Title: Die Schwestern im Kreuz
Erzählung
Author: Aleksei Remizov
Contributor: Eugen Anitschkow
Translator: Fega Frisch
Release date: March 21, 2025 [eBook #75679]
Language: German
Original publication: Muenchen, Leipzig: Georg Mueller, 1912
Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Remisow / Die Schwestern im Kreuz
Alexej Remisow
Erzählung
1913
München und Leipzig bei Georg Müller
Copyright 1912 by Georg Müller München
Autorisierte Uebersetzung von Fega Frisch
Alexej Remisow ist im Herzen Rußlands, in Moskau, geboren. Dort sind vierzig mal vierzig Kirchen; täglich dröhnen dort zur Früh- und Abendmesse die Glocken, die großen und feierlichen in den Klöstern und Kathedralen, die Zarenglocken des Kreml; es antworten ihnen mit allen ihren Glocken die kleinen und niedrigen Glockentürme in den uralten Pfarrkirchen. Gar viele Pfarrkirchen hat Moskau; um sie herum schlängeln sich die Straßen und Gäßchen, in ihnen lebt der Moskauer Handelsstand sein eigenes urwüchsiges Leben. Alle Fasten werden streng eingehalten; an den Feiertagen ziehen die Priester mit dem ganzen Klerus aus einem Haus ins andere, um die festlichen Tafeln zu segnen; dort werden bis heute die Märtyrer- und Heiligenlegenden in der uralten Schrift gelesen, dunkle und vertraute Mitteilungen über Gottesmänner und große Märtyrer. Mancher ist sauber gekleidet und sieht ganz europäisch aus: ein gestärktes Vorhemd und eine Krawatte nach der letzten Pariser Mode – doch beginnt er sich auszuziehen, so entdeckt man ein kattunenes russisches Hemd darunter und einen geweihten Gürtel mit eingewebten Gebeten. Voll Inbrunst kniet der moderne Stutzer vor dem Familienschrein mit den Heiligenbildern. Der unter der neumodischen Wäsche verborgene geweihte Gürtel schützt vor Uebel. Der alte Glaube ist fest in ihm, und der uralte Kaufmannsstand in Moskau lebt nach der Väter Art.
Einst wurde er von dem Advokatensohn Ostrowskij auf die Bühne gebracht. Seitdem war es Mode, sich über die rührseligen Mitjas, die gutmütigen Andrej Bruskows, die durchtriebenen Podchaljusins, über die dünkelhaften Väter: Tit Tititsch und Torzows zu amüsieren. Das „finstere Reich“ nannte die Kritik den Moskauer Kaufmannsstand. Diese eigenartige Welt blieb ganz abseits von den großen Wegen der russischen Literatur. Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Literatur vorwiegend ländlich, Gutsbesitzer- und Bauernliteratur. Die Stadt schämte sich gleichsam ihrer selbst. Was in ihr geschah, besonders unter der Handelsbevölkerung in den alten Kirchspielen, das wußte man nicht, das wollte man nicht wissen. Und wenn in der Literatur auch einige Sprößlinge aus dieser Welt auftraten, so waren sie bemüht, möglichst rasch zu vergessen, zu verschweigen und tief im Herzen alles zu verbergen, was sie von dorther aus dem „finstern Reich“ in die Helligkeit der volkstümlichen Bildung, auf welche die fortschrittlich Gebildeten so stolz waren, mitbrachten.
Erst seit kurzem sind die stillen Kirchspiele auf den sieben Hügeln des russischen Rom, des Mütterchens Moskau, gleichsam erwacht. Die neue Kunst, die sozialdemokratischen Tendenzen, die Beziehungen zu westeuropäischen Firmen, die Errungenschaften der Technik, die Verfeinerungen in den Anschauungen, alles das ist bis in die dunkelsten Winkel gedrungen. Und von da kam zu uns der Neueste: ein Erneuerer der Kunst, ein Prophet von morgen, der dennoch nichts von gestern vergessen hat: Alexej Remisow.
Sein Leben verläuft äußerlich wie das vieler gebildeter Russen der letzten Zeit. Im Jahre 1877 geboren, hat er seine Bildung in einem Handelsgymnasium und später auf der Universität empfangen; er hat Nationalökonomie und deutsche Philosophie studiert, den Marxismus und die Bewegung „Zurück zu Kant“ mitgemacht, in den Seminarien Aufsätze über wirtschaftliche Fragen und über Statistik geschrieben, Arbeiterzirkel gegründet, und war infolgedessen erst in die milde Verbannung eines großrussischen Gouvernements, dann ins Gefängnis geraten, hat mit einem ganzen Haufen revolutionärer russischer Intelligenz die Strapazen und Mühsale des Etappenlebens mitgemacht, hat so manches Jahr im fernen Norden, wo oft im Juni noch Schnee genug fällt, daß man Schlitten fahren kann und wo das Nordlicht in seiner kalten Schönheit leuchtet, verbracht. Er hat dies alles erduldet, sein Herz zermartert, eine Menge Bücher studiert und kam zu uns nach Petersburg als ein fertiger Schriftsteller zurück, als ein symbolistischer Schriftsteller und Stilist von neuester Prägung.
Wichtig aber ist, daß er seine uralte Moskauer Seele bewahrt hat; in seiner Seele dröhnen die vierzig mal vierzig Kirchenglocken weiter und er liebt noch immer die Legenden und Sagen von den Gottesmännern, Heiligen und Märtyrern, von den von Gottes Gnade erleuchteten Buhlerinnen, vom tapferen Georg, von allerlei märchenhaften Seltsamkeiten: von Totenfeiern, Teufeln, Zauberern und Hexen. Alles was die Philologen, die sich mit alter Literatur befassen, studieren und was die Engländer Folklore nennen: Märchen, Runen, Volkslieder und Riten, Volksglauben und Apokryphen – dies alles pflegt er mit dem Talent eines modernen Dichters, und sein Stil ist eigenartig, seltsam und prächtig, so verfeinert und reich, als hätte sich ihm die ganze geistige Schatzkammer des tausendjährigen heiligen Rußland aufgetan, zum Dank für seine Liebe zu den vertrauten Kirchspielen aller sieben Hügel des Mütterchens Moskau.
Remisows erster großer Roman „Der Teich“ zeigt noch den jungen Schmerz einer Seele, vor der sich eben erst das Böse des Lebenskampfes erschlossen hat. Woher kommt das Böse? Es wird schon in der ganz naiven kindlichen Seele geboren. Die rationalistischen Theorien aus den Büchern tragen zur Lösung dieses schicksalsmäßigen Rätsels nichts bei – im Gegenteil! – vielleicht muß man also nach rückwärts, in den uralten von den Ahnen ererbten Sagen vom bösen Geist, in dem sagenhaften Teufel und Spötter die Antwort suchen? – Remisows von den Fragen unserer Zeit durchdrungener Geist vertiefte sich in das Studium alter Sagen und Legenden, und eins an das andere reihten sich etwas wie Märchen oder moderne Apokryphen und bildeten eine Art neues pratum spirituale, das mit seiner Buntheit alle seine größeren Werke gleichsam einrahmt.
„Der Teich“ kann nur im Licht dieser apokryphischen Skizzen ganz verstanden werden. Der Grundgedanke dieses Werkes ist noch nicht ganz klar herausgearbeitet; die einzelnen Episoden wirken zwar an sich erschütternd, doch fehlt noch das Allgemeine. Dies Allgemeine erscheint klar auf eine neue Weise in einer objektiveren Form, losgelöst von den tragischen poesieumwehten Erinnerungen im zweiten Roman „Die Uhren“. Hier handelt es sich nicht mehr um die Chronik eines Moskauer Handelshauses in einem der Moskauer Kirchspiele, in den „Uhren“ wollte der Autor das Geheimnis der ganzen Stadt in all seiner Vielgestaltigkeit auffangen, und die Frage nach dem Bösen hat eine größere Bestimmtheit erhalten. Dennoch ist es auch hier schwer, den heimlichen Gedanken des Autors herauszufinden und seine Symbole zu begreifen, die geheimnisvoll sind wie uralte Runen. Erst später in den nachfolgenden Erzählungen sind endlich die Schwierigkeiten überwunden, eine Klarheit ist erreicht und im Herzen ist das ausgesprochen, was so lange nach außen drängte, aber keine entsprechenden Bilder und Symbole fand. Ja, das Böse ist schicksalsmäßig, es ist notwendig, es hat keinen Sinn, Idyllen zu schreiben, man muß das Böse erkennen und verstehen, diese irdische Hölle, die irdischen Leidenschaften.
Schwierig waren seine Romane „Der Teich“ und „Die Uhren“. Schwierig sind auch jetzt in den „Schwestern im Kreuze“ und im „Unbezähmbaren armen Teufel“ die Betrachtungen über die schicksalsmäßige und offenbar notwendige Schuld. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“ ist diese Theorie schon anschaulich und entschieden durchgeführt. In den „Schwestern im Kreuze“ ist alles auf ihr aufgebaut. Marakulin denkt: „Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen und in der Welt er selbst zu sein; der andere muß töten, um durch den Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens als er selbst zu sterben; er aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht der Person, der sie zukam –, um seine Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen.“
Doch muß man sich fragen: Findet denn die Persönlichkeit sich selbst nur in einem Verbrechen? Das scheint nicht glaubhaft. Natürlich nicht. Aber gerade dieser Gedanke in seinem Rohzustand sozusagen führt uns zum Verständnis einer der wichtigsten Fragen der Gegenwart. Darum lockte es den Symbolisten Remisow, den Fall aller Einwohner des Burkowschen Hauses zu schildern, weil dieses Symbol unseres zeitgenössischen russischen Alltags sich durch alle traurigen Fälle der letzten Jahre aufgeschlossen hatte.
Remisow versucht jetzt, seine Symbole zu deuten. „Die Katze miaute, Murka miaute. Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch nie zuvor, daß Murka stets gemiaut hat, nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre hier an der Fontanka auf dem Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und nicht nur hier auf dem Burkowschen Hof an der Fontanka, sondern auch auf dem Newsky und in Moskau an der Taganka – bei der Auferstehungskirche –, an der Taganka, wo er geboren war, überall, wo etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor dieser Murka nirgends hätte verstecken können. Und er fühlte es, daß Murka nicht dort unten im Hofe miaute, sondern hier ...“ Das stöhnende Burkowsche Haus ist ganz Rußland, das heilige Rußland, und zwar das ganz gewöhnliche, alltägliche. Es ist schuldig geworden, es hat sich unvermögend erwiesen, es hat mehr versprochen, als es gehalten hat. Hier hat es sich eben gezeigt, so wie es wirklich war und nicht wie es nach den Programmen geschienen hat. Man muß sich von allen Theorien lossagen, um es so zu sehen. Noch wichtiger ist der Mut, es gegen alle Programme und Theorien auszusprechen. Dies ist Remisows Stärke: sein Held ist eine wirkliche Individualität. Er ist nicht aus Theorien geboren und nicht verstandesmäßig gesehen. Marakulin lebt sein eigenes Leben, er ist ein durchschnittlicher Mensch, aber eben von diesem Eigenen geht der Symbolismus zum Allgemeinen. Auch Marakulin ist symbolisch. Waren wir nicht alle noch vor kurzem ebenso offenherzig und vertrauensselig, als hätten wir keine Lehren der Geschichte vor Augen? Damit haben wir Schuld auf uns geladen. Das Leben ist bei uns erstarrt. Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen.
Lange und hartnäckig hat sich Remisow mit den Fragen des Glaubens befaßt, mit den Altertümern, mit der Volkspoesie, mit Sagen, aus denen das uralte heilige Rußland sich Pein und Belehrung schöpfte. Man verstand ihn nicht und hielt der unverstandenen Kunst Remisows den Realismus entgegen. Es schien, daß sein Stilisieren kein Ende nehmen wollte in diesem ganzen Strom von Skizzen, in denen er vor allem seine Meisterschaft zeigte. Aber diese Skizzen Remisows waren nur seine Lehrlingsarbeit.
Wer ihn gut kannte, der konnte nicht daran zweifeln, denn dieses Stilisieren beschränkte sich nicht auf die Form. Es führte in das wahre Verständnis dessen ein, was einst Volksseele genannt wurde. Denn die Volksseele läßt sich nicht in Kategorien pressen, welche die politischen Parteien für sie aufstellen, weder in die der volkstümlichen rechten oder linken Partei, noch in die Kategorien derer, die der ganzen Menschheit Heil versprechen. Das Geheimnis der Volksseele blieb verschlossen; jetzt sehen wir es endlich klar ein. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“ ist die verwirrte moderne Seele, die Seele eines Trödlers geschildert. Plötzlich hat sich alles das aus der Vergessenheit erhoben, was man ein für allemal hinter sich zu haben glaubte. Dieses Alte in der jetzt ohnedies schon konventionellen Gestalt des Trödlers zeigt sich auch mitten in Petersburg, es klafft aus der Tiefe des Burkowschen Hofes wie aus der Unterwelt, und man fühlt: dies ist wahr! Paradox ist vielleicht nur die Gestalt der Hörerin der Hebammenkurse, welche alte Weisen singt. Hier hat die Phantasie Remisows sich hinreißen lassen, die gewöhnt ist, auch im Neuesten etwas Altertümliches herauszufinden. Aber da haben wir Akumowna; das Schicksal hat sie in die Stadt getrieben, das Schicksal jagt ganz Rußland wenn nicht in die verderblichen Gegenden Sibiriens, so doch in die Städte, wo das Neue geschaffen wird, neuer Glaube und neue Forderungen an das Leben. Aber das Alte stirbt noch lange, lange nicht aus, es bewahrt sich länger, als wir glauben. Daher die Vermengung und das Zusammenfließen des Alten mit dem Neuen. Die Bewegung ins Volk suchte lange den Traum vom freien Grundbesitz zu verwirklichen. Der Bauer hörte dem Sozialismus zu und verstand, daß die Rede von freiem Grundbesitz war. Akumownas Märchen und Lisaweta Iwanownas Geheimnis flossen zusammen mit den Lehren der Verbannten Maria Alexandrowna. Dieses Ineinanderfließen zu schildern, ist eine der vornehmsten künstlerischen Aufgaben, die sich Remisow stellt.
Zu den besten Episoden der Erzählung gehören die Szenen, in denen von der Reise ins Ausland geträumt wird. Darin liegt auch ein geheimer Herzenswunsch verborgen: vom Lande strebt man in die Stadt, aus der Stadt aber, aus allen Burkowschen Häusern, in denen sich das aufgewühlte heilige Rußland quält, drängen die Träume, Wünsche und Hoffnungen dahin, nach dem fernen fremden und seit uralten Zeiten vertrauten Westen. Und es genügt nur zu denken, daß bald, bald eine Möglichkeit eintreten könnte, hinzureisen, sich innerlich auszuruhen und das Martyrium des heimatlichen Schmerzes für eine Weile zu vergessen, dann wird es einem leicht zumute und die Freude leuchtet auf. Kommt von dort, aus der Heimat unserer allerbegehrtesten Ideale – ich brauche absichtlich ein Fremdwort – eine erfrischende Welle über uns, Verjüngung, Geist der sozialen Freiheit, so vergessen wir ganz das Burkowsche Haus und Murkas schmerzliches Miauen, das Weinen und Stöhnen des Volkes. Unsere Augen leuchten und wir atmen freier.
Das Weiseste, was Remisow in seinen „Schwestern im Kreuz“ gesagt hat, ist seine Theorie vom königlichen Recht. Gleich Raskolnikow zermartert Marakulin in einem Ausbruch von Verzweiflung sein Gehirn mit der Frage nach der Vertilgung der menschlichen „Laus“. Wie Raskolnikow sieht Marakulin ebenfalls das ganze Uebel in einer jämmerlichen alten Frau, und es dünkt ihn, daß man nur wagen, die konventionelle Angst vor dem Verbrechen nur überwinden müßte, um das Uebel zu vernichten. Nur ist die menschliche „Laus“, welche Marakulin sieht, keine Pfandverleiherin, sie tut niemand etwas Böses. „Sie hat nichts in ihrem Leben zu bereuen; sie hat weder getötet noch gestohlen und wird weder töten noch stehlen, denn sie tut nichts als sich ernähren, sie trinkt und ißt, sie verdaut und härtet sich ab.“ Was bedeutet das? Remisow schildert die Raskolnikowsche „Laus“ in der Gestalt einer Generalin, die von ihren Renten lebt. Eintönig und sinnlos vergeht ihre Zeit. Sie braucht niemand und niemand braucht sie. „Die Generalin rührt mit keinem Finger, tut rein nichts und erreicht alles: sie härtet sich ganz sichtbar und zweifellos ab, und ihrem Leben ist kein Ende abzusehen – der Chiromant hat sich nicht geirrt – sie ist vielleicht schon unsterblich!“ Ein Leben ohne Arbeit, das heißt ohne Verbrechen und ohne Heldentaten – denn jede Tat ist entweder ein Verbrechen oder eine Heldentat – ein solches Leben beruht, Remisows Meinung nach, nicht auf einem einfachen Recht, sondern auf einem königlichen Recht. So würden wir alle, wenn wir die Utopie vom allgemeinen Wohlergehen verwirklicht hätten, das kummerlose, sündenlose, unsterbliche Lauseleben der Generalin genießen.
Rechtschaffener aber ist das heilige Martyrium des Lebens, mit seinen Abstürzen, Ausbrüchen von Hoffnung, Kämpfen und zäher, qualvoller Erwartung.
St. Petersburg 1912.
Marakulin war mit Glotow befreundet; durchaus nicht etwa, weil der Dienst sie eng miteinander verband und einer ohne den anderen nicht hätte auskommen können: Peter Alexejewitsch gab die Quittungen aus, Alexander Iwanowitsch war der Kassierer. Man weiß ja, wie die Ordnung ist: Marakulin brauchte nur mit Tinte zu schreiben und Glotow zahlte genau so viel in Gold aus. Dabei waren sie so verschieden und einander so unähnlich: der eine schmalbrüstig, der Schnurrbart dünn wie ein Faden, der andere breitschultrig und der Schnurrbart wie bei einem Kater; der eine blickte von innen heraus, der andere strahlte. Dennoch waren sie Freunde, ein Herz und eine Seele.
Denn sie hatten beide ein gemeinsames Merkmal, oder eine Eigenschaft, und zwar eine grundlegende; etwas, das nicht zu verbergen ist: es würde unter den Augenlidern des Schlafenden hervorblinken, gleichviel, ob es sich in der Pupille versteckt oder aus der Pupille sich über den Augapfel verbreitet: beide nämlich hatten eine Art von Fühler oder Rüsselchen. Nicht nur daß dieser Fühler sich ans Leben klammerte, vielmehr sog er alles Lebendige in sich auf, alles, was ringsum lebte und wob, bis auf den Grashalm, der atmet, bis auf das Steinchen, das wächst, und er sog das alles so gierig und fröhlich in sich auf, so ansteckend fröhlich. Das war es.
Wer es bemerken wollte, konnte es sehen, wer es nicht sah, der fühlte es, und wer es nicht fühlte, der erriet es.
Dazu kam, daß sie gleich jung waren – beide waren an die Dreißig oder etwas drüber – und der Erfolg – dem einen sowohl wie dem anderen gelang alles – und die Kraft – keiner von ihnen war jemals krank oder klagte auch nur über Zahnweh. Sie waren auch von keinerlei Banden gefesselt, weder von gesetzlichen, noch von ungesetzlichen, sie waren wie in der Steppe, allein, und die Steppe dehnte sich vor ihnen in ihrer ganzen Weite und Macht, frei, ungebunden, unermeßlich – dein.
Vor drei Jahren etwa hatte Glotow seine rechtmäßige Gattin aus dem dritten Stockwerk auf das Pflaster hinabgestürzt, und die Aermste brach sich dabei das Genick; vielleicht aber war es nicht vor drei Jahren, es kann schon vor ganzen vier gewesen sein. Uebrigens ist das unwesentlich, – es handelt sich ja gar nicht um Glotow, sondern um Peter Alexejewitsch Marakulin.
Marakulin, welcher seine Kollegen mit Fröhlichkeit und Sorglosigkeit ansteckte, gestand einmal, daß er, obschon dreißig Jahre alt, sich für nicht mehr und nicht weniger als zwölfjährig hielte, er wüßte selbst nicht warum, und er führte dafür Gründe an: so oft er mit jemand zusammenkäme, oder sich in ein Gespräch einließe, hätte er das Gefühl, als wären die anderen alle älter – alt, und er wäre der jüngste – ganz jung noch, zwölfjährig. Und ferner gestand Marakulin, daß er sich den anderen Menschen gar nicht ähnlich – nicht ein bißchen ähnlich fühle, wenigstens nicht jenen richtiggehenden Menschen, wie man sie gewöhnlich im Theater, in Gesellschaften oder in den Klubs beobachtet, während sie eintreten oder fortgehen, sich unterhalten oder schweigen, sich ärgern oder zufrieden sind – und daß alles an ihm, von der Nase bis zur kleinen Zeh wahrscheinlich nicht auf dem richtigen Fleck säße – so schiene es ihm wenigstens. Und weiter gestand Marakulin, daß er nie denke; er hätte einfach gar nicht die Empfindung, daß er denke; wenn er durch die Straßen gehe, so geschehe dies eben nur so mit den Beinen, und wenn er mit jemand bekannt werde, dann fände er an seinem neuen Bekannten weder Unterschiedsmerkmale noch Besonderheiten, nicht im Gesicht noch in den Bewegungen: er fühle nur unklar, daß der eine ihn anziehe und der andre abstoße, einer weniger, ein anderer mehr, und ein dritter sei ihm ganz gleichgültig; häufiger aber herrsche doch das Gefühl der Nähe und das Vertrauen in das Wohlwollen des anderen vor. Und weiter gestand Marakulin, daß ihn, seitdem er Bücher lese und mit Menschen zusammenkomme, die entgegengesetzten Meinungen nie abschreckten. Er sei vielmehr bereit, jedermann zuzustimmen, weil er jeden in seiner Weise für berechtigt hielte, und diskutiere nie; wenn er sich aber einmal selbst verstiege oder zu Auseinandersetzungen aufreize, so geschehe es aus ganz indiskutabeln Gründen, deren er sich jedesmal genau bewußt sei, obwohl er sie nicht verrate – gebe es doch genug solcher indiskutabler und doch alltäglicher Gründe! – Und weiter gestand Marakulin, daß er nie in seinem Leben geweint habe, ein einziges Mal ausgenommen, als seine alte Kinderfrau ihn verließ, an ihrem letzten Tag: damals wäre er, in der Rumpelkammer versteckt, an seinen ersten und letzten Tränen fast erstickt. Noch eine verrückte Eigenschaft hatte er, über die man sich lustig zu machen pflegte: wenn ihm irgendein Einfall in den Sinn kam, so stürzte er sich auf ihn mit einer solchen Hartnäckigkeit, als läge in ihm der Sinn seines Lebens, oder des Lebens überhaupt – aus Kleinigkeiten machte er wichtige Dinge. Zu den Feiertagen, zum Beispiel, wurde dem Direktor gewöhnlich ein Bericht überreicht. Dieser Bericht wurde stets mit der Maschine geschrieben, ihm aber konnte es einfallen, ihn mit der Hand abzuschreiben; und obwohl es mit der Maschine viel schneller, leichter und einfacher zu machen ging, – es gab auch vorgedruckte Formulare zu diesem Zweck – so ließ er es sich durchaus nicht nehmen und malte Tag und Nacht beharrlich und sorgfältig einen Buchstaben nach dem andern und reihte die Zeilen aneinander, als wären sie Perlen, und schrieb den Bericht so oft ab, bis er so war, daß er ausgestellt werden konnte, – so war er geschrieben! – denn Marakulin war wegen seiner Schrift berühmt. Am nächsten Tage schon wird so ein Bericht irgendwohin verlegt, man schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit, man verlangt ihn nicht so, und eine Menge Zeit und Arbeit sind sinnlos verschwendet worden! Ein verrückter Kerl, und wie beharrlich in seiner Verrücktheit! Und weiter pflegte Marakulin noch etwas Seltsames zu erzählen – von einer ihm eigenen, durch nichts erklärbaren ungewöhnlichen Freude, die er ganz unerwartet empfinden konnte: manchmal, wenn er am Morgen ins Bureau lief, begann ihm plötzlich das Herz in der Brust zu flattern und er fühlte eine ungewöhnliche Freude. Und diese seine Freude umfing ihn so ganz und sie war so groß, daß ihm schien, er könnte sie jetzt warm aus der Brust herausnehmen und jeden mit ihr beschenken – es würde für Alle reichen; wie ein Vögelchen wollte er sie in beide Hände nehmen, damit ihm dies Paradiesvöglein nicht davonfliege, darauf hauchen, daß es nicht friere und es so den Newsky entlang tragen: mögen sie alle sehen, ihre Wärme einatmen, ihr Licht fühlen, – das stille Licht und die Wärme, die das Herz vor Freude atmet und ausstrahlt.
Natürlich ist es schwer, sich selbst zu beurteilen, und mit Geständnissen kommt man auch nicht weit: ob das alles stimmte oder nicht – wer kann es wissen? – Aber eine Liebe zum Leben, ein Instinkt zum Leben, die Heiterkeit des Gemütes – das war in ihm in der Tat.
Wenn man Marakulin zuhörte oder sah, wie er an Menschen heranzutreten pflegte, wer sein Lächeln und seinen Blick kannte, dem konnte manchmal der Gedanke kommen, daß so einer wie er, jederzeit imstande wäre, zu einer Bestie in den Käfig zu treten und, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne zu überlegen, die Hand auszustrecken, um das sich sträubende wilde Haar des grimmigen Tieres zu streicheln – und das Tier würde nicht beißen.
Und wie konnte es Marakulin betrüben, wenn es sich zuweilen, plötzlich herausstellte, daß auch er, wie jeder andere, gehaßt wurde, daß auch er seine Mißgönner hatte, daß auch er für jemand ein Balken im Auge sein konnte! Denn man konnte ja mit ihm machen, was man wollte. Und wenn er es dennoch zustande gebracht hatte, das dreißigste Jahr zu erleben, und mit Erfolg, so war es das reinste Wunder – eine unwahrscheinliche Sache. Meistens aber wurde Peter Alexejewitsch geliebt, nicht etwa besonders oder gar zu sehr, aber es war gar kein Grund, ihn nicht zu lieben – brachte er doch Heiterkeit und Lachen mit, dazu kein gewöhnliches Lachen, sondern ein trunkenes, marakulinsches – warum sollte man ihn da hassen? Und dennoch nahm das alles kein sehr gutes Ende – Peter Marakulin endete schlimm.
Das kam so: Marakulin erwartete zu Ostern Beförderung und eine Gratifikation – in den großen Geschäftshäusern ist es zu den Feiertagen so üblich –; statt dessen aber wurde er aus dem Dienst gejagt. Es geschah folgendermaßen: Fünf Jahre hatte Peter Alexejewitsch gedient, fünf Jahre die Quittungsbücher geführt, und alles befand sich in bester Ordnung, – Marakulin wurde sogar wegen seiner Ordnungsliebe und Genauigkeit scherzweise „Der Deutsche“ genannt – als aber die Direktoren vor den Feiertagen revidierten und zu vergleichen und zu rechnen begannen, da trat eben die Verlegenheit ein: es stimmte etwas nicht, es fehlte etwas – vielleicht nur eine wirkliche Bagatelle, – das Geschäft aber war groß, und solche Kleinigkeiten konnten Verwirrungen verursachen. So nahm man ihm denn die Bücher ab und entließ ihn.
Erst glaubte Marakulin nicht daran, er wollte es einfach nicht glauben, und dachte, man triebe nur Scherz mit ihm, einen Jux zum allgemeinen Ergötzen einfach, um vor dem Fest die Fröhlichkeit zu erhöhen; er lachte dazu und begann seine Auseinandersetzung auch nicht ohne Witz:
– Gestatten Sie dem Dieb Soundso, dem Räuber und Wegelagerer, den Diebstahl aufzuklären ...
– Wie?
– Ha – ha ... Und er war es, der zuerst lachte.
Und in einem aufklärenden Brief an eine wichtige und einflußreiche Persönlichkeit, an den Direktor, unterschrieb er nicht einfach Peter Marakulin, sondern „Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin“.
„Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin.“
– Wie?
– Ha – ha ... Und er war es wieder, der zuerst lachte.
Aber der Scherz gelang diesmal offenbar vorbei, er wirkte gar nicht spaßhaft, oder wenn er auch so wirken hätte können, so nahm man das gar nicht wahr, und niemand lachte, – im Gegenteil. Und am komischsten war die Antwort eines jungen Buchhalters, – dieser Buchhalter war ein kleiner stiller Mensch, der nicht einmal eine Fliege zu kränken imstande war, so still war er.
Dieser Awerjanow nun sagte: Ich möchte bis zur Aufklärung Ihres Mißverständnisses mit meiner Antwort abwarten.
Hier wurde Peter Alexejewitsch ernst:
– Was für ein Mißverständnis! Es kann ja gar keinen Irrtum geben!
– Wie?
– Der Irrtum, meine ich ... ich irre mich nicht, ich bin ein „Deutscher“ ... Wo ist denn der Irrtum?
Und jetzt mußte er es glauben. Er mußte ja glauben! Die wilde Bestie ist offenbar doch nicht so einfach, sie unterwirft sich nicht so leicht, sie läßt nicht so ohne weiteres ihr sich sträubendes Fell streicheln. Hände weg! Die Bestie beißt dir noch die Finger ab! Ist es nicht so? – Oder hat es mit der Bestie gar nichts auf sich und der Fluch besteht gar nicht darin, daß der Mensch für den Menschen eine Bestie ist und eine grimmige dazu, sondern darin, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz ist: man mag ihn noch so anflehen, er hört es nicht; man mag ihn noch so anrufen, er antwortet nicht; man mag sich den Kopf einstoßen, indem man vor ihm mit der Stirn auf den Boden schlägt, er rührt sich nicht; er bleibt so stehen, wie er hingestellt wurde, bis er umfällt oder bis du umfällst. Ist es nicht so?
Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn, und zum erstenmal dachte es in ihm und sprach sich deutlich aus: Der Mensch ist für den Menschen ein Klotz.
Er lief da hin, klopfte dort an: überall war geschlossen, überall war zu: er wurde nicht empfangen. Und wenn er empfangen wurde, so ließ man ihn nicht sprechen, gar nicht zu Worte kommen. Dann begann man ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen: keine Zeit! oder: laß, bitte, in Frieden! oder: wir haben an was anderes zu denken! – Bald gab die Dienerschaft nicht einmal Antwort mehr hinter der Vorlegekette: es war ihnen untersagt; außerdem war er allen schon zu lästig geworden.
Marakulin hatte keine Zuflucht mehr: er war wie in der Steppe, allein, und die Steppe lag vor ihm, ausgebrannt, schwarz, endlos – fremd. Nach allen vier Richtungen gleich unabsehbar. Erst hatte er alles, jetzt hatte er nichts.
Und das alles wegen einer Bagatelle – wegen eines blinden Zufalls. Es ging freilich ein Gerücht um, die ganze Sache sei von Alexander Iwanowitsch angezettelt, sei ein Werk seiner Hände, – Glotow habe seinen Freund hineingelegt und sich selbst aufs Trockene gebracht. Andererseits aber wußte man, daß Marakulin selbst bereit war, sei es aus Herzensgüte oder aus einer sonstigen Eigenschaft, etwa aus übermäßiger Vertrauensseligkeit und Einbildungskraft – er kam mit den Menschen gern gut aus – ja, daß er selbst nichts dagegen hatte, eine Quittung, provisorisch natürlich, einer Person auszuhändigen, die mit einer Zahlung nichts zu tun hatte; auf besondere Bitten hin oder mit Rücksicht auf die Verlegenheit eines Kollegen – vielleicht eben dieses Alexander Iwanowitsch! Denn man konnte mit Marakulin machen, was man wollte.
Er aber, durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn geschleudert, ohne Arbeit, allein, Tage und Nächte denkend, für sich allein denkend – es waren eben andere Zeiten, jene Zeiten waren vorbei; jetzt hatte auch er, wie die richtigen Menschen, zu denken angefangen – er selbst aber entschied und sprach sich selbst das Urteil: er erkannte sich nicht schuldig und sprach sich von Diebstahl frei. Und indem er sich in seiner fieberhaften Aufregung seine Daseinsberechtigung bewies, tat er es wie früher mit Lachen und mit Freude, auf die marakulinsche Art: er biß sich in diesen Klotz fest, in die Vorstellung, zu der sein Denken ihn geführt, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz sei, und begann zu bohren. Er wollte um jeden Preis ergründen, wer das alles brauchte und wozu: zum Vergnügen welchen Klotzes all die andern Klötze hingestellt seien! Er wollte es nur ergründen, um sich bestimmt sagen zu können, ob er selber noch länger als Klotz dastehen sollte, so wie es irgend jemand beliebt hatte, ihn hinzustellen, oder ob er, ohne abzuwarten, bis es jemand belieben würde, ihn umzustoßen, sich selber hinstrecken sollte, freiwillig, ohne jemand zu fragen. Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es auch? Es sei denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen und nach den Linien der Hand einen anderen beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke.
Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung zu erweisen! Und auch das ist es nicht, daß der Mensch für den Menschen eine Bestie ist, und nicht, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz ist; die Sache ist einfacher: wenn das Unglück über einen kommt, dann heißt es: dulde, und dulden mußt du darum, weil es einerlei ist, ob du mit den Hinterbeinen ausschlägst oder beißest, – denn alles ist nutzlos, es läßt dich nicht los, bis seine Zeit um ist. Ist es nicht so? Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich zu ihm: Dulde.
Den ganzen Sommer trieb er sich ohne Arbeit herum. Alles, was er in den fünf Petersburger Quittungsjahren erworben hatte, ging jetzt in die Leihhäuser, in das Residenzpfandhaus oder in das städtische, auf dem Wladimirsky-Prospekt. Bald besaß er nichts mehr; die Pfandscheine hatte er auch an einen Uhrmacher in der Gorochowaja verklopft, und was ihm noch übrig blieb, war so vertragen und zerrissen, daß nicht einmal der Tartar es gekauft hätte. Er war abgerissen und schäbig; sein einziger Gummikragen war ganz zerwaschen, nur das Kreuz am Hals war noch ganz und das Amulett, das er sich übrigens längst nicht mehr umzuhängen pflegte; er hatte es an die Wand gehängt zur Erinnerung. Und er begann, sich zu schämen – früher hatte er nie etwas Derartiges gefühlt. Er wagte es nicht mehr zu bitten. Zum Glück konnte er auch niemand bitten: wie vor einem Cholerakranken waren alle Freunde davongelaufen und hielten sich vor ihm versteckt. Und er empfand Angst vor Allen, vor Bekannten und Unbekannten. Er schämte und fürchtete sich, durch die Straßen zu gehen; es war ihm, als wüßten alle etwas von ihm, das er nicht den Mut hätte, sich selber zu gestehen, geschweige den Menschen zu sagen. Die Passanten in den Straßen stießen ihn. Sogar die Hunde, auch die bellten ihn an und schnappten nach seinen Beinen. Er war eben ein verlorener Mensch.
Nun ja, ein verlorener, rechtloser – da heißt es eben: dulde, dulde und vergiß ... Bricht das Unglück über dich herein, dann vergiß, daß es Menschen auf der Welt gibt; die Menschen werden dir nicht helfen, und wenn sie es wollten, gleichviel, das Unglück wird ihre Taten zunichte machen, es wird sie auseinanderjagen und einschüchtern; darum vergiß die Menschen. Ist es nicht so?
Und etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich zu ihm: Vergiß.
Bald fanden sich dennoch Menschen. Es erschien aber nicht etwa so ein Awerjanow oder sein Gehilfe Tschekurow – die Peitsche der Gemeinheit, wie der ehrliche Tschekurow sich selbst nannte, – nein, es waren lauter solche, an die Marakulin niemals vorher gedacht hatte: kleine, verdächtige Beamte, die aus allen möglichen Aemtern fortgejagt waren, und solche, die von einer Stellung zur anderen wanderten – Anwärter auf den Laufpaß, Zugrundegegangene und Zugrundegehende, Betrogene und Vielgeprüfte, die in anständige Häuser nicht kommen dürfen und denen die Hand zu reichen für unpassend und unmöglich gilt, und endlich solche, die einen sehr bezeichnenden Spitznamen haben – ihren eigenen Namen und den Zunamen von Dieben, Schurken, Schuften: bekannte, halbbekannte und ihm völlig unbekannte Gauner kamen zu Marakulin, um ihr Mitgefühl zu bezeigen; sie waren es auch, die ihm fürs erste Arbeit fanden, wenn auch keine sichere, nur so, um sich durchzufretten.
Marakulin hatte vorher eine Wohnung auf der Fontanka, an der Obuchowskybrücke; sie war klein, aber doch seine eigene, jetzt mußte er die Wohnung aufgeben und in ein Zimmer ziehen. Das Zimmer fand sich auf derselben Treppe, drei Stockwerke höher. Im ganzen hatte sich Marakulins Leben bis dahin ganz leidlich gestaltet, wenn auch verworren und ungeordnet. Er hatte zwar schon früher einmal Zeiten gehabt, da er nicht besonders gut lebte, freilich war das noch vor seiner warmen Stellung, in den Anfängen seiner Laufbahn, da man sich aus so etwas gar nichts macht. Jetzt aber war es anders: es fiel ihm schwer, sich einzuschränken, um so mehr, als er keine Hoffnung auf Verbesserung hatte und der Gaunerverdienst nicht übermäßig war; er reichte gerade, um sich durchzufretten. Aber wozu sich durchfretten? Wozu leiden, leiden, wozu vergessen, vergessen und dulden? Er wollte durchaus wissen, wer das alles brauchte und wozu, zum Vergnügen welchen Diebes, welches Schurken oder Schuften – welchen Gauners das nötig war? Und er wollte es wissen, nur um sich klar zu sagen, ob es sich noch lohnte, das alles in die Länge zu ziehen – zu dulden, nur um sich durchzufretten?
Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es auch? – Es sei denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen und nach den Linien der Hand einen anderen beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke.
Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung zu erweisen! Es kommt offenbar gar nicht darauf an, daß man duldet und auch nicht, daß man vergißt; die Sache ist viel einfacher: Denke nicht. – Ist es nicht so?
Und etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach ganz deutlich zu ihm: Denke nicht.
Er sollte nicht denken, jetzt? Gerade jetzt, durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn geschleudert, allein, ohne Arbeit? Jetzt begann er erst recht zu denken – jene Zeit, als er noch nicht dachte, war vorbei, und wird nie wiederkehren.
Und der Kreis schloß sich in ihm: er wußte, daß es nutzlos war zu denken, daß er nicht denken durfte, daß man nichts beweisen kann, und konnte doch nicht umhin zu denken, konnte doch nicht umhin zu beweisen, er mußte denken bis es schmerzte; die Gedanken jagten sich unaufhörlich wie im Fieber.
Seine Wohnung wurde Marakulin glücklich los, ohne daß man ihn aufs Polizeirevier geschleift oder gepfändet hätte – er hatte nichts, und die Seele kann man einem doch nicht wegnehmen. Nur daß Michail Pawlowitsch ihm die Hand nicht gereicht hatte, – der Oberhausmeister Michail Pawlowitsch pflegte den mittleren Mietern, die er achtete, die Hand zu reichen.
Der letzte Tag am alten Herd verlief für Marakulin sehr denkwürdig. Am Morgen geschah ein Unfall im Hof: eine Katze war verunglückt – eine weiße, glatte Katze mit grauem Schnurrbart. Möglich, daß sie auch gar nicht verunglückt war und gar nicht gedacht hatte, vom Dach des fünften Stockwerks herabzustürzen, sondern sie mochte vielleicht zufällig etwas verschluckt haben: einen Nagel oder eine Glasscherbe. Es kann auch sein, daß jemand ihr absichtlich, zum Spaß, ein Nägelchen oder einen Splitter zu fressen gegeben hatte, – es gibt nämlich solche Liebhaber. Sie quälte sich sehr und litt: bald warf sie sich auf den Rücken und wälzte sich auf den Steinen, bald drehte sie sich auf den Bauch herum, streckte die Vorderpfoten aus, hob die Schnauze in die Höhe, als wollte sie in die Fenster hineinsehen, und miaute.
Die kleinen Kinder umstanden die Katze, sie ließen ihre wilden Spiele und wilden Arbeiten im Stich und hockten sich um sie herum. Sie waren still geworden und konnten sich von der Katze nicht losreißen; sie aber miaute. Der Perser, der schwarze Masseur aus der Badeanstalt, hockte sich auch hin, rollte mit den Augäpfeln sie aber miaute.
Ein rauchfarbener Kater sprang aus der Remise hervor, ging forsch quer durch den Hof, über die Bretter und über den Kies geradeaus auf die Katze zu, aber drei Schritt von ihr blieb er stehen, sträubte sein Fell und zog mit hochgehobenem Schweif ab. Ein kleines Mädchen besann sich und lief um Milch; sie brachte eine Scherbe voll und stellte sie der Katze unter die Nase; die Katze aber sah gar nicht hin und miaute. – Die Katze ist verrückt! – sagte ein Erwachsener, der ebenso wie Marakulin aus dem Fenster zuschaute.
– Das ist unsere Katze Murka! – verbesserte ihn das kleine Mädchen, das um Milch gelaufen war; ihr Gesicht glühte und in ihrer Stimme klang etwas wie Gekränktheit und Ungeduld.
Und alle schienen auf eins zu warten: auf das Ende. Marakulin wich nicht vom Fenster, er konnte sich nicht losreißen, auch er wartete auf das Ende. Und er würde so, ohne sich zu rühren, auch bis zum Abend dagestanden sein, wenn er nicht plötzlich gefühlt hätte, daß hinter seinem Rücken jemand da war und von einem Fuß auf den anderen trat. Marakulin pflegte die Türen schon längst nicht mehr abzuschließen, es war also jemand hereingekommen! In der Tat: ein alter Mann stand vor ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend – ein zerzauster langer alter Mann, unter dem Mantel schlotterten die Hosen um seine Beine, als wären es keine Beine, sondern bloß Knochen. In der Hand zerknüllte er seine Mütze und noch etwas – ein Kuvert, ja ein Kuvert. Diesen alten Mann hatte er früher nie gesehen, natürlich! – was wollte er?
– Was wünschen Sie?
– Ich komme zu Euer Gnaden, Peter Alexejewitsch, ich komme von Alexander Iwanowitsch.
– Von Alexander Iwanowitsch?
– Von ihm persönlich. Sie vergaßen die Tür zu schließen, so bin ich da, – zu klingeln hab’ ich gefürchtet, verzeihen Sie, – der Alte kaute mit den Lippen und zupfte an seiner Mütze.
In früheren Zeiten kamen manchmal allerlei Leute von Glotow – sie brauchten im Kontor zuweilen Aushilfe für den Abenddienst – aber wie konnte es Glotow einfallen, jetzt jemand zu ihm zu schicken, da Glotow doch wußte, daß er stellungslos war und nur einen Sechser in der Tasche hatte!
– Ich kann nichts für Sie tun, Sie brauchen doch Geld ...
Der Alte wurde geschäftig und zog ein zerdrücktes Blatt Papier aus dem Kuvert, das ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschrieben war.
– Ich habe eine Bittschrift an Euer Gnaden verfaßt, ich geniere mich zu bitten, und so habe ich diese Bittschrift verfaßt, – der Alte schob ihm das Papier zu und lächelte ununterbrochen, ein Lächeln, das so war, als miaute die Katze Murka.
Marakulin steckte dem Alten seinen letzten Sechser zu, setzte sich an den Tisch und wartete nur, wann der Alte fortgehen und wann es ein Ende nehmen würde.
Der Alte ging nicht, er preßte in der einen Faust den Sechser und die Mütze und in der anderen das zerknüllte, ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschriebene Papier. Seine Hände zitterten und die Mütze fiel zu Boden.
– Was macht Alexander Iwanowitsch, wie geht es ihm? – fragte Marakulin und fühlte dabei, wie alles in ihm zitterte und daß er es bald nicht mehr aushalten würde, nicht aufzustehen und den Alten hinauszujagen.
Der Alte streckte vogelartig lang seinen Hals aus und sperrte den Mund auf wie einen Schnabel.
– Heute ausgezeichnet, – er bewegte wie erfreut den Kopf, – er ist sehr gut angezogen, wie ein Oberhausmeister, ein Rock, Lackstiefel, – wie ein Oberhausmeister. – Geh, Gwosdjow, gradeaus zu Peter Alexejewitsch in die Fontanka! – So geruhte er zu mir zu sagen. Wie ein Oberhausmeister. Ich war bei ihm in Zarskoje in seiner Sommerwohnung, er scherzt immer: er ist verliebt – sagt er – verliebt in eine Madame. Er scherzt immer: Einen Hungrigen – sagt er – kann man satt machen, einen Armen kann man reich machen, aber bist du verliebt und dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit, so kannst du dich zerreißen, es gibt keine Hilfe. – Ich verstehe es nicht, er scherzt nur immer. Einen Paletot hat er mir von seinen eigenen Schultern geschenkt, und diese da Awerjanow der Buchhalter; seine eigenen; sie sind mir etwas zu weit. Bist du keusch, Gwosdjow? – sagt er. Nehmen Sie es mir nicht übel, Alexander Iwanowitsch, ich bin ein Liebhaber von Weibern. Ja, er scherzt immer.
Ohne aufzuhören und alles durcheinanderbringend redete der Alte, setzte sich aber nicht, öffnete nicht die Faust und hob auch die Mütze nicht vom Boden auf.
Ein ruheloser Alter war das, ach wie ruhelos! Er hatte bei den Schachowskojs in Petersburg als Stallknecht gedient, es war eine gute Stellung, aber einmal wurde ein Pferd scheu und stieß ihn in die Brust, da ging er ins Kloster. Seitdem zog er herum, aus einem Kloster in das andere – er war eine ruhelose Natur: sowie er anfing sich irgendwo zu gewöhnen, da lief er fort. Vor einem Monat war er aus dem Tschermenetzkischen Kloster davongelaufen.
– Da hat sich ein Bekannter meiner erbarmt. In der Seleninaja hat er ein Zimmer, ein kleines Zimmerchen. Er selbst, dieser Korjakin, ist verheiratet, hat eine Frau und ein kleines Kind, ein Mädchen, aber er hat sich meiner erbarmt, und wir wohnten alle zusammen. Aber zum Fest der heiligen Olga kam das älteste Töchterchen zu ihnen nach Petersburg zu Besuch, so wurde es zu eng, auch ist es unschicklich: eine Jungfrau. So zog ich auf den Obwodnij, hab’ da einen Winkel gemietet für anderthalb Rubel, mit Gurken – ein schöner Winkel im Korridor. Ich möchte mich gern mit Handel befassen, um mich nur irgendwie durchzufretten ...
Verworren und ohne aufzuhören redete der Alte, die Worte flossen ineinander und zischten, – ein ruheloser Alter. Marakulins Augen verschleierten sich, seine Lider wurden schwer, er sah nichts mehr, vor seinen Augen bewegten sich nur die Hosen des Alten, die allzuweiten, von Awerjanow, die nicht um Beine, sondern um Knochen zu schlottern schienen.
– Ich bin Liebhaber von Weibern ... anderthalb Rubel mit Gurken ... nur um mich irgendwie durchzufretten ...
Marakulin sprang vom Stuhl auf.
– Wozu, sagen Sie mir endlich, wozu wollen Sie sich durchfretten? – rief er.
Aber er befand sich allein im Zimmer, es war niemand mehr drin.
Die Katze miaute, Murka miaute. Er war allein im Zimmer; er war mitten im Gespräch eingeschlafen, der Alte hatte es offenbar bemerkt und sich mit seinem letzten Fünfkopekenstück davongeschlichen, genau so, wie er vorher unbemerkt eingetreten war. Auch die Mütze lag nicht mehr auf dem Boden. Die Katze miaute, Murka miaute.
Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch nie zuvor, daß Murka stets gemiaut hat, und nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre hier an der Fontanka auf dem Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und nicht nur hier auf dem Burkowschen Hof an der Fontanka, sondern auch auf dem Newsky und in Moskau an der Taganka – bei der Auferstehungskirche –, an der Taganka, wo er geboren war, – überall, wo etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor dieser Murka nirgends hätte verstecken können. Und er fühlte es, daß Murka nicht dort unten im Hof miaute, sondern hier ...
– Gebt Luft! – miaute Murka, als könnte sie sprechen: – gebt Luft! – und sie wälzte sich auf den Steinen, zu den Fenstern hinaufflehend.
Eng, immer enger hockten sich die Kinder um sie herum, sie vergaßen ihre wilden Spiele und ihre wilden Beschäftigungen, sie horchten; auch die Scherbe mit der Milch stand noch unberührt da, und der Perser, der schwarze Masseur aus der Badeanstalt ging nicht fort und rollte mit den Augäpfeln.
Erst spät am Abend bezog Marakulin in der fünften Etage sein neues Zimmer, wo früher die Waschküche war. In der Wohnung war niemand, außer der Köchin Akumowna; die Wirtin Adonja Iwoilowna war von der Reise noch nicht zurück, – Adonja Iwoilowna pflegte im Sommer zu pilgern und die Wohnung Akumownas Aufsicht zu überlassen. Die anderen zwei Zimmer waren unvermietet.
Die erste Nacht in der neuen Wohnung träumte Marakulin, er sitze in einem Lustgarten außerhalb der Stadt an einem Tischchen gegenüber der Estrade – der Garten erinnerte an den Garten des Aquariums – und rings um ihn lauter unbekannte Menschen: ihre Gesichter waren böse und unruhig, und sie gingen herum und brummten und flüsterten miteinander. Er verstand, daß ihr Brummen und Flüstern sich auf ihn bezog. Sie hatten nichts Gutes im Sinn, gewiß nichts Gutes! Es wurde ihm Angst, sie aber kamen immer näher, und bald flüsterten sie nicht mehr miteinander, sondern winkten einander mit den Augen zu, verstanden einander und zeigten auf ihn. Und schon gab es keinen Zweifel mehr: – er darf nicht länger dableiben, sie würden ihn sonst totschlagen. Er erhebt sich und will ganz unbemerkt zum Ausgang gelangen, – sie aber sind hinterher. So ist es, sie wollen ihn totschlagen! Sie werden ihn totschlagen, erwürgen; wohin fliehen, wo sich verstecken? O Gott, wenn doch ein Mensch wenigstens da wäre, ein Mensch! Und sie verfolgen ihn, sind ihm schon auf den Fersen, jetzt holen sie ihn ein. Er stürzt in eine Grotte, fällt mit dem Gesicht auf die Steine. Und plötzlich läßt sich ein Vogel wie ein Stein auf ihn nieder, auf den Rücken, kein Adler, sondern ein Habicht, der Hühner raubt. Er preßt ihn hart zwischen den Klauen, zerdrückt ihn, wie er sonst die Hühner zermalmt. – Dieb, Dieb, Dieb – klopft sein Schnabel. Und ihm wird schwer, so schwer, – es ist kein Zweifel mehr für ihn: er wird sich nie mehr erheben können, nie mehr sich aufrichten, – und es ist ihm schwer; Bitternis ist in ihm und Todesbangen.
– Ein böser Traum – sagte Akumowna, als Marakulin ihr am Morgen von den nächtlichen Menschen und vom Habichtvogel erzählte, – man hat ihn nur vor einer Krankheit. Sie werden ganz bestimmt krank werden.
Die Krankheit aber hatte sich seiner schon bemächtigt, er war ganz zerbrochen, ganz aufgelöst, der Kopf hing ihm herab, er war krank: am Morgen vermochte er kaum ein Glas Tee auszutrinken und der Bissen blieb ihm im Munde stecken. Draußen war eine Hochsommerhitze und ihn schüttelte der Frost wie im Januar.
Die göttliche Akumowna – im Burkowschen Hof wurde Akumowna die göttliche genannt –, die gute Seele, brachte Marakulin zu Bett, gab ihm Himbeertee zu trinken und legte ihm Senfpflaster auf; sie pflegte ihn Tag und Nacht, und pflegte ihn gesund. Die Krankheit ließ ihn los und verließ ihn. Doch hatte er an die zwei Wochen gelegen.
Das erste, was er empfand, als er nach der Krankheit die Hausschwelle überschritt und sich auf der Straße befand, war – daß er jetzt alles zu sehen und zu hören anfing. Und er fühlte, wie sein Herz sich auftat und seine Seele lebte.
Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen und in der Welt er selbst zu sein; der andre muß töten, um durch den Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens als er selbst zu sterben; er aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht der Person, der sie zukam, – um seine Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen.
So sprach es in Marakulin am ersten Tag seiner Genesung, so fand er ein Schlupfloch, um wieder in die Welt hineinzuschlüpfen, so bewies er sich sein Recht zum Dasein: nur sehen, nur hören, nur fühlen.
Er hatte keine Angst mehr vor den Menschen, sie schreckten ihn nicht mehr. Und es war ihm jetzt eigentlich ganz gleichgültig, ob er ein Dieb war oder nicht. Er fürchtete sich auch vor gar keinem Unglück mehr. Und wenn, dachte er, noch tausendmal soviel Ungemach ihn heimsuchen sollte, so war er zu allem bereit, mit allem einverstanden, alles wollte er hinnehmen und erdulden und in jeglicher Schmach leben, in jeglicher Erniedrigung, alles sehend, alles hörend, alles fühlend. – Warum? Das wußte er selber nicht, nur, daß er leben wollte.
Geschah dies dem Ungemach und dem einäugigen Bösen zum Trotz, dem überall ein Fest gerichtet ist, wo man sich grämt und weint – er hat nämlich das Ungemach ausgehungert und läßt es hungrig um die Erde streifen, und er selbst, der Einäugige, blickt mit seinem unterlaufenen Auge scheel aus den Wolken von der Höhe des Himmels herab, wie die Erde vor Kummer, Gram, Not, Trauer, Leid, Bosheit und Haß sich wälzt und wie Murka klagt, und duldet es vielleicht nur bis zu einer gewissen Zeit, oder betrachtet er es mit Wohlgefallen –?
Oder geschah es dem Kummer und seinem Hohn zum Trotz, dem mageren, dünnen, zusammengeschrumpften, von Weiden umgürteten, mit Bast umwickelten, – diesem, wie der alte Gwosdjow, zerzausten Kummer, mit seinen geheuchelten Tränen, die er vergießt, wenn er einen in die Grube hinabstößt und dazu „Ecce homo!“ ruft? Oder erkannte er in Murkas Miauen, in Murkas Bestimmung zu klagen, eine höhere Gerechtigkeit, eine Strafe für Murkas Erbsünde, die nicht gesühnt, nicht vertuscht werden kann, wenn sie vielleicht auch ganz geringfügig ist, weil geschrieben steht: Wer das ganze Gesetz befolgt und nur eins übertritt, der ist im ganzen schuldig! und er ergab sich drein mit Furcht und Beben, nachdem er erkannt hat, daß sein Recht eben in der Rechtlosigkeit von Uranbeginn bestand? – Oder war es seine Liebe zum Leben, sein Instinkt zum Leben, die Heiterkeit des Gemüts – das Mark und die Wurzel seines Lebens, die ihm Recht sprachen, als eingeborene Kräfte seiner Seele, und ihm die Fähigkeit verliehen, sich zu finden, sich zu fügen und anzupassen, ohne Worte, ohne Beweise? Oder wird er jetzt einfach nur leben, niemand zum Trotz, niemand zu Leide, weder aus Erkenntnis, noch dank seiner besonderen seelischen Eigenschaften, sondern einfach so – zu gar keinem Zweck, ebenso wie er früher zu keinem Zweck für den Direktor vor den Feiertagen die Berichte abgeschrieben hatte, Tag und Nacht beharrlich einen Buchstaben nach dem anderen malend, die Zeilen wie Perlen aneinanderreihend? – Ist es nicht so?
Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich in ihm: Zu keinem Zweck – zu gar keinem Zweck, aber du wirst dennoch leben und nur sehen, nur hören, nur fühlen.
Das Burkowsche Haus stößt an keine fremde Mauer. Ihm seitlich gegenüber liegt das Obuchowsche Krankenhaus. Zwischen dem Haus und dem Krankenhaus befinden sich zwei Höfe: Burkows Hof und der Hof der Belgischen Gesellschaft. Die Fabrik der Gesellschaft liegt rechts, – sie hat vier Ziegelschlote mit Blitzableitern; sie qualmen den ganzen Tag und erfüllen die Fensterrahmen mit schwarzem Ruß. Ueber diesen Ruß beklagt sich Akumowna so oft sie vor den Feiertagen die Zimmer reinigt, aber sie schreibt die Schuld daran nicht den belgischen Schloten zu, sondern der riesigen elektrischen Milchglaskugel, die den ganzen belgischen Hof beleuchtet.
Der Mond blickt manchmal in die Fenster hinein, die Sonne aber ist nie zu sehen, nur im Hochsommer glüht Marakulins Zimmer wie eine heiße Pfanne: die Strahlen dringen herein zusammen mit dem Staub und jenem lästigen Hämmern von Eisen gegen Stein, das dem sich erneuernden und aufputzenden Petersburg im Sommer eigen ist. Auch die Sterne sind hier wenig zu sehen, mit Ausnahme des Abendsterns, und auch dieser ist nur im Frühjahr sichtbar, in später, nicht sehr dunkler Mitternacht; dafür aber glänzt das Licht im Obuchowschen Krankenhaus wie ein Stern.
Wenn im Hof der Belgischen Gesellschaft schwarze Männer erscheinen und wie Zuchthäusler einen schwarzen Karten mit Steinkohle nach dem andern von der Fontanka hereinfahren, und der Hof sich im Laufe der Tage in einen schwarzen Berg verwandelt, dann bedeutet es, daß der Sommer vorüber ist und daß der Winter, der Herbst naht. Wenn aber der Berg abzunehmen beginnt und wie Schnee schmelzend zergeht, wenn die schwarzen Männer wieder mit schwarzen Karren erscheinen und klirrend die letzten Stücke wegfahren; wenn in dem mit grauem Sandbestreuten Hof weiße Zelte sich erheben, kurzgeschorene, erdfahle Menschen in grauen Krankenhauskitteln herumzuschleichen beginnen und die roten Kreuze der Schwestern leuchten, dann bedeutet es, daß der Winter vorüber ist und daß der Sommer – der Frühling da ist.
Burkows Haus ist wie Petersburg selbst.
Der herrschaftliche Teil des Hauses liegt nach der Seitengasse mit der Kaserne – in ihm sind lauter teure Wohnungen. Hier wohnt der Eigentümer Burkow selbst – ein ehemaliger Gouverneur: seine Uniform strahlt wie elektrisches Licht und sein Vorzimmer ist voller Epauletten und blanker Knöpfe. Eine Etage höher wohnt der Rechtsanwalt Amsterdamskij – er nimmt zwei Wohnungen ein. Noch höher wohnen Oschurkows – ein Ehepaar nur – in zehn Zimmern; alle zehn Zimmer sind voll von Nippes, auch ein Aquarium mit Goldfischchen haben sie; die Dienstboten wechseln jeden Tag. Der Nachbar der Oschurkows ist ein Deutscher, der Doktor der Medizin Wittenstaube, der alle Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt. Ueber Oschurkows und Wittenstaube wohnt die Generalin Cholmogorowa, oder die Laus, wie sie im Hof genannt wird. Ueber der Generalin wohnt niemand; unter Burkow befindet sich noch ein Kontor und an der Ecke eine Bäckerei.
Burkow selbst wurde nie von jemand gesehen. Es gingen seltsame Gerüchte um von seiner eigenartigen Selbstvernichtung: während er Gouverneur in Purchowez war und dort den Aufruhr unterdrückte, soll er dermaßen außer sich geraten sein, daß er unter anderen Akten auch eine von ihm selbst verfaßte Meldung an das Ministerium über seine eigene völlige Unfähigkeit unterschrieb, worauf er glücklich, aber ihm völlig überraschend nach Petersburg berufen wurde, wo er seinen Abschied erhielt.
Die Generalin Cholmogorowa dagegen konnte ein jeder sehen, und alle wußten, daß allein die Zinsen ihres Kapitals bis zu ihrem Tode reichten, und leben könnte sie noch ein halbes Jahrhundert: kräftig und lebhaft würde sie alle überleben, oder wie der Chiromant sich ausdrückte: es ist ihrem Leben kein Ende abzusehen! Man wußte auch von der Generalin, daß sie jeden Dienstag ins Dampfbad gehe und so abgehärtet sei, daß sie überhaupt nicht altere, sondern immer im gleichen Zustand verharre. Weiter wußte man, Gott weiß woher, daß sie nichts in ihrem Leben zu bereuen habe; sie hat weder getötet noch gestohlen, und wird weder töten noch stehlen, denn sie tut nichts, als sich ernähren – sie trinkt und ißt – sie verdaut und härtet sich ab. Sonst nichts. Endlich wußte man, daß sie das Haus nie anders als mit einem Klappstuhl verlasse; diesen nehme sie als eine Art Waffe mit, falls sie überfallen werden sollte, – und so kann man sie mit dem Stuhl täglich auf der Fontanka der Motion wegen promenierend antreffen, an Samstagen und Sonntagen, vor den Festen und an den Festtagen selbst dagegen auf dem Sagorodny-Prospekt, wo sie entweder zur Kirche geht oder aus der Kirche kommt.
Jeden Mittag Schlag Zwölf erscheint auf dem Hof das Burkowsche Hausmädchen Susanna, das schon mehr wie ein Fräulein aussieht – wie eine Stenotypistin aus irgendeinem Bureau – und führt den schönen Hund des Gouverneurs, den rothaarigen Revisor über den Hof spazieren, wobei sie kaum die lästige Stahlkette festhält. Jeden Mittwoch werden die Teppiche in den Hof hinuntergebracht und vor den Feiertagen auch die Polstermöbel, und die Teppichklopfer bearbeiten sie und klopfen so eifrig und mit solchem Gedonner, daß es sich anhört, als würde auf der Newa aus Kanonen geschossen; das bedeutet: ein Attentat oder eine Ueberschwemmung. Alle diese Teppiche und Möbel stammen aus dem herrschaftlichen Teil des Hauses – aus den reichen Wohnungen der Burkows, Amsterdamskijs, Oschurkows, Wittenstaubes und der Generalin Cholmogorowa.
Im Hinterhaus sind lauter kleine Wohnungen, und die Einwohner sind mittlere, zumeist aber kleine Leute. Hier befinden sich Schuster und Schneider, Bäcker, Bademeister, Friseure, eine Waschanstalt, zwei Weißnäherinnen, drei Schneiderinnen, eine Krankenschwester aus dem Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirmmacher, Bürstenmacher, Buchhalter, Wasserleitungsarbeiter, Setzer und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische Monteure mit ihren Familien und ihren Lumpen, Flaschen, Gläsern und Schwaben; hier sind auch allerlei Fräuleins von der Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmamsells, Mädchen aus den Teestuben und elegante junge Leute aus den Badeanstalten, die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen; hier befinden sich auch „die Winkel“.
Der Inhaber der Winkel, der Händler Gorbatschow, der Schweigsame – so wurde er im ganzen Hof genannt – ein stämmiger, haariger, angegrauter, betfrommer Mann, der allsonnabendlich alle seine dreißig Winkel mit Weihrauch ausräuchert, besitzt auf dem Marsfeld drei Stände. Zu den Feiertagen tummeln sich bei Gorbatschow Mädchen in schwarzen Tüchern und Nonnen-Geldsammlerinnen in Schaftstiefeln, und zu Ostern legen alle diese Töchter des Gesanges lustig und keck: Christ ist auferstanden! bei ihm los. Gorbatschow ist allen bekannt und wenig beliebt; er kann Kinder nicht ausstehen. Die Generalin Cholmogorowa kann, wie man sagt, ebenfalls Kinder nicht ausstehen, aber sie selbst hat nie welche gehabt; Gorbatschow dagegen hatte ein Töchterchen gehabt, das er aber so lange in einer leeren Kammer voller Ratten eingesperrt hielt und so lange mißhandelte, bis er es ins Jenseits befördert hatte. Die kleinen Kinder ärgern Gorbatschow, geben ihm allerlei Spitznamen, verfolgen ihn in wilden Scharen, spotten über seinen Weihrauch und über seine mit Pferdehaaren bewachsene Nase, und davon ertönt der Hof von so kräftigen, geflügelten Worten, von einer so auserlesenen saftigen russischen Sprache, wie man sie kaum im Gefängnis zu hören bekommt; und das Gefängnis ist doch sozusagen ihre Akademie.
– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist voll, die Strafe ist nah, ich werde euch alle, ihr Lumpen, auf einem Stricklein aufhängen! – brummt der gekränkte, von den Kindern gequälte alte Schweiger und schnuppert mit seiner von Pferdehaaren bewachsenen Gorbatschowschen Nase, während er an den Sonnabenden alle seine dreißig Winkel beweihräuchert, böse und bitter das Göttliche mit dem Ungebührlichen durcheinandermengend.
Die Gorbatschowschen Winkel sind allbekannt. Hier wohnt die Alte, die an der Badeanstalt Sonnenblumen- und Kürbissamen, Johannisbrot, Zuckerplätzchen in rosa Papierchen mit Fransen, Heringe und eingelegte Birnen feilbietet; stellenlose Köchinnen wohnen hier und sonst allerlei Volk, von der Art des ruhelosen alten Gwosdjow: ein Maler, ein Tischler und allerlei fliegende Händler.
Die Stände der Händler, ihre Kästen, befinden sich an der hölzernen Ueberwölbung der Müllgrube und auf dem Müllkasten andererseits. Am frühen Morgen, wenn die Hausmeister den Hof säubern und fegen, da kocht es bei den Händlern vor Arbeit auf den Ständen: die Aepfel, Apfelsinen, getrocknete Aprikosen, Pflaumen, Datteln und andere Süßigkeiten und Näschereien, alles wird vorsichtig immer wieder verlockend zurechtgelegt, aufgefrischt und erneuert. Dann wird es an der Fontanka herumgetragen und sieht so verlockend, so schmackhaft aus, daß es über die Kraft geht, sich zu versagen, wenigstens etwas davon zum Tee zu kaufen: eine Dattel oder eine Tafel Schokolade, die nach Mistpilzen riecht.
Und so wie die Gorbatschowschen Winkel nie leer stehen, so sind auch die Stände dieser Händler, ihre Kästen stets voll von den verlockendsten Süßigkeiten und Näschereien.
Neben den Winkeln befindet sich die Hausmeisterwohnung. Es sind ihrer sieben Hausmeister. Alle sehen sie so gesund aus, und alle sind sie irgendwie krank; – wenn sich zum Spaß wenigstens ein gesunder unter ihnen fände! Der Beruf eines Hausmeisters ist auch gar nicht so einfach: er muß aufpassen und Holz tragen und Leute auf die Wache schleppen, – und alles muß flink geschehen. Ihr einziger Vorteil ist der Verkauf von Brennholz. Nur der herrschaftliche Teil des Hauses bezieht das Holz vom Wirt; im Hinterhaus aber wohnen nur kleine Leute, die ihr Holz selber kaufen, und deshalb treiben durchweg alle sieben Hausmeister einen schwunghaften Handel mit Holz.
Ueber der Portierloge wohnt der Oberhausmeister Michail Pawlowitsch, der seiner Stattlichkeit nach besser in die Newskaja Lawra[1] passen würde – auch in diesem Kloster würde er nicht zu den letzten zählen; – als Feiertagsgeschenk nimmt er nicht weniger als einen Rubel an. Ueber Michail Pawlowitsch wohnen der Paßaufseher Jerkin und der Kontorist Stanislaus.
Jerkin ist im ganzen Burkowschen Hof in Beziehung auf Trinken als der erste bekannt. Und in den Feiertagen kann es vorkommen, daß er, nachdem er die fünfte Etage erklettert, an einer Tür geklingelt und mit Mühe hervorgestammelt hat, er sei um seinen Feiertagsobolus gekommen, wie tot auf dem Platz liegen bleibt. Einmal, war es Weihnachten oder Ostern, da war er die ganze Treppe hinuntergekollert, von Stufe zu Stufe – „er liebt mich, er liebt mich nicht“ – und hatte sich dermaßen an den Fliesen zerschunden, daß man ihn kaum erkennen konnte. Nach Neujahr, am Tage der heiligen drei Könige, brachte ihn Antonina Ignatjewna, Michail Pawlowitschs Gattin, eine gottesfürchtige Frau, zum Mönch am Hafen, um ihn wieder auf den guten Weg zu bekehren. Er ließ sich auch bekehren: er legte vor dem Bruder ein Gelübde ab, – schriftlich – daß er ein ganzes Jahr nicht mehr trinken würde, bis zum nächsten Neujahr. Jerkin handelt mit Marken aus dem Krankenhaus, und diese Marken, meist im Werte eines Rubels, sind für ihn dasselbe, was das Holz für einen Burkowschen Hausmeister ist.
Jerkins Hausgenosse, der Kontorist Stanislaus, ist ebenso wie sein Freund, der Monteur Kasimir, von jeher dadurch bekannt, daß er sich nachts auf allen Treppen herumtreibt und daß keine Köchin, kein Hausmädchen ihm widerstehen kann; ein solcher Fall soll noch nicht vorgekommen sein, und kein Gardesoldat kommt ihm darin gleich.
Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Unfälle, Begebenheiten, Skandale, Raufereien, Schlägereien, Hilferufe und Polizeiwache – bald ist es, als schreie ein Mensch, bald, als miaue eine Katze oder als würde jemand gewürgt. Und so jeden Tag.
Burkows Haus ist eine richtige Wjasma[2].
Die Wohnung Adonja Iwoilowna Jurawljowas, der Wirtin Marakulins, ist im Hinterhaus gelegen und trägt die Nummer neunundsiebzig.
Auf Nummer achtundsiebzig wohnt die Hebamme Lebedjowa. Bei der Hebamme wurde am Advent ein Pelzmantel gestohlen, und der Dieb war nicht zu finden, als wäre der Pelz im Ofen verbrannt. Man warf dem Schweizer Nikanor vor, daß er nicht aufgepaßt hätte, – aber wie konnte er aufpassen, wenn er den ganzen Tag auf den Beinen sein muß und nachts herausgeklingelt wird, und so das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es ein schlauer Dieb, ein Hausgenosse, – aber es war nichts zu machen.
Auf Nummer siebenundsiebzig wohnten eine Zeitlang zwei Studenten – Scheweljow und Chabarow. Dem Aussehen nach waren sie wohlhabend; sie waren elegant gekleidet und hatten die Miete für einen Monat vorausbezahlt. Sie lebten zurückgezogen, niemand pflegte zu ihnen zu kommen, es gab nie Lärm bei ihnen und sie hatten auch keine eigene Bedienung. Gewöhnlich fuhren sie schon am Morgen fort und kamen erst spät abends heim. Sie befaßten sich damit, Geld für ihre armen Kollegen zu sammeln; so sagten sie bei ihren Besuchen in den Vorder- und Hinterwohnungen des Burkowschen Hauses. Nur durch eins störten sie: sie sangen sehr oft in der Nacht, wenn auch nicht laut, so doch vernehmlich Totenmessen. Diese nächtlichen Totengesänge verursachten den Nachbarn wenn nicht Schrecken, so doch einige Erregung. Aber was geschah? Nach einem Monat stellte sich heraus, daß sie gar keine Studenten waren, auch nicht Scheweljow und Chabarow hießen, sondern Schibanow und Kotschenkow – Diebe vom reinsten Wasser, und ihre Wohnung war, als wäre sie gar nicht bewohnt, leer, nicht einmal ein zerbrochener Stuhl war drin – nichts, nur ein Kerzenstumpf in einer Bierflasche und ein Messinghahn. Und da sie nicht wenig auf dem Kerbholz hatten, wurden sie verhaftet.
An Stelle der Studenten quartierten sich auf Nummer siebenundsiebzig zwei Artisten, die beiden Brüder Damaskin ein: Sergej Alexandrowitsch vom Ballett – er hatte in zwölf Sprachen Examen gemacht und alle Gesetze ausstudiert, wie man im Hof sagte, – und Wassilij Alexandrowitsch, ein Zirkusclown oder der Klon[3], wie es in der Burkowschen Sprache hieß: er spie Feuer und fürchtete nichts und ist schon im Luftballon geflogen. Die neuen Mieter wurden vom Oberhausmeister Michail Pawlowitsch die Artisten genannt, und er war von einem ungewöhnlichen und ihm selbst rätselhaften Respekt vor den Brüdern Damaskin durchdrungen, wie vor einem Mönch aus dem Hafen.
Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, sieht wie eine Teetasse aus, Sergej Alexandrowitsch ist schlank und sauber, wie ein sechzehnjähriges Fräulein; er berührt die Erde kaum beim Gehen und hält sich steil, wie ein dreijähriges Kind; – er geht schnell, seine Schuhchen scheinen keine Absätze zu haben, und jeden Augenblick kontrolliert er sozusagen seine Füße gymnastisch: er beginnt mit den Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den Flügeln. Wassilij Alexandrowitsch ist nur im Zirkus beschäftigt und hat jeden Abend Vorstellung, wie das so ist, Sergej Alexandrowitsch dagegen tanzt im Theater und gibt Stunden bei sich zu Hause und außer dem Hause.
Die Artisten verdienten gut, streuten das Geld aber um sich wie Späne – Sergej Alexandrowitsch spielte Karten und verlor stets – sie kamen aus den Schulden nicht heraus, und manchmal ging’s ihnen an den Kragen.
Sie beide waren nicht älter als Marakulin. Sergej Alexandrowitsch war verheiratet, aber seine Frau hatte ihn verlassen. Und obgleich er sie versicherte, daß die Liebe nur einmal komme – es gebe nur eine Liebe auf der Welt – und, wenn er seinen Schülerinnen den Hof mache, dies eben nur zu den Pflichten seines Berufes gehöre, und wenn er mit einer Schönen spreche, so spreche er mit ihr nur, wie mit einem Menschen, ohne daß sein Herz dabei beteiligt sei, so war seine Frau doch von ihm fortgegangen. Sergej Alexandrowitsch ist sauber, Wassilij Alexandrowitsch das Gegenteil: er braucht jeden Tag ein Fräulein, er kann sonst nicht leben; er ist dabei nicht wählerisch und fürchtet sich vor nichts, dafür aber besucht er, wenn auch nicht oft, die Kirche. Sergej Alexandrowitsch dagegen ist sogar Ostern zu Hause geblieben. Und als Sergej Alexandrowitsch einmal Zahnweh bekam und beschlossen hatte, er müsse sterben, dachte er gar nicht daran, einen Priester rufen zu lassen, vielmehr warnte er die Sklavin – so nannten die Artisten ihre Köchin Kusjmowna – und zwar aufs strengste davor: – Wenn du mir einen Popen holst – rief er in seiner Zahnwehraserei – werfe ich das Aas die Treppe hinab! –
Und er hätt’ es auch gewiß getan: Sergej Alexandrowitsch war ein großer Philosoph.
Marakulin stand mit der Hebamme Lebedjowa nur auf dem Grüßfuß – sie mißfiel ihm: sie sah nur auf die Tasche, war unterwürfig und verstand es mit zwei Stimmen zu sprechen: mit der einen zu denen mit den vollen Taschen und mit der anderen zu denen, die nichts hatten. Bald hörte die Hebamme auf, Marakulins Gruß zu erwidern, und auch er tat, als bemerkte er sie nicht mehr. Mit den Studenten war Marakulin nicht näher bekannt gewesen und nur manchmal an der Treppe mit ihnen zusammengestoßen: er stieg gerade hinauf, als sie herunterliefen; nachts aber war er ein aufmerksamer Hörer der studentischen Totengesänge. Auf den ersten Eindruck gefielen ihm diese Kerle: sie waren so tüchtig und lebenslustig. Mit den Artisten aber hatte er sich angefreundet und besuchte sie: er kam zu ihnen ab und zu abends zum Tee.
Die Artisten waren geistlicher Herkunft und von seminaristischer Bildung; sie waren beide ein paar fidele Hühner, nicht kopfhängerisch – sie sparten kein Streichholz beim Zigarettenrauchen! – Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, war nicht sehr gesprächig, aber einem Gespräch nicht hinderlich; er war gutmütig und lachte viel, häufig auch, wo es gar keinen Anlaß zum Lachen gab, offenbar nach seiner eigenen Clownlinie. Sergej Alexandrowitsch dagegen unterhielt sich gern. Er war auch ein Bücherfreund und las nicht nur humoristische illustrierte Zeitschriften wie etwa „das Petersburger Satirikon,“ nicht nur den berühmten „Andrej, den Schwergeprüften,“ oder „Elsa von Gabron,“ oder „die schrecklichen Geheimnisse des unterirdischen Gewölbes,“ oder „die schrecklichen Abenteuer des Räuberhauptmanns die schwarze Hand,“ oder „die Liebesrendezvous von Beritzky,“ „die Entführung Ludmillas durch den Waldräuber Alexander“ – die Lieblingslektüre des Clowns –, nein, er las die neuesten, sensationellen Bücher, die überall in den Schaufenstern zu sehen sind: bei Ssuworin, bei Wolf, bei Mitjurnikow auf dem Newsky, im Gostiny Dwor, auf der Litejnaja und sogar auf der Gorochowaja, in der einzigen Buchhandlung dieser Straße. Und beim Tee pflegte Sergej Alexandrowitsch auf alle totengräberischen, tendenziösen Betrachtungen Marakulins mit eigenen ausgedehnten Betrachtungen über das Schicksal und das Los verschiedener Länder, Völker und des Menschen überhaupt zu erwidern und schloß gewöhnlich mit der kurzen Bemerkung:
– Man muß alles von sich abschütteln! – dabei flatterte er mit den Füßen wie ein Hahn mit den Flügeln.
Sergej Alexandrowitsch ist ein großer Künstler.
Die Wirtin Marakulins Adonja Iwoilowna Jurawljowa – eine nicht mehr junge, dicke und sehr gute Frau, ist seit fünfzehn Jahren Witwe, seitdem ihr Mann infolge einer Krebskrankheit den Hungertod starb. Er wurde auf dem Smolensky-Kirchhof begraben. Sie selbst ist keine geborene Petersburgerin, sie stammt von der Meeresküste, vom Weißen Meer. Ihr Mann besaß ein Geschäft auf der Ssadowaja, einen Schnittwarenladen – Baumwolle und Zwirn – jetzt hat sie es verpachtet. Sie hat keine Kinder und die Verwandten von seiten ihres Mannes sind auch kinderlos, nur ein Neffe ist da. Der Neffe pflegt an den Feiertagen zu Weihnachten und Ostern zu kommen, um ihr zum Fest zu gratulieren, ebenso an ihrem Namens- und Geburtstag. Sie ist reich – hat viel Geld und weiß nichts damit anzufangen; sie grämt sich sehr, daß sie keine Kinder hat und seufzend klagt sie über das ihr von Gott bestimmte kinderlose Leben.
Adonja Iwoilowna bewohnt das äußerste Zimmer; gleich am Eingang rechts liegt ihr Zimmer. Den ganzen Tag sitzt sie zu Hause; auf die Straße geht sie nicht – es ist ihr beschwerlich, die Treppen hinunterzusteigen –, der eine Fuß schleppt etwas nach, und beim Hinaufsteigen vergeht ihr der Atem; auch hat sie Angst vor der Elektrischen. Es bleibt ihr nur eine Zerstreuung: in die Küche zu Akumowna zu spazieren und mit ihr vom Essen zu sprechen.
Adonja Iwoilowna ißt gern.
Die Zimmer liegen alle in einer Reihe. Das zunächst an der Küche gelegene ist das Marakulins, und Peter Alexejewitsch kann am Morgen schon hören, wie sie das Mittagsessen bespricht. Adonja Iwoilowna ißt besonders gern Fische. Und sie belehrt Akumowna über den Sterlet, über die Zubereitung einer Sterletsuppe, von einem wahrhaft die Seele aus dem Leibe schmeichelnden Geschmack.
– Zuerst mußt du, Uljanuschka – spricht sie zu Akumowna mit einer Stimme, als schlucke sie Tränen – zuerst mußt du die Barsche bis zur Erschöpfung kochen, dann tu’ den Sterlet hinein, das gibt eine schmackhafte Suppe.
Und in der Tat wurde da eine schmackhafte Fischsuppe gekocht; ein die Seele aus dem Leibe schmeichelnder, süßer, fetter Sterletgeruch erfüllte die Küche und alle vier Zimmer, und Marakulin konnte es kaum aushalten, kaum den glücklichen, seligen Augenblick erwarten, bis er in die Garküche auf den Sabalkansky gehen konnte.
Adonja Iwoilowna versteht sich aufs Essen.
Den ganzen Winter sitzt sie fest, sie ist seßhaft und wird wegen ihrer Seßhaftigkeit im ganzen Hof nicht anders als die Schmiede genannt; aber kaum, daß der Frühling beginnt, ist sie nicht mehr in Petersburg: den ganzen Sommer zieht sie von Ort zu Ort, zu allen heiligen Stätten pilgernd.
Adonja Iwoilowna liebt die Einfältigen und Narren, die Starzy[4], Brüder und Propheten. Sie war bei dem rasenden Starez in der Nähe von Kischinew, hatte seine schrecklichen Schilderungen des Jüngsten Gerichts und der Qualen der Sünder gehört; – sie waren so entsetzlich, daß die Pilger wie von Sinnen davongingen und tobsüchtig wurden; manche starben auf der Stelle vor Angst vor den Höllenqualen – so entsetzlich waren diese Schilderungen. Sie war auch schon im Ural bei Makarij: – dieser Starez wohnt auf einem Geflügelhof, pflegt das Geflügel, spricht mit dem Geflügel, und ihm gehorcht alles Vieh: wenn sich der Starez bei Sonnenuntergang zum Beten hinstellt, so stellt sich auch das ganze Vieh hin, wendet die gehörnten, bärtigen Köpfe nach der Richtung, wohin der Starez betet und steht und rührt sich nicht; es erklingt kein Glöcklein, es klirrt keine Schelle. Sie war auch in Werchoturje bei Fedotuschka Kabakow, der durch Gebete die Stimme des Himmels herabruft; sie war auch bei jenem Starez, der durch seine Berührung engelhafte Reinheit schenkt und in den paradiesischen Zustand versetzt; sie war auch bei dem Kitajewschen Propheten: dieser Heilige läßt die Frommen an seiner Zunge saugen – er steckt seine Zunge heraus, man saugt an ihr und ist geheiligt – die Gnade hat sich auf einen herabgesenkt. Noch bei vielen anderen heiligen Männern war sie in ihrem Leben gewesen: im Heiligengeistkloster, wo der Starez die bösen Geister vertreibt, indem er durch den Beischlaf das Fleisch abtötet; beim Bossoj-Iwanowskij-Starez, beim Starez Damian und bei Phoka Skopinskij, der sich selbst auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte.
Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geist, die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten. Sie möchte ihr Leben lang ihren unverständlichen Gesprächen, ihren Parabeln und Sprüchen lauschen, sie möchte in ihren Zellen beten, wo die Oellampen sich von selbst entzünden, wie die Kerzen Jerusalems. Sie hat nur einen Kummer: sie sprechen nicht mit ihr, – einzig ihr allein hat noch niemand von diesen Heiligen etwas gesagt! Ob sie nun zu alt an Jahren ist, oder ob sie vor Rührung die prophetischen Worte nicht hört, oder ist es ihr vielleicht nicht gegeben zu hören –? Nur die heilige Schwester Parascha hatte ihr einmal gesagt:
– Schiffe werden gehen, viele Schiffe – weit!
Und im Winter in ihrer schwülen Stube auf der Fontanka sitzend, wiederholt Adonja Iwoilowna sehr oft:
– Schiffe, Schiffe! – und kann diese Worte nicht begreifen, und die Tränen rollen ihr wie die Erbsen die Wangen herab.
Adonja Iwoilownas Aehnlichkeit mit einer Seerobbe ist erstaunlich – eine echte murmanische[5] Seerobbe.
Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geiste, die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten, aber sie hat noch eine andre Leidenschaft und eine ebenso unbezwingliche: das Meer, das Meer – sie liebt das Meer. Alle russischen Meere hat sie befahren, sie ist auf dem Murman, auf dem Eismeer geschwommen, wo der Wal lebt, und hat auch das Mittelmeer gesehen.
Und im Winter allein in ihrer schwülen Stube auf der Fontanka sitzend denkt sie oft an das Weiße Meer, ihre Heimat, und an das warme Schwarze Meer und an das smaragdgrüne Mittelmeer, und bei dem Gedanken an das Meer wiederholt sie Paraschas einzige prophetische Worte:
– Schiffe, Schiffe! – und sie kann es nicht verstehen und Tränen rollen ihr wie Erbsen die Wangen herab.
Nachts quälen Adonja Iwoilowna Träume. Sie träumt bunte Träume: sie träumt von der Heimat, von den heimatlichen Flüssen, dem Onegafluß, dem Dwinafluß, dem Pinegafluß, den Meshafluß, den Petschorafluß, vom schweren Brokat altrussischer Gewänder, von weißen Perlen und rosa Perlen aus Lappland, von Walfischen, Seerobben, Lappen, Samojeden, von Märchen und alten Weisen, von langen Winternächten und von der Mitternachtssonne, vom Kloster Ssolowski und vom Reigen. Sie träumt von cholmogorischen ungehörnten Kühen, einer ganzen Herde; – und diese Kühe haben menschliche Augen, sie schmiegen sich alle mit dem Rücken an sie, dann tritt eine vor, reicht ihr einen Fuß wie eine Hand und sagt: „Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen.“ Nach ihr tritt eine andre vor, und so eine Kuh nach der anderen, jede reicht ihr einen Fuß wie die Hand, und alle haben sie die gleiche Bitte: „Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen!“ Sie träumt von Skorpio-Chamäleonen; – alle sind sie im Frack, sitzen an den Wänden und wedeln mit den Schwänzen, die bald smaragdgrün sind und bald purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Sie sehen sie alle nur an, und bald sind alle Wände voll von Skorpio-Chamäleonen, überall sind sie: auf den Heiligenbildern und hinter den Heiligenbildern, und ein Schweif, wie aus tausend kleinen Schweifen zusammengesetzt, winkt ihr zu und lockt sie, bald smaragdgrün und bald purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Und manchmal träumt sie auch baren Unsinn: als esse sie einen Käsekuchen, und so viel sie auch essen mag, sie wird nicht satt und der Käsekuchen nimmt nicht ab.
Jeden Tag deutet Akumowna die Träume, und abends beim Tee legt sie Karten. Akumowna kann wahrsagen aus den Weidenkätzchen, aus den Wagenkerzen und zur Winterzeit aus den Frostblumen auf den Fenstern; doch am genauesten kann sie aus den Karten wahrsagen.
Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger Regen. Aus den Dachrinnen schlägt dumpf, wie ein Hund aufheulend, das Wasser auf die Steine. Die belgische Bogenlampe leuchtet wie der Mond durch das Gewoge von Nebel und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen Krankenhauses blinkt nur ein Licht.
Im äußersten Zimmer bei Adonja Iwoilowna singt der Samowar – er geht nicht aus, er ist voll und kochend heiß, der Dampf wallt nur so – der Sänger summt sein Lied. Der Samowar singt, daß man es durch alle Zimmer hört.
Akumowna ist nicht in der Küche. Akumowna ist mit den Karten bei Adonja Iwoilowna. Akumowna legt Karten. Der Samowar ist im Erlöschen, sein Gesumme ist leiser und Akumownas Stimme tönt dumpfer:
– Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es endet. Wie es sich beruhigt. Sagt die volle Wahrheit, reinen Herzens. Was kommt, wird auch zutreffen.
Es kommen aber lauter unreine, lauter unerfreuliche und dunkle Karten.
Adonja Iwoilowna weint. Wie sollte sie auch nicht weinen! Ihren Mann hatte man auf dem Smolensky-Kirchhof bestattet und sie wollte ihn doch in der Newskaja Lawra haben: die Verwandten hatten darauf bestanden, hatten nicht auf sie geachtet. Er war zu Allen gut gewesen, hatte viel geholfen, aber sie liebten ihn nicht. Nur sie allein hatte ihn geliebt und auf sie hatte man nicht gehört. Auf dem Kirchhof geht nun die Erde unter ihm weg, die Erde bröckelt ab.
Und wieder ertönt Akumownas Stimme, noch dumpfer.
– Fürs Haus. Fürs Herz. Wie es endet. Was sein wird. Wie es sich beruhigt. Sagt die volle Wahrheit reinen Herzens. Was sein wird, wird auch zutreffen.
Doch es kommen wieder dieselben Karten. Und wieder dieselben Träume; Adonja Iwoilowna weint: nur sie allein hatte ihn geliebt, aber man hatte nicht auf sie gehört, und jetzt geht die Erde unter ihm weg, die Erde bröckelt ab.
– Man darf niemand beschuldigen! – sagte Akumowna plötzlich.
Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger Regen. Aus den Rinnen schlägt das Wasser, wie ein Hund aufheulend auf die Steine. Die belgische Bogenlampe leuchtet wie der Mond durch das Gewoge von Nebel und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen Krankenhauses schimmert nur ein einziges Lichtlein.
Im äußersten Zimmer, in der schwülen Stube bei Adonja Iwoilowna brennen drei ewige Oellämpchen. Adonja Iwoilowna betet lange. Auch in der Küche, in der vom unverwüstlichen Sterletgeruch und vom Geruch getrockneter Pilze gesättigten Küche, brennen drei Oellämpchen. Akumowna betet lange.
– Schiffe, Schiffe! – ertönt des Nachts eine Stimme inmitten des weinerlichen Schnarchens.
Und am anderen Ende der Wohnung antwortet ihr dumpf eine andere:
– Man kann niemand beschuldigen! –
Und eine dritte Stimme, die durch die Wand aus dem Zimmer der Artisten hereindringt, sagt:
– Man muß alles von sich abschütteln.
Marakulin fährt dabei auf, kauert sich zusammen, ganz verstummt und bedrückt horcht er und wiederholt sich vergebens immer dasselbe; trotzig wie er ist, kann er nicht mehr nicht denken, er kann nicht auf seine Gedanken nicht hören, und der Friede flieht ihn.
Die göttliche Akumowna ist laut ihrem Paß eine Jungfrau von zweiunddreißig Jahren, aber laut ihren eigenen Versicherungen – es war übrigens auch ohne ihre Versicherungen einleuchtend – war sie nicht zweiunddreißig, sondern sicher fünfzig. Sie ist aus Pskow gebürtig oder eine Pskowitanerin, wie die Artisten sie zu nennen pflegen, zu denen sie ebenfalls manchmal hinläuft, um Karten zu legen; für Sergej Alexandrowitsch wäre sie sogar bereit, den ganzen Tag Karten zu legen, außerdem ist die Sklavin Kusjmowna, welche halb an eine Flunder, halb an ein gefrorenes Huhn von der Sennaja erinnert, so etwas wie ihre Gevatterin.
Akumowna ist klein und schwarz, ihr Gesicht ist sehr dunkel, – ein Käfer! Sie lächelt und blickt so eigentümlich, idiotisch, nicht gradeaus, sondern von der Seite, mit etwas geneigtem Kopf. Sie ist sanft und wird nie böse. Und flink ist sie, aber sie läuft nicht, sondern sie dreht sich auf demselben Fleck herum und es sieht nur so aus, als liefe sie. Und geschickt ist sie, man würde glauben, sie mache alles sofort; wenn es aber vorkommt, daß man sie irgendwohin rasch schicken muß, dann ist’s aus, dann kann man lange warten! Es ist ja auch die fünfte Etage und ihre Beine sind schon alt. Das Hinunterlaufen geht noch, aber beim Hinaufsteigen der Treppe – da bleibt sie stecken. Die Füße möchten schon laufen, und Akumowna wäre froh, möglichst schnell zurück zu sein, aber sie hat eben keine Kraft mehr, und sie dreht sich nur auf demselben Fleck.
Den Tag und die Nacht verbringt Akumowna ebenso wie Adonja Iwoilowna. Sie träumt allerlei Träume: sie sieht Feuersbrünste – das Haus brennt ab – und Räuber – die Räuber jagen und verfolgen sie – und einen nackten Mann – der Nackte steht an einem Ufer und wäscht sich mit Seife – und ein fleckiges Reptil – das Reptil beißt sie; – und Beeren ißt sie im Traum – Preißelbeeren, die Büschel so groß wie ein Hammelschwanz. Aber am häufigsten – sehr häufig fliegt sie im Traum: sie fliegt immer nach einem und demselben Ort, zu Ostaschkow in Nils Einsiedelei, zum ehrwürdigen Nilus Stolbenskij.
– Ich mache einen Sprung und fliege – erzählt Akumowna, – ich steige auf und greife aus mit den Händen, wie auf dem Wasser, und es wird mir so leicht und ich fliege vorwärts wie ein Vogel.
Schon vor langer Zeit hatte Akumowna ein Gelübde getan, zum ehrwürdigen Nilus zu pilgern, und bis jetzt hat sie dieses Gelübde noch nicht erfüllt; sie war noch nicht ein einziges Mal da, deshalb fliegt sie oft, sehr oft zu Ostaschkow.
Im Hof wird Akumowna geliebt: die göttliche Akumowna. Und immer treiben sich Scharen von Kindern bei ihr in der Küche herum, sie versteht und liebt es mit den Kindern zu spielen und zu scherzen. Sie besucht alle; wenn sie Geld hat, gibt sie es – und man nimmt es von ihr, um es ihr nie zurückzugeben – in allen Winkeln ist sie willkommen. Und nur eins fürchtet sie: wenn auf dem Hof eine Schlägerei angeht.
Sergej Alexandrowitsch Damaskin hat alle Gesetze ausstudiert, – er ist ein Artist. Akumowna aber ist ein Mensch, der weiß, was im Jenseits geschieht. So sagt man im Burkowschen Hof.
Akumowna war schon im Jenseits, – sie war dort den Passionsweg gegangen.
Dort in jener Welt wurde ihr alles gezeigt, nur weiß sie nicht, wer der Mensch war, der sie geführt.
– Ich trat in ein Gebäude – so erzählt Akumowna ihren Passionsweg, – in einen Saal: der Fußboden war morsch, die Dielen eingefallen, die Erde unter ihnen war Schutt und auf dem Boden lagen Fische, stinkende, abscheuliche Fische verschiedener Art, Fleisch, Schädel; lauter schlechtes Zeug lag da herum und bis auf die Knochen verweste Menschen – einzelne menschliche Glieder, verweste Tiere, alles verfault und abscheulich.
Und sie wurde durch dieses Gemach geführt und es wurde ihr alles gezeigt! Das Gemach war lang, unabsehbar, und breit, und dennoch war ihr so eng. Vor ihnen waren Menschen, viele Menschen, hinter ihnen ebenfalls viele Menschen, ringsum und überall gingen und standen Menschen. Und in den Winkeln befanden sich Menschen, aber keine richtigen Menschen – das nimmt sie so an; – auch solcher gab es viele.
– Ich habe mich so gequält, ein Gebet gesprochen, sie antworteten aber nicht – sie hatten Schwänze und Beine wie Kühe und Krallen wie Hunde. – Laßt mich heraus! – flehte ich.
Einer aber sagte: – Nein, sie muß noch etwas sehen! – Und darauf ein andrer: – Warten wir, sie muß alles sehen, – und sie führten mich weiter.
Und sie führten sie durch das Gemach und zeigten ihr alles. Es lag da nur Schlechtes und Vermodertes herum, lauter Aas, alles verwest und abscheulich, tote Menschen, tote Tiere, Gebein, Schädel, Kehricht.
– Wenn Gott mich wenigstens die heiligen Sakramente empfangen lassen wollte! – dachte ich, – da könnte ich dieser Unzucht entrinnen. Und ich wiederholte bei mir: – Herrgott, laß mich das Abendmahl nehmen, ich bin schon zu Tode gequält! – Und da sehe ich, wir sind schon draußen.
Draußen wurde sie auf einen Berg geführt, und auf dem Berg standen drei Personen, alle in hellen Mänteln und die Gesichter mit etwas Hellem verhüllt; sie nahmen das Abendmahl. Nur daß statt des Kelches ein Spülnapf war und der Löffel fehlte; so nahmen sie das Abendmahl. Und viel Volk war da, und alle traten hinzu, alle nahmen das Abendmahl.
Und auch sie wurde hingeführt. Sie wollte sich bekreuzigen, aber es war ihr schwer, als würde sie gehindert.
Er selbst reicht mir eigenhändig die Oblate, aber nicht befeuchtet, sondern trocken. Und ich kann ihre Hostie nicht hinunterschlucken, sie bleibt mir im Halse stecken, ich ersticke fast. – Herrgott! Herrgott! Euch Heilige und Engel Gottes bitte ich, genug schon mich zu quälen! – Sie aber lachen. Der eine sagt: „Warte nur, wirst noch weiter gehen.“ Und nach ihm der andre: „Ja, wir müssen sie noch weiter führen!“ – Sie lachen – ihre Schwänze und Beine sind wie bei Kühen, die Krallen wie bei Hunden. Und wieder beginnen sie mich zu führen.
Sie führten sie den Berg hinunter zum See. An ihnen vorbei strömt das Volk in großen Scharen, wie auf dem Newsky – sie eilen, überholen einander, laufen, laufen und schleifen ihre langen Schwänze nach. Alle laufen sie vom Berg zum See, und am See verwandeln sie sich in Tauben – einer Riesenwolke gleicht diese Taubenschar.
– Die Tauben ließen sich am Wasser nieder und begannen zu trinken, und ich sagte: „Gehen wir auch hin?“ „Ja,“ wurde mir die Antwort, „wir gehen auch hin.“ Einer aber sagte: „Nun ist es bald mit euch zu Ende.“ Schon nähern wir uns immer mehr dem See. Ich räuspere mich, noch immer kann ich die Hostie nicht herunterschlucken! Herrgott, bitte ich, genug schon mich zu quälen. Um mich herum tummeln sich Kinder und ich stürze zu den Kindern, ob sie mich nicht retten wollen: „Schütz mich doch, mein Schutzengel, schützt mich doch, seid mir gnädig!“ Nun ist der ganze See mit Tauben bedeckt, das Wasser ist trübe und schmutzig. Ich steige bis an die Knie ins Wasser. „Jetzt ist dein Ende nah“ vernahm ich eine Stimme, und der, welcher mich geführt hatte, war fort und verschwunden.
So war Akumowna im Jenseits gewesen, so war ihr Passionsweg.
Zum Glück hat sie ein gesundes Herz, über ihren Leib klagt Akumowna oft. Denn sie hat nicht wenig Schweres erlebt – sie war gehörig unter der Fuchtel.
Akumownas Vater war wohlhabend und stand in gutem Ruf. Sie war noch nicht zehn Jahre alt, da starb ihre Mutter. Sie hatte sieben Brüder, alle älter als sie. Sie war ein gesundes Mädchen. Zwar hatte sie als kleines Kind einen Unfall: sie schlief in der Hängewiege und die älteren Geschwister wiegten sie, da rissen die Stricke, die Wiege flog auf die Erde und mit ihr das Kind. Es schrie Tag und Nacht und ließ sich nicht einmal mit der Brust beruhigen, dann wurde es besser und es erholte sich ganz. Sie war ein kluges Kind. Vor dem Tode hatte ihr die Mutter fünfzig Rubel übergeben, in Leinewand eingewickelt. Niemand wußte etwas vom Gelde, nur der Vater allein. Und wenn der Vater es brauchte, da wickelte sie so viel er benötigte aus der Leinwand heraus und gab es ihm. Später gab er’s ihr wieder zurück, sie wickelte es wieder ein und verriet niemand etwas davon. Auch ihre Schwägerin wußte nichts davon. Der Vater lebte mit seiner Schwiegertochter. Die Schwiegertochter liebte sie nicht. Beim Mittagessen nahm sie sie bei der Hand und zerrte sie vom Tisch. Sie quälte das kleine Mädchen sehr. Der Vater lebte mit der Schwiegertochter. Einmal kam ein Vetter; der Vater hatte längst versprochen, ihm Geld zu leihen, jetzt war er gekommen, um es zu holen. Aber der Vater wurde böse und wollte ihm keines geben. Wassilij aber brauchte das Geld sehr, außerdem kränkte es ihn: warum hatte er es erst versprochen! Er weinte und ging fort. Das Mädelchen hörte es – sie war so gut und nicht glücklich – sie holte Wassilij ein und bot ihm von ihrem Geld an, das in der Leinwand eingewickelt war, aber er sollte ihr versprechen, es ihr bald zurückzugeben. Er war natürlich froh: „Möge mein Haus verbrennen, mag ich meine Kinder nicht wiedersehen,“ schwor er. Und sie gab ihm das Geld – genau so viel, Heller bei Heller, wie ihr Vater ihm versprochen hatte. Aber als die Zeit kam, gab er’s ihr nicht zurück. Er habe eben kein Geld, hieß es, sie müsse warten. Sie hätte auch gewartet, auch war es ihr gar nicht um das Geld zu tun, aber was sollte sie dem Vater sagen, wenn er danach fragte! Und grade mußte es kommen, daß der Vater krank wurde: er hatte Bier getrunken, da wurden seine Füße blau und es ging ihm schlecht. Das ganze Dorf wurde zusammengerufen. Auch Wassilij kam, der Vetter. Alle setzten sich um ihn herum und saßen. Da sagte der Vater zum Mädchen, sie solle die Leinwand bringen, worin das Geld war. Sie erschrak, wußte nicht was zu sagen und redete sich heraus: Sie habe den Schlüssel verloren. Verloren? – Schön. Die Schwägerin nahm eine Axt, ging in den Speicher, brach den Koffer auf und holte die Leinwand. Man zählte das Geld und es fehlten zwanzig Rubel. Der Vater sagte zum Mädchen: – Wo ist das Geld? – Sie schwieg. Und nochmals: Wo ist das Geld? – Sie aber schwieg wieder. Und als es ganz schlimm mit ihm wurde, begann er die Kinder zu segnen. Er segnete erst seine Söhne, ihre älteren Brüder, dann kam die Reihe an sie. Sie fing an zu weinen und bat Wassilij leise, er möchte doch das vom Gelde sagen – aber Wassilij der Räuber erwiderte: – Ich weiß von nichts, ich habe dein Geld nicht genommen! – als hätte er in der Tat nie Geld von ihr genommen. Sie weinte nicht mehr; – wenn es einem gar schlimm zumute ist, da weint man nicht, sie sah nur den Vater an, sie sah ihn nur an. Der Vater sagte zu ihr: – Ich segne dich – er hielt inne und überlegte: – sei wie ein rollender Stein um die weite Welt! – dann knirschte er mit den Zähnen und verschied.
„Wie ein rollender Stein um die weite Welt!“ So lautete der Segen ihres Vaters, den Akumowna empfing und der sie offenbar, wie Akumowna annahm, zum Herumirren in der weiten Welt bestimmte.
Sie hielt es darauf keine sechs Wochen mehr zu Hause aus, und lebte dann in einem Gemüsegarten. Zu Lebzeiten des Vaters, ob es schlecht oder gut ging, hieß es dulden; als aber der Vater starb, da ward die Schwägerin grimmiger als eine Bestie, sie verfolgte sie und fraß sie auf. Am sechsten Tag nach dem Froltage nahm die Herrin von Turij-Rog, Frau Bujanowa die Akumowna zu sich aufs Gut, ins Haus. Das Bujanowsche Gut Turij-Rog lag sechs Werst von Ssosna-Gora entfernt.
Auf dem Gut hatte sie es sehr schön. Die Herrin Bujanowa gewann sie lieb. Sie war nur ein wenig älter als Akumowna: Akumowna war damals dreizehn, die Herrin sechzehn Jahre alt. Herr Bujanow selbst war nicht mehr jung und hätte gut der Großvater der beiden sein können. Er reiste oft in Geschäften in die Stadt und war auch zu Hause viel beschäftigt: er besaß viel Land, viel Wald und See, – er war ein tüchtiger Wirt und liebte sein Gut: der Hanf in Turij-Rog stand so dicht, daß ein Mensch nicht durch konnte, und die Hühner weideten auf den Feldern wie Schafe! Die Herrin aber war immer allein mit Akumowna, wie mit einem lieben Schwesterchen. Sie nahm sie überall mit, ins Feld, in den Wald, in das junge Gehölz, um Pilze und in den dunkeln Wald, um Beeren zu suchen. Im dunkeln Wald, in den Lichtungen, in der Sonne da stehen die Beeren so rot, daß es eine Freude ist, sie zu pflücken. Sie pflückten Nüsse, sammelten Eicheln zum Kaffee, oder die Herrin legte sich unter eine Kiefer und schickte Akumowna Blumen zu holen. Akumowna kehrte dann mit Blumen zurück – mit vielen verschiedenen blauen Blumen – und wand einen Kranz, die Herrin aber lag unter der Kiefer und weinte. Akumowna schmückte sie mit den blauen Blumen – und küßte sie halbtot; – sie selbst war schwarz, mit blanken, lustigen Augen, ein rotes Band im Zopf – ein Käfer.
So verbrachte Akumowna ein Jahr unzertrennlich von der Herrin: sie wurde zu allem angeleitet, lernte Plätten und Waschen. Vor Mariä Schutz und Fürbitte fuhr der Herr in die Stadt und wurde da krank. Dem Herrn geschah dies oft: man behauptete, daß sie ihn quälten: – der Wald hat seinen Herrn und das Wasser seinen, die Wald- und Wasserbeherrscher. Der Wald in Turij-Rog war früher dicht und undurchdringlich, ein Käfer konnte kaum durchfliegen; Bujanow hatte den Wald gelichtet. Zu den Seen konnte man früher nicht gelangen, er aber hatte Wege gebaut und die Seen gereinigt. Ihnen aber ist so etwas nicht recht. Und von Zeit zu Zeit kamen sie zu ihm und machten ihm Vorwürfe, daß er sie umgebracht hatte. Dies eben war seine Krankheit. So sagten die Menschen. Man benachrichtigte die Herrin in Turij-Rog, sie machte sich auf und fuhr zu ihm.
– Die gnädige Frau befahl mir, auf das Schönchen acht zu geben, – erzählte Akumowna, – jede Nacht nach der Kuh zu sehen. Es gab da viele Kühe, aber das Schönchen war ihre Lieblingskuh. Das Schönchen sollte kalben. Damit fing’s an. Im Dorf war grade eine Hochzeit und ich bat um Erlaubnis hinzugehen. Ich versprach um Zwölf heimzukommen, vergaffte mich und kam erst um Zwei. Inzwischen hatte das Schönchen um Zwölf gekalbt und das Kalb mit einem Fußtritt erschlagen. „Eins von uns bleibt am Leben, entweder du oder ich!“ sagte der Aufseher des Viehhofs, – entweder ich werde davongejagt oder er. Und so gehe ich zum jungen Herrn – der Bruder der gnädigen Frau war bei uns damals Verwalter – und fürchte mich hineinzugehen: ich versuche die Tür aufzumachen und laufe zurück. „Was hast du, Käfer?“ Er hatte mich also kommen gehört. „Verzeihen Sie, gnädiger Herr, verzeihen Sie, ein Unglück ist passiert!“ „Komm her!“ Er ließ mich eintreten. Ich werfe mich auf die Knie, erzähle ihm auf den Knien alles und weine. „Hinaus! Pack deine Sachen!“ Und jagt mich hinaus. Ich ging zu mir aufs Zimmer – meine kleine Kammer lag hinter dem Speisezimmer – und wußte gar nicht, was für Sachen zu packen, denn ich hatte keine, ich weinte nur. Und so weinte ich die ganze Nacht. Am nächsten Morgen kommt der Herr. „Hast du schon eingepackt?“ Ich fange wieder an. „Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich bekenne meine Schuld!“ „Schweig, wag es nicht zu weinen, – ruft er – sonst laß ich dich aufhängen“ und ging fort. Ich denke mir, aufhängen läßt er mich doch nicht, er will mir nur Angst machen, und dennoch fürchte ich, und mir ist so bange. Es war Samstag, das Bad wurde geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier hin und wollte eben gehen, da kommt der gnädige Herr. Ich will zur Tür hinaus. „Halt, hast du schon deine Sachen gepackt?“ Ich wiederhole das meinige: „Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, ich bekenne meine Schuld, jagen Sie mich nicht fort!“ – Er überlegt und sagt zu mir: „Wenn du einwilligst mit mir zu leben, dann bleibe hier, brauchst dann nicht fortzugehen!“ Und stieß mich hinaus. Ich wollte aber nicht fortgehen, wollte nicht von meiner gnädigen Frau verstoßen werden, und wohin sollte ich auch gehen? – wieder zum Bruder, zur Schwägerin? Und so gehe ich herum und weine. Der Viehhofaufseher wiederholt aber nur: „Eins von uns bleibt am Leben, du oder ich!“ Entweder er wird fortgejagt oder ich. Wäre die gnädige Frau nur zu Hause gewesen, aber sie kam immer noch nicht. Es wurde wieder Samstag. Wieder wurde das Bad geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier hin und wollte mich beeilen, vor dem gnädigen Herrn fortzugehen, mir war so bange, ich fürchtete mich. Er trat aber schon ein. „Bist du nun einverstanden?“ – „Ja.“ – Natürlich, ich war ein dummes Mädchen, hab’ nichts verstanden. „Geh, zieh dich aus, ich will dich ansehen.“ Ich zog mich aus. Am nächsten Tag fuhr der gnädige Herr in die Stadt – er hatte mich noch nicht angerührt – und brachte mir ein seidenes Tuch und ein Band ins Haar mit. Ich erzählte es der Kinderfrau, – eine alte, ganz alte Kinderfrau war da im Hause. „Das macht nichts,“ sagte die Kinderfrau, „verlange du aber fünfhundert Rubel auf ein Büchlein, zur Sicherstellung!“ Ich konnte nicht verstehen, was für ein Büchlein sie meinte. Ich war eben ein kleines dummes Mädchen und verstand nichts. Am Abend ruft mich die Kinderfrau: „Wenn du dem gnädigen Herrn den Samowar hineinbringst, dann geh nicht fort!“ Das Zimmer des gnädigen Herrn lag neben dem Speisezimmer. Ich nahm das seidene Tuch um, flocht mir das Band ins Haar, brachte den Samowar und setzte mich an den Tisch, – und es schüttelte mich nur so.
Die Schande und die Schmach! – Akumowna schämte sich sehr, sie wollte sich erhängen: ihre Herrin war zurückgekehrt, ihre Herrin – und Akumowna ging so herum. Die Herrin beruhigte sie, versprach ihr das Kind zu erziehen, verzieh ihr das mit dem Schönchen und verwies sie nicht von sich. Akumowna brachte einen Knaben zur Welt, bald darauf bekam auch die Herrin einen Knaben. Die Kinder wurden zusammen erzogen, sie hatten eine Kinderfrau, und wurden später auch gemeinsam unterrichtet. Mit neun Jahren wurden beide nach Petersburg gebracht. Der Bruder der gnädigen Frau adoptierte Akumownas Sohn. Sie kamen nur zu den Sommerferien, zu Weihnachten und zu Ostern heim. Im gleichen Jahr beendigten sie beide ihr Studium und wurden Offiziere. Da blieben sie kurze Zeit auf dem Gut und fuhren bald nach Petersburg zurück. Als Akumownas Sohn klein war, da war er sanft und zärtlich, später aber als er groß wurde, begann Akumowna sich vor ihm zu fürchten: wenn er sie ansah, hätte sie sich verkriechen mögen, sie hätte nicht gewagt ein Wort zu ihm zu sprechen.
Die Zeit aber wartet nicht, die Zeit nimmt das ihrige! Der alte Herr starb – sie hatten ihn erwürgt: der Wald hat seinen Herrn und das Wasser hat seinen Herrn, Wald- und Wasserherren, so sagt man. Und nach dem Tod des alten Herrn stieß auch dem Bruder der Herrin ein Unglück zu: an einem Kirchenfest ihres Sprengels wurden sieben Menschen auf der Hauptstraße ermordet; man begann zu untersuchen und der Weg führte gradeaus nach Turij-Rog in den Hof, und so wurde er wegen Mitwisserschaft eingesperrt. Ein Jahr blieb er im Gefängnis, und als er wieder frei wurde und sich zu einer Reise ins Ausland rüstete, starb er. Akumowna hatte den gnädigen Herrn nicht gesehen, als er im Sterben lag, sie hatte ihn nur gesehen, als er aus dem Gefängnis kam. Sie hätte ihn nicht erkannt: er war schwarz, wie die Erde. Man sagte, seine Lungen hätten sich abgelöst.
Akumowna blieb wieder allein mit der Herrin zurück, wie einst. Sie gingen wie einst wieder ins Feld und in den Wald. Akumowna sammelte Blumen für ihre Herrin, allerlei blaue Blumen, und wand ihr einen Kranz; die Herrin lag wieder unter einer Kiefer, nur weinte sie nicht mehr, sie schlief; – sie trank jetzt, schon längst hatte sie sich ans Trinken gewöhnt: sie nahm einen Schluck, aß eine Pfefferminzpastille dazu und schlief ein.
Der gnädige Herr, der Bruder der Herrin, starb im Frühling, und im Herbst wurde Akumownas Sohn aus Petersburg nach Turij-Rog gebracht. Er hatte gebeten, daß man ihn vor dem Tode nach Turij-Rog bringe: er war schwindsüchtig. Er wurde auf dem Gut bestattet, auf dem Turij-Rogschen Kirchhof. Seine Uniform und seine Mütze bekam Akumowna. Und das Jahr war noch nicht um, da starb die Herrin. An ihrem Todestage sah sie im Traum den alten Herrn mit einem weißen Hund kommen ... Und auch die Herrin wurde bestattet.
Turij-Rog war nun vereinsamt. Akumowna war allein auf dem Gut. Der junge Herr wollte sie nicht mehr behalten und entließ sie nach der Beerdigung. Und so war sie ganz allein. Sie weinte aber nicht, – wenn es einem gar zu schlimm ist, dann weint man nicht.
Zum letzten Mal ging sie ins Feld, in den dunkeln Wald und in das junge Gehölz, saß zum letzten Male im Wald auf dem Abhang, wo die Sonne am stärksten brennt und wo die Beeren so rot stehen, und unter der Kiefer, wo ihre Herrin zu liegen pflegte, verneigte sich tief vor dem jungen Wald, vor dem Feld – vor dem alten dunkeln Wald und vor der Kiefer, und ging. Sie ging die Hauptstraße aus Turij-Rog an Ssosna-Gora vorbei, vorbei am Bruder und an der Schwägerin, an Wassilijs Haus, am Kirchhof, an den Grabkreuzen des Vaters und der Mutter, immer gradeaus von Turij-Rog, immer gradeaus die Hauptstraße lang, wie ein rollender Stein um die weite Welt.
Und manches Jahr dehnte sich der Weg von Turij-Rog nach Petersburg. Bis sie Petersburg erreichte, ging sie oft hinter dem Pflug und mit der Sense, oder mußte wie eine Zigeunerin in den Hohlwegen herumlungern.
Neun Jahre lebt nun Akumowna in Petersburg. Die Uniform und die Mütze wurden ihr noch auf dem Weg von Turij-Rog nach Petersburg gestohlen, und nur ein Andenken ist ihr geblieben: ein Paar warme Schuhe und ein Paar Gummischuhe hängen mit Naphtalin bestreut in einem Karton an der Decke ihrer Küche.
– Ich sehe diese Sachen an, als wenn er es selbst wäre! – sagt Akumowna, wenn sie an den Feiertagen den Karton öffnet.
Neun Jahre wohnt nun Akumowna auf der Fontanka im Hinterhaus des Burkowschen Hofes, Sommer und Winter, und weiter als auf die Sennaja oder bis zum Fischteich ist sie noch nicht gekommen, und sie sehnt sich nach freier Luft.
– Wenigstens etwas Luft atmen! – sagt sie manchmal und lächelt und blickt idiotisch von der Seite – die sanfte, göttliche, verwaiste, unglückliche Akumowna.
Die Zimmer, die im Herbst leergestanden hatten, wurden zu Anfang des Winters vermietet, und Marakulin hatte nun zwei neue Nachbarinnen: Wera Nikolajewna Klikatschowa, Hörerin der Nadeschdinschen Kurse, und Wera Iwanowna Wechorjowa, Schülerin der Theaterschule.
Wera Nikolajewna war sehr mager, so mager, daß man Angst um sie bekommen konnte, besonders nachdem sie die Nacht über den Büchern verbracht hatte. Wie ein solcher Mensch bloß leben kann: nicht ein Blutstropfen war in ihrem Gesicht, und ihre Augen waren jene verlorenen Augen des herumschweifenden heiligen Rußland.
Sie hatte mit ihrer Mutter in der Provinz gelebt, in der alten Kreisstadt Kostrinsk. Sie hatten ein eignes Häuschen, das Häuschen aber brannte ab, und sie verloren dabei alle ihre Habseligkeiten. Man hätte sie retten können, wenigstens ein Teil konnte gerettet werden, aber die Mutter, die alte Klikatschowa stellte sich mit dem Heiligenbild den Flammen gegenüber und ließ nichts wegtragen, – alles verbrannte. Wenn man dem Feuer erlaubt, alles aufzufressen, ohne sich zu widersetzen, dann ersetzt es alles hundertfach, – so glaubte die Alte. Zwar hatte sie vorher schon eine Erscheinung gehabt, ein Zeichen hatte ihr den Brand verkündet: eine Woche früher hatte der Tisch und die Heiligenbilder unheimlich geknistert, doch die Alte besann sich erst darauf, als alles schon verbrannt war. Nach dem Brande wohnten sie in einem alten Badehäuschen. Wera Nikolajewna absolvierte die Kostrinskische Gemeindeschule und wäre in ihrem alten Badehäuschen sitzen geblieben, wenn nicht eine Verbannte aus Petersburg hingekommen wäre, die sie zu unterrichten begann und zur Aufnahme in die vierte Gymnasialklasse vorbereitete. Wera Nikolajewna reiste in die Gouvernementstadt, machte da das Examen und blieb dort drei Jahre in der Heilgehilfenschule am Gouvernementkrankenhaus. Darauf ging sie nach Petersburg, wo sie jetzt im Begriff war, die Nadeschdinschen Kurse zu absolvieren.
Das Lernen fiel ihr nicht leicht, – bis zum Weinen schwer war ihr das Lernen. Aber sie wollte es nicht aufgeben, sie war von einem unheimlichen Fleiß. Nach Absolvierung der Nadeschdinschen Kurse beabsichtigte sie, das Abiturientenexamen zu machen, um in das medizinische Institut aufgenommen zu werden.
Voller Sorgen, von den Lehrbüchern und von Arbeit erfüllt – sie mußte als Masseuse ihren Lebensunterhalt verdienen – saß sie nie mit im Schoß müßig gefaltenen Händen, und es war schwer, ein Wort aus ihr herauszubringen; sie erzählte selten und war nicht gesprächig. Sie erwähnte nur zuweilen ihre Mutter und jene Verbannte, Maria Alexandrowna, die sie unterrichtet und in ihr die Lust zum Lernen erweckt hatte, – nur von diesen beiden sprach sie.
Wera Nikolajewnas Mutter, Lisaweta Iwanowna, lebte seit ihrer Kindheit in dem kleinen, weißen, verlassenen, alten Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Ufer des Flusses Ustjuschina, – und in Beziehung auf das Trauergeläute der Glocken eine erste Stadt, eine Klagestadt. Alte Leute können sich noch erinnern, wie Lisaweta Iwanowna jung war, eine lustige Reigenführerin, Märchenerzählerin und Sängerin uralter Weisen. Sie erinnern sich noch, wie sie im Dom getraut wurde und wie der Priester, der doch Braut und Bräutigam kannte, sich fortwährend irrte und die Namen verwechselte, und wie Jutschicha, eine alte Waschfrau, dazu traurig den Kopf schüttelte, weil sie in ihrer ahnenden Seele wußte, daß das junge Paar nicht lange zusammenbleiben wird: ein Dritter stand zwischen ihnen unter dem Baldachin. Die Alte wußte es, aber sie schwieg.
Und diese Jutschicha war auch dabei, als Lisaweta Iwanownas Mann starb, und dabei, als das Haus brannte. Sie war es auch, die ihr beigebracht hatte, nichts hinauszutragen und alles dem Feuer zu überlassen. Und nicht das allein bloß hatte sie sie gelehrt, sondern all ihr nicht einfaches, ahnungsvolles Wissen. Denn Jutschicha wußte viel, ja, vielleicht alles, was dem Menschen zugestanden ist. So sagte man in Kostrinsk. Und sie stieg ruhig ins Grab, weil sie in der Welt einen andern Menschen an ihrer Statt zurücklassen konnte. Lisaweta Iwanowna würde für sie besonders zu Gott beten, weil ihr die Alte alles überliefert und für sie mehr getan hatte, als Vater und Mutter tun könnten, so viel, daß es wohl keinem Menschen gegeben ist, mehr zu tun. So urteilte man in Kostrinsk.
Zehn Jahre waren nach Jutschichas Tod und nach dem Brand des Hauses vergangen. Noch immer im alten Badehäuschen lebend, träumte Lisaweta Iwanowna davon, sich ein neues stattliches Haus zu bauen, ähnlich wie das verbrannte. Jeden Sommer ließ sie Bauholz aus dem Wald in ihrem Gemüsegarten aufstapeln. Sie war auch schon beim Vater Johann von Kronstadt gewesen, um seinen Segen zu erbitten und brachte ihm ein altes Heiligenbild im Stroganowschen Stil zum Geschenk, und er schenkte ihr dagegen hundert Rubel für den Anfang. Wie oft schon hatte sie sich von Verbannten einen Plan zeichnen lassen und ihn scharfsichtig genau geprüft und untersucht: ob die Speisekammer oder die Rumpelkammer nicht vergessen worden sei, ob auch alles genau so wäre, wie im alten verbrannten Hause. Aber ein neues, stattliches baute sie doch nicht. Das Bauholz verfaulte im Gemüsegarten, der Plan wurde sorgfältig in einem Kästchen aufbewahrt und die hundert Rubel, das Geschenk des Priesters hatten auf der Rückfahrt nicht einmal Moskau erreicht. Sie hatte nie in ihrem Leben soviel Geld beisammen gehabt – ihr Mann war ein kleiner Beamter in Kostrinsk gewesen und mußte mit Kopeken rechnen – und des ehrwürdigen Vaters regenbogenfarbener Schein verflüchtigte sich im Handumdrehen: sie brachte allerlei Nippes, Schächtelchen und Schachteln, nötige und unnötige, zerbrochene und ganze, als Geschenke aus Kronstadt mit, und jeder Gegenstand, jedes Schächtelchen hatte seine Bestimmung; das größte Paket aber sollte seine Bestimmung nach näherer Erwägung erhalten, und für diese „nähere Erwägung“ war fast ein halbes hundert Rubel daraufgegangen. Wie sollte man da ein Haus bauen!
Lisaweta Iwanowna ist gebückt, zahnlos, ihre schweren weißen Flechten umwickeln den ganzen Kopf, und die blauen Augen sind noch heller geworden und leuchten. Sie hat vieles in dieser Welt gesehen, obwohl die ganze Welt für sie die kleine weiße verlassene alte Stadt mit den fünfzehn weißen Kirchen war, und alle ihre Tage waren besungen vom Trauergeläute. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina und dem Trauergeläute der Glocken nach eine erste Stadt, eine Klagestadt. Viele Menschen hat Lisaweta Iwanowna schon zu Grabe geleitet; sie besucht ihre Gräber und am Ostersonntag trägt sie rote Eier hin, um den Toten den Gruß: „Christ ist erstanden“ zu entbieten; denn es ist viel wichtiger, den Toten diesen Gruß zu bringen als den Lebenden, so glaubte die Alte. So lebte sie in ihrem Badehäuschen, wie in einem richtigen Haus dahin und genoß den Anblick der Sonne, wenn sie hinter dem Kirchturm unterging, und das Kreuz vergoldete, freute sich, wenn man zum erstenmal Schlitten fuhr, oder wenn die Kinder im Frühjahr auf den Brettern sich schaukelten, und wartete nur auf den Menschen, dem sie all das Wissen, das ihr die alte Waschfrau Jutschicha überliefert hatte, weiter überliefern könnte. Und der Mensch, dem sie es überliefern würde, wird ebenso glücklich werden wie sie selbst; denn es gebe kein größeres Glück als das ihre, – so dachte die Alte. Ihr Glück aber bestand darin, daß sie durch ihr nicht einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes oder tatsächliches Wissen erkannt hat, wie man leben muß. Sie lebte nicht für sich und nicht für die anderen, und wenn sie etwas tat, so dachte sie weder an sich noch an die Einwohner von Kostrinsk, sondern sie bereitete sich fürs andere Leben vor, fürs Jenseits, und dachte bei ihren Handlungen nur an das andre Leben und an das Jenseits; deswegen war ihr selbst wohl, und deswegen tat sie den anderen wohl.
Lisaweta Iwanowna war für Kostrinsk dasselbe, was irgendein Bruder im Hafen für die arme Petersburger Bevölkerung.
Da kam nach Kostrinsk eine Verbannte aus Petersburg, Maria Alexandrowna. Um sich die Tage abzukürzen und auf irgendeine Weise die Zeit zu vertreiben, die in der Unfreiheit sich so ausdehnende Zeit, begann sie Wera Nikolajewna zu unterrichten. Wera Nikolajewna gefiel ihr, und sie kam oft zu Klikatschows. Auch Lisaweta Iwanowna interessierte sie und sie fragte die Alte aus, wie sie denkt, daß man leben und wofür man leben müsse, wie man vergessen könnte, was nicht zu vergessen ist, und was man tun müsse, daß man keine Angst hätte und nicht begehre, was man nicht nehmen darf, – Alles das fragte sie die Alte. Und aus diesen Fragen erkannte die Alte und ihr Herz flüsterte ihr zu, daß diese Verbannte eben der Mensch war, dem sie ihr nicht einfaches ahnungsvolles Wissen überliefern und ihn glücklich machen müßte.
Ein Jahr lang lebte Maria Alexandrowna in Unfreiheit in dieser kleinen, weißen, verlassenen, alten Stadt. Zu Ostern kam sie zu Klikatschows, um am geweihten Mahl teilzunehmen; – zu Ostern aber ist für den Wissenden alles besonders sichtbar und klar. Und so erblickte Lisaweta Iwanowna bei ihrem Liebling, bei ihrer Auserwählten auf der Stirn zwischen den Augenbrauen das Zeichen des Todes. Und sie wollte erst nicht glauben, als sie dieses Geheimnis erkannte. Aber schon in der Osterwoche war Maria Alexandrowna nicht mehr in Kostrinsk, sie war ganz spurlos verschwunden.
Vieles hatte Lisaweta Iwanowna gesehen: sie hatte ihren Mann begraben, hatte auch viel fremden Kummer mit angesehen – wo gibt es ihn nicht! – aber niemals hatte sie so viel geseufzt, wie damals, als der Morgen kam, der Tag verstrich und es Abend wurde und Nacht, und ihre Auserwählte, ihr Liebling, die dem Tod Geweihte verschwunden blieb. Sie, die Glückliche, hatte dank ihrem nicht einfachen, ahnungsvollen, gleichviel ob eingebildeten oder tatsächlichen Wissen erkannt, wie man leben muß, aber sie hat die ihr bestimmte göttliche Tat nicht vollbracht, sie hat ihr Wissen nicht überliefert, und wenn Maria Alexandrowna nicht zurückkehrte, müßte sie als Unglückliche sterben. Und die Alte wartet; ihr von schweren weißen Flechten umwundener Kopf wackelt, sie betet leise, sanft und demütig, und über ihr läuten die Glocken ihr Trauergeläute und besingen sie. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina und dem Trauergeläut nach eine erste Stadt, eine Klagestadt.
– Wohin ist denn Maria Alexandrowna verschwunden? – fragte einmal Marakulin.
Aber Wera Nikolajewna sagte nichts, nur ihre verlorenen Augen, die Augen des herumschweifenden heiligen Rußland lohten auf wie zwei Scheiterhaufen, und sie weinte nicht, sondern schrie die ganze Nacht, als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die Schlinge sehr eng zusammengezogen.
Marakulin konnte diese Nacht auch nicht einschlafen. Er horchte, er verstand, und es war ihm unheimlich zumute.
– Dem Gorbatschow aber, – dachte er, – werden seine Nonnen und Jungfrauen in schwarzen Kopftüchern bis in die Ewigkeit hinein „Christ ist auferstanden“ zu Ostern singen.
Dieser Gedanke wiederholte sich in ihm und zog durch ihn schleppend und zäh und drückte sich in Worten aus. Als er aber erschöpft war, überkam ihn eine Unruhe: er vergaß Gorbatschow, Maria Alexandrowna und Lisaweta Iwanowna, nur eins wollte er erkennen: was man wegräumen müßte, um seine Ruhe wiederzufinden.
Da erinnerte er sich plötzlich an die Generalin Cholmogorowa, wie sie satt und gesund, so zufrieden und sieghaft herumgeht, diese Laus, die nichts zu bereuen hat und nur der Motion wegen herumgeht, wie sie mit ihrem Klappstuhl auf der Fontanka herumspaziert oder auf dem Sagorodny-Prospekt aus der Kirche zurückkommt, – und es war, als wenn modriges Spinnweb sich ihr nachziehen würde, wie es in den Winkeln ungelüfteter Rattenkammern hängt, oder zwischen dem Fußboden und unverschiebbaren schweren Kästen, – dieses Spinnweb zieht sich ihr nach und dringt einem gradezu in den Mund – es ist um sich ins Wasser zu werfen!
Schon lange hatte er das bemerkt, aber erst jetzt erkannte er es. Und er überlegte die ganze Nacht bis zum Morgen ingrimmig, wie man die Generalin möglichst geschickt beseitigen könnte, so daß nicht einmal eine nasse Spur von ihr zurückbliebe; denn er konnte nicht leben, ohne daß sie beseitigt wäre, es fehlte ihm die Luft zum Atmen, sie ließ ihn nicht atmen mit ihrem modrigen Spinnweb. – Es läßt einen nicht frei aufatmen, dachte er, man hat keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe.
Hätte Marakulin im Moment der Verzweiflung die Generalin ermordet, und wäre am Morgen vor Gericht gestellt worden, so hätte er zu seiner Rechtfertigung sagen können, daß nicht er gemordet hat, sondern die grausame Burkowsche Nacht.
Und Wera Nikolajewna weinte nicht, sondern schrie die ganze Nacht bis zum Morgen, als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die Schlinge sehr eng zusammengezogen.
Es waren jetzt grausame Nächte für Marakulin. Wo blieb seine Bereitwilligkeit, alles zu ertragen, nur um zu sehen, nur um zu hören, nur um zu fühlen? Immer derselbe Gedanke an die Generalin ging ihm nicht aus dem Sinn, die unglückliche Generalin war ihm im Halse stecken geblieben! – Ein verrückter Mensch und in seiner Verrücktheit beharrlich.
Als er einmal am Morgen in der Zeitung von einem Arzt las, der des Giftmordes beschuldigt wurde, versteckte er die Zeitung unter sein Kissen und las am Abend vor dem Einschlafen wieder die Stelle.
– Wohltäter der Menschheit, Doktor – flüsterte er im Dunkeln, – du magst wohl nicht eine Laus nur ins Jenseits befördert haben und vielleicht wirst du ... noch jemand befördern!
Und angesichts der allgemeinen Entrüstung der Zeitungen sprach er zu sich ganz trunken:
– Das sind Schwestern meiner Generalin, die für diese vom Doktor vergiftete Laus so einmütig eintreten.
Er stand mitten in der Nacht auf, zündete eine Kerze an, las nochmals die Zeitung und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Darauf legte er sich wieder hin und flüsterte im Dunkeln und dachte bis zum Morgen. Und er übertrug seine eigene Burkowsche Verzweiflung auf die ganze Menschheit, deren Wohltäter vielleicht dieser giftmischerische Arzt werden könnte, der eine Laus nach der anderen ins Jenseits befördert und die Luft reinigt, damit man atmen kann: denn sonst hätte er keine Luft zum Atmen, keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe. Ein verrückter Mensch war er und in seiner Verrücktheit beharrlich.
Eine Woche oder länger lebte Marakulin in einer Art Raserei und erreichte, wie es ihm schien, den Punkt. Und als er den Punkt erreicht hatte, fand er einen Schlupfweg, um wieder in die Welt zu gelangen, er fand sein Recht in der Welt zu sein, welches seit dem Herbst schon schwankte, oder richtiger, nicht bloß schwankte, sondern ihm abhanden gekommen war, zusammen mit dem Schlaf, mit der Geduld, mit der Ruhe.
Gorbatschow hatte, so dachte Marakulin, nach all seinen Umtrieben und Klügeleien erkannt, wie er leben muß: er wollte seine Seele erlösen, und deshalb räucherte er seine Winkel mit Weihrauch, alles übrige aber: ob man die Kinder alle auf einen Strick aufhängen oder sie mit Bonbons in rosa Papierchen füttern müßte – das betrachtete er als unwesentlich für die Erlösung seiner Seele. Maria Alexandrowna hatte ebenfalls nach allen ihren Fragen erkannt und begriffen, wie sie leben mußte: nicht daß sie die Gefahr besonders liebte und ein Leben, neben dem der Tod einherging – nein, sie wollte verderben, ihre Seele für andre hingeben, sie hatte sich zum Opfer auserkoren für ein Gesetz und eine Wahrheit, von deren Herrschaft das Glück der Menschen abhängt, und sie hatte gewiß getötet, oder einen Totschlag vorbereitet, oder war bei irgendeinem Attentat gegen eine Person, die ihrer Meinung nach dem Gesetz und dem Recht schadete, behilflich gewesen. Lisaweta Iwanowna hat durch ihr nicht einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes oder tatsächliches Wissen erkannt und begriffen, wie sie leben muß: sie denkt weder an sich, noch an die anderen, sondern sie denkt an das Jenseits und an das jenseitige Leben, und indem sie sich für das Jenseits und für das jenseitige Leben vorbereitet, handelt sie dementsprechend. Aber mit Weihrauch räuchern und dabei sich gegen die Kinder wehren, ebenso wie ein Attentat vorbereiten oder sich für das jenseitige Leben vorbereiten – das alles ist Tat, Aktion, Arbeit, und setzt zu seiner Verwirklichung eine Menge wichtiger Entschlüsse voraus. Vor allem muß man wissen, gleichviel ob vor seinem Gewissen oder aus Verantwortung vor der Vergangenheit und ihren Werken, muß man sich selbst antworten können, daß man seine Seele erlösen, oder daß man seine Seele verderben soll – oder daß man sich für das jenseitige Leben vorbereiten soll, und es sich fest vornehmen im Namen eines Unwiderruflichen. Die Generalin dagegen rührt keinen Finger, tut nichts – man kann doch das Besuchen des Dampfbades nicht eine Tat nennen! – erreicht aber alles, und wie glänzend! Der Erfolg ihrer Abhärtung ist handgreiflich und ganz zweifellos, so daß ihrem Leben kein Ende abzusehen ist – der Chiromant hat sich in diesem Falle nicht geirrt, und sie ist vielleicht schon unsterblich. Dabei sucht sie weder ihre Seele zu erlösen, noch zu verderben – denn verderben ist dasselbe wie erlösen – und sie gedeiht, indem sie auf jede Erlösung verzichtet und nichts und niemand etwas schuldet. Und hat Gorbatschow, welcher weiß, wie man leben muß, ein Daseinsrecht, und haben Maria Alexandrowna und Lisaweta Iwanowna, die ebenfalls wissen, wie man leben muß, ebenfalls ein Daseinsrecht, so hat die Generalin, wie ein Kelch der Auserwähltheit, nicht nur ein einfaches Recht, sondern ein königliches!
– Und jetzt ist zu überlegen und sehr genau zu überlegen, – räsonierte Marakulin, als er den springenden Punkt, wie ihm schien, erreichte, – um einen entscheidenden Schluß zu ziehen, ein für allemal: wie würde die Menschheit handeln, wenn, sagen wir, wenn alle Großmächte, ein Bündnis aller Mächte der Welt, mit England an der Spitze, ihren Untertanen, der ganzen Menschheit, durch die Parlamente und Reichstage in besonderen Manifesten dieses sorgenlose Lauseleben, das sündenlose und unsterbliche Leben der Generalin anbieten würden? – Gesetzt, so etwas wäre möglich, sei es durch eine wirkliche Erfindung – wenn etwa der gelehrte Deutsche Wittenstaube es mit Hilfe seiner Röntgenstrahlen herausgefunden hätte; oder durch einen Betrug – oder wenn etwa einer unserer gewesenen Gouverneure wie Burkow der Selbstvertilger – wie viele solcher Vertilger gibt es in Rußland, die fanatisch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten gegen sich selbst richten! – also, wenn so ein Burkow einen Trick erfunden hätte, meinetwegen einen vorübergehenden Betrug, aber natürlich so, daß alles glatt ginge; oder durch ein freches Wagnis, wenn etwa ein lichtspendender, hochheiliger Starez Kabakow, nachdem er ein Grammophon in seinen Keller eingemauert, sich durch eine Himmelsstimme der Welt als Hirte und Richter offenbaren ließe – als der Erlöser von Murkas Erbsünde – und ein neues, nicht von Menschenhand geschaffenes Zion aufgebaut hätte, voll Frieden und Gnade, schnell, einfach und billig, – wie würde sich die Menschheit dazu verhalten, wie würde sie darauf reagieren? Ich denke – fuhr Marakulin fort zu räsonieren, als er mit Marakulinscher Hartnäckigkeit bis zu seinem springenden Punkt vorgedrungen war – alle Untertanen würden ohne alle überflüssigen Worte und Zeremonien, das Soll und Nichtsoll und jeden Gedanken an Erlösung vergessend, ganz leise, ohne die Hüte oder sonst den Rang bezeichnenden Kopfputz abzunehmen, die Hosen ausziehen und auf den mutigen, freien, stolzen, heiligen Anruf, sich bekreuzigend, in einen gigantischen mit Pferdehaaren bedeckten, vielleicht bei uns in der belgischen Fabrik hergestellten Kopf, hineinschlüpfen. Sie würden in dieses neue, nicht von Menschenhand erschaffene Kabakowsche Zion voll Frieden und Gnade hineinstürzen, um ein neues Lauseleben, ein schmerzloses, sündenloses, unsterbliches, und vor allem ruhiges Leben anzufangen: ernähre dich, verdaue und härte dich ab! Ein Klappstühlchen könnte man sich noch immer anschaffen; vielleicht wäre es sogar möglich, unter diesen allgemeingültigen und deshalb zwingenden, freiwillig angenommenen Bedingungen, da bei jedem am Hals ein Kuhglöcklein läuten würde, damit man, sorglos weidend, nicht verloren gehe, sich auch ohne Klappstühlchen auf der Fontanka Motion zu machen, oder auf dem Sagorodny in die Kirche zu gehen. Und es ist anzunehmen, daß jeder Vernünftige und Gute so handeln würde – denn wer ist sein eigener Feind? – und er würde nach dem Gesetz richtig, weise und menschlich handeln: denn in der Tat, wer hätte Lust sich zu quälen, zu ersticken ohne Schlaf, ohne Geduld, ohne Ruhe!
Als Marakulin einst in seiner Kindheit Gardist bei der Kavallerie werden wollte, betete er, Gott möge ihm helfen, ein Gardekavallerist zu werden, und als er Räuber werden wollte, betete er mit denselben Worten, nur daß der Gardekavallerist durch den Räuber ersetzt wurde, und ebenso betete er, als er Kalligraphielehrer zu werden wünschte. Das waren seine Hauptgebete für sich in Moskau auf der Taganka, denn um ein gutes Zeugnis hatte er nie gebetet. Später pflegte er beim gewohnheitsmäßigen Beten, während er morgens beim Erwachen und nachts beim Einschlafen „Gott sei mir gnädig“ aufsagte, von Gott nichts mehr zu verlangen. Dann hatte er auch dies: „Gott sei mir gnädig“ vergessen. Jetzt aber, als er, wie ihm schien, in seinen Betrachtungen bis zu jenem springenden Punkt angelangt war und das königliche Recht entdeckt hatte und dieses königliche Recht auf der Welt zu sein auch für sich begehrte, warf er sich nachts inbrünstig auf die Erde und betete in der Raserei, die Stirn gegen den Boden schlagend:
– Herrgott! – flehte er – gewähre mir für einen Augenblick nur dieses wahre Lauseleben, mach mich deiner Gnade teilhaftig, Herrgott, laß mich nur für einen Augenblick aufatmen, dann mag dein Wille geschehen!
Und hätte sich Marakulin in seiner Verzweiflung, während er mit der Stirn gegen den Fußboden schlug, den Schädel gespalten, und man hätte ihn am nächsten Morgen dafür zur Verantwortung gezogen, so hätte er, zur Besinnung gekommen, nur eins zu seiner Rechtfertigung sagen können, daß nicht er sich getötet, sondern die grausame Burkowsche Nacht.
Hier muß noch gesagt werden, daß seine Geschäfte, die auch sonst nicht besonders waren, zu Weihnachten überhaupt stillstanden. Er fand gar keine Arbeit mehr; ein Entehrter findet sehr schwer Arbeit, besonders wenn auf die Frage: „Womit beschäftigen Sie sich sonst?“ der wirkliche Grund der Untätigkeit nicht verheimlicht wird. Marakulin verheimlichte ihn auch nicht, und erzählte naiv wie ein zwölfjähriges Kind von seinen Streichen, von seinen Quittungsbüchern und wie er wegen jener Quittung herausgeflogen war.
Seine Lage war schlimm. Die Artisten Damaskin halfen ihm aus, und ohne Sergej Alexandrowitsch, Wassilij Alexandrowitsch und Wera Nikolajewna wäre ihm nichts übrig geblieben, als eine Bittschrift zu verfassen, gleich dem ruhelosen alten Gwosdjow, der damals an Murkas Tag bei ihm erschienen war, am letzten Tag in seiner eigenen Wohnung.
Und am Ende wird man sie doch verfassen müssen, denn das königliche Recht, dieses nächtliche königliche Recht, wird einem offenbar nicht so leicht gewährt, und wenn man keine Renten hat, die bis ans Lebensende reichen, da ist es vielleicht besser, Gott gar nicht zu beunruhigen: man erreicht ja doch nichts.
Zu Weihnachten gab es bei den Artisten einen Weihnachtsbaum, und alle Mieter Adonja Iwoilownas waren eingeladen. Es war da eine Menge Leute, gewiß lauter Artisten. Sergej Alexandrowitsch war sehr geschäftig und reichte den Gästen Aschenschalen, damit die Zigarettenstummel nicht auf den Boden geworfen werden, und Wassilij Alexandrowitsch ging so aus sich heraus, ließ solche Raketen steigen, daß alle vor Lachen beinahe umkamen. Im Kartenspiel verloren die Brüder das Letzte. In der Gesellschaft taute auch Wera Nikolajewna auf und sang ihre Kostrinskischen uralten Weisen, wie sie sie von ihrer Mutter Lisaweta Iwanowna gelernt hatte.
Und seitdem, seit jenem Damaskinschen Weihnachtsabend, sang Wera Nikolajewna an den Abenden der Weihnachtswoche allein in ihrem Zimmer, zuweilen von den Lehrbüchern sich losreißend, mit halblauter Stimme vor sich hin. Sie sang auf altertümliche Art, und in ihren Weisen atmete das uralte Rußland.
Gewöhnlich begann sie mit dem Gesang von den sieben wilden Stieren und von ihrer Mutter, der Stierin; wie die sieben goldgehörnten wilden Stiere am Gestade des blauen Meeres wanderten, wie sie über das blaue Meer schwammen und auf der berühmten Insel Bujan landeten, wo sie ihrer Mutter, der Stierin, begegneten. Und die Stiere erzählten ihr, wie sie an Kiew vorbeikamen und an der Auferstehungskirche, und was sie da für ein Wunder gesehen hatten: aus der Kirche kam eine Jungfrau, sie trug auf dem Kopf ein goldnes Buch, trat bis zum Gürtel in den Newafluß, legte das Buch auf einen weißen, heißen Stein, las im Buch und weinte. Und die Stierin deutet den Stieren dies übergroße Wunder: die Jungfrau war die Mutter Gottes und sie las ein goldnes Buch – das Evangelium, und sie weinte, weil sie Ungemach über Kiew heraufkommen sah, Ungemach über das ganze heilige Rußland.
Und nach den Stieren erhob sich in seiner ganzen reckenhaften Größe der Riese Ilja Muromez; wie der Recke am Grabe des Swjatogor den reckenhaften Geist einatmet – den dritten, weißen Grabesschaum, – und es treibt ihn und es hebt ihn, er weiß nicht, wo er mit seiner Kraft hin soll. Dann folgte die Nachtschwalbe, die Aebtissin, die blonde Füchsin; vierzig schwarze Jungfrauen folgen ihr wie die Dohlen, und schon donnert und poltert der schreckliche Alte, Igrimistsche-Kologrenistsche. Er tritt aus dem Bogoljubowschen Kloster aus, er will seine Seele retten, sie ins Paradies bringen und schleppt in einem Sack weißen Kohl, bitteren Rettich, rote Rüben – und ein schwarzlockiges Mägdelein.
Und wieder schwimmen auf dem blauen Meere die goldgehörnten Stiere, begegnen ihrer Mutter, der Stierin, und erzählen ihr das übergroße Wunder. Die Stierin deutet ihnen das Wunder: die Jungfrau ist die Mutter Gottes, und lesen tut sie ein goldenes Buch, das Evangelium, und sie weint, weil sie ein Ungemach über Kiew ahnt, Ungemach über das ganze heilige Rußland.
Wera Nikolajewna sang auch die Räuberweise, von dem Scnurrbart, dem Teufelskerl; sie sang von Gauklern und von lustigen Leuten ...
Leise spielt, ihr Spielmänner,
Leise spielt, ihr Lustigen,
Mir tut der Kopf so weh,
Mir ist mein Herz so schwer ...
In der Küche betet Akumowna vor den drei ewigen Lampen; sie betet für ihre Herrin, für den Bruder der Herrin, für ihren eigenen Sohn. Im hintersten Zimmer betet vor den drei ewigen Lampen Adonja Iwoilowna; sie denkt an Paraschas Schiffe und weint, weil sie es nicht versteht.
Mit Wera Nikolajewna schien etwas vorzugehen: sie sang viel und war nicht mehr so fleißig.
– Bei Gott, Sie sind in Sergej Alexandrowitsch verliebt –, sagte einmal Werotschka Wechorjowa plötzlich in Wera Nikolajewnas Zimmer eintretend, und sah sie schelmisch, herausfordernd und boshaft an.
Und die sonst so Blasse flammte plötzlich auf und wurde still – kein Wort. Und auch ihm wird sie kein Wort sagen, sie wird eher sterben, als etwas sagen – es gibt Solche. Und darum klang in ihren alten Weisen, in denen das uralte Russland atmete, eine so dumpfe beklommene Sehnsucht.
Werotschka – so wurde vom ersten Tage an Wera Iwanowna Wechorjowa genannt –, welche Akumowna auch die Unverschämte nannte, nicht etwa als Schimpfwort, sondern als Kosename – Werotschka verbrachte selten einen Abend zu Hause. Am Tage war sie in der Schule, dann kam sie für ein Stündchen nach Hause und bald darauf lief sie irgendwohin, ins Theater. Wenn sie nichts vorhatte, dann saß sie bei den Damaskins. Sergej Alexandrowitsch unterrichtete sie in allerlei Tänzen. Sie war biegsam, schlank und leicht, wie ein Federchen, und wenn beide miteinander tanzten, so schien es, als hätten sie Flügel wie Vögel. Die Zeit verging ihnen lustig.
Einmal fand sie Marakulin beim Tanzen, und seitdem kam er öfters zu den Nachbarn, und daß Werotschka dort war und tanzte, das tat ihm wohl. Wera Nikolajewna aber kam seit Weihnachten nicht mehr zu Damaskins; sie fand stets eine Ausrede und saß allein, in ihre Lehrbücher vertieft, oder hatte Wache im Krankenhaus.
Werotschka gefiel Marakulin. Sie tanzte schön und las gut vor – mit einem schönen Organ. Im Süden geboren, war sie in Moskau erzogen worden, und in ihrer Sprache war weder das lästige südliche Zwitschern, noch die nordische Kälte – die gebändigte Freiheit, dafür aber Festigkeit und jene besondere Moskauer Lieblichkeit. Nach dem Tanzen bat sie gewöhnlich Sergej Alexandrowitsch, der Verse liebte, etwas vorzulesen. Und Onjergins Brief: „Ich weiß voraus, beleidigen wird Sie des traurigen Geheimnisses Erklärung ...“ mußte sie ihm einigemal wiederholen.
Was Marakulin auffiel und ihn am Anfang von Werotschka abgestoßen hatte, war ihr äußerst starkes Selbstgefühl, eine maßlose Selbstüberhebung und Prahlerei, die marktschreierisch wirkte. Man mußte sich für sie schämen. Und jeden Widerspruch faßte sie als Beleidigung auf. Sie konnte sich dermaßen versteigen bis zu einer Höhe, wo alle Worte einander gleichen und nur einen Sinn haben: – es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden, sondern eine Herausforderung, ein unheimlicher Schrei nach dem Recht, die himmlischen Scharen kurz und klein zu schlagen, wenn es nur eine Himmelsleiter gäbe, wie es in der alten Weise heißt, – oder die Erde auf den Kopf zu stellen, wenn man nur einen Griff zu fassen kriegte! – Dabei hört ein so Verstiegener, ein so unheimlich nach seinem Recht Schreiender ja niemals seinen eigenen Schrei. Und Werotschka tat einem leid.
Sie behauptete, sie sei eine große Schauspielerin, sie brauche bei niemand zu lernen, vielmehr müßten alle bei ihr lernen. Und wenn sie dennoch in diese dumme Schule eingetreten sei, so wäre es nur geschehen, um sich den Weg zu bahnen. Ohne das komme man eben nicht vorwärts. Und sie werde sich ihren Weg schon bahnen, sie werde ihren Schatz heben, dann würden alle sehen ...
– Und dann werden alle sehen – Werotschka zerriß sich fast vor Schreien, – Vielen wird es leid tun, aber zu spät! – Und die Namen der Berühmtheiten aufzählend, als wollte sie sie mit sich vergleichen, lächelte Werotschka halb verächtlich, halb mitleidig, – Ihr werdet mich noch sehen! – und ihre Augen flammten begeistert auf und loderten in brennendem Haß, – ich werde zeigen, wer ich bin, der ganzen Welt, – mögen sie dann sehen ...
„Aber wer sind denn diese sie?“ fragte sich Marakulin nicht einmal, je öfter er über Werotschka nachdachte. Werotschka erzählte gern von sich, aber auf allerlei Art, und es war nicht herauszubringen, was daran echte Wahrheit war und was bloß so Wahrheit.
Ihr Vater war gestorben, als sie noch klein war. Er war Offizier. Aus Wosnessensk im Chersonschen Gouvernement, wo sein Regiment stand, übersiedelte die Mutter nach Moskau; hier wurde sie Haushälterin bei einem alten General, einem Verwandten ihres Mannes. Werotschka wurde im Institut erzogen, doch bevor sie es noch absolviert hatte, starb ihre Mutter. Zum General pflegte ein reicher Fabrikant, Wakujew mit Namen, zu kommen – ein nicht mehr junger, aber schöner gesunder Mann – wie man in Moskau von ihm sagte. Er hatte einträgliche Geschäfte mit dem General. Anissim Nikititsch begann Werotschka den Hof zu machen und gefiel ihr auch. Und so kam es, daß Werotschka mit der Zustimmung des Generals zu Wakujew zog. Wakujew besaß auf dem Arbat ein altes herrschaftliches Einfamilienhaus. Seine Frau war tot, seine Kinder versorgt; nur drei schon ziemlich bejahrte Fräulein, seine Nichten, die er nach dem Tode seines ruinierten Bruders ins Haus genommen, führten ihm die Wirtschaft. Ein Jahr blieb Werotschka bei Wakujew, und es ist anzunehmen, daß er ihrer im Laufe dieses Jahres überdrüssig wurde; ferner ist anzunehmen, daß ihr Leben auf dem Arbat nicht besonders heiter war. Anissim liebte, wie sie selbst erzählte, Abwechslung, Zerstreuung, und es wurde ihm alles nachgesehen. Anissim war es auch, der sie in Petersburg studieren ließ und ihr fünfunddreißig Rubel monatlich schickte; von diesem Geld lebte sie.
„Ist es dieser Anissim und seine drei Nichten, die ihr so zugesetzt haben, sind sie es, diese sie, die dann sehen werden?“ fragte sich Marakulin nicht einmal, als er jetzt immer häufiger über Werotschka nachdachte.
Eines Tages, es war in der Theodorwoche, ganz am Anfang des Frühlings, da kam Werotschka so lustig und aufgeräumt nach Hause, daß sie die Hausgenossen beinahe überrannte. Selbst die sonst weinerliche und unbewegliche Adonja Iwoilowna vergaß ihre Tränen, und begann mit noch tränenfeuchten Augen herumzuwirtschaften, als wäre Werotschka ihre Tochter, die jetzt so lustig und aufgeräumt heimgekommen. Akumowna drehte sich ebenfalls flinker herum, als wäre es ein Feiertag, und sah ihre „Unverschämte“ besonders zärtlich an.
Der Tag war sonnig, der Frühling, die Wärme lockte, im belgischen Hof schmolz der Schnee zusammen mit dem Steinkohlenberg dahin. Aus den vier Ziegelschloten stieg gleichmäßig der Rauch in die Höhe, die Burkowschen Fenster vermeidend, und der Burkowsche Hof war voll von Kindern; sogar die Säuglinge waren mit ihren Ammen draußen.
Anissim Nikititsch Wakujew war in eigener Person nach Petersburg gekommen, und Werotschka war ihm auf dem Newsky begegnet – das war es: daher die Freude und diese ungewöhnliche Ausgelassenheit.
Diese Nacht schlief Werotschka nicht zu Hause. Und als sie am Morgen wiederkam, machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer aufzuräumen. Wieviel Erfindungsgeist zeigte sie dabei, sie, die sonst doch – ganz anders als Wera Nikolajewna – so zerfahren und unordentlich war! Jetzt blies sie jedes Stäubchen fort, legte Papier unter den wackelnden Tisch, damit er fester stand und brachte die Haarnadeln in eine Schachtel unter. Und wieviel Lauferei gab es und welche Geschäftigkeit entwickelte sie – sogar einen Blumentopf hatte sie irgendwo erstanden, wie zu Pfingsten. Sie erwartete einen Gast, Anissim Nikititsch Wakujew selbst. Und der Tag war ebenfalls sonnig, es lockte der Frühling, die Wärme.
Der Tag verstrich langsam, es kam der Abend, ein unruhiger Abend, und als dann in der Wohnung die Klingel anschlug, da hielt die ganze Wohnung, alle vier Zimmer und die Küche, den Atem an, und Marakulin wollte sogar die Lampe auslöschen, aber die Lampe erlosch von selbst, ohne zu fragen, als hätte sie ein krachender Donner, ein moskauischer Donner getroffen.
Es war ein Student, ein Techniker, der auf der Suche nach seinem Bekannten an die falsche Tür geraten war. Und Akumowna hatte noch lange mit ihm zu schaffen, da er sich auf keine Weise dabei beruhigen konnte, daß es hier keinen Ljubimow gab und nie gegeben hatte.
– Es kann nicht sein – sperrte sich wichtigtuerisch der Student, – das ist Willkür!
Der Student wurde mit Mühe und Not fortgeschickt; der betrunkene Student verzog sich endlich wie Rauch, aber nun konnte man niemand mehr erwarten.
Werotschka ging in ihrem Zimmer auf und ab, unermüdlich und nicht wie mit ihren eigenen Schritten. Ihre Schritte waren fest und krallig und ihre „unverschämten“ Augen wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich.
Vom sonnigen Frühlingstag aufgescheucht, ließ sich Adonja Iwoilowna beim abendlichen Samowar von Akumowna über ihre sommerliche Pilgerfahrt wahrsagen: es war schon Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen, der Frühling war schon da.
– Jedes Stengelchen verflicht sich mit einem Stengelchen – tönte Akumownas gerührte Stimme, – jedes Zweiglein mit einem Zweiglein.
Und Wera Nikolajewna, die mit ihren Arbeiten fertig war, sang leise ihre geliebten alten Weisen, und in ihren Liedern atmete das uralte Rußland und eine dumpfe beklommene Sehnsucht:
Leise spielt, ihr Spielmänner,
Leise spielt, ihr Lustigen,
Mir ist mein Kopf so weh,
Mir ist mein Herz so schwer ...
Und plötzlich wurde sie still. Kein Wort mehr. Sie wird auch ihm nichts sagen, sie wird eher sterben als etwas sagen.
– Jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, jedes Blättchen mit einem Blättchen – tönte Akumownas gerührte Stimme, – der Frühling ist da.
Und es wurde immer bedrückender. Denn Adonja Iwoilowna begann zu weinen, und noch lauter als sonst; sie erinnerte sich gewiß an ihren Mann, und daß die Erde an dem Friedhof unter ihm weggeht und von seinem Grabe abbröckelt.
Werotschka ging im Zimmer auf und ab, unermüdlich und nicht wie mit ihren eignen Schritten. Ihre Schritte waren fest und krallig und ihre „unverschämten“ Augen wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich.
Doch der Sänger, der Samowar, erlosch, die Tränen waren ausgeweint und die Schritte verstummt. Alles schlief im Haus und im Hof, die Hupen der Automobile tönten nicht mehr von der Fontanka herüber, im Obuchowschen Krankenhaus blinkte das Licht schon auf nächtliche Weise wie ein Stern, und über den belgischen Ziegelschloten ging ein Stern an und sah in die Fenster hinein, so ein großer Frühlings-Abendstern – die Stunde der Nacht war da. Und Marakulin war es, als klopfte jemand – ein seltsames Klopfen. Er horchte auf und erkannte: das Klopfen kam aus Werotschkas Zimmer. Und nun verstand er, daß Werotschka allein in ihrem Zimmer nicht eingeschlafen war und nicht einschlafen würde, und daß sie mit dem Kopf gegen die Wand schlug, ohne Tränen, ohne Klage, mit weit aufgerissenen trockenen Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann weint man nicht.
Und all sein Gefühl, seine ganze Erbitterung, seine ganze Verzweiflung, die für eine Weile sich gelegt hatte, loderte hell auf und ergoß sich wieder auf seine auserkorene, verhaßte Generalin. Fiebernd wie im widerlichsten Rausch und zähneknirschend malte er sich aus, wie diese unglückselige Generalin, diese kerngesunde, unsterbliche, sündenlose, kummerlose Laus – dieser Kelch der Auserwähltheit – süß schlafe. Und er mußte es jemand sagen, einerlei wem, aber sofort, solange das Herz noch nicht gesprungen war.
Und fast erstickend sprang er ans Fenster und schrie aus Leibeskräften hinaus:
– Ihr rechtgläubigen Christen, die Laus schläft, so helft doch!
Und als er es hinausgeschrien hatte, da fühlte er, wie seine einstige ungewöhnliche Freude langsam in ihm hochsteigt, hinaufbrandet und bald sein Herz überfluten und die Brust überfüllen werde.
– Was brüllst du so? – schrie ihn eine knarrende Stimme an, und aus den Winkeln zeigte sich Gorbatschows haarige Nase.
Das Klopfen aber dauerte fort. Das war Werotschka, allein in ihrem Zimmer – sie war nicht eingeschlafen und wird nicht einschlafen – sie schlug mit dem Kopf gegen die Wand, ohne Tränen, ohne Klage, mit weitaufgerissenen trockenen Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann weint man nicht.
Grausame Augenblicke, Herumtreiben ohne Arbeit und Erschöpfung beschlossen das erste Burkowsche Jahr Marakulins.
Als erste machte sich Adonja Iwoilowna auf die Reise: sie fuhr nach Kaschin zu der ehrwürdigen Anna von Kaschin, und aus Kaschin auf den Murman in das Petschenegische Kloster zum ehrwürdigen Tryphon. Nach Adonja Iwoilowna verreiste Wera Nikolajewna, nachdem sie ihre Prüfungen abgelegt, bis zum Herbst zu ihrer Mutter, in ihr kleines weißes Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen, in die alte vergessene Stadt Kostrinsk. Sie sah zum Umblasen schwach aus. Als letzte reiste Werotschka. Sie hatte sich zu gar keiner Prüfung gemeldet und ihre Theaterschule aufgegeben, da sie offenbar ein anderes sicheres Mittel gefunden, „sich den Weg zu bahnen“, – sie sagte aber nicht was für eins.
Sie sagte nur:
– Im nächsten Jahr werdet ihr sehen, ich werde ganz Rußland zeigen, wer ich bin!
Marakulin brachte sie zum Nikolajewschen Bahnhof: Werotschka reiste über Moskau irgendwohin nach der Krim. Nach dem ersten Glockenzeichen fühlte er es besonders stark, wie bitter es ihm war, daß Werotschka nicht mehr da sein wird und stand schweigend vor dem Wagen. Sie aber streckte sich so sonderbar, indem sie die Vorübergehenden ungeduldig ansah und die Blicke auf sich zog, schlank, biegsam und leicht.
Plötzlich lächelte Marakulin zum erstenmal in seiner ganzen Burkowschen Zeit, ohne zu wissen weshalb und warum, – er lächelte einfach. Und sie mußte es sicher bemerkt haben, denn es war so ungewöhnlich und unerwartet!
– Weinen müßte man um mich! – sagte sie theatralisch und kniff die Augen zusammen, halb mit Bedauern, halb mit Ekel, und während sie ihm mit dem Schirm auf die Hand schlug, sagte sie ganz ernst, übertrieben ernst, mit einer Falte auf der Stirn: – Ich bin eine große Schauspielerin!
Er glaubte es damals gern und von ganzem Herzen, daß Werotschka eine große Schauspielerin sei und daß sie sich im nächsten Jahr wirklich auszeichnen würde in ganz Rußland und daß ihr Name bald in ganz Europa, in der ganzen Welt berühmt sein werde.
Als er vom Bahnhof zu sich nach der Fontanka kam und sich mit Akumowna allein fand, da fühlte Marakulin, wie ihm das Leben jetzt zuwider war und daß er nicht so leben konnte.
Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzutun und in der Welt er selbst zu sein, der andre muß töten, um durch den Mord seine Seele aufzutun und wenigstens als er selbst zu sterben, er aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen, aber nicht der Person, der sie zukam, um seine Seele aufzutun und in der Welt zu sein, und zwar nicht mehr als irgendein Marakulin, sondern als Peter Alexejewitsch Marakulin: sehen, hören, fühlen.
Aber er war nicht mehr damit einverstanden, weil er es nicht mehr ertrug; er wollte nicht mehr so dahinleben ohne einen Zweck, nur um zu sehen, zu hören und zu fühlen, – und auch das Leben einer Laus, das unsterbliche, sündenlose, kummerlose Leben, das königliche Recht, jenen Tropfen Wasser, den die sündige Seele im Jenseits sucht, wünschte er nicht mehr. Er will leben und wird es, aber um nur noch einmal wenigstens jene ungewöhnliche Freude zu fühlen, die er in seiner Kindheit kannte und die er nicht mehr kennt, die nur das eine Mal in ihm hochgestiegen war, in jener Frühlingsnacht, als Anissim zu Werotschka nicht kam, in jener Frühlingsnacht, als jedes Stenglein sich mit einem Stenglein verflocht, jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, jedes Blättchen mit einem Blättchen. Und wie klebrige junge Blättchen waren ihm in der Erinnerung die Frühlingsworte der von der Sonne gerührten Akumowna.
Und es war ihm so bitter, noch bitterer als an jenem Abend, weil Werotschka nicht mehr da war; als wenn seine ganze ungewöhnliche Freude – der Quell seines Lebens nur in ihr sich bergen würde.
Wera! Weruschka! Werotschka!
Marakulin, der gerade damit beschäftigt war, eine lustige altertümliche russische Erzählung in Halbfraktur abzuschreiben, eine Arbeit, über der er vom Morgen bis in die Nacht hinein saß – ein seltener und einträglicher Auftrag, der wie erfrischende paradiesische Manna auf ihn herabgefallen war. – Marakulin fuhr auf, so daß er den Schnörkel am Anfangsbuchstaben W nicht zu Ende brachte.
Von der Treppe her aber tönte immer beharrlicher der bekannte Name:
– Wera! Weruschka! Werotschka!
– Wen rufen Sie da, Akumowna?
Marakulin konnte es nicht aushalten und sah in die Küche hinein.
– Wera! – sagte Akumowna, ohne sich umzuwenden, – ach, die Unverschämte! – und sie stampfte die Treppe hinunter in den Hof.
Es war spät – etwa elf Uhr. Schon verbreitete sich der windige Sonnenuntergang staubig hinter dem Obuchowschen Krankenhaus, und zusammen mit der kurzen Nacht krochen aus den sumpfigen Vorstädten die Nebel herauf; aber auf dem mit Kehricht, Schutt und Ziegeln bedeckten Hof lärmten noch immer die Kinder, und klagend klimperte die Balalaika – von dieser nicht russischen, armseligen Habe gab es reichlich auf dem Burkowschen Hof – und in den Fenstern, auf Kissen gestützt, steckten zerzauste, von der steinernen Petersburger Glut zermarterte Köpfe, in der Hoffnung, etwas Kühle zu schöpfen.
Die Tusche vertrocknete auf der Feder, die Buchstaben wollten nicht werden, und Marakulin schien es, daß Akumowna nicht wiederkommen, daß sie mit ihrer geheimnisvollen Wera irgendwo im Burkowschen Schutt untergehen würde. Und als in der Küche wieder Stampfen vernehmbar wurde, und nicht Akumowna, sondern noch eine zweite Stimme, halb kindlich und halb mädchenhaft rasch zu sprechen begann, bald in fröhliches Lachen, bald in ein schmerzliches Klagen übergehend, da zog er wie erleichtert wieder den Vorhang zu und begann weiterzuarbeiten.
Die Abschrift war für Marakulin sehr wichtig, und er wollte sie unbedingt heute fertigmachen, da er fast zwei Monate schon über ihr saß. Diese seltene Arbeitsgelegenheit hatte ihm Sergej Alexandrowitsch vor der Abreise in sein Sommergastspiel verschafft. Marakulin hatte ganze fünfzig Rubel dafür zu bekommen und seine Verhältnisse sollten sich dadurch ganz bedeutend verbessern.
– Wer wohnt denn bei Ihnen in der Küche? – fragte Marakulin am nächsten Abend, als Akumowna ihm den roten blitzenden Sänger, den Samowar hereinbrachte.
– Weruschka – antwortete Akumowna und lächelte und blickte so eigentümlich idiotisch von der Seite, – Weruschka, die Wundertätige.
Und die Spülschale brachte schon nicht Akumowna herein – sie blieb in der Tür stehen –, sondern es brachte sie die „wundertätige“ Weruschka.
Es war ein kleines Mädchen – ein Backfisch von fünfzehn Jahren, wie ihrer so viele auf dem Burkowschen Hof als Kindermädchen dienen, und doch schon völlig wie ein junges Mädchen entwickelt. Als er sie aber aufmerksamer ansah, fand Marakulin in ihren Augen etwas ihm sehr Bekanntes und ungewöhnlich Verwandtes, er konnte es nur nicht benennen und vermochte sich nicht zu erinnern, wo er Derartiges schon gesehen: ein Feuer, – nein, noch etwas anderes, das man auf keinen Fall verbergen kann, denn es würde selbst beim Schlafenden unter den Lidern hervorblinken.
– Sie heißen Wera?
– Werutschka ... Werotschka – antwortete das Kind verwirrt, leise und mürrisch und trat zurück, als hätte es etwas verlegen gemacht.
– Werotschka gar, so! – rief Marakulin entzückt, das Kind betrachtend und erhob sich plötzlich.
Doch das Mädchen zog sich hinter Akumowna in den Korridor zurück und machte sich hörbar in der Küche zu schaffen. Oder war es sein Herz, das so hörbar klopfte, Gott weiß warum?
– Gnädiger Herr, ich möchte Sie bitten, gnädiger Herr, rühren Sie sie nicht an!
– Was fällt Ihnen ein, Akumowna, Gott schütze Sie!
Aber wie ertappt ließ er sich auf seinen Stuhl fallen.
– Ich fürchte Wassilij Alexandrowitsch – fuhr Akumowna fort, – mir ist Angst, wenn er aus der Sommerfrische zurückkommt. Er muß ja immerzu eine haben, der Unbezähmbare. Sobald es Nacht wird, kriechen auch die hier auf der Treppe herum und kratzen an der Tür, die Herumtreiber!
Nachdem sie es von der Straße aufgelesen hatte, behütete Akumowna das kleine Mädchen eifersüchtig vor den Burkowschen Herumtreibern, vor Stanislaus dem Kontoristen und vor Kasimir, dem Monteur; sie schloß oft die Küche noch bei Tageslicht ab und bettete die Kleine sicherheitshalber auf ihr eignes Bett unter den drei Oellämpchen. Und wundertätig nannte sie Wera darum, weil ein Wunder an ihr geschehen war.
– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna zu sagen, – bis zum fünften Jahre war sie ohne Zunge, sie sprach nicht, man hat sie dem Doktor Nikolai Franzewitsch gezeigt, vergebens; zu der Schmerzensreichen hat die Mutter sie gebracht, auch wurde ihr geraten, barfuß zu Matrionuschka zu pilgern – nichts hat genützt. Aber am dunkeln Freitag gingen sie in die Pulverfabriken, – am Iljinischnen-Freitag ist da eine Prozession, zwölf große Heiligenbilder werden da herumgetragen und fast tausend kleinere. Als die Messe zu Ende war und sie nach Hause gehen wollten, da verlangte das Kind plötzlich zu trinken: „Mama – sprach sie – gib mir zu trinken!“ Seitdem spricht sie.
Weras Vater war Buchhändler: er handelte mit Büchern, Haken, Knöpfen und allerlei Kleinkram. Ihre kränkliche Mutter ging als Tagelöhnerin Fußboden scheuern und reinmachen. Sie wohnten im Kusnetschnygäßchen, in den „Winkeln“, wo der Chiromant wohnt – die Fenster dort sind von venezianischer Art und unheimlich. Als Wera etwas größer wurde, gab man sie zu einer Goldstickerin in die Lehre, ein Jahr blieb sie da, aber sie taugte nicht dazu, da ihre Augen krank wurden; so wurde sie Kindermädchen. Da passierte es, daß ihr Vater mit seinem Stand über den Wladimirsky vor einem Schutzmann floh; an den fünf „Winkeln“ bei der Kreuzung geriet er unter die Elektrische und wurde zermalmt. Zur gleichen Zeit wurde Wera gekündigt. Es ging ihnen damals sehr schlecht. Und so kam die Mutter auf den Gedanken, sie zum Onkel zu schicken, welcher auf dem Murinsky-Prospekt in Lesnoj als Hausmeister lebte, vielleicht, daß er für sie eine Stellung finden würde. Die Kleine ging fort, erreichte Lesnoj erst am Abend, und unterwegs, während sie das Haus suchte, blieb sie vor einem Gasthaus stehen, um die Musik zu hören. Sie stand da und hörte zu, ihre Augen glühten, der Mund war weit aufgesperrt, da kam aus dem Gasthaus ein Herr, der eine Gnädige untergefaßt hielt und sah Wera sehr freundlich an. Er blieb ebenfalls stehen und fragte sie freundlich aus. Sie erzählte ihm alles, auch wie sie stehengeblieben war, um die Musik zu hören. Und sieh da, welch glücklicher Zufall: die Herrschaften brauchten gerade gleich ein Kindermädchen und ihre Bedingungen waren günstig. Wera war erfreut und willigte ein. Sie nahmen eine Droschke und brachten sie zu sich nach Hause – sie wohnten auch gar nicht weit. Welch ein glücklicher Zufall! – Es war schon spät, es dämmerte, und als sie zu Hause anlangten, gingen sie sofort zu Tisch und ließen auch Wera neben sich Platz nehmen. Und als sie sich satt gegessen hatte, da führte sie der Herr in ein Zimmer, das im Korridor gegenüber lag. Nachts kam er wieder. Sie wollte schreien, aber er verschloß ihr den Mund mit den Händen. So fing es an. Als Wera zu sich kam, war es bereits Tag. Sie trat aus dem Zimmer und streifte im Korridor herum, um den gnädigen Herrn und die gnädige Frau zu suchen und geriet in das Büfettzimmer: sie hatte also in einem Gasthaus übernachtet. Sie fragte den Büfettier, wo der gnädige Herr und die gnädige Frau seien? Der Büfettier lachte: es gäbe weder einen gnädigen Herrn noch eine gnädige Frau; wenn sie aber gewillt sei, könne sie auch bei ihm als Kindermädchen bleiben. Das war eine schlimme Lage! Wenn sie nicht einwilligte, hatte sie Angst zur Mutter zurückzukehren, doch wie, wenn der Büfettier, wie der Herr von gestern, ihr ebenfalls den Mund mit den Fäusten stopfen würde! ... Das eine war schrecklich, das andere war ebenfalls schrecklich, und ein drittes gab es nicht. So blieb sie beim Büfettier als Kindermädchen. Es waren viele Kinder und sie konnte kaum mit der Arbeit fertig werden. Es verging eine Woche. Nach einer Woche aber, kaum, daß sie sich etwas eingelebt hatte, quartierte sie der Büfettier in ein besonderes Zimmer ein, damit sie von den Kindern getrennt schlafe – es waren eben viele Kinder – es würde bequemer und ruhiger für sie sein. Und wieder begann es: erst der Wirt selbst, der Büfettier, nach ihm der Reviervorsteher. Sobald die Nacht kam, erschien jemand – man brachte ihr im Laufe der Nacht fünf Männer. Man ließ sie nicht mehr aus dem Zimmer, die Kinder sah sie auch nicht wieder; es war bereits ein neues Kindermädchen da. Sie weinte, aber was half es, man lachte sie nur aus. Nur durch ein Wunder entkam sie aus diesem Zimmer und dem Büfettier. Ein glücklicher Zufall kam ihr zu Hilfe: ein Brand! Im Gasthaus war Feuer ausgebrochen. Sonst wäre sie zugrunde gegangen. Im Trubel sprang sie aus ihrem Zimmerchen und begann zu laufen. Sie kam an die Kusnetschnybrücke gelaufen, in die Winkel, wo der Chiromant wohnt, die Mutter aber war nicht mehr da: sie war an der Cholera gestorben. Das war eine schlimme Lage: es wäre ihr schließlich nichts anderes übriggeblieben, als zum Büfettier ins Zimmerchen zurückzukehren. Aber die Hausmeisterin hatte Mitleid mit ihr – sie pflegte ebenso wie Antonina Ignatjewna, die Gattin des Oberhausmeisters, in den Hafen von Kronstadt zum „Bruder“ zu pilgern – sie war barmherzig und mit Antonina Ignatjewna bekannt. So schickte sie das Mädchen zu ihr ins Burkowsche Haus, ob sich da für das Kind vielleicht eine Stellung fände. Aber Wera geriet statt zu Antonina Ignatjewna zu Akumowna.
– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna zu sagen, – nur eins ist schrecklich – diese Herumtreiber; sobald es Nacht wird, da kriechen sie herum und rütteln an der Tür, – es wird einem ganz Angst! –
Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, eintönig. Es war heiß und fast in ganz Petersburg waren die Straßen gesperrt: das Pflaster wurde ausgebessert, wie immer im Sommer; es war nirgends ein Durchgang, nirgends eine Durchfahrt, und es herrschte eine große Schwüle.
Am Abend beim Samowar legte Akumowna Karten für Marakulin, wie sie es im Winter für Adonja Iwoilowna tat. Sie wahrsagte viel und ausgiebig, nicht nur für den Treffkönig oder Kreuzkönig, wie ihn Akumowna nannte und der Marakulins Karte war, sondern auch für andere Könige und Damen – für die Kreuz-, Coeur-, Karo- und Pik-Dame, als für alle die Personen, die ihm in den Karten zulagen, um auch ihr Schicksal zu erfahren und dadurch besser zu erforschen, wer sie seien und was sie vorhaben.
Die Karten logen nicht. Das gleiche Orakel kehrte immer wieder und brachte meist etwas unsinnig Bedeutungsloses: ein wenig Langweile, ein wenig Geld, ein wenig Veränderung, ein wenig Tränen, Verdruß, eine junge Person, ein eigenes Haus, ein eigener Gegenstand, ein vornehmer, einflußreicher Herr mit einem Schriftstück, eine behördliche Anstalt, Langweile der jungen Person, eine kleine Unannehmlichkeit, eigene Sorgen, Gespräch mit sich selbst. Und das letzte war stets das Gespräch mit sich selbst.
Wenn Akumowna zum letztenmal die Karten ausbreitete, pflegte sie zu flüstern: – Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es enden wird. Womit es beruhigen wird. Womit überraschen. Sagt die ganze Wahrheit reinen Herzens. Was sein muß, wird sich erfüllen.
Und auch zum letztenmal kam das gleiche – dieselben Karten: unsinnig bedeutungsloses Zeug und das Gespräch mit sich selbst.
Die Karten logen nicht. Nur zuweilen wurden sie offenbar selbst der Sache überdrüssig und ärgerten sich: dann waren sie bissig, zeigten große Veränderungen an oder einen weiten Weg, viel Geld und Erfüllung aller Wünsche.
Beim Kartenlegen erinnerte sich Akumowna oft an ihre Herrin, an den alten Herrn, an den Bruder der Herrin und an ihren eigenen Sohn, was für Träume sie alle geträumt hatten, welche Ereignisse nach ihnen eintraten und was jeder Traum bedeutete.
– Unser Priester in Turij-Rog – er war ein guter Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij – erzählte Akumowna aus ihren Erinnerungen – vor seinem Tode erhob er sich und fragte: „Sind die Pferde bereit!“ – Was für Pferde, ehrwürdiger Vater? – „Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet mich zur Hochzeit ins Ausland!“ Und starb. – Sechs Tage, bevor der alte Herr sterben mußte, sah meine gnädige Frau, daß sie einen Stiefel vom Fuß verloren hatte. Und vor dem Tode der gnädigen Frau träumte ich, ich sitze vor einem Ofen, den Ofen habe ich eingeheizt, das Holz brennt hell, die Scheite verkohlen schon. Ich zerschnitt Speck, tat ihn in einen Topf und stellte den Topf in den Ofen, aber kaum, daß ich ihn hineinstelle, da zerfällt der Topf in zwei Hälften, die Glut prasselt und ein Qualm erhebt sich ... Mein Vater gab mir keinen Segen. Und so kam es auch! Wie ein rollender Stein um die weite Welt.
– Wie geht es Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin?
– Sie plagen sich auch, haben weder Wald noch Holz noch Weide. Und ihre jüngere Tochter Fedossja, meine Nichte, ging nach Turij-Rog als Taglöhnerin zur Feldarbeit; sie gefiel dem gnädigen Herrn, dem jungen Bujanow, er ist ein toller Kerl. Er nahm sie für einen Monat zu sich in Dienst. Als der Monat zu Ende war, behielt er sie noch für einen Monat, dann für den ganzen Winter. Mein Bruder verstand wohl alles, sagte aber zur Schwägerin nichts. Sie hatten keinen Wald, kein Holz, keine Weide; vom gnädigen Herrn aber kam Holz und Geld, es war vorteilhaft. So verlebte Fedossja dort den ganzen Winter. Im Frühjahr aber reiste der gnädige Herr in die Stadt und verheiratete sich dort. Da kehrte Fedossja wieder heim zum Vater, und alle wußten es bereits; es war auch schon zu sehen. Ihre Brüder machten ihr Vorwürfe, daß sie so eine war, daß ihr so etwas geschehen konnte. Wie die Raben haben sie auf sie eingehackt, sie hielt es nicht aus; zehn Tage vor Pokrow starb sie. Sie war gerade zwanzig Jahre alt geworden, – so jung noch. Und Wassilij, dem Vetter, sind in der Butterwoche die Füße erfroren ...
Während sie sich an Turij-Rog und Ssosna-Gora erinnerte, konnte Akumowna ab und zu einen Ausspruch tun, von so echt Turij-Rogischer Art, daß man sich wundern mußte, wie es ihr hier auf dem Burkowschen Hof in den Kopf konnte.
– Jetzt – konnte sie sagen – ist das Korn schon reif, gelobt sei Gott! – sie bekreuzigte sich. – Regen wäre jetzt nicht gut.
Wera gewöhnte sich an Marakulin und hatte keine Scheu mehr vor ihm. Auch er hatte sich an sie gewöhnt, und es tat ihm wohl, wenn sie sein Zimmer betrat. Voran schritt dann Akumowna mit dem Samowar und ihr folgte Wera mit der Spülschale.
„Aus der Spülschale reichen die Teufel im Jenseits den Teufeln und Sündern das Abendmahl!“ Marakulin erinnerte sich einmal an Akumownas Vision aus ihrem Passionsweg und lächelte zum erstenmal seit Werotschkas Abreise.
Und als hätte sie seine Gedanken erraten, erwiderte ihm Wera mit einem Lächeln. Und noch lange sah er dieses halbkindliche, halbmädchenhafte Lächeln vor sich.
Wie leer erschien es ihm im Hause, als Wera, die eine Stellung gefunden, aus Akumownas Küche in die vierte Etage desselben Burkowschen Hofes verzogen war, in den Flügel, wie der nicht herrschaftliche an der belgischen Fabrik belegene Teil des Hauses genannt wurde.
Akumowna begann jetzt öfters fortzubleiben. Sie ging, um nach ihrer „Wundertätigen“, nach ihrem Flämmchen, nach ihrer Wera zu sehen. Sie lehrte sie gewiß Zimmer aufräumen, Feuer aus Birkenholz anmachen und dergleichen mehr. Marakulin blieb allein, es schien ihm ganz öde.
Ein Herr aus dem Flügel hatte folgende Gewohnheit: sobald es Abend wurde, steckte er seinen Kopf aus dem Fenster, das Gesicht zu Marakulin gewandt und pfiff. Daß der Herr kein Auge von ihm wandte – Marakulin hatte sich überzeugt, daß es ihm galt, – und daß das Pfeifen nicht aufhörte, brachte ihn zur Raserei, und ob er wollte oder nicht, er mußte den Vorhang zuziehen und in der Schwüle sitzen bleiben.
Es war öde um ihn und die Wut machte ihn fast ersticken.
Am Morgen beim Zeitungslesen suchte er mit einer Art Ungeduld alle Berichte über Morde, Brande, Katastrophen, Ueberschwemmungen, Wolkenbrüche und Erdbeben und las sie mit großer Schadenfreude, indem er sich einbildete, man könne den Menschen mit Furcht besiegen, ihn erschüttern, sein Gehirn und seine Seele umstülpen; dann würde vielleicht dieses abendliche selbstzufriedene, freche Pfeifen an seinem Ohr ein Ende nehmen.
In Weras neuer Stellung ging aber nicht alles glatt: es war doch wohl nicht leicht, sie vor den Herumtreibern zu schützen; auch mochte sie selbst schwer zu bewachen sein, die Unverschämte.
Wenn sie das Kartenlegen unterbrach und von Wera anfing, sagte Akumowna jedesmal unter Tränen:
– Ich werde zum Kaiser gehen – die Hände so, wie im Sterben, – und werde alles erzählen.
– Man wird Sie nicht zulassen.
Nackt geh’ ich hin, splitternackt – die Hände so, wie im Sterben. – Alles werde ich erzählen.
– Auch splitternackt wird man Sie nicht zulassen.
Aber sie blieb dabei: sie glaubte, der Kaiser würde sie in Schutz nehmen und die Kleine nicht zugrunde gehen lassen. Beharrlich blieb sie dabei, dann wurde sie auf einmal still und gab nach. Und Marakulin hörte, wie sie ihren Wahlspruch, ihr Sterbegebet flüsterte: – die Sühne und den Lohn für alle Taten!
– Man darf niemand beschuldigen.
– Wer ist aber schuldig, Akumowna?
– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß nichts – antwortete Akumowna und lächelte und sah idiotisch zur Seite.
Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, eintönig.
Marakulin wartete auf die Feiertage: wie immer sie waren, es waren doch Feiertage!
* * *
Als erster kam Wassilij Alexandrowitsch, der Clown zurück. Er trat zwar auch im Sommer in Petersburg auf, wohnte aber in der Sommerfrische in Schuwalowo und kam in die Stadtwohnung nur ab und zu, um nachzusehen. Auch die Sklavin Kusjmowna war bei ihm in Schuwalowo. Nach Wassilij Alexandrowitsch erschien nach absolvierter Gastspielreise Sergej Alexandrowitsch und brachte aus den warmen Ländern, oder aus jenen Gegenden, wo man mit Ochsen fährt, wie Akumowna sagte, hundert Gläschen mit Honig mit; – er war eben ein wirtschaftlicher Mensch. Bald nach Sergej Alexandrowitsch kam auch Wera Nikolajewna zurück, mit eingemachten nordischen Himbeeren aus ihrem kleinen weißen verlassenen Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen, von ihrer Mutter aus Kostrinsk. Nach Wera Nikolajewna erschien Adonja Iwoilowna selbst.
Alle waren zurückgekehrt, nur Werotschka fehlte. Es kamen auch keine Nachrichten von ihr. Und bereits im September wurde Werotschkas Zimmer mit Hilfe eines grünen Zettels, der beim Portier Nikanor ausgehängt war, vermietet.
Die neue Nachbarin Marakulins hieß Anna Stepanowna Schianowa, nach ihrem Manne Lestschowa genannt, und war eine Lehrerin aus Purchowez.
Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. Es waren in Purchowez im Mädchengymnasium, wo Anna Stepanowna unterrichtet hatte, zwei Lehrer, zwei Berühmtheiten: der Lehrer für Geschichte: Rakow, und der für Literatur: Lestschow. Sie waren Freunde und beide – nach ihrer eigenen Definition – Menschen von Bestrebungen. Das Schicksal Anna Stepanownas war mit dem Schicksal Lestschows eng verbunden; Lestschow aber und Rakow waren wie zwei Hälften und nach der Uebereinstimmung von Gemüt und Gesinnung – ein Ganzes. Nur war Rakow etwas älter. Sie wohnten beide bei derselben Wirtin, sie lebten eingeschränkt, nüchtern, einsam. Ihre Wirtin Pawlina Polikarpowna, obschon nicht mehr sechzehnjährig, so doch munter und fest, hatte in längst verflossenen Zeiten als Köchin beim Gouvernementsrat Gerassimow gedient; und Gerassimow hatte sie vor seinem Tode „in allem eingeschränkt“, wie Pawlina Polikarpowna sich auszudrücken pflegte, das heißt: er hatte sie versorgt und ihr für ihren musterhaften Dienst ein teures Lotterielos geschenkt. Pawlina Polikarpowna kaufte sich ein Häuschen und lebte vom Vermieten.
Als Rakow von diesem Gerassimowschen Lotterielos erfuhr, konnte er es als gewissenhafter Historiker nicht unterlassen, dessen Nummer in sein Notizbuch einzutragen und verfolgte wachsam die Ziehungen in den Zeitungen. Pawlina Polikarpowna behandelte er respektvoll, streng und freundlich. Und so vergingen die Jahre, still, einsam und erwartungsvoll.
Pawlina Polikarpowna war zwar nicht mehr sechzehnjährig, doch hatte sie manchmal ihre bestimmten Gedanken, und zuweilen weinte sie, einfach so, ohne jeden Grund. Besonders im Frühling, wenn die Sonne zu brennen begann, die Hühner zu legen anfingen, die Gärten ergrünten und die Nächte warm, schwül und sehnsuchtsweckend waren, wenn die Nachtigall schlug und selbst Rakow auf der Gitarre wie auf einer Harfe spielte und dazu wie eine Nachtigall sang: „Auf den blauen Wogen des Ozeans, kaum daß die Sterne am Himmel erglühen, treibt ein einsames Schifflein“ – dann konnte kein Herz es länger ertragen, und Pawlina Polikarpownas Herz sank dahin.
Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang eine erste Stadt, eine Nachtigallstadt!
Eines Morgens, als Rakow die „Purchowezschen Gouvernementsnachrichten“ durchflog, begann er plötzlich laut zu lachen, so laut, wie ein Mensch nur vor Freude lachen kann, wenn ihm zumute ist, als reiche die eigne Kehle nicht aus. Und wie sollte er auch nicht lachen? Das Gerassimowsche Los hatte gewonnen, und zwar keine Kleinigkeit, sondern die ganzen Zweimalhunderttausend! Er besann sich aber rechtzeitig, steckte die Zeitung in die Tasche, hustete absichtlich laut und begab sich mit dem Geheimnis von Pawlinas Glück ins Gymnasium, als wäre nichts vorgefallen.
Nachdem er mit Mühe seine Stunden gegeben hatte, wurde Rakow vor Aufregung noch am selben Abend krank, und Pawlina Polikarpowna mußte die ganze Nacht den Kranken pflegen. Am nächsten Morgen ging es ihm auch nicht besser, und so die ganze Woche. Eine Woche lang pflegte ihn Pawlina Polikarpowna, und um Fastnacht hielten sie Hochzeit. Sofort nach der Trauung, als die Neuvermählten allein blieben, lautete die erste indiskrete, aber durchaus berechtigte Frage des jungen Ehemannes: „Wo ist das Los?“ – „Was für ein Los?“ – „Was für eins? Das Gerassimowsche!“ Das Gerassimowsche Los aber war längst verkauft; es war nicht mehr da.
Um Fastnacht, fast am gleichen Tage, heiratete auch Lestschow Anna Stepanowna Schianowa. Die Schianows waren einst die reichsten Leute in Purchowez, aber Anna Stepanownas Vater hatte das ganze Vermögen verspielt, und so mußte die Familie nach großer Ueppigkeit in Armut weiterleben. Dann starb der Vater, es starb auch die Mutter. Anna Stepanowna war bereits mehr als zwanzig Jahre alt, und obwohl in ihrem Gesicht nichts Abstoßendes war, nichts, was man häßlich oder entstellend nennen konnte, im Gegenteil, – so gefiel sie dennoch niemand besonders und wurde überhaupt nicht begehrt. Sie gehörte nicht zu den Heiratskandidatinnen von Purchowez, hielt sich auch selbst nicht dafür, und hatte sich bereits damit abgefunden, allein und ledig zu bleiben, oder vielmehr, sie hatte sich nicht damit abgefunden, – man kann sich damit nicht abfinden, – sondern sie redete sich das eben ein. Eines schönen Tages aber fiel ihr die Erbschaft von einer Tante zu, von der sie nie etwas gehört hatte, und zwar eine nicht geringe Erbschaft: etwa Fünfzigtausend. Natürlich wurde es im Gymnasium, an dem sie unterrichtete, bald bekannt, – war sie doch selbst die erste, die es erzählte, – und so erfuhr es auch Lestschow. Sofort ging er ans Werk: er begann, Anna Stepanownas Spuren zu folgen, wurde mit einem Male sehr unglücklich, beklagte sich, jammerte, erfand allerlei Verfolgungen seiner Person, ersann sich Feinde; auf einmal brachen auch sämtliche Krankheiten bei ihm aus, und lauter unheilbare, so daß er im Begriff war, Selbstmord zu begehen. Und die verzweifelte Liebe sang aus ihm wie eine Nachtigall, ja, er übertraf die Nachtigall ...
Purchowez ist eine uralte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. So heiratete Lestschow Anna Stepanowna, nahm ihr die Erbschaft der Tante ab, die ganzen Fünfzigtausend und wies ihr die Tür: „Ich brauche dich nicht,“ sagte er, „ich brauche dein Geld.“
Wera Nikolajewna mußte man bedauern; um Werotschka hatte man Angst, aber Anna Stepanowna tat einem weh. Sie lächelte so, daß es in die Seele hinein weh tat.
Wera Nikolajewna wollte studieren. Warum? Weil es ihr Maria Alexandrowna so geraten hatte, an die sie glaubte wie an die Iwerskaja Mutter Gottes[6]. Und sie wird studieren, solange ihre Kräfte reichen, und eines Tages wird sie vielleicht über der Physik von Krajewitsch[7] die Seele aushauchen.
Werotschka wollte eine große Schauspielerin werden, berühmt in ganz Rußland, in ganz Europa, in der ganzen Welt – und sie wollte das, um sich an Anissim zu rächen: nur damit Anissim Nikititsch Wakujew, dem alles gelingt und dem man alles durchgehen läßt, nur einen Augenblick lang es bedauern und bereuen solle, daß er sie um andere, die ihn liebten oder sich ihm verkauften, verlassen hatte. Und so bahnte sie sich jetzt den Weg mit ihrem sicheren, erprobten Mittel, und wird sich ihn weiterbahnen, solange ihre Kräfte reichen.
Was aber wollte Anna Stepanowna? Sie war allein geblieben und ohne Mittel, aber das war es nicht: sie hatte ja auch früher allein und ohne Geld gelebt. Hier war es etwas anderes, etwas Seelisches: sie hatte mit der ganzen Seele geglaubt, daß man sie liebte und hatte wieder geliebt. Was wollte sie nun? Was konnte sie wollen! Das, was ein Mensch will, dessen Seele beschmutzt, dessen Seele vergewaltigt worden ist.
Und während Marakulin Anna Stepanowna näher betrachtete, überzeugte er sich immer mehr, daß sie auf der Welt nichts zu tun hatte. Und weil sie so lächelte, tat es ihm weh bis in die Seele hinein.
Es begann ein böser Herbst; es ging ihnen allen schlecht. Nach dem Kirchenfest der Kreuzeserhöhung geschah es, daß Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, als er im Zirkus auf dem Trapez in der Luft sich schwang, herabstürzte und verunglückte; er verletzte sich – wie man auf dem Burkowschen Hof sagte – die Wirbelsäule und den „Stamm der Beine“. Es stand um ihn nach diesem Sturz aus den Lüften so schlecht, daß er sogar einen Priester holen ließ, um die heiligen Sakramente zu empfangen. Der Arzt aber meinte, er würde sechs Monate liegen und sich einer schweren Operation unterziehen müssen.
– Sie werden ihm von der Ferse ein Stück abschneiden und das Fleisch öffnen – bedauerte Akumowna, – sie werden den Knochen mit einem Bohrer wegbohren, beide Fersen abschneiden. Hätte er aber einen Aufguß von Pferdemist getrunken, so wäre alles fort, wie mit der Hand ...
Marakulin hatte seit jenem Glückszufall im Sommer keine Arbeit mehr gefunden. An allen Orten und Anstalten, an die er sich wandte, wurde höchstens seine Adresse notiert, und bekanntlich hat man nichts mehr zu erwarten, wenn die Adresse notiert wird. Um diese Zeit fand gerade in Petersburg eine Hundezählung statt. Eine Woche lang ging er auf den Burkowschen und belgischen Höfen herum, zählte die Hunde und lernte dabei einen Studenten Lichowidow kennen, der, so wie er, Hundezähler war. Der Student Lichowidow, ebenfalls ein Mensch in den letzten Zügen, verstand es jedoch schließlich, sich noch irgendwelche Hundearbeiten zu verschaffen, und auch für Marakulin fiel dabei etwas ab. Es begann ihm schon etwas besser zu gehen, da mußte Lichowidow ein kleines Malheur passieren: er arbeitete damals in irgendeinem Bureau und trat eines späten Abends nach seinem Dienst auf die Straße, als ihm sein Vorgesetzter, der Bureauchef – gut angezogen, im Pelz, mit einem kostbaren Kragen – entgegenkam. „Was meinen Sie, Herr Lichowidow, was wäre jetzt besser, Tee oder Kaffee zu trinken?“ Lichowidow aber hatte seit dem Morgen nichts gegessen, er war hungrig wie ein Hund, auch hatte ihn gerade der Petersburger Wind angeblasen, seine Zähne klapperten nur so. Er sah den Chef an, als überlegte er, was jetzt besser wäre, Tee oder Kaffee zu trinken und haute ihm eine in die Fresse. Seitdem war Lichowidow verschwunden, und Marakulins Mühle stand still.
Dem guten Jäger läuft das Wild in’s Garn. Nach langem Suchen fand Anna Stepanowna eine Anstellung in einem Privatgymnasium. Es war ein Mustergymnasium und seine Vorsteherin Lednjowa war eine Frau von Bestrebungen. Sie verstand die große Kunst, zu wirtschaften, ohne einen Heller aus eigener Tasche auszugeben, und sie tat es sehr einfach und gleichzeitig ziemlich verzwickt: sie verschleierte ihre Manipulationen mit einem echten Petersburger Nebel. Man sagte, sie bezahle die Lehrer aus geheimnisvollen Equipierungsgeldern, die ihr gar nicht gehörten, und daß die Lehrer im Lednjowschen Gymnasium jedes Jahr wechselten. Rakow und Lestschow waren, was Bestrebungen betrifft, im Vergleich mit der Lednjowa die reinen Waisenknaben, so wie der schönste Gardesoldat in Beziehung auf Köchinnen gegen Kasimir den Monteur und Stanislaus den Kontoristen gar nicht in Betracht kommt.
Zwei Monate bekam Anna Stepanowna keinen Gehalt: die Zahlung wurde unter allerlei Vorwänden hinausgeschoben. Erst im dritten Monat wurde er ihr ausgezahlt, aber selbstverständlich nicht als gewöhnlicher Gehalt, sondern als eine Anleihe aus eben jenen geheimnisvollen Equipierungsgeldern. Als sie das Geld bekam, lud sie Marakulin und Wera Nikolajewna zum Besuch des Marijinschen Theaters ein, zu einer Opernvorstellung. Die Billetts kosteten nicht wenig, dafür waren es gute Plätze; es war alles gut zu sehen und zu hören.
An diesem Abend begegnete Marakulin im Theater Werotschka. Wie oft hatte er im Sommer und im Herbst an sie gedacht und im Meldeamt nach ihrer Adresse geforscht – immer wieder aber hieß es: verreist. Jetzt traf er sie. Im ersten Augenblick erschrak er, dann verwandelte sich sein Schreck in Unruhe: Werotschka war nicht allein; mit Werotschka ging Glotow, der Kassierer, Alexander Iwanowitsch, Marakulins ehemaliger Freund.
Werotschka hatte sich gar nicht verändert. Verändern sich denn die Menschen überhaupt? Werotschka erkannte ihn gleich, Glotow aber nicht, oder er tat so, absichtlich, aus wohlerwogenen und unwiderleglichen Gründen.
– Das ist aber eine Ueberraschung, denn wir haben dich längst begraben, weißt du, Petruscha! – sagte er.
Und als Werotschka erfuhr, daß Wera Nikolajewna ebenfalls im Theater sei, ging sie sie aufsuchen und kam nicht wieder.
Glotow führte Marakulin ins Theaterrestaurant.
– Woher kennst du sie? – fragte Glotow seinen Freund.
– Wir haben einen Winter lang bei derselben Wirtin gewohnt – erwiderte Marakulin.
– Du kennst sie also gut?
– Wie man es nimmt.
Und plötzlich verwandelte die Wut ihre Gesichter. Sie verstanden einander nur zu gut. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Aber es war peinlich, so auseinanderzugehen, und auch das Schweigen war peinlich.
Glotow schlug vor, etwas zu trinken. Marakulin dankte. Und so traten sie aus dem Restaurant, gingen Schulter an Schulter nebeneinander und suchten Werotschka. Marakulin schwieg. Glotow aber wiederholte mit einer Art Vergnügen und als hätte er es einstudiert, immer dasselbe:
– Das ist aber eine Ueberraschung! Denn wir haben dich ja längst begraben, Petruscha, weißt du!
Marakulin traf Werotschka auch in der nächsten Pause nicht: sie hatte Wera Nikolajewna versprochen, sie noch zu treffen und kam nicht. Er sah sie an dem Abend nicht wieder.
Nach dem Theater ging Marakulin mit Wera Nikolajewna und mit Anna Stepanowna in ein Café auf dem Newsky.
Die Begegnung mit Werotschka und mit Glotow, und daß er sie zusammen getroffen, das Theater, das Café, alles wühlte Marakulin auf, und was dort im Theaterrestaurant verborgen in ihm brodelte, als er neben Glotow stand, sammelte sich jetzt zu brennender Verzweiflung. Und gemartert fühlte er: wenn jetzt dieser Glotow, sein Bruder oder sein Verwandter, einer, der Werotschka kennt und den auch Werotschka gut kennt, aufstehen und ihm, Marakulin, eine herunterhauen würde, wie der Student Lichowidow dem Bureauchef, so würde er, Marakulin, ihm zum Dank dafür die Füße küssen und ihm noch seinen Nacken hinhalten, daß er nach Herzenslust dreinhaue, oder ihm die Zähne einschlage, daß die Kiefer knacken. Und in seinem grausamen Martyrium das ganze Brennen des freiwillig auf sich genommenen Schmerzes fühlend, erinnerte er sich an seine geliebte, verhaßte, unglückselige Generalin, und es verging ihm die Lust an seinem Leid – er wollte keine Ohrfeigen, keine Faustschläge, keine Fußtritte, weder von diesem gestutzten Schnurrbart, der so selbstgefällig mit diesem andern widerlichen Glattgesicht plauderte, noch von jenem roten, nach oben gekräuselten Schnurrbart, der auch vielleicht Werotschka kennt und den Werotschka sehr gut kennt. Nein, in seiner Verzweiflung dachte er jetzt, wie gut es wäre, die Generalin mit kochendem Wasser zu übergießen, sie ein wenig nur zu verbrühen. Mit welcher Wut würde sie sich auf alle stürzen und beißen, – alle zerbeißen!
– Warum heißt Werotschka nicht mehr Wechorjowa, sondern Rogowa?
– Weil sie keine Generalin ist – antwortete Marakulin.
– Was für eine Generalin?
Wera Nikolajewna verstand nichts und sah bald ihn, bald Anna Stepanowna an, welche lächelte und deren Lächeln bis in die Seele hinein weh tat.
Marakulin hätte jetzt aufstehen und der einen die Augen ausstechen mögen – diese verlorenen Augen des vagabundierenden heiligen Rußland, des verschüchterten, freiwillig bettelnden, von Armut, wie von einem geweihten Gürtel umgürteten, alles ertragenden, demütigen, geduldigen Rußland, das sich nicht einmal einen Sarg zusammenzuzimmern vermag, höchstens einen Scheiterhaufen zusammenbringen und sich darauf verbrennen! Die andre aber hätte er ersticken mögen, damit sie aufhörte zu lächeln, damit es dieses Lächeln nicht mehr gäbe, aus dem mit frecher Schamlosigkeit eine beschmutzte, vergewaltigte Seele jedem in die Augen sticht: sie braucht nicht zu leben, sie hat hier nichts zu tun, es ist kein Platz für sie auf der Erde!
Oder war für ihn selbst kein Platz mehr auf der Erde?
– Und was meinen Sie, Wera Nikolajewna? – fragte er.
– Werotschka gab mir ihre Adresse und bat mich, nicht nach Wechorjowa, sondern nach Rogowa zu fragen – antwortete Wera Nikolajewna.
Marakulin schloß die Augen. Er empfand plötzlich eine äußerste Müdigkeit und Erschöpfung, eine so vollkommene Gleichgültigkeit, daß er sich nicht gerührt und nicht einmal sich umgesehen haben würde, wenn das Café in Brand geraten oder die Decke herabgestürzt wäre.
Als Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna bemerkten, wie verstimmt er war, wollten sie ihn nicht beunruhigen, und um seiner Seele nicht lästig zu sein, unterhielten sie sich leise miteinander.
Wera Nikolajewna erzählte von einer Krankenschwester:
– Man brachte ins Krankenhaus ein Kindchen: es war verbrüht. Um die Operation zu machen, brauchte man Haut, und wo sollte man sie hernehmen? Vom Kindchen selbst? – das hätte es nicht ausgehalten, es war zu schwach. So bot sich die Schwester dazu an, und man schnitt ihr so viel Haut aus, als man brauchte.
– Und wie ist es verlaufen?
– Gott sei Dank, beide leben.
Anna Stepanowna bekreuzigte sich lächelnd:
– Gott sei Dank!
Marakulin erhob sich, und sie gingen nach der Fontanka zurück.
* * *
Werotschka bewohnte eine kleine möblierte Wohnung an der Mojka, die sie nur mit ihrer Wirtin teilte. Die Zimmer waren mit allerlei Sofachen und Tischchen vollgepfropft und mit Sächelchen angefüllt, wie sie wohl auch das Ehepaar Oschurkow in seinen zehn Zimmern haben mochte. Die kanariengelbe Farbe war in der Wohnung vorherrschend: gelbe Kissen, gelbe Wandschirme, – alles hier war gelb.
Marakulin, der Werotschka endlich gefunden hatte, begriff schon im Vorzimmer, daß Werotschka hier nicht aus eigener Wahl wohnte, sondern daß sie in diese möblierte gelbe Wohnung von jemand einquartiert worden war.
Er fand sie zu Hause und freute sich sehr über sein Glück: sie war allein, sie kamen einfach und leicht ins Gespräch. Wie immer, redete sie erst äußerst herausfordernd, und ihre Erzählung war von solcher Art, daß man aus ihr nicht klug werden konnte, ob es echte Wahrheit war oder bloß so eine Wahrheit. Sie habe ihren Namen geändert, weil sie jetzt beim Theater sei; sie sei bei einer kleinen Bühne engagiert, in einem Petersburger Café chantant.
– Ich tanze dort – erzählte sie – kommen Sie einmal hin, um mich zu sehen.
Doch abgesehen vom Theater und vom Tanzen stand es mit ihr so, daß Anissim Wakujew ihr kein Geld mehr schickte. Statt seiner war jetzt ein vornehmer alter Herr ihr Gönner. Er hatte ihr diese Wohnung gemietet und seinetwegen hatte sie den Familiennamen geändert, – oder richtiger: sie mußte einen andern Familiennamen annehmen. Warjaginskij war eine einflußreiche Persönlichkeit und verkehrte bei Hofe.
– Er ist ein ganz altes Kerlchen. Mit dem linken Auge sieht er immer eine Maus; wenn er es zukneift, dann verschwindet die Maus, macht er es aber auf, dann ist die Maus wieder da, ein graues, ganz kleines Mäuschen.
Anissim schicke ihr längst kein Geld mehr, sie aber brauche Geld. Sie müsse es soweit bringen, daß der alte Warjaginskij auf ihren Namen ein Kapital deponiere, dann ...
– Dann werde ich zeigen, wer ich bin – der ganzen Welt, – dann sollen sie sehen!
Ja, sie werde sich schon erweisen, ihr Name werde in ganz Rußland berühmt sein, in ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie habe ihren Weg durch den Scheiterhaufen gewählt; denn auf dem gewöhnlichen Wege gelange man nirgends hin; man komme auf andre Weise nicht vorwärts; ohne Geld lasse man einen nirgends hin; man werde zerrieben, und wäre man der Teufel selbst! Man müsse lügen können und Geld haben – Lügen und Geld haben, das sei notwendig. Sie hätte ja auch versucht, auf die gewöhnliche Weise durchzukommen – sie kenne es gut! Sie könne ja schließlich nicht Waschfrau werden – oder sollte sie in der Tat Waschfrau werden? Sie sei durchaus nicht damit einverstanden, im Kusnetschnygäßchen zusammen mit dem Chiromanten oder in den Gorbatschowschen „Winkeln“ zu wohnen. Wenn der Alte aber erst ein Kapital auf ihren Namen deponiert und sie viel Geld haben würde, dann ... ja dann ...
– Für Geld kann man alles kaufen! – schrie Werotschka mit ihrem unheimlichen Schrei. Es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden, sondern eine Herausforderung, ein Schrei nach dem Recht, die ganzen himmlischen Heerscharen kurz und klein zu schlagen, wäre nur eine Leiter bei der Hand – wie es in einer alten Weise heißt – oder die Erde aus den Angeln zu heben, bekäme man nur einen Griff zu fassen! – Es war eine Herausforderung, ein Schrei der Verzweiflung auf ihrem Weg durch den Scheiterhaufen.
– Ich bin eine Dirne und bleibe eine Dirne. Aber im nächsten Jahre werde ich mich zeigen. Sie werden mich dann sehen. Jawohl, auch Wera Nikolajewna würde kein Geld ausschlagen, und auch diese Ihre Andre, mit dem kläglichen Lächeln, würde es annehmen! Es gibt ihnen bloß niemand etwas, mir aber gibt jeder, ich verstehe zu lügen und werde mein Ziel erreichen!
Sie begann hastig ihre Toiletten zu zeigen, riß alle Schubfächer auf und öffnete den Kleiderschrank; Kleider und Wäschestücke flogen haufenweise zu Marakulin hin, und ein bunter Berg von Seide und Spitzen türmte sich zwischen den gelben Sofas, wie der schwarze Berg auf dem belgischen Hof.
– Und alles das ist mein – schrie sie, – sehen Sie, es sind Geschenke, alles gehört mir!
Marakulin erhob sich, er wollte sie zurückhalten, aber es war unmöglich; er setzte sich wieder auf das gelbe Sofa. Werotschka aber war in Raserei geraten, sie zerknüllte und zerfetzte die Sachen und warf sie um sich her. Und als die Kommoden entleert und alle Schubfächer von unterst zu oberst gekehrt waren, begann sie die Nippes abzuräumen, zerschlug alles und warf es auf einen Haufen.
– Und alles das gehört mir, lauter Geschenke! – schrie sie mit dem letzten Aufwand ihrer Stimme, fast schon ohne Stimme. Einen Augenblick stieg in Marakulin der heftige Wunsch auf, ein Streichholz anzuzünden und alles in Brand zu stecken, alles zu vernichten, den ganzen Haufen, den Berg, die gelben Kanapees, gelben Wandschirme, gelben Lampenschirme, gelben Kissen – alle diese Geschenke!
Werotschka riß von der Etagere eine kleine bronzene Schildkröte herab und reichte sie ihm, offenbar in der Absicht, sie ihm zu schenken.
– Man kann nur schenk–, man kann nur schenk–, man kann nur schenk– – stieß Marakulin hervor, als wollte er mit den Worten dreinschlagen, und sah Werotschka fest an, aber der Atem verging ihm, bevor er das Wort zu Ende brachte. Seine Schultern zitterten plötzlich.
Ja, sie wisse es selbst. Hier sei nichts, was ihr gehöre. Und fremde Sachen dürfe man nicht verschenken. Geschenke verschenke man zwar nicht, doch dürfte man es tun; hier aber gehöre ihr nichts, es seien nicht Geschenke, es seien lauter fremde Sachen. Fremde Sachen aber dürfe man nicht verschenken. Eigentümer sei hier der alte Warjaginskij, der Mäuse sieht, und Glotow der Kassierer, und sonst jeder, der Geld hat und Geld ausgeben kann – und je mehr einer Geld gebe, desto wichtiger sei er. Alles an ihr sei beschmutzt, alles abgegriffen, sie könne Wera Nikolajewna nicht einmal einen Kuß geben, sie habe nichts mehr zu geben, alles sei eingesetzt, alles bespuckt.
– Und Sie, Petruscha, Sie möchten wohl auch? – fragte sie plötzlich voll Bosheit, – ja, wollen Sie? – nicht?
Marakulin erhob sich.
– Da – Werotschka zeigte ihm die Zunge – nichts kriegen Sie, Sie Bettler! Bettler empfange ich nicht, verstehen Sie! – und ihre unverschämten Augen blitzten auf wie zwei scharfe Klingen und ihr aufgelöstes Haar brannte wie Feuer.
Ohne die Straßen zu unterscheiden ging Marakulin wohin ihn seine Füße trugen. Es war im Dezember und Tauwetter. Ein warmer Wind wehte, die Laternen sahen aus wie vom Himmel herabgestiegene Sterne und Monde und schienen im Nebel aufgehängt. Beim Hinaustreten aus der Podjatscheskaja auf die Ssadowaja blieb er plötzlich stehen: vor dem Tor des Spaßeschen Polizeireviers, da, wo die Glocke hängt, stand ein Feuerwehrmann in einem riesigen Messinghelm, ein wirklicher Feuerwehrmann, aber überlebensgroß, und sein Messinghelm reichte über die Torwölbung hinauf.
Marakulin begann vor Entsetzen zu laufen. Etwas stieg ihm die Kehle hinauf und preßte sie zusammen. Und erst als er zu Hause war, allein in seinem Zimmer im Burkowschen Hof, fühlte er, daß er weinte, so wie er nur einmal im Leben geweint hatte, als seine Kinderfrau ihn verlassen.
Nachts träumte er, er läge auf dem Burkowschen Hof. Der Hof aber war größer als in Wirklichkeit, und obwohl er an den Seiten von den Häusern zusammengedrückt war, so lagen doch die Stände und Kästen der fliegenden Händler viel weiter als sonst, und die Wagenremise, die Müllgrube und der Abguß waren viel entfernter. Es waren unter den Fenstern viel mehr Ziegelsteine, Schutt und Kehricht angehäuft. Er lag nicht allein auf dem Hof, neben ihm lagen die Mieter aus dem Vorderhaus und aus dem Hinterhaus, aus den Seitenflügeln, aus den Gorbatschowschen „Winkeln“. Und obwohl er viele von ihnen nicht kannte, so erriet er doch, wer sie waren, und irrte sich bestimmt nicht darin, daß dieser Herr und diese Dame Herr und Frau Oschurkow waren, die zehn Zimmer und allerlei Nippes, die die Wohnung ganz ausfüllten, und ein Aquarium mit Goldfischchen hatten. Und dieser da, der Bewegliche im Zylinder, war der Rechtsanwalt Amsterdamskij, ein lustiger Kerl, – er verstand es, Prozesse gut zu führen; die Portiers im Senat warteten auf ihn, wie auf das Osterfest. Und Burkow selbst, der frühere Gouverneur, der Selbstvertilger, lag da, aber man sah nur seine Uniform. Neben der Uniform lag der älteste Hausmeister Michail Pawlowitsch mit seiner Gemahlin, der gottesfürchtigen Antonina Ignatjewa, und der Händler Gorbatschow mit einem kleinen Mädchen – mit seiner Tochter, der er einst in der Rattenkammer die Fingerchen zerbrochen, und Wera mit Akumowna, Stanislaus der Kontorist und Kasimir der Monteur, Adonja Iwoilowna und die Artisten Damaskin, Sergej Alexandrowitsch und Wassilij Alexandrowitsch, Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna, die Hebamme Lebedjowa in ihren Pelz eingewickelt, den man ihr um Weihnachten gestohlen hatte, und der Portier Nikanor; auch lagen hier die Studenten, welche nachts Totenmessen sangen, in neuen studentischen Uniformen und mit ihrem Messinghahn, dann alle sieben Hausmeister und der Paßaufseher Jerkin – die Hausmeister mit Holz und Jerkin mit Krankenhausmarken, jede Marke ein Rubel, Gesicht und Hände ganz mit Marken beklebt. Kleine Kinder lagen in Haufen, der Perser – der Masseur aus der Badeanstalt und jenes kleine Mädchen, welches Murka damals Milch gebracht hatte, mit der Scherbe; es lagen da alle Schuster, Bäcker, Bader, Friseure, Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine Krankenschwester aus dem Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirm- und Bürstenmacher, Kommis, Wasserleitungsmonteure, Setzer und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische Meister mitsamt ihren Familien und ihrem Gerümpel, mit Gläsern, Flaschen und Schwaben, und allerlei Fräuleins von der Gorochowaja und vom Sagorodny, kleine Nähmädchen, Mädchen aus den Teestuben und elegante junge Leute aus der Badeanstalt, die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, die alte Frau, welche Sonnenblumensamen und sonst allerlei Kram feilbietet, stellenlose Köchinnen, Maler und Schreiner, fliegende Händler mit Datteln und Zuckerwerk, das nach Mistpilzen riecht, – mit einem Wort: der ganze Burkowsche Hof, ganz Petersburg. Und nachdem Marakulin alle diese Burkowschen Gestalten feststellte, erblickte er auch noch andre: seine Mutter, seinen Vater, seine Schwestern, den alten Gwosdjow, den Buchhalter Awerjanow, Tschekurow, Lisaweta Iwanowna und Maria Alexandrowna, Rakow mit dem Lotterielos von Zweihunderttausend, Lestschow, Pawlina Polikarpowna und alle Idioten, Geistesarmen, Eremiten und heiligen Brüder, allerhand Belgier und Deutsche, die Deutschen um den Doktor Wittenstaube zusammengedrängt, der alle Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt, – überhaupt das ganze vagabundierende Rußland.
Da lagen sie alle auf dem Burkowschen Hof, wie auf einem Totenfeld, nur war es nicht trocknes Gebein, sondern es waren lebendige Menschen, und in jedem lebte und schlug ein Herz. Und Tiere lagen da zusammen mit den Menschen: der schöne rothaarige Hund des Gouverneurs, Revisor, an der lästigen Stahlkette hob zuweilen seine kluge Schnauze, und Murka lag auch daneben, von einem rauchfarbenen Kater belegt. Neben Marakulin aber lag die Generalin Cholmogorowa, die Laus, und die elektrischen Lampen brannten wie vom Himmel herabgestiegene Sterne und Monde tief im Nebel über dem Burkowschen Hof.
– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist übervoll, die Strafe ist nah! – sang Gorbatschow im Halbschlaf, die Worte durch die mit Pferdehaaren bewachsene Nase dehnend.
Da klirrte etwas wie ein Säbel, und aus einem Schrank trat ein Feuerwehrmann, überlebensgroß, in einem riesigen messingnen Helm, und begann zu schreiten, mit den Stiefeln polternd. Und rasch über die Maler, Schlosser und fliegende Händler hinwegschreitend, nahte er Marakulin und blieb vor ihm stehen.
Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht.
Da fühlte Marakulin, wie es ihm so schwer wurde, daß er weder einen Fuß noch eine Hand rühren konnte, und er wußte, daß er nicht mehr lange leben werde und daß ihm nur noch die Freiheit zu reden übriggeblieben war. Er fühlte auch, daß es Allen – dem ganzen Totenfeld – ebenso schwer war; sie konnten weder einen Fuß noch eine Hand rühren und hatten nur noch die Freiheit zu reden; und während er seine letzten Augenblicke nahen fühlte, hörte er die Automobile auf der Fontanka tuten.
Ueber ihm aber stand unbeweglich der Feuerwehrmann. Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht.
Erst wollte Marakulin es wagen, gleich jenem Starez Kabakow, der durch Gebete die Stimme des Himmels befragte, den Feuerwehrmann für Alle, für die ganze Welt auszufragen, aber er hatte nicht den Mut, wie Kabakow für Alle, für die ganze Welt, für das ganze Totenfeld zu fragen, sondern er fragte nur für sich.
– Wird es mir gut ergehen?
– Warte – sagte der Feuerwehrmann.
– Gut? – fragte Marakulin nochmals mit stockendem Atem, und hörte dabei, wie auf der Fontanka die Automobile tuteten.
Und der Feuerwehrmann antwortete ihm, jedoch sehr kleinlaut, kaum daß er das Wort zu Ende sprach:
– G–u–t.
Vor Weihnachten zerbrach Marakulin sein Kreuz.
Anna Stepanowna nahm es mit, um es reparieren zu lassen, ging aber aus dem Gymnasium erst auf den Gostinij-Markt. Dort wurde ihr das Portemonnaie gestohlen und mit ihm auch Marakulins Kreuz, sein kleines goldenes Taufkreuz.
In den Weihnachtstagen wahrsagte Akumowna wieder aus den Karten, und Marakulin schien es, daß die Karten jetzt ganz erbost seien und ihn mit ihrem schonungslosen „reinen Herzen“ verspotteten. Sie orakelten: ein fröhlicher Weg; ein wohlgeborener einflußreicher Herr; viel Geld; wenn Sie heute keinen Brief bekommen, so bekommen Sie ihn morgen; er trinkt ein wenig, – und in den Ecken Gras und Tannen.
Aber die Karten logen diesmal nicht. Sei es, daß Akumowna es mit ihrem Wahrsagen heraufbeschworen hatte, oder, daß es ihm sonst bestimmt war – Marakulin mußte in der Tat bald nach dem Tag der hl. Tatjana und ganz unerwartet nach Moskau verreisen.
Marakulin war ein Moskauer. In Moskau geboren und aufgewachsen, war er auch dort zur Schule gegangen. Nur die fünf Jahre vor seinem Petersburger Aufenthalt hatte er in der Provinz verlebt und in Geschäften auch solche Städte wie Kostrinsk und Purchowez besucht. Er hatte in Moskau in einer Privatrealschule in der Handelsabteilung studiert. Kaum daß er in die Schule eintrat, starb seine Mutter, und bevor er die Schule verließ, verlor er den Vater. Die letzten Schuljahre waren sehr schwierig, er mußte selbst für sich sorgen. Er hatte zwei Schwestern, beide älter als er und beide verheiratet. Als er noch in Moskau lebte, besuchte er die Schwestern, erst oft, dann seltener, endlich ganz selten. Als er klein war hatten sie ihn sehr gern gehabt und ihn verwöhnt. Er wußte es noch genau, sie aber hatten es vergessen. Als er in der Provinz wohnte, schrieb er den Schwestern im Anfang oft, dann seltener, dann ganz selten und nur noch Gratulationsbriefe, dann hörte er überhaupt auf zu schreiben. Sie waren es, die zuerst den Briefwechsel abbrachen. Und seit er in Petersburg lebte, hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, daß er in Moskau niemand hatte. Nur auf dem Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich zwei Gräber, zwei Kreuze: das Kreuz des Vaters und das Kreuz der Mutter.
Sein Vater war der älteste Buchführer bei Plotnikow gewesen. Plotnikows Fabrik befand sich auf der Taganka, das Engrosgeschäft auf der Iljinka. Der Vater war ein Mann der Arbeit, der sich mit Energie seinen Weg bahnte. Seine Mutter war anders; sie war ein Mensch von besonderer Art.
Jewgenja Alexandrowna – so hieß sie – war aufrichtig, einfach und herzlich. Ihre Aufrichtigkeit kannten alle; ihr Vater kannte sie und alle, die im Hause verkehrten kannten sie. Man klatschte in ihrer Gegenwart nicht über Bekannte, man schärfte nicht unnütz die Zungen – man sagte nichts, was man den andern nicht ins Gesicht hätte sagen können. Die Gepflogenheit, zwei Meinungen über jemand oder über etwas zu haben: eine Meinung sozusagen für’s Haus, welche nur im engen Familienkreis ausgesprochen wird, und eine andere für die Straße, welche vor Fremden geäußert wird, wenn es nützlich erscheint, – diese üblichen Formen des Umgangs waren ihr fremd. Es fehlte ihr der praktische Sinn. Daraus konnte oft ein kleiner Skandal, zumindest eine Verlegenheit entstehen, und ihr Vater mußte sie häufig davor warnen. Dieser praktische Sinn, der zwei Meinungen kennt, dieser einfältige und oft niederträchtige Selbstschutz ist keine Weisheit. In der echten Weisheit, die nicht nur zwei, sondern zwanzigmal zwei Meinungen kennt, ist Wissen und Schonung. Diese höhere Weisheit konnte sie natürlich noch nicht haben, aber sie besaß jene, die aus dem Instinkt stammt und die das Herz begreift. Es fehlte ihr dagegen völlig an jener Schlampigkeit des Herzens, an der Gewöhnlichkeit der Seele, die wie grobe Geradlinigkeit aussieht. Alles berührte und quälte sie; sie hatte keine Gleichgültigkeit in sich, im Gegenteil: ungewöhnlich barmherzig und mitfühlend, war sie bereit, jedem zu helfen. Kaum aus der Schule, verliebte sie sich in einen Studenten, in den Hauslehrer ihres Bruders, und wie zu Gott sah sie zu ihrem Studenten auf. Der Student aber – sagte nichts, und als ein ernsthafter Student, der er war, lächelte er nur, lächelte und dankte. Jenjas Vater – Marakulins Großvater – war Arzt, und als Fabrikarzt bei Plotnikow angestellt, nahm er das junge Mädchen oft in die Fabrik mit. Bei Plotnikow war aber auch ein junger Techniker namens Ziganow. Dieser machte sich mit den Fabrikarbeitern zu schaffen, veranstaltete Vorlesungen und Theatervorstellungen für sie, und soll auch, wie die Wissenden behaupteten, einen Streik angezettelt haben. Die Fabrikarbeiter liebten Ziganow und gehorchten ihm. Jenja, der das Leben in der Fabrik, das sie allmählich kennen lernte, die Seele verwundete, bot Ziganow ihre Mithilfe an. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Techniker und arbeitete mit, so weit ihre Kräfte reichten. Und wenn eine Sache gelang, – mit welcher Freude erzählte sie von ihrem Erfolg dem Hauslehrer ihres Bruders, ihrem Studenten, zu dem sie wie zu Gott aufsah! Der Student aber – sagte nichts, und als ein ernsthafter Student, der er war, lächelte er nur, lächelte und dankte. So traf es sich auch einmal, daß Jenja bei Ziganow in der Wohnung war. Sie half ihm Lektüre für die Fabrikarbeiter zusammenstellen; es waren Broschüren. Sie war sehr eifrig dabei, sie brannte darauf, daß die Broschüren bald gelesen werden, denn sie glaubte, daß in ihnen die Wahrheit stand und ein Ausweg aus dem erbärmlichen Leben, das ihr die Seele verwundete. Sie brannte vor Eifer – es war ja das erstemal. Ziganow arbeitete am selben Tisch mit ihr und wich nicht von ihrer Seite; auch er wollte die Arbeit möglichst rasch erledigen, denn die Sache war gefährlich! Als dann alles fertig war, die Broschüren geordnet, ausgesucht und verteilt, und sie, befriedigt, freudig erregt und davon träumend, wie sie alles dem Studenten, ihrem Abgott erzählen würde – (er hatte wohl jetzt die Lektion mit ihrem Bruder beendigt, saß vielleicht mit ihrem Vater im Eßzimmer beim Tee und spielte mit ihm Schach) – gerade im Begriff war, nach Hause zu gehen, – da fiel Ziganow über sie her und warf sie zu Boden ...
An diesem Abend, als sie nach Hause zurückkehrte und den Studenten, wie sie erwartet hatte, im Eßzimmer beim Tee mit ihrem Vater Schach spielend fand, – sagte sie nichts; weder dem Vater, noch dem Studenten. Sie verriet nicht mit der leisesten Andeutung, was eben zwischen ihr und Ziganow vorgefallen war, sie verriet mit keiner Silbe das Entsetzen, das sie erfüllte.
Entsetzen und Scham besiegten all ihre Wahrhaftigkeit und zwangen sie, das Schreckliche zu verheimlichen. Sie schwieg, und obwohl sie, die sich nicht verstellen konnte, sich so gab, wie sie war, bemerkte dennoch niemand etwas, nur dem Vater fiel eine Trauer in ihrem Gesicht auf, die früher nicht in ihm war. Erst viele Jahre später sah es auch manch andrer, sprach aber nicht darüber. Denn diejenigen, die sie oft sahen, mochten sie dann vielleicht zum erstenmal aufmerksam angesehen haben und konnten deshalb nicht feststellen, ob diese Trauer in ihrem Gesicht schon immer dagewesen und von ihnen nur nicht bemerkt worden war, oder ob tatsächlich eine Veränderung in ihm stattgefunden hatte.
Wohl war diese Trauer schon immer in ihr, seit ihrer Geburt vielleicht, vielleicht war sie zusammen mit ihr zur Welt gekommen, hatte sich all die siebzehn Jahre in ihrer Seele verborgen gehalten und trat erst an jenem Abend hervor, an dem Jenja bei Ziganow die Broschüren ordnete und glücklich, freudig erregt daran dachte, wie sie ihrem Studenten, ihrem Abgott von ihrer Freude erzählen würde; – damals mochte das Entsetzen die eingeborene Trauer hervorgeholt und über ihr Gesicht gebreitet haben.
War es nur Trauer, was ihr Gesicht verriet, als sie sich auf dem Boden wälzte und vor tierischem Schmerz, vor Ekel und Entsetzen geschrien haben würde, wenn sie ihre Schreie nicht hätte unterdrücken müssen? War nur Trauer in ihrem Gesicht, da sie schweigend und doch unverstellt sich quälte?
Wenn die Menschen einander genau sehen und beobachten würden, wenn Alle Augen hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre, wenn die Menschen einander sehen würden, das eiserne Herz gar nicht nötig?
Wie war das alles so gekommen, und weshalb? Und wie erklärte Jenja es sich selber?
An jenem Abend war Ziganow geblendet, – einen andern Grund gab es nicht – es war nicht vorgefaßte Absicht, er war einfach geblendet. Und hätte er auch sieben Augen gehabt, wer weiß, ob er nicht an allen sieben Augen geblendet worden wäre vor ihren beiden, mit denen sie so freudig dreinblickte, bereit, im nächsten Augenblick von ihrer Freude dem Studenten, ihrem Abgott zu erzählen: ihre Freude war so gewaltig; es war ja das erstemal, die Sache war gefährlich und sie glaubte die Erlösung gefunden zu haben aus dem erbärmlichen Leben, das ihre Seele verwundete.
So erklärte Jenja das, was vorgefallen, indem sie niemand beschuldigte, außer sich selbst.
Ob es so war oder nicht, ob er tatsächlich geblendet war oder nicht, ob er dem Zwang nicht widerstehen konnte, sich auf sie zu stürzen, oder ob er sich hätte zurückhalten müssen – einerlei: am Ende wäre es auch einem andern so ergangen wie Ziganow, der sich mit einer gefährlichen Sache befaßte, die heimlich und verborgen getan werden mußte, und der vor lauter geschäftigem Mißtrauen seine Augen verloren hatte? Jedenfalls aber hatte er seine Augen verloren, gleichviel warum: denn hätte er sehen können, so wäre das nicht geschehen, was weiter geschah. Es kam aber, daß jedesmal, wenn Jenja bei ihm war, um Broschüren zu ordnen, oder in ähnlichen Angelegenheiten, sich jener gefährliche und freudig erregte Abend wiederholte. Sie flehte ihn an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, aber er wollte nichts hören, weil er taub und blind war. Und so verging ein ganzes Jahr.
Als dann Ziganow aus der Plotnikowschen Fabrik verschwunden war – manche behaupteten, er wäre nach Sibirien verbannt worden, andre dagegen, daß er jenseits der Trechgornaja-Maut in einer Fabrik eine gutbezahlte Stellung angenommen hatte, wieder andre, daß er der Welt so etwas wie ein „neues Zion“ verkündete – mit einem Wort, als Ziganow nicht mehr da war, und Jenja aufatmen konnte, da widerfuhr ihr das gleiche, nur daß diesmal an Ziganows Stelle ihr eigener Bruder, der Kadett war. Sie bat ihren Bruder, flehte ihn an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, er aber wollte nichts hören, und darum nicht, weil er in diesem Augenblick taub und blind war.
Ja, auch er war in diesem Augenblick geblendet, und nur, weil in ihr selbst etwas Sinnberaubendes, Blendendes war; denn sonst hatte doch dieser Bruderabend nichts gemeinsames mit jenem Ziganowschen, jenem gefährlichen und freudig erregten Abend.
So erklärte sich Jenja alles, was vorgefallen, indem sie niemand als sich selbst beschuldigte.
Ob es nun so war oder nicht, ob der Bruder ebenfalls geblendet war oder nicht – jedenfalls ist es klar, daß er, ohne sich mit gefährlichen Dingen zu befassen, wie Ziganow und nicht wie dieser durch die Heimlichkeit und die Gefahr der Arbeit in gemeinsame Erregung mit der Schwester gedrängt, – im Gegenteil: er hatte einen offenen Weg vor sich, frei von jedem Spähen und Horchen – jedenfalls ist es klar, daß er, wie so viele Menschen von Beruf oder Handwerk, von Meisterschaft oder Leidenschaft, sich eben durch keinen besonderen Scharfblick auszeichnete. Nein, er zeichnete sich nicht durch besonderen Scharfblick aus, denn hätte er etwas gesehen, so wäre nicht geschehen, was weiter geschah. Es kam aber, daß sich jedesmal, wenn er sie allein fand, das wiederholte, was an jenem Schwesterabend geschah. So verging wieder ein Jahr.
Als der Bruder dann von Moskau abgereist war und sie, allein geblieben, aufzuatmen hoffte, da wurde der Bruder von dem Gehilfen ihres Vaters, von einem jungen Arzt ersetzt, so wie einst der Bruder Ziganow abgelöst hatte. Und nach dem Arzt kam noch einer und wieder einer; alle traten sie kühn an sie heran und taten mit ihr, was sie wollten.
Sie taten es aber nicht deshalb, weil sie es freiwillig gewährte, nein, sie taten nur das, wozu es sie, die Geblendeten, trieb.
So erklärte sich Jenja alles, indem sie niemand als sich selbst beschuldigte.
Ob es so war oder nicht, ob sie wirklich geblendet waren oder nicht, ob es sie trieb, oder ob sie sich selbst über sie warfen, jedenfalls beschuldigte sie keinen von ihnen, nur sich selbst: dies etwas in ihrem Wesen, das blendete und betäubte.
Sie schwieg – ganze drei Jahre schwieg sie. Sie machte nie eine Andeutung, verriet sich mit keinem Wort. In ihr aber war Entsetzen, Scham und Qual. Sie wurde geliebt, hatte viele Freundinnen, und wußte, wie sehr man sie liebte und wie gut man von ihr dachte; und trotz aller Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die in ihr war, vermochte sie es nicht, ihnen zu sagen, wie sehr sie sich irrten: daß sie nicht so war, wie sie von ihr dachten. Hätten sie die Wahrheit gewußt, dann würden sie sich von ihr losgesagt haben, so aber stahl sie ihre Liebe dadurch, daß sie die Wahrheit verheimlichte.
Die Menschen traten kühn an sie heran und taten mit ihr was sie wollten, sie aber konnte sich nicht wehren und gab, erfüllt von tierischem Ekel und Schmerz, nach. Und dafür, daß sie nachgab, daß sie trotz Ekel und Schmerz nachgab und nachgeben mußte, für dies blendende und betäubende Wesen in ihr, das die Menschen trieb, sich über sie zu werfen, reichte eine von Menschen verhängte Strafe nicht aus. Es wäre ihr ja ein leichtes gewesen, ein Ende mit sich zu machen, aber das hätte ihr nicht genügt. Auch wenn man sie gefoltert und gemartert, wenn man sie zu Tode gefoltert hätte, was hätte ihr das genützt? Für sie war eine von Menschen bestimmte Strafe zu gering, sie mußte sich selbst ihr Urteil sprechen und sich selbst hinrichten. Aber wie sich strafen, wie sich hinrichten? In den drei Jahren des Entsetzens, der Scham und der Qual hatte sie sich in den schlaflosen Nächten die Haare gerauft, hatte mit dem Kopf gegen die Eisenstäbe ihres Bettes, – ihres schmalen Mädchenbettes – geschlagen, aber was war damit erreicht? Nichts, gar nichts! Wer sollte ihr die Strafe diktieren und wie sollte sie sie vollziehen?
Wenn die Menschen einander genau sehen und beachten würden, wenn Alle Augen hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre das eiserne Herz gar nicht nötig, wenn die Menschen einander sehen würden!
Jenja verließ Moskau und lebte einige Zeit auf dem Lande, in der Familie eines ihrem Vater befreundeten Arztes. Ihr Vater, der jetzt nicht nur Trauer in ihrem Gesicht bemerkt hatte und unruhig geworden war, erklärte sich ihr Aussehen mit Uebermüdung und redete Jenja zu, sich auf dem Lande zu erholen. Folgendes geschah nun während ihres Landaufenthaltes: Am Dienstag in der Karwoche reiste sie von da ab, aber nicht nach Hause zum Osterfest, wie man annahm, sondern sie begab sich in den Wald und betete dort drei Tage und drei Nächte mit der ganzen Glut des Entsetzens, der Scham und der Qual eines sich selbst verurteilenden Herzens, und flehte nur um eins: um Strafe, – daß ihr eine Strafe angezeigt und eine Buße auferlegt werde. Am Karfreitag aber erschien sie in der Kirche zur Zeremonie des Grabtuches, ganz nackt, mit einem Rasiermesser in der Hand. Als das Grabtuch hinausgetragen wurde, folgte sie ihm – alle wichen vor ihr zurück, wie vor dem Grabtuch selbst. Sie stand ganz nackt da, mit dem Rasiermesser in der Hand: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!“ rief sie aus. Jemand erwiderte „Amen“. Da erhob sie das Messer und schnitt sich Kreuze hinein in die Stirn, in die Schultern, in die Arme, in die Brust, und ihr Blut ergoß sich auf das Grabtuch.
Ein ganzes Jahr oder noch länger lag Jenja im Krankenhaus, wohin man sie bewußtlos aus der Kirche gebracht hatte. Von den Kreuzen waren keine deutlichen Male zurückgeblieben, nur eine schwache Narbe auf der Stirn, aber auch diese war unter dem Haar nicht zu sehen. Und als man fand, daß sie sich genügend erholt hatte, schickte man sie zu ihrem Vater zurück.
Hatte sie sich nun beruhigt? Nein. Aber sie betete nicht mehr um Strafe. Tief in ihrem Innern war es still geworden. Mag sein, daß man durch irgendwelche Heilmittel auf sie gewirkt hatte, oder daß sie, sich erholend und gesundend, nicht mehr so fein in sich hineinhorchen konnte, um zu vernehmen, was in der Tiefe redete. Aber bald sollte sie es doch vernehmen, und ganz unerwartet.
Zu ihrem Vater kam häufig der Buchführer der Plotnikowschen Fabrik, Alexej Iwanowitsch Marakulin. Jenja gefiel ihm sehr, und er erklärte sich bald. Da vernahm sie plötzlich, was in der Tiefe sprach.
Niemand wußte bis dahin, wofür sie eine Strafe für sich herabgefleht hatte, kein Mensch ahnte etwas von den drei qualvollen Jahren und von dem vierten Jahr ihrer Buße. Nicht einmal dem Priester in der Beichte hatte sie etwas verraten: sie sprach es in Gedanken unter dem Epitrachelion, wenn der Priester über ihr gebeugt die Vergebung las. Sie konnte sich nicht entschließen, ihm etwas zu sagen: es hätte ihm vielleicht nicht genügt zu erfahren, was sie getan; er hätte sie jederzeit über die Personen ausfragen können, die mit ihr verkehrt hatten. Vielleicht hätte er auch angesichts ihres Entsetzens, ihrer Scham und ihrer Qual, um ihr einen weltlichen Trost zu verschaffen, zu erfahren gewünscht, wie sich alles zugetragen hatte, und dann gar, über die Umstände unterrichtet, jene Personen verurteilt und sie selbst von aller Sünde freigesprochen! Sie aber beschuldigte niemand als sich selbst, ihr eigenes blendendes und betäubendes Wesen. Außerdem hätte der Geistliche jene Menschen auch denunzieren können. Jetzt aber wollte sie es dem Menschen offenbaren, der sie liebte. Sie mußte alles sagen – so sprach es in ihrem Innern – sie mußte diesem Menschen alles sagen.
Und sie erzählte ihm alles, rückhaltlos. Er hörte milde zu und weinte; – er liebte sie. Ohne daß er im Innern glaubte, daß es sich nie wiederholen würde, daß die Geschehnisse dieser drei Jahre nicht wiederkehren könnten, wollte er es doch glauben, denn er liebte sie.
Ihr ganzes weiteres Leben widmete Jenja ausschließlich ihren Kindern. Gleich im ersten Jahr ihres neuen Lebens war es, als wäre sie plötzlich alt geworden, aber es war nicht Alter, sondern jenes Entsetzen, jene Scham und Qual, die jetzt auf ihrem Gesicht, wie einst die Trauer, sichtbar wurden und es alt machten. Und ihre Augen, die oft wie aufgescheucht waren und die Hände stets wie im Gebet gefaltet, als flehten sie, sie zu schonen und nicht anzurühren, – dies blieb ihr eigen bis an ihr Lebensende. Im Sarg lag sie mit dem Kreuz auf der Stirn: unter der Stirnbinde war es jetzt deutlich zu sehen.
Marakulin war damals zehn Jahre alt, aber er konnte sich noch genau an dieses Kreuz erinnern, an das auf der wachsgelben Stirn unter der weißen Binde sichtbare Kreuz. Und auch jetzt auf der Fahrt nach Moskau dachte er daran, und die Erinnerung an das Kreuz der Mutter war in ihm irgendwie fest und unlösbar mit seinem eigenen goldnen Taufkreuz verbunden, das ihm vor Weihnachten abhanden gekommen war.
Und Trauer überflutete ihn.
* * *
Marakulin reiste nach Moskau auf den dringenden Ruf Plotnikows:
Pawel Plotnikow war mit Marakulin zur Schule gegangen, war aber um zwei Klassen jünger. Als Marakulin ihn zum erstenmal sah, gefiel er ihm sehr: es war ein gesunder Knabe, von einer wie Milch und Blut zarten Haut, so daß man Lust bekam, ihn zu streicheln und mit ihm zu scherzen, um ihn lachen zu machen. Im ersten Schuljahr hatte Pawel Plotnikow oft Halsschmerzen, und das weiße Tuch um den Hals machte ihn noch liebenswerter. Marakulin sprach und scherzte oft überaus freundlich mit ihm, Plotnikow aber zeigte eine gewisse Scheu. Erst im nächsten Jahr wurden sie durch einen Zufall einander näher gebracht: Marakulin sang im Chor mit, und auch Plotnikow wurde in den Chor aufgenommen, ebenfalls für die Altstimme. Bei den Gesangproben stand Plotnikow neben Marakulin, und allmählich verlor er seine Scheu vor ihm und schloß sich jetzt enger an Marakulin an, welcher für ihn alles tat, was er nur konnte: er löste schwierige Aufgaben, machte die Uebersetzungen für ihn. Diese rührende und zärtliche Freundschaft dauerte ein Jahr. Darauf war Plotnikow nach den Sommerferien auf einmal so erwachsen, und es war nichts mehr in ihm von dem Jung-Katzen- oder Hundeartigen, das Marakulin so gereizt hatte, ihn wie ein kleines Tier zu streicheln. Marakulin gab sich nun weniger mit ihm ab, unterhielt sich nicht so freundlich mit ihm wie früher, fuhr aber im übrigen fort, alles für ihn zu tun, was er nur konnte. Denn Plotnikow wandte sich oft an ihn, wie an einen ältern, der alles weiß, was er selbst niemals wissen könnte.
Plotnikow kam in der Schule nicht vorwärts. In der fünften Klasse blieb er sitzen und wurde aus der Schule genommen. Er war der einzige Sohn seiner Eltern, dazu der jüngste einer ganzen Reihe von Schwestern, und wurde fürs Geschäft gebraucht. Das Plotnikowsche Geschäft war in der ganzen Taganka[8], ja, in ganz Rußland bekannt. Zu jener Zeit war Plotnikow bereits so dick und groß geworden, daß man bei seinem Anblick sich schwer den kleinen Buben Pascha mit dem weißen Tuch vorstellen konnte, jenen wie kuhwarme Milch frischen Pascha, den man gern streicheln mochte, um ihn lächeln zu machen. Man hätte wohl annehmen sollen, daß jetzt jede Beziehung zwischen den beiden Knaben aufhören müßte, aber dem war nicht so. Plotnikow kam manchmal zu Marakulin, um sich ein Buch zu holen: er bat stets um irgendein Buch zum Lesen, und so schüchtern, als hätte er Angst. Marakulin gab ihm dann ein Buch, worauf er sich längere Zeit nicht sehen ließ. Dann konnte er wieder ganz unerwartet erscheinen, meist zu einer unpassenden Stunde, am frühen Morgen, und oft in so erregtem Zustand, daß es den Eindruck machte, er hätte, nachdem er am vorherigen Abend in einem Bierlokal der Taganka angefangen, die Nacht bis zum Morgen im Restaurant „Ssaratow“ und bei Jar durchgekneipt, sich morgens in einer Fünfkopeken-Badeanstalt gewaschen und wäre von da aus direkt zu Marakulin gekommen, – es fehlte nur der Birkenbesen. Es war in der Tat auch so. Schüchtern gab er das Buch zurück, brachte ebenso schüchtern vor, daß er es nicht habe bewältigen können und ein einfacheres haben möchte. Marakulin gab ihm ein einfacheres Buch, und Plotnikow verschwand wieder für längere Zeit.
In den letzten Schulklassen gab es damals eine zusammengelaufene Bande, die ungefähr das gleiche miteinander verband, was Marakulin späterhin mit Glotow verbunden hatte. Es waren einige Tollköpfe mit einem Gefolge von Nachahmern und sonst Burschen, die sich austoben wollten und aus denen später die tüchtigsten Geschäftsleute und die unbedeutendsten Kommis wurden. Mancher von ihnen ergab sich nachher dem Trunk und endete auf der Ssiworotka. Die Mitglieder dieser Bande waren Stammgäste in einem Bierlokal an der Taganka, auf den Moskauer Boulevards, an den Sonntagen im Sommer auch in Kuskowo, denn die Bewohner der Taganka und der Rogoschskaja ziehen im Sommer nach Kuskowo hinaus. Zu dieser Bande gehörte auch Marakulin. Zuweilen schloß sich ihr auch Plotnikow an.
Plotnikow, der bis zur Besinnungslosigkeit trank, ließ sich einmal in einem sehr leichten Anzug – noch leichter angezogene werden auf die Wache gebracht – auf dem Taganskij-Platz in einen Kampf mit Pferden ein. Wüst und Beschwichtigungen unzugänglich, betrunken bis zum äußersten, konnte er die tollsten Sachen anstellen, ganz wahllos, wie es ihm gerade einfiel, und ließ sich dabei von niemand und von nichts stören. Das war bekannt. Nur für Marakulin machte er eine Ausnahme. In den äußersten Fällen konnte einzig Marakulin den wilden, unantastbaren Plotnikow beschwichtigen und sogar zur Einsicht bringen.
Pawel Plotnikow glich in der Unerschütterlichkeit und unbeschränkten Willkür, zum eignen Spaß die tollsten Streiche auszuführen, ganz seinem Vater Wassilij Pawlowitsch. Wassilij Pawlowitsch Plotnikow aber war in dieser Beziehung der erste auf der Taganka, und seine „Tätigkeit“ wirkte ansteckend: er hatte nicht wenig Nachahmer. Nur daß Wassilij Pawlowitsch, der keine einzige, geschweige denn fünf Klassen absolviert hatte, im Gegensatz zu seinem Sohn niemals wüst wurde und auf den Plätzen weder mit Menschen noch mit Pferden sich in Kämpfe einließ. Er war still und sanft; Branntwein kam nie über seine Lippen. Noch in den letzten Jahren seines Lebens, als Wassilij Pawlowitsch schon alt war, seine Erfindungsgabe ihn verlassen hatte und er selbst sich wohl bewußt war, nicht mehr recht auf der Höhe zu sein, kam er auf den Gedanken, zum Zeitvertreib die Schutzleute zum Trunk zu verführen – er wollte die ganze Polizei buchstäblich kopfstehen machen. Und er führte diese Absicht mit der größten Meisterschaft aus, sein Ziel mit allen Mitteln verfolgend: konnte er es selbst nicht tun, so mußten es seine Leute auf Befehl ausführen. Als Lockmittel diente ein Wagen, ein ganz gewöhnlicher alter Wagen, an dem nichts Besonderes war, nicht einmal ein Wappen; denn den Bewohnern der Taganka kommen Wappen ihrem Stande nach nicht zu. Am Morgen setzte sich also Wassilij Pawlowitsch ans Fenster und fing einen Schutzmann ab, der um diese Zeit zum Polizeirevier zu gehen pflegte. Der Schutzmann wurde dann ins Haus gerufen, irgendeiner Angelegenheit wegen, die es natürlich gar nicht gab, denn man hütete sich sonst mit der Polizei zu tun zu haben, aber eine Kleinigkeit, die zum Vorwand dienen konnte, gab es doch immer. Dabei schlug Wassilij Pawlowitsch dem Schutzmann vor, sich den Wagen anzusehen, und sein Vorschlag klang mehr wie eine Bitte. Der geschmeichelte Schutzmann folgte ihm in den Schuppen, wo schon alles für den Spaß notwendige vorbereitet war. Der Schutzmann wurde erst herausgelassen, wenn er sternhagelvoll nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Am nächsten Tag wiederholte sich die Geschichte und allmählich kam es so weit, daß der Schutzmann alle Würde beiseite ließ und am Morgen von selbst in den Schuppen kam, um sich den Wagen anzusehen. Natürlich wurde er bald aus dem Dienst entlassen, an seine Stelle trat ein andrer, und mit diesem begann die Wagengeschichte von neuem. Der Ruhm Wassilij Pawlowitschs ließ den Fischhändler Barabochin nicht schlafen, und seinem Vorbilde nacheifernd verführte er die Popen zum Trunk. Als Lockmittel diente ihm ein ganz gewöhnlicher Fischbehälter; nicht etwa, daß sich darin irgendwelche ausgefallenen fabelhaften ausländischen Fische mit schwer auszusprechenden Namen befunden hätten, sondern es war ein Behälter mit ganz gewöhnlichen Sterleten ... Der Wagen sowohl wie der Fischbehälter arbeiteten ziemlich lange Zeit mit unerhörtem Erfolg, bis ihre Inhaber des Spaßes überdrüssig wurden. So war Wassilij Pawlowitsch beschaffen, und er ließ in seinem Sohne Pawel einen Erben zurück, der seiner würdig war. Zusammen mit dem Wagen hatte Plotnikow von seinem Vater auch sonst noch allerlei Einfälle zum Zeitvertreib geerbt und hatte dieses Pfund nicht vergraben, sondern weiter damit gewuchert. Es mochte ihm was immer einfallen, so beruhigte er sich nicht, bis er es ausgeführt hatte; es fiel ihm aber manches ein, wovor einem Angst werden konnte. Aber nie hätte er sich etwas erlaubt, das geeignet gewesen wäre, Marakulin zu verletzen – Marakulin war eben eine Ausnahme. Und auch das wußten alle.
Dreimal hatte Plotnikow Marakulin seine warme, freundschaftliche Teilnahme bewiesen: einmal, indem er ihn beschützte, das zweitemal, indem er ihn einrichtete, und das dritte, indem er ihn befreite. Das Beschützen bestand darin, daß Plotnikow Marakulin von Strakunow befreite, indem er Strakunow vor allem Volk und unter Begleitung guter Lehren tüchtig verprügelte. Auf der Taganka trieb sich damals nämlich ein gewisser Ssaschka Strakunow herum, ein Durchschlüpfer: der Teufel mochte wissen, wovon er lebte, er war eben nicht wählerisch. Es gelang ihm, sich in die Bande, die sich in Kuskowo herumtrieb, einzuschleichen und Marakulin zu gefallen. Gott weiß wodurch, denn Marakulin selbst hätte nicht sagen können, was ihn an Strakunow so sehr anzog. Er stammte wohl von Zigeunern ab und schnitt beständig Grimassen, sonst war an ihm nichts Hervorragendes. Dieser Bursche plünderte Marakulin förmlich aus, und alles Geld, das dieser durch Stundengeben verdiente, machte er sich zur Beute. So ging es einen Monat lang. Als Plotnikow dies erfuhr, zögerte er nicht lange und beschützte Marakulin.
Ferner: gleich nach Absolvierung der Schule, fast unmittelbar nach dem Examen, kaum daß er eine Woche die Freiheit genossen hatte, trat Marakulin bereits in das Bureau an der Kusnetzkajabrücke ein – und das war Plotnikows Werk.
Die Sommerabende wurden damals auf den Boulevards verbracht. Einmal lernte Marakulin bei der Donnerstagsmusik in Tschistije-Prudy ein Mädchen namens Polja kennen. Polja, die erst in der Dämmerung auf dem Boulevard zu erscheinen pflegte, wohnte auf der Rogoschka, in der Bahnhofstraße. In Tschistije-Prudy war sie als Polja bekannt, aber Dunajew, der Marakulin mit ihr bekanntgemacht hatte, nannte sie Dunja, auch von Poljanskij wurde sie so genannt. Dunajew und Poljanskij waren seine Schulkollegen, und da sie beide ebenfalls auf der Taganka wohnten, gehörten sie mit zu der Bande. Bald wurde Polja auch für Marakulin zur Dunja. Diese nähere Bekanntschaft kam nicht zustande, weil Marakulin sie so sehr ersehnt hatte, nein, der Grund war ein ganz anderer – purer Blödsinn. Zu Ostern nämlich hatte Marakulin Poljanskij besucht und war in einem gewöhnlichen Gespräch über die Schulkameraden – es war kurz vor den Schlußprüfungen – mit Poljanskij in einen Streit über Dunajew geraten. „Du bist in Dunajew einfach verliebt,“ bemerkte Poljanskij eigentümlich lächelnd, „er sieht wie ein junges Mädchen aus, deshalb nimmst du ihn so in Schutz.“ Marakulin wurde ganz rot und sehr verlegen, weil Poljanskij so lächelte und weil er selbst sich rot werden fühlte: sollte er in der Tat Dunajew deshalb verteidigt haben, weil dieser einem jungen Mädchen glich? – Damit fing es an. Dieser wie ein junges Mädchen aussehende Dunajew, der auf den Boulevards zu Hause war, bot Marakulin an, – sei es als Zeichen seines kameradschaftlichen Dankes, oder „überhaupt so“ – in solchen Angelegenheiten spielt dieses „überhaupt so“ eine wichtige Rolle – ihn mit Polja bekanntzumachen. Marakulin, der Poljanskijs Worte und vor allem die Art, wie er gelächelt hatte, nicht vergessen konnte, stürzte sich auf diese Bekanntschaft: jetzt würde Poljanskij nicht mehr so lächeln. Ein richtiger Knabenunsinn wurde so zum Anlaß! An einem der Donnerstagabende in Tschistije-Prudy kam die Bekanntschaft zustande. Marakulin gefiel dem Mädchen auf den ersten Blick. Gleich in den ersten Tagen, nachdem sie ihn kennen gelernt hatte, sprach sie es vor Dunajew und Poljanskij ganz geradezu aus. Und als sie einmal nachts im Bahnhofgäßchen Marakulin aus ihrem Zimmer hinunterbegleitete, lief sie flink die Treppe voraus, um die Tür aufzuschließen, versperrte Marakulin den Weg, umarmte ihn fest – ihre Arme wurden dabei plötzlich ganz kindlich-zart – und steckte ihm ein Tuch, in dem die Anfangsbuchstaben seines Namens in Kreuzstich eingestickt waren, ein seidenes, duftendes Tüchlein, in die Tasche. Es duftete aber nicht nach dem Parfüm, das sie sonst brauchte, wenn sie in der Dämmerung auf den Boulevard ging, sondern nach einem anderen. Seit jener Nacht aber trieb es ihn immer mehr von ihr fort, und je mehr sich Dunja an ihn hing, desto mehr entfernte es ihn von ihr. Gegen Ende des Sommers wurde ihm ihre Betulichkeit und ihr Auflauern ganz unerträglich: er konnte sich nirgends mehr vor ihr verstecken. Sie hatte sich vom Boulevardleben zurückgezogen, putzte sich nur für ihn, parfümierte sich für ihn mit jenem anderen Parfüm. Dies war für sie ein Opfer: denn es ist für eine, die von der Straße lebt, ganz unmöglich, Geld für Putz auszugeben, wenn sie nichts verdient. Und sie hätte auch jetzt noch, so wie sie war, vorwärts kommen können, wenn sie gewollt hätte: es war etwas Ungewöhnliches an ihr. Ihre Boulevardfreundinnen behaupteten es, auch Dunajew und Poljanskij waren dieser Meinung. Auch Marakulin wußte es – ihre Arme waren damals in der Nacht plötzlich so kindlich-zart geworden – doch was sollte er tun? Ihr Tuch, das er nie aus der Tasche nahm und das er gewiß vergessen hätte, wenn er es nicht immerzu hätte fühlen müssen, dieses Tuch mit seinen in Kreuzstich gestickten Anfangsbuchstaben, das kleine seidne Tüchlein, zog ihn wie etwas Schweres hinunter, als wäre es aus Blei und nicht aus Seide, und es blieb ihm nichts übrig, als entweder es zu verbrennen oder in den Moskaufluß zu werfen. Er warf es in die Moskau. – Es war Ende August, an einem der letzten Kuskowschen Feste: die Bewohner der Taganka und der Rogoschskaja waren im Begriff heimzukehren, – es war der letzte Sonntagabend, kalt und klar gestirnt. Das Theater war bereits aus und der Bahnhof voller Menschen. Auf dem Perron spazierte Dunja. Da trat Marakulin auf sie zu und überschüttete sie mit der ganzen in ihm aufgesammelten, lange zurückgehaltenen und jetzt plötzlich aufkochenden Wut, ohne eine Erwiderung abzuwarten, ohne ihr nur Zeit zum Erwidern zu lassen. Auf einmal brach er ab und ließ sie stehen. Er glaubte jetzt alles ausgerichtet zu haben: jetzt war er sie los, war er mit ihr fertig. Und mehr wollte er ja nicht! Zu Dunja gesellte sich darauf Poljanskij und ging mit ihr auf dem Perron auf und ab. Als sie an Marakulin vorbeikamen, flüsterte Poljanskij ihm etwas zu, aber so leise, daß er die Worte nicht verstehen konnte, nur das Lächeln bemerkte er, das gleiche Lächeln, wie damals zu Ostern. Als dann Marakulin die beiden von ferne – am anderen Ende des Perrons – wieder erblickte, empfand er einen brennenden Vorwurf. Je näher sie kamen, desto brennender wurde der Vorwurf und die Scham in ihm. Und als sie wieder ganz nah an ihm vorüberging – er stand ganz allein und für sich – und er sie von Angesicht zu Angesicht sah – da konnte er dies brennende Gefühl des Vorwurfs und der Scham nicht mehr ertragen: er warf sich ihr zu Füßen und verneigte sich tief bis zur Erde. Da geschah lautlos offenbar etwas Unheimliches: denn die Menge stob plötzlich nach allen Richtungen auseinander. In dem Moment nämlich, da sich Marakulin verneigte, fuhr der Zug ein, der Bahnhof erdröhnte, der Wind pfiff, – und als er sich erhob, sah er, daß ein Polizist, vielleicht war es auch ein Polizeileutnant, Dunja beim Arm fortschleppte. Marakulin begann zu zittern, begriff nichts, und einzig das scharfe Pfeifen des Windes in den Ohren, versetzte er dem Polizeileutnant einen Schlag. Es war aber so, daß der Reviervorsteher Dunja gar nicht arretieren wollte, vielmehr konnte er sie gerade noch zurückreißen, bevor der Zug sie erfaßte und zermalmt hätte. Dies erfuhr Marakulin aber, als es schon zu spät war. Am nächsten Abend erschien Plotnikow plötzlich im Polizeirevier auf der Taganka, wohin Marakulin aus Kuskowo gebracht worden war, und teilte ihm schüchtern mit: man würde ihn morgen früh freilassen. In der Tat wurde Marakulin am nächsten Morgen ohne weitere Folgen entlassen. So hatte ihn Plotnikow damals aus dem Gefängnis befreit. Das war auch Marakulins letztes Zusammentreffen mit ihm gewesen.
Alle diese Moskauer Erlebnisse stiegen bis ins kleinste in seiner Erinnerung auf und ließen Marakulin die ganze Nacht nicht schlafen. Erst ganz nah vor Moskau schlummerte er ein und hatte einen seltsamen Traum.
Er träumte, Pawel Plotnikow trete zu ihm und spreche schüchtern:
– Das beste, rationellste und psychologischste für dein Leben wäre, dir den Kopf abzuschneiden.
Marakulin aber antwortete:
– Wie soll ich dann ohne Kopf leben, es ist ja schrecklich ohne Kopf!
– Was ist aber zu machen! – erwiderte Plotnikow und redete ihm zu: es würde gar nicht weh tun und ihm höchstens seltsam und sonderbar vorkommen. Und obwohl er ihm auf seine Art schüchtern zuredete, so ließ er doch keinen Widerspruch gelten.
– Nun, so schneide ab! – willigte Marakulin ein.
Da nahm Plotnikow ein Rasiermesser und machte sich ans Abschneiden. Es tat wirklich nicht weh, und bald hing der Kopf nur noch wie an einem Faden nach hinten.
– Noch eine kleine entscheidende Bewegung und der Kopf ist abgeschnitten – sagte Plotnikow und arbeitete mit dem Rasiermesser.
Und der Kopf fällt zu Boden.
Aber auch ohne Kopf sieht Marakulin alles: er sieht, wie der Kopf herunterfällt, auf dem Fußboden rollt und verschwindet, und gleichzeitig schießt aus dem Hals das Blut in einem großen Strahl in die Höhe bis zur Decke – dickes, kirschrotes Blut. Der ganze Boden ist überflutet, und auch er ist ganz mit Blut bedeckt. Dann wird die kirschrote Blutfontäne schwächer, immer schwächer, und bald spritzt das Blut nicht mehr, es versiegt, und nur ein kleines Bächlein rinnt über die Weste zu Boden. Marakulin tritt zum Spiegel: seltsam und sonderbar kommt er sich ohne Kopf vor, – es ragt nur noch der blutige Hals.
– Wie soll ich nun ohne Kopf leben? – Er spuckte aus und erwachte.
Der Traum war ahnungsvoll: seltsam und sonderbar war auch, was dann geschah.
Bei Plotnikow wurde Marakulin schon erwartet. Der alte Arbeiter Fomitsch führte ihn gleich zu seinem Herrn ins Arbeitszimmer. Das Zimmer war in zwei Hälften geteilt. In der einen Abteilung befanden sich Kopien nach Nesterowschen Heiligenbildern, in der anderen zwei Käfige mit Affen. Zwischen dem heiligen Rußland und den Affen saß Plotnikow vom Delirium des Säufers übermannt. Er war ganz mit Honig beschmiert und von der quälenden Trauer eines Einsiedlers umdüstert. Auf dem Tisch standen geleerte Flaschen herum, ebenso unter dem heiligen Rußland und vor dem Affenkäfig.
Er habe keinen Kopf mehr, klagte Plotnikow, sein Mund sei ihm im Rücken, die Augen in den Schultern. In den Weihnachtstagen habe er sich auf den Honig gestürzt und ihn samt den Waben verzehrt. Er habe zuviel davon gegessen und infolgedessen hätten sich Bienen in ihm eingenistet, ein ganzer Bienenstock. Jetzt sei er ein Bienenstock und fürchte sich sehr, – Alle seien ja auf das Süße so erpicht – er fürchte, daß man alle seine Bienen umbringen, den Bienenstock zerstören und ihn auffressen würde! Im Sommer aber, sobald die erste Fliege auftauchen werde, wolle er sich mit der Ausbeutung der Fliege als einer motorischen Kraft befassen. Er werde ganz Rußland in Abteilungen einteilen, mit je einem Fliegenstatthalter in jeder Provinz. Die Statthalter, mit der Vollmacht von Generalgouverneuren ausgerüstet, werden die Fliegenlese überwachen und sie in automatischer Packung in ganz besonders gepanzerten Automobilen von allen Ecken Rußlands gradewegs nach Moskau, nach der Taganka befördern. Die russische Fliege werde den Dampf und die Elektrizität besiegen, Rußland werde England und Amerika zu Staub zermalmen. Er habe keinen Kopf, sein Mund sei im Rücken, die Augen in den Schultern. Er sei ein Bienenstock. Die russische Sprache verstehe er nicht und könne auch nicht Russisch sprechen.
– Ich brauche deinen Elephanten nicht! – schrie Plotnikow, indem er Marakulin mit seinen betrunkenen Augen von oben bis unten hochmütig ansah, und schimpfte in so echt russischen Wendungen, ließ solche Blasen steigen, daß ihm vor der Klangfülle und Kernigkeit der Muttersprache die Augen aus den Höhlen traten.
Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland und den Affen und begriff nichts: weder das von dem sonderbaren russischen Fliegenmotor, noch vom Bienenstock und Elephanten, und es war ihm seltsam und sonderbar zumute. Sein Schweigen aber begann Plotnikow offenbar zu reizen. Er war nicht mehr in dem reuig-traurigen Zustand eines Einsiedlers, sondern er schnaubte.
Die russische Sprache verstehe er nicht und Russisch könne er nicht sprechen. Mit Hilfe der arktischen Flotte werde Rußland, nachdem es Europa zermalmt, über Lappland zum Pol ziehen und nicht bloß den Pol erobern, wo die Fische mit angebratenen Schwänzen leben, sondern alles, was sich hinter dem Pol befindet, den unbekannten Wohnsitz von Gog und Magog – und dieses unbekannte Gog und Magog werde Landia genannt werden, das heißt: das Land. Von dort aus, von dieser hinterpolaren Landia aus, werde Rußland, das heißt er, Pawel Plotnikow, die unentgeltliche, allrussische Fliegenkraft als Motor benutzend, die Erdkugel automatisch regieren und sie nach Gutdünken bald rechts, bald links rotieren lassen, sie bald aufhalten und bald wieder in Bewegung setzen.
– Du Schuft! – rief Plotnikow plötzlich, – deine Elephanten sind zerdrückt, ich sage dir, ich kaufe keine zerdrückten Elephanten!
Er ergriff eine Flasche vom Tisch, erhob sich, rot, zerzaust, mit Honig beschmiert, den Mund wie einen Rachen weit aufgesperrt und holte zielend mit der Flasche aus.
Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland und den Affen. Er begriff nichts, weder das von der arktischen Flotte, noch von Gog und Magog, noch von der Landia und vom Rotierenlassen der Erdkugel nach Belieben, – und es war ihm seltsam und sonderbar zumute.
Plötzlich aber glitt die Flasche fast schüchtern zu Boden, und ein rasender tierischer Schrei, erschütternder als jeder Hilferuf, ertönte so gewaltig, daß die Wände fast barsten, das heilige Rußland zu wanken begann und die Affen in ihren Käfigen zurückscheuten. Es stöhnte in den Winkeln des Raumes und dröhnte durchs ganze Haus:
Plotnikow, der sich in seiner bösen Trinkerperiode befand, ohne Kopf, mit dem Mund auf dem Rücken und den Augen in den Schultern, Plotnikow, der Bienenstock, der kein Wort Russisch verstand und nicht Russisch sprach – hatte Marakulin plötzlich erkannt.
– Petruscha, Schuft aller Schufte! – schrie er. Er blieb stecken, drehte den Kopf wie einen Rüssel, stampfte vor Marakulin hin und her und spreizte die behaarten Hände wie Fangarme; dabei rüttelte und schüttelte es ihn, wie ein arktisches Panzerschiff: – Petruschka, du Schuft! –
Er wankte zum Sofa, schlug mit seinem bepanzerten, Gog und Magog ähnlichen urtümlichen Plotnikowschen Körper auf den Boden zwischen dem heiligen Rußland und den Affen hin und begann wie ein Bienenstock zu dröhnen.
Zwei junge Männer, die an der Tür Wache hielten, faßten Marakulin unter die Arme und trugen ihn wie eine kostbare Truhe aus dem Arbeitszimmer in den Salon. Ihm entgegen kam auf einen Stock gestützt eine magere alte Frau, die Mutter Plotnikows, Eudokia Andrejewna in eigener Person.
– Du hast ihn gesund gemacht! – Die Alte konnte vor Erregung kaum sprechen, und nachdem sie auf altrussische Art ein großes Kreuz geschlagen, ließ sie den Stock fallen und verneigte sich vor Marakulin tief bis zur Erde. Einige dunkelgekleidete alte Frauen stürzten aus den Ecken hinzu, um ihr zu helfen, aber sie wollte nicht aufstehen. Erst Marakulin gelang es, die Alte zu beruhigen.
Achtundvierzig Stunden schlief Plotnikow, wie ein Bienenstock dröhnend. Es herrschte eine Stille, als wäre außer ihm, außer dem Bienenstock keine lebendige Seele im Hause. Diese ganzen zwei Tage ließ man Marakulin nicht aus dem Hause: er wurde gepflegt, gefüttert, aber seine Tür wurde verschlossen gehalten.
Man unterhielt sich über den unseligen Pascha[9], über sein Unglück: er habe sich mit Honig beschmiert und seitdem aufgehört, die Menschen zu erkennen, selbst seine Mutter hielt er für einen gehörnten Elephanten, für ein zerdrücktes Tier, und habe Fomitsch befohlen, sie zu erschießen. Er habe dann in seinem unglückseligen Delirium jammervoll nach Marakulin gerufen, so jammervoll, wie eine Katze, der man die Jungen entrissen.
– Da erinnerte ich mich – erzählte Eudokia Andrejewna, – daß Pascha, als er anfing, sich ans Geschäft zu gewöhnen, oftmals ein Buch mitbrachte. Bei Petruscha, bei Peter Alexejewitsch war er, hieß es, und habe das Glück mitgebracht. Er glaubt an dich von Kindheit an. Und so dachte ich: der einzige Retter vor seiner grausamen Krankheit und vor seinem Unglück kannst du nur ihm sein. Wir baten den Priester von Woskressenje[10], den Vater Ssemjon, ihn mit Weihwasser zu besprengen, er ließ ihn aber nicht an sich heran und nannte ihn ein zerdrücktes Tier. Dann wollten wir ihn nach Chapilowka zum Bruder Iwanuschka bringen, er wollte aber nichts hören. Dem Arzt Nikolai Fjodrowitsch sei es gedankt. Er hat uns auf den Gedanken gebracht, dich kommen zu lassen. Du, Lieber, hast ihn geheilt! – und die Alte bekreuzigte sich auf altrussische Art mit einem großen Kreuz und verneigte sich tief.
– Durch die Einwirkung des Unreinen, – wie eine grimmige Bestie! – flüsterten die dunklen Alten in den Ecken.
Und Eudokia Andrejewna schlug Kreuze und verneigte sich tief.
Am dritten Tag erwachte Plotnikow, fuhr, als wäre nichts vorgefallen, in die Stadt und kehrte erst am Abend wohlbehalten wieder heim. Am Abend schleifte er Marakulin mit sich ins Wirtshaus zu Lawrow.
Sie saßen wieder wie einst im linken Saal in einer Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat. Plotnikow kramte Erinnerungen aus: Erinnerungen an die Schule, an die Lehrer, an Tschistije-Prudy und Kuskowo. Er erinnerte sich sogar an eine besondre Lawrowsche Suppe, die Marakulin damals so gern gegessen haben sollte. Der Musikautomat machte traurig: doch nicht daß man Lust bekam, das Vergangene zurückzurufen – die Vergangenheit lag ja hier vor einem wie auf der flachen Hand – sondern es war unverständlich, wozu es einmal gewesen war, es sei denn dazu, daß man sich einmal daran erinnerte. Und in die geheimsten Winkel seines Lebens hineinschauend, erkannte Marakulin, daß es sich eigentlich in nichts verändert hatte, daß er damals bei der besondren Lawrowschen Suppe dasselbe gedacht und gefühlt hatte wie jetzt, nur unklar und nicht ausgesprochen, mit einem flüchtigen, zufälligen Aufflackern von Klarheit. Uebrigens, verändern sich denn die Menschen überhaupt? –
Sie saßen wie einst im linken Saal in einer Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat.
– Mit deinem Arkadij Pawlowitsch – sagte Plotnikow, – mit dem Reviervorsteher, – du hast ihn damals sehr zu Unrecht gekränkt, Petruscha – habe ich da ... – Plotnikow zeigte in die Richtung der Separés und schlug sich seufzend auf die Tasche, – Fünfhundert Rubel verlangte er für den Vergleich, und alles wegen deiner Fenja ...
– Dunja – verbesserte Marakulin.
– Dunja, Fenja, einerlei, – komm mit zu Arkadij Pawlowitsch, Freund, er wird sich sehr freuen! Er hat, weißt du, für den Moskauer Aufstand ein Kreuz bekommen, wirklich, und ist auf die Twerskaja versetzt worden – er wird sich sehr freuen! Und weißt du was noch, Petruscha – Plotnikow neigte sich zu ihm und sprach ganz leise – ich glaube an dich, wie an den lieben Gott, und wenn in den Geschäften etwas nicht glatt geht, so brauche ich nur an dich zu denken, deinen Namen laut auszusprechen, und sieh, alles geht nach Wunsch. Ich denke darum, wenn mein Ende einst naht und ich sterben muß, dann werde ich dich rufen, du wirst kommen und meinen Tod aufhalten. Ich werde wie eine grindige Katze miauen, du aber wirst mich wieder zum Menschen machen. So denke ich von dir, Petruscha!
Sie saßen wie einst im linken Saal, und wie einst spielte der Musikautomat.
Doch sonderbar: während Plotnikow sich an alles von früher her erinnerte, selbst an die besondre Lawrowsche Suppe, die Marakulin gern gegessen haben sollte, und während er seinen Glauben an ihn bekannte, war er gar nicht neugierig und fragte auch nicht mit einem Wort, wie es Marakulin jetzt gehe; und noch sonderbarer war dies, daß Plotnikow, ohne die Augen von Marakulin abzuwenden, einen ganz anderen zu sehen schien, nicht Marakulin, sondern Gott weiß wen! Vielleicht sah er in der Tat in ihm jemand, den man nicht nach seinen Angelegenheiten ausfragen kann. Man fragt doch die Iwerskaja Mutter Gottes[11] nicht nach ihren Geschäften! – Und es war Marakulin sonderbar und seltsam zumute.
Noch einen Tag blieb Marakulin bei Plotnikow. Plotnikow führte ihn nach der Iljinka in den Speicher, dann in das Twersche Polizeirevier zu Arkadij Pawlowitsch; er war zu Plotnikows großem Bedauern nicht anwesend. Abends brachte er Marakulin zur Bahn. Und beim Abschied wiederholte er, daß er an ihn wie an den lieben Gott glaube, und wenn er einst im Sterben ihn erblicken werde, so werde er sich vom Krankenlager erheben, wie eine grindige Katze miauen und sich wieder in einen Menschen verwandeln.
Erst nachts unterwegs fragte sich Marakulin plötzlich, ob er seinen Aufenthalt in Moskau nicht geträumt hätte.
Das Alles war so sonderbar und seltsam: daß Plotnikow an ihn wie an den lieben Gott glaubte, daß er sich nach der Iljinka in den Speicher schleifen ließ, ja sogar zum Reviervorsteher Arkadij Pawlowitsch, – aber nach Kalitnikowo auf den Friedhof zu gehen, hatte er vergessen. Und er hätte doch unbedingt hingehen müssen, einen Augenblick am Grabe seiner Eltern verweilen, es nur ansehen, – nur ansehen und Abschied nehmen!
Und ein Gefühl von Gram überflutete ihn.
Den ganzen Tag von Morgen bis zum Abend lief Wera Nikolajewna herum, um zu massieren, die Abende verbrachte sie über ihren Lehrbüchern: sie bereitete sich zum Abiturientenexamen vor, weil sie um jeden Preis in das medizinische Institut eintreten wollte. Wera Nikolajewna wurde von Anna Stepanowna unterrichtet, deren Angelegenheiten im Lednjowschen Mustergymnasium übrigens nicht zum besten standen.
Die Vorsteherin Lednjowa zahlte ihr vorläufig mit Aussicht auf die geheimnisvollen Equipierungsgelder den Gehalt aus eigener Tasche, und sie begleitete diesen üppigen Vorschuß jedesmal mit ihren beliebten Erörterungen über gute Taten, über den Verfall der Moral überhaupt und über ihre eigene Opferwilligkeit – man denke: in ihrem eignen Gymnasium gab sie den Unterricht umsonst! –
Nach Anna Stepanownas Erzählungen war in diesem Gymnasium die Hölle los. Es herrschte ein musterhafter Wirrwarr in dem musterhaften Gymnasium. Nicht weil da etwa lauter ungezogene Kinder beisammen gewesen wären, nicht an ihrer Ausgelassenheit lag es, sondern weil man die Schülerinnen als Einnahmequellen warm halten mußte, und diese Behandlung von den Kindern ganz richtig eingeschätzt wurde. Natürlich wurden nie Verweise erteilt, und die Noten mußten so ausfallen, daß die Eltern nicht auf den Gedanken kommen sollten, ihre Töchter in eine andre Schule zu geben. Die Lednjowa gab selbst Unterricht und liebte es auch, den Stunden andrer beizuwohnen und durch allerlei Fragen ihre unbezahlten Lehrer zu kontrollieren. Es wurde überhaupt nach keinem Programm unterrichtet, auch nicht nach den Lehrbüchern, die das Unterrichtsministerium begutachtet und bestimmt. So zum Beispiel waren in der großen französischen Revolution nicht etwa Robespierre und Marat die Führer, wie man gewöhnlich lehrt – was bedeutet auch so ein Robespierre oder Marat! – der Hauptführer war Hugo Capet, der für sein Verbrechen gegen König Louis zugrunde ging.
Der musterhafte Wirrwarr im musterhaften Gymnasium wurde durch eine musterhafte Enge und Kälte vervollständigt. Es herrschte darin eine echte Januarkälte. Die Oefen wurden niemals geheizt, und zwar nicht nur nicht in den Klassenzimmern – denn so verlangt es das letzte Wort der Hygiene –, sondern auch nicht im Lehrerzimmer. Es ist wahr, daß die Kinder nicht sehr darunter litten: sie tanzten, sprangen, tobten herum, und das Gymnasium war ein wahres Sodom an Lärm. Für die Lehrer war es weniger bequem, daran teilzunehmen: leise kann man nicht Lärm machen und laut schickt es sich nicht. Auf alle Vorstellungen hatte die Lednjowa nur eine Antwort:
– Was fällt Ihnen ein? Sie sollten sich erst das Karrassewsche Gymnasium, oder das Spaßesche ansehen, dort ist es wirklich kalt!
Diese Antwort der Lednjowa versetzte Anna Stepanowna aus Petersburg in ihr Purchowez zurück und erinnerte sie an den Inspektor der Volksschulen, an den berühmten Obraßzow.
Dieser berühmte Mann aber war nicht mehr und nicht minder als der leibliche Bruder der Vorsteherin Lednjowa.
Rakow, der Historiker, sprach mit großem Respekt von ihm. Nach Rakow, wäre Obraßzows Name, hätte dieser in der „antiken Geschichte“ gelebt, unbedingt unter den berühmten Aussprüchen im Tempel zu Delphi eingegraben worden, und sein Kopf hätte den Giebel des athenischen Parthenon geschmückt. Und Rakow, der Historiker, irrte sich nie.
Als einmal ein Lehrer sich bei Obraßzow beklagte, daß es in der Schule naß und kalt sei, nur sechs Grad, da lautete Obraßzows, einer Lednjowa würdige Antwort folgendermaßen:
– Ich bitte Sie, sechs Grad, das ist ja doch ein wahrer Segen. Im Pokidoschenschen Gouvernement aber, da kam ich einmal, als ich noch Inspektor dort war, in eine Schule: die Kinder saßen in Schafpelzen, der Lehrer im Pelz und in Gummischuhen. Ich sitze ein Weilchen da, bin ganz durchfroren. Ich will eine Notiz über meinen Besuch machen, doch die Tinte ist eingefroren. Der Lehrer blies in das Tintenfaß, blies und wärmte es, es nützte aber nichts, und ich mußte ohne Notiz abreisen. Eine solche Kälte war da! Bei Ihnen aber ist ein wahrer Segen! – Und als ein andrer Lehrer sich einmal über die Enge in der Schule beklagte, da blieb ihm Obraßzow auch die Antwort nicht schuldig:
– Ich bitte Sie – rief er, – Sie haben keine Ahnung von wirklicher Enge. Im Pokidoschenschen Gouvernement, da kam ich einmal, als ich dort noch Inspektor war, in eine Pfarrschule: es war auch zugleich das Armenhaus. Im selben Zimmer die Betten der Armenhäuslerinnen, eine Gans schnattert in einem Korb auf den Eiern, ein Kalb blökt, und gleich daneben die Kinderchen auf fünf Bänken, – kein Platz, um auch nur einen Schritt zu machen, und die Luft so, daß mir der Atem verging. So eng ist es manchmal, hier aber ist ein wahrer Segen! – Dem Lehrer aber, der von einer Masse Frösche meldete, die sogar unter die Bettdecke krochen, gab Obraßzow einen wahrhaft delphischen Verweis, der es gebieterisch verlangt, Purchowez oder Pokidosch in Rakows Geschichte des Altertums aufzunehmen.
– Es kann hier von einer Masse gar nicht die Rede sein – rief Obraßzow – ein Dutzend höchstens hüpft da herum, gleich kommen Sie und nennen das eine Masse! Sie haben eben nie eine Masse gesehen! Im Pokidoschenschen Gouvernement, da kam ich einmal, als ich noch Inspektor dort war, in eine Schule, da wimmelte es an der Decke buchstäblich von Schwaben. Wenn man die Tür zuschlug, da regneten sie nur so herunter! Das nenne ich eine Masse. Als ich nach Hause kam und mich auszukleiden begann, da wimmelten die Schwaben nur so auf mir herum. Meine Frau bekam Angst und stieß mich sofort in den Frost hinaus, und ich mußte mich draußen ausziehen. Aber bei Ihnen hier ist ja ein wahrer Segen!
Ja, Rakow der Historiker hatte recht, wie immer.
Doch wenn man den Namen des berühmten Purchowezschen Inspektors unter den berühmten Aussprüchen im Tempel von Delphi hätte eingraben müssen, so müßte man die Vorsteherin Lednjowa, welche die große Kunst besaß, keinen Heller aus ihrer eigenen Tasche auszugeben und die nicht nur ihre ausgehungerten Lehrer, sondern sogar das Ministerium naszuführen verstand, – noch großartiger ehren!
Der Winter ging zur Neige. Zugleich mit dem Schnee schmolz der große schwarze Berg auf dem belgischen Hof zusammen. Der Frühling kam, Ostern kam.
Freudlos wurde das Osterfest empfangen, so wie das Weihnachtsfest freudlos vergangen war. Wassilij Alexandrowitsch der Clown hatte das Krankenhaus verlassen. Seine Ferse war geheilt, dennoch war seine Kunst unwiderruflich verloren. An der Ferse war etwas nicht richtig, er hatte gleichsam keine Ferse mehr: er konnte nur bis zur Ecke der Gorochowaja gehen, bis zum Zeitungsausträger und zurück, nicht weiter. Wera Nikolajewna riet der Arzt, statt das Abiturientenexamen zu machen, keine Zeit zu verlieren und nach Abas-Tuman[12] zu reisen: an ihrer Lunge war etwas sehr nicht in Ordnung – es war etwas wie ein Geräusch oder ein Zischen. Anna Stepanowna fiel bei der musterhaften Lednjowschen Ordnung einfach um vor Müdigkeit – und lächelte. Sie lächelte stets ihr krankes, erschreckendes Lächeln.
Zu Ostern ereignete sich auf dem Burkowschen Hof alles, was jahraus, jahrein an den hohen Feiertagen sich zu ereignen pflegte, seitdem das Haus an der Fontanka stand: Unfälle, Begebenheiten, Skandale, Schlägereien, Prügeleien, Hilferufe, Polizeiwache – doch alles in sehr gesteigertem Maße und viel lauter als gewöhnlich.
Bei der Hebamme Lebedjowa ereignete sich wieder ein Diebstahl, diesmal aber wurde ihr kein Pelzmantel gestohlen, sondern zweiunddreißig Rubel, die sie sich für einen neuen Pelz zusammengespart hatte. Das Geld lag in einem Strumpf in einer geschlossenen Kommode; der Strumpf fand sich, doch das Geld war spurlos verschwunden, als wäre es im Ofen verbrannt worden. Man beschuldigte wieder den Portier Nikanor, er hätte nicht genügend aufgepaßt, doch wie sollte er aufpassen: den ganzen Tag ist er auf den Beinen und bei Nacht das Geklingel, und so das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es ein schlauer Dieb, einer von den Hausgenossen – aber es war nichts zu machen. Der Bäcker Jarigin aus der Burkowschen Bäckerei legte sich, nachdem er den ganzen ersten Feiertag gesoffen hatte, abends auf ein Brett schlafen, das über dem Backtrog lag. In der Nacht hatte er sich wohl ungeschickt umgedreht und fiel in den Teig. Im Laufe der Nacht hat es ihn eingesaugt, und als man es am Morgen gewahr wurde, da war es zu spät, nur die Beine ragten noch aus dem Teig. Ein guter Bäcker war der Jarigin! Stanislaus der Kontorist und Kasimir der Monteur wollten sich amüsieren und machten zum Spaß Jerkin den Paßaufseher betrunken. Jerkin aber, der sein Neujahrsgelübde, nicht zu trinken, das er dem Bruder im Hafen abgelegt, bis nun streng befolgt hatte, wurde infolge der strengen Enthaltsamkeit nach einem Glas Pfefferbranntwein toll und begann zu raufen. Das geschah am hellichten Tage im Hof, während in den „Winkeln“ die Mädchen in den schwarzen Kopftüchern und die Nonnen, die Almosensammlerinnen in Schaftstiefeln, für Gorbatschow „Christ ist auferstanden“ sangen. Kasimir entkam, Stanislaus aber fiel herein: Jerkin nahm ihn auf die Arme, warf ihn zu Boden, preßte ihn, drückte ihn mit dem Knie und biß ihm die Nase ab. Der rote Hund des Gouverneurs, der gerade auf dem Hofe war, fraß Stanislaus’ Nase auf. Burkow selbst, der ehemalige Gouverneur, der Selbstvertilger, vergaß am ersten Ostertag, als er aus einer vornehmen Gesellschaft nach Hause fuhr, ein Osterei im Wagen, und als er am anderen Morgen den Verlust bemerkte, meldete er es der Polizei und forderte die Feststellung des Kutschers, der sich dies offenbar außergewöhnliche Ei angeeignet hatte; – was man in allen Petersburger Zeitungen am dritten Tag lesen konnte. Ebenfalls am dritten Tag verurteilten die Kinder im Hof, Kriegsrecht spielend, Wanjuschka, den Sohn des Portiers Nikanor zur Todesstrafe durch den Strang und vollzogen das Urteil: sie schleppten den Knaben in die Wagenremise und hingen ihn vermittelst einer Pferdeleine auf. Kaum, daß man ihn wieder ins Leben rufen konnte: es war ein schwächlicher Bub. Er war schon ganz blau und wäre beinahe erstickt. Schließlich beging das Ehepaar Oschurkow ganz unerwartet Selbstmord. Niemand im Hof konnte begreifen, weshalb sie es getan hatten. Sie hatten ja eine Wohnung von zehn Zimmern, alle zehn Zimmer voll von Nippes, und ein Aquarium mit Goldfischchen. „Es war eine feine Gesellschaft!“ wiederholten die Dienstmädchen einstimmig, jene Köchinnen und Hausmädchen, die wegen eben dieser Nippes nie lange bei Oschurkows aushalten konnten.
Kurz nach Ostern, in der Thomaswoche, kam einmal Sergej Alexandrowitsch, der mit dem Theater einen Vertrag über eine Gastspielreise ins Ausland geschlossen hatte, zu Marakulin zum Tee. Es kamen auch Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna, und auch Wassilij Alexandrowitsch der Clown, auf ein Stöckchen gestützt. Es war die Rede von der Damaskinschen Gastspielreise ins Ausland; Sergej Alexandrowitsch sah in ihr fast so etwas wie Rußlands Rettung. Er meinte: Rußland, das unter all den Rakows, Lestschows, Obraßzows, Lednjowas, Burkows, Gorbatschows und Kabakows erstickte, dieses Rußland werde sich zum erstenmal mit seiner Kunst der Stadt der großen Männer, dem Herzen Europas – Paris, zeigen und es besiegen.
– In der Tat, – rief Sergej Alexandrowitsch, indem er sich wie auf dem Theater reckte, – laßt uns doch alle hinfahren! Alle müssen wir ins Ausland, wenn auch nur für einen Monat, für eine Woche, gleichviel, nur um einen Blick zu tun, und um uns von dieser ganzen Burkowerei zu erholen. Auch du, Wassilij, auch dich schleppen wir mit! Und auch Sie, Wera Nikolajewna, denken Sie nicht mehr an Ihr Abas-Tuman!
– Wo nehmen wir das Geld zur Reise? fragte Anna Stepanowna und lächelte.
– Wie? wieso Geld?
– Wie kommen wir ins Ausland? – bemerkte Wera Nikolajewna.
– Du hast dich verstiegen, Bruder, mit deinem Paris, meine ich!
– Ich werde das Geld schaffen – rief Marakulin, der sich plötzlich an Plotnikow erinnerte, – ich werde uns tausend Rubel verschaffen! – Marakulin sagte es so fest und überzeugt, daß es alle mit Glauben erfüllte, und man sprach nicht mehr vom Gelde.
So wurde der Beschluß gefaßt: Alle reisen ins Ausland, nach der Stadt der großen Männer, ins Herz Europas – nach Paris. Sie bekamen ganz heiße Köpfe und schmiedeten allerlei Pläne. Die Einzelheiten dieser Pläne wurden mit solcher Begeisterung und mit solchem Glauben ausgemalt, als wäre in der Tat Rußlands Rettung, – ihre Rettung mit dieser Reise verbunden, und sie brauchten bloß die Grenze zu überschreiten, damit die Rettung sich vollziehe.
Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren Platz auf Erden finden, ihre Seele wird sich aufrichten, und sie wird anders lächeln können. Dort, in Paris wird Wera Nikolajewna sich erholen und ihr Abiturientenexamen machen. Dort, in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch wieder das Trapez besteigen und seine Künste zeigen können. Dort, in Paris wird, während Sergej Alexandrowitsch tanzend das Herz Europas besiegt, auch Marakulin seine verlorene Freude wiederfinden.
Man müßte Werotschka finden – dachte Marakulin plötzlich, und er sagte: wir müssen auch Werotschka mitnehmen, damit sie dort in Paris zu sich kommt. Entweder sie wird dort eine große Schauspielerin und rächt sich so an Anissim Wakujew, oder noch besser: mag dort Ruhe über sie kommen und der Friede Gottes, daß die Rache in ihr still wird, und sie verzeiht ihm.
Als er dies sagte, waren alle einverstanden, daß man auch Werotschka mitnehmen müsse. – Ich bin Werotschka begegnet – erzählte Wera Nikolajewna, – Sie waren damals in Moskau. Ich gehe einmal abends durch die Gorochowaja nach Hause, da kommt sie mir entgegengelaufen. Es war kalt, der Sturm pfiff, und sie lief in einem Sommerjäckchen herum, ein weißes Tuch um den Kopf. „Werotschka!“ rufe ich. Sie blieb stehen, sah mich an, aber so sonderbar. Sie zitterte am ganzen Leibe. „Werotschka,“ sage ich, „kommen Sie Tee trinken, kommen Sie zu uns Tee trinken!“ Sie aber richtet ihr Kopftuch, zittert am ganzen Leibe und schüttelt den Kopf. Es war auf der Ssemjonowschen Brücke, – eine furchtbare Kälte, der Sturm pfiff ...
Noch am selben Abend wurde der Brief an Plotnikow geschrieben, und am nächsten Morgen eingeschrieben nach Moskau abgeschickt. Marakulin glaubte so fest, daß das Geld kommen würde, er glaubte so fest an die tausend Rubel von Plotnikow, wie Plotnikow selbst an Marakulin glaubte.
Inzwischen begab sich Adonja Iwoilowna auf ihre Pilgerfahrt. Sie zog nach Jerusalem, wo der Weihrauch nie verduftet und wo die Kerzen brennen, die nie verlöschen. Dort wird sie im Jordanfluß baden und sich mit Wermut abtrocknen, damit all ihr Gram wie Tannenrinde von ihr abfalle, all ihr Kummer und ihre Tränen. Dann wird sie Paraschas Schiffe verstehen, und die Erde am Grabe ihres Mannes auf dem Smolenskischen Kirchhof wird nicht mehr abbröckeln.
An den Abenden war Akumowna frei und legte Karten. Sie zeigten für jeden eine große Veränderung an und einen Weg, und für Marakulin außerdem noch Gras und Tannen, wie damals vor seiner Reise nach Moskau, nur daß die Tannen jetzt nicht mehr am Rande, sondern ganz nahe bei ihm lagen. Bei Wera Nikolajewna lagen sie am Rande.
– Ein fröhlicher Weg! – flüsterte Akumowna.
– Wir fahren nach Paris, Akumowna, ins Herz Europas!
– Wollen wir nicht auch Akumowna mitnehmen? Ist Akumowna einverstanden, mit uns nach Paris zu gehen? – fragte Sergej Alexandrowitsch zwinkernd.
– Gewiß. Ich komme mit. Neun Jahre habe ich keine Luft geatmet. Da werde ich aufatmen.
Akumowna ließ sich nicht lange bitten, denn sie wäre bereit gewesen, Sergej Alexandrowitsch nicht nur nach Paris, sondern sogar bis ans Ende der Welt zu Fuß zu folgen.
– Ausgezeichnet! Wir lassen also die Sklavin Kusjmowna hier, um die Wohnung zu hüten, und adieu Rußland! Man muß alles von sich abschütteln! – Und vor Ueberschwang der Gefühle und Hoffnungen auf den Erfolg Rußlands, oder auf seinen eigenen Sieg im Herzen Europas, begann Sergej Alexandrowitsch mit den Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den Flügeln.
– Man soll dann schon auch Weruschka mitnehmen. Die wird hier zugrunde gehen, die Unverschämte! – sprach Akumowna, an ihre Wera denkend, die auf dem Burkowschen Hof längst zugrunde gegangen war.
– Auch deine Weruschka nehmen wir mit, Alle werden wir im Auslande sein!
Akumowna legte liebevoll Karten für Sergej Alexandrowitsch.
– Unser Priester in Turij-Rog – erinnerte sich Akumowna plötzlich, – er war ein guter Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij! Vor seinem Tode erhob er sich und fragte: „Sind die Pferde bereit?“ – „Was für Pferde, ehrwürdiger Vater?“ – „Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet mich zur Hochzeit ins Ausland!“ sagte er und starb.
– Ein Pope stirbt wie ein Pope! – sagte Sergej Alexandrowitsch lächelnd und verfolgte weiter die Karten.
Marakulin aber fühlte plötzlich, wie es in seinem Innern zuckte, als würde etwas in ihm brechen, doch die Hoffnung rüttelte und richtete ihn wieder auf. Alle seine Hoffnungen waren jetzt auf Plotnikow gerichtet, und er konnte an nichts andres denken. Die Hoffnungen waren Mächte.
Der Mai kam. Auf dem belgischen Hof erhoben sich die weißen Zelte, Ziegelsteine und Sand wurden angefahren, und die Instandsetzung des Hauses begann. Abends erklang schluchzend die Balalaika, – von dieser armseligen nichtrussischen Habe gab es viel auf dem Burkowschen Hof – und aus den Fenstern reckten sich die während des Winters zerzausten, ausgehungerten Köpfe, in der Hoffnung, sich in der Maisonne etwas zu erwärmen.
Von Plotnikow aber kam noch immer keine Antwort. In Marakulins Herz schlich sich eine unheimliche Unruhe; er fürchtete, es sich selbst zu gestehen und sprach zu niemand davon. Die Antwort wird kommen, sie muß kommen! Sie müssen und sie werden im Ausland sein, in der Stadt der großen Männer, im Herzen Europas, in Paris!
Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren Platz auf Erden finden, ihre Seele wird sich aufrichten, und sie wird anders lächeln können; dort, in Paris wird Wera Nikolajewna sich erholen und ihr Abiturientenexamen machen; dort in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch wieder das Trapez besteigen und seine Künste zeigen, und dort in Paris wird auch Marakulin, während Sergej Alexandrowitsch im Tanz das Herz Europas besiegen wird, seine verlorene Freude wiederfinden. Er wird Werotschka finden, und in Paris wird Werotschka eine große Schauspielerin werden, Gottes Friede wird über sie kommen. Dort, in Paris wird von Akumowna, die als rollender Stein bis nach Paris gelangt sein wird, der väterliche Fluch weichen, sie wird Luft atmen, die sie neun Jahre nicht geatmet hat, und sie wird es nicht mehr nötig haben, bis zum Kaiser vorzudringen, oder Aufguß von Pferdemist zu trinken. Dort, in Paris wird ihre Wera nicht zugrunde gehen, die auf dem Burkowschen Hof schon längst zugrunde gegangen war.
Der Glaube besiegte jeden Zweifel, zerstreute durch seine Kraft und Festigkeit jedwede Unruhe. Marakulin glaubte an die Plotnikowschen Tausend, wie Plotnikow an ihn selbst. Eine Woche nur blieb noch bis zu Sergej Alexandrowitschs Abreise ins Ausland. Es wurde beschlossen, daß er mit seinem Theater vorausfahren und von dort, aus Paris, schreiben sollte. Inzwischen wird das Geld angekommen sein, und dann wird fast der ganze Burkowsche Hof von der Fontanka geradeaus nach Paris aufbrechen.
Doch diese Woche, voll von Unruhe, Erwartung und Schwanken zwischen Glaube und Zweifel, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, bestimmte von selbst alles auf ihre Weise.
Im Gymnasium bei Anna Stepanowna waren die Prüfungen vorüber, und offenbar waren jetzt endlich die geheimnisvollen Equipierungs-, Wohnungs- oder Reisegelder – jeder nannte sie anders – angekommen. Und da diese Gelder dort nur einmal ausgezahlt wurden, wurde Anna Stepanowna natürlich von der Lednjowa gekündigt. Für Anna Stepanowna, meinte die Vorsteherin, sei es zu schwer am Gymnasium, sie sei auch nicht ganz ohne Tadel, sie trage zum Beispiel eine halsfreie Bluse, das schicke sich nicht; auch lächle sie so eigentümlich, – dieses Lächeln mache Seine Ehrwürden, den Religionslehrer Aristowulow verwirrt, das schicke sich auch nicht; man könnte ja sagen: im Lednjowschen Mustergymnasium werde Seine Hochwürden durch eine Lehrerin verdorben, und das wäre schon ganz fatal! – Mit einem Wort: wenn der Mensch die Absicht hat, zu irgendeinem ihm notwendig erscheinenden Zwecke einen anderen zu beschmutzen, so gibt er sich Mühe, – dazu ist er ja ein Mensch. Selbstverständlich ertranken die halsfreie Bluse und der Priester Aristowulow, der von Anna Stepanowna verdorben wurde, in den beliebten Betrachtungen der Lednjowa über gute Taten überhaupt, über den Verfall der Moral und über die Sittenverderbnis, über die junge Sache, die man fördern und über die Opfer, die man ihr bringen müsse: sie, die Lednjowa selbst, gebe in ihrem eigenen Gymnasium Unterricht umsonst, außerdem ernähre sie zwanzig Lehrer! Ganz Petersburg kenne sie sehr gut, sie, die Vorsteherin Lednjowa, und die Generalin Cholmogorowa selbst sei ihre Freundin.
So einfach war das Ende bei Anna Stepanowna, sehr einfach. Und sie ging lächelnd – mit jenem Lächeln, das in der Seele weh tat – ihren Weg, der sie von Leschtschow zu der Lednjowa führte, und von der Lednjowa zur Petrowa, zu irgendeiner Seelenschwester der Lednjowa führen wird, bis sie endlich aufhören wird zu lächeln.
Endlich kam die so lange, so ungeduldig, so viel erwartete Antwort von Plotnikow: Plotnikow ließ Marakulin durch die Bank fünfundzwanzig Rubel anweisen. So reiste denn Sergej Alexandrowitsch allein mit dem Theater ins Ausland, nach Paris, um mit der russischen Kunst das Herz Europas zu besiegen. Vor der Abreise mietete er eine Sommerwohnung in Finnland und überredete Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna zusammen mit Wassilij Alexandrowitsch, der noch immer sorgsamer Pflege bedurfte, und damit er sich ohne Ferse und mit seinem Stöckchen nicht zu sehr langweilte, hinauszuziehen. Mit der Sklavin Kusjmowna an der Spitze zogen sie also statt nach Paris nach Tur-Kilja: Wera Nikolajewna, Anna Stepanowna und Wassilij Alexandrowitsch, der Clown. Nur Marakulin und Akumowna blieben zurück, um auf dem Burkowschen Hof zu übersommern.
– Ich werde zum Kaiser gehen: die Hände so, wie im Sterben, und werde alles sagen. Ich werde zum Kaiser gehen, nackt, splitternackt; die Hände so, wie im Sterben, und werde ihm alles erzählen.
Aber Marakulin erwiderte Akumowna nichts mehr, nicht einmal mit ihren eigenen Worten, die ihr Wahlspruch, ihr Sterbegebet – die Sühne und der Lohn für alle Taten waren: Man darf niemand beschuldigen! – Alles war in ihm still und taub geworden.
* * *
Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen und in der Welt er selbst zu sein, der andere muß töten, um durch den Mord seine Seele zu finden und wenigstens als er selbst zu sterben. Marakulin aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht an die Person, der sie zukam –, um seine Seele zu erschließen und in der Welt nicht ein beliebiger Marakulin zu sein, sondern als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen.
Aber er ertrug es nicht, dieses Leben für nichts: nur sehen, nur hören, nur fühlen, und flehte um Ruhe. Da erfand er die Generalin – die unsterbliche, sünden- und schmerzenlose Laus, erdachte er ihr königliches Recht, in der Hoffnung, dadurch seine verlorene große Freude wiederzugewinnen. Schon begannen auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte Schatten, die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, jene leisen und wie die Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herannahenden Verzweiflung zu arbeiten, das feste Mark und die Wurzel seines Lebens anzunagen und ihn vom Leben abzulösen.
Vom Morgen bis zum Abend lief Marakulin in Petersburg herum, jagte von einem Ende zum anderen, von Schlagbaum zu Schlagbaum, von Viertel zu Viertel, – er lief herum wie eine Maus in der Falle. In seiner Tasche lag der neue Plotnikowsche Schein, die fünfundzwanzig Rubel, wie einst Dunjas neues seidenes Taschentuch mit den in Kreuzstich eingestickten Anfangsbuchstaben seines Namens, und er vergaß den Schein wie er einst Dunjas seidenes parfümiertes Tuch vergessen hatte.
Und dennoch, welch zähes Leben steckt doch im Menschen! Hin- und hergeworfen, geschlagen läuft er wie ein geschlachteter Hahn auch ohne Kopf herum, als wollte er auch ohne Kopf nach Körnern suchen, und bläht sich noch auf! Marakulin fand nämlich eine Beschäftigung, er fand etwas, um sich Luft zu machen; er machte eine Entdeckung, die in ihrer Tragweite dem betrunkenen Plotnikowschen Projekt, die Fliege als Motor auszubeuten, wahrlich in nichts nachstand:
Man braucht bloß auf die Straße hinauszugehen, um ganz unabhängig vom eigenen Willen unter die Herrschaft eines besonderen Gesetzes der Straße zu geraten, und deine Art aufzutreten und deine Haltung hängt nicht mehr von dir ab, sondern von der Welle oder vom Strom, in den du geraten bist. Gerätst du in die eine Welle, dann ist dir so, als machten sich alle über dich lustig, als schnitten dir alle Grimassen, die Frauen kichern, die Männer schieben ihre Lippen vor und spitzen sie wie zum Pfeifen. Da kommt eine andre Welle herangerollt, und das Bild ist plötzlich verändert: die Männer haben bestialische, düstre, drohende Gesichter, man begegnet selten einer Frau, und wenn eine vorübergeht, so ist sie ganz allein; sie geht und lacht, sieht niemand, als wäre sie blind, und lacht zu sich selbst. Wieder eine neue breite Welle: – lauter Frauen – und es ist einem, als gäbe es keine böseren Augen, kein böseres Lächeln; sie betrachten einander, sie stechen mit den Augen und lächeln, als wollten sie mit ihrem Lächeln einander verbrühen, die bösen Weiber. Da rollt noch eine Welle heran: Menschen, gewöhnliche Menschen, – sie gehen dicht zusammen gedrängt und sind munter. Aber man sieht keine Kinder unter ihnen, nur ausgemergelte, verkrüppelte Zwerge mit schlaff wie Peitschen herabhängenden Armen und riesengroßen, nach vorn gebeugten Köpfen. Und so noch viele verschiedene Wellen. Es gibt auch zurückflutende Wellen. Gerätst du da hinein, so treibt es dich vom großen Strom ab, und alles jagt an einem vorbei: alte Männer, Kinder, alte Frauen, Straßenbahnwagen und Automobile.
Als Marakulin diese Entdeckung gemacht hatte, stürzte er sich auf sie mit der gleichen Hartnäckigkeit, wie einst über den Bericht an den Direktor. Er war ja jetzt eigentlich wie tot, man hatte ihn ja bereits begraben. Er erinnerte sich an die Worte, die der Kassierer Alexander Iwanowitsch Glotow damals im Theater zu ihm gesprochen hatte: „Und wir haben dich schon längst begraben, weißt du, Petruscha!“ Ja, seit langem hatte man ihn begraben, und er konnte wie ein Toter, wie eine Leiche, wie einer aus dem Jenseits leicht, unauffällig und unparteiisch die Diesseitigen, die Lebenden beobachten. Und jetzt wollte er seine Entdeckung überprüfen.
Doch wozu sie prüfen, was für einen Sinn das haben sollte, wer diese Entdeckung brauchte, welchem Toten, welcher Leiche, welchem Gespenst aus dem Jenseits, oder welchem Lebenden zum Spaß oder zu Nutzen sie dienen sollte? – das fragte er sich nicht, das ging ihn nichts an; – in ihm war alles stumm und taub geworden – es war eben zwecklos und nichts mehr als das Sichaufblähen des geköpften Hahns.
Doch auch darin irrte er sich. Er hatte keine Zeit mehr zum Prüfen.
Eines Nachts, als er auf dem Newsky ging, traf Marakulin Werotschka. Es war so: an dem Wartturm des Magistrates wurde Razzia gemacht, und wie immer in solchen Fällen, liefen auf dem Newsky etwa hundert sinnlos herausgeputzte Weiber herum, die sich auf die Passanten stürzten und sie anflehten, sie ein kleines Stückchen zu begleiten. Unter diesen Weibern fiel ihm eine auf, die ebenso besinnungslos wie die anderen, vom Bürgersteig auf den Damm und vom Damm auf den Bürgersteig sprang. Sie war ganz schwarz gekleidet. Als sie am Schutzmann glücklich vorüber war, lief sie zur Anitschkowschen Brücke. In dieser einsamen Dunklen – alles war schwarz an ihr: das Kleid, der Hut, die Handschuhe – erkannte er Werotschka. Da erinnerte er sich an den neuen Plotnikowschen Fünfundzwanzigrubelschein, befühlte ihn in der Tasche – er war jetzt kein Bettler mehr – und stürzte ihr nach. Aber an der Anitschkowschen Brücke mischte sich Werotschka unter die Menge und verschwand ihm aus den Augen.
– Werotschka! – rief er, indem er sich bald nach der Fontanka und bald nach dem Newsky umsah, – Werotschka! – und etwas Schwarzes, Kaltes wand sich wie eine Schlange um sein Herz.
Am nächsten Morgen war das erste, was in ihm als Gedanke und Entschluß erwachte, der feste Vorsatz, schon am frühen Abend auf den Newsky zu gehen und Werotschka aufzulauern. Den ganzen Tag blieb er zu Hause. Es war Donnerstag vor Pfingsten, und Akumowna hatte heute vor, besonders ausgiebig Karten zu legen: nach ihr war das ein günstiger Tag zum Wahrsagen, auch Träume in dieser Nacht geträumt, sollten die Wahrheit künden.
Auf den Burkowschen Hof kamen wandernde Musikanten: eine Harmonika und ein Tamburin.
Die Harmonika spielte ein Handwerker, wohl irgendein Schlosser oder Wasserleitungsarbeiter, ein großgewachsener dunkler Mann, das Tamburin schlug ein kleines Mädchen in einer Matrosenbluse und Matrosenmütze; sie war etwa zwölf Jahre alt, man konnte es genau nicht feststellen. Das kleine Mädchen hatte nur ein Bein. Sie stützte sich auf einen Stock und hielt das Tamburin auf dem gebogenen Knie.
Das kleine Mädchen sang zur Harmonika.
Sie sang ein Lied, wie es in Fabriken gesungen wird, mit fremden Versen durcheinandergemengt, wie: „Ich werde auf den Grund des Meeres tauchen, ich werde fliehen zu den Wolken hinan,“ sie sang aus Zigeunerliedern von Troikas und von feurigen Augen und gefühlvollen Tränlein. Plötzlich brach auch eine uralte Weise durch. Sie sprach rein und deutlich aus, so daß man jedes Wort verstehen konnte. Aber nicht am Wort lag es. Mit einem vollen tiefen Alt sang das kleine Mädchen und schlug das Tamburin dazu. Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres war das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.
Die Musikanten wurden von den Kindern umringt; sie ließen ihre wilden Spiele und ihre wilden Arbeiten, sie standen still herum und wandten kein Auge ab von dem einbeinigen kleinen Mädchen, wie einst von der Katze Murka, die sich vor Schmerz auf den Steinen gewälzt hatte. Und das Mädchen sang. Der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt – er hielt sich stets in der Nähe der Kinder auf – der schwarze Perser hockte sich ebenfalls hin und rollte seine Augäpfel. Und das Mädchen sang. Mit einem vollen tiefen Alt sang das kleine Mädchen und schlug das Tamburin im Takt zu. Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres war das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.
Die Kinder rückten immer näher zu dem einbeinigen Mädchen, als wollten sie es nicht von sich lassen. Nun verdeckten sie es ganz, so daß man es nicht mehr sehen konnte, und es schien, es singe die Erde und die Steppe, das Meer – die Weite und Unermeßlichkeit, das Herz der Erde. Und man fürchtete, daß das Lied bald zu Ende sein und das Mädchen zu singen aufhören und fortgehen würde. Man wollte nicht, daß sie fortgehe.
Aber der Gesang war zu Ende. Es spielte nur noch die Harmonika allein. Das kleine Mädchen humpelte, auf den Stock gestützt, über den Kies und schien sich mit dem hingehaltenen Tamburin im Hof zu drehen und sah ohne Lächeln mit ihrem offenen, reinen Gesicht nach oben zu den Fenstern hinauf, wie die Katze Murka zu den Fenstern hinaufgesehen hatte, als sie sich vor Schmerz auf den Steinen wälzte.
Akumowna begann so seltsam kindlich und bitter zu weinen, sicher weil sie an ihren Fluch: „Wie ein rollender Stein um die weite Welt“ dachte.
Marakulin stürzte auf die Straße und holte die Musikanten, die schon vor dem Tor waren, ein.
– Wie heißt du, kleines Mädchen? – fragte er, ihre Hand berührend.
– Marja – antwortete das Mädchen, indem sie, ohne zu lächeln, ihm ihr offenes, reines Gesicht zuwandte.
Auch der Harmonikaspieler blieb stehen, zog seine Mütze. Es war wohl der Vater. Er war von dunkler Farbe und rauh.
Marakulin nahm Plotnikows neuen zerknüllten Schein, steckte ihn dem kleinen Mädchen in die Hand und ging fort, ohne sich umzusehen. Und als wollte es ihn einholen, so strömte das breite Lied. Von der Weite der Steppe und von der Unermeßlichkeit des Meeres war das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.
Er ging seinen glatten, geraden Weg nach dem Newsky. Schon sank die Nacht herab. Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka warten. Die ganze Nacht wird er auf sie lauern. Und er wird sich nicht irren. Es war ja eine weiße Nacht – die weiße Nacht trügt nicht.
Die weiße Nacht trügt nicht: ein Mädchen ganz in Schwarz stieß ihn an und lief, das Kleid raffend, in der Richtung der Anitschkowbrücke. Alles an ihr war dunkel, das Kleid, der Hut, die Handschuhe – er erkannte Werotschka und stürzte ihr nach. Aber an der Anitschkowbrücke mischte sich Werotschka unter andere Frauen – sie war nicht allein in Schwarz.
– Werotschka, Werotschka! – rief er, jeder Dunklen in die Augen schauend. Es waren aber ihrer nicht zwei, nicht drei, es waren ihrer eine ganze Menge. Und alle wichen ihm aus, sammelten sich und schlichen wieder an ihn heran, leise und unmerklich, dunkel und still. Und etwas Dunkles und Kaltes umwand wie eine Schlange sein Herz.
Und nachts, in der Donnerstagnacht vor Pfingsten, träumte Marakulin, als säße er am Tisch beim Samowar in einem großen vollgestellten Zimmer, und alles war hingeworfen und zerstreut, wie nach einer Vorbereitung zur Reise, und lauter unbekannte Menschen waren im Zimmer, alle so müde und niedergeschlagen. Und neben ihm saß – er wurde es mit Ekel gewahr – eine stülpnasige Frau mit großen Zähnen und nackt, und mit ihr noch jemand in dunklen Kleidern. Sie beugten sich über dem Gerümpel und ordneten die Lumpen. Verdrossen nahm er ein Glas und zielte nach dem leeren, nackten Schädel.
Sie aber, die stülpnasige Nackte mit den großen Zähnen, erhob sich und wandte sich zur Tür.
– Am Sabbat – sie klapperte mit den Zähnen und lachte – vergiß nicht, Akumowna ein Pfund zu geben – sie klapperte mit den Zähnen und lachte, – und die Mutter wird in Weiß sein – sie lachte und zeigte ihre großen Zähne.
– Was für ein Pfund? Graupen etwa? – begann er erbittert zu streiten, als stritte er um sein letztes Recht, sich keinem Termin, keinem Sabbat zu fügen – ach was, red’ keine Dummheiten! oder ein Pfund Sterling, ja?
– Am Sabbat – lachte die stülpnasige Nackte mit den großen Zähnen, und schon klapperte sie, ohne sich umzusehen, die Steintreppe hinunter auf den Hof.
Im Hof aber – es war ja Burkows Hof – strömten alle Einwohner aus allen Wohnungen, aus dem Seitenflügel und aus den Gorbatschowschen Winkeln zusammen: alle sieben Hausmeister – der erste Hausmeister Michail Pawlowitsch und Antonina Ignatjewna, seine Gemahlin, der Paßaufseher Jerkin, Stanislaus der Kontorist mit der abgebissenen Nase, und Kasimir der Monteur, der Portier Nikanor und Wanjuschka, Nikanors Bub, den die kleinen Kinder zum Tode durch den Strang verurteilt hatten, und die kleinen Kinder, die ihn verurteilt hatten, und der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt, und das kleine Mädchen, das einst Murka Milch gebracht hatte, und die Schuster, Bäcker, Bademeister, Friseure, Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine Schwester aus dem Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirmmacher, Bürstenmacher, Wasserleitungsschlosser, Setzer und allerlei Mechaniker und elektrische Arbeiter mir ihren Familien, allerlei „Fräulein“ von der Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmädchen, Mädchen aus der Teestube, und elegante junge Leute aus den Badeanstalten, die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, und die Alte, die an der Badeanstalt Sonnenblumensamen und allerlei Kram feilbietet, stellungslose Köchinnen, Maler, Tischler, fliegende Händler – mit einem Wort: der ganze Burkowsche Hof – ganz Petersburg.
Und alle sehen nach oben zum Fenster hinauf, wie Murka hinaufgesehen hatte, als sie vor Schmerz sich auf den Steinen wälzte, wie die wandernde Sängerin hinaufgesehen, als sie sich im Hof auf ihrem einen Bein herumdrehte, mit dem Tamburin in der Hand.
– Was hat sie gesagt? – fragt jemand Marakulin.
Und Marakulin steht am Fenster, wie der Starez Kabakow, der durch Gebete die Stimme des Himmels befragt, – so steht er vor dem Volk.
– Einer von uns wird sterben! – sagt Marakulin.
Und zur Antwort flüstert der ganze Burkowsche Hof in Todesbangen:
– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s, Herr?
Und hoch oben, viel höher als die vier belgischen Ziegelschlote mit den Blitzableitern, schweben wie grüne Vögel grüne Aeroplane und verdecken mit ihren riesengroßen grünen Flügeln den Himmel.
– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s Herr? – flüstert der Burkowsche Hof in Todesbangen.
Und schon geht Marakulin nach Hause, nach der Fontanka, und seltsam! er hört, wie man in der Auferstehungskirche auf der Taganka[13] zur Abendmesse läutet. Er geht nicht den herrschaftlichen Eingang hinauf, sondern durch die Küche. Er macht die Tür auf, und in der Küche sitzt am Herd eine Frau, Akumowna ähnlich, und doch nicht Akumowna, ganz in Weiß. Er erinnert sich an die Worte der Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen: „Die Mutter wird ganz in Weiß sein“, und stürzt ins Zimmer.
Auch dieses Zimmer ist vollgestellt, und Sachen sind da verstreut und hingeworfen, wie nach einer Vorbereitung zur Reise, nur sind die Unbekannten nicht mehr da, keine Seele ist im Zimmer, nur seine Mutter sitzt, seine Mutter allein, mit dem Kreuz auf der Stirn.
– Sie ist schon gekommen, sie sitzt hier – sagt die Mutter. Sie spricht von jener, die in der Küche vor dem Herd ganz in Weiß sitzt, und beginnt zu weinen.
Voll Verzweiflung und Todesbangen erwachte Marakulin. Es war Freitag. Und von dem düsteren Gedanken getroffen, daß seine Frist der Samstag sei, daß nur ein Tag ihm geblieben sei, wurde er eisstarr. Er wollte es nicht glauben und glaubte es doch, und weil er glaubte, verurteilte er sich selbst zum Tode.
Der Mensch wird geboren und ist bereits verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn einem der Tag gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt ist – das geht über die Kraft, die Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben beschenkt, zum Tode verurteilt und dem er die Todesstunde verheimlicht hat.
Als Marakulin an die Wahrheit seines Traumes glauben mußte, da fühlte er, daß er es nicht aushalten würde, den Sabbat abzuwarten, und seit dem Morgen in Verzweiflung, in Todesbangen durch die Straßen schweifend, harrte er der Nacht. Er wollte nur eins noch: Werotschka sehen, ihr alles erzählen und von ihr Abschied nehmen.
Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte Schatten und die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung die letzten Fasern seiner einst so festen Lebenswurzel.
Es ward ihm schwer, sich vom Leben loszureißen.
Vielleicht aber war der Traum nur ein Traum, und in Wirklichkeit würde etwas anderes kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? War das nicht töricht? Wer weiß, wohin das führt! Es pflegt ja auch sonst so zu sein! Vor dem Tode träumt man nicht nur etwas Belangloses: daß man einen Stiefel verliert, oder sonst einen Gegenstand, oder daß man im Begriff ist, ins Ausland zu reisen ...
Da erinnerte sich Marakulin an die geplante Auslandsreise, an seinen paradiesischen Traum von Paris, und fuhr auf.
Er stand an einem Bretterzaun, der ganz mit Anzeigen bedeckt war, und konnte nicht erkennen, in welcher Straße er sich befand. Ueber den Bäumen ragte die Turmspitze des Ingenieurschlosses, als er aber längs des Zaunes und, wie ihm schien, geradeaus in der Richtung der Turmspitze sich in Bewegung setzte, verschwand sie plötzlich. Er wagte nicht weiterzugeben, als harrte eben dort seiner sein Sabbat, seine letzte Frist, seine Stunde. Er kehrte um und hatte die Spitze wieder vor sich. Er schritt also tapfer längs des Zaunes in die entgegengesetzte Richtung, die Spitze blieb lange vor seinen Augen, verschwand aber dann ebenso wie das erstemal ganz plötzlich. Und er wagte nicht weiterzugehen, als harrte eben dort seiner sein Sabbat, seine letzte Frist, seine Stunde. Und so ging er am Zaun entlang, hin und zurück, die Spitze des Ingenieurschlosses immer im Auge, bis zu einer Grenze, die er sich selbst bestimmte, voll Verzweiflung und Todesbangen.
Es war das Ungemach, das ihn so führte, das Unglück jagte ihn von Straße zu Straße, von Gäßchen zu Gäßchen, blendete ihm die Augen und verwirrte ihn; es war sein Schicksal, dem man sich nicht widersetzen und nicht entrinnen kann.
Das tödliche Bangen und die Last der Verzweiflung erschöpften ihn endlich. Die letzte Frist, die Stunde waren vergessen, sein Kopf sank herab, und die noch gehorchenden Beine brachten ihn auf den Weg. Er ging durch die Ingeniernaja und wollte gerade die Straße zum Michailowschen Palast überschreiten.
Da klammerte sich ein altes, zerlumptes, zusammengeschrumpftes, triefäugiges Weiblein fest an seine Hand, damit er ihm über die Straße helfe. Und obwohl es so klein war – nichts als ein Häuflein Knochen – so erschien es ihm, wie es mit seinen knöchernen Fingern so fest an ihm hing, als hätte es überhaupt keine Beine, so schwer, daß er mit Mühe die Schienen erreichte. Und während er die Schienen überschritt, wurde die Alte noch schwerer, und es war ein Wunder, daß er nicht unter den Wagen geriet: der sausende, ununterbrochen klingelnde Wagen flog so hart an ihm vorbei, daß ihm ganz heiß wurde.
Marakulin ließ die Alte stehen und begann zu laufen. Abwechselnd flammendheiß und eiskalt lief er in der Richtung des Narva-Tores. Er floh vor der knöchernen Alten, er floh vor seiner letzten Frist, und gerade auf das Narva-Tor zu, unter den Bogen: dort war keine knöcherne Alte und wird nie eine sein, dort wird er seine letzte Frist, seine Stunde, seinen Sabbat vergessen.
Aber als er die Gorochowaja erreichte, ging er nicht die Ssadowaja entlang, sondern bog in die Fontanka ein.
Auf der Fontanka, im Seitengäßchen, in der Nähe des Burkowschen Hauses, wurde ein junges Mädchen – offenbar eine Revolutionärin – von der Polizei verfolgt. Die Schutzleute hatten das Gäßchen umzingelt und man konnte nicht passieren. Marakulin blieb stehen.
Die Jagd dauerte ziemlich lange, endlich wurde das Mädchen von einigen Männern in Zivil, Spitzeln offenbar, dicht umringt und zu einer Droschke geführt. Die Revolutionärin erinnerte ihn durch etwas an die Wandersängerin von gestern, an das kleine Mädchen. Vielleicht erinnerte ihn an Maria ihr offenes, reines Gesicht, das aber frisch und rosig war. Sie war schlank. Die Haarnadeln waren ihr herausgefallen, der Strohhut saß schief und das volle blonde Haar war aufgelöst. Der Reviervorsteher setzte sich zu ihr in den Wagen und man führte sie ab.
„Maria Alexandrowna,“ – dachte Marakulin, „so ist Maria Alexandrowna, die sich selbst zum Opfer auserkor, und bereit ist, noch einmal für die Menschheit zu sterben!“ Er ging weiter, am Burkowschen Hof vorbei, die Fontanka entlang.
An der Ismailowschen Brücke, drei Schritte von der Bierwirtschaft, holte er eine Dame ein. Sie war nicht mehr jung und schon ganz grau, aber kräftig und gesund, ging sie im gleichmäßigen Schritt, als spazierte sie nur der Motion wegen. Als aber Marakulin sie überholen wollte, beugte sie sich etwas vor und begann ganz unsinnig zu laufen. In diesem Augenblick knallte aus dem Wirtshaus ein Schuß und ein zweiter, Hilferufe ertönten – und auf dem Bürgersteig lag mit durchschossenem Rücken, das Gesicht an die Steine gepreßt, die Dame – die gesunde, kräftige, alte Frau, und neben ihr, noch rauchend, der versengte Klappstuhl.
„Da hast du die Unsterbliche!“ dachte Marakulin, als er in der Ermordeten seine unglückselige Generalin erkannte, dieses auserwählte Gefäß, die Laus, die er mit dem königlichen Recht beschenkt hatte, in jener grausamen Burkowschen Nacht.
Nun war ihr das königliche Recht vom blinden Zufall geraubt, und auch der Klappstuhl hatte ihr nicht geholfen.
Von der Fontanka und den Seitengäßchen strömte eine Menschenmenge herbei. Alle starrten mit Neugierde, mit Schrecken und mit jener besonderen Schadenfreude, mit der lebendige Augen in tote blicken, in das Gesicht der Toten. Sie aber, die Unsterbliche, Sündenlose, Kummerlose, lag da unbeweglich, mit ihrem durchbohrten Rücken, hilflos, leblos, unselig.
– Das ist eine von unseren Burkowschen, die Generalin Cholmogorowa! – erklärte Marakulin dem herbeigeeilten Schutzmann.
Man trug die Generalin fort. Der weiße Schleier auf ihrem Hut war aufgegangen und schleifte flatternd nach wie Spinnweb. Marakulin schritt der Menge voraus, hinter dem Klappstuhl.
Und wieder ging er an seiner Wohnung vorbei in die Gorochowaja, und von da weiter bis zum Admiralitätspalast und wiederholte immer wieder vor sich ganz stumpf: „Da hast du die Unsterbliche! Da hast du Unsterblichkeit!“
Im Alexandergarten setzte er sich erst auf eine Bank, plötzlich aber sprang er wie gestochen auf und ging weiter. Vor dem Denkmal Peters des Großen blieb er stehen.
– Peter Alexejewitsch – sagte er, zum Denkmal gewandt, – Eure kaiserliche Majestät! Das russische Volk trinkt Aufguß von Pferdemist und gewinnt das Herz Europas für anderthalb Rubel mit Gurken. Mehr habe ich nicht zu sagen! – Er zog den Hut, grüßte und ging weiter, den Englischen Kai entlang, über die Nikolaibrücke auf die Wassiljewskiinsel.
Auf dem kleinen Boulevard zwischen der Siebenten und der Sechsten Linie, hinter dem Ssredny-Prospekt versperrte ihm eine Menschenansammlung den Weg. Die Menge stand schweigsam, ohne ein Wort zu sprechen, und es war ungewöhnlich still. Unter einem Baum saß eine alte Frau, ihr von schweren weißen Flechten umwickelter Kopf zitterte. Sie sah starr vor sich hin. Nicht Tränen, sondern Blut floß ihr die Wangen herab, in stillen Bächlein aus den demütig stillen Augen.
„Sie hat umsonst gewartet“, dachte Marakulin, „sie hat es nicht erlebt. Sie hat das gottgefällige Werk nicht vollbracht, sie hat ihr Glück niemand überliefert, die Unglückselige!“ – Und er verspürte plötzlich einen schrecklichen Durst, als hätten ihn diese stillen, blutigen Tränen versengt.
Nicht weit vom Kleinen Prospekt auf der Siebenten Linie befand sich neben einem großen Gebäude in einem kleinen einstöckigen Häuschen eine Schankwirtschaft. Marakulin fand noch ein letztes vergessenes Zehnkopekenstück in der Tasche und ging hinein: der Durst quälte ihn unerträglich.
Er setzte sich an ein schmutziges, nasses Tischchen, mit dem Gesicht zum Fenster und nahm ganz mechanisch eine Zeitung zur Hand, nicht um zu lesen.
– Einen Hungrigen kann man satt machen, einen Armen kann man reich machen – er vernahm eine bekannte Stimme und bekannte Worte, – aber sobald du verliebt bist und dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit, da kannst du meinetwegen platzen, es gibt keine Hilfe!
„An Murkas Tage war es, der unruhige alte Gwosdjow, der sagte es!“ erinnerte sich Marakulin, legte die Zeitung weg und trank das lauwarme Bier.
– Sie scherzen immer, Alexander Iwanowitsch, – – ich habe neulich eine Maus aufgegessen, Alexander Iwanowitsch, – auf dem Hof des Athosklosters – für fünf Rubel. Ich habe mit der heiligen Brüderschaft gewettet. „Ißt du die Maus auf, Gwosdjow,“ sagten sie, „dann ist der Fünfer dein, wenn nicht, mußt du uns bezahlen!“ Schön. Sie fingen gleich ein Mäuslein, im Klosterhof gibt es viele. Es war eine graue, junge. Ich zog dem Mäuslein die Haut ab, röstete es an den Seiten ein wenig an, wegen des Wohlgeschmacks, zerschnitt es in Scheibchen, salzte es, sprach den Segen und aß es auf. Und aß das Mäuslein auf. Ich nahm die fünf Rubel und wollte mich vor Lachen ausschütten. Ich sagte: „Und ihr seid mir noch Athonische, hehe ... fünf Rubel für ein junges Mäuslein; ich hab’ ja bei Prokopij dem Gerechten so eine Ratte und dazu ohne Salz für einen Rubel gegessen!“ Wenn man sich nur durchfrettet, Alexander Iwanowitsch!
Und als Antwort auf Gwosdjows Worte erklang eine gerührte Stimme:
– Euretwegen geh’ ich zugrunde, ihr lieben Aeuglein!
– Ich selbst bin auch auf Weiber lecker, Alexander Iwanowitsch!
Gleich darauf fiel etwas schwer auf den klebrigen Boden, begann zu strampeln und bitter zu weinen, so bitter, wie nur Kinder weinen, so bitter, wie Akumowna weinte, als sie durch Marjas Gesang an alle ihre Erlebnisse erinnert wurde.
Nachdem er das laue Bier, das seinen Durst noch gesteigert, ausgetrunken hatte, ging Marakulin hinaus.
Er ging seinen glatten geraden Weg auf den Newsky. Die Nacht sank bereits herab. Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka warten. Dort wollte er ihr die ganze Nacht auflauern. Er wird sie sehen, ihr alles erzählen, von ihr Abschied nehmen. Und er wird sich nicht irren. Es ist ja eine weiße Nacht – die weiße Nacht trügt nicht.
Die weiße Nacht trügt nicht: Werotschka erschien auch bald. Er erkannte sie an ihrem schwarzen Kleide. Aber er erstarrte vor Entsetzen: alle Frauen waren ausnahmslos in Schwarz – alles an ihnen war schwarz, die Kleider, die Hüte, die Handschuhe. Sie wichen nicht mehr aus, sie gingen sicher und stolz am Polizisten in der weißen Sommeruniform vorbei, sie umsegelten den Polizisten in Weiß wie in einem altertümlichen feierlichen Tanz, von der Snamenje-Kirche zur Admiralität und von der Admiralität zur Snamenje-Kirche.
– Werotschka – rief er, – Werotschka! – Er sah einer jeden in die Augen, ohne eine auszulassen, und etwas Kaltes und Dunkles ringelte sich wie eine Schlange um sein Herz. Es war die Verzweiflung, die sich um sein Herz ringelte.
Schon schritt der Tod auf verschlungenen Seitenpfaden seiner Schwelle zu.
Die ganze Nacht streifte er herum, voll Verzweiflung und Todesbangen, sah jeder Frau in die Augen, ohne auch nur eine zu übersehen, blieb zuweilen auf der Anitschkowbrücke stehen und ließ sie Alle an sich vorbeipassieren. Sie umsegelten ihn, wie den Schutzmann in Weiß, sie schritten sicher und stolz, wie in einem altertümlichen feierlichen Tanz von der Snamenje-Kirche bis zur Admiralität, und von der Admiralität bis zur Snamenje-Kirche.
Und als die Sonne aufging und all die schwarzen Gestalten irgendwo verschwanden und keine einzige mehr blieb – niemand war mehr auf dem Newsky außer den Schutzleuten in Weiß – da wandte sich Marakulin durch die Litejnaja zum finnländischen Bahnhof.
Er beschloß ganz plötzlich, – vielmehr es beschloß in ihm von selbst – nach Tur-Kila in die Sommerfrische zu Wassilij Iwanowitsch zu fahren, zu Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna. Sie haben ihm ja schon oft geholfen, sie werden ihm auch jetzt helfen, sie werden ihm Milch geben, – er hat Hunger – er ist ja nur zwölf Jahre alt! – sie werden ihm Milch geben ...
Es war der Sonnabend vor Pfingsten und auf der Litejnaja wurden die Pfingstbäumchen angefahren: lockige grüne Wagen zogen durch die Straße, voll von grünen jungen Birken.
Auf dem finnländischen Bahnhof verkehrten noch keine Züge. Er mußte warten, aber er wollte nicht auf dem Bahnhof warten. Marakulin ging erst über die Schwellen der Schienen, aber nachdem er ein Weilchen gegangen war, verließ er die Schienen, setzte sich an den Rand eines Grabens und schlief ein. Er schlief so fest, wie Plotnikow die zwei Tage nach jenem schlimmen Delirium-Anfall geschlafen hatte.
Als er erwachte, war es Abend, der Sonnabend ging zur Neige. Und wieder jäh von dem düsteren Gedanken getroffen, daß sein Ende der Sabbat sei, wurde er eiskalt. Er wollte an seinen Traum nicht glauben und glaubte doch, und indem er glaubte, verurteilte er sich selbst zum Tode.
Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn der Tag einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt ist, – das geht über die Kraft, die Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben beschenkt, zum Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde verheimlicht hat.
Der Sabbat war gekommen, der Sabbat ging zur Neige, seine letzte Frist, seine letzte Stunde nahte.
Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte Schatten und die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung die letzten Fasern seiner einst so festen Lebenswurzel.
Es war ihm schwer, sich vom Leben loszureißen.
Oder vielleicht war der Traum nur ein Traum und in Wirklichkeit würde etwas anderes kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? War das nicht töricht? Wer weiß, wohin das führte?
Warum hatte er bloß Akumowna diesen düsteren Traum nicht erzählt, Akumowna konnte ihn vielleicht deuten, sie, die Göttliche wüßte zu sagen, ob er wahr sei oder nicht.
Marakulin stürzte erregt zur Trambahn und stieg in einen Wagen. Da erinnerte er sich, daß er sein letztes Zehnkopekenstück in der Wirtschaft ausgegeben und sprang ab und lief zu Fuß nach der Fontanka, die Elektrische fast überholend.
Er erreichte die Fontanka und das Burkowsche Haus, aber es wurde ihm nicht leicht, in die Wohnung zu gelangen. Es schien ihm, als hätte er mindestens eine halbe Stunde geklingelt, aber niemand öffnete und keine Stimme ließ sich vernehmen. Er hörte zu klingeln auf und begann an die Tür zu klopfen, aber auch auf das Klopfen erwiderte niemand. Es blieb still in der Wohnung, nur der Wind pfiff durch die Türspalte, – offenbar standen die Ofenklappen auf – der Wind pfiff unheimlich.
Noch einmal klingelte Marakulin, klopfte noch einmal, wartete und ging dann in die Portierloge. Aber auch Nikanor war nicht da. Er war in irgendeinen Kramladen gegangen; Wanjuschka aber, Nikanors Sohn, wußte nur zu sagen: er habe Akumowna am Morgen gesehen, seitdem sei er nicht mehr bei ihr oben gewesen; Akumowna sei zu Hause. Dabei lachte er über irgend etwas.
Wenn sie aber zu Hause war, warum hörte sie nicht das Klopfen und öffnete die Tür nicht? Er hatte ja mindestens eine halbe Stunde geklingelt und nicht weniger lange geklopft. – War die Alte etwa tot?
Er ging in das Seitengäßchen, trat ins Haustor und stieg die Hintertreppe hinauf. Aber seltsam: – während er hinaufstieg, glaubte er plötzlich in der Auferstehungskirche auf der Taganka[14] zur Abendmesse läuten zu hören, und sein Herz begann voll Unruhe rasch zu pochen.
Die Tür in die Küche war nicht verschlossen. Akumowna saß am Herd, ihr Kopf war mit einem weißen Tuch umwickelt – mit einem weißen Tuch. Er erinnerte sich an die nächtlichen Worte aus seinem Traum in der Donnerstagnacht: „Die Mutter wird in Weiß sein.“ Vor Akumowna lagen auf einem Tellerchen zwei Eier, das dritte aß sie grade. „Das Pfund!“ flog es Marakulin durch den Sinn, „– das ist das Pfund!“
Akumowna lächelte nicht, und ihre Augen waren fremd und hervorquellend. Nicht Akumowna saß am Herd, nein, nur eine, die Akumowna ähnlich sah. Und Entsetzen übermannte Marakulin.
– Guter, gnädiger Herr! – Akumowna erhob sich plötzlich von ihrem Platz und sprach die Worte mit einer heiseren, betrunkenen Stimme, die der Stimme Akumownas nur von ferne glich.
Marakulins Kräfte waren zu Ende, er klammerte sich an den Türpfosten und begann zu stöhnen.
– Lieber gnädiger Herr, Gott behüte Sie, gnädiger Herr, Peter Alexejewitsch! Gleich bereite ich den Samowar, im Augenblick! – Jetzt wurde sie auf ihre gewöhnliche Art geschäftig, legte das Ei fort, ergriff den blanken Samowar und begann mit dem Blechrohr zu klappern.
Marakulin ließ sich auf Akumownas Bank nieder, konnte aber nichts sagen; die Kehle war ihm zugeschnürt und seine Lippen bebten.
– Lieber gnädiger Herr, – Akumowna machte sich mit dem Samowar zu schaffen, – mit mir ist was passiert, ich wäre fast gestorben, aber Gott hat sich meiner erbarmt!
In der Tat, mit Akumowna hatte sich etwas ereignet, und wie sie dabei heil geblieben, war das reinste Wunder – Gott hatte sich ihrer erbarmt. Darum hatte sie weder das Klingeln noch das Klopfen gehört. Ja, es sei noch ein Glück, daß sie Marakulin überhaupt erkennen konnte und noch so viel Stimme hatte, um ein Wort hervorzubringen. Die Eier aber esse sie, um wieder zu Stimme zu kommen, und wenn auch heiser, so doch sprechen zu können und nicht wie eine Kuh zu muhen; – man könne auch das noch erleben.
Akumowna war nämlich am Morgen auf den Boden hinaufgestiegen. Sie wollte die Wäsche, die dort hing, abnehmen, um sie noch vor der Abendmesse zu Pfingsten fertig zu plätten. Aber irgend jemand hatte sich wohl den Spaß gemacht, sie dort einzuschließen. Sie hatte zu schreien begonnen und schrie wohl ziemlich lange, aber niemand hörte sie. Es war ja kein Mensch in den Wohnungen, da sich alle in der Sommerfrische befanden, und keine Köchin, kein Hausmädchen hatte etwas auf dem Boden zu tun. Akumowna wußte, daß es nutzlos war, rief aber doch. Was sollte sie wohl anderes tun? Und wie sollte sie nicht schreien? Sollte sie auf dem Boden bleiben – wie lange? bis zum Herbst? bis die Leute aus der Sommerfrische zurückkehren würden? oder bis sich jener ihrer erbarmt, der sie eingeschlossen hatte? konnte man sich darauf verlassen? Man konnte sie ja inzwischen vergessen haben! Konnte man es wissen? Und auf dem Boden bleiben konnte sie doch auf keinen Fall! Sie war schon ganz heiser vom Schreien. Und so kroch sie im Dunkeln herum, um das vernagelte Fenster zu finden: sie hatte sich erinnert, daß da ganz unten am Dach ein Fenster war. Sie tappte um sich herum und fand schließlich eine Spalte, fand das mit Brettern vernagelte Fenster. Sie krallte sich in ein Brett, um es abzureißen, aber es saß zu fest, und wie sehr sie sich anstrengte, gelang es ihr nicht, die Oeffnung zu erweitern. Die Spalte aber war so klein, daß kaum eine Maus hätte durchschlüpfen können. Sie hing sich daran mit aller Kraft, riß mit beiden Händen – endlich gab es nach. Gott sei Dank, freies Licht! Sie bekreuzigte sich und stieg auf das Dach hinaus. In der Verwirrung aber wandte sie sich nach der herrschaftlichen Seite, nach den Kasernen zu. Sie kroch auf allen Vieren, aus Angst, auszurutschen, und schrie. So kam sie bis zum Schornstein, richtete sich am Schornstein auf, zog die Stiefel aus und warf sie auf die Straße. Die Kinder aber fingen die Stiefel auf und trugen sie davon. Sie stand barfuß, hielt sich am Schornstein fest und schrie. Und da sie dachte, daß niemand ihr bloßes Geschrei beachten würde, so schrie sie: der gnädige Herr sei nach Hause gekommen, klingle und sie könne nicht öffnen. Auf der Fontanka aber ist es so laut, die Dampfpfeifen, die Automobilhupen übertönen jedes Geschrei. Da sie barfuß nicht mehr auszugleiten fürchtete, entfernte sie sich vom Schornstein, ging auf dem Dach hin und her und schrie immer wieder: der gnädige Herr sei nach Hause gekommen, klingle und sie könne nicht öffnen. Auf dem Nachbardach arbeiteten Maler, die hörten es. „Was schreist du, Frauchen,“ riefen sie, „spring zu uns herüber,“ und lachten. Wie aber sollte sie hinübergelangen, wenn sie ihr keine Leiter reichten – sie hatten alle ihre Leitern selbst nötig – sie war doch keine Katze! Aber der erste Schreck war nun vorüber, und nachdem sie erst eine menschliche Stimme vernommen, erholte sie sich etwas und kam auf den Gedanken, auf die andre Seite hinüberzugehen, auf die Rückseite des Hauses, um dort an der Regenrinne entlang in den Hof hinunterzugleiten. Denn sich an der Rinne hinaufzuziehen, meinte Akumowna, sei schwer, die Hände könnten ohnmächtig werden, aber hinabzugleiten sei leicht: wenn das Rohr nur nicht aus den Händen entweicht, glitt man bequem hinab. In dieser Erwägung begab sie sich auf die Rückseite des Hauses und geradeaus zur Wasserrinne; – sie war nicht schwindlig. Schon hatte sie mit beiden Händen die Bekrönung erfaßt und die Füße herabgelassen, um die Rinne zu umklammern, da schrie Nikanor von unten: „Halt, Frauchen, kriech nicht, ich werde dir aufmachen!“ und lachte. Sie mußte nun über das ganze Dach zurück und sich durch das Fenster auf den Boden hinunterlassen.
– Sechs Stunden habe ich mich so gequält, lieber gnädiger Herr, bin beinahe gestorben, aber Gott hat mich gerettet, hat sich meiner erbarmt! – schloß Akumowna.
Inzwischen begann das Wasser im Samowar zu sieden, der rote Jurawljowsche Sänger schnaubte und schickte sich zu seinem Abendgesang an. Marakulin, der sich während der Erzählung Akumownas etwas erholt hatte, ging in sein Zimmer.
Vielleicht war es möglich, daß sein düsterer Traum sich gar nicht auf ihn, sondern auf Akumowna bezog? – Oder sollte es doch nicht möglich sein, da man nicht für andre träumt? – Warum sollte man aber nicht auch für andre träumen können!
Aber der Tag war noch nicht zu Ende, die Nacht kam, es kamen die letzten Stunden; es nahte die Stunde, da es galt, Rede und Antwort zu stehen, Rechenschaft zu geben und zu fordern.
Akumowna brachte den Samowar, aß in der Küche ihre Eier, um ihre Stimme zu heilen, und kam wieder zu Marakulin herein, nach ihrer Gewohnheit mit den Karten in der Hand. Marakulin aber lehnte ab: er wolle keine Karten gelegt haben, er wolle ihr lieber seinen Traum erzählen, nur möge sie ihm die reine Wahrheit darüber sagen.
Und er erzählte ihr ausführlich seinen düsteren Traum, alles genau hintereinander – er erinnerte sich ganz deutlich an jede Einzelheit. Er erzählte von der Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen, und wie sie ihm eine Frist gesetzt hatte: den Sabbat, und von der Mutter mit dem Kreuz auf der Stirn, und wie die Mutter geweint hatte.
– Was bedeutet dieser Traum, Akumowna?
Akumowna schwieg, lächelte und sah eigentümlich idiotisch zur Seite.
Und plötzlich wieder von dem schwarzen Gedanken getroffen, daß seine Frist der Sabbat sei, wurde Marakulin eiskalt.
– Also ist alles wahr – dachte er, – denn warum schweigt Akumowna? – Also ist alles wahr, und in einigen Minuten würde seine Frist vollendet sein, seine Stunde schlagen, sein Ende?
Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn der Tag einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt ist, – das geht über die Kraft, die Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben beschenkt, zum Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde verheimlicht hat.
– Akumowna, ist es wahr, oder nicht wahr?
– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß nichts – erwiderte Akumowna, lächelte und sah eigentümlich idiotisch zur Seite.
Da schnarrte die Uhr in der Küche und begann langsam zu schlagen, einen Schlag nach dem andern. Es schlug Zwölf. Der Sabbat war zu Ende, und der Sonntag begann.
– Akumowna, hat es Zwölf geschlagen? – fragte Marakulin unsicher.
– Zwölf, gnädiger Herr, Schlag Zwölf!
– Es ist also schon Sonntag?
– Ja, Sonntag, der heilige Sonntag, gnädiger Herr. Schlafen Sie wohl, Gott sei mit Ihnen! – Akumowna ließ den singenden Jurawljowschen Samowar stehen und ging in die Küche schlafen.
Doch Marakulin konnte nicht schlafen. Er wartete ab, bis Akumowna ruhig wurde, deckte den Samowar zu, dann nahm er ein Kissen, legte es aufs Fensterbrett, wie es die Burkowschen Mieter, die in Petersburg übersommern, machen, und lehnte sich hinaus. Nein, er wollte nicht schlafen, die ganze Nacht nicht: der Sabbat war zu Ende, der Sonntag hatte begonnen!
Es war leer ringsum, kein Mensch im Hof, kein Mensch in den Fenstern, nur er allein. Und plötzlich erblickte er auf dem Kehricht- und Ziegelhaufen, längs der Kästen und Stände, von der Müllgrube bis zum Abgußloch und weiter bis zu den Remisen, überall junge grüne Birken stehen. Der ganze Burkowsche Hof war mit Birken bedeckt, und die jungen Blättchen leuchteten so grün. Er fühlte, wie seine verlorene große Freude in ihm emporstieg und ihn überströmte: wie ein Quell schoß ihm unter dem Herzen diese große heiße Freude hervor – und wuchs, füllte das Herz und überflutete heiß die ganze Brust. Er sah nichts anderes mehr als diese Birken, und unter den Birken wandelte, selbst wie eine junge Birke schlank, seine Weruschka – Werotschka – Wera. Ihre Hände schienen mit den Blättern verwoben, und sie wandelte von Blättchen zu Blättchen nach der Remise zu, so leicht, als schwebte sie in der Luft, und es war, als wenn die Erde unter ihr verschwände. Da schwang sein Herz sich auf, überwallend, es riß ihn in die Höhe, er streckte die Arme aus – und das Gleichgewicht verlierend, stürzte Marakulin mitsamt dem Kissen in die Tiefe.
Und im Sturze hörte er, wie durch ein Rohr aus einem tiefen Brunnenschacht, eine Stimme rufen:
– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist voll, die Strafe naht! – Ah, so steht es mit uns! Lieg du nun da. – Wieder einer weniger. – Du stehst nicht mehr auf – Dreckkopf!
Marakulin lag mit zerschmettertem Schädel in einer Blutlache auf den Steinen des Burkowschen Hofes.
Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt.
[1] Ein großes Petersburger Kloster.
[2] Eine Industriestadt in Großrußland.
[3] Klon bedeutet auf russisch etwa, die Neigung sich zu beugen.
[4] Wundertätige Mönche, Heilige.
[5] Vom Weißen Meer.
[6] Berühmtes Moskauer Muttergottesbild.
[7] Populäres Physik-Lehrbuch.
[8] Ein Stadtviertel in Moskau.
[9] Diminutiv von Pawel.
[10] Kirche an der Taganka in Moskau.
[11] Ein berühmtes Muttergottesbild in Moskau.
[12] Ort in der Krim.
[13] In Moskau.
[14] In Moskau.
Anmerkungen zur Transkription
Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):