The Project Gutenberg eBook of Die Masken Erwin Reiners This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Die Masken Erwin Reiners Author: Jakob Wassermann Release date: July 26, 2025 [eBook #76567] Language: German Original publication: Berlin: S. Fischer Verlag, 1910 Credits: Markus Brenner, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MASKEN ERWIN REINERS *** Anmerkungen zur Transkription: Die Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originals wurde weitgehend übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Die Originalvorlage ist in Fraktur gedruckt; Textpassagen, die im Original in Antiqua gedruckt sind, wurden hier _so_ markiert. Gesperrt gedruckter Text ist =so= markiert. Die Überschriften und Buchtitel in den Verlagsanzeigen, die in der Vorlage in vergrößerter Schrift dargestellt sind, sind +so+ markiert. Am Ende des Textes befindet sich eine Liste korrigierter Druckfehler. [Illustration: Signet des S. Fischer Verlags] Die Masken Erwin Reiners Roman von Jakob Wassermann S. Fischer, Verlag, Berlin 1910 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Copyright 1910 S. Fischer, Verlag, Berlin. Virginia Um die Mitte des Oktober fiel die Entscheidung. Der Arzt, von dessen Spruch Manfred Dalcroze alles abhängig gemacht, sagte ihm, daß er zwei Jahre lang auf die See gehen müsse, um die erkrankte Lunge wieder herzustellen. Manfred war darauf vorbereitet; dennoch war ihm zumute, wie einen Sommer vorher in Castrovillari, als er während des Erdbebens die Mauern seines Hotels zwanzig Schritte vor sich zusammenstürzen sah. Er schrieb vom Semmering aus an seinen Bruder, den Professor Ernst Dalcroze in Berlin, und erinnerte ihn an sein Versprechen, daß er sich, falls die Dinge den gefürchteten Verlauf nehmen würden, an den Professor Uchatius wenden würde, der mit der Ausrüstung einer deutschen Tiefseeexpedition betraut war. »Wie ich höre, verläßt das Schiff Mitte November den Hafen von Kiel«, schrieb Manfred; »ich glaube, du kannst mich dem Professor Uchatius mit gutem Gewissen empfehlen und ihm sagen, daß ich trotz meiner dreiundzwanzig Jahre schon manches Ersprießliche im Fach der Mikrobiologie geleistet habe. Wenn er mich als Mitarbeiter aufnähme, bliebe ich in der Linie meiner Studien und im Kreis einer zweckvollen Tätigkeit. Ich kann mich unmöglich zwei Jahre lang auf Vergnügungsdampfern und unter gleichgültigen Weltbummlern herumtreiben; das würde mich zur Beute unendlicher Grübeleien machen. Der ›Phönix‹ bleibt meines Wissens über anderthalb Jahre weg, was ja ungefähr mit der ärztlichen Vorschrift übereinstimmen würde, die ich befolgen muß.« Kaum in Wien angelangt, erhielt Manfred ein Telegramm seines Bruders: »Uchatius stimmt zu. Sei am fünften November in Berlin.« Manfred seufzte. Er sah sich zur Eile getrieben. Aber nichts von Eile war in seinem Wesen, als er sich gleich danach auf den Weg in die Josefstadt begab. Sich zu hasten, lag nicht in seiner Konstitution. Langaufgeschossene Menschen mit blonden, glatten Haaren neigen eher zum Phlegma. Manfreds bartloses Gesicht verriet eine mädchenhafte Zartheit. Wären einige seiner Bewegungen nicht so schüchtern gewesen, so hätte man sagen können, er nehme sich elegant aus. Jedoch die eleganten Leute besitzen nicht oder verraten nicht eine so träumerische Befangenheit, wie sie in den Augen dieses hübschen jungen Mannes wohnte, dessen Erscheinung Neugier und Teilnahme hervorrief. Ein blauer Herbsthimmel wölbte sich über der Stadt. Der Herbst ist für die Jugend vielleicht die lyrischeste Zeit. Manfred war voll von Erinnerungen. Das schnelle Vorüberfließen des Lebens hatte schon etwas Gespensterhaftes für ihn; es gab Augenblicke, wo er das Blut in seinem Herzen ungern pochen fühlte, weil jeder Schlag eine unwiederbringliche Frist besiegelte. Selbst jetzt auf dem Weg zu Virginia war ihm die Zeit zu geschwind, weil die Botschaft, die er brachte, seinen Schritt beschwerte. In einer alten Gasse ein altes Haus mit weitem Torbogen; dunkler Flur, menschenleerer Hof und ein zweiter Bogen wie ein Schattenspiel; dann kletterte die weiße Wendelstiege zu jenen Räumen empor, von welchen aus, seit einem halben Jahr etwa, Manfred das Treiben der Menschen betrachtet hatte wie einer, der mit umgekehrtem Opernglas auf die Bühne blickt. Virginia hatte ihn erwartet. Wie stets bewältigte ihn ein Gefühl der Unwürdigkeit in ihrer Nähe. Glück und Schmerz einten sich in seinem Innern, und es war ihm deutlich bewußt, daß die Leidenschaft, die er für dieses Wesen empfand, alle Wünsche und Ziele des Lebens in sich aufgenommen hatte. Umschweife waren seine Sache nicht. In einem einzigen Satz war das Betrübende gestanden. Virginias Mutter war ausgegangen, sie waren allein. Virginia legte die Hände auf seine Schultern und sah ihn schweigend an. Sein ernster Blick ließ sie trauriger werden. Sie setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein Abglanz von Sonne auf ihr braunes Haar und ließ es kupfrig erschimmern. Wie traulich ihm alles war; das Haus, die Nachmittagsstille, das Zimmer mit den Tüllgardinen, dem riesigen Spind, den rundlehnigen Stühlen, dem Sofa aus geblümtem Stoff, der Uhr mit den zwei zerbrochenen Alabastersäulchen! Am andern Abend brachte er sein Tagebuch mit, das kennen zu lernen Virginia schon oft gewünscht hatte. Er las ihr vor. Diese Aufzeichnungen formten das sympathische Bild eines um Klarheit und Sachlichkeit redlich bemühten Geistes. Die verhängnisvollen Fehler der Epoche, unreife Nörgelei und anmaßende Selbstzerfaserung, gewannen kraft einer natürlichen Bescheidenheit keinen Raum. Das eingestandene Gefühl, unzulänglich zu sein, war echt. Das Leben war zu reich und zu verworren; die Menschen der Zeit wurden einer großen Gesellschaft verglichen, in der jeder dem andern fremd ist, jeder sich einsam weiß, wo alles ruhelos, bestürzt und blind von Saal zu Saal aneinander vorübereilt und niemand den Namen des Gastgebers kennt. Es war die vorherrschende Stimmung eines jungen Mannes vom Anfang des Jahrhunderts. Er glaubt sich in umfriedetem Bund und ist verloren wie in der Wüste; ehrwürdiges Herkommen scheint ihn zu verpflichten, und er findet sich führerlos und unberaten; viele reden, doch keiner spricht; wer ruht, hat schon verzichtet, und der Tanzende scheint im nächsten Augenblick zu sterben. Wie keinem war es Manfred notwendig, einen Freund zu besitzen. Als der Name Erwin Reiners zum erstenmal in dem Tagebuch auftauchte, verwandelte sich der Ton der Erschöpfung in den der Zuversicht. »Erwin hat mich vor dem Selbstmord bewahrt,« hieß es da treuherzig, »er hat mir Geduld und Einsicht geschenkt. Ihm verdanke ich den Glauben an die Schönheit des Lebens, denn für ihn ist das Leben ein Wunder, das sich täglich wiederholt. So wächst meine Schuld gegen ihn mit jedem Tag.« Als die Stelle kam, wo die erste Begegnung mit Virginia geschildert war, schüttelte das Mädchen lachend den Kopf und sagte, das möge sie nicht hören. »Wenn wir mal alt sind,« sagte sie, »kannst du mir das vorlesen.« So blieben sie schweigend, Hand in Hand, und während es zu dämmern begann, irrten Manfreds Augen zerstreut über die engbeschriebenen Seiten, auf welchen jene natürlichen Erlebnisse wie Mirakel behandelt wurden. »Täglich führt mich mein Weg durch dieselben Straßen, und ich beachte nicht die Menschen, die mir begegnen. Aber gestern hab ich ein Mädchen gesehen ... eine Sekunde lang standen wir voreinander, unsere Blicke trafen sich, dann rief sie den ihren so hastig zurück, wie man die Hand von einem glühenden Eisen zurückzieht. Ich kehrte um und folgte ihr wie behext. Ihr Gang hatte etwas edel Schleichendes, so daß ich mich ganz einfältig fragte, ob sie eigentlich Beine und Füße habe. Ich sah beständig den Kontur der linken Wange, der dem sanft geschwungenen Bogen einer Banane glich. Über den Schultern erhoben sich die fernen bläulichen Hügel, die den Prospekt der Straßenzeile bildeten. Ich versuchte auf dieselben Pflastersteine zu treten, die ihr Fuß berührt hatte, mir war, als ob die Luft, durch die wir beide gingen, links und rechts in festen Mauern wüchse, es war mir angst und bang, ich fühlte mich gedemütigt, ich zitterte vor dem Moment, wo ich sie aus dem Auge verlieren mußte, und als sie endlich draußen in einem Vorstadthaus verschwand, blieb ich zwei Stunden lang in gedankenlosem Kummer am Tor dieses Hauses stehen.« Manfred hatte viel inneres Gesetz; deshalb war in seinen Empfindungen Stetigkeit und Mark. Halbe Tage hindurch promenierte er vor dem Hause in der Piaristengasse mit einem geregelten Eifer, der die Aufmerksamkeit der Nachbarn und den Argwohn der Polizeileute erweckte. Einmal, gegen Abend, trat Virginia mit ihrer Mutter aus dem Tor; wie einer, der sich in ein tiefes Wasser zu stürzen anschickt, schritt er vor die zwei Frauen hin, grüßte, nannte seinen Namen, entschuldigte seine Kühnheit mit allen Zeichen der Feigheit und stammelte etwas von Eindruck, von Ehrerbietung, von Begleitenwollen, kurz, ganz banales und nichtswürdiges Zeug. Virginia maß ihn von oben bis unten. Manfred spürte beklommen, daß dieses nach seiner Kleidung dem Mittelstand zugehörende Mädchen etwas vom Adel einer Fürstin an sich hatte; jedenfalls verriet ihr Benehmen, ihre Haltung, die Art, mit einer Bewegung des Kopfes Mißachtung, Stolz oder Verwunderung auszudrücken, eine nicht gewöhnliche Charakterstärke. Anders die Mutter, deren Unsicherheit gegen Fremde leicht den Ton verfrühter Zutraulichkeit annahm. Doch ohne dieses Fehlgreifen, das Manfred mißfiel, weil er wahrnahm, daß es Virginia mißfiel, hätten die beiden schwebenden Naturen sich nicht so schnell zueinandergefunden. Frau Geßner pries die Manieren des Jünglings mit einem Enthusiasmus, der Virginia nervös machte. Die alte Dame war über seine anständigen Absichten sofort im klaren; sie zog unter der Hand Erkundigungen ein, erfuhr, daß die Dalcroze eine renommierte Gelehrtenfamilie waren, und hätte über Virginias Zukunft keine Sorgen mehr gehabt, wenn Manfred um zehn Jahre älter gewesen wäre. Solche Bedenken lagen Virginia fern. Als sie Vertrauen gewonnen hatte, war ihr Herz zu lieben bereit. Aber ein vorsichtigeres Herz als das ihre ließ sich nicht denken. Sie setzte den Verlockungen des Glücks ein Widerstreben entgegen, das aus verschiedenartigen Umständen Nahrung zog, einmal aus der ganzen Lebensluft dieser Stadt, in der sie aufgewachsen war, der Luft der Sinnlichkeit und des unbedenklichen Genießens, vor deren Einflüssen sie durch eine klösterliche, nicht immer froh empfundene Abgeschiedenheit geschützt war; sodann aus den strengsten und durchaus eingefleischten Grundsätzen über Sitte und Tugend, die mit erlesener Schönheit zuweilen im Bunde sind, als ob es in den Absichten der Natur selbst beschlossen wäre, ihr Meisterwerk nicht ohne Wehr und Waffe auszuliefern. Erst als von ihren Lippen das abwartende und schwer deutbare Lächeln geschwunden war, durch welches sie ihrer tiefen Zurückhaltung den Glanz von Liebenswürdigkeit gab, als die Augenlider zögernd sich senkten, der Blick zögernd wieder aufstieg, um durch Befremdung, Frage und Erschütterung hindurch das verwandelte Gemüt zu offenbaren, erst dann hatte Manfred gesiegt. Im Mai, während eines Spaziergangs im Walde, entriß er ihr ein Geständnis. Sie küßten einander. Manfred erbebte vor der Wirkung dieses Kusses, und Virginia beschwor ihn, sie ähnlichen Gefühlen nicht mehr preiszugeben. Er versprach es; er war stark genug, das Versprechen zu halten. Sie einmal so völlig außer sich gesehen zu haben, so im Sturm, in der kurzen Raserei, die aus ihr hervorgebrochen war wie ein Element, unter der sie litt wie in einem Todeskampf und die wieder ausgelöscht war wie eine Flamme, die man ins Wasser taucht, das war Stoff für dauernde Träume und erfüllte ihn mit dauernder Dankbarkeit. Und dieses wieder dankte ihm Virginia in zarter Weise. Ihre Liebe hatte nichts Lockendes, nichts Werbendes, nichts Verlangendes, nichts Hinschmelzendes; nichts von den hundert Listen, die sonst, gewöhnlich oder apart verwendet, zum Kriegs- und Eroberungsarsenal der Mädchen gegen ihre Anbeter gehören. An ihr war alles Gleichmaß; sie war voll Ruhe und voll von sanfter Scheu. Mehr als alles fürchtete sie die unfruchtbare Glut des aufgeweckten Blutes. Darin lag Ehrlichkeit gegen sich selbst und überlegte Rücksicht gegen den Geliebten. Alles Frohe und Erschlossene in ihrem Gebaren hatte den Charakter von Urwüchsigkeit und Kindlichkeit. Sie spottete gern und besaß ein Talent zur Nachahmung, das eine starke Beobachtungsgabe verriet. Ihre Mutter hatte deswegen daran gedacht, sie für die Bühne ausbilden zu lassen, aber Virginia hatte eine sehr geringe Meinung vom Beruf einer Komödiantin. Frau Geßner bezog eine kleine Witwenpension, die im Verein mit den Zinsen von zwanzigtausend Kronen, welche Virginia von einem Verwandten geerbt hatte, den beiden Frauen nur ein kärgliches Auskommen sicherte, hart an der Grenze der Bedürftigkeit. Virginia hatte niemals an eine Versorgung durch Heirat gedacht, sie wollte sich auf eigene Füße stellen, und so hatte sie sich vor zwei Jahren entschlossen, bei einem billigen Lehrer Mal- und Zeichenstunden zu nehmen; aber es war ein ziemlich hilfloses Treiben, und es machte ihr Kummer, daß sie ein ersprießliches Ziel nicht absehen konnte. Manfred, in seinem hohen Respekt vor der Kunst, entmutigte sie vollends, und obwohl sie ihm deswegen nicht zürnte, verletzte es doch ihren Stolz, als sie ahnend begriff, daß er wie alle ganz jungen Menschen insgeheim ein orientalisches Frauenideal von Trägheit und Sichtragenlassen hegte. Ihre Schönheit entschuldigte freilich den Gedanken, der sie in einer häßlich aufgeregten Welt als ruhend träumte. Es war eine Schönheit, deren Vollendung dem flüchtigen Beschauer entgleiten mochte; in der Tat konnte Virginia durch eine belebte Straße gehen, ohne wie minder ausgezeichnete Frauen zudringliche Blicke zu alarmieren. Ihre Schönheit bedurfte gleich den echten Dichtungen des Studiums und der Vertiefung, um gewürdigt zu werden. Das Ebenmaß ihres hochschenkeligen Körpers triumphierte durch jede Kleiderhülle, und in den Begrenzungslinien entzückte die rhythmisch verteilte Bewegung; ihre Haltung erinnerte an die selbstverständliche Anmut der edlen Tiere und an die Beherrschtheit einer großen Tänzerin. Ihre Hände waren weiß, lang, durchsichtig und kräftig; ihre Haut war glatt wie japanisches Papier, leuchtend, aber nicht feucht; ihre Lippen hatten die Frische und Narbenlosigkeit wie bei dreijährigen Kindern; die Augen waren weitgehöhlt, kunstvoll gebogen, seltsam grau bewimpert, zwischen Lid und Stern war ein wunderlicher Bernsteinglanz, der Augapfel schwamm köstlich ruhevoll auf der perlmutterschimmernden Wölbung, und dieses Schauspiel des Lebens unter einer Stirn, die nicht flüchtete, die stille war, die zu schlummern schien und deren Helligkeit von den Haaren beschwichtigende Schatten erhielt, verlieh dem ganzen Antlitz eine bezaubernde Wahrheit und Gegenwärtigkeit. Sie litt es nicht, wenn Manfred sie bewunderte; es kam ihr wie ein Mißverständnis vor. Sie suchte freien Anschluß, Freundschaft, Entgegenwirkung. Doch Manfred errichtete Altäre, und der Überschwang des Glücks lenkte seinen Sinn oft ins Dunkle, denn er stand nicht vertrauensvoll zu seinem Genius. So zeigen sich die beiden Menschenkinder als beschlossene und gütige, dem Weltlärm entrückte Gestalten, von denen zu beklagen ist, daß sie der Schicksalswind auseinanderreißen und in verwunschene Bezirke des Lebens wirbeln wird. Eine Vision Die Dalcroze stammten aus Polen und waren am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nach Deutschland gekommen. Manfred hatte die erste Kindheit in Berlin verlebt, wo sein Vater ein angesehener Universitätslehrer gewesen war. Als beide Eltern gestorben waren, nahm ihn die Großmutter zu sich, die in Wien wohnte. Sie war eine reiche Frau und eine Sonderlingin; sie liebte das Hasardspiel und verlor einmal in einer einzigen Nacht an ein paar zweifelhafte Kavaliere fünfzigtausend Gulden. Darüber erfaßte sie ein ungeheurer Schrecken, sie warf sich vor, den Enkel beraubt zu haben, und zog sich für den Rest ihres Lebens nach Salzburg zurück, wo sie sich in eine eigensinnige Einsamkeit vergrub, in ihren Gedanken nur noch mit dem vergötterten Manfred beschäftigt, bei dessen Glück und Gesundheit sie geschworen hatte, nie mehr eine Karte zu berühren. Vor seiner großen Reise mußte Manfred noch zu der alten Dame fahren, um ihr Lebwohl zu sagen. Er wählte einen Nachtzug, und im Schlafkupee schrieb er, unbeirrt durch die beschwerlichen Umstände, an Virginia folgenden Brief: »Geliebte Virginia! Das Schicksal hat beschlossen, daß wir uns trennen müssen. Wenn ich diesen Gedanken zu Ende denken will und die Zeit ermesse, die vorübergehen wird, bis wir uns wiedersehen, ist es mir, als könnt ich so nicht weiter leben, wie ich bisher gelebt, als wäre dieses Leben fern von dir nur ein Schlaf. Es werden viele Tage sein, fünfhundert oder sechshundert, und viele, viele Nächte, an denen ich nicht wissen werde, was du sprichst und wo du bist und was du träumst. Ich habe zu viel Phantasie, oder vielleicht auch zu wenig Phantasie, jedenfalls zu wenig Vertrauen in die Fügungen, um die Unruhe meines Herzens wirksam zu bekämpfen. Ich weiß nicht, wie du es fühlst und ob du lernen wirst, dich darein zu finden, ob ich wünschen soll, daß du es mit Fassung trägst, oder lieber wünschen soll, daß du bangst; was mich betrifft, mir graut mit jeder Stunde mehr, und ich zittere vor dem Augenblick, der uns trennen wird. Seit ich dich habe, scheinen mir alle Menschen mit Geheimnissen erfüllt; die Verräter riechen nach Verrat und die Mißgünstigen nach ihrem Neid. Ich sage mir freilich: das Geschick muß es ehrlich mit mir meinen, sonst wäre es ja sinnlos gewesen, daß es dich mir gab; ich sage mir: was bedeutet es am Ende, wie weit ich von dir sein werde, ich lebe ja, es ist ja nur die Luft zwischen uns, Wasser, Erde, zählbare Meilen, eine Einbildung von Ferne. Trotzdem ist schon jetzt alles aufgewühlt in mir, und ein böser Geist flüstert mir zu: was jetzt? was morgen? Ich fürchte die unbekannten Drohungen des Daseins, ich fürchte die Menschen, all diese Namenlosen, die einen heimlichen Krieg gegen die Namenlosen führen, die wider uns sind, weil sie eben sind, und weil das Menschenwesen finster ist. Vieles kann geschehen. Zwischen zwei Schritten kann ein Abgrund sein, zwischen zwei Stunden ein Tod. Ich glaube an mich. Es ist mir die schwere, aber beglückende Aufgabe geworden, eine Existenz zu gründen, welche deiner würdig ist. Darauf will ich meine Kräfte und Gedanken richten, was mir ganz natürlich sein wird, da es ja dein Bild ist, welches meine Kräfte und Gedanken bewegt und leitet. Die Unschlüssigkeit und der Wankelmut, denen ich verfallen war bis zu dem Tag, wo es mir vergönnt war, deine Hand zu fassen, hatten ihre Ursache darin, daß ich mir nur halb erschaffen schien, bevor ich dich kannte, und daß ich erst durch dich Wahrheit gewann über meine Fähigkeiten, meine Bestimmung und meine Zukunft. Ich kann nicht wie im Traum durch die Dinge und die Ereignisse leben, mich greift alles hart an; meine Vorsätze, das was mir zu tun notwendig ist, um dich glücklich zu machen, beschäftigt mich unausgesetzt, und wenn auch einerseits damit eine gewisse Ruhe in mein Wesen kommt, die Ruhe der Entschlossenheit, so erkenne ich doch andererseits, daß die Tröstungen, die ich mir vorsage, um die Trennung von dir erträglicher zu machen, nur Scheintröstungen sind, denn ich bin eben doch ein zu schwacher Mensch, um ohne Furcht, sei es auch nur die Furcht vor der Sehnsucht, einer solchen Prüfung ins Auge zu blicken. Aber es ist nicht die Furcht vor der Sehnsucht allein; nicht nur diese egoistische Furcht. Es ist, klipp und klar gesagt, die Furcht vor Unglück, vor den tückischen Zufälligkeiten des Lebens, und die Erwägung deiner Schutzlosigkeit, deiner Einsamkeit, deiner Unkenntnis der Menschen und der Welt. Vielleicht sollte ich dich nicht aufstören aus Deinem Zutrauen, vielleicht sollte ich selber Zutrauen daraus schöpfen, wenn ich mir gegenwärtig halte, daß diese Einsamkeit und Arglosigkeit dir angemessen ist und vielleicht zur Vollendung deiner inneren und äußeren Gestalt dient. Findest du mich töricht? Aufgeweckt und selbst den schattenhaften Befürchtungen preisgegeben, die mich zu ihrem Spielball machen, erklärst du mich vielleicht für den Störer deines Seelenfriedens; oder du verurteilst mich als einen, der sich anmaßt, den bisher so stillen und heitern Verlauf deines Daseins verändert zu haben dadurch, daß er, doch nur vom Glück begünstigt, in deinen Kreis getreten ist. Dies alles fühle und denke ich mit dir. Doch ich kann nicht anders, mir wird kalt, wenn ich ans Scheiden denke, und schon bei dieser Fahrt jetzt und kurzen Abwesenheit ist mir, als seiest du von schrecklichen Gefahren umgeben. Deshalb, liebste, teuerste Virginia, laß mich eine Bitte tun, erfülle sie mir, zürne mir nicht, überlege nicht viel, sag ja und du nimmst einen Stein von meiner Brust. Du weißt, was mir Erwin Reiner bedeutet. Du mußt wissen, was er mir war, was er mir ist. Er, er kennt dich, ohne daß ich je nötig hatte, viel zu reden. Er verehrt dich, weil er mich liebt, und er hat es mir noch nicht verargt, daß ich ihn nicht zu dir geführt, weil er zartfühlend genug ist, um sich zu sagen, daß ein Verhältnis wie das unsre vorläufig Abgeschiedenheit braucht. Ich will dich unter seinen Schutz stellen. Ich will, daß er über dich wacht. Welchen stärkeren Beweis meines Vertrauens zu ihm, deines Vertrauens zu mir kann ich Erwin liefern, als wenn ich ihm sage: hier, Freund, ist das Gut und Glück meines Lebens, hüte es. Er wird es hüten, als sei es sein eigenes. Er ist viel zu ehrenhaft, um eine solche Pflicht zu unterschätzen, wenn er sie auf sich nimmt. Ob er sie auf sich nehmen wird, ist meine einzige Angst, denn seine Person ist viel gefordert und sein Leben weitversponnen. Du mußt auch nicht glauben, daß er dir in irgendeiner Weise zur Last fallen wird; dazu ist er viel zu delikat. Du wirst ihn lieben, du wirst ihn bewundern, denn alle, die ihn kennen, lieben und bewundern ihn. Ich habe das Gefühl, daß der Kreis meines Glückes erst geschlossen sein wird, wenn zwischen dir und Erwin Freundschaft entsteht. Überleg es dir! Gib mir diese Hoffnung auf größere Seelenruhe, und nun gute Nacht, Liebste, es ist spät geworden. Der Zug fliegt durch den winterlichen Nebel – zu dir, immer nur zu dir, denn jede vergangene Minute kürzt die Trennung. Wenn ich die Augen schließe oder offen halte, immer seh ich dein Gesicht, deinen Mund, dein Lächeln. Alles ist erfüllt von dir, alles spricht von dir. Gute Nacht!« * * * * * Am Abend des dritten Tages hatte Manfred wieder in Wien zu sein versprochen. Um Virginia zu überraschen, kam er schon mit dem Nachmittagszug. Nachdem er gebadet und die Kleider gewechselt hatte, fuhr er mit einem Fiaker in die Piaristengasse. Zu seinem Verdruß fand er Virginia nicht zu Hause. Frau Geßner öffnete ihm die Türe. »Gina wird bald kommen«, sagte sie, belustigt über die schlecht verhehlte Enttäuschung des sonst so ausgezeichnet höflichen Jünglings. »Leisten Sie halt mir ein bißchen Gesellschaft.« Manfred nahm Platz mit der Miene eines Hungrigen, dem man einen Knochen vorsetzt. Das Gespräch sickerte mühselig. Manfred langweilte sich. Er hörte nur oberflächlich zu, und erst allmählich entdeckte er etwas Bedrücktes und Verhaltenes im Wesen der Frau. Er hatte eigentlich nie den Ton der Freiheit gegen sie gefunden; ihr Wächteramt hatte sie in seinen Augen vielleicht nicht erniedrigt, aber der persönlichen Unmittelbarkeit beraubt. »Sie reisen jetzt fort«, sagte Frau Geßner, indem sie mit mechanischer Geschäftigkeit das Tischtuch glattstreifte. »So weit! Für so lange Zeit! Zwei Jahre! Wer weiß, ob ich noch am Leben bin, wenn Sie zurückkommen. Gewiß, ich bin ja noch nicht so alt, aber wozu bin ich nütze? Bloß um zu essen und zu trinken, dazu ist die liebe Sonne fast schade. Wenn man sich überflüssig erscheint, denkt man viel an den Tod!« Manfred war um eine Antwort in Verlegenheit. Er lächelte und brachte ein paar dumpfe Laute eifrigen Widerspruchs heraus. Er lauschte sehnsüchtig, ob nicht bald die wohlbekannten und geliebten Schritte erklingen würden. »Daß Sie und Gina ein Paar werden, das ist wunderschön«, fuhr Frau Geßner mit jener eintönigen Stimme fort, die seine Ungeduld und Unruhe steigerte. »Sie sind zwar noch furchtbar jung und bis zur Hochzeit wird noch viel Wasser in die Donau fließen, man muß ja erst eine Stellung haben, ein Ansehen, ein Auskommen, aber ich hab’ einen festen Verlaß auf Sie. Und weil ich den Verlaß habe, will ich Ihnen was erzählen. Die Sache ist nicht leicht; ich hab mir’s lang überlegt, doch Sie sollen die Wahrheit erfahren.« Jetzt wurde Manfred aufmerksam. Er beugte den Kopf vor und starrte ängstlich auf die rastlos das Tischtuch glättende Hand der Frau. »Ich war guter Leute Kind,« begann Frau Geßner im Tonfall einer Beichtenden; »mein Vater war ein bekannter Porträtmaler und verdiente ziemlich viel. Als er plötzlich starb, waren wir jedoch arm, und die Mutter mußte von Unterstützungen leben. Es wurde für mich ein Mann gesucht, und ich nahm den ersten, der mich haben wollte. Geßner war ein kleiner Beamter im Ministerium mit sechzehnhundert Gulden Gehalt und den üblichen Zulagen. Ich war achtzehn, er dreiundvierzig Jahre alt. Er war ein auskömmlicher Mann und war zufrieden, wenn das Haus in Ordnung und alles hübsch gemütlich blieb. Jeden Sonntag nachmittag sind wir in die Praterauen gegangen, andere Spaziergänge hat er nicht leiden mögen. Vom Theater war er auch kein Freund; er war sehr sparsam und sein zweites Wort war: das ist für die Faulpelze. Die Bücher sind für die Menschen, die Zeit und Geld haben, sagte er, wenn du dich bilden willst, dafür hast du ja die Zeitung. Unser Verkehr war ein uralter Hofrat, der sich in den Kopf gesetzt hatte, sein Vermögen aufzuzehren, damit seinen Kindern nichts mehr bleiben sollte, und eine bucklige Tante von Geßner, die früher Kammerfrau bei der Großherzogin von Toskana gewesen war und uns immerfort Hofgeschichten erzählte. Sonst keine Seele, jahraus, jahrein. Meine Mutter war tot, mein Bruder, derselbe, von dem Gina geerbt hat, in Amerika, Kinder bekam ich nicht, und wie nun so ein Sommer um den andern, ein Winter um den andern verstrich, da ist mir immer öder und öder ums Herz geworden. Auf einmal war ich fünfundzwanzig, auf einmal war ich dreißig, – wenn das Leben leer ist, wird man am schnellsten alt. Wie ich zweiunddreißig war, hab’ ich mir die ersten grauen Haare ausgerissen. Um die Zeit nun, im vierzehnten Jahr unserer Ehe, hat da unten im zweiten Stock eine Frau von Ermenhofer gewohnt, eine hübsche, junge, lebenslustige Person. Mit der bin ich öfter beisammengestanden, und eines Tages sagt sie zu mir: ›heut ist Opernredoute, mein Mann ist verreist, kommen Sie mit.‹ ›Ei, wo denken Sie hin,‹ antwort’ ich, ›da käm’ ich bei meinem schön an, dafür gibt er kein Geld.‹ ›Was, Geld,‹ sagt sie, ›wir brauchen kein Geld, ich hab’ zwei Karten, und den Domino kann ich Ihnen leihen.‹ ›Ich bin doch schon zu ramponiert für dergleichen‹, sag’ ich. Sie schlägt die Hände zusammen und macht mir ein halb Dutzend Komplimente. Kurz und gut, das Herz schlug mir schon vor Verlangen, ich rede mit Geßner, der brummt zuerst, aber schließlich, weil’s nichts kosten soll und weil die Nachbarin eine Frau ›von‹ war, gibt er seinen Segen. Am Abend war ich also in der Oper. Meine Begleiterin war auf Ja und Nein verschwunden; ich, geblendet von dem Glanz, drücke mich eine Weile jämmerlich herum, da spricht mich ein fremder Herr an, folgt mir immerzu, führt mich zum Champagner, neckt mich, fragt mich aus und war so lieb, Manfred, so lieb, sag’ ich Ihnen! Ob er hübsch war oder elegant oder gescheit, das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß er lieb war, und das eben war’s, was mir fehlte. Wir haben auch noch getanzt miteinander, und dann wollt’ er mein Gesicht sehen, und dann hat er mich zum Wagen gebracht und ist mit mir gefahren, und auf einmal waren wir in seiner Wohnung. Ich bin bei ihm gewesen bis zum Morgen. Seitdem hab’ ich ihn nie wieder gesehen.« Ihre Stimme ermattete; ihr Blick verlor sich; ihre Haltung wurde aufrechter; und etwas an dieser Haltung, etwas an der stillen Tiefe des Blicks erinnerte Manfred an Virginia. Er ahnte alles, und er war bewegt. »Ich kenne seinen Namen nicht,« schloß Frau Geßner leise; »ich weiß nicht, wo das Haus war, im Morgennebel bin ich von ihm fortgegangen, und er hat mich im Wagen noch ein Stück begleitet. Nachher war alles wieder wie vorher. Nur das Kind, das Mädchen, das ist von jener Nacht.« In einer Aufwallung, die seinem Gefühl zur Ehre gereichte, ergriff Manfred Frau Geßners Hand und drückte seine Lippen darauf. Sie schaute ihn dankbar und erleichtert an. »Ihr jungen Leute seid wenigstens großmütig«, sagte sie seufzend. »Aber Sie begreifen doch, daß Gina nie, nie etwas davon wissen darf? Das sehen Sie doch ein, nicht wahr?« Manfred nickte überzeugt. »Es wäre ein Verbrechen«, bestätigte er; »man würde ihr die Unbefangenheit rauben. Schließlich, gegen die Umstände, die einem das Leben verschafft haben, kann sich kein Mensch auflehnen, doch wir wollen es lieber nicht auf die Philosophie ankommen lassen.« »Niemand weiß es«, sagte Frau Geßner; »niemand außer mir und ihm und Ihnen.« »Wie ist’s nur möglich, daß Sie den Mann nie wieder gesehen, daß Sie sich so vollständig damit abgefunden haben?« fragte Manfred. »Das, Manfred, war der Vertrag, den ich mit mir selber gemacht habe. Die eine Nacht, das war meine Jugend. Und wie das Mädel geboren war, bin ich wirklich gleich eine alte Frau geworden. Geßner, den hab’ ich dann bald hernach begraben.« Frau Geßner erhob sich, um die Lampe anzuzünden. Mit nachdenklicher Miene schaute ihr Manfred zu. Wenn jene im Dunkel der Zeiten verschollene Frau von Ermenhofer nicht auf den Maskenball hätte gehen wollen, wäre dann Virginia ungeboren geblieben? dachte er und war selbst erstaunt über die Ungeheuerlichkeit einer so naheliegenden Betrachtung. Ein ungewöhnliches Wesen verdankt sein Dasein dem Zufall eines ziemlich gewöhnlichen Abenteuers; das Abenteuer erhält den Nimbus von Heiligkeit; der Zufall wird Schicksal, und das seiende Geschöpf beschämt durch seine siegreiche Gegenwart den ganzen Kodex der Moral. In diese Gedanken war er noch versunken, als Virginia kam. Sie brachte das Feuer des scheidenden Tages mit. Die unerwartete Freude, den Verlobten zu sehen, lähmte ihren Fuß. Die Überraschung enthüllte ihre Liebe; in den metallisch glänzenden Augen war ein leidenschaftliches Entzücken. Als sie ihm die Hand reichte, glaubte Manfred zu spüren, daß die Zurückhaltung diesmal fast über ihre Kraft ging: ihr Arm zitterte, die Finger lagen zuckend in den seinen. Sie schauten sich wie verzaubert an, indes Frau Geßner am Tische saß und zu erlauschen schien, was sie einander verschwiegen. Bald kam die Rede auf den Brief. Virginia mißbilligte Manfreds Verlangen. Sie wollte nicht gestört, durch Beobachtung nicht gehemmt werden. Des Schutzes glaubte sie entraten zu können. »Wer hat mich beschützt, bevor du da warst?« fragte sie. »Was soll mir dein Freund? Bin ich ohne dich, wozu brauch ich ihn?« Die Mutter stand Manfred so lebhaft zur Seite, daß Virginia ärgerlich wurde. Vielleicht war es nur die bevorstehende Trennung, die ihr so schwer im Gemüte lag, daß sie kaum wußte, was sie redete, als sie verstimmt und beunruhigt immer von neuem widersprach. Aber Manfreds enttäuschte Miene weckte ihr Mitleid, und sie fühlte, daß sie ihm unrecht tat, wenn sie den bewunderten Freund zum Heer der Gleichgültigen zählte. »Nimm’s doch nicht so tragisch,« lenkte sie ein, »wozu sollen wir uns streiten? So bring ihn halt her, deinen berühmten Erwin Reiner.« »Na, Gott sei Dank!« antwortete Manfred freudig. »Du ahnst gar nicht, wie glücklich mich das macht. Den berühmten Erwin Reiner«, wiederholte er lachend; »das ist gar kein Spott, Virginia. Erwin fängt wirklich an, berühmt zu werden.« »Um so schlimmer.« »Wieso?« »Dann ist er also nicht nur reich, nicht nur anspruchsvoll und über die Maßen gebildet, sondern auch berühmt. Um so schlimmer. Der paßt schlecht in unsere vier Wände.« Manfred hatte es schon oft gewittert, und durch diese Bemerkung wurde es ihm klarer als zuvor, daß Virginia an der Engigkeit der Verhältnisse litt. Er verzieh es gern. Ein Urtrieb zwingt die Schönheit gegen die Welt; die Schönheit muß sich stellen. Einsam zu sein ziemt ihr nicht und nährt sie nicht. Das Unbewußte des Instinkts vergröbert die Gefahr; ein Feld für böse Ahnungen. Doch Manfred hatte den Willen, hell zu sehen, und seine Sanftmut erstickte die Kritik. Zum Abendessen blieb er nicht, er wollte noch zu Erwin. Die Villa Erwins lag in Pötzleinsdorf, und bis er mit der elektrischen Bahn hinauskam, war es halb zehn Uhr. »Der gnädige Herr hat einen Vortrag besuchen müssen,« sagte der Diener im Vestibül, »er wird aber um zehn Uhr hier sein.« Es reute Manfred, daß er sich und Virginia um eine unwiederbringliche Stunde gebracht. Er begab sich in die Bibliothek und wartete. Er setzte sich in einiger Entfernung vor den prunkvollen Marmorkamin und blickte ins Feuer. Eine unendliche Bangigkeit stieg in ihm auf, und plötzlich hatte er ein seltsames Gesicht. Ihm war, als sehe er Virginia vor dem Kamin, kauernd, wie Mägde kauern, wenn sie Feuer schüren, kauernd, aber bewegungslos. Nie hatte er ihre Haare offen gesehen; jetzt waren ihre Haare offen; sie fielen auf den Teppich und bildeten große Ringe. Nie hatte er sie mit nackten Füßen gesehen; jetzt waren ihre Füße nackt. Sie trug ein grünes Gewand, das er an ihr nicht kannte, eine Art Schlafrock, und ihre bloßen Arme waren mit einer Gebärde der vertieften Verzweiflung zu beiden Seiten des Hauptes angepreßt. So kauerte sie. Manfred beugte sich unwillkürlich weit vor, ohne daß die nebelhafte Erscheinung gänzlich entschwand. Erst nach und nach löste sie sich auf wie eine Wolke, die von der Atmosphäre verzehrt wird. Manfred schüttelte über sich selbst den Kopf, und er beschuldigte seine gespannten Nerven für eine Verwirrung, welche die Qualen der Sehnsucht im voraus malte, ohne das Glück des Besitzes und der Wiederkehr zu wägen. Sein zärtliches Herz war voller Vertrauen, und das Gefühl, mit dem er dem Freund entgegenharrte, war durch die erschreckende Vision um desto zweifelloser geworden. Abschied Erwin Reiner führte das Leben eines jener drei- oder viertausend Bevorzugten, die es in jeder großen Stadt gibt, ein Leben, das, auf dem Fundament eines unerschütterlichen Reichtums ruhend, nur mit Rechten ausgerüstet und keinen Pflichten unterworfen scheint. In einem solchen Dasein spielt der Luxus dieselbe Rolle wie die Repräsentation im Dasein eines regierenden Herrn. Die Söhne reichgewordener Bürger genießen nach jeder Richtung hin eine schrankenlosere Freiheit als etwa die Sprößlinge adliger Familien, die sich durch Erziehung, Vorurteile, persönliche und Standesrücksichten eingeschränkt und befehligt finden. Dies ist bezeichnend für die vorherrschende und stetig anwachsende Macht des Bürgertums, und ob die jungen Leute, die seinem Schoß entwachsen, als Gelehrte und Künstler figurieren, oder ob sie als Müßiggänger, Dandies und Genüßlinge einer frech erklärten Ungebundenheit huldigen, so sind sie doch eines der wesentlichen Hindernisse für die Bildung eines blutvollen und harmonischen Gesellschaftskörpers, ja eines Staates in humanem Sinn, und der Sozialforscher des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird vielleicht nachweisen können, in welchem Maße sie zur Zersplitterung und Verstümmelung der Völker, der Ideen und der Ideale beigetragen haben. Jede große Stadt zählt unter ihren Bewohnern drei- bis viertausend Menschen von einer absoluten Einsamkeit, von einer unheimlichen Verführungskraft zur Einsamkeit und geistigen Anarchie. Der Vater Erwin Reiners hatte sein Vermögen durch Grundstückspekulationen größten Stils erworben. Zu einer Zeit, wo noch niemand daran gedacht hatte, daß die im Westen der Stadt befindlichen Ländereien der Anlage einer umfangreichen Villegiatur günstig seien, hatte er die Mitgift seiner Frau dazu verwendet, um ein respektables Gebiet von Gärten, Äckern und Wiesen aufzukaufen, das beständig im Werte stieg. Die Frau, eine Gutsbesitzerstochter aus der Gegend von Linz, eine einfache Natur, die nichts von den weittragenden Geschäften begriff und die Verwendung ihres Geldes für einen an den Kindern geübten Frevel betrachtete, war nicht geschaffen, um das Leben eines Spekulanten zu teilen. Hypochondrischer Kummer zerstörte ihre Gesundheit, die beiden ersten Kinder, die sie gebar, siechten an allgemeiner Schwäche hin, eines kam tot zur Welt, Erwin war das letzte, und die Mutter starb ein Jahr nach seiner Geburt. Ihm wandte sich die ganze Zärtlichkeit, Sorgfalt und geängstigte Liebe des Vaters zu. Ein hygienisch abgerichteter Koch mußte die Nahrung des Kindes bereiten, und wie für einen Prinzen war beständig ein Leibarzt zu seiner Verfügung. Aus Furcht vor ansteckenden Krankheiten unterließ man es, ihn in die öffentliche Schule zu schicken; als er mit fünfzehn Jahren ins Gymnasium trat, erregte er Befremden durch seine Fremdheit, Spott durch seine Verwöhntheit, Ärger und Übelwollen durch sein launenhaftes und tyrannisches Wesen. Aber im Wetteifer mit den Gleichstrebenden traten seine angeborenen Geistesgaben alsbald in erstaunlicher Weise ans Licht. Er überflügelte alle. Lehrer und Mitschüler fügten sich einer Überlegenheit, die für jene zu augenfällig, für diese oft zu nützlich war, um bestritten werden zu können. Er hatte ein Gedächtnis wie der Kardinal Mezzofanti, eine Geschicklichkeit in der Aneignung der verschiedensten Disziplinen, die selbst bei Fachleuten Verwunderung hervorrief. Die Schularbeiten waren ihm ein Spiel; er kannte alle Daten der Geschichte, als ob er sie aus einem unsichtbaren Buch läse, übersetzte aus bloßer Liebe zur klassischen Philologie die entlegensten griechischen Schriftsteller und erschloß sich aus eigenem Trieb die höhere Mathematik und die mathematische Geographie. Schon mit achtzehn Jahren grenzte seine Belesenheit ans Unglaubliche; daneben dichtete und musizierte er; er ritt und focht, er turnte, schwamm, spielte Tennis und Fußball, und dank diesen Übungen kräftigte sich sein Körper; seine Muskulatur wurde zäh, seine Haut fest, seine Gestalt gedrungen, seine Bewegungen erhielten Energie, seine Haltung Anmut und seine Manieren eine außerordentliche Elastizität und Schmiegsamkeit. Auf der Universität hörte er naturwissenschaftliche, philosophische und kunstgeschichtliche Kollegien, und im sechsten Semester verfaßte er seine große Doktorarbeit: Über das Individuelle und das Historische in der Porträtmalerei, eine Schrift, welche ihm die Anerkennung der Gelehrten erwarb und sogar im Publikum einigen Widerhall fand. Er verfolgte damals zwei Ziele: die Dozentur und seine Aufnahme in den Jockeyklub. Jenes war nur eine Frage der Zeit; dieses zu erreichen war ihm durch eine planvolle Ausnützung seiner aristokratischen Beziehungen möglich; er pochte gern darauf, daß seine Mutter eine Schanz, Edle von Jagstburg war, eine bekannte Familie, die während der Gegenreformation den Adelsbrief erhalten hatte. Solchen Bestrebungen entsprechend, waren seine Stunden genau eingeteilt, um den Pflichten der Arbeit und denen zu genügen, die ihm die Gesellschaft auferlegte; wie er denn überhaupt ein Mann der gründlichen Ordnung und der sorgfältig ausgeführten Programme war. Der alte Reiner, der für seine eigene Person anspruchslos wie ein kleiner Kaufmann lebte, hatte dem Sohne ein Jahrgehalt von hunderttausend Kronen zugewiesen. Die Villa und der Haushalt kosteten den vierten Teil davon. Erwin rechnete mit der Köchin monatlich ab wie eine Ehefrau, die ihrem Gatten verantwortlich ist, und er kannte genau die Preise von Fleisch, Mehl, Zucker, Gemüse, Kaffee, Milch, Holz und Kohlen. Ihn zu betrügen war fast unmöglich. Er war weder ein Verschwender noch ein Knicker; er war der souveräne Herr seines Geldes, gab mit Anstand aus und hielt mit Anstand zurück. Die praktische Klarheit und Umsicht waren es auch gewesen, die Manfred zuerst für den um fünf Jahre älteren Erwin eingenommen hatten. Seine romantische Gemütsart fand in ihm einen bedeutenden Halt. Die Äußerungen einer tiefen Kenntnis der Menschen, eines kühnen und raschen Urteils, einer profunden Bildung, eines erlesenen Geschmacks wirkten auf Manfred unwiderstehlicher als die vollendet liebenswürdigen und geistreichen Umgangsformen des Freundes. Erprobt war diese Freundschaft in keiner Weise. Dem Leben moderner junger Menschen, das sich gleichsam in gebrochenen Linien hinzieht, wo unter schamhaften Verkleidungen und beziehungsvoller Verschwiegenheit die Aktion zerschmilzt, sind Erprobungen so unbekannt wie dem Theater die Mordtaten alten Stils. Man kommt zueinander und redet; man hat auch unberedet dieselben Meinungen; man streitet nur, um zu finden, daß man dieselbe Meinung hat. Man ist immer weit vom Schuß, weit vom Geschehen, es ist, als ob die Zeit hoch über den Köpfen ihre Wirbel triebe, als ob das Schicksal weit unter den Füßen seine Gesänge heulte. Das Jahr ist umfriedet, eine undurchdringliche Mauer umfriedet Tag und Jahr, und vor den Toren wacht die Polizei. O Mann am warmen Ofen, scheinen bisweilen bleiche, zerwühlte Gesichter zu sprechen, die aus dem Unterirdischen auftauchen, von dort, wo das Schicksal seine Gesänge heult, stiller, verwerflicher Mann am warmen Ofen, steig nieder zu uns, horch und schaue! Als Manfred den nahenden Schritt des Freundes vernahm, war es ihm eine Sekunde lang zumute, als ob er den Freund kaum kenne. Was weiß ich eigentlich von ihm? dachte er voll Unruhe; sein Gesicht ist mir vertraut, seine belebte Stirn, seine beschäftigten Augen, seine flinken Hände, seine angenehme Gestalt, seine bald helle, bald dunkle Stimme, aber was weiß ich von ihm? Er gibt sich nicht. Was er gibt, ist sein abgemessener Wille. Das Bedenkliche solcher Skrupel mag sich aus dem angespannten Seelenzustand des Grüblers und aus der Furcht erklären, eine dauernde Hingebung nicht mit gleicher Glut und Offenheit erwidert zu sehen. Als Erwin ins Zimmer trat, lächelnd und heiter angeregt, füllte er wie jedesmal den Raum mit Sympathie, und Manfred machte eine Gebärde, wie um sich der Erinnerung an einen häßlichen Traum zu entschlagen. »Wo warst du?« fragte er. »Wärst du nicht so faul und so verliebt, du hättest den Abend nützlich verbringen können«, antwortete Erwin. »Arensen, der dänische Südpolfahrer, hat in der Geographischen Gesellschaft Vortrag gehalten. Es war mir wichtig, ihn zu hören. Ich glaube nicht daran, daß Alexander den Diogenes beneidet, aber Diogenes ist in meinen Augen ein Schwein, wenn er Alexander nicht von ganzem Herzen bewundert. Alles kann ich fassen: höllische Strapazen erleiden, Hunger und Durst ertragen, zweimal eine sechs Monate lange Nacht durchleben, in erstickenden Schneestürmen über die Gletscherabgründe des antarktischen Eises klettern, im Tran- und Kohlenstank einer schneebegrabenen Bretterhütte wissenschaftliche Arbeit heikelster Art verrichten, eine Einsamkeit mit Gefährten teilen, die einem alsbald ekel werden wie ein Hemd, das man nie vom Leibe ziehen darf; gut, ich kann’s fassen. Aber den Entschluß dazu, den faß ich nicht. Der Entschluß zu solchen Dingen muß eine Raserei sein. Der Entschluß hält ja die Taten, er ist der eiserne Tragbalken, der das Gebäude des Willens vor dem Zusammenbruch bewahrt. Ich hab’ mir den Mann genau angesehen; harmlos, denkt man sich, ein Schulmeister. Aber zwischen Stirn und Nase war jene fixe Idee kenntlich, von der die Menschen der Tat besessen sind. Diese Leute sind die Dramen, die Gedichte, die Lieder Gottes, das Dargestellte, das Offenbarte, das, was Unbegreiflichkeiten und Hintergründe hat. Wir aber, wir sind die langweiligen Kompendien, die flachen Schilderungen, das naturalistische Quiproquo, die Makulatur.« Das alles sagte er ziemlich hastig und sehr gestenreich, während der Diener das Abendbrot servierte. Manfred schaute gebannt auf diese flatternden, flackernden Lippen, diese eindringlichen Augen mit dem festen Blick, diese entschieden geeckte Stirn unter braunen und sorgfältig gescheitelten Haaren, dies glattrasierte, weiße, milchig blasse, zartgeäderte und zarthäutige Gesicht mit der feinen, schmalen und neugierigen Nase und den beim Sprechen vibrierenden, wie bei einem Schauspieler sich verfaltenden und wieder straffenden Wangen. Die ganze Erscheinung hatte etwas vehement Überzeugendes. »Hast du schon gegessen?« fragte Erwin. »Nein? So setz dich her. Wichtel! Einen Teller und Besteck!« Als Manfred ihm gegenüber Platz genommen hatte, fuhr er fort: »Entschuldige das Wir von vorhin, Manfred; ich meine eigentlich nur mich. Die richtigen Egoisten sagen immer ›Wir‹, wenn sie sich selber verdammen. Ich habe keine fixe Idee, das macht mich so ruhelos. Ich bin eine unpolitische Natur, ich habe keinen Anschluß, ich bin kein Vertreter, kein Repräsentant, ich bin nichts weiter als ein Ich, ein Ichlein, das sich manchmal einbildet, die geistige Maschinerie Europas mit in Bewegung zu setzen. Du, du bist ein Träumer. Träumer können aufwachen, von Träumern weiß man nie das Ende. Dir ist’s ja auch geglückt, deiner schwebenden Leidenschaft einen Inhalt zu geben, was mir nie gelingen wird. Ich habe bloß die Leidenschaft und keinen Inhalt. Ich kann nicht lieben, ich kann nur hassen. Meine Leidenschaft erkaltet, wenn sie einen Gegenstand umklammert, mein Herz wird matt, wenn es besitzt. Vor Wochen lernte ich ein junges Mädchen kennen, gleichviel wo, gleichviel wer es ist. Frisch und duftig wie eine Feldblume, sag’ ich dir, und graziös wie nur irgendeine in dieser wunderbaren Stadt. Ich hielt es für unmöglich, sie zu entflammen. Ich wünschte es gar nicht, mich quälte der Gedanke, daß diese Unschuld aus der Sternensphäre sinken könnte. Unschuld, siehst du, das ist es! Das ist die Göttin, vor der ich liegen und beten möchte! Aber Unschuld ist offenbar nur ein Reiz und nicht eine Wirklichkeit. Na, und diese – zwei Monate hat es gedauert, da kam sie, schmiegsam wie ein junges Kätzchen und traurig und zärtlich wie eine schon Gefallene. Mir wurde weh dabei. Ich nahm sie, gewiß, ich nahm sie, aber mit Wut, mit Verachtung, und dann gab ich ihr zu verstehen, daß alles aus sei zwischen uns. Ich war enttäuschter und zerstörter als sie, das kannst du mir glauben.« »Du wirst sie zerbrochen haben«, bemerkte Manfred kurz. Erwin zuckte die Achseln. »Sie wollte zerbrochen werden«, entgegnete er. »Man macht dir’s eben viel zu leicht«, sagte Manfred kopfschüttelnd. »Bisweilen ist mir, als ob dich dein Dämon ins Unwegsame locken wollte, um dich zu verstricken.« »Wär’s doch so!« rief Erwin aus. »Besser als, wie jetzt, durch das Leben zu rasen, mitten drin zwischen der Tat und dem Entschluß. Aber lassen wir’s. Das klingt alles so großartig und ist simpel wie eine Leichenrede. Wann reisest du?« »Übermorgen.« »Und dein Mädchen? Wie verhält sie sich zu einer so langen Trennung?« »Ich mag nicht, wenn du ›dein Mädchen‹ sagst«, versetzte Manfred unwillig. »Im übrigen wollt’ ich dich bitten, morgen mit mir zu Virginia zu gehen. Sie will dich kennen lernen.« Erwin rümpfte kaum merklich die Nase. »Ich vermute, daß du sie endlich so weit gebracht hast, einen Störenfried bei sich aufzunehmen«, sagte er dann. »Aber ich werde ihr versichern, daß ich von meinen Vormundschaftsrechten nur sparsamen Gebrauch machen will.« »Das magst du nach Gutdünken halten«, erwiderte Manfred ernst. »Immerhin vergibst du dir nichts und mußt nicht fürchten, feierlich zu sein, wenn du nur versprichst, deine Freundschaft gegen mich auf sie zu übertragen. Sie ist allein, sie ist schutzlos. Ihre Mutter zählt kaum. Qualvoller Gedanke, solch ein Wesen auf sich selbst gestellt zurückzulassen. Nenn es Phantasterei, nenn es Mangel an Gläubigkeit, nenn’s wie du willst; wir sind ja alle dem Ungefähr ausgeliefert, und ich sehe nur das Verderben auf allen Seiten. Ich würde nicht reisen, wenn ich dich nicht wüßte.« »Aber lieber, lieber, guter Mensch!« Erwin erhob sich und streckte Manfred beide Hände entgegen, die dieser ergriff, schüchtern und von dem ungewohnten Ausbruch freier Herzlichkeit bewegt. »Ich stehe dir mit allem, was ich bin und habe, zur Verfügung«, sagte Erwin mit einer Wärme, die der Stimme einen sonoren und seelenvollen Klang verlieh. »Ich übernehme die Verantwortung gern und ohne Vorbehalt. Du hast mein Wort, ich fasse die Sache so wörtlich auf, wie du sie verstehst.« »Dank, tausend Dank«, entgegnete Manfred. »Ich brauche ja nur die Sicherheit, daß du im Notfall für sie da bist. Du schreibst mir gelegentlich über ihre Gesundheit, ihre Stimmung, darüber, wie sie aussieht, was sie spricht und tut, das ist alles. Ich traue dir Geschicklichkeit genug zu, um sie nicht durch eine Aufsehermiene störrisch zu machen.« Beide lachten. »Ich muß dir ihr Bild zeigen,« fuhr Manfred fort, indem er einen handgroßen Karton aus der Brusttasche zog und ihn Erwin reichte, »sie hat endlich meinen Wunsch erfüllt und sich photographieren lassen.« Erwin nahm das Bild und legte es wieder weg. Dann nahm er es abermals, hielt es in Armlänge vor die Augen, und seine Brauen rundeten sich. »Es ist keineswegs geschmeichelt«, sagte Manfred mit naiver Eitelkeit. »Donnerwetter – ja«, murmelte Erwin. »Prächtig, ganz prächtig. Ich dachte immer, du übertreibst, und habe insgeheim deine Schilderungen belächelt. Aber das scheint ja eine vollendete Schönheit zu sein.« »Und noch mehr.« »Mehr? Was noch? Mehr gibt es nicht. Ist ohnehin selten. Darin ist alles beschlossen.« »Wenn wir im Zeitalter Platons lebten, würde ich sagen: eine vollendete Tugend. Aber heutzutage macht sich das schlecht.« »Gewiß. Tugend hat immer etwas Ranziges. Ein odioser Begriff.« »So nennen wir es Unschuld. Trotzdem du die Unschuld leugnest.« »Geht es nicht ein wenig wider die Schamhaftigkeit, von jemand zu sagen, er sei unschuldig?« fragte Erwin stolz. Manfred senkte die Stirn. »Wozu einen Titel? Besitze, Freund, genieße und laß den Kommentar. Worte zerstören. Und wirf einen Ring ins Wasser wie Polykrates, denn du bist beneidenswert.« Wichtel brachte eine Karte, auf welcher der Name Ottokar Graf Palester stand. Erwin lächelte. »Der gute Graf ist immer Mitternachtsgast. Bringen Sie kalten Aufschnitt, Wichtel,« wandte er sich an den Diener, »der Herr Graf hat sicher noch nicht gegessen.« Graf Palester war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann von vornehmer Haltung und schweigsamem Gehaben. Er hatte ein blasses Gesicht, einen rötlichen Spitzbart, schlichtes gelbliches Haar und traurige Augen, die so blau waren wie Kornblumen. Die Finger seiner schmalen Hände waren stets zusammengepreßt und edel gebogen, als ob sie aus Gips wären. Sein Anzug verriet die Sauberkeit und Sorgfalt eines Menschen, dem alles daran liegt, seine Armut vor der Welt zu verbergen. Er war bis vor einem Jahr Marineoffizier gewesen, hatte dann aus unbekannten Gründen seinen Abschied genommen und lebte mit einem weiblichen Wesen geheimnisvoll zurückgezogen in der Vorstadt. Er besuchte seine wenigen Freunde, die Freunde nicht ihn; dies hatte sich so gefügt. Man achtete seine Armut und sein Geheimnis. Erwin hatte ihn vor zwei Wintern in Kairo kennen gelernt. Er hatte schon damals erfahren, daß der Graf im Besitz der sogenannten Froweinschen Miniaturen war, die nach einem Sammler oder Mäzen des achtzehnten Jahrhunderts ihre Bezeichnung hatten. Es gab nur drei Exemplare dieses Werks; das eine befand sich in der vatikanischen Bibliothek, das zweite war Eigentum eines Lord Pembroke in Schottland, das dritte war zur Zeit der österreichischen Herrschaft in Toskana durch einen Vorfahr des Grafen, die Palester waren italienischen Ursprungs, aus Florenz nach Wien gekommen. Während das Geschlecht immer mehr verarmte, gingen diese mittelalterlichen Malereien, die nach Erwins Meinung einen außerordentlichen Wert hatten, als abergläubisch behütetes Erbstück von Generation zu Generation. Man wähnte, daß der Name Palester nicht untergehen könne, ja, daß ihm einst noch ein neuer Glanz beschieden sein werde, solange dieser Schatz Familiengut blieb. Graf Ottokar war nicht mehr in der Lage, das Archiv eines Ahnenschlosses damit zu schmücken; obwohl er die Überlieferung als Fabel hinnahm, so achtete er sie doch in einer Treue, welche nicht mäkelt, und in einem Trotz gegen weltliches Gut, der durch eine philosophische Lebensführung gehärtet wurde. Vor Wochen hatte er das Buch mitgebracht, um es Erwin zu zeigen, und schon eine flüchtige Prüfung hatte diesen belehrt, daß er ein Original vor sich habe. Die drei in Europa verstreuten Exemplare waren einst ein Ganzes gewesen, aber Erwin, der das römische kannte, stellte entzückt das Palestersche höher, und seine Begierde nach dem Gegenstand wuchs im selben Maß wie der Widerstand, den sie erfuhr. Wenn er zu ungestüm und zu phantastisch mit seinen Angeboten wurde, lächelte Graf Ottokar voll Nachsicht und versprach mit reizender Ironie, er werde ihm den Frowein hinterlassen, wenn er ohne Leibeserben von hinnen gehen müsse. »Das dauert mir zu lang«, entgegnete Erwin. »Ich will nicht erben, ich will erobern.« Auch jetzt geriet das Gespräch auf die Miniaturen, und während der Graf sich an den Tisch setzte und aß, wie man im Wirtshaus eine bestellte Mahlzeit zu sich nimmt, schlich Erwin vorsichtig und lüstern um das Thema. »Was stellen denn die Bilder dar?« fragte Manfred. »Es sind Heiligenlegenden«, erklärte Erwin; »einfach und primitiv gemalt, aber mit einer Innigkeit, die ganz ohne gleichen ist.« »Das mag ja sein,« antwortete Manfred, »trotzdem begreif’ ich dein heftiges Verlangen nicht. Die Welt ist voll von schönen Werken der Kunst, bekannten und unbekannten; warum soll tyrannische Habsucht den Geist in Fesseln binden und den Genuß beschränken?« Graf Ottokar blickte Manfred wohlwollend an, schwieg jedoch, um Erwin nicht in seiner Entgegnung zu stören. Erwin legte die Hände flach zusammen und sagte mit einem Ausdruck von Festigkeit und Glut: »Die Welt ist groß und klein, wie man’s nimmt. Groß für die Wahllosen und klein für die Wählenden, groß für die Augen und klein für die Hand. Ich bin kein Augenmensch. Ich muß haben, ich muß greifen, zwischen den Fingern muß ich’s haben und halten, auch auf die Gefahr, zu zerstören.« »Nun ja, da ist der Punkt, wo Gott aufhört und das Chaos anfängt«, bemerkte Graf Ottokar trocken. Man stritt noch eine Weile für und wider, bis sich der Graf erhob, um sich zu verabschieden. Manfred, der müde war, folgte seinem Beispiel, nachdem er mit Erwin die Stunde festgesetzt hatte, zu der er ihn morgen abholen wollte. Als er mit Palester auf die ländlich öde Straße trat, schneite es. »Ich gehe nie ohne ein befeuertes Gefühl von Erwin weg,« gestand Manfred, »er hat die Gabe, mich ehrgeizig zu machen.« »Ein interessanter Mensch, ein höchst interessanter Mensch«, erwiderte Graf Ottokar leise. »Aber ich möchte sein Gesicht sehen, wenn er allein ist, ganz allein. Er gehört zu denjenigen, deren Gesicht ich mir nicht vorstellen kann, wenn ich sie allein denke. In einer großen Stadt, in einem großen Haus und darin in einem großen Zimmer ... mir ist, als ob er ein anderer wäre.« Manfred blickte verwundert lächelnd auf, aber die Züge des Grafen hatten einen ernsten, beinahe düsteren Ausdruck, als er fortfuhr: »Ich nämlich, im Gegensatz zu Erwin Reiner, bin Augenmensch. Ich sehe zu viel, und was ich nicht sehen kann, quält mich. Neuneinhalb Jahre hat mein Blick nur auf der unermeßlichen Fläche des Ozeans geruht; nun ist mir alles vermauert, Leben und Menschen. Ich komme mir vor wie ein Zwangsarbeiter in einem Bergwerk. Wohin geht eigentlich Ihre Fahrt?« »Über Madagaskar und Ceylon nach Sumatra, Australien, Polynesien.« »Madagaskar, Ceylon, Sumatra«, wiederholte der Graf sinnend. »Und das alles ist vorhanden. Jetzt, indem wir sprechen, rauschen dort die Palmen. Nichts ist aufwühlender als das Gefühl der Gleichzeitigkeit. Sie werden nachts auf Deck liegen, und das Meer wird leuchten, und die Maschine wird pochen wie ein Herz.« »Ich würde gern mit Ihnen tauschen«, entschlüpfte es Manfred. »Ich verstehe,« antwortete Palester, »ich verstehe. Um so mehr wird Sie die Reise verwandeln. Wir verwandeln uns nicht, wenn die Erlebnisse mit unseren Wünschen übereinstimmen. Schreiben Sie mir einmal von dort drüben, vom andern Ende der Welt.« »Mit Vergnügen.« »Vielleicht werde ich Ihnen ebenfalls schreiben. Ich werde bei Nacht schreiben, Sie werden es bei Tag lesen, und so ist es auch gemeint. Leben Sie wohl, Sie müssen einsteigen, ich gehe zu Fuß.« »Zu Fuß bis nach Hietzing?« fragte Manfred erstaunt. »Ja. In zwei Stunden bin ich zu Hause. Ich vertrage nicht den Lärm dieser Vehikel. Leben Sie wohl.« Manfred schaute dem Davonschreitenden mit unruhiger Teilnahme nach. Am andern Nachmittag um drei Uhr fuhr er mit Erwin in dessen Elektromobil zu Virginia. Beim ersten Anblick des Mädchens stand Erwin ein paar Sekunden lang steif wie eine Latte. Manfred konnte durchaus nicht erraten, was in ihm vorging. Er selbst gab sich weniger natürlich als sonst; der Wunsch, Erwin und Virginia möchten aneinander Gefallen finden, machte ihn verlegen, und er beobachtete gespannt Haltung und Blicke von beiden. Die Eitelkeit des Liebenden ist dem mütterlichen Stolz verwandt, auch der Unruhe des Künstlers über die Wirkung seines Werkes; er suchte aus Erwins Miene zu lesen, ob die Erwartung, die Virginias Bild geweckt, unbefriedigt geblieben oder übertroffen worden war. Virginia ihrerseits blickte dem Freund des Verlobten furchtlos forschend ins Gesicht. Nie zuvor war sie Manfred so damenhaft erschienen; das Phlegma, das die Schönheit verleiht und das vielleicht nur durch die Schönheit reizvoll wird, gab ihr eine Distanz und eine Würde, die Manfred alsbald an Erwins Belebtheit entzückt triumphierend genoß, etwa wie man zwei seltene Leckerbissen zusammen in den Mund schiebt. Es machte den Eindruck, als ob Virginia mit Erwins Betragen zufrieden sei. Seine betonte Höflichkeit gefiel ihr, die Knappheit seiner Ausdrucksweise ließ ihren Gedanken Spielraum, seine Zurückhaltung war bedeutsamer als Schmeichelei und Bewunderung; er kündigte damit an, daß ihm durch die Umstände sehr heikle Grenzen gezogen waren. Sie hatte seine Kritik ein wenig gefürchtet, seine unbedingte Billigung, die sie spürte, hob ihre Sicherheit. Seine Manieren hatten nichts Nachlässiges, auch nichts absichtlich Fremdes; er war bescheiden, ganz einfach bescheiden. Sogar Frau Geßner konnte nicht umhin, Manfred anerkennend zuzunicken, als sie sich von Erwin unbeobachtet wußte. Nach Verlauf einer Stunde, die mit belanglosen Gesprächen hingegangen war, brach Erwin auf. »Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein, daß Ihnen die Rolle, die mir Manfred während seiner Abwesenheit zuweist, kein Kopfzerbrechen verursacht«, sagte er, indem er in den Pelzmantel schlüpfte. »Ich überlasse Ihnen das Kommando. Betrachten Sie mich als einen, der zur Verfügung steht. Vergessen Sie die Person und denken Sie nur an das Amt.« Lächelnd reichte ihm Virginia die Hand, die er küßte. »Ich kann nicht kommandieren«, versetzte sie. »Sie würden mich auch viel zu eigensinnig finden, wenn Sie kommandieren müßten. Es wird hoffentlich nichts dergleichen nötig sein.« Manfred begleitete Erwin über die Wendelstiege hinab. Auf der letzten Stufe blieb Erwin stehen und sagte, indem er Manfred durchdringend anschaute: »Hör’ mal, es ist doch ganz unmöglich, daß dieses Mädchen, diese ... Dame, diese ... Aristokratin, diese ... Diana aus einer Ehe stammt, wie du sie mir geschildert hast –?« Manfred, mit niedergeschlagenen Augen, doch vor Freude lächelnd, erwiderte unbedacht: »Wie scharf und wahr du siehst!« Sogleich merkte er, daß er zuviel gesagt; er wollte seine Worte zurücknehmen, verstrickte sich noch mehr, und weil ihn Erwins maliziöse Miene ärgerte, glaubte er nichts Übleres zu tun, als was er schon getan, wenn er das rührende Erlebnis von Virginias Mutter in Kürze berichtete. »Es ist klar,« meinte Erwin, der aufmerksam zugehört, »solche Früchte reifen nicht auf dem dürren Baum des bürgerlichen Behagens. Amüsant wäre es, von diesem Punkt einmal die Naturgeschichte unserer großen Männer zu durchforschen. Leider erheben sich davor die Festungswälle tausendjähriger Heuchelei.« »Versprich mir, daß du darüber schweigst«, sagte Manfred hastig. Erwin zog verwundert die Stirne kraus. »Oh, wie das Grab«, antwortete er, als könne eine solche Aufforderung nur scherzhaft genommen werden. Sie drückten einander die Hand, und Manfred kehrte ins Haus zurück. Alles, was nun kam, war Abschied. Daß auch Virginia langsam ihre Fassung verlor, traf Manfred tiefer als der eigene Schmerz. Ihm war, als ob er sterben müsse, um erst nach einer Ewigkeit das Dasein wieder von neuem beginnen zu dürfen. Sie blieben bis über Mitternacht in der Stube beisammen sitzen. Frau Geßner hatte sich zu Bett begeben. Ihr Gebetbuch lag noch an der Ecke des Tisches, auf welchem eine Teekanne, drei Tassen und eine mit Äpfeln gefüllte Schale standen. Der Novemberwind surrte im Ofen. Sie redeten erstickte Worte; wenn sie schwiegen, empfanden sie die Schauer als gefährlich, die über ihre Haut rannen. Manfreds Hände suchten die Hände des Mädchens und flohen wieder. Seine Blicke begehrten und krochen erschrocken in die Winkel; spürbar kreiste das Blut in den Adern, und an den Kleidern trug er eine Last wie ein Badender, dem eine Fessel nicht zu schwimmen erlaubt. Virginia schien gefaßt, ja heiter; mit gütigem Lächeln kämpfte sie gegen die bedrohliche Glut; in der Tiefe ihres Herzens begriff sie und wehrte ab, sanft und mitleidig, bittend und beteuernd. Wie stolz sie ist, dachte Manfred, von Liebe berauscht; wie unbezwingbar und wie schön! Endlich küßte sie ihn auf die Stirn und bat ihn zu gehen. Und er ging, bestürzt, fast zornig, bleich und verwirrt. Am nächsten Mittag, geschlafen hatte er nicht, brachte er ihr einen Ring mit zwei prachtvollen Smaragden. Es war das erste Geschenk, das sie annahm. Er war fertig, alles zur Reise bereit, das Gepäck war schon auf dem Bahnhof, und um zwei Uhr, nachdem Manfred von Frau Geßner herzlichen Abschied genommen, fuhren sie hin. Sie gingen vor dem Zug auf und ab. Die Frist war bald verstrichen. Virginias Gesicht wurde plötzlich weiß wie Porzellan, und als sie an seiner Brust lag, schluchzte sie wie ein Kind. Manfred preßte sie an sich, bog mit der Linken ihre Stirn zurück, schaute in ihre Augen und dann empor. Es erlöste ihn kein Wort, kein Ausbruch. Da kam Erwin, um dem Freund Lebewohl zu sagen. Rücksichtsvoll hatte er die letzte Minute gewählt. Als er Virginia so hingeschmiegt erblickte, war in der Linie ihres Körpers ein Etwas, das ihn stutzig machte. Er sah zu Boden. Virginia gewahrte ihn und nahm sich zusammen. Schwerfällig wie ein Greis stieg Manfred in den Wagen. Sein edles Gesicht zeigte sich noch einmal am Fenster, lächelnd und sich verdunkelnd, dann rollte der Zug aus der Halle. Vorspiele Beim Verlassen des Bahnhofs sagte Erwin zu Virginia: »Darf ich Ihnen zur Heimfahrt meinen Wagen anbieten, gnädiges Fräulein?« Sie hörte kaum die Frage, er hatte schon den Schlag geöffnet; gedankenlos, von Kummer ganz benommen, stieg sie ein, nur in dem Trieb, irgendwo zu ruhen und sich zu sammeln. Erwin erriet ihren Zustand; er war bereit, sich zu entfernen. Da wurde sie sich ihrer Unüberlegtheit bewußt, die nicht mehr gut zu machen war. Die Aussicht, so, wie ihr zumute war, eine Viertelstunde lang oder noch länger in der Gesellschaft eines fremden jungen Mannes verweilen zu sollen, war ihr höchst unbehaglich. Ihn einfach fortzuschicken, das konnte sie nicht über sich bringen, es erschien ihr unfreundlich und undankbar, und sie bestand darauf, daß er mitfahre. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich nichts rede«, sagte sie mit zuckendem Mund, nachdem er gehorsam eingestiegen war. Er nickte. »Sie werden sehen, daß ich unsichtbar sein kann«, antwortete er und drückte sich in die Ecke. Doch beobachtete er an Virginias unruhigen Augensternen fast mit Genuß, daß ihr das Schweigen peinlich war. Er liebte es, von der Seite her die Augen einer Frau zu betrachten; schwer zu sagen, weshalb. Das Hinausstrahlende des unendlichen und gleichwohl gefangenen Blicks liebte er vielleicht. Das Gefährt hielt, er sprang hinaus und reichte ihr helfend die Hand. Er hatte eine ritterliche Art zu warten, sich zu verbeugen, zu grüßen. »Auf Wiedersehen«, sagte Virginia hastig. Nachdenklich stieg sie die weiße Wendelstiege empor, und ihr war, als käme sie in leichter zu atmende Luft. Sie fiel der Mutter um den Hals und weinte sich satt. Was nun? Die Arbeit gab ihr keine Freuden mehr. Man saß da und wartete auf den Briefträger. Der Briefträger war nicht so faul, er brachte an jedem Morgen eine Nachricht von Manfred. Vor seiner Einschiffung schrieb er ausführlich; ein zweiter Brief, als leidenschaftliches Adieu, kam schon vom Bord des »Phönix«. Auch Erwin hatte einen Brief erhalten. Er hatte die Absicht, es Virginia mitzuteilen. War dies eine überflüssige Zuvorkommenheit? Sie war überflüssig. Es lockte ihn nichts dabei. Er hatte wenig Zeit. Sein Tag war angefüllt wie ein Reisekoffer. Als er vor dem Hause stand, er war zu Fuß gekommen, überlegte er, ob er nicht umkehren solle. Nichts rief ihn hinauf. Verdrießlich kehrte er um und ging doch wieder zurück. Vor der weißen Wendelstiege zögerte er abermals. Da erinnerte er sich der hingeschmiegten Bewegung ihres Körpers, als sie an Manfreds Brust gelegen, jener rätselhaften Linie, die ihn fast erschreckt hatte. Dies entschied. Virginia schützte Kopfschmerz vor und wollte sich alsbald vom Gespräch zurückziehen. Erwin durchschaute die Absicht und suchte etwas, um sie zu fesseln. Er brachte die Rede auf ihre Malerei und wünschte ihre Skizzen zu sehen. Frau Geßner schleppte diensteifrig einige Mappen herbei. Blatt um Blatt nahm Erwin und widmete den Versuchen, in denen er nur ein mittelmäßiges Talent erkannte, sorgfältige Aufmerksamkeit. Das Interesse Virginias erwachte durch seine Kritik, die von gründlichem Verständnis zeugte. Er tadelte die Oberflächlichkeit und mangelnde Kraft des Schauens. »Ja, das weiß ich,« stimmte Virginia bei, »deswegen bin ich auch so lustlos.« Er sprach über die Kunst wie ein Tischler über die Tischlerei. Das gefiel ihr; Sachlichkeit imponierte ihr. »Es fehlt Ihnen das systematische Studium der Natur und die Kenntnis der großen modernen Meister«, sagte er. »Wer gibt Ihnen Unterricht?« »Das ist ja eben das Unglück,« entgegnete Virginia, »der Mann ist ein Anstreicher, weiter nichts.« Erwin riet ihr eine Schule zu besuchen, die er kannte; er rühmte einen der Lehrer dort als unübertrefflich; es sei eine staatliche Anstalt, die Kosten wären infolgedessen gering, und er machte sich erbötig, ihre Aufnahme durchzusetzen. Virginia war unschlüssig. »Ich bin nicht gewohnt, mit andern zusammen zu arbeiten«, wandte sie ein. »Das heißt zu deutsch, Sie wollen in der Ahnungslosigkeit nicht gestört werden.« Virginia sah ihm entsetzt ins Gesicht. »Um Gotteswillen spotten Sie nicht,« sagte sie, »Spott kann ich für den Tod nicht leiden. Das macht mich ganz krank.« Sie fürchtete mit Recht, er könne ihr Bedenken als Mangel an Ernst deuten, und willigte ein. Sehr bald fand sie sich belohnt. Der neue Lehrer nahm es genau und nahm es tief. Er verlieh den Gegenständen Seele, indem er den Blick zu beseelen wußte. Virginia erfuhr allgemach, was es mit solchen Dingen für eine Bewandtnis hatte, wenn man sie von innen heraus hegen, erarbeiten und gestalten mußte. Sie bekam einen gewaltigen Begriff von dem vorher so unbestimmten Wesen und sah auch ein bescheidenes Ziel für sich selbst. Den Kameraden und Kameradinnen gefiel ihre Art. Es war etwas Genaues an ihr, kein nebelhaftes Wort kam von ihren Lippen. Sie lernte Verhältnisse kennen, Charaktere abschätzen, Gesichter beurteilen und hatte minder häufig Gelegenheit, an ein schwer ausfüllbares Morgen zu denken. Das verlieh ihrer Anmut eine ununterbrochene Wirkung auf die Menschen. Da sie sich gern so gewandelt sah, erinnerte sie sich gern der Hilfe Erwins. Er kam in jeder Woche ein- auch zweimal, in den Spätnachmittags-, in den ersten Abendstunden, und seine Gesellschaft war ihr nicht unlieb. Sein Gespräch war belebend, die eigenartige Eleganz seiner Kleidung und seines Auftretens empfand sie als etwas Auszeichnendes und Festliches. Der Fortschritt in ihren Arbeiten schien ihn zu überraschen. »Seien Sie mutiger,« sagte er, »Technik haben heißt weiter nichts als Mut haben.« Er wollte mit ihr in eine Galerie gehen und schlug ihr das Palais Liechtenstein vor. Sie war dazu bereit, und eines Vormittags holte er sie ab. Die Säle waren leer. Das unerwartete Alleinsein mit dem jungen Mann stimmte Virginia doch ein wenig zaghaft. Erwin spürte es und bemerkte, die kleinbürgerlichen Beengungen harmonierten schlecht zu ihrem Wesen, sie möge sie doch niederkämpfen. Sie schwieg, runzelte aber die Brauen. Vor der Lautenspielerin von Carpaccio stehend, wußte er Dinge zu sagen, die Virginia niemals gehört hatte. Er schuf ihr das Bild; er gab der Gestalt Leben, der Idee Bedeutung. Zugleich war es, als enthülle er sein Herz, das in einer Region von Sehnsucht und Verlangen webte, wo man vor den Werken der Meister kniet und die Wunden heilt, die eine grausame Alltäglichkeit schlägt. Seine Worte zwangen sie zur Ehrfurcht, und sie mußte sich sagen, daß sie um so tiefer unter ihm stand, wenn sie sich nicht neigte vor solcher Größe des Gefühls. Versonnen kam sie nach Hause. Zum erstenmal fand sie sich durch die Geschäftigkeit der Mutter gestört, dies Auf- und Abgehen, in den Laden kramen, Vorsichhinreden und Uhraufziehen. So anheimelnd es sonst gewesen, heute klagte sie darüber, wenn auch liebevoll, und Frau Geßner setzte sich in den Ofenwinkel, um zu nähen. Drei Tage später erschien Erwin gegen elf Uhr morgens; Virginia wollte gerade zur Schule. Sie war verspätet und deshalb in schlechter Laune. Erwin lud sie ein, mit ihm zur Eröffnung einer modernen Ausstellung zu kommen, sie werde interessante Bilder und interessante Leute sehen. »An den interessanten Leuten liegt mir nichts«, sagte Virginia. – »Das ist schade«, erwiderte Erwin tadelnd. – »Schon deswegen, weil ich keine Toilette für sie habe«, fügte Virginia lachend hinzu. – »Ihr schlechtestes Kleid wird genügen, alle Modedamen in Schatten zu stellen«, behauptete Erwin trocken. »Das sind Komplimente, das laß’ ich mir gefallen«, mischte sich Frau Geßner ein. »So geh doch,« wandte sie sich an das zögernde Mädchen, »dein blaues Sammetkleid ist ja sehr hübsch.« »Na schön, so will ich’s wagen«, antwortete Virginia und ging in ihre Kammer. Das Elektromobil stand schnurrend vor dem Haustor, und einige Frauen und Kinder sahen mit neidischen Augen den beiden zu, als sie einstiegen. Trotz ihres einfachen Auftretens erregte Virginia Neugier, ja merkbare Bewunderung, als sie an Erwins Seite durch die Räume schritt. Erwin ergriff die Gelegenheit, das junge Mädchen mit einigen Damen bekannt zu machen, vor allen mit der Baronin Resowsky, einer hochgewachsenen Frau von resoluten Manieren und furchtlosem Blick. Sie zog Virginia sogleich in ihren Kreis, und alsbald schwirrte es um sie von neuen Namen und ungewohnten Schmeicheleien. Eine nicht mehr ganz junge Person fiel ihr auf, die ihr vom ersten Augenblick an mit einer Art von stummer Huldigung begegnet war; sie hieß Marianne von Flügel, und nach kurzem Gespräch mit ihr gab Virginia, eigentlich ohne Wunsch noch Lust, das Versprechen, sie zu besuchen; als die Baronin Resowsky ein gleiches von ihr forderte, war sie um die Mittel verlegen, solcher Bitte und Ehrung auszuweichen. Um Erwin drängten sich, sobald er allein stand, junge Männer und erkundigten sich, wer die Novize sei. Es amüsierte ihn, geheimnisvoll zu bleiben, und er beobachtete ohne Unterlaß Virginias Betragen, deren Unruhe sich nur schlecht hinter einem schüchternen und beständigen Lächeln verbarg. Auch musterte sie mit Erstaunen die kostbaren Gewänder der Frauen. Sie war Zeugin des Ansehens, das Erwin Reiner genoß, um dessen Wort und Gunst alle buhlten, und erkannte doch, daß er an allen vorüberging und seine bestrickende Liebenswürdigkeit nur wie eine Gnade walten ließ. Das verkleinerte sie in ihren eigenen Augen und Gedanken, und was galt es viel, sich stolz zu tragen vor diesen Damen, die sich gewiß weit über ihr stehend dünkten? Sie konnte nicht umhin, gegen Erwin einige Andeutungen über ihre Eindrücke fallen zu lassen, als er am folgenden Nachmittag kam. Aber er bemühte sich, den Nimbus zu zerstören, den ihre Unerfahrenheit gewoben hatte. »Schließen Sie von der Buntheit auf den Gehalt, vom Gezwitscher auf den Geist?« fragte er. Sie verstand nicht ganz. »In gewisser Weise sind alle diese Frauen käuflich«, fuhr er mit gerunzelten Brauen fort. »Käuflich aus Ehrgeiz, aus Eitelkeit, aus Habsucht, aus Gleichgültigkeit oder aus Verzweiflung. Und wollen Sie wissen, womit man sie bezahlt? Man bezahlt sie mit dem Frieden der Seele. Sie betrügen die Männer, mit denen sie verbunden sind, um den Willen zum Echten und Edlen. Sie reißen ihr Opfer in Stücken, sie plündern seine Brust und entleeren sein Gehirn.« Virginia fühlte sich verletzt, mehr durch den Ton als durch die Worte. »Sie leben aber doch unter ihnen«, hielt sie ihm mit aufblitzenden Augen entgegen. Er zuckte die Achseln und erhob sich, um die Flamme der blakenden Lampe herabzuschrauben. Frau Geßner befand sich in der Küche, er war mit Virginia allein im Zimmer. Mein Gott, ja, er lebte unter ihnen, begehrt und hochgeschätzt, aber fremd und entsagend. Das etwa war in seinen Mienen zu lesen. »Meine Gärten sind verdorrt,« murmelte er schwermütig, um dann mit erhobener Stimme fortzufahren: »Wer verachtet, muß seine Leiden nachweisen, das ist wahr. Auch ich hatte eine Zeit, wo ich durch Sehnsucht gläubig war. Jede dieser jungen Frauen war mir eine Göttin; von jeder habe ich Wunder und Offenbarung erwartet, so lange sie mir unbekannt war. Ich habe mich weggeworfen und habe Weggeworfene aufgehoben. Ich habe oben und unten, in allen Winkeln dieser illuminierten Gruft gewühlt, die man die Gesellschaft nennt, ich kenne sie alle, die Aristokratin, die Bürgerin, die Abenteuerin, die Emporkömmlingin und die Gefallene. Was war das Ende? Traum um Traum ist abgeblättert wie die Schalen von einer Zwiebel.« Er stützte den Kopf in die Hand und sah an Virginia vorüber, ziellos, doch mit tiefen Blicken. »Ich bin durch ganz Europa und durch den halben Orient gezogen,« begann er wieder, gleichsam unwillig und von der Erinnerung verstört, »ich war in allen Salons von Paris, Petersburg, London, Madrid und Rom, habe meinen Durst nach einem Menschenherzen in Ägypten und in Indien spazieren geführt, aber ich bin im Norden so kalt geblieben wie im Süden. Hätte mich irgendwo und wann eine göttliche Botschaft getroffen, daß ich zwanzig Lebensjahre als Preis bezahlen müsse für einen Tag der Erfüllung, glauben Sie, ich hätte mich besonnen? Nicht einen Augenblick. Später dann, wenn der Wille erlahmt, fängt die Sünde an. Das Glück fordert eine Seele ganz. Es flieht, wo sie sich in kleiner Münze vergeudet. Ach, Virginia,« – Virginia zuckte zusammen bei dieser ersten vertraulichen Nennung ihres bloßen Namens – »es ist nicht nur das persönliche Elend, das ich Ihnen da enthülle, es ist der Jammer unserer Generation. Wir jungen Männer allesamt gleichen dem Griechenkönig, der, ohne es zu wissen, sein eigenes Kind verzehrt. Wir sind lauter Defraudanten unseres eigenen Vermögens, unserer Bestimmung, unserer Würde, unserer Freiheit. Erniedrigen Sie sich nicht vor dieser Welt, denn es ist eine Welt, wo der Beste sein Herz und der Schlechte das des andern zerfetzt, wo der Starke zu den Schwachen Brücken schlägt, die verkappte Falltüren, wo die Gesetze Sträflingsketten und die Traditionen notwendige Übel sind.« Er hatte sich erhoben, stand außerhalb des Lichtkreises, und seine funkelnden Augen ruhten halbverdeckt unter den blassen Lidern. Virginia nagte sinnend an ihrer Lippe. Plötzlich sagte sie: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie Ihr Leben so beurteilen.« »Und warum?« »Eben weil soviel Menschen um Sie sind, weil Sie so viele Freunde haben.« »Freunde,« erwiderte er abschätzig, »Freunde! Was meinen Sie damit?« »Nun ja, Sie haben doch Freunde. Manfred zum Beispiel.« »Ah, Manfred. Dann dürfen Sie nicht von Freunden sprechen. Manfred ist mein Freund.« Virginia sah ihn verwundert an. Sie verstand die Unterscheidung nicht. »Freunde sind Kostgänger, Trabanten, Spione, Nachahmer, Mitspieler, Spielverderber«, sagte er fast ungestüm. »Freunde und ein Freund, das ist wie: Götter und Gott. Wenigstens ungefähr so. Manfred war für mich etwas wie ein geliebter Schüler. Es war vielleicht mein schönstes Erlebnis, wie aus seiner zarten Natur eine feurige Tüchtigkeit strömte. Er hat die Flamme auf mich übertragen, die ich in ihm angefacht, und so sind wir Brüder geworden, zwei Söhne einer Flamme.« Dieses poetische Bild wirkte auf Virginia insofern, als es in ihr die Vorstellung von der starken Zusammengehörigkeit Erwins und Manfreds befestigte. Sie hatte es nie so liebevoll bedacht, und nun war es ihr, als ob Manfred dadurch allen Fährlichkeiten weiter entrückt sei. Sie blickte Erwin dankbar an. »Deshalb war ich auch eifersüchtig auf Sie, warum soll ich’s nicht gestehen«, fuhr er fort. »Man verzichtet nicht gern auf den ungeteilten Besitz eines Menschen, der das Lebensgefühl erhöht und dem man in starken und schwachen Stunden alle Geheimnisse ausgeliefert hat. Oft hab’ ich seine Liebe zu Ihnen wie einen Verrat empfunden. Ich konnte nichts dagegen tun. Der Feind, an den ich verraten wurde, war mächtiger als ich.« Er lächelte spöttisch-galant. Beunruhigt von der Wendung des Gesprächs stand Virginia auf. Sie antwortete nichts. Sie war im Hauskleid; Erwin heftete den Blick wie geistesabwesend auf ihren nackten Hals, auf die zuckende Ader unter der Kehle und die bebende Sehne, die sich vom Ohr herab gegen die Schulter stemmte wie eine Säule aus Elfenbein. Virginia wurde rot. Dann errötete sie abermals darüber, daß sie rot geworden. Erwin fragte in einem fast naiven Ton, weshalb sie errötet sei. Da wurde sie zum dritten Male rot, nahm ein schwarzes Seidentuch vom Haken und warf es um den Hals, mit einer Bewegung als friere sie. Als sie am folgenden Tag zum Mittagessen nach Hause kam, sagte sie: »Es riecht ja nach Zigarettenrauch hier. Hast du Besuch gehabt, Mutter?« »Ja, Doktor Reiner war bei mir«, antwortete Frau Geßner ein bißchen verlegen. »Bei dir? was hat er denn gewollt?« »Nichts, gar nichts. Er hat mit mir geplaudert. Ist denn das sonderbar?« »Also mit einem Wort, du hast eine neue Freundschaft«, scherzte Virginia. »Ja, mein Kind«, erwiderte Frau Geßner behaglich, und um ihre außerordentlich feine kleine Nase legte sich ein schnippischer Zug, was Virginia lächelnd bemerkte. Sie wunderte sich; daß Erwin Reiner das Bedürfnis haben sollte, zuweilen mit einsamen alten Damen seine Zeit zu verbringen, konnte sie nicht gut glauben. Sie hatte vor, ihn zu fragen, unterließ es aber aus folgendem Grund. Wenn sie eine solche Frage stellte, mußte er annehmen, daß sie die Unterhaltung, die sie ihrerseits ihm gewährte, höher einschätzte als die der Mutter. Sie fürchtete eitel zu erscheinen, und im weiteren Verlauf dieser Überlegungen kam sie dahin zu wünschen, daß er die Zahl seiner Besuche beschränken möge. Es war aber unmöglich, ihm das zu verstehen zu geben, ohne seinen Stolz zu verwunden, ja ohne ihn gröblich zu beleidigen, durfte er doch erwarten, daß er ihr mit seinem reichen und belebenden Gespräch Freude bereite und daß sie ihm dankbar sei für das Opfer vieler Stunden. Sie konnte sich nicht beklagen; er war so zartfühlend, daß er einige Male, als die Mutter sich zu ihrem gewohnten Abendspaziergang rüstete, mit ihr zusammen aufbrach, um nicht mit Virginia allein in der Wohnung zu bleiben. Wenn er dann weggegangen war, saß sie oft lange müßig und erinnerte sich an Worte, die er gesagt, an Ereignisse, die er erzählt, an Personen, die er geschildert hatte. Er besaß eine wunderbare Kunst darin, Begebenheiten und Menschen plastisch darzustellen, ohne sich im geringsten gegen die Natürlichkeit zu versündigen. Da lebten Bälle und Seefahrten und Wanderungen und Abenteuer in fremden Ländern und die kleinen Intrigen der großen Welt und die großen Ränke kleiner Herren, da lebte alles vom Unbedeutenden bis zum feierlich Historischen, und alles hatte sein besonderes Gesicht und seinen Platz im Allgemeinen. Einmal als er sich ruhelos und ruhebedürftig nannte, riet ihm Virginia, er solle heiraten. Er erwiderte ernsthaft, er kenne die Frauen zu gut. Man gibt den Reichtum der Erfahrung zu, wenn man der Enttäuschung so gründlich sicher ist. Er wußte mit Verschwiegenheit sich selbst in den Schatten zu stellen, während er bitter beredt den Bannstrahl schleuderte. Er kannte das treuherzige Kind aus der Vorstadt, das seinem Liebsten keine Gunst verweigert, das in einer leicht zu täuschenden, gesang- und tanzfrohen Welt wohnt, in einer von den zahllosen Stuben gepferchter Häuser, wo man sich beim Pfänderspiel und dem Scheppern eines Pianinos bis fünf Minuten vor zehn Uhr des Lebens Lust und Überschwang ergibt. Ein Idyll, das den Nachteil der Langeweile hatte. Er kannte die Modedame, die Tigerin des Vergnügens, deren Gewissenlosigkeit sich wie Rachsucht ausnimmt und deren Verfeinerung von der Erschöpfung kommt. In ihr ist eine großartige Kraft zur Lüge, und sie versteht es, durch Zärtlichkeit zu quälen. Sie fängt ihre Leute wie der Fuchs ein Huhn, und sie ist leer, unergründlich leer; aber der Abgrund lockt zum Sturz, und wer nach einer Tiefe verlangt, den schreckt keine Finsternis. Wenn er dann von dem unheilvollen Sturz erwacht, macht ihn der Ekel zum Verbrecher. Er will nicht mehr Huhn sein, sondern Fuchs. Nichts ist verführerischer in der Gesellschaft als die Gebärde eines Mannes, der die Peitsche zu schwingen weiß. Wenn’s nur knallt; alles seufzt erleichtert auf, wenn’s knallt. Er kannte die jungen Mädchen, die frühzeitig eine Art von verliebten Beziehungen pflegen, welche man in den oberen Ständen Flirt nennt. Eine Sache, dazu erfunden, um die Seele zu beschmutzen, während sie den Körper bewahrt. Die erschlafften und neugierigen Geschöpfe stillen den Hunger ihres Gemüts mit Zerstreuungen, die bloß Hunger nach Zerstreuungen erregen, und können niemals den Anschluß an ein tätiges Glück finden. Der Rattenfänger braucht nicht einmal zu pfeifen, die Tierchen kommen von selbst, Väter und Mütter schreien Zeter, und es gibt Verwicklungen wie bei Kotzebue. Virginia erbebte. Das Bild der Verderbnis ging ihr nahe. Sie hatte keinen Argwohn, daß all dies einen persönlichen Bezug haben könne. In seinem edlen Zorn sah sie nur einen Beweis seines edlen Interesses für Menschen und Zustände. Er sprach von berühmten Frauen, zum Beispiel von Rosanna Schörk, der Schauspielerin. »Frauen von Genie sind streberhaft bis zur Raserei,« sagte er, »und ihr glorioser Egoismus verleitet sie dazu, einen Mann für ihren Ehrgeiz wie eine Nummer im Lotteriespiel zu benutzen. Da verbeugt man sich, geht nach Hause und sperrt seine Türe zu. Aber ist die Tür auch zugesperrt, so ist doch eine Glocke dran. Man hat nicht den Mut, die Drähte zu zerschneiden. Warum, man weiß ja nicht, wer kommen kann.« Er stand auf, ging ein paarmal durch das Zimmer und blieb dann vor Virginia stehen. »Ich möchte Ihnen aber auch Gesichter von Frauen zeigen, Virginia, ich möchte sie emportauchen lassen wie ein Spiritist die Geister, Frauen, die den Fluch der Verkommenheit mit dem Adel unverschuldeter Sklaverei verschmelzen; Frauen, die heroisch sind, indem sie sich preisgeben, und stolz, indem sie sich mit Füßen treten lassen; Frauen, die so vom Schicksal gejagt sind, daß sie erlöst scheinen, wenn sie zusammenbrechen; Frauen, durch deren Seele hindurch man wie durch ein Zauberglas den Sinn und Wahnsinn unseres Lebens gewahrt. Das möchte ich tun, weil ich Ihnen Weisheit geben, weil ich Ihnen Illusionen rauben möchte, die eine reine Phantasie nur belasten. Vielleicht bin ich auch auf einem Irrweg; die Unsicherheit darüber reizt mich, denn Sie sind mir fremd, ganz unbeschreiblich fremd, wie sonst kein Mensch.« Virginia saß auf einem Bänkchen am Ofen. Ihr einer Arm erreichte mit dem Handgelenk gerade noch den Tisch, wo er sich unbeweglich gestützt hielt, der andere lag im Schoß. Ihre Oberlippe überschnitt ein wenig die untere; die Spannung der Haut am Kinn drückte Unbehagen aus. Das Haar bildete eine dichte glatte Welle über der Stirn, und das im Lampenlicht irisierende Blond der Schläfenlöckchen schien bisweilen den Goldschimmer des Fleisches verwandelnd zu beleuchten. Sie sah wirklich die Gesichter der Frauen. Sie hatte Mitleid mit ihnen. Sie sah die Räume, in denen sie hausten, die Betten, in denen sie schliefen, und die Kleider, mit denen sie sich schmückten. Wunderlicherweise war all das reich, reizvoll und begehrenswert. Da verschwand ihr Mitleid wieder, und sie dachte an sich selbst. Ihre Miene wurde zaghaft, wenn sie an sich selbst dachte. Gegen Erwin blieb sie stille. Sie hatte Angst vor seinem prüfenden Blick, auch Angst vor dem, was ihn so wissend machte, so genau, klar und unbarmherzig gegen sein eigenes Leben. Von Mal zu Mal seltsamer berührte sie sein Hereintreten ins Zimmer. Es war stets, wie wenn man ihn zuvor nie gesehen hätte. Einen Moment lang schien er zerstreut, ja sogar unfreundlich. Plötzlich strahlte er von jener gewinnenden Liebenswürdigkeit, die nicht frei von Herablassung war. Er sagte »mein Töchterchen«, zur Mutter sagte er Mama und tätschelte gnädig die Wange der alten Dame. Er verstand es gemütlich zu sein und schätzte die Gemütlichkeit. Trotzdem fühlte sich Virginia nie so recht gemütlich. Es umwehte ihn der Hauch vieler Begebnisse; vieler Menschen Wort und Atem haftete an ihm. Seine Hände suchten immer etwas zu greifen; er saß selten friedlich auf einem Fleck, meist ging er ruhelos umher. In seinen Augen war noch der tobende Lärm der Straße oder doch das Zuhören von einem früheren Gespräch. Die ganze Stadt war in seinen Augen, deren Blick leuchtend dumpf war und etwas Zurückschiebendes hatte, als wolle er sagen: bitte nicht zu nahe. Es war wie bei einem, der eine zerbrechliche Kostbarkeit in der Hand hält und gestoßen zu werden fürchtet. Er schien stets aus einer unbekannten Region zu kommen, und die Art, wie er die Unterhaltung begann, hatte trotz äußerer Leichtigkeit etwas Gezwungenes, als müsse er erst überlegen, was er von den Vorgängen in jener Region zu verschweigen habe. Es wirkte eigentümlich lähmend auf Virginia, daß man seine Gegenwart, seine Sympathie, seine Erinnerung jedesmal neu erobern mußte, daß man gesammelt sein mußte, während er sich erst sammelte. Man vergaß ihn beinahe, wenn er fortgegangen war, aber man war angenehm bewegt und geweckt, sobald er kam. Bei alledem fiel es Virginia doppelt auf, daß er jetzt die Mutter fast täglich besuchte, und das gerade in den Stunden, wo sie in der Malschule war. »Was sprecht ihr denn miteinander?« erkundigte sie sich mit verwundertem Lächeln, aber Frau Geßner tat geheimnisvoll. Es zeigte sich jedoch, daß sie in der Folge bei vielen Gelegenheiten auf die gedrückten Verhältnisse anspielte, in denen sie beide sich zurechtfinden mußten. Nicht hoffnungslos wie vordem redete sie darüber, sondern als ob ein Wandel möglich, als ob er zu gewärtigen sei, als ob sie Pläne und Aussichten habe. Virginia wußte nicht, was sie davon denken sollte. Erwin hatte vorsichtig begonnen, sich in die Vermögenslage des kleinen Haushalts Einblick zu verschaffen. »Wie kann man so leben!« rief er ehrlich erschrocken, als ihm Frau Geßner die geringfügige Summe nannte, mit der sie wirtschaften mußte. »Hat Manfred sich nie darum bekümmert?« fragte er. Eine stolze Gebärde der Frau war die Antwort. Und diese Gebärde entsprach ihrer Beziehung zu Manfred, indes sie dem Fremderen ihre Dürftigkeit zu offenbaren vermochte. Manfreds Zartgefühl hatte den Stolz gefordert, Erwins mutige Sachlichkeit zwang zum Vertrauen. »Es wäre abscheulich, Ihre Tochter noch zwei Jahre oder länger in so erbärmlichen Umständen vegetieren zu lassen«, sagte Erwin. »Eine solche Edelnatur braucht Licht, Raum und Komfort. Ich bin erstaunt über den guten Manfred. Es gibt Fälle, wo die vornehme Zurückhaltung wie Nachlässigkeit aussieht. Schließlich hat er doch alle Verantwortung stillschweigend übernommen und mußte darauf dringen, daß –; aber freilich, wie wäre Virginia zu bewegen? Manfred war einfach nicht schlau genug. Seien wir schlau, Mama. Wenn ein Kranker sich weigert, seinen Strohsack zu verlassen, hebt man ihn im Schlaf auf und schiebt ihm einen Pfühl unter, ohne daß er’s merkt.« Frau Geßner verstand nicht eine Silbe. Ängstlich brach sie das Thema ab. Da sich Erwin kalt verabschiedete, glaubte sie ihn beleidigt, und als er ein paar Tage später wiederkam, fragte sie, was er mit dem Strohsack und dem Pfühl gemeint habe. »Ich werde es Ihnen erklären,« antwortete Erwin, »aber können Sie auch schweigen?« »Ja, ich kann’s.« »Sie sagten mir, Virginia besitze etwas Kapital; ist es möglich, fünf- bis sechstausend Kronen davon flüssig zu machen?« »Nein, das geht nicht,« antwortete Frau Geßner; »das Geld wird von einem gerichtlichen Vormund verwaltet.« »Das ist schade. Gerade jetzt hätte sich Gelegenheit geboten, eine solche Summe zu verdreifachen. Es handelt sich dabei um eine Spekulation, für deren Gelingen ich mich verbürgt hätte. Sehr schade.« Bedauernd blickte er Frau Geßner an, die unwillkürlich die Hände faltete. Plötzlich sprang er auf. »Da fällt mir etwas ein«, fuhr er fort. »Es ist ja schließlich nicht von Belang, daß Sie mir die Summe geben. Ich nehme an, Sie hätten sie mir gegeben, damit ich sie fruchtbringend anlege. Ich strecke Ihnen einfach diese fünftausend Kronen vor, ungefähr wie es die Agenten machen, nur daß ich keine Zinsen beanspruche; haben wir dann das Geschäft glücklich zustande gebracht, so ziehe ich meine Auslagen ab, und Sie bekommen den reinen Gewinn. Wie gefällt Ihnen der Vorschlag?« Der guten Frau wurde es schwindlig. »So? machen das die Agenten so?« fragte sie. »Genau so.« »Aber wenn das Geld verloren geht? Wenn Sie sich täuschen?« »Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Mama.« »Aber wie ist denn das denkbar? Wie geht das zu?« murmelte Frau Geßner. »Warum tun es denn nicht alle Menschen, wenn es so gefahrlos ist? Da läge ja der Reichtum auf der Gasse –« »Ein Wagnis ist immerhin dabei,« versetzte Erwin lächelnd und ungeduldig. »Aber die großen Fische im Meer, sehen Sie, die ziehen die kleinen hinter sich nach. Ihre paar Kreuzer, Mama, die werden von den Millionen geschleppt und mästen sich von ihnen. Man muß nur einen Wächter haben, der einen benachrichtigt, wann so ein großer Fisch in Sicht kommt. Manchmal frißt auch die Million den kleinen Fisch oder wird mit ihm gefangen, aber lassen wir uns das nicht anfechten, ich bürge Ihnen.« Die Frau zauderte. Das Abenteuer erschien ihr unheimlich, doch am Ende konnte sie der Verlockung nicht widerstehen. Nachdem sie eingewilligt hatte, beharrte sie darauf, daß er einen Schuldschein von ihr annahm, für welchen Deckung zu finden ihr bei einem unglücklichen Ausgang schwer geworden wäre. Erwin ließ diese Formalität mit geschäftlichem Ernst über sich ergehen. Während eines Gedankens Dauer erbitterte ihn die Gewöhnlichkeit der Person, die ihn für einen Börsengänger halten konnte, doch in der folgenden Zeit studierte er nicht ohne Interesse alle Merkmale der Spielererregung an der alten Dame. Sie Virginia gegenüber beherrscht zu machen, erforderte seine ständige Mahnung; das Mädchen hatte scharfe Augen und betrachtete die Mutter oft mit grübelndem Erstaunen. Nach anderthalb Wochen überreichte Erwin Frau Geßner ein dickes Kuvert, in welchem sich so viele Banknoten befanden, daß die Empfängerin erschrocken aufschrie. »Hier ist der Schuldschein«, sagte Erwin gelassen, zerriß das Papier und warf die Stücke ins Ofenfeuer. Die Frau saß wortlos auf ihrem Stuhle. Der Anblick ihrer Bezauberung wirkte unerquicklich auf Erwin. »Bedenken Sie wohl,« sagte er beinahe hart, »daß diese paar Scheine nicht in der Sparbüchse verschwinden dürfen. Die Absicht war, Virginias Los zu verbessern. Eine Schönheit wie die ihre macht uns in jeder Weise zu Schuldnern, Sie am meisten. Geben Sie ihr die leichtest verdauliche Kost. Schaffen Sie teure Wäsche für sie an. Grobe Nahrung und schlechtes Linnen würden die unvergleichliche Zartheit ihrer Haut nach und nach verderben. Wenn sie ein Kleid trägt, in dem sie gering erscheint, wird das Glück verringert, das sie hervorbringen soll. Denn Virginias Aufgabe ist es, Glück zu erzeugen, so wie eine Kirche Andacht, eine melodiöse Musik Vergnügen erzeugt. Knausern Sie nicht, Mama. Ich werde Ihnen eine genaue Aufstellung von allen Dingen geben, die Sie kaufen müssen. Und seien Sie unbesorgt, der Baum, den wir da geschüttelt haben, ist noch beladen mit Früchten.« »Wie soll ich Ihnen aber danken?« stammelte Frau Geßner beklommen. »Indem Sie meine Ratschläge befolgen.« »Aber ich kann’s doch Gina jetzt nicht mehr verheimlichen?« »Ist auch überflüssig. Ich werde selbst mit ihr sprechen.« Doch Erwin ließ der Sache zunächst ihren Lauf, und Frau Geßner zeigte sich hilflos, als Virginia, stutzig geworden durch ungewöhnliche Ausgaben, die Mutter zur Rede stellte. Sie hätte sich in verräterische Widersprüche verwickelt, wenn zur gefährlichen Stunde nicht Erwin erschienen wäre. Er hielt allen Ernstes eine einleuchtende kleine Vorlesung über Geldtransaktionen, über den Kurs, über Vermögensanlage und die geschäftliche Ausnützung gewisser Strömungen. Was er getan habe, sei nicht nur verzeihlich, es sei erlaubt, und nicht nur erlaubt, es sei klug und gut, so klug und so gut wie das Beginnen des Landmanns, der von einem fernen Fluß das Wasser auf seinen Acker leitet. »Auf seinen Acker, ja; aber nicht auf einen fremden Acker«, wandte Virginia lebhaft ein. »Wenn er selber genug hat und sein Nachbar sich nicht zu rühren versteht, warum nicht? Denken Sie doch nicht so krämerhaft, Virginia.« »Man kann über solche Dinge nicht krämerhaft genug denken«, erklärte sie eigensinnig. »Danke.« Er sah sie von oben herab an, und sie wich seinem Blick aus. »Ich hab’s so gewollt«, mischte sich nun Frau Geßner bündig in das Gespräch, »und ich verantwort’ es auch.« »So sind schon viele Leute ins Elend geraten, Mutter«, sagte Virginia naiv warnend, und als Erwin lachte, zuckte sie beschämt lächelnd die Achseln. Sie sträubte sich gegen die unerwartete Wandlung der Umstände. Erworbenes oder ererbtes Gut verlieh Eigentumsrecht; dies Geld war ihr unheimlich, und Wünsche, deren Erfüllung es gewährte, kamen ihr wie Vergehen vor. Sie beschloß, Manfred davon Kunde zu geben und ihre Haltung seinem Urteil zu unterwerfen. Da sagte ihr Erwin, er selbst habe an Manfred geschrieben, und sie wollte nun abwarten, ob Manfred solchen Reichtum billigte, der, wie sie sich ausdrückte, »aus nichts entstanden war, wie die Würmer im Mehl«. Aber was für ein neuer Geist war plötzlich in die Mutter gefahren? Virginia wußte kaum, wie es zuging, plötzlich sah sie sich im Besitz kostbarer Wäsche; hatte jene reizenden Kleinigkeiten der Toilette, die sonst nur verwöhnten Damen Bedürfnis sind; hatte Schuhe von meisterlichem Schnitt und Hüte, die mehr gedichtet als wirklich schienen. »Was treibst du denn, Mutter?« rief Virginia ein übers andre Mal bestürzt. »Wehr dich nicht«, sagte Frau Geßner streng, »und widersprich mir nicht. Es ist beschlossene Sache, daß das Geld, das wir gewonnen haben, für deine Ausstattung verwendet werden soll. Ich möchte ja Gott auf den Knien dafür danken, daß du’s nun endlich ein bißchen besser hast.« Dennoch schien ein Geisterarm die Herrlichkeiten in ihr Leben zu stellen, die ihrem Körper, ihrem Auge, ihren Sinnen in gleicher Weise schmeichelten. »Ich verstehe nur nicht, wo du plötzlich so viel Geschmack hernimmst«, sagte sie zur Mutter. »Geschmack! Was denn! man geht zu den besten Firmen und kauft das beste. Ist das eine Kunst?« »Wer hat dir denn die besten Firmen empfohlen?« »Wer? Erwin zum Beispiel. Der kennt das alles aus dem Effeff. Siehst du dabei was Ungehöriges?« Virginia wußte keine Antwort. Zufällig kam gerade die Schneiderin, eine hochmanierliche und gezirkelt vornehme Person, schlug Modenbilder auf und nahm Maß zu einem eleganten Kostüm. Es ist doch schön, dachte Virginia, wenn man geschmückt wird und kein schlechtes Gewissen dabei hat. Trotzdem wünschte sie sich noch leichteren Sinn, wenn ihre Finger liebkosend in Spitzen wühlten und bedächtig über Seide und Battist raschelten. Wie gerne spürte sie das feine Gewebe am Leib, wie sprach ihr Auge mit den delikaten Farben edler Mode! Der Spiegel wurde ein liebevoller Berater, und sie, sie wurde unnahbarer für zudringliche Blicke, stand abgeschlossener da, indes die Art ihrer Bewegung unbewußt zu einer Welt stolzerer Formen strebte. Erwin erkannte es und hielt es für förderlich, ihr die Pforten dieser Welt zu öffnen. Ein Duell Eines Tages wurde ein wenig gebieterisch die Glocke gezogen, Frau Geßner öffnete und trat mit Marianne von Flügel ins Zimmer. »Sie dürfen mir nicht böse sein, daß ich Sie überrumple«, sagte das Fräulein, auf Virginia zugehend und ihr die Hand reichend, mit einer Stimme von geübtem Wohlklang. »Erwin Reiner hat mich ermutigt, Sie aufzusuchen. Erwin und ich, wir sind alte Freunde, mehr als Freunde, fast wie Geschwister. Er hat mir soviel von Ihnen erzählt, und seit ich Sie kennen gelernt, hab ich soviel an Sie gedacht, daß es mich eigentlich keine Überwindung gekostet hat, den ersten Schritt zu tun.« »Es ist sehr lieb von Ihnen«, antwortete Virginia ziemlich steif. Frau Geßner, die gleich angefangen hatte, Stühle zu rücken, Deckchen zu glätten und ein paar Sächelchen dorthin zu tragen, wo sie ohnehin schon gestanden waren, schleppte einen Sessel herbei und bat das Fräulein, »sich nur ja nicht umzuschauen«, als ob eine so glänzende Dame hier Schaden erleiden könne, wiewohl in letzter Zeit viel für die Wohnung geschehen war. Neue Vorhänge hingen über den Fenstern, einige Möbelstücke waren neu beschafft worden, und ein bescheidener Blumentisch stand an sonnigem Platz. Virginia ärgerte sich über das demütige Wesen der Mutter, und ihre Miene wurde zusehends fremder, bis die besiegende Herzlichkeit der andern ihrem spröden Widerstand ein Ziel setzte. Es war etwas Aufgelöstes und Ungehemmtes an Marianne von Flügel. Sie gab sich wie jemand, der das Leben groß sieht und die Menschen klein. Sie war um Worte nicht verlegen, um die kühnsten nicht; ihre Zunge spielte wie ein Weberschifflein hinter den starken Zähnen. Wie sie saß und ein Bein über das andre schlug, wie sie ein goldenes Zigarettendöschen aus der Tasche nahm, ein winziges Zigarettchen zwischen die Lippen schob und beim Plaudern den Rauch verfließen ließ, das hatte seine Art; da steckte Humor drin. Und Humor steckte in ihren Bemerkungen über das Treiben der Leute; es waren kleine, schelmische Nadelstiche, ein Lächeln, ein Wenden der Hand und alles war vorüber: irgendeiner war tot, der vorher noch lustig gelebt hatte. Um so gewichtiger mußte der Ausdruck der Bewunderung klingen, die sie Virginia entgegenbrachte. »Es ist mein fester Vorsatz, daß wir Freundinnen werden müssen«, sagte sie, und Virginia konnte nicht umhin, sich darein zu ergeben. Als Marianne ging, bat sie Virginia, einen Abend, der sogleich bestimmt wurde, bei ihr zu verbringen; es kämen nur einige Freunde, Erwin natürlich auch. Virginia versprach es. Am Morgen des betreffenden Tages wurde Frau Geßner unwohl und legte sich fiebernd zu Bett. Virginia telephonierte vom nahen Postamt dem Doktor Zimmermann, einem seit dreißig Jahren im Bezirk sässigen Arzt, der schon den Vater Virginias behandelt hatte und, so selten er kam, ein obsorgendes Verhältnis zu den beiden Frauen unverbrüchlich pflegte. Es war ein graubärtiger Herr von gedrungener Gestalt, stramm und scharf in Geste und Wort und infolge einer leichten Taubheit zu selbstgefälliger Beredsamkeit geneigt. Er glich den Fehler aus durch Klugheit, Erfahrung und ein expressives Temperament. Er war nicht wie die meisten jungen Ärzte gekränkt, wenn man ihn zu einem Schnupfen holte. Ein Schnupfen gehörte zur Soldateska des Todes so gut wie ein Magengeschwür. Er erklärte den Fall für harmlos und verfaßte ein tröstendes Rezept. Dann setzte er sich ans Bett der Patientin und fragte nach diesem und jenem. Frau Geßners Erlebnisse waren nicht so weitschichtig, daß sie den Namen Erwin Reiners bei solchem Anlaß unerwähnt gelassen hätte. Das Gesicht des alten Doktors veränderte sich; er hielt die Hand ans Ohr und ließ sich den Namen wiederholen. »Ist das der Sohn von dem reichen Michael Reiner?« fragte er. »Dieser – besondere Erwin Reiner? Der ... Kunstgelehrte oder ... Naturforscher, was weiß ich? Der?« Und als Frau Geßner triumphierend nickte: »Den Mann kennen Sie? Doch wohl« – mit dem Daumen über die Schulter nach Virginia weisend – »das Fräulein Tochter nicht?« »Ja, gewiß,« entgegnete Frau Geßner, »er ist der intimste Freund von Ginas Bräutigam.« Virginia war draußen im Wohnzimmer mit Holz und Schnitzmesser am Tisch gesessen; jetzt erhob sie sich und trat leise durch die offene Tür. »Na, da gratulier’ ich«, murmelte der Doktor und schüttelte den Kopf. »Was gibt’s denn?« fragte Virginia heiter, indem sie sich gegen die Schulter Doktor Zimmermanns herabneigte; »was haben Sie denn gegen Erwin Reiner einzuwenden?« Mit energischem Ruck wendete sich der Doktor und blickte das Mädchen mit seinen braunen, lebhaften Augen an. »Ich?« antwortete er mit der geräuschvollen Stimme der Schwerhörigen; »was ich einzuwenden habe? Das will ich Ihnen erzählen. Ich habe einen Neffen, Ulrich Zimmermann mit Namen, der einzige Verwandte, den ich besitze, überhaupt der einzige Mensch, der mir dem Blut nach nahesteht. Diesen Neffen hab ich von früh auf bewacht, bemuttert darf man sagen, denn er verlor beide Eltern nach seiner Geburt. Ich habe für seine Erziehung gesorgt, ich habe ihn aufs Gymnasium und auf die Universität geschickt, kurz, ich habe meine Hoffnung auf ihn gesetzt und gedacht, der junge Mensch wird mal meine Praxis übernehmen und quasi mein Leben fortsetzen. Wir führen ja einen guten Namen, schon mein Vater war Arzt dahier und mein Großvater gleichfalls. Eines Tages kommt der Bursche zu mir und sagt: ›Onkel, ich will nicht mehr studieren.‹ ›So?‹ frag ich, ›und aus welchem Grunde denn, mein Verehrtester?‹ ›Ich habe keine Lust an der Medizin‹, sagt er. ›Nun, wozu hast du aber Lust?‹ frag ich. ›Ich will Dichter werden‹, gibt er mir zur Antwort. Ich schau ihn mir von oben bis unten an und sage: ›gut, mein Junge, wenn du Dichter werden willst, so laß dir das von deinen zukünftigen Lesern bezahlen, von mir bekommst du keinen Heller.‹ Er geht weg, und von der Stunde an hab ich ihn nicht mehr gesehen. Das ist jetzt drei Jahre her. In liederlichen Kneipen hat er die Nächte durchschwärmt und die Tage, Gott weiß wo, verschlafen. Ist ein Schuldenmacher, ein Schwarmgeist und Phrasenritter geworden, ein Kerl, der nichts arbeitet und in der Welt herumschmarotzt. Und wer, glauben Sie nun, hat das auf dem Gewissen? wer, glauben Sie, hat mir meinen ordentlichen, fleißigen, treuen und dankbaren Ulrich gestohlen und zu einem Landstreicher gemacht? Ihr Erwin Reiner war das. Ganz genau derselbe. Von dem Tag an, wo Ulrich den Mann kennen gelernt hat, war er verhext. Ich habe ihm das Geld entzogen, um ihn durch Not zur Vernunft zu bringen, aber der gewissenlose Freund hat ihn unterstützt, hat seine Einbildungen genährt, sein angebliches Talent aufgebauscht, hat ihn, mit einem Wort, unglücklich gemacht. Vor einem Jahr ist Ulrich nach Amerika gefahren; dort wird er vollends verdorben sein.« Der Doktor starrte eine Weile düster vor sich hin, dann fuhr er fort: »Das wäre meine private Erfahrung. Von andrem möcht ich nur ungern reden, um Ihnen den Gusto nicht zu verderben, mein schönes Kind, obwohl die Spatzen es von den Dächern pfeifen. Der Mann ist über Leichen gegangen, im wörtlichsten Sinn. Er atmet in der Luft des Skandals. Ein Blütenzerknicker; ein Seelendieb; der echte moderne Selbstgott. Da war vor ein oder zwei Jahren eine unselige Affäre, eine Weiberaffäre natürlich, wobei es zum Duell kam. Ein junger, hoffnungsvoller Mensch, Offizier, einziger Sohn seiner Eltern, hat sein Leben lassen müssen. Die Sache ist vertuscht worden, kam nicht einmal in die Zeitungen, aber Ihr Erwin Reiner kann das junge Blut nimmer von seinen Händen abwaschen. Die Eltern sind bald darauf vor Kummer gestorben, und die Frau, um deretwillen das Unheil geschah, hat den Schleier genommen.« Virginia hatte den Kopf gesenkt und schwieg. »Kennen Sie ihn denn persönlich?« fragte Frau Geßner mit bekümmerter Miene. »Wie?« »Ob Sie ihn persönlich kennen?« »Nein. Ich kenne ihn nicht. Ich wünsche ihn nicht zu kennen. Ich kenne seinen Vater. Ein vortrefflicher Herr. Wir sehen uns bisweilen bei Frau Malwine Engelhardt. Dort hat der alte Mann, der sich einsam fühlt, etwas wie ein Heim gefunden. Es wird sogar davon gesprochen, daß die beiden sich heiraten sollen. Aber der junge Reiner sucht das natürlich zu verhindern. Es wäre eine Mesalliance in seinen Augen.« Der Doktor lachte heiser und erhob sich. Virginia reichte ihm kühl die Hand. Es tat ihr weh, den Freund Manfreds so verunglimpft zu wissen. Da Erwin die Beschuldigungen des Doktors nicht widerlegen konnte, Aug in Auge, wie es hätte sein sollen, nahm sie im Innern seine Partei. Desungeachtet war sie verstimmt und hatte, auch weil die Mutter bettlägerig war, die Lust verloren, den Abend außer Haus zu verbringen. Erwin hatte versprochen, sie abzuholen, und gegen acht Uhr kam er. Virginias Weigerung erstaunte ihn; den Hinweis auf die Kranke ließ er nicht gelten. Er trat ins Nebenzimmer an Frau Geßners Lager und fragte sie selbst. Sie redete Virginia zu, aber ihre Verlegenheit fiel Erwin auf. Er roch Unrat, und alsbald erfuhr er, daß Doktor Zimmermann dagewesen sei. »Ach so«, sagte er; »ach so.« Er schaute Virginia, die ihm gefolgt war, forschend an und trommelte mit den Fingern auf den Bettpfosten. »Und da hat er wohl von seinem Neffen erzählt?« Virginia nickte. »Und bei dem Neffen ist es wohl nicht geblieben?« Virginia nickte. »Wissen Sie, wie sich die Geschichte mit dem Neffen verhält?« begann Erwin ruhig. »Ich lernte Ulrich Zimmermann im Hörsaal der Anatomie kennen. Er interessierte mich durch ein Wesen, das ich tönend nennen möchte und das man nur bei genial veranlagten Naturen trifft. Wir traten uns näher, und ich hatte bald Gelegenheit, mich seiner anzunehmen. Seit seiner frühen Jugend ging er künstlerischen Neigungen nach, sah aber keine Möglichkeit, sich vom verhaßten Brotberuf zu befreien. Sein Onkel ist reich; er hat im Verlauf einer langen Praxis ein Vermögen zusammengescharrt, ist aber von einem unnatürlichen Geiz besessen.« »Das stimmt, geizig ist er«, fiel Frau Geßner ein. »Seit zehn Jahren spricht er von einer Reise nach Italien, was seine größte Sehnsucht ist, aber er hat nicht das Herz dazu. Er gönnt seinem Stellvertreter nicht die Einnahmen, die ihm dann entgehen würden.« »Man macht oft die Erfahrung, daß Leute, die sehr langsam und durch mühselige Arbeit zu Geld gekommen sind, sich ebenso schwer davon trennen, wie sie es erworben haben«, erwiderte Erwin verteidigend. »Nun, dieser Geiz allein hatte Ulrich verzweifelt und trübsinnig gemacht. Jedes Mittagessen, der Kauf jedes Buchs mußte schwarz auf weiß bescheinigt werden. Er hatte wochenlang gedarbt, um von dem Alten nicht Geld fordern zu müssen, aber dieser Umstand erlöste sein Gemüt auch allmählich von der Last der Dankbarkeit. Mich fesselte es, das wilde Talent zu formen und aus dem Staub zu ziehen. Ich habe den unbeschreiblichen Genuß gehabt, Zuschauer zu sein, wie ein lebendiger, wollender Geist zu seiner Bestimmung heranwächst. Daran ändert kein Onkel auf Erden etwas.« Das klang nun ein wenig anders. »Übrigens können Sie Ulrich heute abend in Mariannes Salon sehen«, fügte Erwin, gegen Virginia gewandt, hinzu. »So?« fragte Frau Geßner erfreut, »er ist also nicht in Amerika zugrunde gegangen?« Erwin lächelte. »Er ist vor acht Tagen zurückgekommen«, sagte er. »Ich kann Ihnen ja verraten, daß ich selbst es war, der ihm die Mittel verschafft hat, nach Amerika zu gehen. Es hatte einen bestimmten Zweck; davon zu sprechen, ist hier überflüssig. Aber ich merke schon und sehe es Ihnen beiden an,« fügte er bitter hinzu, »daß man mir einen tüchtigen Nasenstüber versetzen wollte. Glauben Sie, es überrascht mich? Es ist mir nichts Neues. Ich greife zu, wo die andern schwatzen, mich lockt das Leben überall, das schöne, große, bunte, dunkle Leben, aber hab ich in irgendeinem pestvergifteten Schacht eine Goldader gefunden, dann fährt mir die ganze Meute der Neinsager und der Kopfschüttler ans Genick, und wo ich etwas gerade gebogen habe, da kommen alle, die sonst ihre Löcher nur verlassen, wenn’s brennt, um zu konstatieren, daß das Krumme besser war. Ich schäme mich meiner Taten nicht. Ich verheimliche sie nicht. Ich rechtfertige sie nicht. Ich schäme mich meiner selbst nicht. Ich flüchte nicht vor mir. Ich habe geliebt, ich wurde geliebt, ich habe gehaßt, ich wurde gehaßt, und ich resigniere nicht, niemals, denn jede Form des Handelns ist besser als selbst die edelste Resignation.« Er stand da mit funkelnden Augen und schüttelte den ganzen Arm mit der ausgestreckten Faust. Virginia, die sich um eine Last erleichtert fühlte, blickte ihn mit ehrlicher Freude an und sagte: »Ich gehe mit Ihnen, Erwin. Warten Sie. In einer Viertelstunde bin ich fertig.« Und sie verschwand in ihrem Kabinett. * * * * * Der Abend verlief angeregt. Die Huldigungen, die Virginia erfuhr, beeinträchtigten keineswegs die bescheidene Meinung, die sie von sich hatte. Erwin tadelte ihre hervortretende Bescheidenheit. »Ein bißchen Hochmut ist nützlich,« sagte er, »das erzeugt Distanz.« Aber sie konnte nicht hochmütig sein, weil ihre Anmut sie daran verhinderte. Fritz Kynast, einer von Erwins Freunden, wollte finden und wünschte es von Erwin bestätigt zu hören, daß sie der Lukrezia Tornabuoni von Botticelli ähnlich sehe. »Nur ist die Tornabuoni tragisch gefaßt, während für Fräulein Geßner eine innere Heiterkeit charakteristisch ist.« Virginia nahm diese umfassende Kritik lieblich zweifelnd hin. »Man soll nicht Seelenanalysen auf Grund eines Soupers treiben«, sagte Erwin kalt. Es hatte natürlich bei dem einen Abend sein Bewenden nicht. Marianne von Flügel schien die Aufgabe übernommen zu haben, Virginia in die Gesellschaft einzuführen. Virginia sträubte sich oft, aber Mariannes Energie entwaffnete ihren Widerstand. Sie ging zu einem Tee bei der Baronin Resowsky, und mit dieser Dame fühlte sie sich alsbald durch eine lebhafte Sympathie verbunden. Marianne bemerkte es ungern und säte Mißtrauen. Marianne von Flügel war die Tochter des berühmten Professors und Klinikers von Flügel, der sich eines Tages, verfolgt von Erpressern, zerrütteten Geistes, eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Beschmutzende Gerüchte hafteten an dem Ereignis. Mariannes Mutter war vor zehn Jahren mit einem Pianisten durchgebrannt. Nach dem Tod ihres Gatten war sie zurückgekehrt, alt und stumpf. Sie war wunderlich geworden, und man versteckte sie vor den Leuten. Drei Brüder lebten wie große Herren, auch nachdem sie ihr Erbteil verpraßt hatten. Marianne führte ein Haus; niemand wußte, woher das Geld kam. Verleumder erzählten, in ihrem Salon werde nächtlicherweile gespielt. Verblaßter Glanz war in den Räumen, welche aussahen, als ob die Sonne sich von ihnen abgewendet hätte. Das Elend, das hinter Damastvorhängen und fahlen Gobelins grinste, hatte Marianne gelehrt, wie man kurzsichtige Gäste täuscht. Der Name ihres Vaters schien ihr die Pflicht der Haltung aufzuerlegen. Die Brüder waren wie Bastarde, die das Gut dieses Namens frech verschleuderten, die Mutter hatte ihn längst mit Füßen getreten. Es läßt sich schwer ein Begriff von dem vernichtenden Hohn geben, mit dem das achtundzwanzigjährige Mädchen heimlich auf das Getriebe einer Welt blickte, die sich in immer konzentrischen Kreisen ermüdend um sie bewegte. Die einzige Rettung war eine reiche Heirat, das stand für sie fest. Ebenso fest stand es für sie, daß Erwin es war, der sie heiraten mußte. Man konnte in Zweifel sein, ob sie hübsch war. Sie wußte sich zu tragen. Sie hatte die Grazie zweiten Ranges, die auf Übung, Urteil und Geschmack beruht. Sie hatte Figur. Sie war es nicht. Sie täuschte gefällig. Ihr Teint hatte etwas von der entwerteten Mattheit gewaschener Seide. Ihr Profil war bewundernswert. Es gab Bilder von ihr, auf denen das Profil statuenhaft bedeutend war. Im Leben war es tot. Ihre Undurchdringlichkeit hatte Erwin einst gefesselt. Auch jetzt noch liebte er die Schauder, von denen er sie durchzittert fühlte, wenn er neben ihr ging oder saß. Das war es eben, was ihn lockte, was ihn unersättlich machte. Die Schauder waren es, die ein liebendes Geschöpf vor ihm entkleideten, eine Stunde der Ergriffenheit, der Anblick stiller Ekstase, die sein Welt- und Selbstgefühl zur weiteren Schwingung trieben. Die sich an ihn verloren, die Seelen, von denen nährte er sich, ihre Sehnsucht war seine Erfüllung. Da war er dann brüderlich rücksichtsvoll, und seine Gebärden waren einschmeichelnd wie die eines entflammten Knaben. Jetzt spannte sich sein Wille glühend gegen ein anderes Ziel. Marianne ertrug es wie ein Schicksal. Sie war erbötig, das Sprungbrett zu halten, von welchem er in die Brandung stürzte, und sie hoffte, sie erwartete es, sie rechnete damit, daß er einmal mit zermalmtem Herzen zurückkommen würde, um nach ihr zu greifen, weil keine sonst ihm nahte. Sie dachte niemals ohne Haß an ihn, und nie ohne Furcht, und nie ohne die Neugier eines Menschen, der nicht weiß, was sich hinter einer Mauer begibt, an der er täglich vorübergeht. Es war an einem Abend im Januar. Marianne von Flügel feierte ihren Geburtstag, deshalb war Virginia zu ihr gegangen. Sie traf Ulrich Zimmermann dort, den sie heute erst zum zweiten Male sah. Marianne bemutterte ihn; sie behandelte ihn als einen Poeten, das heißt, sie behandelte ihn schlecht. Er war schweigsam. Er gehörte zu jenen Naturen, die in Gesellschaft ein unsichtbares Schneckenhaus um sich tragen, worin sie trotzig und scheu menschenfeindlichen Anwandlungen zur Beute werden, die eine Folge unbefriedigter Eigenliebe sind. Virginia fand sich beengt, da seine Blicke mit Hartnäckigkeit an ihr hingen. Zum Glück kam Erwin bald; er brachte den Grafen Palester mit. Der Graf kannte Marianne flüchtig. Als er Virginia vorgestellt wurde, war sein Gruß ohne Förmlichkeit, sein Lächeln ohne Zwang. Seine vornehme Art gefiel ihr; bald war sie mit ihm in eifriger Unterhaltung über Manfred und Manfreds Reise, und sie spürte, wie sie es noch bei keinem gespürt, daß er Manfred aufrichtig zugetan war. Im Verlauf des Abends war Marianne so munter und kapriziös, daß Mitrede und Widerpart allen Vergnügen bereiteten, und schließlich hatte sie den Einfall, man solle doch an einem der nächsten Tage eine Schlittenpartie ins Hochgebirge machen. Dem wurde beigestimmt, man setzte den zweitfolgenden Tag fest, auch die Stunde des Stelldicheins auf dem Bahnhof; Erwin sollte den Schlitten telegraphisch bestellen. Er fragte Virginia um Einzelheiten, als ob sie Sachverständige in Schlittenpartien sei; sie war im Zweifel, ob sie mittun solle, fügte sich aber dem allgemeinen Drängen. Während der nachflatternden Erörterungen ergriff Marianne plötzlich Virginia bei der Hand und führte sie in ein Gemach nebenan. Ein Hängeteppich statt der Tür trennte den Raum von dem Zimmer, wo die andern waren. »Sie sind schön, Virginia«, sagte Marianne leise, »Sie müssen auf Ihrer Hut sein.« Virginia entfärbte sich. Ihre Lippen öffneten sich zur Frage. »Haben Sie wissentlich jemand beleidigt?« fuhr Marianne fort, »vielleicht bei der Resowsky? Oder gestern bei Wellhausens? Besinnen Sie sich einmal.« »Ich weiß von nichts,« hauchte Virginia erschrocken, »was ist denn geschehen?« »Also unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, Virginia: Erwin hat Ihretwegen ein Renkontre gehabt.« »Was heißt das?« »Was das heißt? Ein Herr hat eine ungehörige Bemerkung über Sie geäußert, und Erwin hat ihn zur Rede gestellt.« »Eine ungehörige Bemerkung? Über mich?« Virginias Augen funkelten, aber aus ihren Wangen wich vollends jede Farbe. Marianne hatte eine Regung des Mitleids und der Reue, andrerseits entzückte sie das Bild rührender Entrüstung und schmerzlichen Erstaunens. »Seien Sie vernünftig,« mahnte sie, »beherrschen Sie sich. Solchen Dingen ist man eben preisgegeben. Die meisten Gespräche in unseren Kreisen sind Hinrichtungen Abwesender.« »Was war es für eine Bemerkung?« – »Das weiß ich nicht.« – »Wer war es?« – »Das – brauchen Sie gar nicht zu erfahren.« – »Und Erwin?« – »Erwin? Er hat geantwortet, wie ein Freund antworten muß. Ich habe Ihnen ja gesagt ...« – »Ich versteh’ es nicht.« – »Er wird sich schlagen.« – »Ein Duell?« – Marianne nickte. Noch einmal funkelten Virginias Augen auf, dann bemächtigte sich ihrer eine tiefe Verstörtheit. »Ich möchte jetzt nach Haus«, sagte sie; »kann ich von hier aus gleich in den Flur?« – »Ja, aber Sie können doch nicht allein gehen.« – »Ich fürchte mich nicht. Ich will allein sein.« – »Das geht nicht, in der Nacht ... Ulrich soll Sie begleiten.« Marianne schob den Teppich zur Seite und rief Ulrich Zimmermann. Er übernahm den Auftrag mit befangener Freude. Marianne begab sich ins Speisezimmer zurück. »Fräulein Geßner läßt Sie beide grüßen, sie hat sich unwohl gefühlt und wollte nicht weiter stören«, sagte sie zu Palester und Erwin. Dieser zuckte auf und sah Marianne drohend an. Wenige Minuten später empfahl sich Graf Ottokar. »Was habt ihr miteinander gehabt?« fragte Erwin, als jener gegangen war, und sein Blick wurde noch drohender. Marianne zog ihr Döschen aus der Tasche, zündete eine der winzigen Zigaretten an und fragte gleichmütig: »Wie stehst du denn eigentlich mit ihr?« Erwin zuckte mißfällig die Achseln. »Du bist taktlos, Marianne, diese Eigenschaft ist mir neu an dir«, sagte er. »Ich will dir behilflich sein, weiter nichts,« erwiderte Marianne, und über Erwins verständnislose Miene etwas gezwungen lachend, fuhr sie fort: »Ich habe dich unwiderstehlich gemacht. Ich habe dich in ein Duell verwickelt. Man hat in Gesellschaft abschätzig über sie gesprochen, – das fleckenlose Lamm hat gar nicht daran gezweifelt –, du bist als Ritter für ihre Ehre aufgetreten, die Folgen ergeben sich von selbst. Ich habe einfach etwas erfunden, wozu die Wirklichkeit zu stümperhaft war.« Erwin machte große Augen. »Und du denkst im Ernst, daß ich das aufrecht erhalten werde?« fragte er. »Du mußt. Was ficht’s dich an?« »Köstliche Antwort: was ficht’s dich an. Ich meinerseits habe einen Ruf zu verlieren.« »Bah. Dir glaubt man alles. Du bist in Mode.« »Ein Duell ohne Gegner, ohne Ursache, ohne Folgen?« »Findest du das nicht prachtvoll? Endlich einmal etwas Originelles. Du führst die ganze Gesellschaft an der Nase herum, denn alle müssen es natürlich wissen, sonst hat es keinen Zweck, sonst bleibt deine marmorne Göttin ungerührt. Ein Weiberherz, und mag es beschaffen sein wie es will, wird immer davon bestimmt, wie die Welt über einen Mann urteilt. Für die Verbreitung werde ich schon sorgen. Was riskierst du? Nichts. Du hast deinen Gegner nicht getötet, denn er hat nie gelebt. Und weil er nicht lebt, wird man ihn auch nicht finden. Wir beide, wir schweigen.« Erwin setzte sich rittlings auf den Stuhl und packte die Lehne mit beiden Händen. So, den Kopf vorgeneigt, lachte er lautlos mit offenem Mund, in dem die starken weißen Zähne blitzten und eine Goldplombe leuchtete. »Deine Experimentalpsychologie ist unbezahlbar, liebe Marianne«, versicherte er endlich, wobei in seiner Miene das Vergnügen über den Einfall mit einer gewissen Verachtung gegen die Person kämpfte. »Das hat Geist, ja, das hat Geist, ich kann’s nicht leugnen. Aber du nimmst mir’s ja nicht weiter übel, wenn ich Virginia so bald wie möglich aufkläre. Der papierne Lorbeerkranz ist mir ein bißchen peinlich.« »Das wäre die größte Dummheit, die du begehen könntest. Du würdest das Mädchen für immer erkälten. Sie würde dir niemals verzeihen, daß sie umsonst für dich in Sorge war.« »In Sorge?« »Gewiß. Sie ist besorgt für dich. Sie muß es sein, wenn sie Gemüt im Leibe hat. Sie ist gekränkt worden, und du bist der Rächer. Zerstörst du diese Einbildung, so erscheinst du ihr lächerlich, ob sie will oder nicht. Das ist Frauenart. Der gut imitierte Lorbeerkranz ist also besser als eine Narrenkappe.« »Weshalb?« sagte Erwin leichthin, »man kann Narrenkappen so würdevoll tragen wie Kronen.« Er runzelte die Stirn und stützte das Kinn auf das Holz der Lehne. »Außerdem – soll ich vielleicht als Lügnerin dastehen?« »Mein Gott, ein Irrtum, ein Klatsch –« Marianne sah ihn fest an. »Du wirst es nicht tun, Erwin. Ich kenne dich. Es wäre ja philisterhaft, den Faschingsscherz ins Tragische zu wenden. Der Kavalierstandpunkt gilt doch nicht unter uns.« »Aber welches Interesse hast du daran, Marianne, du?« »Ach, ich möchte, daß das kleine Abenteuer bald hinter dir liegt, es beschäftigt dich über Gebühr«, entgegnete Marianne etwas frostig. Erwin mußte lächeln. Es war Lust und Begierde in seinem Lächeln. Indem er an Virginia dachte, sah er sie wie eine Lilie, deren weißer Glanz allein Schutz genug ist gegen häßliche Berührung, und indem er das Bild Mariannes hinzugesellte, wurde es von dem weißen Glanz verzehrt wie Fackellicht von einer Magnesiumflamme. Ihn ekelte ein wenig vor der billigen Heldenrolle, die ihm Marianne aufdrängte, doch sah er ein, daß er damit viel gewann; und weil eine ihm tief innewohnende Geringschätzung gegen Menschen und ihre Einrichtungen ihn stets reizte, die Fesseln der Konvention für nichts zu nehmen, so pedantisch er sie auch zu achten schien, überredete er sich leicht, in diesem Wagnis ein heiteres Spiel zu sehen, welches er in jedem Augenblick mühelos beenden konnte. Ohne sich von solcher Erwägung etwas anmerken zu lassen, erhob er sich und sagte kühl: »Auf übermorgen also. Ich hole dich und Virginia ab.« »Gibst du mir nicht die Hand?« Er reichte ihr die Hand, wie man einem Bedienten den Hut reicht. »Und die andre, was ist’s mit der?« fragte Marianne mit gesenkten Lidern. »Welche andre?« »Die Schwester von Fritz Kynast ...« »Frau Zurmühlen meinst du? Es geht ihr vortrefflich. Gute Nacht, Marianne.« Als Erwin das Zimmer verlassen hatte, blieb Marianne an der Tür stehen, um seinem verklingenden Schritt nachzulauschen und dann zu grübeln. Der freundliche, gesellige Ausdruck ihrer Züge hatte sich im Nu verwandelt, von Müdigkeit in Düsterkeit, von Düsterkeit in jene Verzweiflung, die ein altgewohnter Kampf hoffnungsloser Gedanken erregt. Sie fühlte sich schon an der Wende der Jugend, übersättigt und lustlos, ohne Zuversicht und ohne Liebe, ohne Kraft und ohne Ruhe. Die Spule leerer Vergnügungen war abgesponnen, und die öden Tage folgten einander scheinbar belebt, wie auf einer Bühne ein schlechtes Stück, das nur Neulinge flüchtig zerstreut, ewig wiederholt wird. Sie bildete sich aber ein, daß sie zu den Schauspielern, zu den Hauptdarstellern dieses schlechten Stücks gehöre, und das war ein Glück für sie. Denn es verursachte immerhin Bewegung, gebot die Pflicht der Haltung, ließ Schminke und Verstellung unerläßlich erscheinen. Die amüsierten Zuschauer vernahmen nicht den blechernen Klang der Stimmen und das puppenhafte Knarren der Gebärden, und so führte man die Rolle zähneknirschend durch und konnte der Versuchung endlich kaum mehr widerstehen, einmal aufzuschreien, den Ingrimm sich einmal vom Herzen zu schreien und das blutsaugerische Lügenwesen zu enthüllen. Hätte man nur nicht fürchten müssen, dann zur Rolle des Zuschauers verdammt zu werden. * * * * * Virginia konnte die Nacht hindurch kein Auge schließen. Hundertmal überlegte sie, was sie dort, wo sie gewesen, für Worte gesagt, was man ihr geantwortet, sie ließ die Gesichter vorüberziehen, die untreuen, die undurchdringlichen. Um drei Uhr machte sie wieder Licht, nahm ihren Handspiegel und prüfte mit Sorgfalt die eigenen Züge. Sie argwöhnte, zu oft gelächelt zu haben. Am andern Vormittag krochen die Stunden träge hin. Sie konnte nichts arbeiten, und ihre Befürchtungen schlugen folgsam die Richtung ein, die Mariannes Worte ihr gewiesen. Es wurde ihr schwer, sich vor der Mutter zusammenzunehmen, obgleich diese nicht viel sah, weil sie viel spintisierte. Sie wollte eine Absage für den morgigen Ausflug schreiben, blieb jedoch unschlüssig. Unschlüssigkeit war ein Zustand, den sie sonst nicht kannte, ein verhaßter Zustand, der ihre Sinne trübte. Da Erwin am Nachmittag nicht kam, ging sie gegen sechs Uhr zu Marianne. Marianne war nicht zu Hause. Sie bat das Dienstmädchen, telephonieren zu dürfen, und ließ sich mit Erwins Villa verbinden. Erwin war gleichfalls nicht zu Hause. Während sie abklingelte, vernahm sie aus einem der Zimmer zwei wild streitende Männerstimmen. Plötzlich stürzte ein großer, totenbleicher Mensch im Zylinderhut heraus, an ihr vorüber und durch die offene Tür die Treppe hinunter. Nun blieb es still. Virginia ging erschrocken weg. Kaum war sie daheim, so läutete es. Es war Marianne. Sie trug einen kostbaren Chinchillamantel und einen großen Hut mit schwarzen Straußfedern. Die Winterkälte hatte ihr Gesicht gerötet, und Schneeflocken hingen in ihrem Haar. Sie weigerte sich, ins Zimmer zu treten, da sie in Eile war. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß alles glücklich vorüber ist«, flüsterte sie atemlos, schlang ihre Arme um Virginias Hals und küßte sie schnell auf die Wange. »Alles vorüber? Erwin ist gesund?« fragte Virginia, der es zumute war, als löse sich eine klammernde Hand von ihrem Nacken. »Und der andere?« »Unbedeutende Verletzung. Ein Denkzettel, weiter nichts. Gute Nacht, Liebe, auf Wiedersehen! Halten Sie sich bereit für morgen. Wir werden sehr, sehr lustig sein.« Virginia blieb nachdenklich, und nicht froher wurde ihr ums Herz. Andern Tags um neun Uhr früh fuhr sie mit Marianne und Erwin zum Bahnhof, wo Ulrich Zimmermann und Graf Palester warteten. Im Kupee setzte sich Ulrich Zimmermann neben Virginia; so scheu er noch gestern gewesen, so zutraulich gab er sich jetzt. Virginia, die ein feines Gefühl für äußere Formen besaß, hatte bislang an seinen Manieren Anstoß genommen, nun versöhnte sie sich damit, denn was er sagte, hatte eine geistige Schwere, die durch Selbstironie wohltuend gemildert wurde. Er erzählte von Amerika wie jemand, der des Anblicks einer erhabenen und schrecklichen Vision teilhaftig geworden ist. Von Payerbach aus wurde der Schlitten benutzt, und die Fahrt ging ins Höllental. Die Luft brannte vor Kälte, der Himmel vor Bläue, es wehte kein Wind, über den Bäumen lag der Schnee gleich riesigen Watteknäueln, grünblaue Eiskatarakte glitzerten an den Felswänden, die Häuser nah und fern schienen ausgestorben, leergefroren, und in der höchst feierlichen Stille tönten nur die zahlreichen Glöckchen am Geschirr der Pferde. Auf einer einsamen Meierei wurde ein Imbiß genommen. In einem Nebengelaß spielte ein alter Bauer die Harmonika, Marianne führte ihn Arm in Arm herüber, und er sollte Walzer zum besten geben. Dies vermochte er jedoch nicht, und man holte einen, der die Kunst verstand. Erwin und Ulrich tanzten mit den Mädchen. Graf Ottokar blieb ruhig auf seinem Platz. Marianne ersetzte durch Temperament, was ihr an junger Grazie fehlte, aber Virginia, die tanzte! Die konnte tanzen, als ob die ganze Süßigkeit und Glut eines Frühlings in ihren Adern gärte, als ob die liedervolle Stadt da unten im Tal ihre Zauber, ihre Rhythmen nur ihr allein zu eigen gegeben hätte. Sie war aus allem Gleichmut gerissen, von Licht und Luft und Sonne und blühweißem Schnee berauscht und wiegte sich in Erwins Arm, Kopf hintüber, Hals gespannt, Schultern gelöst, Glieder beschwingt, mit unhörbarer Sohle wie ein Elfenwesen am Rand mondbeschienener Wässer. Die andern ließen ihr beschwerteres Treiben und schauten zu, auch die Hausbewohner drängten sich auf die Schwelle. Auf einmal, mitten im Tanz, hielt Virginia inne, blieb ein Weilchen inmitten der verdämmernden Stube stehen, schloß die Augen und trat dann erbleichend aus dem Kreis. Sie dachte an Manfred – und an das, was zwischen ihr und Erwin lag. Sie tanzte nicht mehr. Auch auf der Rückfahrt schien sie verstimmt, und was ihr sonst immer ergreifend war, der Abend in der Natur, sie vermochte ihn nicht zu spüren. Marianne, der Graf und Ulrich waren auch schweigsam geworden, nur Erwin, immer befeuert, immer an ein Ungemeines gebunden, rezitierte Verse, alte deutsche Lieder und solche, deren Herkunft nicht genannt wurde; eins davon bewegte Virginia, so daß sie ihn bat, es zu wiederholen. Er wiederholte das Gedicht, mit dem Refrain hinter jeder Strophe: »Einst konnt’ ich gehen, ohne müd’ zu werden, jetzt bin ich müd’, ohne zu gehen.« Aber als sie in der Dunkelheit Erwins dunklen Blick auf sich ruhen fühlte, wallten plötzlich Zorn und Scham in ihr empor. Denn sie mochte diesem Manne nichts verdanken, sie mochte ihm nicht das Recht einräumen, für sie aufzutreten, sie wollte keinerlei Verpflichtung tragen, sie wollte ihm nichts schuldig sein. Es mußte kommen, daß darüber geredet würde; ach! Zungen, die hinter ihr her zischten! Manfreds Stolz war in ihr beleidigt, ihr Zuihmgehören war bedroht. Das Leben erschien ihr nicht mehr so einfach wie bisher. Insonderheit mit Manfred war es so wunderbar einfach gewesen. Jetzt wirkten einfache Ereignisse bedeutungsvoll, ohne daß sie den Grund erkannte. An einem der nächsten Vormittage ging sie durch eine enge Gasse in der Stadt. Ein daherstürmender Fiaker streifte einen Handwagen, von welchem ein länglicher Blechkasten, durch den Anprall aus dem Gleichgewicht gebracht, aufs Pflaster stürzte. Der Deckel des Kastens fiel ab, Wasser strömte heraus, und sogleich wimmelten Dutzende von Goldfischen auf dem frischgefallenen Schnee. Wimmelten und wandten sich, schnappten mit den Kiefern, schlugen mit den Schwänzchen und schnellten kraftlos in die Höhe. Es war ein liebliches und schmerzliches Schauspiel. Virginia blieb stehen und sah versunken den Händen vieler Leute zu, die geschäftig waren, die Tierchen wieder in den Trog zu werfen. Zu spät; als man Wasser herbeigeschafft hatte, waren die meisten schon tot. Das Bild verfolgte sie. Auch in ihrem Brief an Manfred war sie versucht, es zu schildern, fand aber keine sinnvolle Anknüpfung. Es war ein stürmischer Abend, das Mondlicht glitzerte auf den Schneebändern der äußeren Fenster. Vom Turm der Piaristenkirche schlug es zwölf Uhr; sie saß, den Federkiel an der Stirn, den Blick gegen die absterbende Kohlenglut im Ofen gerichtet und dachte an die Goldfische. Die Mutter rief sie zur Ruhe, aber Virginia antwortete, sie hätte noch viel zu schreiben. Im Honigschatten ihres aufgelösten Haares lag das schmale Antlitz, wie die Putten auf alten Gemälden in rosige Wolken geschmiegt sind. Das Tanagra-Figürchen Man sprach in allen Salons der Stadt von dem Duell Erwin Reiners. Auch einige Zeitungen bemächtigten sich des Gerüchts; in einem Arbeiterblatt wurde die Behörde gefragt, wie lange sie noch die blutigen Spiele unter den oberen Zehntausend zu dulden gedenke, und in einem Journal, welches dem Klatsch diente, versah ein Reporter von mittlerer Begabung die Angelegenheit mit einer Reihe prickelnder Zutaten. Erwin erhielt eine polizeiliche Vorladung. Nach seinem Gegner gefragt, zuckte er die Achseln und erwiderte, keine Macht der Erde könne ihn zur Indiskretion zwingen. Er stellte sogar den Sachverhalt in Abrede, erklärte aber, sich den Beweisen beugen zu wollen, die man gegen ihn finden würde. Die Feierlichkeit der Beamten belustigte ihn ebensosehr wie die aufgeregte Neugier seiner Freunde, und er hatte Mühe, seinen Ernst zu bewahren. Da auch kein andrer Mensch den Namen des Partners in diesem Schattenkampf herausbringen konnte, erschien die ganze Geschichte um desto geheimnisvoller. Man munkelte, daß eine sehr schöne Frau, deren Beschützer er war, die Ursache des Duells sei, aber wer auch immer befragt wurde, mußte seine Unwissenheit bekennen. Einen ganzen Vormittag lang läutete das Telephon fast ununterbrochen, und Stimmen aus allen Gegenden der Stadt erkundigten sich voll Teilnahme nach Erwins Befinden. Wichtel gab jedesmal den Bescheid, daß sich sein Herr eines trefflichen Wohlseins erfreue. Unter der eingelaufenen Post befand sich auch ein Brief von Helene Zurmühlen, der einer wahrhaften und leidenschaftlichen Besorgnis Ausdruck gab. »Könnt ich nur wissen, aus welchem Grund Sie Ihr teures Leben in die Schanze geschlagen haben«, schloß das Schreiben; »ich zittere in dem Gedanken, daß Sie dem Tod gegenüberstanden sind. Für mich hat ja der Tod keine Schrecken mehr, für Sie hat er in meinem Herzen tausend. Alles ist mir fremd geworden, Vergangenheit und Gegenwart haben sich von mir abgelöst, ich bin mir selber fremd geworden und müßte mich hassen, wenn ich stark genug dazu wäre.« Erwin antwortete: »Bauschen Sie eine Niaiserie nicht zur Katastrophe auf, Helene. Ich bin munter wie ein Fisch im Wasser. Sich selber fremd sein – ein beneidenswerter Zustand, dem die Dichter unsterbliche Eingebungen verdanken. Aber mit Haß? Nein. Fremd sein in Liebe, uns selbst, uns einander, das ist der Weg zur Erfüllung und zum Genuß der Welt.« Während er Wichtel den Brief zur Besorgung übergab, trat sein Vater ein. »Guten Tag, Alter«, sagte Michael Reiner. »Was ist denn los? Die Leute reden ja massenhaft dummes Zeug. Bist du blessiert? Nein? Gott sei Dank.« Er sprach ein wenig keuchend; sein Gesicht hatte die Zinnoberfarbe vollblütiger Greise, und er trug den österreichischen Bart mit ausrasiertem Kinn. Er war athletisch gebaut und sah aus wie jemand, der Widerwärtigkeit, üble Laune und Glücksfälle ohne viel Federlesens hinunterschlingt und ausgezeichnet dabei gedeiht. Aber die unendliche Liebe, die er für seinen Sohn hegte, kennzeichnete jede Gebärde. Er lag gleichsam stets auf den Knien vor ihm, lauschte atemlos auf alles, was er sagte, überlegte es später, erquickte sich erinnernd daran, wenn er nachts nicht schlafen konnte, und hatte Herzklopfen in seiner Nähe. Unglücklich Liebende haben eine Neigung zum Gesinde; er hatte draußen schon den Diener ausgeholt, ob er über das Vorgefallene Bescheid wisse, doch in solchen Dingen war Wichtel zugeknöpft wie ein Diplomat. Die flackernden Blicke des Alten, welche die Unruhe und Unsicherheit eines Mannes nicht verleugnen konnten, der gewohnt ist, daß man Geld von ihm fordert, und nichts anderes als Geld, suchten in den Zügen des Sohnes ängstlich nach einer Kundgebung der Freundlichkeit. Erwin saß an dem großen, runden Tisch, der mit erlesenen Prachtwerken englischer und amerikanischer Buchkunst bedeckt war, und schrieb von Zeit zu Zeit kurze Notizen auf ein Blatt Papier, eine Tätigkeit, die der Alte andächtig schweigend verfolgte. »Bleibst du zum Essen?« fragte Erwin endlich kühl. – »Wenn du gestattest, gern«, antwortete Michael Reiner und räusperte sich, was wie das dankbare Knurren eines Hundes klang. »Ich erwarte noch einen Gast, den jungen Zimmermann,« fuhr Erwin fort, »das wird dich ja weiter nicht stören. Ich habe mit dir zu sprechen, Papa, und wir wollen es gleich erledigen. Ich brauche nämlich eine größere Summe, eine sehr bedeutende Summe. Wenn dir’s nicht paßt, sag einfach nein, ich bin dir nicht böse, obwohl die Sache von Wichtigkeit für mich ist.« »Freut mich, daß du mir dein Vertrauen schenkst,« erwiderte Michael Reiner, »freut mich, Erwin. Stehe dir selbstverständlich zur Verfügung.« Mit seinen plumpen Schritten begab er sich zum Schreibtisch, riß ein Blatt aus dem Bankbuch, das er in der Tasche trug, und schaute Erwin fragend an. Dieser nannte die Summe, und nach wenigen Minuten war er im Besitz des Schecks, den er gelassen einsteckte. Der väterliche Reichtum beschämte ihn; er achtete nur den aristokratischen Reichtum, der von Geschlecht zu Geschlecht vererbt und mit der unnachahmlichen Noblesse gehandhabt wird, die den Emporkömmlingen versagt ist. Michael Reiner hatte nun seinerseits ein Anliegen. Seit fünfzehn Jahren verbrachte er fast alle Abende bei Frau Engelhardt, der wohlhabenden Witwe eines Getreidemaklers. Wie schon der Doktor Zimmermann gegen Virginia und deren Mutter angedeutet, hatte er sich allmählich an den Wunsch und Gedanken gewöhnt, die ihm grenzenlos ergebene Frau zu heiraten. Er hatte niemals davon mit Erwin gesprochen, aber Erwin wußte, wie die Dinge standen, und sein Verhalten war das ablehnendste, das es gibt: er übersah die Freundin seines Vaters. Diese kränkte sich darüber schon lange, und Michael Reiner machte nun mit klopfender Brust den Versuch, Erwin zu bewegen, daß er Frau Engelhardt die Ehre einer Visite erweise. »Du könntest mir wahrhaftig den Gefallen tun«, bat er. »Wäre dir riesig erkenntlich. Ich hab’s der Malwine in die Hand versprochen, und sie wird dich empfangen wie einen Prinzen. Sag nicht nein, Erwin, dich kostet’s eine Stunde und mir macht’s eine Freude fürs Leben.« Erwin lachte. »Du bist nicht aufrichtig, Papa«, antwortete er tadelnd und eindringlich. »Ich finde es nicht geschmackvoll, daß du mich über deine Absichten täuschen willst. Es steht mir natürlich nicht zu, dir bei der Ausführung irgendeines Vorhabens in den Weg zu treten, aber ich würde die Lächerlichkeit dieses Vorhabens den Augen der ganzen Welt enthüllen, wenn ich dir dabei behilflich wäre. Nein, Papa, nein! Trotz aller Ehrerbietung, die ich dir schulde, werde ich nie und nimmer die Schwelle des Hauses übertreten, in dem jene Frau wohnt. Du willst heiraten? Schön. Nur verlange nicht von mir, daß ich es gutheiße. Ich habe nichts damit zu schaffen. Die fremde Frau meines Vaters wird niemals meine Mutter werden. Sie wird stets die spekulative Witwe eines Kornhändlers für mich bleiben.« Der Alte war sehr niederschlagen und schwieg. Früher haben die Väter ihre Söhne abgekanzelt, dachte er, jetzt ist es umgekehrt; so ändern sich die Läufte. Er überlegte, warum das so sei, und kiefte an dem Elfenbeingriff seines Stockes. »Wenn man mit fünfundsechzig Jahren heiratet,« fuhr Erwin lächelnd fort, »muß man schon eine Herzogin nehmen, um den Spott der Welt zu ersticken. Passionen dürfen plebejisch sein, denn sie sind vergänglich; durch eine Eheschließung ruft man die Unsterblichkeit zum Zeugen auf. Bedank’ dich, Papa, für die gute Meinung. Im übrigen,« fügte er lebhaft hinzu, »ehe ich’s vergesse, da ist noch eine kleine Geschichte. Die Rosanna Schörk hat eine junge, begabte Kollegin, der es momentan schlecht geht. Ich habe versprochen, etwas für das Mädel zu tun. Du bist doch bekannt mit den Theaterdirektoren, erlaubst du, daß ich dieses Fräulein, Martens heißt sie, Christie Martens, zu dir schicke?« Michael Reiner nickte, ohne im entferntesten zu ahnen, in welcher Schlinge er sich da fangen sollte. Während des Mittagessens blieb er finster in sich gekehrt, und da er wußte, daß seine schmatzende Art zu kauen Erwin nervös machte, aß er fast gar nichts, stocherte, solang Ulrich Zimmermann redete, mit der Gabel lustlos auf dem Teller herum, aber wenn Erwin sprach, festigte sich sein Blick, und er merkte genau auf. Nach beendeter Mahlzeit küßte Erwin den Vater zärtlich auf die Wange und bot ihm für die Siesta sein Schlafzimmer an. Ein prächtiges Verhältnis zwischen den beiden, dachte Ulrich Zimmermann, der sich gleichwohl durch die Gegenwart des Alten beengt fühlte; er gehörte zu den Beobachtern, die nichts sehen, aber alles gesehen haben. Erwin und Ulrich setzten sich in der Bibliothek einander gegenüber, rauchten und tranken aus kleinen goldnen Tassen Mokka. »Was arbeiten Sie?« fragte Erwin. »Ich versuche mich jetzt an der Geschichte des Mirowitsch«, antwortete Ulrich Zimmermann. »Wissen Sie, wer Mirowitsch war?« »Nein.« »Mirowitsch war ein Rebell aus der Zeit der großen Katharina.« »So? Das ist lang her. Was hat es für eine Bewandtnis mit ihm?« »Soll ich ausführlich erzählen? Wird es Sie nicht langweilen? Also hören Sie zu. Mirowitsch war ein kleiner Edelmann aus einer zugrunde gegangenen Familie und diente, schlecht besoldet, in einem Regiment der Kaiserin. Es lebte damals noch ein Prätendent auf den zarischen Thron, der braunschweigische Prinz Iwan Antonowitsch. Dieser war auf der Festung Schlüsselburg unter dem Titel des namenlosen Gefangenen in grauenhafter und langjähriger Einsamkeit inhaftiert. Aber das ganze Land redet heimlich von ihm, und wo man nicht die Ohren der Spione fürchtet, beklagt man sein Schicksal. Katharina muß natürlich wünschen, daß dieses unbequeme Überbleibsel einer früheren Dynastie verschwindet, und sie hat Auftrag gegeben, daß die beiden Offiziere, die ihn bewachen und die auf solche Art nicht ohne Plan selbst zu Gefangenen gemacht wurden, den Prinzen töten, wenn der geringste Verdacht entsteht, daß er fliehen will oder durch Aufruhr zur Flucht ermuntert wird. Nun, Mirowitsch kommt mit einer von den Kompagnien, die abwechselnd den Wachdienst in der Festung versehen, nach Schlüsselburg. Mirowitsch ist einundzwanzig Jahre alt. Er hat den Staatsstreich erlebt, er hat erlebt, wie kleine Leute, die der Kaiserin zum Thron verhalfen, mächtig und reich wurden, und er will ebenfalls mächtig und reich werden, denn er hat nur Schulden, drei hungernde Schwestern und einen hoffnungslosen Prozeß mit der Krone. Er kann nicht rauchen, er kann nicht trinken, er kann nicht Karten spielen, er hat für alles das kein Geld. Es gibt kein Opfer, das er nicht bringen würde, um aus seiner Armut und Dunkelheit emporzusteigen. Bald genug erfährt er, daß der streng bewachte Häftling niemand anders ist als Iwanuschka, der Kaiser, der heimliche Kaiser. Mirowitsch beschließt, den Kaiser zu befreien. Ganz allein und auf eigene Faust will er den Kaiser befreien, dann ist er reich, geehrt, kann wieder rauchen, trinken und Karten spielen. Schlägt’s fehl, so schlägt’s fehl; er ist ja auch so ein verlorener Mensch.« »Er ist ein Narr, dieser Mirowitsch«, sagte Erwin trocken; »wie fängt er denn das an, – ganz allein?« »Ja, ganz allein«, fuhr Ulrich Zimmermann fort, der unter der Gewalt seiner Eingebung erglühte. »Er verfaßt Ukase und Manifeste im Namen des künftigen Zaren. Unter seinem Kopfkissen liegen schon alle Papiere, die Kundgebung an das Volk, die Form der Eidesleistung, der Befehl an die Regimenter. Er hat keine Teilnehmer, keine Mitwisser, keine Genossen, als er eines Nachts mit seiner Kompagnie die Wache in der Festung bezieht. Alles ist in mitternächtlicher Ruhe, da greift Mirowitsch zu Schärpe, Degen und Hut, rennt in die Wachtstube und schreit: ›Zu den Waffen!‹ Seine Soldaten gehorchen. Der Kommandant stürzt im Schlafrock auf die Treppe und fragt: weshalb stellen sich die Leute ohne Befehl in die Front und laden die Gewehre? Mirowitsch schlägt ihn nieder. Er begibt sich an die Spitze seiner Truppe, und auf den Ruf der Schildwache antwortet er: ›Ich gehe zum Kaiser‹. Die Schildwache schießt, Mirowitsch läßt gleichfalls feuern, aber kaum ist die erste Salve abgegeben worden, so sind die beiden Offiziere, die Iwans Leibwache bilden, bei dem Gefangenen eingedrungen und haben ihm den Degen ins Herz gestoßen, denn dazu sind sie ermächtigt. Der eine dieser Mörder begegnet Mirowitsch und seinen Leuten auf der Galerie. Mirowitsch zwingt den Mann, ihn zum Kaiser zu führen. Die Tür der Kasematte wird geöffnet: es ist finster drinnen. Man holt Fackeln. Auf der Diele liegt ein toter Körper, schwimmt Iwan Antonowitsch in seinem Blut. ›Ihr Elenden,‹ ruft Mirowitsch, ›weshalb habt ihr das Blut des Kaisers vergossen?‹ ›Was das für ein Mann war, wissen wir nicht,‹ ist die Antwort, ›wir wissen nur, daß er ein Gefangener war.‹ Selbst die Soldaten erbeben bei dem schrecklichen Anblick. Mirowitsch tritt an die Leiche heran, kniet nieder, küßt die Hand und den Fuß Iwans, denn jetzt, erst jetzt ist er zum Vasallen dieses Menschen geworden, der bis zu dieser Frist nur das Merkziel seines Ehrgeizes war. Er läßt den Leichnam in feierlicher Prozession durch die Festung tragen, und der volle Generalmarsch ertönt. Nochmals küßt Mirowitsch die erkaltete Hand und spricht: ›Seht, Brüder, das ist unser Kaiser Iwan. Wir sind aber nicht glücklich, sondern unglücklich zu heißen. Und schuldig bin nur ich, ich trage die Verantwortung für euch alle.‹ Damit war der Aufstand zu Ende, die Truppen der Kaiserin überwältigten Mirowitsch’ Schar, und Mirowitsch wurde hingerichtet. Er starb mit Heldenmut und Größe. Als das Volk den Kopf in der Hand des Scharfrichters sah, ertönte ein lautes Ach, und die Menge erzitterte so, daß die Newabrücke schwankte und das Geländer abfiel.« Ulrich Zimmermann schwieg; er erhob sich und wanderte umher. »Ich verstehe ungefähr,« sagte Erwin nach einer langen Pause, »ich verstehe den Impuls ...« »Sie müssen es empfinden, Erwin! empfinden müssen Sie’s!« versetzte Ulrich schon in der Angst vor der Verstimmung, welche bei Künstlern den Stunden des Enthusiasmus und des Vertrauens folgt. »Ganz allein begibt sich Mirowitsch an ein Unternehmen, das aussichtslos, das vollkommen bodenlos ist. Ganz allein steht er da gegen einen Staat, gegen eine Welt. Und nicht darum handelt er, weil er überzeugt ist von der Größe seiner Tat, nicht weil er den Menschen dienen will, nicht weil sein Inneres ergriffen ist von Mitleid, Ehrfurcht oder Liebe, sondern weil er sich nach Ämtern sehnt, weil er rauchen, trinken und Karten spielen will. Er ist eitel, genußsüchtig und streberisch. Aus Eitelkeit, Genußsucht und Streberei ersinnt er den vermessensten aller Pläne. Eitelkeit, Genußsucht und Streberei begeistern ihn zu einer Tat, die innerlich hohl ist, aber alle Züge der Genialität aufweist: Kühnheit, Selbstverleugnung, Opfersinn und Leidenschaft. Und zuletzt, als ob die Tat sein Schicksal geadelt hätte, wird aus dem gesetzlosen Schwärmer und selbstsüchtigen Besessenen etwas wie ein Held. Denn zuletzt muß er lieben. Das ist’s; unterliegend muß er lieben. Indem er zusammenbricht, trifft ihn eine Ahnung des Wirklichen, weil sein Herz erwacht, weil er liebt. Darin liegt der Kern: daß er liebt, wenn es zu spät ist. Denn die Liebe hätte ihn vielleicht gelehrt, zu entsagen. Aber Mirowitsch kann nicht entsagen. Er will rauchen, trinken und Karten spielen; er will Ehren und Auszeichnungen. Niemals wird Mirowitsch entsagen.« Erwin sah den jungen Schriftsteller aufmerksam an. »Und das ist die Frucht, die Amerika in Ihnen gereift hat?« fragte er. Ulrich Zimmermann zuckte zusammen. »Amerika? Nein. Das Leben. An jeder Straßenecke seh ich einen Mirowitsch, auf jeder Tribüne, in jedem Konventikel, in jedem Kaffeehaus, alte und junge, heimliche und bekennende, freche und heuchlerische, führende und verführte.« »Also doch eine Allegorie; und wieder eine Allegorie«, entgegnete Erwin kopfschüttelnd. »Was ist mir Hekuba? Was ist mir eine Schlüsselburger Kasematte von siebzehnhundertsiebzig? Was ist es gegen unsre Not, unsern Hunger, unsern Wahn, unsere Leiden? Wieder ein Schwächling, wieder ein Schatten! Und der Befreier sein soll und Prophet, schließt sich in ein Antiquitätenkabinett ein. Ach, Ulrich, Ulrich! Ich habe Sie nach Amerika geschickt, in das Land des Lebens und der Zukunft, damit Sie Botschaft des Lebens und der Zukunft bringen, und nun studieren Sie Leichen und wühlen in der Vergangenheit. Aber tun Sie, was Sie müssen, vielleicht bin ich im Unrecht, denn ich liebe und bewundre zu sehr unsere Gegenwart, diese Zeit, deren Geschöpf ich bin!« Ulrich Zimmermann war bleich geworden und starrte unbeweglich auf den Teppich. Seine Not? Seine Leiden? wo sind sie? dachte er. Nicht zum erstenmal legte sich diese gebieterische Hand über die Schwingen seines Geistes. Er sah sich unbegriffen aus Herrschsucht, das spürte er und wagte es doch nicht zu glauben. Er war ohnmächtig zum Widerpart, weil er in Abhängigkeit war. Dafür gab es kein Gericht; es lag in Abgründen, in die niemals die Leuchte gegenseitiger Verständigung dringt. Sein Werk büßte den Hauch der Wahrheit ein, es wurde feindselig und gewöhnlich. Was kann ich schließlich verlieren? dachte er in seiner Melancholie, mich selbst kann ich nicht verlieren. Aber indem er so dunkel bewegt in das Antlitz des Freundes blickte, schauten ihn zwei Augen an, zwei Augen wie offenbarte Rätsel. Und wie es eine Minute gibt, wo die Mutter zum erstenmal das Kind in ihrem Schoß sich regen fühlt, so erblühte jetzt in seiner Phantasie, aus Hemmung und Zweifel heraus, das neue, beredte, beängstigend nahe Bild seiner Schöpfung und seiner Gestalt. Doch Lust und Qual ward hier zu einem; denn er liebte Erwin, er war ihm tief verpflichtet und mußte zum Verräter werden durch den Zwang eines zweiten Gesichts. So wie er mit schlechtem Gewissen hinwegging, ließ er den anderen unzufrieden und verstimmt zurück. Es lagen zwei leere Stunden vor Erwin, das Unerträglichste von allem: leere Stunden. Da sein Körper von gefesselter Kraft ungeduldig war, begab er sich zu Salviati und focht mit dem Säbel, bis ihn der Schweiß überströmte und er erschöpft in einen Sessel fiel. Dann ging er in die Universität und arbeitete bis acht Uhr über einer altenglischen Handschrift. Für acht Uhr hatte er den Wagen bestellt, er fuhr zum Souper in den Klub und dann nach Hause. Das Fahrzeug schnarrte mit vierzig Kilometer Geschwindigkeit durch die schon verödeten Gassen, als ob es groß was gälte. Wichtel meldete, der Herr Graf Palester warte in der Bibliothek. Erwin trat ein; Palester lag lang ausgestreckt, blaß und regungslos auf einem Diwan und schlief. Widerlich, einen Mann schlafen zu sehen, dachte Erwin, indem er auf das edle Gesicht und die schlanke Gestalt des Grafen niederschaute wie auf einen Leichnam, den er sezieren sollte; schlafen, starr daliegen, dachte er, nichts von sich wissen, träumen, was man nicht träumen mag, und noch dazu gesehen werden, ist das menschenwürdig? Er zündete eine kurze Pfeife an und paffte mit düsterem Gesicht. Er wähnte sich unbeobachtet, und sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr. Plötzlich gewahrte er, daß die kobaltblauen Augen des Grafen still und ernst auf ihn gerichtet waren. Er erwiderte den Blick und lächelte freundlich. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte Palester und erhob sich, »ich war ein wenig müde.« »Ganz nach Bequemlichkeit, Graf. Wollen Sie etwas zu sich nehmen?« »Eine Tasse Tee, wenn ich bitten darf.« Der Tee stand längst auf dem Tisch, und die beiden jungen Leute hatten außer den förmlichen Redensarten noch kein Wort gewechselt. »Schöne Person, außerordentlich schöne Person«, unterbrach auf einmal Palester das Schweigen mit seiner melodischen Stimme. Erwin drehte langsam den Kopf herüber. »Wen meinen Sie?« fragte er abweisend. »Nun, dieselbe, die Sie meinen«, antwortete der Graf ruhig. Erwin entgegnete lange nichts. Dann sagte er spöttisch: »War das eins von Ihren okkultistischen Kunststücken?« »Nein.« Palesters Augen schimmerten plötzlich grün. Augen, wie er sie besaß, können weder lachen noch weinen. Es sind Deuteraugen, Adeptenaugen, die Augen des Letztgeborenen eines ermüdeten Geschlechts. »Klären Sie mich auf, Erwin,« begann er nach einer Weile; »ein Mann wie Dalcroze, der doch sicherlich seine fünf Sinne beisammen hat, entschließt sich freiwillig zu einer so langen Trennung von einer Frau, wie es diese Virginia ist. Zwei Jahre! Der zwanzigste Teil von dem, was ihm das Leben im besten Fall noch bewilligen wird! Warum hat er sie nicht mitgenommen? Ist das Stumpfsinn oder Ahnungslosigkeit? Daß er den ungeheuern Glücksfall, Welt, wirkliche Welt, fremde Länder, erhabene Natur zu schauen, nicht würdigen kann, weil ihn die Sehnsucht blind machen wird, ist für mich ohnehin zweifellos.« »Manfred ist vorläufig noch nicht reich genug, um einer Frau das bieten zu können, was er ihr bieten möchte«, erwiderte Erwin sachlich. »Er wollte zunächst seine Examina hinter sich haben, wollte Lebensgewißheiten erringen, dann kam das mit seiner Lunge; die Krankheit auszuheilen, erschien ihm gegen Virginia als Pflicht, und da er als Mitglied einer wissenschaftlichen Vereinigung reist, mußte er allein bleiben. Was ist da zu verwundern?« »Es ist, als ob einer den kostbarsten Diamanten auf einem Wirtshaustisch liegen ließe«, murmelte Palester. »Die kostbarsten Diamanten sind wertlos für die Diebe,« versetzte Erwin, und da Graf Ottokar lächelte, fügte er hinzu: »Es müßte denn ein Dieb sein, der nicht aus Habsucht stiehlt, sondern aus Kennerschaft und Liebhaberei. Da aber die menschlichen Diamanten ihren Besitzer nicht willenlos zu wechseln pflegen, wäre für solch einen Dieb ein Handgriff nicht genug, er müßte streitbar auftreten und aus einem Eskamoteur zum Eroberer werden. Wir befinden uns hier auf der Grenzscheide der Begriffe Raub und Krieg.« Palester schwieg. Er lehnte den schmalen Kopf hintüber und blickte zur Büste Athenes empor, deren fleischgelber Marmor auf einem Büchergestell leuchtete. »Sie haben recht«, begann Erwin wieder, der aufgestanden war und vor dem Kamin hin- und herging wie ein Leopard. »Das ist einmal ein Gesicht und nicht bloß eine lebendige Attrappe. Wie herrlich, in ein Gesicht zu schauen, in ein Menschenantlitz! Die Natur verleugnet plötzlich ihre sonstige Flickschneiderei und Falschmünzerei, ewiges Eis schmilzt von unseren Herzen, die Blutadern sind symphonisch gestimmt. Haben Sie das Mädchen beobachtet, Graf? Die Bewegung? Wie wenn ein Mittagshauch übers reife Korn läuft. Der Schritt! Als ob die Erde sich gefällig böge. Wie sie tanzte, großer Gott, wie sie tanzte! So ein Leib wird zum Mysterium, seine Haut ist die schimmernde Wand vor dem Unerforschlichen.« Palester rührte sich nicht. Er schloß die Augen bis auf einen engen Spalt. Der rötlich gelbe und gegen die glattrasierten Wangen scharf abgeschnittene Kinnbart sah auf dem zarten Gesicht wie aufgeklebt aus. »Und zu denken,« fuhr Erwin fort, erregt, leise und oftmals stockend wie in einem Selbstgespräch, »zu denken, daß dieser sanfte und standhafte Blick aufgewühlt werden kann zum Verlangen; daß das gemessene Spiel dieser Gebärden dem Rhythmus der Leidenschaft folgt; zu wissen, daß diese vollendeten Linien durch eine Begierde zu großartiger Entfaltung gebracht werden können, daß eine Flamme diese kühlste Stirn übermalen wird, daß diese Schultern zittern, diese Lippen herrlich geöffnet sein, diese blauen Adern stürmischer pulsen, diese tugendhaften Haare ungekettet fließen werden, daß es eine Macht gibt, um diese beschlossene Ruhe in alle Grade der Unruhe zu verwandeln: von der Erwartung zur Sehnsucht, von der Sehnsucht zur Beklommenheit, von der Beklommenheit zur Qual, von der Qual zur Entselbstung und nun hinab- und hinaufgeschleppt in die Abgründe der Schwermut und auf den Gipfel des Glücks! Das zu denken! Das zu denken!« »Genug, Erwin, genug!« flüsterte der Graf kaum hörbar. »Genug? Warum genug? Niemals genug! Niemals!« »Und Manfred?« Erwin runzelte finster die Brauen. »Manfred! Manfred besitzt nicht die Macht, von der ich rede. Manfred hat sich mit dem ersten Anfang des Phänomens begnügt. Er hat Virginia bis an den Rand des Feuers geführt, um ihr zu sagen: verbrenne dich nicht. Er hat furchtsam den Kopf abgewendet und ihre Hände gefaßt und nicht gespürt, daß sie das Feuer wollte und daß sie von ihm erwartete, er möge ihr Sträuben besiegen. So sind sie stehen geblieben, in Angst voreinander, und haben nicht gewagt, Menschen zu sein, und haben das Paradies nicht betreten, aus Besorgnis, daraus vertrieben zu werden. Das sind Philisterdinge, Graf, Philistergeschicke. Die Fügung hat diesem feinnervigsten aller Philister ein Himmelswunder von Weib beschert, die heiter spielende Kreatur, ein Wesen, geschaffen zur Hingabe und sinnlichen Verwandlung, und er? Er führt sie bis dorthin, wo Ahnung noch nicht Gewißheit ist, wo der gestörte Schläfer nicht mehr schlafen und auch nicht mehr träumen kann. Ich sehe, ich fühle ja das alles, und es läßt mich nicht. Es geht über meine Kraft, den Diamanten auf dem Wirtshaustisch liegen zu lassen. Welch eine Glorie, diese aufgesparte Fülle, denn die Schönheit ist wie das Genie eine Krönung, ein Friedensschluß im Zwiespalt der Generationen, diese Fülle aus ihren Hülsen und Bollwerken zu treiben! Man müßte so wenig Phantasie haben wie ein Frosch, um Einwänden Gehör zu schenken, die nur für Schwachköpfe und Feiglinge eine Schranke sind. Da haben Sie mich, Graf, da haben Sie mich mit Haut und Haar.« Palester öffnete die Lider und schaute Erwin mit einem tiefen und sonderbar gütigen Blick an. »Sie irren«, erwiderte er. »Ich habe Sie nicht. Weder die Haut noch das Herz. Sie sind nicht zu haben, Erwin, das wissen Sie vielleicht selber kaum. Man besitzt Sie nicht, und Sie besitzen nichts; niemand und nichts.« Erwin lächelte. Der Graf fuhr fort: »Aber das ist hier kein Argument. Mein Argument besteht aus drei Worten: Virginia liebt Manfred. Gegen Liebe kämpft auch ein Gott vergebens.« »Virginia liebt Manfred«, wiederholte Erwin. »Liebt! Ja, es ist unleugbar. Aber diese Liebe ist unvollendet und kein besiegeltes Schicksal. Zwischen Manfred und Virginia ist viel unerforschtes Terrain, das meine Neugier reizt. Nichts weiter. Es gibt kein Gefühl in der Welt, das für einen darauf gerichteten Willen nicht hervorzubringen wäre. Ja, das Gefühl wird mit dem Willen schon geboren, und nicht nur in der Bruder- und Schwesterseele, sondern in jeder Seele, sogar in jedem Element. Wo zwei Menschen beisammen sind, ist das Gefühl in der Brust des einen schon Zwillingskind. Jede Leidenschaft kann erzeugt, kann zerstört, kann übertragen werden. Es ist eine Frage der geistigen Energie und der Fähigkeit, Illusionen hervorzubringen oder vorbestimmte Illusionen zu ersetzen.« Palester mußte lachen über den ernsthaft dozierenden Ton, der eine Schelmerei zu enthalten schien. Erwin stimmte in die Heiterkeit mit ein. »Sie beruhigen mich vollkommen«, sagte Graf Ottokar herzlich. »Sie sind ein famoser Logiker und, was mehr bedeutet, Sie haben Humor. Das beruhigt mich wieder. Dieser Homunkulus in der Retorte ist eine possierliche Sache.« Erwin lachte abermals, und hell wie ein Kind. »Was würden Sie zum Pfand setzen, Graf, gegen das Gelingen meines Experiments?« fragte er übermütig. »Alles was Sie wollen«, antwortete Palester gelassen. »Auch die Froweinschen Miniaturen?« Palester stutzte. »Auch die Miniaturen«, versetzte er dann achselzuckend. Erwin sah ihn aufmerksam an und gewahrte in den Zügen Palesters jenen Ausdruck mystischer Versunkenheit, der ihm zuweilen lächerlich, zuweilen übernatürlich erschien. Dann fragte er: »Soll das gelten? Sie verkaufen mir die Miniaturen an dem Tag, an dem ich Ihnen beweisen kann, daß mein Versuch gelungen ist?« »An diesem Tag würden Sie die Miniaturen allerdings erhalten.« Palester erhob sich. »Was für Scherze, was für Spiele«, sagte er lächelnd und mit leichtem Mißbehagen. »Aber es ist spät, ich muß nach Hause.« »Übernachten Sie doch bei mir«, schlug Erwin vor. Der Graf schüttelte den Kopf und verbeugte sich dankend. Erwin hatte plötzlich ein Verlangen, zu wissen, was es mit den geheimnisvollen Umständen dieses Mannes auf sich habe, und er fragte unbefangen, ob er ihn einmal besuchen könne. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, entgegnete Graf Ottokar mit kaum merklichem Widerstreben; »aber Sie müssen sich vorher anmelden, sonst bleibt das Tor versperrt.« Als sein Gast gegangen war, wanderte Erwin in dem weiträumigen Zimmer auf und ab. Er verlöschte die elektrischen Flammen bis auf eine einzige Glühbirne neben dem Schreibtisch. Seine Mienen zeigten eine gewisse Anstrengung, doch nicht die Anstrengung des Nachdenkens, sondern die der Erwartung oder der Ungeduld vor dem Erreichen eines Ziels. Auch mit den Schultern machte er bisweilen kleine ungeduldige Bewegungen. Manchmal blieb er stehen, und seine Hände preßten sich zu Fäusten zusammen. Da fiel sein Blick auf ein Tanagrafigürchen, das auf dem Lesetisch stand. Dieses Figürchen hatte die reizendste Gestalt, die sich denken läßt, und ein Köpfchen von entzückender Lieblichkeit. Doch fehlten ihm die Arme. Erwin nahm es in die Hand, auf seine Lippen trat ein dünnes, unschlüssiges Lächeln, und der sonderbar angestrengte Ausdruck seines Gesichtes verstärkte sich. Er warf sich in einen Sessel, stellte das Figürchen auf den Rand des Tisches vor sich hin und heftete nun den magisch gehaltenen Blick mit der äußersten Steigerung jener Anstrengung länger als eine halbe Stunde darauf. Er wurde blaß, und seine Augen nahmen eine schwarze, glanzlose Färbung an. Allmählich ermüdete sein Blick; er sprang empor, stellte das Figürchen auf den Handteller, und seine Lippen schoben sich verlangend vor. Verlangen und Hingerissenheit drückte sich auch in seiner Haltung aus, und sein Blick war immer noch befehlend, erfüllt von der magischen Faszinierung. Er wollte das Figürchen an einen entlegenen Platz bringen; während seines Schreitens entfiel es ihm und lag nun vor seinen Füßen auf einer vom Teppich nicht bedeckten Stelle; mit abgebrochenem Kopf lag es vor ihm da. Läßt sich eine Beziehung zwischen einer solchen Handlung und einer Schläferin denken, die fern davon weilt? Ein Strom der Angst, der Bezauberung, der Ahnung, der durch Häusermauern dringt? Zur gleichen Zeit hatte Virginia folgenden Traum. Sie stand allein auf einer Art von Terrasse über dem fünften Stockwerk eines brennenden Gebäudes. Es gibt keine Treppe mehr, die Ausgänge sind verschwunden, ringsum liegen rauchende Aschenhaufen. Sie steht am Dachfirst und schaut in die Tiefe hinunter; auf der Straße ist es, als ob nichts geschehen wäre; Wagen fahren und Leute gehen wie sonst. Sie ruft um Hilfe, doch niemand hört es. Wieder und wieder ruft sie um Hilfe, aber plötzlich merkt sie, daß sie gar nicht wirklich um Hilfe ruft, sondern daß sie nur die Absicht hat, und daß ihr das Wort nicht einfällt. Jetzt winken einige Leute herauf, so teilnahmslos, daß ihr das Herz stille steht. Da klettert an der zerbröckelnden Hauswand mit wunderbarer Geschicklichkeit Erwin Reiner herauf. Sie ist ziemlich verlegen, denn sie erinnert sich, daß sie nur notdürftig bekleidet ist und daß sie eine Schürze anhat, der die Taschen fehlen. Hinter ihr ist eine riesige Sandsteinstatue. Mit geheimnisvollem Wesen erklärt ihr Erwin, daß unter dieser Statue ein verborgener Gang auf die Straße führt; der Kopf der Statue sei drehbar, und nur er unter allen Menschen könne den Hebel finden, durch den sich der Kopf drehen läßt und der Gang sich öffnet. Sie befindet sich mit ihm in dem finstern Gang. Er schweigt. Sein Schweigen ist furchtbar. Sie ruft ihn, doch sie vergißt seinen Namen, während sie ruft. Jetzt fällt ihr das Wort Hilfe ein, und sie ruft um Hilfe. Rufend erwachte sie. Von da ab litt sie viel von Träumen, und das Merkwürdige war, daß auch Manfred von Träumen schrieb, deren ungreifbarer Sinn ihn schmerzlich beschäftigte. Das Perlenhalsband Es war eine Woche verflossen, ohne daß Erwin sich in der Piaristengasse hatte sehen lassen. Als er endlich zur gewohnten Stunde kam, vermochte sich Virginia eines beengten Verpflichtungsgefühls nicht zu erwehren. Erst seine heitere Freiheit gab ihr Ruhe. Er erkundigte sich nach ihrer Arbeit, und Virginia berichtete, daß sie sich an einer Intarsia versuche, daß es viel Mühe koste, die verschiedenen Holzarten, der Färbung und Faserung entsprechend, zusammenzustellen, daß aber das Schneiden und Schnitzen sehr anregend sei. Erwin entgegnete, er finde das Bestreben, eine kunstgewerbliche Fertigkeit auszubilden, bei einer Frau erfreulicher als den Trieb nach schöpferischer Gestaltung; »übrigens,« fuhr er fort, »besitze ich eine ausgezeichnete Intarsia eines modernen Franzosen, der das Material in einer besonders lehrreichen Manier behandelt. Wollen Sie sie nicht anschauen?« Virginia erwiderte, das möchte sie gerne. »Sie können daraus Nutzen ziehen«, sagte Erwin. »Kommen Sie doch gleich mit mir«, schlug er vor, indem er sich erhob. Virginia zögerte mit der Antwort. »Das geht doch nicht«, versetzte sie ein wenig erstaunt. »Das geht nicht?« fragte Erwin, anscheinend noch viel erstaunter, »warum geht es denn nicht? Ach so,« fügte er hinzu und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, »Sie meinen, daß wir eine Aufsichtsdame nötig hätten! Verzeihen Sie, es war ein freundschaftliches Anerbieten, und auf die Ohrfeige war ich nicht gefaßt.« Er griff nach seinem Hut. »Finden Sie denn wirklich,« mischte sich Frau Geßner, die Zeugin dieses Wortwechsels war, zaghaft ein, »daß ein junges Mädchen so ohne weiters einen jungen Mann in seiner Wohnung besuchen darf?« »Nein, teure Mama, absolut nicht,« antwortete Erwin mit höflichem Ernst. »Ich finde auch meine Besuche bei Ihnen durchaus ungehörig. Doktor Zimmermann hat Ihnen ja bewiesen, wie gefährlich das ist. Ein junges Mädchen darf niemals den Abgrund zwischen Mann und Weib vergessen, und wahrscheinlich gibt es kein neutrales Gebiet für ihre Gedanken und ihre Arbeit. Wahrscheinlich ist es ein Verbrechen, wenn sie die Sorge um ihre körperliche Unbescholtenheit außer acht läßt. Man kann ihr nicht so viel Stolz und Überlegenheit zumuten, daß sie sich sagt: was ich tue, hat sein Gesetz und seine Rechtfertigung in sich selbst. Das ist vollkommen in der Ordnung. Nur wäre es ehrlicher und für mich weniger erniedrigend, wenn man mir gleich sagen würde: gib deinen Handkuß und rede nicht von Philosophie.« Ohne Zweifel wußte Erwin, welche Beschämung er mit diesen Worten bei Virginia hervorrief. Nie war sein Auge funkelnder, seine Beredsamkeit hinreißender, seine Gebärde zwingender als in Momenten, wo er durch Kundgebungen des Zornes und der Verachtung das Bild eines zürnenden und verachtenden Mannes bot. Sein Blick eilte erobernd durch den Raum und schien einen Widerstand zu suchen, an dem er seine Macht erproben konnte, nur Widerstand, sonst nichts. Virginia ihrerseits sah ein, daß sie einen Fehler begangen, aber auch, daß man ihn über Gebühr an ihr rächte, denn dieser kalte Hohn verletzte sie tief. Sich verletzt zu geben erschien ihr zu harmlos und zu klein; am besten war es, die Beleidigung zu überhören; ihm gehorsam zu willfahren, widerriet ihr ein ahnungsvoller Instinkt. Dennoch entschloß sie sich, ihm zu folgen, und obwohl ihr Auge abweisend glänzte, sagte sie mit dem Ton eines gemahnten Schuldners in der Stimme: »Ich gehe mit Ihnen.« »Bravo, Virginia!« rief Erwin. »Aber womit soll ich die rasche Sinnesänderung büßen?« fügte er sanft hinzu. »Lassen wir’s doch heute. Die Vernunft hat gesiegt, mehr kann ich nicht wünschen. Schließlich, man besucht mich, wie man in ein Museum geht.« Aber Virginia hatte den Hut aufgesetzt und sagte mit ruhigem Lächeln: »Ich bin fertig.« Frau Geßner, die nicht immer verstand, was Virginia tat, sah neugierig zu. Schweigend gingen sie die weiße Wendelstiege hinab. Es war etwas Mutiges in Virginias Schritt, von ihrem Hut hing ein blauer Schleier herab, dessen Enden beim schnellen Gang über die Schultern flatterten. Fast war Erwin versucht, diesen Schleier zu packen, wie wenn er dadurch Virginia lenken könnte. Im Vorderhof schlich eine Katze. Virginia blieb einen Augenblick stehen und lockte sie. An Tieren und an Blumen konnte sie nicht vorübergehen ohne eine kleine Zwiesprache oder liebkosendes Betrachten. Eine halbe Stunde später waren sie am Ziel. Die Villa Erwins war ein Bau aus der Kongreßzeit und hatte einem mächtigen Staatsmann jener Tage als Ruheort gedient. Ihre äußeren Verhältnisse, streng und gefällig zugleich, erstrebten eine vornehme Anpassung an ländliche Umgebung. Das Innere des Hauses überraschte sowohl durch die Zahl als auch durch die Tiefe und Wucht seiner Räumlichkeiten. Von der hohen, aber etwas düsteren Eingangshalle führten fünf Türen zu den Gemächern des unteren Stockwerks und eine breite, zweimal geeckte Holztreppe mit flachen Stufen in die des oberen. Der Empfangsraum, dessen Stil und Ausstattung an Sanssouci erinnerte, hatte gegen den ausgedehnten Park eine ovale Wand; eine große, mit geschliffenen Scheiben versehene Glastür bildete den Zugang zur Freitreppe. Zur Linken befanden sich das Speisezimmer, das Musikzimmer und einige reich ausgestattete Boudoirs, zur Rechten die Bibliothek und die Räume für die Sammlungen. Erwins Privatgemächer, die Fremdenzimmer und die eigentliche Gemäldegalerie lagen im oberen Stock. »Mein Gott, so viele Bücher!« rief Virginia aus, als sie durch die Bibliothek gingen, und ein achtungsvoller Blick streifte ihren Begleiter. Erwin lächelte; er führte sie in das nebenan gelegene Zimmer, das mit grünem, gepreßtem Leder tapeziert war. Er läutete dem Diener, raunte ihm einen Befehl zu, sodann öffnete er einen mächtigen Ahornschrank und nahm die Intarsiatafel heraus. Virginia betrachtete sie mit Aufmerksamkeit. Ihre Bemerkungen verrieten neben echtem Verständnis die amüsante Trockenheit eines eifrigen Schülers. »Warum hängen Sie es nicht auf?« fragte sie. Er erwiderte, er habe keinen Platz mehr, auch gebe es gewisse Dinge, für die er sein Auge nicht abstumpfen wolle, so wie ein Feinschmecker den Genuß gewisser Köstlichkeiten für seltene Anlässe verspare. Von Erwin auf einige Einzelheiten der Ausführung hingewiesen, meinte sie seufzend: »Was werden Sie da zu meiner Stümperei sagen?« Er bestätigte ohne Tröstung: »Mit den Meistern wetteifern ist schwer.« Nun zeigte er ihr die Bilder, die er besaß, die Plastiken, die Keramiken und schleppte Mappen mit Stichen, Radierungen und Handzeichnungen herbei. Er zeigte ihr die Vasen, die Münzen, die Schnitzereien aus Elfenbein, die Porzellanfiguren, die Fayencen, die Teppiche, die Stoffe, die alten Spitzen und Stickereien, die Gemmen und Kameen, die Ringe, Ketten, Dosen und Petschafte. Er hatte eine erlesene Sammlung von Halbedelsteinen, die sich in verschließbaren Kristallgläsern befanden, und die er mit den sorgfältigen und liebevollen Handbewegungen eines Juweliers vor ihr ausbreitete, um das Licht in ihnen spielen zu lassen, ihre Herkunft zu erklären und den Zauber, den sie auf ihn ausübten. Da war der zeisiggrüne Pistazit, da waren veilchenblaue, pflaumenblaue, nelkenbraune Amethyste; »Amethyst bedeutet rauschverhütend,« sagte er, »und ist ein Mittel gegen alle Art von Trunkenheit.« Da war der Korund, der aus Ceylon stammt, und der Onyx, der seinen Namen von der rosigen Farbe des Fingernagels hat; da war der blutige Karneol vom alten Stein, der apfelgrüne Chrysopras, der an dunklen Orten verwahrt werden muß, das Tigerauge, das einen schönen, wogenden Lichtschein aussendet, der perlmutterglänzende Kascholong, der Serpentin, der als Mittel gegen Schlangengift gilt; da waren Smaragde, Berylle, Turmaline, der tiefschwarze Granat von Arendal und der weinrote indische Rubin. Er zeigte ihr ein riesiges Herbarium und ein Dutzend Schachteln, voll von wunderbaren Schmetterlingen. In zehn Schubladen eines niedrigen Kastens lagen seltene Mineralien, und in einer Vitrine standen ausgestopfte Paradiesvögel und Kolibris, deren Gefieder so schön war, daß Virginia beim Beschauen vor Lust errötete. Es war ihr zumut, als ob dieser Mann mit allen Dingen der Erde auf Du und Du verkehre; die Natur schien so wenig wie die Kunst Geheimnisse vor ihm zu haben. Ihre Augen wurden immer größer, und wenn er sie bei ununterbrochener Rede anblickte, sagte sie immer nur »ja«, – »ja«, – »ja«, wie ein gehorsames Kind. Um die Folge der Sehenswürdigkeiten durch Bildnisse der Menschen zu vervollständigen, die er schätzte oder die in seinem Dasein eine Rolle gespielt, zeigte er ihr auch viele Photographien von Männern und Frauen. Jene waren Virginia gleichgültig; die eine oder andere Berühmtheit sprach sie mit zu alltäglicher Miene an, als daß sie Teilnahme oder gar Ehrfurcht hätte empfinden können. Nur bei dem Porträt eines Schauspielers verweilte sie, eines Mannes von Gaben und menschlichem Belang, wie alle spürten, die nur einmal den Klang seiner unvergeßlichen Stimme gehört hatten. Virginia fand, daß er Manfred ähnlich sehe. »Sie kennen ihn?« fragte sie neugierig. Erwin runzelte die Stirn und entgegnete mit einem Anflug von Ungeduld: »Ja gewiß; ich kenne ihn. Ein Komödiant, nur verführerischer als die anderen.« Virginia legte das Bild hastig beiseite. Mit wärmerem Gefühl betrachtete sie die Frauengesichter. Mit einer Scham, deren sie sich schämte, weil sie die Ursache nur dunkel empfand, mit Bedauern, mit Kränkung, mit vorwurfsvoller Verwunderung, denn sie wußte schließlich doch, was sie von ihnen zu halten hatte. Viele traurige Augen; schöne, aber traurige Augen. Sie schauten so stumm; sie hatten so mancherlei erlebt. Was mochte begehrenswert an ihnen sein, da sie jedes Begehren zu erfüllen so schnell bereit gewesen waren? Virginia war unentschieden, wie sie die Schaustellung nehmen sollte, Widerwillen erwachte in ihr, doch Erwin beraubte sie jeder Gebärde der Abwehr, da er von ihnen sprach, wie er von den Steinen, den Münzen, den ausgestopften Vögeln gesprochen. Er schilderte ihre Hände, ihre Haare, ihren Gang und die Art ihres Temperaments. Er verwies auf einen Mißklang zwischen Stirn und Mund, was auf einen von gefangener Sinnlichkeit beunruhigten Geist deutete. Bei dem Worte Sinnlichkeit, wie er es aussprach und betonte, spürte Virginia einen Schauder über den Nacken rieseln. Vom Schicksal redete er nicht. Er wiederholte sich niemals. Hierin unterstützte das Gedächtnis den Geschmack. Der Diener bat zum Tee. Virginia folgte der Aufforderung mit einer beinahe drolligen Artigkeit. Das reiche elektrische Licht des Bibliothekssaals blendete sie. Erwin gegenübersitzend, erschien sie sich in dem großen Raum verhängnisvoll einsam mit ihm. Er machte mit vollendeter Anmut den Wirt und bot ihr auf silberner Platte Süßigkeiten. Sie sagte, daß sie nachmittags nie etwas esse, aber vor der duftenden Verlockung kam der Grundsatz ins Wanken. Da es ein wenig kühl im Zimmer war und Virginia fröstelte, holte Erwin einen kostbaren indischen Schal und umhüllte ihre Schultern damit. Unter seltsamem Prickeln ward sie sich bewußt, daß ihr Stoff und Farbe außerordentlich gut zu Gesicht standen. Ihre Augen glühten froher. Erwin konnte es gewahren. Er konnte beobachten, daß ihr Auge, wenn es behaglich oder durch die Freude erregt war, innerhalb des Sterns eine grünliche Marmorierung erhielt. Dieser Umstand prägte sich ihm ein. Indem er darüber nachdachte, daß es möglich sein könnte, die Veränderung einst ganz, ganz nahe zu genießen, ja, ganz, ganz nahe, Wimper fast an Wimper, bemächtigte sich seiner Gedanken eine eigentümliche, heiße Erstarrung. Erschreckt von einer unwillkommenen Redepause, die Erwin nicht ohne Berechnung auszudehnen suchte, erhob sich Virginia, dankte und reichte Erwin die Hand. Er machte sich anheischig, sie zu begleiten, doch sie schüttelte den Kopf und sagte, sie habe Kommissionen in der Stadt zu besorgen. Er begriff, daß sie allein zu sein wünschte, und fand es förderlich, wenn sie jetzt sich selbst überlassen blieb. So führte er sie in den Flur und half ihr in den Mantel. Beim Abschied sagte er zu ihr mit einem Lächeln, in dem Bitterkeit nur als Erinnerung wohnte: »Ich hoffe, Sie oft bei mir zu sehen, Virginia. Ich bin zuhause nicht gefährlicher als draußen. Sobald Sie hier eintreten, sind Sie die Herrin.« Ein trotziger Blick wollte ihm erwidern; sie ließ den Blick besinnend fallen. Sie ahnte irgendwie einen Triumph in seinen Worten, aber ängstlich erstickte sie die Regung des Widerparts. Hätte er sich nur launisch gezeigt, Launenhaftigkeit gibt Blößen und verleiht dem Trotz als Waffe etwas Spielendes. Aber seine Ruhe, seine despotische Ruhe, seine zarte und zärtliche Ruhe, sein Insichverschlossensein und das Nieversagen, Nieverraten in Wort und Blick, das beirrte sie wie ein Schleier vor einem Spiegel. Unzufrieden erledigte sie ihre Geschäfte und war nicht froher gestimmt, als sie nach Hause kam. Die Wände erschienen ihr kahler als sonst, die Stuben ärmlicher. Was man Gemütlichkeit nennt, ist doch nur die Zuflucht der Armen; so ungefähr dachte sie. Eine Andeutung des geschauten Glanzes stimmte auch die Mutter wünschevoll, von der sie Stillung, ja Zurechtweisung gehofft hatte. »Herrgott, Mädel,« sagte Frau Geßner, »wenn ich so denke! Wenn ich mir so vorstelle, wieviel Reichtum es in der Welt gibt! Sag mir nichts von der Genügsamkeit. Wer genügsam ist, bleibt ewig ein Tropf. Hat man einmal von der Fülle und von der Schönheit gekostet, dann kriegt man den Geschmack nicht mehr los.« Virginia bereute schon. Sie schüttelte stumm den Kopf. »Eigentlich ist’s schade um dich«, fuhr Frau Geßner seufzend fort. »So jung, so frisch, so prächtig! Kein Palast war für dich zu gut. Könntest eine große Dame sein. Lockt dich das nicht, eine große Dame zu sein?« »Mutter!« Es war etwas Abschneidendes und ein ernster Nachdruck in diesem Ruf. Virginia erhob sich, dehnte den Arm und sagte schmerzlich bewegt: »Warum ist er denn fort und warum gar so weit!« Frau Geßner sah beinahe überrascht aus, denn die gute Frau hatte Manfred schon vergessen. Er kam ihr je ärmer und geringer vor, je länger seine Abwesenheit dauerte. Sein schwärmerisches Gesicht war hinabgetaucht auf die andere Seite, die Nachtseite der Erdkugel. Alternde Frauen besitzen nicht mehr die Phantasie des Herzens; sie können lange trauern, doch sie vergessen schnell. Vielleicht auch trug der Einfluß Erwins an solcher Kurzlebigkeit eines durchaus nicht schwächlichen Gefühles Schuld. Denn dieser Mann erfüllte sie mit unbegrenztem Respekt, und ohne daß sie es merkte, hatte sie den Mut verloren, ihm zu widersprechen. Sie hatte niemals einen Mann kennen gelernt, der an Glanz, an Würde, an Bestimmtheit, an Geist, an Liebenswürdigkeit mit ihm sich nur im entferntesten hätte messen können. Sie staunte ihn an, das war alles. Sie träumte von ihm. Er gab ihr einen neuen Begriff von der Welt und von einer Zeit, deren Heraufkunft sie einfach verschlafen hatte. Bisweilen saß sie und dachte darüber nach, weshalb er sie eigentlich eines so ausführlichen Umgangs und so vertraulicher Gespräche für wert hielt. Aber wie tief sie auch grübeln mochte, sie entdeckte keine andere Ursache als seine unverkennbare Seelengüte und eine wahre, freundschaftliche Ergebenheit. Wenn die jungen Leute so viel Herz und Takt haben, sagte sie sich, dann braucht man nicht in Sorge zu sein um die Zukunft der Menschen. Als er ihr den Plan entwickelte, die Geldspekulation in etwas größerem Maßstab zu wiederholen, falls es ohne Wagnis geschehen könne, stimmte sie ihm gläubig zu. Seine Geschicklichkeit täuschte sie vollkommen, und nicht eine Sekunde lang spürte sie die Fessel, mit der sie der Verlocker umschnürte. Es kam ihr nicht unmöglich vor, an der Hand dieses Hexenmeisters zum Wohlstand zu gelangen, und da doch alles für Virginia war, an der sie mit jeder Faser ihres Lebens hing, die sie abgöttisch bewunderte und glücklich, sorglos, beneidet und umworben zu sehen wünschte, hätte sie Argwohn als frevelhaft empfunden. Nichtsdestoweniger wurden die angeblichen Börsengeschäfte vor Virginia vertuscht. Virginia sah nur, daß ziemlich viel Geld ins Haus kam, und daß die Mutter, die ja von Erwin systematischen Unterricht darin erhielt, sich zu ungewöhnlichen Ausgaben sowohl für die Küche wie für die Bequemlichkeit leichten Sinns entschloß. Wohl atmete sie auf, als es nicht mehr notwendig war, mit jedem Kreuzer ins Gericht zu gehen und wieder und wieder mit der Mutter erwägen zu müssen, ob man sich trauen dürfe, dies oder jenes zu kaufen. Aber ihr Gemüt war ahnungsvoll, und wenn sie ihrer zögernden Beunruhigung Worte verlieh, um dem schwer durchschaubaren Wesen Klarheit abzuringen, konnte Frau Geßner äußerst ungehalten werden. »Du bist mißtrauisch von Natur aus,« sagte sie dann erregt, »in dir sitzt das Mißtrauen wie ein böses Gift. Andre würden jubeln, und du gehst herum, als ob man dir was gestohlen hätte. Endlich einmal ein Freund, der’s ehrlich mit uns meint und der Bescheid weiß um die Brunnen, wo gar viele ihren Segen holen. Was geht’s dich an? Dir kommt’s zugute, und du solltest auch ein bißchen dankbar sein können.« Virginia schwieg; sie schüttelte den Kopf in der langsamen und wehmütigen Art, die sie hatte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Solche Worte hätten sie beschwichtigen können, hingegen bei den Liebkosungen und versprechenden Reden der Mutter wurde sie stets zweifelsüchtig. Die alte Ordnung war eben gebrochen, und die neue hatte etwas von schwülem Wind und Gewitternähe. Inzwischen war es Frühjahr geworden, und wie nun die ersten lauen Tage kamen, ließ sich Virginia gern zu gemeinsamen Spaziergängen mit Marianne von Flügel bereit finden. Der lange Winter hatte sie heuer mehr als sonst bedrückt. Sie entfernten sich selten aus dem Weichbild der Stadt; zumeist wandelten sie unter den Bäumen der Ringstraße, betrachteten von einer Brücke aus den Sonnenuntergang, verfolgten das Blätterwachsen und Knospenkeimen von Tag zu Tag, tranken die würzevolle Luft und sprachen vom Sommer. Marianne gab sich als Freundin der Natur und als Flüchtlingin aus der ungesunden Luft ihrer Welt. Mit vieler Kunst gab sie sich so, denn sie erwarb Virginias Zuneigung damit. Was Enttäuschungen und Haß in ihr an Frivolität gesammelt hatten, verbarg sie geschickt, aber da man sich seines Charakters doch nicht entledigen kann wie eines Kleides, und da sie auch keineswegs gewillt war, eine Nonne vorzustellen, brach durch diese Verhaltenheit ein immer kühner werdendes Predigen von Lebensgenuß. Das war der Pakt mit allem Leid und Unbehagen: genießen, genießen, genießen. Nichts unter den Tisch fallen lassen, alles ins Körbchen stopfen, am Ende kommt der Tod, und ein zweites Leben gibt es nicht. Virginia machte bei solchen Verkündigungen große Augen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Genießen, was war damit viel bedeutet? Genoß sie denn nicht auch? Die Stunde, wenn sie gut, den Tag, wenn er schön war, das innere Glück und das äußere Gelingen? Mariannes Reden dünkten sie irgendwie unbescheiden, und sie konnte sich nicht anders helfen, als daß sie durch eine lustige Bemerkung, was sie davon begriff und was sie ahnend abwehrte, ins Hausbackene herabzog. Das fand Marianne zum Küssen, wie sie sich ausdrückte, nahm sich aber doch ein wenig besser in acht. Es dauerte nicht lange, so hörte Erwin von diesen Frühlingsgängen und wünschte teilzunehmen. Nun wurde es ein ander Ding; man flog im Automobil hinaus ins Land, ließ das Fahrzeug auf der Straße stehen und streifte im Wald, über Hügel und durch Täler. Erwin war unerschöpflich in guter Laune, in Scherz, in Aufmunterung, im Erzählen, in Erinnerungen, in Plänen und in Belehrung. Als Vierter im Bund gesellte sich bisweilen Ulrich Zimmermann hinzu. Wenn er stumm und gedankenvoll kam, so taute er doch inmitten des Lachens und Plauderns auf, und niemand bemerkte, daß sich ein Wurm um sein Herz ringelte. Er begegnete Virginia mit einer pagenhaften Ehrerbietung, und so oft eine Verwegenheit in Erwins unbesorgten Worten sie zum Erröten brachte, schwieg er fünf Minuten stille und stapfte mit hastigerem Schritt voraus. An einem strahlenden Apriltag holten Erwin, Ulrich und Marianne kurz nach Tisch Virginia ab. Sie fuhren bis zum Stiftswald und wanderten zwischen Hameau und Rohrerhütte beim roten Kreuz unter Buchen und Fichten und den langnadeligen Föhren, die Lenau besungen hat. Virginia pflückte Veilchen und Leberblümchen im Vorübergehen, und Erwin erzählte von seinem Buch über das Leben der Ameisen, welches demnächst auf dem Markt erscheinen sollte. Die Vielseitigkeit seines Wissens und die unbedingte Herrschergebärde, mit der er es behandelte, erweckten in Ulrich Zimmermann nicht zum erstenmal ein eifersüchtiges Staunen, und seine etwas knifflichen und groben Fragen drückten mehr Argwohn als Erkenntnislust aus. »Wo nehmen Sie um Gottes willen bloß die Zeit zu all den Arbeiten und Studien her,« rief er schließlich beunruhigt, »die ja gar nicht zu Ihrem Fach gehören! Sie, der Sie leben wie kaum einer, und von dem man nicht sagen könnte, wann er am Schreibtisch sitzt, falls man gefragt würde!« »Fach! Ich habe kein Fach!« erwiderte Erwin abschätzig. »Mein Fach ist die Natur, die Menschheit, die Kunst, ist alles was mich will und alles was sich mir widersetzt. Für den, der zur Leistung entschlossen ist, hat ein Tag ungefähr sechzehn Stunden, mein lieber Ulrich. Ihr Dichter freilich, ihr rechnet schon das Träumen mit zur Leistung; ihr dürft es tun, wenn euch die Träume zur Wirklichkeit werden; =meine= Wirklichkeit darf mir nie zum Traum entschwinden, sonst bin ich verloren.« Marianne schaute messend zu dem mit stolzen Schritten Schreitenden hinüber und verfehlte nicht, Virginia durch einen Blick zu einem Zeichen des Beifalls aufzumuntern. Wie stumpfsinnig diese Person ist, dachte sie, als Virginia davon keine Notiz nahm. Diese hatte Erwins Antwort nicht ganz begriffen; halb glaubte sie ihn demütig und halb anmaßend, trotz alledem, man mußte die Menschen und ihre Geschäfte so sehen, wie sie sich in seinem Geiste formten. Ulrich Zimmermann marschierte eine Weile unzufrieden für sich allein, bis ihn Virginia mit lächelnder Ermahnung aus seinem Brüten weckte. Er dankte ihr durch ein heißes Aufblitzen seiner Augen und sagte: »Heute müßte man Gedichte lesen.« »Oh, das wäre famos,« erwiderte Virginia; »haben Sie denn welche mit? Lesen Sie doch.« »Ich wäre nicht abgeneigt«, versetzte Ulrich Zimmermann gnädig. Erwin, der Ohren hatte wie ein Indianer, hatte das Gespräch belauscht: »Nicht abgeneigt ist gut!« rief er voll Spott. »Das Attentat war doch schon beschlossen, als Sie Ihre Verse in die Tasche steckten, wie?« Ei, das ist grausam, dachte Virginia, als sie Ulrich erblassen sah, zu dessen Lastern Empfindlichkeit sonst nicht gehörte, nur heute, nur jetzt. Beinahe hätte sie ihn, wie einen Bruder, am Ohrläppchen gezupft, um ihn harmloser zu machen. Aber während sie dann auf einer Lichtung rasteten, Marianne und Virginia gegenüber Erwin und Ulrich auf frischgefällten Stämmen saßen, jeder in seiner Stille webend, dem Flug der Schmetterlinge nachsinnend, den seidigen Glanz des Lichtes auf Moos und Laub betrachtend, unterbrach Erwin das Schweigen und glich die kleine Felonie von vorhin wieder aus, indem er Ulrich beim Wort nahm. Dieser holte ein paar beschriebene Blättchen aus der Brusttasche und las mit wenig geübter Stimme zaghaft vor. Nach einer Weile griff Erwin ungeduldig nach den Blättern. »Sie zerstören ja alles,« sagte er; »die zarten Gebilde; es ist schade drum. Geben Sie her.« Und nun las er selbst mit prächtigem Ausdruck und seelenvoller Betonung. Ulrich horchte erstaunt; das klang ja wie Musik. Aber er konnte Erwin nicht danken, denn aus der versonnenen Miene, mit der Virginia diesen betrachtete, schloß er, daß sie ihn, den Dichter, völlig vergessen habe. Und eine solche Wirkung hatte er eigentlich nicht beabsichtigt. Bei der Rückkehr gerieten sie im Wald an eine morastige Stelle; während Marianne den Rock bis zu den Knien hob und verwegen hindurchging, zog Virginia den Umweg am steilen Hang vor. Einige Dornen rissen ihr die Haut am Handgelenk blutig. Es war ein Bächlein in der Nähe; Erwin wusch die Wunde rein und verband sie mit Virginias Taschentuch. Sie lachte über den doktormäßigen Ernst, mit dem er die unbedeutende Verletzung behandelte, auch Marianne ließ es an spitzem Spott, der allen beiden galt, nicht fehlen. Erwin hielt dabei noch immer Virginias Hand in der seinen und bastelte an dem weißen Tuch. Endlich entriß sie ihm die Hand und versteckte sie instinktiv in einer Kleidfalte. Ulrich stand an einen Baum gelehnt und schaute mit weiten Augen in den blauen Himmel. »Seit meiner Kindheit ist es meine größte Angst, daß ich einmal in einem Sumpf versinken könnte«, sagte Virginia, als sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, zur Entschuldigung ihrer Zimperlichkeit. Sie erwartete, daß Erwin darüber lächeln würde, doch sie täuschte sich. »Also auch Sie tragen heimliche Schatten herum«, antwortete er mit verstehendem Blick. »Man ahnt gar nicht, wie solche Schreckbilder die ganze Lebensstimmung beeinflussen. Die dunklen Gewalten sind eben doch die mächtigsten.« »Ja, Virginia, ja!« bemerkte Marianne anscheinend fidel, »vor dem Sumpf müssen Sie sich hüten. Gerade wenn man zu weit hinaus schaut, übersieht man den Schlammtümpel vor den Füßen.« »Keine Prophezeiungen, Marianne,« sagte Erwin hart; »das Unken trifft die Schwalbe nicht.« Marianne schoß ihm einen bitterbösen Blick zu. Virginia fing ihn auf und erschrak vor dem Haß und der beredsamen Wildheit dieses Blicks. »Auch ich bin einst geflogen«, erwiderte Marianne düster, »aber man hat mir die Flügel abgeschnitten. Was hilfts; man liegt dann da und piepst vor sich hin, und das nennen die Leute unken.« Erwin zuckte die Achseln. Virginia war sonderbar bewegt und schob ihren Arm fast zärtlich in den Mariannes, sie, die so selten ein werbendes Gefühl zu unmittelbarem Ausdruck brachte. Jedoch Marianne schüttelte kurz und brüsk den Kopf und schritt hastig voran. Bald ging sie an Erwins Seite; unterdrückten Tons und in raschen Sätzen sprachen sie miteinander und entfernten sich immer weiter von Ulrich und Virginia, die wortkarg und bedrückt den schmalen Pfad bis zur Landstraße verfolgten, wo das Automobil wartete. Dort verabschiedete sich Ulrich Zimmermann unter dem Vorgeben, er wolle noch den Abend außerhalb der Stadt verbringen. Stumm saßen die drei während der Fahrt, die so schnell war, daß es Virginia schwindlig wurde. Die sanfte Frühlingsluft schien zum Sturm aufgeregt. Virginia hatte Erwin bisher noch nicht so schweigsam und kalt gesehen. Manchmal heftete er den Blick prüfend auf sie, und sie glaubte den Blick ertragen zu müssen, damit er wieder versöhnt werde. Sie hatte von Minute zu Minute stärker das unerklärliche Gefühl, als wünsche er von ihr ein Wort zu hören, das die Verdunkelung seines Innern zerstreuen könne. Sie war dessen nicht fähig, und ihr war, als zürne er ihr, als leide er darunter; kurzum, ein Wirrsal von Empfindungen der Abhängigkeit und der Schuld. Als der Wagen in der Piaristengasse hielt, begleitete sie Erwin durch die Höfe bis zur weißen Wendelstiege. In der Torbogendämmerung sagten sie sich kühl gute Nacht. Schon auf der Treppe, wandte sie sich noch einmal um und nahm mit Verdruß wahr, daß er auf der Steinschwelle stand und ihr mit den Blicken folgte. Unwillkürlich zog sie den Fuß zurück, auf den sein Auge sich zu heften schien. Das matte Flurlampenlicht beleuchtete seine Züge, und sie sah, daß er lächelte, so bestrickend, heiter und kameradschaftlich, wie nur er zu lächeln vermochte. Gott sei Dank, dachte Virginia, es ist alles wieder gut. In der Nacht träumte sie, daß sie sich in einem Zimmer mit sechzehn Türen befinde. Sie war ohne Aufhören damit beschäftigt, die Türen zu schließen aus Furcht vor einem übermäßig großen Hund. Aber jedes Mal, wenn sie eine Tür geschlossen hatte, stand der Hund, groß wie ein Kalb, vor einer andern, offenen. Er war nicht eben boshaft, doch war in seiner Ruhe etwas unbeschreiblich Quälendes, als wolle er sie erst vollkommen erschöpfen, bevor er sich auf sie stürzte. Während des Waldspaziergangs war verabredet worden, daß Erwin am zweitnächsten Tag Marianne und Virginia den Wagen schicken und daß diese ihn dann abholen sollten. Als sie vor der Villa ankamen, begann es zu regnen. »Aus der Landpartie wird heute nichts«, sagte Marianne. – »Es wird ja wieder aufhören zu regnen«, meinte Virginia. – »Und wenn auch nicht«, versetzte Marianne spöttisch; »haben Sie Angst, hier zu bleiben? Wir werden in diesem gemütlichen Gasthaus Tee trinken.« Virginia blickte Marianne forschend und bedächtig an. Sie machte plötzlich die Erfahrung, daß sich die kleinen Verkettungen der Geselligkeit oft unlöslicher erweisen als die großen Pflichten, weil die möglichen Widerstände zu belanglos sind. Erwin war im Frack. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte er, »ich hatte leider vergessen, daß ich um sieben Uhr bei der Fürstin Liebenberg sein muß. Wenn Sie wünschen, überlasse ich Ihnen natürlich den Wagen, aber es wäre hübsch, wenn Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten würden.« Virginia war zu sehr Neuling, um bei dem gleichgültig ausgesprochenen Namen einer Fürstin ihren Respekt zu unterdrücken. Ein naiver kleiner Ausruf veranlaßte Marianne und Erwin, zu lächeln. »Es ist nach Ihnen telephoniert worden,« wandte sich Erwin an Marianne, »Wichtel hat die Nummer aufgeschrieben, die Sie rufen sollen.« Marianne ging hinaus. Als sie zurückkam, bat sie Erwin hastig, er möge ihr für eine halbe Stunde das Auto geben, sie müsse zu einer dringenden Besprechung in die Stadt. Überrascht schaute Virginia empor. Ein unbestimmter Argwohn wallte in ihr auf. »Bis ihr zum Tee geht, bin ich wieder da«, fügte Marianne hinzu und verließ mit ihren starken und entschiedenen Schritten das Zimmer. Erwin lachte. »Immer hat sie wichtige Geschäfte«, sagte er. Eine Weile herrschte Schweigen. Nicht etwa das Schweigen der Vertraulichkeit, sondern das Schweigen, in dem sich bedeutungsvolle Worte vorbereiten. Virginia spürte es, und ihr war nicht geheuer dabei. Erwin, der im Staatskleid prächtig schlank und jünglingshaft aussah, wanderte rauchend auf und ab. Der Regen prasselte an die Fenster. Im Kamin schnurrte der Wind. Wie ahnungslos sie ist, sagte sich Erwin; und um wieviel leib- und seelenhafter sie erscheint, seit die andere fort ist; man sollte junge Mädchen nicht miteinander verkehren lassen, das Geschlecht hebt sich gegenseitig auf, ihr Magnetismus wird halbiert, indem sie sich unbewußt verbünden. »Sie haben eine wunderbare Macht über die Menschen, Virginia«, begann er endlich, und seine Stimme klang nicht metallisch wie sonst, sondern sordiniert. »Jedesmal wenn ich Sie sehe, erhebt sich ein Vorwurf in mir. Was hast du geleistet? frag’ ich mich. Es ist ein geheimnisvolles Bedürfnis, mich in irgendeiner Weise vor Ihnen zu rechtfertigen. Als die ersten Weltumsegler zu den wilden Völkern kamen, schickten diese, durch den bloßen Anblick der Fremden zur Ehrfurcht bezwungen, Abgesandte mit Gold und Edelsteinen und erklärten sich aus freien Stücken für tributpflichtig. Wenn Sie Ehrgeiz hätten, wie Sie keinen haben, wüßt ich nicht, welche Grenze ich Ihrer Laufbahn ziehen sollte. Runzeln Sie nicht die Stirn, Virginia, das steht Ihnen schlecht, auch ist kein Anlaß dazu. Ich möchte Sie zu einem höheren Grad des Selbstbewußtseins erziehen. Der Makellose soll Muster sein. Warum zum Teufel bekreuzen Sie sich andächtig, wenn von einer Fürstin die Rede ist? Sie stehen über jeder Fürstin. Wären Sie meine Schwester, ich wollte eine deutlichere Sprache führen und Sie durch zwingendere Beweise überzeugen. Ich wollte denen ein Licht aufstecken, die sich für vollkommen halten und es nicht sind, die weder stehen, noch gehen, noch sitzen können und sich zu bewegen glauben, wenn sie zappeln. Ich für meine Person, ich habe ein Interesse daran, daß das Leben schöner wird auf dieser Welt, daß es einen Aufschwung gibt, einen Aufblick, ein hinreißendes Beispiel, ein Unbezweifelbares und Unbedingtes. Deshalb rede ich mit Ihnen darüber, aus keinem andern Grund. Wer als Fackel geboren ist, muß leuchten.« Virginia wechselte während seiner Rede beständig die Farbe, doch in so feinen Übergängen, daß es bisweilen kaum zu merken war. »Was wollen Sie von mir, Erwin?« rief sie mit gefalteten Händen. »Bitte, sprechen Sie doch nicht so, bitte!« Der flehentliche und rührende Appell machte Erwin betroffen. Diese Stimme, der Ausdruck, der Blick, die Gebärde des Mädchens, all das traf ihn unversehens und rüttelte an ihm wie ein Zorn, wie ein Durst, wie ein Feind. Virginias Augen verfolgten ihn mit Besorgnis, während er ungeduldiger auf und ab schritt. Er fand es für angezeigt, den Ton brüderlichen Vertrauens anzuschlagen. »Als ich Ihnen damals meine geringen Schätze vorwies,« sagte er einschmeichelnd, »hatte ich das Gefühl eines Vasallen, der seinem Lehnsherrn Verantwortung schuldig ist. Mir war, als ob Ihr Blick auf all den Dingen nur zu ruhen brauchte, um sie in Besitz zu nehmen, oder als ob mein Besitztitel erst durch Sie anerkannt werden müßte.« Virginia lächelte verwundert, doch Erwin fuhr fort: »Weil wir eben von Schätzen sprechen, Virginia, von Gütern, die keinen Besitzer haben, obgleich sie einem gehören, muß ich Ihnen doch noch etwas zeigen.« Er eilte rasch ins Nebenzimmer und kam nach kurzer Weile mit einer mäßig großen Schachtel in der Hand zurück, aus welcher er eine herrliche Perlenkette hervorzog. »Wie gefällt Ihnen das?« fragte er mit einer Stimme wie einem Kind gegenüber. Virginia nahm die Kette in die Hand. »Oh, wundervoll!« rief sie mit auflodernden Augen. »Nicht wahr? Solchen Schmuck wünschen sich die Häßlichen, damit man ihre Häßlichkeit vergesse; und die Schönen, die erhalten königliche Weihe dadurch.« Virginia ahnte kaum den hohen Wert des Juwels, aber wie ein Jagdhund rebellisch wird, wenn das Horn schallt und die Rosse schnuppern, so kann ein echtes Weib mit gesunden Sinnen unmöglich zurückhaltend bleiben oder sich unempfindlich stellen beim Anblick eines Halsbandes aus drei Schnüren erbsengroßer Perlen, enggereiht wie die Zähne im Mund eines Kindes, violett und rosig strahlend wie ein kleiner Regenbogen, durchsichtig fast wie Seifenblasen und warm anzufühlen wie blutgeäderte Haut. Edler Schmuck hat etwas Unleugbares wie die Elemente. Von den erwarteten Merkmalen der Freude und Erregung nahm Erwin in aller Heimlichkeit Notiz. Da ihn Virginia, ohne zu bedenken, daß ihm die Antwort unter Umständen schwer fallen konnte, neugierig fragte, welcher Herkunft das Kollier sei und weshalb er es im Haus habe, erwiderte er, er habe die Kette einst, vor Jahr und Tag, für eine Frau gekauft, der er niemals nah gestanden und die er nur ganz aus der Ferne angebetet. »Ich hatte keine Hoffnung,« sagte er gedankenverloren, »denn sie war die Tugend selbst und rein wie eine Vestalin. Sie hat die Perlen, von denen mir jede einzelne heilig war wie ein Blick aus ihren Augen, niemals an ihrem Hals getragen, und ich, ich habe mich begnügt, sie damit geschmückt zu träumen, ich habe sie im Traum damit verschönt. Sie war die einzige, die mich hätte verwandeln können, so wie große Liebe verwandelt, die große Leidenschaft, die keine Dämonen kennt, sondern nur Genien und die die Seele fromm macht und den Geist gelehrig; aber sie schwebte am Horizont meines Lebens vorüber wie ein fremder Stern, ein frühzeitiger Tod hat sie hingerafft, und mir ist, als hätte sie mir die Perlen als Erbteil gelassen.« Virginia war ergriffen von diesem Bekenntnis. Sie hatte Erwin nicht solcher Trauer, solcher Wärme, solcher Beständigkeit des Gefühls für fähig gehalten. Die intensive feuchte Bläue ihrer Augen, der milde und von jedem Argwohn gereinigte Blick verriet ihm, daß er ihr inneres Wesen anzurühren verstanden hatte. »Bis auf den heutigen Tag konnte ich mir nie vorstellen, daß dies Gehänge den Hals einer andern Frau schmücken könnte«, fuhr er fort. »Aber wie eigentümlich die Phantasie doch spielt! Als Sie vorhin ins Zimmer traten, Virginia, schoß es mir mit der Sekunde, wo ich Sie sah, durch den Kopf: nur die und keine andere dürfte meine Perlen tragen. Ach tun Sie mir doch den Gefallen«, bat er dringend und mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit, als er wahrnahm, daß Virginia ängstlich die Brauen zusammenzog. »Legen Sie die Kette um Ihren Hals! Nur zur Probe; nur damit ich es sehe!« »Wirklich? Soll ich es wirklich?« flüsterte Virginia mit wunderlich scheuem Lächeln. Sie wußte nicht, wie sie ihm sein Verlangen hätte abschlagen sollen; und außerdem hatte sie selbst nicht wenig Lust zu wissen, wie es wäre, gleichsam nur naschend zu erfahren, wie es wäre, wenn man eine Perlenkette trug. Beinahe war sie Erwin dankbar, daß er ihr die Erfüllung dieser Begierde so leicht machte. Da sie ein halsfreies Kleid trug, waren keine Vorbereitungen nötig. Erwin trat hinter ihren Stuhl, um ihr beim Schließen der Kette behilflich zu sein. Nichts wäre für einen Zuschauer verblüffender gewesen als der jähe Wechsel seiner Mienen in diesem Moment. Alles bog sich in den Zügen; die Stirnknochen schoben sich stärker über die Augen; die Nüstern wölbten sich auswärts; die Lippen kräuselten sich, die Finger krümmten sich, ehe sie zugriffen, und mit einem prüfenden, bohrenden, habsüchtigen und beutesicheren Blick, dem Blick eines Menschen, der gewohnt ist, zu greifen, zu nehmen, zu rauben und Wert von Scheinwert genau zu unterscheiden, starrte er auf ihren schimmernden Nacken herab, dessen weiße Glätte ihm etwas wie Furcht einflößte. Sodann holte er einen silbergefaßten Handspiegel und ließ Virginia hineinschauen. Diese konnte ihre selige Befriedigung nicht bemeistern. Sie blickte in den Spiegel, als erkenne sie sich selbst nicht, und in ihren Augen war ein beredter Glanz. »Nein, so was«, hauchte sie mit leisem Kopfschütteln, halb lachend, halb bedauernd. »Wie gern möchte ich Ihnen die Kette schenken,« sagte Erwin, indem er sich dicht vor ihr auf dem Stuhl niederließ; »wie glücklich würde ich sein, wenn Sie eine solche Gabe leicht und frei aufnehmen, ohne Ziererei und Künstelei empfangen wollten!« Virginia wurde zuerst purpurrot und danach ganz blaß. Sie hob in einer energischen Art den Kopf. »Aber Erwin!« rief sie erschrocken, »was fällt Ihnen denn ein? Ich glaube, Sie halten mich zum besten.« Mit jener Raschheit, die ihn oft so rätselhaft erscheinen ließ, veränderte sich Erwins Wesen zum Feierlichen und Gehaltenen. »Es ist mein Ernst,« sagte er; »es ist mein Wille. Es ist mein heftigster Wunsch. Für Sie allein sind diese Perlen auf die Schnur gereiht worden. Jene andere war die Berufene, Sie sind die Erwählte. An Ihrem Hals gleichen sie den gewachsenen Blüten am Zweig. Wozu sie aufbewahren, wenn man das leblose Kapital in lebendiges verwandeln kann? sehe ich Sie damit geziert, so genießen meine Augen die Zinsen. Könnten Sie doch ein Vorurteil verachten, das so albern und müßig ist, daß es mich ekelt, davon zu reden, so würden Sie mich reicher machen als ich bin und sich selbst kostbarer und beschwingter.« »Aber Erwin! Erwin!« unterbrach ihn Virginia mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und legte im Eifer ihre beiden Hände sacht auf seinen Arm, eine Berührung, die ihm einen traumhaften Genuß verschaffte, »das ist ja alles Unsinn. Sie wissen genau so gut wie ich, daß ich das nicht annehmen könnte. Es gibt Gesetze, die für Sie vielleicht nicht gelten, die ich aber nicht übertreten darf, ohne ins Abenteuerliche zu geraten. Und Sie wissen das, Erwin, Sie wissen es, Sie wollen mich nur auf die Probe stellen. Mein Gott, wie käm’ ich auch dazu! Schnell, schnell, herunter mit dem Ding, Sie machen einem ja ganz heiß, räumen Sie’s weg, daß ich’s nicht mehr sehe.« Entzückend, dachte Erwin, entzückend, als er die stürmische, liebliche Beweglichkeit verfolgte, mit der sie das Kollier abnahm und ihm überreichte, wie wahr, wie einfach die Angst, wie ungeheuchelt das Begehren! »Ich werde an Manfred schreiben,« versetzte er gelassen wie ein Notar, der einen Vertrag bespricht, »ich werde bei ihm in aller Form um die Erlaubnis ansuchen, Ihnen das Halsband verehren zu dürfen, – als ein Bundeszeichen von ihm zu mir, von mir zu Ihnen. Ich bin überzeugt, daß er die Sache so betrachten wird, wie ein Mann von seinem Charakter und seinen Anschauungen sie betrachten muß. Würden Sie sich dann noch sträuben?« »Gewiß,« antwortete Virginia mit festem Blick; »Manfred kann doch nicht Richter über uns beide sein.« »Vortrefflich, ah, vortrefflich,« rief Erwin belustigt, »jetzt ergreifen Sie schon die Flucht, und wie schlau noch dazu.« Gar nicht schlau, dachte er triumphierend für sich, sie fängt sich ja mit diesem famosen Wort: Richter über uns beide. »In wenigen Wochen können wir Manfreds Bescheid haben,« fuhr er fort, »und dann sehe ich keinen Grund mehr für Sie, eigensinnig zu sein. Manfred kennt mich und weiß, daß er mich beleidigen würde durch jedes Wie oder Warum oder Aber. Eines Tages werde ich seine Einwilligung haben, und ich werde vor Ihnen erscheinen und die Kette um Ihren Hals hängen. Wenn Sie wollen, mit verbundenen Augen.« Da nun Virginia inne wurde, daß ein wahrhaftiger Ernst hinter all dem steckte und nicht bloß ein versucherisches Spiel, entschwand ihre heitere Sicherheit. Sie schaute bang vor sich hin, das Herz klopfte ihr, und sie wußte nichts mehr zu sagen. »Freilich, es gibt keinen uneigennützigen Schenker, es gibt kein Geschenk ohne Hoffnung auf Entgelt«, fuhr Erwin mit einer Kühnheit fort, die er nur wagte, weil er es für gefahrloser hielt, sie auszusprechen, als sie der stillen Überlegung Virginias zu überlassen. »Lange genug waren Sie streng und unzugänglich für mich, und alles, was ich verlange, ist Ihre freundliche Gesinnung. Ich bilde mir natürlich nicht ein, diese Gesinnung erkaufen zu können, das hieße niedrig von uns beiden denken. Kein Kauf soll es sein, ein Opfer soll es sein, eine Opfergabe, eine Entäußerung, das ist es, das ist das rechte Wort: eine Entäußerung.« »Eine Entäußerung?« wiederholte Virginia mechanisch und in beklommener Nachdenklichkeit. Erwin nahm ihre Hand in die seine, und sie ließ es geschehen. »Schauen Sie mich einmal ganz offen und ohne zurückweichende Befangenheit an, Virginia«, bat oder vielmehr befahl er. Sie gehorchte. Sie lächelte. Es war etwas Seltsames um dieses zaudernde, fliehende, ungewisse und dennoch aufrichtige und gütige Lächeln. »Können Sie Vertrauen zu mir haben?« fragte Erwin. »Ich will, daß Sie mir vertrauen. Auch Sie müssen sich entäußern. Sie müssen sich der uralten, sinnlich-übersinnlichen Feindseligkeit entäußern, die zwischen den Geschlechtern herrscht wie ein Grenzstreit. Es soll kein Grenzstreit sein zwischen uns, es soll Frieden sein, geschwisterlicher Frieden. Inmitten der Menschenwüstenei lebt sich’s schön im Zelte des Vertrauens, Virginia.« Virginia schwieg. Sie erhob sich nach einer Weile und schüttelte ernst den Kopf. Es war ihr nicht unbefangen zumute. Erwins Worte sollten ja wohl unbefangen klingen, in einem höheren Sinn, aber ihr war nicht so zumute. Sie zog die Uhr aus dem Gürtel und sagte etwas bedrückt: »Marianne bleibt lang.« Erwin antwortete nicht. Virginia, immer noch erregt und verwirrt, trat auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Bitte, Erwin, lassen Sie uns nie mehr davon sprechen. Ich will ja gern Ihre Freundin sein, aber eben deshalb lassen Sie uns davon nicht mehr sprechen.« »Gut; wir werden nicht mehr davon – sprechen«, entgegnete er mit eigentümlicher Verhaltenheit, indem er das Haupt langsam senkte und ihre Hand langsam hob, um seine Lippen darauf zu drücken. In diesem Augenblick trat Wichtel mit dem Samowar ein, und nach kurzer Weile kam auch Marianne. Sie blieb schweigsam und rauchte eine ziemlich große Anzahl ihrer winzigen Zigaretten. Ihre forschenden Blicke wanderten von Erwin zu Virginia, von Virginia zu Erwin. Um sechs Uhr brachen die jungen Damen auf. Ein Abend in der Villa Sansara Virginia hatte die Gewohnheit, sich nachts, wenn sie aus dem Schlaf erwachte, ans Fenster zu begeben und dort in einem Sinnen, das die Erlebnisse des Tages spielend streifte, so lange zu verweilen, bis sie den Schlummer wieder nahen fühlte. Sie tat es auch in dieser Nacht. Einen gelben Überhang um die Schultern, der vor der Brust geschlossen war, saß sie in der Dunkelheit und schaute in den mondbeschienenen Hof. Mit wunderlichem Gruseln roch sie die eigene Leibeswärme. In solchen Stunden denkt man nicht; man läßt sich hinziehen von Befürchtungen zu Erwartungen, geheimnisvoller Ehrgeiz treibt im Dämmern der Seele schillernde Blasen. Virginia war fast noch traumbefangen. Unter den Bildern, die sie gegenwärtig hielt, war das ihrer eigenen Erscheinung, wie sie sich im Spiegel gesehen hatte, mit der Perlenkette um den Hals, zugleich berückend und unheilvoll. Ich hätte ablehnender sein sollen, dachte sie erregt und ballte schnell die Faust; dann: es könnte mir gehören; dann wieder: wie hat er es wagen können? Am andern Morgen schrieb sie an Manfred. Sie bedurfte der Aussprache, um Klarheit zu gewinnen, aber sie konnte nicht schlüssig werden, wie sie die Geschichte mit dem Halsband schildern sollte. Scherzhaft? Daran hinderte sie die Erinnerung an Erwins Dringlichkeit und Wärme. Gewichtig? Dann konnte Manfred glauben, sie sei wünschevoll und unbescheiden. Indem sie sich so mühte, die rechte Art zu finden, bezichtigte sie sich schon der Unehrlichkeit. Ihre Hand widerstrebte dem Wort, ihre Feder der Hand, Manfreds fernes Antlitz verbarg sich wie hinter Schleiern, und was sie schon niedergeschrieben hatte, glich einer Rede in die leere Luft. Der Zufall fügte es, daß während dieses Zwiespaltes der Postbote einen Brief von Manfred brachte. Der Brief kam von der Stadt Colombo auf Ceylon. Als er ihr schrieb, war Manfred schon über die wissenswerten Vorgänge daheim unterrichtet. Er hatte Kenntnis von dem Duell, er hatte Kenntnis davon, daß Erwin der beengten Wirtschaftslage des kleinen Geßnerschen Haushaltes durch einen entschlossenen Handstreich zu Hilfe gekommen war. Dies letztere hatte er von Erwin selbst erfahren, und der Ausdruck »entschlossener Handstreich« war Erwins eigener. Was Virginia darüber gemeldet, hätte Manfred keine Deutlichkeit geben können, in Erwins Erzählung war der Ton herzlicher Teilnahme mit jenem edlen Spott gemischt, der Anerkennung oder Dank weit zurückwies und einen ungewöhnlichen Eingriff als freie Laune betrachtet wissen wollte, unter Männern nicht der Rede wert. Es war dem Brief nicht zu entnehmen, wie Manfred darüber dachte; beruhigte ihn nicht das stolze Vertrauen zum Freund, so mußte die Kunde eines Zweikampfes unter Umständen, welche Virginia derart in Mitleidenschaft gezogen, eine Verfinsterung seines Herzens erregen. Aber dem war nicht so. Er schien sich zu sagen: meine Befürchtungen haben mir nicht umsonst schlimme Bilder vorgemalt, und ich habe einen Wächter bestellt, dessengleichen es nicht gibt. Wenn Manfred unruhig war, so war er es im Hinblick auf alle Fährnisse, die dem Auge des Wächters entgehen mochten, und er riet Virginia, er flehte sie an, in Erwin einen Bruder zu sehen, mehr als einen Bruder, einen, vor dem sie kein Geheimnis zu haben brauchte. Und das war viel gesagt. Im übrigen war der Brief einfach gehalten. Es schien, als ob Manfred alle Gefühle gewaltsam unterdrückte, die eine heftige Bewegung in Virginia hervorrufen konnten, als wolle er den klaren Strom ihrer Neigung nicht durch das Widerspiel der quälenden Sehnsucht trüben, die er, in so großer Ferne, sicherlich über jedes Mitteilbare hinaus hegte. Bis auf eine einzige Stelle war er sachlich, fast ein wenig pedantisch in der Schilderung von Zuständen und Begebnissen, fast ein wenig zu spirituell in der Andeutung dessen, was ihn beschäftigte und wonach er strebte. Die Einsamkeit war zu spüren, in der er sich unter arbeitenden Gefährten befand. »Ich untersuche Radiolarien, Salpen, Medusen und Siphonophoren, lauter winzige Tierchen, die wir mit dem Schleppnetz aus dem Ozean fischen und von denen gewisse Arten nachts die Fläche des Meeres mit Feuer bedecken, so daß ich oft stundenlang schaue, Orion, Bär und südliches Kreuz über mir am Sternenhimmel, und der dumpfe Wellenschlag am Holz des Schiffes macht mich traurig, ich weiß nicht warum. »Ich habe hier im Bungalow eines vornehmen Engländers, an den ich Empfehlungen hatte, gastliche Aufnahme gefunden, da der ›Phönix‹ im Hafen von Colombo drei Wochen lang verankert bleibt. Ich wandle im Paradies, zumindest im Paradies der Pflanzen. Alles gedeiht ins Riesenhafte: die Arekapalme, die Kokospalme, die Pisange, Bambusen und Benyanen, der Brotfruchtbaum, die Melone, die Pfeffererbse. In reizenden Festons und Kränzen hängen Schmarotzerblüten von allen Ästen, und unten bilden die kolossalen Blätter der Bananen, Caladien, Cassaven, die Farne, Orchideen und Lianen ein undurchdringliches Gewirr. Schilfrohr, das bei uns drei Fuß hoch wächst, strebt dreißig Meter hoch empor; unsere kümmerliche Alpenrose wird zum gigantischen Rhododendron mit mannsdickem Stamm, und Malven, Euphorbien, Lilien und Lantanen überwuchern den Boden so, daß das Reiche und Anmutige zum Unheimlichen wird. Ich glaube, inmitten dieses Übermaßes werden auch meine Gedanken zum Übermaß getrieben. Ich darf nicht zweifeln: Zweifel wird schon Verzweiflung; Heimweh ist ein schreckliches Fieber, das mich toll macht, so daß ich die Zähne in die Faust beiße und mich am Strand hinwerfe, um das Gesicht ins Wasser zu tauchen. Aber dann kommt wieder der überirdisch feierliche Frieden eines Abends; die Frösche rufen mit Glockenstimmen aus den Dschungeln, Flederfüchse schwirren, und das Meer tönt, wie wenn ein ungeheures Seidenkleid über ungeheure Marmorplatten schleift. In dieser Stunde seh’ ich dich am deutlichsten, meine geliebte Virginia! Da glänzt dein Haar, ja, es glänzt wie der Strom der pelagischen Tiere, die zuweilen mitten im Ozean eine silberne Straße ziehn; da stehst du vor mir mit einem Lächeln voll unerwarteter Schelmerei, bist in mir, mein Atem, mein Gedanke, meine Welt. Und dann sag ich mir: ich bin deiner nicht würdig, meine Liebe ist zu klein, zu ängstlich und zu selbstsüchtig. Das Feuer verzehrt sich im Innern, anstatt nach außen zu strahlen, es blendet mich, anstatt mich stärker und tätiger zu machen. Ich vergleiche mich mit meinen Kameraden, die verständige und korrekte Menschen sind: nicht ehrgeizig aber fleißig, nicht glänzend aber tüchtig. Man kann mit ihnen sympathisieren, ohne lebhaft für sie zu fühlen. Indem ich mich von ihnen absondere, werde ich meiner Überheblichkeit verstimmend bewußt. Ich bin verwöhnt, es kann nicht lauter Erwin Reiners geben, ich habe meine Ansprüche überspannt, und das ist bedenklich. Doch ich kann nicht mit ihnen reden. Sie sind mir zu ernst oder zu kalt, oder zu lustig, oder zu simpel, oder zu verzwickt. Ich sehe die Korallengärten im Meer und denke mir: armselig ist unser Treiben dagegen, denn das ist auch Fleiß, aber ein Fleiß, der Schönheit erzeugt, Schönheit für Jahrtausende. Und wir machen Bibliotheken. Speicher sind noch keine Mühlen, und Mühlen schaffen erst Brot, nicht Glück, nicht Schönheit. Darf ich dir’s gestehen, Liebste? Es ist ein Aufruhr in mir, ich weiß nicht wogegen, eine Flamme, eine neue Flamme, ich weiß noch nicht wofür. Ich habe meine Jugend kraftlos verträumt; ich will anders werden, ich muß umsatteln; Tüchtigkeit, ja danach verlangt mich, aber nicht nach jener Tüchtigkeit, die an den Vorteil gespannt ist wie ein Ochs an den Pflug; nicht an den Ochsen denk’ ich dabei und an den Pflug, sondern mehr an den Adler, an reine Luft und frischen Wind; und an dich, die mir Flügel gibt, Mut, Selbstvertrauen und den Willen zur Verantwortlichkeit. Wenn es einmal in meinem Leben eine innere Abkehr von Erwin geben wird, so wird sie in der Erkenntnis wurzeln, daß ich andere Wege gehen muß als er, den das Schicksal zu einem Einzelnen, ja zu einem Wunder vielleicht in seiner Art gemacht hat, und daß ich mich nicht werbend und nacheifernd an ihn verlieren darf.« Manche Stellen dieses Briefes ließen Virginia, bei aller Bereitschaft zum Mitempfinden, um den geliebten Mann bange werden. Die drangvolle Leidenschaftlichkeit im Geistigen quälte sie, denn sie hatte keine Formel dafür. Sie ahnte eine Verwandlung, aber sie konnte nicht Grund und Ziel ermessen. Nur was sie zärtlich ansprach, was in ihrem innigen Gefühl ein gegenwerbendes Echo weckte, das ergriff sie mit Freude und entzückte sich daran. Immer wieder nahm sie den Brief zur Hand, dessen Problematisches ihr viel zu schaffen machte, und sie wollte ganz verstehen, wovon Manfred so bewegt und durchströmt war, – Dinge, die sie jenseits der Liebe geglaubt, die er aber so ausdrucksvoll damit verknüpfte, daß sie sich verpflichtet hielt, ihm beizustehen. Ein wenig von der holden Kinderzuversicht ging freilich auf solche Art verloren. Während ihr Inneres so benommen war, geschah es, daß sie im Flügelschen Hause einen der Brüder Mariannes kennen lernte, eine Begegnung, die Marianne sehr unerwünscht war, denn sie sah die Folgen voraus, und Virginia, die die Widerwilligkeit, mit der ihre Freundin notgedrungen die Zeremonie der Vorstellung übernahm, wohl vermerkte, fühlte sich durch das aufdringlich-selbstsichere Wesen des jungen Mannes aufs entschiedenste abgestoßen. Es war derselbe, der damals augenlos an ihr vorübergeeilt war, als sie Erwin in Gefahr gewähnt und im Flur draußen ihn durchs Telephon zu sprechen gewünscht hatte. Sie hatte nicht vergessen, daß ihr die verstörten und entformten Züge gleichwohl den Eindruck der Roheit und Verwilderung gemacht hatten. In der Tat war Sixtus von Flügel ein recht übler Typus der modernen, jungen Lebewelt; ein Spieler im allerschlimmsten Sinn, ein elegantes und tückisches Raubtier, einer von jenen Eingefleischten der großen Metropolen, denen es schwindlig wird, wenn sie keine fünfstöckigen Häuser mehr um sich sehen, und deren Beruf es ist, keinen Beruf zu haben. Er war ein Meister der Mode, und ihn beobachten hieß, die Mode selber, das wetterwendische, lemurische Ding, ihren prahlenden Cancan aufführen sehen. Er wollte Virginia nach Hause begleiten. Sie lehnte ab, doch ließ er sich dies nicht anfechten. Marianne suchte ihn zurückzuhalten, es fruchtete nicht. Virginias edle Unnahbarkeit hinderte ihn nicht, zudringlich zu sein. Unter der Hülle einer geschäftsmäßigen Galanterie sah er in einer Frau ungefähr dasselbe, was ein Taschendieb in fremden Börsen sieht: etwas zum Eindecken und Mitnehmen. Taschendiebe sind die Kleinkrämer des Verbrechens, und diese »Herzensräuber« vom Schlage Sixtus von Flügels betreiben ihr Handwerk zu wahllos und werden zu leicht durchschaut. Sie sind ganz einfach nur da, um durchschaut zu werden, aber das wissen sie nicht, und kraft ihrer Unwissenheit sind sie hartnäckig wie die Hornissen. Virginia war froh, als sie sich seiner entledigt hatte und daheim war, aber wie groß war ihr Mißbehagen, als sie, gegen Abend aus dem Hause tretend, ihn auf sich zukommen sah! Sie erwiderte kalt seinen Gruß und wollte vorbeigehen; er verstellte ihr den Weg. Es war nicht eben gemütlich, sie anzuschauen, wenn ihr Auge stolz verachtend glänzte, aber daraus machte sich der junge Herr nicht das mindeste, denn er war von seiner Unwiderstehlichkeit durchdrungen. Sie gab ihm zu verstehen, daß ihr seine Gesellschaft unerwünscht sei; umsonst; sie antwortete nicht auf seine Fragen, doch ihn störte das nicht, er hielt Schritt mit ihr, er redete auf sie ein, er war vertraulich, verbissen, sarkastisch und voll niederträchtiger Anspielungen. Virginia verstummte ganz. Zorn und Ekel ergriffen sie. Sie flüchtete in einen Laden, er wartete draußen mit frecher Geduld. Wie gehetzt kam sie nach Haus, immer an seiner Seite. Sie schrieb ein paar Zeilen an Marianne. Ohne Erfolg. Am anderen Morgen stand er wieder vorm Tor, als ob er dort genächtigt hätte. Sie sagte ihm gerade heraus, er möge sie ungeschoren lassen, er zuckte die Achseln und lachte. Ihr Widerstand erboste ihn. Er schien einen Spion zu besolden, denn zu welcher Zeit immer sie das Haus verließ, so dauerte es nicht lange, und er war hinter ihr, dann neben ihr. Seine klebrige, giftige Zudringlichkeit hatte etwas Gespensterhaftes. Er schmähte und schmeichelte in einem Atem, er war beleidigend, dumm und glatt. Einmal am Abend folgte er ihr über die Treppe hinauf und machte sich lustig über ihre Entrüstung. Sie war gewohnt, in Reinlichkeit zu leben; der ständigen Besudelung war ihr Gleichmut nicht gewachsen. Das häßliche Erlebnis erfüllte sie mit Abscheu, mit leidvollem Erstaunen und endlich mit Gewissensunruhe. Etwas von dem kühnen Trotz wich aus ihren Zügen, und sie hegte Scheu, mit andern Menschen zu sprechen. Marianne ließ nichts von sich hören, sie aufzusuchen konnte sich Virginia nicht entschließen, weil sie nicht in das Haus des Unholds gehen wollte. Sie überwand sich und teilte sich der Mutter mit, der ihr verändertes Wesen schon aufgefallen war, die sich aber niemals einfallen ließ, Virginia auszukundschaften. Sie war nicht neugierig, und diese Abwesenheit eines weiblichen Gebrechens trug manches zu dem Eindruck von Vornehmheit bei, den sie machte. »Da gibt’s nur eines,« erklärte Frau Geßner, »du mußt dich an Erwin wenden.« Virginia erschrak bei dem bloßen Gedanken. Sie hatte genug von jener Duellgeschichte, über die das Gerede noch immer nicht verstummt war. Sie wies den Vorschlag ab. »Du sonderbares Kind,« meinte Frau Geßner, »den Menschen wirst du noch oft brauchen, öfter als du denkst.« Ein Ausspruch, der nicht danach angetan war, Virginia unbesorgter zu stimmen. »Er hat dich schon lange nicht besucht«, sagte sie zur Mutter. »Nein. Er macht sich jetzt selten.« »Findest du, daß er sich selten macht?« versetzte Virginia nachdenklich. »Übrigens ist er nicht in Wien. Er ist beim Grafen Hennsdorf in Böhmen zu einer Jagd geladen.« Immerhin, etwas mußte geschehen. Es fügte sich, daß sie im Wandelgang der Akademie Ulrich Zimmermann traf, der mit einem bekannten Maler im Gespräch auf und ab ging. Er war beglückt, Virginia zu sehen, diese fand die Gelegenheit günstig, und unter dem Druck der Umstände vertraute sie sich ihm an. Er war außer sich. Seine temperamentvolle Empörung gab Virginia Anlaß zu neuen Befürchtungen. »Was wollen Sie tun?« fragte sie. »Lassen Sie mich nur machen,« antwortete er feurig, »ich werde Sie von diesem Desperado befreien.« Und was machte der unglückselige Dichter? Er fuhr zu Erwin hinaus, der am selben Tag zurückgekehrt war, erzählte ihm die Schmach, die Virginia erlitt, fragte, was dagegen zu unternehmen sei, und erbot sich, Sixtus von Flügel zu fordern. Erwin erblaßte bei der Mitteilung. »Sie sind ein Narr,« sagte er zu Ulrich Zimmermann; »ich werde den jungen Mann ein bißchen einschüchtern, verlassen Sie sich darauf. Heut über drei Tage befindet sich Herr von Flügel nicht mehr in Wien.« Ulrich Zimmermann staunte. Die Sache war die, daß Sixtus von Flügel bei Erwin nicht nur tief verschuldet war, sondern daß er auch vor einiger Zeit auf den Namen des Freundes seiner Schwester eine bedeutende Fälschung begangen hatte. Somit war Erwin gegen ihn im Besitz einer stärkeren Waffe, als es Degen und Pistole sind. Am gleichen Mittag zwischen zwölf und ein Uhr fand sich Erwin im Flügelschen Hause ein. Marianne hatte ihn erwartet, Sixtus war wie vor ein Gericht bestellt worden. Die Unterredung dauerte nicht lange. Erwin war unerregt und stellte mit eisiger Ruhe seine Bedingungen, deren Nichterfüllung Skandal und Schande hervorrufen würde. Sixtus mußte sich dazu entschließen, einen demütigen Abbittebrief, den ihm Erwin in die Feder diktierte, an Virginia zu richten; ferner mußte er einen Schein unterschreiben, worin er das ehrenwörtliche Versprechen gab, für die Dauer eines Jahres nach Paris oder London zu gehen, gleichviel wohin, jedenfalls aber Wien zu meiden. Dagegen verpflichtete sich Erwin, seine dringlichsten Schulden zu zahlen und ihm überdies eine mäßige Summe für seinen Unterhalt während der nächsten Monate auszusetzen. Die Wut und die Erniedrigung verwandelten den jungen Mann in ein Steinbild. Wäre nicht Marianne gewesen, die etwas wie eine seelische Gewalt über ihn ausübte, er hätte in der Raserei, die ihn durchtobte, Unheil angerichtet. So fügte er sich knirschend. Von dieser Stunde an trug Marianne gegen Virginia unauslöschlichen Haß, jedoch schien es ihr noch nicht an der Zeit, ein solches Gefühl zu offenbaren. Sie verschloß es in ihrem Busen, um es reifen zu lassen. Der Haß hat seine Sehnsucht, wie die Liebe. Als es Abend wurde, begab sie sich in Virginias Wohnung. Virginia hatte schon den Entschuldigungsbrief erhalten und war verwundert über die zauberhafte Schnelligkeit, mit der Ulrich Zimmermann sein Gelöbnis erfüllt hatte. »Ach, Virginia,« sagte Marianne mit sanftem Vorwurf, »hätten Sie doch noch ein wenig Geduld gehabt, ich hätte alles in Ordnung gebracht. Mein Bruder ist ein unleidlicher Wildfang, aber im Grunde seines Herzens ist er ein Kind. Nun haben Sie Erwin auf ihn gehetzt, von dem er in Geldabhängigkeit ist, und wer weiß, was daraus entstehen kann. Das war nicht freundschaftlich gehandelt.« Virginia war sprachlos. »Ich hätte Erwin auf ihn gehetzt?« flüsterte sie endlich. »Ja natürlich; woher hätt’ es denn Erwin wissen können?« »Sie dürfen mir glauben, Marianne, daß das ohne meinen Willen geschehen ist«, versicherte Virginia hastig. Gerade Erwins Dazwischentreten habe sie vermeiden wollen und sich deswegen an Ulrich Zimmermann gewendet. »Das ist gerade so, wie wenn Sie sich an Erwins Rockschoß gehängt hätten«, antwortete Marianne trocken. »Man sollte wirklich denken, daß Sixtus ein Menschenfresser ist«, fügte sie ärgerlich hinzu, lenkte jedoch rasch ein, als sie wahrnahm, daß Virginias Blick befremdet und funkelnd auf ihr ruhte. »Sie haben ja Recht,« sagte sie, »und mein Bruder sieht es ein. Er ist in Sie verliebt, und um der Geschichte ein Ende zu machen, reist er morgen für ein Jahr ins Ausland. Sie können also wieder in Frieden Ihre Straße ziehen, der Wegelagerer ist nicht mehr zu fürchten. Dummer Teufel, der er ist, hat keine Kunst und keine Feinheit.« Nach diesem kleinen Nadelstich, der aber sein Ziel verfehlte, zog sie ihr Döschen heraus und fing an zu rauchen. Virginia trug Ulrich Zimmermann einen um so tieferen Unwillen nach, als sie sich durch diesen Verlauf in eine immer unzerreißbarere Verbindlichkeit gegen Erwin getrieben sah. Ihr war, als regiere ein herrischer Arm über ihrem Leben, behüte sie, das wohl, heische aber auch Gehorsam und Dank dafür. Sie zollte ihm Dank; dankbar zu sein, lag im Kern ihres Wesens, doch die Umstände waren gar zu heikel und erzeugten Fesseln, von denen sie sich unfroh gehemmt fühlte. Dazu kam die Unsicherheit, wie er all dies aufgenommen: ob er es nicht im stillen tadelte und unehrlich fand, daß sie sich an einen Dritten gewandt, da er doch der Meinung sein mußte, der Umweg sei nur ein Verlegenheitsspiel gewesen. An einem der nächsten Vormittage ging sie über den Graben, und schon von weitem erblickte sie Erwin in einer Gesellschaft von zwei Herren und zwei Damen, höchst elegant gekleideten Leuten. Alle fünf Personen waren in einem heiter belebten Gespräch, und als Erwin Virginia erblickte und näher kommen sah, flammten seine Augen eine Sekunde lang auf, und er entschloß sich zu einer ebenso verwegenen wie raffinierten Komödie. Er redete nämlich mit den beiden Damen weiter, die, überrascht von Virginias Erscheinung, sie mit schiefen Blicken verfolgten, Blicken, die für Männer peinlich und unergründlich und eine Mischung von Feindseligkeit, Wohlwollen, Neugier und Verrat sind. Er redete ruhig weiter, während er seine Augen an Virginias Augen vorbei auf ihre Wange heftete und sie vorübergehen ließ, ohne sie zu grüßen. Virginia hatte sich schon zum Gruß bereitet; sie hatte schon die Lippen zu freundlichem Lächeln gehoben, und als das Unerwartete eingetreten war, wußte sie nicht, wie ihr geschah, glaubte sie in die Erde versinken zu müssen. Am liebsten hätte sie sich gegen die Mauer eines Hauses gelehnt, denn Schwäche überfiel sie, und sie dachte im Verfluß weniger Sekunden an viele Dinge wie einer, der in einen Abgrund stürzt. Mit Mühe schleppte sie sich zu einem Einspänner, fuhr nach Hause, und dort wurde ihr so übel, daß sie sich aufs Sofa legte. * * * * * Erwin hatte in der letzten Zeit Virginias Nähe nicht ohne Plan gemieden. Da es zu seinen mystischen Überzeugungen gehörte, daß nicht nur der Wille zum Ziel führt, sondern daß auch das Ziel den Willen bindet und an sich reißt, wähnte er der handelnden Anteilnahme entraten zu können, wenn die Erzeugung und Entladung großer Spannungen gültigen Ersatz für die kleinen und alltäglichen Fortschritte boten. Er arbeitete, hörte Kollegien, hielt selbst Vorträge in der Aula, zu denen sich ein erlesenes Publikum drängte, er ritt, er focht, spielte Tennis und Fußball, ging ins Theater, in Gesellschaft, pflegte seine zahllosen Beziehungen mit Umsicht und Kaltblütigkeit, aber in dieser wechselreichen Bewegung blieb Virginia der Augenpunkt wie ein ferner Leuchtturm für ein nachtfahrendes Fischerboot. Um diese Zeit war es auch, daß das Verhältnis mit Helene Zurmühlen seine Reife erlangte und einen Charakter annahm, der das Schicksal der jungen Frau besiegelte. Helene Zurmühlen stammte aus einem guten Haus; die Kynasts waren eine alte, hochangesehene Patrizierfamilie. Helene hatte mit achtzehn Jahren geheiratet. Frühreif, wie sie gewesen war, hatte sie den Zwang der Jungmädchenschaft als drückend empfunden. Robert Zurmühlen, den sie in sich verliebt zu machen gewußt, behandelte sie auch in der Ehe wie ein höheres Wesen. Das Talent, das ihm zum Kaufmann großen Stils fehlte und das eine Mischung von strategischen und rechnerischen Fähigkeiten ist, ersetzte er durch den zähen Fleiß eines Mannes, der jeden Daseinsgenuß zu opfern vermag, um reich zu werden. Denn Helene sehnte sich nach Reichtum. Sie hatte ein Kind von fünf Jahren. Sie schien glücklich zu sein. Sie achtete ihren Mann, sie schien ihn zu lieben. Er stand völlig unter ihrer Botmäßigkeit; sie suchte ihn zur Eleganz, zu einem weltmännischen Gehaben zu erziehen und wollte ihm Geschmack an moderner Literatur beibringen. Doch er war kleinlich, in Gelddingen krämerhaft, das verdroß sie, und sie kämpfte vergebens gegen diesen Fehler. Er hatte zahlreiche Verwandte in der Stadt, und Helene sah sich gezwungen, einen großen Teil ihrer Zeit diesen fremden und gleichgültigen Menschen zu widmen. Sie schien bescheiden, aber entsagungsvoll; sie war aufregungsbedürftig und stellte sich blasiert, war lecker, naschhaft, ja ausgehungert und stellte sich übersättigt, war menschensüchtig und stellte sich weltmüde. Keineswegs nur aus Lust an der Gebärde; der Zwiespalt lag wie eine angeborene Krankheit tief in ihrer Natur. Einige Seelenforscher versichern, daß die in der bürgerlichen Welt zutage tretenden Leidenschaften vornehmlich von Freiwilligkeit regiert werden, was ungefähr dasselbe heißen will, wie wenn man eine Feuersbrunst auf Brandstiftung zurückführt. Vom ersten Augenblick an, wo sie Erwin Reiner durch Vermittlung ihres Bruders kennen lernte, war es für Helene ausgemacht, daß sie diesen Mann gewinnen müsse. Er zeigte sich ihr als der wahrgewordene unter den kühnsten ihrer Träume. Sie fühlte ihre vollkommene Wehrlosigkeit gegen ihn. Sie war geblendet und erlag der Energie seiner Persönlichkeit mit einer fatalistischen Ruhe. Es war noch nicht gewiß, ob er sie vom Boden aufheben würde, aber sie kniete schon, erschöpft vom Horchen, vom Zuschauen, vom Warten, angewidert von Familienabenden, gelangweilt von Pflichten und Rücksichten, sie, die stets von Pflichten und Rücksichten sprach und einem Schutzengel der Tugend glich. Was setzest du aufs Spiel? fragte Erwin, der die Eroberung zu leicht fand. Mich! antwortete Helene. Dieses Temperament des Vornichtszurückschreckens hatte immerhin den Kitzel der Neuheit. Erwin bedurfte keiner Worte, keiner Künste, keiner Beteuerung, keiner Narkose; hier hatte eine Macht, die er kennen mußte, da er einer ihrer Emissäre und Agenten war, so umfassend vorgearbeitet, daß ihm eigentlich nichts mehr zu tun übrig blieb. Aber die Frau gefiel ihm. Sie war zierlich, außerordentlich zierlich. Sie gefiel ihm, wie ihm eine kostbare Vase gefallen hätte. Er verglich sie mit einem Nokturno von Chopin, stimmungsvoll vorgetragen. Sie hatte Poesie; sie hatte Witz und Schliff. Es beschäftigte ihn angenehm, das lüsterne Herzchen mit Leckerbissen aus seiner sublimen Küche zu füttern. Er übte sich an ihr; er konnte nachlässig sein und befeuert sein, er konnte schwermütig sein und rebellisch sein, er konnte lächeln wie ein Faun oder wie Apoll, für Helene verlor er nie von seinem Wert; sie bewunderte seine meisterhafte Haltung. Wie verführt man ein junges Mädchen? fragte sich Erwin; indem man sich zu ihrem Ideal macht. Nichts ist leichter und einfacher. Wie verführt man eine Braut? Indem man ihre Ideale revolutioniert. Das ist schwer und mühevoll. Bei einer verheirateten Frau jedoch hat man nur nötig, gegen den Gatten Kehrt zu machen, indem man die Vesprechungen erfüllt, die er nicht eingelöst hat. Die Größe in Erwins Lebensführung, die Freiheit seines Geistes, die Tiefe seiner Ansichten war es wohl zunächst, was Helene bezauberte; aber wodurch sie sich ihm bis zur Selbstvergessenheit unterworfen fühlte, das war seine Zärtlichkeit. Er verwöhnte sie durch Zärtlichkeit, er verwandelte sie in eine Sklavin durch Zärtlichkeit, er wußte sie aufzuschüren, freudig, glühend, ja bacchantisch zu stimmen durch Zärtlichkeit. Sie hatte nie dergleichen für möglich gehalten, schon sein anrührendes Wort verwandelte sie; alles Kleinmütige und Hausbackene entschwand, und die Beunruhigungen des Gewissens erschienen ihr in seiner Nähe, durch die Kraft seiner Zärtlichkeit, so banal wie das Lampenfieber. Sie war nicht mehr die anständig gewesene Frau, die Ehebruch beging und mit Pein und Schauder über die gewundenen Pfade der Heimlichkeit schritt; sie war in seinen Armen über solch niedriges Los hinausgerückt, und so lange seine Arme sie hielten, konnte sie nicht fallen. Mit erstaunlicher Sicherheit hatte Erwin erkannt, daß er dieses im Kern erschlaffte Geschöpf durch sinnliche Entflammungen nur noch verderblicher erschlaffen würde; demgemäß war seine Zärtlichkeit so vielfältig, so besonders, so fremd, so geistig, so behutsam, so tiefgründig, daß es oft den Anschein hatte, als wolle er eine neue Art von Liebesgefühl und Verlockung erzeugen, und die Wirkung, die er ausübte, half ihm hinweg über die Ärmlichkeit und Flüchtigkeit der Beziehung zu einer Frau, die leer war, nachdem sie sich geschenkt hatte. Ja, er probierte, er erfand, er forschte nach dem unwiderstehlichen Mittel, dem Rezept der Rezepte; es war für ihn gleichsam ein Versuch am Gipsmodell vor der Arbeit gegenüber der lebenden Figur. Vielleicht, da er nun so im tiefen Spiele war, sollte es eine Fortsetzung des Spieles sein, was ihn bewogen hatte, Virginia vorübergehen zu lassen, ohne sie zu grüßen. Planlos geschah es nicht. Er zerbrach für eine Stunde die Kette, die er dann um so fester schmieden konnte. Genau eine Stunde später war er in Virginias Wohnung. »Sagen Sie mir um Gotteswillen, bin ich Ihnen nicht vorhin in der Stadt begegnet?« fing er an. »Es ist mir wie ein Traum.« Virginia war noch immer verstört, aber sie atmete auf. »Was war denn das?« flüsterte sie mit nicht verhehltem Unwillen. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Erwin; »es war eine Halluzination, oder vielmehr die sonderbarste Umkehr von Halluzination. Sie sind zu jeder Zeit in meiner Vorstellung so gegenwärtig, daß es mir wie einem Kind ergangen ist, wenn es sich tagelang auf seine Mutter gefreut hat, und wenn die Mutter wirklich ins Zimmer tritt, sich benimmt, als wäre sie gar nicht fortgewesen. Etwas Ähnliches ist mir nie passiert. Verzeihen Sie mir.« Er schien es sehr ernst zu nehmen, das versöhnte Virginia, und sie mußte sogar lachen. Im Grunde war sie froh, an den häßlichen Zwischenfall nicht mehr denken zu müssen. »Ich habe noch eine Bitte«, begann Erwin wieder; »ich gebe Ende nächster Woche meinen Freunden und vielen andern Leuten, denen ich gesellschaftlich verpflichtet bin, einen Abend, eine Art von Fest, wenn Sie wollen. Frau von Resowsky wird die Liebenswürdigkeit haben, die Honneurs zu machen. Darf ich Sie und Ihre Mutter dazu einladen?« »Die Mutter geht nicht in Gesellschaft«, erwiderte Virginia rasch und im Gefühl, daß die Anwesenheit der Mutter gar nicht gewünscht werde; »davor hat sie Angst wie vor einem Eisenbahnunglück.« »Das wird mich aber hoffentlich nicht Ihrer Gegenwart berauben«, versetzte Erwin förmlich. »Wenn ja, so würde ich allen Leuten noch in letzter Stunde absagen«, fügte er hinzu, als er eine Bedenklichkeit bei Virginia bemerkte. »Ich habe Sie mir versprochen; es ist mir wichtig, daß Sie da sind, und Sie werden da sein.« Oho, dachte Virginia erstaunt, so spricht man mit mir? Sie versuchte zu lächeln, konnte aber Erwins Blick nicht ertragen. Es kam plötzlich etwas Schweres, schwer zu Tragendes über sie, und sie wußte nicht, woher es kam. »Ihre Weigerung würde Unglück für mein Haus bedeuten«, fuhr Erwin hartnäckig fort. »Sind Sie denn abergläubisch?« »Ich bin abergläubisch wie alle, die nichts als sich selber haben, um daran zu glauben. Geben Sie mir Ihr Jawort und Ihre Hand.« Virginia gab ihr Jawort, aber nicht ihre Hand. In der Küche draußen ließ Frau Geßner die Wasserleitung plätschern. Virginia trat langsam zum Fenster. Erwins Nüstern flogen, als er ihren edelschleichenden Gang bis in die Einzelheiten des Rockfaltenwurfs verfolgte. Mein, mein, mein, mein, jubelte es in ihm. Ihre offensichtliche Verstimmung tat ihm wundersam wohl, wie ein Nachthauch, wenn man aus erhitzten Zimmern tritt. Es war etwas so Pflanzenhaftes an ihrem plötzlichen Traurigsein, etwas, was gleichsam mit dem Mond zusammenhing und an den Fall von Sternen erinnerte. Dies liebte er in den Frauen, dies Wurzeln in dunkler Erde und Auftasten zu den Sphären. Es konnte ihm in der Folge nicht entgehen, daß sie scheuer geworden war, seit er sie vor den Nachstellungen des jungen Flügel gerettet. Ulrich Zimmermann hatte ihm da einen vortrefflichen Dienst erwiesen. Doch Ulrich selbst war untröstlich, denn er war von Marianne belehrt worden, wie sehr Virginia gegen ihn erzürnt sei. Der Anlaß wurde ihm nicht klar, er dachte entschlossen gehandelt zu haben, und als er eines Nachmittags zu Erwin kam und ihm dieser sagte, Virginia rechne ihm sein Benehmen als Feigheit, ja fast als Verrat an, war er wie aus den Wolken gefallen. Und plötzlich begriff er. Er sprang von seinem Stuhl und wollte fortstürzen. »Wohin?« rief Erwin streng. – »Zu ihr.« – »Das lassen Sie nur hübsch bleiben«, sagte Erwin stirnrunzelnd. »Eine Dummheit erklären wollen, heißt sie verdoppeln. Sie sind mir ein wenig Haltung schuldig, mein Freund. Am Samstag treffen Sie Virginia hier. Bei der Gelegenheit können Sie ihr sagen, daß ich mit Sixtus Flügel eine alte Rechnung ausgeglichen und zu meinen Gunsten bilanziert habe. Ich selbst habe mit ihr noch nicht über die Geschichte gesprochen, und ich wäre froh, wenn sie sich mir gegenüber frei fühlte. Das kann sie, wenn sie erfährt, daß ich dabei meinen Nutzen gehabt habe.« »Diese Politik ist mir zu gewunden«, antwortete Ulrich Zimmermann mürrisch, aber er fügte sich, weil er mußte. Er war gekommen, weil er Geld brauchte. Stumm saß er hinter Erwins Sessel, der an seinem Schreibtisch arbeitete. Es vergingen anderthalb Stunden, deren Schweigen nur von den wiederkehrenden Glockentrillern der kostbaren Spieluhr auf dem Kamin unterbrochen wurde. Endlich stand Erwin hochatmend auf. »Wie viel wollen Sie?« wandte er sich freundlich an Ulrich Zimmermann, dessen Anwesenheit er vergessen zu haben schien. Ulrich errötete. »Riecht man denn das, wenn einer Geld braucht?« fragte er mit wehmütigem Humor. »Ach, könnten Sie ahnen, was es heißt, um Geld zu bitten!« fuhr er ungestüm fort. »Den Mörder bittet man um das Leben, und man fühlt sich nicht gedemütigt, aber vom Reichen, und ist er ein Freund, Geld fordern, heißt sich grenzenlos erniedrigen. Und das Furchtbarste: stets genießt der Gebende, was der Empfangende so schwer verwindet.« »Der gibt schlecht, der nicht dankt, wenn er gibt«, stimmte Erwin bei, den die Großherzigkeit und Beschwingtheit in Ulrichs Worten sympathisch berührte. Als Ulrich Zimmermann die Villa verlassen hatte, blieb er auf der Straße stehen und schaute nachdenklich zurück. Sein Blick fiel auf das Giebeldreieck, auf welchem in den Stein gemeißelt das Wort »Sansara« zu lesen war. Das war der Name von Erwins Haus. »Sansara,« murmelte Ulrich, seinen Weg fortsetzend, »Sansara!« Das hat Pathos, grübelte er, das hat Hintergrund. Plakatierte Metaphysik. Der Übermut des Besitzes erweist der Religion der Armut seine Ehrfurcht. Die asiatische Firmentafel, gerade gut genug über der Zwingburg europäischer Geistigkeit. Der Bürgeraristokrat macht einen platonischen Purzelbaum zum Nabel des Buddha und verewigt sein Kunststück durch eine steinerne Fanfare. Aber sollte darin nicht auch etwas Ergreifendes liegen? fragte sich der junge Dichter; der aufgestachelte Widerpart des Gottlosen gegen den Despotismus einer unbeseelten Ordnung? Flucht vor der dutzendmäßig beschnittenen Gemeinheit aller übrigen Geschicke? Tröstlich vermessenes Aug-in-Auge-stehen gegen eine Gewalt, die man am Ende doch selber aufgerichtet hat, um nicht in den luftleeren Raum zu stürzen? Ich könnte meinem Buch den Titel geben: Mirowitsch oder die wesenlose Opposition. * * * * * Virginia war um halb acht Uhr fix und fertig. Sie trug ein Kleid aus veilchenblauem Battistlinon, verziert mit irischen Spitzen. Der Brustausschnitt war bescheiden. Das Haar war zu einem griechischen Knoten geknüpft. »Nein, das ist zu schön, zu schön«, rief Frau Geßner immer wieder und streichelte das Kleid mit zagen Fingern. Virginia wünschte, daß Manfred sie sehen könnte; doch stünd ich hier, fuhr es ihr durch den Sinn, stünd ich so hier, wie ich bin, wenn er mich sehen könnte? Sie heftete den Blick in den Spiegel, – fast mißbilligend. Man rief nach ihr, so schien es, und ungern folgte sie, obgleich erglüht. Sie hatte einen Wagen bestellt und fuhr hinaus. Vor dem Eingang zur Villa stand eine lange Reihe von Fiakern und Automobilen. Man konnte einen Teil des Parkes wahrnehmen und sah Lampions unter den Bäumen. Jede Frau, die in festlichem Anzug einen Ballsaal, ein Theater, einen Salon betritt, zeigt das nämliche alberne, besorgte, trunkene und phantastische Lächeln, als ob sie sagen wolle: jetzt kommt das große Unerwartete. Virginia beobachtete dies, während sie sich in der Halle ihres Mantels entledigte. Ein Diener half ihr dabei. Wichtel, kaum daß er Virginia gesehen, ging, um seinen Herrn zu benachrichtigen. Erwin kam. »Ich muß zwei Worte mit Ihnen sprechen«, raunte er ihr zu. Sie folgte ihm betroffen in ein kleines, von dem orangeroten Licht einer Ampel beleuchtetes Gemach. Er schloß die Tür. »Was bedeutet das?« fragte sie ängstlich. Er legte den Finger an die Lippen, riß hurtig eine Lade auf und hielt ihr das Perlenhalsband zwischen beiden vorgestreckten Händen entgegen. Ohne den Blick abzuwenden, trat Virginia einen Schritt zurück. »Sie haben mir versprochen –« stammelte sie. »Ich habe nicht davon geredet«, erwiderte er mit verführendem Lächeln. Virginia wich noch weiter gegen die Tür. Erwin folgte mit der Kette. »Wir haben keine Zeit zu Verhandlungen«, sagte er leise und mit einem Lachen in der Stimme. »Fragen Sie nicht! Fragen Sie nicht! Ja, Manfred hat geschrieben. Soll ich’s Ihnen schwarz auf weiß zeigen? Ich kenne sein Vertrauen. Er aber kennt Ihr schimpfliches Mißtrauen nicht.« Und als sie eine abweisende Gebärde machte, einen hilflosen, verwirrten, bittenden Blick auf ihn warf, flehte er: »Nur diese eine Nacht! Nur diese eine Stunde! Gönnen Sie meinen Augen die Lust!« Schon hatte er die Kette um ihren Hals gelegt und klatschte nun begeistert in die Hände. »Herrlich! Göttlich! Unvergleichlich!« Eine Uhr tat neun Schläge. Aufruhr und Zorn gegen den Mann, der sie schmückte, erwachte in Virginia; aber dahinter wirbelte eine ungestüme Freude. Gut, dachte sie, einen Abend lang, weshalb nicht. In ihrem Innern glaubte sie nicht mehr an so kurze Dauer. Sie hatte ein Weihnachtsgefühl, und fand es doch seltsam, daß Manfred eingewilligt, zumal die verflossene Frist ein wenig knapp schien. Bei alledem ist wesentlich, daß sie von dem Wert des Schmuckes weder einen Begriff hatte noch sich Gedanken darüber machte. Ganz von fern stieg in Sekunden eine Befürchtung auf, ein Schatten, die Schwere eines Unrechts, der Ruhm der Perle an sich, aber durch jedes Einzelne wähnte sie den untadeligen Sinn des Gebenden zu beleidigen. »Vertrauen Sie mir«, sagte Erwin fest, und Kraft, Ermunterung, Ritterlichkeit, hochaufgerichtete Ritterlichkeit strahlten an ihm. »Wenn es nur nicht eine Torheit ist«, sagte Virginia, reichte ihm aber doch die Hand, die kalt war vor Freude sowohl wie vor Bestürzung. An einem Spiegel vorüberschreitend, erblickte sie die Perlen. Dieser Moment erfüllte sie mit Glück und Stolz. Ihr war zumute, als sei sie in ein Märchen versetzt, – und heute wollte sie das Wunderbare gewähren lassen. »Und wenn man mich fragte?« wandte sie sich treuherzig an Erwin. »Marianne zum Beispiel könnte doch fragen.« Sie zögerte wieder. »Nein, Erwin, nein,« flüsterte sie beklommen, »ich fühle, es geht nicht.« »Marianne ist nicht hier«, antwortete er kurz, und ein Unwillen, der ihr Schrecken einflößte, malte sich auf seiner Stirn. »Haben Sie mich im Verdacht, daß ich mich brüsten werde? Glauben Sie mir nicht? Weiß ich am Ende Ihre Nachgiebigkeit nicht zu würdigen? Ist Ihr Verlobter nicht ein Mann, der so ein Halsband auf seinen Kredit beanspruchen kann?« Virginia schwieg errötend. Er verließ durch eine Tür zur Linken das Gemach. Virginia trat wieder in die Halle. Erwin kam draußen auf sie zu; jetzt verstand sie den Umweg und erschrak aufs neue. Sie war nur wenige Minuten mit ihm allein gewesen, aber daß es heimliche Minuten waren, hatte sie nicht bedacht. Er führte sie zu Frau von Resowsky, die sich liebevoll ihrer annahm und sie von Gruppe zu Gruppe geleitete. Von den Namen, die man ihr nannte, blieben wenige ihrem Gedächtnis eingeprägt. Der Glanz des Lichtes betäubte sie. Sie sah nur Umrisse von Gesichtern, blonde, schwarze, weiße Bärte, viele Blumen, die stark dufteten, viele Augen wie lebhafte kleine Tiere, die Kleider der Damen als zartestes Farbengemisch und die Haut ihrer Büsten verletzend wahr und nahe. Fast alle blickten sie staunend an. Gleichwohl hatte sie den Eindruck, daß andere Frauen schöner seien als sie. Sie war durchaus nicht beengt, sie gewann im Gegenteil mehr und mehr Freiheit durch die Wahrnehmung, daß es zwischen ihr und den meisten dieser Menschen kein lebendiges Band gab. Ulrich Zimmermann trat zu ihr und begrüßte sie. Sehr zur Unzeit fing er an, die Erklärungen zu stottern, die er sich vorgenommen hatte, sprach sogar, genau mit Erwins Worten, von einer Rechnung, die jener »zu seinen Gunsten bilanziert«, aber Virginia schüttelte verwundert den Kopf und schien alles vergessen zu haben. Plötzlich starrte Ulrich mit hochgeründeten Brauen auf die Perlenkette. Er hatte Virginia arm geglaubt, das war aus seinem Erstaunen zu lesen. »Sie tragen ja ein Vermögen an Ihrem Hals«, sagte er gedrückt, ohne zum Bewußtsein seiner Taktlosigkeit zu gelangen. Virginia stutzte; der ferne Schatten wuchs. Dann aber lächelte sie an Ulrich vorbei. Ein Übermut war auf einmal in ihr, wie sonst nur, wenn sie tanzlustig war. Ulrich Zimmermann senkte die Stirn vor ihrer Schönheit. Das Lampenlicht verlieh dem feinen Sammet ihrer Haut einen metallischen Glanz. Manche Herren wollten sich erinnern, sie schon gesehen zu haben, und drückten es in schmeichelhafter Weise aus. Graf Palester, blaß, ernst, kalt, verschlossen, verbeugte sich korrekt, ohne das Wort an sie zu richten. Jedoch war er nur ihretwegen der Einladung Erwins gefolgt. Einige Attachees umringten sie; ein japanischer Arzt, ein paar junge Statthaltereibeamte wurden ihr vorgestellt. Sodann machte Erwin sie mit Helene Zurmühlen und deren Gatten bekannt. Helene erschien ihr wie ein Spielzeug, und in der Tat war die Gestalt der jungen Frau von einer fast unnatürlichen Schlankheit. In ihrem Gang war der edelste Anstand, und eine Vorsicht, als lägen überall Steine. Alles schien zerbrechlich an ihr, der rührend weiße Hals, die apathischen Arme, die mageren, gelben Hände, die oft zu Fäusten geballt waren wie bei kleinen Kindern, wenn sie schlafen, der schmale, stets seitwärts geneigte, von leuchtend schwarzer Haarflut übermäßig belastete Kopf, in dem ein lilienhaftes Antlitz, herzförmig geschnitten, von den Schatten einer süßen Melancholie überdunkelt war. Aber diese Melancholie hatte etwas Grelles, und die Natur selbst strafte sie Lügen durch den starken, brennenden Mund, welcher List, Neugier und Unruhe verriet. Um das ernüchternde Beisammensitzen an einer großen Tafel zu vermeiden, war im Speisesaal freies Büffet errichtet, und fünf Diener versorgten die immer wechselnden Gäste. Ein paar Räume weiter endete die Flucht in einem kleinen Gemach von köstlichem Luxus. Dorthin hatten sich Ulrich Zimmermann, Graf Palester und ein Freund des letzteren, ein Herr von Hefforig, zurückgezogen. Alle drei rauchten. Auf dem Tische vor ihnen stand eine Flasche Bocksbeutel, aus welcher Ulrich von Zeit zu Zeit in die Gläser nachgoß. Herr von Hefforig war ein schweigsamer junger Mann und beteiligte sich nur durch aufmerksames Zuhören am Gespräch. Man wußte wenig mehr von ihm, als daß er aus einer Familie von Selbstmördern stammte. Er war drei Jahre in Südamerika gewesen, wo er Studien über die Schädelbildung der Patagonier gemacht hatte. »Charakteristisch find ich die jetzige Mode der Damen«, sagte Ulrich Zimmermann; »ich möchte behaupten, es liegt Verständnis für die Epoche darin. Wahre Prachtliebe neigt zur Unscheinbarkeit. Die ganze Farbenskala, die uns blendet, ist nämlich ein Betrug, denn alle diese Heliotrop und Violett und Blaßblau ergeben in Summa einen traurigen und kranken Ton. Man stellt sich lärmend und ist leise wie im Zimmer eines Sterbenden. Ich finde das stilvoll.« »Ob ich Ihnen beipflichte oder nicht, kann das Ihre Meinung ändern?« versetzte der Graf. »Man kehrt langsam zu den echten Spitzen zurück,« fuhr Ulrich Zimmermann hartnäckig fort, »und in New York versicherte mir eine junge Milliardärin, Perlenketten seien vornehmer als Diamanten, weil bei diesen die Imitationen von Jahr zu Jahr besser würden.« Palester warf Ulrich einen kurzen, verleugnenden Blick zu. »Ein solcher Abend ist für mich ein Alpdruck«, sagte Ulrich schuldbewußt. »Und doch ist alles in mir wach, alles bäumt sich auf, Scham, Ehrgeiz, Spott, Verachtung; ich denke die schlechten und selbstsüchtigen Gedanken einer ganzen Tafelrunde, ich möchte aufstehen und reden, alle sind meine Feinde, und alle will ich überzeugen. Aber niemand glaubt mir, und eh noch ein Wort über meine Zähne gekommen ist, werde ich aus einem Apostel zu einem Lakaien.« »Sie haben damit den Kern des Prozesses treffend bezeichnet«, antwortete der Graf mit regungslosem Gesicht; »die Gesellschaft verwandelt den Apostel auf stummem Weg in den Lakaien.« »Ja, so ergeht es mir«, sagte Ulrich mit lodernden Augen. »Ich werde in Sold genommen und festgeschmiedet. Meine Seele wird zum Wallfahrtsziel aller andern Seelen. Ich spüre die Vorwürfe der Ehebrecherin und die Angst der Modelöwin, die ihr Wirtschaftsgeld für einen neuen Hut verausgabt hat. Ich sehe das Zähneknirschen des präterierten Beamten und die sorgenvollen Berechnungen des Börsianers. Ich weiß, daß dieser junge Mann mit seinem gemeinen Grinsen irgendwo im Mundwinkel an eine Kokotte denkt, während er einer anständigen Frau den Hof macht, und daß diese anständige Frau von dem Gespenst einer unerwünschten Schwangerschaft gequält wird; ich kenne die verzweiflungsvolle Frechheit des Überlings, der da spricht: für mich gibt es keine Moral, sondern nur Zweckmäßigkeit, und mir graut vor den verbrecherischen Gelüsten des jungen Mädchens, das ins Leben tritt wie eine robuste Stallmagd, die die Kuh zu melken sich anschickt. Hinter dem geistreichen Geflunker gewahre ich Aktien und Kurszettel, hinter den sozialen Wohlfahrtsphrasen eheliche Zänkerei, hinter dem gebadeten Lächeln Gram, Eifersucht und Stumpfsinn, hinter dem diplomatischen Getue werden Völker in ungerechte Kriege verstrickt. Sie sind mir zu nackt, allesamt, sie vergiften mir das Gewissen, und erst das schlechte Gewissen verkauft mich an die Idee, und meine Idee muß noch größer sein als meine Demütigung, sonst kann ich aus der Sklaverei, in der ich mich befinde, kein Kapital schlagen.« Es entstand ein Schweigen. Herr von Hefforig erhob sich, grüßte höflich und ging hinaus. Eine zu heftige Beredsamkeit beleidigt oft den feinfühligen Zuhörer. »In einem finsteren Zimmer, oder im Freien, auf einer Wanderung im Gebirge, würden mir Ihre Worte einen stärkeren Eindruck machen«, sagte Palester seltsam. Da trat Erwin unter die Tür und drohte scherzhaft mit dem Finger. »Eine kleine Verschwörung?« fragte er. Ulrich trat zu ihm und ging mit ihm hinaus. »Haben Sie sich nicht über das Perlenkollier gewundert?« begann er mit verräterischer Hast. Erwin blieb stehen und wandte ihm das Gesicht voll entgegen. Sein blitzender Blick war kalt, durchbohrend und mitleidig. Ulrich griff mechanisch an die Stirn. Erwin kehrte sich ab und ging allein weiter. Aber Ulrich hatte verstanden. Er irrte eine Weile zwischen den Menschen umher, dann begab er sich in die Garderobe, warf den Überzieher um die Schultern und, den Hut in der Hand tragend, verließ er das Haus. Sein Gehirn war wie erfroren. Er wanderte weit, weit; durch die ganze Stadt und in den Prater und bis zur Donau. Auf dem Rückweg sang er laut, um nicht denken zu müssen. In der Hauptallee setzte er sich auf eine laternenbeschienene Bank und stocherte in kummervoller Zerstreutheit mit der Stockspitze im Sand herum. Endlich schrieb er, schrieb Verse: Die Seele, die berührst du nicht, die ist im Leib vergraben; sie weiß nicht, was die Lippe spricht, will’s auch nicht Kunde haben. Im stillen träumt und blüht sie hin, läßt Leid und Glück verfluten und ziehet ewigen Gewinn vom Bösen und vom Guten. Beim Morgengrauen trat er in ein mit Dirnen und Zuhältern besetztes Kaffeehaus. Sein Frack erregte hämisches Aufsehen. Der beginnende Marktlärm verscheuchte mit den übrigen Gästen auch ihn. Er hatte sich verwandelt, aber keineswegs in den Lakaien. * * * * * Da die Hitze in den Zimmern zu groß wurde, hatten sich viele Gäste in den illuminierten Teil des Gartens begeben, wo Kaffee, Eis, Früchte und Likör serviert wurden. Erwin wanderte mit Frau von Resowsky und einem würdigen Exzellenzherrn auf der Terrasse auf und ab, deren massive Brüstungen sich zu beiden Seiten der flachgestuften Treppe mit anmutigen Bögen zum Garten hinabschwangen. Sie sprachen von den politischen Verfinsterungen, die sich im Osten des Reiches erhoben, und die Exzellenz erstaunte über die Einsicht und Tiefe in den Urteilen des jungen Mannes. »Und eine solche Kraft soll für den Staat verloren sein!« rief er scherzend. Erwin lachte. Er war gespannt und ungeduldig; er bohrte die Nägel in die Handflächen und hielt die Daumen wagrecht wie kleine Balanzierstangen; sein Blick war zerstreut, nur seine Zunge redete. Sie hatte seit neun Uhr gerade so einsichtig und tief mit den Medizinern über Medizin, mit den Agrariern über die Landwirtschaft, mit den Fabrikanten über Zölle und Rohprodukte, mit den Frauen über Erziehung und Lebenskunst gesprochen. Nach einer Weile bemerkte er Helene Zurmühlen, die an der Glastüre stand, den geöffneten Straußfedernfächer vor Brust und Hals, das Auge wie gebrochen ins Weite gerichtet. Der Ausdruck ihres Gesichtes mißfiel ihm, ihr wehmütiges Lächeln erbitterte ihn; dennoch trat er mit einer Verbeugung zu ihr. Sie wußte nichts zu sagen, sie bebte vor Ergebenheit. Was sie verschwieg, war Furcht vor Virginias Bild, Schmerz über deren Gegenwart, Gefühl von deren Überlegenheit. »Waren Sie gestern beim Rennen?« fragte Erwin und sah aus, als hätte er die weichste Liebkosung geflüstert. Sie schüttelte den Kopf, und die Spannung ihrer Züge milderte sich. Er wollte erzählen, sie unterbrach ihn jedoch, nachdem sie einen forschenden Blick umhergesandt, und murmelte mit erstickter Stimme: »Du hältst mein Leben in deiner Hand.« Unwillkürlich starrte er auf seine Hand. Sie ist eine Närrin, die nicht einmal versteht, sich im Preis zu halten, dachte er. Da ging Virginia vorbei und über die Treppe in den Garten. Hochaufgerichtet ging sie vorbei, strahlend und in ein heiteres Lächeln versunken. Alsbald tauchte sie in die violette Parkdämmerung. Erwin zuckte empor. Sein Gesicht wurde gesammelt und unbeweglich. »Wir werden uns an einem so schönen Abend nicht zur Trauer verführen lassen«, sagte er zu Helene, die in freudiger Unterwürfigkeit vor ihm stand. Seine Worte sollten offenherzig und tröstend klingen, aber indem er hinwegeilte, spürte er selbst, daß er nur ungenügend zu täuschen vermocht hatte. Helene hielt sich an der Steinbrüstung fest und schloß die Augen. Sie wollte nicht sehen, ihr graute vor der Klarheit der Dinge. Ihr Name wurde dicht neben ihrem Ohr genannt. Es war ihr Mann. Er legte den Arm um ihre Schulter und küßte sie auf die Stirn. Dann führte er sie in die Halle und wickelte sie in den Mantel wie ein müdes, krankes Kind. Der Garten duftete von Rosen und Jasmin. Er war von herrlichen Bäumen bestanden, Blutbuchen und Edelkastanien, Sumpfzypressen und Mangos, birkenblättrigen Pappeln, Ahorn- und Gingkobäumen. Virginia hatte ein wenig Sekt getrunken, und sie fürchtete Dummheiten zu reden, wenn sie sich mit Menschen ins Gespräch einließ, deshalb wich sie einer angeregt plaudernden Schar von jungen Männern und Mädchen aus und lenkte den Schritt unbedenklich über ein Stück Rasen. Erwin verlor sie an dieser Stelle aus den Augen, und er ging am Tisch der Lustigen vorbei, die ihn anriefen und ihn zu bleiben aufforderten. Er winkte ihnen zu und eilte weiter, sah auch von fern Virginias Gestalt durch die dunkeln Büsche schimmern und hatte sie bald erreicht. Jene aber wollten sich nicht zufrieden geben, und übermütig riefen ihre Stimmen immer wieder seinen Namen. »Kommen Sie, Virginia«, sagte Erwin, als ob er sie vor Verfolgern in Sicherheit bringen wollte; »kommen Sie!« drängte er und ergriff ihre Hand. – »Warum denn?« versetzte sie verwundert, »ich kann nicht so laufen, hier ist’s zu finster.« – »Fliehen wir, Virginia, verstecken wir uns vor ihnen, sie mögen uns nur suchen.« Seine elastische Raschheit brachte die Luft ins Wirbeln; Virginia lachte, und um nicht Spaßverderberin zu sein, ließ sie sich zur Eile überreden. »Schnell, schnell,« drängte er von neuem, sonderbar gepreßt und wild, »noch fünfzig Schritte und wir sind oben im Pavillon, und keiner wird wissen, wo wir hingeraten sind.« Und wirklich, Virginia lief, was hier im Dunkeln, wo die ebene Fläche sich zu einem Hügelanstieg entschloß, nicht eben leicht war. Es ähnelte einer Trunkenheit, daß sie lief; die Sommergerüche, nächtlich schwül, der schwüle Bodenhauch und das lebendigere Blut trieben sie hin, und sie atmete mit offenem Mund, lachte lautlos mit offenem Mund. Erwin, der sein Entzücken über ihre Schlankheit und Gazellengrazie hinter geschlossenen Zähnen verbarg wie man einen Aufschrei zurückhält, konnte nicht den Blick von ihr wenden und ließ ihre Hand erst los, als sie vor dem Pavillon standen. Es war das ein zierliches, von wildem Wein und Efeu behangenes Rondell, in dessen Mitte unter gekreuzten Balken eine chinesische Laterne mit roten Gläsern hing und Bank und Tisch, das Laubgewind und Weg und Busch mit sanftem Scharlach übergoß. Virginia sank hin, lehnte sich weit ins Staket hinein, preßte beide Hände gegen die Brust und stammelte: »Mein Gott, was war denn das? weshalb sind wir denn so gerannt? Ich kann nicht mehr.« Erwin setzte sich zu ihren Füßen auf die Schwelle. »Ruhen Sie sich aus«, antwortete er. »Niemand wird uns stören.« Eine Pause entstand. Allmählich kam Virginia zur Besinnung. »Weshalb sagen Sie das so wunderlich: Niemand wird uns stören –?« fragte sie. »Es ist mir nur so in den Sinn gefahren«, entgegnete er mit müder Stimme. Und wieder Virginia: »Warum kauern Sie denn auf der Erde? Sie können ja auch auf der Bank sitzen. Ihre Kleider werden ja schmutzig.« Die müde Stimme von unten antwortete: »Vielleicht find ich meine Lust daran, vor Ihnen auf der Erde zu kauern, Virginia. Was kann mir die Erde anhaben gegen das Gefühl, Sie über mir zu wissen.« Virginia dachte über seine Worte nach und schwieg. »Es ist so still hier«, murmelte sie dann. »Es ist sehr still hier«, bestätigte Erwin. »Die Glühwürmchen fliegen schon. Nur die Sterne sind zu blaß. Man sollte nicht an Orten wohnen, wo die Sterne so blaß sind im Mai.« Virginia suchte mit den Augen die Sterne. »Von meinem Platz aus kann ich die Sterne nicht sehen«, sagte sie. »Kommen Sie zu mir herab«, versetzte Erwin mit angehaltenem Atem. Virginia wurde nicht aufmerksam auf den Ton seiner Rede. Zu dieser Stunde schlief sie an andern Tagen längst, und ihre Lider wurden schwer. Plötzlich fragte sie mit innigem Klang in der Stimme: »Denken Sie auch manchmal an Manfred, Erwin?« »Ob ich manchmal an Manfred denke, Virginia?« fragte Erwin langsam dagegen, und er griff mit der Hand nach einer Rebe, die er abriß. »Ich denke immer an Manfred, immer, immer, immer. Ich denke Tag und Nacht an Manfred. Bei Tag, indem sich mir das Licht verdunkelt, bei Nacht, indem ich in die Kissen beiße. An wen könnt ich sonst denken als an Manfred? an wen mit gleichem Neid als an Manfred? ich, der Bettler, an Manfred, den Reichen, den Besitzer, den Unantastbaren, den, der vor mir kam?« »Was soll das heißen?« fragte Virginia ahnungslos und sehr bestürzt. Jetzt war die Reihe zu schweigen an Erwin. Er war sicher, daß Virginia die Frage wiederholen würde. So geschah es auch. »So muß ich denn reden?« fuhr Erwin fort, und seine Stimme war dumpf und ingrimmig. »Dürft ich denn reden? Nein, Virginia, nein. Wozu am Ende. Gehn wir lieber ins Haus zurück.« Dies war ein trefflicher Schachzug, durch den Virginia in ihrem blinden Schrecken bestärkt wurde. »Ist denn etwas mit Manfred passiert, etwas, was ich nicht weiß?« fragte sie in rührendem Mißverstehen. »Sprechen Sie doch, Erwin, quälen Sie mich nicht.« »Haben Sie Angst um Manfred?« kam es bitter von Erwins Lippen. »Ruhig Blut, Virginia. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß er der starke Felsen ist, an dem mein Glück und Wille zerschellt. Und wenn ich denn sprechen soll, so sei es, – der Nacht wegen, die so vergeßlich macht, und weil Glühwürmer im Laub spielen und weil die Sterne so blaß sind. Ist es doch über mich gekommen wie die Krankheit über den Lebenslustigen; dabei weiß ich nicht, wie arm, wie reich, wie elend, wie beschenkt ich mich dünken darf. Ich habe nicht daran geglaubt. Ich habe nicht an Liebe geglaubt. Alle Leidenschaften waren nur wie Bilder, an denen das Auge genießend hängt, oder wie Stunden, in denen man sich verliert, um sich noch wissender zu besitzen. Daß ich mich unwissend ins Hoffnungslose verlieren könnte, habe ich nie für möglich gehalten. Alle Frauen, auch die, die mir unentbehrlich waren für die Dauer eines Sommers, waren mir nur Gespielinnen. Sie rührten mich, sie erregten mich, sie verlockten mich auf eine Höhe des Daseins, sie wappneten mich mit meinen verborgenen Kräften und – ich glaubte nicht an Liebe. Hören Sie mir nicht zu, Virginia. Schließen Sie die Ohren mit den Fingern. Lassen Sie mich reden, wie jene Figur im Märchen von der Gänsemagd redet, die sich in einen Ofen stellte, um zu klagen, was ihr widerfahren war. O Falada, der du hangest, heißt es in dem Märchen. O Herz, das du hangest, muß ich klagen. Virginia, ich liebe. Ich bin unterminiert. Es ist etwas Geisterhaftes mit mir geschehen. Ich bin in einem Zustande der Niederlage, der Beschämung, der Verzweiflung, daß ich, allein bei mir, des Abends bei den Büchern, mit meinem Gehaben das Mitleid eines Schlächtergesellen auf mich ziehen würde. Denken Sie es ungesagt, Virginia. Ich will an mich halten. Ich will mich ducken, und Sie sollen mir von Mund und Stirn nichts ablesen können. Genug jetzt. Genug.« Damit bedeckte Erwin das Gesicht mit den Händen und blieb unbeweglich sitzen. Virginia hatte sich langsam aus ihrer bequemen Lage aufgerichtet. Ihr Gesicht war weiß geworden und brannte aus dem Zwielicht weiß heraus wie das Innere einer Mandel. Zweimal griff sie mit der Hand an die Wange und strich die Härchen zurück: eine zweimalige Gebärde der Trauer, der Entmutigung und der Bestürzung. Fühlbar wurde ihr Herz kleiner, und alles, was dieser Mann da vor ihren Füßen sprach, so tief es sie berührte, so menschlich sie es faßte, war etwas vollkommen Unerwartetes für sie, und ihr wurde kalt und weh dabei. Ein lebhafter Schauer flog über ihre fast unbeschützte Brust, und sie erhob sich. Sie schritt an Erwin vorüber und trat ins Freie. Erwin stand lautlos auf, trat lautlos neben sie. »Wir wollen es vergessen«, flüsterte er ihr mit erstickter Stimme zu. »Ach, Erwin,« sagte Virginia mit zuckenden Lippen, »ach, Erwin.« Sonst nichts. Aber diese beiden Worte, einfach wiederholt, rissen Erwin hin wie eine nie vernommene Musik, und er glaubte das Unmögliche noch in derselben Stunde möglich machen zu müssen. Entflammt von diesem Körper, dem kühlen, in seinen wunderbaren Schleiern kühlen Wesen des Mädchens, dessen Wert er spürte, wie ein Luftschiffer den Azur spürt, in dem er schwimmt, stürzte Erwin auf die Knie, und aus seinem Mund kamen gebrochene Töne, die Virginia für Schluchzen halten mußte. War es Wille, Plan und Berechnung? Aber es mußte auch ein Ungemeines darin verborgen sein, Instinkt und Glut. »Ich will jetzt nach Hause gehn«, sagte Virginia. Erwin begriff, daß er mehr nicht wagen durfte. Er richtete sich empor. »Sie müssen sich abputzen«, sagte Virginia und blickte auf seine Knie. Er gehorchte. Er führte sie auf einen Pfad, der sie von der Seite her zur Terrasse zurückbrachte. Virginia war froh, als sie wieder Leute sah und niemand sie fragend anschaute. Erwin geleitete sie bis zum Schlag des Wagens. Er reichte ihr die Hand und sagte »auf Wiedersehen«. Sie zögerte. Auf Wiedersehen? Dem beizustimmen, war ihr nicht möglich. Doch da er die Hand noch immer ausgestreckt hielt, fand sie es am besten, ihm zu willfahren; verwirrt und flüchtig legte sie die Fingerspitzen in seine Hand, aber er packte sie fest. Seine verwegene Begierde, seine freche Einbildungskraft besaß in diesem Augenblick weit mehr als die vibrierende Hand, umschloß mehr als das kalte Fleisch der Finger, deren Berührung eine Siegeshoffnung war. Fröstelnd saß Virginia im offenen Wagen, und die Welt erschien ihr schwarz und öde. Die raschen Hufschläge der Pferde erinnerten sie an das Pochen ihres Herzens, und sie legte beschwichtigend die Hand auf die Brust. Da berührten ihre Finger die Perlenkette. »Kutscher!« rief sie plötzlich, »Kutscher!« Der Mann hielt die Pferde an, wandte sich zurück und fragte nach ihrem Befehl. Ihr war zumute gewesen, als müsse sie auf der Stelle umkehren. Doch wie, mit welchen Worten, mit welchem Gesicht sollte sie ihm das Halsband geben? Im Kreis seiner Freunde? oder allein mit ihm? Sie beschuldigte sich des Leichtsinns, des Verrats, und sie erkannte auch, daß sie betrogen worden war. Stumm und ratlos blickte sie vor sich hin. Ihre heiße Ungeduld konnte den Gedanken kaum ertragen, daß die Entscheidung erst dem morgigen Tag anheimfiel. Mit der Hand winkte sie dem Kutscher, weiter zu fahren, und dieser gehorchte kopfschüttelnd. Der Kreis der Gäste war klein geworden, als Erwin ins Haus zurückkehrte. Der Garten lag leer, die Diener löschten die Lampen aus und räumten die Tische ab. Eine Gesellschaft von zehn oder zwölf Personen befand sich im Musiksalon, wo eine junge Sängerin französische Lieder sang. Erwin bereitete eine Erdbeerbowle, die unter beifälligem Gemurmel aufgetischt wurde, denn die jungen Leute waren durstig und fühlten sich ein wenig geistlos. Erwin erfüllte sie mit neuem Leben; nach kurzer Zeit hatte er alle erobert, die Schweigsamen und die Schläfrigen; ein Taumel von Lustigkeit war an Stelle der drohenden Langeweile getreten. »Wenn ein amüsanter Abend langweilig endet, war er langweilig,« sagte Erwin, »wer zuletzt lacht, vergißt zu schimpfen.« Zum Schluß wurden hypnotische Experimente vorgenommen, und ein etwas beleibtes Fräulein, das sich als Medium hergab, trieb durch ihre transzendente Plumpheit das Vergnügen auf den Gipfel. Zwischenspiele Am andern Vormittag erhielt Virginia durch Wichtel einen Brief Erwins, der folgenden Wortlaut hatte: »Virginia! Erwarten Sie nicht, daß ich das Benehmen der Trunkenbolde nachahme, die in der Nüchternheit bejammern, was sie im Rausch verbrochen haben. Erwarten Sie nicht, daß ich mich der Trunkenheit anklagen werde, um nüchtern zu erscheinen. Ich war weder betrunken, noch bin ich nüchtern. Auch bin ich nicht feig genug, um die Gelegenheit zu bezichtigen. Ich trete nicht als reuiger Sünder vor Sie hin. Beschließen Sie! Richten Sie! Ich werde mich beugen. Aber zu beschönigen habe ich nichts. Daß meine Situation schwierig ist, kann ich nicht leugnen. Vielleicht wäre sie zu umgehen gewesen durch List; vielleicht durch einen Aufwand von Heroismus, dessen ich nicht fähig bin. Sich einer Leidenschaft erwehren, mag heroisch sein; von ihr überwältigt zu werden, ist darum nicht verwerflich, sie zu bekennen, ein Akt persönlicher Aufrichtigkeit, der in einem Fall, wie dieser es ist, gewiß keine angenehmere Lage schafft. Ich entstamme einer Generation, die die Ökonomie der Leidenschaften gelernt hat. Ich habe gelernt, mich nicht zu verschwenden, mich nicht zu verschenken, Bezahlung zu fordern und Wirtschaft zu halten. Wir alle haben gelernt, gerade dann in die Kandare der praktischen Vernunft zu beißen, wenn das unpraktische Gefühl unsere Bequemlichkeit und unsern Vorteil bedroht. Es wäre bequemer und vorteilhafter für mich gewesen, zu schweigen, da ja meine Sache hoffnungslos ist von Anfang bis zu Ende. Ihre Empfindung wirft mir vor, mich am Freund vergangen zu haben. Aber mußte ich nicht die Maske eines brüderlichen Beschützers in der Stunde von mir werfen, wo ich sie als Maske erkannte? Ich habe keinen Eid gebrochen; ich habe kein Gelöbnis verletzt; ich habe keine Pflicht verabsäumt; ich habe meiner Ehre nichts vergeben, ich habe die Ihrige nicht angetastet. Manfred ist in meinen Augen noch gewachsen, denn ich bin ihm eine Wahrheit schuldig, die an ein großmütigeres Herz appelliert, als es das meine ist, und er hat ein Verhängnis über mich heraufbeschworen, das durch keine Klauseln der Konvention verringert werden kann. Zwischen mir und Manfred steht kein tyrannisch trennendes Entweder-Oder, sondern die versöhnende Erkenntnis, welche Kameraden erst recht aneinander bindet, wenn sie vom Schicksal ungleich begünstigt werden. Einst, da ich unschuldig war, wie Sie es sind, Virginia, haben mir meine Träume ein Ideal zugeschworen, gleichwie Kindheitsgedanken eine unerhörte Erfüllung ehrgeiziger Visionen vorgaukeln. Ich hatte dieses Ideal vergessen. Ein allgemeines Menschenlos: das Ideal zu vergessen, wenn die Unschuld dahin ist. Ihre Schönheit ist die Ursache, daß ich mich einer Rücksicht entledigte, an die im gewöhnlichen Verlauf der Dinge Mann gegen Mann eisern gebunden ist. Sollte ich dadurch des Anrechts auf einen Freund am Ende doch verlustig gehen, so sei es. Ich weiß nicht, ob ich es werde tragen können. Die Zukunft wird es lehren. Aber desungeachtet gibt es in meinem Innern ein nicht niederschmetterndes Gesetz: Schönheit ist nicht hörig. Die Schönheit anzubeten ist kein Verbrechen. Wer besitzt sie? Einer? Einer besäße die Schönheit? Einer besäße Virginia für das ganze Dasein und nur für sich allein? Dagegen bäumt sich mein Herz, mein Glaube, mein Gerechtigkeitsgefühl. Ich kann es nicht mit Gleichgültigkeit erdulden, und die Qual macht mich zum Narren. Denken Sie, daß man es einem Mann nicht vom Gesicht ablesen kann, wenn sein Herz zerstört ist? Ich spreche von Ihrer Schönheit wie die seltenen Tibetreisenden von den Wundern des Dalai-Lama. Denn ich habe gerungen um diese Schönheit, ich habe sie entdeckt, ich habe sie erkannt, ich habe sie erforscht, ich und nur ich allein. Die andern wissen von ihr, sie spüren sie von fern, wie Analphabeten den Wohlklang vollendeter Verse spüren, sie sind wie Sonntagsgäste vor einer zauberhaften Statue, und ihre Bewunderung ist so verständnislos wie billig. Ich aber habe die Statue geträumt, bevor ich sie sah, ich habe sie aufgebaut, gemeißelt, geschaffen, begriffen in meinen Träumen, und das Gefühl, das sie mir erweckt, wurzelt in der Sehnsucht, also im edelsten Grund des menschlichen Gemütes. Ja, sie rührt das Edelste in mir auf, sie erschüttert mich, sie mahnt mich daran, daß ich niemals eine Mutter hatte und daß ich ein Lebensziel haben könnte, wenn mir vor dieser grandiosen Erfüllung nicht ein finsteres Geschick zu scheitern bestimmt hätte. Beschließen Sie! Richten Sie! Ich beuge mich. Erwin.« Virginia hatte den Brief zwei Stunden lang in ihrer Schürzentasche herumgetragen, bevor sie sich überhaupt entschlossen hatte, ihn zu öffnen. Beim Anblick der kühnen und regelmäßigen Schriftzüge ließ sie das Blatt wieder sinken, wie ein von zahlreichen Feinden Umringter den erhobenen Arm sinken läßt. Das geschriebene Wort ist ein mächtiger Herr. Unangreifbar gerüstet steht es da und lenkt den Geist in vorgesetzte Bahnen. Da Virginia von den Mitteln des Stils nur eine geringe Vorstellung hatte, folgte dem ersten Widerwillen und der eisigen Befremdung über die leidenschaftliche Ausdrucksweise eine nachsinnende Teilnahme. Die redliche Natur findet sich in die Erfahrung, daß eine ihrer Eigenschaften oder Kräfte dem Bereich des Außerordentlichen zugehört, niemals ohne Schrecken. Dieser Schrecken trat jetzt an die Stelle des lästigen Verdrusses, den Virginia stets empfand, wenn man ihre Schönheit hervorhob, über die sie sich kein Verdienst anmaßte, die sie im ganzen trug, wie sie das einzelne trug, Auge, Mund und Hand, ohne mehr davon zu genießen als ein flüchtiges Wohlgefühl vorm Spiegel oder im Blick des sympathischen Beschauers. Sie legte den Brief beiseite. Sie nahm ihn wieder, legte ihn wieder beiseite. Sie las den Satz: sollte ich des Anrechts auf einen Freund verlustig gehen, so sei es. Da ward ihr die unendliche Verehrung und Liebe gegenwärtig, die Manfred an Erwin band. Sie konnte es vorausdenken, daß Manfred eine solche Enttäuschung nie würde verwinden können. Was hätte ich zu fürchten? fragte sie sich; wer könnte mich meinem Manfred rauben? Wohl aber mochte es geschehen, daß Manfred den Freund verlor, der ihm so teuer war, dem er nicht weniger vertraute als der Geliebten. Sie mußte es verhüten, das stand fest. Wenn sie, wenn ihre Schönheit, wie Erwin sagte, schuld war, daß Erwin den Freund vergaß, so war sie doppelt zur Treue aufgefordert, und es lag ihr ob, für Manfred um den Freund zu kämpfen. Das stand fest. Noch spürte sie freilich, wie ihr dort im Pavillon zumute gewesen. Bei seinen verwegensten Worten war ihr zumute gewesen, als ob sie sterben müßte, falls es kein anderes Mittel gab, ihn nie wieder zu sehen. Doch ihre nachsinnende Teilnahme, die Trauer um den Verlust, der Manfred drohte, trieb sie an, zu handeln, und es kam eine eigentümliche Freudigkeit über sie. Eine Frau, die entschlossen ist, zu handeln, wird davon noch kräftiger befeuert als ein Mann. Sie setzte sich an den Tisch, nahm einen Briefbogen und schrieb: »Sie kennen mich nicht, Erwin. Hätten Sie mich gekannt, lieber hätten Sie sich die Zunge abgebissen, als daß Sie davon gesprochen hätten. Nun wäre das Ganze ja sehr einfach. Vergessen kann ich nicht, das Geschehene ist da, die Worte sind gesagt und aufgeschrieben, die Gefühle hat man gehabt. Ich müßte Sie meiden. Das liegt in meiner Gewalt, nicht wahr? Wenn ich will, dann gibt es keinen Erwin Reiner mehr für mich. Doch Sie dürfen Ihren einzigen Freund nicht so mit Schmach bedecken. Sie schreiben: richten Sie, ich beuge mich. Gut! Beweisen Sie mir, daß Sie mich achten und daß Sie der Freundschaft Manfreds noch würdig sind. Vernichten Sie das Häßliche; Sie haben ja Gewalt über sich, treiben Sie es aus Ihrem Herzen, um Manfreds und meinetwillen.« So weit war sie gelangt, da stockte sie. Die Worte kamen ihr schal vor. Sie sah sein spöttisches Lächeln über ihnen schweben. Sie sagte sich, daß es feig sei zu schreiben. Auch wollte sie ihm nicht die Perlenkette kurzerhand zurückschicken, um nicht Trotz und Kränkung bei ihm zu erregen; denn dadurch wäre die Umkehr, die sie in seinem Gemüt hervorzubringen beabsichtigte, erschwert oder vereitelt worden. Demzufolge mußte sie selbst zu ihm gehen. Wie die Dinge einmal standen, konnte sie ein Geschenk, das nach ihrer Schätzung mindestens ein paar tausend Kronen wert war, nicht noch stundenlang im Hause behalten. Während sie in ihrem Zimmer war und all das überdachte, kam die Mutter und sah das Perlenhalsband auf dem Tisch liegen. »Was ist das? woher hast du das?« fragte sie fast schreiend. Virginia war erschrocken darüber, daß sie nicht daran gedacht hatte, das Schmuckstück vor der Mutter zu verbergen. Was sollte sie nun sagen? »Erwin hat es mir geschenkt,« antwortete sie zögernd, »ich muß es ihm aber wiedergeben.« – »Geschenkt? Wiedergeben?« stammelte Frau Geßner, indem sie das Halsband mit stummem Erstaunen musterte. »Das hat er dir geschenkt? Und du willst es zurückgeben? Warum?« Auf ihren Zügen malte sich ein förmlicher Krieg der angenehmsten und der argwöhnischesten Gedanken. »Mehr kann ich dir nicht erklären, Mutter«, entgegnete Virginia mit gesenktem Blick. »Ich glaube, es sind Mißverständnisse da, und ... ich kann es nicht behalten.« »Gehst du heute zum Malen?« fragte Frau Geßner. »Ja, ich will ein bißchen arbeiten. Das wird mir helfen. Ich hab’ einen schlechten Kopf.« »So laß mir den Schmuck bis zum Mittag. Schau mich nicht so mißtrauisch an, ich werd’ ihn dir gut verwahren.« »Aber was willst du damit?« »Betrachten will ich ihn, nur manchmal betrachten. Er ist gar zu wunderbar.« Virginia willfahrte ungern. Kaum war sie fort, so begab sich Frau Geßner in die Stadt zu einem Antiquitätenhändler, den sie seit ihrer Jugend kannte, und erkundigte sich bei ihm nach dem Wert des Halsbandes. Um die beinahe beleidigende Neugier des Mannes zu befriedigen, erzählte sie, daß das Kollier ein Brautgeschenk sei, das Virginia von ihrem Verlobten erhalten habe. Der Händler prüfte, zählte; es seien zwar nicht Perlen ersten Ranges, sagte er, die seien in solcher Menge kaum erschwinglich, aber als er den ungefähren Preis nannte, der nach seiner Schätzung hunderttausend Kronen übersteigen mußte, bedurfte es für die erschütterte Frau eines großen Kraftaufwandes, damit sie ruhig auf ihren Beinen stehenbleiben konnte. Auf dem Nachhauseweg kämpfte sie mit Schwindelanfällen, und ihre Gedanken an Virginia, an Erwin, an Manfred waren gleicherart heftig in Bestürzung und Sorge wie in einer Hoffnung, mit der sie seit Monaten lüstern gespielt. Klugheit und böses Gewissen verschlossen ihr Virginia gegenüber den Mund. Sie wollte abwarten. Aber sie war verstört und konnte bei Tisch nichts essen. Schweigend gab sie Virginia die Kette zurück. Virginia war innerlich selbst zu beschäftigt, als daß ihr das Wesen der Mutter aufgefallen wäre. Gegen fünf Uhr machte sie sich fertig, um zu Erwin herauszufahren. Das Halsband packte sie in Seidenpapier und steckte es in das Ledertäschchen, das sie trug. Ihre Bewegungen waren energisch und ihre Mienen gesammelt. Ich tu es für Manfred, wiederholte sie sich immer wieder zur Beschwichtigung ihrer Unlust und geheimen Angst. »Der gnädige Herr ist nicht zu Hause«, sagte Wichtel. Virginia war verstimmt, denn sie erkannte, daß sie einen solchen Schritt nicht leicht zum zweitenmal mit demselben Antrieb unternehmen würde. Der scharfsinnige Wichtel vermutete mit Recht, daß es sich hier um eine Sache von Belang für seinen Gebieter handelte; er versicherte, der gnädige Herr werde in einer Viertelstunde da sein, bat die Zögernde, im Salon zu warten, rückte einen Sessel vor die Terrasse, brachte ein paar Zeitschriften herbei, und all das ließ sich Virginia still und ein bißchen eingeschüchtert gefallen. Als sie allein war, blickte sie ziellos denkend in die Baumwipfel hinaus, die ein matter Regenwind in flüsterndem Rauschen erhielt. Es war ihr, als müsse sie sich abwenden von dem Prunk des Gemachs, der ihr heute tot erschien wie ein Kleid im Schaufenster eines Modengeschäfts. Inzwischen hatte Wichtel in den Klub telephoniert, und fünf Minuten später raste das Elektromobil vom Lobkowitzplatz nach Pötzleinsdorf. Erwin wurde von Wichtel mit dem Gesicht eines Mannes empfangen, der sich verdient gemacht hat. _Avant le souper_, dachte Wichtel, der eine französische Bildung genossen hatte, als er die Erregung in den Zügen seines Herrn gewahrte. Selbst den Nachschimmer dieser Erregung abzutun von seinen Mienen, war der Zweck eines kurzen Verweilens in der Bibliothek. Ich habe sie richtig eingeschätzt, dachte er; sie hat Mut, der Brief war ein Wagnis, aber es ist gelungen. Dann öffnete er die Tür zum Salon. Virginia stand auf. Seine Blicke umfaßten sie, dankten ihr, gaben vertrauenerweckende Beteuerung und musterten sogar ihren Anzug mit kennerhaftem Wohlgefallen. Sie trug ein dunkelgrünes Kostüm und unter dessen Jacke eine einfache, weiße, von grünen Streifen durchzogene Seidenbluse, ferner einen schwarzen, großen, runden Strohhut mit weißem Tüllaufputz, der dem etwas blassen Gesicht sommerliche Helligkeit verlieh. Erwin bat sie, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Sie gingen hinüber. Da der Regen auf das Sims klatschte, schloß Erwin die beiden hochgewölbten Fenster. Er wußte, daß jedes ungeschickte oder übereilte Wort ein nicht wieder gut zu machender Fehler werden konnte. Er war noch nicht ganz im klaren darüber, weshalb Virginia gekommen war, aber er mußte ihren Beweggrund erraten, und er durfte sie nicht verwirren. Er setzte sich weit von ihr und betonte so einen Willen zur Distanz, der ihr eine gewisse Freiheit geben sollte. Sie kämpfte sichtlich. Er wünschte ihr zu helfen. Er lenkte sie ab, ließ aber das Ziel von ferne sehen. Er sprach von seiner Jugend, von den Mängeln seiner Erziehung, von dem ungesunden Servilismus einer Welt, die bereit gewesen, ihm zu dienen, noch ehe er Zeit gehabt, ihre Dienste zu bewerten. Er habe niemals erworben, er habe stets nur besessen, daher sei jeglicher Besitz nur verzehrt und nicht genossen worden. An Virginias Miene erkannte er, daß er auf dem Weg zu ihr war. Mit erstaunlicher Verwandlungsgabe brachte er es fertig, ihr alles das zu sagen, was sie ihrerseits ihm vorzuführen beabsichtigt hatte. Virginias Augen glänzten. Mit edler, überraschter Zustimmung schaute sie ihn an. Daß sie selbst durch drohende Schatten oder das Aufleuchten ihrer Stirn ihm die Richtung gewiesen, ahnte sie nicht, sondern glaubte an eine ebenso glückliche wie beglückende Bekehrung. Doch dabei blieb Erwin nicht stehen. Er behauptete, daß ihn das Geständnis gereinigt habe als ein Gewitter in seiner Seele. Und nicht nur dies: so wie vorher Virginias Nähe ihn entflammt, so würde ihr Anblick jetzt genügen, ihn vor den Flammen zu schützen, denn er habe den höher gearteten Menschen in ihr erkannt und sei seiner Machtlosigkeit inne geworden. »Es gibt eine andächtige Kälte der Verehrung, die jede Rebellion und Begierde erstickt«, sagte er. »Und Sie haben sich nicht nur selbst, Sie haben auch Manfred erhoben. Es ist in mir eine Schuld gegen ihn angewachsen, an der ich ein Leben hindurch zu bezahlen haben werde. Wir beide müssen schweigen gegen ihn, aber das Schweigen müssen wir aussühnen, Virginia. Er hat Sie mir vertraut, eine Großmut, die ich hinnahm wie einen reizenden Scherz; ich will Sie wieder zu ihm führen, lauterer, wissender, vollendeter, reicher, stolzer, unabhängiger, nicht mehr Blüte, sondern schon Frucht. Die Blüte erfreut, die Frucht erfreut und nährt. Ich möchte Sie aus schädlichen Dämmerungen reißen, ich möchte Ihnen Erkenntnisse und Einsicht der Welt geben, ich will die Menschen vor Ihnen aufschließen, als ob es Türen in meinem Haus wären, ich möchte Ihnen die Beunruhigungen ersparen, von denen jede eine Falle und eine Gefahr für Ihre Schönheit bedeuten kann, ich will mich Ihnen weihen und will entsagen und will Ihr Sklave sein und der Sklave Ihres Schicksals, und wenn Manfred zurückkehrt, so mag er vor seiner Virginia erst niederfallen, bevor er sie als eine begrüßt, die ihm entgegengelebt hat.« Es atmete aus diesen für Virginia seltsam klingenden Worten solche Begeisterung, solche Echtheit, daß sie sich der hinreißenden Wirkung nicht einen Augenblick entziehen konnte. Man wollte sie bilden und verschönen, das war verführerisch, denn sie fühlte sich ja Manfred in keiner Weise ebenbürtig, und die Welt war ihr zu wirr, zu drohend alles Leben, als daß sie wie andre schöne Frauen mit der Grazie des Leichtsinns hätte hindurchschreiten können. Sie nahm von den herrlichen Versprechungen auf, was sie zu fassen vermochte, und war froh, daß die gefürchtete Stunde keine Gefahr mehr hatte. Sie horchte, wachte, entspannte ihren Geist, wobei ihr freilich dieser Mann immer wunderbarer wurde und seine Glut und Macht in irgendeinem Winkel ihres Herzens eine Art von Traurigkeit entstehen ließ. Aber er hatte sie wieder unbefangen gemacht, viel unbefangener sogar, als sie sich ihm je gezeigt. Und das war das Meisterstück gewesen. Als ihm Virginia mit Freundlichkeit und herzlicher Bitte das Perlenhalsband übergab, fand er Gelegenheit, die Stärke der neu errungenen Position sogleich zu erproben. Er wickelte das Paket auf, ließ die Perlen fallen, bis die Kette nur noch am Mittelfinger hing, und blickte Virginia enttäuscht an. »Wenn Sie einen Blumenstrauß oder ein Buch von mir genommen hätten, würden Sie sie mir gerade in dieser Stunde auch nicht vor die Füße werfen«, sagte er mit umdunkelter Stirn. »Es geht nicht«, wandte Virginia ein und atmete tief. »Es geht nicht! Hinter diesen Worten steht eine gleichgültige und unwissende Welt. Die Kette hat ein Schicksal, Virginia! Sie heiligt einen Freundschaftsbund. Lassen Sie mich wenigstens daran glauben. Wir binden uns mit der Kette, aber, das wissen wir, sie wird zerreißen beim ersten harten Griff. Das muß uns heikel und zart machen. Die schimmernden kleinen Herzen, die man Perlen nennt, werden flehend am Boden rollen, und jede bedeutet ein verlorenes Glück.« Virginia schüttelte errötend den Kopf. Erwin sah ihr an, daß sie sich nicht rühren lassen wollte. Er betrachtete sie schweigend, voll von einer Güte im Ausdruck, einer leidenden Güte, die ihr jähes Mitleid wachrief, dann legte er die Hand vor die Augen und kehrte sich ab. »Was hab’ ich getan!« murmelte er. »Wenn ich auch die Kette nehmen würde,« erklärte Virginia endlich schwankend und in dem Drang, ihn durch Nachgiebigkeit aufzurichten, »ich könnte sie niemals tragen.« »Daran liegt mir nichts«, antwortete er; »obgleich Sie später anders darüber denken werden.« »Nein. Ich kann nicht so darüber denken, wie Sie wünschen. Die Sitte ist mächtiger als Sie und ich, und wenn auch Manfred jetzt seine Zustimmung gibt, so weiß er eben selbst nicht, auf welche Gedanken ihn der Anblick der Perlen bringen könnte.« Erwin verbarg sein bewunderndes Erstaunen. »So behalten Sie das Geschmeide als Pfand«, schlug er vor; »ich verpfände es gegen mein Wohlverhalten, meine Ehrerbietung, mein bezwungenes Gemüt, die Ruhe meines Geistes, – dürfen Sie sich da noch einen Augenblick besinnen?« Und in der Tat, Virginia konnte und wollte sich der überzeugenden Aufrichtigkeit dieser Worte nicht entziehen. Trotzdem hatte sie nicht das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, als sie sich von Erwin verabschiedete. Am selben Abend schrieb sie ausführlich an Manfred. Sie erklärte, was sie zu erklären vermochte, ohne den Freund bloßzustellen. Als Beweis und Sicherheit der Treue hatte sie die Gabe im stillen hingenommen, aber in der Schilderung war alles von Zweifeln umwölkt, und sie schuldigte sich der Unaufrichtigkeit an. Zum erstenmal erschien ihr die weite Entfernung des Verlobten als ein beruhigender Umstand. Brisbane in Australien; es war, wie wenn man einen Brief in den Mond schickte. Bis Manfred ihn las, bis seine Antwort kam, waren alle Verwirrungen gewiß schon zur Ordnung gediehen. Mehr noch hatte Frau Geßner durch den der Tochter zugefallenen Schatz das Gleichgewicht verloren. Bei Virginias Rückkehr hatte sie sich natürlich erkundigt, was mit den Perlen geschehen sei, und als Virginia die Kette mit einem halb fragenden, halb ergebenen Lächeln vorwies, – denn eigentliche Freude empfand sie nicht mehr – verstummte die alte Dame, ja, sie wagte nicht einmal, Virginia auszuforschen, ob sie eine Ahnung von dem ungeheuern Wert des Schmucks habe. Ein so kostbares Geschenk als Zeichen bloßer Freundschaft anzusehen, ging ihr wider die Vernunft und den Weltlauf; sie seufzte; sie hoffte; sie bangte; sie war erregt und schweigsam; sie behandelte Virginia mit einer Vorsicht, die diese bedenklich hätte stimmen müssen, wenn sie nicht schon längst sich gewöhnt hätte, in der Mutter das ohnmächtige Geschöpf kernloser Phantasiespiele zu sehen. Bloß ihr allzu knechtisches Betragen gegen Erwin mißfiel ihr und ärgerte sie. Denn Erwin war jetzt täglicher Gast im Hause. Er kam spät nachmittags und blieb bis in die Nacht. Er war jedenfalls mit sich einig darüber, daß er nun etwas wie eine methodische Belagerung durchführte. Aber unterschied er die Triebe, die ihn leiteten? Er war ganz der Mann danach. Ganz der Mann, dem bezauberten Willen zu erliegen, in zwangvoller Sucht zu handeln, befeuert durch ein Lockbild von Glück und Verderben. Ihm war, als stehe er in einer Schöpfung, wo sich die Form vom Chaos löst. Es schien ihm wichtig, zu spüren, wer er war; ob er Schöpfer war. Sich selbst zu spüren, war seine tiefste Begierde. In diesem Werk, in dem alles schlecht, wild und verbrecherisch war, schien er seine Vollendung zu suchen, begabt mit den Eigenschaften der Morbiden, der Eroberer und der großen Instinktiven. Es war etwas Strahlendes an ihm; in seinen Zügen war die zuckende Sammlung, die Menschen eigen ist, welche auf einem vorgeschobenen Posten gefahrvolle Arbeit verrichten. Die Linien seines Gesichtes waren markiger geworden, der Blick sowohl schärfer als auch packender, der Mund fester geschlossen, die Haut etwas fahler, Schultern und Hände etwas ruhiger als sonst. Die gefahrvolle Arbeit mußte verrichtet werden. Sie zeigte sich nun in ihrer ganzen Ungewöhnlichkeit und Schwierigkeit. Das Pulver in den unterhöhlten Gängen hatte nicht gezündet; man mußte sich stärkerer Explosivstoffe bedienen, man mußte neue Minen graben. Daß der Posten umstellt war, bewies das Verhalten der Nachbarn. Die Nachbarn steckten die Köpfe zusammen. »Aha, jetzt kommt der Herr Kavalier schon jeden Tag«, sagten sie und schnüffelten Unrat. Zwei Lehrerinnen im vierten Stock, im zweiten ein Pfeifendrechslersehepaar, im ersten eine Bankbeamtenswitwe, im Erdgeschoß vier Töchter eines Postvorstands, und was sonst noch in die Höfe und auf die weiße Wendelstiege kam an Bedienerinnen, Waschfrauen, Köchinnen, Milchmädchen, Gemüseweibern, und was im Straßentrakt hauste, in der Greislerbude Beratungen pflog, das alles schnüffelte und raunte. Hätten sie nur etwas Sicheres gewußt! Gern verzeiht der Nachbar, wenn er etwas Sicheres weiß; wenn er aber nichts weiß, wird er zum Torquemada. Virginia verhehlte ihren Abscheu, die Mutter trug ihn vor Erwin zur Schau. »Ich habe Ihnen schon oft den Rat gegeben, diese Winkelzuflucht zu verlassen«, sagte Erwin; »wer beim Gewürm haust, wird nicht vom Schleim verschont.« Doch in diesem einen Punkt blieb Frau Geßner starrsinnig. »Vierunddreißig Jahre leb’ ich hier«, antwortete sie; »verlaß ich das Haus, so weiß ich, was mir bevorsteht.« Erwin schwieg, doch auf seiner Stirn zeigten sich die ersten Drohungen einer kommenden Alleinherrschaft. Es gelang ihm, Virginia gleichmütig gegen »das Gewürm« zu stimmen. Er hatte da einen Ton von frostiger Majestät, der eine ganze Stadt von Schwätzern und Übelrednern zu Staub zerspritzte, und eine nicht weniger majestätische Gebärde, die eine Zusammengehörigkeit hoch über der Plebs ausdrückte. Er durfte daran erinnern, daß in der wirklichen Welt, wo auch immer Virginia sich an seiner Seite zeigte, nicht der Schatten eines Makels auf sie fiel; und diese wirkliche Welt verschmähte doch ebenso wenig den Klatsch und Skandal als der Nachbar in der Greislerbude und am Fenster des Hausmeisters. Virginia mußte es zugeben. Sie hätte die schlimme Nachrede untrüglich empfunden, ein einziger Blick der Bezichtigung hätte sie für alle Zeit verscheucht. Aber man wußte, daß sie Braut war; man hatte erfahren, daß der Verlobte auf fernen Meeren weilte, man bestaunte die Paladinsrolle Erwin Reiners, und was diese poetische Kunde, was die Patronanz einer Dame, wie es Frau von Resowsky war, nicht vermocht hätte, brachte Virginias Gestalt und Wesen zustande, ihr reines Auge, der Glanz der Unberührtheit, der über ihr schwebte wie über neugemünztem Gold. Man verhätschelte sie, man umschwärmte sie, und einige Komtessen eigneten sich sogar ihre Art zu lächeln an oder beim Sprechen den Kopf sanft zu neigen, so wie die kleinen Bürgermädchen Gang und Stimme der Rosanna Schörk nachahmten. An unscheinbaren Gelegenheiten, seine Macht über Virginia zu befestigen, fehlte es Erwin nicht. Wenn in Gesellschaft sein Blick auf ihr ruhte, prüfend oder träumend, zuckte sie zusammen, als ob man sie angetastet hätte. Mit Genugtuung nahm er wahr, daß sie sich von ihm fesseln ließ in Meinung, Urteil, Rede und Denken, daß sie verstimmt war, wenn er einmal ausblieb, ohne sie vorher benachrichtigt zu haben. Er bat demütig um Verzeihung, doch heimlich beglückten ihn ihre Vorwürfe, die halb neckend waren, halb den Verdruß des Wartens noch verrieten. Sie selbst war unzufrieden darüber. Er ist mir vielleicht zu bequem, dachte sie; er läßt mir das Leben zu mühelos erscheinen; es geht mir wie einem, der beständig durch Pauspapier zeichnet. Sie gab ihm das zu verstehen, aber er lachte sie aus. »Das ist ein Irrtum, der mir schmeichelt«, antwortete er; »leider sind wir alle mit vielen Geschicken beladen, und unser eigenes ist nur die gewußte Last.« Als ob er zu diesem Ausspruch eine lebendige Erfahrung bieten wollte, führte er sie an einem historischen Tag, an dem dreimalhunderttausend Arbeiter vor dem Parlament vorüberzogen, auf den Ring, wo viele Stunden hindurch der dumpfe Gleichschritt der Massen donnerte, der geordneten Kolonnen, die von unten her kamen, von dort, wo das Schicksal seine Gesänge heult. Erwin lenkte den Blick seiner Begleiterin auf einzelne Gesichter. Er wußte, wie sie lebten, die von unten; er kannte ihre Plage, ihre Niedrigkeit, ihre armseligen Vergnügungen. Während er sprach, stürzte dicht vor ihnen ein etwa dreißigjähriges Weib in epileptischen Krämpfen zusammen. Erwin sprang hinzu, hielt die Arme der Schreienden fest und trieb müßige Zuschauer zur Hilfe an. Aber die aus den Kolonnen schauten fremd und gleichgültig herüber, als anerkennten sie ihn nicht und billigten ihn nicht. Als Erwin wieder an Virginias Seite war, sagte er: »Es war eine Prostituierte.« »Woher wissen Sie es?« fragte Virginia leise. »Solche Augen und solche Hände täuschen nicht«, erwiderte er mit verfalteter Stirn. »Es sind Hände wie verdorrte Wurzeln und Augen wie entsäftete Früchte. Es ist ein Mund, der grau ist wie von ewiger Nacht, ein Leib, der so müde ist, daß seine Bewegung einem Schüttelfrost gleicht. Soll man diese inkarnierte Verwünschung nicht spüren? Meine Ohren sind voll davon, und mich verlangt nach Freude, damit ich vergessen kann.« Sein Schritt wurde hastiger; auf einmal blieb er stehen, schaute das junge Mädchen groß und tief an und sagte mit Inbrunst: »Ihr Glücklichen! Glückliche Virginia!« Es überrieselte Virginia. Ja, sie fand sich glücklich; bis zu diesem Augenblick wenigstens hatte sie sich glücklich gefunden. Aber daß er es war, der ihr das Glück zuschrieb, schien ihr keine Vermehrung des Glückes zu sein. Klang es nicht, als wolle er seinen Anteil daran haben, als sei er arm und müsse betteln? Und sie war es doch, die empfing. Gabe um Gabe empfing sie aus seinen Händen und wurde um Dank immer verlegener. Sein Wesen beschäftigte sie, spannte sie, ließ sie niemals zum Ausruhen gelangen. Seine heimlichen Gedanken zu durchschauen, wenn er spottete, oder wenn er belehrte, oder wenn er schwieg, war nicht selten ein quälender Antrieb. Froh, daß er so ehrlich Wort hielt, daß er mit keinem Hauch mehr die Dinge berührte, die sie häßlich und verräterisch nannte, glaubte sie ihn durch Aufmerksamkeit, Geduld und Freundschaft belohnen zu müssen. Aber er wurde immer heimlicher. Seine Worte hatten oft eine Nebenbedeutung, die Virginia vergeblich zu ergründen suchte. Er war noch immer nicht der Vertraute, der zum Haus gehört und vieles von der Stimmung des Hauses bringt und nimmt. Er würde es nie werden. Er war der Fremde, der sich einwohnt, stets von neuem einwohnt, der befiehlt oder sich unterwirft, der sich absondert, indem er sich gesellt. Er war nie alltäglich, er hatte immer Festlichkeit; seine Gegenwart erweckte Neugierde, und er verabschiedete sich, wenn die Erwartung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Er brachte Blumen. Wie war es möglich, daß Blumen auf einmal so seltsam wurden! Man wähnte, Blumen noch nicht gesehen zu haben. Er pflückte sie in seinem Garten, jede einzeln mit eigener Hand, und band sie zu einem Strauß, der sprechen konnte, der die Fülle oder die Wünsche gewisser Stunden ausdrückte, einsamer Stunden voll Träumerei, ermüdeter Stunden, tatkräftiger Stunden. Virginia liebte ja die Blumen über alles; der Zartsinn, der in seiner Freigebigkeit lag, machte ihr Gemüt freudiger. Er lehrte sie die Blumen kennen; nicht nur dem Namen nach, darin war ihre Unwissenheit nicht so groß, sondern auch dem Wesen, den Lebensbedingungen, dem Charakter nach. Er erkannte die Blumen am Geruch mit geschlossenen Augen; er sprach von ihren geistigen und sinnlichen Neigungen. Einige Blumen erweckten die Sinnlichkeit der Menschen, andere töteten sie, wie z. B. die Wasserlilien; wenn eine junge Frau an Wasserlilien riecht, bleibt sie kinderlos. Er enthüllte den Blütenkern und deutete das Mysterium der Entstehung. Er erzählte vom befruchtenden Wind und vom samentragenden Insekt. Es war eigen. Man hätte trockener sein können, als er es war. Es wäre interessant und lehrreich gewesen, aber nicht so eigen. Ohne Zweifel wußte er, daß das Liebesleben der Pflanzen zu den geheimnisvoll aufschürenden Erscheinungen in der Natur gehört, dermaßen einleuchtend, daß der reinste Geist davon am innigsten ergriffen werden muß. Eine schwüle Wolke stieg über den natürlichen Vorgängen empor. Virginia erinnerte sich nicht, solche Worte je vernommen zu haben. Es geschah einmal, daß sie aufstand, als ob es ihrem Herzen an Raum fehlte. Ein Nebel schwamm um sie herum, der sie für die Dauer einiger Sekunden der Überlegung beraubte. Sie hatte das Gefühl, beleidigt worden zu sein. In ihren Zügen erwachte eine kindliche Besorgnis. Als sie dann allein war, ärgerte sie sich über sich selbst. Alles war so unfaßbar; zerronnen wie ein Spuk. Auch brachte er Bücher, um des Abends vorzulesen. Frau Geßner schlief gewöhnlich nach einer Viertelstunde ein. Virginia lauschte gern seiner wohltönenden Stimme. Er las Dante und Shelley in bedeutenden Bruchstücken; er las Hölderlinsche Gedichte und die geisterhafte Prosa von Novalis. Dann wagte er Goethes römische Elegien. Im glättenden Nachgespräch knüpfte er das erotisch Kühne vorsichtig an die Gesetze der Lebenskunst und der Persönlichkeit. Er wagte mehr. Er wagte einige von Boccaccios schimmernden Geschichten. Da Virginia leidlich gut italienisch verstand – die bucklige Großtante, die am großherzoglich toskanischen Hofe gelebt, hatte sie unterrichtet –, las er sie im Urtext, die Melodik des Idioms schwelgerisch feiernd. Der Titel, den er vorstellte, hieß: Die Freude. Triumph über die Materie war das Motto; oder auch: Befreiung von Gewissensangst. Gar zu bedenkliche Stellen milderte er geschickt, und die bunten Figuren tanzten vorüber als ein Ballett, das ein wenig verblaßt war, durch das aber wundersame Irrlichter huschten, die in den Träumen junger Mädchen nicht viel anders locken als in den Erinnerungen der Wüstlinge. Nur Virginia begriff nicht. Wenn Erwin den Inhalt mit einer fast gelehrten Sachlichkeit auseinandersetzte, wich sie zurück. Doch er hatte dann einen herrischen Ernst, der die Abwehr als beschränkt erscheinen ließ. =Ihre= unschuldige Sachlichkeit hingegen reizte ihn bisweilen zur Frivolität, ihre scheu verwunderte Miene fand er köstlich. Es war ein merkwürdiges Bild; die Mutter schlummernd in der Sofaecke, und Erwin und Virginia bei der Lampe einander gegenüber. Ihr Antlitz voll Frage und Sträuben, das seine mitlebend, mithorchend, wachsam, überaus wachsam. Er sprach von der Liebe, vom Wandel der Sinnlichkeit durch die Zeiten, von der edlen Kultur der Sinnlichkeit, von der Hingabe, von der Großmut, die in freier Hingabe liegt. Er hatte viele Wege offen und verhinderte auf allen die Zuhörerin am Entfliehen. Sie ahnte den Trug hinter seiner kühlen Miene, irgendeine Scham erwachte, sie senkte die Augen vor seinem Blick, er bekämpfte den fernen Aufruhr der Scham und schürte dabei die nur von ihm allein genährte, noch ganz verborgene Unruhe des Bluts. In seinem Ton lag die Warnung für sie, moralische Schlüsse zu ziehen. Sie hatte gegen gewisse Freiheiten der Rede und der Schilderung kein Argument, nur ein heftiges Gefühl. Ihre Brust war von Zweifeln umdrängt, die ihn betrafen. Er war so ungeheuer fein, daß selbst ihr feiner Instinkt seine Ziele niemals erkennen konnte. Ungenau spürte sie das Rechte, war lustvoll und verwirrt, schweigsam und gern getäuscht. Aber vielleicht hatte er nicht in Rechnung gezogen, daß er, was wider den Plan ging, ihren Geist wehrhaft machte. Sie sah sich nach Hilfsmitteln um, wenn er sie in die Enge trieb. Sie konnte nicht zurückweichen, dann wollte sie es nicht mehr, um nicht für feig gehalten zu werden. Sie überraschte ihn durch die Eigenart und Bestimmtheit ihrer Ansichten, und er mußte zugeben, daß sie viele Hintergründe habe, daß sie sich in keiner Weise ausliefern würde, daß von Überlistung keine Rede mehr sein könne. Da verdoppelte sich seine Kraft und sein Schwung, und sie, indem sie sich ihm stellte, empfand unausweichlicher die magnetische Gewalt seiner Gegenwart. Er wünschte aus ihr etwas wie eine _grande dame_ zu machen. Er behauptete, sie sei dazu geboren. Er gebrauchte den Ausdruck _grande dame_ und bezeichnete ihn als unübersetzbar. Virginia lachte ihn aus, wurde aber stutzig, wenn scheinbare Mängel ihrer Haltung seine Kritik herausforderten. Die Art, wie sie beim Gehen ihre Arme ohne jede Muskelanspannung sinken ließ, nannte er königlich, doch müsse sie den Kopf nicht allzu lässig tragen, meinte er, dadurch beeinträchtige sie die vollkommene Linie des Halses und der Büste, verberge sie das liebliche Aufleuchten der Stirn, von dem oft ihre Gedanken begleitet seien. Bei solchen und ähnlichen Worten, die sie förmlich mit Händen anrührten, erschrak Virginia, und daß sie ihr nicht die Unbefangenheit raubten, war ein Verdienst ihrer Natur, der jede oberflächliche Eitelkeit fremd war. Er entwarf Kostüme für sie, darunter ein besonders prächtiges und kostbares, das für ein Trachtenfest im fürstlich Liebenbergschen Park bestimmt war. Er wählte ihre Hüte, ihre Gürtel, die Farbe der Blusen, den Schnitt der Schleier. Sie ließ es sich gefallen, mit immer bedrückterem Herzen, vergeblich sinnend, wie sie sich dem entziehen könne. Sie war jedem Parfüm abgeneigt; er brachte ihr die auserlesensten; sie ließ sie unbenutzt. Wenn sie in seinem Beisein daran roch, kam es über sie wie ein matter, aber gefährlicher Rausch. Endlich überredete er sie zum Gebrauch einer Mischung, die von Guérin in Paris erfunden worden war und von der ein Fläschchen fünfhundert Kronen kostete. »Dergleichen ist freilich auch den Dilettantinnen von Bedeutung, die nur nach außen wirken wollen,« sagte er, »aber trotzdem von großer Wichtigkeit für eine Frau, die es versteht, einer leblosen Minute durch ein leicht erzeugbares Wohlgefühl zu steuern.« Eines Tages mietete er einen Steinway-Flügel und ließ ihn in die Geßnersche Wohnung schaffen. Er sagte, das Instrument sei sein Eigentum und bleibe es. Dagegen ließ sich nichts einwenden, um so weniger, als Frau Geßner von der Aussicht entzückt war, bisweilen Musik hören zu können. Am Abend, wenn es zwielichtig wurde, der Sommertag seine letzten Atemzüge ins Zimmer hauchte, die Höfe stille lagen und über ihre Mauerngevierte der Mond heraufstieg oder die Sterne dunstumschleiert sich entzündeten, setzte er sich an den Flügel und spielte. Es waren Fantasien. Er mied die kräftigen Töne, es war alles mild, melancholisch, voll von Sinnen und von Schmeichelei. Es war beredt in klagender und erinnernder Art. Er schien sich mitzuteilen. Da er immer weniger von sich selber sprach, nahm er seine Zuflucht zur Sprache der Musik, die von seiner Einsamkeit erzählte, von Wahn und Enttäuschung, von Verlangen und Verzicht. Bisweilen hielt er inne, seufzte und ließ die Hände auf den Tasten ruhen. Wenn er so saß, den Kopf emporgewandt, war etwas edel Vertieftes an ihm, und sein schlanker Körper ruhte ebenmäßig in dem Halbdunkel, wie losgelöst von Zweck und Willen. Dann erhob sich Virginia und machte Licht; ihre Stirn war gerunzelt, sie ärgerte sich über die Mutter, die oft Tränen in den Augen hatte, aber ihr Bestreben, sich der eigenen Hingenommenheit zu entziehen, ward desungeachtet offenbar. »Nein, das ist nichts für Sie,« sagte dann Erwin und schlug den Deckel des Klaviers zu, »das sind unreine Strömungen; Teufelszeug ist es. Sie müssen unter die Menschen, vergnügt müssen Sie sein, verwöhnt müssen Sie werden, Hall und Widerhall muß um Sie sein.« Und er erzählte eine lustige Anekdote, redete über Leute und Ereignisse, und plötzlich war sein Gedächtnis angefüllt mit pikanten Histörchen, heiteren Schwänken und den Alkovengeheimnissen aller Paläste und Bürgerhäuser der ganzen Stadt. Wenn er mit Virginia in Gesellschaft zusammentraf, war es, als ob ihre Anwesenheit allein genüge, ihn zum Mittelpunkt zu machen. Und wenn er den Vornehmsten, den Ausgezeichnetsten gegenüber sein freies, ja oft sarkastisches Wesen nicht ablegte, vor Virginia bezeigte er stets den lautersten Respekt und eine Ergebenheit, die sie in den Augen aller andern hob. Dies sicherte ihre Stellung, ließ ihr jeden Argwohn als Undank erscheinen, und allmählich empfand sie seine Hilfe, seine Führung als etwas Notwendiges, als etwas seltsam Unentbehrliches. Seine Beziehungen zu den Frauen erklärten sich auf eine natürliche Weise, und ihr Herz verteidigte ihn, wenn übelwollender Klatsch ihr zu Ohren gelangte. Eines Tages traf sie Marianne von Flügel, die sie seit Wochen nicht gesehen hatte und die gerade Anstalten traf, für den Sommer nach Tirol zu reisen. Marianne lenkte alsbald, wie es in ihrer Absicht lag, das Gespräch auf Erwins Beziehung zu Helene Zurmühlen. Vielleicht glaubte sie Virginia eifersüchtig machen zu können, aber da Virginias Äußerungen den Bereich zweifelnder Teilnahme nicht verließen, erging sie sich in grober Deutlichkeit und sagte, es würde sie wundern, wenn die Geschichte nicht ein schlechtes Ende nähme. »Es nimmt ein schlechtes Ende mit allen, die in seine Netze geraten,« fügte sie hinzu, »mit Männern und mit Weibern.« »Und das behaupten Sie, Marianne, Sie?« rief Virginia erstaunt. »Ja, ich! Gerade ich, die ihm näher steht als irgendwer. Ich, die einzige, die ihn kennt.« »Ich find’ es nicht so schwer, ihn zu kennen.« Marianne lachte. »Ach, Sie meinen, er sei ein offenes Buch. Mag sein, aber wer eine Seite in diesem Buch liest, hat keine Ahnung davon, was auf allen andern Seiten steht. Sie sind sehr klug, Virginia«, sagte sie nach einer kleinen Pause mit lächelnder Miene, indem sie von weitem ihre Fingernägel betrachtete; »Sie geben ihm einen hohen Begriff von Ihrer Intelligenz, denn bei ihm ist alles nur eine Frage des Widerstands. Sie machen Epoche in seinem Leben, so wie ein Fasttag im Leben eines Fressers Epoche macht.« Der vergiftete Pfeil streifte an Virginia vorüber, ohne sie zu verletzen. Aber ihr Blick nahm plötzlich etwas Durchdringendes an, der geschwungene Mund dehnte sich, sie fühlte ihre Pulse rascher schlagen. Marianne bot ihr die Hand zum Gruß; Virginia schlug nicht ein, nicht weil es sie widerte, sondern weil sie in Nachdenken verloren war. Während sie weiterging, kämpfte sie gegen eine schreckliche Empfindung; ihr war, als beginne sie Erwin zu hassen. Sie kannte noch nicht den Haß, sie sträubte sich gegen ihn, sie war kaum fähig, ihn zu ertragen. Am Abend holte Erwin Virginia und Frau Geßner ab, um mit ihnen in die Oper zu fahren. Es war sehr heiß; nach dem ersten Akt bekam Frau Geßner Kopfschmerz und legte sich auf das Sofa im Hintergrund der Loge. Virginia schaute ruhig durch den von Licht und Dunst zitternden Raum, da sah sie zwei Augen strahlend und mit fast verschlingendem Ausdruck ununterbrochen auf sich gerichtet. Es war Helene Zurmühlen, die mit einigen Damen in einer gegenüberliegenden Loge saß. Erwin stand auf, verbeugte sich und ging hinaus. Nach kurzer Weile erblickte ihn Virginia neben Helene. Er unterhielt sich sehr angelegentlich mit ihr, und sein Gesicht hatte dabei einen leidenschaftlichen und zarten Ausdruck. Helenes Kindergesicht war lebhaft errötet, die feurigen, neugierigen, schmalen Lippen waren naiv geöffnet, aber ihre Augen strahlten dann und wann mit demselben verschlingenden Glanz zu Virginia hinüber, die ein solches Unbehagen verspürte, daß es sie die größte Überwindung kostete, gelassen auf ihrem Platz zu bleiben. Sie gewahrte, daß mehrere Operngläser auf sie gerichtet waren, die sich dann in die Richtung wandten, wo Erwin sich mit jener Frau befand. Plötzlich erhob sich Virginia, trat zu ihrer Mutter und sagte kurz: »Mutter, komm, wir gehen heim.« – »Du willst fort? Warum denn?« fragte Frau Geßner, erschrocken über die Blässe in Virginias Gesicht. Aber diese hatte schon Mantel und Schal umgenommen und trieb die Mutter, welche wußte, wie gefährlich es war, Virginia in solchen Momenten durch Frage und Widerpart zu reizen, zur Eile an. Drüben hatte Erwin sein Gespräch fast schroff beendet. Helene, die sich eines solchen Wechsels seiner Stimmung nicht versehen hatte, war einer Ohnmacht nahe. Aber als sie die andere nicht mehr in ihrer Loge sah, begriff sie alles, auch Erwins bestrickendes Wesen, das sie für die Dauer von fünf Minuten einem tödlichen Kummer entrissen hatte. Noch glaubte sie nicht, obwohl es furchtbar in ihr zu tagen anfing. Als Erwin sich überzeugt hatte, daß Virginia mit ihrer Mutter das Theater verlassen hatte, schmunzelte er. Nachdem der Vorhang aufgegangen war, schlüpfte er in seinen Mantel, setzte den Zylinder auf, schob den Stock unter die Achsel und, die Handschuhe anstreifend und leise vor sich hinträllernd, stieg er langsam über die große Freitreppe des Opernhauses hinab. Kaum saß Virginia mit ihrer Mutter in der elektrischen Bahn, so fuhr es ihr entsetzt durch den Sinn: Um Gottes willen, was hab’ ich da getan! Wie es bei phantasievollen Menschen zu gehen pflegt, wenn der Impuls zu einer falschen Handlung geführt hat, hätte sie jetzt alles Mögliche geopfert, um das Geschehene ungeschehen zu machen. Aber es gibt einen Ausweg, sagte sie sich, indem sie neuerdings einem ebenso falschem Impuls gehorchte, ich werde sagen, daß ich die Mutter zum Wagen begleitet hätte; er wird es sonderbar finden, aber er wird nichts merken. »Ich geh’ zurück in die Oper«, sagte sie hastig. »Frag nicht, frag mich nicht,« fügte sie flüsternd hinzu, als sie das besorgte und verblüffte Gesicht der Mutter gewahrte, »zu Haus werd’ ich dir alles erklären.« Und bei der nächsten Haltestelle verließ sie den Wagen. Es waren nur wenige Schritte bis zur Oper. Warum habe ich es getan? grübelte sie mit einem Gefühl des Entsetzens. Und sie spürte genau, als ob eine Wunde in ihr sei, wie der Haß gegen Erwin in ihrem Gemüte wuchs. Da erblickte sie ihn. Er stand neben der Auffahrt bei einer Blumenhändlerin und kaufte Rosen. Erstaunt, ihn auf der Straße zu treffen, blieb sie unwillkürlich stehen. Erwin wandte sich um. »Virginia!« rief er freudig. Dann schüttelte er verwundert den Kopf. »Ich wußte, daß Sie zurückkommen würden«, sagte er leiser und reichte ihr mit langsamer Gebärde die Rosen dar. Es waren drei vollaufgeblühte Rosen, die einen betäubenden Duft ausströmten. Sie war unfähig, etwas zu sagen. Die ausgedachte Erklärung kam ihr langweilig und albern vor. Mechanisch steckte sie ihre Nase in die Blumen. »Bitte, begleiten Sie mich zu einem Einspänner«, sagte sie gepreßt. – »Wollen Sie das Stück nicht zu Ende hören?« fragte er. Sie verneinte. »Ihre Mutter hat die Schwäche, Ihnen alle Vergnügungen zu verderben«, fuhr er ironisch und fein erratend fort. Virginia atmete auf. Sie nickte. »Ich habe jetzt die Lust verloren«, antwortete sie; »auch ist es zu schwül im Theater.« Erwin hatte einen offenen Fiaker gerufen, nannte dem Kutscher die Adresse und bezahlte den ehrfürchtig Dankenden. Daß er Virginia zu dieser Stunde allein fahren ließ, war fast eine Genialität. Er konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, als sie ihm mit froher Bewegung die Hand reichte. »Die gibt einem die härtesten Nüsse zu knacken«, murmelte er, dem schönen Gefährt nachschauend, das sich rasch entfernte. Ein Schleier legte sich über seine Augen, und seine Stimmung verfinsterte sich. Virginia, in die Ecke des Wagens gelehnt, betrachtete die Rosen. Sie empfand den Geruch als aufdringlich, erschauerte plötzlich und warf die Blumen auf die Straße. Als sie vor dem Hause stand und läutete, kam eben die Mutter. Frau Geßner war sprachlos; dann mußten sie beide lachen. »Ich habe mich doch anders entschlossen«, sagte Virginia verlegen; »aber frag nicht, Mutter, frag nicht.« Und Frau Geßner fragte nicht, sie seufzte bloß. Es war erst neun Uhr. Virginia zog einen leichten Schlafrock an und ging eine Weile im Zimmer hin und her. Dann holte sie Schreibmappe und Tintenfaß, setzte sich an den Tisch und schrieb, mit nicht so sicherer Hand wie sonst, einen Brief an Manfred. »Teurer! Lieber,« schrieb sie, »so weit du in Wirklichkeit bist, so nah bist du heut meinen Gedanken. Ich könnte beten, daß die Zeit schneller läuft. Ich war nie so ungeduldig. Es ist jetzt schon Sommer, und die Stadt hat ein häßliches Gesicht. Ich habe Sehnsucht nach Wald und Wiese und will mit der Mutter Ende nächster Woche nach Edlitz fahren, wo es uns auch vor zwei Jahren so gut gefallen hat. Wir werden wieder dasselbe kleine Bauernhäuschen mieten, ich werde ein bißchen arbeiten, wenn’s geht, und wenn’s nicht geht, ruh’ ich mich aus von den vielen Menschen. Wie gut, sich auszuruhen! wie gut, auf dem Moos zu liegen und zu denken, an dich zu denken! Ich möchte so lang wie möglich dort bleiben, und wenn wir dann im Herbst zurückkommen, wird ein neues Leben angefangen. Morgen ist das Parkfest bei der Fürstin Liebenberg, da geh’ ich noch hin, weil ich’s versprochen habe, aber dann ist Schluß mit allen Gesellschaften und Vergnügungen. Es ist so beängstigend, wenn jede Woche ein Programm hat. Es ist auch beängstigend, fortwährend über die eigenen Verhältnisse zu leben und nicht klar darüber zu sein, womit man ein solches Übergreifen vor sich und andern rechtfertigen soll. Ich bin fest entschlossen, dem ein Ende zu machen. Ich zweifle an Erwins Redlichkeit nicht, aber ich ziehe es vor, mit gutem Gewissen in der Armut als mit schlechtem in der Fülle zu leben. Zu viele Pflichten, zu viele Bedenken erwachsen mir daraus, zu viel unreines Gefühl, das man dann wieder betäuben muß durch allerlei Dinge, die die Freiheit beschränken. Sind wir einmal draußen auf dem Land, so werd’ ich alles mit der Mutter ernsthaft besprechen und ordnen. Ich glaube, auch dir wird es im Grunde lieber sein, wenn du deinem Freund nicht auf eine Weise verpflichtet bist, die mir drückend erscheint. Erwin wird das einsehen; er hat den Zug ins Große, aber er vergißt, daß kleine Leute klein bleiben müssen und daß sie sich nur die Glieder verrenken, wenn sie sich nicht nach der Decke strecken. Sonst kann ich nicht klagen ...« Virginia ließ die Feder sinken. Ist das wahr? fragte sie sich. Nein, sie hätte klagen können. Als sie das Geschriebene überlas, war es ihr, als ob in all ihren Worten eine Lüge enthalten sei. Eigentlich hätte sie schreiben müssen: Komm zurück, Manfred! Komm, so schnell du kannst! Sie beendete den Brief heute nicht mehr. Sie saß noch lange, den Kopf in die Hand gestützt, und bisweilen flog es wie Fieber durch ihren Körper. Ein anderes Gesicht Am nächsten Nachmittag kam Erwin früher, als ihn Virginia erwartete. Das Fest sollte um fünf Uhr beginnen. Sie war noch beim Frisieren, saß vor dem Spiegel im Wohnzimmer, und Frau Geßner hielt Erwin in der Küche auf. »Machen Sie keine Umstände, Mama,« sagte Erwin aufgeräumt und schob die ängstliche Frau einfach beiseite, »in Frisiertoilette kann jede Dame empfangen. Es ist sogar üblich. Wir haben nicht viel Zeit, und ich muß Virginia zur Eile treiben.« Er stand schon auf der Schwelle, nachdem er lachend die Tür geöffnet hatte. Virginia, das Haupt in ihrem weißen Mantel gegen ihn kehrend, sah ihn erschrocken an. Das Erglühen ihres Gesichtes versprach keine gute Wendung. Sie, die als Kind von zwölf Jahren den Arzt nicht in ihrer Nähe geduldet, wenn ihre Haare nicht geflochten waren, die selbst vor Manfred, obwohl er einmal herzlich darum gebeten, nie die Haare gelöst, wollte die unerwünschte Gegenwart des Eindringlings nicht willig hinnehmen. Sie erhob sich schweigend, um aus dem Zimmer zu gehen. Erwin nahm seine ganze List und Kunst zusammen, sie davon abzuhalten. Er drehte sein Unterfangen ins Scherzhafte, er bog das Knie zur Erde und streckte flehend die Arme aus, und was er sagte, war so witzig und voll Schelmerei, daß Virginia schließlich lachen mußte. Auch Frau Geßner, die dabei stand, war seelenvergnügt. »Seit anderthalb Stunden plagt sich das Kind«, sagte sie; »dreimal hab’ ich ihr angeboten, eine Friseurin zu holen, aber das will sie nicht.« – »Ich kann keine fremden Hände an mir vertragen«, gab Virginia nervös zu. Erwin hatte seine Fachmannsmiene aufgesetzt. »Wenn Sie zehn Minuten stille sitzen wollen, Virginia,« sagte er, »werd’ ich Sie aus der Verlegenheit befreien, und Sie werden eine mustergültige und stilgemäße Haartracht haben. Darf ich? Sie wissen, ich verspreche niemals mehr, als ich leisten kann.« Virginia betrachtete ihn zweifelnd und unschlüssig. Sie fürchtete, blöde zu erscheinen, wenn sie sich weigerte. »Können Sie denn das? Wieso denn?« erkundigte sie sich verwundert. Er zuckte die Achseln. »Nie ist mir das Frisieren so schwer geworden«, klagte sie und schüttelte den prachtvollen Strom ihrer Haare über die Schultern zurück; »man sagt, böse Träume seien daran schuld«, fügte sie lächelnd hinzu. »Nun, wenn Sie glauben, daß Sie’s fertigbringen, probieren Sie es meinetwegen.« Und befangen nahm sie Platz. Frau Geßner schaute mit andächtig gefalteten Händen zu, als Erwin ans Werk ging. Er verstand es ausgezeichnet, und da er die Arbeit still, flink und mit großer Behutsamkeit verrichtete, gewann Virginia ihre Ruhe wieder, und sie dachte darüber nach, wie er zu solcher Fertigkeit gelangt sein mochte. Seine aufmerksame und unbewegte Miene verriet nicht die prickelnde Lust seiner Finger; von den seidenweichen Haaren sprangen elektrische Funken auf seine Haut, die ihm die sinnliche Täuschung erweckten, als stehe er unbekleidet unter einem lauen, rieselnden Wasserfall. Verriet nicht die schon zur Qual und Wildheit gesteigerte Vehemenz seiner Wünsche, seine ausschweifenden Projekte, die Entzündung seines Gehirns und seines Willens, die unheimliche, in allen Poren wühlende Sucht seiner verwöhnten, hartnäckigen, kühlen und leidenschaftlichen Seele. Sondern es gaben ihm sein Tun, die Vertiefung, die jünglinghafte Spannung des Gesichts ein edles Ansehen, und Virginia, die ihn so im Spiegel gewahrte, dankte ihm durch einen ruhigen Blick. Um vier Uhr befanden sie sich im Pavillon des Parks, und eine Stunde später setzte sich der Zug der historischen Gruppen in Bewegung. Man sah Pagen und Ritter, Bauern und Landsknechte, Pfaffen und Zigeuner, Ratsherren und Spielleute. Virginias Schimmel, dessen Sanftmut verbürgt war, erinnerte sich vor den Augen der vielen Zuschauer gleichwohl an tänzerische Anfechtungen seiner Jugendzeit, und als die Reiterin den Zügel riß und das Aufbäumen des verkappten Invaliden durch ihre unnachgiebige Haltung zu brechen wußte, sah es wirklich aus, als zähme ein kühnes Burgfräulein den stolzen Araberhengst. »Famos«, murmelten die jungen Aristokraten. Und das »Volk«? Das Volk staunte. Virginias birkenschlanke Gestalt, angetan mit dem himbeerfarbigen Sammetkleid nach Art einer Edeldame des sechzehnten Jahrhunderts und dem Hut mit den funkelnd weißen Reiherfedern, hatte nichts von dem Befremdlichen einer Maskerade: es war eine sinnvolle Romantik darin. Frauen und Männer huldigten ihr. Wie hätte sie von solchem Erfolg nicht ein wenig trunken werden sollen? Als sie noch bei der Mutter gelebt, unwissend; als nur Manfred allein, aus der unbekannten Welt sich lösend, vertraut in ihren Kreis getreten war, hätte sie sich von alledem nichts träumen lassen. Die balsamische Luft! der dunkelblaue Julihimmel! Unten werden Wünsche geboren, oben werden sie erfüllt. Ein Teil des Parks war für die Gäste der Fürstin abgegrenzt. Es war kein steifes Wesen; die freie Mischung der Gesellschaft kam einer reizenden Zwanglosigkeit zustatten. Virginia saß in einem Zirkel junger Herren und Damen, an deren heiteren Gesprächen sie wenig Anteil nahm. Da gewahrte sie die Fürstin; sie stand auf und ging ihr entgegen. Erwin erhob sich ebenfalls; er blickte unschlüssig vor sich hin, plötzlich tauchte Fritz Kynast vor ihm auf. »Haben Sie meine Schwester nicht gesehen, Erwin?« fragte er. »Ich hatte nicht das Vergnügen, ich wußte gar nicht, daß Frau Zurmühlen hier ist«, versetzte Erwin kalt. »Doch; ich habe mir erlaubt, sie mitzubringen«, sagte der junge Mann in seinem abgemessenen Hofratston. »Sie wissen ja, ich habe mich der Pflicht unterzogen, sie bisweilen dem Ehejoch zu entziehen. Wir sind alle ein wenig besorgt um sie. Sie ist so zart. Man will sie über den Herbst nach Rimini ins Seebad schicken.« »Ah, nach Rimini? Nicht übel«, antwortete Erwin zerstreut und gleichgültig. »Hatten Sie nicht auch die Absicht, nach Rimini zu gehen?« fragte der andere mit mühsamer Freundlichkeit und einem Zug in den Mundwinkeln, der Drohungen zu enthalten schien, »mir ist, als hätte Helene etwas davon verlauten lassen.« »Ich entsinne mich, ich dachte daran, bin aber längst davon abgekommen.« »So ... Schade. Die Arme. Da wird sie sich mopsen bei den Katzelmachern. Schade. Ich hab’s ihr aber gesagt. Erst gestern hab’ ich ihr gesagt: es ist unmöglich, daß der Erwin nach Rimini geht, unmöglich.« Die beiden Männer sahen einander schweigend an. Fritz Kynast lächelte, Erwin erwiderte das Lächeln nicht. Er nickte jenem zu und entfernte sich. Er gewahrte, daß die Fürstin von Virginia weggegangen war, und schritt Virginia entgegen. Er trat an ihre Seite, und sie kehrten dann zusammen um. Ehe sich Virginia dessen versehen hatte, befanden sie sich in einer ziemlich einsamen Partie des Gartens. Es war ihr unbequem, aber sie fand keinen Vorwand, wieder zu den Menschen zurückzukehren. Auch hielt sie ein wunderlicher Trotz davon ab. »Ich möchte reisen,« sagte Erwin, »ich möchte fort.« Virginia entgegnete nichts. Seine Stimme, die traurig klang, verstärkte den wunderlichen Trotz. Indem sie auf die Erde blickte, hatte sie das Gefühl, als habe sie ganz vergessen, wie Erwin aussah. »Und Sie, Virginia?« fragte er leise. Da sie nichts antwortete, fuhr er fort, und seine Worte erschreckten sie, weil sie aus ihnen abermals seine schier unbegreifliche Kunst erkannte, mit der er ihre Stimmungen und Absichten erriet: »Ich weiß, ich ahne es, Sie sehnen sich nach einer ländlichen Zurückgezogenheit. Eine Stadt ist zu Ihren Füßen gelegen, und Sie denken an den Frieden eines Bauerndorfs. Sie wollen die Welt, die sich zu Ihrem Sklaven erklärt hat, von sich stoßen. Das würde sich rächen, Virginia, das würde sich bitter rächen. Nicht zweimal bietet das Glück den gefüllten Becher.« Sie waren an dem steinernen Rand eines Bassins angelangt. In dem grünlichen Wasser schwammen Goldfische. Ringsum standen schöne, alte Bäume. Von fernher tönte Musik. »Es ist lächerlich«, sagte Virginia mit niedergesenkten Augen. »Was? was ist lächerlich?« »Daß Sie alles von mir wissen. Sie sind wie ein Spion. Ich fürchte mich beinah vor mir selbst. Bin ich denn durchsichtig?« »Lassen Sie das Bauernhaus,« sagte Erwin, ohne sie anzublicken, »ich weiß Besseres.« Er dichtete eine erhabene Landschaft; er dichtete einen See hinein, und in den See eine Insel, und auf die Insel ein Schloß, und um das Schloß einen Palmenhain und Lorbeergärten, und an den Molo ein bewimpeltes Boot, und in das Schloß kühle Gemächer, blumenbeladene Veranden, stumme Dienerinnen, des Abends Feste, Ball und Gesang und Fahrt auf dem Wasser; in Stundennähe die großen Städte der Lombardei, und in Stundennähe die Einsamkeit der Gebirge, die marmorne Wucht der Gletscher, und wieder in Stundennähe das Meer. Oder war es nicht Dichtung? Erzählte er? lockte er? war es Wirklichkeit? er besaß es? hatte ein solches Schloß? wollte hinfahren? jetzt? morgen? Und Virginia sollte mit der Mutter im Schlosse hausen? und er würde am Seegestade hausen, allein in einer Fischerhütte? Virginia wandte sich kopfschüttelnd ab und setzte sich dann mit übergeschlagenen Beinen auf den Rand des Bassins. Ihr Gesicht hatte einen trocknen und ungeduldigen Ausdruck. Erwin trat vor sie hin und blickte auf ihre weißen Schultern herab. Er sah den Nacken und die weißen Schultern und die obere Wölbung des Busens so nah, daß er sich nur wenig hätte neigen müssen, um seine Lippen darauf zu drücken. Er spürte die Wärme ihres Leibes und vernahm das leise Knistern des Gewands. Er sah sie nicht mehr in ihrem Kleide, sondern er empfand den Reiz und Wohlgeruch des durch das Kleid verhüllten Körpers selbst. Und ihm war, als könne es von jetzt an nicht mehr anders sein; immer würde er die weiße Schulter sehen, den schimmernden Nacken, die friedliche Wölbung ihres Busens. »Bald wird es ein Ende haben«, sagte er dumpf und eintönig; »schon seh’ ich die züchtigen vier Wände aufgerichtet. Virginia wird heiraten. Virginia wird mit dem Fleischer, dem Greisler, dem Bäcker Verhandlungen anknüpfen, Virginia wird ein Haushaltungsbuch mit Soll und Haben führen, wird Kinder kriegen, eins, zwei, drei ...« Hastig stand Virginia auf. Sie bohrte den Blick unergründbar mutig in den seinen und sagte befehlend: »Genug.« Er hielt ihren Blick aus wie ein ehrlicher Mann. »Genug?« fragte er mit einem von Schmerz zusammengezogenen Gesicht. »Was für ein Wort: genug! Ein Wort für die Satten. Wer genug sagt, der sterbe. Genug ist ein Sargdeckel.« »Sie haben mir ein Genug versprochen«, erwiderte Virginia plötzlich sanft und beängstigt. Und mit tiefer Entschiedenheit fügte sie hinzu: »Für mich wäre es sonst wirklich genug.« Erwin verbeugte sich. Er preßte die Zähne zusammen. »Gehen wir wieder zu den Leuten«, sagte Virginia und schritt voran. Erwin konnte seiner Erregung nicht anders Herr werden, als indem er eine Zigarette anzündete; mit erkünsteltem Behagen blies er den Rauch in die silbrig dämmernde Luft. Wann wird endlich meine Stunde kommen? dachte er haßerfüllt; die Stunde, wo dieser Engel aus seinem Himmel herunter in meine Arme stürzen wird? Und er bereitete sich vor zu einem Kampf ohne Gnade. Als die beiden den Platz verlassen hatten, trat eine Frauengestalt auf einen Weg zwischen den beschnittenen Hecken und schaute mit verstörten Augen auf den vollen gelben Mond, der durch die Säulchen einer über dem Wasserbecken befindlichen Balustrade leuchtete. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. Es war Helene Zurmühlen. »Sehen Sie nur den Mond«, sagte Virginia zu Erwin; »es ist, als könnte man ihn mit dem Fuß vor sich herrollen.« »Der Mond ist voll; Gott hat zu ihm gesagt: genug, Mond, genug«, erwiderte Erwin ironisch, und es war etwas in seiner Stimme, was Virginia einen Schauer über die Haut jagte. In wenigen Tagen hört das alles auf, tröstete sie sich. »Daß Manfred Sie heute nicht sieht, darum ist er zu beklagen«, begann Erwin wieder. »Wir müssen etwas für ihn tun, wir müssen ihm Ihr Bild schicken. Ich werde Sie photographieren, so wie Sie hier sind.« »Ah, das ist lieb«, entgegnete Virginia erleichtert; »aber wo und wann?« »Bei mir draußen. Ich schicke Ihnen übermorgen den Wagen. Morgen geht es nicht, abends hab’ ich ein kleines Herrendiner, nachmittags will ich zu Ulrich Zimmermann; ich hab’ ihn seit Wochen nicht gesehen und höre, daß er krank ist.« »Ulrich krank? Was fehlt ihm denn?« »Ich weiß es nicht. Kommen Sie doch mit mir. Wenn er Sie sieht, wird er sicher gesund. Vielleicht sind Sie sogar schuld an seiner Krankheit. Sie haben ihn schlecht behandelt und zu schwer gestraft für eine Unbesonnenheit.« »Wenn Sie glauben, daß ihm mein Besuch Freude macht, gern. Warum haben Sie denn neulich so fremd von ihm gesprochen? Es fällt mir nicht mehr ein, bei welcher Gelegenheit; es waren viele Leute dabei. Sie haben getan, als ob Sie ihn nicht kennen würden, und ich habe mich darüber geärgert.« – »Ich liebe es nicht, meine Beziehungen zu plakatieren.« – »Man kann also jederzeit von Ihnen verleugnet werden?« – »Man verleugnet nicht, wenn man Grenzen zieht.« – »Wo Grenzen sind, sind Feinde, Erwin.« Er schaute sie überrascht an, denn es schien, als ob sie mit diesen Worten, und zwar in unwiderruflicher Weise, selbst eine Grenze zöge. Virginia begegnete seinem Blick, und auf einmal wurde sie dunkelrot. Das Spiel wird ernst, dachte Erwin. * * * * * Ulrich Zimmermann wohnte in der Kochgasse, im ersten Stock eines alten, kleinen, grünen, italienisch aussehenden Hauses. Man mußte zuerst den Hof durchschreiten und dann eine Holzgalerie erklimmen, die in das Zimmer des Schriftstellers führte, einen gemütlichen, aber etwas armseligen Raum, der sich jedoch durch ungewöhnliche Sauberkeit auszeichnete. An den Wänden hingen ein paar Originalskizzen von mittelmäßigen Malern und eine große Photographie der Rembrandtschen Nachtwache. Ulrich lag auf dem Sofa, bis zum Kinn mit einem braunen Flanelltuch bedeckt. Er hatte Fieber. Mit verdrossenem Gesicht las er einen Brief, den er soeben von seinem Onkel erhalten hatte. Vor einer Woche hatte er dem alten Herrn den Band seiner Gedichte geschickt, deren Veröffentlichung ihm durch Erwins Hilfe ermöglicht worden war. Doktor Zimmermann bedankte sich für das Büchlein und schrieb weiterhin: »Dein poetisches Gefühl ist unbestreitbar, und wenn auch deine Bilder bisweilen ins Abstruse oder Krampfhafte fallen, ein Fehler, der auf einem Mangel an innerer Einfachheit beruht, so erkenne ich dir doch alle Begabung für den selbsterwählten Beruf zu, die mein früheres Mißtrauen und meine verzeihliche Enttäuschung als nicht vorhanden erklärt hat. Aber du irrst, wenn du annimmst, ich sähe dich mit Genugtuung und großer Erwartung auf dem eingeschlagenen Weg weitergehen. Nicht zu gedenken der Not, des gekränkten Ehrgeizes, der Mißkennung, der vielfachen vergeblichen Anstrengungen, mit welchen du wirst ringen müssen und deren Vorgeschmack du reichlich genossen hast, gebricht es dir auch nach meiner festen Überzeugung an einer Eigenschaft, ohne die ein wahrhafter Ruhm nicht möglich ist. Es fehlt dir an Gemeinsinn; ich will es besser soziale Gebundenheit nennen; es fehlt deinen Produkten die Wurzel gesunder Konvention, auf der alles Tüchtige und Außerordentliche der Kunst wie der sichtbaren Welt ruht, als auf einer Basis von Harmonie und sittlicher Ordnung. Deine Zeitgenossen werden dir dieses um so williger nachsehen, da sie in dem Punkte nicht verwöhnt sind. Alle eure Dichter bauen auf durchhöhltem Grund oder hängen gänzlich in der Luft, haben keine Herkunft, keinen Stammbaum und keine höhere Sendung. Jedoch in ihrem immanenten Bewußtsein können auch eure Anhänger mit der bloßen Kunst sich nicht zufrieden geben und verurteilen insgeheim zu frühem Tod, was auf dem Markt Unsterblichkeit prätendiert. Deine Sorge wegen meiner Gesundheit ist, ich hoffe es zu Gott, vorläufig noch unbegründet. Laß es dir gut ergehen und sei gegrüßt von deinem wohlaffektionierten Onkel Wilhelm Zimmermann.« Durch einen Bekannten seines Onkels hatte Ulrich erfahren, daß Doktor Zimmermann mit den Anfängen eines tückischen und höchst gefährlichen Leidens kämpfe, daß er sich aber eigensinnig weigere, einen Arzt zu Rate zu ziehen, und im Kreis der Freunde und vieljährigen Gefährten mürrisch und schweigsam geworden sei, sich unversehens aus der Gesellschaft stehle oder kopfhängerisch in einem Winkel sitze. Diese Nachricht hatte Ulrich verstimmt. Der joviale, lebhafte, sprühende Mann, der scharfe Geist und schlagfertige Dialektiker in der Melancholie gleichender Todesfurcht, nichts konnte trauriger für Ulrichs Ohren klingen, und er nahm sich vor, den Oheim aufzusuchen. Während er dies und den wenig ermunternden Inhalt des Briefes überdachte, erschallten Tritte auf der Treppe, die Türe wurde nach raschem Pochen geöffnet, und Erwin steckte den Kopf in die Spalte. »Kann man herein?« – »Natürlich kann man.« – »Aber es ist noch jemand da.« – »Wer denn?« – »Fräulein Virginia.« Ulrich fuhr auf. Das war das Unerwartetste. Schon stand Virginia auf der Schwelle, dann trat sie ins Zimmer und reichte Ulrich die Hand. Ulrich mußte sich immer dessen im Gespräch entäußern, was ihm den Sinn beschwerte. Er reichte Erwin den Brief seines Onkels. »Mir ist, als seien Sie anders geworden, als seien Sie gewachsen«, sagte er zu Virginia, indes Erwin ans Fenster ging und las. Virginia griff zerstreut nach einem der Gedichtbände, die auf dem Tisch gestapelt lagen. In dem ersten, den sie aufschlug, fand sie, von Ulrichs Hand geschrieben, ihren eigenen Namen auf dem Vorsatzblatt. »Soll das mir gehören?« fragte sie. Ulrich schaute flüchtig herüber und antwortete obenhin. »Ja, das gehört Ihnen.« – »Es liegt aber ein Bild dabei. Soll das auch mir gehören?« – »Wenn Sie’s annehmen wollen, ja. Ein alter Stich, aus dem Totentanz von Holbein. Ich hab’ es sehr gern und hab’ mir längst vorgenommen, es Ihnen zu verehren.« Virginia sah ein schönes junges Mädchen, hinter dem der Sensenmann grinsend und lüstern emportaucht. Darunter stand: die Braut. Gedankenvoll schaute Virginia darauf nieder: sie ließ den linken Arm sinken, und der Sonnenschirm fiel auf den Boden. Erwin, der kein Wort von der Unterhaltung der beiden verloren hatte, bückte sich galant danach und schaute dann über Virginias Schulter auf das Bildchen. Unter seinen schöngeschwungenen Wimpern hervor schoß ein messender Blitz auf Ulrich Zimmermann. »Was halten Sie von dem Brief?« erkundigte sich Ulrich betreten. »Der Mann ist klug«, versetzte Erwin. »Aber was wollen Sie: die Schulmeister schimpfen gern, wenn’s wettert, und wenn sie ins Freie gehn, laufen sie über die Straße ins Wirtshaus. Wir wissen es ja längst: das schlechte Gewissen macht Moralisten, und der untätige Geist gebiert Kritik.« Ulrich Zimmermann starrte in die Luft. Er sah nur Virginia. Er sah nicht sie selbst, sondern eine Spiegelung von ihr, die sich in der Luft bewegte. Nein, sprach es plötzlich in ihm, es ist nicht, es ist nicht! Der Kranz auf dieser Stirne kann nicht lügen. Man muß eben einsam bleiben, grübelte er, als die beiden fortgegangen waren; wo bin ich? wo lebe ich? lebe ich in meinem Bezirk? treu der angeborenen Kraft? Kann ich der unbarmherzig fließenden Zeit gültige Zeugnisse entgegenhalten, die »einst« bestehen werden, wenn das Heute eine Sage sein wird für die Enkel? Und aller Durst nach Ehre, wohin? alle Pläne, wohin? alle Träume von Unsterblichkeit, wohin? * * * * * »Es ist eine Dame drinnen, die auf dich wartet«, flüsterte Frau Geßner Virginia zu, als diese nach Hause kam. Virginia trat ins Zimmer und sah Helene Zurmühlen vor sich. Die Anstrengung, die in Helenes Haltung lag, verlieh sogar ihrem Blick etwas Starres und machte das freundliche Lächeln auf ihren Lippen unglaubwürdig. Warum war sie da? Im Grunde hatte sie die Verzweiflung angetrieben. Eine Reihe von schlaflosen Nächten vermag die Beweggründe eines Entschlusses zu verdunkeln. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß das Verhängnis unabwendbar gewesen sei und besiegelt vom Anfang an her. Sie fror; sie fror bis in das Mark ihrer Knochen. Sie sah sich des schützenden Mantels von Zärtlichkeit beraubt, in dem sie sich für gefeit gehalten gegen alle Drohungen des Schicksals. Und es war so plötzlich gekommen, ohne Aussprache, ohne Vorbereitung, wie wenn am Abend eines Sommertages Schnee fällt. Die Sonne hatte sich von ihr abgekehrt, und es war finster und eiskalt. Es trieb sie an, dorthin zu gehen, wo die Sonne schien. Sie wollte diejenige sehen und spüren, die von der Sonne beschienen war. Ohne Eifersucht, wähnte sie; ihre Natur war so beschaffen, daß sie sich in einen künstlichen Edelmut wohl hineinlügen konnte. Sie gedachte edel zu verzichten, fand aber keine Antwort auf die Frage, weshalb es nötig war, vor die glückliche Nebenbuhlerin zu treten, die gar nicht danach aussah, als ob es ihr um die feierliche Gebärde des Verzichts zu tun sei. Aber in ihrem erkünstelten Edelmut dachte Helene: Wenn sie nur glücklich ist und ihn glücklich macht, dann bin ich zufrieden. Und sie selbst richtete sich empor an dieser Märtyrerstimmung und glaubte ihren Kummer zu vergessen, wenn sie Virginia versicherte, wie sie es Erwin versichern wollte: ich entsage. Der Gedanke, daß eine Schönere, Würdigere, Stärkere ihren Platz einnehme, tröstete sie, oder sie redete sich dies wenigstens ein. Alles das war ebenso verzwickt und unwahr, wie rührend und hilflos. Helene war auf Virginia zugegangen und hatte ihre Hände gefaßt. »Ich begreife alles,« sagte sie, »ich begreife ihn und Sie. Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie derart überfalle, ich weiß, daß ein solcher Schritt ungewöhnlich ist, und viele würden mich verdammen, aber es ist das einzige Mittel für mich, um die Leere zu ertragen, die jetzt in mir ist. Ich will mich aufrecht halten, ich muß mich aufrecht halten, wenn ich auch wie ein Lahmer bin, dem die Krücke weggenommen worden ist. Sie bedürfen keiner Krücke, das seh’ ich wohl, und es wird ihm leichter sein, mit Ihnen froh zu werden als mit mir.« Sie schwieg. Ihre Blicke schweiften durch das Zimmer und nahmen plötzlich einen erstaunten Ausdruck an, denn sie schien erst jetzt der Einfachheit des Raumes inne zu werden. Virginia wußte nicht, was sie denken sollte. Sie war bestürzt und aufs äußerste verwundert. »Darf ich wissen, gnädige Frau, wovon Sie eigentlich sprechen?« fragte sie höflich. Eine Sekunde lang schien es, als breche ein Blitz des Hasses aus Helenes feuchtstrahlenden Augen. Warum heuchelt sie, fuhr es ihr durch den Sinn. Doch faßte sie sich schnell, und mit ihrem gütigen, müden und opferwilligen Lächeln fuhr sie fort: »Auch das begreife ich, daß Sie sich nicht vor mir bekennen wollen. Aber wer bin ich denn, und was haben Sie zu fürchten? Ich habe ihm alles hingegeben, Ehre, Herz, Leben, Zukunft, Kind und Mann, alles ihm, alles zertreten für ihn, und mit Freude, das dürfen Sie mir glauben. Ich bin zum Schatten geworden, zu seinem Schatten. Das muß man nicht tun, Fräulein, das ist zu viel, vor einem ähnlichen Los wollt’ ich Sie bewahren. Nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht zu seinem Schatten werden.« Endlich verstand Virginia. Eine grelle Blässe überzog ihr Gesicht. Sie war keines Wortes fähig. »Ich dachte noch den Sommer mit ihm zu verbringen,« fuhr Helene mit schmerzlich verzogenem Gesicht fort und in einem Ton von Hoffnung, als ob Virginia durch diese Tatsache bewogen werden könne, ihre Ansprüche an Erwin aufzugeben, »aber gestern schrieb er mir, er könne nicht, er sei verhindert.« Sie schaute Virginia fragend an, und ihre Lippen zitterten. Sie begann das Mißliche und Entwürdigende ihrer Situation zu spüren. Außerdem erschrak sie, als sie das bleiche Gesicht des jungen Mädchens gewahrte. »Sie sind in einem bedauerlichen Irrtum, gnädige Frau,« sagte Virginia leise und mit den Zeichen heftigen Widerwillens, »es scheint Ihnen nicht bekannt zu sein, daß ich verlobt bin und daß sich mein Bräutigam gegenwärtig auf einer Seereise befindet. Ich fühle mich nicht verpflichtet, Sie darüber aufzuklären, und wenn Sie ein Einverständnis zwischen mir und Herrn Doktor Reiner annehmen, so ist das Ihre Sache, nur muß ich Sie bitten, mich mit solchen Beleidigungen zu verschonen.« Nach diesen Worten, denen die Entrüstung und Verachtung etwas Phrasenhaftes verlieh, ging eine seltsame Verwandlung in Helenes Gesicht vor sich. Virginias unverkennbarer Zorn, die herrische Abwehr mit dem Hinweis auf ein unverbrüchliches Band ließen ihr die Dinge in ganz anderm Licht erscheinen. Da ihre Eifersucht plötzlich des Gegenstands beraubt war, sah sie, daß sie längst schon verspielt, daß ihr Einsatz niemals volle Gültigkeit besessen hatte. Sie fühlte Lust, zu schlafen oder sich irgendwo auszustrecken, den Kopf in einen dunkeln Winkel gedrückt. So hätte ich geschaffen werden sollen, dachte sie mit einem müden Blick auf Virginia, so stark, so frei, so stolz. Mit fast unhörbarer Stimme bat sie um Verzeihung. Virginia antwortete nichts. Helene lispelte einen Gruß. Eine Gebärde verriet die schüchterne Absicht, Virginia die Hand zu reichen. Virginia geleitete sie stumm hinaus. Ihr war eng und weh, nicht mehr weil sie beschimpft worden war, sondern weil ihr die andere das Schauspiel einer unvergeßlichen Selbsterniedrigung geboten hatte. Helene verabschiedete sich, wie wenn sie sich bei einer Unbekannten nach der Brauchbarkeit eines Dienstboten erkundigt hätte. Sie ging durch viele Straßen, und ganz ohne Ziel. Es regnete, aber sie spannte nicht einmal den Schirm auf. Sie blieb vor einigen Auslagen stehen, keineswegs um Dinge zu betrachten, sondern um besser nachdenken zu können. Wenn diese Virginia nicht seine Geliebte ist, dachte sie, dann ist ja für mich noch nichts verloren; am Ende ist alles nur eine Einbildung von mir. Und sie hatte plötzlich das Verlangen, Erwin zu sehen und mit ihm zu sprechen. Sein Gesicht verfolgte sie mit dem ihm eigenen Ausdruck von Ruhe, von Obsorge und von Beredsamkeit, den starken, einschmeichelnden und besonderen Worten, die seine Züge so bewegt und so vertraut machten. Sie beschloß, zu ihm zu gehen. Es war schon Abend; sie trat in ein Geschäft und telephonierte nach Hause, um zu erfahren, ob das Kind schlafe. Ihr Mann war für einige Tage auf seiner Fabrik in Böhmen. Gegen halb neun Uhr fuhr sie nach Pötzleinsdorf. Ihre Brust war mit neuen Hoffnungen gefüllt, und wo diese Hoffnungen sie im Stiche ließen, richtete sie ihre Zuversicht auf die Auseinandersetzung mit Erwin. Sie gehörte zu den Menschen, die sich leicht der Täuschung hingeben, durch Reden, Erklärungen und Auseinandersetzungen könne der Lauf der Geschehnisse gehemmt oder verändert werden. »Melden Sie mich, ich muß Herrn Doktor Reiner dringend sprechen«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme zu Wichtel. Dieser zog die Brauen hoch, zauderte einen Moment, verschwand aber dann im Speisezimmer. Nach einer Weile kam er mit etwas verlegener Miene zurück und sagte: »Der gnädige Herr bedauert unendlich, er kann nicht abkommen und bittet, ihn zu entschuldigen.« Helene zuckte zusammen. »Haben Sie ihm gesagt, daß ich es bin?« fragte sie matt und geringschätzig. – »Sehr wohl.« Helene wurde totenbleich. Die ungeheure Anstrengung, deren es bedurfte, sich vor diesem fremden Menschen nichts merken zu lassen, rettete sie vor einer Ohnmacht. Sie hörte lachende, scherzende Stimmen aus dem Zimmer schallen, und auf einmal kam es über sie wie ein Rausch, wie eine Raserei der Verzweiflung, die nichts mehr von Selbstschutz weiß, von Furcht und Rücksicht. Sie eilte gegen die Tür, riß sie auf und trat wie eine geisterhafte Erscheinung in das Zimmer, in welchem Erwin mit drei jungen Männern am Tische aß. Erwin befand sich der Tür gegenüber. Er stellte das Weinglas, das er in der Hand hielt, neben seinen Teller und erhob sich. Ebenso langsam, wie er das Glas hingestellt hatte, verzog sich das heitere Lächeln, mit dem er am Gespräch teilgenommen. Es herrschte ein tiefes Stillschweigen; die Gäste blickten erstaunt auf die junge Frau. Erwin gewann sogleich seine Fassung; er ging Helene entgegen und sagte höflich und anscheinend bestürzt: »Sie sind es, gnädige Frau! Davon hatte ich ja keine Ahnung! Was ist vorgefallen? Darf ich bitten, mir zu folgen?« Er entschuldigte sich bei seinen Gästen, öffnete die Tür gegen den linken Flügel des Hauses und ließ Helene, die mit halbgeschlossenen Augen mechanisch schritt, vorausgehen. Dann übernahm er die Führung und machte erst in dem kleinen Gemach am Ende der Flucht halt. Hier war es finster, er drehte das Licht auf und schloß dann die Tür. »Ist es wahr? Du wußtest nicht, daß ich dich sprechen wollte?« fragte Helene atemlos, mit einer Stimme, die zur flehentlichen Abbitte schon bereit war. Erwin blickte über sie hinüber. »Ich wußte es«, sagte er laut, fest und mit starrem Mund. Dann erst heftete er die Augen auf die gleichsam verlöschenden Züge Helenes; er setzte sich in einen Stuhl und verschränkte die Arme über der Brust. Helene sah in sein Gesicht. Es war ein anderes Gesicht, ein Gesicht, das sie nie zuvor gesehen hatte, das sie nicht kannte und vor dem ihr graute; ein Gesicht, in welchem kein Funke mehr von Zärtlichkeit, von Beredsamkeit, von Milde, von Tröstung, von Offenheit war, ein kaltes, steinern-gleichmütiges und erbarmungsloses Gesicht; ein furchtbares Gesicht. Helene glaubte zu spüren, wie ihr Herz starb. Sie mußte sich abwenden. Sie wunderte sich, daß sie die Gegenwart dieses Gesichts ertrug, ohne zu schreien, wie man beim Anblick eines medusischen Schreckbildes schreit. Sie wunderte sich über die Art, wie sie aus dem Zimmer ging und den Weg zum Vestibül fand. Beim Tor der Halle holte er sie ein, sagte etwas, was sie nicht verstand, und entließ sie mit höflicher Verbeugung. Sie kam nach Hause und wunderte sich, daß alles noch so war wie am Nachmittag. Sie nahm den Hut ab, legte sich auf einen Diwan, lag Stunden und Stunden, und als es Tag wurde, wunderte sie sich darüber. Sie erhob sich, ging zu ihrem Schreibtisch, suchte alle Briefe und Aufzeichnungen zusammen, die sie hätten verraten können, warf alle Papiere in den Ofen und verbrannte sie. Dann ging sie ins Badezimmer, ließ warmes Wasser in die Wanne laufen und, bevor sie sich entkleidete, trat sie ans Fenster, das nach dem Lichthof führte. Sie schaute in die Tiefe hinunter. Nach dem Bad kleidete sie sich sorgfältig an und frisierte sich ebenso sorgfältig, wie wenn sie ins Theater wollte. Hierauf ging sie ins Zimmer ihres Kindes, das noch schlief und küßte es auf die Stirn. Als sie wieder am Fenster des Badezimmers stand, zogen einige Spatzen pfeifend über den Himmelsausschnitt droben. Von einer Küche im untern Stockwerk klang Tellergeklapper und dazwischen ein schrilles, elektrisches Glockensignal herauf. Morgen wird es genau so sein, überlegte sie, auch übermorgen, vielleicht in hundert Jahren noch. Mit einiger Anstrengung setzte sie sich auf den schmalen Sims, und sie wunderte sich, daß sie etwas tun wollte, was so abschließend und so mutig war. Sie glaubte noch nicht, daß sie es tun würde; ihre großen Kinderaugen leuchteten noch einmal schmachtend und verlangend auf. Aber da gewahrte sie das Gesicht in der Luft, das andere Gesicht. Sie ließ die Hände los und sank ohne Laut in etwas unsagbar Weiches und Wollüstiges hinein. Sie sah die verblüfft glotzenden Augen einer Köchin an einem Fenster, und ihre letzte Überlegung war: hoffentlich lieg ich nicht unschicklich, wenn Leute kommen. Reise und Rückkehr Es war ein sehr heißer Tag. Frau Geßner hatte vom frühen Morgen an alle Türen und Fenster aufgerissen, aber die Luft, dick und schwer, bewegte sich nicht. »Wann werden wir nach unserm Dorf fahren, Gina?« fragte Frau Geßner. Virginia sah unschlüssig vor sich hin. Ihr war, als müsse sie sich zuvor noch einmal mit Erwin beraten, trotzdem sie überzeugt war, daß sie seines Rates nicht bedurfte. Sie wußte längst, daß er ihr Vorhaben mißbilligte; diese Mißbilligung war ihr gleichgültig; desungeachtet konnte sie zu keinem Entschluß kommen. Fortwährend sah sie Helenes Augen auf sich gerichtet, sah das zierliche Gestaltchen mit den schmalen, etwas vorgedrückten Schultern. Es konnte nicht spurlos an ihr vorübergehen, daß Frauen so vor ihm zusammenbrachen, so entseelt, so aufgeblättert, so zerworfen. Es wissen und davon gehört haben, ist ein anderes, als es sehen und miterleben. Wie die Sonne ihre Glieder ins Schlaffe löste! Das Jahr hatte sie verwandelt. Ein Bedürftiges war in ihr, das manchmal zu schwindelnder Sehnsucht heranwuchs. Wenn sie sich dann vor den Menschen verbarg, stockte ihr Blut in unbegriffenem Groll, und ihre Lider schlossen sich vor gefürchteten Lockbildern. Was nutzte es, eine Miene zu tragen, die verbietend war? Es war etwas aufgelöst in ihr. Ein Weg, den sie nicht gehen wollte, den sie niemals gehen würde, schimmerte versprechend. Langsam wurde der Schritt, belasteter der Fuß, unruhiger die Brust, und von den Hüften empor zum Halse glitt ein lauer Hauch, der den Kontur des Leibes empfinden machte, den Blick schamvoll von der Welt weglenkte. Solche Nächte waren noch nie gewesen wie in diesem Jahr. Das Blühen wogte bis über die Dächer, und in den Kellern sangen die Wurzeln. Der Mond stand am Himmel wie eine feuergefüllte Schale, die leicht der ausgestreckten Hand erreichbar schien, und aus fernen Wolken flammten schweigsame Blitze. Da spürte Virginia nicht mehr die strenge Scheu, die sie bis jetzt in ihren Gedanken der werbenden Liebe Manfreds entgegengesetzt. Sie rief nach ihm in Heimlichkeit, sie begehrte seine Nähe, wünschte seine Arme um sich geschlungen, und in einem Atem schmolz sie hin und ward frierend ihrer Verlassenheit bewußt. Sie hatte sich nach Tisch zu kurzem Ruhen hingelegt. Sie erinnerte sich nicht, geschlummert zu haben, dennoch hatte sie geträumt. Seltsame Dinge hatte sie gesehen. Sie stand in der Halle von Erwins Haus und blickte durch offene Türen in die Zimmer, die gegen den Garten lagen. Sie gewahrte in diesen Zimmern ungefähr acht oder zehn junge Mädchen, alle mit ganz dünnen Schleiergewändern bekleidet, durch welche die Haut leuchtete. Die Gewänder waren von reizvoller Verschiedenheit der Färbung; eines war blattgrün, das zweite moosgrün, das dritte scharlachrot, das vierte rosenrot, das fünfte saphirblau, das sechste ockergelb, ein jedes war anders und alle stimmten zusammen wie Blumen. Doch das Merkwürdige war, daß alle Mädchen schwarze Larven vor dem Gesicht trugen. Sie sprachen nicht miteinander. Eine saß am Klavier und spielte ein Menuett, die übrigen wandelten still durch die Räume, und in ihrem Gang wie in ihren Gebärden war etwas planvoll Verführerisches, das Virginia abscheulich erschien. Als sie sich von ihnen entfernte, kam sie in ein Gemach, das sie vorher noch nie betreten hatte, und sich umschauend gewahrte sie auf einem dunkeln Tierfell eine Frau, die einen Knaben von großer Schönheit in den Armen hielt. Der Knabe mochte ungefähr zwölf Jahre zählen, er hatte ein glühendes Gesicht, und seine Augen glichen auffallend den Augen Helenes. Die Frau lächelte ihm zu, war aber blaß und nachdenklich. Das Beklemmende an dem Traum war, daß die Bilder und Vorgänge nicht durch sich selbst bestanden, sondern daß sie von Erwin heraufbeschworen schienen, der wie ein unsichtbarer Zauberer sie entfaltete und vorüberziehen ließ. Virginia sträubte sich hartnäckig, doch es half nichts, das Spukwesen besiegte ihren Widerstand, und endlich wünschte sie nur, ihn zu sehen. Als um fünf Uhr Erwins Chauffeur meldete, daß der Wagen da sei, war sie schon fertig und mit dem Edeldamenkostüm bekleidet, in welchem sie photographiert werden sollte. Doch Erwin hatte ein Briefchen mitgeschickt, in dem er sie bat, ihm diesen Dienst heute zu erlassen, sie möge aber doch zu ihm kommen, er müsse sie sehen, denn es habe sich ein Unglück ereignet. Hastig zog sie sich um. Trotz dieser Nachricht betrat sie die Villa mit einer noch fortwährenden Verwunderung über ihren Traum und in einer schmerzlichen und ungewohnten Sinnendämmerung. In der Halle standen kupferne Gefäße, aus denen sich langstengelige weiße Lilien erhoben, und als Virginia in die Bibliothek trat, gewahrte sie in der Mitte des Raums eine riesige weiße Porzellanvase voll von weißen Rosen. Sie war verwundert, daß Erwin ihr nicht entgegenkam, bemerkte aber bald, daß er auf einer Ottomane lag, und erschrak über seinen Anblick. Er war aschfahl. »Um Gottes willen, was ist Ihnen, Erwin?« fragte sie stockend. Er antwortete nicht. Sie näherte sich ihm; in der Heftigkeit ihres Mitleids und ihrer Angst kniete sie neben ihm nieder und wiederholte ihre Frage im liebevollsten Ton. Diese Stimme! dachte Erwin, entzückt, erschüttert, trunken von Virginias dichter Nähe, diese Stimme! sie klingt wie ein Cello. Beinahe hätte er die Arme um sie geworfen, aber: zu früh! warnte ihn seine Vorsicht, zu früh! »Helene Zurmühlen hat sich vom dritten Stock heruntergestürzt und ist tot«, sagte er matt und versank wieder in sein bleiernes Hinbrüten. Virginia faltete die bebenden Hände und blickte, auf dem Stuhl sitzend, vor sich nieder, Tränen in den Augen. Schwer fiel es ihr aufs Herz, daß sie das unglückliche Weib ohne Spruch und Verständnis hatte von sich gehen lassen wie eine, die man verwirft. Und sie hatte das getan, dieselbe Virginia, die solche Träume träumte! Erwin streckte seine Hand nach ihr aus, als verlange er nach einem Halt. Sie glaubte eine Sünde zu begehen, wenn sie ihm ihre Hand nicht darbot; und dann, sie wußte nicht, wie ihr geschah, besaß er ihre Hand und sie hielt die seinige, als bedürfe sie für ihre Schwäche eines Schutzes, für ihre menschliche Verfehlung eines verzeihenden Worts, für ihren Traum einer Deutung. Plötzlich zog sie die Hand wieder an sich, schaudernd und erkennend. Mechanisch starrte sie die Hand an, die er gedrückt hatte; er hatte die einzelnen Finger förmlich geliebkost. Nie war ihr eine Hand so bloß erschienen wie die seine. Ein solches Gefühl hatte sie noch niemals gehabt, seit sie lebte. Und vor den Augen die tote Frau mit dem zerschmetterten Körper! Virginia erhob sich, beengt, bestürzt, mit fliegender Glut auf den Wangen. »Frau Zurmühlen war gestern nachmittag bei mir«, sagte sie. Erwin richtete sich empor. »Bei Ihnen? Aus welchem Grund? Um mich zu beschuldigen?« »Nein, das nicht, das durchaus nicht«, versetzte Virginia bitter. »Sie hat vergessen, daß eine Stunde der wahrhaften Treue ein ganzes Leben voll unentschiedenen Schwankens aufwiegt«, sagte Erwin düster. »Diese phantasielosen Frauen ohne Blut und ohne Wallung! Keine Gegenwart besitzen sie, aber von jedem schönen Augenblick fordern sie Ewigkeit, und jede freie Gabe soll an die Pflicht gebunden sein.« Dies hatte Virginia nicht zu hören erwartet. »Natürlich, der Saft wird ausgesaugt und die Hülle weggeworfen«, entgegnete sie, »und alles übrige sind Worte und nicht einmal ein Leben gilt etwas. Sind sie dazu gut, um zu sterben, die phantasielosen Frauen? Und die andern, die sind da, um zu leiden.« Sie wandte sich ab und ging erregt gegen das Fenster. Erwin stützte den Kopf in beide Hände. »Nein, nein, nein,« sagte er leise und geheimnisvoll, »was uns zu den Frauen zieht und was uns von ihnen scheidet, sind Dinge, die von der Tierheit kommen, und andere Dinge, die unsagbar und traurig sind und viele Verheißungen enthalten wie von einer besseren Existenz der Seele herüber.« »Ach, Sie wollen mir damit sagen, daß ich Vorurteile habe«, unterbrach ihn Virginia, indem sie sich umdrehte. »Erinnern Sie sich, daß Sie mir einmal von einem jungen Mädchen erzählt haben, das von einem Ihrer Freunde verführt wurde und das sich dann ertränkt hat? Das hat mir sehr leid getan, aber Sie sagten damals – erinnern Sie sich nicht?« »Nein, ich erinnere mich nicht.« »Sie sagten: schließlich ist auch die wohlschmeckende Himbeere nur ein Unkraut. Seit der Stunde ist es für mich festgestanden: wenn vor Gott und den Menschen entschieden werden müßte zwischen meinen Vorurteilen und euern, wie soll ich sagen, euern Urteilen, die Wahl, Erwin, die würde nicht lange dauern.« Erwin verbarg sein Erstaunen. »Alles das trifft mich nicht«, versetzte er zögernd. »Ich habe Helene geliebt. Ich liebte sie, weil ihr Haar einen unaussprechlichen und unvergleichlichen Geruch besaß, einen Geruch nach Milch und Heu und warmem Harz, und weil es mir den Sinn verrückte, wenn mich diese Welle von Duft traf. Und auch deswegen liebte ich sie, weil sie auf eine Art zu erröten wußte, die ich bei keiner andern Frau getroffen habe. Wenn ich in das Zimmer trat, errötete sie. Es war, als würde sie ganz Herz, vom Kopf bis zum Fuß; sie machte damit jede Stunde des Tags zu einer Liebesstunde, schuf eine zarte Halbtrunkenheit und gab sich hin durch Blick und Gebärde schon, ohne zu feilschen.« Virginia antwortete nicht, und Erwin beobachtete gierig, wie sie nun selbst errötete, ganz langsam, von den Schläfen aus über die Wangen herab bis zum Hals. Ihre Brauen waren zornig zusammengezogen, und ihre zu Boden gesenkten Augen irrten unruhig hinter den Lidern. Sie schickte sich an zu gehen. »Verlassen Sie mich denn, Virginia? Freundin?« fragte Erwin leise, indem er zu ihr trat. »Ja, bitte«, flüsterte Virginia, wagte es aber nicht, ihn anzuschauen. »Was wird morgen sein?« fuhr er mit bedeutsamem Nachdruck zu fragen fort, von ihrer Befangenheit beglückt. Sie zuckte die Achseln. »Ich komme nach Tisch zu Ihnen. Ich habe noch viel mit Ihnen zu sprechen, Virginia.« Ein geschwindes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Auf Wiedersehen«, sagte sie hastig und ging. Ihr Entschluß war gefaßt. Das Einverständnis mit der Mutter war rasch getroffen. Am Abend wurden noch die laufenden Rechnungen in der Nachbarschaft beglichen und Koffer und Körbe gepackt. Frau Geßner war überzeugt, das alles entspreche einer Abmachung mit Erwin. Am nächsten Vormittag um elf Uhr fuhren Mutter und Tochter in einem reisemäßig bepackten Zweispänner zum Aspangbahnhof. Als Erwin einige Stunden später vergeblich an der Wohnungstür läutete und dann vom Hausmeister erfuhr, die beiden Frauen seien aufs Land gereist, erbleichte er vor Wut. Man hat mich übertölpelt, knirschte er. Außer sich fuhr er nach Hause und wußte nicht, was tun, was denken. Ihr nachzufahren, wäre die größte Dummheit, die ich machen könnte, sagte er sich; nein, nein, meine Liebe, ich werde dich aushungern, du sollst in die Ketten beißen, die dich halten, und an den Riegeln zerren, hinter denen du gefangen bist. Rufen sollst du mich, du sollst mich rufen. Drei Tage nachher erhielt er eine offene Karte von Virginia; sie schrieb, daß sie sich wohl fühle und in dem entlegenen Dörfchen sich der gewünschten Stille erfreue. In der ersten Nacht habe sie mit der Mutter im Gasthaus logiert, doch gestern hätten sie eine kleine Villa unfern vom Wald gemietet, darin wohnten sie ganz für sich. Ein trockener Gruß schloß den Bericht, der nicht kümmerlicher hätte sein können. Erwin zerfetzte die Karte und trat mit den Füßen auf die Stücke. Er begab sich in das obere Stockwerk der Villa, öffnete ein geräumiges Zimmer, das gegen den Garten lag, riß Jalousien und Fenster auf und betrachtete prüfend die Einrichtung des Gemachs, das mit blauem Seidenstoff tapeziert war und köstliche Altwiener Möbel hatte. Er läutete; Wichtel kam. »Rufen Sie den Gärtner und den Hausmeister,« befahl er, »es muß hier umgestellt werden; das Bett, der Kasten und der Waschtisch aus dem grünen Fremdenzimmer sollen hier herüber. Sie gehen in die Stadt und besorgen, was auf dem Zettel da aufgeschrieben ist. Die Adressen der Firmen stehen dabei.« Er reichte Wichtel ein Blatt Papier, auf dem die vorzunehmenden Einkäufe in langer Reihe notiert waren: Toilettegegenstände, Parfüms, Leibwäsche, Morgenröcke, alles von ersten Lieferanten. »Nehmen Sie drinnen einen Wagen und bringen Sie die Sachen gleich mit heraus«, sagte Erwin. Nach Verlauf von zwei Stunden kam Wichtel zurück. Es war ihm in den Preisen ziemlich freie Hand gelassen worden, und er hatte selbst gewählt, nicht zur Unzufriedenheit seines Herrn. Erwin hatte die neue Einrichtung des Zimmers, welches das entlegenste und stillste des ganzen Hauses war, sorgfältig überwacht, hatte Bilder an die Wände gehängt, allerlei Kleinplastiken aufgestellt, geschliffene Karaffen und feines Porzellan; nun brachte er die Wäsche und Kostüme selbst in den Laden und im Schrank unter, und als alles geschehen war, durchmusterte er mit Genugtuung den Raum, der einen heiteren und empfangsfrohen Anblick bot. Er ließ Jalousien und Fenster wieder schließen, schaute auf der Schwelle noch einmal in das dämmrig gewordene Zimmer zurück, lächelte, als er ein schmales Sonnenband auf der blauen Seide der Bettdecke zittern sah, sperrte dann die Türe zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Im selben Augenblick erschallte dicht hinter ihm ein helles, spöttisches Gelächter. Blitzschnell drehte er sich um. Es war Marianne von Flügel. »Du hier?« fragte er erstaunt. »Ja, ich, ich selbst«, erwiderte sie mit burschikoser Kopfwendung. »Ich habe dich in San Martino geglaubt. Und wer hat dich denn da heraufgeschickt?« »Deine Leute; ich genieße Vertrauen hier. Aber du, was treibst du? Dieses Zimmer sollt’ ich kennen. Hat es nicht vor Jahren die arme Amelie Castro bewohnt, die einzige, der du sozusagen ein häusliches Glück gegeben hast? – Soll es einen neuen Gast empfangen? Und warum sperrst du zu? Ist der Gast noch so weit entfernt? Darf man das Abenteuer noch nicht als erledigt betrachten?« »Du fragst mehr, als man zwischen zwei Türen beantworten kann«, versetzte Erwin stirnrunzelnd. »Ich weiß, zudringlich wie immer«, sagte Marianne und schritt an seiner Seite die Treppe hinab. Sie gingen auf die Terrasse und setzten sich unter dem Schatten des aufgespannten Sonnendachs einander gegenüber. Erwin blickte Marianne stumm ins Gesicht. Ihre Züge waren stark gebräunt, der Ausdruck war energisch und kalt. Sie löffelte bedächtig das Eis, das Wichtel gebracht hatte, und erzählte, daß sie ein paar schwierige Bergtouren gemacht habe, daß sie Flirts gehabt, daß sie sich aber zumeist gelangweilt habe. Sie leckte sich die Lippen, ließ sich bequem in den Strecksessel zurücksinken und zündete mit der ihr eigenen Behendigkeit aller Bewegungen eine Zigarette an. »Die Geschichte mit Helene Zurmühlen ist recht fatal für dich«, sagte sie leichthin. »Der Mann weiß zwar nichts; am Ende will er auch nichts wissen. Ich habe mir berichten lassen, daß er Beweise sucht für eine Untreue, die er in Wirklichkeit gar nicht bezweifelt. Er horcht die Leute aus, um zu erfahren, was sie denken, weiß aber ganz genau, was sie denken. Er hat immer schon Lunte gerochen, wie man so sagt, trotzdem hat er in dem Wahn gelebt, daß ihn Helene adoriert, denn er ist ein guter Sohn, ein anständiger Kamerad, ein tadelloser Bürger und ein humorvoller Partner beim Kartenspiel. Er wird nichts unternehmen, denn er scheut den Lärm, und er sagt sich wahrscheinlich: Was kann ich gegen einen Erwin Reiner ausrichten? Natürlich, was kann er gegen dich ausrichten? Die Kynasts aber sind durch Helenes Stubenmädchen aufgeklärt worden, und sie werden alles tun, um dir zu schaden. Fritz Kynast ist gestern nach England gereist; er soll seiner Mutter und sich selber das Gelübde abgelegt haben, dich in einem Jahre, wenn die Welt Helenes Tod vergessen haben wird, zur Rechenschaft zu ziehen. Also hüte dich.« Erwin lachte. »Ein neuer Laertes«, sagte er; »bravo. Aber du, Marianne, beschämst jeden Detektiv.« »Nimm es nicht frivol«, warnte Marianne, plötzlich ernst geworden; »es ist eine Eigenheit der Gesellschaft, daß sie die tollen Streiche ihrer Günstlinge so lange duldet, ja bewundert, bis ein Skandal erfolgt. Auf einmal ist dann der Held ein Schurke. Du richtest eine Frau von gutem Ruf zugrund; na, schön. Das macht dich beneidet und verlockend. Aber laß einen Skandal daraus werden, und du bist gemieden wie einer, der die Pest hat. Du solltest heiraten, das würde dir alle Unannehmlichkeit ersparen.« Mit zerstreuter Miene verfolgte Erwin die Mücken, die in den schrägen Strahlen der Sonne schwärmten. Er riß eine Orchideenblüte aus dem Strauß, der auf dem Tisch stand, roch mit oberflächlichem Behagen daran und warf sie auf die Erde. »Warum bist du eigentlich jetzt im Hochsommer in die Stadt zurückgekommen?« fragte er. »Das will ich dir verraten, Erwin; weil ich meinerseits heiraten will.« »Heiraten? du? Ich gratuliere. Ein folgenschwerer Entschluß.« »Ja. Denn, offen und ehrlich gesagt, ich stehe vor dem kompletten Ruin.« »Und wer ist der Auserwählte?« »Wer es ist? Du bist es.« Erwin erhob sich. Über sein Gesicht zuckte es, halb von Ärger, halb von Hohn. »Ich? Was Teufel! Wie willst du das anstellen?« rief er. Marianne verfärbte sich, und mit einem seltsam wilden und nervösen Lippenspiel antwortete sie: »Indem ich mich von dir heiraten lasse. Du lachst? Du staunst? Das ganz Einfache ist immer erstaunlich. Ich werde dich in meine Karten sehen lassen, und du wirst dich überzeugen, daß sich die Partie längst auf diesen Schluß zugespitzt hat. Ich will nicht davon reden, daß wir glänzend zueinander passen, daß wir viele gemeinsame Interessen haben, daß wir einander nicht stören, uns hübsch aus dem Wege gehen werden, wenn’s sein muß, uns friedlich verständigen werden, wenn’s sein muß; daß du mich seit viereinhalb Jahren zu deinem Dienstboten, deinem vertrauten Dienstboten gemacht hast, und daß du dich nicht wundern darfst, wenn ich insgeheim, man ist ja nicht auf den Kopf gefallen, die Maschinerie deines Lebens ein wenig studiert habe und deshalb die Hebel und die Schrauben kenne. Die Dienstboten sind heutzutage alle sozialistisch angehaucht, und so ein bißchen Palastrevolution muß dir doch selber Spaß bereiten. Aber von all dem will ich nicht reden. Die Hauptsache ist, wie gesagt, daß ich am Ende vom Ende stehe. Und es könnte mir nicht einmal nützen, wenn du mir zweimalhunderttausend Gulden schenktest. Ich muß der Sache von innen her beikommen, ich muß einen neuen Menschen anziehen, ich muß eine Position haben, ich muß, kost’ es, was es wolle, meine verlumpten Brüder auf eine anständige Bahn bringen, und das kann ich nur durch die Verwandlung und die Sicherheit, die mir dein Name und deine Stellung geben. Was aber dich betrifft, so entgehst du durch die Heirat mit mir der unabwendbaren gesellschaftlichen Ächtung. Der unabwendbaren, mein lieber Freund, denn abgesehen von dieser Affäre mit Helene Zurmühlen hast du auch noch eine kleine Duellgeschichte auf deinem Schuldkonto, vergiß das nicht, und wenn die beiden Dinge mitsammen wirken, dann ist die Lawine nicht mehr zu dämmen. Nun sieh selbst, gründlicher und klarer kann man nicht sein.« Erwin hatte sich wieder hingesetzt und starrte schweigend Marianne an, die seinem Blick mit verwegenem Augenaufschlag standhielt. »Fein gesponnen, bewundernswert fein gesponnen«, sagte er endlich nach einer langen Pause. »Eine Erpressung von künstlerischer Akkuratesse. Das leibt und lebt ja ordentlich und stimmt wie ein Uhrwerk. Aber eine solche Genauigkeit, in menschliche Verhältnisse übertragen, wird schon wieder zum Fehler. Ich beweise es dir, indem ich mich aus deiner Rechnung schlankweg ausschalte. Ich bedaure herzlich, daß ich nicht eine der Ziffern vorstellen kann für das Resultat, das du brauchst. Und ich sehe mit Seelenruhe den Folgerungen entgegen, die du daraus ziehen wirst.« Marianne stand auf. »Gott, ich habe mir nicht eingebildet, daß du gleich für mein Projekt zu haben bist«, erwiderte sie spöttisch. »Ich habe noch Zeit. Vielleicht entschließest du dich in einigen Wochen; wer weiß, was sich bis dahin ereignet. Deine Furchtlosigkeit imponiert mir nicht, sie zeigt mir nur, daß du die Gefahr deiner Lage unterschätzest. Du hältst dich für stärker, als du bist. Du bist die Kreatur der Welt, die du zu verachten vorgibst, und eher würdest du in einer andern Welt Schuhe flicken, als in der da zum gefallenen Mann werden, zum Mann ohne Ehre. Die Geschichte mit dem Duell damals wird nicht mehr als gelungener Witz passieren, deine Aktien stehen schlecht, so etwas richtet sich eben nach der Konjunktur. Nun, ich muß laufen; hoffentlich hör’ ich bald von dir. Adieu, mein Lieber.« Und mit unverschämter Freundlichkeit streckte sie ihm die Hand hin. Erwin rührte sich nicht. Sie zuckte die Achseln und ging. In der darauffolgenden Nacht konnte Erwin nicht schlafen. Er verbrachte die Stunden teils mit Lektüre, teils damit, daß er in seinem Geist die Erinnerung an Kunstwerke sammelte. Jede Verdüsterung seiner Stimmung führte ihn zur Kunst. Um drei Uhr morgens nahm er die Gedichte Ulrich Zimmermanns zur Hand und fand sie dürr und allgemein. Er beschloß, sich von Ulrich abzuwenden. Um vier Uhr ließ er die Gestalten der übrigen Freunde an sich vorüberziehen und brach über alle den Stab, mit Ausnahme von Palester. Ein dunkles Gefühl der Furcht vor Palester stieg in ihm auf. Er sehnte sich nach einem Jüngling, frisch wie der erste Lenztag, von besonderem Geist und besonderer Rasse mit kleinen, reizvollen Zügen einer gewählten Verderbtheit, lachend wie ein griechischer Gott und in Freuden erfinderisch wie Petronius. Jedes andere Gesicht, das er sich im Vergleich dazu vorstellte, erschien ihm gewöhnlich. Die Welt war zu gewöhnlich. Er bäumte sich unter dem Druck seines Geschicks, einer Epoche des Stumpfsinns, der ehrlosen Streberei, der uninteressanten Anständigkeit zuzugehören. Drei Tage später war er in Sankt Moritz. Er lernte eine junge Russin kennen, die durch ihre fabelhaften Toiletten Aufsehen erregte, und reiste mit ihr nach Aix-les-Bains. Und wie er es in jener schlaflosen Nacht vorausgelebt, begegnete er dort einem Jüngling von großer Anmut, vollendeten Manieren und einer geistigen Empfänglichkeit, die auf ebensoviel Gelüste wie frühe Erfahrungen hinwies. Er war der Sohn eines deutschen Diplomaten, in Eton erzogen, und befand sich mit seinem Hofmeister auf der Reise von Paris nach Italien. Es gelang Erwin, jene Glut der Gefolgschaft in ihm anzufachen, die in jungen Jahren ein Bedürfnis der Seele ist und deren Verlauf oft das Schicksal der späteren lenkt. Rolf von Hendrichsen verließ seinen Begleiter und fuhr mit Erwin bei Nacht und Nebel davon. Sie standen in Mailand vor Lionardos zerstörtem Abendmahl; sie schwelgten in der Ergriffenheit, die in Verona eine Besichtigung der Skaligergräber bei Fackellicht erzeugte, sie träumten in den verwilderten Gärten und toten Palästen Ferraras, wandelten am Strand von Ravenna im Mondschein durch den düsteren Pinienhain, bestiegen in Ancona ein Schiff und fuhren nach Tunis, und sie ritten in die Wüste, und Erwin rief: »Hier bin ich einsam, hier bin ich fremd«, doch mit einem Ausdruck, als ob die Wüste seine Heimat wäre. Indessen hatte Rolfs Entfernung unliebsamen Lärm verursacht. Der Hofmeister hatte nach Berlin telegraphiert, Verfolgung wurde beschlossen, und die Angehörigen des Jünglings hatten Mühe, ein öffentliches Ärgernis zu verhindern. In Syrakus wurden die beiden Freunde durch ein ganzes Aufgebot von Amtshaltern aller Gattungen überrascht; schließlich wandte sich alles zum Guten, ein Baron Marlotti, Sendling und Bevollmächtigter der Familie Hendrichsen, ein feiner, edler Greis, bezeugte der empörten Beredsamkeit Erwins seine Anerkennung und sandte den Eltern beruhigende Nachricht. Eines Abends saßen die drei so verschiedenen Männer auf einer Hotelterrasse in Taormina, hoch über dem Meer. Rolf sollte am andern Morgen mit Herrn von Marlotti heimwärts reisen, und man war in Abschiedsstimmung. Man sprach von der Freundschaft, von der Liebe, von der Jugend, von der Schönheit, lauter Dingen, die nach Erwins und Marlottis Übereinkunft verloren gegangen seien wie die Ingredienzien zum Stein der Weisen. Die Liebenden erkenne man an einer gewissen Harmonie zwischen Blick und Mundlinie, behauptete der Greis; bei Männern, die von einer wirklichen Leidenschaft besessen seien, verändere sich wie bei schwangeren Frauen das Antlitz in einer zugleich übersinnlichen und animalischen Weise. Er ließ durchblicken, daß er Erwin für einen dieser Besessenen halte. Erwin schüttelte seufzend den Kopf. »Zu vieles ist mir teuer und unentbehrlich«, erwiderte er; »ich liebe die Luft, das Blatt, den Baum, die Nacht, ich liebe Piero della Francesca und Alfieris Myrrha, ich liebe die Stirn, den Atem, die Hand, den Schritt einer Frau, aber ich kann nicht auf die Blume verzichten, wenn ich nur dadurch allein die Frau gewinnen würde.« »Jetzt spielst du Komödie«, warf Rolf ein und fügte gegen Marlotti hinzu: »Er liebt ein Mädchen, das so vollkommen ist, daß sie sich ihm versagt.« Erwin lächelte. Er begann von Virginia zu sprechen, zurückgelehnt in einen schöngeflochtenen Stuhl, die Augen gegen den dunklen Atlas des gestirnten Himmels gerichtet. Die hinreißende Kraft seiner Worte erweckte ein großes Gefühl in den Zuhörern; doch was war das? War das noch Virginia, in der die Natur Bescheidenheit so hoch geadelt hatte, das Weltkind in seinem stillen Flor? Hier wandelte die Verderberin, herrlich schimmernd erhob sich über dem Sumpf der Großstadt das unergründliche Sinnbild des Verderbens, gekleidet in die Unschuld. Es war interessant, es war lehrreich, und es war schauerlich. Ein Gesicht ist hierher gewendet, und ein Gesicht ist dorthin gewendet; hier ein loderndes und stolzes Gesicht, dort ein banges Gesicht, ein wissendes Gesicht, ein schuldiges Gesicht, ein sehnsüchtiges Gesicht. Und alles, was so klar, so gewachsen war, so Glied an Glied gekettet wie von der geschicktesten Hand gefügt, das war in seinem Mund problematisch und voll Dämonie. Und er spürte, wie er Virginia haßte, unsäglich haßte, und wie er sich selbst gemalt, indem er sie gemalt. Eine Wahrsagerin trat an den Tisch. Rolf bekam aussichtsreiche Dinge zu hören. Zu Erwin sagte die hohläugige Alte, nachdem sie seine Hand betrachtet: »Verführung, Kerker, Tod«. Die jungen Leute lachten, Marlotti blieb ernst. »Nun,« meinte Rolf schmunzelnd, »es ist nicht so unwahrscheinlich.« »Verführung und Kerker,« antwortete Erwin, »das ja, an den Tod glaub ich nicht.« Er war dann allein im fremden Land. Er erhielt einige Briefe von Frau Geßner. Er wurde aus keinem dieser Briefe klug. Sie hatte von Edlitz aus die Wohnung in der Piaristengasse doch gekündigt, war für zwei Tage in die Stadt gefahren und hatte eine kleine Gartenwohnung in Gersthof gemietet, nur eine Viertelstunde von Erwins Villa entfernt, wie sie ihm gefällig zu verstehen gab, als wäre dies ein Mittel, ihn rascher zur Heimfahrt zu treiben oder Erklärungen über die Gründe seiner Abreise zu erhalten. Unumwunden zu fragen, hatte sie nicht gewagt. Von Virginia schrieb sie nichts. Erwin antwortete wie jemand, der sich einem verzweifelten Rausch ergeben hat, um zu vergessen. Er schlug alle Töne an von der Müdigkeit bis zur Wut, von der Erbitterung bis zur süßesten Elegie, um durch das Herz der Mutter hindurch Virginia zu bewegen. »Eine Zeile von ihr wäre mir so viel wie einem Fieberkranken das Chinin,« schrieb er, »ihr Schweigen ist wie Vitriol auf eine Pflanze.« Nichts; umsonst. Er schreckte nicht davor zurück, Erlebnisse mit Frauen anzudeuten, wie er verschmähe aus Ekel oder die Arme ausstrecke, nur um zu vernichten. Dann schrieb er ihr selbst. Niemals waren solche Briefe aus der Hand eines Mannes zu einer Frau gegangen. Vielleicht nie zuvor hatten Worte der Leidenschaft mit so versteckter Glut aufgeleuchtet, war Offenbarung so in Heimlichkeit, Schmerz so in Ergebung, Wille so in Schmerz gehüllt und alles wieder, Sorge, Mitleben aus der Ferne, Sehnsucht und das Feuer der Seele in solchem Grade meisterhafte Berechnung gewesen. Virginia mußte zum Erbarmen überwältigt werden. Sie mußte erzittern, in ihrem Gemüt mußte ein gepeinigtes Abwenden sein und eine Begierde nach Auflösung rätselhafter Art. Aber sie antwortete nicht. Er blieb in Rom. Er biß nachts in sein Kissen vor Ungeduld, aber er blieb. Da erhielt er Ende August einen Brief von Frau von Resowsky. Sie schrieb, es sei ein höchst albernes Gerede von einem fingierten Duell zu ihren Ohren gedrungen, er müsse das Gerücht um jeden Preis ersticken und den Verbreiter zu fassen suchen, noch sei es Zeit, die meisten Leute noch auf dem Land, wenn einmal der Klatsch Boden gewonnen habe, werde es nicht mehr möglich sein, ihm zu begegnen, er sei seinen Freunden schuldig, sich zu rühren, vornehmes Abwarten habe keinen Sinn, zumal seit dem Tod der jungen Frau Zurmühlen üble Dinge auch darüber gemunkelt würden. Zwei Stunden darauf saß Erwin in der Eisenbahn. Der Gedanke, zu spät erwogen, daß Virginia von dem lästerlichen Unfug erfahren könne, machte ihn bleich vor Scham. An einem Sonntagmorgen traf er in Wien ein und benachrichtigte Marianne sogleich. Sie kam. Sie sah abgehärmt und müde aus. Nur ein schillernder Glanz in den Augen verriet eine gleichsam festgefrorene Energie, welche die Triebkraft einer Wahnidee besaß. Die durchlebte Einsamkeit veranlaßte Erwin zu Betrachtungen von nicht ganz selbstischer Art. Er sah im Geist eine Marianne, von der noch nicht der Blütenschnee der Jugend abgestreift war, das leichte Kind, den Genossinnen von Spiel und Tanz noch nicht entführt, noch liebenswürdig in seinem Werben um den Prunk der Welt und um die Liebe der Herzen, noch nicht enttäuscht von treulosen Liebkosungen, noch nicht entsittlicht und erschöpft. Freilich, dies erbitterte ihn, daß sie sich erschöpfen ließen. Da war keine Lockung mehr. Selbst das Auge, dieser Inbegriff des Lebendigen, das ihn stets belebte, stets gewann, es versagte. Er wurde hart. Anstatt zu bitten, forderte er. Marianne lachte ihn aus. Sie schickte sich an, zu gehen, er hielt sie zurück. Noch eine Viertelstunde, und sie sprachen vertraut miteinander. Sein Wesen verriet ihr, was an ihm nagte; kaum konnte sie ihren schmerzlichen Neid verbergen. Sie überschüttete ihn mit Hohn, und er schien ihr Recht zu geben, aber sein unsinniges Verlangen wuchs, indem er sich preisgab. Marianne brauchte nur den Namen Virginias zu nennen, und Virginias Bild leuchtete durch die Mauer, strahlte durch Marianne hindurch wie der Mond durch den Nebel. Er griff sich an den Kopf. Ihm dünkte, er gewahre Virginia, wie sie den Mond mit ihren Armen umfaßt hielt, damals am Wasserbecken im Garten, das Antlitz hingewendet, aufgereckt zu höherer Schlankheit, unwissend, daß ihre Gebärde in einer schwer zu beschreibenden Weise nicht mehr ganz schamhaft sei, doch gerade nur so, daß erst der Schamloseste der Schamlosen davon geheimnisvoll befeuert werden konnte. Deine Himmelshöhe kann mich nicht verhindern, nach dir zu greifen, dachte er, und seine Augen feuchteten sich vor Zorn. Widerstehe! rief ihm eine Stimme zu, und es dünkte ihn ein Widerstand, ein Ruhen, ein Herabzerren ihres Bildes, wenn er tat, was Marianne von ihm wünschte. Der wildeste Trotz schäumte in ihm, und er sagte sich: auch wenn ich dies täte, auch dann wärst du mir noch sicher, auch dann noch müßtest du mein werden, auch dann noch! Und wie verführerisch, Marianne den Beweis zu liefern, daß sie seine niedrigste Dienerin würde, indem sie ihn in ihrer Macht wähnte. Er hätte sich’s am Ende zugetraut, die schimpflichen Gerüchte zu ersticken und Mariannes Entwürfe zu durchkreuzen, aber mehr als den gesellschaftlichen Sturz fürchtete er jetzt die Zersplitterung seiner Kräfte. Alles erschien ihm wesenlos, was nicht zu dem einen Ziel führte, und er glaubte sich an Marianne wie an dem ganzen Geist der Gesellschaft schon durch die ungeheure Verachtung zu rächen, die er den Einrichtungen entgegensetzte, welche für heilig und nicht verletzbar galten. »Gut, ich werde dich heiraten«, sagte er gelassen, »jedoch knüpfe ich zwei Bedingungen daran. Du gehst zur Baronin Resowsky und erklärst ihr, daß ich mich mit deinem Bruder Sixtus geschlagen habe. Ich nehme als selbstverständlich an, daß du beim Legen der Schlingen deine Person nicht derart bloßgestellt hast, um mir diesen Ausweg zu verrammeln.« »Gewiß nicht.« »Du gibst das genaue Datum an, das mit den damals erschienenen Zeitungsnotizen übereinstimmen muß. Frau von Resowsky wird dann Sorge tragen, daß man im Klub erfährt, wie sich die Sache verhält. Die zweite Bedingung ist, daß unsere Ehe vorläufig geheim bleibt und erst, wenn ich den Augenblick für geeignet halte, zur Kenntnis der Welt gelangt. Keinesfalls vor Ablauf von zwei Monaten. Bis dahin bleibst du auf meinem Landgut bei Takern in der Steiermark.« »Ich verstehe«, erwiderte Marianne blaß und mit boshaftem Lächeln. »Bist du damit einverstanden?« »Ja.« »Ich habe dein Wort?« »Du hast mein Wort.« »In acht bis zehn Tagen können wir in Ungarn getraut werden. Von einer kirchlichen Zeremonie ist natürlich keine Rede. Unmittelbar nach der Trauung reisest du nach dem Gut, und niemand erfährt deinen Aufenthalt. Die Geldsummen, die du brauchst, werde ich dir durch meinen Advokaten anweisen lassen.« »Ich verstehe«, antwortete Marianne. »Bleibt es dabei?« »Es bleibt dabei.« Marianne spürte die Erniedrigung und erkannte sein Va-banque-Spiel. Ihre Brust war voller Kälte, und der Sieg stimmte sie nicht zuversichtlich. Sie hatte Angst um sich, Furcht vor Erwin, und der tödlich verwundete Stolz hatte keine andere Zuflucht als die Erinnerung an eine Liebe, die fern war wie ein Kindheitstag. Es war, unbewußt, die letzte Hoffnung gewesen, daß Erwin ihren Stolz, den sie selbst zertreten, großmütig wieder aufrichten werde. Dies hätte sie ihm überschwänglich danken, dafür hätte sie hinsinken können, doch nun war alle Herrschaft im Bösen. Am sechsten September fand in Preßburg die standesamtliche Verbindung in größter Heimlichkeit statt. Als Zeugen dienten der Gutsverwalter aus Takern und dessen Sohn. Vor dem Rathaus wartete der Wagen mit dem Reisegepäck. Frau Marianne Reiner fuhr allein zum Bahnhof. Feïnaora Geselligem Verkehr entsagend, war Erwin auch für seine nächsten Freunde nicht mehr zugänglich. Er brach eine Arbeit von leichter Haltung ab, um sich der schwierigen und profunden Untersuchung eines mathematisch-philosophischen Themas zu widmen: »Der Begriff der Konstante und die moralische Idee«. Er konnte, er mußte bis zur äußersten Anspannung tätig sein, um nicht dem Gefühl einer Leere zu verfallen, das ihn rasend machte wie Zahnweh, ihn vor sich herabwürdigte und unerbittlich zu den Menschen trieb. Menschen! Was waren ihm die Menschen! Er benutzte sie, er probierte sie, er genoß sie, er verwarf sie. Alle, alle, alle. Er hatte die Wirkung gespürt, durch welche die genialsten Geister der Zeiten die Menschheit in Atem hielten. Er hielt sich selbst in Atem, um Genialität in sich zu spüren. Er lebte mit Keinem. Er lebte für niemand. Er wandelte lächelnd auf einem Kirchhof. Er zerstörte, indem er lächelte. Bei Tag verließ er nicht das Haus. In den Nächten fuhr er zur Stadt und fand wunderliches Gefallen daran, verrufene Orte zu besuchen, Tanzlokale letzten Ranges und Verbrecherkneipen. Es waren Abhärtungskuren für die Nerven. Er nahm keinen Teil am Laster. Er war nicht lasterhaft. Laster und Verbrechen fesselten ihn als Elemente der sozialen Ordnung. Die Flut, in der er schwamm, hatte seinen Organismus gestählt gegen den Wechsel von kalten und warmen Strömungen, und sein Geist war wie der Gaumen der Tropenansiedler an die schärfsten Reizmittel gewöhnt und ihrer bedürftig. Und so war es Würze, wenn er, von den Schwaden des ekelsten Pfuhles umronnen, die Gestalt Virginias emportauchen ließ; wenn das Bild vor ihm floh, stürmte er ihm nach durch die Nacht der Gassen mit rachsüchtiger Brust. Frau Geßner teilte ihm fast klagend mit, daß Virginia noch den ganzen September auf dem Lande verbringen wolle. Er fand dieses Schreiben gleichzeitig mit einem Brief Manfreds unter der eingelaufenen Post, als er eines Morgens nach Hause kam. Er las den Brief des Freundes, und seine Mienen hellten sich auf. Er lächelte und las aber- und abermals. Dann steckte er es in die Brieftasche und ging auf und ab. Sein Gesicht nahm einen inbrünstigen und frenetischen Ausdruck an, er preßte beide Fäuste an beide Wangen und murmelte mit geschlossenen Augen: »Nun hilf mir, Feïnaora, du Geschöpf der Inseln und des Meeres!« Sonderbare Worte, deren Glut so unnatürlich wie geheimnisvoll erschien. Noch einmal löste sich die Spannung, er fiel wie vernichtet in einen Lehnsessel, schlief wie tot drei Stunden lang, und als er erwachte, sah er zu seinem Erstaunen den Brief, den ihm Frau Geßner geschickt, aufschlagen auf dem Tische liegen und gewahrte auf der Seite, die er leer geglaubt, vier Worte von Virginias Hand: »Ihre Schutzbefohlene grüßt Sie.« Das waren die ersten und einzigen Worte von ihr seit mehr als sechzig Tagen, dieser warnende, erinnernde und fast drohende Gruß. Erwin schüttelte bedächtig den Kopf. Er rief Wichtel und befahl ihm, sofort nach Edlitz zu fahren und für ihn Quartier zu machen. Er selbst fuhr am Nachmittag mit dem Automobil. Die Wohnung, mit der er in Edlitz vorlieb nehmen mußte, erregte trotz schlimmer Erwartungen sein Entsetzen. Drei niedrige Zimmer, mit verruchten Ölbildern behangene Wände, wacklige Stühle und ein liliputanisches Bett. Wichtel hatte schon Erkundigungen eingezogen; er beschrieb seinem Herrn, wo das Häuschen lag, in dem Virginia mit ihrer Mutter wohnte. Es war zehn Uhr abends, als sich Erwin auf den Weg begab. Alle Fenster der kleinen, hölzernen Villa waren dunkel. Nebenan war ein Bauernhaus, zwischen den beiden Häusern war Wiese, etliches Buschwerk und unter einem Weidenbaum mit tiefherabhängenden Zweigen war eine Bank. Erwin setzte sich dorthin. Die Nacht war sternenhell. Oben, inmitten des dichtrankenden Epheus, war ein Fenster offen. Es mochte wohl Virginias Fenster sein. Da schlief sie also. Sie schlief und sie träumte. Träume kommen sonst nicht im ersten Schlaf, Virginia hatte aber jetzt eine sehr träumereiche Zeit. Sie träumte, daß sie sich in einer fremden Stadt befand. Die Straßen sind leer, es ist sehr kalt. Sie steht vor einem hohen Turm und schaut hinauf. Unter dem Dach des Turmes ist ein winzig kleines Fenster. Sie weiß, daß Manfred da oben wohnt und daß sie unbedingt zu ihm muß. Es ist von Wichtigkeit, sie darf keine Sekunde verlieren. Sie gewahrt sein Gesicht an der Fensterluke; es ist so klein wie eine Nuß, dennoch unterscheidet sie die Züge mit unheimlicher Genauigkeit. Frohlockend eilt sie in den Turm. Eine enge, finstere Treppe mit zahllosen steilen Stufen muß erstiegen werden. Es ist schwer, sie wird müde, sie denkt: warum kommt er mir nicht entgegen, um mir zu helfen. Da sagt ihr jemand, den sie nicht sieht, daß er oben angekettet ist. Sie verdoppelt ihre Eile, noch immer sind viele Stufen, es windet sich um die Mauer, will’s denn kein Ende nehmen? Gott sei Dank, sie ist am Ziel. Aber was ist das? Der Raum ist leer, kein Manfred zu sehen. Erschöpft lehnt sie sich aus Fenster, das nun nicht mehr winzig ist, sondern riesengroß. Sie starrt hinunter und hinunter und siehe da, Manfred geht unten auf einem schmalen Weg und schaut herauf, verwundert, fremd, gleichgültig, mit einem Gesicht, das klein wie eine Nuß ist, aber deutlich wie eine Flamme. Das Gefühl der Vergeblichkeit all ihrer Anstrengungen, des unabänderlichen Getrenntseins und der Gefahr, die zu wachsen scheint, sie weiß nicht warum, entpreßt ihr einen lauten Angstschrei, und sie erwacht. Die Mutter rief von nebenan. Erst nach einer langen Pause antwortete Virginia beschwichtigend und erhob sich dann, um, wie sie zu tun gewohnt war, ans offene Fenster zu gehen. Ihre Blicke schweiften nach oben und blieben an den Sternen haften. Erwin hatte den Schrei gehört; nun sah er sie aus der Finsternis in das bläuliche Licht hervortreten, das auch ihr Nachtgewand bläulich schimmern machte. Wenig fehlte und er hätte den schützenden Schatten verlassen, um ihren Namen zu nennen. Aber zum erstenmal ergriff ihn Verzagtheit. Diese Brust oben, sie atmete, im selben Rhythmus vielleicht wie die seine; er fühlte die Nachtkühle über die leichtbedeckten Schultern huschen und wie die Glieder fröstelten. Spät ging er zu Bett. Da er schlecht schlief, schlief er lange. Er schickte Wichtel mit dem Auftrag in die Stadt zurück, ihm sein Feldbett zu holen. Als er vormittags gegen elf Uhr wieder vor dem Häuschen stand, das etwa tausend Schritte vom Dorf entfernt war, sah er Virginia auf der gleichen Bank sitzen, auf der er sie gestern belauscht. Ihr helles Sommerkleid leuchtete durch die undichten Zweige. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß und blickte müßig vor sich hin. Sie vernahm seinen Tritt und schreckte auf. Sie schauten einander gerade in die Augen. »Erwin«, sagte Virginia. Er nahm ihre beiden Hände, die sie ihm ohne Widerstand übergab. Ihre Freude war so mit Furcht gemischt, daß sie sich des Eingeständnisses von Schwäche, das in der hinstrebenden Bewegung enthalten war, erst nach dem Gruß und Gegengruß bewußt wurde. Da gewann sie sich wieder; mit trockenen Worten und Fragen verwischte sie die unwillkommenen Zeichen, die zu viele einsame Stunden verrieten. Frau Geßner atmete hoch auf, als sie ihn endlich angelangt sah. Sie war redselig, neugierig, zapplig und etwas konfus. Da das Wetter schön war, beschlossen Erwin und Virginia spazieren zu gehen. Virginia holte Hut und Schal. Als Frau Geßner mit Erwin allein war, schwieg sie eine Weile verlegen. »Was war denn eigentlich los?« fragte sie auf einmal hastig. »Haben Sie sich mit ihr zerzankt? Es war kein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen.« Ehe Erwin antworten konnte, kam Virginia zurück, lächelte die Mutter flüchtig an und rief: »Gehen wir!« Frau Geßners Blick verfolgte die beiden schlanken und beinahe gleich großen Gestalten lange. Wie gut ihm der graue Dreß steht, dachte sie, wie leicht und kerzengerade er schreitet; und sie, das weiße Musselinkleid, die weißen Schuhe, der weiße Hut; »ein herrliches Paar«, murmelte sie und seufzte. Virginia und Erwin wanderten gegen die Hügel der sogenannten buckligen Welt. Virginia dachte: er ist anders als in der Stadt. Erwin dachte: sie ist dieselbe auch in der Natur. Die Natur erhielt ihre Belebung erst durch sie. Virginia verschwieg ihre Betrachtung; Erwin äußerte die seine. Das war der Unterschied. Er erzählte von seiner Reise, aber er schien nicht bei der Sache. Virginia merkte es und teilte seine Unruhe. Auf einem Hang ließen sie sich unter Tannen nieder. Virginia lag gern in der Sonne, nur den Kopf barg sie im Schatten. Aber die Strahlen fielen dennoch auf ihr Gesicht, und sie bedeckte die Augen mit dem Hut. Im Innern des Geflechts entstanden regenbogenfarbige Perlen, in denen sich ihre Wimpern spiegelten. Sie wandte den Kopf und roch die säuerliche Feuchtigkeit der Erde. »Wann haben Sie zuletzt von Manfred gehört?« fragte sie. – »Vor ein paar Tagen«, erwiderte Erwin. – »So? ich bin schon seit vierzehn Tagen ohne Nachricht. Was schreibt er?« – »Vielerlei.« – »Darf man’s nicht wissen? Sind es Geheimnisse?« Sie schaute Erwin forschend an, denn seine Miene erweckte ihre Aufmerksamkeit. »Geheimnisse? Nein. Ich vermute nicht, daß Manfred Geheimnisse vor Ihnen hat. Ich werde Ihnen den Brief vorlesen. Hat er Ihnen von Feïnaora geschrieben?« »Was ist das für ein Wort? Was bedeutet es?« »So wird es zweifellos noch geschehen. Hören Sie zu.« Erwin setzte sich aufrecht, nahm den Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las. »Mein lieber Erwin! Ich habe seit Batavia keine Nachricht mehr von dir. Bis in den indischen Archipel waren deine Mitteilungen von dankenswerter Häufigkeit, wenn auch nicht so regelmäßig, wie ich gewünscht hätte. Jedes Postschiff ist da ein Ereignis, und geht man bei der Briefverteilung leer aus, so gleicht man einem Kind, das zu Weihnachten keine Geschenke bekommt. »Wir sind von Java über Sumatra, Celebes, Ambon, Neuguinea nach Sydney und von da über die Cooks-Inseln hierher nach den Marquefas. Von nun ab verlegen wir unsere Tätigkeit mehr nach Süden, und in den Sommermonaten, also von Dezember bis März etwa, werden wir fern von der übrigen Menschheit an den Grenzen der Antarktis weilen, eine Aussicht, die nichts Verlockendes hat. Dann steuert der ›Phönix‹ heimwärts. Bis Ende September treffen mich Briefe in Auckland auf Neuseeland, die weiteren Stationen werde ich rechtzeitig melden. »Wir haben viel und anstrengend gearbeitet. Ein Tagewerk, das in unseren Breiten noch erfrischend wirkt, ist in den Tropen schon ein Übermaß. Einige Mitglieder der Expedition sind vom Fieber nicht verschont geblieben, und einen jungen Mann aus Magdeburg mußten wir im Hospital in Sydney sterbend zurücklassen. Zwischen Malabar und der Torresstraße ist der Körper stündlich in Gefahr, einer tödlichen Erschlaffung zu unterliegen, und die Feste, die das Auge feiert, müssen mit einem beständigen Kampf gegen den unsichtbaren Feind bezahlt werden. Eine gewisse Enthaltsamkeit, die mir angeboren ist, schützte mich mehr als meine Kameraden, die oft wie Gespenster auf Deck herumwankten. Ich lebte meist von Früchten und Reis. Es wächst dort eine Frucht, die Durianfrucht, wenn du die issest, lachst du vor Wonne. Ein buttriger, nach Mandeln schmeckender Eierrahm gibt die beste Idee davon, dazwischen kommen Duftwolken, die an Rahm, Zwiebelsauce, braunen Sherry und anderes Unvergleichliche erinnern. Sie ist weder sauer noch süß, sondern von einer würzigen Weichheit wie sonst nichts auf Erden, und je mehr du verzehrst, je weniger kannst du aufhören. Aber diese selbe Frucht, leider! verbreitet einen entsetzlichen Gestank, und bevor man sie öffnet, scheint es einem unmöglich, sie an die Lippen zu bringen. Das ist der Fluch irdischer Unvollkommenheit. »Soll ich schildern? schwärmen? vom Danainen-Schmetterling erzählen, von Tauben mit Korallenfüßen, von Schlangen und Urwäldern, vom Feuer der Vulkane, von den Herrlichkeiten der Smaragd-Inseln, von Zuitenborg oder der gewaltigen Tempelruine Boro-Budor? Das haben viele schon getan. Meine Feder ist zu armselig. Diese Dinge bereichern, indem sie entzücken. Anders der Mensch, die Kenntnis des Menschen; die bereichert, indem sie erzieht. Es war mir ja nie einer gleichgültig, der neben mir ging und dessen Namen ich nicht kannte. Zu Hause beruhigt man sich bald, Gewohnheit und Anpassungszwang machen das Fremde unscheinbar. In der Fremde ist es, als ob du nie ganz schlafen könntest, man hat immer ein schlechtes Gewissen, braucht immer eine tätige Rechtfertigung. Da ist der Heizer, der in der schauerlichen Glut des Maschinenraums haust und wie ein Kerkersträfling durch den Ozean fährt. Ist er nicht ein Sinnbild der Gefahr und ein Vorwurf gegen meine Bequemlichkeit? Ich sehe den Chinesen, der fern von seiner Heimat Rupie um Rupie erwirbt, fleißig und habgierig, der zu fürchten ist, wenn er schweigt, überlegen, wenn er spricht und durch Sanftmut seine Ausschweifungen verbirgt. Da ist der demütige Malaie, der eitle Ambonese, der kindliche und wilde Papua, der Perlenfischer, dessen Augen ermattet sind vom Halbdunkel unterm Meer und dessen Haut verwaschen scheint und morsch von der Spülung und dem Druck der salzigen Lauge. Dann triffst du die Goldsucher, die in einer durch die Not geschmiedeten Kameradschaft die öden Steppen Australiens durchziehen, um nach vielen Jahren im Sandgrund eines entlegenen Flüßchens die Hoffnung auf den Reichtum greifen zu können, dessen Eroberung die Kräfte ihres Körpers vollends verzehren wird; oder den Farmer, der in einer Einsamkeit, wie wir sie nicht kennen, ja, die wir nicht einmal zu ahnen vermögen, mit Dürre und Hochflut kämpft, und den es sechs Monate voll aufreibender Strapazen kostet, wenn er die widerspenstige Viehherde zum nächsten Markt an die Küste treiben muß. Auch dem verlorenen Sohn Europas bin ich begegnet, der unter mißtrauischen Ansiedlern eine neue Existenz gründet und dem von frevelhaften Händen das kaum fertig gewordene Blockhaus in Brand gesteckt wird; dem alten deutschen Arzt auch, in einer Schifferkolonie, der seit siebenunddreißig Jahren an Heimweh nach seinem schwäbischen Dorf krankt und weiß, daß er es niemals wiedersehen wird, weil es ihm nicht gelungen ist, so viel Geld zu erwerben, um zu Hause mit Anstand leben zu können. »Es nimmt kein Ende, Freund. Du meinst, die Beispiele seien überall zu finden. Das ist wahr. Aber warum schaut man heute ein Gesicht an, und es bleibt stumm, und ein andermal spricht es, kündet die Verkettungen des Schicksals? Man muß Schwamm sein, wenn einen der Zunder entflammen soll. Forderst du Resultate, Vorsätze? Ich habe einen Sinn darin entdeckt, daß ich bin, nämlich den, daß alle Andern mit mir sind. Ich kann keinen von ihnen entbehren, weil sie mich brauchen. Klingt das anmaßend, so füge ich hinzu: ich bescheide mich in meinem Kreis. Ich höre auf, mich selbst zu genießen. Ich will arbeiten, um zu dienen. »Lustig sind solche Erkenntnisse nicht. Man muß mit sich allein sein, um sie zu finden. Die Teilnahme eines Freundes würde den Prozeß nur trüben und verlängern. Nun denke dir meine Sehnsucht hinzu, mein aufgestacheltes Gemüt! Abgeschnitten bin ich von mir selbst; meine Adern sind zerteilt, die Hälfte meines Bluts fließt bei den Antipoden. Die Ruhlosigkeit der Tage wird von der Qual der Nächte übertroffen, Schreckbild überflügelt Schreckbild bis in den horchenden Schlaf. Ich mag das meiner Virginia nicht einmal andeuten, ich kann es nicht; das heitere Herz darf nicht mit Wolken überdeckt sein; ich will mich in ihrem Urteil nicht herabsetzen durch diesen Aufruhr gegen das Unabänderliche. Ich bemühe mich, ihr gelassen zu erscheinen. Aber meine innere Verstörtheit und Benommenheit ist mitschuldig an einem seltsamen Erlebnis, das ich dir erzählen will. »Auf dem Kurs von Melbourne nach den Marquesas warfen wir vor Mangaia Anker, einem lieblichen Eiland im Cook-Archipel. Wir wollten dort nach Echinothuriden fischen; das sind eigentümliche, prachtvoll gefärbte Seeigel, die ihre Platten durch ein besonderes Muskelsystem gegeneinander verschieben können und deren Stachel einen Giftapparat enthält. Einige junge Leute von der Expedition, darunter ich, arbeiteten am Strand, und jeder schlief nachts in seinem Zelt. Eines Morgens, meine Kollegen waren in Booten aufs Meer gefahren, trat ein braunes Mädchen vor mich hin, nackt bis zum Gürtel, mit einem Rock aus Grashalmen, so wie sie alle hier gekleidet gehen. Sie redete, jedoch ich verstand natürlich nichts, nur ihren Namen verstand ich, weil sie stets die Hand klagend auf die Brust preßte, wenn sie ihn nannte. Sie hieß Feïnaora. »Feïnaora folgte mir auf Schritt und Tritt. Die andern lachten, als sie zurückkehrten und das anschmiegende Geschöpf bei seinem Tun beobachteten. Von Fischern erfuhren wir, daß Feïnaora von ihrem Stamm verstoßen worden war, aber den Grund wußten sie entweder nicht oder konnten ihn uns nicht begreiflich machen. Immer wies ich das Mädchen fort und immer kam es wieder. Sie warf sich auf die Erde vor mir und brachte mir Muscheln, Krabben, Seesterne, kleine Schildkröten und Kokosnüsse. Sie war nicht gerade hübsch, aber sie hatte sanfte Augen, die mich rührten, einen zarten, blumenhaften Körper, kaum der Kindheit entwachsen, ein scheues Benehmen und ein schmeichelndes Idiom voller Vokale. »Morgens kauerte sie vor meinem Zelt; abends kauerte sie vor meinem Zelt. Rief ich ›Feïnaora!‹ so war sie schon bei mir wie ein aufmerksamer Hund, trug Wasser und bereitete den Tee. Am letzten Abend, bevor der ›Phönix‹ die Anker lichtete, brach ein Regensturm los und Feïnaora kroch ins Zelt, um sich vor dem Unwetter zu schützen. Sie mußte eine Ahnung des Abschieds haben, denn sie heulte mit sonderbar wilden Lauten in die hohlen Hände. Ich wollte schlafen und gebot ihr, stille zu sein. Der Schlummer kam, doch er war ohne Tiefe und ohne Vergessenheit. Angstbilder wechselten mit freudigen Visionen, jene so quälend wie diese. Wie ein Verschmachtender lag ich, die Gedanken flogen durch den Raum zu meiner Geliebten, mir war, als müßt ich sterben, ohne sie noch einmal umarmen zu können, ohne sie je umarmt zu haben, ich spürte ihren Mund, und so, im Verlangen, in der Furcht, in der Finsternis und Einsamkeit streckten sich meine Arme aus und sie fanden Leben, Wärme, eine mitschaudernde Brust, eine Sendbotin von der andern Hälfte der Welt, ein Herz schlug neben mir, ein liebendes Menschenherz, und ich nahm, ich trank, ich erlöste mich aus dem Fieber der Träume. Am Morgen sah ich mich allein. Feïnaora war verschwunden. Es waren Leute im Hafen, die erzählten, daß einige Eingeborene in einem Boot den Hafen verlassen und daß sie draußen einen der ihren in die Wellen geworfen hatten; eine Stimme sagte mir, daß es Feïnaora war. Das Meer hat ihre Seele ausgelöscht. Virginia hat es gefordert. »Du lächelst, lieber Freund, du glaubst nicht an diesen Tod. Ich glaube an ihn, obwohl ich dadurch vielleicht schuldiger werde. Oder, wenn dich die moralische Wertung ungehörig dünkt, sagen wir nicht schuldiger, sondern verstrickter. Ich dachte zuerst daran, Virginia das ganze Vorkommnis zu verschweigen, denn, überlege nur, wie wird es möglich sein, dies Widerspruchsvolle, dies Tier- und Traumhafte so zu fassen, daß sie versteht, verzeiht, vergißt? Aber sie muß es erfahren, ich will nicht monatelang mit bedrücktem Gemüt an sie denken und schreiben. Leb wohl für heute, Freund, und behalte im Andenken deinen ewig getreuen Manfred Dalcroze.« Virginia starrte in die Luft. Ihr Gesicht war allgemach blaß geworden, jedoch kein Spiel der Mienen verriet, was in ihr vorging. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, und ein Grashalm war zwischen ihre Lippen geklemmt. »Er ist ein Narr«, rief Erwin ärgerlich und drückte den Brief des Freundes in der Faust zusammen. »Warum zerknüllen Sie denn den Brief?« fragte Virginia mit hartem Blick; doch kaum hatten ihre Augen einander getroffen, so senkte Virginia die Lider, eine verderbliche Röte zog über ihre Wangen, und sie wandte, ebenso jäh sich entfärbend, den Kopf nach der andern Seite. »Sind Sie am Ende so töricht, Virginia, das aufgebauschte Geschichtchen ernster zu nehmen, als es im Grunde ist?« fragte Erwin sehr sanft und mit vorsichtigem Mitgefühl. »Es ist nur gut, daß ich das Außenwehr bin, an dem sich diese lächerliche Woge bricht. Er faselt ja, der Gute, er faselt! Wozu spricht er von alledem? Wozu quält er sich? Jetzt plötzlich möchte er gern an die Großmut des freien Weibes appellieren und hat nichts für Sie getan, nein, Virginia, nichts, nichts, nichts. Er hat Sie aller Waffen gegen menschliches Treiben beraubt, und nun mag er sehen, wohin er damit geraten ist, da er fürchten muß, kein Verständnis für das Natürliche und Alltägliche zu finden.« Virginia rührte sich nicht. »Denken Sie nicht an Untreue, Virginia,« fuhr er fort, »denken Sie nicht an Verrat. Wir Männer sind aus anderem Fleisch als ihr. Unsere Treue ist von anderer Herkunft und wurzelt so im Geist, daß, wenn ihr den Körper sündigen seht, die Treue manchmal erst zur Blüte kommt.« Virginia zuckte die Achseln. Es war, als ob ihr jemand mit vielen Umschweifen gesagt hätte: morgen ist der zwölfte September. Ihr war kalt, über und über kalt. Sie stand auf und ging den Hügel hinab. Erwin folgte ihr und pfiff leise. Schweigend wandelten sie über die Wiesenwege. Von den Bergen her waren indessen große, schwarze Wolken heraufgezogen, und es donnerte. Der Kirchturm des Dorfs war noch weit entfernt, als es zu regnen begann. Virginia beschleunigte ihren Schritt nicht. Es regnete heftiger, und zum Glück gelangten sie an ein Haus. Das Tor war verschlossen; auf Erwins Pochen erschien ein Bauernweib, und da Erwin bat, den Regen hier abwarten zu dürfen, führte sie die Fremden in ein geräumiges und wohlausgestattetes Zimmer, dessen Sofa und Stühle mit weißem Linnen überzogen waren. Es war ein Sommerhaus für Stadtparteien, das in diesem Jahr nicht hatte vermietet werden können. Nachdem die freundliche Alte ein Weilchen geschwatzt und nach Bauernart lamentiert hatte, ließ sie die beiden allein. In der Ecke stand ein Pianino. Erwin schob einen Sessel hin und spielte. Das Instrument klang dünn und verstimmt. Als er sich nach einer Weile umwandte, sah er Virginia mit bleichem Gesicht am Tisch sitzen und lautlos weinen. Ihre Züge waren nicht im mindesten verzerrt, die Tränen rannen still, wie unaufhaltsam herab, die Hände lagen im Schoß. Als sie sich von Erwin betrachtet sah, erhob sie die Arme, stützte sie auf den Tisch und legte die Hände vor die Augen. Erwin schritt hin, faßte ihre Hände bei den Gelenken und bog sie auseinander, wie man bei einem Gestrüpp tut, wenn man ins Innere eines Waldes dringen will. Sie mochte ihr Gesicht nicht sehen lassen und beugte es tiefer herab. Er schob den Tisch zur Seite und kniete, als wolle er von unten ihren Blick erhaschen. »Virginia«, flüsterte er, »Mut! Vertrauen! Haltung!« Der Ton seiner Stimme machte Virginia vertrauensvoll. Sie hauchte seinen Namen. »Es war zu viel für dich«, sagte er langsam. Dich? Für dich? Virginia stutzte. Sie glaubte nicht recht gehört zu haben. Sie schaute ihm entsetzt in die Augen. So nahe, dachte er mit Frohlocken, mit Furcht vor dem, was nun folgen würde, so nahe! Denn er gewahrte jede einzelne ihrer feuchten, wunderbar emporgebogenen Wimpern. Für dich? fragten ihre Augen, während sie sich vergrößerten. Er packte ihre Schultern, sie aber, plötzlich aufschluchzend vor Scham und Schrecken, stemmte beide Hände vor seine Brust und wollte sich befreien. Er erhob sich. Er bohrte seinen Blick unwiderstehlich gegen den ihren, in dem allmählich Angst und Haß sich zu flehentlicher Bitte entschieden. »Nicht anrühren! nicht anrühren!« sagte sie schnell und leidenschaftlich. Aber allmählich löste sich der Krampf ihrer Muskeln, eine schlafähnliche Schwäche überfiel sie, trotzdem stand sie auf, doch ihr Kopf sank sonderbar matt, Erwins Lippen fingen ihren Mund wie etwas, das niederstürzt, wie man einen flügellahmen Vogel mit den Händen fängt, und ihr Erbeben setzte sich durch seinen Körper in elektrischen Wellen fort. Er spürte ihre Brust, er trank ihren süßen Atem, er sah die weißschimmernde Linie der Zähne durch die Lippen, die von keiner natürlichen, eher von einer mechanischen oder kränklichen Bewegung geöffnet waren, jede Sekunde verriet ihm beredter die Unentrinnbarkeit des lebendigen Leibes, den er hielt, der hingeschmiegt war, dessen Formen ihn bis in einen geisterhaften Jubel erhitzten und entzückten, der immer schwerer wurde in seinen Armen, bis er gewahrte, daß er eine Besinnungslose hielt, eine die wachsfahl dalag, hilfsbedürftig geworden, in ein Intervall von Vergessenheit hinübergezogen, als ob die Sühne für beleidigte Ehre und geschändeten Stolz erst nach einem kurzen Tod zum Austrag gelangen könnte. Und als sie die Lider aufschlug, als ihn das stählerne, feurig fließende Blau ihrer Augen traf, als ihn dieser Blick traf, der bis in den untersten Grund seiner Seele drang, da mußte Erwin einen Rückzug von entscheidender Bedeutung antreten, der ihn fast wieder an jene Schanzen warf, von wo er den Angriff einst begonnen. Sie ist unvergleichlich, sagte er sich, und ich habe eine Dummheit begangen, indem ich nach Analogien handelte, statt ihre Eigenart zu berücksichtigen. Ich war zu wenig originell, das rächt sich. Es war die Helligkeit eines Blitzes, die ihn erkennen ließ: das ist Unschuld! Er hatte nicht daran geglaubt, niemals, im Innersten niemals. Unschuld! Was war denn Unschuld? Sind die kleinen, liebevollen Mädchen unschuldig, wenn sie ihre Sicherheit verteidigen? Die Frauen, wenn sie den Preis zu niedrig finden, der ihrer Begierde zur Gewissensruhe verhilft? Die furchtsamen Mädchen, die wissenden Frauen, die schwankenden, ziellosen, hungrigen, kühlen? Hier war Unschuld eine Kraft. Sie blendete ihn. Sie schmetterte ihn nieder, sie betrübte ihn. Was für ein Gegenüberstehen war dies doch! Element und Wille; die Schönheit und ihr Begehrer, ihr Verfolger, ihr Feind, ihr Sklave, ihr Herr, ihr Schicksal. Erwin war dermaßen in Gedanken versunken, die weitab lagen von den bisherigen Gleisen, in Traurigkeit gesponnen, die fast ohne Bezug war zur Gegenwart, daß er es kaum bemerkte, als Virginia das Zimmer verließ, eilend, flüchtend und stumm. Bah, wir werden uns bald genug treffen, dachte er mit verzerrtem Lächeln, als er sich allein sah. Nach einer Viertelstunde regungslosen Brütens ging er gleichfalls. Er rief die Bäuerin und gab ihr ein Geldstück. Es regnete noch. Er beachtete es nicht. Er wählte sogar einen Umweg ins Dorf. In seinem Zimmer ließ er Feuer machen, um die Regenkälte zu vertreiben. Was soll nun werden? grübelte er, vor dem Ofen sitzend. Sie ist im Vorteil gegen mich. Ich habe sie unterschätzt. Man sollte denken, es sei alles zu Ende. Aber wir fangen erst an, mein Liebchen, wir fangen erst an. Ich darf sie nicht mehr lassen. Zurückweichen? jetzt? unmöglich. Ich würde mir selber wertlos. Ich kann es nicht. Das Gelingen wird mich nicht reicher machen. Erfolg ist nur Bestätigung, nicht Vermehrung. Oh, wie sie mich zwingt, zu dem, was ich tue! Sie reißt mich aus mir selbst heraus. Statt friedlicher wurden seine Überlegungen aufgewühlter. Sie reißt mich aus mir selbst heraus! Das war eines jener tiefen Worte, die nur ohne Eitelkeit und Vorbedacht geprägt werden können. Der ungewohnte Aufenthalt in einem lautlosen Dorf tat ein übriges, um seine Stimmung zu verdüstern. Er las, er arbeitete an seiner Abhandlung über die moralische Idee. Am Abend schrieb er einen ausführlichen Antwortbrief an Manfred. Er fand es für gut, den Zwischenfall auf der Insel Mangaia für eine reizende, aber bedeutungslose Legende im Stil von Montesquieu oder Hearn zu erklären. Jedoch tadelte er den Freund lebhaft wegen seines Liebesfiebers. »Ich kann mir nicht helfen,« schrieb er, »in diesem Punkt erscheinst du mir ein wenig geschmacklos und rückständig. Und du spürst es selbst, wenn ich gewisse Äußerungen recht verstehe, in denen sich das Bedürfnis ausspricht, deine Lebensinteressen mehr zu balancieren, sie von einheitlicher Belastung durch Liebe zu befreien und ihnen ein soziales Zentrum zu schaffen. Im zwanzigsten Jahrhundert repräsentiert die Liebe nicht mehr. Ich kann eine Tyrannei des Gefühls nicht billigen, die uns um den Genuß und die geistigen Ziele des Lebens betrügt. Nenne mich darum nicht zielbewußt. Zielbewußt ist ein Wort für die Statuten eines Schützenvereins. Ich bin nicht an der panischen Flucht vor der Liebe beteiligt, ich fliehe sie nicht, ich halte ihr stand. Doch ich kann nicht auf das Recht der schönen Selbstbestimmung verzichten. Leidenschaften sind Arzneien des Geistes und Massagen des Herzens. In der Liebe ist es wie in der Finanzverwaltung: ungesunde Zölle richten den Haushalt zugrund, und Monopole schädigen den freien Austausch. Du hast nicht wohl daran getan, dein polynesisches Erlebnis ins Europäische zu übersetzen. Die Milderungsumstände, die du wie ein gewiegter Jurist ins Feld führst, können nur dazu dienen, dir eine ungerechte Anklage auf den Hals zu ziehen. So erklärst du die Treue als ein Prinzip, und das ist verwerflich. Prinzipien morden die Jugend, das einzige positive Gut des Lebens. Ich habe das Unheil, das für Virginia daraus entstehen konnte, im Keim erstickt, indem ich sie vorbereitete. Sie wäre zu einer Dummheit fähig gewesen, da sie nie einen Berater hatte, der sie von den sinnlichen Vorurteilen ihrer Kaste befreite. Jetzt magst du unbesorgt sein. Ihre Konstitution ist von der Art edler Pferde, die bei sachgemäßer Behandlung stets das Außerordentliche leisten, ein Vergleich, der nichts Anstößiges hat, wenn man, wie ich, der Meinung ist, daß ein edles Pferd zu den vollkommensten Wesen der Schöpfung gehört. Sie ist dazu bestimmt, zu triumphieren, und die abgefeimtesten Dandies verlieren auf der ganzen Linie den Kopf. Graf Hennsdorff versicherte mir, man müsse vor ihr niederknien. Er, vor dem doch alles kniet! Leb wohl, Gott schenke dir Frieden und Vernunft.« Das Bindende Erwin arbeitete bis in den Nachmittag. Gegen zwei Uhr pochte es an seiner Tür. Es war Frau Geßner. Verlegen und zögernd trat sie ein. Erwin ging ihr höflich entgegen. Sie fragte, was zwischen ihm und Virginia vorgefallen sei. »Nichts von Wichtigkeit«, antwortete er kühl. »Dann weiß ich nicht, was das Mädel hat. Durchnäßt ist sie gestern nach Haus gekommen und hat sich ins Bett gelegt. Ich glaube, sie hat gefiebert. Hat auch kein Wort mit mir gesprochen, kein einziges Wort, gestern nicht und heut nicht. Können Sie sich das erklären?« »Ist sie heute aufgestanden?« »Ja. Sie sitzt in ihrem Zimmer.« »Was tut sie?« »Ich weiß es nicht.« »Ich werde mit Ihnen gehen.« »Tun Sie das lieber nicht. Sie wird Sie nicht empfangen.« »Ach? Sie wird mich nicht empfangen? Wie wird sie das machen?« Frau Geßner zuckte die Achseln. »Ich wollte Vormittag zu Ihnen, sie hat mir’s streng verboten. Was ist los? sag ich. Sie schaut in die Luft. Jetzt hab ich mich weggestohlen.« »Ich gehe mit Ihnen.« »Sie wird eigensinnig, Erwin. Man macht sie krank, wenn man ihren Eigensinn brechen will.« »Wir werden sehn.« Das ungleiche Paar ging über die triefenden Wege unter einem trüben Himmel schweigend dem Landhaus zu. Das Häuschen hatte fünf bewohnbare Räume, von denen zwei kaum als Zimmer anzusprechen waren. Unten lag das Eßzimmer, daneben war die Küche und eine feuchte Holzkammer. Oben war ein ziemlich großes Gelaß, das auf den Balkon führte; auf der einen Seite dieses Raums war eine Türe zu Virginias Schlafzimmer, an die andere stieß das Zimmer der Frau Geßner. »Habt ihr denn nicht Geld genug, daß ihr euch in solche Käfige sperrt?« wandte sich Erwin auf der Treppe an Frau Geßner. »Es war nichts Besseres zu haben«, stotterte diese schuldbewußt. »Ich habe euch Paläste angeboten«, versetzte Erwin zornig. »Gott bewahre einen vor Krämer- und Spießervolk. Ich bitte um Verzeihung, aber meine Geduld ist zu Ende.« Maßlos eingeschüchtert, vermochte die Frau nichts zu antworten. Eine böse Ahnung überkam sie. In dem großen Zimmer wartete Erwin, während Frau Geßner zu Virginia ging. Er betrachtete die einfachen Zirbelholzmöbel, das plumpe, rotüberzogene Sofa und die schmucklosen Wände. In der einen Ecke war ein getünchter Steinofen, der häßlich und etwas beschädigt aussah. Virginia hatte einen großen Schirm davor aufgestellt, den der Dorftischler nach ihrer Zeichnung gefertigt hatte und dessen vier aneinandergenietete Teile sie als Rahmen für einige ihrer Skizzen benutzt hatte. Man gewahrte da einen Pfau, der ein Rad schlug, zwei Äpfel auf einem blauen Teller, eine gebundene Garbe und einen Korb, in dem Forellen lagen. Mit ratlosem Gesicht erschien Frau Geßner wieder. Hinter ihr wurde die Türe abgesperrt. »Was gibt’s?« fragte Erwin tonlos. Die Frau blickte scheu zu Boden. Er trat an die Tür und packte mit krampfhaftem Griff die Klinke. »Virginia!« rief er heiser. Keine Antwort. Er wartete; er atmete tief auf. »Virginia! Sie erlauben mir also nicht, mit Ihnen zu sprechen?« Keine Antwort. »Virginia! Ein Mann von Ehre, nein, sagen wir: von anständigem Betragen darf nicht wie ein unverschämter Zudringling behandelt werden.« Er betonte sehr scharf. Eine mahlende Kaubewegung der Kinnladen schien seine Worte zu pulverisieren. Keine Antwort. »Um Gottes Himmelswillen, was war denn zwischen euch?« raunte Frau Geßner, dicht zu Erwin herantretend. Aus ihren Augen fielen eine Menge von perlenden, hellen Tränentropfen wie Wasser aus einem Sieb. Erwin befahl ihr durch eine barsche Gebärde, zu schweigen. Er war sehr bleich. Er zog die Uhr, behielt sie in der Hand und rief: »Hören Sie mich, Virginia! Es ist jetzt drei Uhr. Um sechs Uhr bin ich wieder da. Sie werden sich dann entschlossen haben, mich einzuladen. Ich werde diese Beleidigung zu vergessen suchen. Hören Sie! Um sechs Uhr. Das ist mein letztes Wort.« Er ging, ohne sich um Frau Geßner zu kümmern. Zweieinhalb Stunden lang irrte er in beständigem Regengeriesel mit aufeinandergepreßten Zähnen durch die Wiesen und Felder. Er hatte beabsichtigt, vor der angekündigten Zeit an Ort und Stelle zu sein, um das Mädchen zu überraschen. Diesen Plan verwarf er. Es war halb sieben, als er mit festen Schritten die Treppe emporstieg. Er trat ein und verbeugte sich vor Frau Geßner, die, als sie ihn gewahrte, beide Hände an die Wangen preßte. Er blickte fragend nach der Tür. Frau Geßner schüttelte traurig den Kopf. Sie trat wieder dicht vor ihn hin, hob den Zeigefinger und flüsterte: »Etwas Übles haben Sie ihr angetan. Ich kenne mein Kind. So war sie noch nie.« Erwin schaute sie verächtlich an. Er empfand Ekel wie zumeist, wenn er bejahrte Frauen reden sah, deren Mund des beherrschten Mienenspiels ermangelte. Er würdigte sie keines Worts und ging zu der verschlossenen Tür. Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers dreimal. »Ich bin es, Erwin Reiner, nicht Sixtus von Flügel!« rief er. Er drückte die Klinke. Er rüttelte an ihr, stärker und stärker, mit Erbitterung, mit Wut. Umsonst, nichts zu hören; kein Schritt, kein Laut. Nun wanderte er ein paarmal durch das Zimmer, wobei ihm Frau Geßner aufmerksam zusah. Nach einer Weile trat er wieder zur Tür und sagte eindringlich: »Virginia, öffnen Sie! Noch niemand hat gewagt, was Sie heute wagen. Ich will Ihnen keinen Anlaß geben, eine Behandlung zu bereuen, die ich nicht verdient habe. Besinnen Sie sich, Sie haben noch eine Viertelstunde Zeit, um zu überlegen.« Damit trat er zum Tisch, nahm einen Stuhl und setzte sich. Er starrte gleichgültig vor sich hin. Von Zeit zu Zeit schaute er auf die Uhr. Frau Geßner saß am offenen Balkon. Sie rührte sich nicht, bewegte selbst die Augen nicht. Sie horchte. Die den Fenstern gegenüberliegenden Wände röteten sich plötzlich. Draußen, durch die Zweige der Bäume flutete kupferfarbenes Licht. Innerhalb fünf Minuten war der ganze Himmel mit orangeroten Cirruswolken bedeckt. Ein kläffender Hund sprang vor dem Haus vorbei. Die Viertelstunde war abgelaufen. Erwin erhob sich und griff nach seiner Mütze. Frau Geßner streckte bittend die Hand aus. Er zuckte die Achseln und ging. Es steht zu vermuten, daß er bis zu diesem Augenblick seines Lebens kein Gefühl kennen gelernt hatte, das der Verzweiflung nur ähnlich war. Jetzt empfand er es. Es war ein grauenhaft verwundertes Voreinerwandstehen und Nichtweiterkönnen. Vor einer Tür stehen und nicht eingelassen werden! Das war das Furchtbarste, was ihm zustoßen konnte. Darauf also hatte sich sein Leben zugespitzt? Das war das Ergebnis: vor einer Tür stehen und nicht eingelassen werden! Sein Fuß stockte an der Treppe, und er sah in die Dunkelheit hinunter wie ins Bodenlose. Da vernahm er eilige Schritte hinter sich. Er wußte, daß ihm die Alte folgen würde. Sie tippte mit ihren kalten Fingern auf seine Hand, die das Geländer umfaßt hielt, und sagte heimlich: »Ich kann mir’s denken, Erwin.« Woher nimmt sie den Mut, mich Erwin zu nennen? dachte er verdrossen; alle alten Mütter sind lästig und respektlos. »Was steht zu Diensten?« sagte er mit höflicher Kälte. »Wenn Sie nur Vertrauen zu mir hätten«, antwortete sie seufzend. Erwin stieg die Treppe hinunter, und sie folgte, weil sie ihm eine Unschlüssigkeit anmerkte. In dem großen Zimmer unten, das ohne Stufe ins Freie führte, blieb Erwin stehen und sagte: »Gut, Mama. Sie sollen sehen, daß es mir an Vertrauen nicht fehlt. Ich bitte Sie um Virginias Hand.« Das gelbe Gesicht der Frau schien auf einmal größer zu werden. Im Geist hatte sie sich des öfteren das Entzücken ausgemalt, das sie empfinden würde, wenn einst diese Worte an ihr Ohr schlagen sollten. Und nun war sie keineswegs entzückt, sondern im höchsten Grad erschrocken. Der Schrecken lähmte ihre Freude und die Vorstellungen von Glanz, Sorglosigkeit und Reichtum. »Sie bitten mich um Virginias Hand?« wiederholte sie ungläubig und matt. »Mich? mich bitten Sie? warum nicht Virginia selbst?« »Soll ich ihr meinen Heiratsantrag durch das Schlüsselloch zubrüllen?« »Virginia ist aber doch verlobt, Erwin –?« »Ja, das ist der Anstoß, wie Hamlet sagt. Immerhin, es sind schon festere Bündnisse aufgelöst worden.« »Sie läßt nicht von ihrem Manfred, um keinen Preis.« »Darauf kommt es eben an.« »Ist es Ihr wahrhaftiger Ernst?« »Man scherzt nicht, wenn man mit Füßen getreten worden ist.« »Ach, wie unglücklich bin ich!« rief Frau Geßner leise und bekümmert, aber jetzt war in ihren Augen ein Ausdruck, der die monatelangen kupplerischen Wünsche enthüllte. In einer besorgten Falte ihrer Stirn wohnte der letzte Gedanke an Manfred wie der letzte Gast einer vordem zahlreichen Gesellschaft; alles übrige an ihr war Aufregung, Erwartung und Dankbarkeit. Erwin schaute sie an, wie man ein gelungenes Werk ansieht, und unterdrückte ein maliziöses Lächeln. Er faßte die Frau unter den Arm und sagte: »Sie begreifen, Mama, es handelt sich also darum, Virginias kindischen Trotz zu besiegen. Das Wichtigste ist, daß ich mit ihr sprechen kann. Sagen Sie ihr, ich sei abgereist. Sie wird es bedauern, sie wird in sich gehen. Ich werde morgen im Gasthaus bleiben. Um acht Uhr abends werde ich unvermutet und möglichst geräuschlos ins Zimmer treten. Sprechen Sie nicht mit ihr über mich! Sorgen Sie dafür, daß sie bei Ihnen sitzt; wenn sie mich sieht, habe ich gewonnen. Die Dinge sind weiter gediehen, als Sie denken, Mama«, schloß er; »Virginia ist uneins mit sich selbst. Das ist der Schlüssel zu ihrem Verhalten, auch die Erklärung dafür, daß ich es ertrage. Helfen Sie mir, und alles wird gut.« »Und Manfred?« murmelte Frau Geßner. »Manfred wird mit Feïnaora tanzen.« »Wie?« »Davon reden wir ein andermal.« »Und Sie werden meine Tochter glücklich machen, Erwin?« »Weinen Sie jetzt nicht, Mama, ich halte keine Alteration mehr aus.« Es ist so wie er sagt, dachte Frau Geßner, als Erwin gegangen war: Gina ist uneins mit sich, das arme Kind weiß nicht, was es tun soll. Aber da gibt es kein Schwanken; das Glück, das sich ihr da bietet, darf sie nicht von sich weisen. Mütter sind stets geneigt, die Wahl des Herzens gegenüber den weltlichen Vorteilen einer Heirat gering anzuschlagen. Nicht die klügste und sanfteste ist fähig, sich der Gefühle ihrer eigenen Jugend zu erinnern. Alle haben gelernt, praktisch zu sein, und haben vergessen, daß die Feindseligkeit zwischen den Generationen auf den Verblendungen der Habsucht und den Irrtümern der Vernunft beruht. Sie werden gemein, ohne es zu wissen, und grausam, ohne es zu wollen. Erwin hatte sich auf die Bank unter der Weide gesetzt und schaute in das feurige Rechteck von Virginias Fenster, das von immer schwärzer werdender Nacht begrenzt wurde. Lange saß er so. Es läuteten tiefe Glocken, deren Schall der Wind ungedämpft herübertrug. Er verspürte weder Hunger noch Durst, obwohl er seit Mittag nichts gegessen hatte. Es war ihm, als hätte er ein Gelübde abgelegt, nicht zu essen noch zu trinken, bevor ... bevor die Tür dort oben offen stand. Es war, als dürfe die Sonne nicht mehr scheinen, bevor die Tür dort oben offen stand. Es war, als hätte er vor dieser Tür gelegen und um Einlaß gewimmert. Es war, als hätten unzählige Menschen dabei zugeschaut und hätten ihn verhöhnt. Seine Pläne gediehen nicht. Er verwarf die einen als zu kühn, die andern als nutzlos. Sein Stolz krümmte sich wie ein Span im Feuer. Das Feuer war seine Begierde, sein Haß. Plötzlich zuckte er zusammen. Das beleuchtete Rechteck wurde finster. Virginia ging schlafen. Ihre nackten Füße hatten den groben Bretterboden berührt; ihr wenig beschützter Leib hatte gefröstelt in der feuchten Wiesenluft, die durch die Fensterfugen drang. Nun lagen ihre Glieder auf weißem Linnen, auf fühllosem Linnen lagen sie ausgestreckt da. Die weißfingrigen Hände fanden sich wie ein Liebespaar, das in der Finsternis einander sucht. Der Smaragdring auf der Linken war abgezogen, und sie war frei vom verpflichtenden Bund. Nackt war der Goldfinger ohne den Ring, wie eines Kleides ledig. Die zedernholzfarbenen Haare flossen über allzu kühle Kissen, stauten sich gegen die Wangen und zitterten dort im Atemhauch eines Seufzers. Die Wölbung zwischen Wimpern und Brauen, die den Schmelz und die Reinheit eines Blütenblattes und die vollkommen parallelen Begrenzungslinien hatte, die auf Beseeltheit und Leidenschaft schließen lassen, überzog sich langsam mit dem sinnlichen Karmin des Schlummers. Maß man den Raum von hier bis an die Lagerstätte, es mochten nicht zehn Meter sein. Aber eine Tür war dazwischen, die nicht geöffnet wurde. Virginia dachte nicht an die Tür. Auch an die Finsternis dachte sie nicht. Sie hatte nicht gebebt, als die Klinke unter der Wucht seines Griffs geächzt hatte. Sie war ruhig am Tisch gesessen, den Kopf in die Hand gestützt, in den erglühenden Himmel schauend. Sie dachte nicht mehr an Feïnaora, sie glaubte Manfred die Verwirrung, ihr schien, als liebe sie ihn doppelt um seiner Wahrheitskraft willen. Hätte eine Stimme ihr gesagt, er, der Andere sitze drunten hinter den Zweigen der Weide, sie wäre nicht überrascht gewesen. Denn sie fühlte seine Nähe unaufhörlich. Sie fühlte seinen heftigen und sprechenden Blick, seine unterwerfende Gebärde, sie sah die kochende Unzufriedenheit auf seiner Stirn und den heimlich zuckenden Nerv seiner Lippen. Sie wußte sich von alledem gekettet, aber sie war entschlossen, sich frei zu machen. Sie wollte frei sein. Sie wollte nicht mehr vom Morgen bis zum Abend mit erwartendem Nachdenken an ihm hängen. Sie wollte frei sein. Sie wollte nicht mehr ihr Herz klopfen hören, wenn seine Worte sie betasteten wie Finger oder eine Wißbegier erregten, deren sie sich schämte. So oft sie die Augen zumachte, mahnte sie ihr Mund an den seinen. Wie hatte er es wagen können, ihren Mund mit dem seinen zu berühren! Das war es, wobei ihre Gedanken stockten und jede Frage mit stummer Flucht beantworteten. Das machte sie so kalt und so gleichgültig. Sie hatte keine Freude mehr an sich selber. Sie wünschte sich einen Rächer, aber aus Mitleid mit ihm und aus einem Rest von Achtung für seinen Freundschaftsbund mit Manfred fürchtete sie die Rache. Er hatte ihren Mund mit seinem Mund berührt. Dies hatte nichts in ihr geweckt, es hatte nur getötet. Es war ihr zumut gewesen, als ob ihr Blut weiß würde. Ja, alle Dinge verblaßten mit einem Mal, auch Manfreds Bild. Jetzt, bei verlöschtem Licht, fiel ihr die Perlenkette ein, und sie erkannte die Unmöglichkeit, den Schmuck noch länger zu besitzen. Doch war es schwer, für die Zurückgabe die höfliche Form und den nicht widerruflichen Gehalt zu finden. Sie grübelte fast den ganzen nächsten Tag darüber. Als ihr die Mutter sagte, Erwin sei in die Stadt gefahren, ärgerte sie sich. Sie hatte die Mutter bitten wollen, ihm die Perlen zu bringen. Wäre sie achtsamer gewesen, so hätte sie die Verlegenheit der Mutter merken müssen, die zu wenig Einbildungskraft besaß, um erfolgreich lügen zu können. Im übrigen hatte sie sich vorgenommen, ihm heute gegenüber zu treten. Sie blieb mit ihrer Arbeit im Balkonzimmer. Sie war sehr verstimmt und sprach den ganzen Tag fast nichts. Es war ein sehr heißer Tag, und man spürte zugleich den Abschied des Sommers in ihm. Gewitter lagen in der unbewegten Luft. Es hatte acht Uhr geschlagen, als Erwin kam. Seine Schritte schallten erst dicht vor der Schwelle, da er Tennisschuhe angezogen hatte, um sie geräuschlos zu machen. Der Blick, mit dem Virginia die Mutter ansah, war wild und bezichtigend, und Frau Geßner duckte sich wie bei einem Steinwurf. Erwin grüßte. Sein Spottlächeln trieb Virginia das Blut ins Gesicht. »Ich habe meine Abreise verschoben,« sagte er, »weil ich mir den Bescheid wegen des Antrags holen wollte, den ich Ihrer Frau Mutter gestern gemacht.« Frau Geßner wollte erwidern, daß er ihr verboten habe, davon zu sprechen. Er schnitt ihr das Wort ab. Die kühle Redensart falle ihm schwer, die das Ungewöhnlichste von allem ausdrücke, wozu er sich jemals entschlossen. Virginias fragende Miene nötigte ihn zur Deutlichkeit. »Ich habe Sie von Ihrer Frau Mutter zur Ehe begehrt«, sagte er. Das Erstaunen Virginias war so naiv, daß es etwas wie Heiterkeit über ihre Züge verbreitete. »Man sollte wirklich denken, daß Sie Ihren Spaß mit mir haben wollen«, antwortete sie endlich. »Nein, das ist wirklich zu stark!« rief sie mit entflammten Wangen und erhob sich. »Ich weiß nicht, ob dieser Unglauben beleidigend oder schmeichelhaft für mich sein soll«, versetzte er mit mühsamer Gelassenheit, hinter der sich sein Ingrimm und seine schmerzhaft verwundete Eitelkeit verbargen. »Schmeichelhaft? wieso denn schmeichelhaft?« fragte Virginia betroffen. »Ich biete Ihnen, was keiner bieten kann«, begann er mit seiner umflorten Stimme, und während er sprach, sah man beständig seine großen, porzellanweißen Zähne. »Sie aber haben nur Hohn und Kälte dafür.« »Weil Sie wortbrüchig sind«, fiel Virginia mit bitterem Tone ein. »Ja, ich wage es, diese Hand zu fordern, die sich vergeben hat, ohne zu wissen, was sie gab«, fuhr er fort. »Ich wage zu denken, daß ich, ich, nur ich es bin, der ihrer würdig ist. Der andre hat empfangen, er wußte, was er empfing, aber er ist geflüchtet mit einem Wechsel auf die Zukunft. Er hat Ihre Seele mitgenommen und hat Ihnen dafür zwei Jahre gelassen, qualvolle Jahre des Aufwachens, des Scheinlebens, armseliger Hoffnung, augenloser, unbeherzter Jugend. Und ich, dessen Stern es war, Sie zu finden, dessen Bestimmung, Sie glücklich zu machen, ich soll vor der Tür stehen und betteln, ich soll zu Kreuze kriechen, ich soll das Vorrecht des Schwächeren achten, soll edelmütig verzichten? Warum? warum? Ich kann, ich will, ich darf nicht verzichten. Den Freund halt ich hoch, über mich selbst kann ich aber nicht hinweg.« Virginia machte Miene, das Zimmer zu verlassen. Ihr Antlitz zeigte keine Bewegung, kaum ein Gefühl. Ihre Lider waren so tief gesenkt, daß die Wimpern einander berührten. Erwin trat ihr in den Weg. »Nein, Virginia,« sagte er mit einem Ungestüm, das seine Haut zu entfärben schien, »nein! So nicht. Hören Sie mich gefälligst an.« »Ich habe nichts zu hören, und ich will nichts hören.« »Ein anhängliches Herz habe ich zerrissen, gemordet, das Herz einer Frau, die ich liebte, nur weil Sie, Virginia –« »Sprechen Sie davon nicht. Sie haben dort verraten, wie Sie hier verraten.« »Bleiben Sie, Virginia!« Er schrie es fast und trat ihr von neuem in den Weg. »Das alles wäre ja Wahnsinn, wenn ich Sie überreden wollte, gegen Ihre Empfindung zu handeln, wenn ich glauben würde, ich risse Sie aus dem Glück ins Unglück, wenn ich überzeugt wäre, Sie hätten unabänderlich gewählt. So steht die Sache aber nicht. Sie haben nicht gewählt. Sie haben gar keine Gelegenheit gehabt, zu wählen. Sie haben sich nur verpflichtet. Ihre Ehe mit Manfred würde ein Kampf der Sehnsucht mit der Alltäglichkeit sein, des Traumes mit der banalen Arbeit, der Schönheit mit dem häßlichen Zwang. Sie sind nicht geboren für die Niederungen, Sie würden sich insgeheim zu Tode seufzen an der Seite eines Mannes, den jetzt noch der Glanz der Jugend umgibt, der aber in zehn Jahren vertrocknet sein wird, sparsam sein wird, krank sein wird, den die Geschäfte des Lebens kraftlos und die Enttäuschungen des Berufs übellaunig gemacht haben werden. Ich würde Sie hegen, Virginia, wie einen auf die Erde verschlagenen Seraph. Ich würde Sie lehren, Feste zu feiern, mit immer gefüllten Händen würde ich dastehen, ich würde nie von Liebe sprechen, aber ich würde Sie in Liebe hüllen wie in einen kostbaren Mantel. Ich könnte Sie die Wunder erleben lassen, die in einem lautlosen Einanderbegreifen liegen, und das Geheimnis, das darin besteht, zu genießen, ohne zu bereuen. Haben Sie bedacht, wie ungeheuer es ist, einen Menschen zu wissen, der sein Leben einer Leidenschaft widmet? Ahnen Sie denn, was eine solche Leidenschaft vermag, die vom Blut gezeugt, vom Geist genährt, von den Sinnen erzogen und von der Natur bestätigt worden ist? Ich müßte an allem verzweifeln, am Blut, am Geist, am Schicksal, wenn ich nicht die Gewißheit hätte, daß Sie sich an diesem Feuer schon längst entzündet haben, und daß Sie sich nur so stellen, als seien Sie unversehrt. Sie sind es nicht. Unausrottbar bin ich in Ihnen, Virginia! Sie mögen tun, was Sie wollen, von mir kommen Sie nicht los.« Unwillen, Beschwörung, Widerwillen, Entrüstung, dumpfes Hinsinnen, Schrecken, das alles war in Virginias Gesicht zu unmittelbarem Ausdruck gelangt. Nach den letzten furchtbaren Worten schaute sie Erwin traurig an. Um ihren Mund lag ein merkwürdiger Zug von keuschem Bedauern. »Ich bitte einen Augenblick zu entschuldigen«, flüsterte sie endlich und ging in ihr Zimmer. Frau Geßner saß am offenen Balkon, die Ellbogen in den Schoß, den Kopf in die Hände gestützt, und blickte verloren ins Licht der Lampe. Erwins Worte hatten sie tief ergriffen; sie war von Bewunderung für diesen Mann wie gelähmt. Sie verwünschte Manfred im stillen, sie grollte Virginia, sie beneidete Virginia. Sie erkannte, wie leer und nüchtern ihr eigenes Leben verlaufen war. Ein einziger Ball, eine einzige Nacht, sonst nichts! Und solche Männer gab es wie den! Sie dachte an den Tod; das schien ihr noch das Beste, woran sie denken konnte. Als Virginia zurückkam, streckte sie Erwin die Hand entgegen, auf welcher das Perlenhalsband lag. Bitte und Entschiedenheit vereinigten sich in der Geste wie im Blick, ein stolzer, ruhiger, unabänderlicher Entschluß. Frau Geßner stieß ein dumpfes Knurren aus. Erwin wurde erdfahl. Alles verloren, sagte er sich, alles umsonst. Es ist anzunehmen, daß die Raserei, von der er befallen wurde, ein herrisches Bedürfnis seines Temperaments war. Es gab in seiner Vergangenheit nur zwei Szenen solcher Art. Als Kind von sieben Jahren war er auf einen Hauslehrer, der ihn am Ohr gezerrt, mit einem erhobenen Messer losgegangen, das zufällig auf dem Tisch gelegen. Als Knabe von fünfzehn Jahren wurde er im Beisein von Kameraden von einer Frau, in die er verliebt war, gröblich verhöhnt. Einer der Jünglinge hatte gelacht; er war nahe daran gewesen, ihn zu erwürgen. Man hatte ihn wegreißen müssen wie einen Hund, der sich verbissen hat. So beschimpft und zurückgestoßen erschien er sich jetzt. Er schleuderte die Kette zu Boden, er trat mit dem Fuß darauf, die Perlen krachten und knirschten. Er trat auf sie mit einem Ausdruck von Ekel, Schmerz und Wut im Gesicht, der nicht seines gleichen hatte. Wie blasser Schaum bedeckten sie die Dielen; die fortgerollten, schillerndes Gerinsel, funkelten ängstlich aus dem Schatten. Virginia faltete die Hände. Ihre Lippen zuckten. Sie ging ans Fenster und preßte ihre Stirn gegen die Scheibe. Der warme Dunst des Abends stieg ihr zu Kopf, eine unleidliche Schwäche fesselte die Glieder. Erwin hatte sich straff emporgerichtet. Schweigend verließ er das Zimmer. In seinem Gasthaus rannte er wie besessen aus einem Zimmer ins andere. Er dachte nichts, er begriff nichts mehr. Das Rad ist im Schwung, das Korn muß gemahlen werden, fuhr es ihm durch den Kopf. Es war neun Uhr vorüber, als es schüchtern an die Tür pochte. Frau Geßner trat ein. »Guten Abend«, sagte sie. Erwin erwiderte nicht den Gruß. »Sie hat mich geschickt, sie hat mich gebeten, Ihnen die Perlen zu bringen«, murmelte Frau Geßner und brachte ein Päckchen zum Vorschein. »Ich hab alles mühselig zusammengeklaubt; die schönen Perlen! Wie kann man so freveln!« – »Kommen Sie, um zu jammern?« entgegnete Erwin grob. – »Sie hat mich gebeten, Ihnen die Perlen zu bringen«, wiederholte die Frau beklommen. »Sie hat gesagt, ich sollte Ihnen zureden, Sie möchten doch vernünftig sein.« »Ah? Und das ist alles? Das scheint mir Ihre eigene Erfindung zu sein. So geschmacklos ist Virginia nicht, daß ihr jetzt meine Vernunft Sorgen macht.« »Doch, doch, Erwin. Sie hat mich geschickt. Sie war bald heftig, bald wieder ganz kleinlaut. Ich dürfe mit den Perlen nicht wieder zurückkommen, sagte sie, und doch hat sie sie erst lang betrachtet, bevor sie alle ins Papier gepackt hat.« Erwin überlegte. »Was treibt sie jetzt?« fragte er. »Sie hat geweint.« »Sie mag weinen. Es ist an der Zeit. Hat sie denn um die Perlen geweint?« »Um die Perlen? Oh nein. Es sind ja lange nicht alle beschädigt. Sie hat sich aufs Bett gelegt, wie Sie fort waren, und dann war ihr wieder zu heiß, es ist so schwül heut abend, da wollte sie ganz kalt baden, das hab ich nicht erlaubt und hab Wasser auf den Herd gestellt und bin dann zu Ihnen.« Sie berichtete diese bedeutungslosen Einzelheiten so umständlich, als könne sie sich damit willigeres Gehör bei Erwin erzwingen. »Gehen Sie doch nicht im Bösen von uns,« sagte sie bittend, »ich glaube, sie bereut jetzt.« »Es ist nicht meine Gewohnheit, Vorteil aus der Reue zu ziehen.« »Seien Sie jetzt nicht eigensinnig, machen Sie noch einen letzten Versuch«, drängte Frau Geßner, der es zumute war, als hielte sie Virginias Glück in Händen. Auch war sie überzeugt, daß Erwin, wenn er nur wolle, alles noch in die rechte Bahn zu lenken vermöge. Erwin blieb stehen, bezaubert von einer schrecklichen Eingebung. »Ich muß morgen früh in der Stadt sein«, sagte er. »So kommen Sie jetzt mit mir –« »Welchen Zweck sollte das haben? Ich müßte allein mit ihr sprechen können.« »So gehn Sie allein hin, ich werde hier warten.« »Sie wird mich nicht einlassen.« »Wenn Sie ans Tor pochen, wird sie glauben, daß ich es bin, und wird Ihnen aufmachen.« »Habt ihr nicht zwei Schlüssel? Am einfachsten ist es, Sie geben mir Ihren Schlüssel, denn das Klopfen macht Virginia sicher argwöhnisch.« »Den Schlüssel? Nein, Erwin; das würde sie mir nie verzeihen. Das wäre auch –« »Na schön, schön,« unterbrach Erwin hastig, »ich will’s so versuchen. Es ist jetzt halb zehn. In einer Stunde bin ich wieder da und hoffe, Ihnen gute Nachricht zu bringen.« Voll Vertrauen und Liebe schaute ihn die törichte Frau an. »Wenn Sie eilen, können Sie sie noch vor dem Haus treffen, sie wollte noch ein wenig an die Luft«, sagte sie. Erwin nickte und ging. Was schwebte ihm vor? Glaubte er noch an die Wirkung von Worten, Gründen, Beteuerungen und Verlockungen? Ihn trieb die Ungeduld, die leidenschaftliche Rachsucht, der wütende Ehrgeiz eines Wettläufers, die Glut und Trunkenheit verletzter Eigenliebe und im Verborgenen seiner Brust ein Gefühl, von welchem Rechenschaft sich zu geben er Scheu trug. Mit dieser ganzen Hölle von Empfindungen überließ er sich dem Zufall. Den dunklen Horizont umsäumte ein Kranz qualmiger Wolken, in denen fortwährend Blitze zuckten. Zwischen den schwarzen Wiesen und schwarzen Wäldern glitten Fledermäuse geräuschlos und mit unheimlicher Geschwindigkeit hin und her. Erwin begegnete einigen Sommerfrischlern, die sich von Fleischpreisen unterhielten. Aus einem fernen Wirtsgarten schallte eine von der Schwülnis erstickte Blechmusik. Als er in der Nähe des Häuschens angelangt war, sah er eine helle Gestalt zwischen den Büschen wandeln. Er erkannte Virginia am Gang. Sie blieb bisweilen stehen, als lausche sie. Er wartete, bis sie um die Ecke des Hauses verschwunden war, dann öffnete er das Holztürchen der Umzäunung und verharrte grübelnd, bis sie auf der andern Seite wieder hervorkam. Ich will nicht im Freien mit ihr sein, überlegte er, hier flüchtet jeder Schall. Sie gewahrte ihn nicht. Sie schien in Nachdenken verloren, sie blickte nicht empor. Als sie zum zweitenmal seinen Augen entschwunden war, schritt er eilig durch die offene Tür ins Haus. Die Küche war von flackernden Flammen beleuchtet, kochendes Wasser brodelte auf dem Herd. Er stieg die Treppe hinan und betrat das Balkonzimmer. Dieses war nur matt erhellt durch eine rotbeschirmte Lampe, die auf dem Tisch in Virginias Kammer stand. Auf dem Boden drinnen befand sich eine halbgefüllte, kreisförmige Blechwanne. Erwin zauderte. Ein Lächeln, das gleichsam brennend war und doch den Zügen mehr Schatten und Trauer verlieh, als je sonst darauf zu sehen war, umspielte seine Lippen. Er schaute sich prüfend um. Er vernahm Virginias Schritt; er hörte, wie sie das Tor schloß und den Schlüssel abzog. Plötzlich, wie voll Angst vor ihrem Erscheinen, trat er hinter den bemalten Ofenschirm und kauerte auf dem Absatz des Ofens nieder. Virginia trat ein; ihr Schritt war schleppend, sie trug in ihrer Hand einen Krug voll heißen Wassers. Sie ging in ihr Zimmer und stellte den Krug zur Erde. Durch die Fuge zwischen zwei Teilen des Schirms konnte Erwin sie sehen. Sie ging auf und ab, sie schien unruhig. Sie öffnete das Fenster, dann schloß sie es wieder. Dann setzte sie sich in den Sessel vor dem Tisch. Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen, den Rumpf vorgeneigt und legte den Zeigefinger der rechten Hand quer über die Lippen. An dieser Haltung bewegte ihn die Einfachheit und Innigkeit auf das unerwartetste. Sein Herz fing an zu klopfen wie ein Hammer. So verweilte sie ziemlich lange. Das Profil ihres Antlitzes schimmerte wie Silber. Endlich erhob sie sich. Sie zog einen Schal von den Schultern und seufzte wie unter der Last der Gewitterschwüle. Nun verlor er sie. Er hörte das Rascheln ihrer Gewänder und wie sie ihre Schuhe wegstellte. Er zitterte am ganzen Körper, sogar seine Kinnlade begann zu zittern, und auf einmal sah er sie wieder, eine andere, oder den innersten Kern von ihr, das herrliche Geheimnis, mit dem sie auf Erden wandelte. Gleich einem rätselhaft leuchtenden Ding stand sie ohne jegliche Hülle im Lichtstrahl der Tür; wie ein Wesen, das im Augenblick zuvor erschaffen ward, gab sie ihre goldene Haut der kaum gekühlten Luft preis, die den dunklen Honig ihrer Haare schlürfte und den von Blut und Atem bebenden Kontur ihres Leibes wie mit einem Meißel rein hervortrieb. Der Anblick eines nackten Menschenkörpers gewährt dem Auge selten Befriedigung. Erwin hatte es oft erfahren, daß die Schale mehr versprach, als die Frucht erfüllte. Doch alle Erinnerungen starben an dem Jubel dieser Vollkommenheit. Der ruchlose Späher verwandelte sich zum ergriffenen Anbeter; ein bewunderungsvoller Laut entfloh aus Erwins Lippen, seine Augen waren naß, er war seiner nicht mehr mächtig, als er das schützende Versteck verließ, aber als er dann die Bedeutung seines Tuns ermessen konnte, so schnell, wie bei ihm der Weg vom Antrieb zur Erkenntnis war, prallte er bestürzt, schweigend und kraftlos inmitten des Zimmers zurück. »O – Gott!« rief Virginia in zwei jammervollen Tönen, von welchen der zweite um eine Oktave tiefer klang als der erste. Huschend, mit einem seltsam überstürzten Hauchen des Atems lief sie auf ihr Lager zu, warf sich hinein und zog die Decke über sich. Nun kauerte sie mit dem Gesicht nach unten, zuckend, röchelnd, ganz zusammengeduckt, und jedes einzelne Glied ihres Körpers wünschte den Tod. Der Todesseufzer der Schamhaftigkeit drang bis zu Erwins Ohren. Er selbst zitterte noch. Aber die Wirklichkeit verlor ihre Schwere. Sie wurde ein Duft und ein Gleichnis. Aus der Betrachtungsferne ergab sich Überlegenheit, in der Lust des Schauens verhallten die Stimmen der Schuld. Worte vermochten hier nichts mehr. Er lehnte am Türpfosten, indes Virginia in ihr Lager gewühlt war wie ein Stieglitz in sein Nest. Sie streckte den Arm gegen ihn aus, schüttelte ihn krampfhaft und flüsterte: »Fort! Fort! Fort!« Er wandte sich zum Gehen. Er zögerte, er kehrte um, Virginia flüsterte abermals mit immer noch ausgestrecktem Arm: »Fort! Fort!« Und kaum stand er auf der Schwelle, so schluchzte sie mit eigentümlich schmelzenden Lauten in sich hinein. Erwin lächelte. Nun war alles entschieden, nun gehörte sie ihm, und obwohl er den Grund davon nur dunkel ahnte, war es ihm, als blickte er in die tiefsten Tiefen der Schönheit und der Unschuld. Er beugte sich über sie und sagte mit schmerzlicher Zärtlichkeit: »Leb wohl, Virginia. Gute Nacht, Geliebte. Immerfort will ich an dich denken, du schönste von allen Frauen der Welt. Ohne dich bin ich nur ein Schatten. Leb wohl, leb wohl.« Dann ging er fast lautlos. Aber Virginia, als sie die Stille merkte, richtete sich auf. Mit den Händen die Brust bedeckend, das beinahe entseelte Gesicht lauschend, feurig bleich emporgewandt, rief sie: »Erwin!« Und wieder, willenlos und jammernd: »Erwin!« Sie fiel in die Kissen zurück, und eine erbarmende Ohnmacht nahm sie auf. Gefangenschaft Schon im Sommer hatte Erwin eine Einladung der Gräfin Thurn-Reichenstein angenommen, die letzten Septembertage auf deren Gut in Mähren zu verbringen. Als er jetzt in die Stadt zurückkehrte, fand er eine Absage vor, die schlecht begründet war; durch einen Krankheitsfall in der Familie sei man verhindert, Gäste zu empfangen, hieß es. Dies stellte sich bald genug als unwahr heraus; er traf einen Bekannten von der französischen Botschaft, der eben im Begriff war, auf das Gut der Gräfin zu fahren. Am selben Vormittag ging er zur Baronin Resowsky. Auf den Schlag, der dort gegen ihn geführt wurde, war er durchaus nicht vorbereitet. Frau von Resowsky ließ sich verleugnen. Frau von Resowsky war für die gute Gesellschaft das Barometer der Meinungen. Von ihr nicht empfangen zu werden, war eine Art von Todesurteil. Erwin besuchte den Klub. Man begegnete ihm mit frostiger Zurückhaltung. Wohin er kam, dieselbe Veränderung. Selbst Leute dritten Ranges behandelten ihn von oben herab. Er stellte einen dieser Herren zur Rede: man war unschuldig, man wußte von nichts, man zuckte die Achseln. Doch das Getuschel wagte sich bald aus der Verborgenheit hervor. Es erwies sich, daß die Geschichte von dem fingierten Duell neuerdings umlief und jetzt zur allgemeinen Kenntnis gelangt war. Man hatte sich darüber lustig gemacht; das Gelächter wirkte zerstörender als die Entrüstung und das Schweigen seiner Freunde. Ein elender Schmierant, dessen Beruf es war, in den Vorzimmern der großen Welt zu schnüffeln, brachte das Histörchen in pikanter Zubereitung in ein Wochenblatt und erfrechte sich sogar, die Person Virginia Geßners, nicht mit Namen, aber in deutlicher Umschreibung, durch seinen Sud zu beschmutzen. Damit war Erwin vollends gerichtet. Er gab sich nicht verloren, trotzdem ihm der Ekel bis an den Hals stieg. Er ging, mit der Reitpeitsche in der Hand, in die Redaktion jener Zeitung und forderte Widerruf. Seine Entschiedenheit, seine knirschende Ruhe flößte den Herrschaften Angst ein; sie wichen aus, sie versprachen schließlich, sein Begehren zu erfüllen. Der Widerruf erfolgte nicht; im Gegenteil, man hängte der Komödie einen Epilog an, durch den sie noch eine Würze erhielt. Erwin nahm sich zusammen. Er bedurfte keiner Bemäntelung seiner Schuld, um den Abscheu zu vermindern, den er fühlte. Die Gewohnheit, unter Menschen zu leben, die man geringschätzt, erübrigt Selbstvorwürfe und entschuldigt jede Verfehlung. Er glaubte verachten zu dürfen, denn er war stets der Meister gewesen und hatte durch unbegrenzte Verschwendung den Anspruch auf unbegrenzte Nachsicht in sich genährt. Er sah sich mit Undank belohnt und zeigte die Miene eines Timon. Zunächst hatte er den Plan einer Reihe von Herausforderungen erwogen. Das Mittel war unbequem, weil es ihn zwingen konnte, die Stadt zu verlassen, und weil es zu lärmend war. Im Verlauf seiner Nachforschungen, um den Urheber des gegen ihn angezettelten Skandals zu entdecken, stieß er bald auf den Namen Sixtus von Flügels. Sixtus von Flügel war ungeachtet seines gegebenen Wortes zurückgekehrt. Marianne hatte damals Frau von Resowsky nach Erwins Anweisung aufgeklärt, aber Sixtus hatte erfahren, daß er als Strohmann aufgestellt war, und hatte die Gelegenheit wahrgenommen, endlich Rache zu üben. Aber wie durfte er es wagen? fürchtete er nicht den Gegenschlag seines Feindes? Hatte er von Marianne nicht genug Geld erhalten? War Marianne unvorsichtig gewesen? Marianne, die seine Frau war? Diesen Gedanken konnte er nicht zu Ende denken. Die Dinge wuchsen ihm über den Kopf. Er war nicht mehr der Mann, der er noch vor Wochen gewesen. Er wankte, er griff um sich, er war rastlos, er verlor die Sicherheit, er hatte Mühe, in seinen Verfügungen klar zu bleiben. Zu allem Übel kam hinzu, daß sich sein Vater in der letzten Zeit unheilvoll bloßgestellt hatte. Die kleine Christie Martens hatte es wirklich verstanden, ihn seiner alten Freundin abwendig zu machen. Er war nun genötigt, den schmachtenden Liebhaber und etwas wie einen lebendigen Geldsack vorzustellen. Die Martens, eine schlechte Komödiantin auf der Bühne, doch eine desto abgefeimtere im Leben, bezahlte ihre Schulden und hatte eine elegante Wohnung. Das Alter hatte Michael Reiner nicht verhindert, seine Leidenschaft vor aller Welt zur Schau zu tragen. Er hatte sich lächerlich gemacht. Man erzählte sich, daß er nächtelang vor der Tür des Mädchens winselte, während Christie ihre Liebhaber bei sich hatte. Es war Stadtgespräch. Erwin schäumte vor Zorn, aber er schreckte davor zurück, seinen Vater zur Vernunft zu bringen. Die giftige Lockspeise hatte er selbst zubereitet, er hatte weder Kraft noch Zeit, um den Arzt zu spielen. Der Vater kam nicht zu ihm, er schämte sich offenbar, er grollte ihm vielleicht und betrachtete sein Tun als Betäubung, als einen Ausgleich gegen das Schicksal der Frau Engelhardt, die aus Kummer zum Morphium gegriffen hatte und durch Morphium dem Wahnsinn nahe war. Es hatte mit der einen Torheit Michael Reiners sein Bewenden nicht; Erwin erfuhr, daß sich sein Vater plötzlich in waghalsige Spekulationen gestürzt, und daß er in den letzten Monaten über dreieinhalb Millionen an der Börse verloren hatte. Auch dagegen hätte etwas geschehen müssen. Erwin verschob es. Es waren zu viele Stricke um seinen Fuß gelegt. Er hätte noch drei Millionen hingegeben, wenn er die Demütigung hätte vergessen können, die er durch Frau von Resowsky erlitten. Er schrieb der Baronin einen seiner unwiderstehlichen Briefe. Er deckte mit ironischer Freiheit das Gewebe der Verleumdungen auf, schilderte das Treiben seiner Gegner mit der Laune des Stärkeren und malte eine so leuchtende Leidensgloriole um sein geschmähtes Haupt, daß ihm Frau von Resowsky sogleich antwortete, er möge zu einer bestimmten Stunde zu ihr kommen. Er atmete auf. Er war des Einflusses und der Wirkung seiner Person sicher. Daß man ihn rief, war schon ein Triumph. Jedoch es kam alles anders. Und wenn er geglaubt hatte, noch nicht einmal einer Stunde zu bedürfen, um aus einer argwöhnisch gewordenen Freundin eine bereuend überzeugte zu machen, so brauchte Frau von Resowsky, eine Dame, die in allen zweifelhaften Fällen mit schroffer Entschiedenheit zu handeln gewohnt war, keine Viertelstunde zu der Einsicht, daß sie betrogen und folglich beleidigt worden war, woraus allerdings für Erwin eine Niederlage und ein Rückzug ohne gleichen entstand. »Sie werden mir volles Vertrauen schenken, Erwin, nicht wahr?« bat Frau von Resowsky. »Insoweit ich dadurch keinen Vertrauensbruch begehe, mit Vergnügen, Baronin.« »Es ist merkwürdig,« sagte Frau von Resowsky kopfschüttelnd, »wenn Sie bei einem sind, möchte man durchs Feuer für Sie. Hat man Sie eine Weile nicht gesehen, so traut man Ihnen Dinge zu wie dem Schlimmsten nicht.« »Schade, Baronin, das wäre ja ein Bankrott des guten Geschmacks. Das Rätsel erklärt sich durch den Überschuß von Moral, an dem wir alle leiden wie an einer Art von geistigem Diabetes, und dem Unvermögen, auch nur einen geringen Teil davon tätig auszulösen.« »Kommen wir zur Sache. Marianne von Flügel hat mir seinerzeit mitgeteilt, daß Sie sich mit ihrem Bruder geschlagen hätten. Ich habe dafür gesorgt, daß die dummen Gerüchte, die schon damals begannen, zum Schweigen gebracht wurden. Jetzt kommt Herr von Flügel und behauptet, er hätte niemals ein Duell mit Ihnen gehabt. Das ist doch unbegreiflich.« »Ich bin erstaunt, Baronin, daß Sie die lügnerischen Umtriebe dieser Leute ernst nehmen. Ich habe mich allerdings niemals mit Herrn von Flügel geschlagen.« »Also ist Marianne nicht in Ihrem Auftrag zu mir gekommen?« »Durchaus nicht.« Nur Zeit gewinnen, dachte Erwin, nur Zeit. »Das gibt der Sache natürlich ein anderes Gesicht«, sagte Frau von Resowsky, indem sie zu einer kleinen Tapetentür schritt und öffnete. »Herr von Flügel!« rief sie hinein, »ich bitte.« Sixtus von Flügel trat ins Zimmer und heftete die Augen, die in seinem schwarzbleichen Gesicht tückisch brannten, auf Erwin. Erwin sprang empor, prallte zurück, gewann aber gleich wieder seine Fassung. »Ah – reizend!« sagte er mit finsterem Blick gegen Frau von Resowsky und küßte seine Fingerspitzen; »eine Konfrontation, wie?« »Ja, in Ihrem eigenen Interesse«, erwiderte die Baronin ziemlich scharf; »sonst wird die Wahrheit im Maul von Allerwelt zerstückt.« »Ich habe mit diesem Herrn nichts zu schaffen.« »Das ist kein Argument.« »Ich brauche keine Argumente. Vielleicht ist alles eine Erfindung von mir. Glaubt man mich decouvriert zu haben, wenn man gemerkt hat, daß ich den Sumpf zu Schaum schlage? Man will mich bei meinen Handlungen fassen? Ich bin nicht bei meinen Handlungen zu fassen, höchstens noch bei meinen Gedanken.« »Herr von Flügel, ich bitte sich zu rechtfertigen,« sagte die Baronin unbeirrt, »Doktor Reiner versichert mir, Ihre Schwester sei nicht in seinem Auftrag zu mir gekommen.« »Dann lügt Doktor Reiner«, erwiderte Sixtus von Flügel dumpf und mit haßerfüllter Freude. Erwin begann zu zittern. Es stand ihm der Atem still. Er sah, daß er sich verrechnet hatte. Er machte eine Bewegung, als wolle er sich auf den Beleidiger stürzen. Seine Wangen hatten eine fahlgrüne Färbung, seine Augen drehten sich in die Winkel. Frau von Resowsky trat zwischen beide und sah abwechselnd den einen und den andern an. Erwin hatte plötzlich das Gefühl, als müsse er den Gegner anflehen zu schweigen, aber das gefürchtete Wort war nicht mehr abzuwenden. »Dann lügt Doktor Reiner,« wiederholte Sixtus von Flügel, »und das ist um so schändlicher, als meine Schwester Marianne seine Frau ist. Er hat sich heimlich mit ihr trauen lassen. Sie sehen also, Baronin, daß Herr Doktor Reiner uns näher steht, als er glauben lassen will. Ich hätte den Wunsch meiner Schwester um Verschwiegenheit geachtet, wenn Herr Doktor Reiner den Namen meiner Schwester respektiert hätte.« Frau von Resowsky blickte Erwin mit einem Ausdruck kalter Verwunderung an. Sie zuckte die Achseln und machte eine kleine, abfertigende Gebärde. Erwin lachte. »Ich werde die Ehre haben, Baronin, Ihnen über diese Verwicklungen zu einer andern Zeit Aufschluß zu geben«, sagte er gelassen, spürte jedoch dabei, wie sich der Boden unter ihm im Kreis drehte; zu Sixtus von Flügel gewandt, fügte er hinzu: »Wir treffen uns noch.« »Ich brauche keinen Aufschluß mehr«, entgegnete Frau von Resowsky mit verächtlich zuckenden Lippen. »Sie tun mir unrecht, Baronin, und Sie werden es zu spät erkennen!« rief Erwin so stolz, dringlich und feierlich, daß Frau von Resowsky stutzig wurde und ihm unschlüssig nachschaute, als er ging. Er stürmte auf die Straße. Sein erster klarer Gedanke war: jetzt zu Virginia. Es war an der Zeit. Er wußte, daß sie am gleichen Tag wie er in die Stadt zurückgekommen war. Er empfand es durch Luft und Ferne, daß sie ihn rief. Es war an der Zeit, dem Ruf zu folgen. Sein Wille umspannte sie wie ein eiserner Ring den Hals eines Adlers. Sie mußte dem Gischt des Geredes, das zu gewärtigen war, entzogen werden. Er bangte, er lechzte nach ihr. Und wenn er alles verlor, Ehre, Freundschaft, Geld und Leben, =sie= mußte er gewinnen. Er liebte sie nicht. Er würde sie niemals lieben. Es war zu spät, um zu lieben. Ein dringenderes Gebot befehligte ihn. Viel war noch zu tun. Wirrsälig lagen die Wege. Ineinandergeschlungen waren die Triebe. Die Ehre forderte Sold von der Lüge. Die Unschuld mußte vernichtet werden, um die Ehre zu retten. Das Antlitz des Lebens zeigte sich bizarr wie nie zuvor. Sein Herz stockte vor Lust, wenn er sich ausmalte, wie ihr niedergetretenes, zu Tode beleidigtes Herz nach ihm schmachtete. Endlich! endlich! sie mußte ihm folgen, wie eine Blinde mußte sie ihm folgen, die von nichts anderem weiß als von der führenden Hand. Und allein mit ihr, die ganze Welt hinter ihnen her, die verstandlose Meute, und in ihr, bei ihr sich reinigen von allen Übeln. In seinem Willen wurzelte Glück und Unglück, durch seinen Willen wandelte Virginia, atmete sie, war sie schön, anbetungswürdig, begehrenswert und ihm verfallen. * * * * * Und so verhielt es sich: ihm verfallen. Wo ist =er=? dachte Virginia täglich, stündlich, in der unbekämpfbaren Furcht vor Verrat. Denn er verriet sie, wo er auch war, er teilte ein Bild von ihr allen Dingen mit, die sein Auge traf, er gab es den Augen der Menschen preis, indem er mit ihnen redete, und trug es in die Räume, in denen er weilte. Er verriet sie, wenn er ging, wenn er lag, wenn er träumte und wenn er arbeitete. Sie konnte nicht mehr an sich selber denken, ohne daß das Bild, das immer dort war, wo Erwin war, ihre Nerven zu äußerstem Schmerz spannte. Langsam war das Bewußtsein einer unendlichen Schmach in ihr angewachsen, und sie saß oft ohne Anmut in eckigem Kauern und sehnte sich nach Tränen. Wie hatte die Mutter sie neulich am Abend gefunden? an jenem Abend, dem kein eigentlich heller Tag mehr gefolgt war, auch keine Sonne mehr. Wann war die Mutter gekommen? Virginia wußte es nicht. Sie hatte geschwiegen. Auch Frau Geßner hatte geschwiegen, schuldbewußt, zerstreut, betrübt und heimlich aufgeregt. Ja, von einem heimlichen Zorn war diese Mutter verzehrt, hatte aber keine Klarheit darüber, nach welcher Richtung sich dieser Zorn wenden würde. Ich hab es satt, dachte sie und glich einem Menschen, den ein durchtriebener Wühler rebellisch gestimmt hat und den es nach Aufruhr verlangt, wobei er gleichzeitig froh ist, wenn sich der Wühler und Quäler nirgends blicken läßt. Der Geldzufluß hatte in der letzten Zeit aufgehört, die Ausgaben mußten beschränkt werden, und Frau Geßner fing an, sich vor der Armut zu fürchten, vor derselben Armut, in der sie drei Jahrzehnte lang zufrieden gelebt. An jedem Morgen sagte sich Virginia: so kann es nicht weitergehen. Sie hatte Manfred vergessen. Wenn sein Name emporstieg, war es, als ob ein früheres Dasein sie an ihn verbunden hätte. Er schrieb auch nicht mehr; seit Wochen hatte sie keine Nachricht mehr von ihm. Was war geschehen? Sie war überzeugt, er wisse alles. Und sie wollte ihn vergessen. Der Kummer gab ihrem Gesicht die Blässe des Perlmutters. Von allem Schweren war die Abwesenheit Erwins das Schwerste. Sie wollte ihn sehen, seine Gedanken spüren, sie wollte wissen, welche Art von Laster oder Verworfenheit in ihr war, die ihn ermutigt hatten zu tun, was er getan. Sie fand nicht das Wort, nicht die Form ihn zu rufen, auch schien es ihr bei tieferem Bedenken, daß es überhaupt keine Worte mehr zwischen ihr und Erwin geben konnte. Doch ihr Gefühl war dies: ruhig kann ich erst sein, wenn er da ist; froh werd ich nimmer werden, aber ich will erfahren, warum ich so erniedrigt worden bin. Warum kommt er nicht? klagte sie im Stillen; verachtet er mich? meidet er mich deshalb? Sie suchte sich seiner zu erinnern, aber die Gestalt war wie Dunst. Nur in ihrem Blut fühlte sie seine Gebärden, seine Blicke und seine Stimme. Es hatte den Anschein gehabt, als liebe er sie; so war Liebe etwas Düsteres, Unbehagliches, Wildes und Sündenvolles geworden. Sie bemerkte, daß alle Menschen in Kleider gehüllt waren, und sie sah die Leiber hinter den Kleidern, und Männer und Frauen hatten etwas Heuchlerisches und Maskiertes. Die vergiftete Phantasie war von Haß gegen den Vergifter beladen. Die neue Wohnung lag in einem einstöckigen Haus in friedlicher Umgebung. Hinter dem Haus lag ein Garten, in welchem sich Virginia an regenlosen Tagen fast unablässig erging. Sie vermied den Zaun neben der Straße und wandelte nur auf den schmalen Wegen zwischen den schon vergilbenden Sträuchern. Es war spät nachmittags; es dämmerte schon, da rief Frau Geßner vom Küchenfenster nach ihr. Der freudige Klang der Stimme verwandelte Virginias Füße in Blei. Er war da. Sie ging hinauf. Er erhob sich und verbeugte sich, als sie eintrat. »Ich befinde mich in einem Wirrsal von Geschäften und Unannehmlichkeiten«, sagte er. »Bitte, geben Sie mir ein Glas Wasser, Mama. Ich verdurste.« Virginia kam der Mutter zuvor, holte selbst das Wasser und kühlte dabei ihre heißen Hände unter der Leitung. Als sie wieder ins Zimmer trat, war die Mutter verschwunden. Sie runzelte die Stirn, reichte ihm das gefüllte Glas, und er trank gierig. »Ich muß Ihnen gestehen,« begann er plötzlich, »daß das Gerede der Stadt Sie schon als meine Geliebte bezeichnet. Ich kann Sie dagegen nicht schützen, Virginia, so lang Sie sich töricht weigern, den Entschluß zu fassen, der allen Klatsch beschämt.« »Wer redet? Was soll das heißen? was für einen Entschluß soll ich fassen?« antwortete Virginia außer sich. »Sie sind im Irrtum, wenn Sie glauben, daß der Klatsch eine Pression für mich ist.« »Es gibt noch eine stärkere, Virginia; nämlich die, daß eine andere Glücksmöglichkeit nicht mehr für Sie vorhanden ist.« »Dann muß ich eben ohne Glück leben.« »Und mich? Virginia? Mich wirfst du zu den Gleichgültigen?« »Duzen Sie mich nicht!« rief Virginia und wurde blutrot. »Warum ist die Mutter fort? wo ist sie hin? Sie sind verschworen mit ihr. Alle sind gegen mich verschworen.« »Virginia! Das Leben ist verschworen gegen dich, weil du es mit Füßen trittst. Du liebst mich, Virginia! Wenn du mich nicht liebtest, hättest du die letzte Nacht in Edlitz nicht überlebt. Du liebst mich, und es genügt mir, dies zu wissen.« Virginia preßte die Faust an die Wange. Es ist wahr, dachte sie, es ist ein Wunder, daß ich’s überlebt habe. Ihr Gesicht schien entgeistert im grauen Sammet der Dämmerung, als sie dumpf beteuernd murmelte: »Niemals werd ich Sie lieben, Erwin, niemals. Geben Sie mich also frei.« »Was heißt das?« fragte er verblüfft, und ihm wurde schwül ums Herz. »Du bist frei.« »Ich – bin – frei«, wiederholte sie langsam und mit leerem Nachdruck. »Du bist frei, aber vom Schicksal mir zugeschmiedet«, fuhr er fort. Jetzt galt es, den letzten Schlag zu führen. »Du bist frei auch von Geburt,« sagte er, »zur Liebe bestimmt von Geburt her. Ein Kind der Liebe bist du, unbekannt ist dein Vater. Selbst deine Mutter kennt ihn nicht, eine einzige Stunde der Leidenschaft, die einzige ihres Lebens hat sie dem unbekannten Mann in die Arme geworfen, und dies ist in deinem Blut, dagegen kämpfst du vergeblich. Du bist ein verlorenes Kind.« Zitternd schaute Virginia auf seinen Mund. Ihre bang ungläubige Miene gefiel ihm; der sichtbare Zusammenbruch von Stolz und Festigkeit erschütterte ihn. Sie machte mit der Hand eine mechanisch deutende Bewegung, ihre Augen fielen zu. Erwin ergriff ihre Hand und drückte sie lange an seine Lippen. Sie ließ es zitternd geschehen und zitterte immer – immerfort. Er legte den Arm um ihre Hüften. Plötzlich trat sie zurück. »Rühren Sie mich nicht an!« schrie sie erbleichend, so wie sie bisweilen im Traum aufschrie. Sie standen einander gegenüber, Auge in Auge. Da öffnete Frau Geßner, durch Virginias Schrei gerufen, die Türe. Ihr Gesicht zeigte die rasende Entschlossenheit, die oft die Energielosen überfällt. Wenn gutmütige und verträgliche Menschen in solcher Weise außer sich geraten, legen sie nicht selten eine plebejische Roheit an den Tag, die ihren Mangel an Erziehung und ihre Herzensdumpfheit enthüllt. Diese Frau war sozusagen bis auf den niedersten Stand ihrer moralischen Natur herabgedrückt: Ehrgeiz, naive Habsucht, Furcht vor Armut und eine systematische Bezauberung hatten aus ihr das willenlose Werkzeug Erwins gemacht, und Erwin erkannte es selbst, nicht ohne Verwunderung. »Du undankbares Ding!« begann sie keuchend, während ihre Züge vergröbert, vergrößert und gerötet erschienen, »was sträubst du dich gegen dein Glück? Aus welchem Grund, sag mir? Wegen deines Manfred vielleicht, der nichts ist, nichts hat und nichts kann? Gott verzeih mir die Sünde, aber ich will’s nicht länger mit ansehen, wie dieser ehrenhafte und großmütige Mann da um dich leidet, der dich mit Geschenken überhäuft hat, mit Geschenken, die Hunderttausende wert sind, und dich behandelt hat wie eine Gräfin. Und du tust, verzeih mir’s Gott, als ob du zu kostbar für ihn wärst. Was ist denn all mein Hangen und Bangen seit Jahr und Tag? Nur dir gilt’s, alles nur für dich, und so lohnst du’s mir, Undankbare, mit deinem lächerlichen Dünkel. Gott verzeih mir’s!« »Genug!« rief Erwin laut; »schweigen Sie, Mama.« Virginia bewahrte eine erstaunliche Fassung. Sie ging auf die Mutter zu und legte ihre beiden Hände auf deren Schultern. Frau Geßner wich betroffen zurück, aber Virginias Blick drang unerbittlich in die Augen der Mutter, als wollte sie zunächst die Wahrheit dessen ergründen, was Erwin ihr vorhin verraten. In der Art jedoch, wie sie sich hielt, war etwas so Vornehmes, daß Erwin, bestürzt über soviel Lieblichkeit und Adel, sich auf die Lippen biß und einen raschen Seufzer nicht unterdrücken konnte, der wie das heimliche Aufschluchzen eines Kindes klang. In diesem Moment kehrte sich Virginia um und sagte mit ruhiger Stimme: »Gut, es sei. Ich füge mich.« Erwin starrte zu Boden. Welch ein boshafter Teufel flüsterte ihm zu, den Fangstrick mit dem Dolch zu vertauschen und noch eine kurze Qual und prüfende Demütigung auszuhecken, für die, die »sich fügte«? Wollte er nicht Räuber sein, sondern Retter, nicht Zuflucht einer Ermatteten, Verstoßenen, Besudelten, sondern frei begehrt? Er faltete die Stirn und schwieg. Dieses Schweigen war niederschmetternd für Virginia. Sie nahm es als einen Ausdruck der Verachtung. So weit ist es also mit mir gekommen, dachte sie, und das Blut rauschte ihr zu Kopf. Sie begab sich langsamen Schritts zum Sofa, ließ sich niedersinken und fiel mit dem Gesicht auf die verschränkten Arme. So weit ist es also, und ich bin ihm nichts mehr wert, das war ihr einziger Gedanke, und alles, was sie körperlich von sich spürte, war ihr eine Last und ein Grauen. Jetzt bist du mir sicher, jauchzte es in Erwin, jetzt hab ich dich ganz und gar. »Was ist das? es klopft jemand«, murmelte Frau Geßner. Sie öffnete die Tür, – Ulrich Zimmermann stand da. Er grüßte, niemand antwortete. Es war schon dunkel geworden, und als die Tür aufging, fiel der Lichtschein vom beleuchteten Flur herein. »Draußen war offen«, sagte Ulrich entschuldigend. Ulrich Zimmermann hatte die letzten Tage in einer Besorgnis um Virginia verbracht, die in ihm durch ein kurzes Beisammensein mit dem Grafen Palester entstanden war. Palester hatte sich nicht klar geäußert, aber seine geheimnisvollen Andeutungen hatten in Ulrich den Vorsatz erweckt, Virginia aufzusuchen. Vielleicht nur um sie zu sehen. Er kam von der Piaristengasse, wo man ihm die neue Wohnung gesagt hatte. Er grüßte abermals schüchtern, auch jetzt antwortete niemand. Frau Geßner zündete mit hastigen Gebärden die Lampe an. Ulrich Zimmermann erblickte Erwin und erschrak. Er sah Virginia regungslos liegen und starrte hin wie auf eine Leiche. Alle schlimmen Befürchtungen schienen bestätigt. »Eine schlechte Zeit haben Sie da gewählt«, sagte Erwin und schaute Ulrich mit funkelnden Augen an. Ulrichs Mund verzerrte sich. »Was ist geschehen?« fragte er Frau Geßner. Diese schüttelte unfreundlich den Kopf. »Kommen Sie, ich werde Ihren Wissensdurst befriedigen«, sagte Erwin herrisch. Ulrich Zimmermann folgte zaudernd. Als sie auf die Straße traten, hatte Ulrich das Gefühl, an der Seite eines Feindes zu gehen, der ihn durch Freundschaftskünste so lange gefoppt, bis er allen Mut der Auflehnung zerstört hatte. Erwin ging wie gejagt, erst allmählich verlangsamte sich sein Schritt. »Was macht Mirowitsch?« fragte er plötzlich zerstreut und mit jener gnädigen Teilnahme, die auf Ulrich wirkte, als ob man ihm mit einer Stahlbürste über den Rücken streiche. »Er nähert sich der Katastrophe«, erwiderte er leise. Dann fuhr er fort und blickte Erwin finster in die Augen: »Und diese ganze Verantwortung nehmen Sie auf sich?« »Welche Verantwortung?« Ulrich machte mit Kopf und Schulter eine Bewegung gegen das Haus, das sie eben verlassen. Erwin maß ihn von oben bis unten. »Rivalität trübt das Urteil«, sagte er. Ulrich, der eine Beleidigung erst kapierte, wenn der Beleidiger sie vergessen hatte, sah bekümmert drein. Die Leute von starkem Phantasieleben haben eine eigentümliche Angst davor, aus Begebenheiten, unter denen sie leiden, die Folgerungen für ihr Verhalten zu ziehen. Ulrich war erdrückt von dem Bewußtsein, eine bemitleidenswerte Figur darzustellen gegenüber diesem Wachen, diesem Wirklichen. Er schwieg und konnte das Bild der regungslos hingekauerten Virginia nicht aus seinem Gedächtnis wischen. »Sie haben einen Trauerfall gehabt, höre ich«, begann Erwin wieder, der eben dieses Bild für eine Weile vergessen wollte. »Ja; mein Onkel ist gestorben.« »Ach! So schnell –« »Ja. Eines Tages wurde mir gemeldet, daß er nur noch kurze Zeit zu leben habe. Er wünschte mich zu sprechen. Er wohnte in einem kleinen Hotel in Baden. Ich fuhr hinaus. Er hatte sich aus der Stadt geflüchtet wie ein edles Raubtier, das den Tod fern von seiner Höhle sucht. Er wollte seine Freunde mit dem Anblick seines Sterbens verschonen. Seit anderthalb Jahren wußte er, daß er verloren sei; seit anderthalb Jahren ist er täglich kontemplativer geworden und dachte an nichts anderes als den Tod. Der Gedanke an den Tod mußte ihm furchtbar sein, denn er hatte gar keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Illusionen und entbehrte auch den Trost, der darin liegt, daß man einige Menschen hinterläßt, die mit gespannter Brust eine Schaufel Sand ins Grab werfen. Er gehörte einer Generation von arbeitsamen Skeptikern und sentimentalen Zynikern an, mit denen es jetzt zu Ende geht und die den schmarotzenden Skeptikern und den zynischen Strebern Platz machen. Er war ein vortrefflicher Mann und hatte Charakter, was heute ein bißchen veraltet ist.« »Nun, er hat Sie gewaltig kujoniert«, wandte Erwin ein. »Was Sie Charakter nennen, war die Verstocktheit der Lustspielväter; die wollen immer eine Heirat verhindern, die schließlich doch stattfindet.« »Nein, nein, er hing am Gelde, und er hing an Formen«, widersprach Ulrich Zimmermann. »Als ich ihn sah, drehte sich mir das Herz im Leibe um. Haben Sie je einen Hund gesehen, der weiß, daß er zum Schinder geführt wird? Diese sanften, nassen Augen voll Vorwurf und ohne Haß? Der Herr hat sich versteckt, und die Augen des Hundes suchen den Herrn. Solche Augen hatte der alte Mann. Als ich vor ihm stand, verlegen und dumm, wie man ist, wenn andere leiden, konnte er kaum mehr reden. Er hatte eine dick mit Banknoten gefüllte Brieftasche unter seinem Kopfkissen liegen, die er argwöhnisch bewachte. Endlich erfuhr ich sein Begehren. Er forderte, daß ich jede Beziehung zu Ihnen, Erwin, abbrechen sollte; wenn ich darein willigte, würde er mich zum Universalerben einsetzen.« »Und wozu haben Sie sich entschlossen?« fragte Erwin verwundert. »Sie sehen ja, wozu ich mich entschlossen habe. Man kann doch nicht einem Sterbenden gleichsam einen Lebendigen in den Sarg mitgeben. Ich will Ihnen sagen, Erwin, mein Gefühl war ja nie ungetrübt in Ihrer Nähe. Der Umgang mit Ihnen hat, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, die Lust zum Verrat in mir geweckt. Sie haben die furchtbare Eigenschaft, die Menschen in irgend einer Hinsicht zu Verrätern zu machen. Sie töten Instinkte wie der Märzwind Knospen. Aber das Allersonderbarste an Ihnen ist Ihre Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, unsichtbar gerade dann, wenn man will, daß Sie einstehen sollen für sich, daß Sie sich zeigen sollen. Dann sind Sie unsichtbar wie der Herr des Hundes, der zum Schinder muß. Sie sind oft so merkwürdig wesenlos: man sucht Sie und man findet Sie nicht. Oft wenn ich an Sie denke, ist es mir, als ob Sie keine Augen hätten, als ob Sie wie ein Tiefseefisch in der Finsternis schwämmen, mit prachtvollen Farben allerdings, purpurn, gelb und grün, aber wozu sind diese Farben, frag ich mich, wozu die Herrlichkeit für einen Augenlosen? wozu in der schwarzen Tiefsee-Finsternis? Nun gut; vielleicht um dieser schönen Farben willen hab ich meinem Onkel geantwortet, ich könne auf seine Bedingung nicht eingehen. Nicht aus Rücksicht oder Trotz oder Dankbarkeit oder aus Furcht mich zu verkaufen, sondern wegen der prachtvollen Farben. Sie werden das für eine märchenhafte Dummheit erklären; mag sein. Einige Tage später, als ich meinen Onkel besuchte, war eben der Notar weggegangen. Es fand sich auch ein junges Mädchen ein mit seiner Mutter; beide sahen wie Arbeiterinnen aus. Das Mädchen war die Tochter meines Onkels und kam aus einem Proletarierwinkel der Großstadt, um ihren Vater, den sie kaum kannte, sterben zu sehen. Ich wußte natürlich nichts von ihr, und sie stand da mit einer Nase, die nach Geld schnupperte. Sie hat zwanzigtausend Kronen geerbt, ich ebensoviel, den Rest, der etwa zehnmal so groß ist, hat das Sankt-Annenspital bekommen. Nachdem mein Onkel gestorben war, hat man über fünfhundert Goldstücke im Zimmer gefunden, die er in der letzten Todesangst um sich herum verstreut hatte.« Erwin ging eine Weile mit zur Erde gehefteten Blicken. Plötzlich schaute er empor und sagte gradeaus vor sich hin: »Es wäre gut, wenn Sie mich jetzt allein ließen. Es ist am besten, wir verabschieden uns hier. Ich habe zu Haus ein paar Manuskripte von Ihnen, die werde ich Ihnen schicken. Es ist am besten, wir trennen uns hier für immer. Gute Nacht.« Ulrich Zimmermann konnte sich kaum von der Stelle losreißen, wo diese Worte gefallen waren. Erwin eilte mit raschen Schritten in die Dunkelheit. Er suchte eine öffentliche Telephonstelle auf, ließ sich mit Villa Sansara verbinden und gab Wichtel verschiedene Aufträge. Bei einem Wagenstandplatz rief er einen Kutscher an und fuhr in die Geßnersche Wohnung zurück. Virginia war indes so liegen geblieben, wie sie lag, als Erwin und Ulrich das Zimmer verlassen hatten. Es verfloß eine Viertelstunde, und keine der beiden Frauen sprach ein Wort. Dann kniete Frau Geßner neben dem Sofa und schlang mit trocknem Weinen die Arme um den Hals des Mädchens. Doch Virginia rührte sich nicht; erst als die Zerknirschung der Mutter zudringlicher wurde, richtete sie sich empor und sagte kalt. »Laß nur das, Mutter. Es hat keinen Zweck mehr. Sag mir lieber, ob es wahr ist, daß mein Vater ein unbekannter Mann ist.« Frau Geßner stieß einen Schrei aus. »Das hat er dir gesagt?« stotterte sie und schlug die Hände klatschend zusammen. »Und der andere, der hat also geplaudert? Ich armes unglückliches Weib!« rief sie. »Mein armes, unglückliches Kind!« Die Flurglocke läutete schrill. Mit verweintem Gesicht, das Taschentuch vor den Mund gepreßt, ging Frau Geßner hinaus. Sie öffnete, und Erwin stand vor ihr. »Nachdem Sie so übel mit Virginia umgesprungen sind, kann sie nicht bei Ihnen im Hause bleiben«, sagte er schnell und mit unterdrückter Stimme. »Was für ein Satan ist in Sie gefahren?« »Ach Gott, ach Gott!« stöhnte die Frau. »Still jetzt!« befahl Erwin. »Ich werde Virginia zur Gräfin Hamlisch bringen. Widersetzen Sie sich nicht! Schweigen Sie. Alles hängt davon ab, daß Sie vernünftig sind. In drei bis vier Tagen erhalten Sie Nachricht.« Halb bittend, halb beschwörend starrte ihn Frau Geßner an. Erwin bekümmerte sich nicht weiter um sie, er trat ins Zimmer, ergriff Virginia bei der Hand und sagte leidenschaftlich drängend: »Ich wollte vorhin nicht den Druck der Stimmung ausnützen, unter der Sie standen, Virginia. Doch nun fürchte ich für Sie die Verzweiflung der kommenden Nacht. Ich halte Sie beim Wort. Alles ist bereit. Folgen Sie mir.« »Wohin?« fragte Virginia mit unbeweglicher Miene. »Zur Gräfin Hamlisch.« Gräfin Hamlisch war eine Schwester der Frau von Resowsky. Virginia kannte und ehrte diese Dame, und sie hätte nichts gegen Erwins Vorschlag einzuwenden gehabt –, denn ihr umdüstertes Herz verlangte vor allem darnach, von der Mutter fortzugehen, – wäre nicht ein Mißtrauen in ihr gewesen, das nicht als Gedanke oder Erwägung, sondern als Lähmung ihres Körpers, ihrer Glieder, ihrer Zunge in Erscheinung trat. »Es kann noch alles gut werden, Virginia«, fuhr Erwin fort, indem er seine Stirn zu der ihren niederbeugte; »Leben, Glück und Zukunft hängen davon ab, besinnen Sie sich nicht, jedes Zögern bedeutet Unheil.« Virginia atmete plötzlich auf. Verloren, aber nicht verworfen, dachte sie und spürte eine finstere Beruhigung. Mechanisch erhob sie sich. »Mantel! Hut! rasch!« rief Erwin der Mutter zu, die verstört auf der Schwelle stand. Frau Geßner gehorchte erschrocken. Virginia ließ sich apathisch die Jacke anziehen; apathisch befestigte sie den Hut in den Haaren, als ihr die Mutter die langen Nadeln gereicht hatte. Sie erfaßte nur dumpf, was geschah und was sie tat. »Erwin! Gina!« rief Frau Geßner jammernd. Erwin warf ihr einen wütenden Blick zu, und sie schwieg. Er führte sie zum Wagen. Beide nahmen Platz, die Räder begannen zu rollen. Erwin packte Virginias heiße Hände, sie zog sie beinahe entsetzt zurück, da ließ er sich auf die Knie gleiten, nahm ihren Rocksaum und drückte ihn an die Lippen. Sie starrte weh vor sich hin. Er erhob sich wieder und fragte, ob er rauchen dürfe. Sie antwortete nicht. Er unterließ es. Die Pferde rannten wie rabiat durch eine Menge von Straßen, endlich hielt das Gefährt vor einem kleinen Palais im dritten Bezirk. Erwin öffnete den Schlag. »Warten Sie einen Augenblick,« sagte er, »ich will die Gräfin benachrichtigen.« Er sprang hinaus und verschwand im Torgang. Virginias Kehle war wie zugeschnürt; in ihrer Brust war eine steinern schwere Gleichgültigkeit. Nach einigen Minuten erschien Erwin wieder, – er mochte beim Portier einen belanglosen Auftrag erteilt haben, – rief dem Kutscher etwas zu, und nachdem er eingestiegen war und der Wagen sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, sagte er hastig: »Es ist ein Mißverständnis geschehen. Die Gräfin ist zu mir hinausgefahren. Sie erwartet uns in meinem Haus. Ich habe ihr vor einer Stunde einen Brief mit einem Boten geschickt. Was ich geschrieben hatte, mag allerdings verworren und ungereimt gewesen sein, ich war meiner Sinne kaum mächtig.« Virginia stutzte. Verrätst du mich abermals? fragte ihr Blick, der nicht auf ihn gerichtet war, und sie empfand eine schmerzliche, trotzige Neugier. Ich will sehen, ob du mich abermals verrätst, sagten gleichsam die Augenlider bei ihrem Niedersinken. Erwin aber sprach und sprach und suchte das, was er ein Mißverständnis nannte, zu ergründen. Doch redete er nur, damit Virginia die Länge der Fahrt nicht spüre, und seine Stimme klang schließlich heiser und angestrengt. Weshalb sollte die Gräfin zu ihm fahren? dachte Virginia, und um ihren Mund zuckte es beständig. Weshalb? was will er damit? Es waren aber diese Gedanken sowie seine Worte nur Täuschungen. Sie täuschten sich selbst und einander. Hinter ihren Gedanken lag ratloser Kummer, hinter seinen Reden ungezügelte Freude, verbrecherische Ungeduld. Sie waren am Ziel. Wichtel mußte belehrt worden sein, denn er zeigte sich nicht. Sie schritten durch die Halle. »Ich bitte, hier herauf«, sagte Erwin höflich. Virginia zauderte vor der zweimal geeckten Holztreppe. »Ich bitte, hier herauf,« wiederholte Erwin scharf, »die Gräfin muß oben sein; wir haben nämlich ein Malheur in den untern Räumen gehabt. Kurzschluß. Das Licht versagt.« Es klang plausibel. »Wichtel!« rief er nun. Niemand antwortete. Er verrät mich, dachte Virginia, aber sie stieg die Treppe hinan, gequält und benommen von jener trotzigen Neugier. Sie stand in einem wunderbaren, dunkelblauen Zimmer; müde, zerschlagen, in sich gekehrt, ja fast verträumt und ohne eigentlich zu leiden. Erwin sprach zu ihr. Nun klang seine Stimme wie aufgedeckt. Sie begriff. Sie schaute sich um und drückte ihre Hände ineinander. Er hat mich abermals verraten, sagte sie zu sich selbst. Aber noch immer ward sie sich des Vorgangs nicht völlig bewußt. Sie dünkte sich das Opfer eines häßlichen Zwischenfalls, einer dummen Lüge, eines unwürdigen Scherzes und fragte sich, wohin das führen solle. Erwin betrachtete sie eine Weile schweigend, auf einmal erhob er sich und ging hinaus. Zunächst war Virginia froh, daß sie allein war. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Welche tiefe Stille! Eine schier trinkbare Stille! Was ist das für ein Zimmer? fragte sie sich; ich kenne es nicht, es ist hergerichtet wie für eine Frau. Ich soll ihn lieben, dachte sie unvermittelt; warum nicht? warum sollt’ ich ihn nicht lieben? Ist es denn ein Kunststück zu lieben? Er wird mich heiraten, und ich werde ihn lieben. Und der andere? Manfred? Er ist so weit, so unermeßlich weit. Aber warum sollt ich nicht auch ihn lieben? warum sollt ich nicht beide lieben? beendigte sie ihre Gedanken in vollständiger Verdüsterung des Geistes. Sie wanderte auf und ab, auf und ab. Aus welchem Grund läßt er mich so lange allein? grübelte sie befremdet und bekam nun Angst vor der Stille. Ihr Blick fiel auf eine kleine Tür. Sie öffnete und schaute in ein rosig beleuchtetes Badezimmer. Kopfschüttelnd schloß sie wieder, wandte sich weg und trat zu einem Fenster. Die Nacht war schwarz. Regentropfen spritzten ans Glas. Sie nahm den Hut herunter und fing von neuem an, auf und ab zu wandern. Um Gottes willen, was tu ich! fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn; hier kann ich nicht bleiben, es ist spät, ich muß fort. Sie schlüpfte in die Jacke, setzte den Hut wieder auf und eilte zur Tür. Sie drückte die Klinke nieder. Ein eisiges Entsetzen überfiel sie. Die Türe war versperrt. Sie drehte den Kopf hin und her. Ihre Augen waren aufgerissen. Noch einmal und noch einmal drückte sie die Klinke. Umsonst. Die Tür war versperrt. Sie war gefangen. Weinend schlug sie die Hände vors Gesicht und lehnte sich mit der Stirne kraftlos gegen den Pfosten. Die Miniaturen In wachsender Sorge um das Schicksal Virginias wußte sich Ulrich Zimmermann keinen andern Rat, als den Grafen Palester aufzusuchen. Noch vor acht Uhr war er in Hietzing und läutete an der steinernen Ummauerung des morschen Tores, das zur Wohnung Palesters führte. Eine hinkende Pförtnerin führte ihn über regennasse Wege zu einem uralten und keineswegs freundlich aussehenden Haus, das von einer Laterne beleuchtet wurde, welche über der gegenüberliegenden Gärtnerwohnung aufgehängt war. Der Garten gehörte zu einem ausgedehnten Besitz, und diese Gebäude hatten ehemals Jägern und Heiducken zum Aufenthalt gedient. Die vergitterten Fenster des Hauses waren alle dunkel. Die Pförtnerin war gegangen. Ulrich fand keine Glocke und pochte daher ans Tor. Es blieb alles still, und er pochte mit dem Knauf seines Schirmes, daß es drinnen laut hallte wie in einem Kellergewölbe. Endlich kreischte oben ein Laden, und der Kopf einer Frau beugte sich über das Sims. Eine ruhige, helle Stimme fragte mit fremdländischer Betonung nach dem Begehr. Ulrich nannte seinen Namen und fügte hinzu, er müsse in einer wichtigen Angelegenheit mit dem Grafen sprechen. Nach einer Weile rasselte unten das Schloß, und Graf Palester erschien mit einer Kerze. Er geleitete den abendlichen Gast über eine Steintreppe hinauf in ein großes Zimmer, das die Trostlosigkeit einer Wachtstube hatte. Den Boden bedeckte kein Teppich; als einziger Schmuck der Wände prangte die Photographie eines Schiffes; ein Tisch, drei Holzstühle, ein Messingbett und eine grüne alte Truhe waren das ganze Mobiliar. Niemand hätte in dieser eleganten Villenvorstadt, umfriedet durch die Mauern einer weiland hochadeligen Domäne, eine solche Wohnstätte der Armut gesucht. Es hatte dem Grafen Mühe gekostet, mitten unter den Unanfechtbaren des Lebens Zuflucht zu finden und hinter ihrem Glanz seine Not zu verstecken. Ulrich Zimmermann berichtete, daß er heute Virginia Geßner aufgesucht und daß er den Eindruck empfangen habe, als ob sich dort verhängnisvolle Dinge abspielten. Er schilderte, wie er Virginia gesehen, wie unwillkommen Erwin seine Dazwischenkunft gewesen sei und daß er den Gedanken nicht abweisen könne, als müsse man helfend eingreifen. Palester hörte aufmerksam zu. Er stützte das schmale, blasse Gesicht in die Hand. »Es ist gut, daß Sie mir das alles sagen«, erwiderte er. »Ich werde heute abend noch zu Erwin Reiner gehen. Nicht leicht wird mir der Schritt, denn wie soll man über derartiges sprechen, aber es muß sein. Übrigens muß Manfred Dalcroze jeden Tag zurückkommen. Ich erwarte ihn.« »Wirklich? Ist denn die Expedition schon zu Ende?« fragte Ulrich, nicht fähig, Freude darüber zu bezeigen. »Nein, aber ich habe ihm geschrieben.« »Sie haben ihm geschrieben? Wann denn?« »Vor neun oder zehn Wochen.« »Sie hatten also schon damals den Eindruck –?« Palester nickte. »Wenn ihn mein Brief ordnungsgemäß erreicht hat und er die raschesten Verbindungen hat benutzen können, muß er noch in dieser Woche kommen.« »Aber wie konnten Sie denn mit solcher Bestimmtheit –?« »Das ist eine Sache für sich«, antwortete Palester. Er zog den Mantel an, nahm Hut und Schirm und sagte: »also gehen wir, wenn ich bitten darf.« Nicht so hatte Palester an Manfred geschrieben, wie er einst gewollt, als er den reinen Strom der Sympathie verspürt, der von dem Jüngling ausging, nicht mitteilend, breit und frei, sondern kurz und gebietend, so geschrieben, daß es für Manfred keinen andern Gedanken mehr geben durfte, als mit dem nächsten Schiff nach Europa zu fahren. Eine Nachricht von militärischer Knappheit, unbeirrt von konventionellen Rücksichten, und derart beschaffen, daß sie in dem Fernweilenden, um dessen sichere Adresse er den Professor Dalcroze in Berlin gebeten hatte, den erwünschten Aufruhr der Tatkraft entzünden mußte. Graf Palester hätte sich wohl gehütet, einen Mann wie Erwin bei einem Spiel zu stören, das am Ende nur diesen allein anging; er dachte nicht an den Verlust jenes Kunstschatzes, der ihm ungeachtet seiner mißlichen Umstände etwas wie idealgefühlten Reichtum verlieh, und dessen er sich nicht entäußern wollte, weil er der Welt und dem Geschick zu trotzen entschlossen war, ekstatisch wie ein Mönch und in Sehnsucht nach Selbstvernichtung wie ein Fakir. Nicht darum hatte er Manfred gerufen, sondern aus einer großen, seltsamen, fast übersinnlichen Verehrung für Virginia. Und eines Tages, von der Versunkenheit der suchenden Träume in die Wirklichkeit zurückkehrend, war es ihm für gewiß erschienen, daß Virginia nicht mehr standhalten konnte. Sie zeigte sich ihm wie ein astraler Leib, und aus ihren Augen war das entwichen, was er als die reine Musik des Herzens empfand. Die Seele war gleichsam aufgebrochen und war emporgestiegen in das Antlitz, wo sie klagte ähnlich der Nymphe, der man ihr Geisterkleid entwendet hat. Und Graf Palester hatte ein grenzenloses Vertrauen in Virginia gesetzt. Er war einer jener Menschen, die sich in der Verborgenheit ein Pantheon errichten, worin, gefeit gegen den Haß und Pesthauch der Millionen, einige vergötterte Gestalten weilen. An diesen hing er mit der Liebe, die die Einsamkeit in ihm erzeugte. Mit ihnen wandelte er ungesehen durch ihr Dasein, und sie hielten ihn aufrecht in der tragischen Verwüstung, die sein Stolz, seine Ehrenhaftigkeit, seine Schweigsamkeit und die Lust an der Philosophie in seinem Leben hervorgebracht hatten. Er mied die persönliche Berührung mit ihnen, er zog sich von ihnen zurück, sobald sie von seinem Herzen Besitz ergriffen, aber er verkehrte mit ihnen, wie man mit höchst teuren Toten verkehrt oder doch mit solchen Menschen, die in einer unerreichbaren Ferne sind. Graf Palester lebte nicht sein Leben, er träumte es, und keine äußere Hervorbringung erzog ihn zur Gegenständlichkeit. Ihm mangelte die Gegenwartskraft so, daß er sich oft wie der Schatten seines Schattens vorkam. Es war ihm wunderbar bewußt, was sich bis ins sechste Glied zurück mit seinen Ahnen begeben hatte, das ganze Geschlecht, weit in die Höhle der Jahrhunderte hinein, war ihm wie eigendurchlebtes Kindheits- und Mannesalter, jedoch seiner selbst wurde er kaum gewahr, und hätte er religiöse Neigungen besessen, so wäre er vielleicht ein Heiliger geworden wie Franz von Assisi. Der Sturm moderner Existenz, der alles zerschmettert, was nicht mittreibt, verurteilte ihn zu anonymem Elend. Vor zwei Jahren hatte er, noch als Offizier der Marine, in einer Kunstausstellung in Venedig das Porträt einer Frau gesehen, das ihn fesselte wie nie ein Frauengesicht zuvor, nicht sowohl durch Schönheit, sondern durch innerlichen Ausdruck. Er stand täglich vor dem Bild und wurde nicht müde, es zu betrachten. Ohne daß es ihm jemals einfiel, sich zu erkundigen, wer das Modell sei, nahm er das Bildnis immer tiefer in das Leben seiner Seele auf und geriet in einen sonderbar stummen Verkehr mit einem Wesen, das, körperlicher als ein Traum, dennoch vollkommen unwirklich für ihn war. Drei Monate später wandelte er eines Abends durch eine Straße in Livorno, als durch das geöffnete Fenster eines Hauses Gesang an seine Ohren schallte. Erbebend blieb er stehen und lauschte. Es war eine weibliche Stimme, für deren Wohlklang und schmelzende Trauer er kein anderes Gleichnis fand als den Ausdruck auf jenem Gemälde. Es geschah nun etwas durchaus Ungewöhnliches. Er schritt in das Haus. Er stieg die Treppe hinan, ging durch einen Flur, öffnete eine Türe und, Krönung all des Seltsamen! stand vor dem lebendig gewordenen Bild, allein mit der Sängerin in einem hohen, von Kerzen beleuchteten Zimmer. Der Hinweis auf das Gemälde rechtfertigte sein Tun bei ihr und ließ seine Person um desto wunderlicher erscheinen. Ihr Vertrauen zu ihm wurzelte im ersten Blick, ihr erstes Gefühl war Liebe. Sie war eine unglückliche Frau; aus armer Familie stammend, hatte sie die ihren vor dem Schrecklichsten gerettet, indem sie einem der verrufensten Wucherer des Landes, der um sie warb, die Hand reichte. Sie lebte mit ihrem Gatten in einer Ehe, die keine Ehe war. Es begann nun für Palester und Lenore eine Zeit der Leidenschaft und der Kämpfe. Sie flohen zusammen, mehr um den Gemeinheiten und bösen Anstiftungen des Gatten zu entgehen als um ihrer Liebe willen, die auf Welt- und Menschenflucht ohnehin gestellt war. Sie wurden verfolgt, sie waren gefährdet, die Gewalt verband sich gegen sie mit Richter und Gesetz, verhaßter Lärm von Stimmen für und wider umdrängte sie, da starb plötzlich Lenorens Mann, und sie war frei; und reich. Aber sie hätte den Geliebten verloren, wenn sie nicht völlig auf ein Vermögen verzichtet hätte, das von der verächtlichen Herkunft war. Palester nahm den Abschied, und als er mit Lenore das verkommene Haus in Hietzing mietete, in welchem nach Ansicht vieler Nachbarn Gespenster umgingen, verblieben ihm nur etliche Tausend Kronen und seine Pension als Offizier. Die beiden Menschen waren so unfähig wie ungewillt zu bürgerlichem Erwerb, und ihr Leben in der bürgerlichen Gesellschaft hatte etwas Elfenhaftes; es trug den Stempel der Tugend und des verschuldeten Untergangs. Ulrich Zimmermann begleitete den Grafen bis zur Stadtbahnstation. Eine Stunde später befand sich Palester am Tor der Villa Sansara. Wichtel sagte, sein Herr sei nicht zu Hause. Graf Palester erklärte, warten zu wollen. Der Herr komme überhaupt nicht nach Hause, versicherte Wichtel mit scheuem Blick nach der Treppe und den Türen. Plötzlich erschien Erwin, wollte sich gegen die Treppe wenden und stutzte, als er den Grafen sah. Erst zog ein Schatten des Ärgers über seine Stirn, dann lächelte er düster. »Wie geht es Ihnen, Graf?« fragte er. »Bitte, treten Sie nur ein. Sie dürfen nicht ungehalten sein,« fuhr er fort, als ihm Palester in die Bibliothek gefolgt war, »der Auftrag, den Wichtel hat, betrifft nicht die Person, sondern die Welt. Ich habe mich zurückgezogen von der Welt. Ich bin Einsiedler geworden.« »Aber ein etwas rastloser Einsiedler, wie mir scheint«, bemerkte Graf Ottokar; »in Ihren Augen ist nichts von Sammlung und Andacht.« Erwin setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hand. »Andacht und Sammlung!« wiederholte er höhnisch. »Für mich Andacht und Sammlung!« Seine Zähne klappten aufeinander, und in seinem Gesicht war, wie zur Bekräftigung des Hohns, ein verwilderter Zug. Graf Palester wurde von seltsamer Unruhe ergriffen; er kannte dieses Gefühl vom Meere her. Vor großen Stürmen und Gewittern hatte er stets eine ähnliche Unruhe verspürt. Es fiel ihm auf, daß Erwins Haare in Verwirrung über der umdüsterten Stirn lagen. Er hatte diese Haare nie anders gesehen als in sorgfältiger Scheitelung, glatt und geordnet. Dieser Umstand vermehrte seine Unruhe noch. Er fühlte sich bedrückt und war zunächst unfähig zu sprechen. Erwin kehrte sich ab, und seine Blicke irrten wie feindselig über die Zeilen einer Handschrift auf dem Tisch vor ihm. »Haben Sie gearbeitet?« fragte Palester leise, nur um das peinigende Schweigen zu unterbrechen. Erwin nickte. Er blätterte in der Handschrift und sagte: »Haben Sie je die Erfahrung gemacht, daß das eigene Werk einen anstiert wie eine Gorgo? Manchmal graut mir vor diesen Worten da, die ich selbst geschrieben habe.« »Darf ich wissen, was es für ein Werk ist?« »Es ist eine Abhandlung. Der Begriff der Konstante und die moralische Idee heißt der Titel.« »Das klingt vielversprechend.« »Es führt weit, Graf, es führt mich ins Bodenlose. Ich wollte eine einfache Feststellung von Kategorien geben und sehe mich im Bodenlosen und Grenzenlosen. Hier ist eine Art Essenz,« fuhr Erwin fort, indem er zu blättern aufhörte, »darf ich Ihnen vorlesen?« »Ich bitte darum.« »Als der menschliche Geist seine Beziehung zur Welt zum ersten Male in den Ausdruck faßte, daß alles in ewiger Bewegung sei, hatte er zugleich sich selbst als das einzig Konstante, das einzig Seiende, dieser Welt gegenübergestellt. Er hatte sich auf das Ufer des Weltflußbettes geschwungen, ja sogar den archimedischen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt bewegen konnte, weil er selber stand. Um so stärker mußte seine Sehnsucht erwachsen, die Synthese, die im Geist gegeben ist, auch an der Welt zu vollziehen, das heißt, die Welt seinem Ebenbild gemäß nachzuschaffen. Darum ist er endlos bemüht, das Werdende durch das Gesetz in die Formel des Seins zu bannen: er treibt Mathematik, das heißt Wissenschaft. Darum verwandelt er die Dinge in Wesen, nimmt sie aus dem Raum, gibt ihnen den Körper, schafft die Gestalt: das heißt, er wird zum Künstler. Darum nimmt er sie aus der Zeit, verleiht ihnen Seele und schafft die Persönlichkeit: das heißt, er ist moralisch oder religiös. Können Sie folgen, Graf?« »Vollkommen.« »Gesetz, Gestalt und Persönlichkeit sind die Dreieinigkeit der Konstanz, in deren Zeichen der Geist die Welt formt. Die Welt hinwiederum ist der Stoff, in dem das Gesetz sich erkennt, die Gestalt sich verkörpert, die Persönlichkeit sich wiederfindet. Daher erscheint jedes System, jedes Kunstwerk und jede Persönlichkeit als eine Welt für sich; daher«, und Erwin las dies mit erhobener Stimme, »muß das Gesetzlose das schlechthin Unsinnige, das Gestaltlose das schlechthin Chaotische und das Unpersönliche das schlechthin Unmoralische sein. Denn alles dies ist nur der dreifach verschiedene Ausdruck derselben Verneinung: des Inkonstanten, des Undings an sich.« Graf Palester schaute Erwin mit tiefen, fühlenden Blicken an. Wie furchtbar, dachte er schaudernd, wie furchtbar diese Selbstverdammung sich anhört! Wie kann er leben, nachdem er solches ergründet? »Sie geben damit eine unvergleichliche Charakteristik eines dreifachen Fluches, der auf uns lastet und auf der Zeit«, sagte Palester; »des Anarchisten im Geiste, des Proteus am Leibe und des Verantwortungslosen in der Seele. Dessen, der sich befreit und dem Freiheit zum Verbrechen dient, dessen, der sich verwandelt und durch Verwandlung Gott und Menschheit täuscht, dessen, der keine Schuld auf sich nimmt, weil er nie zu finden ist.« »Ei!« rief Erwin betroffen, »das heißt man die königliche Idee in die Knechtschaft der Erfahrung pressen. Die Exempel vergiften mir den Text, die Nutzanwendung bricht mir die Flügel und ich stürze!« Er lachte kurz und schüttelte den Kopf. Palester stand auf. »Erwin!« sagte er leise, »fliehen Sie nicht vor mir! Fliehen Sie nicht auf diesen Flügeln, die doch nicht weit tragen. Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu philosophieren. Ich bin nicht einmal gekommen, um Sie zu warnen oder zu beschwören. Ich fordere Sie auf, innezuhalten. Ich appelliere an Sie im Namen der Ehre, der Freundschaft, der Menschlichkeit.« Erwin stand gleichfalls auf. Er verschränkte die Arme über der Brust. »Graf«, antwortete er eisig, »ich bitte Sie, mich mit Sonntagspredigten zu verschonen.« »Denken Sie doch daran, daß es außer Ihren Lüsten noch Glück für andre Menschen gibt«, fuhr Palester ruhig fort. »Sie achten es nicht, ich weiß es, Sie achten nicht das Glück der andern, aber ebensowenig wie Sie einen wehrlosen Greis hinmorden oder einen Bettler um seine Ersparnisse bestehlen würden – –« »Graf!« rief Erwin finster und ungeduldig, »ich habe nicht Zeit zu beichten, ich habe nicht Lust, den Glauben zu wechseln. Ich lehne es ab, mich zu rechtfertigen, ich erlaube niemandem, wer es auch sei, in meine Brust zu greifen und, was an Tat und Wunsch darinnen ist, mit Philisterweisheit zu besudeln.« »Philister!« entgegnete Palester traurig; »was sagen Sie damit? Wie schlimm ist es um uns bestellt, wenn wir den Menschen, der sich höherem Gesetz beugt, mit einem Fußtritt beiseite stoßen, der nicht ihn, sondern uns selbst der Verachtung preisgibt.« Erwin wandte sich ab. »Ich habe heute schon einen Freund begraben,« sagte er mit krampfhaft zusammengezogenen Brauen, »es kommt mir auf eine zweite Beerdigung nicht an.« »Ich weiß es«, versetzte Graf Palester sanft. »Sie können alles wagen. Sie haben die Freiheit und die Möglichkeit der Verwandlung.« »Doch vorher,« sagte Erwin, ohne Palester anzuschauen, »vorher haben wir noch eine kleine Wette auszugleichen, Graf.« Graf Palester erbleichte. »Ah, eine Wette,« murmelte er. »Ich entsinne mich. Es war ein sonderbares Gespräch zwischen uns, ein Gespräch, das mir Übelkeit verursachte wie ein verfaulter Fisch.« »Es war eine Laune, Graf. Eine Laune, die von Folgen begleitet war, als ob man im Rausch einen Diamanten gefunden hätte ... auf einem Wirtshaustisch.« Immer qualvoller schien es dem Grafen, so zu stehen und in das Gesicht Erwins blicken zu müssen, und er hatte die Empfindung, als ob dieses Gesicht beständig wechselte, beständig seinen Ausdruck veränderte, bald nah, bald fern wäre, bald stolz, bald sklavisch, bald leidenschaftlich, bald wie gefroren, bald schön und edel, bald verzerrt und häßlich, bald verständig, ja erhaben durch Vernunft, bald tierhaft trüb und niedrig aussah. Ach, dachte er, erfüllt von einem Schmerz, der ihm selbst unbegreiflich dünkte, ihm ist die Liebe unbekannt, alle Genien sind an seiner Wiege gestanden und haben ihn mit allen Gaben der Erde gesegnet, doch ein dämonischer Dieb ist herangeschlichen und hat ihm die Liebe entwendet. »Sie ahnen nicht, wie glücklich es mich macht, in den Besitz dieser göttlichen Kunstwerke zu gelangen«, fuhr Erwin, plötzlich liebenswürdig, fort. »Ich habe davon geträumt, sie waren mein Eigentum, bevor ich sie erworben hatte.« »Und haben Sie sie denn erworben?« fragte Palester mit kaum vernehmbarer Stimme und fügte mit mühsamem Spott hinzu: »Nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich daran zweifle.« »Dieser Zweifel kann durch den Augenschein behoben werden«, entgegnete Erwin lächelnd. Palester trat einen Schritt zurück. Er starrte Erwin mit aufgerissenen Augen an und blinzelte dann mit den Lidern, die sich langsam röteten. »Ich finde es selbstverständlich, daß ich Ihnen Beweise liefern muß«, sagte Erwin mit undurchdringlicher Freundlichkeit im Ton. »Haben Sie die Güte, mir zu folgen, Graf.« Und Graf Palester folgte ihm wie behext. Er folgte ihm aus dem Zimmer und die flache Treppe des ungenügend beleuchteten Vorsaals hinan und durch einen langen Gang, an dessen Wänden alte, braune Ölgemälde in schwarzen Rahmen hingen. Erwin blieb vor einer Tür stehen. Bevor er aber nach der Klinke gegriffen hatte, war Palester dicht an seine Seite getreten, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, indem er seinen Blick fest in den Erwins bohrte: »Lassen Sie das nur. Ich wünsche den Augenschein nicht; ich weiß nicht, ob ich ihn mit Ruhe ertragen könnte. Ich glaube Ihnen. Leben Sie wohl.« Er kehrte sich um, ging mit raschen Schritten über den Flur gegen die Treppe zurück und verließ im strömenden Regen das Haus. Es war elf Uhr vorüber, als er wieder in seinem kahlen, kalten Zimmer angelangt war. Er zündete eine Kerze an, ging in das Zimmer seiner Gefährtin und vergewisserte sich, daß sie schlief. Sodann bereitete er auf einem Spirituskocher Tee, und nachdem er zwei Schalen getrunken und schwarzes Brot dazu verzehrt hatte, blieb er in regungslosem Nachdenken lange Zeit sitzen. Es hatte Mitternacht geschlagen, als er sich erhob, die grüne Truhe aufsperrte und die kostbar eingebundenen Miniaturen herausnahm. Er betrachtete einzelne Bilder, deren schöne und mineralische Farben nichts von Alter und Verstaubtheit hatten, lange, mit abschiednehmenden Blicken. Dann trug er den Folianten in die Küche hinaus, ergriff eine eiserne Pfanne, stellte sie auf den Herd, machte ein kleines Spanfeuer in dem Gefäß, und als die Flammen lichterloh emporschlugen, übergab er ihnen das Buch mit den Miniaturen. Ruhig schaute er zu, wie das herrliche Werk verbrannte. Ein Knacken der Dielen ließ ihn emporsehen. Lenore stand auf der Schwelle. Sie war im Nachtgewand und bloßfüßig, und ihr Gesicht, dem seinen sonderbar ähnlich, schimmerte bleich unter den roten Haaren. Sie fragte nicht, sie näherte sich ihm schweigend und, an seine Brust gelehnt, schaute auch sie der kleinen Feuersbrunst zu. Als die Flammen verloschen waren, lag das Miniaturenwerk noch da wie ein Schatten seiner selbst, grau und rauchend, der Deckel mit aufgerolltem Rand. Am andern Morgen schickte der Graf Palester diesen Aschenüberrest, den er mit Sorgfalt in ein Holzkistchen gelegt hatte, durch einen Boten an Erwin Reiner. Als Erwin der jammervollen Zerstörung ansichtig wurde, den noch keineswegs zerbröckelten Band ungläubig betastete, war er gleichwohl nicht mehr in der Verfassung, diesen Verlust so zu empfinden, wie er noch zwölf Stunden vorher ihn empfunden hätte. Drei Nächte Nachdem Palester gegangen war, stieg Erwin in den ersten Stock, sperrte die Türe auf und trat in das Zimmer, in welchem sich Virginia befand. Er schloß die Türe wieder und blieb stehen. Virginia saß auf dem Bettrand. Sie erhob sich, hob auch den Kopf und fixierte Erwin mit einem durchdringenden Blick. Sie hatte sich gesammelt und mit aller Kraft zur Ruhe bezwungen. Es war dies ein Beweis von außerordentlichen Fähigkeiten der Seele; jede andre wäre in einer solchen Lage fassungslos zusammengebrochen. Denn sie mußte sich ja sagen, daß sie selber Schuld trage, daß sie sich ihm ausgeliefert, indem sie seinen treulosen Versicherungen geglaubt. Geglaubt? Nein, dies vielleicht nicht. In die Schwäche und in die Dumpfheit hineingehetzt, hatte sie sich verführen lassen, den erstbesten Weg einzuschlagen, den der Lügner gepriesen. Jetzt aber hatte sie Klarheit; Klarheit genug für ein ganzes Leben. Die Frage, ob er sie verachte oder nicht verachte, belästigte sie nicht mehr; diese Frage erschien ihr kindisch und ihrer unwürdig; sie erkannte, daß er schurkenhaft an ihr handelte. Und ihr Blick verkündete ihm das. Sie begriff, was auf dem Spiele stand und daß sie nichts erreichen würde, wenn sie ihren Schmerz, ihre Empörung, ihre Verzweiflung an den Tag legte. »Weshalb haben Sie mich eingesperrt?« fragte sie. »Das bedarf keiner Erklärung«, antwortete er durch die geschlossenen Zähne. »Du weißt selber den Grund.« »Ich werde keine Silbe mehr sprechen, wenn Sie nicht einen anständigen Ton annehmen. Ich verbiete Ihnen, mich zu duzen«, rief Virginia mit flammenden Augen und ballte die linke Hand fest zur Faust. »Ah! Herzig! Ein Zornesausbruch? Herzig! Nun, es sei. Wenn Sie Wert darauf legen ...« Er zuckte die Achseln. In seiner Impertinenz war etwas Krampfhaftes. Sein eckenreicher Mund, den die Beredtsamkeit in allen Worten und Lauten der menschlichen Sprache zerzackt und beweglich gemacht, zeigte in seiner Struktur eine wüste Linie. Seine Haltung verriet Entschlossenheit bis zum Äußersten. »Was wollen Sie mit mir beginnen?« fragte Virginia abermals. »Ich will Sie haben, Virginia! Haben! Haben! Ganz für mich allein! Ich will! Sie wissen, scheint mir, nicht, was das bedeutet: ich will!« »Ich weiß es nur zu gut«, versetzte Virginia schaudernd. »Aber Sie vergessen, daß ich auch einen Willen habe. Und wenn Sie vor nichts zurückschrecken, so werd ich mir daran ein Beispiel nehmen.« »Das haben Sie hübsch gesagt, wunderbare Virginia. Es ist wahr, ich schrecke vor nichts mehr zurück; es ist wahr. Zu lange haben Sie mich gemartert.« »Sie wollten mich also von Anfang an zugrunde richten. Deswegen haben Sie mich unter die Menschen gelockt, um ihnen zu zeigen, wie leicht es ist, mich gemein zu machen. O Gott!« Und sie rang die Hände. Sie hatte nur ein einziges Gefühl, ein glühendes: Reue. »Was haben Sie sich vorgestellt?« fragte Erwin sarkastisch. »Waren Sie der Meinung, daß ich immer nur girren und Süßholz raspeln würde?« »Und alles Lüge, alles Betrug«, stammelte Virginia und blickte ihm gepeinigt ins Gesicht. »Das ist der Krieg«, entgegnete er kalt. »Ich hatte übrigens die Absicht, Sie zu heiraten –« »Schweigen Sie davon! Man heiratet mich nicht, wie man eine Ware kauft. Ich schäme mich ja, daß ich nur einen Augenblick daran gedacht habe. So viel Ehre hab ich Ihnen nun zugetraut, sehen Sie, so viel Achtung gegen mich, daß ich mir gedacht habe, ich könnte auf die Weise die Schande auslöschen. Aber jetzt ist ja alles verloren, alles, alles.« Sie preßte, am ganzen Körper zitternd, die Hände vors Gesicht. »Ich hatte die Absicht, Sie zu heiraten, und habe sie noch«, fuhr Erwin trocken fort. »Aber das braucht Zeit, und ich kann Ihnen nicht auseinandersetzen, warum es sogar viel Zeit braucht. Inzwischen will ich Sie nicht entbehren, Virginia, denn ich kann Sie nicht mehr entbehren. Ich würde verbrennen. Das Leben ist zu kurz und zu wertvoll, um so lange, wie ich es getan, nach einem Weib zu schmachten.« Schnellatmend wie ein Läufer, mit erbarmenswürdig fahlem Gesicht schritt Virginia zur Tür. Als sie an Erwin vorüber wollte, packte er sie schweigend am Arm. »Lassen Sie mich,« keuchte sie, »ich will gehen.« »Du mußt bleiben«, sagte er leise und drohend; »du mußt! Weil ich will, mußt du. Hier wird sich dein Schicksal vollziehen. Und wenn ich zum Verbrecher werden soll, du mußt.« »Dann nehmen Sie lieber einen Revolver und schießen Sie mich nieder«, erwiderte Virginia, die sich der Tränen nicht mehr erwehren konnte, weinend. »Wozu? Damit ich zeitlebens ein hungriger Mann bleibe? nachdem du mich wahnsinnig und mir selbst verächtlich gemacht hast? Nein, Virginia, so wäre mir nicht gedient. Ich habe gelogen, sagst du? Aber du warst falsch, kokett und berechnend, du hast mir das Blut erhitzt und entzündet, bist undankbar und herzlos, und ich lasse dich nicht, ich lasse dich nicht.« Virginia blickte mit irren Augen umher. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie die Mauer durchbrechen, um aus seinem Bereich zu kommen. »Manfred! Manfred!« rief sie plötzlich. Erwin lachte. Ungeachtet dessen war ihm jämmerlich zumute, und Virginia spürte es. Voll Kummer schaute sie ihn an, und ein Strahl zaghafter Heiterkeit erschien in ihren Lippenwinkeln wie eine letzte Hoffnung, daß dies alles vielleicht doch nicht so ernst, so furchtbar sein könne, wie sie es sah. Jedoch Erwin raubte ihr diese Hoffnung. »Ich gebe Ihnen noch Frist, Virginia«, sagte er mit dunkler Stimme. »Ich warte. Ich habe Zeit. Ich lasse Sie allein. Seien Sie vernünftig. Überlegen Sie. Es gibt keinen Mann auf der Welt, der Sie mehr liebt als ich; kein Gefühl, seit die Erde steht, stärker als das meine. Eine große Gewalt ist in Ihre Hand gegeben. Mein Los ist Verdammnis, wenn Sie auf Ihrem Sinn beharren. Ich werde nicht allein in die Verdammnis stürzen, ich werde Sie mit mir hinunterreißen. Hinunter zu den Teufeln, wenn Sie mir den Himmel verschließen. Sie treten meinen Stolz mit Füßen, Sie zermalmen mir die Brust, Sie stehlen mir den Glauben an mich und meinen Stern. Gut und Böse ist in Ihrer Macht. Wählen Sie. Überlegen Sie, Virginia, ob das, was Sie so glühend verteidigen, das aufwiegt, was Sie vielleicht meine Entmenschung nennen. Mit Grund, mit gutem Grund. Bewahren Sie mich vor dem Verbrechen. Überlegen Sie. Fragen Sie Ihr Herz um Rat. Ich lasse Sie allein. Ruhen Sie. Morgen, wenn der Tag um ist, werde ich mein Urteil holen.« Da Virginia weder mit Laut noch Blick antwortete, fügte er trocken hinzu: »Es hätte natürlich gar keinen Zweck, wenn Sie in irgendeiner Weise Lärm schlagen würden. Das Zimmer ist das entlegenste des Hauses, und niemand würde Sie hören. Meine Leute habe ich fortgeschickt. Außerdem wäre es nur verhängnisvoll für Sie, selbst wenn man Ihnen zu Hilfe käme. Freiwillig haben Sie mein Haus betreten, das können Sie nicht leugnen. Daß ich gezwungen bin, den Kerkermeister zu machen, ist eine Privatsache zwischen uns. Not werden Sie nicht leiden. Wenn Sie die Güte haben wollen, zuzugreifen, dort ist der Tisch gedeckt.« Mit ironischer Handbewegung wies er in die Ecke, wo auf einem sogenannten stummen Diener allerlei Delikatessen serviert waren. Dann ging er und schloß die Türe zu. Als er in die Halle kam, trat Wichtel ihm entgegen und erbat sich seine Befehle. »Sind die Frauenzimmer weg?« fragte Erwin. »Sie schlafen in der Gärtnerwohnung.« »Gut. Gehen Sie zu Bett. Das Haus bleibt morgen verschlossen. Wenn es läutet, zeigen Sie sich nicht.« »Sehr wohl.« »Ich glaube, ich kann mich auf Sie verlassen, Wichtel?« »Sehr wohl.« »Sie sehen nicht und Sie hören nicht. Darauf kommt es an.« »Sehr wohl.« Die halbe Nacht lang wanderte Erwin in der Bibliothek auf und ab. Seine Überlegung war ruckweise und von lautlosen Wutanfällen begleitet. Als er sich zur Ruhe begeben hatte, konnte er nicht schlafen. Er stellte sich unter die kalte Dusche, aber der Brand seines Gehirns verdoppelte sich. Er versuchte zu lesen, sah aber nicht einmal die Zeilen. Er horchte auf den ununterbrochen strömenden Regen, dem sich gegen Morgen ein brausender Sturm zugesellte. Dieser Sturm nahm während des Tages an Heftigkeit beständig zu. Am Nachmittag klingelte das Telephon. »Wer ist es?« fragte Erwin, in die Halle tretend. – »Die Frau Baronin Resowsky«, erwiderte Wichtel flüsternd und das Gesicht vorsichtig vom Schallrohr abkehrend. – »Ich bin verreist. Sie wissen nicht wohin. Meine Rückkehr ist unbestimmt.« – »Sehr wohl.« Er setzte sich an den Schreibtisch, starrte gedankenlos auf das Papier, nahm die Taschenuhr heraus und beobachtete das Vorwärtshüpfen des Sekundenzeigers. Aus irgendeinem Grund hatte er die zehnte Abendstunde als die bestimmt, zu welcher die Frist abgelaufen sein sollte. Er dachte an diese Stunde wie an einen Wendepunkt seines Lebens. Seine Wangen waren fahl, seine Augen erloschen, doch das Innere seines Leibes erschien ihm wie versengt. Von Minute zu Minute wuchs eine geheimnisvolle Raserei in ihm. Um acht Uhr schickte er auch noch Wichtel zum Gärtner, damit er drüben nächtige. Langsam schlich die Zeit. Die Spieluhr auf dem Kamin trällerte vergnügt ihre Arie durch das totenstille Haus. Auch Virginia hatte die Nacht schlaflos verbracht. Kurz nach Erwins Weggehen hatte sie das Fenster geöffnet; es lag zu hoch, als daß sie hätte hinunterspringen können. Vor ihr breitete sich der weite, einsame und finstere Park. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und sie schloß das Fenster wieder. Wenn ich mich umbringe, dachte sie, hält mich alle Welt für ehrlos; ich muß unbedingt aus dem Haus kommen. Und dann? was dann? wohin mit mir? wohin mit meiner Schande? ich habe keinen Menschen mehr; keinen Freund, keine Mutter, kein Heim. Von solchen Überlegungen unglücklich bewegt, wandelte sie viele Stunden lang durch den Raum, verspürte aber dabei eine entsetzliche Müdigkeit. Der Tag brach an. Sie klopfte an die Türe. Sie rief. Umsonst; nichts rührte sich. Sie nahm eine Semmel von der Platte und aß mit Widerwillen. Oftmals während des Tages mußte sie sich, von ihrer Erschöpfung bezwungen, auf einen Sessel niederlassen, doch nach wenigen Minuten erhob sie sich wieder, zornig, verstört, erwartungsvoll, von Scham erdrückt und mit stockendem Herzen. Endlich gegen Abend schob sie den schweren Tisch vor die Türe, damit sie nicht überrascht würde, wenn sie einschlief, legte sich auf das Sofa und schlummerte alsbald mit schmerzlicher Wachsamkeit des Gehörs. Das elektrische Licht, das den ganzen Tag gebrannt hatte, ließ sie brennen. Das Rücken des Tisches weckte sie auf. Erwin stand dicht vor ihr. Er war wachsbleich. Er hielt die Hände auf dem Rücken und schaute sie wortlos an. Er kämpfte mit sich. Es trieb ihn, auf die Knie zu stürzen und ihre weiße Hand zu fassen. Aber es galt, alle Kraft zu bewahren. Virginia sprang empor. Da sah sie, daß die Türe nur angelehnt war. Gedanke und Entschluß waren eines. Im Nu war sie an Erwin vorübergeeilt und rannte hinaus, ehe er sie hatte hindern können. Es war dunkel, nur der Lichtschein vom Zimmer wies ihr den Weg zur Treppe. Sie lief hinab, sie befand sich am Haustor, es war versperrt, aber der Schlüssel steckte im Schloß. Während sie den Schlüssel umdrehte, fühlte sie sich an der Schulter gepackt. Mit einem Aufschrei entwand sie sich dem Griff und floh nach einer andern Seite, riß eine Tür auf, kam in die Bibliothek und stürzte weiter in einen finstern Raum. Erwin schweigend hinter ihr her. Die Glastür nach dem Garten war offen. Sie lief darauf zu, über die Stufen hinab, in die Finsternis hinein. Der Regen war so heftig, daß sie das Gefühl hatte, als sei sie in einen Fluß gesprungen. Der Sturm schleuderte ihr die Nässe wie triefende Fetzen ins Gesicht, und sie mußte die Augen schließen. Die Wasserlachen spritzten empor, nasse Blätter und Zweige streiften Haar und Wangen, die Feuchtigkeit drang durch die Kleider kalt auf die Haut, da stieß sie mit der Stirn an einen Baum, vor Schmerz konnte sie nicht weiter und suchte mit blinzelnden Lidern das vom Hause her beleuchtete Stück des Parks. Doch Erwin hatte sie schon erreicht. Er hob sie mit beiden Armen auf, und mit übermenschlicher Anstrengung trug er sie zurück, über die Wege wieder zurück. Vor der Terrasse versagten ihm die Kräfte, er holte Atem, nahm sie um die Hüfte und zog die Strauchelnde die Treppen empor, durch den Empfangsraum in die Bibliothek, schleppte sie bis zum Divan und warf sie hin. Mit aufgeregten Schritten, den Mund keuchend geöffnet, eilte er zu beiden Türen und warf sie ins Schloß. Dann kehrte er zu Virginia zurück und betrachtete sie grübelnd. Sie regte sich nicht. Sie lag auf der Erde, der Kopf lag auf dem Divan. Sie war über und über naß und mit Kot bespritzt. Er fand gleichwohl in der Linie ihres Körpers einige Ähnlichkeit mit der hingeschmiegten Haltung jener Stunde, als sie an Manfreds Brust gelegen. Da trieb es ihn, sie zum äußersten zu hetzen, als ob nur ihre völlige Entwertung und Entehrung ihm noch Hoffnung übrig ließe. »So kannst du nicht bleiben«, sagte er heiser. Sie gab keine Antwort. »Du kannst so nicht bleiben, hörst du?« wiederholte er barsch, bückte sich und riß ihr die Jacke auf. Sie sah ihn an, und da trat er zurück. Immer noch hatte dieser Blick seine wehrende Gewalt. Er preßte die Lippen zusammen und mühte sich, die Besinnung zu bewahren. Er eilte zu den zwei Seitentüren, sperrte mit gestoßenen Bewegungen die Türen ab, steckte die Schlüssel in die Tasche, verließ dann die Bibliothek durch die Tür gegen die Halle, begab sich hinauf in das Zimmer, in welchem Virginia gewesen, raffte einen Morgenrock, Schuhe, Strümpfe und ein Tuch aus dem Schrank und trug alles dies hinunter. Virginia lag noch ebenso wie vorher da. »Hier ist, was du brauchst,« herrschte er sie an, »so kannst du nicht bleiben, naß und schmutzig; es widert mich, dich so zu sehen.« Sie rührte sich nicht. »Virginia! Virginia!« schrie er mit einem schrecklichen Ton in der Stimme. Sie rührte sich nicht. »Ich will schmutzige Kleider nicht berühren«, rief er. Er kniete nieder. »Deine Füße sind naß«, fuhr er fort, plötzlich schmeichlerisch; »man wird krank von nassen Füßen. Man wird häßlich, wenn man krank ist. Oder willst du trotzen? willst du mich vollkommen in den Irrsinn treiben?« Virginia streckte beide Arme beschwörend nach ihm aus. Ihre Frisur hatte sich gelockert, und die Haare fielen nun langsam über die Schultern auf die Erde. »Gut. Schön; ich werde meine Leute holen,« begann Erwin wieder gleich einem Betrunkenen, »ich werde sie holen, damit sie sich diese Sehenswürdigkeit von einer Dame betrachten. Ja! Ja! Ja!« tobte er, als Virginia bittend das Gesicht verzog, »ich gehe schon, ich werde draußen warten; da sind die Kleider! tu ab das ekle Zeug! tu’s ab! Welche Beschwer! wie viel Ziererei! Alles wird zur Hülle, die Scham tötet das Herz.« Er sprach und schien nicht zu wissen, was er sprach. Er ging hinaus und schritt in der finstern Halle auf und ab. »O Leben! Leben!« murmelte er, »wie gnädig warst du mir einst, und jetzt stößt du mich weg von deiner Brust.« Er öffnete die Tür und sah, daß Virginia noch immer so lag, wie er sie verlassen. Was wollte er nur? was erwartete er von ihrem Gehorsam? Kam es ihm darauf an, sie wenigstens äußerlich verwandelt zu sehen? Sie zu bewegen, das war schon viel. »Marie! Gertrud! Wichtel!« rief er, gegen die Dunkelheit gewandt. Da erhob sich Virginia mit einem Wehelaut. Er schloß, ihrer Sinnesänderung sicher, die Tür, beugte sich und biß mit den Zähnen in die metallene Klinke. Danach tastete er sich ins Speisezimmer, machte Licht, nahm eine Karaffe voll Kognak aus dem Buffet und trank. Es war der erste Schluck Schnaps, den er seit vielen Jahren über die Lippen brachte, da er in solchen Dingen von pedantischer Enthaltsamkeit war. Mit kleinen, hauchenden, kindlichen Seufzern hatte Virginia sich ihrer besudelten Gewänder entledigt und schlüpfte in das Kostüm, das Erwin auf den Teppich geworfen. Jacke, Rock und Bluse hing sie auf die Lehnen zweier Sessel. Die Strümpfe klebten an der Haut, sie streifte sie ab, und während sie dies tat, stürzten wahre Bäche von Tränen aus ihren Augen. Eine namenlose Verzweiflung überfiel sie, und jede Empfindung der Brust war gelähmt innerhalb dieser Verzweiflung. Fassungslos über sich, über ihr Schicksal, über die Menschen, kauerte sie vor dem Kamin, in welchem noch Kohlenglut war. Sie kauerte, wie Mägde kauern, wenn sie Feuer schüren. Ihre offenen Haare ergossen sich auf den Teppich und bildeten große Ringe. Die Füße waren nackt, und die Zehen wühlten sich in die moosartig kühle Weichheit des Teppichs. Die Falten des grünen Gewands zitterten mit dem Zittern ihres Leibes – Eichhörnchen zittern so, wenn sie im Käfig sind, – und ihre beiden halbentblößten Arme waren mit einer Gebärde eben jener namenlosen Verzweiflung in den Schoß hineingepreßt. Fast genau so hatte Manfred sie vor Jahresfrist gewahrt, im seherischen Schmerz des Abschieds, voll von der Ahnung des Verlusts. Und nun gewahrte Virginia ihrerseits ihn, den sie kaum mehr kannte, den Verschollenen, den Flüchtling, den Aufgegebenen, den aus der Seele Geraubten. Sie sah ihn nahe. Sie empfand es, daß er kam. Ja, er kam, sie spürte es, die Sorge trieb ihn her. Aber es war zu spät. Nie mehr durfte sie ihm begegnen. Sie war ein verlorenes Kind, wie durch Geburt gebrandmarkt, so gebrandmarkt und geschändet durch irrendes Vertrauen, durch List, Verrat, Betrug, durch Gedicht und Klang, durch alles was täuscht und verlockt und was leer ist im Innern, finster, kalt, seelenlos, ohne Leben und ohne Wahrheit. Sie hörte seinen Schritt, den ungehemmten Schritt des Jägers. Er umschlang sie von rückwärts, und sie sah seine Augen dicht über sich. Ihre unendlich scheuen und flehentlichen, abgebrochenen und ermatteten Gesten beschwichtigte er durch süßeste Worte. Ein Ausdruck von schlafähnlicher Abwesenheit und Gleichgültigkeit brachte zwei sehr feine Falten über ihrer Nasenwurzel hervor, und das Weiße des Auges büßte den Glanz ein und wurde stumpf wie Gips. Er hielt sie fester. Er flüsterte ohne Unterbrechung ihren Namen, aber sie schüttelte automatisch den Kopf, und er hatte es nicht für möglich gehalten, daß ein menschliches Gesicht so bleich werden könne wie das ihre war. Die Haare überschatteten die zuckende Stirn, und ihre geballten Fäuste lagen eine kurze Weile zuckend auf seinen Schultern wie zwei aus dem Nest geschossene weiße Vögel. Als er immer näher und näher kam, empfand sie das Verderbliche seiner Begierde, seine unheimliche Fremdheit, ihre unheimliche Verworrenheit, taumelnd vor Schwäche entwand sie sich ihm und klammerte sich, vorwärtsschauend, an einer der marmornen Karyatiden fest, die den oberen Rand des Kamins trugen. »Also nichts! nichts kann dieses steinerne Herz schmelzen!« rief Erwin außer sich vor Wut und Enttäuschung, und zugleich sich wehrend gegen ein aus dem Unterirdischen heraufflammendes, bisher unbekanntes Gefühl, das auf einmal wie die Erwartung einer schweren Krankheit auf ihm lastete; »sind denn diese Ohren taub? ist kein Mitleid in dieser Brust? Was soll ich tun, um mich zu retten? was tun, um dich zu rühren? Soll ich mir die Adern aufschneiden? soll ich mich also verbluten? sollen meine Worte zu Blut werden? soll ich hinsinken vor dir, elender als elend? Was soll ich tun? Sprich, was soll ich tun!« Und da Virginia schwieg, ergriff er eine herrliche Vase aus dem zartesten und kostbarsten Porzellan und schleuderte sie vor Virginia hin, daß sie zu hundert Scherben zerstückte. Es lag in dieser Tollheit, in diesem Wüten nur noch wenig Heuchelei und Berechnung unter der elementaren Gewalt; wohl war Bemühen und Wille im Schluchzen und darin, wie er schäumte, sich bäumte, die Zähne knirschte, die Fingernägel in seinen Hals grub; aber in der Tiefe seines Gemüts spürte er, wie alles über ihm zusammenbrach und daß eine schauerliche Angst und Öde in ihm entstand. Vielleicht spürte es auch Virginia kraft des sonderbaren Botendienstes, der Nachricht von Seele zu Seele gibt. Vielleicht war dies die Ursache, daß sie Erbarmen mit ihm hatte. Während sie ihr Gesicht wie suchend der Kohlenglut näherte, als wolle sie am liebsten darin vergehen, erschien er ihr wie ein nach ungeheuren Anstrengungen niederstürzender Mensch, ein Mensch, der furchtbare Qualen gelitten hat durch diese ungeheure Anstrengung, und der von der Beschaffenheit dieser Qualen bis zur Stunde nichts gewußt hat. Er erschien ihr wie ein Mensch, der aus einem gefährlichen Abgrund emporgeklommen ist und trotzdem keine Stütze findet, um sich von der wieder hinunterziehenden Macht des Abgrunds zu befreien. Sie spürte mit ihm und in ihm jene ungeheure, herzmordende Anstrengung, in der er nach ihr gerungen hatte wie nach dem einzigen Ding, das gepackt, gehalten, besessen werden mußte, dem einzigen, das den Sturz in den Abgrund verhindern konnte. Und so, in Müdigkeit und Gleichgültigkeit hingelöscht, erschöpft vom Schauspiel der Qualen, war es ihr, als müsse sie ihm die Stütze bieten, als müsse sie sich selbst vergessen, als müsse sie Haß und Liebe, Leben und Ehre, Scham und Schmerz vergessen, und sie sagte tonlos: »Da bin ich. Da bin ich, Erwin. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.« Er glaubte nicht recht gehört zu haben und trat dicht zu ihr heran. Seine Augen wurden weich. »Noch einmal, herrliche Virginia,« flehte er leise, »und sag’ es mit dem Du, auf das ich warte wie auf ein Geschenk des Himmels, damit ich wieder zu einem Menschen werde.« Mit einem Lächeln wie aus der Nacht, bitter und kraftlos, erwiderte Virginia: »Ja, Erwin, mache mit mir, was du willst.« War es nun dies erste Wort einer unbedingten Zugehörigkeit, das Erwin zur Stummheit verurteilte? War es die trauernde Verheißung, das Opfer, das Schauspiel einer Ergebung, die nichts von Hingabe hatte, aber alle Merkmale der Größe und der inneren Schönheit, die ihn versteinerten? Er erkannte plötzlich, daß das, wonach er verlangt hatte, gar nichts zu schaffen hatte mit dem, was ihm gewährt werden sollte, und daß gerade die Gewährung dieses Wesen in eine unerreichbare Ferne rückte, eine Ferne, die ihm alle Hoffnung raubte, sie jemals zu besitzen. Er erkannte es, weil das Gefühl, das in seinem Herzen entstand, keine Ähnlichkeit mit irgendeinem andern Gefühl hatte, das er je empfunden, ja, weil es vielleicht das erste Gefühl war: nicht Gelüste, nicht Wohlgefallen, nicht Entzückung an der Form, nicht Entflammung der Sinne, nicht bewegter, hingetriebener Wille, nicht Sucht; nicht ein Greifen und Umschlingen, sondern ein Ergriffenwerden und Umschlungensein. Es war nicht mehr an dem, zu fragen: wie stell ich es an, daß sie mich liebt? Die Frage lautete: wie ertrag’ ich es, daß ich sie liebe? Er hatte keine Worte mehr; er war plötzlich verarmt an Worten. Statt dessen drängte es ihn, sich vor ihr zu erniedrigen, aber aus Furcht vor ihr wagte er nicht zu handeln. Er kannte sich nicht mehr. Er verlor sich aus sich selbst und so, daß er es beobachten konnte wie das Ausrinnen von Wasser aus einem Gefäß. Er saß da und nagte mit den Zähnen an der Lippe. Die Veränderung, die mit ihm geschah, flößte Virginia Schrecken ein. Sie, die sein Gesicht, seine Augen, seine Hände, seine Gestalt nie anders als in der Aktion gesehen hatte, sah ihn jetzt zum ersten Male ruhend, und ihr graute. Ihr war, als ob an Stelle seines Gesichts ein schwarzes Loch sei. Sie hätte fragen mögen: wo bist du? Er erschien ihr wie ein Gespenst. Den sie so stolz, so reich, so erfahren, so glühend, so unnachgiebig, so grausam, so überlegen gesehen hatte, er war durch rätselhafte Wandlung klein geworden, verzagt, hilflos, armselig, stumm und leer. Ihr graute vor ihm, und der Schrecken steigerte sich allmählich bis ins Geisterhafte. Dieser Schrecken gebot ihr, ihn zu fliehen. Sie hatte kaum mehr die Kraft dazu. Die rasche Folge der beispiellosen Aufregungen wirkte jetzt auf ihren Körper. Außerdem spürte sie, daß sie Fieber hatte, und ihre Zähne begannen zu klappern. Sie konnte sich nur mühsam aufrecht erhalten. Wohin mit mir, wohin? fragte sie sich wieder. Sie wußte, daß er sie nun nicht mehr hindern würde, das Zimmer und das Haus zu verlassen, aber wohin sollte sie gehen? Langsam näherte sie sich der Tür. Sein Blick folgte ihr angstvoll. Sie öffnete die Tür, und als ihr die Dunkelheit entgegenschlug, sah sie sein Gesicht überdeutlich in die Luft gemalt, dieses Gesicht, das schlaff, leer, trüb, häßlich und gemein geworden war. Da begriff sie, daß sie ihn geliebt in Stunden, wo das Herz an Märchen hängt, in Augenblicken zwischen Traum und Wachen, daß er sie bezaubert hatte in den Verkleidungen und Hüllen, die ihn den Menschen gegenüber gewappnet und undurchschaubar gemacht. Mit Aufbietung aller Kräfte richtete sie ihr Haar und steckte es fest mit den wenigen Nadeln, die noch daran hingen. Die Uhr in der Halle schlug zwölfmal. Erwin stand im Halbschatten auf der Schwelle. Das Bewußtsein vollkommener Ohnmacht zerschmetterte ihn. Virginia blickte, während ihre Arme noch erhoben waren, matt gegen ihn zurück, und im tiefen Fieber dachte sie abermals: wo find ich einen Ort, um mich auszustrecken und zu schlafen? zu schlafen, nie mehr zu erwachen –? In diesem Moment ertönten Stimmen vor dem Haus. Die elektrische Glocke läutete schrill und lang. Erwin runzelte die Stirn, bewegte sich aber nicht. Es wurde ans Tor gepocht, rasch und heftig. Virginia wurde inne, daß sie mit bloßen Füßen dastand, und ein Schauer durchrüttelte sie von oben bis unten. »Machen Sie auf!« flüsterte sie mit der Gebärde einer Fliehenden. Mit gleichgültiger Miene schritt Erwin ans Tor und öffnete. Herein traten mit bleichen und erregten Gesichtern, in Regenmäntel gehüllt, Ulrich Zimmermann, Graf Palester und Frau von Resowsky. Virginia stieß einen Schrei aus. Dann schwankte sie mit geschlossenen Augen und wäre hingestürzt, wenn Frau von Resowsky und Ulrich sie nicht aufgefangen hätten. »Der Hausmeister soll helfen,« befahl die Baronin, »wir müssen sie in den Landauer tragen.« Der Hausmeister, der auf der Treppe stand, stellte die Laterne nieder, um zuzupacken, doch Ulrich und Palester hatten das besinnungslose Mädchen schon gefaßt und trugen es aus dem Tor. »Man wird Sie zur Rechenschaft ziehen!« rief Ulrich Zimmermann. Ein fahles Lächeln glitt über Erwins Mienen. »Zur Rechenschaft? Gut so. Sie haben, Baronin,« wandte er sich an Frau von Resowsky, »jedenfalls eine ziemlich unwiderstehliche Art gewählt, mich darauf vorzubereiten.« »Mit Ihnen spricht man nicht«, antwortete die Baronin, ohne ihn mit ihrem Blick auch nur zu streifen. Erwin zuckte die Achseln und kehrte der ehemaligen Freundin den Rücken. Einige Minuten später war es wieder still im Haus. Auf der Straße verklang das Rädergerassel des Wagens. Erwin kehrte in die Bibliothek zurück. Er warf sich auf den Diwan und fiel sofort in einen schweren Schlaf. Als er erwachte, schien die Sonne. Während er dem Diener läutete, entsann er sich erst, daß er Wichtel befohlen hatte, in der Gärtnerwohnung zu bleiben, bis er ihn rufen würde. Nach einer Weile gewahrte er den Gärtner im Park und gebot ihm, Wichtel zu schicken. Er ließ das Bad richten. Als er gebadet und gefrühstückt hatte, trat er vor den Spiegel. Unwillkürlich, in einer lächerlichen Anwandlung, drehte er sich um. Er meinte nämlich, ein anderer stehe hinter ihm, dessen Bild der Spiegel wiedergab; denn er erkannte sich nicht. Er gewahrte ein so häßliches Gesicht, daß er sich selbst nicht erkannte. Alles was er als anziehend, geistreich, eigentümlich und belebt in diesem seinem eigenen Gesicht anzusprechen gewohnt war, alles das war völlig verschwunden. Er übte sich in einer gewissen redenden Mimik, er ließ seine Augen funkeln wie sonst in einem Gespräch, er ersann treffende Bemerkungen und achtete darauf, wie sie den Ausdruck seiner Züge veränderten, aber das Gesicht blieb immer gleich häßlich, so häßlich und abstoßend wie das Gesicht eines alten, verkommenen Weibes. Entsetzen erfüllte ihn. Was andere Menschen verschönt, das macht mich häßlich, sagte er sich. Er heftete die Augen mit einem leeren, gebrochenen Glanz in die Luft und murmelte: »Unerreichbar! unerreichbar! unerreichbar!« Es war als ob ein Schwert dreimal vor ihm niedersauste. Was soll ich tun? überlegte er; ich habe keine Beschäftigung. Was reizt mich noch? Nichts. Die Menschen werden mich wie einen Aussätzigen meiden. Was soll ich mit den Stunden anfangen, die vor mir liegen, den zahllosen Stunden? Ihn ekelte vor allem, was er rings um sich sah, vor den Wänden, den Möbeln, den Bäumen, den Wolken und vor der Sonne. Er begann seine Briefe und Hefte zu ordnen. Viele Papiere warf er in den Kamin und verbrannte sie. Plötzlich gewahrte er auf einem Stoß von Büchern einen noch uneröffneten Brief, dessen Umschlag die Handschrift seines Vaters zeigte. Der Brief lag, von Erwin nicht beachtet, schon seit dem gestrigen Abend da. Jetzt riß er ihn auf und las: »Mein lieber Sohn! Man hat sich bei mir heute mehrmals nach deinem Aufenthalt erkundigt. Ich konnte natürlich keine Auskunft geben, habe ich dich doch seit vierthalb Monaten nicht einmal gesehen. Den Andeutungen nach zu schließen, bist du in schlimme Geschichten verwickelt, und meine Pflicht wäre es vielleicht, dich zu suchen und persönlich zu beraten. Könnte ich in dir nur einen Funken Vertrauen voraussetzen, so würde mich nichts daran hindern, obwohl mein eigener Zustand der mißlichste von der Welt ist und ich dich, mein eigenes Kind, von der Verelendung meines Lebens zu meinem Kummer nicht freisprechen kann. Vorwürfe sind nicht mehr an der Zeit. Ich bin gerichtet. Ich habe den Glauben an dich verloren, und um den zu ersetzen, weiß ich nicht, was in meinem Alter noch zu gewinnen wäre. Ich frage mich um meine Verschuldung; wenn es eine Verschuldung ist, als Vater mit einem von der Verachtung zertretenen Herzen vor dem Sohne dazustehen. Es gibt keinen Tag in meinem Leben, an dem du mich nicht zurückgestoßen und deine Geringschätzung hast fühlen lassen. Nun ist’s ja wahr, es ist heutzutage ein wildes und anmaßendes Geschlecht in die Binsen geschossen, ein unbedenkliches Geschlecht in jeder Beziehung. Aber wer hat euch dazu gemacht? Wer hat alle die verzwickten und rücksichtslosen Neigungen so lange großgehätschelt, bis sie zu schändlichen Verlotterungen geworden sind? Wer hat euch das teure Ich so hoch im Preis geschraubt, daß ihr euch für zu kostbar haltet, um die ganz ordinären Menschenpflichten zu erfüllen? Wir! Wir Alten! Wir gar zu bedachten Väter und Mütter! Wir, die eure Vorsehung spielen wollten, wir, die immer ein Schock Ausreden erfunden haben, um eure Versäumnisse, Perfidien, Verlogenheiten und euren Mangel an Pietät mit schönklingenden Titeln zu belegen, so daß sich ein ehrlicher Kerl wahrhaftig schämen mußte, ein ehrlicher Kerl zu sein. Eure selbstverständliche geistige Betätigung haben wir als ein Wunder betrachtet, eure Frechheit für Freiheit, eure Respektlosigkeit für Unabhängigkeit, eure Gottlosigkeit für Mut, eure Genußsucht für Lebenskraft ausgegeben. Wir haben es an Unbefangenheit fehlen lassen, wenn ihr mal was Anständiges geleistet hattet, wir haben es versäumt, euch im Zutrauen gegen eine höhere Kraft zu unterweisen, wir haben mit den Zähnen gescheppert, wenn ihr mit Halsweh nach Haus gekommen seid, und statt der Furcht vor Gott, die eine ungebildete Zeit uns Kindern noch eingeimpft hat, habt ihr nur die Furcht vor Bazillen gelernt, und ihr habt nun kein Gebrechen mehr, von dem ihr nicht ganz genau wißt, woher es gekommen und wie es entstanden ist. Das hat euch so lieblos gemacht. Es macht lieblos, die Gründe von allem zu wissen, was noch bis gestern unerforschlich war. Die allgemeine Stimmung hat es so mit sich gebracht, ich weiß es, der wirtschaftliche Aufschwung, das Wohlleben und endlich der Rückschlag gegen die bürgerliche Enge, in der wir selber aufgewachsen sind. Deshalb habt ihr keine Vorurteile mehr, ihr jungen Leute, und ihr seid stärker als wir, denn ihr habt kein Herz. Daß ich mir über diese Dinge klar geworden bin, mußte ich dir mitteilen, ich bereue es nicht, es hat mich lange genug gequält, ich werde es nie bereuen. Ich darf es wagen, nicht bloß weil ich dein Vater bin, ein Amt, von dem ich mehr Gram als Freuden geerntet habe, sondern weil du eines vor mir voraus hast, um das ich dich beneide und zu dem ich dir gratuliere: die Jugend. Es ist eine wunderbare Sache um das Jungsein, mein lieber Sohn, eine unbeschreiblich wunderbare Sache, und das weiß man leider erst, wenn man alt ist. Und damit ist schließlich alles gesagt, für dich, für mich, gegen dich und gegen mich. Erinnere dich bald deines Vaters Michael Reiner.« Erwin legte den Brief gleichgültig beiseite. Nicht schlecht stilisiert, dachte er, das könnte mich zwingen, ihm Rede zu stehen. Er warf das Schreiben ins Feuer, dann entnahm er dem Bankbuch einen Scheck, schrieb eine Anweisung auf fünfzigtausend Kronen und schickte diese durch Wichtel an den Grafen Palester. Zwei Stunden später kam Wichtel zurück. In dem Kuvert lag der Scheck, mitten entzweigerissen. Selbst dies flößte Erwin keine Teilnahme mehr ein. Wo er ging und stand, sah er immer nur sie; immer nur Virginia; immer nur das besondere, edle, wahre und angenehme Gesicht. Er sah sie in einer Haltung zwischen Fliehen und Verweilen, mit dem zagen, nymphenhaften Schwung der Schultern wie bei griechischen Statuen. Er sah ihre Züge verträumt, sah sie angemessen dem Gespräch, lieblich in der Freude, maßvoll auch im Schmerz. Er sah sie als Tänzerin hinschweben durch die von ihr beseelte Luft und mit Blumen im Haar in einer Mondlandschaft; er sah sie zusammengebrochen im Weinen, aufgerichtet im Zorn mit purpurnen Schläfen, sinnend in mädchenhafter Melancholie, lauschend, wenn Musik ertönte, nachsichtig lächelnd, wenn Bewunderung unbescheiden wurde. Er befühlte den Sammet ihrer Haut, die kühlen, langen Hände und vernahm das Knistern ihres Kleides, wenn sie adelig und ohne befangene Gebundenheit schritt. Er spürte den bildsamen Geist, das großmütige Herz, alles was treu, mutig, opferfähig und wesentlich an ihr war, und als ob ein Schwert durch die Luft vor ihm niedersauste, empfand er nur das eine: Unerreichbar. Er lag ausgestreckt und murmelte mit trockenen, aber glühenden Lippen: »Virginia! Schwester! Geliebte!« Er hatte einen silbergefaßten Spiegel in der Hand; es war derselbe, in den sie einst geschaut, als sie zum erstenmal das Perlenband um den Hals genommen. Er suchte ihr Bild darin, die Sehnsucht folterte ihn, ein neues Gefühl; er suchte ihr Bild, erblickte aber nur ein Gesicht, das häßlich und abstoßend war wie das eines alten, verkommenen Weibes. Ferner sah er ein Wort, mit Blut geschrieben, furchtbar aus zerteiltem Nebel flammend: Unerreichbar. Doch wie, war das nicht ihr Antlitz? Die leichte Stirn, der umbrisch milde Mund, die Nase ohne Beben in den Flügeln, die Augen mit dem Bernsteinglanz über den Wimpern? Aber hinter den honigfarbenen Haaren stieg ein Totenkopf herauf, das Gesicht eines alten, verkommenen Weibes, kupplerisch grinsend, wollüstig und wild. Es wurde Abend. Die feuchte Oktoberluft roch nach verwelkten Blättern. Wie Felsblöcke stürzten die vielen Stunden, durchlebte und noch zu durchlebende, auf seine Brust herab, um ihn noch mehr zu quälen, als das was er Sehnsucht und Liebe nicht zu nennen wagte aus Angst vor völliger Zermalmung. Ixion, der die Hera in der Wolke umarmte, ward in den Tartarus geschleudert, wo ihn Schlangen an ein Rad fesselten, das vom Sturmwind in ewigen Kreisen umgetrieben wurde. Er verglich sich mit Ixion, doch der gebildete Trost trog ihn nicht lange. Die Wolke, nach der er gegriffen, war nicht göttlichen Ursprungs; ein Dämon hatte Schaum und Gischt erzeugt, der Dämon eines sinnlosen, sinnlos bewegten, leeren, nutzlosen und entgötterten Lebens. Im Anfang hatte er vielleicht eine Seele besessen, eine Seele wie Virginias, von gleicher Kraft und gleicher Wahrheit. Wo war sie hingeraten, diese Seele? Hatte der Wille sie verzehrt? hing sie an den zahllosen Seiten gelesener Bücher? hatte die unersättliche Gier nach Selbstgenuß sie aufgefressen? die Einsamkeit, oder das, was er so nannte? die zärtlichen, tiefen, starken, verbindlichen, kalten und berechneten Worte sie verschwendet? Wird man Rechenschaft von ihm fordern, wie Ulrich Zimmermann gesagt, so wird man seine Tage wägen; prüfen und zählen die Tage, die so köstlich in langer Reihe dastanden, voll von Schätzen und Zierat, erfüllt von Kunst, von Philosophie, in weiser Ordnung verwaltet, aber finster, blutlos, stumm und leer. Das Haus war leer, nur tote Schätze darin. Und der Herr? Wie hieß er doch? Das Unding an sich; das Inkonstante. Er lachte bitter. Die Philosophie trat in Funktion. O Unerreichbare! Schwester! Geliebte! Von dem Bedürfnis getrieben, sich umzukleiden, sich irgendwie zu verwandeln, zog er einen schwarzseidenen Schlafrock an und Sandalen aus Rehleder. So schritt er, altertümlich und fürstlich anzusehen, dunkel und geheimnisvoll in seinem eigenen Haus, von Raum zu Raum. Ein Wortwechsel vor der Tür ließ ihn aufhorchen. Wichtel suchte jemand begreiflich zu machen, daß sein Herr nicht zu sprechen sei. Dieser jemand gab sich aber nicht zufrieden, worauf Wichtel ängstlich hereintrat. »Das Fräulein von Flügel«, meldete er. Erwin stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus. »Das Fräulein von Flügel, gnädiger Herr.« »Lassen Sie das nur«, erschallte eine helle, gebietende Stimme, und Marianne stand vor Erwin, der sich träg umgedreht hatte. Wichtel entfernte sich. Marianne trug einen langen, grauen englischen Reisemantel und einen der gewaltigen Modehüte mit einem Schleier, der bis zu den Knien reichte. Ihr Gesicht war etwas gelblich, spitz und verhärmt. Eine heftige Gespanntheit verriet sich in ihrem Wesen, und ihr Auge hatte die Entschlossenheit eines Menschen, der nach reiflich überlegtem Plan handelt. »Ich komme direkt vom Bahnhof«, sagte sie, indem sie mit flatternden Bewegungen die Handschuhe abstreifte und auf einen Sessel warf; »du begreifst, daß ich nicht Lust habe, lang zu antichambrieren. Wie du siehst, habe ich mich selbst vom Exil ledig gesprochen. Es muß ein Ende haben, so oder so. Auf Takern zu krepieren vor Wut und Stumpfsinn, dazu bin ich mir noch zu gut.« Erwin schaute Marianne von oben bis unten an, lehnte den Kopf ans Fensterkreuz und schloß müde die Augen. »Die Frist ist abgelaufen«, fuhr Marianne fort, und in der zunehmenden Erregung überstürzten sich ihre Worte; »ich frage dich, was du mit mir vorhast und ob du noch länger gesonnen bist, wegen einer hergelaufenen Dirne eine Spottfigur aus mir zu machen.« Erwin sah sie wieder an, seine Stirn rötete sich flüchtig, dann blinzelte er, schloß abermals die Augen und verschränkte die Arme auf dem Rücken. »Auch ich habe ein Recht auf Glück«, rief Marianne, und plötzlich holte sie eine Pistole aus der Manteltasche; »wenn du auch findest, daß das eine Phrase ist, wie dir jedes Gefühl eines andern Phrase ist, ich lasse mich nicht als Kehricht vor deine Türe werfen, und du mußt wählen, ob du ehrenhaft mit mir verfahren willst oder –« Sie stockte, denn Erwin lächelte sie an. »Oder?« fragte er mit dem unerwarteten Lächeln. »Es liegt mir wirklich nichts mehr am Leben«, sagte Marianne finster, ließ jedoch matt den Arm mit der Waffe sinken. »Wie kann man sich so abgeschmackt benehmen, liebes Kind«, entgegnete Erwin und löste die Pistole sanft aus Mariannes Hand. Dann schaute er prüfend in den Lauf und fragte: »Galt sie mir oder galt sie dir? Na, – aufrichtig!« Marianne schwieg. Erwin schob die Pistole in die weite Tasche seines Schlafrocks. »Du kennst von alters her meine Neigung, einem Trauerspielakt eine freundliche Wendung zu geben«, fuhr er fort; »und so wollen wir’s auch diesmal halten. Ich liebe nicht die tragischen Schlüsse, schon weil sie zumeist peinlich und banal sind. Ich gebe zu, daß es kein Vergnügen war, drei Monate auf Takern zu schmachten. Du hast deine Jours entbehrt, deine Nachmittagsstündchen bei Demel, deine Spaziergänge auf dem Graben, das hat dich in eine phantastische Laune versetzt. Aber du kannst es nachholen. Du stehst noch in der Blüte der Jahre.« »Erwin,« unterbrach ihn Marianne mit dringlichem und beinahe feierlichem Ton, »danach steht mir der Sinn nicht mehr. Ich glaube, du würdest mit mir zufrieden sein. Wir beide könnten aus unserm Leben noch etwas machen, denn ich ... wie soll ich es sagen, ich ... o Gott!« An der Schwelle des Geständnisses vergingen ihr vor seinem fremden Blick die Worte. Diese Lippen, die gewohnt waren, das Heilige wie das Profane mit gleicher Kühnheit auszudrücken, verschlossen sich zum erstenmal vor dem einfachen Laut der Natur. »Mag sein,« antwortete Erwin, »obwohl das eheliche Leben momentan keine Verlockungen für mich hat. Im Grund bin ich ein Nomade. Ich liebe es nicht, die Küchenzettel schon am Morgen zu erfahren, und will nicht wissen, daß sich die Köchin betrunken und das Stubenmädchen einen Schatz hat. Daran scheitern die meisten Ehen. Doch ich mache dir keinen Vorwurf daraus, daß du gekommen bist, im Gegenteil, ich möchte dich bitten, mir einen Dienst zu leisten.« Marianne hatte ihren Mantel ausgezogen. Sie schaute Erwin fragend an. Er blieb vor ihr stehen und fuhr fort: »Sieh mich genau an und sage mir, ob du eine Veränderung in meinem Gesicht entdecken kannst.« »Nein; nicht im geringsten«, versetzte Marianne erstaunt. »Sieh mich ganz genau an.« »Aber nicht im allergeringsten, Erwin«, versicherte Marianne mit wachsendem Erstaunen über seine Fragen. »Gut, Marianne; ausgezeichnet. Hör zu. Ich gehe jetzt in das Zimmer hier nebenan und werde eine kleine Umgestaltung mit mir vornehmen. Du brauchst höchstens drei Minuten zu warten; wenn ich fertig bin, ruf ich dich, und du wirst dich vergewissern, ob auch dann keine Veränderung in meinem Gesicht bemerkbar ist. Willst du das tun?« »Natürlich will ich es tun. Aber erklär’ mir doch –« »Nichts, nichts. Kein Aber. Die Erklärung folgt später. Einen Augenblick Geduld also.« Er küßte ihr dankend und galant die Hand und verließ mit Schritten ohne Hast das Zimmer. Wie wunderlich er ist, dachte Marianne, der es beklommen zu Mut wurde. Auf einmal krachte ein Schuß. Aufschreiend lief Marianne ins Nebenzimmer. Erwin saß in einem Sessel mit vergoldeter Lehne. Auf einem Tischchen vor ihm befand sich ein Spiegel. In der herabhängenden Hand hielt er die Pistole, die er Marianne weggenommen. Aus einer kaum wahrzunehmenden Wunde in der rechten Schläfe sickerte ein wenig Blut. Er hatte sicher gezielt und gut getroffen. Sein Gesicht wies keine Verzerrung auf; es war schön wie eine Maske. Manfred Es war halb zwei Uhr in der Nacht, als die immer noch bewußtlose Virginia vom Wagen in Frau von Resowskys Schlafzimmer getragen wurde. Eine Viertelstunde später kam der Arzt. Da er eine Diagnose der nahenden Krankheit noch nicht stellen konnte, empfahl er die sorgfältigste Schonung und Pflege. Frau Geßner, die im Hause der Baronin auf den Ausgang der nächtlichen Expedition gewartet hatte, saß verzweifelt am Bette. Virginia sah Treppen; schroff ansteigende einer weißen Wendelstiege, flache einer geeckten Holzstiege, und Treppen eines Turmes, auf denen Menschen ohne Arme gingen. Über unzählig viele Treppen rollte ein feuerglühendes Rad herunter und drang wie ein geschliffenes Messer mitten in ihre Brust. Gleich darauf kamen Scharen von Menschen auf sie zu und erkundigten sich nach ihrem Befinden, aber sobald sie antwortete, zeigte sich Entrüstung und Verachtung auf allen Mienen. Sie wiesen mit den Fingern auf sie; anfangs schlug sie nur die Augen nieder, das Herz voll bitterer Kränkung, dann floh sie in eine Regennacht hinaus. Ein Wagen rast einher, dessen Räderspeichen aus Flammen bestehen, und oben sitzen frech gekleidete Mädchen, welche unverständliche, doch schamlose Lieder singen. Irgendwer will sie überreden, mitzusingen; dies bereitet ihr den größten Schmerz, und sie gewahrt Ulrich Zimmermann und den Grafen Palester, eilt auf sie zu und bittet flehentlich um einen Mantel. Die beiden wenden sich schweigend ab, klettern die Stufen der weißen Wendelstiege empor und werfen viele Briefe in das brennende Ofenfeuer. Wird es Tag? Ist dies graue, zerstreute Licht Tageslicht? Wie kann es aber so schnell wieder Nacht werden? Sie schleppt sich über eine leere Straße, traurige Menschen sitzen in der Ferne unter einem Baum und winken ihr. Sie kann jedoch nicht kommen, denn sie braucht erst einen Mantel. Einen Mantel! ruft sie weinend, einen Mantel! Man beschwichtigt sie, sie spürt etwas sehr Kaltes auf der Stirn, es scheint ihr dieses ein Schwan zu sein. Ja, ein Schwan ist es, er schwimmt auf ihrer Stirn, und behutsam hält sie sich ruhig, um ihn nicht zu stören. Allmählich sieht sie, daß der Schwan auf seinem Gefieder Rostflecken hat, die wie Schmutz aussehen, und daß er untertauchen will, um sich wieder blendend weiß zu waschen. Sie sträubt sich verzweifelt dagegen, obwohl sie einsieht, daß das Gefieder rein werden muß. Da zucken Blitze über den Himmel, und jeder Blitz öffnet den Einblick in einen tempelartigen erleuchteten Saal. Sie will hinauf, wieder steigen zahllose Treppen empor, aber sie fürchtet sich hinanzusteigen, weil ihre Kleider naß sind. Und wie seltsam nun, der Himmel oben wird zum Meer, die ganze Welt ist umgekehrt, die Wolken verwandeln sich in zartgestaltete Fische, ein Dampfer gleitet lautlos wie der Mond, genau wie der Mond aussehend, und seine Schlote rauchen. Hinter dem Mond ist ein Nachen, in dem Nachen sitzt ein verhüllter Mensch, dessen Hand bisweilen ins Wasser taucht und Tiere hervorzieht, die Blumen gleichen. Es schmerzt sie, daß sie von diesen Blumen zu viele Geheimnisse weiß, in solcher Art, daß die Geheimnisse ihre eigenen sind. Von allen Seiten rufen Stimmen, die Stimme der Mutter schrillt heraus, in verstörter Beeiferung folgt sie den Leuten, die Kerzen tragen, miteinander raunen und lächeln. Sie tut die Augen auf und gewahrt sich selbst in einem weißen Seidenkleid, über welches von allen Seiten parallele Blutstreifen herunterrinnen. Wie kann man das ertragen? denkt sie, und ihre Angst bringt die Kinnlade zum Zittern. Aber da ist nun der Mantel! Wunderbar gewebt, saphirblau gefärbt, sein Anblick ist Tröstung. Sie entfaltet ihn, und mehr als hundert winzige Schlangen kriechen davon. Plötzlich zeigen sich auf dem Mantel viele Gesichter, gemalte Gesichter, trotzdem lebendige. Aber jedes Gesicht stellt auch eine Landschaft vor; die Augen sind Seen, die Nase ein Berg, die Lippen mit dahinterstehenden Zähnen Tore mit weißen Wächtern, die Stirne ein Schneefeld, die Haare dunkle Wälder. Alle diese Gesichter ballen sich nach und nach zu einem einzigen zusammen, das einen mitleidswürdigen und gräßlichen Ausdruck hat. Sie kennt es, es nähert sich, über eine weiße, weite, endlose Ebene kommt es heran, stumm bitten seine Augen, böse ist der Mund, schmerzlich zucken die Muskeln, da erhebt sich eine Hand und drückt das Gesicht nieder, eine starke Hand, – o Gott, was bedeutet dies! Woher diese Hand? Was für ein namenloses Wohlgefühl! Welche Berührung! Woher diese sanfte, ruhige, beruhigende Hand? Es ist, als ob etwas Süßes und Wohlschmeckendes auf der Zunge läge und ein Gefühl des Verschmachtens durch diese sättigende Süßigkeit beendet würde. Sie schlägt die Augen auf. Sie schließt sie wieder, denn sie kann nicht glauben, sie fürchtet, daß die beglückende Erscheinung entschwinde, wenn sie zu lange hinschaut. Es ist Manfred, sie erkennt ihn. Der sekundenflüchtige Strahl des Bewußtseins hat genügt, ihr zu zeigen, daß seine Haut braun ist, sein Mund fest, sein Auge klar, ernst, mild und wissend, und daß er sie liebt, und sie spürt, daß sie erwachen wird, daß das Leben sie wieder besitzt. Auf Neuseeland hatte Manfred den Brief des Grafen Palester erhalten. Als er den Brief mit den Blicken überflogen hatte, wußte er, daß er bis zu dieser Stunde ein glücklicher Mensch gewesen war. Es dauerte fünf Tage, ehe das nächste Schiff nach England in See stach. Er lebte sie nicht, diese fünf Tage, er sah nicht mehr, er hörte nicht mehr, er dachte nicht mehr, er aß nicht und schlief nicht. Wer ihn vordem gekannt und ihm jetzt begegnete, erschrak wie beim Anblick eines wandelnden Leichnams. Er war erstarrt. Wüstenreisende kennen ein ähnliches Gefühl, wenn sie vom Wirbelsturm überfallen werden. Er hatte Lust zu morden. Er wünschte zu schreien, so lange sinnlos zu schreien, bis diese fünf Tage, ein Alpdruck, eine schauerlich endlose Kette qualvoller Augenblicke, vorüber waren. Er langte mit den Armen hinaus ins Leere, als ob er die Ferne überbrücken könnte; sein Gehirn war so von Lärm erfüllt, von Anklage, von Selbstbeschuldigung, von streitenden, klagenden Stimmen, daß er nicht auf einer Stelle zu bleiben vermochte, sondern laut sprechend, still tobend sich unstät herumtrieb. Da geschah es, daß er eines Abends unter arbeitenden Matrosen am Hafen stand und daß unter morschem Balkenwerk hervor ein zottiger Hund auf ihn zulief. Der Hund erhob den Kopf und schaute ihn an mit Augen, die Manfred nie wieder vergaß. Zweifel und Vorwurf waren in den menschlichen Augen der Kreatur. Es war, als fragten die Augen des Hundes: das ist also die Bewährung? Er sah ein, daß er im Begriff war, sich zu verlieren, daß aber dieses das Schlimmste von allem war, denn er mußte sich halten und bewahren. Haben Tausende gedient und sind nicht Herr geworden, der Dinge nicht, der Menschen nicht, ihrer selbst nicht, der Leiden nicht, des Schicksals nicht, an ihn war ein Ruf besonderer Art ergangen, und sollte nicht alles als tauber Schall zerstieben, was in so vielen gesammelten Tagen den Geist zur Bereitschaft geweckt, zur Prüfung gestählt hatte, so mußte er um der tiefsten Ehre willen sich bezwingen. Mit zugeschnürter Brust, aber äußerlich gleichmütig, betrat er das Schiff. Er schaute Stunde um Stunde hindurch vom Bord ins Meer hinab, und seine Lippen waren eisern geschlossen. Verwunderte, argwöhnische, teilnahmsvolle Blicke trafen ihn, er war fühllos dagegen. Während er einmal so saß, erschallte ein durchdringender Hilfeschrei in seiner Nähe. Ein vierjähriger Knabe hatte unbeaufsichtigt an der Brüstung gespielt, hatte sie überklettert und war in die See gestürzt. Seine Mutter, eine noch junge Frau, hatte es zu spät bemerkt, und ihr Weheruf alarmierte das ganze Schiff. Manfred sah, daß jede Sekunde des Zögerns und Abwartens verhängnisvoll werden mußte, er entledigte sich seines Rockes und sprang ins Wasser. Er schwamm nur mäßig gut, und als er den um sich schlagenden Knaben erreicht hatte, verließen ihn die Kräfte. Man rief und winkte aufgeregt vom Schiff, das sich entfernte, schwer atmend hielt er das Kind und war dem Untersinken nahe, als endlich das Boot kam und ihn und den Knaben barg. Still und erschöpft nahm er die Äußerungen des Dankes und des Jubels an Bord auf. Von da an war der Knabe, den er gerettet hatte, oft in seiner Gesellschaft. Die junge Mutter, die wohl merkte, daß ihn jede andere Annäherung verstimmte, hielt sich fern. Er erzählte dem Kind Märchen und Geschichten; der Knabe saß auf seinem Schoß und lauschte mit großen Augen, indes Manfred den Blick in die Richtung der Fahrt, auf den scheinbar unveränderlichen Kreis des Horizonts lenkte. Endlich Land! Er telegraphierte, wartete jedoch dann die Antwort nicht ab und fuhr Tag und Nacht im Eisenbahnzug. So erschien die Stunde, wo er unter dem vertrauten Torbogen des Hauses in der Piaristengasse stand. Er fuhr durch vertraute Gassen in eine andere Wohnung, läutete vergebens, fragte vergebens, und ratlos, ohne Schmerz, doch mit ausgefrorener Brust begab er sich zu Palester. Er trat ein, er reichte dem Grafen die Hand, und seine Züge, seine Augen, seine Haltung gaben bei einer übermäßigen Anspannung der Seele solche Festigkeit, Gefaßtheit, Entschlossenheit und wartende Ruhe kund, daß Palester, der ungeachtet seiner phantastischen Geistesanlage durchaus kein sentimentaler Charakter war, Tränen in sich aufströmen fühlte. Dieses Mannes Hand lag nun auf dem weißen Linnen über Virginias Hand. Die träge Zeit lief wieder ihre alte Bahn. Die Zeit lief ihren schnellen Gang. Ihr gewohntes Amt, die Wunden der Jugend zu heilen, versah sie mit Umsicht und Gründlichkeit. Großmütig und weise, hatte sie aus Manfred nicht nur einen gesunden Menschen gemacht, sondern auch einen vertrauensvollen, einen, der sein Schicksal im Bewußtsein inneren Gesetzes trug und nicht traumsüchtig der wirkenden Welt sich entfremdete, der zu besitzen vermochte, ohne zu vergeuden, ohne zu geizen, und zu lieben, ohne zu fürchten. Als Virginia genesen war, reiste Manfred nach Berlin und blieb dort vier Monate lang. Dies geschah auf Virginias ausdrücklichen Wunsch. Sie wollte sich nicht an Manfred hinschmiegen wie eine Bedürftige und wie eine Schutzsuchende; sie wollte nicht in der Betäubung seiner Liebe Geschehenes vergessen, sie wollte Klarheit gewinnen und sich prüfen, ob sie sich so offen und ohne rückziehende Last geben konnte, wie sie wußte, daß Manfred sich ihr gab und wie er es von ihr fordern durfte. Alles bewährte sich mit der weisen und großmütigen Zeit; die Liebe, das frei wählende Gefühl, die edle Tüchtigkeit, die auch in der Leidenschaft wohnen muß, die edle Selbstbestimmung, die gleich dem Saft im lebendigen Holz des Baumes das Leben aus blinder, wurzelhafter Sucht emporträgt in die heitere Sonne. An einem Tag im Mai schritt das schöne, hochaufgerichtete Paar durch die abendlich feiernden Gassen der letzten Vorstadt und wandelte in sanften Gesprächen dem Wald entgegen, wo sie einander die Hände reichten und von ihren lächelnden Lippen zuversichtliche Hoffnung empfingen. =Ende= Werke von =Jakob Wassermann= +Bei S. Fischer, Verlag, Berlin:+ +Die Juden von Zirndorf.+ Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geh. 4 M., geb. 5 M. +Die Geschichte der jungen Renate Fuchs.+ Elfte Auflage. Geh. 6 M., geb. M. 7.50 +Der Moloch.+ Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geh. 4 M., geb. 5 M. +Der niegeküßte Mund – Hilperich.+ Novellistische Studien. Geh. 2 M., geb. 3 M. +Alexander in Babylon.+ Roman. Dritte Auflage. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50 +Die Schwestern.+ Drei Novellen. Dritte Auflage. Geh. 2 M., geb. 3 M. * * * * * +Die Kunst der Erzählung.+ Ein Dialog. (Bei Julius Bard, Berlin) +Caspar Hauser+ oder +Die Trägheit des Herzens.+ Roman. Neunte Auflage. (Bei der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart) * * * * * +Die Juden von Zirndorf+ Der Verfasser der »Geschichte der jungen Renate Fuchs«, Jakob Wassermann, hat seinen vor zehn Jahren erschienenen Roman »Die Juden von Zirndorf« in einer neubearbeiteten Ausgabe herausgegeben, der die Kürzungen trefflich zustatten gekommen sind. Ein merkwürdiger Roman, diese »Juden von Zirndorf«. Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen und über das Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere und zutreffendere Dinge gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen »Vorspiel« des Romans, welches eine mit dem Erscheinen des merkwürdigen Messias Sabbatai Zewi verknüpfte Judenverfolgung im siebzehnten Jahrhundert behandelt, eine glänzende poetische Leistung gelungen ist. Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter Jüngling Agathon, in dem das edelste Judentum verkörpert ist, die von einem brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger rächt. Dennoch beweist der Dichter sowohl in der reichen Fülle feingezeichneter Charaktere als im Gange der Handlung die vollkommenste Objektivität. (Neue Zürcher Zeitung) * * * * * +Die Geschichte der jungen Renate Fuchs+ Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal, ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«. – Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so interessanter und tiefsinniger Roman erschienen. (Die Zukunft) Ernsthafte Kritiker werden nach sorgfältiger Registrierung aller Stimmungen und aller Gedankentiefen, nach angestrengtem Studium aller Formfeinheiten und aller Seelenanalysen auf Eid und Gewissen versichern dürfen, daß es sich bei dem Buch Jakob Wassermanns wirklich um ein bedeutendes dichterisches Werk handle, um ein Werk, von dem jedes Kapitel ein vollgültiger Beweis intimster Empfindung und feinster Erkenntnis der menschlichen Natur sei. (Berliner Tageblatt) * * * * * +Der Moloch+ Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die ihm zugrunde liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende Kunst, mit der Wassermann jene Idee zu einem groß und breit angelegten, lebensvollen Gemälde gestaltet hat! ... Man kann schon aus dieser gedrängten Inhaltsangabe ersehen, daß es sich hier vorwiegend um ein psychologisches Problem handelt; der Verfasser hat dieses Problem in der Tat auch vollständig, seinem Wesen entsprechend, psychologisch behandelt, und zwar in geradezu bewundernswerter Weise. Ja, so groß ist des Autors Kunst seelischer Schilderung, daß der Leser alle die Vorgänge mitzuerleben glaubt und sie in Wahrheit mitempfindet. Mag das Weltbild, das Wassermann hier entwirft, ein einseitiges sein, mögen einzelne weniger interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit ausgeführt, mag selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt anzuerkennen sein und das Poetische etwas zu kurz kommen –, so viel bleibt gewiß, daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht fast eines Erlebnisses wirkt. (Berner Bund) * * * * * +Der niegeküßte Mund – Hilperich+ In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles in den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die Linie fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich verhalten, Ausführung und Andeutung zueinander stehen – alles das verrät einen in Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein viel Talent. In dieser Hinsicht wären nur wenig Aussetzungen zu machen, so wenige, daß man sie verschweigen darf und erklären: der künstlerisch Genießende, der Kenner, wird hier sein volles Genügen finden. (Die Zeit, Wien) * * * * * +Alexander in Babylon+ Nichts als der reale Gang der gerichtlichen Ereignisse von Alexanders Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt, dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk, sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine kaum genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und beseelt. (Neue Freie Presse, Wien) ... Daß man sich ja nicht durch die Erinnerung an die ägyptischen Romane von Ebers oder an die Völkerwanderungsromane von Felix Dahn abschrecken lasse, diesen »Alexander in Babylon« zu lesen. Hier gibt es keine in Griechen oder Perser verkleidete deutsche Leutnants; man braucht nur, wenn man es nicht ohnehin spürt, in Plutarchs »Alexander« nachzulesen, um alsobald zu begreifen, daß Wassermann die antike Welt gleichsam in seine Seele hineingeglüht hat, etwa so, wie es in neuerer Zeit der Dichter Hugo von Hofmannsthal in seinem Drama »Elektra« tat. (Berner Bund) * * * * * +Die Schwestern+ Die Heldinnen dieser Novellen gehören zu jenen glücklichen, unglücklichen Geschöpfen, die ein Traum, ein Aberglaube, eine Sehnsucht, ein Wahn den Dingen dieser Welt entfremdet und zu neuem, wunderlichem Dasein gerufen hat. Arme Kranke sind es, aber Wassermann sucht aus dieser Krankheit die tiefsten Geheimnisse des Lebens herauszulesen. Glänzen uns hier nicht Schönheiten entgegen, die wir sonst an unserem Lebenswege vergeblich suchen? Öffnet sich hier nicht dem Blick ein neues Leben, viel wahrhaftiger, viel lebenswerter als das, an dem wir tragen? Was ist nun Wirklichkeit, was ist nun Traum? Eine holde Schwärmerei ist das Buch, in den Tönen lieblicher Inbrunst gegeben, ein holder Traum, von siegesstarken Sehnsüchten und Ahnungen durchzuckt. (Hannoverscher Kurier) Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen. – Das historische Vorspiel der »Juden von Zirndorf«, »Alexander in Babylon« und diese drei Novellen bezeichnen für mich bisher die Höhepunkte im Schaffen Jakob Wassermanns. (Literarisches Echo) * * * * * Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig. Liste korrigierter Druckfehler Seite 51: Ergänzung des Wortes „einen“ (Auch Erwin hatte einen Brief erhalten.) Seite 52: „im“ ersetzt durch „ins“ (Virginia sah ihm entsetzt ins Gesicht.) Seite 87: „Eine“ ersetzt durch „Ein“ (Ein Hängeteppich statt der Tür trennte den Raum von dem Zimmer, ...) Seite 133: „war war“ ersetzt durch „was war“ (Genießen, was war damit viel bedeutet?) Seite 140: „Virgina“ ersetzt durch „Virginia“ (»Es wird ja wieder aufhören zu regnen«, meinte Virginia.) Seite 177: „Taklosigkeit“ ersetzt durch „Taktlosigkeit“ (..., sagte er gedrückt, ohne zum Bewußtsein seiner Taktlosigkeit zu gelangen.) Seite 279: Doppelte Anführungszeichen um „Phönix“ durch einfache ersetzt (Dann steuert der ›Phönix‹ heimwärts.) Seite 293: Schließendes Anführungszeichen ergänzt (»Ja. Sie sitzt in ihrem Zimmer.«) Seite 314: Punkt am Satzende ergänzt (Doch alle Erinnerungen starben an dem Jubel dieser Vollkommenheit.) Seite 368: „Geberde“ ersetzt durch „Gebärde“ (... und ihre beiden halbentblößten Arme waren mit einer Gebärde eben jener namenlosen Verzweiflung in den Schoß hineingepreßt.) *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MASKEN ERWIN REINERS *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the trademark license is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. Project Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. 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Except for the limited right of replacement or refund set forth in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE. 1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any provision of this agreement shall not void the remaining provisions. 1.F.6. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate. While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. 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