt jetzt gleich mitkommen und machen, daß der Großmutter ihre Hände und Füße nicht mehr so wehe tun« — aber der Großvater wird's ihr ja wohl erklärt haben. Wenigstens fuhren auf dem Bernerwägelein drei fröhliche Menschen der Sonne zu und haben nachher einander die Heimat darinnen lieb und wert gemacht.
[S. 221]
Die Schulkinder von Rötenberg hatten heute einen wichtigen Tag. Zuerst war am Morgen keine Schule gewesen, weil der alte Herr Schullehrer schon gestern abgereist war, um seine neue Stelle an der Stadtschule anzutreten. Und nun, am Nachmittag, gab es ungeheuer viel zu sehen, da konnte man das Schulhaus keinen Augenblick aus den Augen lassen.
Denn da sollte der neue Lehrer einziehen, der nun jede Minute ankommen konnte, und damit hing vielerlei Merkwürdiges zusammen. Vor einer Stunde war der hochbepackte Frachtwagen angekommen und mit ihm, vorn auf dem Kutschbock beim Fuhrmann sitzend, ein junges Mädchen, das flink abgestiegen war und nun schon tüchtig unter den Möbeln und Betten hantierte. Der Fuhrmann half beim Abladen und der Kirchendiener mit seinem Weib war gleichfalls zur Hilfe angestellt und die Schuljugend hatte es wichtig mit dem Zusehen. Das junge Mädchen war die Schwester des neuen Lehrers und sie wollte bei ihm bleiben und ihm den Haushalt führen, denn er hatte keine Frau. Da mußte man sie schon aufmerksam betrachten. Sie trug ein einfaches blaues Kleid und hatte einen dicken braunen Zopf hinten aufgesteckt und ihr Gesicht sah ernsthaft, aber gar nicht unfreundlich aus. Zur Arbeit hatte sie eine große gestreifte Schürze angezogen und jetzt wendete sie sich an die müßigen Buben und Mädchen: »Höret, wenn ihr so gut Zeit habet, so könnet ihr mir ein bißchen helfen. Da, die vielen Blumentöpfe stellt man hinten in den[S. 222] Garten, alle auf das niedrige Mäuerchen. Und die Besen und Kochtöpfe könnet ihr in die Küche tragen, ihr habt junge Füße. Halt, nicht alle auf einmal. Zwei Buben und zwei Mädchen, das ist genug. Wer will?«
Es gab eine Verlegenheitspause. Die Mädchen zupften an ihren Schürzen und kicherten und die Buben stießen und pufften einander, aber helfen wollten sie doch gern, sie mochten es nur nicht sagen. Fräulein Margret kannte das aber schon. Sie suchte sich ein paar feste Buben aus und unter den Mädchen zwei, die schon ein wenig verständig und besonnen aussahen; die andern tröstete sie: »An euch kommt's schon auch noch. Wenn es dann Holz zu tragen gibt, dann kann man viele Helfer brauchen.«
Die Auserwählten gingen mit Eifer ans Werk und die Arbeit schritt rüstig voran.
[S. 223]
Das Schulhaus war groß, aber alt und ein wenig verwahrlost. Es sah nicht besonders freundlich aus mit seinen trüben Fenstern und dem wackeligen Lattenzaun am Vorgärtchen. Jetzt war noch Frühjahr, und der Garten, der dieses Jahr noch gar nicht angepflanzt war, machte auch einen unordentlichen Eindruck. Wer wollte, konnte hier viel zu tun finden. Fräulein Margret sah sich um und machte nicht gerade ein erfreutes Gesicht. Es werde schon eine Weile dauern, bis man sich hier heimisch fühlen könne, dachte sie. Da sah sie, ein wenig entfernt von den andern Kindern stehend, einen barfüßigen Buben, der am Zaun lehnte. Er stand ganz allein und sein Gesicht sah mindestens so aus, als ob er sich nicht heimisch fühlen könne. Als das junge Mädchen sich die Hilfstruppen ausgewählt hatte, war er ein bißchen näher hergekommen. Er hätte sich auch gern anstellen lassen. Aber man hatte ihn nicht bemerkt und so war er wieder an den Zaun zurückgekehrt. Fräulein Margret mußte noch ein paarmal zu ihm hinübersehen. Er hatte rotes Haar und ein sommersprossiges Gesicht und mit den Zähnen biß er fest auf die Unterlippe. »Wer ist der Bub? Warum steht er ganz allein und abseits von den andern?« fragte Fräulein Margret einmal das Mädchen, das ihr einen Korb tragen half. Das Mädchen machte ein geringschätziges Gesicht. »O, das ist der Geißlipp,« sagte sie. »Der weiß, warum er so allein ist. Es will keiner etwas von ihm wissen, er ist unartig für zwei und faul für drei. So hat immer der Herr Lehrer gesagt.« Fräulein Margret sagte nichts auf den Bericht. Es gab jetzt gerade so viel zu tun und dann mißfiel ihr auch das Urteil.
Jetzt entstand eine Bewegung auf dem freien Platz vor dem Hause. Denn um die Ecke am Rathaus war eben ein offenes Fuhrwerk gefahren und darin saß der Herr Lehrer und noch der Schultheiß und der Stiftungspfleger, die ihn an der Bahn abgeholt hatten. Fräulein Margret winkte grüßend zum[S. 224] Fenster heraus und die Schuljugend ballte sich auf einen Knäuel zusammen, denn jetzt wollte keines gern ganz vornen stehen. Das war der ganze Empfang. Er war nicht besonders festlich, aber man war es eben in Rötenberg nicht anders gewöhnt. Der Herr Lehrer stieg aus, schüttelte den Männern noch die Hand und dann schritt er auf das Haus zu.
Zum Fürchten sah er nicht gerade aus. Er war ein bißchen klein und hatte ein freundliches, rundes Gesicht und blondes Haar. Der alte Lehrer hatte einen langen schwarzen Bart gehabt. Die kecksten Buben sagten schon untereinander: »Der tut einem nichts,« da wandte sich der Lehrer noch einmal um und sah sich sein Häuflein prüfend an. »Grüß Gott, ihr Kinder,« sagte er. »Morgen kommen wir dann schon zusammen, da wollen wir einander dann kennen lernen.« Ein paar von den Buben rissen jetzt noch die Kappen herunter und dann zerstreute sich die Schar nach und nach. Denn für heute gab es da nichts Besonderes mehr zu erfahren.
Es war am späten Abend dieses Tages. Vom Kirchturm her hallte die Betglocke. Da und dort trieb noch ein Knecht seine Kühe vom Brunnen in den Stall und knallte so ein wenig dazu mit der Peitsche. Die Hauptstraße herauf kam langsam der Botenfuhrmann mit seinem hochbepackten Wagen und den festen Gäulen davor gefahren und unter den Haustüren saßen die Leute und hatten Feierabend. Vor dem Schulhaus sah man nichts mehr, was an den Einzug hätte erinnern können. Die Schulkinder hatten ihre Hilfeleistung damit beschlossen, daß sie den Platz schön reingekehrt hatten. Und dann waren sie mit vergnügten Gesichtern abgezogen, denn sie hatten ja nicht umsonst geschafft. »Der Lehrer ist brav, da ist mir's nicht angst,« sagte des Polizeidieners Andres zu seinem Kameraden. »Aber seine Schwester ist eine Stolze,« meinte der, »ich bin schon froh, daß man nicht zu ihr in die Schule muß.« Das war auf dem Heimweg[S. 225] gewesen. Eben kamen sie an dem kleinen Häuschen vorbei, in dem der Geißlipp wohnte. Eigentlich hieß er Philipp Berner und sein Vater hieß auch so. Aber er hieß im ganzen Dorfe nur der Geißlipp, weil er hinten in dem Bretterverschlag am Häuschen zwei Geißen stehen hatte, die sein ganzer Reichtum waren. Der Vater arbeitete im Taglohn bei der Gemeinde und der Sohn versorgte neben der Schule her die zwei Geißen. Und beide waren sie nicht beliebt im Dorf. Der Geißlipp saß, als die Buben herankamen, auf dem Bänkchen an der niedrigen Haustür. Er hatte einen Tafelscherben auf den Knien und kritzelte darauf. Als er die Kameraden sah, fuhr er schnell mit der Hand darüber, denn sie sollten nicht sehen, was er tat. Die andern aber blieben nicht bei ihm stehen. »Du kannst dich dann in acht nehmen morgen,« rief des Bachbauern Jakob herüber. »Der Lehrer wird's bald wissen, was du für einer bist.« »Ja und an deinem Namen steht im Buch ein rotes Kreuz, der Büttel hat's gesagt, der hat's gesehen,« fügte Andreas hinzu. »Dich möcht' ich nicht sein.«
Der Geißlipp fuhr mit der Hand in die Tasche und brachte einen Stein heraus. Das mußte aber den andern nichts Neues sein, denn sie merkten gleich, was er wollte, und verschwanden schnell hinter der Hecke. Da war der Geißlipp wieder allein. Er ließ den Stein fallen und biß die Zähne wieder übereinander. »Ich krieg euch doch noch,« murmelte er dann. »Ich finde dann schon noch etwas aus, daß ihr eine Weile genug habt.« Aus dem Häuschen rief eine tiefe Stimme: »Marsch herein jetzt ins Bett.« Das war der Vater, der sich schon zur Ruhe begeben hatte. Da verbarg der Bub seinen Tafelscherben in einem sicheren Versteck und ging ins Haus.
Die beiden sprachen nicht viel miteinander. Der Vater war ein finsterer, wortkarger Mann. Er war einmal, als sein Sohn noch ganz klein war, ein paar Jahre im Zuchthaus gewesen,[S. 226] weil er im Zorn einen verwundet hatte. In der Zeit war sein Weib gestorben und den Kleinen hob man so lang im Armenhaus auf. Seit der Vater wieder da war, lebten die zwei miteinander in dem Häuschen und waren fast mit niemand gut Freund. Der Sohn wußte es gar nicht anders, als daß er ein böser Bube sei, vor dem man sich in acht nehmen müsse. Das hatten die Leute schon zu ihm gesagt, seit er sich denken konnte. »Der wird gerade wie sein Vater,« sagten sie. Und Philipp gab sich gar keine Mühe, anders zu sein, als so, wie er war. Wenn ihn die andern Buben neckten und höhnten, so fuhr er unter sie mit geballten Fäusten oder warf mit Steinen und es gab fast keinen in der Schule, dem er nicht schon einen Schabernack angetan hatte. So kam es denn, daß auch der Lehrer kein Freund des Geißlipp gewesen war, und er zweifelte gar nicht, daß das mit dem neuen ebenso werden würde. Nämlich so, daß er fast jeden Tag irgend eine Strafe bekommen und im übrigen der schlechteste Schüler sein werde. Er ging jetzt drei Jahre in die Schule und seither war es immer so gewesen. Manchmal blieb er dann auch ein paar Tage ganz weg, bis der Vater dahinterkam und ihn hineintrieb.
Jetzt kroch der Sohn in sein Bett. Er hatte ein gutes, eigenes, denn es war das seiner Mutter. Aber es sagte ihm niemand freundlich und liebevoll gute Nacht und so war sein Gesicht auch im Schlaf noch finster.
Es war eine Woche später. Fräulein Margret hantierte emsig im Garten. Dort waren am Tag vorher die Beete umgegraben worden und nun mußte sie sich tüchtig umtun, daß da etwas hineinkomme. Sie sah überhaupt so viel Arbeit vor sich für die nächste Zeit, daß sie kaum wußte, wo anfangen. Aber es machte ihr Freude, so fleißig zu sein. Denn sie hatte[S. 227] seither fremden Leuten gedient und nun hatte sie ein eigenes Reich und konnte mit ihrem Bruder darin wohnen. Es wurde ihr immer heimlicher in dem alten Schulhaus. Sie war jetzt mit ihrem Samensäckchen ganz nahe an den Lattenzaun hergekommen, da sah sie zwischen den Stäben, fest an den Zaun gedrückt, den gleichen Bubenkopf in den Garten hereinstarren, der ihr beim Einzug schon aufgefallen war. »Faul für zwei und unartig für drei,« hatte das Mädchen damals gesagt. Das fiel dem Fräulein nun ein. Von der Schule her tönte Gesang, sie war noch lange nicht aus. Also hatte der Junge den Unterricht geschwänzt.
Als er sah, daß Fräulein Margret den Kopf nach ihm hinwandte, drehte der Geißlipp sich langsam um und wollte davonschleichen.
Aber Fräulein Margret hatte nicht im Sinn, ihn nur so laufen zu lassen. »Halt einmal,« rief sie. »Warum läufst du mir davon? Ich tue dir ja sicher nichts.« Der Bube blieb stehen und sah sich zweifelnd um, was er nun tun solle. »Komm hierher,« fuhr Fräulein Margret fort, »hast du mir zusehen wollen? Oder hättest du gern etwas gehabt?« Der Geißlipp schüttelte nur stumm den Kopf und sah scheu auf. Merkwürdig, Fräulein Margret dachte nun gar nicht, daß das unartig von dem Buben sei, ihr keine Antwort zu geben; sie streckte die Hand durch den Lattenzaun und bot sie dem Geißlipp. »Du kannst durch das Türchen hereinkommen,« sagte sie. »Ich könnte gerade einen Helfer brauchen, der den Korb voll Steine und Unkraut mit mir wegträgt. Willst du?« Der Geißlipp drehte den Kopf nach der Richtung hin, aus der die Töne des Gesangs herkamen, und sah unsicher aus. Er wäre gern hereingekommen, aber er konnte ja nicht, er hätte vom Lehrer entdeckt werden können. »Jetzt will ich dir etwas sagen,« sagte Fräulein Margret. »Du hast die Schule geschwänzt, gelt? Und jetzt mußt du Angst haben, gesehen zu werden und Strafe zu bekommen. Ist's[S. 228] nicht so?« Der Bube nickte nur und hob schon den Fuß zum Davonlaufen, aber Fräulein Margret machte gar kein drohendes Gesicht. Und sie fuhr auch gleich fort: »Du mußt mir sagen warum du das tust. Denn es freut dich selber nicht, das sieht man deutlich an deinem Gesicht. Gelt, es wäre dir selber auch lieber, wenn du wie die andern ordentlich in der Schule sitzen würdest und man dann auch eine Freude an dir haben könnte?« Diesen letzteren Fall konnte sich nun der Geißlipp nicht recht vorstellen, es hatte noch nie jemand eine Freude an ihm gehabt. Er wollte aber nun doch Antwort geben und sagte: »Der Lehrer haut mich, wenn ich hineingehe. Der Schulzenfritz findet seine Kappe nimmer und sie sagen alle, ich habe sie genommen. Sie haben's schon dem Lehrer gesagt.«
»Und es ist nicht wahr?« fragte Fräulein Margret.
Der Geißlipp schüttelte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe.
»Dann sag's doch dem Lehrer, daß es nicht wahr ist,« ermunterte sie. »Siehst du, ich glaub dir's, daß du die Kappe nicht hast, und er glaubt dir's auch, sicher.«
Der Geißlipp sah erstaunt auf. So etwas sagte sonst niemand zu ihm. Ganz einfach: »ich glaub dir's, daß du es nicht getan hast.« Er hätte es laut hinausschreien mögen. Aber es kam nicht heraus.
»Und jetzt kommst du da herein und hilfst mir den Korb tragen,« sagte Fräulein Margret. »Wenn dich der Lehrer sieht, sagen wir ihm, wie es ist. Und heute nachmittag gehst du in die Schule. Er glaubt dir, wenn du sagst, was wahr ist, ich verspreche dir's.«
Dem Geißlipp war zumute, als ob es sich auf einmal wieder verlohne, zu leben. Er kam in den Garten herein und half den Korb tragen, und als er die vielen Brennesseln hinten an der Mauer sah, sagte er: »Die Geißen fressen's erst noch[S. 229] gern und« — er wurde rot. Er hatte noch sagen wollen: »Ich will sie alle herausreißen, daß da der Platz sauber wird.« Aber es fiel ihm ein wenig schwer, so viel zu sagen. Fräulein Margret hatte aber eine merkwürdige Gabe, auch das nicht Ausgesprochene zu verstehen. Sie sagte freundlich: »Ja, so komm dann morgen nachmittag. Da hast du frei. Es ist uns beiden geholfen, wenn du die Nesseln holst.«
Jetzt mußte sie ins Haus, denn da erschien eine Bäuerin unter der Tür. Diese trug eine Schüssel mit Mehl und hatte Eier in der Schürze und ein Anliegen wegen ihrer drei Buben auf dem Herzen. Sie warf einen erstaunten Blick auf den Geißlipp, der da im Garten stand und sagte zu Fräulein Margret: »Das ist ein Heimtückischer, vor dem muß man sich in acht nehmen. Das ganze Dorf kann davon sagen.« Fräulein Margret sah gar nicht so aus, als ob sie sich nun auch vor dem Heimtücker in acht nehmen wolle. Sie hatte ganz andere Gedanken. Aber sie sagte nur ruhig: »So viel ich weiß, hat der Bub keine Mutter. Da wird ein Kind leicht anders, als man es gern hätte. Man kann Gott danken, wenn man es in seiner Kindheit besser gehabt hat.« »Ist auch wahr,« gab das Weib zu, »wiewohl, bei dem Geißlipp liegt's im Blut, der Vater ist ein ganz Schlimmer.«
Der Geißlipp lag lang ausgestreckt an einem grasigen Rain. Das Grastuch mit dem Geißenfutter, das er jetzt gerade gesammelt hatte, lag daneben und die Sichel steckte im Boden. Es war ein schöner, sonniger Abend. In der blauen Luft flogen die Schwalben und haschten sich Mücklein und im Gras zirpten die Grillen, und der Geißlipp sah den weißen, ziehenden Wolken nach. Vom Spielplatz her tönten laute, lustige Stimmen bis hier heraus. Die Dorfkinder belustigten sich da, die großen und [S. 230] die kleinen, es war ein fröhliches Durcheinander von Tönen. Der Geißlipp hatte auch schon probiert, mitanzukommen, aber das Vergnügen war meist kurz gewesen. Denn wenn ihn die andern Buben zu stark geneckt hatten, so hatte er sie dann geschlagen oder mit Steinen geworfen und dann waren alle auf ihn eingedrungen. Sie hielten eben zusammen gegen ihn. Jetzt war er schon lange nicht mehr hingegangen. Es war auch so eine Art von Vergnügen, hier außen zu liegen und sich auszudenken, was für seltsame Gebilde die Wolken gaben. Da war eine große Anzahl kleiner Lämmerwölkchen, hinter denen eine einzige, große Wolke herkam. Nun stieß sie daran und nun überzog sie die kleinen. »Das könnten die Buben sein,« dachte der Geißlipp beifällig, »und das große der Lehrer mit dem Stock. Oder ein Bär, wenn's das gäbe bei uns. Ich möchte dann schon, daß sie[S. 231] einmal alle« — Der Geißlipp konnte seine schlimmen Gedanken nicht mehr ganz ausdenken, denn es wurden auf einmal Stimmen laut und als er aufsah, standen der Lehrer und Fräulein Margret vor ihm. Aufspringen und davonlaufen, das wäre sonst das erste gewesen bei dem Geißlipp. Heute machte er keinen Versuch dazu. Er erhob sich langsam und zupfte sich ein wenig am Haar. Das mußte als Gruß gelten, weil er keine Kappe auf hatte. Und über sein Gesicht kam ein Freudenschein, der rührte von Fräulein Margret her. Denn diese konnte gar nicht glauben, daß der Geißlipp ein so ganz verdorbener Bube sein sollte, und so oft sie ihn sah, sagte sie freundlich: »Grüß Gott, Philipp« und wußte ihn nach allem Möglichen zu fragen, was sonst niemand von ihm wissen wollte.
Sie war auch schuld, daß der Geißlipp schon seit ein paar Wochen keinen Tag mehr die Schule versäumt hatte. Denn sie hatte ihn einmal zu sich in die Laube genommen und gesagt: »So, nun merk wohl auf. Kein Mensch muß faul und ungehorsam sein, wenn er nicht will. Du auch nicht. Du mußt nicht meinen, weil du schon lang so seiest, müssest du nun immer so sein. Und fürchten mußt du dich auch nicht und vor niemand. Siehst du, etwas steckt in dir, etwas Gutes, ich kann's schon deutlich merken. Jetzt gehst du immer in die Schule und tust nur ganz ruhig, wie du sollst und denkst nicht immer daran, wo etwa Streit anzufangen wäre. Paß auf, dann wird's nach und nach besser. Und auf einmal merken es die andern auch, daß das nicht mehr der alte Philipp ist, sondern ein anderer.«
Der Geißlipp hatte der Unterweisung aufmerksam zugehört und obgleich er noch lang nicht glauben konnte, daß das so gut kommen werde, wie seine Beschützerin sagte, so wollte er es doch probieren. Sie hatte ja gesagt: »Ich kann es jetzt schon merken,« da war es vielleicht doch wahr. Und wenn der Geißlipp am Garten vorbeiging, so nickte ihm Fräulein Margret jedesmal so[S. 232] aufmunternd zu, daß es ihn den ganzen Tag freute. Der Lehrer wußte bis jetzt noch nichts von seiner heimlichen Helferin, aber so ganz schlimm kam ihm der Bube auch nicht mehr vor. Nur waren es so viele Kinder, daß er bis jetzt unmöglich die einzelnen so genau hatte kennen lernen können. Aber er hatte ein freundliches und mildes Wesen und brauchte den Stock nur, wenn er mußte. Der Geißlipp fürchtete ihn nicht, wenigstens lange nicht so sehr wie die Leute im Dorf und vor allem die Buben, und das Leben kam ihm jetzt schöner vor als früher.
»So, das ist ganz geschickt, daß wir dich gerade da treffen,« fing Fräulein Margret sogleich an, als sich der Geißlipp aus dem Gras erhob. »Siehst du, wir haben so große Sträuße im Wald geholt und nun möchten wir noch einen Besuch machen und können sie da natürlich nicht brauchen. Du könntest sie uns vielleicht heimtragen.« Der Geißlipp sah etwas besorgt auf sein Grasbündel und die Sichel. Er wußte sich nicht recht zu helfen damit. »Wenn du das Futter zuerst heimtragen mußt,« sagte der Lehrer, »das schadet nichts. Bis an dein Haus haben wir doch den gleichen Weg, dann gehen wir so weit mit dir.«
Der Geißlipp hätte nur gewünscht, daß die Dorfbuben zusehen könnten, wie er so dahinschritt, das Grasbündel auf dem Kopf und die Sichel in der Hand, zwischen dem Lehrer und dem Fräulein. Er, der allezeit verachtete und ausgestoßene Geißlipp, zu dem nur allein Fräulein Margret immer seinen ganzen Taufnamen sagte. Der Vater sagte meistens nur »Bub«, aber er sagte überhaupt nicht viel.
Er schien eben vom Taglohn heimgekommen zu sein, denn die Haustür stand offen und ein qualmender Rauch kam da heraus.
Als er Schritte hörte, streckte er den Kopf einen Augenblick zu dem kleinen Schiebfensterchen neben der Haustüre heraus, zog ihn aber schnell wieder zurück.
»So,« sagte Fräulein Margret unbefangen, als sie an dem[S. 233] Häuschen waren, »jetzt kannst du geschwind dein Futter hineintragen und so lang setzen wir uns auf das Bänklein, denn wir haben einen weiten Weg gemacht. Das darf man doch?«
Der Geißlipp sah so maßlos verwundert aus, daß die beiden lachen mußten. Das sah man deutlich, daß er nicht gewohnt war, Gäste zu haben. »Es raucht so,« brachte er nur heraus. »Schadet nichts,« sagte Fräulein Margret gleichmütig, »das Holz wird naß sein. Kocht dein Vater?«
Der Geißlipp nickte nur und dann verschwand er im Stall.
Unterdessen war der Vater in keiner kleinen Aufregung in seiner halbdunkeln Küche. Er hatte seit Jahren niemand mehr in seinem Haus gesehen und hatte sich allmählich daran gewöhnt, am Tag allein bei seiner Arbeit an der Landstraße oder im Gemeindewald oder auf seinem Äckerlein zu sein und abends allein mit dem Buben in seinem Häuschen. »Ich will von niemand etwas und die Leut sollen mich in Ruh lassen,« war so seine Rede. Und doch sehnte er sich so manchmal heimlich, auch wie ein anderer Mensch unter Menschen zu leben. Die neuen Lehrersleute hatten ihn auf der Straße schon ein paarmal freundlich gegrüßt und jetzt besann er sich, ob er herauskommen solle und sie auch grüßen oder nicht. Aber Fräulein Margret besann sich gewöhnlich nicht lang, bis sie mit jemand ein Gespräch anfing. Ihr Bruder mußte sich immer ein wenig über seine junge Schwester wundern, denn ihm fiel das nicht so leicht. »Ach, mir kommt ein guter Gedanke,« rief sie lebhaft. »Da sind wir nun ganz geschickt hergekommen. Das Annele muß Geißmilch trinken, wenn es hierher kommt. Natürlich, das ist höchst nötig.«
Das Annele war ein schwächliches Stadtkind, das einer Schwester gehörte und das sich Fräulein Margret kommen lassen wollte, um es herauszupflegen.
»Darf ich ein wenig hereinkommen?« rief sie zur Tür hinein. Es drang ein Brummen heraus, das man so oder so verstehen[S. 234] konnte, aber weil Fräulein Margret gern wollte, so drang sie ganz kecklich ein und grüßte den Vater Geißlipp freundlich. »Ich habe einen großen Wunsch,« sagte sie sogleich nach der Begrüßung. »Und niemand im ganzen Dorf kann mir den erfüllen als Sie.« Und dann setzte sie dem finster aussehenden Manne die Angelegenheit mit dem Milchtrinken auseinander.
»Die Geißen geben nicht viel Milch,« sagte der Mann, als er sich eine Weile besonnen hatte. »Es ist keine rechte Pfleg für sie da. Ich hab schon lang eine verkaufen wollen und am Viehmarkt tu ich's auch und das ist bald jetzt. Aber für das Kind reicht's doch noch.« Fräulein Margret schien gar nicht zu merken, daß es den Vater Geißlipp eine große Anstrengung kostete, so viel zu reden. Er machte sich drunterhinein am Herd zu schaffen und zog die Stirn noch mehr zusammen als sonst. Manche Leute hätten vielleicht gedacht, der Mann sehe zum Fürchten aus, wie er so dastand mit seinem wilden, schwarzen Bart und Haar und den sehnigen, braunen Armen, an denen er die Hemdärmel hinaufgeschlagen hatte. Aber Fräulein Margret fühlte nur ein großes Mitleid in sich und obgleich sie nicht viel sagte, drückte sie doch dem einsamen Mann beim Abschied so kräftig die Hand und sah ihn so warm und freundlich an, daß er noch lange daran denken mußte.
»Es gibt noch gute Leut' auf der Welt, Bub,« sagte der Vater, als er nachher mit Philipp bei dem einfachen Nachtmahl, Geißmilch und Kartoffeln saß. »Aber rar sind sie.« Der Philipp nickte einverstanden. Es kam ihm allmählich auch so vor.
Solang Fräulein Margret mit dem Vater in der Küche verhandelt hatte, war der Lehrer um das Häuschen herumgegangen. Dieses stieß hinten ein Stück weit an eine alte Mauer an, die mit allerlei Schutt und Geröll bedeckt war. Oben auf der Mauer blühten rote und weiße Taubnesseln und da und dort ein Stechapfel und unter allerlei Gras und Unkraut auch[S. 235] hie und da ein Ringelblümchen. Und über den Rand herunter hingen die rosafarbigen Blüten des Mauerpfeffers, die man zu Lande Sonnenblitze nennt. Der Lehrer betrachtete das Ganze aufmerksam und machte sich so seine Gedanken darüber. Er dachte, daß dieser Garten auf der Mauer vielleicht ganz passend für den Vater und Sohn sei, denen er gehöre. Und daß der liebe Gott manchmal da, wo man es gar nicht suche, unter Schutt und Unkraut und aus dürrem Erdreich ein freundliches Blümlein wachsen lasse, an dem man sich erfreuen könne. Der Lehrer nahm sich vor, sich so gut als möglich des scheuen und störrischen Buben anzunehmen. »Vielleicht kommt doch etwas Gutes dabei heraus,« dachte er und wußte nicht, daß in des Geißlipps verschlossenem Gemüt schon allerlei trieb und keimte, von dem er nichts wußte.
Das Annele war angekommen. Es war »ein kleines, bleiches Dinglein«, so sagten die Leute im Dorf von ihm. Kurz vorher hatte es das Scharlachfieber überstanden und davon war es noch etwas zart und blaß. Aber es machte sich nichts daraus. Am Morgen nach seiner Ankunft lief es schon so lustig, als wäre es von jeher in Rötenberg daheim gewesen, vors Haus hinaus und von da in den Garten, machte einen Besuch bei den Himbeeren und Stachelbeeren und setzte sich dann still auf das niedrige Mäuerchen im Garten, um dem Gesang der Schulkinder zuzuhören.
Das Annele war auch ein Schulkind. Es ging schon seit einem Jahr in der Stadt in die Schule und jetzt war keine Ferienzeit. Dieser Landaufenthalt war nur vom Doktor vorgeschrieben, Annele ließ ihn sich aber gern gefallen. Es war so schön hier, wie sonst nirgends. In der Stadt konnte man nur auf der Straße spielen, wo immer Wagen fuhren und viele Leute gingen, und die Mutter erlaubte das nur selten. Hier aber kam[S. 236] immer wieder ein Garten und eine Wiese und den Wald sah man vom Fenster aus und im Schulhausgarten selbst konnte man sich so ungestörte Spielplätze einrichten. Annele hätte überall zugleich sein mögen. Ab und zu erschien auch die Tante am Fenster und rief dem Nichtchen etwas zu. Und in den Bäumen sangen die Vögel. Es war wunderschön.
Jetzt ging die Schultür auf und alle Buben und Mädchen kamen heraus. Die Türe war nicht gerade eng und doch kam es Annele vor, als ob sie noch einmal so weit sein müßte. Denn alle Kinder strebten ins Freie nach dem langen Stillsitzen und so drängten sie sich auf einen dichten Knäuel zusammen, bis der Lehrer rief: »Halt, so macht man's nicht. Jetzt sollen zuerst alle Kleinen hinausgehen und nicht mehr als zwei auf einmal, dann kommen die Großen.«
Das Annele wurde ein wenig rot, als es so von allen Seiten angesehen wurde, als wäre etwas besonders Merkwürdiges an ihm. Es hatte sich nämlich an dem Schuleingang aufgestellt, um sogleich zu dem Onkel gelangen zu können. Und es war nun froh und erleichtert, als dieser herankam und seine Hand faßte. So konnte man sich wohl ein bißchen anstaunen lassen. Eben kam auch die Tante die Treppe herunter. »Philipp Berner,« rief sie, »halt ein wenig. Ich muß noch etwas mit dir sprechen,« Der Geißlipp blieb stehen und die Buben machten große Augen, daß man mit dem etwas sprechen wollte. Es war so wie so seit einiger Zeit anders geworden. Man konnte nicht mehr so bequem wie früher alle dummen und unartigen Streiche auf ihn schieben, der Lehrer duldete keinen Sündenbock. Und einmal war es dem Andres übel bekommen, als er das große Lineal des Lehrers bei einer Prügelei zerbrochen hatte und dann gesagt: »Der Geißlipp hat's getan.« Merkwürdig, der neue Lehrer sah gar nicht furchtbar aus, im Gegenteil, und doch konnte man sich fürchten, wenn er einen so ernst und fest ansah.
[S. 237]
»Es ist wegen der Milch für das Annele,« sagte die Tante jetzt. »Am Morgen und am Abend soll es trinken, ganz frischgemolken. Morgens bringst du sie vor der Schule herauf, denn da darf das Annele noch nicht heraus. Abends kann es dann bei schönem Wetter zu euch hinauskommen.« Der Philipp nickte zu allem. Das kam ihm Antwort genug vor, denn er war immer noch gar kein Redner. Dem Annele schien es aber etwas zu wenig zu sein. Es hatte aufmerksam zugehört und sagte nun: »Warum sagst du gar nichts? Man muß doch auch ja sagen, wenn man so tun will.«
Die Tante mußte im stillen ein wenig lachen. Das sah sie schon, bei dem Annele konnte der Geißlipp nicht so stumm bleiben, das würde ihn schon gesprächig machen.
Jetzt war es nicht mehr leer und öd in den großen Zimmern oben im Schulhaus. Je kräftiger und gesünder das Nichtchen wurde, desto vergnügter sang und sprang es umher und ganz still war es eigentlich nur, wenn es in seinem Bett lag und schlief. Der Onkel dachte schon daran, das Annele nun mit in die Schule hinunterzunehmen, damit es nicht ganz aus der Übung komme, aber jetzt hatte es noch Ferien.
Die Tage waren herrlich ausgefüllt. Ganz früh am Morgen, wenn das Stadtkind kaum aufgestanden war, kam der Geißlipp (das Annele sagte aber immer wie die Tante Philipp zu ihm) und brachte die frische Milch. Das war immer ein Hauptvergnügen. Die Tante hatte jetzt schon Recht behalten. Es war ein ganz anderer Bub als vor einem halben Jahr, wenn man es auch noch lange nicht überall merkte. Bei den Dorfleuten stand das Urteil über den Geißlipp viel zu fest, als daß man darauf geachtet hätte, ob er sich nach und nach ein wenig[S. 238] bessere. Aber im Schulhaus war das anders. Annele hatte noch nie gehört, daß der Philipp anders sei als andere Buben.
»Laß sie nur,« hatte Fräulein Margret zu dem Lehrer gesagt. »Sie lernt nichts Böses von ihm, darauf will ich schon achten. Und man weiß nicht, was es für den Buben wert ist, wenn er auch einmal harmlos mit einem andern Kinde verkehren kann.« So konnten die beiden ungestört Bekanntschaft schließen.
Annele hatte zwar bald Freundinnen gefunden, Schultheißens Sophie und des Krämers Karoline, die alles mitspielten, was[S. 239] sie angab, und die sie gern ein wenig hin und her kommandierte. Aber es war noch viel genußreicher, am Morgen an das hintere Gartentürchen hinunterzuhuschen und dort auf den Philipp zu warten, bis er in schnellem Schritt, daß ja die Milch noch warm sei, um die Ecke kam. Sie brachte dann schon ihren Becher mit und trank im Garten, und dann hatte sie dem Philipp hundert Dinge zu zeigen und noch viel mehr zu fragen. — Warum die Kirschen zuerst grün sind und dann rot werden? Warum die kleinen Entchen gleich von selber ins Wasser gehen? Ob die kleinen Vögelein in dem Nestchen hinten in der Haselnußhecke jetzt bald fliegen können?
Und dann mußte er helfen zählen, wieviel Tag- und Nachtblümlein über Nacht aufgegangen seien, und mit Annele das Wespennest in der Kirchhofsmauer besichtigen, natürlich nur aus sicherer Entfernung. So etwas konnte man mit den Freundinnen nicht besprechen. Sophie riß nur die Augen weit auf und Karoline sagte auf die schwierigen Fragen: »Ha, das ist von selber so. Komm, wir tun lieber Fangerles.« Und dem Stadtkind war doch alles neu und wichtig. Der Geißlipp aber konnte über vieles Bescheid geben. Er war so viel allein, da waren ihm schon allerlei Gedanken gekommen, die anderen Kindern nicht einfallen, und wenn er gewiß wußte, daß niemand sonst zuhörte, so konnte er dem Annele ganz verständigen Bescheid geben.
Schöner war's aber doch noch, am Abend mit der Tante an das kleine Häuschen des Geißlipp hinauszuwandern. Die Milch schmeckte so ganz frischgemolken auf dem Bänklein vor der Haustür am allerbesten. Annele fürchtete sich gar kein bißchen vor Philipps Vater.
»Du, der ist bös, er hat einmal etwas Arges getan,« hatte einmal eines der Mädchen zu Annele gesagt, als diese im höchsten Vergnügen erzählt hatte, wie nett es sei, wenn »der große Geißlipp' ihr die Milch in den Becher melke, und wenn[S. 240] er sie auf den Arm nehme, daß sie das Schwalbennest an der Dachrinne genau sehen könne. »Ist das wahr, Tante? Tut er einem nichts?« hatte Annele darauf ein wenig erschrocken gefragt. Und die Tante hatte das Kind zu sich herangezogen. »Siehst du, Annele,« hatte sie gesagt, »wenn du einmal ungehorsam und unartig gewesen bist und du willst dann wieder lieb sein, gelt, dann verzeiht dir's die Mutter? Und dann mußt du nur den lieben Gott bitten, dann verzeiht er's dir auch, und dann ist alles wieder gut und niemand darf mehr sagen, du seiest ein böses Kind.« Annele war sehr einverstanden. »Und so ist das auch bei dem armen Mann, den gar niemand lieb hat, weil er einmal bös gewesen ist. Er will jetzt wieder gut sein und vielleicht hat es ihm der liebe Gott schon lang verziehen, da dürfen wir nicht mehr sagen, er sei bös. Und fürchten müssen wir ihn auch nicht, gar nicht.«
Annele war mit dieser Erklärung sehr zufrieden und teilte sie auch den Kamerädinnen mit. Es war nur schade, daß diese sie nicht so recht verstanden. Aber die neue Freundschaft machte desto bessere Fortschritte, und Fräulein Margret ließ es sich gar nicht anfechten, daß sich die Leute im Dorf so sehr darüber verwunderten.
Wenn das Annele seine Milch hatte, so ging die Tante dann meistens ein Weilchen in die rauchige Küche. Denn wenn der Vater des Philipp auch immer noch ein wenig knurrig und brummig war, und auch nicht viel sagte, so tat es ihm doch wohl, daß ein Mensch nach ihm sah und mit ihm redete wie mit seinesgleichen. Und das, merkte die Tante wohl und machte sich nichts daraus, daß er nicht so besonders freundlich tat.
Es war an einem schönen, klaren Abend. Die Tante war zum erstenmal von dem Mann in die Stube geführt worden. Er war nie recht so keck gewesen, es vorzuschlagen. Aber sie[S. 241] hatte ihn heute nach seinem Weib gefragt, und jetzt wollte er der Tante ihr Bild zeigen, das in der Stube hing. Sie saßen einander gegenüber am Tisch. Der Mann hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah finster vor sich hin, und Fräulein Margret betrachtete ihn mitleidig. Sie hätte ihm so gern etwas Liebes gesagt und doch wollte ihr nichts Rechtes einfallen. Draußen hörte man die lustige Stimme des Annele und dazwischenhinein allemal wieder ein paar bedächtige Worte des Buben. Und von Zeit zu Zeit streckte Annele den Kopf durch die Fensteröffnung herein und wollte wissen, ob die Geißen gern Vergißmeinnicht fressen und ob die Schwalben die Mücklein lebendig verschlucken?
»So eines hätt ich jetzt auch,« fing der Mann auf einmal an und drückte gewaltsam die Fäuste an die Augen, daß da nichts heraustropfen konnte. »So groß wie das Annele wär mein Dorle auch, wenn es noch am Leben wär! Ist ihm aber gut gegangen, daß es bald gestorben ist. Dann kann man wenigstens nicht von klein auf prophezeien, daß nichts aus ihm werde, wie meinem Buben. Mein Weib ist ihm bald nachgegangen, es hat's auch nicht aushalten können.« Er wollte noch mehr sagen, er wollte noch sagen: »Ich halt's auch nicht mehr aus so, das Leben ist ein Elend, wenn man immerfort denken muß: Du bist an allem schuldig.« Aber er konnte nichts mehr herausbringen. Er legte den Kopf auf den Tisch und weinte wie ein Kind. Fräulein Margret ließ ihn eine ganze Weile in Ruhe, sie wußte, daß da manches heraus- und vom Herzen hinunterkomme, und das wollte sie nicht stören. Endlich aber sagte sie freundlich: »So jetzt wollen wir einmal nicht mehr immer an dem hängen bleiben, was vergangen ist. Und nicht nur denken, es müsse alles so bleiben, wie es jetzt ist. Was die Leute im Dorf sagen, darauf wollen wir einmal eine Weile gar nicht hören. Und daß etwas aus dem Philipp wird und[S. 242] das etwas Rechtes, dazu wollen wir zusammenhelfen. Dann kommt alles nach und nach besser.« Sie bot dem Taglöhner die Hand und sah ihn so aufmunternd und entschlossen an, daß es ihm selber auch ein wenig hoffnungsvoll ums Herz wurde.
Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als ob er da etwas wegwischen wollte, und sagte: »Ihnen könnt man's fast gar glauben.« In diesem Augenblick ertönte ein lauter Jubelruf von Annele. Und gleich darauf kam das Kind ans Fenster, eifrig etwas in die Höhe streckend, das ihm Philipp entreißen wollte. Philipp hatte ein rotes Gesicht und war aufgeregter, als ihn Fräulein Margret je gesehen hatte. »Gib's her,« sagte er heftig. Aber Annele rief lustig: »Nein, nein, keine Rede, die Tante muß es auch sehen und vielleicht auch noch der Onkel.«
Die beiden großen Leute waren ans Fenster getreten. Der Vater erschrak, denn auf des Buben Gesicht malte sich deutlich ein großer Zorn, und den Ausdruck kannte er wohl und mußte ihn ja fürchten, weil der Zorn ihn selber auch so unglücklich gemacht hatte. Die Tante sah den Zorn auch. »Wenn das, was du in der Hand hast, dem Philipp gehört,« sagte sie ruhig zu Annele, »dann gib es ihm. Ich will es nur sehen, wenn er mir's selber zeigt.« Annele gehorchte nur ungern, aber es mußte wohl sein.
Es war das Stück von einer Schiefertafel, das der Geißlipp immer so sorgfältig verbarg. Annele hatte es entdeckt und jetzt sagte sie: »Ich sag aber doch, was drauf ist. So etwas Nettes, Tante, es ist nur dumm, daß er es nicht sehen läßt.«
Philipp wurde noch röter als vorher und dann ein wenig blaß, und er biß sich fest mit den Zähnen auf die Unterlippe. Und dem Annele warf er einen Blick zu, daß man denken konnte, er wolle ihm etwas antun, und das nichts Gutes. Aber er sagte nichts.
»Nein, lassen Sie den Philipp,« sagte Fräulein Margret,[S. 243] als der Vater auffahren wollte über den störrischen Buben. »Komm, Annele, für heut müssen wir heim. Gib dem Philipp die Hand, du darfst ihn nicht zwingen, daß er zeigt, was er nicht gern will. Willst du mir's nicht morgen selber zeigen, Philipp? Gelt, es ist doch nichts Böses? Und daß ich dich nicht auslache, weißt du.«
Dann ging sie, und das Annele ging ganz zahm an ihrer Hand, denn es war ein wenig erschrocken.
Der Philipp stand noch lang am gleichen Fleck und starrte den beiden nach. Auf einmal fuhr er zusammen, denn da geschah etwas, das noch nie gewesen war. Der Vater strich ihm traurig mit der Hand über das Haar und sagte: »Du armes Tröpflein! Wenn du auch eine Mutter hättest!« Und dann ging er ins Haus, ohne zu schelten.
Am andern Morgen kam der Geißlipp viel früher als sonst mit seiner Milch an. Das Annele war noch nicht aufgestanden und der Herr Lehrer hatte erst vor einer kleinen Weile das Haus verlassen, um einen kleinen Morgenspaziergang zu machen. Aber das war beides dem Geißlipp ganz recht. So hatte er es gerade gewollt. Man konnte seinem Gesicht wohl ansehen, daß er etwas Besonderes vorhatte, und das Haar hatte er sich ganz naß gemacht, daß es fest und dunkel am Kopf anlag. Das schien dem Geißlipp besonders geordnet vorzukommen.
Fräulein Margret war in der Küche. Sie hatte die Ärmel hinaufgeschlagen und knetete einen Teig. Als der Geißlipp eintrat, wandte sie sich um und begrüßte ihn so freundlich, als ob gar nichts Besonderes gewesen wäre. Sie nahm ihm die Milch ab und trug sie dem Annele hinein, und als sie wieder herauskam und den Buben noch auf derselben Stelle fand[S. 244] sagte sie: »Hast du noch etwas sagen wollen, Philipp? Nur kecklich heraus damit.« Es schien dem Philipp nicht leicht zu gehen, denn er mußte tief aufatmen. Und dann griff er nur in seinen blauen Kittel und zog den Tafelscherben hervor. »Da,« sagte er. »Aber« — er sah Fräulein Margret zaghaft an. Er hatte noch sagen wollen: »Aber niemand zeigen,« und dann kam es ihm so in den Sinn, daß er ihr gewiß gut vertrauen könne und sich gar nicht zu fürchten brauche.
Auf Fräulein Margrets Gesicht prägte sich eine große Verwunderung aus. Sie sah den Geißlipp erstaunt an, so, als ob sie etwas nicht recht begreifen könne. »Hast du das gemacht?«[S. 245] fragte sie. Der Philipp nickte nur. »Ja aber, lieber Bub', das muß man so zufällig finden, und du sperrst dich noch dagegen, daß man's ansieht? Du kannst ja zeichnen! Das sind junge Spatzen, die sperren ihre Schnäbel auf und wollen gefüttert sein! Und das auf der andern Seite ist unsere Laube, und auf dem Dach sitzt die Mieze und putzt sich. Und das davor wird wohl das Annele sein, das kennt man nicht so recht!«
Fräulein Margret wurde ganz lebhaft, und ihr Gesicht war so freudig, daß es der Geißlipp nur immer ansehen mußte. Er hatte sich die Sache ganz anders vorgestellt. Er hatte schon immer, seit er sich denken konnte, mit Rötelstückchen und Griffel- oder Bleistiftrestchen, oder was nur irgend einen Strich gab, überall herumgekritzelt. An Haustüren und Fensterläden und, als er in die Schule kam, an den Bänken und an der Wandtafel. Und das hatte ihm schon viele Schläge eingetragen. Der Lehrer hatte einmal den Vater Geißlipp auf der Straße getroffen und zu ihm gesagt: »Wenn das Gesudel überall herum jetzt nicht aufhört und alle meine Prügel nichts nützen, so lasse ich Euch dann einmal Strafe zahlen, Berner. Das ganze Dorf beklagt sich darüber.« Darauf hatte der Vater den Philipp am Abend tüchtig durchgeprügelt und ihm gesagt: »So, das ist einmal. Wenn ich wieder etwas von deinen dummen Sudeleien sehe, so gibt's wieder.«
Seither hatte der Philipp nur noch auf seinen alten Tafelscherben gekritzelt, und je mehr und öfter er allein war, desto lieber wurde ihm diese Beschäftigung. Als nun das Annele den kostbaren Scherben entdeckte, stand es dem Philipp schrecklich vor Augen, daß er am Ende nun auch den hergeben müsse und dann gar nicht mehr zeichnen könne, und daß dann vielleicht auch noch Fräulein Margret böse auf ihn sei und nichts mehr von ihm wissen wolle. Darum war er so zornig geworden, daß er das Annele am liebsten gekratzt hätte. Aber[S. 246] als er gestern abend noch eine Weile wach in seinem Bett lag und über das Erlebnis nachdachte, stand immer Fräulein Margret vor ihm. Er konnte sie deutlich sehen, wenn er auch die Augen zumachte, und sie sagte: »Gelt, es ist ja doch nichts Böses? Und daß ich dich nicht auslache, das weißt du!«
Und Philipp beschloß, ihr seinen Schatz zu zeigen. Sie sollte nicht denken, es sei etwa doch etwas Böses und er habe kein Vertrauen zu ihr.
Aber daß es so gehe, das hätte er sich nicht träumen lassen. Es wäre dem armen Buben schon ganz genug gewesen, wenn sie ruhig gesagt hätte: »Nein, das ist nicht schlimm, das darfst du wohl tun, wenn doch niemand mit dir spielt.« Daß ihm aber Fräulein Margret auf die Schulter klopfte und sagte: »Du kannst nicht wissen, wie mich das freut, Philipp. Das ist eine gute Gabe, die du da hast. Da müssen wir den Herrn Lehrer bitten, daß er sich um dich annimmt,« das alles überwältigte den Geißlipp so, daß er zur Küche hinausrannte, die Treppe hinunter und dann wieder herauf. Denn zu sagen wußte er für den Augenblick nichts, und doch mußte er seinem Herzen Luft machen.
Den Tafelscherben bekam der Philipp heute noch nicht zurück. Aber das tat nichts, er war in guten Händen. Und wenn heute ein Fremder in die Schule gekommen wäre und hätte den Philipp gesehen mit seinen aufmerksamen Augen und dem glänzenden Gesicht, so hätte er gewiß nicht gedacht, daß das der allgemein bekannte Nichtsnutz des Dorfes sei, der »faul für zwei und unartig für drei« sei. Denn dem Philipp war ein neuer Lebensmut ins Herz gekommen, und für heute einmal fürchtete er sich vor niemand und nichts. Vielleicht war jetzt schon etwas von dem wahr, was Fräulein Margret einst gesagt hatte: »Auf einmal müssen es auch die andern merken, daß das nicht mehr der alte Philipp ist, sondern ein ganz anderer.«
[S. 247]
Das Annele konnte seit einiger Zeit nicht mehr so recht zufrieden sein mit seinem Kameraden. Er war zwar munterer als je, und sein Gesicht sah jetzt immer aus, als ob er ein besonderes Vergnügen wisse. Aber wenn ihn das kleine Mädchen im ganzen Garten herumschleppen wollte und bald bei den frühen Pflaumen, bald bei der Haselnußhecke einen Aufenthalt machte, so sagte der Philipp jetzt meistens bald: »Jetzt muß ich gehen und lernen« oder: »Heut kann ich nicht, ich muß noch an meiner Zeichnung schaffen.« Das hatte er früher nie getan, und dem Annele kam es langweilig vor, denn es hatte sich ganz daran gewöhnt, den Philipp alles Mögliche zu fragen und ihn oft um sich zu haben. Am liebsten wäre es nun auch in die Schule gegangen, es hörte sich von außen so lustig an, wenn die vielen Stimmen zusammen sangen: »Kuckuck, Kuckuck ruft's aus dem Wald« oder: »Alle Vögel sind schon da«. Und wenn in der Freizeit die ganze Schar herauskam und sich im Schulhof tummelte, so war das Annele zwar mitten drunter, aber es wäre dann auch gern mit ihnen hineingegangen, wenn die Freistunde aus war, und sah dann manchmal noch sehnsüchtig nach der verschlossenen Tür. Aber die Mutter hatte geschrieben, daß sie nun bald kommen wolle, um das Töchterlein nach Hause zu holen, und daß es bis dahin noch so viel als möglich in der freien Luft sein solle, denn die Mutter wolle rote Backen sehen, wenn sie komme. So kam es, daß sich das Stadtkind je länger, je mehr aufs Heimkommen freute, und auch das rot und weiße Strickzeug samt den schönen Geschichten, die die Tante zu erzählen wußte, konnte die Langeweile nicht mehr bannen.
Das kam jetzt nie mehr vor, daß der Geißlipp ganz allein und entfernt von allen fröhlichen Menschen stand und finster zusah, wie andere vergnügt waren. Wenn man sein freudloses Kinderleben mit dem wilden Mauergärtlein hinten an dem Häuschen des Geißlipp vergleichen wollte, so konnte man jetzt[S. 248] deutlich merken, daß der liebe Gott da einen Gärtner angestellt habe, der den Schutt wegräumen und das Unkraut ausreißen und freundliche Blümlein da anpflanzen mußte, wo vorher Stechäpfel und Nesseln standen. Es war jetzt so mancherlei Erfreuliches, man konnte es kaum aufzählen, und daher kam es, daß dem Philipp die Freude zum Gesicht heraussah.
Zuerst war ein Tag gekommen, da saß der Lehrer bei Philipps Vater auf dem Bänklein vor der Haustür, und wer vorüberging, der konnte deutlich sehen, daß die beiden ein wichtiges Gespräch miteinander hatten. Ein paar Tage nachher wußte man es im ganzen Dorf, daß der Lehrer dem Geißlipp Privatstunden im Zeichnen geben wolle, und daß er gesagt habe, als er von dem Vater wegging: »Aus dem Buben wird noch etwas, das könnt Ihr glauben, Berner.« Man wußte jetzt nächstens nicht mehr recht, was man von dem Vater und dem Sohn halten sollte. Am Ende wurde der Bub' doch noch wie andere, und es war ja auch wahr, daß er keine Mutter gehabt hatte. »Am End' kommt's nur drauf an, daß man sich ein bißle nach ihm umsieht,« sagten die Weiber zueinander, und die Bachbäuerin, die drei Buben in der Schule hatte, sagte zu diesen: »Lasset doch den Geißlipp auch manchmal mittun. Ich meine, der Bub' sei nicht so bös, wie man immer tut.«
Es war merkwürdig: vorher hatte in ganz Rötenberg niemand daran gedacht, daß man dem Philipp ein wenig zurechthelfen sollte, und jetzt hatten es auf einmal alle bemerkt, daß er kein solcher Nichtsnutz werden müsse, wie die andern geglaubt hatten. Fräulein Margret mußte manchmal ein wenig lachen, wenn sie die Leute reden hörte, aber sie war froh genug, daß der Philipp jetzt öfters fröhlich mit den andern spielte, und daß sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck bekam, und sie dachte, es sei ja gleich, wer zuerst angefangen habe, sich um ihn anzunehmen.
[S. 249]
Es geschah noch mehr Gutes. Der Vater Berner ging lange nicht mehr so finster und drohend einher wie früher. Er hatte einen ganz neuen Lebensmut bekommen, seit er nicht mehr so ganz allein stand und seit er neue Hoffnungen auf seinen Sohn setzen konnte. Und es fiel ihm vieles ein, was ihm der Herr Pfarrer aus dem Nachbarort (denn Rötenberg hatte keinen eigenen) früher oft umsonst gesagt hatte: nämlich daß der liebe Gott keinen Menschen ganz verlasse, der ihn nicht verlasse, und daß er auch die Herzen der Mitmenschen lenken könne, daß sie sich einem wieder auftun, wenn man selber auch friedfertig sei und nicht mehr hochmütig und feindselig. »Ich verlang' nichts, als daß man mich in Ruh' läßt,« hatte Berner damals immer gesagt, und so hatte ihn endlich auch der Pfarrer in Ruhe gelassen.
Jetzt war das nicht mehr so. »Es ist halt ein Elend, wenn man so allein hausen soll, man ist in seiner eigenen Stub' nicht daheim,« sagte er ein paarmal zu Fräulein Margret. Und eines Tages sah ihn zu ihrem höchsten Erstaunen die alte Kätter, die in einem Hinterstübchen beim Metzger wohnte, bei sich eintreten. Kätter war ein verwachsenes Weiblein, das sich mit Flicken ehrlich und spärlich durchbrachte, und sie war ganz weitläufig mit dem Geißlipp verwandt.
Der Vetter drehte seine Kappe verlegen in den Händen hin und her, und endlich sagte er: »Kätter, du könntest wohl zu mir ziehen. Platz gäb's da noch, und das Essen langt auch für uns drei, und an dem Buben könntest du dir einen Gotteslohn verdienen. So allein mit mir, das ist nichts für so ein Junges.«
Die Kätter mußte nicht lang fragen, ob der Vetter auch ordentlich mit ihr sein werde, und ob sie sich nicht vor seinem zornigen Wesen zu fürchten habe. Sie sah wohl, daß da allerlei anders geworden sei, und so zog sie denn mit ihrem[S. 250] Bett und der bemalten Holzkiste, in der ihre Kleider waren, mit dem großen Nähkissen und der Hornbrille in das Häuschen des Geißlipp ein.
Und nun konnten sie beide, der große und der kleine Geißlipp, erfahren, was eine Heimat ist. Der Vater freute sich, wenn er den Schornstein rauchen sah, wenn er heimkam, denn nun wußte er, daß da jemand für ihn sorge und zu ihm gehöre. Und der Philipp konnte mit seinen Löchern im Kittel und in den Hosen immer zur Base kommen und brauchte sich nicht mehr von den Buben nachrufen zu lassen: »Geißlipp, deine Geiß hat dir die Hosen zerrissen.«
Es war noch viel Gutes an der neuen Einrichtung. Denn die Kätter hatte zwar einen ganz krummen Rücken, aber ein freundliches Gesicht und ein liebevolles Herz, und das war mehr wert.
Es wurde Herbst. Das Annele reiste ab und nahm sehr warmen Abschied von seinem guten Kameraden. Und es war bereits beschlossen, daß es in der nächsten Sommervakanz wiederkomme, und daß dann viel Schönes auszuführen sei. Der Geißlipp winkte lange dem Wagen nach, in dem das Annele mit seiner Mutter saß. Er hatte seiner kleinen Freundin zum Abschied ein Blättchen gezeichnet, darauf waren in der Mitte die beiden Geißen zu sehen, die ein Büschel sehr große und deutliche Vergißmeinnicht vor sich hatten und lustig fraßen. Und außen herum stand mit großen Buchstaben: »So schön es diesen Sommer war, so schön wird's wieder übers Jahr.« Den Reim hatten die Kinder miteinander ausgedacht, und er gefiel ihnen sehr gut, und Fräulein Margret hatte ihn ebenfalls belobt.
Als der Wagen verschwunden war, kehrte der Philipp ins Haus zurück und ging geradeswegs auf das Zimmer des Herrn Lehrers zu. Er mußte sich nicht verlassen vorkommen,[S. 251] wenn auch das Annele fort war, das konnte man ihm wohl ansehen. Und er hatte auch gar nicht Zeit, sich darüber zu besinnen, denn es galt, tüchtig zu arbeiten. In der Schule durfte nichts versäumt werden, das hatte der Lehrer festgesetzt, und nur dann sollte das Zeichnen vorwärtsgehen.
Das war ein guter Sporn für den Philipp, denn das Zeichnen war ihm das Liebste von allem, was es zu tun gab, und es war ihm gar nicht zu langweilig, ganz vorne anzufangen mit geraden und schrägen Strichen. »Wer groß werden will, muß klein anfangen,« sagte der Lehrer. Und Philipp wollte gern klein anfangen, es war ihm Freude genug, daß er überhaupt durfte.
Wenn er jetzt Fräulein Margret sah, so winkten die beiden einander so verständnisvoll zu, als ob das eine sagen wollte: »Hab' ich dir's nicht gesagt, daß du probieren sollst, recht zu tun, und daß dann alles besser werde?« Und das andere: »Du kannst mir sagen, was du willst, ich glaub' dir alles.«
Es ging ein Jahr ums andere dahin. Man konnte denken, es sei in Rötenberg alles ganz gleich geblieben, denn es ging alles so seinen gewohnten Gang. An jedem Morgen kamen von allen Seiten her die Schulkinder mit ihren Tafeln und Büchern unter dem Arm, und dann kam der Lehrer die Treppe herunter und begann den Unterricht mit einem schönen Lied. Und Fräulein Margret stand dann am offenen Fenster oder arbeitete im Garten und horchte auf den Gesang. Aber wer genau hinsah, der konnte wohl merken, daß es immer wieder andere Kinder waren, die sich zusammenfanden. Von denen, die einst neugierig dem Einzug des Lehrers zugesehen hatten, saßen nun schon manche nicht mehr in den Schulbänken, sondern fuhren geißelknallend mit den Kühen aufs Feld oder schafften[S. 252] in Haus und Hof, und einige waren auch nach der Stadt gegangen, um da ein Handwerk zu lernen oder sonst Geld zu verdienen.
In den oberen Räumen des Schulhauses war es recht still geworden. Das Annele kam je länger, je seltener mehr. Denn es hatte solche Freude am Schulleben gewonnen, daß es nun selber gern eine Lehrerin werden wollte, und dazu mußte man tüchtig lernen. Und der Geißlipp stieg auch nicht mehr täglich mit seiner Mappe und seinem stillvergnügten Gesicht die Treppe empor. Es verlangte Fräulein Margret oft nach den alten Zeiten, und wenn es auch immer wieder Kinder gab, denen man etwas Gutes tun konnte, so fehlten ihr doch die ersten Schützlinge. Dann ging sie manchmal nach dem Häuschen des Geißlipp hinaus, wo immer noch die alte Kätter am Fenster saß und flickte oder in der räucherigen Küche hantierte. Oft kam dann auch der Vater Berner heim, und dann schüttelten die drei einander die Hände wie alte Freunde. Sie hatten immer etwas Wichtiges miteinander zu verhandeln. Denn Philipps Vater hielt es immer noch für eine wunderbare Sache, daß sein Bub' kein Nichtsnutz, sondern ein tüchtiger Mensch werde, und obgleich er ja sonst nicht viel sprach, sagte er doch immer wieder zu Fräulein Margret: »Das hat Sie unser Herrgott angewiesen, daß Sie an dem Buben tun sollen wie eine Mutter, das kann Ihnen kein Mensch vergelten.« Und die Kätter nickte eifrig dazu, und ihr Faden ging dann noch einmal so schnell auf und nieder, denn sie wollte auch ihren Teil an der Sache haben und konnte doch nichts anderes mehr für den Philipp tun, als ihn immer wieder tüchtig herausflicken. Der Philipp war nämlich nicht mehr zu Hause.
Er war zwar nicht gerade drauf und dran, ein großer, berühmter Künstler zu werden, aber man konnte doch jetzt schon sehen, daß einmal ein tüchtiger Mann aus ihm werde,[S. 253] an dem man sich wohl freuen konnte. Jetzt war er in einer großen Tapetenfabrik und zeichnete schöne Muster mit Blumen und Vögeln, auch hie und da freundliche Häuschen mit Blumengärtlein davor oder weidende Kühe auf einer grünen Matte für Fenstervorhänge, und man konnte allem, was er machte, wohl ansehen, daß es mit Lust und Liebe getan war.
Es war einmal an einem schönen, sonnigen Abend im Herbst. Die Kinder spielten wie sonst auch unter dem großen Kastanienbaum beim Röhrenbrunnen, und die Erwachsenen kamen vom Feld heim, und der Vater Geißlipp nahm seine Hacke, mit der er an der Straße gearbeitet hatte, auf die Achsel und ging ebenfalls heimzu. Er ging jetzt nicht mehr stumm und mürrisch an den Leuten vorbei und die Leute nicht an ihm. Denn was schwer und dunkel in seinem Leben gewesen war, das lag jetzt dahinten.
Um diese Zeit schritt ein junger Wanderer dem Dorf zu. Er mußte da bekannt sein, denn als er an den kleinen Feldweg kam, der ein tüchtiges Stück vom Weg abschneidet, ging er sogleich dahinein. Es sah aus, als ob ihn etwas vorwärts treibe, so große Schritte nahm er. Und doch blieb er hie und da stehen und sah den ziehenden Wolken nach oder horchte einen Augenblick still auf den fröhlichen Kinderlärm, den man bis hier heraus hörte. Der Wanderer hatte nur eine leichte Tasche umhängen, und aus dieser nahm er ein Büchlein und blätterte während des Weitergehens ein wenig darin. »Es stimmt alles,« sagte er heiter. »Ich hab's doch noch gut im Gedächtnis gehabt.« Mancher hätte vielleicht gedacht, das sei ein sonderbares Bilderbuch. Denn da waren mit flüchtigen Bleistiftstrichen allerlei unscheinbare Dinge aufgezeichnet: ein Stück zerbrochenen Lattenzauns, davor ein barfüßiger Bube[S. 254] stand, ein Stück Grasrain, in dem eine Sichel steckte, ein verwittertes Mauerstück, auf dem allerlei Unkraut blühte, und noch mehr derartiges. »Es freut sie doch,« sagte er lächelnd vor sich hin und steckte das Büchlein wieder ein.
Und dann sah er einige Schritte vor sich einen Mann gehen, der trug eine Hacke auf der Schulter und legte die Hand vor die Augen, um besser die Landstraße entlang sehen zu können, hinter der die Sonne unterging.
»Vater!« rief der Philipp laut, denn der war der Wanderer. Er war mit wenigen großen Sprüngen bei dem Mann, und dann gab es ein Wiedersehen, wie sich weder der alte noch der junge Geißlipp vor Jahren hätten eins träumen lassen.
Ob Fräulein Margret das Bilderbuch gefreut hat, das ihr der Philipp am andern Morgen brachte?
Es wird wohl so sein. Wenn ein Gärtner auch weiß, daß er nicht selber seiner Pflanzung fröhliches Gedeihen geben kann, freuen darf er sich doch ihrer, wenn sie wohl gerät.
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