The Project Gutenberg eBook of Die Schwestern im Kreuz
    
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Title: Die Schwestern im Kreuz
        Erzählung

Author: Aleksei Remizov

Contributor: Eugen Anitschkow

Translator: Fega Frisch

Release date: March 21, 2025 [eBook #75679]

Language: German

Original publication: Muenchen, Leipzig: Georg Mueller, 1912

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SCHWESTERN IM KREUZ ***



                   Remisow / Die Schwestern im Kreuz


                             Alexej Remisow




                        Die Schwestern im Kreuz


                               Erzählung


                                  1913
                  München und Leipzig bei Georg Müller


                 Copyright 1912 by Georg Müller München


               Autorisierte Uebersetzung von Fega Frisch




                               Einleitung
                     von Professor Eugen Anitschkow
                            (St. Petersburg)


Alexej Remisow ist im Herzen Rußlands, in Moskau, geboren. Dort sind
vierzig mal vierzig Kirchen; täglich dröhnen dort zur Früh- und
Abendmesse die Glocken, die großen und feierlichen in den Klöstern und
Kathedralen, die Zarenglocken des Kreml; es antworten ihnen mit allen
ihren Glocken die kleinen und niedrigen Glockentürme in den uralten
Pfarrkirchen. Gar viele Pfarrkirchen hat Moskau; um sie herum schlängeln
sich die Straßen und Gäßchen, in ihnen lebt der Moskauer Handelsstand
sein eigenes urwüchsiges Leben. Alle Fasten werden streng eingehalten;
an den Feiertagen ziehen die Priester mit dem ganzen Klerus aus einem
Haus ins andere, um die festlichen Tafeln zu segnen; dort werden bis
heute die Märtyrer- und Heiligenlegenden in der uralten Schrift gelesen,
dunkle und vertraute Mitteilungen über Gottesmänner und große Märtyrer.
Mancher ist sauber gekleidet und sieht ganz europäisch aus: ein
gestärktes Vorhemd und eine Krawatte nach der letzten Pariser Mode –
doch beginnt er sich auszuziehen, so entdeckt man ein kattunenes
russisches Hemd darunter und einen geweihten Gürtel mit eingewebten
Gebeten. Voll Inbrunst kniet der moderne Stutzer vor dem Familienschrein
mit den Heiligenbildern. Der unter der neumodischen Wäsche verborgene
geweihte Gürtel schützt vor Uebel. Der alte Glaube ist fest in ihm, und
der uralte Kaufmannsstand in Moskau lebt nach der Väter Art.

Einst wurde er von dem Advokatensohn Ostrowskij auf die Bühne gebracht.
Seitdem war es Mode, sich über die rührseligen Mitjas, die gutmütigen
Andrej Bruskows, die durchtriebenen Podchaljusins, über die dünkelhaften
Väter: Tit Tititsch und Torzows zu amüsieren. Das „finstere Reich“
nannte die Kritik den Moskauer Kaufmannsstand. Diese eigenartige Welt
blieb ganz abseits von den großen Wegen der russischen Literatur. Um die
Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Literatur vorwiegend
ländlich, Gutsbesitzer- und Bauernliteratur. Die Stadt schämte sich
gleichsam ihrer selbst. Was in ihr geschah, besonders unter der
Handelsbevölkerung in den alten Kirchspielen, das wußte man nicht, das
wollte man nicht wissen. Und wenn in der Literatur auch einige
Sprößlinge aus dieser Welt auftraten, so waren sie bemüht, möglichst
rasch zu vergessen, zu verschweigen und tief im Herzen alles zu
verbergen, was sie von dorther aus dem „finstern Reich“ in die
Helligkeit der volkstümlichen Bildung, auf welche die fortschrittlich
Gebildeten so stolz waren, mitbrachten.

Erst seit kurzem sind die stillen Kirchspiele auf den sieben Hügeln des
russischen Rom, des Mütterchens Moskau, gleichsam erwacht. Die neue
Kunst, die sozialdemokratischen Tendenzen, die Beziehungen zu
westeuropäischen Firmen, die Errungenschaften der Technik, die
Verfeinerungen in den Anschauungen, alles das ist bis in die dunkelsten
Winkel gedrungen. Und von da kam zu uns der Neueste: ein Erneuerer der
Kunst, ein Prophet von morgen, der dennoch nichts von gestern vergessen
hat: Alexej Remisow.

Sein Leben verläuft äußerlich wie das vieler gebildeter Russen der
letzten Zeit. Im Jahre 1877 geboren, hat er seine Bildung in einem
Handelsgymnasium und später auf der Universität empfangen; er hat
Nationalökonomie und deutsche Philosophie studiert, den Marxismus und
die Bewegung „Zurück zu Kant“ mitgemacht, in den Seminarien Aufsätze
über wirtschaftliche Fragen und über Statistik geschrieben,
Arbeiterzirkel gegründet, und war infolgedessen erst in die milde
Verbannung eines großrussischen Gouvernements, dann ins Gefängnis
geraten, hat mit einem ganzen Haufen revolutionärer russischer
Intelligenz die Strapazen und Mühsale des Etappenlebens mitgemacht, hat
so manches Jahr im fernen Norden, wo oft im Juni noch Schnee genug
fällt, daß man Schlitten fahren kann und wo das Nordlicht in seiner
kalten Schönheit leuchtet, verbracht. Er hat dies alles erduldet, sein
Herz zermartert, eine Menge Bücher studiert und kam zu uns nach
Petersburg als ein fertiger Schriftsteller zurück, als ein
symbolistischer Schriftsteller und Stilist von neuester Prägung.

Wichtig aber ist, daß er seine uralte Moskauer Seele bewahrt hat; in
seiner Seele dröhnen die vierzig mal vierzig Kirchenglocken weiter und
er liebt noch immer die Legenden und Sagen von den Gottesmännern,
Heiligen und Märtyrern, von den von Gottes Gnade erleuchteten
Buhlerinnen, vom tapferen Georg, von allerlei märchenhaften
Seltsamkeiten: von Totenfeiern, Teufeln, Zauberern und Hexen. Alles was
die Philologen, die sich mit alter Literatur befassen, studieren und was
die Engländer Folklore nennen: Märchen, Runen, Volkslieder und Riten,
Volksglauben und Apokryphen – dies alles pflegt er mit dem Talent eines
modernen Dichters, und sein Stil ist eigenartig, seltsam und prächtig,
so verfeinert und reich, als hätte sich ihm die ganze geistige
Schatzkammer des tausendjährigen heiligen Rußland aufgetan, zum Dank für
seine Liebe zu den vertrauten Kirchspielen aller sieben Hügel des
Mütterchens Moskau.

Remisows erster großer Roman „Der Teich“ zeigt noch den jungen Schmerz
einer Seele, vor der sich eben erst das Böse des Lebenskampfes
erschlossen hat. Woher kommt das Böse? Es wird schon in der ganz naiven
kindlichen Seele geboren. Die rationalistischen Theorien aus den Büchern
tragen zur Lösung dieses schicksalsmäßigen Rätsels nichts bei – im
Gegenteil! – vielleicht muß man also nach rückwärts, in den uralten von
den Ahnen ererbten Sagen vom bösen Geist, in dem sagenhaften Teufel und
Spötter die Antwort suchen? – Remisows von den Fragen unserer Zeit
durchdrungener Geist vertiefte sich in das Studium alter Sagen und
Legenden, und eins an das andere reihten sich etwas wie Märchen oder
moderne Apokryphen und bildeten eine Art neues pratum spirituale, das
mit seiner Buntheit alle seine größeren Werke gleichsam einrahmt.

„Der Teich“ kann nur im Licht dieser apokryphischen Skizzen ganz
verstanden werden. Der Grundgedanke dieses Werkes ist noch nicht ganz
klar herausgearbeitet; die einzelnen Episoden wirken zwar an sich
erschütternd, doch fehlt noch das Allgemeine. Dies Allgemeine erscheint
klar auf eine neue Weise in einer objektiveren Form, losgelöst von den
tragischen poesieumwehten Erinnerungen im zweiten Roman „Die Uhren“.
Hier handelt es sich nicht mehr um die Chronik eines Moskauer
Handelshauses in einem der Moskauer Kirchspiele, in den „Uhren“ wollte
der Autor das Geheimnis der ganzen Stadt in all seiner Vielgestaltigkeit
auffangen, und die Frage nach dem Bösen hat eine größere Bestimmtheit
erhalten. Dennoch ist es auch hier schwer, den heimlichen Gedanken des
Autors herauszufinden und seine Symbole zu begreifen, die geheimnisvoll
sind wie uralte Runen. Erst später in den nachfolgenden Erzählungen sind
endlich die Schwierigkeiten überwunden, eine Klarheit ist erreicht und
im Herzen ist das ausgesprochen, was so lange nach außen drängte, aber
keine entsprechenden Bilder und Symbole fand. Ja, das Böse ist
schicksalsmäßig, es ist notwendig, es hat keinen Sinn, Idyllen zu
schreiben, man muß das Böse erkennen und verstehen, diese irdische
Hölle, die irdischen Leidenschaften.

Schwierig waren seine Romane „Der Teich“ und „Die Uhren“. Schwierig sind
auch jetzt in den „Schwestern im Kreuze“ und im „Unbezähmbaren armen
Teufel“ die Betrachtungen über die schicksalsmäßige und offenbar
notwendige Schuld. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“ ist diese Theorie
schon anschaulich und entschieden durchgeführt. In den „Schwestern im
Kreuze“ ist alles auf ihr aufgebaut. Marakulin denkt: „Der eine muß
verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen und in der Welt
er selbst zu sein; der andere muß töten, um durch den Mord seine Seele
aufzuschließen und wenigstens als er selbst zu sterben; er aber mußte
offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht der Person, der sie
zukam –, um seine Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, und zwar
nicht mehr als irgendein beliebiger Marakulin, sondern als dieser Peter
Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen.“

Doch muß man sich fragen: Findet denn die Persönlichkeit sich selbst nur
in einem Verbrechen? Das scheint nicht glaubhaft. Natürlich nicht. Aber
gerade dieser Gedanke in seinem Rohzustand sozusagen führt uns zum
Verständnis einer der wichtigsten Fragen der Gegenwart. Darum lockte es
den Symbolisten Remisow, den Fall aller Einwohner des Burkowschen Hauses
zu schildern, weil dieses Symbol unseres zeitgenössischen russischen
Alltags sich durch alle traurigen Fälle der letzten Jahre aufgeschlossen
hatte.

Remisow versucht jetzt, seine Symbole zu deuten. „Die Katze miaute,
Murka miaute. Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch nie zuvor,
daß Murka stets gemiaut hat, nicht nur gestern, sondern alle die fünf
Jahre hier an der Fontanka auf dem Burkowschen Hof; er hatte es nur
nicht bemerkt, und nicht nur hier auf dem Burkowschen Hof an der
Fontanka, sondern auch auf dem Newsky und in Moskau an der Taganka – bei
der Auferstehungskirche –, an der Taganka, wo er geboren war, überall,
wo etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es in ihm, daß er
sich vor diesem Miauen, vor dieser Murka nirgends hätte verstecken
können. Und er fühlte es, daß Murka nicht dort unten im Hofe miaute,
sondern hier ...“ Das stöhnende Burkowsche Haus ist ganz Rußland, das
heilige Rußland, und zwar das ganz gewöhnliche, alltägliche. Es ist
schuldig geworden, es hat sich unvermögend erwiesen, es hat mehr
versprochen, als es gehalten hat. Hier hat es sich eben gezeigt, so wie
es wirklich war und nicht wie es nach den Programmen geschienen hat. Man
muß sich von allen Theorien lossagen, um es so zu sehen. Noch wichtiger
ist der Mut, es gegen alle Programme und Theorien auszusprechen. Dies
ist Remisows Stärke: sein Held ist eine wirkliche Individualität. Er ist
nicht aus Theorien geboren und nicht verstandesmäßig gesehen. Marakulin
lebt sein eigenes Leben, er ist ein durchschnittlicher Mensch, aber eben
von diesem Eigenen geht der Symbolismus zum Allgemeinen. Auch Marakulin
ist symbolisch. Waren wir nicht alle noch vor kurzem ebenso offenherzig
und vertrauensselig, als hätten wir keine Lehren der Geschichte vor
Augen? Damit haben wir Schuld auf uns geladen. Das Leben ist bei uns
erstarrt. Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen.

Lange und hartnäckig hat sich Remisow mit den Fragen des Glaubens
befaßt, mit den Altertümern, mit der Volkspoesie, mit Sagen, aus denen
das uralte heilige Rußland sich Pein und Belehrung schöpfte. Man
verstand ihn nicht und hielt der unverstandenen Kunst Remisows den
Realismus entgegen. Es schien, daß sein Stilisieren kein Ende nehmen
wollte in diesem ganzen Strom von Skizzen, in denen er vor allem seine
Meisterschaft zeigte. Aber diese Skizzen Remisows waren nur seine
Lehrlingsarbeit.

Wer ihn gut kannte, der konnte nicht daran zweifeln, denn dieses
Stilisieren beschränkte sich nicht auf die Form. Es führte in das wahre
Verständnis dessen ein, was einst Volksseele genannt wurde. Denn die
Volksseele läßt sich nicht in Kategorien pressen, welche die politischen
Parteien für sie aufstellen, weder in die der volkstümlichen rechten
oder linken Partei, noch in die Kategorien derer, die der ganzen
Menschheit Heil versprechen. Das Geheimnis der Volksseele blieb
verschlossen; jetzt sehen wir es endlich klar ein. Im „Unbezähmbaren
armen Teufel“ ist die verwirrte moderne Seele, die Seele eines Trödlers
geschildert. Plötzlich hat sich alles das aus der Vergessenheit erhoben,
was man ein für allemal hinter sich zu haben glaubte. Dieses Alte in der
jetzt ohnedies schon konventionellen Gestalt des Trödlers zeigt sich
auch mitten in Petersburg, es klafft aus der Tiefe des Burkowschen Hofes
wie aus der Unterwelt, und man fühlt: dies ist wahr! Paradox ist
vielleicht nur die Gestalt der Hörerin der Hebammenkurse, welche alte
Weisen singt. Hier hat die Phantasie Remisows sich hinreißen lassen, die
gewöhnt ist, auch im Neuesten etwas Altertümliches herauszufinden. Aber
da haben wir Akumowna; das Schicksal hat sie in die Stadt getrieben, das
Schicksal jagt ganz Rußland wenn nicht in die verderblichen Gegenden
Sibiriens, so doch in die Städte, wo das Neue geschaffen wird, neuer
Glaube und neue Forderungen an das Leben. Aber das Alte stirbt noch
lange, lange nicht aus, es bewahrt sich länger, als wir glauben. Daher
die Vermengung und das Zusammenfließen des Alten mit dem Neuen. Die
Bewegung ins Volk suchte lange den Traum vom freien Grundbesitz zu
verwirklichen. Der Bauer hörte dem Sozialismus zu und verstand, daß die
Rede von freiem Grundbesitz war. Akumownas Märchen und Lisaweta
Iwanownas Geheimnis flossen zusammen mit den Lehren der Verbannten Maria
Alexandrowna. Dieses Ineinanderfließen zu schildern, ist eine der
vornehmsten künstlerischen Aufgaben, die sich Remisow stellt.

Zu den besten Episoden der Erzählung gehören die Szenen, in denen von
der Reise ins Ausland geträumt wird. Darin liegt auch ein geheimer
Herzenswunsch verborgen: vom Lande strebt man in die Stadt, aus der
Stadt aber, aus allen Burkowschen Häusern, in denen sich das aufgewühlte
heilige Rußland quält, drängen die Träume, Wünsche und Hoffnungen dahin,
nach dem fernen fremden und seit uralten Zeiten vertrauten Westen. Und
es genügt nur zu denken, daß bald, bald eine Möglichkeit eintreten
könnte, hinzureisen, sich innerlich auszuruhen und das Martyrium des
heimatlichen Schmerzes für eine Weile zu vergessen, dann wird es einem
leicht zumute und die Freude leuchtet auf. Kommt von dort, aus der
Heimat unserer allerbegehrtesten Ideale – ich brauche absichtlich ein
Fremdwort – eine erfrischende Welle über uns, Verjüngung, Geist der
sozialen Freiheit, so vergessen wir ganz das Burkowsche Haus und Murkas
schmerzliches Miauen, das Weinen und Stöhnen des Volkes. Unsere Augen
leuchten und wir atmen freier.

Das Weiseste, was Remisow in seinen „Schwestern im Kreuz“ gesagt hat,
ist seine Theorie vom königlichen Recht. Gleich Raskolnikow zermartert
Marakulin in einem Ausbruch von Verzweiflung sein Gehirn mit der Frage
nach der Vertilgung der menschlichen „Laus“. Wie Raskolnikow sieht
Marakulin ebenfalls das ganze Uebel in einer jämmerlichen alten Frau,
und es dünkt ihn, daß man nur wagen, die konventionelle Angst vor dem
Verbrechen nur überwinden müßte, um das Uebel zu vernichten. Nur ist die
menschliche „Laus“, welche Marakulin sieht, keine Pfandverleiherin, sie
tut niemand etwas Böses. „Sie hat nichts in ihrem Leben zu bereuen; sie
hat weder getötet noch gestohlen und wird weder töten noch stehlen, denn
sie tut nichts als sich ernähren, sie trinkt und ißt, sie verdaut und
härtet sich ab.“ Was bedeutet das? Remisow schildert die Raskolnikowsche
„Laus“ in der Gestalt einer Generalin, die von ihren Renten lebt.
Eintönig und sinnlos vergeht ihre Zeit. Sie braucht niemand und niemand
braucht sie. „Die Generalin rührt mit keinem Finger, tut rein nichts und
erreicht alles: sie härtet sich ganz sichtbar und zweifellos ab, und
ihrem Leben ist kein Ende abzusehen – der Chiromant hat sich nicht
geirrt – sie ist vielleicht schon unsterblich!“ Ein Leben ohne Arbeit,
das heißt ohne Verbrechen und ohne Heldentaten – denn jede Tat ist
entweder ein Verbrechen oder eine Heldentat – ein solches Leben beruht,
Remisows Meinung nach, nicht auf einem einfachen Recht, sondern auf
einem königlichen Recht. So würden wir alle, wenn wir die Utopie vom
allgemeinen Wohlergehen verwirklicht hätten, das kummerlose, sündenlose,
unsterbliche Lauseleben der Generalin genießen.

Rechtschaffener aber ist das heilige Martyrium des Lebens, mit seinen
Abstürzen, Ausbrüchen von Hoffnung, Kämpfen und zäher, qualvoller
Erwartung.

St. Petersburg 1912.




                             Erstes Kapitel


Marakulin war mit Glotow befreundet; durchaus nicht etwa, weil der
Dienst sie eng miteinander verband und einer ohne den anderen nicht
hätte auskommen können: Peter Alexejewitsch gab die Quittungen aus,
Alexander Iwanowitsch war der Kassierer. Man weiß ja, wie die Ordnung
ist: Marakulin brauchte nur mit Tinte zu schreiben und Glotow zahlte
genau so viel in Gold aus. Dabei waren sie so verschieden und einander
so unähnlich: der eine schmalbrüstig, der Schnurrbart dünn wie ein
Faden, der andere breitschultrig und der Schnurrbart wie bei einem
Kater; der eine blickte von innen heraus, der andere strahlte. Dennoch
waren sie Freunde, ein Herz und eine Seele.

Denn sie hatten beide ein gemeinsames Merkmal, oder eine Eigenschaft,
und zwar eine grundlegende; etwas, das nicht zu verbergen ist: es würde
unter den Augenlidern des Schlafenden hervorblinken, gleichviel, ob es
sich in der Pupille versteckt oder aus der Pupille sich über den
Augapfel verbreitet: beide nämlich hatten eine Art von Fühler oder
Rüsselchen. Nicht nur daß dieser Fühler sich ans Leben klammerte,
vielmehr sog er alles Lebendige in sich auf, alles, was ringsum lebte
und wob, bis auf den Grashalm, der atmet, bis auf das Steinchen, das
wächst, und er sog das alles so gierig und fröhlich in sich auf, so
ansteckend fröhlich. Das war es.

Wer es bemerken wollte, konnte es sehen, wer es nicht sah, der fühlte
es, und wer es nicht fühlte, der erriet es.

Dazu kam, daß sie gleich jung waren – beide waren an die Dreißig oder
etwas drüber – und der Erfolg – dem einen sowohl wie dem anderen gelang
alles – und die Kraft – keiner von ihnen war jemals krank oder klagte
auch nur über Zahnweh. Sie waren auch von keinerlei Banden gefesselt,
weder von gesetzlichen, noch von ungesetzlichen, sie waren wie in der
Steppe, allein, und die Steppe dehnte sich vor ihnen in ihrer ganzen
Weite und Macht, frei, ungebunden, unermeßlich – dein.

Vor drei Jahren etwa hatte Glotow seine rechtmäßige Gattin aus dem
dritten Stockwerk auf das Pflaster hinabgestürzt, und die Aermste brach
sich dabei das Genick; vielleicht aber war es nicht vor drei Jahren, es
kann schon vor ganzen vier gewesen sein. Uebrigens ist das unwesentlich,
– es handelt sich ja gar nicht um Glotow, sondern um Peter Alexejewitsch
Marakulin.

Marakulin, welcher seine Kollegen mit Fröhlichkeit und Sorglosigkeit
ansteckte, gestand einmal, daß er, obschon dreißig Jahre alt, sich für
nicht mehr und nicht weniger als zwölfjährig hielte, er wüßte selbst
nicht warum, und er führte dafür Gründe an: so oft er mit jemand
zusammenkäme, oder sich in ein Gespräch einließe, hätte er das Gefühl,
als wären die anderen alle älter – alt, und er wäre der jüngste – ganz
jung noch, zwölfjährig. Und ferner gestand Marakulin, daß er sich den
anderen Menschen gar nicht ähnlich – nicht ein bißchen ähnlich fühle,
wenigstens nicht jenen richtiggehenden Menschen, wie man sie gewöhnlich
im Theater, in Gesellschaften oder in den Klubs beobachtet, während sie
eintreten oder fortgehen, sich unterhalten oder schweigen, sich ärgern
oder zufrieden sind – und daß alles an ihm, von der Nase bis zur kleinen
Zeh wahrscheinlich nicht auf dem richtigen Fleck säße – so schiene es
ihm wenigstens. Und weiter gestand Marakulin, daß er nie denke; er hätte
einfach gar nicht die Empfindung, daß er denke; wenn er durch die
Straßen gehe, so geschehe dies eben nur so mit den Beinen, und wenn er
mit jemand bekannt werde, dann fände er an seinem neuen Bekannten weder
Unterschiedsmerkmale noch Besonderheiten, nicht im Gesicht noch in den
Bewegungen: er fühle nur unklar, daß der eine ihn anziehe und der andre
abstoße, einer weniger, ein anderer mehr, und ein dritter sei ihm ganz
gleichgültig; häufiger aber herrsche doch das Gefühl der Nähe und das
Vertrauen in das Wohlwollen des anderen vor. Und weiter gestand
Marakulin, daß ihn, seitdem er Bücher lese und mit Menschen
zusammenkomme, die entgegengesetzten Meinungen nie abschreckten. Er sei
vielmehr bereit, jedermann zuzustimmen, weil er jeden in seiner Weise
für berechtigt hielte, und diskutiere nie; wenn er sich aber einmal
selbst verstiege oder zu Auseinandersetzungen aufreize, so geschehe es
aus ganz indiskutabeln Gründen, deren er sich jedesmal genau bewußt sei,
obwohl er sie nicht verrate – gebe es doch genug solcher indiskutabler
und doch alltäglicher Gründe! – Und weiter gestand Marakulin, daß er nie
in seinem Leben geweint habe, ein einziges Mal ausgenommen, als seine
alte Kinderfrau ihn verließ, an ihrem letzten Tag: damals wäre er, in
der Rumpelkammer versteckt, an seinen ersten und letzten Tränen fast
erstickt. Noch eine verrückte Eigenschaft hatte er, über die man sich
lustig zu machen pflegte: wenn ihm irgendein Einfall in den Sinn kam, so
stürzte er sich auf ihn mit einer solchen Hartnäckigkeit, als läge in
ihm der Sinn seines Lebens, oder des Lebens überhaupt – aus
Kleinigkeiten machte er wichtige Dinge. Zu den Feiertagen, zum Beispiel,
wurde dem Direktor gewöhnlich ein Bericht überreicht. Dieser Bericht
wurde stets mit der Maschine geschrieben, ihm aber konnte es einfallen,
ihn mit der Hand abzuschreiben; und obwohl es mit der Maschine viel
schneller, leichter und einfacher zu machen ging, – es gab auch
vorgedruckte Formulare zu diesem Zweck – so ließ er es sich durchaus
nicht nehmen und malte Tag und Nacht beharrlich und sorgfältig einen
Buchstaben nach dem andern und reihte die Zeilen aneinander, als wären
sie Perlen, und schrieb den Bericht so oft ab, bis er so war, daß er
ausgestellt werden konnte, – so war er geschrieben! – denn Marakulin war
wegen seiner Schrift berühmt. Am nächsten Tage schon wird so ein Bericht
irgendwohin verlegt, man schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit, man
verlangt ihn nicht so, und eine Menge Zeit und Arbeit sind sinnlos
verschwendet worden! Ein verrückter Kerl, und wie beharrlich in seiner
Verrücktheit! Und weiter pflegte Marakulin noch etwas Seltsames zu
erzählen – von einer ihm eigenen, durch nichts erklärbaren
ungewöhnlichen Freude, die er ganz unerwartet empfinden konnte:
manchmal, wenn er am Morgen ins Bureau lief, begann ihm plötzlich das
Herz in der Brust zu flattern und er fühlte eine ungewöhnliche Freude.
Und diese seine Freude umfing ihn so ganz und sie war so groß, daß ihm
schien, er könnte sie jetzt warm aus der Brust herausnehmen und jeden
mit ihr beschenken – es würde für Alle reichen; wie ein Vögelchen wollte
er sie in beide Hände nehmen, damit ihm dies Paradiesvöglein nicht
davonfliege, darauf hauchen, daß es nicht friere und es so den Newsky
entlang tragen: mögen sie alle sehen, ihre Wärme einatmen, ihr Licht
fühlen, – das stille Licht und die Wärme, die das Herz vor Freude atmet
und ausstrahlt.

Natürlich ist es schwer, sich selbst zu beurteilen, und mit
Geständnissen kommt man auch nicht weit: ob das alles stimmte oder nicht
– wer kann es wissen? – Aber eine Liebe zum Leben, ein Instinkt zum
Leben, die Heiterkeit des Gemütes – das war in ihm in der Tat.

Wenn man Marakulin zuhörte oder sah, wie er an Menschen heranzutreten
pflegte, wer sein Lächeln und seinen Blick kannte, dem konnte manchmal
der Gedanke kommen, daß so einer wie er, jederzeit imstande wäre, zu
einer Bestie in den Käfig zu treten und, ohne mit der Wimper zu zucken,
ohne zu überlegen, die Hand auszustrecken, um das sich sträubende wilde
Haar des grimmigen Tieres zu streicheln – und das Tier würde nicht
beißen.

Und wie konnte es Marakulin betrüben, wenn es sich zuweilen, plötzlich
herausstellte, daß auch er, wie jeder andere, gehaßt wurde, daß auch er
seine Mißgönner hatte, daß auch er für jemand ein Balken im Auge sein
konnte! Denn man konnte ja mit ihm machen, was man wollte. Und wenn er
es dennoch zustande gebracht hatte, das dreißigste Jahr zu erleben, und
mit Erfolg, so war es das reinste Wunder – eine unwahrscheinliche Sache.
Meistens aber wurde Peter Alexejewitsch geliebt, nicht etwa besonders
oder gar zu sehr, aber es war gar kein Grund, ihn nicht zu lieben –
brachte er doch Heiterkeit und Lachen mit, dazu kein gewöhnliches
Lachen, sondern ein trunkenes, marakulinsches – warum sollte man ihn da
hassen? Und dennoch nahm das alles kein sehr gutes Ende – Peter
Marakulin endete schlimm.

Das kam so: Marakulin erwartete zu Ostern Beförderung und eine
Gratifikation – in den großen Geschäftshäusern ist es zu den Feiertagen
so üblich –; statt dessen aber wurde er aus dem Dienst gejagt. Es
geschah folgendermaßen: Fünf Jahre hatte Peter Alexejewitsch gedient,
fünf Jahre die Quittungsbücher geführt, und alles befand sich in bester
Ordnung, – Marakulin wurde sogar wegen seiner Ordnungsliebe und
Genauigkeit scherzweise „Der Deutsche“ genannt – als aber die Direktoren
vor den Feiertagen revidierten und zu vergleichen und zu rechnen
begannen, da trat eben die Verlegenheit ein: es stimmte etwas nicht, es
fehlte etwas – vielleicht nur eine wirkliche Bagatelle, – das Geschäft
aber war groß, und solche Kleinigkeiten konnten Verwirrungen
verursachen. So nahm man ihm denn die Bücher ab und entließ ihn.

Erst glaubte Marakulin nicht daran, er wollte es einfach nicht glauben,
und dachte, man triebe nur Scherz mit ihm, einen Jux zum allgemeinen
Ergötzen einfach, um vor dem Fest die Fröhlichkeit zu erhöhen; er lachte
dazu und begann seine Auseinandersetzung auch nicht ohne Witz:

– Gestatten Sie dem Dieb Soundso, dem Räuber und Wegelagerer, den
Diebstahl aufzuklären ...

– Wie?

– Ha – ha ... Und er war es, der zuerst lachte.

Und in einem aufklärenden Brief an eine wichtige und einflußreiche
Persönlichkeit, an den Direktor, unterschrieb er nicht einfach Peter
Marakulin, sondern „Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin“.

„Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin.“

– Wie?

– Ha – ha ... Und er war es wieder, der zuerst lachte.

Aber der Scherz gelang diesmal offenbar vorbei, er wirkte gar nicht
spaßhaft, oder wenn er auch so wirken hätte können, so nahm man das gar
nicht wahr, und niemand lachte, – im Gegenteil. Und am komischsten war
die Antwort eines jungen Buchhalters, – dieser Buchhalter war ein
kleiner stiller Mensch, der nicht einmal eine Fliege zu kränken imstande
war, so still war er.

Dieser Awerjanow nun sagte: Ich möchte bis zur Aufklärung Ihres
Mißverständnisses mit meiner Antwort abwarten.

Hier wurde Peter Alexejewitsch ernst:

– Was für ein Mißverständnis! Es kann ja gar keinen Irrtum geben!

– Wie?

– Der Irrtum, meine ich ... ich irre mich nicht, ich bin ein „Deutscher“
... Wo ist denn der Irrtum?

Und jetzt mußte er es glauben. Er mußte ja glauben! Die wilde Bestie ist
offenbar doch nicht so einfach, sie unterwirft sich nicht so leicht, sie
läßt nicht so ohne weiteres ihr sich sträubendes Fell streicheln. Hände
weg! Die Bestie beißt dir noch die Finger ab! Ist es nicht so? – Oder
hat es mit der Bestie gar nichts auf sich und der Fluch besteht gar
nicht darin, daß der Mensch für den Menschen eine Bestie ist und eine
grimmige dazu, sondern darin, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz
ist: man mag ihn noch so anflehen, er hört es nicht; man mag ihn noch so
anrufen, er antwortet nicht; man mag sich den Kopf einstoßen, indem man
vor ihm mit der Stirn auf den Boden schlägt, er rührt sich nicht; er
bleibt so stehen, wie er hingestellt wurde, bis er umfällt oder bis du
umfällst. Ist es nicht so?

Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn, und zum erstenmal
dachte es in ihm und sprach sich deutlich aus: Der Mensch ist für den
Menschen ein Klotz.

Er lief da hin, klopfte dort an: überall war geschlossen, überall war
zu: er wurde nicht empfangen. Und wenn er empfangen wurde, so ließ man
ihn nicht sprechen, gar nicht zu Worte kommen. Dann begann man ihm die
Tür vor der Nase zuzuschlagen: keine Zeit! oder: laß, bitte, in Frieden!
oder: wir haben an was anderes zu denken! – Bald gab die Dienerschaft
nicht einmal Antwort mehr hinter der Vorlegekette: es war ihnen
untersagt; außerdem war er allen schon zu lästig geworden.

Marakulin hatte keine Zuflucht mehr: er war wie in der Steppe, allein,
und die Steppe lag vor ihm, ausgebrannt, schwarz, endlos – fremd. Nach
allen vier Richtungen gleich unabsehbar. Erst hatte er alles, jetzt
hatte er nichts.

Und das alles wegen einer Bagatelle – wegen eines blinden Zufalls. Es
ging freilich ein Gerücht um, die ganze Sache sei von Alexander
Iwanowitsch angezettelt, sei ein Werk seiner Hände, – Glotow habe seinen
Freund hineingelegt und sich selbst aufs Trockene gebracht. Andererseits
aber wußte man, daß Marakulin selbst bereit war, sei es aus Herzensgüte
oder aus einer sonstigen Eigenschaft, etwa aus übermäßiger
Vertrauensseligkeit und Einbildungskraft – er kam mit den Menschen gern
gut aus – ja, daß er selbst nichts dagegen hatte, eine Quittung,
provisorisch natürlich, einer Person auszuhändigen, die mit einer
Zahlung nichts zu tun hatte; auf besondere Bitten hin oder mit Rücksicht
auf die Verlegenheit eines Kollegen – vielleicht eben dieses Alexander
Iwanowitsch! Denn man konnte mit Marakulin machen, was man wollte.

Er aber, durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn geschleudert, ohne
Arbeit, allein, Tage und Nächte denkend, für sich allein denkend – es
waren eben andere Zeiten, jene Zeiten waren vorbei; jetzt hatte auch er,
wie die richtigen Menschen, zu denken angefangen – er selbst aber
entschied und sprach sich selbst das Urteil: er erkannte sich nicht
schuldig und sprach sich von Diebstahl frei. Und indem er sich in seiner
fieberhaften Aufregung seine Daseinsberechtigung bewies, tat er es wie
früher mit Lachen und mit Freude, auf die marakulinsche Art: er biß sich
in diesen Klotz fest, in die Vorstellung, zu der sein Denken ihn
geführt, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz sei, und begann zu
bohren. Er wollte um jeden Preis ergründen, wer das alles brauchte und
wozu: zum Vergnügen welchen Klotzes all die andern Klötze hingestellt
seien! Er wollte es nur ergründen, um sich bestimmt sagen zu können, ob
er selber noch länger als Klotz dastehen sollte, so wie es irgend jemand
beliebt hatte, ihn hinzustellen, oder ob er, ohne abzuwarten, bis es
jemand belieben würde, ihn umzustoßen, sich selber hinstrecken sollte,
freiwillig, ohne jemand zu fragen. Freilich läßt sich dergleichen nicht
auf einmal beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es auch? Es sei
denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose
gestohlen und nach den Linien der Hand einen anderen beschuldigte,
seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke.

Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man sich an jemand rächt; es ist
schon so, wenn man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung zu erweisen!
Und auch das ist es nicht, daß der Mensch für den Menschen eine Bestie
ist, und nicht, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz ist; die Sache
ist einfacher: wenn das Unglück über einen kommt, dann heißt es: dulde,
und dulden mußt du darum, weil es einerlei ist, ob du mit den
Hinterbeinen ausschlägst oder beißest, – denn alles ist nutzlos, es läßt
dich nicht los, bis seine Zeit um ist. Ist es nicht so? Etwas Derartiges
flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich zu ihm: Dulde.

Den ganzen Sommer trieb er sich ohne Arbeit herum. Alles, was er in den
fünf Petersburger Quittungsjahren erworben hatte, ging jetzt in die
Leihhäuser, in das Residenzpfandhaus oder in das städtische, auf dem
Wladimirsky-Prospekt. Bald besaß er nichts mehr; die Pfandscheine hatte
er auch an einen Uhrmacher in der Gorochowaja verklopft, und was ihm
noch übrig blieb, war so vertragen und zerrissen, daß nicht einmal der
Tartar es gekauft hätte. Er war abgerissen und schäbig; sein einziger
Gummikragen war ganz zerwaschen, nur das Kreuz am Hals war noch ganz und
das Amulett, das er sich übrigens längst nicht mehr umzuhängen pflegte;
er hatte es an die Wand gehängt zur Erinnerung. Und er begann, sich zu
schämen – früher hatte er nie etwas Derartiges gefühlt. Er wagte es
nicht mehr zu bitten. Zum Glück konnte er auch niemand bitten: wie vor
einem Cholerakranken waren alle Freunde davongelaufen und hielten sich
vor ihm versteckt. Und er empfand Angst vor Allen, vor Bekannten und
Unbekannten. Er schämte und fürchtete sich, durch die Straßen zu gehen;
es war ihm, als wüßten alle etwas von ihm, das er nicht den Mut hätte,
sich selber zu gestehen, geschweige den Menschen zu sagen. Die Passanten
in den Straßen stießen ihn. Sogar die Hunde, auch die bellten ihn an und
schnappten nach seinen Beinen. Er war eben ein verlorener Mensch.

Nun ja, ein verlorener, rechtloser – da heißt es eben: dulde, dulde und
vergiß ... Bricht das Unglück über dich herein, dann vergiß, daß es
Menschen auf der Welt gibt; die Menschen werden dir nicht helfen, und
wenn sie es wollten, gleichviel, das Unglück wird ihre Taten zunichte
machen, es wird sie auseinanderjagen und einschüchtern; darum vergiß die
Menschen. Ist es nicht so?

Und etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach
deutlich zu ihm: Vergiß.

Bald fanden sich dennoch Menschen. Es erschien aber nicht etwa so ein
Awerjanow oder sein Gehilfe Tschekurow – die Peitsche der Gemeinheit,
wie der ehrliche Tschekurow sich selbst nannte, – nein, es waren lauter
solche, an die Marakulin niemals vorher gedacht hatte: kleine,
verdächtige Beamte, die aus allen möglichen Aemtern fortgejagt waren,
und solche, die von einer Stellung zur anderen wanderten – Anwärter auf
den Laufpaß, Zugrundegegangene und Zugrundegehende, Betrogene und
Vielgeprüfte, die in anständige Häuser nicht kommen dürfen und denen die
Hand zu reichen für unpassend und unmöglich gilt, und endlich solche,
die einen sehr bezeichnenden Spitznamen haben – ihren eigenen Namen und
den Zunamen von Dieben, Schurken, Schuften: bekannte, halbbekannte und
ihm völlig unbekannte Gauner kamen zu Marakulin, um ihr Mitgefühl zu
bezeigen; sie waren es auch, die ihm fürs erste Arbeit fanden, wenn auch
keine sichere, nur so, um sich durchzufretten.

Marakulin hatte vorher eine Wohnung auf der Fontanka, an der
Obuchowskybrücke; sie war klein, aber doch seine eigene, jetzt mußte er
die Wohnung aufgeben und in ein Zimmer ziehen. Das Zimmer fand sich auf
derselben Treppe, drei Stockwerke höher. Im ganzen hatte sich Marakulins
Leben bis dahin ganz leidlich gestaltet, wenn auch verworren und
ungeordnet. Er hatte zwar schon früher einmal Zeiten gehabt, da er nicht
besonders gut lebte, freilich war das noch vor seiner warmen Stellung,
in den Anfängen seiner Laufbahn, da man sich aus so etwas gar nichts
macht. Jetzt aber war es anders: es fiel ihm schwer, sich
einzuschränken, um so mehr, als er keine Hoffnung auf Verbesserung hatte
und der Gaunerverdienst nicht übermäßig war; er reichte gerade, um sich
durchzufretten. Aber wozu sich durchfretten? Wozu leiden, leiden, wozu
vergessen, vergessen und dulden? Er wollte durchaus wissen, wer das
alles brauchte und wozu, zum Vergnügen welchen Diebes, welches Schurken
oder Schuften – welchen Gauners das nötig war? Und er wollte es wissen,
nur um sich klar zu sagen, ob es sich noch lohnte, das alles in die
Länge zu ziehen – zu dulden, nur um sich durchzufretten?

Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal beantworten, urteilt
selbst, und wer könnte es auch? – Es sei denn der Chiromant von der
Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen und nach den Linien der
Hand einen anderen beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl nämlich,
ebenfalls von der Kusnetschnybrücke.

Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man sich an jemand rächt; es ist
schon so, wenn man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung zu erweisen!
Es kommt offenbar gar nicht darauf an, daß man duldet und auch nicht,
daß man vergißt; die Sache ist viel einfacher: Denke nicht. – Ist es
nicht so?

Und etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach
ganz deutlich zu ihm: Denke nicht.

Er sollte nicht denken, jetzt? Gerade jetzt, durch einen blinden Zufall
aus seiner Bahn geschleudert, allein, ohne Arbeit? Jetzt begann er erst
recht zu denken – jene Zeit, als er noch nicht dachte, war vorbei, und
wird nie wiederkehren.

Und der Kreis schloß sich in ihm: er wußte, daß es nutzlos war zu
denken, daß er nicht denken durfte, daß man nichts beweisen kann, und
konnte doch nicht umhin zu denken, konnte doch nicht umhin zu beweisen,
er mußte denken bis es schmerzte; die Gedanken jagten sich unaufhörlich
wie im Fieber.

Seine Wohnung wurde Marakulin glücklich los, ohne daß man ihn aufs
Polizeirevier geschleift oder gepfändet hätte – er hatte nichts, und die
Seele kann man einem doch nicht wegnehmen. Nur daß Michail Pawlowitsch
ihm die Hand nicht gereicht hatte, – der Oberhausmeister Michail
Pawlowitsch pflegte den mittleren Mietern, die er achtete, die Hand zu
reichen.

Der letzte Tag am alten Herd verlief für Marakulin sehr denkwürdig. Am
Morgen geschah ein Unfall im Hof: eine Katze war verunglückt – eine
weiße, glatte Katze mit grauem Schnurrbart. Möglich, daß sie auch gar
nicht verunglückt war und gar nicht gedacht hatte, vom Dach des fünften
Stockwerks herabzustürzen, sondern sie mochte vielleicht zufällig etwas
verschluckt haben: einen Nagel oder eine Glasscherbe. Es kann auch sein,
daß jemand ihr absichtlich, zum Spaß, ein Nägelchen oder einen Splitter
zu fressen gegeben hatte, – es gibt nämlich solche Liebhaber. Sie quälte
sich sehr und litt: bald warf sie sich auf den Rücken und wälzte sich
auf den Steinen, bald drehte sie sich auf den Bauch herum, streckte die
Vorderpfoten aus, hob die Schnauze in die Höhe, als wollte sie in die
Fenster hineinsehen, und miaute.

Die kleinen Kinder umstanden die Katze, sie ließen ihre wilden Spiele
und wilden Arbeiten im Stich und hockten sich um sie herum. Sie waren
still geworden und konnten sich von der Katze nicht losreißen; sie aber
miaute. Der Perser, der schwarze Masseur aus der Badeanstalt, hockte
sich auch hin, rollte mit den Augäpfeln sie aber miaute.

Ein rauchfarbener Kater sprang aus der Remise hervor, ging forsch quer
durch den Hof, über die Bretter und über den Kies geradeaus auf die
Katze zu, aber drei Schritt von ihr blieb er stehen, sträubte sein Fell
und zog mit hochgehobenem Schweif ab. Ein kleines Mädchen besann sich
und lief um Milch; sie brachte eine Scherbe voll und stellte sie der
Katze unter die Nase; die Katze aber sah gar nicht hin und miaute. – Die
Katze ist verrückt! – sagte ein Erwachsener, der ebenso wie Marakulin
aus dem Fenster zuschaute.

– Das ist unsere Katze Murka! – verbesserte ihn das kleine Mädchen, das
um Milch gelaufen war; ihr Gesicht glühte und in ihrer Stimme klang
etwas wie Gekränktheit und Ungeduld.

Und alle schienen auf eins zu warten: auf das Ende. Marakulin wich nicht
vom Fenster, er konnte sich nicht losreißen, auch er wartete auf das
Ende. Und er würde so, ohne sich zu rühren, auch bis zum Abend
dagestanden sein, wenn er nicht plötzlich gefühlt hätte, daß hinter
seinem Rücken jemand da war und von einem Fuß auf den anderen trat.
Marakulin pflegte die Türen schon längst nicht mehr abzuschließen, es
war also jemand hereingekommen! In der Tat: ein alter Mann stand vor
ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend – ein zerzauster langer alter
Mann, unter dem Mantel schlotterten die Hosen um seine Beine, als wären
es keine Beine, sondern bloß Knochen. In der Hand zerknüllte er seine
Mütze und noch etwas – ein Kuvert, ja ein Kuvert. Diesen alten Mann
hatte er früher nie gesehen, natürlich! – was wollte er?

– Was wünschen Sie?

– Ich komme zu Euer Gnaden, Peter Alexejewitsch, ich komme von Alexander
Iwanowitsch.

– Von Alexander Iwanowitsch?

– Von ihm persönlich. Sie vergaßen die Tür zu schließen, so bin ich da,
– zu klingeln hab’ ich gefürchtet, verzeihen Sie, – der Alte kaute mit
den Lippen und zupfte an seiner Mütze.

In früheren Zeiten kamen manchmal allerlei Leute von Glotow – sie
brauchten im Kontor zuweilen Aushilfe für den Abenddienst – aber wie
konnte es Glotow einfallen, jetzt jemand zu ihm zu schicken, da Glotow
doch wußte, daß er stellungslos war und nur einen Sechser in der Tasche
hatte!

– Ich kann nichts für Sie tun, Sie brauchen doch Geld ...

Der Alte wurde geschäftig und zog ein zerdrücktes Blatt Papier aus dem
Kuvert, das ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschrieben war.

– Ich habe eine Bittschrift an Euer Gnaden verfaßt, ich geniere mich zu
bitten, und so habe ich diese Bittschrift verfaßt, – der Alte schob ihm
das Papier zu und lächelte ununterbrochen, ein Lächeln, das so war, als
miaute die Katze Murka.

Marakulin steckte dem Alten seinen letzten Sechser zu, setzte sich an
den Tisch und wartete nur, wann der Alte fortgehen und wann es ein Ende
nehmen würde.

Der Alte ging nicht, er preßte in der einen Faust den Sechser und die
Mütze und in der anderen das zerknüllte, ungleichmäßig mit großen
Buchstaben beschriebene Papier. Seine Hände zitterten und die Mütze fiel
zu Boden.

– Was macht Alexander Iwanowitsch, wie geht es ihm? – fragte Marakulin
und fühlte dabei, wie alles in ihm zitterte und daß er es bald nicht
mehr aushalten würde, nicht aufzustehen und den Alten hinauszujagen.

Der Alte streckte vogelartig lang seinen Hals aus und sperrte den Mund
auf wie einen Schnabel.

– Heute ausgezeichnet, – er bewegte wie erfreut den Kopf, – er ist sehr
gut angezogen, wie ein Oberhausmeister, ein Rock, Lackstiefel, – wie ein
Oberhausmeister. – Geh, Gwosdjow, gradeaus zu Peter Alexejewitsch in die
Fontanka! – So geruhte er zu mir zu sagen. Wie ein Oberhausmeister. Ich
war bei ihm in Zarskoje in seiner Sommerwohnung, er scherzt immer: er
ist verliebt – sagt er – verliebt in eine Madame. Er scherzt immer:
Einen Hungrigen – sagt er – kann man satt machen, einen Armen kann man
reich machen, aber bist du verliebt und dein Gegenstand erweist dir
keine Gegenseitigkeit, so kannst du dich zerreißen, es gibt keine Hilfe.
– Ich verstehe es nicht, er scherzt nur immer. Einen Paletot hat er mir
von seinen eigenen Schultern geschenkt, und diese da Awerjanow der
Buchhalter; seine eigenen; sie sind mir etwas zu weit. Bist du keusch,
Gwosdjow? – sagt er. Nehmen Sie es mir nicht übel, Alexander
Iwanowitsch, ich bin ein Liebhaber von Weibern. Ja, er scherzt immer.

Ohne aufzuhören und alles durcheinanderbringend redete der Alte, setzte
sich aber nicht, öffnete nicht die Faust und hob auch die Mütze nicht
vom Boden auf.

Ein ruheloser Alter war das, ach wie ruhelos! Er hatte bei den
Schachowskojs in Petersburg als Stallknecht gedient, es war eine gute
Stellung, aber einmal wurde ein Pferd scheu und stieß ihn in die Brust,
da ging er ins Kloster. Seitdem zog er herum, aus einem Kloster in das
andere – er war eine ruhelose Natur: sowie er anfing sich irgendwo zu
gewöhnen, da lief er fort. Vor einem Monat war er aus dem
Tschermenetzkischen Kloster davongelaufen.

– Da hat sich ein Bekannter meiner erbarmt. In der Seleninaja hat er ein
Zimmer, ein kleines Zimmerchen. Er selbst, dieser Korjakin, ist
verheiratet, hat eine Frau und ein kleines Kind, ein Mädchen, aber er
hat sich meiner erbarmt, und wir wohnten alle zusammen. Aber zum Fest
der heiligen Olga kam das älteste Töchterchen zu ihnen nach Petersburg
zu Besuch, so wurde es zu eng, auch ist es unschicklich: eine Jungfrau.
So zog ich auf den Obwodnij, hab’ da einen Winkel gemietet für
anderthalb Rubel, mit Gurken – ein schöner Winkel im Korridor. Ich
möchte mich gern mit Handel befassen, um mich nur irgendwie
durchzufretten ...

Verworren und ohne aufzuhören redete der Alte, die Worte flossen
ineinander und zischten, – ein ruheloser Alter. Marakulins Augen
verschleierten sich, seine Lider wurden schwer, er sah nichts mehr, vor
seinen Augen bewegten sich nur die Hosen des Alten, die allzuweiten, von
Awerjanow, die nicht um Beine, sondern um Knochen zu schlottern
schienen.

– Ich bin Liebhaber von Weibern ... anderthalb Rubel mit Gurken ... nur
um mich irgendwie durchzufretten ...

Marakulin sprang vom Stuhl auf.

– Wozu, sagen Sie mir endlich, wozu wollen Sie sich durchfretten? – rief
er.

Aber er befand sich allein im Zimmer, es war niemand mehr drin.

Die Katze miaute, Murka miaute. Er war allein im Zimmer; er war mitten
im Gespräch eingeschlafen, der Alte hatte es offenbar bemerkt und sich
mit seinem letzten Fünfkopekenstück davongeschlichen, genau so, wie er
vorher unbemerkt eingetreten war. Auch die Mütze lag nicht mehr auf dem
Boden. Die Katze miaute, Murka miaute.

Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch nie zuvor, daß Murka stets
gemiaut hat, und nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre hier an
der Fontanka auf dem Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und
nicht nur hier auf dem Burkowschen Hof an der Fontanka, sondern auch auf
dem Newsky und in Moskau an der Taganka – bei der Auferstehungskirche –,
an der Taganka, wo er geboren war, – überall, wo etwas lebt. So klar sah
er es, so deutlich sprach es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor
dieser Murka nirgends hätte verstecken können. Und er fühlte es, daß
Murka nicht dort unten im Hof miaute, sondern hier ...

– Gebt Luft! – miaute Murka, als könnte sie sprechen: – gebt Luft! – und
sie wälzte sich auf den Steinen, zu den Fenstern hinaufflehend.

Eng, immer enger hockten sich die Kinder um sie herum, sie vergaßen ihre
wilden Spiele und ihre wilden Beschäftigungen, sie horchten; auch die
Scherbe mit der Milch stand noch unberührt da, und der Perser, der
schwarze Masseur aus der Badeanstalt ging nicht fort und rollte mit den
Augäpfeln.

Erst spät am Abend bezog Marakulin in der fünften Etage sein neues
Zimmer, wo früher die Waschküche war. In der Wohnung war niemand, außer
der Köchin Akumowna; die Wirtin Adonja Iwoilowna war von der Reise noch
nicht zurück, – Adonja Iwoilowna pflegte im Sommer zu pilgern und die
Wohnung Akumownas Aufsicht zu überlassen. Die anderen zwei Zimmer waren
unvermietet.

Die erste Nacht in der neuen Wohnung träumte Marakulin, er sitze in
einem Lustgarten außerhalb der Stadt an einem Tischchen gegenüber der
Estrade – der Garten erinnerte an den Garten des Aquariums – und rings
um ihn lauter unbekannte Menschen: ihre Gesichter waren böse und
unruhig, und sie gingen herum und brummten und flüsterten miteinander.
Er verstand, daß ihr Brummen und Flüstern sich auf ihn bezog. Sie hatten
nichts Gutes im Sinn, gewiß nichts Gutes! Es wurde ihm Angst, sie aber
kamen immer näher, und bald flüsterten sie nicht mehr miteinander,
sondern winkten einander mit den Augen zu, verstanden einander und
zeigten auf ihn. Und schon gab es keinen Zweifel mehr: – er darf nicht
länger dableiben, sie würden ihn sonst totschlagen. Er erhebt sich und
will ganz unbemerkt zum Ausgang gelangen, – sie aber sind hinterher. So
ist es, sie wollen ihn totschlagen! Sie werden ihn totschlagen,
erwürgen; wohin fliehen, wo sich verstecken? O Gott, wenn doch ein
Mensch wenigstens da wäre, ein Mensch! Und sie verfolgen ihn, sind ihm
schon auf den Fersen, jetzt holen sie ihn ein. Er stürzt in eine Grotte,
fällt mit dem Gesicht auf die Steine. Und plötzlich läßt sich ein Vogel
wie ein Stein auf ihn nieder, auf den Rücken, kein Adler, sondern ein
Habicht, der Hühner raubt. Er preßt ihn hart zwischen den Klauen,
zerdrückt ihn, wie er sonst die Hühner zermalmt. – Dieb, Dieb, Dieb –
klopft sein Schnabel. Und ihm wird schwer, so schwer, – es ist kein
Zweifel mehr für ihn: er wird sich nie mehr erheben können, nie mehr
sich aufrichten, – und es ist ihm schwer; Bitternis ist in ihm und
Todesbangen.

– Ein böser Traum – sagte Akumowna, als Marakulin ihr am Morgen von den
nächtlichen Menschen und vom Habichtvogel erzählte, – man hat ihn nur
vor einer Krankheit. Sie werden ganz bestimmt krank werden.

Die Krankheit aber hatte sich seiner schon bemächtigt, er war ganz
zerbrochen, ganz aufgelöst, der Kopf hing ihm herab, er war krank: am
Morgen vermochte er kaum ein Glas Tee auszutrinken und der Bissen blieb
ihm im Munde stecken. Draußen war eine Hochsommerhitze und ihn
schüttelte der Frost wie im Januar.

Die göttliche Akumowna – im Burkowschen Hof wurde Akumowna die göttliche
genannt –, die gute Seele, brachte Marakulin zu Bett, gab ihm Himbeertee
zu trinken und legte ihm Senfpflaster auf; sie pflegte ihn Tag und
Nacht, und pflegte ihn gesund. Die Krankheit ließ ihn los und verließ
ihn. Doch hatte er an die zwei Wochen gelegen.

Das erste, was er empfand, als er nach der Krankheit die Hausschwelle
überschritt und sich auf der Straße befand, war – daß er jetzt alles zu
sehen und zu hören anfing. Und er fühlte, wie sein Herz sich auftat und
seine Seele lebte.

Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen
und in der Welt er selbst zu sein; der andre muß töten, um durch den
Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens als er selbst zu sterben;
er aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht der
Person, der sie zukam, – um seine Seele zu erschließen und in der Welt
zu sein, und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger Marakulin, sondern
als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und
fühlen.

So sprach es in Marakulin am ersten Tag seiner Genesung, so fand er ein
Schlupfloch, um wieder in die Welt hineinzuschlüpfen, so bewies er sich
sein Recht zum Dasein: nur sehen, nur hören, nur fühlen.

Er hatte keine Angst mehr vor den Menschen, sie schreckten ihn nicht
mehr. Und es war ihm jetzt eigentlich ganz gleichgültig, ob er ein Dieb
war oder nicht. Er fürchtete sich auch vor gar keinem Unglück mehr. Und
wenn, dachte er, noch tausendmal soviel Ungemach ihn heimsuchen sollte,
so war er zu allem bereit, mit allem einverstanden, alles wollte er
hinnehmen und erdulden und in jeglicher Schmach leben, in jeglicher
Erniedrigung, alles sehend, alles hörend, alles fühlend. – Warum? Das
wußte er selber nicht, nur, daß er leben wollte.

Geschah dies dem Ungemach und dem einäugigen Bösen zum Trotz, dem
überall ein Fest gerichtet ist, wo man sich grämt und weint – er hat
nämlich das Ungemach ausgehungert und läßt es hungrig um die Erde
streifen, und er selbst, der Einäugige, blickt mit seinem unterlaufenen
Auge scheel aus den Wolken von der Höhe des Himmels herab, wie die Erde
vor Kummer, Gram, Not, Trauer, Leid, Bosheit und Haß sich wälzt und wie
Murka klagt, und duldet es vielleicht nur bis zu einer gewissen Zeit,
oder betrachtet er es mit Wohlgefallen –?

Oder geschah es dem Kummer und seinem Hohn zum Trotz, dem mageren,
dünnen, zusammengeschrumpften, von Weiden umgürteten, mit Bast
umwickelten, – diesem, wie der alte Gwosdjow, zerzausten Kummer, mit
seinen geheuchelten Tränen, die er vergießt, wenn er einen in die Grube
hinabstößt und dazu „Ecce homo!“ ruft? Oder erkannte er in Murkas
Miauen, in Murkas Bestimmung zu klagen, eine höhere Gerechtigkeit, eine
Strafe für Murkas Erbsünde, die nicht gesühnt, nicht vertuscht werden
kann, wenn sie vielleicht auch ganz geringfügig ist, weil geschrieben
steht: Wer das ganze Gesetz befolgt und nur eins übertritt, der ist im
ganzen schuldig! und er ergab sich drein mit Furcht und Beben, nachdem
er erkannt hat, daß sein Recht eben in der Rechtlosigkeit von Uranbeginn
bestand? – Oder war es seine Liebe zum Leben, sein Instinkt zum Leben,
die Heiterkeit des Gemüts – das Mark und die Wurzel seines Lebens, die
ihm Recht sprachen, als eingeborene Kräfte seiner Seele, und ihm die
Fähigkeit verliehen, sich zu finden, sich zu fügen und anzupassen, ohne
Worte, ohne Beweise? Oder wird er jetzt einfach nur leben, niemand zum
Trotz, niemand zu Leide, weder aus Erkenntnis, noch dank seiner
besonderen seelischen Eigenschaften, sondern einfach so – zu gar keinem
Zweck, ebenso wie er früher zu keinem Zweck für den Direktor vor den
Feiertagen die Berichte abgeschrieben hatte, Tag und Nacht beharrlich
einen Buchstaben nach dem anderen malend, die Zeilen wie Perlen
aneinanderreihend? – Ist es nicht so?

Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach
deutlich in ihm: Zu keinem Zweck – zu gar keinem Zweck, aber du wirst
dennoch leben und nur sehen, nur hören, nur fühlen.




                            Zweites Kapitel


Das Burkowsche Haus stößt an keine fremde Mauer. Ihm seitlich gegenüber
liegt das Obuchowsche Krankenhaus. Zwischen dem Haus und dem Krankenhaus
befinden sich zwei Höfe: Burkows Hof und der Hof der Belgischen
Gesellschaft. Die Fabrik der Gesellschaft liegt rechts, – sie hat vier
Ziegelschlote mit Blitzableitern; sie qualmen den ganzen Tag und
erfüllen die Fensterrahmen mit schwarzem Ruß. Ueber diesen Ruß beklagt
sich Akumowna so oft sie vor den Feiertagen die Zimmer reinigt, aber sie
schreibt die Schuld daran nicht den belgischen Schloten zu, sondern der
riesigen elektrischen Milchglaskugel, die den ganzen belgischen Hof
beleuchtet.

Der Mond blickt manchmal in die Fenster hinein, die Sonne aber ist nie
zu sehen, nur im Hochsommer glüht Marakulins Zimmer wie eine heiße
Pfanne: die Strahlen dringen herein zusammen mit dem Staub und jenem
lästigen Hämmern von Eisen gegen Stein, das dem sich erneuernden und
aufputzenden Petersburg im Sommer eigen ist. Auch die Sterne sind hier
wenig zu sehen, mit Ausnahme des Abendsterns, und auch dieser ist nur im
Frühjahr sichtbar, in später, nicht sehr dunkler Mitternacht; dafür aber
glänzt das Licht im Obuchowschen Krankenhaus wie ein Stern.

Wenn im Hof der Belgischen Gesellschaft schwarze Männer erscheinen und
wie Zuchthäusler einen schwarzen Karten mit Steinkohle nach dem andern
von der Fontanka hereinfahren, und der Hof sich im Laufe der Tage in
einen schwarzen Berg verwandelt, dann bedeutet es, daß der Sommer
vorüber ist und daß der Winter, der Herbst naht. Wenn aber der Berg
abzunehmen beginnt und wie Schnee schmelzend zergeht, wenn die schwarzen
Männer wieder mit schwarzen Karren erscheinen und klirrend die letzten
Stücke wegfahren; wenn in dem mit grauem Sandbestreuten Hof weiße Zelte
sich erheben, kurzgeschorene, erdfahle Menschen in grauen
Krankenhauskitteln herumzuschleichen beginnen und die roten Kreuze der
Schwestern leuchten, dann bedeutet es, daß der Winter vorüber ist und
daß der Sommer – der Frühling da ist.

Burkows Haus ist wie Petersburg selbst.

Der herrschaftliche Teil des Hauses liegt nach der Seitengasse mit der
Kaserne – in ihm sind lauter teure Wohnungen. Hier wohnt der Eigentümer
Burkow selbst – ein ehemaliger Gouverneur: seine Uniform strahlt wie
elektrisches Licht und sein Vorzimmer ist voller Epauletten und blanker
Knöpfe. Eine Etage höher wohnt der Rechtsanwalt Amsterdamskij – er nimmt
zwei Wohnungen ein. Noch höher wohnen Oschurkows – ein Ehepaar nur – in
zehn Zimmern; alle zehn Zimmer sind voll von Nippes, auch ein Aquarium
mit Goldfischchen haben sie; die Dienstboten wechseln jeden Tag. Der
Nachbar der Oschurkows ist ein Deutscher, der Doktor der Medizin
Wittenstaube, der alle Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt. Ueber
Oschurkows und Wittenstaube wohnt die Generalin Cholmogorowa, oder die
Laus, wie sie im Hof genannt wird. Ueber der Generalin wohnt niemand;
unter Burkow befindet sich noch ein Kontor und an der Ecke eine
Bäckerei.

Burkow selbst wurde nie von jemand gesehen. Es gingen seltsame Gerüchte
um von seiner eigenartigen Selbstvernichtung: während er Gouverneur in
Purchowez war und dort den Aufruhr unterdrückte, soll er dermaßen außer
sich geraten sein, daß er unter anderen Akten auch eine von ihm selbst
verfaßte Meldung an das Ministerium über seine eigene völlige
Unfähigkeit unterschrieb, worauf er glücklich, aber ihm völlig
überraschend nach Petersburg berufen wurde, wo er seinen Abschied
erhielt.

Die Generalin Cholmogorowa dagegen konnte ein jeder sehen, und alle
wußten, daß allein die Zinsen ihres Kapitals bis zu ihrem Tode reichten,
und leben könnte sie noch ein halbes Jahrhundert: kräftig und lebhaft
würde sie alle überleben, oder wie der Chiromant sich ausdrückte: es ist
ihrem Leben kein Ende abzusehen! Man wußte auch von der Generalin, daß
sie jeden Dienstag ins Dampfbad gehe und so abgehärtet sei, daß sie
überhaupt nicht altere, sondern immer im gleichen Zustand verharre.
Weiter wußte man, Gott weiß woher, daß sie nichts in ihrem Leben zu
bereuen habe; sie hat weder getötet noch gestohlen, und wird weder töten
noch stehlen, denn sie tut nichts, als sich ernähren – sie trinkt und
ißt – sie verdaut und härtet sich ab. Sonst nichts. Endlich wußte man,
daß sie das Haus nie anders als mit einem Klappstuhl verlasse; diesen
nehme sie als eine Art Waffe mit, falls sie überfallen werden sollte, –
und so kann man sie mit dem Stuhl täglich auf der Fontanka der Motion
wegen promenierend antreffen, an Samstagen und Sonntagen, vor den Festen
und an den Festtagen selbst dagegen auf dem Sagorodny-Prospekt, wo sie
entweder zur Kirche geht oder aus der Kirche kommt.

Jeden Mittag Schlag Zwölf erscheint auf dem Hof das Burkowsche
Hausmädchen Susanna, das schon mehr wie ein Fräulein aussieht – wie eine
Stenotypistin aus irgendeinem Bureau – und führt den schönen Hund des
Gouverneurs, den rothaarigen Revisor über den Hof spazieren, wobei sie
kaum die lästige Stahlkette festhält. Jeden Mittwoch werden die Teppiche
in den Hof hinuntergebracht und vor den Feiertagen auch die
Polstermöbel, und die Teppichklopfer bearbeiten sie und klopfen so
eifrig und mit solchem Gedonner, daß es sich anhört, als würde auf der
Newa aus Kanonen geschossen; das bedeutet: ein Attentat oder eine
Ueberschwemmung. Alle diese Teppiche und Möbel stammen aus dem
herrschaftlichen Teil des Hauses – aus den reichen Wohnungen der
Burkows, Amsterdamskijs, Oschurkows, Wittenstaubes und der Generalin
Cholmogorowa.

Im Hinterhaus sind lauter kleine Wohnungen, und die Einwohner sind
mittlere, zumeist aber kleine Leute. Hier befinden sich Schuster und
Schneider, Bäcker, Bademeister, Friseure, eine Waschanstalt, zwei
Weißnäherinnen, drei Schneiderinnen, eine Krankenschwester aus dem
Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner,
Schirmmacher, Bürstenmacher, Buchhalter, Wasserleitungsarbeiter, Setzer
und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische Monteure mit ihren
Familien und ihren Lumpen, Flaschen, Gläsern und Schwaben; hier sind
auch allerlei Fräuleins von der Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt,
Nähmamsells, Mädchen aus den Teestuben und elegante junge Leute aus den
Badeanstalten, die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen; hier
befinden sich auch „die Winkel“.

Der Inhaber der Winkel, der Händler Gorbatschow, der Schweigsame – so
wurde er im ganzen Hof genannt – ein stämmiger, haariger, angegrauter,
betfrommer Mann, der allsonnabendlich alle seine dreißig Winkel mit
Weihrauch ausräuchert, besitzt auf dem Marsfeld drei Stände. Zu den
Feiertagen tummeln sich bei Gorbatschow Mädchen in schwarzen Tüchern und
Nonnen-Geldsammlerinnen in Schaftstiefeln, und zu Ostern legen alle
diese Töchter des Gesanges lustig und keck: Christ ist auferstanden! bei
ihm los. Gorbatschow ist allen bekannt und wenig beliebt; er kann Kinder
nicht ausstehen. Die Generalin Cholmogorowa kann, wie man sagt,
ebenfalls Kinder nicht ausstehen, aber sie selbst hat nie welche gehabt;
Gorbatschow dagegen hatte ein Töchterchen gehabt, das er aber so lange
in einer leeren Kammer voller Ratten eingesperrt hielt und so lange
mißhandelte, bis er es ins Jenseits befördert hatte. Die kleinen Kinder
ärgern Gorbatschow, geben ihm allerlei Spitznamen, verfolgen ihn in
wilden Scharen, spotten über seinen Weihrauch und über seine mit
Pferdehaaren bewachsene Nase, und davon ertönt der Hof von so kräftigen,
geflügelten Worten, von einer so auserlesenen saftigen russischen
Sprache, wie man sie kaum im Gefängnis zu hören bekommt; und das
Gefängnis ist doch sozusagen ihre Akademie.

– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist voll, die Strafe ist nah,
ich werde euch alle, ihr Lumpen, auf einem Stricklein aufhängen! –
brummt der gekränkte, von den Kindern gequälte alte Schweiger und
schnuppert mit seiner von Pferdehaaren bewachsenen Gorbatschowschen
Nase, während er an den Sonnabenden alle seine dreißig Winkel
beweihräuchert, böse und bitter das Göttliche mit dem Ungebührlichen
durcheinandermengend.

Die Gorbatschowschen Winkel sind allbekannt. Hier wohnt die Alte, die an
der Badeanstalt Sonnenblumen- und Kürbissamen, Johannisbrot,
Zuckerplätzchen in rosa Papierchen mit Fransen, Heringe und eingelegte
Birnen feilbietet; stellenlose Köchinnen wohnen hier und sonst allerlei
Volk, von der Art des ruhelosen alten Gwosdjow: ein Maler, ein Tischler
und allerlei fliegende Händler.

Die Stände der Händler, ihre Kästen, befinden sich an der hölzernen
Ueberwölbung der Müllgrube und auf dem Müllkasten andererseits. Am
frühen Morgen, wenn die Hausmeister den Hof säubern und fegen, da kocht
es bei den Händlern vor Arbeit auf den Ständen: die Aepfel, Apfelsinen,
getrocknete Aprikosen, Pflaumen, Datteln und andere Süßigkeiten und
Näschereien, alles wird vorsichtig immer wieder verlockend
zurechtgelegt, aufgefrischt und erneuert. Dann wird es an der Fontanka
herumgetragen und sieht so verlockend, so schmackhaft aus, daß es über
die Kraft geht, sich zu versagen, wenigstens etwas davon zum Tee zu
kaufen: eine Dattel oder eine Tafel Schokolade, die nach Mistpilzen
riecht.

Und so wie die Gorbatschowschen Winkel nie leer stehen, so sind auch die
Stände dieser Händler, ihre Kästen stets voll von den verlockendsten
Süßigkeiten und Näschereien.

Neben den Winkeln befindet sich die Hausmeisterwohnung. Es sind ihrer
sieben Hausmeister. Alle sehen sie so gesund aus, und alle sind sie
irgendwie krank; – wenn sich zum Spaß wenigstens ein gesunder unter
ihnen fände! Der Beruf eines Hausmeisters ist auch gar nicht so einfach:
er muß aufpassen und Holz tragen und Leute auf die Wache schleppen, –
und alles muß flink geschehen. Ihr einziger Vorteil ist der Verkauf von
Brennholz. Nur der herrschaftliche Teil des Hauses bezieht das Holz vom
Wirt; im Hinterhaus aber wohnen nur kleine Leute, die ihr Holz selber
kaufen, und deshalb treiben durchweg alle sieben Hausmeister einen
schwunghaften Handel mit Holz.

Ueber der Portierloge wohnt der Oberhausmeister Michail Pawlowitsch, der
seiner Stattlichkeit nach besser in die Newskaja Lawra[1] passen würde –
auch in diesem Kloster würde er nicht zu den letzten zählen; – als
Feiertagsgeschenk nimmt er nicht weniger als einen Rubel an. Ueber
Michail Pawlowitsch wohnen der Paßaufseher Jerkin und der Kontorist
Stanislaus.

Jerkin ist im ganzen Burkowschen Hof in Beziehung auf Trinken als der
erste bekannt. Und in den Feiertagen kann es vorkommen, daß er, nachdem
er die fünfte Etage erklettert, an einer Tür geklingelt und mit Mühe
hervorgestammelt hat, er sei um seinen Feiertagsobolus gekommen, wie tot
auf dem Platz liegen bleibt. Einmal, war es Weihnachten oder Ostern, da
war er die ganze Treppe hinuntergekollert, von Stufe zu Stufe – „er
liebt mich, er liebt mich nicht“ – und hatte sich dermaßen an den
Fliesen zerschunden, daß man ihn kaum erkennen konnte. Nach Neujahr, am
Tage der heiligen drei Könige, brachte ihn Antonina Ignatjewna, Michail
Pawlowitschs Gattin, eine gottesfürchtige Frau, zum Mönch am Hafen, um
ihn wieder auf den guten Weg zu bekehren. Er ließ sich auch bekehren: er
legte vor dem Bruder ein Gelübde ab, – schriftlich – daß er ein ganzes
Jahr nicht mehr trinken würde, bis zum nächsten Neujahr. Jerkin handelt
mit Marken aus dem Krankenhaus, und diese Marken, meist im Werte eines
Rubels, sind für ihn dasselbe, was das Holz für einen Burkowschen
Hausmeister ist.

Jerkins Hausgenosse, der Kontorist Stanislaus, ist ebenso wie sein
Freund, der Monteur Kasimir, von jeher dadurch bekannt, daß er sich
nachts auf allen Treppen herumtreibt und daß keine Köchin, kein
Hausmädchen ihm widerstehen kann; ein solcher Fall soll noch nicht
vorgekommen sein, und kein Gardesoldat kommt ihm darin gleich.

Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Unfälle, Begebenheiten, Skandale,
Raufereien, Schlägereien, Hilferufe und Polizeiwache – bald ist es, als
schreie ein Mensch, bald, als miaue eine Katze oder als würde jemand
gewürgt. Und so jeden Tag.

Burkows Haus ist eine richtige Wjasma[2].

Die Wohnung Adonja Iwoilowna Jurawljowas, der Wirtin Marakulins, ist im
Hinterhaus gelegen und trägt die Nummer neunundsiebzig.

Auf Nummer achtundsiebzig wohnt die Hebamme Lebedjowa. Bei der Hebamme
wurde am Advent ein Pelzmantel gestohlen, und der Dieb war nicht zu
finden, als wäre der Pelz im Ofen verbrannt. Man warf dem Schweizer
Nikanor vor, daß er nicht aufgepaßt hätte, – aber wie konnte er
aufpassen, wenn er den ganzen Tag auf den Beinen sein muß und nachts
herausgeklingelt wird, und so das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es
ein schlauer Dieb, ein Hausgenosse, – aber es war nichts zu machen.

Auf Nummer siebenundsiebzig wohnten eine Zeitlang zwei Studenten –
Scheweljow und Chabarow. Dem Aussehen nach waren sie wohlhabend; sie
waren elegant gekleidet und hatten die Miete für einen Monat
vorausbezahlt. Sie lebten zurückgezogen, niemand pflegte zu ihnen zu
kommen, es gab nie Lärm bei ihnen und sie hatten auch keine eigene
Bedienung. Gewöhnlich fuhren sie schon am Morgen fort und kamen erst
spät abends heim. Sie befaßten sich damit, Geld für ihre armen Kollegen
zu sammeln; so sagten sie bei ihren Besuchen in den Vorder- und
Hinterwohnungen des Burkowschen Hauses. Nur durch eins störten sie: sie
sangen sehr oft in der Nacht, wenn auch nicht laut, so doch vernehmlich
Totenmessen. Diese nächtlichen Totengesänge verursachten den Nachbarn
wenn nicht Schrecken, so doch einige Erregung. Aber was geschah? Nach
einem Monat stellte sich heraus, daß sie gar keine Studenten waren, auch
nicht Scheweljow und Chabarow hießen, sondern Schibanow und Kotschenkow
– Diebe vom reinsten Wasser, und ihre Wohnung war, als wäre sie gar
nicht bewohnt, leer, nicht einmal ein zerbrochener Stuhl war drin –
nichts, nur ein Kerzenstumpf in einer Bierflasche und ein Messinghahn.
Und da sie nicht wenig auf dem Kerbholz hatten, wurden sie verhaftet.

An Stelle der Studenten quartierten sich auf Nummer siebenundsiebzig
zwei Artisten, die beiden Brüder Damaskin ein: Sergej Alexandrowitsch
vom Ballett – er hatte in zwölf Sprachen Examen gemacht und alle Gesetze
ausstudiert, wie man im Hof sagte, – und Wassilij Alexandrowitsch, ein
Zirkusclown oder der Klon[3], wie es in der Burkowschen Sprache hieß: er
spie Feuer und fürchtete nichts und ist schon im Luftballon geflogen.
Die neuen Mieter wurden vom Oberhausmeister Michail Pawlowitsch die
Artisten genannt, und er war von einem ungewöhnlichen und ihm selbst
rätselhaften Respekt vor den Brüdern Damaskin durchdrungen, wie vor
einem Mönch aus dem Hafen.

Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, sieht wie eine Teetasse aus, Sergej
Alexandrowitsch ist schlank und sauber, wie ein sechzehnjähriges
Fräulein; er berührt die Erde kaum beim Gehen und hält sich steil, wie
ein dreijähriges Kind; – er geht schnell, seine Schuhchen scheinen keine
Absätze zu haben, und jeden Augenblick kontrolliert er sozusagen seine
Füße gymnastisch: er beginnt mit den Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit
den Flügeln. Wassilij Alexandrowitsch ist nur im Zirkus beschäftigt und
hat jeden Abend Vorstellung, wie das so ist, Sergej Alexandrowitsch
dagegen tanzt im Theater und gibt Stunden bei sich zu Hause und außer
dem Hause.

Die Artisten verdienten gut, streuten das Geld aber um sich wie Späne –
Sergej Alexandrowitsch spielte Karten und verlor stets – sie kamen aus
den Schulden nicht heraus, und manchmal ging’s ihnen an den Kragen.

Sie beide waren nicht älter als Marakulin. Sergej Alexandrowitsch war
verheiratet, aber seine Frau hatte ihn verlassen. Und obgleich er sie
versicherte, daß die Liebe nur einmal komme – es gebe nur eine Liebe auf
der Welt – und, wenn er seinen Schülerinnen den Hof mache, dies eben nur
zu den Pflichten seines Berufes gehöre, und wenn er mit einer Schönen
spreche, so spreche er mit ihr nur, wie mit einem Menschen, ohne daß
sein Herz dabei beteiligt sei, so war seine Frau doch von ihm
fortgegangen. Sergej Alexandrowitsch ist sauber, Wassilij
Alexandrowitsch das Gegenteil: er braucht jeden Tag ein Fräulein, er
kann sonst nicht leben; er ist dabei nicht wählerisch und fürchtet sich
vor nichts, dafür aber besucht er, wenn auch nicht oft, die Kirche.
Sergej Alexandrowitsch dagegen ist sogar Ostern zu Hause geblieben. Und
als Sergej Alexandrowitsch einmal Zahnweh bekam und beschlossen hatte,
er müsse sterben, dachte er gar nicht daran, einen Priester rufen zu
lassen, vielmehr warnte er die Sklavin – so nannten die Artisten ihre
Köchin Kusjmowna – und zwar aufs strengste davor: – Wenn du mir einen
Popen holst – rief er in seiner Zahnwehraserei – werfe ich das Aas die
Treppe hinab! –

Und er hätt’ es auch gewiß getan: Sergej Alexandrowitsch war ein großer
Philosoph.

Marakulin stand mit der Hebamme Lebedjowa nur auf dem Grüßfuß – sie
mißfiel ihm: sie sah nur auf die Tasche, war unterwürfig und verstand es
mit zwei Stimmen zu sprechen: mit der einen zu denen mit den vollen
Taschen und mit der anderen zu denen, die nichts hatten. Bald hörte die
Hebamme auf, Marakulins Gruß zu erwidern, und auch er tat, als bemerkte
er sie nicht mehr. Mit den Studenten war Marakulin nicht näher bekannt
gewesen und nur manchmal an der Treppe mit ihnen zusammengestoßen: er
stieg gerade hinauf, als sie herunterliefen; nachts aber war er ein
aufmerksamer Hörer der studentischen Totengesänge. Auf den ersten
Eindruck gefielen ihm diese Kerle: sie waren so tüchtig und
lebenslustig. Mit den Artisten aber hatte er sich angefreundet und
besuchte sie: er kam zu ihnen ab und zu abends zum Tee.

Die Artisten waren geistlicher Herkunft und von seminaristischer
Bildung; sie waren beide ein paar fidele Hühner, nicht kopfhängerisch –
sie sparten kein Streichholz beim Zigarettenrauchen! – Wassilij
Alexandrowitsch, der Clown, war nicht sehr gesprächig, aber einem
Gespräch nicht hinderlich; er war gutmütig und lachte viel, häufig auch,
wo es gar keinen Anlaß zum Lachen gab, offenbar nach seiner eigenen
Clownlinie. Sergej Alexandrowitsch dagegen unterhielt sich gern. Er war
auch ein Bücherfreund und las nicht nur humoristische illustrierte
Zeitschriften wie etwa „das Petersburger Satirikon,“ nicht nur den
berühmten „Andrej, den Schwergeprüften,“ oder „Elsa von Gabron,“ oder
„die schrecklichen Geheimnisse des unterirdischen Gewölbes,“ oder „die
schrecklichen Abenteuer des Räuberhauptmanns die schwarze Hand,“ oder
„die Liebesrendezvous von Beritzky,“ „die Entführung Ludmillas durch den
Waldräuber Alexander“ – die Lieblingslektüre des Clowns –, nein, er las
die neuesten, sensationellen Bücher, die überall in den Schaufenstern zu
sehen sind: bei Ssuworin, bei Wolf, bei Mitjurnikow auf dem Newsky, im
Gostiny Dwor, auf der Litejnaja und sogar auf der Gorochowaja, in der
einzigen Buchhandlung dieser Straße. Und beim Tee pflegte Sergej
Alexandrowitsch auf alle totengräberischen, tendenziösen Betrachtungen
Marakulins mit eigenen ausgedehnten Betrachtungen über das Schicksal und
das Los verschiedener Länder, Völker und des Menschen überhaupt zu
erwidern und schloß gewöhnlich mit der kurzen Bemerkung:

– Man muß alles von sich abschütteln! – dabei flatterte er mit den Füßen
wie ein Hahn mit den Flügeln.

Sergej Alexandrowitsch ist ein großer Künstler.

Die Wirtin Marakulins Adonja Iwoilowna Jurawljowa – eine nicht mehr
junge, dicke und sehr gute Frau, ist seit fünfzehn Jahren Witwe, seitdem
ihr Mann infolge einer Krebskrankheit den Hungertod starb. Er wurde auf
dem Smolensky-Kirchhof begraben. Sie selbst ist keine geborene
Petersburgerin, sie stammt von der Meeresküste, vom Weißen Meer. Ihr
Mann besaß ein Geschäft auf der Ssadowaja, einen Schnittwarenladen –
Baumwolle und Zwirn – jetzt hat sie es verpachtet. Sie hat keine Kinder
und die Verwandten von seiten ihres Mannes sind auch kinderlos, nur ein
Neffe ist da. Der Neffe pflegt an den Feiertagen zu Weihnachten und
Ostern zu kommen, um ihr zum Fest zu gratulieren, ebenso an ihrem
Namens- und Geburtstag. Sie ist reich – hat viel Geld und weiß nichts
damit anzufangen; sie grämt sich sehr, daß sie keine Kinder hat und
seufzend klagt sie über das ihr von Gott bestimmte kinderlose Leben.

Adonja Iwoilowna bewohnt das äußerste Zimmer; gleich am Eingang rechts
liegt ihr Zimmer. Den ganzen Tag sitzt sie zu Hause; auf die Straße geht
sie nicht – es ist ihr beschwerlich, die Treppen hinunterzusteigen –,
der eine Fuß schleppt etwas nach, und beim Hinaufsteigen vergeht ihr der
Atem; auch hat sie Angst vor der Elektrischen. Es bleibt ihr nur eine
Zerstreuung: in die Küche zu Akumowna zu spazieren und mit ihr vom Essen
zu sprechen.

Adonja Iwoilowna ißt gern.

Die Zimmer liegen alle in einer Reihe. Das zunächst an der Küche
gelegene ist das Marakulins, und Peter Alexejewitsch kann am Morgen
schon hören, wie sie das Mittagsessen bespricht. Adonja Iwoilowna ißt
besonders gern Fische. Und sie belehrt Akumowna über den Sterlet, über
die Zubereitung einer Sterletsuppe, von einem wahrhaft die Seele aus dem
Leibe schmeichelnden Geschmack.

– Zuerst mußt du, Uljanuschka – spricht sie zu Akumowna mit einer
Stimme, als schlucke sie Tränen – zuerst mußt du die Barsche bis zur
Erschöpfung kochen, dann tu’ den Sterlet hinein, das gibt eine
schmackhafte Suppe.

Und in der Tat wurde da eine schmackhafte Fischsuppe gekocht; ein die
Seele aus dem Leibe schmeichelnder, süßer, fetter Sterletgeruch erfüllte
die Küche und alle vier Zimmer, und Marakulin konnte es kaum aushalten,
kaum den glücklichen, seligen Augenblick erwarten, bis er in die
Garküche auf den Sabalkansky gehen konnte.

Adonja Iwoilowna versteht sich aufs Essen.

Den ganzen Winter sitzt sie fest, sie ist seßhaft und wird wegen ihrer
Seßhaftigkeit im ganzen Hof nicht anders als die Schmiede genannt; aber
kaum, daß der Frühling beginnt, ist sie nicht mehr in Petersburg: den
ganzen Sommer zieht sie von Ort zu Ort, zu allen heiligen Stätten
pilgernd.

Adonja Iwoilowna liebt die Einfältigen und Narren, die Starzy[4], Brüder
und Propheten. Sie war bei dem rasenden Starez in der Nähe von
Kischinew, hatte seine schrecklichen Schilderungen des Jüngsten Gerichts
und der Qualen der Sünder gehört; – sie waren so entsetzlich, daß die
Pilger wie von Sinnen davongingen und tobsüchtig wurden; manche starben
auf der Stelle vor Angst vor den Höllenqualen – so entsetzlich waren
diese Schilderungen. Sie war auch schon im Ural bei Makarij: – dieser
Starez wohnt auf einem Geflügelhof, pflegt das Geflügel, spricht mit dem
Geflügel, und ihm gehorcht alles Vieh: wenn sich der Starez bei
Sonnenuntergang zum Beten hinstellt, so stellt sich auch das ganze Vieh
hin, wendet die gehörnten, bärtigen Köpfe nach der Richtung, wohin der
Starez betet und steht und rührt sich nicht; es erklingt kein Glöcklein,
es klirrt keine Schelle. Sie war auch in Werchoturje bei Fedotuschka
Kabakow, der durch Gebete die Stimme des Himmels herabruft; sie war auch
bei jenem Starez, der durch seine Berührung engelhafte Reinheit schenkt
und in den paradiesischen Zustand versetzt; sie war auch bei dem
Kitajewschen Propheten: dieser Heilige läßt die Frommen an seiner Zunge
saugen – er steckt seine Zunge heraus, man saugt an ihr und ist
geheiligt – die Gnade hat sich auf einen herabgesenkt. Noch bei vielen
anderen heiligen Männern war sie in ihrem Leben gewesen:
im Heiligengeistkloster, wo der Starez die bösen Geister
vertreibt, indem er durch den Beischlaf das Fleisch abtötet; beim
Bossoj-Iwanowskij-Starez, beim Starez Damian und bei Phoka Skopinskij,
der sich selbst auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte.

Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geist, die Narren, die Starzy,
Brüder und Propheten. Sie möchte ihr Leben lang ihren unverständlichen
Gesprächen, ihren Parabeln und Sprüchen lauschen, sie möchte in ihren
Zellen beten, wo die Oellampen sich von selbst entzünden, wie die Kerzen
Jerusalems. Sie hat nur einen Kummer: sie sprechen nicht mit ihr, –
einzig ihr allein hat noch niemand von diesen Heiligen etwas gesagt! Ob
sie nun zu alt an Jahren ist, oder ob sie vor Rührung die prophetischen
Worte nicht hört, oder ist es ihr vielleicht nicht gegeben zu hören –?
Nur die heilige Schwester Parascha hatte ihr einmal gesagt:

– Schiffe werden gehen, viele Schiffe – weit!

Und im Winter in ihrer schwülen Stube auf der Fontanka sitzend,
wiederholt Adonja Iwoilowna sehr oft:

– Schiffe, Schiffe! – und kann diese Worte nicht begreifen, und die
Tränen rollen ihr wie die Erbsen die Wangen herab.

Adonja Iwoilownas Aehnlichkeit mit einer Seerobbe ist erstaunlich – eine
echte murmanische[5] Seerobbe.

Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geiste, die Narren, die Starzy,
Brüder und Propheten, aber sie hat noch eine andre Leidenschaft und eine
ebenso unbezwingliche: das Meer, das Meer – sie liebt das Meer. Alle
russischen Meere hat sie befahren, sie ist auf dem Murman, auf dem
Eismeer geschwommen, wo der Wal lebt, und hat auch das Mittelmeer
gesehen.

Und im Winter allein in ihrer schwülen Stube auf der Fontanka sitzend
denkt sie oft an das Weiße Meer, ihre Heimat, und an das warme Schwarze
Meer und an das smaragdgrüne Mittelmeer, und bei dem Gedanken an das
Meer wiederholt sie Paraschas einzige prophetische Worte:

– Schiffe, Schiffe! – und sie kann es nicht verstehen und Tränen rollen
ihr wie Erbsen die Wangen herab.

Nachts quälen Adonja Iwoilowna Träume. Sie träumt bunte Träume: sie
träumt von der Heimat, von den heimatlichen Flüssen, dem Onegafluß, dem
Dwinafluß, dem Pinegafluß, den Meshafluß, den Petschorafluß, vom
schweren Brokat altrussischer Gewänder, von weißen Perlen und rosa
Perlen aus Lappland, von Walfischen, Seerobben, Lappen, Samojeden, von
Märchen und alten Weisen, von langen Winternächten und von der
Mitternachtssonne, vom Kloster Ssolowski und vom Reigen. Sie träumt von
cholmogorischen ungehörnten Kühen, einer ganzen Herde; – und diese Kühe
haben menschliche Augen, sie schmiegen sich alle mit dem Rücken an sie,
dann tritt eine vor, reicht ihr einen Fuß wie eine Hand und sagt:
„Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen.“ Nach ihr tritt eine andre vor,
und so eine Kuh nach der anderen, jede reicht ihr einen Fuß wie die
Hand, und alle haben sie die gleiche Bitte: „Adonja Iwoilowna, lehre
mich sprechen!“ Sie träumt von Skorpio-Chamäleonen; – alle sind sie im
Frack, sitzen an den Wänden und wedeln mit den Schwänzen, die bald
smaragdgrün sind und bald purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Sie sehen sie
alle nur an, und bald sind alle Wände voll von Skorpio-Chamäleonen,
überall sind sie: auf den Heiligenbildern und hinter den
Heiligenbildern, und ein Schweif, wie aus tausend kleinen Schweifen
zusammengesetzt, winkt ihr zu und lockt sie, bald smaragdgrün und bald
purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Und manchmal träumt sie auch baren
Unsinn: als esse sie einen Käsekuchen, und so viel sie auch essen mag,
sie wird nicht satt und der Käsekuchen nimmt nicht ab.

Jeden Tag deutet Akumowna die Träume, und abends beim Tee legt sie
Karten. Akumowna kann wahrsagen aus den Weidenkätzchen, aus den
Wagenkerzen und zur Winterzeit aus den Frostblumen auf den Fenstern;
doch am genauesten kann sie aus den Karten wahrsagen.

Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger Regen. Aus den Dachrinnen
schlägt dumpf, wie ein Hund aufheulend, das Wasser auf die Steine. Die
belgische Bogenlampe leuchtet wie der Mond durch das Gewoge von Nebel
und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen Krankenhauses blinkt nur ein
Licht.

Im äußersten Zimmer bei Adonja Iwoilowna singt der Samowar – er geht
nicht aus, er ist voll und kochend heiß, der Dampf wallt nur so – der
Sänger summt sein Lied. Der Samowar singt, daß man es durch alle Zimmer
hört.

Akumowna ist nicht in der Küche. Akumowna ist mit den Karten bei Adonja
Iwoilowna. Akumowna legt Karten. Der Samowar ist im Erlöschen, sein
Gesumme ist leiser und Akumownas Stimme tönt dumpfer:

– Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es endet. Wie es sich
beruhigt. Sagt die volle Wahrheit, reinen Herzens. Was kommt, wird auch
zutreffen.

Es kommen aber lauter unreine, lauter unerfreuliche und dunkle Karten.

Adonja Iwoilowna weint. Wie sollte sie auch nicht weinen! Ihren Mann
hatte man auf dem Smolensky-Kirchhof bestattet und sie wollte ihn doch
in der Newskaja Lawra haben: die Verwandten hatten darauf bestanden,
hatten nicht auf sie geachtet. Er war zu Allen gut gewesen, hatte viel
geholfen, aber sie liebten ihn nicht. Nur sie allein hatte ihn geliebt
und auf sie hatte man nicht gehört. Auf dem Kirchhof geht nun die Erde
unter ihm weg, die Erde bröckelt ab.

Und wieder ertönt Akumownas Stimme, noch dumpfer.

– Fürs Haus. Fürs Herz. Wie es endet. Was sein wird. Wie es sich
beruhigt. Sagt die volle Wahrheit reinen Herzens. Was sein wird, wird
auch zutreffen.

Doch es kommen wieder dieselben Karten. Und wieder dieselben Träume;
Adonja Iwoilowna weint: nur sie allein hatte ihn geliebt, aber man hatte
nicht auf sie gehört, und jetzt geht die Erde unter ihm weg, die Erde
bröckelt ab.

– Man darf niemand beschuldigen! – sagte Akumowna plötzlich.

Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger Regen. Aus den Rinnen
schlägt das Wasser, wie ein Hund aufheulend auf die Steine. Die
belgische Bogenlampe leuchtet wie der Mond durch das Gewoge von Nebel
und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen Krankenhauses schimmert nur ein
einziges Lichtlein.

Im äußersten Zimmer, in der schwülen Stube bei Adonja Iwoilowna brennen
drei ewige Oellämpchen. Adonja Iwoilowna betet lange. Auch in der Küche,
in der vom unverwüstlichen Sterletgeruch und vom Geruch getrockneter
Pilze gesättigten Küche, brennen drei Oellämpchen. Akumowna betet lange.

– Schiffe, Schiffe! – ertönt des Nachts eine Stimme inmitten des
weinerlichen Schnarchens.

Und am anderen Ende der Wohnung antwortet ihr dumpf eine andere:

– Man kann niemand beschuldigen! –

Und eine dritte Stimme, die durch die Wand aus dem Zimmer der Artisten
hereindringt, sagt:

– Man muß alles von sich abschütteln.

Marakulin fährt dabei auf, kauert sich zusammen, ganz verstummt und
bedrückt horcht er und wiederholt sich vergebens immer dasselbe; trotzig
wie er ist, kann er nicht mehr nicht denken, er kann nicht auf seine
Gedanken nicht hören, und der Friede flieht ihn.

Die göttliche Akumowna ist laut ihrem Paß eine Jungfrau von
zweiunddreißig Jahren, aber laut ihren eigenen Versicherungen – es war
übrigens auch ohne ihre Versicherungen einleuchtend – war sie nicht
zweiunddreißig, sondern sicher fünfzig. Sie ist aus Pskow gebürtig oder
eine Pskowitanerin, wie die Artisten sie zu nennen pflegen, zu denen sie
ebenfalls manchmal hinläuft, um Karten zu legen; für Sergej
Alexandrowitsch wäre sie sogar bereit, den ganzen Tag Karten zu legen,
außerdem ist die Sklavin Kusjmowna, welche halb an eine Flunder, halb an
ein gefrorenes Huhn von der Sennaja erinnert, so etwas wie ihre
Gevatterin.

Akumowna ist klein und schwarz, ihr Gesicht ist sehr dunkel, – ein
Käfer! Sie lächelt und blickt so eigentümlich, idiotisch, nicht
gradeaus, sondern von der Seite, mit etwas geneigtem Kopf. Sie ist sanft
und wird nie böse. Und flink ist sie, aber sie läuft nicht, sondern sie
dreht sich auf demselben Fleck herum und es sieht nur so aus, als liefe
sie. Und geschickt ist sie, man würde glauben, sie mache alles sofort;
wenn es aber vorkommt, daß man sie irgendwohin rasch schicken muß, dann
ist’s aus, dann kann man lange warten! Es ist ja auch die fünfte Etage
und ihre Beine sind schon alt. Das Hinunterlaufen geht noch, aber beim
Hinaufsteigen der Treppe – da bleibt sie stecken. Die Füße möchten schon
laufen, und Akumowna wäre froh, möglichst schnell zurück zu sein, aber
sie hat eben keine Kraft mehr, und sie dreht sich nur auf demselben
Fleck.

Den Tag und die Nacht verbringt Akumowna ebenso wie Adonja Iwoilowna.
Sie träumt allerlei Träume: sie sieht Feuersbrünste – das Haus brennt ab
– und Räuber – die Räuber jagen und verfolgen sie – und einen nackten
Mann – der Nackte steht an einem Ufer und wäscht sich mit Seife – und
ein fleckiges Reptil – das Reptil beißt sie; – und Beeren ißt sie im
Traum – Preißelbeeren, die Büschel so groß wie ein Hammelschwanz. Aber
am häufigsten – sehr häufig fliegt sie im Traum: sie fliegt immer nach
einem und demselben Ort, zu Ostaschkow in Nils Einsiedelei, zum
ehrwürdigen Nilus Stolbenskij.

– Ich mache einen Sprung und fliege – erzählt Akumowna, – ich steige auf
und greife aus mit den Händen, wie auf dem Wasser, und es wird mir so
leicht und ich fliege vorwärts wie ein Vogel.

Schon vor langer Zeit hatte Akumowna ein Gelübde getan, zum ehrwürdigen
Nilus zu pilgern, und bis jetzt hat sie dieses Gelübde noch nicht
erfüllt; sie war noch nicht ein einziges Mal da, deshalb fliegt sie oft,
sehr oft zu Ostaschkow.

Im Hof wird Akumowna geliebt: die göttliche Akumowna. Und immer treiben
sich Scharen von Kindern bei ihr in der Küche herum, sie versteht und
liebt es mit den Kindern zu spielen und zu scherzen. Sie besucht alle;
wenn sie Geld hat, gibt sie es – und man nimmt es von ihr, um es ihr nie
zurückzugeben – in allen Winkeln ist sie willkommen. Und nur eins
fürchtet sie: wenn auf dem Hof eine Schlägerei angeht.

Sergej Alexandrowitsch Damaskin hat alle Gesetze ausstudiert, – er ist
ein Artist. Akumowna aber ist ein Mensch, der weiß, was im Jenseits
geschieht. So sagt man im Burkowschen Hof.

Akumowna war schon im Jenseits, – sie war dort den Passionsweg gegangen.

Dort in jener Welt wurde ihr alles gezeigt, nur weiß sie nicht, wer der
Mensch war, der sie geführt.

– Ich trat in ein Gebäude – so erzählt Akumowna ihren Passionsweg, – in
einen Saal: der Fußboden war morsch, die Dielen eingefallen, die Erde
unter ihnen war Schutt und auf dem Boden lagen Fische, stinkende,
abscheuliche Fische verschiedener Art, Fleisch, Schädel; lauter
schlechtes Zeug lag da herum und bis auf die Knochen verweste Menschen –
einzelne menschliche Glieder, verweste Tiere, alles verfault und
abscheulich.

Und sie wurde durch dieses Gemach geführt und es wurde ihr alles
gezeigt! Das Gemach war lang, unabsehbar, und breit, und dennoch war ihr
so eng. Vor ihnen waren Menschen, viele Menschen, hinter ihnen ebenfalls
viele Menschen, ringsum und überall gingen und standen Menschen. Und in
den Winkeln befanden sich Menschen, aber keine richtigen Menschen – das
nimmt sie so an; – auch solcher gab es viele.

– Ich habe mich so gequält, ein Gebet gesprochen, sie antworteten aber
nicht – sie hatten Schwänze und Beine wie Kühe und Krallen wie Hunde. –
Laßt mich heraus! – flehte ich.

Einer aber sagte: – Nein, sie muß noch etwas sehen! – Und darauf ein
andrer: – Warten wir, sie muß alles sehen, – und sie führten mich
weiter.

Und sie führten sie durch das Gemach und zeigten ihr alles. Es lag da
nur Schlechtes und Vermodertes herum, lauter Aas, alles verwest und
abscheulich, tote Menschen, tote Tiere, Gebein, Schädel, Kehricht.

– Wenn Gott mich wenigstens die heiligen Sakramente empfangen lassen
wollte! – dachte ich, – da könnte ich dieser Unzucht entrinnen. Und ich
wiederholte bei mir: – Herrgott, laß mich das Abendmahl nehmen, ich bin
schon zu Tode gequält! – Und da sehe ich, wir sind schon draußen.

Draußen wurde sie auf einen Berg geführt, und auf dem Berg standen drei
Personen, alle in hellen Mänteln und die Gesichter mit etwas Hellem
verhüllt; sie nahmen das Abendmahl. Nur daß statt des Kelches ein
Spülnapf war und der Löffel fehlte; so nahmen sie das Abendmahl. Und
viel Volk war da, und alle traten hinzu, alle nahmen das Abendmahl.

Und auch sie wurde hingeführt. Sie wollte sich bekreuzigen, aber es war
ihr schwer, als würde sie gehindert.

Er selbst reicht mir eigenhändig die Oblate, aber nicht befeuchtet,
sondern trocken. Und ich kann ihre Hostie nicht hinunterschlucken, sie
bleibt mir im Halse stecken, ich ersticke fast. – Herrgott! Herrgott!
Euch Heilige und Engel Gottes bitte ich, genug schon mich zu quälen! –
Sie aber lachen. Der eine sagt: „Warte nur, wirst noch weiter gehen.“
Und nach ihm der andre: „Ja, wir müssen sie noch weiter führen!“ – Sie
lachen – ihre Schwänze und Beine sind wie bei Kühen, die Krallen wie bei
Hunden. Und wieder beginnen sie mich zu führen.

Sie führten sie den Berg hinunter zum See. An ihnen vorbei strömt das
Volk in großen Scharen, wie auf dem Newsky – sie eilen, überholen
einander, laufen, laufen und schleifen ihre langen Schwänze nach. Alle
laufen sie vom Berg zum See, und am See verwandeln sie sich in Tauben –
einer Riesenwolke gleicht diese Taubenschar.

– Die Tauben ließen sich am Wasser nieder und begannen zu trinken, und
ich sagte: „Gehen wir auch hin?“ „Ja,“ wurde mir die Antwort, „wir gehen
auch hin.“ Einer aber sagte: „Nun ist es bald mit euch zu Ende.“ Schon
nähern wir uns immer mehr dem See. Ich räuspere mich, noch immer kann
ich die Hostie nicht herunterschlucken! Herrgott, bitte ich, genug schon
mich zu quälen. Um mich herum tummeln sich Kinder und ich stürze zu den
Kindern, ob sie mich nicht retten wollen: „Schütz mich doch, mein
Schutzengel, schützt mich doch, seid mir gnädig!“ Nun ist der ganze See
mit Tauben bedeckt, das Wasser ist trübe und schmutzig. Ich steige bis
an die Knie ins Wasser. „Jetzt ist dein Ende nah“ vernahm ich eine
Stimme, und der, welcher mich geführt hatte, war fort und verschwunden.

So war Akumowna im Jenseits gewesen, so war ihr Passionsweg.

Zum Glück hat sie ein gesundes Herz, über ihren Leib klagt Akumowna oft.
Denn sie hat nicht wenig Schweres erlebt – sie war gehörig unter der
Fuchtel.

Akumownas Vater war wohlhabend und stand in gutem Ruf. Sie war noch
nicht zehn Jahre alt, da starb ihre Mutter. Sie hatte sieben Brüder,
alle älter als sie. Sie war ein gesundes Mädchen. Zwar hatte sie als
kleines Kind einen Unfall: sie schlief in der Hängewiege und die älteren
Geschwister wiegten sie, da rissen die Stricke, die Wiege flog auf die
Erde und mit ihr das Kind. Es schrie Tag und Nacht und ließ sich nicht
einmal mit der Brust beruhigen, dann wurde es besser und es erholte sich
ganz. Sie war ein kluges Kind. Vor dem Tode hatte ihr die Mutter fünfzig
Rubel übergeben, in Leinewand eingewickelt. Niemand wußte etwas vom
Gelde, nur der Vater allein. Und wenn der Vater es brauchte, da wickelte
sie so viel er benötigte aus der Leinwand heraus und gab es ihm. Später
gab er’s ihr wieder zurück, sie wickelte es wieder ein und verriet
niemand etwas davon. Auch ihre Schwägerin wußte nichts davon. Der Vater
lebte mit seiner Schwiegertochter. Die Schwiegertochter liebte sie
nicht. Beim Mittagessen nahm sie sie bei der Hand und zerrte sie vom
Tisch. Sie quälte das kleine Mädchen sehr. Der Vater lebte mit der
Schwiegertochter. Einmal kam ein Vetter; der Vater hatte längst
versprochen, ihm Geld zu leihen, jetzt war er gekommen, um es zu holen.
Aber der Vater wurde böse und wollte ihm keines geben. Wassilij aber
brauchte das Geld sehr, außerdem kränkte es ihn: warum hatte er es erst
versprochen! Er weinte und ging fort. Das Mädelchen hörte es – sie war
so gut und nicht glücklich – sie holte Wassilij ein und bot ihm von
ihrem Geld an, das in der Leinwand eingewickelt war, aber er sollte ihr
versprechen, es ihr bald zurückzugeben. Er war natürlich froh: „Möge
mein Haus verbrennen, mag ich meine Kinder nicht wiedersehen,“ schwor
er. Und sie gab ihm das Geld – genau so viel, Heller bei Heller, wie ihr
Vater ihm versprochen hatte. Aber als die Zeit kam, gab er’s ihr nicht
zurück. Er habe eben kein Geld, hieß es, sie müsse warten. Sie hätte
auch gewartet, auch war es ihr gar nicht um das Geld zu tun, aber was
sollte sie dem Vater sagen, wenn er danach fragte! Und grade mußte es
kommen, daß der Vater krank wurde: er hatte Bier getrunken, da wurden
seine Füße blau und es ging ihm schlecht. Das ganze Dorf wurde
zusammengerufen. Auch Wassilij kam, der Vetter. Alle setzten sich um ihn
herum und saßen. Da sagte der Vater zum Mädchen, sie solle die Leinwand
bringen, worin das Geld war. Sie erschrak, wußte nicht was zu sagen und
redete sich heraus: Sie habe den Schlüssel verloren. Verloren? – Schön.
Die Schwägerin nahm eine Axt, ging in den Speicher, brach den Koffer auf
und holte die Leinwand. Man zählte das Geld und es fehlten zwanzig
Rubel. Der Vater sagte zum Mädchen: – Wo ist das Geld? – Sie schwieg.
Und nochmals: Wo ist das Geld? – Sie aber schwieg wieder. Und als es
ganz schlimm mit ihm wurde, begann er die Kinder zu segnen. Er segnete
erst seine Söhne, ihre älteren Brüder, dann kam die Reihe an sie. Sie
fing an zu weinen und bat Wassilij leise, er möchte doch das vom Gelde
sagen – aber Wassilij der Räuber erwiderte: – Ich weiß von nichts, ich
habe dein Geld nicht genommen! – als hätte er in der Tat nie Geld von
ihr genommen. Sie weinte nicht mehr; – wenn es einem gar schlimm zumute
ist, da weint man nicht, sie sah nur den Vater an, sie sah ihn nur an.
Der Vater sagte zu ihr: – Ich segne dich – er hielt inne und überlegte:
– sei wie ein rollender Stein um die weite Welt! – dann knirschte er mit
den Zähnen und verschied.

„Wie ein rollender Stein um die weite Welt!“ So lautete der Segen ihres
Vaters, den Akumowna empfing und der sie offenbar, wie Akumowna annahm,
zum Herumirren in der weiten Welt bestimmte.

Sie hielt es darauf keine sechs Wochen mehr zu Hause aus, und lebte dann
in einem Gemüsegarten. Zu Lebzeiten des Vaters, ob es schlecht oder gut
ging, hieß es dulden; als aber der Vater starb, da ward die Schwägerin
grimmiger als eine Bestie, sie verfolgte sie und fraß sie auf. Am
sechsten Tag nach dem Froltage nahm die Herrin von Turij-Rog, Frau
Bujanowa die Akumowna zu sich aufs Gut, ins Haus. Das Bujanowsche Gut
Turij-Rog lag sechs Werst von Ssosna-Gora entfernt.

Auf dem Gut hatte sie es sehr schön. Die Herrin Bujanowa gewann sie
lieb. Sie war nur ein wenig älter als Akumowna: Akumowna war damals
dreizehn, die Herrin sechzehn Jahre alt. Herr Bujanow selbst war nicht
mehr jung und hätte gut der Großvater der beiden sein können. Er reiste
oft in Geschäften in die Stadt und war auch zu Hause viel beschäftigt:
er besaß viel Land, viel Wald und See, – er war ein tüchtiger Wirt und
liebte sein Gut: der Hanf in Turij-Rog stand so dicht, daß ein Mensch
nicht durch konnte, und die Hühner weideten auf den Feldern wie Schafe!
Die Herrin aber war immer allein mit Akumowna, wie mit einem lieben
Schwesterchen. Sie nahm sie überall mit, ins Feld, in den Wald, in das
junge Gehölz, um Pilze und in den dunkeln Wald, um Beeren zu suchen. Im
dunkeln Wald, in den Lichtungen, in der Sonne da stehen die Beeren so
rot, daß es eine Freude ist, sie zu pflücken. Sie pflückten Nüsse,
sammelten Eicheln zum Kaffee, oder die Herrin legte sich unter eine
Kiefer und schickte Akumowna Blumen zu holen. Akumowna kehrte dann mit
Blumen zurück – mit vielen verschiedenen blauen Blumen – und wand einen
Kranz, die Herrin aber lag unter der Kiefer und weinte. Akumowna
schmückte sie mit den blauen Blumen – und küßte sie halbtot; – sie
selbst war schwarz, mit blanken, lustigen Augen, ein rotes Band im Zopf
– ein Käfer.

So verbrachte Akumowna ein Jahr unzertrennlich von der Herrin: sie wurde
zu allem angeleitet, lernte Plätten und Waschen. Vor Mariä Schutz und
Fürbitte fuhr der Herr in die Stadt und wurde da krank. Dem Herrn
geschah dies oft: man behauptete, daß _sie_ ihn quälten: – der Wald hat
seinen Herrn und das Wasser seinen, die Wald- und Wasserbeherrscher. Der
Wald in Turij-Rog war früher dicht und undurchdringlich, ein Käfer
konnte kaum durchfliegen; Bujanow hatte den Wald gelichtet. Zu den Seen
konnte man früher nicht gelangen, er aber hatte Wege gebaut und die Seen
gereinigt. Ihnen aber ist so etwas nicht recht. Und von Zeit zu Zeit
kamen sie zu ihm und machten ihm Vorwürfe, daß er sie umgebracht hatte.
Dies eben war seine Krankheit. So sagten die Menschen. Man
benachrichtigte die Herrin in Turij-Rog, sie machte sich auf und fuhr zu
ihm.

– Die gnädige Frau befahl mir, auf das Schönchen acht zu geben, –
erzählte Akumowna, – jede Nacht nach der Kuh zu sehen. Es gab da viele
Kühe, aber das Schönchen war ihre Lieblingskuh. Das Schönchen sollte
kalben. Damit fing’s an. Im Dorf war grade eine Hochzeit und ich bat um
Erlaubnis hinzugehen. Ich versprach um Zwölf heimzukommen, vergaffte
mich und kam erst um Zwei. Inzwischen hatte das Schönchen um Zwölf
gekalbt und das Kalb mit einem Fußtritt erschlagen. „Eins von uns bleibt
am Leben, entweder du oder ich!“ sagte der Aufseher des Viehhofs, –
entweder ich werde davongejagt oder er. Und so gehe ich zum jungen Herrn
– der Bruder der gnädigen Frau war bei uns damals Verwalter – und
fürchte mich hineinzugehen: ich versuche die Tür aufzumachen und laufe
zurück. „Was hast du, Käfer?“ Er hatte mich also kommen gehört.
„Verzeihen Sie, gnädiger Herr, verzeihen Sie, ein Unglück ist passiert!“
„Komm her!“ Er ließ mich eintreten. Ich werfe mich auf die Knie, erzähle
ihm auf den Knien alles und weine. „Hinaus! Pack deine Sachen!“ Und jagt
mich hinaus. Ich ging zu mir aufs Zimmer – meine kleine Kammer lag
hinter dem Speisezimmer – und wußte gar nicht, was für Sachen zu packen,
denn ich hatte keine, ich weinte nur. Und so weinte ich die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen kommt der Herr. „Hast du schon eingepackt?“ Ich fange
wieder an. „Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich bekenne meine Schuld!“
„Schweig, wag es nicht zu weinen, – ruft er – sonst laß ich dich
aufhängen“ und ging fort. Ich denke mir, aufhängen läßt er mich doch
nicht, er will mir nur Angst machen, und dennoch fürchte ich, und mir
ist so bange. Es war Samstag, das Bad wurde geheizt. Ich scheuerte die
Schwitzbank, stellte Bier hin und wollte eben gehen, da kommt der
gnädige Herr. Ich will zur Tür hinaus. „Halt, hast du schon deine Sachen
gepackt?“ Ich wiederhole das meinige: „Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr,
ich bekenne meine Schuld, jagen Sie mich nicht fort!“ – Er überlegt und
sagt zu mir: „Wenn du einwilligst mit mir zu leben, dann bleibe hier,
brauchst dann nicht fortzugehen!“ Und stieß mich hinaus. Ich wollte aber
nicht fortgehen, wollte nicht von meiner gnädigen Frau verstoßen werden,
und wohin sollte ich auch gehen? – wieder zum Bruder, zur Schwägerin?
Und so gehe ich herum und weine. Der Viehhofaufseher wiederholt aber
nur: „Eins von uns bleibt am Leben, du oder ich!“ Entweder er wird
fortgejagt oder ich. Wäre die gnädige Frau nur zu Hause gewesen, aber
sie kam immer noch nicht. Es wurde wieder Samstag. Wieder wurde das Bad
geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier hin und wollte mich
beeilen, vor dem gnädigen Herrn fortzugehen, mir war so bange, ich
fürchtete mich. Er trat aber schon ein. „Bist du nun einverstanden?“ –
„Ja.“ – Natürlich, ich war ein dummes Mädchen, hab’ nichts verstanden.
„Geh, zieh dich aus, ich will dich ansehen.“ Ich zog mich aus. Am
nächsten Tag fuhr der gnädige Herr in die Stadt – er hatte mich noch
nicht angerührt – und brachte mir ein seidenes Tuch und ein Band ins
Haar mit. Ich erzählte es der Kinderfrau, – eine alte, ganz alte
Kinderfrau war da im Hause. „Das macht nichts,“ sagte die Kinderfrau,
„verlange du aber fünfhundert Rubel auf ein Büchlein, zur
Sicherstellung!“ Ich konnte nicht verstehen, was für ein Büchlein sie
meinte. Ich war eben ein kleines dummes Mädchen und verstand nichts. Am
Abend ruft mich die Kinderfrau: „Wenn du dem gnädigen Herrn den Samowar
hineinbringst, dann geh nicht fort!“ Das Zimmer des gnädigen Herrn lag
neben dem Speisezimmer. Ich nahm das seidene Tuch um, flocht mir das
Band ins Haar, brachte den Samowar und setzte mich an den Tisch, – und
es schüttelte mich nur so.

Die Schande und die Schmach! – Akumowna schämte sich sehr, sie wollte
sich erhängen: ihre Herrin war zurückgekehrt, ihre Herrin – und Akumowna
ging so herum. Die Herrin beruhigte sie, versprach ihr das Kind zu
erziehen, verzieh ihr das mit dem Schönchen und verwies sie nicht von
sich. Akumowna brachte einen Knaben zur Welt, bald darauf bekam auch die
Herrin einen Knaben. Die Kinder wurden zusammen erzogen, sie hatten eine
Kinderfrau, und wurden später auch gemeinsam unterrichtet. Mit neun
Jahren wurden beide nach Petersburg gebracht. Der Bruder der gnädigen
Frau adoptierte Akumownas Sohn. Sie kamen nur zu den Sommerferien, zu
Weihnachten und zu Ostern heim. Im gleichen Jahr beendigten sie beide
ihr Studium und wurden Offiziere. Da blieben sie kurze Zeit auf dem Gut
und fuhren bald nach Petersburg zurück. Als Akumownas Sohn klein war, da
war er sanft und zärtlich, später aber als er groß wurde, begann
Akumowna sich vor ihm zu fürchten: wenn er sie ansah, hätte sie sich
verkriechen mögen, sie hätte nicht gewagt ein Wort zu ihm zu sprechen.

Die Zeit aber wartet nicht, die Zeit nimmt das ihrige! Der alte Herr
starb – _sie_ hatten ihn erwürgt: der Wald hat seinen Herrn und das
Wasser hat seinen Herrn, Wald- und Wasserherren, so sagt man. Und nach
dem Tod des alten Herrn stieß auch dem Bruder der Herrin ein Unglück zu:
an einem Kirchenfest ihres Sprengels wurden sieben Menschen auf der
Hauptstraße ermordet; man begann zu untersuchen und der Weg führte
gradeaus nach Turij-Rog in den Hof, und so wurde er wegen
Mitwisserschaft eingesperrt. Ein Jahr blieb er im Gefängnis, und als er
wieder frei wurde und sich zu einer Reise ins Ausland rüstete, starb er.
Akumowna hatte den gnädigen Herrn nicht gesehen, als er im Sterben lag,
sie hatte ihn nur gesehen, als er aus dem Gefängnis kam. Sie hätte ihn
nicht erkannt: er war schwarz, wie die Erde. Man sagte, seine Lungen
hätten sich abgelöst.

Akumowna blieb wieder allein mit der Herrin zurück, wie einst. Sie
gingen wie einst wieder ins Feld und in den Wald. Akumowna sammelte
Blumen für ihre Herrin, allerlei blaue Blumen, und wand ihr einen Kranz;
die Herrin lag wieder unter einer Kiefer, nur weinte sie nicht mehr, sie
schlief; – sie trank jetzt, schon längst hatte sie sich ans Trinken
gewöhnt: sie nahm einen Schluck, aß eine Pfefferminzpastille dazu und
schlief ein.

Der gnädige Herr, der Bruder der Herrin, starb im Frühling, und im
Herbst wurde Akumownas Sohn aus Petersburg nach Turij-Rog gebracht. Er
hatte gebeten, daß man ihn vor dem Tode nach Turij-Rog bringe: er war
schwindsüchtig. Er wurde auf dem Gut bestattet, auf dem Turij-Rogschen
Kirchhof. Seine Uniform und seine Mütze bekam Akumowna. Und das Jahr war
noch nicht um, da starb die Herrin. An ihrem Todestage sah sie im Traum
den alten Herrn mit einem weißen Hund kommen ... Und auch die Herrin
wurde bestattet.

Turij-Rog war nun vereinsamt. Akumowna war allein auf dem Gut. Der junge
Herr wollte sie nicht mehr behalten und entließ sie nach der Beerdigung.
Und so war sie ganz allein. Sie weinte aber nicht, – wenn es einem gar
zu schlimm ist, dann weint man nicht.

Zum letzten Mal ging sie ins Feld, in den dunkeln Wald und in das junge
Gehölz, saß zum letzten Male im Wald auf dem Abhang, wo die Sonne am
stärksten brennt und wo die Beeren so rot stehen, und unter der Kiefer,
wo ihre Herrin zu liegen pflegte, verneigte sich tief vor dem jungen
Wald, vor dem Feld – vor dem alten dunkeln Wald und vor der Kiefer, und
ging. Sie ging die Hauptstraße aus Turij-Rog an Ssosna-Gora vorbei,
vorbei am Bruder und an der Schwägerin, an Wassilijs Haus, am Kirchhof,
an den Grabkreuzen des Vaters und der Mutter, immer gradeaus von
Turij-Rog, immer gradeaus die Hauptstraße lang, wie ein rollender Stein
um die weite Welt.

Und manches Jahr dehnte sich der Weg von Turij-Rog nach Petersburg. Bis
sie Petersburg erreichte, ging sie oft hinter dem Pflug und mit der
Sense, oder mußte wie eine Zigeunerin in den Hohlwegen herumlungern.

Neun Jahre lebt nun Akumowna in Petersburg. Die Uniform und die Mütze
wurden ihr noch auf dem Weg von Turij-Rog nach Petersburg gestohlen, und
nur ein Andenken ist ihr geblieben: ein Paar warme Schuhe und ein Paar
Gummischuhe hängen mit Naphtalin bestreut in einem Karton an der Decke
ihrer Küche.

– Ich sehe diese Sachen an, als wenn er es selbst wäre! – sagt Akumowna,
wenn sie an den Feiertagen den Karton öffnet.

Neun Jahre wohnt nun Akumowna auf der Fontanka im Hinterhaus des
Burkowschen Hofes, Sommer und Winter, und weiter als auf die Sennaja
oder bis zum Fischteich ist sie noch nicht gekommen, und sie sehnt sich
nach freier Luft.

– Wenigstens etwas Luft atmen! – sagt sie manchmal und lächelt und
blickt idiotisch von der Seite – die sanfte, göttliche, verwaiste,
unglückliche Akumowna.




                            Drittes Kapitel


Die Zimmer, die im Herbst leergestanden hatten, wurden zu Anfang des
Winters vermietet, und Marakulin hatte nun zwei neue Nachbarinnen: Wera
Nikolajewna Klikatschowa, Hörerin der Nadeschdinschen Kurse, und Wera
Iwanowna Wechorjowa, Schülerin der Theaterschule.

Wera Nikolajewna war sehr mager, so mager, daß man Angst um sie bekommen
konnte, besonders nachdem sie die Nacht über den Büchern verbracht
hatte. Wie ein solcher Mensch bloß leben kann: nicht ein Blutstropfen
war in ihrem Gesicht, und ihre Augen waren jene verlorenen Augen des
herumschweifenden heiligen Rußland.

Sie hatte mit ihrer Mutter in der Provinz gelebt, in der alten
Kreisstadt Kostrinsk. Sie hatten ein eignes Häuschen, das Häuschen aber
brannte ab, und sie verloren dabei alle ihre Habseligkeiten. Man hätte
sie retten können, wenigstens ein Teil konnte gerettet werden, aber die
Mutter, die alte Klikatschowa stellte sich mit dem Heiligenbild den
Flammen gegenüber und ließ nichts wegtragen, – alles verbrannte. Wenn
man dem Feuer erlaubt, alles aufzufressen, ohne sich zu widersetzen,
dann ersetzt es alles hundertfach, – so glaubte die Alte. Zwar hatte sie
vorher schon eine Erscheinung gehabt, ein Zeichen hatte ihr den Brand
verkündet: eine Woche früher hatte der Tisch und die Heiligenbilder
unheimlich geknistert, doch die Alte besann sich erst darauf, als alles
schon verbrannt war. Nach dem Brande wohnten sie in einem alten
Badehäuschen. Wera Nikolajewna absolvierte die Kostrinskische
Gemeindeschule und wäre in ihrem alten Badehäuschen sitzen geblieben,
wenn nicht eine Verbannte aus Petersburg hingekommen wäre, die sie zu
unterrichten begann und zur Aufnahme in die vierte Gymnasialklasse
vorbereitete. Wera Nikolajewna reiste in die Gouvernementstadt, machte
da das Examen und blieb dort drei Jahre in der Heilgehilfenschule am
Gouvernementkrankenhaus. Darauf ging sie nach Petersburg, wo sie jetzt
im Begriff war, die Nadeschdinschen Kurse zu absolvieren.

Das Lernen fiel ihr nicht leicht, – bis zum Weinen schwer war ihr das
Lernen. Aber sie wollte es nicht aufgeben, sie war von einem
unheimlichen Fleiß. Nach Absolvierung der Nadeschdinschen Kurse
beabsichtigte sie, das Abiturientenexamen zu machen, um in das
medizinische Institut aufgenommen zu werden.

Voller Sorgen, von den Lehrbüchern und von Arbeit erfüllt – sie mußte
als Masseuse ihren Lebensunterhalt verdienen – saß sie nie mit im Schoß
müßig gefaltenen Händen, und es war schwer, ein Wort aus ihr
herauszubringen; sie erzählte selten und war nicht gesprächig. Sie
erwähnte nur zuweilen ihre Mutter und jene Verbannte, Maria
Alexandrowna, die sie unterrichtet und in ihr die Lust zum Lernen
erweckt hatte, – nur von diesen beiden sprach sie.

Wera Nikolajewnas Mutter, Lisaweta Iwanowna, lebte seit ihrer Kindheit
in dem kleinen, weißen, verlassenen, alten Städtchen mit den fünfzehn
weißen Kirchen. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Ufer des Flusses
Ustjuschina, – und in Beziehung auf das Trauergeläute der Glocken eine
erste Stadt, eine Klagestadt. Alte Leute können sich noch erinnern, wie
Lisaweta Iwanowna jung war, eine lustige Reigenführerin,
Märchenerzählerin und Sängerin uralter Weisen. Sie erinnern sich noch,
wie sie im Dom getraut wurde und wie der Priester, der doch Braut und
Bräutigam kannte, sich fortwährend irrte und die Namen verwechselte, und
wie Jutschicha, eine alte Waschfrau, dazu traurig den Kopf schüttelte,
weil sie in ihrer ahnenden Seele wußte, daß das junge Paar nicht lange
zusammenbleiben wird: ein Dritter stand zwischen ihnen unter dem
Baldachin. Die Alte wußte es, aber sie schwieg.

Und diese Jutschicha war auch dabei, als Lisaweta Iwanownas Mann starb,
und dabei, als das Haus brannte. Sie war es auch, die ihr beigebracht
hatte, nichts hinauszutragen und alles dem Feuer zu überlassen. Und
nicht das allein bloß hatte sie sie gelehrt, sondern all ihr nicht
einfaches, ahnungsvolles Wissen. Denn Jutschicha wußte viel, ja,
vielleicht alles, was dem Menschen zugestanden ist. So sagte man in
Kostrinsk. Und sie stieg ruhig ins Grab, weil sie in der Welt einen
andern Menschen an ihrer Statt zurücklassen konnte. Lisaweta Iwanowna
würde für sie besonders zu Gott beten, weil ihr die Alte alles
überliefert und für sie mehr getan hatte, als Vater und Mutter tun
könnten, so viel, daß es wohl keinem Menschen gegeben ist, mehr zu tun.
So urteilte man in Kostrinsk.

Zehn Jahre waren nach Jutschichas Tod und nach dem Brand des Hauses
vergangen. Noch immer im alten Badehäuschen lebend, träumte Lisaweta
Iwanowna davon, sich ein neues stattliches Haus zu bauen, ähnlich wie
das verbrannte. Jeden Sommer ließ sie Bauholz aus dem Wald in ihrem
Gemüsegarten aufstapeln. Sie war auch schon beim Vater Johann von
Kronstadt gewesen, um seinen Segen zu erbitten und brachte ihm ein altes
Heiligenbild im Stroganowschen Stil zum Geschenk, und er schenkte ihr
dagegen hundert Rubel für den Anfang. Wie oft schon hatte sie sich von
Verbannten einen Plan zeichnen lassen und ihn scharfsichtig genau
geprüft und untersucht: ob die Speisekammer oder die Rumpelkammer nicht
vergessen worden sei, ob auch alles genau so wäre, wie im alten
verbrannten Hause. Aber ein neues, stattliches baute sie doch nicht. Das
Bauholz verfaulte im Gemüsegarten, der Plan wurde sorgfältig in einem
Kästchen aufbewahrt und die hundert Rubel, das Geschenk des Priesters
hatten auf der Rückfahrt nicht einmal Moskau erreicht. Sie hatte nie in
ihrem Leben soviel Geld beisammen gehabt – ihr Mann war ein kleiner
Beamter in Kostrinsk gewesen und mußte mit Kopeken rechnen – und des
ehrwürdigen Vaters regenbogenfarbener Schein verflüchtigte sich im
Handumdrehen: sie brachte allerlei Nippes, Schächtelchen und Schachteln,
nötige und unnötige, zerbrochene und ganze, als Geschenke aus Kronstadt
mit, und jeder Gegenstand, jedes Schächtelchen hatte seine Bestimmung;
das größte Paket aber sollte seine Bestimmung nach näherer Erwägung
erhalten, und für diese „nähere Erwägung“ war fast ein halbes hundert
Rubel daraufgegangen. Wie sollte man da ein Haus bauen!

Lisaweta Iwanowna ist gebückt, zahnlos, ihre schweren weißen Flechten
umwickeln den ganzen Kopf, und die blauen Augen sind noch heller
geworden und leuchten. Sie hat vieles in dieser Welt gesehen, obwohl die
ganze Welt für sie die kleine weiße verlassene alte Stadt mit den
fünfzehn weißen Kirchen war, und alle ihre Tage waren besungen vom
Trauergeläute. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina und dem
Trauergeläute der Glocken nach eine erste Stadt, eine Klagestadt. Viele
Menschen hat Lisaweta Iwanowna schon zu Grabe geleitet; sie besucht ihre
Gräber und am Ostersonntag trägt sie rote Eier hin, um den Toten den
Gruß: „Christ ist erstanden“ zu entbieten; denn es ist viel wichtiger,
den Toten diesen Gruß zu bringen als den Lebenden, so glaubte die Alte.
So lebte sie in ihrem Badehäuschen, wie in einem richtigen Haus dahin
und genoß den Anblick der Sonne, wenn sie hinter dem Kirchturm
unterging, und das Kreuz vergoldete, freute sich, wenn man zum erstenmal
Schlitten fuhr, oder wenn die Kinder im Frühjahr auf den Brettern sich
schaukelten, und wartete nur auf den Menschen, dem sie all das Wissen,
das ihr die alte Waschfrau Jutschicha überliefert hatte, weiter
überliefern könnte. Und der Mensch, dem sie es überliefern würde, wird
ebenso glücklich werden wie sie selbst; denn es gebe kein größeres Glück
als das ihre, – so dachte die Alte. Ihr Glück aber bestand darin, daß
sie durch ihr nicht einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob
eingebildetes oder tatsächliches Wissen erkannt hat, wie man leben muß.
Sie lebte nicht für sich und nicht für die anderen, und wenn sie etwas
tat, so dachte sie weder an sich noch an die Einwohner von Kostrinsk,
sondern sie bereitete sich fürs andere Leben vor, fürs Jenseits, und
dachte bei ihren Handlungen nur an das andre Leben und an das Jenseits;
deswegen war ihr selbst wohl, und deswegen tat sie den anderen wohl.

Lisaweta Iwanowna war für Kostrinsk dasselbe, was irgendein Bruder im
Hafen für die arme Petersburger Bevölkerung.

Da kam nach Kostrinsk eine Verbannte aus Petersburg, Maria Alexandrowna.
Um sich die Tage abzukürzen und auf irgendeine Weise die Zeit zu
vertreiben, die in der Unfreiheit sich so ausdehnende Zeit, begann sie
Wera Nikolajewna zu unterrichten. Wera Nikolajewna gefiel ihr, und sie
kam oft zu Klikatschows. Auch Lisaweta Iwanowna interessierte sie und
sie fragte die Alte aus, wie sie denkt, daß man leben und wofür man
leben müsse, wie man vergessen könnte, was nicht zu vergessen ist, und
was man tun müsse, daß man keine Angst hätte und nicht begehre, was man
nicht nehmen darf, – Alles das fragte sie die Alte. Und aus diesen
Fragen erkannte die Alte und ihr Herz flüsterte ihr zu, daß diese
Verbannte eben der Mensch war, dem sie ihr nicht einfaches ahnungsvolles
Wissen überliefern und ihn glücklich machen müßte.

Ein Jahr lang lebte Maria Alexandrowna in Unfreiheit in dieser kleinen,
weißen, verlassenen, alten Stadt. Zu Ostern kam sie zu Klikatschows, um
am geweihten Mahl teilzunehmen; – zu Ostern aber ist für den Wissenden
alles besonders sichtbar und klar. Und so erblickte Lisaweta Iwanowna
bei ihrem Liebling, bei ihrer Auserwählten auf der Stirn zwischen den
Augenbrauen das Zeichen des Todes. Und sie wollte erst nicht glauben,
als sie dieses Geheimnis erkannte. Aber schon in der Osterwoche war
Maria Alexandrowna nicht mehr in Kostrinsk, sie war ganz spurlos
verschwunden.

Vieles hatte Lisaweta Iwanowna gesehen: sie hatte ihren Mann begraben,
hatte auch viel fremden Kummer mit angesehen – wo gibt es ihn nicht! –
aber niemals hatte sie so viel geseufzt, wie damals, als der Morgen kam,
der Tag verstrich und es Abend wurde und Nacht, und ihre Auserwählte,
ihr Liebling, die dem Tod Geweihte verschwunden blieb. Sie, die
Glückliche, hatte dank ihrem nicht einfachen, ahnungsvollen, gleichviel
ob eingebildeten oder tatsächlichen Wissen erkannt, wie man leben muß,
aber sie hat die ihr bestimmte göttliche Tat nicht vollbracht, sie hat
ihr Wissen nicht überliefert, und wenn Maria Alexandrowna nicht
zurückkehrte, müßte sie als Unglückliche sterben. Und die Alte wartet;
ihr von schweren weißen Flechten umwundener Kopf wackelt, sie betet
leise, sanft und demütig, und über ihr läuten die Glocken ihr
Trauergeläute und besingen sie. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß
Ustjuschina und dem Trauergeläut nach eine erste Stadt, eine Klagestadt.

– Wohin ist denn Maria Alexandrowna verschwunden? – fragte einmal
Marakulin.

Aber Wera Nikolajewna sagte nichts, nur ihre verlorenen Augen, die Augen
des herumschweifenden heiligen Rußland lohten auf wie zwei
Scheiterhaufen, und sie weinte nicht, sondern schrie die ganze Nacht,
als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die Schlinge sehr eng
zusammengezogen.

Marakulin konnte diese Nacht auch nicht einschlafen. Er horchte, er
verstand, und es war ihm unheimlich zumute.

– Dem Gorbatschow aber, – dachte er, – werden seine Nonnen und
Jungfrauen in schwarzen Kopftüchern bis in die Ewigkeit hinein „Christ
ist auferstanden“ zu Ostern singen.

Dieser Gedanke wiederholte sich in ihm und zog durch ihn schleppend und
zäh und drückte sich in Worten aus. Als er aber erschöpft war, überkam
ihn eine Unruhe: er vergaß Gorbatschow, Maria Alexandrowna und Lisaweta
Iwanowna, nur eins wollte er erkennen: was man wegräumen müßte, um seine
Ruhe wiederzufinden.

Da erinnerte er sich plötzlich an die Generalin Cholmogorowa, wie sie
satt und gesund, so zufrieden und sieghaft herumgeht, diese Laus, die
nichts zu bereuen hat und nur der Motion wegen herumgeht, wie sie mit
ihrem Klappstuhl auf der Fontanka herumspaziert oder auf dem
Sagorodny-Prospekt aus der Kirche zurückkommt, – und es war, als wenn
modriges Spinnweb sich ihr nachziehen würde, wie es in den Winkeln
ungelüfteter Rattenkammern hängt, oder zwischen dem Fußboden und
unverschiebbaren schweren Kästen, – dieses Spinnweb zieht sich ihr nach
und dringt einem gradezu in den Mund – es ist um sich ins Wasser zu
werfen!

Schon lange hatte er das bemerkt, aber erst jetzt erkannte er es. Und er
überlegte die ganze Nacht bis zum Morgen ingrimmig, wie man die
Generalin möglichst geschickt beseitigen könnte, so daß nicht einmal
eine nasse Spur von ihr zurückbliebe; denn er konnte nicht leben, ohne
daß sie beseitigt wäre, es fehlte ihm die Luft zum Atmen, sie ließ ihn
nicht atmen mit ihrem modrigen Spinnweb. – Es läßt einen nicht frei
aufatmen, dachte er, man hat keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe.

Hätte Marakulin im Moment der Verzweiflung die Generalin ermordet, und
wäre am Morgen vor Gericht gestellt worden, so hätte er zu seiner
Rechtfertigung sagen können, daß nicht er gemordet hat, sondern die
grausame Burkowsche Nacht.

Und Wera Nikolajewna weinte nicht, sondern schrie die ganze Nacht bis
zum Morgen, als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die Schlinge
sehr eng zusammengezogen.

Es waren jetzt grausame Nächte für Marakulin. Wo blieb seine
Bereitwilligkeit, alles zu ertragen, nur um zu sehen, nur um zu hören,
nur um zu fühlen? Immer derselbe Gedanke an die Generalin ging ihm nicht
aus dem Sinn, die unglückliche Generalin war ihm im Halse stecken
geblieben! – Ein verrückter Mensch und in seiner Verrücktheit
beharrlich.

Als er einmal am Morgen in der Zeitung von einem Arzt las, der des
Giftmordes beschuldigt wurde, versteckte er die Zeitung unter sein
Kissen und las am Abend vor dem Einschlafen wieder die Stelle.

– Wohltäter der Menschheit, Doktor – flüsterte er im Dunkeln, – du magst
wohl nicht eine Laus nur ins Jenseits befördert haben und vielleicht
wirst du ... noch jemand befördern!

Und angesichts der allgemeinen Entrüstung der Zeitungen sprach er zu
sich ganz trunken:

– Das sind Schwestern meiner Generalin, die für diese vom Doktor
vergiftete Laus so einmütig eintreten.

Er stand mitten in der Nacht auf, zündete eine Kerze an, las nochmals
die Zeitung und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Darauf legte er
sich wieder hin und flüsterte im Dunkeln und dachte bis zum Morgen. Und
er übertrug seine eigene Burkowsche Verzweiflung auf die ganze
Menschheit, deren Wohltäter vielleicht dieser giftmischerische Arzt
werden könnte, der eine Laus nach der anderen ins Jenseits befördert und
die Luft reinigt, damit man atmen kann: denn sonst hätte er keine Luft
zum Atmen, keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe. Ein verrückter
Mensch war er und in seiner Verrücktheit beharrlich.

Eine Woche oder länger lebte Marakulin in einer Art Raserei und
erreichte, wie es ihm schien, den Punkt. Und als er den Punkt erreicht
hatte, fand er einen Schlupfweg, um wieder in die Welt zu gelangen, er
fand sein Recht in der Welt zu sein, welches seit dem Herbst schon
schwankte, oder richtiger, nicht bloß schwankte, sondern ihm abhanden
gekommen war, zusammen mit dem Schlaf, mit der Geduld, mit der Ruhe.

Gorbatschow hatte, so dachte Marakulin, nach all seinen Umtrieben und
Klügeleien erkannt, wie er leben muß: er wollte seine Seele erlösen, und
deshalb räucherte er seine Winkel mit Weihrauch, alles übrige aber: ob
man die Kinder alle auf einen Strick aufhängen oder sie mit Bonbons in
rosa Papierchen füttern müßte – das betrachtete er als unwesentlich für
die Erlösung seiner Seele. Maria Alexandrowna hatte ebenfalls nach allen
ihren Fragen erkannt und begriffen, wie sie leben mußte: nicht daß sie
die Gefahr besonders liebte und ein Leben, neben dem der Tod einherging
– nein, sie wollte verderben, ihre Seele für andre hingeben, sie hatte
sich zum Opfer auserkoren für ein Gesetz und eine Wahrheit, von deren
Herrschaft das Glück der Menschen abhängt, und sie hatte gewiß getötet,
oder einen Totschlag vorbereitet, oder war bei irgendeinem Attentat
gegen eine Person, die ihrer Meinung nach dem Gesetz und dem Recht
schadete, behilflich gewesen. Lisaweta Iwanowna hat durch ihr nicht
einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes oder tatsächliches
Wissen erkannt und begriffen, wie sie leben muß: sie denkt weder an
sich, noch an die anderen, sondern sie denkt an das Jenseits und an das
jenseitige Leben, und indem sie sich für das Jenseits und für das
jenseitige Leben vorbereitet, handelt sie dementsprechend. Aber mit
Weihrauch räuchern und dabei sich gegen die Kinder wehren, ebenso wie
ein Attentat vorbereiten oder sich für das jenseitige Leben vorbereiten
– das alles ist Tat, Aktion, Arbeit, und setzt zu seiner Verwirklichung
eine Menge wichtiger Entschlüsse voraus. Vor allem muß man wissen,
gleichviel ob vor seinem Gewissen oder aus Verantwortung vor der
Vergangenheit und ihren Werken, muß man sich selbst antworten können,
daß man seine Seele erlösen, oder daß man seine Seele verderben soll –
oder daß man sich für das jenseitige Leben vorbereiten soll, und es sich
fest vornehmen im Namen eines Unwiderruflichen. Die Generalin dagegen
rührt keinen Finger, tut nichts – man kann doch das Besuchen des
Dampfbades nicht eine Tat nennen! – erreicht aber alles, und wie
glänzend! Der Erfolg ihrer Abhärtung ist handgreiflich und ganz
zweifellos, so daß ihrem Leben kein Ende abzusehen ist – der Chiromant
hat sich in diesem Falle nicht geirrt, und sie ist vielleicht schon
unsterblich. Dabei sucht sie weder ihre Seele zu erlösen, noch zu
verderben – denn verderben ist dasselbe wie erlösen – und sie gedeiht,
indem sie auf jede Erlösung verzichtet und nichts und niemand etwas
schuldet. Und hat Gorbatschow, welcher weiß, wie man leben muß, ein
Daseinsrecht, und haben Maria Alexandrowna und Lisaweta Iwanowna, die
ebenfalls wissen, wie man leben muß, ebenfalls ein Daseinsrecht, so hat
die Generalin, wie ein Kelch der Auserwähltheit, nicht nur ein einfaches
Recht, sondern ein königliches!

– Und jetzt ist zu überlegen und sehr genau zu überlegen, – räsonierte
Marakulin, als er den springenden Punkt, wie ihm schien, erreichte, – um
einen entscheidenden Schluß zu ziehen, ein für allemal: wie würde die
Menschheit handeln, wenn, sagen wir, wenn alle Großmächte, ein Bündnis
aller Mächte der Welt, mit England an der Spitze, ihren Untertanen, der
ganzen Menschheit, durch die Parlamente und Reichstage in besonderen
Manifesten dieses sorgenlose Lauseleben, das sündenlose und unsterbliche
Leben der Generalin anbieten würden? – Gesetzt, so etwas wäre möglich,
sei es durch eine wirkliche Erfindung – wenn etwa der gelehrte Deutsche
Wittenstaube es mit Hilfe seiner Röntgenstrahlen herausgefunden hätte;
oder durch einen Betrug – oder wenn etwa einer unserer gewesenen
Gouverneure wie Burkow der Selbstvertilger – wie viele solcher Vertilger
gibt es in Rußland, die fanatisch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten
gegen sich selbst richten! – also, wenn so ein Burkow einen Trick
erfunden hätte, meinetwegen einen vorübergehenden Betrug, aber natürlich
so, daß alles glatt ginge; oder durch ein freches Wagnis, wenn etwa ein
lichtspendender, hochheiliger Starez Kabakow, nachdem er ein Grammophon
in seinen Keller eingemauert, sich durch eine Himmelsstimme der Welt als
Hirte und Richter offenbaren ließe – als der Erlöser von Murkas Erbsünde
– und ein neues, nicht von Menschenhand geschaffenes Zion aufgebaut
hätte, voll Frieden und Gnade, schnell, einfach und billig, – wie würde
sich die Menschheit dazu verhalten, wie würde sie darauf reagieren? Ich
denke – fuhr Marakulin fort zu räsonieren, als er mit Marakulinscher
Hartnäckigkeit bis zu seinem springenden Punkt vorgedrungen war – alle
Untertanen würden ohne alle überflüssigen Worte und Zeremonien, das Soll
und Nichtsoll und jeden Gedanken an Erlösung vergessend, ganz leise,
ohne die Hüte oder sonst den Rang bezeichnenden Kopfputz abzunehmen, die
Hosen ausziehen und auf den mutigen, freien, stolzen, heiligen Anruf,
sich bekreuzigend, in einen gigantischen mit Pferdehaaren bedeckten,
vielleicht bei uns in der belgischen Fabrik hergestellten Kopf,
hineinschlüpfen. Sie würden in dieses neue, nicht von Menschenhand
erschaffene Kabakowsche Zion voll Frieden und Gnade hineinstürzen, um
ein neues Lauseleben, ein schmerzloses, sündenloses, unsterbliches, und
vor allem ruhiges Leben anzufangen: ernähre dich, verdaue und härte dich
ab! Ein Klappstühlchen könnte man sich noch immer anschaffen; vielleicht
wäre es sogar möglich, unter diesen allgemeingültigen und deshalb
zwingenden, freiwillig angenommenen Bedingungen, da bei jedem am Hals
ein Kuhglöcklein läuten würde, damit man, sorglos weidend, nicht
verloren gehe, sich auch ohne Klappstühlchen auf der Fontanka Motion zu
machen, oder auf dem Sagorodny in die Kirche zu gehen. Und es ist
anzunehmen, daß jeder Vernünftige und Gute so handeln würde – denn wer
ist sein eigener Feind? – und er würde nach dem Gesetz richtig, weise
und menschlich handeln: denn in der Tat, wer hätte Lust sich zu quälen,
zu ersticken ohne Schlaf, ohne Geduld, ohne Ruhe!

Als Marakulin einst in seiner Kindheit Gardist bei der Kavallerie werden
wollte, betete er, Gott möge ihm helfen, ein Gardekavallerist zu werden,
und als er Räuber werden wollte, betete er mit denselben Worten, nur daß
der Gardekavallerist durch den Räuber ersetzt wurde, und ebenso betete
er, als er Kalligraphielehrer zu werden wünschte. Das waren seine
Hauptgebete für sich in Moskau auf der Taganka, denn um ein gutes
Zeugnis hatte er nie gebetet. Später pflegte er beim gewohnheitsmäßigen
Beten, während er morgens beim Erwachen und nachts beim Einschlafen
„Gott sei mir gnädig“ aufsagte, von Gott nichts mehr zu verlangen. Dann
hatte er auch dies: „Gott sei mir gnädig“ vergessen. Jetzt aber, als er,
wie ihm schien, in seinen Betrachtungen bis zu jenem springenden Punkt
angelangt war und das königliche Recht entdeckt hatte und dieses
königliche Recht auf der Welt zu sein auch für sich begehrte, warf er
sich nachts inbrünstig auf die Erde und betete in der Raserei, die Stirn
gegen den Boden schlagend:

– Herrgott! – flehte er – gewähre mir für einen Augenblick nur dieses
wahre Lauseleben, mach mich deiner Gnade teilhaftig, Herrgott, laß mich
nur für einen Augenblick aufatmen, dann mag dein Wille geschehen!

Und hätte sich Marakulin in seiner Verzweiflung, während er mit der
Stirn gegen den Fußboden schlug, den Schädel gespalten, und man hätte
ihn am nächsten Morgen dafür zur Verantwortung gezogen, so hätte er, zur
Besinnung gekommen, nur eins zu seiner Rechtfertigung sagen können, daß
nicht er sich getötet, sondern die grausame Burkowsche Nacht.

Hier muß noch gesagt werden, daß seine Geschäfte, die auch sonst nicht
besonders waren, zu Weihnachten überhaupt stillstanden. Er fand gar
keine Arbeit mehr; ein Entehrter findet sehr schwer Arbeit, besonders
wenn auf die Frage: „Womit beschäftigen Sie sich sonst?“ der wirkliche
Grund der Untätigkeit nicht verheimlicht wird. Marakulin verheimlichte
ihn auch nicht, und erzählte naiv wie ein zwölfjähriges Kind von seinen
Streichen, von seinen Quittungsbüchern und wie er wegen jener Quittung
herausgeflogen war.

Seine Lage war schlimm. Die Artisten Damaskin halfen ihm aus, und ohne
Sergej Alexandrowitsch, Wassilij Alexandrowitsch und Wera Nikolajewna
wäre ihm nichts übrig geblieben, als eine Bittschrift zu verfassen,
gleich dem ruhelosen alten Gwosdjow, der damals an Murkas Tag bei ihm
erschienen war, am letzten Tag in seiner eigenen Wohnung.

Und am Ende wird man sie doch verfassen müssen, denn das königliche
Recht, dieses nächtliche königliche Recht, wird einem offenbar nicht so
leicht gewährt, und wenn man keine Renten hat, die bis ans Lebensende
reichen, da ist es vielleicht besser, Gott gar nicht zu beunruhigen: man
erreicht ja doch nichts.

Zu Weihnachten gab es bei den Artisten einen Weihnachtsbaum, und alle
Mieter Adonja Iwoilownas waren eingeladen. Es war da eine Menge Leute,
gewiß lauter Artisten. Sergej Alexandrowitsch war sehr geschäftig und
reichte den Gästen Aschenschalen, damit die Zigarettenstummel nicht auf
den Boden geworfen werden, und Wassilij Alexandrowitsch ging so aus sich
heraus, ließ solche Raketen steigen, daß alle vor Lachen beinahe
umkamen. Im Kartenspiel verloren die Brüder das Letzte. In der
Gesellschaft taute auch Wera Nikolajewna auf und sang ihre
Kostrinskischen uralten Weisen, wie sie sie von ihrer Mutter Lisaweta
Iwanowna gelernt hatte.

Und seitdem, seit jenem Damaskinschen Weihnachtsabend, sang Wera
Nikolajewna an den Abenden der Weihnachtswoche allein in ihrem Zimmer,
zuweilen von den Lehrbüchern sich losreißend, mit halblauter Stimme vor
sich hin. Sie sang auf altertümliche Art, und in ihren Weisen atmete das
uralte Rußland.

Gewöhnlich begann sie mit dem Gesang von den sieben wilden Stieren und
von ihrer Mutter, der Stierin; wie die sieben goldgehörnten wilden
Stiere am Gestade des blauen Meeres wanderten, wie sie über das blaue
Meer schwammen und auf der berühmten Insel Bujan landeten, wo sie ihrer
Mutter, der Stierin, begegneten. Und die Stiere erzählten ihr, wie sie
an Kiew vorbeikamen und an der Auferstehungskirche, und was sie da für
ein Wunder gesehen hatten: aus der Kirche kam eine Jungfrau, sie trug
auf dem Kopf ein goldnes Buch, trat bis zum Gürtel in den Newafluß,
legte das Buch auf einen weißen, heißen Stein, las im Buch und weinte.
Und die Stierin deutet den Stieren dies übergroße Wunder: die Jungfrau
war die Mutter Gottes und sie las ein goldnes Buch – das Evangelium, und
sie weinte, weil sie Ungemach über Kiew heraufkommen sah, Ungemach über
das ganze heilige Rußland.

Und nach den Stieren erhob sich in seiner ganzen reckenhaften Größe der
Riese Ilja Muromez; wie der Recke am Grabe des Swjatogor den
reckenhaften Geist einatmet – den dritten, weißen Grabesschaum, – und es
treibt ihn und es hebt ihn, er weiß nicht, wo er mit seiner Kraft hin
soll. Dann folgte die Nachtschwalbe, die Aebtissin, die blonde Füchsin;
vierzig schwarze Jungfrauen folgen ihr wie die Dohlen, und schon donnert
und poltert der schreckliche Alte, Igrimistsche-Kologrenistsche. Er
tritt aus dem Bogoljubowschen Kloster aus, er will seine Seele retten,
sie ins Paradies bringen und schleppt in einem Sack weißen Kohl,
bitteren Rettich, rote Rüben – und ein schwarzlockiges Mägdelein.

Und wieder schwimmen auf dem blauen Meere die goldgehörnten Stiere,
begegnen ihrer Mutter, der Stierin, und erzählen ihr das übergroße
Wunder. Die Stierin deutet ihnen das Wunder: die Jungfrau ist die Mutter
Gottes, und lesen tut sie ein goldenes Buch, das Evangelium, und sie
weint, weil sie ein Ungemach über Kiew ahnt, Ungemach über das ganze
heilige Rußland.

Wera Nikolajewna sang auch die Räuberweise, von dem Scnurrbart, dem
Teufelskerl; sie sang von Gauklern und von lustigen Leuten ...

   Leise spielt, ihr Spielmänner,
   Leise spielt, ihr Lustigen,
   Mir tut der Kopf so weh,
   Mir ist mein Herz so schwer ...

In der Küche betet Akumowna vor den drei ewigen Lampen; sie betet für
ihre Herrin, für den Bruder der Herrin, für ihren eigenen Sohn. Im
hintersten Zimmer betet vor den drei ewigen Lampen Adonja Iwoilowna; sie
denkt an Paraschas Schiffe und weint, weil sie es nicht versteht.

Mit Wera Nikolajewna schien etwas vorzugehen: sie sang viel und war
nicht mehr so fleißig.

– Bei Gott, Sie sind in Sergej Alexandrowitsch verliebt –, sagte einmal
Werotschka Wechorjowa plötzlich in Wera Nikolajewnas Zimmer eintretend,
und sah sie schelmisch, herausfordernd und boshaft an.

Und die sonst so Blasse flammte plötzlich auf und wurde still – kein
Wort. Und auch ihm wird sie kein Wort sagen, sie wird eher sterben, als
etwas sagen – es gibt Solche. Und darum klang in ihren alten Weisen, in
denen das uralte Russland atmete, eine so dumpfe beklommene Sehnsucht.

Werotschka – so wurde vom ersten Tage an Wera Iwanowna Wechorjowa
genannt –, welche Akumowna auch die Unverschämte nannte, nicht etwa als
Schimpfwort, sondern als Kosename – Werotschka verbrachte selten einen
Abend zu Hause. Am Tage war sie in der Schule, dann kam sie für ein
Stündchen nach Hause und bald darauf lief sie irgendwohin, ins Theater.
Wenn sie nichts vorhatte, dann saß sie bei den Damaskins. Sergej
Alexandrowitsch unterrichtete sie in allerlei Tänzen. Sie war biegsam,
schlank und leicht, wie ein Federchen, und wenn beide miteinander
tanzten, so schien es, als hätten sie Flügel wie Vögel. Die Zeit verging
ihnen lustig.

Einmal fand sie Marakulin beim Tanzen, und seitdem kam er öfters zu den
Nachbarn, und daß Werotschka dort war und tanzte, das tat ihm wohl. Wera
Nikolajewna aber kam seit Weihnachten nicht mehr zu Damaskins; sie fand
stets eine Ausrede und saß allein, in ihre Lehrbücher vertieft, oder
hatte Wache im Krankenhaus.

Werotschka gefiel Marakulin. Sie tanzte schön und las gut vor – mit
einem schönen Organ. Im Süden geboren, war sie in Moskau erzogen worden,
und in ihrer Sprache war weder das lästige südliche Zwitschern, noch die
nordische Kälte – die gebändigte Freiheit, dafür aber Festigkeit und
jene besondere Moskauer Lieblichkeit. Nach dem Tanzen bat sie gewöhnlich
Sergej Alexandrowitsch, der Verse liebte, etwas vorzulesen. Und
Onjergins Brief: „Ich weiß voraus, beleidigen wird Sie des traurigen
Geheimnisses Erklärung ...“ mußte sie ihm einigemal wiederholen.

Was Marakulin auffiel und ihn am Anfang von Werotschka abgestoßen hatte,
war ihr äußerst starkes Selbstgefühl, eine maßlose Selbstüberhebung und
Prahlerei, die marktschreierisch wirkte. Man mußte sich für sie schämen.
Und jeden Widerspruch faßte sie als Beleidigung auf. Sie konnte sich
dermaßen versteigen bis zu einer Höhe, wo alle Worte einander gleichen
und nur einen Sinn haben: – es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines
Hoffenden, sondern eine Herausforderung, ein unheimlicher Schrei nach
dem Recht, die himmlischen Scharen kurz und klein zu schlagen, wenn es
nur eine Himmelsleiter gäbe, wie es in der alten Weise heißt, – oder die
Erde auf den Kopf zu stellen, wenn man nur einen Griff zu fassen
kriegte! – Dabei hört ein so Verstiegener, ein so unheimlich nach seinem
Recht Schreiender ja niemals seinen eigenen Schrei. Und Werotschka tat
einem leid.

Sie behauptete, sie sei eine große Schauspielerin, sie brauche bei
niemand zu lernen, vielmehr müßten alle bei ihr lernen. Und wenn sie
dennoch in diese dumme Schule eingetreten sei, so wäre es nur geschehen,
um sich den Weg zu bahnen. Ohne das komme man eben nicht vorwärts. Und
sie werde sich ihren Weg schon bahnen, sie werde ihren Schatz heben,
dann würden alle sehen ...

– Und dann werden alle sehen – Werotschka zerriß sich fast vor Schreien,
– Vielen wird es leid tun, aber zu spät! – Und die Namen der
Berühmtheiten aufzählend, als wollte sie sie mit sich vergleichen,
lächelte Werotschka halb verächtlich, halb mitleidig, – Ihr werdet mich
noch sehen! – und ihre Augen flammten begeistert auf und loderten in
brennendem Haß, – ich werde zeigen, wer ich bin, der ganzen Welt, –
mögen sie dann sehen ...

„Aber wer sind denn diese sie?“ fragte sich Marakulin nicht einmal, je
öfter er über Werotschka nachdachte. Werotschka erzählte gern von sich,
aber auf allerlei Art, und es war nicht herauszubringen, was daran echte
Wahrheit war und was bloß so Wahrheit.

Ihr Vater war gestorben, als sie noch klein war. Er war Offizier. Aus
Wosnessensk im Chersonschen Gouvernement, wo sein Regiment stand,
übersiedelte die Mutter nach Moskau; hier wurde sie Haushälterin bei
einem alten General, einem Verwandten ihres Mannes. Werotschka wurde im
Institut erzogen, doch bevor sie es noch absolviert hatte, starb ihre
Mutter. Zum General pflegte ein reicher Fabrikant, Wakujew mit Namen, zu
kommen – ein nicht mehr junger, aber schöner gesunder Mann – wie man in
Moskau von ihm sagte. Er hatte einträgliche Geschäfte mit dem General.
Anissim Nikititsch begann Werotschka den Hof zu machen und gefiel ihr
auch. Und so kam es, daß Werotschka mit der Zustimmung des Generals zu
Wakujew zog. Wakujew besaß auf dem Arbat ein altes herrschaftliches
Einfamilienhaus. Seine Frau war tot, seine Kinder versorgt; nur drei
schon ziemlich bejahrte Fräulein, seine Nichten, die er nach dem Tode
seines ruinierten Bruders ins Haus genommen, führten ihm die Wirtschaft.
Ein Jahr blieb Werotschka bei Wakujew, und es ist anzunehmen, daß er
ihrer im Laufe dieses Jahres überdrüssig wurde; ferner ist anzunehmen,
daß ihr Leben auf dem Arbat nicht besonders heiter war. Anissim liebte,
wie sie selbst erzählte, Abwechslung, Zerstreuung, und es wurde ihm
alles nachgesehen. Anissim war es auch, der sie in Petersburg studieren
ließ und ihr fünfunddreißig Rubel monatlich schickte; von diesem Geld
lebte sie.

„Ist es dieser Anissim und seine drei Nichten, die ihr so zugesetzt
haben, sind sie es, diese _sie_, die dann sehen werden?“ fragte sich
Marakulin nicht einmal, als er jetzt immer häufiger über Werotschka
nachdachte.

Eines Tages, es war in der Theodorwoche, ganz am Anfang des Frühlings,
da kam Werotschka so lustig und aufgeräumt nach Hause, daß sie die
Hausgenossen beinahe überrannte. Selbst die sonst weinerliche und
unbewegliche Adonja Iwoilowna vergaß ihre Tränen, und begann mit noch
tränenfeuchten Augen herumzuwirtschaften, als wäre Werotschka ihre
Tochter, die jetzt so lustig und aufgeräumt heimgekommen. Akumowna
drehte sich ebenfalls flinker herum, als wäre es ein Feiertag, und sah
ihre „Unverschämte“ besonders zärtlich an.

Der Tag war sonnig, der Frühling, die Wärme lockte, im belgischen Hof
schmolz der Schnee zusammen mit dem Steinkohlenberg dahin. Aus den vier
Ziegelschloten stieg gleichmäßig der Rauch in die Höhe, die Burkowschen
Fenster vermeidend, und der Burkowsche Hof war voll von Kindern; sogar
die Säuglinge waren mit ihren Ammen draußen.

Anissim Nikititsch Wakujew war in eigener Person nach Petersburg
gekommen, und Werotschka war ihm auf dem Newsky begegnet – das war es:
daher die Freude und diese ungewöhnliche Ausgelassenheit.

Diese Nacht schlief Werotschka nicht zu Hause. Und als sie am Morgen
wiederkam, machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer aufzuräumen. Wieviel
Erfindungsgeist zeigte sie dabei, sie, die sonst doch – ganz anders als
Wera Nikolajewna – so zerfahren und unordentlich war! Jetzt blies sie
jedes Stäubchen fort, legte Papier unter den wackelnden Tisch, damit er
fester stand und brachte die Haarnadeln in eine Schachtel unter. Und
wieviel Lauferei gab es und welche Geschäftigkeit entwickelte sie –
sogar einen Blumentopf hatte sie irgendwo erstanden, wie zu Pfingsten.
Sie erwartete einen Gast, Anissim Nikititsch Wakujew selbst. Und der Tag
war ebenfalls sonnig, es lockte der Frühling, die Wärme.

Der Tag verstrich langsam, es kam der Abend, ein unruhiger Abend, und
als dann in der Wohnung die Klingel anschlug, da hielt die ganze
Wohnung, alle vier Zimmer und die Küche, den Atem an, und Marakulin
wollte sogar die Lampe auslöschen, aber die Lampe erlosch von selbst,
ohne zu fragen, als hätte sie ein krachender Donner, ein moskauischer
Donner getroffen.

Es war ein Student, ein Techniker, der auf der Suche nach seinem
Bekannten an die falsche Tür geraten war. Und Akumowna hatte noch lange
mit ihm zu schaffen, da er sich auf keine Weise dabei beruhigen konnte,
daß es hier keinen Ljubimow gab und nie gegeben hatte.

– Es kann nicht sein – sperrte sich wichtigtuerisch der Student, – das
ist Willkür!

Der Student wurde mit Mühe und Not fortgeschickt; der betrunkene Student
verzog sich endlich wie Rauch, aber nun konnte man niemand mehr
erwarten.

Werotschka ging in ihrem Zimmer auf und ab, unermüdlich und nicht wie
mit ihren eigenen Schritten. Ihre Schritte waren fest und krallig und
ihre „unverschämten“ Augen wie zwei scharfe Klingen. Es war einem
unheimlich.

Vom sonnigen Frühlingstag aufgescheucht, ließ sich Adonja Iwoilowna beim
abendlichen Samowar von Akumowna über ihre sommerliche Pilgerfahrt
wahrsagen: es war schon Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen, der
Frühling war schon da.

– Jedes Stengelchen verflicht sich mit einem Stengelchen – tönte
Akumownas gerührte Stimme, – jedes Zweiglein mit einem Zweiglein.

Und Wera Nikolajewna, die mit ihren Arbeiten fertig war, sang leise ihre
geliebten alten Weisen, und in ihren Liedern atmete das uralte Rußland
und eine dumpfe beklommene Sehnsucht:

   Leise spielt, ihr Spielmänner,
   Leise spielt, ihr Lustigen,
   Mir ist mein Kopf so weh,
   Mir ist mein Herz so schwer ...

Und plötzlich wurde sie still. Kein Wort mehr. Sie wird auch ihm nichts
sagen, sie wird eher sterben als etwas sagen.

– Jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, jedes Blättchen mit einem
Blättchen – tönte Akumownas gerührte Stimme, – der Frühling ist da.

Und es wurde immer bedrückender. Denn Adonja Iwoilowna begann zu weinen,
und noch lauter als sonst; sie erinnerte sich gewiß an ihren Mann, und
daß die Erde an dem Friedhof unter ihm weggeht und von seinem Grabe
abbröckelt.

Werotschka ging im Zimmer auf und ab, unermüdlich und nicht wie mit
ihren eignen Schritten. Ihre Schritte waren fest und krallig und ihre
„unverschämten“ Augen wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich.

Doch der Sänger, der Samowar, erlosch, die Tränen waren ausgeweint und
die Schritte verstummt. Alles schlief im Haus und im Hof, die Hupen der
Automobile tönten nicht mehr von der Fontanka herüber, im Obuchowschen
Krankenhaus blinkte das Licht schon auf nächtliche Weise wie ein Stern,
und über den belgischen Ziegelschloten ging ein Stern an und sah in die
Fenster hinein, so ein großer Frühlings-Abendstern – die Stunde der
Nacht war da. Und Marakulin war es, als klopfte jemand – ein seltsames
Klopfen. Er horchte auf und erkannte: das Klopfen kam aus Werotschkas
Zimmer. Und nun verstand er, daß Werotschka allein in ihrem Zimmer nicht
eingeschlafen war und nicht einschlafen würde, und daß sie mit dem Kopf
gegen die Wand schlug, ohne Tränen, ohne Klage, mit weit aufgerissenen
trockenen Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann weint man nicht.

Und all sein Gefühl, seine ganze Erbitterung, seine ganze Verzweiflung,
die für eine Weile sich gelegt hatte, loderte hell auf und ergoß sich
wieder auf seine auserkorene, verhaßte Generalin. Fiebernd wie im
widerlichsten Rausch und zähneknirschend malte er sich aus, wie diese
unglückselige Generalin, diese kerngesunde, unsterbliche, sündenlose,
kummerlose Laus – dieser Kelch der Auserwähltheit – süß schlafe. Und er
mußte es jemand sagen, einerlei wem, aber sofort, solange das Herz noch
nicht gesprungen war.

Und fast erstickend sprang er ans Fenster und schrie aus Leibeskräften
hinaus:

– Ihr rechtgläubigen Christen, die Laus schläft, so helft doch!

Und als er es hinausgeschrien hatte, da fühlte er, wie seine einstige
ungewöhnliche Freude langsam in ihm hochsteigt, hinaufbrandet und bald
sein Herz überfluten und die Brust überfüllen werde.

– Was brüllst du so? – schrie ihn eine knarrende Stimme an, und aus den
Winkeln zeigte sich Gorbatschows haarige Nase.

Das Klopfen aber dauerte fort. Das war Werotschka, allein in ihrem
Zimmer – sie war nicht eingeschlafen und wird nicht einschlafen – sie
schlug mit dem Kopf gegen die Wand, ohne Tränen, ohne Klage, mit
weitaufgerissenen trockenen Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann
weint man nicht.

Grausame Augenblicke, Herumtreiben ohne Arbeit und Erschöpfung
beschlossen das erste Burkowsche Jahr Marakulins.

Als erste machte sich Adonja Iwoilowna auf die Reise: sie fuhr nach
Kaschin zu der ehrwürdigen Anna von Kaschin, und aus Kaschin auf den
Murman in das Petschenegische Kloster zum ehrwürdigen Tryphon. Nach
Adonja Iwoilowna verreiste Wera Nikolajewna, nachdem sie ihre Prüfungen
abgelegt, bis zum Herbst zu ihrer Mutter, in ihr kleines weißes
Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen, in die alte vergessene Stadt
Kostrinsk. Sie sah zum Umblasen schwach aus. Als letzte reiste
Werotschka. Sie hatte sich zu gar keiner Prüfung gemeldet und ihre
Theaterschule aufgegeben, da sie offenbar ein anderes sicheres Mittel
gefunden, „sich den Weg zu bahnen“, – sie sagte aber nicht was für eins.

Sie sagte nur:

– Im nächsten Jahr werdet ihr sehen, ich werde ganz Rußland zeigen, wer
ich bin!

Marakulin brachte sie zum Nikolajewschen Bahnhof: Werotschka reiste über
Moskau irgendwohin nach der Krim. Nach dem ersten Glockenzeichen fühlte
er es besonders stark, wie bitter es ihm war, daß Werotschka nicht mehr
da sein wird und stand schweigend vor dem Wagen. Sie aber streckte sich
so sonderbar, indem sie die Vorübergehenden ungeduldig ansah und die
Blicke auf sich zog, schlank, biegsam und leicht.

Plötzlich lächelte Marakulin zum erstenmal in seiner ganzen Burkowschen
Zeit, ohne zu wissen weshalb und warum, – er lächelte einfach. Und sie
mußte es sicher bemerkt haben, denn es war so ungewöhnlich und
unerwartet!

– Weinen müßte man um mich! – sagte sie theatralisch und kniff die Augen
zusammen, halb mit Bedauern, halb mit Ekel, und während sie ihm mit dem
Schirm auf die Hand schlug, sagte sie ganz ernst, übertrieben ernst, mit
einer Falte auf der Stirn: – Ich bin eine große Schauspielerin!

Er glaubte es damals gern und von ganzem Herzen, daß Werotschka eine
große Schauspielerin sei und daß sie sich im nächsten Jahr wirklich
auszeichnen würde in ganz Rußland und daß ihr Name bald in ganz Europa,
in der ganzen Welt berühmt sein werde.

Als er vom Bahnhof zu sich nach der Fontanka kam und sich mit Akumowna
allein fand, da fühlte Marakulin, wie ihm das Leben jetzt zuwider war
und daß er nicht so leben konnte.

Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzutun und in
der Welt er selbst zu sein, der andre muß töten, um durch den Mord seine
Seele aufzutun und wenigstens als er selbst zu sterben, er aber mußte
offenbar eine Quittung ausfertigen, aber nicht der Person, der sie
zukam, um seine Seele aufzutun und in der Welt zu sein, und zwar nicht
mehr als irgendein Marakulin, sondern als Peter Alexejewitsch Marakulin:
sehen, hören, fühlen.

Aber er war nicht mehr damit einverstanden, weil er es nicht mehr
ertrug; er wollte nicht mehr so dahinleben ohne einen Zweck, nur um zu
sehen, zu hören und zu fühlen, – und auch das Leben einer Laus, das
unsterbliche, sündenlose, kummerlose Leben, das königliche Recht, jenen
Tropfen Wasser, den die sündige Seele im Jenseits sucht, wünschte er
nicht mehr. Er will leben und wird es, aber um nur noch einmal
wenigstens jene ungewöhnliche Freude zu fühlen, die er in seiner
Kindheit kannte und die er nicht mehr kennt, die nur das eine Mal in ihm
hochgestiegen war, in jener Frühlingsnacht, als Anissim zu Werotschka
nicht kam, in jener Frühlingsnacht, als jedes Stenglein sich mit einem
Stenglein verflocht, jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, jedes
Blättchen mit einem Blättchen. Und wie klebrige junge Blättchen waren
ihm in der Erinnerung die Frühlingsworte der von der Sonne gerührten
Akumowna.

Und es war ihm so bitter, noch bitterer als an jenem Abend, weil
Werotschka nicht mehr da war; als wenn seine ganze ungewöhnliche Freude
– der Quell seines Lebens nur in ihr sich bergen würde.




                            Viertes Kapitel


Wera! Weruschka! Werotschka!

Marakulin, der gerade damit beschäftigt war, eine lustige altertümliche
russische Erzählung in Halbfraktur abzuschreiben, eine Arbeit, über der
er vom Morgen bis in die Nacht hinein saß – ein seltener und
einträglicher Auftrag, der wie erfrischende paradiesische Manna auf ihn
herabgefallen war. – Marakulin fuhr auf, so daß er den Schnörkel am
Anfangsbuchstaben W nicht zu Ende brachte.

Von der Treppe her aber tönte immer beharrlicher der bekannte Name:

– Wera! Weruschka! Werotschka!

– Wen rufen Sie da, Akumowna?

Marakulin konnte es nicht aushalten und sah in die Küche hinein.

– Wera! – sagte Akumowna, ohne sich umzuwenden, – ach, die Unverschämte!
– und sie stampfte die Treppe hinunter in den Hof.

Es war spät – etwa elf Uhr. Schon verbreitete sich der windige
Sonnenuntergang staubig hinter dem Obuchowschen Krankenhaus, und
zusammen mit der kurzen Nacht krochen aus den sumpfigen Vorstädten die
Nebel herauf; aber auf dem mit Kehricht, Schutt und Ziegeln bedeckten
Hof lärmten noch immer die Kinder, und klagend klimperte die Balalaika –
von dieser nicht russischen, armseligen Habe gab es reichlich auf dem
Burkowschen Hof – und in den Fenstern, auf Kissen gestützt, steckten
zerzauste, von der steinernen Petersburger Glut zermarterte Köpfe, in
der Hoffnung, etwas Kühle zu schöpfen.

Die Tusche vertrocknete auf der Feder, die Buchstaben wollten nicht
werden, und Marakulin schien es, daß Akumowna nicht wiederkommen, daß
sie mit ihrer geheimnisvollen Wera irgendwo im Burkowschen Schutt
untergehen würde. Und als in der Küche wieder Stampfen vernehmbar wurde,
und nicht Akumowna, sondern noch eine zweite Stimme, halb kindlich und
halb mädchenhaft rasch zu sprechen begann, bald in fröhliches Lachen,
bald in ein schmerzliches Klagen übergehend, da zog er wie erleichtert
wieder den Vorhang zu und begann weiterzuarbeiten.

Die Abschrift war für Marakulin sehr wichtig, und er wollte sie
unbedingt heute fertigmachen, da er fast zwei Monate schon über ihr saß.
Diese seltene Arbeitsgelegenheit hatte ihm Sergej Alexandrowitsch vor
der Abreise in sein Sommergastspiel verschafft. Marakulin hatte ganze
fünfzig Rubel dafür zu bekommen und seine Verhältnisse sollten sich
dadurch ganz bedeutend verbessern.

– Wer wohnt denn bei Ihnen in der Küche? – fragte Marakulin am nächsten
Abend, als Akumowna ihm den roten blitzenden Sänger, den Samowar
hereinbrachte.

– Weruschka – antwortete Akumowna und lächelte und blickte so
eigentümlich idiotisch von der Seite, – Weruschka, die Wundertätige.

Und die Spülschale brachte schon nicht Akumowna herein – sie blieb in
der Tür stehen –, sondern es brachte sie die „wundertätige“ Weruschka.

Es war ein kleines Mädchen – ein Backfisch von fünfzehn Jahren, wie
ihrer so viele auf dem Burkowschen Hof als Kindermädchen dienen, und
doch schon völlig wie ein junges Mädchen entwickelt. Als er sie aber
aufmerksamer ansah, fand Marakulin in ihren Augen etwas ihm sehr
Bekanntes und ungewöhnlich Verwandtes, er konnte es nur nicht benennen
und vermochte sich nicht zu erinnern, wo er Derartiges schon gesehen:
ein Feuer, – nein, noch etwas anderes, das man auf keinen Fall verbergen
kann, denn es würde selbst beim Schlafenden unter den Lidern
hervorblinken.

– Sie heißen Wera?

– Werutschka ... Werotschka – antwortete das Kind verwirrt, leise und
mürrisch und trat zurück, als hätte es etwas verlegen gemacht.

– Werotschka gar, so! – rief Marakulin entzückt, das Kind betrachtend
und erhob sich plötzlich.

Doch das Mädchen zog sich hinter Akumowna in den Korridor zurück und
machte sich hörbar in der Küche zu schaffen. Oder war es sein Herz, das
so hörbar klopfte, Gott weiß warum?

– Gnädiger Herr, ich möchte Sie bitten, gnädiger Herr, rühren Sie sie
nicht an!

– Was fällt Ihnen ein, Akumowna, Gott schütze Sie!

Aber wie ertappt ließ er sich auf seinen Stuhl fallen.

– Ich fürchte Wassilij Alexandrowitsch – fuhr Akumowna fort, – mir ist
Angst, wenn er aus der Sommerfrische zurückkommt. Er muß ja immerzu eine
haben, der Unbezähmbare. Sobald es Nacht wird, kriechen auch die hier
auf der Treppe herum und kratzen an der Tür, die Herumtreiber!

Nachdem sie es von der Straße aufgelesen hatte, behütete Akumowna das
kleine Mädchen eifersüchtig vor den Burkowschen Herumtreibern, vor
Stanislaus dem Kontoristen und vor Kasimir, dem Monteur; sie schloß oft
die Küche noch bei Tageslicht ab und bettete die Kleine
sicherheitshalber auf ihr eignes Bett unter den drei Oellämpchen. Und
wundertätig nannte sie Wera darum, weil ein Wunder an ihr geschehen war.

– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna zu sagen, – bis zum
fünften Jahre war sie ohne Zunge, sie sprach nicht, man hat sie dem
Doktor Nikolai Franzewitsch gezeigt, vergebens; zu der Schmerzensreichen
hat die Mutter sie gebracht, auch wurde ihr geraten, barfuß zu
Matrionuschka zu pilgern – nichts hat genützt. Aber am dunkeln Freitag
gingen sie in die Pulverfabriken, – am Iljinischnen-Freitag ist da eine
Prozession, zwölf große Heiligenbilder werden da herumgetragen und fast
tausend kleinere. Als die Messe zu Ende war und sie nach Hause gehen
wollten, da verlangte das Kind plötzlich zu trinken: „Mama – sprach sie
– gib mir zu trinken!“ Seitdem spricht sie.

Weras Vater war Buchhändler: er handelte mit Büchern, Haken, Knöpfen und
allerlei Kleinkram. Ihre kränkliche Mutter ging als Tagelöhnerin
Fußboden scheuern und reinmachen. Sie wohnten im Kusnetschnygäßchen, in
den „Winkeln“, wo der Chiromant wohnt – die Fenster dort sind von
venezianischer Art und unheimlich. Als Wera etwas größer wurde, gab man
sie zu einer Goldstickerin in die Lehre, ein Jahr blieb sie da, aber sie
taugte nicht dazu, da ihre Augen krank wurden; so wurde sie
Kindermädchen. Da passierte es, daß ihr Vater mit seinem Stand über den
Wladimirsky vor einem Schutzmann floh; an den fünf „Winkeln“ bei der
Kreuzung geriet er unter die Elektrische und wurde zermalmt. Zur
gleichen Zeit wurde Wera gekündigt. Es ging ihnen damals sehr schlecht.
Und so kam die Mutter auf den Gedanken, sie zum Onkel zu schicken,
welcher auf dem Murinsky-Prospekt in Lesnoj als Hausmeister lebte,
vielleicht, daß er für sie eine Stellung finden würde. Die Kleine ging
fort, erreichte Lesnoj erst am Abend, und unterwegs, während sie das
Haus suchte, blieb sie vor einem Gasthaus stehen, um die Musik zu hören.
Sie stand da und hörte zu, ihre Augen glühten, der Mund war weit
aufgesperrt, da kam aus dem Gasthaus ein Herr, der eine Gnädige
untergefaßt hielt und sah Wera sehr freundlich an. Er blieb ebenfalls
stehen und fragte sie freundlich aus. Sie erzählte ihm alles, auch wie
sie stehengeblieben war, um die Musik zu hören. Und sieh da, welch
glücklicher Zufall: die Herrschaften brauchten gerade gleich ein
Kindermädchen und ihre Bedingungen waren günstig. Wera war erfreut und
willigte ein. Sie nahmen eine Droschke und brachten sie zu sich nach
Hause – sie wohnten auch gar nicht weit. Welch ein glücklicher Zufall! –
Es war schon spät, es dämmerte, und als sie zu Hause anlangten, gingen
sie sofort zu Tisch und ließen auch Wera neben sich Platz nehmen. Und
als sie sich satt gegessen hatte, da führte sie der Herr in ein Zimmer,
das im Korridor gegenüber lag. Nachts kam er wieder. Sie wollte
schreien, aber er verschloß ihr den Mund mit den Händen. So fing es an.
Als Wera zu sich kam, war es bereits Tag. Sie trat aus dem Zimmer und
streifte im Korridor herum, um den gnädigen Herrn und die gnädige Frau
zu suchen und geriet in das Büfettzimmer: sie hatte also in einem
Gasthaus übernachtet. Sie fragte den Büfettier, wo der gnädige Herr und
die gnädige Frau seien? Der Büfettier lachte: es gäbe weder einen
gnädigen Herrn noch eine gnädige Frau; wenn sie aber gewillt sei, könne
sie auch bei ihm als Kindermädchen bleiben. Das war eine schlimme Lage!
Wenn sie nicht einwilligte, hatte sie Angst zur Mutter zurückzukehren,
doch wie, wenn der Büfettier, wie der Herr von gestern, ihr ebenfalls
den Mund mit den Fäusten stopfen würde! ... Das eine war schrecklich,
das andere war ebenfalls schrecklich, und ein drittes gab es nicht. So
blieb sie beim Büfettier als Kindermädchen. Es waren viele Kinder und
sie konnte kaum mit der Arbeit fertig werden. Es verging eine Woche.
Nach einer Woche aber, kaum, daß sie sich etwas eingelebt hatte,
quartierte sie der Büfettier in ein besonderes Zimmer ein, damit sie von
den Kindern getrennt schlafe – es waren eben viele Kinder – es würde
bequemer und ruhiger für sie sein. Und wieder begann es: erst der Wirt
selbst, der Büfettier, nach ihm der Reviervorsteher. Sobald die Nacht
kam, erschien jemand – man brachte ihr im Laufe der Nacht fünf Männer.
Man ließ sie nicht mehr aus dem Zimmer, die Kinder sah sie auch nicht
wieder; es war bereits ein neues Kindermädchen da. Sie weinte, aber was
half es, man lachte sie nur aus. Nur durch ein Wunder entkam sie aus
diesem Zimmer und dem Büfettier. Ein glücklicher Zufall kam ihr zu
Hilfe: ein Brand! Im Gasthaus war Feuer ausgebrochen. Sonst wäre sie
zugrunde gegangen. Im Trubel sprang sie aus ihrem Zimmerchen und begann
zu laufen. Sie kam an die Kusnetschnybrücke gelaufen, in die Winkel, wo
der Chiromant wohnt, die Mutter aber war nicht mehr da: sie war an der
Cholera gestorben. Das war eine schlimme Lage: es wäre ihr schließlich
nichts anderes übriggeblieben, als zum Büfettier ins Zimmerchen
zurückzukehren. Aber die Hausmeisterin hatte Mitleid mit ihr – sie
pflegte ebenso wie Antonina Ignatjewna, die Gattin des Oberhausmeisters,
in den Hafen von Kronstadt zum „Bruder“ zu pilgern – sie war barmherzig
und mit Antonina Ignatjewna bekannt. So schickte sie das Mädchen zu ihr
ins Burkowsche Haus, ob sich da für das Kind vielleicht eine Stellung
fände. Aber Wera geriet statt zu Antonina Ignatjewna zu Akumowna.

– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna zu sagen, – nur eins ist
schrecklich – diese Herumtreiber; sobald es Nacht wird, da kriechen sie
herum und rütteln an der Tür, – es wird einem ganz Angst! –

Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, eintönig. Es war heiß und fast
in ganz Petersburg waren die Straßen gesperrt: das Pflaster wurde
ausgebessert, wie immer im Sommer; es war nirgends ein Durchgang,
nirgends eine Durchfahrt, und es herrschte eine große Schwüle.

Am Abend beim Samowar legte Akumowna Karten für Marakulin, wie sie es im
Winter für Adonja Iwoilowna tat. Sie wahrsagte viel und ausgiebig, nicht
nur für den Treffkönig oder Kreuzkönig, wie ihn Akumowna nannte und der
Marakulins Karte war, sondern auch für andere Könige und Damen – für die
Kreuz-, Coeur-, Karo- und Pik-Dame, als für alle die Personen, die ihm
in den Karten zulagen, um auch ihr Schicksal zu erfahren und dadurch
besser zu erforschen, wer sie seien und was sie vorhaben.

Die Karten logen nicht. Das gleiche Orakel kehrte immer wieder und
brachte meist etwas unsinnig Bedeutungsloses: ein wenig Langweile, ein
wenig Geld, ein wenig Veränderung, ein wenig Tränen, Verdruß, eine junge
Person, ein eigenes Haus, ein eigener Gegenstand, ein vornehmer,
einflußreicher Herr mit einem Schriftstück, eine behördliche Anstalt,
Langweile der jungen Person, eine kleine Unannehmlichkeit, eigene
Sorgen, Gespräch mit sich selbst. Und das letzte war stets das Gespräch
mit sich selbst.

Wenn Akumowna zum letztenmal die Karten ausbreitete, pflegte sie zu
flüstern: – Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es enden wird.
Womit es beruhigen wird. Womit überraschen. Sagt die ganze Wahrheit
reinen Herzens. Was sein muß, wird sich erfüllen.

Und auch zum letztenmal kam das gleiche – dieselben Karten: unsinnig
bedeutungsloses Zeug und das Gespräch mit sich selbst.

Die Karten logen nicht. Nur zuweilen wurden sie offenbar selbst der
Sache überdrüssig und ärgerten sich: dann waren sie bissig, zeigten
große Veränderungen an oder einen weiten Weg, viel Geld und Erfüllung
aller Wünsche.

Beim Kartenlegen erinnerte sich Akumowna oft an ihre Herrin, an den
alten Herrn, an den Bruder der Herrin und an ihren eigenen Sohn, was für
Träume sie alle geträumt hatten, welche Ereignisse nach ihnen eintraten
und was jeder Traum bedeutete.

– Unser Priester in Turij-Rog – er war ein guter Mann, ein großer Büßer,
der Vater Arsenij – erzählte Akumowna aus ihren Erinnerungen – vor
seinem Tode erhob er sich und fragte: „Sind die Pferde bereit!“ – Was
für Pferde, ehrwürdiger Vater? – „Ich habe ja eben ein Paar getraut, man
ladet mich zur Hochzeit ins Ausland!“ Und starb. – Sechs Tage, bevor der
alte Herr sterben mußte, sah meine gnädige Frau, daß sie einen Stiefel
vom Fuß verloren hatte. Und vor dem Tode der gnädigen Frau träumte ich,
ich sitze vor einem Ofen, den Ofen habe ich eingeheizt, das Holz brennt
hell, die Scheite verkohlen schon. Ich zerschnitt Speck, tat ihn in
einen Topf und stellte den Topf in den Ofen, aber kaum, daß ich ihn
hineinstelle, da zerfällt der Topf in zwei Hälften, die Glut prasselt
und ein Qualm erhebt sich ... Mein Vater gab mir keinen Segen. Und so
kam es auch! Wie ein rollender Stein um die weite Welt.

– Wie geht es Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin?

– Sie plagen sich auch, haben weder Wald noch Holz noch Weide. Und ihre
jüngere Tochter Fedossja, meine Nichte, ging nach Turij-Rog als
Taglöhnerin zur Feldarbeit; sie gefiel dem gnädigen Herrn, dem jungen
Bujanow, er ist ein toller Kerl. Er nahm sie für einen Monat zu sich in
Dienst. Als der Monat zu Ende war, behielt er sie noch für einen Monat,
dann für den ganzen Winter. Mein Bruder verstand wohl alles, sagte aber
zur Schwägerin nichts. Sie hatten keinen Wald, kein Holz, keine Weide;
vom gnädigen Herrn aber kam Holz und Geld, es war vorteilhaft. So
verlebte Fedossja dort den ganzen Winter. Im Frühjahr aber reiste der
gnädige Herr in die Stadt und verheiratete sich dort. Da kehrte Fedossja
wieder heim zum Vater, und alle wußten es bereits; es war auch schon zu
sehen. Ihre Brüder machten ihr Vorwürfe, daß sie so eine war, daß ihr so
etwas geschehen konnte. Wie die Raben haben sie auf sie eingehackt, sie
hielt es nicht aus; zehn Tage vor Pokrow starb sie. Sie war gerade
zwanzig Jahre alt geworden, – so jung noch. Und Wassilij, dem Vetter,
sind in der Butterwoche die Füße erfroren ...

Während sie sich an Turij-Rog und Ssosna-Gora erinnerte, konnte Akumowna
ab und zu einen Ausspruch tun, von so echt Turij-Rogischer Art, daß man
sich wundern mußte, wie es ihr hier auf dem Burkowschen Hof in den Kopf
konnte.

– Jetzt – konnte sie sagen – ist das Korn schon reif, gelobt sei Gott! –
sie bekreuzigte sich. – Regen wäre jetzt nicht gut.

Wera gewöhnte sich an Marakulin und hatte keine Scheu mehr vor ihm. Auch
er hatte sich an sie gewöhnt, und es tat ihm wohl, wenn sie sein Zimmer
betrat. Voran schritt dann Akumowna mit dem Samowar und ihr folgte Wera
mit der Spülschale.

„Aus der Spülschale reichen die Teufel im Jenseits den Teufeln und
Sündern das Abendmahl!“ Marakulin erinnerte sich einmal an Akumownas
Vision aus ihrem Passionsweg und lächelte zum erstenmal seit Werotschkas
Abreise.

Und als hätte sie seine Gedanken erraten, erwiderte ihm Wera mit einem
Lächeln. Und noch lange sah er dieses halbkindliche, halbmädchenhafte
Lächeln vor sich.

Wie leer erschien es ihm im Hause, als Wera, die eine Stellung gefunden,
aus Akumownas Küche in die vierte Etage desselben Burkowschen Hofes
verzogen war, in den Flügel, wie der nicht herrschaftliche an der
belgischen Fabrik belegene Teil des Hauses genannt wurde.

Akumowna begann jetzt öfters fortzubleiben. Sie ging, um nach ihrer
„Wundertätigen“, nach ihrem Flämmchen, nach ihrer Wera zu sehen. Sie
lehrte sie gewiß Zimmer aufräumen, Feuer aus Birkenholz anmachen und
dergleichen mehr. Marakulin blieb allein, es schien ihm ganz öde.

Ein Herr aus dem Flügel hatte folgende Gewohnheit: sobald es Abend
wurde, steckte er seinen Kopf aus dem Fenster, das Gesicht zu Marakulin
gewandt und pfiff. Daß der Herr kein Auge von ihm wandte – Marakulin
hatte sich überzeugt, daß es ihm galt, – und daß das Pfeifen nicht
aufhörte, brachte ihn zur Raserei, und ob er wollte oder nicht, er mußte
den Vorhang zuziehen und in der Schwüle sitzen bleiben.

Es war öde um ihn und die Wut machte ihn fast ersticken.

Am Morgen beim Zeitungslesen suchte er mit einer Art Ungeduld alle
Berichte über Morde, Brande, Katastrophen, Ueberschwemmungen,
Wolkenbrüche und Erdbeben und las sie mit großer Schadenfreude, indem er
sich einbildete, man könne den Menschen mit Furcht besiegen, ihn
erschüttern, sein Gehirn und seine Seele umstülpen; dann würde
vielleicht dieses abendliche selbstzufriedene, freche Pfeifen an seinem
Ohr ein Ende nehmen.

In Weras neuer Stellung ging aber nicht alles glatt: es war doch wohl
nicht leicht, sie vor den Herumtreibern zu schützen; auch mochte sie
selbst schwer zu bewachen sein, die Unverschämte.

Wenn sie das Kartenlegen unterbrach und von Wera anfing, sagte Akumowna
jedesmal unter Tränen:

– Ich werde zum Kaiser gehen – die Hände so, wie im Sterben, – und werde
alles erzählen.

– Man wird Sie nicht zulassen.

Nackt geh’ ich hin, splitternackt – die Hände so, wie im Sterben. –
Alles werde ich erzählen.

– Auch splitternackt wird man Sie nicht zulassen.

Aber sie blieb dabei: sie glaubte, der Kaiser würde sie in Schutz nehmen
und die Kleine nicht zugrunde gehen lassen. Beharrlich blieb sie dabei,
dann wurde sie auf einmal still und gab nach. Und Marakulin hörte, wie
sie ihren Wahlspruch, ihr Sterbegebet flüsterte: – die Sühne und den
Lohn für alle Taten!

– Man darf niemand beschuldigen.

– Wer ist aber schuldig, Akumowna?

– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß nichts – antwortete Akumowna
und lächelte und sah idiotisch zur Seite.

Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, eintönig.

Marakulin wartete auf die Feiertage: wie immer sie waren, es waren doch
Feiertage!

                   *       *       *       *       *

Als erster kam Wassilij Alexandrowitsch, der Clown zurück. Er trat zwar
auch im Sommer in Petersburg auf, wohnte aber in der Sommerfrische in
Schuwalowo und kam in die Stadtwohnung nur ab und zu, um nachzusehen.
Auch die Sklavin Kusjmowna war bei ihm in Schuwalowo. Nach Wassilij
Alexandrowitsch erschien nach absolvierter Gastspielreise Sergej
Alexandrowitsch und brachte aus den warmen Ländern, oder aus jenen
Gegenden, wo man mit Ochsen fährt, wie Akumowna sagte, hundert Gläschen
mit Honig mit; – er war eben ein wirtschaftlicher Mensch. Bald nach
Sergej Alexandrowitsch kam auch Wera Nikolajewna zurück, mit
eingemachten nordischen Himbeeren aus ihrem kleinen weißen verlassenen
Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen, von ihrer Mutter aus
Kostrinsk. Nach Wera Nikolajewna erschien Adonja Iwoilowna selbst.

Alle waren zurückgekehrt, nur Werotschka fehlte. Es kamen auch keine
Nachrichten von ihr. Und bereits im September wurde Werotschkas Zimmer
mit Hilfe eines grünen Zettels, der beim Portier Nikanor ausgehängt war,
vermietet.

Die neue Nachbarin Marakulins hieß Anna Stepanowna Schianowa, nach ihrem
Manne Lestschowa genannt, und war eine Lehrerin aus Purchowez.

Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf
Nachtigallengesang eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. Es waren in
Purchowez im Mädchengymnasium, wo Anna Stepanowna unterrichtet hatte,
zwei Lehrer, zwei Berühmtheiten: der Lehrer für Geschichte: Rakow, und
der für Literatur: Lestschow. Sie waren Freunde und beide – nach ihrer
eigenen Definition – Menschen von Bestrebungen. Das Schicksal Anna
Stepanownas war mit dem Schicksal Lestschows eng verbunden; Lestschow
aber und Rakow waren wie zwei Hälften und nach der Uebereinstimmung von
Gemüt und Gesinnung – ein Ganzes. Nur war Rakow etwas älter. Sie wohnten
beide bei derselben Wirtin, sie lebten eingeschränkt, nüchtern, einsam.
Ihre Wirtin Pawlina Polikarpowna, obschon nicht mehr sechzehnjährig, so
doch munter und fest, hatte in längst verflossenen Zeiten als Köchin
beim Gouvernementsrat Gerassimow gedient; und Gerassimow hatte sie vor
seinem Tode „in allem eingeschränkt“, wie Pawlina Polikarpowna sich
auszudrücken pflegte, das heißt: er hatte sie versorgt und ihr für ihren
musterhaften Dienst ein teures Lotterielos geschenkt. Pawlina
Polikarpowna kaufte sich ein Häuschen und lebte vom Vermieten.

Als Rakow von diesem Gerassimowschen Lotterielos erfuhr, konnte er es
als gewissenhafter Historiker nicht unterlassen, dessen Nummer in sein
Notizbuch einzutragen und verfolgte wachsam die Ziehungen in den
Zeitungen. Pawlina Polikarpowna behandelte er respektvoll, streng und
freundlich. Und so vergingen die Jahre, still, einsam und
erwartungsvoll.

Pawlina Polikarpowna war zwar nicht mehr sechzehnjährig, doch hatte sie
manchmal ihre bestimmten Gedanken, und zuweilen weinte sie, einfach so,
ohne jeden Grund. Besonders im Frühling, wenn die Sonne zu brennen
begann, die Hühner zu legen anfingen, die Gärten ergrünten und die
Nächte warm, schwül und sehnsuchtsweckend waren, wenn die Nachtigall
schlug und selbst Rakow auf der Gitarre wie auf einer Harfe spielte und
dazu wie eine Nachtigall sang: „Auf den blauen Wogen des Ozeans, kaum
daß die Sterne am Himmel erglühen, treibt ein einsames Schifflein“ –
dann konnte kein Herz es länger ertragen, und Pawlina Polikarpownas Herz
sank dahin.

Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf
Nachtigallengesang eine erste Stadt, eine Nachtigallstadt!

Eines Morgens, als Rakow die „Purchowezschen Gouvernementsnachrichten“
durchflog, begann er plötzlich laut zu lachen, so laut, wie ein Mensch
nur vor Freude lachen kann, wenn ihm zumute ist, als reiche die eigne
Kehle nicht aus. Und wie sollte er auch nicht lachen? Das Gerassimowsche
Los hatte gewonnen, und zwar keine Kleinigkeit, sondern die ganzen
Zweimalhunderttausend! Er besann sich aber rechtzeitig, steckte die
Zeitung in die Tasche, hustete absichtlich laut und begab sich mit dem
Geheimnis von Pawlinas Glück ins Gymnasium, als wäre nichts vorgefallen.

Nachdem er mit Mühe seine Stunden gegeben hatte, wurde Rakow vor
Aufregung noch am selben Abend krank, und Pawlina Polikarpowna mußte die
ganze Nacht den Kranken pflegen. Am nächsten Morgen ging es ihm auch
nicht besser, und so die ganze Woche. Eine Woche lang pflegte ihn
Pawlina Polikarpowna, und um Fastnacht hielten sie Hochzeit. Sofort nach
der Trauung, als die Neuvermählten allein blieben, lautete die erste
indiskrete, aber durchaus berechtigte Frage des jungen Ehemannes: „Wo
ist das Los?“ – „Was für ein Los?“ – „Was für eins? Das Gerassimowsche!“
Das Gerassimowsche Los aber war längst verkauft; es war nicht mehr da.

Um Fastnacht, fast am gleichen Tage, heiratete auch Lestschow Anna
Stepanowna Schianowa. Die Schianows waren einst die reichsten Leute in
Purchowez, aber Anna Stepanownas Vater hatte das ganze Vermögen
verspielt, und so mußte die Familie nach großer Ueppigkeit in Armut
weiterleben. Dann starb der Vater, es starb auch die Mutter. Anna
Stepanowna war bereits mehr als zwanzig Jahre alt, und obwohl in ihrem
Gesicht nichts Abstoßendes war, nichts, was man häßlich oder entstellend
nennen konnte, im Gegenteil, – so gefiel sie dennoch niemand besonders
und wurde überhaupt nicht begehrt. Sie gehörte nicht zu den
Heiratskandidatinnen von Purchowez, hielt sich auch selbst nicht dafür,
und hatte sich bereits damit abgefunden, allein und ledig zu bleiben,
oder vielmehr, sie hatte sich nicht damit abgefunden, – man kann sich
damit nicht abfinden, – sondern sie redete sich das eben ein. Eines
schönen Tages aber fiel ihr die Erbschaft von einer Tante zu, von der
sie nie etwas gehört hatte, und zwar eine nicht geringe Erbschaft: etwa
Fünfzigtausend. Natürlich wurde es im Gymnasium, an dem sie
unterrichtete, bald bekannt, – war sie doch selbst die erste, die es
erzählte, – und so erfuhr es auch Lestschow. Sofort ging er ans Werk: er
begann, Anna Stepanownas Spuren zu folgen, wurde mit einem Male sehr
unglücklich, beklagte sich, jammerte, erfand allerlei Verfolgungen
seiner Person, ersann sich Feinde; auf einmal brachen auch sämtliche
Krankheiten bei ihm aus, und lauter unheilbare, so daß er im Begriff
war, Selbstmord zu begehen. Und die verzweifelte Liebe sang aus ihm wie
eine Nachtigall, ja, er übertraf die Nachtigall ...

Purchowez ist eine uralte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf
Nachtigallengesang eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. So heiratete
Lestschow Anna Stepanowna, nahm ihr die Erbschaft der Tante ab, die
ganzen Fünfzigtausend und wies ihr die Tür: „Ich brauche dich nicht,“
sagte er, „ich brauche dein Geld.“

Wera Nikolajewna mußte man bedauern; um Werotschka hatte man Angst, aber
Anna Stepanowna tat einem weh. Sie lächelte so, daß es in die Seele
hinein weh tat.

Wera Nikolajewna wollte studieren. Warum? Weil es ihr Maria Alexandrowna
so geraten hatte, an die sie glaubte wie an die Iwerskaja Mutter
Gottes[6]. Und sie wird studieren, solange ihre Kräfte reichen, und
eines Tages wird sie vielleicht über der Physik von Krajewitsch[7] die
Seele aushauchen.

Werotschka wollte eine große Schauspielerin werden, berühmt in ganz
Rußland, in ganz Europa, in der ganzen Welt – und sie wollte das, um
sich an Anissim zu rächen: nur damit Anissim Nikititsch Wakujew, dem
alles gelingt und dem man alles durchgehen läßt, nur einen Augenblick
lang es bedauern und bereuen solle, daß er sie um andere, die ihn
liebten oder sich ihm verkauften, verlassen hatte. Und so bahnte sie
sich jetzt den Weg mit ihrem sicheren, erprobten Mittel, und wird sich
ihn weiterbahnen, solange ihre Kräfte reichen.

Was aber wollte Anna Stepanowna? Sie war allein geblieben und ohne
Mittel, aber das war es nicht: sie hatte ja auch früher allein und ohne
Geld gelebt. Hier war es etwas anderes, etwas Seelisches: sie hatte mit
der ganzen Seele geglaubt, daß man sie liebte und hatte wieder geliebt.
Was wollte sie nun? Was konnte sie wollen! Das, was ein Mensch will,
dessen Seele beschmutzt, dessen Seele vergewaltigt worden ist.

Und während Marakulin Anna Stepanowna näher betrachtete, überzeugte er
sich immer mehr, daß sie auf der Welt nichts zu tun hatte. Und weil sie
so lächelte, tat es ihm weh bis in die Seele hinein.

Es begann ein böser Herbst; es ging ihnen allen schlecht. Nach dem
Kirchenfest der Kreuzeserhöhung geschah es, daß Wassilij
Alexandrowitsch, der Clown, als er im Zirkus auf dem Trapez in der Luft
sich schwang, herabstürzte und verunglückte; er verletzte sich – wie man
auf dem Burkowschen Hof sagte – die Wirbelsäule und den „Stamm der
Beine“. Es stand um ihn nach diesem Sturz aus den Lüften so schlecht,
daß er sogar einen Priester holen ließ, um die heiligen Sakramente zu
empfangen. Der Arzt aber meinte, er würde sechs Monate liegen und sich
einer schweren Operation unterziehen müssen.

– Sie werden ihm von der Ferse ein Stück abschneiden und das Fleisch
öffnen – bedauerte Akumowna, – sie werden den Knochen mit einem Bohrer
wegbohren, beide Fersen abschneiden. Hätte er aber einen Aufguß von
Pferdemist getrunken, so wäre alles fort, wie mit der Hand ...

Marakulin hatte seit jenem Glückszufall im Sommer keine Arbeit mehr
gefunden. An allen Orten und Anstalten, an die er sich wandte, wurde
höchstens seine Adresse notiert, und bekanntlich hat man nichts mehr zu
erwarten, wenn die Adresse notiert wird. Um diese Zeit fand gerade in
Petersburg eine Hundezählung statt. Eine Woche lang ging er auf den
Burkowschen und belgischen Höfen herum, zählte die Hunde und lernte
dabei einen Studenten Lichowidow kennen, der, so wie er, Hundezähler
war. Der Student Lichowidow, ebenfalls ein Mensch in den letzten Zügen,
verstand es jedoch schließlich, sich noch irgendwelche Hundearbeiten zu
verschaffen, und auch für Marakulin fiel dabei etwas ab. Es begann ihm
schon etwas besser zu gehen, da mußte Lichowidow ein kleines Malheur
passieren: er arbeitete damals in irgendeinem Bureau und trat eines
späten Abends nach seinem Dienst auf die Straße, als ihm sein
Vorgesetzter, der Bureauchef – gut angezogen, im Pelz, mit einem
kostbaren Kragen – entgegenkam. „Was meinen Sie, Herr Lichowidow, was
wäre jetzt besser, Tee oder Kaffee zu trinken?“ Lichowidow aber hatte
seit dem Morgen nichts gegessen, er war hungrig wie ein Hund, auch hatte
ihn gerade der Petersburger Wind angeblasen, seine Zähne klapperten nur
so. Er sah den Chef an, als überlegte er, was jetzt besser wäre, Tee
oder Kaffee zu trinken und haute ihm eine in die Fresse. Seitdem war
Lichowidow verschwunden, und Marakulins Mühle stand still.

Dem guten Jäger läuft das Wild in’s Garn. Nach langem Suchen fand Anna
Stepanowna eine Anstellung in einem Privatgymnasium. Es war ein
Mustergymnasium und seine Vorsteherin Lednjowa war eine Frau von
Bestrebungen. Sie verstand die große Kunst, zu wirtschaften, ohne einen
Heller aus eigener Tasche auszugeben, und sie tat es sehr einfach und
gleichzeitig ziemlich verzwickt: sie verschleierte ihre Manipulationen
mit einem echten Petersburger Nebel. Man sagte, sie bezahle die Lehrer
aus geheimnisvollen Equipierungsgeldern, die ihr gar nicht gehörten, und
daß die Lehrer im Lednjowschen Gymnasium jedes Jahr wechselten. Rakow
und Lestschow waren, was Bestrebungen betrifft, im Vergleich mit der
Lednjowa die reinen Waisenknaben, so wie der schönste Gardesoldat in
Beziehung auf Köchinnen gegen Kasimir den Monteur und Stanislaus den
Kontoristen gar nicht in Betracht kommt.

Zwei Monate bekam Anna Stepanowna keinen Gehalt: die Zahlung wurde unter
allerlei Vorwänden hinausgeschoben. Erst im dritten Monat wurde er ihr
ausgezahlt, aber selbstverständlich nicht als gewöhnlicher Gehalt,
sondern als eine Anleihe aus eben jenen geheimnisvollen
Equipierungsgeldern. Als sie das Geld bekam, lud sie Marakulin und Wera
Nikolajewna zum Besuch des Marijinschen Theaters ein, zu einer
Opernvorstellung. Die Billetts kosteten nicht wenig, dafür waren es gute
Plätze; es war alles gut zu sehen und zu hören.

An diesem Abend begegnete Marakulin im Theater Werotschka. Wie oft hatte
er im Sommer und im Herbst an sie gedacht und im Meldeamt nach ihrer
Adresse geforscht – immer wieder aber hieß es: verreist. Jetzt traf er
sie. Im ersten Augenblick erschrak er, dann verwandelte sich sein
Schreck in Unruhe: Werotschka war nicht allein; mit Werotschka ging
Glotow, der Kassierer, Alexander Iwanowitsch, Marakulins ehemaliger
Freund.

Werotschka hatte sich gar nicht verändert. Verändern sich denn die
Menschen überhaupt? Werotschka erkannte ihn gleich, Glotow aber nicht,
oder er tat so, absichtlich, aus wohlerwogenen und unwiderleglichen
Gründen.

– Das ist aber eine Ueberraschung, denn wir haben dich längst begraben,
weißt du, Petruscha! – sagte er.

Und als Werotschka erfuhr, daß Wera Nikolajewna ebenfalls im Theater
sei, ging sie sie aufsuchen und kam nicht wieder.

Glotow führte Marakulin ins Theaterrestaurant.

– Woher kennst du sie? – fragte Glotow seinen Freund.

– Wir haben einen Winter lang bei derselben Wirtin gewohnt – erwiderte
Marakulin.

– Du kennst sie also gut?

– Wie man es nimmt.

Und plötzlich verwandelte die Wut ihre Gesichter. Sie verstanden
einander nur zu gut. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Aber es war
peinlich, so auseinanderzugehen, und auch das Schweigen war peinlich.

Glotow schlug vor, etwas zu trinken. Marakulin dankte. Und so traten sie
aus dem Restaurant, gingen Schulter an Schulter nebeneinander und
suchten Werotschka. Marakulin schwieg. Glotow aber wiederholte mit einer
Art Vergnügen und als hätte er es einstudiert, immer dasselbe:

– Das ist aber eine Ueberraschung! Denn wir haben dich ja längst
begraben, Petruscha, weißt du!

Marakulin traf Werotschka auch in der nächsten Pause nicht: sie hatte
Wera Nikolajewna versprochen, sie noch zu treffen und kam nicht. Er sah
sie an dem Abend nicht wieder.

Nach dem Theater ging Marakulin mit Wera Nikolajewna und mit Anna
Stepanowna in ein Café auf dem Newsky.

Die Begegnung mit Werotschka und mit Glotow, und daß er sie zusammen
getroffen, das Theater, das Café, alles wühlte Marakulin auf, und was
dort im Theaterrestaurant verborgen in ihm brodelte, als er neben Glotow
stand, sammelte sich jetzt zu brennender Verzweiflung. Und gemartert
fühlte er: wenn jetzt dieser Glotow, sein Bruder oder sein Verwandter,
einer, der Werotschka kennt und den auch Werotschka gut kennt, aufstehen
und ihm, Marakulin, eine herunterhauen würde, wie der Student Lichowidow
dem Bureauchef, so würde er, Marakulin, ihm zum Dank dafür die Füße
küssen und ihm noch seinen Nacken hinhalten, daß er nach Herzenslust
dreinhaue, oder ihm die Zähne einschlage, daß die Kiefer knacken. Und in
seinem grausamen Martyrium das ganze Brennen des freiwillig auf sich
genommenen Schmerzes fühlend, erinnerte er sich an seine geliebte,
verhaßte, unglückselige Generalin, und es verging ihm die Lust an seinem
Leid – er wollte keine Ohrfeigen, keine Faustschläge, keine Fußtritte,
weder von diesem gestutzten Schnurrbart, der so selbstgefällig mit
diesem andern widerlichen Glattgesicht plauderte, noch von jenem roten,
nach oben gekräuselten Schnurrbart, der auch vielleicht Werotschka kennt
und den Werotschka sehr gut kennt. Nein, in seiner Verzweiflung dachte
er jetzt, wie gut es wäre, die Generalin mit kochendem Wasser zu
übergießen, sie ein wenig nur zu verbrühen. Mit welcher Wut würde sie
sich auf alle stürzen und beißen, – alle zerbeißen!

– Warum heißt Werotschka nicht mehr Wechorjowa, sondern Rogowa?

– Weil sie keine Generalin ist – antwortete Marakulin.

– Was für eine Generalin?

Wera Nikolajewna verstand nichts und sah bald ihn, bald Anna Stepanowna
an, welche lächelte und deren Lächeln bis in die Seele hinein weh tat.

Marakulin hätte jetzt aufstehen und der einen die Augen ausstechen mögen
– diese verlorenen Augen des vagabundierenden heiligen Rußland, des
verschüchterten, freiwillig bettelnden, von Armut, wie von einem
geweihten Gürtel umgürteten, alles ertragenden, demütigen, geduldigen
Rußland, das sich nicht einmal einen Sarg zusammenzuzimmern vermag,
höchstens einen Scheiterhaufen zusammenbringen und sich darauf
verbrennen! Die andre aber hätte er ersticken mögen, damit sie aufhörte
zu lächeln, damit es dieses Lächeln nicht mehr gäbe, aus dem mit frecher
Schamlosigkeit eine beschmutzte, vergewaltigte Seele jedem in die Augen
sticht: sie braucht nicht zu leben, sie hat hier nichts zu tun, es ist
kein Platz für sie auf der Erde!

Oder war für ihn selbst kein Platz mehr auf der Erde?

– Und was meinen Sie, Wera Nikolajewna? – fragte er.

– Werotschka gab mir ihre Adresse und bat mich, nicht nach Wechorjowa,
sondern nach Rogowa zu fragen – antwortete Wera Nikolajewna.

Marakulin schloß die Augen. Er empfand plötzlich eine äußerste Müdigkeit
und Erschöpfung, eine so vollkommene Gleichgültigkeit, daß er sich nicht
gerührt und nicht einmal sich umgesehen haben würde, wenn das Café in
Brand geraten oder die Decke herabgestürzt wäre.

Als Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna bemerkten, wie verstimmt er
war, wollten sie ihn nicht beunruhigen, und um seiner Seele nicht lästig
zu sein, unterhielten sie sich leise miteinander.

Wera Nikolajewna erzählte von einer Krankenschwester:

– Man brachte ins Krankenhaus ein Kindchen: es war verbrüht. Um die
Operation zu machen, brauchte man Haut, und wo sollte man sie hernehmen?
Vom Kindchen selbst? – das hätte es nicht ausgehalten, es war zu
schwach. So bot sich die Schwester dazu an, und man schnitt ihr so viel
Haut aus, als man brauchte.

– Und wie ist es verlaufen?

– Gott sei Dank, beide leben.

Anna Stepanowna bekreuzigte sich lächelnd:

– Gott sei Dank!

Marakulin erhob sich, und sie gingen nach der Fontanka zurück.

                   *       *       *       *       *

Werotschka bewohnte eine kleine möblierte Wohnung an der Mojka, die sie
nur mit ihrer Wirtin teilte. Die Zimmer waren mit allerlei Sofachen und
Tischchen vollgepfropft und mit Sächelchen angefüllt, wie sie wohl auch
das Ehepaar Oschurkow in seinen zehn Zimmern haben mochte. Die
kanariengelbe Farbe war in der Wohnung vorherrschend: gelbe Kissen,
gelbe Wandschirme, – alles hier war gelb.

Marakulin, der Werotschka endlich gefunden hatte, begriff schon im
Vorzimmer, daß Werotschka hier nicht aus eigener Wahl wohnte, sondern
daß sie in diese möblierte gelbe Wohnung von jemand einquartiert worden
war.

Er fand sie zu Hause und freute sich sehr über sein Glück: sie war
allein, sie kamen einfach und leicht ins Gespräch. Wie immer, redete sie
erst äußerst herausfordernd, und ihre Erzählung war von solcher Art, daß
man aus ihr nicht klug werden konnte, ob es echte Wahrheit war oder bloß
so eine Wahrheit. Sie habe ihren Namen geändert, weil sie jetzt beim
Theater sei; sie sei bei einer kleinen Bühne engagiert, in einem
Petersburger Café chantant.

– Ich tanze dort – erzählte sie – kommen Sie einmal hin, um mich zu
sehen.

Doch abgesehen vom Theater und vom Tanzen stand es mit ihr so, daß
Anissim Wakujew ihr kein Geld mehr schickte. Statt seiner war jetzt ein
vornehmer alter Herr ihr Gönner. Er hatte ihr diese Wohnung gemietet und
seinetwegen hatte sie den Familiennamen geändert, – oder richtiger: sie
mußte einen andern Familiennamen annehmen. Warjaginskij war eine
einflußreiche Persönlichkeit und verkehrte bei Hofe.

– Er ist ein ganz altes Kerlchen. Mit dem linken Auge sieht er immer
eine Maus; wenn er es zukneift, dann verschwindet die Maus, macht er es
aber auf, dann ist die Maus wieder da, ein graues, ganz kleines
Mäuschen.

Anissim schicke ihr längst kein Geld mehr, sie aber brauche Geld. Sie
müsse es soweit bringen, daß der alte Warjaginskij auf ihren Namen ein
Kapital deponiere, dann ...

– Dann werde ich zeigen, wer ich bin – der ganzen Welt, – dann sollen
sie sehen!

Ja, sie werde sich schon erweisen, ihr Name werde in ganz Rußland
berühmt sein, in ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie habe ihren Weg
durch den Scheiterhaufen gewählt; denn auf dem gewöhnlichen Wege gelange
man nirgends hin; man komme auf andre Weise nicht vorwärts; ohne Geld
lasse man einen nirgends hin; man werde zerrieben, und wäre man der
Teufel selbst! Man müsse lügen können und Geld haben – Lügen und Geld
haben, das sei notwendig. Sie hätte ja auch versucht, auf die
gewöhnliche Weise durchzukommen – sie kenne es gut! Sie könne ja
schließlich nicht Waschfrau werden – oder sollte sie in der Tat
Waschfrau werden? Sie sei durchaus nicht damit einverstanden, im
Kusnetschnygäßchen zusammen mit dem Chiromanten oder in den
Gorbatschowschen „Winkeln“ zu wohnen. Wenn der Alte aber erst ein
Kapital auf ihren Namen deponiert und sie viel Geld haben würde, dann
... ja dann ...

– Für Geld kann man alles kaufen! – schrie Werotschka mit ihrem
unheimlichen Schrei. Es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden,
sondern eine Herausforderung, ein Schrei nach dem Recht, die ganzen
himmlischen Heerscharen kurz und klein zu schlagen, wäre nur eine Leiter
bei der Hand – wie es in einer alten Weise heißt – oder die Erde aus den
Angeln zu heben, bekäme man nur einen Griff zu fassen! – Es war eine
Herausforderung, ein Schrei der Verzweiflung auf ihrem Weg durch den
Scheiterhaufen.

– Ich bin eine Dirne und bleibe eine Dirne. Aber im nächsten Jahre werde
ich mich zeigen. Sie werden mich dann sehen. Jawohl, auch Wera
Nikolajewna würde kein Geld ausschlagen, und auch diese Ihre Andre, mit
dem kläglichen Lächeln, würde es annehmen! Es gibt ihnen bloß niemand
etwas, mir aber gibt jeder, ich verstehe zu lügen und werde mein Ziel
erreichen!

Sie begann hastig ihre Toiletten zu zeigen, riß alle Schubfächer auf und
öffnete den Kleiderschrank; Kleider und Wäschestücke flogen haufenweise
zu Marakulin hin, und ein bunter Berg von Seide und Spitzen türmte sich
zwischen den gelben Sofas, wie der schwarze Berg auf dem belgischen Hof.

– Und alles das ist mein – schrie sie, – sehen Sie, es sind Geschenke,
alles gehört mir!

Marakulin erhob sich, er wollte sie zurückhalten, aber es war unmöglich;
er setzte sich wieder auf das gelbe Sofa. Werotschka aber war in Raserei
geraten, sie zerknüllte und zerfetzte die Sachen und warf sie um sich
her. Und als die Kommoden entleert und alle Schubfächer von unterst zu
oberst gekehrt waren, begann sie die Nippes abzuräumen, zerschlug alles
und warf es auf einen Haufen.

– Und alles das gehört mir, lauter Geschenke! – schrie sie mit dem
letzten Aufwand ihrer Stimme, fast schon ohne Stimme. Einen Augenblick
stieg in Marakulin der heftige Wunsch auf, ein Streichholz anzuzünden
und alles in Brand zu stecken, alles zu vernichten, den ganzen Haufen,
den Berg, die gelben Kanapees, gelben Wandschirme, gelben Lampenschirme,
gelben Kissen – alle diese Geschenke!

Werotschka riß von der Etagere eine kleine bronzene Schildkröte herab
und reichte sie ihm, offenbar in der Absicht, sie ihm zu schenken.

– Man kann nur schenk–, man kann nur schenk–, man kann nur schenk– –
stieß Marakulin hervor, als wollte er mit den Worten dreinschlagen, und
sah Werotschka fest an, aber der Atem verging ihm, bevor er das Wort zu
Ende brachte. Seine Schultern zitterten plötzlich.

Ja, sie wisse es selbst. Hier sei nichts, was ihr gehöre. Und fremde
Sachen dürfe man nicht verschenken. Geschenke verschenke man zwar nicht,
doch dürfte man es tun; hier aber gehöre ihr nichts, es seien nicht
Geschenke, es seien lauter fremde Sachen. Fremde Sachen aber dürfe man
nicht verschenken. Eigentümer sei hier der alte Warjaginskij, der Mäuse
sieht, und Glotow der Kassierer, und sonst jeder, der Geld hat und Geld
ausgeben kann – und je mehr einer Geld gebe, desto wichtiger sei er.
Alles an ihr sei beschmutzt, alles abgegriffen, sie könne Wera
Nikolajewna nicht einmal einen Kuß geben, sie habe nichts mehr zu geben,
alles sei eingesetzt, alles bespuckt.

– Und Sie, Petruscha, Sie möchten wohl auch? – fragte sie plötzlich voll
Bosheit, – ja, wollen Sie? – nicht?

Marakulin erhob sich.

– Da – Werotschka zeigte ihm die Zunge – nichts kriegen Sie, Sie
Bettler! Bettler empfange ich nicht, verstehen Sie! – und ihre
unverschämten Augen blitzten auf wie zwei scharfe Klingen und ihr
aufgelöstes Haar brannte wie Feuer.

Ohne die Straßen zu unterscheiden ging Marakulin wohin ihn seine Füße
trugen. Es war im Dezember und Tauwetter. Ein warmer Wind wehte, die
Laternen sahen aus wie vom Himmel herabgestiegene Sterne und Monde und
schienen im Nebel aufgehängt. Beim Hinaustreten aus der Podjatscheskaja
auf die Ssadowaja blieb er plötzlich stehen: vor dem Tor des Spaßeschen
Polizeireviers, da, wo die Glocke hängt, stand ein Feuerwehrmann in
einem riesigen Messinghelm, ein wirklicher Feuerwehrmann, aber
überlebensgroß, und sein Messinghelm reichte über die Torwölbung hinauf.

Marakulin begann vor Entsetzen zu laufen. Etwas stieg ihm die Kehle
hinauf und preßte sie zusammen. Und erst als er zu Hause war, allein in
seinem Zimmer im Burkowschen Hof, fühlte er, daß er weinte, so wie er
nur einmal im Leben geweint hatte, als seine Kinderfrau ihn verlassen.

Nachts träumte er, er läge auf dem Burkowschen Hof. Der Hof aber war
größer als in Wirklichkeit, und obwohl er an den Seiten von den Häusern
zusammengedrückt war, so lagen doch die Stände und Kästen der fliegenden
Händler viel weiter als sonst, und die Wagenremise, die Müllgrube und
der Abguß waren viel entfernter. Es waren unter den Fenstern viel mehr
Ziegelsteine, Schutt und Kehricht angehäuft. Er lag nicht allein auf dem
Hof, neben ihm lagen die Mieter aus dem Vorderhaus und aus dem
Hinterhaus, aus den Seitenflügeln, aus den Gorbatschowschen „Winkeln“.
Und obwohl er viele von ihnen nicht kannte, so erriet er doch, wer sie
waren, und irrte sich bestimmt nicht darin, daß dieser Herr und diese
Dame Herr und Frau Oschurkow waren, die zehn Zimmer und allerlei Nippes,
die die Wohnung ganz ausfüllten, und ein Aquarium mit Goldfischchen
hatten. Und dieser da, der Bewegliche im Zylinder, war der Rechtsanwalt
Amsterdamskij, ein lustiger Kerl, – er verstand es, Prozesse gut zu
führen; die Portiers im Senat warteten auf ihn, wie auf das Osterfest.
Und Burkow selbst, der frühere Gouverneur, der Selbstvertilger, lag da,
aber man sah nur seine Uniform. Neben der Uniform lag der älteste
Hausmeister Michail Pawlowitsch mit seiner Gemahlin, der
gottesfürchtigen Antonina Ignatjewa, und der Händler Gorbatschow mit
einem kleinen Mädchen – mit seiner Tochter, der er einst in der
Rattenkammer die Fingerchen zerbrochen, und Wera mit Akumowna,
Stanislaus der Kontorist und Kasimir der Monteur, Adonja Iwoilowna und
die Artisten Damaskin, Sergej Alexandrowitsch und Wassilij
Alexandrowitsch, Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna, die Hebamme
Lebedjowa in ihren Pelz eingewickelt, den man ihr um Weihnachten
gestohlen hatte, und der Portier Nikanor; auch lagen hier die Studenten,
welche nachts Totenmessen sangen, in neuen studentischen Uniformen und
mit ihrem Messinghahn, dann alle sieben Hausmeister und der Paßaufseher
Jerkin – die Hausmeister mit Holz und Jerkin mit Krankenhausmarken, jede
Marke ein Rubel, Gesicht und Hände ganz mit Marken beklebt. Kleine
Kinder lagen in Haufen, der Perser – der Masseur aus der Badeanstalt und
jenes kleine Mädchen, welches Murka damals Milch gebracht hatte, mit der
Scherbe; es lagen da alle Schuster, Bäcker, Bader, Friseure,
Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine Krankenschwester aus dem
Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirm-
und Bürstenmacher, Kommis, Wasserleitungsmonteure, Setzer und allerlei
Mechaniker, Techniker und elektrische Meister mitsamt ihren Familien und
ihrem Gerümpel, mit Gläsern, Flaschen und Schwaben, und allerlei
Fräuleins von der Gorochowaja und vom Sagorodny, kleine Nähmädchen,
Mädchen aus den Teestuben und elegante junge Leute aus der Badeanstalt,
die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, die alte Frau, welche
Sonnenblumensamen und sonst allerlei Kram feilbietet, stellenlose
Köchinnen, Maler und Schreiner, fliegende Händler mit Datteln und
Zuckerwerk, das nach Mistpilzen riecht, – mit einem Wort: der ganze
Burkowsche Hof, ganz Petersburg. Und nachdem Marakulin alle diese
Burkowschen Gestalten feststellte, erblickte er auch noch andre: seine
Mutter, seinen Vater, seine Schwestern, den alten Gwosdjow, den
Buchhalter Awerjanow, Tschekurow, Lisaweta Iwanowna und Maria
Alexandrowna, Rakow mit dem Lotterielos von Zweihunderttausend,
Lestschow, Pawlina Polikarpowna und alle Idioten, Geistesarmen, Eremiten
und heiligen Brüder, allerhand Belgier und Deutsche, die Deutschen um
den Doktor Wittenstaube zusammengedrängt, der alle Krankheiten mit
Röntgenstrahlen heilt, – überhaupt das ganze vagabundierende Rußland.

Da lagen sie alle auf dem Burkowschen Hof, wie auf einem Totenfeld, nur
war es nicht trocknes Gebein, sondern es waren lebendige Menschen, und
in jedem lebte und schlug ein Herz. Und Tiere lagen da zusammen mit den
Menschen: der schöne rothaarige Hund des Gouverneurs, Revisor, an der
lästigen Stahlkette hob zuweilen seine kluge Schnauze, und Murka lag
auch daneben, von einem rauchfarbenen Kater belegt. Neben Marakulin aber
lag die Generalin Cholmogorowa, die Laus, und die elektrischen Lampen
brannten wie vom Himmel herabgestiegene Sterne und Monde tief im Nebel
über dem Burkowschen Hof.

– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist übervoll, die Strafe ist
nah! – sang Gorbatschow im Halbschlaf, die Worte durch die mit
Pferdehaaren bewachsene Nase dehnend.

Da klirrte etwas wie ein Säbel, und aus einem Schrank trat ein
Feuerwehrmann, überlebensgroß, in einem riesigen messingnen Helm, und
begann zu schreiten, mit den Stiefeln polternd. Und rasch über die
Maler, Schlosser und fliegende Händler hinwegschreitend, nahte er
Marakulin und blieb vor ihm stehen.

Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht.

Da fühlte Marakulin, wie es ihm so schwer wurde, daß er weder einen Fuß
noch eine Hand rühren konnte, und er wußte, daß er nicht mehr lange
leben werde und daß ihm nur noch die Freiheit zu reden übriggeblieben
war. Er fühlte auch, daß es Allen – dem ganzen Totenfeld – ebenso schwer
war; sie konnten weder einen Fuß noch eine Hand rühren und hatten nur
noch die Freiheit zu reden; und während er seine letzten Augenblicke
nahen fühlte, hörte er die Automobile auf der Fontanka tuten.

Ueber ihm aber stand unbeweglich der Feuerwehrmann. Es war ein ganz
gewöhnlicher Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht.

Erst wollte Marakulin es wagen, gleich jenem Starez Kabakow, der durch
Gebete die Stimme des Himmels befragte, den Feuerwehrmann für Alle, für
die ganze Welt auszufragen, aber er hatte nicht den Mut, wie Kabakow für
Alle, für die ganze Welt, für das ganze Totenfeld zu fragen, sondern er
fragte nur für sich.

– Wird es mir gut ergehen?

– Warte – sagte der Feuerwehrmann.

– Gut? – fragte Marakulin nochmals mit stockendem Atem, und hörte dabei,
wie auf der Fontanka die Automobile tuteten.

Und der Feuerwehrmann antwortete ihm, jedoch sehr kleinlaut, kaum daß er
das Wort zu Ende sprach:

– G–u–t.




                            Fünftes Kapitel


Vor Weihnachten zerbrach Marakulin sein Kreuz.

Anna Stepanowna nahm es mit, um es reparieren zu lassen, ging aber aus
dem Gymnasium erst auf den Gostinij-Markt. Dort wurde ihr das
Portemonnaie gestohlen und mit ihm auch Marakulins Kreuz, sein kleines
goldenes Taufkreuz.

In den Weihnachtstagen wahrsagte Akumowna wieder aus den Karten, und
Marakulin schien es, daß die Karten jetzt ganz erbost seien und ihn mit
ihrem schonungslosen „reinen Herzen“ verspotteten. Sie orakelten: ein
fröhlicher Weg; ein wohlgeborener einflußreicher Herr; viel Geld; wenn
Sie heute keinen Brief bekommen, so bekommen Sie ihn morgen; er trinkt
ein wenig, – und in den Ecken Gras und Tannen.

Aber die Karten logen diesmal nicht. Sei es, daß Akumowna es mit ihrem
Wahrsagen heraufbeschworen hatte, oder, daß es ihm sonst bestimmt war –
Marakulin mußte in der Tat bald nach dem Tag der hl. Tatjana und ganz
unerwartet nach Moskau verreisen.

Marakulin war ein Moskauer. In Moskau geboren und aufgewachsen, war er
auch dort zur Schule gegangen. Nur die fünf Jahre vor seinem
Petersburger Aufenthalt hatte er in der Provinz verlebt und in
Geschäften auch solche Städte wie Kostrinsk und Purchowez besucht. Er
hatte in Moskau in einer Privatrealschule in der Handelsabteilung
studiert. Kaum daß er in die Schule eintrat, starb seine Mutter, und
bevor er die Schule verließ, verlor er den Vater. Die letzten Schuljahre
waren sehr schwierig, er mußte selbst für sich sorgen. Er hatte zwei
Schwestern, beide älter als er und beide verheiratet. Als er noch in
Moskau lebte, besuchte er die Schwestern, erst oft, dann seltener,
endlich ganz selten. Als er klein war hatten sie ihn sehr gern gehabt
und ihn verwöhnt. Er wußte es noch genau, sie aber hatten es vergessen.
Als er in der Provinz wohnte, schrieb er den Schwestern im Anfang oft,
dann seltener, dann ganz selten und nur noch Gratulationsbriefe, dann
hörte er überhaupt auf zu schreiben. Sie waren es, die zuerst den
Briefwechsel abbrachen. Und seit er in Petersburg lebte, hatte er sich
an den Gedanken gewöhnt, daß er in Moskau niemand hatte. Nur auf dem
Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich zwei Gräber, zwei Kreuze: das
Kreuz des Vaters und das Kreuz der Mutter.

Sein Vater war der älteste Buchführer bei Plotnikow gewesen. Plotnikows
Fabrik befand sich auf der Taganka, das Engrosgeschäft auf der Iljinka.
Der Vater war ein Mann der Arbeit, der sich mit Energie seinen Weg
bahnte. Seine Mutter war anders; sie war ein Mensch von besonderer Art.

Jewgenja Alexandrowna – so hieß sie – war aufrichtig, einfach und
herzlich. Ihre Aufrichtigkeit kannten alle; ihr Vater kannte sie und
alle, die im Hause verkehrten kannten sie. Man klatschte in ihrer
Gegenwart nicht über Bekannte, man schärfte nicht unnütz die Zungen –
man sagte nichts, was man den andern nicht ins Gesicht hätte sagen
können. Die Gepflogenheit, zwei Meinungen über jemand oder über etwas zu
haben: eine Meinung sozusagen für’s Haus, welche nur im engen
Familienkreis ausgesprochen wird, und eine andere für die Straße, welche
vor Fremden geäußert wird, wenn es nützlich erscheint, – diese üblichen
Formen des Umgangs waren ihr fremd. Es fehlte ihr der praktische Sinn.
Daraus konnte oft ein kleiner Skandal, zumindest eine Verlegenheit
entstehen, und ihr Vater mußte sie häufig davor warnen. Dieser
praktische Sinn, der zwei Meinungen kennt, dieser einfältige und oft
niederträchtige Selbstschutz ist keine Weisheit. In der echten Weisheit,
die nicht nur zwei, sondern zwanzigmal zwei Meinungen kennt, ist Wissen
und Schonung. Diese höhere Weisheit konnte sie natürlich noch nicht
haben, aber sie besaß jene, die aus dem Instinkt stammt und die das Herz
begreift. Es fehlte ihr dagegen völlig an jener Schlampigkeit des
Herzens, an der Gewöhnlichkeit der Seele, die wie grobe Geradlinigkeit
aussieht. Alles berührte und quälte sie; sie hatte keine
Gleichgültigkeit in sich, im Gegenteil: ungewöhnlich barmherzig und
mitfühlend, war sie bereit, jedem zu helfen. Kaum aus der Schule,
verliebte sie sich in einen Studenten, in den Hauslehrer ihres Bruders,
und wie zu Gott sah sie zu ihrem Studenten auf. Der Student aber – sagte
nichts, und als ein ernsthafter Student, der er war, lächelte er nur,
lächelte und dankte. Jenjas Vater – Marakulins Großvater – war Arzt, und
als Fabrikarzt bei Plotnikow angestellt, nahm er das junge Mädchen oft
in die Fabrik mit. Bei Plotnikow war aber auch ein junger Techniker
namens Ziganow. Dieser machte sich mit den Fabrikarbeitern zu schaffen,
veranstaltete Vorlesungen und Theatervorstellungen für sie, und soll
auch, wie die Wissenden behaupteten, einen Streik angezettelt haben. Die
Fabrikarbeiter liebten Ziganow und gehorchten ihm. Jenja, der das Leben
in der Fabrik, das sie allmählich kennen lernte, die Seele verwundete,
bot Ziganow ihre Mithilfe an. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Techniker
und arbeitete mit, so weit ihre Kräfte reichten. Und wenn eine Sache
gelang, – mit welcher Freude erzählte sie von ihrem Erfolg dem
Hauslehrer ihres Bruders, ihrem Studenten, zu dem sie wie zu Gott
aufsah! Der Student aber – sagte nichts, und als ein ernsthafter
Student, der er war, lächelte er nur, lächelte und dankte. So traf es
sich auch einmal, daß Jenja bei Ziganow in der Wohnung war. Sie half ihm
Lektüre für die Fabrikarbeiter zusammenstellen; es waren Broschüren. Sie
war sehr eifrig dabei, sie brannte darauf, daß die Broschüren bald
gelesen werden, denn sie glaubte, daß in ihnen die Wahrheit stand und
ein Ausweg aus dem erbärmlichen Leben, das ihr die Seele verwundete. Sie
brannte vor Eifer – es war ja das erstemal. Ziganow arbeitete am selben
Tisch mit ihr und wich nicht von ihrer Seite; auch er wollte die Arbeit
möglichst rasch erledigen, denn die Sache war gefährlich! Als dann alles
fertig war, die Broschüren geordnet, ausgesucht und verteilt, und sie,
befriedigt, freudig erregt und davon träumend, wie sie alles dem
Studenten, ihrem Abgott erzählen würde – (er hatte wohl jetzt die
Lektion mit ihrem Bruder beendigt, saß vielleicht mit ihrem Vater im
Eßzimmer beim Tee und spielte mit ihm Schach) – gerade im Begriff war,
nach Hause zu gehen, – da fiel Ziganow über sie her und warf sie zu
Boden ...

An diesem Abend, als sie nach Hause zurückkehrte und den Studenten, wie
sie erwartet hatte, im Eßzimmer beim Tee mit ihrem Vater Schach spielend
fand, – sagte sie nichts; weder dem Vater, noch dem Studenten. Sie
verriet nicht mit der leisesten Andeutung, was eben zwischen ihr und
Ziganow vorgefallen war, sie verriet mit keiner Silbe das Entsetzen, das
sie erfüllte.

Entsetzen und Scham besiegten all ihre Wahrhaftigkeit und zwangen sie,
das Schreckliche zu verheimlichen. Sie schwieg, und obwohl sie, die sich
nicht verstellen konnte, sich so gab, wie sie war, bemerkte dennoch
niemand etwas, nur dem Vater fiel eine Trauer in ihrem Gesicht auf, die
früher nicht in ihm war. Erst viele Jahre später sah es auch manch
andrer, sprach aber nicht darüber. Denn diejenigen, die sie oft sahen,
mochten sie dann vielleicht zum erstenmal aufmerksam angesehen haben und
konnten deshalb nicht feststellen, ob diese Trauer in ihrem Gesicht
schon immer dagewesen und von ihnen nur nicht bemerkt worden war, oder
ob tatsächlich eine Veränderung in ihm stattgefunden hatte.

Wohl war diese Trauer schon immer in ihr, seit ihrer Geburt vielleicht,
vielleicht war sie zusammen mit ihr zur Welt gekommen, hatte sich all
die siebzehn Jahre in ihrer Seele verborgen gehalten und trat erst an
jenem Abend hervor, an dem Jenja bei Ziganow die Broschüren ordnete und
glücklich, freudig erregt daran dachte, wie sie ihrem Studenten, ihrem
Abgott von ihrer Freude erzählen würde; – damals mochte das Entsetzen
die eingeborene Trauer hervorgeholt und über ihr Gesicht gebreitet
haben.

War es nur Trauer, was ihr Gesicht verriet, als sie sich auf dem Boden
wälzte und vor tierischem Schmerz, vor Ekel und Entsetzen geschrien
haben würde, wenn sie ihre Schreie nicht hätte unterdrücken müssen? War
nur Trauer in ihrem Gesicht, da sie schweigend und doch unverstellt sich
quälte?

Wenn die Menschen einander genau sehen und beobachten würden, wenn Alle
Augen hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das ganze Entsetzen, die
ganze Rätselhaftigkeit des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre, wenn die
Menschen einander sehen würden, das eiserne Herz gar nicht nötig?

Wie war das alles so gekommen, und weshalb? Und wie erklärte Jenja es
sich selber?

An jenem Abend war Ziganow geblendet, – einen andern Grund gab es nicht
– es war nicht vorgefaßte Absicht, er war einfach geblendet. Und hätte
er auch sieben Augen gehabt, wer weiß, ob er nicht an allen sieben Augen
geblendet worden wäre vor ihren beiden, mit denen sie so freudig
dreinblickte, bereit, im nächsten Augenblick von ihrer Freude dem
Studenten, ihrem Abgott zu erzählen: ihre Freude war so gewaltig; es war
ja das erstemal, die Sache war gefährlich und sie glaubte die Erlösung
gefunden zu haben aus dem erbärmlichen Leben, das ihre Seele verwundete.

So erklärte Jenja das, was vorgefallen, indem sie niemand beschuldigte,
außer sich selbst.

Ob es so war oder nicht, ob er tatsächlich geblendet war oder nicht, ob
er dem Zwang nicht widerstehen konnte, sich auf sie zu stürzen, oder ob
er sich hätte zurückhalten müssen – einerlei: am Ende wäre es auch einem
andern so ergangen wie Ziganow, der sich mit einer gefährlichen Sache
befaßte, die heimlich und verborgen getan werden mußte, und der vor
lauter geschäftigem Mißtrauen seine Augen verloren hatte? Jedenfalls
aber hatte er seine Augen verloren, gleichviel warum: denn hätte er
sehen können, so wäre das nicht geschehen, was weiter geschah. Es kam
aber, daß jedesmal, wenn Jenja bei ihm war, um Broschüren zu ordnen,
oder in ähnlichen Angelegenheiten, sich jener gefährliche und freudig
erregte Abend wiederholte. Sie flehte ihn an, sie zu schonen, sie nicht
anzurühren, aber er wollte nichts hören, weil er taub und blind war. Und
so verging ein ganzes Jahr.

Als dann Ziganow aus der Plotnikowschen Fabrik verschwunden war – manche
behaupteten, er wäre nach Sibirien verbannt worden, andre dagegen, daß
er jenseits der Trechgornaja-Maut in einer Fabrik eine gutbezahlte
Stellung angenommen hatte, wieder andre, daß er der Welt so etwas wie
ein „neues Zion“ verkündete – mit einem Wort, als Ziganow nicht mehr da
war, und Jenja aufatmen konnte, da widerfuhr ihr das gleiche, nur daß
diesmal an Ziganows Stelle ihr eigener Bruder, der Kadett war. Sie bat
ihren Bruder, flehte ihn an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, er
aber wollte nichts hören, und darum nicht, weil er in diesem Augenblick
taub und blind war.

Ja, auch er war in diesem Augenblick geblendet, und nur, weil in ihr
selbst etwas Sinnberaubendes, Blendendes war; denn sonst hatte doch
dieser Bruderabend nichts gemeinsames mit jenem Ziganowschen, jenem
gefährlichen und freudig erregten Abend.

So erklärte sich Jenja alles, was vorgefallen, indem sie niemand als
sich selbst beschuldigte.

Ob es nun so war oder nicht, ob der Bruder ebenfalls geblendet war oder
nicht – jedenfalls ist es klar, daß er, ohne sich mit gefährlichen
Dingen zu befassen, wie Ziganow und nicht wie dieser durch die
Heimlichkeit und die Gefahr der Arbeit in gemeinsame Erregung mit der
Schwester gedrängt, – im Gegenteil: er hatte einen offenen Weg vor sich,
frei von jedem Spähen und Horchen – jedenfalls ist es klar, daß er, wie
so viele Menschen von Beruf oder Handwerk, von Meisterschaft oder
Leidenschaft, sich eben durch keinen besonderen Scharfblick
auszeichnete. Nein, er zeichnete sich nicht durch besonderen Scharfblick
aus, denn hätte er etwas gesehen, so wäre nicht geschehen, was weiter
geschah. Es kam aber, daß sich jedesmal, wenn er sie allein fand, das
wiederholte, was an jenem Schwesterabend geschah. So verging wieder ein
Jahr.

Als der Bruder dann von Moskau abgereist war und sie, allein geblieben,
aufzuatmen hoffte, da wurde der Bruder von dem Gehilfen ihres Vaters,
von einem jungen Arzt ersetzt, so wie einst der Bruder Ziganow abgelöst
hatte. Und nach dem Arzt kam noch einer und wieder einer; alle traten
sie kühn an sie heran und taten mit ihr, was sie wollten.

Sie taten es aber nicht deshalb, weil sie es freiwillig gewährte, nein,
sie taten nur das, wozu es sie, die Geblendeten, trieb.

So erklärte sich Jenja alles, indem sie niemand als sich selbst
beschuldigte.

Ob es so war oder nicht, ob sie wirklich geblendet waren oder nicht, ob
es sie trieb, oder ob sie sich selbst über sie warfen, jedenfalls
beschuldigte sie keinen von ihnen, nur sich selbst: dies etwas in ihrem
Wesen, das blendete und betäubte.

Sie schwieg – ganze drei Jahre schwieg sie. Sie machte nie eine
Andeutung, verriet sich mit keinem Wort. In ihr aber war Entsetzen,
Scham und Qual. Sie wurde geliebt, hatte viele Freundinnen, und wußte,
wie sehr man sie liebte und wie gut man von ihr dachte; und trotz aller
Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die in ihr war, vermochte sie es
nicht, ihnen zu sagen, wie sehr sie sich irrten: daß sie nicht so war,
wie sie von ihr dachten. Hätten sie die Wahrheit gewußt, dann würden sie
sich von ihr losgesagt haben, so aber stahl sie ihre Liebe dadurch, daß
sie die Wahrheit verheimlichte.

Die Menschen traten kühn an sie heran und taten mit ihr was sie wollten,
sie aber konnte sich nicht wehren und gab, erfüllt von tierischem Ekel
und Schmerz, nach. Und dafür, daß sie nachgab, daß sie trotz Ekel und
Schmerz nachgab und nachgeben mußte, für dies blendende und betäubende
Wesen in ihr, das die Menschen trieb, sich über sie zu werfen, reichte
eine von Menschen verhängte Strafe nicht aus. Es wäre ihr ja ein
leichtes gewesen, ein Ende mit sich zu machen, aber das hätte ihr nicht
genügt. Auch wenn man sie gefoltert und gemartert, wenn man sie zu Tode
gefoltert hätte, was hätte ihr das genützt? Für sie war eine von
Menschen bestimmte Strafe zu gering, sie mußte sich selbst ihr Urteil
sprechen und sich selbst hinrichten. Aber wie sich strafen, wie sich
hinrichten? In den drei Jahren des Entsetzens, der Scham und der Qual
hatte sie sich in den schlaflosen Nächten die Haare gerauft, hatte mit
dem Kopf gegen die Eisenstäbe ihres Bettes, – ihres schmalen
Mädchenbettes – geschlagen, aber was war damit erreicht? Nichts, gar
nichts! Wer sollte ihr die Strafe diktieren und wie sollte sie sie
vollziehen?

Wenn die Menschen einander genau sehen und beachten würden, wenn Alle
Augen hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das ganze Entsetzen, die
ganze Rätselhaftigkeit des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre das
eiserne Herz gar nicht nötig, wenn die Menschen einander sehen würden!

Jenja verließ Moskau und lebte einige Zeit auf dem Lande, in der Familie
eines ihrem Vater befreundeten Arztes. Ihr Vater, der jetzt nicht nur
Trauer in ihrem Gesicht bemerkt hatte und unruhig geworden war, erklärte
sich ihr Aussehen mit Uebermüdung und redete Jenja zu, sich auf dem
Lande zu erholen. Folgendes geschah nun während ihres Landaufenthaltes:
Am Dienstag in der Karwoche reiste sie von da ab, aber nicht nach Hause
zum Osterfest, wie man annahm, sondern sie begab sich in den Wald und
betete dort drei Tage und drei Nächte mit der ganzen Glut des
Entsetzens, der Scham und der Qual eines sich selbst verurteilenden
Herzens, und flehte nur um eins: um Strafe, – daß ihr eine Strafe
angezeigt und eine Buße auferlegt werde. Am Karfreitag aber erschien sie
in der Kirche zur Zeremonie des Grabtuches, ganz nackt, mit einem
Rasiermesser in der Hand. Als das Grabtuch hinausgetragen wurde, folgte
sie ihm – alle wichen vor ihr zurück, wie vor dem Grabtuch selbst. Sie
stand ganz nackt da, mit dem Rasiermesser in der Hand: „Im Namen des
Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!“ rief sie aus. Jemand
erwiderte „Amen“. Da erhob sie das Messer und schnitt sich Kreuze hinein
in die Stirn, in die Schultern, in die Arme, in die Brust, und ihr Blut
ergoß sich auf das Grabtuch.

Ein ganzes Jahr oder noch länger lag Jenja im Krankenhaus, wohin man sie
bewußtlos aus der Kirche gebracht hatte. Von den Kreuzen waren keine
deutlichen Male zurückgeblieben, nur eine schwache Narbe auf der Stirn,
aber auch diese war unter dem Haar nicht zu sehen. Und als man fand, daß
sie sich genügend erholt hatte, schickte man sie zu ihrem Vater zurück.

Hatte sie sich nun beruhigt? Nein. Aber sie betete nicht mehr um Strafe.
Tief in ihrem Innern war es still geworden. Mag sein, daß man durch
irgendwelche Heilmittel auf sie gewirkt hatte, oder daß sie, sich
erholend und gesundend, nicht mehr so fein in sich hineinhorchen konnte,
um zu vernehmen, was in der Tiefe redete. Aber bald sollte sie es doch
vernehmen, und ganz unerwartet.

Zu ihrem Vater kam häufig der Buchführer der Plotnikowschen Fabrik,
Alexej Iwanowitsch Marakulin. Jenja gefiel ihm sehr, und er erklärte
sich bald. Da vernahm sie plötzlich, was in der Tiefe sprach.

Niemand wußte bis dahin, wofür sie eine Strafe für sich herabgefleht
hatte, kein Mensch ahnte etwas von den drei qualvollen Jahren und von
dem vierten Jahr ihrer Buße. Nicht einmal dem Priester in der Beichte
hatte sie etwas verraten: sie sprach es in Gedanken unter dem
Epitrachelion, wenn der Priester über ihr gebeugt die Vergebung las. Sie
konnte sich nicht entschließen, ihm etwas zu sagen: es hätte ihm
vielleicht nicht genügt zu erfahren, was sie getan; er hätte sie
jederzeit über die Personen ausfragen können, die mit ihr verkehrt
hatten. Vielleicht hätte er auch angesichts ihres Entsetzens, ihrer
Scham und ihrer Qual, um ihr einen weltlichen Trost zu verschaffen, zu
erfahren gewünscht, wie sich alles zugetragen hatte, und dann gar, über
die Umstände unterrichtet, jene Personen verurteilt und sie selbst von
aller Sünde freigesprochen! Sie aber beschuldigte niemand als sich
selbst, ihr eigenes blendendes und betäubendes Wesen. Außerdem hätte der
Geistliche jene Menschen auch denunzieren können. Jetzt aber wollte sie
es dem Menschen offenbaren, der sie liebte. Sie mußte _alles_ sagen – so
sprach es in ihrem Innern – sie mußte diesem Menschen alles sagen.

Und sie erzählte ihm alles, rückhaltlos. Er hörte milde zu und weinte; –
er liebte sie. Ohne daß er im Innern glaubte, daß es sich nie
wiederholen würde, daß die Geschehnisse dieser drei Jahre nicht
wiederkehren könnten, wollte er es doch glauben, denn er liebte sie.

Ihr ganzes weiteres Leben widmete Jenja ausschließlich ihren Kindern.
Gleich im ersten Jahr ihres neuen Lebens war es, als wäre sie plötzlich
alt geworden, aber es war nicht Alter, sondern jenes Entsetzen, jene
Scham und Qual, die jetzt auf ihrem Gesicht, wie einst die Trauer,
sichtbar wurden und es alt machten. Und ihre Augen, die oft wie
aufgescheucht waren und die Hände stets wie im Gebet gefaltet, als
flehten sie, sie zu schonen und nicht anzurühren, – dies blieb ihr eigen
bis an ihr Lebensende. Im Sarg lag sie mit dem Kreuz auf der Stirn:
unter der Stirnbinde war es jetzt deutlich zu sehen.

Marakulin war damals zehn Jahre alt, aber er konnte sich noch genau an
dieses Kreuz erinnern, an das auf der wachsgelben Stirn unter der weißen
Binde sichtbare Kreuz. Und auch jetzt auf der Fahrt nach Moskau dachte
er daran, und die Erinnerung an das Kreuz der Mutter war in ihm
irgendwie fest und unlösbar mit seinem eigenen goldnen Taufkreuz
verbunden, das ihm vor Weihnachten abhanden gekommen war.

Und Trauer überflutete ihn.

                   *       *       *       *       *

Marakulin reiste nach Moskau auf den dringenden Ruf Plotnikows:

Pawel Plotnikow war mit Marakulin zur Schule gegangen, war aber um zwei
Klassen jünger. Als Marakulin ihn zum erstenmal sah, gefiel er ihm sehr:
es war ein gesunder Knabe, von einer wie Milch und Blut zarten Haut, so
daß man Lust bekam, ihn zu streicheln und mit ihm zu scherzen, um ihn
lachen zu machen. Im ersten Schuljahr hatte Pawel Plotnikow oft
Halsschmerzen, und das weiße Tuch um den Hals machte ihn noch
liebenswerter. Marakulin sprach und scherzte oft überaus freundlich mit
ihm, Plotnikow aber zeigte eine gewisse Scheu. Erst im nächsten Jahr
wurden sie durch einen Zufall einander näher gebracht: Marakulin sang im
Chor mit, und auch Plotnikow wurde in den Chor aufgenommen, ebenfalls
für die Altstimme. Bei den Gesangproben stand Plotnikow neben Marakulin,
und allmählich verlor er seine Scheu vor ihm und schloß sich jetzt enger
an Marakulin an, welcher für ihn alles tat, was er nur konnte: er löste
schwierige Aufgaben, machte die Uebersetzungen für ihn. Diese rührende
und zärtliche Freundschaft dauerte ein Jahr. Darauf war Plotnikow nach
den Sommerferien auf einmal so erwachsen, und es war nichts mehr in ihm
von dem Jung-Katzen- oder Hundeartigen, das Marakulin so gereizt hatte,
ihn wie ein kleines Tier zu streicheln. Marakulin gab sich nun weniger
mit ihm ab, unterhielt sich nicht so freundlich mit ihm wie früher, fuhr
aber im übrigen fort, alles für ihn zu tun, was er nur konnte. Denn
Plotnikow wandte sich oft an ihn, wie an einen ältern, der alles weiß,
was er selbst niemals wissen könnte.

Plotnikow kam in der Schule nicht vorwärts. In der fünften Klasse blieb
er sitzen und wurde aus der Schule genommen. Er war der einzige Sohn
seiner Eltern, dazu der jüngste einer ganzen Reihe von Schwestern, und
wurde fürs Geschäft gebraucht. Das Plotnikowsche Geschäft war in der
ganzen Taganka[8], ja, in ganz Rußland bekannt. Zu jener Zeit war
Plotnikow bereits so dick und groß geworden, daß man bei seinem Anblick
sich schwer den kleinen Buben Pascha mit dem weißen Tuch vorstellen
konnte, jenen wie kuhwarme Milch frischen Pascha, den man gern
streicheln mochte, um ihn lächeln zu machen. Man hätte wohl annehmen
sollen, daß jetzt jede Beziehung zwischen den beiden Knaben aufhören
müßte, aber dem war nicht so. Plotnikow kam manchmal zu Marakulin, um
sich ein Buch zu holen: er bat stets um irgendein Buch zum Lesen, und so
schüchtern, als hätte er Angst. Marakulin gab ihm dann ein Buch, worauf
er sich längere Zeit nicht sehen ließ. Dann konnte er wieder ganz
unerwartet erscheinen, meist zu einer unpassenden Stunde, am frühen
Morgen, und oft in so erregtem Zustand, daß es den Eindruck machte, er
hätte, nachdem er am vorherigen Abend in einem Bierlokal der Taganka
angefangen, die Nacht bis zum Morgen im Restaurant „Ssaratow“ und bei
Jar durchgekneipt, sich morgens in einer Fünfkopeken-Badeanstalt
gewaschen und wäre von da aus direkt zu Marakulin gekommen, – es fehlte
nur der Birkenbesen. Es war in der Tat auch so. Schüchtern gab er das
Buch zurück, brachte ebenso schüchtern vor, daß er es nicht habe
bewältigen können und ein einfacheres haben möchte. Marakulin gab ihm
ein einfacheres Buch, und Plotnikow verschwand wieder für längere Zeit.

In den letzten Schulklassen gab es damals eine zusammengelaufene Bande,
die ungefähr das gleiche miteinander verband, was Marakulin späterhin
mit Glotow verbunden hatte. Es waren einige Tollköpfe mit einem Gefolge
von Nachahmern und sonst Burschen, die sich austoben wollten und aus
denen später die tüchtigsten Geschäftsleute und die unbedeutendsten
Kommis wurden. Mancher von ihnen ergab sich nachher dem Trunk und endete
auf der Ssiworotka. Die Mitglieder dieser Bande waren Stammgäste in
einem Bierlokal an der Taganka, auf den Moskauer Boulevards, an den
Sonntagen im Sommer auch in Kuskowo, denn die Bewohner der Taganka und
der Rogoschskaja ziehen im Sommer nach Kuskowo hinaus. Zu dieser Bande
gehörte auch Marakulin. Zuweilen schloß sich ihr auch Plotnikow an.

Plotnikow, der bis zur Besinnungslosigkeit trank, ließ sich einmal in
einem sehr leichten Anzug – noch leichter angezogene werden auf die
Wache gebracht – auf dem Taganskij-Platz in einen Kampf mit Pferden ein.
Wüst und Beschwichtigungen unzugänglich, betrunken bis zum äußersten,
konnte er die tollsten Sachen anstellen, ganz wahllos, wie es ihm gerade
einfiel, und ließ sich dabei von niemand und von nichts stören. Das war
bekannt. Nur für Marakulin machte er eine Ausnahme. In den äußersten
Fällen konnte einzig Marakulin den wilden, unantastbaren Plotnikow
beschwichtigen und sogar zur Einsicht bringen.

Pawel Plotnikow glich in der Unerschütterlichkeit und unbeschränkten
Willkür, zum eignen Spaß die tollsten Streiche auszuführen, ganz seinem
Vater Wassilij Pawlowitsch. Wassilij Pawlowitsch Plotnikow aber war in
dieser Beziehung der erste auf der Taganka, und seine „Tätigkeit“ wirkte
ansteckend: er hatte nicht wenig Nachahmer. Nur daß Wassilij
Pawlowitsch, der keine einzige, geschweige denn fünf Klassen absolviert
hatte, im Gegensatz zu seinem Sohn niemals wüst wurde und auf den
Plätzen weder mit Menschen noch mit Pferden sich in Kämpfe einließ. Er
war still und sanft; Branntwein kam nie über seine Lippen. Noch in den
letzten Jahren seines Lebens, als Wassilij Pawlowitsch schon alt war,
seine Erfindungsgabe ihn verlassen hatte und er selbst sich wohl bewußt
war, nicht mehr recht auf der Höhe zu sein, kam er auf den Gedanken, zum
Zeitvertreib die Schutzleute zum Trunk zu verführen – er wollte die
ganze Polizei buchstäblich kopfstehen machen. Und er führte diese
Absicht mit der größten Meisterschaft aus, sein Ziel mit allen Mitteln
verfolgend: konnte er es selbst nicht tun, so mußten es seine Leute auf
Befehl ausführen. Als Lockmittel diente ein Wagen, ein ganz gewöhnlicher
alter Wagen, an dem nichts Besonderes war, nicht einmal ein Wappen; denn
den Bewohnern der Taganka kommen Wappen ihrem Stande nach nicht zu. Am
Morgen setzte sich also Wassilij Pawlowitsch ans Fenster und fing einen
Schutzmann ab, der um diese Zeit zum Polizeirevier zu gehen pflegte. Der
Schutzmann wurde dann ins Haus gerufen, irgendeiner Angelegenheit wegen,
die es natürlich gar nicht gab, denn man hütete sich sonst mit der
Polizei zu tun zu haben, aber eine Kleinigkeit, die zum Vorwand dienen
konnte, gab es doch immer. Dabei schlug Wassilij Pawlowitsch dem
Schutzmann vor, sich den Wagen anzusehen, und sein Vorschlag klang mehr
wie eine Bitte. Der geschmeichelte Schutzmann folgte ihm in den
Schuppen, wo schon alles für den Spaß notwendige vorbereitet war. Der
Schutzmann wurde erst herausgelassen, wenn er sternhagelvoll nicht mehr
auf den Beinen stehen konnte. Am nächsten Tag wiederholte sich die
Geschichte und allmählich kam es so weit, daß der Schutzmann alle Würde
beiseite ließ und am Morgen von selbst in den Schuppen kam, um sich den
Wagen anzusehen. Natürlich wurde er bald aus dem Dienst entlassen, an
seine Stelle trat ein andrer, und mit diesem begann die Wagengeschichte
von neuem. Der Ruhm Wassilij Pawlowitschs ließ den Fischhändler
Barabochin nicht schlafen, und seinem Vorbilde nacheifernd verführte er
die Popen zum Trunk. Als Lockmittel diente ihm ein ganz gewöhnlicher
Fischbehälter; nicht etwa, daß sich darin irgendwelche ausgefallenen
fabelhaften ausländischen Fische mit schwer auszusprechenden Namen
befunden hätten, sondern es war ein Behälter mit ganz gewöhnlichen
Sterleten ... Der Wagen sowohl wie der Fischbehälter arbeiteten ziemlich
lange Zeit mit unerhörtem Erfolg, bis ihre Inhaber des Spaßes
überdrüssig wurden. So war Wassilij Pawlowitsch beschaffen, und er ließ
in seinem Sohne Pawel einen Erben zurück, der seiner würdig war.
Zusammen mit dem Wagen hatte Plotnikow von seinem Vater auch sonst noch
allerlei Einfälle zum Zeitvertreib geerbt und hatte dieses Pfund nicht
vergraben, sondern weiter damit gewuchert. Es mochte ihm was immer
einfallen, so beruhigte er sich nicht, bis er es ausgeführt hatte; es
fiel ihm aber manches ein, wovor einem Angst werden konnte. Aber nie
hätte er sich etwas erlaubt, das geeignet gewesen wäre, Marakulin zu
verletzen – Marakulin war eben eine Ausnahme. Und auch das wußten alle.

Dreimal hatte Plotnikow Marakulin seine warme, freundschaftliche
Teilnahme bewiesen: einmal, indem er ihn beschützte, das zweitemal,
indem er ihn einrichtete, und das dritte, indem er ihn befreite. Das
Beschützen bestand darin, daß Plotnikow Marakulin von Strakunow
befreite, indem er Strakunow vor allem Volk und unter Begleitung guter
Lehren tüchtig verprügelte. Auf der Taganka trieb sich damals nämlich
ein gewisser Ssaschka Strakunow herum, ein Durchschlüpfer: der Teufel
mochte wissen, wovon er lebte, er war eben nicht wählerisch. Es gelang
ihm, sich in die Bande, die sich in Kuskowo herumtrieb, einzuschleichen
und Marakulin zu gefallen. Gott weiß wodurch, denn Marakulin selbst
hätte nicht sagen können, was ihn an Strakunow so sehr anzog. Er stammte
wohl von Zigeunern ab und schnitt beständig Grimassen, sonst war an ihm
nichts Hervorragendes. Dieser Bursche plünderte Marakulin förmlich aus,
und alles Geld, das dieser durch Stundengeben verdiente, machte er sich
zur Beute. So ging es einen Monat lang. Als Plotnikow dies erfuhr,
zögerte er nicht lange und beschützte Marakulin.

Ferner: gleich nach Absolvierung der Schule, fast unmittelbar nach dem
Examen, kaum daß er eine Woche die Freiheit genossen hatte, trat
Marakulin bereits in das Bureau an der Kusnetzkajabrücke ein – und das
war Plotnikows Werk.

Die Sommerabende wurden damals auf den Boulevards verbracht. Einmal
lernte Marakulin bei der Donnerstagsmusik in Tschistije-Prudy ein
Mädchen namens Polja kennen. Polja, die erst in der Dämmerung auf dem
Boulevard zu erscheinen pflegte, wohnte auf der Rogoschka, in der
Bahnhofstraße. In Tschistije-Prudy war sie als Polja bekannt, aber
Dunajew, der Marakulin mit ihr bekanntgemacht hatte, nannte sie Dunja,
auch von Poljanskij wurde sie so genannt. Dunajew und Poljanskij waren
seine Schulkollegen, und da sie beide ebenfalls auf der Taganka wohnten,
gehörten sie mit zu der Bande. Bald wurde Polja auch für Marakulin zur
Dunja. Diese nähere Bekanntschaft kam nicht zustande, weil Marakulin sie
so sehr ersehnt hatte, nein, der Grund war ein ganz anderer – purer
Blödsinn. Zu Ostern nämlich hatte Marakulin Poljanskij besucht und war
in einem gewöhnlichen Gespräch über die Schulkameraden – es war kurz vor
den Schlußprüfungen – mit Poljanskij in einen Streit über Dunajew
geraten. „Du bist in Dunajew einfach verliebt,“ bemerkte Poljanskij
eigentümlich lächelnd, „er sieht wie ein junges Mädchen aus, deshalb
nimmst du ihn so in Schutz.“ Marakulin wurde ganz rot und sehr verlegen,
weil Poljanskij so lächelte und weil er selbst sich rot werden fühlte:
sollte er in der Tat Dunajew deshalb verteidigt haben, weil dieser einem
jungen Mädchen glich? – Damit fing es an. Dieser wie ein junges Mädchen
aussehende Dunajew, der auf den Boulevards zu Hause war, bot Marakulin
an, – sei es als Zeichen seines kameradschaftlichen Dankes, oder
„überhaupt so“ – in solchen Angelegenheiten spielt dieses „überhaupt so“
eine wichtige Rolle – ihn mit Polja bekanntzumachen. Marakulin, der
Poljanskijs Worte und vor allem die Art, wie er gelächelt hatte, nicht
vergessen konnte, stürzte sich auf diese Bekanntschaft: jetzt würde
Poljanskij nicht mehr so lächeln. Ein richtiger Knabenunsinn wurde so
zum Anlaß! An einem der Donnerstagabende in Tschistije-Prudy kam die
Bekanntschaft zustande. Marakulin gefiel dem Mädchen auf den ersten
Blick. Gleich in den ersten Tagen, nachdem sie ihn kennen gelernt hatte,
sprach sie es vor Dunajew und Poljanskij ganz geradezu aus. Und als sie
einmal nachts im Bahnhofgäßchen Marakulin aus ihrem Zimmer
hinunterbegleitete, lief sie flink die Treppe voraus, um die Tür
aufzuschließen, versperrte Marakulin den Weg, umarmte ihn fest – ihre
Arme wurden dabei plötzlich ganz kindlich-zart – und steckte ihm ein
Tuch, in dem die Anfangsbuchstaben seines Namens in Kreuzstich
eingestickt waren, ein seidenes, duftendes Tüchlein, in die Tasche. Es
duftete aber nicht nach dem Parfüm, das sie sonst brauchte, wenn sie in
der Dämmerung auf den Boulevard ging, sondern nach einem anderen. Seit
jener Nacht aber trieb es ihn immer mehr von ihr fort, und je mehr sich
Dunja an ihn hing, desto mehr entfernte es ihn von ihr. Gegen Ende des
Sommers wurde ihm ihre Betulichkeit und ihr Auflauern ganz unerträglich:
er konnte sich nirgends mehr vor ihr verstecken. Sie hatte sich vom
Boulevardleben zurückgezogen, putzte sich nur für ihn, parfümierte sich
für ihn mit jenem anderen Parfüm. Dies war für sie ein Opfer: denn es
ist für eine, die von der Straße lebt, ganz unmöglich, Geld für Putz
auszugeben, wenn sie nichts verdient. Und sie hätte auch jetzt noch, so
wie sie war, vorwärts kommen können, wenn sie gewollt hätte: es war
etwas Ungewöhnliches an ihr. Ihre Boulevardfreundinnen behaupteten es,
auch Dunajew und Poljanskij waren dieser Meinung. Auch Marakulin wußte
es – ihre Arme waren damals in der Nacht plötzlich so kindlich-zart
geworden – doch was sollte er tun? Ihr Tuch, das er nie aus der Tasche
nahm und das er gewiß vergessen hätte, wenn er es nicht immerzu hätte
fühlen müssen, dieses Tuch mit seinen in Kreuzstich gestickten
Anfangsbuchstaben, das kleine seidne Tüchlein, zog ihn wie etwas
Schweres hinunter, als wäre es aus Blei und nicht aus Seide, und es
blieb ihm nichts übrig, als entweder es zu verbrennen oder in den
Moskaufluß zu werfen. Er warf es in die Moskau. – Es war Ende August, an
einem der letzten Kuskowschen Feste: die Bewohner der Taganka und der
Rogoschskaja waren im Begriff heimzukehren, – es war der letzte
Sonntagabend, kalt und klar gestirnt. Das Theater war bereits aus und
der Bahnhof voller Menschen. Auf dem Perron spazierte Dunja. Da trat
Marakulin auf sie zu und überschüttete sie mit der ganzen in ihm
aufgesammelten, lange zurückgehaltenen und jetzt plötzlich aufkochenden
Wut, ohne eine Erwiderung abzuwarten, ohne ihr nur Zeit zum Erwidern zu
lassen. Auf einmal brach er ab und ließ sie stehen. Er glaubte jetzt
alles ausgerichtet zu haben: jetzt war er sie los, war er mit ihr
fertig. Und mehr wollte er ja nicht! Zu Dunja gesellte sich darauf
Poljanskij und ging mit ihr auf dem Perron auf und ab. Als sie an
Marakulin vorbeikamen, flüsterte Poljanskij ihm etwas zu, aber so leise,
daß er die Worte nicht verstehen konnte, nur das Lächeln bemerkte er,
das gleiche Lächeln, wie damals zu Ostern. Als dann Marakulin die beiden
von ferne – am anderen Ende des Perrons – wieder erblickte, empfand er
einen brennenden Vorwurf. Je näher sie kamen, desto brennender wurde der
Vorwurf und die Scham in ihm. Und als sie wieder ganz nah an ihm
vorüberging – er stand ganz allein und für sich – und er sie von
Angesicht zu Angesicht sah – da konnte er dies brennende Gefühl des
Vorwurfs und der Scham nicht mehr ertragen: er warf sich ihr zu Füßen
und verneigte sich tief bis zur Erde. Da geschah lautlos offenbar etwas
Unheimliches: denn die Menge stob plötzlich nach allen Richtungen
auseinander. In dem Moment nämlich, da sich Marakulin verneigte, fuhr
der Zug ein, der Bahnhof erdröhnte, der Wind pfiff, – und als er sich
erhob, sah er, daß ein Polizist, vielleicht war es auch ein
Polizeileutnant, Dunja beim Arm fortschleppte. Marakulin begann zu
zittern, begriff nichts, und einzig das scharfe Pfeifen des Windes in
den Ohren, versetzte er dem Polizeileutnant einen Schlag. Es war aber
so, daß der Reviervorsteher Dunja gar nicht arretieren wollte, vielmehr
konnte er sie gerade noch zurückreißen, bevor der Zug sie erfaßte und
zermalmt hätte. Dies erfuhr Marakulin aber, als es schon zu spät war. Am
nächsten Abend erschien Plotnikow plötzlich im Polizeirevier auf der
Taganka, wohin Marakulin aus Kuskowo gebracht worden war, und teilte ihm
schüchtern mit: man würde ihn morgen früh freilassen. In der Tat wurde
Marakulin am nächsten Morgen ohne weitere Folgen entlassen. So hatte ihn
Plotnikow damals aus dem Gefängnis befreit. Das war auch Marakulins
letztes Zusammentreffen mit ihm gewesen.

Alle diese Moskauer Erlebnisse stiegen bis ins kleinste in seiner
Erinnerung auf und ließen Marakulin die ganze Nacht nicht schlafen. Erst
ganz nah vor Moskau schlummerte er ein und hatte einen seltsamen Traum.

Er träumte, Pawel Plotnikow trete zu ihm und spreche schüchtern:

– Das beste, rationellste und psychologischste für dein Leben wäre, dir
den Kopf abzuschneiden.

Marakulin aber antwortete:

– Wie soll ich dann ohne Kopf leben, es ist ja schrecklich ohne Kopf!

– Was ist aber zu machen! – erwiderte Plotnikow und redete ihm zu: es
würde gar nicht weh tun und ihm höchstens seltsam und sonderbar
vorkommen. Und obwohl er ihm auf seine Art schüchtern zuredete, so ließ
er doch keinen Widerspruch gelten.

– Nun, so schneide ab! – willigte Marakulin ein.

Da nahm Plotnikow ein Rasiermesser und machte sich ans Abschneiden. Es
tat wirklich nicht weh, und bald hing der Kopf nur noch wie an einem
Faden nach hinten.

– Noch eine kleine entscheidende Bewegung und der Kopf ist abgeschnitten
– sagte Plotnikow und arbeitete mit dem Rasiermesser.

Und der Kopf fällt zu Boden.

Aber auch ohne Kopf sieht Marakulin alles: er sieht, wie der Kopf
herunterfällt, auf dem Fußboden rollt und verschwindet, und gleichzeitig
schießt aus dem Hals das Blut in einem großen Strahl in die Höhe bis zur
Decke – dickes, kirschrotes Blut. Der ganze Boden ist überflutet, und
auch er ist ganz mit Blut bedeckt. Dann wird die kirschrote Blutfontäne
schwächer, immer schwächer, und bald spritzt das Blut nicht mehr, es
versiegt, und nur ein kleines Bächlein rinnt über die Weste zu Boden.
Marakulin tritt zum Spiegel: seltsam und sonderbar kommt er sich ohne
Kopf vor, – es ragt nur noch der blutige Hals.

– Wie soll ich nun ohne Kopf leben? – Er spuckte aus und erwachte.

Der Traum war ahnungsvoll: seltsam und sonderbar war auch, was dann
geschah.

Bei Plotnikow wurde Marakulin schon erwartet. Der alte Arbeiter Fomitsch
führte ihn gleich zu seinem Herrn ins Arbeitszimmer. Das Zimmer war in
zwei Hälften geteilt. In der einen Abteilung befanden sich Kopien nach
Nesterowschen Heiligenbildern, in der anderen zwei Käfige mit Affen.
Zwischen dem heiligen Rußland und den Affen saß Plotnikow vom Delirium
des Säufers übermannt. Er war ganz mit Honig beschmiert und von der
quälenden Trauer eines Einsiedlers umdüstert. Auf dem Tisch standen
geleerte Flaschen herum, ebenso unter dem heiligen Rußland und vor dem
Affenkäfig.

Er habe keinen Kopf mehr, klagte Plotnikow, sein Mund sei ihm im Rücken,
die Augen in den Schultern. In den Weihnachtstagen habe er sich auf den
Honig gestürzt und ihn samt den Waben verzehrt. Er habe zuviel davon
gegessen und infolgedessen hätten sich Bienen in ihm eingenistet, ein
ganzer Bienenstock. Jetzt sei er ein Bienenstock und fürchte sich sehr,
– Alle seien ja auf das Süße so erpicht – er fürchte, daß man alle seine
Bienen umbringen, den Bienenstock zerstören und ihn auffressen würde! Im
Sommer aber, sobald die erste Fliege auftauchen werde, wolle er sich mit
der Ausbeutung der Fliege als einer motorischen Kraft befassen. Er werde
ganz Rußland in Abteilungen einteilen, mit je einem Fliegenstatthalter
in jeder Provinz. Die Statthalter, mit der Vollmacht von
Generalgouverneuren ausgerüstet, werden die Fliegenlese überwachen und
sie in automatischer Packung in ganz besonders gepanzerten Automobilen
von allen Ecken Rußlands gradewegs nach Moskau, nach der Taganka
befördern. Die russische Fliege werde den Dampf und die Elektrizität
besiegen, Rußland werde England und Amerika zu Staub zermalmen. Er habe
keinen Kopf, sein Mund sei im Rücken, die Augen in den Schultern. Er sei
ein Bienenstock. Die russische Sprache verstehe er nicht und könne auch
nicht Russisch sprechen.

– Ich brauche deinen Elephanten nicht! – schrie Plotnikow, indem er
Marakulin mit seinen betrunkenen Augen von oben bis unten hochmütig
ansah, und schimpfte in so echt russischen Wendungen, ließ solche Blasen
steigen, daß ihm vor der Klangfülle und Kernigkeit der Muttersprache die
Augen aus den Höhlen traten.

Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland und den Affen und begriff
nichts: weder das von dem sonderbaren russischen Fliegenmotor, noch vom
Bienenstock und Elephanten, und es war ihm seltsam und sonderbar zumute.
Sein Schweigen aber begann Plotnikow offenbar zu reizen. Er war nicht
mehr in dem reuig-traurigen Zustand eines Einsiedlers, sondern er
schnaubte.

Die russische Sprache verstehe er nicht und Russisch könne er nicht
sprechen. Mit Hilfe der arktischen Flotte werde Rußland, nachdem es
Europa zermalmt, über Lappland zum Pol ziehen und nicht bloß den Pol
erobern, wo die Fische mit angebratenen Schwänzen leben, sondern alles,
was sich hinter dem Pol befindet, den unbekannten Wohnsitz von Gog und
Magog – und dieses unbekannte Gog und Magog werde Landia genannt werden,
das heißt: das Land. Von dort aus, von dieser hinterpolaren Landia aus,
werde Rußland, das heißt er, Pawel Plotnikow, die unentgeltliche,
allrussische Fliegenkraft als Motor benutzend, die Erdkugel automatisch
regieren und sie nach Gutdünken bald rechts, bald links rotieren lassen,
sie bald aufhalten und bald wieder in Bewegung setzen.

– Du Schuft! – rief Plotnikow plötzlich, – deine Elephanten sind
zerdrückt, ich sage dir, ich kaufe keine zerdrückten Elephanten!

Er ergriff eine Flasche vom Tisch, erhob sich, rot, zerzaust, mit Honig
beschmiert, den Mund wie einen Rachen weit aufgesperrt und holte zielend
mit der Flasche aus.

Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland und den Affen. Er begriff
nichts, weder das von der arktischen Flotte, noch von Gog und Magog,
noch von der Landia und vom Rotierenlassen der Erdkugel nach Belieben, –
und es war ihm seltsam und sonderbar zumute.

Plötzlich aber glitt die Flasche fast schüchtern zu Boden, und ein
rasender tierischer Schrei, erschütternder als jeder Hilferuf, ertönte
so gewaltig, daß die Wände fast barsten, das heilige Rußland zu wanken
begann und die Affen in ihren Käfigen zurückscheuten. Es stöhnte in den
Winkeln des Raumes und dröhnte durchs ganze Haus:

Plotnikow, der sich in seiner bösen Trinkerperiode befand, ohne Kopf,
mit dem Mund auf dem Rücken und den Augen in den Schultern, Plotnikow,
der Bienenstock, der kein Wort Russisch verstand und nicht Russisch
sprach – hatte Marakulin plötzlich erkannt.

– Petruscha, Schuft aller Schufte! – schrie er. Er blieb stecken, drehte
den Kopf wie einen Rüssel, stampfte vor Marakulin hin und her und
spreizte die behaarten Hände wie Fangarme; dabei rüttelte und schüttelte
es ihn, wie ein arktisches Panzerschiff: – Petruschka, du Schuft! –

Er wankte zum Sofa, schlug mit seinem bepanzerten, Gog und Magog
ähnlichen urtümlichen Plotnikowschen Körper auf den Boden zwischen dem
heiligen Rußland und den Affen hin und begann wie ein Bienenstock zu
dröhnen.

Zwei junge Männer, die an der Tür Wache hielten, faßten Marakulin unter
die Arme und trugen ihn wie eine kostbare Truhe aus dem Arbeitszimmer in
den Salon. Ihm entgegen kam auf einen Stock gestützt eine magere alte
Frau, die Mutter Plotnikows, Eudokia Andrejewna in eigener Person.

– Du hast ihn gesund gemacht! – Die Alte konnte vor Erregung kaum
sprechen, und nachdem sie auf altrussische Art ein großes Kreuz
geschlagen, ließ sie den Stock fallen und verneigte sich vor Marakulin
tief bis zur Erde. Einige dunkelgekleidete alte Frauen stürzten aus den
Ecken hinzu, um ihr zu helfen, aber sie wollte nicht aufstehen. Erst
Marakulin gelang es, die Alte zu beruhigen.

Achtundvierzig Stunden schlief Plotnikow, wie ein Bienenstock dröhnend.
Es herrschte eine Stille, als wäre außer ihm, außer dem Bienenstock
keine lebendige Seele im Hause. Diese ganzen zwei Tage ließ man
Marakulin nicht aus dem Hause: er wurde gepflegt, gefüttert, aber seine
Tür wurde verschlossen gehalten.

Man unterhielt sich über den unseligen Pascha[9], über sein Unglück: er
habe sich mit Honig beschmiert und seitdem aufgehört, die Menschen zu
erkennen, selbst seine Mutter hielt er für einen gehörnten Elephanten,
für ein zerdrücktes Tier, und habe Fomitsch befohlen, sie zu erschießen.
Er habe dann in seinem unglückseligen Delirium jammervoll nach Marakulin
gerufen, so jammervoll, wie eine Katze, der man die Jungen entrissen.

– Da erinnerte ich mich – erzählte Eudokia Andrejewna, – daß Pascha, als
er anfing, sich ans Geschäft zu gewöhnen, oftmals ein Buch mitbrachte.
Bei Petruscha, bei Peter Alexejewitsch war er, hieß es, und habe das
Glück mitgebracht. Er glaubt an dich von Kindheit an. Und so dachte ich:
der einzige Retter vor seiner grausamen Krankheit und vor seinem Unglück
kannst du nur ihm sein. Wir baten den Priester von Woskressenje[10], den
Vater Ssemjon, ihn mit Weihwasser zu besprengen, er ließ ihn aber nicht
an sich heran und nannte ihn ein zerdrücktes Tier. Dann wollten wir ihn
nach Chapilowka zum Bruder Iwanuschka bringen, er wollte aber nichts
hören. Dem Arzt Nikolai Fjodrowitsch sei es gedankt. Er hat uns auf den
Gedanken gebracht, dich kommen zu lassen. Du, Lieber, hast ihn geheilt!
– und die Alte bekreuzigte sich auf altrussische Art mit einem großen
Kreuz und verneigte sich tief.

– Durch die Einwirkung des Unreinen, – wie eine grimmige Bestie! –
flüsterten die dunklen Alten in den Ecken.

Und Eudokia Andrejewna schlug Kreuze und verneigte sich tief.

Am dritten Tag erwachte Plotnikow, fuhr, als wäre nichts vorgefallen, in
die Stadt und kehrte erst am Abend wohlbehalten wieder heim. Am Abend
schleifte er Marakulin mit sich ins Wirtshaus zu Lawrow.

Sie saßen wieder wie einst im linken Saal in einer Ecke, und wie einst
spielte der Musikautomat. Plotnikow kramte Erinnerungen aus:
Erinnerungen an die Schule, an die Lehrer, an Tschistije-Prudy und
Kuskowo. Er erinnerte sich sogar an eine besondre Lawrowsche Suppe, die
Marakulin damals so gern gegessen haben sollte. Der Musikautomat machte
traurig: doch nicht daß man Lust bekam, das Vergangene zurückzurufen –
die Vergangenheit lag ja hier vor einem wie auf der flachen Hand –
sondern es war unverständlich, wozu es einmal gewesen war, es sei denn
dazu, daß man sich einmal daran erinnerte. Und in die geheimsten Winkel
seines Lebens hineinschauend, erkannte Marakulin, daß es sich eigentlich
in nichts verändert hatte, daß er damals bei der besondren Lawrowschen
Suppe dasselbe gedacht und gefühlt hatte wie jetzt, nur unklar und nicht
ausgesprochen, mit einem flüchtigen, zufälligen Aufflackern von
Klarheit. Uebrigens, verändern sich denn die Menschen überhaupt? –

Sie saßen wie einst im linken Saal in einer Ecke, und wie einst spielte
der Musikautomat.

– Mit deinem Arkadij Pawlowitsch – sagte Plotnikow, – mit dem
Reviervorsteher, – du hast ihn damals sehr zu Unrecht gekränkt,
Petruscha – habe ich da ... – Plotnikow zeigte in die Richtung der
Separés und schlug sich seufzend auf die Tasche, – Fünfhundert Rubel
verlangte er für den Vergleich, und alles wegen deiner Fenja ...

– Dunja – verbesserte Marakulin.

– Dunja, Fenja, einerlei, – komm mit zu Arkadij Pawlowitsch, Freund, er
wird sich sehr freuen! Er hat, weißt du, für den Moskauer Aufstand ein
Kreuz bekommen, wirklich, und ist auf die Twerskaja versetzt worden – er
wird sich sehr freuen! Und weißt du was noch, Petruscha – Plotnikow
neigte sich zu ihm und sprach ganz leise – ich glaube an dich, wie an
den lieben Gott, und wenn in den Geschäften etwas nicht glatt geht, so
brauche ich nur an dich zu denken, deinen Namen laut auszusprechen, und
sieh, alles geht nach Wunsch. Ich denke darum, wenn mein Ende einst naht
und ich sterben muß, dann werde ich dich rufen, du wirst kommen und
meinen Tod aufhalten. Ich werde wie eine grindige Katze miauen, du aber
wirst mich wieder zum Menschen machen. So denke ich von dir, Petruscha!

Sie saßen wie einst im linken Saal, und wie einst spielte der
Musikautomat.

Doch sonderbar: während Plotnikow sich an alles von früher her
erinnerte, selbst an die besondre Lawrowsche Suppe, die Marakulin gern
gegessen haben sollte, und während er seinen Glauben an ihn bekannte,
war er gar nicht neugierig und fragte auch nicht mit einem Wort, wie es
Marakulin jetzt gehe; und noch sonderbarer war dies, daß Plotnikow, ohne
die Augen von Marakulin abzuwenden, einen ganz anderen zu sehen schien,
nicht Marakulin, sondern Gott weiß wen! Vielleicht sah er in der Tat in
ihm jemand, den man nicht nach seinen Angelegenheiten ausfragen kann.
Man fragt doch die Iwerskaja Mutter Gottes[11] nicht nach ihren
Geschäften! – Und es war Marakulin sonderbar und seltsam zumute.

Noch einen Tag blieb Marakulin bei Plotnikow. Plotnikow führte ihn nach
der Iljinka in den Speicher, dann in das Twersche Polizeirevier zu
Arkadij Pawlowitsch; er war zu Plotnikows großem Bedauern nicht
anwesend. Abends brachte er Marakulin zur Bahn. Und beim Abschied
wiederholte er, daß er an ihn wie an den lieben Gott glaube, und wenn er
einst im Sterben ihn erblicken werde, so werde er sich vom Krankenlager
erheben, wie eine grindige Katze miauen und sich wieder in einen
Menschen verwandeln.

Erst nachts unterwegs fragte sich Marakulin plötzlich, ob er seinen
Aufenthalt in Moskau nicht geträumt hätte.

Das Alles war so sonderbar und seltsam: daß Plotnikow an ihn wie an den
lieben Gott glaubte, daß er sich nach der Iljinka in den Speicher
schleifen ließ, ja sogar zum Reviervorsteher Arkadij Pawlowitsch, – aber
nach Kalitnikowo auf den Friedhof zu gehen, hatte er vergessen. Und er
hätte doch unbedingt hingehen müssen, einen Augenblick am Grabe seiner
Eltern verweilen, es nur ansehen, – nur ansehen und Abschied nehmen!

Und ein Gefühl von Gram überflutete ihn.




                            Sechstes Kapitel


Den ganzen Tag von Morgen bis zum Abend lief Wera Nikolajewna herum, um
zu massieren, die Abende verbrachte sie über ihren Lehrbüchern: sie
bereitete sich zum Abiturientenexamen vor, weil sie um jeden Preis in
das medizinische Institut eintreten wollte. Wera Nikolajewna wurde von
Anna Stepanowna unterrichtet, deren Angelegenheiten im Lednjowschen
Mustergymnasium übrigens nicht zum besten standen.

Die Vorsteherin Lednjowa zahlte ihr vorläufig mit Aussicht auf die
geheimnisvollen Equipierungsgelder den Gehalt aus eigener Tasche, und
sie begleitete diesen üppigen Vorschuß jedesmal mit ihren beliebten
Erörterungen über gute Taten, über den Verfall der Moral überhaupt und
über ihre eigene Opferwilligkeit – man denke: in ihrem eignen Gymnasium
gab sie den Unterricht umsonst! –

Nach Anna Stepanownas Erzählungen war in diesem Gymnasium die Hölle los.
Es herrschte ein musterhafter Wirrwarr in dem musterhaften Gymnasium.
Nicht weil da etwa lauter ungezogene Kinder beisammen gewesen wären,
nicht an ihrer Ausgelassenheit lag es, sondern weil man die Schülerinnen
als Einnahmequellen warm halten mußte, und diese Behandlung von den
Kindern ganz richtig eingeschätzt wurde. Natürlich wurden nie Verweise
erteilt, und die Noten mußten so ausfallen, daß die Eltern nicht auf den
Gedanken kommen sollten, ihre Töchter in eine andre Schule zu geben. Die
Lednjowa gab selbst Unterricht und liebte es auch, den Stunden andrer
beizuwohnen und durch allerlei Fragen ihre unbezahlten Lehrer zu
kontrollieren. Es wurde überhaupt nach keinem Programm unterrichtet,
auch nicht nach den Lehrbüchern, die das Unterrichtsministerium
begutachtet und bestimmt. So zum Beispiel waren in der großen
französischen Revolution nicht etwa Robespierre und Marat die Führer,
wie man gewöhnlich lehrt – was bedeutet auch so ein Robespierre oder
Marat! – der Hauptführer war Hugo Capet, der für sein Verbrechen gegen
König Louis zugrunde ging.

Der musterhafte Wirrwarr im musterhaften Gymnasium wurde durch eine
musterhafte Enge und Kälte vervollständigt. Es herrschte darin eine
echte Januarkälte. Die Oefen wurden niemals geheizt, und zwar nicht nur
nicht in den Klassenzimmern – denn so verlangt es das letzte Wort der
Hygiene –, sondern auch nicht im Lehrerzimmer. Es ist wahr, daß die
Kinder nicht sehr darunter litten: sie tanzten, sprangen, tobten herum,
und das Gymnasium war ein wahres Sodom an Lärm. Für die Lehrer war es
weniger bequem, daran teilzunehmen: leise kann man nicht Lärm machen und
laut schickt es sich nicht. Auf alle Vorstellungen hatte die Lednjowa
nur eine Antwort:

– Was fällt Ihnen ein? Sie sollten sich erst das Karrassewsche
Gymnasium, oder das Spaßesche ansehen, dort ist es wirklich kalt!

Diese Antwort der Lednjowa versetzte Anna Stepanowna aus Petersburg in
ihr Purchowez zurück und erinnerte sie an den Inspektor der
Volksschulen, an den berühmten Obraßzow.

Dieser berühmte Mann aber war nicht mehr und nicht minder als der
leibliche Bruder der Vorsteherin Lednjowa.

Rakow, der Historiker, sprach mit großem Respekt von ihm. Nach Rakow,
wäre Obraßzows Name, hätte dieser in der „antiken Geschichte“ gelebt,
unbedingt unter den berühmten Aussprüchen im Tempel zu Delphi
eingegraben worden, und sein Kopf hätte den Giebel des athenischen
Parthenon geschmückt. Und Rakow, der Historiker, irrte sich nie.

Als einmal ein Lehrer sich bei Obraßzow beklagte, daß es in der Schule
naß und kalt sei, nur sechs Grad, da lautete Obraßzows, einer Lednjowa
würdige Antwort folgendermaßen:

– Ich bitte Sie, sechs Grad, das ist ja doch ein wahrer Segen. Im
Pokidoschenschen Gouvernement aber, da kam ich einmal, als ich noch
Inspektor dort war, in eine Schule: die Kinder saßen in Schafpelzen, der
Lehrer im Pelz und in Gummischuhen. Ich sitze ein Weilchen da, bin ganz
durchfroren. Ich will eine Notiz über meinen Besuch machen, doch die
Tinte ist eingefroren. Der Lehrer blies in das Tintenfaß, blies und
wärmte es, es nützte aber nichts, und ich mußte ohne Notiz abreisen.
Eine solche Kälte war da! Bei Ihnen aber ist ein wahrer Segen! – Und als
ein andrer Lehrer sich einmal über die Enge in der Schule beklagte, da
blieb ihm Obraßzow auch die Antwort nicht schuldig:

– Ich bitte Sie – rief er, – Sie haben keine Ahnung von wirklicher Enge.
Im Pokidoschenschen Gouvernement, da kam ich einmal, als ich dort noch
Inspektor war, in eine Pfarrschule: es war auch zugleich das Armenhaus.
Im selben Zimmer die Betten der Armenhäuslerinnen, eine Gans schnattert
in einem Korb auf den Eiern, ein Kalb blökt, und gleich daneben die
Kinderchen auf fünf Bänken, – kein Platz, um auch nur einen Schritt zu
machen, und die Luft so, daß mir der Atem verging. So eng ist es
manchmal, hier aber ist ein wahrer Segen! – Dem Lehrer aber, der von
einer Masse Frösche meldete, die sogar unter die Bettdecke krochen, gab
Obraßzow einen wahrhaft delphischen Verweis, der es gebieterisch
verlangt, Purchowez oder Pokidosch in Rakows Geschichte des Altertums
aufzunehmen.

– Es kann hier von einer Masse gar nicht die Rede sein – rief Obraßzow –
ein Dutzend höchstens hüpft da herum, gleich kommen Sie und nennen das
eine Masse! Sie haben eben nie eine Masse gesehen! Im Pokidoschenschen
Gouvernement, da kam ich einmal, als ich noch Inspektor dort war, in
eine Schule, da wimmelte es an der Decke buchstäblich von Schwaben. Wenn
man die Tür zuschlug, da regneten sie nur so herunter! Das nenne ich
eine Masse. Als ich nach Hause kam und mich auszukleiden begann, da
wimmelten die Schwaben nur so auf mir herum. Meine Frau bekam Angst und
stieß mich sofort in den Frost hinaus, und ich mußte mich draußen
ausziehen. Aber bei Ihnen hier ist ja ein wahrer Segen!

Ja, Rakow der Historiker hatte recht, wie immer.

Doch wenn man den Namen des berühmten Purchowezschen Inspektors unter
den berühmten Aussprüchen im Tempel von Delphi hätte eingraben müssen,
so müßte man die Vorsteherin Lednjowa, welche die große Kunst besaß,
keinen Heller aus ihrer eigenen Tasche auszugeben und die nicht nur ihre
ausgehungerten Lehrer, sondern sogar das Ministerium naszuführen
verstand, – noch großartiger ehren!

Der Winter ging zur Neige. Zugleich mit dem Schnee schmolz der große
schwarze Berg auf dem belgischen Hof zusammen. Der Frühling kam, Ostern
kam.

Freudlos wurde das Osterfest empfangen, so wie das Weihnachtsfest
freudlos vergangen war. Wassilij Alexandrowitsch der Clown hatte das
Krankenhaus verlassen. Seine Ferse war geheilt, dennoch war seine Kunst
unwiderruflich verloren. An der Ferse war etwas nicht richtig, er hatte
gleichsam keine Ferse mehr: er konnte nur bis zur Ecke der Gorochowaja
gehen, bis zum Zeitungsausträger und zurück, nicht weiter. Wera
Nikolajewna riet der Arzt, statt das Abiturientenexamen zu machen, keine
Zeit zu verlieren und nach Abas-Tuman[12] zu reisen: an ihrer Lunge war
etwas sehr nicht in Ordnung – es war etwas wie ein Geräusch oder ein
Zischen. Anna Stepanowna fiel bei der musterhaften Lednjowschen Ordnung
einfach um vor Müdigkeit – und lächelte. Sie lächelte stets ihr krankes,
erschreckendes Lächeln.

Zu Ostern ereignete sich auf dem Burkowschen Hof alles, was jahraus,
jahrein an den hohen Feiertagen sich zu ereignen pflegte, seitdem das
Haus an der Fontanka stand: Unfälle, Begebenheiten, Skandale,
Schlägereien, Prügeleien, Hilferufe, Polizeiwache – doch alles in sehr
gesteigertem Maße und viel lauter als gewöhnlich.

Bei der Hebamme Lebedjowa ereignete sich wieder ein Diebstahl, diesmal
aber wurde ihr kein Pelzmantel gestohlen, sondern zweiunddreißig Rubel,
die sie sich für einen neuen Pelz zusammengespart hatte. Das Geld lag in
einem Strumpf in einer geschlossenen Kommode; der Strumpf fand sich,
doch das Geld war spurlos verschwunden, als wäre es im Ofen verbrannt
worden. Man beschuldigte wieder den Portier Nikanor, er hätte nicht
genügend aufgepaßt, doch wie sollte er aufpassen: den ganzen Tag ist er
auf den Beinen und bei Nacht das Geklingel, und so das ganze Jahr
hindurch! Natürlich war es ein schlauer Dieb, einer von den Hausgenossen
– aber es war nichts zu machen. Der Bäcker Jarigin aus der Burkowschen
Bäckerei legte sich, nachdem er den ganzen ersten Feiertag gesoffen
hatte, abends auf ein Brett schlafen, das über dem Backtrog lag. In der
Nacht hatte er sich wohl ungeschickt umgedreht und fiel in den Teig. Im
Laufe der Nacht hat es ihn eingesaugt, und als man es am Morgen gewahr
wurde, da war es zu spät, nur die Beine ragten noch aus dem Teig. Ein
guter Bäcker war der Jarigin! Stanislaus der Kontorist und Kasimir der
Monteur wollten sich amüsieren und machten zum Spaß Jerkin den
Paßaufseher betrunken. Jerkin aber, der sein Neujahrsgelübde, nicht zu
trinken, das er dem Bruder im Hafen abgelegt, bis nun streng befolgt
hatte, wurde infolge der strengen Enthaltsamkeit nach einem Glas
Pfefferbranntwein toll und begann zu raufen. Das geschah am hellichten
Tage im Hof, während in den „Winkeln“ die Mädchen in den schwarzen
Kopftüchern und die Nonnen, die Almosensammlerinnen in Schaftstiefeln,
für Gorbatschow „Christ ist auferstanden“ sangen. Kasimir entkam,
Stanislaus aber fiel herein: Jerkin nahm ihn auf die Arme, warf ihn zu
Boden, preßte ihn, drückte ihn mit dem Knie und biß ihm die Nase ab. Der
rote Hund des Gouverneurs, der gerade auf dem Hofe war, fraß Stanislaus’
Nase auf. Burkow selbst, der ehemalige Gouverneur, der Selbstvertilger,
vergaß am ersten Ostertag, als er aus einer vornehmen Gesellschaft nach
Hause fuhr, ein Osterei im Wagen, und als er am anderen Morgen den
Verlust bemerkte, meldete er es der Polizei und forderte die
Feststellung des Kutschers, der sich dies offenbar außergewöhnliche Ei
angeeignet hatte; – was man in allen Petersburger Zeitungen am dritten
Tag lesen konnte. Ebenfalls am dritten Tag verurteilten die Kinder im
Hof, Kriegsrecht spielend, Wanjuschka, den Sohn des Portiers Nikanor zur
Todesstrafe durch den Strang und vollzogen das Urteil: sie schleppten
den Knaben in die Wagenremise und hingen ihn vermittelst einer
Pferdeleine auf. Kaum, daß man ihn wieder ins Leben rufen konnte: es war
ein schwächlicher Bub. Er war schon ganz blau und wäre beinahe erstickt.
Schließlich beging das Ehepaar Oschurkow ganz unerwartet Selbstmord.
Niemand im Hof konnte begreifen, weshalb sie es getan hatten. Sie hatten
ja eine Wohnung von zehn Zimmern, alle zehn Zimmer voll von Nippes, und
ein Aquarium mit Goldfischchen. „Es war eine feine Gesellschaft!“
wiederholten die Dienstmädchen einstimmig, jene Köchinnen und
Hausmädchen, die wegen eben dieser Nippes nie lange bei Oschurkows
aushalten konnten.

Kurz nach Ostern, in der Thomaswoche, kam einmal Sergej Alexandrowitsch,
der mit dem Theater einen Vertrag über eine Gastspielreise ins Ausland
geschlossen hatte, zu Marakulin zum Tee. Es kamen auch Wera Nikolajewna
und Anna Stepanowna, und auch Wassilij Alexandrowitsch der Clown, auf
ein Stöckchen gestützt. Es war die Rede von der Damaskinschen
Gastspielreise ins Ausland; Sergej Alexandrowitsch sah in ihr fast so
etwas wie Rußlands Rettung. Er meinte: Rußland, das unter all den
Rakows, Lestschows, Obraßzows, Lednjowas, Burkows, Gorbatschows und
Kabakows erstickte, dieses Rußland werde sich zum erstenmal mit seiner
Kunst der Stadt der großen Männer, dem Herzen Europas – Paris, zeigen
und es besiegen.

– In der Tat, – rief Sergej Alexandrowitsch, indem er sich wie auf dem
Theater reckte, – laßt uns doch alle hinfahren! Alle müssen wir ins
Ausland, wenn auch nur für einen Monat, für eine Woche, gleichviel, nur
um einen Blick zu tun, und um uns von dieser ganzen Burkowerei zu
erholen. Auch du, Wassilij, auch dich schleppen wir mit! Und auch Sie,
Wera Nikolajewna, denken Sie nicht mehr an Ihr Abas-Tuman!

– Wo nehmen wir das Geld zur Reise? fragte Anna Stepanowna und lächelte.

– Wie? wieso Geld?

– Wie kommen wir ins Ausland? – bemerkte Wera Nikolajewna.

– Du hast dich verstiegen, Bruder, mit deinem Paris, meine ich!

– Ich werde das Geld schaffen – rief Marakulin, der sich plötzlich an
Plotnikow erinnerte, – ich werde uns tausend Rubel verschaffen! –
Marakulin sagte es so fest und überzeugt, daß es alle mit Glauben
erfüllte, und man sprach nicht mehr vom Gelde.

So wurde der Beschluß gefaßt: Alle reisen ins Ausland, nach der Stadt
der großen Männer, ins Herz Europas – nach Paris. Sie bekamen ganz heiße
Köpfe und schmiedeten allerlei Pläne. Die Einzelheiten dieser Pläne
wurden mit solcher Begeisterung und mit solchem Glauben ausgemalt, als
wäre in der Tat Rußlands Rettung, – ihre Rettung mit dieser Reise
verbunden, und sie brauchten bloß die Grenze zu überschreiten, damit die
Rettung sich vollziehe.

Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren Platz auf Erden finden, ihre
Seele wird sich aufrichten, und sie wird anders lächeln können. Dort, in
Paris wird Wera Nikolajewna sich erholen und ihr Abiturientenexamen
machen. Dort, in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch wieder das Trapez
besteigen und seine Künste zeigen können. Dort, in Paris wird, während
Sergej Alexandrowitsch tanzend das Herz Europas besiegt, auch Marakulin
seine verlorene Freude wiederfinden.

Man müßte Werotschka finden – dachte Marakulin plötzlich, und er sagte:
wir müssen auch Werotschka mitnehmen, damit sie dort in Paris zu sich
kommt. Entweder sie wird dort eine große Schauspielerin und rächt sich
so an Anissim Wakujew, oder noch besser: mag dort Ruhe über sie kommen
und der Friede Gottes, daß die Rache in ihr still wird, und sie verzeiht
ihm.

Als er dies sagte, waren alle einverstanden, daß man auch Werotschka
mitnehmen müsse. – Ich bin Werotschka begegnet – erzählte Wera
Nikolajewna, – Sie waren damals in Moskau. Ich gehe einmal abends durch
die Gorochowaja nach Hause, da kommt sie mir entgegengelaufen. Es war
kalt, der Sturm pfiff, und sie lief in einem Sommerjäckchen herum, ein
weißes Tuch um den Kopf. „Werotschka!“ rufe ich. Sie blieb stehen, sah
mich an, aber so sonderbar. Sie zitterte am ganzen Leibe. „Werotschka,“
sage ich, „kommen Sie Tee trinken, kommen Sie zu uns Tee trinken!“ Sie
aber richtet ihr Kopftuch, zittert am ganzen Leibe und schüttelt den
Kopf. Es war auf der Ssemjonowschen Brücke, – eine furchtbare Kälte, der
Sturm pfiff ...

Noch am selben Abend wurde der Brief an Plotnikow geschrieben, und am
nächsten Morgen eingeschrieben nach Moskau abgeschickt. Marakulin
glaubte so fest, daß das Geld kommen würde, er glaubte so fest an die
tausend Rubel von Plotnikow, wie Plotnikow selbst an Marakulin glaubte.

Inzwischen begab sich Adonja Iwoilowna auf ihre Pilgerfahrt. Sie zog
nach Jerusalem, wo der Weihrauch nie verduftet und wo die Kerzen
brennen, die nie verlöschen. Dort wird sie im Jordanfluß baden und sich
mit Wermut abtrocknen, damit all ihr Gram wie Tannenrinde von ihr
abfalle, all ihr Kummer und ihre Tränen. Dann wird sie Paraschas Schiffe
verstehen, und die Erde am Grabe ihres Mannes auf dem Smolenskischen
Kirchhof wird nicht mehr abbröckeln.

An den Abenden war Akumowna frei und legte Karten. Sie zeigten für jeden
eine große Veränderung an und einen Weg, und für Marakulin außerdem noch
Gras und Tannen, wie damals vor seiner Reise nach Moskau, nur daß die
Tannen jetzt nicht mehr am Rande, sondern ganz nahe bei ihm lagen. Bei
Wera Nikolajewna lagen sie am Rande.

– Ein fröhlicher Weg! – flüsterte Akumowna.

– Wir fahren nach Paris, Akumowna, ins Herz Europas!

– Wollen wir nicht auch Akumowna mitnehmen? Ist Akumowna einverstanden,
mit uns nach Paris zu gehen? – fragte Sergej Alexandrowitsch zwinkernd.

– Gewiß. Ich komme mit. Neun Jahre habe ich keine Luft geatmet. Da werde
ich aufatmen.

Akumowna ließ sich nicht lange bitten, denn sie wäre bereit gewesen,
Sergej Alexandrowitsch nicht nur nach Paris, sondern sogar bis ans Ende
der Welt zu Fuß zu folgen.

– Ausgezeichnet! Wir lassen also die Sklavin Kusjmowna hier, um die
Wohnung zu hüten, und adieu Rußland! Man muß alles von sich abschütteln!
– Und vor Ueberschwang der Gefühle und Hoffnungen auf den Erfolg
Rußlands, oder auf seinen eigenen Sieg im Herzen Europas, begann Sergej
Alexandrowitsch mit den Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den Flügeln.

– Man soll dann schon auch Weruschka mitnehmen. Die wird hier zugrunde
gehen, die Unverschämte! – sprach Akumowna, an ihre Wera denkend, die
auf dem Burkowschen Hof längst zugrunde gegangen war.

– Auch deine Weruschka nehmen wir mit, Alle werden wir im Auslande sein!

Akumowna legte liebevoll Karten für Sergej Alexandrowitsch.

– Unser Priester in Turij-Rog – erinnerte sich Akumowna plötzlich, – er
war ein guter Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij! Vor seinem Tode
erhob er sich und fragte: „Sind die Pferde bereit?“ – „Was für Pferde,
ehrwürdiger Vater?“ – „Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet mich
zur Hochzeit ins Ausland!“ sagte er und starb.

– Ein Pope stirbt wie ein Pope! – sagte Sergej Alexandrowitsch lächelnd
und verfolgte weiter die Karten.

Marakulin aber fühlte plötzlich, wie es in seinem Innern zuckte, als
würde etwas in ihm brechen, doch die Hoffnung rüttelte und richtete ihn
wieder auf. Alle seine Hoffnungen waren jetzt auf Plotnikow gerichtet,
und er konnte an nichts andres denken. Die Hoffnungen waren Mächte.

Der Mai kam. Auf dem belgischen Hof erhoben sich die weißen Zelte,
Ziegelsteine und Sand wurden angefahren, und die Instandsetzung des
Hauses begann. Abends erklang schluchzend die Balalaika, – von dieser
armseligen nichtrussischen Habe gab es viel auf dem Burkowschen Hof –
und aus den Fenstern reckten sich die während des Winters zerzausten,
ausgehungerten Köpfe, in der Hoffnung, sich in der Maisonne etwas zu
erwärmen.

Von Plotnikow aber kam noch immer keine Antwort. In Marakulins Herz
schlich sich eine unheimliche Unruhe; er fürchtete, es sich selbst zu
gestehen und sprach zu niemand davon. Die Antwort wird kommen, sie muß
kommen! Sie müssen und sie werden im Ausland sein, in der Stadt der
großen Männer, im Herzen Europas, in Paris!

Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren Platz auf Erden finden, ihre
Seele wird sich aufrichten, und sie wird anders lächeln können; dort, in
Paris wird Wera Nikolajewna sich erholen und ihr Abiturientenexamen
machen; dort in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch wieder das Trapez
besteigen und seine Künste zeigen, und dort in Paris wird auch
Marakulin, während Sergej Alexandrowitsch im Tanz das Herz Europas
besiegen wird, seine verlorene Freude wiederfinden. Er wird Werotschka
finden, und in Paris wird Werotschka eine große Schauspielerin werden,
Gottes Friede wird über sie kommen. Dort, in Paris wird von Akumowna,
die als rollender Stein bis nach Paris gelangt sein wird, der väterliche
Fluch weichen, sie wird Luft atmen, die sie neun Jahre nicht geatmet
hat, und sie wird es nicht mehr nötig haben, bis zum Kaiser
vorzudringen, oder Aufguß von Pferdemist zu trinken. Dort, in Paris wird
ihre Wera nicht zugrunde gehen, die auf dem Burkowschen Hof schon längst
zugrunde gegangen war.

Der Glaube besiegte jeden Zweifel, zerstreute durch seine Kraft und
Festigkeit jedwede Unruhe. Marakulin glaubte an die Plotnikowschen
Tausend, wie Plotnikow an ihn selbst. Eine Woche nur blieb noch bis zu
Sergej Alexandrowitschs Abreise ins Ausland. Es wurde beschlossen, daß
er mit seinem Theater vorausfahren und von dort, aus Paris, schreiben
sollte. Inzwischen wird das Geld angekommen sein, und dann wird fast der
ganze Burkowsche Hof von der Fontanka geradeaus nach Paris aufbrechen.

Doch diese Woche, voll von Unruhe, Erwartung und Schwanken zwischen
Glaube und Zweifel, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, bestimmte
von selbst alles auf ihre Weise.

Im Gymnasium bei Anna Stepanowna waren die Prüfungen vorüber, und
offenbar waren jetzt endlich die geheimnisvollen Equipierungs-,
Wohnungs- oder Reisegelder – jeder nannte sie anders – angekommen. Und
da diese Gelder dort nur einmal ausgezahlt wurden, wurde Anna Stepanowna
natürlich von der Lednjowa gekündigt. Für Anna Stepanowna, meinte die
Vorsteherin, sei es zu schwer am Gymnasium, sie sei auch nicht ganz ohne
Tadel, sie trage zum Beispiel eine halsfreie Bluse, das schicke sich
nicht; auch lächle sie so eigentümlich, – dieses Lächeln mache Seine
Ehrwürden, den Religionslehrer Aristowulow verwirrt, das schicke sich
auch nicht; man könnte ja sagen: im Lednjowschen Mustergymnasium werde
Seine Hochwürden durch eine Lehrerin verdorben, und das wäre schon ganz
fatal! – Mit einem Wort: wenn der Mensch die Absicht hat, zu irgendeinem
ihm notwendig erscheinenden Zwecke einen anderen zu beschmutzen, so gibt
er sich Mühe, – dazu ist er ja ein Mensch. Selbstverständlich ertranken
die halsfreie Bluse und der Priester Aristowulow, der von Anna
Stepanowna verdorben wurde, in den beliebten Betrachtungen der Lednjowa
über gute Taten überhaupt, über den Verfall der Moral und über die
Sittenverderbnis, über die junge Sache, die man fördern und über die
Opfer, die man ihr bringen müsse: sie, die Lednjowa selbst, gebe in
ihrem eigenen Gymnasium Unterricht umsonst, außerdem ernähre sie zwanzig
Lehrer! Ganz Petersburg kenne sie sehr gut, sie, die Vorsteherin
Lednjowa, und die Generalin Cholmogorowa selbst sei ihre Freundin.

So einfach war das Ende bei Anna Stepanowna, sehr einfach. Und sie ging
lächelnd – mit jenem Lächeln, das in der Seele weh tat – ihren Weg, der
sie von Leschtschow zu der Lednjowa führte, und von der Lednjowa zur
Petrowa, zu irgendeiner Seelenschwester der Lednjowa führen wird, bis
sie endlich aufhören wird zu lächeln.

Endlich kam die so lange, so ungeduldig, so viel erwartete Antwort von
Plotnikow: Plotnikow ließ Marakulin durch die Bank fünfundzwanzig Rubel
anweisen. So reiste denn Sergej Alexandrowitsch allein mit dem Theater
ins Ausland, nach Paris, um mit der russischen Kunst das Herz Europas zu
besiegen. Vor der Abreise mietete er eine Sommerwohnung in Finnland und
überredete Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna zusammen mit Wassilij
Alexandrowitsch, der noch immer sorgsamer Pflege bedurfte, und damit er
sich ohne Ferse und mit seinem Stöckchen nicht zu sehr langweilte,
hinauszuziehen. Mit der Sklavin Kusjmowna an der Spitze zogen sie also
statt nach Paris nach Tur-Kilja: Wera Nikolajewna, Anna Stepanowna und
Wassilij Alexandrowitsch, der Clown. Nur Marakulin und Akumowna blieben
zurück, um auf dem Burkowschen Hof zu übersommern.

– Ich werde zum Kaiser gehen: die Hände so, wie im Sterben, und werde
alles sagen. Ich werde zum Kaiser gehen, nackt, splitternackt; die Hände
so, wie im Sterben, und werde ihm alles erzählen.

Aber Marakulin erwiderte Akumowna nichts mehr, nicht einmal mit ihren
eigenen Worten, die ihr Wahlspruch, ihr Sterbegebet – die Sühne und der
Lohn für alle Taten waren: Man darf niemand beschuldigen! – Alles war in
ihm still und taub geworden.

                   *       *       *       *       *

Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen
und in der Welt er selbst zu sein, der andere muß töten, um durch den
Mord seine Seele zu finden und wenigstens als er selbst zu sterben.
Marakulin aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht an
die Person, der sie zukam –, um seine Seele zu erschließen und in der
Welt nicht ein beliebiger Marakulin zu sein, sondern als dieser Peter
Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen.

Aber er ertrug es nicht, dieses Leben für nichts: nur sehen, nur hören,
nur fühlen, und flehte um Ruhe. Da erfand er die Generalin – die
unsterbliche, sünden- und schmerzenlose Laus, erdachte er ihr
königliches Recht, in der Hoffnung, dadurch seine verlorene große Freude
wiederzugewinnen. Schon begannen auf seinem glatten, geraden,
hoffnungslosen Weg, wo der letzte Schatten, die letzte Spur der Hoffnung
sich verlor, jene leisen und wie die Raupen haftenden, bösen, dunklen
Mächte der herannahenden Verzweiflung zu arbeiten, das feste Mark und
die Wurzel seines Lebens anzunagen und ihn vom Leben abzulösen.

Vom Morgen bis zum Abend lief Marakulin in Petersburg herum, jagte von
einem Ende zum anderen, von Schlagbaum zu Schlagbaum, von Viertel zu
Viertel, – er lief herum wie eine Maus in der Falle. In seiner Tasche
lag der neue Plotnikowsche Schein, die fünfundzwanzig Rubel, wie einst
Dunjas neues seidenes Taschentuch mit den in Kreuzstich eingestickten
Anfangsbuchstaben seines Namens, und er vergaß den Schein wie er einst
Dunjas seidenes parfümiertes Tuch vergessen hatte.

Und dennoch, welch zähes Leben steckt doch im Menschen! Hin- und
hergeworfen, geschlagen läuft er wie ein geschlachteter Hahn auch ohne
Kopf herum, als wollte er auch ohne Kopf nach Körnern suchen, und bläht
sich noch auf! Marakulin fand nämlich eine Beschäftigung, er fand etwas,
um sich Luft zu machen; er machte eine Entdeckung, die in ihrer
Tragweite dem betrunkenen Plotnikowschen Projekt, die Fliege als Motor
auszubeuten, wahrlich in nichts nachstand:

Man braucht bloß auf die Straße hinauszugehen, um ganz unabhängig vom
eigenen Willen unter die Herrschaft eines besonderen Gesetzes der Straße
zu geraten, und deine Art aufzutreten und deine Haltung hängt nicht mehr
von dir ab, sondern von der Welle oder vom Strom, in den du geraten
bist. Gerätst du in die eine Welle, dann ist dir so, als machten sich
alle über dich lustig, als schnitten dir alle Grimassen, die Frauen
kichern, die Männer schieben ihre Lippen vor und spitzen sie wie zum
Pfeifen. Da kommt eine andre Welle herangerollt, und das Bild ist
plötzlich verändert: die Männer haben bestialische, düstre, drohende
Gesichter, man begegnet selten einer Frau, und wenn eine vorübergeht, so
ist sie ganz allein; sie geht und lacht, sieht niemand, als wäre sie
blind, und lacht zu sich selbst. Wieder eine neue breite Welle: – lauter
Frauen – und es ist einem, als gäbe es keine böseren Augen, kein böseres
Lächeln; sie betrachten einander, sie stechen mit den Augen und lächeln,
als wollten sie mit ihrem Lächeln einander verbrühen, die bösen Weiber.
Da rollt noch eine Welle heran: Menschen, gewöhnliche Menschen, – sie
gehen dicht zusammen gedrängt und sind munter. Aber man sieht keine
Kinder unter ihnen, nur ausgemergelte, verkrüppelte Zwerge mit schlaff
wie Peitschen herabhängenden Armen und riesengroßen, nach vorn gebeugten
Köpfen. Und so noch viele verschiedene Wellen. Es gibt auch
zurückflutende Wellen. Gerätst du da hinein, so treibt es dich vom
großen Strom ab, und alles jagt an einem vorbei: alte Männer, Kinder,
alte Frauen, Straßenbahnwagen und Automobile.

Als Marakulin diese Entdeckung gemacht hatte, stürzte er sich auf sie
mit der gleichen Hartnäckigkeit, wie einst über den Bericht an den
Direktor. Er war ja jetzt eigentlich wie tot, man hatte ihn ja bereits
begraben. Er erinnerte sich an die Worte, die der Kassierer Alexander
Iwanowitsch Glotow damals im Theater zu ihm gesprochen hatte: „Und wir
haben dich schon längst begraben, weißt du, Petruscha!“ Ja, seit langem
hatte man ihn begraben, und er konnte wie ein Toter, wie eine Leiche,
wie einer aus dem Jenseits leicht, unauffällig und unparteiisch die
Diesseitigen, die Lebenden beobachten. Und jetzt wollte er seine
Entdeckung überprüfen.

Doch wozu sie prüfen, was für einen Sinn das haben sollte, wer diese
Entdeckung brauchte, welchem Toten, welcher Leiche, welchem Gespenst aus
dem Jenseits, oder welchem Lebenden zum Spaß oder zu Nutzen sie dienen
sollte? – das fragte er sich nicht, das ging ihn nichts an; – in ihm war
alles stumm und taub geworden – es war eben zwecklos und nichts mehr als
das Sichaufblähen des geköpften Hahns.

Doch auch darin irrte er sich. Er hatte keine Zeit mehr zum Prüfen.

Eines Nachts, als er auf dem Newsky ging, traf Marakulin Werotschka. Es
war so: an dem Wartturm des Magistrates wurde Razzia gemacht, und wie
immer in solchen Fällen, liefen auf dem Newsky etwa hundert sinnlos
herausgeputzte Weiber herum, die sich auf die Passanten stürzten und sie
anflehten, sie ein kleines Stückchen zu begleiten. Unter diesen Weibern
fiel ihm eine auf, die ebenso besinnungslos wie die anderen, vom
Bürgersteig auf den Damm und vom Damm auf den Bürgersteig sprang. Sie
war ganz schwarz gekleidet. Als sie am Schutzmann glücklich vorüber war,
lief sie zur Anitschkowschen Brücke. In dieser einsamen Dunklen – alles
war schwarz an ihr: das Kleid, der Hut, die Handschuhe – erkannte er
Werotschka. Da erinnerte er sich an den neuen Plotnikowschen
Fünfundzwanzigrubelschein, befühlte ihn in der Tasche – er war jetzt
kein Bettler mehr – und stürzte ihr nach. Aber an der Anitschkowschen
Brücke mischte sich Werotschka unter die Menge und verschwand ihm aus
den Augen.

– Werotschka! – rief er, indem er sich bald nach der Fontanka und bald
nach dem Newsky umsah, – Werotschka! – und etwas Schwarzes, Kaltes wand
sich wie eine Schlange um sein Herz.

Am nächsten Morgen war das erste, was in ihm als Gedanke und Entschluß
erwachte, der feste Vorsatz, schon am frühen Abend auf den Newsky zu
gehen und Werotschka aufzulauern. Den ganzen Tag blieb er zu Hause. Es
war Donnerstag vor Pfingsten, und Akumowna hatte heute vor, besonders
ausgiebig Karten zu legen: nach ihr war das ein günstiger Tag zum
Wahrsagen, auch Träume in dieser Nacht geträumt, sollten die Wahrheit
künden.

Auf den Burkowschen Hof kamen wandernde Musikanten: eine Harmonika und
ein Tamburin.

Die Harmonika spielte ein Handwerker, wohl irgendein Schlosser oder
Wasserleitungsarbeiter, ein großgewachsener dunkler Mann, das Tamburin
schlug ein kleines Mädchen in einer Matrosenbluse und Matrosenmütze; sie
war etwa zwölf Jahre alt, man konnte es genau nicht feststellen. Das
kleine Mädchen hatte nur ein Bein. Sie stützte sich auf einen Stock und
hielt das Tamburin auf dem gebogenen Knie.

Das kleine Mädchen sang zur Harmonika.

Sie sang ein Lied, wie es in Fabriken gesungen wird, mit fremden Versen
durcheinandergemengt, wie: „Ich werde auf den Grund des Meeres tauchen,
ich werde fliehen zu den Wolken hinan,“ sie sang aus Zigeunerliedern von
Troikas und von feurigen Augen und gefühlvollen Tränlein. Plötzlich
brach auch eine uralte Weise durch. Sie sprach rein und deutlich aus, so
daß man jedes Wort verstehen konnte. Aber nicht am Wort lag es. Mit
einem vollen tiefen Alt sang das kleine Mädchen und schlug das Tamburin
dazu. Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres war
das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.

Die Musikanten wurden von den Kindern umringt; sie ließen ihre wilden
Spiele und ihre wilden Arbeiten, sie standen still herum und wandten
kein Auge ab von dem einbeinigen kleinen Mädchen, wie einst von der
Katze Murka, die sich vor Schmerz auf den Steinen gewälzt hatte. Und das
Mädchen sang. Der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt – er hielt
sich stets in der Nähe der Kinder auf – der schwarze Perser hockte sich
ebenfalls hin und rollte seine Augäpfel. Und das Mädchen sang. Mit einem
vollen tiefen Alt sang das kleine Mädchen und schlug das Tamburin im
Takt zu. Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres war
das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.

Die Kinder rückten immer näher zu dem einbeinigen Mädchen, als wollten
sie es nicht von sich lassen. Nun verdeckten sie es ganz, so daß man es
nicht mehr sehen konnte, und es schien, es singe die Erde und die
Steppe, das Meer – die Weite und Unermeßlichkeit, das Herz der Erde. Und
man fürchtete, daß das Lied bald zu Ende sein und das Mädchen zu singen
aufhören und fortgehen würde. Man wollte nicht, daß sie fortgehe.

Aber der Gesang war zu Ende. Es spielte nur noch die Harmonika allein.
Das kleine Mädchen humpelte, auf den Stock gestützt, über den Kies und
schien sich mit dem hingehaltenen Tamburin im Hof zu drehen und sah ohne
Lächeln mit ihrem offenen, reinen Gesicht nach oben zu den Fenstern
hinauf, wie die Katze Murka zu den Fenstern hinaufgesehen hatte, als sie
sich vor Schmerz auf den Steinen wälzte.

Akumowna begann so seltsam kindlich und bitter zu weinen, sicher weil
sie an ihren Fluch: „Wie ein rollender Stein um die weite Welt“ dachte.

Marakulin stürzte auf die Straße und holte die Musikanten, die schon vor
dem Tor waren, ein.

– Wie heißt du, kleines Mädchen? – fragte er, ihre Hand berührend.

– Marja – antwortete das Mädchen, indem sie, ohne zu lächeln, ihm ihr
offenes, reines Gesicht zuwandte.

Auch der Harmonikaspieler blieb stehen, zog seine Mütze. Es war wohl der
Vater. Er war von dunkler Farbe und rauh.

Marakulin nahm Plotnikows neuen zerknüllten Schein, steckte ihn dem
kleinen Mädchen in die Hand und ging fort, ohne sich umzusehen. Und als
wollte es ihn einholen, so strömte das breite Lied. Von der Weite der
Steppe und von der Unermeßlichkeit des Meeres war das Lied getränkt. Und
das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.

Er ging seinen glatten, geraden Weg nach dem Newsky. Schon sank die
Nacht herab. Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka warten. Die
ganze Nacht wird er auf sie lauern. Und er wird sich nicht irren. Es war
ja eine weiße Nacht – die weiße Nacht trügt nicht.

Die weiße Nacht trügt nicht: ein Mädchen ganz in Schwarz stieß ihn an
und lief, das Kleid raffend, in der Richtung der Anitschkowbrücke. Alles
an ihr war dunkel, das Kleid, der Hut, die Handschuhe – er erkannte
Werotschka und stürzte ihr nach. Aber an der Anitschkowbrücke mischte
sich Werotschka unter andere Frauen – sie war nicht allein in Schwarz.

– Werotschka, Werotschka! – rief er, jeder Dunklen in die Augen
schauend. Es waren aber ihrer nicht zwei, nicht drei, es waren ihrer
eine ganze Menge. Und alle wichen ihm aus, sammelten sich und schlichen
wieder an ihn heran, leise und unmerklich, dunkel und still. Und etwas
Dunkles und Kaltes umwand wie eine Schlange sein Herz.

Und nachts, in der Donnerstagnacht vor Pfingsten, träumte Marakulin, als
säße er am Tisch beim Samowar in einem großen vollgestellten Zimmer, und
alles war hingeworfen und zerstreut, wie nach einer Vorbereitung zur
Reise, und lauter unbekannte Menschen waren im Zimmer, alle so müde und
niedergeschlagen. Und neben ihm saß – er wurde es mit Ekel gewahr – eine
stülpnasige Frau mit großen Zähnen und nackt, und mit ihr noch jemand in
dunklen Kleidern. Sie beugten sich über dem Gerümpel und ordneten die
Lumpen. Verdrossen nahm er ein Glas und zielte nach dem leeren, nackten
Schädel.

Sie aber, die stülpnasige Nackte mit den großen Zähnen, erhob sich und
wandte sich zur Tür.

– Am Sabbat – sie klapperte mit den Zähnen und lachte – vergiß nicht,
Akumowna ein Pfund zu geben – sie klapperte mit den Zähnen und lachte, –
und die Mutter wird in Weiß sein – sie lachte und zeigte ihre großen
Zähne.

– Was für ein Pfund? Graupen etwa? – begann er erbittert zu streiten,
als stritte er um sein letztes Recht, sich keinem Termin, keinem Sabbat
zu fügen – ach was, red’ keine Dummheiten! oder ein Pfund Sterling, ja?

– Am Sabbat – lachte die stülpnasige Nackte mit den großen Zähnen, und
schon klapperte sie, ohne sich umzusehen, die Steintreppe hinunter auf
den Hof.

Im Hof aber – es war ja Burkows Hof – strömten alle Einwohner aus allen
Wohnungen, aus dem Seitenflügel und aus den Gorbatschowschen Winkeln
zusammen: alle sieben Hausmeister – der erste Hausmeister Michail
Pawlowitsch und Antonina Ignatjewna, seine Gemahlin, der Paßaufseher
Jerkin, Stanislaus der Kontorist mit der abgebissenen Nase, und Kasimir
der Monteur, der Portier Nikanor und Wanjuschka, Nikanors Bub, den die
kleinen Kinder zum Tode durch den Strang verurteilt hatten, und die
kleinen Kinder, die ihn verurteilt hatten, und der Perser, der Masseur
aus der Badeanstalt, und das kleine Mädchen, das einst Murka Milch
gebracht hatte, und die Schuster, Bäcker, Bademeister, Friseure,
Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine Schwester aus dem Obuchowschen
Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirmmacher,
Bürstenmacher, Wasserleitungsschlosser, Setzer und allerlei Mechaniker
und elektrische Arbeiter mir ihren Familien, allerlei „Fräulein“ von der
Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmädchen, Mädchen aus der
Teestube, und elegante junge Leute aus den Badeanstalten, die die
Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, und die Alte, die an der
Badeanstalt Sonnenblumensamen und allerlei Kram feilbietet,
stellungslose Köchinnen, Maler, Tischler, fliegende Händler – mit einem
Wort: der ganze Burkowsche Hof – ganz Petersburg.

Und alle sehen nach oben zum Fenster hinauf, wie Murka hinaufgesehen
hatte, als sie vor Schmerz sich auf den Steinen wälzte, wie die
wandernde Sängerin hinaufgesehen, als sie sich im Hof auf ihrem einen
Bein herumdrehte, mit dem Tamburin in der Hand.

– Was hat sie gesagt? – fragt jemand Marakulin.

Und Marakulin steht am Fenster, wie der Starez Kabakow, der durch Gebete
die Stimme des Himmels befragt, – so steht er vor dem Volk.

– Einer von uns wird sterben! – sagt Marakulin.

Und zur Antwort flüstert der ganze Burkowsche Hof in Todesbangen:

– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s, Herr?

Und hoch oben, viel höher als die vier belgischen Ziegelschlote mit den
Blitzableitern, schweben wie grüne Vögel grüne Aeroplane und verdecken
mit ihren riesengroßen grünen Flügeln den Himmel.

– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s Herr? – flüstert der Burkowsche Hof in
Todesbangen.

Und schon geht Marakulin nach Hause, nach der Fontanka, und seltsam! er
hört, wie man in der Auferstehungskirche auf der Taganka[13] zur
Abendmesse läutet. Er geht nicht den herrschaftlichen Eingang hinauf,
sondern durch die Küche. Er macht die Tür auf, und in der Küche sitzt am
Herd eine Frau, Akumowna ähnlich, und doch nicht Akumowna, ganz in Weiß.
Er erinnert sich an die Worte der Stülpnasigen, Nackten, mit den großen
Zähnen: „Die Mutter wird ganz in Weiß sein“, und stürzt ins Zimmer.

Auch dieses Zimmer ist vollgestellt, und Sachen sind da verstreut und
hingeworfen, wie nach einer Vorbereitung zur Reise, nur sind die
Unbekannten nicht mehr da, keine Seele ist im Zimmer, nur seine Mutter
sitzt, seine Mutter allein, mit dem Kreuz auf der Stirn.

– Sie ist schon gekommen, sie sitzt hier – sagt die Mutter. Sie spricht
von jener, die in der Küche vor dem Herd ganz in Weiß sitzt, und beginnt
zu weinen.

Voll Verzweiflung und Todesbangen erwachte Marakulin. Es war Freitag.
Und von dem düsteren Gedanken getroffen, daß seine Frist der Samstag
sei, daß nur ein Tag ihm geblieben sei, wurde er eisstarr. Er wollte es
nicht glauben und glaubte es doch, und weil er glaubte, verurteilte er
sich selbst zum Tode.

Der Mensch wird geboren und ist bereits verurteilt; Alle sind von Geburt
an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil
vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn einem der Tag
gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die Frist bestimmt und der Sabbat
verkündigt ist – das geht über die Kraft, die Gott dem Menschen
verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben beschenkt, zum Tode
verurteilt und dem er die Todesstunde verheimlicht hat.

Als Marakulin an die Wahrheit seines Traumes glauben mußte, da fühlte
er, daß er es nicht aushalten würde, den Sabbat abzuwarten, und seit dem
Morgen in Verzweiflung, in Todesbangen durch die Straßen schweifend,
harrte er der Nacht. Er wollte nur eins noch: Werotschka sehen, ihr
alles erzählen und von ihr Abschied nehmen.

Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte
Schatten und die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten jene
leisen, wie Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herangenahten
Verzweiflung die letzten Fasern seiner einst so festen Lebenswurzel.

Es ward ihm schwer, sich vom Leben loszureißen.

Vielleicht aber war der Traum nur ein Traum, und in Wirklichkeit würde
etwas anderes kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? War das nicht
töricht? Wer weiß, wohin das führt! Es pflegt ja auch sonst so zu sein!
Vor dem Tode träumt man nicht nur etwas Belangloses: daß man einen
Stiefel verliert, oder sonst einen Gegenstand, oder daß man im Begriff
ist, ins Ausland zu reisen ...

Da erinnerte sich Marakulin an die geplante Auslandsreise, an seinen
paradiesischen Traum von Paris, und fuhr auf.

Er stand an einem Bretterzaun, der ganz mit Anzeigen bedeckt war, und
konnte nicht erkennen, in welcher Straße er sich befand. Ueber den
Bäumen ragte die Turmspitze des Ingenieurschlosses, als er aber längs
des Zaunes und, wie ihm schien, geradeaus in der Richtung der Turmspitze
sich in Bewegung setzte, verschwand sie plötzlich. Er wagte nicht
weiterzugeben, als harrte eben dort seiner sein Sabbat, seine letzte
Frist, seine Stunde. Er kehrte um und hatte die Spitze wieder vor sich.
Er schritt also tapfer längs des Zaunes in die entgegengesetzte
Richtung, die Spitze blieb lange vor seinen Augen, verschwand aber dann
ebenso wie das erstemal ganz plötzlich. Und er wagte nicht
weiterzugehen, als harrte eben dort seiner sein Sabbat, seine letzte
Frist, seine Stunde. Und so ging er am Zaun entlang, hin und zurück, die
Spitze des Ingenieurschlosses immer im Auge, bis zu einer Grenze, die er
sich selbst bestimmte, voll Verzweiflung und Todesbangen.

Es war das Ungemach, das ihn so führte, das Unglück jagte ihn von Straße
zu Straße, von Gäßchen zu Gäßchen, blendete ihm die Augen und verwirrte
ihn; es war sein Schicksal, dem man sich nicht widersetzen und nicht
entrinnen kann.

Das tödliche Bangen und die Last der Verzweiflung erschöpften ihn
endlich. Die letzte Frist, die Stunde waren vergessen, sein Kopf sank
herab, und die noch gehorchenden Beine brachten ihn auf den Weg. Er ging
durch die Ingeniernaja und wollte gerade die Straße zum Michailowschen
Palast überschreiten.

Da klammerte sich ein altes, zerlumptes, zusammengeschrumpftes,
triefäugiges Weiblein fest an seine Hand, damit er ihm über die Straße
helfe. Und obwohl es so klein war – nichts als ein Häuflein Knochen – so
erschien es ihm, wie es mit seinen knöchernen Fingern so fest an ihm
hing, als hätte es überhaupt keine Beine, so schwer, daß er mit Mühe die
Schienen erreichte. Und während er die Schienen überschritt, wurde die
Alte noch schwerer, und es war ein Wunder, daß er nicht unter den Wagen
geriet: der sausende, ununterbrochen klingelnde Wagen flog so hart an
ihm vorbei, daß ihm ganz heiß wurde.

Marakulin ließ die Alte stehen und begann zu laufen. Abwechselnd
flammendheiß und eiskalt lief er in der Richtung des Narva-Tores. Er
floh vor der knöchernen Alten, er floh vor seiner letzten Frist, und
gerade auf das Narva-Tor zu, unter den Bogen: dort war keine knöcherne
Alte und wird nie eine sein, dort wird er seine letzte Frist, seine
Stunde, seinen Sabbat vergessen.

Aber als er die Gorochowaja erreichte, ging er nicht die Ssadowaja
entlang, sondern bog in die Fontanka ein.

Auf der Fontanka, im Seitengäßchen, in der Nähe des Burkowschen Hauses,
wurde ein junges Mädchen – offenbar eine Revolutionärin – von der
Polizei verfolgt. Die Schutzleute hatten das Gäßchen umzingelt und man
konnte nicht passieren. Marakulin blieb stehen.

Die Jagd dauerte ziemlich lange, endlich wurde das Mädchen von einigen
Männern in Zivil, Spitzeln offenbar, dicht umringt und zu einer Droschke
geführt. Die Revolutionärin erinnerte ihn durch etwas an die
Wandersängerin von gestern, an das kleine Mädchen. Vielleicht erinnerte
ihn an Maria ihr offenes, reines Gesicht, das aber frisch und rosig war.
Sie war schlank. Die Haarnadeln waren ihr herausgefallen, der Strohhut
saß schief und das volle blonde Haar war aufgelöst. Der Reviervorsteher
setzte sich zu ihr in den Wagen und man führte sie ab.

„Maria Alexandrowna,“ – dachte Marakulin, „so ist Maria Alexandrowna,
die sich selbst zum Opfer auserkor, und bereit ist, noch einmal für die
Menschheit zu sterben!“ Er ging weiter, am Burkowschen Hof vorbei, die
Fontanka entlang.

An der Ismailowschen Brücke, drei Schritte von der Bierwirtschaft, holte
er eine Dame ein. Sie war nicht mehr jung und schon ganz grau, aber
kräftig und gesund, ging sie im gleichmäßigen Schritt, als spazierte sie
nur der Motion wegen. Als aber Marakulin sie überholen wollte, beugte
sie sich etwas vor und begann ganz unsinnig zu laufen. In diesem
Augenblick knallte aus dem Wirtshaus ein Schuß und ein zweiter,
Hilferufe ertönten – und auf dem Bürgersteig lag mit durchschossenem
Rücken, das Gesicht an die Steine gepreßt, die Dame – die gesunde,
kräftige, alte Frau, und neben ihr, noch rauchend, der versengte
Klappstuhl.

„Da hast du die Unsterbliche!“ dachte Marakulin, als er in der
Ermordeten seine unglückselige Generalin erkannte, dieses auserwählte
Gefäß, die Laus, die er mit dem königlichen Recht beschenkt hatte, in
jener grausamen Burkowschen Nacht.

Nun war ihr das königliche Recht vom blinden Zufall geraubt, und auch
der Klappstuhl hatte ihr nicht geholfen.

Von der Fontanka und den Seitengäßchen strömte eine Menschenmenge
herbei. Alle starrten mit Neugierde, mit Schrecken und mit jener
besonderen Schadenfreude, mit der lebendige Augen in tote blicken, in
das Gesicht der Toten. Sie aber, die Unsterbliche, Sündenlose,
Kummerlose, lag da unbeweglich, mit ihrem durchbohrten Rücken, hilflos,
leblos, unselig.

– Das ist eine von unseren Burkowschen, die Generalin Cholmogorowa! –
erklärte Marakulin dem herbeigeeilten Schutzmann.

Man trug die Generalin fort. Der weiße Schleier auf ihrem Hut war
aufgegangen und schleifte flatternd nach wie Spinnweb. Marakulin schritt
der Menge voraus, hinter dem Klappstuhl.

Und wieder ging er an seiner Wohnung vorbei in die Gorochowaja, und von
da weiter bis zum Admiralitätspalast und wiederholte immer wieder vor
sich ganz stumpf: „Da hast du die Unsterbliche! Da hast du
Unsterblichkeit!“

Im Alexandergarten setzte er sich erst auf eine Bank, plötzlich aber
sprang er wie gestochen auf und ging weiter. Vor dem Denkmal Peters des
Großen blieb er stehen.

– Peter Alexejewitsch – sagte er, zum Denkmal gewandt, – Eure
kaiserliche Majestät! Das russische Volk trinkt Aufguß von Pferdemist
und gewinnt das Herz Europas für anderthalb Rubel mit Gurken. Mehr habe
ich nicht zu sagen! – Er zog den Hut, grüßte und ging weiter,
den Englischen Kai entlang, über die Nikolaibrücke auf die
Wassiljewskiinsel.

Auf dem kleinen Boulevard zwischen der Siebenten und der Sechsten Linie,
hinter dem Ssredny-Prospekt versperrte ihm eine Menschenansammlung den
Weg. Die Menge stand schweigsam, ohne ein Wort zu sprechen, und es war
ungewöhnlich still. Unter einem Baum saß eine alte Frau, ihr von
schweren weißen Flechten umwickelter Kopf zitterte. Sie sah starr vor
sich hin. Nicht Tränen, sondern Blut floß ihr die Wangen herab, in
stillen Bächlein aus den demütig stillen Augen.

„Sie hat umsonst gewartet“, dachte Marakulin, „sie hat es nicht erlebt.
Sie hat das gottgefällige Werk nicht vollbracht, sie hat ihr Glück
niemand überliefert, die Unglückselige!“ – Und er verspürte plötzlich
einen schrecklichen Durst, als hätten ihn diese stillen, blutigen Tränen
versengt.

Nicht weit vom Kleinen Prospekt auf der Siebenten Linie befand sich
neben einem großen Gebäude in einem kleinen einstöckigen Häuschen eine
Schankwirtschaft. Marakulin fand noch ein letztes vergessenes
Zehnkopekenstück in der Tasche und ging hinein: der Durst quälte ihn
unerträglich.

Er setzte sich an ein schmutziges, nasses Tischchen, mit dem Gesicht zum
Fenster und nahm ganz mechanisch eine Zeitung zur Hand, nicht um zu
lesen.

– Einen Hungrigen kann man satt machen, einen Armen kann man reich
machen – er vernahm eine bekannte Stimme und bekannte Worte, – aber
sobald du verliebt bist und dein Gegenstand erweist dir keine
Gegenseitigkeit, da kannst du meinetwegen platzen, es gibt keine Hilfe!

„An Murkas Tage war es, der unruhige alte Gwosdjow, der sagte es!“
erinnerte sich Marakulin, legte die Zeitung weg und trank das lauwarme
Bier.

– Sie scherzen immer, Alexander Iwanowitsch, – – ich habe neulich eine
Maus aufgegessen, Alexander Iwanowitsch, – auf dem Hof des Athosklosters
– für fünf Rubel. Ich habe mit der heiligen Brüderschaft gewettet. „Ißt
du die Maus auf, Gwosdjow,“ sagten sie, „dann ist der Fünfer dein, wenn
nicht, mußt du uns bezahlen!“ Schön. Sie fingen gleich ein Mäuslein, im
Klosterhof gibt es viele. Es war eine graue, junge. Ich zog dem Mäuslein
die Haut ab, röstete es an den Seiten ein wenig an, wegen des
Wohlgeschmacks, zerschnitt es in Scheibchen, salzte es, sprach den Segen
und aß es auf. Und aß das Mäuslein auf. Ich nahm die fünf Rubel und
wollte mich vor Lachen ausschütten. Ich sagte: „Und ihr seid mir noch
Athonische, hehe ... fünf Rubel für ein junges Mäuslein; ich hab’ ja bei
Prokopij dem Gerechten so eine Ratte und dazu ohne Salz für einen Rubel
gegessen!“ Wenn man sich nur durchfrettet, Alexander Iwanowitsch!

Und als Antwort auf Gwosdjows Worte erklang eine gerührte Stimme:

– Euretwegen geh’ ich zugrunde, ihr lieben Aeuglein!

– Ich selbst bin auch auf Weiber lecker, Alexander Iwanowitsch!

Gleich darauf fiel etwas schwer auf den klebrigen Boden, begann zu
strampeln und bitter zu weinen, so bitter, wie nur Kinder weinen, so
bitter, wie Akumowna weinte, als sie durch Marjas Gesang an alle ihre
Erlebnisse erinnert wurde.

Nachdem er das laue Bier, das seinen Durst noch gesteigert, ausgetrunken
hatte, ging Marakulin hinaus.

Er ging seinen glatten geraden Weg auf den Newsky. Die Nacht sank
bereits herab. Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka warten. Dort
wollte er ihr die ganze Nacht auflauern. Er wird sie sehen, ihr alles
erzählen, von ihr Abschied nehmen. Und er wird sich nicht irren. Es ist
ja eine weiße Nacht – die weiße Nacht trügt nicht.

Die weiße Nacht trügt nicht: Werotschka erschien auch bald. Er erkannte
sie an ihrem schwarzen Kleide. Aber er erstarrte vor Entsetzen: alle
Frauen waren ausnahmslos in Schwarz – alles an ihnen war schwarz, die
Kleider, die Hüte, die Handschuhe. Sie wichen nicht mehr aus, sie gingen
sicher und stolz am Polizisten in der weißen Sommeruniform vorbei, sie
umsegelten den Polizisten in Weiß wie in einem altertümlichen
feierlichen Tanz, von der Snamenje-Kirche zur Admiralität und von der
Admiralität zur Snamenje-Kirche.

– Werotschka – rief er, – Werotschka! – Er sah einer jeden in die Augen,
ohne eine auszulassen, und etwas Kaltes und Dunkles ringelte sich wie
eine Schlange um sein Herz. Es war die Verzweiflung, die sich um sein
Herz ringelte.

Schon schritt der Tod auf verschlungenen Seitenpfaden seiner Schwelle
zu.

Die ganze Nacht streifte er herum, voll Verzweiflung und Todesbangen,
sah jeder Frau in die Augen, ohne auch nur eine zu übersehen, blieb
zuweilen auf der Anitschkowbrücke stehen und ließ sie Alle an sich
vorbeipassieren. Sie umsegelten ihn, wie den Schutzmann in Weiß, sie
schritten sicher und stolz, wie in einem altertümlichen feierlichen Tanz
von der Snamenje-Kirche bis zur Admiralität, und von der Admiralität bis
zur Snamenje-Kirche.

Und als die Sonne aufging und all die schwarzen Gestalten irgendwo
verschwanden und keine einzige mehr blieb – niemand war mehr auf dem
Newsky außer den Schutzleuten in Weiß – da wandte sich Marakulin durch
die Litejnaja zum finnländischen Bahnhof.

Er beschloß ganz plötzlich, – vielmehr es beschloß in ihm von selbst –
nach Tur-Kila in die Sommerfrische zu Wassilij Iwanowitsch zu fahren, zu
Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna. Sie haben ihm ja schon oft
geholfen, sie werden ihm auch jetzt helfen, sie werden ihm Milch geben,
– er hat Hunger – er ist ja nur zwölf Jahre alt! – sie werden ihm Milch
geben ...

Es war der Sonnabend vor Pfingsten und auf der Litejnaja wurden die
Pfingstbäumchen angefahren: lockige grüne Wagen zogen durch die Straße,
voll von grünen jungen Birken.

Auf dem finnländischen Bahnhof verkehrten noch keine Züge. Er mußte
warten, aber er wollte nicht auf dem Bahnhof warten. Marakulin ging erst
über die Schwellen der Schienen, aber nachdem er ein Weilchen gegangen
war, verließ er die Schienen, setzte sich an den Rand eines Grabens und
schlief ein. Er schlief so fest, wie Plotnikow die zwei Tage nach jenem
schlimmen Delirium-Anfall geschlafen hatte.

Als er erwachte, war es Abend, der Sonnabend ging zur Neige. Und wieder
jäh von dem düsteren Gedanken getroffen, daß sein Ende der Sabbat sei,
wurde er eiskalt. Er wollte an seinen Traum nicht glauben und glaubte
doch, und indem er glaubte, verurteilte er sich selbst zum Tode.

Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits verurteilt; Alle sind von
Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das
Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn der
Tag einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte Frist
bestimmt und der Sabbat verkündigt ist, – das geht über die Kraft, die
Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben
beschenkt, zum Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde verheimlicht
hat.

Der Sabbat war gekommen, der Sabbat ging zur Neige, seine letzte Frist,
seine letzte Stunde nahte.

Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte
Schatten und die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten jene
leisen, wie Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herangenahten
Verzweiflung die letzten Fasern seiner einst so festen Lebenswurzel.

Es war ihm schwer, sich vom Leben loszureißen.

Oder vielleicht war der Traum nur ein Traum und in Wirklichkeit würde
etwas anderes kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? War das nicht
töricht? Wer weiß, wohin das führte?

Warum hatte er bloß Akumowna diesen düsteren Traum nicht erzählt,
Akumowna konnte ihn vielleicht deuten, sie, die Göttliche wüßte zu
sagen, ob er wahr sei oder nicht.

Marakulin stürzte erregt zur Trambahn und stieg in einen Wagen. Da
erinnerte er sich, daß er sein letztes Zehnkopekenstück in der
Wirtschaft ausgegeben und sprang ab und lief zu Fuß nach der Fontanka,
die Elektrische fast überholend.

Er erreichte die Fontanka und das Burkowsche Haus, aber es wurde ihm
nicht leicht, in die Wohnung zu gelangen. Es schien ihm, als hätte er
mindestens eine halbe Stunde geklingelt, aber niemand öffnete und keine
Stimme ließ sich vernehmen. Er hörte zu klingeln auf und begann an die
Tür zu klopfen, aber auch auf das Klopfen erwiderte niemand. Es blieb
still in der Wohnung, nur der Wind pfiff durch die Türspalte, – offenbar
standen die Ofenklappen auf – der Wind pfiff unheimlich.

Noch einmal klingelte Marakulin, klopfte noch einmal, wartete und ging
dann in die Portierloge. Aber auch Nikanor war nicht da. Er war in
irgendeinen Kramladen gegangen; Wanjuschka aber, Nikanors Sohn, wußte
nur zu sagen: er habe Akumowna am Morgen gesehen, seitdem sei er nicht
mehr bei ihr oben gewesen; Akumowna sei zu Hause. Dabei lachte er über
irgend etwas.

Wenn sie aber zu Hause war, warum hörte sie nicht das Klopfen und
öffnete die Tür nicht? Er hatte ja mindestens eine halbe Stunde
geklingelt und nicht weniger lange geklopft. – War die Alte etwa tot?

Er ging in das Seitengäßchen, trat ins Haustor und stieg die
Hintertreppe hinauf. Aber seltsam: – während er hinaufstieg, glaubte er
plötzlich in der Auferstehungskirche auf der Taganka[14] zur Abendmesse
läuten zu hören, und sein Herz begann voll Unruhe rasch zu pochen.

Die Tür in die Küche war nicht verschlossen. Akumowna saß am Herd, ihr
Kopf war mit einem weißen Tuch umwickelt – mit einem weißen Tuch. Er
erinnerte sich an die nächtlichen Worte aus seinem Traum in der
Donnerstagnacht: „Die Mutter wird in Weiß sein.“ Vor Akumowna lagen auf
einem Tellerchen zwei Eier, das dritte aß sie grade. „Das Pfund!“ flog
es Marakulin durch den Sinn, „– das ist das Pfund!“

Akumowna lächelte nicht, und ihre Augen waren fremd und hervorquellend.
Nicht Akumowna saß am Herd, nein, nur eine, die Akumowna ähnlich sah.
Und Entsetzen übermannte Marakulin.

– Guter, gnädiger Herr! – Akumowna erhob sich plötzlich von ihrem Platz
und sprach die Worte mit einer heiseren, betrunkenen Stimme, die der
Stimme Akumownas nur von ferne glich.

Marakulins Kräfte waren zu Ende, er klammerte sich an den Türpfosten und
begann zu stöhnen.

– Lieber gnädiger Herr, Gott behüte Sie, gnädiger Herr, Peter
Alexejewitsch! Gleich bereite ich den Samowar, im Augenblick! – Jetzt
wurde sie auf ihre gewöhnliche Art geschäftig, legte das Ei fort,
ergriff den blanken Samowar und begann mit dem Blechrohr zu klappern.

Marakulin ließ sich auf Akumownas Bank nieder, konnte aber nichts sagen;
die Kehle war ihm zugeschnürt und seine Lippen bebten.

– Lieber gnädiger Herr, – Akumowna machte sich mit dem Samowar zu
schaffen, – mit mir ist was passiert, ich wäre fast gestorben, aber Gott
hat sich meiner erbarmt!

In der Tat, mit Akumowna hatte sich etwas ereignet, und wie sie dabei
heil geblieben, war das reinste Wunder – Gott hatte sich ihrer erbarmt.
Darum hatte sie weder das Klingeln noch das Klopfen gehört. Ja, es sei
noch ein Glück, daß sie Marakulin überhaupt erkennen konnte und noch so
viel Stimme hatte, um ein Wort hervorzubringen. Die Eier aber esse sie,
um wieder zu Stimme zu kommen, und wenn auch heiser, so doch sprechen zu
können und nicht wie eine Kuh zu muhen; – man könne auch das noch
erleben.

Akumowna war nämlich am Morgen auf den Boden hinaufgestiegen. Sie wollte
die Wäsche, die dort hing, abnehmen, um sie noch vor der Abendmesse zu
Pfingsten fertig zu plätten. Aber irgend jemand hatte sich wohl den Spaß
gemacht, sie dort einzuschließen. Sie hatte zu schreien begonnen und
schrie wohl ziemlich lange, aber niemand hörte sie. Es war ja kein
Mensch in den Wohnungen, da sich alle in der Sommerfrische befanden, und
keine Köchin, kein Hausmädchen hatte etwas auf dem Boden zu tun.
Akumowna wußte, daß es nutzlos war, rief aber doch. Was sollte sie wohl
anderes tun? Und wie sollte sie nicht schreien? Sollte sie auf dem Boden
bleiben – wie lange? bis zum Herbst? bis die Leute aus der Sommerfrische
zurückkehren würden? oder bis sich jener ihrer erbarmt, der sie
eingeschlossen hatte? konnte man sich darauf verlassen? Man konnte sie
ja inzwischen vergessen haben! Konnte man es wissen? Und auf dem Boden
bleiben konnte sie doch auf keinen Fall! Sie war schon ganz heiser vom
Schreien. Und so kroch sie im Dunkeln herum, um das vernagelte Fenster
zu finden: sie hatte sich erinnert, daß da ganz unten am Dach ein
Fenster war. Sie tappte um sich herum und fand schließlich eine Spalte,
fand das mit Brettern vernagelte Fenster. Sie krallte sich in ein Brett,
um es abzureißen, aber es saß zu fest, und wie sehr sie sich anstrengte,
gelang es ihr nicht, die Oeffnung zu erweitern. Die Spalte aber war so
klein, daß kaum eine Maus hätte durchschlüpfen können. Sie hing sich
daran mit aller Kraft, riß mit beiden Händen – endlich gab es nach. Gott
sei Dank, freies Licht! Sie bekreuzigte sich und stieg auf das Dach
hinaus. In der Verwirrung aber wandte sie sich nach der herrschaftlichen
Seite, nach den Kasernen zu. Sie kroch auf allen Vieren, aus Angst,
auszurutschen, und schrie. So kam sie bis zum Schornstein, richtete sich
am Schornstein auf, zog die Stiefel aus und warf sie auf die Straße. Die
Kinder aber fingen die Stiefel auf und trugen sie davon. Sie stand
barfuß, hielt sich am Schornstein fest und schrie. Und da sie dachte,
daß niemand ihr bloßes Geschrei beachten würde, so schrie sie: der
gnädige Herr sei nach Hause gekommen, klingle und sie könne nicht
öffnen. Auf der Fontanka aber ist es so laut, die Dampfpfeifen, die
Automobilhupen übertönen jedes Geschrei. Da sie barfuß nicht mehr
auszugleiten fürchtete, entfernte sie sich vom Schornstein, ging auf dem
Dach hin und her und schrie immer wieder: der gnädige Herr sei nach
Hause gekommen, klingle und sie könne nicht öffnen. Auf dem Nachbardach
arbeiteten Maler, die hörten es. „Was schreist du, Frauchen,“ riefen
sie, „spring zu uns herüber,“ und lachten. Wie aber sollte sie
hinübergelangen, wenn sie ihr keine Leiter reichten – sie hatten alle
ihre Leitern selbst nötig – sie war doch keine Katze! Aber der erste
Schreck war nun vorüber, und nachdem sie erst eine menschliche Stimme
vernommen, erholte sie sich etwas und kam auf den Gedanken, auf die
andre Seite hinüberzugehen, auf die Rückseite des Hauses, um dort an der
Regenrinne entlang in den Hof hinunterzugleiten. Denn sich an der Rinne
hinaufzuziehen, meinte Akumowna, sei schwer, die Hände könnten
ohnmächtig werden, aber hinabzugleiten sei leicht: wenn das Rohr nur
nicht aus den Händen entweicht, glitt man bequem hinab. In dieser
Erwägung begab sie sich auf die Rückseite des Hauses und geradeaus zur
Wasserrinne; – sie war nicht schwindlig. Schon hatte sie mit beiden
Händen die Bekrönung erfaßt und die Füße herabgelassen, um die Rinne zu
umklammern, da schrie Nikanor von unten: „Halt, Frauchen, kriech nicht,
ich werde dir aufmachen!“ und lachte. Sie mußte nun über das ganze Dach
zurück und sich durch das Fenster auf den Boden hinunterlassen.

– Sechs Stunden habe ich mich so gequält, lieber gnädiger Herr, bin
beinahe gestorben, aber Gott hat mich gerettet, hat sich meiner erbarmt!
– schloß Akumowna.

Inzwischen begann das Wasser im Samowar zu sieden, der rote
Jurawljowsche Sänger schnaubte und schickte sich zu seinem Abendgesang
an. Marakulin, der sich während der Erzählung Akumownas etwas erholt
hatte, ging in sein Zimmer.

Vielleicht war es möglich, daß sein düsterer Traum sich gar nicht auf
ihn, sondern auf Akumowna bezog? – Oder sollte es doch nicht möglich
sein, da man nicht für andre träumt? – Warum sollte man aber nicht auch
für andre träumen können!

Aber der Tag war noch nicht zu Ende, die Nacht kam, es kamen die letzten
Stunden; es nahte die Stunde, da es galt, Rede und Antwort zu stehen,
Rechenschaft zu geben und zu fordern.

Akumowna brachte den Samowar, aß in der Küche ihre Eier, um ihre Stimme
zu heilen, und kam wieder zu Marakulin herein, nach ihrer Gewohnheit mit
den Karten in der Hand. Marakulin aber lehnte ab: er wolle keine Karten
gelegt haben, er wolle ihr lieber seinen Traum erzählen, nur möge sie
ihm die reine Wahrheit darüber sagen.

Und er erzählte ihr ausführlich seinen düsteren Traum, alles genau
hintereinander – er erinnerte sich ganz deutlich an jede Einzelheit. Er
erzählte von der Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen, und wie
sie ihm eine Frist gesetzt hatte: den Sabbat, und von der Mutter mit dem
Kreuz auf der Stirn, und wie die Mutter geweint hatte.

– Was bedeutet dieser Traum, Akumowna?

Akumowna schwieg, lächelte und sah eigentümlich idiotisch zur Seite.

Und plötzlich wieder von dem schwarzen Gedanken getroffen, daß seine
Frist der Sabbat sei, wurde Marakulin eiskalt.

– Also ist alles wahr – dachte er, – denn warum schweigt Akumowna? –
Also ist alles wahr, und in einigen Minuten würde seine Frist vollendet
sein, seine Stunde schlagen, sein Ende?

Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits verurteilt; Alle sind von
Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das
Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn der
Tag einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte Frist
bestimmt und der Sabbat verkündigt ist, – das geht über die Kraft, die
Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben
beschenkt, zum Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde verheimlicht
hat.

– Akumowna, ist es wahr, oder nicht wahr?

– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß nichts – erwiderte Akumowna,
lächelte und sah eigentümlich idiotisch zur Seite.

Da schnarrte die Uhr in der Küche und begann langsam zu schlagen, einen
Schlag nach dem andern. Es schlug Zwölf. Der Sabbat war zu Ende, und der
Sonntag begann.

– Akumowna, hat es Zwölf geschlagen? – fragte Marakulin unsicher.

– Zwölf, gnädiger Herr, Schlag Zwölf!

– Es ist also schon Sonntag?

– Ja, Sonntag, der heilige Sonntag, gnädiger Herr. Schlafen Sie wohl,
Gott sei mit Ihnen! – Akumowna ließ den singenden Jurawljowschen Samowar
stehen und ging in die Küche schlafen.

Doch Marakulin konnte nicht schlafen. Er wartete ab, bis Akumowna ruhig
wurde, deckte den Samowar zu, dann nahm er ein Kissen, legte es aufs
Fensterbrett, wie es die Burkowschen Mieter, die in Petersburg
übersommern, machen, und lehnte sich hinaus. Nein, er wollte nicht
schlafen, die ganze Nacht nicht: der Sabbat war zu Ende, der Sonntag
hatte begonnen!

Es war leer ringsum, kein Mensch im Hof, kein Mensch in den Fenstern,
nur er allein. Und plötzlich erblickte er auf dem Kehricht- und
Ziegelhaufen, längs der Kästen und Stände, von der Müllgrube bis zum
Abgußloch und weiter bis zu den Remisen, überall junge grüne Birken
stehen. Der ganze Burkowsche Hof war mit Birken bedeckt, und die jungen
Blättchen leuchteten so grün. Er fühlte, wie seine verlorene große
Freude in ihm emporstieg und ihn überströmte: wie ein Quell schoß ihm
unter dem Herzen diese große heiße Freude hervor – und wuchs, füllte das
Herz und überflutete heiß die ganze Brust. Er sah nichts anderes mehr
als diese Birken, und unter den Birken wandelte, selbst wie eine junge
Birke schlank, seine Weruschka – Werotschka – Wera. Ihre Hände schienen
mit den Blättern verwoben, und sie wandelte von Blättchen zu Blättchen
nach der Remise zu, so leicht, als schwebte sie in der Luft, und es war,
als wenn die Erde unter ihr verschwände. Da schwang sein Herz sich auf,
überwallend, es riß ihn in die Höhe, er streckte die Arme aus – und das
Gleichgewicht verlierend, stürzte Marakulin mitsamt dem Kissen in die
Tiefe.

Und im Sturze hörte er, wie durch ein Rohr aus einem tiefen
Brunnenschacht, eine Stimme rufen:

– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist voll, die Strafe naht! –
Ah, so steht es mit uns! Lieg du nun da. – Wieder einer weniger. – Du
stehst nicht mehr auf – Dreckkopf!

Marakulin lag mit zerschmettertem Schädel in einer Blutlache auf den
Steinen des Burkowschen Hofes.


               Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt.




                                Fußnoten


[1] Ein großes Petersburger Kloster.

[2] Eine Industriestadt in Großrußland.

[3] Klon bedeutet auf russisch etwa, die Neigung sich zu beugen.

[4] Wundertätige Mönche, Heilige.

[5] Vom Weißen Meer.

[6] Berühmtes Moskauer Muttergottesbild.

[7] Populäres Physik-Lehrbuch.

[8] Ein Stadtviertel in Moskau.

[9] Diminutiv von Pawel.

[10] Kirche an der Taganka in Moskau.

[11] Ein berühmtes Muttergottesbild in Moskau.

[12] Ort in der Krim.

[13] In Moskau.

[14] In Moskau.


                     Anmerkungen zur Transkription

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 102]:
   ... Geschenk, und er schenkte er ihr dagegen hundert ...
   ... Geschenk, und er schenkte ihr dagegen hundert ...

   [S. 200]:
   ... den Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...
   ... dem Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...

   [S. 254]:
   ... beklagte, daß in der Schule naß und kalt ...
   ... beklagte, daß es in der Schule naß und kalt ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SCHWESTERN IM KREUZ ***


    

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