The Project Gutenberg eBook of Der wilde Garten

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Title: Der wilde Garten

Author: Grete von Urbanitzky

Release date: June 16, 2025 [eBook #76321]

Language: German

Original publication: Leipzig: Hesse & Becker, 1927

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This file made from scans of public domain material at Austrian Literature Online.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WILDE GARTEN ***

Der wilde Garten

Der wilde Garten

Roman
von
Grete von Urbanitzky

Leipzig 1927 / Hesse & Becker Verlag

Copyright 1927 by Hesse & Becker Verlag in Leipzig

Erstes Kapitel

An dem schmalen Fenster des einfach eingerichteten Mietraumes saß Fräulein Dr. Hanna Südekum vor ihrem sauber geordneten Schreibtisch und korrigierte Schulhefte. Mit großer Aufmerksamkeit überflog sie Seite für Seite, hielt dann einen Augenblick nachdenklich inne, das schmale, blasse Gesicht mit der dunklen Haarkrone zum letzten Schein des Tageslichts erhoben, um endlich, mit einem jähen Ruck, in ihrer zierlichen Handschrift die Klassifikation unter die Arbeit zu setzen. In ihrer eifrigen Beschäftigung merkte sie gar nicht, daß Dämmerung immer schwerer auf die Dinge um sie sank, das durch den Wandschirm verstellte Bett ganz ins Dunkel rückte, ebenso das Büchergestell, das diesem gegenüber wackelig an der Wand stand und den in die Ecke gestellten runden Frühstückstisch, den eine Vase mit künstlichen Blumen zierte.

Man hörte schlurfende Schritte draußen vor der Türe.

Die Wirtin trat ein und meldete: „Frau Doktor, die kleine Gertrud ist draußen. Darf sie herein?“

Über das zeitlose, wie mit dünnen Pastellstrichen gezeichnete Gesicht des alten Fräuleins huschte ein leises Lächeln, das die dünnen Lippen nur ein wenig auseinanderschob. Sie hob mit einer jähen Bewegung den Kopf und sagte: „Ja, es ist gut, Frau Knorke, lassen Sie die Kleine nur herein!“

Ein halbwüchsiges Mädchen schob sich ungelenk und scheu durch die Türe herein und ging zögernd auf die Lehrerin zu, die sich rasch erhob und sagte: „Oh, wie dunkel es geworden ist! Du wirst dich hier ja fürchten.“

„O nein!“ fiel die junge Stimme ein. „Lassen Sie es nur so, Frau Doktor! Nein, bitte, zünden Sie kein Licht an.“

Der Lehrerin ermüdete Augen durchdrangen mühsam das Dunkel und umfingen mit gespannter Aufmerksamkeit die kleine, etwas plumpe Gestalt ihr gegenüber am zweiten Sessel neben dem Schreibtisch und die selbst im Dämmern noch derb und unschön wirkenden Züge des Kindes.

„Es ist schon fünf Uhr!“ sagte Fräulein Dr. Südekum vorwurfsvoll. Rasch setzte sie hinzu: „Es hat etwas gegeben – nicht wahr?“

Gertrud begann zögernd: „Ja, – ich habe einen großen Umweg gemacht, ich, – ich wollte, nein, ich wollte nicht zu Ihnen kommen, Frau Doktor, – ich meine nicht so, wie es mir zumute war.“

Die Lehrerin beugte sich noch weiter vor und sah dem kleinen Mädchen aufmerksam in das Gesicht: „Es war wieder –“

Das Kind nickte schweigend. Plötzlich wurde sein Gesicht traurig, hart und dadurch fast alt.

„Wir wollen die Schreibtischlampe anzünden,“ sagte Fräulein Dr. Südekum. „So, bleibe nur ruhig bei mir sitzen.“ Ihre weiche Stimme legte sich wie eine Decke über das Spröde, Klirrende der anderen.

„Ich weiß, Sie wollen nicht, daß ich spreche,“ sagte das Mädchen in jäher Erregung „Und darum bin ich ja draußen herumgelaufen, ich weiß doch, – daß Sie wollen, ich ...“

Die Lehrerin faßte nach der Hand des Mädchens und schloß die heiße, zuckende zwischen ihre kühlen. „Du sollst erzählen, Gertrud,“ sagte sie ruhig, „aber nicht so, nicht in deinem harten Zorn. Du sollst nicht Worte sagen, deren Zeuge ich dann in deinem Erinnern immer sein würde – und die du vergessen kannst, solange du sie nur dachtest.“ Noch fester umschloß sie die heiße Hand des Kindes. „Ich bin dir gut, ich bin ganz bei dir, – aber ich will, daß du dich befreist. Ich will, daß das Böse, das andere dir tun, nicht auch dich böse macht ...“

Gertrud begann leise, stockend, dann immer erregter zu erzählen, indes große brennende Flecke über ihre Wangen und ihre Stirne huschten wie Widerschein einer roten Flamme: „Es war ja so namenlos dumm, – und doch! Ich habe ein altes Schulheft, – da hinein schreibe ich Sätze aus Büchern, die für mich ein geheimnisvolles Leben haben – die zu mir gehören, die plötzlich klar das aussprechen, was ich immer dunkel schon wußte, was ganz anders ist als das, was sie daheim glauben und lehren.

Und dieses Heft –,“ plötzlich schlug die Stimme in wildes Schluchzen um. Das Mädchen konnte erst nach einiger Zeit weitersprechen, als die Hand der Lehrerin leise und begütigend über ihre glitt.

„Mama wollte, daß ich sie zu Tante Emma begleite. Ich habe gar nichts gegen Tante Emma, aber es ist so entsetzlich, wenn ein Tag leer und dunkel verfließt. Wenn ich hören muß, wie sie von Tratsch, Staubsauger, Einkäufen und Ärger mit den Dienstboten reden und ich weiß, daß nun daheim die schönste Stunde ist.“ Die junge Stimme sank in einen Traum: „Die Aufgaben sind fertig. Ich könnte in meinem Winkel sitzen, träumen, lesen – diese Sätze lesen, die ich mir aus den Büchern abgeschrieben habe. Ich könnte spüren, wie meine Gedanken über den Tag hinausfliegen – weit ...“

Die Lehrerin saß im Dunkel, außerhalb des Lichtkegels der kleinen Lampe. Ihre Stimme schien aus Fernen zu kommen, als sie fragte: „Du sagtest, du wolltest nicht mitgehen?“

„Nein, das sagte ich gar nicht.“

„Aber du zeigtest ein mißmutiges Gesicht?“

„Ja, vielleicht, aber ...“

„Das solltest du nicht, Gertrud, es ist deine Mutter, und du solltest ihr zeigen, daß du gerne tust, was ihr Freude macht.“

„Ja,“ Zweifel malte sich in den Zügen Gertruds, „nur, wozu braucht sie mich dort?“ Trotz und leise Verachtung schlug nun durch die Stimme, aber die Lehrerin schien dies nicht zu beachten.

„Was geschah?“ fragte sie weiter.

„Mama kam ins Zimmer. Ich kleidete mich nicht schnell genug an für das Weggehen. Ich schrieb noch rasch etwas in das Buch. Es war ein Wort aus dem Bande Lenau, den ich zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte:

Lieblos und ohne Gott! Der Weg ist schaurig,

Der Zugwind in den Gassen kalt; und du?

Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.“

„Aber, Kind!“ lächelte die Lehrerin, doch ihre Augen blickten angstvoll.

„Ja, das schrieb ich in das Heft, da kam sie eben herein. Sie schrie mich an: ‚Schon wieder diese Dummheit!‘“

„Du wurdest heftig?“

„Ich riß ihr das Heft aus der Hand.“

„Das solltest du nicht!“

„Es war mein, war mein Einziges auf der Welt!“ sagte das Mädchen heiß und fanatisch, „alles andere, die Möbel im Zimmer, Kleider, Schulgeräte, alles ist von den Eltern, ist mir nur anvertraut zum Gebrauch, ist nicht so mein eigen wie dieses Heft ...“

„Und sie, deine Mutter?“

„Sie zerriß das Heft und warf es in einen Winkel.“

Wieder tönte nur das heftige Schluchzen des Mädchens durch den Raum.

Die Lehrerin sah einige Augenblicke vor sich hin. Oh, sie kannte dies: die Eifersucht und den Zorn aller Eltern, wenn die jungen Seelen ihnen nicht mehr ganz gehören wollten, wenn sie eigene Wege suchten – eigenes geheimes Erleben. Da spürten die Erwachsenen die Auflehnung.

Aber das alternde Fräulein verriet nichts von seinen Gedanken.

„Deine Mutter meinte es nicht so,“ sagte sie leise. „Es tat ihr sicherlich später selbst weh. Sie war gekränkt, daß du deinen Unwillen mitzugehen zeigtest. Oh, sie wußte es gar nicht, was sie dir tat.“

„Und warum wissen Sie so alles, alles, Frau Doktor?“ rief das Mädchen erregt und wandte sein tränenüberströmtes Gesicht der Lehrerin zu. „Warum verstehen Sie es, daß ich allein sein wollte? Warum verstehen Sie, obwohl Sie mir unrecht geben – und es ist ja auch nicht recht, daß ich es so zeigte –, warum verstehen Sie, was meine Mutter mir tat, als sie das Heft zerriß –,“ und heftiger noch schrie sie auf: „Warum wissen Sie alles, alles?“

Da glitt ein feines Lächeln über das Gesicht der Lehrerin: „Weil ich viele Kinder habe – viele –, weil ich immer wieder diese Kämpfe miterlebe. Ja, deshalb ist es, weil ich viele Kinder habe. – Du mußt stiller denken, Gertrud. – Stelle dir doch vor, wie schwer es für deine Mutter ist! Sie hat es sicherlich vergessen, wie es einmal war, als sie selbst noch ein Kind war wie du, einsam, unverstanden, zwischen der Welt der Großen und der ganz Kleinen stehend. Du mußt den guten Willen haben und nicht deinem ersten Zorn nachgeben. Sie – sie haben es auch schwer – die Großen.“

*

Als Gertrud so im Dämmern dieses Abends saß, den heißen Kopf und die rotgeweinten Augen an das rauhe dunkle Kleid der Lehrerin geschmiegt, mußte diese mit einem wehen Aufzucken denken: noch gehört sie mir! Die Lehrerin sah über den blonden Kopf, der sich an sie lehnte, hinweg in das Dunkel und dachte an die vielen Stunden und Wochen, da sie diesem trotzigen jungen Leben alles geworden war.

Sie erinnerte sich, wie Gertrud zum erstenmal zu ihr gekommen war. Seltsam genug war es gewesen. Die Turnstunde im Hof. Die Mädchen lernten es auf Leitern zu klettern, und übten in Stabreigen ihre junge Anmut. Gertrud war ungeschickt gewesen, so ungeschickt wie immer, und man hatte sie unbarmherzig verlacht. Sie sah auch merkwürdig aus: fast vierschrötig in ihrem lichten Kleide, so ungelenk ihre Glieder, und über den breiten unregelmäßigen Zügen ihres Gesichtes flackerten üppig und wild die dunkelblonden Brauen.

Und dann auf dem Nachhausewege. Es war die Stärkste aus der Klasse, die hochaufgeschossene Erna Petersen, die ihr zugerufen hatte: „Aber wenn du auch ein Vorzüglich in Geschichte hast, du bist ja doch die Dümmste, weil du nicht einmal über ein Pferd im Turnsaal springen kannst!“

Und da hatte sich die kleine, dicke Gertrud mit Berserkerwut auf die Größere geworfen und sie schrecklich verprügelt.

Es erfolgte natürlich eine Anzeige von den Eltern. Es gab Untersuchungen und eine Lehrerkonferenz. Fräulein Dr. Südekum hatte dann aber doch nach ihrem Sinne gehandelt. Mochte auch der grauhaarige Rektor dazu seinen Kopf schütteln. Und so war Gertrud ohne Strafe geblieben.

Fräulein Dr. Südekum hatte sich aber dann, als das offizielle Strafgericht vorüber war, das kleine Mädchen auf die Seite genommen und gesagt: „Ich hätte nicht geglaubt, daß du so wenig stolz bist, denn das war doch Schwäche, das weißt du selbst. Warum bist du nicht still weitergegangen und hast trotz allem an dich selbst geglaubt? So wenig stolz bist du?“

Nach einem ratlosen Blick auf die Lehrerin war das kleine Mädchen wortlos davongestürmt. Aber am Nachmittag dieses Tages hatte man Fräulein Dr. Südekum gemeldet, daß eine Schülerin aus ihrer Klasse draußen stünde.

Und dann war sie eingetreten – ein wenig herausfordernd noch und doch scheu. Fräulein Dr. Südekum hatte getan, als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt, daß die kleine Gertrud kam und nun, noch ehe sie ein Wort gesprochen hatte, still neben ihr Tee trank.

Es war plötzlich gekommen wie ein Ausbruch. „Nur, weil Sie glauben, daß ich nicht stolz bin! Nur, weil Sie glauben, daß ich darum bettle und es mir erzwingen will, daß man mich liebt! Sie haben recht, es war vielleicht Schwäche, aber jetzt, jetzt ist mir alles gleich. Ich brauche niemanden!“

Und dreimal noch sagte die kleine Gertrud mit einem erschreckend harten und bösen Gesicht: „Ich brauche niemanden!“

Große, schwere Tränen liefen ihr dabei über das Gesicht, das nicht zuckte.

Bis eine wissende, gütige Hand über die verwirrten Haare und die heiße Stirne strich, – bis eine tiefe, gütige Stimme sprach: „Du willst mir noch viel mehr sagen, Gertrud!“

Und dann hatte das Kind stoßweise, brennend seine Beichte abgelegt. Und die Lehrerin sah: das Elternhaus in kaltem Reichtum. Die elegante Mama, den beschäftigten Vater. Bezahlte Menschen, die manchmal ein wenig Mitleid boten. Viel Mißverstehn, viel Kränkung und grenzenlose Einsamkeit.

So war damals Fräulein Dr. Südekums mütterlichem Herzen ein neues Kind zugewachsen.

Zweites Kapitel

Seit jener Dämmerstunde waren drei Jahre vergangen, drei Jahre, in denen das stille, alternde Fräulein alle Glut ihres Herzens an die jungen Menschenkinder gegeben hatte, die ihr von der ersten Klasse an zum Aufstieg bis in die letzte anvertraut worden waren.

Fräulein Dr. Südekums Herz war die Krämerart fremd, die Liebe nur Zoll um Zoll, Leben für Leben gibt. In dem kleinen unscheinbaren Fräulein lebte eine Kraft, deren sie sich selbst kaum bewußt war.

Niemand aus der Welt der Erwachsenen wußte von ihr und der großen Liebe, die sie durch das Leben trug. Nicht der Rektor, der sie als tüchtige Mitarbeiterin schätzte, nicht die Kollegen, denen die Stunden des Unterrichts liebe oder lästige Pflicht waren, aus der sie wieder in ein anderes Leben tauchten, das ihr eigentliches war: Weib, Kinder, ehrgeizige Ziele.

Fräulein Dr. Südekum aber lebte nur in dem Bereiche des großen weißen Hauses, das ein alter, aus feudaleren Zeiten stehengebliebener Park umschloß.

Nein, niemand wußte von ihr draußen, jenseits des Parkes. Dort rasselten Trambahnzüge, die hastende Menschen zu Beruf und Heim brachten, Lastwagen und Menschenmassen drängten vorüber, dort gab es das breite gewalttätige Leben der Erwachsenen, der Erfahrenen, ihre Gier, ihre Not, ihre kleine Seligkeit. Sie hatten viele Ziele, diese Menschen, Ziele, die ihr alle kennt, und denen sie verschiedene Namen geben.

Aber niemand wußte von der Welt, die die breite Mauer des Schulparkes einschloß.

Viele Jahre schon lebte Fräulein Dr. Südekum in dieser stillen Welt, ja, wenn wir es genau angeben wollen, zwanzig lange Jahre.

Mit kleinen gesetzten Schritten ging sie schon vor dem Unterricht über die Gartenwege, überflog im Geiste die Schülerinnen ihrer Klasse, wußte von jeder so viel und so Besonderes, Dinge, die für die anderen Erwachsenen nicht lebten, Dinge, die nur Fräulein Dr. Südekum wußte und verstand und mit ihrer großen Liebe an ihr Herz nahm.

Keine andere aber hatte ihr jemals so nahe gestanden wie Gertrud, keine noch. Zum erstenmal war es, daß nicht nur die Freude am Lehren und Führen, sondern auch ein warmes, flutendes Gefühl, das der Einsamkeit dieses Kindes galt, eine Brücke von ihm zu ihr schlug.

Sie ist viel mehr mein Kind als deines! dachte Fräulein Dr. Südekum, wenn die hohe, übertrieben elegant gekleidete Gestalt von Gertruds Mama am Schultore auftauchte, um die Lehrerin nach den Fortschritten des Töchterchens zu fragen.

Und oft, wenn die Lehrerin am Tore der Schule stand und sah, wie die Schülerinnen fröhlich davonliefen, da sah sie Gertrud nach und es krampfte sich ihr das Herz zusammen, als ließe sie ihr Kind in eine fremde und feindliche Welt.

So viel junge Mädchen in ihrer Klasse waren, so viel Verantwortung war der Lehrerin aufgebürdet. Denn solange sie in diesem Alter waren, verbrachten sie nicht nur die meiste Zeit ihres Lebens in der Schule: hier war auch der einzige Ort, wo sie in Gutem und Bösem ernst genommen wurden.

Die Mädchen ihrer Klasse standen ja in dem Alter, wo die Eltern am wenigsten mit ihnen anzufangen wissen.

Nein, Schoßkinder waren sie nicht mehr, nicht mehr diese putzigen Dingelchen, ganz Eigentum der Eltern, die man in den Salon ruft, damit sie vor fremden Leuten ihre Verse aufsagen.

Ja, für diese Jahre, da sie ihre Tage hier verbrachten, gehörten die Mädchen ganz ihr. Da war sie ihnen Heimat, Vater und Mutter – da schmolzen die jungen werdenden Seelen wie Wachs, formten sich, wuchsen – wurden. Da gehörte Fräulein Dr. Südekum das ganze Reich dieser sich leise aufschließenden Knospen, die man jenseits des Parkes nicht verstand. Da weinte sich verlorener Gottesglaube satt, da fand Schlimmeres, der erste bittere Zweifel an dem Menschenlande, Befrieden, Lösung und Stillung.

Und doch: Fräulein Dr. Südekum wußte es in bitterwachen Stunden: es war alles nur geliehen, gehörte nicht in Wahrheit ihr. Nur zu gerne ließen ihr die Eltern die Sorge um die unbequemen Jahre – liehen ihr junges, werdendes Leben, forderten und bezahlten Formung jungen Strebens. Sie entzogen sich achselzuckend den einzigen Jahren, da Muttersein und Vatersein über animalische Besitzerfreude hinauswachsen könnte in menschliches Bereich lösenden, erlösenden Händereichens und Führens.

Ja, sie liehen ihr junges Leben, liehen ihr junge Not, liehen ihr erstes anschmiegendes Empfinden.

In großer Bitterkeit dachte das alternde Fräulein oft darüber nach, wie gut alle die, die Kinder hatten, es verstanden, sich ihrer zu erfreuen, solange diese noch tief in der Welt des Unbewußten lebten, solange man die Gier und Gemeinheit, in der man selbst lebte, von ihnen weit entfernt wußte, und sobald man die Kinderstube betrat, sich an Unschuld und Unwissenheit erfreute. Aber wenn die ersten Fragen an das Reich der Erwachsenen pochten, unerbittliche Fragen, dann setzten sie sich zur Wehr, fürchteten für ihre Masken und Lügen.

Ja, es muß gesagt werden, daß Fräulein Dr. Südekum nicht gut von den Erwachsenen, nicht gut von den meisten Eltern ihrer Schülerinnen dachte.

Und nie war ihr Gesicht so ironisch und hochmütig verschlossen, als wenn die Eltern nachfragen kamen, was ein- bis zweimal im Monat üblich war. Es fragte ja keiner nach dem Kinde, sondern jeder nur, wie es mit der Erfüllung seiner eigenen Wünsche hinsichtlich dieses Kindes stünde. Denn jeder wollte etwas von seinem Kinde, aber nur die wenigsten wollten diesen neuen Menschen selbst, der heranwuchs.

Mit einem kühlen Lächeln sah Fräulein Dr. Südekum auf die Mütter, die sich an den Empfangstagen um das Parkgitter drängten. Sie hatten geboren, höchstes Weibesglück kennengelernt. Und standen so plump und verständnislos den jungen Seelen gegenüber.

„Sie soll heiraten, – dazu braucht sie nicht Geschichte zu lernen ...“

„Sie soll einmal in unser Geschäft, – wenn sie nur gut rechnen lernt, alles andere ist gleichgültig ...“

„Sie ist doch nur ein Mädchen, – mein Gott, das mit den Noten ist ja nur so ärgerlich, weil mein Mann sich einbildet ...“

„Ich weiß nicht, was das dumme Ding hat, – manchmal weint sie ganze Abende ...“

So stand Fräulein Dr. Südekum oft mit gesenktem Kopf, wenn Fragen, jäh erhellende Aussprüche und Vorwürfe auf sie prasselten, und ihr mütterliches Herz zuckte weh, wenn sie aus einem gleichgültig hingeworfenen Wort das Daheim eines Kindes erriet.

So viele durften Mutter werden und so wenige verstanden es zu sein. So wenige! –

Aber noch ein anderes war es, was das alternde Fräulein bedrückte, wenn sie morgens vor dem Unterricht und in den Pausen auf den Gartenwegen auf und ab ging, was sie besonders quälte in diesem letzten Jahre, das sie mit ihrer Klasse verbringen sollte. Fast in Angst hatte sie das Jahr beginnen sehen, sah es Woche auf Woche entschwinden.

Denn immer noch war es so gewesen und mußte wohl auch so sein: wenn die letzten Prüfungen hinter den Mädchen lagen, hinter diesen Kindern, die in den Jahren bisher ihren Worten so brennend gelauscht hatten, die einmal erste Tränen, furchtbarste Einsamkeit an ihrem Herzen geborgen, – dann stürmten sie jung und grausam vergeßlich aus dem Tore des alten Gartens hinaus in das lärmende Leben, das sie empfing, das sie heimlich ersehnt hatten. Sie sahen nicht ein einziges Mal zurück.

Und wenn dann eine von ihnen ihr nach kurzen Jahren begegnete, dann lächelte sie ein wenig mitleidig, ein wenig überlegen, – oder sie sah fort, erkannte sie nicht mehr.

Ja, so stark war dieses Leben da draußen, von dem Fräulein Südekum nur den Lärm vernahm, dieses unverständliche fremde Brausen, das von jenseits des Parkes bis in die Schulzimmer herüberdrang. Dieses Leben, von dem das alternde Fräulein so gar nichts wußte und das ihr doch alle nahm – alle.

*

Auch einen Knaben unterrichtete Fräulein Dr. Südekum. Er wohnte allein mit seinem Vater in einem schönen Hause weit draußen im Cottage. Erwin Löß war sein Name, und sein ganzes Wesen war so, daß die Lehrerin immer an alte Bilder denken mußte, auf denen schlanke, dunkelgekleidete Knaben stehen, deren weiße, noch kraftlose Hand spielerisch auf einem Degen ruht.

Die Lehrerin durfte diejenige sein, die sein Herz mit Bildern einer versunkenen Zeit erfüllte: Geschichte lehrte sie ihn.

Und vielleicht gab es nichts in dem Leben der Lehrerin, das sie stärker mit dem Wissen um ihre selige Macht über junge Herzen erfüllte, als diese Stunden, wenn sie vor dem schmalen, wunderbar geschnittenen Knabenantlitz von dem Leben und Sterben der Großen sprechen durfte.

Es war in den Tagen eines trüben und feuchten Novembers, daß Fräulein Dr. Südekum die Bücher nach der Stunde zuschlug und sich zum Gehen wandte, und sie der Knabe zurückhielt und sagte: „Ich weiß einen herrlichen Menschen in dieser Stadt. Es ist der Kanzler. Ich denke immer an ihn. Ich lese in seinen Büchern. Er ist anders als die Dichter, die immer lügen. Was er sagt, ist traurig und hart.

„Sie alle hassen ihn, ich weiß es. Auch mein Vater haßt ihn. Man hat uns in der Schule verboten, seine Bücher zu lesen. Er ist kein Held, sagen sie. Aber ich liebe ihn. Er lügt nicht. Er ist grausam und wahr, und darum ist er ein Held.“

Dann neigte der Knabe sein schmales Gesicht tief zu dem kleinen Fräulein und sagte: „Ich habe aus dem Buche des Kanzlers das Kapitel, das ich am meisten liebe, in Rondschrift abgeschrieben. Ich will es ihm senden. Er wird sich freuen.“ Erglühend sah der Knabe auf die Lehrerin.

Aber Fräulein Dr. Südekum fand keine Worte auf dieses seltsame Geständnis. Es hatte sie fremd angerührt und mit leiser Angst erfüllt. Sie sah in das brennende Antlitz des Knaben, der sie noch immer unverwandt ansah. Er fragte: „Ich will es ihm senden. Nicht wahr, – er wird sich freuen?“

Fräulein Dr. Südekum sah im Geiste das herrische dunkle Antlitz des Kanzlers vor sich, ihre Stimme klang bange, als sie nickte: „Ja, er wird sich freuen.“

Verwirrt sah sie auf das Heft, das Erwin vor sie hinlegte. „Er wird sich freuen,“ wiederholte der Knabe leise.

Gequält sann die Lehrerin, wie unüberbrückbar sie den Abgrund zwischen der Welt der Großen und der Kinder erkennen mußte. Das Herz tat ihr weh, als sie dem Knaben abschiednehmend über die Haare strich.

Als die Lehrerin vom Cottage dem Stadtzentrum zuwanderte, mußte sie immer noch an die Beichte ihres Schülers denken. Sie wußte anderes von dem Kanzler, Dinge, die dieser Knabe noch nicht verstehen konnte. Es war wohl wahr, daß der Kanzler groß war. Auch Fräulein Dr. Südekum wußte es, obwohl sie sich wenig um die Kämpfe kümmerte, die jenseits ihrer Welt Menschen erschütterten und aufriefen. Und sie wußte auch, daß der Kanzler große, klare Bücher schrieb, die unerbittlich das kommende Geschehen zeichneten.

Aber das alternde Fräulein wußte auch, daß der Kanzler einer war, der das Leben herrisch und gedankenlos mit gierigen Händen an sich riß. Daß seine Nächte leichte Frauen erfüllten, Wein und Geigenlieder, – daß er einer war, der die Frauen nicht achtete, der sie unbedenklich nahm, als hätten sie nur seiner Lust zu dienen, dieser Lust, von der Fräulein Dr. Südekum nur aus Büchern wußte.

Sie konnte heute nicht allein sein. Wenn sie zu Nowotnys ginge?

Wenn die Lehrerin nicht Hefte zu korrigieren hatte, oder sich nicht trotz ihrer zwanzigjährigen Tätigkeit auf ein besonders schwieriges Kapitel des Unterrichts vorbereitete, dann verbrachte sie ihre Abende bei diesem jungen befreundeten Ehepaar. Frau Bahnadjunkt Nowotny war einmal ihre Schülerin gewesen und hatte an der Seite eines braven, fleißigen Mannes ein sicheres Glück gefunden. Trotz engster Verhältnisse hatten die beiden sich ein Sein gezimmert, das Genügen und Sichbescheiden war. Die Lehrerin ging gerne zu diesen Menschen. Sie fürchtete die Welt jenseits ihres Berufes und fühlte sich nur dort sicher, wenn sie Ausgeglichenheit rings um sich fühlte.

Aber heute, an diesem Abend, fand sie die beiden ganz verändert. Andere Luft schlug ihr entgegen. Irgend etwas war geschehen.

Nach den ersten Fragen über das gegenseitige Wohlergehen, nach der Erzählung der Lehrerin über den Beginn dieses Schuljahres, berichteten die beiden von den Ereignissen einer kurzen, seligen, durch tausend Entbehrungen erkauften Erholungsreise nach dem Süden. Es war nur merkwürdig, wie farblos und flüchtig sie über Städte und Landschaften erzählten und die Aufzählung fremdländisch klingender Namen nur durch Ausrufe des Entzückens unterbrachen: „Wie herrlich es war! – Was wir erlebten! – Was wir erlebten!“ Dann sagte die junge Frau plötzlich: „Wir haben einen unerhörten Menschen kennengelernt.“

„Ja, unerhört,“ fiel der Mann ein.

„Nicht nur, weil sie eine Künstlerin ist,“ sagte die Frau. „Ja, vielleicht ist sie auch gar nicht schön in dem Sinne, wie man das sonst nimmt!“

„Aber ihr Körper ist adelig,“ sagte der Mann, und Fräulein Dr. Südekum dachte belustigt und verwirrt, daß dies ein Wort war, das der Bahnadjunkt sicherlich noch nie in seinem Leben gebraucht hatte.

„Sie ist Bildhauerin und heißt Alexandra Pseleuditi,“ fuhr die Frau fort, und nun folgte eine hastige und seltsam erregte Erzählung, eine Erzählung, die Fräulein Dr. Südekum erstaunte, verwirrte und mit leiser Angst erfüllte.

Sie verstand endlich aus den abgerissenen Sätzen der beiden, daß Nowotnys auf ihrer Herbstreise eine junge Künstlerin kennengelernt hatten, die wohl von einer faszinierenden Art sein mußte, denn die beiden Menschen schienen vollkommen gewandelt durch diese Begegnung. Künstlerin war die Fremde, berühmt, unabhängig, maßlos stolz und von einer wilden, seltsamen Schönheit.

Fräulein Dr. Südekum wunderte sich am meisten darüber, wie erregt diese beiden bürgerlichen Menschen darüber sprachen, daß die fremde Frau täglich morgens nackt im Meere gebadet habe, den durchgebildeten braunen Körper von den Klippen in die Wasser schnellend, mit den Wogen dann immer wieder emportauchend, wie ein Fabelwesen der Mythologie.

„Sie ist eine Halbasiatin,“ erklärte Frau Nowotny mit leiser Eitelkeit, „ihr Vater war ein Grieche, und ihre Mutter war eine Perserin.“

„Sie lebt so frei wie eine Göttin der seligen Halbinsel,“ setzte der Mann pathetisch hinzu, und Fräulein Dr. Südekum bemerkte verwundert, daß seine Stimme zitterte. „Das ist keine Frau, die sich mit irgendeiner vergleichen ließe, mit keiner, die in Konvention und Hemmungen aufgewachsen ist. Diese Wilde, Schlanke und Wunderbare nimmt sich alles, was sie haben will, sie ist eine, vor der sich die Männer beugen, weil sie niemals Beute ist.“

„Weil sie so schön ist, so eigenartig, so bizarr und wild in ihren Launen. Nun, Sie werden sie ja bei uns sehen!“

„Sie wird gar nicht hierher passen,“ sagte der Mann und maß mit einem gequälten Blick die altdeutsche, gewöhnliche Kredenz ihres Speisezimmers, die verblichenen, grünen Plüschvorhänge, die seidenbespannte, geschmacklose Hängelampe.

„Nein,“ sagte die Frau. „Es ist alles so häßlich und enge hier – ich habe das eigentlich früher nicht so gewußt ...“

„Man müßte Geld haben,“ sagte der Mann.

„Man müßte Geld haben,“ seufzte die Frau und sah plötzlich alt aus.

„Sie ist wunderbar,“ wiederholten beide noch einige Male und setzten dann immer wieder hinzu: „Nun, Sie werden sie ja bei uns sehen!“

Fräulein Dr. Südekum ging traurig und verwirrt von diesem seltsamen Abend heim. Alle vertrauten Menschen ihrer Umwelt begannen sich zu wandeln. Was war mit dem Knaben geschehen, den sie nun durch zwei Jahre unterrichtete und der sich so plötzlich und wild an eine unverständliche Verehrung für den Kanzler gab? Was aber vor allem war in diese beiden stillen Leutchen gefahren, die ihr immer der Inbegriff der Sicherheit und des ruhigen Lebens bedeutet hatten?

Eifersucht und Angst erfüllte sie.

Drittes Kapitel

Es mag sein, daß die Jahre gleichmäßig und ohne Unterschied dahingleiten, wenn man allein lebt oder nur mit Erwachsenen, mit Fertigen und Abgeschlossenen. Nur wer mit Kindern lebt, weiß, welch drängende Fülle in einem Jahre beschlossen ist. Stille steht die Zeit nur für sie, die nicht mehr wachsen.

Die Erwachsenen, die manchmal, über die Gartenmauer blickend, die Schülerinnen in Zweierreihen spazierengehen sahen, mochten vielleicht denken: alle sind gleich. Denn die Erwachsenen sehen meist nur die Unterschiede, die ihre Sucht sich zu überheben geschaffen hat: Rang, Geburt, Stellung, Geld. Aber der Blick für die Verschiedenheit innerer Schicksale, ererbter Anlagen, Schicksalsprädestinationen ist ihnen verlorengegangen.

Aber die Lehrerin wußte. Da war Lizzie Ebbinghaus, die Eitle, die sich schon mit Bändern putzte, eingelerntes Lächeln wies und eine erstaunliche Fertigkeit, alles spitzbübisch von den Erwachsenen zu erbetteln. Erika Meyer, die Stolze, schon beleidigt, ehe sie ihren Wunsch ausgesprochen hatte, stets bereit, jede Sehnsucht schamhaft zu verleugnen, sie, die nicht bitten konnte. Alles sollte ihr in den Schoß fallen, weil sie zu gehemmt war, um ihre Wünsche zu zeigen. Auch Herta Kobinger, die Ehrgeizige, die immer nur glänzen, andere übertrumpfen wollte, erriet die Lehrerin, Käte Bilwein, die Empfindsame, auch, die sehr leicht in Tränen ausbrach, und doch nicht fähig war, sich in einen anderen zu denken, ihm ein Opfer zu bringen, sondern immer nur auf ihr eigenes, leicht verletzbares Gemüt bedacht war. Grete Erb aber nannte sie heimlich die Machtlüsterne, weil sie nur Freundinnen hatte, um sie zu beherrschen, eifersüchtig keine andere Bindung duldend, weil sie Geheimverbände gründete, als deren Anführerin sie gelten wollte. Da war manche, die sich wild und verzweifelt gegen sich selbst wehrte, und sich doch immer tiefer in sich verstrickte, gestoßen und gepeitscht von dem Ich eines vergangenen Seins, das in ihr nach geheimnisvollen Gesetzen wieder auferstand. In tausend Facetten brach sich das Licht werdenden Menschseins.

Und wie verschieden die Mädchen im Unterricht waren! Geographie und Geschichte lehrte Fräulein Dr. Südekum. Da gab es manche, die gequält und leiernd die großen Ereignisse der Geschichte heruntersagten und nur aufblühten zu Verstehen und leidenschaftlicher Teilnahme, wenn von fernen Ländern gesprochen wurde, Gebirgszügen, Flüssen und Meeren. Andere wieder, denen Länder und Städte nur Namen waren, Farbflecken und Ringlein auf schwer entzifferbaren Landkarten, und die sich leidenschaftlich an die Berichte von großen Menschen und großen Schicksalen gaben, plötzlich in stockenden Fragen tiefe Deutung und heimlichste Verwandtschaft zu toten Schicksalen offenbarend. Es gab Mädchen, die mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Munde dasaßen und so schwer, so schwer verstanden, immer von der Angst gequält, ein Wort zu verlieren, und damit den so schwer verständlichen Zusammenhang. Andere wieder, denen alles gleichgültig war außer Noten, die im Lernen nur lästige Arbeit sahen, mit der man Lob heimste oder Unannehmlichkeiten. Andere wieder, denen nichts genug war, die immer wieder fragten, tiefer forschten.

Freilich: alle diese Unterschiede waren nur wirklich bis zu der einen Zeit, die alle wandelte. Schon äußerlich: dunkle, schwermütige Schatten um helle Kinderaugen legte, ihren Gebärden erste schmachtende Weichheit lieh, tiefe Blässe um junge Stirnen legte. Die Macht, die leise und lautlos in die Klasse brach, wie böser Zauber in eine Herde, wie sengender Wind in weiße ziehende Sommerwolken. Sie drängte die Mädchen in einem gemeinsamen rätselhaften Schicksal aneinander, verwischte langsam und erschreckend die Unterschiede, die vordem bestanden hatten. Sie nahm den Kindern, die noch vor Wochen jedes eine Welt für sich gewesen waren, die Eigenart, pflügte sie hart wie rauhe Erde zu gleichmäßigen Ackerschollen, alle aufgetan dem einen.

Sooft schon hatte die Lehrerin dieses erlebt und erschrak doch immer wieder vor dem Unabwendbaren, das die erste Musik des großen Abschiednehmens war. Musik dennoch, denn so dunkel und quälend die Melodie ersten Leidens in diese Tage sank, die Lehrerin war nicht blind für die Anmut erster Verwirrung und Scham, die in diesen Tagen bebte, für die erlösende Musik aufspringenden Lachens, für den Überschwang froher Reigen und die Verträumtheit erster Sehnsucht.

Wieder geschah es, daß sie ihre Schülerinnen in flüsternder leiser Unterhaltung im Parke fand, in Gesprächen, die jäh in wortlose Umarmungen, Lachen und Tränen mündeten. Sie erschrak, wenn die Schülerinnen während eines Vortrages einander errötend ansahen und bei einem Worte, dessen Beziehung zu verwirrenden Dingen Fräulein Dr. Südekum unbekannt war, ein Kichern aufflog, in dem erstes Wissen bebte. Wenn die Mädchen einer huldigten und dienten, deren Wuchs schon über die herbe Strenge des schmalen Kinderleibes in erste, zaghaft angedeutete Formen gefunden hatte, wenn sie Mädchen dabei betraf, wie sie ihren, der Lehrerin, Namen auf Butterbroten aßen oder sich ihn mit Nadeln in die dünnen Arme ritzten, wenn sie namenlose stammelnde Briefe in der Lade ihres Pultes fand. Wenn sie all den absonderlichen, rührenden und lächerlichen Dingen begegnete, in denen sich das kommende Weibesschicksal spielerisch anmeldete.

Am tiefsten aber entsetzte sich Fräulein Dr. Südekum über Gertrud, über dieses Kind, das ihrem Herzen so nahestand wie keines. Selbst die äußere Wandlung erfüllte sie mit Bangen. War diese Ungeschicklichkeit der Bewegungen, das unregelmäßig Derbe des Gesichtes, die Unfähigkeit, frei und ungehemmt sich geben zu können, all das Verneinte und Gehemmte an diesem Kinde nicht das gewesen, was dieses in Not und Wirrnis an ihr Herz getrieben hatte? Aber nun erblühten aus dem sich reckenden biegsamen Körper Gebärden edlen und bewußten Ausdrucks, schien das Gesicht schmal geglüht von einer Flamme, die diesen Körper zu dehnen, zu verbrennen schien, von einer Flamme, die oft jäh und rätselhaft aus Gertruds Augen blickte.

Sie, die immer am leidenschaftlichsten gefragt hatte, deren loderndes Mitgehen den Vortrag der Lehrerin bis zur seligsten Preisgabe beschwingt hatte, saß nun teilnahmslos unter den Schülerinnen, und wenn Fräulein Dr. Südekum sie zu einer Antwort aufrief, traf sie ein dunkler Blick aus Fernen, von denen die Träumende heimkehrte, mit stockenden Worten verratend, daß sie dem Vortrag nicht gefolgt war. Dies war in letzter Zeit sooft geschehen, daß die Lehrerin einmal erzürnt auffuhr und fragte: „An was dachtest du denn?“

Und das erschreckte Mädchen sagte dunkelrot erglühend: „Ich weiß es nicht!“

Auch Gertrud war wie die anderen, ganz ausgelöscht von dem heißen Werden, das nun in dem jungen Körper wühlte, alles verwischte, was früher Eigenart und Besonderheit an ihr gewesen war? Und schmerzlich dachte die Lehrerin: selbst ihren Namen hat sie nicht beibehalten. Sie will nicht mehr Gertrud heißen. Gert rufen sie die Freundinnen jetzt.

Und immer seltener war es, daß Gert zu der Lehrerin kam, daß sie das Verlangen hatte, über den zuteil gewordenen Vortrag über ein Thema hinaus noch Besonderes zu erfahren, was Antwort auf ihre eigensten Fragen geben sollte. Immer seltener, daß Gert den Wunsch hatte, über die Dinge ihres Daheim, über Sorgen und Ahnungen, die sie quälten, mit der Lehrerin zu sprechen. Kam sie aber dann doch einmal, dann schien sie oft zerstreut und befangen, ein andermal wieder rätselhaft unruhig und gepeitscht.

In diese Tage seltsamer und verwirrender Wandlung, da der Märzwind durch die Straßen fegte, und an trüben, regnerischen Tagen die Blumenhändlerinnen erste Veilchen feilboten, trat ein Ereignis, das für einige Wochen einen dunklen Cellostrich in die klingende Musik des Vorfrühlings wob.

Es fiel in diesem Jahre nicht mehr so auf wie früher, wenn ein Mädchen einige Tage der Schule fernblieb. Ja, es gab Mädchen, die aus dem seltsamen Verlangen, jenen gleich zu sein, die oft über Kopfweh klagend und blaß in einer Bank saßen und errötend erklärten, an der Turnstunde nicht teilnehmen zu wollen, Essig tranken und mit Kohle dunkle Schatten unter die Augen malten, um diesen Mädchen ähnlich zu sein. So war es auch nicht weiter aufgefallen, daß Frida Glatzer, die Vorzugsschülerin aus der ersten Bank, acht Tage der Schule fernblieb, und die Wissenden unter den Mädchen neigten sich flüsternd zueinander und sagten: „Nun gehört sie auch zu uns.“

Dann geschah es aber an einem Tage, daß die besten Freundinnen der Glatzer, die ernste Grete Erb und Herta Kobinger, die sonst immer so lärmend in die Klasse stürzte, verweint in die Schule kamen und erzählten: „Sie hat Blinddarmentzündung. Man hat sie noch in der Nacht operiert.“

Operation – das erweckte Vorstellungen, die wie schwarze Vögel in die Schar der jungen Mädchen fielen, Vorstellungen von blanken Messingbetten in kühlen und weißgetünchten Zimmern, Erinnerungen an häßliche und beängstigende Gerüche, Erinnerungen an weißbärtige Männer mit funkelnden Brillen. Wer in der Klasse schon einmal eine Verwandte in einem Sanatorium besucht hatte, stand im Mittelpunkt des Interesses.

Jeden Morgen brachten die beiden Freundinnen Berichte über die Ereignisse im Sanatorium. Es ging immer schlechter, und an manchem Tage durften sie gar nicht in das helle Zimmer, das auf einen großen Garten hinausging. Erregend und seltsam waren ihre Erzählungen: „Man ist ein ganz fremder Mensch, wenn man so lange im Bett liegt. Ja, sie hat sich so merkwürdig verändert. Sie war doch früher ganz wie wir und sieht nun so besonders aus.“

„Sie ist in den drei Wochen entsetzlich gewachsen,“ erzählte Grete Erb. „Ihre Hände sind so lang geworden.“ Und flüsternd setzte Herta Kobinger hinzu: „Man darf nur wenig mit ihr sprechen, und was sie sagt, ist so alt und von woanders her!“

Eines Tages trat die Lehrerin in die Klasse und sagte nach einem langen Blick auf die Mädchen, die plötzlich erschreckt verstummten: „Die Frida Glatzer ist gestorben.“ Einige Mädchen saßen bleich und mit starren Augen, andere weinten laut auf. Es war nicht nur Trauer um den Verlust der Freundin, die nur wenigen aus der Klasse nahegestanden hatte. Es war eine Angst, ein entsetzlich würgendes Bangen, das plötzlich die Kinder erfaßte und ihr gehetztes Denken in Vorstellungen von einem Dasein in einem engen Kasten unter schwarzer feuchter Erde trieb.

In der Gesangsstunde übte der Lehrer mit ihnen: Es ist bestimmt in Gottes Rat.

Zwei Tage später fand das Begräbnis statt. Die Mädchen versammelten sich unter der Aufsicht der Lehrerin vor dem Sterbehaus und gingen in Zweierreihen hinter dem Sarge einher zur Kirche. In ihr wurde sonst der Schulgottesdienst abgehalten, und sie barg für viele Erinnerungen an lustige und sogar freche Streiche. Heute aber war die Kirche ganz verändert. Sie war schwarz ausgeschlagen, und die Kerzen flackerten so unruhig. Mit großen Augen starrten die Mädchen auf den Sarg, der vor dem Altare stand. Es war unfaßbar und nicht zu glauben, daß er den Körper dieser Glatzer bergen sollte, die noch vor wenigen Wochen aufrecht und lächelnd in der ersten Bank gesessen hatte. Nein, das konnte man nicht verstehen.

Der Weg zum Friedhof war lang, und in der frischen Luft, in der Gesellschaft aller Freundinnen und Kameradinnen verflog das Bangen und die Angst so sehr, daß sogar erste Scherze aufflatterten und einige Mädchen verzweifelt mit dem Lachen kämpften, weil die Lehrer in ihren schwarzen Anzügen so steif und komisch aussahen.

Dann aber trat man an das Grab, das nach den Tagen wilden Märzregens so entsetzlich feucht und schwarz aussah, daß die Mädchen voll Entsetzen zurückwichen, als die Lehrerin begann, sie in einer bestimmten Ordnung rings um die Grube aufzustellen. Unnatürlich hoch und zitternd klangen die Stimmen, als der Gesangsprofessor die Hand hob, um das Zeichen zum Absingen des Liedes zu geben. Ganz entsetzlich war es aber, daß die Sitte es vorschrieb, die Mädchen müßten, dem Beispiele der ganz in Schwarz gekleideten Eltern und Verwandten folgend, eines nach dem anderen, an das Grab herantreten und mit einer Schaufel ein Häufchen Erde auf den Sarg werfen. Mehr als eine zitterte dabei in namenloser Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und in die entsetzliche schwarze Grube hinabzufallen, in die man den Sarg gesenkt hatte.

Dann fuhren die Schülerinnen mit den Trambahnen heim.

Für eine Zeit waren die Mädchen stiller geworden, und es gab viele unter ihnen, die sich davor fürchteten, von verwirrenden und sündigen Geheimnissen in den Pausen zu sprechen, in diesem Klassenzimmer, in dem noch immer der eine Platz leer war.

„Ich habe schon acht Tage nicht mehr im Konversationslexikon nachgeschlagen,“ erzählte Herta Kobinger. „Ich habe das Gefühl, daß sie alles sieht und hört und daß vielleicht überhaupt alles eine Strafe Gottes war.“ Erschreckt hingen die Augen der anderen an der Sprecherin, deren untersetzte Gestalt noch kleiner geworden schien. Und noch nach Wochen geschah es, daß die freche Lizzie Ebbinghaus jäh verstummte, wenn sie an dem leeren Platze der toten Schülerin vorbeikam.

Dann geschah es aber eines Tages, daß der Rektor, der meist die erste Stunde morgens gab, weil er Deutsch lehrte, mit seiner dunklen Stimme sagte: „Erna Petersen, Sie sitzen von nun an auf diesem Platz.“

Und bald erfüllte wieder frohes und unbekümmertes Lachen die Klasse. Die Lücke hatte sich gefüllt.

Viertes Kapitel

Fräulein Dr. Hanna Südekum ging die hohe Mauer entlang, die den Schulgarten einsäumte.

Sie ging an der kleinen Butike der Trödlerin vorüber und schritt rascher aus, als sie den hexenhaften Kopf des alten Weibleins sah, das am Fenster saß und unentwegt in einem Buche las. Wahrhaftig, wie die Knusperhexe im Märchen sah sie aus. Ja, geradeso. Und auch zu ihr fanden Hänsel und Gretel, so sann Fräulein Dr. Südekum empört.

Ja, mit dieser Trödlerin hatte es eine eigenartige Bewandtnis. Sie hielt die Frühstückssemmeln für die Schuljugend feil, Marmeln auch und bunte Ballons. Daran wäre nichts Besonderes gewesen, und jedermann hätte dem alten häßlichen Weiblein den kleinen Verdienst gerne gegönnt. Die Händlerin verkaufte aber auch Bücher. Und trotz aller Verbote und verhängten Strafen schlichen sich die Schülerinnen immer wieder zu dem kleinen Blockhäuschen, das inmitten der Straße stand. Es hatte Lehrerkonferenzen gegeben und Anzeigen, sogar die Gerichte hatte man deshalb angerufen. Aber der Vetter der Trödlerin war eine mächtige Persönlichkeit und froh, die arme Verwandte auf diese Weise versorgt zu sehen. So halfen alle Anzeigen gegen die Büchertrödlerin nichts.

Durch sie fanden die Jungen und Mädchen das Loch im Gartenzaun, der ihre Unwissenheit behüten sollte, durch das sie hinaus in das wilde, unbegreiflich lockende Leben blicken konnten.

Kalender hielt sie feil, in denen, mit rotbemalten Bildern geschmückt, entsetzliche Geschichten von Hexenverbrennungen standen, Geschichten von armen Mädchen, die durch die Macht ihrer Schönheit zu Glanz und Ehre gelangten, Erzählungen von der verfolgten Unschuld, von furchtbaren Schuften und entsetzlich edlen Helden. Aus den verrunzelten Händen der Trödlerin empfingen die Knaben die grellbemalten Nick-Carter-Hefte, in denen von wilden Buben zu lesen stand, die einem freudlosen ärmlichen Heim entlaufen waren, Küchenjungen auf Riesendampfern wurden, von Seeräubern verschleppt, sich retteten und es schließlich zu Kapitänen gefürchteter Piratenschiffe brachten, als welche sie trotz ihrer Grausamkeit gegen arme schutzlose Menschen wahre Wunder an unbegreiflicher Güte an anderen verrichteten.

Noch schlimmere Konterbande hielt das alte hexenhafte Weiblein in ihrem Laden versteckt: Bücher, die das Liebesleben von Hotelstubenmädchen oder Tänzerinnen erzählten, Geheimnisse alter Hafenstädte, Zeitschriften, die Namen wie „Kaviar“, „Rakete“, „Bombe“ trugen und die unter der Jugend mehr um ihrer überdeutlichen Bilder willen als wegen ihrer schwer verständlichen Witze begeisterte Käufer fanden.

Man munkelte sogar, daß die Trödlerin ihren kindlichen Stammkunden und besonderen Lieblingen erlaube, in die Butike zu schleichen, um dort, von niemandem gesehen, nach Herzenslust in den Schmökern zu lesen und zu blättern. Weil die Kinder aber fanatisch zu dem alten Weiblein hielten und nichts aus ihnen herauszubringen war, so schien es unmöglich, der Alten den Prozeß zu machen.

Scheu und mit wehem Herzen schlich Fräulein Dr. Südekum an der Bude vorüber. Hier saß eine Feindin, das spürte sie, eine, die mit allen dunklen Mächten verbündet war, die ihr die Schülerinnen entführten.

Was mochte sie nur heute in der Schule erwarten? Schon am Vortage hatte ihr der Rektor mitgeteilt, daß er wegen eines ganz besonderen Vorfalls eine Konferenz für den nächsten Vormittag einberufen habe und daß sie zu dieser zu erscheinen hätte.

Der Rektor hatte dabei die Lehrerin kaum angesehen, als er ihr dies verkündete, es war, als handle es sich um eine Sache, die er gar nicht in der menschlichen Nähe eines Gespräches berühren konnte, sondern nur, wenn er auf seinem Platze als Vorsitzender im Konferenzzimmer am grünen Tische thronte.

Fräulein Dr. Südekum war zerstreut und verwirrt in der ersten Unterrichtsstunde. Irgend etwas lag in der Luft, das sie ängstigte. Auch die Mädchen mochten es spüren, fremd und ein wenig unsicher sahen sie zu dem Pulte der Lehrerin auf, und das alternde Fräulein fühlte, daß die Kluft zwischen ihr und dieser Jugend da unten in den Bänken größer geworden war. Ja, sie hatte das Empfinden, daß sich diese da unten, die sich in den letzten Wochen immer ähnlicher wurden, in Gebärde, Lächeln und Worten aneinanderdrängten zu einer geschlossenen Gegnerschaft gegen sie und die Schule überhaupt. Ihr scheuer Blick suchte Gert. Aber das Mädchen saß so versunken und allem abgekehrt, daß sie den fragenden Blick der Lehrerin nicht sah. Da begegnete Fräulein Dr. Südekum ein rascher, mißtrauisch abschätzender Blick aus einem Augenpaar der ersten Bank. Dort saß am Platz der gestorbenen Frida Glatzer die hochgewachsene Erna Petersen. Seltsam blaß war sie an diesem Tage, und als Fräulein Dr. Südekum sie scharf ins Auge faßte, lächelte das Mädchen fein und überlegen.

Mit ihren kleinen trippelnden Schritten ging Fräulein Dr. Südekum aus dem Schulzimmer hinaus und durch die hallenden Gänge hinüber in den Konferenzraum. Der Rektor begrüßte sie kurz und spielte nervös mit einem Bleistift, während die berufenen Lehrer sich an dem langen grünen Tisch niederließen. Neben Fräulein Dr. Südekum saß Oberlehrer Kleesam. Er verneigte sich linkisch vor ihr, dann sank sein Kopf wieder zwischen die hohen Schultern. Der Mathematikprofessor Dr. Weniger zerrte erregt an seinem schütteten, blonden Bärtchen, und seine wasserblauen Augen sahen hilflos durch die angelaufenen Brillengläser. Nur Fräulein Fischhaupt, die Französischlehrerin, thronte ruhig und unentwegt in ihrer speckigen Fülle am Ende des Tisches und wartete phlegmatisch der Dinge, die nun kommen sollten.

„Es ist eine anonyme Anzeige eingelaufen,“ begann der Rektor. „Wir sind uns alle über das Verwerfliche und allen ethischen Grundsätzen ins Gesicht Schlagende der Verfassung und Absendung eines nicht unterzeichneten Briefes klar – aber nichtsdestoweniger –“ er räusperte sich – „wir müssen der Sache nachgehen. – Der Briefschreiber oder die Briefschreiberin – nicht einmal das Geschlecht ist erkenntlich – behauptet, daß eine Schülerin aus der Maturaklasse des Fräulein Dr. Südekum – namens Erna Petersen – ja, es ist unglaublich, – sich mit dem jungen Antonelli, – dem neuen Liebhaber am städtischen Schauspielhaus, – er ist erst seit acht Tagen hier und Sie alle werden ihn kaum kennen – täglich abends in – ja, es ist wirklich unglaublich – in der Westminsterbar trifft.“

Betretene Stille folgte der Eröffnung des Rektors, nur der kleine Mathematikprofessor fragte: „Gibt es denn so ein Lokal in unserer Stadt?“

Der Rektor würdigte ihn keiner Antwort und fuhr fort: „Wir müssen die Sache untersuchen, und ich habe mir hierfür auch schon einen Plan zurechtgelegt ...“

„Aber das ist doch unmöglich!“ sagte Fräulein Dr. Südekum, und alle sahen nun in ihr erblaßtes Gesicht. „Das ist sicherlich eine Lüge, – eine entsetzliche Verleumdung. Erna Petersen, dieses junge, blühende Mädchen ...“

Der Mathematiklehrer wollte etwas Ironisches sagen, aber er fuhr sich rasch über den Mund, als wollte er die Sätze hinter die Zähne zurückdrücken.

Fräulein Fischhaupt sagte: „Diese Mädchen von heutzutage, – alles ist ihnen zuzutrauen, selbst ein Mord!“

Der Rektor wandte sich an den Oberlehrer Kleesam, den Ältesten der Runde. „Anonyme Briefe pflegen leider meist die Wahrheit zu sagen. Ich bin nicht so optimistisch wie Fräulein Oberlehrerin Dr. Südekum. Ich bitte Sie daher, Herr Oberlehrer, heute abend dieses Lokal aufzusuchen.“

„Ich bin verheiratet,“ sagte der Oberlehrer betreten, – „man könnte, – ich möchte nicht ...“

„Ich will Sie gerne begleiten,“ krähte der Mathematikprofessor mit seiner hohen Fistelstimme.

„Nein, um diese Begleitung möchte ich Fräulein Dr. Südekum bitten,“ sagte der Rektor. „Ich weiß, was ich verlange,“ setzte er pathetisch hinzu. „Aber hier ruft die Pflicht, die heilige Pflicht des Erziehers. Ich möchte, daß gerade Sie mitgehen, Fräulein Oberlehrerin, weil – nicht nur, weil es ein Mädchen aus Ihrer Klasse ist, sondern, weil eine Frau – pardon, – ich meine, weil eine weibliche Persönlichkeit tiefer erkennen kann, wieweit die Verderbnis fortgeschritten ist. Sie werden aus dem Benehmen sehen, ob – wir wissen ja alle ...“ Er hatte einen ganz roten Kopf bekommen, der Rektor Krause.

Fräulein Dr. Südekum saß versteinert da. Erst diese Eröffnung, die vorgefaßte und sie so sehr empörende Meinung des ganzen Kollegiums über ihre Schülerin, und nun noch dieses Ansinnen! Aber es war vielleicht besser, wenn sie selbst sah, – vielleicht, nein gewiß, steckte eine ganz harmlose Sache, ein verrückter Jungmädelstreich dahinter. „Ich bin bereit,“ sagte sie mit gepreßter Stimme.

„Ich danke Ihnen,“ nickte Rektor Krause würdevoll.

„Und was geschieht mit Erna Petersen?“ fragte Fräulein Fischhaupt und ihre Augen funkelten böse.

„Nun, die wird selbstverständlich aus der Anstalt entfernt,“ sagte der Rektor, und Fräulein Fischhaupt, der Oberlehrer Kleesam und der Mathematikprofessor nickten befriedigt. „Nicht eine Stunde länger,“ fuhr der Rektor fort, „sobald wir Gewißheit haben, darf der Pesthauch dieses verderbten Geschöpfes die anderen reinen ...“ er stockte und suchte vergeblich nach einem Zeitwort.

„Vergiften,“ sekundierte der Oberlehrer, und der Rektor nickte.

*

Am Abend dieses Tages stand Fräulein Dr. Südekum in ihrem Zimmer und betrachtete verlegen die Schätze ihres Kleiderkastens. Was sollte sie zu dieser entsetzlichen Exkursion anziehen? In solche Lokale gingen die Menschen wohl in großer Toilette, und Fräulein Dr. Südekum besaß nur zwei Ausgaben des gleichen schwarzen, herrenmäßig geschnittenen Kostümes, das sie sich durch Jahre immer wieder nach ihren eigenen Angaben schneidern ließ, und dazu, je nach der Jahreszeit, hochgeschlossene glatte Blusen, entweder aus Wollstoff oder aus dünnem schwarzem Lüster. Aber in so einer Bluse konnte man wohl unmöglich in dieses Lokal gehen? So blieb nur das schwarzseidene Prüfungskleid, in dem sie bei den Schulprüfungen, und besonders bei der Matura, neben dem Vorsitzenden zu thronen pflegte. Ja, dieses Kleid, durch so viele feierliche Stunden der Macht und Herrschaft geheiligt, dieses mußte sie anziehen. Es war ein Glück, daß die weißen Krägelchen, die Fräulein Dr. Südekum zu diesem Kleide zu tragen pflegte, bereit lagen. Einen Augenblick überlegte das alternde Fräulein noch, ob sie sich nicht die Haare brennen solle. Ihre Haare waren ihre einzige Schönheit, – ja, das hatte sogar Rektor Krause einmal gesagt. Aber dann errötete sie vor sich selbst über diesen Gedanken: nein, einem solchen Schandlokal werde ich keine Ehre antun!

Als Fräulein Dr. Südekum mit dem Oberlehrer Kleesam, der, offenbar demselben Gedankengang wie Fräulein Dr. Südekum folgend, seine schwarze feierliche Amtstracht mit der festen weißen Vorsteckkrawatte angelegt hatte, durch die Samtportiere in den lichtüberfluteten Raum der Tanzbar trat, erschrak die Lehrerin, die es gewohnt war, daß ihre Schritte hörbar auf den Gängen und im Lehrsaale klangen, über das weiche Versinken in den Teppichen des Lokales: – als verlöre man den Boden unter den Füßen.

Der Kellner näherte sich dem Paare und wies auf eine Karte, die Oberlehrer Kleesam befangen in die Hand nahm, durch die Brille immer verwirrter betrachtete, bis er sich selbst eingestehen mußte, daß er nicht ein einziges der verzeichneten Getränke kannte.

„Vielleicht zwei Kuß mit Liebe?“ fragte der Kellner, aber Oberlehrer Kleesam fauchte ihn an: „Für was halten Sie uns?“

Der Kellner beugte sich noch tiefer vor. „Vielleicht Champagner?“

Was Champagner sei, wußte Oberlehrer Kleesam, und er bestellte mit einem hörbaren Ruck: „Jawohl, bringen Sie uns eine Flasche!“

Es wollte kein rechtes Gespräch in Gang kommen, denn beide, der Oberlehrer und die Oberlehrerin, wagten zuerst kaum, sich im Raume umzusehen und noch weniger, miteinander ein Gespräch über die Situation zu beginnen, die sie hierher gezwungen hatte. Oberlehrer Kleesam war Fräulein Dr. Südekum sehr dankbar, daß sie mit feinem Takte das Richtige fand und ihn um einige schwierige Probleme der Präparation für den ersten Jahrgang zu fragen begann. Das gab auch ihm die Sicherheit zurück, die aber wieder wich, als ein Blumenmädchen vor ihnen beiden stand und eine ölige Stimme fragte: „Vielleicht Blumen für die Dame?“

Der Oberlehrer fuhr auf und knurrte: „Fort mit Ihnen!“ Dann aber besann er sich, ob dies nicht vielleicht eine Beleidigung für die Oberlehrerin wäre, und er winkte das verblüffte Blumenmädchen wieder heran und sagte: „Ja doch – geben Sie.“ –

Dann freilich erschrak er, weil der Betrag, der für fünf Rosen gefordert wurde, weitaus das überstieg, was sich Oberlehrer Kleesam als Spesen für die ganze gefährliche Exkursion vorgestellt hatte. Er hatte aber nicht lange Zeit darüber nachzudenken, wieviel der Schule wohl dieser Ausflug kosten würde und ob dies nicht Weiterungen im Unterrichtsministerium ergeben müsse, da merkte er, daß Fräulein Dr. Südekum erblaßte und starr zum Eingang hinübersah, wo, gefolgt von einem eleganten jungen Menschen, ein junges Mädchen erschien.

Fast hätte Oberlehrer Kleesam sich vergessen und Donnerwetter gesagt, ein Wort, das er im Bezuge auf eine Frau zum letztenmal vor achtzehn Jahren ausgesprochen hatte. Dies sollte Erna Petersen sein, diese ein wenig geschminkte junge Dame, die mit unglaublicher Sicherheit ihrem Kavalier zu einer Loge folgte und sich mit ihm gemeinsam über die Weinkarte beugte, mit deren Geheimnissen sie entschieden besser vertraut schien als die beiden Schuldetektive?

Die junge Dame, die im Verlauf von kurzer Zeit immer fröhlicher und erregter wurde und mehr als einmal den schlanken weißen Arm auf den ihres Partners legte, ihm mit übermütig zurückgeworfenem Kopf zutrank und dann mit der Grazie einer vollendeten Dame Salzmandeln knackte, sah nicht weiter im Saale umher und ahnte nicht, daß ihr gegenüber, unten, an einem der Tische, wo das nicht so elegante Publikum saß, sich die Nemesis in Gestalt zweier Lehrer aufhalten könnte.

Oberlehrer Kleesam und Fräulein Dr. Südekum vermochten kaum ein Wort über das, was sie sahen, über die Lippen zu bringen, sie sahen beide nur fassungslos in die Loge hinüber, Fräulein Dr. Südekum, die schmalen feinen Hände angstvoll ineinander verkrampft, der Oberlehrer erregt und wütend an seiner weißen Vorsteckkrawatte zerrend.

Wie erlöst atmete Fräulein Dr. Südekum auf, als der junge Schauspieler den Kellner heranwinkte und einige Minuten später dem jungen Mädchen den Mantel um die nackten Schultern legte. „Sie gehen,“ flüsterte sie dem Oberlehrer zu. Auch sie beglichen ihre Zeche, ein Augenblick, in dem der Oberlehrer Angst schwitzte, denn solche Preise hätte er in seinem Leben nicht für möglich gehalten. Rasch verließen auch sie das Lokal, und Fräulein Dr. Südekum wollte schon dem Kollegen aufatmend die Hand reichen, als dieser zwischen den Zähnen hervorstieß, während er sie nicht ansah: „Wir müssen den beiden noch folgen, – wer weiß, ob sie jetzt nach Hause gehen.“

Mit angstvoll aufgerissenen Augen sah Fräulein Dr. Südekum den Oberlehrer an: „In noch so ein Lokal?“ fragte sie.

„Da würden wir nur bis zur Türe folgen,“ sagte der Oberlehrer würdig, der in seiner Brieftasche kaum mehr den Betrag wußte, um einen Wagen nach Hause zu bezahlen. „Aber vielleicht ...“ der Oberlehrer schwieg verwirrt und wagte nicht weiterzusprechen.

Oberlehrer Kleesam und Fräulein Dr. Südekum gingen schweigend nebeneinander durch die dunklen Straßen und folgten dem jungen Paar, das eng aneinandergeschmiegt vor ihnen herging. Andere Pärchen streiften an ihnen vorüber, Scherzworte flatterten auf, das Gröhlen Betrunkener drang durch die Nacht. Ganz, ganz anders sahen die Straßen zu solcher Stunde aus. So, als gäbe es nur das, sann Fräulein Dr. Südekum gequält und verwirrt.

Plötzlich faßte der Oberlehrer Fräulein Dr. Südekum am Arm, die sogleich schreckerstarrt stehenblieb. „Einen Augenblick,“ flüsterte er, „dort bleiben sie stehen.“

Die Lehrerin suchte mit angestrengten Augen das Dunkel der Nacht zu durchdringen, aber sie sah nur ganz verschwommen die Umrisse der beiden Menschen, die vor einem dunklen Gebäude standen. Über ihren Köpfen schaukelte eine große Laterne, auf der in geschickter Verwendung moderner Lichtreklame immer wieder rotleuchtend das Wort „HOTEL“ aufflammte.

Es war nur ein Augenblick, daß das alternde Fräulein wie erstarrt stehenblieb, dann wandte sie sich jäh grußlos und stürmte an dem verdutzten Oberlehrer vorbei die dunkle Straße zurück, und immer weiter.

Sie wußte selbst nicht, wie sie endlich zu ihrem Haus gelangt war. Hastig suchte sie den Schlüssel in ihrem Täschchen, und während sie sich mühte, mit zitternden Händen den Schlüssel in das Schloß zu bringen, ertönte hinter ihr ein warmes Männerlachen, das sie kannte. Sie barg sich keuchend in die Füllung der Haustüre und sah im Schein der Hauslaterne den jungen Ehemann Nowotny und eng an ihn geschmiegt eine dunkelhaarige fremde Frau. Noch tiefer duckte sie sich in den Toreingang und wagte lange nicht sich zu rühren. Ihre Knie zitterten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, ein Arzt zu sein, der bei ausgebrochener Pest von Bett zu Bett eilt und nicht weiß, wo er beginnen soll.

Gehetzt floh sie die Stiegen zu ihrem Zimmer hinauf. Angstvoll verriegelte sie die Türe. Entsetzliche Angst überkam sie plötzlich.

Sie entkleidete sich im Dunkeln und leuchtete noch einmal unter das Bett.

Als sie die rauhe Decke über den Kopf zog, jagten sich fiebernde Bilder in ihrem Gehirn, und sie dachte verwirrt: Nie noch bin ich nach Hause gekommen, ohne in alle Winkel und unter dem Bette nachzusehen, ob nicht einer sich verstecke – und wie ich mich gefürchtet habe, als damals der Arzt mich untersuchte – und sie, sie, dieses junge Ding – mit einem fremden Manne, so ganz nah, – in einem fremden Bett!

Fünftes Kapitel

Die Lehrerin verstummte, und auch der Knabe schwieg, als lausche er noch der Musik vergangenen heroischen Geschehens, das die Stimme vor ihm beschworen hatte.

Nur ganz leise drang der Lärm der Straßen durch die dichten Portieren in den ernsten Raum. Eine breite Schirmlampe beleuchtete das Antlitz des Knaben. Die Lehrerin war nach ihrer Gewohnheit in das Dunkel gerückt, sobald sie die Bücher geschlossen hatte. Sie war sehr müde heute und verwirrt, – traurige, mutlose Gedanken bedrängten sie und zerrten sie immer wieder in das Erleben der letzten Tage, in die Erinnerung an den furchtbaren, häßlichen Abend, da Erna Petersen ... Sie mußte an die Konferenz am nächsten Tage denken, da sie und der Oberlehrer berichten mußten, – an die Untersuchungen und Zitierungen von Schülerinnen, an das Herbeirufen der Schuldigen selbst, die plötzlich totenblaß zwischen den Erwachsenen stand, schmachvoll preisgegeben entsetzlichen Fragen, mitleidslosen Blicken, die über sie tasteten wie über ein böses fremdes Tier. Der Schuldspruch endlich, – und dann der Vater ...

Sie schrak aus ihren Träumen, als des Knaben helle Stimme plötzlich durch den Raum stieß:

„Aber manchmal träume ich, daß den Kanzler Seeräuber verschleppt haben. Ich gehe waffenlos zu ihnen. Sie sagen: Er soll frei sein, wenn du stirbst. Sie binden mich nackt und bloß an einen Baum. Sie schlagen mich. Und einer stößt mir den Degen bis ans Heft ins Herz. Da erwache ich in einem wahnsinnigen Glück.“

Die Lehrerin saß schweigend im Dunkel und dachte gequält an den Mann, dem diese Liebe galt, an sein hartes, zügelloses Leben. Leise begann sie:

„Du hast keinen Freund, Erwin. Es ist doch nicht gut, daß du so allein bist!“

„Ich mag keinen Freund. Sie – sie sind so anders – so seltsam jetzt. Nur von einem sprechen sie immer, – es ist schmutzig und gemein. Wie die Tiere sind sie. Ich will ihnen nicht zuhören.“

„Was treibst du in deiner Einsamkeit?“

„Ich denke an ihn.“

Auf dem Nachhauseweg von dieser Stunde sah die Lehrerin immer noch das leidenschaftliche Antlitz des Knaben vor sich. Warum geschah ihm dieses Seltsame? Er liebte den Kanzler. War es, weil er noch so sehr Kind war? Oder gab es noch andere Hintergründe seiner Schwärmerei? Was war ihre Pflicht als Erzieherin? Die leidenschaftliche Verehrung Erwins war doch sehr ungewöhnlich und barg vielleicht Gefahren, die sie beschwören mußte? Sollte sie mit seinem Vater darüber sprechen? Oder wäre dies Verrat an der jungen Seele, die sich ihr erschlossen hatte?

Er hätte es ihr nicht erst zu sagen brauchen, daß er litt. Er war nicht der erste Sechzehnjährige, den sie unterrichtete. Sie kannte seine Kameraden und ihre schimpflichen Geheimnisse. Sie wußte, wie der Trieb auch diese Schmalhüftigen packte, ihre Augen trüb und flackernd schuf, ihre Hände, die noch vor Wochen so sicher mit der Schleuder getroffen hatten, jäh zittern ließ. Sie kannte aus Lehrerkonferenzen die Berichte über abendliche Wege in dunkle Gassen und hatte oft schaudernd vernommen, wie stolze Knabensehnsucht, die gestern noch für das Unbedingte geglüht hatte, sich heute so erbärmlich begnügte bei roten Lampen und einer Vettel, mit der wohl keiner der Knaben bei ruhigem Bewußtsein auch nur die geringste Gemeinschaft ertragen hätte.

Und Erwin? Unbekümmert um den schwelenden Brand um sich, um all das Kleine, Häßliche und Verderbte, in das erwachender Trieb die Kameraden irren ließ, brannte hell und stolz zu einem Menschen, der zwar ein Mann und kein Liebesobjekt für einen Knaben war, aber trotz aller Bedenken, die Fräulein Dr. Südekum gegen ihn auf dem Herzen hatte, doch sicherlich ein winkelrecht gewachsener Mensch war.

Fräulein Dr. Hanna Südekum wurde ganz heiß und verwirrt von diesem Gedanken, am meisten aber davon, daß eine klare innere Stimme ja sagte zu der exaltierten und seltsamen Leidenschaft des jungen Knaben, die ihn emporzuheben schien über die anderen, die der Trieb so entsetzlich nivellierte, wie die Mädchen aus der Maturaklasse des alternden Fräuleins. Am meisten aber erschrak sie darüber, daß irgendein heimlicher Weg zu einem Empfinden und Erleben der Lehrerin selbst zu führen schien, zu einem Empfinden, das sie nicht nennen wollte, und das ihr einsames Herz doch mit so verwirrender, weher Süße belud.

Vielleicht war es darum, daß der Lehrerin Stimme in diesen Tagen so anders klang, wenn sie in ihrer Klasse vortrug. Immer schon war diese Stimme weich und voll gewesen, atmend voll begeisterter Überzeugung. Aber nun wurde sie ein heißer, dunkler Geigenton. Oft sah man das schmale, zeitlose Gesicht des alternden Fräuleins erblassen, und ihre Brust zitterte wie die Saiten einer Geige, die man zu straff gespannt hat.

Dennoch: gegen die weitoffenen Fenster, die hinaus in einen immer reicher blühenden Garten gingen, gegen das leise, ganz ferne Brausen, das durch sie hereinströmte, kam ihre Stimme nicht an. O, gewiß in der Völle und Kraft des Klanges, nicht aber in der Wirkung. Zwar gab es noch immer einige, die ihr eifrig lauschten, in einer bösen wollüstigen Verbissenheit, in der Verachtung für die anderen lag. Das waren die Häßlichen, die für das Leben jenseits des Parkes Enterbten, die sich nun mit um so wilderer Leidenschaft dem Studium gaben, als sie die anderen in ihnen verächtlich scheinende und doch so sehr ersehnte, törichte Interessen gleiten sahen.

Denn diese anderen: da trug Lizzie Ebbinghaus schon wieder ein neues Band und konnte ihren Blick nicht davon wenden, betrachtete sich Herta Kobinger verstohlen im Taschenspiegel, wurden glühende Liebesbriefe von Bank zu Bank geschickt. Noch viel Törichteres gab es, Dinge, die Fräulein Dr. Südekum wirklich erschreckten. Da erschien Käte Bilwein plötzlich mit frech herausgereckten Brüsten, die sich dann als aus Taschentüchern gefertigt erwiesen, färbte eine andere sich unter den Augen dunkel, weil ihr das Geschlecht noch das erste bittere Geheimnis der Reife versagt hatte und sie wenigstens scheinen wollte, was sie noch nicht war. O, so grotesk und doch beängstigend war, was diese Kinder plötzlich trieben, von denen Fräulein Dr. Südekum durch Jahre jede leiseste Regung zu kennen geglaubt hatte.

Manches Spiel tauchte fast in entsetzensvollen Ernst. Eifersüchteleien führten bis zu Selbstmorddrohungen und Schwermut. Manche litten wild und verzweifelt an dem jäh erschlossenen Geheimnis, krankten am Ekel, wurden wirklich krank, blutleer, wurden wegen ihrer Kopfschmerzen und Schwindelanfälle von Arzt zu Arzt geschickt. Sie, die litten, verstand Fräulein Dr. Südekum. Irgend etwas in ihnen war ihrer eigenen Angst, ihrem eigenen Entsetzen verwandt. Diesen Kindern gegenüber fand die Lehrerin tief in ihre mütterliche Sicherheit zurück, fand Worte, die stillten. Und wenn ihr die Verzweifelten ihre wilden Sätze entgegenwarfen:

„Ich kann nicht mehr an Gott glauben, wenn auch der Vater – die Mutter ...“

„Ich bin ja so gemein, Frau Doktor – ich will nicht mehr leben, – so besudelt – warum, warum ist das alles?“ dann hatte Fräulein Dr. Südekum ihre eigene Not und Wirrnis vergessen und war nur wieder die wissende, gütige Hand, die über erhitzte Kinderstirnen strich, Weinen und Schreie an ihr Herz nahm, alles für Stunden und Tage glättete und Stille schuf.

Aber in dieser Zeit war es auch, daß Fräulein Dr. Südekum die Welt der Erwachsenen, wie sie sie nannte, das Daheim der ihr anvertrauten jungen Menschen noch weniger verstehen konnte als sonst. Mit entschlossener Zähigkeit hielten die Erwachsenen an ihrem Traum von den unwissenden Kindern fest, diesem Traum, der ihnen offenbar wohltat, ihnen gönnte, sentimental über eine Zeit zu lügen, „da auch sie in diesem Alter gewesen waren“. Sie hielten diesen Traum schützend zwischen sich und ihre Kinder, sahen nicht die ratlose Wirrnis in deren Augen, sahen nicht die junge Not, wollten nichts wissen von jähen Abgründen. Schrie die Wirrnis aber zu wild aus den jungen Blicken, brach sich verzweifelte Einsamkeit Bahn in Anklagen gegen sich selbst, die Eltern und die Schule, dann war man nur zu rasch mit dem Allheilwort des modernen Materialismus zur Hand, man murmelte etwas von Hysterie und ließ den alten braven Hausarzt kommen, der das kleine Mädchen lüstern abklopfte und „mein Kind“ nannte, und dann etwas Brom und Baldrian verschrieb. Damit glaubte man, allem genug getan zu haben, genug der jungen Not, die sich nicht zurechtfand in der plötzlich entgötterten Welt, genug der jungen Seele, deren Existenz man nur mit einem Achselzucken zugab.

Fräulein Dr. Südekum wußte und litt. Sie war nie Mutter gewesen und hatte nichts von dem wehen Geheimnis erlebt, dem diese Kinder nun so brennend entgegenblühten. Sie haßte dieses Geheimnis und die Macht, die von ihm ausging, aber sie schloß nicht den anderen Erwachsenen gleich die Augen. Sie wußte, daß diese Kinder oft irrten und litten. Und sie hatte Angst um sie. Und erbittert dachte sie: Dies war nun einmal Diktat seit Jahrhunderten: weibliche Kinder hatten, unberührt von allen Dingen des Geschlechtes, behütet vor jedem Wissen „darüber“ zu bleiben, bis die ersten Bewerber sich zeigten und man ihnen das Mädchen nach einer barbarischen Hochzeitsfeier in das Bett legte.

Und weiter sann Fräulein Dr. Südekum, betroffen und gequält: sie alle, die hatten Mütter werden dürfen, sie versäumten das schönste Recht, die schönste Pflicht, dem werdenden Seelchen Führer zu sein in das Land der großen Geheimnisse.

Wenn Fräulein Dr. Südekums Blick während des Unterrichtes über die Klasse schweifte, blieb er immer wieder an Gertrud haften. Gegen ihren Willen. Denn fast etwas wie Widerwille und Haß stieg in dem alternden Fräulein auf gegen dieses junge Wesen, dem sie so viel von ihrer Liebe gegeben hatte, das ihrem Herzen so nahe gestanden hatte wie keine der anderen Schülerinnen und die ihr nun so selbstverständlich und kühl entglitt, wie es ihr noch mit keiner Schülerin geschehen war.

Vielleicht war es deshalb, daß Fräulein Dr. Südekum dies Geschehen nicht so ruhig hinnehmen konnte wie sonst, daß etwas in ihr sich aufbäumte gegen das Unabänderliche, das sie bisher immer mit so viel Güte und wachem Verstehen ertragen hatte. Bitter sann sie: ich habe zu viel gegeben! Und erschrak doch wieder über diesen Gedanken, den sie in der unerschöpflichen Liebesbereitschaft aller vergangenen Jahre nie gedacht hatte. Erschrak und dachte jäh: ich werde alt!

Ja, fast mit Widerwillen und Haß sah die Lehrerin zu Gertrud hinüber, die, wie immer in letzter Zeit, in sich selbst versunken dasaß und wohl nicht ahnte, was in dem Fräulein vorging.

Wer hätte es für möglich gehalten, daß sich in wenigen Wochen aus dem unschönen Kinde mit seinen plumpen Bewegungen ein schmaler federnder Körper emporrecken würde, daß dieses pausbäckige, etwas derbe Gesicht sich in ein schmales und sehnsüchtiges wandeln könnte?

Auch aus dieser Puppe schält sich weiß, schmal und lockend das Weib, so dachte Fräulein Dr. Südekum, und fast zornig sah sie, wie ein dunkler Schatten über dem Kleiderausschnitt die zarten Brüste ahnen ließ. Dieser Schatten führte zwischen den Brüsten hinab zu den tiefsten Geheimnissen des Frauenleibes.

Fräulein Dr. Südekum erschrak über ihre Gedanken und erblaßte. So sehr haßte sie also schon, daß sie dieses Kind entkleidete, den zarten Schleier von diesem werdenden Körper riß, der, sein Recht verlangend, Sein und Tun ihrer Schülerin ihr entfremdet hatte? So sehr haßte sie also? Ja, sie haßte diesen Körper und alle Merkmale seines Werdens und Aufblühens.

Und doch blieb die Lehrerin beim Verlassen der Schule einen Augenblick zögernd stehen, sah sie, die eben durch das große Tor trat, das Gesicht hob, als wolle sie die zärtliche Luft des Frühlingstages noch tiefer einatmen. Fräulein Dr. Südekum ging mit kleinen, trippelnden Schritten auf das junge Mädchen zu und fragte plötzlich mit einer durch Angst und Scham rauhen Stimme:

„Warum kommst du nicht mehr zu mir?“

„Ich,“ – Verlegenheit und Ablehnung zeigten sich in den Zügen des jungen Mädchens, „ich habe so viel zu tun, – Mama, sie will – ich lerne viel Klavier.“

„Du hast dich doch sonst nicht so viel um die Wünsche deiner Mutter gekümmert!“ Die Lehrerin erblaßte, als sie dies gesagt hatte. Um Gottes willen, wie hatte sie nur das sagen können!

Ein verwunderter Blick traf Fräulein Dr. Südekum: „Es ist jetzt viel besser daheim,“ erklärte sie ruhig.

„Das ist schön, – ja, ich meinte mit meinen Worten ja auch, – es freut mich, daß du nicht mehr Widerstand leistest – ich –“

Gertrud betrachtete mit wachsendem Erstaunen die Verwirrung der Lehrerin. „Nein, ich leiste in kleinen Dingen keinen Widerstand mehr,“ sagte sie. „Es steht auch nicht dafür. Schließlich meint sie es in ihrer Art ja gut. Wenn man sehr jung ist, muß man sich eben mit den Erwachsenen herumschlagen, die Ansichten aus einer anderen Zeit haben. Das geht allen so und ist nichts Besonderes –“ Hochmütige Ablehnung jeden fremden Eindringens stand in dem jungen Gesicht geschrieben.

Schweigend sah die Lehrerin auf das Mädchen, das ein wenig befangen vor ihr stand. So hatte sich also auch dies gewandelt! Der Konflikt mit dem Daheim war nicht mehr die Einsamkeit des jungen Menschen, der nach Verstehen, Bejahung und Liebe dürstete. – Gert kämpfte offenbar wie alle anderen, um mit List oder offenem Widerstand von den Eltern mehr Freiheit für erste Torheiten zu erreichen.

Sie streckte Gertrud die Hand entgegen. „Leb wohl, Gertrud.“ Die Stimme der Lehrerin klang seltsam gepreßt.

„Leben Sie wohl, Frau Doktor!“ sagte die Schülerin, „und wenn ich darf – werde ich Sie gerne wieder einmal besuchen.“

Sie ist eine Gans geworden wie alle anderen, sann Fräulein Dr. Südekum erbittert, und sie dachte rasch noch einige böse und erbitterte Gedanken, damit dieser Druck in der Kehle verginge, der so brannte und preßte, und damit sie nicht zu wach den einen Gedanken denken mußte, der in ihr aufstieg: so gab sie mir den Abschied, so einfach und gnadenlos. Sie braucht mich nicht mehr ...

Erstaunt sah ein Passant dem hastig trippelnden Fräulein nach, das es gar nicht zu merken schien, daß ihm große Tränen über das Gesicht liefen.

Als an diesem Abend Fräulein Dr. Südekum allein in ihrem Zimmer saß und die öde Leere ihres verarmten Lebens um sich her fühlte, da stieg es plötzlich durch Scham, Zorn und Demütigung tief aus den Dämmernissen ihres Unterbewußtseins und zwang sie in einer wilden Erregung Dinge zu denken, die sie nie gedacht hatte. So, als wäre bisher alles Irrtum gewesen und Schuld schien es ihr nun, ja Schuld gegen eine Sehnsucht, die sie jetzt überall in ihrem Leben erkannte. Aber noch wußte das alternde Fräulein nicht den Namen dieses Irrtums, nicht den Namen ihrer Sehnsucht.

Dies geschah erst in der Nacht, als sie tränenüberströmt auf feuchten Kissen erwachte und jäh ein harter, brutaler Gedanke in sie schlug.

Das kleine, schmalbrüstige Fräulein saß keuchend in ihrer gestreiften wollenen Bettjacke zwischen den Kissen mit angstvoll offenen Augen, mit fliegendem Atem. Eine Macht, eine unerbittliche Macht, die aus Urtiefen in ihr Blut und Empfinden stieß, zwang sie zu denken:

Und wäre ich gewesen, wie sie alle sind, so ganz an das eine verschenkt, das ich verachte, – und hätte ich mich vergessen, wie man sagt, – an irgendeinen, an wen immer – dann wüßte ich vielleicht irgendwo ein kleines, warmes zappelndes Wesen. – O, ich hätte es niemanden wissen lassen, es wüchse geheim, entfernt, irgendwo auf dem Lande auf.

Sonntags führe ich hinüber, brächte Blumen, Spielzeug, – Kindersachen nähte ich heimlich in den Nächten. Aber nie, – niemals würde ich mir etwas merken lassen tagsüber – o nein, vor allen Menschen würde ich ein strenges Gesicht über mein süßes Geheimnis hängen.

Mit fünfundvierzig Jahren ginge ich dann in Pension, – hinaus aufs Land – zu guten Leuten, in ein kleines Häuschen. Mein Kind würde schon groß sein, sprechen, – zu mir sprechen – zu seiner Mutter.

Ein Leben würde sein, das mir, nur mir gehörte, – nicht eines, das mir fremde Eltern für die Schule leihen, nicht ein Leben, das mich später verrät und nicht mehr kennt, wie Gertrud – wie sie alle ...

Ein Leben, das nur mir gehörte ...

Und Fräulein Dr. Südekum warf sich schluchzend über die feuchten Kissen: ich werde alt und allein sein.

Sechstes Kapitel

Mit einem kühnen Schwung warf Grete Erb das Buch in eine Ecke, in dem sie so lange gelesen hatte, bis sie heiße Backen bekam.

Da war die Lüge wieder! Überall begegnete man ihr. Nicht nur in den Büchern, in denen sie verzweifelt nach einer Antwort suchte auf brennende Fragen, nach einem Menschen, der ihr ähnlich wäre in der Sehnsucht, sich selbst aus all der Verwirrung zu finden. Nein, die Lüge lebte in allen Worten der Menschen, die mit ihr sprachen, in dem Lächeln der Erwachsenen, das sie streifte, in dem Blick ihres Bruders selbst und seiner Kameraden.

Wußte denn niemand auf der ganzen Welt von ihrer Not, ihrer Wirrnis? Wußte niemand von ihrem Kampf?

Die Erwachsenen wandelten sich, wenn sie mit ihr sprachen. Sie hatten plötzlich ein gerührtes nachsichtiges Lächeln im Gesicht. Sie taten so, als wäre ihnen etwas begegnet, das licht und schön wie eine Blume oder ein Schmetterling war, ein Ding, angenehm zu betrachten, das man aber nicht im Sinne des schweren bitteren Menschenlandes ernst nehmen konnte.

„Es geht einem das Herz auf, wenn man so ein junges Ding sieht,“ pflegte Onkel Gerhard zu sagen, wenn er zu ihren Eltern kam. „Gott erhalte dich so!“ Was meinte er mit „so“? Wußte er denn, wie sie war? Und Onkel Gerhard war doch sonst ein Mensch, dem manches auf der Erde ernsten Nachdenkens wert schien, woran andere vorübergingen.

Was weißt denn du? sagte der Blick des erwachsenen Bruders, und seine Freunde lächelten geringschätzig zu ihr hinüber, wie Menschen, die um den großen Ernst des Lebens wissen und einem hübschen Tierlein begegnen, das nichts von Menschennot weiß.

Die Bücher aber! Sie wußten manches, ja alles von den erwachsenen Frauen, alle Probleme des gereiften Weibes behandelten sie ernst und gewissenhaft, und sie wurden nicht müde, jedem Konflikt eine neue Seite abzugewinnen. Sie sprachen aber nicht nur von den erwachsenen Männern, sie erzählten auch von den Knaben und ihrer Not, ihrem schicksalhaften Werden. Da gab es soviel Bücher, die davon erzählten, wie die Knaben um ihren Gottesglauben rangen, wie jäh in das ernste Verlangen zu forschen und zu lernen der Trieb stieß, mit dem sie dann kämpfen mußten. Von ihren Niederlagen und Siegen wußten die Bücher zu berichten, immer aber sagten sie, daß es sehr davon abhinge, wie diese Knaben mit der fremden Macht fertig würden, die in ihr Sein einbrach.

Die Mädchen aber gingen verträumt und unwissend durch das Leben dieser Bücher. „Sie blühten auf,“ wie die Dichter zu sagen pflegten. Sie wurden verführt oder geheiratet, sie schwärmten, träumten und warteten auf den Mann, der ihr Leben bestimmen sollte.

Ja, immer war dies so: Das Passive, unwissende, höchstens dunkel „ahnende“ Jungfräulein und der Mann, der dann ihr Schicksal wurde, das je nach der Literaturepoche, dem das Buch angehörte, Verführung und Selbstmord, Entführung und Königsschloß oder Verlobung und Bankkonto hieß.

Aber nirgends war zu finden, was doch nicht nur ihr eigenstes, schmerzliches und verwirrendes Erleben war: das heranreifende Mädchen und der Trieb. Der Trieb allein, – nicht der Mann, der die Liebe brachte oder die Liebe log. Der Trieb, der nicht schlafen ließ in den Nächten und wie ein roter Brodem den ganzen Körper durchdrang, ihn so schlaff machte von einer süßen Müdigkeit, die so dunkeltief werden konnte, so schwer, wenn man den Körper gequält und gepeitscht an die Kissen preßte. Dieses dunkle Verlangen, das nicht einen Mann meinte, sondern, alles aufwühlend, die Lust, das Versinken in den purpurroten Abgrund, den man in manchen Stunden so nahe wußte.

Es mußte aber doch sein, daß es Menschen gab, die darum wußten, denn waren nicht auch diese Großen einmal so jung gewesen und preisgegeben dieser Not?

Und es mußte auch sein, daß es Bücher gab, in denen von diesem geschrieben stand. Aber da waren es doch immer wieder die Erwachsenen, die alles fernhielten, was erklären und entwirren konnte, die glaubten, mit Gewalt einen Traum verwirklichen zu können, der nicht Wirklichkeit war.

Es war so, daß einen dieses Verlangen plötzlich schlagen konnte und die Knie schwermachen, wenn man neben irgendeinem Manne auf der Plattform einer Trambahn stand und sein Arm an die Brüste streifte. Wenn der Bäckergesell des Morgens mit seinen weißen Zähnen lachte und man denken mußte, wie seltsam sich wohl seine braune Haut über dem Ruderleibchen anfühlen mußte. Der dunkle, süße, peinigende Trieb, der einen manchmal zwang, die Hände stillend an den Körper zu pressen, dort, wo das Blut am schwersten und heftigsten gegen die Haut schlug.

Nein, von diesem Verlangen schwiegen die Erwachsenen und alle Bücher, die sie kannte. Und wahrscheinlich hätte es niemand verstanden, daß dieses Dunkle gerade dort schwieg, wo einem wirklich der Mann, dem das Herz entgegenflog, begegnete. Daß man da so stille war und ganz heilig aufgetan einer großen Sehnsucht, die man nicht ganz verstand, die aber nichts mit den dunklen Stunden des roten Quälens zu tun hatte, nein, die schamvoll und zitternd von einem Gruß auf der Straße lebte, von dem wärmeren Klange eines Wortes, von der behutsamen Gebärde, mit der einem der Mantel um die Schultern gelegt wurde. Ja, auch solche scheue, zitternde Liebe mochte vielleicht in heißere Sehnsucht münden, wenn der Mann die Sehnsucht aufrief, wenn er forderte. Da mochte dies, was geschah, dann schuld sein im Sinne der Satzungen und mochte ins Verderben führen, wie es in so vielen Büchern zu lesen stand: aber es war doch immer Liebe, die hier in ihr Schicksal wuchs, und noch die brennendste Stunde war geheiligt durch die Sehnsucht, die einem Du galt.

O, dies, was die Dichter besangen, das erste zitternde Erlebnis der Liebe, dies war es nicht, was zu fürchten war und in Demütigung und Selbstverachtung trieb. Wunderbar mußte die Liebe sein, und an ihr zu sterben, wie es die Lieder sangen, mußte noch schöner sein.

Aber von dem anderen wußte niemand auf der Welt, oder wollte niemand wissen, von diesem schweren und dunklen Brand im Blute, der so quälte und doch auch manchmal wie ein Lied den ganzen Körper schwingen machte.

Oft stieg in Grete Erb ein ganz seltsamer Verdacht auf. Das war besonders dann, wenn sie es manchmal versuchte, das Gefängnis ihrer Einsamkeit zu sprengen, einem anderen Menschen zu sagen, was sie quälte, in leisen, verschleierten Worten, die ihr selbst wie die bangen Klopfzeichen der Gefangenen schienen, die einander von Zelle zu Zelle Wesentlichstes in einem unbewachten Augenblick mitteilen wollten. O, nicht das Tatsächliche! o, nichts von dem, was ihr so sehr alle Wege zu sich selbst verschüttete, was ihr den frohen Glauben an den einfachen Weg des Hinauf genommen hatte. Nein, davon konnte man zu keinem der Erwachsenen sprechen. Davon nicht.

Aber es mußte doch irgendeinen Weg geben aus den bedrängenden Leidenschaften schmerzlichen Werdens in die breite sichere Welt der Erwachsenen, die alles wußten und verstanden, für die nichts zu schwer schien!

Aber so seltsam erging es einem dann, wenn man versuchte, einen zagen Schritt hinaus zu tun. Wenn man sagte: „Ich bin aber gar nicht froh, daß ich so jung bin, wie ihr meint. Nein, vieles ist schwer, vieles ist kaum zu tragen.“

Wie sie dann erstaunt taten oder lachten: „Mein Gott, in deinem Alter! Aber du hast dich wohl mit der Freundin gezankt? Oder bist du gar schon verliebt?“

Ja, sie konnten sogar sehr ungeduldig werden und böse, die Erwachsenen, wenn man ein trauriges Gesicht machte oder gar sagte, man wäre froh, diese Jahre wären vorüber und man selbst ganz frei.

„Du bist undankbar!“ sagten sie. „Hast du nicht alles? Deine Eltern sorgen für dich, sie lassen dich lernen, sie erfüllen dir jeden Wunsch. Es ist abscheulich, wenn du dich beklagst!“

Oder sie sagten lächelnd und überlegen: „Du darfst dich nicht jeder Stimmung so überlassen, Kind, – nein, das darfst du nicht. In deinem Alter hat man zu lernen und sich des Lebens zu freuen.“ Und manche setzten drohend und schadenfroh hinzu: „Warte nur! – Auch du wirst einmal das Leben kennenlernen, und dann wirst du dich vergeblich zurücksehnen in diese Zeit!“

Ja, es war fast so, daß einem die Erwachsenen die Verpflichtung, glücklich und froh zu sein, auferlegten wie die vielen anderen Pflichten, deren Erfüllung sie von einem verlangten. Es war undankbarste Auflehnung, wenn man nicht glücklich war. Es war Unbotmäßigkeit, wenn man ein trauriges Gesicht zeigte. Es war Beweis für das Übertreten eines Verbotes, wenn man schlecht aussah.

Nein, zu den Erwachsenen führte kein Weg, und immer tiefer wuchs in Grete Erb der Verdacht, daß die Großen aus irgendeinem seltsamen und unverständlichen Grunde nicht dulden wollten, es nicht wahrhaben wollten, daß es in der Welt der heranwachsenden Mädchen anders aussah, als man es seit Generationen annahm, und wie es in den Büchern stand. Die Großen mochten wohl ihre besondere Befriedung, ihr Vergnügen daran haben, daß junge Mädchen noch keine Menschen waren, denn sie hielten an dem Traume des „Heranblühens“ mit einer leidenschaftlichen Zähigkeit fest, gegen die es keine Auflehnung gab.

Leid, das war überhaupt nur eine Angelegenheit des Geldes. Gewiß, die Erwachsenen gaben es zu, daß es Kinder gab, die litten, die eine traurige Kindheit hatten. Das konnten aber nach ihrer Ansicht nur solche Kinder sein, deren Eltern nicht genügend Geld besaßen, um sie zu nähren und zu kleiden, um sie lernen zu lassen, was für das Leben notwendig war. Waren die Eltern aber in der Lage, ihren Kindern ein Heim zu bieten, sie zu nähren und zu kleiden, ihnen noch überdies Spielzeug zu kaufen und hie und da einen kindlichen Wunsch zu erfüllen, so hatte man die Pflicht und Schuldigkeit, glücklich zu sein. Nein, zu den Erwachsenen führte kein Weg. Ungeduldig forderten sie die Lüge, stießen einen dadurch immer tiefer in ein Alleinsein, aus dem kein Weg hinausführte.

Doch auch bei ihnen, denen man verbunden sein sollte, durch gleiches Alter und gleiches Erleben, auch bei ihnen wehte einen oft Fremdes an. O, so sehr man einander vielleicht glich, wenn man eingehängt und lachend miteinander den Weg von der Schule ging, so sehr war doch jede anders und ganz eingeschlossen in ihre eigene Welt. Darüber täuschte Grete Erb kein lautes Lachen, kein gleiches äußerliches Erleben hinweg.

Nirgends gab es Hilfe und Rat gegen die bedrängenden Bilder der Nächte mit der demütigenden Stillung verschwiegener, als brennenden Schimpf empfundenen Stunden, mit der Angst, einmal nicht mehr kämpfen zu können, und rettungslos sich an dieses verlieren zu müssen, was schlimmer und mächtiger war als Krankheit und Fieberbrand.

Es konnte nicht sein, daß nur ihr allein aufgeladen war, was alle Heiterkeit und Beschwingtheit aus ihren Tagen verdrängt hatte. Nein, sie wußte, daß es auch den anderen nicht anders ging, wenn auch keine zu der anderen davon sprach, und wenn es auch nicht jede so schwer nahm wie sie.

Denn sie nahm es schwer. Sie konnte nicht anders. Lizzie Ebbinghaus freilich, – fast war sie zu beneiden. Sie dachte nicht nach. Ein Spiel war ihr dieses Erwachen zu den Geheimnissen der Erwachsenen, ein gefährliches Spiel. Wie überlegen sie über alle Großen lachte, die nicht wußten! Mit wieviel Sicherheit sie schwindelte und log! Stets hatte sie die Taschen voll Briefe von Schauspielern und Studenten, sie erzählte die verwegensten und lustigsten Dinge von heimlichen Besuchen bei Männern, die trotz ihrer erwachsenen Überlegenheit vor Lizzie zitterten, weil diese ihre Begierde verlachte, weil sie von ihnen die Lust der kleinen Mädchen nahm wie Bonbons und Zigaretten, und doch das eine, das letzte, nicht hergab.

Nein, das konnte Grete Erb nicht. Dies konnte auch nicht der Weg aus dieser Wirrnis sein. Lizzie war so viel unbeschwerter. Ja, wie eine lustige Katze erschien sie Grete Erb, eine Katze, die gestreichelt werden wollte und die Krallen wies, wenn man nicht nach ihrem Willen tat.

Aber auch Erika Meyer, die liebste Freundin, die ihr einmal so viel, so viel bedeutet hatte, mit der sie gemeinsam die schönsten Bücher gelesen hatte, mit der sie von einem Leben träumte, das großen, stolzen Zielen geweiht sein sollte! Auch mit ihr verstand sie sich in letzter Zeit so schwer. So verstört war Erika nun immer! Oft schien es, daß sie ihr gar nicht mehr in die Augen sehen konnte. Traf sie aber einmal ein Blick, so erkannte sie in ihm ein Flackern, eine Verstörtheit, die sie erschreckte. Erikas Hände waren nun immer so unruhig und fühlten sich oft kühl und feucht an wie die einer Toten. Und so entsetzliche Dinge sprach sie oft, wilde Anklagen gegen Gott und diese Welt, die er geschaffen hatte. Nein, Grete verstand sich nun so schwer mit ihr. O, auch sie litt so verzweifelt unter den geheimen Mächten, die sie bedrängten, aber sie kämpfte doch und rang darum, wieder hell und frei zu werden. Erika Meyer aber sank immer tiefer in eine Schwermut und Verbitterung, aus der kein Weg hinauszuführen schien. Sie vergrub sich verzweifelt in Bücher, die von der Nichtigkeit des Lebens sprachen, die nur Bitteres und Häßliches über die Menschen zu sagen wußten, und in denen der große Haß fanatischer Lebensfeindschaft brannte. Leidenschaftlich spürte Erika Meyer allen Dingen nach, die den Menschen bloßstellten, und oft schien sie von einem wilden Glück erfüllt, wenn sie wieder etwas erzählen konnte, was die Erwachsenen demaskierte.

Auch Lizzie wußte viele solche Dinge. Aber sie nahm es leicht, ja zynisch, breitete über alle Erkenntnis ihr leichtsinniges Lachen und verstand es, aus den Schwächen der andern immer neue Vorteile für sich zu erhaschen.

Ja, man war allein. Dies war das einzige, was man immer klarer aus jeder Berührung mit anderen Menschen erkennen mußte, ob man sich in schmerzlicher Scham den Großen zu nähern suchte, ob man unter Altersgenossinnen eine zu finden strebte, die den gleichen Kampf kämpfte und den gleichen Sieg wollte.

Grete Erb nahm ihre Schulmappe unter den Arm und verließ eben ihr Zimmer, als sie an der Türe mit Herta Kobinger zusammenprallte, die in ihrer lärmenden Art ihr entgegenkam.

„Es ist noch so früh gewesen, – da wollte ich dich abholen.“

Grete Erb bot ihr die Hand und sagte plötzlich ganz verändert und schon in eine Maske gehüllt, die sie für das Zusammensein mit allen anderen Menschen sich errungen hatte: „Ich bin neugierig, was es heute in der Schule geben wird.“

„Ich bin es nicht,“ lachte Herta Kobinger. „Es gibt doch immer nur Langweiliges, außer wenn der Rektor über irgend etwas zerspringt.“

„Was hast du gestern gemacht?“ fragte Grete Erb, die es nicht gern hatte, wenn man so von der Schule sprach, die ihr mehr bedeutete als Elternhaus und Vergnügen.

„Ich war bei Erika,“ erzählte Herta Kobinger. „Es war aber reichlich ungemütlich. Wir saßen nach der Jause noch lange im Dunkel und sprachen von allem möglichen, als ihre Mutter heimkam und in ihrer beliebten freundschaftlichen Art uns Vorwürfe machte, weil wir im Dunkeln saßen. Ich antwortete nichts, aber Erika fuhr ihr mit einer Wut entgegen, die ganz entsetzlich war. Was die beiden sich alles sagten! Du weißt, wie Erikas Mutter ist. Zuerst schrie sie alles mögliche, von dem ich nicht alles verstand, wir seien verdorben und hätten gewiß unanständige Sachen geredet, und so weiter. Dann aber, als Erika zu schreien begann und gar Miene machte, leichenblaß und mit blitzenden Augen aus dem Fenster zu springen, woran wir sie nur mit aller Kraft hindern konnten, und sie nach dem entsetzlichen Auftritt müde und bleich in einer Ecke saß, da wurde ihre Mutter weinerlich. Du kennst ja diese ihre Art. Sie redete entsetzlich pathetische Dinge von Undankbarkeit, daß Erika der erste Nagel zu ihrem Sarge sei, und so andere Sprichwörter. Ich langweilte mich gräßlich, aber der Schreck war mir doch in die Glieder gefahren. Wie konnte es nur wegen einer so dummen Sache zu einem solchen Auftritt kommen!“

„Ach, beide hassen sich eben,“ sagte Grete Erb. „Für beide ist alles nur ein Anlaß, einander Szenen zu machen. Ich gehe deshalb so ungern hin. Jedesmal ist es dasselbe. Und immer droht Erika damit, entweder sich umzubringen oder sich ein Auge auszustechen, – oder – nein, ich habe mich halb totgelacht, das war vorige Woche – da setzte sie sich fast unbekleidet in das Stiegenhaus und schrie: ‚Jetzt werde ich mich verkühlen!‘ Sie selbst fühlt sich trotz ihrer Auflehnung so sehr als Sache und Eigentum ihrer Mutter, daß sie keine andere Rache weiß, als dieses Eigentum ihrer Mutter zu beschädigen. Es ist ebenso komisch wie entsetzlich.“

„Wenn ich auch nicht solche Szenen mit meiner Mutter habe,“ erklärte Herta Kobinger achselzuckend, „so ist es deshalb doch nicht gemütlicher bei uns. Es ist nur ein Glück, daß sie wenig Zeit finden, sich mit mir zu beschäftigen, weil ihnen Sonja, meine ältere Schwester, genug zu tun gibt. Ich weiß nicht, was da gestern wieder war. Jedenfalls war Sonja zu spät zum Mittagessen gekommen, und mein Vater schrie etwas von ‚in der Gosse herumwälzen‘. Sie haben alle Ausdrücke wie Romanschriftsteller. Sonja machte ihr schnippisches Gesicht und zuckte mit den Achseln. Mama weinte, und Papa sagte etwas von ‚schlechtes Ende nehmen‘. Dann wurde ich hinausgeschickt, und sie stritten noch eine Stunde. Ich möchte wissen, ob das Familienleben, an dem so viel Schönes sein soll, auch in früheren Zeiten so aussah? Wenn Papa und Mama nicht mit mir wegen der Schule zanken oder mit Sonja, der sie immer wieder auf irgend etwas mit Herren daraufkommen, so streiten sie eben miteinander. Sie streiten nicht laut, o nein, – sie sagen sich ganz leise und kühl die größten Gemeinheiten. Du kannst dir denken, wie entzückend die Stunden des Mittag- und Abendessens bei uns sind.“

„Auch meine Eltern leben nicht sehr gut miteinander,“ erzählte Grete Erb. „Aber ich habe sie niemals streiten gehört. Sie sprechen kaum ein Wort bei den gemeinsamen Mahlzeiten, und wenn sie sonst allein sind, lesen sie Zeitung. Vielleicht ist es deshalb, weil sie in früheren Jahren sich alles gesagt haben? Jedenfalls würde ich vor Langeweile sterben, wenn ich so leben sollte. Deshalb will ich ja auch studieren.“

Sie standen schon fast vor dem Schultore, als Herta Kobinger sagte: „Ich will trotzdem heiraten, denn dann hat man so viel Kleider als man will und kann seinen Kindern Matrosenanzüge anziehen.“

Siebentes Kapitel

Es geschah so wie Überfall und jähes Verrücken eines Bildes, daß selbst Fräulein Dr. Südekum, die sonst immer vor den Schülerinnen ihre große Sicherheit bewahrte, diesmal keinen Rat wußte.

Licht und froh hatte dieser Schulmorgen begonnen. Die gelben Zweige des Goldregens und die erst über Nacht aufgeblühten Fliederbüsche streiften fast die Flügel der offenen Fenster und trugen den süßen, verwirrenden Hauch des Frühlings in das ernste Klassenzimmer, an dessen grauweiß getünchten Wänden einige gute Steindrucke heimischer Landschaften, Karten und eine Lithographie Schillers hingen.

Fräulein Dr. Südekum trug heute eine fast lichte Bluse und hatte neben dem Katalog ein Wasserglas stehen, in das sie die Blumen getan hatte, die Schülerinnen heimlich vor Beginn des Unterrichts auf ihr Pult gelegt hatten.

Die Lehrerin sprach heute von Friedrich dem Großen als Mensch. Sie hatte in den vergangenen Stunden sein Bild als Staatsmann und König gezeichnet, als Soldat und siegreichen Helden. Nun sprach sie von dem Freunde der schönen Künste, dem Freunde Voltaires, dem Erbauer des Schlosses Sanssouci. Als Fräulein Dr. Südekum von diesem Bau sprach, von den eigenartigen Räumen, die der große König nach dem Muster von Versailles eingerichtet hatte, erklang plötzlich der Name seiner Frau aus der Schar der Schülerinnen. „Die Barberina!“ Kichern flog aus den rückwärtigen Bänken auf, einige Schülerinnen verbargen den Kopf unter dem Pult. Andere sahen schadenfroh erwartend zu der Lehrerin auf. Was würde nun geschehen?

Die Lehrerin faßte die Schülerin ins Auge, die den Namen gerufen hatte. Blutübergossen saß sie in ihrer Bank, aber sie lächelte.

„Es freut mich, daß du auch in deiner freien Zeit Geschichte betreibst,“ sagte Fräulein Dr. Südekum mit ihrer ruhigen Stimme und fuhr im Vortrage fort.

Ganz still war es in der Klasse, nur die ruhige Stimme der Lehrerin erfüllte den Raum.

Da war es, daß plötzlich ein wilder und nicht mehr menschlich scheinender Schrei den Raum zerriß. Ein Mädchen taumelte aus der Bank, griff einige Male wie haltsuchend in die Luft und stürzte schreiend zusammen.

„Die Erika Meyer!“ schrie eine auf.

Die Schülerinnen wichen erst erschreckt zur Seite, bemühten sich dann um die Liegende, die wie toll mit Händen und Füßen um sich schlug, den Körper jäh aufbäumte, daß sie nur mit Nacken und Fersen den Boden berührte. Fräulein Dr. Südekum stürzte herbei und sah mit Entsetzen die furchtbar verdrehten Augen des Mädchens, versuchte dessen Kopf höher zu betten, dessen Hände stillend zu umschließen, aber die wie besessen um sich Schlagende traf sie so wuchtig vor die Brust, daß das kleine Fräulein zurücktaumelte und fast in die Knie brach.

Nun aber begann die von Krämpfen Geschüttelte wild zu schreien und aus ihren unartikulierten Lauten lösten sich plötzlich Worte von so nackter Gier, so entsetzlicher Brutalität, daß die Lehrerin erst einige Zeit fassungslos auf diesen Ausbruch hemmungsloser Tierheit sah, ehe sie sich so weit fassen konnte, um mit einer gebieterischen Gebärde die Mädchen aus dem Zimmer zu treiben. Dennoch entging ihr nicht dieses Seltsame: so erschreckt die Kinder zur Seite wichen und zögernd dem heiseren Befehl des alternden Fräuleins zu folgen begannen, in einigen jungen, blassen Antlitzen malte sich doch die dunkle Sucht, sich auch so grenzenlos loszulassen, hinzustürzen, taumelnd sich wie diese dort die Brüste wundzuschlagen.

Als die letzte der Schülerinnen unter dem befehlend ausgestreckten Arm der totenblassen Lehrerin das Zimmer verließ, rief ihr die Lehrerin noch nach: „Herrn Dr. Klempner, – aber rasch – rasch!“

Dann war die Lehrerin mit Erika Meyer allein, die noch immer nicht ausgerast hatte und in einem schrecklich gleichmäßigen Takte gegen den eigenen Körper mit Fäusten schlug, deren Knöchel weiß blinkten. Sie riß sich die Haare vom Kopfe und schleuderte der Lehrerin wilde Verwünschungen ins Gesicht.

Fräulein Dr. Südekum versuchte es immer wieder, die Tobende durch Worte, durch Gebärden und scheue Liebkosungen zu befrieden, mit dem Aufgebote aller Kräfte ihre selbstzerstörende Wut zu hemmen. Aber immer wieder setzte sich das Mädchen so wild zur Wehr und der Lehrerin schlug so fesselloser Haß entgegen, daß sie zurückwich, bis sie vor Schrecken und Angst verwirrt an der Wand stehenblieb.

Und immer wieder, wenn der Sturm nachzulassen begann und nur das marternde Geräusch monotonen Zähneknirschens die Stille des Raumes erfüllte, schnellte jäh ein neuer Ansturm den Körper in eine unnatürliche Beuge empor, und wilder noch brachen abgerissene Worte aus dem Munde des Mädchens, Worte, deren eindeutiges Verlangen die Lehrerin so erschreckten, daß sie leise mit zitternden Lippen aus tiefster Herzensnot zu beten begann.

Dr. Klempner, der soeben eintrat, nahm die Zigarre nicht aus dem Munde, als er mit gleichmäßigen großen Schritten durch das Zimmer ging und sich nach einem kurzen Gruß gegen die Lehrerin an die Schülerin wandte.

„Ruhe!“ brüllte er so plötzlich, daß Fräulein Dr. Südekum zusammenzuckte wie nach einem Schuß. Sie hielt beide Hände vor das Herz gepreßt und glich, schmal und angstvoll an die Wand gedrückt, mit der jagend auf und ab gehenden Brust einem zu Tode gehetzten Vogel. Mit weitaufgerissensen Augen starrte sie auf das Mädchen: Gleich – gleich würde die Unselige, deren Körper wieder rasend emporschnellte, die Worte wiederholen – die schamlosen, entsetzlichen Worte – vor ihnen beiden – vor einem Manne ...

„Ruhe!“ brüllte Dr. Klempner noch einmal und faßte Erika Meyer mit eisernem Griff am Arm, und was Fräulein Dr. Südekum nicht zu hoffen gewagt hatte, geschah: Das Mädchen hielt plötzlich inne und ein Blick wiedererwachenden Erkennens traf den Arzt.

„Sofort bist du ruhig!“ wiederholte er nun mit ruhigerer Stimme, den Blick in den des Mädchens versenkt. „Deine Hand!“ Erika Meyer lag still, nur ein Zucken lief noch durch ihren Körper.

Fräulein Dr. Südekum sah auf den Arzt wie auf einen großen Zauberer. So tiefe Sicherheit ging von diesem kleinen Manne aus, der vielleicht mit seiner breiten, untersetzten Gestalt, dem zerzausten Bärtchen und den winzigen, durch Brillengläser funkelnden Äuglein lächerlich ausgesehen hätte, wäre nicht diese hohe Stirne, dieser herbe, männliche Mund gewesen, vor allem aber seine zynische, aber so wohltuend sichere Art.

Während Dr. Klempner den Puls des Mädchens maß und einige Male bestätigend nickte, begannen plötzlich große Tränen über das verwüstete Gesicht der Schülerin zu rollen, und jäh schüttelte sie ein wilder Weinkrampf.

„Nun sind wir in Ordnung,“ sagte Dr. Klempner ruhig. Er erbat ein Glas Wasser von der Lehrerin, schüttete ein Pulver, das er seiner Westentasche entnahm, in das Glas und hieß die Schülerin die Mischung austrinken. Er wandte sich zur Lehrerin: „So, – nun können wir sie allein lassen, kommen Sie!“

„Wirklich? – Sie soll hier allein bleiben?“ fragte Fräulein Dr. Südekum zögernd.

„Ja, auf meine Verantwortung,“ antwortete der Arzt. „Sie soll keine Zuschauer mehr haben.“ Er faßte das kleine Fräulein am Arm und drängte sie aus dem Zimmer. „Kommen Sie, – setzen wir uns einen Augenblick in die Kanzlei. Die Schülerinnen sind ja im Garten, und ich möchte Ihnen etwas sagen.“

Befangen folgte ihm die Oberlehrerin. Dr. Klempner sog bedächtig an seiner Zigarre und sagte: „Ich möchte, daß Sie den Schülerinnen sagen, sie dürfen mit keinem Wort an den Vorfall rühren. Erika Meyer soll mit den anderen gemeinsam zurück in die Klasse kommen, und Sie und alle müssen sich so verhalten, als wäre nichts geschehen. So kommt die Kleine am leichtesten wieder ins Gleichgewicht.“

„Aber Herr Doktor!“ Das kleine Fräulein atmete erregt. „Erika ist doch sehr krank – sollte man sie nicht nach Hause schicken? Und die andern haben doch alles gesehen – und diese Worte gehört – und ...“

„Machen Sie doch kein solches Wesen aus dieser Sache!“ fuhr sie der Arzt grob an. „Das ist das Blut, nichts weiter. Bis sie erst hat, wonach dieses schreit, wird Ruhe sein. Ich werde mit den Eltern sprechen, man soll auf Erika achtgeben und sie bald verheiraten.“

Aber das kleine Fräulein konnte sich nicht mit der einfachen Erklärung zufriedengeben. Nein, jetzt verstand sie den Arzt wirklich nicht. Er schien das Geschehene doch zu leicht zu nehmen! Diese Ärzte – sie nahmen alles so furchtbar zynisch auf. Tapfer begann sie: „Aber Herr Doktor, was sie schrie! Sie muß doch im tiefsten Innern verdorben sein, wenn solche Wünsche, solche Worte ...“

„Aber hören Sie doch auf,“ polterte der Arzt, „seien Sie kein Kind! In keinem der Mädels in diesem Alter sieht es anders aus. Das müßten Sie doch wissen! Wenn auch nicht jede die Flucht in Krankheit und hysterischen Ausbruch findet, keine ist anders ...“

„Das kann nicht wahr sein,“ rief bebend das alternde Fräulein, „nein, das darf nicht wahr sein!“

„Darf nicht – haha!“ Der Arzt lachte: „So ist es aber, meine Liebe. Ich kenne mich da aus. Ich kenne die Mädchen vielleicht besser als Sie. Ich sehe sie ja jeden Monat bei der Schuluntersuchung und weiß recht gut, wie sie sich wandeln. Man erlebt da seltsame Dinge, Fräulein Dr. Südekum, und ich kann Ihnen sagen, daß ich immer recht froh bin, wenn die Schulschwester bei diesen Untersuchungen anwesend ist. Weiß der Kuckuck, was die Mädels sonst noch treiben würden. – Ja, das alles ist das Geschlecht, meine Liebe. Das ist nun einmal die große Falle, in die jeder einmal purzelt. Also Kopf hoch – Fräulein Dr. Südekum! Gehen Sie in den Garten und sagen Sie den Mädchen, daß weiter nichts geredet werden dürfe, weil ja auch nichts geschehen ist, wirklich nichts – und darum vergessen auch Sie selbst.“

Die Lehrerin schlug nur zögernd in die dargebotene Hand ein. Der Arzt warf ihr noch einen prüfenden Blick zu: „Es geht Ihnen nahe, armes Kind!“ sagte er mit plötzlich veränderter Stimme. „Ich möchte gerne noch mit Ihnen sprechen. Vielleicht darf ich Sie nach der Klasse abholen? Begleiten Sie mich dann auf die Klinik hinaus – ein kleiner Spaziergang wird Ihnen gut tun. Also, – es bleibt dabei!“

Fräulein Dr. Südekum führte die Aufträge des Arztes mit großer äußerer Sicherheit durch. Aber sie zitterte noch unter dem Anprall jähen, unfaßbaren Geschehens und konnte kaum das Ende des Unterrichts erwarten. Gegen ihre Gewohnheit sah sie nicht von ihren Notizen während des Vortrages auf, und als sie dann doch einmal aufblickend dem Blick Erika Meyers begegnete, die ruhig, nur mit etwas bleichem Gesicht und umränderten Augen dem Vortrage folgte, erschrak sie wieder vor dem Unfaßbaren. Einmal irrte ihr Blick auch zu Gertrud hinüber, aber diese saß wie immer hochmütig abgekehrt für sich allein, und nichts an ihr ließ erraten, welchen Eindruck ihr der Vorfall gemacht hatte. Fast mit Haß stellte dies Fräulein Dr. Südekum fest, und voll Trauer dachte sie, daß sie fast von jeder hier mehr wußte als von diesem Mädchen, um das sie so sehr litt. Mit einem schmerzlichen Lächeln sah sie zu Erika Meyer hinab, die ihre heiße Not heute so wild hinausgeschrien hatte. Auch von ihr wußte sie mehr, wenn auch gegen deren freien Willen, als von dieser Kühlen und Sicheren, die sie kaum mehr zu bemerken schien. Tiefe Bitterkeit erfüllte das Herz des alternden Fräuleins.

Mit leisem Bangen sah sie dem Arzt entgegen, der sie am großen Tor der Schule erwartete.

Sie schritten erst eine Weile schweigend nebeneinander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Die Lehrerin begann, tapfer, kriegerisch, als gälte es, einen kostbaren Besitz zu verteidigen: „Und Sie glauben wirklich nicht, daß sich werdendes Weibtum auch zarter, ich meine, seelisch verklärter an den Mädchen zeigen könnte?“

„Das leugne ich gar nicht,“ entgegnete der Arzt ruhig. „Ich behaupte nur, daß dies alles, was Sie jetzt an Ihren Schülerinnen erleben, und was Sie so sehr beunruhigt, einfach nur typisch ist. Denn alles ist in diesen Jahren Geschlecht, aufgeregte Geistigkeit, Schwermut, Haß gegen die Erotik und gegen das ihr Verfallensein. Das läßt sich nicht ändern, und am schlimmsten wäre es, die Dinge mit schönen Worten zurechtlügen zu wollen.

Ich habe da meine eigenen Theorien, und meine Erfahrungen haben mir diese tausendfach bestätigt. Das Verhältnis zu den Verwirrungen des Geschlechtes läßt sich in drei Lebensperioden einteilen. In den mittleren Jahren, da man erwachsen und reif ist, ist man Herr dieser Dinge. Da hat man die richtige Einstellung dazu, da nimmt man sich die Lust als Vergnügen und läßt sich von der großen Verwirrung nicht unterkriegen. Ja, da ist man Herr. Gefährlich sind nur die Lebensepochen vorher und nachher, die Zeit der Zwanzigjährigen, und dann noch einmal die der Vierziger. Die sehr Jungen und die Alternden stehen unter dem Gesetz der Liebe und ihrer Tragik. Sie werden vielleicht auch schon bemerkt haben, daß zwischen ihnen ein geheimnisvolles Verstehen brennt? Aber in der Zeit zwischen diesen Altersstufen ist man gesund.“

„So!“ Die Lehrerin brach empört los: „Das ist also gesund, wenn man die Liebe nur als Genuß nimmt, sich nicht darbringt, sich nur einfach alles nimmt. Das ist echte Männermoral.“

„Das ist gar nicht Männermoral, meine Liebe,“ entgegnete der Arzt ruhig. „Auch Frauen können vernünftig sein und das Geschlechtliche richtig einschätzen. Aber freilich mit so großen Worten wie Liebe und Sichdarbringen dürfen Sie mir nicht kommen. Das ist alles Schwindel, meine Verehrteste. Selbstbetrug der Menschen, die es nicht zugeben wollen, daß der Gattungswille sie am Kragen hat.“ Sein Gesicht verzerrte sich höhnisch. „Nein, – die Liebe, – die kennen zu ihrem Unglück nur die Zwanzigjährigen und die Vierziger – ich sagte es schon. Die sehen die Not mit allen Regenbogenfarben geschminkt. Ja, mir selbst ging es nicht anders: mit achtzehn, da war ich wirklich bereit, für diesen großen Schwindel zu sterben, und mit vierzig hätte ich es dann fast getan.“

Während dieses Gespräches waren sie zu einem großen baumbestandenen Platz gelangt, in dessen Mitte sich weiß mit tausend Fenstern der mächtige Bau der Klinik erhob, an der Dr. Klempner tätig war. „Kommen Sie noch ein wenig herein,“ sagte der Arzt. „Ich will Ihnen etwas erzählen, was für Sie vielleicht von pädagogischem Wert sein kann. Kommen Sie doch!“

Der Arzt führte Fräulein Dr. Südekum in jenen Trakt des Spitales, in dem seine Wohnung lag. Er öffnete die Türe zu einem nüchtern eingerichteten Wohnzimmer. „Wenn Sie noch einige Minuten Zeit haben, dann können Sie meine Tochter kennenlernen.“

„Wie, Sie haben eine Tochter?“

„Ja, das wissen Sie nicht einmal? Seit meine Frau starb, und das ist nun zwölf Jahre her, wohne ich mit meinem Töchterchen hier im Spital. Aus guten Gründen übrigens.“

„Wie alt ist Ihre Kleine?“

„Soeben fünfzehn Jahre alt geworden, also kaum ein Jahr jünger als Ihre Schülerinnen.“

Der Arzt setzte sich dem kleinen Fräulein gegenüber, und plötzlich trat ein Ernst in sein Antlitz, der Fräulein Dr. Südekum noch tiefer verwirrte. „Was ich Ihnen vorhin auf dem Wege sagte,“ begann Dr. Klempner nach einem tiefen Zug an seiner Zigarre, „ist keineswegs nur Theorie. Ich habe mein Kind nach meinen Grundsätzen erzogen. Sicherlich also nicht nach der Art, wie es die weicheren Frauen tun, sondern nach wohlerwogenen Gesetzen.“

„Erzählen Sie!“ bat die Lehrerin. Sie sah zu dem Bilde der großen traurigen Frau auf, das auf dem Schreibtisch des Arztes stand.

Er war ihrem Blicke gefolgt und sagte leise: „Ja, das war ihre Mutter. – Aber ich will Ihnen erzählen. Es wird nicht ohne Nutzen für Sie sein! Vor allem habe ich jede Zärtlichkeit aus meiner Erziehung verbannt, trotzdem, nein, weil ich dieses Kind abgöttisch liebe. Aber Martha soll sich nicht an die Fallstricke dieses großen Betruges gewöhnen – seelische Abhärtung heißt meine Devise. Zärtlichkeit ist meist nur die Gebärde für etwas Trübes. Ein wissender Arzt kann sich das nicht leisten. Wahre Vaterliebe braucht diese Mätzchen nicht, ja, verbietet sie sich selbst um des Zieles willen. Ich gehe noch weiter, Frau Oberlehrerin, – ich habe meine seelische Abhärtung systematisch so konsequent durchgeführt, wie es andere Eltern sonst nur auf körperlichem Gebiete wagen.“

Fräulein Dr. Südekum sah gebannt in das Antlitz des Arztes, in dem es nun zuckte, und in dem sie trotz Häßlichkeit und Zynismus einen seltsam weichen Zug zu entdecken glaubte.

„Ich habe meine kleine Martha alles sehen lassen, – alles, wissen Sie. Sie wird mir nicht auf den süßen Schwindel eurer sogenannten Liebe hereinfallen. Sie wird ungefährdet durch die schwierigen Jahre gehen, in denen man so geneigt ist, das Tierische sich zurechtzulügen.“

„Ja, was haben Sie denn getan?“ fragte die Lehrerin, und leise Angst erfaßte sie plötzlich vor den kalt und hart blickenden Augen des Arztes.

„Ich rief sie zu den Betten der Gebärenden,“ sagte Dr. Klempner, „sie mußte deren Stöhnen hören, sie sah die Not und Schmach des Leibes, sie hörte den großen Schrei der Wöchnerinnen ...“

Mit weitaufgerissenen Augen starrte Fräulein Dr. Südekum auf den Arzt. Wie fanatisch seine Augen glühten!

„Ich zwang sie in die Vorzimmer der Sterbenden, zwang sie, unbemerkt in einer Ecke zu lauschen, wenn Gattinnen mich anflehten, eine Kampferinjektion zu geben, damit der Sterbensmüde noch einmal erwache und sich die ersehnte Testamentsabänderung abringen lasse. Ich ließ sie die Reden der liebenden Verwandten draußen auf den Gängen vor den Zimmern der Siechen anhören, dieser Verwandten, die schacherten und mich tausendfach zu bestechen suchten. Ich führte sie in das Zimmer der Bresthaften, – Sie wissen schon, – jener, die ein furchtbares Mal von eurer sogenannten heiligen Liebe ...“

„Schweigen Sie!“ schrie die Lehrerin, – „das ist doch entsetzlich!“

Der Arzt sah ihr starr in das Gesicht: „Meine Martha wird wegen keines Operettentenors sterben wollen, sie wird sich keinem Jüngling wegen seiner strammen Beine, von hohen Gefühlen faselnd, an die Brust werfen ...“

Die Lehrerin schlug beide Hände vor das Gesicht. Plötzlich schrak sie durch ein Geräusch auf.

An der Türe stand ein schmales, kleines, erschreckend in Wachstum und Entwicklung zurückgebliebenes Mädchen. Fräulein Dr. Südekum würde sie für eine Zwölfjährige gehalten haben, hätte sie nicht vorher das Alter des Kindes durch den Vater erfahren. Aber die Züge des kleinen Mädchens schienen seltsam scharf und von tiefer Blässe.

Mißtrauisch sah die kleine Martha auf den fremden Gast.

„Das ist Fräulein Dr. Südekum, Oberlehrerin an der Mädchenschule,“ erklärte Dr. Klempner. „Sage ihr doch Guten Tag!“

„Guten Tag!“ Eine schmale, kühle Hand glitt in die fiebernd heiße des alternden Fräuleins, und einen Herzschlag lang sah diese in zwei große, wundervoll tiefe Augen, – die Augen der traurigen Frau auf dem Bilde.

Fräulein Dr. Südekum stand langsam auf. In einer jähen Sehnsucht wollte sie über dieses fahle Blondhaar, diese unnatürlich hohe Stirne streichen, ein Wort sagen, – ein tiefes, mütterliches Wort, das diesen Spuk bannen mußte, dieses Entsetzensvolle, was der Arzt soeben vor ihr enthüllt hatte. Aber sie vermochte sich nicht zu rühren, sie konnte nicht sprechen. Fremd und geängstigt stand sie zwischen den beiden Menschen. Kraftlos sanken ihre Arme herab.

Nein, nein, es war ihr jetzt unmöglich, mit dem blassen Kinde ein Gespräch zu beginnen.

Sie verabschiedete sich hastig und floh hinaus auf die weißen Spitalsgänge, über den großen Platz und immer weiter bis in die lärmenden Straßen der Großstadt.

Achtes Kapitel

An dem Abend dieses Tages ging Fräulein Dr. Südekum hinaus in das stille Viertel, wo Nowotnys wohnten. Mit ihrem schwarzen Kostüm im Schnitt von Anno dazumal, dem dunklen Filzhütchen und dem hochgeschlossenen Kragen ihrer Bluse, schien sie wie ein Schatten inmitten der Lebensfreude, welche die Gehsteige überflutete. Hastig trippelte sie vorwärts, immer tiefer verwirrt von ihren trüben Gedanken. Sie sah schöne Frauen, die sich weich und begehrlich an Männerschultern schmiegten, sah ineinanderversenkte Hände, sah junge Burschen und Mädchen in dunklen Nebengassen verschwinden.

Haßerfüllt blickte sie auf dieses Treiben, das sie nun, nach den verwirrenden Ereignissen der letzten Tage, besser zu erkennen glaubte als früher.

Dies alles war das Geschlecht. Das war die dunkle Macht, die hier herrschte, die bis in das weiße Bereich der Schule griff, diese Macht, die alles zerstörte, was ihr Leben reich und sinnvoll geschaffen hatte. Nach allem langte sie und alles wandelte sie. Fräulein Dr. Südekum wußte nicht, wo sie vor ihrer Drohung Ruhe finden konnte.

Sie war aus dem Gewirr der erleuchteten Straßen in stillere Bezirke der Großstadt gelangt, wo die Häuser schon mehr in sich geschlossen standen, umrahmt von ein wenig Grün, und nicht den traurigen Schwestern in den breiten, lärmenden Straßen gleich schienen, die, wie Waisenkinder in eine verunstaltende Uniform gepreßt, sich dicht und freudlos aneinanderdrängten.

Sie drückte die Klinke des kleinen Gartentores nieder, ging den schmalen Weg durch die grünen Taxushecken weiter und befand sich bald im Vorraum von Nowotnys Wohnung. Mit einem Aufatmen grüßte sie die vertraute Stille.

Die junge Frau kam ihr mit einem Lächeln entgegen: „Es ist schön, daß Sie kommen. Ich bin allein. Robert kommt erst in einer Stunde.“ Fräulein Dr. Südekum nickte befangen, denn sie erinnerte sich an die nächtliche Begegnung mit dem jungen Ehemann.

„Was macht die Schule?“ Und Frau Nowotny begann in ihrer leichten plaudernden Art, das Fräulein zum Reden zu bringen. „Was macht denn Ihr Liebling, die kleine, dicke Gertrud?“

„Die Gertrud!“ – Dunkle Röte stieg in das Gesicht des alternden Fräuleins. „Nun, vor allem heißt sie nicht mehr Gertrud,“ antwortete sie mit einem bitteren Lächeln. „Sie heißt nun Gert und ist ein großes, schlankes Mädchen geworden. Sie ist nicht viel besser jetzt als die andern, die ihre Sorgen und Interessen zwischen den Vorbereitungen für die Schlußprüfungen und allen möglichen Jungmädeltorheiten, wie erste Tanzvergnügungen und ähnliches teilen.“

„Nun, das ist doch selbstverständlich. Schließlich wird das für alle wichtiger werden als das, was sie in der Schule lernen. Das brauchen sie doch in den seltensten Fällen, und man läßt die meisten Mädchen doch nur lernen, weil man irgend etwas mit ihnen bis zum heiratsfähigen Alter unternehmen muß.“

Frau Nowotny bemerkte während ihres munteren Geplauders gar nicht, wie blaß und feindselig Fräulein Dr. Südekum zu diesen Worten nickte.

„Sie bleiben doch zum Abendessen?“ fragte sie. „Robert muß gleich mit Alexandra kommen.“

„Alexandra?“ Fräulein Dr. Südekum saß ganz steif in ihrem Sessel.

„Ja, die Bildhauerin Pseleuditi, – wir erzählten Ihnen doch schon von ihr. Robert holt sie aus ihrem Atelier ab.“

Fräulein Dr. Südekum schwieg, aber ihr schmaler, zitternder Mund verriet wohl ihre Erregung. Durfte man dies alles geschehen lassen? Durfte man es geschehen lassen, daß der heiße verwirrende Hauch der Sünde auch das stille Heim dieser beiden so wandelte und zerstörte? Sie dachte daran, wie sie diese fremde, lachende Frau am Arme Nowotnys gesehen hatte. Und sie dachte auch der törichten Dinge, die diese beiden bei ihrem letzten Besuche von der seltsamen Frau erzählt hatten.

Sie rückte den Sessel ein wenig zurück und begann plötzlich mit heller, kriegerischer Stimme: „Man darf den Dingen nicht so ihren Lauf lassen, liebe Frau Else. Nein, das soll man nicht. Man muß sich wehren. Sie wissen, ich meine es gut mit Ihnen.“ – Fräulein Dr. Südekum erschrak selbst, da sie die verräterischen Worte sprach, mit denen Menschen immer eine Folge von Sätzen einleiten, mit denen sie einen andern unglücklich machen, „– und – ich sah Ihren Mann eines Nachts – er ging eingehängt, und ich bin gewiß ...“

„Küßten sie einander?“ fragte die junge Frau, und die Lehrerin sah zu ihrem Erstaunen, daß das Gesicht der jungen Frau nicht Eifersucht und Angst, sondern eine ganz unverständliche Erregung, ja den Ausdruck geschmeichelter Eitelkeit wies.

„Nein,“ antwortete die Lehrerin, deren Haltung immer mehr jener glich, die sie in der Schule annahm, wenn die Mädchen nicht aufmerkten: „Nein, das taten sie nicht. Aber ich verstehe Sie nicht, liebe Frau Else. Eine Frau geht nachts eingehängt mit Ihrem Manne, und Sie finden das in Ordnung, und nach Ihrer Frage muß ich annehmen, daß auch das andere, das Küssen ...“

„Alexandra ist nicht irgendeine Frau!“ erklärte Frau Nowotny, „sie ist eine Künstlerin, sie ist eine Halbasiatin, wissen Sie. Ihr Vater war ein Grieche, aber ihre Mutter eine Perserin.“

„Aber hinter diesen Zufälligkeiten und Masken ist sie doch sicherlich eine Frau!“ fiel Fräulein Dr. Südekum spöttisch und schneidend ein. Else erschien ihr plötzlich dumm und abgeschmackt.

„Ja, wahrscheinlich!“ nickte Frau Nowotny ein wenig verwirrt. „Aber ich wollte nur sagen, daß ich nicht anders zu ihr stehe wie Robert, daß wir sie beide anbeten, daß wir ihr soviel verdanken, – sie hat uns beide von Grund auf verändert. Wie ein Rausch ist es, seit wir sie kennen.“

„Ja, wie ein Rausch,“ fiel Fräulein Dr. Südekum ein. „Ich kann es mir denken.“ Plötzlich wußte sie selbst, warum sie dieses Gespräch so leidenschaftlich führte. Hier war endlich eine Gelegenheit, sich zu wehren, anzukämpfen gegen diese rätselhafte Macht, die alle Menschen verwirrte und lächerlich machte. „Ja, wie ein Rausch, dem ein schreckliches Erwachen folgen wird.“

„Weil Robert und ich diese Frau gern haben, weil unser ganzes Leben interessant wurde, seit sie mit uns ist, weil wir beide so gesteigert sind?“

„Nein,“ sagte Fräulein Dr. Südekum, „aber weil Robert ein Verhältnis mit dieser Frau haben wird, wenn er es nicht schon hat.“ Die Stimme des alternden Fräuleins klang aufs äußerste aufgebracht.

„Glauben Sie, daß er schon eins hat?“ fragte Frau Nowotny, und wieder erkannte die Lehrerin eine ihr unverständliche, zitternde Erregung im Gesichte der jungen Frau. „Glauben Sie, daß er ihr wirklich so gefällt? Oh, Robert ist kein gewöhnlicher Mensch, glauben Sie es mir, Frau Doktor. Seine Vorgesetzten, so besonders der Hofrat Klingenberg, haben mir oft gesagt: Ihr Mann hat fast zu viel Phantasie für den Beamtenberuf. Ja, ja.“

„Sie sind vollständig verrückt,“ rief Fräulein Dr. Südekum. „Das ist ja schamlos, was Sie da zusammenreden. Und ganz verwirrt ist es auch. Nun, ich bin fest überzeugt, daß die beiden ein Verhältnis miteinander haben, und diese gute Dame lacht sich ins Fäustchen über die kleine, schwärmerische Frau, die sich so wehrlos ihren Mann wegnehmen läßt.“ Triumphierend blickte das alternde Fräulein auf ihre ehemalige Schülerin.

„Oh, sie hat mich auch sehr gern,“ widersprach Frau Nowotny ein wenig verstimmt. „Ja, das glaube ich. Aber Sie haben recht, – da wäre Robert tausendmal besser daran als ich. – Ich bin ja leider kein Mann und ...“

Fräulein Dr. Südekum sah fassungslos auf die Frau vor sich. „Ja, diese Frau scheint euch beide verrückt gemacht zu haben. Nein, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber merken Sie sich, das wird noch ein schreckliches Ende nehmen. Man darf die Dinge nicht so gehen lassen, man muß sich wehren, man muß ...“

„Still, still,“ sagte Frau Else, indes glühende Röte ihr Antlitz übergoß. „Sie kommen!“

Fräulein Dr. Südekum erhob sich. „Ich werde lieber gehen,“ sagte sie frostig und geängstigt zugleich. Aber da stand schon Nowotny vor ihr. Er faßte ihre Hände und zog sie in die Mitte des Zimmers.

„Frau Pseleuditi – und das ist Frau Dr. Südekum, unsere liebe Freundin, von der ich Ihnen schon erzählte. Sie wird sich sehr für Ihre Götzensammlung interessieren – nicht wahr?“

Fräulein Dr. Südekum warf einen kampfbereiten Blick in das schmale, ein wenig harte Gesicht der Fremden, über das ein interessiertes Lächeln flog, und fühlte ihre Hand von einer festen und kühlen anderen umschlossen.

Frau Nowotny geleitete ihre Gäste in den Speiseraum hinüber. Die Lehrerin sah betroffen, wie sehr dieser verändert worden war. Statt der Speisezimmerlampe, die ein mit gußeisernen Engelsköpfchen festgehaltener Seidenschirm gebildet hatte, hing jetzt lose ein buntes Stück Seide um den Leuchtkörper. Die Kredenz stand fast leer. Wo hatten Nowotnys nur die vielen hübschen versilberten Schüsseln hingegeben und den Aufsatz aus Porzellan mit dem schwarzlackierten Schornsteinfeger? Nur zwei große flache Schalen standen auf der Kredenz, die durch die neue Beleuchtungsart seltsam ins Dunkel gerückt schienen.

Fräulein Dr. Südekum sah weiter umher, während die drei Menschen lebhaft miteinander sprachen, über Dinge, die ihre gemeinsamen Vergnügungen und Pläne betrafen.

Und immer wieder sah sie verstohlen zu der fremden Frau hinüber, die ihr gegenübersaß. Mich könnte sie nicht faszinieren! dachte das alternde Fräulein, als die Fremde sich mit überkreuzten Beinen in einen Sessel lehnte. Dieses schwarze, nach Knabenart geschnittene Haar ließ ihren Kopf ja fast nackt erscheinen! Und eine so hohe Stirne mochte vielleicht an einem Manne hübsch sein ...

Die Augen freilich! Wenn man dem Blick dieser länglichgeformten Augen begegnete, über denen sich in schwarzen schlanken Bogen die Brauen fast berührten, – ja, so blickten Menschen, denen eine böse und gefährliche Macht über andere gegeben war. Aber dann glaubte Fräulein Dr. Südekum wieder geträumt zu haben, denn plötzlich streifte sie ein ganz gleichgültiger und wie über sie in eine Ferne hinweggleitender Blick.

War diese Frau eigentlich schön zu nennen? Nein, Fräulein Dr. Südekum konnte es nicht finden. Dazu war das Profil zu streng und eigenwillig, veränderte sich das Antlitz zu sehr im Sprechen, und hatte dieser vielleicht schöngeformte Mund einen zu fordernden Ausdruck.

„Sie wundern sich wohl über die Veränderungen in unserer Wohnung?“ fragte Frau Nowotny die Schweigsame. „Alexandra hat uns ein wenig geholfen. Wir fühlten uns gar nicht mehr wohl mit dem vielen alten Zeug – und sie selbst kann das überhaupt nicht ertragen.“

„Wo sind die vielen Bilder hingekommen?“ fragte Fräulein Dr. Südekum ein wenig gereizt, da sie sich der großen gemalten Landschaften, vergrößerten Photographien und Farbendrucke erinnerte, die früher in Überfülle die Wände bedeckt hatten.

„Ja, die habe ich den beiden abgewöhnt,“ sagte die Fremde, und ein spöttischer Blick traf das alternde Fräulein.

„Wenn nur Robert und Else einverstanden sind,“ entgegnete Fräulein Dr. Südekum feindselig. „Denn eigentlich sind doch sie es, die sich hier wohlfühlen sollen.“ So, nun hatte sie es dieser Person gegeben!

„Gewiß,“ nickte die Bildhauerin, „ich verreise ja auch in vier Wochen wie jedes Jahr auf einige Monate. Dann können die Bilder wieder eins nach dem andern auf den Wänden erscheinen, auch das entzückende Hochzeitsgeschenk, die keramische Jungfrau, kann wieder dorthin in die Ecke kommen, und der Ständer mit den Familienphotographien.“

„Nein, nie mehr!“ beteuerte Else leidenschaftlich, und Robert setzte, alles Vergangene verleugnend, hinzu: „Ich habe das Zeug nie leiden können.“

Die Lehrerin verstummte. Sie fand diese Person, wie sie sie in Gedanken nun immer nannte, einfach empörend. Wie konnte man so in ein fremdes Leben einbrechen? Das war ja Vergewaltigung!

Auch später, als die Bildhauerin mitten auf dem Tische, wie die Lehrerin indigniert bemerkte, einen Kaffee braute, was sie als nach „persischer Art“ bezeichnete, und dann in kleine Schalen ein schwarzes Gebräu goß, an dem Fräulein Dr. Südekum fast erstickte, weil sie den ganzen Satz in die Gurgel bekam, und gar als die Bildhauerin, in ihren Sessel zurückgelehnt, lange schmale Zigaretten rauchte, die einen merkwürdig schwülen Duft verbreiteten, da fand die Lehrerin die Begeisterung des Ehepaars für die Fremde immer unverständlicher. Es versöhnte sie auch nicht, daß die Bildhauerin mit ihrer dunklen Stimme eigenartige griechische Lieder zu singen begann. Bald waren alle drei von ihr entfernt und sanken in Gespräche, die von Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse im Süden erfüllt waren.

Die Lehrerin, die sich fast gar nicht an den Gesprächen beteiligt hatte, atmete befreit auf, als die Bildhauerin sich zum Gehen anschickte. Sie hatte es sich zwar vorgenommen, noch ein wenig zu bleiben, schon um nicht mit der Fremden gehen zu müssen, dann aber auch, weil sie hoffte, noch einige Worte anbringen zu können, die geeignet waren, den gefährlichen Zauber dieser Frau zu brechen. Aber zu ihrer eigenen Verwunderung ging sie auf einen fragenden Blick der Fremden mit ihr fort.

Sie gingen schweigend nebeneinander, die dunkle, nachtstille Parkstraße hinab. Ihre Schritte klangen auf dem Pflaster.

„Hier an der Ecke ist eine kleine Teestube,“ sagte die Bildhauerin plötzlich. „Wollen Sie mit mir noch einen heißen Grog trinken? Es wird uns gut tun.“

Das alternde Fräulein blieb zögernd stehen. Da traf sie ein erstaunt fragender Blick: „Sie fürchten sich doch nicht mit mir allein?“

„Fürchten,“ krähte die Lehrerin, „wovor?“ Sie ging mit.

Die Bildhauerin rührte nachdenklich in ihrem Teeglas: „Ja, in vier Wochen bin ich wieder unten im Süden. In diesem nebligen Lande halte ich es nicht aus, trotzdem man hier herrlich arbeiten kann, weil man immer Sehnsucht hat, weil man alles in sein Werk zwingen möchte, was man hier entbehrt. Aber eigentlich sollte ich vorher noch nach Paris. Ich stelle dort aus.“

Fräulein Dr. Südekum lauschte eine Weile den Erzählungen Alexandras, und auch sie spürte den wilden Geruch des Lebens und der Freiheit in den Worten der Fremden. Aber gerade dies empörte sie, daß sie erfuhr, wie reich, wie von Kunst und Erfolg begnadet dieses Leben war, das sich alles erfüllen durfte. Warum, wozu brach die Frau dann in das kleine, stille Sein dieser Menschen? Ihr begegneten doch sicherlich viele andere Menschen, die ihr ähnlicher waren?

Mit einem jähen Ruck begann sie: „Und, Frau Pseleuditi, wie wollen Sie einmal die Verantwortung tragen, wenn das, ich meine, der junge Nowotny – und seine Frau – wenn das zu Ende ist? Wie werden Sie diese Menschen wieder in das Gewöhnliche entlassen, in ihre Ehe?“

„War die stumpfe, elende Gemeinschaft dieser beiden eine Ehe?“ gab die Bildhauerin mit einem Lächeln zurück.

„Es war die Sicherheit,“ entgegnete die Lehrerin. „Es war das, was dauert, was ruhig macht und Frieden gibt.“

„Das kann sein,“ nickte die Bildhauerin achselzuckend. „Aber wie stellen Sie sich das überhaupt vor? Wie kann man Verantwortung für andere übernehmen? Das kann man doch immer nur für sich selbst. Ich glaube, daß man nie mehr tun kann, als einen ganzen Einsatz an eine Sache wagen: sich selbst. Weiß ich denn, wie ich mich zurückbekomme – weiß ich es denn? Wie kann ich anderen Sicherheiten geben?“

„Aber Sie geben doch gar keinen Einsatz,“ begehrte die Lehrerin auf. „Sie spielen doch mit diesen Menschen, die bisher so zufrieden waren, und die nie mehr in ihr früheres Sein zurückfinden werden.“

„Was wollen Sie,“ sagte Alexandra und rührte unentwegt in ihrem Glase weiter. „Es ist nun einmal mein Schicksal, immer der Habicht zu sein, der in ein geruhiges Sein stößt. Daß es solche Menschen wie mich gibt, wird wohl auch seinen Sinn haben, den die erkennen mögen, die Zeit haben, über das Leben nachzudenken. Ich will es vor allem leben!“

Fräulein Dr. Südekum schwieg verwirrt. Sie fand keine Antwort, aber sie spürte, daß immer stärker etwas wie Haß und doch gleichzeitig geheimnisvolle Anziehung sie an diese Frau band und sie hieß, ihr weiterzulauschen.

„Nein, Frau Doktor,“ sagte Alexandra, „ich gehöre nun einmal zu denen, die die Untreue den Menschen gegenüber auf ihre Fahne geschrieben haben, weil sie sich selbst für niemand vergewaltigen wollen. Ich bin in keinem Erlebnis, in keiner Liebe daheim. In keiner. Immer weiß ich mich Gast. Ich binde ein fremdes Leben an mich, – aber dann kommt doch die Stunde, wo man die vergrößerten Photographien wieder an die Wände hängt. Ich war nur Gast – und sie alle fühlen sich viel wohler in ihrer Welt, die ihre wirkliche ist. Ihre wirkliche ist ja nicht jene, für die sie zu brennen glauben, wenn sie mich lieben.“

Plötzlich umfaßte die Bildhauerin mit beiden Händen die nervös zuckenden des alternden Fräuleins. Eine steile Falte stand zwischen den Brauen der fremden Frau, und ihre Augen glühten in einem seltsamen Feuer, als sie sagte: „Sie alle haben in ihrer Liebe ein Ziel zu zweien: Kind, Sicherheit und gemeinsamer Tod.

„Mein Ziel heißt Ich, und nie wird mir eine Liebe begegnen, die dasselbe Ziel hat – die mich will, das, was ich heute nur darstelle, was ich aber werden muß. Niemals –“

Neuntes Kapitel

Es war ja gar nicht ungewöhnlich, und sie hatte es nicht anders erwarten dürfen! So stemmte sich das um die Überlegenheit kämpfende Denken des alternden Fräuleins gegen das würgende Weh, das sie zu verschütten drohte.

Und doch – und doch! Gerade sie! Sie, die einmal so ernst, so früh durch Leiden erwacht, von den Jahren gesprochen hatte, die vor ihr lagen, und die sie mit so viel Schönem und Hohem hatte erfüllen wollen!

Und wieder sprang ihr der Schmerz würgend an die Kehle, daß sie stehenbleiben mußte, um Atem zu schöpfen.

In rasender Flucht zogen die Bilder vertrauten Zusammenseins mit Gertrud an ihr vorüber. An dieses Kind hatte sie geglaubt, so sehr, wie man nur an einen Menschen glauben kann, den man selbst geformt hat, dessen leiseste Regungen man errät und dessen Werden man beglückt folgen durfte.

Es war doch nichts geschehen! Scham überflutete sie. Nein, es war nichts geschehen, was diese übermäßige Erregung, diesen Schmerz gerechtfertigt hätte.

Nein, gar nichts war geschehen. Man mußte versuchen, es klar zu überdenken, mit einem kleinen wissenden Lächeln. Oh, wie weh dieses Lächeln tat!

Gertrud war ihr mit einem jungen Manne begegnet. Das war alles. Und doch nicht alles. Denn da war dies andere noch. Einige Schritte vor ihr hatte das junge Mädchen eine rasche Bewegung gemacht und sich dann so angelegentlich an seinen Begleiter gewandt, den Kopf ganz ihm zugedreht, daß es schien, als sehe sie die Lehrerin nicht.

Auch das war eigentlich selbstverständlich, so suchte das ringende Denken ihr zuzuraunen. Ja, ganz selbstverständlich. Sie war die Lehrerin, das hieß in diesem Falle: der gefürchtete Feind. Es war den Schülerinnen verboten, mit Herren ohne Begleitung auf der Straße zu gehen. „Es ist mir gleichgültig, wie Ihre Eltern darüber denken,“ so hatte der Rektor erst gestern zu der Klasse gesagt. „Gleichgültig, ob es sich um einen Verwandten oder den Freund des elterlichen Hauses handelt. Noch einen Monat stehen Sie unter dem Gesetze der Schule und haben sich zu fügen. Nach diesen vier Wochen können Sie machen, was Sie wollen – dann hört unsere Verantwortung auf.“

Ja, und so war es begreiflich, daß Gertrud den Kopf abgewendet hatte. Sie mochte wohl hoffen, auf diese Weise nicht gesehen zu werden. Ja, es war töricht, daß dies so weh tat, so bitter weh. Und noch törichter, daß diese Begegnung wie Verrat brannte, daß es Fräulein Dr. Südekum schien, Gertrud habe sich nicht nur gegen die Gesetze der Schule vergangen, sondern mehr noch gegen sie ganz persönlich, gegen etwas, das verloren war und dessen Wert die Lehrerin erst jetzt zu erkennen glaubte. Ja, es war Verrat an ihr selbst, an der großen, zitternden Liebe, die sie diesem Kinde entgegengebracht hatte, das einmal so sehr ihr eigenstes Kind gewesen war, und sie nun ganz vergessen hatte, sie nicht mehr zu kennen schien.

Voll Haß dachte Fräulein Dr. Südekum an den jungen Menschen, den sie nur mit einem raschen Blick gestreift hatte, und von dessen Antlitz und Gestalt sie doch in einem einzigen Augenblick alles in sich gesogen hatte. Wie belanglos er ausgesehen hatte! In keiner Weise anders als die jungen Leute, denen man täglich begegnete. Ja, hochgewachsen war er, und sein Gang war betont nachlässig und vornübergebeugt gewesen. Das Gesicht – o ja, – auch dieses Gesicht hatte sie sich gemerkt. Breit war es mit ausladenden Backenknochen, etwas schiefgestellten dunklen Augen und zu üppigen Brauen. Und um den überlegen lächelnden Mund hatte das alternde Fräulein den frechen, verhaßten Zug erkannt, den sie alle hatten, die das Leben unbedenklich nahmen.

Mit diesem Manne, der in nichts anders war als unzählige andere – Fräulein Dr. Südekum war überzeugt, daß sie bereits alles von diesem jungen Menschen wußte – ging Gertrud. Und sie liebte ihn – oder spielte mit ihm. Jedenfalls hatte in dem lächelnden Gesicht, das sie zu ihm emporgehoben hatte, etwas wie Erwartung gestanden, Erwartung und Neugierde.

Wütender Schmerz überfiel sie, dem sie sich nun hemmungslos überließ.

Hatte sie sich dafür so grenzenlos an dieses Kind gegeben, seine große Einsamkeit so leidenschaftlich an ihr Herz genommen, damit Gertrud nun dumm und gewöhnlich wie alle anderen wurde, damit sie nun all die früheren Jahre vergaß und verriet? Weil irgendeiner lange Beine und ein glattes Gesicht hatte, – weil er ein Mann war?

In ihre verstörten Gedanken eingehüllt war die Lehrerin bis zu dem Hause ihres Schülers gekommen. Ihr Gesicht war hart und verschlossen, als sie die Stiege zu seiner Wohnung emporstieg. Sie war wohl eine Törin, daß sie so viel, so alles gab. Selbst die Hälfte war zu viel.

Auch dieser Knabe, der heute noch so aufgetan ihrem Unterricht lauschte, auch er würde morgen gewöhnlich sein, und wie seine Kameraden an die große, nivellierende Macht gegeben, der sich jeder schließlich unterwarf. Jeder Mann war ein Knabe, der sich verloren hatte.

Ihr Vortrag klang heute anders als sonst. Ich will meine Pflicht tun, sann sie bitter, aber nicht mehr. Es tut zu weh, sich zurücknehmen zu müssen.

Nach der Lektion wollte sie sich mit kurzem Gruß verabschieden. Sie war müde heute und fürchtete sich doch vor dem Alleinsein und seiner Trostlosigkeit.

„Bleiben Sie, bitte,“ sagte der Knabe, und jäh aus ihrer Versunkenheit aufschreckend, sah sie jetzt erst, wie blaß Erwin war und daß zwei herbe Falten, die sie nicht gekannt, seinen jungen Mund säumten.

Da löste sich die Starre in ihr: hier war einer, der sie brauchte.

„Ich weiß etwas von dem Kanzler,“ sagte der Knabe, und seine Stimme klang brüchig und rauh. „Ich weiß, daß er liebt.“

Fräulein Dr. Südekum erschrak. Gebannt sah sie in das blasse Antlitz vor sich.

„Er liebt eine dumme, blonde Frau.“

„Erwin!“ Ihre Stimme klang angstvoll. „Das sind Dinge, die dich nichts angehen! Du sollst nicht darüber nachdenken, verstehst du? – Du mußt es mir versprechen.“

Seine Hand glitt leise über die ihre. „Hören Sie mich an, Frau Doktor! Ich weiß, daß Sie mich verstehen werden. Nur Sie können mich verstehen. Ja, der Kanzler liebt eine Frau. Sie ist Tänzerin. Keines seiner Bücher hat sie gelesen. Sie weiß nichts von ihm. Sie lacht ihn aus, weil er manchmal seine Krawatte nicht ordentlich gebunden hat, weil er kein Elegant ist wie die Laffen, die alle Logen des Rauchtheaters füllen ...“

„Wieso weißt du das alles?“

„Ich weiß es,“ sagte er leise, „aber ich verstehe es nicht. Sie ist ein gemeines Weib, und jeder, der sich eine Karte bezahlen kann, kennt ihren tanzenden Körper. Sie hat weiße Brüste und schlanke Hüften. Liebt man darum, Frau Doktor? Ist der Kanzler nicht besser als die Kameraden aus meiner Klasse, die sich nachts in dunkle Gassen schleichen?“

„Was sprichst du da?“ Das alternde Fräulein war sehr blaß geworden. „Davon darfst du nicht reden, – das verstehst du nicht!“

„Verstehen es denn Sie, Frau Doktor? Ich spüre es doch, daß auch Sie es nicht begreifen, daß es Sie quält wie mich, weil es das gibt – weil alle ...“

„Schweig!“ Ihre Stimme keuchte. „Du hast nicht über mich zu sprechen. Du hast nicht über mich nachzudenken.“

„Verzeihen Sie, Frau Doktor, verzeihen Sie mir! Es ist nur – ich finde mich nicht mehr zurecht. Ich ersticke in all dem Gemeinen. Es quält mich so entsetzlich, daß auch er – ich liebe ihn ...“

„Sprich weiter!“ bat eine erstickte Stimme.

„Er ahnt nicht, daß ich ihn liebe. Er hat mir nicht geantwortet, als ich ihm die Abschrift aus seinem Buche sandte und dazu einen Brief schrieb, – alles sagte ich in ihm von mir. Es war so schön, in der Nacht zu sitzen und an ihn zu schreiben. Ich habe ihm Dinge gesagt, die bisher nur mir gehörten.“

Schweigend saß das alternde Fräulein vor dem Knaben. Tiefer sank ihre Stirne.

„Er ahnt nicht, daß ich ihn liebe. Er sieht nur diese dumme, blonde Frau. – Warum ist das, Frau Doktor? Ist es wirklich nur deshalb, weil sie ein Weib ist, weil sie schmiegsame Hüften hat? – Warum liebt er mich nicht?“

Und wieder war Schweigen in dem Raum, und das alternde Fräulein wagte nicht zu atmen in einem zuckenden Glück und Grauen.

Und wieder stieg die Stimme empor: „Warum liebt er mich nicht? Ich würde so glücklich sein, dürfte ich nur einmal meinen Kopf an seine Schulter lehnen. Ganz still würde ich sein.

Er ist der Kanzler, und ich bin ein Schüler. Aber ich liebe ihn. Ich weiß ihn. Ich weiß auch, daß ich reich bin. Ich habe ihm so vieles zu sagen, was er vielleicht nicht weiß, was er vielleicht vergessen hat. – Ist diese Frau mehr als ich – nur weil sie ein Weib ist?“

Eine große brennende Angst stieg in dem kleinen alternden Fräulein auf. Was dieser Knabe sprach – das verband sich dem dumpfen, quälenden Schmerz in ihr, den kein Denken befrieden konnte, der sich nun plötzlich aufreckte, ein verzweifelter Riese.

„Ich kann dir nichts sagen,“ sagte sie fast unhörbar. „Nein, ich weiß dir keine Antwort.“ Angstvoll sah sie in sein tieferblaßtes Gesicht. „Du darfst über diese Dinge nicht nachdenken, – man darf das nicht, – wir dürfen nicht –“ Dann erschrak sie über ihr eigenes Wort. Hatte sie wirklich wir gesagt?

„Ich muß gehen,“ stieß sie hervor. „Lebe wohl.“

Aber nun konnte sie nicht allein sein. Nein, das konnte sie nicht. Wohin? Zu wem? – Nein, in ihr einsames Zimmer konnte sie nicht. Sie fürchtete sich zu sehr vor den Gedanken, die sie aber nicht denken wollte, nicht denken durfte. Nein, nur nicht allein sein!

Zu Nowotnys? Die beiden konnten ihr keine Stille geben. Die waren ja auch toll und verwirrt wie alle Menschen jetzt um sie her. Die dachten an nichts anderes als an diese verrückte Bildhauerin. Oder – diese selbst? Ihr allein würde sie sogar jetzt gerne begegnen.

Nun wußte sie es, Dr. Klempner mußte sie aufsuchen. Er war der einzige, der nicht von dem Gifte angefressen war, das an allen zehrte, von der großen Verwirrung, die von diesem Frühling ausging, den sie selbst als süßen Stachel in ihrem Denken wußte. Ja, er mochte zynisch, kalt und grausam sein. Aber er haßte und verneinte doch gleich ihr diesen Taumel.

Dr. Klempner begrüßte sie ein wenig erstaunt. „Das ist schön, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben,“ sagte er. „Martha ist in der Küche, da können wir plaudern. Wie geht es denn in Ihrer Klasse? Die Mädchen sind jetzt wohl alle ein wenig so, so?“

„Einige lernen sehr brav,“ antwortete sie ausweichend. „Vielen ist ja die Matura das Tor zum freien Studium auf den Hochschulen.“

„Nun ja,“ der Arzt lächelte wegwerfend. „Sie können sich ja vorstellen, was ich vom Frauenstudium halte.“

„Die Knaben sind in dieser Zeit auch nicht besser,“ antwortete das Fräulein, plötzlich wieder kampfbereit, „wenn Sie das als Hindernis meinen.“

„Aber das meine ich ja gar nicht,“ entgegnete Dr. Klempner lächelnd. „Gewiß ist diese Zeit auch für die Knaben sehr schwierig. Aber wenn sie diese Jahre, da man den Eros so verzweifelt ernst nimmt, überstanden haben, dann ist die Gefahr meist auch wirklich vorüber. Dann haben sie zum Weibe gefunden und nehmen sich Lust und Genuß ohne weitere Problematik.“

„Und das ist das Ideal?“ fragte Fräulein Dr. Südekum spöttisch.

Der Arzt sah sie ernst an. „Ist es vielleicht dieses, daß Menschen, die den Betrug der Natur ernst nehmen, an ihm zugrunde gehen? Nein, Frau Doktor, bleiben Sie mir mit den großen Idealen in dieser Richtung vom Leibe. Es gibt eine schwierige Zeit bei Mädchen und Knaben. Da kocht die Natur sich die Leiber für ihre große Forderung zurecht. Und da bleibt natürlich nicht viel Raum für anderes. Das darf man nicht zu tragisch nehmen. Das geht vorüber.“

„Warum sollen also die Frauen nicht studieren, da diese Zeit doch vorübergeht?“

„Gott, ich habe ja nichts dagegen,“ sagte Dr. Klempner zwischen zwei großen Rauchwolken. „Aber für die Mädchen gibt es nur eine Erlösung aus der großen Spannung, die sie ganz gefangen nimmt: die Heirat. Wenn sie Mädchen bleiben und studieren, werden sie eben diese Spannung nicht los. Da haben es die Herren Studenten leichter.“

„Sie reden abscheulich von Dingen, die vielen anderen Menschen heilig sind.“

„Heilig!“ Er lachte. „Heilig ist alles, was über diese Dinge hinaus will. Heilig ist Beruf und jedes Streben des menschlichen Geistes. Aber das, wovon Sie sprechen, Frau Doktor, ist nichts als verdammter, von den Dichtern emporgelogener Betrug.“

Da geschah es dem alternden Fräulein plötzlich, als müsse sie eine große Fahne entfalten. – So, als müsse sie etwas bekennen und verteidigen, was sie in sich haßerfüllt verneint und geknechtet hatte.

Sie war sehr blaß geworden, das kleine, schmale Fräulein, aber ihre Augen blitzten: „Ich habe so vieles gesehen, was häßlich und unverständlich ist, Herr Doktor. Aber, Doktor Klempner, ich weiß auch, daß es über diese Verwirrung hinaus etwas geben muß, das den süßen, wehen Namen Liebe verdient.“

„Oho! – Frau Doktor, sind Sie so weit?“ rief der Doktor. Seine Worte klangen höhnisch, aber sein häßliches Gesicht blickte tiefernst. „Ich zweifle nicht daran, daß Sie lieben können, – daß Sie in einer Periode sind, wo man einen rasenden Wunsch mit hundert bunten Flicken behängt – wo man an diesem Selbstbetrug entsetzlich leidet. Aber erzählen Sie mir lieber von dem Menschen, den Sie lieben! Erzählen Sie mir, was er Ihnen für diese große Liebe gibt, an die Sie so fanatisch glauben.

„Erzählen Sie mir, was Ihre Liebe ihm bedeutet, ob Sie ihm mehr sind als der Partner im Spiel, ob er Sie selbst überhaupt sieht! – Dann müßten Sie sich freilich noch prüfen, ob Sie selbst diesen Menschen sehen – – oder nur das, was Sie von ihm wollen!“

„Was er mir dafür gibt – dieser Mensch?“ – wiederholte die Lehrerin langsam und erblaßte. „Ja, und was meine Liebe ihm bedeutet?“ – Wie plötzlich erwachend setzte sie sich aufrecht in ihrem Sessel. Sie begann rasch und hastig zu sprechen, als wolle sie alles verschütten, was sie bisher bekannt hatte: „Ich liebe ja keinen einzelnen Menschen, Herr Doktor. Ich liebe meinen Beruf, ich verschwende mich an ihn.“

„Dann sind Sie ja glücklich,“ – fiel er ein. „Ja, dann müssen Sie doch glücklich sein?“

„Ich bin es nicht,“ bekannte sie leise. „Ich habe das vielleicht früher nicht so gewußt. Da war ich so reich. Ich habe nie gerechnet, niemals, Herr Doktor. – Aber vielleicht gab ich zu viel, ich weiß es nicht. Immer wieder fordert man ganzen Einsatz von uns, den ganzen Menschen. Und wehe, wenn wir einmal, ein einziges Mal mehr wollen als die Befriedigung, unsere Pflicht getan zu haben.“

„Mehr?“ Hart und fragend fiel das Wort in die Stille. „Wir Männer sind es gewohnt, uns ganz an unsern Beruf zu verschenken. Wir fordern nicht mehr von ihm, als er geben kann: innere Bestätigung, Erfolg, Ruhm, vielleicht auch Geld. Sie aber suchen in ihm die Liebe, Frau Doktor, – nehmen Sie sich in acht! Sie sind eine wunderbar mütterliche Frau. Es ist jammerschade um Sie, daß Sie kein Kind haben.“

„Ich habe nur geliehene Kinder.“ Ein Schluchzen bebte durch den Raum.

„Der Beruf ist der Beruf,“ sagte eine ernste Stimme. „Wie kann er das geben, was wir im Leben versäumt haben. Nehmen Sie sich in acht, Frau Doktor, – nehmen Sie sich in acht!“

Zehntes Kapitel

Die Bildhauerin Alexandra Pseleuditi stand, in ihren grauen Arbeitsmantel gehüllt, an die Wand ihres großen kahlen Ateliers gelehnt, auf den Stufen, die zu dem hohen Fenster führten.

Sie hielt die Hände über der Brust ineinandergeschlossen, und ihre Gestalt wirkte seltsam fremdartig, weil die Arme in einer Parallele mit den Schultern liefen, und auch die Züge ihres Gesichtes in den gleichen starren Ausdruck geschlossen waren.

„Ich habe gewußt, daß Sie kommen werden,“ sagte sie.

Durch die feine, kleine Gestalt, die vor ihr wie schutzsuchend vergraben in einem Lehnstuhl saß – dem einzigen, den es in diesem Raume gab – lief ein Zittern.

„Es war nur so ein Einfall, das heißt ...“ sie sprach den Satz nicht zu Ende und sah gequält umher.

Die Bildhauerin rührte sich nicht.

„Es ist auch wegen Nowotnys,“ sagte das kleine Fräulein, dessen Augen in dem grellen Atelierlicht blinzeln mußten. „Alle Menschen um mich herum werden plötzlich anders. Oder habe ich es früher nur nicht so gesehen?“ Ratlos bewegte die Lehrerin ihren dünnen Vogelhals hin und her.

Die Bildhauerin sah über sie hinweg, als wolle sie ihr Zeit lassen. Erst als sie bemerkte, daß die Lehrerin nicht zu sprechen beginnen wollte, sagte sie vorsichtig: „Ich beneide Sie um Ihren Beruf.“ Das kleine Fräulein erschrak, wie tief und voll diese Stimme durch den großen Raum drang. Ihre eigene, die doch sonst so sicher das große Klassenzimmer in der Schule beherrschte, schien ihr in diesem Raume plötzlich dünn und körperlos zu klingen, und das verstärkte ihre Unsicherheit.

„Ich arbeite in Stein, – er ist spröde und besitzt geheimnisvolles, eigenes Leben. Sie aber, Sie dürfen im Lebenden formen und schaffen, – das muß wunderbar sein!“

„Ja, aber man muß daran glauben können!“

„Und das können Sie plötzlich nicht mehr?“ Immer noch stand Alexandra in der gleichen Stellung an die Wand gelehnt, und nur ihr dunkler Blick suchte die Lehrerin.

„Es weiß ja niemand etwas von uns,“ sagte Fräulein Dr. Südekum plötzlich. In ihr stand die Erinnerung an eine wilde Nacht auf, an eine einsame Nacht voll Tränen. Und sie, die noch nie von sich selbst gesprochen hatte, weil sie es so gewohnt war, zu anderen Herzen horchend sich hinabzubeugen, empfand jäh, wie wunderbar es sein müsse, sich einmal loslassen zu dürfen, den dumpfen Bann des Schweigens von sich abzutun wie einen zu schweren Panzer und Worte von sich zu schleudern wie Tränen. „Niemand weiß etwas von uns,“ sagte sie noch einmal, „und am wenigsten wissen es die Glücklichen, denen wir dienen.“

„Sie meinen Ihre Schülerinnen?“ fragte Alexandra, ein wenig befremdet über den heiseren Klang der anderen Stimme.

„Nein, ich meine sie, die Kinder haben, ich meine die Mütter. Niemand denkt daran, daß ein ganzes Heer von Enterbten nur für sie lebt.“

Die Bildhauerin stand noch immer aufrecht und starr und sah auf das blasse Menschenkind herab, in dessen Antlitz sie die Bereitschaft zu plötzlicher und wilder Preisgabe erkannte. Wie eine kleine, weiße Motte ist sie, dachte sie plötzlich: so ängstlich nach irgendeinem Lichte flatternd, – so gefährdet.

Die Lehrerin, die schon einmal in den letzten Tagen den Schritt aus ihrer Einsamkeit hinaus zum großen Mitteilen getan hatte, wenn sie sich dann auch wieder unter den kühlen Augen des Arztes vorsichtig zurückgenommen hatte in Masken und Lügen, gab sich, einmal ihrer engumzäunten Sicherheit entrissen, immer hemmungsloser an die brennende Süße des Beichtens.

Sie sah Alexandra nicht an, als sie sprach: „Da gibt es Hebammen, Frau Alexandra, – sie sind immer wieder Zeugen der einen ersehnten und gefürchteten Stunde, nach der sie ein Lebendes in die Arme der erwachten Mutter legen dürfen, mit Händen, die immer wieder leer werden. Oder wissen Sie nicht von den Kinderfrauen mit breiten, blauen Schürzen, die ihre mütterlichen Hüften verdecken? Sie alle haben vielleicht Kinder gehabt und verloren, sie haben vielleicht niemals gebären dürfen. Sie singen weiche Schlummerlieder für fremde Kinder – immer wieder für fremde Kinder.“

Betroffen sah Alexandra in das erblaßte, zuckende Gesicht des alternden Fräuleins. Die Gewalt eines elementaren Gefühls ging plötzlich von diesem kleinen, zarten Wesen aus, und Frau Alexandra erschrak, als sie die Male großer Leidenschaft in den Zügen der Lehrerin erkannte.

„Denken Sie an die Kindermädchen mit ihren roten Händen,“ sagte die Lehrerin leise. „Sehr weich und zart können diese Hände sein, wenn sie winzige Kinderfäuste zum ersten Gebet falten, Händchen, die, groß geworden, nicht einmal mehr grüßend zum Hute finden, wenn die Trösterin ihrer ersten Schmerzen an ihnen vorübergeht.“

Die Lehrerin verbarg ihr blasses Gesicht zwischen den Händen, und ihre Stimme sank in ein Flüstern: „Sie sagen, daß Sie mich um meinen Beruf beneiden. Aber haben Sie und all die anderen Menschen schon einmal über uns Lehrerinnen nachgedacht? Für die Großen sind wir verachtete, belächelte Geschöpfe. Wir erinnern an die komische Schulangst, an Aufgaben, die bittere Stunden bereiteten, vor allem aber an die lustigen Streiche, die man uns spielte, und die uns noch in der Erinnerung so lächerlich erscheinen lassen. Nicht wahr, so ist es doch, Frau Alexandra? Alles andere ist in der Erinnerung an uns ausgelöscht.“ –

„Sie schweigen so stark,“ sagte plötzlich die Lehrerin, schamvoll erwachend. „Verstehen Sie, was ich sagte?“

„Ich verstehe es, – aber ich beneide Sie um Ihre Sehnsucht. Ich beneide Sie, weil sie einem Ziele aus Fleisch und Blut gilt, – weil sie aus Fleisch und Blut stammt.“

„So kennen Sie das gar nicht?“ fragte die Lehrerin und sah scheu forschend in das Gesicht der Bildhauerin. „Und Sie sind doch eine Frau?“

„Nein, ich kenne das nicht,“ antwortete Frau Alexandra ruhig, und ein harter Zug lag plötzlich in ihrem Gesichte. „Meine Sehnsucht meint immer nur den Stein, immer nur ihn. Sie können mir alle Namen sagen, die die Menschen für jede Art der Sehnsucht fanden. Für mich hat jede nur eine Richtung, nur ein Ziel: den Stein und das Leben, das ich aus ihm zwingen will.“

Fröstelnd sah die Lehrerin auf die fremde Frau, angeweht von einer harten Kühle.

„Aber die Liebe!“ – sagte sie plötzlich, und das Wort hing schwer und rund in dem Schweigen des Raumes.

„Die Liebe!“ Ein spöttisches Lächeln flog über das Gesicht Alexandras. „Das ist ein großes Wort.“

„Sagen Sie das nicht!“ flehte das kleine Fräulein. „Ich kenne soviel Häßliches und Unwertes – aber man muß an die Liebe glauben!“

„So haben Sie einmal die Liebe erlebt?“

„Ich?“ – Ein großes Erstaunen stand plötzlich in den Zügen der Lehrerin. Seltsam! über das Vergangene hatte sie schon so lange nicht mehr nachgedacht.

„Ich hatte immer Angst vor den Menschen,“ bekannte sie leise. „Besonders damals, als ich jung war und manche zu mir drängten. Es war so unverständlich, so häßlich. Weil ich nicht gleich bereit war zu dem, was sie alle forderten, wandten sie sich böse ab und hatten mich rasch vergessen. Sie wollten wohl gar nicht mich selbst.“

Die Bildhauerin sah aufmerksam zu dem kleinen Fräulein hinüber. – „Und später dann?“

„Ich weiß nicht,“ Fräulein Dr. Südekum wurde ganz verlegen. „Ich glaube, ich vergaß ganz darauf, daß es das gibt. Ich lebte in dem Hause mit dem großen Garten. Nein, ich dachte wirklich nie daran. Ich hatte die Klasse, die Schülerinnen.“

„Und später und jetzt? – Es ist doch nicht möglich, daß kein Mann ...“

„Jetzt, – Frau Alexandra! Ich bin doch alt. Diese Dinge sind vorüber, – nein ich bin froh, daß dies gar nicht mehr sein kann. Ich habe doch meinen Beruf, ich lebe nur ihm.“ Fräulein Dr. Südekum hatte plötzlich so laut gesprochen, als wollte sie diese Worte nicht nur ihrer Zuhörerin, sondern der ganzen Welt ins Gesicht schreien.

„Erzählen Sie doch von Ihrem Beruf!“ bat Alexandra.

Ängstlich sah das kleine Fräulein plötzlich umher. „Ich möchte ja so gerne – aber – haben Sie denn so viel Zeit für mich?“

„Noch eine volle Stunde,“ lächelte Alexandra. „Dann kommt Robert mich abholen.“

„Oh, – verzeihen Sie,“ stammelte die Lehrerin. „Aber er bedeutet Ihnen wohl sehr viel? – Sie sprachen vorhin so spöttisch von der Liebe.“

„Ich weiß die Liebe,“ sagte Alexandra. „Aber ich weiche ihr aus. Sie fordert den ganzen Menschen, wenn sie die Liebe ist. Und das darf ich nicht!“

„Und Robert, – ich meine Robert Nowotny?“ fragte Fräulein Dr. Südekum hartnäckig.

„Sie großes Kind!“ Alexandra stieg die Stufen herab und stand nun vor dem Fauteuil des kleinen Fräuleins. „Sie großes Kind,“ sagte sie nochmals. „Ich arbeite viel, und da brauche ich ein wenig Entspannung,“ fuhr sie fort und setzte rasch hinzu: „Sie hatten neulich ein wenig Angst um Ihre Freunde. Ich merkte es wohl. Aber fürchten Sie sich nicht! Diesem guten braunen Jungen wird nichts geschehen. Es wird ihn und seine kleine Frau ein wenig steigern, ein wenig auch verwirren, wenn Sie wollen – aber glauben Sie mir: solche Menschen bekommen bald wieder Boden unter den Füßen und kehren reuig in ihre Welt zurück. Nein, beide gehören nicht zu jenen, die sich grenzenlos verlieren können.“

„Und es gibt solche Menschen?“ fragte Fräulein Dr. Südekum leise.

„Ja, es gibt solche, und Sie gehören zu ihnen,“ antwortete Alexandra.

Das kleine Fräulein machte eine erschreckte Bewegung: „Aber nein, aber nein, das kann ja gar nicht sein!“

„Ich weiß,“ lächelte die Bildhauerin beruhigend. „Aber Sie wollten mir von Ihren Schülerinnen erzählen.“

Das kleine Fräulein bog sich tief in die Dämmerung, die langsam von dem ganzen Raum Besitz ergriff. Wie gut das war! Man konnte sich in das blaue Dunkel bergen und nur die Stimme aussenden zu dem anderen lauschenden Menschen.

Fräulein Dr. Südekum erzählte. Von dem Feinde sprach sie, der ihr immer wieder die jungen Herzen entriß. Schon zum drittenmal geschah ihr dies, denn zum drittenmal stieg sie mit einer Mädchenschar von der ersten Klasse, in der sie die Schülerinnen als Kinder übernommen hatte, bis in die sechste zu den Schlußprüfungen auf, nach denen die Mädchen in das Leben entlassen wurden.

Alexandra saß auf den Stufen am Fenster. Das letzte Licht des Tages zwang rote Funken aus ihrem dunklen Haar. Gebannt sah das kleine Fräulein in dieses ernst lauschende Antlitz. So unwirklich schien es ihr nun in seiner Strenge, daß jede Scheu von ihr abfiel. Immer weiter sprach sie. Sie merkte gar nicht, wie sie aus der allgemeinen Schilderung in das Besondere eines letzten, allerletzten Erlebnisses kam, das sich so sehr von allen anderen unterschied, – nicht nur, weil es in feinen und unwägbaren Dingen anders war, nein, auch weil sie selbst in ihm eine andere geworden war. Aber dieses wußte sie selbst erst jetzt in ihrer großen Beichte.

Eine wilde Freude frohlockte in dem kleinen, alternden Fräulein, da sie immer mehr und mehr von Gertrud erzählte. Dinge sagte sie, die sie sich nicht nur niemals selbst gestanden hatte, nein, die sie bis zu dieser Stunde überhaupt nicht gewußt hatte. Die wollüstige Freude der Selbstpreisgabe stieß sie immer weiter.

„Vielleicht war alles sinnlos bis zu dem Tage, da die kleine Gertrud zu mir kam,“ sagte das alte Fräulein in den nun ganz dunkel gewordenen Raum. „Denn bis dahin war alles Beruf gewesen, war ich nur die Lehrerin, verstand ich nur zu gut, daß ich jeden meiner Lieblinge an das Leben verlieren mußte. Es tat auch damals weh, aber ich wußte, daß es nicht anders sein könne. Aber diesmal – aber Gertrud – das ist ganz anders. Nein, ich kann es nicht ertragen, sie zu verlieren. Ich kann es nicht!“

„Und Sie wissen wirklich nicht, daß dies die Liebe ist, sie, der Sie ein Leben lang entflohen sind?“

„Die Liebe?“ Fräulein Dr. Südekum sah betroffen zu Alexandra auf. „Ich spreche doch von einer kleinen Schülerin und mir. Ich – nein, – Sie haben gescherzt, nicht wahr?“

„Sie wissen wirklich nicht, daß dies, was Sie nun erleben, die Liebe ist?“ fragte Alexandra nochmals. „Sie wissen nicht, daß dies die Opferung ist, die Sie niemals erlebt haben bisher, und daß alles in Ihnen, Herz, Seele und Sinne, nach diesem Menschen dürstet?“

Alexandra sah ruhig auf das kleine Fräulein. Kopfschüttelnd fuhr sie fort: „Gibt es das, daß man sich selbst so wenig kennt, daß man vor sich selbst so entsetzlich lügt und mit verwirrenden Namen die große Flamme ersticken will?“

„Ich bin doch – um Gottes willen!“ Das Blut hämmerte so stark in den Schläfen des kleinen Fräuleins, daß es seine eigene Stimme nur wie aus Fernen vernahm. „Ich bin doch eine Frau, – ich meine, ein Mädchen, ja, ein altes Mädchen, – und Gertrud! Sie reden ja Wahnwitziges, Frau Alexandra – das, das ist ein schlechter Witz!“

„Sie großes Kind,“ lächelte Alexandra, „Sie großes Kind.“

Das kleine Fräulein mühte sich um ein krampfhaftes Lächeln. „Ja, – ich verstehe Sie jetzt. Verzeihen Sie, es schien mir augenblicklich so wirr. Sie meinen, weil ich so allein bin, – weil – ich habe niemanden – kein Kind – und Gertrud – sie war wie mein eigenes ...“

„Ich weiß den Weg nicht, der Sie zu dieser Liebe führte,“ entgegnete Alexandra ruhig. „Nein, dazu kenne ich Sie zu wenig. Aber ich weiß, daß das die Liebe ist, und weiß, daß Sie dieses Mädchen begehren.“

„Begehren!“ Das kleine Fräulein sprang totenblaß auf. „Nein, ich hätte nicht sprechen sollen. Sie verstehen mich nicht. Sie denken abscheuliche Dinge! Sie sind wahnsinnig! Ich habe es ja gleich gewußt, als ich Sie sah, daß Sie ein schlechter und wahnsinniger Mensch sind!“ Das kleine Fräulein schlug entsetzt die Hände vor das brennende Gesicht.

Nach einem Schweigen, das nur ihr keuchender Atem erfüllte, fragte Fräulein Dr. Südekum leise mit abgewandtem Gesicht: „Und Sie glauben, daß es das gibt: Liebe zwischen Frau und Frau?“

„Gibt es sie nicht zwischen Prophet und Jünger, Mensch und Stern, Mensch und Tier, Mensch und Blume? Ist es nicht ein Strom, der alle verbindet?“ Alexandra trat ganz nahe an das kleine Fräulein heran und beugte sich über sie, daß diese plötzlich nur die großen klaren Augen im Dunkel über sich sah: „Lieben wir Menschen einander nicht, weil wir sterben müssen, weil wir alle, Mensch, Tier und Kristall, zu gleichem Schicksal verdammt sind? Und da sollten wir grübeln, warum wir lieben? Und da sollten wir es uns verbieten?“

Das kleine Fräulein richtete sich auf, und in einer ungeheuren tapferen Anstrengung, die ihr fast den Atem zerbrach, fragte sie so, als hinge alles von dieser Antwort ab: „Ja, Mensch und – aber ich meine diese Liebe, von der Sie jetzt sprachen, von dem Begehren – Liebe zwischen Frau und Frau – das – das ist doch ekelhaft!“

Alexandra sah ein wenig irritiert auf das kleine fiebernde Wesen vor sich. Arme, kleine Motte, dachte sie wieder. Wie angstvoll sie mit den zarten Flügeln um sich schlägt!

„Wie krank Sie denken!“ sagte sie dann ruhig. „In einem anderen Sinne hätten Sie vielleicht recht. Denn es gibt das Laster. Das ist, wenn ermüdete Lust immer neuen Stachel sucht, wenn das Gehirn zum Diener der Begierden wird und immer neue spitzfindige Variationen findet. Das mag ekelhaft sein, das kenne ich nicht. Ich will auch nicht wissen, wie Aussatz ist und Delirium der Süchtigen, die irgendeinem Traum schenkenden Gifte verfallen sind – aber wir sprechen von der Liebe! Welcher Weg sollte ihr verboten sein, wenn sie die Liebe ist?“

Fast unhörbar kam die Frage aus der Dunkelheit: „Und was ist Liebe?“

„Was mehr will als Lust, die immer nur sich selbst will und den, der sie gibt. Was uns Todgeweihte über unser armseliges Ich und seine Grenzen emporzwingt, was alles außerhalb unserer Arbeit und diese selbst lebenswert macht und heidnisch froh ...“

Und wieder kam die zaghafte Stimme aus dem Dunkel: „Und Sie glauben wirklich, daß ...“

Ein wenig ungeduldig klang die Antwort Alexandras: „Wer sich fürchtet, soll sich in die Winkel und Ecken flüchten, die der Menschen Herdengesetze schufen. Wer liebt, ist Gottes und steht außer dem Gesetz.“

„Aber,“ – der Lehrerin Stimme sank wieder zu einem Flüstern herab: „Die Frauen, – ich meine diese Frauen, die so sind – ich hörte von ihnen und las einmal ein Buch. Ich meine, sie, welche die Männer nachahmen und zugleich hassen – sie, sie sind doch lächerlich – sie sind doch krank?“

Alexandras Stimme klang noch ungeduldiger und ablehnender: „Ich sagte Ihnen schon, daß ich nichts von diesen wissen will. Nichts von ihnen, und nichts von den anderen Unzulänglichen, Enterbten und Kranken. Was kümmern mich diese armseligen Verirrungen? Aber Fräulein Doktor – wir sprechen doch nicht vom Komödienspiel der Enterbten. Wir sprechen von der Liebe.“

„Sie glauben also wirklich, daß ...“

Eine kühle Hand lag auf dem Arme der Lehrerin und die Stimme der Bildhauerin klang hart und ein wenig zynisch: „Ich will Ihnen gerne sagen, was ich mir denke. Nehmen Sie sich doch das kleine Mädchen! Wie kann man sich nur so quälen? Sie werden ja noch dumpf und verworren durch Ihr Blut. Geben Sie ihm nach und werden Sie frei! – Es gibt keine andere Rettung, keinen anderen Weg, um wieder zu sich selbst zu gelangen. Und ich glaube, daß Sie vor allem sich selbst wieder haben wollen?“

Und wieder Stille, und nur das keuchende Atmen des kleinen Fräuleins. Dann aber sprang die Lehrerin plötzlich auf. Ihre Augen flammten durch das Dunkel: „Frau Pseleuditi, – ich habe Sie über Gebühr aufgehalten.“ Immer böser und feindseliger wurde die Stimme. „Es war sehr originell, was Sie sagten – es war sogar gemein. Aber Sie irren sich. Ich bin nicht Ihr Robert, den Sie ein wenig steigern und verwirren wollen, um etwas Entspannung nach Ihrer Arbeit zu haben. Ich bin kein Spielball für Ihre Hexenkünste. Ich, – ich ...“

„Wie Sie sich fürchten!“ Fräulein Dr. Südekum fühlte das Lächeln dieser Worte, wenn sie es auch im Dunkel nicht sehen konnte. Sie konnte nicht mehr an sich halten, sie mußte dieser schamlosen, entsetzlichen Person alles in das Gesicht schreien, ihre ganze Verachtung: „Sie sind ein Teufel!“ schrie sie. „Ja, man sollte Sie einsperren, – man sollte ...“

„Oho! Die Damen befinden sich ja in angeregtester Unterhaltung,“ erklang plötzlich eine Stimme. Licht flammte auf, und in der Türe erschien die Gestalt eines Mannes.

Obwohl sie ihn nur aus den illustrierten Blättern kannte, wußte Fräulein Dr. Südekum sogleich, wer dieser Fremde war. Gebannt sah sie in das dunkelbärtige Antlitz des Kanzlers.

„Ich muß gehen,“ stieß sie hervor. Sie hatte das Gefühl, daß ihr Gesicht, verstört und schamlos nackt, alle Erregungen der letzten Stunde spiegeln müsse.

„Das dürfen Sie mir nicht antun,“ sagte der Kanzler liebenswürdig. „Nein, ich hätte ja sonst das Gefühl, Sie vertrieben zu haben, wie der schwarze Mann die Kinder in die Flucht jagt!“ Er trat auf das kleine Fräulein zu und nannte seinen Namen.

Alexandra sah unschlüssig von einem zum anderen.

„Nicht wahr, Sie bleiben?“ wiederholte der Kanzler. „Ich will ja nicht lange stören. – Also, meine Damen, was versetzte Sie denn in so arge Erregung?“

„Wir sprachen von der Liebe,“ antwortete Alexandra schnell gefaßt und voll Ironie.

„Um Gottes willen! Was können denn Frauen von der Liebe reden?“ lachte er. „Davon verstehen sie doch nichts! Sie sind da, um geliebt zu werden, um uns zu quälen, – aber die Liebe ist ausschließlich eine Sache, – wenn Sie wollen, – eine Tragödie der Männer.“

„Eine Tragödie,“ lächelte Alexandra. „Das Wort klingt seltsam aus Ihrem Munde, Sie großer Frauenliebling!“

„Spotten Sie nicht,“ entgegnete er, plötzlich ernst geworden. „Wir alle sind ja so entsetzlich klug, – zynisch auch und vielleicht unbarmherzig, bis es uns plötzlich am Kragen hat.“

„Was reden Sie heute für seltsame Dinge!“ rief Alexandra. „Sie wollen von der Tragik der Liebe reden. Sie, der mir erst vor Wochen sagte, die Liebe sei für alle Gipfelstürmer ein Tal zum Ausruhen wie Nahrung, Schlaf und Musik. – Oder sollten Sie selbst?“

„Nein, das ist unmöglich,“ lächelte er, aber dieses Lächeln war traurig und schwer. Ein rascher Blick flog zu Fräulein Dr. Südekum, die ratlos vor ihrem Fauteuil stand. „Nein, ich dachte jetzt an einen Freund,“ sagte er.

„Erzählen Sie,“ bat Alexandra.

„Nur, wenn diese Dame alle Fluchtversuche mir gegenüber aufgibt,“ sagte der Kanzler, und Fräulein Dr. Südekum sah ein wenig erschreckt in sein zerfurchtes Antlitz.

Sicherlich ist alles wahr, was man von ihm erzählt! dachte sie schaudernd nach diesem Blick auf sein Antlitz. Laut sagte sie: „Ja, bitte sehr, ich bleibe gern noch einige Minuten.“

„Gut,“ – er lächelte ein dunkles schwermütiges Lächeln, das Fräulein Dr. Südekum plötzlich für ihn einnahm.

„Mein Freund hat etwas toll gelebt,“ begann der Kanzler. „Ja, er war das, was man einen homme aux femmes nennt. Er dachte sich nicht viel dabei, wie die meisten. Er hatte natürlich recht. Vor kurzem aber ist er vierzig Jahre alt geworden. Seit einigen Wochen hat er eine Liaison mit einer Tänzerin. Was soll ich Ihnen über sie erzählen? Sie ist jung, – sie ist vielleicht sogar wundervoll jung. Sie ist schön, – sie ist sogar wunderbar schön. Mein Freund hatte seine bestimmten Tage, die er bei ihr verbrachte. Ja, er hatte sich das famos eingeteilt, er ist ja ein großer Arbeiter und liebt ebenso die Ordnung in seinen Tagen wie die alles ungefährlich schaffenden Abgrenzungen seiner Gefühle und Passionen.“ Der Kanzler lächelte ein sehr feines, ein sehr wissendes Lächeln, da er dies sagte.

„Und was geschah?“ fragte Alexandra, der diese Erzählung sonderbar vorkam.

„Es geschah eigentlich nichts,“ antwortete der Kanzler. „Aber das sind ja die entscheidenden Stunden, da äußerlich nichts geschieht. Nur: an irgendeinem Tage, der war wie alle anderen Tage, ging mein Freund wieder zu seiner Geliebten. Nichts geschah. Nichts hatte sich verändert. Erst speisten sie wie gewöhnlich in dem kleinen, gemütlichen Wohnzimmer. Mein Freund hatte seinen Diener mit allem, was zu einem raffinierten Souper gehört, in die Pension geschickt, wo er seiner kleinen Freundin zwei Zimmer gemietet hatte. Sie waren beide sehr vergnügt, und es war wie immer. Wie immer zündete sich mein Freund auf dem Heimweg eine Zigarre an, – das ist nun einmal seine Art, unter einen Genuß den Schlußpunkt zu setzen. Und dann ging mein Freund heim in seine Wohnung.“

„Und die Tänzerin blieb daheim?“ fragte Fräulein Dr. Südekum ein wenig enttäuscht.

„Ja, sie blieb,“ antwortete der Kanzler. „Sie selbst hatte mit dem, was geschah, ebensowenig zu schaffen, als sie nichts getan hatte, um die Veränderung herbeizuführen.“

Der Kanzler blickte ernst auf Alexandra. „Nun, hören Sie zu, liebe Freundin! – Mein Freund betrat seine Wohnung, die er schon seit fünf Jahren innehat, – eine Wohnung, an die er gewöhnt ist, und die er liebt. Aber an diesem Tage – verstehen Sie, zum erstenmal, – da sah er, daß die Wohnung leer war. Ja, sein Heim war leer, und eine kühle Luft schlug ihm entgegen. Da überkam ihn plötzlich eine tiefe Unruhe, die er sich nicht erklären konnte. – Er hat mir seinen Zustand genau geschildert, darum weiß ich alles. – Es überfiel ihn plötzlich die Angst vor den kommenden Jahren. Er wußte, daß er nun alt werden würde. Daß er alt und allein sein würde, sehr bald.“

„Und was geschah?“ fragte Alexandra.

„Gar nichts geschah, liebe, schöne Alexandra. Nur, – seither liebt mein Freund diese Tänzerin, – er liebt sie, verstehen Sie?“

„Liebt sie?“ Fräulein Dr. Südekum wiederholte die Worte so schwer, daß der Kanzler sie betroffen ansah. Dann nickte er: „Ja, er liebt sie nun, er leidet um sie, er vergeht an ihr. Gleichgültig ist ihm plötzlich Arbeit, Erfolg und Ruhm. Gleichgültig selbst sein Leben. Nur sie denkt er immer, immer. Und noch dieses: daß sein Heim leer ist und traurig. Und daß er bald alt und allein sein wird.“

Die Lehrerin erhob sich jäh: „Ich muß nun gehen,“ sagte sie, und zu Alexandra gewendet: „Ich möchte nicht, daß Robert mich hier findet. Nein, das möchte ich nicht.“

Alexandra begleitete sie hinaus. Das kleine Fräulein blieb einen Augenblick stehen und faßte nach der Hand der Bildhauerin. „Verzeihen Sie mir, bitte!“

Begütigend strich die Bildhauerin über die bebende Hand. „Sie großes Kind,“ sagte sie leise und mit kühler Zärtlichkeit.

Elftes Kapitel

Gewaltsam hatte Fräulein Dr. Hanna Südekum alles zu vergessen gesucht, was sie an das Gespräch mit Alexandra erinnerte, die Worte, die ihr später im klaren Tageslicht phantastisch und unwirklich erschienen waren. Es war ja ganz lächerlich, vor diesen Worten Angst zu haben! Man konnte sie vergessen. Man konnte sie bestimmt vergessen.

Fast fröhlich und befreit trippelte das kleine Fräulein den gewohnten Weg, der zur Schule führte. Sie war noch früher aufgestanden als sonst. Sie schlief überhaupt nicht gut in letzter Zeit. Sie erwachte immer schon beim ersten Morgengrauen. Aber sie verabscheute es, schlummerlos im Bette zu liegen. Irgendwie hing den Kissen und Decken etwas von der Nacht an, die Fräulein Dr. Südekum fürchten gelernt hatte, seit sie sooft bald nach dem Einschlafen erwachte und sich herzklopfend und verwirrt im Dunkel fand, müde und verstört von einem Traum, an dessen Inhalt sie sich nicht erinnerte, dessen Wirrnis sie aber noch in ihrem Blute spürte. Nein, Fräulein Dr. Südekum liebte die Nacht nicht.

Auch arbeiten konnte sie morgens in dem unaufgeräumten Zimmer nicht. Sie sann immer schon auf Flucht, während sie sich hastig wusch und anzog, und atmete erst auf, wenn die frische Morgenluft ihre Wangen streifte. Der Morgen tat überhaupt gut. Die ganze Welt sah anders aus. So wohltuend nüchtern, so ganz vom Beginn des Werktages beherrscht. Da fand das gefährliche heimliche Leben, das dem Abend ein so verwirrendes Gepräge gab, keine Fugen und Ritzen, um einzudringen.

Fräulein Dr. Südekum stand am Gehsteig, ehe sie die Straße übersetzte. Sie zögerte ein wenig, sah den Milchkarren nach, die über die Straße holperten, den ersten Trambahnen, erfüllt mit Menschen, die zur Arbeit fuhren. Wie gut dieser Anblick des beginnenden Arbeitstages ihr tat!

Da fiel ihr Blick auf den Kiosk der Büchertrödlerin.

In einem raschen Entschluß überquerte sie die Straße, die in den großen Platz vor der Schule mündete. Ein plötzlicher Gedanke war ihr gekommen.

Fräulein Dr. Südekum klopfte an das kleine Glasfenster. Der häßliche, winzige Kopf des alten Weibleins erschien.

„Oh, Sie sind es, Frau Lehrerin, – haben Sie vielleicht wieder eine Anzeige gegen mich losgelassen und wollen nun nachfragen, ob sie mir schon zugestellt wurde?“ Ein höhnisches Grinsen verzerrte das Gesicht der Händlerin. „Sie sollten sich lieber nicht so anstrengen! Mein Vetter, der Minister, sagte mir, daß mir nichts geschehen könne, solange ich nicht Bücher verkaufe, die verboten sind.“

„Es will ja niemand Ihr Geschäft stören,“ erwiderte die Lehrerin sanft. „Ich habe auch keine Anzeige gemacht – ich werde auch keine machen ...“

„So?“ Ein friedlicheres Lächeln der Alten ließ eine große schwarze Zahnlücke sehen. „Haben Sie eingesehen, daß man gegen mich nicht ankann?“

„Nicht nur gegen Sie kann man nicht an,“ sagte die Lehrerin so leise, als spräche sie zu sich selbst ... Sie fuhr lauter fort: „Wenn Sie aber Vernunft annehmen wollen und den Verkauf häßlicher Bücher und Broschüren an die Schulkinder einstellen, so daß ich nie wieder eine Klage höre, dann könnte ich etwas für Sie tun, was Ihnen mehr Geld einbringen würde. Ich verstehe es nicht: Sie haben es doch nicht notwendig, gerade auf diese Weise Geld zu verdienen? Ihr Kiosk geht doch auch sonst recht gut, und ich kann mir nicht vorstellen, daß der Verkauf von Schundromanen an die Kinder so viel trägt.“

„Es ist rührend, wie Sie sich um mein Geschäft sorgen!“ rief das alte Weiblein spöttisch.

Aber die Lehrerin fuhr tapfer fort: „Ja, ich könnte etwas für Sie tun. Sie wissen doch, daß wir die Schulhefte bei einer bestimmten Firma bestellen. Ich könnte veranlassen, daß Sie den Verkauf dieser Hefte bekommen.“

„Sie sind zu rührend,“ erwiderte das alte Weiblein höhnisch. „Aber Sie irren sich. Ich verkaufe die Bücher an die Kinder gar nicht deshalb, weil mir das Geld trägt.“

„Ja, warum denn?“

„Es macht mir Spaß, zuzusehen, wie die Kinder sich unter dem Einfluß der Bücher ändern, wie die Bücher über sie Macht gewinnen. – Ja, Frau Doktor, dagegen kann euer Konfirmationsunterricht nicht an. Ich brauche nur ein Gesicht zu sehen, um zu erraten, was ich diesem Jungen oder jenem Mädchen geben soll, damit sie dahin kommen, wo ich sie haben will.“

„Das soll also heißen, daß Sie das Böse um des Bösen willen wollen,“ – das kleine Fräulein bebte vor Entsetzen, – „daß Sie ganz bewußt diesen Kindern alle Schlechtigkeiten beibringen?“

„Schlechtigkeiten?“ Die Büchertrödlerin lachte. „Ja, was ihr alle so Schlechtigkeiten nennt! Wenn die Mädels sich nach der Wollust sehnen, die Buben nach Abenteuern und wilden Reisen, wenn sie eure brave Erziehung hassen und spüren, daß ihr sie zerbrechen wollt!“

„Und Sie wissen gar nicht, wie viele Kinder Sie mit Ihrem Gifte ins Unglück treiben, in schändliche Erlebnisse, daß Sie in den Kindern Wünsche entzünden, gegen die diese noch nicht genug Hemmungen haben?“

Die kleine Hexe schien diese Worte gar nicht gehört zu haben. Es machte ihr offenbar ein besonderes Vergnügen, dem sanften blassen Fräulein alles, was sie dachte, ins Gesicht zu schleudern, sie zu erschrecken.

„Ich weiß viele, die, groß geworden, einen Bogen um meinen Laden machen. Sie wollen nicht daran erinnert werden, daß sie einmal hier und nur hier lebten. Andere sehen frech herein und lachen. Aber alle werden sie schließlich brav und gewöhnlich – sie werden vernünftig, wie man so sagt. – Aber glauben Sie mir, Bücher sind oft stärker als alles andere. Sie sind noch viel gefährlicher, als Sie wissen, ich selbst – nicht umsonst habe ich mein ganzes Leben hindurch nur gelesen und gelesen, ich weiß sicherlich mehr als ihr Lehrer zusammen!“

Fräulein Dr. Südekum ging rasch weiter. Sie ging nicht, – sie floh –. Ein Gedanke hatte schwer und brennend in sie geschlagen.

So konnte man also Menschen durch Bücher beeinflussen? So sehr, daß sie dann Dinge taten, die sie vordem nicht gedacht hatten? So konnte man ihre Gedanken in Vorstellungen zwingen, – die zu Taten werden mußten?

Und plötzlich brach es nackt und alles andere zur Seite drängend in sie:

Wenn sie Gertrud Bücher in die Hand spielte, in denen von jener Raserei zu lesen stand, von der Alexandra gesprochen hatte? Und wenn dann ...

Die kleine Lehrerin begann zu laufen. Sie lief, bis nichts mehr in ihr war als das Keuchen ihres Atems, das rasende Schlagen ihres Blutes. Tack, tack! machte es immer schneller, bis sie nichts mehr denken konnte. Nicht einmal mehr an das Entsetzliche, das sie hetzte und verfolgte.

Mit fliegenden Pulsen langte sie in der Schule an. Mit fast brechenden Knien hastete sie die Stufen zur Rektorkanzlei empor. Sie taumelte, als sie eintrat, faßte nach einem Sessel, griff ins Leere, fiel, raffte sich wieder auf und starrte plötzlich mit verstörtem, erhitztem Gesicht in das Antlitz des Rektors.

„Was, um Gottes willen, ist denn geschehen?“ fragte Rektor Krause erschreckt. „Ein Schülerselbstmord! Sprechen Sie doch! Mein Gott, unsere Anstalt wird durch all diese Affären noch in Verruf kommen! Nun, – wer ist es denn, der sich umgebracht hat?“

Die Lehrerin konnte lange nicht sprechen. Dann begann sie endlich zu stammeln. „Nein, – Herr Rektor, – es hat sich niemand umgebracht, – nur, – die Büchertrödlerin ...“

„Hat sich die alte Hexe endlich aufgehängt? Nun, es war höchste Zeit.“

„Nein, auch das nicht,“ flüsterte das alte Fräulein, noch verwirrter dadurch, daß der Rektor so überzeugt von einem Selbstmord sprach. „Aber, ich redete mit der Trödlerin. Ich versuchte, sie auf andere Art zu bestimmen, ihr schändliches Treiben einzustellen. Mit den Anzeigen haben wir ja bisher wenig Glück gehabt. Ich versprach ihr daher eine Verwendung beim Verkauf von Schulheften.“

„Ganz klug,“ nickte der Rektor. „Ganz klug. Aber was ist geschehen, warum sind Sie so furchtbar erregt? Oder haben Sie auch schon von dieser Tagebuchaffäre gehört?“

„Von Tagebüchern? Nein, was ist?“

„Später, Frau Doktor, da Sie ja noch nichts wissen. Erzählen Sie rasch, was führt Sie jetzt und in diesem Zustande zu mir?“

„Diese Person,“ die Stimme der Lehrerin überschlug sich kreischend, „diese Person, für die keine Hölle zu tief wäre, die man hinrichten sollte, die man rädern sollte, mit siedendem Pech sollte man ...“

„Aber Fräulein Doktor!“ – Der Rektor trat entsetzt einige Schritte zurück. „Ich kenne Sie doch gar nicht von dieser Seite? Sie sind ja außer Rand und Band! Sagen Sie doch endlich, was geschehen ist.“

Das kleine Fräulein sprach plötzlich so leise und heiser, daß der Rektor sich vorbeugen mußte, um besser zu verstehen: „Sie sagte, daß sie es gar nicht um des Geschäftes willen mache, – sie täte es ganz bewußt, um die Knaben dazu zu bringen, von daheim wegzulaufen – irgendwelchen Abenteuern nach – und um die Mädchen, – ja, so sagte sie – zur Wollust zu verführen. Ja, um sie schlecht zu machen, um sie dahin zu bringen, daß sie sich fremden Männern in fremden Hotels hingeben, – ja, sogar, – damit sie mit – o, es ist entsetzlich! – mit Frauen Verhältnisse anfangen.“

Der Rektor sah betroffen auf die Oberlehrerin. So hatte er sie nie gesehen. So ganz ohne Haltung, preisgegeben einer Erregung, mit nackten Worten Dinge sagend, Dinge ... Interessiert beugte er sich wieder zu ihr herab: „Und erzählte sie Ihnen auch von dem Erfolg ihrer Teufelei?“ – Er versuchte ruhig und sachlich zu fragen, aber Erregung schlug durch seine Stimme, Erregung, die von diesem fliegenden Atem, dieser keuchenden Brust, diesen flackernden Augen ihm gegenüber ausging.

Verwirrt blickte das kleine Fräulein um sich: „Nein, nein, sie sagte nichts davon. Aber ihr Tun ist doch so gemein und schändlich, so, als wollte einer absichtlich einen andern mit einer todbringenden Krankheit anstecken, – ihn vergiften, – ja, wie Giftmord ist es!“

„Ich verstehe dennoch Ihre Erregung nicht ganz,“ sagte der Rektor. „So sehr ich es würdige, daß Sie solche moralische Verworfenheit empört. Aber schließlich erfuhren wir doch durch Ihr Gespräch mit der Trödlerin nichts Neues, nichts über einen neuen Fall, und ob die Alte ihr gefährliches Spiel mit den Kindern aus geschäftlichen Gründen oder aus nackter Lust an der Gemeinheit betreibt, das könnte uns schließlich gleichgültig sein, sie ist ja nicht unsere Schülerin.“

Die Lehrerin hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte leise vor sich hin: „Ich hätte nie, nie gedacht, daß Menschen so gemein sein können.“

„Wir haben keine Zeit, über die Trödlerin nachzudenken,“ sagte der Rektor spöttisch. „Nein, dazu haben wir keine Zeit. – In Ihrer Klasse hat sich etwas ereignet, das alles übertrifft, was bisher geschah ...“

„In meiner Klasse, – wieder in meiner Klasse!“ Fräulein Dr. Südekum wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht dem Rektor zu.

„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf,“ sagte dieser begütigend, „solche Verworfenheit konnte keiner vom Lehrkörper voraussetzen.“

Die Lehrerin setzte sich aufrecht. Sie war bereit, alles zu hören. Während der Rektor dem Kasten einige Hefte entnahm und vor sie hinlegte, überflog sie angstvoll im Geiste die Schar ihrer Schülerinnen. Wer konnte es sein? Die Herta Kobinger, – die Bilwein, die sie schon einmal auf der Straße mit Herren gesehen hatte, oder gar, – nein, sollte es Gertrud sein? Das mit dem jungen Menschen, dessen wulstige Augenbrauen sie so abgestoßen hatten, mußte ja ein schlechtes Ende nehmen, das konnte ja nicht anders sein. Ja, gewiß war es Gertrud. Jähe Befriedigung durchflutete ihr Denken. Ja, so weit mußte es kommen, weil sich Gertrud so ganz von ihr gewandt, weil sie sich den Torheiten der anderen überließ! Nun würde sie, das vergessene, heimlich vielleicht sogar verspottete Fräulein Südekum, Gertruds Richter sein. Und ein strenger Richter! Denn Gertrud hatte durch sie alles besessen, was ein junger werdender Mensch brauchte: Liebe und Führung, schrankenlose Anerkennung alles Starken in ihr. Und dennoch war sie den Weg aller andern gegangen!

Sollte auch Grete Erb unter den Schuldigen sein? Sie, die immer unbeweglich in der Bank saß und nur mit großen Augen allem folgte, was in der Schule vorging?

O, alles war möglich, keiner konnte man mehr vertrauen.

Angstvoll zwang die Lehrerin die Gesichter ihrer Schülerinnen vor ihr Gedächtnis. Sie mußte es sich gestehen: sie wußte gar nichts mehr von ihnen. Sie alle wiesen ein glattes junges Gesicht, ein glattes junges Lächeln, das nichts verriet, das alles verbergen konnte. Fremd waren ihr alle geworden, und sie fürchtete sich eigentlich vor ihnen.

Plötzlich schlug die Stimme des Rektors in ihr Schweigen: „Der Schuldiener fand im Turnsaale, versteckt hinter den Leitern, dort, wo die Kammer für die Wasserleitung ist, eine Anzahl Hefte. Es sind Tagebücher von Schülerinnen. Er brachte sie mir. Als ich in dem ersten Heft zu lesen begann, glaubte ich zuerst an einen dummen Streich, – obwohl man ja immer das Böseste annehmen sollte, Frau Dr. Südekum. Also aus diesen ersten Seiten ging hervor, daß sich unter Führung der Herta Kobinger ein Tagebuchklub gebildet habe, dessen Mitglieder sich verpflichten, ihre Erlebnisse in ein Buch wahrheitsgetreu einzutragen und die Bücher dann untereinander zum Lesen umhergehen zu lassen.“

„Und Sie lasen in diesen Tagebüchern?“ fragte die Lehrerin mit einer unwillkürlich ablehnenden Bewegung, als sie sah, wie die behaarten kurzen Hände des Rektors die beschriebenen Seiten wandten.

„Dies war doch meine Pflicht,“ entgegnete Rektor Krause verwundert. Er setzte etwas gereizt hinzu: „Mit der Nachsicht auf das Eigenleben dieser jungen Mädchen, mit Wahrung von Briefgeheimnissen und dergleichen fördert man eigentlich nur die Verdorbenheit. Solange sie nicht erwachsen sind, sind sie Eigentum des Elternhauses und der Schule und haben keinerlei eigenes Recht.“

„Aber es ist doch ihr eigenes Leben!“ sagte die Lehrerin und empfand immer stärker einen gequälten Widerstand gegen diesen Mann und seine Hände, die immer erregter die Blätter eines Buches umblätterten.

„Nun, Sie werden ja sehen,“ brummte der Rektor. „Damit Sie eine Ahnung haben, was in diesen Büchern steht, will ich Ihnen ein Stückchen aus dem Tagebuch der Erika Meyer vorlesen.“

Das kleine Fräulein senkte den Kopf. Mutlosigkeit und Angst überfiel sie. Ja, vielleicht hatte der Rektor recht. Vielleicht gab es zwischen dieser Jugend und den Erwachsenen nur verzweifelten Kampf um die Überlegenheit, einen unerbittlichen Krieg, in dem alles erlaubt war, in dem jeder dem anderen seine Geheimnisse abzulisten oder zu rauben suchte.

Der Rektor begann mit einer ruhigen und eintönigen Stimme, der man aber die Erregung anmerkte.

„Heute bin ich wieder bei Otto, dem ersten Liebhaber am Schauspielhaus, gewesen. Er lag nackt auf einem Tigerfell, als ich eintrat, und blies Ringe zu der Decke. Sein Mund war so rot wie Mohn. Sein Körper war braun, wie der eines andalusischen Sklaven. In sein schwarzes Haar hatte er leichenfarbene Tuberosen geflochten. Als er mich sah, sprang er auf und zeigte mir einen Dolch, in dem stand eingegraben: ‚Ich dürste nach Blut!‘ Den hielt er mir vor die Augen und sagte: ‚Ich stoße ihn dir in das Herz, wenn du dich mir nicht hingibst! Du mußt es tun.‘ – Es tat sehr weh und war doch schrecklich schön.“

„Genug, genug!“ schrie das kleine Fräulein. „Das ist ja entsetzlich. Die Meyer, dieses Kind! Nein, das darf nicht wahr sein! – Ja, sie hatte damals diesen Anfall, – aber trotzdem ...“

„Hören Sie weiter,“ sagte der Rektor, und ein lüsternes Lächeln spielte um seinen Mund. „Da schreibt zum Beispiel die Herta Kobinger: ‚Er hat ein Pyjama aus Blau und Gelb und trägt dazu eine Totenmaske, wenn er zu Hause ist. Das macht er, weil mir sonst sein Gesicht zu vertraut wäre, – denn er ist mein Cousin. Er liebt mich brutal und gemein. Ich glaube, er ist wie ein Zirkusreiter. Ich habe immer Angst in der Schule, daß man meine Ringe unter den Augen sehen könnte.‘“

„Mein Gott!“ stöhnte die Lehrerin auf.

„Ich muß Ihnen noch von der Käte Bilwein vorlesen,“ fuhr der Rektor triumphierend fort. „Das ist vielleicht das stärkste Stückchen, das sich jemals eine Schülerin geleistet hat, denn es betrifft ein Mitglied des Lehrkörpers, das aber selbstverständlich sofort vom Unterricht dispensiert wurde.“

Krause begann zu lesen. „Ich war heute mit ihm im Lehrmittelkabinett. Er hängte einen schwarzen Mantel über das Skelett in der linken Ecke. Er zwang mich, ihn zu küssen wie das Kruzifix, und sagte, daß er mich liebe, weil ich Maria, der Mutter Gottes, ähnlich sehe.“

„Aber das ist ja wahnsinnig!“ rief die Lehrerin. „Das kann doch nicht sein!“

„So scheint es einem zuerst,“ sagte der Rektor und fuhr dann immer höhnischer fort: „Man findet aber so viele Details in diesen Tagebüchern, Dinge, die man nur wissen kann, wenn man sie erfahren hat.“

„Und wie viele, – wie viele Mädchen sind in diese Sache verwickelt?“ fragte die Lehrerin leise. Sie war totenblaß, und große Tränen liefen ihr über das Gesicht.

„Wir fanden die Tagebücher von acht Mädchen,“ antwortete der Rektor und reichte der Lehrerin die Hefte hinüber.

Zitternd griff sie nach ihnen. Mit einem Aufatmen stellte sie fest: Gertruds Name stand auf keinem von ihnen. Und doch war auch ein verstecktes Gefühl in ihr, aber so versteckt, daß sie es nur dunkel unter der Freude verborgen fühlte: nun werde ich sie nicht einmal in ihren Tränen der Schuld vor mir sehen, nun werde ich nicht einmal ihr Richter sein können. Ich wäre ein so milder Richter gewesen – o, wäre sie schuldig wie die anderen, – ich hätte sie an mein Herz gezogen wie damals und hätte ihr die Tränen von den Augen fortgeküßt. Und wie damals hätte ich ihr gesagt: Es wird noch alles gut!

„Lesen Sie selbst weiter,“ sagte der Rektor. „Aber bitte, lassen Sie sich nichts merken! Wir wollen diesen Dingen, die die Mädchen selbst in ihren Tagebüchern gestanden haben, genau nachgehen.“

„Und was wird dann geschehen?“ fragte die Lehrerin.

„Sie werden natürlich aus der Schule entfernt werden, sobald wir alles festgestellt haben,“ antwortete der Rektor. „Es ist der größte Skandal, den ich jemals erlebt habe. Ich hoffe, daß es die Behörden auch nicht so ruhig hinnehmen werden – das Unterrichtsministerium – jawohl!“ Er fuhr sich mit einem bunten Tuche über die feuchte Stirn.

„Natürlich,“ nickte die Lehrerin, aber dann fuhr sie nach einer kurzen Überlegung fort: „Aber – es sind nur noch zwei Wochen bis zur Matura. Diese Mädchen werden keinen Schaden mehr in der Klasse anrichten können. Auch ändern kann sie keine Strafe mehr. – Sollten wir nicht, – da es sich um Tagebuchgeheimnisse handelt, die nur durch einen Zufall, ... und auch, weil es sich um Vorkommnisse außerhalb der Schule handelt ...“

„Wir sollen das so hingehen lassen, – das meinen Sie?“ fragte der Rektor empört. „Und Sie fänden es richtig, daß Mädchen Abgangszeugnisse erhalten, die Matura machen und dann vielleicht noch die Hochschule besuchen dürfen, – solche Mädchen, die in ihrer Verworfenheit Verhältnisse mit fremden Männern eingingen? – Nein, Fräulein Doktor – da müßte ich mich vor meiner toten Mutter schämen und vor meinen Schwestern.“

Das kleine Fräulein schwieg. Mit dem Handrücken wehrte sie den großen Tränen, die ihr immer wieder über die blassen Wangen liefen.

Sie griff nach den Heften. „Es sind doch nur sieben?“ fragte sie erstaunt.

„Ja, eins darunter ist von der Lizzie Ebbinghaus. Nun, Sie können es selbstverständlich auch lesen, es hat nur nichts mit der Untersuchung zu tun, es ist ganz harmlos. Es ist ein richtiges Jungmädchentagebuch, wie ich es meiner Tochter wünschen würde, wenn ich eine hätte: Stundenplan, Eindrücke über eine Oper, ein gutes Schauspiel. Naturschilderungen von Wanderungen. Und immer genaue Angabe, was sie in jeder einzelnen Stunde machte. Da – sehen Sie: im Museum gewesen, – aus der Schulbücherei ein Werk entliehen. – Ja, diese Ebbinghaus ist wirklich ein ruhiges und braves Mädchen!“

„Merkwürdig,“ sagte die Lehrerin leise. „Gerade der Ebbinghaus gegenüber hatte ich kein so gutes Gefühl!“

Der Rektor erhob sich ungeduldig: „Ja, ja, Frau Oberlehrerin. – Sie sind sicherlich die tüchtigste Lehrkraft an meiner Schule. Aber für die letzte Klasse, – für die Zeit, da diese Mädchen so leicht auf Abwege geraten und die Beute gewissenloser Verführer werden können, – da fehlt Ihnen vielleicht doch die nötige Menschenkenntnis und Erfahrung.“

Das kleine Fräulein sah mutlos zu ihrem Vorgesetzten auf: „Ja, das glaube ich selbst, Herr Rektor,“ sagte sie leise und traurig.

„Nun, nun,“ meinte dieser nun begütigend. „Machen Sie sich nichts daraus. Schließlich kann ich nicht verlangen, daß Sie, hm, – daß Sie für Ihren Beruf gewisse Erfahrungen sammeln – haha!“

Er geleitete die Lehrerin zur Türe. „Also nochmals, vorläufig wissen Sie von nichts!“ setzte er mit dienstlicher Miene hinzu.

Mit schmalen Schultern und den Kopf tief über ihre Aufzeichnungen gebeugt, saß Fräulein Dr. Südekum während der Unterrichtsstunde, die dieser Eröffnung folgte. Sie wagte es kaum, die Augen vom Pulte zu erheben, und sah es voll Angst, wenn eine der Schülerinnen, von denen sie soeben so Entsetzliches erfahren hatte, die Hand hob, um eine Frage zu stellen. Ja, diese Hände übersah sie geflissentlich und mühte sich, unaufhaltsam zu sprechen, die einzelnen Worte so setzend, daß kein Zwischenraum für eine Frage bleiben konnte.

Nein, es war unmöglich, einem dieser Mädchen in das Antlitz zu sehen. Auf diesen Gesichtern mußte doch das Schimpfliche lasten, was sie getan hatten? Sie hatten es nicht nur sich selbst und ihren Eltern getan, nein, sie hatten sich auch an ihr vergangen und an ihrem lichten Glauben an sie! Nun war alles zu Ende. Nie mehr würde sie vertrauen können. Niemals mehr!

Dann rief Fräulein Dr. Südekum die Ebbinghaus auf, damit sie ein Referat über den Stoff der letzten Unterrichtsstunde gebe.

Die Lehrerin saß ganz in sich gekauert an ihrem Pult. Wie schützend hielt sie die Hände an beide Schläfen und lauschte der kühlen, ruhigen Stimme, die gleichgültig und leiernd das Gelernte hersagte.

Das kleine Fräulein sah vor sich hin und hörte kaum, was die Schülerin sprach. In ihre große Traurigkeit gehüllt saß sie unbeweglich und fühlte die vielen Blicke aus den Bänken auf sich gerichtet.

Nein, sie verstand gar nichts mehr. Das waren nicht ihre Schülerinnen, waren nicht diese Mädchen, die sie gekannt hatte, mit ihren Vorzügen und Schwächen – sechs lange Jahre. Das waren nicht die Kinder, die in den Pausen und sooft nach dem Unterricht mit ihren kleinen Leiden und Freuden zu ihr gekommen waren.

Die Herta Kobinger, – ja, – war es nicht wie gestern gewesen, wenn es auch fast ein Jahr zurücklag, daß diese Schülerin weinend nach ihr gerufen hatte? Sie war während eines tollen Spieles gefallen und hatte sich das Knie angeschlagen. Wie die dunklen Kinderaugen erschreckt zu ihr aufgesehen hatten, weil plötzlich Blut über die weiße Haut des runden Knies lief!

Und immer neu und immer quälender überfielen sie Erinnerungen an die vergangenen Jahre, in denen diese Kinder so aufgetan gewesen waren für die Liebe, die sie ihnen gab, in denen sie ihnen oft näher gewesen war als Vater und Mutter.

Wie konnte man dies fassen: diese Mädchen, deren Stirnen so glatt waren, und deren frohes Lachen oft so kindlich hell im Schulpark aufflog – sie sollten neben diesem Leben, das so leicht durchblickbar und einfach schien für Schule und Elternhaus, noch ein zweites, geheimes Leben führen, das von schimpflichen Geheimnissen erfüllt war?

Endlich war auch dieser Schulvormittag vorüber, und sie durfte fort aus diesem Hause, das plötzlich so viel Verwirrungen barg. Fort aus der Bedrängnis durch rasche, forschende Blicke, die sie aus dieser und jener Bank trafen. Es waren Blicke, die in ihren Mienen zu lesen suchten, die ein wenig beunruhigt nach der Ursache ihrer bleichen Wangen und ihres veränderten Betragens forschten.

Sie war nur noch der Feind, dem gegenüber man sich keine Blöße geben durfte.

Nur noch der Feind.

Die Mädchen sahen ihr nach, als sie aus dem großen Tore der Schule trat und vorsichtig links und rechts blickend den breiten Platz überquerte.

„Was sie nur wieder hat?“ fragte Lizzie Ebbinghaus spöttisch. „Wie ein krankes Hündchen sieht sie drein!“

„Wahrscheinlich war droben beim Alten etwas los,“ meinte Herta Kobinger. „Ich sah sie vor der Stunde von der Kanzlei herabkommen.“

Durch die Worte der Mädchen zitterte leise Unruhe.

„Wie dumm das ist,“ sagte Gert gereizt. „Nun stehen wir hier und zerbrechen uns den Kopf, was los ist, weil die Südekum ein ernsteres Gesicht als sonst macht. So unfrei sind wir, daß wir Angst haben, auch wenn wir keinen Grund für sie wissen.“

„Und das vierzehn Tage vor der Matura!“ lachte Lizzie, aber auch ihr Lachen klang nicht frei.

„Wenn das nur schon vorüber wäre,“ seufzte Grete Erb und rückte den Hut tiefer in die hohe Stirn. „Dann sind wir frei, – dann komme ich auf die Hohe Schule!“

„Ich bin neugierig, welche von uns zuerst heiraten wird,“ sagte Herta verträumt.

„Du hast auch nichts anderes im Kopf,“ sagte Grete Erb ärgerlich. „Ich begreife nicht, wozu du dann überhaupt die Matura machst? Warum gehst du nicht gleich in eine Kochschule?“

„Nun, – so wie du noch weiterhin freiwillig die Schulbank drücken – dazu gehört auch ein sonderbarer Geschmack,“ warf Lizzie spitzig ein. „Als ob das Leben nicht ohnehin so kurz wäre, – als ob wir nicht schon genug versäumt hätten.“ – –

„Du glaubst doch nicht, daß wir dann so besonders frei sein werden,“ sagte Herta Kobinger, „ich weiß doch, wie das ist! Zuerst sagen sie: warte nur, bis du die Matura hast! Dann: warte nur, bis du zwanzig bist. Warte nur, bis du heiratest. Immer muß man warten. Ich kenne das von meiner älteren Schwester Sonja!“

„Wenn ich nur wüßte, was mit der Südekum los ist,“ begann Lizzie nochmals, und nun sank wieder diese beklemmende Angst in das Gespräch der Mädchen.

„Man müßte endlich frei sein!“ seufzte Lizzie.

Gert nickte ernst und sagte leise: „Dann muß man aber auch wissen: frei, wozu?“

Zwölftes Kapitel

Müde und traurig saß die Lehrerin an diesem Nachmittag in ihrem Heim. Es war ja bald alles vorüber, dann kam die Matura, dann gingen die Mädchen aus dem großen weißen Haus. Alle. Sie, die sie so getäuscht hatten mit ihren glatten, kindlichen Antlitzen, und die sich längst mit erbärmlichem Vergnügen den schändenden Erlebnissen der Erwachsenen hingaben. Die anderen auch, die ihr nur fremd geworden waren. Sie alle hatte sie geliebt, ihnen allen hatte sie die große, zärtliche Liebe ihres mütterlichen Herzens gegeben. Und so sehr sie an allem litt, was sie nun von diesen Kindern wußte, noch immer liebte sie und war bereit, dieser Jugend jedes Opfer zu bringen, das sie erretten konnte.

Aber das kleine Fräulein mußte es in einer tiefen, bitteren Mutlosigkeit zugeben: sie wußte nicht, wie man dieser Jugend helfen konnte. Und darum quälte sie der Gedanke, daß auch sie selbst vielleicht daran schuld war, daß so viele dieser Kinder sich an so schändliche Erlebnisse verloren hatten.

Sie wußte zu wenig von ihnen, wußte nicht, was es war, das diese so ungeduldig hinaus aus dem Garten ihrer Kindheit stürmen ließ.

Schule und Elternhaus standen sich ja fast feindlich gegenüber, zumindest aber mit tiefer Gleichgültigkeit. Sie hatte kein anderes Recht an diese Kinder, als sie zu lehren. Sie mußte sie alle täglich aus dem weißen Hause hinaus in ein Leben entlassen, das sie nicht kannte, zu Eltern, die niemals ein tieferes Verhältnis zu ihr suchten. Sie mußte ihre Lieblinge immer wieder nach den Stunden engster Vertrautheit hergeben, die eine an ein haßverstörtes Elternhaus, in dem der erbitterte Kampf zwischen Jugend und Alter tobte, die andere an eines, das von stumpfer Gleichgültigkeit erfüllt war.

Oh, wenn sie manchem dieser jungen Wesen wirklich hätte Mutter sein dürfen, Mutter in jenem einen Sinne, den die wenigsten dieser Frauen erfühlten, denen Gott das große Glück geschenkt hatte, Kinder zu haben.

Denn das eine wußte Fräulein Dr. Südekum aus den vielen Beichten, die in früheren Jahren von bebenden blassen Kinderlippen zu ihr geströmt waren: sie waren sehr, sie waren schmerzlich allein, diese Kinder, die fast alle einer Umwelt entstammten, die man glänzend nannte, weil sie von der äußeren Not verschont blieb. Aber ihre Eltern hatten durch die leeren gesellschaftlichen Verpflichtungen ihres Daseins meist weniger Zeit für sie als die Proletarierfrauen, die für ihre Kinder tagsüber das Brot verdienen mußten. Sie hatten aber vor allem keine Lust, sich der unbequemen Aufgabe zu unterziehen, den schwierigen Weg ihrer Kinder durch die Jahre der Verwirrung mitzugehen. Man hatte Geld, und die sogenannte Erziehung war etwas, was man kaufen konnte. Nur, daß Erziehung vielleicht tausendmal unwichtiger war als die Liebe, die diese Kinder daheim entbehrten, das wußten sie nicht.

Aber war es nicht auch so, daß diese Jugend anders war als die einer früheren Zeit? daß viele von den Mädchen in Elternhaus und Schule nur unbequeme Feinde sahen, die hindern wollten, das sich zu nehmen, wonach man schon ungeduldig verlangte?

Ja, war denn dies alles überhaupt zu verstehen? Oder hatte sich alles so vollkommen gewandelt? Das hatte es ja schon immer gegeben, daß die Mädchen sich so veränderten im letzten Jahre und noch früher, – es war auch vorgekommen in den vergangenen Jahren, daß man von der und jener erfuhr, daß sie mit Herren Rendezvous habe. Und in der früheren Klasse, mit der sie auch von der ersten in die letzte aufgestiegen war, war es vorgekommen, daß ein Mädchen hatte von der Anstalt entfernt werden müssen, weil sie ...

Ja, damals war auch so eine Sache mit einem Schauspieler gewesen. Aber das alles waren doch so vereinzelte Vorkommnisse, daß man sie hinnahm wie den plötzlichen Tod einer Schülerin.

Aber solche Dinge! Gleich sieben Mädchen in einer Klasse, die zu Männern gingen, mit ihnen Verhältnisse hatten! Die Erna Petersen, damals, – der hysterische Anfall der Erika Meyer, nein, es war zu viel!

Angestrengt dachte Fräulein Dr. Südekum nach. Nein, die Welt mußte sich wirklich verändert haben, denn in ihrer eigenen Jugend war doch alles ganz anders gewesen. Dies war ihr unverständlich und fremd. Und doch war auch sie einmal jung gewesen.

Aber niemals hatte sie solche Dinge gedacht und empfunden, wie sie diese Kinder in ihren Tagebüchern enthüllten, wie sie aus dem Flüstern und Kichern der Mädchen selbst während des Unterrichts sprachen, wie sie Erika Meyer in ihrem hysterischen Anfall hinausgeschrien hatte.

Ja, auch sie hatte damals nach der Konfirmation, als sie alle Korsetts bekamen und so stolz waren, wenn sie weniger Taillenweite hatten als die Freundinnen, manche törichte Dinge gedacht, hatte nur den einen Wunsch gehabt, groß und erwachsen zu sein, um von einem Manne geliebt zu werden. Ja, damals träumte man noch romantischer als heute, träumte vom Sterben für einen Mann, von Mondscheinnächten, von wunderbaren Ausstattungen und von Ausfahrten in Equipagen.

Ja, und auch sie hatte damals von Altersgenossinnen gehört, daß es diese – diese abscheulichen Dinge gebe, aber sie hatte nie davon hören wollen. Sie war immer geflohen, wenn die andern die Köpfe zusammensteckten.

Und Männer? Ja, da war der Apotheker gewesen, zu dem sie öfters im Auftrage des Vaters gehen mußte. Vater war ja immer krank, und Mutter mühte sich von früh bis spät. Der Apotheker war ein kugeliger Mensch mit einem fast nackten Schädel, und alle kleinen Mädchen fürchteten sich sehr, weil er immer, wenn er ihnen begegnete, sie mit einem Stock auf die Schenkel schlug.

Aber erst später hatte sie sich wirklich vor ihm gefürchtet, weil er sie immer mit so runden, glänzenden Augen ansah und kicherte.

Einmal mußte sie wegen ihres Vaters noch spät abends in die Apotheke gehen. Lange mußte sie warten, nachdem sie die Nachtglocke gezogen hatte, die so gellend in dem Hause widerhallte. Dann kam er mit schlurfenden Schritten, und sein Gesicht war rot von Schlaf und Bettwärme.

Er hieß sie mit ihm nach rückwärts in das Laboratorium kommen, wo er das Tränklein für den Vater bereiten wollte. Und dort – dort war es dann. Plötzlich fühlte sie ihre Arme von rückwärts zusammengepreßt und spürte einen heißen, feuchten Atem in ihrem Nacken. Er schwatzte sinnloses Zeug und versuchte, sie auf ein mit schwarzer Wachsleinwand bespanntes Sofa niederzuziehen. Sie wehrte sich verzweifelt. Ekel und Angst verliehen ihr Riesenkräfte. Noch hörte sie sein keuchendes Wort: „Warte nur, du Racker – ich bekomme dich schon noch!“ – dann floh sie gehetzt hinaus auf die Straße.

Dann waren lange Wochen und Monate gewesen, während deren sie fast nicht schlief und nicht aß und so herabkam, daß die geängstigten Eltern den Arzt holen ließen. Aber auch dieser wußte keinen Rat.

Damals hatte sie die Nächte fürchten gelernt und fürchten den bleiernen Schlaf der Erschöpfung, der sie nach langen, schlaflos durchgrübelten Stunden niederzwang, und aus dem sie dann oft mit einem grellen Schrei der Angst stieß. Plötzlich hatte sie die runden glänzenden Augen des Apothekers vor sich gesehen – seinen keuchenden Atem im Nacken gefühlt. Noch heute, noch jetzt fühlte sie den kalten Schweiß am ganzen Körper, der sie einhüllte wie ein feuchtes Totenhemd!

Nie mehr war ihr dann ähnliches begegnet.

Dann war der Lehrer plötzlich dagewesen. – Überall, wo sie ging. Immer mußte sie ihm begegnen. Er hatte sie lieben und schätzen gelernt, wie er sagte. Sie wurde mit ihm versprochen. Er war freilich nicht das gewesen, was sie einmal in jenen törichten Stunden ersten Erwachens so romantisch geträumt hatte. Und vielleicht wäre sie wirklich ohne Widerstand und ohne Liebe Frau Lehrerin geworden, wenn nicht der eine Sonntagnachmittag gewesen wäre. Ja, dieser Sonntagnachmittag entschied eigentlich ihr ganzes Leben.

Ihr Vater hatte eine gute, alte Flasche Wein aus dem Keller geholt. Der Lehrer trank mit Behagen, und plötzlich bekamen seine Augen jenen seltsamen starren Glanz. Sie brachte mit der Mutter den Kaffee herein und die süßen Kuchen. Sie war froh, daß sie so beschäftigt war, denn es war schrecklich, immer diese runden glänzenden Blicke auf sich gerichtet zu fühlen.

Als sie dann wieder in die Küche hinausging, schlich er ihr nach und umfaßte sie von rückwärts. In einem einzigen Augenblick empfand sie, was für sie der Inbegriff alles Entsetzlichen war: diese klammernden Arme, deren Hitze man durch den Rock durchfühlte, die keuchenden, abgerissenen Worte, den feuchten Atem. – – –

Mit einem Schrei riß sie sich los und stürzte hintüber auf den harten Steinboden der Küche. Auf seinen Ruf eilten die Eltern herbei, man bettete sie in der Wohnstube mit hochgelagertem Kopf. Der Bräutigam blieb fern, er stand ernüchtert und ein wenig beschämt in einer Ecke.

Am nächsten Tage hatte sie ihm ohne ein Wort der Erklärung den Ring zurückgesandt.

Ja, dies war alles gewesen, was Fräulein Dr. Hanna Südekum von der Welt der Männer erlebt hatte, und dieses wenige hatte ihr Leben bestimmt. Die Liebe selbst, von der sie einmal geträumt hatte, ja, die war ihr niemals begegnet.

Aber die gab es wahrscheinlich überhaupt nicht, sie war eine Erfindung der Bücherschreiber oder jedenfalls etwas, das nur als Traum in den Herzen und Köpfen unwissender junger Menschen spukte. Ihr war nur Angst und Scham zurückgeblieben, eine Angst, die ihr alles, was sie mit ihren Schülerinnen erlebte, noch unverständlicher erscheinen ließ.

Aber wenn dies alles so war, wenn da eine neue Jugend kam, die zu ungeduldig und früh erwacht war, um sich den unverrückbaren Gesetzen der Sittlichkeit zu beugen, dann – dann konnte sie nicht länger Lehrerin bleiben. Nein, denn sie verstand nichts von diesen verwirrenden Dingen und würde sie niemals verstehen lernen.

Dann hatte eben das breite, starke Leben draußen gesiegt, vor dem sie immer schon Angst gehabt hatte, wenn es in dem wirren Brausen der Großstadtstraßen oder in jäh geschauten Bildern sie bedrängte. Dann mußte sie gehen und ihren Platz jenen überlassen, die tiefer sahen, die stärker waren und härter. Ja, dann mußte sie gehen.

Und wieder dachte sie plötzlich an das eine hochmütige und schmale Gesicht, dessen Blick nun immer über sie hinweg in eine Ferne ging. Von welchen Bildern war diese Ferne erfüllt? sann sie gequält und dann in einer dumpfen Traurigkeit: Nun wird ja auch dies bald zu Ende sein, daß ich täglich dieses Antlitz vor mir habe und leiden darf. Auch Gertrud würde gehen. Vielleicht zog sie in eine andere Stadt, vielleicht würde sie ihr niemals mehr begegnen. Ja, auch sie ging und nahm alles mit, was in dem Leben des kleinen, alternden Fräuleins licht und schön und doch so voll verwirrender Not gewesen war.

Schwer sank der Kopf des kleinen Fräuleins zwischen ihre Hände. Einige Monate noch, dann würde in dem Schulzimmer der ersten Klasse eine neue Kinderschar auf sie warten, – mit runden oder schmalen Kindergesichtern, mit zarten Körperchen, mit erwartungsvollen Augen. Und wieder sollte sie mit ihnen den bangen, schweren Weg durch die Jahre des Erwachens gehen, ihnen Führer sein und Freund, – ihnen die Liebe geben, die ihnen das Daheim sooft versagte.

Zwei große Tränen liefen über das blasse Gesicht des kleinen Fräuleins. Ich habe keine Liebe mehr, – dachte sie in jäher Angst: alles, alles nahm Gertrud mit sich!

Fräulein Dr. Südekum sah kaum auf, als es an die Türe pochte. Es konnte ja niemand mehr kommen, den sie mit der ganzen Zärtlichkeit ihres Herzens erwarten durfte. Niemand mehr.

Da klangen Schritte im Zimmer. Sehr blaß und mit dunkelglühenden Augen stand Erwin vor ihr.

„Ich muß Sie sprechen!“ stieß er hervor, „– verzeihen Sie!“

„Setze dich zu mir,“ sagte das kleine Fräulein fast unhörbar und sah gebannt in das vor Leidenschaft zuckende Antlitz des Knaben.

Er blieb vor ihr stehen, und sie sah, wie seine Schultern zuckten.

„Der Kanzler leidet sehr,“ stieß er mit gepreßter Stimme hervor. „Und ich wollte ihm helfen!“

„Du?“ Die Lehrerin dachte an ihre Begegnung mit diesem Manne, an seine gebändigte Art.

„Wer sollte ihm sonst helfen als ich, der ihn liebt?“ gab der Knabe ernst zurück. „Niemand weiß so von ihm, wie ich. Niemand liebt ihn so.“ Die vollen Lippen des Knaben zuckten.

„Und wie wolltest du ihm helfen?“ fragte die Lehrerin leise. Wie schön er ist! dachte sie, als sie in sein schmal gewordenes Gesicht sah, über dem die tödlich schweren Schatten der Leidenschaft lasteten.

„Ich war bei ihr,“ stieß er hervor.

„Bei ihr? – Bei wem warst du, Erwin?“ fragte sie erschreckt.

„Bei der Tänzerin Anita,“ bekannte der Knabe. „Bei der dummen blonden Frau, die der Kanzler liebt, – an der er leidet.“

Die Lehrerin wagte nicht zu atmen. Was geschah hier? Welchem Unheil trieb dieser Knabe zu? „Was sprachst du mit ihr?“ fragte sie.

„Ich saß ihr gegenüber in dem Wohnzimmer einer Pension. Ich – ich konnte erst gar nicht sprechen. Sie sah mich an und lächelte. O, sie lächelte so unverschämt – sie meinte wohl ... Auf einem Tisch stand das Bild des Kanzlers. Es stand, achtlos hingestellt, unter einer Fülle anderer Photographien, – von albernen jungen Männern, von aufgeputzten Frauen. Ich spürte, wie ich blaß wurde. Dann aber, – sie legte mir ihre Hand auf das Knie, eine weiße, kraftlose Hand mit blitzenden Ringen. Und sie lächelte wieder. Da sagte ich ihr alles.“ Der Knabe schwieg wie erschöpft.

„Ja, – was sagtest du ihr?“ fragte die Lehrerin verwirrt.

„Ich sagte ihr, daß der Kanzler sie liebe, daß er leide um sie. Ich sagte ihr: Sie wissen ja nicht, wie herrlich er ist! Er ist nicht das, wofür ihn so viele halten: ein in sich abgeschlossener, kühler Mensch. Er gehört zu denen, die sich unerhört festhalten können. Aber dann – dann – dann fluten sie tollkühn über ihre Grenzen, wenn diesen die Liebe geschieht. So sagte ich ihr.“

„Und sie?“

„Sie sah mich ein wenig erstaunt an und lächelte noch immer. ‚Bist du deshalb zu mir gekommen, du schöner Bub?‘ – Ja, so fragte sie mich. Deshalb, antwortete ich. ‚Und wieso weißt du das alles von ihm?‘ fragte sie weiter. ‚Das hast du dir ja nur zusammenphantasiert.‘ – Ich kenne jede Zeile von ihm, sagte ich. In seinen Büchern lebt sein großes wildes Herz und die Sehnsucht, sich einmal verschenken zu dürfen. – ‚Aber er schreibt doch nur über Politik, wie man mir erzählte,‘ meinte sie. ‚Wie man mir erzählte,‘ – ja, so sagte sie wirklich. – Ich hielt sie plötzlich an beiden Händen fest und rief: Sie müssen seine Bücher lesen. Wenn Sie sehen, was er über sein Volk schreibt und dessen Weg, wenn Sie sehen, wie er über sein Volk hinaus die Menschheit liebt, – ja, – dann werden Sie ihn lieben, so lieben, wie er es verdient. Denn Sie müssen ihn lieben! – ‚Du bist ein toller Junge,‘ sagte sie lachend zu mir, und plötzlich küßte sie mich auf den Mund. – –

Da lief ich fort. – Vielleicht hätte ich sie schlagen sollen. – Vielleicht hätte ich niederknien sollen und sie bitten, daß sie sich mühe, ihn zu verstehen, – daß sie ihn lieben soll.“

Der Knabe fuhr sich mit einem Tuche über die hohe, weiße Stirn, die feucht schimmerte. – „Ich mußte zu Ihnen kommen, Frau Doktor, – ich mußte mit Ihnen sprechen. – Ich – ich weiß nicht, was weiter geschehen wird.“

„Aber, Erwin,“ – Fräulein Dr. Südekum faßte nach seinen Händen. „Das alles, – das darfst du doch nicht. Du weißt ja nicht das Richtige vom Kanzler. Nein, er ist ein großer Mann, gewiß, – – aber, ich glaube, du siehst das alles anders. Der Kanzler, – er erholt sich bei den Frauen, – er, er nimmt sie sich so, – er leidet nicht an ihnen.“

Der Knabe sah vor sich hin, und plötzlich sah das kleine Fräulein, wie ein traurigwissendes Lächeln über sein Gesicht glitt. „Der Kanzler liebt diese Frau,“ sagte er. „Ich weiß es. Er sitzt stundenlang vor ihrem Bilde, wenn sie für ihn keine Zeit hat, er weilt jeden Abend im Theater, wenn sie tanzt. Ja, – er geht manchmal an ihrem Hause vorüber, auch wenn ihn sein Weg in ganz andere Richtung führt. Er, – er arbeitet nicht mehr. Ich weiß es, daß ihm alles gleichgültig geworden ist außer dieser Frau.“

Das kleine Fräulein dachte an die Begegnung mit dem Manne, dem die Liebe des Knaben galt. „Nichts geschah weiter,“ so hatte der Kanzler damals mit einem sehr wissenden, sehr traurigen Lächeln gesagt, „nur, seitdem liebt mein Freund diese Frau!“ So hatte ihre Ahnung damals doch recht gehabt, daß der Kanzler die Wirrnis und Not seines eigenen Herzens vor Alexandra entbreitet hatte, als er von jenem Freunde erzählte, der an einem Abend plötzlich gesehen hatte, daß seine Wohnung leer und allein sei.

Ihre Gedanken an die Begegnung mit dem Kanzler riefen ihr die Erinnerung an Alexandra zurück. Trotz allem, was diese seltsame Frau ihr gesagt hatte, – immer wieder überfiel sie die Sehnsucht nach dem großen, nüchternen Raume des großen Ateliers, nach der Frau, die dort ihrem Werke, dem Stein und seinen Gesetzen diente.

Sie erhob sich jäh: „Ich will jetzt zu einer Bildhauerin gehen,“ sagte sie.

„Zur Pseleuditi?“ fragte der Knabe erregt.

„Ja, – wieso? Weißt du von ihr?“

„Der Kanzler kommt jeden Mittwoch zu ihr,“ sagte der Knabe hastig. „O, ich möchte ihm nicht begegnen, – ich ertrüge es nicht. Aber heute ist nicht Mittwoch, – o, Frau Doktor, wenn Sie mich mitnehmen wollten! Ich möchte diese Frau sehen, – wie sie lebt. Der Kanzler liebt sie nicht – nicht so, – aber sie ist seine Freundin!“

Nach kurzem Zögern willigte das kleine Fräulein ein.

Sie ist eine große Menschenfängerin, dachte sie. Aber diesem hier wird nichts geschehen. Er sieht nur einen Menschen. Nur einen einzigen.

Alexandra empfing sie in ihren grauen Mantel gehüllt. Ihre Haare sahen fast grau aus, so sehr waren sie von Staub bedeckt, und selbst an ihren dunklen Wimpern hing eine Schicht feinen weißgrauen Staubes.

Sie warf einen Hammer neben einen großen Block, den sie mit einem Tuche bedeckte. Mit einem tiefen Atemzug breitete sie die Arme aus: „Herrgott, – wie habe ich heute herrlich arbeiten dürfen!“ sagte sie. „Das ist das Schönste, alles aus dem Stein herauszuzwingen. Es langweilt mich so, in weichem Material zu arbeiten!“

Während Alexandra ihren Gästen auf dem Samowar einen Tee bereitete, begann sie ein Gespräch mit dem Knaben, und Fräulein Dr. Südekum sah staunend, wie diese Frau es verstand, einen anderen Menschen mit wenigen Worten aus Scheu, Abwehr und Masken herauszuholen, ihn zum Sichbekennen zu zwingen.

„Wieviel Freunde haben Sie?“ fragte sie den Knaben plötzlich.

„Keinen,“ antwortete er abweisend. „Ich kann mit ihnen allen nichts anfangen.“

„Sie sind zu ernst, – das sah ich schon,“ sagte Alexandra wie nebenbei nach einem prüfenden Blick auf sein schmales Gesicht. „Sie haben recht, – jede äußerliche Gemeinschaft erniedrigt uns, ob sie mit Altersgenossen, Berufskollegen oder einer Kaste verbindet. Ja, ich glaube, daß Sie recht haben, Sie sind jetzt viel zu sehr mit den Problemen des eigenen Werdens erfüllt, um andere sehen zu können.“

Fräulein Dr. Südekum sah erstaunt, wie der Knabe sich wandelte, da ihn die Bildhauerin wie einen Erwachsenen behandelte. Während sie sich weiter um den Tee zu schaffen machte, sah sie den Knaben kaum an, jedenfalls niemals so, daß er es bemerken konnte, und stieß nur immer plötzlich mit einer Frage vor, die den Knaben in raschen Antworten oder betroffenem Schweigen zum Bekennen zwang.

Fräulein Dr. Südekum sah, daß die Bildhauerin heute ganz anders als sonst war. War dies, weil sie gearbeitet hatte, oder wirkte die Gegenwart des Knaben so, daß sie sich nun ganz anders gab, ganz anders einstellte?

Was der Knabe sprach, kreiste immer um ein einziges Erlebnis, das fühlte die Lehrerin, die sich fern und kühl als Zuhörerin in dem Fauteuil des Ateliers vergraben hatte. Obwohl er mit keinem Worte an Tatsächliches rührte. Aber dennoch war es so, daß in allem, was er sagte und von sich erzählte, seine große Liebe brannte.

Die Bildhauerin kauerte, ganz in sich geschlossen und den Kopf seltsam horchend vorgeneigt, auf den Stufen, die hinauf zu dem großen Fenster des Ateliers führten. Am anderen Ende der Stufen lag der Knabe, die Beine herabhängend, die schönen Hände hinter dem Nacken gefaltet.

Wie ähnlich sie nun dem Knaben ist! dachte die Lehrerin erstaunt und empfand diese Ähnlichkeit nicht allein in Haltung und Gebärde, in der herben Beugung des dunklen Knabenkopfes dieser Frau, als viel mehr noch in dem klaren, ungebrochenen Klang ihrer Stimme.

Von den großen Träumern der Menschheit sprach Alexandra in das Schweigen des Knaben hinein, von den männlichsten Träumern: von ihnen, die die großen Brücken konstruieren, die in schmalen Bogen Abgründe überwachsen und auf ihrem Rücken donnernde Eisenbahnzüge tragen, von den Männern, die von den geheimnisvollen Verbindungen der Stoffe in den Retorten wußten, die in schlaflosen, verwachten Nächten dem Rätsel des Beginnens allen organischen Lebens in so atemraubende Nähe kamen, von den Domen leuchtender Gedanken, die einsame Denker hoch über des Lebens Gier und Hast erbauen.

Der Knabe lauschte ihr schweigend. Ein großer Ernst stand in seinen Augen.

Immer weiter sprach Alexandra von einer Welt männlichster Träume, von Forschern, die braungeglüht und ausgedörrt von Entbehrungen nie betretenes jungfräuliches Land entdecken. Sie sprach von dem Reiche, das sich auch einzelnen begnadeten Frauen erschlossen, wenn sie stark genug waren, den Torheiten weicher Träume zu entsagen, von dem Reiche der Kunst.

Fräulein Dr. Südekum wußte, daß jedes Wort, das Alexandra sprach, gegen die Liebe gerichtet war und ihre verwirrende Not. Und sie konnte es nicht fassen, daß diese Frau, deren schmales Gesicht im blauen Dämmern dieses Abends noch dunkler schien, die Frau, der nun die Seele des Knaben entgegenflog, dieselbe sein sollte, die mit so unbedenklichen Händen nahm, – so unbekümmert um Gesetz und Sitte.

Als sie aber der Bildhauerin abschiednehmend die Hand reichte, eben als der Knabe versunken vor einer begonnenen Büste des Kanzlers stand und Fräulein Dr. Südekum leise sagte: „Ich danke Ihnen, – Sie wissen nicht, wieviel Sie diesem heute an Halt gegeben haben,“ – da sah Alexandra in eine Ferne über sie hinweg und sagte: „Ich hatte heute nachmittag eine seltsame Begegnung – und vielleicht habe ich Angst.“

Dreizehntes Kapitel

Fräulein Dr. Südekum hatte gebeten, daß man sie von der ersten Unterrichtsstunde an diesem Tage enthebe. Nein, sie konnte nicht mehr. Diese letzten Tage waren genug Qual gewesen, da man von ihr verlangt hatte, daß sie so wie immer in ihrer Klasse Unterricht erteile, vortrage, Fragen stelle und beantworte. So, als wäre nichts geschehen. So, als lägen nicht oben versperrt in der Schreibtischlade des Rektors die Tagebücher, in denen Mädchen aus ihrer Klasse schamlos bekannten, was sie mit ihren Liebhabern trieben, wie sie ihre Eltern belogen, auf welche Weise sie ihre schulfreien Stunden verbrachten.

Aber der Rektor hatte verlangt, daß nichts verlauten dürfe, ehe er nicht alle Tatsachen geprüft hätte. Mit verschlossenem Gesicht ging er in diesen Tagen umher. Wenn er telephonierte, sperrte er sich in sein Zimmer ein.

Und für den heutigen Vormittag waren verschiedene Herren gebeten worden, Rektor Krause in seiner Kanzlei aufzusuchen, Herren, die sonst gar nichts mit diesem weißen Hause und seinen Bewohnern zu tun hatten. Ein Schauspieler war darunter, Studenten, ein Arzt.

Nein, Fräulein Dr. Südekum konnte heute unmöglich an ihrem Pulte sitzen und den Mädchen von Xerxes und seinen Kriegen erzählen, indessen oben in der Kanzlei junge Männer bestätigten, daß ihre Schülerinnen ...

Der Rektor hatte ihren Wunsch erfüllt. „Setzen Sie sich inzwischen in das Konferenzzimmer,“ sagte er. „Sie sind ja entsetzlich blaß! Ja, das alles kann einen schon zur Verzweiflung treiben!“

Und nun ging sie hier in dem kahlen Raume neben dem langen grünen Tische auf und ab.

War es denn zu verstehen, daß Mädchen, fast Kinder noch, so entsetzliche und quälende Erlebnisse mit Männern suchten, – daß sie sich deren rühmten, daß sie eigens einen Tagebuchklub gründeten, um einander diese Dinge mitzuteilen?

Fräulein Dr. Hanna Südekum sah kaum auf, als sich langsam das Konferenzzimmer mit anderen Lehrern füllte, die zu dieser Besprechung gebeten worden waren.

Nein, sie konnte jetzt unmöglich darüber sprechen. Es war genug, daß sie all das Entsetzliche würde hören müssen, was sich soeben im Zimmer des Rektors zutrug.

Nur einige Male sah sie aus ihren Gedanken empört auf, wenn ersticktes Lachen aus der Ecke drang, wo Fräulein Fischhaupt mit dem Mathematiklehrer Dr. Weniger saß. Wie leicht sie alles nahmen! Sie dachten wohl nicht darüber nach, daß hier sieben junge Menschen nicht nur ihre Reinheit verloren, sondern wohl ihr Leben für immer zerstört hatten. Wie konnten die Mädchen überhaupt nach dieser Schmach noch weiterleben?

Als der Rektor endlich eintrat, bebte ihm erwartungsvolles Schweigen entgegen. Er schneuzte sich geräuschvoll, ehe er zu sprechen begann: „Die ganze Sache wird mir immer unbegreiflicher,“ sagte er kopfschüttelnd. „Nun kenne ich mich selbst nicht mehr aus. Also stellen Sie sich vor: Ich nahm mir zuerst die Mädchen vor – eine nach der andern – jede allein. Jede verweigerte trotzig die Beantwortung meiner Fragen. Die Tagebücher seien ihr alleiniges Eigentum, sie könnten hineinschreiben, was sie wollten. Sie würden nichts weiter darüber sagen. – Ich sah sofort, daß das Ganze abgekartet sei. Natürlich, sie hatten das alles längst vereinbart. Nur die Erika Meyer ging aus sich heraus. Sie erzählte mehr, als ich sie fragte, sie erzählte Einzelheiten, – nun, ich war nur froh, daß Sie nicht dabei waren, meine Damen – das war ja selbst für einen Mann zu viel.“

„Die Erika Meyer?“ Und Fräulein Dr. Südekum dachte entsetzt an den furchtbaren Anfall, den das Mädchen damals mitten während des Unterrichts erlitten hatte. So hatte sie sich also genommen, wonach sie damals in so furchtbar nackten Worten schrie!

„Ja, nun kommt aber das Seltsamste,“ fuhr der Rektor fort. „Der Mann, mit dem sie das alles erlebt haben will, was sie in ihrem Tagebuch schrieb und was sie mir gegenüber dann noch so hemmungslos enthüllte, ist der Schauspieler Alf Werndorf. – Er war eben bei mir. Und, – jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr, – er wies mir an Hand von Belegen und unterstützt durch Briefe nach, daß er die Erika Meyer überhaupt nicht kenne, daß er an den Nachmittagen, die das Mädchen als die der sündigen Rendezvous bezeichnet, immer auf der Probe war und ferner, – daß er mit der Tochter des Staatsanwalts Wessely verlobt sei und den Eltern der Meyer klarmachen werde, daß er sich derartige Erzählungen verbitte. Er sagte noch wortwörtlich: ‚Das kleine Mädchen mag sich amüsieren, mit wem sie will, – sie soll aber meinen Namen aus dem Spiele lassen. Das zu fordern bin ich schon meiner Braut schuldig.‘“

„Es ist also gar nicht wahr!“ rief Fräulein Dr. Südekum, und freudige Röte stieg ihr zur Stirne.

„Freuen Sie sich nicht zu früh!“ sagte Fräulein Fischhaupt spitz. „So ganz unschuldig wird sie schon nicht sein.“

„Ja, – es ist wirklich zu toll,“ sagte Rektor Krause. „Ich stellte die beiden schließlich einander gegenüber, so furchtbar peinlich mir das war. Alf Werndorf wiederholte der Schülerin ins Gesicht, daß er sie nicht kenne, er versuchte, ihr ruhig zuzureden. Sie sah ihm starr in die Augen und sagte mit einer Stimme, die vor Leidenschaft bebte: ‚Ich war doch erst gestern bei dir, – hast du das ganz vergessen? Nein, du kannst es nicht vergessen haben.‘ – Da kam der Werndorf auf eine Idee, die mir in meiner Verwirrung gar nicht eingefallen wäre. Er fragte sie: Wie sieht meine Wohnung aus? – Und sie, die bisher jedes Detail, Stunde und Art ihrer Zusammenkünfte genau beschrieben hatte, begann nun zu stocken. – – Nein, sie hatte wirklich keine Ahnung, wie seine Wohnung aussieht, sie wußte nicht einmal, in welchem Stockwerk sie liegt.“

„Ja, aber zum Teufel, warum schreibt und erzählt sie denn solche Sachen?“ rief der Mathematikprofessor mit hoher Fistelstimme und strich sein blondes Spitzbärtchen.

„Fragen Sie sie selbst!“ gab der Rektor achselzuckend zurück. „Und fragen Sie vor allem die anderen sechs, – denn bei allen hat es sich herausgestellt, daß sie unschuldig, – das heißt, daß die Schändlichkeiten, die sie in ihren Tagebüchern erzählten, sich niemals zugetragen haben.“

„Wie komisch!“ rief der Mathematikprofessor. „Nein, das ist wirklich köstlich!“

„Das ist gar nicht komisch und gar nicht köstlich,“ schnaubte Rektor Krause. „Wir werden noch die heftigsten Unannehmlichkeiten haben, denn schließlich bin ich die ganze Sache scharf angegangen und habe viele Leute aufgestört. – Da,“ er warf einen Brief auf den grünen Tisch. „Unser Herr Kollege, Dr. Sinser, schreibt mir da einen sehr energischen Brief. Sie wissen doch, daß ich ihn wegen des Tagebuchs der Käte Bilwein vom Dienste suspendierte? Ich sagte ihm auch manches, was vielleicht nicht gerade angenehm klang. Nun fordert er nicht nur die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung gegen sich. Er will die Bilwein wegen Verleumdung verklagen, da ihre Beschuldigung seine Berufsehre in Frage ziehe.“

„Das ist doch selbstverständlich!“ krähte Dr. Weniger.

„Selbstverständlich ist das?“ höhnte der Rektor. „Sie haben es leicht, zu reden. Sie sind nur angestellt an dieser Schule. Sie kümmert deren Schicksal nicht. Aber was soll ich machen? Glauben Sie, daß der Ruf der Anstalt nicht unter solchen Dingen leidet?“

Rektor Krause sah ganz erschöpft vor sich hin. Dann fuhr er fort: „Bei allen sieben dieselbe Sache. Der Cousin dieser sauberen Herta Kobinger war nicht einmal in unserer Stadt, während sie in ihrem Tagebuch behauptete, daß er sie mit einer schwarzen Maske und mit Tuberosen empfing.“

Fräulein Fischhaupt kicherte in ihr Taschentuch.

Der Rektor drückte auf eine Klingel. „Führen Sie die Kobinger herein,“ sagte er zu dem Schuldiener, dessen blatternarbiges Gesicht grenzenlose Neugierde ausdrückte.

Ein untersetztes junges Mädchen schob sich langsam zur Türe herein. Sie überflog mit einem scheuen Blick die Schar der versammelten Richter.

„Du bist die Anführerin gewesen!“ schrie sie der Rektor an. „Wozu habt ihr diese unglaubliche Sache gemacht? Ihr habt euch und die Schule in schlechten Ruf gebracht, ihr habt Bräute unglücklich gemacht und anständige Männer dem Gerede ausgesetzt, – warum, – warum das alles?“

Das junge Mädchen sah schweigend vor sich hin. Ein trotziger Zug lag um seinen jungen Mund.

Fräulein Dr. Südekum kämpfte mit der unbezwinglichen Lust zu lachen. Wie immer es sein mochte und wie häßlich es war, daß sich die Mädchen mit solchen Phantastereien beschäftigten, – – nun war es doch der Rektor selbst, der sich in diese Patsche gesetzt hatte. Weil er immer gleich das Schlimmste annahm! Und war es nicht überhaupt unrecht gewesen, daß er sich dieser Tagebücher bemächtigt hatte? Ja, Fräulein Dr. Südekum empfand fast etwas wie Schadenfreude, als sie den Rektor vergeblich auf das kleine Mädchen einbrüllen sah, das beharrlich schwieg.

„Geh jetzt,“ sagte er schließlich erschöpft und wütend. „Aber die Angelegenheit ist damit keineswegs zu Ende.“

Die Kobinger verneigte sich vor den Lehrern am grünen Tisch und ging wieder langsam hinaus.

„Und was sagen Sie nun dazu?“ wandte sich Rektor Krause an die versammelten Kollegen.

Allgemeines Achselzucken war die Antwort.

„Ich erkläre die Konferenz für beendet,“ sagte der Rektor frostig. „Ich hoffe aber, von den Damen und Herren noch Vorschläge zu erhalten. Augenblicklich muß ich alles daransetzen, um die Gemüter zu beruhigen.“

Langsam gingen die Lehrer hinaus. Fräulein Dr. Südekum drängte an ihnen vorüber und trippelte ihnen voraus auf den Gang. Fast wäre sie gelaufen, hätte sie sich nicht vor den anderen geschämt.

So glücklich war sie plötzlich, so glücklich. Ja, mochten auch heiße Träume diese Kinder verwirren, mochten sie ihre Gedanken Tollheiten überlassen, die Fräulein Dr. Südekum in jeder anderen Stunde auf das heftigste verurteilt hätte: es waren doch noch Kinder, die träumten, – große, verwirrte Kinder.

Mit einem strahlenden Lächeln trat sie in ihre Klasse.

„Grüß Gott!“ sagte sie mit ihrer hellen Stimme, indes sie die Stufen zu ihrem Pulte emporstieg.

Vierzehntes Kapitel

Ein paar enge Gassen mit niedrigen Häuschen führten von dem großen freien Platz, auf dem das Spital stand, zum Walde. Der frohe Sommerwind trug seinen Atem in die weitoffenen Fenster des weiten Gebäudes, in dem nur Kranke lebten und Menschen, die Kranken dienten.

Es war die Stunde am frühen Nachmittag, da die meisten Patienten schliefen und die Schwestern in ihrer hellen Tracht noch leiser als sonst durch die großen Säle glitten.

Ein kleines Mädchen stieg langsam die Treppen des kahlen Stiegenhauses hinab. Als sie aus dem großen Tore trat, fiel das Sonnenlicht jäh auf ihr Gesicht. Es war beängstigend mager und von einer Geschlossenheit des Ausdrucks, die erschreckte. Scharf und klar blickten die großen Augen, sie beherrschten das ganze Gesicht, in dem alles, Mund, feiner, böser Zug um die Nase und spitziges Kinn voll Abwehr war. Nur in der Haltung und Bewegung des mageren Körperchens, das nur schüchtern angedeutet die Merkmale der Reife trug, lag rührende Kindlichkeit.

Das kleine Mädchen strebte mit raschen Schritten vorwärts. Sie sah nicht rechts und links, während sie über den großen Platz und weiter durch die engen, von Kinderlärmen erfüllten Gassen ging.

Als der Wald sie umfing und grüngoldenes Licht durch die hohen Wipfel auf ihr strenges Gesichtchen fiel, schienen ihre Bewegungen gelöster zu werden, und als sie beide Finger in den Mund steckte und einen grellen Pfiff durch das Schweigen des Waldes sandte, flog der Schein eines kleinen spitzbübischen Lächelns über ihr Gesicht.

Aus den dunklen Stämmen trat ein halbwüchsiger Mensch. Er hielt beide Hände in den Taschen seiner schmierigen Hose vergraben und nahm die Mütze nicht vom Kopf, bis er vor dem kleinen Mädchen stand.

„Guten Tag, Martha,“ sagte er und sah ihr prüfend in das Gesicht. „Du hast mich aber lange warten lassen. Was war denn los?“

„Der Franzose war viel schlechter, und ich mußte nach dem Vater in der ganzen Stadt herumtelephonieren. Der Diensthabende kennt sich doch nicht aus!“

„Der Franzose?“

„Sie nennen ihn so, weil er selbst immer sagt: ich habe die Franzosenkrankheit. Syphilis meint er. Er stinkt wie ein Schwein.“

„Pfui Teufel!“

„Nun ja, – die meisten Kranken riechen nicht gut.“ Sie sah mit altklugem Ernst vor sich hin. „Aber was gibt es Neues bei euch?“

„Neues? – Nun, es ist ein Wunder, daß ich heute hier sein kann und nicht als Mörder hinter Schloß und Riegel sitze.“

„Wieder mit deinem Vater?“ Sie sah ihn angstvoll an.

„Ja. – Er kam gestern ganz vollgetrunken nach Hause. Dieser verdammte Sonntag! Auch so eine Einrichtung. – Mutter war es den ganzen Tag nicht gutgegangen. Kein Wunder in ihrem Zustand. Sie bat mich, bei ihr im Zimmer zu schlafen. Nun, sie kennt ihn schon und kennt die Sonntage. Erst schien er ganz aufgeräumt, erzählte irgendeinen Unsinn von einer neuen Stelle, die er bekommen würde, – als wenn es nicht ein Segen wäre, daß ihn der Primarius noch nicht hinausschmiß, – einen Portier, der alle Tage betrunken ist! – Plötzlich gab es Streit. Ich weiß gar nicht mehr, wie es kam, nein, wirklich nicht. Bei Betrunkenen kommt das ja so plötzlich, daß man nie weiß, warum. Und plötzlich – wie ein wildes Tier stürzte er sich auf die Mutter, – einen Sessel in der Faust. Ich rang mit ihm. Da, – greif hierher, Martha, auf meine Stirn, – und das, obwohl ich den Sessel mit meinem Arm parierte. Das war meiner Mutter zugedacht. Er brüllte auf und stürzte sich wieder auf die Mutter, – ich spürte, daß ich ihn nicht lange würde immer wieder an die Mauer zurücktreiben können. Da – auf dem Tisch lag das Brotmesser, – ich hielt es ihm vor die Augen. Er begriff nicht. – Als er vorstürmend die Faust zum Schlage gegen die Mutter hob, da schlug ich mit dem Messer nach ihm. Als er Blut sah, wurde er sofort still. Er hatte alles andere vergessen und wimmerte nur leise, während er mit einem Tuch das Blut zu stillen suchte. Dann begann er zu weinen. Und natürlich die Mutter, die sich während des ganzen Auftritts hinter den Kissen ihres Bettes verkrochen hatte, – nun kam sie hervor, – nun war alles vergessen. Für mich hatte sie nicht einen Blick. Ja, sie sagte: ‚Leg sofort das Messer weg, Franz, – pfui, mit dem Messer gegen den Vater!‘ – Dann begann sie ihn zu verbinden. – Pfui Teufel! – Ich schmiß die Türe zu und ging weg.“

Martha hatte ihm ganz still zugehört und manchmal zu seiner Erzählung wie bestätigend genickt. Nur die Falte zwischen ihren Brauen, die ihrem Gesicht so frühreifen, verbitterten Ernst verlieh, hatte sich noch verstärkt.

Zögernd begann sie nach einem kurzen Schweigen, währenddem sie beide immer weiter in den Wald hineinstapften. „Und trotzdem – – und trotz allen diesen entsetzlichen Auftritten! Deine Mutter ist wieder schwanger von ihm?“

„Ja,“ antwortete er schwer, „verstehst du das? – Wenn ich sie so mit ihrem dicken Bauch durch die Küche schlurfen sehe, könnte ich aufheulen vor Ekel und Scham!“

„Es ist so komisch,“ sagte Martha, „ich weiß doch alles, – es gibt nichts, was ich nicht weiß von dem Leben und den Menschen. Vater ist so klug, er will, daß ich alles wissen soll. Aber, – dennoch, ich verstehe gar nichts davon. Ich weiß, wie es unter den Erwachsenen zugeht, ich weiß, was sie einander antun, in ihrer sogenannten Liebe und mit ihrem Haß, – aber ich begreife es nicht. Ich sehe, wie jeder selbst in sein Unglück rennt, – ja, das sehe ich. Aber trotzdem die Erwachsenen genau wissen, was aus allem entsteht, – – wie die Wahnsinnigen machen sie immer wieder dasselbe. Sie sind alle entsetzlich gemein, aber auch entsetzlich arm.“

„Die größte Gemeinheit ist, daß sie uns in die Welt gesetzt haben,“ sagte er, und in seinem Gesichte stand ein harter Haß. „Wozu, – da wir ihnen doch nur Sorgen machen? Wozu, – da wir nichts davon haben? Was erwartet mich schließlich, wenn ich ausgelernt habe? Ein Mechaniker bin ich dann, ich kann in einem Betrieb arbeiten und bekomme jeden Samstag Geld. Dann werde ich wie die anderen dazusehen, daß ich mehr Geld bekomme, damit ich mir mehr Weiber kaufen kann als sie und mehr Räusche, – denn darum geht es doch allein? Oder glaubst du, daß ich den sozialistischen Führern glaube, die uns in den Versammlungen etwas von einem neuen Himmel auf Erden vorfaseln? Von mir aus können sie den Reichen das Geld wegnehmen und es an die Armen verteilen, – aber sie werden es nicht ändern, daß alle voll Gier sind, daß die Männer sich betrinken und ihre Frauen schlagen, und daß diese Frauen ohne jeden Stolz alles verzeihen, – weil eben Männer und Frauen ein schimpfliches Geheimnis verbindet, das sie alle immer tiefer in Demütigung und Gemeinheit rennen läßt. Das einzige, was sie dann zusammenbringen, ist, daß sie sich hassen!“

„Vater will, daß ich studiere,“ erzählte Martha. „Ärztin soll ich werden. Aber mir ist alles so gleichgültig. Soll ich ein Leben lang in solch einem Spital wohnen? Er hat ja recht, die Menschen sind arm, und es ist schön, ihnen zu helfen. Ich weiß aber zu viel von ihnen. Ich weiß, wie die Kranken die Gesunden inbrünstig hassen, und wie die Gesunden sich vor ihnen fürchten, wie vor jeder Mahnung, daß es auch ihnen so gehen könnte. Für die meisten wäre es besser, wenn sie stürben. Wenn sie gesunden, werden sie entweder weiter von den anderen getreten oder sie mißhandeln andere. Und was erwartet sie überhaupt, wenn sie aus dem Spital herauskommen?“

„Wollen wir uns ein wenig niedersetzen?“ fragte Franz. „Es ist so schön still hier.“

„Ja,“ – sie nickte. „Ich habe diese Stunde, ehe es dämmert, so gerne. Und überhaupt den Wald. Man kann es gar nicht glauben hier, daß es Menschen gibt, und was sie aus dem Leben gemacht haben.“

Er streckte sich neben ihr in das kühle Moos und nahm die Kappe ab. „Wie gut die Luft tut,“ sagte er. „Ich kann es mir nicht vorstellen, daß Vater auch einmal anders war. Daß er jemals in einem Walde war, wo es keine Menschen gibt. Nur die Bäume und diese schwingende Luft. Aber früher, – ja, da haben wir manchmal am Sonntagnachmittag Ausflüge gemacht. Aber Vater wollte nie lange gehen. Er kehrte überall ein. Zuerst wurde er sehr lustig, und Mutter hängte sich in ihn ein. Ich schämte mich oft, so verliebt taten sie. Aber dann begannen sie plötzlich zu streiten. Und an einem solchen Nachmittag, mitten im Walde, war es zum erstenmal, daß ich mich zwischen Vater und Mutter werfen mußte, – sonst hätte er sie erschlagen.“

„Und früher schlug er sie nie?“

„Er schlug sie immer schon. Aber damals war ich klein und schwach, ich verkroch mich in der Küche hinter der Kohlenkiste und weinte. Und damals schon erlebte ich das entsetzliche Nichtbegreifen, denn oft nachher – sie küßten einander und schlossen sich dann ins Zimmer ein.“

Martha sagte leise: „Immer ist es das, – immer dieses ganz Entsetzliche. Ich weiß alles, aber ich verstehe es nicht. Denke dir! – ich habe dir doch schon von der Schwester Adelheid erzählt. Sie ist eine Offizierstochter und hat einen Mann sehr geliebt, den sie nicht bekam. So erzählt man. Vater lobte sie immer sehr, weil sie alles so still und selbstverständlich tat, was ihre Pflicht ist und noch mehr. Nun ist sie krank und liegt selbst im Spital. Und weißt du, wovon sie krank ist? Ich habe es erst heute erfahren. Vater erzählte es mir selbst. Sie hat sich mit einem Patienten, mit einem Doktor, eingelassen, der auf der Luetikerabteilung liegt, und den sie pflegte. Vater schrie so fürchterlich in seinem Untersuchungszimmer, als sie bei ihm war, daß man es bis auf den Gang hinaus hörte.“

Franz antwortete nicht und sah nur finster vor sich hin.

Sie sah zu ihm auf: „Franz, – sag, hast du schon einmal ein Mädchen – ich meine, –“

Er verstand sie sogleich: „Nein,“ sagte er kurz und nochmals: „Nein! Die paar Burschen in der Werkstatt haben es natürlich versucht, mich mitzuschleifen, und ich habe mir auch einmal so einen Betrieb angesehen, wo sie ihr sogenanntes Vergnügen suchen, dieses Vergnügen, das einen zum Manne macht, wie sie sagen. Na, – mir fiel in diesem verfluchten roten Licht nur meine Schwester ein, die Vater aus dem Hause jagte, wie ich noch ein kleiner Bub war, und die dann so eine wurde. Nein, – ich dankte und ging. Und später, ja, – es war da so manche in der Nachbarschaft, die sich an mich heranmachen wollte, mich ansprach oder gar was von der Liebe sprach. Na, die sagen heute alle, daß ich das gemeinste Vieh auf Gottes Erdboden sei. Weil ich ihnen sagte, was ich denke, weil ich nicht geneigt war, auf schöne Worte und Sentimentalitäten hereinzufallen, weil ich immer dieses Zuhause vor Augen hatte, – die Mutter, wenn sie sich lachend an den Vater schmiegte, nachdem er sie in seiner Betrunkenheit geschlagen hatte. Nein, ich danke für Obst!“ – Er hatte sich ordentlich heiß gesprochen und fuhr nun mit leiserer Stimme fort: „Schau, Martha, das ist ja das Schöne an uns beiden, das Herrliche an unserer Freundschaft, daß wir beide das alles wissen. Daß du nicht so bist wie die andern Mädel, die von der ganzen Scheußlichkeit des Lebens nichts wissen und auf alles so lange hereinfallen, bis sie es lernen, andere hereinfallen zu lassen. Ich kenne keinen Burschen, mit dem ich so reden kann wie mit dir!“

„Wie herrlich still es wird,“ sagte sie wieder. „Das ist wirklich die schönste Stunde. – Man möchte, daß es nur immer dunkler wird und niemals mehr Morgen.“ Ihre Augen wurden ganz schwarz.

„Nie mehr Morgen,“ wiederholte er langsam. „Ja, das wäre schön.“

Er lag nun ganz auf dem Rücken und sah hinauf in den Himmel, den der Abend in immer blasseren Farben malte. „Wenn man ein Baum wäre,“ sagte er leise, „oder ein Vogel!“

„Nur kein Mensch!“ vollendete sie.

„Wenn wir Bäume wären, dann ständen wir vielleicht hier nebeneinander und dürften immer den Wolken zusehen.“

„Wir würden uns alles erzählen so wie jetzt,“ sagte sie, und mit einem harten Auflachen: „Wahrscheinlich aber schönere Dinge!“

„Es wäre ja nicht dieses schwarze Loch vor uns, als das mir alles weitere Leben immer vorkommt,“ sagte er.

„Hast du auch oft so Angst?“ fragte sie. Ihr Gesicht schien fast weiß und durchsichtig in dem abendlichen Licht.

Er nickte. „Alles, was uns erwartet, ist so häßlich und gemein. Mit jedem Jahre werden wir tiefer hineinwachsen.“

Sie fröstelten in der Kühle des Abends und unter ihren Worten. Sie rückten enger aneinander. „Wenn man davonlaufen dürfte,“ sagte er schwer.

„Du meinst – ein Ende machen?“ flüsterte sie.

„Ja, – aber das darf ich nicht. Sonst erschlägt er sie wirklich. Es wird ja immer schlimmer. Und in ein paar Monaten ist das Kind da. Dann komme ich aus der Lehre, – sie werden meinen Verdienst notwendig brauchen. Und wer weiß, einmal wirft ihn dein Vater vielleicht doch hinaus.“

„Auch ich habe schon daran gedacht, einfach Schluß zu machen,“ sagte sie. „O ja, – oft schon. Denn es ist doch sinnlos, sich die kommenden Jahre geschehen zu lassen, wenn man alles weiß. Man braucht nicht viel Mut dazu. Ich weiß, wo der Schlüssel zu Vaters Apotheke liegt. Aber der Vater, – ich habe ja die Mutter nicht gekannt, – ich weiß nur, daß sie ihm sehr weh getan hat, und daß sie fern von ihm irgendwo im Süden starb. Er hat nur mich! Ich weiß, daß er mich sehr lieb hat – obwohl, er hat es mir nie gesagt. Er hat mir nie einen Kuß gegeben. – Als ich einmal sah, wie die Gemüsefrau, die immer alles ins Spital bringt, ihrer kleinen Tochter, die ihr beim Tragen hilft, so übers Haar fuhr, – da, – ich weiß gar nicht, wie das war, – ich lief in mein Zimmer und weinte.“

„Zu mir war auch niemand gut, – so wie du es jetzt meinst,“ erzählte er fast unhörbar. „Der Mutter war es vielleicht nicht gegeben, und so aus mir selbst heraus konnte ich nicht. Als ich klein war, ließen sie mich immer allein zu Hause, – sie gingen tanzen oder ins Wirtshaus. Und dann war ja immer Streit bei uns. Ich lief soviel draußen herum, als ich konnte, – ich hatte immer Angst vor dem Daheimsein.“

„Franz,“ sagte Martha, „darf ich meine Hand so einmal auf deinen Kopf legen, – ja? – Es ist so dunkel, und ich habe Angst vor allem.“

„Ich habe so abgearbeitete Hände, – von der Werkstatt, weißt du, – sonst möchte ich dir sehr gerne über die Haare streichen.“

„O, es macht nichts, – – aber deine Hand ist sehr gut, gar nicht hart. Wie dunkel es schon ist!“ –

„Jetzt gehen die Bäume und alle Pflanzen schlafen,“ sagte er. „Komm, leg deinen Kopf an meine Schulter, – jetzt kann man glauben, daß es nie mehr Morgen wird.“

„Daß alles nicht wahr ist, was wir wissen,“ sagte sie leise, „daß wir ganz allein sind auf der Welt. – Wie gut das ist, wenn du mich so streichelst, – ich werde ganz müde und still.“ – –

„Wie dein Herz klopft, – Martha! Wie das Herz eines Vogels ist es.“

„Warum atmest du so?“

„Ich muß dich küssen, Martha!“

„Ja, mich hat noch niemand geküßt – und niemand war so gut. Ja, komm näher noch!“

„Bin ich dir nicht zu schwer? – Laß meine Hand so auf deinem Herzen, – wie es schlägt, – wie es schlägt! – Ich möchte jetzt einschlafen und nie mehr aufmachen müssen.“

„Der Wald ist so schwer und so süß, wenn er dunkel wird – ich sehe die Sterne über deinem Kopf.“ – –

„Martha, – Martha – tue ich dir weh – du!“

„Nein, – ja, – du, küsse mich!“

Fünfzehntes Kapitel

In dem kleinen Hinterzimmer der Konditorei saß eine Anzahl junger Damen. So unähnlich sie sonst sein mochten, sie glichen einander in der kleidsamen Tracht, welche die neue Zeit den jungen Mädchen beschert hatte und die mit kurzen Röcken, losen Kleidern und kurzgeschnittenem Haar der äußere Ausdruck für eine schwer erkämpfte äußerliche Freiheit war.

„Wißt ihr schon das Neueste,“ krähte Herta Kobinger, die immer bei den Zusammenkünften das große Wort führte. „Die Erna Meyer ... nein, es ist zu komisch ...“

„Was ist mit ihr?“ fragte Grete Erb und dachte mit jähem Unbehagen daran, wie sehr die einstige Freundin und Vertraute bitterer Stunden aus ihrem Wissen entschwunden war.

„Sie will Nonne werden!“ platzte Herta heraus. „Stellt euch vor, – Nonne! In unserer Zeit Nonne werden!“

„Wenn das nicht wieder nur einer ihrer verrückten Einfälle ist!“ sagte Lizzie Ebbinghaus wegwerfend, und in ihr zynisches Gesicht trat ein noch spöttischerer Zug.

„Nein, es ist so,“ bestätigte die ältere Schwester der Kobinger. „Wir haben es von der Frau Kruse ...“

„Von der Schneiderin?“ lachte Lizzie.

„Ja, die Eltern haben es ihr ganz verzweifelt erzählt.“

„Wenn es ihre Überzeugung ist!“ meinte Gert mit einem Achselzucken. „Schließlich soll jeder das tun, was er für richtig findet.“

„Aber denke doch, in unserer Zeit! Eine Nonne! Das kann man sich doch gar nicht vorstellen! – Ja, denkt euch, sie hat in aller Stille schon alles vorbereitet. Ich habe die Stadt vergessen, sie liegt irgendwo unten im Süden, an einem Berge. Und auf diesem Berg steht ein Kloster. Die Nonnen sind ganz weiß gekleidet und ihre Gesetze – Ordensregeln nennt man sie – sind besonders streng. Sie müssen jeden Verkehr mit der Welt abbrechen, – niemals dürfen sie einen Besuch von daheim empfangen, niemals einen Brief. Es ist für die anderen so, wie wenn man stirbt. Fort – aus! Man existiert nicht mehr für sie.“

„Im Süden,“ sagte Grete Erb verträumt, „und in einem italienischen Kloster! Ich kann mir das gar nicht so schrecklich denken. Es gibt dort sicherlich eine wunderbare Bibliothek, die für ein ganzes Leben ausreicht, – Inkunabeln ...“

„Na, ich meine, in unserm Alter könnte man genug haben vom Zölibat und es nicht noch suchen,“ lachte Lizzie und schüttelte ihren Wuschelkopf.

„Du würdest auch dort die schrecklichsten Stücklein aufführen!“ lachte Herta Kobinger.

„Daran zweifle ich nicht,“ gab Lizzie zurück und blähte die Nasenflügel. „Jedenfalls habe ich keine Lust, auf die große Liebe zu warten wie du!“

„Die große Liebe! Nein, auf sie warte ich nicht,“ widersprach Herta. „Nur, – ich hätte Angst, solche Sachen zu machen wie du! Wenn ich mich verliebe, dann will ich auch heiraten, mein Haus haben, Kinder.“

„Kurzum, dort fortfahren, wo unsere Eltern aufgehört haben,“ sagte Sonja spöttisch. „So wie sie ein Leben lang gute Gesellschaft nach außen spielen und daheim nach Herzenslust einander quälen, immer kälter werden, nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen alle Umwelt. Dann kommen die Kinder, an denen man dann nach irgendwelchen bewährten Prinzipien herumerzieht, bis auch sie einmal zerquält und verbittert davonlaufen – wieder in eine Ehe hinein.“

„Ja, was willst du denn?“ fragte Herta achselzuckend. „Ich weiß das doch alles, – aber wenn du nicht studierst, was auch keine sehr verlockende Sache ist, – was bleibt dir denn übrig?“

„Darüber denke ich heute noch nicht nach,“ antwortete Sonja. „Man darf sich selbst nicht so wichtig nehmen und immer Pläne schmieden. Ich will vor allem keine Zeit versäumen und leben. Und das mache ich, solange ich kann! Wenn ich dann schließlich heiraten muß – gut. Aber mich danach sehnen wie du – nein, das verstehe ich nicht!“

„Ja, du hast es gut!“ seufzte die jüngere Schwester. „Du kannst schon auf Bälle gehen und allein mit jungen Leuten Ausflüge machen. Du genießt dein Leben! Wenn man aber noch vor der Matura ist ...“

„Und soll das wirklich das Leben sein, Bälle, Ausflüge und Flirts?“ fragte Grete Erb.

„Soll es vielleicht das Studium sein, dem du dich verschrieben hast?“ gab Lizzie spöttisch zurück.

„Nein, auch das allein nicht,“ antwortete Grete. „Aber meine Arbeit gibt mir doch Inhalt, ich weiß in den kommenden Jahren ein Ziel. Und Germanistik interessiert mich nun einmal sehr. – Aber –,“ leichte Verlegenheit brach in ihre sonst so sichere Stimme, „die große Liebe – das eine Erlebnis, für das man sich aufsparen sollte, das muß es doch geben.“ – –

„Die große Liebe,“ höhnte Lizzie Ebbinghaus. „Die große Liebe, von der in den Büchern steht! Sieh dich doch um bei allen Erwachsenen, die wir kennen. Wo gibt es sie denn? Oder hat nicht jede von uns an der Ehe der Eltern gesehen, daß sie eine große, verzweifelte Lüge ist? Auch meine Eltern haben aus Liebe geheiratet, oder was sie so nannten – mein Gott, man merkt wirklich nichts mehr davon!“

„Lizzie hat recht,“ sagte Gertrud. „Es ist eine entgötterte Welt, die uns die Erwachsenen zurückgelassen haben. Und weil wir sehen, wie sie lebten, und was sie alle aus ihrem Leben gemacht haben, darum können wir uns auch ihren Ansichten und Gesetzen nicht beugen, die sie uns aus Berechnung und Angst auferlegen wollen. Sie setzen als Preis, als großes Versprechen für die Erfüllung dieser Gesetze unsere Verheiratung. Aber wir haben den Wert dieses großen Versprechens durchschaut. Uns lockt man nicht mit Myrtenkranz und Hochzeitsschleier.“

„Wir haben die Augen aufgemacht, und sie alle haben sich vor uns zu sehr gehen lassen,“ nickte Sonja. „Wir kennen die Affären in den Familien unserer Verwandten, die Ehebrüche und Scheidungen. Wir wissen, wie sie das freudlose Elend ihrer bürgerlichen Ehen immer wieder zusammenflicken. Nein, damit sollen sie uns nicht kommen. Dieselben Frauen, die mit einem Seufzer zum Himmel stöhnen: ‚O, diese jungen Mädchen von heute!‘ wenn wir eine Zigarette rauchen oder lieber in eine Bar gehen als in eine Konditorei, haben aus dem Ehebruch längst ein Gesellschaftsspiel gemacht, vor dem jeder anständige Mensch ausspucken muß. Eine Sache ohne Leidenschaft, ja ohne Leichtsinn, – eine gemütlich ausgeklügelte Angelegenheit. Nun, uns sollen sie nichts erzählen! Sie wissen es genau wie wir, daß sie von uns nur Tugend fordern, weil diese im Verheiratungsfalle noch hoch im Kurse steht, und sie wissen genau, daß wir dann, nach dem Unterkriechen, in einer Versorgung leben werden wie sie. Ebenso kalt – ebenso gemein!“

„Wozu sich soviel Gedanken machen?“ lachte Lizzie spöttisch. „Ich werde einmal einen heiraten, der reich ist und begreift, daß ich voll Lebenshunger bin. Nein, ich habe auch keine Lust, auf die große Liebe zu warten. Sechs Monate werde ich es mit ihm schon aushalten. Bis dahin aber nehme ich mir alles, was mir Spaß macht, denn einmal ist es doch aus.“

„Lizzie hat recht,“ sagte Sonja. „Und trotzdem bin ich oft traurig über das, was ich weiß. Ja, oft ist mir hundeelend zumute. Nicht wegen der paar Dummheiten, – sie wiegen nicht so schwer. Aber, daß man an gar nichts mehr glauben kann! Hinter mir sehe ich das, was Eltern und Verwandte aus ihrem Leben machten, ihre Herzenskälte, ihre Streitigkeiten, die trostlose Feigheit ihres Beisammenbleibens. Und vor mir sehe ich alles verschwommen und unklar. Es ist ja gar nicht möglich, zu warten. Als erwachsener Mensch – und das bin ich mit meinen neunzehn Jahren – in der Gefangenschaft des Elternhauses leben, ist entsetzlich. Sie sind voll Mißtrauen und mißdeuten alles. Sie waren es, die mir meine Unbefangenheit nahmen, sie, die in das Harmloseste ihre häßlichen Deutungen hineinlegten, als wäre ich ein Schoßhündchen, dessen Zeit gekommen ist und das man an der Leine halten muß. Sie lassen einen ja nicht Mensch sein! Ich muß sagen, wohin ich gehe, was ich in meinem Zimmer mache, warum ich mit dieser Freundin lieber zusammen bin als mit der anderen, ja, wenn ich beim Mittagessen ein ernsteres Gesicht mache, soll ich bekennen, was ich denke. Diesen Druck hält kein Mensch aus, – und ich habe viele Dummheiten gemacht, nur um mich gegen diesen Zwang zu wehren, nur um mich zu rächen. Es gibt kein süßeres Gefühl, als wenn sie mir wegen irgend etwas ganz Harmlosen einen Krach machen, daß ich mir dann schadenfroh denken kann: wenn ihr wüßtet!“

„Komisch,“ sagte Grete Erb nachdenklich. „Vor ein paar Tagen sprach ich mit der Scholander, die vier Klassen über mir war und jetzt an diesen Fabrikanten Haarhaus verheiratet ist. Sie erzählte mir, daß sie ihn betrügt. ‚Glaube mir,‘ sagte sie, ‚ich liebe weder meinen Mann noch einen andern. Ich betrüge ihn nur, damit ich dann, wenn er mich mit seinen Predigten, Vorwürfen und Vorschriften so entsetzlich langweilt und quält, mir heimlich denken kann: wenn du wüßtest!‘“

Gertrud sagte plötzlich: „Darum muß man vor allem frei sein, wirklich frei. Sonst läuft man ja aus Wut in die tollsten Dinge und verliert sich an Erlebnisse, die einen eigentlich gar nichts angehen.“

„Und kann man nicht frei sein, wenn man heiratet?“ fragte die kleine Herta Kobinger. „Wenn ich verheiratet bin und Kinder habe ...“

„Du mußt erst frei sein, um dir deinen Mann wählen zu können,“ sagte Gert. „Sonst heiratest du doch nur, um von daheim wegzukommen, oder um deine Eltern zu ärgern.“

„Und wie denkst du dir das, frei sein?“ wandte sich Grete Erb an Gert.

„Seinen eigenen Weg gehen,“ antwortete sie. „Ob man nun Nonne wird wie Erika, – oder Tänzerin wie ich ...“

„Tänzerin!“

„Tänzerin!“

Alle schrien durcheinander.

„Ja, werden denn das deine Eltern erlauben?“ fragte Herta ängstlich.

„Sie werden es sicherlich nicht erlauben,“ antwortete Gert. „Aber es ist besser, es gibt einmal einen entscheidenden Auftritt, und ich stelle mich ganz auf eigene Füße, als daß ich langsam in dem Kampf mit daheim, mit der Weltanschauung von vorgestern, zerrieben werde und immer mehr Dinge mache, die gar nicht meine Art sind, lüge und schwindle und so weiter.“

„Und das stört dich wirklich so sehr, dieses Lügen und Schwindeln?“ lachte Lizzie. „Ich muß gestehen, daß mir gerade das Vergnügen macht.“

„Wenn es mir auch nicht Vergnügen macht,“ sagte Herta Kobinger, „so stört es mich wenigstens nicht. Wenn meine Eltern dann doch auf etwas daraufkommen und pathetische Worte dafür finden, daß man zu ihnen kein Vertrauen habe, dann brauche ich nur an jene Zeit zu denken, als ich ganz aufgetan und offen für sie war, als es mir brennendes Bedürfnis war, ihnen alles zu sagen, mich ihnen anzuvertrauen, sie um Rat zu bitten. Damals haben sie mich immer schroff zurückgewiesen, damals langweilte ich sie, wenn ich von mir sprach, damals wollten sie, daß ich nur ein Ding in ihren Räumen sei, aber kein Mensch.“

Gert sagte nachdenklich: „Vielleicht haben wir alle unsere Eltern zu sehr geliebt, mit einer Liebe, die zu viel forderte, die die restlose Erfüllung wollte. Wir waren ganz nur auf sie eingestellt, sie waren uns Vorbild und der Inbegriff alles Liebenswerten. Wir sehnten uns danach, von ihnen verstanden zu werden, und darum vielleicht, weil wir maßlos forderten, weil wir etwas von ihnen wollten, was vielleicht kein Mensch dem anderen geben kann, darum verurteilen wir sie heute so streng.“

„Du hast sicher recht,“ sagte Grete Erb ernst. „Ich erinnere mich, daß mir nichts im Leben so weh tat, als daß ich erkennen mußte, daß selbst mein angebeteter Vater in Wirklichkeit nicht ganz dem Idealbild entsprach, das ich mir von ihm geschaffen hatte. Und vielleicht ging ich lange Zeit fast voll Haß gegen ihn umher, nur weil er mir diesen Traum nicht erfüllte.“

„Gott, wie ihr mich langweilt!“ sagte Lizzie ärgerlich. „Was hat es für einen Sinn, über solche Dinge zu grübeln. Sage lieber, Gert, wie du dir deinen künftigen Beruf vorstellst?“ Lizzie verbanden sich mit der Vorstellung „Tänzerin“ sofort eine Kette anderer von Puderwolken, parfümierten Garderoben, Herren mit Brillantarmbändern und verschwiegenen Separees.

„Ich arbeite schon seit Monaten heimlich mit einer Lehrerin. Die Stunden habe ich von meinem Taschengeld bezahlt.“

„Ah, – darum warst du so wenig bei unsern Zusammenkünften zu sehen,“ lachte Lizzie. „Und darum hast du wahrscheinlich auch die dicke Freundschaft mit der Südekum aufgegeben?“

„Ja, – ich hatte natürlich für nichts anderes mehr Zeit, wollte ich gleichzeitig in der Schule nicht zurückbleiben. Und das durfte ich nicht, sollte es meinen Eltern nicht auffallen!“

„Wie zielbewußt du bist!“ staunte Grete Erb.

„Du bist es doch auch,“ lächelte Gert. „Du willst ja studieren.“

„Ja, – aber damit sind meine Eltern ganz einverstanden. Aber Tänzerin werden, – nein, ich kann mir Tanzen als Beruf nicht vorstellen. Vor fremden Männern!“

„Gerade das ist das Interessante daran!“ lachte Lizzie.

„Nein, um das handelt es sich gar nicht,“ erwiderte Gert ernst. „Aber ich habe lange Zeit gar nichts von mir gewußt. Dann aber begann ich langsam zu erwachen, zu mir, zu meinem Körper, zu einer Musik, die ich in ihm weiß, und die ich freimachen muß. So wenige Menschen wissen, was Tanz ist. Diese Kunst ist ebenso ernst wie hundert andere Berufe, wenn man ihr ganz lebt.“

„Und du willst von daheim fort – und überall auftreten – und auf Plakaten abgebildet sein.“ – Sonja war fassungslos.

„Willst du denn nicht heiraten?“ fragte die kleine Kobinger und war ganz bestürzt, als nun alle in ein Gelächter ausbrachen.

„Ihr sprecht soviel von Liebe und Heirat,“ sagte Gert ablehnend. „Ich will darüber nicht nachdenken, solange alles um mich so schief ist. Wie kann ich an einen anderen Menschen denken, solange ich selbst noch nichts bin? Ich kann es erst, wenn alles frei in mir ist, – wenn ich bin, – wenn ich das kenne, was ich verschenken soll.“

„So glaubst du doch an die große Liebe?“ fragte Grete Erb ernst.

„Ich glaube jetzt nur an mich,“ antwortete Gert, „ich hoffe auf mich.“

Sonja zog die Uhr: „Kinder, es ist schon ein Uhr, – wir kommen zu spät zu den elterlichen Kochtöpfen, wenn wir nicht aufbrechen.“

Die jungen Mädchen griffen nach Jacken und Mänteln.

Als sie sich vor der Konditorei verabschiedeten, sagte Grete Erb plötzlich sehr ernst: „Gert hat ganz recht. Vor allem müßte man frei sein! Dann wäre es vielleicht möglich, eine neue, reinere Gemeinschaft zwischen Mann und Weib zu verwirklichen, als unsere Eltern kannten, und als man uns aufladen will. Dann fänden wir alle vielleicht den neuen Weg.“

„Ach Gott, ich fühle mich auch so recht wohl!“ lachte Lizzie. „Wegen dem bißchen Schwindeln!“

Herta gab Sonja plötzlich einen Stoß. „Sieh schnell hinüber – ja, dort!“ Ja, die da eben an ihnen vorübergegangen war, war die Oberlehrerin Fräulein Dr. Südekum gewesen. „Wie spaßig sie aussieht, wie sie so in ihrem schwarzen Kostüm mit dem kleinen Hütchen dahintrippelt!“

„Wenn ich denke, wie ich mich vor drei Jahren vor ihr fürchtete!“ lachte Sonja. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“

„Ja, du hast es gut!“ seufzte Herta und hängte sich in ihre ältere Schwester ein. Sie verschwanden in einer schmalen Nebengasse, die zur nächsten Trambahnhaltestelle führte.

Fräulein Dr. Südekum ging langsam ihren Weg weiter. Sie hatte ihre Schülerinnen wohl vor der Türe der Konditorei stehen gesehen, aber so getan, als sähe sie sie nicht. In diesen letzten Tagen vor der Matura wich sie gern allen Gesprächen außerhalb der Schule aus. Der Rektor sah es auch nicht gern. Wie leicht konnte einem ein Wort entfliehen.

Fräulein Dr. Südekum ging zu Alexandra. Sie hatte über der sie zugleich anziehenden und erschreckenden Persönlichkeiten dieser Frau fast ganz ihre früheren Freunde vergessen. Selbst bei Nowotnys war sie nur ganz selten mehr gewesen. Diese hatten sich zu sehr in ihrer Anbetung für die Griechin demaskiert, Fräulein Dr. Südekum konnte es gar nicht verstehen, daß sie einmal bei diesen Menschen so gern ihre Abende verbracht hatte. Ja, Alexandra hatte recht. Denen geschah nichts durch sie, denen konnte gar nichts geschehen!

Alexandra beschäftigte sie sehr. Sie hatte sie zuerst ganz verzerrt gesehen, durch die Wirkung, die sie auf dieses junge Ehepaar ausübte, durch die Art auch, wie sie sich dort gab. Nun hatte sie keineswegs mehr den Eindruck, daß Alexandra eine hemmungslose, gefährliche Frau sei. O, gefährlich sicherlich für manche Menschen, – aber hemmungslos? Eher erschien ihr diese Frau nun zu bewußt, zu sehr eingehüllt in ihren scharfen Intellekt.

Aber es tat so gut, einem solchen Menschen zu begegnen, wenn man selbst wund und verwirrt war, auch wenn der Verstand dieser Frau manchmal in gefährlichere Landschaften entführte als das verwirrende Tun der anderen, das Fräulein Dr. Südekum miterleben mußte.

Sie fand Alexandra untätig an ihrem hohen Fenster stehen. „Kommen Sie zu mir herauf!“ rief sie dem kleinen Fräulein zu, das wartend unten an der Stufe stand. „Es ist so schön, über die Dächer hinwegzusehen. Unter diesen Dächern wacht alles Böse, was Menschen einander tun, und alle Lügen, die sie einander sagen. Über den Dächern leben die Wolken, emporzuckender Rauch, Licht und Farbe!“

„Ja, es ist sehr schön hier,“ sagte das kleine Fräulein und stellte sich auf die Zehenspitzen.

„Glauben Sie, daß jemand freiwillig da hinuntersinkt, wenn er erst diese freie Schau erkämpft hat? Glauben Sie, daß jemand die Einsamkeit dieses Blickes eintauschen möchte gegen eine der Trunkenheiten, die unter diesen Dächern locken?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen,“ sagte das kleine Fräulein verwundert.

„Es handelt sich darum, daß man Herr bleibe,“ entgegnete die Bildhauerin leise. „Dann darf man alles. Aber sich selbst muß man festhalten um jeden Preis. Man hat am Ende doch nur sich selbst und das, was man aus sich macht.“

Das kleine Fräulein wußte keine Antwort. Ihr kam Alexandra heute so verändert vor. Ihre Gebärden schienen ihr rascher als sonst und so seltsam ziellos.

„Was macht Ihre Arbeit?“ fragte Fräulein Dr. Südekum.

„Sie haben recht, daß Sie danach fragen,“ nickte die Bildhauerin ernst. „Ich hatte sie vorhin fast vergessen. Und sie ist doch das einzige, was mir ganz gehört – alles andere ist Trug. Gut genug für die andern, die sich gern begnügen wollen. Ich fordere mich vom Schicksal und sonst nichts.“

Fräulein Dr. Südekum sah betroffen in das harte Gesicht Alexandras. Wie hochmütig ihre Stimme nun geklungen hatte! Warum sprach sie so? Gab es jemanden, der daran zweifelte, daß diese Frau nur ihrer Kunst gehörte, daß alles andere für sie nur Spiel und Entspannung war? Und billigten ihr nicht alle diese Lebensform zu, – sogar sie, die ihr erst so gezürnt hatte wegen Robert Nowotny?

„Hier können Sie sehen, was ich gearbeitet habe!“ sagte Alexandra und nahm das Tuch von der Büste des Kanzlers. „Es ist noch nicht er, aber diesen neuen Zug, der in seinem Gesicht lebt, diesen wissenden und traurigen, der so merkwürdig mit dem genußfrohen Mund kontrastiert – den habe ich schon. Nicht wahr?“

Das kleine Fräulein sah und staunte. Ja, fast erschreckend enthüllte diese Büste den Kanzler. Alles sagte sie über ihn, alles, was der Knabe wußte, der ihn liebte, und diese Frau, die niemanden lieben konnte, aber durch ihre Kunst alles aus den Menschen herausholte.

„Ja, das wird!“ sagte Alexandra. „Es ist nur seltsam, daß es mich gar nicht froh macht. Ich glaube, ich sollte bald fortreisen. Eure strenge Landschaft hier macht einen so schwer, so beladen.“

„Und Robert Nowotny?“ fragte das kleine Fräulein lächelnd.

„Ich habe ihm vor drei Tagen verboten, mich weiter zu besuchen. Er langweilt mich zu sehr.“

„Und er?“

„Er spielt mit seinem Schmerz wie ein Kind mit der Puppe. Täglich zieht er ihm neue Flicken an. Da, – dieses Bündel Briefe schrieb er in drei Tagen.“

Kalt und weiß fiel das Atelierlicht in den hohen Raum. Die Lehrerin fröstelte. Alexandra schien ihr heute noch fremder und ferner. Schuf die große schöpferische Arbeit die Menschen so?

Sie begann, verlegen im Atelier umherzugehen.

Vor einem Tonfigürchen, das nur schwach die Umrisse eines weiblichen Körpers erkennen ließ, blieb sie stehen: „Das sah ich noch nicht, – was wird das werden?“

„Ach, nichts Besonderes, ich arbeitete das nur zu meiner Zerstreuung nach dem Gedächtnis.“

„Also kein Modell?“

„Nein. Eine ganz lustige Geschichte! Ein kleines Mädchen kam vor einigen Tagen mit der Empfehlung ihrer Tanzlehrerin zu mir, sie wollen ein wenig Anatomie betreiben – sie nimmt ihre Kunst verteufelt ernst und möchte ihren Körper ganz vollkommen wissen!“

„Ah, also eine wirkliche Tanzkünstlerin?“

„Nun, vorläufig noch eine Schülerin. Die Eltern wissen nichts davon, wie es scheint. Der Vater ist der Staatsanwalt Winheim.“ – –

„Winheim – also Gertrud Winheim –,“ das kleine Fräulein konnte fast nicht sprechen, – „und sie will ...“

„Ja, – offenbar – kennen Sie die Kleine?“

„Und – da haben Sie so aus dem Gedächtnis ...“ Die Lehrerin sah scheu auf die kleine unvollendete Tonfigur.

„Ja, – ein müßiger Unsinn,“ lachte Alexandra. Sie nahm die Figur und warf sie hart in eine Ecke, wo sie zersprang. Sie lachte wieder, aber ihre Lippen waren blaß.

Da ging die Lehrerin ganz langsam fort und immer weiter hinaus auf die lärmenden Straßen der großen Stadt.

Sechzehntes Kapitel

Das waren die gefürchteten Tage der Matura. Mit einem Schlage hatte sich das Verhältnis zwischen der Lehrerschaft und den Schülerinnen geändert. In den letzten Wochen hatten die Mädchen voll Angst an diese Tage gedacht, und manche hatten sich ganz verzweifelt in das Studium gestürzt, als gälte es in vierzehn Tagen nachzuholen, was man in sechs langen Jahren nicht immer ernst genommen hatte.

Man hatte bisher in der Matura nicht viel anderes als den ersehnten Schlußpunkt unter dem Zwang gesehen, sich täglich morgens in diesem weißen nüchternen Saal einfinden zu müssen und fast den ganzen Tag hier zu verbringen. Schließlich waren diese Prüfungen ja nur für die wenigen eine ernste Angelegenheit, die, wie Grete Erb, auf die Hochschule wollten. Und diese hatten die Maturatage nicht zu fürchten. – Unheimlich gescheit war sie, sie wußte ja fast schon mehr als die Prüfenden. Andere wieder sollten in ein Geschäft, für das ein Maturazeugnis nicht so wichtig war, oder sie wollten sich nach kurzen Sommerwochen der Erholung mitten hinein in den Gesellschaftstrubel stürzen, in die ersehnten Bälle und Gesellschaften, und daneben höchstens ein wenig Klavier weiterbetreiben, malen oder Tanzstunden besuchen. Benötigte man dazu die Matura? Nicht einmal die Eltern nahmen die Sache allzu ernst, ausgenommen jene, welche die Töchter dann auf eine Handelsschule senden wollten, weil die Mädchen aus materiellen Gründen eine Stellung annehmen mußten. Aber auch für diese war mit der nicht bestandenen Matura das Tor zu den großen Kontors keineswegs verschlossen, in denen sie ihre Jugend über dem Klappern der Schreibmaschinen verbringen sollten. Es gab Kurse, in denen man in drei Monaten alles Nötige lernte. Die Matura. Nein, sie war nur für die Knaben eine Sache auf Tod und Leben.

Und trotzdem packte in diesen Tagen auch die Schläfrigste und Leichtsinnigste wütender Ehrgeiz. Selbst Lizzie Ebbinghaus ging mit blassen Wangen umher und zerbrach sich den Kopf, welche Fragen sie bekommen würde. Gerissener und praktischer als die andern, fand sie bald den Weg zum Schuldiener, und der Schuldiener fand durch die Zaubermacht einer hübschen Banknote den Weg zur versperrten Schreibtischlade in der Rektorkanzlei.

Zwischen Lehrern und Schülerinnen herrschte die Feierlichkeit eines plötzlich erklärten Krieges. Beide Parteien wurden streng voneinander getrennt. Es gab keine Vertraulichkeiten mehr zwischen ihnen, keine lustigen Aussprachen mehr draußen auf dem Gange, keinen raschen Besuch in einem Lehrmittelkabinett, „Lieblinge“ wurden sorgfältig überwacht.

Bald wußte man von den ersten Schlappen und Siegen. Man konnte noch nichts Gewisses sagen, aber man wußte doch von jeder, „wie sie stand“.

Die Lehrer und Lehrerinnen trugen furchtbar ernste und feierliche Gesichter zur Schau. Wie die Schülerinnen waren sie ganz dunkel gekleidet. Ja, das, was sich nun zwischen Lehrerschaft und Schülerinnen abspielte, war für beide Teile sehr bedeutungsvoll, ein Endkampf, der wie ein mittelalterliches Turnier in feierlichem Zeremoniell vor sich ging.

Rings um das weiße Haus blühte und duftete der Garten in voller Sommerpracht. Noch war der Flieder nicht ganz abgeblüht, und Rosen lockten in allen Farben aus Büschen und Beeten. Aber niemand von den großen Mädchen sah jetzt diesen Garten, und auch die Lehrer sahen ihn nicht. Selbst den Schülerinnen der niedrigeren Klassen war es verboten, zu spielen und zu lärmen. Leise und behutsam gingen sie auf den Gartenwegen umher. „Die Großen haben Matura!“ sagte immer wieder ihre Lehrerin, wenn eine doch lauter wurde, und legte dabei die Finger an den Mund.

Drei Mädchen waren schon am ersten Tage zurückgetreten. Zwei von ihnen hatten immer schon so schwer gelernt, oh, so schwer. Was den anderen zuflog, mußten sie mühsam in eisernem Fleiß in sich zwingen. Die eine weinte sehr: „Ich will doch Lehrerin werden,“ schluchzte sie. Aber Fräulein Dr. Südekum tröstete sie. „Das wirst du schon noch. Du gehörst zu denen, die schwer lernen, die aber dann alles ein Leben lang behalten. Zwei Prüfungen hast du ja befriedigend bestanden. Den Rest kannst du im Herbst machen, das macht gar nichts.“

Die zweite war die Tochter eines Holzhändlers. Eigentlich hatte sie sich nur geärgert, weil der Rektor ihr gesagt hatte, sie solle nicht so parfümiert zur Schule kommen, – man bekäme ja Kopfweh, und es gehöre sich auch nicht.

„Ich habe keine Lust, in diesen heißen Sommertagen hier von früh bis abends zu sitzen. Wozu auch! Ich brauche die Matura nicht. Nach einem Jahr werde ich mich ja doch verloben und heiraten – wer fragt dann, ob ich die Matura habe?“

Die dritte aber war Erika Meyer. Mit bebenden Lippen teilte sie Fräulein Dr. Südekum ihren Entschluß mit: „Ich kann mich unmöglich auf diese Sachen konzentrieren,“ sagte sie. „Ich glaube, ich habe überhaupt alles vergessen, seit ich mich Ihm versprochen habe. Er liebt den Hochmut der Geistigen nicht, in seiner Bergpredigt rief er sie, die arm im Geiste sind. Nein, – ich will nicht wieder zurück in dieses Denken, in das, was mein Gedächtnis belastet und mir den Weg zu Ihm verräumt.“

Kopfschüttelnd betrachtete sie die Lehrerin: „So ist das wirklich dein fester Entschluß?“

„Ich habe nichts zu beschließen und nichts zu entscheiden. Er hat mich gerufen, als ich in höchster Not und Verwirrung war.“

Das kleine Fräulein sah dem hochgewachsenen, überschlanken Mädchen nach, als dieses mit leisen Schritten und wie getragen von einem Willen, der nicht der ihre war, zur Türe hinausging. Führte die süße Verwirrung der Sinne, die Not des Blutes auch in diesen Weg? Und bot dieser Weg Stillung und Erlösen?

Fräulein Dr. Südekum führte die Aufsicht in der Klasse während der Prüfungsarbeiten. Sie saß an ihrem Pulte, und versuchte, in einem Buche zu lesen. Der Unterricht selbst war zu Ende. Sie hatte diesen Mädchen hier alles gesagt und sie alles gelehrt, was sie zu sagen und zu lehren hatte. Fast wie eine Fremde saß sie vor dieser Jugend, die, gebeugt über die Aufsatzhefte, schrieb. Morgen schon würde sich hinter ihnen das Tor der Schule schließen. Morgen schon.

Das kleine Fräulein sah zu Gertrud hinüber. Sie konnte sich nicht sattsehen an diesem jungen, stolzen Gesicht, das ihr so viele Stunden ins Gedächtnis zurückrief, die für immer tot und vergangen waren. Nie mehr würde die kleine Gertrud den Weg in ihr einsames Zimmer finden, nie mehr mit tränenüberströmtem Antlitz und doch so voll Hoffnung zu ihr aufsehen, zu ihr, dem einzigen Menschen, dem sie alles anvertraute. Und nie mehr würde sie in dieses Kinderantlitz hinein von all dem sprechen dürfen, was ihr heilig geworden in einem langen, einsamen Leben, von den großen Augenblicken der Geschichte, von fremden Ländern und ihren merkwürdigen Völkern, von den großen, unsterblichen Träumen der Dichter.

Aber die dort saß, war ja gar nicht mehr jene Gertrud, die dicke, häßliche Gertrud, mit den fast immer rotgeweinten Augen, die sie so namenlos, so muttergut geliebt hatte. Dieses knabenhaft schlanke Mädchen dort mit dem schönen stolzen Gesicht war eine andere. Nur ganz, ganz leise erinnerte noch mancher Zug an das Einst. Aber innerlich war sie wirklich eine andere geworden, ein fremder Mensch, der sich nicht mehr erinnern wollte, wieviel Liebe und Zärtlichkeit er bei dem kleinen alternden Fräulein gefunden hatte. Ein fremder Mensch, der nun morgen hinausgehen würde aus dem großen Tore der Anstalt, weitergehen würde und sich nicht ein einziges Mal umsehen.

Es war ja schon längst alles vorüber, und es war nur töricht, daß es noch immer, noch immer so weh tat.

Wie verzweifelt sie sich gewehrt hatte gegen dieses Verlassenwerden, wenn es auch unabänderlich war! In wie tiefe Not und Verwirrung sie gestürzt war! Aber das alles, was ihr Alexandra über ihre Liebe zu Gert gesagt hatte, und was sie in ein paar irren Stunden heißer Not fast wirklich in sich entdeckt zu haben glaubte, das war ja niemals gewesen. Nein, niemals. Nur die andern hatten sie in diese wirren Empfindungen gehetzt, die nicht ihre eigenen waren, nein, gewiß nicht. Die andern, – diese Frau Nowotny, die Alexandra mit ihrem Mann gemeinsam anbetete, diese tollen Geschichten mit den Schülerinnen – und Erwin, ja Erwin und seine seltsame Liebe. Vor allem aber Alexandra und ihr närrisches Wort: „Nehmen Sie sich doch das kleine Mädchen!“

Ja, sie war gewiß wahnsinnig, diese Alexandra. Und nun – wieder überfiel das kleine Fräulein heißes Erschrecken – nun hatte Alexandra Gert kennengelernt. O, sie hatte keine Ahnung, daß dieses Mädchen dasselbe war, von dem Fräulein Dr. Südekum einen langen, langen Nachmittag gesprochen und gebeichtet hatte. Sie sollte es auch nicht wissen. Nein, niemals!

Nun, es war ein Glück, daß die Matura stattfand, und Gert sicherlich bald mit ihren Eltern verreisen würde. Diese Alexandra – so klug sie war – das war kein Verkehr für ein so junges Ding. Die Bildhauerin mit ihren bizarren Ideen – man konnte nicht wissen, wieviel davon sie bereit war in die Wirklichkeit umzusetzen. Aber nein, nun durfte sie gar nicht weiterdenken. – Eine Blutwelle stieg ihr bis zur Stirn. O, sie war wohl überarbeitet – diese letzten Wochen – da war es kein Wunder, wenn ihr die seltsamsten Einfälle kamen.

Gertrud hob jäh den Kopf und sah sie an. Sie sah sie wohl in Wirklichkeit gar nicht, hatte nur im Nachdenken über einen Satz der Schularbeit so vor sich hingesehen, und zufällig war ihr Blick auf sie gefallen. Und doch war das kleine Fräulein so herzenstief erschrocken, so, als habe die Kühle, Schlanke dort ihren Gedanken erraten.

Aber was hatte Alexandra erzählt? Gert wollte tanzen lernen, und da wollte sie auch Anatomie betreiben, um die Gesetze körperlicher Schönheit ganz zu kennen, um vollkommen zu sein. Fräulein Dr. Südekum mußte lächeln. Was für Ideen diese junge Mädchen hatten!

Nun, es war gut, daß Gert bald verreisen würde. Diese Alexandra war gerade die Richtige, um einem exaltierten jungen Mädchen noch bizarrere Ideen beizubringen.

Da es läutete, sammelte Fräulein Dr. Südekum die Aufsatzhefte. Als sie an Gert vorüberkam, sagte diese plötzlich leise zu ihr: „Verzeihen Sie, Frau Doktor – aber ich bin nicht fertig geworden, – ich –“ Verwirrung zeigte sich in ihren Zügen.

„Wenn die Arbeit nur gut ist!“ sagte die Lehrerin begütigend. „Dann macht es nicht so viel.“

Da drückte ihr Gertrud in einer jähen Bewegung die Hand.

Fräulein Dr. Südekum sah sich verlegen um, ob dies auch niemand bemerkt habe. Denn solche Vertraulichkeiten während der Prüfung pflegten schlimm aufgefaßt zu werden. Das Herz schlug ihr bis zum Halse vor Glück. Ich bedeute ihr doch noch etwas, sann sie überströmend vor Freude. Sie hat mich nicht ganz vergessen!

Auch der Nachmittag verging mit Prüfungen, und am Ende des Tages waren Lehrer und Schülerinnen tief erschöpft. Wortlos ging man auseinander und dachte seufzend an den nächsten Tag.

Als Fräulein Dr. Südekum die Anstalt verließ, sah sie Gertrud von ferne. Es war sicherlich nicht gut, wenn es jemand sah, aber sie mußte mit Gert ein paar Worte sprechen. Vielleicht war doch alles anders, als sie gedacht hatte – vielleicht war Gert doch nicht so hart und undankbar, wie sie geglaubt hatte?

„Wir wollen nicht ein einziges Wort über die Prüfung sprechen, – ja?“ bat das kleine Fräulein, als sie neben ihrer Schülerin, die sie fast um einen Kopf überragte, dahintrippelte. „Ich wollte nur wissen, wie es dir geht und was du für Pläne hast.“

„Über meine Pläne kann ich noch nicht sprechen,“ sagte Gert zögernd. „Aber ich werde es gewiß später tun.“

„Später?“ Ein bitteres Lächeln flog um den Mund der Lehrerin. „Morgen bist du frei, und da wird es dir wohl nie einfallen, den Weg zurück zu denen zu finden, die dich als deine Lehrer quälten.“ Das kleine Fräulein suchte einen scherzhaften Ton anzuschlagen.

„Sie quälten mich nie,“ entgegnete Gert ernst. „Sie waren immer sehr gut zu mir. Ich hoffe sehr, daß wir morgen bei der Maturafeier ein wenig plaudern können. Und dann werden wir uns auch später öfters sehen. Sie kommen doch zu Alexandra?“

„Alexandra? – Du meinst die Bildhauerin Pseleuditi? – Ja, ich hörte, daß du dort warst. Aber bist du denn seitdem wieder dort gewesen?“

„O, ich bin seit einigen Tagen jede freie Stunde bei ihr. Sie ist herrlich, – wir haben uns so viel zu sagen, daß die Stunden nur so fliegen.“

„So?“ – Die Lehrerin war sehr blaß geworden.

„Und da meinte ich, daß wir uns ja dort oft sehen werden. Alexandra hat Sie doch gern und sieht Sie oft bei sich, Frau Doktor!“

„Ja, gewiß.“ Dann fragte das kleine Fräulein plötzlich: „Aber jetzt – ich meine nach der Matura, wirst du doch eine Reise machen?“

„Ja, – aber das ist noch ein großes Geheimnis. Morgen sage ich es Ihnen, Frau Doktor – heute abend muß ich noch mit meinem Vater darüber reden – – und morgen müssen meine Zeugnisse gut aussehen, – oho – nun hätte ich fast angefangen, von der Prüfung zu reden. – Es ist gut, daß da mein Omnibus kommt. Adieu, Frau Doktor!“

Die Lehrerin hätte nicht sagen können, was sie dachte, während sie den Weg weiter ihrer Wohnung zuging. Nur daß etwas sehr weh tat, das wußte sie. Sehr weh.

Als sie in das Vorzimmer ihrer Wohnung trat, stürzte ihr die Wirtin entgegen: „Frau Doktor – ein Mann – oder ein Herr, – ich weiß nicht, – er wartet auf Sie in Ihrem Zimmer, – schon eine halbe Stunde. Er ist verzweifelt, denn er soll Sie wohin bringen – ein Auto steht unten!“

„In meinem Zimmer, – ein Mann?“ Was war da wieder geschehen? Zögernd trat Fräulein Dr. Südekum in ihr Zimmer. Da sah sie den Chauffeur des Fabrikanten Löß vor sich.

„Bitte, Frau Doktor, – der Herr läßt bitten, daß Sie gleich mit mir kommen.“

Wie verstört der Mann aussah!

„Was ist geschehen?“ Sie faßte ihn am Arm.

„Erwin hat sich erschossen!“

„Wie?“ – nun konnte sie nicht mehr, mit zitternden Knien sank sie auf einen Sessel. „Erschossen sagen Sie?“

„Ich weiß sonst nichts. Der Herr hat ihn nach Hause gebracht. – Bitte, kommen Sie gleich.“

Fräulein Dr. Südekum griff zitternd nach Mantel und Hut. Noch konnte sie die Nachricht nicht ganz erfassen, während sie neben dem Chauffeur die Stiege hinabging und ins Auto stieg. Leichenblaß lehnte sie in einer Ecke des Wagens, indes dieser mit ihr durch die Straßen sauste.

Sie war ganz betäubt, als sie dem Vater Erwins gegenüberstand.

„Sie wissen ja schon,“ begann er schwer. „Ich habe Sie nur bitten lassen, – ich möchte erfahren, – ich muß erfahren, – wie weit diese Person, diese Anita ... an dem Tode meines Kindes Schuld trägt! Sie liegt ja vorläufig mit einer Kugel im Spital, es ist aber nicht gefährlich, wie die Ärzte sagen, während mein armer Bub,“ er vergrub stöhnend den Kopf zwischen den Händen.

„Wie, – die Tänzerin hat auch eine Kugel, – aber was – was ist denn geschehen?“

Löß zwang sich zusammenhängend zu berichten. Es mußte ja sein, wenn er Gewißheit erhalten sollte.

„Ich wurde vor zwei Stunden von der Polizei angerufen, – ich solle sofort wegen meines Sohnes zu der Tänzerin Anita kommen. Dort trat mir ein Polizeikommissar entgegen. Er teilte mir in dürren Worten mit, daß mein Sohn nach einem erregten Auftritt zwei Schüsse auf die Tänzerin abgegeben habe und dann einen auf sich. Dieser letzte Schuß traf leider gut, so sagte mir der Kommissar achselzuckend und öffnete die Tür zu einem Boudoir. Da lag ...“

Fräulein Dr. Südekum fühlte, wie ihr das Blut zuckend zum Herzen in furchtbaren erbarmungslosen Stößen strömte, sie fühlte, wie ihr die Tränen unaufhörlich über die Wangen rannen, – aber sie konnte nicht sprechen.

Plötzlich sah sie das verzerrte Gesicht des Fabrikanten: „Wissen Sie etwas davon, daß mein Bub mit der Person, – daß sie ihn verführte?“

Das kleine Fräulein schüttelte nur schweigend den Kopf.

„Nach einiger Zeit kam nämlich da oben seltsamer Besuch,“ – sagte Löß höhnisch. „Hoher Besuch! Der Kanzler kam. Wie ein Rasender gebärdete er sich vor der verwundeten Tänzerin. Nichts konnte schnell genug geschehen, um diese Canaille zu retten. Und da er mich sah, schrie er mir in furchtbarem Haß zu, – ja, er muß von Sinnen gewesen sein: ‚Hätten Sie Ihren Knaben besser gehütet, daß er nicht in verblendeter Gier auf ein Weib schoß, das ihn verschmähte, und das einem anderen Menschen das Teuerste auf Erden ist.‘“

Mit einem Wehlaut sank das kleine Fräulein vom Sessel. Mit einem Laut, wie ein zu Tode getroffener Vogel.

Als sie erwachte, lag sie auf einem breiten Sofa und sah sich allein in einem unbekannten Raum.

Mit behutsamen Schritten trat Löß ins Zimmer. „Verzeihen Sie, wenn meine Ungeduld mich brutal sein heißt, – aber bitte, sagen Sie mir, was Sie wissen!“

Da begann die Lehrerin von der großen Passion des Knaben zu erzählen, von seinem Haß gegen die Tänzerin, von seiner Liebe. Und als der Mann vor ihr gequält und verstört fragte: „Ja, gibt es denn das, – ja, ist denn das nicht Wahnsinn, – war dies Liebe, was Erwin für diesen Mann – für den Kanzler empfand?“

Da fand das kleine alternde Fräulein das seltsame Wort, von dem sie selbst nicht wußte, wer es ihr gab in dieser Stunde: „Es ist die Liebe, die größer ist als ihr Schöpfer, denn sie dient keinem Zweck, – sie will das Unerreichbare, – wer sich ihr unterwirft, muß sterben.“

Und dann standen sie beide in dem angrenzenden halbverdunkelten Raum vor dem Lager des Knaben. Seine Hände lagen müde auf der Brust gefaltet, und sein Antlitz schien gestillt und glücklich.

Das kleine Fräulein beugte sich jäh und küßte ihn.

Siebzehntes Kapitel

Die Mädchen hatten es durchgesetzt, daß die Maturafeier nicht wie üblich in dem großen Gartenlokal eines bürgerlichen Restaurants in der Stadt stattfand, sondern in einem Hotel draußen vor den letzten Häusern, in einem fashionablen Restaurant mit Terrasse und kleinen roten Lampen, mit einer Tanzdiele im Freien und echter Jazzbandmusik. Es gab harte Kämpfe, aber schließlich hatte bei dem Rektor die Überlegung den Ausschlag gegeben, daß er diese eine Klasse endgültig los sei, die ihm so viel Sorgen gemacht hatte wie kaum eine zweite.

Und noch etwas anderes hatten die Mädchen erreicht, was wohl als Revolution gegen allen bisherigen Brauch gelten durfte: sie kamen ohne Eltern zu diesem Fest. Schließlich waren ja so viele ehemalige Schülerinnen bei dieser Feier, ältere Schwestern der Maturantinnen, andere auch, viele, die schon längst Frauen oder im selbständigen Beruf tätig waren.

Und dann: an Herren war ja niemand zugelassen als die Professoren, und daß diese nicht zählten, wußten selbst die besorgtesten Eltern. Kein männliches Wesen durfte sich sonst zeigen, kein Bruder, kein Cousin.

Die junge Schar war auf der Terrasse um einen großen Tisch vereinigt beim Abendessen, das für die Feier des Tages besonders festlich gewählt worden war. Seltsam genug nahmen sich die etwas verlegenen Gesichter der Professoren, ihre schwarzen Anzüge, im Kreise der Jugend aus.

„Fräulein Dr. Südekum ist noch immer nicht gekommen?“ fragte Gert besorgt, und Herta Kobinger meinte: „Wenn sie sich am Ende drückt, – aber das wäre eine Gemeinheit gegen uns!“

Obwohl man sich sehr erwachsen fühlte, wurde in der ersten Stunde nur von der Schule gesprochen. Jetzt kam es heraus: jede hatte doch furchtbare Angst vor diesen Prüfungen gehabt. Immer wieder hatte man darüber nachgegrübelt, was man wohl vergessen haben mochte, und am letzten Tage schien es überhaupt, daß man gar nichts wußte. Es war nur gut, daß man von den Zurückgetretenen nichts erfuhr, – sonst wären alle ihrem Beispiel gefolgt.

„Ich habe am Abend dem lieben Gott versprochen, daß ich mir sechsmal mit dem Lineal auf die Hand schlage, wenn ich in Mathematik durchkomme,“ erzählte Herta, die wie immer das große Wort führte.

„Und nun – hast du es getan?“ fragte der Mathematikprofessor neckend. Er kam sich heute wie ein Lebemann unter so vielen jungen Damen vor.

„Ja, – nein. Ich habe dreimal fest hingehauen, – aber dann brannte mir die Hand zu sehr.“

Stürmisches Gelächter folgte diesem Bekenntnis.

Als der Braten gegessen war, schlug der Rektor an das Glas. Die Mädchen sahen einander scheu und verlegen an. Nun hieß es noch einmal stillsitzen und ein ernstes Gesicht machen. Jetzt loslachen wäre furchtbar gewesen, obwohl Rektor Krause entsetzlich komisch mit seiner weißen Vorsteckkrawatte aussah.

Rektor Krause sprach sich immer tiefer in eine Rührung hinein, die seine Stimme klatschnaß erscheinen ließ. Er sprach von dem Glück einer sittlich gefestigten Weltanschauung, welche die Schule verleihe, von der Ertüchtigung des Charakters, vom Sichselbsttreubleiben. Das Weinglas hoch erhoben wie den Stab, den er sonst in der Schule beim Vortrage hielt, rief er: „Und so wünsche ich Ihnen denn, daß Sie alle im Leben Ihren Platz als liebende Gattinnen und brave Mütter ausfüllen mögen. Non scholae, sed vitae discimus!

Während ihm alles lärmend zutrank, beugte sich Lizzie zu Sonja Kobinger, die neben ihr saß, und flüsterte: „Und wenn man keinen Mann bekommt, – was dann? Er soll beruhigt sein, zum Heiraten und Kinderkriegen ist es wichtiger, daß man hübsch ist als dieses ‚discimus‘.“

Nun wurde es gemütlich. Grete Erb schwang zwar noch eine Rede, in der sie für alles dankte, was die Schule einem gegeben, „die die Tore zu den Brüsten der Alma mater geöffnet habe“. – Lizzie erstickte fast vor Lachen über dieses Bild, – aber niemand außer den Professoren hörte mehr ernsthaft zu.

Sonja Kobinger beugte sich tief zu Herta herab: „Schwesterlein,“ sagte sie, „du mußt mir heute helfen. Ich habe keine andere Gelegenheit, mich mit ihm auszusprechen, und übermorgen fährt er weg.“

„Du willst fort?“ – angstvoll sah die Kleine zu ihr auf.

„Nur auf eine Stunde! – Bitte, sei lieb! Ihr bleibt hier doch sicherlich bis Mitternacht zusammen, – ich werde versuchen, dich am Haupttore abzupassen, – ich erfahre ja telephonisch, wann hier Schluß ist. Und selbst wenn wir uns verfehlen, – die Eltern schlafen dann ja schon: du legst mir einfach den Schlüssel unter die Fußmatte – ja, bitte, bitte!“

„Aber ist das nicht ein Unsinn – du machst dir doch sonst nicht so viel daraus, wenn einer fortfährt.“

„Herta! Wie du redest! Nein, sei still! Ich will dir etwas ganz heimlich ins Ohr sagen: ich glaube, ich habe ihn wirklich lieb!“

„Diesen verrückten Kunstsammler? – Aber geh!“

„Ja, ich glaube doch, es ist so. Mir ist viel schlimmer zumute, als du glaubst.“

„Warum denn?“

„Weil ich ihm alles sagte, – als ich nicht wußte, daß es so mit mir kommen würde. Aber nun, nicht wahr, ich kann jetzt gehen?“ Sonja sah sich nach allen Seiten um, aber niemandem fiel es auf, daß sie ihren Mantel über die Schultern nahm und in die Hotelhalle schlich, die sie durch einen anderen Ausgang verließ.

„Hier kommt endlich Fräulein Dr. Südekum!“ rief Lizzie und eilte der Lehrerin entgegen. „Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns!“ Kaum aber hatte Lizzie einen Blick in das Gesicht der Lehrerin getan, so fuhr sie erschreckt zurück. „Sie sind ja krank, Frau Doktor – so entsetzlich blaß – und Sie zittern ja?“

„Still, – still!“ sagte das kleine Fräulein mit einer Stimme, die den anderen ganz seltsam fremd vorkam. Sie setzte sich zwischen Lizzie und Gert und griff hastig nach dem Glas roten Weines, das man vor sie hinstellte. „Ich fühle mich nicht wohl und konnte daher nicht früher kommen, – ich fürchtete, daß ich euch die Stimmung verderben könnte!“

„Sind Sie krank, Frau Doktor?“ In Gerts Stimme lag ehrliche Anteilnahme. Das kleine Fräulein sah so entsetzlich aus.

„Nein, nein, – es wird vorübergehen. Ich kam – ich wollte euch doch wenigstens noch einmal sehen.“ Und zu Gert geneigt: „Und dich sprechen, Kind.“

„Ja,“ ein wenig unruhig sah Gert in das Gesicht der Lehrerin. Es mußte doch etwas geschehen sein – so, so sah man doch nicht aus, wenn man nicht wochenlang im Spital gelegen hatte.

Nun stürzten sich auch die andern Mädchen auf die Lehrerin. Plötzlich kam es ihnen zum Bewußtsein, daß da heute ein Band zerriß, eine Gemeinschaft, die viele Jahre den Inhalt ihres Lebens bedeutet hatte. Ja, sie hatten einander später immer weniger, immer schwerer verstanden – aber gerngehabt hatten sie das kleine Fräulein mit dem so mitempfindenden mütterlichen Herzen doch immer. Sie waren gewiß nicht traurig, daß sie dem Zwange der Schule entflohen waren, aber um das kleine Fräulein tat es ihnen doch allen leid.

Fräulein Dr. Südekum drängte sich mühsam durch die Reihen der lärmend Lustigen bis nach vorn an die Tafel. Dort saß neben Rektor Krause der Schularzt Dr. Klempner und neben ihm die kleine Martha. Die Lehrerin bot den Männern die Hand und beugte sich dann zu dem jungen Mädchen herab, das ihr heute verändert und erschreckend blaß erschien.

„Wie geht es, kleine Martha?“

Das Mädchen antwortete nicht, aber es sah das kleine Fräulein unverwandt an. Eine Frage lag in diesem Blick und eine Bitte.

Fräulein Dr. Südekum konnte aber nicht lange bei Martha verweilen, die Schülerinnen ihrer Klasse umdrängten sie und zogen sie weiter.

Als Fräulein Dr. Südekum aus dem Trubel der allgemeinen Festlichkeit und dem Ansturm plötzlicher Liebesbezeigungen wieder an ihren Platz zwischen Lizzie und Gert zurückkehrte, sah sie noch blasser und durchsichtiger aus, wie nach einer übergroßen Anstrengung.

„Komm ein wenig zu mir hinaus in den Garten,“ sagte sie zu Gert, und diese erhob sich gehorsam und ein wenig beunruhigt.

„Du darfst mir nicht böse sein, wenn ich heute nicht so bin, wie ihr erwarten durftet, – aber dir will ich es erklären. Du weißt doch, daß ich seit zwei Jahren Erwin Löß, den einzigen Sohn von Löß, unterrichte? Er war mir sehr ans Herz gewachsen. – Nun, – er ist tot, und morgen wird er begraben.“

Gert verharrte schweigend. Sie tastete nur leise nach der Hand der Lehrerin, die sie ihr willig überließ.

Als die beiden noch weiter in das Dunkel des Parkweges hineingingen, sagte die Lehrerin noch: „Ich kann dir nichts darüber erzählen, – die Zeitungen haben über den Fall schon mehr als nötig berichtet. Du sollst nur verstehen, warum ich nicht bei euch bleiben kann, warum ich jetzt wieder gehen werde. Ich wollte euch nur sehen. – Gert, ich habe dir zu danken, – du hast mich miterleben lassen, wie du aus den Kämpfen jener ersten bitteren Zeit zu dir fandest, ich habe dir ein wenig helfen dürfen.“

„O, Frau Doktor!“

„Ja, – und das war sehr schön für mich. Du hast mich dann freilich nicht wissen lassen, wohin du gingst – in was du wuchsest – aber ich werde immer in Liebe an dich denken.“

„O, Frau Doktor –“ Es waren nicht die Worte des kleinen Fräuleins, sondern vielmehr der Klang der Stimme, der so schwer, so tief an vergangene Stunden rührte, der Gert jäh enthüllte, wie so ganz sie vergessen hatte, daß dieser Mensch ihr einmal Heimat gewesen war. Aber Gert wußte auch, daß es hatte nicht anders sein können.

„Ich weiß, daß Sie enttäuscht sein mußten,“ sagte sie leise, „daß Sie mich für undankbar halten mußten. Einmal lernte ich sehr gerne – das war, als alle Dinge von außen in mich eingingen, – durch die weitoffenen Fenster der Sinne. Lernen war ja damals, andere Fenster aufmachen, nicht wahr, es war andere Dinge zu denen tun, die ich mit den Augen und Ohren sammelte. Aber dann begann das andere – ich kann es nicht so ausdrücken.“

„Sprich nur, Gertrud, – ich habe dich immer verstanden.“

„Ich mußte so tief in mich hinabhorchen – da – sang es und wurde immer wacher. Und da mußte ich nach außen alles zumachen, mich ganz verschließen, um mich besser zu hören. – – Da lernte ich dann nur noch aus Pflicht, nur mehr mechanisch.“

„Ich glaube, daß ich dich verstehe,“ sagte das kleine Fräulein, „aber ich hätte doch gern gewußt, – was in dir so wach wurde und klang – –“

„Davon kann ich nicht sprechen,“ erwiderte Gert leise und abwehrend. „Ich kann überhaupt nicht sprechen.“

„Und fährst du nun fort?“

„Ja.“ Das kleine Fräulein sah, daß das schmale, stolze Gesicht des jungen Mädchens leuchtete vor Glück.

„Und wohin?“

„Nach dem Süden – in die Sonne – ich weiß noch nicht, wohin.“

„Du weißt es nicht? Wann fährst du denn?“

„Morgen!“

„Und da weißt du noch nicht, wohin du fährst?“ Die Lehrerin lächelte verwundert.

„Nein, ich weiß nur, nach dem Süden. Ich weiß nur, auf eine Insel. Ich weiß nur, mit Alexandra, – sonst weiß ich nichts mehr.“

Nun aber war es, daß die Lehrerin kein Wort hervorbrachte. Wie ein schwerer, entsetzlich schwerer Stein war dieses Wort brunnentief in sie gestürzt. – Ich weiß nur, mit Alexandra.

Und während Gert hoch und schlank vor ihr stand, etwas erstaunt über das plötzliche Verstummen der Lehrerin, sann das kleine Fräulein darüber nach, wieso es wohl gekommen war, daß sie dies alles schon damals geahnt hatte, als Gert davon sprach, es müsse sich erst alles wegen ihrer Reise entscheiden. Nein, es war nicht so unerwartet gewesen. Ihr Denken hatte sich nur so verzweifelt gegen das Gefühl gewehrt, das sie damals schon überfallen hatte, als sie von Alexandra hörte, sie habe Gert kennengelernt. Nun war alles entschieden. Alles.

„Lebe wohl,“ sagte sie plötzlich mit veränderter Stimme. Sie durfte nicht weitersprechen, sonst mußte Gert ja merken, wie furchtbar sie dies traf.

„Was haben Sie, Frau Doktor?“ fragte Gert erstaunt. „Sie sind plötzlich so ganz anders?“

„Ich – ich wollte dich nur fragen: wie ist das mit dir und dieser Frau Alexandra? Wie kam es so plötzlich? Ich weiß, sie fährt sonst immer allein?“

„Alexandra sagte: ‚Du kommst mit mir!‘“

„Du? – So sagt ihr euch also du?“ Immer blasser und durchsichtiger wurde das Gesicht des kleinen Fräuleins im Schein des Nachthimmels.

„Ja, – es ist ja so, als kennten wir uns schon tausend Jahre. – Ich fand ihren Vorschlag herrlich.“

„Und es schien dir gar nicht befremdlich? Ich meine, sie ist doch eine Frau, eine Künstlerin – und du bist so jung?“

„Ich denke überhaupt nie nach. Ich lasse mich immer treiben. Das ist so schön, – man lernt sich kennen.“

„Man kann sich auch verlieren! – O Gertrud, ich habe Angst um dich!“

„Es ist schön, Angst zu haben, – ich habe auch ein wenig Angst.“

Das kleine Fräulein umfing die junge Gestalt vor sich mit einem wehen Blick.

„Lebe wohl, Gert, ich muß nun gehen.“

„Leben Sie wohl, Frau Doktor – ich werde Ihnen schreiben.“

Langsam ging das kleine Fräulein den Weg weiter hinaus auf die Straße. So müde war ihr Gang nun, so müde.

Sie ging weiter und weiter. Es war ja so gleichgültig, wohin sie ging. Nur nicht in die Einsamkeit ihres Zimmers, das hätte sie jetzt nicht ertragen können. Aber sonst war alles gleich. Da das Hotel aber hier draußen im Cottage lag, war es vielleicht am besten, sie ging zu Nowotnys? Sie war schon so lange nicht dort gewesen. Ja, das würde ihr gut tun. Auch Dummheit tat manchmal gut.

Während das kleine Fräulein den Weg hinaus in die stille Straße wanderte, wo Nowotnys wohnten, räumte der Kellner in einem Separee in der inneren Stadt die Überreste eines kleinen Soupers ab und entkorkte die eisgekühlte Flasche Sekt.

„Den ersten Schluck mußt du aus meinem Munde trinken,“ sagte Sonja zu dem breitschultrigen Manne, der neben ihr saß und sein braungebeiztes Gesicht ihrem näherte.

„Komm!“

„Du!“ Mit einem Seufzer ließ sie von seinem Munde.

Sie gaben sich ihrer Leidenschaft wie besessen. Ihr Körper bäumte sich unter seinen Küssen.

„Du – liebst du mich?“ Eine drohende Falte stand zwischen seinen Brauen.

„Ich – ich weiß es nicht.“ Sie machte sich aus seinen Armen los. „Das weiß ich nie.“

Da zwang er sie langsam, ganz langsam, aber mit überlegener Kraft so zu sich, daß ihr rotbraunes Haar über seine Hemdbrust flutete. „Höre zu, Kind. Du sprichst so tolle Sachen. – Du fürchtest dich vor gar nichts, und es scheint dir auch sehr gleichgültig zu sein, was man von dir denkt. Dennoch du, – ich spüre es, daß du nicht so bist, wie du dich gibst, kleines, tolles Mädchen! Und wie sehr du dich wehrst und das leichtsinnige Mädel spielst: glaubst du, ich weiß nicht, daß du mich liebst? Daß du das zum erstenmal spürst, – so bis in dein innerstes Leben?“

„Das ist nicht wahr, ich liebe dich nicht!“ Wie Flehen klang es.

„Wildkatze! – Höre einmal zu. Ich bin kein Bub mehr. Ich habe in der Gesellschaft gelebt und in fast allen Ländern der Erde, wo ich meinem geliebten antiken Grabschmuck nachjagte. Ich habe die europäische Liebe gekostet und die exotische, ich habe kleine blonde Komtessen in den Armen gehalten und halbflügge fremdrassige Kinder, wie man sie in den Hafenstädten kauft. Mir macht man nichts vor. Ich mache mir nichts aus den sogenannten jungfräulichen Mädchen Europas, auf deren grauer Haut, wenn sie über die zwanzig sind, alle wüsten Träume ihrer einsamen Nächte sich spiegeln. Ich mag nicht mit geträumten Männern und geträumten Nächten fechten. Aber ich weiß mich Manns genug, um auch dort der wirklich erste Geliebte zu sein, wo ein Mädel so ungeduldig war, nicht auf die Eventualität Ehemann zu warten. Oder glaubst du, ich weiß nicht, daß alles ausgelöscht ist, seitdem ich dich küßte?“

„Schweig!“ Erblaßt wandte sie ihr Gesicht von ihm ab. O, wie ihr Herz schlug, wie rasend, wie bange!

„Nein, Wildkatze, ich schweige nicht. Sage einmal: du willst doch auch heiraten?“

„Höre auf – das kommt immer noch zu früh! Heute sitzen wir in einem Separee, der Sekt ist eingekühlt, ich habe mich so auf dich gefreut! Willst du mir eine Predigt halten! Ich höre daheim genug davon.“

„Aber Mädel, wer will dir etwas predigen? – Sicherlich am wenigsten ich, der mit dir seit Tagen durch alle wüsten Lokale zieht, den es so freut, wie unbändigen Spaß es dir macht, noch die Kellner durch deine Wildheit zu erschrecken. Aber das eine weißt du doch selbst, daß dies kein Spiel mehr ist, daß es ganz, ganz anders ist als deine kleinen und großen Mädeldummheiten. Und ich fordere, daß du es bekennst, wie sehr du mich liebst.“

„Nein!“ Angst und Abwehr sprach aus ihrem Antlitz.

Ein harter, fordernder Mund legte sich schwer auf ihren.

„Liebst du mich?“

Nur noch die stahlblauen Augen waren über ihr, die aus dem braunen verwitterten Gesicht brannten. So süßer Taumel ging von ihnen aus, so süßer Taumel. Und ein trotziger Mund vergrub sich in einen Männernacken und stöhnte:

„Ja, – ich liebe dich, – dich – dich!“

Eine weiche Hand fuhr über wildgelocktes Haar und strich es aus der heißen Stirn: „Dann höre, Wildkatze. Es ist das letzte ernste Wort. Nachher brauchst du nur noch Sekt zu trinken und mich zu küssen. – Also: Die Adresse deines Papas ist wohl dieselbe wie die deine?“

„Ja, – wozu?“

„Still! – Trifft man deinen Papa vormittags daheim? – Ja? – Gut, dann will ich ihm morgen sagen, daß ich Verlobungen hasse und daß wir in drei Wochen heiraten werden!“

„Du bist verrückt!“

„Ruhe! Jetzt feiern wir unsere Verlobung, verstanden? Oder gefällt es dir nicht hier, unter dem zerkratzten Spiegel, auf dem roten Plüschsofa!“

„Du!“

*

Während dies sich in einem der verrufensten Lokale der inneren Stadt zutrug, hatte das kleine Fräulein Dr. Südekum in das Heim der Nowotnys gefunden.

„Laßt mich nur ein wenig dasitzen,“ sagte die Lehrerin. „Mir ist zu elend, ich kann nicht reden.“

So begannen die beiden zu erzählen. Sie sprachen ruhig, sie sprachen wie glückliche Leute.

Die Bildhauerin erwähnten sie mit keinem Worte.

Aber als die Lehrerin in das Wohnzimmer trat, da sah sie: die vergrößerten Photographien hingen alle wieder an der Wand. Auch der Schornsteinfeger stand in seiner Ecke, und das Zimmer empfing sein Licht durch eine Hängelampe, deren Seidenschirm pausbäckige gußeiserne Engel hielten.

Da sank eine große Traurigkeit in das Herz des alternden Fräuleins. Sie empfahl sich wortkarg und ging hinaus in die nachtstillen Straßen.

Würde es auch ihr so gehen? – Und war das das Ende, daß alles wieder ins Geleise kam, daß man still wurde und resigniert, daß man die Bilder von einst wieder an die Wand hängte?

Aber noch lag sie an der Brust eines großen Schmerzes. Er spreitete seine Flügel weit und trug sie hoch über Resignation und Stille davon in sein düster flammendes Reich.

Noch litt sie, – so lebte sie noch.

Achtzehntes Kapitel

Wie die Eukalyptusbäume dufteten! Ihr grüngoldener Atem erfüllte den Wald mit einer Dämmerung, die alles ringsumher unwirklich schuf. Große, fremdartige Pflanzen blickten starr zu ihnen hinauf, und Lianen rankten sich inbrünstig an ihren Stämmen empor.

Wie weich die Wege waren! Der Fuß versank in ihnen, Schreiten wurde leise, beschwingt. Heiserer Vogelruf, schweres Flügelschlagen durchbrach manchmal den Traum der Stille, die Flucht eines wilden Kaninchens dann, das Rascheln einer Maus über Pinienfrüchten.

Wie die Eukalyptusbäume dufteten! Gert und Alexandra schritten die goldbraunen Wege immer tiefer in den Wald hinein.

„Nun sind wir so weit – so allein, daß uns kein fremdes Menschenwort mehr finden kann,“ sagte Alexandra.

„Ich spüre, wie sich die Schwere löst, die alles in mir so sehr gefangenhielt dort in der Stadt. Fast möchte ich durch den Wald tanzen, um diese Luft noch tiefer in mich zu zwingen.“

„Dann komm weiter, – siehst du nicht, wie es blau dort durch die Stämme schimmert?“

„Das Meer?“

„Das Meer!“

Sie brachen abseits vom Wege durch das Dickicht, das ihnen oft bis zu den Schultern reichte, das ihnen die Kleider von den Schultern zu reißen drohte. Erschreckt flatterten Fasane in trunkenen Farben auf, der wilde Waldboden schlug ihnen seinen herbsüßen Brodem entgegen, daß sie fast taumelten.

Aber dort, – schon brachen sie durch die stachligen Brombeerranken, – dort schimmerten weiß und gezackt die Klippen.

Leichtfüßig sprangen sie über das unter den Küssen des Meeres diamanthart gewordene Gestein. Stöhnend schlug der Gischt zu ihren Füßen an den Uferfelsen empor. Dunkel wie Lust und Vergessen breitete sich vor ihnen das Meer.

Eine große Sonne stand weiß am Himmel, als sie die Kleider lösten und mit hellem Lustschrei die befreiten Körper in die Wasser tauchten.

Wie die Wogen sie rauschend dahintrugen!

Sie lachten einander zu, wenn sie im Tanz der Wogen einander entschwunden waren und wieder emportauchten im weißen Glanz einer Schaumkrone, oder wenn die Wellen ihre Körper gegeneinanderwarfen wie leichtes Schwimmholz. Müdegetollt legten sie sich auf den Rücken, ließen sich von den wildspielenden Wogen treiben und sahen zu dem großen Himmel auf.

Dieser Himmel, nein, es konnte nicht derselbe sein, der auch auf die ferne Stadt blickte, auf die engbesiedelten Gegenden, wo die vielen Menschen wohnten. Das war ein anderer Himmel: herrisch, groß und wunderbar.

Sie lagen in der Sonne auf den harten Klippen und lachten einander zu.

„Und wirklich – außer dem Fischerpaar unten am Strand, lebt kein Mensch auf dieser Insel?“

„Kein Mensch, Gert.“

„Warst du schon einmal hier, Alexandra?“

„Niemals. Ich bin überall zum erstenmal und niemals wieder. – Du, wie der Wald zu uns herüberduftet!“

„Wir wollen in den Wald hineingehen? Ja?“

„Komm!“

Sie warfen die Kleider über ihre sonnensatten Glieder und wanderten in den Wald. Schweigend nahm er sie auf. Hier sank das weiße Mittagslicht in Geheimnis und Dämmerung. Große, blaue Schmetterlinge und einer, dessen Flügel purpurrot wie Blut schimmerten, lockten sie immer tiefer in die Wildnis.

„Wie Eroberer und Entdecker sind wir!“

„Ja, Gert, – alles gehört uns allein!“

„Was schimmert dort so weiß durch die Stämme, – dort, wo der rote Falter hinschwebt?“

„Wir wollen ihm folgen.“

Die Stämme teilten sich und gaben eine kleine runde Lichtung frei, ganz überwuchert von wilden Riesenfarnen, zwischen denen seltsame Blumen blühten.

Inmitten der Waldwiese lagen moosüberwuchert schlanke Säulen wie träumend hingegossen in ihr Schweigen. Über einer Marmorplatte, zu der verfallene Stufen emporführten, hielt sich auf einer Seite in starrer Neigung ein graziöser Steinbogen auf zwei grünschillernden Säulen. Der rote Schmetterling schwebte an ihnen empor und ließ sich, mit den schimmernden Flügeln wippend, am Säulendach nieder.

„Ein heidnischer Tempel, Gert!“

„O, wie alt er aussieht, – als hätte ihn ein versunkenes Jahrhundert hier vergessen! Aber keine Göttin lebt in ihm, – man hat sie geraubt.“

Alexandra trat näher. Ihre Hände glitten behutsam über die Formen des Säulenkapitäls, das vor ihr im Moose lag. Dann beugte sie sich tief über die Inschrift, die in die moosüberwucherte Marmorplatte eingegraben stand, die einmal wohl einen Altar getragen hatte.

„Der Tempel war der heidnischsten Gottheit geweiht – der Göttin der Lust,“ sagte sie.

„Der Lust?“

„Ja, – nicht wahr, das wundert dich? Später waren alle Gottheiten nur noch Götter des Schmerzes und der Verneinung. Der Altar der Lust zerfiel.“

„Wir werden ihn wieder aufrichten, ja? Wir sind die Königinnen dieser Insel und dürfen den Gott wählen, den wir wollen!“

Alexandra sah lächelnd in das Antlitz Gerts. „Nimm dich in acht! Du sprichst mit einer Heidin, in der das Blut der heidnischen Länder noch nicht still und europäisch geworden ist.“ Dann fügte sie ernster hinzu: „Nein, Gert, – niemals wieder wird man diesen Tempel aufrichten. Diese Götter sind tot – das Kreuz hat sie gemordet.“

„Götter können nicht sterben, wenn sie Götter sind – – sie können uns nur verlassen. Aber sie kommen wieder, wenn wir sie rufen. – Soll ich sie beschwören – oder hast du Angst?“

„Gert, – was meinst du damit?“

„O – ich denke nicht so viel nach! Komm, wir wollen weiter durch den Wald! Ich habe Hunger – herrlichen Hunger.“

„Kehren wir in der Fischerhütte ein. Sie werden uns köstliche Fische goldbraun im duftenden Öl dieser Insel braten, und wir werden dazu den schwarzen Wein trinken, der hier wächst!“

Als die Sonne schon tiefer stand, und das satte Violett immer siegreicher in das Blau des Meeres, in das Braun, Gold und Grün des Waldes drang und selbst die weißen Klippen mit zärtlichen Schatten umfing, saßen sie am Südhang der Insel, wo der schwarze, rauhe Wein der Fischerleute wuchs.

Gert sah in die Schatten, die über den Uferfelsen unter ihnen dunkelten.

Alexandra fragte, plötzlich aus ihren Gedanken auftauchend: „Du weißt wohl gar nicht, wie sehr dich dieses kleine, komische Fräulein Dr. Südekum geliebt hat?“

„Ich wußte es nicht immer. Ich war so sehr mit mir beschäftigt, daß ich die andern kaum bemerkte. Erst am letzten Tag, als wir Abschied nahmen, wußte ich es ganz. Ich versuchte, ihr zu erklären, warum es so gekommen war, daß ich allein sein mußte, – aber sie hat mich nicht verstanden.“

„Sie hatte das Gefühl, du hättest Verrat an ihr geübt, nicht wahr? Ja, die Menschen sehen es immer so, wenn wir uns von ihnen fort zu einer neuen Stufe unseres Weges wandeln. – Aber es tut ja auch sehr weh.“

Gert lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und sah einer kleinen Wolke nach, die aus dem immer dunkler werdenden Himmel dem hellen Streifen im Westen zustrebte. Sie sagte: „Als das Geheimnisvolle noch still war und alle Dinge von außen in mich eingingen, da war ich oft bei ihr. Sie war wie meine alte Kinderfrau, die immer alles ordnete und an seinen Platz rückte, was ich in Zorn oder Ungeduld von mir warf. Aber später, als das Geheimnisvolle in mir zu wachsen begann, als es mich immer mehr durchdrang, – da wußte ich auf einmal, daß ich die entscheidenden Dinge nicht durch die andern lernen konnte. Sie waren vielleicht sehr alt, diese neuen Dinge in mir, denn als sie wach wurden, wußte ich, daß sie schon immer dagewesen waren, daß ich sie schon immer gewußt hatte. Dann haßte ich das Lernen.“

„Du wolltest nicht noch mehr von diesen Dingen, die nur von außen kamen ...“

„Ich wußte, daß ich nur auf die Stimme hören mußte. Ja, und da war plötzlich der Riß mit der Lehrerin. Sie wollte immer weiter Fremdes in mich hineintun, Erfahrungen und Gedanken anderer.“

„Und du wolltest jetzt nur dich erfahren!“

„Ja, das war es.“ Gert warf sich plötzlich herum und sah, den Kopf mit beiden Händen aufstützend, Alexandra in das Gesicht. „Ja, das war in den kleinsten und alltäglichen Dingen. Höre zu! Einmal sah mich die Südekum auf der Straße mit einem Herrn gehen. Sie sagte nie ein Wort darüber, obwohl es streng verboten war. Aber ich fühlte, was sie dachte. Und da haßte ich sie fast. Dennoch, – ich hätte ihr ja nie erklären können, was eigentlich war.“

„Erzähle!“

„Ja, dir will ich es sagen. Damals, – ich war so neugierig, so gespannt auf mich in allen Dingen. Es ist ja etwas ganz Alltägliches, ein junges, sehr junges Mädchen geht mit einem Mann auf der Straße, und er sagt ihr: ich liebe dich! – Du verstehst mich, wenn ich dir sage: Der Mann war mir gleichgültig. Aber ich hatte es noch nicht erlebt, und ich hatte mich noch nicht in einem solchen Geschehen erlebt, hatte mich noch nie mit einem Herrn gehen gesehen, noch nie mich erfahren, wenn einer zu mir von Liebe sprach. Nur darum war ich von den alltäglichen Dingen so voll unerhörter Erwartung. Ich konnte nicht wissen, wie ich in dieser oder jener Situation sein würde. Und ich war so brennend neugierig auf mich, – immer nur auf mich.“

Alexandra sah tief hinein in das erregte leidenschaftliche Antlitz Gerts. „Wie gut ich dich verstehe. – Viel zu gut! Aber sich selbst zu suchen ist eine gefährliche Leidenschaft!“

Gert sprach weiter, so, als müßte sie sich selbst Rechenschaft ablegen. „Darum war es so töricht, wenn man mir in jener Zeit von den Erfahrungen der anderen sprach: was sie sich über eine Sache gedacht hatten, was man sich im allgemeinen darüber denken müsse, was daraus folge – o, wie abscheulich.“

Immer erregter wurde Gert: „Natürlich ist es interessant, wie der große Winterfeldzug Napoleons ausging, oder was sich Goethe gedacht hatte, als er die Wahlverwandtschaften schrieb – aber, nicht wahr, das stand ohnehin in den Büchern aufgeschrieben? Man konnte in ihnen jeden Tag lesen, es lief nicht davon, auch dreißig Jahre später konnte man es noch lesen. Jetzt aber war ich da, und ich konnte mich jeden Tag in etwas anderem erleben und erfahren, das war jetzt da, Gegenwart, und es existierte nur, wenn man es lebte – heute lebte, – verstehst du?“

„Und was erfuhrst du, und was erlebtest du in dir?“ fragte Alexandra. Ihr dunkelgetöntes Antlitz leuchtete in der späten Sonnenstunde wie Bronze.

„Ich erlebte vor allem meinen Körper, der sich reckte und wuchs, ich entdeckte die Melodie in ihm, – ich wußte plötzlich, daß ich Tänzerin werden müsse. Ganz mich in Musik und Rhythmus auflösen – das war das einzige Ziel.“

„Und kein Du? – ich meine, keinen Mann?“

„Auch den Mann erlebte ich,“ antwortete Gert ruhig. „Oder eigentlich mich in ihm. Das war nicht er, den ich erlebte. Ich war verliebt in meine Verliebtheit, ich dachte mir nicht viel dabei. Ich verstand die anderen nie, die das so tragisch nahmen. Es war eine Erfahrung mehr an mir selber. Aber es war immer sogleich zu Ende. Wie ich erreicht hatte, was ich wollte –, war ich ernüchtert und gelangweilt. Ich konnte mich selbst nicht mehr erfahren in ihm.“

„Wie ein Knabe bist du,“ lächelte Alexandra, „dem die schönsten Frauen nur die Möglichkeit zu lieben schenken.“

„Ein Knabe,“ wiederholte Gert und sah Alexandra an, „wäre ich ein Knabe, so würde ich dich entführen!“

„Still!“ Alexandra war sehr blaß geworden. „Du sprichst törichte Dinge!“

„Erzähle mir von dir,“ bat Gert. „Du hast viel geliebt, nicht wahr?“

„Ich habe viel geliebt,“ antwortete die Bildhauerin. „Aber wieviel ich auch gab, und wenn es tausendmal mehr war, als der andere zu geben hatte, es war doch stets so, daß ich mich immer zurücknehmen konnte, daß ein Rest blieb, der keinem Menschen gehören darf, den ich nur an meine Kunst verschenken kann.“

„Dann gabst du dich doch nicht? Dann nahmst du doch nur! Wer halb gibt, gibt nichts.“

„Das hat mir noch niemand zu sagen gewagt,“ antwortete Alexandra schroff. „Ich bin eine Künstlerin und nicht dazu da, mich zu verschenken.“

„Wie hochmütig du bist und – wie arm,“ sagte Gert leise, und ihre Augen wurden ganz dunkel.

Alexandra sprang auf. „Gehen wir,“ sagte sie hart. „Es wird finster.“

Sie tranken purpurschwarzen Wein vor der kleinen verlassenen Fischerhütte, die ihnen das Fischerpaar überlassen hatte.

„Die hier lebten, sind gestorben,“ erklärte Alexandra. „Die Hütte steht seit Jahren leer.“

Sie tranken einsilbig und ließen sich dem Zauber der Nacht, in die alle Pflanzen und Bäume ihren duftenden Nachtatem hauchten, bis sie ganz schwer wurden und wie Gefahr.

Sie lagen einander so nahe im Dunkel, daß eine den Herzschlag der andern hören mußte.

Alexandra lag schlaflos und sah durch das kleine Fenster hinaus auf das Meer, auf dem grün und rot die Leuchttürme blinkten.

Warum bin ich plötzlich so verwirrt und voll Scham? dachte sie gequält. Wäre es denn Sünde, wenn wir den Traum erfüllten, das, was in unserm Lachen schwingt, das so unnütz und so schön aus unsern Gesprächen emporzuckt wie eine weiße Wolke, – was in der schweren, mittagstillen Lässigkeit unserer Glieder träumte, was mich jetzt nicht schlafen läßt – und ich weiß es, auch sie nicht.

Rein und groß wehte der Atem der Nacht durch die Fenster in den kleinen Raum.

Und weiter dachte Alexandra: Ist es nicht Gottes Jawort zu unserer Sehnsucht, daß wir schön sein würden in unserer Erfüllung, – mein brauner, sehniger Körper und ihr traumhaft weißer und schmaler? – –

„Alexandra!“ Eine Stimme rief durch das Dunkel.

„Ja?“ Wie Angst klang es gepreßt.

„Es ist so heiß hier, – ich kann nicht schlafen. Ziehen wir uns an und gehen wir in den Wald – zu dem kleinen Tempel. Es muß jetzt sehr schön dort im Mondlicht sein!“

Sie kleideten sich im Dunkel an und stiegen schweigend den steilen Felsenweg zum Walde empor. Ihre Füße sanken in den weichen Waldweg. Die Stämme der Bäume leuchteten in einem unwirklichen Licht. Und wie es ringsum duftete und atmete! Das war die Stunde des Waldes, seine lebendigste Stunde.

Schon sahen sie die weißen Säulen im Mondlicht vor sich schimmern.

Sie setzten sich auf vom Sturm geknickte Stämme und sahen schweigend umher.

Als Alexandra Gert in einer jähen Bewegung an sich ziehen wollte, machte sich diese behutsam los, stand auf und verschwand zwischen den Stämmen.

Alexandra wagte nicht zu rufen. Dann aber hielt sie den Atem an.

Eine schmale weiße Gestalt löste sich aus dem Dunkel der Bäume, ging zagend ein paar Schritte vor und warf sich emporzuckend in einen Rhythmus, der immer wilder wurde. Nun fiel das Mondlicht voll auf sie, zuckte silberbrennend auf den weißen, zarten Brüsten auf, glitt wie im Spiele abwärts zu den schmalen Hüften, koste den Schatten, der wie ein Mysterium aus dem degenschmalen Leuchten des sich immer rasender umherschnellenden Körpers dunkelte.

Gert sprang immer weiter vor. Schon tanzte sie inmitten der Wiese. Hinter ihr ragten mondbeschienen und unwirklich weiß die Säulen des Tempels. Immer wilder tanzte sie, den Kopf zurückgeworfen. Die Flut ihrer blonden Haare peitschte ihr Gesicht und Nacken, warf zuckende Schatten auf ihre Brust.

Alexandra löste jäh die Kleider von ihren Gliedern. In dem grünen Feuer des Waldlichts schien ihr brauner Körper der Gestalt einer Göttin gleich, die man nach tausendjährigem Schlaf aus einem Königsgrabe gehoben.

Langsam ging sie auf die weiße Flamme zu, die sie immer weiter lockte, bis in den Tempel.

Auf der moosbedeckten, farnenüberwachsenen Marmorplatte sanken sie nieder.

Durch die uralten Säulen ging ein Zittern, als ein Schrei zwiefacher Lust durch die Nacht drang. –

Gert schlief müde an der Brust Alexandras.

Der heiße Nachtwind koste ihre Glieder und spielte mit ihrem Haar. Alexandra sah empor zu der Nacht, die alle Sterne in ihr tiefes Blau gezwungen hatte, die großen Sterne der festlichen Nächte des Südens.

Eine leise Traurigkeit stieg aus der überreichen Schönheit ringsumher. Eine Traurigkeit, die das Herz Alexandras verwirrte.

So wunderbar sie diese Nacht beschenkt hatte, auch über sie hinaus mußte sie weitergehen! Ernst sah sie auf das gestillte Antlitz vor sich. So manches Antlitz hatte sie schon in Nächten belauscht und immer mit dem Wissen um ein Abschiednehmen.

Wie wild dieses Kind blühte! Wie maßlos wild. Aber auch für sie würde diese Nacht einmal nur eine Stufe auf ihrem Wege einer großen Liebenden sein.

Nein, an meinesgleichen leidet man nicht, dachte Alexandra und fuhr weich über das Haar der Schlafenden. Wir vermögen nur Fackeln zu entzünden. Wir sind zu fern, zu verschenkt, als daß wir einen Menschen festhalten könnten.

Inseln sind immer nur ein Traum. Man kehrt aus ihnen in das Leben der anderen zurück. Ich werde arbeiten, – ich weiß. Und ich werde vergessen.

Aber Sünde war dies nicht, dachte Alexandra, indes sie mit weichen Händen über das Haar der Schlafenden glitt. Nein, Sünde war es nicht.

Denn dies war nicht Großstadt und lasterhafte Neugierde ermüdeter Sinne. Unschuld und Urbeginn lebte in dieser Nacht. Denn einmal in Urzeiten, als die Menschheit noch jung war, da mußte es so gewesen sein: unschuldige, lösende Spiele der Mädchen auf einer Waldwiese, die noch kein Mann betreten hatte, nicht der Mann, der das Leid und die Not des Geschlechtes brachte.

Nein, Sünde war das, was die verirrten Nerven unter Bogenlampen, Geigenschwirren, Alkohol und Parfüm gaben und nahmen – auch wenn die überklugen Medizinmänner das in der Ordnung fanden.

Sünde war, wenn man sich an etwas verlor.

Meine Ehe war Sünde, dachte Alexandra, weil sie mich in Knechtschaft und Vergewaltigung zog, und Sünde war es, wenn ich mich feige törichten Gesprächen und erniedrigenden Nächten überließ, statt in meinem Atelier zu arbeiten.

Aber Sünde war es nicht, als ich Pietro, dem italienischen Fischer, gehörte, der mich wahnsinnig küßte in jener Nacht in seinem Boot, als über uns tausend Sterne brannten wie heute. Nie war ich freier als nach jener Nacht, nie sündenloser!

Wir werden beide weitergehen, dachte Alexandra, und wir werden vergessen. Wie ein Schild hielt sie diesen Gedanken vor das unerklärliche Bangen, das sie unter diesem großen sternenklaren Himmel überkommen wollte.

Denn es war so, daß immer wieder ein leises Wissen, das aus Urtiefen stieg, sie mit heißer Angst belud. Aus Urtiefen stieg es, und aus dieser Nacht wuchs es ihr zu, aus dem grenzenlosen Alleinsein mit einem geliebten Menschen unter diesem großen Himmel. Und Alexandra kämpfte gegen dieses Wissen um sich selbst.

O, sie wird auch kleinere Münze nehmen, dachte sie. Sie wird irgendeinen heiraten, den sie zu lieben glaubt, weil er ihr die Sicherheit bietet und die Erfüllung äußerer Wünsche. Und sie wird ihm von unseren trunkenen Stunden so wenig erzählen, wie von den Nächten, da sie hinausgelehnt zum Fenster zu einem unendlichen Sternenhimmel aufsah und sich wünschte, in solcher Nacht zu sterben, wie noch viele andere Dinge, die ein Mädchen niemals einem großen, vernünftigen Manne erzählt – weil sie zu unwirklich sind, zu sehr Traum.

Wieder beugte sich Alexandra tief zu dem schlafenden Antlitz vor ihr hinab, und sie flüsterte: Vielleicht werden dich einmal lieblose Fäuste nehmen, die es müde geworden sind, bezahlte Körper zu kosen, und denen deine Jugend ein letzter lasterhafter Reiz ist. Vielleicht werden Greisenfinger sich noch einmal an dir in sündiger Lust entzünden. Oder Hände, gedankenlose Hände werden dich nehmen, kühn durch den Wein des Hochzeitsmahles, Hände, die sonst Seiten in einem Kontobuch blättern.

Meine Hände aber, – Gott hat sie lieb, denn er formte sie zu einer Arbeit, die er selbst einmal in stürmischer Jugend kühn und neugierig wagte, – – damals, als er den Menschen schuf.

Neunzehntes Kapitel

O, Fräulein Dr. Südekum – ich glaube, daß es noch nie so schwer war, daß Eltern und Kinder einander verstehen, wie heute. Sie dürfen nicht vergessen, daß diese Jugend so voll wilder Auflehnung ist, weil sie wirklich nichts, gar nichts mehr vorfand.“ Grete Erb ging neben der Lehrerin durch die Straßen der Stadt und sprach eifrig auf sie ein.

„Das verstehe ich nicht,“ sagte Fräulein Dr. Hanna Südekum leise. „Ich fürchte überhaupt, daß ich sehr alt werde und nicht mehr mitkann. Muß die Jugend nicht auch heute wie früher auf den Schultern der Alten stehen? Haben ihnen nicht Wissenschaft und Technik, die Forscher und die großen Dichter ein Erbe zurückgelassen, das es zu verwalten gilt?“

„Ja, gewiß,“ sagte Grete Erb. „Aber es geht nicht allein um diese Dinge, es geht um das Leben selbst. Und auch die Wissenschaft arbeitet vielfach nach Methoden, die auch von der zum Sterben verurteilten bürgerlichen Ideologie erfüllt sind.“

„Das sagst du, die an die Hochschule will?“ fragte Fräulein Dr. Südekum verwundert.

„Vor allem muß ich dabei sein, wenn ich will, daß es anders wird,“ entgegnete Grete Erb und fuhr fort: „Die Technik hat das Leben bequem gemacht, – für die, die Geld haben natürlich. Aber sonst, es gibt nichts, woran man sich halten kann. Und dies gilt am stärksten für die Mädchen der bürgerlichen Klasse, der wir angehören. Die Kleinbürger und die Arbeiter sind schon viel weiter, – denen hat der Kampf um die Existenz und die Not geholfen, ganz neue, ehrlichere und anständigere Bedingungen auch für die Frauen zu erkämpfen. Wir aber, – uns sucht man noch immer Gesetze einer längst vermoderten Zeit aufzuerlegen, man hält uns unfrei und glaubt mit Gewalt eine sterbende Gesellschaftsmoral aufrechterhalten zu können.“

„Grete, – Grete, ich bin ganz entsetzt über das, was du sagst! Und gerade dich hielt ich immer für so klug und für gesetzter als die andern.“

„Ich habe nur gründlich über das nachgedacht, was anders werden muß. Die meisten lassen sich treiben, sie kämpfen einen heimlichen, erbitterten Kampf gegen die Erwachsenen, einen Kampf voll Lüge und Betrug. Ich aber will mir klar werden und daran arbeiten, daß es anders wird. Darum gehe ich auf die Universität. Ich will Germanistik und Pädagogik studieren und Lehrerin werden. Frau Doktor, ich will daran arbeiten, daß auch die Mädchen unserer Klasse aus dem vergoldeten Käfig hinaus erzogen werden für das Leben.“

„Tat man das bisher nicht?“

„Nein, man erzog sie nur für das Heiraten, nicht einmal für den Mann. Aber Sie wissen es so gut wie ich: die wenigsten heiraten, und viele brechen auch aus diesem Käfig aus, – weil eben auch die Ehe anders werden muß.“

„Aber du bist ja eine Rebellin, Grete.“

„Wie jeder, der nicht lügen mag.“

„Aber höre einmal zu, Grete. Du hast doch so manches mit angesehen in der Klasse. Du kennst doch alle Geschichten und hast wahrscheinlich auch sonst deine Augen offengehalten. Du weißt auch, wie die Mädchen später leben – nach der Schulzeit. Diese modernen Mädchen, sie machen Ausflüge allein mit den Burschen, sie gehen allein auf Bälle, – ja, manche besuchen Bars. Sie leben wie Kokotten, rauchen, schminken sich, tragen schamlose Kleider. Und da willst du, daß sich die Eltern nicht wehren gegen diese neue Art, die jedes Haus vergiftet?“

„Verzeihen Sie, Fräulein Doktor, aber Sie begehen den Fehler aller Erwachsenen. Sie vergleichen die Sitten Ihrer Zeit mit denen der unseren. Sie können nicht daran glauben, daß eine andere Zeit da ist. Und vor allem überschätzen Sie Äußerlichkeiten.“

„Die immer der Ausdruck der inneren Vorgänge sind!“

„Nein, heute nicht, und gestern waren sie es ebensowenig. Ich bin doch mit diesen Mädchen aufgewachsen, ich kann darüber erzählen. Dieselben Mädchen, die unter den Augen der Eltern am konventionellen Gesellschaftsabend freche Reden führen – immer nur aus Auflehnung und Haß gegen den Zwang – sie, die ihre von den Eltern protegierten Verehrer mit Reden von freier Liebe und dergleichen erschrecken, sie, die ihnen langweilige Bewerber fragen, ob ihr Junggesellenheim auch ‚verrucht‘ eingerichtet sei, die sich beim Jazz unter den Augen entsetzter Tanten so verderbt an ihren Tänzer schmiegen, daß diesen nur zu seufzen übrigbleibt: ‚O, diese jungen Mädchen von heute!‘ – Fräulein Doktor, dieselben jungen Mädchen lachen ihr keusches, helles Jungmädchenlachen, wenn sie mit ihrer selbstgewählten Gesellschaft irgendwo draußen in Schnee und Eis die den Eltern abgetrotzten Weekendtage verbringen. Kein heißes Wort wagt sich zu ihnen, wenn sie im Alpenhotel dem Mann, den sie wirklich gern haben, ‚Gute Nacht!‘ sagen, – obwohl sie keine Mutter behütet. O, Frau Doktor, glauben Sie mir, die Mädel, die Zigaretten rauchen und im Besuch einer Bar des Lebens höchsten Genuß sehen, küssen ihren ersten Kuß ebenso rein und heilig wie ihre Urgroßmutter vor hundert Jahren. Und – wenn man sie in Ruhe läßt – dann kommen sie von einem mit hundert Schwindeleien erreichten Ausflug mit ihm, ja sogar von dem heimlichen Besuch eines Nachtlokals, ebenso strahlend verlobt zurück, wie die Mädchen früher in der guten Stube mit den Spitzendeckchen neben ihrem Bewerber standen, blutübergossen, – wenn die kluge Mama einmal einen Augenblick hinausgegangen war. Nur, daß diese Mädchen ihren Partner selbst wählen, daß sie ihn kennen und nicht so sinnlos unglücklich werden wie fast alle ihre Mütter.“

„Das will ich dir gern glauben,“ sagte Fräulein Dr. Hanna Südekum nachdenklich. „Ich bin gewiß nicht so, daß ich in allem gleich das Schlechteste sehe. Aber – du mußt doch zugeben – man erfährt von so vielen Mädchen, die – nun, die gefallen sind.“

Grete Erb stutzte einen Augenblick und sah ratlos der Lehrerin in das Gesicht. „Fräulein Dr. Südekum, – nun seien Sie mir nicht böse! Aber wenn ein Wort aus dem Sprachschatz dieser Generation verschwinden muß, so ist es das von den gefallenen Mädchen. Man ist nicht deshalb gefallen, weil man heißeres Blut hat als andere und nicht daran denkt, noch Mitte der Zwanzig zwar erwachsen und im Besitz aller Staatsbürgerrechte, aber doch nur als halber Mensch herumzulaufen, – denn das ist man doch, wenn man diese Seite des Lebens nicht kennt. Für die eine kommt die Stunde früher, für die andere später, in der sie sich entscheiden muß, ob sie ein lächerliches Zölibat nur wegen der Ideale der Eltern oder wegen eines sagenhaften zukünftigen Bräutigams aufrechterhalten will.“

„Und früher, – war es nicht früher so, daß die Mädchen rein und unberührt in die Ehe traten? Ich erinnere mich zu meiner Zeit ...“

„Ich weiß nicht, ob man damals die Vorschriften der Moral mehr hielt als heute, – jedenfalls hatten sie damals mehr Sinn. Damals waren sie noch durch das religiöse Empfinden, durch die innere Überzeugung der Eltern gestützt, nicht wie heute nur von Berechnung und Konvention diktiert. Aber, Frau Doktor: Sie sollten wirklich nicht gehört haben, daß sich auch damals in der so gelobten guten, alten Zeit manches junge Ding an sein heißes Blut gab? Das war immer schon so. Die Gretchentragödie ereignete sich schließlich zu einer Zeit, als es noch keine Jazzband, kein kurzgeschnittenes Haar, rauchende Damen und junge Mädchen in Nachtlokalen gab. Nur, daß es heute keine Tragödie mehr ist, wenn man sich auch ohne Ring einem Manne schenkt. Damals führte dies, wenn man sehr viel Glück hatte, zur Ehe, aber wenn nicht, in die tiefste Schande. Es ließe sich darüber nachdenken, ob nicht die größere Schande war, aus Barmherzigkeit geheiratet zu werden. Heute darf die erste Liebe Irrtum sein, Irrtum, den ein junges Herz, ein junger Körper verwindet und vergißt.“

„Es ist vieles so richtig, was du sagst, Grete, aber es erschreckt mich doch. Sage nur, wie du zu diesen Gedanken kommst? Oder hast du – verzeih, – ich meine, – du bist ja nicht mehr in der Schule, – lebst du selbst nach – nach diesen Ideen?“

Lächelnd schüttelte das junge Mädchen den Kopf. „Meine Eltern geben mir vollkommene Freiheit, und dadurch blieben mir viele Versuchungen erspart.“

„Wieso, – wenn man mehr Freiheit hat, gibt es doch mehr Versuchungen?“

„Umgekehrt, Frau Doktor! Meine Eltern haben mich sehr ernst erzogen, aber sie vertrauen mir ganz. Ich werde jetzt studieren. Und wenn mir ein Mann begegnen sollte, den ich lieb habe, – aber ich bin sehr schwer, ich brenne nicht so leicht. Mich zu verheiraten wie die andern, nur um versorgt zu sein, habe ich nicht notwendig, – ich werde mir selbst mein Brot verdienen. Aber ich denke wohl, wenn mir dann einer begegnet, und wenn wir uns liebhaben, wie ich es mir vorstelle, – dann werden wir wohl immer zusammen sein wollen, – dann werden wir heiraten. War es aber ein Irrtum – ich habe doch meinen Beruf – ich bin doch nicht nur Frau, – dann werde ich mich eben in meine Arbeit finden müssen und nicht heiraten.“

„Und warum glaubst du, daß es für die andern so viel schwerer ist, – ich meine, zu warten, – den Versuchungen zu widerstehen?“

„Weil sie nicht frei sind, Frau Doktor, weil sie Tollheiten begehen aus Auflehnung, aus Trotz, Dinge, die sie sonst nie täten, dürften sie frei über sich bestimmen. Und weil sie verzweifelt sind. Weil sie genau wissen, daß sie den ersten besten, einen Ungeliebten, heiraten werden, nur um von daheim loszukommen. Und da wollen sie noch vorher ein Zipfelchen vom Leben erwischen.“

„Ich danke dir, Grete,“ sagte das kleine Fräulein und blieb abschiednehmend stehen. – „Vieles von dem, was du mir sagtest, war mir neu und hat mich sehr interessiert. Nur, – auch du sprichst aus Theorien heraus.“

„Aber sie sind richtig!“ antwortete Grete Erb leidenschaftlich.

„Alle Theorien sind richtig,“ sagte Fräulein Dr. Südekum, und dann setzte sie mit einem feinen, traurigen Lächeln hinzu: „Nur, – das Leben kümmert sich nicht darum.“

Fräulein Dr. Südekum ging weiter, den steilen Weg hinauf gegen das Cottage, wo das Spital Dr. Klempners lag. Sie hatte heute von ihm einen Brief gefunden, worin er sie bat, ihn nachmittag zu besuchen. „Meine kleine Martha ist so verändert seit einiger Zeit. Nun sagte sie mir, daß sie mit mir über etwas sprechen wolle. Und sie fügte den seltsamen Wunsch hinzu, Sie möchten bei diesem Gespräch zugegen sein. Sie hätte Sie bei der Maturafeier wiedergesehen. Sie seien so gut zu ihr gewesen, – und, kurzum, ich bitte Sie, zu kommen.“

Die kleine Martha! Wieder sah das kleine Fräulein die großen, traurigen Kinderaugen vor sich. Wie seltsam dieses Geschöpf war! Das zarte Körperchen ließ kaum die Fünfzehnjährige ahnen – aber das Gesicht war oft von einer uralten Traurigkeit überschattet wie das einer wissenden Frau.

Der Doktor führte sie in seiner gemütlich polternden Art in das Wohnzimmer. Martha saß am Fenster, die Hände im Schoß gefaltet und rührte sich nicht, als die Lehrerin nähertrat. Nur ihre großen Augen hielt sie unverwandt auf sie gerichtet.

„Ich habe meinem Vater etwas sehr Ernstes zu sagen, – ihn um etwas zu bitten, – aber, – weil meine Mutter tot ist – und, – ich wollte, daß Sie kamen, – ich danke Ihnen so sehr.“

„Ja, – was ist denn los?“ rief Dr. Klempner, plötzlich sehr erschreckt, und stellte sich breitbeinig vor seiner Tochter auf.

Fräulein Dr. Südekum fühlte, wie ihr das Herz bis zum Halse hinauf schlug. Mit leisen Schritten trat sie auf das Kind zu, rückte einen Sessel heran und setzte sich ihr gegenüber, während sie seine zuckenden Hände in die ihren nahm.

Die kleine Martha barg ihre Hände tief in die sie umschließenden des kleinen Fräuleins, dann richtete sie ihre Blicke fest auf ihren Vater, der unsicher, sein kleines Bärtchen zausend, vor ihr stand: „Ich bin schwanger, Vater.“

„Was?“ Wie ein wildes Tier sprang er vor, und das kleine Fräulein beugte sich zitternd über Martha, als wollte sie sie vor Schlägen beschützen. Aber Dr. Klempner wich zurück bis an die Wand und stammelte mit blassen Lippen: „Das, – das kann doch nicht wahr sein?“

Als die Kleine aber nur totenblaß und schweigend nickte, da brach er los. Wie Hagel brachen seine Verwünschungen nieder. Dann begann er zu lachen: „Natürlich, bei der Mutter, – es war ja nicht anders zu erwarten – da war alle Erziehung umsonst!“

„Schweigen Sie!“ rief das kleine Fräulein und stellte sich kampfbereit vor dem Arzt auf. „Nehmen Sie dem Kinde nicht seine Mutter!“

„Aber, – die beiden gehören ja jetzt zusammen,“ rief er hohnvoll lachend. „Ja, sie soll es nur wissen, daß ihre Mutter den Vater betrogen hat – mit einem blutjungen Assistenten hier im Spital, – der besser zu lachen verstand als ich, der ein junges Gesicht hatte. Und das, obwohl ich ihr alles an Liebe gab, was ich besaß. Jawohl. – Heraus mit der Sprache, wer ist der Bursche!“

„Das ist hier ganz gleichgültig,“ entgegnete das junge Mädchen so fest, daß der Arzt und das kleine Fräulein es ganz betroffen ansahen. „Ihn trifft keine Schuld – er hat mich nicht verführt. Um das handelt es sich hier auch gar nicht.“

„Und dazu habe ich dieses Kind wie einen Augapfel behütet vor jedem wärmeren Wort, das sie erwecken könnte,“ sagte er leise. „Deshalb habe ich mir alles versagt, was in mir an Zärtlichkeit aufgespeichert war, damit sie hart würde, damit sie auf die sogenannte Liebe pfeife! Und nun –“

Er trat ganz nahe an Martha heran und hob die Hand, als wolle er sie schlagen – aber dann sank seine Hand kraftlos herab und blieb wie vergessen auf dem Kopf des kleinen Mädchens liegen. Dieses rührte sich nicht. Es sprach nicht. Aber langsam, ganz langsam löste sich das Starke in seinem Gesicht, und Tränen begannen zu fließen, – o, nicht so wie Menschen sonst weinen, – nur einige Tränen und jede groß und schwer.

„Martha,“ flüsterte Dr. Klempner, „habe ich dich erschreckt mit meinem Zorn? – Es – es kam nur so unerwartet. Wir wollen nun beraten, was geschehen soll. Ich bin doch dein Vater, Kind. Ich bin da – und Fräulein Dr. Südekum ist da, die dich lieb hat.“

„Vater,“ sagte eine ganz ferne, uralte Stimme, „Vater, bitte, nimm deine Hand von meinem Kopf weg, – bitte!“

„Ja, – ist sie dir zu schwer?“

„Viel zu schwer!“ – Wieder rollte eine schwere Träne über das blasse Gesicht.

„Wir werden fortreisen, Martha, ja? Ja, so wird es am besten sein! Mein Gott – so ein Kind – und das! Nein, es ist nicht zu verstehen!“ Aufstöhnend vergrub er seinen Kopf zwischen den Händen.

Als er wieder aufsah, war das kleine, schmale Gesicht Marthas wieder ganz ruhig, unheimlich ruhig, und die Augen tränenleer. Die Stimme aber – wie diese Stimme plötzlich hart und fremd klang! – sagte: „Vater, – ich kam nicht nur, um dir dies zu sagen, – ich habe eine Bitte. Ich will, daß du mir das Kind nimmst – ich will es nicht zur Welt bringen!“

„Was sagst du da? Das ist ja Unsinn. Fürchtest dich wohl vor der Schande, wie? Du solltest dich aber nicht fürchten, Kind. Es wird alles gut werden! Wir fahren ins Ausland, du kannst dann dort bleiben – niemand weiß, wer du bist. Ich werde meine Stellung aufgeben, – wir könnten in die Schweiz gehen ...“

„Nein, Vater, – ich fürchte nicht die Schande. Aber ich will, daß du mir das Kind nimmst.“

„Aber,“ – Fräulein Dr. Südekum sah ganz entsetzt auf Martha. „Dein Vater ist doch so gut, – warum, es ist keine Schande, ein Kind zu bekommen – auch wenn man nicht verheiratet ist ...“

Die kleine Martha heftete ihre großen dunklen Augen auf das kleine Fräulein: „Vor Ihnen wollte ich den Grund sagen, weil Vater so anders ist, weil er es vielleicht nicht versteht. Es ist vielleicht keine Schande, als Ledige ein Kind zu bekommen, es ist aber überhaupt eine Schande, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn man so viel weiß wie ich. Nein, sprecht nicht, ich habe zu viel gesehen. Es ist alles so häßlich und gemein, was man aus dem Leben gemacht hat. So kalt und gemein. – Was sollte mein Kind hier?“

Mit beiden Händen umfaßte das kleine Fräulein Martha: „Aber Martha, wie darfst du solche Dinge denken, – das darf man nicht, das ist Sünde! Dein Kindchen wird leben, und es wird froh sein, wie es alle guten Menschen sind.“

Ehe Martha etwas entgegnen konnte, fragte plötzlich eine gepreßte Männerstimme:

„So warst du nie froh, Martha?“

Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf: „Niemals, Vater. Vielleicht damals, als ich noch nicht sehen und noch nicht verstehen konnte. Aber je größer ich wurde, desto schrecklicher wurde es. Niemand hat den andern gern. Sie würden sich auffressen, wenn sie könnten ...“

„Um Gottes willen, schweig!“ rief gemartert durch die kalte, harte Kinderstimme die Lehrerin.

Aber die Stimme fuhr unerbittlich fort: „Sie sterben wie die Tiere – ich weiß es – nur nicht in der Barmherzigkeit des Alleinseins. Ich habe doch hier gelernt, ich habe doch alles gesehen. Niemand hat mit dem anderen Mitleid. Niemand. Wenn einer stirbt – dann weinen sie – aus Angst, es könnte ihnen das gleiche geschehen. Nein, nein, mein Kind darf nicht in diese Welt, zwischen diese kalten, gemeinen Menschen, – nein, – nein!“ Und wieder begannen langsam und schwer die Tränen zu fließen.

Dr. Klempner trat auf seine Tochter zu und hob sie auf. Seine Stimme klang heiser wie von unterdrückten Tränen, als er zu der kleinen Lehrerin sagte: „Kommen Sie – wir legen sie ins Bett. Sie fiebert ja. Ja, komm, Marthele, mein armes Kleines, – komm, wir legen dich ins Bett! Ich bleibe dann noch neben dir, bis du einschläfst.“

Da barg die kleine Martha ihren Kopf an der Brust des Vaters, während er sie hinübertrug, und sagte plötzlich: „Bitte, bitte, Vater, – schlag mich, – schrei mit mir, – mache, was du willst, – nur versprich mir, daß du mir nie mehr so übers Haar streichst – nie mehr so sprichst – hörst du – nie mehr! – Es wäre doch alles, alles nicht geschehen, wenn du früher, – wenn du immer ...“ Dann versank alles in einem wilden Schluchzen.

Dann sah das kleine Fräulein, daß Dr. Klempner neben dem Bette seines Töchterchens sich zusammenkauerte und das Kind mit beiden Armen umfing. Und sie hörte und sah, daß ihn ein Schluchzen schüttelte, – sie sah, daß er weinte.

Da ging sie leise hinaus aus dem Zimmer.

Zwanzigstes Kapitel

So weit ist die Welt, – ich weiß gar nicht mehr, wo mein sogenanntes Daheim liegt,“ sagte Gert und dehnte den jungen nackten Körper in der Sonne. „Ich habe alles vergessen.“

Gequält sah Alexandra vor sich hin.

„Ich habe Angst,“ sagte sie leise.

„Ja, – du auch?“ Erblaßt sahen sie einander an. „Ja, – dann weißt du auch, daß es immer schwerer wird, – daß da etwas ist, was einen zwingt?“

„Gehen wir,“ bat Alexandra. Schweigend gingen sie nebeneinander durch den Wald. Durch die Eukalyptusbäume sanken tanzende Lichter auf ihre Körper, die sich nackt und frei nach den harten Umarmungen des Meeres dehnten.

Sie darf mich nicht lieben! dachte Alexandra angstvoll und gequält. Nein, alles muß ein Spiel bleiben für sie, ein seliges, heidnisches, schmerzloses Spiel. Solange bin ich die Stärkere. Denn immer war es so, daß ich es war, die stärker liebte, die den anderen Menschen nur aus Anlaß für ein großes, brennendes Gefühl nahm. Da blieb ich mein eigen, da blieb ich allein in meiner Liebe, da gab ich die Lust, die sie wollten, und nahm nur geizig und klug, was mich nicht allzusehr verwirren konnte. Und wie lächelte ich, eingehüllt in einen Mantel meines großen Gefühls, wenn sie spielten nach Menschenart, wenn sie nur das liebten an mir, was sie sahen, was ihre Sinne knechtete, aber niemals das, was ich bin, was ich werden muß. Wie fühlte ich mich sicher und gefeit in meiner großen Einsamkeit. Gert aber, – sie will mehr als die große Stunde, – will mehr als ewigjunges Spiel.

„Warum bist du so schweigsam?“ fragte Gert. „Du denkst so viel. Warum?“

„Ich habe über dich nachgedacht,“ sagte Alexandra finster.

„Und?“ Ein Lächeln flog zu ihr hinüber. „Warum wehrst du dich eigentlich so verzweifelt?“

„Ich – wogegen?“

„Daß du mit mir nicht spielen kannst, – weil ich nicht das kleine Mädchen bin, wofür du mich hieltest, Alexandra, – daß du mit uns nicht spielen kannst.“

„Ich spiele nicht.“

„Doch – du spielst! Du hast alle möglichen Theorien, ich weiß. Aber sie werden dir nicht helfen.“

„Wieso weißt du das? Kannst du in mich so tief hineinsehen?“ fragte Alexandra und sah Gert erschreckt in das Gesicht.

„Ich weiß alle Dinge aus mir, – wer sollte sie mir sagen?“ Gert lachte.

„Wir sollten nicht sprechen. Worte beladen alles, machen es schwer, wandeln es. Wir sollten lachen und uns der Stunde freuen!“ Angstvoll beschwörend klang die Stimme Alexandras.

„Glaubst du, daß wir die Stunden hindern können, in ihren großen Ernst zu wachsen?“ gab Gert zurück.

Jäh war alles verändert und die Stunden süß und schwer von einer Angst, die ihnen den Atem raubte. Wohl sprang ihr Lachen noch in den frohen Mittagsstunden weißen Wolken gleich in das Blau des Himmels, wenn sie sich in den tanzenden Wogen müde tummelten, wenn sie am harten Klippenstrand die sehnigen Körper der Sonne boten. Auch die Morgen waren in grünsilbernes Licht getaucht wie immer, brannten in den müden Farben, die ihnen die schwere Nacht verliehen hatte, der Sonne entgegen. Dann liefen Gert und Alexandra nackt, und den schweren Bann des Schlafes wie ein Kleid von sich werfend in den Wald, der sie mit seinem grünen Licht, mit dem Duft seiner tausend atmenden Münder zärtlich empfing, in den sie tauchten wie in eine muttergute Umarmung.

Nur die Abende wurden immer schwerer. Da ging so tiefes Bangen von allen Schatten aus, die sich auf die Insel senkten und alles, was klar und froh am Tage leuchtete, in immer tieferes Geheimnis hüllten. Es war, als ob alle Pflanzen und Bäume zu atmen begönnen; verwirrend und heiß schlug das Herz des Lebens den großen Stunden der Nacht entgegen.

Und noch trunkener und tiefer war es in solchen Stunden, da die Nacht herabsank zu wissen, daß sie beide allein hier lebten, fernab von allem Sein, dem sie einmal irgendwie verbunden gewesen waren, ganz allein auf dieser Insel, mit ihren Wäldern und ihrem Klippenstrand, mit ihren Riesenschmetterlingen und Raubvögeln. Und diese Insel selbst lag von Einsamkeit und Schweigen umgeben, bespült von einem Meer, das sich weiter dehnte, als man sich vorstellen konnte.

Ja, das hier war ein anderes Alleinsein als in einem noch so weit von der Welt abgeschlossenen Hause draußen in der Welt. Dort mochte man wohl auch allein sein, aber man wußte immer: wenn man nur die Laden der Fenster öffnete, so waren Menschen ringsum oder wenigstens Felder und Wiesen, die von ihrem Schweiße, ihrer Mühe erzählten. Aber hier sah nur Gottes wilde Welt ihrem Leben zu, unberührt, unverändert wie am ersten Schöpfungstage.

Am tiefsten aber war dieses Alleinsein in den Nächten, wenn sie sich im Walde betteten und um sich das Rauschen und Duften des Waldes fühlten, durch den der weiche Nachtwind den wilden Geruch des Meeres bis zu ihnen trug, wenn sie über sich durch die hohen Wipfel der Föhren und Eukalyptusbäume einen Sternenhimmel leuchten sahen, wie ihn nur diese Insel kannte.

Ja, die Nächte waren schwer, und es war vergeblich, sich gegen ihr Lied zu wehren, das unerbittlich und grausam war und jedes atmende Wesen in sein Schicksal zwang, die vielen grausen Wildkatzen in den herrlich schleichenden Gang trieb, der sie zum Mord führte, die Käuzchen mit dumpfen Rufen in ihr todbringendes Handwerk stieß, und andere wieder in Tod und Verderben sinken ließ. Die Pflanzen aber hieß das Lied, sich tief und wie horchend zum Boden hinabzubeugen und sich duftend zu verströmen. Ja, das waren die Nächte, die kein Spiel kannten und kein Wehren, die jedes Wesen zwangen, sich unter dem großen Leuchten des Himmels zu erfüllen.

Dieses Alleinsein mit der großen Nacht der Insel war es, was ihren Küssen die heiße Angst des Wissens um ihr Schicksal gab.

O, vielleicht konnte man in den großen Städten noch über heißeste Stunden ein kluges Menschenwort breiten, eine kleine Vorsicht, ein traurig wissendes Lächeln.

Hier wuchsen alle Stunden groß und fordernd in ihren urweltlichen Sinn.

Wenn die Nacht sie hieß die Arme auftun, so waren es nicht mehr die lösenden Spiele heidnischen Genießens, an die sie sich gaben. Das war das ganze Sein, Körper und Seele, was brennend zueinander drängte, Glieder, die, immer tiefere Lust suchend, sich ineinanderschlangen und den restlosen Besitz des anderen im Taumel erkämpften. Fast Schmerz wurde ihre Lust. Erfinderisch und immer überraschend waren ihre Umarmungen, die sie aneinanderzwangen wie rasende Fechter. Schmerzhaft wach und hellhörig wurden ihre Sinne in diesen Nächten wie die der Tiere, die um ihr Lager durch das Dunkel schlichen.

Sie kannten keine Erschöpfung und keine Müdigkeit. Wie eine rasende Flamme war es über sie gekommen, und immer tiefer spürten sie in Seligkeit und Angst den Sinn dieser Stunden: sich restlos und ohne Gnade aneinander verschenken zu müssen.

Wissend wurden ihre Hände und sehend. Keine Stelle war an ihren zuckenden, sich bäumenden Körpern, deren Lust sie nicht kannten, sie nicht in sehnsüchtiger Raserei zu steigern suchten. Wie Feuermale waren ihre Küsse, suchten, trafen wie Blitze im Dunkel. Und immer wilder suchten ihre Körper einander, trunken ineinandersinkend, alle Pforten des Lebens taumelnd und todesbereit geöffnet.

Und wieder, wenn sie aus der Raserei ihrer schönen, immer seliger den anderen suchenden Körper auftauchten zu einem Blick, der den anderen grüßte, brannte auf ihren Lippen das schwere, schwerste Menschenwort: Wie ich dich liebe!

Ihre Tage lebten und bangten nur mehr diesen Nächten entgegen. Sie wußten es im Schweigen der großen Nacht, daß alles Torheit und Lüge war, was nicht Liebe hieß, daß nichts gewiß und Wahrheit war als der eine Augenblick, da die Augen groß und dunkel wurden von aus Urwelten aufsteigender Angst vor der Lust. Nur an den tödlichen Ernst ihrer Küsse glaubten sie noch.

Nun wußte auch Alexandra, daß ihre Stunde gekommen war. Es war vergeblich, sich zu wehren. Das wußte sie nun. Mochte sie tausendfach mit der Lust gespielt haben und mit der Verwirrung der anderen: hier war ein Mensch, der es nicht duldete, daß sie sich klug und bewahrend hinter ihre Grenzen zurückzog. Hier war ein Mensch, der ihr dorthin folgte, wohin sich noch keiner gewagt, hinter alle Mauern und Grenzen, die ihr Egoismus gezogen hatte.

Was half alle Menschenklugheit und alles, was sie sich aufgebaut hatte, um sich zu bewahren gegen die große Gnade, sich einmal verschenken zu dürfen?

Anders standen sie nun vor dem verfallenen Tempel einer vertriebenen Göttin, die Gert trunken beschworen hatte in der einen ersten Nacht. Anders wußten sie nun die Lust. Ein neues Wissen schenkten ihnen ihre Nächte im schweigenden Walde. Ein neues Wissen, das ganz den Sinn dieses Tempels verstand. O, Lust war nicht das, was die vom Kruzifix beladenen Träume der Menschen heimlich und schamgequält suchten und mit so viel schlechtem Gewissen flohen. Lust war Schmerz auch und ein letztes banges Wissen. Ewigkeit suchte sie hoch über dem Getriebe des Tages, über das Sterben hinaus.

Denn suchte sie nicht die Ewigkeit, hätten die Menschen ihr nie einen Tempel erbaut, sondern sie nur mißbraucht wie alles, dessen Herr sie waren.

Der große Ernst der Liebe lag auf ihren Stirnen und ihren königlichen Händen, wenn sie in der ersten Stunde des sinkenden Nachmittags engverschlungen auf der Waldwiese vor dem verfallenen Tempel saßen. Ein Wissen, das eine armselige, dem Gotte der Entsagung verfallene Zeit vergessen hatte, rauschte aus den jahrhundertalten Bäumen, die aus dem Staube jener gewachsen waren, die man hier vor tausend Jahren und mehr, der Göttin der Lust geopfert hatte. Wissen um das Erfahren in den Flammen einer tödlichen Lust, das nur die Götter kannten und die Menschen, die sie segneten. Lust, die nur den andern und sich selbst will und keinem untertan ist, keinem Zweck des breiten Lebens, das sich in Gebären und Töten erfüllt, im namenlosen Reigen der den Gesetzen untertanen Kreaturen. Sie aber, die Lieblinge der Götter, Menschen einer versunkenen Zeit, aus der nur noch einige verfallene Tempel kündeten, was sie gewesen, sie hatten die Himmel der Götter stürmend den Ring zerbrochen, der sie an das dumpfe Müssen und Leiden der anderen Kreaturen binden wollte, und waren den Göttern gleich geworden, die der Natur nicht dienten, – die ihre Herren waren.

Sie hatten auch gelitten, diese Menschen einer Zeit, da noch die Opferflammen auf allen Altären rauchten. So flüsterten die edlen Bäume der Waldwiese. Es war falsch, was die unter einem grauen Himmel lebenden Kinder späterer Zeiten aus der makellosen lichten Schönheit der Götterstatuen zu lesen glaubten.

Aber wie ihre Götter hatten jene Menschen gelitten. Nicht am schlechten Gewissen, nicht an der Scham.

Und hier im grünen Dämmern der Waldwiese, hier vor dem verfallenen Tempel, vor dem sie selbst erschienen, wie aus tausendjährigen Gräbern auferstanden, war es Alexandra, die zuerst das schwere Wort wagte: „Was soll mit uns geschehen? Können wir einander lassen und wieder zurückgeben an die Welt der anderen?“

Aber kaum, da sie diese Worte gesprochen hatte, erschrak sie, und noch einmal rauschte der Hochmut durch ihr Blut, der sie geformt und geführt hatte, der es nicht dulden wollte, daß sie sich der Liebe beugte. Er hatte auf ihre Lippen immer wieder das Wort gezwungen: Ich bin überall zum erstenmal und niemals wieder.

Und während sie sich erblaßt über Gert beugte und ihr in das Antlitz sah, dachte sie gehetzt in einer letzten, feigen Hoffnung auf Flucht: Sie wird mich rasch vergessen in der großen Stadt! Sie ist so jung, und ich bin viel zu schwer für sie. Ja, sie wird mich vergessen, und ich werde frei sein und mich zurücknehmen dürfen. Nur ihre Liebe ist meine tödliche Gefahr: wenn sie mich losläßt – bin ich frei!

Aber da sah sie die fordernde Flamme dieser jungen Augen über sich und vernahm das wilde peitschende Wort: „Überall wird die Insel sein, wo wir sind!“

Und in einer unsagbaren Erschütterung, in der alles versank, sagte Alexandra mit blassen Lippen: „Wir gehören nicht mehr uns – wir gehören einander.“

*

Es war nicht Wirklichkeit, und es konnte gar nicht Wirklichkeit sein, daß sie die Insel verlassen mußten.

Seltsam war die letzte Nacht, die ihnen der Wald schenkte.

Nach einer Umarmung, deren rasende Lust ihre Lider schloß, als könnten sie sie nie mehr auftun, sanken sie, Herzschlag an Herzschlag und Atem in Atem, in einen Schlaf, der ihre Körper tiefer aneinanderband als jeder stöhnende Kampf der Liebe.

Oft schon waren sie so nebeneinander hingestreckt in dämmernden Morgenstunden in das dumpfe Reich des Nichtmehrwissens hinübergesunken.

Aber dies war anders. Mit allen Sinnen, die nur ganz leise eine selige Betäubung einhüllte, fühlten sie sich ineinandergeschlungen, in einer Stille, die sie ganz bezwang. Nichts Tieferes, nichts Endgültigeres hatte die Erde zu verschenken als diesen gemeinsamen Schlaf, in den sie sich wie in eine einzige Umarmung betteten, der sie einander unlösbar verband wie ein gemeinsamer Tod.

Als sie sich am nächsten Tage von der Insel lösten und im Zuge die vielen fremden Landschaften an sich vorbeifliegen sahen, lächelten sie einander zu: Überall wird die Insel sein, wo wir sind!

*

Als der Wagen vor dem Hause der Eltern Gerts hielt, das mitten in der Hauptstraße lag, schlug Musik an ihr Ohr, und sie wandten sich beide nach der Richtung, woher sie kam.

Langsam, feierlich gemessen, zog ein Leichenzug einher.

Mit blauweißen Bändern war der Sarg geschmückt.

Ein Mädchen?

Sie blieben stehen und ließen den Zug an sich vorüber.

Fast erschreckt schmiegten sie sich in das Haustor: Hinter dem Wagen ging Fräulein Dr. Hanna Südekum. – Aber sie hatte sie schon gesehen! Schweigend grüßte sie.

„Sollte es eine aus meiner Klasse sein?“ fragte Gert erschreckt.

„Wer ist der Herr, der neben der Südekum geht – er sieht furchtbar aus?“

Nun sah ihn auch Gert. „Das ist doch Dr. Klempner, der Schularzt.“

Aber wie verändert er aussah! Nein, das war nicht mehr der Mann, den sie damals alle ein wenig gefürchtet hatten, wegen seiner Grobheit, wegen seines Zynismus! Müde und schleppenden Ganges ging er neben dem kleinen Fräulein hinter dem Sarg, und seine Augen sahen aus dem verwüsteten aschgrauen Gesicht wie kleine rotgeränderte Wunden.

„Das muß doch ihn angehen!“ sagte Alexandra. „Hat er denn Kinder?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Gert und bot Alexandra abschiednehmend die Hand.

„Auf morgen!“

„Du!“

Einundzwanzigstes Kapitel

Alexandra trank in durstigen Zügen ein großes Glas schwarzen Kaffees. Ihr dunkelgetöntes Antlitz trug die Spuren der verwachten Nacht wie ihre Hände, deren bläuliche Adern hervortraten.

Aber ihre Augen blitzten.

Wie hatte diese Nacht, die erste Nacht nach der Heimkehr, sie begnadet! Ringsumher am Boden lagen Blätter mit Skizzen und Studien, Tonfiguren türmten sich übereinander auf ihrem Arbeitstisch, und der große unbehauene Block, der jahrelang verträumt an der Stirnwand des Ateliers gelegen hatte, und an den sie sich nie herangewagt hatte, wies schon die Spuren eines schöpferischen Gedankens, zu dem er erwachen sollte.

Alexandra stieg die Stufen empor zu dem breiten Fenster und sah hinaus. Nun durfte sie sich ein Atemholen gönnen, nun war es gewiß, daß ihr Werk wurde. O, ein Werk, das anders, tausendmal anders war als alles, was sie je gesucht und geformt hatte! Sie fühlte es: Gott selbst führte ihre Hände, da sie ihm nicht länger widerstand.

Und lächelnd sann sie, indes sie voll Zärtlichkeit ihre Hände betrachtete, die heute nacht so selig erfüllten Dienst am Steine tun durften: o, wie töricht ich war! Wie alle, die kalten Herzens sind, erbaute ich mir eine Weltanschauung aus Feigheit und Egoismus. Bewahren wollte ich mich um jeden Preis. Wie einen Schild habe ich meine Kunst vor mich gehalten und glaubte, daß ich mein Letztes nicht an die Liebe geben dürfe, daß ich mich bewahren müsse, weil ich das Werk wollte. Aber das Werk wollte mich nicht, es blieb klein und arm, weil ich es nur in den kalten Nebeln meines Hochmuts wachsen ließ, weil ich mich vergewaltigte und Gott die einzige große Menschenaufgabe schuldig blieb: das, was er mich werden ließ, einem anderen seiner Geschöpfe zu geben.

Heute weiß ich, daß auch das Werk Torheit und Feigheit ist, wenn es nur dazu dienen soll, uns vor dem Leben zu beschützen, wenn wir uns hinter ihm verbergen wollen vor dem brennenden Rufe der Liebe.

Wie töricht ich war! sann Alexandra, und ein großes Lächeln stand in ihrem Gesicht. Wie bewunderte ich sie alle, die Überklugen und Kaltherzigen, die uns die Welt zerlegen und ihr Triebwerk freizulegen suchen, wie es Kinder mit einem Spielzeug tun! Angst haben sie alle, wie ich Angst hatte, die große Angst, sich verschenken zu müssen, sich loszulassen. So erbaute uns der Hochmut goldene Türme. Von ihnen aus glaubten wir weiter sehen zu können als andere. O, wie ich sie bewunderte, die den Kleinmut ihres Herzens zur Askese verklärten!

Ich Törin, die ich mich für zu gut, zu klug und zu überlegen für die Liebe hielt, nur weil mir Gott die Gnade gegeben hatte, in Stein von seiner Schönheit zu künden. Aber auch Gott gab sein Ich in Liebe auf, als er die Welt schuf, und Gotteskindschaft ist: gleich ihm sich zu verschenken.

Ungeduldig blickte Alexandra zur Türe, an die es schon mehrmals geklopft hatte. Wer konnte jetzt kommen? Es wußte doch kein Mensch, daß sie zurückgekehrt war, und Gert kam erst nachmittag. Bis dahin wollte sie mit ihrer Arbeit so weit sein, daß sie der Geliebten schon etwas von dem zeigen konnte, was aus ihren Stunden gewachsen war.

Die Türe öffnete sich, und durch sie schob sich die zarte Gestalt des kleinen Fräuleins Südekum.

Alexandra sprang die Stufen herab und ging ihr entgegen. Mein Gott! wie mager die Arme geworden war! Und wie gealtert sie aussah!

„Ich sah Sie gestern,“ begann das kleine Fräulein befangen, „als Sie Gert heimbrachten – ich – ich wollte, – nein, wie braungebrannt Sie sind!“

„Ja, es war seltsam, wie wir uns wiedersahen! Sie gingen hinter einem Leichenzug. Eine Schülerin Ihrer Anstalt, nicht wahr? Ja, das gehört so zu Ihren Pflichten.“

„Nein, keine Schülerin der Anstalt,“ sagte das kleine Fräulein und seine Augen füllten sich mit Tränen, „die kleine Martha vom Primarius Klempner.“

„Das ist der Schularzt – der Mann, der neben Ihnen ging?“

„Ja, – ich liebte dieses Kind sehr – fünfzehn Jahre war es alt. Aber das ist eine lange und traurige Geschichte. Ich weiß jetzt nur noch lange traurige Geschichten.“

„O, Sie meinen Ihren kleinen Schüler, – den Erwin ... ich weiß. Ja, das hat mich sehr ergriffen.“

„Und der Kanzler ahnt nichts von der großen Liebe dieses Knaben, von seiner törichten, leidvollen Opferung,“ sagte die Lehrerin leise. „Erwin nahm sein Geheimnis mit ins Grab. Niemals wird der Kanzler wissen, daß der Knabe bei der Tänzerin war, die den Kanzler verspottete und betrog, und diese Frau wohl ein sehr böses Wort gesagt haben muß, daß der Knabe meinte, nur durch das Opfer seiner Tat den Kanzler befreien zu können.“

„Und Sie zweifeln noch immer, daß Eros auch diesen Weg führt, Frau Lehrerin?“ fragte Alexandra plötzlich.

Das kleine Fräulein wurde sehr blaß. „Erwin liebte den Kanzler aus der Ferne – groß und heilig – ohne Begierde. – Sie aber – Sie haben Gert verführt.“

„O, nun beginnen Sie mit dem dummen Krämerwort von der Verführung,“ lächelte Alexandra. „Als gäbe es das, daß nur einer von zwei Menschen weiß und dem anderen dann davon erzählt wie von einer Geheimlehre.“ Plötzlich wurde sie ernst. „Nein, Fräulein Doktor, – das ist ganz anders. Wenn das groß und bezwingend in zwei Menschen aufsteht, dann gibt es keine Verführung – dann wissen und wollen beide, und kämen sie urwaldgeboren aus tausend Einsamkeiten aufeinander losgestürzt.“

Das kleine Fräulein trat ganz nahe an Alexandra heran. Wahnwitziger Haß verzerrte plötzlich sein Gesicht. „Eure Liebe ist sinnlos,“ sagte sie schneidend, „weil sie nur Lust ist – weil sie –“ sie lachte gellend auf – „Gert wird kein Kind von Ihnen haben!“ – keuchend sah sie der anderen ins Gesicht.

Alexandra war ein wenig blasser geworden, aber sie sprach ruhig, als rede sie einem kranken Kinde zu: „Sie wird kein Kind von mir haben, so wenig, als ich eines von dem Manne habe, den ich wirklich liebte. Aber Sie werden mich nicht zwingen zu glauben, daß der einzige Sinn menschlicher Liebe die Fortpflanzung sei. Sonst gäbe es ja nur Zuchtwahl nach den Gesetzen der Gattung und nicht diese menschengöttliche Sehnsucht nach einem persönlichen Glück. Nein, Sie werden mich nicht glauben machen, daß die Not unserer Herzen und der Rausch des Glückes, den die Liebe schenkt, nur Mittel zum Zweck sei, nur die Belohnung dafür, daß wir den Gattungswillen erfüllen. Oder glauben Sie wirklich, daß wir nur wie die Tiere sind, die ein blinder Trieb in gewissen Zeiten zueinandertreibt, damit die Art sich fortpflanze? Dann freilich hätten Sie recht, die Sie sich eine Idealistin nennen, wenn Sie unsere Liebe sinnlos schimpfen, dann wäre oberstes Gesetz die Moral der Militärstaaten, die neues ‚Material‘ brauchen und alles verbieten müssen, was nicht diesem Zwecke dient.“

„Der Sinn jeder Liebe ist das Kind,“ beharrte Fräulein Südekum.

„Dann ist die Passion aller großen Liebenden sinnlos gewesen, Fräulein Dr. Südekum,“ sagte Alexandra lächelnd. „Sie alle zeugten nicht, deren Namen und großes Lieben uns die Geschichte aufbewahrt hat, nicht Dante und Beatrice – nicht Tristan und Isolde – nicht Abälard und Heloise, und wie sie alle heißen, die den Glanz ihrer Leidenschaft durch die Jahrhunderte sandten.“

„Aber es ist Unnatur,“ sagte das kleine Fräulein leise und verächtlich.

„Auch vor diesem Worte erschrecke ich nicht,“ lächelte Alexandra. „Wo beginnt Unnatur, und wo hört sie auf? Haben Sie nicht gerade festzustellen versucht, daß jede Liebe unnatürlich und sinnlos sei, die nicht der Gattung dient, und ist es nicht auch in einem gewissen Sinne Unnatur, wenn Wagner im Banne seiner grande passion ‚Tristan und Isolde‘ schrieb, statt wie Herr Meyer im Sinne der Bibel seine Pflicht zu erfüllen? O, Fräulein Doktor – wozu läßt man euch Akademikerinnen eigentlich so viel lernen, wozu lernt ihr die alten Sprachen und hört Vorlesungen über große Kulturen, die vor tausend Jahren und mehr reicher, hundertmal reicher blühten als die unseren? Wenn ihr nicht einmal das lernt? Wenn ihr nicht wißt, was der hellenischen Welt, der Kunst Ägyptens und Babylons die unerhörte Größe gab, die wir um des Kreuzes willen nie erreichen werden: daß die alten Völker des Ostens den Mut zur Lust hatten, zum Sichselbsterfahren, zu sich selbst. Aber unsere Zeit ist so voll schlechten Gewissens, daß ihre Menschen immer eine Entschuldigung für die Lust suchen. Lieber stellen sie sich dem Tiere gleich unter das Gesetz des Zweckes, als die Lust mit dem Götterrecht der Menschen zu nehmen.“

Das kleine Fräulein trippelte im Atelier auf und ab: Ach, es war ja sinnlos, weiterzusprechen. Hier kämpften ja nicht Anschauungen gegen Anschauungen. Hier stand ihrer Angst und ihrem Gefühle, irgendwie beraubt und gedemütigt worden zu sein, der große Wille der Leidenschaft gegenüber.

„Und was wird nun werden?“ fragte Fräulein Dr. Hanna Südekum.

Alexandra sah zum Fenster hinaus. Ihre Stimme klang noch tiefer: „Ich weiß es nicht. Sie werden uns verfolgen und schlagen, wie es jeder großen Liebe geschieht, die sich nicht in das Getriebe der Nützlichkeit einordnen läßt. Aber sie werden es nicht ändern können, daß wir uns grenzenlos aneinander erfüllen. Nein, das werden sie nicht. Aber sonst weiß ich nichts, Frau Doktor – gar nichts mehr. Ich habe mich beugen gelernt. Ich liebe mein Schicksal.“

„Leben Sie wohl,“ sagte das kleine Fräulein. Ihr Haß war plötzlich in sich zusammengesunken. Nein, sie verstand nichts, gar nichts von diesem allen – aber das spürte sie, daß hier der große Ernst der Leidenschaft einen Menschen gewandelt hatte.

„Wohin gehen Sie?“ fragte Alexandra.

Die Lehrerin hatte plötzlich ein kleines, trauriges Lächeln um den Mund. „Wie es nun einmal meine Aufgabe ist – ich werde am Wege einer anderen Schülerin stehen. Gestern, – ja, da war ich bei einem Begräbnis – und heute: ich gehe zu einer Trauung.“

„Zu einer Trauung?“

„Ja, die ältere Schwester der Kobinger heiratet; sie war einmal meine Schülerin. Einen sehr interessanten Menschen, einen Altertumsforscher heiratet sie, der das ganze Jahr in der Welt herumreist und bei allen großen Ausgrabungen dabei ist.“

„Fräulein Doktor – seien Sie mir nicht böse, – aber wollen Sie mich nicht mitnehmen? Ich bin gleich umgezogen, – ich –“ ganz leise sagte sie es: „Ich möchte es sehen, wie ein anderer Mensch den geraden, breiten Weg zum Glück findet.“

Und dann standen sie beide in der vom Orgelbrausen erfüllten Kirche. Alle waren sie gekommen, um das große Erlebnis mitzufeiern, die Mädchen der letzten Maturaklasse und auch einige, die noch in die niedrigeren Klassen gingen. Herta Kobinger und Lizzie Ebbinghaus waren Kranzeldamen, auch Grete Erb und Käte Bilwein. Und dort, – Fräulein Dr. Südekum tat plötzlich das Herz so weh. Dort stand auch Gert. Wie weiß und licht sie heute aussah, wie eine Braut! Fräulein Dr. Südekum sah sich scheu nach Alexandra um, aber die hielt ihr Antlitz abgewandt.

Dann sah man nur noch die Braut. Wie lieblich sie war, ganz so, wie sie die Maler seit Jahrhunderten immer wieder auf ihren Bildern zeigten, scheu und schamvoll, in eine große Erwartung versunken. Und die vielen Blumen in ihren Armen! Und das Orgelbrausen.

Die Lehrerin stand in der Kirchentür, als das junge Paar nach der Trauung hinausging. Hinter ihm ging Gert mit einem Herrn.

Und jetzt: das kleine Fräulein sank in sich zusammen vor jähem Erschrecken. Nun hatte sie gesehen, wie Gert das Antlitz emporhob und den Blick Alexandras suchte über all die Köpfe der vielen Leute hinweg, und sie sah den stahlharten Stolz wissender Liebe in diesem Blick und eine tolle Verheißung.

*

Am Abend dieses Tages wanderte das kleine Fräulein von einem Besuche bei Nowotnys heim. Das Ehepaar war diesmal nur auf kurze Zeit auf Ferien gewesen und nicht im Süden. „Wir sind in die Berge gegangen,“ erklärte Frau Nowotny. „Der Süden ist ja sehr schön, aber doch fremd. Man reist dort so unbequem und bekommt nie sein gewohntes Essen.“

Dort, wo die Straße, in der Nowotnys wohnten, um die Ecke bog, dort lag die Teestube, in der das kleine Fräulein damals mit Alexandra gewesen war, an jenem ersten Abend. Das schläfrige Spiel eines Klaviers drang heraus. Eigentlich wollte sie noch nicht schlafengehen. Wenn sie für ein halbes Stündchen hineinginge? Es tat so gut unter fremden Menschen zu sitzen, die einen nichts angingen, und einer Musik zu lauschen, die einen ebensowenig anging.

So setzte sich die Lehrerin in eine Ecke und trank Tee. Ringsumher saßen müde Menschen, die sich hier nach des Tages Arbeit stärkten, einige wüst aussehende Männer auch, denen es anscheinend mehr um den Rum als um den Tee zu tun war, und die sich laut unterhielten.

Fräulein Dr. Südekum war so in ihre Gedanken versunken, daß sie es gar nicht merkte, wie ein Mann müde schleppenden Schrittes, den Rockkragen hochgeschlagen und den Hut tief in der Stirne, eintrat, inmitten des raucherfüllten Raumes stehenblieb, stutzte und dann auf ihren Tisch zukam.

Erst als er vor ihr stand, erkannte sie ihn: „O, Dr. Klempner!“

„Was machen Sie hier?“ fragte er und setzte mit einem Lachen hinzu: „Auch saufen?“

Scharfer Branntweindunst schlug ihr entgegen, als er sich neben ihr niederließ. Er streckte die Beine von sich und tat beide Hände in die Hosentaschen. „Ja, saufen ist immer gut,“ sagte er. „Nur – soviel Alkohol gibt es gar nicht, daß man nicht denken müßte ...“

„Ich kenne das nicht,“ sagte sie mit einem scheuen Blick auf ihn – „ich meine, daß man trinkt. Aber ich verstehe wohl, daß man irgendwohin davonlaufen möchte, – ich – ich auch ...“

„Ja, das glaube ich,“ sagte er, und der starre Zug in seinem Antlitz löste sich. „Sie haben es nicht leicht – o nein, ich weiß, – vielleicht sogar verteufelt schwer.“

„Zu schwer,“ sagte sie und hatte plötzlich das Verlangen zu sprechen. Vor der Nachbarschaft dieses großen verwüstenden Schmerzes gab es keine Scham.

„Sprechen Sie,“ bat er, „vielleicht ist es besser als dieser verdammte Schnaps – ich möchte so gern – nur für eine halbe Stunde – wo anders sein!“

„In zwei Monaten beginnt die Schule wieder,“ sagte sie. „Ja, und ich frage mich nur, wie das werden soll. Denn, Herr Doktor, – wir haben einmal viel über alle diese Dinge gesprochen – als ich noch nicht wußte, – als ich es nicht so von mir selbst wußte.“

„Und als ich verbrecherisch wenig verstand, – ja!“ sagte er schwer.

„Ja, – damals setzten wir Theorie gegen Theorie, nicht wahr? Heute, – ich habe keine Theorien mehr, Herr Doktor. Aber, ich weiß viel. Ich habe tief in mich hineingesehen und erkannt, wie verzweifelt ich oft vor mir log. – Es gibt Dinge, es hilft nicht, daß man sagt, sie existieren nicht. In jedem von uns steht das einmal auf, – ja, das weiß ich nun. In dem einen früher, in dem andern später.“

„Ja,“ nickte er. „So sind auch Sie dorthin gekommen. Es fragt sich nur, welchen Preis Sie dafür bezahlt haben. – Meiner war ein bißchen hoch, – wie?“

„Ich kann nicht mehr Lehrerin sein!“ brach sie plötzlich los. „Nein, das kann ich nicht mehr. In diesem letzten Jahr, Herr Doktor – es stiegen Gewalten in mir auf, – ich habe sie vergeblich in Lüge und Abscheu niedergerungen, sie haben mich doch verwandelt. Ich habe nicht mehr das unbedingte Ja und Nein, das man haben muß, wenn man die Jugend führen will. Ich weiß um Verwirrung und Schuld – ich weiß, daß die Versuchung nicht immer nur Blendwerk der Hölle ist, vor dem man sich so leicht für den geraden lichten Weg zur Tugend entscheiden kann. Ich weiß, daß unser Herz, ja, das Heiligste in uns, uns dorthin verlocken kann, wo man schuldig wird. Und darum – ich will meinen Abschied nehmen. Die Schule braucht Menschen, die sich nicht verwirren lassen, die ein Ja haben und ein Nein, und nicht wie ich ein wehes Wissen zwischen beiden.“

„Und das glauben Sie wirklich?“ fragte der Arzt, und sein Gesicht wurde plötzlich ganz klar und ernst. „Den Selbstgefälligen möchten Sie die Kinder anvertrauen, ihnen, die nie strauchelten, die um keine Not wissen, die nur Theorien haben, geboren aus einem kalten Herzen und einem kalten Verstande? Und,“ ganz heiser wurde nun die Stimme und schwer von Tränen, „glauben Sie nicht, daß wir die kleine Martha gestern nicht hätten in die kalte Erde versenken müssen, – wenn, – wenn ich ein wenig von der Sehnsucht verstanden hätte, die damals meine Frau vor meiner Härte zu einem anderen trieb? – Nein, Frau Lehrerin, ich bitte Sie, bei dem bitteren Sterben meines kleinen Mädchens, – bleiben Sie der Jugend treu! Gerade Sie, Sie werden helfen können. Jetzt, – weil Sie die heiße Not selbst kennen, weil Sie nicht mehr zu den Selbstgerechten gehören werden. Glauben Sie mir: nur wer selbst schuldig wurde, kann führen. Und ein anderes noch, mein kleines Fräulein mit dem wehen, verwirrten Herzen, – glauben Sie einem, der die furchtbarste Sünde auf sich geladen hat, der die Liebe in sich vergewaltigte, glauben Sie ihm!“ Mit beiden Händen umschloß er die ihren und tief sah er hinein in die Augen des alternden Fräuleins, die sich mit Tränen füllten.

„Der wilde Garten der Jugend braucht Liebe, – immer nur Liebe, Frau Lehrerin! Und wenn eine zu früh und zu wild sich dem Sommer entgegendehnt – lieben Sie sie, und wenn sie strauchelt, lieben Sie sie. Nicht alle blühen unter demselben Gesetz, und was für die eine Schuld und Sünde ist, kann für die andere Befreiung und Wachsen sein. Wir wissen nichts, – wir können sie nur lieben und geben ihnen damit das, was nur die Sonne den Blumen geben kann: daß sie nicht im Schatten schief und winklig werden, daß sie sich nicht aus dem Leben flüchten wie aus einem Spiel, das zu weh tut, – daß sie sie selbst werden!“

Schwerfällig erhob er sich, aber er ließ die Hände des kleinen Fräuleins nicht los: „Versprechen Sie mir, daß Sie dem wilden Garten treu bleiben?“ fragte er, und eine steile Falte stand zwischen seinen Brauen.

Da senkte das Fräulein den Kopf und nickte leise.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Eine milde Oktobersonne warf ihr Licht durch die weißen Gardinen in das Zimmer des Fräulein Dr. Hanna Südekum. Alles glänzte vor Sauberkeit und Ordnung, trotzdem sie erst vor einer halben Stunde aus dem Bett gestiegen war und nun an dem runden, zierlich gedeckten Tisch in der Ecke langsam und mit Behagen ihren Frühstückskaffee trank.

Auf ihrem Schreibtisch lag noch, säuberlich in Päckchen geordnet, die Post, wie sie sie gestern mittag nach der Heimkehr von der achttägigen Erholungsreise vorgefunden hatte. Sie hatte sich doch entschließen müssen, ein wenig fortzugehen, so entsetzlich müde war sie von allem, was über ihr Herz gestürmt war. Und auch Dr. Klempner hatte so gedrängt.

So hatte sie denn die kleine Handtasche, die sie noch von der Mutter hatte, gepackt und war hinausgefahren in den herbstlichen Wald. Zu müde, um zu denken, aber dankbar aufgetan dem Frieden rings um sie, war sie durch die sonnigen Tage gegangen und hatte so ihre Sicherheit wiedergewonnen.

Die viele Post, die sie hier vorgefunden hatte! O, es war doch schön, daß die Kinder sie nicht allzu rasch vergaßen, die von ihrem Herzen fort in die wilde Welt hinausgestürmt waren.

Die übermütige Lizzie Ebbinghaus schrieb begeistert aus einer mondänen Sommerfrische: „Ich flirte mich zu Tode – und was das Schönste ist: niemand will mir glauben, daß ich erst diesen Sommer Matura gemacht habe.

Alle halten mich schon für einundzwanzig Jahre, – auch der reiche Brasilianer, nach dem alle angeln. Sie zerplatzen, weil er nur mir den Hof macht.“

Und Grete Erb schrieb einen langen, langen Brief aus einer kleinen italienischen Stadt. „Ich glaube, daß nur der Sozialismus diese Probleme lösen kann, – auch das des neuen Liebesrechts des Weibes.“

Fräulein Dr. Südekum lächelte: Das wird kein Ismus können, liebe Grete Erb! –

Und hier ein spöttischer, ein spitziger Brief: „Obwohl man mich zu unanständig fand, um noch länger der Anstalt anzugehören, und tat, als wäre ich das verworfenste Geschöpf, hat mich Mr. Johnson, der Generalvertreter des Welthauses Bloch & Co., wertgefunden, seine Frau zu werden. Er liebt mich abgöttisch. Und das alles ohne Matura.“

– Ohne Matura, – mein Gott! –

„Ich sitze mit meinen Eltern hier in Tirol, und fast ist mir ein wenig bange, daß nun keine Schule mehr sein soll, – daß ich soll morgens schlafen können, so lange ich will, – und nicht mehr in den Garten und nicht mehr lernen. Sobald ich heimkomme, will ich Sie besuchen, liebstes Fräulein Doktor!“ – so schrieb Herta Kobinger.

Von Hertas älterer Schwester aber war ein sehr höflicher Brief da: „zurückgekehrt ... und hoffen Sie bei unserem ersten Empfang als unseren Gast begrüßen zu können ...“

Noch viele Briefe waren da und Postkartengrüße. Fräulein Dr. Südekum betrachtete sie voll Zärtlichkeit.

Aber ganz auf der Seite, gesondert von den anderen, lag ein Brief mit zittriger Hand geschrieben, und ein Bild lag dabei. „Meine Tochter hat uns gestern für immer verlassen und ist unter dem Schutze zweier Schwestern in das Kloster nach Italien abgereist. Dem Wunsche Erikas entsprechend sende ich Ihnen beiliegend ihr Bild.“

Sinnend betrachtete das kleine Fräulein dieses Antlitz, die hungrigen Augen, den so maßlos fordernden Mund. „Leben Sie wohl!“ stand auf dem Bilde.

Fräulein Dr. Südekum nahm alle Briefe und legte sie in eine Lade zu anderen.

Dann aber nahm sie ein Zeitungsblatt, das zusammengefaltet unter den Briefen gelegen hatte. Die Büchertrödlerin hatte sie gestern angerufen, als sie an ihrer Bude vorbeiging, und ihr dieses illustrierte Blatt in die Hand gedrückt. „Es wird Sie interessieren, – sie war doch eine Schülerin von Ihnen – nennen tut sie sich freilich jetzt anders!“

Unter diesem Bilde – o, sofort erkannte sie die so vertrauten, geliebten Züge – auf der ersten Seite der in französischer Sprache geschriebenen Zeitung stand zu lesen: „Wir bringen hier das Bild der mit so beispiellosem Erfolge aufgetretenen siebzehnjährigen Tänzerin Sixta Ferrari, deren Tanzschöpfungen ganz Paris in Atem halten. Wir fügen noch hinzu, daß die schöne Künstlerin das Modell des im Louvre ausgestellten letzten Werkes ‚Göttin der Lust‘ der Pseleuditi ist, für das diese den Rompreis erhielt.“

Ganz langsam zerriß Fräulein Dr. Hanna Südekum die Zeitung in kleine Stücke und warf sie in das Feuer.

Dann trat sie, wie in einem plötzlichen Einfall, vor den Spiegel und betrachtete sich. Und traurig und glücklich zugleich lächelte sie ihrem Spiegelbilde zu: „Ich bin ganz grau geworden – ganz grau.“

Sie setzte den Hut auf und trippelte langsam die Straße hinab, dem großen, weißen Gebäude der Schule zu.

*

Als sie vor der Türe der ersten Klasse stand, blieb sie einen Augenblick stehen und legte die Hand auf das stürmisch klopfende Herz. Aber dann wurde sie ganz still und trat ein. Augenblicklich verstummte der frohe Lärm, der den Raum erfüllt hatte.

„Grüß Gott, Kinder!“ sagte sie freundlich und stieg die Stufen hinauf zu ihrem Pult.

Die Fenster standen offen. Man konnte durch sie hinaus auf den in allen Farben des Herbstes prangenden Park sehen.

Die Lehrerin öffnete ihr Notizbuch, und ihr Blick flog fragend über die Klasse.

„Ich werde euch jetzt der Reihe nach aufrufen und jede, die ich rufe, wird hier! sagen. So werden wir uns kennenlernen. Ja!“

Das kleine Fräulein sah in ihr Buch und rief: „Gerda Brenner!“

Ein verschüchtertes kleines Mädel wurde glutrot, stolperte aus der Bank auf und sagte, indes es seine Augen groß und fragend auf die Lehrerin richtete:

„Hier!“

Vollendet am Semmering, Februar 1927.

Druck und Einband von Hesse & Becker, Leipzig. 3.327

In anderen Verlagen erschienen von Grete von Urbanitzky:

Der verflogene Vogel
Gedichte, Wiener Literarische Anstalt, Wien.

Das Jahr der Maria
Verszyklus, Wiener Literarische Anstalt, Wien.

Die goldene Peitsche
Roman, H. Haessel, Leipzig.

Masken der Liebe
Novellen, H. Haessel, Leipzig.

Maria Alborg
Roman, H. Haessel, Leipzig.

Mirjams Sohn
Roman, J. Engelhorns Nachfolger, Stuttgart.

„Diese Erzählung ist eine überraschende Leistung. Viel weniger noch in der Bewegtheit, mit der die Handlung geführt wird, als in ihrer Architektur, dem Gleichmaß der Verhältnisse, dem Beziehungsreichtum der Motive: sie wirkt wie eine symphonische Partitur, das Historische wird zur Atmosphäre, bleibt nirgends totes Wissen, drängt sich niemals vor und wird eben deshalb zu unmittelbarer Erscheinung; alles ist knapp, ohne toten Punkt, reich an ergreifenden Einzelheiten und ist vor allem vortrefflich erzählt, in einem Stil, der nichts absichtlich Archaisierendes und der doch den Duft des Vergangenen hat. Das Ganze, gleichsam ein weibliches Seitenstück zu Max Brods großartigerem, prachtvoll aufgetürmtem Judenroman ‚Reubeni‘, und eines, das solcher Zusammenstellung nicht unwürdig ist.“

Prof. Richard Specht in der Neuen Freien Presse, Wien.

„Das Buch sollte sich jeder, der Anteil nimmt an den geistigen und seelischen Problemen unserer Zeit, vornehmen. Es ist mit einer Gestaltungskraft geschrieben, mit einer Wucht, mit einer klaren, unerbittlichen Logik, daß man immer wieder erstaunt den weiblichen Autornamen betrachtet. Lest, lest, lest dieses Buch!“

Sächsisches Volksblatt.

„Fast beängstigend vollendet ist dieses Buch, wir spähen nach Fehlern, nach Schroffen, an diesem Marmorbau, denn wir möchten, daß dieses Buch ein Anfang sei und kein Ende. Es gibt manches Problem, das der Hand dieser starken Frau harrt, um von ihr geformt zu werden.“

Robert Hohlbaum in den Leipziger Neuesten Nachrichten, Leipzig.

„Voll dramatischer Kraft sind die Ereignisse geschildert, mit der Intuition des Dichters sind Menschen und ihr Wesen dargestellt. Hat man das Buch zu Ende gelesen, legt man es weg mit dem Gefühl, ein Erlebnis gehabt zu haben.“

M. Fuchs im Pester Lloyd.

Anmerkungen zur Transkription

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