Title: Sämtliche Werke 18: Aus einem Totenhause
Author: Fyodor Dostoyevsky
Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov
Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky
Editor: Arthur Moeller van den Bruck
Translator: E. K. Rahsin
Release date: June 15, 2025 [eBook #76303]
Language: German
Original publication: Muenchen: Piper, 1908
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
Dmitri Philossophoff und anderen
herausgegeben von Moeller van den Bruck
Übertragen von E. K. Rahsin
Zweite Abteilung: Achtzehnter Band
F. M. Dostojewski
München und Leipzig R. Piper & Co. Verlag
R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1917
Copyright 1917 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München und Leipzig
Druck von Mänicke u. Jahn, Rudolstadt.
Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten von Moeller van den Bruck | VII | ||
Vorwort | XV | ||
Alexander Petrowitsch Goräntschikoff | 1 | ||
Erster Teil | 11 | ||
1. | Kap. | Das Totenhaus | 13 |
2. | „ | Die ersten Eindrücke | 40 |
3. | „ | Die ersten Eindrücke, Fortsetzung | 71 |
4. | „ | Die ersten Eindrücke, Fortsetzung | 99 |
5. | „ | Der erste Monat | 129 |
6. | „ | Der erste Monat, Fortsetzung | 156 |
7. | „ | Neue Bekanntschaften. Petroff | 181 |
8. | „ | Entschlossene Menschen. Lutschka | 205 |
9. | „ | Issai Fomitsch. Das Bad. Die Erzählung Bakluschins | 218 |
10. | „ | Das Weihnachtsfest | 248 |
11. | „ | Die Theateraufführung | 276 |
Zweiter Teil | 313 | ||
1. | Kap. | Das Lazarett | 315 |
2. | „ | Das Lazarett, Fortsetzung | 342 |
3. | „ | Das Lazarett, Fortsetzung | 368 |
4. | „ | Der Mann der Akulka. Eine Erzählung | 399 |
5. | „ | Die Sommerzeit | 418 |
6. | „ | Die Tiere unseres Ostrogg | 448 |
7. | „ | Der Streik | 471 |
8. | „ | Die Kameraden | 502 |
9. | „ | Die Flucht | 528 |
10. | „ | Die Entlassung aus dem Ostrogg | 553 |
Die Geschichte ist im Grunde eine einzige Aufeinanderfolge neuer Völkermöglichkeiten. Die Erde ist den Menschen gegeben, aber die Menschen, die Völkerbildungen, sind der Erde aufgegeben. Rassen schieben sich auf ihr durcheinander und erzeugen neue Rassen, Nationen prallen aneinander, tauchen hoch und verschwinden. Und erst dadurch, daß diese Rassen und Nationen sich äußern in Kulturen, ändert sich der Anblick der Erde. Mit dem Entstehen von Kulturen brechen Landschaften auf zu ihrer höchsten Blüte, und mit ihrem Untergange zerfallen sie in Sand und Öde. So kann man die Geschichte der Erde an ihren Völkern erkennen. Und wenn man von einem Lande, das noch nicht in die Geschichte eingetreten, doch gleichwohl vorhanden ist, voraussagen soll, ob es eine Zukunft haben wird, und welche Zukunft, so kann man die Antwort bereits herauslesen aus der Art seiner Bevölkerung. Klima, Fauna, Flora, oder was ein Volk sonst an Eigentümlichkeiten in einem Lande vorfindet, sind ihm immer nur Mittel zu seiner Kultur. Das Volk selbst dagegen ist die seelische Macht, die diesen Zweck nicht nur erreicht, sondern auch ursprünglich schafft. Und seine Zukunft kann stets nur die Vergrößerung seiner angeborenen Volksart sein, und ihre Übertragung und Anwendung auf die allgemein geschichtlichen Vorgänge und Zufälle, die es im Wandel der Entwicklung kreuzen wird. Natürlich kann es sich dabei nicht um die genaue Vorausbestimmung einzelner Daten handeln, sondern nur um die einer bestimmten Haltung, die das Volk in allen Wechselfällen einnehmen wird. Seine Art zu fühlen, zu denken, zu handeln kündigt sich früh schon an und ist dann bis zu einem gewissen Grade nicht nur unverlierbar, sondern auch bestimmend für alle Zukunft. Und ebenso scheint die Art seiner großen Männer, seiner Helden und Genies, bereits vorgebildet zu sein, nicht dem Namen und dem Geburtstag, wohl aber der Seele nach. In dem Sinne dieser Zusammenhänge sind dann die ersten aufgezeichneten Äußerungen, die wir aus einem jungen Volke heraus haben, oder mehr noch, von einem bereits höher stehenden Standpunkte aus über das Volk, so ungemein bezeichnend. Man kann ohne weiteres sagen, daß Tacitus in der „Germania“ bereits den Charakter nicht nur der Germanen überhaupt, sondern gerade auch der Deutschgermanen, im Gegensatze zu den Europagermanen der Völkerwanderung, ein- für allemal festgelegt hat. Doch ist das immerhin eine Feststellung, die wir heute, auf dem Wege des Rückschlusses, von einer Gegenwart und Wirklichkeit gewordenen Zukunft aus auf die Vergangenheit vornehmen. Einen Einblick in einen werdenden Rassecharakter dagegen können wir haben, wenn wir sehen, wie die Art der jüngsten Rasse, der Yankees, schon in den ersten Aufzeichnungen über sie, etwa im „Leben“ Franklins, mit einer unbedingten Formung, und man könnte hier wirklich sagen Vorformung, sich typisch aufbaut. Und gar in die Zukunft können wir schauen, in das Wachstum eines Volkes hinein, von dem heute kaum mehr schon vorhanden ist, als die anthropologischen Bestandteile, wenn wir Dostojewskis „Aufzeichnungen“ aus seiner sibirischen Zeit unter dem Gesichtswinkel lesen, daß auch Sibirien einmal eine Kultur haben wird, und daß das Volk, das sie zu schaffen berufen ist, nicht nur die Russen sein werden, und erst recht nicht die verschiedenen Turan-, Altan- und Mongoloidvölker, Sibiriens Urbevölkerung, sondern auch hier wieder die sich entwicklungsgeschichtlich ergebende Rassenmischung, das dereinstige Volk der Sibirier.
Die Russen werden innerhalb dieser Rassenmischung nur die Bringer der Kultur Sibiriens sein, so, wie sie die politischen Eroberer des Landes waren. Freilich ist das ungeheuer viel, da die Russen der Kultur Sibiriens damit von vornherein den allgemeinen Rassencharakter, einen slavischen und allgemein arischen, zu geben vermögen – ganz wie einst die einbrechenden Aryas dem Industale den indischen, die Griechen Griechenland den hellenischen, die Römer Italien den lateinischen, die Germanen Mitteleuropa den germanischen Rassecharakter gegeben haben. Und geradeso, wie die geschichtlichen Arier in allen Ländern andere waren, als die frühgeschichtlichen, wie die Deutschen heute nicht mehr Germanen sind, sondern eben Deutsche, wird dann auch das Volk der Sibirier ein anderes sein, als das Volk der Russen, von dem es urväterlicherseits abstammt. Es wird ihm zunächst noch ähneln, wie heute etwa der Yankee noch dem Engländer in Äußerlichkeiten – zu denen vorläufig auch die Sprache gehört – ähnelt oder sogar gleich ist. Aber immer weiter werden sich dann die beiden Völkerbildungen voneinander entfernen. Die Gewalt der Jahrhunderte und die Not der Zeiten wird ganz verschiedene Kraftherde mit ganz verschiedener Kraftrichtung aus ihnen machen. Die politische Loslösung und Verselbständigung wird früher oder später hinzutreten. Und schließlich wird Russen und Sibirier nur noch dasjenige verbinden, was überhaupt unzerstörbar im Völkerleben ist: das Rassenhafte, das gemeinsam Slavische, und namentlich auch, im Gegensätze zu der umgebenden chinesischen und japanischen Welt, das gemeinsam Arische. Die Gründe aber einer so andersartigen Entwicklung werden teils die allgemein geschichtlichen, teils seelische gewesen sein. Die geschichtlichen Gründe kennen wir. Sie liegen in der andersartigen Vergangenheit Sibiriens. Kosakenscharen haben das Land einst erobert. Iwan dem Grausamen wurde es geschenkt. Und früh schon war fast wichtiger als seine Erschließung durch Handel und Hände Arbeit seine Verwendung als Verbannungsort. Nach Sibirien entledigte man sich der Hunderttausende von Opfern, die Rußlands dunkle und verzweiflungsvoll suchende Geschichte forderte. Russen, Polen, Finnen, Esthen, Letten, Deutsche, Schweden, ferner Angehörige der Donau-, Wolga- und Kaukasusvölker sammelten sich in den sibirischen Kolonistenstädten. Und es ist wohl ohne weiteres klar – hier gehen die geschichtlichen Gründe in die seelischen über –, daß die Bestandteile, die auf diese Weise abgestoßen wurden, auch den Persönlichkeiten nach andere sein mußten, als die, welche abstießen. Hinzukamen Bauern, welche in der Heimat darbten und nun sich aufrafften und freiwillig gingen, ferner Abenteurer, Kaufleute, Händler. Alles in allem kamen nach Sibirien die roheren, aber auch tätigeren und entschlosseneren Elemente, während die gefügigeren und feineren, aber auch untätigeren und minder entschlußkräftigen in Rußland zurückblieben. Und gesiebt und gewägt wurden die ersteren dann noch nach den Gesetzen der Auslese und der größeren Erhaltung der stärkeren Rasse. Die Schwächeren gingen unter oder paßten sich an. Die Stärkeren erhielten sich und schlugen artbestimmend in der Bevölkerung durch. „Es ist ja doch das allerbegabteste, allerstärkste Volk in unserem ganzen russischen Volke!“ rief Dostojewski aus, als er seine „Aufzeichnungen“ schloß – begeistert, und zugleich fast verzweifelnd bei dem Gedanken, daß eine so gewaltige Kraft vertan werden mußte in Gefängnissen und Strafanstalten. Er bedachte in dem Augenblick nicht, daß die Kraft, wenn sie auch oft für Jahre und Jahrzehnte gebunden bleibt in Unfreiheit und angewiesen ist auf eine scheinbar unnütze Beschäftigung, gleichwohl ihre Fortsetzung findet in der Freiheit und in dem ungeheuren Spielraum, den gerade Sibirien dem Menschen läßt. Für Dostojewski war ein Haus des Todes und des Abschlusses, was in Wirklichkeit eines des Lebens und der Zukunft ist. Solange die Verschickten in Fesseln sind, geht ihre Arbeit freilich Sibirien so gut wie verloren. Aber das Geschlecht der Verschickten, der Befreiten und ihrer Kinder und Kindeskinder, das bildet und zeugt dann die sibirische Bevölkerung, und gibt ihr eine Muskulatur und vor allem eine Sinnesart, die nur der asiatische, nicht der europäische Russe besitzt. Aus dieser Bevölkerung heraus, aus der Durcheinanderwürfelung ihrer Nationalitätenbestandteile, die dann die besten Rassebestandteile naturgemäß an die Oberschicht und hier wiederum an die vordersten Stellen wirft, ist heute schon gar manches an Menschenkraft und Menschenwillen, gar manches, was in Rußland noch immer still und gebunden liegt, in Sibirien schöpferisch und frei geworden. Die Bebauung und Durchsittung des Landes gehört selbstverständlich vor allem hierhin. Aber auch die Durchquerung des ungeheuren Gebietes durch die transsibirische Eisenbahn, die zwar von Rußland unternommen, aber von sibirischer Volkskraft und -arbeit getragen wurde, war eine wesentlich sibirische Tat, die in die Geschichte Sibiriens gehört und denn auch gerechterweise vor allem ihm zugute kommen wird. Nicht minder war der russisch-japanische Krieg ein Ereignis, das, wenn überhaupt einen Slaven, dann doch nur den Sibirier, und gerade den sibirischen Soldaten, volklich und heimatlich ergriff, und das jedenfalls nicht Rußlands, sondern immer nur Sibiriens Zukunft und Schicksal anging. Rußland wird schließlich doch immer europäische Macht bleiben und seine politischen Reibflächen und theokratischen Ziele im Balkan und in der Beherrschung Konstantinopels und höchstens noch seine mystischen Berührungen in Indien haben. Sibirien dagegen ist – man kann nicht sagen eine europäische, und man kann nicht sagen eine asiatische Macht, – sondern, jenseits des Ural und diesseits des Himalaja gelegen, von Natur durchaus bestimmt, eine Macht für sich zu sein. Rußland, das ist der tiefe Konservativismus des Slaventums. Sibirien dagegen, das ist der Umschlag dieses Konservativismus in sein Gegenteil, und die Aufsammlung und Auflösung all der revolutionären Elemente, die Rußland abstößt. Das Tiefste, was Rußland geben wird, das wird es, aus dem latenten Quietismus des Russen heraus, immer im Psychologischen und Religiösen geben. Das Beste dagegen, was Sibirien zu geben haben wird, das wird, aus der Pionierhaftigkeit seiner Bevölkerung heraus, immer Leben sein, Werk, Arbeit und eine vielleicht sogar sehr bedeutende Kultur.
Dostojewski hatte noch nicht den sibirischen Standpunkt. Sein eigener nationaler Standpunkt war der panslavistische, und die Möglichkeit, daß der Ural einmal zwei slavische und gleichwohl völlig verschiedene Kulturwelten scheiden würde, lag außerhalb seines geschichtsphilosophischen Denkens. Er hat seine „Aufzeichnungen“ vom russischen Standpunkt aus geschrieben, und mit den russischen ohne weiteres den slavischen gleichgesetzt. Russen sind für sein Bewußtsein die Menschen, die er schildert, nicht künftige Sibirier. Und geschildert hat er sie in seiner Güte als begabt mit jener tiefen und völlig amoralischen Menschlichkeit, die wohl noch lange Sibiriern und Russen gemeinsam verbleiben und sie am längsten von anderen Nationalitäten und Rassen unterscheiden wird. Aber trotzdem geht bereits ein Unterschied durch die „Aufzeichnungen“ hindurch: schon stößt man in allem Sibirischen überall auf frische seelische Neuwerte und ahnt den Augenblick, in dem sie einmal sich selbst überlassen werden können. Von den besonderen sibirischen Aufgaben freilich erfährt man in den „Aufzeichnungen“ noch nichts, sondern nur von der besonderen Volksart. Kein sibirisches Programmbuch hat Dostojewski mit ihnen gegeben, sondern nur ein erstes anthropologisches und psychologisches Dokument für Sibirien. Trotzdem war es von innerer Schicksalsmäßigkeit, daß Dostojewski überhaupt nach Sibirien kam. Dadurch lernte der größte Russe das Land einer großen slavischen Zukunft kennen und drückte es aus – und zusammen mit dem Lande die Zukunft.
Moeller van den Bruck.
Dostojewskis sibirische Verbannungsjahre waren 1849 bis 1859. In Sibirien selbst schrieb und vollendete er kaum eine Dichtung. Nach der Rückkehr wurden zunächst die beiden größeren satirisch-humoristischen Novellen „Aufzeichnungen eines Unbekannten“ und „Aus den Mordassoffschen Chroniken“ fertiggestellt, sowie der kürzere Roman „Die Erniedrigten und Beleidigten“. Sie sind aus den Jahren 1859 und 1861. In den Jahren 1860 bis 1862 folgten alsdann die „Aufzeichnungen“: „Aus einem Totenhause“, zu denen die Vorbereitungsarbeiten und ersten Skizzen freilich schon in die Zeit von Dostojewskis sibirischem Aufenthalte zurückgehen.
E. K. R.
In den entlegenen Gebieten Sibiriens stößt man zuweilen inmitten der Steppen, Berge oder undurchdringlichen Wälder auf kleine Städte von tausend, zweitausend Einwohnern, mit unansehnlichen Holzhäusern, zwei Kirchen, von denen die eine in der Stadt ist, die andere auf dem Kirchhof, – Städte, die eher einem größeren Dorf aus der Umgegend Moskaus als einer Stadt gleichen. Gewöhnlich sind sie mit Kreis-, Amts- und anderen Richtern, Assessoren und allen dazugehörigen Subalternbeamten hinlänglich versehen. Überhaupt ist der Dienst in Sibirien trotz der großen Kälte recht wohlig und angenehm. Die Menschen sind dort einfach, unliberal, die Institutionen alt, fest und durch Jahrhunderte geheiligt. Die Beamten – die mit vollem Recht die Rolle eines sibirischen Adels spielen – sind entweder einheimische, eingefleischte Sibirier oder sie sind aus Rußland übergesiedelt, größtenteils aus den Hauptstädten, aus Moskau oder Petersburg, verlockt durch den nicht auf Abschlag des etatmäßigen Gehalts ausgezahlten Vorschuß, das doppelte Reisegeld und verführerische Hoffnungen für die Zukunft. Von ihnen bleiben diejenigen, die das Rätsel des Lebens zu lösen verstehen, fast ausnahmslos in Sibirien und schlagen daselbst vollauf befriedigt Wurzel, was ihnen denn auch in der Folge reiche und süße Früchte einträgt. Die anderen dagegen, die Leichtsinnigen, die das Rätsel des Lebens nicht zu lösen verstehen, denen wird Sibirien bald langweilig, und dann pflegen sie sich vorwurfsvoll zu fragen, warum sie überhaupt dorthin gefahren sind. Ärgerlich und ungeduldig dienen sie die drei Jahre, ihre gesetzliche Dienstzeit, ab, bemühen sich nach deren Ablauf unverzüglich um ihre Versetzung und kehren, Sibirien verfluchend und verspottend, wieder in die Heimat zurück. Nur ist das durchaus unrecht von ihnen, denn nicht nur als Beamter, sondern noch in mancher anderen Beziehung kann man in Sibirien Glückseligkeit genießen. Das Klima ist vorzüglich, es gibt dort viele außerordentlich reiche und gastfreundliche Kaufleute, viele sehr wohlhabende Leute auch unter den sibirischen Fremdvölkern. Die Damen blühen wie die Rosen und sind sittlich bis zum Äußersten. Das Wild fliegt in den Straßen umher und stößt von selbst auf die Jäger. Champagner wird unheimlich viel getrunken. Der Kaviar ist wunderbar. Die Ernte bringt in manchen Gegenden das Fünfzehnfache ein. Kurz, – es ist ein gesegnetes Land. Man muß nur verstehen, dasselbe sich nutzbar zu machen. Und in Sibirien versteht man’s.
In einem dieser lebenslustigen und zufriedenen Städtchen mit der liebenswürdigsten Einwohnerschaft, die ich nie werde vergessen können, war’s, daß ich Alexander Petrowitsch Goräntschikoff kennen lernte, einen daselbst angesiedelten, aus Rußland gebürtigen Edelmann und Gutsbesitzer, der nach der Ermordung seiner Frau Zwangsarbeiter zweiter Klasse gewesen, und nun, nach Ablauf seiner Strafzeit von zehn Jahren, still und verborgen sein Leben als Ansiedler in der Stadt K. zu Ende lebte. Er war zwar einem nahegelegenen Amtsbezirk zugeteilt worden, doch lebte er trotzdem in der Stadt, da er hier die Möglichkeit hatte, durch Privatstunden wenigstens etwas für seinen Unterhalt zu verdienen. Solche Lehrer, die einmal Zwangsarbeiter gewesen sind und sich später als Ansiedler niedergelassen haben, sind keine Seltenheit in den sibirischen Städten. Gewöhnlich unterrichten sie in der französischen Sprache, die ja zum irdischen Leben so unumgänglich nötig ist, von der man aber ohne diese zufälligen Lehrer in jenen fernen Gebieten kaum eine Vorstellung hätte.
Das erstemal sah ich Alexander Petrowitsch im Hause des alten, sehr verdienten Iwan Iwanytsch Grosdikoff, eines äußerst gastfreundlichen hohen Beamten, der außerdem Vater von fünf Töchtern verschiedenen Alters war, von Töchtern, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Diesen jungen Damen erteilte Alexander Petrowitsch französischen Unterricht, und zwar viermal wöchentlich, die Stunde für dreißig Kopeken in Silber. Mich interessierte sofort sein Äußeres. Er war ein auffallend bleicher und hagerer Mensch, noch nicht alt – ich schätzte ihn auf ungefähr fünfunddreißig Jahre – klein und schwächlich. Gekleidet war er stets sehr sauber und nach europäischer Mode. Versuchte man mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen, so blickte er einen unablässig und sehr aufmerksam an, vernahm mit strenger Höflichkeit, was man zu ihm sprach, als dächte er über jedes Wort nach und als hätte man ihm mit der harmlosen Frage eine schwere mathematische Aufgabe aufgegeben oder als wolle man ihm irgend ein Geheimnis entlocken, bis er dann endlich antwortete, klar und bestimmt, aber jedes Wort so abwägend, daß es einem plötzlich aus irgend einem Grunde ungemütlich wurde und man schließlich froh war, wenn man das Gespräch nicht weiterzuführen brauchte. Ich erkundigte mich gleich darauf bei Iwan Iwanytsch nach ihm und erfuhr, daß Goräntschikoff tadellos und sittlich lebe und daß anderenfalls Iwan Iwanytsch ihn, wie es sich von selbst verstehe, niemals aufgefordert haben würde, seine Töchter zu unterrichten. Er sei aber ungewöhnlich menschenscheu, ziehe sich von allen zurück, sei sehr gelehrt, lese sehr viel, spreche jedoch um so weniger und es sei überhaupt sehr schwierig, mit ihm ein Gespräch zu führen. Manche wiederum versicherten, er sei positiv übergeschnappt, gaben aber zu, daß diese Eigenschaft noch kein so großes Gebrechen wäre. Auch hörte ich, daß viele der angesehensten Familien der Stadt Alexander Petrowitsch gern liebevoll aufnehmen würden, daß er sogar nützlich sein könne, Bittschriften verfassen u. a. m. Man war der Meinung, daß er in Rußland keine geringe Verwandtschaft habe, vielleicht sogar längst nicht mit den letzten Leuten verschwägert sei, doch wußte man gleichzeitig, daß er seit seiner Verbannung alle Beziehungen zu seinen Angehörigen abgebrochen hatte, – kurz, daß er sich selbst schade. Zudem war seine Lebensgeschichte allgemein bekannt, und so erfuhr ich, daß er seine Frau im ersten Jahr der Ehe aus Eifersucht erschlagen und sich selbst dem Gericht angezeigt habe – weswegen er denn auch nur zu zehn Jahren verurteilt worden war. Solche Verbrechen werden immer nur als Unglücksfälle betrachtet und man bedauert die „Unglücklichen“. Doch ungeachtet dessen mied der Sonderling alle und jeden und erschien unter Menschen nur dann, wenn er Stunden zu geben hatte.
Ich kann nicht sagen, daß ich ihm von Anfang an besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Mit der Zeit aber fing er an, mich zu interessieren, – warum, weiß ich eigentlich selbst nicht. Es war etwas Rätselhaftes an ihm. Ihn in ein Gespräch zu ziehen, war vollkommen unmöglich. Natürlich! auf meine Fragen antwortete er jedesmal, und er tat es sogar in einer Weise, als hätte er das Antworten für seine heiligste Pflicht gehalten; nichtsdestoweniger fühlte ich mich nach einer solchen Antwort gewissermaßen befangen, so daß ich es vorzog, weitere Fragen zu unterlassen; und zudem erschien nach solchen paar Worten immer ein Ausdruck von Leid und Abspannung in seinem Gesicht. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal an einem wundervollen Sommerabend zusammen mit ihm von Iwan Iwanytsch nach Hause ging. Plötzlich fiel es mir ein, ihn auf einen Augenblick zu einer Zigarette zu mir einzuladen. Es ist schwer zu beschreiben, welch ein Entsetzen sich in seinem Gesicht ausdrückte. Er war völlig fassungslos, murmelte ein paar unzusammenhängende Worte und plötzlich stürzte er, nach einem wütenden Blick auf mich, in der entgegengesetzten Richtung davon.
Ich wunderte mich. Seit der Zeit bemerkte ich, daß er jedesmal, wenn er mich erblickte, zu erschrecken schien. Aber ich ließ nicht nach; es zog mich etwas zu ihm, und eines Tages, ungefähr nach einem Monat, machte ich mich auf und ging zu ihm hin. Das war natürlich recht dumm und taktlos von mir. Goräntschikoff wohnte am äußersten Ende der Stadt bei einer alten Kleinbürgerin, bei der außer ihm noch ihre schwindsüchtige Tochter lebte. Diese Tochter hatte ein illegitimes Kind, ein nettes, lustiges kleines Mädchen von zehn Jahren.
Als ich eintrat, saß Alexander Petrowitsch mit der Kleinen am Tisch und unterrichtete sie im Lesen. Wie er mich erblickte, erschrak er dermaßen, als hätte ich ihn auf einem Verbrechen ertappt. Er schien vollständig den Kopf zu verlieren, sprang vom Stuhl auf und starrte mich an. Endlich nahmen wir Platz. Er verfolgte unablässig jeden meiner Blicke, ganz als argwöhnte er in jedem von ihnen irgend einen ganz besonderen geheimnisvollen Sinn. Da erriet ich, daß er bis zur Krankhaftigkeit mißtrauisch war. Er blickte mich haßerfüllt an, fast als wollte er sagen: „Wirst du mich denn nicht endlich einmal in Ruh lassen?“ Ich sprach über unser Städtchen und die laufenden Neuigkeiten: er schwieg und lächelte gehässig. Es zeigte sich, daß ihm keine einzige der von allen schon vielfach besprochenen Neuigkeiten bekannt war, ja daß er sich nicht einmal für sie interessierte und wahrscheinlich überhaupt nichts von ihnen wissen wollte. Ich sprach darauf vom Land und seinen Bedürfnissen: er hörte mir schweigend zu, doch blickte er mich dabei dermaßen sonderbar an, daß ich mich schließlich meines Gespräches schämte. Bei der Gelegenheit habe ich ihm vielleicht auch noch mit meinen Büchern und Zeitschriften tief weh getan: ich hatte sie gerade von der Post abgeholt und bot sie ihm, so wie sie waren, noch unaufgeschnitten, als Lektüre an. Er warf einen gierigen Blick auf das Paket, änderte aber sofort seine Absicht und lehnte das Angebot mit der Ausrede ab, er habe keine Zeit zum Lesen. Endlich verabschiedete ich mich. Als ich ihn verließ, fühlte ich, wie eine unerträgliche Last von meinem Herzen fiel. Ich schämte mich und es erschien mir sehr taktlos, sich einem Menschen aufzudrängen, dessen einziger Wunsch es war, soweit als möglich von aller Welt abgeschieden zu sein. Aber es war schon geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. Ich erinnere mich noch, daß ich bei ihm so gut wie überhaupt keine Bücher bemerkt hatte. So konnte es wohl kaum wahr sein, daß er viel las, wie man in der Stadt allgemein glaubte. Indessen hatte ich zweimal spät in der Nacht beim Vorüberfahren an seiner Wohnung noch Licht bei ihm gesehen. Was mochte er denn eigentlich tun, wenn er bis zum Sonnenaufgang nicht schlief? Schrieb er etwa? Und wenn er schrieb, – was mochte dann das wohl sein?
Die Umstände entfernten mich auf ganze drei Monate aus der Stadt. Als ich zurückkehrte, war es bereits Winter geworden, und da erfuhr ich, daß Alexander Petrowitsch im Herbst gestorben sei, gestorben wie er gelebt hatte: einsam, ohne auch nur einmal den Arzt zu sich rufen zu lassen. In der Stadt hatte man ihn schon so gut wie ganz vergessen, seine Wohnung stand leer. Da begab ich mich unverzüglich zu der Hauswirtin des Verstorbenen, in der Absicht, sie etwas auszuforschen. Ich wollte wissen, womit sich ihr Mieter vorwiegend beschäftigt und ob er nicht etwas geschrieben. Für ein Zwanzigkopekenstück brachte sie mir einen ganzen Korb voll Papiere, die der Verstorbene hinterlassen. Die Alte gestand, daß sie zwei Hefte schon verbrannt habe. Sie war ein mürrisches, schweigsames Weib, aus dem schwer etwas Gescheites herauszubekommen war. Über ihren Mieter konnte sie mir nichts Neues sagen. Nach ihren Worten hatte er fast nie etwas gearbeitet und monatelang weder ein Buch aufgeschlagen, noch die Feder in die Hand genommen; dafür sei er ganze Nächte hindurch in seinem Zimmer auf- und abgegangen, stets als dächte er über irgend etwas nach, zuweilen aber habe er sogar mit sich selbst gesprochen. Sie fügte noch hinzu, daß er ihre Großtochter, die kleine Katjä, lieb gewonnen habe und sehr gut zu ihr gewesen sei, besonders seitdem er einmal erfahren hatte, daß sie Katjä hieß, und am Katarinentag sei er regelmäßig zur Totenmesse gegangen. Besuch habe er nicht ausstehen können und sein Zimmer habe er nur verlassen, wenn er seine Privatstunden zu geben hatte. Ja er habe sogar sie, seine Hauswirtin, scheel angesehen, wenn sie einmal in der Woche gekommen sei, um sein Zimmer doch ein wenig gründlicher aufzuräumen, und gesprochen habe er mit ihr in den ganzen drei Jahren kaum ein Wort. Ich fragte auch die kleine Katjä, ob sie noch an ihren Lehrer dachte. Sie sah mich schweigend an, wandte sich dann von mir ab, zur Wand hin, und brach in Tränen aus. So hatte denn dieser Mensch doch wenigstens in einem Wesen Liebe zu sich zu erwecken vermocht.
Ich nahm seine Papiere an mich und durchsuchte und ordnete sie einen ganzen Tag lang. Ungefähr drei Vierteile des Packens waren nichtssagende Papierfetzen, meistens Schreibübungen seiner Schüler. Unter ihnen aber fand ich ein Heft, ein ziemlich umfangreiches, das in kleiner Schrift sehr eng vollgeschrieben war, doch fehlte leider der Schluß – vielleicht war er aber auch schon zu Lebzeiten des Verfassers von diesem selber fortgeworfen oder vergessen worden.
Es war das die Schilderung des zehnjährigen Sträflingslebens, zu dem Alexander Petrowitsch verurteilt gewesen war. Das Ganze ziemlich zusammenhanglos. Stellenweise war die Schilderung von anderen Geschichten und Gesprächen unterbrochen, von irgend welchen seltsam grausigen Erinnerungen, alles recht unausgeglichen niedergeschrieben, fast als hätte ihn irgend etwas dazu gezwungen. Ich habe diese Bruchstücke mehrmals durchgelesen und mich überzeugt, daß sie jedenfalls in unnormalem Zustande geschrieben worden sind. Doch trotzdem schienen mir seine Aufzeichnungen – die „Aufzeichnungen aus dem Totenhause“, wie er sie selbst an einer Stelle nennt – nicht ganz uninteressant. Die für uns völlig neue, bis jetzt noch nie beschriebene Welt, die er schildert, die Seltsamkeit mancher Vorkommnisse, einige besondere Bemerkungen über das dort eingeschlossene untergegangene Volk, – alles das fesselte mich und ich las manches mit Interesse. Natürlich kann ich mich ja auch täuschen. So wähle ich denn vorläufig einige Kapitel zur Probe aus; mag dann der Leser selbst urteilen.
Unser Gefängnis lag ganz am Rande der Festung, dicht am Festungswall. Zuweilen sah man so durch die Zaunspalten in Gottes weite Welt hinein: wirst du dort nicht irgend etwas sehen? – Doch was du sahst, war nur ein Stückchen Himmel und der mit Steppengras bewachsene hohe Erdwall, auf dem nur die Schildwachen tagaus, tagein und jede Nacht auf- und abgehen; und gleich darauf denkst du, daß Jahre vergehen werden, du aber immer so an den Zaun treten wirst, um wieder durch die Spalten zu lauern und immer denselben Wall, dieselben Schildwachen und dasselbe kleine Stückchen Himmel sehen wirst, nicht diesen Himmel, der über dem Gefängnis ist, sondern jenen, den anderen, fernen, freien Himmel.
Man denke sich einen großen Hof von zweihundert Schritt Länge und hundertundfünfzig Breite, der rings von einem hohen Pfahl- oder Palissadenzaun in einem unregelmäßigen Sechseck umgeben ist. Diese hohen Pfähle sind tief in die Erde eingerammt, fest aneinander gefügt, außerdem durch verbindende Querplanken noch doppelt in ihrer senkrechten Stellung gefestigt, und das obere Ende jedes Pfahles ist zugespitzt, – das ist die äußere Einfriedung eines „Ostrogg“. An einer der sechs Seiten befindet sich ein großes Tor, das stets verschlossen ist und Tag und Nacht von Schildwachen bewacht wird. Dieses Tor wurde nur früh morgens aufgemacht, wenn die Gefangenen zur Arbeit abmarschierten. Hinter diesem Tor lag die helle freie Welt, dort lebten Menschen wie alle. Aber diesseits der Umzäunung lag eine andere Welt, von der sich die übrigen Menschen nur Vorstellungen wie von einem unmöglichen Märchen machten. Hier war eine besondere Welt, die keiner einzigen anderen glich, hier gab es besondere Gesetze, besondere Tracht, besondere Sitten und Bräuche, es war ein lebendes Totenhaus, ein Leben, wie es in der Welt nirgends eines gibt, und auch die Menschen waren hier besondere. Diesen besonderen Winkel will ich nun zu beschreiben versuchen.
Wer den Ostrogg betritt, sieht innerhalb des Palissadenzauns mehrere Gebäude. Zu beiden Seiten des breiten inneren Hofes liegen zwei langgestreckte einstöckige Blockhäuser. Das sind die Kasernen. In ihnen leben die Zwangsarbeiter, die in Abteilungen untergebracht sind. Weiterhin liegt ein drittes ebensolches Blockhaus: das ist die Küche, die gleichfalls in zwei Abteilungen geteilt ist. Und ganz im Hintergrund befindet sich noch ein viertes Gebäude, in dem sich die Keller, Vorratsräume und Schuppen befinden. Die Mitte des Hofes ist frei und bildet einen gleichmäßigen, ziemlich großen Platz. Hier treten die Sträflinge zweimal täglich an, hier findet die Zählung und der Namensappell morgens, mittags und abends statt, zuweilen aber auch sonst noch ein paar Mal am Tage – je nach dem Argwohn der Wachhabenden und ihrer Übung im Zählen. Zwischen diesen Gebäuden und dem Palissadenzaun bleibt noch ein ziemlich freier Raum. Hier hinter den Blockhäusern pflegten einige von den Sträflingen, die verschlosseneren, düstereren und menschenscheueren von ihnen, sich in den arbeitsfreien Stunden aufzuhalten und ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenn ich ihnen dann begegnete, versuchte ich immer, ihre düsteren, gebrandmarkten Gesichter zu durchschauen und zu erraten, woran sie dachten. Unter ihnen gab es einen, dessen Lieblingsbeschäftigung in diesen Mußestunden das Zählen der Zaunpfähle war. Es waren im ganzen tausendfünfhundert Pfähle, er aber kannte jeden einzelnen von ihnen auswendig. Jeder Pfahl bedeutete für ihn einen Tag; an jedem Tage zählte er um einen Pfahl weiter, so daß er an den übrigen noch nicht gezählten Pfählen anschaulich sehen konnte, wieviel Tage ihm noch bis zur Freilassung blieben. Und er freute sich wie ein Kind, wenn er mit einer der Seiten des Sechseckes fertig war. Er hatte noch lange Jahre zu warten, aber im Ostrogg hatte man Zeit genug, sich an das Warten zu gewöhnen. Einmal erlebte ich, wie ein Sträfling, der zwanzig Jahre lang in der Kátorga[1] verbracht hatte, nun endlich wieder in die Freiheit zurücksollte. Einige erinnerten sich noch seiner, wie er zum erstenmal in den Ostrogg gekommen war, ein junger, sorgloser Bursche, der weder an sein Verbrechen, noch an seine Strafe dachte. Er verließ den Ostrogg als silberhaariger Greis mit einem düsteren, traurigen Gesicht. Schweigend ging er in alle unsere sechs Kasernen, um von den anderen Abschied zu nehmen. In jeder der sechs Kasernen betete er zuerst vor den Heiligenbildern, dann verneigte er sich tief vor den anderen und nahm Abschied von ihnen, mit der Bitte, seiner nicht im Bösen gedenken zu wollen. Auch entsinne ich mich noch, wie einmal ein Sträfling, der früher ein reicher sibirischer Landbauer gewesen war, in der Abendstunde noch zum Tor gerufen wurde. Ein halbes Jahr vorher hatte er die Nachricht erhalten, daß sein Weib sich wieder verheiratet habe, und da war er darüber tief traurig geworden. An diesem Abend aber war sie selbst zum Ostrogg gekommen, sie ließ ihn herausrufen und gab ihm ein Almosen. Sie sprachen vielleicht nur zwei Minuten lang, beide weinten sie, und dann nahmen sie auf ewig Abschied von einander. Ich sah sein Gesicht, als er in die Kaserne zurückkehrte. Ja, an diesem Ort konnte man es lernen, Geduld zu haben.
Sobald es dunkelte, wurden wir alle in die Kasernen geführt, wo man uns für die ganze Nacht einschloß. Es fiel mir zuerst sehr schwer, vom Hof in unsere Kaserne zurückkehren zu müssen. Das war ein langer, niedriger, drückend heißer Raum, der nur matt von Talglichten erhellt wurde, erfüllt von schwerem, erstickendem Geruch. Heute begreife ich nicht mehr, wie ich zehn Jahre lang dort habe aushalten können.
Auf der langen Pritsche, auf der wir alle in zwei Reihen schliefen, durfte ich nur drei Bretter einnehmen; das war alles, was an Platz mir gehörte. Auf dieser Pritsche schliefen in unserer Stube an dreißig Menschen. Im Winter wurden wir früh eingeschlossen, und dann dauerte es mehr als vier Stunden, bis alle eingeschlafen waren. Bis dahin aber – Geschrei, Spektakel, Gelächter, Geschimpf, das Gerassel der Ketten, Qualm und Lampenruß, geschorene Köpfe, gebrandmarkte Gesichter, zerlumpte Kleider, alles Entehrte, Verfemte ... Ja, zäh ist der Mensch! Er ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt – und dies ist, glaube ich, die treffendste Bezeichnung für ihn.
Im ganzen waren in unserem Ostrogg an zweihundertundfünfzig Sträflinge untergebracht, das war die fast stehende Zahl der Arrestanten. Die einen kamen, die anderen gingen, die dritten starben. Und was für Menschenarten gab es dort nicht! Ich glaube, jedes Gouvernement, jeder Landstrich Rußlands hatte seine Vertreter im Ostrogg. Auch Söhne fremder Rassen waren dort, einige sogar aus den kaukasischen Bergvölkern. Alle waren nach der Art ihres Verbrechens „sortiert“, und folglich auch nach der Zahl der Jahre, zu denen man sie verurteilt hatte. Es ist anzunehmen, daß es wohl kein Verbrechen gab, das hier nicht seinen Repräsentanten besaß. Den Hauptbestandteil der ganzen Ostroggbevölkerung machten die zur schweren Zwangsarbeit Verschickten aus (die „Schwerverschickten“, wie sie sich selbst naiv benannten). Das waren Verbrecher, die man aller Rechte beraubt hatte, verworfene Glieder der Gesellschaft mit gebrandmarkten Gesichtern, die sie ewig als Ausgestoßene kennzeichnen sollten. Sie waren auf acht bis zwölf Jahre zur Zwangsarbeit verurteilt und nach Ablauf dieser Frist wurden sie als Ansiedler in öde Gegenden verschickt. Auch gab es Verbrecher aus dem Soldatenstande, die aber nicht aller Rechte beraubt waren, wie die in den übrigen russischen Militärstrafkolonien. Sie wurden nur auf kurze Zeit verschickt und kehrten nach Ablauf ihrer Strafzeit wieder dorthin zurück, woher sie gekommen waren, in die sibirischen Linienbataillone. Viele von ihnen kamen aber bald von neuem in den Ostrogg, infolge neuer schwerer Vergehen, dann jedoch nicht mehr auf kurze Zeit, sondern auf zwanzig Jahre. Die Sträflinge dieser Abteilung nannte man die „Lebenslänglichen“. Doch selbst diese „Lebenslänglichen“ waren noch nicht aller Rechte beraubt. Und dann gab es noch eine Abteilung der gefährlichen Verbrecher, die größtenteils aus ehemaligen Soldaten bestand und recht zahlreich war. Die hieß die „besondere Abteilung“. In diese Abteilung wurden aus ganz Rußland Verbrecher geschickt. Sie hielten sich selbst für „Ewige“ und kannten nicht einmal die Dauer ihrer Zwangsarbeit. Nach der Vorschrift mußte die Zahl ihrer Arbeitsstunden verdoppelt und verdreifacht werden. Sie wurden solange im Ostrogg gehalten, bis die schwersten Zwangsarbeiten aufgenommen wurden. „Ihr habt nur Stundenarbeit, wir aber sind ewig in der Kátorga“ – sagten sie zuweilen zu den anderen Mitgefangenen. Später habe ich gehört, daß diese Abteilung aufgehoben sei. Außerdem wurde in unserer Festung zu meiner Zeit auch der Standesunterschied aufgehoben und eine allgemeine militärische Arrestantenkompagnie eingeführt. Selbstverständlich erfuhr bei der Gelegenheit auch die Oberleitung Veränderungen. So beschreibe ich denn hier noch die alten Zeiten, die schon längst vergangen und vergessen sind ...
Ja, alles, was ich hier erzähle, ist schon lange her, oft scheint es mir jetzt, daß ich es nur im Traum gesehen. Ich erinnere mich noch, wie ich zum erstenmal den Ostrogg betrat. Es dunkelte bereits, die Sträflinge kehrten schon von der Arbeit zurück und ordneten sich in Reih und Glied zur letzten Nachzählung.
Ein Unteroffizier mit einem starken Schnurrbart machte mir endlich das Tor auf, und ich betrat den Ostrogg, in dem ich soviel Jahre verbringen, soviele Empfindungen ertragen sollte, von denen ich, wenn ich sie nicht selbst durchlebt hätte, mir niemals eine auch nur annähernd richtige Vorstellung machen könnte. Zum Beispiel hätte ich mir nie denken können, wie furchtbar und qualvoll es sein würde, in den ganzen zehn Jahren meiner Sträflingszeit keinen einzigen Augenblick allein sein zu können. Bei der Arbeit stets unter Aufsicht und Bewachung, im Ostrogg stets mit zweihundertundfünfzig Schicksalsgenossen, und niemals, niemals allein! Übrigens war das nicht das einzige, woran ich mich zu gewöhnen hatte!
Hier gab es verschiedene Verbrecher, zufällige Mörder und solche, die sich das Morden zum Handwerk gemacht hatten, gewöhnliche Räuber und die Führer ganzer Räuberbanden. Darunter gab es auch einfache Spitzbuben, Taschendiebe und Landstreicher – Gewerbetreibende aller Art, Geldwechsler und Falschmünzer, wie überhaupt viele Liebhaber unverdienten Gutes. Auch gab es noch andere, bei denen es schwer war, sich vorzustellen, für welche Vergehen sie wohl verurteilt sein könnten. Und doch hatte ein jeder seine Geschichte, die dunkel und schwer war wie der Dunst am nächsten Morgen, nach einem abendlichen Saufgelage. Überhaupt wurde wenig von der Vergangenheit gesprochen, sie liebten es nicht, davon zu erzählen und waren sichtlich bemüht, auch nicht daran zu denken. Ich kannte unter ihnen Mörder, die immer heiter und überhaupt nie nachdenklich waren, und man hätte wetten können, daß ihr Gewissen ihnen noch keinen einzigen Vorwurf gemacht hatte. Es gab aber auch finstere Gesichter, Verbrecher, die fast nur schwiegen. Im allgemeinen kann man sagen, daß nur äußerst selten jemand seine Lebensgeschichte erzählte, und es war auch nicht Mode, Interesse dafür zu bekunden, – das war eben nicht Sitte, das war nicht „angenommen“. Es sei denn, daß jemand einmal so aus Langeweile zu erzählen anfing und der andere ihm kaltblütig und finster zuhörte. Niemand vermochte hier den anderen in Erstaunen zu setzen. „Wir sind geschultes Volk,“ hörte man sie nicht selten mit einer ganz eigentümlichen Selbstzufriedenheit sagen.
Ich weiß noch, wie einmal ein Räuber, der sich angetrunken – das konnte man mitunter im Ostrogg –, zu erzählen begann, wie er einen fünfjährigen Knaben ermordet hatte: zuerst habe er ihn mit einem Spielzeug angelockt, dann in einen leerstehenden Schuppen geführt und dort ermordet. Da schrie die ganze Kaserne, die bis dahin gelacht und heitere Unterhaltung geführt hatte, wie aus einem Munde auf; aber nicht etwa aus Unwillen schrieen sie, sondern so, – weil es „überflüssig“ war, „davon zu sprechen,“ weil „davon“ zu reden „nicht angenommen“ war. Ich muß hier bemerken, daß dieses Volk tatsächlich geschult war, und zwar nicht nur im übertragenen, sondern auch im buchstäblichen Sinne des Wortes, denn mindestens die Hälfte von ihnen konnte lesen und schreiben. An welch einem anderen Orte, wo russisches Volk in großen Massen versammelt ist, würde man einen Haufen von zweihundertundfünfzig Menschen abteilen können, von denen über die Hälfte zu lesen und zu schreiben verstünde? Später habe ich gehört, daß irgend ein Gelehrter auf Grund ähnlicher Tatsachen zu beweisen versucht habe, daß die Schulbildung das Volk verderbe. Das ist aber ein Irrtum: diese Tatsache beruht auf ganz anderen Ursachen, obgleich – das muß ich allerdings zugeben – die Schulbildung das Selbstvertrauen im Volke entwickelt. Aber das ist ja durchaus kein Fehler.
Die verschiedenen Klassen der Verbrecher unterschieden sich auch in der Kleidung: die einen hatten die rechte Hälfte der Jacke aus dunkelbraunem, die linke aus grauem Stoff, und ebenso war das eine Hosenbein braun, das andere grau. Einmal, als wir gerade außerhalb des Ostrogg bei der Arbeit waren, schaute mich ein kleines Mädchen, eine Semmelverkäuferin, von der wir etliche Weißbrote und Kalatschen erstanden hatten, lange Zeit aufmerksam an und brach dann plötzlich in Lachen aus:
„Pfui, wie das aussieht!“ sagte sie lachend, „der graue Stoff hat nicht ausgereicht und der braune hat auch nicht ausgereicht!“
Andere Sträflinge trugen wiederum eine graue Jacke, deren Ärmel allein aus dunkelbraunem Tuch waren. Auch der Kopf wurde verschieden geschoren: es wurde immer nur die eine Hälfte abrasiert, bei einem die ganze linke Seite, bei anderen nur der Vorderkopf.
Schon auf den ersten Blick konnte man eine gewisse Gemeinsamkeit in dieser eigenartigen Familie bemerken. Sogar die Persönlichsten, Unterschiedlichsten von ihnen, die ganz unwillkürlich über den anderen standen, – selbst diese bemühten sich, in den allgemeinen Ton des ganzen Ostrogg einzustimmen. Ich kann wohl sagen, daß dieses ganze Volk, nur mit Ausnahme weniger unerschöpflich heiterer Gemüter, die sich dafür auch der allgemeinen Verachtung erfreuten, auffallend düster, mürrisch, neidisch, unglaublich ruhmsüchtig, großsprecherisch, empfindlich und im höchsten Grade formell war. Die Fähigkeit, sich über nichts zu wundern, war bei ihnen die größte Tugend. In dieser Beziehung waren sie geradezu krankhaft. Die Hauptsache für sie war: wie man sich äußerlich benahm. Doch oftmals verwandelte sich die aufgeblasenste Haltung mit wahrer Blitzesschnelle in die allerkleinmütigste. Es gab auch einige wahrhaft Starke unter ihnen; die aber waren einfach und verstellten sich nicht. Doch eines war sonderbar! Unter diesen wahrhaft Starken gab es wiederum einige, die bis zum Äußersten ruhmsüchtig waren, bis zur Krankhaftigkeit. Überhaupt waren Ruhmsucht und das Äußere das Wichtigste im Ostrogg.
Die Mehrzahl der Sträflinge war entsetzlich verderbt. Verleumdungen und Klatschereien hörten nie auf: darin war der Ostrogg eine Hölle, eine wahre Ausgeburt der Unterwelt. Aber gegen die einmal angenommenen Sitten und Gesetze wagte niemand sich zu erheben; alle ergaben sich. Es gab wohl schroff hervortretende Charaktere, die sich schwer, die sich nur mit Mühe unterordneten, aber sie taten es doch.
Es kamen auch solche in den Ostrogg, die ihre Vergehen gewissermaßen gar nicht selbst verübt zu haben schienen, als wüßten sie selbst nicht, warum und wozu sie es getan, gleichsam im Fieber oder in der Betrunkenheit; häufig hatten sie die Tat nur aus krankhaft gesteigerter Ruhmsucht begangen. Denen wurde aber bei uns sofort ein anderer Standpunkt klar gemacht, obgleich einzelne von ihnen vor ihrer Ankunft im Ostrogg der Schrecken ganzer Dörfer und Ortschaften gewesen waren. Jeder Neuling erkannte schon bald nach der ersten Umschau, daß er nicht dorthin geraten war, wohin er zu kommen gemeint hatte, daß er hier keinen mehr in Erstaunen setzen konnte, und so fügte er sich unmerklich und stimmte in den allgemeinen Ton ein.
Dieser allgemeine Ton bestand äußerlich in einer ganz besonderen persönlichen Würde, von der fast jeder Bewohner des Ostrogg völlig durchdrungen zu sein schien, ganz als ob die Benennung „Sträfling“ oder „Verurteilter“ tatsächlich irgend ein Titel gewesen wäre, womöglich noch ein Ehrentitel. Kein einziges Anzeichen von Scham oder Reue! Übrigens gab es doch eine gewisse äußere Unterwerfung, ein sozusagen offizielles, ruhiges Renommieren.
„Wir sind verlorenes Volk,“ sagten sie, „wer nicht konnt’ in Freiheit leben, mag jetzt harte Straßen gehen.“ – „Wer Vater und Mutter nicht hat gehorcht, der gehorche jetzt dem Trommelfell.“ – „Hast du nicht freiwillig arbeiten gewollt, so klopfe jetzt Steine entzwei.“ Solche und ähnliche Sätze wurden sehr oft gesagt, sowohl als Sittenlehre wie auch als gewöhnliche Redensart, niemals aber wirklich ernst gemeint. Es waren eigentlich nur leere Worte, denn es ist kaum anzunehmen, daß auch nur einer von ihnen sich seine Gesetzwidrigkeit bewußt eingestand. Es hätte nur jemand von den Nichtsträflingen gewagt haben sollen, einem von ihnen sein Verbrechen vorzuhalten, ihn einmal deswegen zu schelten (wenn es auch nicht russisch ist, einem Verbrecher Vorwürfe zu machen) – das Schimpfen würde dann kein Ende genommen haben! Und welche Künstler waren sie alle im Schimpfen! Sie schimpften sich geradezu raffiniert, meisterhaft! Das Schimpfen war bei ihnen zu einer ganzen Wissenschaft geworden; sie bemühten sich, nicht so sehr mit dem kränkenden Wort zu treffen, als mit dem kränkenden Sinn, der Zusammenstellung des Ganzen, der „Idee“! – Das aber ist noch verfeinerter und folglich um so verletzender. Und die ununterbrochenen Streitigkeiten dienten natürlich nur dazu, um diese Kunst unter ihnen noch mehr zu entwickeln. Alle diese Sträflinge arbeiteten unter dem Stock, so ist es denn selbstverständlich, daß sie faul waren, liederlich und verderbt; selbst wenn sie es früher nicht gewesen waren, so wurden sie es hier im Ostrogg. Alle waren sie hier nicht durch eigenen Willen versammelt, alle waren sie einander Fremde.
„Der Teufel hat wenigstens drei Paar Bastschuhe durchgelaufen, bevor er uns in einen Haufen zusammengebracht!“ sagten sie von sich selbst, und so waren denn Klatsch, Intrigen, Verleumdungen, Neid, Hader und jede Niedertracht in diesem Höllenleben an der Tagesordnung. Kein altes Weib hätte so weibisch sein können, wie es einige von diesen Seelenmördern waren. Ich wiederhole, es gab unter ihnen auch starke Charaktere, die abgehärtet und furchtlos waren, die ihr ganzes Leben lang gewohnt gewesen, zu herrschen und zu fordern. Diese wurden auch von den anderen Mitgefangenen unwillkürlich geachtet, sie aber gaben sich doch Mühe, obwohl sie auf ihren Ruhm bisweilen sogar sehr eifersüchtig waren, im großen ganzen den anderen nicht zur Last zu werden. Auf nichtigen Streit ließen sie sich überhaupt nicht ein, wahrten stets eine auffallende Würde in ihrem ganzen Gehaben, waren vernünftig und fast immer der Obrigkeit gehorsam, – doch nicht etwa aus dem Prinzip zu gehorchen, sondern wie nach einem stillschweigenden Übereinkommen, weil es für beide Teile so das Beste war. Übrigens ging man mit ihnen auch vorsichtig um.
Ich entsinne mich noch, wie einmal einer von ihnen, ein furchtloser, entschlossener Charakter, der unserer Obrigkeit schon von früher wegen seiner tierischen Neigungen bekannt war, wegen irgend eines Vergehens zur Bestrafung gerufen wurde. Es war ein Sommertag und wir hatten gerade keine Arbeit. Der Major, der nächste und unmittelbare Vorgesetzte des Ostrogg, erschien selbst, um persönlich der Bestrafung beizuwohnen. Dieser Major war für die Sträflinge ein geradezu fatales Wesen, er brachte es soweit, daß sie vor ihm zitterten. Er war bis zur Sinnlosigkeit streng, ein „Menschenfresser“, wie die Gefangenen sagten. Am meisten fürchteten sie seinen alles durchdringenden Luchsblick, vor dem sich nichts verbergen ließ. Er sah gleichsam, ohne irgend wohin zu sehen. Betrat er den Ostrogg an dem einen Ende, so wußte er schon, was am anderen Ende desselben geschah. Die Sträflinge nannten ihn den „Achtäugigen“. Sein System war aber unrichtig. Durch seine rasenden, wilden Handlungen erbitterte er nur sowieso schon erbitterte Menschen, und wäre nicht der Kommandant, ein edler und vernünftig denkender Mensch, über ihm gewesen, der seine wilden Ausfälle mitunter mäßigte, so hätte der Major noch großes Unheil angerichtet. Offen gestanden, ich begreife es nicht, wie er noch so glücklich seine Zeit abgedient hat: und dennoch trat er lebend und gesund aus dem Dienst.
Der Sträfling erbleichte, als er gerufen wurde. Sonst pflegte er sich immer schweigend und entschlossen unter die Ruten zu legen, schweigend die Strafe hinzunehmen, nach Vollzug derselben aufzustehen, als wäre nichts geschehen, und kaltblütig und philosophisch das zugestoßene Mißgeschick hinzunehmen. Trotzdem ging man immer sehr vorsichtig mit ihm um. Diesmal aber fühlte er sich vollkommen unschuldig. Er erbleichte, und es gelang ihm, unbemerkt von der Wache, ein scharfes, englisches Messer in den Ärmel zu stecken. Messer und alle scharfen Instrumente waren im Ostrogg aufs strengste verboten; die Durchsuchungen wurden sehr oft, ganz plötzlich und gründlich vorgenommen, die Strafen waren grausam hart, da aber eine von Dieben versteckte Sache schwer zu finden ist, besonders wenn sie mit solchen Untersuchungen rechnen müssen und sicher verstecken wollen, und da andererseits Messer und ähnliche Werkzeuge immer gebraucht wurden, so waren sie trotz aller Maßregeln nicht auszurotten. Und wenn sie auch fortgenommen wurden, so schaffte man sich doch unverzüglich neue an.
Die ganze Kaserne stürzte zum Zaun, um dort mit klopfendem Herzen durch die Spalten zu lauern. Alle wußten, daß Petroff sich diesmal nicht freiwillig unter die Ruten hinlegen würde und daß die letzte Stunde des Majors gekommen war. Aber kurz vor dem entscheidenden Augenblick stieg unser Major in seinen Wagen und fuhr davon, nachdem er die Ausführung der Exekution einem anderen Offizier übertragen hatte.
„Den hat Gott selbst gerettet,“ sagten die Sträflinge. Petroff aber nahm mit der größten Ruhe seine Strafe hin. Sein Zorn war mit der Abfahrt des Majors vollständig vergangen. Der Arrestant ist gewöhnlich bis zu einem gewissen Grade gern gehorsam und geduldig, doch gibt es eine Grenze für seinen guten Willen, die man nicht überschreiten darf. Da ich soeben einen solchen Fall angeführt habe, will ich hier noch bemerken, daß es kaum etwas Interessanteres gibt, als diese sonderbaren Ausbrüche der Ungeduld und Widersetzlichkeit in den Arrestanten. Oft erträgt ein Mensch mehrere Jahre lang die grausamsten Strafen, er ergibt sich allem widerspruchslos, plötzlich aber reißt seine Geduld bei der nichtigsten Geringfügigkeit, ja man könnte sagen, um nichts und wieder nichts. Von einem gewissen Standpunkte aus müßte man ihn dann sogar wahnsinnig nennen, – und man tut es ja auch ...
Ich sagte schon, daß ich während all dieser Jahre kein einziges Mal auch nur das geringste Anzeichen einer Reue bei diesen Menschen bemerkt habe, auch nicht die geringsten Gewissensbisse wegen des verübten Verbrechens, oder auch nur ein unbehagliches Denken an dasselbe, und daß die Mehrzahl der Sträflinge sich innerlich für vollkommen schuldlos hält. Das ist Tatsache. Natürlich sind auch Ruhmsucht, schlechtes Beispiel, die übliche flotte Burschengroßtuerei und falsche Scham vielfach mit die Ursache davon. Und andererseits – wer könnte sagen, daß er die Tiefe dieser verkommenen Seelen erforscht und das vor aller Welt Verborgene in ihnen gesehen habe? Aber immerhin hätte man doch im Laufe so vieler Jahre wenigstens irgend einen Zug wahrnehmen müssen, nach dem man auf Schwermut oder Leiden hätte schließen können, – wenn davon auch nur eine Spur vorhanden gewesen wäre. Doch es war nichts davon zu sehen, entschieden nichts. Ja ich glaube, das Verbrechen läßt sich nicht nach gegebenen, bereits fertigen Gesichtspunkten erfassen und seine Philosophie dürfte etwas schwieriger sein, als allgemein angenommen wird. Daß das System der Gefängnisstrafe und die Zwangsarbeit keinen einzigen Verbrecher bessert, ist wohl selbstverständlich, sie „bestrafen“ ihn nur und sichern die Gesellschaft vor weiteren Anschlägen des Bösewichts auf ihre Freiheit und ruhige Sicherheit. Im Verbrecher jedoch erweckt der Ostrogg und selbst die angestrengte Arbeit nur Haß, Leidenschaft für verbotene Genüsse und unglaublichen Leichtsinn. Ich bin überzeugt, daß auch das berühmte Zellensystem nur ein falsches, trügerisches, äußeres Ziel erreicht. Es saugt aus dem Menschen alle Lebenskraft, entnervt seinen Geist, schwächt und ängstigt ihn und präsentiert dann endlich die sittlich vertrocknete Mumie, den Halbwahnsinnigen, als Musterbild der Besserung und Reue. Natürlich haßt der Verbrecher die Gesellschaft, gegen die er sich ja auch empört hat, und hält fast ausnahmslos sich für den Unschuldigen und jene für die Schuldigen. Hinzu kommt, daß ihm von dieser Gesellschaft für sein Vergehen Strafe auferlegt worden ist, diese aber befreit sein Gewissen von jedem Schuldbewußtsein, selbst wenn eines vorhanden gewesen wäre, und so fühlt er sich denn wie einer, der alle seine Schulden bezahlt und sich folglich nichts mehr vorzuwerfen hat. So kann man denn, wenn man von solchen Gesichtspunkten ausgeht, schließlich noch den Verbrecher selbst sehr wohl rechtfertigen. Doch ganz abgesehen von allen Gesichtspunkten wird doch ein jeder zugeben, daß es Verbrechen gibt, die immer und überall, nach jedem Gesetz und schon seit dem Anfang der Welt als fraglose Verbrechen angesehen worden sind, und die man noch weiter als solche betrachten wird, solange der Mensch ein Mensch bleibt. Nur habe ich im Ostrogg von den schrecklichsten, grauenvollsten, wahrhaft ungeheuerlichsten Morden mit dem unbezwingbarsten, mit kindlich heiterem Lachen erzählen gehört.
So kann ich bisweilen die Erinnerung an einen Vatermörder nicht los werden. Er war Edelmann und hatte als halbwegs verlorener Sohn bei seinem alten sechzigjährigen Vater gelebt, ein ausschweifendes Leben geführt und viel Schulden gemacht. Der alte Vater redete ihm ins Gewissen, und als das Reden nicht half, entzog er ihm das Geld zur Ausschweifung. Der Alte besaß aber ein Haus und ein kleines Gut, und außerdem vermutete man, daß er Geld hatte, – und der Sohn ermordete den Vater um dieses Geldes willen. Das Verbrechen war erst nach einem Monat entdeckt worden. Der Mörder hatte selbst der Polizei angezeigt, daß sein Vater spurlos verschwunden sei, und den ganzen Monat verbrachte er in Saus und Braus. Der Polizei war aber sein Treiben bald verdächtig erschienen, und eines Tages, während seiner Abwesenheit, hatte man den Leichnam des Ermordeten auf dem Hof in dem mit Brettern zugedeckten Abzugsgraben gefunden. Der Leichnam war vollständig angekleidet und augenscheinlich sehr sorgsam dort hingebettet worden: das graue Haupt war vollständig abgetrennt, doch hatte der Mörder es wieder an den Rumpf gedrückt und außerdem noch ein Kissen unter dasselbe geschoben. Er hatte seine Schuld nicht eingestanden, war aber trotzdem seines Adels und Ranges beraubt und auf zwanzig Jahre zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Während der ganzen Zeit, die ich mit ihm zusammen im Ostrogg verbrachte, befand er sich in der besten, heitersten Gemütsstimmung. Es war ein überaus leichtsinniger, unvernünftiger, verdrehter Mensch, wenn auch längst kein Dummer. Ich habe niemals irgend welche besondere Brutalität an ihm bemerken können. Die übrigen Sträflinge verachteten ihn, doch taten sie es nicht etwa seines Verbrechens wegen – davon war überhaupt nicht die Rede –, sondern wegen seiner Einfalt, weil er sich nicht zu „benehmen“ verstand. Unterhielt man sich mit ihm über dies und das, so kam er nicht selten auch auf seinen Vater zu sprechen. Einmal, als wir von der Gesundheit sprachen, die in seiner Familie erblich sei, fügte er noch beiläufig hinzu:
„Mein Vater zum Beispiel hat bis zu seinem Tode kein einziges Mal über Krankheit geklagt.“
Eine dermaßen tierische Gefühllosigkeit scheint natürlich kaum glaublich: das war geradezu ein Phänomen. Wer weiß, ob ihr nicht irgend eine unglückliche Veranlagung, eine körperliche oder sittliche Mißgestaltung, die von der Wissenschaft noch nicht erforscht ist, zugrunde liegt, und wir folglich kein gewöhnliches Verbrechen vor uns haben. Zuerst glaubte ich es gar nicht, daß er ihn ermordet habe. Es waren da aber auch Leute aus derselben Stadt, die alle Einzelheiten des Falles kannten und mir den ganzen Prozeß erzählten. Die Tatsachen waren dermaßen klar, daß sie jeden Zweifel an seiner Schuld ausschlossen. Und einmal hatten die anderen Sträflinge gehört, wie er nachts im Traum geschrieen hatte:
„Halt ihn, halt ihn! Hau’ ihm den Kopf ab, den Kopf, den Kopf!“
Fast alle Sträflinge sprachen im Traum und phantasierten viel. Von Messern und Äxten träumte ihnen offenbar nicht selten und Schimpfworte und Banditenjargon hörte man in jeder Nacht.
„Wir sind unter der Knute,“ sagten sie zuweilen, „die liegt auch auf unserem Inneren, darum schreien wir auch in der Nacht.“
Die staatliche Zwangsarbeit war für sie keine Beschäftigung, sondern eine Pflicht: der Sträfling arbeitete seine Zeit ab oder drückte sich um die Arbeit in den festgesetzten Stunden, so gut es ging, herum und kehrte dann in den Ostrogg zurück. Die Zwangsarbeit rief in ihnen nur Haß hervor. Doch ohne eine besondere, eigene Beschäftigung, der er sich mit seiner ganzen Seele und seiner ganzen Vernunft hingeben kann, würde es kein Mensch im Ostrogg aushalten. Und das ist ja auch nur zu begreiflich, denn wie hätte sich sonst dieses ganze, immerhin entwickelte Volk, das stürmisch gelebt hatte, das Leben liebte und leben wollte, das hier gewaltsam in einen Haufen zusammengetrieben, das gewaltsam von der Gesellschaft und dem normalen Leben abgetrennt worden war, – wie hätte sich dieses Volk hier normal und regelrecht nach eigenem Willen und Verlangen anders einleben können? Schon allein durch den Müßiggang würden sich in ihm bald verbrecherische Eigenschaften entwickelt haben, von denen früher vielleicht mancher nichts geahnt hatte. Ohne Beschäftigung und ohne gesetzmäßiges, normales Eigentum kann der Mensch nicht leben: er verdirbt und wird zum Tiere. Und darum hatte ein jeder im Ostrogg – wohl aus dem Gefühl der Selbsterhaltung und dem natürlichen Bedürfnis heraus – seine eigene, besondere Beschäftigung, sein eigenes Handwerk.
Der lange Sommertag war von der Zwangsarbeit ganz und gar ausgefüllt; in der kurzen Nacht konnte man sich kaum ausschlafen. Im Winter aber mußten die Arrestanten vorschriftsmäßig schon früh, sobald es nur zu dunkeln begann, im Ostrogg eingeschlossen werden. Was sollte man nun an diesen langen, langweiligen Winterabenden beginnen? Und so verwandelte sich denn jede Kaserne, trotz des Verbots, in eine große Werkstube. Das heißt, Arbeit an sich war ja nicht verboten; verboten war aber aufs strengste, irgendwelche Instrumente bei sich zu haben oder überhaupt in der Kaserne zu besitzen; ohne diese war jedoch auch jede Arbeit unmöglich. Daher wurde nur heimlich gearbeitet, doch die Wache schien es in der Beziehung nicht immer sehr genau mit der Vorschrift zu nehmen.
Viele Sträflinge hatten früher nichts gelernt und waren in den Ostrogg gekommen, ohne auch nur irgend etwas Rechtes zu verstehen. Da gab es nun Schuhmacher und Schneider, Tischler und Schlosser, Bildschnitzer und Vergolder. Auch gab es einen Juden unter ihnen, Issai Bummstein, der Juwelier und Wucherer zugleich war. Alle mühten sie sich und verdienten sich ihre paar Kopeken. Die Aufträge kamen aus der Stadt. Geld ist gemünzte Freiheit und daher für einen Menschen, der jeder Freiheit beraubt ist, zehnmal wertvoller, als einem Freien. Wenn es nur in seiner Tasche klingt, so ist er schon halbwegs getröstet, selbst wenn er es nicht einmal ausgeben kann. Nur ist es Tatsache, daß man Geld immer und überall ausgeben kann, umsomehr, als die verbotene Frucht doppelt so süß ist. Im Ostrogg aber konnte man sogar Branntwein dafür erstehen. Pfeifen waren strengstens verboten und doch wurden sie von allen geraucht. Geld und Tabak bewahrten vor Skorbut und anderen Krankheiten, und die Arbeit bewahrte vor Verbrechen. Ohne Arbeit hätten die Sträflinge sich gegenseitig aufgefressen, wie die Spinnen im Glase.
Nichtsdestoweniger war Geld und eigene Arbeit verboten und nicht selten wurden mitten in der Nacht ganz plötzlich Durchsuchungen vorgenommen; alles Verbotene wurde konfisziert, und selbst das Geld, wie sorgfältig es auch versteckt werden mochte, fiel den Durchsuchenden bisweilen doch in die Finger. Das war auch teilweise der Grund, warum es nicht gespart, sondern baldmöglichst vertrunken wurde, und aus demselben Grunde kam denn auch der Branntwein in den Ostrogg. Nach jeder Durchsuchung wurde der Schuldige, abgesehen davon, daß er sein ganzes Kapital verlor, auch noch schmerzhaft bestraft. Aber nach jeder Durchsuchung wurde das Notwendigste sofort ersetzt und alsbald gab es neue Sachen und alles war wieder beim Alten. Das wußten auch die Vorgesetzten, doch nahmen sie es ebenso gleichmütig hin, wie die Sträflinge ihre Strafe, über die sie nicht einmal murrten, obgleich doch ein solches Leben demjenigen der Ansiedler auf dem Vesuv nicht unähnlich war.
Wer kein Handwerk verstand, wählte sich einen anderen Erwerbszweig, häufig einen sehr originellen. Einige beschäftigten sich zum Beispiel nur mit Auf- und Verkauf, also mit Zwischenhandel, doch womit sie handelten waren meistens Sachen, bei deren Anblick einer, der außerhalb des Ostrogg lebt, nie und nimmer auf die Idee käme, – nicht etwa, daß man so etwas kaufen oder gar verkaufen konnte, sondern daß so etwas überhaupt ein Gegenstand war. Aber man war eben sehr arm und dabei sehr gewerbtätig. Selbst die letzten Lumpen hatten noch ihren Wert und konnten, wie man sieht, doch noch zu etwas verwandt werden. Infolge der Armut hatte auch das Geld einen ganz anderen Wert im Ostrogg, als draußen in der freien Welt. Eine große und komplizierte Arbeit wurde mit Kopeken bezahlt. Einige etablierten sich als Kreditbanken und trieben ihren Wucher mit gutem Erfolg. Hatte ein Sträfling alles durchgebracht, oder hatte er nach einer Durchsuchung „bankrott gemacht“, so trug er seine letzten Sachen zum Wucherer, und erhielt von diesem zu ungeheuren Prozenten nur wenige Kupferstücke. Konnte er seine Sachen nicht vor dem Termin einlösen, so wurden sie unverzüglich und unbarmherzig verkauft. Ja, der Wucher blühte dermaßen, daß selbst dem Staate gehörende Gegenstände, wie z. B. Wäsche, Stiefel usw., verpfändet wurden, Sachen, die ein jeder Sträfling in jedem Augenblick brauchte. Doch geschah es bisweilen, daß diese Versatzgeschäfte eine andere Wendung nahmen, die indes nicht ganz unerwartet kam. Der Sträfling, der seine letzten Sachen verpfändet und dafür Geld empfangen hatte, ging darauf unverweilt, und ohne ein Wort zu reden, zum ältesten Unteroffizier, dem nächsten Vorgesetzten des Ostrogg, und meldete ihm, daß er seine staatlichen Kleidungsstücke versetzt habe, die dann von diesem unverzüglich dem Wucherer wieder abgenommen wurden, sogar ohne daß vorher die höheren Vorgesetzten von dem Vorfall benachrichtigt worden wären. Interessant war, daß es dabei nicht einmal zu einem Streit kam: der Wucherer gab schweigend und verdrossen das Betreffende zurück, und es hatte sogar den Anschein, als habe er selbst einen solchen Ausgang erwartet. Vielleicht gestand er sich unwillkürlich, daß er an Stelle des Verpfänders wohl ebenso gehandelt haben würde. Und wenn er dann später auch einmal darüber schimpfte, so tat er es eigentlich ohne jeden Groll, er schimpfte sich einfach aus, um sich das Herz zu erleichtern.
Gestohlen wurde entsetzlich viel. Fast jeder besaß seinen eigenen verschließbaren Kasten, in dem er die ihm zugeteilten Kleidungsstücke aufbewahrte; das war erlaubt. Diese Kasten retteten nichts. Ich glaube, man wird sich leicht denken können, wie geschickt diese Diebe waren. Mir selbst stahl ein Sträfling, der mir aufrichtig zugetan war (ich sage es, ohne mir dabei etwas einzubilden), meine Bibel, das einzige Buch, das man im Ostrogg besitzen durfte. Er gestand es mir noch am selben Tage ganz naiv, doch tat er es nicht etwa aus Reue, sondern nur aus Mitleid mit mir, da ich sie lange vergeblich suchte.
Unter anderem gab es auch Weinhändler, die Branntwein verkauften und damit gute Geschäfte machten. Auf diesen Erwerbszweig werde ich noch besonders zu sprechen kommen, zumal er in seiner Art nicht uninteressant ist. Auch gab es viele wegen Schmuggels Verurteilte, und so braucht es einen denn auch nicht zu wundern, daß trotz aller Durchsuchungen, Schildwachen und Aufseher dennoch Branntwein in den Ostrogg gelangte. Der Schmuggel ist seinem Charakter nach eine ganz besondere Gesetzübertretung. Zum Beispiel, kann man sich vorstellen, daß das Geld, das Verdienst bei den meisten Schmugglern eine ganz nebensächliche Rolle spielt, oder für sie wenigstens erst in zweiter Linie in Betracht kommt? Und doch verhält es sich in den meisten Fällen tatsächlich so. Der Schmuggler schmuggelt aus Leidenschaft, weil der Hang dazu ihm angeboren ist. In gewisser Beziehung ist er förmlich ein Dichter. Er riskiert alles, er begibt sich in die größte Gefahr, er erfindet, er versucht sich aus der Schlinge zu ziehen, er stellt noch anderen Fallen – mitunter tut er es sogar wie auf höhere Eingebung. Die Leidenschaft des Schmugglers ist nicht geringer als die des Kartenspielers.
Ich kannte im Ostrogg einen Sträfling von ungeheurem Körperbau, der aber so sanft, so still und bescheiden war, daß man sich erstaunt fragte, für welches Vergehen ein solcher Mensch wohl zur Zwangsarbeit verurteilt sein mochte. Er war dermaßen friedlich und gutmütig, daß er sich während seiner ganzen Strafzeit im Ostrogg mit keinem einzigen gezankt hat. Er stammte von der westlichen Grenze, war wegen Schmuggels verurteilt worden und konnte, versteht sich, auch im Ostrogg nicht von seiner Leidenschaft lassen, und so schmuggelte er Branntwein. Wie oft war er dafür schon bestraft worden und wie fürchtete er die Ruten! Und dabei brachte ihm dieser Schmuggel nur sehr wenig ein, sogar lächerlich wenig. Der Branntwein machte nur den „Entrepreneur“ reich. Aber der Sonderling liebte die Kunst um der Kunst willen. Er war weinerlich wie ein Weib und wie oft schwor er sich nach einer neuen Strafe, nie wieder etwas durchzuschmuggeln und männlich bezwang er sich zuweilen einen ganzen Monat, bis – bis er es doch nicht aushielt ... Dank solcher Käuze war der Ostrogg stets mit Branntwein versorgt.
Endlich gab es auch noch eine Einnahme, die die Sträflinge zwar nicht reich machte, dafür aber beständig und wohltuend war: die Almosen. Die höheren Klassen unserer Gesellschaft können sich keine Vorstellung davon machen, wie die Kaufleute, Bürger und unser ganzes Volk für die „Unglücklichen“ sorgt! Es werden fast ununterbrochen milde Gaben gegeben, die meistens in Brot, Semmeln, Kalatschen bestehen, selten in Geld. Ohne diese Gaben hätten es die Gefangenen, besonders diejenigen, welche in Untersuchungshaft sind, und daher viel strenger gehalten werden, als die Verurteilten, an vielen Orten gar zu schwer. Das Geschenkte wird von den Sträflingen gewissenhaft zu gleichen Teilen verteilt. Reicht es nicht für alle, so werden die einzelnen Kalatschen in gleichgroße Stücke geschnitten, zuweilen sogar in ganze sechs, aber jeder Gefangene erhält unbedingt seinen peinlich genau abgemessenen Anteil.
Ich entsinne mich noch, wie ich zum erstenmal ein Almosen erhielt. Es war bald nach meiner Ankunft im Ostrogg. Ich kehrte von der Morgenarbeit ganz allein mit einem Soldaten unserer Wache zurück und da begegneten mir unterwegs eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, einem etwa zehnjährigen Mädchen, das wie ein Engel reizend war. Ich hatte beide schon einmal gesehen. Die Mutter war eine Soldatenwitwe. Ihr Mann, ein junger Soldat, war während seiner Untersuchungshaft im Lazarett gestorben, als auch ich dort in der Gefangenenabteilung lag. Die Frau und sein Töchterchen waren zum Abschied hingekommen, und beide hatten sie herzbrechend geweint. Als nun die Kleine mich erblickte, errötete sie und flüsterte der Mutter schnell etwas zu; die blieb sogleich stehen, suchte ihr Schnupftuch hervor, löste den Knoten und gab der Kleinen eine Viertelkopeke, die mir sogleich damit nachgelaufen kam: „Da, Unglücklicher, nimm um Christi willen dies Kopekchen!“ sagte sie, indem sie mir gerade vor die Füße lief und sich bemühte, mir die kleine Münze in die Hand zu drücken. Ich nahm ihr „Kopekchen“ und die Kleine kehrte vollauf befriedigt zu ihrer Mutter zurück. Ich habe lange die kleine Münze aufbewahrt.
Der erste Monat und überhaupt die erste Zeit meines Aufenthaltes im Ostrogg stehen selbst jetzt noch wie lebendig vor mir. Alle meine späteren Gefängnisjahre sind mir viel verschwommener, ungenauer in der Erinnerung geblieben. Einiger von ihnen kann ich mich fast gar nicht mehr erinnern, sie haben sich gleichsam mit den anderen vermischt, als wären sie ineinander geflossen, und alles, was mir von ihnen in der Erinnerung geblieben, ist nur eine einzige große Empfindung: die der Schwere, Einförmigkeit, Bedrücktheit.
Aber alles, was ich in den ersten Tagen meiner Kátorga durchlebt habe, ist mir, als wäre es gestern gewesen. Und das ist ja auch ganz verständlich.
Ich erinnere mich deutlich, daß mich schon beim ersten Schritt in dieses Leben vor allem Eines stutzig machte: daß ich, wie es mir schien, nichts besonders Auffallendes, Ungewöhnliches, oder richtiger, Unerwartetes in ihm fand. Ich glaubte alles auch schon früher in der Phantasie so gesehen zu haben, als ich noch auf dem Wege nach Sibirien mein Schicksal im voraus zu erraten suchte. Doch das änderte sich bald: eine Unmenge der allerunerwartetsten Seltsamkeiten, der ungeheuerlichsten Tatsachen machte mich bald bei jedem Schritt von neuem stutzig. Die ganze Eigenart aber, dies ganze Ungeahnte eines solchen Lebens, ging mir erst viel, viel später in seiner vollständigen Neuheit auf, nachdem ich schon lange im Ostrogg gelebt hatte, und dann wunderte ich mich immer mehr darüber. Ich muß gestehen, diese Verwunderung hat mich während der ganzen langen Zeit meiner Verbannung nicht verlassen, ich konnte mich niemals von ihr befreien.
Mein erster Eindruck, nachdem ich den Ostrogg betreten hatte, war im allgemeinen der des Ekels; aber nichtsdestoweniger schien es mir – so seltsam es auch klingen mag –, daß das Leben im Ostrogg viel leichter sei, als ich es mir unterwegs vorgestellt hatte. Die Sträflinge gingen – allerdings in Ketten – frei im ganzen Ostrogg umher, schimpften sich untereinander, sangen Lieder, arbeiteten für sich, rauchten Pfeifen, tranken sogar Branntwein (wenn auch nur verhältnismäßig wenige) und in der Nacht wurde Karten gespielt. Die Arbeit selbst erschien mir durchaus nicht so schwer, durchaus nicht so „sibirisch“, und erst nach ziemlich langer Zeit erriet ich, daß das „Sibirische“ dieser Arbeit nicht so sehr in ihrer Schwere und ununterbrochenen Dauer bestand, als vielmehr darin, daß sie „Zwangs“-Arbeit, befohlene Arbeit, eisernes Muß unter dem Stock war. Ein Bauer arbeitet zu Hause auf dem Felde oder sonstwo unvergleichlich mehr, im Sommer zuweilen sogar noch in der Nacht; aber er arbeitet für sich, er arbeitet zu einem vernünftigen Zweck, und die schwere Arbeit ist ihm unvergleichlich leichter, als dem Zwangsarbeiter die viel geringere, doch erzwungene und für ihn völlig nutzlose Arbeit. Es kam mir einmal folgender Gedanke: wollte man einen Menschen mittels einer Strafe vollständig erdrücken, ihn völlig vernichten, ihm eine so grauenvolle Strafe auferlegen, daß selbst der ruchloseste Mörder vor ihr erbebte und sich im voraus abschrecken ließe, so würde es genügen, seiner Zwangsarbeit den Charakter einer vollkommenen Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit zu geben. Wenn die sonst übliche Zwangsarbeit für den Sträfling auch uninteressant und langweilig ist, so hat sie doch immerhin als Arbeit einen Sinn: der Sträfling muß Ziegel brennen, Erde graben, Maurerarbeit machen, bauen; eine solche Arbeit hat, wie gesagt, Sinn und Zweck. Der Zwangsarbeiter läßt sich zuweilen sogar von ihr fortreißen, er will sie gewandter, fixer, besser verrichten. Würde man ihn dagegen anstellen, zum Beispiel Wasser aus einem Kübel in einen anderen zu gießen, und dann wieder zurück in den ersten, oder Sand zu stoßen, einen Haufen Erde von einem Platz auf einen anderen, und von dort wieder zurückzukarren, – ich glaube, der Sträfling würde sich schon nach wenigen Tagen erwürgen oder tausend Verbrechen begehen, um, wenn nicht anders, lieber zu sterben, als in dieser Erniedrigung, Schande und Qual weiterzuleben. Versteht sich, eine solche Strafe würde zur Folter, zur grauenvollsten Rache werden und wäre sinnlos, denn sie würde kein einziges vernünftiges Ziel erreichen. Da aber ein Teil einer solchen Folter, einer solchen Sinnlosigkeit, Erniedrigung und Schmach unbedingt in jeder erzwungenen Arbeit enthalten ist, so ist auch die sibirische Zwangsarbeit gerade dadurch, daß sie erzwungen ist, unvergleichlich schwerer als jede freiwillige.
Ich kam übrigens im Winter in den Ostrogg, im Dezember, und sah und wußte daher noch nichts von der Sommerarbeit, die fünfmal schwerer ist. Im Winter jedoch gab es in unserer Festung nur wenig Arbeit. Die Sträflinge gingen an das Ufer des Irtysch, um dort alte Barken, die Staatseigentum waren, abzubrechen, arbeiteten in den Werkstätten, schaufelten in der Stadt vor allen Staatsgebäuden den Schnee fort, der von den Stürmen immer wieder aufgeweht wurde, brannten und stießen Alabaster und taten ähnliches mehr.
Der Wintertag war sehr kurz, die Arbeit schnell zu Ende, und so kehrten denn die Sträflinge schon früh in den Ostrogg zurück, wo sie so gut wie nichts zu tun hatten, wenn sie nicht zufällig für sich selbst etwas arbeiten wollten. Doch mit eigener Arbeit beschäftigte sich vielleicht nur ein Drittel aller Gefangenen; die übrigen schlugen die freie Zeit mit Müßiggang tot, schlenderten aus einer Kaserne in die andere, schimpften, stritten, spannen Intrigen, verbreiteten Klatschgeschichten und betranken sich, wenn sie nur irgendwie ein paar Kopeken ergattert hatten; in der Nacht verspielten sie noch ihr letztes Hemd, – und das alles nur aus Langeweile, aus Müßiggang und dem bevorzugten Nichtstun!
Mit der Zeit begriff ich, daß es außer dem Verlust der Freiheit, außer der Zwangsarbeit im Leben des Sträflings noch eine Qual gibt, die fast größer ist, als alle anderen: das ist das erzwungene allgemeine Zusammenleben. Allgemeines Zusammenleben gibt es natürlich auch an anderen Orten, in den Ostrogg aber kommen Menschen, mit denen sich nicht ein jeder gern einleben will, und ich bin überzeugt, daß jeder Sträfling diese Qual mehr oder weniger empfunden hat, wenn auch, versteht sich, größtenteils nur unbewußt.
Auch das Essen erschien mir recht reichlich bemessen. Viele versicherten, daß es in den Gefängnissen des europäischen Rußland schlechter sei. Darüber kann ich nicht urteilen: ich bin nicht in ihnen gewesen. Zudem konnten es sich viele leisten, besonderes Essen für sich zu bestellen. Rindfleisch kostete bei uns zwei Kopeken das Pfund, im Sommer drei Kopeken. Trotzdem aßen nur die wenigen, die beständig Geld besaßen, eigenes Essen; die große Mehrzahl begnügte sich mit der Staatskost. Übrigens meinten die Sträflinge, wenn sie ihre Kost lobten, damit nur das Brot und vornehmlich segneten sie den einen Vorzug desselben: daß es uns gemeinsam und nicht pfundweis jedem einzelnen zugeteilt wurde, denn das wäre für sie wahrhaft grauenvoll gewesen. Bei einer Verteilung nach dem Gewicht hätte sich mindestens ein Drittel nicht satt essen können, während es so für alle ausreichte.
Unser Brot war in der Tat ganz besonders schmackhaft und als solches in der ganzen Stadt berühmt. Man schrieb diesen Vorzug dem gelungenen Bau unserer Backöfen zu. Die Kohlsuppe war dagegen sehr mangelhaft. Sie wurde in einem großen Kessel gekocht, mit etwas Graupen versehen, und so war sie, besonders an den Werktagen, wässerig und mager. Mich entsetzte an ihr die große Menge Schaben, die alle ruhig mitgekocht wurden. Die übrigen Sträflinge schenkten ihnen aber überhaupt keine Beachtung.
Die ersten drei Tage wurde ich noch nicht mit den anderen zur Arbeit geschickt; so verfuhr man mit jedem Neuangekommenen: man ließ ihn nach der Reise sich etwas ausruhen. Doch schon am nächsten Tage war ich gezwungen, auf kurze Zeit den Ostrogg zu verlassen, da mir andere Fesseln angeschmiedet werden mußten. Meine Fesseln waren noch nicht die vorschriftsmäßigem sondern aus Ringen bestehende, „Hellklingende“, wie die Gefangenen sie nannten. Die hatte ich über den Kleidern getragen. Die vorschriftsmäßigen Ostroggfesseln, die auch bei der Arbeit nicht hinderlich waren, bestanden nicht aus Ringen, sondern aus vier etwa fingerdicken eisernen Stäben, die durch drei eiserne Ringe miteinander verbunden waren. Diese trug man unter den Beinkleidern. An den mittleren Ring war ein Riemen befestigt, der seinerseits an den Gürtelriemen, den man direkt über dem Hemde tragen mußte, angebracht wurde.
Ich entsinne mich noch deutlich meines ersten Morgens in der Kaserne.
Die Wache vor dem Tore des Ostrogg hatte schon die Trommel geschlagen. Nach ungefähr zehn Minuten kam der wachhabende Unteroffizier und schloß die Türen auf. Wir waren inzwischen schon aufgewacht. Beim glanzlosen Schein eines armseligen Talglichts erhoben sich, zitternd vor Kälte, die Arrestanten von ihren Pritschen. Fast alle waren in der Verschlafenheit schweigsam und mürrisch. Sie gähnten, streckten ihre Glieder und runzelten die gebrandmarkten Stirnen. Einige bekreuzten sich, andere fingen schon an, sich zu streiten. Die Luft war zum Ersticken. Sobald nur die Tür aufgemacht wurde, drang die frische Winterluft wie Dampfwolken herein und verbreitete sich in der Kaserne. An den Wassereimern drängten sich die Sträflinge: sie nahmen der Reihe nach die Schöpfkelle, schöpften Wasser aus den Eimern, nahmen das Wasser in den Mund und wuschen sich Gesicht und Hände mit dem aus dem Munde fließenden Wasser. Die Eimer werden schon am Abend von dem zum „Stubendienst“ bestimmten Sträfling bereitgestellt. In jeder Kaserne gab es einen, der von den anderen zum Stubendienst gewählt war. Er wurde der Reiniger genannt und ging nicht zur Arbeit. Seine Arbeit bestand darin, daß er die Kaserne an jedem Morgen aufräumte und überhaupt für ihre Reinlichkeit sorgte, daß er die Pritschen und den Fußboden scheuerte und abschabte, daß er den Nachtkübel hinaustrug und das Wasser besorgte, zwei Eimer voll – morgens zum Waschen und am Tage zum Trinken. Wegen der Schöpfkelle, wovon wir nur ein Exemplar besaßen, kam es bald zum Streit.
„Wohin kraufst du mit deiner verzierten Fratze!“ brummte mürrisch ein hochgewachsener, hagerer Sträfling von dunkler Gesichtsfarbe, dessen abrasierter Schädel ganz eigentümliche Wölbungen aufwies, einen anderen Sträfling an, der etwas untersetzt und wohlgenährt war und ein heiteres, frisches Gesicht hatte. – „Wart!“
„Was schreist du! Für ‚Wart‘ zahlt man Geld bei uns ... Pack dich lieber selber ... Seht doch, reckt sich hier aus wie ’n Monument! Das heißt, Brüder, deswegen ist er noch lange keins, es ist ja an ihm noch nichts Verstümmeltes zu sehen.“
Die letzte Bemerkung machte einen gewissen Eindruck: viele lachten. Das aber war alles, was der lustige Dicke haben wollte, da er in der Kaserne augenscheinlich so etwas wie ein freiwilliger Possenreißer war. Der hochgewachsene Sträfling blickte ihn mit tiefer Verachtung von oben herab an.
„Sau!“ sagte er gleichsam nur so vor sich hin, – „hat sich am Ostroggbrot so vollgefressen, daß man von ihm zum ersten Fleischtag nach den Fasten zwölf Ferkel erwarten kann.“
Der Dicke wurde wütend.
„Was bist du denn für ein Vogel?“ schrie er plötzlich, puterrot im Gesicht.
„Das ist’s ja, daß ich ’n Vogel bin!“
„Was für einer denn?“
„Solch einer.“
„Was für solch einer?“
„Das ist schon so ’n Wort: solch einer.“
„Aber so sag doch, was für einer?“
Beide sahen sich an, als wollten sie sich mit ihren Blicken ineinander einhaken. Der Dicke wartete gespannt auf die Antwort und ballte die Fäuste, wie wenn er sich sofort auf den anderen zu stürzen beabsichtigte. Ich war überzeugt, daß es zu einer Rauferei kommen würde. Neugierig beobachtete ich sie, denn alles, was ich hier sah, war mir noch so neu. Später erfuhr ich, daß alle derartigen Szenen ganz harmlos waren und nur zur allgemeinen Unterhaltung und zum Ergötzen der anderen vorgespielt und friedlich wieder beigelegt wurden – ganz wie in der Komödie. Bis zum Handgemenge kam es fast nie. Das war ziemlich charakteristisch und bezeichnend für die Sitten und Bräuche des Ostrogg.
Der hochgewachsene Sträfling stand ruhig und stolz da: er wußte, daß alle auf ihn sahen und warteten, ob er sich mit seiner Antwort blamieren würde oder nicht. Er mußte seine Stellung behaupten, mußte beweisen, daß er tatsächlich ein Vogel war, und mußte sagen, was für ein Vogel. Mit unbeschreiblicher Verachtung blickte er über die Schulter auf seinen Gegner, bemüht, zur größeren Beleidigung möglichst schräg, möglichst von oben herab zu sehen, indem er ihn wie einen Käfer unter der Lupe fixierte, und dann erst sagte er ebenso langsam wie deutlich:
„Ein Reiher!“
Das hieß, er selbst sei ein Reiher. Eine laute Lachsalve war die Antwort auf die Findigkeit des Sträflings.
„Ein Spitzbube bist du, aber kein Reiher!“ brüllte ihn der Dicke wutschnaubend an, da er fühlte, daß er in allen Punkten geschlagen war.
Doch kaum nahm der Streit eine gefährlichere Wendung, da wurden die Kampflustigen auch schon zur Ruhe gewiesen.
„Was schreit ihr da! Halt’s Maul!“ rief ihnen die ganze Kaserne zu.
„Haut euch doch lieber, als daß ihr da Zeter schreit!“ rief ihnen einer aus der Ecke zu.
„Halt du sie lieber fest, damit sie sich nicht hauen!“ war die Antwort der anderen. „Wir sind ein flinkes Volk, sind aber auch hitzig. Zu sieben werden wir uns nicht vor einem fürchten und einzeln auch nicht vor sieben ...“
„Sie sind beide gut! ... Der eine ist um ein Pfund Brot in den Ostrogg gekommen, und der andere, der O-beinige Weiberfreund, hat bei einem Weibe saure Milch gefressen und dafür sich die Knute erworben ...“
„Nu–nu–nun, jetzt könnt ihr aufhören!“ unterbrach sie unser Invalide, der zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Kaserne lebte und in der Ecke auf einer besonderen Pritsche schlief.
„Wasser, Kinder! Unser Nevalid Petrowitsch ist erwacht! Wasser für Nevalid Petrowitsch, unseren leiblichen Bruder!“
„Bruder ... Was bin ich dir für ein Bruder? Haben noch keinen Rubel zusammen vertrunken, und schon Bruder!“ brummte der Invalide, indem er gemächlich die Arme in die Ärmel seines Uniformmantels schob und sich ankleidete.
Man bereitete sich zur Kontrolle vor; die Morgendämmerung nahm zu, es begann zu tagen. In der Küche drängte sich die ganze Schar, in Halbpelzen, auf dem Kopf die zweiteiligen Mützen, um das Brot, das von einem der Breiköche geschnitten wurde, in Empfang zu nehmen. Diese Breiköche wurden gleichfalls von der ganzen Abteilung gewählt, für jede Küche zwei. Von ihnen wurde auch das Küchenmesser aufbewahrt, das man zum Fleisch- und Brotschneiden nötig hatte, – das einzige Messer in der ganzen Küche.
In allen Ecken und an allen Tischen setzten sich die Sträflinge nieder, alle in Mützen, Halbpelzen, gegürtet und bereit zum Ausbruch zur Arbeit. Vor mehreren standen schon hölzerne Schüsseln mit Kwas[2], in die Brot hineingebröckelt und die dann ausgeschlürft wurde. Der Lärm und das Geschrei waren unerträglich; doch einige unterhielten sich ganz ruhig und vernünftig in den Ecken.
„Wohl bekomm’s, alter Antonytsch! – laß dich grüßen!“ sagte ein junger Sträfling zu einem mürrischen, zahnlosen Alten, und setzte sich neben ihn hin.
„Nu, schon gut, wenn du nicht spaßt,“ sagte jener, ohne auch nur den Blick zu erheben, und mühte sich, mit seinen zahnlosen Kiefern sein Brot zu zerkauen.
„Denk doch, Antonytsch, ich glaubte, daß du gestorben seiest, wahrhaftig!“
„Nein, stirb du zuerst, dann werd’ ich’s dir nachmachen ...“
Ich setzte mich neben sie hin. Rechts von mir unterhielten sich zwei ernste Männer, die augenscheinlich bestrebt waren, ihre Würde vor einander zu wahren.
„... Mir wird niemand etwas stehlen,“ sagte der eine, „ich, Bruder, ich muß mich selbst in acht nehmen, daß ich nicht anderen etwas stehle.“
„Nun, auch mich versuch nicht mit bloßer Hand zu nehmen: sieh dich vor, verbrennst dich.“
„Was kannst du denn hier verbrennen? Bist doch ebenso ein Zuchthäusler ... Sie nimmt dir alles ab und dankt dir nicht einmal dafür. So sind auch meine Kopeken dahingegangen. Vor kurzem kam sie noch von selbst. Aber wohin sollte ich mit ihr? Ich wollte schon den Henker Fedjka um Unterkunft bitten: er hatte doch noch in der Vorstadt ein Haus stehen, hatte es dem grindigen Salomon, dem Lausejuden, abgekauft, demselben, der sich dann später aufknüpfte ...“
„Ich weiß. Er verkaufte bei uns schon das dritte Jahr Branntwein und wurde Grischka, die dunkle Schenke, genannt. Ich weiß schon.“
„Da sieht man gleich, daß du nichts weißt! Das war doch eine andere dunkle Schenke!“
„Was für eine andere! Du willst immer allein alles wissen! Ich werde dir soviel Zeugen aufstellen ...“
„Wirst aufstellen! Wer bist du, und woher bin ich?“
„Wer! Dich habe ich schon geschlagen, prahle aber gar nicht damit. Du aber fragst noch wer!“
„Du und mich geschlagen! Wer mich schlagen wollte, ist noch nicht geboren und wer mich geschlagen hat, der liegt schon unter der Erde!“
„Daß dich die Pest! ...“
„Daß dich die sibirische Seuche fresse!“
„Daß dich ein Türkensäbel –!“
Und das Schimpfen hub an.
„Nununu! Was reißt ihr eure Mäuler!“ schrie man sie rundum an. „Habt ihr nicht verstanden, in Freiheit zu leben, so dankt Gott, daß man euch hier noch reines Brot gibt ...“
Bei jedem Wortwechsel sorgen die anderen dafür, daß es nicht zu Tätlichkeiten kommt. Schimpfen, mit der Zunge „prügeln“ – das wird erlaubt, das kann man nach Herzenslust, denn teilweise ist so etwas für alle eine kleine Zerstreuung. Bis zum Handgemenge aber ließen sie es nur selten kommen, und nur in einem Ausnahmefall konnten sich zwei Feinde raufen. Von jeder Rauferei muß dem Major Meldung gemacht werden; dann beginnen die Untersuchungen, der Major kommt selbst angefahren – mit einem Wort, das hat für alle sein Unangenehmes, und darum beugt man vor. Und auch die Feinde selbst schimpfen sich mehr der Zerstreuung halber, zur Ausbildung ihrer Redekunst. Nicht selten täuschen sie sich gegenseitig, geraten in furchtbare Hitze, ereifern sich entsetzlich ... man glaubt: jetzt werden sie sofort aufeinander losstürzen – fällt ihnen aber gar nicht ein: sie bringen es bis zu einem gewissen Höhepunkt und gehen dann plötzlich ganz ruhig auseinander. Das setzte mich anfangs nicht wenig in Erstaunen. Ich habe hier absichtlich die alleralltäglichsten Gespräche als Beispiele angeführt. Früher hätte ich es mir nie vorstellen können, daß man sich nur zum Vergnügen schimpfen, darin eine besondere Unterhaltung, eine angenehme Übung, kurz – etwas Angenehmes sehen könnte. Übrigens darf man hierbei auch nicht die Ruhmsucht vergessen. Der schimpfende Dialektiker genoß große Achtung und Bewunderung. Es fehlte nur noch, daß man ihm Beifall klatschte, wie einem guten Schauspieler.
Schon am ersten Abend fiel es mir auf, daß man scheel auf mich blickte. Ich hatte bereits mehrere finstere Blicke aufgefangen. Und andererseits hielten sich einige beständig in meiner Nähe auf, in der Vermutung, ich könne Geld mitgebracht haben. Nach kurzer Zeit suchten sie mir denn auch schon gewisse Dienste zu erweisen: sie zeigten mir, wie man die ungewohnten Fesseln am bequemsten trage, verschafften mir – selbstverständlich für mein Geld – einen kleinen verschließbaren Kasten, damit ich die mir ausgelieferten Kleidungsstücke und meine eigene Wäsche, die ich mitgebracht hatte, sicher unterbringen konnte. Doch schon am nächsten Tage hatten sie mir dieselbe gestohlen und vertrunken. Einer von ihnen wurde später mein ergebener Anhänger, doch hinderte ihn das durchaus nicht, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu bestehlen. Er tat es ohne das geringste Bedenken, fast sogar unbewußt oder als wäre es geradezu seine Pflicht gewesen, und man konnte ihm unmöglich böse sein.
Unter anderem belehrten sie mich, daß ich meinen eigenen Tee haben müsse, daß es auch nicht schlecht wäre, wenn ich mir gleich eine ganze Teekanne verschaffte, stellten mir aber sogleich eine andere bis dahin als Ersatz zur Verfügung und empfahlen mir besonders den einen Koch, indem sie noch besonders hervorhoben, daß er mir für etwa dreißig Kopeken monatlich alles, was ich nur wollte, zubereiten würde, wenn ich nicht die Festungskost zu genießen und mir eigenes Essen zu kaufen wünschte ... Natürlich liehen sie sofort von mir Geld und ein jeder von ihnen kam allein schon am ersten Tage mindestens dreimal zu mir, um mich anzuborgen.
Auf die ehemaligen Edelleute sieht man in der Kátorga ganz allgemein nur scheel und nichts weniger als wohlwollend. Die Sträflinge erkennen sie, ungeachtet dessen, daß sie aller Rechte beraubt und den übrigen Gefangenen vollständig gleichgestellt sind, niemals als ihre Kameraden und Genossen an. Das geschieht aber von ihnen nicht aus bewußtem Vorurteil, sondern vollkommen aufrichtig, unbewußt. Der Grund hierfür mag wohl in einem bestimmten Gefühl liegen. Sie erkannten uns vollkommen aufrichtig als Edelleute an, verspotteten uns aber ganz gern mit unserem tiefen Fall.
„Nein, wart mal, jetzt hat sich die Sache verändert! Einstmals fuhr Peter stolz durch Moskau, heute dreht Peter kleinlaut das Schiffstau,“ und noch eine Menge ähnlicher Liebenswürdigkeiten gingen an unsere Adresse.
Mit Hochgenuß beobachteten sie unsere Qualen, wie sehr wir uns auch bemühten, sie zu verbergen. Die liebreichsten Bemerkungen bekamen wir in der ersten Zeit bei der Arbeit zu hören: sie wurden uns verabfolgt, weil wir nicht so stark waren wie sie und ihnen infolgedessen nicht genügend helfen konnten. Nichts ist schwerer, als das Zutrauen des Volkes – besonders noch eines solchen Volkes – und seine Liebe zu erringen.
Im Ostrogg gab es mehrere Edelleute. Zunächst fünf Polen. Von diesen werde ich späterhin noch ausführlicher sprechen. Polen wurden von den Sträflingen äußerst wenig geliebt, sie waren ihnen noch viel verhaßter, als die Sträflinge aus dem russischen Adelstande. Die Polen – ich spreche hier nur von den politischen Verbrechern – waren zu ihnen ganz besonders, geradezu raffiniert, beleidigend höflich, hielten sich möglichst fern von ihnen und konnten es auf keine Weise verbergen, daß die Sträflinge sie anekelten, was jene natürlich vorzüglich begriffen und wofür sie mit derselben Münze heimzahlten.
Ich mußte fast ganze zwei Jahre im Ostrogg leben, um mir die Sympathie einiger weniger Sträflinge zu erwerben. Doch zu guterletzt gewann mich ein großer Teil derselben lieb und hielt mich für einen „guten“ Menschen.
Von russischen Edelleuten waren außer mir noch vier im Ostrogg. Einer von ihnen, ein niedriges, gemeines Geschöpf, war entsetzlich ausschweifend, ein geborener Spion und Hinterbringer. Ich hatte von ihm schon vor meinem Eintritt in den Ostrogg gehört und gab ihm daher denn auch bald zu verstehen, daß ich seine nähere Bekanntschaft nicht wünschte. Der zweite war jener Vatermörder, von dem ich schon gesprochen habe. Der dritte war Akim Akimytsch.
Ich weiß nicht, ob ich jemals einen so seltsamen Kauz gesehen habe, wie es dieser Akim Akimytsch war. Er ist mir unvergeßlich in der Erinnerung geblieben, deutlich sehe ich ihn noch vor mir. Er war groß von Wuchs, hager, schwachgeistig, unglaublich ungebildet, ein großer Raisonneur, und gewissenhaft wie ein Deutscher. Die Sträflinge lachten über ihn, viele aber fürchteten sich sogar davor, mit ihm etwas zu tun zu haben, wegen seines streitsüchtigen, anmaßenden und unleidlichen Charakters. Er stellte sich von vornherein wie ein alter Duzbruder zu ihnen, schimpfte und raufte sich womöglich mit allen und jedem. Dabei war er phänomenal ehrlich. Sobald er nur irgendwo eine Ungerechtigkeit bemerkte, mischte er sich ohne weiteres ein, gleichviel, ob ihn die Sache anging oder nicht. Naiv war er bis zur Unglaublichkeit; so warf er den anderen im Streite nicht selten vor, daß sie Diebe seien und suchte sie allen Ernstes zu überreden, nicht mehr zu stehlen.
Er hatte im Kaukasus als Fähnrich gedient. Wir traten uns schon am ersten Tage näher und er erzählte mir ungesäumt seine ganze Lebensgeschichte.
Seinen Dienst hatte er im Kaukasus begonnen, wo er als Junker in ein Linienregiment eingetreten war. Endlich war er befördert und als Oberkommandeur in irgend eine kleine Verschanzung oder Festung versetzt worden. Da hatte aber irgend ein kleiner, Rußland friedlich gesinnter Fürst aus der Nachbarschaft seine Festung in Brand gesteckt und einen nächtlichen Überfall versucht; der war ihm jedoch mißlungen. Akim Akimytsch dachte sich nun folgende List aus: er tat, als habe er keine Ahnung, wer der Feind gewesen war. Der Angriff wurde auf die aufständischen Bergvölker geschoben und bald vergessen. Nach einem Monat aber lud Akim Akimytsch den kleinen Fürsten recht freundschaftlich zu sich zu Gaste. Jener kam natürlich, ohne etwas zu ahnen. Akim Akimytsch ließ seine ganze Mannschaft feierlichst antreten, worauf er den Fürsten öffentlich überführte und ihm die Leviten las, indem er ihm bewies, daß es eine Schande sei, Festungen in Brand zu stecken. Darauf belehrte er ihn ausführlich, wie ein friedlich gesinnter Fürst sich in Zukunft zu verhalten habe und zum Schluß schoß er ihn nieder, wovon er dann selbst seinen Vorgesetzten mit allen Einzelheiten Meldung machte. Zur Belohnung für seine Heldentat wurde er dem Gericht überliefert, zum Tode verurteilt, doch wegen mildernder Umstände auf zwölf Jahre in die zweite Abteilung nach Sibirien zur Festungsarbeit verschickt.
Er sah vollkommen ein, daß er unrechtmäßig gehandelt hatte, er sagte mir, daß er dies auch schon vor der Erschießung des kleinen Fürsten gewußt habe; er habe es ganz genau gewußt, daß ein friedlicher Fürst nur nach dem Gesetz verurteilt werden dürfe; aber wie genau er auch alles wußte, seine Schuld konnte er doch nicht recht einsehen – er begriff sie einfach nicht.
„Aber ich bitt’ Sie! Er hatte mir doch meine Festung in Brand gesteckt! Was, sollte ich ihm dafür noch Dank sagen?“ fragte er mich, – und das war auch seine ganze Antwort auf alle meine Einwendungen.
Ich sagte bereits, daß die Sträflinge sich über Akim Akimytsch lustig machten, doch nichtsdestoweniger achteten sie ihn wegen seiner Gewissenhaftigkeit und seiner Geschicklichkeit.
Es gab kein Handwerk, das Akim Akimytsch nicht verstanden hätte. Er war Tischler, Schuster, Maler, Vergolder, Schlosser – und alles das hatte er erst im Ostrogg gelernt. Er machte alles, ohne daß es ihm besonders gezeigt wurde: er sah nur einmal hin und schon konnte er es selbst machen. Er verfertigte verschiedene kleine Kästchen, Körbchen, Laternen, Kinderspielzeug, und hatte seine Abnehmer in der Stadt. Die natürliche Folge davon war, daß er beständig Geld hatte, für welches er sich alsbald neue Wäsche, ein weicheres Kopfkissen, eine gute zusammenlegbare Matratze erstand. Er schlief in derselben Kaserne mit mir und war mir während der ersten Tage in vieler Beziehung sehr nützlich.
Bevor die Sträflinge den Ostrogg verließen, um zur Arbeit zu gehen, stellten sie sich vor der Wache in zwei Reihen auf; vor und hinter ihnen nahm die militärische Eskorte, unser beständiges Begleitkommando, mit scharf geladenem Gewehr die übliche Stellung ein. Darauf erschienen ein Offizier, der Aufsichtführende und einige subalterne Militärbeamte, die die Arbeit zu beaufsichtigen hatten. Der Aufsichtführende zählte die Sträflinge und schickte sie in Abteilungen an verschiedene Orte zur Arbeit.
Zusammen mit anderen begab ich mich in unsere Werkstätte. Das war ein niedriges Steingebäude mitten auf einem großen Hof, auf dem verschiedenes Rohmaterial lag. Dort gab es eine Schmiede, eine Schlosserei, eine Tischlerei, eine Malerwerkstatt und noch anderes. In dieser Malerwerkstatt arbeitete Akim Akimytsch: er kochte Olivenöl, mischte Farben und strich kunstvoll Tische und Stühle an, so daß sie wie von Nußbaumholz aussahen.
Während ich auf meine Einschmiedung wartete, sprach ich mit Akim Akimytsch über die ersten Eindrücke, die ich im Ostrogg empfangen hatte.
„Ja, das ist schon so, sie mögen die Edelleute nicht,“ bemerkte er, „besonders die politischen nicht; die würden sie am liebsten auffressen. Das ist aber dumm von ihnen. Ihr seid doch ein ganz anderes Volk, das ihnen ganz unähnlich ist, sie aber sind früher alle nur Hörige gewesen oder Soldaten. Urteilen Sie nun selbst, ob sie euch da wohl lieben können. Hier ist es, sage ich Ihnen, schwer zu leben. Aber in den russischen Arrestantenkompagnien ist es noch schwerer ... das ist schon so. Wir haben ja auch welche von dort, die unseren Ostrogg nicht genug loben können, ganz als wären sie aus der Hölle in den Himmel gekommen ... Nicht die Arbeit ist das Schlimme. Man sagt, dort, in der ersten Abteilung, sei das Kommando sozusagen nicht ganz militärisch, wenigstens gehe man dort anders vor, als bei uns. Dort, sagt man, kann der Verbannte in seinem eigenen Häuschen leben. Ich bin nicht dort gewesen, aber es wird so erzählt. Sie werden, wie man hört, auch nicht geschoren und tragen keine Uniform, wenn es auch übrigens besser ist, daß sie bei uns halb abrasiert werden und gleichmäßig gekleidet sind – es ist doch immerhin etwas mehr Ordnung und fürs Auge ist es angenehmer. Den Leuten selbst aber gefällt es nicht. Aber Sie sehen doch, was das hier für ein Gesindel ist! Der eine ist Russe, der andere Tscherkesse, der dritte ist Sektierer, der vierte ein rechtgläubiger Landbauer, hat seine Familie, hat seine lieben Kinderchen in der Heimat zurückgelassen, der fünfte ist Jude, der sechste Zigeuner, der siebente weiß Gott wer, – und sie alle müssen jetzt hier an einem Ort zusammenleben, ob sie wollen oder nicht, aber sie müssen miteinander auskommen, müssen aus derselben Schüssel essen, auf derselben Pritsche schlafen. Und wo ist denn hier Freiheit: selbst einen überflüssigen Bissen kann man nur heimlich essen und jede Kopeke muß man im Stiefel verstecken, und was man sieht und hat, ist immer nur Ostrogg und abermals Ostrogg ... Da kann man ja ganz unwillkürlich dumm werden.“
Doch, was er da sagte, wußte ich bereits. Ich wollte ihn vielmehr über unseren Major etwas ausfragen. Akim Akimytsch war nicht zurückhaltend und ich weiß noch, daß der Eindruck, den ich von seinen Schilderungen empfing, nicht ganz angenehm war.
Noch ganze zwei Jahre war es mir bestimmt, unter dem Kommando dieses Majors zu leben.
Alles, was mir Akim Akimytsch von ihm erzählte, war, wie es sich später zeigte, vollkommen richtig und gerecht, nur mit dem einen Unterschied, daß der Eindruck der Wirklichkeit immer stärker ist, als der, den man aus einer gewöhnlichen Erzählung erhält.
Er war ein furchtbarer Mensch, und furchtbar gerade dadurch, daß er, als dieser Charakter, der er war, fast unumschränkte Macht über zweihundertundfünfzig Seelen besaß. An sich war er nur ein unordentlicher und böser Mensch, und weiter nichts. Auf die Sträflinge sah er wie auf seine natürlichen Feinde, und das war sein erster und größter Fehler. Er besaß in der Tat einige Fähigkeiten, nur war alles an ihm, selbst das Gute, irgendwie entstellt. Zuweilen stürzte er mitten in der Nacht in unseren Ostrogg und wenn er bemerkte, daß ein Sträfling auf der linken Seite oder auf dem Rücken schlief, so bestrafte er ihn am nächsten Morgen: „Du sollst auf der rechten Seite schlafen, wie ich es befohlen habe.“
Im Ostrogg wurde er gehaßt und gefürchtet wie die Pest. Er hatte ein rotes, böses, wildes Gesicht und beherrschen konnte er sich nie. Trotzdem war er, wie alle wußten, ganz und gar in den Händen seines Burschen Fedjka. Doch am meisten auf der ganzen Welt liebte er seinen Pudel Tresorka, und als der einmal erkrankt war, soll er vor Kummer beinahe den Verstand verloren haben. Man sagt, er habe über ihn geweint, als wäre der Hund sein leiblicher Sohn gewesen. Den Tierarzt hatte er alsbald zum Teufel gejagt und es hieß, viel habe nicht gefehlt, daß er ihn seiner Gewohnheit gemäß noch verprügelt hätte. Darauf hätte er von seinem Fedjka gehört, daß im Ostrogg ein Sträfling „selbstgelernter“ Tierarzt sei, ein Bauer, der aus praktischer Erfahrung Tiere mit gutem Erfolg zu heilen wisse. Den mußte Fedjka unverzüglich zur Stelle schaffen.
„Hilf mir! Ich werde dich vergolden, wenn du mir Tresorka rettest!“ schrie er dem Sträfling entgegen.
Das war ein sibirischer Bauer, schlau, klug und in der Tat sehr geschickt als Tierarzt, aber immerhin ein echter Bauer.
„Da blickte ich denn Tresorka an,“ hatte er später den anderen Sträflingen erzählt – übrigens erst nach langer Zeit, als der ganze Vorfall schon vergessen war – „sehe: der Köter liegt auf dem Divan, liegt auf einem weißen Kissen; ich sehe auch deutlich, daß er Fieber hat; ein Aderlaß und er wäre gesund – das wußte ich. Da aber denke ich so bei mir: aber wie, wenn ich ihn nicht kuriere, wenn ich ihn krepieren lasse? Nein, Euer Gnaden, sagte ich, ich bin zu spät gerufen worden, hätte man es gestern oder vorgestern getan, so würde ich den Hund geheilt haben; jetzt aber kann ich es nicht, es ist zu spät ...“
Und so krepierte denn Tresorka.
Auch erzählte man mir ausführlich von einem Anschlag auf das Leben unseres Majors.
Es hatte im Ostrogg mehrere Jahre lang ein Sträfling gelebt, der allen durch seine große Sanftmut auffiel. Desgleichen hatte man bemerkt, daß er fast nie sprach. Daher war er alsbald für etwas geistesschwach gehalten worden. Er verstand zu lesen und zu schreiben, und im ganzen letzten Jahre hatte er beständig die Bibel gelesen, Tag und Nacht. Wenn die anderen alle schon schliefen, erhob er sich um Mitternacht, zündete ein Kirchenwachslicht an, kroch auf den Ofen, schlug die Bibel auf und las bis zum Morgen.
Eines schönen Tages war er zum ältesten Unteroffizier gegangen und hatte ihm gemeldet, daß er nicht mehr zur Arbeit gehen wolle. Der Major wurde sofort benachrichtigt: er schäumte vor Wut und kam unverzüglich angefahren. Da stürzte sich der sanftmütige Sträfling mit einem schon in Bereitschaft gehaltenen Ziegelstein auf ihn, schleuderte den Stein – traf ihn jedoch nicht. Er wurde ergriffen, verurteilt und bestraft. Es ging alles sehr schnell vor sich. Nach drei Tagen starb er im Lazarett. Kurz vor dem Tode soll er noch gesagt haben, daß er keinem Menschen Böses gewollt, er habe nur leiden wollen. Er war übrigens kein Sektierer. Im Ostrogg gedachte man seiner stets mit Achtung.
Endlich wurde ich eingeschmiedet. Inzwischen waren in der Werkstätte mehrere Semmelverkäuferinnen erschienen, eine nach der anderen. Einige von ihnen waren noch ganz kleine Mädchen. Solange sie noch nicht erwachsen sind, gehen sie umher und verkaufen Semmeln, die zu Hause von den Müttern gebacken werden. Sind sie erwachsen, so gehen sie gleichfalls umher, doch dann ohne Semmeln. Das war schon lange so Sitte. Es waren aber auch andere, nicht gerade Mädchen, mit ihnen gekommen. Eine Semmel kostete eine halbe Kopeke, ein Kalatsch zwei Kopeken und von den Sträflingen kaufte sich fast jeder einen.
Bei der Gelegenheit fiel mir besonders ein Sträfling auf, ein Tischler mit schon leicht ergrautem Haar, doch noch recht frischem Gesicht, der lächelnd mit den Semmelverkäuferinnen schäkerte. Kurz bevor sie gekommen waren, hatte er sich noch schnell ein rotes, baumwollenes Halstuch umgeschlungen.
Das eine dicke, pockennarbige Weiblein setzte sich auf seine Hobelbank und zwischen ihnen entspann sich folgendes Gespräch:
„Warum seid Ihr denn gestern nicht dorthin gekommen?“ fragte der Sträfling mit selbstzufriedenem Lächeln.
„Noch was! Ich war doch da, Ihr aber heißt Mitjka,“ entgegnete das schlagfertige Weiblein.
„Man hatte uns nötig, sonst wäre ich bestimmt dagewesen ... Vorgestern waren alle Eure gekommen.“
„Wer denn das?“
„Marjaschka war gekommen, Chawroschka war gekommen, die Tschekunda war gekommen, die Vierkopekige war gekommen ...“
„Was hat denn das zu bedeuten?“ fragte ich Akim Akimytsch, „ist’s möglich? ...“
„Es kommt vor,“ sagte er still, die Augen niederschlagend, denn er war ein äußerst keuscher Mensch.
Das kam tatsächlich auch vor, aber immerhin sehr selten, denn es galt große Schwierigkeiten zu überwinden. Im allgemeinen gab es mehr Liebhaber für Branntwein, als für so etwas, trotz der ganzen und nur zu natürlichen Qual dieses Lebens. Es war schwer, mit einem Frauenzimmer zusammenzukommen. Man mußte die Zeit abpassen, den Ort bestimmen, sich verabreden, die Einsamkeit suchen, was schon schwierig, mußte die betreffende Eskorte sich geneigt machen, was noch viel schwieriger war, und überhaupt mußte man eine Unmenge Geld verschwenden – versteht sich, im Verhältnis gesprochen. Aber nichtsdestoweniger bin ich späterhin selbst Zeuge von Liebesszenen gewesen. Ich erinnere mich noch, wie wir einmal im Sommer zu dreien am Ufer des Irtysch in einem Schuppen waren und dort irgend einen Brennofen anheizten. Die Wachen waren gutmütige Burschen. Endlich erschienen auch die erwarteten „Souffleusen“, wie die Sträflinge sie nannten.
„Nanu, wo seid ihr denn solange kleben geblieben? Wohl wieder bei den Swerkoffs?“ begrüßte sie der Sträfling, zu dem sie kamen und der sie schon lange erwartet hatte.
„Ich sei kleben geblieben? Da sitzt ja selbst eine Elster länger auf dem Zaunpfahl, als wie ich bei ihnen gesessen habe,“ antwortete munter das Mädchen.
Sie war das schmutzigste Mädchen der Welt. Das war die sogenannte Tschekunda. Mit ihr zusammen war auch die Vierkopekige gekommen. Die war aber schon außerhalb jeder Beschreibungsmöglichkeit.
„Und auch Euch haben wir lange nicht gesehen,“ fuhr der Don Juan, sich zur Vierkopekigen wendend, verbindlich fort. „Ihr seid ja, wie mir scheinen will, bedeutend magerer geworden?“
„Kann schon sein. Früher war ich weiß Gott wie dick, jetzt aber, seht, – ganz als hätte ich eine Nadel verschluckt.“
„Und geht’s immer noch mit den Soldaten – hn?“
„Nu nein, das haben Euch nur gemeine Menschen von uns vorgeklatscht. Aber – warum auch nicht! Lieber ohne Rippen sein, als keinen Soldaten frei’n!“
„Ach was, gebt ihnen den Laufpaß und liebt uns ... Wir haben Geld ...“
Zur Vollendung des Bildes denke man sich den Don Juan mit zur Hälfte abrasiertem Kopf, in Ketten, in zweifarbig geteilten Sträflingskleidern und unter der Aufsicht der Eskorte. –
Ich verabschiedete mich von Akim Akimytsch, und als ich hörte, daß ich in den Ostrogg zurückkehren durfte, ging ich mit einem Soldaten wieder heim.
Die Sträflinge kamen auch schon in verschiedenen Trupps von der Arbeit. Früher als alle anderen kommen die auf „Zeit“ arbeitenden in den Ostrogg zurück. Das einzige Mittel, den Sträfling zu strammer Arbeit anzuhalten, ist, ihn „Aufgaben“ abarbeiten zu lassen. Mitunter sind diese „Aufgaben“ riesengroß, und doch wird die Arbeit zweimal so schnell verrichtet, als wenn der Sträfling bis zum Trommelzeichen arbeiten müßte. Hatte er die ihm aufgegebene Arbeit beendet, so kehrte der Sträfling ohne Verzug in den Ostrogg zurück und niemand hielt ihn mehr auf.
Gegessen wird im Ostrogg nicht zu gleicher Zeit, sondern wie man gerade kommt, die einen früher, die anderen später; auch würde die Küche nicht alle auf einmal fassen. Ich versuchte die Kohlsuppe zu essen, vermochte es aber doch nicht, da ich mich noch nicht an sie gewöhnt hatte, und so kochte ich mir Tee. Wir setzten uns an das eine Tischende, ich und ein Gefährte von mir, der gleichfalls dem Adelsstande angehört hatte.
Die Sträflinge kamen und gingen. Die Küche war noch ziemlich leer, da die meisten noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt waren. Eine Gruppe von fünf Mann setzte sich etwas abgewendet von uns an den großen Tisch. Der Koch gab ihnen zwei Schüsseln voll Kohlsuppe und stellte dann noch eine ganze tönerne Bratpfanne mit gesottenem und später übergebratenem Fisch vor sie hin. Sie aßen zur Feier irgend einer Begebenheit eigene Kost. Zu uns blickten sie mißtrauisch hinüber. Da trat ein Pole herein und setzte sich neben uns hin.
Ihm folgte bald ein hochgewachsener Sträfling, der mit einem einzigen Blick alle Anwesenden überflog.
„Bin nicht zu Hause gewesen, weiß aber alles!“ rief er mit lauter Stimme. Er schien ungefähr fünfzig Jahre alt zu sein, war muskulös und hager. In seinem Gesicht lag etwas Listiges und gleichzeitig auch Lustiges. Am auffallendsten war an ihm seine dicke, herabhängende Unterlippe. Sie verlieh ihm etwas überaus Komisches.
„Na, so sagt doch, habt ihr gut geschlafen? Warum begrüßt ihr einen denn gar nicht? Gesegnete Mahlzeit unseren Kurskern!“ fügte er hinzu und setzte sich zu den fünf, die ihr Essen verzehrten. „Na, so empfangt doch den Gast!“
„Wir, Bruder, sind ja gar nicht aus Kursk!“
„Ah so, dann also aus Tambowsk?“
„Sind auch nicht aus Tambowsk. Bei uns, Freund, ist nichts zu holen; schieb mal ab zu reichen Leuten, dort kannst du anfragen.“
„In meiner Leibesmitte, Bruder, sitzen heute Iwan Taskun und Maria Ikotischna, sie ist nämlich erbärmlich leer ... Aber wo lebt er denn, der reiche Mann?“
„Geh mal zu Gasin, der ist reich, versuch bei ihm dein Glück.“
„Ach, Bruderherz, mit Gasin fängst du heute nichts mehr an, der lebt heute blau: vertrinkt sein ganzes Kapital.“
„Er hat seine zwanzig Rubel,“ bemerkte ein anderer. „Wie man sieht, ist es kein übles Geschäft, Schankwirt zu sein.“
„Na was, werdet ihr denn wirklich den Gast nicht einladen? Was machst du, Mensch, – gebt mir dann die Staatskost her.“
„So geh doch und bitt’ Tee; da sitzen ja Herren, die welchen trinken.“
„Was für Herren, hier gibt’s keine Herren; sind ganz, was wir jetzt sind,“ brummte mürrisch einer in der Ecke. Bis dahin hatte er noch kein Wort gesprochen.
„Trinken würde ich schon, aber ich schäme mich, zu bitten: wir haben auch so etwas wie ein Ehrgefühl!“ entgegnete der Sträfling mit der dicken Unterlippe und blickte uns gutmütig an.
„Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen gern welchen geben,“ sagte ich auffordernd zu ihm, – „ist es gefällig?“
„Gefällig? Wie soll’s denn nicht gefällig sein!“
Er trat an den Tisch.
„Sieh mal einer an, zu Hause kannte er nichts als Kohl, hier kennt er schon den Tee gar wohl – hier will er schon Herrenessen haben,“ brummte wieder der Mürrische in der Ecke.
„Trinkt denn hier sonst niemand Tee?“ fragte ich, mich speziell an ihn wendend. Er würdigte mich jedoch keiner Antwort.
„Ah, da werden grad auch Kalatschen gebracht! Wenn Ihr schon so gnädig seid, dann spendet mir auch gleich einen Kalatsch dazu!“
Ein junger Sträfling trat mit einem ganzen Bund[3] Kalatschen herein und bot sie zum Verkauf an. Die Aufkäuferin überließ ihm dafür den zehnten; auf diesen Kalatsch nun rechnete er.
„Kalatschi, Kalatschi–i–i!“ schrie er, in die Küche eintretend, „direkt aus Moskau, glühend heiß! Würde sie selbst essen, brauch aber Geld. Nun, Kinder, der letzte ist nachgeblieben: wer hat eine Mutter gehabt?“
Dieser Appell an die Mutterliebe erheiterte alle und man kaufte ihm mehrere ab.
„Aber wißt ihr, Brüder,“ fuhr der Lange fort, „der Gasin, der treibt es heute denn doch schon bis zur Sünde! Bei Gott! Wenn’s dem einmal einfällt, durchzugehen! Wenn heute nur unser Achtäugiger nicht hereinschneit.“
„Dann wird Gasin schon versteckt werden. Was – ist er steif besoffen?“
„Was von steif! Noch längst nicht! Wild ist er geworden, zudringlich, gefährlich.“
„Nun, dann wird er noch an manche Fäuste anrennen ...“
„Von wem sprechen sie?“ fragte ich den Polen, der neben mir saß.
„Von Gasin, einem Arrestanten. Er handelt hier mit Branntwein. Hat er genug verdient, so vertrinkt er sofort das ganze Geld an einem Tage. Er ist grausam und böse, – übrigens in nüchternem Zustande ist er ganz friedlich. Sobald er sich aber angetrunken hat, ist er total verrückt: wirft sich mit dem Messer auf die Menschen ... Dann wird er aber sofort gebändigt.“
„Wie wird denn das angestellt?“
„Etwa zehn Arrestanten stürzen sich zu gleicher Zeit auf ihn und schlagen ihn entsetzlich – so lange, bis er besinnungslos wird, sie schlagen ihn halbtot. Dann wird er auf seine Pritsche gehoben und mit dem Halbpelz zugedeckt.“
„Aber sie könnten ihn doch auf diese Weise völlig totschlagen!“
„Einen anderen gewiß, ihn aber nicht. Er ist unglaublich stark, der stärkste von allen in unserem Ostrogg, und ist herkulisch gebaut. Am nächsten Morgen ist er wieder vollständig gesund.“
„Sagen Sie doch, bitte,“ fuhr ich fort, den Polen auszufragen, „jene dort haben doch auch ihr eigenes Essen, und ich trinke nur Tee, – und doch sehen sie mich alle an, als wenn sie mich deswegen beneideten. Was hat das zu bedeuten?“
„Das ist nicht wegen des Tees,“ sagte der Pole. „Sie ärgern sich über Sie vielmehr deswegen, weil Sie Edelmann sind und nicht ihnen gleichen. Viele würden gern mit Ihnen anbinden: sie hätten gar zu große Lust, Sie zu beleidigen und zu erniedrigen. Sie werden hier noch viel Unangenehmes erleben. Es ist hier für uns alle entsetzlich schwer. Wir haben es in jeder Beziehung am schwersten von allen. Man muß viel Gleichmut haben, um sich daran zu gewöhnen. Sie werden noch oft Unannehmlichkeiten wegen Tee oder eigenem Essen haben, wenn auch von den anderen sehr viele und sogar sehr oft sich eigenes Essen leisten und einige sogar beständig ihren Tee trinken. Sie dürfen es, wir aber dürfen es nicht.“
Darauf erhob er sich und ging hinaus. Schon nach wenigen Minuten geschah, was er gesagt hatte.
Kaum war M–tzkij, der Pole, mit dem ich gesprochen hatte, hinausgegangen, als der betrunkene Gasin in die Küche hereinstürzte.
Mitten am hellen Tage ein berauschter Sträfling, noch dazu am Wochentage, wenn alle zur Arbeit gehen mußten, ein betrunkener Sträfling in einem Ostrogg, dessen Vorgesetzter ein so strenger Major war, der überdies noch jeden Augenblick in eigener Person eintreffen konnte, von dem Unteroffizier, dem nächsten Vorgesetzten, der beständig im Ostrogg lebte, und den Invaliden ganz zu schweigen, – ein betrunkener Sträfling trotz aller Wachen und Aufseher, kurz, trotz aller strengen Maßregeln – der warf alle in mir sich bildenden Begriffe vom Sträflingsleben über den Haufen. Und ich mußte noch lange Zeit im Ostrogg leben, bevor ich die Erklärung fand für Tatsachen, die mir in den ersten Tagen meiner Kátorga so unbegreiflich erschienen waren.
Ich sagte bereits, daß die Sträflinge stets noch eine eigene Arbeit hatten, und daß diese Art von Beschäftigung ein natürliches Bedürfnis im Sträflingsleben sei, daß der Sträfling, ganz abgesehen von diesem Bedürfnis, leidenschaftlich Geld liebte und Geld höher als alles andere schätzte, fast sogar so hoch wie die Freiheit, und daß er bereits getröstet sei, wenn er es in seiner Tasche klingen hörte. Hat er es dagegen nicht, so ist er wehmütig, traurig, unruhig und mutlos, und dann ist er zu allem, zu jedem Diebstahl bereit, wenn er dafür nur Geld erhält. Doch ungeachtet dessen, daß das Geld im Ostrogg so wertvoll war, blieb es nie sehr lange im Besitze des Glücklichen, der es besaß. Erstens war es sehr schwer, dasselbe so aufzubewahren, daß es nicht gestohlen oder bei den Durchsuchungen gefunden werden konnte. Wenn der Major welches aufstöberte, so wurde es ohne weiteres beschlagnahmt. Vielleicht verwandte er es zur Verbesserung der Sträflingskost; wenigstens wurde es jedesmal ihm ausgeliefert. Doch gewöhnlich wurde das Geld gestohlen: es war da auf keinen Einzigen Verlaß. Erst in der Folge fand man bei uns eine Möglichkeit, das Geld mit voller Sicherheit aufzubewahren: man gab es einem alten Mann, einem Altgläubigen, der aus den Dörfern von Starodubowo zu uns gekommen war, die einmal einer Sekte der Abtrünnigen gehört hatten.
Ich kann nicht umhin, einige Worte über ihn zu sagen, wenn es mich auch vom Thema abbringt.
Er war ein Greis von sechzig Jahren, klein von Wuchs und mit grauem Haar. Schon beim ersten Anblick fiel er mir auf. Er glich so wenig den anderen Sträflingen: in seinem Blick war etwas dermaßen Ruhiges und Stilles, daß ich – ich erinnere mich dessen noch deutlich – mit einem ganz besonderen Wohlgefallen in seine klaren hellen Augen blickte, die von vielen, vielen strahlenförmigen kleinen Runzeln umgeben waren. Ich habe oft mit ihm gesprochen und selten nur ist mir in meinem Leben ein so guter, so großmütiger Mensch begegnet. Er war wegen eines sehr schweren Verbrechens verschickt worden. Von den Altgläubigen von Starodubowo hatten sich einige bekehren lassen. Die Regierung hatte dieselben eifrig unterstützt und alles versucht, um noch mehr der Andersgläubigen zu bekehren. Dieser Greis nun hatte, zusammen mit anderen Fanatikern, beschlossen, „für den Glauben einzustehen“, wie er sich ausdrückte. Es war der Bau einer neuen Kirche begonnen worden, sie aber hatten sie niedergebrannt. Und als einer der Anstifter war der Alte zur Zwangsarbeit verschickt worden. Er war ein wohlhabender Bürger gewesen und hatte Handel getrieben; Frau und Kinder hatte er zurückgelassen, war aber trotzdem unbeugsam in die Verbannung gegangen, denn er glaubte, daß sie ein „Kreuztragen für den Glauben“ sei. Jeder, der eine Zeitlang mit ihm zusammengelebt, hätte sich unwillkürlich gefragt, wie dieser stille, kindlich fromme Greis ein Aufrührer sein konnte? Ich habe mehrere Male mit ihm „über den Glauben“ gesprochen. Er gab nicht das Geringste von seinen Überzeugungen auf, doch niemals habe ich irgend eine Mißstimmung oder einen Haß in seinen Entgegnungen wahrnehmen können. Und dennoch hatte er die Kirche in Brand gesteckt, was er ganz ruhig eingestand. Nach seinen Überzeugungen zu urteilen, konnte man glauben, daß er sein Verbrechen und das dafür auf sich genommene „Kreuz“ für eine rühmliche Tat hielt. Doch wie sehr ich ihn auch zu erforschen und zu erkennen suchte, niemals habe ich auch nur das geringste Anzeichen von Stolz oder Ruhmsucht entdecken können. Es waren daselbst auch noch andere Altgläubige, meistenteils Sibirier: sie waren ein ungemein entwickeltes Volk, scharfsinnige Bauern, ungeheuer bibelkundig, furchtbare Buchstabenfresser und, in ihrer Art, große Dialektiker, – kurz, ein von sich eingenommenes, anmaßendes, verschlagenes und im höchsten Grade unduldsames Volk. Der Alte dagegen war ganz anders. Er war vielleicht noch bibelkundiger als sie, vermied aber jeden Disput. Dem Charakter nach war er ein sehr mitteilsamer Mensch. Er hatte ein heiteres Gemüt, lachte häufig – nicht das rohe, zynische Lachen der übrigen Sträflinge, sondern ein helles und ruhiges, in dem viel kindliche Gutmütigkeit lag und das sich so gut zu seinem grauen Haar ausnahm. Vielleicht täuschte ich mich, aber es will mir scheinen, daß man am Lachen den Menschen erkennen kann, und wenn einem bei der ersten Begegnung das Lachen irgend eines fremden Menschen angenehm ist, so kann man ruhig sagen, daß er ein guter Mensch ist. Im Ostrogg hatte der Alte sich bald allgemeine Achtung erworben, warf sich deswegen aber durchaus nicht in die Brust. Die Gefangenen nannten ihn „Großvater“ und taten ihm nie etwas zu Leide. Ich begriff zum Teil, welch einen Einfluß er auf seine Glaubensgenossen gehabt haben mußte. Doch bei all der scheinbaren Festigkeit, mit der er seine Verbannung als Zwangsarbeiter ertrug, verbarg sich in ihm ein tiefer, unheilbarer Schmerz, den er aber vor allen verbarg. Ich lebte mit ihm in derselben Kaserne. Einmal, es war in der Nacht, um etwa drei Uhr, erwachte ich plötzlich und da vernahm ich ein stilles, halb unterdrücktes Schluchzen. Der Alte saß auf dem Ofen (an demselben, wo vor ihm der andere gottesfürchtige Sträfling nachts gesessen und in der Bibel gelesen hatte, jener, von dem das Attentat auf den Major ausgeübt worden war), saß auf dem Ofen und betete nach seinem handgeschriebenen alten Gebetbuch. Er schluchzte verhalten und ich hörte nur, wie er von Zeit zu Zeit betete: „Mein Gott, verlaß mich nicht! Gott, stärke du mich, gib mir Kraft! Meine kleinen Kinderchen, meine lieben Kinderchen, niemals mehr werden wir uns wiedersehn!“ Ich kann nicht sagen, wie traurig mich das stimmte. Diesem Greise nun gaben die Arrestanten mit der Zeit ihr Geld zum Aufbewahren. Im Ostrogg war fast ein jeder ein Dieb, plötzlich aber waren alle aus irgend einem Grunde überzeugt, daß der Greis unmöglich stehlen könne. Man wußte, daß er das ihm eingehändigte Geld irgendwo verbarg, doch geschah das an einem so verborgenen Ort, daß niemand das Versteckte zu finden vermochte. Zuguterletzt deckte er mir und einem Polen sein Geheimnis auf. In einem der Pfähle unseres Gefängniszaunes war ein Astauge, das fest im Baumstamm eingewachsen zu sein schien, in Wirklichkeit sich aber leicht herausnehmen und wieder hineinschieben ließ. Und hinter diesem Aststück war eine große Aushöhlung, in die der Großvater das Geld hineinlegte, während er das Aststück wieder vorschob, so daß es keinem auffallen konnte.
Doch ich bin von meinem Gegenstande abgekommen.
Ich sprach zuletzt von den Gründen, warum der Sträfling das Geld nicht lange in der Tasche behielt. Abgesehen von der Schwierigkeit, dasselbe vor Dieben sicher zu bewahren, gab es im Ostrogg so viel Sehnsucht und Harm, der Gefangene aber ist naturgemäß ein Wesen, das dermaßen nach Freiheit lechzt und seiner gesellschaftlichen Stellung gemäß dermaßen leichtsinnig und unordentlich ist, daß es uns nur zu begreiflich erscheint, wenn ihn plötzlich die Lust packt, einmal zu „spendieren“, glänzend aufzutreten, das ganze Kapital draufgehen zu lassen, mit Spektakel und Musik ein Fest zu feiern, um, wenn auch nur auf einen Augenblick, seine Sehnsucht zu vergessen. Es war seltsam anzusehen, wie manch einer von ihnen mit tief gesenktem Kopf, ohne auch nur einmal den Nacken gerade zu biegen, ganze Monate lang arbeitete, und zwar einzig und allein zu dem Zwecke, um dann eines schönen Tages dies ganze Ersparnis durchzubringen, alles bis aufs letzte und dann von neuem monatelang zu arbeiten – bis zu einem neuen Festtage. Viele liebten es, sich etwas neues zu kaufen und zwar unbedingt etwas ganz Apartes, wie zum Beispiel irgendwelche total unförmige schwarze Beinkleider, oder ein besonderes Wamms, oder einen kurzen sibirischen Pelz. Sehr beliebt waren farbige Kattunhemde und Gürtel mit schönen Kupferplattenbeschlägen. An den Feiertagen zogen sie sich zum erstenmal die erstandenen schönen Sachen an, und der festlich Gekleidete ging dann stolz in alle Kasernen, um sich den anderen zu zeigen. Die Zufriedenheit des gut Gekleideten ging bis ins Kindische, und überhaupt waren die Sträflinge in vielen Dingen die reinen Kinder. Aber alle diese schönen Sachen verschwanden dann ganz plötzlich von ihrem Besitzer, nicht selten wurden sie schon am nämlichen Abend versetzt oder zu einem Spottpreis losgeschlagen. Übrigens nahm bei solchen Gelegenheiten alles seinen bekannten Verlauf. Gewöhnlich wurde das Vergnügen auf die Festtage hinausgeschoben oder auf den Namenstag des Betreffenden. Wenn sich dann der Arrestant an seinem Namenstage erhob, war das erste was er tat, daß er ein Wachslicht vor das Heiligenbild stellte und betete; darauf kleidete er sich festlich an und bestellte sich ein Essen. Er ließ Rindfleisch und Fisch kaufen und sibirische Pasteten backen; darauf aß er sich so voll wie ein Ochse, gewöhnlich aber ganz allein, selten nur forderte er seine Kameraden auf, an seinem Mahle teilzunehmen. Darauf kam der Branntwein an die Reihe: der Feiernde soff sich toll und voll und ging dann wieder in alle Kasernen, diesmal wankend und stolpernd, um allen zu zeigen, daß er betrunken war, daß er „durchging“ und um dafür allgemeine Achtung zu erwerben. Überall sieht man im russischen Volke eine gewisse Sympathie für die Betrunkenen; im Ostrogg aber benahm man sich sogar respektvoll gegen sie.
In der Schlemmerei der Ostroggbewohner lag etwas durchaus Aristokratisches. War der Arrestant schon ein wenig angeheitert, so bestellte er sofort Musik. Es war im Ostrogg ein kleiner Pole, ein entlaufener Soldat, ein elendes Kerlchen, der auf der Geige zu spielen verstand und sein Instrument, das sein ganzes Kapital war, auch dort bei sich hatte. Ein Handwerk verstand er nicht und so war es sein einziger Verdienst, daß er den „Feiernden“ für Geld muntere Tanzstücke aufspielte. Seine Aufgabe bestand in solchem Falle darin, daß er seinem betrunkenen Gönner aus einer Kaserne in die andere folgte und mit aller Ellbogenkraft auf seiner Fiedel feilte. Oft sah ich auf seinem Gesicht Langeweile und Sehnsucht, doch der barsche Befehl: „Spiel, bist bezahlt!“ trieb ihn an, immer weiter zu fiedeln und zu feilen.
Jeder Arrestant, der „durchzugehen“ begann, konnte fest überzeugt sein, daß man ihn, wenn er sich stark angetrunken hatte, gut beaufsichtigen, zur rechten Zeit auf seine Pritsche bringen und sicher irgendwo verstecken würde, falls einer von der „Obrigkeit“ kommen sollte. Alle diese Liebesdienste wurden unentgeltlich verrichtet. Andererseits konnten auch der Unteroffizier und die Invaliden, die der Ordnung halber beständig in der Kaserne lebten, gleichfalls vollkommen beruhigt sein: der Betrunkene vermochte auf keine Weise Unordnung zu verursachen. Die ganze Kaserne bewachte ihn und sobald er laut wurde oder sonstwie die Absicht bekundete, Unfrieden zu stiften, wurde er sogleich gebändigt; ja nötigenfalls hätte man ihn sogar geknebelt. Und so sahen die Wachen und das subalterne Aufsichtspersonal den Betrunkenen gegenüber etwas durch die Finger, oder wollten sie auch gar nicht bemerken. Sie wußten recht wohl, daß ein noch strengeres Verbot des Branntweins die Sache nur schlimmer gemacht hätte. Aber wo bekam man denn den Branntwein her?
Er wurde im Ostrogg selbst verkauft, von den sogenannten Schenkwirten, deren es mehrere bei uns gab. Sie betrieben ihren Handel ununterbrochen und mit gutem Gewinn, obgleich es im allgemeinen nicht viel Trinkende und „Durchgehende“ gab, da dieses Vergnügen Geld erforderte, der Sträfling solches aber nur schwer erwarb.
Der Branntweinhandel wurde in einer recht originellen Weise betrieben, nämlich folgendermaßen:
Nehmen wir an, ein Sträfling hat keine Beschäftigung und will auch kein Handwerk erlernen – solche gab es, – will aber Geld haben, und da er ein ungeduldiger Mensch ist, will er es möglichst schnell verdienen. Um anzufangen, hat er nur wenige Kopeken, aber das genügt, und er beschließt, mit Branntwein zu handeln, – ein gewagtes Unternehmen, bei dem man sich großer Gefahr aussetzt: man kann die Ware und das ganze Kapital verlieren und außerdem muß dann noch der Rücken herhalten. Aber der Sträfling ist auf alles gefaßt. Da er nur ein kleines Betriebskapital hat, so bringt er das erste Mal selbst den Branntwein in den Ostrogg, wo er ihn natürlich vorteilhaft verkauft. Darauf wiederholt er dasselbe noch ein zweites und drittes Mal, und wenn er von der Wache nicht abgefaßt wird, nimmt sein Geschäft in kürzester Zeit einen großen Aufschwung. Dann beginnt er seinen Branntweinhandel auf großem Fuß: er wird Entrepreneur, Kapitalist, hält Agenten und Gehilfen, setzt viel weniger aufs Spiel und verdient immer mehr. Dann riskieren für ihn seine Gehilfen.
In einem Ostrogg gibt es jederzeit eine Menge Leute, die alles bis auf die letzte Kopeke verzettelt, verspielt, durchgebracht haben, Leute ohne Handwerk, armseliges heruntergekommenes Volk, das aber in gewissem Maße doch mit Mut und Entschlossenheit begabt ist. Diesen Leuten ist als einziges Kapital nur noch ihr Rücken verblieben, der aber kann doch noch zu irgend etwas dienen. Und so entschließt sich denn der ruinierte Arrestant, dieses letzte Kapital in Umsatz zu bringen und mit ihm so gut es eben geht zu spekulieren.
Er geht zum „Entrepreneur“ und verdingt sich bei ihm zum Durchschmuggel des Branntweins in den Ostrogg. Ein reicher Branntweinhändler hat mehrere solcher Durchschmuggler. Irgendwo außerhalb des Ostrogg befindet sich ein Mensch – ein Soldat vielleicht, mitunter sogar ein Mädchen oder ein Bauer – der für das Geld des Unternehmers und für eine bestimmte Vergütung, die verhältnismäßig nicht gering ist, in der Schenke Branntwein aufkauft, den er dann an einem geheimen Ort, in der nächsten Nähe der betreffenden Arbeitsstellen eines Arrestantentrupps, sorgfältig versteckt. Gewöhnlich probt der Lieferant zunächst die Güte des Branntweins und ersetzt dann das Ausgetrunkene in unmenschlicher Weise durch Wasser. Der Arrestant darf nicht allzu wählerisch sein, da heißt es: nimm ihn oder nimm ihn nicht, anderer ist nicht zu haben; und auch das ist schon gut, daß er sein Geld nicht ganz verloren hat und immerhin Branntwein zur Stelle geschafft ist, gleichviel was für einer, aber immerhin doch Branntwein. Zu diesem Lieferanten kommen dann die ihm schon früher von dem Branntweinverkäufer bezeichneten Leute, die Ochsendärme mitbringen. Diese Därme werden zuerst gut ausgewaschen und dann mit Wasser gefüllt, damit sie nicht eintrocknen und sich in ihrer ursprünglichen Weichheit und Dehnbarkeit erhalten, um zur Aufnahme des Branntweins geeignet zu sein. Hat der Arrestant den Branntwein in die Därme gefüllt, so wickelt er sie um seinen Körper, nach Möglichkeit an den diskretesten Stellen desselben. Versteht sich, bei diesem Verfahren beweist er die ganze Geschicklichkeit, die ganze diebische Schlauheit des Schmugglers. Es handelt sich um seine Ehre: er muß sowohl die Soldaten der Eskorte wie die Wache betrügen. Und er betrügt sie. Von einem geschickten Diebe wird die Eskorte – bisweilen nur ein einziger Soldat, irgend ein junger Rekrut – immer betrogen. Der betreffende Arrestant ist z. B. Ofensetzer und kriecht auf den Ofen. Wer kann sehen, was er dort macht? Die Wache kann ihm doch nicht nachkriechen. Bei der Rückkehr in den Ostrogg nimmt der Arrestant kurz vor dem Tor ein Silberstück, fünfzehn oder zwanzig Kopeken, auf alle Fälle in die Hand und wartet auf den Gefreiten, der jeden in den Ostrogg zurückkehrenden Arrestanten rundum mustert und befühlt, bevor er ihm das Tor aufschließt. Der Branntweinträger hofft in der Regel, daß der wachhabende Gefreite sich schließlich schämen wird, ihn an gewissen Stellen gar zu gewissenhaft zu befühlen. Mitunter aber dringt der naseweise Gefreite im Befühlen auch bis zu diesen Körperteilen vor und entdeckt den Wein. Dann bleibt dem Arrestanten nur noch ein Rettungsmittel übrig: er drückt dem Gefreiten, unbemerkt von der Eskorte, die bereitgehaltene Münze in die Hand. Nun kommt es zuweilen vor, daß er infolge dieses Manövers glücklich in den Ostrogg hineingelangt und sein Branntwein gerettet ist. Aber es kommt auch vor, daß das Manöver ihm mißlingt, und dann muß sein letztes Kapital herhalten: sein Rücken. Der Vorfall wird sofort dem Major gemeldet, das Kapital wird gedroschen, und zwar schmerzhaft gedroschen, der Branntwein wird konfisziert, und der Schmuggler nimmt alles auf sich, ohne den Branntweinhändler im Ostrogg anzugeben, tut das aber, wohlgemerkt, nicht aus dem Grunde, weil er das Angeben verabscheute, sondern einzig und allein deswegen, weil die Angabe für ihn selbst unvorteilhaft wäre: ihn würde man sowieso durchpeitschen, und der ganze Trost bestände darin, daß sie dann beide durchgepeitscht werden würden. Er aber ist vom anderen abhängig, er braucht ihn, obgleich er, der Schmuggler, nach alter Sitte und vorhergegangener Abmachung für den durchgepeitschten Rücken von dem Händler keine Kopeke erhält.
Sonst aber, so im allgemeinen, kann man sagen, daß die Angeberei geradezu blühte. Im Ostrogg wurde der Angeber nicht im geringsten verachtet. Unwille gegen ihn war sogar undenkbar. Man meidet ihn durchaus nicht, man schließt sogar Freundschaft mit ihm, sodaß man, wollte man im Ostrogg anfangen, die ganze Niedrigkeit der Angeberei zu erklären, überhaupt nicht verstanden werden würde. So pflog z. B. jener ausschweifende, in jeder Beziehung niedrige Arrestant, der früher Edelmann gewesen war, und mit dem ich jeden Umgang abgebrochen hatte, mit Fedjka, dem Burschen des Majors, innige Freundschaft und diente ihm als Spion, während jener alles Gehörte wiederum seinem Herrn hinterbrachte. Das wußten bei uns alle, doch niemand ließ es sich auch nur einfallen, das verächtliche Subjekt zu bestrafen oder ihm seine Handlungsweise auch nur vorzuhalten.
Doch da bin ich schon wieder von meiner Erzählung abgewichen.
So kam es denn nicht selten vor, daß der Branntwein glücklich in den Ostrogg gelangte. Hat der Branntweinhändler die durchgeschmuggelten Därme empfangen und bezahlt, so überschlägt er seine Kosten. Es stellt sich heraus, daß die Ware ihm teuer zu stehen kommt, und darum mischt er den Branntwein noch einmal mit Wasser, fast zur Hälfte, und ist das geschehen, hat er alles vorbereitet, dann erwartet er den Käufer. Am nächsten Feiertage, zuweilen aber auch an einem Wochentage – erscheint der Käufer: ein Arrestant, der mehrere Monate lang wie ein Büffel gearbeitet und jede Kopeke gespart hat, um dann an dem schon früher festgesetzten Tage alles zu vertrinken. Von diesem Tage hat dem Armen schon lange vorher im Schlaf geträumt, und auch in den Stunden der Arbeit hat er von ihm geträumt, um glücklich zu sein, und dieser ferne Tag mit seinem Zauber hat seinen Geist in dem öden Sträflingsleben aufrechterhalten. Endlich, endlich ersteht im Osten die Morgenröte des hellen Tages! Das Geld ist zusammengescharrt, ist nicht gestohlen und nicht konfisziert worden, und er kann es zum Branntweinhändler bringen. Jener gibt ihm anfangs möglichst reinen Branntwein, d. h., der nur zweimal mit Wasser vermischt worden ist, doch je mehr der Inhalt der Flasche abnimmt, um so mehr wird er durch Nachgießen von Wasser ersetzt. Für einen Becher Branntwein wird fünfmal, sechsmal mehr gezahlt, als in der Schenke. Man kann sich nun vorstellen, wie viel solcher Becher man austrinken und wieviel man für sie bezahlen muß, bevor man berauscht ist. Aber infolge der Entwöhnung vom Trunk und der langen Enthaltsamkeit wird der Sträfling verhältnismäßig schnell betrunken, fährt aber im Trinken so lange fort, bis sein letztes Geld alle ist. Dann kommen die neuen Sachen an die Reihe, – der Branntweinverkäufer ist gleichzeitig auch Wucherer. Zuerst werden die neuangeschafften praktischen Sachen versetzt, allmählich geht man vom älteren zum allerältesten über und schließlich zu dem Staatseigentum. Ist alles, auch der letzte Lumpen vertrunken, so legt sich der Berauschte auf die Pritsche und schläft, und am nächsten Morgen, wenn er mit dem unfehlbaren Brummschädel erwacht, bittet er vergeblich seinen „Schenkwirt“, ihm nur einen einzigen Schluck für den Kater zu geben. Traurig trägt er sein Mißgeschick und schon am selben Tage macht er sich von neuem an die Arbeit und arbeitet wieder mehrere Monate, ohne den Nacken grade zu biegen, träumt von dem glücklichen freien Tag, der unwiderruflich in die Vergangenheit versunken ist, bis er mit der Zeit wieder munterer wird und einen neuen ähnlichen Tag zu erwarten anfängt, einen Tag, der noch fern, fern in der Zukunft liegt, aber trotzdem irgend einmal doch anbrechen wird.
Was nun den „Schenkwirt“ anbetrifft, so kauft er, wenn er nach gutem Geschäfte eine große Summe erspart hat, ungefähr einige Zehnrubelscheine, zum letztenmal Branntwein an, gießt dann aber kein Wasser hinzu, da er ihn für sich bestimmt. Er hat genug verdient: es ist Zeit, auch selber einmal zu feiern! Und er beginnt ein Schlemmerleben, es wird getrunken, gegessen, und Musik ist die Hauptbedingung. Die Mittel sind bedeutend und selbst die untere Ostroggbeamtenschaft wird bewirtet. Das zieht sich dann oft durch mehrere Tage hin. Natürlich ist der vorrätige Branntwein bald ausgetrunken: dann geht der Schwelger zu den anderen „Schenkwirten“, die darauf nur warten, und trinkt so lange weiter, bis er nichts mehr hat. Wie sorgfältig nun die übrigen Arrestanten den Durchgänger auch bewachen mögen, er fällt zuweilen doch den höheren Vorgesetzten auf, dem Major oder dem wachhabenden Offizier. Er wird auf die Wache gebracht, sein Geld wird ihm abgenommen, falls man welches bei ihm findet, und dann wird er zum Schluß noch geknutet. Ist das vorüber, schüttelt er sich, kehrt in den Ostrogg zurück und nach ein paar Tagen macht er sich von neuem an seine Tätigkeit als Branntweinverkäufer.
Einige der Prasser – selbstverständlich nur die reicheren – denken auch an das schöne Geschlecht. Für viel Geld gelangen sie bisweilen heimlich, statt zur Arbeit zu gehen, aus der Festung an irgend einen Ort in der Vorstadt, natürlich in Begleitung eines bestochenen Eskortesoldaten. Dort wird dann in irgend so einem kleinen unscheinbaren Häuschen, gewöhnlich ganz am äußersten Rande der Stadt, ein rauschendes Fest gefeiert und werden in der Tat große Summen verjubelt. Für Geld verachtet man selbst einen Arrestanten nicht; der Soldat aber ist wohlweislich ausgesucht und in alles eingeweiht. In der Regel sind solche Soldaten selbst – zukünftige Kandidaten für den Ostrogg. Übrigens kann man für Geld alles tun und ähnliche Vergehen werden fast nie aufgedeckt. Nur muß ich hinzufügen, daß sie sehr selten sind; dazu ist viel Geld erforderlich und die Liebhaber des schönen Geschlechts bedienen sich meistens anderer Mittel, die ganz ungefährlich sind.
Schon in den ersten Tagen meines Ostrogglebens erweckte ein junger Arrestant, ein, ich möchte sagen, ganz reizender kleiner Knabe, besonderes Interesse in mir. Er hieß Ssirotkin und war in vieler Beziehung ein recht rätselhaftes Wesen. Zuerst frappierte mich nur sein außerordentlich schönes Gesicht; er war höchstens dreiundzwanzig Jahre alt. Er war Zwangsarbeiter der „besonderen“ Abteilung, d. h., ein „ewiger“, dessen Strafzeit nicht festgesetzt war, folglich mußte er ein schwerer militärischer Verbrecher sein. Ein stiller, sanfter Junge war es, der wenig sprach und nur sehr selten lachte. Er hatte blaue Augen, regelmäßige Züge, ein zartes ganz sauberes Gesicht und ganz hellbraunes Haar. Selbst der nur zur Hälfte abrasierte Kopf verunstaltete ihn nicht: ein so reizender Junge war er. Ein Handwerk verstand er nicht und er suchte sich auch keine Beschäftigung, Geld aber verschaffte er sich, wenn auch nicht viel, so doch oft. Er war auffallend faul und ging nachlässig und unsauber gekleidet, es sei denn, daß ein anderer ihn einmal hübsch kleidete, womöglich in ein rotes Hemd – dann war Ssirotkin sichtlich froh darüber: ging in die Kasernen und zeigte sich. Er trank weder, noch spielte er Karten, noch fing er mit einem Menschen Streit an. Zuweilen sah man, wie er hinter den Kasernen einherging, die Hände in den Hosentaschen, friedlich, nachdenklich ... Worüber er nachdenken mochte, war schwer sich vorzustellen. Rief jemand, so antwortete er sofort und sogar gewissermaßen ehrerbietig, jedenfalls nicht nach Arrestantenart, aber immer kurz, ungesprächig, nicht mitteilsam wie die anderen; und ansehen tat er einen, als wäre er ein zehnjähriges Kind. Hatte sich etwas Geld bei ihm eingefunden, so kaufte er sich niemals etwas Notwendiges – er würde nie seine Joppe ausbessern lassen oder neue Stiefel sich anschaffen, sondern sich stets ein Semmelchen kaufen, einen Kalatsch oder einen Pfefferkuchen und ihn aufessen, – ganz als wäre er sieben Jahre alt.
„Ach du, Ssirotkin!“ sagten zu ihm nicht selten die Sträflinge, „du Kasaner Waisenknabe!“ In der arbeitsfreien Zeit hielt er sich gewöhnlich in fremden Kasernen auf. Alle waren mit einer eigenen Arbeit beschäftigt, nur er allein hatte nichts zu tun. Sagte man etwas zu ihm, gewöhnlich um sich über ihn lustig zu machen (über ihn lachten selbst seine Freunde), – so kehrte er um und ging, ohne ein Wort zu sagen, in eine andere Kaserne, zuweilen aber, wenn man ihn schon gar zu sehr verspottete, errötete er. Oftmals fragte ich mich: für welches Vergehen mag wohl dieses friedsame, gutmütige Wesen in den Ostrogg gekommen sein?
Einmal lag ich im Hospital, im Arrestantensaal. Ssirotkin war gleichfalls krank und lag neben mir. Gegen Abend kamen wir in ein Gespräch; ich glaube, es kam ganz zufällig: er wurde plötzlich gesprächig und so erzählte er mir auch, wie man ihn unter die Soldaten gesteckt hatte, wie seine Mutter, von der er noch begleitet worden war, geweint habe und wie schwer es unter den Rekruten gewesen sei. Er sagte, er habe das Rekrutenleben auf keine Weise ertragen können, weil alle dort so böse und streng ausgesehen hätten, und die Kommandeure seien mit ihm immer unzufrieden gewesen.
„Wie endete es denn?“ fragte ich. „Weswegen bist du denn hierher geschickt worden? Und noch in die besondere Abteilung ... Ach du Ssirotkin, Ssirotkin!“
„Ja, ich war im ganzen nur ein Jahr im Bataillon, Alexander Petrowitsch; hierher aber kam ich dafür, daß ich Grigorij Petrowitsch, meinen Kompagniechef, getötet habe.“
„Das habe ich schon gehört, Ssirotkin, aber ich glaube es nicht. Nun sag doch, wen hast du wohl zu töten vermocht?“
„Es kam so – Alexander Petrowitsch. Es wurde mir gar zu schwer.“
„Aber wie leben denn die anderen Rekruten? Natürlich – anfangs fällt es schwer, dann aber gewöhnt man sich und ehe du dich dessen versiehst, hast du einen prächtigen Soldaten vor dir. Dich hat wahrscheinlich deine Mutter zu sehr verhätschelt, mit Pfefferkuchen und Milch bis zum achtzehnten Jahre gefüttert.“
„Mein Mutterchen hat mich wohl sehr geliebt, das ist wahr. Als ich unter die Rekruten ging, da hat sie sich hingelegt und wie ich gehört, ist sie nicht mehr aufgestanden ... Bitter wurde es mir zum Schluß bei den Rekruten. Der Kommandeur liebte mich nicht, für alles bestrafte er, – und für was? Ich gehorchte allen, lebte akkurat, trank kein Gläschen, eignete mir nichts Fremdes an, denn das ist eine schlimme Sache, Alexander Petrowitsch, wenn der Mensch etwas Anstößiges tut. Alle um mich herum sind solche Hartherzige, – nirgend etwas, wo man hätte weinen können. Dann geht man einmal hinter eine Ecke und weint sich da aus ... Und einmal stand ich Wache. Es war schon Nacht. Ich hatte den anderen Posten abgelöst und stand neben dem Schildwachhäuschen. Der Wind ging: es war Herbst und die Nacht war so finster, daß du dir die Augen zerreißen konntest, und doch nichts gesehen hättest. Und da wurde mir so traurig ums Herz! Da nahm ich mein Gewehr, nahm das Bajonett ab, legte es neben mich; zog den rechten Stiefel aus, setzte das Gewehr gerade vor mich hin, beugte mich mit der Brust auf die Mündung und drückte mit der großen Zehe auf den Hahn. Was aber sehe ich? – ich bin nicht erschossen! Das Gewehr hat versagt. Ich untersuchte alles ganz genau, reinigte das Zündloch, schüttete neues Pulver dazu, schlug den Feuerstein etwas ab, und setzte die Mündung wieder auf die Brust. Aber was? Das Pulver flammte auf, aber der Schuß versagte wieder! Was ist das, denke ich! Nahm und zog mir den Stiefel an, setzte wieder das Bajonett auf, schweige und gehe wieder auf und ab. Und da beschloß ich denn: einerlei wohin, aber nur heraus aus den Rekruten. Nach einer halben Stunde kommt der Kommandeur; er machte die Runde. Er kommt gerade auf mich zu: ‚Steht man so auf Posten?‘ schreit er. Da nahm ich das Gewehr und stieß ihm das Bajonett bis an den Lauf in die Brust ... Viertausend Spießruten und dann hierher, in die besondere Abteilung ...“
Er log nicht. Aus welchem Grunde wäre er auch sonst in der besonderen Abteilung gewesen? Gewöhnliche Verbrecher werden nicht so schwer bestraft. Ssirotkin war übrigens der einzige unter seinen Schicksalsgenossen, der so hübsch war. Die übrigen, etwa fünfzehn an der Zahl, – die anzusehen war geradezu sonderbar: nur zwei oder drei Gesichter waren erträglich; die anderen dagegen alle so unansehnlich, häßlich, schmutzig; einige unter ihnen waren schon ergraut. Wenn es die Umstände erlauben, werde ich noch einmal bei Gelegenheit ausführlicher auf diese Schar zu sprechen kommen. Ssirotkin stand sich oft sehr gut mit Gasin, – von dem ich zu Anfang dieses Kapitels erzählte, wie er betrunken in die Küche gestürzt kam, was meine anfängliche Vorstellung vom sibirischen Sträflingsleben so gänzlich verwirrte.
Dieser Gasin war eine grauenvolle Kreatur. Auf alle machte er einen entsetzlichen, quälenden Eindruck. Es schien mir immer, daß es nichts geben könne, das tierischer, monströser wäre, als er. Ich habe in Tobolsk den berüchtigten Verbrecher Kamenjeff gesehen und später den entlaufenen Soldaten und Raubmörder Ssokoloff, doch keiner von ihnen hat einen so abstoßenden Eindruck auf mich gemacht, wie Gasin. Es schien mir zuweilen, wenn ich ihn sah, als hätte ich vor mir eine ungeheure Riesenspinne, ein Insekt von Menschengröße.
Er war Tatar, war unheimlich stark, der stärkste von allen im Ostrogg; mittelgroß, von herkulischer Gestalt mit einem scheußlichen, unproportional großen Kopf; er ging gekrümmt und blickte absonderlich unter der Stirn hervor, durch die struppigen Augenbrauen. Im Ostrogg erzählte man seltsame Geschichten über ihn: man wußte, daß er früher Soldat gewesen war, doch die Sträflinge sprachen untereinander – ich weiß nicht, ob es wahr ist –, er sei ein Entsprungener aus Nertschinsk; nach Sibirien sei er nicht nur einmal verschickt worden, entsprungen sei er gleichfalls nicht nur einmal, seinen Namen habe er schon oft gewechselt und zum Schluß war er in unseren Ostrogg, in die besondere Abteilung gekommen, – das war Tatsache. Außerdem erzählte man sich noch, daß er früher mit besonderer Vorliebe kleine Kinder erdrosselt habe, einzig zu seinem Vergnügen: er habe das Kind irgendwohin an einen passenden Ort gelockt, habe es zuerst geängstigt, gequält und erst dann, nachdem er sich genügend an dem Entsetzen und den Qualen seines armen kleinen Opfers geweidet, habe er es ruhig, langsam und mit Hochgenuß ermordet. Ich weiß nicht, ob alle diese Erzählungen auf Wahrheit beruhten oder im Ostrogg unter dem schweren, unheimlichen Eindruck, den er auf alle und jeden machte, erfunden worden waren, jedenfalls aber paßten sie zu ihm und schienen glaubwürdig, wenn man ihn und sein Gesicht kannte. Indessen führte er sich im Ostrogg, wenn er nicht betrunken war, also an allen Tagen mit Ausnahme seiner Trinkzeit oder seines Festes, sehr vernünftig auf. Er war immer sehr still, schimpfte niemals und vermied jeden Streit, tat dies aber gleichsam aus Verachtung der anderen, weil er sich für höher hielt, als alle. Und auch seine Schweigsamkeit war gleichsam vorsätzlich, er schien mit Absicht unmitteilsam zu sein. Alle seine Bewegungen waren langsam, ruhig, selbstbewußt. An seinen Augen sah man, daß er nichts weniger als dumm und obendrein noch ungewöhnlich schlau war; doch stets lag etwas hochmütig Spöttisches und Grausames in seinem Gesicht und in seinem Lächeln. Er handelte mit Branntwein und war einer der reichsten „Schenkwirte“ im Ostrogg. Doch zweimal im Jahre pflegte er sich selbst zu betrinken, und dann erst, wenn er betrunken war, zeigte sich die ganze Bestialität seiner Natur. Sein Rausch nahm nur langsam zu, und das erste war dann, daß er die anderen zu necken anfing, und zwar nach und nach mit den boshaftesten Spötteleien, die alle wohl erwogen und gleichsam schon vorher von ihm erdacht worden waren. Mit der Zeit aber geriet er in furchtbare Wut, die sich mit der zunehmenden Trunkenheit soweit steigerte, daß er plötzlich sein Messer hervorzog und sich auf die Menschen stürzte. Die anderen, die seine ungeheure Kraft kannten, liefen vor ihm fort und versteckten sich, denn er stürzte sich auf jeden, der ihm entgegenkam. Bald aber fand man ein Verfahren, ihn zu bewältigen. Ungefähr zehn Mann stürzten sich alle mit einemmal auf ihn und begannen ihn mit den Fäusten zu bearbeiten. Grausameres als diese Schläge kann man sich nicht gut denken: man schlug ihn auf die Brust, den Kopf, den Magen, in die Herzgrube, man schlug lange und mit aller Kraft und hörte nicht vorher auf, bis er bewußtlos wurde und wie ein Toter am Boden lag. Einen anderen Menschen würde man niemals gewagt haben, so zu schlagen, denn das wäre gleichbedeutend mit totschlagen gewesen – nur bei Gasin war es das nicht. Hatte man es endlich so weit mit ihm gebracht, daß er bewußtlos war, so wurde er in seinen Halbpelz eingewickelt und auf seine Pritsche getragen. – „Wird sich schon ausliegen,“ hieß es, d. h., durch das Liegen wieder erholen. Und in der Tat, am nächsten Morgen erhob er sich so gut wie gesund und begab sich wieder schweigend und mürrisch zur Arbeit. Und jedesmal, wenn Gasin sich betrank, wußte der ganze Ostrogg, daß der Tag für ihn mit Schlägen enden würde. Das wußte er übrigens auch selbst, aber trotzdem betrank er sich.
So vergingen mehrere Jahre; schließlich bemerkte man, daß Gasin etwas zusammensank. Bald klagte er auch über verschiedene Schmerzen und magerte sichtlich ab; immer häufiger kam er ins Lazarett ... „Hat sich endlich ergeben,“ sagten die Arrestanten unter sich.
Jetzt also trat er in die Küche, begleitet von jenem kleinen häßlichen Polen, der von ihm als „Musikkapelle“ gemietet war, um noch das Seine zur Fülle des Genusses beizutragen, – trat ein und blieb mitten in der Küche stehen, während er stumm und aufmerksam alle Anwesenden musterte. Alles verstummte. Da erblickte er mich und meinen Kameraden: er sah uns gehässig und spöttisch an, lächelte selbstzufrieden, schien so etwas wie zu überlegen und plötzlich trat er stark wankend an unseren Tisch:
„Darf ich fragen,“ begann er, – er sprach russisch und sogar gutes Russisch, obgleich er Tatar war – „welche Einkünfte es euch gestatten, hier Tee zu trinken?“
Ich tauschte mit meinem Kameraden schweigend einen Blick aus und verstand ihn sofort: daß es am ratsamsten war, zu schweigen und ihm nichts zu antworten. Schon das erste Wort hätte ihn rasend gemacht.
„Also habt ihr Geld?“ fuhr er fort zu fragen. „Also einen ganzen Haufen Geld – wie? Seid ihr also deswegen in die Kátorga gekommen, um hier Tee zu schlemmen? Ihr seid also nur zum Teetrinken hergekommen? So antwortet doch, daß euch der! ...“
Als er aber begriff, daß wir uns entschlossen hatten, zu schweigen und ihn nicht zu bemerken, wurde er rot vor Wut und erbebte am ganzen Körper. Nicht weit von ihm stand in der Ecke ein großer Brotkasten, etwa in der Form eines Troges, in den das ganze aufgeschnittene Brot für das Mittag- oder Abendessen der Sträflinge hineinkam. Er war so groß, daß das Brot für den halben Ostrogg in ihn hineinpaßte, war aber in dem Augenblick leer. Diesen Kasten ergriff nun Gasin mit beiden Händen und erhob ihn über uns – noch ein Augenblick, und er hätte uns die Schädel zerschmettert.
Doch ungeachtet dessen, daß ein Totschlag, oder der Versuch eines solchen für den ganzen Ostrogg sehr unangenehme Folgen hatte, – Untersuchungen, Durchsuchungen, strengere Aufsicht usw. – und es im Interesse eines jeden lag, ähnliches zu verhüten, blieben diesmal alle stumm und rührten sich nicht. Kein Wort zu unserer Verteidigung! Kein Ruf an Gasin! – so groß war ihr Haß gegen uns. Unsere gefährliche Situation war ihnen offenbar sehr angenehm ... Aber die drohende Gefahr ging noch glücklich vorüber: im Augenblick, da er den Kasten auf uns niederschleudern wollte, schrie plötzlich jemand aus dem Flur ihm zu:
„Gasin! Dein Branntwein ist gestohlen!“
Er schleuderte den Kasten zu Boden und stürzte wie ein Irrsinniger hinaus.
„Nun, diesmal hat Gott selbst euch gerettet!“ sagten die Sträflinge.
Und noch lange sagten sie es immer wieder.
Leider konnte ich es nicht erfahren, ob diese Nachricht von dem gestohlenen Branntwein auf Tatsache beruhte oder rechtzeitig zu unserer Rettung erfunden worden war.
Am Abend, als es bereits dunkel war, ging ich noch, kurz bevor die Kasernen zugeschlossen wurden, am Palissadenzaun umher und eine tiefe Schwermut legte sich auf meine Seele. Niemals wieder habe ich während meines ganzen Gefängnislebens eine so große Schwermut empfunden. Der erste Tag der Gefangenschaft ist überall schwer: gleichviel ob im Ostrogg, in der Kasematte oder in der Kátorga ... Aber – ich erinnere mich – mehr als alles andere beschäftigte mich ein Gedanke, der mich auch später während der ganzen Zeit im Ostrogg unablässig verfolgt hat, – eine teilweise unlösbare Frage, die auch jetzt noch für mich unlösbar ist, und die doch einmal Wirklichkeit werden muß: das ist die notwendige Ungleichheit der Strafen für ein und dasselbe Verbrechen.
In der Regel läßt sich kein einziges Verbrechen mit einem anderen vergleichen, nicht einmal annähernd. Zum Beispiel: dieser und jener haben einen Menschen ermordet; alle Umstände beider Verbrechen sind erwogen worden; und für dieses wie jenes Verbrechen wird fast dieselbe Strafe auferlegt. Indessen aber – sehe man doch nur genauer hin, welch ein Unterschied zwischen diesem und jenem Verbrechen ist. Der eine zum Beispiel hat einen Menschen um nichts und wieder nichts ermordet, sagen wir, um eine Zwiebel: er ging auf die Landstraße, ermordete einen vorüberfahrenden Bauer, der aber hatte im ganzen nur eine Zwiebel bei sich.
„Was nun, Väterchen,“ sagt der Verbrecher zum Geistlichen, „du hast mich zum Erwerb ausgesandt, da habe ich nun einen Bauer erschlagen und dafür nur eine Zwiebel gefunden.“ – „Dummkopf! Eine Zwiebel ist eine Kopeke, hundert Seelen machen hundert Zwiebeln aus – da hast du einen Rubel weg.“ (Eine Ostrogglegende.)
Der andere aber hat gemordet, um die Ehre seiner Braut, seiner Schwester oder seiner Tochter vor einem wollüstigen Schurken zu schützen. Ein dritter hat als Vagabund erschlagen, verfolgt von einer ganzen Schar von Häschern, hat erschlagen, um seine Freiheit, sein Leben zu verteidigen, nicht selten angesichts des Hungertodes. Und ein vierter mordet kleine Kinder aus bloßer Lust am Morden, um ihr warmes Blut über seine Hände fließen zu fühlen, um sich an ihrer Angst, an ihrem Zittern unter dem Messer – zu ergötzen. Und? Dieser wie jener kommen in dieselbe Kátorga.
Allerdings: es gibt Unterschiede in der Zeit der Strafe. Aber diese Unterschiede sind verhältnismäßig gering, – bei ein und derselben Art von Verbrechen dagegen ist der Unterschied oft so groß, daß man sie überhaupt nicht miteinander vergleichen kann. Jeder Charakter enthält schon den Unterschied. Doch nehmen wir an, daß es unmöglich wäre, diesen Unterschied auszugleichen, daß dieser Unterschied in seiner Art eine ebenso unlösbare Aufgabe sei, wie die Quadratur des Kreises – nehmen wir an, daß es so ist. Aber selbst wenn es diesen Unterschied nicht gäbe, – so betrachte man doch den anderen Unterschied – den in den Folgen der auferlegten Strafe ...
Da haben wir einen Menschen, der in der Kátorga hinsiecht, der geradezu wie ein Licht verbrennt; und da haben wir einen anderen, der vor seinem Eintritt in die Kátorga überhaupt nicht gewußt hat, daß es in der Welt ein so lustiges Leben, einen so angenehmen Klub verwegener Gesellen gibt. Ja, auch solche kommen in den Ostrogg ... Da haben wir zum Beispiel einen gebildeten Menschen mit entwickeltem Bewußtsein, Herzen und Gewissen. Schon der Schmerz seines eigenen Herzens bringt ihn bereits vor jeder Strafe durch seine Qualen um. Er wird sich für seine Verbrechen schonungsloser, unbarmherziger selbst verurteilen, als es jedes strafende Gesetz tun könnte. Und neben ihm ein anderer, der während seiner ganzen Zwangsarbeit auch nicht ein einziges Mal an den von ihm begangenen Mord denkt. Er hält sich womöglich noch für völlig schuldlos. Und es gibt auch solche, die absichtlich Verbrechen begehen, nur um in einen Ostrogg zu gelangen, und auf diese Weise von der verhältnismäßig viel größeren Zwangsarbeit in der Freiheit erlöst zu sein. Dort hat er in der größten Erniedrigung gelebt, nie sich sattessen gekonnt und für seinen Arbeitgeber vom Morgen bis zum Abend gearbeitet; im Ostrogg aber ist die Arbeit leichter, zu essen hat er soviel er will, und noch dazu ein Essen, wie er es früher nie gesehen hat; an Feiertagen Rindfleisch, milde Gaben und außerdem die Möglichkeit, sich immer noch ein paar Kopeken zu verdienen.
Und die Gesellschaft, in die er kommt? Ein in allem beschlagenes, gewandtes, alles kennendes und könnendes Volk: er sieht mit der respektvollsten Verwunderung zu seiner neuen Umgebung empor; er hält sie für die allerhöchste Gesellschaft, die es in der Welt nur geben kann!
Sollte nun wirklich die Bestrafung für diese zwei Menschen in gleichem Maße fühlbar sein?
Doch übrigens, wozu sich mit unlösbaren Fragen abgeben! Die Trommel ertönt, es ist Zeit, in die Kaserne zu gehen.
Die letzte Revision. Dann geht es in die Kasernen. Jede Tür hat ein besonderes Schloß und die Arrestanten sind bis zum nächsten Morgenrot eingeschlossen.
Die Revision wird von einem Unteroffizier und zwei Soldaten vorgenommen. Zuweilen wurden alle Arrestanten auf dem Hof aufgestellt und dann wohnte der wachhabende Offizier der Zählung bei. Größtenteils aber wurde diese Zeremonie unzeremonieller erledigt: man revidierte jede Kaserne einzeln. So war es auch an jenem Tage. Die Soldaten verzählten sich mehr als einmal, gingen und kehrten von neuem zurück. Endlich, nachdem sie die gewünschte Anzahl zusammengezählt hatten, wurde die Kaserne verschlossen. In ihr blieben an dreißig Menschen, die alle ziemlich eng auf der langen Pritsche zusammengepfercht waren. Zum Schlafen war es noch zu früh. So mußte sich ein jeder mit irgend etwas beschäftigen.
Von Beamten oder Wachen blieb in der Kaserne nur ein Invalide zurück. Außerdem gab es in jeder Kaserne noch einen Ältesten von den Arrestanten, der von dem Platzmajor persönlich eingesetzt war, selbstverständlich als Belohnung für gute Aufführung. Es kam aber nicht selten vor, daß auch die Ältesten an gefährlichen Streichen mitbeteiligt waren; dann wurden sie geknutet, ohne weiteres zu Gemeinen degradiert und durch andere, würdigere ersetzt.
In unserer Kaserne war der Älteste Akim Akimytsch, der zu meiner nicht geringen Verwunderung von Zeit zu Zeit die Sträflinge zur Ruhe verwies, wofür jene ihn in der Regel mit spöttischen Bemerkungen bedachten. Der Invalide war klüger als er und mischte sich in nichts ein, kam es aber einmal dazu, daß er seine Zunge in Bewegung setzte, so sagte er gewissermaßen nur anstandshalber ein paar Worte, um vor seinem Gewissen seine Pflicht zu erfüllen. Schweigend saß er sonst auf seinem Lager und nähte an einem Stiefel.
An jenem ersten Tage meines Ostrogglebens machte ich eine Beobachtung, von deren Richtigkeit, mich völlig zu überzeugen, ich späterhin Zeit und Gelegenheit hatte. Nämlich: daß alle Nichtarrestanten, wer sie auch sein mögen, angefangen selbst von denen, die mit den Arrestanten in unmittelbarer Verbindung stehen (wie zum Beispiel die Eskortesoldaten, die Wachen und Schildwachen), bis zu allen, die nur irgend welche Beziehungen zum Ostroggleben haben – daß alle übertrieben mißtrauisch auf die Arrestanten sehen, ganz als erwarteten sie jeden Augenblick, daß der Arrestant sich sogleich mit einem Messer auf einen von ihnen stürzen werde. Doch das bemerkenswerteste dabei war – die Arrestanten wußten es selbst – daß man sie fürchtete, und dieses Bewußtsein verlieh ihnen so etwas wie größeren Mut. Indessen ist der beste Kommandeur für sie gerade ein solcher, der sie nicht fürchtet. Ja, und überhaupt ist es ihnen viel angenehmer, wenn man Zutrauen zu ihnen hat – sogar trotz des wachsenden Mutes im anderen Fall. Damit kann man sogar ihre Neigung erwerben.
Es kam zuweilen auch zu meiner Zeit vor, wenn auch nur sehr selten, daß einer der Offiziere den Ostrogg ohne Begleitmannschaft betrat. Da hätte man sehen sollen, wie das den Arrestanten imponierte, wie verwundert sie zuerst waren, und einen wie guten Eindruck es auf sie machte. Ein solch furchtloser Besucher erweckte stets Achtung für sich, und selbst wenn etwas Schlimmes sich hätte ereignen können – in seiner Gegenwart wäre es nicht geschehen. Die Arrestanten flößen überall Angst ein, wo sie auch sein mögen, und ich weiß wirklich nicht, was im Grunde die Veranlassung dazu gibt. Natürlich liegt einige Veranlassung dazu schon allein in der äußeren Erscheinung des gekennzeichneten Verbrechers. Außerdem fühlt ein jeder, der sich dem Ostrogg nähert, daß dieser ganze Menschenhaufe nicht aus eigenem Willen an diesem Ort zusammenlebt, und daß man einen lebendigen Menschen ungeachtet aller Vorkehrungen und Gewalt nicht zu einem lebenden Leichnam machen kann: er behält trotz allem Gefühle, Rachedurst und Lebensdurst, und Leidenschaften und mit diesen auch das Bedürfnis, sie zu befriedigen. Aber nichtsdestoweniger bin ich überzeugt, daß man die Arrestanten ganz grundlos fürchtet. Der Mensch wirft sich nicht so leicht und so schnell mit einem Messer auf einen anderen Menschen. Mit einem Wort, selbst wenn auch Gefahr vorhanden wäre, selbst wenn sie mitunter auch in der Tat vorhanden ist, so kann man doch bereits aus der Seltenheit solcher Vorfälle ersehen, wie gering sie in Wirklichkeit ist. Versteht sich, ich rede hier nur von verurteilten Arrestanten, von denen viele sogar froh sind, daß sie endlich in den Ostrogg hineingelangt – so schön ist bisweilen ein neues Leben! – und folglich ruhig und friedlich zu leben geneigt sind; und außerdem würden sie auch den wirklich unruhigen Elementen unter sich nicht gar zu viel Sprünge erlauben. Jeder Zwangsarbeiter fürchtet die Gesamtheit – gleichviel, wie furchtlos und unbekümmert um die anderen er auch sein mag. Der unter Anklage stehende Sträfling dagegen ist eine ganz andere Sache. Dieser ist tatsächlich fähig, sich auf einen Menschen zu stürzen, der ihm nichts getan hat, und zwar einzig aus dem Grunde, weil er morgen für irgend ein Vergehen bestraft werden soll, der neue Frevel aber die Strafe hinausschiebt, bis die Sache untersucht ist. Hier aber gibt es doch immerhin eine Ursache und einen Zweck, warum er einen anderen anfällt, – das ist: „sein Schicksal zu verändern,“ wie sie sagen, was es auch koste, und zwar möglichst schnell. Ich selbst erinnere mich eines psychologisch sehr seltsamen Vorfalls in dieser Art.
In der Militärabteilung unseres Ostrogg gab es einen Arrestanten, einen von den Soldaten, der nicht seiner bürgerlichen Rechte beraubt und nur auf zwei Jahre verschickt war – ein entsetzlicher Prahler und ein bemerkenswerter Feigling. Im allgemeinen trifft man Prahlsucht und Feigheit äußerst selten beim russischen Soldaten. Unser Soldat sieht immer so beschäftigt aus, daß er, selbst wenn er prahlen wollte, keine Zeit dazu hätte. Ist er aber einmal ein Prahler, so ist er sicherlich auch faul und feige.
Dutoff – so hieß der Arrestant – hatte endlich seine kurze Strafzeit „abgelebt“ und war darauf wieder in sein Linienbataillon zurückgekehrt. Da aber alle gleich ihm in den Ostrogg zur Besserung geschickten Soldaten in der Gefangenschaft endgültig verderben, so kommt es gewöhnlich so, daß sie nach zwei bis drei Wochen in der Freiheit für ein neues Vergehen wiederum verurteilt werden und wieder in den Ostrogg zurückkehren, nur mit dem Unterschiede, daß sie dann nicht auf zwei oder drei Jahre, sondern in die „ewige“ Abteilung, auf fünfzehn bis zwanzig Jahre kommen.
So geschah es auch hier.
In der dritten Woche nach seinem Austritt aus dem Ostrogg hatte Dutoff einen Diebstahl begangen; außerdem hatte er einem Offizier grob geantwortet und in der Kaserne Unfug getrieben. Er kam vors Gericht und wurde zu einer schweren Strafe verurteilt. Die bevorstehenden Spießruten flößten ihm aber einen solchen Schrecken ein, er fürchtete sich wie der letzte Feigling dermaßen vor ihnen, daß er sich am Tage vor dem Spießrutenlaufen mit einem Messer auf den die Strafkammer betretenden wachhabenden Offizier stürzte. Natürlich wußte er sehr gut, daß man für ein solches Vergehen seine Strafe um ein Bedeutendes erschweren und die Dauer seiner Zwangsarbeit verlängern würde. Aber seine ganze Berechnung bestand darin, wie er den furchtbaren Augenblick der Spießrutenstrafe wenigstens auf ein paar Tage, oder auch nur auf ein paar Stunden hinausschieben könnte! Er war dermaßen feige, daß er den Offizier nicht einmal mit dem Messer verletzte, sondern den ganzen Überfall nur pro forma machte, nur zu dem Zweck, um eines neuen Vergehens schuldig zu sein, für das man ihn vorläufig in strenge Untersuchungshaft nehmen würde, durch die dann die andere Strafe noch hinausgeschoben werden mußte.
Der Augenblick vor dem Spießrutenlaufen ist natürlich entsetzlich für den Verurteilten. Ich habe in den Jahren meines Ostrogglebens oft genug Gelegenheit gehabt, Verurteilte am Tage vor ihrer Bestrafung zu sehen. Und gewöhnlich traf ich mit den Bestraften im Lazarett zusammen, wenn ich wieder einmal krank war, was ziemlich oft vorkam. In ganz Rußland weiß jeder Arrestant, daß die mitfühlendsten Menschen für sie die Ärzte sind. Niemals machen sie mit den Verbrechern einen Unterschied, wie es sonst fast alle Menschen tun, ausgenommen nur das einfache Volk. Dieses wird niemals den Arrestanten wegen seines Verbrechens tadeln, wie entsetzlich das Begangene auch sein mag, und verzeiht ihm alles für die empfangene Strafe und überhaupt für sein Unglück. Nicht umsonst nennt das Volk in ganz Rußland das Verbrechen „Unglück“ und den Verbrecher einen „Unglücklichen“. Das ist eine tiefbedeutsame Bezeichnung für seine Auffassung des Verbrechens, und sie ist um so wichtiger, als sie ganz unbewußt, ganz instinktiv erfolgt. Die Ärzte sind in vielen Fällen die einzige Zuflucht der Arrestanten, besonders aber derjenigen von ihnen, die wegen eines neuen Vergehens vor Gericht stehen und die viel strenger gehalten werden, als die bereits Bestraften ... So ging denn der Arrestant, wenn er den voraussichtlichen Termin des furchtbaren Tages berechnet hatte, zum Unteroffizier und meldete sich krank, damit man ihn ins Lazarett führte und der schwere Augenblick noch etwas hinausgeschoben wurde, – wenn auch nur auf ein paar Tage. Ließ er sich dann wieder ausschreiben und kehrte er in den Ostrogg zurück, so konnte er fast mit Sicherheit annehmen, daß die verhängnisvolle Stunde ihn am nächsten Tage erwartete, und war daher die ganze Zeit mächtig erregt. In der Regel sind die Arrestanten bemüht, ihre Gefühle aus Stolz zu verbergen, doch vermag ihre vorgespiegelte, peinlich erzwungene Munterkeit keinen einzigen Kameraden zu täuschen. Diese begreifen nur zu gut, um was es sich handelt und schweigen aus Nächstenliebe. Ich kannte einen jungen Mörder, einen ehemaligen Soldaten, der zur vollen Anzahl Hiebe verurteilt war. Seine Angst war aber so groß, daß er sich am Abend vorher entschloß, einen Krug Branntwein, in den er Schnupftabak hineingetan hatte, auszutrinken. – Übrigens muß ich hier noch bemerken, daß der vor der Bestrafung stehende Arrestant sich unbedingt Branntwein verschafft; er wird schon lange vor dem Termin besorgt und mit schwerem Gelde bezahlt. Der Verurteilte würde sich eher ein halbes Jahr lang das Allernotwendigste versagen, doch unbedingt die erforderliche Summe für einen halben Liter Branntwein zusammensparen, um sich eine Viertelstunde vor der Bestrafung ein wenig betrinken zu können. Die Arrestanten waren der Meinung, daß ein Betrunkener die Knute oder den Stock nicht so schmerzhaft fühle, wie ein Nüchterner. Der arme Teufel trank tatsächlich seinen Krug mit Branntwein und Schnupftabak aus und wurde dann auch richtig krank: er begann entsetzlich zu erbrechen, erbrach Blut und Galle und wurde halb besinnungslos ins Lazarett geschafft. Dieses Erbrechen hatte aber seine Brust so angegriffen, daß schon nach wenigen Tagen Anzeichen einer richtigen Schwindsucht konstatiert wurden, an der er nach sechs Monaten starb. Die Ärzte, die ihn während seiner Schwindsucht behandelten, wußten nicht, wie er zu ihr gekommen war.
Da ich von dem so häufig bemerkten Kleinmut der Verbrecher vor der Bestrafung schon gesprochen habe, muß ich hier noch hinzufügen, daß andere den Beobachter wiederum durch ihre außerordentliche Furchtlosigkeit in Erstaunen setzten. Ich entsinne mich einiger Beispiele von Kühnheit, die geradezu an absolute Gefühllosigkeit grenzten, und solche Beispiele waren nicht ganz selten. Besonders erinnerlich ist mir meine Begegnung mit einem ganz berüchtigten Verbrecher.
An einem Sommertage verbreitete sich in der Arrestantenabteilung des Lazaretts das Gerücht, daß am Abend der „große Mörder“ Orloff, ein entlaufener Soldat, bestraft und nachher ins Lazarett gebracht werden würde. Die kranken Arrestanten sprachen, in der Erwartung Orloffs, viel von ihm und waren überzeugt, daß man ihn grausam prügeln würde. Alle waren gewissermaßen erregt und ich muß gestehen, daß auch ich dem Erscheinen des berüchtigten Räubers mit großer Spannung entgegensah.
Lange schon hatte ich wahre Wunder von ihm erzählen gehört. Er war ein Verbrecher, wie es deren nicht viele gibt, der kaltblütig Greise und Kinder erdrosselte, ein Mensch von ungeheurer Willensstärke und mit stolzem Bewußtsein seiner Kraft. Er hatte viele Morde gestanden und war jetzt zu Spießruten verurteilt worden. Man brachte ihn erst abends. Im Krankenraum war es bereits dunkel und man zündete das Nachtlicht an. Orloff schien völlig bewußtlos zu sein, er sah unheimlich bleich aus. Er hatte dichtes, ganz zerzaustes, pechschwarzes Haar. Sein Rücken war geschwollen und war dunkelrotblau von unterlaufenem Blut. Die ganze Nacht pflegten ihn die anderen, sie erneuerten die kalten Umschläge, kehrten ihn von der einen Seite auf die andere, gaben ihm Medizin, ganz als wäre er ihr Blutsverwandter gewesen oder ihr größter Wohltäter. Schon am nächsten Tage kam er völlig zu sich, erhob sich und ging zweimal durch den ganzen Raum! Das wunderte mich: er war gar zu entkräftet und abgemagert ins Lazarett gebracht worden. Er hatte die ganze Hälfte der ihm bestimmten Spießruten durchlaufen. Der Arzt hatte erst dann Einhalt getan, als die Fortsetzung des Strafvollzuges dem Arrestanten unvermeidlich den Tod gebracht haben würde. Außerdem war Orloff klein von Wuchs und von schwächlicher Konstitution und hinzu kam noch, daß die lange Untersuchungshaft ihn bedeutend entkräftet hatte. Wer jemals in Untersuchungshaft gehaltene Arrestanten gesehn hat, wird sich wahrscheinlich noch lange Zeit ihrer ausgemergelten, elenden, bleichen Gesichter, ihrer fiebernden, kranken Blicke entsinnen. Nichtsdestoweniger erholte sich Orloff sehr bald. Augenscheinlich wurde seine Natur von seiner inneren, geistigen Energie mächtig unterstützt. Er war in der Tat kein gewöhnlicher Mensch. Aus Neugier und auch aufrichtigem Interesse machte ich mich näher mit ihm bekannt und studierte ihn eine ganze Woche. Ich kann mit aller Bestimmtheit versichern, daß ich in meinem ganzen Leben keinen Menschen mit einem stärkeren, eiserneren Charakter gesehen habe. Ich hatte schon früher in Tobolsk eine ähnliche Berühmtheit dieser Art gesehen, einen ehemaligen Räuberhauptmann. Er war ein vollständig wildes Tier und man brauchte nur neben ihm zu stehen, so fühlte man schon instinktiv, selbst wenn man seinen Namen nicht kannte und nichts von ihm wußte, daß ein Entsetzen erregendes Geschöpf neben einem stand. Vor allem entsetzte mich seine geistige Stumpfheit. Die Sinnlichkeit hatte dermaßen alle seine seelischen Eigenschaften überwuchert, daß man bereits nach dem ersten Blick in dieses Gesicht sah, wie hier nur die eine wilde Gier nach fleischlichen Genüssen, Wollust und sinnlicher Befriedigung vorhanden war. Ich bin überzeugt, daß Koreneff – so hieß dieser Räuberhauptmann – vor der Bestrafung allen Mut verloren und am ganzen Körper gezittert haben würde, wenn er auch tausendmal fähig war, Menschen zu ermorden, ohne mit der Wimper zu zucken. Der größte Gegensatz zu ihm war Orloff: der war die Verkörperung der denkbar größten Selbstbeherrschung. Man sah es ihm sofort an, daß dieser Mensch unbegrenzt über sich gebieten konnte, daß er alle Qualen und Strafen verachtete und überhaupt nichts fürchtete in der Welt. Man sah in ihm unbegrenzte Energie und das unbedingte Verlangen, das ins Auge gefaßte Ziel zu erreichen. Unter anderem setzte er mich auch durch seinen maßlosen Hochmut in Erstaunen. Auf alles sah er bis zur Unglaublichkeit „von oben herab“, doch bemühte er sich dabei durchaus nicht, sich gleichsam auf Stelzen zu erheben, sondern – es geschah vollkommen natürlich von ihm. Ich glaube, es gab kein einziges Wesen, das auf ihn mit Autorität allein einen Eindruck hätte machen können. Auf alles pflegte er geradezu unglaublich ruhig zu sehen, als gäbe es überhaupt nichts in der Welt, das ihn in Erstaunen setzen könnte. Und obwohl er vollkommen begriff, daß die anderen Arrestanten mit Achtung auf ihn sahen, so tat er doch nie groß vor ihnen, während gerade Ruhmsucht und Eigendünkel fast allen Sträflingen ohne Ausnahme eigen sind. Er war auffallend klug und auf eine besondere Art aufrichtig, wenn auch durchaus nicht sehr gesprächig oder gar schwatzhaft. Auf meine Fragen antwortete er mir ohne weiteres, daß er nur seine Wiederherstellung abwarte, um sich so bald als möglich der zweiten Hälfte der Strafe unterziehen zu können, und daß er zuerst, vor dem Spießrutenlaufen, gefürchtet habe, er würde es vielleicht nicht überleben. „Jetzt aber,“ fuhr er fort, indem er mir zublinzelte, „ist die Sache überstanden. Ich erhalte noch die übrigen Hiebe und werde dann mit dem nächsten Transport nach Nertschinsk abgeschickt werden, unterwegs aber werde ich entfliehen. Das werde ich unbedingt! Wenn nur der Rücken schneller heilte!“
Und in diesen ganzen fünf Tagen wartete er krampfhaft auf den Augenblick, wann er sich ausschreiben lassen könnte. Inzwischen aber war er mitunter sehr witzig und heiter. Ich versuchte mit ihm ein Gespräch über seine Abenteuer anzuknüpfen. Er wurde etwas ungehalten bei diesem Ausfragen, antwortete jedoch stets ganz offen. Als er aber erriet, daß ich zu seinem Gewissen vordringen wollte und nach irgend einer, wenn auch noch so geringen Reue forschte, da blickte er mich dermaßen verächtlich und hochmütig an, als wäre ich in seinen Augen plötzlich zu einem ganz kleinen dummen Knäblein geworden, mit dem man nicht wie mit großen Menschen reden konnte. Ja, in seinem Gesicht drückte sich sogar etwas in der Art wie Mitleid mit mir aus. Nach einem Augenblick aber brach er in das allergutmütigste Gelächter über mich aus, ein Gelächter ohne jegliche Ironie, und ich bin überzeugt, daß er, als er allein zurückgeblieben war und vielleicht meiner Worte gedachte, noch mehrere Male über mich gelacht hat. Endlich ließ er sich mit seinem noch nicht ganz geheilten Rücken ausschreiben; auch ich wurde entlassen, und so kam es, daß wir zusammen aus dem Lazarett zurückkehrten, – ich in den Ostrogg, er nach der Wache neben demselben, wo er auch früher in Haft gewesen war. Beim Abschied drückte er mir die Hand, und das war seinerseits ein Zeichen großen Zutrauens. – Ich glaube, er tat es nur deshalb, weil er in dem Augenblick mit sich selbst sehr zufrieden war. Im Grunde aber konnte er mich wohl unmöglich nicht verachten, und zweifellos mußte er auf mich wie auf ein sich unterwerfendes, schwaches, armseliges und ein in jeder Beziehung im Vergleich zu ihm niedrigeres Wesen herabsehen. Am nächsten Tage wurde er zum abermaligen Spießrutenlaufen herausgeführt ...
Nachdem der Unteroffizier die Kaserne verschlossen hatte, veränderte sich im Augenblick ihr Aussehen: sie erinnerte mit einemmal an ein Heim. Jetzt erst konnte ich die Arrestanten, meine Kameraden, gleichsam in ihrem Hause sehen. Tagsüber konnte der Unteroffizier, konnten die Wachen oder der Major und die Offiziere jeden Augenblick im Ostrogg erscheinen, und darum halten sich dann alle ganz anders, als wären sie nicht ganz ruhig, als erwarteten sie in begreiflicher Erregung jeden Augenblick irgend etwas Unvorhergesehenes. Kaum aber war die Tür zugeschlossen, da machte es sich ein jeder auf seiner Pritsche bequem und fast alle hatten dann eine eigene Arbeit. Die Kaserne wurde plötzlich hell. Jeder besaß sein Licht und seinen Leuchter, der gewöhnlich aus Holz ist. Der eine näht an einem Stiefel, der andere an einem Kleidungsstück. Die verpestete Luft der Kaserne wurde mit jeder Stunde unerträglicher. Eine kleine Gruppe Faulenzer hockte sich in einer Ecke hin, rund um einen kleinen, auf dem Fußboden ausgebreiteten Teppich, und begann Karten zu spielen. Fast in jeder Kaserne gab es einen Arrestanten, der einen etwa metergroßen alten Teppich, ein Licht und ein bis zur Unkenntlichkeit schmutziges, fettiges Spiel Karten bei sich hielt. Alles zusammen wurde „die Spielhölle“ genannt. Der Besitzer erhielt von den Spielern fünfzehn Kopeken für eine Nacht – das war sein Erwerb. Gespielt wurde gewöhnlich Dreiblatt oder Gorka, jedenfalls aber nur Hazardspiele. Jeder Spieler schüttete einen ganzen Haufen Kupfermünzen vor sich aus – sein ganzes Kapital, – und erhob sich nicht eher, als bis er entweder alles verspielt oder den anderen das Letzte abgerupft hatte. Das Spiel zog sich bis in die Nacht hinein oder dauerte bis zum nächsten Morgen, nicht selten bis zu dem Augenblick, wenn die Kaserne wieder aufgeschlossen wurde.
In unserer wie in jeder anderen Kaserne gab es beständig Bettelarme, die entweder alles verspielt und vertrunken hatten, oder die einfach von Natur Bettler waren. Ich sage „von Natur“ und betone besonders dieses Wort. In der Tat gibt es überall in unserem Volke, gleichviel in welcher Umgebung, unter welchen Verhältnissen, gewisse sonderbare Menschen, die gewöhnlich äußerst friedlich und nicht selten durchaus nicht faul sind, denen es aber vom Schicksal vorher bestimmt zu sein scheint, ewig Bettler zu bleiben. Sie sind immer „obdachlos“, sie sind immer schmutzig, sie sehen immer verschüchtert und etwas blöde aus, durch irgend etwas niedergedrückt, und ewig sind sie bei irgend jemand Laufbursche, gewöhnlich bei den Prassern und Faulenzern oder auch bei einem plötzlich Reichgewordenen und Emporgestiegenen. Jede Beachtung oder gar Ehrenbezeugung, jede Initiative – ist für sie Leid und Plage. Sie sind gleichsam mit der Bedingung geboren, daß sie selbst nichts anfangen dürfen, sondern nur gehorchen, nur dienen, nicht nach eigenem Willen leben, sondern nach fremder Pfeife tanzen, – kurz, ihre Bestimmung ist: nur für andere zu leben. Und zur Vollendung des Ganzen kommt noch hinzu, daß keine einzige Schicksalsveränderung sie reich machen kann. Sie sind und bleiben immer Bettler. Ich habe aber bemerkt, daß es solche Menschen nicht nur im einfachen Volk allein, sondern in allen Gesellschaftsschichten, Ständen, und überhaupt bei Menschen aller Richtungen gibt. So war es auch in jeder Kaserne, in jedem Ostrogg, und kaum erschien die Spielhölle, da erschien auch schon einer von diesen Leuten, um sich zu einem Dienst verwenden zu lassen. Und überhaupt konnte ohne einen solchen Menschen kein Spielchen gemacht werden. Er wurde gewöhnlich von den Spielern gemeinsam für die ganze Nacht gemietet und erhielt fünf Kopeken in Silber. Seine Hauptpflicht war, die ganze Nacht Wache zu stehen. Größtenteils fror er sechs bis sieben Stunden lang draußen im Flur bei einer Kälte von dreißig Grad Réaumur und lauschte auf jedes Geräusch, jeden Ton, jeden Schritt auf dem Hofe. Der Platzmajor oder die Wachhabenden kamen zuweilen noch sehr spät in den Ostrogg, traten leise ein und überraschten dann Spielende, Arbeitende und die überzähligen Lichte, die man schon vom Hofe aus bemerken konnte. Jedenfalls war es, wenn plötzlich das Türschloß kreischte, schon zu spät, die Lichte auszulöschen, die Karten zu verstecken und sich auf den Pritschen in Schlaf zu versenken. Da es aber in solchen Fällen dem gemieteten Wächter von Seiten der ganzen „Spielhölle“ sehr schlecht erging, so kamen sie auch nur sehr selten vor. Fünf Kopeken für das Aufpassen war natürlich eine lächerlich geringe Zahlung – selbst für einen Ostrogg; aber mich frappierte dort immer die Strenge und Unbarmherzigkeit derjenigen, die einen anderen für Geld zu etwas angestellt hatten. „Hast Geld genommen, so diene jetzt!“ Das war ein Argument, das keinen Widerspruch zuließ. Für die ausgezahlten Kopeken wurde vom anderen alles herausgeschlagen, was nur herauszuschlagen war, wenn möglich, auch noch so und so viel auf den Kauf, und dabei glaubte man noch, daß man dem anderen eine große Gnade erwies. Der betrunkene Prasser, der sein Geld nach allen Seiten ungezählt verschleuderte, nutzte seinen Mietling für weniges Geld bis aufs letzte aus und feilschte noch bei der Bezahlung. Diesen Charakterzug habe ich aber nicht nur im Ostrogg und nicht nur bei den Spielern daselbst wahrgenommen.
Ich sagte schon, daß fast die ganze Kaserne sich abends mit eigener Arbeit beschäftigte: außer den Spielern waren an jenem Abend nur noch fünf unbeschäftigt: das waren die einzigen, die sich sogleich hinlegten und einschliefen. Mein Platz auf der Pritsche war an der Tür. Auf der anderen Seite der Pritsche, Kopf an Kopf mit mir, war Akim Akimytschs Platz. Er arbeitete regelmäßig bis zehn oder elf Uhr nachts; er klebte aus buntem Papier eine chinesische Laterne, die man in der Stadt für recht gute Bezahlung bei ihm bestellt hatte. Solche Laternen verfertigte er meisterhaft, und er arbeitete ohne Unterlaß. War die Arbeit beendet, so räumte er sorgfältig alles auf, breitete seine kleine Matratze aus, betete zu Gott und legte sich artig auf sein Bett. Wohlanständigkeit und Ordnung trieb er, wie man sah, bis zur kleinlichsten Pedanterie. Ersichtlich hielt er sich für einen außerordentlich klugen Menschen, wie das ja schließlich alle stumpfen und beschränkten Leute tun. Schon von diesem ersten Tage an gefiel er mir nicht, obgleich ich – dessen entsinne ich mich noch – an diesem Tage viel über ihn nachdachte und mich am meisten darüber wunderte, daß ein solcher Mensch, anstatt im Leben Karriere zu machen, in den Ostrogg geraten war. Ich werde hier noch des öftern auf Akim Akimytsch zu sprechen kommen.
Doch jetzt will ich in aller Kürze die ganze Einwohnerschaft unserer Kaserne schildern. Viele Jahre mußte ich dort leben und alle diese Menschen waren in Zukunft meine Hausgenossen und Kameraden. So wird man wohl auch die gespannte Neugier begreifen, mit der ich jeden einzelnen von ihnen anblickte und beobachtete.
Links von meinem Pritschenplatz befand sich eine Gruppe Kaukasier, die alle verschiedenen kaukasischen Bergvölkern angehörten, und größtenteils wegen Diebstahls zu mehr oder weniger Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Es waren zwei Lesghier, ein Tschetschenze und drei Dagestanische Tataren. Der Tschetschenze war ein finsterer, mürrischer Mensch, der fast nie sprach und beständig unter der Stirn hervor haßerfüllt auf seine Umgebung sah und dazu widerlich boshaft und höhnisch lächelte. Der eine von den Lesghiern war schon ein alter Mann, hatte eine lange, dünne Nase und war dem Aussehen nach ein typischer Räuber. Dafür machte der andere, Nurra, schon am ersten Tage einen ganz prächtigen Eindruck auf mich. Nurra war noch nicht alt, nicht groß, gebaut wie ein Athlet, hochblond mit hellblauen Augen, einer Habichtsnase, mit der Gesichtsform eines Finnen, und da er von Jugend auf nur auf dem Pferde gesessen hatte, waren seine Beine krumm gebogen. Sein ganzer Körper war zerhauen, von Bajonetten und Kugeln verwundet. Im Kaukasus hatte er zu den Botmäßigen gehört, die sich Rußland unterworfen hatten, war aber immer wieder heimlich zu den aufständischen Bergvölkern geritten und hatte an ihren Angriffen auf die russischen Truppen teilgenommen. Im Ostrogg wurde er von allen geliebt. Er war immer heiter, zu jedermann freundlich, arbeitete still, war ruhig und wohlgemut, obgleich er oft mit Unwillen auf die Schändlichkeit und den Schmutz des Arrestantenlebens blickte, und über jeden Diebstahl, jede Schurkerei und jeden Betrunkenen in rasende Wut geraten konnte, sowie über alles, was unehrenhaft war, doch stiftete er nie Streit an, sondern wandte sich stets ab. Er selbst hat nie etwas gestohlen und während seines ganzen Aufenthaltes im Ostrogg hat er nie etwas Schlechtes getan. Er war ungewöhnlich fromm, und seine Gebete verrichtete er streng nach der Vorschrift. In der Fastenzeit vor den mohammedanischen Festtagen fastete er fanatisch und verbrachte ganze Nächte im Gebet. Alle liebten ihn und glaubten an seine Ehrlichkeit. „Nurra ist ein Löwe,“ sagten die Arrestanten und so wurde er später nur noch der Löwe genannt. Er war fest überzeugt, daß er nach Ablauf seiner Strafzeit wieder nach Haus, in den Kaukasus geschickt werden würde, und lebte nur in dieser Hoffnung. Ich glaube, er wäre gestorben, hätte man sie ihm genommen. Am ersten Tage im Ostrogg war er mir sehr angenehm aufgefallen. Es wäre aber auch unmöglich gewesen, sein gutes, sympathisches Gesicht unter all den bösen, finsteren und höhnischen Gesichtern der anderen gebrandmarkten Sträflinge nicht zu bemerken. In der ersten halben Stunde nach meinem Eintritt in den Ostrogg klopfte er mich im Vorübergehen auf die Schulter, und blickte mir gutmütig in die Augen. Zuerst konnte ich nicht begreifen, was das zu bedeuten hatte. Russisch sprach er nur sehr schlecht. Bald darauf kam er wieder auf mich zu, lächelte mich an und klopfte mir nochmals freundlich auf die Schulter. Und dasselbe wiederholte er in den ersten drei Tagen unzählige Mal. Das bedeutete seinerseits, wie ich später erriet und auch erfuhr, daß ich ihm leid täte, daß er fühle, wie schwer es mir werde, mich im Ostrogg einzuleben, daß er mir seine Freundschaft beweisen, mich ermuntern und seiner Protektion versichern wolle. Guter, treuherziger Nurra!
Die drei dagestanischen Tataren waren leibliche Brüder. Zwei von ihnen waren schon bejahrt, aber der dritte, Alei, war erst zweiundzwanzig Jahre alt, und sah dabei noch jünger aus. Sein Pritschenplatz war neben mir. Sein schönes, offenes, kluges und gleichzeitig gutherzig naives Gesicht eroberte sich sofort mein Herz, und ich freute mich, daß das Schicksal gerade ihn und nicht einen anderen mir zum Nachbar gegeben hatte. Seine ganze Seele sah man sich widerspiegeln auf seinem hübschen, ja sogar schönen Gesicht. Sein Lächeln war so zutraulich, so kindlich gutmütig, seine großen dunklen Augen waren so ... ich möchte sagen – weich, so freundlich, daß sein Anblick mir ein ganz besonderes Vergnügen, sogar eine Erleichterung in den Stunden der Sehnsucht und Trauer war. Ich sage es ohne jede Übertreibung. In der Heimat hatte sein ältester Bruder – er hatte fünf ältere Brüder, von denen zwei in ein Hüttenwerk gekommen waren – ihm eines Tages befohlen, seine Flinte zu nehmen und sich aufs Pferd zu setzen, um mit den anderen irgendeine Expedition mitzumachen. Die Ehrfurcht vor dem Älteren ist bei jenen Bergvölkern so groß, daß der Jüngling nicht etwa keinen Mut gehabt, zu fragen, wohin es denn gehe, sondern nicht einmal an die Möglichkeit einer ähnlichen Frage gedacht hatte. Die anderen aber hatten es nicht für notwendig befunden, ihn über das Reiseziel aufzuklären. Sie zogen auf Raub aus, und hatten es auf einen reichen armenischen Kaufmann abgesehen. Und richtig, sie hatten ihn überfallen, ihn und die Begleitmannschaft umgebracht und die Ware geraubt. Die Sache war aber herausgekommen: alle sechs wurden sie verhaftet, verurteilt und nach Sibirien verschickt. Für Alei bestand die ganze Milderung seiner Strafe nur darin, daß er auf eine kürzere Zeit zur Zwangsarbeit verurteilt wurde: nur auf vier Jahre. Seine Brüder liebten ihn sehr, und zwar eher mit einer väterlichen als brüderlichen Liebe. Er war ihr Trost in der Verbannung und sie, die sonst stets finster und verdrießlich waren, lächelten ihm jedesmal zu, wenn sie ihn nur sahen; und wenn sie ihn anredeten – was nur äußerst selten geschah, ganz als wenn sie ihn immer noch für einen kleinen Knaben gehalten hätten, mit dem man doch eigentlich nichts Ernstes reden könne – so glätteten sich ihre mürrischen harten Gesichter und ich erriet, daß sie etwas Scherzhaftes, fast Kindisches mit ihm sprachen, wenigstens tauschten die Älteren untereinander lächelnde Blicke aus und lachten gutmütig, wenn sie seine Antwort anhörten. Alei dagegen wagte so gut wie überhaupt nicht, seine älteren Brüder als erster anzureden: so groß war seine Ehrfurcht vor ihnen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie dieser Junge es fertig brachte, während der ganzen Zeit seiner Kátorga seine ganze Herzensweichheit zu erhalten, eine so strenge Ehrlichkeit in sich zu entwickeln, eine solche Herzlichkeit, so viel Sympathisches zu bewahren und nicht zu verrohen, nicht zu verderben. Übrigens war er eine starke und aufrechte Natur, trotz seiner ganzen scheinbaren Weichheit. Späterhin lernte ich ihn näher kennen und durchschaute ihn ganz. Er war keusch wie ein unberührtes Mädchen und jede gemeine, zynische, schmutzige und jede ungerechte, gewalttätige Handlung im Ostrogg ließ seine schönen Augen vor Unwillen erglühen, wodurch sie noch schöner wurden. Aber auch er mischte sich nicht in das Geschimpfe ein und vermied jeden Streit, wenn er auch nicht zu jenen gehörte, die sich ungestraft beleidigen ließen. Im Gegenteil, er verstand es sogar sehr gut, seinen Mann zu stehn. Aber es kam nie zu einem Streit zwischen ihm und irgend einem anderen Sträfling: ihn hatten alle gern und von allen wurde er verhätschelt. Anfangs war er zu mir nur sehr höflich. Mit der Zeit aber fing ich an, mit ihm zu sprechen und in drei Monaten hatte er schon fließend russisch zu sprechen gelernt, wozu es seine Brüder in ihrer ganzen Strafzeit nicht zu bringen vermochten. Er schien mir ein ungewöhnlich kluger Junge zu sein, sehr bescheiden und zartfühlend, und schien sogar schon viel nachgedacht zu haben. Überhaupt muß ich eines vorausschicken: ich halte Alei für ein durchaus ungewöhnliches Wesen und denke an seine Begegnung als an eine der besten und schönsten in meinem Leben zurück. Es gibt Charaktere, die von Natur so schön, die von Gott so beschenkt sind, daß allein die bloße Vorstellung, er könnte sich zum Schlechten verändern, einem ganz unmöglich scheint. Ihretwegen braucht man sich keine Sorge zu machen, wie auch ich mir wegen Alei keine Sorge mache. Wo mag er jetzt wohl sein? ...
Einmal, es war schon längere Zeit nach meiner Ankunft im Ostrogg, lag ich auf der Pritsche und dachte an eine sehr drückende Erinnerung. Alei, der sonst immer fleißig war und arbeitete, war gerade unbeschäftigt, obwohl es noch zu früh war zum Schlafen. Sie hatten ihren mohammedanischen Festtag und arbeiteten daher nicht. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter den Kopf geschoben und schien in Gedanken versunken zu sein. Plötzlich fragte er mich:
„Was, dir ist es jetzt wohl sehr schwer zumute?“
Ich betrachtete ihn neugierig und diese plötzliche, offene Frage schien mir sonderbar, da Alei sonst immer so zartfühlend, so taktvoll und höflich war und mich niemals als erster anredete. Als ich aber aufmerksam hinblickte, gewahrte ich soviel Kummer in seinem Gesicht, soviel Qual der Erinnerungen, daß ich sofort erriet, warum er die Frage gestellt hatte: weil es ihm selbst gerade in diesem Augenblick sehr schwer zumute war. Und ich sagte ihm, was ich dachte. Er seufzte und lächelte traurig. Ich liebte sein Lächeln, das immer zärtlich und herzlich war. Außerdem zeigte er beim Lächeln seine wundervollen Zähne, die buchstäblich wie zwei Perlenreihen waren und um deren Schönheit ihn die schönste Frau der Welt hätte beneiden können.
„Nun, Alei, du hast soeben sicherlich daran gedacht, wie man bei euch in Dagestan dieses Fest feiert? Schön muß es dort sein.“
„Ja,“ antwortete er begeistert, und seine Augen leuchteten auf. „Aber woher weißt du, daß ich daran dachte?“
„Was ist da zu wissen! Nun, ist es dort schöner als hier?“
„O, warum sagst du das! ...“
„Welch eine Blumenpracht, welch ein Paradies jetzt dort sein muß!“
„O–o! sprich lieber nicht!“
Er war mächtig erregt.
„Sag mal, Alei, hattest du nicht auch eine Schwester?“
„Ich hatte, – aber warum fragst du?“
„Dann war sie wohl eine Schönheit, wenn sie dir ähnlich sah?“
„Was mir! Sie ist so schön, daß es im ganzen Dagestan keine schönere gibt! Ach, wenn du wüßtest, was für eine Schönheit meine Schwester ist! Du hast eine solche noch nie gesehen! Auch meine Mutter war eine Schönheit.“
„Und liebte dich deine Mutter?“
„Ach! wie du sprichst! Sie ist jetzt bestimmt vor Kummer um mich gestorben. Ich war ihr Lieblingssohn. Sie liebte mich mehr als meine Schwester, als alle ... Heute Nacht kam sie im Traume zu mir und weinte über mich.“
Er verstummte, und an jenem Abend habe ich kein Wort mehr von ihm gehört. Seit diesem Gespräch aber suchte er immer mit mir zu sprechen, wenn auch seine Ehrfurcht vor mir ihm nach wie vor verbot, mich als erster anzureden. Um so freudiger war er überrascht, wenn ich selbst mich an ihn wandte. Ich fragte ihn über den Kaukasus aus und sein früheres Leben. Seine Brüder verboten ihm nicht, mit mir zu reden, es schien ihnen sogar angenehm zu sein, daß er es tat. Und als sie sahen, daß ich ihren Alei immer lieber gewann, da wurden auch sie viel freundlicher zu mir.
Alei half mir bei der Arbeit, half mir, womit er nur konnte, auch in der Kaserne, und man sah es ihm an, daß es ihm angenehm war, mir gefällig zu sein, und in seinen Bemühungen lag nicht die geringste Selbsterniedrigung oder gar ein Suchen nach einem Vorteil, sondern nur ein warmes, freundschaftliches Gefühl, das er denn auch nicht mehr vor mir verbarg. Unter anderem hatte er auch viel Geschick für technische Arbeiten: er lernte gut Wäsche nähen, Stiefel auszubessern und zum Schluß erlernte er noch, soweit es ging, das Tischlerhandwerk. Seine Brüder lobten ihn und waren stolz auf ihren Jüngsten.
„Hör mal, Alei,“ sagte ich eines Tages zu ihm, „warum lernst du nicht russisch lesen und schreiben? Weißt du denn nicht, wie sehr dir das späterhin hier in Sibirien zustatten kommen könnte?“
„Ich will es sehr gern. Aber bei wem soll ich es erlernen?“
„Als ob es hier wenige gäbe, die dich unterrichten könnten! Willst du, daß ich es tue?“
„Ach, tu’s, bitte!“ und er stand sogleich von der Pritsche auf, faltete bittend die Hände vor mir und sah mich flehend an.
Wir fingen gleich am nächsten Abend an. Ich besaß die russische Übersetzung des Neuen Testaments – ein Buch, das im Ostrogg nicht verboten ist. Nach diesem Buch, ohne ABC-Bücher, lernte Alei binnen weniger Wochen fließend zu lesen. Nach drei Monaten war er durchaus fest in der Schriftsprache. Er lernte mit unermüdlichem Eifer und riesiger Begeisterung.
Eines Abends hatten wir die ganze Bergpredigt durchgelesen. Es war mir aufgefallen, daß er einige Stellen mit ganz besonderem Ausdruck vortrug.
Ich fragte ihn, ob es ihm gefallen habe, was er gelesen?
Er blickte schnell auf und errötete.
„Ach, ja!“ antwortete er, – „ja. Issa (Jesus) ist ein großer Prophet, Issa hat Gottes Wort gesprochen. Wie schön er spricht!“
„Was hat dir denn am meisten daraus gefallen?“
„Ach, das, wo er sagt: ‚Liebet eure Feinde, tuet wohl denen, die euch hassen.‘ Ach wie schön er spricht!“
Er wandte sich zu seinen Brüdern, die uns während des Gesprächs beobachtet hatten, und begann ihnen eifrig etwas zu erzählen. Sie sprachen lange und ernst miteinander und nickten zustimmend mit den Köpfen. Darauf wandten sie sich mit einem ernsten, wohlwollenden, d. h., echt muselmännischen Lächeln (das ich über alles liebe, und zwar gerade wegen des Ernstes) zu mir und sagten, Issa (Jesus) sei ein großer Prophet Gottes gewesen und er habe große Wunder getan; er habe sogar aus Lehm Vögel geformt, sie angeblasen und dieselben seien dann geflogen ... und dieses stehe auch in ihren Büchern geschrieben. Als sie das gesagt hatten, waren sie fest überzeugt, mir ein großes Vergnügen bereitet zu haben, indem sie Issa lobten, und Alei war restlos glücklich darüber, daß seine Brüder geruht hatten, mir dieses Vergnügen zu bereiten.
Auch mit dem Schreiben ging es bei uns gut vorwärts. Alei hatte sich Papier verschafft (er gab es unter keiner Bedingung zu, daß ich es von meinem Gelde kaufte), dazu Federn, Tinte, und in kaum zwei Monaten hatte er vorzüglich das Schreiben erlernt. Das setzte sogar seine Brüder in Erstaunen. Ihr Stolz und ihre Freude kannten keine Grenzen und sie wußten nicht, wie sie es mir danken sollten. Bei der Arbeit, wenn wir einmal zusammen in einem Trupp abgeschickt waren, halfen sie mir wetteifernd und schätzten sich noch glücklich, wenn sie mir helfen konnten. Von Alei selbst lohnt es sich gar nicht zu reden. Er liebte mich vielleicht ebenso sehr, wie seine Brüder. Niemals werde ich vergessen, wie er den Ostrogg verließ. Er führte mich hinter die Kaserne, warf sich dort an meinen Hals und schluchzte. Niemals früher hatte er mich geküßt und noch niemals hatte ich ihn weinen gesehen.
„Du hast soviel für mich getan, soviel getan,“ sagte er, „wie selbst mein Vater und meine Mutter nicht getan haben: du hast mich zum Menschen gemacht. Gott wird es dir lohnen, ich aber werde dich nie vergessen! ...“
Wo mag er jetzt sein, mein lieber, guter, herzensguter Alei?
Außer den Tscherkessen und Tataren gab es in unserer Kaserne noch eine ganze Gesellschaft Polen, die vollständig eine Familie für sich darstellten und mit den übrigen Arrestanten fast überhaupt nicht sprachen. Ich sagte schon, daß sie für ihre Absonderung, für ihren Haß auf die gefangenen Russen sich wiederum den Haß aller anderen zuzogen. Es waren ihrer im ganzen sechs, kranke, ausgemergelte Geschöpfe. Einige von ihnen waren Gebildete; von denen werde ich in der Folge noch besonders und ausführlich zu berichten haben. Von ihnen erhielt ich in den letzten Jahren meines Ostrogglebens einige Bücher. Das erste Buch, das ich nach so langer Zeit las, machte einen mächtigen und eigenartigen Eindruck auf mich. Auch von diesen Eindrücken werde ich noch ausführlicher sprechen. Für mich waren sie gar zu interessant, doch bin ich überzeugt, daß sie vielen ganz unverständlich sein werden. Ohne eigene Erfahrung kann man über gar manche Dinge nicht urteilen. Ich will vorläufig nur sagen, daß geistige Entbehrungen, sittliche Einbußen schwerer zu ertragen sind, als alle physischen Qualen. Der einfache Mensch, der in die Kátorga kommt, findet dort seine Gesellschaft vor, vielleicht sogar eine noch viel entwickeltere. Selbstverständlich hat er viel verloren, Heimat, Familie, alles was sein war, aber das Milieu ist für ihn dasselbe geblieben. Der Gebildete dagegen, der nach dem Gesetz derselben Strafe unterliegt, wie der Einfache, verliert häufig unvergleichlich mehr als dieser. Er muß alle vornehmeren Bedürfnisse, alle Angewohnheiten in sich unterdrücken, er muß in einer Umgebung leben, die tief unter ihm steht, er muß sich daran gewöhnen, andere Luft zu atmen ... Er ist wie ein Fisch, den man aus dem Wasser auf den Sand gezogen hat ... Und häufig wird für ihn die dem Gesetz nach gleiche Strafe zu einer zehnmal qualvolleren. Das ist Tatsache ... selbst wenn es sich nur um materielle Angewohnheiten, die man opfern muß, handelte.
Die Polen bildeten eine besondere abgeschlossene Klique. Es waren ihrer sechs und sie hielten alle zusammen.
Von allen übrigen Sträflingen mochten sie nur einen Juden leiden, und vielleicht einzig aus dem Grunde, weil er sie belustigte. Dieses Jüdchen wurde übrigens auch von den anderen Sträflingen gern gesehen, wenn sie auch alle ohne Ausnahme über ihn lachten. Er war bei uns der einzige Jude und auch jetzt noch überkommt mich das Lachen, wenn ich an ihn denke. Jedesmal wenn ich ihn ansah, mußte ich immer an Gogols Jankel aus seinem „Taras Bulba“ denken, der, wenn er sich zur Nacht entkleidete, um sich mit seiner Jüdin in eine gewisse Kommode zu begeben, sogleich einem gerupften Kücken auffallend ähnlich wurde. Issai Fomitsch Bummstein, so hieß unser Jüdchen, glich, wie ein Tropfen Wasser dem anderen, einem gerupften halberwachsenen Hühnertier. Er war nicht mehr jung, etwa fünfzigjährig, klein von Wuchs und äußerst schwächlich, schlau und gleichzeitig absolut dumm. Er war frech und anmaßend, dabei aber entsetzlich feig. Sein ganzes Gesicht bestand aus Runzeln und auf der Stirn und den Wangen war er gebrandmarkt, was auf dem Schafott geschehen war, nachdem er sechzig Peitschenhiebe erhalten hatte. Noch jetzt verstehe ich nicht, wie er so viel auszuhalten vermocht hat. Er war wegen Mordes verschickt worden. Sorgfältig bewahrte er ein Rezept auf, das seine Glaubensgenossen von einem Doktor verschafft und ihm bald nachher zugestellt hatten. Nach diesem Rezept konnte man eine Salbe zubereiten, von der die Brandmale binnen zwei Wochen vergingen. Im Ostrogg wagte er natürlich nicht, diese Salbe anzuwenden, wartete aber sehnsüchtig auf den Ablauf seiner zwölfjährigen Frist, um sie dann, wenn er zur Ansiedlung weitergeschickt werden würde, sofort zu benutzen. „Denn anders kann ich nich aheiraten,“ sagte er mir einmal, „ich aber will aheiraten bestimmt.“ Wir beide verstanden uns sehr gut. Er war beständig in der besten Laune und er hatte ein leichtes Leben in der Kátorga: er war von Beruf Juwelier und mit Arbeiten aus der Stadt überhäuft, da es dort keinen Juwelier gab, und so befreite er sich von der schweren Zwangsarbeit. Außerdem war er, versteht sich, noch Wucherer und versah für hohe Prozente den ganzen Ostrogg mit Geld. Er war schon vor mir angekommen und einer der Polen beschrieb mir ausführlich seine Ankunft. Es ist das eine höchst amüsante Geschichte, die ich späterhin noch zum besten geben will, denn von unserem Issai Fomitsch Bummstein werde ich noch mehr als einmal zu erzählen haben.
Das übrige Volk in unserer Kaserne bestand aus vier Altgläubigen, alles alte und bibelkundige Leute, zu denen auch der Greis aus Starodubowo gehörte; aus zwei oder drei Kleinrussen, finsteren Menschen, aus einem jungen Sträfling mit einem schmalen Gesichtchen und feinen Näschen, im Alter von erst dreiundzwanzig Jahren, der indessen schon acht Menschen umgebracht hatte; aus einer kleinen Gesellschaft Falschmünzer, von denen einer der Spaßvogel der ganzen Kaserne war, und endlich aus mehreren düsteren, mürrischen und verunstalteten, schweigsamen und neidischen, alle Welt mißtrauisch ansehenden Individuen, die allem Anschein nach die Absicht hatten, noch lange Jahre so darein zu sehen, mürrisch zu sein, zu schweigen und zu hassen – so lange wie sie in der Kátorga bleiben mußten.
Alle diese Gestalten sah ich an jenem ersten freudlosen Abend meines neuen Lebens nur wie durch einen Nebel – inmitten der von Rauch und Ruß und anderen Dünsten geschwängerten nicht atembaren Luft, unter Geschimpf und unbeschreiblichen Witzen, unter Kettengeklirr und -gerassel, unter Flüchen und schamlosem Gelächter. Ich legte mich auf die unbedeckte Pritsche, schob meine Kleider unter den Kopf – ein Kissen hatte ich noch nicht – und deckte mich mit meinem Pelz zu. Aber lange noch konnte ich nicht einschlafen, obwohl ich völlig erschöpft und ganz gebrochen war von all den ungeheuerlichen und unerwarteten Eindrücken dieses ersten Tages. Mein neues Leben begann ja erst. Vieles noch stand mir bevor, was ich nie gedacht, was ich noch nie geahnt hatte ...
Am vierten Tage nach meiner Ankunft im Ostrogg wurde ich zur Arbeit befohlen. Dieser erste Arbeitstag ist mir noch deutlich in der Erinnerung, wenn auch im Verlauf gerade dieses Tages nichts gar zu Ungewöhnliches mit mir geschah – abgesehen von dem ohnehin schon Ungewöhnlichen meiner Lage. Aber die Zwangsarbeit war doch etwas neues für mich und ich blickte immer noch mit der größten Neugier um mich.
Diese ersten drei Tage hatte ich mit den schwersten Empfindungen verbracht. „Das ist jetzt das Ende meines Lebens: ich bin im Ostrogg!“ dachte ich immer und immer wieder, „das ist nun mein Hafen für viele lange Jahre, mein Winkel, den ich mit so mißtrauischem, krankhaftem Empfinden betrete ... Doch wer weiß? Vielleicht werde ich, wenn ich ihn nach vielen Jahren verlasse, noch mit Bedauern von ihm scheiden? ...“ fügte ich hinzu, nicht ohne eine Beimischung jenes Gefühls der Schadenfreude, das zuweilen zu dem Bedürfnis wird, absichtlich in seiner Wunde zu wühlen, ganz als wollte man sich an seinem Schmerz ergötzen, ganz als wäre in der Erkenntnis der ganzen Größe des Unglücks tatsächlich ein Genuß. Der Gedanke, daß ich einmal mit Bedauern diesen Winkel verlassen könnte, erfüllte mich mit Entsetzen: schon damals fühlte ich voraus, bis zu welch einer Ungeheuerlichkeit der Mensch sich an alles gewöhnen kann. Aber all das lag noch in der Zukunft, vorläufig war alles um mich herum fremd, feindlich und – furchtbar ... oder wenn auch nicht alles so war, so mußte mir doch selbstverständlich alles so erscheinen. Diese gierige Neugier, mit der mich meine neuen Lebensgefährten betrachteten, ihre doppelte Kälte zu dem Neuling aus dem Adelstande, der plötzlich in ihre Gemeinschaft eindrang, diese sichtbare Abneigung, die mitunter fast an Haß grenzte, – all das quälte mich dermaßen, daß ich selbst so bald als möglich zur Arbeit geschickt zu werden wünschte, nur um schneller mein ganzes Elend ermessen zu können, nur um dasselbe Leben zu führen, das sie alle führten, um möglichst bald mit den anderen am gleichen Strang zu ziehen.
Natürlich bemerkte und vermutete ich damals vieles nicht, was dicht vor meinen Augen lag: unter dem Feindlichen hatte ich das Freundliche noch nicht entdeckt. Übrigens richteten mich schon die wenigen freundlichen, zutraulichen Menschen, die mir in diesen drei Tagen entgegengetreten waren, bedeutend auf. Am freundlichsten und wohlwollendsten zu mir war Akim Akimytsch. Ich konnte nicht umhin, unter den übrigen düsteren und gehässigen Gesichtern der Sträflinge auch einige gute und heitere wahrzunehmen.
„Überall gibt es schlechte Menschen, und unter den schlechten auch gute,“ beeilte ich mich zu meiner Beruhigung zu denken, – „und, wer weiß, diese Menschen sind vielleicht gar nicht so viel schlechter als jene, die übrigen, die dort zurückgeblieben sind, hinter den Palissaden.“
Und während ich das dachte, schüttelte ich selbst mein Haupt ob meines Gedankens, und doch, – mein Gott! – wenn ich damals nur geahnt hätte, wie, wie richtig dieser Gedanke war!
Da habe ich zum Beispiel einen Menschen, der während der ganzen Zeit meiner Kátorga beständig bei mir war, erst nach vielen, vielen Jahren völlig kennen gelernt. Das war der Arrestant Ssuschiloff. Als ich soeben von den Arrestanten sprach, die nicht schlechter wären, als die anderen Menschen, tauchte er unwillkürlich sofort wieder in meiner Erinnerung auf. Er bediente mich. Aber außer ihm hatte ich noch einen anderen Diener. Akim Akimytsch hatte mir gleich in den ersten Tagen einen Arrestanten, Ossip mit Namen, ganz besonders empfohlen, und gesagt, er würde mir für dreißig Kopeken Monatsgehalt täglich besonderes Essen zubereiten, falls mir die Staatskost so zuwider sei und ich die Mittel zu diesem Luxus hätte. Ossip war einer von den vier Köchen, die von den Arrestanten für unsere zwei Küchen gewählt wurden, wobei es diesen vollkommen frei stand, die Wahl anzunehmen oder nicht; und hatte man sie angenommen, so konnte man, wenn man wollte, schon am nächsten Tage sein Amt und seine Würde wieder niederlegen. Die Köche gingen nicht zur Zwangsarbeit und ihre ganze Aufgabe bestand darin, daß sie Brot backten und die Kohlsuppe kochten. Sie wurden aber nicht Köche genannt, sondern weiblich – Köchinnen, doch geschah das nicht etwa aus Verachtung zu ihnen – um so weniger, als für die Küche geschickte und nach Möglichkeit ehrliche Leute gewählt wurden, – sondern einfach nur so zum Scherz, was unsere Köche denn auch durchaus nicht übel nahmen. Ossip wurde bei jeder neuen Wahl wiedergewählt, er war mehrere Jahre lang Köchin und sagte sich nur bisweilen auf kurze Zeit vom Amte los, wenn ihn die Sehnsucht gar zu sehr ergriff und er die Lust zu schmuggeln nicht mehr bewältigen konnte. Er war ein selten ehrlicher und sanfter Mensch, war aber wegen Schmuggel verurteilt worden. Dieser Ossip war jener große, gesunde, leidenschaftliche Kontrabandist, von dem ich bereits gesprochen habe, ein Hasenfuß in jeder Beziehung, besonders was Ruten anbelangt, sonst aber, friedsam, und widerspruchslos und freundlich gegen jedermann, hatte er noch niemals mit einem anderen einen Streit gehabt. Aber trotz seiner ganzen Ehrlichkeit und Ängstlichkeit konnte er sich doch nicht bezwingen, zu schmuggeln, – das war seine Leidenschaft. Er handelte, wie’s auch die übrigen „Köchinnen“ taten, mit Branntwein, allerdings nicht in dem Maßstabe, wie zum Beispiel Gasin, denn er hatte nicht den Mut, so viel zu wagen.
Mit diesem Ossip stand ich mich immer sehr gut. Was jedoch die Mittel zur eigenen Beköstigung betrifft, so brauchte man dazu nur sehr wenig. Ich irre nicht, wenn ich sage, daß meine Beköstigung mir monatlich nur auf einen Rubel Silber zu stehen kam, ohne Brot natürlich, das zur Staatskost gehörte und von dem jeder nach Herzenslust essen konnte, und hin und wieder eine Portion Kohlsuppe, die ich trotz meines Widerwillens – der übrigens mit der Zeit ganz verging – zuweilen aß, wenn ich gar zu hungrig war. Gewöhnlich ließ ich mir ein Stück Rindfleisch kaufen, pro Tag ein Pfund, das im Winter nur zwei Kopeken kostete. Nach dem Rindfleisch ging täglich einer der Invaliden auf den Markt. Diese Invaliden lebten zu je einem in jeder Kaserne und hatten nach der Ordnung zu sehen. Sie nahmen es freiwillig auf sich, täglich auf den Markt zu gehen und die nötigen Einkäufe für die Sträflinge zu besorgen, wofür sie jedoch keinerlei Entschädigung oder Zahlung annahmen, abgesehen vielleicht von irgend welchen Kleinigkeiten. Sie taten es um ihrer eigenen Ruhe willen, denn anders wäre es ihnen schwer gefallen, sich im Ostrogg mit den Arrestanten einzuleben. Und so brachten sie denn Rindfleisch, Tabak, Tee, Kalatschen usw., nur Branntwein besorgten sie nicht. Aber darum bat man sie auch gar nicht, wohl aber bot man ihnen bisweilen welchen an. Ossip briet mir mehrere Jahre lang immer ein und dasselbe Stück Rindfleisch. Wie er es briet, das ist eine andere Frage, aber das war ja auch nebensächlich. Auffallend ist dabei nur, daß ich im Verlauf von mehreren Jahren mit meiner Köchin Ossip kaum ein paar Worte gewechselt habe. Oft machte ich den Versuch, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen, aber kein einziges Mal gelang es mir, eine eingehendere Antwort von ihm zu erhalten: er lächelte, sagte je nach der Frage „nein“ oder „ja“, und das war denn auch alles. Mitunter war es ganz sonderbar, diesen anscheinend siebenjährigen Herkules anzusehen.
Doch außer Ossip bediente mich noch Ssuschiloff. Ich hatte ihn weder darum gebeten noch überhaupt einen solchen Diener gesucht. Er hatte mich gewissermaßen selbst gefunden und war ungefragt in meinen Dienst getreten. Ich entsinne mich heute nicht einmal mehr, wie es damals kam. Ich glaube, zuerst fing er an, meine Wäsche zu waschen. Hinter den Kasernen war zu diesem Zweck eine große Waschgrube und über dieser Grube wurde in großen Trögen, die der Regierung gehörten, die Wäsche der Sträflinge gewaschen. Außerdem erfand er selbst noch tausend andere kleine Pflichten, um sich mir nützlich zu machen: er setzte meinen Tee auf, erfüllte verschiedene kleine Aufträge, suchte etwas für mich auf, trug meine Jacke zum Schneider, um sie ausbessern zu lassen, schmierte meine Stiefel etwa viermal im Monat. Alles tat er geschäftig und gewissenhaft, ganz als hätten auf ihm weiß Gott was für Pflichten gelegen. Kurz, er verknüpfte seine ganze Existenz mit der meinigen und nahm alle meine Obliegenheiten auf sich. Zum Beispiel sagte er niemals: „Sie haben so und soviel Hemden, Ihre Jacke ist zerrissen,“ und ähnliches mehr, sondern stets: „Wir haben so und soviel Hemden, unsere Jacke ist zerrissen.“ Er sah mir dabei stramm in die Augen, und nahm, glaube ich, diesen Dienst für die Hauptbestimmung seines Lebens. Ein Handwerk, oder wie die Arrestanten sagten, eine Werkschaft, hatte er nicht und so verdiente er sich nur von mir allein ein paar Kopeken. Ich zahlte ihm, wieviel ich konnte, d. h. nur einige Kopeken, und er war jedesmal widerspruchslos mit allem zufrieden, was ich ihm gab. Er konnte einfach nicht anders, er mußte jemandem dienen und allem Anschein nach hatte er mich nur deshalb erwählt, weil ich umgänglicher war als die anderen und ehrlicher im Zahlen. Er gehörte zu denen, die nie reich werden oder sich emporarbeiten konnten, und die von den Kartenspielern gemietet wurden, um für fünf Kopeken in Silber fast die ganze Nacht im Flur bei der größten Kälte auf Posten zu stehen, auf jedes Geräusch zu achten, und wenn sie sich dennoch vom Platzmajor überraschen ließen, nichts bezahlt, wohl aber ungezählte Hiebe zu erhalten. Ich habe schon von ihnen gesprochen. Die Charakteristik dieser Menschen ist – die eigene Persönlichkeit immer, überall und fast vor einem jeden zu erniedrigen und in gemeinsamen Angelegenheiten eine Rolle nicht nur zweiten, sondern dritten Ranges zu spielen. Das ist bei ihnen schon von Natur so eingerichtet.
Ssuschiloff war ein armer kleiner Teufel, vollkommen wortverschüchtert und erniedrigt, sogar verprügelt, wenn man will, obgleich er bei uns niemals geschlagen wurde, sondern einfach „von Natur“ verprügelt. Er tat mir immer sehr leid. Ich konnte ihn nicht einmal ansehen ohne Mitleid, warum aber nicht, – das hätte ich selbst nicht zu sagen gewußt. Unterhalten konnte man sich mit ihm ebensowenig wie mit Ossip: er verstand nicht zu sprechen und man sah es ihm an, daß das Sprechen ihm eine Qual war, und er belebte sich erst dann, wenn man ihm, um das Gespräch abzubrechen, irgend einen Auftrag gab. Zuletzt überzeugte ich mich, daß ich ihm mit dieser Beschäftigung sogar ein Vergnügen bereitete. Er war weder groß noch klein von Wuchs, weder hübsch noch häßlich, weder dumm noch klug, weder alt noch jung, ein wenig pockennarbig und von Haar blond zu nennen. Gar zu viel Bezeichnendes kann man von ihm in keiner Beziehung sagen. Ach doch, eines, aber das ist auch das einzige: wie es mir schien und nach dem, was ich selbst erraten habe, gehörte er zur selben Gesellschaft, zu der auch Ssirotkin gehörte, und zwar einzig wegen seiner Schutzlosigkeit und Schüchternheit. Die anderen Arrestanten lachten zuweilen über ihn, doch hauptsächlich taten sie es, weil er unterwegs getauscht hatte, und zwar im ganzen für einen Rubel Silber und ein rotes Hemd. Wegen dieses geringen Preises wurde er denn auch ausgelacht. Dieses „Tauschen“ bedeutet, mit einem anderen Sträfling in seinem Trupp den Namen und folglich auch die Strafe tauschen. Wie sonderbar einem das auch scheinen mag, so ist es doch Tatsache; und zu meiner Zeit stand diese Art Tauschhandel unter den Gefangenen auf dem Transport nach Sibirien in voller Blüte, und war durch die Überlieferung und gewisse Formalitäten sogar geheiligt. Anfangs konnte ich es unmöglich glauben, später aber mußte ich es wohl oder übel, da ich es selbst miterlebte.
Das „Tauschen“ geschieht folgendermaßen:
Es wird zum Beispiel ein Trupp Gefangener nach Sibirien transportiert. Unter ihnen gibt es verschieden Verurteilte: die einen zur Zwangsarbeit, die anderen in ein Hüttenwerk, die dritten zur Ansiedlung; alle marschieren zusammen. Irgendwo nun unterwegs, sagen wir im Permschen Gouvernement, wünscht einer der Gefangenen, mit einem anderen zu tauschen. Nehmen wir ein Beispiel: irgend ein Michailoff, der wegen Mordes oder sonst eines schweren Verbrechens verurteilt ist, findet es nicht vorteilhaft für sich, auf lange Jahre in die Zwangsarbeit zu marschieren. Nehmen wir an, er ist ein schlauer, geriebener Junge, der eine Sache richtig anzufassen weiß. Und so sucht er sich denn einen aus seinen Marschgenossen aus, der möglichst schüchtern, harmlos, schutzlos und ahnungslos ist und im Vergleich zu ihm einer leichten Strafe entgegengeht: entweder auf kurze Zeit in ein Hüttenwerk, oder zur Ansiedlung, oder selbst in die Kátorga, aber nur auf kürzere Zeit als er. Endlich findet er einen Ssuschiloff. Dieser ist ein gewöhnlicher Gutsbauer und nur zur Ansiedlung verschickt. Er hat schon an tausendfünfhundert Werst abmarschiert, natürlich ohne eine Kopeke in der Tasche, denn Ssuschiloff kann nie Geld haben, – er schleppt sich aber weiter, ausgehungert, müde, nur in den vom Staat gelieferten Kleidern, nährt sich nur von der Staatskost, ohne jeden schmackhaften Bissen, – so gut es eben schmecken will –, dient allen anderen für armselige Kopeken. Da kommt nun Michailoff und redet den Ssuschiloff an, spricht mit ihm des öfteren, schließt sogar Freundschaft mit ihm, und eines Tages, auf irgend einer Etappe, setzt er ihm Branntwein vor. Dann erst rückt er mit seinem Plan heraus: er schlägt dem anderen vor, mit ihm zu tauschen. So und so, ich, Michailoff, gehe in die Kátorga, aber andererseits auch wieder nicht in die Kátorga, sondern in eine gewisse „besondere Abteilung“. Wenn das auch Kátorga ist, so ist es doch immerhin eine besondere, d. h. so viel wie in eine bessere. – Von dieser besonderen Abteilung wußten zur Zeit ihres Bestehens selbst die zugehörigen Beamten, sagen wir, in Petersburg, kaum etwas. Das war ein so abgesonderter, weltferner Winkel in einem der Winkel Sibiriens, und überdies so wenig bevölkert – zu meiner Zeit gab es in ihm nicht mehr als etwa siebzehn Menschen –, daß es nicht jedermanns Sache und außerdem sehr schwer war, auf seine Spur zu kommen. In meinem späteren Leben habe ich Menschen getroffen, die in Sibirien lange Jahre gedient hatten und Sibirien kannten, von dieser besonderen Abteilung aber zum ersten Mal von mir hörten. Im Gesetzbuch steht über dieselbe nur eine Bemerkung von vier Zeilen:
„Bei dem und dem Ostrogg wird eine besondere Abteilung für die schwersten Verbrecher eingerichtet, bis zur Einführung der schwersten Zwangsarbeit in Sibirien.“
Selbst die Sträflinge dieser „Abteilung“ wußten nicht, ob sie auf ewig dort waren oder nur für eine bestimmte Zeit.
Auch im Gesetzbuch war kein Termin vorgesehen, es hieß nur: „bis zur Einführung der schwersten Zwangsarbeit“, und das war alles; – folglich „ewig in der Kátorga“, wie die Zwangsarbeiter sagten. So ist es denn auch nicht weiter wunderlich, wenn weder ein Ssuschiloff noch sonst jemand von den mit ihm marschierenden Gefangenen etwas davon weiß, selbst Michailoff nicht ausgenommen, der sich aber von der „besonderen Abteilung“ nur insofern eine zutreffendere Vorstellung macht, als er nach seinem schweren Verbrechen, für das er schon seine drei- bis viertausend Hiebe erhalten hat, urteilen kann, daß man ihn nicht gerade nach einem angenehmen Ort schickt.
Ssuschiloff dagegen ist zur Ansiedlung verschickt: was ist nun besser? – „Willst du nicht mit mir tauschen?“ – Ssuschiloff ist halbbetrunken, ist eine einfache Seele, ist seinem Gönner Michailoff voll Dankbarkeit ergeben und so wagt er nicht recht abzuschlagen. Hinzu kommt, daß er unterwegs von solchen Tauschgeschäften schon gehört hat, daß andere es gleichfalls tun, und folglich nichts Unerhörtes dabei ist. Man einigt sich. Der gewissenlose Michailoff benutzt die gutherzige Einfalt Ssuschiloffs und kauft ihm seinen Namen für ein rotes Hemd und einen Silberrubel ab, was er ihm sogleich in Gegenwart von Zeugen einhändigt. Am nächsten Tage ist Ssuschiloff nicht mehr betrunken, er wird aber von neuem bewirtet, und dann, nun ja, jetzt geht es nicht mehr gut, noch abzusagen: der erhaltene Silberrubel ist schon vertrunken, das rote Hemd nach einiger Zeit – gleichfalls. Willst du nicht, so gib das Geld und das Hemd zurück. Wo aber soll ein Ssuschiloff einen ganzen Silberrubel hernehmen? Und gibt er ihn nicht zurück, so wird ihn die Sträflingsgenossenschaft dazu zwingen, seinen Namen dem anderen abzutreten: darauf wird streng geachtet. Zudem, hast du versprochen, so erfülle auch – das ist die Moral der Genossenschaft. Sonst wird er aufgefressen. Man verprügelt ihn unendlich oder schlägt ihn einfach tot, oder wenigstens wird er damit geschreckt.
In der Tat, würde die Genossenschaft nur in einem einzigen Fall Nachsicht üben, so wäre der Handel mit dem Namentausch ein- für allemal beendet. Wenn man sich von dem Versprechen lossagen und einen abgeschlossenen Handel rückgängig machen kann, nachdem man das Geld schon genommen hat, und ohne das Geld zurückzugeben – wer wird dann noch so dumm sein und noch einmal auf diesen Handel eingehen? Mit einem Wort, so etwas geht die ganze Genossenschaft an und darum ist sie unerbittlich in diesen Dingen. Schließlich sieht denn auch Ssuschiloff ein, daß ihm kein Beten und Singen mehr hilft und fügt sich stillschweigend endgültig drein. Sofort wird es dem ganzen Trupp mitgeteilt, und wenn’s nötig ist, wird noch diesem und jenem guten Freunde Branntwein oder ein Geschenk gegeben. Jenen ist es im Grunde natürlich völlig gleichgültig, ob Michailoff oder Ssuschiloff in des Teufels Horn kriecht, der Branntwein ist aber ausgetrunken: sie sind doch bewirtet worden, und so halten sie reinen Mund. Auf der nächsten Etappe werden die Gefangenen revidiert. Die Namen werden nach dem Alphabet ausgerufen, man kommt zu M. – „Michailoff!“ – „Hier!“ antwortet Ssuschiloff. Man kommt zu S. – „Ssuschiloff!“ – „Hier!“ schreit wiederum Michailoff, und so geht man weiter. Niemand verliert darüber noch ein Wort. In Tobolsk werden die Gefangenen sortiert: Michailoff kommt zu den Ansiedlern und Ssuschiloff wandert unter doppelter Eskorte in die „besondere Abteilung“. Weiterhin ist jeder Protest unmöglich. Und wie sollte man es beweisen? Durch wieviel Jahre würde sich die Untersuchung hinschleppen? Und was kann es dafür noch alles setzen? Und dann – wo sind die Zeugen? Selbst wenn man sie zur Hand hätte, sie würden ja doch die Tatsache leugnen. Und somit ist das Resultat, daß Ssuschiloff für einen Silberrubel und ein rotes Hemd in die „besondere Abteilung“ gerät.
Die Arrestanten lachten über Ssuschiloff, – nicht seines Tausches wegen, obgleich man auf jeden, der eine leichtere Arbeit gegen eine schwerere eingetauscht hat, mit einer gewissen Verachtung herabsieht, wie eben auf einen hereingefallenen Dummkopf, sondern weil er dafür nur ein rotes Hemd und einen einzigen Silberrubel genommen hatte. Das war denn doch ein gar zu geringer Preis. Gewöhnlich tauscht man nur für große Summen, im Verhältnis gesprochen. Man nimmt etwa mehrere Zehnrubelscheine dafür. Ssuschiloff war aber so schutzlos, so hilflos, so unterwürfig und so armselig, daß man eigentlich kaum noch über ihn lachen wollte.
Es vergingen die Jahre und Ssuschiloff diente mir gewissenhaft. Mit der Zeit wurde er mir sehr zugetan, was ich zu bemerken nicht umhin konnte; und auch ich hatte mich sehr an ihn gewöhnt. Einmal aber – das werde ich mir nie verzeihen – hatte er irgend etwas, um das ich ihn gebeten, nicht getan, kurz vorher aber hatte er noch von mir Geld geborgt, und ich war so grausam, zu ihm zu sagen: „Seht mal, Ssuschiloff, Geld versteht Ihr zu nehmen, aber um was man Euch bittet, versteht Ihr nicht auszuführen.“ Ssuschiloff sagte kein Wort, lief sofort hin und verrichtete die Sache, wurde aber seit dem Augenblick immer trauriger. Es vergingen zwei Tage. Ich dachte: es kann doch nicht sein, daß er wegen dieser Worte so traurig ist? Ich wußte, daß ihn ein Arrestant, Anton Wassiljeff, beständig wegen einer kleinen Kopekenschuld plagte. Sicherlich hat er kein Geld, dachte ich, und nun fürchtet er sich, von mir welches zu erbitten. Am dritten Tage sagte ich zu ihm: „Ssuschiloff, Ihr wolltet mich, glaube ich, um Geld bitten, um Eure Schuld an Anton Wassiljeff zu bezahlen? Da habt Ihr.“ Ich saß damals auf der Pritsche; Ssuschiloff stand vor mir. Er war, wie es schien, sehr erschrocken, denn das hatte er offenbar nicht erwartet, daß ich ihm ungefragt Geld anbieten und ihn an seine mißliche Lage erinnern könnte, umsoweniger, als er in der letzten Zeit seiner Meinung nach schon gar zu viel von mir bekommen hatte und folglich kaum darauf hoffen konnte, noch welches zu erhalten. Er sah das Geld an, sah mich an, drehte sich plötzlich um und ging hinaus. Das wunderte mich. Ich ging ihm nach und fand ihn hinter den Kasernen. Er stand am Palissadenzaun und hatte den Kopf an einen Pfahl gestützt.
„Ssuschiloff, was ist mit Euch?“ fragte ich ihn.
Er sah mich nicht an, doch gewahrte ich zu meinem größten Erstaunen, daß er bereit war, in Tränen auszubrechen.
„Ihr Alexander Petrowitsch ... denkt ...“ begann er mit versagender Stimme und krampfhaft nur zur Seite gewandtem Blick, „daß ich Euch ... für Geld ... ich aber ... ich! ...“ Und er wandte sich wieder zu den Palissaden, so daß er bei der plötzlichen Bewegung mit der Stirn sogar heftig anstieß, – und schluchzte! ... Es war das erste Mal, daß ich im Ostrogg einen weinenden Menschen sah. Nur mit Mühe gelang es mir, ihn zu trösten, und wenn er auch seit dem Tage womöglich noch eifriger mir zu dienen und zu „gehorchen“ suchte, so bemerkte ich dennoch an einigen fast unmerklichen, unerhaschbaren Anzeichen, daß er im Herzen mir doch niemals meinen Vorwurf verzeihen konnte. Die anderen aber lachten fortwährend über ihn, zogen ihn bei jeder passenden Gelegenheit unbarmherzig auf, schimpften ihn sogar unbeschreiblich, – er jedoch nahm jenen nie etwas übel und lebte friedlich und in gutem Einvernehmen mit ihnen.
Ja, es ist sehr schwer, einen Menschen von Grund auf kennen zu lernen, selbst lange Jahre beständigen Zusammenseins genügen nicht einmal!
Das war auch der Grund, warum mir der ganze Ostrogg in der ersten Zeit nicht so erschien, wie in der letzten. Und so kam es denn auch, daß ich, wie ich schon sagte, trotz meiner ganzen Neugier und verdoppelten Aufmerksamkeit, doch vieles nicht sah, was dicht vor meinen Augen geschah. Natürlich waren es anfangs nur die auffallenden, grell beleuchteten Erscheinungen, die ich bemerkte, aber auch diese faßte ich falsch auf und sie hinterließen in meiner Seele nur einen schweren, hoffnungslos traurigen Eindruck. Viel trug dazu auch noch meine Begegnung mit A–ff bei, einem Sträfling, der gleichfalls kurz vor mir in den Ostrogg gekommen war und mich in den ersten Tagen durch seinen besonders qualvollen Eindruck peinigte. Übrigens hatte ich schon vorher erfahren, daß ich ihn im Ostrogg vorfinden würde. Er vergiftete mir geradezu diese erste schwere Zeit und machte meine seelischen Qualen nahezu unerträglich. Ich kann es nicht unterlassen, auch von ihm Näheres zu erzählen:
Er war das widerlichste Beispiel dafür, bis zu welchem Grade der Mensch sich erniedrigen und sinken, in welchem Maße er jedes sittliche Gefühl in sich ertöten kann, ohne daß es ihm Mühe oder Reue kostet.
A–ff war ein junger Mensch aus dem Adelsstande. Ich habe hier schon einmal von ihm gesprochen: ich sagte, daß er unserem Platzmajor alles hinterbrachte, was im Ostrogg geschah, und daß er sich mit dessen Burschen Fedjka angefreundet hatte.
Seine Lebensgeschichte ist kurz folgende: Ohne auch nur eine einzige Lehranstalt zu absolvieren, war er, nachdem er sich in Moskau mit seinen Verwandten entzweit hatte – er hatte sie durch sein ausschweifendes Leben nicht wenig bekümmert, – nach Petersburg gegangen, wo er sich um des Geldes willen zu einem niederträchtigen Verrat entschlossen hatte: er überantwortete zehn Menschen dem Tode, nur um seinen rohen und verderbten Leidenschaften frönen zu können – so daß er denn, da ihm Petersburg, seine Lokale und großen Straßen zu Kopf gestiegen waren, obgleich er sonst kein dummer Mensch war, sich auf ein so sinnloses und häßliches Unternehmen einließ. Er wurde aber bald überführt: er hatte unschuldige Menschen angegeben, hatte viele betrogen, und war dafür nach Sibirien in unseren Ostrogg auf zehn Jahre verschickt worden. Er war noch sehr jung, sein Leben hatte erst begonnen. Man sollte meinen, daß eine so furchtbare Veränderung seines Schicksals ihn zum Nachdenken hätte bringen, seine Natur zu einem Widerstand hätte zusammenreißen müssen. Doch es war nichts davon geschehen. Er nahm sein neues Leben ohne die geringste Verwirrung entgegen, ohne den geringsten Ekel, er fühlte sich nicht einmal sittlich davon abgestoßen, es schreckte ihn nichts ab, außer vielleicht die Notwendigkeit zu arbeiten und Petersburg mit allem für ihn Schönen zu verlassen. Es hatte sogar den Anschein, als habe der Rang eines sibirischen Sträflings ihm erst recht die Hände befreit, als sei er jetzt seiner Meinung nach zu noch größeren Gemeinheiten und Schändlichkeiten berechtigt: „Ist man Sträfling, dann muß man eben Sträfling sein; ist man Sträfling, so kann man alles begehen, es wird nicht schändlich sein.“ Das war buchstäblich seine Meinung. Ich erinnere mich dieser scheußlichen Kreatur geradezu wie eines Phänomens. Ich habe lange Jahre unter Mördern, Wollüstlingen und den abgefeimtesten Spitzbuben gelebt, doch kann ich ruhig sagen, daß ich eine so absolute sittliche Verkommenheit, eine so scheußliche Verderbnis und so niedrige Gemeinheit wie bei A–ff niemals angetroffen habe. Bei uns im Ostrogg gab es noch einen Vatermörder, gleichfalls adliger Herkunft – es ist einmal schon von ihm die Rede gewesen –, doch konnte ich mich an vielen Dingen überzeugen, daß selbst dieser unvergleichlich menschlicher und edler war als A–ff. In meinen Augen war A–ff während der ganzen Zeit meines Ostrogglebens ein Stück Fleisch mit Zähnen und einem Magen und mit unstillbarem Verlangen nach rohesten, tierischsten physischen Genüssen, und für die Befriedigung selbst der kleinsten dieser Verlangen wäre er fähig gewesen, in der kaltblütigsten Weise zu ermorden, zu erdrosseln, mit einem Wort, zu allem, vorausgesetzt nur, daß die Sache nicht herauskäme und er keine Strafe zu fürchten hatte. Ich übertreibe durchaus nicht, ich habe ihn nur zu gut erkannt. Er war ein Beispiel dafür, wie weit die physische Seite des Menschen, sobald sie innerlich von keiner Norm, keinem Gesetz zusammengehalten wird, sinken kann. Und wie ekelhaft war es mir, sein ewig höhnisches Lächeln zu sehen. Er war ein Monstrum, ein sittliches Ungeheuer. Dazu war er noch schlau und klug, hübsch, sogar gewissermaßen gebildet, nicht unbegabt. Nein, dann wäre es doch besser, eine Feuersbrunst käme über die Welt, oder Pest und Hungersnot, als daß solch ein Mensch in der Gesellschaft bliebe!
Ich habe schon davon gesprochen, daß im Ostrogg alles so verrottet war, daß Spionage und heimliche Anzeigen geradezu blühten, die Arrestanten aber über die Spione oder Hinterbringer nicht den geringsten Unwillen bekundeten. Im Gegenteil, mit A–ff z. B. standen sie sich sogar sehr gut und verkehrten mit ihm unvergleichlich freundschaftlicher als mit uns übrigen. Das Wohlwollen, das unser Major in trunkenem Zustande für ihn an den Tag legte, gab ihm in den Augen der anderen Bedeutung und Gewicht. Unter anderem hatte er auch den Major versichert, daß er Porträts malen könne – den Arrestanten hatte er gesagt, er sei Gardeleutnant gewesen –, worauf jener ihn zu sich ins Haus zur Arbeit kommen ließ, um ihn, den Major, zu porträtieren. Bei der Gelegenheit war er denn auch mit Fedjka zusammengekommen, der auf seinen Herrn und folglich auch auf alle und alles im Ostrogg einen großen Einfluß hatte. A–ff spionierte im Ostrogg auf Verlangen des Majors, dieser aber schimpfte ihn deswegen, wenn er ihm in betrunkenem Zustande Ohrfeigen gab, nannte ihn einen Ohrenbläser, gemeinen Hinterbringer und Spion. Es kam vor, und sogar sehr oft, daß der Major sich im nächsten Augenblick nach den Ohrfeigen wieder auf seinen Stuhl setzte und ihm weiterzumalen befahl. Unser Major schien in der Tat zu glauben, daß A–ff ein bedeutender Künstler sei, womöglich ein zweiter Brüloff, von dem auch er einmal gehört haben mochte, doch ungeachtet aller Genialität, glaubte er, der Major, sich doch berechtigt, den anderen links und rechts zu schlagen, denn wenn jener auch ein noch so großer Künstler und selbst ein doppelter Brüloff gewesen wäre, so war er, der Major, ihm doch noch über, nämlich als sein Vorgesetzter, und folglich konnte er mit jenem machen, was er wollte. Übrigens ließ er sich von A–ff auch die Stiefeln ausziehen, verschiedene Gefäße aus dem Schlafzimmer hinaustragen, konnte sich aber trotz allem lange Zeit noch nicht von dem Gedanken lossagen, daß A–ff ein großer Künstler sei. Mit dem Porträtieren ging es unendlich langsam vorwärts, fast ein ganzes Jahr lang zog sich das Malen hin, bis der Major dann doch endlich erriet, daß er betrogen worden war. Da sah er denn auch bald ein, daß das Bild ihm mit jedem Tage unähnlicher wurde und seine Vollendung noch weit im Felde lag: er verprügelte den Künstler und schickte ihn zur Strafe in den Ostrogg zur schwersten Arbeit. A–ff bedauerte diese Schicksalswendung natürlich sehr, und es fiel ihm schwer, auf die schönen müßigen Tage, die Abfälle von der Majorstafel, seinen Freund Fedjka und auf alle schönen Dinge, die sie sich in der Küche zu bereiten gewußt hatten, ein für allemal Verzicht zu leisten. Jedenfalls hörte der Major nach der Entfernung A–ffs auf, einen gewissen M. zu verfolgen, einen Sträfling, den A–ff unaufhörlich bei ihm verleumdet hatte, und zwar aus folgendem Grunde: Dieser M. war vor der Ankunft A–ffs im Ostrogg völlig allein gewesen. Er hatte große Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem er hätte sprechen können, hatte aber für die übrigen Arrestanten nur Entsetzen und Widerwillen übrig, und bemerkte natürlich nichts von all dem, was ihn hätte aussöhnen und sie ihm näherbringen können. Die Arrestanten zahlten ihm mit derselben Münze heim. Überhaupt ist im Ostrogg die Stellung solcher Leute wie M. einfach grauenvoll. Der Grund, warum man A–ff verschickt hatte, war ihm unbekannt. A–ff dagegen, der bald erriet, mit wem er es zu tun hatte, versicherte ihn, er, A–ff, sei so gut wie für das Gegenteil einer Denunziation verschickt worden, also fast für dasselbe Vergehen, aufgrund dessen auch M. in den Ostrogg gekommen war. M. war glückselig über den Schicksalsgenossen und Freund, pflegte, tröstete ihn in den ersten Tagen, da er glaubte, jener müsse sehr leiden, gab ihm sein letztes Geld, gab ihm zu essen, teilte mit ihm seine ganze Habe. A–ff aber fing sofort an, ihn zu hassen, vor allem deshalb, weil jener ein edler Mensch war und mit solchem Entsetzen auf jede niedrige Handlung sah, und hauptsächlich, weil er selbst diesem M. so unähnlich war. Und schon bei der ersten Gelegenheit beeilte sich A–ff, alles dem Major mitzuteilen, was M. ihm in den Gesprächen über den Ostrogg und den Major gesagt hatte.
Der Major schwor dafür Rache, haßte M. und versuchte ihm zu schaden, wo er nur konnte, und wenn nicht der Kommandeur noch mit seiner Autorität dagewesen wäre, hätte der Major es richtig noch zu etwas Schlimmerem gebracht. Doch all das verwirrte A–ff nicht im geringsten, als M. von seiner Schändlichkeit erfuhr; es behagte ihm sogar, jenem zu begegnen und ihn mit höhnischem Lächeln anzusehen. Das schien ihm geradezu ein Genuß zu sein. M. wies mich mehr als einmal selbst darauf hin. Dieses verkommene Subjekt floh später mit einem anderen Arrestanten und einem Eskortesoldaten, aber von dieser Flucht werde ich später ausführlicher erzählen. Anfangs versuchte er, auch bei mir sich einzuschmeicheln, da er im Glauben war, ich wüßte nichts von seiner Vergangenheit. Ich wiederhole es, dieses Subjekt machte mir die erste Zeit im Ostrogg noch schwerer, als sie ohnehin gewesen wäre. Mich entsetzte diese furchtbare Gemeinheit und Niedrigkeit, in die ich mich mitten hineinversetzt sah, als ich wieder zu mir kam und erwachte. Ich glaubte, daß hier im Ostrogg alle so schändlich und gemein wären. Aber ich hatte mich getäuscht: ich hatte nach A–ff auf alle geschlossen.
In diesen drei arbeitslosen Tagen schlenderte ich in meiner gedrückten, qualvollen Stimmung im Ostrogg umher, lag auf der Pritsche und gab einem zuverlässigen Arrestanten, den Akim Akimytsch mir empfohlen hatte, die mir ausgelieferte Leinwand ab, um mir Hemden nähen zu lassen, – natürlich für Bezahlung, das Hemd kostete nur wenige Kopeken –, schaffte mir auf den dringenden Rat Akim Akimytschs hin eine zusammenlegbare Matratze an, die aus Filz bestand, mit Leinwand überzogen und dünn wie ein Pfannenkuchen war, und außerdem noch ein Kopfkissen, das mit Wolle ausgestopft war und mir entsetzlich hart vorkam, da ich mich an so etwas noch nicht gewöhnt hatte. Akim Akimytsch bemühte sich eifrig um die Herstellung all dieser Sachen und nähte mir noch eigenhändig eine Decke aus alten Tuchstücken, alten Beinkleidern und Jacken, die ich von den anderen Arrestanten aufgekauft hatte.
Die ausgelieferten Kleidungsstücke wurden, wenn sie ihre vorschriftsmäßige Zeit vorgehalten hatten, Eigentum des Arrestanten, der sie dann sofort verkaufte; wie abgetragen das Ding auch sein mochte – im Ostrogg hatte es immer noch einen Wert. Überhaupt kam ich anfangs aus der Verwunderung gar nicht heraus; war es doch meine erste unmittelbare Berührung mit dem Volke. Ich selbst wurde plötzlich ganz ebenso Volk, ebenso ein sibirischer Arrestant, wie sie. Ihre Angewohnheiten, Begriffe, Meinungen, Sitten – wurden gleichsam auch die meinen, wenigstens der Form, dem Gesetz nach, wenn es auch in Wirklichkeit nicht der Fall war. Ich war erstaunt und verwirrt, als hätte ich vorher noch nichts von alledem geahnt oder gehört, obgleich ich schon vieles gewußt und gehört hatte. Aber die Wirklichkeit bringt immer einen ganz anderen Eindruck hervor, als das Wissen und Hören. Wie hätte ich zum Beispiel früher denken können, daß solche Sachen, solche Lumpen auch noch als Gegenstände oder gar als kaufkräftige Ware angesehen werden könnten. – Und da nähte ich mir nun aus ihnen noch eine Schlafdecke! Auch ist es schwer, sich vorzustellen, von welcher Art der Stoff war, der dem Arrestanten für die Kleider ausgeliefert wurde. Dem Ansehen nach schien er tatsächlich dickes Militärtuch zu sein; kaum aber war er getragen, so verwandelte er sich förmlich in ein Netz und zerriß empörend leicht. Übrigens mußte man mit dem Tuchanzug nur ein Jahr auskommen, aber selbst das war schwer. Ein Zwangsarbeiter muß naturgemäß arbeiten, er muß schwere Lasten tragen; seine Kleider werden abgerieben und zerreißen bald. Mit dem Pelze dagegen mußte man drei Jahre lang auskommen und diese Pelze dienten in der Regel noch als Schlafdecken und als Unterlage, da nur wenige Matratzen besaßen. Doch die Pelze sind stark. Trotzdem aber sah man nicht selten jemand, dessen Pelz zu Ende des dritten Jahres mit gewöhnlicher Leinwand geflickt war. Nichtsdestoweniger wurden sie, wenn sie auch noch so abgetragen waren, nach Ablauf der Tragefrist für fünfzig Kopeken in Silber verkauft. Für besser erhaltene wurden sogar sechzig bis siebzig Kopeken gezahlt, das aber ist in der Kátorga viel Geld.
Das Geld selbst hatte dort, wie ich schon mehrmals erwähnt habe, eine ungeheure Bedeutung, ja sogar Macht. Man kann ohne weiteres behaupten, daß ein Sträfling, der Geld hatte – und wenn es auch noch so wenig war – zehnmal weniger litt, als einer, der gar keines besaß, obwohl auch für diesen vom Staat gesorgt wurde. Wozu braucht ein Sträfling Geld? Das war etwas, was unsere „Obrigkeit“ nicht begreifen konnte. Ich aber sage nochmals: hätten die Sträflinge keine Möglichkeit gehabt, ihr eigenes Geld zu besitzen, so wären sie entweder irrsinnig geworden, oder sie wären wie die Fliegen gestorben – ungeachtet dessen, daß für sie in allem gesorgt war – oder, schließlich, sie hätten unerhörte Verbrechen begangen, die einen aus Sehnsucht, die anderen, um irgendwie so schnell als möglich vernichtet, hingerichtet zu werden, oder einfach irgendwie „sein Schicksal zu verändern“, wie der technische Ausdruck lautete. Wenn nun der Arrestant die Kopeken, die er im Schweiße seines Angesichts erworben hat, oder zu deren Erwerb er sich das Schlaueste ersonnen, was zugleich mit Diebstahl und Schurkereien verknüpft ist, wenn er sich für dieses Geld in die größte Gefahr begeben hat, dann aber dieses sauer erworbene Geld in einem Augenblick und so unklug, mit solchem kindischen Leichtsinn verschleudert, so beweist das noch lange nicht, daß er das Geld nicht schätzte, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Geldgierig ist er bis zur Krampfhaftigkeit, bis zum vollkommenen Verlust jeglicher Vernunft, und wenn er es beim „Durchgehen“ auch tausendmal wie Hobelspäne verschleudert, so verschleudert er es doch nur für das, was er noch höher hält als das Geld.
Was aber ist denn für den gefesselten Arrestanten noch höher als Geld?
Die Freiheit oder auch nur ein Traum, eine Vortäuschung von Freiheit.
Die sibirischen Zwangsarbeiter sind große Träumer. Doch davon werde ich später erzählen. Nur will ich, da ich soeben darauf zu sprechen gekommen bin, noch ein Beispiel anführen, ich weiß aber nicht, ob man es mir glauben wird: ich habe von den schwersten Verbrechern, die zu zwanzig Jahren verurteilt waren, gehört – sie haben es mir selbst gesagt: „Nur ein bißchen Geduld, wenn Gott will, erledige ich hier noch meine Strafzeit, und dann ...“
Die ganze Bedeutung des Wortes „Arrestant“ bezeichnet einen Menschen ohne Willen, verschwendet er aber Geld, so handelt er nach eigenem Willen. Ungeachtet aller Brandmale, Ketten und des verhaßten Palissadenzauns, der ihm Gottes Welt abschließt, und ihn wie ein Tier im Käfige gefangen hält – kann er sich doch Branntwein verschaffen, d. h. soviel wie einen strengstens verbotenen Genuß, für Geld kann er sogar Frauenzimmer besuchen, kann er zuweilen sogar – wenn auch nur sehr selten – seine nächsten Vorgesetzten bestechen, die Invaliden und selbst den Unteroffizier, die dann ein Auge halb zudrücken, wenn er gegen das Gesetz und die Disziplin verstößt und ihm in manchen Dingen durch die Finger sehen, und obendrein kann er sich sogar ihnen gegenüber in die Brust werfen – das aber tut er ganz außerordentlich gern, – kann er sich vor den Kameraden den Anschein geben und sogar sich selbst überzeugen – wenn auch nur auf kurze Zeit, – daß er weit mehr Willen und Macht besitze, als es scheine. Mit einem Wort, er kann prassen und Lärm schlagen, kann sogar einen anderen unter die Füße treten und ihm beweisen, daß er alles das wirklich kann, daß es in seiner Macht liegt, d. h., er kann sich im Besitz einer Sache glauben, an die der arme Teufel nicht einmal denken darf. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man bei den Arrestanten, selbst wenn sie nüchtern sind, eine so allgemeine Neigung zur Prahlerei findet, zu mutigem Auftreten, zu einer oft lächerlichen und naiven Erhebung der eigenen Persönlichkeit, wenn auch nur einer scheinbaren. Endlich kommt noch hinzu, daß diese ganze Prasserei nicht so ungefährlich ist, – folglich ist das Ganze immerhin eine gewisse Lebensvortäuschung, ein gewisser Schimmer von Freiheit. Und was gibt man nicht für die Freiheit! Welcher Millionär würde nicht, wenn der Strang seinen Hals schon schnürte, alle seine Millionen für einen einzigen Atemzug hingeben?
Da wundern sich zuweilen die Vorgesetzten, daß ein Arrestant, der lange Jahre so musterhaft sich aufgeführt hat, und womöglich zum Aufseher erhoben worden ist, ganz plötzlich und ohne jede Veranlassung – als wäre er rein des Teufels geworden – es plötzlich so toll treibt, wie man es von ihm nie und nimmer erwartet hätte, mitunter läßt er es sogar auf ein Kriminalverbrechen ankommen, oder er zeigt sich offenkundig unehrerbietig gegen die höchsten Vorgesetzten, oder er erschlägt oder überfällt irgend einen. Man sieht ihn an und wundert sich. Indessen ist die ganze Ursache dieses plötzlichen Ausbruchs in dem bis dahin friedlichsten Menschen, von dem man Ähnliches nie erwartet hätte – der plötzliche Durchbruch der Persönlichkeit, die instinktive Sehnsucht nach seinem eigenen Menschen, das Verlangen, diesen Menschen zu beweisen, seine erniedrigte Persönlichkeit hervorzukehren, und dieses Bedürfnis erwacht nun plötzlich mit einer Wucht in ihm, die zur Raserei, zur Tollwut, zu völliger Besinnungslosigkeit, zu einem Anfall, einem Krampf wird. So mag vielleicht ein lebendig Begrabener, wenn er unter der Erde erwacht, an seinen Sargdeckel schlagen und sich anstrengen, ihn aufzubrechen, obgleich ihm doch seine Vernunft sagen müßte, daß alle seine Anstrengungen vergeblich sind. Aber das ist es ja eben, daß es sich hier nicht um Vernunft handelt, sondern gewissermaßen um – Krämpfe. Jetzt bedenke man noch, daß jede eigenwillige Äußerung der Persönlichkeit beim Arrestanten für Verbrechen angesehen wird, in dem Falle aber ist es ihm natürlich gleichgültig, ob es ein größerer oder kleinerer Ausbruch ist. Geht er durch, dann geht er durch, wagt er einmal, dann wagt er eben – dann kommt es ihm auch auf einen Totschlag nicht an. Und die Hauptsache ist ja nur der Anfang: ist er erst einmal betrunken, dann läßt er sich nicht mehr halten. Daher ist es wohl besser, es nicht so weit kommen zu lassen. Alle hätten es besser.
Ja, aber wie läßt sich das machen?
Bei meinem Eintritt in den Ostrogg besaß ich einiges Geld; bei mir aber, in der Tasche, hatte ich nur wenig, aus Furcht, es könnte mir abgenommen werden, doch auf alle Fälle waren im Einband meiner Bibel einige Rubel verborgen, d. h. einfach eingeklebt. Dieses Buch mit dem eingeklebten Gelde war mir in Tobolsk von Leuten geschenkt worden, die gleichfalls in der Verbannung litten, die bereits seit Jahrzehnten dort leben mußten und die schon längst in jedem Unglücklichen einen Bruder zu sehen gewohnt waren. Es gibt dort in Sibirien fast überall solche Menschen, die, wie es scheint, ihre Lebensaufgabe darin sehen, den „Unglücklichen“ brüderliche Pflege angedeihen zu lassen, mit ihnen zu leiden und sie wie eigene Kinder zu lieben – mit einer uneigennützigen, heiligen Liebe.
Ich kann es nicht unterlassen, von einer Begegnung zu erzählen, die jetzt wieder so deutlich vor mir steht, als hätte sie erst gestern stattgefunden.
In der Stadt, in der sich unser Ostrogg befand, lebte eine Witwe, Nastaßja Iwanowna. Natürlich konnte niemand von uns, solange wir im Ostrogg waren, persönlich mit ihr bekannt werden. Sie hatte es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, für die Verschickten zu sorgen, doch am meisten sorgte sie für uns. Vielleicht war in ihrer Familie ein ähnliches Unglück vorgekommen, oder es hatte ein Mensch, der ihrem Herzen besonders teuer gewesen und nahegestanden, unter demselben Schicksal zu leiden gehabt – das weiß ich nicht. Jedenfalls aber war sie glücklich, alles für uns zu tun, was sie nur konnte. Viel tun konnte sie freilich nicht, denn sie war selbst sehr arm. Wir aber, die wir im Ostrogg saßen, fühlten und wußten, daß wir dort jenseits der Palissaden einen treuen Freund hatten. Unter anderem ließ sie uns oft Nachrichten zukommen, nach denen wir uns fast krank sehnten. Als ich dann den Ostrogg verließ und in eine andere Stadt zur Ansiedlung geschickt wurde, fand ich noch Gelegenheit, zu ihr zu gehen und sie persönlich kennen zu lernen. Sie lebte bei einem ihrer nahen Verwandten. Sie war weder alt noch jung, weder hübsch noch häßlich; ja man konnte nicht einmal feststellen, ob sie klug, ob sie gebildet war? Man sah in ihr nur auf jedem Schritt und Tritt eine unendliche Güte, den unbezwingbaren Wunsch zu helfen, zu erleichtern, einem etwas Angenehmes zu tun. Alle ihre Gefühle lagen in ihrem stillen, guten Blick. Ich verbrachte zusammen mit einem meiner Ostroggkameraden einen ganzen Abend bei ihr. Sie sah uns nur an, lachte, wenn wir lachten, beeilte sich, allem zuzustimmen, was wir auch sagen mochten. Sie bewirtete uns, womit sie nur konnte: sie reichte Tee, einen kleinen Imbiß, eingemachte Früchte, und wenn sie Tausende besessen hätte – sie würde sich über das Geld nur aus dem einen Grunde gefreut haben, weil sie dann uns und unseren im Ostrogg zurückgebliebenen Kameraden noch mehr hätte helfen können. Beim Abschied brachte sie noch mir und meinem Kameraden je ein Zigarettenetui zum Andenken. Diese Etuis klebte sie eigenhändig für uns – Gott weiß, wie sie geklebt waren! Sie bestanden aus Pappe und waren mit buntem Glanzpapier überzogen, genau demselben, in das die kurzgefaßten Rechenbücher der kleinen Schulen eingebunden sind (vielleicht bestanden sie auch tatsächlich aus den Deckeln eines solchen Arithmetikbuches). An den Rändern aber waren beide Hälften des Etuis zur Verzierung mit einer schmalen Bordüre von Goldpapier eingefaßt, die sie wahrscheinlich lange in den Läden gesucht hatte.
„Sie rauchen doch Zigaretten, vielleicht können Sie dann dieses hier gebrauchen,“ sagte sie schüchtern, als wolle sie sich ihres Geschenkes wegen entschuldigen.
Es gibt Menschen, die da sagen – ich selbst habe es gehört und gelesen, – daß die größte Liebe zum Nächsten zu gleicher Zeit der größte Egoismus sei. Worin nun hier Egoismus gewesen sein sollte, werde ich nie verstehen.
Wenn ich nun auch bei meinem Eintritt in den Ostrogg durchaus nicht viel Geld besaß, so vermochte ich es doch nicht, über jene ungehalten zu sein, die schon in den ersten Stunden von mir Geld geborgt und mich natürlich betrogen hatten, und dann höchst naiv zum zweiten, dritten und sogar fünften Male zu mir kamen, um noch weiteres Geld zu borgen. Eines aber muß ich ganz offen gestehen: es ärgerte mich nicht wenig, daß alle diese Banditen mit ihrer naiven Schlauheit mich unbedingt, wie es mir schien, für einen echten rechten Einfaltspinsel, für einen dummen Jungen hielten und sich über mich lustig machten, weil ich ihnen auch zum fünften Male das Geld gab. So mußte es ihnen unbedingt scheinen, daß ich mich von ihrer Schlauheit und Gewandtheit betrügen ließ, während sie, wenn ich ihnen nichts gegeben und sie fortgejagt hätte, – davon war ich überzeugt – mich unvergleichlich mehr geachtet haben würden. Aber wie sehr ich mich auch ärgerte, abschlagen konnte ich es ihnen doch nicht. Und ich ärgerte mich, weil ich in diesen ersten Tagen ernstlich und besorgt darüber nachdachte, wie ich mich im Ostrogg verhalten, oder richtiger, auf welchen Fuß ich mich mit ihnen stellen sollte. Ich fühlte und begriff, daß diese ganze Umgebung für mich völlig neu war, daß ich völlig im Dunkel saß, in demselben aber unmöglich so lange Jahre sitzen bleiben konnte. Folglich hieß es, sich vorbereiten. Versteht sich, ich kam mit mir überein, daß man vor allen Dingen offen sein und offen handeln müsse, wie es das innere Gefühl und das Gewissen befahlen. Andererseits aber wußte ich, daß dieses nur Theorie war und vor mir jedenfalls noch die unerwartetste Praxis erscheinen würde.
Und darum quälte mich, ungeachtet all der kleinen Sorgen um meine Einrichtung in der Kaserne (von denen ich schon erzählt habe und in die mich der vorsorgliche Akim Akimytsch hineinzog) und ungeachtet dessen, daß sie mich immerhin ein wenig zerstreuten, – trotzdem quälte mich eine nagende Sehnsucht immer unerträglicher.
„Ein Totenhaus!“ sagte ich zu mir, wenn ich zuweilen in der Dämmerung von der kleinen Treppe unserer Kaserne auf die Arrestanten blickte, die schon von der Arbeit heimkehrten und faul über den Hof in die Küchen schlenderten und aus den Küchen wieder zurück in die Kasernen. Ich betrachtete sie, betrachtete jeden einzelnen, und bemühte mich, an ihren Gesichtern und ihren Bewegungen zu erkennen, was für Menschen sie waren und was für Charaktere sie hatten. Sie aber schlenderten vor mir mit finster gerunzelten Stirnen, oder aber in sorgloser Heiterkeit – diese beiden Erscheinungen trifft man am häufigsten, sie sind zugleich die Charakteristik der Kátorga, – sie schimpften sich gegenseitig oder sie sprachen ganz gewöhnlich miteinander, oder sie gingen einzeln umher, gleichsam in Gedanken versunken, langsam, gleichmütig, einige müde und teilnahmslos, andere wiederum – selbst hier! – mit einem Ausdruck anmaßender Überlegenheit, die Mützen auf einem Ohr, die Halbpelze nur über die Schultern geworfen, mit frechem, listigem Blick und frechem, spöttischem Lächeln.
„Das ist jetzt meine Umgebung, meine neue Welt,“ dachte ich, „in der ich, ob ich will oder nicht, leben muß ...“
Ich machte auch wiederholt den Versuch, von Akim Akimytsch etwas über sie zu erfahren, wenn ich mit ihm Tee trank, um nicht allein trinken zu müssen. Tee war in dieser ersten Zeit so gut wie meine einzige Nahrung. Akim Akimytsch sagte nie ab, wenn ich ihn aufforderte, was ich gerne tat, und stellte selbst unseren, d. h. von M. geliehenen selbstverfertigten kleinen Blechssamowar auf, der spaßig anzusehen war. Akim Akimytsch trank nie mehr als ein Glas, – er besaß sogar Gläser – trank schweigend und würdevoll, reichte es mir mit einem Dank zurück und machte sich dann sofort an meine Schlafdecke, die er, wie ich schon sagte, aus alten Zeugstücken zusammennähte. Das aber, was ich von ihm erfahren wollte, – das erfuhr ich nicht, ja er schien es nicht einmal begreifen zu können, weshalb ich mich so besonders für die Charaktere der uns umgebenden und am nächsten stehenden Sträflinge interessierte. Er hörte mir nur mit einem seltsam schlauen, verschlagenen Lächeln zu, das ich noch lebhaft vor mir sehe. Nein, wie man sieht, muß man hier selbst alles erfahren und nicht durch andere zu erfahren suchen, dachte ich bei mir.
Am Morgen des vierten Tages stellten sich die Arrestanten wieder so auf, wie damals, als ich mit ihnen zur Schmiede gegangen war: auf dem Platz vor der Wache in zwei Reihen. An der Spitze, mit dem Gesicht zu ihnen, und hinter ihnen standen die Soldaten mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett. Der Soldat hat das Recht, auf den Gefangenen zu schießen, wenn dieser den Versuch macht, seiner Eskorte zu entfliehen; andererseits aber ist er auch verantwortlich für den Schuß, wenn er ihn nicht im äußersten Notfall abgefeuert hat; dasselbe galt auch für den Fall einer allgemeinen Empörung der Gefangenen. Aber wem wäre es wohl eingefallen, an eine offene Flucht zu denken!
Darauf kamen ein Offizier, die Unteroffiziere, Soldaten und die Arbeitsaufseher. Alle Namen wurden aufgerufen. Der Teil der Arrestanten, der in den Schneiderwerkstätten arbeitete, ging ganz zuerst ab; dieser hatte mit den Aufsehern nichts zu tun. Dort wurde hauptsächlich für den Ostrogg gearbeitet, für den die verschiedenen Kleidungsstücke herzustellen waren. Dann ging ein Teil in die anderen Werkstätten ab, und dann erst kamen die sogenannten „Schwarzarbeiter“ an die Reihe, die für die gewöhnlichen schweren Arbeiten bestimmt waren. Mit etwa zwanzig anderen marschierte auch ich ab.
Hinter der Festung lagen am Ufer des zugefrorenen Flusses zwei alte Barken, beide Staatseigentum, die wegen Untauglichkeit auseinandergenommen werden sollten, damit wenigstens das Holz nicht unnütz verfaulte. Übrigens war dieses ganze alte Material nur sehr wenig wert, vielleicht überhaupt nichts, denn Holz wurde in der Stadt spottbillig verkauft, da es Wald ringsum ungeheuer viel gab. Die Arrestanten wurden aber hingeschickt, damit sie eine Arbeit hatten, was sie natürlich selbst sehr gut begriffen. An eine solche Arbeit machten sie sich denn auch faul und ungern, während es etwas ganz anderes war, wenn sie eine zweckmäßige und interessante Arbeit bekamen, und besonders wenn sie sich eine „Aufgabe“ ausbitten konnten. Dann waren sie plötzlich alle wie begeistert und wenn sie auch selbst nichts davon hatten, so plagten sie sich doch im Schweiße ihres Angesichts und mit wahrhaft erstaunlichem Eifer, um sie so schnell und so gut als möglich zu beenden – dann war gleichsam ihr Ehrgeiz mit im Spiel. Bei einer solchen Arbeit dagegen, wie diese Barken abzubrechen, die mehr nur pro forma gemacht werden mußte, als aus Notwendigkeit, war es schwer, eine „Aufgabe“ zu erbitten, da mußte man bis zum Trommelschlage arbeiten, der um elf Uhr vormittags zur Heimkehr rief.
Es war ein warmer, nebliger Wintertag, es fehlte nicht viel, und wir hätten Tauwetter gehabt. Unsere ganze Abteilung begab sich hinter die Festung zum Ufer, leise mit den Ketten klirrend, die, obwohl sie unter den Kleidern verborgen waren, dennoch bei jedem Schritt einen feinen, hellen metallischen Klang gaben. Zwei oder drei von uns wurden ins Zeughaus nach den erforderlichen Werkzeugen geschickt. Ich ging mit den anderen weiter, während ich mich innerlich gewissermaßen belebte: ich sollte sehen und erfahren, was unsere Arbeit sein würde. Worin bestand die sibirische Zwangsarbeit? Und wie würde ich selbst zum erstenmal in meinem Leben arbeiten?
Ich erinnere mich noch des ganzen Tages bis in die kleinsten Einzelheiten.
Unterwegs begegnete uns ein bärtiger Kleinbürger: er blieb stehen und schob die Hand in die Tasche. Aus unserem Trupp löste sich sogleich ein Arrestant, trat ihm entgegen, nahm die Mütze ab, empfing ein Almosen, – fünf Kopeken, und kehrte schnell wieder zurück. Diese fünf Kopeken wurden noch am selben Morgen in Kalatschen verzehrt, die für alle in gleiche Stücke geteilt wurden.
In diesem ganzen Trupp waren einige wie gewöhnlich düster und schweigsam, andere teilnahmslos und trüge, und wieder gab es einige, die eigentlich nur aus Gewohnheit schwatzten. Einer von ihnen war ganz besonders guter Laune, er sang und hätte unterwegs beinahe getanzt, jedenfalls hopste er hin und her, wozu seine Ketten lauter klirrten. Das war jener selbe mittelgroße, etwas dicke Arrestant, der am ersten Morgen nach meiner Ankunft mit dem Hochgewachsenen beim Wassereimer gestritten hatte, weil jener von sich ohne Bedenken zu behaupten gewagt hatte, er sei ein Reiher. Dieser kleine lustige Bursche hieß Skuratoff. Jetzt stimmte er plötzlich ein loses Lied an, von dem ich nur noch einen Refrain behalten habe:
„Ohne mich ward ich vermählt
Mit der schönen Müllerin!“
Es fehlte nur noch eine Balalaika dazu.
Seine ungewöhnlich heitere Gemütsverfassung erweckte selbstverständlich in einigen anderen ernsten Unwillen, ja sie faßten seine Heiterkeit fast als persönliche Beleidigung auf.
„Da brüllt er nun!“ brummte unwirsch einer, den die Sache übrigens nichts anging.
„Tas war ein Walfslied, tu aber hast’s umketreht, Grützkopf!“ bemerkte einer der Mürrischen mit starkem kleinrussischen Akzent.
„Gut, ich bin meinetwegen auch ein Grützkopf, ihr aber habt euch dort in Poltawa alle mit euren Mehlklümpchen ‚umkepracht‘ und seid Mehlwürmer geworden,“ foppte Skuratoff nicht maulfaul.
„Tu lügst! Was hast tu selbst gefressen? Hast mit deinen Beinen Kohl gelöffelt.“
„Und hier scheint ihn der Teufel mit Kanonenkugeln zu stopfen,“ bemerkte ein anderer.
„Ja, es ist wahr, Bruderherz, ich bin ein verzärtelter Mensch,“ antwortete Skuratoff mit einem leichten Seufzer, ganz als bereue er die nicht zu verändernde Tatsache, doch sprach er es mehr zu allen gewandt, als zu einem einzigen. „Von Kindesbeinen an bin ich mit schwarzen Pflaumen und weißen Semmeln aufgereckt worden“ (d. h. aufgezogen. Skuratoff verdrehte die Worte absichtlich). „Meine leiblichen Brüder haben auch jetzt noch in Moskau ihre Handlung, sie handeln nämlich in der Durchgangsstraße mit Wind, sind die reichsten Kaufleute.“
„Und womit hast du gehandelt?“
„Hm, auch ich bin aus verschiedenen Eigenschaften hervorgegangen. Und damals, Freundchen, bekam ich die ersten Zweihundert ...“
„Rubel doch nicht??“ fiel hastig ein Neugieriger ein, der sich sogleich zu beleben schien, als er von so großem Gelde hörte.
„Nein, lieber Mensch, nicht Rubel, sondern Hiebe. Luka, heda! Hör mal, Luka!“
„Luka bin ich für manchen schon, für dich aber bin ich Luka Kusmitsch ...“ brummte unwillig ein kleiner Mann mit einem spitzen Näschen, der gleichfalls aus Kleinrußland stammte.
„Nun, dann Luka Kusmitsch, hol dich der Teufel, mag’s denn meinetwegen so sein.“
„Für manchen Luka Kusmitsch, für dich aber Onkelchen.“
„Ach, zum Teufel mit dir samt dem Onkelchen, so lohnt sich’s ja gar nicht, zu reden! Wollte aber ein hübsches Geschichtchen erzählen ... Nun und so kam’s denn, daß ich nicht lange in Moskau auflebte; man gab mir dort noch aufs Geleit fünfzehn Hiebe und dann – adjes Madrid! Und jetzt bin ich hier ...“
„Aber für was kriegtest du denn die fünfzehn?“ fragte einer, der aufmerksam zuhörte.
„Für was! Geh nicht in die Quarantäne, trink nicht direkt vom Spund, spiel nicht den Spaßvogel, – so daß ich, Freundchen, keine Zeit hatte, in der richtigen Weise in Moskau reich zu werden. Das aber wollte ich gewaltig, gewaltig, ganz gewaltig, sag ich dir, nämlich reich werden. Das wollte ich aber so, daß ich es dir selbst nicht zu sagen weiß, wie.“
Man lachte. Skuratoff war offenbar einer der freiwilligen Spaßmacher, oder richtiger, Narren, die es sich gleichsam zur Aufgabe gemacht hatten, ihre düsteren Genossen zu erheitern, und dafür, versteht sich, nichts als Schimpf und Spott ernteten. Er gehörte zu einem besonderen und sogar auffallenden Typus, auf den ich vielleicht noch einmal zu sprechen kommen werde.
„Dich kann man ja auch jetzt statt des Pöbels schlagen,“ bemerkte Luka Kusmitsch. „Sieh mal einer, seine Kleider sind ja allein schon an hundert Rubel wert.“
Skuratoff hatte den ältesten oder vielmehr abgetragensten Schafspelz, an dem auf allen Seiten Flicken hingen. Aufmerksam, doch ziemlich gleichmütig besah er sich von oben bis unten.
„Dafür ist der Kopf teuer, Freundchen, der Kopf!“ antwortete er. „Das tröstete mich auch damals, als ich Moskau verließ, nämlich daß mein Kopf mit mir ging. Leb wohl, Moskau, ich danke dir für das Bad, für den freien Geist, prächtig hat man mich dort mit Streifen versehen! Aber auf meinen Pelz, Freundchen, hast du keine Ursach zu sehen ...“
„Ich soll wohl nur nach deinem Kopf blicken?“
„Auch der Kopf gehört ihm ja gar nicht mehr,“ mischte sich wieder Luka ein, „der ist nur noch eine milde Gabe, die man ihm unterwegs um Christi willen geschenkt hat, als er mit seinem Trupp durchzog.“
„Du, Skuratoff, du hast doch sicher auch ein Handwerk gelernt?“
„Was Handwerk! Führer war er ... hat bei ihnen Kieselsteine geschleppt,“ meinte einer der Mürrischen, „das ist sein ganzes Handwerk!“
„Ich habe einmal vorversucht, Stiebel zusammenzunähen,“ sagte Skuratoff, als hätte er die spitze Bemerkung des anderen ganz überhört. „Aber es blieb beim ersten Paar.“
„Na was, wurde es dir auch abgekauft?“
„Ja, es kam so einer, der weder Gott gefürchtet noch Vater und Mutter geachtet hatte: da bestrafte ihn der Herr, – er kaufte das Paar.“
Alle um Skuratoff brachen in schallendes Gelächter aus: der Ton, in dem er es sagte, war gar zu spaßig.
„Und dann habe ich noch einmal gearbeitet, das war aber schon hier,“ fuhr Skuratoff mit merkwürdiger Kaltblütigkeit fort, „für den Leutnant Stepan Fedorowitsch Pomorzeff ein Paar Stiefel vorgeschuht.“
„Und war er zufrieden?“
„Nein, Freundchen, das war er gerade nicht. Hat mich für tausend Jahre ausgeschimpft und mich noch von hinten getreten. Hatte sich gar zu gewaltig geärgert. – Ach, gelogen hat mein Leben, das hat es, das verfluchte!
Da kehrte schon nach kleiner Weile
Ak–kulinas Mann nach Haus ...,“
sang er plötzlich wieder schmetternd und begann von neuem einen Tanzschritt im Viervierteltakt.
„Sieh einer, solch ’n blödsinniger Mensch!“ knurrte der neben mir gehende Kleinrusse, der ihn mit boshafter Verachtung von der Seite ansah.
„Ein unnützer Mensch!“ bemerkte ein anderer in einem so ernsten Ton, daß jeder Widerspruch ausgeschlossen war.
Mir war es unbegreiflich, aus welchem Grunde sie sich über diesen Skuratoff ärgerten, und überhaupt warum alle heiteren Charaktere, wie ich schon in den ersten Tagen bemerkt hatte, gewissermaßen verachtet wurden. Den Ärger des Kleinrussen und der anderen schrieb ich persönlicher Abneigung zu, doch das war nicht der Grund. Sie haßten und verachteten ihn, weil er keine Ausdauer hatte, keine äußerlich zur Schau getragene persönliche Würde besaß, mit der der ganze Ostrogg bis zur Pedanterie geladen war, – mit einem Wort, weil er, nach ihrem Ausdruck, ein „nutzloser“ Mensch war. Indessen wurden nicht alle Spaßvögel so behandelt wie Skuratoff und seinesgleichen. Es kam dabei nur darauf an, wie ein jeder mit sich umspringen ließ: ein gutmütiger Mensch wurde, auch ohne Spaßvogel zu sein, von den anderen erniedrigt. Das wunderte mich anfangs nicht wenig. Es gab aber auch andere Spaßvögel, die niemandem etwas schuldig blieben: solche wurden unwillkürlich geachtet. Einer von dieser Sorte befand sich auch unter uns, ein Haariger, wie man ihn nannte, der aber im Grunde genommen ein heiterer und sehr netter Mensch war, obwohl ich ihn von dieser Seite erst viel später kennen lernen sollte, ein hübschgewachsener Bursche mit einer großen Warze auf der Wange und einem äußerst komischen Gesichtsausdruck, sonst aber nett und aufgeweckt! Er wurde auch der Pionier genannt, weil er früher einmal als Pionier gedient hatte; im Ostrogg jedoch war er in der besonderen Abteilung. Auch von ihm werde ich noch zu berichten haben.
Übrigens waren nicht alle „Ernsten“ so streng, wie der über jede Heiterkeit unwillige Kleinrusse. Es gab in der Kátorga gewisse Leute, die es auf den Vorrang in jeder Beziehung abgesehen hatten: sie wollten in allem die ersten sein, im Wissen, in der Findigkeit, im Charakter, in der Klugheit ... Viele von ihnen waren auch tatsächlich klug, hatten Charakter und erreichten, was sie erstrebten: Vorrang und sittlichen Einfluß auf ihre Umgebung. Unter sich waren diese Klugen nicht selten die größten Feinde und ein jeder von ihnen wurde von den anderen beneidet und gehaßt. Zu den übrigen Sträflingen verhielten sie sich würdig und herablassend, ließen sich nie in einen nutzlosen Streit ein, mit den Vorgesetzten standen sie sich gut, bei der Arbeit waren sie gewissermaßen die Anordner, doch keiner von ihnen hätte zum Beispiel wegen eines Liedes so viel Aufhebens gemacht. Mit solchen Kleinigkeiten befaßten sie sich nicht, so etwas hätte sie erniedrigt. Gegen mich waren diese Leute während der ganzen Zeit meines Ostrogglebens auffallend höflich, nur waren sie nicht sehr gesprächig – gewissermaßen als verbiete es ihnen ihre persönliche Würde, zu sprechen. Auch von ihnen werde ich noch ausführlicher erzählen müssen.
Wir kamen ans Ufer des Irtysch. Unten, auf dem Fluß, lag im Eise die alte Barke, die wir abbrechen sollten. Jenseits des Flusses lag wie in bläulichem Licht die Steppe: sie sah unheimlich und öde aus. Ich erwartete, daß alle sich sofort an die Arbeit machen würden, aber daran schien niemand zu denken. Einige setzten sich am Ufer auf verstreut liegende Balken und fast alle zogen aus dem Stiefelschaft einen Tabaksbeutel hervor, der einheimischen, d. h. sibirischen Tabak enthielt, den man auf dem Markt in Blättern zu drei Kopeken das Pfund kaufen konnte, sowie kurze Pfeifenrohre und kleine selbstgeschnitzte Holzpfeifen. Die Pfeifen wurden angeraucht, während die Soldaten die Kette um uns bildeten und sich mit dem gelangweiltsten Gesichtsausdruck uns zu bewachen anschickten.
„Wer nur darauf gekommen sein mag, diese Barke abbrechen zu lassen?“ fragte einer halblaut so vor sich hin, ohne sich an jemanden zu wenden. „Der muß wohl Späne brauchen.“
„Wer uns nicht fürchtet, der ist darauf gekommen,“ bemerkte ein anderer.
„Wo mag dort dieses Bauernpack hinwollen?“ fragte nach kurzem Schweigen wieder der erste, der die Antwort auf seine vorhergehende Frage selbstverständlich nicht beachtet hatte, und wies auf eine ganze Reihe Bauern, die in der Ferne im Gänsemarsch durch den Schnee stampfte.
Die Sträflinge wandten sich auch nach jener Seite und begannen aus Langeweile über die Bauern zu spotten. Einer der Bauern, der letzte, ging ganz absonderlich komisch, die Arme schlenkerten weit ab vom Körper, und auf dem Kopf, der fast zur Seite hing, saß eine hohe Bauernmütze von der Form eines abgestumpften Kegels. Seine ganze Gestalt hob sich deutlich vom weißen Schnee ab.
„Sieh mal an, Gevatter Petrowitsch, wie du dich aber eingemummt hast!“ sagte einer, der die Bauern mit dem Ausdruck Gevatter verspotten wollte. Es war sogar sehr auffallend, daß die Arrestanten im allgemeinen von oben herab auf den Bauern sahen, während doch die Hälfte von ihnen gleichfalls aus dem Bauernstande war.
„Seht doch den letzten, Kinder, der geht ja, als wenn er Rettich pflanzte.“
„Das ist ein harter Schädel, der hat sicherlich viel Geld,“ meinte ein anderer.
Alle lachten, doch selbst in ihrem Lachen lag eine gewisse Faulheit.
Da kam eine Kalatschenverkäuferin, ein munteres und rüstiges Weiblein, zu uns. Von ihr wurden für die geschenkten fünf Kopeken Kalatschen gekauft und sogleich gewissenhaft verteilt; ein jeder erhielt sein Stück.
Der junge Bursche, der im Ostrogg mit den Kalatschen handelte, kaufte von ihr an zwanzig Stück, begann aber dann eifrig zu streiten, um drei, statt der üblichen zwei Kalatschen auf den Kauf zu erhalten, aber die Händlerin gab nicht nach.
„Nun, aber das andere – gibst du nicht?“
„Na das, was die Mäuse nicht fressen.“
„Ach, daß du selbst gefressen wirst!“ kreischte das Weiblein und ging lachend fort.
Endlich erschien auch der Arbeitsaufseher, ein Unteroffizier, mit einem Stock.
„Heda, ihr, was sitzt ihr! An die Arbeit!“
„Was, Iwan Matwejitsch, gebt uns doch eine Aufgabe,“ sagte einer der „ersten“, indem er sich langsam erhob.
„Warum habt ihr denn neulich nicht gefragt? Schleppt die Barke auseinander, da habt ihr eine Aufgabe.“
Man erhob sich langsam und ging zum Fluß hinunter, – kaum die Füße vom Fleck bewegend.
Es fanden sich auch alsbald „Anordner“, wenigstens waren sie es den großen Worten nach. Es zeigte sich, daß man die Barke nicht so blindlings zerhauen durfte, sondern nach Möglichkeit die Balken und namentlich die Kniehölzer heil herausnehmen mußte. Diese Kniehölzer waren aber ihrer ganzen Länge nach mittels Holznägeln an den Boden der Barke befestigt und diese Holznägel galt es jetzt herauszunehmen, – eine langweilige und mühsame Arbeit.
„Da müssen wir nun ganz zuerst diesen Balken hier abkriegen. Faßt mal an, Kinderchen!“ sagte einer, der weder „Anordner“ noch sonst ein „erster“ war, sondern ein gewöhnlicher „Schwarzarbeiter“, ein stilles, ruhiges Männlein, das bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte. Er beugte sich nieder, erfaßte einen dicken Balken und wartete auf Hilfe. Es fiel aber keinem einzigen ein, ihm zu helfen.
„Ja, den wirst du gerade loskriegen! Da kannst du auch noch deinen Urgroßvater, der wohl ein Bär gewesen ist, herbeiholen, so wirst du ihn auch noch nicht loskriegen!“ brummte jemand durch die Zähne.
„Ja wie denn, wie soll man denn anfangen? Ich weiß nicht ...“ sagte der andere etwas ratlos und richtete sich wieder auf.
„Du wirst doch nicht die ganze Arbeit allein machen ... was stopfst du dich dann vor?“
„Der versteht nicht einmal Hühner zu füttern, hier aber will er der erste sein ... So’n Zwerg!“
„Ich ... ich wollte nur,“ stotterte der Arme, – „nichts, ich meinte nur so ...“
„Zum Teufel, soll ich euch, Kerls, in Futterale stecken lassen? oder für den Winter vielleicht einsalzen?“ schrie wieder der Arbeitsaufseher, der verwundert die zwanzigköpfige Arbeiterschar betrachtete, die die Arbeit nicht anzufassen verstand. „Anfangen! Schneller!“
„Schneller als schnell kann man nichts machen, Iwan Matwejitsch.“
„Du machst ja sowieso nichts! He, Ssaweljeff! Petrowitsch! was stehst du da und glotzt, als wolltest du deine Augen ausspeien! ... Anfangen, sage ich!“
„Was kann denn ich da machen, ganz allein? ...“
„Gebt uns doch lieber eine Aufgabe, Iwan Matwejitsch.“
„Ich habe gesagt – es gibt keine! Reiß die Barke ab, und um Punkt elf geht’s zurück. An die Arbeit! Angefangen!“
Träge, unwillig, ungeschickt machte man sich endlich an das Abreißen. Es war fast unangenehm, diese Schar gesunder, stämmiger Arbeiter zu sehen, die, wie es schien, absolut nicht wußten, wie sie die Arbeit anfassen sollten. Kaum hatten sie sich daran gemacht, das erste, kleinste Knieholz herauszunehmen – da zeigte es sich, daß das Holz zerbrach, „ganz von selbst“, wie es dem Arbeitsaufseher zur eigenen Rechtfertigung gemeldet wurde. Folglich konnte man so nicht ans Werk gehen, man mußte es eben anders versuchen. Es folgte eine lange Beratung, wie es richtig wäre und was zu tun sei. Selbstverständlich kam es bald zum Wortwechsel, darauf folgte Geschimpf und die Sache drohte, noch weiterzugehen ... Der Aufseher schrie sie wieder an und fuchtelte mit seinem Stock; aber auch das zweite Knieholz brach. Es stellte sich nun heraus, daß zu wenig Äxte da waren und daß man noch irgend ein besonderes Werkzeug bedurfte. Sogleich wurden zwei jüngere Burschen mit einer Eskorte in die Festung zurückgeschickt, um die nötigen Gerätschaften zu bringen, die anderen aber setzten sich inzwischen seelenruhig auf der Barke hin, zogen ihre Pfeifen hervor und rauchten schon wieder.
Der Beamte spie schließlich aus.
„Weiß Gott, von euch kann man wahrlich keine Arbeit erwarten! Ich hab’s ja immer gesagt: Pack bleibt Pack!“ schimpfte er wütend, winkte mit der Hand ab – zum Zeichen unserer Untauglichkeit – und kehrte, den Stock in der Luft schwingend, in die Festung zurück.
Nach einer Stunde erschien der Aufseher. Ruhig hörte er die Ausführungen der Arrestanten an und erklärte darauf ohne zu zögern, daß er als Aufgabe gäbe, vier Kniehölzer herauszunehmen, aber nicht so, daß sie brächen, sondern heil, und dann noch einen bedeutenden Teil der Barke abzubrechen; wenn das aber geschehen wäre, könnten sie alle nach Hause gehen. Die Aufgabe war groß, aber – Himmel! – wie sie sich jetzt an die Arbeit machten! Wo war jetzt noch Faulheit oder Unwissenheit zu sehen! Die Äxte hämmerten, die Holznägel wurden herausgedreht. Die anderen schoben wiederum dicke Stangen unter die Kniehölzer, zwanzig Hände stemmten sich auf die Stangen und meisterhaft gewandt wurden die Kniehölzer herausgebrochen, die jetzt zu meiner Verwunderung sämtlich heil blieben und unversehrt. Die Arbeit kochte geradezu. Alle waren plötzlich auffallend klüger geworden. Weder gab es überflüssige Worte, noch einen Streit, ein jeder wußte, was er zu sagen, zu tun, wo er zu helfen und was er zu raten hatte.
Genau eine halbe Stunde vor dem Trommelzeichen war die vorgeschriebene Arbeit beendet und die Arrestanten kehrten müde, doch vollkommen zufrieden in den Ostrogg zurück, obgleich sie doch nur eine halbe Stunde gewonnen hatten. In Bezug auf mich aber war mir etwas Eigentümliches aufgefallen: wo und wie immer ich ihnen bei der Arbeit auch helfen wollte, überall war ich nicht am Platz, überall störte ich, überall wurde ich beinahe mit Geschimpf fortgeschickt.
Selbst der letzte von ihnen, der schlechteste Arbeiter, der vor den anderen nicht mucken durfte, selbst der glaubte sich im Rechte, mich anschreien zu dürfen, wenn ich mich neben ihn stellte, unter dem Vorwand, ich hindere ihn bei der Arbeit.
Das sagte mir einer der Gewandten ganz offen und grob ins Gesicht:
„Wohin stopfen Sie sich wieder vor, gehn Sie zum Teufel! Wo man nicht gebraucht wird, dorthin soll man auch nicht seine Nase stecken.“
„Der ist der richtige!“ bemerkte sofort ein anderer.
„Nimm lieber eine Blechbüchse,“ sagte ein dritter, „und ‚sammle Geld zum Kirchenbau und der Branntweinschenken Niederhau‘, hier aber hast du nichts zu suchen.“
So hätte ich also abseits stehen und zusehen müssen, während die anderen arbeiteten. Zuzusehen aber schämt man sich unwillkürlich. Als ich aber tatsächlich fortging und mich an das andere Ende der Barke stellte, da war es ihnen wieder nicht recht:
„Schöne Arbeiter schickt man uns her!“ hieß es sofort. „Was fängt man mit solchen Leutchen an!“
„Nichts fängt man mit ihnen an!“
Das wurde natürlich absichtlich gesagt, denn man mußte doch die Gelegenheit benutzen, über einen ehemaligen Adligen herziehen zu können – und man freute sich über die Gelegenheit.
Jetzt wird man auch begreifen, warum meine erste Frage nach dem Eintritt in den Ostrogg, wie ich schon erwähnte, gerade diese war: wie ich mich hier verhalten, wie ich mich zu diesen Menschen stellen sollte. Ich fühlte es schon im voraus, daß ich noch oft solche Zusammenstöße mit ihnen haben würde, wie an diesem ersten Arbeitstage. Doch ungeachtet aller Zusammenstöße, entschloß ich mich, meinen Verhaltungsplan nicht zu ändern, den ich mir inzwischen im großen ganzen schon ausgedacht hatte; ich wußte, daß er richtig war. Ich hatte eingesehen, daß man sich nach Möglichkeit natürlich und frei bewegen mußte, ohne sich besonders um eine Annäherung zu bemühen. Andererseits aber mußte man sie auch nicht vor den Kopf stoßen, wenn sie von sich aus eine Annäherung wünschten. Ich beschloß, ihre Drohungen und ihren Haß nicht zu fürchten und nach Möglichkeit mir den Anschein zu geben, als bemerke ich so etwas überhaupt nicht. Ferner, in gewissen Dingen sie sich immer fernzuhalten und niemals einige ihrer Angewohnheiten und Sitten zu billigen oder gegen sie auch nur nachsichtig zu sein; mit einem Wort – nicht mich ihnen aufzudrängen und nicht ihre intime Freundschaft zu suchen. Ich erriet schon auf den ersten Blick, daß sie mich anfangs dafür verachten würden, mußte ich doch gerade ihrer Meinung nach, wie ich es auch später aus unzweifelhaften Anzeichen ersah, in erster Linie meine adlige Herkunft wahren und hochhalten, nämlich: den Verzärtelten spielen, sie verabscheuen, wichtig tun, bei jedem Schritt zusammenklappen und die Hände pflegen. Das war ihre Vorstellung von einem Adligen. Sie hätten mich deswegen natürlich verspottet, innerlich aber doch dafür geachtet. Nein, eine solche Rolle sagte mir nicht zu. In diesem Sinne, wie sie den Adel auffaßten, bin ich nie ein Adliger gewesen. Dafür aber gab ich mir mein Wort, durch keine einzige Konzession weder meine Bildung noch meine Denkweise vor ihnen zu erniedrigen. Hätte ich angefangen, um ihnen zu gefallen, mich bei ihnen einzuschmeicheln, in allem ihrer Meinung zu sein, familiär mit ihnen umzugehen, und ihre „Eigenschaften“ mir anzueignen – nur um ihre Wohlgeneigtheit zu erwerben – so würden sie sofort geglaubt haben, ich täte es aus Furcht und Feigheit und sie hätten mich nur mit Verachtung behandelt. A–ff war kein Beispiel für das Gegenteil: er ging zum Major und daher fürchteten sie ihn, nicht er sie.
Andererseits wollte ich mich vor ihnen auch nicht hinter kalter und unnahbarer Höflichkeit verschanzen, wie es die Polen taten.
Ich sah es recht gut ein, daß sie mich verachteten, weil ich ebenso arbeiten wollte, wie sie, und mich vor ihnen nicht zierte und verstellte; und wenn ich auch genau wußte, daß sie späterhin gezwungen sein würden, ihre Meinung über mich zu ändern, so war mir doch der Gedanke, daß sie glauben mußten, ich wolle mich durch meine Arbeitswilligkeit bei ihnen einschmeicheln, geradezu eine Pein.
Als ich am Abend nach Beendigung der Nachmittagsarbeit müde und zerschlagen in den Ostrogg zurückkehrte, überkam mich wieder unerträgliche Sehnsucht.
„Wieviel Tausende solcher Tage stehen mir noch bevor,“ dachte ich, „alle ein und dieselben, alle ein und dieselben!“
Als die Dämmerung sich bereits dem Abend näherte, strich ich allein hinter den Kasernen umher. Da sah ich plötzlich unseren Scharik, wie er in gestrecktem Galopp auf mich zugerannt kam. Scharik war unser Ostrogghund, so wie es Kompagnie-, Bataillons- und Regimentshunde gibt. Er lebte schon seit langer, langer Zeit im Ostrogg, gehörte niemand und allen, hielt einen jeden für seinen Herrn und nährte sich von dem, was ihm aus der Küche zugeworfen wurde. Er war ein ziemlich großer Hund, schwarz mit weißen Flecken, ein echter Hofhund, nicht sehr alt, mit klugen Augen und buschiger Rute. Niemals hatte jemand das Tier gestreichelt, niemand auch nur die geringste Beachtung dem Tiere geschenkt. Schon am ersten Tage hatte ich Scharik gestreichelt und ihm Brot aus der Hand zu fressen gegeben. Als ich ihn streichelte, hatte er ganz still gestanden, freundlich mich angesehen und zum Zeichen seines Wohlbehagens langsam mit der Rute gewedelt. Jetzt aber, nachdem er mich, den ersten Menschen, dem es während seines ganzen Lebens eingefallen war, ihn zu streicheln, solange nicht gesehen hatte, war er überall herumgelaufen, um mich unter den anderen zu suchen – und als er mich nun hinter den Kasernen gefunden hatte, kam er heulend auf mich zugerannt. Ich weiß nicht mehr, was mit mir in jenem Augenblick geschah: ich umfaßte seinen Kopf und küßte ihn. Er setzte seine Vorderpfoten auf meine Schultern und leckte mir das Gesicht.
„Da habe ich jetzt einen Freund, den mir das Schicksal gesandt hat!“ dachte ich, und jedesmal, wenn ich in dieser ersten schweren Zeit von der Arbeit zurückkehrte, eilte ich, noch bevor ich in die Küche ging, hinter die Kasernen, um dort den an mir emporspringenden, vor Freude heulenden Scharik zu umfassen und immer wieder seinen Kopf zu küssen, während ein süßes und doch zugleich quälend bitteres Gefühl mein Herz bedrückte. Und ich entsinne mich noch, es war mir sogar angenehm, zu denken, gleichsam als wäre ich vor mir selbst auf meine Qual stolz gewesen, daß mir in der ganzen Welt nur noch ein einziges lebendes Wesen geblieben war, das mich liebte und mir zugetan war, – mein Freund, mein einziger Freund, mein treuer Hund Scharik.
Doch die Zeit verging und allmählich lebte ich mich ein. Die alltäglichen Erscheinungen in meinem neuen Leben nahm ich mit jedem Tage gleichmütiger hin. Die verschiedenen Ereignisse, die Umgebung, die Menschen – alles wurde dem Auge schließlich zum Überdruß. Sich mit diesem Leben auszusöhnen, war unmöglich, doch es als eine vollendete Tatsache hinzunehmen, war nachgerade Zeit. Alles Nichtverstehenkönnen, das noch in mir geblieben war, verbarg ich so tief als möglich in meinem Innersten. Ich strich nicht mehr wie ein Verlorener im Ostrogg umher und ich bemühte mich, durch nichts meine Qual zu verraten. Die gierig neugierigen Blicke der Arrestanten blieben nicht mehr so oft auf mir haften, sie folgten mir nicht mehr mit einer so absichtlich hervorgekehrten Frechheit. Offenbar hatten auch sie sich an mich gewöhnt, worüber ich mich aufrichtig freute. Im Ostrogg bewegte ich mich bald wie im eigenen Hause, kannte meinen Platz auf den Pritschen und hatte mich allem Anscheine nach selbst an solche Dinge gewöhnt, an die mich zu gewöhnen ich anfänglich für vollkommen ausgeschlossen gehalten hatte.
Regelmäßig einmal in der Woche ließ ich die eine Hälfte meines Kopfes rasieren. Jeden Sonnabend in der Feierabendzeit wurden wir zu dem Zweck der Reihe nach auf die Wachtstube gerufen. Dort seiften uns die Regimentsbarbiere mit kaltem Seifenschaum ein und kratzten uns erbarmungslos mit ihren Rasiermessern, die noch viel stumpfer als stumpf waren, so daß es mir auch jetzt noch bei dem bloßen Gedanken an diese Folter kalt über den Rücken läuft. Wer sich nicht rasieren ließ, trug selbst die Verantwortung. Übrigens fand sich bald ein zweckmäßiges Mittel gegen diese Qual: Akim Akimytsch empfahl mir einen Arrestanten, einen ehemaligen Soldaten, der für eine Kopeke mit seinem eigenen Rasiermesser barbierte und daraus ein Handwerk machte. Viele gingen zu ihm, um nicht den Regimentsbarbieren in die Hände zu kommen, und doch war das Volk sonst nicht verwöhnt.
Unser Arrestantenbarbier wurde „Major“ genannt, – warum, weiß ich nicht, und was gerade an ihm dem Major gleichen sollte, weiß ich gleichfalls nicht zu sagen. Ich erinnere mich seiner noch lebhaft: groß und lang war er, hager, schweigsam, ziemlich dumm, ewig in seine Beschäftigung vertieft und ewig mit dem Riemen in der Hand, auf dem er womöglich Tag und Nacht sein ohnehin schon haarscharfes Rasiermesser strich. Wie es schien, ging er in seiner Tätigkeit ganz und gar auf, die er offenbar für seine ganze Lebensaufgabe hielt. Er war unsagbar zufrieden, wenn sein Messer gut war und jemand zu ihm kam, um sich barbieren zu lassen: sein Seifenschaum war warm, seine Hand geschickt, sein Messer wie Sammet. Er fand wirklich Genuß an seiner Kunst und war stolz auf sein Können. Nachlässig nahm er die verdiente Kopeke in Empfang, ganz als hätte es sich für ihn in der Tat nur um die Kunst und nicht um das Geld gehandelt.
A–ff war es einmal unsäglich schlecht ergangen bei unserem Platzmajor, als er beim üblichen Hinterbringen aller Vorgänge im Ostrogg auch auf diesen Barbier zu sprechen gekommen war und unvorsichtigerweise ihn „Major“ genannt hatte. Der Platzmajor soll geradezu wild geworden sein.
„Schurke, du! Weißt du auch, was ein Major ist!“ soll er mit Geifer vor dem Munde geschrieen und ihn auf seine Weise bearbeitet haben. „Begreifst du überhaupt, was dieses Wort bedeutet! Und da wagst du, Kerl, so ein Arrestantenvieh Major zu nennen, und noch dazu mir ins Gesicht, in meiner Gegenwart!“
Nur ein A–ff konnte es fertigbringen, mit einem solchen Menschen auszukommen.
Schon seit dem ersten Tage im Ostrogg begann ich, von meiner späteren Freiheit zu träumen. Die Berechnung, wann meine Strafzeit zu Ende sein würde, wurde in tausend verschiedenen Arten und mit ebensoviel praktischen Bezugnahmen meine liebste Beschäftigung. An anderes konnte ich überhaupt nicht denken, und ich bin überzeugt, daß es einem jeden so ergeht, der für eine Zeitlang der Freiheit beraubt ist. Ich weiß nicht, ob die anderen Zwangsarbeiter ebenso rechneten und dachten wie ich, jedenfalls aber machte mich ihr wundernehmender Leichtsinn in dieser Beziehung nicht wenig stutzig, und zwar schon vom ersten Augenblick an. Die Hoffnung eines Eingekerkerten, der Freiheit Beraubten ist naturgemäß von ganz anderer Art, als die eines frei und werktätig lebenden Menschen. Der freie Mensch hofft natürlich gleichfalls – zum Beispiel, auf eine Schicksalsveränderung, auf das Gelingen irgend eines Unternehmens –, aber er lebt doch dabei ein lebendiges Leben, er ist beschäftigt, das wirkliche Leben zieht ihn immer wieder in seinen Strudel hinein. Der Gefangene dagegen kennt so etwas nicht. Gewiß lebt auch er ein Leben – ein Ostrogg-, ein Zwangsarbeiterleben; aber wer er auch sein mag, und gleichviel, ob er zu einer langen oder kurzen Strafzeit verurteilt ist, er wird dieses Leben instinktiv und ganz entschieden nicht für etwas Positives, Endgültiges nehmen können, für einen Abschnitt seines wirklichen Lebens. Ein jeder Zwangsarbeiter fühlt, daß er nicht „bei sich zu Hause“ ist, sondern gleichsam auf Besuch. Auf zwanzig Jahre sieht er wie auf zwei Jahre und ist dabei fest überzeugt, daß er mit fünfundfünfzig Jahren, bei seinem Austritt aus dem Ostrogg, ein ebenso kräftiger, gewandter Mann sein wird, wie jetzt mit fünfunddreißig.
„Werden schon noch mal leben!“ denkt er und verscheucht eigensinnig alle Zweifel und anderen lästigen Gedanken.
Selbst Verbrecher, die auf unbestimmte Zeit verschickt sind, selbst die rechnen noch darauf, daß plötzlich, sagen wir, aus Piter (Petersburg) ein Befehl kommt: „so und so, nach Nertschinsk in die Erzgruben überzuführen und eine Frist zu bestimmen.“ Was fehlte ihnen dann! Nach Nertschinsk dauert der Marsch etwa ein halbes Jahr und mit einem ganzen Trupp zu marschieren ist doch im Vergleich zum Ostrogg tausendmal besser! Und dann in Nertschinsk die festgesetzte Strafzeit zu beenden, um dann ...
Und so hofft ja noch manch einer mit weißem Haar!
In Tobolsk habe ich an die Wand angeschmiedete Verbrecher gesehen. Die Ketten eines solchen sind etwa zwei Meter lang; und dort hat er auch seine Pritsche. Angeschmiedet hat man ihn für irgend ein ganz unerhörtes Verbrechen, das er bereits in Sibirien begangen hat. Und so sitzt er nun fünf Jahre, sitzt sogar zehn Jahre an der Kette. Größtenteils sind es ehemalige Räuber. Nur ein einziger schien unter denen, die ich sah, besserer Herkunft zu sein: er war, glaube ich, einmal irgendwo ein kleiner Beamter gewesen. Er sprach äußerst sanft, fast flüsternd, und mit einem süßlichen Lächeln. Er zeigte uns seine Ketten und zeigte, wie man sich am bequemsten auf die Pritsche hinlegen konnte. Er war in seiner Art sicherlich ein ganz besonderer Vogel. Alle verhalten sie sich dort völlig friedlich und alle scheinen sie ganz zufrieden zu sein, trotzdem will aber ein jeder von ihnen ungeheuer gern recht bald seine Zeit an der Wand abgesessen haben. Wozu nur, sollte man meinen? – Wozu? Sehr einfach: er wird dann aus dem dumpfen, muffigen Raum mit den niedrigen Backsteingewölben hinausgehen und auf dem Ostrogghof spazieren und ... und das ist alles. Aus dem Ostrogg wird man ihn nie hinauslassen. Er weiß es selbst sehr gut, daß die von der Wandkette Befreiten ewig im Ostrogg bleiben müssen, bis zu ihrem Tode, und auch die Fußketten werden ihnen nicht früher abgenommen. Er weiß alles ganz genau und dennoch will er recht, recht bald seine Zeit an der Wand abgesessen haben. Könnte er es denn ohne diesen Wunsch fünf oder sechs Jahre so angeschmiedet aushalten und nicht sterben und nicht den Verstand verlieren? Wer würde das sonst fertigbringen?
Ich fühlte, daß die Arbeit mich retten, meine Gesundheit, meinen Körper stärken würde. Die fortwährende geistige Unruhe, die nervöse Erschütterung die schlechte Luft in der Kaserne hätten mich gänzlich vernichten können. „Ich muß soviel als möglich in der frischen Luft sein, muß mich jeden Tag müde arbeiten, muß mich gewöhnen, Lasten zu tragen – nur so werde ich mich stärken können und gesund, rüstig, stark und nicht alt geworden in die Freiheit zurückkehren.“ Ich habe mich nicht getäuscht: die Arbeit und die Bewegung in der frischen Luft waren mir sehr zuträglich.
Mit wahrem Entsetzen blickte ich auf einen meiner Kameraden von den Adligen, der im Ostrogg wie ein Licht erlosch. Er war mit mir zusammen hingekommen, ein junger, hübscher, kräftiger Junge, und als er ihn wieder verließ, da war er schon halbtot, ergraut, so gut wie ohne Füße und kurzatmig. Nein, dachte ich bei seinem Anblick, ich will leben und ich werde leben! Dafür aber hatte ich vieles von den Arrestanten hinzunehmen, die mich für meine Liebe zur Arbeit mit Verachtung und Spott bedachten. Doch ich machte mir nichts daraus und begab mich immer frisch drauf los zu jeder Arbeit, und wenn es auch nur das Brennen und Stoßen von Alabaster war – eine der ersten Arbeiten, die ich kennen lernte. Übrigens war das die leichteste. Das Ingenieurkommando war nach Möglichkeit bemüht, den Adligen die Arbeit zu erleichtern, was jedoch durchaus nicht Nachsicht, sondern nur Gerechtigkeit war. Wäre es doch sonderbar gewesen, von einem Menschen, der physisch nie gearbeitet hat, dieselbe Arbeit zu verlangen, wie von einem dreimal so starken richtigen Arbeiter. Doch diese Nachsicht oder „Verwöhnung“ wurde nicht immer durchgeführt, ja es geschah gewöhnlich sogar etwas verstohlen, denn es wurde darauf streng aufgepaßt – von anderer Seite. Sehr oft mußten wir auch schwere Arbeit verrichten und dann hatten wir es natürlich doppelt so schwer, wie die anderen. Zur Alabasterarbeit wurden gewöhnlich nur drei oder vier bestimmt, Greise oder Schwächlinge, nun, und bisweilen auch wir. Außerdem wurde noch mehrere Jahre lang immer ein und derselbe Sträfling mitgeschickt, ein gewisser Almasoff, ein strenger, brünetter, hagerer, nicht mehr junger Mensch, der äußerst wenig mitteilsam und sehr eigensinnig war. Er verachtete uns tief. Übrigens war er sehr wortkarg, was sich bei ihm sogar so weit ausdehnte, daß er selbst zum Anknurren zu faul war.
Der Schuppen, in dem der Alabaster gebrannt und gestoßen wurde, befand sich gleichfalls am öden und steilen Ufer des Flusses. Im Winter, namentlich an trüben, dunklen Tagen, war es langweilig, auf den Fluß und das gegenüberliegende Ufer zu sehen. Es lag etwas Sehnsüchtiges, das Herz Zerreißendes in dieser wilden und öden Landschaft. Doch war es fast noch schwerer, wenn auf der unendlichen weißen Schneedecke grell blendender Sonnenschein lag: dann wäre man am liebsten hinübergeflogen, dorthin in diese Steppe, die sich jenseits des Flusses wie ein einziges großes Tuch auf anderthalbtausend Werst gegen Süden hinzog.
Almasoff machte sich gewöhnlich stumm und finster an die Arbeit. Wir aber schämten uns gewissermaßen, weil wir ihm nicht in der entsprechenden Weise helfen konnten; er jedoch machte alles allein und verlangte absichtlich nicht nach unserer Hilfe, gleichsam als wolle er uns damit unsere ganze Schuld vor ihm zu fühlen geben, auf daß wir über die eigene Nutzlosigkeit Reue empfänden. Die ganze Arbeit bestand aber nur darin, daß man den Ofen anheizte, um den Alabaster brennen zu können, den wiederum wir ihm zuschleppten. Schon am nächsten Tage, wenn der Alabaster genug gebrannt war, mußte er aus dem Ofen wieder herausgeschafft werden. Darauf nahm jeder von uns einen schweren Hammer, stellte seinen besonderen Kasten mit Alabaster vor sich hin und dann begann das Zerstoßen. Das war eine herrliche Arbeit. Der körnige Alabaster verwandelte sich schnell in weißes blitzendes Pulver, so leicht, so schnell zerbröckelte er und ließ er sich feinstoßen. Wir klopften lustig mit den schweren Hämmern und riefen ein solches Getöse hervor, daß es eine wahre Freude war. Und wurden wir schließlich auch müde, so war es uns doch leicht ums Herz: in das Gesicht kam wieder Farbe und das Blut zirkulierte schneller. Dann sah selbst Almasoff gnädiger auf uns herab, etwa wie man auf kleine Kinder sieht, wenn sie eine Beschäftigung gefunden haben. Gnädig rauchte er seine Pfeife, konnte es aber doch nicht unterlassen, uns anzuknurren, wenn er etwas sagen mußte. Übrigens verhielt er sich gegen alle so, im Grunde aber war er, glaube ich, ein guter Mensch.
Eine andere Arbeit, die mir auch noch zugeteilt wurde, war – in der Werkstatt das Schleifrad zu drehen. Das Rad war groß und schwer. Da mußte man sich nicht wenig anstrengen, besonders wenn der Drechsler – einer der Militärhandwerker – etwa Pfosten für Treppengeländer drechselte, oder große Tischfüße für das Meublement irgend eines Beamten, das die Regierung diesem freistellte. Zu solchen Tischfüßen war fast ein ganzer Balken erforderlich. Dann war das Drehen für einen zu schwer und man bestimmte gewöhnlich zwei dazu, mich und noch einen Adligen, B. So wurde diese Arbeit mehrere Jahre lang uns zugewiesen, sobald es nur irgend etwas zu drechseln gab. B. war ein schwacher, kränklicher Mensch, noch jung, aber brustleidend. Er lebte schon seit einem ganzen Jahr im Ostrogg und war mit zwei Gefährten hingekommen: der eine von ihnen, ein Greis, der während der ganzen Zeit seines Ostrogglebens Tag und Nacht betete – wofür ihn die Arrestanten ungemein achteten – starb bald nach meiner Ankunft, und der andere, ein noch sehr junger Mensch, der frisch, gesund, stark und mutig war, hatte unterwegs den schon nach der ersten Hälfte der Etappe völlig erschöpften B. getragen, etwa siebenhundert Werst weit, ununterbrochen, bis zum Ostrogg. Diese Freundschaft hätte man sehen müssen! B. hatte eine vorzügliche Bildung genossen und hatte einen edlen, großzügigen Charakter, doch durch die Krankheit war er reizbar und erbittert geworden. Wir drehten zusammen das Rad und das Drehen war uns beiden eine gute Beschäftigung, für mich besonders war sie eine vorzügliche Bewegung nach den ruhigeren Arbeiten.
Auch das Schneeschaufeln bereitete mir viel Vergnügen, ich tat es sehr gern. Dazu wurden wir gewöhnlich nach großen Schneestürmen angestellt, die ja im Winter nicht selten sind. Nach so einem vierundzwanzigstündigen Schneesturme war manches Haus bis zur halben Fensterhöhe, manches bis zum Dach im Schnee vergraben. Dann, sobald der Sturm aufgehört hatte und die Sonne wieder schien, wurden wir in großen Trupps hinausgeschickt, zuweilen sogar der ganze Ostrogg, um die Schneeberge vor den Staatsgebäuden fortzuschaufeln. Jeder erhielt eine Schaufel und alle zusammen eine Aufgabe, die nicht selten so groß war, daß man sich wundernd fragte, wie man damit fertig werden sollte. Aber siehe da – es ging! Alle machten sich einmütig und flink an die Arbeit. Der lockere, kaum erst sich lagernde und oben nur ein wenig gefrorene Schnee ließ sich leicht auf die Schaufel nehmen, und die großen Stücke oder loseren Haufen flogen in Bogen kreuz und quer durch die Luft und verwandelten sich noch im Fluge in glitzernden Staub. Es war eine Lust, die Schaufel in die weiße, im Sonnenschein blendende Masse hineinzustechen. Bei dieser Arbeit waren die Arrestanten immer lustig und guter Laune. Die frische Winterluft und die Bewegung erwärmten sie, und die Munterkeit war ansteckend: Lachen ertönte, Geschrei und Witze. Man warf sich sogar mit Schneebällen, worüber natürlich die Vernünftigen und über die allgemeine Heiterkeit Ungehaltenen schon im nächsten Augenblick zu schreien hatten, und so endete die anfängliche Fröhlichkeit gewöhnlich mit Schimpf und Streit.
Mit der Zeit fing auch der Kreis meiner Bekannten an, sich zu vergrößern. Übrigens dachte ich selbst nicht daran, neue Bekanntschaften zu suchen, ich war immer noch unruhig, niedergeschlagen und mißtrauisch. Aber die Bekanntschaften ergaben sich ganz von selbst.
Einer der ersten, die mich besuchten, war der Arrestant Petroff. Ich sage „besuchten“ und will dieses Wort noch absichtlich betonen.
Petroff befand sich in der besonderen Abteilung und lebte in der entferntesten Kaserne, die ganz im Hintergrunde des Ostrogg lag, somit konnte es zwischen uns gar keine Berührungspunkte geben, und innerlich Gemeinsames gab es zwischen uns gleichfalls nicht, das war ganz ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger schien dieser Petroff in der ersten Zeit es nahezu für seine Pflicht zu erachten, womöglich jeden Tag zu mir in die Kaserne zu kommen oder mich am Feierabend, wenn ich möglichst weit von allen anderen hinter den Gebäuden am Zaun entlang spazierte, aufzusuchen und anzureden. Anfangs war mir das recht unangenehm. Aber er verstand es so zu machen, daß seine „Besuche“ mir bald zu einer angenehmen Zerstreuung wurden, obgleich er durchaus nicht ein sehr mitteilsamer oder gesprächiger Mensch war. Was sein Äußeres anbelangt, so war er nicht hoch von Wuchs, stark gebaut, gewandt, unruhig, mit einem ziemlich sympathischen Gesicht, etwas bleich, mit breiten Backenknochen, dreistem Blick und weißen, dichten, schmalen Zähnen. Ewig hatte er eine Prise Kautabak hinter der Unterlippe. Übrigens hatten ziemlich viele Arrestanten es sich zur Angewohnheit gemacht, Tabak in den Mund zu nehmen. Er sah jünger aus, als er war: man hielt ihn für dreißig, während er schon vierzig zählte. Wenn er mit mir sprach, so tat er es immer ganz ungezwungen, benahm sich wie ein völlig Gleichstehender, das heißt soviel wie äußerst anständig und taktvoll. Bemerkte er zum Beispiel, daß ich die Einsamkeit suchte, so sprach er nur ein paar Worte mit mir und verließ mich sofort, nachdem er mir jedesmal für die Aufmerksamkeit gedankt hatte, was er sonst niemals und mit keinem einzigen in der ganzen Kátorga tat. Auch war noch eines sonderbar, – daß diese Beziehungen zwischen uns nicht etwa nur in der ersten Zeit, sondern mehrere Jahre lang fortdauerten, ohne daß wir uns dabei merklich nähergetreten wären, obschon er mir tatsächlich und aufrichtig zugetan war. Selbst jetzt vermag ich es mir noch nicht zu erklären, was er eigentlich von mir wollte, und weswegen er jeden Tag zu mir kam. Zwar kam es späterhin auch vor, daß er mich bestahl, doch geschah es von ihm immer – gleichsam „aus Versehen“. Um Geld bat er mich fast nie, folglich ist er nicht des Geldes wegen oder aus sonst einer Berechnung gekommen.
Desgleichen vermag ich nicht zu sagen, aus welchem Grunde es mir fortwährend schien, daß er gar nicht im Ostrogg lebte, sondern irgendwo ganz weit von uns in einem anderen Hause, in der Stadt vielleicht, und den Ostrogg nur im Vorübergehen besuchte, etwa um Neuigkeiten zu erfahren, mit mir ein paar Worte zu wechseln, und so ein wenig zu sehen, wie wir alle es eigentlich machten. Er schien es immer eilig zu haben, ganz als hätte er jemand nur auf einen Augenblick verlassen und werde von ihm erwartet, als wäre er irgendwo mit irgend etwas noch nicht fertig geworden und müsse hineilen, um es zu beenden. Dabei aber schien er sich wiederum doch nicht gar zu sehr zu beeilen. Auch sein Blick war eigentümlich: aufmerksam, unbeweglich, mit einem Schimmer von Dreistigkeit und etwas Spott, doch blickte er dabei, wie es schien, gleichsam in die Ferne, gleichsam durch den Gegenstand hindurch: als bemühte er sich, hinter dem Gegenstande, der vor ihm stand, noch einen anderen, weiter gelegenen zu betrachten. Das verlieh ihm ein zerstreutes Aussehen. Zuweilen gab ich absichtlich acht darauf, wohin Petroff ging, wenn er mich verließ, und wo er denn eigentlich so erwartet wurde. Er aber begab sich von mir eilig in irgend eine Kaserne oder in eine Küche, setzte sich dort neben ein paar anderen hin, die sich unterhielten, hörte ihnen aufmerksam zu, trat mitunter sogar selbst in ein Gespräch, sprach sogar sehr eifrig, bis er dann plötzlich wieder abbrach und verstummte. Doch ob er sprach oder ob er stillschweigend saß, man sah es ihm immer an, daß er es nur so im Vorübergehen tat und dort irgendwo etwas zu tun hatte und erwartet wurde. Am sonderbarsten war aber dabei, daß er überhaupt keine Beschäftigung hatte, er lebte in vollständigem Müßiggang – natürlich abgesehen von der Zwangsarbeit. Ein Handwerk verstand er nicht und auch Geld besaß er fast nie. Doch machte er sich um das Geld auch nicht viel Sorgen.
Worüber er mit mir sprach?
Die Gespräche, die er mit mir anknüpfte, waren ebenso seltsam wie er selbst. Sah er, zum Beispiel, daß ich allein hinter den Kasernen war, so wandte er sich plötzlich hastig zu mir um. Er ging stets schnell und machte brüske Wendungen. Kam er auch im Schritt auf einen zu, so schien es doch, als ob er liefe.
„Guten Tag.“
„Guten Tag.“
„Störe ich Sie nicht?“
„Nein.“
„Ich wollte Sie etwas über Napoleon fragen. Er ist doch ein Verwandter von dem, der im Jahre zwölf in Rußland war?“
Petroff war Kantonist gewesen und hatte Lesen und Schreiben gelernt.
„Ja, er ist sein Neffe.“
„Was ist er denn da für ein Präsident?“
Er fragte immer sehr schnell und kurz, als müsse er möglichst bald das Gewünschte erfahren, als müsse er sich in einer sehr wichtigen Sache, die nicht den geringsten Aufschub duldet, eines besonderen Umstandes vergewissern.
Ich erklärte es ihm, was für ein Präsident Napoleon war, und fügte noch hinzu, daß er vielleicht bald Kaiser werden würde.
„Wie denn das?“
Ich erklärte ihm auch dies, so gut ich konnte. Petroff hörte aufmerksam zu, begriff es vollkommen und begriff schnell, und hielt beim Zuhören wie gewöhnlich das Ohr zu mir geneigt.
„Hm ... Ich wollte Sie, Alexander Petrowitsch, fragen, – ist es wahr, daß es solche Affen gibt, deren Hände, wie man sagt, bis zu den Fersen reichen und die so groß sind wie der größte Mensch?“
„Ja, es gibt solche.“
„Was sind denn das für welche?“
Ich beantwortete ihm, so gut ich konnte, auch diese Frage.
„Und wo leben sie denn?“
„In den heißen Ländern. Auf der Insel Sumatra zum Beispiel.“
„Das ist doch in Amerika, nicht wahr? Aber wie ist das, man sagt, dort sollen die Menschen mit dem Kopf nach unten umhergehen?“
„Nicht mit dem Kopf nach unten ... Sie meinen die Antipoden.“
Ich erklärte ihm, was Amerika ist, wo es liegt und nach Möglichkeit auch, was man unter Antipoden versteht. Er hörte wieder ungewöhnlich aufmerksam zu, ganz als wäre er einzig wegen der Antipoden gekommen.
„Ah so! Aber da hab ich im vergangenen Jahr von der Gräfin Lavallière gelesen, von dem Adjutanten Andrejeff hatte ich das Buch mitgebracht. Ist das nun alles wahr, oder nur so – ausgedacht? Von Dumas geschrieben.“
„Selbstverständlich erdacht.“
Und Petroff verschwand.
Wir haben tatsächlich nie anders gesprochen, als in dieser Weise.
Ich versuchte Erkundigungen über ihn einzuziehen. Als ich M. von meiner neuen Bekanntschaft Mitteilung machte, warnte er mich. Er sagte mir, viele Arrestanten hätten in ihm Furcht erweckt, besonders in den ersten Tagen nach seiner Ankunft im Ostrogg, doch kein einziger von ihnen, nicht einmal Gasin, habe einen so entsetzlichen Eindruck auf ihn gemacht, wie dieser Petroff.
„Er ist der Entschlossenste, der Furchtloseste von ihnen allen,“ sagte M. „Er ist zu allem fähig; er wird vor nichts zurückschrecken, wenn er sich einmal etwas in den Kopf setzt. Er würde auch Sie ermorden, wenn es ihm einmal einfallen sollte, ohne jede Ursache, ganz einfach, weil er eben ermorden will, und er wird dabei weder mit der Wimper zucken noch nachträglich irgend welche Reue darüber empfinden. Ich glaube sogar, daß er nicht bei vollem Verstande ist.“
Diese Auskunft erweckte noch lebhafter mein Interesse. Doch M. wußte selbst nicht zu sagen, warum es ihm so schien. Und sonderbar: noch mehrere Jahre sprach ich mit Petroff fast täglich, und die ganze Zeit war er mir aufrichtig zugetan – obgleich ich entschieden nicht weiß, aus welchem Grunde er es war – und während all dieser Jahre, in denen er übrigens vernünftig und ruhig im Ostrogg lebte und so gut wie nichts Schlechtes beging, überzeugte ich mich doch jedesmal, wenn ich ihn ansah oder mit ihm sprach, daß M. recht hatte und Petroff vielleicht wirklich der entschlossenste und furchtloseste Mensch war, der keine einzige Schranke über sich kannte. Doch warum es mir so schien – darüber vermag ich gleichfalls nicht Rechenschaft zu geben.
Ich muß noch bemerken, daß dieser Petroff es gewesen war, der unseren Platzmajor hatte erstechen wollen, als er bestraft werden sollte: jener wurde nur „durch ein Wunder“, wie die Arrestanten sagten, gerettet, da er gerade noch vor dem kritischen Augenblick davongefahren war. Früher einmal, noch vor der Kátorga, hatte ihn sein Oberst beim Exerzieren geschlagen. Wahrscheinlich war er auch vorher schon geschlagen worden, doch diesmal wollte er es sich nicht wieder gefallen lassen und erstach seinen Oberst mit dem Bajonett, erstach ihn vor der Front, ganz offen, mitten am Tage. Übrigens kenne ich seine ganze Geschichte nicht so genau; er hat sie mir niemals erzählt. Doch das waren natürlich nur kurze Ausbrüche, in denen sich plötzlich seine ganze Natur restlos offenbarte, und diese Ausbrüche waren immerhin sehr selten. Er war sonst wirklich ein verständiger und sogar friedsamer Mensch. Gewiß waren Leidenschaften in ihm, und sogar mächtige, brennende; aber die glühenden Kohlen waren beständig mit Asche bedeckt und glommen unsichtbar. Niemals habe ich auch nur einen Schatten von Prahlerei oder Eitelkeit an ihm wahrgenommen, wie bei den anderen. Selten nur stritt er, doch war er auch mit niemandem besonders befreundet, allenfalls noch mit Ssirotkin, aber auch das nur dann, wenn er seiner bedurfte. Übrigens einmal habe ich ihn doch ernstlich erzürnt gesehen. Man wollte ihm irgend etwas nicht geben, irgend einen Gegenstand, ich glaube, man hatte ihn übervorteilt. Sein Gegner war einer der stärksten Arrestanten, ein großer, händelsüchtiger Spötter und längst kein Feigling, Wassilij Antonoff mit Namen, ein ehemaliger Kleinbürger. Sie hatten schon längere Zeit gestritten und ich fürchtete, daß die Sache kaum mit gewöhnlichen Faustschlägen erledigt werden würde, denn wenn Petroff auch selten stritt und prügelte, so tat er es doch, wenn er es einmal tat, nicht wie die anderen Arrestanten. Diesmal aber kam es anders: Petroff erbleichte plötzlich, seine Lippen erbebten und wurden blau – er atmete schwer. Dann erhob er sich von seinem Platz und näherte sich langsam, ganz langsam, unhörbar mit seinen bloßen Füßen – im Sommer ging er mit Vorliebe barfuß – seinem Widersacher. In der ganzen geräuschvollen Kaserne wurde es still, alles verstummte; selbst das Summen einer Mücke hätte man gehört. Alle warteten darauf, was jetzt geschehen würde. Da sprang Antonoff von seinem Platz auf, sein Gesicht war nicht wiederzuerkennen ... Ich hielt es nicht aus und verließ die Kaserne. Ich glaubte, ich würde kaum über die Schwelle getreten sein ... und der letzte Schrei eines ermordeten Menschen müßte mich erreichen. Doch es kam nicht dazu: Antonoff hatte, noch bevor Petroff an ihn herangekommen war, plötzlich wortlos den Gegenstand ihm zugeworfen. Es handelte sich um ein erbärmliches Stück Zeug, um irgendwelche Fußlappen, wenn ich mich recht entsinne. Natürlich mußte Antonoff ihn jetzt noch etwas ausschimpfen, was er hauptsächlich zur Erleichterung seines Herzens und des Anstandes halber tat, damit die anderen nicht etwa glauben sollten, er habe Angst vor ihm gehabt. Doch Petroff schenkte dem Geschimpfe überhaupt keine Beachtung, ja er antwortete jenem nicht einmal: ihm war es nicht um das Schimpfen zu tun und außerdem war er ja der gewinnende Teil. Er war sehr zufrieden und nahm seine alten Lumpen wieder an sich. Nach einer Viertelstunde strich er schon wie gewöhnlich im Ostrogg umher, mit dem Ausdruck völliger Beschäftigungslosigkeit, und als warte er, ob nicht irgendwo von etwas Interessanterem gesprochen wurde, um dann auch seine Nase hineinzustecken und zuzuhören. Ihn interessierte, wie es schien, alles, doch weiß ich nicht, wie es kam, daß ihn alles im Grunde gleichgültig ließ und er sich nur so umhertrieb, bald hierhin, bald dorthin. Man hätte ihn mit einem Arbeiter vergleichen können, mit einem guten Arbeiter, dem man aber vorläufig keine Arbeit gibt: und da sitzt er denn in Erwartung derselben und spielt mit kleinen Kindern. Auch begriff ich nicht, weshalb er im Ostrogg blieb und nicht entfloh? Er hätte keinen Augenblick gezögert, zu entfliehen, sobald er es nur wirklich gewollt hätte. Solche Menschen, wie Petroff, werden nur solange von der Vernunft regiert, bis sie plötzlich irgend etwas wollen. Dann aber kann sie nichts in der Welt mehr aufhalten. Und ich bin überzeugt, daß er, geschickt und schlau wie er war, zu entfliehen verstanden hätte, und daß es ihm nichts ausgemacht haben würde, eine ganze Woche ohne Brot im Walde oder am Flußufer im Schilf zu verbringen. Augenscheinlich war er jedoch überhaupt noch nicht auf diesen Gedanken gekommen und konnte daher auch nicht so etwas wollen. Eine große Urteilskraft oder ein besonderer Menschenverstand ist mir niemals an ihm aufgefallen. Diese Menschen werden gleichsam mit einer einzigen Idee geboren, die sie ihr ganzes Leben lang bald hierhin, bald dorthin bewegt, und so treiben sie sich ihr ganzes Leben lang umher, bis sie eine Tätigkeit finden, die ihnen vollständig zusagt; dann aber ist es ihnen auch um die Erhaltung ihres Kopfes nicht mehr zu tun. Es wunderte mich, wie ein solcher Mensch, der für gewöhnliche Schläge seinen Oberst aufgespießt hatte, sich bei uns widerspruchslos unter die Ruten legte. Er wurde zuweilen dazu verurteilt, wenn er beim Branntweinschmuggel abgefaßt worden war. Wie alle beschäftigungslosen Arrestanten versuchte auch er es bisweilen, Branntwein durchzuschmuggeln. Doch auch unter die Ruten beugte er sich gleichsam mit seinem vollen Einverständnis, d. h. als hatte er eingesehen, daß es recht war; anderenfalls hätte er es nie und nimmer getan, eher hätte man ihn totschlagen können. Ebenso wunderte es mich, wenn er mich trotz seiner ganzen aufrichtigen Zuneigung bestahl. Er war es auch, der mir meine Bibel stahl, die ich ihm gegeben hatte, damit er sie an ihren alten Aufbewahrungsort bringen sollte. Der Weg war nur wenige Schritte lang, doch trotzdem war es ihm gelungen, unterwegs einen Käufer zu finden, sie zu verkaufen und das Geld sogleich zu vertrinken. Sicherlich muß das Verlangen zu trinken schon gar zu groß in ihm gewesen sein, was er aber sehr wollte, das mußte natürlich getan werden. Ja, das sind solche, die einen Menschen wegen fünfundzwanzig Kopeken ermorden, um für diese Kopeken ein Maß Branntwein trinken zu können, während er zu einer anderen Zeit sich eine Summe von Hunderttausend entgehen läßt. Am Abend desselben Tages meldete er mir noch selbst seinen Diebstahl, tat es aber ohne die geringste Verwirrung oder Reue, vielmehr vollkommen freundlich, als wäre es eine ganz gewöhnliche Mitteilung gewesen. Ich versuchte, ihn gehörig auszuschelten – auch tat mir meine Bibel leid. Er hörte mir in aller Seelenruhe zu, saß ganz friedlich und rührte sich nicht; er gab vollkommen zu, daß die Bibel ein sehr nützliches Buch sei, es tat ihm auch aufrichtig leid, daß ich sie nicht mehr besaß, doch tat es ihm dabei nicht im geringsten leid, daß er sie mir gestohlen hatte. Er sah mich mit einem solchen Selbstbewußtsein an, daß ich sofort aufhörte, ihn zu schelten. Mein Schelten aber nahm er ruhig hin, wahrscheinlich in der Erwägung, daß es doch nicht gut ginge, ihn dafür nicht zu schelten: „folglich mag es nur geschehen“ – mit anderen Worten: „kann er sich ausschimpfen, so beruhigt er sich schneller, also mag er nur; im Grunde aber ist das ja doch nur Unsinn, ein solcher Unsinn, daß ein ernster Mensch sich eigentlich schämen müßte, über so etwas auch noch Worte zu verlieren.“ Ja, es will mir sogar scheinen, daß er mich überhaupt nur für ein Kind gehalten hat, wenn nicht gar für einen noch ganz kleinen Säugling, der nicht einmal die einfachsten Dinge der Welt begreift. Zum Beispiel, wenn ich als erster ihn anredete und nicht von Wissenschaft oder Büchern sprach, so antwortete er mir zwar, doch tat er es gleichsam nur aus Höflichkeit und beschränkte sich auf die kürzesten Erwiderungen. Oft fragte ich mich, wozu er dieser Bücherweisheit bedurfte, in der er sich durch mich gewöhnlich unterrichten ließ. Es kam vor, daß ich ihn während dieser Gespräche nicht selten von der Seite ansah: wollte er sich über mich lustig machen? Doch nein, das war es nicht. Gewöhnlich hörte er mir ernst und aufmerksam zu, aber im Grunde doch nicht allzu aufmerksam, und dieser letztere Umstand verdroß mich nicht selten. Seine Fragen stellte er stets sehr genau, bestimmt, doch über die von mir erhaltene Auskunft schien er sich weiter nicht zu wundern, ja er vernahm sie fast zerstreut. Auch schien es mir, daß er in Bezug auf mich sich überzeugt hatte – und zwar ohne sich lange den Kopf darüber zu zerbrechen –, daß man mit mir nicht wie mit anderen Menschen sprechen könne, daß ich, ausgenommen von Büchern, nichts verstehen würde, ja nicht einmal fähig wäre, zu verstehen, und es sich folglich gar nicht lohne, mich mit anderen Dingen zu beunruhigen.
Und doch bin ich überzeugt, daß er mich sogar wirklich gern hatte, worüber ich nicht wenig erstaunt war. Hielt er mich etwa für einen unausgewachsenen, nicht vollen Menschen, oder hatte er ein besonderes Mitleid mit mir, das jedes starke Wesen instinktiv einem schwächeren gegenüber empfindet, und hatte er mich für ein solches angesehen – ich weiß es nicht. Und wenn ihn alle diese eventuellen Gefühle auch nicht abhielten, mich zu bestehlen, so bin ich doch fest überzeugt, daß er, während er stahl, mich bemitleidete.
„Ach,“ dachte er vielleicht in dem Augenblick, als er sich mein Eigentum aneignete, „was ist denn das für ein Mensch, der nicht einmal für sein Hab und Gut einstehen kann!“
Aber gerade deshalb hatte er mich lieb. Er sagte es mir einmal sogar selbst – wohl halb aus Versehen –, daß ich ein „schon gar zu gutes Herz“ habe, und „Sie sind ein so treuherziger Mensch, so treuherzig, daß man mit Ihnen wirklich nur Mitleid haben kann. Nur müssen Sie das, Alexander Petrowitsch, nicht als Kränkung auffassen,“ fügte er nach einer Minute hinzu, „ich habe es doch nur so gesagt, aus dem Herzen heraus.“
Mit solchen Leuten geschieht es gewöhnlich im Leben, daß sie plötzlich scharf und groß hervortreten und im Augenblick einer großen allgemeinen Aktion oder Revolution ihren vollen Ausdruck finden und mit einem Schlage in ihre eigenste Tätigkeit hineinkommen. Sie sind nicht Männer des Wortes und können nicht die Anstifter oder die Hauptführer der Sache sein, doch dafür sind sie die Hauptvollbringer der Tat und sind die ersten, die anfangen. Sie fangen ganz einfach an, ohne besonderes Aufsehen zu erregen, doch sind sie die ersten, die über das größte Hindernis ohne zu zögern und furchtlos hinübertreten, allen Gefahren entgegen – und siehe, alle stürzen ihnen nach und folgen ihnen blindlings, und so gehen sie bis zur letzten Grenze, bis zur letzten Mauer ... wo sie dann gewöhnlich auch ihre Köpfe niederlegen.
Ich glaube nicht, daß Petroff gut geendet hat. Im Leben dieser Menschen kommt gewöhnlich ein Augenblick, in dem sie mit einemmal alles beenden, und wenn Petroff noch nicht untergegangen war, so sagte das nur, daß sein Augenblick noch nicht gekommen war. Übrigens, was kann man wissen? Vielleicht wird er noch bis zum Silberhaar leben und seelenruhig vor Altersschwäche sterben, bis dahin aber immer noch ziellos hierhin und dorthin schlendern. Aber es scheint mir doch, daß M. recht hatte, als er sagte, Petroff sei der entschlossenste Mensch im ganzen Ostrogg.
Von den entschlossenen Menschen ist schwer etwas Bestimmtes zu sagen. In der Kátorga gab es ihrer, wie überall, ziemlich wenig. Dem Ansehen nach allerdings ist manch einer ein furchterweckender Mensch, und denkt man daran, was von ihm erzählt wird, so geht man im Bogen um ihn herum. Irgend ein unbestimmbares Gefühl veranlaßte mich anfänglich, diese Menschen soviel als möglich zu meiden. Späterhin dagegen habe ich meine Ansicht selbst über die furchtbarsten Mörder geändert. Manch einer, der überhaupt nicht gemordet hatte, war tausendmal furchtbarer, als einer, der wegen sechs Mordtaten verschickt war. Es gab auch Verbrechen, die man sich überhaupt nicht erklären konnte, dermaßen seltsam waren sie. Ich sage dieses hauptsächlich aus dem Grunde, weil bei uns unter dem einfachen Volke viele Verbrechen aus den wunderlichsten Veranlassungen begangen werden. So findet man zum Beispiel sehr häufig folgenden Mördertyp: Der Mensch lebt irgendwo ganz ruhig und friedlich. Er hat es schwer, – er leidet. Nehmen wir an, er ist ein Landbauer, oder ein Höriger, oder ein Bürger, oder auch ein Soldat. Plötzlich ist ihm irgend etwas in die Quere gekommen: er hat es nicht mehr ausgehalten und seinen Feind und Bedrücker erstochen. Nun aber beginnt das Seltsame: der Mensch scheint für eine Zeitlang völlig aus Rand und Band zu sein. Der erste, den er ermordet hat, war sein Feind gewesen; der Mord ist, wenn auch ein Verbrechen, so doch begreiflich, es war eine Veranlassung zu dieser Tat vorhanden. Dann aber tötet er nicht nur seine Feinde, sondern den ersten Besten, tötet nur zu seinem Vergnügen, tötet wegen eines groben Wortes, wegen eines Blickes, oder einfach –: „Aus dem Wege, sollst mir nicht entgegenkommen, ich gehe!“ Als wäre der Mensch plötzlich trunken oder als täte er es halb bewußtlos im Fieber. Ganz als fände er, der schon einmal über die Grenze des heiligen Gebots hinübergesprungen ist, bereits Gefallen daran, daß es für ihn nichts Heiliges mehr gibt; ganz als triebe es ihn, mit einemmal über alle Gesetze und alle Macht hinwegzutreten und in der zügellosesten, unbegrenztesten Freiheit zu schwelgen, zu schwelgen in diesem Ersterben des Herzens vor einem Entsetzen, das er unmöglich vor sich selbst nicht empfinden kann. Zudem weiß er nur zu gut, daß eine furchtbare Strafe ihn erwartet. Sein ganzer Zustand ließe sich vielleicht mit demjenigen eines Menschen auf einem hohen, hohen Turm vergleichen, der sich unwillkürlich in die Tiefe, die er vor seinen Füßen sieht, hinabgezogen fühlt, so daß er selbst schließlich froh wäre, sich mit dem Kopf voran hinunterstürzen zu können: nur hinab, und dann ist es geschehen! Und das findet man sogar bei den friedlichsten und bis dahin unauffälligsten Menschen. Einige von ihnen brüsten sich noch in diesem Zustande: je verschüchterter er früher war, umsomehr will er jetzt anderen Furcht einflößen. Diese Furcht der anderen vor ihm wird ihm fast ein Genuß, und selbst den Ekel, den er in ihnen erweckt, selbst den liebt er geradezu. Er gibt sich den Anschein einer gewissen Tollkühnheit, doch solch ein „Tollkühner“ wünscht mitunter selbst seine Strafe schneller herbei, wünscht, daß man ihn bald „erledige“, denn seine vorgespielte Tollkühnheit wird ihm selbst zuguterletzt schwer zu tragen. Interessant ist dabei gleichfalls, daß diese ganze Großtuerei größtenteils nur genau bis zum Schafott vorhält, dann aber ist sie plötzlich wie abgeschnitten: als wäre diese Frist durch ihre eigenen Gesetze bestimmt. Plötzlich ist der Mensch wie zerschmettert, wie in einen Lappen verwandelt. Auf dem Schafott greint er und bettelt um Verzeihung. Und im Ostrogg kann man sich nur über ihn wundern, wenn man ihn sieht: so ein kleinlautes Kerlchen mit einer schmutzigen Nase, daß man sich ganz erstaunt fragt: „Ist denn das wirklich derselbe, der fünf oder sechs Menschen ermordet hat?“
Natürlich, viele beruhigen sich auch im Ostrogg nicht so bald. Sie behalten immer noch eine gewisse Prahlsucht bei; ihr Gehaben ist, als wollten sie sagen: „Ich bin doch nicht das, was ihr glaubt, ich stehe ‚für sechse‘!“ Aber schließlich ergeben sie sich dennoch. Nur manches Mal erfreut er sich noch an seinen tollen Streichen, am wüsten Treiben, das „einmal in seinem Leben war“, als er noch zu den „Tollkühnen“ gehörte, und wenn er nur einen Neuling findet, erzählt er ihm gern mit der üblichen Wichtigkeit oder Würde von seinen früheren Heldentaten und macht sich mit Vergnügen breit vor ihm, – übrigens ohne es sich auch nur im geringsten anmerken zu lassen, wie gern er sie erzählt. „Seht doch, sozusagen, was ich für ein Mensch bin!“
Und mit welchem Raffinement diese eitle Vorsicht beobachtet wird, wie nachlässig und gleichgültig zuweilen solch eine Erzählung ist! Welch eine geschulte Geckenhaftigkeit sich in dem ganzen Ton und in jedem kleinsten Wort des Erzählers zeigt! Und wo hat dieses Volk das gelernt?
Einmal hörte ich – es war in den ersten Tagen an einem endlosen Abend –, als ich müßig und in quälenden Gedanken auf der Pritsche lag, eine von solchen Erzählungen mit an, und hielt in meiner Unerfahrenheit den Erzähler für einen außergewöhnlichen, schrecklichen Bösewicht, für einen eisernen Charakter, und war nahe daran, in Petroff nur ein Kind im Vergleich zu ihm zu sehen.
Das Thema der Erzählung war, wie er, Luka Kusmitsch, für Null und Nichts, d. h. einzig zu seinem persönlichen Vergnügen, einen Major „niedergemacht“ hatte. Dieser Luka Kusmitsch war dasselbe kleine, magere Männlein mit der spitzen Nase, ein junger Arrestant unserer Kaserne, von dem ich schon einmal gesprochen habe. Er war Kleinrusse, oder vielmehr Großrusse und nur im Süden geboren, als Höriger oder Leibeigener, glaube ich. In dem ganzen Kerlchen war etwas Spitzes, Anmaßendes: „Klein ist das Vöglein, doch scharf sind die Krallen.“ Die Arrestanten aber durchschauen den Menschen instinktiv. Er wurde wenig geachtet, oder wie man in der Kátorga sagte: „Seiner wurde wenig geachtet.“ Er war ungeheuer selbstgefällig.
An jenem Abend saß er auf der Pritsche und nähte an einem Hemd. Das Wäschenähen war sein Handwerk. Neben ihm saß ein stumpfsinniger beschränkter Bursche, der aber sonst ein gutmütiger und freundlicher, großer und starker Junge war, Luka Kusmitschs Nachbar auf der Pritsche, der Arrestant Kobylin. Infolge ihrer Nachbarschaft stritt Lutschka sehr oft mit ihm und behandelte ihn überhaupt von oben herab, spöttisch und despotisch, was Kobylin in seiner Einfalt teilweise überhaupt nicht bemerkte. Er strickte einen wollenen Strumpf und hörte seinem Nachbar Lutschka gleichmütig zu. Dieser aber erzählte ziemlich laut und deutlich. Ersichtlich wünschte er, von allen gehört zu werden, obgleich er sich den Anschein zu geben bemühte, als erzähle er nur seinem Kobylin.
„So, mein Lieber, wurde ich fortgeschickt aus unserer Gegend,“ begann er und zog seine Nähnadel durch das Zeug, „nach Tsch–ff, wegen Landstreicherei, sozusagen.“
„Wann war denn das, – schon lange?“ fragte Kobylin.
„So wenn die Erbsen reif werden, wird es immer schon das zweite Jahr sein ... Nu und wie wir nach K. ankamen, wurde ich auf kurze Zeit dort selbentlich in den Ostrogg eingesperrt. Ich sehe, was sitzt denn da mit mir? Es waren aber nur so zwölf Stück, alles Kleinrussen, groß, gesund, kräftig, wie die Ochsen. Und dabei so artig. Das Essen war schlecht, und ihr Major, der macht mit ihnen, was er will, wie es seiner Gnaden vorgefällt (Lutschka verdrehte das Wort mit Absicht, er wußte sehr gut, wie es richtig war). Sitze da einen Tag, sitze noch einen, sehe: gar keine Courage in dem Volk. – ‚Warum laßt ihr euch von diesem Esel alles gefallen?‘ frage ich sie.
‚Geh doch du mit ihm sprechen!‘ Und sie lachen noch über mich. Ich schweige. Unter ihnen aber war ein spaßiger Kleinrusse, – ja, von dem muß ich euch doch noch erzählen!“ unterbrach er sich plötzlich, diesmal an alle sich wendend, und nicht mehr wie vorher, als er scheinbar nur zu Kobylin allein sprach. „Er erzählte uns, wie er verurteilt worden war und wie er mit dem Gericht gesprochen hatte, selbst aber weinte er nur so dabei; Kinder und Weib, sagte er, habe er zurückgelassen. Selbst ist er so ein Stämmiger, ganz grau schon und dick. ‚Ich,‘ sagte er, ‚sage ihm: nein! bin unschuldig! Er aber, das Teufelskind, er schreibt und schreibt. Da schreie ich: daß der krepiert, bin unschuldig! Er aber schreibt und schreibt und schreibt noch mehr! ... Und da war es aus mit mir!‘ – Wasjka, gib mir da mal einen Faden her: diese verfluchten sind alle verfault.“
„Vom Markt gekauft,“ brummte Wasjka und gab ihm einen Faden.
„Unser Rollgarn, das wir in der Werkstatt haben, ist viel besser. Von hier aber wurde wieder der Nevalid geschickt, wer kann wissen, von was für einem Schandweibe er da immer kauft!“ fuhr Lutschka fort, indem er die Nadel gegen das Licht hielt und den Faden einzufädeln suchte.
„Bei seiner Gevatterin natürlich.“
„Natürlich bei seiner Gevatterin.“
„Aber wie blieb es denn mit dem Major?“ fragte nach einiger Zeit Kobylin.
Darauf hatte Lutschka nur gewartet. Einstweilen aber setzte er seine Erzählung nicht sobald fort, ja er schien Kobylin nicht einmal seiner Beachtung zu würdigen. Ruhig machte er seinen Faden zurecht, ruhig und gleichsam faul änderte er ein wenig die Stellung seiner Schneiderbeine unter sich und dann erst fuhr er endlich fort:
„Es gelang mir zu guterletzt doch noch, meine Kleinrussen etwas aufzuwiegeln, der Major wurde hinverlangt. Ich hatte mir schon am Morgen von einem anderen ein Messer verschafft und im Stiefelschaft versteckt, sozusagen für alle Fälle. Der Major war über unsere Forderung in helle Wut geraten. Er kommt. Nu, sage ich, verliert nicht den Mut! Aber denen war das Herz schon in die Hosen gefallen, sie zittern alle nur so. Da kommt der Major hereingestürzt, betrunken, wie ich sehe, und schreit: ‚Wer ist hier! Wie ist es hier! Hier bin ich Zar, hier bin ich Gott!‘
Wie er so gesagt hatte: ‚hier bin ich Zar, hier bin ich Gott!‘ trat ich etwas vor,“ fuhr Lutschka fort, „das Messer hatte ich im Ärmel.
‚Nein,‘ sage ich, ‚Euer Gnaden,‘ selbst aber schiebe ich mich langsam immer näher und näher, ‚nein, wie kann denn das sein,‘ sage ich, ‚daß Euer Gnaden bei uns Zar und Gott sind?‘
‚Ah, so bist du es, also du bist es,‘ schrie der Major, ‚du bist der Anstifter!‘
‚Nein,‘ sage ich und dabei komme ich ihm immer näher, ‚nein,‘ sage ich, ‚Euer Gnaden wissen doch selbst, daß unser allmächtiger und allgegenwärtiger Gott nur einer ist,‘ sage ich. ‚Und unser einziger Zar ist über uns alle von Gott selbst eingesetzt. Er ist, Euer Gnaden,‘ sage ich, ‚ein Monarch. Euer Gnaden aber,‘ sage ich, ‚sind nur ein Major – unser Vorgesetzter durch des Zaren Gnade,‘ sage ich, ‚und Eurer Gnaden eigene Verdienste.‘
‚Was, was, was wie?‘ gackerte er nur noch, sprechen konnte er nicht mehr, die Luft ging ihm aus. Er war doch gar zu erstaunt.
‚Ja, das ist schon so,‘ sage ich, und wie ich mich auf ihn stürzte, stieß ich ihm das Messer gleich bis an den Griff in den Bauch. Es war gewandt geschehen. Er fiel hin wie gemäht und zappelte nur noch einmal mit den Beinen. Ich warf das Messer fort.
‚So,‘ sagte ich, ‚jetzt hebt ihn auf!‘“
Hier muß ich meinerseits eine Erklärung hinzufügen. Leider waren solche Ausdrücke wie: „Hier bin ich Zar, hier bin ich Gott!“ und noch viele andere ähnliche in früheren Zeiten bei vielen Kommandeuren in häufigem Gebrauch. Doch muß ich bemerken, daß es solcher Kommandeure heute nur noch sehr wenige gibt, vielleicht sind sie auch schon alle ausgestorben. Zudem waren die Kommandeure, die sich dieser Ausdrücke mit Vorliebe bedienten, meistens Leute aus niedrigerem Stande und Range, die sich später emporgedient hatten. Der Offiziersrang schien gleichsam ihren ganzen Menschen umzukehren, den Kopf natürlich gleichfalls. Nachdem sie lange unter der Fuchtel gedient haben, werden sie eines Tages selbst Offiziere, Vorgesetzte, Kommandeure, sie werden geadelt, und so vergrößern sie, da sie an eine solche Ehre gar nicht gewöhnt waren, im ersten Rausch ganz unwillkürlich die Vorstellung von ihrer Macht und Bedeutung, doch selbstverständlich nur in Bezug auf ihre Untergebenen. Vor ihren Vorgesetzten sind diese Leute stets von ungewöhnlicher Unterwürfigkeit, die jetzt durchaus nicht mehr angebracht und vielen Kommandeuren höchst widerlich ist. Manche treiben es sogar so weit, daß sie sich mit einer ganz besonderen Rührung beeilen, ihrem hohen Vorgesetzten baldmöglichst zu versichern, daß sie, die ja doch aus Subalternen hervorgegangen sind, ihren früheren Rang nicht vergessen werden und sich auch als Offiziere nicht den anderen Offizieren gleichstellen wollen. Anders ist ihr Verhalten zu ihren Untergebenen: diesen gegenüber sind sie die größten Tyrannen. Doch heute gibt es, wie gesagt, wohl kaum noch solche Kommandeure, und schwerlich dürfte sich einer finden, der noch sagen könnte: „Ich bin Zar, ich bin Gott.“ Nichtsdestoweniger will ich doch darauf aufmerksam machen, daß nichts einen Arrestanten oder überhaupt einen Untergebenen so reizt und empört, wie derartige Äußerungen Vorgesetzter. Diese Unverschämtheit in der Selbsterhöhung, diese übertriebene Meinung von seiner Unbestrafbarkeit erweckt selbst im gefügigsten Menschen Haß und Wut und bringt ihn um seine letzte Geduld. Zum Glück gehören diese Zustände schon der Vergangenheit an und selbst damals sind solche Fälle streng geahndet worden, was ich selbst früher miterlebt habe.
Überhaupt kann man sagen, daß jede verächtliche Nachlässigkeit, jede unangebrachte Überhebung die niedrigeren Klassen viel tiefer kränkt und viel mehr aufreizt, als man glaubt. Viele sind der Meinung, daß die Obrigkeit, wenn sie einen Sträfling nur gut ernährt, gut hält und in allem das Gesetz beobachtet, damit alles tut. Das ist aber ein großer Irrtum. Ein jeder Mensch, wer er auch sei und wie tief er auch erniedrigt wäre, verlangt doch – wenn auch instinktiv, unbewußt – Achtung vor seiner Menschenwürde. Der Arrestant weiß es selbst, daß er ein Arrestant ist, ein Ausgestoßener, und kennt seine Stellung seinem Vorgesetzten gegenüber; doch gibt es weder solche Brandmale noch solche Fesseln, mit denen man ihn vergessen machen könnte, daß er ein Mensch ist. Und da er in der Tat ein Mensch ist, so muß man ihn auch danach behandeln. Mein Gott! – kann man doch mit einer menschlichen Behandlung auch solche noch zu Menschen machen, in denen jeder Funke Gottes bereits längst erloschen ist. Gerade mit diesen „Unglücklichen“ muß man am menschlichsten umgehen. Das ist ihre Rettung und Freude. Ich habe gute, edle Kommandeure gesehen, ich habe auch den Eindruck gesehen, den sie auf diese Erniedrigten machten. Nur ein paar freundliche Worte – und die Arrestanten waren fast wie sittlich auferstanden. Sie freuten sich wie Kinder und wie Kinder fingen sie an zu lieben. Doch will ich zum Schluß noch eine recht auffallende Erscheinung erwähnen: eine familiäre, eine allzu gute Behandlung seitens der Vorgesetzten gefällt dem Arrestanten durchaus nicht. Er will seinen Vorgesetzten achten, in diesem Falle kann er ihn aber unwillkürlich nicht mehr achten. Der Arrestant hat es sehr gern, wenn sein Vorgesetzter Orden besitzt, wenn er eine gute Erscheinung ist, wenn er bei einer hohen Persönlichkeit, einem hohen Kommandierenden in Gunst steht, wenn er streng und ernst ist und gerecht, und auch seine Würde bewahrt. Solche Vorgesetzte liebt der Sträfling am meisten: er weiß also, was er sich schuldig ist, und hat der andere auch ihn, den Arrestanten, nicht verletzt, so ist alles gut und schön.
„Dafür haben sie dich dann auch gründlich gebraten, was?“ fragte ruhig Kobylin.
„Hm! Gebraten ... Gebraten haben sie mich schon. Alei, gib mir mal die Schere her! Wie kommt es denn, daß es heute keine Spielhölle gibt?“
„Sie haben heute ihr Vermögen versoffen,“ bemerkte Wassjä. „Wenn sie es nicht versoffen hätten, dann würden sie jetzt wohl Karten klopfen.“
„Wenn! Für das ‚wenn‘ gibt man auch in Moskau hundert Rubel,“ meinte Lutschka.
„Aber wieviel gab man denn dir, Lutschka, alles in allem?“ fragte Kobylin, wieder auf das alte Thema zurückkommend.
„Mir gab man, lieber Freund, hundertundfünf. Und was ich euch noch sagen wollte,“ fuhr Lutschka plötzlich wieder zu allen gewandt fort, „– man hätte mich ja damals beinahe totgeschlagen. Nachdem ich zu den Hundertundfünf verurteilt worden war, wurde ich in voller Parade hingebracht. Bis dahin hatte ich aber Hiebe noch niemals kennen gelernt. Volks war eine Menge hingelaufen, die ganze Stadt war da: ein Verbrecher wird bestraft, ein Mörder, sozusagen. Denn wie dumm doch so’n Volk ist, das weiß ich wirklich gar nicht mehr zu sagen. Timoschka[4] zog mir die Kleider ab, legte mich hin, – plötzlich schreit er: ‚Halt dich fest, es brennt.‘ Ich warte: was wird nun kommen? Wie er mir das erstemal überzog, – ich wollte wohl schreien, ich machte wohl den Mund auf, aber es war kein Schrei in mir drin. Die Stimme war, sozusagen, stecken geblieben. Wie er das zweitemal überzog, nun, glaub oder glaub nicht, aber ich hörte gar nicht mehr, wie ‚zwei‘ gezählt wurde. Als ich aber wieder aufwachte, hörte ich, wie gezählt wird: siebzehn! Und so werde ich viermal von der Bank heruntergenommen, auf eine halbe Stunde zur Erholung: wurde mit Wasser begossen. Da glotzte ich sie nun alle an mit aufgerissenen Augen und denke so: ‚jetzt stirbst du‘ ...“
„Und bist doch nicht gestorben?“ fragte Kobylin naiv.
Lutschka besah ihn sich einmal mit unbeschreiblich verächtlichem Blick. Man lachte.
„Das war ’n Spaß!“
„In seiner Dachstube scheint’s nicht ganz richtig zu sein,“ bemerkte Lutschka, als bereue er es, mit diesem Menschen überhaupt gesprochen zu haben.
„Der hat eins weg,“ stimmte auch Wassjä bei.
Lutschka hatte zwar sechs Menschen umgebracht, doch im Ostrogg fürchtete ihn niemand, obschon es vielleicht sein größter Wunsch war, als „fürchterlicher“ Mensch zu gelten ...
Das Weihnachtsfest rückte heran. Die Arrestanten erwarteten es geradezu mit einer gewissen Feierlichkeit, und angesichts dieser Feierlichkeit begann auch ich etwas Ungewöhnliches zu erwarten. Vier Tage vor dem Fest wurden wir ins Bad geführt. Zu meiner Zeit, namentlich in den ersten Jahren, die ich im Ostrogg verbrachte, wurden die Sträflinge nur selten ins Bad geführt. Alles freute sich und ein jeder traf seine Vorkehrungen. Wir sollten nach dem Essen aufbrechen, und an diesem Nachmittage wurde nicht mehr gearbeitet. Am meisten aber freute sich in der ganzen Kaserne – Issai Fomitsch Bummstein, unser Jude, von dem ich schon einmal gesprochen habe. Er nahm seine Dampfbäder bis zur Abstumpfung jedes Lebensgefühls, bis zur halben Bewußtlosigkeit, und jedesmal, wenn ich jetzt noch die alten Erinnerungen durchlebe und bei der Gelegenheit auch an dieses Arrestantenbad denke (das aber auch wirklich wert ist, nicht vergessen zu werden), so tritt unwillkürlich als erstes die Gestalt meines unvergeßlichen Kátorga- und Kasernengenossen Issai Fomitsch aus dem ganzen Bilde hervor. Gott, wie unsäglich komisch und spaßig dieser Mensch war! Über sein Äußeres habe ich schon einiges gesagt: fünfzig Jahre alt, schwächlich und verrunzelt, mit den fürchterlichsten Brandmälern auf den Wangen und der Stirn, mager, ausgemergelt und mit einem weißen Hühnerkörper. Sein Gesichtsausdruck war – durch nichts zu erschütternde Selbstzufriedenheit, ja sogar Seligkeit, wenn man will. Ich glaube, er bedauerte es nicht im geringsten, in die Kátorga geraten zu sein. Da er Juwelier war und es in der Stadt keinen Juwelier gab, so arbeitete er beständig für die Herrschaft und die Beamtenschaft in der Stadt in seinem Handwerk. Dafür wurde ihm immerhin etwas gezahlt. Jedenfalls litt er nicht Not, ja er lebte nach Ostroggbegriffen sogar „reich“, doch sparte er sein Geld und lieh es auf Pfänder dem ganzen Ostrogg, selbstverständlich gegen sehr hohe Prozente. Er besaß einen eigenen Ssamowar, eine gute Matratze, Tassen und ein ganzes Eßgeschirr. Die Juden der Stadt verließen ihn auch nicht mit ihrer Bekanntschaft und Gönnerschaft. Jeden Sonnabend ging er mit einer Eskorte in das städtische Bethaus – was vom Gesetz den Gefangenen erlaubt ist – und lebte glücklich und zufrieden, und erwartete nur mit Ungeduld die Beendigung seiner zwölfjährigen Strafzeit, um dann zu „aheiraten“. Es war in ihm eine unsäglich komische Mischung von Naivität, Dummheit, Schlauheit, Frechheit, Gutmütigkeit, Zaghaftigkeit, Prahlsucht und offenbarer Gemeinheit. Es wunderte mich, daß die Arrestanten ihn gar nicht verspotteten, höchstens ihn einmal zur Belustigung etwas neckten. Issai Fomitsch diente augenscheinlich der ganzen Gesellschaft zur Zerstreuung und ewigen Erheiterung. „Laßt unseren Issai Fomitsch in Ruh, er ist unser einziger!“ sagten sie lachend, und Issai Fomitsch, der sehr gut begriff, um was es sich handelte, war ersichtlich stolz auf seine Bedeutung, was die Arrestanten nicht wenig belustigte. Seine Ankunft im Ostrogg, noch vor mir, muß zum Sterben komisch gewesen sein. Man hat sie mir später geschildert.
Eines schönen Tages verbreitete sich im Ostrogg kurz nach der Rückkunft der Arrestanten von der Nachmittagsarbeit das Gerücht, daß man einen Juden gebracht habe, ihn in der Wachstube soeben rasiere, und daß er sofort erscheinen würde. Bis dahin hatte es in unserem Ostrogg noch keinen Juden gegeben. Die Arrestanten erwarteten ihn in größter Ungeduld und umringten ihn sofort, kaum daß er durch das Tor eingetreten war. Der Unteroffizier führte ihn in die Kaserne und wies ihm einen Platz auf der Pritsche an. Im Arm hielt Issai Fomitsch einen Sack, in dem er die ihm eingehändigten Arrestantenkleider und seine eigenen Habseligkeiten untergebracht hatte. Zaghaft stellte er den Sack hin, kletterte behende auf die Pritsche, setzte sich und zog geschwind die Beine unter, ohne dabei in seiner Angst zu wagen, auch nur einmal aufzublicken. Rings um ihn standen die Arrestanten, lachten und machten ihre Witze über das Häufchen Unglück und namentlich über seine hebräischen Vorzüge. Plötzlich drängte sich durch den dichten Haufen ein junger Arrestant, mit seinen ältesten, schmutzigen und zerrissenen Sommerhosen und einem Paar alter Fußlappen unterm Arm, die zum Überfluß noch Staatseigentum waren. Er setzte sich neben Issai Fomitsch auf die Pritsche und schlug ihn auf die Schulter:
„Na, alter Freund, dich hab ich ja grad schon sechs Jahre lang erwartet. Sieh mal, hier – was gibst du dafür?“
Und er hielt ihm die mitgebrachten Lumpen hin.
Issai Fomitsch, der seit dem Eintritt in den Ostrogg dermaßen verschüchtert war, daß er nicht einmal seinen Blick bis zu diesen höhnischen, verunstalteten, entsetzlichen Gesichtern der ihn wie eine Mauer umringenden furchtbaren Gesellen zu erheben und in seiner Angst noch keinen Laut von sich zu geben gewagt hatte, – fuhr beim Anblick eines Pfandes wie neubelebt auf und begann gewandt die Lumpen zu untersuchen: er hielt sie prüfend gegen das Licht und befühlte sie geschäftig von allen Seiten. Alle warteten, was er sagen würde.
„Na, einen Rubel in Silber wirst du wohl nicht geben? Und doch sind sie ja noch mindestens soviel wert!“ fuhr der Arrestant fort und blinzelte dem Issai Fomitsch zu.
„Einen Ssilberrubel kann ich nich, aber ich werd geben sieben Kopeken.“
Das waren die ersten Worte, die Issai Fomitsch im Ostrogg gesprochen hatte. Alles wälzte sich vor Lachen.
„Sieben! Na, dann gib die sieben meinetwegen her. Hast du aber heute Glück! Sieh nur zu, daß du das Pfand gut aufbewahrst, du haftest mir mit deinem Kopf dafür!“
„Und Perzent noch drei Kopeken, macht zehn Kopeken,“ fuhr das Jüdchen mit zitternder Stimme fort, indem er die Hand in die Tasche versenkte und ängstlich nach allen Seiten lugte. Groß war seine Angst, aber noch größer war die Lust, das Geschäftchen abzuwickeln.
„Wie, für das ganze Jahr drei Kopeken Prozent?“
„Nein, nicht fir ’n ganzen Jahr, fir ’n Monat wird’s sein.“
„Du bist ein Knicker, Israel. Übrigens, wie heißt du?“
„Issai Fomitz.“
„Na, Issai Fomitsch, du wirst es bei uns noch weit bringen. Leb wohl.“
Issai Fomitsch besah noch einmal das Pfand, faltete es dann sorgfältig zusammen und schob es in seinen Sack, – unter dem anhaltenden Gelächter der übrigen.
Man hatte ihn tatsächlich gewissermaßen gern und niemand tat ihm etwas zuleide, obgleich sie ihm alle schuldeten.
Friedfertig war er wie ein Huhn, und da er die allgemeine Zuneigung zu sich sehr wohl bemerkte, schöpfte er bald Mut, tat es aber mit so einfältiger Komik, daß ihm sofort alles verziehen wurde. Lutschka, der in seinem Leben viele Juden gekannt hatte, zog ihn nicht selten auf, doch tat er es ohne jede Bosheit, einfach nur so, zur Zerstreuung, ungefähr wie man mit einem Hündchen spielt, mit einem Papagei, mit abgerichteten Tieren, oder ähnlichen Dingen, was Issai Fomitsch sehr wohl merkte, weshalb er sich auch nie gekränkt fühlte, und worauf er sogar sehr schlagfertig zu entgegnen wußte.
„Ei, Jude, sieh dich vor, ich werde dich noch durchhauen!“
„Sslägst du mir einmal, so sslag ich dir zehnmal,“ versetzte Issai Fomitsch kreuzfidel.
„Du Lausbub!“
„Meinetwegen auch e Lausbub, kann nicht schaden.“
„Grindiger Jude!“
„Warum soll mir nicht sein auch grindig? Wenn auch grindig, so doch reich! Wenn man nur Kopekens hat.“
„Hast Christus verkauft!“
„Meinetwegen. Warum auch nicht.“
„Bravo, Issai Fomitsch, du hast den Mund auf dem rechten Fleck! Laßt unseren Issai Fomitsch in Ruh, er ist unser einziger!“ schreien lachend die Arrestanten.
„Ei, Jude, wirst dir noch die Peitsche verdienen, nach Sibirien kommen.“
„Fir was, da sein mir schon.“
„Wirst noch weiter fortgeschickt werden.“
„Warum nich. Is Gott der Herr auch dort ssu Haus?“
„Zu Haus ist er dort schon ...“
„Nu, is gutt. Hat man nur Gott den Herrn und Kopekens, so wird sein iberall gutt ssu leben.“
„Bravo, Issai Fomitsch, da sieht man, daß du ein wackerer Bursch bist!“ riefen ihm die anderen lachend zu – und wenn Issai Fomitsch auch sieht, daß über ihn gelacht wird, so ist er doch mutig und stolz.
Das allgemeine Lob bereitet ihm offenbar Vergnügen und hebt seine Lebensgeister dermaßen, daß er plötzlich mit seiner dünnen Falsettstimme aus der höchsten Fistel zu singen beginnt: lä lä lä lä lä! – irgend ein verrücktes und urkomisches Motiv, das einzige Lied – ohne Worte, – das er während der ganzen Dauer seiner Kátorga gesungen hat. Als er mit mir späterhin etwas näher bekannt wurde, versicherte er mir hoch und heilig, ja er schwor sogar, daß dieses Lied jenes selbe sei, das alle sechsmalhunderttausend Juden, der kleinste wie der größte, beim Durchmarsch durch das rote Meer gesungen hätten, und daß das Gesetz jedem Israeliten befehle, dieses Lied im Augenblick des Triumphes über die besiegten Feinde mit lauter Stimme zu singen.
An jedem Freitagabend kamen viele in unsere Kaserne zum Besuch, um zu sehen, wie Issai Fomitsch betete. Issai Fomitsch war dermaßen naiv eitel und ruhmsüchtig, daß diese allgemeine Neugier ihm gleichfalls Vergnügen bereitete. Mit pedantischer und übertriebener Wichtigkeit deckte er in der Ecke sein winzig kleines Tischchen, schlug sein Gebetbuch auf, zündete zwei Talglichte an und begann dann, unter dem Gemurmel von irgendwelchen geheimnisvollen Worten, sich in sein Betgewand einzuhüllen. Das war eine Art Überwurf aus buntem Wollenstoff, den er sorgfältig in seinem Kasten aufbewahrte. Er versah seine beiden Hände mit Handfesseln und auf dem Kopf, mitten auf der Stirn, befestigte er mittels eines Bandes ein kleines hölzernes Kästchen, so daß es aussah, als wüchse aus der Stirn Issai Fomitschs ein sonderbares Horn hervor.
Darauf begann das Beten. Er las in singendem Ton, schrie, spie, drehte sich um seine eigene Achse, machte wilde und sehr komische Gesten. Natürlich war das alles nach dem Ritus des Gebets vorgeschrieben und es wäre auch nichts Lächerliches oder Seltsames dabei gewesen: es war nur das bewußte Spiel Issai Fomitschs, der geschmeichelt uns freudig seine Vorstellung gab, und daß er auf seinen ganzen Ritus so stolz war, was so unsäglich komisch wirkte. Entweder bedeckt er plötzlich seinen Kopf mit beiden Händen und liest wie eine Maschine; das Schluchzen wird immer stärker, bis er schließlich, wie in Schmerz vergehend, aufheulend mit dem horngeschmückten Kopf auf sein Buch niederfällt. Doch mitten in der größten Verzweiflung, im stärksten Geheul – bricht er plötzlich in frohlockendes Gelächter aus und halb singend liest er weiter mit einer in übergroßer Seligkeit gleichsam vergehenden Stimme.
„Dem geht es aber nah!“ meinten dann die Arrestanten unter sich.
Einmal fragte ich Issai Fomitsch, was dieses Schluchzen und dieser plötzliche Übergang zu Glück und Seligkeit zu bedeuten hatten. Solche Fragen von mir waren ihm äußerst angenehm und er erklärte mir sofort, daß das Weinen und Heulen den Gedanken an den Verlust Jerusalems bedeute und daß ihr Gesetz ihnen vorschreibe, bei diesem Gedanken so laut als möglich zu schluchzen und sich vor die Brust zu schlagen. Im Augenblick des größten Schmerzes aber müsse er sich gleichsam unwillkürlich und ganz plötzlich – diese Plötzlichkeit sei gleichfalls durch das Gesetz vorgeschrieben, – erinnern, daß es eine Prophezeiung von der Rückkehr aller Juden nach Jerusalem gebe. Dann müsse er sofort in Freudegeschrei, Lieder und frohlockendes Gelächter ausbrechen und die Gebete mit einer Stimme, die möglichst viel Glück, und mit einem Gesicht, das möglichst viel Feierlichkeit und Edelmut ausdrückt, weiterlesen. Dieser plötzliche Übergang und das unbedingte Muß dieses Überganges gefielen Issai Fomitsch ungeheuer: er sah darin ein ganz besonders kniffliches Kunststück und teilte mir mit auffallend selbstbewußter Miene diese außerordentliche geistliche Vorschrift seines Gesetzes mit.
Einmal aber geschah es, daß der Major mit dem Offizier du jour und seiner Begleitmannschaft genau in dem Augenblick die Kaserne betrat, als Issai Fomitschs Beteifer den Gipfelpunkt erreicht hatte. Alle Arrestanten bildeten sofort Front vor ihren Pritschen und standen unbeweglich, nur Issai Fomitsch Bummstein schrie und fuchtelte wie besessen mit den Armen. Er wußte, daß das Gebet erlaubt war und nicht unterbrochen werden durfte und daß folglich er, Issai Fomitsch, nichts zu fürchten hatte, wenn er vor dem Major auch noch so toll sich gebärdete. Und außerdem war es ihm sehr angenehm, sich in seinem ganzen Glanze dem Herrn Major und zugleich auch uns zeigen zu können. Der Major trat bis auf einen Schritt an ihn heran: Issai Fomitsch drehte seine Rückseite zum Tisch und begann dem Major ins Gesicht, fuchtelnd und halb singend, seine feierliche Prophezeiung vorzulesen. Da es nun seine Pflicht war, während dieses Teiles des Gebets möglichst viel Glückseligkeit und Stolz auszudrücken, so ließ er es sich sofort angelegen sein, das Gebet tadellos zu erfüllen: er strahlte förmlich, er blinzelte, lachte und nickte dem Major verheißungsvoll zu.
Der Major war baff – dann wunderte er sich und schließlich brach er in schallendes Gelächter aus, nannte ihn einen Esel und verließ die Kaserne, begleitet von Issai Fomitschs noch größerem Geschrei.
Nach einer Stunde, als er bereits bei seinem Abendessen saß, fragte ich ihn, was er getan hätte, wenn unser Platzmajor in seiner Dummheit über sein Gebet in Wut geraten wäre.
„Was fir ’n Platzmajor?“
„Wieso – was für einer? – Habt Ihr ihn denn nicht gesehen?“
„Nein.“
„Aber er stand ja dicht vor Euch, gerade vor Euren Augen.“
Doch Issai Fomitsch beteuerte mit dem ernstesten Gesicht, er habe unseren Platzmajor tatsächlich nicht gesehen, er gerate während des Gebets in eine solche Ekstase, daß er dann nichts mehr von dem sehe oder höre, was um ihn her vorgehe.
Als stände er vor mir, so lebhaft erinnere ich mich Issai Fomitschs, wie er Sonnabends beschäftigungslos im ganzen Ostrogg umherstrich, aus allen Kräften bemüht, nichts zu tun, wie es das Gesetz für den Sabbath vorschreibt. Welche unerhörten Geschichten erzählte er mir jedesmal, wenn er aus seinem Bethaus zurückkehrte, welche überphantastischen Gerüchte aus Petersburg teilte er mir flüsternd mit, unter der dreifachen Versicherung, er habe es von „seine Leut“ gehört und jene wiederum hätten es aus der sichersten Quelle!
Doch ich rede schon allzuviel von Issai Fomitsch.
In der ganzen Stadt gab es nur zwei öffentliche Bäder. Das erste, das ein Jude unterhielt, war in einzelne Baderäume eingeteilt und jede Nummer kostete fünfzig Kopeken, – war also nur für die besseren Stände bestimmt. Das andere dagegen war nur für das einfache Volk, eine alte, schmutzige, enge „Badestube“, – und dorthin wurden auch die Arrestanten geführt.
Der Tag war kalt und sonnig, die Arrestanten freuten sich schon darüber, daß sie einmal aus der Festung herauskommen und die Stadt sehen würden. Scherze und Lachen hörten unterwegs nicht auf. Ein ganzer Zug Soldaten begleitete uns mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett, zum staunenden Entzücken der ganzen Stadt. Beim Bade angelangt, wurden wir sogleich in zwei Abteilungen getrennt: die zweite mußte solange im kalten Vorzimmer der Badestube warten, bis die erste sich gewaschen hatte, anders war es infolge des engen Raumes nicht zu machen. Doch dessen ungeachtet war die Stube noch viel zu klein, so daß man sich überhaupt nicht vorstellen konnte, wie selbst die Hälfte von uns in ihr Platz finden sollte. Aber Petroff verließ mich nicht: er half mir, ohne daß ich ihn darum gebeten hätte, mich zu entkleiden und erbot sich sogar, mich zu waschen. Zusammen mit Petroff erbot sich auch Bakluschin, mir behilflich zu sein. Das war jener Arrestant aus der besonderen Abteilung, der bei uns der „Pionier“ genannt wurde und dessen ich schon Erwähnung getan habe als des lustigsten und sympathischsten unter ihnen allen, der er auch wirklich war. Ich war mit ihm schon ein wenig bekannt geworden.
Petroff half mir also, mich zu entkleiden, denn ich hatte noch keine Übung darin und so ging es denn sehr langsam. In der Vorstube aber war es kalt, – fast ebenso kalt wie draußen. Ich muß hier bemerken, daß das An- und Auskleiden einem darin ungeübten Arrestanten sogar sehr schwer fällt. Erstens mußte man verstehen, die sogenannten Fußschoner schnell aufzuschnüren. Diese Fußschoner waren aus Leder gemacht, etwa zwanzig Zentimeter lang und wurden über der Wäsche getragen, und gerade unter dem breiten Eisenring, der den Fuß umfaßte. Ein Paar solcher Fußschoner kostete nicht weniger als sechzig Kopeken in Silber und dennoch schaffte sie sich ein jeder Arrestant an, natürlich aus eigenen Mitteln, denn ohne sie wäre es für ihn nicht möglich gewesen, zu gehen. Der eiserne Fußring der Fesseln umfaßt das Gelenk nicht so eng, daß eine Reibung vermieden werden könnte: zwischen dem Ring und dem Fuß kann man noch einen Finger durchschieben, folglich reibt der Ring beim Gehen, und so hätte der Arrestant ohne lederne Fußschoner schon nach einem Tage wundgeriebene Füße gehabt. Aber das Aufschnüren dieser Fußschoner ist noch nicht das schlimmste! Viel schwieriger ist es, zu lernen, die Wäsche unter den Fesseln gewandt abzustreifen. Das war ein regelrechtes Kunststück. Machte man sich an das Ausziehen der Unterbeinkleider, so mußte man zuerst das eine Hosenbein, sagen wir das linke, zwischen Fesselring und Fuß gänzlich durchziehen, nach unten, und dann, nachdem der Fuß daraus befreit war, das leere Hosenbein seitlich wieder zwischen Fesselring und Fuß nach oben zurückziehen; hierauf mußte man alles, was vom linken Fuß abgestreift war, durch den Fesselring am rechten Fuß nach unten durchziehen, und wenn dann auch der rechte Fuß vom Hosenbein befreit war, alles wieder durch denselben Ring nach oben zurückziehen. Dasselbe Verfahren galt auch für das Anziehen der Wäsche. Einem Neuling wäre es schwer gewesen, auf diese Kniffe auch nur zu verfallen. Der erste, der mir dieses Verfahren gezeigt hatte, war der Arrestant Koreneff in Tobolsk, ein ehemaliger Räuberhauptmann, der bereits fünf Jahre lang an der Wand angekettet gesessen hatte. Die Arrestanten hatten sich aber schon daran gewöhnt und entkleideten sich ohne die geringsten Schwierigkeiten.
Ich gab Petroff einige Kopeken für Seife und einen Lindenbast. Freilich wurde uns Seife auch unentgeltlich gegeben, aber davon erhielt jeder nur ein kleines Stück von der Dicke einer Käsescheibe, wie man sie wohl am Abend als Zugabe zum Tee ißt, und von der Größe eines Zweikopekenstückes. Die Seife wurde daselbst in der Vorstube verkauft, sowie Sbitenj[5], Kalatschen und heißes Wasser. Jeder Arrestant erhielt, nach der Abmachung mit dem Besitzer der Badestube, nur eine Schale heißes Wasser; wer sich aber etwas gründlicher reinwaschen wollte, der konnte für zwei Kopeken noch eine Schale kaufen, die ihm aus der Vorstube durch ein eigens dazu bestimmtes Fenster gereicht wurde.
Nachdem Petroff mich entkleidet hatte, führte er mich am Arme in die eigentliche Badestube, da es ihm nicht entgangen war, daß mir das Gehen mit den Ketten sehr schwer fiel.
„Ziehen Sie sie nach oben, auf die Waden,“ sagte er, mich stützend, ganz als wäre er meine Kinderfrau gewesen, „hier aber vorsichtig, hier ist die Schwelle.“
Offen gestanden, ich schämte mich ein wenig und wollte ihn überzeugen, daß ich auch allein gehen könne, aber er hätte es mir ja doch nicht geglaubt. Er behandelte mich buchstäblich wie ein kleines Kind oder mindestens wie einen unmündigen, unerfahrenen Knaben, dem ein jeder verpflichtet ist, zu helfen. Petroff war unter keinen Umständen ein „Diener“: hätte ich ihn beleidigt, so würde er sofort gewußt haben, wie er mich zu behandeln hatte. Auch hatte ich ihm durchaus nicht etwa Geld für seine Dienste versprochen, und erst recht hatte er keines von mir verlangt. Was aber veranlaßte ihn dann, mich so zu bemuttern?
Als wir die Tür zur eigentlichen Badestube aufmachten, glaubte ich, die Hölle vor mir zu sehen. Man stelle sich eine Stube von ungefähr zwölf Schritt Länge und gleicher Breite vor, in der vielleicht an hundert Menschen eingesperrt sind, oder doch mindestens achtzig, denn wir waren nur in zwei Abteilungen geschieden worden, im ganzen aber waren wir an zweihundert Mann ins Bad gezogen. Ein Dampf war in dem Raume, daß es einem dunkel vor den Augen ward, dazu Qualm, Schmutz und eine Enge, die keinen Fuß breit Platz zeigte, wo man hätte hintreten können. Ich erschrak und wollte zurück, doch Petroff ermutigte mich und zog mich schnell hinein. Ich weiß selbst nicht wie, aber jedenfalls mit den größten Schwierigkeiten gelangten wir endlich zu den Bänken, nachdem wir über unzählige Köpfe der auf dem Boden Sitzenden hinübergetreten waren, immer wieder mit der Bitte, sich ein wenig zu beugen, damit wir mit unseren Ketten bequemer hinüberkönnten. Auf den Bänken waren alle Plätze besetzt. Petroff erklärte mir, daß ich einen Platz kaufen müsse und trat für mich sofort in Unterhandlung mit einem, der sich am Fenster niedergelassen hatte. Der Sträfling überließ mir für eine Kopeke seinen Platz, erhielt von Petroff das Geld, – das dieser vorsorglich mitgenommen hatte und die ganze Zeit in der Hand hielt – und tauchte ohne weiteres unter die Bank, gerade unter meinen Platz, wo es dunkel und schmutzig war und eine glatte Feuchtigkeit fast einen halben Finger dick auf dem Boden lag. Doch selbst diese Plätze unter den Bänken waren alle besetzt, auch dort wimmelte es von nackten Körpern und Gliedern. Auf dem ganzen Fußboden gab es auch nicht eine Hand breit freien Platz, überall saßen gekrümmt und sich reibend die Arrestanten und begossen sich mit dem Wasser aus ihren Waschschalen. Andere standen aufrecht zwischen ihnen und wuschen sich stehend, während das schmutzige Wasser auf die halbrasierten Köpfe der am Boden Sitzenden herabfloß. Auf der Schwitzbank und auf allen Stufen, die zu ihr emporführten, saßen gekrümmt und gedrängt, fast einer auf dem anderen, sich waschende Gestalten. Genau genommen wuschen sie sich nicht allzu sehr. Die einfachen Leute waschen sich nur ein wenig mit Seife und heißem Wasser, sie lassen aber gehörig Dampf geben und schwitzen, was sie nur schwitzen können, um sich dann mit kaltem Wasser zu übergießen, – das ist ihr ganzes Bad. Wohl mit fünfzig Badequästen wurde oben auf der Schwitzbank gedroschen: alle quästeten sich bis zur Bewußtlosigkeit. Dampf wurde allaugenblicklich von neuem gegeben. Das war nicht mehr Hitze, sondern Glut. Und alles schrie dazu, gröhlte und schnatterte beim Klirren von hundert Ketten, die auf dem Boden herumgeschleift wurden ... Viele, die sich irgend wohin durchdrängen wollten, verwickelten sich in fremden Ketten oder zogen mit ihren eigenen Ketten die Köpfe der unter ihnen Sitzenden mit, stolperten, fielen, schimpften oder schleiften die anderen nach. Von allen Seiten floß schmutziges Wasser herab. Alle waren wie halbtrunken und dabei ungewöhnlich erregt: sie kreischten und schrieen, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Das Fenster, durch welches man aus dem Vorraum das Wasser hereinreichte, wurde von einem drängendem schimpfenden, sich raufenden und stoßenden Haufen belagert. Das erhaltene heiße Wasser wurde über den Köpfen der anderen früher verspritzt, bevor es an seinem Bestimmungsort ankam. Hin und wieder erschien auf eine Sekunde in der offenen Tür oder im Fenster neben einem Bajonett das schnauzbärtige Gesicht eines Unteroffiziers oder eines Soldaten, um nach der Ordnung zu sehen. Die halbrasierten Köpfe und die von der Hitze geröteten Körper erschienen mir noch entsetzlicher als sonst. Auf den gequollenen Rücken zeichneten sich jetzt deutlich die Narben der früher einmal erhaltenen Spießruten oder Stockhiebe ab, so daß alle diese dunkelrot gestreiften Rücken aufs neue wundgepeitscht aussahen. Grauenvoll waren diese Narben! Mich überlief es kalt, als ich sie sah. Wieder wird Wasser auf die glühenden Steine im heißen Ofen geworfen und wieder steigt aus der oberen Ofentür eine heiße, undurchdringliche Dampfwolke empor und erfüllt den ganzen Raum – alles schnattert und schreit. Allmählich sieht man dann wieder in der grauweißen Dampfwolke die zerhauenen Rücken, die halbrasierten Schädel, die gekrümmten Beine und Arme, und zur Vollendung des ganzen singt oben auf der höchsten Schwitzbank Issai Fomitsch aus voller Kehle. Er läßt sich bis zur Bewußtlosigkeit dämpfen, doch ist ihm, wie es scheint, keine einzige Glut heiß genug: für eine Kopeke dingt er einen Bader unter den Arrestanten, doch selbst dieser hält es schließlich nicht mehr aus: er wirft den Quast hin und läuft fort, um sich mit kaltem Wasser zu begießen. Aber Issai Fomitsch dingt einen zweiten, einen dritten Bader, – er hat beschlossen, die Gelegenheit zu benutzen und diesmal nicht an die Ausgaben zu denken, und überlebt noch einen vierten und fünften Bader, die es alle nicht aushalten und fortstürzen.
„Tut nichts, ein Dampfbad ist gesund, bravo, Issai Fomitsch!“ schreien ihm von weitem die Arrestanten zu. Issai Fomitsch fühlt, daß er in diesem Augenblick alle überragt, – er triumphiert und singt mit schriller, irrsinniger Stimme seine Arie: lä lä lä lä lä, die alle anderen Stimmen übertönt. Mir kam unwillkürlich der Gedanke, daß, wenn wir einmal alle zusammen irgendwo in einer Hölle sein sollten, sie dieser Badestube auffallend ähnlich sein müsse. Ich konnte es nicht unterlassen, meinen Gedanken Petroff mitzuteilen: er blickte sich nur einmal um, sagte aber nichts.
Ich wollte ihm gleichfalls einen Platz neben mir kaufen, er aber setzte sich schnell zu meinen Füßen nieder und behauptete, er habe es sehr bequem. Bakluschin kaufte und brachte uns das Wasser, sobald wir wieder welches brauchten. Petroff erklärte ohne weiteres, daß er mich vom Hacken bis zum Nacken reinwaschen würde, „so daß Sie dann ganz sauber sein werden,“ und beredete mich eifrig zu einem „Dampfbad“, was ich aber doch nicht zu versuchen wagte. Petroff seifte mich sorgfältig ein.
„Und jetzt werde ich Ihnen noch Ihre Füßchen waschen,“ erklärte er zu guterletzt. Ich wollte protestieren und sagen, meine Füße könne ich selbst waschen, aber ich sah ein, daß es besser war, ihm nicht zu widersprechen und ihm seinen Willen zu lassen. In dem Diminutiv „Füßchen“ lag übrigens nicht der leiseste Schimmer von einem Schmeichelnwollen oder von knechtischer Ergebenheit. Petroff konnte wahrscheinlich meine Füße deswegen nicht „Füße“ nennen, weil die anderen, wirklichen Menschen Füße hatten, ich aber eben nur erst Füßchen.
Nachdem er mich dann „ganz sauber“ gewaschen hatte, führte er mich unter denselben Zeremonien, d. h. indem er mich stützte und warnte und alle möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriff – ganz als wäre ich aus Porzellan gewesen – wieder in die Vorstube zurück, und half mir wieder in die Wäsche, und erst hierauf, als er mit mir fertig geworden war, ging er eilig zurück ins Bad, um nun selbst noch zu schwitzen.
Als wir wieder im Ostrogg waren, bot ich ihm ein Glas Tee an. Er wies es nicht zurück, trank es gern und dankte mir. Da kam es mir in den Sinn, meinen Beutel aufzutun und ihm einen Viertelliter Branntwein zu spendieren. Branntwein fand sich, wie immer, in der Kaserne. Petroff war sehr zufrieden, stürzte ihn hinab, krächzte einmal, und ging, nachdem er mir gesagt, ich hätte ihn wieder neubelebt, eilig in die Küche, als könne man dort ohne ihn ganz unmöglich über irgend etwas ins reine kommen. An seiner Stelle kam darauf mein anderer Freund, Bakluschin, der „Pionier“, zu mir, den ich schon im Bade zu einem Glas Tee aufgefordert hatte.
Ich kenne keinen Charakter, der liebenswürdiger gewesen wäre, als derjenige Bakluschins. Gewiß stritt er sogar sehr oft, gab den anderen nichts nach und litt es nicht, daß man sich in seine Angelegenheiten einmischte, – kurz, er verstand es, seinen Mann zu stehen. Aber sein Streiten dauerte nie lange, nie trug er etwas nach oder hegte er Groll, und ich glaube, alle hatten ihn gern. Wohin er auch gehen mochte, überall war er gern gesehen und man freute sich über ihn. Sogar in der Stadt war er als der lustigste Mensch der Welt, der nie seinen Humor verlor, bekannt. Er war ein hochgewachsener Bursche von ungefähr dreißig Jahren, mit einem lebhaften und gutmütigen, recht hübschen Gesicht, auf dem noch eine Warze saß. Dieses Gesicht konnte er zuweilen so urkomisch verziehen, und mit ihm konnte er jeden beliebigen so nachahmen, daß die ganze Umgebung unmöglich ernst zu bleiben vermochte: man mußte lachen, ob man wollte oder nicht. Er gehörte gleichfalls zu den Spaßmachern, doch machte er unseren mürrischen Feinden des Frohsinns keine Konzession, so daß diese ihn niemals einen „leeren und unnützen“ Menschen schalten. Er war voll Feuer und Leben. Bereits in den ersten Tagen machte er sich mit mir bekannt und erzählte mir, daß er vormals Bediensteter gewesen sei, darauf als Pionier gedient habe und sogar von einigen höheren Offizieren bemerkt und gern gesehen worden sei, worauf er noch in der Erinnerung sehr stolz war. Mich begann er ohne weiteres über Petersburg auszufragen. Er hatte sogar Bücher gelesen.
Als er zu mir zum Tee kam, erheiterte er sofort die ganze Kaserne, indem er nachmachte, wie der Leutnant Sch. unseren Platzmajor am Morgen „abgeblitzt“ hatte. Hierauf setzte er sich zu mir und teilte mir höchst zufrieden mit, daß die Theatervorstellung diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach zustande kommen würde. Im Ostrogg wurde nämlich an den Festtagen Theater gespielt. Die Schauspieler wurden gewählt und allmählich auch die Dekorationen angeschafft. Aus der Stadt hatten einige versprochen, Kleider, sogar Frauenkleider für die Mimen zu verschaffen; ja man hoffte sogar, durch einen Burschen eine Offiziersuniform mit Achselschnüren zu erhalten. Wenn es nur dem Platzmajor nicht wieder einfiel, das Schauspiel zu verbieten, wie er es im vorhergehenden Jahre getan hatte! Doch damals war er gerade zum Weihnachtsfest sehr schlechter Laune gewesen: hatte im Kartenspiel verloren und außerdem hatte man sich auch im Ostrogg nicht zum besten aufgeführt – und so hatte er denn einfach verboten. Diesmal aber würde er wohl nicht die Freude verderben!? Mit einem Wort, Bakluschin befand sich in sehr angeregter Stimmung. Man sah ihm sofort an, daß er einer der Hauptbeteiligten war, und ich gab ihm mein Wort, unbedingt der Vorstellung beiwohnen zu wollen. Die kindliche Freude Bakluschins am Zustandekommen der Aufführung hatte sofort mein Herz gewonnen. Ein Wort gab das andere und wir gerieten in ein Gespräch. Unter anderem erzählte er mir auch, daß er nicht die ganze Zeit in Petersburg gedient hatte: daß er sich dort etwas habe zuschulden kommen lassen und nach R. als Unteroffizier in ein Garnisonbataillon versetzt worden sei.
„Und erst von dort wurde ich hierher geschickt,“ bemerkte er zum Schluß.
„Aber weshalb denn das?“ fragte ich.
„Weshalb? Was glauben Sie wohl, Alexander Petrowitsch, weshalb? – Einfach weil ich mich verliebt hatte!“
„Nun, deshalb wird man doch noch nicht nach Sibirien verschickt,“ entgegnete ich lachend.
„Das ist ja wahr,“ meinte Bakluschin, „aber ich hatte bei der Gelegenheit einen dort ansässigen Deutschen mit der Pistole erschossen. Aber, sagen Sie doch selbst, lohnt es sich denn, einen wegen eines Deutschen in die Kátorga zu schicken!“
„Wie ging denn das zu? Erzählen Sie doch, es interessiert mich.“
„Das war eine sehr spaßige Geschichte, Alexander Petrowitsch.“
„Um so besser. Erzählen Sie nur.“
„Soll ich wirklich? Na, dann hören Sie zu ...“
Ich vernahm eine, wenn auch nicht spaßige, so doch recht eigenartige Geschichte eines Mordes ...
„Die Sache war nämlich die ...“ hub Bakluschin an. – „Als man mich nach R. versetzt hatte, war ja alles ganz wunderschön, sehe – es ist eine schöne Stadt, groß, nur viel Deutsche waren da. Nun, ich, versteht sich, war noch ein junger Mensch, bei den Vorgesetzten gut angeschrieben, gehe, die Mütze schief auf einem Ohr, zum Zeitvertreib, wie man sagt, in der Stadt spazieren. Nun, kommt einem so ein deutsches Mädchen entgegen, versteht sich, Blicke hin, Blicke her ... Da gefiel mir eine ganz besonders, Luisa hieß sie. Beide waren sie Wäscherinnen, für die feinste Wäsche, die man sich nur denken kann, sie und ihre Tante. Die Tante war schon alt, so eine richtige Harke, lebten aber dabei ganz gut. Anfangs pendelte ich nur vor den Fenstern auf und ab, dann aber schloß ich eine richtige Freundschaft mit ihr. Luisa sprach gut russisch, nur schnarrte sie ein wenig, – so ein, nun ja, herziges Ding war sie, wie ich noch keine gesehen. Nun, versteht sich, anfangs redete ich so und so, sie aber sagte mir sofort: ‚Nein, Ssascha, das sollst du nicht, denn ich will meine ganze Unschuld bewahren, um dir ein würdiges Weib zu sein,‘ und schmeichelt nur so, und lacht so hell ... Ja, so ein sauberes Geschöpfchen war sie, ich habe nie wieder so eine gesehen. Selbst beredete ich mich, sie zu heiraten. Nun, wie sollte ich denn nicht heiraten, bedenken Sie doch nur! Und so bereitete ich mich denn auch schon vor, mit meinem Heiratsgesuch zum Oberstleutnant zu gehen ... Plötzlich, was sehe ich – Luisa kommt nicht zum Stelldichein, zum zweitenmal wieder nicht, zum dritten wieder nicht ... Ich schreibe einen Brief: keine Antwort. Was soll denn das bedeuten, denke ich! Sollte sie mich betrügen wollen, so würde sie geantwortet haben und wäre auch zum Stelldichein gekommen, – mit einem Wort, sie hätte sich verstellt. Sie aber verstand nicht, zu lügen, sie hatte kurz und einfach abgebrochen. Dahinter steckt die Tante, denke ich. Zur Tante durfte ich nicht gehen; wenn sie es auch wußte, so sahen wir uns doch nur heimlich. Ich gehe wie ein Halbwahnsinniger umher – schließlich schreibe ich ihr den letzten Brief: ‚kommst du nicht, so gehe ich zur Tante.‘ Sie erschrak, kam. Weinte, sagte, ein Deutscher, Schulz, ihr entfernter Verwandter, ein Uhrmacher, ein reicher und schon bejahrter Mann, habe den Wunsch ausgesprochen, sie zu heiraten, – um mich, sagte sie, glücklich zu machen und selbst im Alter nicht ohne Frau zu bleiben; und er liebt mich auch, sagt sie, und hat schon lange die Absicht gehabt, mich zu heiraten, hat aber vorläufig noch geschwiegen und sich vorbereitet. – ‚Nun sieh, Ssascha,‘ sagt sie, ‚er ist reich und das ist doch mein Glück; willst du mir nun mein Glück nicht gönnen?‘ Ich sehe sie an: sie weint, umarmt mich ... Was, denke ich, es ist ja wahr, was sie sagt! Was hat es denn für einen Sinn, mich, einen Soldaten, zu heiraten, selbst wenn ich auch Unteroffizier bin? – ‚Nun dann, Luisa,‘ sage ich, ‚leb wohl, Gott behüt dich, warum sollte ich dein Glück zerstören? Aber wie ist er, – ist er hübsch?‘ – ‚Nein,‘ sagt sie, ‚er ist schon alt und hat eine so lange Nase ...‘ und sie lacht sogar. Ich ging. Nun was, denke ich, es ist mir nicht bestimmt. Am nächsten Morgen begab ich mich zu seinem Uhrgeschäft, sie hatte mir die Straße genannt. Ich sehe durch das Fenster hinein: da sitzt ein Deutscher, tiftelt an einer Uhr, hat reichlich seine fünfundvierzig auf dem Buckel, die Nase lang, die Augen stehen hervor, dabei sitzt er im alten Gehrock und im Stehkragen, in solch einem Vatermörder mit langen Enden, macht so eine wichtige Miene. Ich spie nur aus. Wollte ihm schon seine ganze Fensterscheibe einschlagen ... Doch wozu, denke ich, ist es verloren, so ist es verloren. In der Dämmerung kehrte ich in die Kaserne zurück, legte mich auf mein Lager hin und da, – glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, Alexander Petrowitsch – ich weinte wie ein Kind ...
„Nun, es vergeht ein Tag, noch ein Tag und noch einer. Luisa sah ich nicht mehr. Inzwischen aber erfuhr ich durch eine Gevatterin – ein altes Weib, gleichfalls Wäscherin, zu der Luisa zuweilen ging –, durch die nun erfuhr ich, daß der Deutsche um unsere Liebe wisse und aus diesem Grunde sich auch entschlossen habe, schneller anzusprechen. Sonst hätte er noch ganze zwei Jahre gewartet. Luisa aber soll er, so sagt sie, den Schwur abgenommen haben, daß sie mich nicht mehr kennen werde, und daß er sie beide, die Tante und Luisa, vorläufig noch arg unter dem Daumen halte und daß er sich vielleicht noch anders bedenken würde, also noch immer nicht ganz entschlossen sei. Zum Schluß erzählte sie mir noch, daß er sie beide zu übermorgen, zum Sonntag vormittag, zum Kaffee eingeladen habe und daß außer ihnen noch ein Verwandter zu ihm kommen würde, ein alter Mann, der früher Kaufmann gewesen, jetzt aber bettelarm sei und irgendwo in einem Kellerlager als Aufseher sein Brot verdiene. Als ich erfuhr, daß sie am Sonntag vielleicht alles beschließen würden, da packte mich die Wut, so daß ich mich kaum noch beherrschen konnte. Und an diesem ganzen Tage und auch am folgenden Tage war alles, was ich tat, daß ich beständig an diese eine Möglichkeit dachte. Ich glaube, ich hätte diesen Deutschen aufgefressen, wenn er mir nur zwischen die Zähne gekommen wäre.
„Noch am Sonntag morgen wußte ich nichts und hatte mir auch nichts vorgenommen, als aber der Frühgottesdienst beendet war und wir wieder in der Kaserne saßen, – da sprang ich plötzlich auf, ergriff meinen Mantel und begab mich zum Deutschen. Ich hoffte, sie alle bei ihm anzutreffen. Aber warum ich ging und was ich dort sagen wollte – das wußte ich selbst nicht. Doch steckte ich für alle Fälle eine Pistole in die Tasche. Es war ein altes Ding mit einem altmodischen Schloß; schon als Knabe hatte ich aus ihr geschossen. Eigentlich konnte man aus ihr überhaupt nicht mehr schießen. Aber ich lud sie trotzdem mit einer Kugel und denke noch so im stillen: wollen sie mich vor die Tür setzen oder kommen sie mir grob, so werde ich die Pistole hervorziehen und ihnen allen einen Schrecken einjagen. Ich komme also hin. In der Werkstatt ist niemand zu sehen, alle sitzen im hinteren Zimmer. Außer ihnen ist keine Seele im ganzen Hause. Von Dienstboten hatte er nur eine Deutsche, die ihm auch das Essen kochte. Ich gehe durch den Laden, sehe, die Tür ins andere Zimmer ist verschlossen, so eine alte Tür mit einer Fallklinke. Mein Herz klopft, ich warte, lausche: sie sprechen deutsch. Wie ich da einmal mit dem Fuß an die Tür schlug, sprang sie sofort auf. Was sehe ich: der Tisch ist gedeckt. Auf dem Tisch steht eine große Kaffeemaschine und der Kaffee kocht auf Spiritus. Daneben Zwieback; auf einem anderen Untersetzer eine Karaffe mit Branntwein, Hering und Wurst und dann noch eine Flasche mit irgend welchem Wein. Luisa und die Tante saßen, beide aufgeputzt, auf dem Sofa. Ihnen gegenüber auf einem Stuhl der Deutsche, der Bräutigam, im Gehrock und Vatermörder, dessen Enden wie die Hörner vorstehen. An der einen Seite des Tisches sitzt noch ein Deutscher, ein alter, dicker, schon ergrauter, und schweigt. Wie ich eintrat, war Luisa plötzlich erblaßt. Die Tante sprang auf, sank aber wieder zurück, und der Deutsche verfinsterte sich. So böse sah er aus, stand auf und trat mir entgegen.
‚Was wünschen Sie?‘ fragt er.
Ich war schon im Begriff, mich verwirren zu lassen, aber da geriet ich wieder in Wut.
‚Was ich wünsche!‘ sage ich. ‚Empfange deinen Gast, bewirte ihn mit Branntwein. Ich bin zu dir zu Gast gekommen.‘
Der Deutsche überlegte einen Augenblick.
‚Setzen Sie sich,‘ sagte er.
Ich setzte mich.
‚Gib doch,‘ sage ich, ‚Branntwein her.‘
‚Da ist Branntwein,‘ sagt er, ‚trinken Sie, wenn Sie wollen.‘
‚Gib mir guten Branntwein,‘ sage ich. Die Wut, wie man sagt, ergriff mich schon gar zu heiß.
‚Das ist guter Branntwein.‘
Es kränkte mich, daß er mich so niedrig stellte. Am meisten aber, daß Luisa alles sah. Ich trank also und darauf sagte ich:
‚Warum bist du denn so grob zu mir, Deutscher! Du solltest dich mit mir anfreunden. Ich bin in aller Freundschaft zu dir gekommen.‘
‚Ich kann nicht Ihr Freund sein,‘ sagt er, ‚Sie sind ein einfacher Soldat.‘
Nun, da geriet ich aber in Wut.
‚Du Erbsenscheuche,‘ sage ich, ‚du Wurstmacher! Weißt du auch, daß ich alles mit dir machen kann, was ich will? Wenn du willst, schieße ich dich einfach mausetot!‘
Ich zog meine Pistole hervor, stand auf und hielt ihm die Mündung direkt vor den Kopf. Jene saßen mehr tot als lebendig, wagten keinen Laut zu sagen. Der Alte, der ehemalige Kaufmann, zittert wie ein Espenblatt, schweigt, ist kreideweiß.
Der Deutsche erschrak zuerst, besann sich aber bald.
‚Ich fürchte Sie nicht,‘ sagt er, ‚und bitte Sie, als anständigen Menschen, Ihren Scherz sofort zu unterlassen, aber ich fürchte Sie nicht.‘
‚Oho,‘ sage ich, ‚du lügst, du fürchtest dich! Seht doch! Er wagt ja nicht einmal, den Kopf fortzukehren, sitzt wie angewurzelt!‘
‚Nein,‘ sagt er, ‚Sie dürfen so etwas auf keine Weise ...‘
‚So–o, warum darf ich es denn nicht?‘
‚Ganz einfach,‘ sagt er, ‚weil Ihnen so etwas strengstens verboten ist und Sie streng bestraft werden würden.‘
Der Teufel sollte klug werden aus diesem deutschen Dummkopf! Hätte er mich damals nicht selbst aufgereizt, so würde er heute noch leben. Nur der Streit war an allem schuld.
‚Also, ich darf es nicht,‘ sage ich, ‚deiner Meinung nach?‘
‚Nein!‘
‚Nicht?‘
‚Nein, das dürfen Sie in keinem Fall mit mir ...‘
‚Da hast du’s, alte Wurst!‘ und wie ich abdrücke, da fällt er auch schon vom Stuhl. Jene schrieen natürlich auf.
Ich steckte meine Pistole in die Tasche und eilte hinaus, als ich aber am Tor unserer Festung anlangte, zog ich meine Pistole wieder hervor und warf sie in die Nesseln am Grabenrand.
Ich ging in die Kaserne, legte mich auf mein Lager hin und denke: jetzt wird man sofort kommen und dich verhaften. Eine Stunde vergeht, noch eine – man kommt nicht. Und so, kurz vor der Dämmerung, da überkam mich eine solche Seelenangst; ich ging wieder hinaus; ich wollte unbedingt Luisa sehen. Ich ging wieder an dem Uhrgeschäft vorüber: viel Volks, Polizei. Ich zur Gevatterin: ‚Ruf Luisa her!‘ Ich wartete kaum einen Augenblick, da sehe ich: Luisa kommt schon herausgelaufen; sie fällt mir um den Hals und weint: ‚Ich allein bin an allem schuld,‘ sagt sie, ‚weil ich darauf gehört habe, was die Tante sagte.‘ Und sie erzählte mir, daß die Tante sofort nach Hause zurückgekehrt und vor Angst erkrankt sei, sie würde nichts verraten: selbst fürchte sie sich, etwas zu sagen und auch ihr, Luisa, habe sie verboten, irgend etwas über den Täter verlauten zu lassen: sie fürchte sich – möge man dort machen, was man will. ‚Niemand hat uns vorhin gesehen,‘ sagte Luisa. Er hätte auch seine Dienstmagd fortgeschickt, da er Angst vor ihr habe. Die würde ihm die Augen ausgekratzt haben, wenn sie erfahren hätte, daß er heiraten wolle. Von den Gesellen sei auch niemand im Hause gewesen, er habe sie alle zu entfernen gewußt. Den Kaffee habe er selbst zubereitet und eigenhändig den Tisch gedeckt. Der Verwandte aber habe schon sein ganzes Leben lang geschwiegen, und als die Sache geschehen war, habe er seine Mütze genommen und sei als erster aus der Wohnung gegangen. Und in Zukunft würde er sicherlich ebenso schweigen, sagte Luisa. So war es auch. Zwei Wochen lang kam niemand, um mich zu verhaften, und es ruhte nicht der geringste Verdacht auf mir. In diesen zwei Wochen aber, glauben Sie mir oder glauben Sie nicht, Alexander Petrowitsch, – in diesen zwei Wochen habe ich mein ganzes Glück durchlebt. Jeden Tag war ich mit Luisa zusammen und wie, wie hat sie mich geliebt! Weinte, sagte: ‚Ich werde mit dir gehen, wohin man dich auch verschicken sollte, alles werde ich für dich verlassen!‘ Ich glaubte zu vergehen, so hatte sie mich gerührt. Nun, und nach zwei Wochen kamen sie dann und nahmen mich. Der Alte und die Tante waren überein gekommen und hatten mich angezeigt.“
„Aber wie,“ unterbrach ich Bakluschin, „dafür hätte man Sie doch nur zu zehn Jahren verurteilen können, höchstens zu zwölf, und zu unserer Abteilung, Sie aber sind doch in der besonderen. Wie ist das möglich gewesen?“
„Ja, sehen Sie,“ sagte Bakluschin, „es kam noch eine andere Sache hinzu. Als man mich vor die Kriminalkommission brachte, da fing der Hauptmann an, mich vor dem ganzen Gericht mit schändlichen Worten zu schimpfen. Da hielt ich es nicht aus: ‚Was schimpfst du,‘ sagte ich, ‚siehst du denn nicht, Elender, daß du vor einem Spiegel sitzt?‘ Nun, hierauf nahm die Sache einen anderen Gang, ich kam vor ein anderes Gericht und wurde für alles zusammen verurteilt: viertausend und dann hierher in die besondere Abteilung. Als man mich aber zur Bestrafung führte, führte man auch den Hauptmann ab: mich durch die grüne Gasse, ihn aber aller Titel beraubt in den Kaukasus als einfachen Soldaten ... Auf Wiedersehen, Alexander Petrowitsch. Kommen Sie aber auch bestimmt zu unserer Aufführung.“
Endlich kam das Fest heran. Schon am Weihnachtstage wurde kaum mehr gearbeitet. Nur in die Schneiderstuben und in die Werkstätten wurde ein Teil der Sträflinge geschickt, die übrigen gingen wohl auch angeblich zur Arbeit, doch kamen sie alle, einzeln oder in kleinen Trupps, sehr bald wieder zurück, und nach dem Mittagessen verließ niemand mehr den Ostrogg. Auch am Morgen war man mehr in eigenen Angelegenheiten ausgezogen, als zur Zwangsarbeit: die einen um Branntwein durchzuschmuggeln und neuen zu bestellen, andere um ihre Freunde und Freundinnen zu besuchen oder das Ausstehende für früher gelieferte Arbeiten zum Feste einzutreiben; Bakluschin und die übrigen in der Ausführung mitwirkenden Schauspieler, um einige Bekannte, vornehmlich aus der Zunft der Offiziersburschen, aufzusuchen und die nötigen Kostüme zu erlangen. Einige gingen wiederum nur deshalb mit besorgter und beschäftigter Miene umher, weil auch die anderen geschäftig und in Anspruch genommen waren. Und wieder andere, die, zum Beispiel, von niemand Geld zu erwarten hatten, sahen dabei doch aus, als würden auch sie unfehlbar welches erhalten. Mit einem Wort, alles erwartete für den nächsten Tag irgend eine Veränderung, irgend etwas Ungewöhnliches. Am Abend brachten die Invaliden, die von den Arrestanten auf den Markt geschickt worden waren, eine Menge Eßbares in den Ostrogg: Rindfleisch, Spanferkel, sogar Gänse. Viele Arrestanten, selbst die genügsamsten und geizigsten, die das ganze runde Jahr hindurch jede Kopeke sparten, hielten es für ihre Pflicht, ihren Beutel aufzutun und in angemessener Weise den ersten Fleischtag nach ihrer langen Fastenzeit zu feiern. Der fünfundzwanzigste Dezember war auch für den Arrestanten ein echter rechter Feiertag, den ihm niemand nehmen konnte, da er ihm durch das Gesetz formell zuerkannt wurde. An diesem Tage durfte der Arrestant nicht zur Arbeit geschickt werden, und solcher Tage gab es im Jahr nur drei.
Und schließlich, wer weiß, wieviel Erinnerungen in den Seelen dieser Ausgestoßenen beim Herannahen dieses Tages wieder erwachten! Dem Gedächtnis des einfachen Volkes prägen sich die hohen Festtage viel schärfer ein, als demjenigen der reichen Leute. Es sind die Tage der Erholung, die Tage, an denen die ganze Familie versammelt ist. Im Ostrogg nun mußten sie sich unwillkürlich mit Qual und Sehnsucht ihrer erinnern. Die Achtung vor dem großen Festtage schien in ihnen ein gewisses Pflichtgefühl zu erwecken: nur sehr wenige waren müßig, alle waren ernst und scheinbar sehr beschäftigt, obgleich viele überhaupt nichts zu tun hatten. Doch sowohl die Müßigen als die Geschäftigen waren bemüht, eine gewisse Würde zu bewahren ... Das Lachen schien förmlich verboten zu sein. Überhaupt grenzte die Stimmung geradezu an kleinliche und reizbare Unduldsamkeit, und wer diese allgemeine Stimmung störte, wenn es auch ganz unbeabsichtigt geschah, der wurde barsch zur Ruhe verwiesen und man ärgerte sich über ihn, als hätte er den Feiertag selbst nicht geachtet. Diese Stimmung der Arrestanten war wirklich auffallend und rührend. Außer der angeborenen Hochachtung vor dem großen Tage, empfand der Ausgestoßene unbewußt, daß er durch diese Hochhaltung des Festes gewissermaßen mit der ganzen Welt dort draußen in Berührung kam, daß er folglich nicht ein gänzlich Ausgestoßener, Verlorener war, ein abgeschnittenes und fortgeworfenes Stück Leben; er sagte sich, daß auch im Ostrogg dasselbe gilt, was draußen bei den Menschen gefeiert wird. So fühlten sie alle; das sah und verstand man sofort.
Akim Akimytsch traf gleichfalls seine Vorbereitungen zum Fest. Für ihn gab es weder Familienerinnerungen, denn er war als Waisenkind bei fremden Leuten aufgewachsen und schon mit fünfzehn Jahren in schweren Dienst getreten, – noch hatte es in seinem Leben besondere Freuden gegeben, denn sein ganzes Leben hatte er regelmäßig, einförmig und in der beständigen Furcht verbracht, vielleicht doch irgendwie aus Versehen über die ihm auferlegten Verpflichtungen auch nur um Haaresbreite hinauszugehen. Er war auch nicht besonders religiös, da seine Sittsamkeit, wie es schien, alle übrigen menschlichen Gaben und Eigenheiten in ihm verschlungen hatte, alle Leidenschaften und Wünsche, sowohl die guten wie die schlechten. Infolge dessen schickte er sich an, den feierlichen Tag ohne alle Sorgen und Aufregungen zu verbringen, ohne sich von traurigen und völlig nutzlosen Erinnerungen verwirren zu lassen, sondern in ruhiger, methodischer Sittsamkeit, von der er genau soviel besaß, wieviel zur Erfüllung der Pflichten und des ein für allemal vorgeschriebenen Ritus gerade erforderlich ist. Und überhaupt war Nachdenken nicht gerade seine Liebhaberei. Die Bedeutung eines Faktums schien ihn niemals etwas anzugehen, dafür aber erfüllte er die ihm einmal vorgeschriebenen Gesetze mit heiliger Gewissenhaftigkeit. Hätte man ihm am nächsten Tage befohlen, etwas dem direkt Entgegengesetztes zu tun, was er Tags zuvor getan, – er hätte auch dieses mit ganz derselben Gehorsamkeit und Sorgfalt verrichtet, wie das andere. Einmal, nur ein einziges Mal im Leben hatte er versucht, nach seinem Verstande zu handeln und – kam dafür in die Kátorga. Die Lehre war für ihn nicht umsonst gewesen. Und wenn es ihm auch vom Schicksal nicht bestimmt war, jemals zu begreifen, worin sein Vergehen „eigentlich und im Grunde“ bestanden hatte, so zog er doch aus seinem Erlebnis die heilsame Folgerung, die er fortan zum Grundsatz erhob: niemals und unter keinen Umständen selbst zu denken, da das Denken nun einmal „nicht seine Verstandessache war“, wie die Arrestanten unter sich sagten. Blind dem Brauch ergeben, sah er sogar auf sein Spanferkel, das er – da er natürlich auch zu kochen verstand – eigenhändig mit Brei zubereitete, mit einer gewissen Hochachtung, ganz als wäre es nicht ein gewöhnliches Spanferkel gewesen, das man zu jeder Zeit kaufen und braten kann, sondern ein ganz besonderes, festtägliches. Vielleicht war er von Kindheit an gewöhnt, an diesem Tage ein gebratenes Spanferkel auf dem Tisch zu sehen, und so folgerte er, daß ein Spanferkel zum Feiertage unerläßlich sei. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß er, falls er an diesem Tage keinen Ferkelbraten gegessen hätte, sein ganzes Leben lang von Gewissensbissen wegen der unerfüllten Pflicht gemartert worden wäre. Bis zum Feiertage ging er in seiner alten Jacke und in alten Beinkleidern, die zwar tadellos gemacht, gestopft und geflickt waren, doch trotzdem recht abgetragen aussahen. Jetzt zeigte es sich, daß er den neuen Anzug, den er schon vor vier Monaten erhalten hatte, sorgfältig in seinem Kasten aufbewahrte, ohne ihn ein einziges Mal hervorzuholen, und sich mit schmunzelndem Gedanken vorbereitete, seine Kleider erst am Festtage zu wechseln. So tat er denn auch. Am Abend vorher holte er sie hervor, breitete sie aus, besah sie, glättete sie mit der Hand, zupfte hie und da ein Fädchen ab, beblies sie, und nachdem er das alles getan, zog er sie zur Probe an. Die Hose wie die Jacke saßen tadellos; alles war gut genäht, ließ sich bis oben zuknöpfen und der Kragen stützte wie ein Karton das Kinn; in der Taille zeigte sich noch obendrein so etwas, wie ein militärischer Schnitt. Akim Akimytsch lächelte vor Wonne und drehte sich nicht ohne ein gewisses Selbstbewußtsein vor seinem kleinen Spiegel, den er in einer freien Stunde mit einer Bordüre von Goldpapier beklebt hatte. Nur ein einziges kleines Häkchen oben am Kragen der Jacke schien nicht ganz richtig zu sitzen. Nachdem Akim Akimytsch das eingesehen hatte, beschloß er, den Haken umzunähen: und kaum gedacht, war’s auch schon getan. Dann machte er noch einmal eine Anprobe und siehe, es war alles gut. Hierauf faltete er den ganzen Anzug kunstgerecht zusammen und bettete ihn für die Nacht vollbefriedigt wieder in seinen kleinen Kleiderkasten. Am nächsten Morgen sollte er nagelneu angezogen werden. Sein Haar war vorschriftsmäßig und vor kurzem erst rasiert: doch das Ergebnis einer längeren Untersuchung vor dem Spiegel war, daß sein Kopf ihm doch noch nicht so ganz glatt erschien, denn es waren bereits kaum sichtbare Spitzen neuer Sprößlinge zu sehen. Er begab sich daher unverzüglich zum „Major“, um sich tadellos rasieren zu lassen, obgleich es morgen niemand einfallen würde, seinen Kopf unter die Lupe zu nehmen, – einzig zur Beruhigung seines Gewissens, um in Anbetracht des hohen Festtages alle seine Pflichten erfüllt zu haben. Seine Andacht vor jedem Knopf, jeder Hakenöse, jedem Knopfloch hatte schon in der Kindheit einen Einfluß auf seinen Charakter gehabt und war seinem Verstande als unumstrittene Pflicht, seinem Herzen als letzte Schönheit erschienen, die ein anständiger Mensch nur erreichen kann. Als er endlich alles Persönliche erledigt hatte, ordnete er als Kasernenältester an, Heu hereinzubringen, und überwachte gewissenhaft, wie es auf dem Fußboden der Kaserne ausgebreitet wurde. Dasselbe geschah auch in den übrigen Kasernen. Ich weiß nicht, warum, aber zu Weihnachten wurde bei uns immer Heu auf den Fußboden gestreut. Nachdem nun Akim Akimytsch alle seine Pflichten erfüllt hatte, betete er zu Gott, legte sich auf die Pritsche hin und schlief im Augenblick den Schlaf eines unschuldigen Kindleins, um dann am nächsten Morgen möglichst früh aufzustehen. Das taten übrigens auch alle anderen. In allen Kasernen ging man viel früher zur Ruh, als es sonst üblich war. Die Abendarbeit war ganz vergessen und von Spielhöllen konnte überhaupt nicht die Rede sein. Alles erwartete den nächsten Morgen.
Endlich brach er an. Schon früh, noch vor Sonnenaufgang, wurde die Reveille getrommelt, wurde die Kaserne aufgeschlossen und der wachhabende Unteroffizier, der zum Nachzählen der Arrestanten eintrat, beglückwünschte uns zum Feste. Man wünschte ihm gleichfalls alles Gute und sagte es höflich und freundlich. Nach einem kurzen Gebet ging Akim Akimytsch, und gingen noch viele andere, die ihre Gänse und Spanferkel in der Küche hatten, eilig hinaus, um nachzusehen, was mit ihnen inzwischen geschehen war, wie sie gebraten wurden, wie es mit diesem, jenem und sonst noch etwas stand, u. a. m. Durch die kleinen, von Schnee und Eis blinden Fensterscheiben unserer Kaserne konnte man in der Dunkelheit erkennen, daß in beiden Küchen, in allen sechs Öfen, helles Feuer lohte, das schon vor Tagesanbruch angemacht worden war. Über den Hof gingen bereits die Arrestanten hin und her, alle in ihren Halbpelzen, die teils ganz angezogen, teils nur über die Schultern geworfen waren: ein jeder strebte zur Küche. Einige aber, übrigens nur sehr wenige, hatten schon die Branntweinhändler aufgesucht. Das waren die Ungeduldigsten, die niemals warten konnten. Im allgemeinen aber führten sich alle sehr anständig auf, ruhig und ganz ungewöhnlich würdig. Von den sonst üblichen Schimpfereien und Streitigkeiten war nichts zu hören und zu sehen. Alle begriffen und fühlten, daß es ein großer Tag, ein hohes Fest war. Es gab auch manche, die in die anderen Kasernen gingen, um diesen oder jenen von ihren näheren Bekannten zum Fest zu beglückwünschen. Es zeigte sich bei allen so etwas wie Freundschaft. Hier muß ich bemerken, daß man unter den Arrestanten sonst fast überhaupt nichts von Freundschaft sah – ich rede nicht von allgemeiner Kameradschaft, die war sogar in hohem Maße vorhanden, sondern von Freundschaft zwischen zwei einzelnen. So etwas gab es so gut wie überhaupt nicht. Alle waren im Verkehr miteinander trocken und hart, abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, und das war ein formell anerkannter, einmal eingeführter und angenommener Ton.
Ich trat gleichfalls aus der Kaserne hinaus, es begann kaum, kaum zu tagen, die Sterne flimmerten noch am Himmel, ein kalter, feiner Dampf erhob sich langsam von der Erde und verschwand. Aus den Küchenschornsteinen wälzte sich der Rauch in dicken Säulen. Einige mir begegnende Arrestanten beglückwünschten mich aus eigenem Antriebe freundlich zum Fest. Ich dankte ihnen und antwortete ebenso. Mit manchen von ihnen hatte ich in diesem ganzen Monat noch kein Wort gesprochen.
Wenige Schritt vor der Küche holte mich plötzlich ein Arrestant aus der Militärkaserne ein, der seinen Halbpelz sich nur über die Schultern geworfen hatte. Schon von weitem hatte er mich erblickt und über den halben Hof angerufen: „Alexander Petrowitsch! Alexander Petrowitsch!“ und er eilte mir nach zur Küche hin. Ich blieb stehen und erwartete ihn. Es war ein junger Bursche mit rundem Gesicht, mit stillem Ausdruck in den Augen, sehr wenig gesprächig: mit mir hatte er noch kein Wort gewechselt und meiner Person bis dahin überhaupt noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich wußte nicht einmal, wie er hieß. Er kam ganz atemlos herangelaufen, blieb direkt vor mir stehen und starrte mich mit eigentümlich stumpfem, gleichzeitig aber auch seligem Lächeln an.
„Was wünscht Ihr von mir?“ fragte ich ihn nicht ganz ohne Verwunderung, als ich sah, daß er nur lächelte, stand und mich groß ansah, ein Gespräch aber nicht begann.
„Ja, wie denn, es ist doch Feiertag ...“ murmelte er verdutzt, und da er selbst gewahr wurde, daß er sonst nichts zu sagen hatte, verließ er mich und trat eiligst in die Küche. Ich will hier gleich bemerken, daß wir auch nachher nie miteinander ein Wort gewechselt haben, so lange wie ich im Ostrogg blieb.
In der Küche ging es lebhaft zu: ein ganzer Haufe drängte, stieß und quetschte sich vor den glühend heißen Backöfen. Ein jeder wollte sein Eigentum bewachen und dessen Kochprozeß beobachten. Die „Köchinnen“ schickten sich bereits an, die Herstellung der Staatskost in Angriff zu nehmen, da das Essen an diesem Tage früher angesagt war. Übrigens begann noch niemand zu essen, obgleich nicht wenige große Lust dazu verspürten, doch wahrten sie heldenmütig den Anstand. Man erwartete den Geistlichen und erst nachher sollte das Fleischessen nach der Fastenzeit beginnen.
Inzwischen begannen – noch war es kaum Tag geworden – von der Wache her die Rufe zu erschallen: „Köche her!“ – die sich im Laufe von mindestens zwei Stunden fast in jeder Minute wiederholten. Der Gefreite rief die Köche, damit sie die Spenden, die von allen Enden der Stadt dargebracht wurden, entgegennahmen. Sie bestanden in ungeheuren Mengen von Kalatschen, Broten, Käsekuchen, Pfannkuchen, süßen Broten, – kurz, in allen Sorten des Festtagsgebäcks. Ich glaube, es gab da wohl keine einzige Hausfrau in den Kaufmanns- und Bürgerkreisen, die nicht etwas aus ihrer Küche geschickt hätte, um den „Unglücklichen“ zum Feste eine Freude zu machen. Es gab viel reiche Spenden, schönes Gebäck von Butterteig, vom feinsten Mehl und in großen Mengen geschickt; es gab aber auch sehr arme Gaben – irgend ein Kalatsch zu zwei Kopeken und zwei gewöhnliche, kaum sichtbar mit Sahne bestrichene Pfannkuchen: das war eine Gabe des Armen an den Armen, vom wenigen, das er selbst besaß. Alles wurde mit gleicher Dankbarkeit entgegengenommen: nicht der geringste Unterschied wurde zwischen den Gaben und den Gebern gemacht. Die in Empfang nehmenden Arrestanten nahmen ihre Mützen ab, verbeugten sich, dankten, beglückwünschten zum Fest, und trugen dann das Geschenk in die Küche. Als sich nach einiger Zeit ganze Berge von solchen Broten angehäuft hatten, wurden die Ältesten jeder Kaserne gerufen und sie teilten dann das ganze in gleiche Teile. Es gab weder Streit noch Schelten: alles wurde ehrlich und gewissenhaft geteilt. Was unserer Kaserne zufiel, wurde dann bei uns verteilt. Akim Akimytsch und noch ein anderer Arrestant besorgten das: sie zerschnitten das Gebäck eigenhändig und reichten eigenhändig einem jeden, was ihm zukam. Nicht der geringste Einspruch wurde laut, nicht der geringste Neid machte sich bemerkbar: alle waren mit dem zufrieden, was sie erhielten; es war nicht einmal ein Schimmer von einem Verdacht zu bemerken, daß die Gaben unterschlagen oder ungerecht verteilt werden könnten.
Nachdem Akim Akimytsch seine Arbeit in der Küche beendet hatte, kleidete er sich mit allem Anstand und aller Feierlichkeit an, vergaß kein einziges noch so kleines Häkchen, und nachdem er damit fertig war, schritt er unverzüglich zum Gebet. Er betete ziemlich lange. Außer ihm beteten noch viele andere, doch waren es meistens bejahrtere Männer. Die jungen dachten kaum daran, höchstens daß einer sich beim Aufstehen flüchtig bekreuzigte. Nach dem Gebet trat Akim Akimytsch auf mich zu und beglückwünschte mich nicht ohne Feierlichkeit zum Fest. Ich lud ihn sogleich zu meinem Tee ein und er darauf mich zu seinem Ferkelbraten. Kurz darauf kam Petroff, um mir gleichfalls Glück zu wünschen. Wie mir schien, hatte er bereits ein wenig getrunken und obschon er sehr eilig gekommen war, so hatte er doch nicht viel zu sagen, sondern stand nur kurze Zeit gewissermaßen erwartungsvoll vor mir und eilte dann bald wieder in die Küche.
Inzwischen war in der Militärkaserne alles Nötige zum Empfang des Geistlichen vorbereitet worden. Diese Kaserne war nicht so eingerichtet, wie die anderen: in ihr zogen sich die Pritschen an den Wänden hin und nicht in der Mitte des Zimmers, so daß sie im ganzen Ostrogg der einzige Raum war, in dem man, falls nötig, die Arrestanten versammeln konnte. Wahrscheinlich war sie sogar gerade zu diesem Zweck so gebaut worden. In die Mitte der Kaserne hatte man einen kleinen Tisch hingestellt, mit einem reinen Handtuch bedeckt, ein Heiligenbild aufgestellt und das Lämpchen davor angezündet. Endlich kam auch der Geistliche mit einem Kreuz und dem Weihwasser. Nachdem er vor dem Heiligenbilde gebetet und gesungen hatte, stellte er sich vor die versammelten Arrestanten hin, die dann in aufrichtiger Andacht einzeln zu ihm traten und das Kreuz küßten. Hierauf ging der Geistliche in alle Kasernen und besprengte sie mit Weihwasser. In der Küche segnete und lobte er auch unser Ostroggbrot, das wegen seiner Schmackhaftigkeit in der ganzen Stadt bekannt war, und die Arrestanten beschlossen sofort, ihm zwei frische, soeben aus dem Ofen gekommene Brote zu schicken, die ohne weiteres einem Invaliden eingehändigt wurden, damit er sie in die Wohnung des Geistlichen trug. Das Kreuz wurde mit derselben Ehrfurcht begleitet, wie es zuerst empfangen worden war, und gleich darauf kamen der Platzmajor und der Kommandeur angefahren. Letzterer wurde bei uns sehr geachtet und sogar geliebt. Er durchschritt in Begleitung des Platzmajors sämtliche Kasernen und beglückwünschte uns alle zum Feste. Hierauf begab er sich auch in die Küche, wo er die Festtagskohlsuppe kostete, die diesmal vorzüglich zubereitet war: es war für jeden Sträfling ungefähr ein Pfund Rindfleisch mitgekocht worden. Außerdem gab es noch Grützbrei, zu dem man nach Herzenslust Butter hinzutun durfte. Der Platzmajor begleitete den Kommandeur zum Wagen und dann befahl er, daß mit dem Essen begonnen werde. Die Arrestanten bemühten sich, ihm nicht unter die Augen zu kommen. Man haßte bei uns seinen bösen Blick hinter den Brillengläsern hervor, mit dem er auch jetzt noch nach links und rechts ausschaute, ob er nicht irgendwo Unordnung entdecken, irgendwo einen Sündenbock finden könne.
Dann kam das Essen. Akim Akimytsch hatte sein Spanferkel vorzüglich zubereitet. Doch eines vermag ich nicht zu erklären, wie das kam: kaum war der Platzmajor fortgefahren, als sich schon sehr viel angeheitertes Volk zeigte, während noch vor kaum fünf Minuten alle nüchtern gewesen waren. Man sah überall bereits sich rötende und strahlende Gesichter, und bald waren auch Balalaiken zur Stelle. Der kleine Pole folgte schon mit seiner Geige irgend einem „Feiernden“, der ihn für den ganzen Tag gemietet hatte, und spielte und fiedelte ihm lustige Tänze vor. Die Unterhaltung wurde lauter, wurde trunken und geräuschvoll. Doch das Essen verlief noch ohne große Störungen. Alle waren satt. Viele von den Älteren und Soliden begaben sich sofort nach dem Mahl in ihre Kasernen und machten ein Schläfchen, was auch Akim Akimytsch tat, da er wahrscheinlich der Meinung war, daß man an einem Feiertage nach dem Mittag unbedingt schlafen müsse. Der altgläubige Greis aus Starodubowo kroch, nachdem er eine Zeitlang gestumpft hatte, auf den Ofen, schlug sein Buch auf und betete, so gut wie ohne jede Unterbrechung bis tief in die Nacht hinein. Es war ihm schwer, diese „Schmachhaftigkeit“, wie er sagte, mit anzusehen. Die Tscherkessen hatten sich auf die kleine Treppenstufe vor der Tür hingesetzt und blickten neugierig und doch mit einem gewissen Ekel auf das betrunkene Volk. Zufällig begegnete mir Nurra: „Jamán, jamán!“[6] sagte er kopfschüttelnd und mit ehrlichem Unwillen, „ach, jamán! Allah wird bös sein!“ Issai Fomitsch zündete eigensinnig und hochmütig seine Kerze an und machte sich an eine Arbeit, augenscheinlich in der Absicht, zu zeigen, daß er diesen Feiertag überhaupt nicht achte. Hier und da in den Ecken gab’s schon Spielhöllen. Die Invaliden fürchtete man nicht und für den Unteroffizier, der sich übrigens selbst bemühte, nichts zu bemerken, wurden Wächter aufgestellt. Der wachhabende Offizier steckte im Verlauf des Tages dreimal seine Nase in den Ostrogg, doch die Spielhöllen, und die Betrunkenen verschwanden noch eh man’s gedacht mit wundernehmender Geschwindigkeit, und auch er schien sich entschlossen zu haben, kleine Unordnungen diesmal nicht zu beachten. Zu diesen kleinen Unordnungen gehörten auch die Angeheiterten. Allmählich aber wurde man freier, berauschter, und es begannen Hader und Streit. Doch die Nüchternen waren in der Überzahl, so daß es immer noch welche gab, die die anderen bewachen konnten. Dafür aber tranken die „Feiernden“ diesmal ohne jedes Maß. Gasin triumphierte. Vor seinem Platz auf der Pritsche spazierte er hin und her, und war mit sich und mit der Welt zufrieden. Seinen Branntweinvorrat, der von ihm sonst draußen hinter den Kasernen irgendwo im Schnee verborgen gehalten wurde, hatte er dreist unter die Pritsche geschoben. Er lächelte verschlagen, wenn ein Käufer zu ihm kam. Selbst war er vollkommen nüchtern und trank keinen Tropfen. Er beabsichtigte, erst nach den Feiertagen zu schlemmen, wenn er den übrigen bereits alles aus der Tasche geholt hatte. In den Kasernen ertönten Lieder, doch die Trunkenheit wurde bei einzelnen mit der Zeit zu einer Betäubung, wie von Kohlendunst, und von den Liedern war es nicht weit bis zu den Tränen. Mehrere gingen mit selbstgefertigten Balalaiken, den Halbpelz über die Schultern geworfen, in fideler Stimmung umher und strichen gewandt und sicher mit den Fingerspitzen über die Saiten. In der „besonderen Abteilung“ hatte sich sogar ein Chor gebildet aus acht Mann, die prächtig zur Begleitung von Balalaiken und Gitarren sangen. Rein volkliche Lieder wurden wenig gesungen. Ich entsinne mich nur noch des einen munter vorgetragenen Liedes:
Als ich jung war, ging ich abends
Wohl zu manchem heitren Fest ...
Und hier hörte ich auch eine neue Variante dieses Liedes, die ich früher noch nicht gekannt hatte. Zum Schluß des Liedes wurden noch einige Strophen hinzugefügt, die die Tätigkeit der jungen Frau schilderten. Gewöhnlich aber wurden bei uns die sogenannten Arrestantenlieder gesungen, die ja wohl alle bekannt sind. Nur eines von ihnen, ein humoristisches, war mir neu. Es beschrieb in heiterem Ton, wie ein Mensch früher als Herr in der Freiheit vergnügt gelebt hatte, jetzt aber im Ostrogg die Ketten schleppen mußte. Es hieß, früher habe er Champagner getrunken und Süßes gegessen, jetzt aber müsse er mit schlechter Kohlsuppe zufrieden sein,
„Und gibt man auch nur Kraut in heißem Wasser,
Ich fresse alles auf mit Haut und Haar.“
Sehr beliebt war auch der bekannte Gassenhauer:
„Einstmals lebt’ ich, ein Knabe, flott und fröhlich,
Und sogar ein Kapital war mein.
Doch das Kapital, mein Knabe, ging zum Teufel
Und ich kam in den Ostrogg hinein.“
Nur wurde bei uns nicht „Kapital“ gesagt, sondern „Kapetal“.
Auch wurden oft melancholische und ernste Lieder gesungen. Eines war ein echtes Kátorgalied, das wohl gleichfalls bekannt sein dürfte:
„Steigt die Morgenröte erst empor,
Hört man schon den Trommelwirbel rufen ...“
usw. Ferner das bekannte:
„Wer aber weiß dort in der großen Welt,
Wie wir hinter unsren Wänden hausen ...“
Ein anderes Lied war noch melancholischer und hatte eine wundervolle Melodie. Wahrscheinlich war das Lied von einem Arrestanten gedichtet. Ich entsinne mich nur noch einiger Strophen aus demselben:
Dieses Lied wurde oft bei uns gesungen, aber nicht im Chor. Es ging bisweilen einer zur Feierabendzeit zufällig hinaus in die Dämmerung, setzte sich auf die kleine Treppenstufe vor der Kasernentür, stützte gedankenverloren die Wange in die Hand und sang es zuerst nur leise, dann immer lauter mit hoher Stimme. Man hörte zu und das Herz fing an zu schlagen. Wir hatten gute Stimmen im Ostrogg.
Inzwischen begann es zu dunkeln. Trauer, Sehnsucht und dumpfe Gefühle blickten schwer durch die Trunkenheit und das Gejohle hindurch. Manch einer, der noch vor einer Stunde gelacht hatte, weinte bereits in irgend einer Ecke, maßlos betrunken. Andere hatten schon mehr als einmal zu raufen begonnen. Wieder andere wankten, bleich und kaum auf den Füßen sich haltend, durch die Kasernen und stifteten Streit. Manche, die der Rausch nicht händelsüchtig machte, suchten vergeblich Freunde, denen sie ihr Herz hätten ausschütten können, um bei der Gelegenheit auch ihr trunkenes Leid auszuweinen. Dieses ganze arme Volk hatte fröhlich und heiter den großen Festtag verbringen wollen – und nun, mein Gott! – wie schwer und traurig war dieser Tag fast für einen jeden. Ein jeder verbrachte ihn mit einem Gefühl, als hätte er in einer großen Hoffnung eine große Enttäuschung erfahren. Petroff kam im ganzen zweimal zu mir. Er hatte nur sehr wenig getrunken und war fast ganz nüchtern. Aber er erwartete noch bis zum letzten Augenblick irgend etwas, das seiner Meinung nach unbedingt geschehen mußte, etwas Ungewöhnliches, Festtägliches, Belustigendes. Wenn er es auch nicht aussprach, so sah man es doch deutlich seinen Augen an. Er strich unermüdlich umher, aus einer Kaserne in die andere. Doch es geschah nichts Besonderes und er fand nichts, als betrunkene Gestalten, sinnlos trunkenes Gerede, Geschimpf und im Rausch gerötete Gesichter. Ssirotkin schlenderte gleichfalls umher, sah in seinem neuen roten Hemd, reingewaschen und glatt gekämmt, allerliebst aus, ging durch alle Kasernen und schien gleichfalls, still und naiv, irgend etwas zu erwarten.
Mit der Zeit wurde es unerträglich und ekelhaft in den Kasernen. Natürlich gab es auch viel Spaßiges, aber diese armen Menschen taten mir – ich weiß nicht warum – doch alle leid, und es war mir unter ihnen schwer und traurig zumute. Dort streiten sich zwei über das Problem, wer den anderen bewirten soll. Man sieht es ihnen an, daß sie schon lange streiten und sich auch schon mehrmals deswegen entzweit haben. Der eine besonders scheint den anderen schon von früher her auf dem Kerbholz zu haben. Er klagt ihn an und bemüht sich, mit merklich steifer Zunge zu beweisen, daß jener unrecht an ihm gehandelt habe: es war irgend einmal ein Halbpelz verkauft und irgend einmal irgend welches Geld unterschlagen worden, und alles in allem war es im letzten Jahr in der Butterwoche geschehen. Außerdem hatte es noch etwas zwischen ihnen gegeben ... Kurz, es war ihm Unrecht getan worden. Der Ankläger ist ein großer, stämmiger Bursche, nicht dumm, kein Raufbold, doch wenn er betrunken ist, hat er das Verlangen, Freundschaft zu schließen und dem Freunde sein Leid zu klagen. Wohl schilt er den anderen, gleichzeitig aber sieht man es ihm doch an, daß er es nur aus dem Wunsche heraus tut, nachher noch festere Freundschaft mit dem Feinde zu schließen.
Der andere ist untersetzt und mittelgroß mit einem runden Gesicht, schlau und hinterlistig. Er hat vielleicht mehr als sein Freund getrunken, hat aber nur einen leichten Rausch. Er ist ein Mann von Charakter und gilt für reich, doch scheint es ihm aus unbekanntem Grunde diesmal vorteilhaft, seinen mitteilsamen Freund nicht zu reizen, und er führt ihn zum Branntweinhändler. Der Freund behauptet, daß jener ihn freihalten müsse, – „wenn du nur ein ehrlicher Mensch bist.“
Der Branntweinverkäufer holt mit einer gewissen Hochachtung vor dem Käufer und einem Schimmer von Verachtung für dessen mitteilsamen Freund – da dieser nicht für sein eigenes Geld trinkt, sondern freigehalten wird – seinen Branntweinschlauch hervor und schenkt ein.
„Nein, Stepka, das bist du mir schuldig,“ sagt der mitteilsame Freund, „denn sieh, das bist du mir schuldig!“
„Schwatz nicht so viel dummes Zeug! Ich werd mir deinethalben auch keine Hühneraugen an die Zunge reden!“ ist Stepkas Antwort.
„Nein, Stepka, das lügst du,“ behauptet der erste und empfängt die Branntweintasse, „denn du bist mir Geld schuldig, Gewissen hast du nicht und deine Augen gehören ja gar nicht dir, die hast du einfach gestohlen! Ein Gauner bist du, Stepka, damit du’s weißt, ein echter Gauner, das sage ich dir rund!“
„Was plärrst du, sieh, daß du den Branntwein nicht verschülperst! Tut man dir die Ehre an, dir Branntwein zu kaufen, so trink!“ schreit der „Schenkwirt“ den mitteilsamen Freund an, „oder soll ich bis morgen auf meine Tasse warten?“
„Ich ... ich trink’ doch schon, was schreist du! Prost Fest, Stepan Dorofejitsch!“ wandte er sich plötzlich, die Tasse in der Hand, höflich und mit leichter Verbeugung zu Stepka, den er noch vor einer halben Minute einen Gauner genannt hatte. „Bleib gesund auf hundert Jahr, – was du schon verlebt hast, zählt nicht mit!“ Er trank, räusperte sich und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. „Früher, Freunde, konnte ich viel Branntwein saufen, o–ohne was zu merken,“ fuhr er mit ernster Wichtigkeit fort, diesmal gleichsam an alle sich wendend, „jetzt aber ist die Zeit für mich schon vorüber. Ich danke, Stepan Dorofejitsch!“
„Keine Veranlassung.“
„Und so werde ich dir, Stepka, immer dasselbe sagen und außerdem noch, daß du vor mir als großer Gauner dastehst, das sage ich dir noch außerdem ...“
„Ich aber werde dir, besoffene Fratze, noch etwas anderes sagen,“ unterbricht ihn Stepka, den die Geduld verläßt. „Höre und behalte jedes meiner Worte: da hast du die halbe Welt, wir teilen sie uns mitten durch, dir die eine Hälfte, mir die andere. Und jetzt mach, daß du mir nicht mehr unter die Augen kommst! Hab dich satt!“
„Du gibst mir also das Geld nicht zurück?“
„Was für ein Geld willst du noch haben, du besoffene Unke?“
„Wart, in jener Welt wirst du von selber kommen, um es mir abzugeben – werd aber dann nicht nehmen! Unser Geld ist schwer verdient, an ihm sind Schweiß und Schwielen. Wirst dort noch um meinen Fünfer vor Schulden umkommen, in jener Welt, meine ich.“
„Hol dich der Teufel, fahr ab zu ihr!“
„Wohin treibst du mich, ich bin doch kein Pferd.“
„Mach, daß du fortkommst! Pack dich!“
„Gauner!“
„Zuchthäusler!“
Und das Schimpfen hub von neuem an, diesmal noch stärker als vor der spendierten Tasse Branntwein.
Dort sitzen auf der Pritsche ganz abgesondert zwei Freunde: der eine groß, stark, fleischig, dick, so ein echter Fleischer mit rotem Gesicht: er ist den Tränen nahe, denn er ist sehr gerührt. Der andere ein schwächliches, hageres, mageres Kerlchen mit einer langen, spitzen Nase, an der beständig ein Tropfen hängt und manchmal auch niederfällt, mit kleinen Schweinsaugen, die zu Boden blicken. Das ist ein aufgeklärter und gebildeter Mensch, der einmal Schreiber gewesen ist und seinen Freund ein wenig von obenherab behandelt, was diesem im geheimen sehr unangenehm ist. Sie haben den ganzen Tag zusammen getrunken.
„Er hat sich unterstanden!“ schreit der fleischige Freund und schüttelt kräftig den Schreiber, den er mit der linken Tatze um die Schultern gefaßt hat, sodaß dessen Kopf lose hin und her pendelt. „Er hat sich unterstanden“ bedeutet „Er hat mich geschlagen“. Der fleischige Freund, der selbst ehemaliger Unteroffizier ist, beneidet im Geheimen mächtig seinen hageren Freund um dessen Bildung, und so geben sie sich beide große Mühe, nur in gewähltem Stil zu einander zu reden.
„Ich aber sage dir, daß du im Unrecht bist,“ beginnt dogmatisch der Schreiber, der hartnäckig seine Augen nicht zum anderen erhebt und wichtig fortfährt, den Boden zu fixieren.
„Er hat sich unterstanden! – hörst du, was ich sage!“ unterbricht ihn der Dicke und schüttelt seinen lieben Freund noch heftiger. „Du allein bist mir jetzt noch in der ganzen Welt geblieben – hörst du, was ich sage! Darum sage ich dir das eine: er hat sich unterstanden! ...“
„Und ich sage dir wiederum: eine so saure Rechtfertigung, teurer Freund, macht deinem Gehirn nur Schande,“ entgegnet mit dünnem und geschütteltem Stimmchen der Schreiber, „also gib lieber zu, teurer Freund, daß diese ganze Trunkenheit nur eine Folge deiner Unbeständigkeit ist.“
Der Oberkörper des teuren Freundes wankt etwas zurück, stumpf blickt er mit seinen betrunkenen Augen auf das zufriedene Schreiberlein, und plötzlich, ganz unerwartet, knallt er ihm aus aller Kraft mit seiner riesigen Tatze eine schallende Ohrfeige auf die kleine Backe. Und damit hat ihre Freundschaft für diesen Tag aufgehört. Der liebe Freund fliegt besinnungslos unter die Pritschen ...
Da tritt in unsere Kaserne einer meiner Bekannten aus der besonderen Abteilung ein – ein unendlich gutmütiger und lustiger Bursch, nicht gerade dumm, unverletzend spottlustig und von Ansehen ungemein gewöhnlich. Es ist derselbe, der am ersten Tage nach meiner Ankunft in der Küche den „reichen Mann“ gesucht und schließlich von mir ein Glas Tee angenommen hatte. Er ist vierzig Jahre alt, hat eine ungewöhnlich dicke Unterlippe und eine fleischige Nase, die mit Hitzbläschen und Finnen übersät ist. Er hat eine Balalaika, auf der er nachlässig mit den Fingern hin und wieder ein paar Töne spielt. Ihm folgt, als wäre er am Schlepptau, ein kleiner Arrestant mit einem großen Kopf, den ich bis dahin nur flüchtig gekannt hatte. Ihm wurde übrigens auch von niemand besondere Beachtung geschenkt. Er war etwas absonderlich, mißtrauisch, ewig schweigsam und sehr ernst. Er arbeitete in der Schneiderstube und war sichtlich bemüht, als Sonderling zu leben und niemandem näherzutreten. Jetzt aber, in der Trunkenheit, hatte er sich wie ein Schatten an Warlamoff geheftet. Er folgte ihm in unglaublicher Erregung, fuchtelte mit den Armen, schlug mit der Faust an die Wand, auf die Pritsche, und es fehlte nicht viel, so hätte er geweint. Warlamoff schenkte ihm, wie es wohl scheinen konnte, nicht die geringste Beachtung, als wäre er überhaupt nicht dagewesen. Bemerkenswert ist ferner, daß diese zwei früher so gut wie nie miteinander in Berührung gekommen waren. Sie hatten weder in der Beschäftigung noch im Charakter etwas Gemeinsames. Sie gehörten sogar verschiedenen Abteilungen an und wohnten in verschiedenen Kasernen. Der Kleine mit dem großen Kopf hieß Bulkin.
Als Warlamoff mich erblickte, lächelte er übers ganze Gesicht. Ich saß auf meinem Pritschenplatz am Ofen. Er blieb nicht weit von der Tür stehen, schien etwas zu überlegen, wankte dann und kam mit ungleichmäßigen Schritten auf mich zu, um sich breitbeinig und eigenartig keck mit seinem schweren Körper vor mir aufzupflanzen. Nach einem leichten Schlag über die Saiten begann er ein Rezitativ, zu dem er kaum merklich mit der Stiefelspitze den Takt schlug:
„Blondlockig, rotwangig,
Singt wie die Nachtigall
Meine Herzliebste:
Ist in dem prachtvoll
Bestickten Atlaskleid
Die Allerschönste.“
Dieses Lied machte auf Bulkin, wie es schien, einen solchen Eindruck, daß er außer sich geriet: er fuchtelte mit den Armen und schrie uns allen zu:
„Alles lügt er, Brüder, alles lügt er! Nicht ein Wort kann er in Wahrheit sagen, alles lügt er!“
„Dem alten Alexander Petrowitsch!“ grüßte Warlamoff, mit verschmitztem Lächeln, mir in die Augen blickend, und womöglich geneigt, mich abzuküssen. Er hatte einen guten Rausch. Der Ausdruck „dem Alten“ – d. h. „dem Alten so und so mein Gruß“ – wird in ganz Sibirien von dem einfachen Volke gebraucht, selbst einem Zwanzigjährigen gegenüber. Das Wort „der Alte“ hat etwas Ehrwürdiges, Ehrfürchtiges, sogar Schmeichelhaftes.
„Nun, Warlamoff, wie geht’s?“
„Immer von einem Tage zum andern. Aber wer sich über den Feiertag freut, der ist seit dem Morgen berauscht. Ihr müßt mich schon entschuldigen!“ Warlamoff sprach ein wenig gedehnt.
„Und immer, immer muß er wieder lügen!“ schrie Bulkin und hämmerte geradezu verzweifelt mit der Hand auf die Pritschen. Warlamoff aber schien sich geschworen zu haben, dem anderen nicht die geringste Beachtung zu schenken, und darin lag eine unbeschreibliche Komik, denn Bulkin hatte sich dem Warlamoff seit dem Morgen ohne jede Veranlassung angehängt, – vielleicht, weil Warlamoff „alles lügt“, wie es ihm plötzlich aus irgend einem Grunde schien. Er folgte ihm wie ein Schatten, fiel über jedes seiner Worte her, rang die Hände, hämmerte sie an den Wänden und Pritschen fast blutig und litt, litt aufrichtig unter der Überzeugung, daß Warlamoff „alles lügt“! Hätte er Haare auf dem Kopf gehabt, ich glaube, er hätte sie sich ausgerauft vor lauter Verzweiflung. Es war, als hätte er es auf sich genommen, für jedes Wort Warlamoffs zu verantworten, als lägen alle Mängel Warlamoffs auf seinem Gewissen. Und zu alledem kam noch, daß jener ihn nicht einmal ansah! Das war entschieden zu viel.
„Alles lügt er, alles lügt er, alles lügt er! Kein einziges Wort ist wahr, alles lügt er!“ schrie Bulkin.
„Was geht denn dich das an?“ fragten lachend die anderen.
„Ich werde Euch, Alexander Petrowitsch, gehorsamst vermelden, daß ich von mir aus einmal sehr hübsch war und die Mädels mich sehr geliebt haben ...“ begann plötzlich Warlamoff, ohne jede Veranlassung zu diesem Bekenntnis.
„Er lügt! Lügt schon wieder!“ schreit Bulkin in heller Verzweiflung.
Alles lacht.
„Ich aber mache mich rar. Habe ein rotes Hemd und weite Pluderhosen; liege lang ausgestreckt wie so ’n Graf Butylkin, das heißt, voll wie ein Schwede, mit einem Wort – was will man mehr!“
„Er lügt!“ bestätigte Bulkin überzeugt.
„Dazumal aber besaß ich noch ein zweistöckiges Haus von meinem Vater, ein steinernes. Na ja, in zwei Jahren war ich mit zwei Stockwerken fertig, es blieb mir nur noch das Hoftor, die Pfosten abgerechnet. Was, Geld! Geld ist wie – Tauben: es kommt angeflogen und fliegt wieder weg! Wisch noch den Mund ab, wenn du willst.“
„Er lügt!“ bestätigte Bulkin noch beharrlicher.
„Und so schickte ich denn neulich meinen Anverwandten von hier aus einen Tränenbrief: was kann man wissen, vielleicht schicken sie mir etwas. Sie sagten zwar immer, ich sei gegen meine Eltern gewesen, unehrerbietig, sozusagen. Jetzt werden es schon sieben Jahre her sein, als ich schickte.“
„Wie, und noch keine Antwort erhalten?“ fragte ich lachend.
„Na ja, selbstverständlich keine!“ antwortete er und lachte dann selbst mit, näherte aber seine Nase immer mehr meinem Gesicht. „Aber dafür habe ich hier, Alexander Petrowitsch, eine Geliebte ...“
„Ihr? Eine Geliebte?“
„Onufrijeff sagte mir noch vorhin, mag die Meine auch pockennarbig sein, so hat sie doch viel Kleider, deine aber ist wohl hübsch, dafür aber bettelarm, geht wie eine Maus im Sack.“
„Ist denn das wahr?“
„Wahrhaftig bettelarm!“ beteuerte er und brach in lautloses Lachen aus. Die anderen lachten gleichfalls. Alle wußten, daß er tatsächlich mit einer ganz Armen angebändelt und ihr in einem halben Jahre nur zehn Kopeken gegeben hatte.
„Nun und was weiter?“ fragte ich mit dem Wunsch, ihn loszuwerden.
Er schwieg, blickte mich gerührt an und sagte schließlich geradezu zärtlich:
„Würdet Ihr mich denn nicht im Hinblick auf diese Tatsache mit einem Viertelliter Branntwein beglücken? Ich habe doch, glaubt mir, Alexander Petrowitsch, heut den ganzen Tag nur Tee und immer wieder Tee gesoffen,“ fügte er melancholisch hinzu, indem er das Geld empfing, „und davon bin ich jetzt so voll, daß ich gar nicht mehr atmen kann, und im Magen schaukelt’s, wie in einer Flasche ...“
Während er nun das Geld nahm, erreichte die sittliche Entrüstung Bulkins ihre letzte Grenze. Er gestikulierte wie ein Verzweifelter und war dem Weinen beängstigend nahe.
„Kinder Gottes!“ schrie er wie wahnsinnig, sich an alle wendend, „seht ihn an! Alles lügt er! Was er auch sagt, alles, alles, alles, aber auch alles lügt er!“
„Aber was geht denn dich das an?“ rufen ihm die Arrestanten von allen Seiten zu, erstaunt über seinen Eifer. „Dummer Kerl!“
„Ich lasse nich lügen!“ schreit Bulkin mit blitzenden Augen und schlägt aus aller Kraft mit der Faust auf die Pritschen, – „ich will nicht, daß er lügt!“
Alles lacht. Warlamoff nimmt das Geld, dankt, verbeugt sich vor mir und verläßt darauf die Kaserne, selbstverständlich um zu einem Branntweinverkäufer zu gehen. Und da erst scheint er Bulkin zu bemerken.
„Na, gehen wir!“ sagt er zu ihm, auf der Schwelle stehen bleibend, ganz als hätte er jenen wirklich zu irgend etwas nötig. „So’n Stockknopf!“ fügt er hinzu, während er mit verächtlicher Miene den betrübten Bulkin zuerst über die Schwelle treten läßt und von neuem anfängt, auf der Balalaika zu spielen.
Doch wozu soll ich noch weiter dieses Treiben schildern! Endlich ist dieser bedrückende Tag zu Ende. Schwer schlafen sie alle auf den Pritschen ein. Im Traum sprechen und phantasieren sie noch mehr als sonst. Hier und da sitzen noch ein paar Kartenspieler. Der langersehnte Tag ist vorüber. Morgen beginnt wieder das alte Leben, wieder die alte Arbeit.
Am dritten Tage des Weihnachtsfestes kam endlich auch die erwartete Aufführung auf unserem Theater zustande. Der Vorbereitungen hatte es wahrscheinlich eine Unmenge gegeben, doch die Schauspieler hatten alles auf sich genommen, so daß wir übrigen nicht einmal wußten, wie die Sache stand, was getan wurde, ja nicht einmal genau, was denn eigentlich aufgeführt werden würde. Die Spieler hatten sich in all den drei Tagen beim Hinausgehen zur Arbeit redlich bemüht, möglichst viel Kleider zu verschaffen. Wenn Bakluschin mir begegnete, so schnippte er nur mit den Fingern vor lauter Vergnügen. Wie es schien, war auch der Platzmajor bei guter Laune. Übrigens konnten wir auf keine Weise in Erfahrung bringen, ob er etwas von dem Theater wußte, und falls er wußte, ob er es dann formell erlaubt oder sich nur entschlossen hatte, zu schweigen – gleichsam über den tollen Einfall der Zwangsarbeiter mit der Hand abwinkend, als wollte er sagen: tut was ihr wollt! – bloß mit dem Nachsatz, daß keine Unordnung geschehen dürfe. Doch wie gesagt, darüber wußten wir nichts Genaues. Ich aber glaube, daß er um das Theater sehr wohl wußte, denn wie hätte er es nicht wissen sollen? Nur wollte er sich nicht einmischen, da er wohl einsah, daß ein Verbot schlimmer sein würde: die Sträflinge würden sich rächen, trinken, raufen, so daß es weit besser war, sie beschäftigten sich mit irgend etwas. Übrigens setze ich diese Auffassung der Sache bei dem Platzmajor nur deshalb voraus, weil sie die natürlichste, richtigste und vernünftigste ist. Ja, man kann sogar sagen: hätten die Arrestanten sich in den Festtagen kein Theater oder irgend eine Zerstreuung ausgedacht, so wäre es die Pflicht der Vorgesetzten gewesen, etwas derartiges für sie zu ersinnen. Da aber unser Platzmajor sich durch eine in allen Dingen vollkommen umgekehrte Denkweise von der übrigen Menschheit unterschied, so ist es sehr unklug von mir, daß ich eine so große Verantwortung auf mich lade: so ohne jede Handhabe anzunehmen, daß er um das Theater wußte. Ein Mensch wie unser Major mußte unbedingt jemand unterdrücken, irgend etwas fortnehmen, irgendwen eines Rechtes berauben, mit einem Wort – irgendwo den Frieden stören. In dieser Beziehung war er in der ganzen Stadt bekannt. Was ging es ihn an, daß es gerade infolge seiner Unterdrückungen zu Ungezogenheiten im Ostrogg kam! Für Ungezogenheiten sind die Bestrafungen da, denken Leute wie unser Major, und bei solchen Spitzbuben von Arrestanten ist Strenge und buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes alles, was nötig ist!
Diese beschränkten Vollstrecker des Gesetzes begreifen tatsächlich nicht, und sind auch überhaupt nicht fähig, zu begreifen, daß allein die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes ohne Sinn, ohne Verständnis seines Geistes, der geradeste Weg zu Unordnung und Empörung ist und auch noch niemals zu anderem geführt hat.
„Es steht im Gesetz, was will man noch mehr?“ denken und sagen sie, und sind aufrichtig erstaunt darüber, daß man von ihnen noch als Zugabe zu den Gesetzen gesunden Verstand und einen nüchternen Kopf verlangt. Letzteres erscheint vielen von ihnen als völlig überflüssiger und empörender Luxus, als Unterdrückung ihrer Persönlichkeit und als Intoleranz.
Doch wie dem auch war, jedenfalls erhob der älteste Unteroffizier keinen Einspruch, und das war schließlich alles, was die Arrestanten brauchten. Ich behaupte dreist, daß das Theater und die Dankbarkeit für die Erlaubnis desselben der einzige Grund waren, warum während der Festtage keine einzige ernste Unordnung im Ostrogg vorkam, kein einziger böser Streit, kein einziger Diebstahl. Ich war selbst Zeuge, wie Streitende oder Betrunkene von den anderen auseinander gebracht und ernüchtert wurden, einzig mit der Drohung, daß sonst das Theater verboten werden würde. Der Unteroffizier nahm den Arrestanten das Wort ab, daß alles der Ordnung gemäß sein werde und sie sich in dieser Zeit tadellos aufführen würden. Freudig wurde es versprochen und gewissenhaft das Wort gehalten. Auch schmeichelte es ihnen sehr, daß man ihrem Worte glaubte. Übrigens kostete ja die Erlaubnis zur Theateraufführung den Vorgesetzten keinerlei Opfer. Die ganze Bühne wurde in kaum fünfzehn Minuten aufgebaut und nach der Vorstellung wieder beseitigt, so daß weder ein besonderer Raum abgegrenzt, noch ein Teil einer Kaserne beständig in Anspruch genommen war; die Aufführung dauerte nur anderthalb Stunden. Und selbst wenn plötzlich von oben der Befehl gekommen wäre, die Aufführung abzubrechen, – so wäre alles im Augenblick beseitigt gewesen. Die Kostüme wurden in den verschließbaren Kästen der Arrestanten aufbewahrt. Doch bevor ich mit der Schilderung des Theaters beginne, will ich noch einiges über das Programm der Aufführung sagen.
Einen richtigen, geschriebenen Theaterzettel gab es nicht. Erst zur zweiten oder dritten Aufführung erschien ein einziger, den Bakluschin für die Herren Offiziere und die hohen Gäste, die unser Theater mit ihrem Besuch beehrten, eigenhändig geschrieben hatte. Diese hohen Gäste waren folgende: gewöhnlich der wachhabende Offizier, und einmal erschien sogar der Offizier du jour, der die wachhabenden kontrollierte, und einmal auch ein Verwaltungsbeamter. Für diese Herren nun war der schöne Theaterzettel geschrieben worden. Man setzte voraus, daß der Ruhm des Theaters weit über die Festung hinaus, sogar in der ganzen Stadt seine Verbreitung finden würde, umsomehr, als es dort kein Theater gab. Es hieß nur, daß Liebhaber sich zu einer einzigen Aufführung zusammengetan hätten, aber das war auch alles.
Die Arrestanten freuten sich wie Kinder über den geringsten Erfolg, und waren sehr stolz auf ihn.
„Wer kann denn wissen,“ dachten und sagten sie, „vielleicht wird es auch die höchste Obrigkeit erfahren, herkommen und sehen, was wir eigentlich sind! Das ist keine gewöhnliche Soldatenvorstellung mit Vogelscheuchen, schwimmenden Kähnen, gehenden Bären und Ziegen! Hier sind es immer Schauspieler, richtige Schauspieler, die herrschaftliche Komödie spielen! Ein solches Theater gibt es ja in der ganzen Stadt nicht! Bei dem General Abrossimoff soll einmal, sagt man, eine Theateraufführung gewesen sein, und es soll dort noch einmal gespielt werden. Nun, in den Kostümen werden sie uns vielleicht schlagen, aber im Gespräch da sind wir ihnen weit über! Es wird noch bis zum Gouverneur dringen und – wer weiß – womit spaßt der Teufel nicht? – vielleicht bekommt er selber Lust, zuzusehen? In der Stadt gibt es kein Theater ...“
Kurz, die Phantasie der Arrestanten kannte während der Festtage, und besonders nach dem ersten Erfolge, keine Grenzen, ja sie verstieg sich sogar bis zu Belohnungen und zur Verminderung der Strafzeit, wenn die Sträflinge auch im selben Augenblick gutmütig über sich selbst lachten. Mit einem Wort, sie waren wie Kinder, wie die richtigen Kinder, obgleich einige dieser Kinder schon vierzig Jahre zählten. Doch ungeachtet dessen, daß es keine Theaterzettel gab, kannte ich bereits, wenigstens in den Hauptzügen, die ganze Zusammenstellung der Aufführung.
Das erste Stück hieß: „Filatka und Miroschka, die Nebenbuhler“. Bakluschin hatte mir schon vor einer Woche stolz mitgeteilt, daß der Filatka, dessen Rolle er selbst übernommen hatte, so gespielt werden würde, wie man es nicht einmal im Sankt Petersburger kaiserlichen Theater besser sehen könne. Er ging von einer Kaserne zur anderen, rühmte sich unbarmherzig und unverschämt, gleichzeitig aber auch vollkommen gutmütig, bis er plötzlich etwas „thieatralisches“ zum Besten gab, d. h. ein paar Sätze aus der eigenen Rolle, und alle lachten – gleichviel ob es zum Lachen war oder nicht, was er gesagt hatte. Doch muß ich bemerken, daß die Sträflinge sich auch hierin zu beherrschen und ihre Würde zu wahren wußten: die Erzählungen Bakluschins und seine Schilderungen der bevorstehenden Aufführung entzückten nur die Jüngsten, die sogenannten Grünschnäbel, die noch keine Selbstbeherrschung kannten, oder nur die bedeutendsten Persönlichkeiten, deren Autorität bereits so unerschütterlich war, daß sie weiter nichts zu fürchten brauchten, wenn sie ihren Gefühlen, gleichviel welchen, und wären es auch die naivsten – d. h. nach Ostroggbegriffen die unanständigsten – freien Ausdruck gewährten. Die übrigen aber hörten den Schwätzereien schweigend zu. Freilich verboten sie dem Schwätzer weder das Wort noch tadelten sie ihn, aber sie bemühten sich aus allen Kräften, sich möglichst gleichgültig und teilweise sogar hochmütig diesen Berichten gegenüber zu verhalten. Erst am letzten Tage wurde das Interesse allgemein: „Wie wird es denn sein? Was machen die Unsrigen? Was sagt der Major? Wird es auch ebenso gelingen, wie vor zwei Jahren?“ usw. Bakluschin versicherte mir, daß die Rollen vorzüglich verteilt seien, ein jeder sei „wie geboren“ zu der seinen. Ferner, daß sie sogar einen Vorhang hätten und daß die Braut Filatkas von Ssirotkin dargestellt werden würde – „und wie der in Weiberkleidern aussieht! – na, Sie werden ja mit eigenen Augen sehen!“ meinte er stolz und schnalzte vor Vergnügen. Die wohltätige Gutsbesitzerin sollte in einem Falbelkleide und einer Pelerine und einem Sonnenschirm erscheinen, und der wohltätige Gutsbesitzer in einem Offiziersrock mit Achselschnüren und einem Rohrstock.
Darauf folgte das zweite Stück, und zwar ein dramatisches: „Kedrill der Vielfraß“. Dieser Titel erweckte sogleich mein Interesse, aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte doch nichts Genaues über das Stück erfahren. Man wußte nur, daß es nicht aus einem Buche stamme, sondern aus einer Abschrift, und erhalten hatte man es von einem ehemaligen Unteroffizier aus der Vorstadt, der vielleicht selbst einmal an einer Soldatenaufführung dieses Stückes teilgenommen hatte. Bei uns in Rußland haben sich in entlegenen Städten und Gouvernements tatsächlich noch alte Theaterstücke erhalten, die, wie es scheint, keinem einzigen Literaten bekannt und vielleicht kein einziges Mal gedruckt worden sind, die ganz von selbst aufgetaucht zu sein scheinen, Dichtungen, die den Grundstock eines jeden „Volkstheaters“ darstellen. Es wäre wohl sehr, sehr zu wünschen, daß jemand von unseren Forschern und Sammlern sich mit etwas gründlicheren Nachforschungen abgeben würde, als sie bis jetzt unserem Volkstheater gewidmet worden sind. Denn ein Volkstheater haben wir sowohl früher gehabt, wie wir es auch jetzt noch haben, und ich glaube annehmen zu dürfen, daß es durchaus nicht so unbedeutend ist. Ich kann es nicht glauben, daß alles, was ich in unserem Ostroggtheater gesehen habe, von unseren Arrestanten „frei aus der Luft“ ersonnen gewesen sei. Hier handelte es sich vielmehr um ein altes Erbe aus der Überlieferung, um einmal angenommene Bräuche und Begriffe, wie sie sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen. Suchen und nachforschen müßte man bei Soldaten, Fabrikarbeitern, in Fabrikstädten und auch in manchen entlegenen Städtchen bei den Bürgern. Auch auf Gütern, unter dem Gesinde der großen Gutsbesitzer haben sie sich erhalten und sind durch diese bis in die Gouvernementsstädte gedrungen. Ich glaube sogar, daß viele alte Dichtungen sich nur dank der Abschriften der Gutsdienerschaft vermehrt und erhalten haben. Hatten doch früher in alten Zeiten die reichen Gutsherren und die Moskauer Großen eigene Theater auf ihren Gütern, während die Schauspieler ihre Leibeigenen waren. Diese Theater nun sind die Grundlage unserer Volksdramatik, wofür wir unzweifelhafte Anzeichen haben. Was nun den „Vielfraß Kedrill“ anbelangt, so konnte ich vorläufig nichts erfahren, ausgenommen das eine, daß auf der Szene böse Geister erscheinen und den Vielfraß Kedrill in die Hölle schleppen würden. Was aber der Name Kedrill bedeutete und schließlich warum Kedrill und nicht Kyrill – das vermochte mir niemand zu sagen, und ebensowenig, ob es ein echt russisches Stück war, oder einem ausländischen entlehnt. Und zum Schluß, hieß es, werde eine „Pantomime mit Musik“ aufgeführt werden. Das war natürlich alles sehr interessant.
Der Schauspieler gab es etwa fünfzehn, – ein flottes und geschicktes Volk. Sie saßen keinen Augenblick still, veranstalteten Proben hinter den Kasernen, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, versteckten sich und taten überaus geheimnisvoll. Kurz, sie wollten uns alle mit etwas Ungewöhnlichem und Ungeahntem überraschen.
An den Arbeitstagen wurde der Ostrogg früh geschlossen, sobald es dunkelte. Während des Weihnachtsfestes aber wurde eine Ausnahme gemacht: man schloß nicht vor dem Zapfenstreich, was eine Vergünstigung für die Theateraufführungen war. Während der ganzen Festwoche wurde täglich vor dem Abend aus dem Ostrogg eine „Gesandtschaft“ zum wachhabenden Offizier abgesandt, mit der Bitte, die Aufführung zu erlauben und den Ostrogg etwas später zu schließen, mit dem Nachsatz, daß auch gestern gespielt und der Ostrogg später geschlossen worden sei, Unordnungen aber nicht vorgekommen wären. Der Wachhabende denkt nun wohl folgendes: „Unordnung hat es gestern allerdings nicht gegeben und wenn sie selbst versprechen, daß auch heute keine vorkommen wird, so werden sie selbst auf sich acht haben, das aber ist das Sicherste, was man sich denken kann. Hinzu kommt jetzt, daß sie, falls ich das Spiel verbiete, womöglich – wer kann denn sicher sein bei dieser Räuberbande! – mit Absicht irgend etwas losschießen und noch die Wache hineinziehen. Schließlich kommt noch hinzu, daß auf Wache sein äußerst langweilig ist, dort aber Theater gespielt werden soll, und zwar nicht von gewöhnlichen Soldaten, sondern von Arrestanten – diese aber sind eine ‚interessante Bande‘ und es wäre doch nicht übel, selbst mal zuzusehen.“ Dazu aber hat der wachhabende Offizier immer das Recht, und so erlaubt er die Aufführung. Sollte nun aber ein böser Geist den Offizier du jour ihm auf den Hals schicken und dieser fragen: „Wo ist der wachhabende Offizier?“ so ist ein „Gehorsamst zu melden: sind zur Revision in den Ostrogg gegangen,“ die klare Antwort und volle Rechtfertigung zugleich.
So kam es denn, daß während der ganzen Festwoche von Seiten des Wachhabenden jeden Abend die Aufführung erlaubt und der Ostrogg nicht vor dem Zapfenstreich geschlossen wurde. Die Arrestanten wußten schon aus alter Erfahrung, daß sie von den Wachhabenden nichts zu befürchten hatten und machten sich deswegen keine Sorgen.
Am Tage der ersten Aufführung kam Petroff zu mir, um mich abzuholen, wie er sagte, und wir begaben uns ins „Theater“. Aus unserer Kaserne gingen alle außer dem Altgläubigen und den Polen. Die Polen entschlossen sich erst kurz vor der letzten Aufführung, am vierten Januar, das Theater zu besuchen, und auch das erst nach langen Versicherungen, daß es dort sowohl gut wie lustig und ungefährlich sei. Der Hochmut der Polen reizte die Arrestanten nicht wenig, doch als sie endlich am vierten Januar erschienen, wurden sie sehr höflich empfangen und man ließ sie sogar nach vorn zu den besseren Plätzen. Was nun die Tscherkessen und im besonderen Issai Fomitsch anbetrifft, so war unser Theater für sie ein wahrer Hochgenuß. Issai Fomitsch gab jedesmal drei Kopeken, doch das letzte Mal legte er ganze zehn Kopeken auf den Teller, während sein Gesicht in dem Augenblick die Seligkeit selbst war. Die Schauspieler hatten beschlossen, von den Anwesenden soviel zu sammeln, wieviel ein jeder geben wollte, in erster Linie, um die Unkosten bestreiten zu können und in zweiter zur eigenen „Stärkung“.
Petroff versicherte mir, daß man mich auf einen der ersten Plätze durchlassen würde, wie gepfropft voll auch der ganze Raum und wie schwer auch das Durchdringen sein sollte, und zwar würde man es aus dem Grunde tun, weil ich, der ich reicher war als die anderen, wahrscheinlich auch mehr geben würde, und außerdem verstände ich auch mehr als sie von solchen Sachen. Petroff hatte recht: es geschah, was er gesagt hatte. Doch vorher muß ich noch den „Saal“ und die „Bühne“ beschreiben.
Unsere Militärkaserne, in der die Aufführung stattfand, war ungefähr fünfzehn Schritt lang. Vom Hof trat man zuerst auf die Treppe, von der Treppe in den Flur und aus dem Flur in die Kaserne. Dieser längliche Raum war, wie ich schon erwähnte, anders eingerichtet, als die übrigen Kasernen: die Pritschen waren direkt an den Wänden angebracht, so daß die Mitte des Raumes frei blieb. Die Hälfte dieser Kaserne, die dem Eingang und dem Flur zunächst lag, war den Zuschauern überlassen; die andere Hälfte, die mit der zweiten Kaserne in Verbindung stand, war von der Bühne eingenommen. Mein erstes Staunen erregte vor allen anderen Dingen – der Vorhang. Er zog sich, etwa zehn Schritt lang, quer durch die ganze Kaserne hin. Ja, dieser Vorhang war so wundervoll, daß man wirklich Ursache hatte, erstaunt zu sein. Ganz abgesehen davon, daß er mit richtiger Ölfarbe gemalt war, sah man auf ihm noch so etwas wie Bäume, Lauben, Teiche und Sterne dargestellt. Er bestand aus alten und neueren Leinwandstücken, soviel wie ein jeder gegeben und gestiftet hatte, aus alten Fußlappen und Hemden der Arrestanten, die irgendwie zu einem großen Ganzen zusammengenäht waren, und außerdem bestand noch ein Teil desselben, zu dem das Zeug nicht mehr gereicht hatte, einfach aus Papier, das gleichfalls, blatt- und bogenweise, in allen nur möglichen Kanzleien und Schreiberstuben, erbettelt worden war. Unsere Maler aber, unter denen sich auch A–ff, unser Brüloff 2, auszeichnete, hatten das Meisterwerk der Bemalung übernommen. Die Wirkung war erstaunlich. Eine solche Pracht freute selbst unsere düstersten und pedantischsten Misanthropen, die aber sonderbarerweise, als es nun zur Aufführung kam, sich ausnahmslos als dieselben kleinen Kinder zeigten, wie die Jüngsten und Ungeduldigsten. Alle waren ungemein zufrieden mit dem ersten Eindruck, sogar ungeheuer, sogar bis zum Eigendünkel zufrieden. Die Beleuchtung bestand aus Talglichten, die in Stücke geschnitten waren. Vor dem Vorhang standen zwei Bänke aus der Küche und vor diesen Bänken noch drei oder vier Stühle, die man in der Stube des Unteroffiziers gefunden hatte. Die Stühle waren für den Fall hingestellt, daß die höchsten Gäste erschienen, wie zum Beispiel der Wachhabende, einer der Verwaltungsbeamten, und vielleicht noch andere desselben Ranges. Die Bänke aber waren für die Unteroffiziere bestimmt, für die Schreiber der Verwaltungsstube, die Aufseher und die übrigen Beamten, die wohl noch zu den Vorgesetzten gehörten, doch nicht etwa von Offiziersrang waren – für den Fall, daß auch sie zufällig in den Ostrogg kämen. Und so war es auch: zu keiner Aufführung fehlte es uns an fremden Besuchern, an einem Abend kamen mehr, am anderen weniger, doch zur letzten Aufführung war tatsächlich kein einziger Platz auf den Bänken unbesetzt. Hinter den Bänken endlich kamen die Arrestanten, alle stehend und aus Achtung vor den Gästen ohne Kopfbedeckung, in Joppen oder Halbpelzen, trotz der drückenden, schwülen Luft in der Kaserne. Natürlich war dieser Raum für die ganze Masse der Arrestanten gar zu eng bemessen, denn obschon der eine buchstäblich auf dem anderen saß, namentlich in den letzten Reihen, waren auch noch alle Pritschen besetzt, alle Kulissen, und schließlich fanden sich noch Liebhaber, die beständig hinter die Bühne gingen, in den anstoßenden Kasernenraum, und von dort aus, also hinter den Kulissen hervor, zusahen. Die Enge in der vorderen Hälfte der Kaserne war unbeschreiblich, ähnlich wie ich sie vorher nur einmal in der Badestube erlebt hatte. Die Tür zum Flur stand weit offen; im Flur, wo eine Kälte von 20 Grad herrschte, drängten sich gleichfalls Kopf an und über Kopf die Zuschauer. Wir beide, Petroff und ich, wurden aber sofort durchgelassen, fast bis dicht an die Bänke, wo man natürlich viel besser sehen und hören konnte, als in den hinteren Reihen. In mir sah man gewissermaßen einen Kenner und Kritikfähigen, der schon ganz andere Aufführungen gesehen hatte. Sie wußten, daß Bakluschin mich mehr als einmal um Rat gefragt hatte und sich stets ehrerbietig zu mir verhielt, folglich gebührte mir jetzt Ehre und ein guter Platz. Die Arrestanten waren gewiß ein ruhmsüchtiges und im höchsten Grade eingebildetes Volk, – aber das war doch nur äußerlich. Sie konnten wohl über mich lachen, wenn ich ihnen bei der Arbeit nur schlecht zu helfen vermochte, Almasoff konnte auf uns Adlige mit Verachtung herabblicken, weil wir nicht Alabaster zu brennen verstanden, doch zu all ihren Spötteleien und ihrer ganzen Verachtung gesellte sich doch noch etwas anderes: wir waren einmal Adlige gewesen, wir hatten einmal zu der Klasse ihrer früheren Herren gehört, die ihnen vielleicht Unrecht getan und an die sie nicht mit guten Gefühlen zurückdenken konnten. Hier aber, im Theater, machten sie mir freiwillig Platz. Sie erkannten es an, daß ich davon mehr verstand, als sie, daß ich mehr gesehen und besser zu urteilen vermochte. Selbst diejenigen, die mir am wenigsten gewogen waren – das wußte ich sehr wohl, – hätten jetzt gern von mir ein Lob ihres Theaters gehört und gaben mir ohne jede Selbsterniedrigung den guten Platz. So urteile ich jetzt darüber in der Erinnerung an meinen damaligen Eindruck. Und es schien mir auch an jenem ersten Theaterabend – dessen entsinne ich mich genau –, daß in ihrem richtigen Urteil über sich nicht etwa eine Selbsterniedrigung, sondern nur das Gefühl der eigenen Würde lag. Der größte und schärfste Charakterzug unseres Volkes ist das Gefühl für die Gerechtigkeit und das unbedingte Verlangen nach derselben. Das Großsprechen und Großtun und um jeden Preis immer auf dem ersten Platz sein wollen, gleichviel, ob er es wert ist oder nicht – das wird man in unserem Volk nie finden. Man braucht nur die äußere, oft nur angenommene Schale zu entfernen und den Kern sich etwas aufmerksamer anzusehen, etwas näher und vorurteilsloser, und man wird in dem Volke Dinge entdecken, von denen man sich auch nicht einmal hat träumen lassen. Ja, unsere Gelehrten können unser Volk nur noch sehr weniges lehren. Und ich sage sogar mit voller Überzeugung – im Gegenteil: sie müssen selbst noch von ihm lernen.
Petroff hatte mir ganz naiv gesagt, noch bevor wir uns aufgemacht hatten, man würde mich auch noch aus dem anderen Grunde, weil ich mehr zahlen würde, nach vorn lassen. Einen festen Preis gab es nicht: ein jeder gab, wieviel er konnte und wollte. Fast alle gaben etwas, wenn es auch nur ein Zweikopekenstück war, als man mit dem Teller einsammelte. Doch wenn man mich zum Teil auch des Geldes wegen nach vorn ließ, in der Voraussetzung, daß ich mehr geben würde, als die anderen – so lag doch auch darin wiederum das Gefühl der eigenen Würde, das sie so handeln ließ. „Du bist reicher als ich, geh du nach vorn, wenn wir hier auch alle gleich sind, aber du wirst mehr geben und daher ist ein Gast wie du den Schauspielern angenehmer, – folglich gebührt dir auch der bessere Platz, denn wir alle sind hier nicht für Geld, sondern aus Achtung vor etwas Höherem, daher müssen wir uns schon selbst die richtigen Plätze anweisen.“ Wieviel echter, edler Stolz doch darin liegt! Das ist nicht Achtung vor dem Gelde, sondern Achtung vor sich selbst. Überhaupt hatte man im Ostrogg vor dem Gelde, dem Reichtum keine große Achtung, besonders wenn man die Arrestanten als Masse nimmt. Ja, selbst wenn man sie einzeln nehmen wollte, so kann ich mich wirklich nicht eines einzigen entsinnen, der sich im Ernst für Geld erniedrigt hätte. Wohl gab es welche, die von einem jeden, auch von mir, beständig Geld borgten, doch dieses Betteln war mehr Unart, Mutwille, Schlauheit, als gerade Bettelei, – es war mehr Humor, mehr Naivität. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke ... Aber ich habe ja ganz das Theater vergessen! Also zur Sache.
Bis zum Aufgang des Vorhangs bot der Anblick des ganzen Raumes ein seltsames und belebtes Bild. Die ganze große Schar der halbwegs schon plattgedrückten, von allen Seiten erbarmungslos eingeengten Zuschauer erwartete mit wahrer Seligkeit in den Gesichtern den Anfang der wunderbaren Dinge, die da kommen sollten. In den hinteren Reihen hockte der eine auf dem anderen. Viele hatten sich aus der Küche Holzscheite mitgebracht. Diese wurden an der Wand aufgestellt und dann kletterte sein Besitzer, so gut es ging, mit den Beinen auf sie hinauf, oder auch nur mit den Knieen, stemmte sich mit beiden Händen auf die Schultern des vor ihm Stehenden und verharrte in dieser Stellung, ohne sich zu rühren, geschlagene zwei Stunden in unerschütterlicher Zufriedenheit mit sich und seinem Platz. Andere hatten sich, weiß Gott wie, mit den Beinen auf die unteren Abstufungen des Ofens erhoben und standen gleichfalls die ganze Zeit auf den Vordermann gestützt. Das war in den letzten Reihen ganz an der Wand. An der einen Seitenwand stand eine ganze Mauer auf den Pritschen, dicht neben den Musikanten. Das waren gute Plätze. Fünf Mann hatten sich ganz nach oben auf den Ofen begeben, und schauten, platt auf dem Bauch liegend, lächelnd nach unten. Wer deren Seligkeit nachempfinden könnte! Auf den Fensterbrettern an der anderen Wand türmten sich gleichfalls ganze Berge von zu spät Gekommenen oder solchen, die eben keinen besseren Platz gefunden hatten. Alle verhielten sich ruhig und sittsam. Alle wollten sich dem hohen Besuch, ihren Vorgesetzten, von der besten Seite zeigen. Auf allen Gesichtern drückte sich die naivste Erwartung aus. Alle Gesichter waren rot und von der Hitze schweißbedeckt. Welch ein seltsamer Widerschein kindlicher Freude, reinen, erquickenden Vergnügens glänzte auf diesen verunstalteten, gebrandmarkten Stirnen und Wangen, in diesen Blicken bisher mürrischer, finsterer Menschen, in diesen Augen, in denen ein so unheimliches Feuer aufblitzen konnte! Alle hatten ihre Mützen abgenommen, und sah man sie von der rechten Seite, so erschienen alle Köpfe rasiert. Da hört man von der Bühne her verschiedene Geräusche, Schritte, Stuhlrücken ... Sogleich muß der Vorhang sich erheben. Da setzt schon das Orchester ein ... Dieses Orchester verdient wahrlich, gleichfalls erwähnt zu werden. Seitlich, auf den Pritschen, hatten sich acht Musikanten niedergelassen: zwei Geigen – die eine aus dem Ostrogg, die andere hatte man aus der Festung geliehen, der dazugehörige Künstler fand sich aber unter uns –, drei Balalaiken, alle selbstgefertigte, zwei Gitarren, und anstatt eines Kontrabasses eine Handtrommel. Die Geigen wimmerten nur und krietschten, die Gitarren taugten nicht viel, dafür aber waren die Balalaiken einfach großartig. Die Fingergewandtheit in der Behandlung der Saiten kam entschieden dem größten Taschenspielerkunststück gleich. Es wurden nur Tanzstücke gespielt, und bei den temperamentvollsten Stellen schlugen die Künstler mit den Fingerknöcheln auf die Decke der Balalaika: der ganze Ton, der Geschmack, der Rhythmus, der Vortrag, die Behandlung des Instruments, der ganze Charakter der Wiedergabe des Motivs – alles war eigen, originell, von den Arrestanten selbst erfunden. Auch einer der Gitarrespieler spielte sein Instrument vorzüglich. Das war jener Adlige, der seinen Vater erschlagen hatte. Was nun den Handtrommelschläger betrifft, so tat er einfach Wunder: bald machte er eine Pirouette mit einem einzigen Finger, bald fuhr er mit dem Daumen wie Donnergrollen über das Trommelfell; bald hörte man, einzeln aufeinanderfolgend, laute, klare, volle Töne, bald wiederum zerstäubte dieser Ton in einem wahren Erbsenhagel unzähliger feiner, kleiner, fast trillernder, heller Perlentöne. Und dazu kam noch eine Harmonika, und zum Schluß noch eine zweite. Mein Ehrenwort, ich hatte bis dahin keine Ahnung davon gehabt, was man aus ganz einfachen Volksinstrumenten hervorholen konnte. Die Harmonie, der Rhythmus, das Spiel, und vor allem der Geist, der Charakter der Auffassung und Wiedergabe des Motivs, verdienten wirklich Bewunderung. An jenem Abend begriff ich zum erstenmal vollkommen, was das eigentlich grenzenlos Unbändige und Kühne in den unbändigen und kühnen russischen Tanzweisen ist.
Da, endlich, ging der Vorhang auf. Alles rührte sich, alle traten von einem Fuß auf den anderen, in den hinteren Reihen hob man sich auf die Fußspitzen, einer fiel von seinem Holzscheit herunter, alle bis auf den letzten sperrten die Mäuler auf und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Bühne, und vollständige Stille trat ein ... Die Vorstellung begann.
Neben mir stand Alei in einer Gruppe mit seinen Brüdern und den Tscherkessen. Sie alle hingen leidenschaftlich am Theater und besuchten es später jeden Abend. Alle Muselmänner, Tataren u. s. w. sind, wie ich mehr als einmal bemerkt habe, leidenschaftliche Liebhaber für alles, was Schaustück ist. Neben ihnen hatte sich Issai Fomitsch hingehockt, der, wie es schien, seit dem Augenblick, in dem der Vorhang aufging, sich in nichts als Gehör und Sehkraft verwandelt hatte und in gierige Erwartung aller Wunder und Genüsse. Er hätte einem sogar aufrichtig leid getan, wenn er in seinen Erwartungen enttäuscht worden wäre. Aleis liebes Gesicht strahlte in so herzerquickender kindlicher Freude, daß es mir – ich muß gestehen – ein großes Vergnügen bereitete, ihn anzusehen, und ich weiß noch, wie ich mich jedesmal nach einem spaßigen ‚Stichwort‘ auf der Bühne, dem gewöhnlich eine Lachsalve folgte, sogleich zu Alei wandte, um sein Gesicht zu sehen. Er sah mich nicht – oh, ihm war es jetzt nicht um mich zu tun! Nicht weit von mir, auf der linken Seite, stand ein älterer, immer finsterer, unzufriedener und brummiger Arrestant: ihm war Alei gleichfalls aufgefallen, und wie ich bemerkte, wandte auch er sich ein paar Mal mit einem halben Lächeln zu ihm, um ihn anzusehen, – er war gar zu reizend. „Alei Ssemjonytsch“ nannte er ihn, warum „Ssemjonytsch“, das weiß ich nicht.
Man begann mit „Filatka und Miroschka“. Filatka, den Bakluschin mimte, war einfach großartig! Er spielte seine Rolle erstaunlich naturgetreu. Man sah sofort, daß er sich in jeden Satz, in jede seiner Bewegungen hineingedacht hatte. Jedem nichtssagenden Wort, jeder Geste wußte er Sinn und Bedeutung zu verleihen, die dem Charakter seiner Rolle vollkommen entsprachen. Jetzt stelle man sich noch vor, daß zu seinem ganzen Aufgehen in der Rolle und seinem ganzen Verständnis für sie eine bewundernswerte, angeborene Heiterkeit, Natürlichkeit und sein ganzer Mutterwitz hinzukamen. Ich glaube, ein jeder, der Bakluschin gesehen hätte, würde unbedingt zugegeben haben, daß er ein echter, ein geborener und hochtalentvoller Schauspieler war. Den Filatka habe ich oft genug in Moskauer und Petersburger Theatern gesehen, doch kann ich mit voller Überzeugung sagen: die großstädtischen Schauspieler spielten ihn schlechter als Bakluschin. Im Vergleich zu ihm waren sie Paysans, aber keine echten Bauern. Sie wollten zu sehr den Bauer spielen. Hinzu kam außerdem noch, daß Bakluschin durch die Konkurrenz angefeuert wurde: alle wußten, daß im zweiten Stück die Rolle des Kedrill der Arrestant Pozeikin spielen würde, der von allen aus irgend einem Grunde für talentvoller als Bakluschin gehalten wurde, Bakluschin aber litt darunter wie ein Kind. Wie oft war er in den letzten Tagen zu mir gekommen, um sein Herz auszuschütten. Zwei Stunden vor der Aufführung hatte er geradezu Lampenfieber. Wenn das Publikum nun lachte und man ihm zuschrie: „Bravo, Bakluschin! Bist ’n Deuwelskerl!“ – so strahlte sein ganzes Gesicht vor Glück und mitreißende Begeisterung blitzte aus seinen Augen. Die Kußszene Miroschkas mit der Braut (Ssirotkin), in der Filatka ihm vorher zuschreit: „Wisch dir den Mund ab!“ und dabei sich selbst den Mund abwischt, war zum Sterben komisch. Alles wälzte sich vor Lachen. Aber am interessantesten waren für mich doch die Zuschauer. Niemand dachte mehr an „Anstand“, alle gaben sie sich, ohne Schranken zu kennen, ihrem Entzücken hin. Die Beifallsrufe ertönten immer häufiger. Hier versetzt ein Freund dem anderen einen leichten Rippenstoß und teilt ihm eilig flüsternd seine Eindrücke mit, ohne sich darum zu kümmern oder auch nur zu bemerken, wer neben ihm steht; dort wendet sich plötzlich ein anderer nach einer komischen Szene begeistert an die Menge mit einem Blick, als wolle er alle auffordern, zu lachen, schüttelt einmal kurz den Kopf und winkt mit der Hand ab („was soll man da noch reden!“), um sich sofort wieder gierig der Szene zuzuwenden. Ein dritter schnalzt nur mit der Zunge und schnippt mit den Fingern vor Begeisterung, und da er sonst keine Bewegungsmöglichkeit hat, tritt er nur von einem Fuß auf den anderen. Zum Schluß des Stückes hatte die Begeisterung den höchsten Grad erreicht. Ich will nichts übertreiben. Man denke sich jedoch nur den Ostrogg, die Ketten an den Füßen, die Unfreiheit, die langen trostlosen Jahre, die noch vor einem liegen, das ewig einförmige Leben, in dem jeder Tag dem nächsten wie an trüben Spätherbsttagen ein Regentropfen dem anderen gleicht, – und nun plötzlich wird allen diesen unterdrückten und gefangenen Arrestanten erlaubt, eine Stunde lang sich zu freuen, sich unbeengt zu fühlen, sich frei zu glauben und den schweren Traum zu vergessen, ein ganzes Theater aufzuführen, – und dazu noch was für eines! – zum eigenen Stolz und zur Verwunderung der ganzen Stadt: seht, was wir Arrestanten können! Sie waren natürlich für alles begeistert. Auch die Kostüme beschäftigten sie sehr. Es war ihnen ungeheuer interessant, zum Beispiel einen Wanjka Otpetyj, oder einen Nezwetajeff oder Bakluschin in ganz anderen Kleidern zu sehen, als in dem üblichen Arrestantenkostüm, in dem sie ihn schon soviel Jahre jeden Tag gesehen hatten.
„Er ist doch ein Arrestant, derselbe, der er war! – wenn er geht, hört man ja noch seine Ketten klirren und da kommt er nun im Überzieher, im runden Hut und im Mantel! – wie ein Staatsrat! Hat sich sogar einen Schnurrbart angeklebt und Haar auf den halben Kopf! Sieh, da hat er noch ein rotes Schnupftuch aus der Tasche hervorgezogen! – sieh, wie er sich zufächelt und den Herrn spielt, ganz als wäre er ohne weiteres selber einer!“ Und alle sind entzückt.
Der „wohltätige Gutsbesitzer“ erschien im Uniformrock mit Achselschnüren, und in einer Mütze, auf der man eine Kokarde befestigt hatte, und machte einen vortrefflichen Eindruck. Daß alles alt und abgetragen war, tat absolut nichts zur Sache. Für diese Rolle hatte es zwei Liebhaber gegeben und – wird man es glauben? – beide hatten sich deswegen wie die kleinen Kinder gestritten, wer sie spielen sollte: beide wollten sich gar zu gern im Offiziersrock mit Achselschnüren zeigen! Da waren denn die anderen Schauspieler gezwungen gewesen, einzugreifen und dem Streit ein Ende zu machen: die Stimmenmehrheit hatte die Rolle Nezwetajeff zugesprochen, und zwar nicht etwa, weil dieser hübscher und stattlicher gewesen wäre als der andere und daher den Herrn besser darstellen konnte, sondern weil Nezwetajeff allen versichert hatte, daß er mit einem Spazierstöckchen erscheinen und dasselbe so geschickt schwingen würde, wie ein wirklicher Herr und erstklassiger Modekenner, was Wanjka Otpetyj nie und nimmer fertigstellen könne, da er wirkliche Herren überhaupt noch nicht gesehen habe. Und in der Tat: als Nezwetajeff mit seiner wohltätigen Gutsbesitzerin auftrat, tat er nichts anderes, als daß er gewandt das Stöckchen, das er sich weiß Gott woher verschafft hatte, in der Luft schwang oder Figuren auf den Fußboden zeichnete. Offenbar sah er darin alle Anzeichen der größten Vornehmheit und der feinsten Stutzerhaftigkeit. Wahrscheinlich hatte er einmal in jungen Jahren, als er noch barfüßig auf dem Gutshof umherlief, einen gutgekleideten Herrn mit einem spanischen Rohrstock gesehen und war von dessen Geschicklichkeit, mit dem Stöckchen zu spielen, dermaßen gefesselt worden, daß der Eindruck sich auf ewig, unauslöschlich in seine Seele eingegraben hatte, und er sich noch nach dreißig Jahren des Verfahrens zur Bezauberung und zum Entzücken des ganzen Ostrogg entsann. Nezwetajeff war in seine Beschäftigung dermaßen vertieft, daß er überhaupt niemand und nichts mehr ansah, ja selbst seine Antworten gab er, ohne die Augen zu erheben, er zeichnete nur und zeichnete und sein Blick schien an das Ende seines Stöckchens gleichsam angebunden zu sein.
Die wohltätige Gutsbesitzerin war in ihrer Art nicht weniger bemerkenswert: sie erschien in einem alten, abgetragenen Musselinkleide, das einem Scheuerlappen nicht unähnlich war, mit nackten Armen und nacktem Hals, mit entsetzlich gepudertem und geschminktem Gesicht, mit einer weißen Nachthaube auf dem Kopf, die unter dem Kinn zugebunden war, mit einem Sonnenschirm in der einen, und einem Fächer aus bemaltem Papier, mit dem sie fortwährend fächelte, in der anderen Hand. Eine Lachsalve begrüßte sie. Aber auch die Dame konnte sich nicht ganz beherrschen und platzte mehrmals aus. Der Arrestant Iwanoff spielte diese Rolle. Ssirotkin, den man als Mädchen verkleidet hatte, war allerliebst. Die Couplets waren vorzüglich. Kurz, das Stück war für alle ein wahrer Hochgenuß. Eine Kritik gab es nicht und konnte es auch gar nicht geben.
Hierauf spielte man nochmals die Ouvertüre und der Vorhang erhob sich von neuem. Jetzt kam „Kedrill der Vielfraß“ an die Reihe.
Kedrill scheint eine Abart vom Don Juan zu sein, wenigstens wird sowohl der Herr wie der Diener zum Schluß des Stückes von Teufeln in die Hölle geschleppt. Von dem ganzen Lustspiel wurde aber nur ein Aufzug gespielt, offenbar ein Bruchstück, denn ein Anfang und ein Ende fehlten, – die waren verloren. Die Handlung spielt in Rußland, irgendwo auf einer Poststation. Der Wirt führt einen Herrn in einem Mantel und einem runden, mit Beulen versehenen Hut ins Zimmer. Ihm folgt sein Diener Kedrill mit dem Reisekoffer und einem, in blaues Papier eingewickelten, gebratenen Huhn. Kedrill ist im Halbpelz und hat nur eine Lakaienmütze auf dem Kopf. Er ist der Vielfraß. Der Arrestant Pozeikin, der Gegner Bakluschins, spielt ihn; den Herrn spielt derselbe Iwanoff, der im ersten Stück die wohltätige Gutsbesitzerin dargestellt hatte. Der Wirt, Nezwetajeff, fühlt sich aber verpflichtet, dem Herrn mitzuteilen, daß es im Zimmer böse Geister gäbe, worauf er sich zurückzieht. Der Herr, der finster und besorgt ist, brummt vor sich hin, daß er es schon lange wisse, und befiehlt seinem Diener Kedrill, die Sachen auszupacken und das Abendessen herzurichten. Kedrill ist ein Feigling und Vielfraß zugleich: wie er von den bösen Geistern hört, erbleicht und zittert er wie ein Espenblatt; er würde gern fortlaufen, fürchtet aber den Herrn. Und hinzu kommt noch, daß er Hunger hat und essen will. Er ist ein Leckermaul, ist dumm und schlau in seiner Art, betrügt seinen Herrn auf Schritt und Tritt und hat doch Angst vor ihm. Er ist ein vorzüglicher Dienertyp, in dem sich entfernt und etwas undeutlich Züge von Leporello wiederfinden, und wird von Pozeikin vorzüglich wiedergegeben. Pozeikin hat entschieden ein großes Talent und ist, meiner Ansicht nach, ein noch besserer Schauspieler als Bakluschin. Als ich am nächsten Tage Bakluschin traf, sagte ich ihm natürlich nicht ganz rückhaltlos meine Meinung: ich hätte ihn gar zu sehr betrübt. Der Arrestant, der den Herrn darstellte, war gleichfalls kein schlechter Spieler. Er sprach den größten Unsinn zusammen, doch war seine Diktion richtig und gewandt, die Gesten dementsprechend. Während Kedrill mit dem Koffer beschäftigt ist, geht der Herr in tiefen Gedanken hin und her, und spricht vor sich hin – laut genug, um von allen gehört zu werden –, daß an diesem Abend alle seine Irrfahrten ihr Ende erreicht hätten. Kedrill horcht interessiert auf, hört zu, schneidet Gesichter, spricht beiseite und bringt mit jeder Bemerkung die Zuschauer zum Lachen. Ihm tut der Herr nicht leid, aber er hat etwas von den bösen Geistern gehört und er will nun herausbekommen, was man sich darunter zu denken habe. Er fragt seinen Herrn und es entspinnt sich ein Gespräch. Schließlich erklärt ihm der Herr, daß er einmal im Augenblick einer großen Gefahr die Hölle um Hilfe angerufen habe und die Teufel ihm daraufhin geholfen hätten; heute aber sei die Frist um und vielleicht würden sie, eingedenk der Abmachung, heute noch kommen, um seine Seele abzuholen. Kedrill fällt sogleich das Herz in die Hosen. Sein Herr jedoch verliert den Mut nicht und befiehlt ihm, das Abendessen herzurichten. Bei dem Wort Abendessen belebt sich Kedrill, er entnimmt das Huhn den Papierhüllen, dem Reisekoffer eine Flasche Wein – und, und – eh er sich’s versieht – hat er selbst schon ein Stück vom Huhn in den Mund geschoben und hinuntergeschluckt. Das Publikum lacht. Da kreischt die Tür ein wenig und der Wind rüttelt an den Fensterläden. Kedrill erzittert und schiebt, halb unbewußt, ein zweites Stück Fleisch in den Mund, diesmal ein so großes, daß er fast daran erstickt. Wiederum Gelächter. „Ist es fertig?“ fragt der Herr, der immer noch auf- und abgeht. „Sofort, Herr ... ich will es Euch nur ... zubereiten,“ antwortet Kedrill, setzt sich selbst an den Tisch und schickt sich an, das Essen seines Herrn zu verschlingen. Das Publikum freut sich über die Schlauheit und Geschicklichkeit des Dieners, sowie auch darüber, daß der Herr der Dumme ist. Ich muß gestehen, daß auch Pozeikins meisterhafte Darstellung viel zur Komik beitrug: Die Worte: „Sofort, Herr ... ich will es Euch nur ... zubereiten,“ sagte er unübertrefflich. Nachdem er sich also an den Tisch gesetzt hat, macht er sich gierig ans Essen, zuckt aber bei jedem Schritt des Herrn zusammen, in der Angst, jener könne plötzlich aufblicken und ihn bemerken. Kaum hat sich jener umgedreht, da kriecht er auch schon unter den Tisch und vergißt nicht, das Huhn mitzunehmen. Endlich hat er seinen größten Heißhunger gestillt und es wird Zeit, auch an den Herrn zu denken.
„Kedrill, bist du noch immer nicht fertig?“ schreit der Herr.
„Bin fertig!“ ist Kedrills prompte Antwort, da er plötzlich gewahr wird, daß für den Herrn fast nichts mehr übriggeblieben ist. Auf dem Teller liegt nur noch ein Hühnerbein. Der Herr setzt sich finster und besorgt an den Tisch und bemerkt natürlich nichts. Kedrill steht mit der Serviette hinter seinem Tisch. Jedes Wort, jede Handbewegung, jede Grimasse Kedrills, wenn er, zum Publikum gewandt, mit dem Kopf auf den dummen Herren weist, ruft bei den Zuschauern unbändiges Gelächter hervor. Doch siehe, kaum will der Herr zu essen anfangen, da erscheinen die bösen Geister auf der Bildfläche. Von hier an wird die Sache unverständlich, und auch die Geister erscheinen nicht in der Gestalt, wie das Volk sie sich vorstellt: in der Seitenkulisse öffnet sich eine Tür und es erscheint eine weiße Gestalt, die an Stelle des Kopfes eine Laterne mit einem Talglicht hat. Ein zweites Phantom, gleichfalls mit einer Laterne als Kopf, hat eine Sense in der Hand. Warum die Laterne, warum die Sense und warum sind die Geister in Weiß? Das kann sich niemand erklären. Übrigens denkt aber auch niemand lange darüber nach. Es muß wahrscheinlich wohl so sein, wenn es so ist. Der Herr wendet sich ziemlich mutig gegen die Gespenster und schreit ihnen zu, daß er bereit sei: sie sollten ihn nur nehmen. Kedrill aber ist erschrocken wie ein Hase: er kriecht unter den Tisch, doch siehe da, wie groß sein Schreck auch ist, er vergißt doch nicht, die Flasche vom Tisch mitzunehmen. Die Geister verschwinden auf ein Weilchen; Kedrill kriecht unter dem Tisch hervor, doch kaum hat sich der Herr wieder hingesetzt, da kommen plötzlich wieder drei weiße Gestalten, die den Herrn hinterrücks ergreifen und in die Hölle schleppen.
„Kedrill! Rette mich!“ schreit der Herr. Aber Kedrill ist es nicht um ihn zu tun. Diesmal hat er sowohl die Flasche als den Teller mit dem Hühnerbein und sogar das Brot mit unter den Tisch genommen. Jetzt ist er allein, die Teufel sind fort, der Herr gleichfalls. Kedrill kriecht unter dem Tisch hervor, besieht sich und ein Lächeln breitet sich über sein Angesicht. Er blinzelt verschmitzt, setzt sich auf den Platz des Herrn und sagt, dem Publikum zunickend, halblaut:
„Jetzt bin ich allein ... ohne Herrn! ...“
Alles lacht darüber, daß er ohne Herrn ist – er aber fügt noch flüsternd hinzu, vertrauensvoll sich an die Zuschauer wendend und indem er immer lustiger mit dem einen Auge blinzelt:
„Den Herrn haben ja die Teufel fortgeschleppt! ...“
Das Entzücken der Zuschauer ist grenzenlos! Ganz abgesehen davon, daß den Herrn die Teufel fortgeschleppt haben, war das von Kedrill so gesagt, mit einer so verschlagenen, höhnisch-triumphierenden Grimasse, daß es in der Tat unmöglich war, nicht zu applaudieren. Doch das Glück Kedrills währt nicht lange. Kaum hat er die Flasche entkorkt, sich eingeschenkt und das Glas an die Lippen gesetzt, da kehren die Teufel plötzlich zurück, schleichen sich leise an ihn heran und packen ihn eins, zwei, drei um den Leib. Kedrill schreit aus voller Kehle, wagt aber in der Angst nicht, sich auch nur einmal umzusehen. Verteidigen kann er sich auch nicht: in seinen Armen hält er krampfhaft die Flasche und das Glas, von denen er sich nicht zu trennen vermag. Mund und Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, sitzt und starrt er mit einem so maßlos komischen Ausdruck feiger Angst ins Publikum, daß man ihn am liebsten gemalt hätte, um diesen Gesichtsausdruck festzuhalten. Endlich wird er hinausgeschleppt, mitsamt der Flasche und dem Glas: er zappelt mit den Beinen und schreit, was er nur schreien kann. Sein Geschrei tönt auch noch hinter der Kulisse fort. Doch der Vorhang fällt und alles lacht, lacht, alle sind hingerissen ... Das Orchester setzt von neuem ein und spielt jetzt die Kamarinskaja. Leise, kaum hörbar, beginnt die Musik, dann aber wird sie immer lauter, das Tempo verschnellert sich, rhythmisch und flott klingen die Schläge auf den Deckel der Balalaiken dazwischen ... Das ist die Kamarinskaja mit ihrem ganzen Temperament, und es wäre wirklich gut, wenn Glinka sie zufällig einmal bei uns im Ostrogg gehört hätte.
Jetzt beginnt die Pantomime ... die Kamarinskaja wird weitergespielt, denn es ist ja „Pantomime mit Musik“.
Die Bühne stellt das Innere einer Bauernwohnung dar. Auf der Szene sitzt ein Müller mit seiner Frau. Der Müller sitzt in der einen Ecke und setzt das Pferdegeschirr instand, das Weib sitzt in der anderen Ecke und spinnt Flachs. Das Weib spielt Ssirotkin, den Mann Nezwetajeff.
Ich muß bemerken, daß unsere Dekorationen sehr dürftig waren. In diesem wie auch in den beiden vorhergehenden Stücken mußte man sich mehr hinzudenken, als man mit den Augen sah. Die Rückwand bildete eine Art Teppich oder Pferdedecke, die rechte Seitenwand wurde durch einen alten Bettschirm ersetzt. Links ist nichts vorgebaut, so daß man die Kasernenwand und die Pritschen sieht. Aber die Zuschauer sind nicht anspruchsvoll und gern bereit, die Wirklichkeit mit ihrer Einbildungskraft zu vervollständigen, um so mehr, als die Arrestanten äußerst fähig dazu sind. „Hat man dir gesagt, daß es ein Garten ist, so hast du es für einen Garten zu halten, soll es ein Zimmer sein, dann ist es eben ein Zimmer, eine Hütte, dann eine Hütte, – das bleibt sich ja doch ganz gleich und viel gefragt wird nicht.“
Ssirotkin sieht in dem Kostüm des jungen Weibes ganz vorzüglich aus. Unter den Zuschauern werden einige halblaute Komplimente an seine Adresse laut. Der Müller hat seine Arbeit beendet, nimmt seine Mütze vom Nagel, nimmt seine Peitsche, tritt zu seinem Weibe und gibt ihr durch Zeichen zu verstehen, daß er jetzt gehen müsse, falls aber sie in seiner Abwesenheit sich einfallen ließe, jemand zu empfangen, so – er zeigt ihr vielsagend die Peitsche. Das Weib hört ihm aufmerksam zu und nickt verständnisinnig mit dem Kopf: sie scheint die Peitsche bereits zu kennen – ist sie doch schon des öfteren auf Abwege geraten. Der Mann geht fort. Kaum hat sich die Tür hinter ihm geschlossen, so droht sie ihm auch schon mit der Faust nach. Es vergeht eine Weile, – da wird plötzlich leise geklopft: die Tür öffnet sich und herein tritt der Nachbar, ein Mann in einem Kittel und mit langem Bart. In der Hand hat er ein Geschenk: ein rotes Tuch. Das Weib lächelt erfreut. Doch bevor noch der Nachbar sie umarmen kann, wird von neuem an die Tür geklopft. Wohin mit ihm? Sie schiebt ihn eilig unter den Tisch und setzt sich schnell an ihr Spinnrad. Ein zweiter Verehrer erscheint: er ist Schreiber und steckt in einem Uniformrock. Bis dahin war die Pantomime tadellos gewesen, jede Bewegung bis ins kleinste richtig. Man konnte sich wirklich nur wundern, wenn man auf diese improvisierten Künstler sah, und unwillkürlich dachte man: wieviel Kraft und Talent geht bei uns in Rußland nutzlos verloren und wieviel Menschen gehen unter in Unfreiheit und Zwangsarbeit! ... Doch der Arrestant, der den Schreiber spielte, hatte wahrscheinlich ein Provinz- oder Liebhabertheater gesehen, und so war er wohl der Meinung, daß alle unsere Schauspieler von der ganzen Kunst nichts verstünden und nicht so gingen, wie man auf der Bühne gehen müsse. Und da trat er nun selbst auf und schritt einher, wie, nach dem Hörensagen, in alten Zeiten die klassischen Helden über die Bühne geschritten sind: er macht einen langen Schritt und bleibt stehen, noch bevor er das andere Bein aufhebt, wirft er den Kopf zurück, biegt die Brust heraus, umfaßt, was im Halbkreise vor ihm ist, mit stolzem Blick, und – macht den zweiten Schritt. Ist eine solche Gangart schon bei dem klassischen Helden auf einer klassischen Bühne lächerlich, um wieviel mehr war sie es dann bei einem Militärschreiberlein in einer Pantomime. Unser Publikum jedoch glaubte, daß es sicherlich so sein müsse und nahm die langen Schritte des Schreibers mit vollem Ernst auf, ohne an eine Kritik auch nur zu denken. Doch noch war der Schreiber nicht bis zur Mitte des Zimmers gekommen, da hört man schon wieder klopfen. Die Müllerin ist völlig ratlos. Wohin mit dem Schreiber? – Schnell in die Truhe, die zum Glück nicht verschlossen ist. Der Schreiber kriecht in die Truhe und sie drückt den Deckel zu. Diesmal erscheint ein besonderer Gast, der zwar gleichfalls verliebt ist, aber sich doch von den anderen unterscheidet: es ist ein Brahmine und er erscheint sogar in einem echten Kostüm. Unbändiges Gelächter begrüßt ihn von Seiten der Zuschauer. Den Brahminen spielt der Arrestant Koschkin, und er spielt ihn vortrefflich. Er hat ein echtes Brahminengesicht. Mittels verschiedener Gesten erklärt er ihr den Grad seiner Verliebtheit: er erhebt die Hände zum Himmel, preßt sie auf die Brust, auf das Herz: doch kaum ist er so recht zärtlich geworden, – da ertönt ein starker Schlag gegen die Tür. Bereits am Schlage hört man, daß es der Hausherr ist. Die entsetzte Müllerin verliert vor Schreck gänzlich den Kopf, und der Brahmine ringt jetzt vor Verzweiflung die Hände, läuft im Kreise herum und fleht, ihn zu verstecken. Sie schiebt ihn schnell hinter den Schrank und eilt dann selbst, ohne die Tür zu öffnen, wieder zu ihrem Spinnrocken und spinnt und spinnt, ohne auf die Schläge ihres Mannes gegen die Tür zu achten, und in der Aufregung spinnt sie einen Faden, den sie gar nicht in der Hand hat, und dreht die Spindel, die sie vom Fußboden aufzuheben vergißt. Ssirotkin wußte den Schreck und die Kopflosigkeit vorzüglich darzustellen.
Doch da schlägt der Mann die Tür mit dem Fuß ein und tritt mit der Knute in der Faust zu seiner Frau. Er weiß alles, denn er ist die ganze Zeit auf der Lauer gewesen, und zeigt ihr mit den Fingern, daß drei bei ihr versteckt sind. Nun beginnt das Suchen nach den Versteckten. Zuerst findet er den Nachbar, den er mit Püffen zur Tür hinausstößt. Der erschrockene Schreiber würde gern entfliehen, hebt aber, um Ausschau zu halten, zu früh den Kopf und mit ihm den Deckel auf und verrät sich auf diese Weise selbst. Der Hausherr peitscht ihn tüchtig mit der Knute und diesmal springt der verliebte Schreiber durchaus nicht mehr klassisch umher. Jetzt bleibt noch der Brahmine. Der Hausherr sucht ihn lange, bis er ihn schließlich hinter der Schrankecke entdeckt: er macht ihm zuerst eine höfliche Verbeugung, erfaßt dann seinen Bart und zieht ihn bis in die Mitte der Stube. Der Brahmine versucht sich zu verteidigen, schreit: „Du Verfluchter, du Verfluchter!“ (die einzigen Worte, die in der ganzen Pantomime gesagt werden), aber der Müller achtet nicht darauf und verfährt mit ihm nach eigenem Gutdünken. Die Müllerin, die da sieht, daß nun die Reihe an sie kommt, läßt ihre Arbeit im Stich und läuft fort: der Spinnrocken fällt polternd hin, die Spindel rollt über den Fußboden und die Zuschauer wiehern vor Vergnügen. Alei zerrt mich an der Hand und ruft mir, ohne mich anzusehen, begeistert zu: „Sieh, der Brahmine, der Brahmine!“ kann sich aber selbst vor Lachen kaum halten. Der Vorhang fällt. Eine neue Pantomime beginnt.
Doch wozu alle Szenen beschreiben. Es gab ihrer noch zwei oder drei, alle von unverfälschter Komik und vorzüglich gespielt. Wenn die Arrestanten sie auch nicht selbst erfunden hatten, so legten sie doch in jedes Stück einen Teil von sich hinein. Jeder einzelne Schauspieler improvisierte noch von sich aus hinzu, und so wurde ein und dieselbe Rolle an jedem Abend anders gespielt. Die letzte Pantomime, mehr phantastischen Inhalts, endete mit einem Ballett, das zugleich den Abschluß der ganzen Theateraufführung bildete. Ein Toter sollte begraben werden. Der Brahmine macht mit zahlreicher Dienerschaft verschiedene Gesten über dem Sarge, um den Toten zu erwecken, aber es hilft nichts. Endlich ertönt der Ruf: „Die Sonne geht unter!“ und siehe da, der Tote erwacht und die Leidtragenden fangen vor Freude an zu tanzen. Der Brahmine tanzt mit der Leiche und zwar auf ganz besondere Art, nämlich brahminisch. Und damit schließt das Theater bis zum nächsten Abend. Die Zuschauer gingen lachend und vollauf befriedigt auseinander, lobten die Schauspieler und dankten dem Offizier. Von Streit oder Wortwechsel ist nichts zu hören. Alle sind ganz ungewöhnlich zufrieden, ja sie scheinen sogar glücklich zu sein und sie schlafen auch ganz anders ein, als sonst, als wäre ihr unruhiger Geist diesmal beruhigt. Und was war die Veranlassung dazu? Es ist kein eingebildeter Trugschluß von mir, sondern volle Wahrheit, wenn ich sage: weil man diesen armen Menschen einmal nach ihrer Art zu leben erlaubt hatte, einmal sich menschlich des Lebens zu freuen, einmal, und wenn’s auch nur eine Stunde lang war, nicht nach der Ostroggvorschrift leben zu müssen – der ganze Mensch veränderte sich sichtlich, wenn diese Veränderung auch nur von kurzer Dauer war ... Inzwischen ist es schon Nacht geworden, Mitternacht. Ich zucke zusammen und erwache zufällig: der Alte betet immer noch auf dem Ofen und wird wohl noch bis zum Morgenrot beten. Alei schläft still und ruhig neben mir. Ich denke daran, wie er noch vor dem Einschlafen lachte und mit den Brüdern über das Theater sprach, und ich betrachtete unwillkürlich sein liebes Kindergesicht. Allmählich steigen in mir die Bilder der jüngst vergangenen Zeit auf: der letzte Tag, das Weihnachtsfest, dieser ganze Monat ... erschrocken hebe ich den Kopf und betrachte beim trüben, zitternden Schein der Talgkerze meine schlafenden Genossen. Ich sehe ihre armen Gesichter, sehe ihre armseligen Lagerstätten, sehe diese ganze trostlose Armut und Nacktheit – ich sehe und sehe, als wollte ich mich überzeugen, daß es nicht nur die Fortsetzung eines greulichen Traumes ist, sondern Wahrheit, Wirklichkeit. Aber es ist, es ist Wahrheit! Da höre ich ein Stöhnen im Schlaf; dort hat einer den Arm schwer hinter den Kopf geworfen, die Kette klirrt. Ein anderer zuckt im Schlaf zusammen und phantasiert ein paar Worte. Der Greis aber auf dem Ofen betet für alle rechtgläubigen Christen, und ich vernehme wieder sein gleichmäßiges, ruhiges, stilles: „Herr Jesus Christ, erbarme dich unser! ...“
„Aber ich bin ja doch nicht auf ewig hier, ich bin hier ja nur auf ein paar Jahre!“ denke ich und mein Kopf sinkt wieder auf das Kissen zurück.
Bald nach dem Weihnachtsfest erkrankte ich und kam in unser Militärlazarett. Dasselbe lag ganz einsam draußen im Felde, eine halbe Werst von der Festung entfernt. Es war ein langgestrecktes einstöckiges Gebäude, von außen mit gelber Farbe angestrichen; wenn im Sommer die Anstricharbeit vorgenommen wurde, ging viel Ocker zum Anstrich auf. Auf dem großen Lazaretthof lagen die Wirtschaftsgebäude, die Dienstwohnungen für die Medizinalbehörde und ähnliche nützliche Baulichkeiten. In dem Hauptgebäude befanden sich aber nur die Krankensäle. Dieser Säle gab es im ganzen sehr viele, doch waren von ihnen nur zwei für die Arrestanten abgeteilt, die das ganze Jahr und namentlich im Sommer sehr voll lagen, so daß man nicht selten die Betten zusammenrücken mußte.
Diese beiden Krankensäle der Arrestantenabteilung wurden von aller Art „unglücklichem Volke“ heimgesucht. Es kamen dorthin die erkrankten Sträflinge aus dem Ostrogg, Soldaten, die unter Anklage standen, zu einer Körperstrafe Verurteilte oder bereits Bestrafte, sowie unterwegs Erkrankte, die noch weiter marschieren mußten; ferner gab es dort auch welche aus der Strafkompagnie, aus diesem sonderbaren Institut, in das die nicht ganz zuverlässigen Soldaten zur Besserung hineingesteckt werden und aus dem sie nach Verlauf von zwei oder mehr Jahren gewöhnlich als solche Taugenichtse zurückkehren, wie man sie nur selten findet.
Fühlte sich einer der Arrestanten nicht wohl, so ging er – gewöhnlich früh am Morgen – zum Unteroffizier und meldete sich krank. Er wurde sofort ins Krankenbuch eingeschrieben und mit diesem Buch unter Eskorte ins Lazarett geschickt. Dort untersuchte der Arzt alle Neueingetroffenen aus sämtlichen Militärkommandos, die in der Festung lagen, schrieb jeden, den er für tatsächlich krank befand, ins Lazarettbuch ein und schickte ihn in den Krankensaal seiner Abteilung. Auch ich wurde von dem Unteroffizier in das Buch eingetragen und um zwei Uhr nachmittags, als die anderen schon zur Arbeit abmarschiert waren, ging ich ins Lazarett. Der erkrankte Arrestant nahm in der Regel noch so viel Geld mit, wieviel er nur hatte, außerdem Brot, da er an diesem Tage im Lazarett kein Mittagessen mehr erwarten konnte, und wenn er Raucher war, noch eine möglichst kleine Pfeife, Tabak, Feuerstein und Zündbüchse. Diese letzteren Gegenstände wurden sorgfältig in den Stiefeln verborgen. Ich betrat den Lazaretthof, nicht ohne ein gewisses neugieriges Interesse für diese mir noch unbekannte Abwechselung unseres Arrestantenlebens.
Es war ein warmer, trüber, trauriger Tag – einer jener Tage, an denen Gebäude wie Krankenhäuser immer einen traurigen und griesgrämigen Eindruck machen. Ich trat zusammen mit dem Soldaten in das Empfangszimmer, in dem zwei kupferne Wannen standen und bereits zwei Kranke, unter Anklage Stehende, mit ihren Begleitssoldaten warteten. Der Feldscher trat ein, besah uns mit Faulheit verratendem Vorgesetztenhochmut und begab sich darauf mit noch größerer Faulheit zum diensttuenden Arzt. Dieser erschien sehr bald, untersuchte uns, ging sehr freundlich mit uns um, und stellte einem jeden den Krankenbericht aus. Die weitere Untersuchung, die Bestimmung der Arznei, der Kost usw. war Sache des Arztes, der die Arrestanten-Abteilung unter sich hatte. Ich hatte schon gehört, daß die Sträflinge ihre Ärzte nicht genug loben konnten. „Wie Väter!“ sagten sie mir auf meine Fragen vor meinem Abgang ins Lazarett. Wir kleideten uns um. Die Wäsche und die Kleider, in denen wir gekommen waren, wurden uns abgenommen. Wir erhielten Hospitalwäsche, lange Strümpfe, Pantoffeln, Schlafmützen und Schlafröcke aus dickem, braunem Tuch, die mit einem halb leinwand-, halb pflasterartigen Zeuge gefüttert waren. Der ganze Rock war äußerst schmutzig, doch das bemerkte ich erst, als ich schon in ihm stak. Nach dem Kleiderwechsel wurden wir in die Krankensäle der Arrestantenabteilung geführt, die ganz am Ende eines überaus langen, hohen und sauberen Korridors lagen. Die äußere Sauberkeit war überall sehr zufriedenstellend: alles, was uns auf den ersten Blick ins Auge fiel, glänzte geradezu vor Sauberkeit. Übrigens konnte es mir auch nur so scheinen nach den Kasernen im Ostrogg. Die beiden unter Anklage Stehenden kamen in die Arrestantenkrankenstube links, ich in die Stube rechts. Vor der Tür, die durch einen eisernen Bolzen zugehalten wurde, stand eine Schildwache mit geladenem Gewehr und neben ihm ein anderer Soldat, die Nebenwache, die die Schildwache im Notfall abzulösen hat. Der jüngere Unteroffizier der Lazarettwache befahl, mich in die Stube zu lassen. Ich trat in ein langes und schmales Zimmer, in dem an beiden Längswänden die Betten standen, ich glaube, zweiundzwanzig an der Zahl, und von denen nur drei oder vier nicht besetzt waren. Die Betten waren von Holz, grün angestrichen, Betten, die in Rußland allen und jedem nur zu gut bekannt sind, da sie infolge einer gewissen Vorherbestimmung nie und nimmer ohne Wanzen sind. Ich wählte mir ein Bett in der Ecke an der Wand, in der die Fenster waren.
Wie ich schon bemerkt habe, lagen hier unter den Kranken auch Sträflinge aus unserem Ostrogg. Einige von ihnen kannten mich bereits oder hatten mich wenigstens gesehen. Die Mehrzahl aber bestand aus Gefangenen, denen eine Strafe bevorstand, und aus Soldaten der Strafkompagnie. Schwerkranke oder solche, die das Bett nicht verlassen konnten, gab es nicht viel. Die anderen, nur leicht Erkrankten und die Rekonvaleszenten saßen entweder auf ihren Bettstellen oder sie gingen im Zimmer auf und ab, in dem schmalen Gang zwischen den Bettreihen, der aber noch breit genug zum Durchgehen war. Es war eine drückende, schwüle Krankenzimmerluft im Raum, geschwängert von allen nur möglichen unangenehmen Ausdünstungen der Kranken und den verschiedenen Arzneien, zumal der Ofen in der einen Ecke den ganzen Tag geheizt wurde. Auf meinem Lager war ein gestreifter Überzug, den ich abnahm. Unter dem Überzug war eine Bettdecke von Tuch mit Leinwand gefüttert und Bettwäsche von grober Leinwand und sehr zweifelhafter Sauberkeit. Neben jedem Lager stand ein kleiner Tisch, auf dem sich ein Krug und eine zinnerne Tasse befanden, die beide mit einem ziemlich kleinen Handtuch, das man auch mir ausgehändigt hatte, der Sauberkeit halber überdeckt werden mußten. Unten hatte der Tisch noch ein Brett, auf das die Teetrinker ihre Teekessel, andere wieder Holzkannen mit Kwas und noch verschiedenes Gerät stellten; doch gab es unter den Kranken nur sehr wenige, die Tee tranken. Die Pfeifen und Tabaksbeutel dagegen, die fast ein jeder bei sich hatte, selbst die Schwindsüchtigen nicht ausgenommen, wurden unter den Matratzen versteckt. Die Ärzte und die Krankenwärter durchsuchten dieselben nie nach verbotenen Sachen, und überraschten sie einmal einen mit der Pfeife, so taten sie, als bemerkten sie nichts. Aber auch die Kranken waren immer sehr vorsichtig mit dem Rauchen und gingen dann immer zum Ofen. Höchstens in der Nacht wurde auf den Betten liegend geraucht, aber nachts kam niemand in die Krankenstuben, außer dem wachhabenden Offizier der Hospitalwache, der jedoch nur einmal die Runde machte.
Ich hatte bis dahin noch nie in einem Hospital gelegen und so war mir die ganze Umgebung, die Einrichtung, die Disziplin neu. Auch fiel mir auf, daß ich die Neugier der anderen erregte. Man hatte von mir schon gehört und betrachtete mich sehr ungeniert, sogar mit einer gewissen Überlegenheit, wie in der Schule ein Neueingetretener oder im Sitzungssaal ein Bittsteller betrachtet wird.
Rechts von mir lag ein Schreiber, der uneheliche Sohn eines verabschiedeten Hauptmanns. Er war Falschmünzer gewesen und lag schon ein Jahr lang im Lazarett, ohne, wie ich glaube, überhaupt krank zu sein, doch hatte er den Ärzten versichert, er leide an den Nerven und damit das Gewünschte erreicht: die Zwangsarbeit und die körperliche Züchtigung blieben ihm erspart und nach Verlauf eines weiteren Jahres wurde er nach T–k geschickt, um dort in einem Hospital als Aufwärter untergebracht zu werden. Er war ein vierschrötiger, kräftiger Bursche von achtundzwanzig Jahren, ein großer Spitzbube und Rechtsverdreher vor dem Herrn, nichts weniger als dumm, sehr unterhaltsam und selbstbewußt, und krankhaft selbstgefällig. Er hatte sich allen Ernstes versichert, daß er der ehrlichste und wahrheitsliebendste Mensch der Welt und vollständig unschuldig sei, und in diesem Glauben verblieb er bis an sein Ende in unerschütterlicher Überzeugung. Er war der erste, der ein Gespräch mit mir anknüpfte, mich neugierig auszuforschen suchte und mich ziemlich ausführlich über die äußeren Ordnungsregeln des Hospitals aufklärte. Selbstverständlich hatte er mir schon vorher mitgeteilt, daß er der Sohn eines Hauptmanns sei. Er wollte ungeheuer gern zu den Adligen gezählt werden oder doch wenigstens zu den „Besseren“. Nachdem er verstummt war, kam einer aus der Strafkompagnie zu mir, setzte sich hin und begann zu erzählen, daß er viele von den früher verschickten Adligen gekannt habe, und er nannte sie alle mit dem Taufnamen. Er war ein bereits ergrauter Soldat, auf dessen Gesicht es förmlich geschrieben stand, daß er alles log. Er hieß Tschekunoff. Offenbar wollte er sich bei mir einschmeicheln, da er wahrscheinlich Geld bei mir vermutete. Als er darauf in der Tat bemerkte, daß ich ein Päckchen Tee und Zucker bei mir hatte, bot er mir sofort seine Dienste an: einen Teekessel zu verschaffen und den Tee aufzusetzen. Nun hatte mir aber schon M–tzkij versprochen, am nächsten Tage durch die Arrestanten, die auf den Lazaretthof arbeiteten, aus dem Ostrogg einen Teekessel zu schicken. Doch ungeachtet meiner Einwendung, besorgte Tschekunoff in kürzester Zeit alles, was nötig war. Er brachte ein gußeisernes Gefäß, sogar eine Tasse, ließ das Wasser aufkochen und goß es über die Teeblätter, – kurz, er bediente mich mit ungewöhnlichem Eifer, was ihm sogleich von einem anderen Kranken einige beißend spöttische Bemerkungen eintrug. Dieser Kranke war ein Schwindsüchtiger, der mir gegenüber an der anderen Wand lag, Ustjänzeff mit Namen, ein Soldat – er war derselbe, der in der Angst vor der bevorstehenden Körperstrafe einen Liter Branntwein mit Tabak ausgetrunken und sich durch diesen Trank sein Lungenleiden zugezogen haben sollte. Bis jetzt hatte er schweigend und schweratmend dagelegen, mich unverwandt und mit ernstem Blick beobachtet und unwillig jede Bewegung Tschekunoffs verfolgt. Sein ungeheurer, galliger Ernst verlieh seinem Unwillen etwas überaus Komisches. Endlich hielt er es nicht mehr aus:
„Sieh doch einer diesen Knecht! Da hat er jetzt glücklich einen Herrn gefunden!“ sagte er langsam mit Zwischenpausen und mit einer Stimme, die vor Erregung atemlos zu sein schien. Seine Tage waren bereits gezählt.
Tschekunoff wandte sich unwillig zu ihm.
„Wer ist hier ein Knecht?“ fragte er mit verächtlichem Blick auf ihn.
„Du natürlich!“ antwortete dieser in so überzeugtem Ton, als hätte er das volle Recht gehabt, Tschekunoff zu schimpfen, ja als wäre er einzig zu diesem Zweck angestellt.
„Ich ein Knecht?“
„Gerade du. Hört doch, Kinder, er glaubt’s nicht einmal! Wundert sich noch!“
„Was geht das dich an! Siehst doch, daß er allein ist und sich nicht selbst bedienen kann – und daß er nicht gewohnt ist, ohne Diener zu sein, das weiß man doch! Weshalb soll ich ihm da nicht gefällig sein, du borstige Schnauze!“
„Wer ist eine borstige Schnauze?“
„Du, natürlich!“
„Ich soll eine borstige Schnauze sein?“
„Selbstverständlich du.“
„Und du bist wohl eine Schönheit? Hast selber ein Gesicht wie ein Krähenei ... wenn ich eine borstige Schnauze sein soll.“
„Sei getrost, die bist du! Da hatte ihn doch Gott schon halbtot gemacht. Aber nein, da muß er wieder schwatzen! Was machst du dich denn so breit?“
„Breit! Nein, ich, wißt ihr, verbeuge mich lieber vor einem Stiefel als vor einem Bastschuh. Mein Vater hat es auch nicht getan und auch mir befohlen ... ich ... ich ...“
Er wollte noch mehr sagen, begann aber entsetzlich zu husten. Der Hustenanfall dauerte mehrere Minuten lang an. Er spie sogar Blut. Bald trat auch kalter, quälender Schweiß auf seiner schmalen Stirn hervor. Diese Hustenanfälle verhinderten ihn zu sprechen, sonst würde er ununterbrochen gesprochen haben; man sah es deutlich seinen Augen an, daß er noch gern den anderen geschimpft hätte, aber in der Kraftlosigkeit konnte er nur noch mit der Hand einmal abwinken – doch Tschekunoff hatte ihn fast schon vergessen.
Mein Gefühl sagte mir, daß die Wut des Schwindsüchtigen eher auf mich gerichtet war, als auf Tschekunoff, denn wegen seines Wunsches, mir gefällig zu sein, um eine Kopeke zu verdienen, hätte sich niemand über ihn geärgert oder ihn mit Verachtung behandelt. Und zudem sah doch ein jeder, daß er es nur um des Geldes willen tat. In dieser Hinsicht ist das einfache Volk durchaus nicht so pedantisch und versteht es sehr fein, die Sache vom gesunden Standpunkt aufzufassen. Was Ustjänzeff mißfiel, das war ich, ich und mein Tee, und daß ich selbst in Fesseln als Herr auftrat, der nicht ohne Bedienung auskommen kann, obgleich ich gar nicht um Bedienung gebeten oder überhaupt welche auch nur gewünscht hatte. In der Tat, ich wollte immer alles selbst machen und besonders bemühte ich mich, mir niemals den Anschein zu geben, daß ich ein verzärtelter, anspruchsvoller „Herrensohn“ sei. Darin bestand teilweise sogar mein ganzer Ehrgeiz, was ich ruhig gestehen will, da hier einmal die Rede davon ist. Dennoch konnte ich niemals – ich weiß wirklich nicht, wie das kam – die verschiedenen Dienstgefälligen und Diener, die sich mir ungebeten aufdrängten, ablehnen, und so wurde ich zuguterletzt immer von ihnen beherrscht, anstatt daß ich sie beherrschte – so daß in Wirklichkeit sie meine Herren und ich ihr Diener war. Äußerlich aber hatte es den Anschein, als könne ich nicht ohne Bedienung auskommen, und wolle auch hier, in Ketten, den Herrn spielen. Das war mir natürlich sehr unangenehm. Ustjänzeff aber war ein schwindsüchtiger, reizbarer Mensch, die übrigen Kranken wahrten dabei durchaus den Anschein des Gleichmuts, dem sogar gewisses Gepräge von Hochmut nicht fehlte. Ich entsinne mich noch, daß sie damals alle ein besonderer Umstand beschäftigte: wie ich aus ihren Gesprächen erfuhr, sollte man noch am selben Abend einen bringen, den man gerade jetzt mit Spießruten bestrafte. Die Kranken erwarteten den Betreffenden nicht ohne eine gewisse Neugier. Übrigens sagten sie, daß die Strafe eine geringe sei: im ganzen nur fünfhundert Hiebe.
Inzwischen hielt ich ein wenig Umschau. Soviel ich erkennen konnte, waren die meisten Skorbut- und Augenkranke, – das waren die beiden vorherrschenden Krankheiten in jener Gegend. Von den anderen wirklich Kranken lagen fast alle an Influenza, Fieber, Brustleiden darnieder. Hier in unserer Abteilung war es nicht so wie in den anderen Krankenräumen, hier waren alle Krankheiten in einem Zimmer zusammen, sogar die venerischen. Ich habe „von den wirklich Kranken“ gesagt, da es unter den Kranken auch einige gab, die ohne krank zu sein gekommen waren – einfach um sich zu „erholen“. Die Ärzte ließen sie aus Mitleid gern zu, besonders wenn viele Betten leer standen. In der Strafkompagnie und im Ostrogg war die Verpflegung im Vergleich zum Lazarett so schlecht, daß viele mit Vergnügen kamen und hier lagen, trotz der abgeschlossenen Luft und der Unmöglichkeit, das Zimmer zu verlassen. Es gab sogar besondere Liebhaber des Liegens und überhaupt des Lazarettlebens, die meisten allerdings aus der Strafkompagnie.
Neugierig betrachtete ich meine neuen Kameraden und, ich weiß noch, das größte Interesse erregte in mir ein Schwindsüchtiger aus unserem Ostrogg, der bereits in den letzten Zügen lag, – im zweiten Bett neben Ustjänzeff, also mir fast gegenüber. Er hieß Michailoff und ich hatte ihn noch vor zwei Wochen im Ostrogg gesehen. Er war schon lange krank und hätte schon längst ins Lazarett gehen müssen, er aber bezwang sich mit einer geradezu eigensinnigen und doch völlig nutzlosen Energie, nahm jedenfalls alle seine Kräfte zusammen und ging erst zum Weihnachtsfest ins Lazarett, um dann nach drei Wochen an der Schwindsucht zu sterben. Mir fiel sein entsetzlich verändertes Gesicht auf, – ein Gesicht, das mir bei meinem Eintritt in den Ostrogg als eines der ersten aufgefallen war; ich weiß noch, es stach mir damals geradezu ins Auge. Neben ihm lag ein Soldat aus der Strafkompagnie, ein schon alter Mann, ein grauenvoller, ekelerregender Schmutzfink ... Aber ich kann ja schließlich nicht alle Kranken aufzählen ... Ich habe dieses Alten einzig aus dem Grunde Erwähnung getan, weil er damals einen nicht geringen Eindruck auf mich machte und mir in kürzester Zeit eine recht anschauliche Vorstellung von gewissen Eigenheiten des Arrestantenlazaretts gab. Dieser Alte hatte gerade den stärksten Schnupfen. Er nieste fortwährend, nieste eine ganze Woche hindurch, und sogar im Schlaf in förmlichen Salven fünf bis sechsmal nacheinander, wozu er jedesmal gewissenhaft sagte: „Gott, daß es auch solche Strafen gibt!“ Er saß auf seinem Bett und stopfte sich eifrig die ganze Nase mit Tabak voll, den er einer Papierdüte entnahm, um gründlicher und regelmäßiger niesen zu können. Er nieste in ein karriertes, baumwollenes Schnupftuch – das sein persönliches, schon hundertmal gewaschenes, gänzlich ausgeblichenes Eigentum war, – wobei sich seine kleine Nase eigentümlich kraus zog, in unzählige, feine Runzeln, und die Stummeln seiner schwarzgewordenen, alten Zähne mitsamt dem roten, schleimigen Zahnfleisch sichtbar wurden. Hatte er sich dann ausgeniest und ausgeschnaubt, so breitete er sofort das Tuch auseinander, besah aufmerksam die darin reichlich angesammelte Feuchtigkeit, die er dann an seinem braunen Lazarettschlafrock abwischte, so daß die ganze Feuchtigkeit am „Staatseigentum“ kleben blieb, sein eigenes Taschentuch aber nur feucht wurde. Dasselbe tat er ununterbrochen die ganze Woche, so lange wie sein Schnupfen währte. Dieses mehr als geizige Schonen des eigenen Schnupftuchs zum Nachteil des von der Regierung gelieferten Krankenschlafrocks rief in den übrigen Kranken nicht den geringsten Protest hervor, obgleich doch auch von ihnen jemand in der Folge diesen Rock erhalten konnte. Aber unser einfaches Volk ist eben sehr genügsam und bis zur Sonderbarkeit ekelfrei. Mich aber überlief ein Gruseln in jenem Augenblick, und unwillkürlich begann ich voll Angst, Abscheu und Neugier den soeben von mir angezogenen Schlafrock zu betrachten. Da erst wurde ich gewahr, daß er schon seit längerer Zeit durch seinen ziemlich starken Geruch meine Aufmerksamkeit reizte – ohne daß es mir jedoch zum Bewußtsein gekommen wäre. Er war auf mir inzwischen warm geworden und so roch er immer stärker nach Arzneien, Pflastern und, wie mir schien, einer gewissen Fäulnis, was ja schließlich ganz erklärlich erschien, da er sicherlich seit undenklichen Zeiten von den Schultern der Kranken nicht heruntergekommen war. Vielleicht war das leinwandartige Rückenfutter auch einmal gewaschen worden, genau aber ließ sich so etwas nicht feststellen. Jedenfalls war dieses Futter von allen nur denkbaren unangenehmen Säften durchtränkt, von dem Wasser, das Kompressen, spanischen Fliegen und anderen Umschlägen entfließt. Zudem kamen in diese Arrestantenabteilung des Militärlazaretts sehr oft Bestrafte, deren Rücken von Spießrutenstreichen und Stockschlägen wund waren. Sie wurden mit Kompressen behandelt und daher konnte auch der Schlafrock, der direkt auf das nasse Hemd kam, nicht trocken bleiben, und alle Feuchtigkeit, die er aufsog, trocknete allmählich in ihn hinein. So ist es wohl begreiflich, daß ich jedesmal, wenn ich in all diesen Jahren ins Lazarett kam – und ich kam ziemlich oft dorthin – mit ängstlichem Mißtrauen den Schlafrock in Empfang nahm. Doch am wenigsten gefielen mir die in diesen Schlafröcken sich mitunter vorfindenden Läuse von ganz besonderer Größe und Wohlgenährtheit. Die Arrestanten akzeptierten sie mit schadenfrohem Hochgenuß, und wenn unter dem harten, plumpen Nagel des Arrestantenfingers eines dieser gefangenen Tiere mit einem Knall sein Leben aufgab, so ließ sich sogar am Gesichtsausdruck des Henkers die ganze Größe der von ihm empfundenen Genugtuung ermessen. Ebenso wurden bei uns auch die Wanzen gehaßt, und es kam nicht selten vor, daß an einem langen, langweiligen Winterabend die ganze Mannschaft sich zu einem Vernichtungskampf gegen dieses Ungeziefer zusammentat. Mit einem Wort, äußerlich war im Zimmer alles – abgesehen von der schweren Luft – nach Möglichkeit sauber und gut – nur daß mit der Sauberkeit des Unterfutters, wie gesagt, leider kein Luxus getrieben wurde. Die Kranken hatten sich daran gewöhnt und glaubten wahrscheinlich, daß es gerade so sein müsse, und überdies waren auch keine besonderen Vorkehrungen zur Erhaltung der Sauberkeit getroffen. Doch davon später.
Kaum hatte mir Tschekunoff den Tee gebracht – zu dem er, nebenbei bemerkt, das Wasser aus dem Vorrat unserer Krankenstube genommen hatte, Wasser, das nur einmal in ganzen vierundzwanzig Stunden gebracht wurde und in der stickigen Luft bald verdarb, – als sich mit einem gewissen Geräusch die Tür öffnete und ein soeben mit Spießruten gezüchtigter Soldat unter verstärkter Eskorte hereingeführt wurde. Da sah ich zum erstenmal einen in dieser Weise Bestraften. Sie wurden im allgemeinen sehr oft gebracht oder hereingetragen, wenn es Schwerbestrafte waren, und die Ankunft eines solchen war für die Kranken stets eine große Zerstreuung. Nichtsdestoweniger wurden sie mit sehr strenger Miene und mit einem, ich möchte sagen, forzierten Ernst empfangen. Übrigens hing der Empfang bis zu einem gewissen Grade von der Größe des Vergehens und folglich auch von der Größe der Strafe ab. Ein schwer Bestrafter und seinem Ruf nach großer Verbrecher genoß auch größere Hochachtung und größere Aufmerksamkeit, als irgend so ein entflohener Soldat, wie zum Beispiel der, den man in jenem Augenblick hereinführte. Doch wurden weder in diesem noch in einem anderen Fall mitleidige Worte oder sonst welche diesbezügliche Bemerkungen geäußert. Schweigend halfen sie dem Armen und pflegten ihn, namentlich wenn er nicht ohne Hilfe auskommen konnte. Auch die Feldscher schienen schon zu wissen, daß sie den Gezüchtigten geübten und geschickten Händen übergaben.
Diese Hilfe bestand gewöhnlich in der ziemlich oft erforderlichen Erneuerung der Kompressen, einem Bettuch oder Hemde, das in kaltes Wasser getaucht, nur ein wenig ausgewrungen und auf den zerfleischten Rücken gelegt wurde, wenn der Bestrafte selbst nicht mehr imstande war, auf das Trockenwerden derselben zu achten, – und ferner im geschickten Herausziehen der Splitter aus dem Schorf der Wunden. Diese Splitter rührten von den Stöcken her, die auf dem Rücken des Betreffenden beim Schlage zerbrochen waren. Das Herausziehen derselben ist dem Kranken gewöhnlich sehr unangenehm, doch hat mich immer die ungewöhnliche Standhaftigkeit im Ertragen eines physischen Schmerzes, wie ich sie bei diesen Arrestanten sah, nicht wenig gewundert. Ich habe ihrer viele, sogar grausam Geschlagene gesehen, doch fast kein einziger von ihnen hat gestöhnt. Nur ihr Gesicht sieht dann ganz verändert aus, ist sehr bleich, die Augen brennen wie im Fieber, der Blick ist zerstreut, unruhig, die Lippen zittern, so daß der Arme sie unwillkürlich und nicht selten blutig beißt.
Der hereingeführte Soldat war ein Bursche von dreiundzwanzig Jahren, stark und muskulös gebaut, hoch und schön gewachsen, mit einem hübschen Gesicht und von gebräunter Hautfarbe. Sein Rücken war völlig wundgeschlagen und bis zum Gürtel entblößt. Um die Schultern hatte man ihm ein zusammengefaltetes nasses Bettuch gelegt, das bis zum Kreuz herabreichte und unter dem er an allen Gliedern wie im Fieber zitterte. Anderthalb Stunden ging er ununterbrochen im Zimmer umher. Ich sah ihm ins Gesicht: er schien im Augenblick nichts zu denken, er schaute nur wild und eigentümlich drein, mit unstetem Blick, dem es offenbar schwer fiel, auf einem Gegenstande aufmerksamer haften zu bleiben. Da schien es mir, daß er einmal starr auf meinen Tee geblickt hatte. Der Tee war heiß: der Dampf stieg noch aus der Tasse empor, und der arme Junge zitterte vor Kälte. Ich forderte ihn auf, zu trinken. Schweigend und kurz wandte er sich zu mir, nahm die Tasse, trank sie stehend und ohne Zucker aus, wobei er sich sehr beeilte, und sich augenscheinlich bemühte, mich nicht anzusehen. Nachdem er getrunken hatte, setzte er die Tasse schweigend wieder hin und ging, ohne zu danken oder auch nur mit dem Kopf zu nicken, wieder in den mittleren Gang zurück, um von neuem hin- und herzugehen. Es war ihm nicht um Dankbarkeit und Kopfnicken zu tun! Was aber das Verhalten der übrigen zu ihm anbetrifft, so fiel mir eines auf: sie vermieden sichtlich jedes Gespräch mit ihm. Ja, es wunderte mich sogar, daß sie nach den ersten Hilfeleistungen ihm geradezu absichtlich nicht die geringste Aufmerksamkeit mehr schenkten. Vielleicht taten sie es in dem Wunsch, ihn möglichst in Ruhe zu lassen und ihm nicht mit Ausfragen und „Teilnahme“ lästig zu werden, womit er vollkommen zufrieden zu sein schien.
Inzwischen war es dunkel geworden und man zündete die Nachtlampen an. Einige Kranken besaßen auch ihre eigenen Lichte und Leuchter, doch waren es nur sehr wenige. Endlich, nach dem Abendbesuch des Arztes, kam der Unteroffizier und zählte die Kranken, worauf ein Nachtzuber hereingebracht und unsere Arrestantenabteilung zugeschlossen wurde. Zu meiner Verwunderung erfuhr ich, daß dieser Zuber die ganze Nacht im Zimmer bleiben sollte, während der dazu bestimmte Ort nur zwei Schritt von der Tür direkt am Korridor lag. Aber es war nun einmal so eingeführt. Am Tage durfte der Sträfling zu diesem Zweck das Zimmer verlassen, aber nur auf eine Minute; in der Nacht jedoch wurde es ihm unter keinen Umständen gestattet. Für die Arrestantenabteilung gab es eben eine besondere Vorschrift und ein Kranker aus dieser Abteilung mußte selbst in der Krankheit seine Strafe tragen. Von wem diese Anordnung zum erstenmal getroffen worden war – das weiß ich nicht; ich weiß nur, daß sie sinnlos war und daß in keiner einzigen anderen die ganze Nutzlosigkeit jeglichen Formalismus greifbarer hervortrat, als gerade in dieser Vorschrift. Selbstverständlich rührte sie nicht von den Ärzten her. Ich sage nochmals, daß die Sträflinge ihre Ärzte nicht genug loben konnten, sie ihre Väter nannten und die größte Hochachtung für sie empfanden. Ein jeder sah sich freundlich von ihnen behandelt, hörte ein gutes Wort, was der Sträfling, der von allen verstoßen war, um so mehr zu schätzen wußte, als er die Unverfälschtheit, die von Herzen kommende Aufrichtigkeit dieses guten Wortes und dieser Freundlichkeit erkannte. Sie hätte ja schließlich nicht zu sein brauchen, es war den Ärzten durchaus nicht vorgeschrieben, freundlich zu sein und niemand kümmerte sich darum, ob sie gut oder schlecht mit den kranken Sträflingen umgingen; folglich waren sie nur aus wahrer Menschenliebe gut. Natürlich wußten die Ärzte, daß jeder Kranke, gleichviel wer er ist, Sträfling oder Potentat, der Sonne und Herzlichkeit bedarf. Die Kranken aus den anderen Sälen, namentlich die Rekonvaleszenten, durften frei auf den Korridoren umhergehen, sich mehr Bewegung machen, frischere Luft atmen, da die Luft in den Krankenräumen abgeschlossen und von den verschiedensten ungesunden Ausdünstungen erfüllt war. Es ist mir selbst jetzt noch furchtbar und ekelhaft, auch nur daran zu denken, in welchem Maße diese ohnehin schon schlechte Luft in unserem Krankenraum verpestet wurde, wenn dieser Zuber die ganze Nacht bei der warmen Temperatur im Zimmer stand – und noch dazu bei gewissen Krankheiten, bei denen ein Beiseitetreten unvermeidlich ist. Wenn ich vorhin sagte, daß der Arrestant auch während der Krankheit seine Strafe trug, so habe ich damit natürlich nicht gemeint, und ich will es auch durchaus nicht so hinstellen, als hätte man diese Anordnung einzig zur Strafe erdacht. Das wäre meinerseits eine überaus sinnlose Verleumdung. Kranke braucht man nicht mehr zu bestrafen, und daher ist es wohl anzunehmen, daß eine unerbittliche Notwendigkeit die Vorgesetzten einmal gezwungen hatte, diese Maßregel zu ergreifen, die in ihren Folgen so überaus verderblich war. Aber welch eine Notwendigkeit mochte es gewesen sein? Das ist nun das Ärgerliche, daß man die Notwendigkeit dieser, und außer ihr noch einer Menge anderer Maßregeln auf keine Weise erklären kann, ja sie sind sogar dermaßen unverständlich, daß man – von Erklärungen schon ganz zu schweigen – nicht einmal eine Veranlassung erraten, sich überhaupt nichts denken kann. Wie soll man eine so zwecklose, unnötige Grausamkeit erklären? Etwa damit, daß der Arrestant ins Lazarett kommen, sich absichtlich krank stellen, die Ärzte betrügen, in der Nacht – glauben Sie das? – an den gewissen Ort gehen und, unter dem Schutz der Dunkelheit, entfliehen könnte? Ich glaube, man kann kaum verlangen, daß man die ganze Ungereimtheit dieser Annahme im Ernst nachweist. Wohin soll er denn entfliehen? Wie entfliehen? Wohin entfliehen? Am Tage werden sie nur einzeln herausgelassen, dieselbe Vorschrift könnte auch für die Nacht gelten. Vor der Tür steht eine Schildwache mit geladenem Gewehr. Der Abort ist von der Schildwache buchstäblich nur zwei Schritte entfernt und außerdem wird der Kranke noch von der Nebenwache hingeführt und während der ganzen Zeit nicht aus dem Auge gelassen. Daselbst ist nur ein einziges kleines Fenster, Sommer und Winter mit Doppelfenstern und mit einem eisernen Gitter versehen. Draußen unter dem Fenster des Aborts und der ganzen Fensterreihe der Arrestantenabteilung des Lazaretts geht wieder eine Schildwache die ganze Nacht auf und ab. Um durch dieses Fenster zu entfliehen, muß man beide Glasscheiben zerschlagen und das eiserne Gitter entfernen. Welche Wache wird so etwas ruhig geschehen lassen? Oder nehmen wir an, er erschlägt vorher die Nebenwache, und zwar so, daß der Soldat keinen Laut mehr von sich geben kann und niemand etwas merkt. Aber selbst wenn wir diese Unmöglichkeit als möglich zulassen, so muß er doch immer noch die Fensterrahmen und das Gitter herausbrechen. Und nicht zu vergessen, daß dicht neben der Schildwache die Krankenwärter schlafen und kaum zehn Schritt weiter steht vor der Tür des anderen Arrestantensaales eine zweite Schildwache mit geladenem Gewehr und bei ihm wiederum ein Soldat als Nebenwache, und etwas weiter schlafen wiederum Krankenwärter. Und wohin kann man im Winter nur in Strümpfen und Pantoffeln, im Schlafrock und in der Nachtmütze entfliehen? Wenn aber so wenig Gefahr einer Flucht vorhanden ist – d. h. genau genommen überhaupt keine –, wozu dann eine so unnütze Qual der Kranken vielleicht in den letzten Tagen und Stunden ihres Lebens, der Kranken, die der frischen Luft noch mehr bedürfen als Gesunde? Wozu, wozu? Das habe ich nie begreifen können.
Doch da ich nun einmal diese Frage gestellt habe und auf die unnützen Qualen zu sprechen gekommen bin, so kann ich nicht umhin, noch auf etwas anderes hinzuweisen, das gleichfalls jahrelang als Problem vor mir gestanden hat. Ich kann es nicht unterlassen, auch dieses zur Sprache zu bringen, bevor ich in meiner Erzählung fortfahre. Ich meine die Fesseln, von denen keine noch so schwere Krankheit den Arrestanten erlöst.
Ich habe Schwindsüchtige gesehen, die vor meinen Augen in den Ketten starben und sich die ganze letzte Zeit vor dem Tode in ihnen quälen mußten. Man schien sich aber dermaßen daran gewöhnt zu haben, daß alle es als etwas Unabänderliches ansahen. Es ist sogar kaum anzunehmen, daß jemand darüber auch nur nachgedacht hat, da selbst die Ärzte nicht ein einziges Mal darauf gekommen waren, die vorgesetzte Behörde um die Erlaubnis zur Abschmiedung eines Kranken, sagen wir eines Schwindsüchtigen, zu bitten. Die Ketten sind ja an sich nicht weiß Gott wie schwer, sie wiegen ungefähr acht bis zwölf Pfund, und zehn Pfund zu tragen, macht einem gesunden Menschen nichts aus. Nun habe ich aber gehört, daß die Füße, wenn man lange Zeit Fesseln trägt, abzehren sollen. Ich weiß freilich nicht, ob es wahr ist, aber es hat doch einige Wahrscheinlichkeit für sich. Jedes Gewicht, mag es auch noch so gering sein – in diesem Fall etwa zehn Pfund –, das für immer an den Fuß befestigt ist, vergrößert das Gewicht des Gliedes in unnatürlicher Weise und kann daher auf die Dauer sehr wohl einen schlechten Einfluß haben ... Doch nehmen wir an, daß es einem Gesunden nichts ausmacht, so handelt es sich doch hier um Kranke, und nicht etwa um vorübergehend Erkrankte, sondern um Schwindsüchtige, bei denen die Arme und Beine ohnehin schon so abgezehrt sind, daß ihnen jeder Strohhalm schwer wird. Wahrlich, hätte die Medizinalbehörde auch nur für die Schwindsüchtigen diese Erleichterung erwirkt, so wäre auch das schon eine große Wohltat gewesen. Man wird vielleicht einwenden, der Arrestant sei ein Verbrecher, ein Bösewicht, und habe Wohltaten nicht verdient. Aber sind wir denn wirklich befugt, die Strafe eines Menschen noch zu verschärfen, den Gottes Finger schon berührt hat? Und es ist ja auch schwer zu glauben, daß solches um der Strafe willen geschah. Der Schwindsüchtige darf ja auch nach dem Gesetz nicht körperlich bestraft werden. Folglich kann man hierin wieder nur eine geheimnisvolle Maßregel auf Grund der weisen, einzig seligmachenden Vorsicht sehen. Doch auf Grund welcher Befürchtungen diese Vorsicht notwendig sein soll – das ist und bleibt unverständlich. Wer wird denn, in der Tat, befürchten, daß ein Schwindsüchtiger entfliehen könnte? Welch ein Schwindsüchtiger wird denn die Dummheit begehen, wenn er bereits Todeskandidat ist, noch einen Fluchtversuch zu machen, er, der sich kaum schleppen kann, und noch dazu mit der Aussicht, sogleich erschossen zu werden oder draußen in Nacht und Nebel, bei Hunger und Kälte wie ein Hund zu verrecken, während er im Lazarett alles hat, was er noch braucht? Und daß einer Schwindsucht vortäuschen, die Ärzte betrügen könnte, um vom Lazarett aus zu entfliehen – ist ausgeschlossen. Schwindsucht ist keine Krankheit, die sich vortäuschen läßt, dem Schwindsüchtigen sieht man seine Krankheit schon auf den ersten Blick an. Und dann noch eines: werden denn dem Menschen wirklich nur zu dem einen Zweck die Fesseln angeschmiedet, damit er nicht entfliehen könne oder auch nur, um ihm die Flucht zu erschweren? Durchaus nicht. Die Fesseln sind nichts als Entehrung, physische wie sittliche Belastung, Schmach und Schande. Als das wenigstens wird dieses Kennzeichen des Sträflings allgemein aufgefaßt. Die Flucht aber können sie nie verhindern: selbst der dümmste, ungeschickteste Arrestant wird es verstehen, ohne besondere Mühe das Eisen zu durchfeilen oder die Niete mit einem Stein zu zerschlagen. Nein, die Fußfesseln sind entschieden kein Hindernis. Wenn dem aber nun einmal so ist, wenn sie dem verurteilten Zwangsarbeiter nur zur Strafe angeschmiedet werden, so frage ich nochmals: soll man denn wirklich auch einen Sterbenden noch bestrafen?
Während ich dieses schreibe, steht wieder deutlich das Bild eines Sterbenden vor mir, eines Schwindsüchtigen, jenes selben Michailoff, der mir fast gegenüberlag, nicht weit von Ustjänzeff, und der, soviel mir erinnerlich ist, am vierten Tage nach meiner Übersiedelung ins Lazarett starb. Vielleicht habe ich auch nur aus diesem Grunde soviel von den Schwindsüchtigen gesprochen, weil dieses Bild unwillkürlich alle Eindrücke und Gedanken in meiner Erinnerung wieder wachrief, die ich damals anläßlich seines Todes hatte. Den Michailoff selbst kannte ich nur wenig. Er war noch sehr jung, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, hoch gewachsen, schlank und von auffallend edlem Äußerem. Er lebte in der besonderen Abteilung und war bis zur Wunderlichkeit schweigsam, geradezu lautlos und gewissermaßen „ruhig traurig“, wie die Arrestanten sagten. Wie sie nach seinem Tode erzählten, sei er im Ostrogg förmlich „eingetrocknet“. Sie bewahrten ihn in gutem Angedenken. Ich erinnere mich noch, daß er wundervolle Augen hatte ... – ich weiß nicht, warum ich mich gerade dieser Augen so deutlich entsinne ...
Er starb um drei Uhr nachmittags, an einem kalten, klaren Tage. Ich weiß noch, durch die grünlichen, von Eisblumen glitzernden Fensterscheiben fiel das Wintersonnenlicht in schrägen, breiten Strahlenbündeln ins Zimmer. Ein ganzer Strom von Licht ergoß sich über den Unglücklichen. Er war bewußtlos, atmete schwer, und es dauerte mehrere Stunden, bis er endlich erlöst war. Schon am Morgen hatte man seinen Augen angesehen, daß er die anderen nicht mehr erkannte: sie traten an sein Bett und wollten ihm etwas Erleichterung schaffen, denn man sah es deutlich, wie sehr er sich quälte: er atmete schwer, tief, röchelnd; hoch hob sich seine Brust, als könne er nicht genug Luft einziehen. Er hatte bereits die Bettdecke von sich geworfen, die ganze Kleidung, und nun begann er, sein Hemd sich vom Leibe zu reißen: selbst dieses war ihm zu schwer. Man half ihm und zog ihm auch das Hemd aus. Es war entsetzlich, diesen langen, langen, nackten Körper zu sehen, mit den bis auf den Knochen abgezehrten Beinen und Armen, dem eingefallenen Leib und dem gehobenen Brustkorb mit den deutlich wie bei einem Skelett sich abzeichnenden Rippen. Auf seinem ganzen langen Körper lag nur ein kleines Holzkreuz und ein Amulett, und dann noch die Fesseln, durch deren Eisenring er jetzt den abgemagerten Fuß, wie es schien, hätte durchziehen können. Eine halbe Stunde vor seinem Tode verstummten alle oder sie sprachen fast nur flüsternd. Wer gehen mußte, trat leise, kaum hörbar auf. Es wurde nur wenig gesprochen, hin und wieder blickte man auf den Sterbenden, der immer lauter röchelte. Endlich tastete er mit unsicherer, irrender Hand nach seinem Kreuz, das er am Halse trug, und begann es gleichfalls fortzuzerren, als wäre ihm auch dieses zu schwer geworden, als hätte es ihn bedrückt, beunruhigt. Da nahm man ihm auch das Kreuz ab. Nach zehn Minuten verschied er. Man klopfte an die Tür und meldete es der Schildwache. Der Krankenwärter trat ein, sah mit stumpfen Blicken auf den Toten und begab sich zum Feldscher. Dieser erschien ziemlich bald; es war ein junger guter Mensch, der sich nur etwas mehr als nötig mit seinem Äußeren beschäftigte, einem Äußeren, das übrigens ganz glücklich war. Mit schnellen, lauten Schritten ging er durch den stillgewordenen Raum zum Toten, erfaßte mit ganz besonders freundlicher Miene, die er sich gleichsam speziell für diesen Fall ausgedacht hatte, das Handgelenk, um den Puls zu fühlen, befühlte ihn auch noch hier und da, winkte mit der Hand und ging wieder hinaus. Hierauf wurde die Wache benachrichtigt: es war ein schwerer Verbrecher aus der besonderen Abteilung gewesen, folglich mußte auch sein Tod mit besonderen Zeremonien vermerkt werden. Während nun die Wache erwartet wurde, äußerte einer der Sträflinge mit leiser Stimme den Gedanken, daß es wohl gut wäre, dem Toten die Augen zuzudrücken. Ein anderer hörte ihm aufmerksam zu, trat dann zum Leichnam und drückte ihm die Augen zu. Bei der Gelegenheit bemerkte er auch das kleine Holzkreuz auf dem Kissen, nahm es, besah es und legte es dem Toten wieder um den Hals; als es geschehen war, bekreuzte er sich.
Inzwischen erstarrte das Gesicht des Entschlafenen; ein Sonnenstrahl spielte auf ihm. Der Mund war halbgeöffnet: zwei Reihen weißer, junger Zähne glänzten unter den dünnen, am Zahnfleisch klebenden Lippen.
Endlich erschien der Unteroffizier der Wache mit Seitengewehr und im Helm, ihm folgten zwei Wärter. Er näherte sich mit immer langsamer werdendem Schritt, mit verwundertem Blick auf die stummen, ernst und streng ihn ansehenden Sträflinge ringsum. Als er bis auf einen Schritt vor dem Toten angekommen, blieb er plötzlich wie erstarrt stehen: der völlig entblößte, bis auf Haut und Knochen abgemagerte Leichnam, an dem noch die eisernen Fesseln angeschmiedet waren, schien ihn zu erschrecken. Doch schon im nächsten Augenblick löste er die Schuppenkette seines Helmes, nahm den Helm ab, was durchaus nicht notwendig war, und bekreuzte sich langsam und mit tiefer Verneigung. Es war ein strenges Feldwebelgesicht mit einem schon grau untermischten Schnauzbart. Ich weiß noch, im selben Augenblick stand nicht weit von ihm Tschekunoff, ein gleichfalls schon ergrauter Mann. Die ganze Zeit hatte er schweigend und aufmerksam in das Gesicht des Unteroffiziers geblickt, ohne auch nur einmal den Blick abzuwenden, um mit einer ganz eigentümlichen Aufmerksamkeit jede seiner Bewegungen zu verfolgen. Da trafen sich ihre Blicke und bei Tschekunoff erzitterte plötzlich aus einem unbekannten Grunde die Unterlippe: er verzog sie so eigentümlich, öffnete den Mund und sagte, halb ohne zu wollen und mit dem Kopf auf den Toten weisend, hastig und nicht laut zu ihm: „Hat doch auch eine Mutter gehabt!“ und ging fort.
Ich weiß noch, diese Worte durchbohrten mich wie ein Messerstich ... Warum nur hatte er sie gesagt und wie war er überhaupt darauf gekommen? Da schickte man sich an, den Leichnam hinauszutragen: man hob ihn mit dem ganzen Lager auf, das Stroh knisterte, und inmitten der allgemeinen Stille fielen plötzlich die Ketten mit lautem Geklirr zu Boden. Sie wurden aufgehoben ... Bald war die Leiche hinausgeschafft. Plötzlich begannen alle laut zu sprechen. Man hörte nur noch, wie der Unteroffizier im Korridor jemand nach dem Schmied schickte. Der Tote mußte ausgeschmiedet werden ... Doch ich bin vom Thema abgekommen ...
Der Besuch der Ärzte fand täglich am Morgen statt. Ungefähr um elf Uhr erschienen sie alle zusammen, ihnen voran schritt der Oberarzt, und anderthalb Stunden vor ihnen kam unser Abteilungsarzt. Damals war es ein junger Mediziner, der seine Sache verstand, freundlich und sympathisch im Umgang und bei den Arrestanten sehr beliebt war, doch entdeckten sie auch an ihm einen Fehler: „Er ist doch schon gar zu gut,“ sagten sie. Er war allerdings ein sehr guter Mensch, wenig gesprächig, schien sogar verlegen zu sein, wenn er bei uns war, errötete beinahe, wenn man ihn um etwas bat, änderte die Rationen womöglich schon nach der ersten Bitte und war vielleicht sogar bereit, auch die Medizin nach dem Wunsch des Kranken zu bestimmen. Übrigens war er wirklich ein prächtiger Junge. Man wird mir zugeben, daß in Rußland viele Ärzte die Liebe und Achtung des einfachen Volkes genießen – es ist Tatsache. Ich weiß, meine Worte werden zunächst paradox erscheinen, besonders wenn man das allgemeine Mißtrauen des russischen Volkes zu den Medizinern und den ausländischen Arzneien in Betracht zieht. Und es ist ja wahr, der einfache Mann, der sich mit einer Krankheit, und nicht selten einer schweren Krankheit, womöglich jahrelang plagt, wird sich eher von einem alten Kräuterweibe behandeln lassen, oder sich mit Hausmitteln – die durchaus nicht zu verachten sind – zu heilen versuchen, als daß er zum Arzt geht oder ins Hospital, um dort zu liegen. Doch gibt es hierfür einen Grund, der sogar sehr wichtig ist, jedoch nichts mit der Medizin zu tun hat: das ist, wie ich bereits angedeutet habe, das Mißtrauen des Volkes zu allem, was den Stempel des Administrativen, Formellen trägt. Hinzu kommt, daß das Volk durch verschiedene grauenvolle Geschichten, die meist frei erfunden sind, mitunter aber zum Teil auch auf Wahrheit beruhen, ein großes Vorurteil gegen die Hospitäler gefaßt hat und die Ärzte fürchtet. Doch am meisten schrecken es die deutschen Einrichtungen, die fremden Menschen ringsum während der ganzen Krankheit, die strengen Vorschriften inbetreff des Essens, Erzählungen von Beispielen schonungsloser Roheit der Feldscher und auch Ärzte, vom Aufschneiden der Leichen und Ausnehmen des Eingeweides, und ähnliches mehr. Und dann denkt das Volk, da die Ärzte doch den oberen Gesellschaftsklassen angehören: wie sollen wir uns denn von den vornehmen Herren bedienen und kurieren lassen? Aber schon nach etwas näherer Bekanntschaft mit den Ärzten verschwinden – Ausnahmen natürlich zugegeben – alle diese Befürchtungen sehr schnell, was meiner Meinung nach unseren Ärzten, namentlich den jüngeren, nur zur Ehre gereicht. Die Mehrzahl von ihnen versteht es, sich die Achtung und sogar die Liebe des Volkes zu erwerben. Wenigstens behaupte ich es nach dem, was ich selbst oft genug und an verschiedenen Orten gesehen und erfahren habe. Und ebenso habe ich keine Veranlassung, vorauszusetzen, daß es an anderen Orten gar so oft anders sei. Gewiß gibt es in manchen Winkeln Ärzte, die ihr Hospital nur als Kapitalanlage betrachten und die Kranken wie die Medizin so gut wie gänzlich vergessen. Gewiß gibt es auch heute noch solche Ärzte; ich aber rede von der Mehrzahl oder richtiger, von der Richtung und dem Geist, der sich heute in der Medizin kundtut und entwickelt. Jene anderen, jene Verräter der Sache, sind Wölfe in der Schafherde, was sie auch zu ihrer Rechtfertigung vorbringen werden, wie zum Beispiel die Ausrede von dem „Milieu“, das sie verschlungen habe, – sie werden doch immer im Unrecht bleiben, besonders wenn sie inzwischen auch die Nächstenliebe verloren haben. Nächstenliebe, Freundlichkeit, brüderliches Mitleid mit dem Leidenden ist für diesen oft viel notwendiger, als alle Arzneien. Es wäre wirklich Zeit, endlich aufzuhören, die Schuld apathisch auf das „Milieu“ abzuwälzen, mit der Begründung, daß es uns erstickt habe. Es ist allerdings wahr, daß es vieles erstickt, alles aber kann es uns doch niemals nehmen. Und wie oft hat ein geriebener und sachverständiger Schurke nicht nur seine Schwächen, sondern selbst seine größten Gemeinheiten mit dem Einfluß des „Milieu“ äußerst gewandt zu verdecken oder sogar zu rechtfertigen gewußt, besonders wenn er schön zu reden und schön zu schreiben verstand. ... Übrigens bin ich wieder vom Thema abgewichen.
Ich wollte nur sagen, daß das einfache Volk sich mehr zur medizinischen Administration mißtrauisch verhält, als zu den Ärzten selbst. Hat es sie einmal näher kennen gelernt und gesehen, wie sie in Wirklichkeit sind, so verliert es schnell viele seiner Vorurteile. Die übliche Einrichtung unserer Heilanstalten entspricht bis jetzt noch in vielen Dingen nicht dem Volksgeist, steht mit ihren Vorschriften den Angewohnheiten des einfachen Menschen feindlich gegenüber und kann daher auch nicht sein volles Vertrauen und seine volle Achtung erwerben. Wenigstens will es mir so scheinen, nach dem, was ich selbst gesehen habe und nach den verschiedenen empfangenen Eindrücken.
Unser Abteilungsarzt blieb gewöhnlich bei jedem Kranken stehen, untersuchte ihn ernst und äußerst gewissenhaft, richtete verschiedene Fragen an ihn, verschrieb die Medizin, bestimmte das Essen, die Portion. Zuweilen bemerkte er sehr gut, daß dem angeblich „Kranken“ überhaupt nichts fehlte, da aber der betreffende Arrestant gekommen war, um sich von der schweren Arbeit zu erholen oder einige Zeit in einem weichen Bett zu liegen, anstatt auf nackten Pritschenbrettern, oder immerhin in einem warmen Zimmer und nicht im feuchten Haftlokal der Hauptwache, wo in engem Raum die bleichen, elenden Untersuchungsgefangenen – die fast immer bleich und elend sind (ein Zeichen, daß ihre Verpflegung schlecht und ihr Seelenzustand bedrückter ist, als der der bereits Verurteilten) – in dichten Haufen zusammengepfercht gehalten werden, so schrieb er auf seinen Krankenzettel irgend ein febris catarrhalis und ließ ihn nicht selten eine ganze Woche liegen. Über febris catarrhalis lachten wir alle. Man wußte ja schon, daß es die in beiderseitigem Einverständnis zwischen dem Arzt und dem Kranken gewählte Formel für Faulfieber oder für eine vorgetäuschte Krankheit war, oder „vorrätiges Bauchgrimmen“, wie die Arrestanten febris catarrhalis frei nach ihrer Auffassung übersetzten. Natürlich kam es auch vor, daß der Kranke die Güte des Arztes ausnutzte und so lange liegen blieb, bis er mit Gewalt fortgeschickt werden mußte. Dann hätte man unsern jungen Arzt sehen sollen: er schien ganz zaghaft zu werden, schien sich förmlich zu schämen, dem „Kranken“ zu sagen, daß er gesund sei und sich bald ausschreiben lassen müsse, obgleich er doch als Arzt das volle Recht hatte, ihn ohne alle Redewendungen und Versuche einfach zu verabschieden, indem er auf sein Krankenzeugnis nur „geheilt“ zu schreiben brauchte. Er deutete ihm zuerst nur an, dann versuchte er ihn zu überreden oder gar zu bitten: „hm, so und so, was meinst du, wird es nicht bald Zeit sein? Du bist ja doch schon gesund, hier ist es jetzt sehr eng“ usw., usw., bis dem Sträfling schließlich doch das Gewissen schlug und er selbst um seine Entlassung bat. Der Oberarzt dagegen war, wenn auch ein nicht minder menschenfreundlicher und ehrenhafter alter Herr – die Kranken liebten ihn gleichfalls sehr – in dieser Beziehung unvergleichlich strenger und entschlossener, ja er konnte sogar unerbittlich streng sein, und gerade deswegen wurde er bei uns ganz besonders geachtet. Er erschien bald nach dem Abteilungsarzt, begleitet von allen anderen Ärzten des Hospitals, untersuchte gleichfalls jeden einzeln, namentlich die Schwerkranken, wußte ihnen stets etwas Gutes, Ermunterndes zu sagen, häufig sogar ein herzliches Wort, und überhaupt machte er einen guten Eindruck. Die Patienten mit „vorrätigem Bauchgrimmen“ wies er nie zurück, nur wenn der Bursche gar nicht wieder fortgehen wollte, so ließ er ihn ohne viel zu fragen „ausschreiben“. „Nun, wie steht’s, mein Junge, hast genug gelegen und dich ausgeruht, geh mal jetzt, ein Mensch muß Ehre im Leibe haben.“ Diese nicht freiwillig Gehenden waren in der Regel die Faulen, die sich in der Arbeitszeit, also im Sommer, gern um die Arbeit drückten, oder die eines Vergehens Schuldigen, die einer Bestrafung entgegensahen. Ich entsinne mich noch, wie man gegen einen von ihnen zu einem ganz besonders strengen, ja sogar grausamen Mittel griff, um ihn zum Fortgehen zu bewegen. Er war mit einer Augenkrankheit gekommen: seine Augen waren rot und er klagte über starken, stechenden Schmerz in ihnen. Man behandelte ihn mit spanischen Fliegen, Blutegeln, mit Einspritzungen einer besonderen Flüssigkeit in die Augen und noch verschiedenen anderen Mitteln, doch die Krankheit wurde nicht gehoben, die Augen waren und blieben entzündet. Allmählich aber errieten die Ärzte, daß die Krankheit nicht echt war: die Entzündung war nicht gerade sehr stark, wurde weder schlimmer noch besser, – sie blieb immer im selben Stadium. Das war verdächtig. Die Sträflinge wußten schon lange, daß der Betreffende die Ärzte betrog, obwohl er es ihnen nicht verraten hatte. Er war ein noch junger Bursche, sogar hübsch zu nennen, machte aber auf uns alle einen recht unangenehmen Eindruck: er war verschlossen, mißtrauisch, mürrisch, sprach mit keinem ein Wort, blickte unter der Stirn hervor, zog sich von allen zurück, ganz als hätte er einen jeden schlimmer Absichten verdächtigt. Ich weiß noch, einige befürchteten ernstlich, daß er irgend etwas Schlimmes anstiften könnte. Er war Soldat aus der Strafkompagnie, hatte viel gestohlen, war ertappt und zu tausend Stockschlägen und zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Ich habe schon gesagt, daß die Verurteilten sich bisweilen zu den schlimmsten Ausfällen entschließen, nur um den Augenblick der Strafe hinauszuschieben: sie werfen sich mit dem Messer auf einen Offizier oder einen ihrer Schicksalsgenossen, sie kommen von neuem in Untersuchungshaft, ein neues Verfahren wird gegen sie eingeleitet und die erste Strafe vorläufig noch hinausgeschoben, nicht selten auf ganze zwei Monate – das aber ist alles, was sie wollen. Der Betreffende denkt nicht daran, daß man ihn nach zwei Monaten zweimal, dreimal so streng bestrafen wird: wenn nur der grauenvolle Augenblick nicht gleich kam, wenn man ihn nur noch auf ein paar Tage hinausschieben konnte, mag dann kommen, was kommt! – so mutlos sind zuweilen diese Unglücklichen. Einige flüsterten sogar unter sich, daß man sich in acht nehmen müsse, er könne einen in der Nacht noch erstechen. Übrigens wurde nur so gesprochen, wirkliche Vorkehrungen traf niemand, selbst die nicht, deren Bett dem seinen zunächst stand. Man hatte schon bemerkt, daß er in der Nacht seine Augen mit einem Stückchen Kalk von dem Stück Stubenwand und noch irgend etwas anderem rieb, damit sie am nächsten Morgen wieder rot wären. Endlich drohte ihm der Oberarzt ein schmerzhaftes Verfahren an: das Haarseil. Bei hartnäckiger Augenkrankheit, die lange andauert und durch alle anderen medizinischen Mittel nicht gehoben werden kann, entschließen sich die Ärzte, um dem Kranken die Sehkraft zu erhalten, zu einem starken und qualvollen Mittel zu greifen: sie ziehen ihm einen – Leinwandstreifen durch die Haut, als wäre er ein Pferd. Unserer nun konnte sich selbst jetzt noch nicht entschließen, gesund zu werden. Ich weiß nicht, was in diesem Menschen größer war: Eigensinn oder Feigheit. Zwar war das „Haarseil“ nicht Stockschläge, doch viel stand es ihnen in der Qual nicht nach. Dem Kranken wurde hinten am Halse soviel Haut, wieviel man mit der Hand nur fassen konnte, zusammengenommen; durch diese Haut wurde ein Messer durchgestochen, wodurch eine breite und lange Wunde über den ganzen Nacken entstand, und durch diese Wunde wurde dann ein Leinwandstreifen etwa von der Breite eines Fingers durchgezogen. Nun wurde dieser Leinwandstreifen täglich hin und her gezogen und folglich die Wunde immer von neuem wieder aufgerissen, damit sie beständig eitere. Der arme Teufel ertrug auch diese Marter unter den größten Qualen eigensinnig noch mehrere Tage, bis er sich dann doch endlich entschloß, die Sache aufzugeben. Seine Augen wurden an einem Tage vollkommen gesund, und nachdem auch sein Hals geheilt war, ging er auf die Hauptwache, um die tausend Stockschläge zu erhalten.
Natürlich ist der Augenblick vor der Bestrafung schwer, dermaßen schwer, daß ich vielleicht unrecht tue, wenn ich diese Angst vor ihr Kleinmut und Feigheit nenne. Muß sie denn nicht tatsächlich furchtbar sein, wenn man eine doppelte, dreifache Bestrafung heraufbeschwört, nur um diesen Augenblick um ein weniges hinauszuschieben! Aber es gibt auch andere – von denen ich übrigens auch schon gesprochen habe, – die sich mit noch nicht ganz geheiltem Rücken bereits ausschreiben lassen, nur um schneller auch den Rest der Strafe zu empfangen und so bald als möglich das Haftlokal verlassen zu können, denn das Leben auf der Hauptwache ist natürlich unvergleichlich langweiliger als jede Zwangsarbeit. Doch außer dem Unterschied in den Temperamenten spielte in der Entschlossenheit oder Unentschlossenheit die Gewohnheit an Schläge und Strafen eine große Rolle. Ein oft Geschlagener festigt sich gleichsam geistig wie körperlich und sieht schließlich ziemlich skeptisch auf die Strafen, beinahe wie auf eine nur kleine Unannehmlichkeit, die er kaum noch fürchtet! Im allgemeinen gesprochen, ist das durchaus wahr. So erzählte mir einer der Sträflinge aus der besonderen Abteilung, es war ein getaufter Kalmück, Alexander – oder Alexandra, wie er bei uns genannt wurde, ein eigenartiges, durchtriebenes, furchtbares Männlein, das gleichzeitig überaus gutherzig war – wie er viertausend Schläge erhalten hatte, erzählte es lachend und scherzend, schwor aber gleich darauf, daß er, wenn er nicht von Kindheit auf, schon vom zartesten Alter an, nur unter der Knute ausgewachsen wäre, von der sein Rücken während seines ganzen Lebens in der Horde buchstäblich nie ohne Schorfstreifen gewesen sei, diese viertausend Hiebe in keinem Fall überlebt hätte. Während er es mir erzählte, schien er seine Erziehung unter der Knute geradezu zu segnen.
„Ich wurde für alles geprügelt, Alexander Petrowitsch,“ sagte er einmal zu mir, als er am Abend, noch bevor das Nachtlicht angezündet wurde, auf meinem Bettrand saß. „Für alles und jedes, für was es auch sein mochte, runde fünfzehn Jahre, schon seit jenem ersten Tage, dessen ich mich nach meiner Geburt erinnern kann, und jeden Tag ein paarmal. Nur wer grad keine Lust dazu hatte, der schlug mich nicht. So kam’s, daß ich mich zum Schluß ganz und gar daran gewöhnt hatte.“
Wie er unter die Soldaten gekommen war, weiß ich nicht. Vielleicht hat er es mir auch erzählt, dann habe ich es aber vergessen. Er war ein echter Landstreicher und Nomade. Ich erinnere mich nur noch einer Erzählung, wie ihn entsetzliche Angst erfaßt hatte, als er wegen der Ermordung seines Vorgesetzten zu viertausend Hieben verurteilt worden war.
„Ich wußte,“ erzählte er, „daß man mich hart bestrafen und mich, kann sein, überhaupt nicht mit dem Leben davonkommen lassen würde, wenn ich auch von Jugend auf an Hiebe gewöhnt war, aber viertausend Hiebe, das ist doch, hn, – Spaß! Und dazu waren noch alle Vorgesetzten wütend auf mich! Ich wußte, wußte ganz genau, daß ich nicht durchkommen würde, daß man mich nicht lebendig wieder losließ. Ich versuchte es zuerst mit der Taufe, dachte, was kann man wissen, vielleicht vergibt man mir, und obschon mir die Meinigen genug sagten, daß deswegen nichts davon geschehen werde, nichts von verzeihen, so dachte ich doch bei mir: ich will’s doch versuchen, schaden kann’s ja nicht und ihnen wird es doch um einen Getauften etwas mehr leid tun. Und ich wurde auch wirklich getauft und bei der heiligen Taufe erhielt ich den Namen Alexander. Nun, aber die Viertausend blieben immer Viertausend. Wenn man mir auch nur einen einzigen Hieb abgelassen hätte! Ich fühlte mich wirklich gekränkt. Da denke ich so bei mir: also so, na wartet, ich werde euch jetzt alle samt und sonders betrügen! Und was glaubt Ihr, Alexander Petrowitsch, ich habe sie doch wirklich betrogen! Ich verstand es mehr als fein, mich so zu stellen, als wäre ich tot, das heißt, nicht ganz fertig, aber immer so, daß nur noch ein Zipfelchen von der Seele im Körper drin ist und auch dieses noch jeden Augenblick hinausgehen kann. Man führte mich; erstes Tausend: brennt wie Feuer, ich schreie; zweites Tausend, – nun, denke ich, jetzt ist mein Ende gekommen, die Füße trugen nicht mehr, Verstand zum Teufel. Ich schnell entschlossen – plumps, falle hin, auf die Erde, mache tote Augen, mein Gesicht wird blau, Atem stockt, Schaum vor dem Munde. Der Arzt kommt: ‚Wird sogleich,‘ sagt er, ‚sterben.‘ Man trug mich ins Hospital, ich aber wurde im Handumdrehen wieder lebendig. So wurde ich dann noch zweimal hinausgeführt, aber erbittert waren sie auf mich, das waren sie, ich aber betrog sie noch ganze zwei Mal. Als ich das zweitemal vorkam, nahm ich nur ein Tausend hin, das dritte an der Zahl, – starb. Als aber das vierte an die Reihe kam, da ging mir jeder Hieb wie ’n Messer übers Herz, da zählte jeder Hieb für drei, so schmerzhaft schlugen sie! Sie waren aber auch wütend auf mich! Dieses verfluchte letzte Tausend – das es der! ... – war all die anderen drei wert, und wenn ich nicht kurz vor Schluß gestorben wäre – nur zweihundert blieben noch – so hätten sie mich wahrhaftig mausetot geprügelt, nun, ich aber gab mich nicht dazu her: ich pfiff ihnen was und starb wieder. Wieder glaubten sie, und wie sollten sie denn nicht: der Arzt glaubte doch! Aber bei den letzten zweihundert, da rissen sie, was sie nur reißen konnten, aus voller Wut, so daß ein andermal selbst zweitausend leichter sind, aber tot kriegten sie mich doch nicht, da konnten sie sich die Nase abwischen! Und warum hatten sie mich nicht totgekriegt? Weil ich eben von Kindesbeinen an unter der Knute aufgewachsen war. Darum lebe ich auch heute noch. Ja, ich sag wohl, was man mich geschlagen hat in meinem Leben, was man mich geschlagen hat!“ fügte er zum Schluß der Erzählung hinzu, wie in ernstes Nachdenken versunken, als bemühe er sich, ungefähr zu berechnen, wieviel Mal und wie stark man ihn wohl geschlagen haben mochte. „Ach was,“ sagte er dann nach kurzem Schweigen, „wo soll das einer auszählen, soviel Zahlen gibt es ja überhaupt nicht!“
Er sah mich an und lachte, aber so gutmütig, daß auch ich nicht ernst bleiben konnte und ihm als Antwort zulächelte.
„Aber wißt Ihr auch, Alexander Petrowitsch, daß ich, wenn mir nachts manchmal träumt, dann nichts anderes sehe, als daß ich geprügelt werde. Andere Träume habe ich überhaupt nicht.“
Er schrie allerdings nicht selten in der Nacht aus voller Kehle, sodaß ihn die anderen Sträflinge mit Püffen zur Besinnung brachten: „Na, Teufel, was schreist du denn!“ Er war ein gesunder Bursch, nicht groß von Wuchs, ein unruhiger Geist, von Charakter äußerst heiter, fünfundvierzig Jahre alt, stand mit allen auf gutem Fuß, und wenn er auch eine große Vorliebe für das Stehlen hatte und von den anderen sehr oft dafür verprügelt wurde, so war das schließlich nichts Ungewöhnliches, denn wer stahl bei uns nicht und wer wurde nicht dafür verprügelt?
Hier muß ich noch eines hinzufügen: ich habe mich oft gewundert über die ungewöhnliche Gutmütigkeit und Arglosigkeit, mit der alle diese Gezüchtigten von der Züchtigung und von denen, die sie gezüchtigt hatten, erzählten. Häufig habe ich nicht einmal eine Spur von Groll oder Haß in einer solchen Erzählung entdecken können, bei der mir nicht selten das Herz stehen blieb oder laut und stark klopfte. Sie aber erzählten ganz gleichmütig und lachten wie Kinder. Nur M–tzkij war eine Ausnahme, er war nicht adlig und man hatte ihn zu fünfhundert verurteilt. Ich erfuhr es von anderen und fragte ihn einmal, ob es wahr sei, und wie er es ausgehalten habe. Er antwortete mir merkwürdig kurz – wie unter einem inneren Schmerz – und bemühte sich, mich nicht anzusehen, sein Gesicht aber wurde auffallend rot. Erst nach einer halben Minute sah er mich wieder an und in seinen Augen glühte Haß, seine Lippen zitterten vor Unwillen. Da fühlte ich, daß er niemals diese Stunde aus seiner Vergangenheit würde vergessen können. Von den übrigen jedoch sahen alle – ich bürge allerdings nicht dafür, daß es keine Ausnahmen gab, – sahen alle ganz anders auf die Sache. Es kann doch nicht sein, dachte ich zuweilen, daß sie sich für schuldig und ihre Strafe für durchaus verdient halten, besonders noch wenn sie sich nicht gegen die ihrigen, sondern gegen ihre Feinde, die Vorgesetzten, vergangen haben? Die Mehrzahl von ihnen klagte sich niemals an. Ich habe schon gesagt, daß ich Gewissensbisse nie gesehen, selbst dann nicht, wenn das Verbrechen an einem aus ihrer eigenen Gesellschaftsklasse begangen war, von den Verbrechen an den Vorgesetzten ganz zu schweigen. Ja es schien mir, daß in diesem Falle die vollendete Tatsache mit einem ganz besonderen, sozusagen praktischen Blick betrachtet wurde: man dachte an die Macht des Schicksals, an das Unabänderliche des Geschehenen, – tat es aber nicht etwa aus Berechnung, sondern gleichsam unbewußt, wie in einem einmal angenommenen alten Glauben. Wenn aber der Arrestant geneigt ist, sich in seinen Vergehen gegen die Vorgesetzten für durchaus gerechtfertigt zu halten, ja, diese Frage für ihn überhaupt nicht existiert, so erkennt er praktisch doch vollkommen an, daß die Vorgesetzten mit einem ganz anderen Blick auf sein Verbrechen sehen, und ihn folglich bestrafen mußten. Hier war es ein richtiger Kampf. Der Verbrecher weiß und zweifelt nicht daran, daß das Urteil seiner Umgebung, seiner Gesellschaftsklasse ihn freispricht, dasselbe einfache Volk, unter dem er aufgewachsen ist, das ihn niemals – und das weiß er ebenso gut – niemals endgültig verurteilen wird, meistenteils ihn aber vollkommen freispricht, wenn nur das Verbrechen nicht an den eigenen, an seinen Brüdern, an den ihm Verwandtesten des Volkes begangen ist. Sein Gewissen ist ruhig, hierin ist er stark, und niemals wird er sich sittlich verwirren lassen, das aber ist die Hauptsache. Er fühlt gewissermaßen, daß er etwas hat, worauf er sich stützen kann, und darum haßt er nicht, sondern faßt das mit ihm Geschehene als ein Ergebnis der unvermeidlichen Tatsache auf, die nicht durch ihn eingeführt ist und auch nicht durch ihn beendet werden kann, und noch lange, lange fortdauern wird in dem nun einmal bestehenden passiven, doch hartnäckigen Kampfe. Welch ein Soldat wird im Kriege den Feind, den einzelnen Soldaten des Feindes persönlich hassen? Und doch kann jener nach ihm schießen, ihn niederschlagen, ihn erstechen ...
Übrigens waren nicht alle Erzählungen so kaltblütig und gleichmütig. Von dem Leutnant Sherebätnikoff zum Beispiel erzählte man sogar mit einem gewissen Unwillen, der aber übrigens bei vielen nicht sehr groß war.
Diesen Leutnant Sherebätnikoff lernte ich schon in den ersten Tagen, die ich im Lazarett verbrachte, kennen – natürlich nicht persönlich, sondern nur aus den Erzählungen der Sträflinge. Später sah ich ihn einmal auch in Wirklichkeit, als er gerade auf der Wache war. Er war ein Mann von nahezu dreißig Jahren, groß, dick, beinahe fett, mit roten, dicken Wangen, mit weißen Zähnen, und einem Lachen, wie Gogol es zuweilen schildert. Seinem Gesicht sah man es sofort an, daß er der unbedachtsamste Mensch der Welt war. Seine Liebe zum Bestrafen und Peitschenlassen, wenn er einmal zum Exekutor bestimmt wurde, grenzte förmlich an Leidenschaft. Ich muß vorausschicken, daß ich diesen Leutnant schon damals für ein Ungeheuer unter seinesgleichen hielt, und ungefähr ebenso sahen auch die anderen Sträflinge auf ihn. Es gab auch außer ihm Exekutoren, in alten Zeiten, versteht sich, – d. h., in jenen jüngst vergangenen Zeiten, die „kaum vorüber und doch kaum glaublich sind,“ wie Gribojedoff sagt – Exekutoren, die ihre Pflicht in dieser Sache peinlich genau und mit Eifer zu erfüllen pflegten. Gewöhnlich aber ging die Bestrafung von Seiten des dazu abkommandierten Leutnants ganz naiv und ohne jede besondere Begeisterung vor sich. Sherebätnikoff dagegen war in dieser Beziehung von der Art eines raffinierten Gastronomen. Er liebte, liebte leidenschaftlich die Kunst des Bestrafens, und liebte sie nur um der Kunst willen. Er fand einen Genuß darin und gleich einem in Genüssen gar zu verwöhnten, blasierten Patrizier des römischen Imperiums erfand er noch verschiedene Verfeinerungen, sogar die widernatürlichsten, um seine in Fett erstickende Seele noch ein wenig angenehm zu kitzeln und zu erregen.
Man führt einen Verurteilten zur Bestrafung, Sherebätnikoff ist zur Leitung der Exekution kommandiert. Allein schon der Anblick der langen Reihe Soldaten mit den dicken Stöcken begeistert ihn. Zufrieden schreitet er die Front ab und schärft den Leuten nachdrücklich ein, daß ein jeder gut und gewissenhaft seine Pflicht erfüllen soll, sonst ... Die Soldaten wissen schon, was dieses „sonst“ bedeutet. Da wird der Verbrecher herangeführt, und hat er ihn bisher noch nicht kennen gelernt und noch nichts näheres über ihn gehört, so konnte Sherebätnikoff mit ihm zum Beispiel folgendes Stückchen spielen. – Doch ist selbstverständlich dieses, das ich hier anführe, nur eines von hunderten, denn der Leutnant war unerschöpflich in solchen Erfindungen.
Jeder Verurteilte wird in dem Augenblick, wenn man seinen Oberkörper entblößt und seine Hände an die Gewehrkolben gebunden hat, um an ihnen von den Unteroffizieren durch die ganze „grüne Gasse“ gezogen zu werden, – in dem Augenblick wird jeder Arrestant, der Sitte getreu, mit weinerlicher, kläglicher Stimme den Leiter der Exekution zu bitten anfangen, ihn nicht gar so hart bestrafen zu lassen, wenigstens nicht mit übermäßiger Strenge.
„Euer Gnaden,“ fleht der Unglückliche, „erbarmt Euch, seid wie unser himmlischer Vater, tut, daß ewig für Euer Wohlergehen gebetet werde, bringt mich nicht um, erbarmt Euch!“
Sherebätnikoff hat nur darauf gewartet: er hält sogleich den Vorgang auf und beginnt – gleichfalls mit gerührter Stimme – folgendes Gespräch:
„Aber, mein Freund,“ sagt er, „was soll ich denn mit dir anfangen! Nicht ich bestrafe dich, sondern das Gesetz!“
„Euer Gnaden, alles ist in Euren Händen, wolltet Ihr Euch nur erbarmen!“
„Glaubst du denn, daß du mir nicht leid tust? Du glaubst wohl, daß es mir Vergnügen macht, zu sehen, wie man dich schlägt? Ich bin doch auch ein Mensch! Bin ich ein Mensch oder nicht, deiner Meinung nach?“
„Ach, Euer Gnaden, wir wissen doch, – Ihr seid unsere Väter und wir Eure Kinder. Handelt an mir wie ein leiblicher Vater!“ bittet der Arrestant, der schon zu hoffen anfängt.
„Aber, mein Freund, bedenke doch selbst, du hast doch einen Verstand, kannst doch selbst urteilen: ich weiß es doch selbst, daß ich aus Menschlichkeit auch auf dich Sünder nachsichtig und barmherzig blicken soll ...“
„Ach, Euer Gnaden sagt die reinste Wahrheit!“
„Ja, barmherzig blicken soll, wie sündig du auch bist. Aber hier handelt es sich doch nicht um mich, sondern um das Gesetz! Denk doch nur nach! Ich diene doch Gott und dem Vaterlande! Ich nehme doch eine schwere Sünde auf mich, wenn ich das Gesetz abschwäche, bedenke doch nur das!“
„Euer Gnaden!“
„Nun, aber was! Mag es denn so sein, für dich! Ich weiß, daß ich sündige, aber mag es denn sein ... Ich werde diesmal noch Gnade vor Recht walten lassen, werde dich nur leicht bestrafen. Aber wie, wenn ich dir damit nur schade? Lasse ich dich jetzt nur leicht bestrafen, so hoffst du, daß es das nächste Mal ebenso sein werde und wirst wieder ein Verbrechen begehen, – was dann? Ruht doch auf mir, auf meiner Seele die ...“
„Euer Gnaden! Freund und Feind sollen es wissen! Wie vor dem Richterstuhle des himmlischen Schöpfers ...“
„Nun, schon gut, schon gut! Aber wirst du mir schwören, daß du dich hinfort gut aufführen willst?“
„Daß mich der Herr zermalme, daß ich in jener Welt ...“
„Schwöre nicht, das ist Sünde. Ich werde auch deinem Wort glauben, – versprichst du es mir?“
„Euer Gnaden!!!“
„Nun, dann höre mich: ich habe nur wegen deiner Waisentränen Mitleid mit dir ... Du bist doch Waise?“
„Waise, Euer Gnaden, einsam wie ein Daumen, weder Vater noch Mutter ...“
„Nun, also dann um deiner Waisentränen willen, – aber sieh dich vor, es ist zum letztenmal ... Führt ihn,“ fügt er mit einer so milden Stimme hinzu, daß der Arrestant kaum weiß, mit welchen Gebeten er Gott für einen so barmherzigen Menschen danken soll.
Man führt ihn hin, der Trommelwirbel ertönt, die ersten Stöcke heben sich.
„Zieht ihn!“ schreit plötzlich aus vollem Halse Sherebätnikoff. „Schlagt zu, schlagt zu! Prügelt ihn! Noch mehr, noch mehr! Stärker der Waise, stärker dem Spitzbuben! Tränkt es ihm ein, kräftig, schlagt zu!“
Und die Soldaten schlagen zu aus aller Kraft, Funken sprühen aus den Augen des Armen, er sperrt den Mund auf und schreit. Sherebätnikoff aber läuft die Front entlang und lacht, lacht, hält sich die Seiten vor Lachen, kann sich nicht gerade halten, kann sich nicht aufrichten vor Lachen, so daß der Herzensjunge einem zum Schluß geradezu leid tut. Und er freut sich und es amüsiert ihn, und nur von Zeit zu Zeit unterbricht er sein helles, gesundes Lachen und dann hört man wieder:
„Schlagt zu, schlagt zu! Gebt’s dem Spitzbuben, gebt’s der Waise! ...“
Oder er ersann ein anderes amüsantes Verfahren: man bringt den Verurteilten, der legt sich wieder auf das Bitten. Sherebätnikoff verstellt sich diesmal nicht, er spielt den Aufrichtigen.
„Hör mal, mein Lieber,“ sagt er, „ich werde dich wie es sich gehört bestrafen, denn das hast du verdient. Aber eines kann ich für dich in Gottes Namen noch tun: ich werde dich nicht an die Gewehrkolben anbinden lassen. Du wirst allein gehen, aber nach einer neuen Art. Lauf selbst so schnell du kannst durch die ganze Gasse! Wenn auch jeder Stock dich deswegen nicht minder trifft, so wird die Sache doch kürzer sein, was meinst du? Willst du es versuchen?“
Der Sträfling hört ihn verwundert an, mißtrauisch, denkt aber nach:
„Was kann man wissen,“ meint er bei sich selbst, „vielleicht werde ich dabei tatsächlich besser abschneiden: ich laufe was ich laufen kann, und die Sache ist fünfmal schneller abgetan, und vielleicht wird nicht einmal jeder Stock treffen.“
„Gut, Euer Gnaden, ich bin einverstanden.“
„Nun, ich gleichfalls. Los! Gebt acht, aufgepaßt!“ schreit er den Soldaten zu, da er schon weiß, daß kein einziger Stock den schuldigen Rücken verfehlen wird, denn auch der fehlschlagende Soldat weiß nur zu gut, was ihm bevorsteht.
Der Sträfling läuft so schnell er kann, durch die „grüne Gasse“, kommt aber natürlich kaum bis zum fünfzehnten: die Stöcke fallen wie Blitze, wie ein Trommelwirbel, von beiden Seiten gleichzeitig auf ihn nieder, und der Arme stürzt wie gemäht, wie von einer Kugel getroffen zu Boden.
„Nein, Euer Gnaden, lieber schon nach dem Gesetz,“ sagte er, langsam von der Erde sich erhebend, bleich und erschrocken.
Sherebätnikoff aber, der den Verlauf der Sache schon im Voraus gewußt hat, schüttelt sich vor Lachen. Doch ich kann ja nicht alle seine Erfindungen wiedergeben und alles, was man sonst noch über ihn bei uns erzählte ...
In etwas anderem Ton und Geist sprach man bei uns über einen Leutnant Ssmekaloff, der vor unserem Platzmajor gewissermaßen den Posten eines Kommandeurs unseres Ostrogg bekleidet hatte. Erzählte man auch von Sherebätnikoff bisweilen ziemlich gleichmütig, ohne besonderen Groll, so freute man sich doch nicht über seine Heldentaten und lobte ihn nicht, sondern verabscheute ihn offenbar. Ja, man schien ihn sogar mit einem eigentümlichen Stolz zu verachten. Doch des Leutnants Ssmekaloff erinnerte man sich bei uns mit Vergnügen. Er war nämlich durchaus nicht ein besonderer Liebhaber der Prügelstrafe gewesen, und rein Sherebätnikoffsches Empfinden hatte er überhaupt nicht besessen. Anderseits aber war auch er gar nicht abgeneigt, auch einmal prügeln zu lassen. Doch das war ja gerade das Auffallende, daß man sich selbst seiner Prügelstrafen lächelnd und fast liebevoll erinnerte, – dermaßen hatte er das Herz der Leute gewonnen! Und wodurch nur? Durch welche Taten hatte er eine solche Popularität erworben? Es ist wahr, unser Ostroggvolk wie überhaupt das ganze russische Volk, ist fähig, selbst Qualen für ein freundliches Wort zu vergessen. Ich spreche davon, wie von einer Tatsache, ohne sie diesmal von dieser und jener Seite zu untersuchen. Es war nicht schwer, diesen Ausgestoßenen zu gefallen und unter ihnen populär zu werden. Der Leutnant Ssmekaloff aber hatte sich eine ganz besondere Popularität erworben, so daß man sich sogar seiner Strafen fast mit Rührung erinnerte. „Einen Vater brauchten wir nicht mehr,“ sagten die Sträflinge und seufzten ordentlich, in Gedanken ihren früheren zeitweiligen Vorgesetzten, Ssmekaloff, mit dem gegenwärtigen Platzmajor vergleichend. „Eine Seele war der Mann!“
Er war eigentlich ein einfacher Mensch, in seiner Art vielleicht sogar gut. Aber es kommt ja nicht selten vor, daß man nicht nur einen durchschnittlich guten, sondern sogar äußerst guten Menschen zum Vorgesetzten hat, und doch lieben ihn alle nicht, ja, manch einer wird noch verspottet. Ssmekaloff verstand es aber, sich so zu geben, daß ein jeder ihn für einen von den Seinen hielt – „oh, der ist unser!“ – das aber ist mehr ein Talent, richtiger vielleicht, eine angeborene Eigenschaft, über die selbst der Besitzer derselben nicht einmal nachzudenken pflegt. Wie seltsam es auch klingen mag, aber es gibt unter solchen sehr oft nichts weniger als gute Menschen, und dennoch erfreuen sie sich sogar großer Beliebtheit. Sie sind nicht launisch, nicht hochmütig, zeigen dem untergebenen Volke keine Verachtung – und das ist, wie es mir scheint, der ganze Grund, warum man sie liebt. Da sieht man nichts vom verzärtelten Herrensöhnchen, da spürt man nichts von Herrenhochmut, wohl aber ist in ihnen ein ganz besonderer Hauch von Volklichkeit, der ihnen angeboren zu sein scheint, – Gott! – und wie fein versteht das Volk diesen Hauch wahrzunehmen! Was gibt das Volk dafür nicht hin! Selbst den gutmütigsten Menschen ist es bereit, sogar gegen den strengsten einzutauschen, wenn diesem nur etwas von seinem eigenen hanfleinenen Geruch anhaftet. Und wenn dieser Mensch nun noch tatsächlich gutmütig ist, und wär’s auch nur in seiner Weise? Dann ist er ja völlig unschätzbar, dann wird er bis in den Himmel erhoben.
Der Leutnant Ssmekaloff konnte, wie ich schon gesagt habe, mitunter auch sehr schmerzhaft bestrafen, aber er verstand es irgendwie so zu machen, daß man gegen ihn nicht nur keinen Groll hegte, sondern noch zu meiner Zeit, als schon alles längst vergessen war, sich vergnügt und mit Wohlgefallen seiner „Stückchen“ bei der Exekution erinnerte. Übrigens waren diese Stückchen nicht sehr verschiedenartig: die künstlerisch schöpferische Phantasie des Leutnants langte nicht zu großer Mannigfaltigkeit. Das heißt, wenn man die Wahrheit sagen soll; so hatte er nur ein einziges Stückchen in Bereitschaft, mit dem er sich ein ganzes Jahr lang amüsierte, vielleicht aber war es ihm gerade deswegen um so lieber, weil es sein einziges war. Es lag viel Naivität in ihm.
Man bringt zum Beispiel den schuldigen Arrestanten. Ssmekaloff erscheint in eigener Person, mit einem Lächeln, einem Scherzwort, tritt sogleich an den Arrestanten heran, fragt ihn dies und das, etwas Nebensächliches, vielleicht über seine persönlichen, häuslichen oder Ostroggangelegenheiten, fragt es aber durchaus nicht in irgend einer bestimmten Absicht, und auch nicht um der Phrasen willen, sondern ganz einfach, – eben weil er tatsächlich das wissen will, wonach er fragt. Man bringt die Ruten und für Ssmekaloff einen Stuhl. Er setzt sich, raucht seine Pfeife an, so eine lange, lange Pfeife. Der Verurteilte hält den Augenblick für günstig und fängt zu bitten an ...
„Nein, nein, mein Freund, streck dich mal hin, da ist nichts zu wollen ...“ sagt Ssmekaloff.
Der Arrestant seufzt und legt sich hin.
„Nun, mein Bester, kannst du nicht das Vaterunser auswendig hersagen?“
„Wie denn nicht, Euer Gnaden, ich bin doch auch getauft, habe schon als Kind Gebete gelernt.“
„Nun, dann sag es mal her.“
Der Sträfling weiß bereits ganz genau, was er herzusagen hat, er weiß auch schon im Voraus, was die Folge davon sein wird, da derselbe Scherz sich mindestens schon dreißigmal mit anderen wiederholt hat. Auch Ssmekaloff weiß, daß es dem Sträfling nichts neues ist; ja, er weiß sogar, daß selbst die Soldaten, die mit erhobenen Ruten vor dem liegenden Opfer stehen, den Scherz schon lange kennen, und dennoch wiederholt er ihn – dermaßen hat er ihm ein für allemal gefallen, vielleicht gerade aus dem Grunde, weil er ihn selbst erdacht hat, wahrscheinlich sogar aus literarischem Ehrgeiz.
Der Sträfling beginnt also mit dem Gebet und kommt schließlich auch zu den Worten: „Dein Wille geschehe ...“
„Halt!“ schreit sofort belebt der Leutnant, und zu den Soldaten mit den erhobenen Ruten gewandt, fügt er hinzu: „Haut ihn, aber wehe!“ worauf er in helles Lachen ausbricht.
Die ringsum stehenden Soldaten lächeln gleichfalls; auch der Schlagende lächelt und viel fehlt nicht, so lächelte auch der Geschlagene, ungeachtet dessen, daß die Rute schon durch die Luft pfeift, um im nächsten Augenblick wie ein Rasiermesser über den schuldigen Rücken zu schneiden. Und Ssmekaloff freut sich, – freut sich namentlich darüber, daß er es selbst und so gut – sogar im Reim! – ausgedacht hat.
Und Ssmekaloff verläßt den Schauplatz der Exekution vollauf zufrieden mit sich selbst, und sogar der Bestrafte kehrt nach der Züchtigung fast ebenso zufrieden mit sich wie mit Ssmekaloff zur Wache zurück, und siehe da – schon nach einer halben Stunde gibt er im Ostrogg, ganz wie er es auch jetzt noch tut, zum einunddreißigstenmal zum besten, wie das schon dreißigmal vorher wiederholte Stückchen auch mit ihm wiederholt worden war.
„Ja, eine Seele war der Mensch! Und ein seltener Spaßvogel!“
Mitunter war die Begeisterung für den „besten aller Leutnants“ etwas unverständlich.
„Ja, ging man so an seiner Wohnung vorüber,“ erzählte zuweilen einer, und sein ganzes Gesicht lächelte in der Erinnerung, „ging ganz ruhig, er aber saß schon bei sich zu Hause am Fenster, saß im Hausrock, trank Tee, rauchte sein Pfeifchen. Nun, man grüßte natürlich, nahm die Mütze ab. –
‚Wohin gehst du denn, Akssenoff?‘
‚Zur Arbeit, Michail Wassiljitsch, zuerst geht es nach der Werkstätte, wir sind dort vonnöten.‘
Da lachte er so vor sich hin ... Ja, wie gesagt, eine Seele war der Mensch! Eine Seele! – da ist kein Wort zu reden!“
Und pessimistisch meint einer von den Zuhörern:
„Heutzutage kann man solche mit der Laterne suchen.“
Ich bin erst jetzt auf die Bestrafungen wie auch auf verschiedene Vollstrecker dieser angenehmen Urteile nach dem einmal anerkannten Gesetz zu sprechen gekommen, da ich erst nach meiner Übersiedelung ins Lazarett einen anschaulichen Begriff von diesen Dingen erhielt. Bis dahin hatte ich nur aus den Erzählungen der anderen eine Vorstellung hiervon erhalten.[7]
In die beiden Krankensäle unserer Abteilung kamen alle mit Spießruten Gezüchtigten aus den verschiedenen Bataillonen, Arrestantenkompagnien und übrigen Militärkommandos, die in unserer Stadt und ihrer ganzen Umgebung lagen. In dieser ersten Zeit, als ich noch alles, was um mich herum geschah, wißbegierig verfolgte, machten alle diese Gezüchtigten und zur Züchtigung Verurteilten einen mächtigen Eindruck auf mich, was ja schließlich ganz natürlich war. Ich war erregt, verwirrt, erschreckt. Ich weiß noch, daß ich damals mit einemmal anfing, ungeduldig alle Einzelheiten dieser mir neuen Tatsachen zu erforschen, ich hörte aufmerksam den Erzählungen der anderen zu, fragte sie nach verschiedenen Dingen, und wollte mir unbedingte Klarheit verschaffen. Unter anderem wollte ich um jeden Preis alle Abstufungen der Verurteilungen und Strafen, alle Abarten der Vollstreckung des Urteils und die Auffassung der Sträflinge selbst kennen lernen; ich bemühte mich, mir den psychologischen Zustand des zur Züchtigung Geführten vorzustellen. Ich habe schon gesagt, daß vor der Bestrafung selten jemand kaltblütig ist, selbst diejenigen nicht ausgenommen, die bereits wiederholt und sogar sehr streng gezüchtigt worden sind. Da überfällt den Verurteilten gewöhnlich eine, ich möchte sagen – stechende, aber rein physische Angst, die ihn unwillkürlich erfaßt und sich nicht abschütteln läßt, und die alles Sittliche im Menschen erdrückt. Ich habe auch später noch, in all den Jahren meines Ostrogglebens, unwillkürlich die vor der Bestrafung Stehenden beobachtet, vor allen anderen aber diejenigen im Lazarett, die nach dem Empfang der ersten Hälfte der ihnen zugedachten Anzahl Hiebe und sobald ihr Rücken zugeheilt war, das Lazarett wieder verließen, um am nächsten Tage die zweite Hälfte in Empfang zu nehmen. Diese Teilung der Strafe in zwei Hälften geschieht stets nach dem Ausspruch des Arztes, der bei jeder Exekution anwesend sein muß. Ist die Zahl der Schläge sehr hoch, und glaubt man, daß der Verurteilte sie nicht mit einemmal empfangen kann, so wird sie in zwei oder drei Teile geteilt, je nachdem was der Arzt während der Bestrafung sagt, ob der Betreffende noch mehr erhalten kann, oder ob eine Fortsetzung mit Lebensgefahr für ihn verknüpft ist. Gewöhnlich werden fünfhundert, tausend, ja sogar tausendfünfhundert Hiebe auf einmal gegeben, ist er aber zu zwei-, zu dreitausend verurteilt, so wird die Strafe in zwei oder drei „Serien“ geteilt.
Es fiel mir auf, daß alle, deren Rücken nach der ersten Serie schon zugeheilt war und die nun das Lazarett verließen, um sich der übrigen Strafe zu unterziehen, am Tage des Ausschreibens und auch schon vorher begreiflicherweise düster, mürrisch und auffallend wortkarg waren. Man sah ihnen eine gewisse geistige Stumpfheit an, eine unnatürliche Zerstreutheit: sie sprachen kaum ein Wort und schwiegen die ganze Zeit. Merkwürdig ist, daß auch die anderen Sträflinge fast nie mit ihnen sprechen und mit keinem Wort dessen Erwähnung tun, was ihnen bevorsteht. Kein überflüssiges Wort, kein Trost; ja man ist sogar offenbar bemüht, sie möglichst wenig zu beachten, was den Armen natürlich am angenehmsten ist. Es gibt ja auch Ausnahmen, wie zum Beispiel ein Orloff, von dem ich auch schon gesprochen habe. Nach der ersten Hälfte der Strafe war er nur über eines verdrießlich, nämlich daß sein Rücken nicht zuheilen wollte und er nicht schnell genug das Lazarett verlassen konnte, um sich dann sofort der zweiten Hälfte der Strafe zu unterziehen und dann mit dem nächsten Transport nach Nertschinsk zu wandern – und unterwegs zu entfliehen. Doch diesen Ausnahmemenschen belebte sein Vorhaben und weiß Gott, was er sonst noch im Sinn hatte. Er war eine leidenschaftliche, zähe Natur, war jetzt sehr zufrieden mit sich und der Welt und in sehr angeregter Stimmung, was er jedoch zu verbergen suchte. Doch hier lag die Sache noch etwas anders: er hatte vor der ersten Hälfte geglaubt, man wolle nicht, daß er mit dem Leben davonkomme und daß er sterben müsse. Ihm waren verschiedene Gerüchte schon während seiner Untersuchungshaft zu Ohren gekommen, und so hatte er sich bereits auf seinen Tod gefaßt gemacht. Doch nachdem er nun die erste Hälfte überlebt hatte, war er sogleich wieder oben auf. Er war halbtot ins Lazarett getragen worden; ich hatte noch niemals solche Wunden gesehen. Er aber kam mit Freude im Herzen, mit der Hoffnung, am Leben zu bleiben. Jetzt glaubte er, daß die Gerüchte offenbar unwahr gewesen und man ihm, wenn man ihn diesmal am Leben gelassen hatte, folglich auch bei der zweiten Hälfte nicht totschlagen würde. Und so begann er denn nach der langen Untersuchungshaft schon von der Überführung in den Osten, von der Flucht und Freiheit, von Wäldern und Feldern zu träumen ... Aber schon am zweiten Tage nach der Entlassung aus dem Lazarett starb er in demselben Krankensaal, auf demselben Lager: die zweite Hälfte der Strafe war zu viel für ihn gewesen. Übrigens habe ich davon schon gesprochen.
Indessen ertrugen diese Sträflinge, die vor ihrer Bestrafung so schwere Nächte und Tage durchgemacht hatten, die Bestrafung selbst durchaus mannhaft, sogar die Kleinmütigsten nicht ausgenommen. Selten habe ich sie stöhnen gehört, nicht einmal in der ersten Nacht, nicht einmal die ungewöhnlich hart Bestraften. Überhaupt versteht das Volk Schmerz zu ertragen. In Betreff des Schmerzes habe ich mich ausführlich erkundigt. Ich wollte ganz genau wissen, wie groß der Schmerz denn eigentlich war, womit man ihn vergleichen könnte. Aus welchem Grunde ich darnach fragte, vermag ich selbst nicht zu sagen, ich weiß nur, daß es von mir nicht aus müßiger Neugier geschah; ich war aufgeregt, ich war erschüttert. Aber wen ich auch fragte, niemand konnte mir eine befriedigende Antwort geben. Es brennt, wie Feuer brennt es – das war alles, was ich erfahren konnte und zwar war dieses die einzig gleichlautende Antwort aller. „Es brennt“ – und mehr vermochte niemand zu sagen. Als ich in dieser ersten Zeit mit M–tzkij näher bekannt wurde, fragte ich auch ihn.
„Es schmerzt,“ sagte er. „... Sehr. Und das Gefühl – es brennt ... wie Feuer. Als ob der Rücken im stärksten Feuer gebrannt werde.“
Kurz, alle hatten dafür nur die eine Bezeichnung. Übrigens machte ich gerade damals – ich entsinne mich dessen noch recht genau – eine Beobachtung, für deren Richtigkeit ich jedoch nicht stehe, die aber von den übereinstimmenden Aussagen der Sträflinge selbst stark unterstützt wird. Es ist das die Ansicht, daß die Rutenstreiche, wenn sie in großer Anzahl gegeben werden, die schwerste Strafe von allen bei uns üblichen Strafen sind. Man sollte meinen, daß diese Behauptung auf den ersten Blick unsinnig erscheinen muß. Einstweilen ist es aber Tatsache, daß man mit fünfhundert, ja sogar mit vierhundert Rutenstreichen einen Menschen totschlagen kann, mit über fünfhundert ganz sicher. Tausend Streiche würde selbst der stärkste Mann nicht aushalten, während er fünfhundert Stockschläge ohne jede Lebensgefahr erträgt. Tausend Stockschläge kann sogar ein nur mittelstarker Mann ohne Lebensgefahr ertragen. Selbst mit zweitausend Stockschlägen kann man noch keinen Menschen von mittlerer Starke und gesunder Konstitution totschlagen. Alle Sträflinge stimmten darin überein, daß Rutenhiebe schlimmer seien als Stockschläge. „Die Ruten reißen mehr,“ sagten sie, „es ist ein viel größerer Schmerz.“ Natürlich sind Ruten schmerzhafter als Stöcke. Sie reizen mehr, sie wirken stärker auf die Nerven, sie erschüttern sie unmäßig, weit mehr als man ertragen kann. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber in der erst kürzlich vergangenen „alten Zeit“ gab es bei uns gewisse Gentlemen, bei denen die Möglichkeit, einen Leibeigenen peitschen zu können, Gefühle hervorrief, die an den Marquis de Sade und die Marquise de Brinvilliers erinnern. Ich glaube, in diesen Gefühlen ist etwas, das jenen Gentlemen das Herz ersterben machte, das schmerzhaft und doch süß war. Es gibt Menschen, die wie Tiger blutdürstig sind. Wer einmal diese Macht, die unbegrenzte Herrschaft über einen menschlichen Körper, über das Fleisch und den Geist eines Menschen, wie man selbst einer ist, der geschaffen wie wir und nach der Lehre Christi ein Bruder von uns ist, – wer einmal die Macht und die Freiheit hat, ein anderes Wesen, das gleichfalls ein Ebenbild Gottes ist, bis zur tiefsten Erniedrigung zu erniedrigen, – der wird gleichsam unwillkürlich machtlos in seinen eigenen Gefühlen. Tyrannei ist nichts als Angewohnheit; sie ist mit Entwicklungsfähigkeit begabt und schließlich artet sie zur Krankheit aus. Ich bin der Meinung, daß selbst der beste Mensch aus Gewohnheit bis zum Tierischen verrohen und abstumpfen kann. Blut und Macht berauschen, sie machen den Menschen trunken: Roheit und Lüsternheit entwickeln sich, dem Gefühl wie auch dem Verstande wird sogar das Anormalste zugänglich und schließlich ein Genuß. Der Mensch und Bürger erstirbt im Tyrannen auf ewig, und eine Rückkehr zur Menschenwürde, zur Reue, – zur Wiedergeburt ist für ihn fast ausgeschlossen. Zudem wirkt das Beispiel, die Möglichkeit eines solchen Eigenwillens auf die ganze Gesellschaft ansteckend: eine solche Macht ist verführerisch. Eine Gesellschaft, die sich zu derartigen Erscheinungen gleichgültig verhält, ist bereits selbst in ihrer Grundlage vergiftet. Kurz, das Recht zur Körperstrafe, das dem einen über den anderen verliehen ist, ist eine der Pestbeulen der Gesellschaft, ist eines der stärksten Mittel zur Vernichtung jedes Keimes, jedes Versuches zu einer höheren Menschlichkeit, und die breiteste Grundlage zur unfehlbaren, unaufhaltsamen Auflösung der menschlichen Gesellschaft.
Der gewöhnliche Henker wird von der Gesellschaft allgemein verabscheut, der Henker als Gentleman aber nicht. Erst vor kurzem hat sich die entgegengesetzte Meinung kundgetan, nur ist sie vorläufig noch in Büchern abstrakt zum Ausdruck gekommen. Und selbst diejenigen, die sie aussprechen, haben das Bedürfnis nach Eigenmacht noch nicht ganz in sich zu ersticken vermocht. Sogar jeder Fabrikbesitzer, jeder Unternehmer muß zweifellos ein gewisses erregendes Behagen bei dem Gedanken empfinden, daß sein Arbeiter zuweilen vollkommen nur von ihm allein abhängt, nicht selten sogar mit seiner ganzen Familie. Das ist Tatsache. Ja, eine Generation kann sich, wie man sieht, nicht so schnell von dem losreißen, was sie ererbt hat; nicht so leicht kann der Mensch davon ablassen, was ihm ins Blut übergegangen ist, was er mit der Muttermilch eingesogen hat. So schnelle Wandlungen gibt es nicht im Völkerleben. Die Schuld und die Erbsünde bloß zu erkennen ist noch wenig, sehr wenig: man muß sich gänzlich von ihr entwöhnen. Das aber geht nicht so schnell.
Ich kam auf den Henker zu sprechen. Die Eigenschaften eines Henkers finden sich – allerdings nur im Keim – fast in jedem Menschen unserer Zeit, doch entwickeln sich diese tierischen Eigenschaften nicht in allen gleich stark. Wenn sie in einem Menschen alle seine anderen Eigenschaften mit ihrer Entwicklung ersticken, so wird derselbe natürlich zu einem Ungeheuer. Es gibt zwei Arten von Henkern: die einen sind freiwillige, die anderen unfreiwillige, verpflichtete. Der freiwillige Henker steht selbstverständlich in jeder Beziehung noch tiefer als der unfreiwillige, den jedoch das Volk bis zum Entsetzen verabscheut, bis zum Ekel, bis zur sinnlosen, beinahe schon mystischen Angst. Woher kommt nun diese abergläubische Angst vor dem einen Henker und dieser Gleichmut, dieses Gutheißen, möchte man fast sagen, dem anderen gegenüber? Es gibt wirklich sonderbare Beispiele hierfür: ich habe Menschen gekannt, die gut und ehrenhaft und geachtet waren, und dabei konnten sie es nicht ruhig ertragen, wenn der Gezüchtigte unter den Rutenstreichen nicht schrie, nicht um Vergebung, um Erbarmen flehte: er mußte unbedingt schreien und betteln, so war es einmal angenommen, so mußte es sein. Das galt für notwendig und „anständig“, und als das Opfer einmal nicht schreien wollte, da hielt sich der Befehlshaber, den ich persönlich kannte und der sonst zu den, nun ja, zu den guten Menschen gerechnet werden konnte, fast für persönlich beleidigt. Er hatte anfangs beabsichtigt, nur leicht zu bestrafen, als er aber das übliche „Euer Gnaden, unser Vater, erbarmt Euch, laßt mich ewig Gott für Euch bitten,“ und ähnliches nicht vernahm, da geriet er förmlich in Wut und ließ noch fünfzig überflüssige Streiche hinzugeben, nur um ihn doch noch zum Schreien und Bitten zu bringen – was ihm dann auch glücklich gelang. „Das darf man nicht zulassen, es ist eine Frechheit von ihm,“ antwortete er mir durchaus ernst. Was nun den anderen Henker anbetrifft, den unfreiwilligen, verpflichteten, so weiß man ja, wer er ist: ein zur Zwangsarbeit verurteilter Verbrecher, der zum Henkerdienst begnadigt worden ist, und der, nachdem er zuerst bei einem anderen Henker das Handwerk erlernt hat, auf Lebenszeit in einem Ostrogg untergebracht wird. Dort hat er, abgesondert von den anderen, sein eigenes Zimmer, sogar seine eigene Wirtschaft, befindet sich jedoch stets unter Aufsicht. Ein lebender Mensch ist natürlich keine Maschine: freilich schlägt der Henker, nur weil er dazu verpflichtet ist, aber zuweilen gerät er doch in Eifer; doch wenn er auch nicht ohne eigenes Vergnügen schlägt, so hat er doch nicht den geringsten persönlichen Haß gegen sein Opfer. Die Sicherheit des Schlages, die Kenntnis seiner Kunst, der Wunsch, sich vor seinen Genossen und dem Volke zu zeigen, spornt seinen Ehrgeiz an. Es ist ihm nur um die Kunst zu tun. Außerdem weiß er, daß er ein von allen Ausgestoßener ist, daß ihn eine abergläubische Angst überall empfängt und begleitet, und wer kann es wissen, ob dieses Bewußtsein keinen Einfluß auf ihn hat, seinen Eifer, seine tierischen Neigungen nicht anfacht. Sogar jedes Kind weiß, daß Vater und Mutter sich von ihm lossagen. Eigentümlich, soviel ich Henker zu sehen Gelegenheit gehabt habe, waren sie ausnahmslos entwickelte Leute, verständig und klug, und es steckte ungewöhnliche Eigenliebe, sogar offenbar Stolz in ihnen. Möglich, daß dieser Stolz sich in ihnen als Gegengewicht zur allgemeinen Verachtung herausbildet, im Bewußtsein des Entsetzens, das sie ihrem Opfer einflößen, und aus dem Gefühl der Herrschaft über ihn, – ich weiß es nicht. Vielleicht trug auch das ganze schauspielhafte Drum und Dran, mit dem er vor dem Volke erscheint, zur Entwicklung eines gewissen Hochmuts bei. Ich hatte eine Zeitlang Gelegenheit, oft und aus der nächsten Nähe einem Henker zu begegnen und ihn zu beobachten. Er war mittelgroß, muskulös, dabei aber hager, vierzig Jahre alt, mit einem recht sympathischen, klugen Gesicht und lockigem Haar. Er war stets ungewöhnlich vornehm, ruhig; äußerlich hielt er sich wie ein Gentleman, antwortete immer kurz, verständig und sogar freundlich, aber doch etwas hochmütig freundlich, als wäre er wirklich stolz gewesen. Die wachhabenden Offiziere redeten ihn nicht selten an und – mein Wort! – sie taten es mit einer gewissen Achtung seiner Person. Er aber merkte dies sehr wohl, und verdoppelte im Gespräch mit Vorgesetzten absichtlich seine Höflichkeit, Trockenheit und die eigene Würde. Je freundlicher der Vorgesetzte mit ihm sprach, um so zurückhaltender wurde er, und wenn er auch nie die feinste Höflichkeit vergaß, so bin ich doch überzeugt, daß er sich selbst viel vornehmer fühlte, als der mit ihm sprechende Vorgesetzte. Das stand förmlich auf seinem Gesicht geschrieben. Es kam vor, daß er zuweilen an sehr heißen Sommertagen mit einem sehr langen, dünnen Stock – natürlich unter Eskorte – ausgeschickt wurde, um die herrenlosen Hunde in der Stadt zu töten. In unserem Städtchen gab es ungeheuer viel Hunde, die absolut niemand gehörten, und sie vermehrten sich erschreckend schnell. Im Sommer, namentlich in der Ferienzeit, waren sie gefährlich, und so wurde denn auf Befehl der Obrigkeit der Henker zu ihrer Vernichtung ausgesandt. Doch selbst diese erniedrigende Tätigkeit vermochte ihn dem Anschein nach nicht im geringsten zu erniedrigen. Man hätte sehen müssen, mit welch einer Würde er durch die Straßen schritt, in Begleitung des ermüdeten Soldaten, und allein schon durch sein Erscheinen die ihn erblickenden Frauen und Kinder erschreckte, und wie ruhig, ja sogar hochmütig er auf alle ihm Begegnenden herabsah. Übrigens haben die Henker ein bequemes Leben. Sie haben Geld, essen gut, können sogar Wein trinken. Das Geld erhalten sie in Gestalt von „Sporteln“, die die Verurteilten ihnen zahlen. Jeder bürgerliche Verbrecher, dem eine Bestrafung bevorsteht, wird dem Henker unbedingt etwas schenken, und wenn es auch das letzte ist, was er hat. Von den Reicheren aber verlangen sie Geld und bestimmen selbst die Höhe der Summe, entsprechend ihren mutmaßlichen Mitteln, sogar bis zu dreißig Rubeln, zuweilen aber noch höher. Mit sehr Reichen handeln sie lange. Natürlich kann der Henker nicht allzu milde bestrafen, da er dafür mit dem eigenen Rücken haftet. Doch verspricht er für eine bestimmte Entschädigung, nicht gar zu schmerzhaft zu schlagen. Fast ausnahmslos geht man auf seinen Vorschlag ein, denn tut man es nicht, so bestraft er allerdings barbarisch, was ja ganz in seiner Macht liegt. Mitunter fordert er auch von einem Unbemittelten eine hohe Summe; dann kommen die Verwandten und versuchen mit ihm zu handeln, machen ihm viele Bücklinge, doch wehe, wenn sie seinen Forderungen nicht nachkommen. In solchen Fällen hilft ihm viel die abergläubische Angst, die er den Leuten einflößt. Es ist kaum auszudenken, was von den Henkern alles erzählt wird! Übrigens versicherten die Sträflinge, daß der Henker mit einem einzigen Schlage einen Menschen totschlagen könne. Wann aber war das erprobt worden? Doch schließlich, warum nicht? Man sprach davon gar zu überzeugt und der Henker selbst bürgte mir dafür, daß er es tatsächlich könne. Auch wurde erzählt, daß er weit ausholen und aus aller Kraft über den Rücken des Schuldigen schlagen könne, und daß trotzdem nicht die kleinste Wunde entstehe, nicht einmal ein roter Streifen, und der Geschlagene nicht den geringsten Schmerz verspüre. Aber von all diesen Tricks sind ja viele nur zu bekannt. Doch selbst wenn der Henker eine Bestechung nimmt und milde zu strafen verspricht, so gehört der erste Schlag trotz allem ihm, den gibt er stets aus voller Kraft, den schenkt er für kein Geld. Es ist dies bei ihnen gewissermaßen schon so Sitte. Die folgenden Hiebe mildert er, namentlich, wenn man ihm vorher gezahlt hat. Der erste Streich aber, gleichviel ob man ihm gezahlt hat oder nicht, – der gehört ihm. Ich weiß wirklich nicht, warum es bei ihnen so angenommen ist. Vielleicht um das Opfer sogleich an die anderen Schläge zu gewöhnen, in der Erwägung, daß nach einem sehr schweren Schlage die leichteren nicht mehr so qualvoll erscheinen, oder auch nur, um dem Opfer zu imponieren, dem Jungen Angst einzuflößen, ihn zu erschrecken, damit er begreife, mit wem er es zu tun hat, oder einfach – um sich und seine Macht zu zeigen. Jedenfalls befindet sich der Henker vor der Exekution in angeregter Stimmung, er ist sich seiner Kraft und Macht bewußt, er fühlt sich als Herrscher, er ist gleichsam Schauspieler: die ganze Volksmenge bewundert ihn, allen flößt er Entsetzen ein, und selbstverständlich ruft er seinem Opfer nicht ohne Genugtuung zu: „Halt dich fest, es brennt!“ – die üblichen erschreckenden Worte bei dieser Gelegenheit. Es ist schwer, sich vorzustellen, bis zu welchem Grade die menschliche Natur sich entstellen läßt.
In der ersten Zeit meines Aufenthaltes im Lazarett hörte ich stets wißbegierig diesen Erzählungen der Arrestanten zu. Das Liegen war uns allen entsetzlich langweilig. Jeder Tag dem anderen so ähnlich! Am Morgen zerstreute uns noch der Besuch der Ärzte und dann bald nach ihnen das Essen. Ja, das Essen bildete in dieser Monotonie begreiflicherweise sogar eine bedeutende Zerstreuung. Die Portionen waren sehr verschieden, je nach der Krankheit der einzelnen. Die einen erhielten nur Suppe mit Graupen, andere nur Brei, wieder andere nur Griesmehlbrei, für den es sehr viele Liebhaber gab. Die Sträflinge waren vom langen Liegen verweichlicht und liebten Leckerbissen. Die Rekonvaleszenten und auch die erst halbwegs Gesunden erhielten ein Stück gekochtes Rindfleisch, einen „Ochsen“, wie man bei uns sagte. Das beste Essen erhielten die Skorbutkranken: Rindfleisch mit Zwiebeln oder mit Meerrettich und ähnliches mehr, zuweilen sogar ein Glas Branntwein. Auch das Brot wurde je nach der Krankheit gegeben, aus Roggenmehl oder Weizenmehl oder aus beidem gemischt, und gut durchgebacken. Diese Bestimmung der Größe und Art der Portionen erheiterte die Sträflinge nur. Manche Kranken mochten nämlich nichts essen, und aßen auch nichts. Dafür aber aßen diejenigen, die Appetit verspürten, was sie nur wollten. Viele tauschten ihre Portionen unter einander, so daß Portionen, die nur für den einen Kranken bestimmt waren, von einem anderen verzehrt wurden. Viele, die Diät halten mußten, kauften Rindfleisch oder die ganze Portion eines Skorbutkranken, tranken Kwas oder Branntwein, den sie Skorbutkranken abkauften, für die er bestimmt war. Einige verzehrten sogar zwei Portionen. Diese Portionen wurden für Geld gekauft und wieder verkauft. Das Rindfleisch stand sogar ziemlich hoch im Preise: es kostete nichts weniger als fünf Kopeken in bar. War in unserem Raum keines zu haben, so schickte man den Wärter in den anderen Sträflingssaal, und gab es dort auch keines, dann in die Soldatensäle, in die „freien“, wie man bei uns sagte. Doch fand sich stets ein Verkäufer. Die Armut war natürlich allgemein, dafür aber schickten die wenigen, die Geld besaßen, bis hin auf den Markt nach Kalatschen, sogar nach Naschwerk und ähnlichen Dingen. Unsere Wärter erfüllten alle diese Aufträge ohne jede Entschädigung.
Nach dem Mittagessen begann die langweiligste Zeit: alles was getan wurde, geschah buchstäblich nur aus Langeweile: der eine schlief, der andere schwatzte, der dritte stritt, der vierte erzählte irgend etwas, doch so, daß ihn alle hören konnten. Kamen keine neuen Kranken, so war es noch langweiliger. Dagegen brachte die Ankunft eines Neuen stets einen gewissen Eindruck hervor, namentlich wenn ihn niemand kannte. Er wurde eingehend betrachtet, und man mühte sich, herauszubekommen, wer er war und wie, woher, und für welches Vergehen verschickt. Am meisten interessierte man sich für die auf dem Transport befindlichen: sie wußten immer etwas zu erzählen, übrigens niemals von ihren persönlichen Angelegenheiten; und wenn einer nicht unaufgefordert davon sprach, so fiel es auch keinem ein, ihn danach zu fragen. Man erkundigte sich nur, woher der Trupp kam, mit wem er marschiert war, wohin es ging, wie die Wege sind, usw. Einige, die die neue Erzählung hörten, erinnerten sich dann auch des einen oder anderen, das sie selbst auf dem Marsch gesehen oder erlebt hatten. Die mit Spießruten Bestraften erschienen gleichfalls um diese Zeit – gegen Abend. Sie machten gewöhnlich einen ziemlich starken Eindruck auf uns alle, wie ich das ja schon erwähnt habe. Aber die kamen doch nicht jeden Tag, und so war es an den Tagen, wenn niemand kam, ganz entsetzlich langweilig: alle schienen gleichsam schlaff zu werden, alle schienen der Gesichter der übrigen unendlich überdrüssig zu sein, und bald kam es zu Zank und Streit. Man freute sich bei uns sogar über die Wahnsinnigen, die zur Untersuchung zu uns gebracht wurden. Hin und wieder stellte sich auch wohl ein Sträfling, um der Bestrafung zu entgehen, irrsinnig; einige von ihnen wurden bald überführt, oder richtiger, sie entschlossen sich selbst, ihre Politik zu ändern, so daß der Sträfling, nachdem er zwei oder drei Tage lang den Verrückten gespielt hatte, ganz plötzlich, mir nichts dir nichts, wieder vernünftig wurde, verstummte und dann mit finsterer Miene um seine Entlassung bat. Weder die Ärzte noch die anderen Sträflinge tadelten oder beschämten ihn, oder erinnerten ihn an seine verdrehten Possen: schweigend wurde er entlassen, schweigend begleitet, und nach zwei oder drei Tagen kam er bestraft zurück. Doch solche Fälle waren im allgemeinen recht selten. Aber die tatsächlich Verrückten – die waren eine wahrhaftige Heimsuchung Gottes für das ganze Lazarett. Einige von ihnen, die lachend und schreiend, tanzend und singend hereintraten, wurden von den Sträflingen fast mit Entzücken empfangen: „Das ist doch mal eine Unterhaltung!“ meinten sie, beim Anblick eines solchen Grimassenschneiders. Mir aber war es unsäglich schwer, diese Unglücklichen zu sehen. Ich habe es nie vermocht, beim Anblick eines Irrsinnigen gleichmütig zu bleiben.
Gleichwohl wurden bald alle der ununterbrochenen Grimassen und des ewig unruhigen Gebarens des anfänglich so erfreut begrüßten Irrsinnigen entsetzlich überdrüssig und schon nach zwei Tagen waren sämtliche Zimmergenossen um den Rest ihrer Geduld gebracht. Einmal strafte uns die Vorsehung mit einem solchen ganze drei Wochen lang, und es war wirklich um auf die Wände zu kriechen – hatte man bis dahin noch nie an Flucht aus dem Lazarett gedacht, so wurde einem dieser Gedanke jetzt unheimlich nahe gelegt. Und da schickte uns das Schicksal in derselben Zeit noch einen zweiten Wahnsinnigen! Dieser machte auf mich einen grauenvollen Eindruck. Es war das im dritten Jahr meines Ostrogglebens. Im ersten Jahr, oder richtiger, in den ersten Monaten ging ich im Frühling mit Ofensetzern als Handlanger in eine zwei Werst entfernte Ziegelbrennerei. Die Brennöfen mußten für den Sommer, wenn das Ziegelbrennen wieder begann, instand gesetzt werden. Am ersten Morgen machten mich M–tzkij und B. mit dem in der Brennerei als Aufseher lebenden Unteroffizier Ostroshskij bekannt. Er war Pole, etwa sechzig Jahre alt, groß von Wuchs, hager, von angenehmem und sogar imponierendem Äußeren. In Sibirien lebte er schon seit langer Zeit und wenn er auch aus dem einfachen Volke stammte und als Soldat nicht sehr gebildet war, so wurde er doch von M–tzkij und B. geliebt und geachtet. Er las beständig in der katholischen Bibel. Ich unterhielt mich mit ihm und er sprach so freundlich, verständig, wußte so interessant zu erzählen und blickte einen so gutmütig und ehrlich an. Seit der Zeit hatte ich ihn ganze zwei Jahre nicht gesehen, nur einmal hatte ich gehört, daß er sich in Untersuchungshaft befinde. Und nun plötzlich wurde er als Irrsinniger zu uns hereingeführt. Lachend, kreischend trat er ein und begann sofort mit den unanständigsten Gesten einen Tanz, ähnlich wie die Kamarinskaja, zu tanzen. Die Sträflinge waren entzückt, begeistert, mir aber wurde sehr traurig zumut ... Nach drei Tagen wußten wir nicht mehr, was wir mit ihm anfangen sollten. Er stritt, schimpfte sich mit allen und jedem herum, raufte, schrie, gröhlte, sang Lieder, sogar in der Nacht, machte in jedem Augenblick so ekelhafte Bewegungen, daß uns allen geradezu übel wurde. Er fürchtete sich vor nichts und niemand. Schließlich wurde ihm eine Zwangsjacke angezogen, zumal er ohne sie auf jeden losging und sich mit ihm prügelte und balgte. In diesen drei Wochen erhoben sich zuweilen alle Kranken wie ein Mann und baten den Oberarzt, unseren Friedensstörer zum Teufel oder in den anderen Arrestantenkrankensaal überführen zu lassen. Dort aber wurde der Arzt schon nach zwei Tagen gebeten, ihn wieder zu uns zurückzuschicken. Da es aber zu gleicher Zeit zwei Verrückte gab, die beide rabiate Schreihälse und Raufbolde waren, so tauschten die Arrestantensäle immer abwechselnd mit ihren „Landplagen“. Aber der eine war nicht besser als der andere. Alle atmeten auf, als man sie endlich irgendwohin fortschickte ...
Auch erinnere ich mich noch eines anderen seltsamen Geisteskranken. Einmal im Sommer brachte man einen Verurteilten, einen dem Anscheine nach gesunden, nur etwas eigentümlichen Mann von fünfundvierzig Jahren, mit einem von Blatternarben völlig verunstalteten Gesicht, kleinen roten, eingekniffenen Augen und mürrischer, finsterer Miene. Ihm wurde das Bett neben mir zugewiesen. Er war, wie sich zeigte, ein friedlicher, ruhiger Mensch, der mit niemand sprach und beständig wie in Nachdenken versunken dasaß. Es dunkelte bereits, – da wandte er sich plötzlich an mich: ohne jede Einleitung begann er mir sofort zu erzählen, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, als teile er mir ein ungeheures Geheimnis mit, daß er zu zweitausend Hieben verurteilt sei, doch werde ihm jetzt nichts geschehen, da die Tochter des Obersten G. sich für ihn verwende. Ich blickte ihn verwundert an und äußerte meine Meinung, daß in diesem Falle die Tochter eines Obersten nichts zu tun vermöge. Ich ahnte noch nichts, denn er war nicht als Irrsinniger, sondern als gewöhnlicher Kranker gebracht worden. Ich fragte ihn, woran er denn leide, er aber sagte, er wisse es selbst nicht, – daß man ihn aus irgend einem Grunde hergeschickt habe, er aber vollkommen gesund sei, und die Tochter des Obersten sich in ihn verliebt habe. Sie sei einmal, etwa vor einer Woche, an der Hauptwache vorübergefahren, als er gerade zum vergitterten Fensterchen hinausgesehen habe: sie hätte ihn erblickt und sich sofort in ihn verliebt. Daraufhin sei sie unter verschiedenen Vorwänden bereits dreimal auf der Hauptwache gewesen, das erstemal zusammen mit dem Vater, um den Bruder, der dort Dienst hatte, zu sprechen, das zweitemal mit der Mutter, um Almosen zu geben, und bei der Gelegenheit habe sie ihm im Vorübergehen zugeflüstert, daß sie ihn liebe und die Aufhebung der Strafe erwirken werde. Es war auffallend, mit wie feinen Einzelheiten er mir diese ganze Ungereimtheit erzählte, die natürlich bis aufs Letzte in seinem armen kranken Kopf entstanden war. An die Aufhebung seiner Strafe glaubte er unerschütterlich. Von der leidenschaftlichen Liebe dieser Dame zu ihm sprach er ruhig und überzeugt. Es war, ganz abgesehen von der Unsinnigkeit des Ganzen, so unglaublich, eine derartig romantische Liebesgeschichte eines jungen Mädchens von einem nahezu fünfzigjährigen Greise zu hören, dessen Gesicht mürrisch, finster und von Blatternarben völlig verunstaltet war. Da sieht man, was die Angst vor der Strafe mit einer schüchternen, zaghaften Seele machen kann. Vielleicht hatte er in dem beginnenden Irrsinn, der mit der wachsenden Angst von Stunde zu Stunde zunahm, tatsächlich jemand durch das Fenster erblickt und – da hatte dann seine Phantasie einen Ausweg gefunden. Dieser arme Soldat, der wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal an vornehme Damen gedacht, erfand plötzlich einen ganzen Roman, an den er sich instinktiv wie an den letzten Strohhalm anklammerte. Ich hörte ihm schweigend zu und teilte meine Vermutung den anderen Sträflingen mit. Als aber diese ihn auszufragen suchten, da verstummte er aus Schamgefühl. Am nächsten Tage untersuchte und befragte ihn der Oberarzt lange Zeit, und da er ihm sagte, daß er ganz gesund sei, wie es sich auch bei der Untersuchung gezeigt, so wurde er als gesund ausgeschrieben, was wir jedoch erst nach dem Fortgang der Ärzte erfuhren. So konnten wir sie denn nicht mehr über den wahren Sachverhalt aufklären. Und zudem waren wir auch selbst noch nicht ganz sicher in unserer Annahme. Die Schuld an dem Mißverständnis trug jedenfalls der Vorgesetzte, vielleicht der Unteroffizier der Wache, der ihn ins Lazarett geschickt hatte, ohne zu erklären, weswegen. Wahrscheinlich war es eine Nachlässigkeit von ihm gewesen. Vielleicht aber hatten auch die Absender nur mehr Irrsinn vermutet, als daß sie genau gewußt hätten, was ihm fehlte, und ihn nur zur Untersuchung ins Lazarett geschickt. Aber wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls wurde der Arme nach zwei Tagen zur Züchtigung hinausgeführt, die ihn, wie es schien, infolge seiner Unvorbereitetheit nicht wenig erschreckt haben mußte. Er glaubte es nicht, daß man ihn bestrafen würde, glaubte es bis zum letzten Augenblick nicht, und als man ihn wirklich durch die grüne Gasse zog, da soll er nach der Polizei geschrieen haben. Im Lazarett wurde er diesmal, da bei uns alle Betten besetzt waren, in das andere Arrestantenzimmer gebracht. Ich erkundigte mich nach ihm und erfuhr, daß er in ganzen acht Tagen mit keinem einzigen ein Wort gewechselt habe, anscheinend sehr verwirrt und dabei auffallend traurig gewesen sei ... Bald darauf wurde er irgend wohin fortgeschickt, nachdem sein Rücken zugeheilt war. Wenigstens habe ich nie mehr etwas von ihm gehört.
Was nun die Medizin und das Einhalten der Diät anbetrifft, so befolgten, soweit ich beobachtet habe, die Leichtkranken fast überhaupt nicht die Anordnungen der Ärzte und nahmen gar keine Medizin ein. Die Schwerkranken dagegen und überhaupt die wirklich Kranken liebten es sehr, das Verordnete gewissenhaft zu erfüllen: pünktlich nahmen sie ihre Mixturen und Pülverchen, doch zogen sie ihnen eigentlich äußere Mittel vor. Schröpfköpfe, Blutegel, heiße Umschläge und Aderlassungen, die das einfache Volk so gern hat und denen es so hingebend glaubt, waren eine gern geduldete Behandlung, die ihnen sogar ein gewisses Vergnügen zu bereiten schien. Unter anderem interessierte mich auch eine sehr sonderbare Erscheinung. Dieselben Menschen, die im Ertragen der größten Schmerzen von Stockhieben und Spießruten so überaus standhaft waren, klagten nicht selten und jammerten stöhnend über irgendwelche kleinen Schröpfköpfe. Waren sie nun durch das Liegen und das gute Essen so verweichlicht oder stellten sie sich nur so – ich weiß es nicht zu erklären. Freilich waren unsere Schröpfköpfe etwas anderer Art, als die sonst üblichen. Das Instrument, mit dem die Haut zu diesem Zwecke durchgeschnitten werden muß, hatte der Feldscher einmal, wohl schon vor undenklichen Zeiten, verloren oder verdorben – infolgedessen war er gezwungen, die notwendigen Einschnitte mit der Lanzette zu machen. Für jeden Schröpfkopf sind bis zwölf solcher Einschnitte erforderlich, die mit dem Instrument schnell und schmerzlos gemacht werden können: zwölf kleine Messerchen schlagen alle zu gleicher Zeit ein, in einer Viertelsekunde, und ein Schmerz ist kaum zu spüren. Die Lanzette dagegen schneidet verhältnismäßig sehr langsam, der Schmerz wird fühlbar, und da man zum Beispiel für zehn Schröpfköpfe hundertundzwanzig solcher Einschnitte machen mußte, so war es alles in allem nicht angenehm. Auch ich habe es am eigenen Körper erfahren – aber wenn es auch schmerzhaft und nervenreizend ist, so ist es doch immerhin nicht so schmerzhaft, daß man sich nicht hätte bezwingen können. Mitunter war es wirklich lächerlich, zu sehen, wie so ein langer, gesunder Tölpel sich hin und her wand und jammerte. Es erinnerte einen oft daran, wie mancher Mensch, der in einer ernsten Angelegenheit fest und ruhig bleibt, zu Hause aber wegen nichts und wieder nichts launisch ist, das vorgesetzte Essen nicht anrührt, an allem mäkelt und über alles ungehalten ist: nichts ist ihm recht, alle regen ihn auf, alle sind unhöflich zu ihm, alle quälen ihn, – mit einem Wort, er ärgert sich vor lauter Fett, wie man zu sagen pflegt, d. h. vor lauter Wohlergehen. Solche Menschen trifft man unter Reichen nicht selten an, doch gibt es sie auch unter dem Volk. In unserem Ostrogg nun waren sie, infolge des gezwungenen Zusammenlebens mit anderen, keine Seltenheit. Zuweilen ließen die anderen es sich angelegen sein, den verweichlichten Bauernsohn zu necken, oder der eine oder andere schalt ihn gehörig: dann verstummte er sofort, ganz als hätte er tatsächlich nur darauf gewartet, daß man ihn schimpfte, um dann mit dem Jammern aufzuhören. Am wenigsten mochte Ustjänzeff dieses Stöhnen leiden und so ließ er sich auch keine Gelegenheit entgehen, den Betreffenden zu schimpfen. Überhaupt nahm er jede Schimpfgelegenheit wahr. Das Schimpfen war ihm zum Vergnügen, zum Bedürfnis geworden, woran natürlich seine Krankheit die Schuld trug, teilweise aber auch seine Beschränktheit. Zuerst schaute er den Betreffenden ernst und aufmerksam an, und dann erst begann er plötzlich, mit ruhiger, überzeugungsvoller Stimme, ihm die Leviten zu lesen. Er hatte sich in alles einzumischen, ganz als wäre er bei uns zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der allgemeinen Sittlichkeit eingesetzt gewesen.
„Den geht alles etwas an,“ sagten die anderen lachend. Übrigens ging man vorsichtig mit ihm um und vermied auch jeden Streit mit ihm, nur wurde über ihn zuweilen gelacht.
„Der schwatzt dir aber was zusammen! Das können drei Fuhren nicht fortschaffen.“
„Was, darf ich es denn nicht? Vor einem Narren zieht man nicht den Hut, das ist doch bekannt. Warum schreit er denn unter der Lanzette? Wer Honig liebt, darf auch über Bienenstiche nicht klagen, jetzt hast du auszuhalten!“
„Was geht das dich an?“
„Nein, wißt ihr,“ unterbrach einer unserer Arrestanten aus dem Ostrogg, „diese Schröpfköpfe, das ist noch nichts, – ich habe sie ausprobiert; aber seht, der vermaledeiteste Schmerz ist, wenn einer einen lange am Ohr zieht.“
Alle lachten.
„Hat man dich denn schon so gezogen?“
„Du dachtest wohl nicht? Selbstverständlich hat man.“
„Das merkt man. Deine Ohren stehen ja wie Scheuklappen ab.“
Der Arrestant, Schapkin hieß er, hatte allerdings sehr abstehende Ohren. Er war ein Landstreicher, noch jung an Jahren, ein geschickter, stiller Junge, der immer mit einem gewissen ernsten, versteckten Humor sprach, der seinen Erzählungen viel Komik verlieh.
„Warum soll ich denn annehmen, daß man dich am Ohr gezogen hat, wie soll ich darauf kommen, du vernagelter Mensch?“ mischte sich wieder Ustjänzeff ein, sich unwillig an Schapkin wendend, obgleich jener durchaus nicht zu ihm, sondern zu allen gesprochen hatte; doch Schapkin schenkte ihm nicht einmal einen Blick.
„Aber wer hat dich denn so schmerzhaft am Ohr gezogen?“ fragte jemand.
„Wer? Das läßt sich doch wohl denken. Der Richter, natürlich. Das war nämlich, müßt ihr wissen, wegen Landstreicherei. Wir kamen damals selbander nach K., ich und noch ein Landstreicher, Jefins mit Namen, aber ohne weitere Benennung. Unterwegs hatten wir im Dorfe Tolmina unseren Besitzstand ein wenig aufgefrischt. Das war dort so ein Dorf, Tolmina mit Namen. Nun, wir kamen also hin, sahen uns um: nicht zu verachten. Im Felde gibt es vier Freiheiten, in der Stadt aber keine einzige, wie bekannt. Nun, ganz zuerst ging es ins Wirtshaus, hielten Umschau. Da kommt zu uns einer, so ’n Abgebrannter, die Ellenbogen zerrissen, im deutschen Rock. Nun, dies und das.
‚Aber wie geht ihr denn,‘ fragt er, ‚erlaubt, daß ich mich erkundige, – mit Dokumenten?‘[8]
‚Nein,‘ sagen wir, ‚ohne Dokumente.‘
‚So. Wir gleichfalls. Ich habe hier noch zwei Kollegen,‘ sagt er, ‚die gleichfalls bei General Kukuschkin dienen.[9] Darf ich nun fragen, ob ich mich zu Gaste laden kann? Ein halbes Maß werdet ihr doch für uns haben?‘
‚Mit Vergnügen,‘ sagen wir. Nun wir tranken also. Bei der Gelegenheit kamen wir auch auf ein Unternehmen zu sprechen, das in unser Fach schlug. Dort außerhalb der Stadt stand ein Haus, das einem reichen Bürger gehörte. Und so beschlossen wir, in der Nacht dort einen Besuch zu machen. Und so kam es denn, daß wir in selbiger Nacht noch alle fünf bei dem reichen Bürger in die Falle gingen. Man führte uns in Nummer Sicher und von dort direkt zum Richter. ‚Ich werde sie selbst verhören,‘ sagt er. Er erscheint mit einer Pfeife, ein Glas Tee wird ihm nachgetragen, so ein gesunder Mann mit Backenbart. Er setzte sich. Aber da wurden noch drei außer uns hereingeführt, gleichfalls Landstreicher. Ein ulkiger Mensch ist und bleibt doch so ein Landstreicher: nichts weiß er, und wenn du ihm auch einen Knüppel an den Kopf schlägst, alles hat er vergessen, nichts weiß er! Der Richter wendet sich geradeaus an mich. ‚Wer bist du?‘ brummte er mich an wie aus einer Tonne. Nun, versteht sich, sage wie gewöhnlich: ‚Weiß nicht, Euer Gnaden, habe alles vergessen.‘
‚Wart mal,‘ sagt er, ‚mit dir werde ich noch reden, deine Visage ist mir schon bekannt,‘ und dabei glotzt er mich an wie ein Frosch. Ich aber hatte ihn vorher noch nie gesehn. Darauf fragt er den anderen: ‚Wie heißt du?‘
‚Mach dich aus dem Staube, Euer Gnaden.‘
‚Was, du heißt – Mach dich aus dem Staube?‘
‚Genau so, Euer Gnaden.‘
‚Nun gut, du heißt Mach dich aus dem Staube, aber du?‘ das fragt er den dritten.
‚Ich Ebenso, Euer Gnaden.‘
‚Aber wie ist denn dein Name?‘
‚Das ist ja mein Name: Ich Ebenso, Euer Gnaden.‘
‚Aber wer hat dich Schuft denn so getauft?‘
‚Gute Menschen, Euer Gnaden. In der Welt geht es bekanntlich nicht ohne gute Menschen, Euer Gnaden.‘
‚Wer aber sind denn diese guten Menschen gewesen?‘
‚Das habe ich nicht behalten, Euer Gnaden werden es mir schon gnädig verzeihen müssen.‘
‚Hast du alle vergessen?‘
‚Alle vergessen, Euer Gnaden.‘
‚Aber du hast doch Vater und Mutter gehabt? ... Dieser entsinnst du dich doch noch?‘
‚Es ist wohl anzunehmen, Euer Gnaden, daß ich welche gehabt habe, aber auch ihrer erinnere ich mich nicht mehr, Euer Gnaden.‘
‚Aber wo hast du denn bis jetzt gelebt?‘
‚Im Walde, Euer Gnaden.‘
‚Immer im Walde?‘
‚Immer im Walde.‘
‚Nun, aber im Winter?‘
‚Den Winter habe ich nicht gesehen, Euer Gnaden.‘
‚Nun, und du, wie heißt du?‘
‚Beil, Euer Gnaden.‘
‚Und du?‘
‚Friß und gähne nicht, Euer Gnaden.‘
‚Sei nachsichtig, Euer Gnaden.‘
‚Und alle könnt ihr euch nicht mehr eurer Namen entsinnen?‘
‚Nein, Euer Gnaden.‘
Da steht er, lacht, und die anderen lächeln gleichfalls. Nun, aber ein andermal schlägt er einem auch mit der Faust zwischen die Zähne, wenn das Lachen ihm ungelegen ist: ‚Die Burschen alle so gesund, wohlgenährt,‘ sagt er ...
‚Führt sie ins Gefängnis,‘ sagt er, ‚ich werde noch später mit ihnen reden. Du aber bleib hier‘ – das sagt er also zu mir. ‚Komm her, setz dich!‘
Was sehe ich: vor mir steht ein Tisch mit Tinte, Feder und Papier. Ich denke: was wird er nun mit mir anfangen?
‚Setz dich,‘ sagt er, ‚auf den Stuhl, nimm die Feder, schreibe!‘ Selbst aber erfaßt er mein Ohr und zieht es auch schon. Ich sehe ihn an wie der Teufel den Pastor. ‚Verstehe nicht,‘ sage ich, ‚Euer Gnaden.‘
‚Schreib!‘
‚Erbarmen, Euer Gnaden!‘
‚Schreib! Schreib wie du es verstehst!‘ Selbst aber zieht er mich dabei immer am Ohr, zieht und zieht, und wie er es dabei noch drehte! Nein, Brüder, ich sage euch, mir wären dreihundert Hiebe lieber gewesen, als dieses ‚schreib!‘ und weiter nicht als ‚schreib!‘ Von dem mir grün und blau vor den Augen wurde.“
„Was war denn mit ihm los? – übergeschnappt?“
„Fiel ihm nicht ein. Aber in T–sk hatte ein Schreiberlein vor kurzer Zeit ein Stückchen losgeschossen: hatte die Kasse unterschlagen und sich mit dem Inhalt aus dem Staube gemacht, und der hatte gleichfalls abstehende Ohren gehabt. Nun, es war überall hin gemeldet worden. Ich aber war den Anzeichen nach so wie er, und da fühlte er mir auf den Zahn: verstand ich zu schreiben? und wie?“
„So ein Pech! Schmerzte es?“
„Das habe ich dir doch schon gesagt: sogar verteufelt!“
Alles lachte.
„Na, und hast du denn geschrieben?“
„Was geschrieben! Fing wohl an, die Feder zu führen, zu führen, führte, führte, auf dem Papier nämlich, – da gab er’s auf. Gab mir noch so an zehn Ohrfeigen mit auf den Weg und damit entließ er mich dann, wollte sagen, in den Ostrogg.“
„Aber verstehst du denn zu schreiben?“
„Früher verstand ich’s, seitdem man aber mit den Federn schreibt, habe ich es verlernt ...“
Mit derartigen Erzählungen oder, richtiger gesagt, Schwätzereien wurde die langweilige Zeit totgeschlagen. Herrgott, war das eine Langeweile! Die Tage so lang, so lang, so schwül, der eine bis aufs Tüttelchen genau so wie der andere. Wenn man doch wenigstens irgend ein Buch gehabt hätte! Und dabei ging ich, namentlich in der ersten Zeit, oft ins Lazarett, zuweilen weil ich krank war, zuweilen nur, um dort zu liegen. Nur fort aus dem Ostrogg! Schwer war es im Ostrogg, noch schwerer als hier: moralisch schwerer. Die Bosheit, Feindschaft, der Neid, Hader, die fortwährenden Angriffe auf uns Edelleute, die bösen, drohenden Gesichter! Hier dagegen, im Lazarett, waren alle mehr gleichgestellt, und lebten freundschaftlicher. Die bedrückendsten Stunden im Laufe des ganzen Tages kamen abends, wenn das Licht schon angezündet war, und zu Anfang der Nacht. Früh schon ging man zur Ruh. Das trübe Nachtlicht leuchtet fern an der Tür als einziger heller Punkt; in unserer Ecke, in unserer ganzen Hälfte herrscht Halbdunkel. Die Zimmerluft ist schwül und voll Gestank. Manch einer findet keinen Schlaf, er erhebt sich und sitzt wohl anderthalb Stunden auf dem Bett, den Kopf mit der Nachtmütze gesenkt, als dächte er über etwas nach. Da sieht man eine ganze Stunde zu ihm hinüber und bemüht sich, zu erraten, was er denkt, nur um gleichfalls auf irgend eine Weise die Zeit totzuschlagen. Oder man ergibt sich dem Träumen, erinnert sich des Vergangenen, große, helle Bilder malt die Phantasie. Man erinnert sich so kleiner Einzelheiten, an die man sonst nie denken und die man wohl nie so durchfühlen würde, wie hier im Arrestantenlazarett. Oder man denkt an die Zukunft: wie wird es sein, wenn du aus dem Ostrogg entlassen wirst? Wohin wirst du dann gehen? Wann wird das sein? Wirst du überhaupt jemals in die Heimat zurückkehren? Und du denkst und denkst und Hoffnung rührt sich in deiner Seele ... Ein anderes Mal beginnt man einfach zu zählen: eins, zwei, drei, vier usw., nur um während des Zählens einzuschlafen. Ich zählte oft bis dreitausend und schlief doch nicht ein. Dort dreht sich einer auf die andere Seite, der Strohsack knistert. Ustjänzeff hustet seinen trockenen, schwindsüchtigen Husten und stöhnt dann schwach, worauf er jedesmal vor sich hin murmelt: „Gott, ich habe gesündigt!“ So sonderbar klingt diese kranke, gesprungene, gequälte Stimme inmitten der tiefen Stille und Nacht ringsum. Auch dort irgendwo in der Ecke schläft man nicht und es sprechen zwei miteinander von Bett zu Bett. Der eine erzählt etwas von seinem Leben, von längst, längst Vergangenem, Vergessenem, von Landstreicherei, von seinen Kindern, seinem Weibe, von früheren Verhältnissen. Allein schon aus dem fernen, undeutlichen, murmelnden Geflüster fühlt man, daß alles, wovon er erzählt, niemals mehr zu ihm wiederkehren wird, und daß er selbst, der Erzähler, nichts als ein abgeschnittenes, fortgeworfenes Stück von dem Übrigen ist. Der andere hört zu. Zu mir dringt nur ein ruhiges, gleichmäßiges Gemurmel, gleich wie wenn fallendes Wasser erzählte, irgendwo fern ... Ich entsinne mich noch, wie ich einmal in einer langen Winternacht eine solche Erzählung mit anhörte. Zuerst glaubte ich fast, daß sie mein eigener Fiebertraum war, und es schien mir, als vernahm und sah ich alles nur in meiner kranken Phantasie ...
Es war schon spät in der Nacht, wohl in der zwölften Stunde. Ich war schon eingeschlafen, – da erwachte ich plötzlich. Der trübe Schein des fernen Nachtlichts erhellte kaum die nächsten Lagerstätten ... Fast alle schliefen. Sogar Ustjänzeff schlief, und in der Stille hörte man, wie schwer er atmete und wie der Schleim in seinem Halse bei jedem Atemzuge brodelte. Da ertönten draußen auf dem Flur die schweren Schritte der nahenden Ablösung. Ein Gewehrkolben stieß schwer auf den Boden. Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich: der Gefreite trat leise ein und zählte die Kranken. Nach einer Minute war die Tür wieder verschlossen, die neue Wache trat an, die Schritte des Wachkommandos entfernten sich, und wieder trat die Stille ein. Nun erst bemerkte ich, daß nicht weit von mir, links von meinem Bett, zweie nicht schliefen und miteinander zu flüstern schienen. Das kam zuweilen vor: es lagen manche monatlang nebeneinander, ohne daß je ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde, und dann plötzlich in einer Nacht, in einer schweren Stunde, fängt der eine zu sprechen an und breitet vor dem anderen, lauschenden, seine ganze Vergangenheit aus.
Offenbar flüsterten sie schon lange miteinander. Den Anfang hatte ich nicht gehört, und auch jetzt konnte ich nicht alles vernehmen, doch allmählich gewöhnte sich mein Ohr daran und so vernahm ich bald auch die einzelnen Worte. Ich konnte nicht schlafen: was sollte ich tun, wenn ich nicht zuhörte? ...
Der eine erzählte, halbliegend im Bett, den Kopf erhoben und vorgestreckt, damit ihn der Genosse besser höre. Augenscheinlich war er erregt, es quälte ihn etwas und er wollte erzählen. Sein Zuhörer saß finster und gleichmütig auf seinem Lager, die Füße ausgestreckt, hin und wieder brummte er etwas als Antwort oder zum Zeichen seines Interesses, was er aber mehr anstandshalber als aus wirklicher Teilnahme zu tun schien, und stopfte fortwährend aus einem Horn Tabak in die Nase. Er war ein Soldat aus der Strafkompagnie, Tscherewin hieß er, ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, ein mürrischer Pedant, ein kalter Raisonneur und selbstgefälliger Dummkopf. Der Erzähler, Schischkoff, war ein junger, noch nicht dreißigjähriger Arrestant unserer Zivilabteilung, der in der Schneiderwerkstätte arbeitete. Bis dahin hatte ich ihm wenig Beachtung geschenkt; und auch später, solange ich im Ostrogg lebte, zog es mich nicht zu ihm. Er war ein leerer, unverständiger Mensch. Zuweilen schwieg er lange Zeit, war mürrisch, unfreundlich, sprach wochenlang kein Wort. Zuweilen aber mischte er sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen, verbreitete Klatschgeschichten, regte sich wegen der nichtigsten Sachen auf, trieb sich in allen Kasernen umher, redete unendlich, schien aus der Haut zu fahren. Verprügelte man ihn, so schwieg er wieder. Er war feig und geizig. Alle mißachteten ihn und behandelten ihn auch darnach. Er war klein von Wuchs und mager, mit bald seltsam unruhigem, bald wieder stumpf brütendem Blick. Hatte er etwas zu erzählen, so begann er eifrig und erregt, sogar mit lebhaften Gesten – bis er plötzlich abbrach, oder auf anderes überging, sich von neuen Einzelheiten hinreißen ließ und ganz vergaß, wovon er zuerst gesprochen hatte. Er stritt sehr oft mit den anderen, und wenn er es tat, so warf er dem Gegner unbedingt etwas vor, etwa wie sehr jener ihm Unrecht getan habe und wie groß seine Schuld vor ihm sei, und er sprach mit Gefühl und war sogar den Tränen nahe ... Er spielte nicht schlecht die Balalaika und er spielte sie gern, und an Feiertagen tanzte er sogar, und tanzte gut, wenn man ihn, was auch vorkam, dazu veranlaßte ... Es war sehr leicht, ihn zu etwas zu veranlassen ... Nicht, daß er so gehorsam gewesen wäre, aber er schloß gern Freundschaft und tat dann alles, um dem neuen Freunde gefällig zu sein.
Es dauerte ziemlich lange, bis ich begriff, wovon sie sprachen. Auch schien es mir zuerst, daß er immer abwich vom eigentlichen Thema und sich von Nebensächlichem ablenken ließ. Vielleicht entging es ihm auch nicht, daß Tscherewin für seine ganze Erzählung überhaupt kein Interesse übrig hatte, doch wollte er sich, glaube ich, absichtlich einreden, daß sein Zuhörer ganz Ohr sei. Vielleicht wäre es ihm auch sehr schmerzlich gewesen, sich vom Gegenteil zu überzeugen.
„... Kam er so auf den Markt,“ erzählte er jetzt weiter, „dann grüßten ihn alle, sie fühlten sozusagen, das ist ein Reicher!“
„Er handelte, sagst du?“
„Nun, ja, gewiß doch. Unter den Kleinbürgern bei uns war die Armut groß. Das reine Elend. Die Weiber trugen das Wasser aus dem Fluß das steile Ufer hinauf, um dort die Gemüsegärten zu begießen, im Herbst aber hatten sie für die ganze Plage nicht einmal Kohl zur Suppe. Nichts zu wollen. Nun, er aber hatte ein großes Stück Land, ließ das Feld von Knechten bearbeiten, hielt ihrer ganze drei, und dann hatte er noch einen ganzen Bienengarten, handelte mit Honig und auch mit Vieh, und doch war er in unserem Ort sehr geachtet, mußt du wissen. Alt war er auch schon, an die siebenzig Jahr, die Knochen wurden ihm schon steif, hatte einen grauen langen Bart, war ein großer Mann. Kam er so im Fuchspelz auf den Markt, da wurde er von allen Seiten gegrüßt. Sehr ehrerbietig. – ‚Guten Tag, Väterchen Ankudim Trofimytsch!‘
‚Hab auch du einen guten Tag,‘ sagt er. Keinen, wie du siehst, verachtete er.
‚Laßt’s Euch wohlgehen, Ankudim Trofimytsch!‘
‚Danke, wie geht es Euch?‘ fragt er.
‚Ach, unsere Geschäfte sind weiß wie Ruß,[10] wie aber geht es Euch, Väterchen?‘
‚Auch wir leben,‘ sagt er, ‚trotz unserer Sünden.‘
‚So laßt’s Euch denn wohlgehen, Ankudim Trofimytsch!‘ Niemand also wird von ihm verachtet, und spricht er, so ist jedes Wort einen Rubel wert. Er war auch sehr bibelkundig, verstand zu lesen und zu schreiben, er las aber nur die heilige Schrift. Dann setzte er die Alte, sein Weib, vor sich hin: ‚Jetzt höre, Weib, und begreife!‘ sagt er, und dann fängt er an, auszulegen und alles zu erklären, wie das da gemeint ist. Aber seine Alte war noch gar nicht alt, sie war seine zweite Frau, die er sozusagen der Kinder wegen geheiratet hatte, denn von der ersten hatte er keine. Nun, aber von der zweiten, der Maria Stepanowna, hatte er zwei noch unerwachsene Söhne, von denen der jüngere, Wassjä, ihm noch mit sechzig Jahren geboren worden war, und außerdem hatte er noch eine Tochter, Akulka, das war die älteste und damals achtzehn Jahre alt.“
„Und das war sie, deine Frau?“
„Wart, zuerst kommt noch Filka Morosoff. Du, sagt der Filka dem Ankudim, zahl mir mal jetzt das Geld aus; gib mir alle vierhundert her. Ich will nicht mit dir handeln und deine Akulka, sagt er, will ich auch nicht. Jetzt, sagt er, lebe ich blau. Meine Eltern, sagt er, sind jetzt gestorben, daher werde ich jetzt mein Geld versaufen und dann gehe ich unter die Soldaten und komme nach zehn Jahren als Feldmarschall wieder. Ankudim gab ihm auch richtig das Geld ab, denn sein Vater und Ankudim hatten mit gemeinschaftlichem Kapital gehandelt. – ‚Ein verlorener Mensch bist du,‘ sagt ihm der Alte. Er aber antwortet ihm: ‚Nun, noch weiß man nicht, ob ich verloren bin, bei dir aber, du Graubart, kann man ja nur lernen, mit dem Pfriem Milch zu löffeln. Du,‘ sagt er, ‚willst mit jeder Kopeke reich werden, sammelst noch jeden Schmutz, weil er sich vielleicht doch noch zur Kohlsuppe eignet. Ich aber spucke darauf. Du sammelst und sammelst, bis du des Teufels bist. Ich aber,‘ sagte er, ‚ich habe Charakter! Deine Akulka aber nehme ich trotzdem nicht; ich habe,‘ sagte er, ‚sowieso schon mit ihr geschlafen ...‘
‚Was!‘ schreit Ankudim, ‚wie wagst du es, eines ehrenhaften Vaters ehrenhafte Tochter zu beschimpfen! Wann hast du mit ihr geschlafen, du Schlangenbrut, du Hechtsblut!‘ Und selbst bebt er am ganzen Körper. So erzählte Filka später.
‚Haha, nicht nur keinen Filka Morosoff wird sie jetzt bekommen,‘ sagt er, ‚ich werde dafür sorgen, daß Eure Akulka überhaupt keiner mehr nehmen wird, auch der Mikita Grigorjitsch nicht, denn sie ist ja doch ehrlos. Schon seit dem Herbst haben wir zusammengelebt, jetzt aber gehe ich für keine hundert Krebse mehr darauf ein. Versuch doch: leg mir gleich hundert auf den Tisch, da wirst du sehen, daß ich nicht einwillige ...‘
Und da hub dann das Prassen an, das war was! Die ganze Erde drehte er um, durch die ganze Stadt hörte man seine Gelage. Er hatte sich noch Freunde ausgesucht, einen Haufen Geld besaß er, drei Monate lang wurde gepraßt, bis alles aus war. ‚Ich werde,‘ sagte er bisweilen, ‚wenn das Geld alle ist, das Haus verkaufen, alles verkaufen, und dann gehe ich unter die Landstreicher oder unter die Soldaten!‘ Vom Morgen bis zum Abend praßte er und fuhr mit einem schellengeschmückten Zweispänner durch die Stadt. Aber die Mädels liebten ihn wie keinen anderen, so etwas sieht man gar nicht wieder. Auch verstand er gut zu spielen, und er spielte auf allen Instrumenten.“
„Dann hatte er also mit der Akulka schon vorher die Sache gehabt?“
„Wart nur. Ich hatte damals auch gerade meinen Vater beerdigt, und meine Mutter backte Pfefferkuchen, arbeitete also auch für Ankudim, und davon lebten wir. Wir hatten aber ein schlechtes Leben. Nun, wir hatten auch unser Landstück hinter dem Walde, säten auch unser Korn, aber nach dem Tode des Vaters war es doch aus mit der Herrlichkeit, denn auch ich lebte blau, mußt du wissen. Von der Mutter holte ich das Geld mit Schlägen heraus ...“
„Das ist nicht gut, wenn du sie geschlagen hast. Das ist eine große Sünde.“
„Ich war aber, mußt du wissen, vom Morgen früh bis Abend spät besoffen. Unser Häuschen ging noch an, nichts zu sagen, war es auch verfault, so gehörte es doch uns, aber innen drin da war nichts zu beißen. Da saßen wir denn ohne Essen und kauten manche Woche am Hungertuch. Die Mutter schilt mich, aber was mache ich mir draus! ... Ich, mußt du wissen, wich damals keinen Schritt von Filka Morosoff. Vom Morgen bis zum Abend war ich bei ihm. ‚Spiel,‘ sagte er, ‚auf der Gitarre und tanz, ich aber werde liegen und Geld auf dich werfen, denn ich bin der reichste Mensch.‘ Und was er nicht alles tat! Nur Gestohlenes nahm er nicht. ‚Ich bin kein Dieb,‘ sagt er, ‚sondern ein ehrlicher Mensch.‘ – Und eines Tages sagte er: ‚Kommt, gehen wir und streichen wir der Akulka die Haustür mit Pech an, denn ich will nicht, daß sie Mikita Grigorjitsch heiratet. Das ist mir jetzt wichtiger als alles andere,‘ sagt er.
Ankudim aber hatte schon früher die Absicht gehabt, das Mädchen dem Mikita Grigorjitsch zu geben. Mikita war auch schon alt, ein Witwer mit einer Brille auf der Nase, und er handelte gleichfalls. Als der nun hörte, was für Gerüchte über Akulka umgingen, da sagte er natürlich ab. ‚Mir, Ankudim Trofimytsch,‘ sagt er, ‚mir würde es zur großen Unehre gereichen, und auch will ich in meinen alten Jahren überhaupt nicht mehr heiraten.‘
Und so gingen wir und strichen Akulkas Tür mit Pech an. Sie aber wurde dafür geprügelt, unaufhörlich geprügelt ... Marja Stepanowna schreit: ‚Das überlebe ich nicht!‘ und der Alte sagt: ‚In alter Zeit und unter ehrsamen Patriarchen würde ich sie,‘ sagt er, ‚an dem Scheiterhaufen totgeprügelt haben, heutzutage aber,‘ sagt er, ‚ist in der Welt nichts als Finsternis und Fäulnis.‘ Die Nachbarn in der ganzen Straße hatten die Akulka schreien gehört: sie wurde vom Morgen bis zum Abend geschlagen. Filka aber sagt auf dem Markt, daß es alle hören: ‚Ein prächtiges Mädchen ist die Akulka, meine Freundin. Hübsch gewachsen, rein gekleidet, fragt mal, wen sie liebt! Ich,‘ sagt er, ‚ich habe ihnen dort eins auf die Nase gegeben, das werden sie nicht sobald vergessen.‘ Da traf auch ich einmal die Akulka, als sie mit Wassereimern ging, ich aber schrie ihr nach: ‚Guten Tag, Akulina Kudimowna! ich grüße Euer Gnaden! Sauber bist du, woher kommt das, sag mal, wen du liebst!‘ Sie aber blickte mich nur einmal an, so große Augen hatte sie, selbst aber war sie so mager geworden wie ein Holzspan. Als sie mich anblickte, glaubte ihre Mutter, daß sie mir zulachte, und schrie ihr vom Hoftor zu: ‚Lachst du schon wieder, du Schamlose!‘ Und so wurde sie an diesem Tage wieder geprügelt. Eine ganze geschlagene Stunde. ‚Ich werde sie noch totprügeln, sie ist nicht mehr meine Tochter,‘ schrie die Mutter.“
„Sie war also eine Herumtreiberin?“
„Nein, du, höre nur zu, Freundchen. Als wir so immer noch fortfahren, Filka und ich, zu trinken, da kam eines Tages meine Mutter zu mir, ich aber lag auf dem Rücken. ‚Was liegst du, Elender,‘ sagt sie, ‚du Räuber, du Tagedieb!‘ Schimpft mich also. ‚Heirate doch,‘ sagt sie, ‚die Akulka ist jetzt zu haben, heirate sie. Die Alten werden froh sein, wenn sie noch einen wie du für sie bekommen. Und dreihundert Rubel geben sie allein in barem Geld.‘ Ich aber sage: ‚Aber sie ist doch jetzt,‘ sage ich, ‚vor der ganzen Welt entehrt!‘ – ‚Du Dummkopf,‘ sagt sie, ‚mit dem Kranz ist alles gutgemacht, und für dich ist es doch um so besser, wenn sie schuldig vor dir ist: Wir aber werden das Geld brauchen können. Ich habe schon,‘ sagt sie, ‚mit Marja Stepanowna gesprochen. Sie hörte mir sehr aufmerksam zu.‘ Ich aber sage: ‚Geld, zwanzig Rubel in Silber auf den Tisch, dann heirate ich.‘ – Und was glaubst du wohl: ich war in einem Strich bis zur Hochzeit besoffen. Und da kam noch Filka Morosoff mit seinen Drohungen:
‚Ich werde dir,‘ sagte er, ‚als Akulinas Mann, alle Rippen eindrücken und mit deinem Weibe, wenn ich nur will, jede Nacht zusammenschlafen.‘
Ich aber sage ihm: ‚Das lügst du, du Hund!‘ Da aber hat er mir auf offener Straße solche Schmach angetan, daß ich nach Hause ging und sagte: ‚Ich will nicht heiraten, wenn man mir nicht sofort noch fünfzig Rubel auf den Tisch legt!‘“
„Und man gab sie dir auch wirklich zum Weibe?“
„Mir? Weshalb sollte man nicht? Wir waren doch keine ehrlosen Leute. Mein Vater hatte erst in der letzten Zeit durch eine Feuersbrunst alles verloren, früher aber hatten wir noch reicher als sie gelebt. Ankudim sagte wohl: ‚Du hast nichts.‘ – Ich aber antwortete ihm: ‚Das schon, aber bei Euch hat man die Türpfosten mit Pech beschmiert.‘ – Er aber sagt: ‚Willst du jetzt noch großtun? Beweise du zuerst, daß sie unehrlich ist, allen Menschen kann man nicht den Mund zubinden. Hier ist Gott und dort ist die Tür,‘ sagt er, ‚du brauchst das Geld nicht zu nehmen. Nur mußt du das erhaltene zurückgeben.‘ Da machte ich denn mit Filka Morosoff ein Ende: ich ließ ihm durch Mitrij Bykoff sagen, daß ich ihn jetzt vor der ganzen Welt ehrlos machen würde, aber bis zur Hochzeit, mußt du wissen, war ich in einem Strich besoffen. Erst vor der Trauung erwachte ich. Als wir dann aus der Kirche wieder zurückgekommen waren und man uns hingesetzt hatte, da sagte Mitrofan Stepanytsch, also der Onkel:
‚Wenn es auch nicht ehrenhaft ist, so ist es doch fest, die Sache ist jetzt gemacht, vollzogen, und damit abgetan.‘
Der Alte, der Ankudim, war gleichfalls betrunken und weinte, saß auf seinem Stuhl, und die Tränen rollten ihm über die Backen in den Bart. Nun, ich aber, Freundchen, machte es damals so: ich steckte eine Knute in die Tasche, die ich schon vor der Trauung bereitgelegt hatte, und so beschloß ich denn, mich an der Akulka zu rächen, damit sie wußte, was das heißt, durch ehrlosen Betrug einen Mann zu bekommen, und damit auch die anderen erführen, daß ich sie nicht als Narr geheiratet hatte ...“
„Ganz recht! Damit sie es sich für nächstens merkt ...“
„Nein, Freundchen, du wart noch etwas und hör mich an. In unserer Gegend ist es Sitte, daß man sogleich von der Trauung ins Hochzeitsgemach geht, die anderen aber trinken inzwischen ruhig weiter. Und so ließ man denn uns beide allein im Hochzeitsgemach. Sie sitzt so bleich auf dem Bettrand, kein Blutstropfen im Gesicht. Das war die Angst, mußt du wissen. Ihr Haar war auch ganz wie Flachs so hell. Und ihre Augen waren blau und groß. Und immer schwieg sie, nie hörte man sie, ganz wie eine Stumme im Hause. Ganz wunderbar war sie. Aber was meinst du wohl, Freundchen, kannst du dir das denken: ich hatte doch schon die Knute vorbereitet und hier gleich neben dem Bett hingelegt, sie aber war, Freundchen, sie aber war, wie sich zeigte – vollkommen unschuldig vor mir.“
„Was!?“
„Ganz und gar. Wie jede andere Ehrenwerte aus ehrenwertem Hause. Aber nun sag du mir doch, Freundchen, wofür hatte sie nun nach alledem diese Qualen erduldet! Warum hatte denn der Filka Morosoff sie vor der ganzen Welt entehrt?“
„Da kniete ich denn vor ihr nieder, gleich dort vor dem Bett, faltete die Hände: ‚Täubchen,‘ sage ich, ‚Akulina Kudimowna, verzeih mir dummen Menschen, daß ich dich auch für so eine gehalten habe. Verzeih mir,‘ sage ich, ‚mir Elendem!‘ Sie aber sitzt vor mir auf dem Bett, sieht mich an, legt mir beide Hände auf die Schultern, lacht, aber dabei rollen ihr die Tränen über die Wangen; sie lacht und weint ... Wie ich da zu den anderen wieder hinausging, da sagte ich: ‚Begegnet mir jetzt noch einmal Filka Morosoff, so hat er zum längsten auf der Welt gelebt!‘ Die Alten aber wußten gar nicht mehr, wie sie noch beten sollten: die Mutter fiel ihr zu Füßen und schrie fast vor Schluchzen. Der Alte aber sagte: ‚Hätten wir es nur gewußt oder geahnt, so hätten wir dir, meine geliebte Tochter, einen ganz anderen Mann ausgesucht.‘ Und wie wir am nächsten Sonntag in die Kirche gingen, da trug ich eine schmucke Fellmütze, einen Rock aus feinem Tuch und Beinkleider in reichen Falten. Sie trug einen neuen Hasenpelz und ein seidenes Tüchlein. Siehst du, so gingen wir. Die Leute hatten ihre Freude an uns ...“
„Nun, schön.“
„Nun, aber höre nur weiter. Am nächsten Tage nach der Hochzeit lief ich von den Gästen fort, obschon ich betrunken war – riß mich aber los und lief. ‚Gebt ihn her, den Taugenichts Filka Morosoff, gebt ihn nur her, den Schuft!‘ so schrie ich, – schrie es auf dem Markt, mußt du wissen. Nun, ich war ja auch noch betrunken; da wurde ich denn nicht weit von Wlassoffs eingefangen und mit Gewalt von drei Mann nach Haus gebracht. Im ganzen Ort aber weiß man’s schon. Die Mädchen und Weiber auf dem Markt stecken die Köpfe zusammen: ‚Wißt ihr es schon, habt ihr es schon gehört? Die Akulka ist ja ganz unschuldig gewesen!‘ Filka aber sagte mir kurz darauf in Gegenwart von anderen, und sagt mir so: ‚Verkauf deine Frau, – wirst betrunken sein. Bei uns,‘ sagt er, ‚hatte der Soldat Jaschka nur deswegen geheiratet: bei seinem Weibe hat er nie geschlafen, dafür aber war er drei Jahre lang betrunken.‘ Ich sage ihm: ‚Du bist ein Schurke!‘
‚Du aber bist ein Dummkopf,‘ sagt er. ‚Man hat dich doch in betrunkenem Zustande verheiratet, was konntest du dann da beurteilen?‘
Ich kam nach Haus und schrie: ‚Ihr,‘ sage ich, ‚ihr habt mich betrunken mit ihr verheiratet!‘ Die Mutter wollte mich wohl noch bereden, ich aber sagte: ‚Dir sind die Ohren mit Gold vollgestopft, du hörst nichts anderes. Gib mal die Akulka her!‘ Nun, und dann fing das Prügeln an. Ich prügelte sie, mußt du wissen, ich prügelte sie zwei Stunden, bis ich selbst umfiel. Drei Wochen lag sie im Bett, ohne aufzustehen.“
„Es ist ja wahr,“ meinte Tscherewin phlegmatisch, „schlägst du sie nicht, so ... Hattest du sie denn mit einem Liebhaber überrascht?“
„Nein, das nicht,“ sagte nach einigem Schweigen und gleichsam sich überwindend Schischkoff. „Es kränkte mich aber doch gar zu sehr, daß die Menschen mich so beleidigen durften, und der Anstifter von allem war natürlich der Filka. ‚Deine Frau,‘ sagt er, ‚ist für dich nur ein Modell,‘ sagt er, ‚damit die Leute sie ansehen.‘ Und einmal feierte er wieder ein großes Fest und hatte auch mich zu Gast geladen, und da sagte er: ‚Seine Frau,‘ sagt er, ‚ist edelmütig und ehrerbietig, ist hübsch und freundlich, und jedermann beneidet ihn jetzt! Aber hast du schon vergessen, Bursche, wie du selbst ihre Tür mit Pech beschmiert hast?‘
Ich saß dort betrunken auf dem Stuhl, da faßte er mich an den Haaren und schüttelte mich und drückte mich nieder. ‚Tanz,‘ sagt er ‚Akulinas Mann, ich werde dich so an den Haaren halten, du aber tanz zu meiner Belustigung!‘
‚Ein Schurke bist du!‘ schreie ich.
Er aber sagt zu mir: ‚Ich werde mit meiner ganzen Horde zu Akulka fahren, zu deiner Frau, und sie in deiner Gegenwart mit Ruten prügeln, soviel ich will.‘ So fürchtete ich denn, glaub oder glaub mir nicht, einen ganzen Monat, das Haus zu verlassen: wenn er inzwischen kommt, dachte ich, und ihr und meinem Hause die Schande antut, – was dann? Und da fing ich denn an, sie zu prügeln ...“
„Wozu da prügeln! Hände kann man binden, von Zungen aber bindest du keine einzige. Viel schlagen taugt auch nicht. Bestrafe, belehre, dann aber sei auch wieder gut zu ihr. Dafür ist sie doch Weib.“
Schischkoff schwieg eine Zeitlang.
„Es kränkte mich,“ begann er dann von neuem, „und da wurde mir das Prügeln zur Gewohnheit: manchen Tag prügelte ich sie vom Morgen bis zum Abend. Schlage ich sie nicht, so ist es langweilig. Sie saß gewöhnlich am Fenster, sieht hinaus, schweigt, weint ... Immer weinte sie, sie tat mir wirklich leid, aber ich schlug sie. Meine Mutter schalt mich oft genug ihretwegen: ‚Ein Elender bist du,‘ sagt sie, ‚ein Zuchthausknecht!‘ – Ich aber schreie: ‚Ich werde sie totschlagen! und daß mir jetzt niemand was zu sagen wagt, denn man hat mich mit Betrug verheiratet!‘
Zuerst kam noch der alte Ankudim selbst: ‚Du bist doch nicht weiß Gott was für eine Persönlichkeit, daß man mit dir nicht fertig werden könnte, ich werde schon einen Richter finden, der dir anderes beibringen wird!‘ Dann aber ließ er es bleiben und kam nicht wieder. Marja Stepanowna aber war ganz still geworden. Einmal kam sie und bittet unter Tränen: ‚Ich bin mit einer Belästigung zu dir gekommen, Iwan Ssemjonytsch, sie ist nicht groß, aber die Bitte ist um so größer. Schenk uns Sonnenlicht und Freude,‘ sagt sie, verbeugt sich tief vor mir, ‚besänftige dich, verzeihe du ihr! Böse Menschen haben unsere einzige Tochter verleumdet, du aber weißt doch selbst, daß du ein unschuldiges Mädchen zum Weibe bekommen hast ...‘ Und sie verbeugt sich bis zur Erde vor mir, weint. Ich aber mache mich stolz: ‚Ich will euch alle überhaupt nicht anhören! Werde jetzt mit euch allen machen, was ich will, denn ich kann mich jetzt nicht beherrschen. Filka Morosoff aber,‘ sage ich, ‚ist mein Kamerad und bester Freund ...‘“
„Gingt also wieder beide durch?“
„Wo! Bei dem konnte man überhaupt nicht mehr ankommen! Sein eigen Hab und Gut hatte er bis aufs Letzte verpraßt und dann hatte er sich einem reichen Kleinbürger verkauft, um für dessen ältesten Sohn unter die Soldaten zu gehen. In unserer Gegend aber ist ein solcher bis zu dem Tage, wo er fortgeführt wird, der erste Herr im Hause dessen, für den er geht, dann muß dort alles vor ihm im Staube liegen, er aber ist unumschränkter Herr im Hause. Geld erhält er eine Menge, bis zum Abgang aber lebt er im Hause, lebt dort ein halbes Jahr womöglich, und wie er dann die Besitzer behandelt, das ist gar nicht auszureden, – bring nur die Heiligen hinaus! ‚Ich,‘ sagt er, ‚gehe, mußt du wissen, für deinen Sohn unter die Soldaten, folglich müßt ihr mich alle achten, oder sonst sage ich ab!‘ Und so lebte denn auch Filka großartig, schläft mit der Tochter, zieht den Hausherrn jeden Tag nach dem Essen am Bart, – alles nur zu seinem Vergnügen. Jeden Tag muß für ihn die Badestube geheizt werden und für den Dampf muß auf die heißen Ofensteine nicht Wasser, sondern Branntwein gegossen werden, und viel fehlte nicht, so hätte er noch verlangt, von den Badeweibern auf den Händen hineingetragen zu werden. Kommt er von einer Spazierfahrt zurück, so bleibt er auf der Straße stehen: ‚Ich will nicht durch das Hoftor, reißt den Zaun nieder!‘ sagt er, und so wird neben dem Hoftor der Zaun niedergerissen und dann erst spaziert er hinein. Endlich war die Zeit vorüber, er mußte unter die Soldaten. Eine Menge Volks begleitet ihn, die ganze Straße ist voll Menschen: Filka Morosoff fährt fort! Er aber grüßt nach allen Seiten. Akulka aber kam gerade aus dem Gemüsegarten zurück. Wie Filka sie erblickt – es war dicht vor unserem Hoftor, – da schreit er: ‚Halt!‘ springt aus dem Wagen, geht geradenwegs auf sie zu und verbeugt sich bis zur Erde vor ihr! ‚Du meine Seele,‘ sagt er, ‚mein Licht, zwei Jahre liebte ich dich, jetzt aber führt man mich mit Musik zu den Soldaten. Vergib mir,‘ sagt er, ‚du ehrenhafte Tochter eines ehrenhaften Vaters, denn ich Elender bin sündig vor dir, ich allein trage an allem die Schuld!‘ Und er verbeugt sich zum zweitenmal bis zur Erde vor ihr. Die Akulka aber stand zuerst ganz wie erstarrt, dann aber verneigte sie sich tief vor ihm und sagte: ‚Verzeih auch du mir, kühner Jüngling, doch habe ich nichts Böses von dir erfahren.‘
Ich ging ihr nach ins Haus: ‚Was hast du ihm gesagt, du Hündin?‘ Sie aber, glaub oder glaub mir nicht, sie sah mich nur an und sagte: ‚Ich liebe ihn jetzt mehr als mein Leben!‘“
„Sieh mal an! ...“
„Ich sprach an diesem Tage kein Wort zu ihr ... Erst am Abend sagte ich: ‚Akulka! Jetzt werde ich dich totschlagen,‘ sagte ich. In der Nacht fand ich keinen Schlaf, ging in den Flur und trank etwas Kwas. Es zeigte sich schon die Morgenröte am Himmel. Ich ging in die Stube zurück. ‚Akulka,‘ sage ich, ‚steh auf, wir müssen auf das Feld hinaus fahren.‘ Ich hatte auch früher schon davon gesprochen, daß ich hinfahren würde, die Mutter wußte es schon. ‚Das ist gut,‘ hatte sie gesagt, ‚jetzt ist Arbeitszeit, der Knecht aber soll dort schon den dritten Tag faulenzen.‘ Ich schirrte schweigend das Pferd an, sage kein Wort. Wenn man aus unserem Städtchen hinausfährt, so beginnt sogleich ein Fichtenwald, auf fünfzehn Werst zieht er sich hin, und hinter dem Walde lag unser Acker. Als wir so an drei Werst durch den Wald gefahren waren, hielt ich das Pferd an: ‚Steh auf, Akulina,‘ sage ich, ‚dein Ende ist gekommen.‘ Sie sah mich an und erschrak, stieg aus dem Wagen, steht, schweigt. ‚Ich habe dich satt,‘ sage ich, ‚bet zu Gott!‘ Und wie ich sie dann so an den Haaren erfaßte – ihre Zöpfe waren so lang und dick, wickelte sie mir um die Hand, – drückte sie hinterrücks nieder und klemmte sie zwischen die Knie, riß mein Messer hervor, bog ihr den Kopf zurück, und stieß ihr das Messer in die Kehle ... Wie sie da aufschrie und das Blut spritzte, da warf ich das Messer fort, umfing sie mit beiden Armen von vorn, warf mich mit ihr zur Erde, umklammerte sie und schrie über ihr, schrie und schrie; und sie schreit und ich schreie. Sie zittert und schlägt um sich, will sich von meinen Armen befreien, das Blut aber, das Blut – strömt mir über das Gesicht, über die Hände, es sprudelt nur so hervor, sprudelt nur so. Da überkam mich plötzlich Angst, ich ließ sie liegen, ließ das Pferd stehen, selbst aber lief ich, was ich laufen konnte, lief und lief, hinter den Gemüsegarten vorbei, und lief in unsere Badestube, wir hatten noch so eine alte, die nicht mehr benutzt wurde, die stand da am Hause: ich verkroch mich unter die Schwitzbänke und sitze da in einer Ecke. Bis zur Nacht saß ich dort.“
„Und die Akulka? Wie blieb’s denn mit der?“
„Sie aber muß wohl nach mir aufgestanden sein, um gleichfalls nach Haus zu gehen. Wenigstens hat man sie so hundert Schritt von jenem Ort gefunden.“
„Also hattest du nicht ganz durchgeschnitten.“
„Ja ...“ Schischkoff stockte einen Augenblick.
„Da ist so eine Ader,“ bemerkte Tscherewin, „wenn du sie, diese selbe Ader, nicht mit dem ersten Hieb durchschneidest, so lebt der Mensch immer noch weiter, und wieviel Blut auch herausfließt, der Mensch stirbt nicht.“
„Aber sie starb doch. Tot hatte man sie am Abend gefunden. Man machte sofort Anzeige davon, man fing an, mich zu suchen und fand mich noch vor der Nacht in der Badestube ... Jetzt ist es schon das vierte Jahr, daß ich hier lebe,“ fügte er nach kurzem Schweigen hinzu.
„Hm ... Es ist ja ... wahr: schlägt man nicht, – dann kommt auch nichts Gutes heraus,“ meinte ruhig und methodisch Tscherewin, indem er wieder das Horn hervorzog. Langsam und teilweise mit Unterbrechungen begann er seinen Tabak zu schnupfen. „Und andererseits wiederum,“ fuhr er fort, „bist du dabei doch ein großer Dummkopf gewesen, was man dir auch jetzt noch ansieht. Ich traf auch einmal mein Weib mit einem Liebhaber an. Da führte ich sie denn in den Schuppen, legte die Pferdeleine doppelt. ‚Wem,‘ fragte ich, ‚schwörst du nun Treue? Wem?‘ Und dann prügelte ich sie, prügelte, prügelte, mit der Pferdeleine nämlich, anderthalb Stunden, sie aber schrie: ‚Werde deine Füße waschen,‘ schrie sie, ‚und das Wasser nachher trinken.‘ Awdotja hieß sie.“
Doch schon ist es Frühling, wir sind im April und Ostern steht vor der Tür. Allmählich beginnen auch die Sommerarbeiten. Die Sonne wird mit jedem Tage wärmer und heller, die Luft duftet nach Frühling und hat eine starke Wirkung auf Körper und Seele. Die anbrechenden schönen Tage erregen auch den gefesselten Menschen und erwecken in ihm ein Wünschen, Streben und Sehnen. Ich glaube, bei hellem Sonnenschein verlangt es den Menschen noch viel mehr nach Freiheit, als an einem trüben Winter- oder Herbsttage, er trauert viel tiefer um das Verlorene: das ist mir an allen Gefangenen aufgefallen. Es ist, als freuten sie sich über die hellen Tage, gleichzeitig aber verstärkt sich in ihnen auch eine gewisse Ungeduld und Reizbarkeit. Ich habe bemerkt, daß es im Frühling viel öfter Streit im Ostrogg gab. Häufig hörte man Geschrei, Lärm, Gejohle, viel öfter kam es zu ausgelassenen Jugendstreichen. Dann aber bemerkte man bisweilen bei der Arbeit einen nachdenklichen, unverwandten Blick in die bläuliche Ferne, hinüber zum anderen Ufer des Irtysch, wo sich wie ein ausgebreitetes Tuch die freie kirgisische Steppe auf anderthalbtausend Werst hinzog; dann hörte man, wie jemand aufseufzte, tief, aus voller Brust, ganz als ziehe es ihn unwiderstehlich, diese ferne, freie Luft einzuatmen und dadurch seine bedrückte, gefesselte Seele zu erleichtern.
„Ach!“ seufzt dann plötzlich der Arrestant und macht sich, als hätte er mit einem energischen Entschluß das Träumen und Sehnen abgeschüttelt, ungeduldig und mürrisch wieder an die Arbeit, greift nach dem Spaten oder nach den Ziegeln, die von dem einen Ort nach dem andern zu tragen sind. Nach einer Minute hat er seine plötzliche Empfindung schon vergessen und lacht oder schimpft bereits, je nach seinem Charakter; oder er macht sich plötzlich mit ungewöhnlichem, ganz unpassendem Eifer an seine Arbeitsaufgabe, wenn er eine solche erhalten hat, und arbeitet mit Anstrengung aller Kräfte, ganz als wolle er durch die schwere Arbeit irgend etwas in sich erdrücken, was ihn von innen quält und beengt. Dieses ganze gefesselte, starke Volk stand größtenteils in der Blüte seiner Jahre und Kräfte ... Schwer sind die Fesseln in dieser Zeit! Ich will nichts übertreiben, ich will nur die Wahrheit sagen. Ganz abgesehen davon, daß in der Wärme, in der sonnigen Frühlingsluft – wenn man mit ganzer Seele, mit seinem ganzen Wesen die rings um einen mit unermeßlicher Kraft auferstehende Natur fühlt und sieht – das verschlossene Gefängnis, die ewige Eskorte und das beständige Leben nach fremdem Willen noch viel schwerer zu ertragen sind, – ganz abgesehen davon, beginnt doch in dieser Frühlingszeit schon mit der ersten Lerche in ganz Sibirien und ganz Rußland das Vagabundieren: dann entflieht auch so manch einer aus den Gefängnissen und flüchtet in den Wald. Dann schweifen sie, nach den dumpfen, engen Stuben, nach Strafen, Ketten und Stöcken, in der größten Freiheit überall umher, wo es ihnen besser gefällt und wo das Leben angenehmer ist. Sie essen und trinken, was sich gerade findet, was Gott schickt, und in der Nacht schlafen sie zufrieden irgendwo im Walde ein, oder auf freiem Felde, sorglos, frei, ohne die quälende Sehnsucht des Gefangenen, – wie die Waldvögel, nachdem sie nur den Sternen des Himmels gute Nacht gesagt haben, während Gottes Auge allein über sie wacht. Gewiß hat es mitunter auch sein Unangenehmes, bei „General Kukuschkin zu dienen“, da heißt es oft Hunger und Müdigkeit ertragen, oft sieht man in ganzen vierundzwanzig Stunden nichts Eßbares, vor jedem Menschen muß man sich verstecken, man muß stehlen und plündern und mitunter auch ermorden. „Der Ansiedler ist wie ein Kind, was er nur sieht, das nimmt er,“ sagt man in Sibirien. Dasselbe Sprichwort kann auch auf den Landstreicher angewandt werden. Selten ist er kein Räuber und fast immer ein Dieb. Allerdings stiehlt er mehr aus Notwendigkeit, als aus Beruf. Es gibt geradezu eingefleischte Landstreicher. Manch einer entläuft noch als Kolonist, wenn er die Ostroggjahre schon hinter sich hat. Man sollte meinen, er sei zufrieden und sichergestellt als Kolonist, aber nein! – es zieht ihn irgendwohin, es ruft ihn fort. Das Leben in den Wäldern, das arm und schwer, dafür aber frei und voll Abenteuer ist, hat etwas Bezauberndes, einen gleichsam geheimnisvollen Reiz für diejenigen, die ihn einmal empfunden haben. Und plötzlich ist ein Mensch fortgelaufen, nicht selten ein bescheidener, gewissenhafter Mann, der ein guter ansässiger Bürger und ein tüchtiger Arbeitsmann zu werden versprach. Manch einer heiratet sogar und zeugt Kinder, lebt seine fünf Jahre ruhig an ein und demselben Ort, bis er eines schönen Morgens, ganz plötzlich, verschwunden ist, Weib, Kinder und die ganze Gemeinde in Staunen und Verwunderung versetzend. Im Ostrogg machte man mich auf einen ähnlichen Flüchtling aufmerksam. Er hatte kein einziges namhaftes Verbrechen begangen, wenigstens hatte nie jemand etwas derartiges von ihm gehört, er war aber sein ganzes Leben lang Landstreicher gewesen. Er hatte im Süden Rußlands gelebt, war bis zur Donau gekommen, war im Kaukasus, in der kirgisischen Steppe und im Osten Sibiriens gewesen – überall. Wer weiß, vielleicht wäre aus ihm unter anderen Verhältnissen bei seiner Abenteuerlust ein zweiter Robinson Crusoe geworden. Übrigens wurde alles das von anderen über ihn erzählt, er selbst aber sprach wenig im Ostrogg, eigentlich nur das durchaus Notwendige. Es war das ein äußerst kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren, mit friedlichem Charakter, ungewöhnlich ruhigem und sogar stumpfem Gesichtsausdruck – stumpf bis zur Idiotie. Im Sommer saß er mit Vorliebe in der Sonne, um sich braten zu lassen, und unfehlbar summte er dann ein Liedchen vor sich hin, gewöhnlich aber so leise, daß es auf fünf Schritt nicht mehr zu hören war. Seine Gesichtszüge waren gleichsam hölzern, er aß wenig und fast nur Brot. Niemals kaufte er sich einen Kalatsch oder einen Schluck Branntwein, aber es ist auch kaum anzunehmen, daß er jemals Geld besaß und kaum dürfte er verstanden haben, zu zählen. Zu allem verhielt er sich unerschütterlich ruhig. Die kleinen Ostrogghunde fütterte er zuweilen aus der Hand, was sonst niemand bei uns tat ... Denn der Russe liebt es nicht, Hunde aus der Hand zu füttern. Es hieß, daß er verheiratet gewesen sei, sogar zweimal, daß er irgendwo auch Kinder habe ... Für welches Vergehen er in unseren Ostrogg gekommen war, vermag ich nicht zu sagen. Die anderen Sträflinge erwarteten immer, daß er entfliehen würde, aber entweder war seine Zeit noch nicht gekommen, oder er war schon zu alt geworden; jedenfalls lebte er beschaulich dahin, und verhielt sich etwas stumpf zu dieser ganzen sonderbaren Umgebung, in die er hineingeraten war. Übrigens kann man nicht dafür bürgen, daß er im Ostrogg blieb, obschon, sollte man meinen, keinerlei Berechnung für ihn darin gelegen hätte, zu entfliehen. Dennoch ist, im großen ganzen genommen, das freie Vagabundenleben im Walde und auf Wiesen im Vergleich zum Ostroggleben ein Paradies. Der Unterschied liegt ja so auf der Hand, daß von einem Vergleich überhaupt keine Rede sein kann. Wenn dieses Leben auch noch so schwer ist, so lebt der Mensch doch nach seinem eigenen freien Willen. Daher kommt es, daß in Rußland jeder Gefangene, wo er auch sein mag, im Frühling, sobald die ersten Lerchen erscheinen und die Tage wärmer werden, unruhig wird. Wenn auch längst nicht jeder von ihnen zu entfliehen beabsichtigt – ja man kann wohl sagen, daß infolge der vielen Schwierigkeiten und Gefahren nur einer vom Hundert sich dazu entschließt – so werden die neunundneunzig andern doch wenigstens davon träumen, wie und wohin man wohl entfliehen könnte, und sie trösten sich mit dem Wunsch, mit der bloßen Vorstellung der Möglichkeit. Manch einer erinnert sich vielleicht auch nur einer früher von ihm ausgeführten Flucht ... Ich rede jetzt nur von den bereits Verurteilten; die noch unter Anklage Stehenden entschließen sich viel eher, zu entfliehen, – die auf bestimmte Zeit Verurteilten dagegen höchstens zu Anfang ihrer Strafzeit. Denn hat der Arrestant schon zwei bis drei Jahre abgedient, so beschließt er bei sich, doch lieber die Strafzeit „gesetzlich abzuleben“ und zu den Ansiedlern geschickt zu werden, als daß er sich zu einem solchen Wagnis entschließt; er weiß, daß es ihm, wenn die Flucht mißlingt, bitter schlecht ergeht. Und das Mißlingen ist so leicht möglich. Höchstens einem von zehn gelingt es tatsächlich, „sein Schicksal zu wechseln“. Auch von den zu festgesetzter Strafzeit Verurteilten entschließen sich am ehesten diejenigen dazu, denen eine gar zu lange Strafzeit bevorsteht. Fünfzehn bis zwanzig Jahre erscheinen als Ewigkeit und daher ist der Betreffende immer geneigt, an eine Veränderung seines Geschickes zu denken, selbst wenn er auch schon zehn Jahre in der Kátorga gewesen ist und ihm nur noch die kleinere Hälfte bevorsteht. Hinzu kommt, daß auch die Brandmäler die Flucht teilweise noch aussichtsloser machen. Der technische Ausdruck für Flucht ist: „sein Schicksal wechseln“. So antwortet auch der auf der Flucht wieder eingefangene Sträfling, – daß er nur sein Schicksal habe wechseln wollen. Dieser etwas literarische Ausdruck ist tatsächlich die stehende Bezeichnung dafür. Jeder Flüchtling hat nicht so sehr im Auge, sich vollständig zu befreien – er weiß sehr wohl, daß das nicht so leicht ist –, als eben nur eine Veränderung seines Lebens herbeizuführen, gleichviel, ob er in ein anderes Gefängnis kommt, oder zu den Kolonisten, oder ob er wegen eines neuen Verbrechens – das er während des Vagabundierens begangen hat – von neuem verurteilt wird. Mit einem Wort: gleichviel wohin, nur fort aus dem Alten, Überdrüssigen, nur fort aus diesem Ostrogg.
Alle diese Flüchtlinge erscheinen, wenn sie im Laufe des Sommers nicht irgend einen geeigneten Aufenthaltsort zum Überwintern finden – wenn sie zum Beispiel nicht auf Jemanden stoßen, der einen Vorteil darin findet, sie zu beherbergen, oder schließlich, wenn sie sich keinen Paß verschaffen können, was nicht selten durch Mord geschieht – alle diese Entlaufenen erscheinen dann im Herbst, wenn sie nicht schon früher eingefangen sind, gewöhnlich in ganzen Scharen als Landstreicher in den Städten oder Festungen und Gefängnissen und kommen zum Überwintern in den Ostrogg, selbstverständlich in der Hoffnung, im Frühling wieder entfliehen zu können.
Der Frühling hatte auch auf mich seinen Einfluß. Ich weiß noch, wie sehnsüchtig ich durch die Spalten des Palissadenzaunes spähte und lange Zeit so stand, die Stirn an einen Pfahl gepreßt, und unverwandt, unersättlich auf unseren Festungswall schaute, wie dort das Gras grünte und wie der weite, weite Himmel mit jedem Tage ein tieferes Blau zeigte. Unruhe und Sehnen wuchs mit jedem neuen Tage in meiner Brust und der Ostrogg wurde mir immer verhaßter. Die Feindseligkeit der anderen, die ich als Adliger in diesen ersten Jahren ununterbrochen fühlen mußte, wurde mir unerträglich, sie vergiftete geradezu mein Leben. In diesen ersten Jahren ging ich oft, ohne krank zu sein, ins Lazarett, nur um nicht im Ostrogg zu bleiben, nur um mich von dieser ewigen, durch nichts aufzuhebenden allgemeinen Feindschaft zu erlösen. „Ihr Geier, ihr habt uns totgehackt,“ sagten die Arrestanten zu uns. Wie beneidete ich oftmals die Verbrecher aus dem Volke, die in den Ostrogg kamen! Diese waren im Augenblick mit allen befreundet. Und darum machte mich der Frühling traurig und reizbar.
Kurz vor Ostern – ich glaube, es war in der sechsten Fastenwoche – nahm ich das Abendmahl. Zu Beginn der Fasten war der ganze Ostrogg vom älteren Unteroffizier in sieben Abteilungen geteilt worden, nach der Zahl der Fastenwochen. In jeder Abteilung waren etwa dreißig Menschen. Die sechste Woche, in der ich zum Abendmahl ging, gefiel mir sehr. Die ganze Abteilung war dann von der Arbeit befreit, und wir gingen täglich zwei- oder dreimal in die Kirche, die nicht sehr weit vom Ostrogg lag. Lange war ich nicht mehr in einer Kirche gewesen. Der feierliche Gottesdienst, der einem noch aus der fernen Kindheit im Elternhause so gut erinnerlich war, die ernsten Gebete, die Hinknieenden, – alles das rief in meiner Seele längst, längst Vergangenes wach, erinnerte mich an Eindrücke der Kinderjahre, und ich weiß noch, wie wir uns freuten, wenn wir unter Eskorte mit geladenem Gewehr am Morgen über den vom Nachtfrost hartgefrorenen Boden ins Gotteshaus gingen. Die Eskorte ging übrigens nicht mit in die Kirche. Wir standen dort zusammengedrängt dicht bei der Tür, auf dem letzten Platz, von wo aus man nur die tiefe Stimme des Diakons hörte und hin und wieder den schwarzen Talar und das Silberhaar des Geistlichen sah. Ich dachte daran, wie ich früher als Kind zuweilen auf das am Eingang der Kirche zusammengedrängte Volk geschaut hatte, das vor dicken Epauletten zur Seite trat, oder vor einem wohlgenährten Herrn oder einer aufgeputzten, doch sehr frommen Dame, die alle unbedingt zur ersten Reihe strebten und auch dort noch jeden Augenblick bereit waren, um einen besseren Platz zu streiten. Damals hatte es mir geschienen, daß dort am Eingang anders gebetet wurde, als bei uns: dort betete man so still und andächtig, mit so aufrichtiger innerer Demut.
Jetzt stand ich selbst auf diesem Platze, ja nicht einmal auf diesem! Wir waren gefesselt und gebrandmarkt, uns mieden alle, und man fürchtete uns sogar. Jedesmal gab man uns Almosen, und ich weiß noch, wie mir das sogar gewissermaßen angenehm war, es lag eine gewisse verfeinerte, ganz besondere Empfindung in diesem eigenartigen Freudegefühl. „Mag es nur, mag es denn sein, wenn es einmal so ist!“ dachte ich. Die Sträflinge beteten andächtig und ein jeder von ihnen brachte jedesmal seine armselige Kopeke mit, sei es für ein Licht oder sei es für die Sammelbüchse. „Auch ich bin doch ein Mensch,“ dachte oder fühlte er vielleicht, wenn er seine kleine Münze hineinwarf, – „vor Gott sind alle gleich ...“ Das Abendmahl nahmen wir nach dem Frühgottesdienst. Als der Geistliche mit dem Kelch in der Hand die Worte sprach: „... und nimm mich auf wie den sündigen Verbrecher,“ – da knieten alle mit einemmal nieder, während die Ketten aufklirrten, denn ein jeder schien die Worte buchstäblich auf sich zu beziehen.
Und dann kam die heilige Osterwoche. Wir erhielten jeder ein Ei und ein Stück Weizenbrot. Aus der Stadt wurden wieder reiche Gaben geschickt. Wieder kam der Geistliche mit dem Kreuz, wieder erschienen die höchsten Vorgesetzten, wieder gab es fette Kohlsuppe und nachher Schlemmerei und Trunkenheit, ganz genau so wie am Weihnachtsfeste, nur mit dem einen Unterschied, daß man jetzt bereits auf dem Hof spazieren und sich im Sonnenschein wärmen konnte. Es war heller, freier, als im Winter, gleichzeitig aber auch wehmütiger. Wenn die Sehnsucht nur nicht so gequält hätte! Der lange, endlose Sommertag wurde als Feiertag noch ganz besonders lang und unerträglich. An den Werktagen wurde die Zeit doch wenigstens durch die Arbeit verkürzt.
Die Sommerarbeiten waren allerdings viel schwerer als die Winterarbeiten. Wir waren größtenteils bei den Militärbauten beschäftigt. Die Sträflinge bauten, gruben, mauerten; andere wiederum erhielten die Schlosser-, Tischler- und Malerarbeiten zugewiesen, oder was sonst bei den Aufbesserungsarbeiten erforderlich war. Wieder andere gingen in die Ziegelbrennerei, um Ziegel zu formen. Diese letztere Arbeit wurde bei uns für die schwerste gehalten. Die Ziegelei lag von der Festung drei bis vier Werst entfernt. Im Sommer begab sich täglich ein Trupp von nahe fünfzig Mann schon um sechs Uhr morgens dorthin. Zu dieser Arbeit wurden die sogenannten „Schwarzarbeiter“ bestimmt, d. h. die Nichthandwerker, die nicht in den Werkstätten beschäftigt waren. Sie nahmen ihr Brot mit, da sie wegen der größeren Entfernung zum Mittagessen nicht in den Ostrogg zurückkehrten, was einen Marsch von acht Werst erforderte, und so erhielten sie ihr Mittagessen erst am Abend. Die Aufgaben aber wurden für den ganzen Tag gegeben, und zwar waren sie gewöhnlich so groß, daß der Arbeiter kaum mit ihnen fertig werden konnte, selbst wenn er ununterbrochen arbeitete. Zuerst mußte man den Lehm graben und aus der Grube herauskarren, dann mußte das Wasser herangeschleppt, der Lehm getreten werden, und dann hatte ein jeder, wenn ich nicht irre, noch ganze zweihundert oder gar zweihundertundfünfzig Ziegel zu formen. Ich bin im Ganzen nur zweimal in der Ziegelei gewesen. Die Ziegler kehrten erst am Abend zurück, müde, abgequält, und den ganzen Sommer warfen sie den anderen vor, daß sie die schwerste Arbeit hatten. Das schien noch ihr Trost zu sein und sie einigermaßen zu beruhigen. Nichtsdestoweniger gingen viele ganz gern dorthin: die Ziegelei lag hinter der Stadt, dicht am Irtysch, man konnte freie Landschaft sehen, Wälder und Menschen. Es war dort doch immerhin freundlicher, freier, – nicht ewig Festung und Beamte! Man konnte sogar freier rauchen und schließlich auch ein halbes Stündchen liegen und sich erholen. Ich aber wurde nach wie vor in die Werkstätten geschickt, oder zur Alabasterhütte, oder man brauchte mich als Ziegelträger bei den Bauten. Einmal mußten wir die Ziegel vom Ufer des Irtysch bis zu einer Kaserne, die neu aufgebaut wurde, etwa siebzig Faden weit und dann noch über den Festungswall schleppen, und diese Arbeit dauerte ununterbrochen zwei ganze Monate. Mir aber gefiel sie, obgleich die fingerdicke Schnur, mit der man die Steine trug, mir immer die Schultern wund rieb. Aber trotzdem gefiel sie mir, denn ich fühlte, wie meine Kräfte sich entwickelten. Zuerst konnte ich kaum acht Ziegel tragen, von denen jeder bis zwölf Pfund wog, zuguterletzt aber trug ich zwölf bis fünfzehn Ziegel, und das freute mich nicht wenig. In der Kátorga bedurfte man der physischen Kraft nicht weniger als der moralischen, um alle materiellen Unannehmlichkeiten dieses Lebens ertragen zu können.
Und ich wollte doch auch nach dem Ostrogg noch leben ...
Übrigens schleppte ich die Ziegel nicht nur aus dem Grunde gern, weil ich dadurch meinen Körper stärkte, sondern auch noch deshalb, weil man dann an das Ufer des Irtysch kam. Ich komme so oft auf dieses Ufer zu sprechen, weil wir einzig von ihm aus die freie Welt Gottes sehen konnten, die reine, klare Ferne, die sauberen, freien Steppen, die durch ihre Öde einen eigentümlichen Eindruck auf mich machten. Am Flußufer brauchte man nur den Rücken zur Festung zu kehren, und man sah sie nicht mehr, man konnte sie gänzlich vergessen. Alle übrigen Arbeitsplätze lagen dagegen in der Festung oder in ihrer nächsten Nähe. Ich aber haßte diese Festung schon vom ersten Tage an und besonders einige Gebäude. Das Haus unseres Platzmajors schien mir geradezu verflucht und ekelhaft, und jedesmal überkam mich wilder Haß, wenn ich an ihm vorüberging. Am Flußufer aber konnte man die ganze Gegenwart vergessen: da bleibt man denn zuweilen stehen und schaut in die unermeßliche Weite, und Gefühle bewegen die Brust, wie sie nur ein Gefangener empfinden kann, der durch das vergitterte Fenster seiner Zelle in die Freiheit hinausschaut. Hier war mir alles teuer und lieb: die helle heiße Sonne am bodenlosen blauen Himmel, das ferne Lied eines Kirgisen, das vom kirgisischen Ufer herübertönt. Da sieht man dann wohl schärfer hin, bis man endlich ein kleines, verräuchertes Nomadenzelt entdeckt, aus dem ein dünner, kaum wahrnehmbarer Rauch emporsteigt, und neben ihm eine Kirgisin, die dort bei ihren zwei Schafen arbeitet. Alles ist arm und wild, aber es ist frei! Oder man erblickt einen Vogel in der blauen, klaren Luft und lange, lange folgt mein Blick seinem Fluge: da fliegt er niedrig über dem Wasser, da – ein paar stärkere Flügelschläge, und er schwingt sich empor, hoch in die Luft, bald sieht man ihn nur noch wie einen Punkt am blauen Himmel, bald verschwindet er ganz, dann ist er wieder wie ein Punkt im Blau ... Selbst die armselige, verkümmerte Feldblume, die ich an einem Frühlingstage in einem Spalt des steinigten Ufers fand, selbst die erregte in fast krankhafter Weise meine Aufmerksamkeit. Die Qual des ganzen ersten Jahres meiner Kátorga war unerträglich und wirkte aufreibend auf Geist und Körper, – sie war zu bitter. So kam es denn auch, daß ich in diesem ersten Jahr infolge der eigenen Schmerzen vieles nicht wahrnahm, was um mich herum war. Ich schloß die Augen und wollte mich nicht hineinsehen in die Dinge. Daher bemerkte ich auch unter den bösen, gehässigen Arbeitsgenossen nicht die guten Menschen, – Menschen, die sogar fähig waren, zu denken und zu fühlen, trotz der ganzen abstoßenden Schale, die ihr Inneres verbarg. Unter all den boshaften Bemerkungen überhörte ich ganz die freundlichen und guten Worte, die um so wertvoller waren, als hier ohne alle äußeren Rücksichten gesprochen wurde, und nicht selten direkt aus der Seele heraus, – aus einer Seele, die vielleicht viel mehr als ich gelitten und durchgemacht hatte. Doch wozu sich darüber so ausführlich verbreiten.
Es freute mich sehr, wenn die Arbeit mich recht müde machte: dann konnte ich hoffen, am Abend bald einzuschlafen. Das Schlafen war im Sommer eine wahre Qual, fast noch schlimmer, als im Winter. Die Abende waren zuweilen wundervoll. Die Sonne, die den ganzen Tag grell auf den Ostrogghof schien, ging dann endlich unter. Es kam die Abendkühle und bald darauf die – im Verhältnis zum Tage – fast kalte Steppennacht. Die Arrestanten gingen gewöhnlich, bevor sie eingeschlossen wurden, in großen Scharen auf dem Hof umher. Die meisten wurden allerdings von der Küche angezogen. Dort gibt es immer eine besondere, höchst aktuelle Ostroggfrage zu besprechen, da wird über dies und jenes diskutiert, nicht selten wird ein vages Gerücht kritisch auf seine Wahrheitsmöglichkeit hin untersucht, wenn es auch nicht selten die größte Ungereimtheit ist, doch nichtsdestoweniger erregt sie mächtig das Interesse dieser von der Welt abgeschiedenen Menschen. So zum Beispiel verbreitete sich einmal das Gerücht, daß unser Platzmajor abgesetzt werden würde. Die Sträflinge sind natürlich leichtgläubig wie Kinder. Sie wissen ja alle, daß die Nachricht völlig aus der Luft gegriffen, daß sie von einem bekannten Schwätzer und „unsinnigen“ Menschen verbreitet worden ist, – von dem Sträfling Kwassoff, dem nie mehr zu glauben man schon nach längst gefaßtem Beschluß sich vorgenommen hat, da er außer Lügen überhaupt nichts zu sprechen versteht. Doch ungeachtet aller guten Vorsätze, ist doch ein jeder ganz Ohr, man spricht hin und her, meint dieses und jenes, schmückt die Sache noch aus, – kurz, man ist damit beschäftigt, und es endet damit, daß alle sich über sich selbst ärgern, denn im Grunde schämt man sich, daß man dem Kwassoff doch wieder geglaubt hat.
„Wer wird denn den fortjagen!“ meint einer, „der hat einen festen Nacken, wird schon standhalten!“
„Als ob er nicht auch Vorgesetzte hat, die über ihm stehen!“ mischt sich ein anderer ein, ein hitziger und nicht dummer Bursche, der in der Welt schon etwas gesehen hat, dabei aber streitsüchtig ist, wie selten einer.
„Ein Rabe wird dem anderen nicht die Augen aushacken!“ bemerkt mürrisch, gleichsam nur für sich, ein dritter, ein älterer, bereits ergrauter Mann, der einsam in der Ecke seine Kohlsuppe löffelt.
„Und diese Vorgesetzten werden gerade kommen, um dich um Rat zu fragen, ob sie ihn absetzen sollen oder nicht?“ fragt gleichmütig ein vierter den zweiten, während er leicht mit den Fingerspitzen über die Saiten seiner Balalaika fährt.
„Und warum sollten sie mich denn nicht fragen?“ greift hitzig der zweite auf, „das heißt doch soviel, daß wir alle darum bitten, nur müssen dann auch alle das Maul auftun, wenn man uns zu fragen beginnt. Gewöhnlich wird aber bei uns nur vorher geschrien, und wenn es dann zur Tat kommt, dann hat keiner einen Ton!“
„Was erwartest du denn eigentlich?“ fragt der Balalaikaspieler. „Dafür sind wir hier in der Kátorga.“
„Vor kurzem aber,“ fährt der Streitsüchtige fort, ohne auf den anderen zu hören, „vor kurzem war noch beim Brotbacken etwas Mehl nachgeblieben, man kratzte noch alles zusammen, was hier und da verstreut war, und schickte es fort zum Verkauf. Aber nein! Er erfuhr es, der Markthelfer hatte es erfahren, ihm sofort hinterbracht, und das Mehl wurde weggenommen! Das ist nun Ökonomie, wie man sagt. Ist es aber auch Gerechtigkeit?“
„Aber bei wem willst du dich denn beklagen?“
„Bei wem? Beim Levisor selber, der da kommt!“ – Im Ostrogg sagte man allgemein Levisor statt Revisor.
„Was für einen Levisor?“
„Ja, das ist wahr, ich habe es auch gehört, daß ein Levisor kommt,“ bemerkte ein junger aufgeweckter Bursche, der einmal „die Herzogin von Lavallière“ oder so etwas Ähnliches gelesen hatte und früher Schreiber gewesen war. Er ist stets heiter und ein echter Spaßvogel, und wird vor allem wegen seiner Kenntnisse geachtet. Ohne das allgemein lebhaft erweckte Interesse für den verheißenen Revisor auch nur im Geringsten zu beachten, geht er seelenruhig zur Köchin, oder vielmehr zum Koch, und sagt ihm, er möge ihm ein Stück Leber geben. Unsere Köchinnen handelten oft mit solchen Sachen. Sie kauften für ihr Geld ein großes Stück Fleisch oder Leber, brieten es regelrecht und verkauften es dann den Sträflingen in kleinen Stücken.
„Für zwei oder vier Kopeken?“ fragt die Köchin.
„Schneid mal für vier: mögen einen die Leute beneiden,“ antwortet der junge Sträfling. „Ja, was ich sagen wollte ... es kommt nämlich wirklich ein General aus Petersburg hergefahren, der ganz Sibirien besichtigen wird. Das ist wahr. Man sprach davon beim Kommandeur in der Vorstube, habe selbst gehört.“
Die Nachricht verursachte ungeheuere Aufregung. Wohl eine Viertelstunde dauert das Fragen an: wer das, was für ein General, welchen Ranges, ob er über dem hiesigen stehe? Überhaupt sprechen die Sträflinge mit besonderer Vorliebe über die verschiedenen Rangstufen der Vorgesetzten: wer von ihnen der höhere ist, wer dem anderen befehlen kann, und wem er selbst gehorchen muß, ja sie streiten sogar und beschimpfen sich gegenseitig wegen irgend eines Generals, und viel fehlt nicht, so würden sie sich noch seinetwegen prügeln. Man fragt sich wohl verwundert, was sie davon haben? Nun, die Sache ist die, daß nach der Kenntnis von Generälen und überhaupt der höheren Vorgesetzten der Bildungs- und Verstandsgrad, sowie die ganze Bedeutung und Stellung des Menschen in seinem früheren Leben, bevor er in den Ostrogg kam, beurteilt wird. Tatsächlich werden im Ostrogg Gespräche über die höheren Vorgesetzten für die vornehmste und bedeutendste Unterhaltung angesehen.
„Da seht ihr jetzt, Brüder, daß ich euch die wahrste Wahrheit gesagt habe, daß man hergefahren kommt, um unseren Platzmajor zu wirbeln!“ triumphiert Kwassoff, ein kleines, rotwangiges, lebhaftes und äußerst unverständiges Kerlchen.
„Der wird ihn schon mit Schmiergeldern weich schmieren, da sei du unbesorgt!“ meint der mürrische alte Sträfling, der inzwischen seine Kohlsuppe verzehrt hat.
„Na, versteht sich!“ meint ein anderer. „Als ob der hier wenig Geld zusammengeräubert hätte! Als ich herkam, war er erst noch Bataillonschef. Und vor kurzem wollte er ja noch die Tochter des Popen heiraten.“
„Aber er hat sie doch nicht geheiratet: man hat ihn einfach vor die Tür gesetzt – zu arm. Und was ist er denn für ein Bräutigam! Zu Ostern hat er alles verspielt. Fedjka erzählte es selbst.“
„Ja, der Junge ist zwar kein Verschwender, aber das Geld wird doch nicht warm bei ihm.“
„Ach, Bruder, auch ich war mal verheiratet. Schlimm genug ist es für einen Armen, zu heiraten: eh du dich dessen versiehst, ist die Nacht vergangen!“ mischt sich nun auch Skuratoff ein, der bis dahin nur zugehört hat.
„Glaub’s schon! Von dir ist ja hier gerade die Rede,“ bemerkte der lustige Bursch, der früher Schreiber gewesen war. „Du aber, Kwassoff, bist ein großer Dummkopf, das laß dir gesagt sein. Glaubst du denn wirklich, daß unser Major einen solchen General bestechen könnte, und daß ein General extra deswegen herkommen wird, um unseren Major zu wirbeln? Dumm bist du, mein Lieber.“
„Wieso? Glaubst du, daß ein General nicht mehr nimmt?“ fragt skeptisch jemand aus der Gruppe.
„Selbstverständlich nimmt er nicht, wenn er aber nimmt, dann nimmt er nicht wenig.“
„Na natürlich nicht wenig! Immer dem Rang gemäß.“
„Ein General nimmt immer!“ behauptet Kwassoff entschieden.
„Hast du ihm denn schon einmal was gegeben?“ fragt verächtlich der soeben eingetretene Bakluschin. „Du hast wohl höchstwahrscheinlich einen General überhaupt noch nicht gesehen!“
„Doch! Gewiß habe ich gesehen!“
„Das lügst du natürlich.“
„Du lügst selber.“
„Kinder, wenn er einen gesehen hat, so soll er sofort sagen, welch einen General er gesehen hat! Nun, sag mal jetzt, denn ich kenne alle Generäle.“
„Ich habe den General Siebert gesehen,“ antwortet Kwassoff etwas unsicher.
„Siebert? Einen solchen General gibt es überhaupt nicht. Den hast du wohl nur einmal von hinten gesehen, diesen Siebert, als er vielleicht erst Oberstleutnant war, und da schien dir vor Schreck, daß es ein General wäre.“
„Nein, ihr, hört mich an,“ schreit Skuratoff dazwischen, „denn seht, ich bin doch ein verheirateter Mensch. Es gab nämlich wirklich solch einen General in Moskau, Siebert, einer von den Deutschen, aber von russischer Mutter. Der ging jedes Jahr zum russischen Popen, um seine Sünden bezüglich der Damen zu beichten, und immer, wißt ihr, trank er Wasser, ganz wie eine Ente. Jeden Herrgottstag vierzig Glas echtes Moskauer Flußwasser soff er aus. Man sagte, daß er sich durch Wasser von irgend einer Krankheit da kurierte. Sein Kammerdiener hat es mir selbst erzählt.“
„Der hat dann wohl im Magen Karauschen in Flußwasser gezüchtet?“ meint der Sträfling mit der Balalaika.
„Na, hört jetzt auf! Hier handelt es sich um eine ernste Sache, ihr aber ... Was ist denn das für ein Levisor, Brüder?“ fragt besorgt Martynoff, ein alter, stets sehr beschäftigter Arrestant, – ein ehemaliger Husar.
„Weiß Gott, die Bande kann mal was zusammenlügen!“ meint ein alter Skeptiker. „Und woher sie alles das nur nehmen, und was sie daraus herausdrehen! Daß sie das gar nicht müde macht! – dieser ewige Unsinn!“
„Nein, diesmal ist es kein Unsinn,“ sagt dogmatisch ein gewisser Kulikoff, der bis dahin geschwiegen hat. Er ist ein gewichtiger Mann von nahezu fünfzig Jahren, mit einem auffallend wohlgeformten Gesicht und einem gewissermaßen verächtlich erhabenen Auftreten, dessen er sich vollkommen bewußt und auf das er sogar stolz ist. Er hat zum Teil Zigeunerblut in den Adern, ist „Tierarzt“ und verdient sich als solcher in der Stadt gutes Geld. Im Ostrogg handelt er mit Branntwein. Er ist ein kluger Kopf und hat viel gesehen. Jedes Wort spricht er, als würde er damit etwas Großes verschenken.
„Es ist wirklich wahr,“ fährt er ruhig fort, „ich habe es schon in der vorigen Woche gehört: ein General kommt her, einer der höchsten, und wird ganz Sibirien besichtigen. Gewiß wird man auch ihn bestechen, nur wird es nicht unser Achtäugiger tun: der darf überhaupt nicht wagen, ihm viel unter die Augen zu kommen. Aber auch zwischen General und General ist ein Unterschied. Es gibt ihrer sehr verschiedene. Nur sage ich euch, daß unser Major jedenfalls auf seinem Platz bleiben wird. Das ist sicher. Wir sind ein stummgemachtes Volk und von den Vorgesetzten kann man annehmen, daß der eine nicht den anderen angeben wird. Der Revisor wird nur einen Blick in den Ostrogg werfen und später melden, daß alles sehr gut gewesen sei ...“
„Das kann schon wahr sein, Brüder, denn der Major scheint Angst gekriegt zu haben, ist seit dem Morgen besoffen.“
„Und am Abend kommt die zweite Fuhre. Fedjka sagte so vorhin.“
„Einen Mohr wirst du nicht weiß waschen. Ist es denn das erstemal, daß er besoffen ist?“
„Nein, aber ... was soll denn das heißen, wenn auch der General nichts kann!“ – „Nein, das müßte doch endlich aufhören, daß man ewig ihre Dummheiten mitmacht!“ hört man die Sträflinge erregt untereinander sprechen.
Die Nachricht von dem Revisor verbreitet sich mit Blitzesschnelle im ganzen Ostrogg. Der Hof wimmelt von Menschen, die erregt einander die Neuigkeit mitteilen. Andere wiederum schweigen absichtlich und bewahren ihre Kaltblütigkeit, wodurch sie sich augenscheinlich größere Würde zu verleihen glauben. Wieder andere verhalten sich völlig gleichgültig. Auf den Treppenstufen vor den Kasernentüren setzen sich die Balalaikaspieler hin. Einige fahren noch fort zu reden, einige stimmen Lieder an, doch alle sind sie an diesem Abend in äußerst angeregter Stimmung.
Um zehn Uhr fand gewöhnlich die Zählung statt, dann wurden wir in die Kasernen getrieben und für die Nacht eingeschlossen. Die Nächte waren kurz: um fünf Uhr wurden wir geweckt, schliefen aber nie vor elf ein. Bis dahin wurde immer noch gesprochen und geschwatzt und zuweilen wurde in einer Ecke ganz wie im Winter Karten gespielt. In der Nacht nun wurde die schwüle Hitze unerträglich. Trotz der halboffenen Fenster, durch die die Nachtkühle hereindrang, wälzten sich doch alle schlaflos auf den Pritschen, als hätten sie Fieber gehabt. Die Flöhe wimmelten in Myriaden. Wir hatten sie auch im Winter gehabt, und zwar in genügender Anzahl, seit dem Frühling aber vermehrten sie sich in einem Maße, wie ich es trotz aller Versicherungen nicht glauben würde, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. Und je mehr der Sommer vorrückte, um so schlimmer wurde die Plage. Es ist wahr, man kann sich auch an Flöhe gewöhnen, das habe ich an mir selbst erfahren, aber es ist doch schwer, es soweit zu bringen. Sie können einen dermaßen peinigen, daß man schließlich wie im Fieber liegt und fühlt, daß man ja doch nicht schläft, sondern nur deliriert. Wenn dann endlich kurz vor Tagesanbruch die Flöhe sich etwas beruhigen und man in der Morgenkühle, wie man meint, tatsächlich einschläft – da ertönt dann plötzlich erbarmungslos der Trommelwirbel vom Tore her. Mit einem Fluch hört man, sich fester in seinen Halbpelz wickelnd, die deutlichen, fast einzelnen Schläge, ja man scheint sie förmlich zu zählen, während noch im Halbschlaf der unerträgliche Gedanke einem in den Sinn schleicht, daß es auch morgen und auch übermorgen, und noch viele Jahre so sein wird, bis endlich, endlich die Freiheit kommt. Aber wann wird das sein, denkt man unwillkürlich, wann kommt diese Freiheit und wo ist sie? ... Doch jetzt heißt es erwachen und aufstehen! Wieder beginnt das tägliche Gedränge, Waschen, Gehen ... Die Sträflinge kleiden sich an, eilen zur Arbeit. Schließlich tröstet man sich damit, daß man ja noch zur Mittagszeit etwas schlafen kann.
Was man von dem Revisor erzählt hatte, beruhte tatsächlich auf Wahrheit. Mit jedem Tage bestätigten sich die Gerüchte immer mehr, bis man schließlich mit Sicherheit erfuhr, daß ein „bedeutender“ General aus Petersburg abgefahren war, um ganz Sibirien zu inspizieren, und es hieß sogar, daß er bereits in Tobolsk angekommen sei. Täglich verbreiteten sich neue Gerüchte im Ostrogg. So hörten wir aus der Stadt, daß sämtliche Beamte von Furcht befallen und eifrig bemüht seien, alles in bestem Zustande zu präsentieren. Es hieß, daß man in den höheren Kreisen Vorbereitungen treffe zu Empfangsdiners, Bällen und Festen. Die Sträflinge wurden in Scharen ausgesandt, um die Wege in der Festung zu ebnen, Erdhaufen abzutragen, Zäune und Wegpfosten anzustreichen, hier und da schadhafte Stellen auszuflicken, – mit einem Wort, man wollte alles, was er besichtigen könnte, im Augenblick verbessern. Die Sträflinge begriffen sehr wohl, um was es sich handelte, und diskutierten immer eifriger und hitziger über das Bevorstehende. Ihre Phantasie wuchs ins Kolossale. Sie beschlossen sogar „Ansprüche zu erheben“, wie sie sagten, falls der General fragen sollte, ob sie mit allem zufrieden wären. Sie stritten beständig unter sich und schimpften sich gegenseitig wegen der zu erwartenden Dinge. Unser Platzmajor befand sich in großer Aufregung. Er kam öfter in den Ostrogg, schrie noch mehr, stürzte häufiger auf die Einzelnen los, versammelte die Sträflinge vor der Hauptwache und hielt jetzt streng auf Sauberkeit und Ordnung.
Wie mit Absicht sollte es im Ostrogg gerade in dieser Zeit zu einem kleinen Zwischenfall kommen, der aber den Major nicht, wie man meinen sollte, ärgerte, sondern im Gegenteil, er schien ihm sogar ein gewisses Vergnügen zu bereiten: Bei einer Prügelei stieß ein Sträfling dem anderen seinen Pfriem in die Brust, ein wenig unterhalb des Herzens.
Der Sträfling, der gestochen hatte, hieß Lomoff; der Gestochene wurde bei uns Gawrilka genannt und war ein eingefleischter Landstreicher. Ich weiß nicht, ob er überhaupt einen Familiennamen besaß.
Lomoff war früher ein wohlhabender t–scher Bauer im K–schen Kreise gewesen. Alle Lomoffs hatten zusammengelebt, wie eine einzige Familie: der alte Vater, seine drei Söhne und deren Onkel, gleichfalls ein Lomoff. Sie waren reiche Bauern gewesen; man hatte im ganzen Gouvernement davon gesprochen, daß sie an dreihunderttausend Rubel in Papieren besaßen. Sie hatten Ackerbau getrieben, Felle bearbeitet, gehandelt, doch die Haupteinnahme soll ihnen ihr Wuchergeschäft, ferner das Verstecken und Verhehlen von gestohlenem Eigentum eingetragen haben. Ungefähr die Hälfte der Bauern des ganzen Kreises schuldete ihnen und war von ihnen abhängig. Sie waren als kluge und schlaue Leute bekannt, schließlich aber wurden sie hochmütig, besonders nachdem eine daselbst sehr angesehene, hochgestellte Persönlichkeit auf der Reise bei ihnen abgestiegen, mit dem Alten persönlich bekannt geworden war und wegen seines Scharfsinns und seines Verständnisses für Alles Gefallen an ihm gefunden hatte. Da glaubten sie plötzlich, daß ihnen niemand mehr etwas anhaben könne und wagten immer mehr in ihren verschiedenen, gesetzwidrigen Unternehmungen. Alle murrten über sie und wünschten, daß sie von ihrer Höhe herabstürzten, sie aber trugen ihre Nasen immer noch höher. Kreisrichter und Assessoren wurden von ihnen bald überhaupt nicht mehr angesehen. Endlich aber kam es doch zum Sturz, doch nicht wegen ihrer heimlichen Gesetzwidrigkeiten, sondern wegen einer Sache, an der sie völlig unschuldig waren. Zehn Werst von ihrem Dorf besaßen sie einen großen Meierhof und dort lebten einmal im Herbst ihre sechs kirgisischen Arbeiter, denen sie noch den Lohn schuldeten. In einer Nacht nun waren alle sechs Kirgisen erdrosselt worden. Jetzt begann die Untersuchung, die sich lange hinzog, und im Verlauf derselben wurden noch viele schlimme Sachen aufgedeckt. Man klagte die Lomoffs der Ermordung ihrer sechs Arbeiter an. So erzählten es die Lomoffs selbst und der ganze Ostrogg wußte es schon. Es lag der Verdacht vor, daß sie ihren Arbeitern eine gar zu große Summe schuldig gewesen waren: und bei ihrem Geiz und ihrer Geldgier – zwei Dinge, die man ihnen trotz ihres großen Vermögens mit Recht vorwerfen konnte – hätten sie die Kirgisen beseitigt, um den Arbeitslohn zu sparen. Während ihrer Untersuchungshaft verloren sie ihr ganzes Vermögen. Der Alte starb, die Söhne wurden verschickt. Der eine Sohn und der Onkel waren auf zwölf Jahre in unseren Ostrogg gekommen. Was aber stellte sich schließlich heraus? Sie waren am Tode der Kirgisen vollkommen unschuldig. Hier bei uns nämlich gab es einen Gawrilka, einen bekannten Spitzbuben und Landstreicher – er war ein gewandter, lustiger Bursch –, der ruhig seine Täterschaft eingestand. Übrigens weiß ich nicht, ob er es wirklich selbst einmal zugegeben, jedenfalls aber war der ganze Ostrogg fest überzeugt, daß er die Kirgisen auf dem Gewissen hatte. Gawrilka war bereits als Landstreicher auf die Lomoffs nicht gut zu sprechen gewesen, und später war er nur auf kurze Zeit in den Ostrogg gekommen, als entlaufener Soldat und Vagabund. Die sechs Kirgisen hatte er in Gemeinschaft mit drei anderen Landstreichern umgebracht. Sie hatten gehofft, auf dem Meierhof gut leben und viel rauben zu können.
Die Lomoffs wurden bei uns nicht geliebt; einen Grund hierfür vermag ich nicht anzugeben. Der eine von ihnen war ein kluger junger Bursche mit gutem Charakter, sein Onkel aber, der den Gawrilka mit dem Pfriem gestochen hatte, war ein dummer und einfältiger Bauer. Er hatte schon oft mit anderen Streit gehabt und man hatte ihn auch genug dafür geprügelt. Gawrilka dagegen hatten alle wegen seines heiteren und ausgeglichenen Charakters gern. Zwar wußten die Lomoffs, daß sie für sein Verbrechen verurteilt waren, lebten aber trotzdem in Frieden mit ihm. Freilich kamen sie nicht viel in Berührung miteinander. Gawrilka aber beachtete sie gar nicht. Und da war es nun plötzlich zwischen ihm und dem Onkel Lomoff wegen eines äußerst widerlichen Mädchens zu einem Streit gekommen. Gawrilka hatte sich mit ihrer Gunst gebrüstet, der Alte war eifersüchtig geworden und an einem wunderschönen Tage um die Mittagszeit stach er ihn mit dem Pfriem.
Obschon die Lomoffs während des Prozesses ihr Vermögen verloren hatten, lebten sie im Ostrogg doch als reiche Leute. Sie hatten offenbar Geld, besaßen einen Ssamowar, tranken Tee. Unser Major wußte, daß sie Mittel hatten, und haßte sie über alle Maßen. Es fiel allen auf, daß er ihnen bei jeder Gelegenheit etwas anzuhaken suchte und sie gern auf einem Vergehen ertappt hätte, was die Lomoffs damit erklärten, daß er von ihnen Geld zur Beschwichtigung erwarte, sie aber ihm nichts gaben.
Hätte Lomoff den Pfriem tief hineingestoßen, so wäre Gawrilka gestorben, so aber hatte er ihn nur leicht verletzt, es war nur eine kleine Schramme zu sehen. Der Major wurde benachrichtigt. Ich entsinne mich noch, wie erregt und sichtlich erfreut er angefahren kam. Er wandte sich ungemein freundlich an Gawrilka, fast als wäre dieser sein leiblicher Sohn gewesen.
„Nun, mein Lieber, kannst du dich noch zu Fuß ins Lazarett begeben, oder geht’s nicht? Nein, nein, wir wollen lieber das Pferd anspannen lassen. – Sofort das Pferd anspannen!“ schrie er voll Eifer dem Unteroffizier zu.
„Aber ich, Euer Gnaden, ich fühle ja nichts. Er hat ja nur ein wenig gekratzt, Euer Gnaden.“
„Das weißt du nicht, das kannst du selbst nicht beurteilen, mein Lieber, du wirst schon sehen ... Es ist eine sehr gefährliche Stelle, und alles hängt von der Stelle ab ... Gerade in das Herz hat er gestochen, der Räuber! Dich aber, dich,“ brüllte er plötzlich wild den alten Lomoff an, „dich habe ich jetzt endlich! ... Auf die Wache mit ihm!“
Und er rächte sich tatsächlich! Lomoff wurde, obgleich die Verletzung nur eine ganz ungefährliche Stichwunde war, auf Grund der „bösen Absicht“ zu längerer Zwangsarbeit und zu tausend Spießruten verurteilt. Dem Major war das Urteil eine große Genugtuung.
Endlich traf der Revisor ein.
Am zweiten Tage nach seiner Ankunft in der Stadt – es war gerade ein Feiertag – kam er auch zu uns in den Ostrogg. Schon mehrere Tage vorher war bei uns alles reingewaschen und reingefegt worden, alle Sträflinge waren frisch rasiert, alle staken in weißen, reinen Anzügen. Im Sommer gingen vorschriftsmäßig alle in Leinwandjacken und ebensolchen Beinkleidern. Auf dem Rücken eines jeden war ein schwarzer Kreis von ungefähr zehn Zentimeter im Durchmesser eingenäht. Eine ganze Stunde wurden die Sträflinge unterrichtet, wie sie zu antworten hatten, falls der hohe Gast sie anreden sollte. Das Beigebrachte wurde solange wiederholt, bis alle die Antwort auswendig kannten. Der Major war wie besessen vor Aufregung. Eine Stunde vor dem Erscheinen des Generals standen sämtliche Sträflinge wie Götzenbilder in einer Front und hielten stramm die Hände an den Hosennähten. Endlich, um ein Uhr mittags, erschien der General. Er war ein großes Tier und in Petersburg so einflußreich, daß die Herzen aller Vorgesetzten in ganz West-Sibirien bei seiner Ankunft erzittern mußten. Er trat mit strenger, ernster Miene ein. Ihm folgte eine zahlreiche Suite, die zum größten Teil aus den höheren Persönlichkeiten der Stadt, sowie mehreren Obersten und Generälen bestand. Unter ihnen fiel besonders ein Herr in eleganter Zivilkleidung auf, eine vorzügliche Erscheinung im Frack und in Halbstiefeln, der gleichfalls aus Petersburg gekommen war und ein ungewöhnlich sicheres, weltmännisches Auftreten hatte. Der General wandte sich sehr oft und sehr höflich an ihn, was die Sträflinge ganz besonders interessierte: ein Herr, der nicht Militär war, und dem wurde solche Ehre erwiesen und noch dazu von einem solchen General! Späterhin erfuhren sie auch seinen Familiennamen und wer er war, doch wurden vorher unendlich viele Mutmaßungen über ihn geäußert. Unser Major, der eingeschnürt, in orangegelbem Uniformkragen, mit roten Augen und himbeerfarbenem, finnigem Gesicht wie ein Pfosten dastand, schien auf den General keinen besonders angenehmen Eindruck zu machen. Aus besonderer Ehrerbietung vor dem hohen Besuch trug er keine Brille. Er stand etwas abseits, stand wie auf Draht gezogen, und schien mit seiner ganzen Seele fieberhaft nur den einen Augenblick zu erwarten, in dem er sich nützlich machen könnte, um dann den Wunsch Seiner Exzellenz in einer Sekunde zu erfüllen. Leider aber kam man ohne ihn aus. Schweigend schritt der General durch die Kasernen, warf auch einen Blick in die Küche, und kostete sogar, wenn ich nicht irre, die Kohlsuppe. Da machte man ihn auf mich aufmerksam: so und so, ein ehemaliger Adliger.
„Ah! Und wie führt er sich jetzt?“ erkundigte sich der General.
„Bisher befriedigend, Ew. Exzellenz,“ war die Antwort.
Der General nickte mit dem Kopfe, und nach zwei Minuten verließ er den Ostrogg. Die Sträflinge waren natürlich völlig geblendet und verblüfft, gleichzeitig aber doch auch nicht wenig enttäuscht: von einem „Ansprüche zu erheben“, wie sie sagten, konnte selbstverständlich nicht die Rede sein, was der Major auch schon im voraus gewußt zu haben schien.
Der Ankauf eines braunen Pferdes, das bei uns nach seiner Farbe nur Gnjedko genannt wurde, beschäftigte und zerstreute die Sträflinge in weit angenehmerer Weise als der hohe Besuch. Im Ostrogg wurde beständig ein Pferd zum Wasserführen, zur Abfuhr des Unrats und zu verschiedenen anderen Zwecken gehalten. Zur Wartung des Pferdes wurde ein Sträfling bestimmt, der mit ihm fuhr und dies und jenes zu fahren hatte, natürlich immer unter Eskorte – es gab genug Arbeit für beide. Unser Brauner hatte schon sehr lange im Ostrogg gedient, war sonst ein gutes Tier, nur mit den Jahren etwas alt und steif geworden. Und eines Morgens kurz vor dem St. Petritage fiel unser Brauner, nachdem er kaum mit dem Wasservorrat für den Abendbedarf angekommen war, vor seinem Wagen um und verschied nach wenigen Minuten. Man beklagte ihn aufrichtig, alles versammelte sich im Kreise um ihn, sprach hin und her, stritt sogar. Unsere ehemaligen Kavalleristen, Zigeuner und sogenannten „Tierärzte“ legten bei der Gelegenheit viel Kenntnisse in der Pferdebranche an den Tag, ja sie schimpften sich sogar untereinander, doch der Braune machte deswegen nicht Miene, von den Toten aufzuerstehen. Er war und blieb tot, lag auf dem Sande mit geblähtem Leibe, auf den ein jeder mit dem Finger zu tippen offenbar für seine Pflicht hielt. Dem Major wurde der eingetroffene Beschluß Gottes gemeldet und er befahl sofort, daß ein neues Pferd gekauft werde. Am St. Peterstage kamen bald nach dem Frühgottesdienst, als im Ostrogg alle vollzählig versammelt waren, die Händler mit ihren Pferden an, um sie anzubieten. Es versteht sich von selbst, daß die Wahl den Sträflingen überlassen werden mußte. Bei uns gab es gute Pferdekenner und so wäre es wohl schwer gewesen, zweihundertundfünfzig Menschen, von denen sich die meisten viel mit Pferden beschäftigt hatten, über das Ohr zu hauen. Da kamen nun Pferdehändler, Kirgisen, Zigeuner, Bauern. Die Sträflinge erwarteten mit Ungeduld das Erscheinen jedes neuen Pferdes. Sie waren lustig und guter Dinge, wie Kinder, die sich über etwas freuen. Am meisten behagte ihnen, daß sie, sie selbst, ganz als wären sie freie Herren, als kauften sie es für ihr Geld und für sich, nun das volle Recht hatten, das Pferd nach eigenem Gutdünken zu kaufen. Drei Pferde wurden hereingeführt und wieder hinausgeführt, bis der Kauf schließlich beim vierten zustande kam. Die eintretenden Pferdeverkäufer schauten sich bald mit einer gewissen Verwunderung, aus der zuerst ein gelinder Schreck hervorblitzte, und mit einer gewissen kleinlauten Schüchternheit um – namentlich immer wieder nach den Wachen, die sie hereingeführt hatten. Die zweihundertköpfige Schar einer solchen Räuberbande, jeder einzelne mit zur Hälfte abrasiertem Schädel und die meisten mit gebrandmarktem Gesicht, in Ketten eingeschmiedet, die bei jeder Bewegung klirren, dazu noch bei sich zu Hause, in der eigenen Räuberhöhle, über deren Schwelle kein Fremder treten durfte, – die erweckte in ihnen unwillkürlich einen Respekt besonderer Art. Die Sträflinge aber überboten sich gegenseitig in der Prüfung jedes vorgeführten Pferdes. Wohin schauten sie ihm nicht, was befühlten sie nicht alles an ihm, und dabei taten sie es noch mit so sachlichen, ernsten und besorgt interessierten Mienen, als wenn von diesem Kauf das Wohlergehen des ganzen Ostrogg abhing. Die Tscherkessen schwangen sich sogar auf jedes Pferd hinauf und saßen eine Weile rittlings auf dem Tiere: ihre Augen blitzten und sie schwatzten lebhaft in ihrer unverständlichen Sprache, wobei ihre weißen Zähne glänzten und sie mit ihren braunen Köpfen und den Hakennasen nickten. Manch einer von den Russen verfolgte ihr Gespräch mit einer Aufmerksamkeit, als wolle er ihnen in die Augen springen. Da er die Worte nicht verstand, so wollte er wenigstens am Ausdruck ihrer Augen erraten, was ihre Meinung war, ob das Pferd etwas taugte oder nicht. Einem unbeteiligten Beobachter würde eine so krampfhafte Neugier geradezu unbegreiflich erscheinen. Was ging denn das schließlich diesen Sträfling an, sollte man meinen, nicht selten sogar einen Sträfling, der vor einem anderen keinen Ton zu sagen wagte, stets verschüchtert, still, gleichsam „verprügelt“ war. Ganz als hätte er das Pferd für sich gekauft, als wäre es ihm tatsächlich nicht gleichgültig gewesen, welches Pferd nun gekauft werden würde. Außer den Tscherkessen zeichneten sich vor allen anderen die Zigeuner und ehemaligen Pferdehändler durch ihre Kenntnisse aus: ihnen wurde auch das erste Wort überlassen. Bei dieser Gelegenheit kam es sogar zu einer Art von Zweikampf zwischen zwei „Kennern“: zwischen dem Sträfling Kulikoff, der von Geburt halbwegs Zigeuner und in seinem Leben Pferdedieb und -verkäufer gewesen war, und dem „Tierarzt“ Jolkin, einem schlauen sibirischen Bauern, der erst seit kurzem im Ostrogg war, dennoch aber dem Kulikoff die ganze Kundschaft in der Stadt abspenstig gemacht hatte. Unsere „Tierärzte“ wurden nämlich in der ganzen Stadt sehr hochgeschätzt und es wandten sich nicht nur Bauern und Kaufleute, sondern sogar die höchsten Würdenträger an sie, sobald ihre Pferde erkrankten, obschon es auch Veterinäre in der Stadt gab. Kulikoff hatte bis zur Ankunft Jolkins keinen Konkurrenten gehabt, sich einer großen Praxis erfreut und viel klingenden Dank erhalten. Er verstand es nach Zigeunerart vorzüglich, die Leute zu beschwindeln und sie glauben zu machen, daß er viel mehr wisse, als es in der Tat der Fall war. Dank seiner guten Einnahmen war er ein Aristokrat unter uns Sträflingen, und schon lange war es ihm gelungen, durch seine Gewandtheit und Klugheit, seine Kühnheit und Entschlossenheit unwillkürlich die Achtung aller Ostroggbewohner zu erwerben. Jedenfalls hörte man bei uns auf ihn und gehorchte ihm sogar. Er sprach aber nur wenig: jedes seiner Worte war wie gesagt ein Geschenk, das er nur in den wichtigsten Fällen gab. Sonst war er ein ausgesprochener Geck, doch besaß er nicht wenig echte, unverfälschte Energie, und war zwar nicht mehr jung, dafür aber sehr hübsch und sehr klug. Mit uns Adligen verkehrte er auffallend höflich, mit einer Höflichkeit, die sogar eine gewisse Schulung besaß, und dabei doch mit ungewöhnlicher Wahrung der eigenen Würde. Ich glaube sogar, hätte man ihn elegant angekleidet und unter dem Namen irgend eines Grafen in einen vornehmen Residenzklub eingeführt, so würde er sich auch hier zurechtgefunden haben, er hätte eine Partie Whist gespielt, hätte sich vorzüglich unterhalten, nicht viel, aber ernst und durchdacht gesprochen, was jedem seiner Worte ein gewisses Gewicht verlieh, und wahrscheinlich würde man während des ganzen Abends nicht erraten haben, daß er kein Graf, sondern ein Landstreicher war. Ich sage das in vollem Ernst: so klug, so scharfsinnig und gewandt war er in seinen Kombinationen. Zudem hatte er vorzügliche, wirklich tadellose Manieren. Offenbar hatte er viel in seinem Leben gesehen. Übrigens war seine Vergangenheit allen unbekannt; bei uns gehörte er zur besonderen Abteilung. Mit der Ankunft Jolkins aber, der zwar nur ein Bauer, dafür aber der schlaueste in seiner Art war, ein Altgläubiger von etwa fünfzig Jahren, ging es mit dem Ruhm Kulikoffs als Tierarzt merklich zurück und bald war er fast gänzlich in den Schatten gestellt: in kaum zwei Monaten hatte ihm Jolkin seine ganze Praxis in der Stadt abspenstig gemacht. Er heilte und sogar mit Leichtigkeit selbst solche Pferde, die Kulikoff schon vor langer Zeit als unheilbar aufgegeben hatte, ja sogar solche, die von den städtischen Tierärzten, den studierten, als unrettbar verloren hingestellt waren. Dieser Bauer war zusammen mit anderen wegen Falschmünzerei in den Ostrogg gekommen. Weiß Gott, was ihn geplagt hatte, sich in seinen alten Tagen noch auf so etwas einzulassen! Einmal erzählte er uns lachend, wie bei ihnen aus drei echten Goldmünzen nur eine einzige falsche entstanden sei, – ein etwas unvorteilhaftes Ergebnis ihrer Experimente. Kulikoff nun fühlte sich nicht wenig gekränkt durch die Erfolge des anderen, namentlich da sein Ruhm auch unter den Sträflingen merklich zurückging. Er unterhielt eine Geliebte in der Vorstadt, ging in einer faltigen Bluse, trug einen silbernen Fingerring und einen Ohrring, sowie eigene Stiefel mit farbiger Einfassung, und nun mußte er wegen mangelnder Einkünfte Branntweinhändler im Ostrogg werden. So erwarteten denn alle, daß es jetzt bei Gelegenheit des Pferdekaufes zwischen den beiden Feinden noch zu einer Schlägerei kommen würde. Man beobachtete sie neugierig: ein jeder von ihnen hatte seine Partei und die Führer derselben waren schon aufgeregt und begannen bereits, die ersten Schimpfwörter zu wechseln. Jolkin selbst hatte sein schlaues Gesicht zum sarkastischen Lächeln verzogen. Doch siehe, es kam anders: Kulikoff fiel es nicht ein, zu schimpfen, er rächte sich auch ohne Geschimpf meisterhaft. Er begann mit ruhigem, fast respektvollem Anhören der kritischen Meinungsäußerungen seines Gegners, bis er ihn plötzlich auf einer einzigen falschen Bemerkung ertappte und ihn sofort in höflichem, aber bestimmtem Tone darauf aufmerksam machte, daß er sich irre, und noch bevor Jolkin sich besinnen und seine Worte zurücknehmen konnte, erklärte er ruhig, daß der Irrtum gerade in dem und dem bestände. Kurz, Jolkin war höchst unerwartet und sehr geschickt in allen Punkten geschlagen, und wenn er auch schließlich immer noch der bessere Kenner blieb, so war doch auch die Partei Kulikoffs durchaus befriedigt.
„Nein, Kinder, den schlägt man nicht so leicht, der steht seinen Mann! Den wirft man nicht um!“ meinten die einen.
„Jolkin weiß aber mehr!“ meinten die anderen, doch waren sie plötzlich ganz friedlich gesinnt. Überhaupt redeten beide Parteien mit einem Mal in sehr nachgiebigem Tone.
„Nicht daß er gerade mehr weiß, er hat nur eine glücklichere Hand. In der Viehbehandlung aber, da braucht auch Kulikoff nicht den Mut zu verlieren!“
„Nein, da braucht auch Kulikoff nicht den Mut zu verlieren!“
„Ja, das ist wahr: da braucht auch Kulikoff nicht den Mut zu verlieren! ...“
Endlich hatte man sich für ein neues Pferd entschieden. Es war ein junges, hübsches, kräftiges Tier von brauner Farbe mit einem lieben, lustigen Gesichtsausdruck, wenn man so sagen darf. Selbstverständlich war es in jeder Beziehung tadellos. Nachdem alles festgestellt war, begann man zu handeln: man forderte dreißig Rubel, die Sträflinge boten fünfundzwanzig. Man redete lange hin und her, man legte zu, und man ließ ab, bis ihnen das Handeln selbst lächerlich wurde.
„Wirst du denn aus deinem Beutel bezahlen?“ fragten die einen, „wozu handelst du dann?“
„Sollen wir denn noch den Vorgesetzten zu sparen helfen?“ schrien andere.
„Aber, Brüder, es ist doch immer sozusagen für uns verausgabtes Geld ...“
„Für uns! Da sieht man, Freund, daß die Dummheit nicht gesät wird, sondern von selber auf die Welt kommt ...“
Schließlich wurde das Pferd für achtundzwanzig Rubel gekauft, der Major wurde benachrichtigt und das Geld ausgezahlt. Natürlich brachte man sogleich Salz und Brot und der neue Braune hielt nach allen Ehrungen seinen Einzug in den Ostrogg. Ich glaube, es gab keinen einzigen Sträfling, der ihm bei dieser Gelegenheit nicht den Hals geklopft oder das Maul gestreichelt hätte. Noch am selben Tage wurde der Braune angeschirrt, um das Wasser herbeizuschleppen, und alles wartete und sah interessiert zu, wie der neue Braune seine Tonne ziehen würde. Unser Wasserführer Roman betrachtete sein neues Pferd mit ungemein behaglicher Zufriedenheit. Er war ein gesetzter Mann von fünfzig Jahren, schweigsam und von rechtschaffenem Charakter. Überhaupt sind alle russischen Kutscher sehr gesetzt und schweigsam, als ob es tatsächlich wahr wäre, daß der beständige Umgang mit Pferden dem Menschen eine gewisse Ruhe und sogar Vornehmheit verleihe.
Unser Roman war still, freundlich gegen jedermann, schnupfte Tabak und war schon seit undenklichen Zeiten zum „Pferdedienst“ bestimmt. Der neugekaufte Braune war bereits das dritte Pferd, und bei uns waren alle der Meinung, daß die braune Farbe gut zum Ostrogg passe, was auch von Roman bestätigt wurde. Ein scheckiges Pferd zum Beispiel hätte man unter keinen Umständen gekauft. Das Wasserführen blieb ewig Roman zugewiesen, ganz als hätte er darauf ein Recht gehabt, das kein einziger von uns ihm streitig zu machen gedachte. Als der alte Gnjedko verschied, fiel es nicht einmal dem Major ein, Roman einen Vorwurf zu machen, ihm eine Schuld daran beizumessen: das war Gottes Wille und weiter nichts, Roman aber war ein guter Kutscher. Der neue Gnjedko war bald der Liebling des ganzen Ostrogg. Die Sträflinge sind sonst ein rüdes Volk, doch zum Pferde traten sie sehr oft, um es zu streicheln und ihm den Hals zu klopfen. Zuweilen wenn Roman nach der Rückkehr vom Fluß das Tor schloß, das ihm vom Unteroffizier aufgemacht wurde, stand Gnjedko solange mit seiner Wassertonne, wartete auf ihn und sah ihn von der Seite an.
„Geh allein!“ rief ihm dann Roman bisweilen zu – und Gnjedko zog seine Tonne sofort weiter, zog sie bis zur Küche und blieb dort stehen, um die „Köchinnen“ und die Sträflinge, die in die Kasernen das Wasser zu tragen hatten – zu erwarten.
„Bravo, Gnjedko!“ rief man ihm zu, „bist ganz allein gekommen! ... Verstehst zu gehorchen!“
„Ja, es ist schon wahr, das muß man sagen: ist doch nur ein Vieh, versteht aber, was man spricht!“
„Das hast du brav gemacht, Gnjedko!“
Und Gnjedko nickt mit dem Kopf und schnauft, ganz als begreife er wirklich, was man sagt, und als freue er sich über das Lob. Dann bringt ihm unfehlbar jemand ein Stück Brot mit Salz aus der Küche: Gnjedko frißt es auf und nickt wieder mit dem Kopfe, als wolle er sagen: „Ich kenne dich, jawohl, und ich bin ein liebes Pferdchen und du bist ein guter Mensch!“
Auch ich gab gern unserem Gnjedko ein Stück Brot: es war so angenehm, seine hübsche Schnauze zu betrachten und seine weichen, warmen Lippen auf der Handfläche zu fühlen, die geschäftig die Gabe aufsammelten.
Im allgemeinen kann man sagen, daß unsere Sträflinge Tiere sehr gern hatten, und wenn es nur erlaubt gewesen wäre, so hätten sie sicherlich eine ganze Menagerie im Ostrogg gegründet, und alle Haustiere und alle Geflügelsorten eingeführt. Und was könnte wohl den rohen Charakter der Arrestanten leichter erweichen und veredeln, als ein solcher Umgang mit Tieren? Doch es war nicht gestattet, Tiere im Ostrogg zu halten: weder unsere Gefängnisordnung noch der Raum hätten es erlaubt.
Dennoch gab es während meiner ganzen Strafzeit beständig einige Tiere im Ostrogg: außer dem Braunen waren bei uns noch Hunde, Gänse, der Ziegenbock Wasjka und eine Zeitlang sogar ein Adler.
Als Ostrogghund lebte bei uns, wie ich schon gesagt habe, Scharik, ein kluges und gutes Tier, mit dem ich sehr befreundet war. Da aber Hunde im Volk immer für unreine Tiere gehalten werden, die man überhaupt nicht beachten sollte, so schenkte bei uns auch dem Scharik fast niemand irgend welche Aufmerksamkeit. Der Hund schlief auf dem Ostrogghof, lebte von den Brocken, die man ihm aus der Küche zuwarf, vermochte aber keinerlei Interesse für sich zu erwecken, obwohl er jeden einzelnen „persönlich“ kannte und für seinen Herrn hielt. Wenn die Sträflinge von der Arbeit zurückkehrten, so lief Scharik schon auf den ersten Ruf der Wache nach dem Gefreiten zum Tor, empfing freudig jeden Trupp, wedelte mit der Rute, blickte einem jeden erwartungsvoll und freundlich in die Augen, als erwarte er eine, wenn auch noch so flüchtige Liebkosung. Doch im Verlauf von mehreren Jahren hatte er noch von keinem einzigen auch nur die geringste Freundlichkeit erfahren, ausgenommen von mir. Dafür aber liebte er mich auch am meisten von allen. Ich entsinne mich nicht mehr, durch welchen Zufall später noch ein anderer Hund in unseren Ostrogg kam, Bjelka, den dritten aber, Kuljtjäpka, den hatte ich selbst einmal von der Arbeit noch als kleines Tierchen mitgebracht.
Bjelka war ein seltsames Geschöpf: es hatte ihn einmal jemand überfahren und daher war sein Rücken in der Mitte eingeknickt, so daß er beim Laufen, von weitem gesehen, wie zwei Tiere aussah; was für welche das sein mochten, das ließ sich nicht bestimmen, jedenfalls aber wie zwei sehr seltsame, weiße, die absonderlich zusammengewachsen sein mußten. Außerdem war er noch grindig und hatte eiternde Augen, die Rute war fast ganz unbehaart und beständig eingekniffen. Vom Schicksal mißhandelt, schien sich das Tier entschlossen zu haben, sich in alles zu ergeben: niemals bellte es einen an, niemals knurrte es, als hätte es keinen Laut von sich zu geben gewagt. Bjelka lebte im Gegensatz zu Scharik, der überall umherlief, fast nur hinter den Kasernen, und erblickte er einen von uns, so warf er sich, noch bevor man an ihn heran getreten war, zum Zeichen seiner Ergebenheit und friedlichen Gesinnung auf den Rücken, als wollte er damit sagen: „Mach mit mir, was du willst, ich aber, wie du siehst, denke nicht daran, mich zu verteidigen.“ Und fast jeder Sträfling, vor dem er sich auf den Rücken wälzte, schien es für seine Pflicht zu halten, ihn mit den Stiefeln zu stoßen.
„So ’ne Mißgeburt!“ sagten sie dazu. Bjelka aber wagte nicht einmal zu winseln, und nur wenn der Fußtritt gar zu schmerzhaft war, quiente er mit festem Maul, gleichsam nur innerlich. Ebenso wälzte er sich auch vor Scharik auf dem Rücken und vor jedem anderen Hunde, wenn er einmal aus dem Ostrogg hinauslief. Zuweilen sah ich, wie er sich plötzlich auf den Rücken wälzte und ruhig und ergeben in dieser Stellung verharrte; dann erblickte man im nächsten Augenblick unfehlbar einen großen Köter, der auf ihn zugerannt kam, mit langen, schlotternden Ohren, mit Gebell und Geheul. Doch Hunde lieben bei ihresgleichen Ergebenheit und friedliche Gesinnung. Der wütende Köter ist sogleich besänftigt, bleibt in einer gewissen Nachdenklichkeit vor dem auf dem Rücken liegenden Hunde stehen, bis er dann mit Interesse das ganze Tier beschnuppert. Was mochte wohl in solchen Augenblicken der zitternde unglückliche Hund denken? Wahrscheinlich: „Wenn er aber jetzt zubeißt, der Räuber?“ Der große Köter jedoch verläßt ihn nach aufmerksamer Beschnupperung, da er nichts Fesselndes an ihm entdeckt zu haben scheint. Bjelka aber dreht sich wieder um und läuft hinkend einem langen Hundezuge nach, der irgend einem kleinen Schoßhündchen folgt. Und wenn er auch genau weiß, daß ein Schoßhündchen niemals mit ihm Freundschaft schließen wird, so ist ihm doch schon das bloße Mitlaufen ein – Glück in seinem Unglück. An Ehre und Ehrgeiz hatte er offenbar seit lange aufgehört zu denken. Da ihm jede Aussicht auf Karriere genommen war, lebte er nur noch, um sein Dasein zu fristen, wessen er sich auch selbst vollkommen bewußt war. Ich versuchte einmal, ihn zu streicheln: das war für ihn so neu und unerwartet, daß er sich plötzlich platt an die Erde drückte, am ganzen Leibe erzitterte und vor Rührung laut zu heulen begann. Aus Mitleid trat ich öfter zu ihm, um ihn etwas zu liebkosen. Dafür konnte er mich bald nicht mehr anders als mit lautem Winseln begrüßen: erblickte er mich auch nur von weitem, so hub doch schon unfehlbar das weinerliche krankhafte Winseln an. Eines Tages wurde er auf dem Festungswall von anderen Hunden zerrissen.
Einen ganz anderen Charakter hatte dagegen Kuljtjäpka. Weshalb ich ihn eigentlich aus der Werkstätte als noch blinden Nestling mitgenommen hatte, vermag ich jetzt selbst nicht zu sagen. Es war mir eine angenehme Zerstreuung, ihn zu füttern, großzuziehen und aufwachsen zu sehen. Scharik nahm ihn sogleich unter seine Protektion und schlief mit ihm zusammen. Als Kuljtjäpka größer wurde, erlaubte er ihm, seine Ohren zu beißen, ihn am Fell zu zerren, und überhaupt mit ihm zu spielen, wie gewöhnlich alle größeren Hunde mit den jungen zu spielen pflegen. Sonderbar war nur, daß Kuljtjäpka so gut wie gar nicht in die Höhe wuchs, sondern nur in die Länge und Breite. Sein Fell war zottig und von einer unbestimmten hell mausgrauen Farbe; das eine Ohr wuchs nach unten, das andere nach oben. Von Charakter war er heftig und begeisterungsfähig, wie schließlich jeder junge Hund, der in der Freude, den Herrn wiederzusehen, kläfft und quient und winselt, ihm womöglich das Gesicht lecken will und auch alle seine anderen Gefühle nicht mehr zurückzuhalten vermag: „wenn du nur meine Begeisterung siehst, Anstand hat dann nichts mehr zu bedeuten!“ Rief ich: „Kuljtjäpka!“ so kam er, gleichviel wo er war, plötzlich im Galopp um irgend eine Ecke gelaufen, wie aus der Erde hervorgezaubert, und stürzte in heller Begeisterung wie ein geworfener Ball mir entgegen, und nicht selten überpurzelte er sich unterwegs. Ich hatte diese kleine Mißgeburt unsäglich lieb. Wie es schien, hatte das Schicksal nichts als Zufriedenheit und Freude für sein ferneres Leben vorgesehen. Es sollte aber anders kommen: Eines Tages schenkte ihm der Arrestant Neustrojeff, der sich mit der Anfertigung von Frauenschuhen und dem Gerben von Fellen beschäftigte, ganz besondere Aufmerksamkeit. Ihm schien plötzlich etwas an dem Hunde aufzufallen; er lockte ihn zu sich heran, befühlte sein Fell und rollte ihn hin und her auf dem Rücken, wozu der ahnungslose Kuljtjäpka vor Vergnügen mit den Vorderpfoten spielte. Am nächsten Morgen war er verschwunden. Lange suchte ich ihn, doch vergeblich. Erst nach zwei Wochen erfuhr ich, wo er geblieben war: Kuljtjäpkas Fell hatte dem Sträfling Neustrojeff gar zu sehr gefallen. Er hatte ihm dasselbe abgezogen und daraus Winterhalbstiefel angefertigt, und mit Sammet überzogen, wie sie die Frau des Auditeurs bei ihm bestellt hatte. Er zeigte sie mir, als sie fertig waren. Das Fell sah allerdings vorzüglich aus. Armer Kuljtjäpka!
Es gab bei uns viele Sträflinge, die sich mit der Bearbeitung von Fellen beschäftigten. Sie brachten nicht selten schöne Hunde mit, die aber schon nach wenigen Minuten wieder verschwanden. Diese Hunde wurden von ihnen entweder gestohlen oder gekauft. Einmal erblickte ich hinter der Küchenkaserne zwei Sträflinge, die sich über irgend etwas zu beraten schienen. Der eine hielt einen prächtigen, großen schwarzen Hund, von sicherlich guter und teurer Rasse, an einem Strick. Ein treuloser Diener hatte ihn heimlich unseren Schuhmachern für dreißig Kopeken in Silber verkauft. Die Sträflinge beabsichtigten, ihn zu erhängen, was ja weiter nicht schwierig war. Nachher sollte ihm das Fell abgezogen und der Kadaver in die große tiefe Ausgußgrube, die im entferntesten Winkel des Ostrogg lag und im Sommer, namentlich an heißen Tagen, entsetzlich stank, geworfen werden. Selten nur wurde die Grube gereinigt. Der arme Hund schien zu ahnen, was ihm bevorstand: forschend und unruhig blickte er von dem einen zum anderen und nur hin und wieder wagte er, mit seiner buschigen Rute ein wenig zu wedeln, ganz als wolle er uns durch dieses Zeichen seines Zutrauens zu uns gütiger für ihn stimmen. Ich entfernte mich schnell, sie aber verrichteten natürlich, was sie vorhatten.
Auch die Gänse hatten sich ganz zufällig bei uns angesiedelt. Wer sie zuerst gebracht hatte und wem sie gehörten – das weiß ich nicht, eine Zeitlang aber erfreuten sie sich großer Beliebtheit bei den Sträflingen und waren sogar in der Stadt bekannt. Sie waren im Ostrogg selbst ausgebrütet worden und in der Küche großgezogen. Als die junge Brut herangewachsen war, gewöhnte sie es sich an, zusammen mit den Sträflingen zur Arbeit auszuziehen. Kaum ertönte der Trommelwirbel, kaum begab sich der ganze Arrestantentrupp zum Tor, da kamen auch schon unsere Gänse mit großem Geschrei herbeigelaufen, mit hängenden Flügeln und vorgestrecktem Halse, und eine nach der anderen hopste über die hohe Schwelle der Pforte und begab sich unbedingt zur rechten Flanke des Trupps, wo sie sich dann gleichfalls aufstellten, in der Erwartung der allgemeinen Arbeitsverteilung. Jedesmal schlossen sie sich dem größten Trupp an und während der Arbeitszeit weideten sie dann irgendwo in der Nähe. Und kaum schickte der Trupp sich an, zur Heimkehr aufzubrechen, da kamen auch schon die Gänse in langer Reihe angewackelt. In der Stadt sprach man allgemein davon, daß die Gänse mit den Sträflingen zur Arbeit gingen.
„Seht doch, da gehen die Arrestanten mit ihren Gänsen!“ sagten zuweilen die uns unterwegs Begegnenden. „Wie habt ihr ihnen das nur beigebracht?“
„Da habt ihr etwas für eure Gänse,“ fügte ein anderer hinzu und reicht uns ein Almosen. Doch ungeachtet ihrer ganzen Anhänglichkeit, wurden sie zu einem Fleischtage nach der Fastenzeit sämtlich niedergemacht.
Unseren Ziegenbock Wasjka dagegen würde man um keinen Preis geschlachtet haben, wenn er nicht ein besonderes Pech gehabt hätte. Auch von dem Bock weiß ich nicht, wie und durch wen er in den Ostrogg gekommen war: eines Tages aber befand sich ein kleines, weißes, allerliebstes Böcklein bei uns. Diesen Wasjka gewannen im Augenblick alle lieb und bald war er unsere liebste Zerstreuung und sogar aufrichtigste Freude. Man fand natürlich sofort auch einen Grund, ihn im Ostrogg zu halten: hatte man einen Pferdestall, so gehörte doch auch ein Bock dazu. Indessen lebte er nicht im Pferdestall, sondern zuerst in der Küche und späterhin im ganzen Ostrogg. Er war ein überaus graziöses, mutwilliges und lustiges Geschöpf. Er kam sofort zu einem gelaufen, wenn man ihn rief, war immer munter und spaßig, sprang auf Bänke, Tische, und als er Hörner bekam, spielten die Arrestanten mit ihm „boxen“. Einmal, als seine Hörnchen schon sichtbar waren, fiel es dem Lesghier Babai ein, während er wie gewöhnlich abends mit anderen auf der Treppenstufe saß, mit Wasjka zu spielen. Sie boxten schon ziemlich lange – der Lesghier gleichfalls mit der Stirn, was für ihn ein angenehmer Zeitvertreib war –, als plötzlich unser Wasjka auf die oberste Treppenstufe sprang und, kaum daß Babai fortsah, sich auf seine Hinterbeinchen erhob, die Vorderhufchen an sich preßte und mit aller Kraft Babai in den Nacken stieß, so daß dieser kopfüber von der Treppe herabflog, zur unbändigen Heiterkeit aller Anwesenden und vor allem Babais selbst. Kurz, unser Wasjka wurde von allen geliebt. Als er heranwuchs, wurde an ihm nach langer, ernster Beratung eine gewisse Operation vorgenommen, die unsere „Tierärzte“ vorzüglich auszuführen verstanden. „Sonst würde er nach Bock riechen,“ sagten sie. Hierauf wurde aber Wasjka entsetzlich dick. Allerdings wurde er auch gefüttert, als wäre er zur Mast bestimmt. Mit der Zeit wurde er ein prächtiger, großer Bock mit langen Hörnern und von unbeschreiblicher Dicke. Zuweilen fiel er beim Gehen um. Bald hatte er es sich gleichfalls angewöhnt, mit den Sträflingen zur Arbeit zu gehen, zu deren und aller Begegnenden Belustigung. Alle kannten den Ostroggbock Wasjka. Oft, wenn die Sträflinge am Flußufer zu arbeiten hatten, rissen sie die geschmeidigen Äste der Wasserweide ab, suchten Laub dazu und Blumen auf dem Wall, und schmückten damit ihren Wasjka: die Hörner wurden mit den Weidenruten umflochten, mit Blumen geschmückt und der ganze Leib mit Girlanden umwunden. Kehrte dann der geschmückte Wasjka wie gewöhnlich an der Spitze des Trupps in den Ostrogg zurück, so marschierten sie ihm frohgemut nach und schienen vor jedem Vorübergehenden geradezu stolz zu sein. Ihre Liebe zu diesem Bock ging schließlich so weit, daß sie wie kleine Kinder auf die Idee kamen, Wasjkas Hörner zu vergolden! Doch sprachen sie nur davon, ohne den tollen Einfall auszuführen. Übrigens fragte ich, wie ich mich noch entsinne, bei der Gelegenheit Akim Akimytsch, unseren besten Vergolder nach Issai Fomitsch, ob es tatsächlich möglich wäre, dem Bock die Hörner zu vergolden. Er blickte zuerst aufmerksam den Bock an, überlegte ernstlich und antwortete dann, daß man es schließlich könne, „aber es wird nicht lange vorhalten, und zudem wäre es doch ganz unnütz.“ Und dabei blieb es. Wasjka aber hätte noch lange gelebt und wäre vielleicht nur an Asthma gestorben, wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hätte: als er eines Tages wieder an der Spitze der Sträflinge in den Ostrogg zurückkehrte, erblickte ihn plötzlich der Major, der in seinem Wagen gerade dahergefahren kam.
„Halt!“ schrie er sofort. „Wem gehört der Bock?“
Man erklärte es ihm.
„Wie! Im Ostrogg ein Bock ohne meine Erlaubnis! – Unteroffizier!“
Der Unteroffizier erschien und ihm ward befohlen, den Bock sofort zu schlachten – „sofort!“ – das Fell abzuziehen, auf dem Markt zu verkaufen, den Erlös der Arrestantenkasse zu überweisen, und das Fleisch zur Kohlsuppe zu geben. Im Ostrogg sprach man hin und her, beklagte den armen Wasjka, wagte aber doch nicht, dem Befehl zuwider zu handeln, und so wurde Wasjka am Rande unserer Ausgußgrube geschlachtet. Das ganze Fleisch kaufte ein Sträfling ab und zahlte dafür einen Rubel und fünfzig Kopeken in Silber. Für dieses Geld wurden Kalatschen gekauft, und der Sträfling, der den Wasjka erstanden hatte, verkaufte das Fleisch stückweis unter den Arrestanten zu Braten. Das Fleisch war wirklich selten schmackhaft.
Auch lebte bei uns im Ostrogg eine Zeitlang ein Karagusch, ein tatarischer Adler, von der mittelgroßen Art der Steppenadler. Jemand hatte ihn verwundet und ermattet in den Ostrogg gebracht. Die ganze Kátorga umstand ihn im Kreise: er konnte nicht fliegen, sein rechter Flügel hing zur Erde und der eine Fuß war verrenkt. Ich weiß noch, wie wütend er um sich blickte auf die neugierige Schar, wie er seinen krummen Schnabel aufsperrte, bereit, sein Leben teuer zu verkaufen. Als man sich aber an ihm sattgesehen hatte und auseinanderging, da humpelte er fort, hinkend und fast nur auf dem einen Fuß und mit dem gesunden Flügel schlagend, humpelte bis in den entferntesten Winkel des Ostrogg, wo er sich in der Zaunecke an die Pfähle drückte. Hier lebte er ungefähr drei Monate und in dieser ganzen Zeit verließ er nie seinen Platz. Anfangs kamen die Sträflinge noch ziemlich oft zu ihm, um ihn zu sehen und den Hund auf ihn zu hetzen. Scharik stürzte voll Eifer auf ihn los, wagte aber doch nicht, ihm gar zu nah zu kommen, was die Zuschauer nicht wenig belustigte. „So ein Tier!“ sagten sie kopfschüttelnd, „will sich doch nicht ergeben!“ Mit der Zeit aber wurde Scharik mutiger und dann kränkte er ihn tief: die Angst verging immer mehr und bald hatte er es sehr geschickt heraus, wenn er von den Sträflingen gehetzt wurde, den Vogel am kranken Flügel zu fassen. Der Adler verteidigte sich nach Möglichkeit mit dem Schnabel, und blickte wild und stolz wie ein verwundeter König, in der Zaunecke verschanzt, auf seine neugierigen Beobachter. Schließlich wurde er ihnen langweilig: alle vergaßen ihn, doch fand ich zu meiner Verwunderung täglich ein frisches Stück rohes Fleisch und eine Scherbe von einer zerschlagenen Schüssel mit frischem Wasser. So mußte denn doch jemand für ihn sorgen. Anfangs wollte er überhaupt nicht fressen, mehrere Tage hungerte er, bis er dann doch Vernunft annahm und zu fressen begann, aber niemals fraß er etwas aus unserer Hand, oder wenn jemand in der Nähe war. Ich habe ihn oft aus der Ferne beobachtet: glaubte er sich ganz allein und unbeobachtet, so entschloß er sich zuweilen, seine Ecke zu verlassen und humpelte dann am Zaun entlang, vielleicht zwölf Schritt weit aus seiner Ecke, worauf er wieder umkehrte und dann von neuem dieselbe Strecke zurücklegte, augenscheinlich um sich Bewegung zu machen. Erblickte er mich, so humpelte und hopste er so schnell er nur konnte in die Ecke, warf den Kopf zurück, sperrte den Schnabel halb auf und bereitete sich mit gesträubten Federn zum Kampfe vor. Er ließ sich durch nichts besänftigen, keine Freundlichkeit, kein Streicheln half: er hackte und schlug, nahm von mir keinen einzigen Bissen Rindfleisch aus der Hand, und wenn ich vor ihm stand, sah er mir nur mit seinem bösen, durchdringenden Blick aufmerksam in die Augen. Einsam und unnahbar erwartete er seinen Tod, mit niemand vertraut, mit niemand versöhnt. Da erinnerten sich die Sträflinge ganz plötzlich seiner, während sie in den letzten zwei Monaten ihn gänzlich vergessen hatten: und plötzlich empfand man Mitleid mit ihm. Man sprach davon, daß man ihn aus dem Ostrogg hinausbringen müsse.
„Mag er krepieren, aber nur nicht im Ostrogg,“ sagten sie.
„Ja, nur nicht hier, er ist ein freier Vogel, der wird sich nicht an den Ostrogg gewöhnen!“ meinten einige beipflichtend.
„Er ist doch sozusagen anders als wir,“ fügte noch einer hinzu.
„Noch was! – er ist ein Vogel und wir sind doch immerhin Menschen.“
„Der Adler, Brüder, ist der König der Wälder ...“ begann Skuratoff, doch wollte man ihm diesmal nicht zuhören.
Und nach dem Mittagessen, als die Trommel wieder zur Arbeit rief, nahm man den Adler, indem man ihm den Schnabel mit der Hand zuhielt, da er wie besessen um sich hackte, und trug ihn hinaus aus dem Ostrogg. Man kam bis zum Wall. Einige zwölf Mann, die zu diesem Trupp gehörten, wollten neugierig sehen, wohin der Adler sich entfernen würde, und seltsam – alle befanden sich in einer gewissermaßen zufriedenen Stimmung, ganz als sollten sie selbst in die Freiheit entlassen werden.
„Sieh doch einer das Hundevieh: ich tue ihm Gutes, er aber beißt mich!“ sagte der Arrestant, der den Adler hielt, während er das böse Tier fast mit Liebe betrachtete.
„Laß ihn los, Mikitka!“
„Der kann, wie man sieht, nicht hinter Schloß und Riegel leben. Dem muß man Freiheit geben, wahrhaftige freie Freiheit!“
Man warf den Adler vom Wall in die Steppe hinab. Es war im Spätherbst, an einem kalten und trüben Tage. Der Wind pfiff über die kahle Steppe und rauschte im gelben, dürren Steppengras, dessen Büschel sich knisternd bogen. Der Adler entfernte sich geradeaus, humpelnd und springend, und schlug mit dem gesunden Flügel, während der kranke nachschleifte – es war, als beeile er sich, so schnell als möglich von uns fortzukommen.
Die Blicke der Sträflinge folgten ihm neugierig, solange sein Kopf noch über dem Grase zu sehen war.
„Sieh mal an!“ sagte einer von ihnen gedankenvoll vor sich hin.
„Und sieht sich nicht einmal um!“ sagt ein anderer. „Kein einziges Mal, Brüder, hat er sich umgesehen, er läuft nur!“
„Glaubtest du denn, daß er noch zurückkommen würde, um sich zu bedanken?“ fragt ein dritter.
„Das ist so eine Sache mit der Freiheit: der hat sie jetzt gerochen.“
„Ja, das Freisein, wie man sagt.“
„Den werden wir nicht wiedersehen, Brüder ...“
„Was steht ihr da! Marsch, vorwärts!“ schrie in diesem Augenblick ein Aufseher und trieb die Plaudernden fort.
Vor dem Beginn dieses Kapitels hält es der Herausgeber der Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Petrowitsch Goräntschikoff für seine Pflicht, den Lesern folgende Mitteilung zu machen.
Im ersten Kapitel der „Aufzeichnungen“: „Aus einem Totenhause“ ist unter anderem auch von einem Vatermörder, einem der vier russischen Adligen, die Rede. Der Verfasser stellt ihn als Beispiel dafür hin, mit welchem Gleichmut die Sträflinge zuweilen von ihren Mordtaten erzählen konnten. Es heißt dort ferner, daß dieser Vatermörder seine Schuld nicht gestanden habe, daß aber nach den Erzählungen einiger Sträflinge aus seiner Stadt, die alle Einzelheiten des Falles kannten, die Tatsachen dermaßen überzeugend gewesen waren, daß man unmöglich an seiner Täterschaft habe zweifeln können. Dieselben Leute hatten dem Verfasser der „Aufzeichnungen“ erzählt, daß der Mörder ein zügelloses Leben geführt, Schulden gemacht und seinen Vater nur um der Erbschaft willen ermordet habe. Übrigens erzählte die ganze Stadt, in der er früher gelebt hatte, die Geschichte seines Verbrechens durchaus übereinstimmend, wovon der Verfasser aus zuverlässiger Quelle unterrichtet ist. In jenem Kapitel der Aufzeichnungen ist noch gesagt, daß der Mörder im Ostrogg sich beständig in der besten und heitersten Gemütsstimmung befunden habe: daß er ein unvernünftiger, leichtsinniger, verdrehter, aber durchaus kein dummer Mensch gewesen sei, und daß der Verfasser niemals eine besondere Grausamkeit an ihm habe wahrnehmen können. Zum Schluß jedoch sind noch die Worte hinzugefügt: „Zuerst glaubte ich es nämlich nicht, daß er ihn ermordet habe.“
Nun hat der Herausgeber dieser „Aufzeichnungen“: „Aus einem Totenhause“ vor kurzem die Nachricht aus Sibirien erhalten, daß der junge Sträfling tatsächlich unschuldig gewesen sei und zehn Jahre umsonst in der Kátorga verbracht habe; seine Schuldlosigkeit soll vom Gericht offiziell anerkannt worden sein, da man die wahren Schuldigen entdeckt habe und sie ein volles Geständnis abgelegt hätten. Jedenfalls ist der Unglückliche aus dem Ostrogg bereits entlassen. Der Herausgeber vermag an der Richtigkeit dieser Nachricht nicht zu zweifeln ...
Es dürfte wohl weiter nichts hinzuzufügen sein. Was könnte man auch über die ganze Tiefe der Tragik dieses unter so grauenvoller Anklage vernichteten jungen Lebens sagen ... Es liegt ja alles auf der Hand und spricht laut genug für sich selbst.
Auch glauben wir, daß, wenn eine solche Tatsache möglich gewesen ist, diese Möglichkeit allein schon einen neuen und deutlich hervortretenden Pinselstrich zur Vollendung und Charakteristik des Bildes vom Totenhause darstellt.
Fahren wir jetzt fort.
Wie ich schon gesagt habe, lebte ich mich endlich ein im Ostrogg. Aber dieses „endlich“ vollzog sich doch nur mühsam und qualvoll, und gar zu langsam. Genau genommen brauchte ich fast ein ganzes Jahr dazu, und das war die schwerste Zeit meines Lebens. Deswegen hat sie sich mir auch so deutlich eingeprägt. Ich glaube sogar, daß ich mich jeder Stunde dieses Jahres in der richtigen Reihenfolge erinnern kann. Auch viele andere Sträflinge konnten sich an dieses Leben nicht gewöhnen. Ich weiß noch, wie oft ich mich in der ersten Zeit fragte: „Wie mag es in ihnen wohl aussehen? Sollten sie wirklich ruhig sein?“ Und diese Fragen beschäftigten mich fortwährend. Ich begriff, daß sie alle sich hier nicht zu Hause fühlten, sondern wie etwa auf einem Posthof, wie in einem Biwak, oder auf einer Etappe. Selbst die zu lebenslänglicher Zwangsarbeit Verurteilten, selbst die fühlten sich hier wie auf der Durchreise und sehnten sich fort, und sicherlich träumte ein jeder von ihnen von etwas für ihn fast Unmöglichem. Diese beständige Unruhe, die sich, wenn auch stumm, so doch sichtbar äußerte, diese seltsame Heftigkeit und Ungeduld, die manchmal ganz unwillkürlich geäußerten Hoffnungen, die mitunter so unbegründet waren, daß sie fast einem Produkt der Fieberphantasie glichen, und – was am auffälligsten war – nicht selten bei den anscheinend praktischsten Charakteren zutage traten, – alles das verlieh diesem Ort ein so ungewöhnliches Aussehen, ein so seltsames Gepräge, daß vielleicht gerade dieser Zug seine charakteristischste Eigenheit darstellte. Man fühlte es eben schon auf den ersten Blick, daß es außerhalb des Ostrogg etwas Ähnliches nicht gab. Hier waren alle Phantasten, und das fiel einem sofort auf: Phantasten bis zur Krankhaftigkeit – das fühlte man und gerade diese Verschwärmtheit gab dem Ostrogg ein düsteres, mürrisches Aussehen, so ein ungesundes Aussehen. Die übergroße Mehrzahl war schweigsam, bösartig bis zu einem fast auf alles sich erstreckenden Haß, und liebte es nicht, ihre Hoffnungen zur Schau zu tragen. Einfachheit und Offenherzigkeit wurden verachtet. Je aussichtsloser die Hoffnungen waren, und je mehr der betreffende selbst diese Aussichtslosigkeit fühlte, um so hartnäckiger und verschämter verbarg er sie in seinem Innersten, sich lossagen aber von ihnen und auf sie verzichten, das vermochte er doch nicht. Wer weiß, vielleicht schämte sich innerlich so mancher seiner Träume. Im russischen Charakter liegt soviel Positivität und Nüchternheit des Blicks, soviel innerer Spott, in erster Linie über sich selbst ... Vielleicht nun war gerade diese beständige, verborgene Unzufriedenheit mit sich selbst die Ursache der gereizten Unduldsamkeit dieser Menschen in ihrer täglichen Berührung miteinander, dieser Unversöhnlichkeit und dieser Spottlust in ihrem Verkehr untereinander. Und wenn zum Beispiel einer von den Naiveren und Unbeherrschteren aus ihrer eigenen Mitte einmal etwas laut aussprach, was sie heimlich alle dachten, wenn er seine Hoffnungen und Gedanken ausmalte, so wurde er sofort grob zurechtgewiesen und verspottet. Mich däucht aber, daß die heftigsten Verfolger in solchen Fällen stets diejenigen waren, die in ihren eigenen Träumen und Hoffnungen vielleicht noch viel weiter gingen. Auf die Naiven und Offenherzigen sah man bei uns allgemein wie auf die flachsten Dummköpfe herab und behandelte sie geringschätzig. Ein jeder war dermaßen mürrisch, eigenliebig und ehrgeizig, daß er einen gutmütigen Menschen, der keinen Ehrgeiz besaß, einfach verachtete.
Außer diesen naiven und etwas einfältigen Schwätzern teilten sich die anderen, d. h. die Schweigsamen, in Gute und Böse oder in Finstere und Heitere. Der Finsteren und Bösen gab es natürlich unvergleichlich mehr, und wenn sich unter ihnen auch einige befanden, die von Natur Schwätzer waren, so waren sie dann ausnahmslos ruhelose Klatschbasen und gehässige Neider. Sie hatten sich in alle fremden Angelegenheiten zu mischen, von ihren eigenen Geheimnissen dagegen verrieten sie den anderen nichts. Das war eben nicht Mode, nicht „angenommen“. Die Guten – nur eine kleine Schar – waren still, hegten stumm ihre Hoffnungen und waren natürlich weit mehr als die Finsteren zum Glauben an die Erfüllung ihrer Wünsche geneigt. Übrigens fällt es mir soeben ein, daß es im Ostrogg noch eine Abteilung von völlig Verzweifelten gab. Zu denen gehörte auch der Alte aus dem Dorf Starodubowo, doch gab es solcher im ganzen nur sehr wenige. Äußerlich war der Alte anscheinend ruhig – ich habe schon von ihm gesprochen –, doch glaube ich, nach einigen Anzeichen, daß sein Seelenzustand furchtbar war. Aber er hatte schließlich doch seine Rettung gefunden: das war das Gebet und der Glaube an sein Märtyrertum. Der andere alte Sträfling, von dem ich gleichfalls schon gesprochen habe, der über dem Bibellesen wahnsinnig geworden war und sich mit einem Ziegelstein auf den Major gestürzt hatte, gehörte wahrscheinlich gleichfalls zu den Verzweifelten, zu denen, die die letzte Hoffnung verlassen hatte – und da man ganz ohne Hoffnung nicht leben kann, so hatte er sich als Rettung ein freiwilliges, fast künstliches Märtyrertum erdacht. Nach seiner Erklärung habe er sich ohne jeglichen Groll oder Haß auf den Major gestürzt, einzig in dem Wunsch, Qualen zu erdulden. Wer kann es wissen, welch ein psychologischer Vorgang sich in seiner Seele vollzogen hatte! Ohne ein bestimmtes Ziel, ohne nach diesem Ziel ständig zu streben, lebt kein einziger „lebendiger“ Mensch. Verliert der Mensch Ziel und Hoffnung, so verwandelt er sich nicht selten vor lauter Langeweile in ein Ungeheuer ... Bei uns war das Ziel aller aber: die Freiheit und die Entlassung aus der Kátorga.
Da bemühe ich mich nun, die ganze Einwohnerschaft unseres Ostrogg in verschiedene Klassen einzuteilen, doch ist denn das überhaupt möglich? Die Wirklichkeit ist so unendlich verschiedenartig, im Vergleich mit allen, selbst den raffiniertesten Ergebnissen des abstrakten Denkens, und duldet keine verallgemeinernden und scharf begrenzenden Unterschiede. Die Wirklichkeit strebt zur Auflösung in Einern. Auch bei uns war das Leben ein besonderes, gleichviel welch eines, aber es war doch eines für sich, und nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ein besonderes Leben.
In der ersten Zeit meines Ostrogglebens war es mir ganz unmöglich, und ich hätte es auch gar nicht verstanden, die ganze innere Tiefe dieses Lebens zu erfassen, und so quälten mich alle seine äußeren Erscheinungen mit unsäglicher Last. Zuweilen begann ich, diese Menschen, die doch nicht weniger litten, als ich, förmlich zu hassen. Ich beneidete sie sogar, und zwar beneidete ich sie deshalb, weil sie doch immerhin unter ihresgleichen waren, sich gegenseitig verstanden, und in ihrer Sträflingsgenossenschaft lebten, obwohl im Grunde diese Genossenschaft unter Stock und Spießrute, dieses gewaltsame Zusammenleben mich nicht mehr als alle anderen anekelte. Genau genommen sah ein jeder vom anderen fort, irgendwohin zur Seite. Ich sage nochmals, daß dieser Neid, der mich in trüben Augenblicken erfaßte, seinen guten Grund hatte. Man sagt allerdings, daß der Adlige, der Gebildete, es in unseren Gefängnissen ebenso schwer habe, wie jeder einfache Bauer, nur ist das leider durchaus nicht der Fall. Ich habe diese Behauptung oder Annahme oft genug gehört und in letzter Zeit sogar gelesen. Der Grundgedanke ist ja schließlich richtig und human: alle sind Menschen. Nur ist diese Auffassung gar zu theoretisch. Hier sind viele praktischen Bedingungen aus dem Auge gelassen, deren Bedeutung man nur in der Wirklichkeit ermessen kann. Ich sage es nicht deshalb, weil der Adlige und Gebildete, wie man annimmt, empfindlicher, zartfühlender und entwickelter ist. Die Seele und ihre Empfindsamkeit läßt sich nicht in Klassen einteilen oder auf ein gleichmäßiges Niveau bringen. Selbst die sogenannte Bildung ist in diesem Fall kein Maßstab. Ich bin als erster zu bezeugen bereit, daß ich in der allerungebildetsten und niedergedrücktesten Umgebung, gerade unter diesen Leidenden, Züge von zartester seelischer Entwicklung wahrgenommen habe. Im Ostrogg kannte man einen Menschen bisweilen jahrelang und glaubte von ihm, er sei ein Tier und kein Mensch, und man verachtete ihn. Und plötzlich kommt dann ein zufälliger Augenblick, in dem sein Inneres in ungewolltem Ausbruch sich aufdeckt – und dann sieht man in ihm einen solchen Reichtum, soviel Gefühl und Herz, ein so scharfes Verständnis und ein so persönliches Leiden, daß man erst jetzt sehend zu werden meint, nachdem man im ersten Augenblick seinen eigenen Ohren und Augen nicht getraut hat. Und andererseits, wie oft findet man das Umgekehrte: da sieht man Bildung mit unendlich niedriger Gesinnung vereint, mit einem Zynismus, daß es einem übel wird, und wie nahe dieser Mensch einem auch stehen mag, man findet dafür doch keine Entschuldigung, doch keine Rechtfertigung im Herzen.
Ich will nicht einmal auf den Unterschied der Lebensbedürfnisse eingehen, auf die Lebensweise überhaupt, die Nahrung u. s. w., einen Unterschied, der für den Menschen aus der oberen Gesellschaftsschicht natürlich größer und folglich schwerer zu verwinden ist, als für den einfachen Landbauer oder Leibeigenen, der nicht selten in der Freiheit gehungert hat, im Ostrogg dagegen sich täglich sattessen kann. Ich will zugeben, daß einem Menschen mit nur etwas stärkerem Willen alles das nichts ausmacht im Vergleich mit anderen Unannehmlichkeiten, obschon das Abgewöhnen der Lebensangewohnheiten durchaus keine so nebensächliche Kleinigkeit und längst nicht das Leichteste ist. Es gibt aber Dinge, vor denen alle diese äußeren Unannehmlichkeiten völlig in den Hintergrund treten und man weder den Schmutz ringsum, weder die Enge, noch die einförmige, unsaubere Kost beachtet. Selbst der größte Feinschmecker, das verzärteltste Muttersöhnchen wird, wenn er im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat, wie noch nie zuvor in der Freiheit, auch Schwarzbrot und seinen Kohl mit Schaben essen. An so etwas kann man sich noch gewöhnen, wie es ja auch im humoristischen Arrestantenliede von dem einmal reich gewesenen Herrn heißt, der in den Ostrogg geraten war:
„Gibt man mir auch nur Kraut mit heißem Wasser,
So fresse ich doch alles auf mit Haut und Haar.“
Nein, wichtiger als alles andere ist, daß von den einfachen Leuten jeder Neuangekommene bereits nach den ersten zwei Stunden dasselbe wird, was alle anderen sind: ein mit allen Gleichberechtigter in der Ostrogggenossenschaft, der sich hier wie jeder andere „bei sich zu Hause“ fühlt. Er wird von allen verstanden und versteht selbst alle, er ist mit allen bekannt und alle halten ihn für den Ihrigen, der zu ihnen gehört. Ganz anders ist es dagegen mit dem Adligen, dem Gebildeten. Wie gerecht, gut und klug er auch sein mag, er wird dennoch jahrelang von allen anderen gehaßt und verachtet werden. Man versteht ihn nicht, und vor allen Dingen – man glaubt ihm nicht. Er ist weder Freund noch Kamerad, und wenn er es auch schließlich – nach Jahren – erreicht, daß man ihn nicht mehr beleidigt, so ist er ihnen doch nie ein Kamerad und wird ewig qualvoll seine Einsamkeit und Fremdheit empfinden. Diese Ausscheidung als Fremder geschieht von seiten der Arrestanten zuweilen ohne jedes böse Gefühl, völlig unbewußt. Du bist eben nicht einer von uns – und das ist alles. Es gibt nichts Schlimmeres, als nicht in der eigenen Gesellschaftsklasse leben zu können. Der Bauer oder der Tagelöhner, der von Taganrog nach der Hafenstadt Petropawlowsk geschickt wird, findet dort sogleich einen ebensolchen russischen Bauern oder Arbeiter, mit dem er sich schon nach zwei Stunden vorzüglich versteht, und in kürzester Zeit haben sie sich friedlich in derselben Strohhütte eingelebt. Nicht so der Vornehme. Ihn trennt die größte Kluft vom einfachen Volk, und das zeigt sich erst dann in seinem ganzen Umfange, sobald der Vornehme plötzlich selbst infolge äußerer Umstände seine früheren Vorrechte verliert und gleichfalls „einfaches Volk“ wird. Mag man auch sonst täglich mit dem Volk in Berührung gekommen sein, vierzig Jahre lang womöglich, – gleichviel ob im Dienst, amtlich, oder ganz einfach freundschaftlich, als Wohltäter, oder in gewissem Sinne Vater des Volkes – das Wesen dieses Unterschiedes wird man so nicht kennen lernen: es wird immer nur eine optische Täuschung sein und weiter nichts.
Ich weiß es sehr gut, daß alle, aber auch alle, die diese meine Behauptung lesen, sagen werden, ich übertreibe. Ich aber bin überzeugt, daß ich die Wahrheit sage, denn nicht aus Büchern und nicht spekulativ habe ich mich davon überzeugt, sondern in der Wirklichkeit, und ich habe mehr als genug Zeit gehabt, meine Beobachtungen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Vielleicht wird manch einer in der Folge erfahren, wie richtig sie sind.
Die Ereignisse bestätigen außerdem noch meine Beobachtungen schon vom ersten Schritt an, was mich nicht wenig erregte und nachträglich krankhaft auf mich einwirkte. In dieser ersten Zeit schlenderte ich ganz allein auf dem Hof umher. Ich befand mich damals in einem solchen Zustande, daß ich nicht fähig war, selbst jene unter den übrigen wahrzunehmen, die mich in der Folge sogar lieb gewannen, wenn sie sich auch nie mit mir auf die gleiche Stufe stellten. Gewiß fand auch ich Kameraden unter den übrigen Adligen, aber diese Kameradschaft vermochte doch nicht, mich von dem quälenden Druck zu befreien.
Ich will hier einen von jenen Fällen angeben, die mir meine Fremdheit und die Eigentümlichkeit meiner Stellung im Ostrogg am deutlichsten zeigten.
Einst – es war im ersten Sommer, schon im August – in der ersten Nachmittagsstunde eines klaren, heißen Tages, als wir wie gewöhnlich vor der Nachmittagsarbeit ein wenig ruhten, erhob sich plötzlich die ganze Kátorga wie ein Mann und stellte sich auf dem Ostrogghof auf. Ich war bis dahin völlig ahnungslos gewesen. In dieser ganzen Zeit hatte ich mich dermaßen in mich selbst vertieft, daß ich kaum noch bemerkte, was um mich her vorging. Im Ostrogg indes hatte es schon seit drei Tagen dumpf gegärt. Vielleicht aber hatte diese Gärung schon viel früher begonnen, wie ich es mir später überlegte, als mir unwillkürlich wieder einiges aus den Gesprächen der Sträflinge einfiel, das ich nur mit halbem Ohr gehört und weiter nicht beachtet hatte. Desgleichen erinnerte ich mich, daß die Sträflinge in der letzten Zeit besonders mürrisch, finster und erbost gewesen waren. Ich schrieb es anfangs der schweren Arbeit, den langweiligen, endlosen Sommertagen, den unwillkürlichen Gedanken an Wälder und „Freiheit“ zu, und den kurzen Nächten, in denen man sich kaum ausschlafen konnte. Vielleicht hatte jetzt alles das zu einem Ausbruch geführt, doch der einzige Grund desselben, den die Sträflinge angaben, war – die Kost. Schon seit mehreren Tagen hatte man sich laut über das Essen beklagt, man war ungehalten gewesen, namentlich wenn man zum Mittag- und zum Abendessen in der Küche zusammenkam. Man war unzufrieden mit den Köchinnen, versuchte es sogar mit einer Veränderung des Küchenpersonals: man wählte einen neuen Koch, doch wurde dieser sogleich wieder „gewirbelt“ und der alte zurückgerufen. Kurz, alle Geister befanden sich in einer gewissen Unruhe.
„Die Arbeit ist zum Knochenbrechen und dabei werden wir nur mit Fell und Fett gefüttert,“ brummt jemand in der Küche.
„Wenn dir das nicht behagt, so bestell doch Kuchen für dich,“ bemerkt ein anderer, dem Kuchen das schönste zu sein scheint.
„Ach was, Kohl mit Schweinespeck liebe ich sehr, Brüder,“ meint ein dritter, „denn ... was ich sagen wollte – es schmeckt mir.“
„Aber wenn du dein Lebtag nichts als Schweinespeck zwischen die Zähne kriegst, wird es dir dann auch noch schmecken?“
„Es ist jetzt doch Fleischzeit,“ sagt ein vierter, „wir dort in der Ziegelei müssen uns quälen und plagen, nachher aber will man doch was essen! Was aber ist denn dieses Zeugs für ein Fraß!“
„Ist das überhaupt genießbar, frage ich euch! Hab ich nicht recht?“
„Ja, das Futter ist schlecht.“
„Und der Achtäugige stopft sich dabei natürlich die Taschen.“
„Das ist nicht deine Sache.“
„So–o? Mein Bauch ist doch wohl meine Sache, denke ich! ... Seht, wenn wir uns allesamt zusammentäten und unsere Forderung vorbrächten, dann wäre die Sache im Nu erledigt.“
„Forderung?“
„Jawohl!“
„Dann bist du wohl für solche Forderungen noch wenig gedroschen worden.“
„Es ist schon wahr,“ fügt brummig ein anderer hinzu, der bis dahin geschwiegen hat, „aber sag du uns mal zuerst, was du denn bei der Gelegenheit eigentlich sagen willst?“
„Ich werde schon sagen! Wenn alle mithalten würden, dann würde ich schon mit allen zusammen sagen! Einfach Hunger und nichts weiter! Bei uns hat der eine seine eigene Kost, ein anderer aber hat nichts als Staatsverpflegung.“
„Seht doch diesen Neidhammel! Dir scheint ja fremdes Gut merklich in die Augen zu stechen!“
„Laß dich nicht nach Fremdem gelüsten, steh früher auf und verschaffe dir Eigenes.“
„Verschaffe! Wo soll man sich denn was verschaffen, wo nichts zu verschaffen ist!“
„Nein, wirklich, Brüder, wozu sitzen wir hier? Sie haben uns doch lange genug geschunden, werden uns noch das Fell ganz und gar abziehen. Warum sollen wir nicht einmal auftreten?“
„Warum? Für dich muß man alles immer noch durchkauen, bevor man es dir in den Mund stopft, selbst durchzukauen scheinst du nicht zu können! Weil wir in der Kátorga sind – hast du nun kapiert?“
„Und der Achtäugige hat den Nutzen davon. Hat sich noch ein Paar Graue gekauft.“
„Und den Wein, den spart er auch gerade!“
„Vor kurzem hat er sich mit dem Veterinär beim Kartenspiel geprügelt. Haben die ganze Nacht gespielt. Fedjka erzählte.“
„Daher schmeckt auch der Kohl nicht mehr.“
„Ach, ihr Schafsköpfe! ... Daraus wird grade was!“
„Wir müssen eben alle Mann vortreten, sehen wir doch zu, was er dann zu seiner Rechtfertigung sagen wird. Wir müssen alle nur darauf bestehen!“
„Rechtfertigung! Noch was! Er wird dir nur dein Gebiß in die Gurgel schlagen und damit ist es für ihn erledigt.“
„Und dann kommt man doch vors Gericht ...“
Mit einem Wort, alle waren erregt. Wir hatten in der letzten Zeit allerdings sehr schlechtes Essen erhalten, und nun kam noch all das andere hinzu. Die Hauptveranlassung war aber entschieden die allgemeine wehmütige Stimmung und die beständige geheime Qual. Die Zwangsarbeiter sind schon ihrer Natur gemäß streitsüchtig und empörerisch, doch kommt es sehr selten vor, daß sie sich gemeinsam in größerer Anzahl oder gar alle Mann erheben. Der Grund ist ihre beständige Meinungsverschiedenheit. Das fühlt auch ein jeder von ihnen – und daher kam es, daß es bei uns in der Kátorga mehr Streit als Taten gab. Diesmal aber sollte die allgemeine Aufregung nicht im Sande verlaufen.
Es begann damit, daß man sich in Gruppen versammelte, in den Kasernen stritt, schimpfte, das ganze Sündenregister unseres Majors vortrug, und nichts vergaß, was ihn noch verhaßter machen könnte. Einige waren ganz besonders wütend. Bei allen ähnlichen Gelegenheiten treten stets Hetzer und Rädelsführer auf, die an sich, nicht nur im Ostrogg allein, sondern überall ein und dieselben sind. Sie sind ein ganz besonderer Typ, ein hitziger Menschenschlag, den es nach unbedingter Gerechtigkeit verlangt und der in der naivsten und ehrlichsten Weise von der bedingungslosen, unbeschränkten und vor allem sofortigen Erfüllung derselben überzeugt ist. Sie sind nicht dümmer als andere, es gibt sogar sehr Kluge unter ihnen, nur sind sie zu feurig, um schlau und berechnend zu sein. Gewiß gibt es auch bei derartigen Aufständen mitunter Führer, die die Masse geschickt zu lenken und die Sache zu gewinnen verstehen, doch bilden diese bereits einen anderen Typ. Der Volksführer, das ist der geborene Führer des Volkes – ein Typus, der bei uns ziemlich selten ist. Diese dagegen, von denen ich hier rede, diese Schürer und Rädelsführer der kleinen Aufstände, die verspielen fast stets ihre Sache und bevölkern dafür später die Gefängnisse. Sie verspielen durch ihre Hitzigkeit, doch haben sie gerade durch diese Hitzigkeit ihren Einfluß auf die Masse. Und schließlich – man folgt ihnen gern. Ihr Feuer und ihr ehrlicher Unwille wirken auf alle, und zu guterletzt schließen sich ihnen auch die Unentschlossensten an. Ihr blinder Glaube an das Gelingen verführt selbst die eingefleischtesten Skeptiker, obgleich dieser Glaube zuweilen so unbegründet, so kindisch naiv ist, daß man sich nur darüber wundern kann, wie die Menschen ihnen haben folgen können. Die Hauptsache ist aber, daß sie als Erste vorangehen, und ohne Furcht zu verspüren ... Sie stürmen wie die Stiere mit gesenkten Hörnern darauf los, oft sogar ohne Kenntnis der Sache, ohne Vorsicht, vor allem ohne jenen praktischen Jesuitismus, mittels dessen nicht selten der niedrigste und schmutzigste Mensch die Sache durchführt, das Ziel erreicht und trocken aus dem Wasser kommt. Sie jedoch stürzen geradeaus drauflos und brechen sich unfehlbar die Hörner. Im gewöhnlichen Leben sind sie gallige, launige, reizbare und unduldsame Leute. Am häufigsten sind es entsetzlich beschränkte Menschen, was übrigens zum Teil ihre Kraft ausmacht. Das ärgerlichste an ihnen ist jedoch, daß sie, anstatt geradeaus auf das Ziel loszusteuern, oft auf Nebenwege rennen, und anstatt die Hauptsache im Auge zu behalten, sich von Nebensachen ablenken lassen. Das ist es, woran sie scheitern. Aber sie sind der Masse verständlich und darin liegt ihre Kraft ... Übrigens muß ich noch kurz erklären, was ein solcher „Streik“ eigentlich ist.
In unserem Ostrogg gab es mehrere, die wegen eines solchen „Streiks“ verschickt worden waren. Sie nun ereiferten sich auch jetzt am meisten von allen. Namentlich einer von ihnen, ein gewisser Martynoff, der früher Husar gewesen war, ein hitziger, unruhiger und mißtrauischer Mensch, sonst aber sehr ehrlich und sehr wahrheitsliebend. Der andere war Wassilij Antonoff, ein gewissermaßen kaltblütig sich erregender Mensch mit dreistem Blick und hochmütigem, sarkastischem Lächeln, auffallend entwickelt und gleichfalls ehrlich und wahrheitsliebend. Doch, ich kann sie ja nicht alle aufzählen. Es gab ihrer eine ganze Menge. Petroff war überall, blieb bei jeder kleinen Gruppe stehen, hörte gespannt zu, sprach selbst wenig, war aber sichtlich erregt und als erster zur Stelle, als man sich auf dem Hof aufzustellen begann.
Unser Ostroggunteroffizier, der bei uns den Dienst eines Feldwebels hatte, erschien sofort und war nicht wenig erschrocken. Als die Leute sich alle in Reih und Glied aufgestellt hatten, baten sie ihn höflich, den Major zu benachrichtigen, daß die Kátorga ihn bezüglich einiger Punkte persönlich zu sprechen und um etwas zu bitten wünsche. Gleich nach dem älteren Unteroffizier erschienen auch alle Invaliden, die sich den Sträflingen gegenüber, auf der anderen Seite des Hofes, aufstellten. Der Auftrag, der dem Unteroffizier zuteil wurde, war allerdings unerhört, und entsetzte diesen geradezu. Doch die Meldung verweigern, das durfte er nicht. Erstens konnte, wenn die „ganze Kátorga“ sich erhoben hatte, weiß der Teufel was noch alles daraus entstehen. Alle unsere Vorgesetzten waren bezüglich der Kátorga vom ersten bis zum letzten auffallend ängstlich. Und zweitens, selbst, wenn sich alle sofort wieder besonnen hätten und bis auf den letzten auseinandergegangen wären, selbst dann hätte der Unteroffizier von dem Geschehenen den Vorgesetzten benachrichtigen müssen. Bleich und fast zitternd begab er sich sofort eilig zum Major, ohne auch nur einen Versuch gemacht zu haben, die Sträflinge vorher auszufragen oder sie zu ermahnen. Er sah vielleicht auch ein, daß man mit ihm jetzt überhaupt nicht geredet hätte.
Völlig ahnungslos war auch ich hinausgegangen und hatte mich gleichfalls in Reih und Glied gestellt. Alle Einzelheiten der Sache erfuhr ich erst später. In jenem Augenblick aber glaubte ich, daß es sich um nichts anderes als um eine Zählung handelte. Da ich aber keine Wachen sah, wunderte ich mich und blickte um mich. Alle Gesichter waren erregt und alle sahen gereizt aus. Einige waren sogar bleich, alle waren besorgt und schweigsam in der Erwartung dessen, was und wie man mit dem Major reden würde. Auch bemerkte ich, daß viele mich sehr verwundert ansahen, doch wandten sie sich schweigend wieder von mir ab. Es schien sie ersichtlich zu befremden, daß ich mich mit ihnen zusammen aufgestellt hatte. Offenbar glaubten sie nicht, daß ich gleichfalls, zusammen mit ihnen, „Streik machen“ wolle. Bald aber wandten sich alle fast gleichzeitig wieder nach mir um und blickten mich fragend an.
„Wozu bist du denn hier?“ fragte mich plötzlich grob und laut Wassilij Antonoff, der etwas weiter von mir stand und mich sonst immer höflich mit „Sie“ angeredet hatte.
Ich sah ihn verständnislos an, immer noch bemüht zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte; doch begann ich schon zu erraten, daß etwas Besonderes vor sich ging.
„Ja, was hast du denn hier zu stehen? Pack dich in die Kaserne,“ sagte ein junger Bursch der Militärabteilung, mit dem ich bis dahin noch nie gesprochen hatte, ein sonst stiller und guter Junge. „Das hier ist nicht deine Sache.“
„Aber es stellen sich doch alle auf,“ entgegnete ich, „ich glaubte, daß man eine Zählung vornehmen wolle.“
„Also der ist auch herausgekrochen!“ rief jemand.
„Ei seh, na seh!“ ein anderer.
„Fliegenknacker!“ sagte ein dritter mit unbeschreiblicher Verachtung. Diese neue Bezeichnung für uns Adlige rief allgemeines Lachen hervor.
„Den geht doch die Küche nichts an,“ meinte jemand.
„Die sind überall im Paradies. Hier ist Kátorga, sie aber stopfen sich mit Weißbrot und kaufen noch ihre Spanferkel dazu. Du futterst doch eigene Kost, was hast du hier zu suchen?“
„Es ist dies hier kein Platz für Sie in diesem Augenblick,“ sagte plötzlich Kulikoff, freundlich auf mich zutretend; er erfaßte meinen Arm und führte mich aus den Reihen.
Er selbst war bleich, seine dunklen Augen blitzten und er biß sich die Unterlippe. Augenscheinlich erwartete er nicht gerade kaltblütig den Major. Ich beobachtete Kulikoff gern in solchen Augenblicken, d. h. in allen Fällen, wo er sich zeigen mußte. Er war dabei entsetzlich eitel, aber er brachte doch immer etwas zustande. Ich glaube, selbst zu seiner Hinrichtung wäre er mit einem gewissen Chik, mit Eleganz gegangen. Jetzt, als mich alle mit „du“ anredeten und schimpften, verdoppelte er offenbar absichtlich seine Höflichkeit mir gegenüber, und gleichzeitig waren seine Worte von einer ganz besonderen Färbung, etwa überlegen-bestimmt; jedenfalls duldeten sie keinen Widerspruch.
„Wir sind hier in einer eigenen Angelegenheit, Alexander Petrowitsch, Sie aber sind hier diesmal überflüssig. Gehen Sie jetzt fort und warten Sie ab ... Sehen Sie, dort in der Küche sind die Ihrigen, gehen Sie dorthin.“
Durch das offene Fenster erblickte ich in der Küche tatsächlich unsere Polen. Aber außer ihnen schienen dort noch andere zu sein. Nicht wenig verwundert begab ich mich zur Küche. Lachen, Schimpfworte und Schnalzen – das im Ostrogg statt des Auspfeifens üblich war – tönte mir nach.
„Das paßt ihm nicht, glaub’s schon!“ ... „Seht mal, da geht er hin!“ ... „Putz Katz!“ ...
So hatte man sich bis dahin noch nie zu mir verhalten und daher war es mir in diesem Augenblick sehr schwer zumut. Im Flur vor der Küche traf ich T. Er war ein junger Adliger, ohne große Bildung, doch ein fester und großzügiger Charakter, – derselbe, der B. unterwegs auf dem Rücken getragen hatte und ihm rührend zugetan war. Er war der einzige von uns Adligen, mit dem die Sträflinge eine Ausnahme machten: sie hatten ihn aufrichtig gern, ja sie liebten ihn sogar. Er war kühn, männlich und stark, und das äußerte sich in jeder seiner Bewegungen.
„Was tun Sie, Goräntschikoff,“ rief er mir zu, „kommen Sie doch her!“
„Aber was ist denn dort los?“
„Sie wollen ihre Ansprüche geltend machen, sehen Sie denn das nicht? Natürlich werden sie damit nichts erreichen: wer wird denn Arrestanten Glauben schenken? Man wird die Anstifter suchen und wenn wir unter ihnen sind, selbstverständlich uns die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Vergessen Sie nicht, wofür wir hierher gekommen sind. Die anderen würde man nur gelinde prügeln, wir aber kämen sofort vor Gericht. Der Major haßt uns und es würde ihn freuen, wenn er uns etwas anhaben könnte. Damit würde er die eigene Schuld auf uns abwälzen.“
„Und von den übrigen würde doch keiner für uns einstehen,“ sagte M–tzkij, als wir in die Küche eintraten.
„Ja, denen würden wir nicht leid tun!“ meinte auch T.
In der Küche waren außer den Adligen noch viele andere Sträflinge, im ganzen vielleicht dreißig an der Zahl. Sie alle wollten von dem Vorhaben der übrigen nichts wissen, oder wenigstens nichts damit zu tun haben – die einen aus Feigheit, die anderen, weil sie von der völligen Nutzlosigkeit jedes Ansprucherhebens fest überzeugt waren. Unter ihnen bemerkte ich auch Akim Akimytsch, den gebotenen Feind aller ähnlichen Demonstrationen, die dem regelmäßigen Gang des Dienstes und wohl auch der Sittsamkeit störend entgegentraten. Schweigend und seelenruhig wartete er den Ausgang der Sache ab, regte sich nicht im mindesten auf, sondern war im Gegenteil vollkommen überzeugt von dem unfehlbaren Triumph der Ordnung und des obrigkeitlichen Willens. Auch Issai Fomitsch war hier; er stand in völliger Verständnislosigkeit da, ließ die Nase hängen und hörte gierig und ängstlich unserem Gespräch zu. Ihm war ersichtlich äußerst bänglich zumut. Und auch die übrigen polnischen Sträflinge hatten sich zu ihren Adligen gesellt. Ferner sah ich daselbst einige ängstliche Russen, jene, die stets schweigsam waren und gewissermaßen verprügelt aussahen. Sie wagten nicht, es mit den anderen zu halten, und warteten traurig ab, womit es enden würde. Endlich waren dort noch einige von den finsteren und schroffen Charakteren, die sonst keine schüchternen Menschen waren. Sie hielten aus Eigensinn nicht mit, und natürlich auch infolge ihrer Überzeugung, daß der ganze Streik nur ein Unsinn sei und nichts als Schlechtes zur Folge haben könne. Doch wollte es mir trotzdem scheinen, daß sie sich hier nicht ganz behaglich fühlten und nicht gerade sehr selbstbewußt dreinschauten. Zwar wußten sie, daß sie bezüglich des Streiks im Recht waren, was auch die Folge bestätigte, aber sie empfanden sich doch gleichsam als Abtrünnige, als Verräter der Genossen, als hätten sie diese dem Platzmajor ausgeliefert. Unter ihnen befand sich auch Jolkin, jener selbe sibirische Bauer, der als Falschmünzer in die Kátorga gekommen war und Kulikoff die ganze Veterinärpraxis abspenstig gemacht hatte. Der Alte aus Starodubowo war gleichfalls hier und von den Köchinnen waren alle in der Küche geblieben, – wahrscheinlich in der Erwägung, daß auch sie einen Teil der Verwaltung ausmachten und es ihnen folglich nicht zustand, gegen die „Eigenen“ aufzutreten.
„Aber wie,“ begann ich etwas unsicher, mich an M–tzkij wendend, „außer diesen hier sind doch alle gegangen.“
„Was geht das uns an?“ brummte B. unwirsch.
„Wir würden hundertmal mehr riskieren als sie, wenn wir gingen, und wozu schließlich? Je hais ces brigands. Und können Sie denn auch nur einen Augenblick glauben, daß eine Demonstration zustande kommen wird? Ich habe keine Lust, auf solchen Blödsinn hereinzufallen.“
„Es wird ja doch nichts draus werden!“ meinte verächtlich ein starrköpfiger und verbitterter Alter. Almasoff, der neben ihm stand, pflichtete ihm sofort bei:
„Man wird einem jeden nur so an fünfhundert aufzählen und das wird alles sein.“
„Der Major ist gekommen!“ rief plötzlich jemand und alle drängten zum Fenster.
Der Major stürzte in den Ostrogg, wütend, aufgebracht, purpurrot im Gesicht, die Brille auf der Nase. Schweigend, aber durchaus entschlossen trat er vor die Front. In solchen Fällen war er stets mutig und verlor nicht die Geistesgegenwart. Übrigens war er dann aber auch stets halbbetrunken. Selbst seine schmierige Offiziersmütze mit dem orangegelben Streifen und die schmutzigen silbernen Epauletten hatten in diesem Augenblick etwas Unheilverkündendes. Ihm folgte der Schreiber Djätloff, eine im Ostrogg sehr wichtige Persönlichkeit, denn eigentlich bestimmte er allein alles, und außerdem hatte er sogar auf den Major großen Einfluß, – ein schlauer Bursch, der immer nach seinem eigenen Kopf handelte, doch sonst kein schlechter Mensch war. Die Sträflinge waren mit ihm zufrieden. Nach ihm kam der Unteroffizier, über dessen Haupt sich allem Anscheine nach bereits ein Hagelwetter ergossen hatte und der ein noch zehnmal größeres erwartete, und nach diesem drei oder vier Wachen, nicht mehr.
Die Sträflinge, die ohne Kopfbedeckung dastanden – wenn ich nicht irre, seit dem Augenblick, in dem sie nach dem Major geschickt hatten – richteten sich jetzt alle gerader auf und ordneten sich: ein jeder trat von einem Fuß auf den anderen, und dann schien alles auf dem Platz zu erstarren, in der Erwartung des ersten Wortes oder ersten Schreies des Vorgesetzten.
Der ließ nicht lange auf sich warten: schon nach dem zweiten Wort gröhlte der Major aus voller Kehle, ja er schien diesmal förmlich zu kreischen, denn er war gar zu wütend. Durch das Fenster sahen wir nur, wie er vor der Front hin- und herraste, auf einzelne losstürzte, ausfragte, schrie. Übrigens konnten wir bei der großen Entfernung weder seine Fragen noch die Antworten der Sträflinge vernehmen. Nur die einzelnen Schreie drangen bis zu uns hin:
„Verschwörer! ... Spießruten! ... Aufwiegler! ... Du bist der Aufwiegler, du, gerade du!“ – Damit stürzte er plötzlich auf einen von ihnen los.
Eine Antwort hörten wir nicht. Nach einer Minute sahen wir, wie ein Sträfling vortrat und sich zur Hauptwache entfernte. Nach Verlauf einer weiteren Minute sahen wir einen zweiten ihm folgen, darauf einen dritten.
„Alle vors Gericht! Ich werde euch! Wer ist dort in der Küche?“ schrie er plötzlich gellend, als er uns im Fenster erblickte. „Alle her! Jagt sie alle her!“
Der Schreiber Djätloff kam in die Küche, wo ihm erklärt wurde, daß man hier keine Ansprüche mache. Er kehrte sofort zurück und meldete es dem Major.
„Ah, also die machen keine!“ sagte er um zwei Töne tiefer und sichtlich erfreut. „Gleichviel, alle her!“
Wir gingen hinaus. Ich fühlte, daß wir uns im Grunde alle schämten, so herauszutreten. Und wir gingen auch alle mit gesenkten Köpfen.
„Ah, Prokoffjeff! Jolkin gleichfalls, und auch du, Almasoff ... Stellt euch, stellt euch alle hierher, so, in eine Gruppe,“ sagte der Major geschäftig, aber mit auffallend milder, weicher Stimme und mit freundlichem Blick auf uns. „Ah, und auch du, M–tzkij, bist also hier ... Alle aufschreiben. Djätloff! Sofort alle Namen aufschreiben, die Zufriedenen separat und die Unzufriedenen separat, alle bis auf den letzten, und das Protokoll sofort mir zuzuschicken! – Ich werde euch alle ... vors Gericht bringen! Ich werde euch! – ihr Spitzbuben! ...“
Die Drohung mit dem Protokoll verfehlte ihre Wirkung nicht.
„Wir sind ja zufrieden!“ rief plötzlich eine Stimme aus der Gruppe der Unzufriedenen, doch klang sie nicht sehr entschlossen.
„Ah, also zufrieden! Wer ist zufrieden? Wer zufrieden ist, der trete vor.“
„Sind zufrieden, alle sind zufrieden!“ hörte man mehrere Stimmen.
„So–o! Also zufrieden! Dann hat euch jemand aufgehetzt? Dann gibt es hier also Aufwiegler, Empörer? Um so schlimmer für sie! ...“
„Gott, was ist denn das!“ hörte man da plötzlich eine Stimme aus der Menge.
„Wie, was, wer hat da geschrien?“ brüllte sofort der Major los, und er stürzte fort in die Richtung, woher dieser Ausruf gekommen war. „Das warst du, Rastorgujeff! Hast du soeben geschrien? Nach der Wache!“
Rastorgujeff, ein etwas pausbackiger, großer, junger Bursch, trat vor und begab sich langsam zum Tor. Er war es nicht gewesen, der geschrien hatte, da aber der Major ihn beschuldigte, widersprach er nicht und ging.
„Nur das Wohlleben macht euch unzufrieden!“ schrie ihm der Major noch nach. „Du dicke Fratze, hast in drei Tagen nicht ... Ich werde euch schon! Die Zufriedenen sollen alle vortreten!“
„Wir sind ja doch zufrieden, Euer Gnaden,“ hörte man finster einige zehn Stimmen sagen; die übrigen schwiegen hartnäckig.
Der Major hatte nur darauf gewartet. Auch er schien die Sache bald erledigen zu wollen, und zwar diesmal möglichst einträchtig.
„Ah, jetzt sind plötzlich alle zufrieden!“ sagte er, sich beeilend. „Das sah ich ja voraus ... das wußte ich! Es stecken natürlich Aufwiegler dahinter! Ja, es gibt unter ihnen offenbar Hetzer!“ fuhr er, sich an Djätloff wendend, fort. „Das muß man genauer untersuchen. Jetzt aber ... jetzt ist es Zeit, zur Arbeit zu gehen. Sofort zum Abmarsch trommeln!“
Er wohnte selbst dem Abmarsch der Arrestanten bei, die schweigend und traurig zur Arbeit aufbrachen, schließlich noch zufrieden damit, daß sie wenigstens ihm aus den Augen kamen.
Gleich darauf begab sich der Major auf die Hauptwache und „erledigte“ die Anstifter, war aber nicht allzustreng. Er beeilte sich ersichtlich dabei. Einer von ihnen hatte schon um Verzeihung gebeten, erzählten später die anderen, und da habe er sofort verziehen. Jedenfalls merkte man es ihm an, daß er nicht ganz so sorglos war und sich vielleicht sogar seine Schuld eingestand. Eine derartige Demonstration ist immerhin eine kitzlige Sache, und wenn man auch dieses Ungehaltensein der Sträflinge kaum eine Demonstration nennen konnte, so war es doch nichtsdestoweniger ungemütlich, unangenehm. Am peinlichsten war dabei, daß sich alle zusammen erhoben hatten. Jetzt hieß es, die Sache so schnell als möglich vertuschen, was es auch koste. Die „Aufwiegler“ wurden bald wieder entlassen. Am nächsten Tage war das Essen besser, doch leider nicht auf lange Zeit. Der Major kam öfter in den Ostrogg und fand immer häufiger Unordnung. Unser Unteroffizier ging mit besorgter Miene und gänzlich aus dem Konzept gebracht umher, als könne er sich vor Verwunderung immer noch nicht fassen. Was nun die Arrestanten anbetrifft, so konnten sie sich noch lange nicht beruhigen, nur regten sie sich nicht mehr in derselben Weise auf, sondern schienen gleichsam stumm erregt zu sein, gewissermaßen verblüfft und befremdet. Einige ließen sogar die Köpfe hängen. Andere brummten, wenn sie auch sonst nicht viel über den ganzen Vorfall sprachen. Manche wiederum verspotteten sich selbst, taten es in seltsam gereiztem Ton, ganz als wollten sie sich selbst für ihren „Streik“ strafen.
„Da hast du’s jetzt, Freundchen, beiß jetzt zu!“ sagt einer.
„Deine Scherze mußt du mit Arbeit bezahlen!“ sagt ein anderer.
„Unsereinem wirst du doch nicht ohne Stock was erklären, das weiß man doch. Dankt Gott, daß er nicht alle durchgeprügelt hat.“
„Nächstens denk mehr und schwatz weniger, das wird besser sein!“ knurrt jemand bissig den anderen an.
„Was stellst du denn für Lehren hier auf, willst wohl unser Schulmeister sein?“
„Warum soll ich nicht lehren?“
„Wer bist du denn überhaupt?“
„Ich bin vorläufig noch ein Mensch, aber wer bist du denn, wenn man fragen darf?“
„Ein Hundeknochen bist du, aber kein Mensch!“
„Na, na, genug geschimpft! Was gackert ihr da wieder!“ schreit man den Streitenden von allen Seiten zu ...
Am Abend desselben Tages, an dem die Demonstration stattgefunden hatte, traf ich nach der Rückkehr von der Arbeit Petroff hinter den Kasernen. Er suchte mich bereits. Als er mir entgegentrat, murmelte er etwas, das wie ein unbestimmter Ausruf klang, verstummte aber zerstreut und ging mechanisch neben mir her. Mir lag der ganze Vorfall noch schmerzlich auf der Seele, und da schien es mir plötzlich, daß Petroff mir einiges erklären könnte.
„Sagen Sie, Petroff, ärgern sich denn die Ihrigen nicht über uns?“ fragte ich ihn.
„Wer?“ fragte er.
„Die Sträflinge über uns ... uns Adlige?“
„Weswegen sollten sie sich über euch ärgern?“
„Nun, weil wir doch nicht mithielten, als sie die Demonstration veranstalteten?“
„Ja, aber warum hätten Sie denn mithalten sollen?“ fragte er, als bemühe er sich, mich zu verstehen. „Sie haben doch eigenes Essen.“
„Ach Gott! Es gibt ja doch auch unter den anderen welche, die eigene Kost essen, und doch waren sie mitgegangen. Nun, und so hätten auch wir gehen sollen ... aus Kameradschaft.“
„Ja ... aber was sind Sie uns denn für ein Kamerad?“ fragte er verwundert.
Ich blickte ihn schnell an: er verstand mich tatsächlich nicht, er begriff nicht, was ich meinte. Dafür aber verstand ich ihn in diesem Augenblick vollkommen. Zum erstenmal wurde mir jetzt ein Gedanke klar, der sich schon lange dunkel in mir geregt und mich verfolgt hatte, ich begriff mit einem Mal, was ich bis dahin nur unklar geahnt. Ich begriff, daß man mich niemals als Kamerad anerkennen würde, und wenn ich auch doppelt und dreifach sibirischer Sträfling wäre, und wenn ich mich auch in der besonderen Abteilung befunden hätte, zu ewiger Zwangsarbeit verurteilt. Ich entsinne mich noch lebhaft, welch einen Ausdruck Petroffs Gesicht in diesem Augenblick hatte. In seiner Frage: „Aber was sind Sie uns denn für ein Kamerad?“ lag soviel unverfälschte Naivität, ein so offenherziges Nichtverstehenkönnen! Ich fragte mich: liegt in diesen Worten nicht Ironie, Bitterkeit, Spott? Doch nein, es war nichts davon in ihnen: du bist uns einfach kein Kamerad, und das ist alles. Geh du deines Weges, wir gehen unseres Weges; du hast deine Interessen und wir unsere.
Und in der Tat, so war es auch. Ich glaubte zuerst, daß man uns jetzt völlig totmachen würde, daß wir von nun an überhaupt kein Leben mehr im Ostrogg haben würden. Doch nichts von alledem geschah: nicht den geringsten Vorwurf, nicht die leiseste Andeutung eines Tadels hörten wir und es verstärkte sich ihre Feindschaft gegen uns nicht im mindesten. Bei Gelegenheit wurden wir nur wie gewöhnlich verspottet, so wie wir auch früher verspottet worden waren, nicht mehr und nicht weniger. Übrigens waren sie ebensowenig auch über die anderen ungehalten, die sich an der Demonstration gleichfalls nicht beteiligt und sich in die Küche zurückgezogen hatten, sowie auch über die nicht, die zuerst gesagt hatten, daß sie mit allem zufrieden seien. Man verlor darüber nicht einmal ein Wort. Namentlich letzteres konnte ich nicht begreifen.
Mich zog es natürlich mehr zu Meinesgleichen, d. h. zu den übrigen „Adligen“, besonders in der ersten Zeit. Doch von den drei ehemaligen russischen Adligen, die im Ostrogg lebten – Akim Akimytsch, dem Spion A–ff und jenem, den man für einen Vatermörder hielt – war Akim Akimytsch der einzige, den ich näher kannte und mit dem ich mich zuweilen unterhielt. Um die Wahrheit zu sagen, muß ich gestehen, daß ich mich an diesen sozusagen nur in der Verzweiflung wandte, in Stunden der größten Langeweile, und wenn ich außer ihm niemanden sah, an den ich mich hätte wenden können. Im vorhergehenden Kapitel machte ich zwar den Versuch, die ganze Ostroggbevölkerung zu klassifizieren, jetzt aber, da ich auf Akim Akimytsch zu sprechen gekommen bin, jetzt fällt es mir ein, daß man zu den bereits genannten noch eine Klasse hinzufügen muß. Allerdings hatte sie nur einen einzigen Vertreter. Das war die Klasse der – vollkommen gleichgültigen Sträflinge. Vollkommen Gleichgültige, d. h. solche, denen es ganz gleich war, ob sie in der Freiheit oder in der Kátorga lebten, konnte es bei uns natürlich überhaupt nicht geben – Akim Akimytsch aber stellte, glaube ich, eine Ausnahme dar. Er hatte sich im Ostrogg so eingerichtet, als hätte er beabsichtigt, bis an sein Lebensende dort zu wohnen: alles, was er besaß, angefangen von der Matratze, den Kopfkissen, ferner alle seine Küchengeräte, kurz, sein ganzer Besitz, – alles war so ordentlich, so tadellos aufgebaut, war so fest und dauerhaft, und schien für eine lange Zeit berechnet. Von Biwakmäßigem, nur Zeitweiligem war an ihm keine Spur zu bemerken. Ihm stand noch eine ganze Reihe von Jahren im Ostrogg bevor, doch ist es nicht anzunehmen, daß er jemals an seine Entlassung aus der Kátorga auch nur gedacht hätte. Indes – wenn er sich auch mit der Wirklichkeit ausgesöhnt hatte, so hatte er es doch nicht auf Wunsch seines Herzens getan, sondern allenfalls aus Subordination, – was bei ihm allerdings ein und dasselbe war.
Er war ein guter Mensch und half mir auch zuweilen mit Rat und Tat, namentlich in der ersten Zeit, mitunter aber – es tut mir herzlich leid, daß es so war –, mitunter aber erweckte er in mir eine so beispiellose Langeweile, die meine Stimmung noch um ein Erhebliches verschlechterte. Hatte ich doch sowieso nur aus Langeweile ein Gespräch mit ihm angeknüpft! Zuweilen lechzte man geradezu nach einem lebendigen Wort, gleichviel ob es nun bitterböse, gereizt, freundlich oder wütend war: wir hätten uns dann doch wenigstens gemeinschaftlich über unser Schicksal geärgert! Er aber schweigt, klebt seine Laternen, oder erzählt, wie in dem und dem Jahre die Parade verlaufen war, wer sein Divisionskommandeur gewesen, wie er geheißen, nennt ihn zweimal mit Namen, Taufnamen, Vaternamen und Familiennamen, und ob er mit der Truppenschau zufrieden gewesen war oder nicht, erzählt wie die Schützensignale eine gewisse Veränderung erfahren hatten ... und ähnliches in Mengen. Und alles das wird mit einer so gleichmäßigen, so würdevollen Stimme vorgetragen, ganz wie Wasser aus der Regenröhre tropft. Nie habe ich bemerkt, daß er sich auch begeistert hätte, selbst dann kaum, wenn er mir erzählte, daß er für die Teilnahme an irgend einer militärischen Operation im Kaukasus des Ordens der „heiligen Anna“ gewürdigt worden war. Nur seine Stimme nahm bei dieser Mitteilung etwas ganz ungemein Wichtiges und Solides an; er senkte sie ein wenig, was sie geradezu geheimnisvoll machte, namentlich wenn er „der heiligen Anna“ aussprach, und etwa drei Minuten darauf wurde er ganz besonders stumm und würdevoll ... In diesem ersten Jahr hatte ich oft Augenblicke – sie kamen immer ganz plötzlich –, in denen ich diesen Akim Akimytsch förmlich zu hassen begann, ohne im Grunde zu wissen weshalb, und in denen ich mein Schicksal dafür verfluchte, daß es mich gerade mit ihm Kopf an Kopf auf der Arrestantenpritsche plaziert hatte. Gewöhnlich machte ich mir bereits nach Verlauf einer Stunde Vorwürfe deswegen ... Aber das war nur im ersten Jahr – späterhin söhnte ich mich im Herzen vollkommen mit ihm aus und schämte mich meiner anfänglichen Dummheiten. Äußerlich haben wir beide stets in Frieden gelebt.
Außer diesen drei Russen waren zu meiner Zeit noch einige polnische Adlige in unserem Ostrogg. Mit einigen von ihnen verkehrte ich recht freundschaftlich und sogar sehr gern; aber leider war mir ein Verkehr nicht mit allen möglich. Die Besseren von ihnen waren – ich weiß nicht, was! Allenfalls könnte man sie krank nennen und im höchsten Grade reserviert und unduldsam. Mit zweien von ihnen sprach ich späterhin überhaupt nicht mehr. Gebildet waren nur drei: B., M. und der alte Sh., der früher irgendwo Professor der Mathematik gewesen war, – ein guter, freundlicher Mensch, ein großer Sonderling, doch trotz der Bildung ein äußerst beschränkter Geist. Ganz anders waren M. und B. Mit M. stand ich mich stets sehr gut. Niemals stritten wir uns, ich achtete ihn, aber ihn zu lieben, mich ihm anzuschließen – das hätte ich nie vermocht. Er war ein unendlich mißtrauischer und verbitterter Mensch, der sich jedoch erstaunlich zu beherrschen wußte. Diese gar zu große Selbstbeherrschung nun war es gerade, was mir nicht gefiel: man fühlte unwillkürlich, daß er niemals und vor keinem einzigen Menschen seine Seele ganz aufdecken würde. Vielleicht irrte ich mich auch. Sonst war er eine starke und durchaus edle Natur. Diese außergewöhnliche, sogar ein wenig jesuitische Gewandtheit und Vorsicht im Umgang mit Menschen verriet natürlich seinen heimlichen, großen Skeptizismus. Und dennoch litt diese Seele gerade unter ihrer Zweiheit: dem Skeptizismus und dem tiefen, unerschütterlichen Glauben an einige seiner Überzeugungen und Hoffnungen. Doch ungeachtet seiner großen Lebenskunst verharrte er die ganze Zeit in unversöhnlicher Feindschaft mit B. und mit dessen Freunde T. B. war ein kranker Mensch, jedenfalls zur Schwindsucht geneigt, reizbar und nervös, doch im Grunde selten gut und sogar großzügig. Seine Reizbarkeit stieg zuweilen bis zur größten Unduldsamkeit und Launenhaftigkeit. Ich ertrug seinen Charakter zuletzt nicht mehr und brach meinen Verkehr mit ihm ab, hörte aber nie auf, ihn zu lieben, während ich M., mit dem ich mich nie stritt, nie zu lieben vermochte. Als ich B. die Freundschaft gekündigt hatte, mußte ich auch auf seinen Freund T. verzichten. (Ich habe von ihm schon im vorhergehenden Kapitel gesprochen, – er war derselbe, der mich am Tage der Demonstration in die Küche zurückrief.) Das tat mir nun sehr leid. Dieser T. war freilich ein ungebildeter Mensch, doch dafür unglaublich gut, mutig, ehrlich – mit einem Wort, ein prächtiger junger Mann. Der Grund für unser Zerwürfnis lag einfach darin, daß er seinen Freund B. dermaßen liebte und hochschätzte, daß er alle, die mit B. die Freundschaft brachen, sogleich für seine eigenen Feinde hielt. Auch mit M. brach er später B.s wegen. Übrigens waren sie alle psychisch krank, verbittert, reizbar, mißtrauisch. Aber das ist ja auch begreiflich – sie hatten es dort sehr schwer, viel schwerer als wir Russen. Sie waren weit entfernt von ihrer Heimat und einige von ihnen waren zu langer Zeit verurteilt, zu zehn, zu zwanzig Jahren. Doch der Hauptgrund ihres Unglücks war, daß sie unendlich voreingenommen auf ihre ganze Umgebung blickten, in den übrigen Sträflingen nichts als tierische Roheit sahen und in ihnen keinen einzigen guten Zug, nichts Menschliches wahrnehmen konnten und nicht einmal wollten – auf diesen unglücklichen Gesichtspunkt waren sie durch die Macht der Verhältnisse verwiesen worden. Da ist es denn auch begreiflich, daß die Qual sie zu ersticken drohte. Zu den Tscherkessen, den Tataren und Issai Fomitsch waren sie sehr freundlich und liebenswürdig, alle anderen aber wurden mit Ekel von ihnen gemieden. Nur der eine Greis aus Starodubowo hatte ihre Achtung erworben. Bemerkenswert ist dabei, daß kein einziger der russischen Sträflinge während dieser ganzen Zeit, die ich im Ostrogg verbrachte, sich über ihre Nation, ihren Glauben oder ihre Denkweise absprechend geäußert hätte, wie es in unserem einfachen Volk zuweilen bezüglich der Ausländer, namentlich der Deutschen, vorkommt, allerdings nur äußerst selten. Übrigens macht man sich auch über die Deutschen bisweilen nur etwas lustig: der deutsche biedere Bürger hat für den einfachen Russen etwas überaus Komisches. Mit den polnischen Adligen gingen dagegen die Sträflinge viel besser um, als mit uns russischen Adligen. Jene aber schienen das nie bemerken und zugeben zu wollen.
Ich sprach von T. Er hatte, als sie aus ihrem früheren Verbannungsort in unseren Ostrogg marschiert waren, den schwächlichen, bald völlig erschöpften B. fast die ganze Zeit getragen. Zuerst waren sie nach U. verbannt gewesen, wo sie es, nach ihren Worten, gut gehabt hatten, d. h. viel besser als in unserem Ostrogg. Da hatten sie aber mit anderen Verbannten, die in einer anderen Stadt lebten, eine Korrespondenz angeknüpft – eine ganz unschuldige –, worauf die Vorgesetzten es für nötig befunden hatten, sie unter die scharfen Augen der höheren Vorgesetzten in unsere Festung zu schicken. Ihr dritter Kamerad war Sh. Bis zu ihrer Ankunft war M. allein im Ostrogg gewesen. Der wird nicht wenig in seinem ersten Gefängnisjahr gelitten haben.
Dieser Sh. war derselbe ewig betende Greis, von dem ich schon einmal gesprochen habe. Alle unsere politischen Verbrecher waren junge Leute, einige sogar sehr jung; nur Sh. allein hatte die fünfzig bereits überschritten. Er war ein durchaus ehrlicher, aber doch etwas eigentümlicher Mensch. B. und T. mochten ihn äußerst wenig, ja sie sprachen nicht einmal mit ihm, was sie damit begründeten, daß er eigensinnig und albern sei. Ich weiß nicht, inwieweit sie in diesem Fall recht hatten. In einem Ostrogg, wo soviel Menschen gegen ihren Willen zusammengepfercht leben müssen, kann man sich, wie ich glaube, leichter entzweien und sich gegenseitig hassen, als in der Freiheit. Es kommt hier gar zu vieles noch hinzu. Freilich war Sh. in der Tat ein ziemlich stumpfer und vielleicht sogar unangenehmer Mensch. Alle seine anderen Kameraden waren gleichfalls nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Ich stritt mich zwar nie mit ihm, doch trat ich ihm auch nie näher. Sein Fach, die Mathematik, schien er allerdings zu kennen. Ich erinnere mich noch, wie er sich in seiner halbrussischen Sprache vergeblich bemühte, ein ganz besonderes, von ihm selbst erfundenes astronomisches System zu erklären. Die anderen Polen hatten mir aber schon gesagt, daß er es auch einmal veröffentlicht habe, von der wissenschaftlichen Welt jedoch nur ausgelacht worden sei. Eigentlich glaube ich, daß er geistig nicht ganz normal war. Er konnte tagelang ununterbrochen knieend beten, wodurch er sich unter den Sträflingen allgemeine Achtung erworben hatte, die man ihm noch bis an sein Ende zollte. Er starb an einer schweren Krankheit in unserem Lazarett – vor meinen Augen. Die Achtung der Sträflinge hatte er übrigens sogleich nach seiner Ankunft im Ostrogg erworben.
Auf dem Marsch von U. bis in unsere Festung hatte man die Sträflinge nicht rasiert, sie waren mit struppigen Bärten angekommen, so daß unser Platzmajor, als man sie ihm so vorgeführt hatte, ob solcher Mißachtung der Subordination in rasende Wut geraten war.
„Was sind das für Sträflinge?“ soll der Major sofort losgebrüllt haben, „das sind ja Landstreicher, Räuber!“
Sh., der damals noch schlecht Russisch verstand und geglaubt hatte, daß man sie frage, was sie sind, Landstreicher oder Räuber, hatte darauf geantwortet:
„Wir sind keine Landstreicher, wir sind politische Verbrecher.“
„Wa–a–as! Du wirst noch grob! Wirst noch grob?“ brüllte der Major. „Auf die Hauptwache! Hundert Rutenhiebe, sofort, unverzüglich!!“
Der Greis wurde gezüchtigt. Er streckte sich widerspruchslos hin, biß die Zähne in den Arm und ertrug die Strafe ohne einen Schrei oder ein Gestöhn, ohne sich zu rühren. B. und T. hatten inzwischen den Ostrogg betreten, wo M., der sie beim Tor erwartet hatte, ihnen sogleich um den Hals gefallen war, obschon er sie bis dahin noch niemals gesehen. Erregt durch den Empfang auf der Wache, hatten sie ihm von Sh. erzählt. Ich entsinne mich noch, wie M. mir diesen Augenblick schilderte:
„Ich war außer mir,“ sagte er, „ich wußte nicht, was mit mir geschah, ich zitterte wie im Fieber, während ich Sh. vor dem Tor erwartete. Er mußte von der Wache, wo er bestraft wurde, direkt in den Ostrogg kommen. Da öffnete sich plötzlich das Tor: Sh. trat ein und ging, bleich, mit blutleeren, bebenden Lippen, ohne den Blick zu erheben, durch die versammelte Schar der ihn erwartenden Sträflinge, die bereits erfahren hatten, daß ein Adliger gezüchtigt wurde, – er ging geradeaus in die Kaserne, ging zu seinem Pritschenplatz, kniete, ohne ein Wort zu sagen, nieder und begann zu beten. Die Sträflinge waren verwundert und sogar gerührt ... Als ich diesen Greis sah,“ fuhr M. fort, „der in der Heimat Weib und Kind zurückgelassen hatte, als ich diesen Greis im Silberhaar, schmachvoll gezüchtigt, im Gebet auf den Knien sah, – da hielt ich es nicht aus, ich stürzte hinter die Kaserne und war zwei Stunden lang wie bewußtlos, ich war wie wahnsinnig ... Die Sträflinge achten ihn seit der Zeit sogar sehr und gehen stets ehrerbietig mit ihm um. Besonders gefiel ihnen, daß er während der Züchtigung nicht geschrien hatte.“
Hier muß ich aber, um die Wahrheit nicht in ein schiefes Licht zu rücken, eine Bemerkung machen: nach diesem einen Fall darf man sich über die Behandlung der verschickten Adligen, gleichviel ob sie Russen oder Polen oder sonst wer sind, von seiten der sibirischen Vorgesetzten keine Vorstellung machen. Dieses Beispiel zeigt nur, daß man bisweilen auch auf einen schändlichen Menschen stoßen kann, und wenn nun zufällig dieser Mensch an einem Ostrogg Kommandeur ist, so wird das Leben des Verbannten, falls dieser ihm aus irgend einem Grunde nicht gewogen ist, allerdings ein entsetzliches sein. Andererseits aber läßt es sich auch nicht leugnen, daß in Sibirien die höchsten Vorgesetzten, von denen der Ton und die ganze Stimmung aller übrigen Kommandeure abhängt, bezüglich der verbannten Adligen sehr feinfühlig sind, und daß diese gewöhnlich viel nachsichtiger behandelt werden, als die anderen Sträflinge. Die Gründe hierfür sind leicht erklärlich: diese höheren Vorgesetzten sind erstens selbst Adlige, zweitens ist es schon früher oft vorgekommen, daß ein Adliger sich nicht gutwillig unter die Ruten gestreckt und sich auf die Exekutoren gestürzt hat. Und drittens – und dieses scheint der Hauptgrund zu sein – kam schon vor langer Zeit, vor etwa fünfunddreißig Jahren, eine große Anzahl Adliger nach Sibirien, und diese Verbannten hatten sich in den dreißig Jahren so zu verhalten gewußt, daß sie die Sympathie ganz Sibiriens erwarben, und daher blickte denn auch die Obrigkeit zu meiner Zeit gleichsam aus alter Gewohnheit ganz unwillkürlich mit anderen Augen auf die adligen Verbannten, als auf die Sträflinge aus den unteren Volksschichten. Nach ihrem Beispiel hatten sich auch die niedrigeren Kommandeure mit denselben Augen zu sehen gewöhnt, da sie eben Auffassung und Ton stets von oben annahmen, ihm gewissermaßen gehorchten und sich ihm unterordneten. Freilich gab es auch unter den Kommandeuren welche, die im Geheimen die höheren Verhaltungsmaßregeln bekrittelten und äußerst zufrieden gewesen wären, wenn man ihnen erlaubt hätte, nach eigenem Gutdünken zu handeln, was man denn doch nicht so ganz tat. Ich habe allen Grund, dieses anzunehmen, und zwar glaube ich es aus folgendem zu ersehen.
Die zweite Klasse der Kátorga, in der auch ich mich befand und die aus den Festungsgefangenen unter militärischem Kommando gebildet wurde, war unvergleichlich schwerer, als die beiden anderen Klassen, die dritte (die Fabrikklasse) und die erste (die Bergwerkklasse). Nicht nur für die Adligen war sie schwerer, sondern auch für alle anderen Arrestanten: eben aus dem Grunde, weil das Oberkommando und die ganze Ordnung dieser Klasse – ausschließlich militärisch und daher den Arrestanten-Strafkompagnien in Rußland sehr ähnlich war. Das militärische Oberkommando ist viel strenger, alles ist enger begrenzt, man ist beständig in Ketten, beständig unter Eskorte, beständig unter Schloß und Riegel. In den zwei anderen Klassen dagegen ist das alles nicht so streng. Wenigstens erzählten das unsere Sträflinge, von denen mehrere die Dinge aus eigener Erfahrung kannten. Sie wären stets mit Freuden in die erste Klasse eingetreten, die sonst für die schwerste gehalten wird, und sogar sehr oft gaben sie diesem Wunsch Ausdruck. Von den Arrestanten-Strafkompagnien in Rußland aber sprachen alle, die in ihnen gewesen waren, mit wahrem Entsetzen und versicherten uns, daß es in ganz Rußland keine schwerere Strafe gebe, als in diese Arrestanten-Strafkompagnien, wie sie in einigen unserer Festungen bestehen, zu kommen, und daß unser Leben in Sibirien im Vergleich mit jenem dort geradezu ein Paradies sei. Daher glaube ich mit Recht annehmen zu dürfen, daß man (wenn man bereits in unserem Ostrogg – trotz des militärischen Oberkommandos, unter den Augen des Generalgouverneurs und schließlich angesichts solcher, zuweilen vorkommender Fälle, daß einige unbeteiligte, doch immerhin offiziöse Personen aus Neid oder aus Diensteifer heimlich an Ort und Stelle zu denunzieren bereit waren – die Verbrecher besseren Standes nachsichtiger behandelt, als die gewöhnlichen) in der ersten und dritten Arrestantenklasse die Adligen noch viel milder behandelt wird und daß ich nach unserem Ostrogg auch sehr wohl über das ganze übrige Sibirien urteilen kann. Alle Gerüchte und Erzählungen, die ich über die Sträflinge der zwei anderen Klassen gehört habe, bestätigen meine Annahme. In der Tat gingen die Vorgesetzten mit uns Adligen aufmerksamer und vorsichtiger um. Erleichterungen in der Arbeit oder Vorzüge in der Verpflegung kamen natürlich nie vor: wir hatten dieselben Arbeiten, dieselben Fesseln, dieselben Ketten, – mit einem Wort, äußerlich war alles genau so wie bei den übrigen. Und es war ja auch nicht gut möglich, Erleichterungen zu verschaffen. In dieser Stadt gab es damals – in jener kaum vergangenen alten Zeit – soviel Denunziationen, soviel Intrigen, soviel einander Gruben grabende Freunde, daß es nur zu begreiflich war, wenn das Oberkommando Angaben fürchtete. Welch eine Beschuldigung wäre aber damals furchtbarer gewesen, als daß man mit den Sträflingen adliger Herkunft Nachsicht übe! So kam es denn, daß jeder Vorgesetzte solche Nachsicht zu zeigen sich fürchtete und wir ebenso gehalten wurden, wie alle anderen, – nur die Körperstrafe bildete eine Ausnahme. Man hätte uns ohne Weiteres züchtigen können, wenn wir es verdient hätten. Das verlangte die Pflicht und die allgemeine Gleichheit der Sträflinge. Aber nichtsdestoweniger hätte man uns doch nicht so mir nichts dir nichts durchgeprügelt. Den anderen dagegen wurde eine solche Behandlung zuweilen zuteil, namentlich von seiten einiger geringeren Vorgesetzten, die mit Vorliebe aus eigener Macht Anordnungen trafen und gern sich als Bevollmächtigte wichtig taten. Wir wußten, daß unser Festungskommandant, als er den Vorfall mit dem bejahrten Sh. erfahren, sich ernstlich über den Major geärgert hatte. Man erzählte bei uns, er habe ihm anempfohlen, sich mit seinen Händen etwas mehr in acht zu nehmen. Ferner wußte man bei uns auch, daß selbst der Generalgouverneur (der sonst ziemliches Zutrauen zum Major besaß und ihm vielleicht sogar wohlgeneigt war, da er in ihm einen guten Befehlsvollstrecker und nicht unbegabten Menschen sah), nachdem ihm nun dieses eigenmächtige Verfahren zu Ohren gekommen war, gleichfalls einen Verweis erteilt hatte. Der Major schrieb sich die Lehre hinter die Ohren. Wie gern er auch zum Beispiel M. etwas angetan hätte, den er auf Grund der Verleumdungen A–ffs haßte, – so konnte er ihn doch auf keine Weise züchtigen lassen, obschon er krampfhaft einen Vorwand suchte. Von der Bestrafung Sh.s erfuhr bald die ganze Stadt, und die öffentliche Meinung wandte sich scharf gegen den Major. Viele hatten ihn zur Rede gestellt und ihm sehr unangenehme Vorwürfe gemacht. Ich entsinne mich jetzt auch wieder meiner ersten Begegnung mit dem Platzmajor. Uns, d. h. mich und noch einen anderen Adligen, der mit mir marschierte, hatte man bereits in Tobolsk vor diesem unangenehmen Menschen gewarnt. Die damals dort angesiedelten Adligen, die schon seit fünfundzwanzig Jahren in der Verbannung lebten, uns mit großer Herzlichkeit empfingen, und mit denen wir während der ganzen Zeit, die wir dort auf dem Transporthof verbrachten, in Beziehung standen, warnten uns dringlich vor unserem zukünftigen Vorgesetzten und versprachen alles zu tun, was sie nur könnten, um uns vor seinen Verfolgungen zu sichern. Und in der Tat, die drei Töchter des Generalgouverneurs, die aus Rußland hingekommen und damals beim Vater zum Besuch waren, hatten von ihnen Briefe erhalten und, wie ich glaube, zu unseren Gunsten mit dem Vater gesprochen. Aber was konnte schließlich der Generalgouverneur tun? Er hat dem Major vielleicht nur gesagt, er möge etwas rücksichtsvoller mit uns umgehen. – Ungefähr um drei Uhr nachmittags kamen wir beide in der Stadt an und die Eskorte führte uns sofort zu unserem Major. Während wir im Vorzimmer auf ihn warteten, wurde nach dem Unteroffizier in den Ostrogg geschickt. Kaum war dieser erschienen, als auch der Platzmajor heraustrat. Sein rotes, finniges und böses Gesicht machte auf uns einen äußerst unangenehmen Eindruck, – ganz als wäre eine wütende Spinne auf eine arme Fliege losgestürzt, die sich in ihrem Netz gefangen hat.
„Wie heißt du?“ fragte er meinen Kameraden. Er sprach schnell, schroff, wie gehackt und wollte augenscheinlich auf uns Eindruck machen.
Mein Freund nannte seinen Namen.
„Und du?“ fuhr er fort, zu mir gewandt. Seine Brillengläser glänzten.
Ich antwortete.
„Unteroffizier! Sofort in den Ostrogg führen, in der Wache nach Zivil rasieren, unverzüglich, den halben Kopf. Morgen andere Fesseln anschmieden. Was sind das für Mäntel? Woher habt ihr die erhalten?“ fragte er plötzlich, jetzt erst unsere grauen Kapots mit dem gelben Kreise auf dem Rücken bemerkend, die man uns in Tobolsk gegeben hatte und in denen wir vor seinen erlauchten Augen erschienen waren. – „Das ist eine neue Art! Das ist sicher eine neu eingeführte Form ... die vorläufig noch projektiert wird ... aus Petersburg ...“ sprach er halb vor sich hin, indem er zuerst mich, dann meinen Freund hin- und herdrehte. „Haben sie sonst nichts mitgebracht?“ fragte er plötzlich den Gendarmen, der mit uns gekommen war.
„Nur eigene Kleider, Euer Gnaden,“ meldete der Gendarm, der sich im Nu stramm aufgerichtet hatte, fast zusammenzuckend vor Schreck. Alle kannten den Major, oder hatten von ihm gehört, allen flößte er Furcht ein.
„Alles ihnen abnehmen. Nur die Wäsche können sie behalten, aber auch nur die weiße; bunte, falls sie welche haben, konfiszieren. Alles übrige in der Auktion verkaufen. Das Geld in die Kasse. Der Arrestant hat kein Eigentum,“ fügte er mit strengem Blick auf uns hinzu. „Nehmt euch in acht, daß ihr euch gut führt! Daß mir nichts von euch zu Ohren kommt! Sonst – kör–per–liche Züch–tigung! Für das geringste Vergehen – Hie–be! ...“
Dieser Empfang machte einen solchen Eindruck auf mich, daß ich an jenem ganzen Abend fast krank war. Allerdings kam auch das noch hinzu, was ich im Ostrogg sah. Aber von meinem Eintritt habe ich ja schon gesprochen.
Ich sagte vorhin, daß man uns Adligen vor den anderen Sträflingen nicht die geringste Vergünstigung oder Arbeitserleichterung gewährte oder zu gewähren wagte. Einmal aber versuchte man es dennoch: B. und ich wurden ganze drei Monate täglich als Schreiber in die Verwaltungskanzlei geschickt. Doch das geschah heimlich und war von der Militärverwaltung veranlaßt worden. Das heißt, es wußten darum freilich auch noch andere, die es gerade wissen mußten, doch taten sie, als waren sie völlig ahnungslos. Das geschah noch unter dem Kommandeur G–ff.
Dieser Oberstleutnant G–ff kam uns wie vom Himmel geschickt, blieb aber nur kurze Zeit bei uns – ein halbes Jahr, wenn ich mich nicht irre, oder noch weniger – dann kehrte er nach Rußland zurück. Er machte auf alle Sträflinge einen mächtigen Eindruck: man liebte ihn nicht nur, man vergötterte ihn förmlich. Wie er es fertigbrachte, vermag ich nicht zu sagen, aber er eroberte alle Herzen in einem Augenblick. „Ein Vater ist er uns, ein leiblicher Vater! Jetzt brauchen wir keinen anderen Vater mehr!“ sagten die Sträflinge von ihm, solange er die Militärabteilung befehligte. Ich glaube, er war ein großer Damenfreund und echter Lebemann; als Erscheinung nicht groß von Wuchs, mit dreistem, selbstbewußtem Blick. Gleichzeitig jedoch war er sehr freundlich gegen die Sträflinge, fast sogar liebevoll, und er hatte sie auch wirklich wie ein Vater gern. Weshalb er sie so liebte, weiß ich nicht, jedenfalls aber konnte er keinen Sträfling sehen oder an sich vorübergehen lassen, ohne ihm ein freundliches, ermunterndes Wort zu sagen, ohne mit ihm zu scherzen; und, was die Hauptsache war, es war dabei nicht die leiseste Spur von Vorgesetztenfreundlichkeit zu sehen, oder auch nur etwas, das ihre Ungleichheit angedeutet hätte. Er war wie der beste Freund. Doch trotz dieses instinktiven Demokratismus in ihm, hat sich kein einziger Sträfling jemals vor ihm etwas zu schulden kommen lassen, sei es durch Unehrerbietigkeit oder gar Familiarität. Im Gegenteil. Wenn der Sträfling ihm begegnete, verklärte sich nur sein ganzes Gesicht, und, die Mütze in der Hand, wartete er lächelnd, bis jener sich ihm näherte. Und wenn er nun gar mit ihm sprach – so war das ja weit mehr, als wenn ein anderer ihn reich beschenkt hätte! Es gibt zuweilen so volkstümliche Leute. Er schaute wie ein kühner Bursche drein und hatte etwas Aufrichtiges und Mutiges in seinem Gang. „Unser Adler!“ nannten ihn bisweilen die Sträflinge.
Große Arbeitserleichterungen konnte er ihnen zwar nicht gewähren: er hatte nur die allgemeinen Arbeiten zu bestimmen, die sowohl unter ihm wie unter all seinen Vorgängern und Nachfolgern immer ein und dieselben blieben, und nach der einmal gegebenen Vorschrift ausgeführt werden mußten. Nur wenn er mitunter einen Trupp bei der Arbeit antraf und sah, daß die Arbeit bereits beendet war, so schickte er sie früher als vor dem Trommelzeichen nach Hause. Vor allem gefiel sein Zutrauen zu den Leuten, das Fehlen kleinlicher Pedanterie und namentlich einiger kränkender Behandlungsformen, wie sie an manchen Vorgesetzten so unangenehm waren. Hätte er tausend Rubel verloren, und hätte ein Sträfling sie gefunden, – so würde er sie ihm unfehlbar wiedergebracht haben, und wenn er auch der größte Dieb von allen gewesen wäre. Ja, ich bin überzeugt, daß er es getan hatte. Nun kann man sich denken, wie sehr es die Sträflinge erregte, als sie eines Tages erfuhren, daß ihr „Adler-Kommandeur“ sich mit unserem verhaßten Platzmajor tödlich entzweit hatte. Das war noch im ersten Monat nach seiner Ankunft bei uns. Unser Major hatte einmal mit ihm im selben Regiment gestanden. Jetzt hatten sie nach langer Trennung als alte Freunde ihr Wiedersehen gefeiert und gehörig gezecht. Plötzlich aber waren sie aneinander geraten. Es war zu einem Streit gekommen und G–ff wurde sein Todfeind. Es hieß sogar, daß sie bei der Gelegenheit handgemein geworden wären, was bei dem Major weiter nicht erstaunlich war, da er in der Betrunkenheit sehr oft tätlich wurde. Als die Sträflinge dieses erfuhren, kannte ihre Freude keine Grenzen.
„Wie könnte wohl der Achtäugige mit einem solchen Mann in Frieden leben! Jener ist ein Adler, unser Major aber ist ...“ es folgte gewöhnlich ein Wort, das für die Wiedergabe nicht ganz geeignet ist. Geradezu fieberhaft interessierte man sich für den Ausgang der Prügelei, und ich glaube, wenn das Gerücht von dem stattgefundenen Kampfe sich als unwahr erwiesen hätte – was es vielleicht auch war –, so hätte dies den Sträflingen großen Verdruß bereitet.
„Nein, sicherlich hat der Kommandeur ihn verhauen, – er ist kleiner und gewandter, jener aber soll sich, wie man hört, aus Angst vor ihm unter das Bett verkrochen haben.“
Bald aber fuhr G–koff fort und der Ostrogg versank wieder in Trübsinn. Doch waren unsere Offiziere alle sehr sympathisch. Solange ich im Ostrogg war, erhielten wir drei- oder viermal neue Kommandeure der Militärabteilung, – „aber solch einen, wie unser Oberstleutnant G–koff war, werden wir nie wiedersehen; – der war ein Adler, ein Adler und Verteidiger!“ sagten die Sträflinge.
Dieser G–koff hatte uns Adlige sichtlich gern, und auf ihn war es auch zurückzuführen, daß man B. und mir in der Kanzlei Arbeit verschaffte. Nach seiner Abreise arbeiteten wir dort regelmäßig weiter; die Offiziere verhielten sich alle sehr sympathisch zu uns, namentlich einer von ihnen. Wir gingen täglich hin, schrieben Aktenstücke ab, unsere Handschrift verbesserte sich sogar, als plötzlich von oben der Befehl kam, uns sofort wieder zu unserer früheren Zwangsarbeit zu verwenden: es hatte jemand bereits Gelegenheit gehabt, zu denunzieren! Übrigens waren wir ganz froh darüber: diese Kanzleiarbeit war uns beiden mittlerweile entsetzlich langweilig geworden! Hierauf gingen wir etwa zwei ganze Jahre fast stets zusammen zu derselben Arbeit, größtenteils in die Werkstätte. Bei der Arbeit schwatzten wir gewöhnlich; wir sprachen von unseren Hoffnungen, Überzeugungen ... B. war ein prächtiger Mensch, nur waren seine Ansichten mitunter recht wunderlich und eigenartig. Es kommt oft vor, daß bei einer gewissen Art Menschen, sogar sehr klugen Menschen, vollkommen paradoxe Begriffe sich entwickeln, von denen sie nicht abzubringen sind. Für diese Begriffe aber hat der Mensch soviel im Leben gelitten, er hat sie so teuer erkauft, daß es ihm gar zu schmerzlich, wenn nicht fast unmöglich wäre, sich von ihnen loszureißen. B. hörte wie unter Schmerzen jeden meiner Widersprüche an und antwortete mir beißend scharf. Vielleicht war er auch mehr im Recht, als ich – ich weiß es nicht. Zum Schluß aber gingen wir auseinander, was mir sehr leid tat und sehr naheging: wir hatten schon soviel miteinander geteilt.
M. wurde mit den Jahren immer finsterer und verschlossener. Der Schmerz verzehrte ihn. Früher, in der ersten Zeit, die ich im Ostrogg verbrachte, war er viel mitteilsamer, seine Seele trat doch immerhin öfter und mehr hervor. Damals, als ich kam, lebte er schon das dritte Jahr im Ostrogg. Anfangs interessierte er sich für vieles von dem, was während dieser Jahre in der Welt geschehen war, und von dem er keine Ahnung hatte. Er fragte mich aus, hörte gespannt zu, regte sich auf. Mit der Zeit aber fing er an, sich gleichsam zu konzentrieren, sich in sein Innerstes zurückzuziehen. Die Kohlen bedeckten sich von selbst mit Asche, seine Verbitterung wuchs.
„Je hais ces brigands!“ sagte er oft zu mir mit haßerfülltem Blick auf die Sträflinge, die ich bereits näher kennen gelernt hatte, und alles was ich zu deren Gunsten vorbrachte, war vollkommen in den Wind gesprochen. Er begriff überhaupt nicht, was ich sprach, mitunter aber gab er mir auch zerstreut recht, doch schon am nächsten Tage sagte er dann wieder: „Je hais ces brigands.“
Mit ihm sprach ich ziemlich oft französisch, was jedoch einen der Arbeitsaufseher, den Pionier Dranischnikoff, aus unbekanntem Gedankengang veranlaßte, uns Grützköpfe und Spitzbuben zu nennen. Nur in einem Fall belebte sich M.: wenn er von seiner Mutter sprach.
„Sie ist alt ... sie ist krank,“ sagte er, „sie liebte mich mehr als alles auf der Welt, ich aber weiß hier nicht einmal, ob sie lebt oder tot ist. Wird es doch schon genug für sie gewesen sein, als sie erfahren mußte, daß ich Spießruten gelaufen bin ...“ M. war nicht adlig und so hatte man ihn vor seinem Abgang in die Verbannung körperlich bestraft. Wenn er sich dieser Bestrafung erinnerte, biß er die Zähne zusammen und blickte angestrengt zur Seite. In der letzten Zeit suchte er immer häufiger die Einsamkeit. An einem Vormittag kurz vor zwölf wurde er plötzlich zum Kommandanten unserer Festung befohlen. Dieser trat ihm mit einem heiteren Lächeln entgegen.
„Nun, M., was hat dir denn heute Nacht geträumt?“ fragte er ihn.
„Ich erschrak,“ erzählte M. später im Ostrogg, „es war mir, als hätte man mein Herz durchbohrt.“
„Daß ich einen Brief von meiner Mutter erhielt,“ antwortete er.
„Das ist noch zu wenig!“ entgegnete der Kommandant. „Du bist frei! Deine Mutter hat für dich gebeten ... ihre Bitte ist erhört worden. Hier ist ihr Brief, und hier ist auch der Entlassungsbefehl. Du wirst den Ostrogg sofort verlassen.“
Bleich und noch halb besinnungslos kehrte M. zu uns zurück. Wir beglückwünschten ihn alle. Mit bebenden Händen drückte er unsere Hände. Auch von den übrigen Sträflingen kamen sehr viele, um ihn zu beglückwünschen und sie freuten sich über sein Glück.
Er kam in die Kolonie und blieb in unserer Stadt, wo er bald eine Anstellung erhielt. In der ersten Zeit kam er oft zum Ostrogg und brachte uns Nachrichten, von denen ihn und uns besonders die politischen interessierten.
Von den übrigen vier Adligen, also außer M., T., B. und Sh., waren zwei noch sehr junge Leute, beide nur auf kurze Zeit verschickt, beide wenig gebildet, dafür aber ehrlich, einfach und offenherzig. Der dritte, A–tschukoffskij, war beinahe einfältig, an ihm war jedenfalls nichts weiter bemerkenswert. Und der vierte, ein gewisser B–m, ein schon bejahrter Mann, machte auf uns alle einen sehr schlechten Eindruck. Ich weiß nicht, wie er unter die „Politischen“ gekommen war; er selbst leugnete es, daß er zu ihnen gehöre. Das war ein roher, kleinlicher Charakter, mit den Angewohnheiten und der Lebensauffassung eines Krämers, der durch erfeilschte Kopeken reich geworden war. Er war gänzlich ungebildet und interessierte sich für nichts, außer für sein Handwerk. Er war nämlich Maler, aber kein gewöhnlicher, sondern ein unvergleichlicher, unübertroffener! Bald hatten sich auch die Vorgesetzten von seinem Talent überzeugt, und verwendeten ihn nur noch zum Anstreichen und „Bemalen“ der Zimmerwände und -decken. In zwei Jahren hatte er fast alle Dienstwohnungen neu angestrichen. Die Einwohner zahlten ihm natürlich auch ein Überflüssiges für seine Mühe, und so lebte er nicht schlecht. Das beste dabei war, daß man mit ihm zusammen auch seine anderen Kameraden zur selben Arbeit schickte. Von diesen, die beständig mit ihm zur Arbeit gingen, erlernten zwei das Handwerk tadellos. Ja, der eine, T–schewskij, malte bald nicht schlechter als er. Da befahl auch unser Platzmajor, der vom Staate gleichfalls freie Wohnung hatte, diesen B–m zu sich und trug ihm auf, alle Wände und Zimmerdecken schön anzumalen. Hier nun gab sich B–m ganz besondere Mühe; selbst beim Generalgouverneur sollen die Wände nicht so schön gewesen sein. Das Haus, das der Major bewohnte, war ein einstöckiges Gebäude, von Holz natürlich, sehr alt, sehr schäbig von außen; von innen aber wurde es wie ein Palais angestrichen, worüber der Major entzückt war ... Er rieb sich die Hände vor Vergnügen und sagte immer wieder, daß er jetzt unbedingt heiraten müsse.
„Wenn man eine solche Wohnung hat, dann geht es nicht anders, dann muß man heiraten!“ sagte er in allem Ernst.
Mit B–m war er jetzt überaus zufrieden und durch B–m auch mit den beiden anderen Adligen, die mit diesem bei ihm arbeiteten. Die Arbeit dauerte einen ganzen Monat. In dieser Zeit änderte der Major seine Meinung über uns vollständig und verhielt sich von da an sehr gönnerhaft zu allen Adligen. Ja, eines Tages ging er sogar so weit, daß er plötzlich den alten Sh. zu sich rufen ließ.
„Sh–kij,“ sagte er, „ich habe dich beleidigt. Ich habe dich unnütz prügeln lassen, ich weiß es. Jetzt bereue ich es. Begreifst du, was das heißt? Ich, ich, ich – bereue es!“
Sh. antwortete, daß er es begreife.
„Begreifst du, daß ich, ich, dein Vorgesetzter, dich zu mir habe rufen lassen, um dich um Verzeihung zu bitten! Fühlst du auch die ganze Große dieser Tat? Wer bist du vor mir? – Ein Wurm! Sogar noch weniger als ein Wurm: du bist ein Arrestant! Ich aber bin – von Gottes Gnaden[11] ein Major! Ein Major! Begreifst du auch, was das heißt?“
Sh. antwortete, daß er auch dieses begreife.
„Nun, dann will ich mich jetzt mit dir aussöhnen. Aber fühlst du auch, fühlst du es auch vollständig, ganz und gar? Bist du überhaupt fähig, zu begreifen und zu fühlen? Bedenk doch nur: ich, ich, der Major! ...“ u. s. w.
Sh. erzählte mir selbst die ganze Szene. So schlummerte denn vielleicht auch in diesem ewig betrunkenen, unsinnigen und unordentlichen Menschen noch ein menschliches Empfinden. Wenn man seine Begriffe und seine Entwicklung in Betracht zieht, so kann man ja eine solche Handlung fast für eine großmütige Tat ansehen. Übrigens wird wohl auch sein betrunkener Zustand mit die Veranlassung dazu gewesen sein.
Doch sein schöner Traum verwirklichte sich nicht: es kam nicht zur Heirat, obschon er sich bis zur Beendung des Anstriches völlig dazu entschlossen hatte. Anstatt vor den Altar kam er vor ein Gericht und erhielt den Wink, seinen Abschied zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit wurden dann alle seine alten Sünden aufgedeckt. Früher war er in der Stadt, wenn ich mich nicht täusche, Polizeimeister gewesen ... Der Schicksalsschlag traf ihn vollkommen unerwartet. Im Ostrogg freute man sich unbeschreiblich über seinen Abgang: als die Nachricht kam, wurde der Tag sofort zum Fest, zum Triumphtage! Man erzählte, der Major habe wie ein altes Weib geweint und geschrien, doch war jetzt nichts mehr zu ändern. Er trat aus dem Dienst, verkaufte seine beiden Schimmel und mit der Zeit sein ganzes Hab und Gut und soll später in Armut gelebt haben. Wir begegneten ihm einmal: er trug einen schäbigen Überzieher und eine Mütze mit einer Kokarde. Haßerfüllt blickte er auf den Arrestantentrupp. Mit seiner ganzen Zaubermacht war es vorüber, seitdem er den Waffenrock abgelegt hatte: in diesem war er ein Gewitter, ein Gott gewesen; im Überzieher aber wurde er plötzlich ganz nichtssagend und erinnerte an einen alten Diener. Es ist wirklich sonderbar, wieviel bei solchen Menschen die Uniform ausmacht.
Bald nach der Absetzung unseres Platzmajors erlebten wir große Veränderungen in unserem Ostrogg. Die Kátorga wurde aufgehoben und an ihrer Stelle eine Arrestantenkompagnie unter Militärverwaltung eingeführt, nach dem Muster der russischen Arrestantenkompagnien. Das bedeutete, daß von nun an keine Verbannten der zweiten Klasse mehr in unseren Ostrogg kamen, sondern nur noch militärische Sträflinge, also Leute, die nicht aller Rechte beraubt waren, die Soldaten wie alle anderen Soldaten waren, nur daß sie sich ein Vergehen hatten zu schulden kommen lassen, dafür bestraft und zu einer verhältnismäßig kurzen Zeit verurteilt worden waren (sechs Jahre waren das höchste) und nach ihrem Austritt aus dem Ostrogg wieder in ihre Bataillone als Gemeine zurückkehren konnten. Nur diejenigen, welche dann zum zweitenmal etwas verbrochen hatten, wurden wie früher zu zwanzig Jahren verurteilt.
Wir hatten auch vordem schon eine Militärabteilung gehabt, doch hatte sie nur deshalb bei uns gelegen, weil man sie sonst nirgendwo hatte unterbringen können. Jetzt aber wurde der ganze Ostrogg zu einer solchen Militärabteilung. Doch blieben die früher hierher geschickten Zwangsarbeiter, die aller Rechte beraubt und gebrandmarkt waren, und deren eine Kopfhälfte von der Stirn bis zum Nacken rasiert wurde, bis zum Ablauf ihrer Strafzeit in unserem Ostrogg. Neue dagegen kamen nicht hinzu, die Zahl der vorhandenen verringerte sich mit jedem Jahr, so daß nach zehn Jahren der letzte seine Frist im Ostrogg abgebüßt haben würde. Nur die besondere Abteilung blieb bestehen und in diese wurden nach wie vor schwere Verbrecher aus dem Militär geschickt – „bis zur Einführung der schwersten Zwangsarbeiten in Sibirien“. So kam es denn, daß sich das Ostroggleben für uns genau genommen ohne jede Veränderung fortsetzte: dieselbe Kost, dieselbe Arbeit, fast auch dieselbe Ordnung, nur das Oberkommando hatte sich verändert und war komplizierter geworden. Wir hatten jetzt einen Kompagniechef, einen Stabsoffizier und dann noch vier Leutnants, die abwechselnd im Ostrogg die Wache bezogen. Die Invaliden wurden durch zwölf Unteroffiziere und einen Oberaufseher ersetzt. Wir wurden in Abteilungen zu je zehn Mann eingeteilt, für sie wurden Gefreite aus den Sträflingen ernannt, natürlich nur nominell, und selbstverständlich gehörte jetzt auch Akim Akimytsch zu den Gefreiten. Diese ganze neue Institution sowie der ganze Ostrogg mit allen seinen Aufsehern und Sträflingen unterstand auch jetzt dem Festungskommandanten als höchstem Befehlshaber. Und das war schließlich alles.
Natürlich regten sich die Sträflinge anfangs mächtig auf, es wurde viel über die Neuerungen gesprochen, gestritten, man versuchte, das bevorstehende zu erraten, die neuen Vorgesetzten zu kritisieren. Als man aber sah, daß in Wirklichkeit alles beim alten blieb, da beruhigte man sich im Augenblick und unser Leben nahm wieder seinen alten Gang. Doch die Hauptsache war, daß man uns von unserem früheren Major erlöst hatte: alle schienen jetzt aufzuatmen und neuen Mut zu schöpfen. Das Verschüchterte war verschwunden, ein jeder wußte jetzt, daß er im Notfall mit seinem Vorgesetzten persönlich sprechen, daß man höchstens aus Versehen einen Unschuldigen bestrafen konnte. Selbst der Branntwein wurde bei uns unter genau denselben Bedingungen weiterverkauft, wie früher, obgleich wir doch jetzt an Stelle der gutmütigen Invaliden Unteroffiziere hatten. Diese Unteroffiziere waren, wie es sich zeigte, anständige und vernünftige Leute, die ihre Stellung schließlich ganz gut begriffen. Einige von ihnen zeigten zu Anfang allerdings die Absicht, als Vorgesetzte aufzutreten, und glaubten in ihrer Unerfahrenheit, mit den Arrestanten wie mit Soldaten umgehen zu können. Doch auch sie begriffen bald, daß es sich hier um etwas anderes handelte. Anderen, die es nicht sobald begreifen wollten, wurde der Standpunkt von den Sträflingen selbst klargemacht. Mitunter geriet man sogar ziemlich scharf aneinander: man verleitete z. B. einen Unteroffizier zum Mittrinken, machte ihn trunken, und nachher „erinnerte“ man ihn daran – natürlich auf eigene Art –, daß er mit ihnen gezecht hatte und ... folglich ... Es endete damit, daß die Unteroffiziere sich gleichgültig zu dem Branntweinverkauf verhielten, oder richtiger, sich bemühten, gar nicht zu sehen, wie man die Branntweinschläuche durchschmuggelte und verkaufte. Ja schließlich gingen auch sie, ganz wie früher die Invaliden, auf den Markt und kauften für die Sträflinge Semmeln, Rindfleisch und was diese sonst noch brauchten, – alles, was sie ohne große Verantwortung ihnen verschaffen konnten. Aus welchem Grunde diese ganze Neuerung eingeführt worden war, vermag ich nicht zu sagen. Es geschah dies in den letzten Jahren meiner Strafzeit. Zwei Jahre mußte ich noch unter den neuen Verhältnissen im Ostrogg zubringen ...
Ich denke natürlich nicht daran, alles aus diesem Leben im Ostrogg, von jedem einzelnen Jahr zu berichten. Wollte ich der Reihe nach alles erzählen, was ich dort in der Zeit gesehen, erlebt und empfunden habe, so müßte ich drei-, wenn nicht viermal soviel schreiben, als ich bis jetzt schon geschrieben habe. Und eine solche Beschreibung würde schließlich unwillkürlich eintönig wirken. Alle meine Erlebnisse würden doch zu sehr auf einen Ton gestimmt sein, namentlich wenn der Leser nach dem bereits Geschriebenen sich schon ein einigermaßen richtiges Bild von dem Leben unserer sibirischen Sträflinge der zweiten Klasse gemacht hat. Ich wollte unseren ganzen Ostrogg und alles, was ich in diesen Jahren dort durchlebt habe, in einem anschaulichen und möglichst klaren Bilde zeigen, doch ob es mir auch gelungen ist – das weiß ich nicht. Vielleicht steht es nicht mir zu, darüber zu urteilen. Doch wie dem auch sei, jedenfalls glaube ich, daß ich hiermit schließen kann; zudem überkommt mich selbst in der Erinnerung an jenes Leben die alte Qual. Und dann – wie könnte ich mich jetzt noch aller Einzelheiten in der richtigen Reihenfolge entsinnen? Die späteren Jahre sind in meinem Gedächtnis fast wie ausgelöscht. Vieles habe ich sicherlich ganz vergessen. Ich entsinne mich nur noch, daß alle diese Jahre, die im wesentlichen einander so ähnlich waren, daß man sie kaum unterscheiden konnte, träge und langweilig vorüberzogen. Ich weiß nur noch, daß diese langen, langweiligen Tage so einförmig waren und so langsam vergingen, wie nach einem Regen das Wasser vom Dach in langsamen Tropfen herabtropft. Ich weiß noch, daß nur der leidenschaftliche Wunsch nach Auferstehung, nach Erneuerung, nach neuem Leben mich im Warten stärkte und mich noch hoffen ließ. Und schließlich erstarkte ich: ich wartete, ich zählte jeden Tag, und wenn ihrer auch noch Tausende nachblieben, so zählte ich doch mit Wonne jeden einzelnen ab, begleitete, begrub ihn, und freute mich beim Anbruch des neuen Tages, daß mir jetzt nicht mehr tausend, sondern nur noch neunhundertneunundneunzig bevorstanden. Ich weiß noch, daß ich in dieser ganzen Zeit trotz der Hunderte von Kameraden, stets einsam war, und daß ich zum Schluß diese Einsamkeit lieb gewann. In dieser geistigen Einsamkeit durchlebte ich von neuem mein ganzes Leben, ich untersuchte alles bis zur letzten Einzelheit in ihm, ich dachte über alles und jedes nach, ich kritisierte meine ganze Vergangenheit, hielt streng und unerbittlich über mich selbst Gericht, und in mancher Stunde segnete ich die Vorsehung dafür, daß sie mir diese Einsamkeit geschickt hatte, ohne die ich niemals zu diesem Gericht über mich selbst gekommen wäre, zu dieser strengen Kritik meines früheren Lebens. Und mit welchen Hoffnungen füllte sich mein Herz doch damals! Ich wollte, ich beschloß, ich schwor mir, daß es in meinem neuen Leben nicht mehr jene Fehler, jene Fehltritte geben sollte, die früher von mir begangen worden waren. Ich entwarf ein vollständiges Programm für mein zukünftiges Leben und ich nahm mir fest vor, ihm treu zu folgen. Ein blinder Glaube war in mir, daß ich das alles erfüllen würde und auch erfüllen könnte ... Ich erwartete sehnsüchtig die Freiheit, ich rief sie schneller herbei: ich wollte mich von neuem erproben, im neuen Kampf. Bisweilen ergriff mich eine krampfhafte Ungeduld ... Doch ist es mir schmerzlich, jetzt an meinen Seelenzustand in jener Zeit zu denken. Natürlich geht das nur mich allein an ... Ich habe es ja nur geschrieben, weil ein jeder es begreifen und wohl dasselbe durchmachen wird, der in der Blüte seiner Kraft auf Jahre in ein Gefängnis muß.
Doch wozu davon reden! ... Es ist besser, ich erzähle noch etwas, um nicht gar so schroff abzuschließen.
Es fällt mir soeben ein, daß man ja verwundert fragen könnte, ob denn niemand entflohen ist oder niemand in dieser ganzen Zeit wenigstens einen Fluchtversuch gemacht hat? Ich habe schon gesagt, daß ein Sträfling, der zwei oder drei Jahre bereits im Ostrogg gewesen ist, diese Zeit unwillkürlich zu schätzen beginnt und zu der Ansicht kommt, daß es denn doch klüger ist, auch die anderen Jahre ohne Scherereien, ohne Wagnisse zu verbüßen und dann gesetzmäßiger Kolonist zu werden. Doch diese Berechnung hat nur einer, der nicht zu sehr langer Strafzeit verurteilt ist. Ein zu vielen Jahren Verurteilter dagegen ist fast immer geneigt, das Wagnis zu versuchen ... Nur schien es bei uns eben nicht Sitte zu sein, zu entfliehen. Ob man nun zu ängstlich dazu war, oder ob die militärische Aufsicht gar zu streng oder die Lage unserer Stadt ungeeignet schien (auf der einen Seite die nackte Steppe, auf der anderen die Wälder erst in ziemlicher Entfernung) – das ist schwer zu sagen. Ich glaube, alle diese Gründe wirkten zusammen, und so verging ihnen die Lust dazu. Es war bei uns tatsächlich ziemlich schwer, zu entfliehen. Aber dennoch geschah es einmal: zwei von uns wagten es; sie waren beide zu vielen Jahren verurteilt ...
Nach dem Abgang unseres Majors war A–ff – der für ihn im Ostrogg spioniert hatte – völlig allein und seines Gönners beraubt. Er war ein noch junger Mensch, doch sein Charakter festigte sich mit den Jahren und wurde stärker, bestimmter. Überhaupt war er ein dreister, entschlossener und sogar reiflich überlegender Mensch. Wenn er auch fortfuhr, bei uns zu spionieren, und sicherlich mit verschiedenen lichtscheuen Dingen Handel getrieben haben würde, wenn man ihn wieder in Freiheit gesetzt hätte, so ist es doch anzunehmen, daß er jetzt nicht mehr so dumm und unbedachtsam hereingefallen wäre, wie zum erstenmal, als er für seine Dummheit in den Ostrogg gekommen war. Ich glaube, er hatte sich bei uns mittlerweile im Ausstellen falscher Pässe geübt; doch will ich es nicht gar zu positiv behaupten: ich habe es nur von den anderen Sträflingen erzählen gehört. Man sagt, er habe sich darin schon damals geübt, als er zum Platzmajor ging, und natürlich wird er daraus den größtmöglichen Nutzen gezogen haben. Jedenfalls war er ein Mensch, der sich zu allem entschließen konnte, um sein „Schicksal zu wechseln“. Ich hatte Gelegenheit, ihn gründlich kennen zu lernen: sein Zynismus ging bis zur empörendsten Frechheit, bis zum kältesten Spott und erregte in mir unüberwindlichen Ekel. Ich glaube, wenn er einen Schluck Branntwein hätte trinken wollen, dieser aber nicht anders als durch die Ermordung eines Menschen zu erlangen gewesen wäre, so hätte er unfehlbar diesen Menschen erschlagen – wenn es sich heimlich tun ließ, so daß niemand etwas davon erfuhr. Im Ostrogg hatte er das Berechnen gelernt.
Auf diesen Menschen nun hatte der Sträfling der besonderen Abteilung Kulikoff seine Aufmerksamkeit gelenkt.
Von diesem Kulikoff habe ich schon mehrmals gesprochen. Er war nicht mehr jung, doch leidenschaftlich, zäh, stark und erfreute sich verschiedener außerordentlicher Fähigkeiten. Es stak viel Kraft in ihm und er wollte unbedingt noch einmal in Freiheit „leben“. Leute seines Schlages wollen noch im höchsten Alter „leben“. Wenn ich mich darüber gewundert hätte, daß bei uns niemand einen Fluchtversuch machte, so hätte ich dabei zuerst wohl an Kulikoff gedacht. Und richtig: es war Kulikoff, der sich dazu entschloß. Wer von beiden den größeren Einfluß auf den anderen besaß – A–ff auf Kulikoff oder dieser auf ihn? – vermag ich nicht zu sagen, jedenfalls aber waren beide einander wert und eigneten sich vorzüglich zur Ausführung ihrer Idee. Sehr bald hatten sie sich angefreundet. Ich glaube, Kulikoff hatte darauf gerechnet, daß A–ff die falschen Pässe anfertigen würde. A–ff war adlig, gehörte zur guten Gesellschaft – das verhieß eine gewisse Abwechselung für die zukünftigen Abenteuer. Wenn man sich nur erst nach Rußland durchschlagen könnte! Wer weiß es, wie sie sich verabredet und welche Hoffnungen sie gehabt haben; sicherlich aber gingen diese Hoffnungen über den Horizont der gewöhnlichen sibirischen Landstreicher hinaus. Kulikoff war ein gebotener Schauspieler, er konnte viele und die verschiedensten Rollen im Leben spielen, er konnte mit Recht auf vieles hoffen, zum mindesten auf Abenteuerlichkeit in seinem Leben. Solche Leute mußten sich im Ostrogg unwillkürlich wie lebendig begraben fühlen. Und so verabredeten sich die zwei, zu entfliehen.
Nun war es aber unmöglich, die Flucht ohne einen Eskortesoldaten auszuführen. Es hieß also, einen Soldaten überreden.
In einem der Bataillone, die in der Festung lagen, diente ein Pole, ein energischer Mensch, der eigentlich ein besseres Schicksal verdient hatte, nicht mehr jung, ernst und tapfer. In der Jugend war er sogleich nach seiner Ankunft in Sibirien aus Heimweh entflohen. Man hatte ihn wieder eingefangen, bestraft und auf zwei Jahre in die Strafkompagnie gesteckt. Als er dann wieder ins Bataillon zurückgekehrt war, hatte er sich bedacht und seine Zeit gewissenhaft abzudienen begonnen. Dafür war er bald zum Gefreiten befördert worden. Er war ein ehrgeiziger, selbstbewußter Charakter: er blickte und sprach wie einer, der seinen eigenen Wert kennt. Ich sah ihn ziemlich oft unter unseren Eskortesoldaten und auch die Polen hatten mir schon einiges von ihm erzählt. Es schien mir, daß sein früheres Heimweh sich in ihm mit der Zeit in versteckten, dumpfen, ewigen Haß verwandelt hatte. Dieser Mensch konnte sich gleichfalls zu allem entschließen, und Kulikoff täuschte sich nicht, wenn er ihn zum Spießgesellen erwählte. Sein Familienname war Koller. Sie verabredeten sich alle drei und bestimmten auch den Tag dazu. Es war im Juni in der heißen Zeit. Das Klima Sibiriens ist ziemlich gleichmäßig: im Sommer ist das Wetter fast unveränderlich heiß, was ja dem Landstreicher sehr zustatten kommt. Natürlich konnten sie nicht direkt aus der Festung entfliehen: die ganze Stadt liegt gänzlich frei, ist von allen Seiten offen. Die Wälder beginnen erst in einiger Entfernung, die für den Flüchtling immerhin ziemlich groß ist. Ferner mußten sie sich erst umkleiden und zu dem Zweck auf unauffällige Weise in die Vorstadt gelangen, wo Kulikoff schon seit langer Zeit einen Zufluchtsort hatte. Ich weiß nicht einmal, ob ihre Freunde dort in der Vorstadt in das Geheimnis eingeweiht waren. Es ist freilich anzunehmen, daß sie es waren, obgleich es späterhin nicht ganz zu erweisen war. In jenem Jahr hatte in einem Winkel der Vorstadt ein junges und recht hübsches Mädchen, das Wanjka-Tantka genannt wurde, eine besondere Betätigung begonnen und berechtigte zu großen Hoffnungen, die sie in der Folge auch teilweise erfüllte. Sie wurde „die Flamme“ genannt. Wie mir scheint, hatte auch sie hier ihre Hand mit im Spiel, denn Kulikoff war von ihr schon ein ganzes Jahr lang geplündert worden.
Unsere beiden Flüchtlinge verließen an einem Morgen wie gewöhnlich den Ostrogg, um sich zur Arbeit zu begeben, hatten es jedoch so eingerichtet, daß man sie mit dem Sträfling Schilkin, einem Ofensetzer und Stuckateur, in eine leerstehende Bataillonskaserne schickte, aus der Soldaten vor längerer Zeit ins Manöver ausgezogen waren. A–ff und Kulikoff wurden mit Schilkin als Handlanger mitgeschickt. Koller stellte sich zu ihnen als Eskorte; da aber drei Sträflinge zwei Mann als Bedeckung erforderten, so wurde dem Koller, als altem Soldaten und Gefreiten, auf dessen Vorschlag gern nur ein junger Rekrut mitgegeben, damit dieser das Eskortieren und Bewachen lerne. Daraus ersieht man, einen wie ungeheuren Einfluß unsere Flüchtlinge auf Koller gehabt haben müssen, wenn er ihnen aufs Wort geglaubt und sich nach langjährigem und in der letzten Zeit erfolgreichem Dienst, als kluger, solider und überlegungsfähiger Mensch der er war, entschlossen hatte, ihnen zu folgen.
Um sechs Uhr morgens langten sie in der Kaserne an. Außer ihnen war dort niemand. Nachdem sie ungefähr eine Stunde gearbeitet hatten, sagten Kulikoff und A–ff dem Schilkin, daß sie in die Werkstätte gehen würden, erstens um dort jemand zu sprechen, und zweitens um bei der Gelegenheit auch noch ein Werkzeug von dort mitzunehmen, das ihnen hier fehlte. Mit Schilkin mußte man schlau umgehen und so natürlich als möglich. Er war Moskauer, Ofensetzer von Beruf, ein Typ der Moskauer Kleinbürger, schlau, hinterlistig, klug und wenig gesprächig. Äußerlich war er ein schwächliches und ausgemergeltes Kerlchen. Man sollte meinen, daß die Natur ihn dazu bestimmt hatte, bis an sein Lebensende in Rock und Weste nach Moskauer Art zu gehen, doch siehe, das Schicksal hatte es anders gewollt, und er hatte sich nach langen Irrfahrten bei uns in der besonderen Abteilung auf ewig niedergelassen, als einer der größten militärischen Verbrecher. Womit er sich diese Laufbahn verdient hatte, ist mir unbekannt; eine besondere Unzufriedenheit mit ihr ist mir jedoch nie an ihm aufgefallen. Er führte sich ruhig und gleichmäßig auf, und betrank er sich zuweilen auch wie ein Schuster, so benahm er sich doch selbst im Rausch noch gut. Er wußte natürlich nichts von dem Vorhaben der anderen, doch mußten sie vorsichtig sein, denn er hatte scharfe Augen. Es versteht sich wohl von selber, daß Kulikoff ihm durch einen Wink zu verstehen gab, weshalb sie eigentlich gingen: doch nur um den Branntwein, der schon seit gestern dort verborgen sei, abzuholen! Das rührte Schilkin: er ließ sie ohne jeden Argwohn fortgehen und blieb mit dem jungen Rekruten zurück, Kulikoff, A–ff und Koller jedoch begaben sich geradenwegs in die Vorstadt.
Es verging eine halbe Stunde: sie kehrten nicht zurück. Das machte Schilkin plötzlich stutzig und er begann nachzudenken. Jetzt entsann er sich, daß Kulikoff bei auffallend guter Laune gewesen war und A–ff zweimal mit ihm geflüstert hatte, wenigstens hatten sie sich beide wiederholt zugeblinzelt, – das hatte er bemerkt und dessen entsann er sich jetzt deutlich. Auch Koller war anders gewesen als sonst: warum hatte er zum Beispiel vor dem Fortgehen dem Rekruten eine solche Predigt gehalten: was er in seiner, Kollers, Abwesenheit zu tun habe? Das war zum mindesten von Koller etwas unnatürlich. Mit einem Wort, je mehr Schilkin sich die Sachlage vergegenwärtigte, um so verdächtiger erschien sie ihm. Inzwischen verging die Zeit, die drei aber kehrten noch immer nicht zurück, und Schilkins Unruhe wuchs mit jeder Minute ... Er begriff nur zu gut, wieviel er dabei selbst zu fürchten hatte, denn auf ihn konnte sehr leicht der Verdacht der Vorgesetzten fallen. Man konnte denken, daß er die Kameraden wissentlich habe entlaufen lassen, nach gemeinsamer Abmachung, und daß dieser Verdacht, wenn er nicht sofort von dem Vorgefallenen Mitteilung machte, noch an Wahrscheinlichkeit gewinnen würde. Er durfte also keine Zeit verlieren. Jetzt erinnerte er sich auch, daß Kulikoff und A–ff in der letzten Zeit ganz besonders eng miteinander befreundet gewesen, daß sie oft die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt hatten, und fern von allen anderen hinter den Kasernen hin- und hergegangen waren. Ja, es fiel ihm sogar ein, daß er schon früher sich etwas in Bezug auf die beiden gedacht hatte ... Forschend blickte er auf seinen Eskortesoldaten: der stand, auf sein Gewehr gestützt, gähnte und reinigte sich in der unschuldigsten Weise mit dem Finger die Nase, so daß Schilkin ihn nicht einmal der Mitteilung seiner Gedanken für würdig hielt, sondern dem Burschen einfach befahl, ihm in die Militärwerkstätte zu folgen. Dort mußte er sich erkundigen, ob sie dagewesen waren. Er ging hin, fragte, doch niemand hatte sie dort gesehen. Jetzt gab es für Schilkin keinen Zweifel mehr.
„Wären sie nur in die Vorstadt gegangen,“ dachte er, „um dort zu trinken und sich zu amüsieren, wie Kulikoff das zuweilen tut, so hätten sie sich doch nicht unter einem falschen Vorwand aus dem Staube gemacht. Dann hätten sie es mir doch gesagt!“
So verließ denn Schilkin die Werkstätte und begab sich – nicht zu seiner Arbeit zurück, sondern direkt in den Ostrogg.
Es war schon fast neun Uhr, als er beim Feldwebel erschien und diesem meldete, was vorgefallen war. Der Feldwebel erschrak und wollte ihm zuerst kaum glauben. Schilkin hatte es ihm allerdings nur als Verdacht, als Möglichkeit mitgeteilt. Dann aber eilte der Feldwebel doch zum Major, der Major sofort zum Festungskommandanten, und nach einer Viertelstunde waren alle notwendigen Maßregeln getroffen. Der Generalgouverneur wurde gleichfalls benachrichtigt. Es waren wichtige Verbrecher und man konnte sich ihretwegen aus Petersburg viele Unannehmlichkeiten holen.
A–ff wurde zu den „Politischen“ gerechnet – obgleich er doch nur andere Politische anzuzeigen versucht hatte –, und Kulikoff gehörte zur besonderen Abteilung, war also ein „Erzverbrecher“, und dazu noch ein militärischer. Bis dahin war es noch nie vorgekommen, daß jemand aus der besonderen Abteilung entflohen wäre. Nun kam noch hinzu, daß nach der Vorschrift jeder Arrestant der „besonderen“ von zwei Soldaten begleitet werden mußte, oder wenn ihrer mehr waren, von je einem – diese Vorschrift war aber im vorliegenden Fall nicht eingehalten worden. Kurz, die Sache war sehr unangenehm. Man sandte sofort reitende Boten in alle umliegenden Dörfer, Kosaken wurden zur Verfolgung ausgesandt, man schrieb an alle benachbarten Kreise und Gouvernements – mit einem Wort, man war sehr besorgt und tat sein Möglichstes.
Währenddessen herrschte bei uns im Ostrogg eine Aufregung anderer Art. Die Sträflinge erfuhren, je nachdem, wie sie von der Arbeit zurückkehrten, sogleich das große Ereignis. Die Kunde davon hatte sich schon im ganzen Ostrogg verbreitet, und alle hatten sie mit einer ungeheuren, heimlichen Freude vernommen. Bei jedem schien das Herz zu erbeben ... Abgesehen davon, daß dieser Zwischenfall die Monotonie des Ostrogglebens unterbrach, fand auch die Flucht, und noch dazu eine solche Flucht, in jeder Seele einen vertrauten Widerhall – in allen Herzen regte sich so etwas wie Hoffnung, Verwegenheit, da doch jetzt die Möglichkeit, „sein Schicksal zu wechseln“, durch sie bewiesen war!
„Aber es sind doch zwei entflohen, warum soll man es denn nicht können! ...“ Und ein jeder wurde bei diesem Gedanken mutiger und blickte herausfordernd die anderen an. Wenigstens wurden alle plötzlich ungemein stolz, und sogar auf die Unteroffiziere blickte man jetzt merklich von oben herab. Natürlich erschienen sofort alle Offiziere, sogar der Festungskommandant kam angefahren. Unsere Sträflinge aber benahmen sich sehr selbstbewußt und schauten fast mit einer gewissen Verachtung, mit einem schweigsamen, strengen Ernst drein, als hätten sie damit sagen wollen:
„Wir verstehen eine Sache anzufassen!“
Man hatte selbstverständlich einen allgemeinen Besuch der Vorgesetzten und eine peinliche Durchsuchung vorausgesehen, und daher alles Verbotene schnell und sorgfältig versteckt. Man wußte, daß Vorgesetzte in solchen Fällen hinterher sehr klug zu sein pflegen. Und so geschah es auch: alles wurde durchwühlt, durchsucht, und das Ergebnis war – daß man nichts fand. Zur Nachmittagsarbeit wurden die Sträflinge unter verstärkter Eskorte ausgeschickt. Am Abend kamen die Wachthabenden alle Augenblicke in den Ostrogg. Die Sträflinge wurden einmal mehr als gewöhnlich gezählt; und bei der Gelegenheit verzählte man sich dann noch einmal. Dadurch entstand große Verwirrung; schließlich wurden alle auf den Hof hinausgetrieben und von neuem gezählt. Und dann wurde in jeder Kaserne noch einmal gezählt ... Kurz, es gab viel Scherereien.
Aber die Sträflinge fragten nicht viel danach, alle blickten sie auffallend selbstbewußt drein, und wie es in solchen Fällen gewöhnlich geschah, benahmen sie sich an diesem ganzen Abend außerordentlich gesetzt – einfach musterhaft! Jede Miene drückte aus: „Ihr könnt uns doch nichts anhaben!“
Die Vorgesetzten glaubten natürlich, daß sich im Ostrogg noch Spießgesellen oder wenigstens Mitwisser befanden, und so ward den Unteroffizieren befohlen, die Ohren offen zu halten. Doch die Sträflinge machten sich darüber nur lustig.
„Das ist doch kein Unternehmen, bei dem man Mitwisser hinterläßt!“
„So etwas wird vorsichtig und im stillen gemacht, nicht aber an die große Glocke gehängt.“
„Und sind denn Kulikoff und A–ff Leute, die ihre Spur nicht zu verwischen verstehen? Sie haben es meisterhaft ausgeführt, alles klappt bei ihnen! Diese Jungen können was, die gehen selbst durch feste Türen!“
Mit einem Wort – Kulikoff und A–ff waren die Helden des Tages, alle schienen förmlich stolz auf sie zu sein. Wußte man doch, daß die Erinnerung an ihre Tat bis zu den fernsten Nachkommen der Zwangsarbeiter fortbestehen, ja daß sie den ganzen Ostrogg überleben würde!
„Ein meisterhafter Streich!“ sagten die einen.
„Da haben sie nun immer geglaubt, daß von hier niemand entfliehen würde! Da haben sie’s jetzt, man ist doch entflohen! ...“ sagten andere.
„Entflohen!“ rief ein dritter aus, und blickte sich mit einer gewissen Autorität im Kreise um.
„Aber wer ist denn entflohen! ... Etwa so einer wie du?“
Zu jeder anderen Zeit würde der Sträfling, an den diese verächtlichen Worte gerichtet waren, unbedingt seine Ehre verteidigt haben. Diesmal aber schwieg er bescheiden.
„Es ist ja wahr, nicht alle sind wie Kulikoff und A–ff. Zeig erst, wer du bist ...“
„Nein, wirklich, Brüder, wozu leben wir eigentlich hier?“ unterbricht das Schweigen ein vierter, der ruhig am Küchenfenster sitzt, die Wange in die Hand stützt und, mit einem innerlich selbstzufriedenen Gefühl, etwas singend spricht. „Was tun wir hier? Wir leben, ohne Menschen zu sein, wir sind begraben, ohne gestorben zu sein ...“ und er seufzt.
„Das geht nicht so einfach ... Das kann man nicht wie einen Stiefel vom Fuß abziehen. Was seufzest du?“
„Aber da haben wir doch Kulikoff ...“ mischt sich ein Heißsporn ein, ein junger Gelbschnabel.
„Kulikoff!!“ ruft sofort ein anderer mit verächtlichem Blick auf den dummen Milchbart. – „Kulikoff!!“
Das heißt soviel als: gibt es denn viele Kulikoffs?
„Nun, und auch A–ff, Brüder, ist doch ein gewandter Junge, weiß der Teufel!“
„Ha! der krempelt selbst den Kulikoff zwischen den Fingern um!“
„Wer weiß, wie weit sie jetzt schon sind, – was meint ihr?“
Und sofort begann man, über die Frage zu sprechen, wie weit sie wohl bis jetzt gekommen sein mochten. In welcher Richtung mochten sie sich entfernt haben? Welcher Weg wäre der beste? Welches Dorf das nächste?
Einige kannten die Umgegend, ihnen nun hörte man mit Interesse zu. Man sprach auch von den Einwohnern der benachbarten Dörfer und meinte, daß sie nicht sehr „günstig“ seien. In der Nähe der Stadt sei das Landvolk zu gerieben. Die würden den Flüchtlingen keinen Beistand leisten, sondern sie einfangen und ausliefern.
„Mit diesem Bauernvolk, Brüder, ist in hiesiger Gegend nichts zu wollen: echte Bauern.“
„Dumm.“
„Ein Sibirier ist nicht dumm. Sieh dich nur vor, daß er dich nicht totschlägt.“
„Nun ja, aber unsere ...“
„Versteht sich, hier handelt es sich doch nur darum, wer dem anderen über ist. Auch die Unsrigen sind nicht dumm.“
„Nun, wenn wir nicht sterben, werden wir wohl noch von ihnen hören.“
„Was, glaubst du, daß man sie fangen wird?“
„Ich glaube, daß man sie nie im Leben fängt!“ meint ein Hitzkopf und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Hm! Es kommt darauf an.“
„Ich aber, Brüder, denke,“ mischt sich Skuratoff ein, „daß man mich, wenn ich Landstreicher wäre, nie und nimmer fangen würde!“
„Jawohl, dich!“
Gelächter erschallt. Einige aber stellen sich, als wollten sie nichts hören.
Skuratoff ist schon in seinem Element.
„Nie und nimmer würde man mich fangen!“ bekräftigt er energisch. „Ich, Brüder, ich habe das schon oft bei mir gedacht und mich über mich selber gewundert: ich glaube, ich würde durch jeden Spalt kriechen; aber fangen würden sie mich nicht.“
„Hab keine Bange: wirst schon hungrig werden und den Bauer um Brot betteln.“
Allgemeines Gelächter.
„Was schnatterst du da! Du hast ja doch selbst mit Onkel Wassei den Kuhtod erschlagen[12] und bist dafür hierher gekommen.“
Das Gelächter verstärkt sich. Die Ernsten blicken mit größerem Unwillen drein.
„Das lügst du!“ schreit Skuratoff, „das hat dir Mikitka von mir vorgelogen, und nicht einmal von mir, sondern von Wasjka, ich aber wurde so mit hineingezogen! Ich bin Moskauer und von Kindesbeinen an in der Landstreicherei bewandert. Als mir unser Unterdiakon noch das Lesen beibrachte, zog er mich bisweilen schmerzhaft am Ohr: sag, schrie er, ‚erbarme dich mein, Herr, in deiner großen Barmherzigkeit‘, und so weiter, – ich aber sagte: ‚und führe mich auf die Polizei, Herr, in deiner großen Barmherzigkeit‘, und so weiter ... Und das war so meine Handlungsweise von Kindesbeinen an.“
Wieder lachten alle. Das aber war ja alles, was Skuratoff wünschte. Es war ihm ganz unmöglich, keinen Unsinn zu schwatzen. Doch bald hörte man nicht mehr auf sein Geschwätz und wandte sich wieder ernsten Gesprächen zu. Es redeten mehr die Alten und die Sachkenner. Die Jüngeren und Bescheidenen freuten sich nur, mit den Blicken an ihnen hängend, und streckten die Köpfe vor, um ihnen zuzuhören. Es hatte sich eine große Versammlung in der Küche gebildet. Unteroffiziere waren natürlich nicht zugegen, sonst hätte man nicht so offen gesprochen. Unter den besonders freudigen Gesichtern bemerkte ich einen Tataren, Mametka mit Namen, eine äußerst komische Erscheinung mit braunem Gesicht und breiten Backenknochen. Er sprach fast überhaupt nicht russisch und verstand auch nicht, was man sprach, steckte aber dennoch seine Nase in den Kreis der Zuhörer und hörte, hörte mit wahrer Wonne zu.
„Nun, was, Mametka, jakschí?“ fragte ihn der von allen verlassene Skuratoff, ob es ihm gefiele.
„Jakschí! Uch, jakschí!“ antwortete sofort belebt und Skuratoff mit seinem komischen Kopf eifrig zunickend Mametka: „Jakschí!“
„Man wird sie doch nicht einfangen? Jok?“
„Jok, jok!“ Und Mametka nickte wieder eifrig mit dem Kopfe und bewegte diesmal sogar die Arme dazu.
„Also es bleibt dabei, die Sache ist erledigt und abgetan?“
„Ja, ja, jakschí!“ bestätigte Mametka wieder kopfnickend.
„Nun, dann also jakschí!“
Und Skuratoff geht, nach einem geschickten Schlag auf Mametkas Mütze, sodaß diese ihm auf die Augen fällt, in der vergnügtesten Stimmung zur Küchentür hinaus, den armen Mametka in einiger Verwunderung zurücklassend.
Eine ganze Woche dauerte die strenge Aufsicht im Ostrogg. Indessen mühte man sich vergeblich, der Flüchtlinge habhaft zu werden. Ich weiß nicht, durch wen die Sträflinge von den Streifzügen der Häscher benachrichtigt wurden, doch wußten sie alles. In den ersten Tagen lauteten die Nachrichten immer noch günstig für die Flüchtlinge: es war nichts von ihnen zu sehen noch zu hören, sie waren spurlos verschwunden. Die Sträflinge spotteten nur über die Häscher. Niemand beunruhigte sich mehr wegen der Entlaufenen.
„Nichts werden sie finden, nichts einfangen!“ wurde selbstzufrieden oft genug gesagt.
„Gut, wenn sie noch die Abdrücke ihrer Absätze sehen werden!“
„Gepfiffen, die werden grad wiederkommen!“
Auch hatte man bei uns erfahren, daß alle Bauern der Umgegend aufgeboten waren, um beim Kesseltreiben behilflich zu sein, daß alle verdächtigen Wälder und Schluchten umzingelt wurden.
„Unsinn!“ sagte man bei uns spöttisch. „Sie haben sicherlich jemand gefunden, bei dem sie sich vorläufig aufhalten!“
„Versteht sich!“ meinten auch andere. „Die werden doch nicht dumm sein: die haben doch alles schon früher vorbereitet.“
Man ging noch weiter in den Vermutungen; ja man äußerte sogar die Ansicht, daß die Flüchtlinge sich vielleicht noch in der Vorstadt aufhielten, sich vielleicht irgendwo in einem Keller versteckt hatten, bis die Aufregung sich gelegt und ihnen die Haare gewachsen waren – „sie können ja dort sechs Monate sitzen, sogar ein ganzes Jahr, und dann erst brechen sie auf ...“
Alle befanden sich in einer gewissermaßen romantischen Stimmung. Da verbreitete sich plötzlich, am achten Tage nach der Flucht, das Gerücht, daß man ihnen auf der Spur sei. Natürlich wurde diese sinnlose Behauptung mit Verachtung zurückgewiesen. Am Abend aber wurde es noch bestätigt. Die Sträflinge gerieten in Aufregung. Am nächsten Tage sprach man schon am Morgen in der ganzen Stadt, daß man sie bereits gefangen habe und zurückbringe. Nach dem Mittag erfuhr man Näheres: Man sei ihrer in einem siebzig Werst entfernten Dorfe habhaft geworden, hieß es. Und endlich wußte man alles ganz genau. Der Feldwebel erklärte, als er vom Major kam, daß man sie am Abend bestimmt in die Hauptwache beim Ostrogg einliefern würde. Jetzt konnte man nicht mehr zweifeln. Es ist schwer, den Eindruck zu schildern, den diese Nachricht auf die Sträflinge machte. Zuerst schienen sie alle wütend zu sein, dann aber wurden sie traurig, bis sich schließlich gewisse Anzeichen von Spottlust bemerkbar machten. Ja, man spottete, aber nicht mehr über die Häscher, sondern über die Eingefangenen. Zuerst lachten nur einige, dann aber fast alle, ausgenommen nur wenige Ernste und Charakterfeste, die unabhängig dachten und die man nicht so leicht von ihrer Ansicht abbringen konnte. Diese blickten mit einer gewissen Verachtung auf die leichtsinnige Masse und behielten ihre Gedanken für sich.
So kam es denn, daß man im selben Maße, wie man Kulikoff und A–ff früher in den Himmel gehoben hatte, sie jetzt wiederum klein machte; ja man schien es mit Genugtuung zu tun, als hätten jene alle durch irgend etwas beleidigt. Man sagte mit verächtlicher Miene, sie hätten zu großen Appetit gehabt und seien deswegen nach Brot ins Dorf gegangen, das aber war die größte Erniedrigung für einen Landstreicher. Doch waren diese Erzählungen unrichtig: sie hatten sich in einen Wald geflüchtet, der Wald war umzingelt worden, worauf sie, als sie keine Rettungsmöglichkeit mehr sahen, sich selbst ergeben hatten – es war ihnen einfach nichts anderes übrig geblieben.
Als man sie nun kurz vor Abend tatsächlich brachte, an Händen und Füßen gefesselt, begleitet von vielen Gendarmen, da eilte die ganze Kátorga zum Palissadenzaun, um durch die Spalten zu sehen, was mit ihnen geschah. Natürlich sahen sie nichts, außer dem Wagen des Majors und der Equipage des Festungskommandanten vor der Wache. Die Flüchtlinge wurden in einem besonderen Arrestzimmer untergebracht, eingeschmiedet, und sollten am nächsten Tage verhört werden. Der Spott und die Verachtung der Sträflinge vergingen aber schon bald ganz von selbst. Man erfuhr die näheren Umstände der Gefangennahme, man erfuhr auch, daß ihnen nichts anderes zu tun übrig geblieben war, und so interessierte man sich mit aufrichtiger Teilnahme nur noch für ihr ferneres Schicksal.
„Man wird ihnen mindestens tausend aufzählen,“ meinten die einen.
„Was Tausend!“ sagten andere, „totschlagen wird man sie, aber nicht Tausend! A–ff wird vielleicht noch mit Tausend davonkommen, Kulikoff aber wird totgeprügelt, denn ihr müßt doch nicht vergessen, Brüder, daß er doch zur ‚Besonderen‘ gehört!“
Indessen hatten beide Parteien nicht das Richtige erraten. A–ff erhielt nur fünfhundert, da man seine sonst gute Aufführung in Betracht zog und da es sein erstes Vergehen war. Kulikoff wurde, glaube ich, zu tausendfünfhundert verurteilt und noch ziemlich milde bestraft. Sie hatten beide, als kluge Burschen, sich vor Gericht nicht widersprochen, sondern bestimmt und deutlich erklärt, daß sie direkt aus der Festung entflohen seien, ohne irgendwo unterzuschlüpfen. Am meisten tat mir Koller leid: er verlor alles, seine letzten Hoffnungen, wurde am strengsten bestraft – mit zwei Tausend, wenn ich nicht irre – und dann noch als Arrestant irgendwohin in einen anderen Ostrogg fortgeschickt.
A–ff wurde sehr nachsichtig bestraft; offenbar schonte man ihn; auch halfen ihm die Ärzte. Er aber spielte den Mutigen, und erzählte laut im Lazarett, daß er jetzt erst die Taufe bestanden habe, jetzt sei er zu allem bereit und würde noch ganz andere Dinge anstiften. Kulikoff benahm sich wie gewöhnlich: wohlerzogen, vornehm, und als er nach der Strafe in den Ostrogg zurückkehrte, tat er, als hätte er sich nie aus ihm entfernt. Aber nicht so blickten die Sträflinge auf ihn: obgleich Kulikoff immer und überall sich gut aufzuführen verstand, schienen die Sträflinge innerlich doch aufgehört zu haben, ihn nach alter Art zu achten. Sie gingen mit ihm jetzt mehr wie mit einem ihnen Gleichstehenden um. Ja, mit diesem mißglückten Fluchtversuch erlosch Kulikoffs Ansehen. Der Erfolg bedeutet so viel bei den Menschen.
Die Flucht ereignete sich erst im letzten Jahr meiner Kátorga.
Dieses letzten Jahres erinnere ich mich fast ebenso deutlich, wie meines ersten im Ostrogg, namentlich der letzten Monate, Wochen und Tage. Doch wozu soll ich von den Einzelheiten erzählen: ich will nur sagen, daß dieses letzte Jahr trotz meiner ganzen Ungeduld, es endlich hinter dem Rücken zu haben, dennoch leichter war, als alle vorhergehenden Jahre. Hinzu kam, daß ich jetzt unter den Sträflingen schon Freunde hatte, die endgültig zur Überzeugung gekommen waren, daß ich ein guter Mensch sei. Viele von ihnen waren mir sogar aufrichtig zugetan. Der Pionier Bakluschin weinte beinahe, als er mich und meinen Kameraden aus dem Ostrogg geleitete, und als wir dann noch einen ganzen Monat in der Stadt in einem der Regierungsgebäude leben mußten, kam er fast jeden Tag zu uns, nur um uns wieder zu sehen. Aber es waren unter ihnen auch einige, die sich bis zum Schluß unfreundlich zu mir verhielten, denen es – weiß Gott, warum – sogar schwer gefallen wäre, auch nur ein Wort zu mir zu sagen. Es schien förmlich eine Mauer zwischen uns zu stehen.
In dieser letzten Zeit hatte ich größere Vergünstigungen, als in allen anderen Jahren. In der Stadt waren unter den Offizieren Bekannte von mir, sogar alte Schulkameraden, mit denen ich die früheren Beziehungen erneuerte. Durch sie konnte ich jetzt auch in den Besitz von mehr Geld gelangen, konnte Briefe in die Heimat schicken und sogar Bücher erhalten. Mehrere Jahre schon hatte ich kein Buch gelesen. Es dürfte wohl jedem, der so etwas nicht selbst durchgemacht hat, schwer sein, sich vorzustellen, einen wie eigenartigen Eindruck das erste, im Ostrogg gelesene Buch auf mich machte. Ich begann am Abend zu lesen, nachdem man unsere Kaserne bereits geschlossen hatte, und ich las die ganze Nacht hindurch, bis zum Sonnenaufgang. Es war nur eine Nummer einer Zeitschrift. Wie eine Nachricht aus dem Jenseits kam sie mir vor. Das war ja doch mein ganzes früheres Leben, das sich jetzt klar und grell vor mir erhob, und ich bemühte mich, aus dem Gelesenen zu erraten, um wieviel ich zurückgeblieben war. Hatten sie viel dort ohne mich durchlebt? Was regt jetzt die Gemüter dort auf? Mit welchen Fragen beschäftigen sie sich jetzt? Ich dachte über jedes Wort nach, ich las zwischen den Zeilen, ich vermutete in jedem Satz einen geheimnisvollen Sinn, Anspielungen auf Früheres. Ich suchte die Spuren von all dem, was früher, zu meiner Zeit, die Geister erregt hatte, und es tat mir so weh, an dieser Wirklichkeit sehen zu müssen, in welchem Maße ich in dem neuen Leben ein Fremder geworden war, ein abgeschnittenes, vergessenes Stück Leben. Jetzt mußte man sich an das Neue gewöhnen, sich mit der neuen Generation bekannt machen. Gierig las ich einen Artikel, unter dem der Name eines meiner Bekannten, eines mir früher nahe gewesenen Menschen stand ... Doch schon stieß ich auf neue Namen: es waren neue Größen erschienen. Fieberhaft wollte ich mehr von ihnen erfahren, sie näher kennen lernen, und es ärgerte mich entsetzlich, daß ich so wenig Bücher erhalten konnte, daß es so schwer war, sich welche zu verschaffen. Früher, unter dem „Achtäugigen“, wäre es geradezu sehr gefährlich gewesen, Bücher im Ostrogg zu haben. Bei einer Durchsuchung wären sie ihm unfehlbar in die Hände gefallen, und dann hätte er ohne weiteres gefragt: „Woher hast du die Bücher? Von wem? Du unterhältst hier also Beziehungen? ...“ Was aber hätte ich auf diese Fragen antworten können? Und so vertiefte ich mich, da ich ohne Bücher leben mußte, in mich selbst, stellte mir Fragen, versuchte sie zu lösen, quälte mich bisweilen mit ihnen ... Doch wer kann das alles wiedergeben! ...
Ich war im Winter in den Ostrogg gekommen, also wurde ich auch im Winter wieder aus ihm entlassen, am selben Tage desselben Monats, in dem ich eingetreten war. Mit welcher Ungeduld erwartete ich den Winter! Mit welcher Freude sah ich zu Ende des Sommers den Wald sich färben, sah ich, wie das Steppengras gelb und dürr wurde. Der Sommer verging, es kam der Herbst, und seine Stürme heulten, dann tanzten die ersten Schneeflocken hernieder ... Endlich, endlich kam der Winter, den ich so lange ersehnt hatte! Mein Herz klopfte oft dumpf und stark im großen Vorgefühl der Freiheit. Doch eines war sonderbar: je mehr die Zeit verging und je näher der Tag der Freiheit rückte, um so geduldiger und geduldiger wurde ich. Ja, in den letzten Tagen wunderte ich mich sogar darüber und machte mir deswegen Vorwürfe: es schien mir, daß ich vollkommen kaltblütig und gleichmütig geworden sei. Viele Sträflinge, die mir in der arbeitsfreien Zeit auf dem Hof begegneten, redeten mich an und beglückwünschten mich:
„Na, Väterchen Alexander Petrowitsch, Ihr geht ja nun bald, kehrt in die Freiheit zurück, ja, ja. Bald werdet Ihr uns alte Klepper verlassen!“
„Nun, Martynoff, Ihr bleibt doch auch nicht mehr lange hier. Wieviel Jahre habt Ihr noch?“ fragte ich.
„Wer ich? Nun ja, was soll man da reden! So an sieben Jahr werde ich immer noch hier bleiben ...“
Und er seufzt, ohne dabei etwas zu denken, steht, blickt zerstreut drein, als schaue er innerlich in die Zukunft ... Viele beglückwünschten mich freudig und von ganzem Herzen. Es schien mir, als wären sie jetzt alle freundlicher zu mir. Ich gehörte in ihren Augen gewissermaßen nicht mehr zu ihnen. K–tschinskij, ein adliger Pole, ein stiller, sanfter Jüngling, der gleich mir gern einsam hinter den Kasernen umherstrich und durch die Bewegung in der frischen Luft gleichfalls seine Gesundheit vor dem schädlichen Einfluß der schwülen Nächte in der Kaserne bewahren wollte, sagte lächelnd zu mir:
„Ich erwarte mit Ungeduld Ihre Entlassung ... Wenn Sie gegangen sind, dann werde ich wissen, daß ich gerade noch ein Jahr auf die Freiheit zu warten habe.“
Ich muß hier nebenbei bemerken, daß die Freiheit im Ostrogg infolge der Entwöhnung von ihr und des ewigen Träumens noch viel freier erschien, als sie in Wirklichkeit ist. Die Sträflinge vergrößerten ganz unwillkürlich den Begriff der wirklichen Freiheit – und das ist ja schließlich auch so verständlich und für den Sträfling charakteristisch. Selbst der letzte zerlumpte Stiefelwichser oder Offiziersbursche wurde bei uns fast für einen König gehalten, fast für das Ideal eines freien Menschen – nur weil er gleichmäßig geschnittenes Haar trug, weil er ohne Fesseln und ohne militärische Eskorte gehen durfte.
Am Vorabend des letzten Tages ging ich in der Dämmerung zum letztenmal am Palissadenzaun entlang, ging am Zaun um den ganzen Ostrogg herum. Wieviel tausendmal war ich in all diesen Jahren an diesen Palissaden vorübergegangen! Hier hinter den Kasernen strich ich im ersten Jahr meiner Verbannung ruhelos umher, allein, einsam und wie zerschlagen. Ich weiß noch, wie ich damals gezählt hatte, wieviel tausend Tage mir hier bevorstanden. Gott, wie lange ist das doch her. Hier in dieser Ecke hatte unser Adler gelebt, und hier war ich mit Petroff oft zusammengetroffen. Er verließ mich auch jetzt nicht. Er trat zuweilen auf mich zu und ging dann, als erriete er meine Gedanken, schweigend neben mir her, und es war, als wunderte er sich im stillen über irgend etwas. In Gedanken verabschiedete ich mich auch von diesen geschwärzten Blockhäusern; wie ungastlich waren sie mir damals erschienen, in der ersten Zeit. Auch sie sahen jetzt wohl älter aus, als damals, doch ich gewahrte es nicht. Wieviel Jugend ist hier hinter diesen Wänden unnütz begraben, wieviel große Kraft verkam hier nutzlos! Man muß es doch einmal aussprechen: Dieses Volk war doch ein ungewöhnliches Volk! Es ist ja doch das allerbegabteste, allerstärkste Volk in unserem ganzen russischen Volke! Aber nutzlos verkamen die mächtigen Kräfte, verkamen unnormal, ungesetzmäßig, unwiderbringlich. Wer aber ist schuld daran?
Das ist es ja: wer ist schuld daran?
... Am nächsten Morgen ging ich schon früh, noch vor dem Aufbruch zur Arbeit, als es kaum erst zu tagen begann, in alle Kasernen, um mich von allen Sträflingen zu verabschieden. Viel schwielige, starke Hände streckten sich mir freundlich entgegen. Manch einer drückte meine Hand wie ein guter Freund, doch waren solcher nicht allzu viele. Die anderen fühlten es nur zu gut, daß ich noch heute ein ganz anderer Mensch werden würde, als sie. Sie wußten, daß ich in der Stadt Bekannte hatte, daß ich mich von hier sogleich zu den Herren begeben würde und mich als Gleichstehender neben jene setzen konnte. Das begriffen sie und so verabschiedeten sie sich von mir wohl freundlich, fast sogar als hätten sie mich gern, aber doch längst nicht wie von einem Kameraden, sondern allenfalls wie von einem Herrn. Einzelne wandten sich sogar schroff von mir ab und antworteten mir nicht auf meinen Abschiedsgruß. Einzelne sahen mich fast mit verstecktem Haß an.
Da ertönte die Trommel und alle begaben sich zur Arbeit, ich aber blieb zurück. Ssuschiloff war an diesem Morgen früher als alle anderen aufgestanden und hatte sich eifrig bemüht, mir noch Tee zu bereiten. Armer Ssuschiloff! Er brach in Tränen aus, als ich ihm meine abgetragenen Kleidungsstücke, einige Hemden, die ledernen Fußschoner und noch einiges Geld schenkte.
„Mir ist’s doch nicht darum zu tun, doch nicht darum!“ murmelte er, krampfhaft bemüht, seine zitternden Lippen zur Ruhe zu zwingen, „wie soll ich denn ohne Euch weiterleben, Alexander Petrowitsch? Mit wem bleibe ich denn jetzt hier zurück?“
Auch von Akim Akimytsch nahm ich zum letztenmal Abschied.
„Nun, auch Ihre Frist ist jetzt bald abgelaufen!“ sagte ich zu ihm.
„Ich muß noch lange bleiben, sehr lange noch muß ich hier bleiben,“ murmelte er und drückte mir die Hand. Da fiel ich ihm um den Hals und wir küßten uns.
Zehn Minuten nach dem Abmarsch der Sträflinge verließen auch wir den Ostrogg, um nie wieder in ihn zurückzukehren – ich und mein Kamerad, mit dem ich gekommen war. Wir mußten uns in die Schmiede begeben, um uns dort die Ketten abschmieden zu lassen. Doch schon begleitete uns keine Eskorte mit geladenem Gewehr: wir gingen mit einem Unteroffizier. Das Abschmieden besorgten in der Militärwerkstätte unsere eigenen Sträflinge. Ich wartete bis mein Kamerad von den Fesseln befreit war, dann trat ich selbst an den Amboß. Die Schmiede drehten mich mit dem Rücken zu ihnen um, hoben von hinten meinen Fuß und legten ihn auf den Amboß ... Sie waren so geschäftig bei der Arbeit und wollten sie ersichtlich so gewandt und gut als nur möglich machen.
„Die Niete zuerst, kehr die Niete nach oben! ...“ kommandierte der Älteste, „halt jetzt fest, so, nun ... Schlag jetzt mit dem Hammer ...“
Die Fesseln fielen. Ich hob sie auf ... Ich wollte sie noch einmal in der Hand halten, sie noch zum letztenmal sehen. Es war mir, als wunderte ich mich darüber, daß sie soeben noch an meinen Füßen gewesen waren.
„Nun, mit Gott! Mit Gott!“ sagten die Sträflinge mit ihren rauhen, trockenen Stimmen, in denen aber diesmal etwas wie Zufriedenheit klang.
Ja, mit Gott! Freiheit, neues Leben, Auferstehung von den Toten ... Welch herrlicher Augenblick!
[1] Festungsbaustrafe oder Zwangsarbeit in den Bergwerken. Auch veraltete Bezeichnung für eine Galeere und die Galeerenstrafe. E. K. R.
[2] Getränk aus gesäuertem Schwarzbrotteig und Malz. E. K. R.
[3] Das kringelartige Weizengebäck wird von Aufkäufern gewöhnlich auf eine Schnur gereiht. E. K. R.
[4] Timotheus – der Henker. E. K. R.
[5] Ein Getränk aus Wasser, Honig und Gewürz. E. K. R.
[6] „Schlecht, schlecht!“ E. K. R.
[7] Was ich hier von den Strafen und Hinrichtungen erzähle, war zu meiner Zeit. Jetzt soll vieles schon verändert worden sein oder bald gänzlich abgeschafft werden. F. M. Dostojewski.
[8] Mit einem Paß.
[9] D. h. im Walde, wo der Kuckuck schreit: er ist gleichfalls Landstreicher. F. M. Dostojewski.
[10] D. h. ebensowenig wie Ruß weiß ist, ebensowenig machen wir Geschäfte. E. K. R.
[11] Sein buchstäblicher Ausdruck, der übrigens zu meiner Zeit nicht nur von unserm Major allein gebraucht wurde, sondern von vielen kleineren Kommandeuren, vornehmlich von Emporkömmlingen. F. M. Dostojewski.
[12] Sie haben einen Mann oder ein Weib erschlagen, im Glauben, daß die Betreffenden die Seuche in den Wind getan, durch welche die Rinder fallen. In Ostrogg gab es einen solchen Mörder. F. M. Dostojewski.
Anmerkungen zur Transkription
Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Achtzehnter Band
R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1917.
Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.
Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
Issai (Issaij)
Lavallière (Lavalière)
M–tzkij (M–zkij)
Ssamowar (Samowar)
Wassjä (Wassja)
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben und des russischen Originals, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):