The Project Gutenberg eBook of Der Hafen

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Title: Der Hafen

Roman

Author: Norbert Jacques

Release date: July 12, 2025 [eBook #76486]

Language: German

Original publication: Berlin: S. Fischer, 1910

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER HAFEN ***

Der Hafen

Roman von
Norbert Jacques

S. Fischer, Verlag, Berlin

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1910 S. Fischer, Verlag, Berlin.

„Und solang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunkeln Erde.“

Westöstlicher Diwan.

Erstes Kapitel

Es war, als tanzte an einem Abend ein ganzes Dorf der schwerfällig melancholischen Bretagne. Ein ganzes Dorf in Pluderhosen und Blusen, in Bauschröckchen und engen Jäckchen, aus denen volle nackte Mädchenarme kamen, und an den Füßen bewegten sich die schweren Holzpantinen steif, ehrlich und wie mit leise traurigen Lauten. Als wiegten die Leute sich schwermütig hin und her und setzten auf einmal mit einem trommelnden Auftakt alle Holzpantinen, melodisch und kurz hintereinander niederklappernd, daß es wie ein Wirbel klang, auf das Pflaster, während ein junges Liebespaar still glücklich herauskreiste. Und gleich wieder schloß sich alles im Reigen mit melodiöser Schwermut langsam plumper Bewegungen zusammen. Das Meer rauschte vor dem Dorf, wie ein neutraler Baß, der die Gewalt seiner Stimme gedämpft zurückhielt, obschon es wußte, daß es Meister sein könnte über alles.

Jeanne Biver spielte die „Danse lente“ von Cesar Franck auf dem Flügel.

Ihr Bruder lag währenddessen auf der Chaiselongue, die zwischen Flügel und Wand geklemmt war. Er lag auf den Rücken gestreckt, bequem und aufgelöst, schützte mit der linken Hand seine Augen vor der elektrischen Hängelampe und schlug, so oft der Anstalt des bretagnischen Tanzes im Flügel erklang, mit der rechten Hand, die er zur Faust geballt hielt, den Takt. Diese Musik ergriff ihn. Sie erfüllte ihn ganz, wie schwermütige Vorstellungen sich langsam in einem aufrichten können, einen plötzlich bei der Hand nehmen und widerstandslos ihren süßen, traurigen Weg führen. Er hatte dabei die Vorstellung eines einsamen Dorfes am Meer, in dem die Luft voll ätzenden Salzes ging, das Leib und Seele reinigte. Körperliche und innere Schönheit wurden schlank und plastisch herausgearbeitet. Man schaffte den ganzen Tageslauf mit den Händen auf dem Meer oder vor den kleinen Türen, und die ungemessene Sehnsüchtigkeit, die erdengewaltige Macht des Meeres erfüllte jede Verrichtung, erhob jeden Gedanken, vereinigte alle Herzen.

Die Harmonie dieser Vorstellungen wuchs wie eine Orchesterbegleitung um die Melodie, die Jeanne mit warmen Regungen aus der Harfe des Flügels holte. Sie wurde aufgescheucht, als sich plötzlich, wie unter einem heimlichen Stoß, die Tür öffnete. Als die Geschwister mit dem Kopf hinfuhren, durch das unerwartete Kreischen in den Türangeln erschreckt, sahen sie ihren Vater im Rahmen der Tür stehen. Aber er ließ die Klinke nicht los. Er warf einen scharfen Blick auf seinen Sohn, zog die Türe wieder zu und die Geschwister hörten ihn im Flur davongehn.

„Kratz mich gefälligst nicht!“ sagte Baptist für sich.

Seine Schwester hatte das Blatt auf dem Notengestell gewechselt. Sie spielte eine „Chansonette sans paroles“ des Belgiers Lekeu. Es ging wie in zarten Ringeln, mit sauberer, klarer Süßigkeit immer rundum, ein zärtliches Tänzchen verliebter Jungmenschlein.

Ein Kätzchen war, als Herr Biver hereinschaute, unbemerkt unter seinen Füßen durch die Türe geschlüpft. Es erschien nun auf einmal unter einem Sessel heraus, buckelte sich um die Beine des Flügels, aalte um Jeannes Schuhe herum und sprang dann auf den Diwan. Dort schmeichelte es schnurrend und sich windend um Liebkosungen. Es war ein kleines Kätzchen mit roten und schwarzen Flecken, einem saubern weißen Schnäuzlein und weißen Samtpantoffeln.

„Sonnenblümchen!“ lockte Jeanne, während sie weiterspielte.

Aber das Sonnenblümchen hatte sich in den Arm von Baptist eingeschmiegt und sang vor lauter Behaglichkeit. Es spielte mit den weißen Schuhen seiner Pfötchen an den dunklen Perlmutterknöpfen von Baptists Jakett herum, schlug mit leise gereizten Krallen nach seinen Fingern, die es neckten, und es war ein klein wenig unheimlich, daß man nicht wußte, ob es noch Spaß oder schon Ernst sei. Bis das Kätzchen mit einem eigensinnigen Satz lautlos auf die Klaviatur des Flügels schnellte und erstaunt über die Töne erschrak, die unter seinen Pfoten aufklangen.

„Ich stelle mir vor,“ sagte Baptist, „daß es solche Frauen gibt, wie das Sonnenblümchen. Sie schmeicheln uns ihren Willen auf, und wir glauben, sie stehn unter unserm. Sie buckeln sich schnurrend mit schlanker Zartheit über die Widerstände hinweg, die wir ihnen entgegensetzen, und sind so leise darin, so süß kapriziös, so ganz lieb und warm und spielerisch. Bei ihnen müßte es einem sicher gut gehn. Was meinst du?“

Jeanne schaute ihren Bruder groß an. Sie hielt ein zu spielen. Dann sagte sie: „Ich glaube nicht, daß es solche Frauen gibt. Und wenn, dann taugen sie eben nichts!“

„Wie kratzbürstig ist das Schwesterlein!“

Währenddeß aber besänftigte sich Jeanne. Sie spielte wie verliebt mit dem Kätzchen, das auf ihre Schultern turnte, sich um ihren Nacken schlang und eitel Graziosität war.

Dann wurde Sonnenblümchen auf den Boden gesetzt und die Chansonette sans paroles von neuem begonnen.

„Wie findest du es?“ fragte Jeanne, ohne im Spiel aufzuhören.

„Süß eben!“ antwortete der Bruder und wußte nicht recht, ob das Stück oder das Kätzchen gemeint war, weil er sich in irgendein Nachsinnen verloren hatte.

„Mir gefällt es nicht – aber ich höre es gern. Es ist oberflächlich, aber es tut den Gefühlen wohl, gelt? Das sind gewiß auch oberflächliche und sentimentale Gefühle, die in einem stecken und die dieses Lied so leicht in sich aufnehmen!“

„Wahrscheinlich!“ entgegnete Baptist faul.

„Komm, nimm deine Geige. Dann spielen wir es zusammen!“

„Ich liege viel zu gut!“

„Du wirst zu dick, Battist! Du bist schon ganz faul!“

Baptist schaute an sich herab. Er sah seinen großen Körper wohlgenährt, weich massig in seiner Kräftigkeit daliegen. Deshalb genierte er sich ein bißchen vor seiner schlanken Schwester, die mit einer sehnigen, großen und freien Linie leicht über das Griffbrett des Flügels geneigt saß.

„Wir essen zu viel im Haus und zu gut!“ sagte er auf einmal geärgert. „Wir müßten leichtere Speisen bekommen und keinen Wein über Tisch trinken. Schweinemast!“

Für sich dachte er: ich bin nur übernährt! Er stritt mit sich, mit einem flotten Ruck aufzuspringen, die Geige zu nehmen und sich im Spielen in den Hüften zu wiegen. Das gäbe ihm dann eine Befreiung von seiner gemästeten Körperlichkeit.

Er schaute seine Schwester an. Ihr krauses, kastanienbraunes Haar trieb kleine feine Löckchen heraus, die über die glatt und zart gerundete Stirn herniederblühten. Das Kerzenlicht, das hinter ihrem Kopf stand, quoll mit goldigem Leuchten in diese Löckchen, entzündete sie zu einem lieblichen, dunkelblumigen Licht, in das ein Scheinchen Sonne versenkt schien.

Aber wie Baptist einmal an dem Kopf vorbeischaute, sah er in dem großen Spiegel jenseits an der Wand sein Gesicht voll und weich in den Wust schwarzer Haare eingeschlossen. Er war unzufrieden damit und er legte den Kopf so, daß er nicht mehr im Spiegel stand.

Dann wirkte das Lied wieder mit wohligem Vergessen, mit sentimentalem Aufruhr in ihm.

Die Türe öffnete sich mit ihrem kleinen Schrei.

Herr Alois Biver kam herein, machte sich an einem Tisch zu schaffen, auf dem drei Zigarrenkisten nicht so standen, wie er es mochte. Er öffnete die Kisten. Das Kätzchen sprang unter dem Tisch hervor und schlang sich schmeichelnd um die Füße des Mannes. Die schoben es mit einem Stoß ungeduldig weg. „Viehzeug!“ sagte Herr Biver grimmig, riß die Türe auf und rief: „Hinaus! ... Lebt nur vom Nichtstun! Das ganze Haus voll solcher Existenzen!“

Das Kätzchen sprang entsetzt zur Türe und davon.

„Meinst du damit auch mich, Papa?“ fragte Jeanne und lächelte schalkhaft für sich. Aber Herr Biver drehte sich nicht einmal nach ihr um. Er trat wieder an die Zigarrenkisten heran, untersuchte sie, tauschte den Inhalt von zweien und zählte sie. Er schob eine Kiste unter den Arm, ordnete die beiden andern übereinander und stellte das Feuerzeug drauf.

Dann schlug er förmlich mit einem Blick nach seinem Sohn und verschwand wieder durch die Türe.

Als die Türe heftig geschlossen worden war, lachte Baptist: „Wie hat er unsere kleine schmeichlerische Frau behandelt, hast du gesehen? Er hat wieder sein Ich-beiß-dich-Gesicht!“

„Ach, Battist!“

Jeanne reichte dem Bruder die Hand und drückte die seinige heftig, als wollte sie mit dieser körperlichen Bewegung einen Ausbruch ihres Gefühls übermitteln, zu dessen Ausdruck ihr die Worte versagten.

„Papa! ...“ fing sie an, aber sie brach gleich ab, schüttelte die Schultern. „Ach, nein!“ und griff einige Akkorde, die sich bald in eine Melodie auflösten.

„Gott ja!“ seufzte Baptist, „so ein Examen!“

Nach einer Weile sagte er ungeduldig: „Wie das Sofa wieder nach Katzen stinkt! Scheußlich!“

„Ach, Battist, das Sonnenblümchen, es ist doch so lieb. Jetzt bist du auch gegen das Sonnenblümchen wie der Vater!“

Baptist lächelte.

Die beiden schwiegen, bis Jeanne auf einmal fragte: „Gehst du heut abend zur Schobermesse?“

„Ja!“

„Papa wird es dir verbieten!“

„Deshalb sag ich es ihm gleich lieber nicht!“

„Dann gehst du heimlich?“

„Natürlich!“

„Hast du das schon einmal getan?“

„Jeden Abend, lieber Beichtvater!“

Da schwieg die Schwester. Die so sehr gerundeten Augen, die wie glänzend schwarze, fast hartfarbige Perlen in ihrem schmalweichen Gesicht saßen und trotz ihres entschiedenen Glanzes oft abwesend irrten, nahmen einen Ausdruck an, unter dem sie sich langsam zu entfernen schienen. Sie schaute angestrengt in die Notenreihen. Sie verstand nicht und strengte sich doch an zu billigen. In diesem Zwiespalt wuchs das Gefühl in ihr auf einmal wie ein vernachlässigter Garten. Es hatte nur den Selbstzweck: Pflanzen und Pflänzlein zu treiben, irgendwelche Pflanzen, ob für Menschen, für Insekten, für Schnecken, für Bienen, für Vögel, für Schmetterlinge, ohne sichtbaren Zweck ...

Und Jeanne freute sich auf einmal an diesem Gefühl, das mit so prachtvoller Fruchtbarkeit in ihr emporschoß. Sie nannte es Liebe. Es machte sie weh und zärtlich. Sie umschloß ihren Bruder ganz mit ihm, hüllte ihn in sich ein, und sie, die ihre Mutter nicht kennen gelernt hatte, blühte auf in einer großen mütterlichen Güte. Sie war zwanzig Jahre alt und wußte, was Liebe war, obschon sie niemals noch sich an einen Mann verloren hatte. Aber ihre Sehnsucht stand wartend nach dem großen, reichen, prächtigen Empfänger, in den sie einst münden sollte, wie auf der hohen Flur ein Baum, der den Sturmwind erwartet, um alle Äste, Zweiglein und Blätter von ihm umspannen und rühren zu lassen.

Sollte sie jetzt endlich von diesen Dingen zu ihrem Bruder sprechen? Dann gingen sie beide ineinander auf, dachte sie sich wohl, und das war ein Wunsch, den sie voll Leid und Wärme pflegte, ja, dessen Erfüllung sie wie ein Wunder erwartete ... Sie hatte niemand Vertrautes in der kleinen Stadt und dem kleinen Lande gefunden und alles täglich in dem engen Kreis ihrerselbst hundertmal unfruchtbar erhitzt.

Und Baptist selber, der das stumme Sichändern Jeannes am Klavier sah, dachte daran, wie er gewartet hatte, sich an die weiche Weiblichkeit seiner großen Schwester flüchten zu können, als die Schwester von ihm fern in den Pensionaten in Frankreich und England aufwuchs und er so allein all die kleinen Schmerzen der Jünglingsjahre auf sich eindringen sah. Wenn sie einmal aus der Pension zurück sei ... dann werde sie ihm eine körperlose Geliebte. Sie werde empfangen, ohne daß man gebe. Man werde sich nicht berühren, und die Luft um einen übermittele die zartesten Regungen. Jeanne könne die enge Heimat Luxemburgs zu einer großen Welt auseinanderdehnen ... Und nun war sie schon seit zwei Jahren wieder im Haus, und sein Leben war in demselben Weg von Qualen und Genießenwollen, von heißen, immer nur halberfüllten Wünschen und törichten Sünden geblieben; und er hatte niemals auch nur mit einem Wörtchen Jeanne dorthinunter gewiesen, wo das alles schmerzvoll und unerlöst umherging.

Aber so stumm nebeneinander, halb blind für sich selber aufsprießend, trugen die Geschwister doch die Ahnungen umeinander in sich herum, und das war für beide so groß, schön und traurig, daß sie immer von neuem scheuten, Licht hinter sich zu machen.

Ost hatte das Mitteilenwollen aus dem Bruder dem Mädchen entgegengeknospt, daß die Blume fast herausgesprungen wäre. Aber die letzten Harzfäden hielten den Ausbruch doch fest. Baptist blieb bei sich allein und dachte sich nur in heißem Schwelgen die vielen edeln und vollen Möglichkeiten und Richtungen aus, die in seinem Innern so ganz anderswohin zeigten, als sein unzufriedenes Leben ihn führte, und die einmal, sich und der Schwester zur Freude, in Erfüllung gehen müßten. Und daß er auch hierin die Parallelität des Daseins Jeannes erkannte, das verband ihn unlösbar der Schwester.

So war ihr schweigendes Verhältnis halb aus unklarem Kummer und halb aus schönem und edlem Bewußtsein gemischt. Sie wußten, daß sich ihre Wurzeln im Boden zärtlich die Finger verschränkt hielten, und waren doch jeder für sich ein Baum. Sie wuchsen in denselben Himmel hinauf und richteten sich doch jeder frei sich selber.

Deshalb empfand Jeanne es auch als ein Wagnis, das Gespräch dahin zu wenden, worum ihre Gedanken den ganzen Abend sprangen. Sie fürchtete, weil sie nicht wußte, in welcher Innerlichkeit bei ihrem Bruder die Frau saß, von der sie gerne gehört hätte. Als aber schließlich das Bedürfnis nach Kritik ihre Neugierde unterstützte, sagte sie, indem sie verschämt und rot geworden lächelte und auf ihre Finger niederschaute, die etwas fester in die Tasten griffen: „Sie hat so große Hände!“

„Wer?“ fragte Baptist.

Da nahm ihr Mut einen Anlauf.

„Sei nicht bös, Battist, die Italienerin! Bist du mir bös?“

Jeanne hörte zaghaft auf zu spielen. Baptist antwortete nichts. Die Schwester wollte sich die Gelegenheit aber nicht entfallen lassen.

„Die blonde Italienerin bei der neapolitanischen Kapelle auf der Schobermesse!“ behauptete sie sich.

„Pfui, Schwester,“ lachte Baptist, „ich bin ein Knabe, der gerade großjährig geworden ist; der sich schämt, seine Matura noch nicht gemacht zu haben, wo sie andere schon mit neunzehn hinter sich zu legen pflegen. Ich arbeite, wovon du dich hoffentlich überzeugt hast, den ganzen Tag und die halbe Nacht in Sinus’ und Tangenten, Cäsar und Xenophon, Racine und Schiller, in Säuren und Berechnungen elektrischer Kräfte. Was würde mein ehrbarer Vater dazu sagen, wenn ich eine italienische Tamburinschlägerin der Schobermesse umwürbe!“

„Bleibst du denn heute abend zu Haus, um zu studieren?“

„Nein!“

„Wo gehst du denn hin, Battist?“

„Zu der mit den großen Händen.“

„Sie hat Hände wie eine Bauernmagd!“ sagte Jeanne, und die Wut stieß sie davon.

„Leider!“ bedauerte Baptist lächelnd.

„Sie hat Füße wie ein Pferdeknecht.“

„Ach!“

„Ja, und überhaupt ...“ aber unter dem ironisch tuenden, kalten Blick ihres Bruders verging Jeannes Heftigkeit. Nun fürchtete sie, ihm wehgetan zu haben. Sie fragte voll zärtlicher Angst: „Liebst du sie denn, Battist?“

Da drehte Baptist seinen Kahn plötzlich in den Wind. Er gab seinen Widerstand auf, der nur äußerlich gewesen war: „Ach nein, ich lieb sie ja wohl nicht. Aber ... zum Henker, aber, aber, aber ... hundertmal hintereinander: aber!“

„Ich versteh dich nicht.“

„Ach Gott – es ist doch alles nicht so einfach und solid zum Anfassen, wie man aussieht. Man hat’s ja nicht so leicht. Ich weiß nicht. Ich kann’s nicht sagen.“

Er stand auf und küßte seine Schwester.

„Manchmal blickt man etwas klarer in sich hinein. Dann ist mir, als sähe ich zwei Getrennte: Der eine steht immer still unter dem Boden der Erscheinung. Der andere, der mit dem Leib, geht sichtbar oben. Aber ich bin doch natürlich keiner, der das dann so genau sezieren und kontrollieren kann. Sag’ doch der Köchin, daß sie anders kochen soll. Es muß doch nicht immer diese fette Mast sein. Ich habe Sehnsucht nach Hygiene und sehe die des Innern erst hinter der des Körpers. Davon kommt sicher die ganze Geschichte, daß alle Widerstandskraft in einem verfettet, daß man über die unbewegliche Masse seines Leibes nicht mehr hinauskommt. Geh, Jeanne, spiel was!“

Baptist ging im Zimmer hin und her. Jeanne spielte. Es war Chopin, bunt und zerrissen, schwermütig und voll Glanz. Aber auf einmal klang es jäh ab; mitten in der Harmonie blieben die Hände still, drückten sich noch mit einem mißklingenden Akkord auf die Tasten. Jeanne wandte sich um: „Battist, wenn du dein Examen nicht bestündest?!“

Es war eine Frage und war Entsetzen und Liebe.

„Ja, Gott ... Fragezeichen, Schwesterlein!“ antwortete Baptist. „Dagegen bin ich nicht gewappnet!“ fügte er nach einer Weile ernster hinzu.

Dann ging er und streichelte seiner Schwester über das Haar.

„Nun spiel etwas Ordentliches, etwas Schönes und Großes. Alles andere ist doch Dreck. Geh, spiel etwas von Bach!“

Während Jeanne im Notenschrank suchte, begab sich Baptist zum Rauchtisch, hob das Feuerzeug von den Zigarrenkisten und öffnete die Kiste, die zu oberst lag und die auf lackiertem Holz den Stempel Uppmann trug.

Aber er lachte laut auf, als er hineinschaute.

„Der Vater hat hier einen kleinen Tausch vorgenommen“, sagte er. „Wer ist vom Werte der Umdrehung des alten Sprichworts: Das Kleid macht nicht den Mönch! so überzeugt, wie er! Groschenzigarren sind Importen, wenn sie mit irgendeiner Bauchbinde umwickelt in einer Uppmannkiste liegen und Herr Wampach und Herr Küborn und Herr Faber, die heute nach dem Abendessen auf diesem Tische Whist spielen werden, sind derselben luxemburgisch bürgerlichen Ansicht. Das nennen sie dann: frommer Betrug – und lächeln mild und pfiffig dazu.“

Jeanne kam heran, ein Notenbuch in der Hand. Da ging die Türe auf.

Baptist lächelte vor seinem Vater anzüglich in die Zigarrenkiste hinein.

„Hast du weiter nichts zu tun?“ herrschte ihn der Vater an und klappte unter Baptists Händen die Kiste zu. „Ich denke, du hast in vier Wochen Examen. Du willst wohl eine Meisterschaft im Nichtbestehen von Examen aufstellen, daß alle Leute in Luxemburg mit Fingern auf einen zeigen: ‚Da ist der Vater! Faineant!‘“

„Papa!“ bat Jeanne.

Aber diese Einmischung der schwesterlichen Fürsorge erhitzte in Baptist den passiven Widerstand, mit dem er solche väterliche Anfälle an sich vorbeizulassen pflegte. Das Unrecht der beleidigenden Worte schien ihm nun offensichtlich, und diese Ungerechtigkeit, verstärkt durch die Erinnerungen an die ununterbrochene Kette solcher Auftritte, ins Tragische gesteigert durch die innerliche Unzufriedenheit, an der er seiner Umgebung die Hauptschuld zumaß, hetzte ihn in einen hitzigen Zornausbruch hinein. Er schoß leidenschaftlich empor, stürzte davon und schlug, das Wort Cambronnes brüllend, die Türe hinter sich zu.

Der Vater rief ihm nach: „Wart nur, Jüngchen, es gibt mehr Ketten als rasende Hunde!“

Jeanne ging zum Klavier zurück und mußte den Rest der Schale der väterlichen Gereiztheit über sich ausleeren lassen.

„Ach du, mit deinem ewigen Geklimper und Geplimper! Schau lieber, daß du einen Mann bekommst!“

Jeanne hob den Kopf trotzig empor. Sie dachte an die Abgewiesenen, die sich ihr zu nähern versucht hatten, und schlug mit vollen Händen und beleidigter Empörtheit den ersten Akkord, der in die dunkel trächtige Melodie einer Beethovenschen Sonate ausfloß.

Zweites Kapitel

Baptist sprang stracks die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Es lag neben seinem Schlafraum im zweiten Stockwerk der Villa und war stets das Refugium seiner bösen Stunden. Er drehte den kleinen elektrischen Kronleuchter an und setzte sich auf den Holzstuhl, den er als Schreibtischsessel benutzte, seitdem er sein Examen vorbereitete.

Aber er vermochte noch immer nicht sich in Ruhe zu fassen.

„Drecks-, Drecks-, Drecksleben!“ schimpfte er laut ins Zimmer hinein. „Und das Examen mach ich doch niemals!“

Vor ihm lagen die Bücher geordnet, aus denen er täglich fürs Examen auswendig lernen mußte. Sie setzten seinen Ärger in Flammen. Er sprang auf, ergriff das zunächstliegende, riß es aus dem Deckel und biß mit den Zähnen hinein, als wollte er es verschlucken, um seine Wut damit zu sättigen. Aber es widerstand den Zähnen. Da riß er es fünf-, sechsmal auseinander und spaltete die paar Blätter, die ihm schließlich in der Hand blieben, mit einem Ruck mitten entzwei.

Aber wie er diese traurigen, unschuldigen Reste in seiner Hand sah, mußte er laut herauslachen.

„Ach Gott, nun muß ich mir morgen nur ein neues kaufen!“

Er las die Fetzen vom Boden, knüllte sie zusammen und stopfte das zerrissene Buch in den Ofen.

„Weiter nichts, nur ein neues kaufen!“ sprach er traurig und resigniert dem Buche, das in den schwarzen Behälter verschwand, als Grabrede nach.

Aber die Tätlichkeit, der das Buch zum Opfer gefallen war, hatte ihn doch etwas abgespannt und versöhnt. Er ging auf und ab und ein Bedürfnis nach Ruhe und Frieden quoll warm in ihm auf. An einer Wand standen zwei schwere doppeltürige Eichenschränke aus Flandern voll von Büchern, die der Reichtum seines Vaters ihm erlaubt hatte zu sammeln. Baptist riß alle Türen weit auf, und im tiefen Schoß der Schränke erschimmerte der absichtslos bunt gescharte Schwarm der Bücher. Im Schrank, der dem Fenster am nächsten stand, hob sich aus den farbig gescheckten Regalen eine Bücherreihe verzärtelt vornehm heraus. Alle hatten denselben Rücken aus flaumgelbem, samtigem Leder und alle trugen dieselben blauen und grünen Schilder, golden bedruckt, mit einem feierlichen Reichtum zur Schau. Das waren Baptists Lieblinge: Werther, Hauff, Eichendorff, Stifter, Lenau, Cosmopolis von Bourget, Maeterlinck, die Chronik der Sperlingsgasse, Bruges la Morte, Freund Hein, Sar Peladan, Cyrano ... verliebt und kritiklos aus dem Schatz des Geschriebenen herausgelesen und zueinander geschart; uniformiert in all denselben Halbfranzbänden mit den hellen Lederrücken und den dunkeln Tunkpapierdeckeln, wie sie es in der empfindsamen und einseitigen Zärtlichkeit des jungen Menschen waren, der in diesen Bänden wahllos sich mit seinen Tröstern vereinsamte, seine Geliebten besaß und seine Beispiele ahnte.

Baptist fuhr innig mit der Hand über die Reihe und seine Augen suchten zugleich an den Wänden die geliebten Bilder auf, und er sagte, während Rührung zugleich mit Zuversicht in seinem Herzen aufbrauste: „Wir!“

Das Genießen der Bücher und Bilder in dem lieben Schlupf seines vereinsamten Zimmers führte seine Gedanken zu weiten Streifzügen über die Wege, die er liebte, und Baptist stand auf einmal vor dem Bild der Italienerin auf der Schobermesse. Stracks überschwemmten ihn die Wünsche nach ihr mit weichen, haltlosen Gefühlen, und er begann in einer Schublade herumzusuchen, ob er nicht irgendein liebes schönes Stück fände, das er ihr am Abend zugleich mit seiner verliebten Zärtlichkeit geben könnte.

Da klopfte es und das Zimmermädchen sagte vor der Türe: „Der Herr Battist möchte zum Abendessen kommen!“

Baptist hörte das Mädchen noch einen Augenblick draußen stehenbleiben, und er hielt ein, in der Lade zu kramen. Dann ging ihr Schritt, eingehüllt in das leichte Rauschen der Röcke, davon. Baptist schritt langsam den Flur entlang und die Treppe hinab. Das Mädchen huschte unter ihm lautlos in den Stufen und er sah noch gerade ihre weißen, steif geplätteten Schürzenbänder flattern.

Im Eßzimmer saßen der Vater und Jeanne bereits am Tisch. In einer Karaffe schlief, dunkel und schwer, roter Wein, der darauf wartete, erlöst zu werden. Die Schwester ordnete ein paar Blumen in einer Vase und rückte sie in die Mitte des Tisches, die Karaffe mit dem Bordeaux etwas beiseite schiebend.

„So! rüttele ihn recht! Das hat er gern!“ brauste Herr Biver auf. „Was machen überhaupt die Blumen da? Sie nehmen nur Raum weg!“

„Aber Papa!“ wehrte Jeanne. „So sieht der Tisch doch viel freundlicher aus. Es ist ja auch Platz genug rundum!“

„Ach was, der Tisch ist da für das Essen und nicht für eine Blumenausstellung. Dafür mußte ich dir den Wintergarten ans Haus bauen!“

Jeanne zuckte mit den Schultern.

„Was hast du daran auszusetzen?“ fragte der Vater und schaute beleidigt auf.

„Nur, daß ich eine andere Meinung habe!“

„Du kannst deinem lieben Bruder die Hand geben. Der hat auch immer eine andere Meinung als wie die gewöhnlichen Menschen!“

Baptist horchte nicht hin, während der Vater schwatzhaft weiter kritisierte. Er fragte sich nur einmal, ob er seiner Schwester vielleicht zu Hilfe kommen müßte? Aber dann fuhr ein anderer Gedanke, der schon eine kleine Weile gelauert hatte, in ihm nieder.

Baptist stand auf und ging an dem Mädchen vorbei, das gerade eine Platte mit Speisen hereinbrachte, zur Türe hinaus. Er schloß die Türe hinter sich und eilte, die Schritte dämpfend, über die dicken Teppiche an den geschlossenen Türen des Korridors vorbei. Als er im Seitenflur war, wo kein Licht brannte, verfinsterte er mit einem kleinen Ruck sein Gesicht. Er dachte, er sähe jetzt aus wie ein Bösewicht. Aber er biß trotzig die Zähne aufeinander.

Die letzte Türe führte in das Arbeitszimmer seines Vaters. Baptist machte sie geräuschlos auf und tastete sich zu dem Sekretär, der gleich an der Wand stand. Ein schwacher Dämmerschein fiel durch die offene Tür in das dunkle Zimmer. Als Baptist ein wenig mit den Fingern unter der hervorstehenden Platte getastet hatte, gab es einen leisen Knall. Das war das Geheimnis, das Herr Biver mit ängstlicher Genugtuung für sich allein zu besitzen glaubte. Baptist schob an einem Knopf den Rolldeckel fausthoch auf, griff in die Öffnung hinein und fühlte gleich den kalten Schlüsselbund. Er zog ihn vorsichtig heraus, während er in den Flur hinaushorchte. Seine Brust klopfte mit spitzigen Schmerzen dazu, und die Finsternis legte sich angstvoll wie Wasser auf ihn.

Baptist schlüpfte mit einem schnellen Schritt zu dem eisernen Ungetüm, das dunkel erkennbar aus der Wand trat. Seine Finger glitten an einem Eisenband entlang, rutschten langsam suchend über eine glatte Fläche, bis sie den Messingknopf trafen; sie drehten ihn rasch herum. Die andere Hand haftete mit dem kleinen Schlüssel mit dem Strahlenkranz von Bärten heiß in die Öffnung; das Schloß gab mit einem weichen, dumpfen Schrei glatt nach, und es war fast, als käme Baptist die schwere Eisentüre leicht und unheimlich entgegen, um ihn vor die Brust zu stoßen. Aber sie blieb auf einmal stehen.

Baptist griff in den dunkeln Spalt. Seine Finger trafen eine runde eiserne Schüssel, die offen war; es fühlte sich an wie brennendes Eis, als er hineingriff; hastig ließen die Finger Stück für Stück von dem Inhalt in die Hosentasche gleiten. Baptist wollte zählen, aber er vermochte es nicht. Es zitterte ihm leise in den Händen und in den Beinen. Er hatte die Augen geschlossen, während er so tat, und er sah sein Blut dabei lärmend und mit glitzernden Schwärmen funkelnd im Kopf herumgehen.

Dann drückte er fiebrig zurückhaltend die hohle Türe ins Schloß. Es knackte einmal heller und dann noch einmal, wie ein ferner halb verschallter Hammerschlag Baptist zuckte in erhitzten eckigen Gebärden mit der Hand unter den Rolldeckel des Sekretärs, legte die Schlüssel nieder, schob, die Zähne in die Lippen beißend, den Deckel ins Schloß.

Er richtete sich auf in der Dunkelheit und blieb ein paar Augenblicke so hochgereckt und unbeweglich stehen. Er kniff die Augenlider zu, krampfhaft fest, als schmerzte es ihn. Das Blut sprang wie in einem Strahl gewaltsam in seinen Kopf hinauf. Er sagte zu sich: „Dieb!“ aber alles war plötzlich in ihm hochgespannt. Er fühlte seine Gedanken sich straffen, daß sie klangen. Sie waren wie aus Glas auf einmal, hart, scharf und klar. Er sah durch sie hindurch in sich hinein. Er erlebte wie mit einem Schlag voll schweren Lichtes das, was in ihm vergangen war, und sah in sich die Möglichkeiten maßlosen Verkommens und großen Werdens ungebunden nebeneinander stehen. Er spürte seine ungeheure Widerstandskraft hinter der wohllebigen Weichheit seines Leibes und der Verfettung seines Willens unberührt und untätig liegen und war angefüllt mit einer erregten, reichen Abenteuerlichkeit voll möglich gemachter Taten, über die sich mit dunkel schwerer Gebärde die Fatalität herniederbückte.

Aber wie ein kleiner körperlicher Schmerz stach ihn gleich darauf die Häßlichkeit der heimlichen Diebstähle, denen er schon lange ergeben war und gegen die er sich kaum mehr wehrte.

Er zog die Türe des Zimmers vorsichtig ins Schloß und ging schnell über die Teppiche zurück in den Speisesaal, von dem er kaum einige Minuten fortgewesen war. Über seinen Augen lag ein nebeliger Flor, als er eintrat und sich an seinen Platz setzte. Er nahm unsicher und mit schwachen Fingern Speisen von den Platten, die das Mädchen ihm hinhielt. Er legte ohne es zu wissen, seinen Teller übervoll. Wie mit einem Merkmal im Gesicht saß er da. Er zwang sich, die schweren Fleischgerichte zu essen, die ihm widerstanden, und die Ungeduld hinaus- und davonzukommen, blähte sich fiebrig in ihm auf.

Währenddeß dachte er sich zehn-, zwanzigmal hintereinander aus, wie er diese Diebstähle vollführte. Wie sie in dem müßigen, verweichlichten Hinfließen seines Lebens die einzigen Taten waren, an denen sich Wagnis und Widerstandskraft einmal aufrichten konnten, wie sie zugleich gemein, heimlich und ekelig waren, wo sie ihm Spannkraft und die abenteuerlich verwilderten Genüsse in den abseitigen Weibercafees gaben, in denen aller Widerstand des Lebens in den Dunst von Alkohol- und unfruchtbaren erotischen Räuschen verdampfte. Er stahl und verpraßte und erkaufte sich mit den harten Schmerzen seines Bereuens die fessellose Romantik seiner heimlichen, dumpfen Sünden.

Und trotzdem wußte er wohl, daß er sich von dieser Krankheit freimachen müßte, um die edlen Genüsse des Lebens zu erlangen, die er für sich in der Ferne bereitet fühlte.

In diesen Vorstellungen gingen seine Gedanken ruhelos hin und her, wie ein Raubtier in einem Käfig. Immer hin und her, zwischen die engen Wände gedrückt und durch das Gitter von der Freiheit getrennt. Ein Stück langsam und regelmäßig, dann mit einem Satz im Bogen an das Gitter schnellend, dann fiel er in der Mitte wieder zu Boden, begann von vorne, kühl und sich fassend, und gleich wieder flammend erhitzt, beschönigend, verzerrend. Seiner Schwester wagte er nicht in die Augen zu schauen. Aber die wässerigen hellen Augen seines Vaters konnte er dabei mit kaltem Gleichmut überwachen.

Baptist trank viel von dem Bordeaux aus der Karaffe. Die Goldstücke wogen in seiner Tasche auf dem Schenkel. Er hatte sie, damit sie nicht zusammenklingen sollten, mit einem Taschentuch in eine Ecke der Tasche aneinander gedrückt. Mit den Fingern fühlte er oft heimlich von außen ihre runden Leiber an und gab ihnen verschwiegene Liebkosungen.

Baptist war satt wie eine Schlange, die sich vollgestopft hat, und er fühlte sich doch brennend leer zum Empfang. Die Begier, daß es nun endlich in dem Zimmer und auf dem Tisch fertig sein möchte, brannte mit zitterndem Züngeln weiter in ihm und er schaute erregt nach dem aus, was nachher draußen kommen sollte, wenn er erst das Haus verlassen hatte. Vielleicht wurde es heute etwas Verschwiegenes, etwas heimlich Frauensüßes, das er noch nie genossen hatte. Wie liebte er Rosa! Wie liebte er sie! Dazu wirkte sein Feingefühl verletzlich, ja, wie rasend geschärft auf die geringsten Unappetitlichkeiten, wie sie bei jedem Essen vorkommen. Es reizte ihn, daß sein Vater mit seiner runden, wie uneben aufgefütterten Gestalt zu tief in dem weichen Ledersessel saß und die Serviette hoch um den Hals gebunden hatte. Das erschien ihm wie eine Vorbereitung auf das Essen, die durch ihre weitläufigen Anstrengungen abstieß. Auf dem harten blonden Spitzbart seines Vaters lag ein Tropfen weißer Sauce, und Baptist mußte sich zwingen, nicht hinzuschauen und sah doch im Wegblicken die starken runden Backenknochen des Vaters im Kauen wie Kugeln immer drohend zu den Augen aufsteigen und ebenso regelmäßig niedergehen.

„Das Frikassee ist heute nicht genug epiciert, Anna!“ wandte sich Herr Biver plötzlich streng und sachkundig an das Mädchen. „Sagen Sie der Köchin ..., nein, ich werde es ihr nachher selber sagen. Auf Euch ist doch kein Verlaß!“

Aber Anna erwiderte: „Das gnädige Fräulein gab heute Anweisung, die Speisen künftig weniger scharf zu bereiten.“

Herr Biver schaute Jeanne empört an: „Nun hör mal – was fällt dir ein?“

„Wir essen zu viel und zu stark!“ sagte Jeanne trotzig und bestimmt. „Das wird jetzt anders!“

Herr Biver hielt ein mit Kauen. Er blickte betroffen vor sich nieder in den Teller. Aber Baptist wollte versöhnlich ablenken: „Vater gehst du heute zur Schobermesse?“ fragte er, obschon er wußte, daß mit der wichtigen Regelmäßigkeit der Lebensgewohnheiten von Leuten, die sich in kleinen Städten viel langweilen, an jedem Samstagabend im väterlichen Haus die Whistpartie zusammenkam. Der Vater antwortete ihm nicht. Statt dessen sagte er über den Tisch hinweg: „Anna, sagen Sie der Köchin, daß ich nachher mit ihr zu sprechen wünsche. Vorderhand ist der hier noch Herr im Haus, und es dauert noch ein Stückchen, bis es anders wird.“

Erst nachdem Herr Biver wieder eine Weile gegessen hatte, warf er Baptist hin, ohne ihn anzusehen: „Nein, ich geh nicht zur Schobermesse!“

Jeanne zuckte kaum merklich mit dem Gesicht und schob ihren Teller etwas von sich. Baptist dachte sich: immer lustig gefressen, das ist auch ein Zeitvertreib! Der kleine Zwischenfall hatte ihn erheitert und aus der heißgelaufenen Wirrsal seiner Vorstellungen um die Diebstähle wie durch eine Beschwörungsformel herausgehoben.

Als Herr Biver weitläufig und ohne anzudeuten, daß es bald ein Ende nehme, weiter aß, hob Jeanne mit der Gebärde einer verletzten Fürstin den Tisch auf. Baptist war ihr dankbar für diese Bewegung und schloß sich ihr an, als sie das Zimmer verließ.

Draußen schob er seinen Arm unter den ihrigen und die Geschwister gingen schweigend bis ans Ende des Flurs. Dann sagte Baptist lächelnd: „Komm, wir wollen lieber noch ein bißchen zusammen etwas spielen, bevor ich mich an den großen Händen freuen geh!“

Er wollte noch mit seiner Schwester zusammen sein.

Aber Jeanne nahm ihn bei den Händen: „Ach, gelt, du liebst sie nicht? Gelt, es ist nur ein wenig zum Zeitvertreib?“

„Hm?“

„Nein, gelt nicht?“

„Weshalb liegt dir denn soviel daran, daß ich sie nicht lieben soll?“

„Weil du eine ganz andere Frau bekommen mußt. So eine Prinzessin oder so ...“

Baptist lachte.

„Ja, ich meine nicht so eine geborene aus einem Fürstenhaus. Das ist ja auch vielleicht meistens nicht mehr als wie das Gewöhnliche. Ich meine eine, die durch ihre Schönheit und Klugheit eine Prinzessin unter den Menschen ist.“

Da streichelte Baptist Jeanne über den Arm: „Ach, das liebe, kleine Schwesterlein!“ schmeichelte er ihr.

„Ja, das mußt du!“ behauptete sie.

Aber Baptist zog sie in die Türe und drehte das elektrische Licht an. Die Sonate von Beethoven stand noch auf dem Flügel.

Jeanne schlug die ersten Takte an.

„Ach nein, Jeanne, etwas anderes, etwas leichteres!“ sagte Baptist, während er den Geigenkasten öffnete.

„Mozart!“ schlug Jeanne vor.

„Nein, etwas Neues, gelt!“

Baptist wollte irgend etwas von der Musik, die man überall hörte, etwas von jener Musik, in der die Erotik der Zeit, wie ein prickelndes Quirlen und Verdunsten zu flüchtigem Genuß und nervösem Reiz festgehalten wurde. Er begann auch gleich solch ein Lied zu pfeifen. Jeanne fiel am Flügel ein, Baptist schob schnell die Geige unters Kinn und fuhr mit ein paar Strichen mitten in die Melodie hinein, die die Violine dann sofort mit einem lostollenden Singen über das Spiel des Flügels, der den leichtsinnigen Allüren der Geige nicht folgen konnte, hinweghob und davonführte.

Baptists Geige war ein gutes Stück von Aegidius Barzellini aus Cremona. Es war das einzige Erbstück der Familie. Der verstorbene Großvater hatte sie in Paris als junger Bursch geschenkt bekommen – er sagte bis zu seinem neunundsiebzigsten Lebensjahr, in dem er starb, von einer Frau – und er hatte sein Leben drauf verfiedelt, statt zu schaffen. Aber ihre adelige Herkunft war erst nachher festgestellt worden: als Baptist aufs Musikkonservatorium kam, untersuchte sie schließlich einmal sein Lehrer, den der süße, singende Ton des Instrumentes schon lange bezaubert hatte. „Unsere Ahnengallerie!“ nannten die Geschwister die Geige, weil der Vater jeden Besucher an diesen einzigen hervorragenden Gegenstand rassiger Herkunft, den das Haus barg, heranführte, und weil die Geige die den Geschwistern romantischen Erinnerungen an den leichtsinnigen, fiedelnden Großpapa trug, der sonst als ein gefährliches Gespenst in dem noch neuen Familienschrank der Biver sorgsam und angstvoll verschlossen gehalten wurde.

Aber aus seiner behüteten Verborgenheit kam heute Abend der Geist des Großvaters an Baptist heran. Der junge Mensch fiedelte das erregende Lied, daß es im Kasten der Geige heiß und menschlich verlangend stöhnte und tollte, und der Großpapa schien dazu zu lächeln und Rosa von der Schobermesse tanzte, das Tamburin schlagend, und auf einmal war die Geige ein Menschlein, ein heiterer Kumpan, der mit einem buckeligen braunen Lachen bei Baptist war ... war der lustige, abenteuerliche, leichtfertige Großpapa, den der Spieler in dem bebenden Unterton der Resonanz des Geigenleibes zu allen Dingen des Tages frech, wurschtig und humorvoll brummeln hörte. Und Baptist sang übermütig zu seinem Geigenstreichen, preßte das Wort ‚Ahnengallerie‘ ununterbrochen durch alle Tonfolgen der werbenden, erhitzenden, einschläfernden Weise ... Ah! ... ahnen ... gal ... le ... ri – ö! A...a...nengallri... und schloß im Spielen die Hand bewegter um den Geigenhals, drückte die Finger gefühlvoller auf die Saiten, führte den Bogen zärtlicher, als handelte es sich darum, im Rausche einem treuen Sauf-, Wander- und Leidgenossen mit einem empfindsamen Händedruck seine Freundschaft zu bestätigen.

Aber auf einmal fiel die Unrast auf Baptist nieder, wie ein Netz, das sich im Augenblick zuzog. Baptist warf einen Schnörkel von Akkorden über die vier Saiten, hüpfte zum Geigenkasten, die Violine sank einmal aufschallend hinein, der Deckel schnappte zu.

„Gute Nacht, Schwesterlein, jetzt muß ich!“ rief Baptist, sprang am Flügel vorbei, strich Jeanne rasch über die Schultern und setzte zur Türe hinaus. In demselben Satz stürmte er die Treppen hinan. Er sah kaum noch, wie sein Vater seine drei Gäste, die Herren Faber, Wampach und Küborn, zur Türe des Eßzimmers hineinkomplimentierte, während die weiße Schürze der Anna in der dunklen Garderobenecke schimmerte.

„So, schön, der Weg ist also schon frei!“ sagte er sich, und eine leise Atemnot klopfte in seiner Brust, mehr durch die aufgaukelnden Erwartungen des Abends verursacht, als durch das heftige Treppenlaufen.

Aber Jeanne saß auf dem Sessel am Flügel und schaute die Türe an, die sich so hinterrücks wieder geschlossen hatte. Bald weinte sie. Er war ihrer Liebe und Zärtlichkeit entglitten und ging nun zu dem Kirmesweib, die seiner unwürdig war und an der er sich beschmutzte; Und wieder wuchs der verwilderte Garten in ihr auf.

Baptist wechselte in seinem Zimmer, nachdem er sich gewaschen hatte, mit fliegenden und in der Erregung ungeschickten Fingern Kragen und Krawatte. Sein Gesicht glühte, und das kalte Wasser hatte nur einen Augenblick wohlgetan. Zu den offenen Fenstern zog die erste Abendkühle des Septembertags ins Zimmer. Es lag eine leise modrige Ahnung von Änderungen, von Scheiben und Vergehn in ihr. Sie kam aus der starren Finsternis des Stadtparks feucht und unaufhaltsam herein.

Baptist legte, als er fertig war, und schon den Hut auf hatte, noch ein kleines Weilchen mit einer kosenden Bewegung den Kopf zum Fenster hinaus in ihre wehmütige Herbheit.

Dann verließ er das Zimmer und stürzte die enge Treppe hinab, die im Seitenflur für das Dienstpersonal Erdgeschoß mit Speicher verband. Er nahm jedesmal drei oder vier Stufen, und prallte unten auf Anna, die gerade aus der Küche gekommen war. Um nicht gegen sie zu fallen, mußte er seine Hand auf ihre Schulter stützen, während er sich mit der andern am Geländer hielt.

Anna lächelte ihn geniert an, und Baptist ließ seine Hand liegen. Er spürte unter dem dünnen Taft der Bluse die Formen der Schulter. Er sagte, ebenfalls gezwungen lächelnd: „Mund halten, daß ich weg bin!“

Anna nickte vertraut, während Baptist mit einer Zärtlichkeit, die sich nicht eingestehen will, zaghaft und errötend seine Hand niedergleiten ließ. Das Mädchen schaute verlegen mit warmen Augen an ihm hinauf. Aber er hatte sich schon abgewandt und Anna sah ihn rasch die kleine Treppe hinab und zur Seitentüre hinausgehn. Beiden, ihr drinnen, die nun verlassen die Treppen hinaufging und sich dabei auf das Geländer stützte, und ihm draußen, der über die Rasen zum Tore schritt, damit seine Schuhe nicht im Kies der Wege knirschten, war es, als hätten sie eine kleine Wunde von diesen drei Augenblicken des Zusammenseins in dem einsamen, schmalen Flur davongetragen.

Drittes Kapitel

Die Villa Biver war in jener Zeit gebaut worden, wo die Stadtverwaltung so wenig Gewissen und Geschmack besaß, daß sie sich bereit fand, an Private sozusagen ohne Entgelt und nur aus Liebenswürdigkeit und Vetternschaft die schönsten Winkel ihres alten Parkes aufzuteilen. Die Villa hatte sich in eine Ecke geschmiegt, die an der Kante des Plateaus den Park zur Seite des Petrustales beschloß. Zwanzig Schritte von dem gußeisernen Tor der Villa verlor sich gleich ein Weg in das Baum- und Buschwerk des Parkes und schlängelte sich heimlich und verlassen dahin. Alle fünfzig Schritte leuchtete eine altmodische Gaslaterne mit einer offenen flackernden Flamme rot und düster in einem Strauch. Einmal umfaßte ein dünner Kreis von solchen Laternen das alte dunkle Gewese des ehemaligen Forts Louvigny, das seit drei Jahrzehnten vergeblich drum warb, die Vergnügungsstätte der Luxemburger zu sein. Es lag jeden Abend verlassen und wie lauschend im Gebüsch. An zwei Stellen schnitten Straßen breit durch den Part. Sie waren fast ebenso verlassen, wie die verschwiegenen Pfade im Innern. Nur brannten modernere Gaslichter an ihren Rändern. Diese Straßen verbanden das neue Ringviertel mit der Stadt; denn der Park zog sich wie der Gurt eines Stadtwalles im Bogen um das alte Luxemburg, wo es mit der Hochebene zusammenhing, so daß, als die Stadt sich ausdehnen mußte, sie jenseits des Parkes den Raum dazu nahm. Dort auch, aber an dem entgegengesetzten Ende der Villa Biver lag auf einem alten Glacis das Schobermeßfeld.

Baptist schritt schnell im dunklen Weg ihm entgegen. Drei oder viermal streifte er Liebespaare, die sich in den Schatten der Finsternis schmiegten. Alle diese Stellen, über die er ging, waren von Erinnerungen trächtig. Baptist eilte heute an ihnen vorbei und wischte sie mit einer Handbewegung weg, wenn sie sich nähern wollten. In der lautlos gereinigten Nacht scholl das wilde Geräusch der Kirmesmusik auf dem Schobermeßplatz und verlor in der Entfernung keine Einzelheit. Aber es dämpfte sich zu einer Wirrnis von haarscharfen, kleinen Tönen, die durcheinander tollten. Es war wie unverrückbar festgebannt auf seinen fernen Platz und Baptist schien es auf einmal, als sehe er das nächtliche Land, das ihm noch grade so voll naher Versprechen gewesen war, durch ein umgekehrtes Opernglas, ganz sein und kühl geschärft in allen Umrissen, aber weit, unerreichbar weit entfernt.

Zugleich schlug der Nebel zwischen den Bäumen heran. Er war feucht und kühl und trug wieder den herben Duft von Vergehen und Tod. Der Park lief mit seiner ganzen Breite auf die Kante zu, unter der sich das Alzettal schroff in die Tiefe senkte, und hörte auf einmal mit einer Wehr von runden starken Eisenstangen zwischen Steinkegeln vor dem Abgrund auf. Unten im Grund lag die Vorstadt Pfaffental und seitwärts öffnete sich das enge grüne Tal der Alzette, das langsam an schonen Tagen die Schenkel seiner einfassenden Hügel weit auseinander dehnte und weich, lieblich und lau wurde. Aus diesem Tale kam der Nebel herauf.

Baptist kannte die Poesie dieser Stelle am Rande der Tiefe! Diese verruchte Poesie der Luxemburger Landschaft mit ihrem bescheidenen Gewähren, ihrer Lieblichkeit einer schönen Magd, mit ihrer kleinen, etwas trockenen und spröden Traurigkeit.

Und er ging sie zu genießen, gradaus weiter, trotzdem schon über der Villenreihe, die eng geschart die Rücken dem Parke kehrte, der von den Lichtern der Karussels und Buden der Schobermesse gerötete Himmel wie eine schwarzrot illuminierte Glocke unter der Nacht lag. Baptist mußte wieder einmal diese Poesie aussuchen, die ausgestattet war mit tausend Alltagen seiner Erinnerungen, tausend Alltagen seiner stummen, handlungslosen Erlebnisse.

Der Nebel kam immer dichter zwischen den Bäumen. Er ging wie kühle Tücher um den nächtig Einsamen. Baptist wußte, weil er es so oft erlebt hatte, daß der Nebel dem Tal entstieg, wie dem Schacht einer Quelle, daß er sich bleich opalen und lautlos durch die Nacht dehnte, langsam wanderte, traurig und resigniert war, wie ein stilles Unglück, das sich in einem Haus am Platze einer kleinen Stadt der Heimat mit Bewegungen vollzieht, die nicht nach außen dringen dürfen.

Baptist wollte über die breite letzte Straße schreiten, hinter der nur mehr ein Parkviertel, kaum hundert Meter breit, vor der Tiefe lag. Da sah er den kleinen Pferdebahnwagen herankommen, der in der Schobermeßzeit bis zum Budenplatz fuhr, sonst aber schon am letzten Haus der Neutorstraße seinen Weg beschloß. Er ging ihm, der bequem und etwas alt daherpolterte, auf den Schienen entgegen. Der Kondukteur trillerte mit der kleinen schwarzen Holzpfeife. Baptist trat etwas zur Seite und sprang auf, als der Wagen ihn erreicht hatte. Er war der einzige Fahrgast.

„Aha, auch noch zur Schobermesse, Herr Biver!“ begrüßte ihn der grauhaarige Kondukteur.

„Man muß es ausnutzen. Morgen ist der letzte Tag!“ antwortete Baptist.

„Ju, ju!“ bestätigte der Alte und hieb dem kleinen Pferd eins über. Bald trillerte er noch einmal grell und energisch mit seiner Holzpfeife. Die Schienen liefen in den Sand des Bodens hinein. Der Lärm von hundert Orgeln klopfte sich durcheinander heran, als das Prasseln und Klirren des Trambahnwagens einhielt. Durch den Eingangsspalt über die Ecke funkelten Streifen und Kugeln von Licht. Schwarze Menschen wogten wie flüchtige, umleuchtete Schatten langsam davon. Der Lärm der Musik schrie harthörig und dickköpfig gegen einander, Ton gegen Ton, Orgel gegen Orgel. Aus den Karussels qualmten dunkle Rauchwehen, die der Abendwind erfaßte, in den grellen Kanal der Lichter niederdrückte, daß sie einen Augenblick schwarzgolden waren, und dann zwischen den Budenreihen in den Gesichtern der Menschen zerstäubte. Über dem Feld schwebte schon der Nebel und rötete sich blaß und weit hinauf an der Glut der Lichter.

Baptist drang in die Stadt des Feuers und des Lärmens hinein. Er ging an dem funkelnden Glitzern der zuckerduftenden Abondance des douceurs de Nancy, an rasselnden Karussells mit Schiffen, Autos und hin und her zappelnden Schimmeln, an der Friture vorbei, deren Kabinen heute leer waren, an dem Alcassar de Paris, aus dem die krähende Stimme einer französischen Soubrette wie eingewickelt in einen Dunstschwaden schalen Biergestankes kam; er ging schnell dahin, geradeaus auf die große Holzbaracke von Hiltchen zu, in der die italienische Kapelle spielte.

Als er eintrat, sah er gleich im Grunde des tiefen, mit Tüchern, Fahnen und Tannengirlanden verhängten Lokals die Gruppe der Musikanten in bunten Kleidern aufrecht stehen, spielen und fingen, und Rosa stand vor ihnen und schüttelte das Tamburin auf ihren Fingern. Sie war untersetzt und leidenschaftslos und konnte ihre Hüften nicht biegen. Sie schlug das Tamburin, als müßte sie eine Last heben. Baptist sah gleich ihre schweren Hände. Ein Gefühl von Mißbehagen ergriff ihn. „Eine Magd!“ sagte er sich und wollte davoneilen.

Aber da sprangen oben in der Nähe der Kapelle zwei Menschen auf und winkten ihm eifrig zu.

Baptist ging zwischen den Tischen durch zu seinen Bekannten und setzte sich neben sie. Er war jeden Abend mit diesen beiden zusammen. Er hielt sie neben sich, wie Angestellte, wenn er nicht gern allein sein mochte, und bezahlte immer, was sie tranken.

Als er sich setzte, bemerkte er, daß die Italiener ihm grüßend mitten im Spiel zuwinkten. Aber er tat, als sähe er es nicht.

„Batti, kuck, die Jitzkos wollen dir Guten Abend sagen!“ stieß ihn Adolf an. Da erwiderte er flüchtig die Grüße.

„Die Rosa hat vorhin gefragt, ob du nicht kämest!“ begann Adolf wieder.

„Was liegt mir an der Rosa!“ sagte Baptist ärgerlich.

„Nachher wirst du das nicht mehr sagen!“ lachte Adolf anzüglich und rollte mit einem Fluch die Augen dazu, als kostete er im vorneherein schon etwas übertrieben Genießerisches, was Baptist nachher widerfahren sollte. Aber der Fluch und das Augenrollen waren falsch, wie ein geschliffener Glasdiamant am Finger eines sonntäglich geputzten Bierknechtes. Adolf drehte seinen langen braunen Schnurrbart, der wie aufgeklebt im Gesichte saß, und lachte, als hielte er nur mit Mühe zurück, indem er mehrmals mit der Hand auf den Schenkel schlug.

Der Dritte, der ein dünner, blonder Realschüler war, während Adolf schon seit zwei Jahren in der „Regierung“ schrieb, saß in ruhigem, kostendem Behagen da, lächelte mit seinen rot umränderten Augen, trank und schwieg.

Mittlerweile hatten die Italiener ihr Lied heruntergegeigt und gezupft. Der dicke, schwarzhaarige und schwitzende Kapellmeister und Manager, der aussah wie ein cholerischer deutscher Bierwirt, kam zu Baptist heran und gab ihm die Hand. „Wie gehts?“ fragte er lässig auf Hochdeutsch. „Hab’ einen Durst so lang, um dran bis an die Wolken zu klettern! Holla, Garçon so einen großen Münchener!“

„Ach,“ sagte Baptist, „man kann ja der ganzen Gesellschaft einen aufführen lassen! Ändri, für alle!“

Der Kellner Andree machte einen ergebenen Diener und ging davon. „Na ja!“ bestätigte der dicke Italiener.

„Das schlägt Ihnen an bei uns, was?“ machte Adolf und tippte den Dicken auf den Ranzen. Der blonde Realschüler grub lächelnd seine roten Augen in den Bierkrug. Der Dicke lachte und schmatzte zwischen den schwarzen Haaren seines Bartes heraus: „Makkaroni!“

„Einen alten Dreck, Makkaroni!“ warf Adolf mit einer sich wehrenden Armbewegung hin. „Schweinekoteletti, Bierio, hä Italiano? Daher die dicke Trommel, bum, bum!“ und er tat, als schlüge er ihn auf den Bauch. „Makkaroni! – Erstick dran!“ sagte er noch einmal wegwerfend. Der Italiener lachte, daß alles an ihm in ein kurzes Schaukeln geriet. Seine kleinen gemeinen Augen kniffen sich zu und stachen funkelnd zwischen den Augenlidern heraus, daß es aussah, als entfielen ihnen kleine glitzernde Küglein.

Da kam Rosa und hielt das Tamburin hin, zuerst dem blonden Realschüler, der einen Sou hineinlegte, darauf Adolf, der sie verbindlich anlächelte und nichts gab. Sie zog das Tamburin schnell zurück und errötete. Dann schaute sie zu Baptist hin, lächelte ein bißchen mit ihrem unbeweglichen Gesicht und winkte ihm zu, indem sie ihm leise sagte: „Bona Sera, Signor!“ Sie sprach kein einziges Wort einer andern Sprache.

Baptist reichte ihr an dem Kapellmeister vorbei die Hand. Sie wunderte sich etwas darüber und begriff seine Bewegung nicht gleich. Aber ihre leise und unaufdringliche Art hatte Baptist versöhnt. Er unterschlug sich ihre Hände und sah nur das ruhige Gesicht, das zu einem sanften Oval gebildet und lieblich war und die Sonne der Heimat wie einen zarten, blaßbraunen Reif auf seiner Blondheit trug.

Baptist legte eine Mark in das Tamburin, und die Italienerin nickte wieder mit ihrem etwas schwerfälligen Lächeln und sagte ein leises: „Grazie!

Sie ging auf das Podium zurück, und Baptist schaute sie immer an. Es war ihm wohl und es hatte ihn erlöst, daß er wieder einen Weg zu ihr gefunden hatte. Der dicke Italiener spaßte weiter mit Adolf. Der Realschüler hockte sozusagen nur nebenan, wie ein Kinderfräulein bei einem Ausflug am Tisch ihrer Herrschaft, und beteiligte sich nur durch lächelnde Mienen.

Als der Italiener ging, um ein neues Stück zu spielen, sagte ihm Baptist: „Aber gelt, Häuptling, keins von den dummen, die Ihr immer spielt. Lieber: ‚Vieni sol mare!‘“

„Wie Sie wünschen, Herr!“ und die Italiener spielten das Lied. So oft der Refrain kam, standen sie alle auf und sangen zur Begleitung der Geigen und Mandolinen: ‚Vieni sol mare ...!

Und die Melancholie, die Verliebtheit, das süße Leid eines andern, bunten Volkes erschienen Baptist aus der schwermütigen, weichen Weise. Das Meer ebbte dunkelblau und sanft. Die Sonne lag drauf wie ein Traum. Die Ferne stand auf und war voll stiller Einsamkeiten, voll stiller Wanderwinkel, nach denen Baptist sich sehnte. Er schaute Rosa an, und ihr liebliches Gesicht, das kein Bewußtsein von sich selbst zu haben schien, lächelte ihm bisweilen schwerfällig zu.

Ob sie ihn liebte!

Nein, nein, sie liebte ihn nicht. Weshalb sollte sie ihn lieben? Weil er immer hier sitzt und sie anschaut? ... Er hat noch kein Wort mit ihr gesprochen. Weshalb sollte sie ihn lieben? Vielleicht war einer der Musikanten ihr Schatz? Was war auch gleichgültiger als das? Sie stand ja nur mitten im Lied, mitten in dem Glast des fernen Landes, das mit seiner Melancholie, seinem funkelnden blauen Meer sich hinter ihr ausbreitete.

Vieni sol mare ...

Es war der Rhythmus von Verzichten, von der traurigen Süße jenes Verzichtens, in dem man erst recht besitzt. Vor vierzehn Tagen war sie gekommen. Er hat sie jeden Tag gesehen, hat jeden Tag hier gesessen und mit Blicken um sie geworben. Morgen wird es das letztemal sein. Und dann sieht er nicht einmal mehr die Spur, vor der sie davonging! Die Poesie des Vorüberziehens, fern und keusch!

Aber es war nicht traurig, das so auszudenken. Es zog auf in Baptist wie die blanken Scharen weißer Wanderwolken an ersten Sommertagen. Seine Phantasie wanderte und schweifte. Weiten öffneten sich vor ihm, er brauchte nur hineinzuschreiten. Er war reich und besaß Macht wie ein Fürst. Eine heiße Fröhlichkeit brach in ihm empor, wie eine zum Himmel steigende Schwalbe.

„O Jungen,“ rief er auf einmal, „jetzt wird Champagner getrunken!“ Er winkte dem Kellner: „Ändri, Änder, her mit dir!“

Der Kellner kam ergeben herangestürzt.

„Jetzt bring in einem Faß voll Eis eine Flasche Moët dry! oder lieber gleich zwei! ... Wir wollen mal sausen!“ sagte er den beiden andern, und die wackelten auf ihren Stühlen und lachten und lächelten. Adolf schlug sich wieder mit der Hand auf den Schenkel, als klopfte er Lustigkeit da heraus. „Batti, Batti!“ lachte er.

„Wir wollen sausen, daß Luxemburg über Nacht zum Kaiserreich wird!“

Bald kam der Kellner mit den bestellten Flaschen. „So, Ändri!“ sagte Baptist, „Nun zählen Sie mal die Gesellschaft auf dem Podium und setzen Sie ebensoviel Gläser auf ein Tablett und dann bringen Sie auch zwei Flaschen dahin!“

 

Über die elfte Stunde wurde es leerer in dem großen Raum, der von dem trockenen und erhitzten Geruch ungestrichenen Fichtenholzes erfüllt war. Die Bürger rückten heimwärts. Aber auf ihre Stühle setzten sich die Junggesellen der Stadt.

Die Junggesellen waren im gesellschaftlichen Leben der Stadt eine Kaste. Es war eine Kaste, die sich einigermaßen außerhalb von Sitte und Gesetz gestellt hatte, aus eigener Macht und mit der notwendigen Rücksichtslosigkeit, denn sie bildeten einen zahlreichen und vielleicht den wichtigsten Stand in der Gesellschaft von Stadt und Land. Eine Hauptsache vor allem hatten sie sich gesichert: Die Legitimität ihrer Maitressen. Die Gesellschaft der kleinen Stadt mußte sie duldend anerkennen, bis die Verlobung dem anarchischen Stand ein natürliches Ende bereitete. Aber sie rächte sich dafür, indem sie von diesen Damen witzige Streiche erfand und verbreitete und ihnen Spottnamen anhing, wie z. B. das Petrolkännchen oder das Gaslaternchen, der Kaffeesack ... Namen, unter denen sich für Eingeweihte meist derbe Ergötzlichkeiten verbargen.

Mit diesen legitimen Maitressen erschienen die Junggesellen, alte und grüne, bei Hiltchen und besetzten die großen Mitteltische. Um jedes Paar schwänzelten einige leichtsinnige Ehemänner herum, denen das Privileg der Junggesellen nicht zugebilligt worden war, und machten den Damen eindringlich den Hof. Es wurden Krebse und Champagner bestellt, nachdem man von irgendeinem kräftigen Hotelsouper gekommen war, und die Heiterkeit schickte derbe Scherze los, dröhnte zu dem Holzdach hinauf und polterte durch das ganze Lokal.

Da erschien drunten in der Eingangstüre ein Mensch, der plump, knorrig und verbeult aufgeschossen war, wie ein Birnbaum, der an einem Hügel wächst. Er ging langsam zwischen den Tischen durch. Sein Kopf saß etwas kegelig gespitzt auf dem langen Leibe und hatte eine mächtige, flachgedrückte Entennase, wie eine Last zu tragen. Ein Büschel schmutzigblonder Haare flatterte unter ihr über die Lippen. Im ganzen Lande kannte man diesen Menschen wegen seiner Häßlichkeit, und man sagte: Der oder der ist häßlich, wie der Heng aus Esch.

Herr Heng war von Haus aus Arzt gewesen. Man hatte ihm aber bald die Praxis genommen und ihm auch zeitweilig die Freiheit entzogen. Das war wohl schon lange her und so gut wie vergessen. Aber er war dann in die Welt gewandert, hatte ihre Härte erfahren und war zurück nach der Heimat gekrochen, wie ein geschlagener Hund. Er saß nun in dem jungen und unkontrolliert wachsenden Eisenerzstädtchen Esch und heilte die Jünglinge, die sich scheuten, zum Arzt in Amt und Würden zu gehen, von ihren heimlichen Krankheiten. Man ließ ihm diesen Erwerb, weil er aus einer angesehenen Familie war, der man den Skandal vermeiden wollte.

Dieser Herr Heng, der zu allem noch ein Trunkenbold und Raufer geworden war, ging an den Tischen der Junggesellen vorbei und hob rümpfend die Nase hoch, als röche es nicht gut in dieser Gesellschaft. Seine großen gefleckten Giraffenaugen schlugen dabei klappernd jedem der Reihe nach ins Gesicht, und er räusperte sich herausfordernd vor jedem der Junggesellen, während er die Stelle, wo eine Dame saß, immer nur mit einem verächtlichen Blick streifte. So ging der Ausgestoßene an diesem erlesenen Teil der Gesellschaft vorbei. Aber die Junggesellen leerten scherzhaft ihre Mißachtung über ihn aus. Sie lachten und sagten laut unter sich Scherze über den Herrn Heng.

Als er an den Tischen vorbei war, schüttelte Herr Heng den ganzen Körper und fing an zu wiehern wie ein Pferd, worauf die Tische der Junggesellen mit allen Damen vor Lachen in ein verrücktes Durcheinanderschaukeln fielen. Herr Heng drehte sich aber nicht mehr um, sondern ging mit seinem krummen Stolz zwischen den Tischen weiter, bis er die Gesellschaft Baptists sah. Da schritt er stracks auf diesen Tisch los, ließ seine großen dummen Giraffenaugen einen Augenblick über Baptists Kopf drohend klappern und setzte sich, während Baptist anfing loszulachen, an den Nebentisch.

Der Wirt war aus dem Verschlag herausgetreten, von dem aus er das Lokal überwachte. Er stand ernst und würdig in seinem zweigezackten schweren grauen Bart zwischen den Tischen und hielt Herrn Heng mit den Augen fest, wie ein General das Schlachtfeld in das Bereich seiner Blicke zu konzentrieren sucht. Er winkte, aber daß man es kaum merkte, den Kellnern eine Ordre zu, und dieses Heer schien heimlich bereit, auf das erste Kommando des Befehlshabers auf Herrn Heng loszustürzen. Die Italiener strichen, zupften, rasselten und sangen vom Bello Napoli, von dem Sole mio, von Amare e morire, danzare e baciare, vom Mare, von der Santa Lucia und der Bella Annita, von den Funiculi ... Es war Leben in sie gekommen bei dem Champagner, und die Männer begleiteten ihr Spiel mit Grimassen und schlugen mit den Beinen dazu wie Frösche, die im Gras auf dem Rücken liegen und mit Fliegen spielen, die sie kitzeln wollen.

Die kleine Margherita, die schwarz und kraus war wie ein Äffchen, hüpfte vom Podium herunter und stieß mit ihrem Glas mit Baptist an. Mit ihm allein. Ihre kleinen schwarzen Augen lachten ihn an, daß der Blick ihm wie ein heißer Tropfen ins Herz fiel.

Evviva Margherita, la bella Margherita!“ sagte Baptist leise und erhitzt.

Aber dann kam auch Rosa langsam und schwerfällig, lächelte wie unbewegt und stieß mit einer etwas plumpen Gebärde gegen sein Glas, so daß ein wenig von ihrem Champagner auf seine Knie geschüttet wurde. Da stellte sie ihr Glas ab, nahm erregt das Taschentuch, um die Weinflecken abzuwischen. Ihr Gesicht bückte sich dabei zu Baptist nieder und er sah dieses sanfte, gebräunt blonde Oval in dem leisen Dunst des beginnenden Rausches, wie etwas unerhört Zärtliches nahe bei sich. Er zog es heran und küßte leicht die Wange.

Rosa fuhr zurück, langsam und geniert, und die Italiener lachten und tranken Baptist vom Podium aus zu, einer nach dem andern.

Aber dieser Vorgang erregte das Mißfallen des Herrn Heng. Er klapperte mit seinem Bierkrug auf den Tisch und rief: „Nom de Dieu, Goddam!“ Er zog mit einer weiten Gebärde seinen rechten Arm an, faßte sich an den Bizeps und ließ den Arm dann locker spielen, als boxte er gegen die Luft. Das war eine Londoner Erinnerung von ihm. Jedoch niemand tat seiner acht. Die Italiener glaubten, er sei ein harmlos Betrunkener, und lachten sich an über ihn. Dann klatschte der Dicke die beiden Mädchen wieder herbei.

„Gelt, Häuptling, noch einmal: Vieni sol mare!“ rief Baptist und der Italiener winkte: ja!

Das Lied regnete wieder auf Baptist herein. Sein Herz ging drunter auf, wie die Astspitzen der Kirschbäume unter den gewärmten Aprilschauern. Er stand jetzt mitten im Lied und war selber drin tätig. Er erlebte selber die süßen Traurigkeiten, von denen es sang. Und da erfaßte ihn ein, wie ihm schien, ganz unwiderstehlicher und romantischer Einfall. Er sprang aufs Podium hinauf, nahm dem leicht widerstrebenden Kapellmeister die Geige unterm Kinn weg, drückte ihn schnell beiseite und spielte nun selber die führende Violine; und so oft bei dem Refrain das Vieni sol mare der Stimmen gegen das volle Erbeben seiner Saiten aufzuklingen und es zu ertränken begann, ließ er die Töne zur Höhe fliegen wie Lerchen. Sie blieben oben liegen über den Stimmen, wie das Trillern der Vögel über hochsommerlichen, melancholisch reifen Kornfeldern.

Die Tische in der Mitte des Saales wurden aufmerksam. „Das ist der junge Biver, der spielt!“ sagten die Junggesellen zu ihren Maitressen, waren anfangs etwas betroffen und deshalb skeptisch und spöttelnd, aber dann doch für ihn eingenommen. Sie lärmten nicht mehr und horchten zu. Die gleichgültigen Augen ihrer Maitressen hängten sich mit kaltem Aufglühen an den jungen Helden. Sie verglichen ihn mit der polternden Art ihrer Freunde und dachten sich schon gerührt aus: Welche von uns wird er nehmen, wenn er sein Examen gemacht hat? Aber ganz in der Nähe hörte Baptist ein scharfes Trommeln immer in sein Saitenstreichen hämmern. Es störte ihn und er wußte nicht, was es war. Der Herr Heng, der sich kaum noch zu fassen wußte, schlug mit dem Bierkrug den Takt zu dem Lied. Er hatte die Knie angezogen, bereit aufzuspringen. Auf einmal brüllte er los und setzte mit seinen langen Armen fuchtelnd auf das Podium zu. Gerade war das Lied aus. Der dicke Italiener klatschte in die Hände und auf den Tischen in der Mitte hoben sich Champagnerkelche empor, um Baptist zuzutrinken. Eines der Mädchen begann mit ihrem Glase heranzukommen. Aber als Baptist vom Podium heruntersprang, stand Heng unvermittelt und feindselig vor ihm. Die fleckigen großen Giraffenaugen unter der dreieckigen Stirn waren weit aufgerissen und das pockennarbige Gesicht schien losbrüllen zu wollen.

„Weg!“ sagte Baptist und schob Heng lässig zur Seite, um zu seinem Tisch und zum Champagnerglas zu gelangen. Er wollte mit dem Mädchen anstoßen, das auf ihn zukam.

Nom de Dieu, ich hau dir eine runter, du grüner Junge!“ gröhlte Herr Heng.

Baptist setzte sich zur Wehr.

Goddam, so ein Bürschchen spielt sich auf! Du Protz!“ schrie Heng. „Er säuft Champus und glaubt die ergaunerten Millionen seines Vaters stänken nicht mehr an ihm!“

Kaum hatte Baptist das gehört, da war ihm, als ob er emporgeschleudert würde. Aber er fiel gleich schwer wie Eisen auf den Feind hernieder. Es entstand ein brutales Gegeneinanderprallen, ein krachendes Sichvermengen von Körpern, Fäusten und Muskeln, vor dem Tische und Stühle wie Flöhe wegsprangen. Es schlug in Baptist alle Vorstellungen heiß, Funken sausten über ihn nieder. Er wollte bebend alle Kraft der Muskeln einsetzen. Seine Arme waren auf einmal wie von Blei. Um ihn wurde es schwarz von stürzenden Menschen und er spürte seine Lippen als etwas brennend Nasses.

Er stand auf einmal überrascht allein und wischte mit der Hand über den Mund, in dem eine Flamme zu sitzen schien. Als er seine Hand zurückzog, war sie voll Blut. Er beugte sich vor und das Blut tröpfelte langsam auf den Boden. Da stand einer neben ihm und führte ihn zu der kleinen Türe hinaus hinter die Baracke in die Finsternis. Das Mädchen, das vorher mit dem Champagnerglas auf ihn zugekommen war, tunkte ihr Taschentuch immer in ein Glas mit Wasser und näßte und spülte ihm die Lippe, während sie sanfte Worte dazu sagte. Ein paar Männer bewegten sich um ihn und einer faßte ihm an die wunde Stelle und ließ eine elektrische Taschenlampe drauf leuchten. Dann drückte er mit dem Finger zwischen den Lippen auf die Zähne.

„No, es ist gut gegangen!“ sagte er erleichtert und wie zu einem Kind.

Nun erst kam Baptist wieder zum klaren Bewußtsein. Er dankte dem Mädchen und stillte mit seinem eigenen Taschentuch das Blut weiter.

Das Mädchen und die paar Menschen standen eng um ihn her. „Der Hund!“ sagte Baptist mit einem Schluchzen.

„Da ist Kognak, trinken Sie das!“ redete eine Stimme begütigend im Dunkeln und ein kleines Gläschen wurde Baptist vors Gesicht gehalten. Der Kognak duftete ihm stark zu und er goß ihn hastig in den Mund. Es brannte auf in der Wunde.

„Er hat ihn mit einem Totschläger auf den Mund gehauen!“ erzählte einer in der kleinen Türe, in der sich das Licht des Lokals grell funkelnd zurückzuhalten schien.

Aber die kleine Türe fuhr plötzlich zu.

„Die Polizei!“ sagte eine Stimme. „Rasch weg!“ Eine Bewegung entstand in den dunklen Gestalten. Jemand ergriff Baptists Arm. Sie drangen in das finstere Gewirr eines Schuppens.

Nach einer Weile rief draußen eine Stimme: „He, wo seid Ihr? Sie ist wieder weg!“ Da kamen sie heraus.

Das Blut hörte schon auf zu fließen. „Es ist nicht schlimm!“ sagte Baptist. Er drückte das nasse Seidentuch auf den Mund und trat mitten zwischen den dunklen Gestalten wieder in das Lokal hinein.

Es war leer. Die Italiener, die Junggesellen und die Damen und ebenso Adolf und der blonde Realschüler, alle waren fort. Nur der Wirt schritt drunten mit seinem langen zweizackigen grauen Bart ernst und streng zwischen den Tischen herum. Ein Kellner kam und blieb abseits im Wege stehen. Baptist sah erstaunt, daß er nur drei Menschen um sich hatte. Es waren drei Realschüler der oberen Klasse, kurz gebaute, breitschulterige Kameraden, die man in den verrufenen Schlupfwinkeln der heimlichen Cafees immer zusammen sah. Sie trugen über niedrig umgeschlagenen bunten Kragen, wie die „Cheminots“ sie lieben, ihre feisten Hälser zur Schau, in denen sich bei jeder Kopfbewegung die Sehnen wie Stränge spannten. Ihre runden Rücken schienen die Gewalt der Muskeln unter den Kleidern kaum mehr zusammenhalten zu können. Sie waren in der brutalen Eisenerzgegend des Landes daheim und Baptist nicht sonderlich vertraut, weil sie, wie sie körperlich aussahen, auch innerlich waren. Sie tranken Branntwein und machten den Soldaten die Dienstmägde der engen, heimlichen Gassen des Heiligengeistviertels streitig.

„Den Hund wollen wir heute schon noch erwischen!“ sagte der eine und machte eine Faust. Und alle drei boten sich, ehrliche Athleten, Baptist vollkommen an. „Der sitzt jetzt in der Bädergasse im Cafee Heinck! Da gehen wir hin!“ rief einer kriegslustig. „Mit einem Ring zu schlagen, so ein feiges, hinterlistiges Schwein!“

Aber Baptist fragte: „Wo sind die Italiener?“

„Der Hiltchen hat sie hinausgeworfen, weil sie dir halfen und sich in den Streit mischten.“

„Dann muß ich mit dem Wirt sprechen!“ entgegnete Baptist gleich und ging nach dem unteren Teil des Lokales zu.

Als der Wirt ihn kommen sah, schritt er schnell in den Verschlag des Büfetts und in die angebaute Kammer hinein.

„Herr Hiltchen, Herr Hiltchen!“ rief Baptist, aber niemand kam heraus. Nur der Kellner war Baptist gefolgt und blieb in derselben abgemessenen Entfernung stehen, wie vorhin. Da verstand Baptist.

„Wieviel?“ fragte er.

Der Kellner gab ihm einen Zettel, auf dem die Rechnung stand. Baptist bezahlte.

Dann gingen die vier hinaus.

Auf der Schobermesse waren fast alle Buden geschlossen. Nur vor ein paar zerstreuten gemeineren Zuckerläden brannten noch dürftige schwälende Petrollampen. Die vier jungen Menschen eilten im Sturmschritt durch die breite reglose Straße zwischen den in der Nacht ergrauten toten Fassaden der Schaubuden und Karussells davon. „Gare, wenn wir ihn kriegen!“ drohte einer. Aber Baptist dachte an die Italiener und an Rosa. Er sagte, jedoch mehr für sich: „Donnerwetter, die Italiener sind doch feine Kerle.“

Er hatte nicht gedacht, daß sie sich für ihn einsetzen könnten, und er malte sich aus, wie sie von dem Podium herunterstürzten und Heng an die Kehle fuhren. Da war gewiß der mit dem vorstehenden Wust von gekräuselten Haaren, der Schatz der Margherita, voran gewesen. Ein feiner Kerl!

„Der junge Schwarze, der die Mandoline spielt, das ist ein famoser Kerl!“ sagte Baptist seinen Kameraden.

Sie gingen in gleich schnellem geschlossenem Marsch die lange Parkstraße hinab, und die Schienen der Trambahn liefen heimlich neben ihnen und gleißten nur dann und wann auf, wenn ein Laternenschein sie berührte.

Hier war vorhin der Nebel herangewandert. Aber jetzt lag die Nacht mit reiner Schwärze zwischen den Bäumen. Es war einsam. Auch als ihre Schritte in der Neutorstraße an den Häusern hallend klangen, hatten sie noch keinen Menschen getroffen. In den schwärzeren Schatten eines Baumes kuschte sich reglos eine unkenntliche Gestalt. Einer der Burschen sagte: „Vielleicht ist ers!“ und trat auf die Gestalt zu. Aber es war ein Polizist, der da stand; er hüstelte und ging einige Schritte weiter bis in den Schatten des nächsten Baumes. Ein leiser Nachtwind strich in den Straßen und ließ die Laternenscheiben einsam erzittern. Er war frisch, dieser Wind, als hätte er noch keine Menschenluft durchzogen. Frisch und traurig war er, voll von verluderten Nächten, dachte sich Baptist. Dieser Wind hatte ihn oft nach Hause begleitet, und Baptist hatte ihn oft um sich getragen, wie einen einhüllenden Mantel, wenn nach verflogenen Genüssen die Stunden kamen, die ihn vereinsamt der Reue überließen. Er war einsam, dieser Nachtwind, einsam wie ein Menschenkind nach der Sünde. Wie ein Vorwurf von mütterlich sanftem, aber unendlich entschiedenem Ernst trug er den Klang der Schritte des jungen Arbeitstages, der über das Land heranzog, zu den nächtig Fehlenden.

Es war drei Uhr.

Das Glockenspiel auf der Niklauskirche klimperte sorglos die Takte seiner Melodie unkenntlich durcheinander. Da kam in der Judengasse eine einsame Nachtdroschke. Baptist rief sie an und wandte sich an die Kameraden: „Gelt, ihr geht mit! Wir suchen die Italiener! Wenn der Ochs von Wirt sie hinausgeschmissen hat, weil sie mir halfen, dann muß doch ...“

Die drei waren gerne einverstanden.

Baptist unterhielt sich mit dem Kutscher, wo die Italiener wohnen könnten.

„Ja, Herr, das Kirmespack, das geht alles in die kleinen Hotels am Bahnhof. Vielleicht im Hotel Trier oder im Hotel de Paris?“

„Nun denn, fahren wir mal hin!“

Die vier packten sich eng aneinander und die Droschke fuhr los. Sie jagte in der lautlosen Nacht knallend über das Pflaster, die Philippstraße hinunter, fuhr sachter über die neue Brücke und hielt nach einer Viertelstunde vor dem Hotel de Paris. Es war noch Licht im Wirtszimmer. An einem Tische saßen Türken, die auf der Messe herumzogen und Teppiche, arabische Metallsachen, Rosenöl und goldbestickte Decken verkauften. Sie stritten mit leisen fremden Stimmen und beugten die Oberkörper gegeneinander vor. Um den Schenktisch stand ein Kranz von Bahnarbeitern, die wohl hier auf die Frühzüge warteten. Baptist rief als er eintrat: „Ich gebe eine Runde Kognak für die ganze Stube!“

„Das ist nun einmal ein angenehmer Herr!“ sagte einer der Arbeiter, und alle lachten den Eintretenden fröhlich zum Gruß.

Als der Kognak eingeschenkt war, ging Baptist zum Wirt und fragte: „Wohnen keine Italiener hier?“

„Ja gewiß doch!“ antwortete der Mann. „Ich hab das ganze Haus voll von dem Flohpack liegen. Jetzt mit der Schobermesse, wissen Sie, da wird man die Bagage nicht mehr los!“

„Sind auch die Musikanten von Hiltchen dabei?“

„Ja, warten Sie mal, das könnt schon sein! Warten Sie, ich ruf den Alfons, der kann ja dann mal mit Ihnen hinaufgehn. Dann können Sie selber schauen ... Alfons!“ rief er in die Hintertüre. „Alfons!“

Ein stämmiger Bursche erschien.

„Geh zeig doch mal dem Herrn unsere Italiener!“

Die beiden kletterten eine enge, geländerlose Stiege hinauf. Der Knecht hob unterwegs ein kleines Wandlicht mit einem Reflektor aus einem Nagel und leuchtete damit in ein Zimmer. Dort lag ein Haufen Schlafender. Sie lagen in ihren Kleidern auf Strohsäcken mit unordentlichen schwarzen Haaren, Männer, Frauen und Kinder, Affen, Hunde, Papageien, Vogelbauer, Drehorgeln, bunte Tücher, alles durcheinander. Ein Mann wälzte sich schimpfend herum, als das Licht seine Augen traf.

„Nu, gemütlich, Männchen!“ tat der Knecht.

Wie in dem ersten Raum, so sah es in all den andern Stuben aus; die Musikantengesellschaft war nicht unter den Schlafenden.

Als Baptist enttäuscht wieder in das Lokal hinabkam, erzählte gerade ein Mann aus der Runde am Schenktisch: „... Ja und dann in Antwerpen nehm ich das Schiff der Red Star Line. Der Platz ist schon bezahlt. Da schaut, wenn ihr Einfaltspinsel es nicht glaubt, schaut! Und dann gehts über den großen Pfuhl, Jungens! Geh weg, das ist drüben doch etwas anderes als wie hier. Sein ganzes Leben für einen Apfel und eine Brodrinde vertun ... Hat ja keinen Zweck! Der Teufel, ihr dummen Kerle, kommt mit! hat ja keinen Zweck!“

Langsam sagte einer der Freunde von Baptist: „Ich hätte sogar Lust!“

Da wandte sich der Arbeiter direkt an ihn und begann wieder zu schildern, wie es drüben so anders sei; da verdiene man in einer Stunde so viel wie hier an einem Tag!

Ob er denn schon dagewesen sei, fragte der Kamerad von Baptist.

„Nein, aber ...“

Da fiel ihm der andere ins Wort: „Was maulst du denn, wenn du’s nicht selber weißt. Aber sonst wäre ich vielleicht mitgegangen.“

Baptist gab nicht weiter acht auf diese Reden. Er war traurig, aber er war auch ernüchtert. Was wollte er eigentlich? Wozu suchte er die Italiener? Er war müde an Gliedern und Gedanken und sehnte sich nach seinem Bett, nach dem wohllebigen Luxus seiner schönen Zimmer in der Villa am Park.

„Ja, dann gehn wir wohl wieder?“ sagte er zu den Kameraden.

„Ach, was sollst du schon heimgehn! Es ist ja noch nicht einmal hell draußen!“ entgegnete einer. „Wir bleiben noch!“

Aber Baptist wehrte ab. „Seid nicht bös, ich bin müde!“

Dann wandte er sich an den Wirt: „Was kostet die ganze Flasche Kognak da?“

„Oh, mit vier Franken wär’ sie nicht zu teuer bezahlt!“

„Überlassen Sie sie dann den Herren!“ bat Baptist. Er gab den dreien die Hand. „Ich danke euch denn! Gute Nacht, also! Gute Nacht, die Herren!“ verabschiedete er sich.

Und er ging hinaus.

Die Droschke polterte gemächlich in der Finsternis, die den ersten Morgenstrahl witterte, über das unbebaute alte Glacis, das zwischen dem Bahnhof und der neuen Brücke lag. Als sie über die Brücke fuhr, die mit einem Bogen das Petrustal schlank überspannte, lag über den Dächern der Stadt, zwischen dunklen Wolkenmassen die erste Helligkeit, wie ein ernstes, unendlich fern herblickendes Auge. Der Turm der Niklauskirche stach mit seiner kurzen Spitze plump daneben auf.

„Ach Gott, weshalb, wozu nun das alles?“ klagte Baptist und seufzte. „Weshalb, wozu?“

Seine Lippe schmerzte ein wenig. Er tupfte das nasse Taschentuch an die kleine Wunde, sie leise kosend, wie ein trauriges Mal.

„Ja, ja, wozu alles? Ach mir ist so ...“

Er stieß mit dem Fuß auf.

„Lächerlich! Jetzt wein ich auch noch! Puh! Es ist geschehn. Ich werde morgen Nacht mit der Rosa schlafen gehn. Hol’s der Teufel!“

Aber er dachte an seine Schwester Jeanne.

„Nein, ich geh nicht! Es genügt, daß ich mir der Möglichkeit bewußt bin, es zu können.“

So räsonnierte er, dessen Sinnlichkeit noch keine Erhörung gefunden und auch noch niemals im Ernst gesucht hatte. Wie ein großer zauberhafter Vogel stand nur immer über allem, was er dachte und tat, der fromme Glauben, daß die Erfüllung dieser Wünsche sich wie ein wahr gewordenes Märchen, wie ein mit Sternen besäter, weiter, dunkler Mantel, der voll weißer Blumen und voll rätselhaften Jasminduftes sei, auf ihn niedersenken müßte, ganz von selbst, ohne daß er die Hand oder den Fuß drum rührte.

Diese Gedanken erfüllten ihn auch, als er vorsichtig auf den Socken die Gesindetreppe hinauf zu seinem Zimmer schlich. Als er ins Bett sank, war ihm eine ganze Weile, als läge er in einem wundersamen Bade. Dann gaukelten die verschwiegenen Wünsche wieder empor, aber während er mit offenen Augen und mit einer kleinen, harten Melancholie im Herzen das Licht draußen über den Bäumen des Parkes erwachen sah, zog auf einmal das Gespräch des Auswanderers in der Kneipe in seiner Erinnerung klar auf. Einer seiner Kameraden wollte mit dem Arbeiter nach Amerika gehn! – War das Kraft und Willen! Und schließlich seufzte Baptist, mürbe und sich hingebend: „Könnt ich das auch!“

Viertes Kapitel

Baptist lag noch im Bett, als er vor der Türe Annas Stimme hörte: „Elis!“ rief sie hastig in den Flur hinein, „der Hämmelsmarsch!“

Halbwach hörte Baptist weiter, wie die Worte von einem ungeduldigen Davonknistern von Röcken erstickt wurden. Plötzlich rannte ein anderer gröberer Schritt trommelnd in den ersten Lärm, und in demselben Augenblick unterschied er mitten in diesen Geräuschen, die ihn im Halbschlaf überfallen hatten, die Töne von Blasinstrumenten, die zusammenhangslos ineinander krähten. Er sprang verwirrt aus dem Bett und stürzte ans Fenster, durch das er seitwärts auf die Straße sah. Dort waren vier Musikanten aufgestellt, von einer Herde bändergezierter Hämmel umgeben, die sie, während sie spielten, mit den Füßen energisch zusammen hielten. Einer stand etwas vor und blies in ein weißes Nickelpiston; das war der Kellner Ändri von Hiltchen. Eine Schar Kinder hielten sich neben den Musikanten und sangen mit frechen, spitzen Stimmen, die aus den Tonmassen der Trompeten gleichsam herausstachen:

„Die Kanner lossen hire Kaffi stohn

Fi...ir den Hä...ää...ämel nozegohn,

Den Hämmel no! ze! gon!“

Den letzten Vers zerhackten sie, gleich als hätten sie es eilig.

Die kurze Melodie begann immer wieder von neuem. Die hungrigen Hämmel wurden von den Kindern hinterlistig gereizt und sprangen mit kläglichen Schreien durcheinander. Ändri haute, ohne das Piston abzusetzen, einem Buben unversehens eine hinter die Ohren. Der Bube sprang heulend weg und rief: „Wart, du Hund, ich sag’s meinem Vater!“ Aber Ändri blies wie wütend über das Geschimpf hinweg. Dann ging der Junge auf die andere Seite der Straße, wartete ein wenig und warf mit einem kleinen Stein nach Ändri. Ohne umzublicken, stürzte der Bub davon und rannte was gibst du, was hast du!

Baptist war von dem plötzlichen Zusammenstoß all der Geräusche im Halbschlaf überrumpelt worden. Nun wollte er enttäuscht vom Fenster weggehn. Es ärgerte ihn, daß man den alten schönen Gebrauch, die Schobermesse, das Nationalfest der Stadt, mit dem Hämmelsmarsch einzuweihen, so zum Gewerbe machte, daß schließlich die Musikanten an jedem dritten Tag den Marsch spielen gingen. Aber da erschien Anna auf der Straße und reichte Ändri ein Geldstück. Das weiße Piston glitt vom Munde ab, und Ändri machte einen Diener. Einen Augenblick spielte nur der Keuchatem der begleitenden Instrumente. Dann beschrieb Ändri mit der Linken einen schnellen Schnörkel durch die Luft, jagte mit dem Piston an den Mund, aber nur zu einem kurzen, zweitönigen Auftakt, der die kleine Weise abschloß.

Die Musikanten hoben die Trompeten vom Mund. Sie riefen wie aus einem Hals: „Ein Vive für den Herrn Biver!“

Die Trompeten flogen wieder unter die Schnauzbärte und, eine nach der andern einsetzend, bliesen sie dreimal hintereinander das „dreimal-hoch, dreimal-hoch-hoch-hoch!“

Dann lupften die Musikanten die Hüte gegen ein Fenster, in dem Baptist seinen Vater vermutete, und der Zug setzte sich in Bewegung auf die nächste Villa zu.

Als Baptist ins Zimmer zurücktrat, fühlte er seinen Kopf schwer und voll stechender Schmerzen. In seiner Lippe brannte ein kleines Feuer, und er ging zum Spiegel. Aber die Wunde war kaum sichtbar und nicht bedeutender, als die Geschwulst eines Wespenstichs. Das beruhigte ihn. Er goß das Waschbecken voll Wasser und steckte den Kopf hinein, daß das Wasser über den Rand der großen Schüssel auf den Tisch niederkletterte.

Er zog sich langsam an, indem er die Ereignisse der Nacht vor sich aufmarschieren ließ, und ging in das Eßzimmer hinab. Dort fand er seinen Vater am Kaffeetisch über ein Blatt der ‚Luxemburger Zeitung‘ gebückt sitzen. Der Vater grüßte aus der Lektüre heraus Baptist gut gelaunt und herzlicher, als seine Gewohnheit war.

Als Anna Baptists Tasse gefüllt hatte, sagte dieser zu seinem Vater: „Dieser Hämmelsmarsch entwickelt sich schnell zur reinsten Bettelei. Vor zwei Jahren folgten sie wenigstens noch dem alten Brauch und kamen uns nur am Schobersonntag in aller Früh’ aus den Betten blasen. Nun kommen sie auch noch am Donnerstag, und am zweiten Sonntag und warten, bis die Leute aufgestanden sind. So ist es nicht mehr schön.“

Aber der Vater meinte gutmütig: „Laß’ die Jungen doch ihre paar Mark verdienen.“

Baptist war nicht einverstanden damit: „Die paar Mark gönne ich ihnen. Aber daß sie den einzigen alten volkstümlichen Gebrauch, den die Stadt noch hat, industrialisieren, das meine ich nur damit!“

Sein Vater ging jedoch nicht ein auf Baptists Einwände. „Das Industrialisieren ist der Zug der Zeit. Diese alten Gebräuche, das kommt aus der Mode. Heute ist eben eine andre Zeit!“ meinte er gleichgültig und las wieder in der Zeitung, von der einige Blätter über den Tisch gebreitet lagen. Dann ging er hinaus, kam aber bald wieder.

„Sag’ mal,“ fragte er, „du hast doch den Professor Hamilius im Examen?“

„Leider!“ antwortete Baptist.

„Horch mal!“ und Herr Biver las aus der Zeitung vor: „Der Sultan von Marokko, der bei dem Nationalfest der französischen Turner in Reims zu Gaste war, hat Herrn Professor Albert Hamilius aus Luxemburg, den der Turnverband des Großherzogtums als Vertreter zu den französischen Freunden geschickt hatte, den Orden des Nicham Astika am grünweißen Band verliehen.“

„Den verdient er!“ sagte Baptist spöttisch. „Er ist ein wirklicher Gymnastiker! Er läßt Knabenschicksale auf seinem Bizeps jonglieren, wie ein Zirkuskünstler, der mit Messern spielt, die nicht geschliffen sind.“

„Ja, er soll ein strenger Lehrer sein!“

„Streng und gerecht – nach dem Recht von: Ich bin groß und du bist klein!“ entgegnete Baptist bitter.

„Das ist ein Grund, ihm entgegen zu kommen!“ sagte Herr Biver.

Baptist schaute seinen Vater an. Der sah nicht weg aus der Zeitung. Aber nach einer Weile stand er auf und trat vor Baptist hin: „Schau mal, Junge, ich weiß ja, was das ist, mit dem Examensglück. Die einen haben’s, die andern nicht. Das verändert einen Menschen nicht. Besteht man es dieses Jahr nicht, so besteht man es im nächsten. Ohne das kommt man aber auch durch, wie du an mir siehst. Aber du hast nun einmal den Weg genommen, und es wäre doch gerade miserabel dumm, wenn du mit so einem Examen ein Jahr verlieren müßtest. Ein Jahr ist heute was. In unserer Zeit, die so schnell lebt, ist ein Jahr ein bedeutendes Stück Arbeit. Was meinst du, wenn wir der beim Examen so wichtigen Gunst des Geschicks ein wenig entgegenkämen?“

Baptist stammelte betroffen: „Ja, ich weiß nicht, Vater ...“

„Ich meine,“ fuhr der Vater fort, „wir sichern uns einen Hauptfaktor des gutgesinnten Geschicks, zum Beispiel den Herrn Hamilius. Herr Hamilius gibt dir die vier Wochen, die es bis zum Examen noch sind, Unterricht. Einem bellenden Hund hält man am besten eine Wurst hin, das ist ein bewährtes Mittel. Wir finanzieren das Glück, und es wird seinen Vertreter, den Professor Hamilius, günstig gegen uns stimmen. Ich hab’ gestern Abend mit Herrn Wampach darüber gesprochen. Der hat mich gerade auf Hamilius gebracht, den er aus der Erfahrung seiner Studenten kennt. Was meinst du, ich nehm den Nicham Astika bei der Krawatte und beweg mich mal zu dem Herrn Examinator? Ich will ein blaues Känguruh sein, wenn der Streich nicht gelingt.“

Er schaute Baptist lächelnd und fragend an.

Baptist sagte: „Das würde sicher helfen!“

Aber das Blut kam ihm voll Scham ins Gesicht. Er freute sich an der unerwarteten Herzlichkeit, mit der sein Vater sich in sein Geschick mischte, aber er schämte sich, daß der Vater seine Angelegenheit vor das Kartenkollegium gebracht hatte; vor diese Versammlung kleinbürgerlicher Rechner, mit denen sein Vater verkehrte, weil ihre gröbern Formen ihm mehr gingen als der Schliff der Gesellschaft, und weil diese Männer ihn bedingungslos anerkannten, während er für die andere Klasse noch zu sehr die Spuren der Arbeit, mit der er sein Vermögen hereingeackert hatte, an seinen Kleidern trug. Und Baptist haßte diesen Proleten Hamilius, der wie ein Hofköter hinter dem schwächeren Vieh des Stalles dreinbellte, um seine rücksichtslose Macht an ihm zeigen zu können, und der durch jede Wurstpelle zum Bundesgenossen zu machen war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er sich gerade diesem so ausliefern sollte, wie es sein Vater vorschlug, obschon er wußte, wie vortrefflich der väterliche Plan war.

Sein Vater rieb sich hastig die Hände, als fühlte er sich von einer Last befreit. „Das wollen wir schon deichseln!“ sagte er vergnügt, faltete die Zeitungen geschäftig zusammen und ging, die Blätter in die Tasche schiebend, auf die Türe zu. „Heute kann ich nicht gut zu ihm gehen!“ meinte er noch, während er sich an der Türe umdrehte. „Es ist Sonntag. Das geht dann wohl nicht.“

„Nein!“ antwortete Baptist. „Aber morgen vielleicht!“

Dann entfernte sich sein Vater.

Baptist seufzte. Er wußte nicht, wo er dran war. Seine Gedanken lagen wie in Nebel gebadet. Er sah keine zwei Schritte weit hinein. Dann schloß sich ihr Gemengsel zu einem unklaren Dickicht, in dem sich, wie etwas unerhört Rohes, aber doch Wichtiges, der Zusammenstoß bewegte, den er gestern mit dem verlumpten Arzt gehabt hatte.

Er wollte mit Jeanne über sich sprechen und klingelte.

Anna kam. Aber sie sagte, Jeanne sei schon ausgegangen.

„Wie spät ist es denn?“ fragte Baptist.

„Gleich elf!“ antwortete das Mädchen lächelnd. Sie räumte auf dem Tisch herum. Dann fragte sie vertraulich: „War es schön gestern Nacht, Herr Baptist?“

Baptist erschrak.

„Was wissen Sie denn, wie es war?“

„Ja, Sie sind doch gestern ausgegangen!“

„Ach so! Ja, ja, es war sehr schön!“

„Die jungen Herren amüsieren sich immer gut!“

„Ach was!“ sagte Baptist gedankenlos. Er kam nicht mit sich in Ordnung, und das Gespräch des Mädchens reizte ihn.

Anna räumte den Tisch auf und verließ mit einem schnippisch unzufriedenen Gesicht das Zimmer.

Baptist stieg zu seiner Studierstube hinauf. Er setzte sich zum Schein an seinen Tisch – er konnte ja doch nicht arbeiten und er versuchte auch gar nicht anzufangen. In das Gespräch seines Vaters mischten sich unerbittlich die Erlebnisse der Nacht, und beides wollte nicht ineinander aufgehn. Es war wie zwei Welten, die sich an einander rieben: die Sorge des äußern Lebens und die Sorge des innern Lebens. Aber aus dem Mischmasch all dieser zwiespältigen Überlegungen drängten sich die Schlägerei und die auf seinen Feind losstürzenden Italiener unaufhörlich grob und faßbar klar heraus, bis die Erinnerung an diese leibhafte Tat Baptist etwas wie eine Erlösung in dem Verfließen aller andern Vorstellungen wurde.

So nahm Baptist seinen Hut und ging schnell durch den Park zur Schobermesse, weil er die Italiener finden mußte.

 

Auf der Schobermesse schritt Baptist ohne umzublicken zwischen den Reihen der langsam zum Sonntagsleben erwachenden Buden auf die Baracke von Hiltchen zu. Die Vorderwand war ausgehoben wegen des Tages, der sonnig begonnen hatte, und ein paar Vormittagsgäste saßen vereinzelt an den vorderen Tischen und tranken ihr Pöttchen Bier. Baptist setzte sich abseits von ihnen tiefer ins Lokal hinein. Ein fremder Kellner bediente ihn.

„Sind die Italiener noch nicht da?“ fragte ihn Baptist.

„Die lassen wir nicht mehr herein, nein, nein!“ antwortete der Bursche mit wichtigtuender Aufgeblasenheit.

„So, so!“ sagte Baptist wütend. Er trank sein Glas auf einen Zug leer und ging wieder.

Als er langsam und unentschieden in der harten Vormittagssonne durch eine der schattenlosen Budenstraßen schritt, sah er unerwartet den dicken Italiener vor sich.

„Das ist gut, daß ich Sie finde!“ rief Baptist erfreut. „Ich suchte Sie grade bei Hiltchen.“

Der Italiener drückte ihm lässig die Hand.

„Bei Hiltchen ist nix mehr!“ sagte er traurig. „Großer Schaden für uns!“ fügte er nach einer Pause hinzu.

„Das ist durch mich, und es ist selbstverständlich, daß ich Sie entschädige.“

Der Dicke blitzte ihm erstaunt zu.

„Ja, und ich danke Ihnen auch, daß Sie gestern für mich einsprangen!“ fuhr Baptist fort.

Aber auf einmal umringte ihn die ganze italienische Kapelle. Er konnte nicht begreifen, wo sie alle so plötzlich herkamen. Sie reichten ihm mit lebhaften Worten alle nacheinander die Hand und schüttelten die seinige, zuletzt Rosa, und sie fingen an, mit schnellen Bewegungen der Arme, mit gespreizten und geballten Fingern, mit hüpfenden Sprüngen des Körpers ihm zu erzählen und zu schildern. Sie mischten in ihr Italienisch die paar deutschen und französischen Wörter, die sie sich angeeignet hatten, und waren herzliche Kameraden zu ihm. Margherita drängte sich an ihn heran und tupfte sich mit dem winzigen Zeigefinger auf die Oberlippe, riß dann die Augen auf, sperrte alle zehn Finger auseinander und sagte immer, indem sie die gespreizten Finger wie abwehrend vorhielt, oh, oh, oh! die ganz entsetzt klangen. Rosa schaute ihn mit dem sanften Mitleid ihrer gutmütig dummen Augen an und die andern turnten, hüpften, lachten, drohten und schimpften um ihn herum.

Als aber der Dicke etwas zu ihnen sagte, waren sie bald ruhig. Nur Margherita konnte ihre entsetzte Miene noch nicht beendigen. Die Italiener schauten Baptist erwartungsvoll an. Aber er verstand nicht, worum es sich handelte.

„Wir wollen morgen in der Früh reisen!“ sagte der Dicke.

„Wissen Sie was, Häuptling!“ rief ihn Baptist an. „Wir feiern zusammen Abschied. Ich lade Sie zum Mittagessen ein, und dann bringen wir auch die andere Sache in Ordnung. Wollen Sie um zwei Uhr alle zu Engler am Bahnhof kommen?“

„Gut, gut!“ sagte der Dicke. „Dank schön!“ Er verdolmetschte die Einladung an die Italiener und sie winkten froh ja!

In dem Augenblick ging eine Kameradin von Baptists Schwester vorbei und drehte sich auffällig weg, indem sie die Nase rümpfte. Da genierte sich Baptist der Gesellschaft, zog den Hut und machte sich rasch davon. An der Ecke, an der er die Schobermesse verlassen wollte, stieß er mit dem Professor Hamilius zusammen. Der Professor tat, als müßte er vor Verwunderung, daß der Schüler hier und nicht hinter seinen Büchern war, einen Schritt lang stehen bleiben. Baptist errötete, weil er an den Kuhhandel dachte, der ihn vielleicht schon morgen mit diesem Manne verband. Er lüftete verwirrt den Hut und drückte sich dann rasch in den Park hinein.

 

Als Baptist gegen Mittag wieder nach Hause kam, war seine Schwester im Garten zwischen den Rosen.

„A, Jeanne!“ grüßte er.

„Wir sind heute und morgen Herr im Haus!“ rief Jeanne ihn gleich an, „Papa fährt um halb eins nach Nancy. Er hat ein Telegramm bekommen. Was fangen wir an?“

„Armes Schwesterlein, du mußt dich das allein fragen. Ich bin schon belegt. Ich muß bald weg!“

„Darf man fragen – wohin?“

„Nein, das darf man nicht!“

„So?!“ machte Jeanne enttäuscht und schnitt weiter in dem dichten Rosenstock.

„Ist der Vater schon weg?“ fragte Baptist.

„Du weißt doch, daß er immer eine Stunde vor Zugabfahrt im Bahnhof sein muß. Sonst hat der Zug keine Lust einzulaufen!“

„Ja, ja!“ lachte Baptist.

Die Nachricht dieser Reise war ihm sehr angenehm. Er hatte gefürchtet, daß er nicht bis zwei Uhr bei Engler sein könnte, denn er mußte zu Haus mit essen. Jetzt war er schon gleich frei. Er ging sich umziehen. Dann schlenderte er über die neue Brücke dem Bahnhofviertel zu und trat ins Hotel Engler ein. Er ließ in einem kleinen Saal des ersten Stockes den Tisch rüsten, bestimmte, was serviert werden sollte, und fing an, auf die Italiener zu warten.

Sie kamen kurz nach zwei und begrüßten ihn mit einer gewissen steifen Feierlichkeit. Sie hatten ihre Instrumente mitgebracht und ordneten sie in einer Ecke zusammen. Als sie sich um den Tisch setzen wollten, wies der Dicke die Plätze an. Er schob Rosa Baptist zu und nahm sich selber den Stuhl an der andern Seite des Gastgebers. Baptist gegenüber saßen Margherita und ihre Mutter. Die Tischgesellschaft zählte neun Personen, die zuerst etwas geniert anfingen, vor einander zuzulangen. Baptist hatte das Menü mit Überlegung zusammengestellt, indem er die Nationalität und die Gewohnheit der Lebenslage der Gäste gegen die Gebräuche seiner heimatlichen Küche aufrechnete. An Weinen stand ein leichter Mosel und ein kleiner Bordeaux auf dem Tisch bereit, denen sich, wer davon mochte, italienische Weine zugesellten. Ein schwererer Rheinwein wartete in Eiskübeln auf dem Büfett. Es war ein kleines Meisterstück von Höflichkeit, dieses Mahl, eine diskrete Huldigung für die Italiener.

Sie merken es wohl nicht! sagte sich Baptist. Aber das störte seine Laune nicht. Weshalb sollen sie’s auch merken! Die Hauptsache ist ja nicht für sie, sondern für mich – die Absicht, die wie ein Kern in der Schale liegt.

Baptist war zum ersten Male allein und unbeobachtet zwischen ihnen, und es machte ihm Schwierigkeit, immer den Dicken als Dolmetscher heranziehen zu müssen, wenn einer ihn anredete oder er selber einem etwas sagen wollte. Es hatte etwas Befremdendes, so eng zwischen ihnen zu sitzen und sie mit einer ganz andern Führung der Gesten, mit Worten der fremden Sprache, gegen deren Sinn er vergeblich anrannte, miteinander verkehren zu sehen. Ja, es hatte etwas Feindliches zum Ansehn, und jedes Lachen machte Baptist mißtrauisch. Er kam sich unsicher und wie verraten vor.

Aber bald fühlte er doch heraus, daß lebhafte Gutmütigkeit ihren Verkehr beherrschte. Er mischte sich öfter und inniger hinein, trank Rosa, Margherita und ihrer Mutter, auch den Männern zu, und als er ein wenig getrunken hatte, während zugleich die Italiener ihre Schüchternheit immer mehr abwarfen und sich mit immer eindringlichern Gebärden und Wörtern an ihn wandten, war ihm, als verstünde er den ganzen Gang der Unterhaltungen.

Da gehörte er ihnen mit ganzem Herzen an und erwies den Damen dieselben galanten Aufmerksamkeiten, die er sich gegen die Freundinnen seiner Schwester angewöhnt hatte. Aber er zeichnete dabei Rosa immer aus.

Rosas ovales, zartgoldiges Gesicht glühte von dem Essen und dem Wein. Ihre Augen hatten etwas träge Lüsternes, eine verlangende Schläfrigkeit. Baptist fühlte, wie die andern ihn immer mehr mit ihr allein ließen. Der Dicke drehte ihnen schon halb den Rücken.

Baptist unterhielt sich mit Rosa, indem er die kleinen Dinge, die er ihr sagte, dem Bestand von Wörtern anpaßte, die er aus der fremden Sprache kannte, und die Lücken durch Gesten füllte. Aber ihre Antworten mußte er fast rein aus Gebärden erraten. So bekam ihr Verkehr etwas Lebhaftes, das Glieder und Körper in fortwährende Bewegung setzte und einander entgegenbrachte, so daß seine Knie bald an ihre Schenkel stießen. Diese Berührung wurde ihm ein Ausdruck seiner Zärtlichkeit. Er gab sie nicht mehr auf, und der fortwährende körperliche Kontakt erhitzte das weinvolle Blut der beiden noch stärker.

Baptist knittelte dem Mädchen mit seinen kargen Sprachkenntnissen ein paar Verliebtheiten zusammen und sie tat, als glaubte sie sie nicht. Das war ein Spielchen, das sie eine geraume Weile mit Lust pflogen. Aber Baptist neigte sich plötzlich zu ihrem Gesicht, dessen seidig blasse Gebräuntheit jetzt auf einem rosigen Untergrund leuchtete und seine Wärme auf Baptists Wangen und Augen überströmte. Er fragte, ernster geworden, und mit einer bedeutsamen Eindringlichkeit: „Willst du jetzt mit mir allein sein?“

Sie antwortete: „Io sono come in una stufa!

Baptist verstand sie nicht. Er forschte nach: „Du bist wie in ein ...? wie in was?“

„In stufa, stufa!“ sagte Rosa nachdrücklich und schaute im Zimmer herum.

Aber als Baptist, nicht verstehend, den Kopf schüttelte, rief Margherita auf einmal herüber: „In Ofen!“

Baptist fuhr erschreckt und beschämt mit dem Kopf auf. Margherita hatte sie belauscht. Er sah, wie sie ihn mit ihrem kleinen schwarzen Äffchengesicht vermessen einen Augenblick anschaute. Dann lachte sie ihm grinsend zu: „Offen, in Offen! Swarser Offen!“ und sie schaute in die Ecke, ob sie ihm nicht einen Ofen vor Augen führen könnte.

Aber in diesem Augenblick rettete ihn der Dicke: „Wär’s angenehm, wenn wir jetzt ...“ und er machte ping, ping mit seinem Daumen über den gebogenen Arm.

„Los, Häuptling!“ rief Baptist und schlug ihm auf die Schulter. Der Dicke hob die Hand mit einem: ‚avanti‘! Die Burschen sprangen auf und brachten die Instrumente heran.

Vieni sol mare?“ fragte der Häuptling, verständnisvoll lächelnd und Baptist winkte mit einem Lachen zu.

Baptist saß nun allein am Tisch und die Italiener standen vor ihm in einer Ecke zusammengeschart, wie auf dem Podium bei Hiltchen und spielten. Aber sie waren heute nicht alle so wie gleich gehobelt. Jeder war über Tisch wieder einmal er selbst geworden, hatte sich losgelöst von dem Beruf auf dem Podium zu stehen und jeder bewegte sich nun anders unter dem Ertönen seines Instrumentes. Selbst der lange zweite Violinist mit dem schwarzen, verschlafenen Sarazenengesicht, dessen Schnurrbartspitzen den Kasten seiner Geige kitzelten, wedelte gefühlvoll mit dem langen, flachen Körper zu seinem Bogenstreichen.

Da hielt mitten im Spiel der Dicke mit einem fragenden Kopfwinken Baptist seine Geige hin.

Baptist sprang hinzu und fuhr gleich mit vollem Ton ins Zusammenspiel hinein und führte es mit der nachdrücklichen Kraft seines Spiels davon, wie eine Windbö ein paar Segler mit sich zieht. Er ließ wieder die Töne steigen, als erreichten sie die blaue Uferlosigkeit des Himmels.

Als das Lied fertig war und die Italiener leise in die Hände klatschten, drückte sich die kleine Margherita verstohlen gegen Baptist an, daß ihr dickes krauses Haar seinen Hals traf. Er faßte sie lachend unters Kinn und sagte, auf ihren Bräutigam zeigend: „Er sieht’s ja nicht!“

Der Bräutigam lachte und drehte ihnen mit einem Ruck den Rücken. Da schauten die kleinen schwarzen Augen des Mädchens Baptist entflammt an. Wie ein fordernder Blitz schlug es zu ihm herauf und alle seine Gedanken bäumten sich eine Sekunde vor diesem trotzigen Verlangen. Aber der dicke Manager rieb sich wie unabsichtlich an ihn, schob seinen Arm unter und zog ihn zum Fenster. Dort zwinkerte er ihm mit einem Auge zu und warf mit knapper, ernst tuender Wichtigkeit hin: „Das wär was für Sie!“

Baptist war betroffen. Er glaubte, der Dicke meinte Margherita.

„Das wär was!“ fuhr der Italiener fort. „Da kämen Ihnen die Weiber in die Arme geregnet. Ich sag Ihnen – was für welche! Da ist die Rosa eine Henne dagegen!“

Und er beschrieb mit seinen kurzen Armen die Umrisse prächtiger Frauen.

„Ich kann’s Ihnen sagen! Mit Ihrer Figur!“ und er schnalzte mit der Zunge.

„Ja, was?“ fragte Baptist. Er verstand nicht.

„Was!?“ fuhr ihn der Dicke wichtig an. „Gehn Sie mit uns. Ich gebe Ihnen die erste Violine zu spielen!“

Baptist lächelte den Häuptling erst ein wenig an.

Auf einmal dachte er an den Auswanderer in der Kneipe, und dann war es, als sauste der Vorschlag des Italieners wie ein Anker in ihn hinein, biß sich mit einem einzigen, ganz kleinen, aber froh aufjauchzenden Schmerz fest und zog ihn wonnig davon.

Ist das die Rettung! Ist das die Zukunft? jubelte es in Baptist.

Im Nu fühlte er sich frei von aller Last der Jugend, der Umgebung, des Examens. Mit einem Schlag war alles gelöst, alles klar, alles Freude und Lust, und er – thronend über den Dingen!

Er legte dem dicken Manne beide Hände auf die Schulter und schüttelte ihn im Überschwang: „Ja, ja, ja!“ rief er.

Der Dicke sagte vorsichtig und untersuchend: „Ich weiß aber nicht, ob Sie so leben können wie wir? So einfach!“ Mit einer Handbewegung deutete er auf den Tisch, „so geht’s nicht bei uns zu!“

Aber Baptist meinte: „Ach, das ist das wenigste. Das werde ich schon!“

Er bedachte sich jedoch auf einmal. Er wollte sich nicht ganz ausliefern und war sich auch nicht ganz sicher, ob die Absichten des Italieners ernst seien.

„Ich hab ja einiges Geld!“ sagte er vorsichtig. Und dachte sich, daß er damit immer eine letzte heimliche Macht in der Hand behielt.

Der Italiener winkte zufriedengestellt.

„Wo gehen wir denn zuerst hin?“ fragte Baptist.

„Wir spielen in Brüssel, bis die Ausstellung in Antwerpen im Frühjahr eröffnet wird. Da haben wir ein gutes Engagement, in einer großen Bierhalle zu spielen. Wir wollten morgen mit dem Frühzug abreisen.“

„Ja, ja!“ sagte Baptist. „Es ist gut, daß wir gleich aus dem Lande kommen.“

Der Italiener teilte der ganzen Gesellschaft mit, daß Baptist sie begleiten wollte und sie drängten sich um ihn, wie Kinder so laut und fröhlich.

„Aber hören Sie mal Häuptling!“ wandte Baptist ein, „es darf kein Wort in der Stadt darüber gesagt werden, daß ich mitgehe. Und ihr müßt mir auch helfen, meine Kleider und so allerlei wegzuschaffen. Ich fahre dann morgen mit dem Abendzug und komme in der Nacht in Brüssel an.“

Der Italiener winkte mit der Hand und bedeutete lächelnd: „Wird gemacht werden!“

Dann dachte sich Baptist einen Kriegsplan aus. Zwei von den Italienern sollten in der Nacht hinter dem Haus die Sachen sammeln, die Baptist an einem Seil herunterließ. Der Koffer könne dann über das Geländer in den Park geschafft werden, von dort auf die Straße und Baptist wolle einen verschwiegenen Droschkenkutscher auftreiben, der die Sachen zum Bahnhof bringe.

„Punkt zwölf Uhr! Ganz genau zwölf Uhr! Und kein Geräusch machen!“

Der Dicke gab die Weisung weiter. Die Italiener winkten zu. Als sie sich dann verabschiedet hatten, entfernte sich Baptist zuerst allein.

Er lief mehr als er ging. Mit wirren, stürmischen Gedanken, die flatterten wie Festfahnen auf hohen Dächern, malte er sich sein neues Unternehmen aus. Er fluchte und lachte und watete, und ungemessen stiegen die Hoffnungen auf ihn hernieder.

Nun kommt das Leben zu mir! unterhielt er sich so im Ausschreiten mit sich selber. Die Welt ist offen. Ich bin frei. Geld? Ach was Geld! Ich weiß ja, wo davon ist. Es wird nun einmal ernst, was bis jetzt Verlegenheit und unproper war. Er ist reich genug. Ich schädige niemanden. Davon kann ich dann eine Zeit leben. Ich nehm genug mit und werde sparsam sein. Wenn ich dann eine Zeitlang umsonst gespielt habe, muß der Häuptling mich schon bezahlen. Ich kann ja mehr, als die ganze Kapelle zusammen. Die Rosa ist meine Freundin, und die Margherita ... ach, die Margherita! ... daran denk ich lieber nicht. Das soll laufen, wie es geht. Vielleicht liebt der Italiener sie nicht so sehr. Sie ist im Gesicht nicht so schön wie Rosa, aber ... nein, nein ich rühr’ daran nicht. Das soll von selber fließen. Und dann ziehn wir von Stadt zu Stadt, durch die Länder. Teufel, Teufel!

Jeanne!

Da blieben die Bilder stehn. Es schmerzte ihn, an sie denken zu müssen.

‚Jeanne, Jeanne, liebes Gutes!‘ schmeichelte er dem Geist der Schwester. ‚Geh mit! Du bist ja auch nicht gut hier und bist nicht glücklich! ...‘

‚Jetzt muß ich brutal sein!‘ sagte er auf einmal. ‚Solche Unternehmen gehen nicht anders. Rücksichtslos und brutal! Ich muß Jeanne das auch schreiben. Ich werde ihr einen langen schönen Brief hinterlassen. Darin steht so und so ... und daß es auch gar nicht wegen Rosas ist, und daß ich das Schwesterlein lieber hab als sonst alle Menschen ...‘

 

Als Baptist nach Haus kam, ging er gleich, ohne daß jemand ihn gesehen hatte, in das Arbeitszimmer seines Vaters und schloß die Türe hinter sich ab. Er ließ das geheime Schloß knacken, schob den Rolladen hoch und nahm die Schlüssel von ihrem gewohnten Platz.

Mit kühler Ruhe untersuchte er dann den Inhalt des Geldschrankes. Es lagen wohl einige tausend Mark in Goldrollen und in Scheinen drin. In einem Fach seitwärts stand ein abgegriffenes Ledertäschchen aufrecht. Er zog es heraus und sah, daß es mit Papieren gefüllt war.

Da setzte Baptist sich an den Tisch und begann, die Papiere eins nach dem andern durchzuschauen. Es waren Verträge zunächst. Aber dann kam etwas wie ein Heft, auf dem in Rundschrift ‚Bilanz‘ stand. Die Jahreszahl drunter zeigte, daß es die letzte Vermögensberechnung seines Vaters war, die er in den Händen hielt.

Mit knappen und stumm in einander gebissenen Zeichen war die Sprache geführt, die diese Seiten füllte. Aber Baptist las sie, indem er seinen Willen zur Aufmerksamkeit anstrengte. Er sah bald leise Beziehungen sich zwischen den einzelnen Summen knüpfen; die Seiten lasen sich fort, wie ein Gewebe. Es war das Gewebe eines Lebens, das sich in dieser heimlichen, verbotenen Stunde bloßlegte; eines Lebens, in dem das seinige bis heute gefaßt und gefesselt lag. ‚Also ihr!‘ grollte er und schlug mit den Knöcheln der geballten Hand in die Zahlenhaufen.

Es war das Leben seines Vaters, und er konnte es nun Schritt für Schritt verfolgen in seiner vergiftenden Phantasielosigkeit und seinem kleinen, rasselosen Aufeinanderhäufen. Er konnte so hart und klar aus diesen ordentlich gescharten Zahlen Tag für Tag aus dem letzten Jahr dieses Hauses herausheben und sich sie anschauen, wie gefangene Käfer, die sich zwischen den Fingern nicht wehren können. Tage der Freude: hinter einem Plus eine Summe; Tage des Griesgrams und hadernder Gereiztheit: hinter einem Minus eine Summe. Und jene Summen standen unter den Tagen, wo die kleinen, übeln Zwischenhändler mit am Tisch gegessen hatten, mit Knechtsmanieren, und sich zur Empörung Jeannes betrunken hatten, während er selber ihr Benehmen mit einer verlegenen Peinlichkeit überwachen mußte. Und jene andern Summen trugen die Namen der Herren, hinter deren Rücken sein Vater lästerte, während er mit einem ergebenen Lächeln ihre Gespräche empfing, wenn sie sich ins Haus verirrten. Und es gab keine Teppiche, keine Schlinggewächse, die wohltätig bedeckten. Es war roh und brutal. Es waren keine großen Zahlen, aus denen waghalsige Ruhelosigkeit mit Gefahr gespielt hätte. Es waren nur ungezählte, unruhige, kleinmütige mit drei oder vier Nullen.

Baptist redete sie an: ‚Herr Wampach, Herr Küborn, Herr Faber!‘ Und er hatte die Summen auf der Hand liegen, wie armselige tote Tierchen, denen man Fell und Haut abgezogen hat.

Aber in dieser unvermuteten kalten Beschäftigung änderte sich in seinem Innern das Bild der geplanten Flucht. Es verlor das Genießerische und bekam etwas Wehrendes. Es schnitt eine Grimasse mit dem schönen Gesicht, kniff die träumerischen Augen zu und bleckte ein herrliches Gebiß.

‚So machen wir’s jetzt!‘ triumphierte Baptist. ‚So, so, so! Mit den Muskeln!‘

Er mußte seine Körperkraft in Tätigkeit setzen, sprang auf und hob die eiserne Kopierpresse mit einer Hand über den Kopf und ließ sie langsam mit ausgestrecktem Arm wieder auf ihren Platz nieder. Dann machte er dasselbe mit dem linken Arm. Die Presse war gewichtig. Und die Übung hatte seine ungeschulten Muskeln ermattet. Schwer atmend ging Baptist zu den Zahlen zurück. Er schlug genau Seite um Seite um. Das Bild blieb dasselbe. Nur sein Vater änderte darüber das Aussehn. Baptist drang nun in ihn hinein, weil er die Zusammenhänge sah. Er dachte fast mit zärtlichem Mitleid an ihn.

Das letzte eingetragene Datum war der 15. August. Baptist kannte die Gewohnheit seines Vaters, an diesem Tage das alte Geschäftsjahr zu beschließen und das neue zu beginnen. Heute war der 5. September. Also waren die eingetragenen Tintenzeichen, die die kleinen Felder hinter den Konten: Kassa, Konto – Korrent – Konto bis Kapitalkonto füllten, noch kaum getrocknet. Baptist wollte darüber wischen, wollte in einem Anfall von rebellierender Bitternis sie wegwischen. Aber hinter dem ‚Saldo als Reinvermögen‘ stand fest wie ein eiserner Turm die Schlußzahl:

1 Million 825560 Franken.

Baptist legte das Heft auf den Stoß der Papiere, die er schon durchblättert hatte. In der Ledermappe war noch ein kleines, in Wachstuch gebundenes Büchlein. Als er es öffnete, sah er, daß es ein Sparkassenbuch war. Aber alle die schwarzliniierten Seiten mit den von der Zeit gebräunten Rändern waren unberührt. Nur auf der ersten stand: ‚Sparkassenbuch, gehörend Baptist und Jeanne Biver. Eingezahlt zehntausend Mark‘. Dann ein Datum, das neun Jahre zurücklag, und unten am Rand mit der Handschrift des Vaters ‚Meinen lieben Kindern Baptist und Jeanne zum Fest ihrer ersten Kommunion 10000 Mark, die sie zu gleichen Teilen und zu beliebiger eigener Verfügung bekommen, wenn Jeanne großjährig ist‘.

Baptist blinzelte diese hastig gezogene nervöse Schrift an, als sei es nicht möglich, daß er sie richtig gedeutet habe; daß das so nahe vor ihm zu lesen stand. Er las ein paarmal die Wörter und stockte beim Lesen. Dann schaute er auf, irgendwohin und dann schlug er mit dem Kopf nieder und weinte.

Er schämte sich, daß er anders über seinen Vater gedacht hatte, und daß er hinter dem verbitternden Hadern, der hartherzig erscheinenden Verständnislosigkeit des Vaters für die anders gerichteten Absichten und Wünsche seiner Kinder nie die Liebe für diese Kinder gesehen hatte. Daß er ungerecht und verstockt an einer anders gearteten Seele vorbeigegangen war. Aber er empfand zugleich ganz klar, daß, wenn auch er selber seinen Vater nicht richtig eingeschätzt hatte, so dieser doch niemals seine Stellung zu den Daseinszielen des Sohnes nur das geringste ändern konnte, und er kam sich geschützt und stark vor in seinen jungen Absichten, wie in einer stählernen Rüstung.

Baptist packte die Papiere wieder in die Mappe und stellte sie in den Schrank zurück. Aber das Sparkassenbüchlein steckte er in seine Brieftasche. Er schloß den Schrank, legte die Schlüssel, wo er sie gefunden hatte, und ging auf sein Zimmer.

Jetzt hatte er Geld! Er kam sich wie bewahrt vor, daß er nicht aus dem Schrank zu nehmen brauchte, und die Freude an seinem Unternehmen schlug reiner und freier auf. Er ging erregt auf und ab in dem Raum und versuchte sich kühl zu berechnen, wie lange er mit fünftausend Mark durchkommen könnte. Natürlich: leitendes Prinzip – Sparsamkeit ... Sparsamkeit ... Sparsamkeit! Das kam immer wieder. Aber darüber kam er nicht hinweg. Die Lust an seiner beginnenden Tat schlug jauchzend über ihm zusammen.

Er begab sich in die Schlafkammer und suchte in seinen Schränken, was er mitnehmen sollte, und legte es zusammen.

Ja, er muß doch Jeanne schreiben, sagte er sich während dieser Arbeit und er eilte nebenan zum Schreibtisch und legte einen Bogen Papier zurecht. Die Gedanken, Pläne, Hoffnungen umbrausten ihn, wie Orgelrauschen, das zwischen Kirchensäulen verschallt, und von dem ganzen, prachtvollen, wundererfüllten Choral kam folgendes aufs Papier:

„Jeanne, ich muß fort. Ich gehe fort mit einem Jauchzen, ich würde dich am liebsten mitnehmen. Nun wird alles schön und frei. Ach, ich kann nicht mehr schreiben. Adieu, Schwester. Ich liebe dich. Baptist.“

Ach, was soll ich mehr schreiben. Ich kann auch gar nicht. Ich hab ja keine Zeit dazu und keine Geduld. Und es steht ja auch alles drin! entschuldigte er sich, während er den Zettel in ein Kuvert steckte.

Dann ging er wieder zu den Schränken und suchte weiter in den Kleidern und in der Wäsche; er wählte mit Bedacht die besten und die praktischsten Sachen.

 

Schon lange vor Mitternacht hatte er das Licht gelöscht und sich aufs Fensterbrett gesetzt. Kaum hatte das Glockenspiel auf der Niklauskirche hinter den zwölf Schlägen ausgeklungen, so war es Baptist, als hörte er ein Geräusch im Garten. Er bückte sich über die Brüstung.

Signor!“ rief unten eine flüsternde Stimme, „Signor Battisto!

Baptist flüsterte zurück: „Ssst Italiani?

Si bene!“ kam es leise von unten herauf.

Dann ließ Baptist an der Wäscheleine, die er sich vom Trockenboden geholt hatte, Bündel für Bündel hinab. Die Italiener arbeiteten huschend katzenleis. Die Dunkelheit der Nacht deckte sie zu.

Endlich flüsterte Baptist hinab: „Finito! Pss! Finito!

Bene!“ hörte er von unten. Schritte schlichen davon. Im Nu war es stumm.

Baptist hörte am Fenster eine Droschke in der Nähe herankommen. Er zündete eine Kerze an und ging rasch die Treppen des schlafenden Hauses hinab und auf die Straße. Die Laternen der Droschke leuchteten neben dem Park und Baptist eilte ihr entgegen.

„Toni!“ rief er leise, als er sie erreicht hatte.

Das Pferd stand mit einem Ruck still und der Kutscher bückte sich vom Bock über die Laterne.

„Jawohl, Herr Biver!“ sagte er nach einer Weile.

Baptist trat außerhalb des Lichtkegels der Laterne an den Bock heran. „Ja, ich bins! Jahren Sie bis zwischen die beiden Laternen. Aber gelt, leise!“ sagte Baptist flüsternd.

„Gewiß Herr Biver!“

Baptist sprang in die Dunkelheit davon, lief in den Park und pfiff leise. Auf einmal hörte er nicht weit von sich den Pfiff wiederholt, ganz fein und wie unterdrückt. Er blieb stehen. Aber er hörte nichts mehr. Da sagte er mit halblauter Stimme: „Italiani!

Signor Battisto, voi?“ antwortete es neben ihm flüsternd aus einem Strauch heraus, der am Wege stand. Baptist erschrak ein wenig. Dann lachte er über die Geschicklichkeit und Vorsicht, mit der die Italiener ihren Auftrag erledigt hatten. „Tutto pronto!“ sagte eine leise Stimme, und es rauschte geschmeidig im Gebüsch.

Der Korb wurde auf die Droschke geladen. Baptist schloß ihn ab und steckte den Schlüssel ein. Dann gab er dem Kutscher Anweisung. Die beiden Italiener sprangen in den Wagen und er rollte davon. Baptist spazierte noch eine Weile in dem finstern Park hin und her. Dann ging er ins Haus und in sein Bett, war ermattet und wußte doch, daß er in dieser Nacht keine einzige Minute verschlafen würde.

 

Am nächsten Tag waren die notwendigen Besorgungen – als Hauptsache die Abhebung von fünftausend Mark auf das Sparkassenbuch – bald gemacht. In der Sparkasse hatte der junge Beamte, der Baptist gut kannte, ihn ein bißchen wehmütig angeschaut, als er das Geld in deutschen Papierscheinen aufzählte. Baptist hatte die Bemerkung des Vaters zuvor mit einem Papierstreifen überklebt.

Als er nach Hause kam, war Jeanne schon fort. Sie hatte Klavierstunde im Konservatorium und blieb dann bei einer Freundin zum Mittagessen, so hatte sie Baptist hinterlassen. Er sah sie also nicht mehr, und das schien ihm gut zu sein. Er strich ruhelos und heiß erregt durch das Haus, weilte wiederholt in allen Räumen, stieg von Stockwerk zu Stockwerk und nahm zärtlichen Abschied von seiner lieben Bude, den Bücherschränken und den Bildern.

Als er dann in Jeannes Räume kam, legte er den Brief und das Sparkassenbuch in die Schreibmappe ihres kleinen lackierten Tischchens. Er strich mit der Hand über die Möbel und über das Bett und über die Wände und bat, sie mögen ihm das Schwesterlein wohl bewahren, daß sie glücklich drinnen werde. Dann sank er unter der Wehmut dieses Abschiednehmens zusammen, und ein Weinen brach aus ihm, das warm und wohltätig quoll, wie ein Mairegen. Aber er riß bald den Kopf hoch und verließ mit einer melancholischen Energie diese Räume, ging noch im Garten zwischen den hohen reich bescherten Rosenstöcken auf und ab und wurde dann zum Essen gerufen. Damit eilte er, appetitlos und unruhig. Er trank viel Wein. Später trat er noch einmal ins Musikzimmer. Aber er mochte nicht auf seiner Geige spielen, schlug nur ein paar Läufe und Ansätze von Melodien über die Tasten des Flügels. Alles zitterte leis und klingend ruhelos in ihm, wie ein leicht aufgestellter Metallgegenstand, der auf einem Klavier durch die Tonschwingungen ins Vibrieren gebracht wird. Es war ihm, als sei er in Feuersgefahr. Er grub das Gesicht in die kühlen weichen Kissen der Chaiselongue in der dunklen Ecke, sprang dann auf und schrieb seinem Vater einen kurzen Brief zum Abschied, in dem er ihn um Verzeihung für alles Leid bat, das der Vater durch ihn erlitten.

Sein Zug fuhr um halb vier.

Um halb drei ging er wieder ins Musikzimmer, nahm seinen Geigenkasten unter den Arm und verließ das Haus. Es war alles so feierlich und so schwer in ihm. Schwer, wie ein Apfel, der in herbstlicher Reise kaum noch am Zweig hält, und jeden Augenblick ins Gras niederklopfen will.

Baptist schritt über die neue Brücke. Die hohen Mauern der alten Bastionen schossen grau, verwittert und kahl aus der grünen Tiefe des Petrustales herauf. Die Stadt lag schmal, wetterhart und nüchtern bis an ihre Kanten heran. Ein Stück weiter lief mit großen, plumpen Sätzen die alte ‚Passerelle‘ mit zahllosen engen Bögen übers Tal bis zum Bahnhofsviertel hinüber.

Baptist zog traurig wie ein beregneter Hund dahin. Diese alte Landschaft hielt eine kleine Zwiesprache mit dem undankbaren Wanderlustigen – und er konnte nicht antworten. Denn gegen diese Argumentation halb verwichener Erinnerungen, die sich in der Zeit die weichen Leiber von Müttern angepflegt haben, war natürlich nicht aufzukommen. Er ging, seinen kleinen leichten Geigenkasten unterm Arm, über das noch unbebaute Glacis wie zwischen Spießruten hindurch zum Bahnhof und weiß der Henker, als er vom Glacis in die Bahnhofstraße einbog, da machte sich auch noch dieses widerwärtige, proletisch rechnerische Produkt des modernen Luxemburgs an ihn heran, das er sein Lebtag gehaßt hatte, weil es wie ein Firmenschild all der Menschen aussah, zwischen denen er zu leben gezwungen war.

Aber da hatte er genug. Mit Galgenhumor schnitt er der Bahnhofstraße eine Fratze, streckte ihr die Zunge heraus und hastete über das Trottoir zum Bahnhof hinunter. Er wartete fast noch eine Stunde, in der die gedämpfte Gewalt seines Innern widerstandslos ausbrach und wie eine Feuersbrunst rasend um ihn herumsprang.

Dann flog der D-Zug in den Bahnhof, wie mit einem donnernden Ruf von Triumph und Unternehmungskraft. Er trug Baptist davon und hüllte alle die Zukunftsfreuden der jugendlichen fliehenden Seele in das brüllend aufgewirbelte, schlagende Rasen seiner Flucht über die gedehnte Hochebene der Ardennen, wie in den Sturz eines Wasserfalls.

Fünftes Kapitel

Baptist stieg mit seinem leichten Geigenkasten in der Hand aus dem Zug und ließ die Menge der Reisenden langsam um sich vorwärts fluten. Er schaute angestrengt aus und sah auch bald den dicken Italiener wie einen Wellenbrecher mitten auf dem Bahnsteig den Strom der hinausdrängenden Reisenden auseinanderkeilen. Baptist hastete zwischen den Menschen durch zu ihm und drückte ihm kräftig die Hand.

„Nun, gut gegangen?“ fragte der Italiener.

„Wie Sie sehen!“ antwortete Baptist.

Sie ließen sich dann gemächlich hinausschieben. Vor dem großen Tor auf dem Platz Charles Rogier standen Margherita und ihr Bräutigam Paolo. Das kleine schwarze Weibchen hatte sich mit einem großen Tuch vor der herbstlichen Abendkühle geschützt. Sie war ganz hineingehutzelt, daß nur das Äffchengesicht dunkel herauskam, und es war rührend für Baptist, die beiden fremdländischen jungen Menschen so einsam an dem Platz am Tor der großen abendlich entzündeten Stadt auf ihn warten zu sehen. Sie stürzten ihm voll Freude entgegen und es war ihm, als wollte sich die kleine biegsame Hand des Mädchens an seine Finger festkrallen, als sie sich zum Gruß die Hände drückten.

„Wir nehmen einen Wagen zu eurem Hotel!“ sagte Baptist und er ließ eine Droschke vorfahren. Das Hotel zum Prinzen von Flandern lag in einer Sackgasse hinter der Grand’place. Es war eines der alten netten Brüsseler Hotels, etwas dunkel, aber reinlich und einfach bürgerlich. Baptist war froh überrascht, daß die Italiener so ordentlich wohnten.

Die Wirtin führte ihn selber in ein Zimmer, das im zweiten Stockwerk über der Gasse lag und mit alten Möbeln und mit großgeblümten Vorhängen an Fenster und Bett wohnlich genug aussah. Er fand seinen großen Korb schon bereitstehn, Bett und Zimmer in wartender Ordnung, und es war ihm warm, wohl und frei. Als er dann später in das kleine Eßzimmer hinunterstieg, saß Margherita allein drin und nähte an einer farbigen Schürze.

Baptist setzte sich auf die andere Seite des Tisches.

Das Mädchen sagte, ohne von der Arbeit aufzublicken:

„Rosa nicht Station. Solamente ich! Ist Zimmer schön?“

„Sehr schön!“ antwortete Baptist und war etwas verwirrt.

„Ich gesucht Zimmer!“

Sie schaute auf und winkte ihm ernsthaft zu. Und er errötete und war gerührt und hätte das kleine schwarze Tierchen gerne geherzt und geküßt.

Dann sagte sie nichts mehr. Baptist schaute der Flinkheit ihrer kleinen Finger zu. Ach, es ist schön so! Es ist schön so! bestätigte er sich unaufhörlich. Schließlich kam Rosa. Sie blieb vor ihm stehen und hielt ihm unbeholfen die Hand hin, die er drückte, ohne daß sie den Druck wiedergegeben hätte. Sie lächelte schwerfällig und murmelte ein paar italienische Wörter. Darauf ging sie sich neben Margherita setzen.

Baptist war enttäuscht. Er hatte sich dieses Wiedersehen anders gedacht.

Einer kam nun nach dem andern. Er drückte allen herzlich die Hand, und sie setzten sich an ihre Plätze um den Tisch und lachten ihm zu. Dann brachte ein Kellner das Abendessen.

Das Leben in dem kleinen Hotel nahm etwas zurückgezogen Einförmiges an. Die drei Frauen bewohnten ein Zimmer, ebenso die Männer. Nur der Dicke und Baptist hatten jeder ein Zimmer für sich. Das machte, daß sich die Gesellschaft in kleine Kreise teilte.

„Wie ist’s?“ fragte beim Mittagessen am dritten Tag der Dicke. „Wollen wir mal zusammen üben, Herr Battisto?“

Nach dem Essen gingen sie darauf alle in das Zimmer der Frauen, das geräumig und hoch war und abwärts lag. Paolo schleppte einen Stoß Noten heran und Baptist holte seine Geige. Während er die Noten durchblätterte, zupfte der Dicke an den Saiten, beklopfte den Rücken und schnitt dann eine Grimasse anerkennender Bewunderung, indem er mehrmals den Mund zusammenzog, die Unterlippe weit herausdrückte und mit seinem dicken Kopf dazu nickte.

„Prachtvolle Violino. Ein großer Suono!“

„Sie ist aus Ihrer Heimat!“ sagte Baptist.

„Oh nein!“ entgegnete jedoch der Italiener, „in Neapel macht man keine so guten Instrumente.“

Er hob sie unters Kinn und strich ein paar Läufe. „Cremona, Cremona!“ sagte er und machte wieder seine anerkennende Fratze.

„Ja, Cremona!“ bestätigte Baptist.

Dann reichte der Dicke die Geige herum und alle zupften an den Saiten und winkten wichtig und ernst, daß sie auch mit ihr einverstanden seien. Baptist geigte alle die Lieder, die der Dicke ihm vorlegte, ohne Schwierigkeit vom Blatt. Die meisten kannte er und vermochte sie herunterzuspielen, ohne die Noten anzusehn.

„Das geht besser, als wie wir alle zusammen!“ sagte der Dicke beifällig. „Aber nun auch noch Zusammenspiel! Avanti!“ Und er klatschte, zu den andern gewandt, in die Hände.

An jedem Abend wurden nun einige Stunden geprobt. Baptist machte nach und nach gegen einige der Lieder Einwände und sagte, die seien doch zu dumm. Aber der Dicke setzte ihm einen querköpfigen und lebhaften Widerstand entgegen.

„Sie kennen das Publikum nicht!“ rief er. „So, dies Lied da, dies: tra la ti ta ta ... in den Bäumen geht der Wind ... hoho, das gefällt, das müssen wir immer da capo spielen. È vero?“ wandte er sich an die andern, die ja nickten.

Ein besonderes und unerwartetes Ergebnis aber hatten diese Proben: Baptist lernte in dem lebhaften Verkehr, in dem sie ihn mit den Italienern hielten, ihre Sprache wie von selbst. Er badete sich scheinbar in ihr, verlor jede Scham, die fremden Wörter heraus zu wagen. Die Sprache flog ihn an.

Die ersten Tage leitete der Dicke regelmäßig genau und kritisch die Proben. Aber dann blieb er weg und verließ das Hotel immer gleich nach dem Essen. „Probt gut!“ sagte er zum Abschied. Einmal wandte er sich an Baptist, bevor er wegging.

„Wir müssen ein Engagement bekommen. Es steht schlecht. Müssen das Hotel jede drei Tage bezahlen und verdienen nix! Ich lauf immer herum und find nix!“

Wenn er wieder einen halben Tag vergebens verfahren hatte, saß er am Abend mit seinem schwarzen, faltigen Gesicht griesgrämig zwischen den andern. Er trank viel und behandelte seine Leute wie mit einer nur mühsam unterdrückten Roheit. Baptist hatte dann das Empfinden, als bereite sich eine peinliche Verwickelung vor.

In diesen Tagen kam der Dicke einmal unvermutet zu Baptist aufs Zimmer: „Kein Geld mehr! Alle, alle!“ rief er ihm zu. „Die drunten will Bezahlung, aber ich kann doch nicht, ich verdien doch nix!“

„Nu, nu, Häuptling, das wird ja auch mal wieder anders werden!“ tröstete ihn Baptist und reichte eine Hundertfrankennote hin.

Da war der Dicke sehr dankbar und sagte: „Oh, aber wenn wir jetzt mit Ihnen spielen, dann werden Sie sehn, ganz Brüssel kommt. Wie Sie spielen und mit Ihrer Violino und mit Ihrer Figur!“

Er ging wieder. Baptist nahm die Angelegenheit mit Humor und ergötzte sich an diesem ersten Widerstand, der, wenn auch nur, ohne ihn selber anzufassen, genaht war, und den er dann mit der kleinen Geste seiner Gabe so leicht hatte brechen können.

Sonst hütete er sein Geld mit einer rechnerischen Sparsamkeit und es machte ihm viel Freude, sein kleines Vermögen so sicher verwalten und sein Leben so straff in den Zügeln halten zu können, daß seine Ausgaben fast immer auf einen Centime nahe den Voranschlag deckten. Er führte gewissenhaft Buch in einem kleinen Heftchen und lebte so mit einer fast mechanisch funktionierenden Regelmäßigkeit.

Sein Leben schloß sich äußerlich eng an das der Italiener. Aber innerlich hielt er sich ihnen doch wie mit einer mild abweisenden Handgeberde, mit einer nicht merkbaren Überhebung fern. Trotz dieser kleinen Schranke, die kaum sichtbar, aber für Baptist doch von unentbehrlicher Wichtigkeit war, besprach er ernsthaft mit ihnen die Möglichkeiten, bald in Brüssel spielen zu können, und beteiligte sich mit ganzem Herzen an den naiven und manchmal unzarten Späßen, die sie trieben. Da diese sich besonders gegen die Frauen richteten, so kam er oft näher an Rosa heran. Er gewöhnte sich an ihre gutmütige Schwerfälligkeit und vermochte sie öfters mit warmer Zärtlichkeit zu umwerben, die sich unmerkbar rasch stets zu Anfällen heimlicher Sinnlichkeit erhitzten.

An einem Sonntag im Oktober war der Dicke nicht am Mittagstisch. Aber er kam plötzlich als sie probten ins Zimmer. „Haben wir, Kinderchen!“ rief er noch in der Türe. Er hatte ein rotes Gesicht, war vergnügt und drollig wie ein verliebter Frosch und küßte die Mutter der Margherita feierlich zweimal auf jede Wange.

Er erzählte dann, daß sie am Donnerstag anfangen könnten in einem Gartenrestaurant beim Bois de la Cambre. Ein großes Etablissement!

„Jetzt im Freien!“ rief Margherita entsetzt dazwischen und schüttelte sich.

„Aber Liebchen es ist ja noch im Sommer. Und bei schlechtem Wetter natürlich im großen Saal!“

... Oh, der Saal war schön, mit weißen Säulen, einem blauen Himmel mit goldenen Sternen und einem Lilipütchen von Springbrunnen, das ganz süß und s...s...s... zu der Musik plätscherte.

Der Dicke küßte zärtlich in die Luft hinein und alle lachten wie erleichtert. Die Nachricht war gekommen, wie eine Musikkapelle plötzlich am Ende einer Straße erscheint und mit fliegendem Marsch sich nähert. Es tanzte allen in den Beinen. Baptist lief hinunter und bestellte drei Flaschen Bordeaux. Sie sangen und scherzten, während sie die Flaschen tranken, und ließen später noch zwei Flaschen heraufbringen.

Als Baptist nachher auf sein Zimmer kam und unter die üblichen Tagesausgaben für fünf Flaschen Wein fünfzehn Franken eintragen mußte, die die Wagschalen seines knapp gehaltenen Budgets schwer aus dem Gleichgewicht brachten, da spürte er eine peinliche Reue. Er fing an, mit kleinen Bruchteilchen von Franken und mit einer insektenhaften Geduld einem Ausweg nachzurechnen. Erst als er klar vor sich aufgebaut hatte, daß die fünfzehn Franken durch bestimmte kleine Sparsamkeitsmittel in einem Monat wieder ausgeglichen seien, war er zufriedengestellt.

Während der Tage bis zum Donnerstag erfüllte ihn dann eine fiebrige Ungeduld. Seine Stimmungen wechselten zwischen der Angst, daß der Vertrag schließlich doch noch zurückgenommen werden könnte, der leise stechenden Scham, sich nun öffentlich mit der Geige herauszustellen und der tiefen Lust, ein tätiges Leben aufzunehmen.

Es wurde unter der Leitung des Dicken wieder ernst und peinlich genau geprobt. Die Frauen nähten Baptist weiß und blau gestreifte, locker flatternde Hosen und rote weite Blusen mit umgeschlagenen Kragen. Das war die Uniform der Kapelle. Für Sonntags war die Bluse aus roter Seide. Er bekam zwei solcher Garnituren, zu denen die Frauen den Stoff aus ihren Körben zusammengesucht hatten. Als er eines Tages in sein Zimmer kam, lagen die beiden Anzüge sorgfältig über sein Bett gebreitet. Er probierte sie einen nach dem andern an und lachte sich im Spiegel aus. Aber er fand, daß das Feuer der roten Bluse sich sehr gut zu seinem weißen Gesicht und den hohen schwarzen Haaren gesellte. Da ging er an die Tür des Zimmers der Frauen pochen.

„Bin ich schön so?“ fragte er ins Zimmer hinein. Aber er blieb an der offenen Türe stehen.

„Oh, oh!“ rief Margherita und schlug ihre kleinen Hände zusammen, „sehr, sehr fein! oh, komm doch herein, Baptisto.“

„Nein, nein!“ antwortete Baptist lachend. „Es ist die Sonntagsuniform, ich muß sie gleich wieder ausziehen!“

Er lief über den Flur nach vorne zurück und traf den Dicken in seinem Zimmer.

„Ah, bravo!“ sagte dieser zerstreut, „sehr gut, sehr gut!“ aber er fügte mit einer geschäftlichen Miene hinzu: „Hier, Herr Baptisto. Unter Ehrenmännern ist es so Sitte, und ich hoffe, den Zettel bald wieder zurücknehmen zu können!“

Er reichte ihm ein Papier. Darauf stand auf Deutsch:

„Unterzeichneter bescheinigt, Herrn Battisto 100 Lire schuldig zu sein, wovon für Kostüme aus Tuch und Seide abzuziehen sind 25 Franken. Rest 75 Lire.

Emilio Leprotto, italienischer Kapellmeister.“

„Wär’ aber nicht nötig gewesen“, meinte Baptist und faltete das Papier zusammen.

„Bahbah! unter Ehrenmännern ...“ entgegnete der Italiener, indem er mit der Hand eine weitläufige Geste in der Luft zeichnete.

 

Und nun ging Baptist an dem großen Tag inmitten der andern Musikanten durch den menschengefüllten Saal des Restaurants aux vieux chênes. Es hatte auf einmal angefangen zu regnen und die Spaziergänger, die den Herbsttag im Bois genutzt hatten, füllten die Restaurants, die am Eingang zum Park Spalier standen. Grade die Vieux chenes, die durch große Plakate italienisches Konzert anzeigten, waren im Augenblick vollgeschwemmt. Es war fünf Uhr und unter dem grauen Himmel in dem Saal schon dunkel. Die Kronleuchter funkelten auf. Hereindrängende Menschen, Stuhlrücken, rufende Stimmen, eilende Kellner, Gläsergeklirr mischten sich zu einem wüsten Lärm durcheinander, der, als die buntgekleidete Gruppe der Italiener in der Türe neben dem Büfett erschien, ein paar Augenblicke lang wie in einem gewaltigen Trichter zu einem hoch gespannten Aüh! zusammenklang.

Baptist ging in der Maskerade seiner gestreiften Hose und seiner feurigen Bluse wie zwischen einer funkelnd nebeligen Mauer durch die Menschen hindurch. Er stieg mit den andern auf die kleine Bühne und sah nichts, war auf einmal droben und wußte nicht, wie er hinaufgekommen. Er war nicht so kühn, in die leise schaukelnde Masse zu seinen Füßen zu schauen. Sie schien nur wie ein tonloses, erhitztes Brüllen schwindelhaft tief unter ihm zu wogen. Es war ihm, als würde sie ihm die Augen verbrennen, wenn er hineinblickte. Ein heißer, funkenstiebender Regen ging dicht um ihn nieder. Er wurde von den andern vorgeschoben, er setzte den Bogen an und verstand nicht, was er tat. Er spielte, wie ein Automat, dessen Mechanismus man gerade gelöst hat, und die Töne hatten etwas Belegtes, wie eine Stimme, die im Schnupfen heiser ist.

Auf einmal sah er in der tiefen verworrenen Flut unter sich etwas Bekanntes und wußte nach einer Minute dumpfen Erstauntseins, daß das Bekannte, das er an einem der ersten Tische sah, der dicke Italiener, der Häuptling war. Und da stand der Herr Leprotto wie mit einem Schlag als eine wichtige kleine Insel drunten in dem Meer; als eine aufgeplusterte, winzige, komische Insel. Rasch hob sich das unruhige Erbrausen bis an die Ufer der Insel und brach sich langsam an ihnen. Um den Italiener bildeten sich für Baptist klare Kreise, die sich überblicken ließen. Auch weiterhin ordneten sich seinen mutiger werdenden Augen nun rasch die Erscheinungen. Er sah, daß eine blaue, mit goldenen Sternen gepunktete Decke sich von Säulen getragen über dem Raume schloß; er hörte sogar irgendwo ganz spitz das s...s...s... der kleinen Fontäne immer hinterlistig zwischen die Töne zischen, und sah sie auf einmal in einem Spiegel zwischen zwei Säulen. Und sah Menschen sich um Tische scharen und unter einem ineinander verzogenen Rauschen, wie unter einem Netz von gedämpftem Lärme liegen.

Nun sprangen ihm die Noten klar und sicher in die Finger. Er stieg aus dem Zusammenspiel heraus und sah, wie die Menschen unter dem wogenden Netz anfingen, die Köpfe zu wenden und aufzuhorchen. Da kam er sich unendlich wichtig vor und er ließ das Intermezzo der Cavalleria aus seiner Geige fließen, wie einer, der hingestellt ist, die Gemüter der Menschen beglückend zu erheben.

Er hatte in dem gefühlvollen Verfließenlassen des letzten Tones den Bogen noch nicht abgehoben, als sich der ganze Saal wie mit drohendem Radau unter seinem Netz herauszuheben schien. Baptist schrak zusammen und er faßte krampfhaft Margheritas Hand, die mit einer Mandoline neben ihm stand.

„Es war schön!“ flüsterte sie ihm trocken heiß zu und drückte seine Finger mit ihrer kleinen Hand. Er glaubte, er habe etwas angerichtet und sie wolle ihn trösten. Die Italiener stießen ihn. „Geh vor, geh vor!“ riefen sie ihn erregt an. Er wehrte sich gegen sie. Er war wie von scharfem Duft betäubt. Da griff Paolo ihn von hinten unversehens unter die Arme, hob ihn vom Stuhl und schob ihn vorwärts.

Nun erst verstand Baptist, daß er sich verneigend für den Beifall danken mußte. Er tat es und lächelte ganz verwirrt und mit lichtverblendeten Augen. Die Zuschauer, die diesen Auftritt sahen und alles für Bescheidenheit hielten, lachten drunten und klatschten wie verrückt weiter, trampelten und riefen. Der Dicke saß mit einem ruhig lächelnden Grinsen zwischen ihnen und machte nur immer eine kleine Bewegung mit seiner fetten Hand, die hinauftelegraphieren sollte: ‚alle auf, spielt noch einmal‘.

„Wir müssen es noch einmal spielen!“ sagte Paolo zu Baptist.

 

Baptist war naiv frisch und robust gegen diese verführerischen ersten Erlebnisse. Er nahm sie als etwas, das selbstverständlich ist, aber nicht die geringste Bedeutung hat. Die Leute, die da unten saßen, waren ihm nur eine gleichgültige Masse. Sie schwabbelte ein wenig in seinen Vorstellungen. Er spielte vor ihr aus Lust am Spielen, aus inniger, kräftiger Arbeitsfreude. Er hätte vielleicht ebenso gern in einem Bureau geschrieben oder bei einem Zimmermann gehobelt. Und das war der Unterschied zwischen früher und jetzt: Tätigkeit! Tätigkeit mit einem nahen robusten Ziel. Wie lebendiger Saft auf der Schnittfläche eines Baumes aufquillt, so sah Baptist sein Schaffen frisch und hell aus sich steigen. Darüber empfand er einen naiven warmen Stolz.

Einmal sah er, während er spielte, zwei Bekannte aus Luxemburg im Garten sitzen. Er hatte dort wohl nicht mit ihnen verkehrt, weil sie älter waren wie er. Aber der Bruder des einen war sein Schulkamerad gewesen und sie kannten sich gut. Baptist genierte sich ein wenig vor ihnen wegen seines bunten Kittels. Aber im Grunde freute er sich, daß etwas von früher her Bekanntes an seinen neuen Weg kam. In den Pausen lugte er öfter halb befangen und halb neugierig hin. Aber sie saßen zu weit weg, als daß er irgendeine Antwort auf seine Blicke hätte erkennen können. Als dann die Musikanten zum Abendessen gerufen wurden und an dem Tisch, an dem die Luxemburger saßen, vorbeigehn mußten, um ins Haus zu kommen, war Baptist freudig gespannt, ob sie ihn anhalten und begrüßen und was sie sagen würden. Er hielt sie mit dem Blick fest, während er zwischen den Tischen hindurch auf sie zuging, zögerte ein wenig mit den Schritten, als er an ihrem Tisch angekommen war ... Aber sie redeten heftig abgewandt auf einander ein, drehten ihm schroff den Rücken, als wiesen sie ihn damit grob und energisch ab.

Da schoß Baptist die Schamröte ins Gesicht. „Ihr Rindviechers, ihr Lakels, ihr krummen Hunde!“ schimpfte er vor sich hin, als er davonging. „Ihr ...“ und schließlich fand er in der Erregung nichts mehr, was erbitterter, verächtlicher und beleidigender gewesen wäre – und er sagte: „Ihr Luxemburger!“

Als er dann wieder später zurückkam, wollte er mit einem verächtlichen Lächeln an ihnen vorbeigehen. Aber ihr Tisch war leer.

Mit einer kindischen Verletztheit trug er das kleine bürgerliche Erlebnis in den Abend hinein und stach sich dran. Sein Ehrgeiz war verwundet worden und es wuchs kein Kraut, das zu heilen.

Da spielte er in verweichlichtem Trotz um die Gunst der Masse, die da unten dumpf ein wenig schwabbelte. Er hielt die sentimentalen Töne mit einem langen Tremolieren wie an einer zitternden Schnur an einer Stange über die Tische. Und die Herzen griffen danach. Es war Großstadtabend, und um die weißen Monde der Bogenlampen zwischen den Bäumen tanzten die letzten Sommertiere. Aus dem Bois schlugen die scharfen Düfte der ersten Zersetzung, nach abgeschälten Rinden riechend, bitter und verwirrend in den Konzertgarten. Draußen fuhren erleuchtete Elektrische vorbei zur Stadt zurück. Das Jahr, der Bois und der Tag starben.

Das fühlten die Bürger und mehr noch ihre Frauen und ihre Töchter und sie hatten eine Ahnung, eine dumpfe, ferne traurige Ahnung von den Zusammenhängen, von der unerbittlichen Sinnbildlichkeit dieser dunklen, heftigen, erregenden Stunde in dem kühl werdenden Konzertgarten und fühlten ihre Vorstellungen von den schwermütigen, gefühlvollen Geigentönen melancholisch bestätigt und bequem ausgedrückt. Und lag nicht auch Liebe in den Liedern? Die Liebe, in der man sich zusammenschließt, um jene Traurigkeiten gemeinsam zu tragen.

Und sie klatschten, weil sie gerührt und erregt und weil sie dankbar waren, und wußten wohl, daß unter den Musikanten da oben es nur der schöne stattliche Junge sein konnte, der die erste Geige führte und sich dabei in den Hüften bog und mit dem Körper im Rhythmus schaukelte wie ein rassiger, koketter Hengst im Zirkus.

Acht Tage nach der schmerzlichen Begegnung mit den Luxemburgern setzte ein Vorstoß des Winters ein und man fuhr nicht mehr hinaus zum Bois. Die Vieux Chenes wurden geschlossen. Aber ihr Besitzer leitete das Café de l’Univers in einer Seitenstraße der Boulevards im Norden und verpflichtete Leprotto und seine Gesellschaft auf eine weitere Zeit für dieses große Cafélokal. Dort spielten sie nun jeden Tag von sechs Uhr bis Mitternacht. Vor sich sahen sie fast immer dieselben Gesichter, die nur mit den Stunden wechselten. Zwischen dem Podium und den Gästen entstand ein familiärer Verkehr. Man bewunderte Baptists Spiel und mancher sagte ihm, ihn wichtig beiseite nehmend, er könne ganz wo anders sein.

Frauen machten sich an ihn heran. Ein Herr kam oft hin, setzte sich stets in die Nähe des Orchesters und war außerordentlich liebenswürdig zu Baptist. Er tat, als schätze er ihn sehr, und Baptist unterhielt sich gerne mit dem Unbekannten und war froh über seine Teilnahme. Eines Abends trat der Herr auf ihn zu und bat mit einem großen Aufwand von Höflichkeitsworten, ob er nicht einmal seine Geige besehen könnte. Baptist reichte sie ihm hin. Der Herr klopfte und schaute, zupfte an den Saiten und schaute wieder und gab Baptist das Instrument schließlich zurück.

„Sehr gut!“ sagte der Herr.

„O ja, es ist eine gute Geige!“ meinte Baptist wohlgelaunt.

„M ... ja ... ich sammle Instrumente aus dieser Zeit. Nur Historisches. Sie ist Ende sechzehnhundert, Oberitalien ... Würden Sie mir sie für zweihundert Franken überlassen?“

Der Herr griff in die Brusttasche.

„Ich pflege keine Geigen für zweihundert Franken zu verkaufen, von denen ich weiß, daß sie zweitausend wert sind!“ antwortete Baptist lachend.

„So, Sie wissen?“ Der Herr machte ein überrumpeltes Gesicht.

„Allerdings!“ sagte Baptist.

Darauf grüßte ihn der Herr nicht mehr.

Dieses Erlebnis erzählte Baptist Margherita, als sie nachts zusammen nach Haus gingen. Er fügte hinzu: „Wissen Sie, liebe Margherita, es ist nun wahr, daß diese Geige jetzt für mich so etwas besitzt, wie es eine Frau hat, die lieb, zärtlich und treu ist. Sie wissen doch, mit der Rosa ist es nichts! Sie ist so steif und so hölzern. Hat sie eigentlich einen Leib? ... und nun bin ich wohl ein wenig allein und hab die Geige aber immer Tag und Nacht als Gesellschafterin.“

Da sagte Margherita leidenschaftlich: „Gehn Sie von uns weg. Sie müssen mehr werden!“

„Ach Gott, Margherita, das werde ich auch!“ antwortete Baptist. „Aber hat’s dazu nicht Zeit?“

„Nein! Unser Holz ist morsch und faul und steckt rundum an!“

Aber Baptist ließ sich nicht weiter von diesem Gespräch rühren. Er war jetzt immer sehr müde, wenn er nach Hause kam, und führte selbst sein Ausgabenbuch nicht mehr so freudig wie anfangs. Er fühlte sich biegsam werden. Er versuchte jetzt im Café de l’Univers oft, worauf er an dem Abend verfallen war, da er die Luxemburger in den Vieux Chenes gesehen hatte: die Zuhörer an sich heranzuziehen, und empfand in diesem enger zusammengedrängten Kreis die Wirkung unmittelbarer. Er sah Frauenaugen begehrlich und erregt leuchtend an ihm hängenbleiben, wenn er die langen Töne mit süßlicher Eindringlichkeit aus dem Zusammenspiel herauszittern ließ, und er fühlte sich übergossen von einem heißen, rieselnden Reiz.

Diese Musik noch nervöser zu spielen, als sie schon von Haus aus war, das war das Rezept, das Baptist dann seinen Zuhörern aufmischte.

Damit konnte er diese zur Nacht erblühten Blumen des Asphalts, diese im feuchtwarmen Duft des Verkommens fiebernden Frauen, all die aufgelösten, gierigen Menschlein in erhitzendem Auferwecken an ihren Tischen erregt tänzeln machen.

Es war eine Morphiumkur. Aber ihre Dünste schlugen ihm selber in die Adern. Er wurde nun umworben, er der schöne Primgeiger! Er, der den Zauber der Klänge aus der Geige heben konnte. Die andern fingerten ja nur! Er, der interessante Flüchtling! Leprotto ging drunten herum und biederte sich mit den Gästen an, um ihnen die ausgeschmückte, romantisch verdunkelte Geschichte des Geigers zu erzählen. Die öffentliche Anteilnahme richtete die blendend erhellende Scheibe ihres Reflektors auf ihn, und er schwänzelte in diesem Beleuchtungsfeld, wie eine kokette Frau, die Männerblicke auf sich fühlt.

Er warb, obschon er genug hatte. Er warb weiter, weil seine Nerven eine austrocknende Hitze bekamen und er sie nur aus dem Saale heraus auffrischen konnte. Nun machte er auch keine Opposition mehr gegen die sinnlosen Modestücke und spielte sie mit denselben kokettierenden Anstrengungen wie die andern. Zugleich aber stumpfte sich sein zugespitztes Feingefühl ab. Seine Musik war eine Funktion, die jeden Tag um dieselbe Zeit begann, pauste, endigte. Die jeden Tag dieselben Höhepunkte, dieselben Anstrengungen und Gleichgültigkeiten hatte. Er verlor das Gefühl für Nüancierungen. Seine Empfindsamkeit war zum Handwerk geworden und setzte Huf an.

Als diese innere Empfänglichkeit nicht mehr so sicher auf jeden Kontakt reagierte, verlor er seine besten Waffen. Das Leben floß frei auf ihn herein. Das hatte er ja immer gewünscht – das ungebändigte, riechende, rundum raffende Leben. Aber so wie es die italienischen Musikanten und die Gesellschaft des Nachtcafés ihm mischten, vermochte er es nicht zu ertragen. Er war so blutjung und so leichtgläubig. Seine innere Spannung ermüdete bald an diesem unklug und maßlos hochgespannten Leben und wurde schlapp. Er sank wie an einer Stange herunter und merkte es nicht, weil er noch immer die Bewegung des Hinaufkletterns machte.

Nun begann er auch, sein mit Energie geführtes Ausgabenbuch zu vernachlässigen, und einmal, als er gar nicht mehr herauskam, weil er schon eine Woche lang nichts eingetragen hatte, nahm er es und warf es in den Ofen.

Er lud die Italiener oft zum Trinken ein. Sie lagen dann in dem Zimmer der Männer, spaßten und zechten und erzählten sich aus ihrem Leben. Wenn sie betrunken waren, küßten sie sich. Sie faulenzten und luderten zusammen und duzten sich. Die innere Schranke war gefallen. Auf sein Geld gab Baptist gar nicht mehr acht. Er verschwendete, unfähig, sich eine Ausgabe zu versagen, die ihn lockte.

Einmal klopfte es an seiner Türe und als er Herein rief, kam Margherita.

„Margherita!“ rief er plötzlich aufgeregt der Unerwarteten zu.

Sie kam ruhig und ernst näher, lehnte sich vor ihm gegen den Tisch und sagte mit einem herzlichen Ton: „Erinnern Sie sich Baptist, daß ich Ihnen einmal nachts gesagt hab’, Sie seien besser wie wir und sollen von uns weggehn?“

„Ja, und? ... Margherita? ... Sie wollen mich los sein?“

„Nein! Aber es ist Ihretwegen. Ich sag’s noch einmal, es ist die höchste Zeit.“

„Weshalb?“

„Sie sollen nicht mit unsern Männern trinken!“

„Ja, aber ...?“

„Und nicht Ihr Geld verschwenden und nicht so spielen, wie Sie setzt immer die Lieder spielen im Café, so gemein!“

Da sagte Baptist ihr entflammt: „Margherita, liebst du mich!“

Er hob seine Hände, um das Mädchen an den Schultern an sich heranzuziehen.

„Nein!“ rief sie, entwand sich ihm und ging aus dem Zimmer. Seine Arme sanken leer und enttäuscht nieder, und er stand da, aufgehalten in seiner entflammten Gebärde, betrogen und zornig, trotzig und aufgewühlt.

„Dann geh!“ sagte er ihr grob nach.

Er zog seinen Mantel an und stieg auf die Straße hinunter. Er ging die Boulevards in der innern Stadt erregt entlang und schaute den Frauen zu. Sie waren häßlich oder schön, gut oder schlecht gekleidet. Aber alle waren Frauen. Er schaute ihnen mit einem verächtlichen Begehren nach.

Schließlich machte er eine hastige Bewegung der Ungeduld, trat auf der Place de Broukere auf eine Droschke zu und sagte heftig: „In ein Bordell, Kutscher!“

„Gerne, mein Herr!“ erwiderte der Kutscher mit höflicher Gleichgültigkeit.

So erlebte Baptist in der engen heimlichen Hügelstraße diese erste große Feierlichkeit seines Lebens. Durch die kleinen quadratischen Fenster sah er die Häusermassen zurückgehalten den Stadthügel herunterdrängen. Das stumpfe, gewaltige Turmpaar der gotischen Hl. Gudule-Kirche hob sich mit schwerfälliger Sehnsüchtigkeit mitten aus der Sturzflut der Dächer in den grauen Tag.

Und in der herbstlichen regnerischen Nachmittagsstunde erfüllte sich das nächtig und dunkel erwartete Märchen, das seine Jugend abschloß. Er erlebte es als eine enttäuschende, schmerzhafte Winzigkeit. Noch lange blieb es, wie ein trüber Satz in einem Glase, auf dem Grund seines Innern liegen.

Sechstes Kapitel

Baptist trug den heimlichen Besuch in der verfemten Gasse noch eine Weile quälend mit sich dahin. Er lag in ihm wie ein unlösbarer Rest einer bittern Tatsache und erschien ihm als die Frucht eines unabweisbaren, tragischen Sündenzwanges, der alles Menschliche belastete. Daraus dämmerte ihm mit einem erlebten, tief fruchtbaren Erfassen die Symbolik hervor, in der die Bibel die Geschichte des Menschen beginnt. Auch er hatte nun die fluchwürdige Tat begangen, auch er stand hinter dem Sündenfall. Aber es war ihm nun erst, als hätte er das wirkliche Leben auf die Schultern genommen, das große, riechende, raffende Leben, das in ungemischter Kraft nur von den Starken getragen werden kann; das Leben, in dem keine Lust selbstverständlich, sondern die Blüte von Arbeit und Qualen ist; das Leben, das nächtig geheimen Wegs ist, voll angstdrückender Willkür wie ein Blitz.

Eine tragisch erfüllte Wichtigkeit begleitete so mit melancholischem Schatten die erste Zeit nach seinem Erlebnis und es erschien ihm von ernster Bedeutung, daß sich nun seinen Vorstellungen das Bild der Schwester öfters nahte, als jemals, seitdem er sie verlassen. Aber es war eine Schwester, deren stolzer Sinn von der Traurigkeit über seine Verfehlung bedrückt und beleidigt war. Sie stand wie der Erzengel Gabriel am Tor des Paradieses, vor den versunkenen Gefilden seiner knabenhaften Reinheit, und er war gewärtig der Sühne und Strafe.

Aber Baptist verlebte diese Zeit in Sprüngen und was ihn in den folgenden Wochen wie in einem einzigen, sturmrauschenden Zug mit sich riß, trieb ihn unversehens länderweit ab von der naiven Schmerzhaftigkeit der reuigen Stunden nach dem Sündenfall. Er fühlte sich auf einmal und ohne daß er zu Atem kam, in einen heißen, sumpfigen Schwall von Frauenerlebnissen gehüllt, deren dumpfe Süßigkeit, deren fiebrig anstachelnde Genußsucht ihn keinen Augenblick mehr freigaben. Er brauchte nur hineinzuspringen. Es war überall weich und ertrinkend wie in mächtigen Daunenpfühlen. Er fiel vom einen in den andern, und wenn er vom Podium aus die Blicke über die Gesichter der Frauen im Café spielen ließ, sah er fast auf jedem einen nickenden Blick eingestandener Heimlichkeit, wie eine aufreizende Erinnerung an dunkle, wollusterlebte Stunden, die mit stöhnendem Verlangen in ihm weiterschrien.

So nahm er diese Frauen. Es war nur Duft, unfaßbar, im Augenblick des Besitzens zu genießen, und nachher löste sich alles in die verantwortungslose, täuschende Leichtfertigkeit schwül süßer Erinnerungen. Und er ging unter diesen Frauen wie mit einem heißen, betrügerischen Schwindligsein an der Kante von Nächten, in denen große Bäume wie im Wunder plötzlich aufblühten, tolle, flammende Abenteuer ihn an sich rissen; und er glaubte, ihn hüllte eine ungemessene, unirdische Romantik ein.

Sein Leben spannte sich in der weichlichen Nachgiebigkeit dieser widerstandslosen Genüsse immer mehr ab. Es wurde etwas Molluskenhaftes aus ihm; er spürte keinen festen Boden mehr, sank mit schaukelndem Dahinleben durch die Tage.

Da kam der letzte Abend in Brüssel. Er war von Leprotto zu einer kleinen Schlußfeier ausgestattet worden. Am Podium hingen einige Lorbeerkränze ungenannter Herkunft mit golden bedruckten Schleifen. Girlanden schlangen sich um die Stühle und Notenpulte, und Baptist spielte mit einer feierlichen, parfümierten Sentimentalität.

Gegen den Schluß des Abends stand ein Solo für Baptist im Programm. Er spielte das Lied des Bajazzo: ‚Lache, Bajazzo, und schminke dein Antlitz ...‘ Er konnte spielen mit dem dramatisch melancholischen Gehalt dieser Melodie, zu der die Zuhörer auch den Text kannten. Er rückte selber an die Stelle des unglücklichen Gauklers, er war selber der Spieler gegen Lohn. Und die frisierte Melancholie, die er von zitternden Saiten in die Herzen hinunterfließen ließ, sprang auf ihn selber zurück, wie die Strahlen eines Reflektors.

Als er den Bogen hinter dem letzten Ton abhob, wurde mit lärmender Begeisterung geklatscht und Evviva gerufen. Frauen und Männer erhoben sich, drängten sich an das Podium heran, um Baptist die Hand zu drücken, und Päcke von Blumensträußen wurden von allen Seiten heraufgereicht.

Die Italiener schauten mit harmlosem Neid neugierig diesen Begebnissen zu. Rosa hatte dumme, bewundernde Augen. Nur Margherita blickte mit einem verächtlich verzogenen Gesichte weg.

Baptist nahm einige der Buketts, reichte der Mutter Margheritas einen, Rosa einen und wollte für Margherita einen besonders schönen aussuchen. Während er dies tat, sah er, daß in allen zwischen den Blumen kleine Visitenkärtchen befestigt waren. Auf einer las er in der Hast Mimi de belle Vallee, auf einer andern Carmen l’Espagnole ... Da fuhr er hastig nach den Kärtchen der beiden verschenkten Buketts, die die Frauen an ihre Gesichter hielten. Aber Margherita kam ihm zuvor. Sie riß mit ein paar Blumenköpfen die Karte aus dem Strauße Rosas und hielt sie Baptist trotzig hin.

„Hurenbuketts!“ sagte sie zugleich schroff.

Aber Paolo trat heftig von hinten an sie heran und stieß sie derb in die Seite. „Bist du verrückt! Mensch!“ schrie er sie unterdrückt an.

Sie machte nur eine verächtliche Handbewegung.

Baptist schaute verwirrt auf das rosige, schmale Kärtlein in seiner Hand. Er las ein paarmal Juliette ... Juliette ... Sonst stand nichts drauf. Aber die Buchstaben flogen an ihm ab.

Den Rest des Abends war er bedrückt und verworren. Er dachte mit einer betäubten Benommenheit an Jeanne, an sein Studierzimmer in Luxemburg mit den Bücherschränken, an den Park, aus dem der feuchte, wehmütige Abendduft im September ins Zimmer gestrichen war, an den Nebel, der aus dem Alzettetal heraufkam und durch den Park wanderte ... er dachte an Erlebnisse aus seiner Kinderzeit und dann gleich wieder an seinen Sündenfall, und eine ängstliche Qual schlich ihn heimlich an. Wäre er allein, allein! Er wollte so ganz gerne weinen! Wieder einmal!

Als er mit den Italienern nach Hause ging, hörte er hinter sich, wie Paolo heftig auf Margherita einsprach.

„Ich sag dir, jetzt gehst du zu Baptist hin und sagst ihm pardon!“

„Nein!“ schlug Margheritas Stimme zischend durch.

Gleich drauf schrie sie mit einem kleinen Schmerzensruf.

Da wandte sich Baptist um.

„Aber Paolo, was machst du denn?“

„Sie soll sich bei dir entschuldigen!“

„So laß sie doch!“

„Nein, sie soll!“

„Aber ich will nicht!“ sagte Baptist schreiend, um nicht weinen zu müssen. „Sie hatte recht. Komm, laß sie!“

Dann ging er abseits und aufgeregt weiter.

Als er in sein Zimmer trat, sah er erstaunt, daß Rosa und Margheritas Mutter ihm folgten. Sie hatten die Arme voll Blumensträuße, legten sie auf seinen Tisch und gingen dann mit denen, die Baptist ihnen geschenkt hatte, und mit einem Gute Nacht davon.

Baptist war nun allein. Die Blumen füllten im Nu das Zimmer mit ihrem bittersüßlichen Treibhausgeruch. Und alle die Abenteuer erstanden aus ihnen, die Baptist entflammt vom Wege genommen hatte, und er sah nun, was es war. „Ihr wart ja nur Dirnen! Ihr Frauen!“ sagte er leise und mild. „Nur kleine Prostituierte, von denen man auch hätte kaufen können, für abgewägtes Geld, was ihr gabt. Es lag kein Reif mehr auf euch!“

Oh, diese knirschend schmerzende Enttäuschung, dieses graue, fröstelnde Erwachen!

Baptist legte das Gesicht in den Blumenhaufen, und ein Schluchzen stieg in ihm auf, wie märzlicher Odem rauh aus den Schollen bricht.

Als er wieder ruhig geworden war, nahm er sanft die Blumen zwischen beide Arme und warf sie zum Fenster hinaus auf die Straße.

„Ihr müßt weg, ihr Blumen!“ sprach er ihnen nach.

Die Nachtfrische des Märztages fiel herein, strudelte wie kaltes Wasser um seine Glieder. Baptist suchte alles Geld zusammen, was er noch hatte, legte es auf den Tisch und setzte sich mit klappernden Zähnen hin. Er zählte, rechnete seine Schulden zusammen, strich ab, und der Schrecken sprang ihn grau und krampfhaft an, als er wußte, daß ihm kaum noch zweihundert Franken blieben.

Wie geht es mir nun? Wie geht es mir nun? fragte er sich, von diesem jähen Erwachen wie von einem Fall betäubt. In einem Atem schloß er das Fenster, warf die Kleider ab, löschte die Kerze und duckte sich ins Bett. Er ließ die kleine, graue Dunkelheit, in der etwas Licht von einer Gassenlaterne ungelöst lag, schlaf- und wehrlos über sich niedersinken. Der Duft, der sich von den Blumen im Zimmer eingenistet hatte, zog immer wieder heran. Er stank süßlich nach feuchtem Saft und war wie ein widerwärtig übersättigter Geruch von Sünde. Das riechende, raffende Leben richtete sich daraus wie ein entsetzliches Fabeltier über seinen Bettrand herüber, und Baptist zuckte verprügelt vor ihm zusammen. Er floh unter die Leinentücher.

Aber er erwachte am Morgen mit einer neuen Zuversicht. Der Dicke mußte jetzt eben bezahlen. Ja, und nun erst beginnt dann das Leben, das richtige, große Leben ... Wenn er auch nun noch damit bestand, was er selber verdiente, dann erst schloß sich der tätige, trotzige, schöne Kreis!

Am Nachmittag reiste Leprotto nach Antwerpen, um Quartier zu besorgen und Vorbereitungen einzuleiten. Er nahm den zweiten Violinisten und den Klavierspieler mit. Die andern und Baptist sollten erst folgen, wenn ein Telegramm sie rief.

Die drei Italiener waren noch nicht lange weg, als Baptist von seinem Fenster aus Margheritas Mutter mit Rosa unten in der Gasse um die Ecke davonschreiten sah. Er hatte den Wunsch, bei Margherita und Paolo von seinem neuen Dasein zu sprechen, und wollte auch nachforschen, was sie zu seinen Plänen meinten.

Er packte noch rasch fertig und verließ dann das Zimmer. Im Augenblick, als er an die Türe der Männerstube klopfen wollte, öffnete sie sich und Margherita kam heraus. Aber sie zog die Türe erschreckt hinter sich zu. Ihr Gesicht flammte rot auf.

Sie wollte vor Baptist davoneilen.

„So bleiben Sie doch, Margherita! Ich will gerne etwas mit Ihnen besprechen!“ rief er ihr zu.

Margherita blieb wie widerwillig im Flur stehen. Baptist schaute sie wegen ihres merkwürdigen Benehmens verwundert und schweigend an. Da sagte sie plötzlich heftig, ohne zu ihm aufzublicken: „Wir sind schlecht!“

Baptist verstand ihr sonderbares Verhalten nicht. „Was ist denn, Margherita? Ist etwas geschehen?“

„Nein, nein!“ antwortete sie schnell. Und nach einer Pause: „Sie sind doch ein Gentiluomo, Baptist!“ Sie reichte ihm impulsiv die Hand. „Ach, wir sind gemein und schlecht!“

In diesem Augenblick kam Paolo aus dem Zimmer. Er stellte sich an die Wand zwischen die beiden, von denen er glaubte, sie unterhielten sich über die Abreise, und sagte scherzhaft lächelnd, indem er Margherita mit der Hand streichelte:

„Und in Antwerpen? Nun? Wirst du da auch soviel Glück und soviel Frauen haben wie hier, Baptist?“

Baptist dachte an den Auftritt mit den Blumen und warf verächtlich und geniert hin: „Ach die Frauen! Faß’ keine an!“

„Nun, nun!“ begütigte Paolo, „Weil dir die Kleine das gestern so frech gesagt hat, das ist nun nicht ...“

Und er liebkoste zugleich Margherita im Nacken. Es schien Baptist, als strengte sich das Mädchen mit aller Gewalt an, diese verliebte Hand des Mannes auf sich zu dulden.

„Nein!“ wehrte Baptist energisch ab.

Aber er hatte nun keine Lust mehr, mit den beiden über sich zu sprechen. Er verstand auf einmal, was vorangegangen war und weshalb Margherita ihn so verwunderlich betroffen an der Türe empfangen hatte. Peinlich berührt machte er sich davon.

Schon am nächsten Vormittag kam das Telegramm: ‚Kommt sofort Hotel Fleur d’Or Ruelle des Moines Leprotto‘.

Sie reisten am nächsten Nachmittag und erfragten sich in Antwerpen zu der Ruelle des Moines durch. Es war ein Gäßchen, das dunkel, alt und schmal sich in den Schatten der Kathedrale begrub, und das Hotel fanden sie eng und klein, aber bürgerlich ordentlich wie der Prinz von Flandern. Sie wohnten wieder wie in Brüssel, die Frauen zusammen, die drei Italiener zusammen und Leprotto und Baptist nahmen jeder ein Zimmerlein für sich.

Eigentlich hatte Baptist sich vorgenommen, gleich schon den Abend für die wichtige Unterredung zu nutzen, die seinem Leben die große Wendung bringen sollte. Es war ihm wohl außer Bedenken, daß der gemütliche Dicke die Angelegenheit als etwas Selbstverständliches aufnahm. Aber schließlich genierte es Baptist doch, so rasch schon die äußerliche Formalität herbeizuführen, und er verschob es auf den nächsten Morgen.

Als er da Leprotto im Flur traf, wie jener gerade in sein Zimmer eintreten wollte, erfaßte Baptist die Gelegenheit und schloß sich ihm an. Er wollte die Geschichte in einer burschikos leichten Manier erledigen, die ihrer äußerlich unwichtigen Form entsprach.

„Also, Sie müssen nun dran glauben!“ lachte Baptist den Italiener an, als sie im Zimmer waren.

„Woran, woran glauben?“ fragte dieser.

„Ja, ich habe kein Geld mehr!“ entgegnete Baptist.

Da blieb der Italiener stehen, schaute auf, als hätte einer ihn geschlagen, gegen den er nun anspringen wollte, und fragte schließlich mit einem brutalen Betroffensein, in dem die Enttäuschung mitschrie: „Ihr Geld – schon weg!? Ja, hatten Sie nicht mehr? Ja, wie haben Sie denn gelebt? Sie?!“

Baptist glaubte, der Dicke scherzte mit ihm. Er sagte in demselben leichten Ton wie vorhin und zuckte bedauernd die Schultern: „Unmäßig, verschwenderisch! Sie müssen herausrücken!“

„So, so! Muß ich!“ ahmte ihn der Dicke höhnisch nach.

„Ja, Häuptling, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig!“

Aber da sagte der Italiener kalt und hochmütig: „Zunächst, Mann, bin ich kein Häuptling, sondern Herr Leprotto, italienischer Kapellmeister. Bitte zu merken!“

Da sah Baptist erst, daß es dem Schwarzen ernst gemeint war, und er schrak zusammen. Kraftlos stotterte er: „Ja, ... aber ... was? ...“

Leprotto grub die Hände in einen Korb mit Wäsche, der auf dem Tisch stand, und tat zunächst, als sei Baptist nicht da.

Nach einer Weile sagte er mitten in seiner Beschäftigung und ohne Baptist anzuschauen: „Sie sind ja eigentlich überflüssig, da ich ja noch da bin und die erste Geige nehmen kann!“

Baptists Herz setzte mit einer tonlosen wilden Angst springend auf und ab. Seine Beine bebten heimlich, und er mußte sich an einem Stuhl halten.

Leprotto drehte sich mit einem Ruck zu ihm und sagte schroff: „Will sehn, was ich Ihnen gewähren kann!“

„Ja!“ antwortete Baptist mit einer kleinen Hoffnung bescheiden und bittend.

„Fünfzehn Franken in der Woche. Der Wirt gibt Euch ja das Abendessen!“ warf ihm Leprotto kurz hin.

„Ja!“ antwortete Baptist wieder bescheiden und gleichmütig.

Der Italiener hob die Hand hoch, um anzudeuten, Baptist möchte gehen, die Geschichte sei erledigt.

Baptist stammelte einen Dank und verbeugte sich linkisch. Sein Hals war ihm zugeschnürt. Er ging sich in sein Zimmer aufs Bett setzen und schaute bewegungslos in die verdunkelten Fensterlein. Er kam sich wie gestürzt vor. Er war auf einmal unsicher und zaghaft, auf einmal klein und bescheiden.

„O Gott, wenn er mich fallen läßt!“ rief er plötzlich laut, und die Angst fauchte ihn an. Er drückte die Hände auf die Augen, um die erschreckenden Bilder abzuwehren.

Bald wurde zum Essen gerufen. Auf dem ersten Stockwerk des Gasthofs war eine kleine Stube nach hinten gelegen, in der man für die Italiener allein deckte. Der Raum war gerade groß genug für die neun Leute. Sie setzten sich um den Tisch, wie sie eintraten, und da die beiden Seiten schon besetzt waren, als Baptist kam, nahm er den Kopfplatz an der Türe. Zuletzt erschien Leprotto. Er tippte Baptist auf die Schulter und deutete mit einer mißachtenden Bewegung des Daumens, er möge aufstehn. Baptist fuhr im Schrecken in die Höhe und dachte: Jetzt widerruft er, was er vorhin zugesagt hat.

Aber der Italiener schob ihn nur weg und setzte sich selber auf den Stuhl. Baptist mußte beschämt und verwundet sich an den andern vorbei zum Platz drücken, der noch am Fenster frei war. Er sah, wie Margheritas Kopf aufzuckte und ihre Augen ihn fragend anschauten.

Es schwindelte ihm ein wenig. Die Gedanken zogen langsam und schwer in ihm durch. Sie waren wie graue, niedrige, bedrückende Gewitterwolken, voll Regen, voll Dunkelheit, voll Trübsinn. Baptist aß nur zum Schein und hielt seine Blicke mit ermattender Scham an den andern, den Zeugen seiner Schmach und seines Unglücks vorbei ins Leere geheftet.

Als die Italiener gegessen hatten, standen sie auf und verließen das Zimmer. Er wollte ihnen folgen. Aber an der Türe faßte ihn Margherita, die allein zurückgeblieben war, unversehens an der Hand. Sie schloß eifrig die Türe, schaute Baptist an und fragte, indem sie ihn an den Tisch zog und sich mit ihm niedersetzte: „Was ist geschehn?“

Baptist zuckte gequält mit den Schultern.

„Erzählen Sie mir’s!“ bat Margherita.

Und Baptist erzählte mit einer rauhen, wie zerrissenen Stimme, daß er kein Geld mehr habe und zu Leprotto gegangen sei, und wie der es mit ihm gemacht habe ...

„Ja, er ist ein Schweinehund!“ sagte Margherita hart.

Baptist schaute qualvoll zum Fenster hinaus in den lichtarmen Hof. Er hatte die drängende Begierde, sich an das Mädchen zu flüchten. Aber Margherita fuhr fort: „Er wollte dein Geld! Ich wußte es ja. Er dachte, daß sich einmal die Gelegenheit fände, es zu bekommen, und meinte wohl, daß du eine viel größere Summe hättest!“

„Was wird nun aus mir, wenn er mich fallen läßt!“ fragte Baptist. Er vermochte den Druck nicht mehr auszuhalten und indem er dies sagte, nahm er die Hände des Mädchens und legte hungrig nach Trost, wie ein ausgetrockneter Acker nach Regen, heiß aufweinend, sein Gesicht drauf.

„Lieber, sei nicht so verzweifelt!“ tröstete ihn Margherita, indem sie ihm sanft ihre Hände entzog und ihm übers Haar streichelte. „Das ist doch noch nicht so finster, wie du es jetzt siehst! Komm, sei ruhig. Ich setze mich für dich ein und paß auf ...“

Ein Dienstmädchen, das den Tisch abräumen kam, vertrieb sie dann.

 

Baptist erholte sich nicht mehr. Die Angst und die Verzagtheit blieben in ihm festgebissen sitzen, auch noch, als sie schon in der großen Restauranthalle spielten, die zur Feier der Ausstellung an der Ecke der Avenue de Keyser und des Boulevard du Commerce errichtet worden war. Es war ihm, als sei alle innere Festigkeit, aller Willen zum Mut aus ihm herausgeflossen.

Sie spielten schon vierzehn Tage, als eines Morgens Margherita an seine Türe klopfen kam, sie öffnete und ihm einen Brief hineinreichte.

„Da! Nehmen Sie rasch und lassen Sie sich nicht beim Lesen überraschen!“ flüsterte sie ihm geheimnisvoll zu.

Baptist riegelte sich ein. Er erschrak zu Tod, als er den Namen und die nervös gedehnte, hastig fliegende Handschrift seines Vaters auf dem Kuvert sah. Er riß es zitternd auf, ohne sich Zeit genommen zu haben, die Adresse zu lesen. Zwei Briefe lagen drin. Er las den, der die Handschrift seines Vaters zeigte, zuerst:

„Luxemburg den 24. April.

Wenn Sie mir noch einmal einen Brief schreiben, wie den, welchen ich hiermit zurückschicke, so hetze ich Ihnen die Polizei auf Ihren Flohbuckel. Mein ehemaliger Sohn kann sich mit einem Pack herumschlagen, mit dem es ihm beliebt.

Alois Biver.“

Der andere Brief lautete:

„Sehr geehrter Herr!

Weiß wo Ihr Sohn ist. Wenn Sie nötiges Geld zur Verfügung stellen, könnte ich Ihnen wieder dazu verschaffen. Freundliche Nachricht sieht bald entgegen

Hochachtungsvollst E. Leprotto.

Postlagernd Hauptamt Antwerpen.“

Baptist empfing diese Briefe wie einen Schlag. Zuerst wollte er gleich mit ihnen zu dem schwarzen Hund von Italiener stürzen, sich über den Schuft werfen und ihn bis aufs Blut prügeln. Aber er sank gleich wieder zurück. Er steckte die Briefe in das Kuvert und ging dann Margherita suchen, um bei ihr Unterstützung und Anteilnahme zu finden.

Sie stand in der offenen Türe zu der Stube der Frauen und schien gewartet zu haben.

„Wo ist der Brief? Was war’s?“ fragte sie hastig.

Baptist nahm ihn aus der Tasche.

„Da, lesen Sie!“

„Ich habe mir gleich gedacht, daß es etwas sei, als ich Ihren Namen und Luxemburg las. Er hatte mich zur Post nachfragen geschickt, ob nichts da sei!“

„Dann weiß er gar nicht, daß ein Brief gekommen ist?“

„Nein, wir werden sie auch gleich zerreißen!“

Baptist übersetzte ihr die Briefe rasch und flüsternd. Als er fertig war, schaute ihn Margherita an.

„Was tun Sie nun?“ fragte sie laut und triumphierend.

Aber Baptist fand nichts zur Antwort, als ein weiches, geschlagenes Armzucken.

Die Gemeinheit dieses brutalen Ereignisses verschlug während des Tages in ihm zu einem unklaren dumpfen Grollen. Baptist war fassungslos und wie verwirrt. Er fühlte sich von finstern Gewalten dunkel verfolgt, sehnte sich nach einem Ausweg und zappelte gepeinigt, verwundet und ermattet in der Fessel seines plötzlichen Schicksals. Die einzige Ruhe, die er bekam, gab ihm Margherita. Er stand mit einer kindlichen Wärme, mit einer ungefaßten, schwärmenden Dankbarkeit den Abend über neben ihr auf dem Podium und wich auch nicht von ihrer Seite, als sie gegen Mitternacht nach Haus gingen.

Auf einmal sagte Margherita in der dunklen Straße: „Ach, Baptist, ich bin krank!“

Er beugte sich zärtlich geängstigt in der Dunkelheit zu ihr nieder.

„Was ist denn, Margherita? Kann ich helfen?“ fragte er besorgt. Aber er sah, wie sie haltlos bebte, daß sich alle ihre Glieder schüttelten.

„Was fehlt dir? sag! Sag’s doch“, bettelte er erschreckt und fassungslos. Sie antwortete nicht. Das Zittern schlug sie immer stärker.

Mittlerweile waren die andern herangekommen.

„Margherita ist krank, Paolo!“ rief Baptist den Italiener an.

Paolo fragte: „Was fehlt ihr denn?“

Aber Margherita antwortete nicht. Sie kuschte sich zusammen, als wollte sie sich gegen das Zittern wehren, das wie Schläge durch sie fuhr.

„Ach was, es ist nichts. Weiter!“ sagte Paolo leichthin.

„Doch, doch!“ widersetzte sich Baptist.

„Also was ist denn?“ fragte Paolo noch einmal.

Als er keine Antwort bekam, befahl er barsch: „Nun mach, daß du weiter kommst!“ und er stieß sie mit dem Knie ein Stück voran.

„Das ist ja roh!“ schrie ihn Baptist an. „Ich werde eine Droschke holen. Kutscher, Kutscher!“ rief er aufgeregt.

Vom nahen Standplatz auf der Place de Meir kam ein Wagen heran. Es war eine große, geschlossene Droschke.

„So!“ liebkoste er Margherita ängstlich, „jetzt kommt ein Wagen und dann bist du bald im Bett und dann ist’s gleich wieder gut. Es ist nur Schüttelfrost. Da, nimm meinen Mantel um!“

Die Droschke hielt am Trottoir. Baptist packte die kleine Frau in den Mantel, hob sie halb auf und schob sie in den Wagen hinein, indem er selber sich mit in den dunklen Raum neigte, um den Mantel gut um sie wickeln zu können.

Aber als er sie auf das Polster niedergelassen hatte und die Arme und den Körper zurückziehen wollte, fühlte er sich auf einmal festgehalten. Das Gesicht Margheritas löste sich nicht mehr von dem seinigen. Ihre Arme waren um seinen Hals geknüpft, ihr Mund hing an ihm fest, glühend und verzweifelt, und küßte mit heißer Wirrsal seine Lippen, seine Augen, wohin es ging, und mitten in diesem leidenschaftlichen Ausbruch, der wie Flammen aus hilflosen Fenstern ihn anschlug und einhüllte, sang ihre Stimme, wie ein zarter, sehnsüchtiger Vogellaut im April: „Cuor mio! ...“

Da wurde Baptist zurückgezerrt. Mit einem kurzen, derben Ruck war er losgerissen von der Wohligkeit und der Milde dieses Erlebnisses, und verzweifelt sank der bleiche, heiße Frauenkopf vor ihm zurück. Hände gruben sich in Baptists Rücken und aufgereizt wie ein Tier, das fühlt, daß es ihm ans Leben geht, raste er herum, hob die Fäuste gegen das nächste Gesicht, das er im Laternenschein nicht gleich erkannte, und schrie: „Was, was wollt ihr mit mir?“

Paolo sprang gegen ihn, brüllend: „Verräter, du Schuft, du Betrüger, Verräter!“

Paolo weinte zugleich mit langgezogenen, rasenden Lauten, die zwischen jedem Schimpfwort herausstachen wie Messerhiebe.

Baptist wollte ihn beruhigen: „Aber so hör doch, Paolo! Paolo, sei doch vernünftig. Ich sag dir alles!“ machte Baptist sanft und faßte mit beiden Händen den Erregten an den Schultern und zog ihn an sich heran. „Paolo, wir wollen ...“

Aber da war es Baptist, als führe ein knitternder Schrei mit dem gellenden Knattern eines grellen Donnerschlags durch seinen Leib hindurch. Er wußte nicht, ob er selber oder ein anderer den Laut ausgestoßen hatte. Seinen Mund fühlte er auf einmal weich und gewichtig werden und gleich darauf löste sich sein Leib in eine schlafschwere, widerstandslos erwärmte Müdigkeit auf, in der er sanft und rasend durch funkelnd gestreifte Abgründe sank und sein Leben erlebte, als eine unerhört süße und gewaltsam himmlische Erfüllung.

‚Das hat alles das Liebeswort Margheritas getan!‘ konnte er noch denken, kurz und aufglühend wie ein Wetterleuchten hinter zackigen Bergfernen. Dann war es aus und Finsternis.

Siebentes Kapitel

Baptist lag fünf Monate im Krankenhaus.

Nur mit zäher Bedächtigkeit schloß seine körperliche Widerstandskraft die Wunde, die Paolos Stilett ihm zwischen den Rippen bis ins Herz geöffnet hatte, und von den paar Armeleutebäumen, die im Hofe im Schatten der hohen verrußten Ziegelmauern des Hospitals griesgrämig den Sommer gefeiert hatten, sanken willig schon die Blätter, als Baptist zum ersten Male aus der Stube und an die freie Luft gelassen wurde.

Er mußte dann noch in der ärmlichen Ordentlichkeit des öffentlichen Krankenhauses wochenlang sorgfältig und von Anordnungen von Ärzten und Krankenschwestern leben und wurde auf einmal an einem Vormittag auf die Straße gesetzt.

Er war geheilt.

Baptist hatte eine Zeit müßig geduldigen Verdämmertseins hinter sich. Es hatte stets alles bereitgestanden, was er gebraucht hatte. Aber in dieser Armeleuteabteilung des Hospitals waren immer alle Dinge um ihn herum geschehen, wie mit der knappen mechanischen Funktion eines Automaten. Nichts war ihm genähert, das in ihm einen wärmeren Gedanken aufgewirbelt, einen Widerstand angespannt hätte. Dadurch war in ihm eine bequeme, außerhalb des Bewußtseins stehende Gleichgültigkeit bereitet worden, in der er es als unglückselig empfand, daß er sich nun auf einmal draußen dem windigen Lebenszug der Straßen anpassen und selbständig dem Leben übergeben mußte.

Die aufreibende Verwundung und der zehrende Heilungsprozeß hatten ihn schlank und mager gemacht. Er trug, als er durch die Rue de l’Hopital auf die Kathedrale zuging, den Anzug, den er getragen hatte, als er ins Spital gebracht worden war. Der Stoff bewegte sich in sackigem Übermaß um seine hagern Glieder und schien ihn bei jedem Schritt in seine Falten einwickeln zu wollen.

Baptist raffte mit der Hand die Weite der Weste zusammen, und seine Finger spürten auf einmal die Naht, die das Loch schloß, durch das der Dolch in seinen Leib gedrungen war. Als er sich am Morgen angezogen, hatte er auch in der geplätteten Hemdenbrust und in der Unterjacke dieselben geflickten Schnitte gefunden. Sie entsprachen alle der schmalen roten Narbe, die über seiner linken Brustwarze lag.

Da dachte er an Paolo. Aber er dachte ohne allen Groll an ihn und nur ein wenig traurig. Und er dachte ebenso an Margherita. Als hätte er sie beide verloren. Als seien sie einmal so heftig und heiß nahe bei ihm gewesen und als seien sie nun fort und davon. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie sie aussahen. Obgleich er angestrengt in seinen Gedanken ihre Gesichter suchte, fand er sie nur mehr als verflüchtigte Bilder.

Die ganze Episode seines letzten Jahres war etwas zurückgesunken. Jedoch erinnerte er sich mit einem müden, aber warmen Verlangen an die Frauen, mit denen er in Brüssel davonging, wenn das Abendkonzert zu Ende war. Er kam vom Krankenlager wie ein ganz trockener, leerer, leichter Schwamm. Alle Poren weit auf, ausgewunden, durstig und hungrig, für alle neuen Empfänge, für gute wie schlechte, wahllos offen und zittrig bereit.

An diesem Morgen, da ihn das Krankenhaus ohne alle Vorbereitung entlassen hatte, war Baptist, als sei es sein gewohnter Weg, ganz von selbst auf die Kathedrale losgesteuert und in die Ruelle des Moines gegangen. Er trat in die kleine Stube des Hotels zur goldenen Blume, in die es gleich von der Gasse durch eine Glastüre ging. Der Wirt kam auf ihn zu: „Sie wünschen, mein Herr?“ fragte er. Er wußte nicht, wer der Eingetretene war.

Baptist sagte: „Ich wohne hier!“

Da erkannte ihn der Wirt wieder. „Sie, Sie!“ rief er, als sei es ganz unmöglich, und er schaute Baptist an, indem er ihn ins Licht drehte.

„Was hat man denn mit Ihnen gemacht?“

„Wissen Sie das nicht?“ fragte Baptist gleichgültig.

„Nein, nein, kein Wort. Wie sehen Sie aus! Als hätten Sie im Grab gelegen! Und diese Wunde über dem Mund!“

„Über dem Mund?“ fragte Baptist und fuhr sich ein wenig erstaunt mit der Hand an die Lippen. Er hatte im Krankenhaus niemals in einen Spiegel geschaut. Als der Wirt ihn vor einen solchen führte, sah Baptist eine rote Narbe, von der Backe aus über den rechten Mundwinkel bis ans Kinn schneiden.

„So, so! Auch da!“ sagte er dann wie verwundert. „Das wußte ich nicht!“

Er erzählte dann dem Wirt mit kurzen Worten von seiner Verletzung. Der kleine gemütliche Mann konnte kaum mehr zu sich kommen über solche schwarze Schlechtigkeit und über solche unerhörten, heftigen Geschehnisse.

Sie plauderten eine Weile über diese aufregenden Dinge, als der Wirt plötzlich auffuhr.

„Nun erinnere ich mich, die kleine Schwarze gab mir damals, als die Italiener weggingen, ein Paket für Sie. Sie kämen es holen! sagte sie, und ich solle sehr, sehr darauf aufpassen! Das bring’ ich doch mal gleich.“

Als er wiederkam, legte er ein langes, papierumhülltes und gut verschnürtes Paket vor Baptist hin. Dieser band es bedächtig auf. Es war seine Geige.

„Ja, meine Geige!“ sagte er, ohne darüber verwundert zu sein. „Es sind ja auch noch andere Sachen von mir im Haus!“

Aber der Wirt schaute ihn mißtrauisch an.

„Ein Koffer mit Kleidern und Wäsche!“ fuhr Baptist fort.

„Ohne Kleider und Wäsche!“ sagte aber der Wirt auf einmal kühl.

„Ohne Kleider und Wäsche?“ fragte Baptist ruhig dagegen.

„Ja, sie haben einen leeren Koffer hiergelassen.“

Baptist schaute den Wirt an. „Wer?“ fragte er verständnislos.

„Ihre Italiener!“

„So, einen leeren Korb? Dann haben sie meine Kleider und alles mitgenommen. Wo sind sie denn?“

„Verdamm mich, soll ich’s wissen! Sie sind schon im Mai, gleich als Sie nicht mehr kamen, weggezogen.“

„Dann haben sie ja meine Sachen gestohlen!“ sagte Baptist wie teilnahmslos. „Was mach ich denn jetzt?“

Den Wirt verließ nun doch sein Mißtrauen. Er faßte Bedauern zu dem Rekonvaleszenten, dem seine Freunde so niederträchtig mitgespielt hatten. Aber er wollte Baptist doch erinnern, daß er noch in seinem Buche stehe.

„Wieviel ist’s?“ fragte Baptist.

... „Ja, ja ... es pressiert aber nicht!“ wehrte der Wirt.

„Ich hab’ kein Geld!“ sagte Baptist.

„Nu, vielleicht können Sie sich von irgendwo welches verschaffen. Oder vielleicht haben Sie einen Vater, der mal einspringt?“

„Nein, ich habe niemanden, von dem ich Geld bekommen kann.“

„So!“ machte der Wirt enttäuscht. Als er ein wenig, wie überlegend, geschwiegen hatte, sagte er: „Ich bin ein kleiner Mann, es sind doch gegen hundertzehn Franken!“

„Ja!“ antwortete Baptist.

„Hm, hm! Ja, ja!“ Der Wirt drückte sich und wand sich. „Aber so eine Garantie sagen wir, so eine Garantie, könnten wir nicht irgendwie so eine Garantie haben?“

Baptist sagte: „Ich verkaufe meine Geige!“

Er sagte das teilnahmslos und mild, und es war doch ein Einfall, dessen Ausführung ihm insgeheim wie etwas Ungeheuerliches vorkam; ihm vorkam, als sprengte er damit seine Vergangenheit, seine Jugend, sein Elternhaus in die Luft. Es war etwas Verbrecherisches, etwas Revolutionäres!

Der Wirt meinte sorgenvoll: „Ja, aber es sind hundertzehn Franken!“

„Die Geige ist viel mehr wert!“ hielt Baptist dem ruhig entgegen.

Da sagte der Alte beruhigt: „So, so, es ist ein gutes Instrument?“

Aber Baptist sprang ungeduldig auf, er kam sich vor, als säße er mit dem ruhigen Alten in einer Schinderkammer. „Gehn wir! Zeigen Sie mir einen Musikhändler, der sie vielleicht kauft,“ sagte er erregt.

Aber als die beiden draußen in der Gasse waren, hatte sich der Anfall, der wie heißes Wasser über Baptist gestürzt war, wieder verlaufen. Sein geschwächter Körper war übermüdet von der ungewohnten Freiheit, seine Gedanken waren wie entfernt von ihm, wie abgetrieben. Sie lagen wie vereinzelte Menschen auf großen Plätzen, faul und verloren und schlafend in der Sonne einer rastenden Mittagsstunde.

Der Wirt schleppte ihn in einen kleinen dunklen Laden, in dem neben allerlei Musikinstrumenten noch einige andere Sachen verkauft wurden; ein kleiner Instrumentenmacher, der die Lage seines dunklen Winkels und die Art seiner Kundschaft nützte.

Der Händler nahm die Geige und ging damit ans Fenster.

„Zehn Franken!“ sagte er.

Der Wirt erschrak. Baptist wandte gleichgültig ein: „Es ist eine Aegidius Barzellini!“

„Nein, nein, Herr!“ entgegnete der Instrumentenmacher und Trödler, „es ist eine Geige, weißt du!“

Baptist nahm die Geige sacht aus der Hand und bettete sie zärtlich in den Kasten.

„Dann gehen wir wieder!“ sagte er zum Wirt.

„Zwölfeinhalb Franken!“ warf der Trödler dazwischen.

„Adieu!“ sagten die beiden und verließen den Laden.

Auf der Straße meinte Baptist: „Wir müssen in ein Musikgeschäft gehen, in ein größeres Musikgeschäft.“

Als sie in der Kipdorpstraße in ein solches traten, begrüßte sie mit verbindlichem Händereiben und Kopfnicken ein Kommis. Er nahm die Geige, und tat, als zupfte und guckte er sachverständig dran herum.

Baptist warf hin: „Es ist eine Aegidius Barzellini!“

Diesen Namen mußte der Kommis schon gehört haben. Er schlug die Augen zu Baptist auf und tat wichtig: „Ah, ah!“ dann kehrte er stracks um und ging in den Raum hinter dem Laden. Von dort brachte er einen dicken blonden Herrn mit einem Vollbart und einer goldenen Brille mit zurück. Der nahm die Geige, beschaute sie ein Weilchen am Fenster und verschwand dann mit ihr in dem hintern Raum. Kurz darauf hörte Baptist, wie in der Ferne, Geigentöne aufklingen und gleich wieder verstummen. Das wiederholte sich ein paarmal.

Nach einer Viertelstunde kam der blonde Mann zurück. Er sagte: „Guten Tag!“ als er an die beiden herantrat, und fragte gleich hinterher: „Was wollen Sie dafür?“

Baptist zuckte mit den Schultern.

„Zweihundertfünfzig Franken geben wir Ihnen!“

Der Wirt ließ ein feines Pfeifen hören, wie von einer Maus, so erstaunt war er. Baptist wußte, daß für dieses Geld die Geige weggeworfen sei. Aber er war mürbe. Die Verhandlungen und vorher das Herumlaufen wegen der Geige kamen ihm unwürdig vor. Sie schlugen ihn. Er schämte sich.

Da sagte er: „Ja.“

Er bekam das Geld gleich ausbezahlt und ging mit dem Wirt der Fleur d’Or rasch davon.

Als die beiden draußen waren, hob der Blonde die Geige noch einmal an seine Brille. Er schaute noch einmal, wie zu einem behaglichen Nachgenießen, in den Kasten, über das Saitenbrett. Währenddessen warf er dem Kommis hin: „Es ist eine Aegidius Barzellini!“

„Ja, eben! Sapperlippopett!“ antwortete der verbindlich.

Da bemerkte der Blonde, daß tief unter das Saitenbrett ein Papier eingeschoben war. Er arbeitete es mit dem Taschenmesser hervor, während er den Kommis bat, die beiden zurückzurufen. Der junge Mann verschwand eine Weile auf der Straße. Aber er kam allein zurück. „Nicht mehr zu sehen!“ sagte er.

Der Blonde lächelte. Er hatte den Zettel auseinandergefaltet und gelesen, was drauf stand. Es war italienisch und unbeholfen geschrieben und hieß:

„Die heilige Jungfrau beschütze Baptist!“

Er kugelte das Zettelchen zusammen und warf es in eine Ecke. Dem Kommis antwortete er: „Na, ist auch nicht wichtig!“ Dann trug er den erworbenen Schatz mit einem tänzelnden Gehen seines kurzen, schweren Leibes in die Räume hinter dem Laden.

 

Baptist eilte mit dem Wirt durch die Straßen, als drohten die Häuser um sie herum zusammenzustürzen. Er sagte für sich: Nun bin ich ganz allein! Aber er sagte bei jedem Schritt diesen selben Satz. Er sagte ihn so, als schlüge er sich jedesmal damit. Es war ihm, als sei er auf einmal in eine Schlucht heruntergefallen, seitdem er die Geige nicht mehr besaß.

Er ging immer schneller. Er sah nichts mehr um sich. Seine Blicke verhüllten sich mit dunklen Tüchern. In seinen eilenden Beinen wurde es unsicher und warm. Das tat ihm wohl. Auch seine Augen füllten sich nun mit einem vollen funkelnden Dunkelsein, und auf einmal brachen seine Beine mit einem kleinen wohligen Schmerz ermattet zusammen.

Er erwachte nach langer Zeit in einem kleinen dunklen Zimmer und in einem weiß gedeckten Bett und war frisch gekräftigt. Aber zugleich mit dem Bewußtsein der jungen Kraft stellte sich auch das Gefühl des unausmeßbaren Verlassenseins ein.

Nach einer Weile öffnete sich die Türe zu Füßen des Bettes und eine Frau, die er noch nie gesehen hatte, streckte den Kopf herein.

„Sind Sie wach? Sind Sie wieder gut?“ fragte sie.

Baptist bejahte.

Dann kam sie herein. Sie war eine mittelgroße Dreißigjährige mit einem etwas eckigen Körper in einem sauberen bunten Leinenkleid und einer weißen koketten Schürze. Ihr unregelmäßiges Gesicht, von dunklen Haaren umrahmt, hatte zugleich etwas Grobes und etwas Leidendes. Es war blaß, von feiner Hautfarbe und die Backenknochen sprangen derb vor. Die Augen waren dunkel und in einem kalten Glanz verschwommen. Dicke Augenbrauen spannten sich drüber. Sie sahen wie wild aus und herrschten machtbewußt über das ganze Gesicht.

Die Frau trat nahe ans Bett heran und fragte, indem sie sich niederbückte, noch einmal: „Ist’s wieder ganz gut?“

„Ich glaube ja!“ antwortete Baptist.

Da schnappte draußen eine Klingel ein paarmal auf und die Frau verließ rasch das Zimmer. Währenddessen wühlte sich Baptist emsig aus den Tüchern. Er hatte mit der Hose im Bett gelegen und seine Kleider waren nebenan auf einem Stuhl geordnet. Er war dabei, sich anzuziehen, als die Türe wieder geöffnet wurde und die Frau mit dem Wirt der Fleur d’Or erschien. Mit einem herzlich familiärem „So, na, schon wieder auf!“ trat der Wirt auf Baptist zu.

Baptist sagte: „Danke!“

„Ja, Sie müssen Fräulein Veroken danken. Die hat Sie in ihr Bett gelegt.“

Baptist reichte der Frau die Hand. Sie umfaßte seine Finger mit einem raschen Zudrücken und schüttelte den Kopf.

„Nicht nötig! Gern geschehn!“

Baptist zog sich dann ganz an, bedankte sich noch mehrmals und verließ mit dem Wirt die Stube. Sie kamen durch einen kahlen weißen Raum, in dem es nach Kohle roch und Stöße von Hemden auf weißen Brettern lagen, und traten auf die Straße hinaus.

Das Fräulein begleitete sie bis in die Türe. „Auf Wiedersehn!“ rief sie, als die beiden schon ein paar Schritte gegangen waren. Baptist drehte sich um und grüßte noch einmal mit dem Hut. Da las er neben der Türe auf einem runden, weißgemalten Blechschild: Alientje Veroken, Plätterin.

Es war nicht mehr weit bis zur Fleur d’Or. Dort reichte Baptist dem Wirt all sein Geld hin. Der zählte hundertzehn Franken ab und schob Baptist ein paar Gold- und Silberstücke wieder zu.

Baptist schaute ihn verwundert an. Was sollte das Geld? Er hatte doch dafür seine Geige verkauft; alles Gute seines Lebens hintan geschmissen, um seine Schuld zu bezahlen.

„Weshalb wollen Sie das nicht?“ fragte er den Wirt verstört.

„Aber lieber Mann, Sie sind mir doch nur hundertzehn Franken schuldig!“

Da verstand Baptist erst. Er steckte den Rest des Geldes resigniert in seine Westentasche. Der Wirt ließ Essen bringen. Aber Baptist rührte es kaum an. Bald ging er weg und wieder auf die Straße. Wie freigeworden von einem Druck irrte er draußen umher.

Er kam an den Hafen und stand lange auf der Promenade, die über die Lagerschuppen gebaut ist. Zwei große Dampfer luden ein und aus, und Baptist sah unter sich die Arbeit in knirschender Raserei Land und Schiff verbinden. Kleine berußte oder verstaubte Menschen tauchten immer wieder irgendwo aus dem glatten Deck heraus, gingen ein paar hastende Schritte und verschwanden wieder. Baptist sagte sich traurig: „Ach Gott, vielleicht wärs das beste, wenn ich auch in solch einen Kasten verschwände!“

Aber er lehnte sich gleich wieder auf gegen diesen Gedanken. Von seinen heimatlichen Begriffen her hatte er von diesen Dampfern noch die Vorstellung, als seien sie große, dunkle Behälter, in die all das hineintauchte, was die Länder nicht mehr duldeten: die elenden Flüchtlinge, die ausgebleichten Heimatslosen, Gesindel und Verbrecher, die in dem rätselhaften Leib dieser schwarzen Schiffe mit sklavischer Arbeit der Hände ihr verwirktes Leben in Dunkelheit bargen und jämmerlich dahinfristeten. Und in einem dumpfen Sichausspannen wehrte Baptist dieses ton- und lichtlose Arbeiten der Hände von sich ab, als das rettungslose Versinken, als das letzte Sichaufgeben.

Aber er hatte mit dem Gedanken gespielt und er war an ihm haften geblieben, wie ein Teerfleck, der immer wieder durch alles hindurchschlägt. Baptist sah drunten die kleinen Leute, die aus den Luken heraus an Deck krochen, wie Würmer, als seinesgleichen an. Er sah sich in ihnen. So wie der! So wie der! sagte er von sich bei jedem der berußten oder verstaubten Arbeiter, die auf den Schiffen erscheinen. Aber schließlich lief er gepeinigt aus dem Bereich des Hafens hinaus.

Baptist war im Hafen wieder offener geworden für die Notwendigkeiten des Lebens. Er ging in den ärmlichen Gassen umher und schaute aus, wo er ein Zimmer mieten könnte. Er suchte nicht lange und nahm das erste, das er sah. Es kostete fünfzehn Franken im Monat. Es lag in einem geschwärzten Hof, war aber von bescheidener Ordentlichkeit. Er legte sich gleich ins Bett.

 

Als Baptist sich zum ersten Male Wäsche kaufen mußte, wurde er darauf aufmerksam, daß sein Geld fortfloß. Da begann er mit einer leeren, tatlosen Angst zuzuschauen, wie Franken um Franken dahinschwand.

Und unversehens schaute eines Abends der alte Hunger einen Spalt breit zu seiner Türe herein.

Baptist glaubte zunächst nicht, daß es ernst sei. Er dachte: ‚Ach, es ist so ein wenig zum Bangemachen, wie so ein farbiger Flederwisch im Kirschbaum für die Staare. Der Wind bläst ihm in die leeren Ärmel, und selbst die Vögel glauben bald nicht mehr an ihn.‘

Baptist legte sich mit ausgebreiteten Gliedern mit dem Rücken aufs Bett und unterdrückte den kleinen leeren Schmerz, indem er wie ein Frosch mit den Beinen und Armen in die Luft hinaufturnte. Dann ging er emsig um den Tisch herum und fuchtelte mit den Händen vor dem Gesicht, als schlüge er Fliegen weg. Plötzlich brach eine heiße Welle aus seinem Herzen in den Kopf und er legte sich mit geschlossenen Augen über die verschränkten Arme auf den Tisch und dachte sich: ‚Wie ist es doch so roh, ein Kind mit dieser Strohpuppe zu bedrohen!‘ Er erinnerte sich, daß sie zu Hause als Kinder niemals die Suppe essen wollten und daß der Vater dann sagte: „Vielleicht bist du noch einmal mehr als glücklich, wenn du eine solche Suppe bekommst. Wart nur mal ab!“

Baptist sprang auf.

„Ja, ich wollte, ich hätte jetzt so eine Suppe von daheim!“ sagte er laut und in einem widersinnigen Trotz. Und langsam kroch die Angst an den Tischbeinen heran, wie Katzenpfoten, die mit ihren Krallen spielen. Es war Baptist, als drückte etwas leise schmerzend und dunkel auf seine Augen. Aber er erwachte gleich wieder, und etwas anderes fiel ihm mit einem plumpen Fall in den Leib und bohrte sich schwer darin niederwärts. Das war so gewichtig, daß es ihn auf den Boden niederzwang. Er stieß mit den Füßen gegen das dickköpfige Ungeheuer; aber es hatte eine knöcherne Haut. Seine Fäuste wollten nervig an den Hals greifen, aber die Muskeln gehorchten nicht und schienen in einem feuchtheißen Beben zu schmelzen. Da saugte sich der Mund des Hungernden bettelnd an das Holz des Fußbodens fest. Es gab nichts ab. Er biß in die schwachen, leblosen Hände, bis diese Schmerzen die Qualen des Magens überstiegen. Jedoch der Sieg dauerte nur drei Augenblicke.

Baptist wimmerte leise.

Der Flederwisch war zu der alten, steinharten Legende geworden, die dürr und grell wie ein Fels aus der Dunkelheit der Menschwerdung durch alle Zeiten heraufragte, unvergänglich und unzerbröckelt mit den Zeiten wuchs – der alte Hunger: Blut und Morde blühten zu seinen leblosen Füßen, graue Qualen pfiffen wimmernd daneben, wie im Gras verborgen irrende, verletzte Tierchen.

Diese widerstandslose, unsichtbare, entkräftende Fessel wurde Baptist etwas so seltsam Unheimliches, daß es wie eine langsam niedersinkende Mauer auf ihn eindrang. Er wurde, ohnmächtig den Einsturz erwartend, wie ein Kind. Er plapperte: „Will Essen haben! Will Essen haben!“ Lallend sagte er: „Bringen Kindi nix! Kindi krank, krank!“ Er schmollte: „’s is gut! Kindi stirbt!“

Aber dann stieß er einen röchelnden harten Laut aus, kurz wie das Zerknallen einer Blase und wälzte sich vom Boden auf. Mit zitterigen, schwachen Beinen glitt er die Treppe hinab und schlich sich ausschauend an den Häusern entlang durch die Gasse, in der die Laternen schon leuchteten. An der Ecke rannte eine lärmende Gesellschaft junger Männer an ihn. Im Nu hatten sie ihn ohne Absicht eingeschlossen.

Da zog Baptist seinen Hut ab und murmelte lautlos und blöde: „Gebt!“

Einer sah es.

Der legte Baptist die Hand auf die Schulter und sagte mit derbem Wohlwollen auf Deutsch: „Hast du Hunger, armer Teufel?“

„Er hat Hunger!“ wandte er sich dann laut an die andern. Die wiederholten: „Er hat Hunger!“, nahmen Baptist geräuschvoll in ihre Mitte und zogen mit ihm wie im Triumph in die Kneipe hinein, die gerade an der Ecke ihre Türe offen hielt.

‚Zur Loreley‘ hieß sie und die Matrosen waren hier gut bekannt.

„Vater Brix! Er hat Hunger!“ rief einer von der Gesellschaft über den Schenktisch. „Was kost’ der Schinken!“

Aber er nahm ihn schon. Ein anderer brachte Gabel und Messer; ein anderer Teller, ein anderer Brot, ein anderer Bier, ein anderer eine Schnapsflasche. Und sie schnitten ab, gossen ein und schoben Baptist alles hin.

Der saß mit einem kindlichen Lächeln da und fing an zu essen, wie ein Mühlenkanal sein Wasser verschluckt. Sein Herz flog auf, wie ein Luftballon. Er trank und aß und die Fülle um ihn herum kam ihm vor, wie der goldene Überfluß herbstlicher Kornfelder, wie reiche Bauernhöfe, die mit Schweinen, Hühnern und Kühen, Früchten und Mehl vollgestopft waren, kam ihm vor, wie die sieben fetten Jahre Ägyptens. Die deutschen Matrosen sangen um ihn herum, wie Indianer tanzend: „Trinke mer noch en Tröppche ...“ und er mußte ihnen, das Essen unterbrechend, Bescheid tun, einmal mit Bier und einmal mit Branntwein.

Als sich die Lärmfreude ermüdet hatte, und die Matrosen sich ruhiger um ihn herumsetzten, und mit derber Herzlichkeit ihm zum Essen zuredeten, bemerkte Baptist an einem andern Tisch einen Kreis junger Leute, deren Gesichter er schon einmal gesehen haben mußte. Das viele Trinken hatte seinen Blicken die Schärfe genommen und er konnte nicht mehr genau hinschauen. Auf einmal erkannte er, daß die jungen Leute fortwährend zu seinem Tisch herüberblickten und er drehte den Kopf weg. Aber in demselben Augenblick wußte er, wer die waren, die dort saßen und ihn anstaunten ... Es waren ehemalige Schulkameraden von ihm aus Luxemburg, die das Studieren aufgegeben hatten und in Antwerpen in Geschäftsbetriebe eingetreten waren.

Da schlug die Scham auf ihn nieder, wie mit einer versengenden Flamme. Er rückte heimlich ans Ende der Bank und glitt zur Türe hinaus, lief stolpernd die enge Gasse hinauf zu seiner Wohnung. Die Trunkenheit saß mit einer weichen Unsicherheit in ihm, sie leitete ihn wie schwebend die Treppen hinauf, in denen die Lichter schon gelöscht waren, und warf ihn mild aufs Bett. Sie wickelte die Härte seiner verletzenden Vorstellungen in eine weinerliche, süß schmerzliche Verschwommenheit und übergab ihn bald sanft dem Schlaf.

Aber wie eine Vergiftung trug er durch die kommenden Tage diese Begegnung mit den Landsleuten. Er war degradiert, er hatte gebettelt und er gestand sich nun offen ein, daß er an jenem Tage in die schwarzen Höhlen der Schiffe hätte hinuntertauchen sollen, um im Leben spurlos zu verschwinden, wie die Fliegen, die einmal vor ihm an den Fensterscheiben getanzt haben und von denen man dann niemals wieder etwas sah.

 

Und dann kam auch bald der steinharte, legendenhaft alte Tag, der ihm das Dach über dem Kopfe nahm.

Es war eine kalte Novembernacht, in der er zum erstenmal kein Bett mehr hatte. Er irrte in den schwarzen Gassen herum, betäubt und doch ruhelos, wie in einem Kerker, und setzte sich dann auf eine Bank, ohne zu wissen, wo. Er schlief ein wenig ein. Aber er wachte gleich wieder auf. Er fühlte sich wie geprügelt. Die funkelnde Dunkelheit lag über den kahlen Bäumen des Platzes, auf den er gelangt, und fiel eisig auf ihn hernieder. Er war wehrlos. Er lief ein Stück weit gehetzt davon und schluchzte mit dunklen, kurzen, flehenden Lauten, wie ein verwundetes Tier, das am Sterben liegt.

Aber er überstand auch diese letzte, höchste Grausamkeit. Seine Kleider verkamen. Die Menschen wichen schon etwas beiseite, wenn er sich ihnen näherte. Er aß manchmal in der Volksküche, die im Winter umsonst Suppen verschenkte. Er aß sie mit angeketteten Löffeln. Er hungerte dreiviertel der Zeit. Es war ihm, als ränne sein Herz auseinander, und es entstand eine dumpfe Leere in ihm. Wenn es dunkel wurde, suchte er instinktiv eine geschützte Stelle zum Übernachten, in einer tiefen Haustüre, einem Schuppen, einem Eisenbahnwagen.

Und einmal wurde er an solch einem Ort mitten aus dem Schlaf gerüttelt und ohne daß er sich bewußt wurde, was geschehen war, davongezerrt und in einen warmen dunklen Raum getan. Dort erwachte er erst bei hellem Tag. Ein alter verbogener und blöd aussehender Mann lag neben ihm auf der breiten Holzpritsche. Dann kam ein barscher Polizist herein, rief: „Aufstehen! Raus!“

Der alte Lump, dessen Hosen und Jackenränder in Fetzen gefranzt waren, rollte von der Pritsche herunter und lallte ein paar Flüche. Aber er wälzte sich aufrecht und trollte zur Türe hinaus in den helleren Raum, in dem zwei Polizisten saßen. Dort stellte er sich krumm und klein neben Baptist auf.

Ein Polizist sagte: „So, da ist das alte Ferkel ja auch wieder! Laß ihn doch! Jetzt ist’s Winter. Da wird er ja doch hoffentlich einmal erfrieren. Lohnt doch das Papier nicht!“ Dann wandte er sich an Baptist: „Auf welches Schiff gehörst du?“ Aber bevor er eine Antwort haben konnte, schnauzte der Polizist weiter: „mach, daß du künftighin am Abend in dein Schiff kommst, statt dich sinnlos zu besaufen. Das nächste Mal gehts nicht so gelind ab. – Abmarschieren!“ winkte er mit der Hand.

Baptist ging nun neben dem kleinen alten Vagabunden durch die Straße.

„Hast du keine sechs Zenten?“ fragte der Alte lallend. „Es is so bannig kalt. Möcht mal en lütten ingießen!“

„Ich habe nichts!“ antwortete Baptist.

„Dreckskerl! So ’n Dreckskerl! Weshalb hast du denn nichts, weshalb has du nix für den armen alten Papa Ladstock? Die Beinchen wollen ja gar nicht mehr, och die alten, alten kranken Beinchen! ...“ weinte er. Die Tränen blieben aber in den farblosen Augen glänzend und festgeklebt hängen, und Baptist fühlte sich vor Mitleid weich und warm werden.

„Wart, ich geh jetzt arbeiten, dann geb ich dir was!“ tröstete er den Alten.

Aber da blieb der stehen und hob den schmutzigen, dicken Kopf zu Baptist auf. Er rief empört und fuchswild, daß die Wörter eines über das andere zu schnappen schienen, und sein zotteliger grauer Bart sich sträubte: „Was! Arbeiten! Dreckskerl, Hundsgeburt, du willst arbeiten gehn!“

„Nein, dann nicht“, beruhigte ihn Baptist.

„So is man gut!“ sagte der andere getröstet und ging weiter.

Sie schlenderten dann stumm zu dem Hafen hinunter. Bei der Waeser Station lehnten ein paar Vagabunden an einem Zaun. Papa Ladstock ging geradeaus auf sie zu, und Baptist folgte, zögernd hinterher gezogen. Die Vagabunden fröstelten, hatten die Hände in den Hosentaschen und traten von einem Fuß auf den andern. Sie schickten alle einen scheuen, verborgenen Blick hastig zu Baptists Gesicht hinauf. Aber sie grüßten nicht und sprachen kein Wort. Vater Ladstock stellte sich schweigend mitten zwischen sie an den Zaun. Da tat auch Baptist dasselbe.

Auf einmal sagte Ladstock, ohne sich zu bewegen: „Reich Vatern doch mal die Katrine – och!“

Es war nicht ersichtlich, an wen er diese Worte richtete.

Zwischen der Gruppe entstand trotz des bisherigen Schweigens etwas wie eine Pause. Aber langsam rückte dann eine Hand aus einer Hosentasche und hielt eine kleine flache Blechflasche hin.

Vater führte sie auf ein Weilchen an den Mund. Er drückte sich nachher wiederholt die Nässe des Bartes mit den zittrigen Fingern über die Lippen aus und reichte Baptist die Flasche hin.

Baptist trank daraus.

Währenddessen fing einer an hämisch zu lachen. Vater schaute ihn strafend an. „Wer?“ machte der Lacher, ließ den Daumen aus der Hosentasche heraus und deutete damit auf Baptist.

„Hundsgeburt!“ wies ihn Vater energisch zurecht, und sein zotteliger Bart sträubte sich, „Is mein Freund; mein Freundchen!“ Seine kleinen Augen schauten zu Baptist hinauf und Zärtlichkeit schwamm in ihrem wässerigen, farblosen Glanz.

Baptist empfand eine gerührte Liebe für den kleinen Alten. Aber er bäumte sich gleich wieder auf gegen diese Gefühle. Sie legten sich mit einer faulen und gemütlich saugenden Schwerfälligkeit über ihn nieder, als wollten sie ihn ersticken, und er bekam Angst vor ihnen. Er dämmte sie ein, indem er die andern Lumpen zu hassen begann. Sie waren etwas so Gemeines, so etwas Ekles – Verbrechertum!

Da sagte er auf einmal trotzend: „Jetzt geh ich!“

„Wa – –? ’iebes Freundchen! wirst nich! deinen alten Kameraden im Stich lassen? Wa, wa?“ jammerte der Alte und streichelte ihm mit einer unbeholfenen groben Zärtlichkeit über den Arm. Die andern lachten roh.

Nun genierte sich Baptist vor der Liebe des Vagabunden fortzugehn. Aber er dachte doch gleich daran, es heimlich zu tun, wenn sich eine Gelegenheit böte.

In diesem Augenblick kam ein Herr aus dem Bahnhof heraus auf die Gesellschaft los. Er setzte seinen Koffer vor den Lumpen nieder und fragte: „Wer will mir ihn zum Staatsbahnhof tragen?“

Keiner rührte sich. Die Vagabunden traten weiter von einem Fuß auf den andern und schauten an dem Fremden vorbei die Straße hinab, als stünde niemand vor ihnen.

Da ging Baptist mit einem Ruck unversehens aus ihrer Mitte heraus, hob den Koffer in die Faust und schritt davon.

Vater Ladstock stand da, als glaubte er’s nicht. „Wa, wa?“ lallte er. Die andern fingen an zu schmunzeln und lachten dann laut heraus. „So ’n Dreckskerl, so ’n Dreckskerl!“ wütete Vater los und sprudelte die Schimpfwörter in seinen grauen Bart, daß die Haare wie in einem Regen auf und nieder flogen.

Achtes Kapitel

Der Herr hielt sich unterwegs hart neben Baptist und untersuchte heimlich und verwundert sein Gesicht und sein Wesen. Der Fremde war ein blonder Mann mit hohen, schlanken Gliedern. Seine Haare fingen an grau zu werden. Er trug einen korngelben, etwas wehenden Schnurrbart, nahm lange Schritte, hatte eine freie, blanke Stirn und darunter ausschauende helle Augen, eine schlanke Nase und ein starkes Kinn.

Sein Koffer war schwer. Baptist mußte ihn oft von einer Hand in die andere gehen lassen und ihn schließlich erschöpft ein Weilchen auf den Boden niedersetzen. Der Mann blieb indessen mit Baptist stehen und schaute, als ob es ihn nicht interessierte, wie es mit seinem Koffer zuging, zu den Dächern der Häuser hinauf und an ihren Fassaden entlang. Diese stumme und untätige Duldsamkeit reizte Baptist. Er hob den Koffer gleich auf und ging weiter. Als er wieder müde wurde, biß er die Zähne auf die Lippen fest, als könnte er damit seine Kräfte anspornen und aufrecht erhalten. Aber die Last wurde fast unerträglich. Sein geschwächter Körper konnte ihr kaum noch widerstehen, und es kam ihm vor, als seien seine Glieder ausgehängt. Da ließ er mit einem knirschenden Seufzer den Koffer zu Boden gleiten und blieb stehen.

Auch der Fremde hielt zugleich seine Schritte an. Baptist fühlte, daß jener ihn anschaute, und er wandte seinen Kopf weg.

„Sie!“ sagte da der Fremde mit einer Stimme, die so gütig bezwingend klang, daß Baptist ihm die Augen zukehren mußte. „Wann haben Sie zum letztenmal gegessen?“

„Gestern um zwölf Uhr!“ antwortete Baptist in Eile und ohne weitere Überlegung. Es hatte nur den Zweck, rasch über die neuauftauchende peinliche Angelegenheit wegzukommen.

„Das sind jetzt über vierundzwanzig Stunden her!“

„Oh, ich bin daran gewöhnt!“ Das sagte Baptist zunächst mit der harmlosen Absicht, diesen unerwarteten Zwischenfall abzutun; aber dann kam doch, ganz aus innerer Macht unversehens emporgeschleudert, ein so höhnisches, empörtes und zitteriges Lachen hinein, daß der andere ausrief: „Wer sind Sie denn? Sie sehen nicht aus, wie die, bei denen Sie standen!“

Aber Baptist glaubte sich hinter einem querköpfigen Trotz verschanzen zu müssen: „Sozusagen ein Vagabund, dem es nicht schlechter geht, als den andern Kollegen!“

Der Fremde schaute ihn mit einem langen, suchenden Blicke an. Dann glitt sein Auge weg und er sagte mild: „Wollen wir etwas essen gehen! Eine halbe Stunde Zeit habe ich noch!“

„Nein, danke!“ wies ihn Baptist hartnäckig ab.

Da schwieg der Fremde. Baptist nahm den Koffer wieder auf und sie gingen weiter. Aber bald blieb der Fremde stehen und bemerkte kurz und wie obenhin, indem er seine Brieftasche herauszog: „Wenn Sie mal Lust dazu bekommen, daß es Ihnen anders gehen soll, da haben Sie meine Adresse. Wenn Sie dann vielleicht in der Gegend sind oder es gibt ja auch eine Post, – helf ich Ihnen!“

Mit einem trotzigen und verächtlich zweiflerischen „Ho!?“ fuhr Baptist mit der Karte in die Hosentasche. Aber während er weiterschritt fing er rasch an, seinen hartsinnigen Trotz zu bereuen. Wie töricht war sein verlumpter Stolz gegen den Edelmut dieses Mannes! Und wer war dieser ernste, stolze Mensch, der so neben ihm ging und sich für ihn einsetzen wollte, obgleich er ihn eben erst aus dem Kreise der Schnapser und Vagabunden genommen hatte! War in ihm, dem Verluderten, denn noch etwas, das zurückzeigte nach seinem Ehedem? ...

Baptist liebte den Fremden mit einer scheuen und ergebenen Haltlosigleit, wie eine gütige Macht, die ihn warm anblies. Während er den Koffer in der Hand neben jenem herlief, fühlte er sich wie ein Kind, dessen Phantasie der Fremde die verlockenden Spiele von Märchenerzählungen zuwarf. Das naiv Unbeholfene, das zärtliche Abhängigsein des Kindes von der nährenden Phantasie des Erwachsenen regte sich in Baptist ... Dieses stammelnde Verwundertsein und verwunderte Zugreifen, das gerührte, schweifende Fabulieren, mit dem das Kind die schönen Märchen in sich nimmt! Aber er war doch zu zerknetet, als daß er die Kraft zu dem Märchen selber gefunden hätte: diesem fremden Manne nun auf einmal in der kalten großen Stadt sein Schicksal zu offenbaren. Er schlich nur nebenher, und sein Herz quoll wieder zu einer kleinen, zagen Fruchtbarkeit auf.

Am Bahnhof nahm der Fremde ihm den Koffer aus der Hand.

„So!“ sagte er und reichte Baptist ein Fünffrankenstück, „Ich könnte Ihnen mehr geben, denn ich weiß, daß Sie es gebrauchen. Aber ich pflege nie eine Arbeit über Gebühr zu bezahlen, weil ich kein Almosen geben mag.“

Daran hielt er Baptist zum Abschiedsgruß die Hand hin. Dieser war darüber so betroffen und so erschrocken, daß er zunächst nur verwirrt vor sich hinstieren konnte. Aber auf einmal überströmte es ihn, weh und zärtlich, wild und verlangend; er bückte sich nieder und küßte die Hand des Unbekannten. Dann stürzte er kopflos davon, und die Tränen sprangen wie Brunnen in seinen Augen, während er durch die nächsten Straßen vom Bahnhof weglief.

Als er sich schon wieder gefaßt hatte und die Wirklichkeit hobelnd über das Erlebnis zu fahren begann, stand er auf einmal, von einem Schild festgehalten, vor einem Haus. ‚Alientje Veroken, Plätterin‘ ... Aber es dauerte eine kleine Zeit, bis er den Zusammenhang zwischen dem Schild und sich gefunden hatte, und in dieser Zeit hatte Alientje durchs Fenster geschaut, ihn gesehen und war schnell auf die Straße gekommen.

„He da, Herr!“ rief sie. „Man will wohl vorbeigehn?“

„Fräulein Veroken!“ machte Baptist und war froh erschrocken, so plötzlich etwas Bekanntes vor sich zu haben.

„Nun kommen Sie mal auf einen Augenblick mit herein!“

Und als sie drinnen waren, fragte das Mädchen: „Und wie gehts denn seitdem?“

„Gut und schlecht!“ antwortete Baptist.

„Aber mehr schlecht?“ sagte Alientje, und ihre starken Augenbrauen hüpften einmal auf. Dann fügte sie unvermittelt hinzu, indem sie ihre Stimme sanft und gefühlvoll machte: „Wer gibt sich aber auch mit solchem Pack von Musikanten ab, Sie Kind!“

Baptist machte eine unentschiedene Gebärde mit dem rechten Arm. Es kam ihm heute, seitdem er den Fremden verlassen hatte, nichts mehr erstaunlich vor, und er fand es natürlich, daß diese Frau, die ihm einst in einer Stunde der Not ihr Bett gegeben hatte, mit solcher Selbstverständlichkeit an seine innersten Dinge rührte.

„Wie konnten Sie so etwas machen!“ beharrte Fräulein Veroken. „Sie scheinen ja anderswoher zu sein, als wie Sie jetzt leben. Sie sind ja noch ein Kind. Wie alt?“

„Dreiundzwanzig!“

Alientje schlug die Hände zusammen und legte sie dann Baptist schwer auf die Schultern. „Dreiundzwanzig Jahre!“ rief sie aus, und ihr großer Mund formte mit einer seltsam erregten Bewegung die beiden Wörter, so daß die Fächer der kleinen Fältchen, die von ihren Mundwinkeln aus niederwärts ins Kinn gingen, sich verstärkten und wie gekräuselt aussahen. „Sie sind ja noch ein Kind. Sie brauchen ja noch eine Mutter! Sie sehen schlecht aus. Haben sich wohl noch nicht ganz erholt von Ihrer Krankheit im Spital? Wie leben Sie denn jetzt? Sagen Sie mal, wie leben Sie ...!“

Baptist freute sich an dieser Teilnahme. Aber was er in der letzten Zeit erlebt hatte, war ihm in diesen Stunden unwirklich geworden unter dem großen Wunsch, den der Fremde in ihn gesät hatte und den sein Herz wie in einem Vorfrühling durch die Schollen trieb; und er antwortete mit heißem Aufbegehren: „Ach, ich möchte so gern eine kleine feste Arbeit haben!“

„Jetzt bringen Sie mir“, sagte Alientje, nachdem sie etwas überlegt hatte, „einen Korb Wäsche zum St. Paulsplatz in die Taverne du Congo. Das muß weg und ich mach’ dann die pressante Arbeit, die noch daliegt, hinter mich. Dann kommen Sie zurück, und wir sprechen mal ordentlich zusammen!“

„Ganz gern!“ sagte Baptist und das ‚ganz‘ klang mit einem Ton kindlicher Herzlichkeit. Er war glücklich, schon wieder ein vorgemessenes Stück Arbeit erledigen zu können. Er nahm den Korb, der mit einem roten Tuch zugedeckt war, auf die Schulter und ging auf die Straße hinaus. Der St. Paulsplatz lag kaum eine Viertelstunde von der Wohnung der Plätterin, und Baptist trat in die Taverne du Congo ein.

Er kam in einen großen Raum, in dem jedes Plätzchen, das Tische, Stühle und Lampen freigelassen hatten, mit Kuriositäten vollgestopft war. Bilder von Schiffen waren von Gruppen seltsamer Holzwaffen umrahmt und dazwischen stachen gewaltig verbogene oder unheimlich lang zugespitzte Geweihe hervor, fremdartige Geflechte lagen unter ausgestopften Rieseneidechsen, hühnenhafte Eier hingen von der Decke herunter, ein paar Schiffsmodelle schaukelten leise im Luftzug, und ein farbiges Gewölbe von Papiergirlanden hob sich über diesen Gegenständen und verbarg die braune angeräucherte Decke.

Baptist ging auf den Schenktisch zu, hinter dem ein Mann mit klotzigen, roten Armen Gläser spülte. Als dieser Baptist mit dem Korb sah, trocknete er sich die Hände und sagte lebhaft: „So, Sie bringen die Wäsche schon?“

„Von Fräulein Veroken!“ antwortete Baptist.

Der Wirt kam herausgehüpft. Er war ein kleiner solider Mann von spaßhaftem Aussehen mit drollig lebhaften, kurz gehackten Bewegungen und hatte eine erfreuliche rote Nase, die aus einem graugemischten Wust von Bart herauskam.

„So! Das hält Leib und Seele zusammen in dieser Jahreszeit!“ sagte er und goß aus einer dunklen Flasche Baptist ein Gläschen ein. „Nun wollen wir mal schauen, ob sie auch nichts zurückbehalten hat, das Fräulein, oder ob Sie nichts verloren haben unterwegs.“ Damit hob er Baptist den Korb aus den Händen und stellte ihn auf den nächsten Tisch. Er zog rasch Stück für Stück heraus, nahm einen Zettel von einem Nagel und rieb sich die Nase, während seine Lippen leise gingen und ihre Bewegungen dem Haarwust seines Bartes verstärkt mitteilten.

All right!“ rief er schließlich. „C’est juste, stimmt, è giusto!“

Baptist gefiel der drollige Kerl. Er wollte sich mit ihm gut stellen und sagte: „Sie sind gescheit, vier Sprachen!“

„Ja, was wollen Sie! Hier im Hafen! Und ich müßte dazu noch mindestens chinesisch, japanisch, kasongolisch und maorisch können, um ein guter Wirt zu sein, so wie’s Geschäft international wird!“

„Sie sind wohl ein Deutscher?“ meinte Baptist dazwischen.

„Weil ich mein Französisch mit kölnischem Akzent spreche, meinen Sie. Freilich, ganz direkt aus Köllen, wenn Sie wissen, wo das ist!“

„Selbstverständlich weiß ich das und war schon dort!“ sagte Baptist nun auf deutsch.

„Psst, psst! Nicht zu laut!“ machte der Wirt und spitzte die Lippen aus der Wildnis seines Bartes heraus. „Es sind zuviel Deutsche hier in Antwerpen, die gute Geschäfte machen. Und wenn man Taverne du Congo heißt ...“ Aber er lachte hinterher wie eine losrasselnde Ankerkette. „Nee, es is nich so gefährlich. Man verträgt sich ... Sagen Sie mal, sind Sie so ein bißchen in die Sprachen rin?“ fragte er dann mit einem andern Ton. „Sie sprechen französisch, wie monsieur Boulanger de Paris.“

Baptist antwortete: „Ja, es geht, neben französisch und deutsch noch italienisch, englisch und auch ein wenig flämisch.“

„So, so!“ sagte der Wirt. „Ja, ja! Und Lateinisch und Griechisch?!“ Dabei strich er sich pfiffig mit dem Finger über den Mund, an der Stelle, wo Baptist die Narbe hatte.

„Bonn?“ fragte er dann mit einem verständnisvollen Kopfheben und einer verschmitzten Sachkenntnis. Aber er fügte gleich bei: „Ihren Kleidern sieht man keene fünf Sprachen mehr an. N...ja, es geht bisweilen, wie der Preuß sagt, dreckig zu in Jottes schöner Welt. Das kriegt man in so einem Hafen ja zu sehn. Wollen Sie eintreten in die Taverne du Congo? Meiner fährt mir hinterlistig heut Abend nach dem richtigen Kongo im Afrika drin. Dafür aber in Uniform. Anständiges Essen, ein Kämmerlein, zwanzig Franken im Monat und dagegen ein bißchen Gläserputzen, Stubenreinigen, Servieren und wenns scharf kommt, einem zu der guten Luft des Paulsplatzes verhelfen. Nu schlagen Sie mal rin!“

Das tat Baptist. Er kam sich vor wie in einer Wunderkomödie, in der sich alles Gute zum Schluß plötzlich überstürzt. Er bekam noch einen Schnaps.

„Morjen früh acht Uhr antrrräten! äh, äh!“ machte der Wirt militärisch und schlug den dicken Zeigefinger an die knollig runde Stirn.

Baptist ging durch die Straßen und hielt den Kopf hoch. Er war gerührt. Es war wieder Milde in sein Leben gekommen. Es erwartete ihn wieder ein Kämmerlein, ein gedeckter Tisch, Menschen. Der frostige Dezembertag wurde ein Frühlingstag und er schritt wie von einem Tänzchen getragen leicht hindurch.

‚Das ist der Segen der Arbeit!‘ sagte er sich zwanzigmal auf dem Weg zu der Plätterin. Wäre ich bei den Lumpen geblieben und hätte den Koffer nicht getragen, so wäre ich nicht zu Alientje Veroken und nicht zu dem kölnischen Wirt gekommen. Ob er’s nicht dem Fremden schreiben soll, daß er nun in einer ordentlichen Anstellung arbeiten wird.

Da las er erst die Karte. Es stand drauf: Just Timmermann, Oevelgönne bei Hamburg, Flottbecker Chaussee 77a.

Just! sagte er sich, hat die Wurzel von ‚gerecht‘, und Timmermann hat so etwas von Balken, etwas eichen Aufgebautes ... Zimmermann!

So kam er zur Plätterin zurück.

„Ich glaubte, Sie wollten mich im Stich lassen!“ sagte sie mit einer Miene zu schmollen, und die zwei Fächer von Fältchen falteten sich um ihr Kinn auf.

Da erzählte ihr Baptist, was er derweil unternommen habe. Sie zeigte eine lebendige Freude darüber und klatschte in die Hände, während die dicken dunklen Augenbrauen leicht auf und ab zuckten.

„Als ob ich eine Vorahnung gehabt hätte!“ sagte sie. „Kommen Sie mein Kind!“ und sie legte ihre Hand wie mit einer plötzlichen überschwemmenden Herzlichkeit kräftig um seinen Arm und zog ihn mit sich in das kleine Zimmer hinter dem vorderen Raum. Dort war es schon dunkel. Als Baptists Augen an dieses schwere braune Licht gewöhnt waren, sah er einen gedeckten Tisch mit Brot, Butter und Wurst und mit Bierflaschen. In dem kleinen eisernen Öfchen brodelte ein Feuer, das lustig durch das Luftloch in dem Türchen leuchtete und blaßgoldene hüpfende Flecken an die dunkle Bettstelle warf.

„Für heut schließen wir das Geschäft!“ sagte die Frau dann, indem sie sich die Schürze abband. Sie ging auf einen Augenblick hinaus, und Baptist härte, wie der Schlüssel im Schloß der Straßentüre sprang. Als sie dann wieder in der Stube war, schob sie Baptist auf einen Stuhl, ließ die Läden vor den Fenstern herunter, zündete die kleine Stehlampe an und setzte sich nahe an ihren Gast heran an den Tisch. Dann machte sie Brot zurecht, goß Bier ein, sie aßen und tranken, während sie Baptist nötigte zu erzählen, wie es in der Taverne gegangen sei.

Baptist saß wieder auf einem ordentlichen Stuhl in einem netten Stübchen. Das Zimmer war so weichwarm. Das Feuer schnurrte plaudernd im Ofen und durch das Lufttürlein sprangen die Lichtflecken an der dunklen Bettstelle hinauf in die weichen Kissen, die über den Rand der verhängten Lampenglocke hinaus heimlich grau im Schatten lagen. Neben ihm saß wieder einmal ein Mensch, ein guter Mensch aus Fleisch und Blut, den er mit den grausamen Stunden seiner letzten Wochen warm machen konnte. Er sah Alientjes große, kühl glänzende Augen dunkler und inniger werden an seinen Worten; sie kam unter seinem aufgeweichten, bittern Erzählen innerlich ganz an ihn heran und in der warmen Berührung mit ihrer Anteilnahme lösten sich die erlittenen Kümmernisse leicht und flüchtig von ihm los.

Alientje war enger an ihn gerückt. Der Halsrand ihrer Bluse war noch von der Arbeit her nach innen eingebogen und das nackte Fleisch ihres sehnigen Halses schien warm und leuchtend aus dem Ausschnitt heraus. Ihr Gesicht war von dem, was sie hörte, gespannt. Es hatte einen dunklen, verwilderten Zug. Die Augenbrauen erhoben sich buschig und schwül darin und zuckten in der Erregung. Die Frau horchte mit Bewegungen zu, die sich wie unbewußt springend, wie hastig verlangend dem jungen Menschen entgegenmachten. Ihr eckig sinnlicher Leib hatte ein vergessenes Sichhinhalten.

Als Baptist auserzählt hatte, sagte er nach einer Pause, in der ihm die Stimmung des warmen, heimelig verdunkelten Stübchens mit seiner Bewohnerin leise umwogte: „Ach, hier ist’s so gut!“ Da legte die Frau ihre Arme schwer um seinen Hals und glitt zu ihm heran.

„Du bist so schön!“ flüsterte sie ihm ins Gesicht. Er fühlte den Frauenleib auf seine Glieder drücken. Ihr Atem flog ihn mit einem feuchtbitteren, aufreizenden Geruch an und er legte seine Arme um sie. Als seine Hand in dem dünnen Stoff des Kleides unvermittelt ihren Busen spürte, sagte er sich, wie aus etwas Unklarem aufgeweckt: ‚Sie ist ja eine Frau!‘

„Du siehst so vornehm aus!“ flüsterte sie wieder. Und ihr Atem strich erregend warm über sein Gesicht. Er zog sie enger heran; er fühlte ihren Leib, dessen Blüte schon im Vergehen war, mit rückhaltloser Weichheit und doch wie steinigt auf seinen Gliedern, und er legte seinen Mund kosend auf ihr Gesicht. Aber er traf ihre Lippen, die sich heftig auf die seinigen schlossen, und er lag dann bei ihr in den schmiegsamen, weichen Tüchern einschläfernd aufgereizt, wehrlos sich hingebend, warm und dankbar.

 

In der Taverne du Congo am Paulsplatz fing Baptist dann an zu arbeiten. Zuerst mutig und zuversichtlich und alle Gedanken von der angestrengten Arbeit eingehüllt. Des Abends war er immer müde und stieg mit zufriedener Ermattung, nachdem das Lokal unten geschlossen war, zu seinem Dachkämmerlein hinauf und legte sich, gewiß des erfüllten Daseins, in sein wackeliges Eisenbett. Das sichere, gutgenährte und von körperlicher Beschäftigung erfüllte Leben stärkte langsam seine Glieder wieder. Er fühlte seine Muskeln straffer, seinen Körper widerstandsfähiger werden.

Die Kunden, die kamen, und die er gelegentlich bedienen half, waren der Mischmasch der groben und abenteuerlichen, der einfachen und brutalen Existenzen, die die Hafenstadt versammelte. Sie kamen und gingen. Nichts blieb von ihnen zurück. Sie hatten meist viehische Manieren. Baptist hörte sie ihre gemeinen Geschichten erzählen, sah sie in Streit geraten und sich roh bedrohen; beobachtete, wie sie sich untereinander und den Wirt zu betrügen versuchten, wie sie stahlen. Sie brachten ihre verluderten Weiber mit, kosten sie ohne Scham und prügelten sich, wenn sie betrunken waren, um diese öffentlichen Bälger, die gleichgültig, welchem Sieger sie zufielen, mit tierischer Gedankenlosigkeit den rohen Auftritten zuschauten.

So blieb Baptists Leben flach auf der Linie liegen, wie er’s am ersten Tage an der Seite des Herrn Hasenklever aus Köln begonnen hatte. Er fühlte sich manchmal wie schon leise durchsetzt von der brutalen Atmosphäre, in der sich sein Leben vollzog, und er hörte auf, das Unbestimmte, verlockend Weiterführende zu erwarten. Er tat seine Arbeit mit einer ratlosen Gleichgültigkeit und Notwendigkeit. Aber er lag rastlos und still seinen Pflichten ob und gewann sich die volle Sympathie des Wirtes.

Jeden Montag Abend, denn die Montagabende waren Geschäftsflauten, hatte Baptist Ausgehtag. Nach einiger Zeit nahm ihn Hasenklever an diesen Abenden immer mit in seine Stube. Sie lag mit den Schlafzimmern der Familie auf dem ersten Stockwerk. Sie aßen dann miteinander zu Nacht, zusammen mit den beiden Töchtern des Wirts, die stille, einfache Mädchen waren und ihre ganze Zeit zur Verwaltung der Küche gebrauchten. Wenn sie dann nachher noch etwas beisammen saßen, benutzte der Wirt die ruhige Zeit, nahm aus dem kleinen Eichenschrank auf der Kommode die Kasse und die Bücher und machte mit Baptists Hilfe die Eintragungen der Woche. Bis das erledigt war, ging es immer bis um die neun Uhr.

Baptist verließ dann das Haus und schritt schnell durch die Abendgassen zur Sudermanstraße, in der Alientje wohnte. Er klopfte an den Holzladen der Türe. Bald kam drinnen Antwort. Das Schloß knackte und er schlüpfte in die Dunkelheit und in die Arme Alientjes hinein, die immer mit einer gleich zufassenden, wie stürzend überschwemmenden Zärtlichkeit diese Empfänge vollzog. Die beiden glitten dann aneinanderhängend in die kleine Stube, in der der Ofen brodelte und goldene Flecken ins Bett hüpfen ließ. Die großen Augenbrauen Alientjes gingen auf und ab und Baptist spürte sie aufreizend an seinen Wangen, seinen Augen, seinen Lippen. Wenn er sich dann an Alientjes warmen nackten Körper drücken konnte und ihn so nach wortarmen und doch vollen Stunden sorglos erfüllt und sanft hingegeben, der Schlaf überkam – das war Mitleid, Milde, Flucht.

Von allem Persönlichen entfernt, waren diese wöchentlichen Nächte, die ihm das Mädchen gab, wie ein Prinzip der Güte. Er wuchs in ihnen in den Schoß des warmen Menschlichen, das mit vegetativ unbewußten Absichten sich um die Paare schlang und sich wie Blitzableiter in die Gewittergeladenheit der gewalttätigen Tage des Daseins richtete.

Baptist war der Frau deshalb mit einer gedankenlosen Selbstverständlichkeit verbunden. Es war mehr als Liebe, das diesen Bund zusammengefaßt hielt; es war der unbewußte, bescheiden gemachte Egoismus seiner Jugend, seines Ruhebedürfnisses und seiner Angst.

Als er etwas Geld übrig zu behalten begann, brachte er ihr immer kleine Geschenke mit, und es fing von da ab an, daß sie an den Abenden immer ein wenig noch wohin gingen, in ein billiges Varietee oder in einen Konzertgarten. Es war nun wieder Sommer und warm draußen. Alientje putzte sich dann kokett und angestrengt auf.

„Kuck mal, Schatz,“ sagte sie eines Abends, als Baptist kam, „was ich bekommen hab!“ und sie zeigte ihm eine kleine goldene Brosche.

„Ja, die ist schön!“ sagte Baptist, während er das kleine Ding in den Fingern drehte und sich dachte: das hat mehr Wert, als alle die kleinen Frankengeschenke, die ich ihr in einem Jahr geben kann.

„Und nun rate, von wem?“

Aber Baptist antwortete harmlos: „Wie soll ich das können!“

„Denk’ dir, der dicke reiche Bäcker drüben an der Ecke hat sie geschickt.“

„Der Bäcker, weshalb?“ fragte Baptist teilnehmend.

„Ja, was meinst du, deine Alientje hat Verehrer!“

Sie zog ihre buschigen Augenbrauen mit einem Ruck hoch; die Fächer der Fältlein zerrten sich auseinander und blieben auf einmal stehen, und der Glanz ihrer großen dunklen Augen schimmerte lauernd und kalt entzündet gegen ihn auf.

Baptist schaute sie verständnislos an. Sie stand da, und ihr Körper schien sich selber überlassen ihm hinzuhalten. Das Gesicht war aus dem Licht der Lampe heraus, aber die Augenbrauen beherrschten es um so schwerer und aufregender. Ein kleiner Schmerz wollte auf Baptist eindringen. ‚Was kam nun wieder?‘ fragte er sich.

„Wie meinst du das? Alientje?“ stammelte er ängstlich.

„Ja, ja!“ machte sie heimlichtuend, „Ich könnte alle Finger voll haben, an jedem einen, auch der Uhrmacher drüben steht den ganzen Tag hinterm Fenster zu schauen, und wenn ich ausgehe, kommt er immer in die Türe. Und hier den Schal hat mir einer geschickt, von dem ich gar nicht einmal weiß, wie sein Name ist.“

Der Schmerz hatte sich durchgefressen, und Baptist bettelte mit seinem ohnmächtigen Blick: „Alientje!“

Da stürzte sie sich begehrlich über ihn und drückte ihn heftig hinterrücks aufs Bett. Sie lag schwer auf ihm, und er spürte ihren ganzen Leib, steinigt und zugleich verfließend, in seinem Körper. Sie biß ihn in den Hals und sagte, als quölle es zitternd in ihr über: „Liebst du mich denn?“ und ihr Atem schlug ihn an. „Du bist so schön und stark! Liebst du mich?“ flüsterte sie.

Aber seit diesem Abend wiederholte es sich, daß Alientje von andern Männern sprach. Bald war es in einer Kundenwohnung, daß der Hausherr allein zu Hause war und sich unter den freigebigsten Versprechen begehrlich zu nähern versucht hatte. Bald war es irgendeiner auf der Straße. Ein starker junger Mensch oder ein eleganter reicher Lebemann, der ihr bis zur Haustüre gefolgt war und nun öfter an ihrem Weg angetroffen wurde oder ihr Blumen und kleine Geschenke schickte. Oh, und es waren lauter schöne, breitschultrige und reiche Männer. Sie reizte sich und Baptist mit diesen Erzählungen, die sie mit allen kleinen greifbaren Einzelheiten ausstattete und sprang aus ihnen unmittelbar in die Liebesausbrüche, mit denen sie auch Baptist in Flammen setzte.

Aber Baptist begann aus der unbewußten Sorglosigkeit und der instinktiven Lust, mit denen er dieses Gut besaß, herauszugleiten. Er wurde unsicher und bekam Angst; die einfache, primitive Angst zu verlieren. Das Leben glitschte ihm wie ein Fisch durch die Hand. Er hatte es erlebt, wie die Schwelle unversehens unter seinen Füßen weggewichen war, als er schon glaubte, in dem neuen, stolzen Haus zu sein. Der Boden rutschte. Er hatte eine dumpfe Angst, als kämen nun mit dem neuen Verlust, der vor ihm drohte, das Grauen, als käme nun wieder Heimatlosigkeit und Hunger und die höhnischen, verführerischen Vagabunden – das Versinken ins Moor des unglückselig haltlosen Lebens.

Baptist gab jede Besonnenheit auf. Zitternd verrann jedes Wirklichkeitsgefühl vor ihm. Alientje verband die fremden Männer, die er als Agenten seines unglückseligen Schicksals ansah, immer mit Geschenken, und der Gedanke hackte sich in ihm fest, daß er mit Geschenken die böse Macht, die sich wieder näherte, versöhnen und entfernen konnte. Er begann mit fieberhaftem Begehren nachzusinnen, wie er mehr Geld bekommen könnte und rieb sich wund an der Ohnmacht, die über ihm lag.

Einmal lehnte er sich auf. Während er Gläser auswusch, sah er, daß an einem Tisch ein paar Leute miteinander in Streit zu kommen begannen. Da fühlte er es brutal und gewalttätig in seinen Muskeln sich regen und er hatte die unwiderstehliche Lust, in den Menschenhaufen hineinzustürzen, den Streit, der noch wie der erst halbgelöste Stiel einer reifen Frucht am Zweig drohend über ihnen hing, roh in sie herabzuschütteln und selber blind zuzuschlagen. Dann malte er sich aus, wie ein einziger Fausthieb gut gezielt treffen würde, was für gewaltsame Wirkungen er hätte. Diese Vorstellungen bekamen etwas dumpf Schwerblütiges, eine wollüstige Brutalität, die ihn hitzig dahinstieß. Baptist fühlte einen Menschenhals in seinen Fingern und drückte zu; nicht in Wut, in kalt unbewußtem Sichaufrecken von Leben gegen Leben. Und so diese Hunde von Männern hinwürgen, diese Straßenkavaliere ...

Aber Baptist hatte den Einfall noch nicht ausgefühlt, als Hasenklever herankam und ihm sagte: „Baptist machen Sie sich mal rasch auf, die Wäsche von der Veroken holen. Das ist ganz vergessen worden und es ist schon dunkel. Die wird bald zumachen.“

Als Alientje so plötzlich vor Baptist gebracht wurde, sah er, daß sie bei seinem Wunsche, sich in den Streit zu mischen, nicht unbeteiligt war. Und so war mit einem Schlag über dem Gläserspülen das Dulden in Leidenschaft umgeschlagen.

Baptist lief durch die Gassen zur Sudermanstraße. Alientje hatte den Laden schon an die Türe gehängt, aber den Schlüssel noch nicht umgedreht. „Du?“ rief sie erschreckt, als sie Baptist plötzlich sah. Ihre Augenbrauen standen in einem spitzen Winkel gezackt und die Augen schauten in ihrem kühlen Glanz wie mit einem kalten Fieber. „Was willst du denn?“ fragte sie unsicher und mürrisch.

Aber als Baptist ihr gesagt, er komme rasch die Wäsche holen, gewann sie im Nu ihre Beherrschung wieder. Der Korb stand schon bereit. Sie machte emsig herum, drückte ihn Baptist eilfertig in die Arme: „Na, denn schnell, wenn Herr Hasenklever es braucht; denn schnell!“

Baptist ließ sich hinausschieben. Erst als er um die Ecke war, kamen ihm alle Einzelheiten des Empfanges, den ihm Alientje gerade bereitet, zum klaren Bewußtsein. Er hielt sie auseinander, versponn sie schnell zu Vermutungen und im Nu fiel ein ganzes schweres Netz verbrennender Verdächtigungen auf ihn nieder.

‚Was ist jetzt? was ist jetzt?‘ stammelte er laut für sich und wußte nicht, daß er durch die Gassen lief. Er kam auf einmal auf den St. Paulsplatz und sah die Taverne du Congo drüben liegen. Die Fenster des ersten Stockwerks waren dunkel. Er schaute zufällig zuerst dort hinauf und gleich saß, wie mit einem kleinen derben Ruck ein Haken ins Fleisch gerissen wird, der Gedanke hitzig in ihm fest. Er dachte sich nichts aus, lief über den einsamen kleinen Platz und glitt in die dunkle Flurtüre, eilte lautlos die Treppen hinan und stellte oben den Wäschekorb ab. Er schlüpfte in den Flur, in die Wohnstube, glitt zwischen Tisch und Stühlen im Dunkeln zu dem kleinen Eichenschrank, griff in die Kassette und zog einen Papierschein hervor. Er knüllte ihn in die Tasche. Sein Atem blieb stehen. Aber im Nu war Baptist wieder auf der Treppe, auf der Straße und ging durch die Wirtshaustüre in die Schenkstube.

„Das war ja fix!“ empfing ihn Hasenklever. „Einen Extraschnaps, da!“ und stellte ein volles Gläschen hin. Dann übergab er ihm den Gläserschrubber und löste seine Tochter an den Bierhähnen ab. Das große Lokal saß voller Gäste. An dem Tisch, den vorhin der Streit bedroht, hatten sich alle umschlungen und sangen:

„Brüderlich verei...ei...eint,

Seg’ln wir in die Wä...ä...lt,

Matrosen, hipp, hipp, hurra!“

„Ihr Geviech!“ sagte Baptist trotzig und drückte ein Glas in der Hand, daß es zersprang. Hasenklever warf einen kurzen Blick herüber. „Die Scherben unter den Tisch werfen!“ rief er. Baptist schleuderte sie hin, daß sie in Splitter zerknallten. „Puh, puh,“ machte Hasenklever ohne hinzuschauen und strich den Schaum von einigen Gläsern ab, „war’s Alientje nicht freundlich?“

Baptist war den ganzen Abend über dunkel, trotzig und verbohrt. Er arbeitete mit heftigen, geräuschvollen Bewegungen, um die Gedanken hintanzuhalten. Die stauten sich hoch und gefährlich wie zu einem niederschmetternden Wirbel bereit, rund um die dunkle Tat, die er eben vollbracht hatte. Als er am nächsten Morgen aufstand und gedankenlos in die Hosentasche griff, zog er einen Fünfzigfrankenschein hervor. Erst wußte er nicht, was damit los sei, aber dann kam die Erinnerung mit der klaren Grausamkeit aller Einzelheiten über ihn gefallen, und eine marternde Scham begann sich in ihm einzunisten. Aber in einem Augenblick schlug die Angst um die Frau in ihm hoch und ertränkte alles andere. Mit einer gequälten Unruhe und einer angstvollen Traurigkeit ging er dann in die Stadt hinein und zu dem Laden, wo das Jakett ausgestellt war, vor dem ihn neulich Alientje mit begehrlichen Worten angehalten hatte. Es kostete gerade fünfzig Franken, wie auf einem großen Schild zu lesen war. Baptist trat in den Laden und ließ es einpacken.

„Wo dürfen wir es hinschicken?“ sagte das Fräulein. „Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es heute nicht mehr wegkommt, weil Sonntag ist.“

„Ich nehme es selber mit!“ antwortete Baptist. Dann ging er rasch über die Straßen, den Karton unterm Arm, zu Alientjes Wohnung.

„Baptist!“ rief sie, als er eintrat. Sie ordnete in den Wäschehaufen auf den weißen Brettern, stellte aber gleich ihre Beschäftigung ein und kam auf ihn zu. Sie zog ihn in die Hinterstube und drückte ihre Lippen lang und hart auf seinen Mund, noch bevor er Zeit gehabt hatte, den Karton abzulegen.

„Ich hab’ dir etwas mitgebracht!“ sagte er schließlich scheu.

Alientje öffnete und geriet in lärmendes, jubelndes Entzücken. „Baptist! Baptist!“ rief sie immer, „Wie schön ist das! Wie schön ist das!“ und sie küßte ihn mit einer lärmenden Wucht.

Aber er konnte kein Feuer fangen an ihrer Freude.

Nachdem es lange in ihm gearbeitet hatte, sagte er schließlich schwerfällig: „Du darfst dich aber nicht mit andern Männern abgeben!“

Aber sie lachte nur oben drüber weg. „Tepp!“ antwortete sie, „Die schaden dir nichts!“

„Doch!“ rief er brutal und herrisch.

Alientje aber klammerte ihre Hände an seine Schultern und zog sich an ihm hinauf. Er spürte wieder ihren ganzen Leib und die Augenbrauen standen wie gezückt.

„Nein, nein!“ flüsterte sie ihm ins Gesicht und küßte ihn. „Das reizt mich ja nur mehr zu dir!“

Da preßte er sie an sich und stöhnte. „Ja, so, so!“ feuerte sie ihn an, „noch fester!“

Doch Baptist sagte bedrückt: „Komm, wir sterben zusammen!“

 

Als Baptist am nächsten Abend auf Hasenklevers Stube saß und der Wirt nach dem Abendessen Bücher und Kasse aus dem Schränkchen zog, da fühlte Baptist, daß er kühl und stark wurde. Jetzt zur Wehr gesetzt! Jetzt alle Muskeln angestemmt! hieß eine Stimme in ihm. Er wußte, daß er in diesem Augenblick nun alles in sich beherrschte und er stand seiner Tat gegenüber, wie eine gerüstete Armee gegen die Kriegserklärung des nachbarlichen Feindes.

Baptist sah Hasenklever rechnen und eintragen. Der Wirt zog einen Strich und aus seinem Bart kam mit halblauter Stimme eine Zahl: fünfhundertfünfundsiebzig, die schrieb er dann unter den Strich und setzte eine Summe davor. Er überrechnete noch einmal und nickte zum Schluß mit dem Kopf, während er die kleine Kassette heranzog, sie leerte und mit flüsternden Lippen, deren Bewegungen der Bart verstärkt widergab, den Inhalt zählte. Dann sagte er mehrmals, damit sich die Zahl in ihm festsetzte: ‚Fünfhundertfünfundzwanzig Franken, fünfhundertfünfundzwanzig Franken‘ und blickte in das Buch. Er schüttelte den Kopf und begann von neuem zu zählen. „Hol mich der Deibel!“ rief er, als er fertig war, „Zählen Sie mal dieses Geld, Baptist!“ Hasenklever stand auf und zog Baptist auf seinen Platz.

„Fünfhundertfünfundzwanzig Franken!“ sagte Baptist, nachdem er gezählt hatte.

„Und nun schauen Sie hier und rechnen Sie selber das nach!“ Hasenklever schob ihm das Geschäftsbuch hin, und Baptist bestätigte, daß die Rechnung stimmte.

„Dann fehlen fünfzig Franken!“ sagte Hasenklever.

„Ja, der Unterschied!“ machte Baptist, indem er auf den Geldhaufen und auf die Zahl hinter Summa zeigte.

„Sagen Sie, Baptist, gibt’s denn Diebe im Haus?“ rief Hasenklever aufgeregt.

Baptist fragte kühl scherzend: „Meinen Sie mir oder meinen Sie mich?“

„Ach Quatsch, Unsinn, daß das nicht ist, wissen Sie, sonst täte ich hier nicht so mit Ihnen drüber disputieren! Haben Sie nicht mal was bemerkt, so irgend etwas Verdächtiges?“

Baptist schien nachzusinnen.

„Bei den Gesellschaften, die sich drunten immer herumbewegen, da ist schließlich ein jeder verdächtig. Schließen Sie Ihre Türen immer gut ab?“ fragte er dann, als habe er einen Einfall.

„Nee, is ja wohl wahr!“ antwortete der Wirt.

„Ja, aber Herr Hasenklever, das fordert doch die Vorsicht!“

Doch Hasenklever schimpfte los: „So eine Hundserei! Ich schenk’ einem fünfzig Franken, aber ich will sie mir nicht stehlen lassen. Man will doch seine Sicherheit und sein Vertrauen im eigenen Haus in jedem Zimmer haben.“

„Sie sehen, daß dieser Wille nicht genügt!“ entgegnete Baptist überlegen.

„Na, da muß auch das anders werden!“ rief Hasenklever zum Schluß.

Als Baptist dann durch die nächtigen Gassen zu Alientje ging, setzte er mit einem trotzigen Spielen die Komödie, in der er sich droben in der Stube so sicher gefühlt hatte, für sich fort. „O ja!“ sagte er sich schließlich, „ich bin weit voran, das ist schon der richtige Weg!“

Aber er klopfte vergeblich an Alientjes Holzladen. Als der Schlüssel nicht sprang, schritt er erregt in der Gasse auf und ab und kam immer wieder zu der Türe, pochte ein paarmal leise, dann hieb er einen ungeduldigen Schlag mit den Knöcheln, immer vergeblich.

Da ging er trotzig weg. Die Ungeduld fuhr ihm zitternd durch alle Adern. Sein kühles Heldentum fiel langsam von ihm ab. Etwas Dunkles folgte ihm, durch die engen, abgelegenen Gassen, in die der gröhlende Lärm der Hafenkneipen nur wie mit zugebundenem Munde schlug. Es schleifte mit einem leisen Krachen hinter ihm her, und Baptist ging die großen Straßen aufsuchen. Über die Kipdorpstraße wandte er sich den Avenuen zu und wurde sich schnell einig, in das Eden-Varietee in der Breydelstraße zu gehen, wohin ihn Alientje öfter geschleppt hatte.

Als er eintrat, sprangen drei Tänzerinnen auf der kleinen Bühne des Hintergrundes in einem hellen Licht, dessen Farben sich drehend änderten. Baptists Augen, noch von der Dunkelheit der Nachtstraße erfüllt, wurden durch das zitternde Glühen der gleitend aufschlagenden Farben geblendet, und er trat, um sich zu schützen, seitwärts hinter die erste Säule. Der Saal war ein flacher, rechteckiger Raum, der durch zwei Reihen von holzumkleideten Kolonnen gedreiteilt war. Baptist blieb an der Säule stehen, und seine Augen erholten sich schnell von den Schlägen, die ihnen die grellen plötzlichen Feuer versetzt hatten. Der Saal war verdunkelt, und die Menschen, die im Seitenteil an den Tischen saßen, bewegten sich leise, mit der Bühne zugewandten Gesten als schwarze Schattenmassen. Baptist schaute in diese dunkle Wirrnis hinein, ohne etwas anderes zu sehen, als die Farben der Feuer, die in verschwächtem und blassem Widerschein über die Wände hinaufliefen. Nur immer, wenn ein helles Licht kam, wurden die Schattenmassen der Zuschauer auf einmal ein wenig körperlicher.

Wie mit einem Schlage versank dieses Spiel, Bogenlampen knallten, zischten und zirpten, und weißes Licht strömte plötzlich in die Schatten und prägte sie zu lebenden Gestalten. Die Menschen klatschten, eine Wollust des Lärmens raste in ihnen, hob und senkte sie leise wie Wogen. Und in diesem erregten Spiel, das wie gewaltsam niedergedrückt über alle Tische lag, sah Baptist auf einmal an einem Tisch vor sich Alientjes schwarzen Hut mit dem roten Kranz von Mohn. Sie saß zwei Tische von ihm weg und drehte ihm den Rücken. Sie drückte ihre Schulter an die Schulter eines ganz jungen, bleichwangigen Menschen, der eine schmale, blutrote Krawatte unter einem handhohen Kragen hatte und sorgfältig und eng gekleidet war, wie ein Modewarenverkäufer. Alientjes bleiches Gesicht war der Bühne zugedreht, und ihre großen dunklen Augen hingen mit kalter Erregung dorthin gerichtet. Die Fältchen um ihr weißes Kinn waren wie aus glühend erstarrtem Marmor. Ihre linke Augenbraue, die Baptist sah, war in dem überhellen Licht schwer und schwarz hochgerichtet, und ihre Hände klatschten rasch und krampfhaft ineinander, während sie sich immer heftiger mit der Schulter gegen den jungen Mann andrückte. Der schob auf einmal seine Hand hinter ihrem Rücken herüber und legte sie unter ihrem linken Arm fest an ihren Busen.

„So!“ sagte sich Baptist, während er eine große Kälte sich schnell in seinem Innern aufrichten fühlte. „Das wäre erledigt!“

Er drehte sich gleich um und ging auf die Straße hinaus. Er nahm den geradesten Weg zum St. Paulsplatz und wurde im Dahinschreiten wie aus Stein, hoch und schwer und kalt. Ein eiserner Hochmut hämmerte ihn zusammen. Er kam sich vor, wie von einer ungeheuerlichen Einsamkeit umgeben, wie von einer eisig kalten Freiheit aus der Scheibe seines Lebens hochgehalten. Der Kreis dieser Gedanken lag eng und stählern um ihn. Baptist verließ ihn über den ganzen Weg nicht.

In der Taverne du Congo sah er Licht in den Stubenfenstern. Er wollte Zeugen seiner Härtung haben und er klopfte oben an. Hasenklevers älteste Tochter saß mit einer Stickarbeit am Tisch.

„Darf ich eintreten?“ fragte Baptist.

„Gern. Es ist sogar erwünscht!“ sagte Fräulein Grete. Und ohne Umstände hängte sie Baptist eine Strähne grünes Garn über die Arme und begann es abzuwickeln. Baptist ließ dieses Geschäft sich vollziehen, als hätte er nichts dabei zu tun. Er saß mit finster geballten Blicken auf dem Stuhl und sah starr die grünen Fäden über seine Hände gleiten.

„Wissen Sie denn schon, daß Alientje Verokens Mann zurück ist und drunten in der Stube sitzt?“ begann Grete Konversation zu machen.

„Wer?“ fragte Baptist rauh.

„Der Mann unserer Plätterin Veroken!“

Nach einer Weile fügte sie mit einem kleinen lauernden Blick hinzu: „Sie kennen sie doch! In der Sudermanstraße die!“

Baptist knurrte: „Wußt’ nicht! ...“

„Daß sie verheiratet ist!“ rief das Mädchen gleich entzückt. „Ja, das wußten viele nicht. Das ist überhaupt eine. Auf alle Wochentage hat sie einen andern. Ja, ihr Mann war ihr in den Kongo davongelaufen, das wird ihr jetzt noch lange nicht recht sein, daß er wieder hier ist. Oh, ich sag Ihnen, das ist eine ...“

Baptist sagte kalt und roh: „Sie ist ein Luder!“

Das Mädchen hielt erschreckt im Abwickeln inne. Dann machte sie ein beleidigtes Gesicht und schwieg. Als das Garn aufgerollt war, verzichtete Grete, noch einen weiteren Strang von Baptists Händen abzuwickeln und zog sich abweisend zu ihrem Kanevas zurück, auf das sie Rosen mit grünen Blättern stickte. Die zwei saßen stumm und voneinander getrennt.

Baptist wünschte bald Gute Nacht! Das Mädchen antwortete ihm kaum. Er legte sich ins Bett und die Gedanken bewegten sich schwer in ihm, wie Eisblöcke. Ihre Kälte hielt ihn wach.

„Und das gestohlene Geld!“

Das Eis war in der aufsiedenden Qual im Nu zerschmolzen. Baptist warf sich ruhelos, grausam bedrängt auf dem schmalen Bett umher. Er dachte gleich an die Diebstähle, denen er sich im Hause seines Vaters nicht hatte entziehen können. Die Umstände, unter denen er dort Geld gestohlen hatte, entwichen seinem Gedächtnis und er sah diesen als die Fortsetzung jener Kette der sündhaften Schmach an. Er kam sich vor als ein Gottverdammter, zum Verbrechen Verfluchter, ein Verächtlicher, Verkommener.

Aber so oft sich in seiner Wirrsal die Erinnerung an den Betrug der Plätterin hervordrängte, fühlte er sich trotzig ruhiger werden. Einmal in einem solchen Augenblick der schrecklichen Stunden sagte er dann mit lauter Stimme in hartsinniger Grausamkeit gegen sich selbst und sah dabei den Schimmer einer ganz fernen Sehnsucht aufscheinen: „Ich stelle mich dem Gericht!“

Neuntes Kapitel

Baptist ging in den frühen Morgenstunden nach dem Süden, wo der Gerichtspalast lag. Das Leben der Straßen hatte noch etwas Taufrisches vom Schlaf der Nacht her. Auf der Place Verte, die er bald kreuzte, waren große Haufen von Gemüse aufeinandergeschichtet, welche die Fruchtbarkeit des Waeslandes hereingeschickt hatte. Es lag noch Tau auf den grünen Büscheln; sie waren üppig, fruchtbar und saftig, wie mannbares Leben. Über den Platz zog der Turm der Kathedrale in den morgenblassen Himmel hinauf, und seine Spitze war rosig von der neuen Sonne, wie mit duftendem Reif belegt. Das alles sah Baptist und er ging, in den dumpfen Kreis seiner märtyrerhaften Vorstellungen eingeschlossen, der selbstbestimmten Sühne entgegen. Er klagte sich öffentlich an. Es war eine dunkle Feierlichkeit in ihm, seltsam gemischt mit bitterer Scham und einer weglosen Verzweiflung.

Es war halb acht, als er vor dem Gerichtspalast ankam. Er stieg die große Treppe hinan mit einer mürrischen und trotzigen Entschlossenheit. Im Treppenhof stand ein einsamer uniformierter Beamter bewegungslos wie ein Standbild, und in den Gängen sah man kaum ein paar Menschen auf den Bänken an den Wänden sitzen. Als Baptist den Treppenhof durchqueren wollte, setzte das Standbild in Uniform plötzlich ein Bein vor. Wohin? hieß dieser stumme kleine Schritt.

„Wo ist das Bureau des Staatsanwalts?“ fragte Baptist.

Der Beamte zeigte mit dem Daumen über die Schulter: „Viert’ Tür’ rechts!“ sagte er, als spräche er in die Luft hinein.

Baptist trat schwer in den Flur, in dem auf einmal ein kleines, hartes, graues Licht war, das durch ein fernes Fenster im Grund herbeikam. Er klopfte an der vierten Türe. Als er keine Antwort hörte, legte er die Hand schwerfällig auf die Klinke und drückte nieder. Aber die Türe war verschlossen.

Da ging er zu dem Beamten zurück und sagte ihm das.

„Gleich sa’n kön’! kom’ erst zehn!“ antwortete der ihm, feierlich trotz seiner abgeknapperten Sprechweise.

Baptist verließ das Haus wieder, stieg die Treppen hinunter in die Straße und ging finster der Stadt zu. Er wollte zur Taverne zurück, um zunächst noch seine Morgenarbeit zu verrichten. Aber so wie er in seiner dunkel und schwerfällig angetriebenen Bewegung sich der Strafe zu stellen, auf einmal unerwartet aufgehalten worden war, verließ ihn der finster geballte Grimm des Sühnenwollens wieder, der ihn festgehalten hatte. Er war nun wieder nur der Mensch, der das Vertrauen anderer getäuscht, der sich heimlich am fremden Eigentum vergangen hatte, der verächtliche, verluderte Dieb. Diese harten Vorstellungen wirbelten verbrennend in ihm herum und er eilte achtlos durch die Straßen. Er war auf einmal auf dem Paulsplatz und ging quer hinüber auf die Taverne zu. Wie unter dem Gewicht der eisernen Gedanken trug er den Kopf gebeugt. Als er an die kleine Treppe kam, die zu der Wirtschaftstüre hinaufführte, hob er ihn auf, und es erschien ihm eine Sekunde lang merkwürdig vertraut, daß eine junge schlanke Dame mitten in der Straße auf ihn zukam.

Aber in demselben Augenblick, wo die Dame wie gewaltsam angehalten keine zehn Schritte von ihm weg mit dem Kopf in die Höhe zuckte – erkannte er, daß es seine Schwester war, die dort vor ihm erschrocken zurückfuhr.

Da wurde er von einem schweren Schlag seines Herzens getroffen, daß er sich aufbäumte wie eine Woge, die gleich vornüber niederzubrechen droht. Aber im letzten Augenblick fand er eine verzweifelte, trostlose, leise wegschiebende Gebärde mit der Hand. Er sprang die Treppen hinan und warf sich in die Türe hinein. Die Scham goß sich wie heißes, nasses Blut über sein Gesicht. Er drehte sich nicht mehr um.

Drinnen stürzte er wie gestoßen zwischen den Tischen hindurch, bis er Hasenklever hinter dem Büfett arbeiten hörte. Da blieb er stehen. Das Lokal war ganz leer. Er drehte dem Wirt den Rücken und versuchte seitwärts mit einem scheu verbrannten Blick durch die Fenster die Straße zu erreichen. Er hörte, wie die Arbeit hinter dem Büfett auf einmal aufhielt, wie Hasenklever mit ein paar langsamen, neugierigen Schritten hervorkam und dann stracks zu den Fenstern eilte.

Hasenklever pflanzte sich dort auf. Er sah eine elegant gekleidete junge Dame mitten auf der Straße stehen und ein kleines weißes Taschentuch erregt an die Augen pressen. Er konnte deutlich erkennen, wie das Schluchzen sich in ihrem Körper bewegte. „Deibel, Deibel!“ knurrte Hasenklever in seinen Bartwust, „Was ist denn nu das wieder?“ Das ungewohnte Bild vor seiner Türe war ihm doch etwas zu kasongolisch, wie er sich ausdrückte. „Baptist, Sie Mensch,“ rief er hitzig, „so kommen Sie doch mal heran, ob Sie schon so was gesehen haben! Am hellen Morgen steht ein Mädel draußen und plärrt den Sankt Paulsplatz an. Und hol mich der und der, das arme Frauenzimmer ist nicht aus unserer Gegend. Das ist was Feines!“

Baptist stand erstarrt in der Mitte des Raumes an einen Tisch gedrückt und sah seine Schwester draußen weinen. Und Hasenklever hatte noch nicht ausgesprochen, da kam eine Welle an Baptist heran, hob sich an ihm hoch und glitt über ihn nieder. Heiß und unwiderstehlich schwer drückte sie ihn in die Knie. Er warf sich mit dem Kopf über den Tisch und schluchzte es heraus: „Es ist meine Schwester!“

Hasenklever fuhr herum und kam langsam herzu. Erst war er etwas fassungslos vor dem langen starken Burschen, der weinte, und er rieb sich eine Weile seine rote Nase. Als sie ganz warm war, zupfte er seine Schnurrbartspitzen aus der Wildnis des Backenbartes heraus. Dann legte er unbeholfen seine dicke Hand auf den Rücken des Weinenden, und schließlich hatte er’s gefunden.

„Aber nu hör’ doch mal Junge!“ sagte er so leise, wie er konnte, „Wer geht denn weinen, wenn er seine Schwester wiedersieht! – hat sie dich reingehn sehn?“ fragte er dann rasch.

Als Baptist Ja nickte, hüpfte Hasenklever auf: „So mein Sohn, jetzt geh’ ich sie stante pedante vom Paulsplatz rein zum Brüderchen in die Stube holen. Dann fallt ihr euch um den Hals und küßt euch und weint ein Grützchen zusammen hier drinnen.“ Hasenklevers schwere Stimme begann ein wenig zu schwanken wie ein Seiltänzer, dem das Seil unter den Füßen ins Schaukeln geriet. Aber er stieß sich mit der Faust auf den Bauch und sein Gemüt war wieder im Gleichgewicht. „Ja, jetzt geh ich schlankweg!“ sagte Hasenklever bestimmt.

Baptist lag die erste Weile wie gelähmt über den Tisch. Er hörte den Wirt davongehn, und das Entsetzen schnürte ihm die Glieder ein. Er wäre gerne aufgesprungen und hätte sich an ihn festgeklammert, hätte ihn erwürgt, damit er nicht hinauskonnte. Nur das nicht, nur nicht das Schwesterlein an seinen Schmutz rühren lassen! das stand unverrückbar versenkt in ihm, wie ein eiserner Obelisk.

Auf einmal, als Hasenklever schon nach der Türklinke faßte, gewann Baptist die verzweifelte Kraft über sich. Er ergriff das gewaltsamste Mittel, das er im Feuer des Augenblicks fand, und schrie: „Ich habe Ihre fünfzig Franken gestohlen!“

Hasenklevers Hand blieb in der Schwebe auf dem Weg zum Türgriff. Er drehte den dicken Kopf über die Schulter, das Blut stieg in seinem Gesicht hoch und rötete es bis in die Wirrnis des Bartes hinein. „Bürschlein!“ brüllte er auf einmal, drehte sich um und kam langsam heran, die schweren Arme, an denen die Hemdsärmel bis über die Ellbogen heraufgestülpt waren, etwas an den Hüften hochgezogen, wie zum Angriff. Er blieb unbeholfen atmend vor Baptist stehen, und der ganze kleine schwere Leib war angehalten behende Wut, die nur eines blitzschnellen Druckes braucht, um loszurasen.

Baptist wiederholte mit leiser, ergebener Stimme: „Ich war’s!“

Auch ihm stieg das Blut über die Wangen, die Augen und die Stirn, heiß und qualvoll. Er fuhr rasch fort: „Ich war gerade auf dem Gericht, um mich zu stellen deswegen.“

So einen Tag hatte Hasenklever noch nicht erlebt. Die Wut rann heimlich und unversehens aus ihm davon. Es ward leise schwindlig in seinem schweren einfachen Kopf, und er sah wie betreten, daß er zwischen dem Bruder hier drinnen und der so vornehmen Schwester draußen stand, wie zwischen zwei dunklen, gefährlichen Dingen voll unglücklicher Rätsel. Unvermittelt trat er etwas beiseite. Die Überlegung versagte ihm den Dienst. Er suchte und suchte und fand den Hebel nicht, der die gestörte Maschine wieder in Gang bringen konnte. Schließlich fluchte er einen „Deibel“ herbei und sagte mit bekümmerter, sorgenvoller Stimme: „Komm, wir wollen mal einen Schnaps zusammen trinken!“

Er kippte das gefüllte Glas mit einem kurzen Ruck zwischen seinem Barte um und setzte es leer auf den Tisch. „Noch einmal!“ murmelte er und wiederholte das kleine Manöver. Dann schaute er Baptist an, zuerst etwas scheu, und dann sagte er sich, daß er ihn gern habe und ihm wohl eine seiner Töchter gebe. Es war ihm schwierig, nun diese Angelegenheit wegräumen zu müssen. Schwerfällig fragte er: „Also du warst’s? Ist das denn nu auch ganz gewiß?“

Baptist winkte: „Ja.“

„Wo ist denn das Geld?“

„Es ist fort. Es war nicht für mich!“ antwortete Baptist scheu.

Da wurde es licht in dem schwerfälligen Kopf des Wirtes.

Ja, fast lächelte er, daß er seinen geliebten Baptist so reingewaschen sah. „So, so!“ tat er tröstend. „Na denn is nich so schlimm. Wofür war’s denn?“ Er schaute zugleich zu den Fenstern hin und machte schon einen Schritt auf die Türe zu. Aber die junge Dame war nicht mehr draußen. Der Paulsplatz war ganz menschenleer und trug nur die Sonne, die von den Dächern aufs Pflaster herunterglitt. Hasenklever war sehr enttäuscht.

„Das mag ich nicht sagen!“ antwortete Baptist mittlerweile.

„Nu, fort ist fort. Auch egal. An fünfzig Franken gehen wir nicht kaputt. Besser das, als wie ’n Bein gebrochen. Wollen uns wieder vertragen!“ sagte er herzlich. Er fühlte sich von einer drückenden, dunklen Last befreit, daß sich die Angelegenheit nun so klar darbot. Er meinte noch: „Und es bleibt ganz zwischen uns. Da, Hand drauf!“

Aber Baptist schaute betroffen auf. Dann schüttelte er eifrig den Kopf. „Nein“, sagte er erregt.

„Ja, was nun wieder: nein!“

„Ich stell’ mich dem Gericht. Der Staatsanwalt ist nur noch nicht dagewesen!“

Da starrte ihn Hasenklever an. „Helf mir der Heiland, ich muß noch einen Kümmel heben!“ sagte er. Als er das Glas wieder leer hingestellt hatte, faßte er Baptist beim Handgelenk und zog die Uhr unter der Schürze hervor: „Du hast wohl Fieber, Mensch – Ne, ne, seinen alten ‚Patron‘ so zu plagen!“

Baptist wurde durch diesen Scherz so wundersam, ja lieblich gerührt, daß er es ganz warm in sich werden fühlte und dem kleinen dicken Mann gerne um den Hals gefallen wäre. Er stammelte ihn an, die Erregung seines Gemütes hielt ihn strampelnd zwischen Lachen und Weinen hoch. Aber er wurde unvermittelt ernst und er erzählte Hasenklever, wie er um seine Tat litte und daß er sie sühnen müsse. Aus diesen schwerblütigen Worten glitt ein Schein in das Verständnis des Wirtes, der selber keine sturmsichere Jugend gehabt hatte und selber oft ohne Grund unter den Füßen umhergetrieben war. Er erkannte einen Schimmer eigener Erlebnisse in der Erzählung des andern, ahnte Zusammenhänge und Notwendigkeiten und er nickte zustimmend. Nur daß das öffentliche Gericht die Angelegenheit erledigen müsse – dagegen wehrte er sich absolut. „Die Schmach geht ja nimmer weg!“ sagte er. „Eine Verurteilung, das klebt wie Teer, und das ist diese Kleinigkeit doch nicht wert. Hol mich die ganze Hölle! Junge sei doch bei Trost!“ Hasenklever kam in Eifer und trumpfte noch einmal auf: „Hol mich Beelzebubs Großmama! verrückt! Ich muß als Zeuge hin, und ich sag’, ich vermisse keine fünfzig Franken bei mir. Da hast du’s!“

Vor diesen Schwierigkeiten stieg allmählich ein anderer Gedanke in Baptist auf: er könne in die schwarzen Löcher der Schiffe verschwinden! Aber er sagte Hasenklever nur, daß er dann fort wolle, in die Welt hinaus!

„Des Menschen Wille ist sein Himmelreich!“ entgegnete der Wirt. Er gab ihm die Hand und versprach zu helfen.

„Heut noch!“ bestand Baptist.

„Gut denn!“

Sie gingen noch vor der Mittagsstunde zusammen zu den Schiffsbureaus. Das erste, das sie trafen, war das der Hamburg Ozeanea-Gesellschaft. Als sie in den Heuerraum eintraten, rief gerade eine Stimme: „Hier Schiff ‚Hamburg‘! Noch Trimmer vorhanden?“

Baptist trat einen kleinen Schritt vor und sagte: „Ja!“

„Papiere?“ fragte der Beamte kurz.

Hasenklever stieß Baptist an: „Nein, nicht doch!“ flüsterte er ihm erregt zu. „Das ist eine Arbeit für Pferde, das Kohlenschaufeln!“

„Nu, Kap’tain kann er woll nich gleich wer’n!“ warf der Beamte ungeduldig ein.

Aber Baptist entgegnete einfach: „Es ist gut so!“ und reichte dem Schreiber die Papiere, die er bei sich hatte. Der schaute sie kaum an. Er suchte nur den Namen und schrieb. Baptist fragte nicht nach dem Lohn, nicht nach dem Ziel der Reise, nicht nach der Arbeit. Er übernahm seine Stellung wie ein Schicksal, in das man sich ergeben hat.

„Gehn Sie damit zum Heueramt. Vier Uhr auf’m Schiff!“ sagte der Beamte, während er Baptist den Heuerzettel hinreichte, auf dem Baptist sich verpflichtet hatte, die ganze Reise des Schiffes nach Neuyork, von dort nach Bahia und zurück nach Hamburg mitzumachen.

Hasenklever war von einer zärtlichen Väterlichkeit zu Baptist. Er half ihm bei den Formalitäten, die noch zu erfüllen waren, und nahm ihn dann mit nach Haus. Sie gingen gleich in die Stube hinauf. Sie aßen dort zusammen zu Mittag und Hasenklever ließ eine Flasche seines besten Weines heraufholen.

„Der Baptist fährt heut weg!“ sagte er zu seiner jüngsten Tochter, die mit am Tisch saß.

„Ja, wieso, weshalb so auf einmal!“ fragte die erstaunt.

„Weibervorwitz! Das wissen wir, gelt Baptist!“ Er nickte ihm mit einem milden guten Blick zu und goß sein Glas wieder voll. Dann begann er von „Njujork“ zu erzählen und von „Njuorliens“ und Chikago und „Frisko“, wo er überall gewesen war und wo Baptist nun auch hinkäme, und er nannte ihm Freunde, die er dort gehabt hatte, und die Baptist vielleicht noch in jenen Städten fände; er erzählte von seinen Abenteuern und seinen Bummeltagen und den verhungerten Wochen. „Das waren die sieben magern Jahre!“ sagte er. „Und ein Mensch, der nichts erlebt hat, der ist nichts. Das ist heutzutags anders, als wie Anno ehedem, wo es von einem Städtchen zum andern eine Woche brauchte. Heut muß einen das Leben am Wickel nehmen und anständig durch die ganze Welt rumschütteln ...“

Aber Baptist ließ Hasenklevers Worte über sich weggleiten. Er war schon auf dem Dampfer; die Arbeit, die ihn erwartete, stand rätselhaft verwischt neben seinen Vorstellungen. Es war ihm nur klar, daß er jetzt das Leben begänne, vor dem er einmal zurückgeschaudert war. Er dachte an seine Heimat und wußte, daß er nun nie mehr zu ihr zurückgelangen würde; daß das Leben, das er um vier Uhr über sich nahm, das Versinken in die dunklen Schiffe sei, das sich die Gedanken seiner Heimat als das allerletzte, das allerniedrigste, schon ans Verbrechen streifende vorstellten. Und seine Heimat war ihm nun maßgebend, da er an dieser letzten Schwelle stand und zum letztenmal seine Blicke auch nur die Richtung des kleinen Landes erkennen konnten. Es war ihm aber wie ein kleiner weicher Trost, wie eine ferne mildernde Güte, daß er sich seine liebe Schwester von ehedem so nahe denken konnte an diesem Tag, an dem sein Leben die Richtung änderte – zu welchem Ziel? das fragte er sich nicht.

Dann ging er in sein Schlafstübchen und brachte den kleinen alten Koffer, den ihm Hasenklever gegeben hatte, mit seinen Sachen gefüllt herunter. Er verabschiedete sich von den beiden Mädchen und wollte Hasenklever die Hand drücken. Aber der wehrte ab. „Ich geh doch mit!“ rief er.

Baptist sagte: „Ach, nein!“ Das Herz war ihm schwer und er hätte gerne dem Wirt dargelegt, daß er diesen letzten Weg lieber allein ginge. Aber er fand keine Worte und Hasenklever schritt neben ihm zum Hafen hinunter. Sie fragten sich am Kai entlang durch bis zur „Hamburg“. Der Dampfer lag zwischen dem Scheldetor und dem Waeslander Bahnhof und Baptist sah zum Abschied noch den Zaun, an dem er einst mit Vater Ladstock und den Vagabunden gestanden und aus ihrer Flasche Branntwein getrunken hatte.

Bald machte er kurzen Abschied von Hasenklever. Er hätte ihn gerne umarmt, drückte ihm aber dann nur hastig zaghaft die Hand. Er sagte: „Ich dank’s Ihnen herzlich!“ Doch Hasenklever fuhr auf: „Zum Deibel, sei still und wir sehn uns noch mal wieder in dieser Welt. Bei Hasenklevers bist du immer willkommen, wenn dich mal wieder ein Schiff oder ein anderes Geschick hier an Land bringt!“

Baptist schritt mit seinem Köfferchen in der Hand über den Landungssteg und sagte dem ersten Menschen, den er traf, er sei auf dem Schiff als Trimmer angeheuert. Der wies ihn zum ersten Offizier in der Kabine an Deck. Ein glattrasierter Mann empfing Baptist hinter der Türe mit dem Eisenschild und dem Messingring und bat um seine Papiere. Die gab ihm Baptist. Der andere sah sie schnell und gleichgültig durch und schob sie unter einen Pultdeckel. „All right!“ sagte er. „Sie können gehn!“ schrie er Baptist an, als er sah, daß er stehen blieb. Baptist trat hinaus und schritt langsam an der Reihe der kleinen Türen mit den Messingringen entlang und als er einen Mann in einer Uniform mit zwei Goldbändern am Arme sah, trat er auf ihn zu, zog den Hut und sagte, er sei als Kohlenzieher angeheuert.

Der Angeredete, ein junger Offizier mit einem blonden Spitzbart, machte über seinen hohen Kragenrand mit einem kurzen Ruck eine knappe Linksneigung des Kopfes auf Baptist zu und warf verächtlich hin: „’ch g’meldt?“ – „Jawohl, soeben in der Kabine dort!“ – „’s gutt!“ Dann rief er in anderm Ton einem dicken Manne zu, der in einer blauen Jacke und mit einer Uniformmütze auf dem grauen Kopf auf der Reeling saß: „Härr Obermaschinist, ein Trimmer!“

Der Dicke schob sich vom Eisengeländer ab und kam freundlich heran. Baptist grüßte höflich und sagte, er sei das erstemal auf einem Schiff, er müsse bitten, daß man ihm seine Arbeit und alles zeige. „Tjawoll, tjawoll!“ nickte der Alte liebenswürdig, „wird geschehn, wenn Sie hier die Luke hinuntersteigen, gleich Backbord hinübernehmen und an der Türe klopfen, wo ‚Heizer‘ drauf steht. Sagen Sie, ich habe Sie hergeschickt und was Sie wollen!“

„Danke!“ antwortete Baptist.

Drunten führte ihn dann ein von Ruß nur halb gereinigter Mann zunächst in die kleine Kabine, in der sechs Betten waren, drei und drei übereinander. Spärliches Licht fiel durch eine dicke, unklare grüne Glasscheibe in der Decke über einem der Betten beschwerlich herein. Baptist mußte dieses Bett nehmen, weil die andern schon belegt waren. Der Heizer blieb in der Türe stehen und meinte, Baptist könne gleich den Arbeitsanzug anlegen.

Baptist tat es. Dann ging der Mann vor ihm her durch einen engen Schluff, zog eine eiserne Türe auf, und Baptist trat auf einem Boden von Eisenstäben weiter. Unter diesem Boden lag ein weites, dunkles Loch, in dem er in einiger Tiefe einen zweiten Boden aus Eisenstangen sah. Allmählich dämmerte drunten, wie auf dem Grund einer gut vergitterten Grube, ein dunkles Gemenge von Rädern, Eisenrahmen, Kolben und Röhren auf. Das Licht fiel hoch über seinem Kopf durch einen Glaskasten hernieder. Die beiden glitten rückwärts enge Eisenleitern hinab und kamen langsam bis auf den Grund der Grube. Das Licht wurde immer grauer und kleiner, die Luft gewichtiger und riechender. Sie schlüpften zwischen stillstehenden Rädern, ruhend versenkten Pleuelstangen, schweren, geneigten Eisenrahmen, verknüpften und lang hinlaufenden Röhren hindurch; eine kleine Eisentüre klappte hinter ihnen zu, und Baptist stand in einem engen Raum, den eine starke Hitze brennend erfüllte. Zwei kreisrunde große Löcher warfen Licht zuckend und blendend heraus und ein Mann stocherte mit einer Eisenstange in dem einen der Löcher. Der Flammenschein glühte auf dem schmalen nackten, steif zurückgestellten Oberleib. Das Gesicht lag aber über dem scharf begrenzten Kreis des Feuerscheins im Dunkeln. Dann sprang Baptists Führer unversehens in ein Loch, das gegenüber der einen der beiden Feuerhöhlen schwarz aus der Wand schaute.

Baptist folgte ihm in einen Raum, den eine schwere, staubige Finsternis drückend verengte. Aus der Tiefe donnerte rollender, fallender Lärm heran. Irgendwo hing eine kleine Glühbirne, leuchtete faul, wie ein kraftlos roter Ball. Der Flammenschein des nahen Feuers im Kesselraum schlug schräg bis über den Rand des Loches hernieder und ließ sich in einem roten Streifen über einem Haufen Kohlen verflackern. Der Führer erklärte mit schreiender Stimme durch den Lärm hindurch: Das seien die Kohlenbunker, aus denen die Kohlen hierher geschafft werden, an dieses Loch und an das andere drüben; danach werden sie zu den Flammrohren hinauf geschaufelt.

Das war alles.

„Hoi, hoi! Genug!“ rief er plötzlich in die schwere Tiefe hinein und das prasselnde Fallen hörte auf.

Der Mann wandte sich wieder Baptist zu: „So, Sie können grad beginnen. Es wird sowieso gleich zur Ablösung glasen!“

Dann war er auf einmal in dem dunkeln Winkel verschwunden. Eine Türe knallte, ferne, hoch, verstummend, wie ein Schrei in verschlossenem Mund. Zugleich erlöschte draußen im Kesselraum das Licht des Feuers, weil die Türe der Esse zugeschlossen wurde. Es wurde finster und stumm um Baptist, der der leblosen Glühbirne den Rücken kehrte. Er war nun abgesperrt von dem Dadraußen, war versunken und begraben. Er fühlte den niedern, finsternisschweren Raum wie einen versenkten Schacht um sich, bückte sich schwer zu einer Schaufel nieder, die er im dünnen, rötlichen Dämmern zu seinen Füßen liegen sah, und schob sie in den Kohlenhaufen. Wie er sich so niederbückte, um die Schaufel in die widerstehende Masse einzubohren, erblickte er auf einmal einen zarten blauen Schein auf seinen Händen. Er schaute ihm nach und sah, daß aus der Höhe des Kesselraumes ein Fädlein dünnes Licht herunter und durch das Loch in der Wand bis zu ihm sickerte, gleich einem Wasseräderchen auf einem Felsen, das das Licht des freien Himmels rinnend widerfunkelt. So oft Baptist nun die Schaufel in den Kohlenhaufen stieß, floß das dünne blaue Licht ihm leicht wie gleitende Eidechsen über die Hände und die Arme. Das war der einzige Gruß der weiten, freien Luft.

Auf einmal hörte Baptist in der Düsternis der andern Seite noch eine Schaufel gehen. Er erschrak ein wenig. Aber er schaute nicht hin.

Kurz darauf hielt die Schaufel drüben ein mit Arbeiten, und eine Stimme wie eine grelle, heiser klingende Trompete brach plötzlich durch die Finsternis herüber: „Grüß dich Gott, Kamerad von der heiligen Kohlenschaufel, auch wieder mal unterwegs?“

Baptist erschrak. Sein Herz gab ihm einen kleinen Schlag, und seine Hände zuckten einmal mit dem Holzstiel. Aber er bückte sich über seine Arbeit, emsiger tuend als wie zuvor, und lauerte zugleich mit allen Sinnen nach dem Fremden hinüber, dessen Gestalt er drüben wie wild aus dem Dunkeln hervorquellen sah. Sie war von ungewissen Bewegungen belebt, als näherte sie sich langsam, drohend und unberechenbar tückisch. Bald jedoch hörte er wieder die Kohlenschaufel gehen und seine geängstigte Aufmerksamkeit spannte ab.

Ein leises Erdonnern scholl auf, die Eisenwände fingen an dumpf zu beben und zu klingen; dieser Lärm verstärkte sich allmählich zu einem stoßenden Poltern und schaukelnden Brüllen, Werfen und Schießen, das sich die Eisenwände zuzuwerfen schienen, und lief dann bald in ein starkes, ruhig dahinrollendes Grollen und Stöhnen aus. Das Schiff fuhr. Eingehüllt in das Toben dieser gewaltsamen Geräusche, in denen der Lärm seiner eigenen Arbeit erstickt zu sein schien, breitete sich eine schwerfällige Schläfrigkeit in Baptist aus und er vergaß in seinen stumpfgeriebenen Gedanken bald den Zwischenfall. Er arbeitete, daß ihm der Rücken voller Nägel saß und seine Muskeln brannten, und nach einer unendlichen, mit dumpfer Gedankenlosigkeit erfüllten Zeit stand auf einmal ein Mensch neben ihm und nahm ihm die Schaufel aus der Hand.

Baptist tastete sich hinaus, irrte über Eisenleitern und durch schmale Gänge, bis er aufs Deck gelangte. Da trat ihm unvermutet ein geschwärzter Mann entgegen. Das Weiß der fremden Augen brannte wie zwei kalte Scheiben aus dem schmalen, verrußten Gesicht, und die dicken roten Lippen unter der kleinen, verwegen geschärften Nase glühten wie Blumen aus dem Ruß heraus. Sie öffneten sich, während der rechte Arm die zur Faust geballte Hand, um Schwung zu nehmen, nach hinten schlug, und eine wütende, grelle Stimme fuhr Baptist an: „Bin ich dir nicht gut genug? Willst du meine Faust im Gebiß spüren, du Wackes!“

Baptist schrak zurück. Was war denn nun wieder? Wurde er verfolgt? Er erkannte sofort die Stimme von unten. Er stammelte, ohne zu wissen, was er sagte: „Nein!“

„Ja, was denn, was denn?“ bellte der andere ungeduldig zurück. Dann ließ er den Arm sinken und tat verächtlich: „Wohl ’n vornehmer sogenannter Hinüberarbeiter?! Willst das Reisegeld sparen, Geizkragen? Hö? Hast du Geld? Wieviel hast’ schon gespart? Sag wieviel? Zweitausend, viertausend ...? Hö?!“

Aber Baptist sagte mit kleiner Stimme: „Ich hab gar kein Geld!“

Da war der andere plötzlich wie umgewandelt. „Na also denn!“ rief er fröhlich. „Geben wir uns die Hand! Vertragen wir uns!“ und er reichte Baptist die Hand hin und drückte die seinige. „Wir müssen uns waschen gehn!“ sagte er dann und führte Baptist an einen Trog in eine kleine Kabine. Dann bekamen sie durcheinandergekochtes Fleisch, Gemüse und Brot in einer Blechschüssel, und als sie gegessen hatten, suchten sie ihre Betten auf.

„Ich heiße Hartwig!“ sagte der Kamerad zu Baptist, während sie sich auszogen. Baptist wußte nicht, ob das nun der Vorname oder der Geschlechtsname sei. Er schwankte ein wenig und nannte dann seinen Rufnamen. Hartwig legte sich ins oberste Bett, Baptist gegenüber. Es war dunkel in dem kleinen Raum. Baptist streckte sich auf sein hartes Lager schwer und zermürbt. Es war so eng unter die Decke geschoben, daß er die Ellbogen nicht ausstrecken konnte. Seine Hände spielten in der Schlaflosigkeit mit der runden Glasscheibe, die von einer milden, dunkeln Helligkeit erfüllt war. Seine Glieder fielen auseinander wie Steine. Seine Gedanken waren heiß und leblos zermalmt.

Da fragte eine laute, verletzende Stimme von drüben: „Schläfst du?“

Baptist antwortete erschreckt: „Ich kann nicht!“

Er hatte die drei Wörter noch nicht zu Ende gesprochen, als Hartwigs Stimme, die wie knitterndes Metall klang, wieder losfuhr: „Hölle und Teufel, ich auch nicht. Das ist immer so am ersten Tag! Diese Hundearbeit mit den Kohlen! Weißt du, wenn wir jetzt hinüberkommen, so führ ich dich zur Ilanka. Eine Jüdin! Ein Weib! Dreck und Feuer und Revolverschuß, ein Weib, ha! Ein Weib! Sie ist ja wohl nur eine Jüdin aus Polen oder da herum. Aber ein Weib! Ich bin nur ihretwegen herüber gegangen. Aber meine Verwandten, die Dreckspföter, haben sich nicht mehr anzapfen lassen. So bring ich nur die hungrige Heuer mit, wenn ich drüben wieder zu ihr komm’. Und damit zahlt man nicht einmal, daß dieses Fraumensch einen mit dem Fuß ins Gesäß tritt. Aber wir legen zusammen, nicht wahr, Kamerad? Was? Das Leben ist uns nun mal so gelaufen. Laß laufen. Dreck und Hölle, es hätt’ auch anders zum Krepieren geführt. Aber in diesem Europa ist man schon zu Lebzeiten im Grab. Keine tausend Bisonstiere aus den Rocky Mountains ... ziehn mich wieder dahin ... tausend Bison ... Weib! ... Pech ... Schwefel ... Ilanka!“

Das letzte Wort war wie ein Ausflöten gewesen. Baptist hatte zugehorcht mit einem erschrockenen Erstaunen, mit einem halb besiegten Sichhingeben. Nun hörte er, wie Hartwig schnarchte. Wie ein Zauberwort, so hatte dem Kameraden das Wort Ilanka den süßen Schlaf gegeben, auf einmal, ohne Übergang, und in seine eigene wunde Schlaflosigkeit hinein wuchs schnell die Frauengestalt der Jüdin Ilanka aus Neuyork und nahm die Umrisse üppiger Bäume, schwellender Riesenblumen, bereit liegender Hügel, die weichen Formen märchenhaft ungeheuerlicher Tiere. Die tückisch haltlos gleitenden Verwechselungen dieses Unwesens schürten die hitzige Unruhe seines Blutes. Er schlug mit den Armen nach dem heißen Spuk und fühlte sich atemberaubt eng unter die Decke gefesselt. Endlich lag er dann in einem schwül lastenden Schlummer.

Am nächsten Morgen, als die beiden wieder Seite an Seite in den Kohlenbunkern arbeiteten, schien auf einmal etwas wie ein Tobsuchtsanfall Hartwig zu vergewaltigen. Er griff mit beiden Armen tief in die Haufen hinein und warf die Kohlenklötze, die er zu fassen bekam, wie in einem wild gewordenen Tanz weit von sich, daß sie donnernd auf dem Eisenboden in Splitter zerkrachten. Er steigerte rasch das Tempo dieser wahnwitzigen Arbeit, die schwarzen Massen regneten bald heftig ringsum nieder, daß Baptist sich hinter einen Eisenpfosten flüchten mußte.

Als dieses unverständliche Spiel eine Weile gedauert hatte, blieb Hartwig plötzlich hoch gereckt stehen. Sein Atem leuchte wie ein hüpfend dampfgebendes Ventil, der Schweiß quoll aus seinem nackten, geschwärzten Oberleib und die Tropfen spiegelten das Licht der trüben Glühbirnen. „Baptist!“ rief er heiser, „komm her! Da, leg deine Finger hin!“

Er führte Baptists Hand auf den Bizeps seines rechten Armes, und kaum hatten die Finger die Haut berührt, als der Muskel wie eine gebuckelte Katze mit einem wilden harten Ruck Baptist in die Hand sprang.

„Drüben sind wir aus Dreck und Feuer, zum Teufel. Du sollst mal sehn, ich zerspreng’ einem die Hirnschale mit diesem Muskel, nur so, daß ich ihn gegen den Schädel springen laß, wie eine Bulldogge. Weißt du, was ich jetzt gemacht habe? – Ich war mit Ilanka. Ich hab mit ihr gerungen und hab sie am Hals gehabt und sie gebändigt. Jede Kohle, die ich zu fassen bekam, und die wegflog, war ein Griff in ihren Leib, ein Widerstand, den ich brach. Da schau, ich laß meinen Bizeps springen, wie eine ganze Schwadron Kavallerie. Es soll mir einer im Weg stehn! Aber wenn du glaubst, davon hat man was drüben bei uns und das hilft einem – ein alter Dreck, nein! Siehst du, ich bin aus dem Lothringschen, und die Parzen oder wie die Viecher heißen, haben mir ein anderes Lied an der Wiege gesungen. Aber Räuberhauptmann, Amerika, wilde Stiere und tolle Weiber! Meine Verwandten sagen: der Boden ist ihm weggerutscht. Es wird wohl so sein, wenn man seine Heimat in die Welt verlegt. Aber man gewöhnt sich dran, Wasser zu saufen, wenn man keinen Champagner hat und des Nachts die Abfallkästen zu durchstöbern, wenn man kein Geld hat, um ein Steak zu kaufen und der Magen einem den Schlund heraufschreit.“

Baptist stand hilflos vor dem Kameraden. Er fühlte sich selber von der Krankheit ergriffen, deren Höhepunkt der andere erreicht zu haben schien. Er verabscheute den wilden Gesellen, dessen Leben über die Ränder der Wirklichkeit hinausgetrieben war, und zugleich vergewaltigte ihn die Heftigkeit aller Äußerungen Hartwigs. Liebe und Haß für diesen heißen Hund standen von der ersten Stunde an Baptist in gleicher Nähe zur Hand.

Tag für Tag, die nun folgten, legte Hartwig mit derselben Wucht und Brutalität sein Leben vor Baptist bloß. Immer stand die große, starke jüdische Frau drin hoch gereckt, drohend und begütigend, sie war wie der Saft, der aus dem verletzten Frühlingsbaume stürzt, wie aufspringendes Blut, sie gellte wie der Schrei eines, der ermordet wird, sie hatte das dumme kindliche Blöken eines Lämmchens, den tirelierenden Laut einer kräftigen, sorglosen Lerche, sie knallte wie ein geflochtener Lederriemen und säuselte wie der Abendwind.

„Ich kann dir nicht alles sagen von ihr und mir!“ begann eines Abends Hartwig wieder. „Aber wo sie wohnte damals, da sind die dunkeln, schmalen Schlüffe in der Stadt, und selbst die Policemans fürchten die! Sieh mal da das Wasserfaß und den weißen Holzpfropfen im Spund!“

Kaum hatte Baptist Zeit gehabt, sich das etwa zehn Schritte entfernte Faß anzuschauen, als Hartwigs Arm mit einer kreisenden Bewegung rundum fuhr, gleich darauf gab es einen kurzen, trocken gellenden Laut, und Baptist sah in dem weißen Holzpfropfen ein langes Stilett stecken. Aber blitzschnell flog Hartwig drauf zu, riß mit einem Ruck nach unten das Messer weg und es war im Nu verschwunden, Baptist sah nicht, wohin. Hartwig lächelte ihn verächtlich an. „So!“ sagte er kurz und roh.

Baptist verstand nur halb, wie es dem andern gemeint war. Aber er zuckte vor ihm zusammen und seine Gefühle, Liebe wie Haß, verschärften ihre Kraft seit diesem Tage. Er war Hartwig unterlegen und wagte nicht gegen ihn aufzumucken. Er stellte sich Hartwig vor, wie er, ein flatternder Blitz, durch die Straßen des unberechenbaren Neuyorks tobte und mit trotzig zusammengebissenen Zähnen, hohnlachend und schmetternd, die Menschen anbellte. Bis dieser verwegene Räuberhauptmann aufseufzend in den Schatten der wilden, dunkel großen Gestalt des jüdischen Weibes trieb und anfing, vor ihren Launen zu winseln, oder in ihrem Geben zu ertrinken.

So hielt Baptist die verwilderte, sumpfige Romantik des fessellosen Gesellen in der schweren, dicken Atmosphäre seiner Arbeit in den Bunkern wach. So wuchsen seine Wünsche hinter dem knallenden Schreiten dieses Strolches Neuyork entgegen.

Eines Abends erzählte Hartwig ihm mit vielem großtuenden Trara einen der üblen Streiche, bei denen er in Neuyork mit geholfen hatte. Da kam es Baptist auf die Zunge, seine eigenen Schandtaten zu verraten, und er wollte erzählen, wie er schon als Knabe gestohlen und wie er seinen Wirt in Antwerpen betrogen hatte, und wollte diese Taten gleichermaßen mit Gefahren und Gemeinheit ausschmücken. Aber daß er sich dennoch enthalten und diese schmutzigen Flecke in seinem Leben vor dem andern bedeckt halten konnte, gab ihm zuletzt die Möglichkeit, doch zwischen Hartwig und sich eine Distanz zu setzen, durch die er das letzte randlose Gemeinwerden mit dem Verbrecher zurückzuhalten vermochte. Es war ihm, als habe er die Macht, wenn er nur wollte, sich von dem andern zu befreien, und es schien ihm, als gewänne er gerade dadurch in den Augen des eindrucksvollen Weibes Ilanka einen Glanz, den Hartwig bei ihr nicht besaß.

In einer lichten Nachmittagsstunde lagen sie in ihren Betten, da sie in der Nacht Schicht gehabt hatten. Baptist konnte nicht schlafen. Es gingen immer Schritte über die runde grüne Glasscheibe und seine Augen zuckten unaufhörlich unter ihnen weg. Es war ihm, als traten die Sohlen ihm aufs Gesicht. Er sah, daß auch Hartwig nicht schlief und sagte hinüber: „Gehn wir an Deck. Ich kann nicht einschlafen!“

„Gut!“ antwortete Hartwig. „Vielleicht sehn wir schon die amerikanische Küste.“

Er sprang auf. Sie zogen sich rasch an und gingen auf die Vorderback hinauf. Hartwig legte gleich die hohlen Hände über die Augen. Dann schlug er Baptist heftig auf die Schulter und zeigte über das Meer.

„Da hinter wohnt sie!“ rief er und schaute scharf auf einen Punkt in der Ferne, als sei es möglich, daß er dort jemanden sehen und erkennen könnte.

„Wer?“ fragte Baptist verwirrt.

„Wer?“ schrie Hartwig dagegen und starrte Baptist entgeistert an. Dann brüllte er: „Schwefel und Dreck, das Weib! Ilanka!“

Und Baptist schaute nun selber bezwungen scharf in die Ferne, wo sich nur erst wie eine körperlich werdende Ahnung, wie ein zarter Flaum ersten Wachstums die Küste abhob. Alles Blut war ihm plötzlich zu Kopf gestürzt und er wußte auf einmal, daß es nicht die Stadt dort im Küstenstreifen und nicht das Land dahinter und nicht Hartwig sei, sondern daß diese schwarze Jüdin Ilanka es war, die seit Tagen seine ungeduldigen Gedanken trug. Daß dieses Weib selber und ganz allein wie eine große, mächtige Küste, wie ein einziges einsames Land für ihn irgendwo in den Fernen stand.

Da war er verzweifelt und entmutigt, denn die Frau stand ohne Umrisse, die er fassen konnte, ohne Körper, gegen den seine Wünsche anströmen konnten, in ihrer raumlosen Ferne. Aller Glanz fiel ab, und Baptist lehnte sich mit einem wilden Anfall von Haß gegen den abscheuvollen Hartwig auf, den Schurken und Verbrecher, der vorgab, den süßen, schmerzhaften Spuk dieses Weibes zu besitzen. Er sagte bitter und schadenfroh: „Du kommst doch nicht zu ihr!“

Da schaute ihn Hartwig einen Augenblick scheel an. Aber sein Gesicht heiterte sich gleich wieder auf und er lachte polternd los, daß sein Lachen wie eine Holzkugel über die Back sprang.

„So, so, so!“ lachte er, „ich komm nicht zu ihr. Ich komm nicht zu ihr? Was sollen wir wetten. Sollen wir den Bettel unserer Heuer gegeneinander wetten? Schlag ein!“

Er hielt Baptist mit einem spöttischen Grinsen die Hand hin. Aber Baptist antwortete gebeugt und unsicher: „Es war nur Scherz, daß ich das sagte!“

„Ich meine auch!“ sagte Hartwig dagegen, und seine heisere, knitternde Stimme klang wieder rauh und grell. Seine Finger zuckten zusammen und die Leidenschaft sah man zitternd über seinen magern Körper fahren. Dann sprach er vor sich hin, wild und doch sanft, wie ein heißes Rufen und zugleich wie eine kosende Bestätigung: „Schwarze Ilanka!“

Als Hartwig eine Weile über das Meer geschaut hatte, sagte er: „In Neuyork komm ich dich einmal von Bord holen und dann gehn wir zusammen zur Ilanka. Es ist schade, daß du dich für die ganze Reise dieses Kastens geheuert hast. Ich hätte dich in Neuyork gut einführen können!“

Da setzte Baptist alle Hoffnung auf dieses eine Versprechen. Alle seine Wünsche sammelten sich immer wieder um dieses Versprechen an, unruhig, flatternd, schreiend, und hoch wie Dohlenscharen um das Dach des Kirchturms. Und in der Ungeduld dieser letzten Stunden wurde Hartwig ihm so unausstehlich, daß seine Gegenwart ihn zu brennen schien. Er war ihm nun ein Feind, der mit allen Listen und allen Mitteln bekämpft werden mußte. Aber Ilanka wuchs, wuchs, wie ein wilder Garten.

Am nächsten Tage liefen sie in den Hafen ein. Baptist sah die Einfahrt nicht, weil er Arbeitszeit hatte und in den Bunkern vergraben lag. Aber er hörte, wie die Maschine anfing, ihr Tempo zu ändern. Oft wechselte sie es mit kurzen Stößen, arbeitete bald nur noch ruckweise. Auf einmal verstummte mit einem aufschreienden letzten Laut all der Lärm, der Baptist sechzehn Tage ununterbrochen eingehüllt hatte, und eine Grabesstille verbreitete sich im Nu in den niedern dunklen Räumen. Aus einer Ecke scholl Hartwigs Stimme grell herein: „Wir sind da. Dem Teufel sei Dank!“

Schluß

Kaum lag das Schiff fest an Land, so war Hartwig verschwunden, ohne ein letztes Wort und ohne Händedruck. Es war Baptist recht, daß es keinen Abschied gegeben hatte, denn es ekelte ihn, dem Schurken eine Äußerung seines Gemütes zu erweisen. Aber er begann jetzt zu warten, daß Hartwig sein Versprechen lösen würde und ihn holen komme, um ihn zu Ilanka zu führen. Dieses Erwarten floß wie ein Strom über ihn. Es war ihm oft, als ertränke er drin, und er stöhnte heimlich in der Bedrängnis seiner Ohnmacht, dieses Ermatten zu erfüllen. Er sah hinter den Masten der Schiffe die Stadt anschwellen. Aber die Stadt war nichts Fremdes. Sie war das große, starke, schwarze Weib, in dessen Willen er sein Leben liegen fühlte.

Die Arbeit in den dunklen Schlüffen der Bunker war beendet, nachdem die entleerten Lager wieder frisch mit Kohlen gefüllt waren. Zuerst mußte dann Baptist am Reinigen des Maschinenraumes mithelfen. Später kam er aber in die Laderäume und bald darauf, als man begann, für die Weiterreise nach Brasilien neue Güter aufzunehmen, unterstützte er den zweiten Offizier, der an Deck das Verladen leitete. Baptist hatte eine der Dampfwinden am Vorderdeck zu bedienen. Über seinem Kopf streckten sich die Arme der Ladebäume hin und her. Die Räder der Winden knirschten und sausten vor ihm. Am Kai lagen hochgestapelte Ballenhaufen, in die die Ketten hineingriffen, und achtern zur andern Seite scharten sich die schweren Schuten um das Schiff und beluden sich mit den Waren, die es aus Europa mitgebracht hatte. Unermüdlich glitten die Ketten, griffen die Ladebäume, eilten die Menschen. Die Arbeit brauste und brandete wie ein Meer an einer Küste. Ein wirbelndes Gemisch zuckte hin und her, schüttelte sich durcheinander, ohne Zusammenhang, mit verwilderten, wüsten Gebärden, mit einer kleinen, fessellosen Brutalität. Rundum auf der großen Wasserfläche lagen tausend solcher regellos belebter Flecke wie der Dampfer „Hamburg“. Überall in ihnen krachten die schreienden Winden, überall zuckte die Arbeit durcheinander. Überall brüllte die rasende, zerfetzte Ungeduld.

Aber ruhig erhoben sich die riesenhaften Dämme der Stadt hinter den Schiffen, und alle Arbeit floß, wie in einem graden, schweren Strom dorthinaus. Wohin?

Der Hebel der Dampfwinde schlug Baptist in der Faust. Ein ungeheurer Pack von Säcken wurde von seinen zehn Fingern über den Abgrund der Laderäume gehalten, und in der Tiefe wimmelte es von kleinen Menschenkräften, die den Pack erwarteten. Der Offizier hob den Arm wie einen allmächtigen Signalmast, der dem Eisenbahnzug den Weg in den Bahnhof schließt, und mit verhaltenem Schwanken blieb die Ladung in den eisernen Kettenarmen in der Höhe schweben. Dann fiel der Arm, Baptist riß den Hebel los und mit schießendem Knarren ließ die Winde die Last vorsichtig in die Tiefe sinken. So ging es stundein und -aus. Baptist stand am Hebel und fühlte mit einem dumpfen, ängstlichen Staunen, daß in seinem Willen ein Teil der Kraft lag, die das wüst zerwühlte Feld dieses Hafens in Arbeit aufpflügte, und wußte nicht, wieso er auf einmal zu solcher Macht gelangt war. Er sah rundum reckenhaft sich das Werk des Welthafens vollziehen, aber er erkannte nicht, wie sich das ungeregelte, wirbelnde Durcheinander zu der groß ausfließenden Richtung fand; er spürte den Sinn der gewalttätigen Anstrengung nicht.

Und einmal, als ihn die dunkle Macht dieser Lebensäußerung der Weltstadt überwältigte, brüllte er in die tobenden, ratternd springenden Geräusche der Winde den mit heimlich wilder Sehnsucht beladenen Namen Ilanka hinein. Hartwig kam nicht. Es waren Tage vergangen. Die Schiffsräume hatten sich entleert und frisch gefüllt, die Abreise stand bevor. Der Hund von Hartwig kam nicht. Wie konnte Baptist zu Ilanka gelangen? Wie war es möglich, einen Weg in den ungeheuerlichen Damm hinein zu finden, den dort die Stadt aufwarf? Dunkel verletzt, beleidigt, wund aufgewühlt erlebte Baptist immer wieder die zwingende Offenbarung der ungemessenen Große der Stadt, zu der dieser Hafen das Tor war. Wie ein Geschick von erbitterndster Brutalität warf sich ihm die Stadt und ihr Hafen in den Weg, der zu dem großen, starken Judenweib ging. Er wütete dagegen an, und seine heimlichen Schreie schienen oft den Lärm der pustenden Winden zu überbrüllen.

Eines Nachmittags, als er arbeitsfrei und frei von dem Drucke war, mit dem ihn sein Werk belegte, überfiel ihn ein verzweifelter Groll. Er glaubte am Äußersten zu sein. Sein Begehren wuchs mit leidenschaftlicher Gewalt über ihn her. Er glaubte hin zu müssen, in seiner Raserei Hartwig erwürgen zu müssen und über seine Leiche zu Ilanka gelangen ... „Du treuloser Hund!“ schimpfte er Hartwig. „Du hast mich betrogen, ganz gemein betrogen, du Schuft!“ ... und er raste auf den Kai hinunter und jagte davon, der Stadt zu. Aber die Arbeitswut des Hafens fing ihn in ihrem brausenden Sturm auf. Sie schloß sich von Schritt zu Schritt gewalttätiger um ihn, wie Maschen eines stählernen Netzes. Er begann sich zu ducken. Er glitt ängstlich und unsicher dahin, und als er an die Grenzen der Stadt kam, und als er die Maßlosigkeit ihrer Straßen und Richtungen sah, kehrte er um, vergiftet und durchseucht, das Hirn wirbelnd voll Todesgedanken.

Er eilte zu seinem Dampfer zurück, kreuz und quer abirrend, über Eisenbahngeleise, auf denen sich schwerfällige lange Züge heranschoben, verfolgt von Warnungsrufen; unter donnernden Krähnen hindurch, die mit Lasten von Fässern, Säcken, Baumstämmen spielten; durch lange Hallen, die mit Gütern und mit fremden, betäubenden Düften angefüllt waren. Endlich fand er die ‚Hamburg‘ und ging schnell aufs Deck hinauf. Droben sah er die Schiffsmannschaft im Kreis zusammenstehen. In ihrer Mitte hielt einer ein großes Zeitungsblatt, aus dem er eben vorgelesen haben mußte.

Als Baptist an Deck erschien, sprang der Mann mit der Zeitung in der Hand heran, hielt ihm aufgeregt das Blatt hin und zeigte mit dem Finger auf eine dicke Überschrift. „Das ist der Hartwig!“ brüllte er mit überschlagender Stimme. „Der Hartwig!“ ...

Das Zeitungsblatt glitt in die Hände von Baptist. Er legte sich gegen die Reeling und las mit spitz klopfendem Herzen: „Grauenhafter Mord ... Deutschlothringer Hartwig Didier ... seine Geliebte aus Galizien eingewanderte Jüdin Ilanka B... in ihrer Wohnung erdrosselt ... Körper mit Dolchstichen zerfleischt ...“

Langsam fühlte Baptist, der mit den Augen fliegend diese ersten Zeilen erschnappte, Kälte durch sich fließen. Sein Hirn wurde klar, seine Gefühle grausam und er las nun kalt und zusammenhängend: „Als Zimmernachbarn, die das Opfer schreien hörten, die Türe einschlugen und auf den Mörder losdrangen, schoß er gegen sie, ohne jedoch zu treffen. Der Revolver war bald leer. Da eilte er ans Fenster, über dem ein Leitungsstrang der Elektrizitätswerke vorbeiführte. Von den Verfolgern hart bedrängt, schwang er sich aufs Fensterbrett und setzte, ohne sich zu bedenken, mit einem weiten Sprung an die Drähte hinauf. Er erreichte sie, glitt im Schwung ein Stück weit an ihnen über die Straße. Die Menschen, die sich unten versammelt hatten, sahen, ein grauenvolles Bild, wie ein Menschenkörper in wilden Zuckungen an den Drähten hin und her schlug. Dann fiel er aus der Höhe des sechsten Stockwerks auf die Straße nieder, wo er, ein unkenntlicher Haufen von Kleidern, Knochen, Fleisch und Blut liegen blieb. Aber dieser Absturz wäre nicht mehr nötig gewesen. Die elektrischen Drähte hatten den Mörder schon hingerichtet.“

Als Baptist das gelesen und der andere ihm wieder die Zeitung aus der Hand gerissen hatte, stellten sich ihm zunächst nur die beiden Wörter ein: „Schuld und Sühne“. Dumm und sinnlos sagte er sie immer wieder vor sich hin. Unzählige Male: „Schuld und Sühne! Schuld und Sühne!“ ... Kindlich erschrocken lallte er die Wörter weiter, als deckten sie eine unmeßbar hohe, geheimnisvolle Vorstellung, in der die Erklärung der dunkel gewaltsamen Tat lag. Er ging lange wie in einem kalten Rausch umher, machte seine Arbeit mit einer kühlen, fernen Gleichgültigkeit und wagte kaum zur Stadt hinüber zu schauen, deren Dächer durch das Gewirr der Masten liefen, ohne es zu berühren. Aber alle Kälte in ihm war nur ein Kleid, unter dem sich die entsetzliche Spannung seines Innern dem Erkennen verbarg, und er wurde sich immer mehr bewußt, daß er sich nur mit Gewalt auf diesem entlegenen, ruhigen Standpunkt hielt.

Da trat, als er den letzten Griff am Hebel der Winde getan und der Feierabend begonnen hatte, der Kapitän auf ihn zu. Der Kapitän war ein noch junger Mann, der jedes Wort, das er sprach, und jede Bewegung, die er machte, mit einer kurzen Entschiedenheit kräftigte.

„Biver,“ sagte er, „es wäre schade, wenn Sie in den Kohlenbunkern blieben. Wir wollen Ihnen eine andere Beschäftigung an Bord suchen, bei der Sie sich mehr ausgeben können!“

Baptist schaute den Kapitän verletzt an. Er hatte kaum verstanden, was gesagt worden war, aber er fühlte sich in seinem künstlichen, mühevollen Gleichgewicht gestört und er warf geärgert hin: „Ach, wozu?!“

Da sagte ihm der junge Kapitän rauh: „Schämen Sie sich!“

Baptist fuhr mit mürrischem Trotz auf: „Weshalb?!“

Der Kapitän antwortete sofort mit seiner schnellen, scharfen Stimme: „Das will ich Ihnen sagen. Weil ein Gesetz unter uns ist, das immer die Anspannung der höchsten Kraft von uns verlangt, die man hergeben kann. Das sind die Triebfedern der Kräfte, unter deren Druck die Welt fortschreitet. Es ist eine Schande, wenn einer sich aus irgendeiner Ursache diesem Gesetz entzieht.“

Dann griff er in die Tasche und sagte kurz: „Da ist ein Brief für Sie!“ Darauf ging er weg.

Baptist hielt den Brief in der Hand. Er las die Aufschrift und sah sich das Kuvert an und verstand zunächst nicht, daß es eine Einrichtung in der Welt gab, die sich um ihn kümmerte und sich die Mühe machte, einen Brief hinter ihm her über das Meer zu schicken. Es war ein großes weißes Kuvert, mit hohen Schriftzeichen bedeckt. Es war etwas Geheimnisvolles, etwas Ängstliches, ein Rätsel.

Er ging mit dem Brief in seine Kabine, drehte die düstere Glühbirne an und brach das Kuvert auf. Er las:

„Lieber Bruder!

Mach es nicht mit diesem Brief, wie Du es in Antwerpen mit mir gemacht hast. Wenn Du noch manchmal an Deine Schwester denkst, so lies den Brief zu Ende, ich beschwöre Dich drum. Ich schreib ihn nur, um mit Dir zu sein in der Einsamkeit, in die ich in Luxemburg eingeschlossen bin. Wir brauchen ja nicht fröhlich miteinander zu sein, sondern schreiben so, wie es uns zumute ist. Vielleicht ist es meine Schuld, daß ich immer so kopfhängerisch umhergehe. Wenn ich meine alten Freundinnen ansehe, so muß ich das glauben. Aber ich gehe hier wie in einer Schachtel herum. Die Wände sind so eng, so nah, so hoch. Man kann nicht aus der Schachtel heraussehn. Die Luft ist so dick und so schläferig, die Menschen machen so kleine Schritte rundum. Sie haben sich dran gewöhnt. Weshalb kann ich es nicht?

Ich war damals so stolz auf Dich und wußte, so sicher, wie ich selber lebte, daß Du etwas Besonderes würdest. Und ich liebe Dich auch heute so, wie damals. Das muß ich Dir sagen und bitte Dich mit meinem ganzen gequälten, traurigen Herzen, mir nicht bös zu sein, daß ich von diesen Dingen spreche. Es scheint uns schwer gemacht zu werden. Ich verstand, als Du fortgingst damals, so gut, daß Du den Flug in die freie Luft gewagt hast. Ich war stolz darauf, obgleich es mir so schweren Kummer machte, daß Du mir nichts gesagt hattest und daß Du nicht schriebst. Ich wäre Dir nachgekommen. Und ich glaubte, Du kämst eines Tags unerwartet zurück, frei und selbständig – wie in den Theaterstücken.

Und als ich dann hörte, Du seist in Antwerpen gesehen worden, und es sei nichts aus Dir geworden, da fluchte ich gegen alles, was mir heilig war. Mein Gehirn zerrieb sich umsonst an den Widerständen. Aber heute verstehe ich, daß das Leben die Dinge nicht so einfach serviert, sondern daß es mit tausenderlei Abstufungen, die wie Töne und Untertöne so fein klingen, arbeitet. Und wir spekulieren ohne das Leben, das unter der Kruste seinen Weg mit uns geht, wohin es will. Aus meiner Leidenschaftlichkeit, meinem Haß, meiner Verachtung, meinen Brüskerien ist ein bleiches, mageres Mädchen geworden, das nur noch Wünsche hat, die wie Wolken auf dem Meere liegen, man weiß nicht, ob es Berge oder nur Dunstgebilde sind. Ich spiele auf Gesellschaften Klavier, bin zuvorkommend und man findet, daß ich nicht ohne Liebenswürdigkeit auf dem guten Weg bin, eine alte Jungfer zu werden.

Aber wenn du den Griff meiner Finger spüren könntest, indem ich dies schreibe in meiner einsamen Nacht! Es ist mir oft, als hätte ich einen Haß, mächtig genug, das Land, das ganze kleine verfluchte Land zwischen den Händen zu erwürgen! Aber selbst diese Flammen verrauchen, ohne Hitze zu lassen, und morgen nachmittag werde ich dem Viehändler X. den Tisch schmücken und nachher die Verleumderin Y. liebenswürdig behandeln, damit ich nicht von der Gesellschaft abseits stehn gelassen werde. Könnte ich nur ganz still resignieren. Aber es ist noch zu viel Feuer in einem.

Ist es nicht komisch, daß ich die Pein meines kleinen Lebens Dir in die Welt nachschicke? Aber ich habe die Hoffnung, daß sie Dich vielleicht nicht erreicht. Denn: wo bist Du? Der liebe Herr Hasenklever nannte mir den Dampfer ‚Hamburg‘. Aber die Meere sind so weit! Die Erde ist so tief! Man kann so spurlos drin verschwinden. Ich weine und küsse den lieben Bruder.

Jeanne.“

Das las Baptist. Er faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche. Es war Nacht geworden und er ging langsam zwischen den Tauen und Warenballen hindurch hinter die Back an achtern und setzte sich auf den Anker, der einsam dort lag. Über den schwarzen Stämmen der Tausende von Masten flog der glühende Himmel auf, der den Schein der Abendlichter Neuyorks trug. Er war wie blühendes Blut. Wie mit Messerschnitten arbeiteten die Ereignisse des Tages in Baptist. Er konnte sie nicht zusammen bringen. Die Klage seiner Schwester, Ilanka, der Mord, der Tod der beiden Menschen ... alles floß unaufhörlich ineinander. Es war alles grundlos, alles ohne Erklärung. Wehrlos ließ er es auf sich losschlagen. Auf fernen Dampfern klopfte die Arbeit. Sie scheute selbst die Nacht nicht, die milde, heilige Nacht, in deren Dunkelheit die Sterne standen, wie Bänder, die sich leuchtend nach den verlassenen Ländern knüpfen.

Als Baptist eine lange Weile zu ihnen hinaufgeschaut hatte und langsam die Erinnerungen an einzelne ihrer Gebilde kamen, die zu Haus über den Fenstern gestanden hatten, da bohrte sich, wie ein Strudel, ein wildes Schluchzen aus dem tiefsten Grunde seines Blutes in die Kehle herauf, die Augen stürzten voll mit Tränen, er schlug mit dem Kopf auf die Reeling nieder und weinte. Was war das „Zu Haus“? Er wußte erst in diesem Augenblick, daß er seine Heimat verloren hatte, und er dachte mit einem heißen, empörten Groll an das kleine, unfruchtbare, harte Land zurück, das ihn verstoßen hatte und das nun seine Schwester peinigte. Er weinte lange darüber. Er wurde ganz stumpf von Weinen und legte sich dann betäubt ins Bett.

Mitten in der Nacht wachte er auf. Er war mit einem Mal ganz wach und fühlte sich wie neu gekräftigt. Er zog sich an, ging an Deck hinauf und stellte sich seewärts an die Reeling. Da war ihm auf einmal, als er an das Schicksal Hartwigs dachte, als sei er einer Gefahr entlaufen. Ihr letzter Schatten stand noch neben ihm und sie war tief wie ein Abgrund, daß der Gedanke daran ihn schwindelig machte. Er preßte erschauernd die Augen zu. Aber gleich ergoß sich eine große Zuversicht über ihn. Er war gerettet und flüchtete sich mit seligen Gefühlen zu dem Brief seiner Schwester. Er zog ihn aus der Tasche und drückte lange inbrünstig die Lippen darauf. Er fühlte einen Schoß irgendwo im Kreise der Welt, der mild und warm wie eine Höhle war, in die sich Flüchtlinge retten.

Am nächsten Morgen ging Baptist zum Kapitän und entschuldigte sich, daß er gegen sein Entgegenkommen so unhöflich gewesen sei. Er habe nicht allein die Schuld daran. Denn Baptist fing an zu verstehen, daß die Worte des Kapitäns eine Auszeichnung für ihn waren. Der Kapitän war liebenswürdig zu ihm, ließ ihn am Nachmittag rufen und kündigte ihm an, der Posten als Verwalter des Schiffsinventariums sei für ihn frei. Baptist wußte Dank. Aber dieser Aufstieg war ihm etwas Selbstverständliches. Er bekam nun eine eigene Kabine und der Obermaschinist weihte ihn gleich in die neue Tätigkeit ein.

 

Gegen Abend verließ der Dampfer den Hafen. Baptist saß auf Deck auf einem Kranz von Tauen und schaute auf die Stadt, die zurückblieb. Überall tollte noch die Arbeit. Der Rauch des Hafens zog in wilden, dunkeln Schwaden gegen die Dächer der Häuser und verband Hafen und Stadt. Die Stadt lag wie eine einzige Masse in der nebeligen Luft, breit zusammengeschlossen, mit einer passiven Wucht, wie eine Frau.

„Da ist es geschehen!“ sagte sich Baptist ... Und so sah diese Stadt auch aus, wie ein entsetzliches Bett für die dunkle Katastrophe Hartwigs und der Jüdin. Die Tat war ihm, nachdem er sie nun ruhiger überblicken konnte, wie eine furchtbare Offenbarung der Natur, einer der einschlagenden Blitze des Schicksals, bei denen man an eine Absicht glauben will. So nahm er sie hin, selber, aber außerhalb der eigenen Wirklichkeit daran beteiligt, und er wälzte dieses Ereignis mit vielen schweren, dunkel bleibenden Schlußfolgerungen in sich herum. Die doppelte Katastrophe hatte nichts Fürchterliches mehr, sondern nur die schwere Gewalt einer urtümlichen Manifestation.

Sie wuchs dort aus der Riesensiedlung heraus. Die Stadt war wie die Burg einer allgewaltigen Maschine, die ihre Kraft aus der ganzen Erde zieht und sie verstärkt über die ganze Erde zurückschleudert. Willen und Notwendigkeit waren die Räder, Menschengeist die Triebkraft. Und das Schicksal Hartwigs und der Jüdin war von jedem Willen und jedem Bewußtsein freie Natur, war aufgesprossen wie eine verhängnisvolle, dumpfe Vegetation, war wie ein Vulkanausbruch in der Stadt aufgeschlagen ... In welcher tiefen, geheimnisvollen Absicht des Schicksals? In welchem urhaft verwurzelten Zusammenhang zwischen Mensch und Natur? Willen und Geschehen stiegen wie zwei Säulen nebeneinander auf.

Da war es Baptist auf einmal, als wüßte er wie in einem dämmerigen großen Mysterium um das Geheimnis seines eigenen Versagens.

Als er diese dunkle Erkenntnis errungen, war eine große Feierlichkeit in ihm. Er saß abends in seiner einsamen Kabine und blätterte das Pack deutscher Zeitungen durch, die ein Zufall ihm in die Kabine gebracht hatte. Da las er, daß ein ganzes Volk sich wie in einer freudetrunkenen Woge hob, um dem Erfinder eines modernen Gedankens die Kraft zu geben, das Werk zu vollenden. Er las mit fliegenden Gedanken heraus, daß das Volk mit tätig sein wollte, wenn das große Neue geschah, das seinem Leben vielleicht andere Richtungen aufzwang. Hier gab es ein Werk, in dem sich mit der geschlossenen Kraft einer ganzen Rasse der Willen der Zeit kund tat. Alle Einzelnen fügten sich zur Masse zusammen, die Masse drang vorwärts in einer festen Phalanx. Das war auch Neuyork, die Weltburg des riesenhaften Akkumulators, der sammelte und spendete.

Da kam ihm sein eigenes Leben vor wie ein Einsamgehen, wie ein kindisches, dummstolzes Spekulieren, und es war ihm nur recht geschehen, daß es ihn aus dem Kreis der Kraft des Lebens, die wie ein Rad über die Erde drehte, gestoßen und ihn gestürzt hatte. Er fühlte sich zum erstenmal als ein Teil von einem Ganzen; als ein Teil, das suchen mußte, seine sich bescheidende Kraft in das Getriebe des Ganzen einzufügen, wo sein Platz leer war und wartete.

Gerührte und ergriffene Tage kamen ihm nun, und die Begeisterung überbrauste ihn, daß am Ende seiner Reife in die Welt der Hafen jenes Volkes lag. Er hatte schon als Knabe sich in dunklem Drange dem Volk zugehörig gefühlt. Und in diesem Hafen sollte ihm das neue Leben beginnen.

So baute er sich an einem Tage, da zum erstenmal vor seinen Augen die Tropenküste Brasiliens in weißer Glut aus dem Ozean brannte, in der deutschen Ferne den Hafen einer neuen Heimat auf, und seine Augen wandten sich von dem flaumweichen, heißen Streifen des Ufers und suchten verliebt die Richtung nach Osten über das Band der Meere.

Ende

Fischers Bibliothek
zeitgenössischer Romane

Zweiter Jahrgang
(Oktober 1909-September 1910)


1. Bd. Hermann Hesse, Unterm Rad
2. Bd. Anny Demling, Oriol Heinrichs Frau
3. Bd. Theodor Fontane, Cecile
4. Bd. Herman Bang, Am Wege
5. Bd. Norbert Jacques, Der Hafen
6. Bd. Laurids Brunn, Van Zantens glückliche Zeit
7. Bd. Emil Strauß, Der Engelwirt
8. Bd. Peter Nansen, Julies Tagebuch
9. Bd. Felix Salten, Olga Frohgemuth
10. Bd. Ruth Waldstetter, Die Wahl
11. Bd. Hans von Kahlenberg, Eva Sehring
12. Bd. Johan Bojer, Unser Reich

Jeden Monat erscheint ein Band

Im gleichen Verlage ist erschienen:

Norbert Jacques: Funchal

Eine Geschichte der Sehnsucht. 2. Aufl. Geh. 2 M., geb. 3 M.


Von dieser Geschichte muß ich das Beste sagen, das man von einem Buche rühmen kann: sie ist voll Schönheit und Eigenwuchs. Ein zarter, vornehmer Stil, ein ungewöhnlicher Inhalt und eine wohlklingende Sprache geben ihr ein besonderes Gesicht; man glaubt zuweilen in der Bibel zu lesen, von so knapper, schlichter Größe sind einzelne Stellen; so die Begegnung Thos und Margarethes am Meere, und ihre Hochzeitsnacht, und die Wanderschaft Thos.

In einem armen Fischerdorf an der dänischen Küste geht ein fremdes Schiff zu Grunde; ein Brett mit der Aufschrift Funchal und ein kleines Kind sind die einzigen Überbleibsel. Der Knabe wird in der Familie des alten Bootbauers Nielsen aufgezogen, ein Kuckuck im fremden Nest. Mit siebzehn Jahren wacht in dem braunen Burschen ein Traum von hohen weißen Bergen auf, eine Unruhe und unstillbare Sehnsucht, die ihn verbrennt. Er hört von Funchal, der glänzenden Stadt auf Madeira, und beschließt, sie, die seine Heimat sein muß, zu suchen. Er geht fort über Dünen und Dörfer, arbeitet, hungert, verdient einen kargen Lohn und kehrt im Winter wieder heim nach Klitby. So treibt er es durch die Jahre. Nie kommt er ans Ziel. Alle Frühjahr packt ihn das Heimatfieber, er knüpft sein Bündel, wandert ans Meer zu einem Hafen, um ein Schiff nach Funchal zu finden, und kehrt im Herbst zerbrochen heim. Einmal findet er Margarethe, Nielsens Tochter, badend. Hand in Hand gehen sie zum Vater, verlobt. Nun wird Tho seßhaft. In der Hochzeitsnacht aber steht vor seinen Augen die funkelnde Stadt mit den hohen Bergen und die Sehnsucht seines Lebens ...

Das zitternde Heimweh nach dem unbekannten Vaterlande hat in dieser Geschichte einen hinreißenden Ausdruck gefunden; der arme, fremde Bursche, der anderen Blutes ist als die Menschen um ihn, irrt unstet und von seinem Heimweh geplagt umher, und als er müde das Suchen aufgibt, lebt seine Sehnsucht weiter in seinem Kind.

Jacques hat nicht zu viel gesagt, als er unter den Titel des schönen Buches schrieb: eine Geschichte der Sehnsucht. Glühend und blühend redet sie zu uns und rührt an das Unerfüllte, das in jedem Herzen seine Stätte hat.

(Ludwig Finckh in der „Münchener Zeitung“)


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.

Anmerkungen zur Transkription

Verlagsanzeigen wurden am Ende des Buches gesammelt.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):