*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 13805 *** Todsünden Roman von Hermann Heiberg Berlin Verlag des Vereins der Bücherfreunde 1891 Hermann Heiberg. Unter den großen Verdiensten, die der Träger dieses vielgefeierten Namens sich erworben, steht nicht in letzter Linie das: in jenen drangvollen Zeiten, als eine kraftvolle Gegenwartskunst mit einer schwächlichen Nachklangskunst zusammenprallte, der neuen Dichtung in den weiteren Kreisen des bis dahin gleichgültig gebliebenen Publikums Bahn gebrochen zu haben. Es geschah dies durch seine Bücher „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland“ und „Apotheker Heinrich.“ Aber wie, Heiberg ein Bahnbrecher? Er war allerdings sehr viel weniger ein solcher, als die, welche das Wort Realismus auf ihre Fahne geschrieben hatten. Er — so wenig wie Theodor Fontane — brach auch keineswegs so ganz mit der Vergangenheit, wie jene es zu thun meinten; er — so wenig wie Theodor Fontane — stellte keine großartigen, langatmigen und langweiligen Programme auf; er — so wenig wie Theodor Fontane — spielte sich als Begründer einer ganz neuen, noch nie dagewesenen Poesie auf. Dafür vollbrachten Theodor Fontane und Hermann Heiberg realistische Thaten; sie waren unter den ersten in Deutschland, welche die Wirklichkeitskunst begründeten. In den siebziger Jahren erschien ganz im Stillen Fontanes „L'Adultera“; Heiberg schrieb 81 seine graziösen, entzückenden Plaudereien und zwar nur, „um seine mißmutigen Gedanken zu töten,“ keineswegs aber, am allerwenigsten, um Belegstücke zu liefern, welche die einzige Berechtigung des neuen Dogmas darthun sollten. Er schrieb sie freilich gerade in der Zeit, als jener heiße Kampf entbrannte; doch hat das vielleicht nicht so sehr den maß- und geschmackvollen Realismus, der seine Dichtungen kennzeichnet, hervorgerufen, als sein durch seine Vergangenheit geschärfter Wirklichkeitssinn. Er _war_ Realist, er wurd' es nicht erst. Denn er hatte gelebt, und er hatte erlebt, eh' er die Feder ergriff; er war ein reifer Mann, als er sein erstes Buch schrieb; er erfüllte buchstäblich die Forderung der Concourts, (wenn ich nicht irre, waren es die beiden Brüder, welche sie aufstellten,) daß man erst vierzig Jahre zählen müsse, bevor man sich Realist nennen dürfe. Aber Realist! Meines Wissens hat sich Heiberg nie so genannt, und da seine Bücher nicht „die einzige Berechtigung des Realismus“ beweisen wollten, da er sich nicht auf ein einseitiges Dogmenverkünden und Dogmenbeweisen kapriziert hatte, sondern in Wahrheit nichts anderes als _wirken_, nämlich die Sinne und die Seele des Lesers nach seinem Willen regieren, sie mit den Bildern und Vorstellungen, welche seine Ideen forderten, füllen wollte — etwas, was bis jetzt alle Dichter seit Homer, ohne Ausnahme, erstrebten —, so nahte seinen Büchern das Publikum sich unbefangen und ohne jegliche Voreingenommenheit. Dem Publikum ist es nämlich in der That ja ganz gleichgültig, wer vor ihm steht, ob es ein Idealist, Romantiker, Realist oder was immer sei — als ob überhaupt die Wirklichkeit diese Gegensätze so scharf begrenzt anseinanderhielte! — es will nur eins: es will bezwungen sein; der Leser wünscht zu fühlen, daß der Künstler Gewalt über ihn habe, er will sein Gefangener sein... Heiberg bezwang das Publikum; er fesselte es mit Rosenguirlanden in seinen entzückenden Plaudereien; aber aus seinen folgenden Büchern — ich denke hier besonders an den „Apotheker Heinrich“ — langte es mitunter zugleich wie ein Paar grauer Schattenarme, die sich Einem unvermerkt um den Hals schlangen, fester und fester... und die uns mit unheimlicher Gewalt tiefer und tiefer in das Buch und seine Geschichten hineinzusehen zwangen, bis langsam sich die Spannung löste und ein hinreißender Humor uns den Alp von der tiefaufatmenden Brust wälzte... Was sag' ich? in das Buch? In das Leben, in das Leben, wie es ist! In allen seinen folgenden Arbeiten, wenn auch in einzelnen bisweilen die Kraft des Dichters nachzulassen schien, steckte ein Element der Ursprünglichkeit, ein naives, leidenschaftliches Ergreifen der Dinge, wie es Einem lange nicht vorgekommen. Und dabei doch wieder: man fühlte sich so wohl bei Heiberg; er hat etwas Aristokratisches, Vornehmes, Weltmännisches; bei ihm vereinigte sich Weltton mit Frische, heitere Laune mit einer schneidenden Satire. Auch seine berückendsten Schilderungen waren durch einen goldechten Humor verklärt. Dieser Humor gerade ist das Auszeichnende der schriftstellerischen Persönlichkeit Heibergs: nicht viele Dichter der gegenwärtigen Zeit können sich zu diesem Erlösungsmittel durchringen, sie werden immer zwischen den schmerzvollsten Gegensätzen hin und her geschleudert, und erleichtert seufzen sie auf, wenn ihnen ein Begünstigter begegnet, und horchen auf ihn, um zu lernen, wie man das schwere Leben leicht nimmt. Und dringender wurde nun allgemach das Fragen: Wer ist dieser Mann? Wo kommt er her? Nicht müßige Neugierde blos war es, die so forschte. Denn, um es mit einem groben und beschränkten Wort zu sagen: Was Einer ißt, das ist er. Meine Leser verstehen sicher, was ich meine. Man erfuhr nach und nach folgendes. Hermann Heiberg ist am 17. November 1840 in Schleswig, der jetzigen Provinzialhauptstadt, als Sohn eines Rechtsanwalts geboren. Die Heibergs, eine angesehene Patrizierfamilie, spielten in der kleinen Stadt seit langem eine große Rolle. Heibergs Mutter, die noch lebt, entstammt dem gräflichen Hause Baudissin-Knoop. Er verlebte eine sehr glückliche Jugend, man ließ ihm als Knaben Luft und Licht ... und er war ein frischer, fröhlicher Junge, kein Stuben- und Ofenhocker. Seine Jugend wirft denn auch einen lichten, lachenden Schein in all seine Bücher,... er ist einer der größten und naturwahrsten Kinderdarsteller der Gegenwart, ebenso wie er die Kleinstadt, in der eben seine Jugend dahinfloß, meisterhaft zu vergegenwärtigen weiß. Nachdem Heiberg das Gymnasium seiner Vaterstadt durchlaufen hatte, wollte er das Studium der Rechte ergreifen; doch verhinderten die damaligen Wirrnisse in Schleswig-Holstein und andere Umstände die Ausführung dieses Entschlusses. Heiberg ward Kaufmann und zwar Buchhändler. Seine Lehrjahre, die er später im „Januskopf“, diesem vortrefflichen Buchhändlerroman, geschildert hat, absolvierte er in Kiel. Dann übernahm er in Schleswig die selbständige Leitung einer von seinem Vater begründeten, aber bisher von fremder Hand verwalteten Buchhandlung, die er wenige Jahre später, nachdem er inzwischen ein Jahr in Köln gewesen, als Eigentum an sich brachte. Nach dem Krieg von 1866 verkaufte er sein aufblühendes und mit einer eigenen Druckerei versehenes Geschäft, um nach Berlin zu übersiedeln. Hier ward er vorerst geschäftlicher Leiter der Nordd. Allg. Ztg., dann der Spenerschen Zeitung, doch bald wurde der energische und tüchtige Mann in die Direktion der Preußischen Bankanstalt berufen. In seiner neuen Stellung sammelte er die vielseitigsten Erfahrungen, zumal sie ihn zu häufigen und ausgedehnten Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Holland, Belgien, Dänemark, Frankreich und England veranlaßte. Wo ist ein Schriftsteller mit einer so eigentümlichen und bewegten Vergangenheit, ein Schriftsteller, der als thätiger Mann im Leben stand, nicht es als müßiger Zuschauer beobachtete?... Die Bank liquidierte; er stellte sich auf eigne Füße und beschäftigte sich vorwiegend mit der Einleitung zur Finanzierung von Eisenbahn- und Tramway-Unternehmungen; erhielt auch einige male allein oder im Verein mit anderen bedeutsame Vertretungen — so war er z.B. einmal vorübergehend Bevollmächtigter der chinesischen Regierung für eine Finanzierung in London —, zog sich aber endlich doch, mehrfach um die Früchte seines Fleißes und seiner Geschicklichkeit gebracht und grenzenlos angewidert von allem, was „Geschäft“ heißt, zurück. Im Jahre 1881 schrieb er dann, „um meine mißmutigen Gedanken zu töten,“ wie er sagt, jene reizenden „Plaudereien mit der Herzogin von Seeland.“ Der große Erfolg, den dieses anmutige und originelle Buch fand, ermunterte ihn zum Weiterschaffen, und so lebt er denn noch jetzt als Schriftsteller in Berlin W., an der Seite einer liebenswürdigen Frau, mit der er sich 1865 vermählt hat, umgeben von einem blühenden Kinderkreis, rastlos und erfolgreich thätig. Hiermit legt der Verein der Bücherfreunde der deutschen Leserwelt sein neuestes Werk vor. * * * * * Es war Herbstzeit, doch bisher hatte kein Sturm die Bäume ihrer Blätter entkleidet. Wohin das Auge blickte, sah es noch Laub, aber die Wälder hatten doch ihr Aussehen bereits verändert: wundervolle kupferrote und in scharfem Eiergelb prangende Farben tauchten neben dem Grün, das der Sommer gezeigt, auf, und wie mit Silber bedeckt erschien ein einzelner Baum, der, hoch die andern überragend, emporstrebte aus einem parkartigen Gehölz, welches das versteckt und düster gelegene Erbgut Falsterhof rings umgab. An einem solchen Herbsttage, um die Dämmerung, wandte sich ein Mann, der eben die Dreißig zurückgelegt hatte, in die zu dem Gute führende Kastanienallee. Aber bald hemmte er seine Schritte und horchte gespannt nach dem Hofe hinüber. Als von dort das Gebell eines Hundes an sein Ohr schlug, änderte er, den unheimlich klugen Mund in dem scharfknochigen, bartlosen Gesicht bewegend, die Richtung, zwängte sich durch zwei eine stille, große Wiese flankierende Feldsteine hindurch und ging, wiederholt vorsichtig um sich schauend, auf einem Umwege dem Gehöft zu. Nach zehn Minuten hatte er ein zur Linken des Herrenhauses sich hinstreckendes, dichtes Gehölz erreicht, durchschritt es, bis er an einen Gemüsegarten gelangte, und schlich dann an einem diesen begrenzenden Wirtschaftsgebäude entlang. Hier übersprang er, den gebahnten Weg verlassend, einen mit Brennesseln bestandenen Graben und befand sich zuletzt nur noch wenige Schritte entfernt von einem hier emporragenden Flügel des Gutshauses. Es war ein wohl über zwei Jahrhunderte alter, aus breiten, starken Backsteinen abgeführter, verwitterter Bau, umrankt von Epheu und Schlinggewächsen, und dem Auge um so unfreundlicher und düsterer erscheinend, als die Fenster tief eingeladen waren, und große Bäume ihn beschatteten. Vor zwei Monaten war, über siebzig Jahre alt, der Besitzer von Falsterhof, Klaus von Brecken, gestorben, und seit vierzehn Tagen kämpfte seine ebenso alte Frau Marianne, geborene Sand, mit dem Tode. Das wußte der Mann, der hier horchend still stand und sich so Gewißheit verschaffen wollte über Verlauf oder Ende der Krankheit. Das Schlafzimmer der Greisin lag nach hinten hinaus; es schaute mit seinen Fenstern auf einen jetzt von dem Fremden betretenen, von Gebüsch eingefriedigten kleinen Rasenfleck. Monate konnten vergehen, bevor es jemandem einfiel, diesen abgeschiedenen Winkel zu beschreiten; so war denn der Späher sicher, daß niemand ihn beobachten werde. Nun drückte er sich hart an die Mauer, bestieg einen an sie gelehnten Feldstein und schaute ins Innere des Hauses. Eben fuhr der Abendwind durch Gebüsch und Bäume und fing sich stürmisch in dieser Ecke. Aber Tankred von Brecken, der Besitzerin Neffe, kümmerte sich nicht darum. Mit Luchsaugen beobachtete er, was drinnen im Krankenzimmer vorging. In einem hohen Bett mit verblichenen, grünseidenen Gardinen lag die alte Frau mit gefalteten Händen; eine Lampe brannte auf dem Tisch mitten im Zimmer; daneben Medizinflaschen, Gläser, Leinewand, Schwämme und Schachteln. Alte, schwere Möbel standen ringsum; ihr Äußeres bekundete Gediegenheit und Wohlhabenheit; so ernsthaft schauten sie drein, als empfänden sie, was sich hier abspielte, als hörten sie das Röcheln der Kranken, als sähen sie das blasse, schmerzverzehrte Angesicht einer jungen Frau, die sich in einen großen, seidenbezogenen Lehnsessel niedergelassen hatte und nun schon seit zwei Tagen und Nächten von der Sterbenden, ihrer Mutter, nicht gewichen war. Vor einigen Jahren hatte Theonie Cromwell ihren Mann, einen jungen Ingenieur, nach dreimonatlicher Ehe verloren und war dann zu ihren Eltern nach Falsterhof zurückgekehrt. Sie hatte kaum je einen Blick in die Welt gethan, denn seit ihrer Geburt war sie nur zweimal für kurze Zeit vom Gute fortgewesen. Gouvernanten hatten ihren Unterricht geleitet; als sehr spät geborenes, einziges Kind hatten ihre Eltern sie nicht missen wollen und jene Methode der Erziehung zur Anwendung gebracht, die, einem unbewußten Egoismus entspringend, mehr den Eltern selbst als den Kindern zu gute kommt. Was sich jetzt diesem jungen Leben eröffnete, war schmerzlich genug. Theonie war zwar Erbin des großen Besitzes, aber stand völlig allein in der Welt da. Der einzige Verwandte, den sie besaß, war Tankred von Brecken, derselbe, der eben versteckt ins Krankenzimmer spähte. Aber schon bei der ersten, vor vier Monaten erfolgten Begegnung mit ihm hatte sich ihrer eine unauslöschliche Abneigung gegen ihn bemächtigt. Tankred war glatt, höflich und zuvorkommend, aber sein Antlitz, das Theonie an die Züge eines Verbrechers erinnerte, von dem sie einmal ein Bild in einem Buche gesehen hatte, schuf in ihr ein Urteil über seinen Charakter, von dem sich ihre Vorstellungen nicht zu lösen vermochten. Tankred war der einzige Sohn eines jüngeren Bruders des verstorbenen Herrn von Brecken, der alles durchgebracht und zuletzt von den Wohlthaten des Besitzers von Falsterhof gelebt hatte. Auch Tankreds Mutter lag unter der Erde, man sagte, aus Gram über die Verkommenheit ihres Sohnes, der früher als Schreiber auf adligen Gütern thätig gewesen war, aber nirgend seine Stellung hatte behaupten können und sich zuletzt — gleich nach dem Ableben seiner Mutter — auf Falsterhof eingefunden hatte. Hier saß er nun schon seit Monaten umher, erklärte, sich trotz seiner Bemühungen keine neue Thätigkeit verschaffen zu können, und fand in Theonies Mutter, die ganz von seiner Art und seinem Wesen eingenommen war, genügenden Rückhalt, um sein Faulenzerleben fortzusetzen. Ganz allmählich hatte er sich zum Herrn der Situation in Falsterhof zu machen gewußt; er bewohnte die Zimmer des verstorbenen Hausherrn, rauchte dessen zurückgelassene Zigarren, bediente sich seiner Pfeife und schritt mit seinem Feldstock über das Gut. Taschengeld steckte ihm die Tante zu, und bevor ihre Krankheit sie ergriffen, hatte sie sogar darauf Bedacht genommen, daß ihm bei Tisch nichts vorgesetzt wurde, was er nicht mochte, und daß ihm Bequemlichkeiten zu teil wurden, wie man sie nur älteren und besonders geschätzten Personen verschafft. Tankred sprach mit solcher Offenheit über sein Vorleben, drückte eine anscheinend so ehrliche Reue darüber aus, seinen Eltern Kummer bereitet zu haben, legte einen solchen Abscheu davor an den Tag, in alte, schlechte Gewohnheiten zurückzuversinken, und wußte seine Tante in so geschickter Weise zu umschmeicheln, daß die Frau sich völlig umgarnen ließ und alle ihre Vernunft, die ihr doch bisweilen etwas anderes zuflüsterte, gefangen gab. „Du bist nun einmal durch Tankreds Vorleben gegen ihn eingenommen, Theonie!“ hatte sie ihrer anfangs noch schüchterne Einwendungen machenden Tochter gesagt. „Menschen können sich doch ändern! Diesen jungen Mann haben die Lebenserfahrungen früh weise gemacht. Ich glaube an seinen ehrlichen Willen und an sein Herz und bin überzeugt, daß er fortan nur grade und gute Wege gehen wird.“ Am Tage vor dem Eintritt ihrer Krankheit hatte Frau von Brecken sogar fallen lassen, daß es vielleicht ein guter Plan sei, Tankred zum Oberverwalter des Gutes und des Vermögens einzusetzen, ihm auf diese Weise Thätigkeit und Erwerb zu geben und die Pflichten natürlicher Rücksicht gegen den einzigen Verwandten zu üben, den sie noch auf der Welt besäßen. Mit allen Zeichen höchsten Schreckens hatte Theonie dem zugehört. „Mutter, ich bitte Dich, welch ein Gedanke! Schrieb uns nicht Tante noch sechs Wochen vor ihrem Tode, daß Tankred wegen Veruntreuung vom Grafen Thorley auf Rinteln entlassen sei? Soll ich den Brief hervorholen, in welchem sie, daran verzweifelnd, jemals einen braven Menschen aus ihm zu machen, seinen Charakter schildert? Steht es dort nicht geschrieben, daß man sich um so mehr vor ihm hüten müsse, als er ein großer Künstler in der Verstellung sei, daß er die Herzen der Menschen umstricke, sich ihnen füge und anbequeme, aber stets ein verstecktes Ziel dabei im Auge habe? So lautet das Urteil der eigenen Mutter, und Du, die Du doch erschrocken warst über sein plötzliches, unaufgefordertes Erscheinen hier, schwörst nun auf seine Tugend und denkst sogar daran, unser Eigentum seiner Hand anzuvertrauen? Ich wollte, der schreckliche Mensch wäre erst aus dem Hause, ja, mir scheint, wir müßten eher große Opfer bringen, um ihn für immer von uns zu entfernen, als daß wir darüber sinnen, ihn an uns zu fesseln. Weißt Du, was ich glaube? Nicht nur zu Unehrlichkeiten, zu leichtfertigen Streichen ist er fähig, sondern unter Umständen zu einem Verbrechen!“ „Theonie! Theonie!“ rief die alte Dame entsetzt und für ihren Neffen Partei nehmend. „Welche Gedanken! Meine Schwägerin, Deine Tante, war eine kalte, mißtrauische Natur. Sie erzog ihren Sohn lediglich aus Pflichtgefühl. Liebe empfand sie weder für ihn, noch für ihren verstorbenen Mann. Obgleich sie seine Mutter war, war ihr Urteil im schlechten Sinn getrübt. Sie ließ überhaupt keinem etwas Gutes, sie sah stets nur die Schattenseiten der Menschen. Tankred wurde leichtsinnig und genußsüchtig, weil sein Vater ihm ein trauriges Beispiel gab, und die Mutter ihm nie einen Funken Liebe zeigte, aber er ist nicht verdorben, nicht schlecht, berechnend oder gar verbrecherisch. Grade Menschen wie Tankred bringt man oft am sichersten zur Umkehr, wenn man ihnen Vertrauen schenkt. Ihr ersticktes Ehrgefühl erwacht dann, und sie bestreben sich, zu zeigen, daß sie doch im Grunde etwas anderes sind, als wofür man sie hält.“ — — Nachdem Tankred fast eine Viertelstunde seine Tante und Kousine belauscht hatte, wich er zurück und schien auf Grund der von ihm gemachten Beobachtungen zu einem Entschluß gelangt zu sein. Aber rasch, wie von einem plötzlichen Anruf umgestimmt, wandte er sich wieder um, als nun eben ein Schrei aus dem Innern durch Fenster und Mauern drang und ihn belehrte, daß in diesem Augenblick sich etwas Entscheidendes zugetragen habe. Er sah, als er wieder ins Gemach spähte, daß seine Kousine sich mit allen Anzeichen des Schreckens und Schmerzes über ihre Mutter herabbeugte und der offenbar ihre letzten Seufzer aushauchenden Greisin behülflich war, die Todesqual leichter zu überwinden. Das Stöhnen und Ächzen, das Tankred aufgescheucht hatte, wiederholte sich; schrecklich verzerrten sich die Züge der Sterbenden, und kaum fünf Minuten später hatte Frau von Brecken ihren Geist aufgegeben. Rasch wie der Blitz verschwand nun der Kopf Tankreds vom Fenster. Mit wenigen Sätzen hatte er den kleinen Wiesenplan und den Graben übersprungen, und bald befand er sich, wieder den Weg durch das Gehölz einschlagend, abermals in der Allee. * * * * * Vor einer Stunde war die alte Frau von Brecken beerdigt. Eben war Theonie von dem Begräbnis zurückgekehrt und sank nun in ihren oben im Hause belegenen Gemächern an dem Tisch nieder und ließ das Haupt auf den ausgestreckten Armen ruhen. In ihrem Innern hatte nichts anderes Raum als der Schmerz, verstärkt durch das Gefühl einer grenzenlosen Vereinsamung und — Furcht. Außer ihr wohnten in dem großen Hause nur zwei Mädchen und ein bejahrter Diener ihres verstorbenen Vaters, ein zuverlässiger, aber eigentümlicher alter Mann, der etwas schwerhörig war. Das Haus des Pächters von Falsterhof lag fast eine Viertelstunde entfernt hinter dem Park, und der Pächter selbst war einer jener streng redlichen, aber plump graden Menschen, die man respektiert, aber nicht eben liebt. Da er unverheiratet war, führte ihm seine alte Schwester die Wirtschaft, und auch sie war wenig zugänglich. Im Herrenhaus befanden sich zur Linken im Parterre die gemeinsamen Wohngemächer, die sich bis in den Flügel ausdehnten; zur Rechten lagen die Räume, in denen jetzt Tankred sich breit machte, und oben Fremdengelasse und Theonies Zimmer. Im andern Flügel waren die Küche und die Gesindezimmer. Man mußte eine breite, beschnittene Hecke durchschreiten, wenn man von der Hinterfront des Hauses in das Gehölz gelangen wollte, welches sich dort düster hinstreckte. Auch vorn standen große, die Zimmer verdunkelnde Linden, und den Hof begrenzte der durch Stakete eingefriedigte Gemüsegarten mit hohen Gebüschen. So drang denn nie Licht, kaum Helle in die unteren Gemächer, und das Herrenhaus machte von außen und innen einen unheimlich düsteren, melancholischen Eindruck. „Was nun?“ drang's unwillkürlich und mit grenzenloser Schwermut aus Theonies Munde, als sie nach Bekämpfung des ersten Schmerzes das Haupt emporrichtete und, ihre Gestalt dehnend, sich im Zimmer umschaute. „Was nun?“ Weit lag die Welt vor ihr, nichts fesselte, hinderte sie, niemand beschränkte ihre Freiheit, und doch erschien ihr die Ferne, in die sie schaute, von allen Seiten begrenzt, doch fühlte sie sich gehemmt, als befände sie sich in einem Gefängnis. Die Freude am Dasein war ihr, da sie nun den letzten Familienanhalt verloren hatte, erloschen. Wenn sie sich vorstellte, daß sie ihr ganzes Leben in Falsterhof verbringen sollte, kam's verzagend über sie, aber ebenso sehr schrak sie davor zurück, sich anderswo in der Welt niederzulassen. Alles hatte Reiz und Farbe für sie verloren. Als zuletzt ihre Gedanken sich wieder dem Nächstliegenden zuwandten, dem Tag und seinen Bedürfnissen, und auch Tankred vor ihren geistigen Augen erschien, schüttelte sie sich in Grauen, und all ihr Denken und Sinnen richtete sich darauf, in welcher Weise sie ihn würde entfernen können. In den legten Tagen während der schweren, schon hoffnungslosen Krankheit ihrer Mutter hatte er lügnerischer Weise erklärt, eine Reise unternehmen zu müssen, da sich ihm unerwartet Ansichten auf eine Stellung eröffnet hätten. Vor seinem Fortgang hatte er in seiner schmeichlerischen Weise die Kranke getröstet: wenn er wiederkomme, werde sie schon ganz die alte sein, sie sehe bereits wohler aus, viele Jahre seien ihr noch beschert. Er bedaure, grade jetzt Falsterhof verlassen zu müssen, ihr nicht Gesellschaft leisten zu können, aber er halte es für seine Pflicht, eine gute Gelegenheit zur Erlangung einer Stelle nicht vorübergehen zu lassen. Unter einer Pflege, wie Theonie sie ihr biete, sei die Kranke besser aufgehoben als unter irgend einer andern; das beruhige ihn. Und dann hatte er Theonie voll Zärtlichkeit umarmt, sie mit seinem demütigen Blick gestreift und war abgefahren. Während sich die alte Dame in Lobsprüchen über ihn erging, dachte Theonie ihr Teil. Sie durchschaute ihren Vetter; ihr Mißtrauen, ihre Abneigung verschärften ihre natürliche Menschenkenntnis. Sie war überzeugt, daß er nur ging, weil es ihn langweilte, bei der Krankheit und dem Ende der alten Frau zugegen zu sein und Rücksichten zu üben, durch deren Vernachlässigung er sich in ein schlechtes Licht stellen würde. Er werde, sie war dessen sicher, erst wiederkehren, wenn alles vorüber wäre, wenn ihm keine Lasten mehr aufgebürdet werden könnten. Er wußte auch, daß sie, Theonie, ihn nicht herbeirufen werde. Tankred kannte nur sich; um seiner Behaglichkeit keinen Abbruch zu thun, scheute er weder Lüge noch Verstellung. Alles, was ihn irgendwie genieren konnte, suchte er möglichst aus dem Wege zu räumen. Und in der That war er erst wieder in Falsterhof eingetroffen, nachdem die Leiche bereits aus dem Hause geschafft und in der Kirchhofkapelle des eine Stunde entfernten Gutsdorfes Breckendorf niedergesetzt war. Nun heuchelte er Überraschung, Trauer und Leid, so spät — zu spät gekommen zu sein! Aber schon eine Viertelstunde später bemerkte ihn Theonie, vergnüglich eine Pfeife rauchend, im Park. Sicher hätte ihn das Herabfallen eines Spatzen vom Dach nicht mehr berührt als der Tod seiner Verwandten und Wohlthäterin. Theonie sah alles kommen. Die Stelle hatte er nicht erhalten; nur zu begreiflich, weil gar keine in Aussicht gestanden, und er auch nicht die Absicht gehabt hatte, eine anzunehmen. Wenn vier Wochen, wenn acht Wochen vorüberzögen, würde er sich noch auf Falsterhof befinden, wie bisher zweimal die Woche in die Stadt Elsterhausen fahren und sich amüsieren, zu Fuß und Wagen Ausflüge unternehmen, Gutsbesitzer der Umgegend besuchen und die übrige Zeit essen, trinken, schlafen, faulenzen und den Herrn spielen. Und Theonie erwartete mit Sicherheit einen Heiratsantrag von seiner Seite. Sie und damit Falsterhof zu seinem Eigentum zu machen, war sein verstecktes Ziel. Nicht gleich — nicht überstürzt — er hatte Zeit zu warten! Ihre Fragen, ihre Anspielungen, ihre deutlichen Wünsche würde er umgehen, wohl aber dann und wann ihr dieselben Lügen auftischen wie ihrer verstorbenen Mutter: daß er sich um Thätigkeit und Verdienst bewerbe und Aussicht habe, sie zu finden. Und wenn sie dann erklärte, eher sterben zu wollen, als ihn heiraten, wenn sie zulegt die Forderung an ihn stellte, Falsterhof zu verlassen, dann würde die Maske fallen, und sein wahres Gesicht zu Tage treten. Und dieses Gesicht hatte sie jüngst im Traume gesehen — es war die Physiognomie eines beutehungrigen Schakals gewesen. Tankred hatte schreckliche Fäuste, — er zerbrach mit den Fingern einen eisernen Ring, — er hatte fürchterliche Backenknochen, er besaß die herkulischen Schultern eines Einbrechers, er hatte in unbewachten Momenten die Augen eines Raubvogels. Mitten in ihren Gedanken schnellte Theonie empor und begab sich mit einer gewissen Hast in das Privatzimmer ihrer Mutter, schloß hinter sich die Thür in dem düsteren Raum und öffnete die Pultschublade der Verstorbenen. Sie wollte das, wie sie wußte, hier liegende Testament ihres Vaters an sich nehmen. Eine plötzliche Unruhe und Angst, daß es von Tankred beiseite gebracht werden könne, daß es gar schon von ihm aus der Schublade entfernt sei, hatte sie ergriffen. Mit zitternden Händen und fliegendem Atem suchte sie. Als sie das Dokument nicht gleich fand, stockte ihr Herzblut, ihr war, als sei ihre Furcht schon bestätigt, und wie von einer schrecklichen Last befreit, hob sich ihre Brust, als sie endlich in einem der Fächer neben anderen wichtigen Papieren das Gesuchte fand. ‚Mein letzter Wille‘ lasen ihre sich rasch verschleiernden Augen. Mit den Schriftzügen ihres verdorbenen Vaters traten auch seine Gestalt und sein Wesen vor ihre Seele, und eine namenlose Sehnsucht nach dem Dahingeschiedenen bemächtigte sich ihrer. Ihr Blick durchstreifte das Gemach und ging weiter in das Wohnzimmer. Dort an dem Tisch hatte er mit seinem freundlichen Gesicht gesessen, und neben ihm die Unvergeßliche, der Theonie nun eben das letzte Geleit gegeben. Ihr Leben, viele Einzelheiten ihrer Jugendzeit, die letzten Jahre, auch die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann traten in ihr Gedächtnis, und abermals kam's über sie wie Gewitterschwüle. Angst und Grauen bemächtigten sich ihrer Seele und ließen sie nicht. Der sie sonst anheimelnde, eigene Duft der Räume, der Geruch von verwelktem Reseda und Rosen legte sich ihr schwer und atembeklemmend auf die Brust, und als nun die Thürglocke anschlug, und der Hund, der immer bellte, wenn Tankred ins Haus trat, sich laut rührte, als sie wußte, daß er eben den Flur beschritten, raffte sie, als habe sie ein Verbrechen begangen, das Testament an sich, versteckte es mit hastiger Bewegung unter ihrem Mieder und schloß rasch das Pult. Dann setzte sie sich aufrecht und horchte gespannt. — Nichts — Tankred schien sich in den Garten begeben, seine Gemächer nicht betreten zu haben. Nachdem sie noch eine Weile zaudernd dagesessen, gingen ihre Blicke bald auf die Thür, bald auf das nach dem Park sich öffnende Fenster. Und als sie nun eben zum zweitenmal dorthin schaute, mehr unwillkürlich als bewußt, schrie sie auf, denn sie sah den scharfknochigen Kopf ihres Vetters mit luchsartig gespannten Augen ins Zimmer spähen und sie beobachten. Freilich verschwand sein Gesicht mit Zauberschnelle, als ihre Blicke sich mit allen Zeichen des Schreckens auf ihn richteten; doch als sie, entschlossen aufspringend, hinausschaute, um sich zu vergewissern, ob es Wirklichkeit oder nur ein Bild ihrer Phantasie gewesen, lagen der kleine Rasenfleck und der Graben mit den hohen Brennnesseln wie immer einsam und menschenleer vor ihr. Nun schloß sie die Thür des Kabinets auf, eilte die Treppe zu ihren Gemächern empor und machte sich, nachdem sie einigermaßen ihre Ruhe zurückgewonnen, an die Durchsicht des Testaments. — Theonie war groß und schlank, fast ein wenig zart gebaut, besaß sehr schöne, regelmäßige Züge, weiße Hände und schmale Füße und jenes Zurückhaltende in der Erscheinung und im Wesen, das die Männer reizt, in das Innere einer Frau einzudringen, und sie zu Versuchen anstachelt, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte jenes Unpersönliche in ihrem Blick und in ihrer Art, das leicht zu dem Schluß gelangen läßt, der damit Behaftete sei nur mit sich beschäftigt, interesselos und hochmütig oder so sehr durch anderes abgelenkt, daß vorliegende Dinge ihn nicht fesseln. Aber oft ruht grade unter solcher Oberfläche Feuer und Leidenschaft; diese Gleichgültigkeit ist dann der Schleier, den man vorlegt, um unter ihm besser beobachten zu können; vielfach ist's auch ein Produkt der Erziehung, welche Zurückhaltung als ein Gebot der Schicklichkeit hinstellt, oder ein angeborener Mangel an Gefallsucht. Das letztere war bei Theonie der Fall. Sie besaß eine durchaus reine Seele, aber sie war nicht eben biegsam, und ihre eigentliche Natur hatte sich nach der kräftigeren, selbstbewußteren Seite hin bisher nur einmal bethätigen können, und zwar nach dem Tode ihres Mannes. Bis dahin war ihr Leben so ruhig, aber auch so ernst verlaufen, wie sie selbst erschien. Ihr Vater hatte an der Scholle gehangen, in seinem Willen und Wünschen ging ihre verstorbene Mutter auf; gleichmäßig dahinfließendes, von Aufregung freies und kaum durch Zerstreuungen unterbrochenes Dasein war aus eigener Neigung beider Eltern Teil gewesen, und was sie selbst nicht empfunden und geschätzt, dafür hatten sie auch bei Theonie keine Neigung vorausgesetzt. Den Tod ihres Schwiegersohns hatten sie wohl ehrlich beklagt, aber die Freude, ihre Tochter dadurch wieder gewonnen zu haben, überwog bald den Schmerz und machte sie weniger empfindlich für die Trauer, die Theonie um so mehr durchdrang, als sie mit dem Verlust ihres Gatten auch die Aussicht und Hoffnung auf ein abwechslungreicheres, fröhlicheres und der Welt mehr zugewandtes Leben begrub. Daß sie fernerhin wieder auf Falsterhof leben und hier sterben werde, stand für sie außer Frage. Das Glück, das ihr kurze Zeit gelächelt, hatte sie schnell wieder verlassen, denn daß sie noch einmal einen Mann lieben könnte, hielt sie für undenkbar. — Als die Mittagsglocke nach alter Weise ertönte, war Theonie eben mit dem Durchsehen des Testaments fertig und ging nun hinab, nun hinab, um im Gartenzimmer mit Tankred das Diner einzunehmen. Als sie in die Thür trat, schritt ihr Vetter mit dem Ausdruck tiefer Teilname auf sie zu und drückte wortlos einen Kuß auf ihre Hand. Sie litt es nur halb; bei seiner Berührung war's ihr, als ob ein böses Tier sich ihr genähert habe, und nur mit Aufbietung ihres ganzen Willens vermochte sie, ihm unbefangen zu begegnen. „Ich fuhr nicht mit Dir zusammen vom Kirchhof zurück, Theonie,“ hub Tankred, nachdem er sich niedergelassen, an, „weil Pastor Höppner noch den Wunsch hatte, mich zu sprechen. Als ich an den Wagen eilen wollte, um Dir dies mitzuteilen, warst Du schon fort. Aber vielleicht wünschtest Du auch allein zu fahren?“ Die letzten Worte sprach Tankred mit Berechnung, und in sein Auge trat trotz seiner gefügigen Mienen ein lauernder Ausdruck. Er wußte seit seinem ersten Eintritt ins Haus, wie Theonie zu ihm stand; nur der Wunsch, daß es anders sein möge, verwischte bisweilen sein klares Urteil. So war es auch heute. „Ja,“ erwiderte Theonie mit denselben fast unbeweglichen Ernst, mit dem sie ihm begegnet war seit dem Beginn der Krankheit ihrer Mutter, „ich hatte allerdings das Bedürfnis, mich abzuschließen, und hätte Dich sogar gebeten, mich allein fahren zu lassen.“ Er nickte und besann sich. Dann sagte er, ihrer stummen Frage, ob er mehr Suppe begehre, durch Hinreichen des Tellers entsprechend, einschmeichelnd: „Ich bin also beruhigt, Theonie. Freilich würde ich glücklicher sein, wenn Du den Wunsch gehabt hättest, in meiner Nähe zu sein. Ich hätte dann doch einmal empfunden, daß Du ein etwas warmes Gefühl für mich besitzest.“ „Nein, ich besitze es nicht!“ gab die Frau ehrlich zurück. Nie war Theonie ihrem Vetter bisher so begegnet. Wohl war sie ihm stets ausgewichen, aber über ihre Lippen war noch keine Silbe gedrungen, die auf Freundschaft oder Abneigung hätte schließen lassen können. Ihn erschreckte deshalb ihre Offenheit nicht wenig, und er horchte gespannt auf. Wollte sie fortan aus ihrer stummen Abwehr heraustreten? Wollte sie rasch und ohne Rücksicht das Band zwischen sich und ihm durchschneiden? Er mußte es wissen, es drängte ihn heiß, und statt ihre Worte zu umgehen oder etwa in leichter Weise darauf zu antworten, sagte er unvermittelt: „Weshalb hassest Du mich, Theonie? An dem Begräbnistage Deiner Mutter sei einmal aufrichtig gegen mich. Vielleicht gelingt es mir doch, Dir eine bessere Meinung von mir beizubringen.“ Sie gab keine Antwort, sie benutzte das Eintreten Freges, des Dieners, und sagte mit dem gehobenen Ton, mit dem man dem Alten bei seiner Schwerhörigkeit begegnen mußte: „Es fehlt ein Löffel, Frege! Auch bringen Sie eine Flasche Wein.“ — Als der Diener gegangen, sah sie ihres Vetters Auge auf sich gerichtet mit jenem Blick, der zur Rede auffordert, und senkte das ihrige. „Nun? Du willst mir nicht antworten, Theonie?“ Jetzt begegnete sie einem schreckenerregenden Ausdruck in seinem Gesicht; deutlicher Haß spiegelte sich in seinen Mienen, obschon er sie rasch wieder glättete. Da ging's durch ihr Inneres, ob's nicht, um zum Ziel zu gelangen, klüger sei, sich auch zu verstellen, wie er es that. Eine nicht zu bannende Furcht kam über sie; so sehr lag sie unter dem Druck ihrer bangen Ahnungen, daß sie aufatmete, als Frege wieder ins Zimmer trat und zunächst den Löffel brachte. Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen, sagte Theonie, vorsichtig jedes Wort wägend, aber auch die Gelegenheit ergreifend, ihren Vetter über ihre Absichten nicht im Unklaren zu lassen: „Den Haß, von dem Du sprichst, habe ich keine Ursache, gegen Dich zu empfinden. Da wir aber sehr verschiedene Naturen sind, werden wir uns, glaube ich, nie recht verstehen und deshalb besser thun, von einander zu bleiben. Ich werde nicht vergessen, daß Du mein Verwandter bist, und werde die sich daraus ergebenden Rücksichten so lange gegen Dich üben, wie Du sie mir erweisest. Hoffentlich ist Dir das Schicksal auf Deinem späteren Lebenswege günstig, und Du bedarfst meiner hinfort nicht. Sollte es aber doch früher oder später der Fall sein, so sprich Dich gegen mich aus. Ich werde Deine Wünsche zu erfüllen suchen, sofern sie meine Kräfte und die Grenzen, die ich nur stecken muß, nicht überschreiten.“ Als Theonie mit ihrer Rede innehielt, neigte Tankred mit einem gemischten Ausdruck schlecht unterdrückter Enttäuschung und dankbarer Erkenntlichkeit kurz das Haupt und sagte: „Ich danke Dir für Deine Gesinnungen. Daß Du jemals in die Lage geraten könntest, ‚meiner‘ zu bedürfen, hältst Du wohl nicht für denkbar Theonie? Umfaßt der Reichtum denn allein die Mittel, mit dem sich ein Mensch dem anderen hülfreich erweisen kann?“ „Ich werde Dich nie um etwas bitten,“ entgegnete die Frau kalt, und von der klug beobachteten Grenze zwischen Offenheit und Rücksicht, die sie eben noch inne gehalten, abweichend. Aber sich ihres Fehlers bewußt werdend, fügte sie rascher hinzu: „weil ich überhaupt niemandem etwas schuldig sein möchte.“ In dem Gesicht des Mannes rührte sich nichts, obschon es in ihm wühlte. „Du äußertest vorher, Theonie, daß wir nach Deiner Ansicht besser thäten, uns fern von einander zu halten. Habe ich daraus den Schluß zu ziehen, daß Du wünschest, ich solle Falsterhof verlassen? Ist dem so, dann werde ich so bald wie möglich gehen, doch möchte ich Dich bitten, mir noch so lange Aufenthalt bei Dir zu gewähren, bis ich eine Stellung gefunden habe. Du wirst sagen, daß das nach den bisherigen Erfahrungen lange dauern kann, aber endlich wird sich doch wohl etwas aufthun. Wenn ich die Mittel hätte,“ — jetzt kam Tankred auf das, was ihm schon lange auf den Lippen lag, — „würde ich mir selbst ein Eigentum erwerben oder eine Pachtung zu übernehmen suchen, aber ich armer Teufel —“ „Du hast keinen Wein mehr. Darf ich Dir einschenken? Nein, hier ist eine andere Flasche, bitte! — Ich möchte, um Deine Frage zu beantworten, Falsterhof bald verlassen und mich auf einige Zeit zu den Verwandten meines verstorbenen Mannes begeben. Natürlich werde ich Rücksicht auf deine Wünsche nehmen,“ entgegnete Theonie, kühl ausweichend. „Das ist eine deutliche Antwort, Theonie. Sagen wir also, Du erlaubst mir, noch acht Tage zu bleiben.“ Sie gab keine Erwiderung. „Ist das zu lange?“ „O — nein— “ Es kam sehr zögernd heraus, und diesmal wußte Theonie, was sie sprach. Und doch, um seine Enttäuschung, die er nicht zu verbergen vermochte, zu mildern, knüpfte sie rasch an den Schluß seiner vorherigen Rede an und fügte hinzu: „Du sprachst von Mitteln, deren Du bedürftest. Auch ohne diesen Hinweis hätte ich Dich noch vor Deinem Fortgang gebeten, eine Summe, über die ich verfügen kann, von mir anzunehmen. Sonst ist in dem Testament meines Vaters alles so festgestellt, daß ich nur über die Zinsen zu disponieren habe.“ Tankred horchte auf. Was er vernahm, klang seinem Ohr nur zum Teil angenehm. Wenn sie die Wahrheit sprach, — und er vertraute ihr, obschon er als Gewohnheitslügner selten annahm, daß andere redlich verfuhren, — so konnte ihm nur aus einer Heirat mit Theonie ein Nutzen erwachsen, wie er ihn im Auge hatte, und daß an eine solche nicht zu denken, war ihm eben klar geworden. Es kam nun darauf an, zu erfahren, über welche Summe Theonie testamentarisch verfügte, und wie viel sie ihm davon zuzuwenden geneigt sei. Sicher würde die Gabe um so geringer ausfallen, als er die wenige Sympathie, die sie für ihn empfand, noch weiter verscherzte. Wollte er ihrem guten Willen alles anheim geben, so mußte er die Krallen auch ferner einziehen und sie geschickt umschmeicheln. Freilich, vielleicht erlangte er mehr durch Drohung, durch Gewalt —? Das mußte abgewartet werden. Vor keinem Mittel schreckte er zurück, zunächst aber wollte er es im guten versuchen. Je nach dem Umfange der Schenkung, die sie ihm anbieten würde, wollte er sein Verfahren einrichten. „Du bist sehr freundlich, Theonie, und ich danke Dir nochmals von ganzem Herzen,“ hub Tankred an. „Jede Unterstützung ist natürlich für mich von Wert, da ich nichts besitze. — Hoffentlich fandest Du durch das Testament alle Deine Wünsche erfüllt?“ Die letzten Worte sprach der Mann mehr, um glatte Reden zu machen, als daß er sich etwas dabei gedacht hätte. Theonie aber nahm sie auf und sagte: „Du meinst? Ich verstehe nicht —“ „Nun, ich wollte sagen, Du erhieltest dadurch die Unabhängigkeit, nach der Du verlangst.“ Sie schüttelte den Kopf, und scheinbar arglos, aber diesmal mit leiser Berechnung, stieß sie heraus: „Alles bleibt, wie es war. Kunth, der Pächter, zahlt wie früher die Pacht an unsern Advokaten, und ich habe die Verfügung über die Zinsen, wie zuletzt meine Mutter. Was mein Vater an barem Gelde erspart hat, das heißt, das, was er nicht dazu verwandte, um Falsterhof schuldenfrei zu machen, ist mein Eigentum, und ich kann darüber nach meinem Gutdünken verfügen. Ich wollte Dir davon die Hälfte zuwenden, die andere den armen Verwandten meines verstorbenen Mannes überweisen. Ich kann ja das Geld entbehren, da ich mich mit den Zinsen reichlich einzurichten vermag.“ „Wie hoch schätzt man eigentlich den Wert von Falsterhof?“ fragte lauernd Tankred, nachdem er ihre Rede mit leichtem, seinen Dank ausdrückenden Kopfneigen bestätigt hatte, in einem äußerlich uninteressierten Ton. „Ich weiß es nicht. Ich verstehe von dergleichen wenig und habe mich nie darum bekümmert. Ich freue mich nur, daß ich so viel habe, daß ich sorgenfrei leben und anderen Gutes erweisen kann. Darin wird in Zukunft ein Teil meiner Lebensaufgabe bestehen. Denn was sonst vor mir liegt, ist einsam und recht freudlos.“ Tankred hatte die Frage nach dem Wert von Falsterhof nur aufgeworfen, um seiner Kousine Sinn für Vermögensverhältnisse zu prüfen und danach wieder die Wahrhaftigkeit ihrer übrigen Angaben zu bemessen. Er wußte, daß für das Gut schon vor langen Jahren über viermalhunderttausend Thaler geboten waren, und ihn ärgerte nur, daß sein verstorbener Onkel, der pedantische Philister, die Hypotheken abgelöst hatte, statt Geld anzusammeln. Er brannte vor Neugierde, zu erfahren, wie groß die Summe sei, die Theonie zugefallen war. Aber da sie, trotz ihrer Offenheit in allem übrigen, damit nicht hervortrat, mußte er sich gedulden. Er sah keine Möglichkeit, ohne sich durch eine direkte Frage bloßzustellen, dem, was ihn beschäftigte, gesprächsweise auf die Spur zu kommen. Aber sein Entschluß verstärkte sich: Wenn die Abfindung, die Theonie ihm bieten würde, bedeutend war, wollte er Falsterhof verlassen, war's aber ein Bettel in seinen Augen, so blieb er, um mit List oder Gewalt seine geheimen Pläne zu verfolgen. * * * * * Als Tankred sich nach Tisch in des Onkels niederließ und bei der angesteckten Pfeife die gegenwärtigen und kommenden Dinge nochmals überlegte, drängte sich ihm auch die Sorge für das Nächstliegende auf. Seine Tante hatte seit Beginn ihrer Krankheit nicht wieder gefragt, ob er Geld bedürfe, und sein Barvorrat war ihm schon seit acht Tagen fast ganz ausgegangen. Die Kosten für seine letzte Reise hatte Frege bestritten, den er mit Hinweis auf die alte Dame um Geld angegangen war. Abgesehen von dieser Schuld, die ihn an sich zwar durchaus nicht drückte, denn er hatte die Mittel zur Befriedigung seiner Gelüste bisher in der Welt stets genommen, wo er sie gefunden, die ihm aber wegen seiner Stellung im Hause peinlich war, fehlten ihm die Mittel für das Notwendigste. Er konnte nicht einmal ins Dorf in den Krug gehen, und der Vorrat an Tabak und Zigarren aus dem Nachlaß des alten Onkels ging auch zu Ende. Die letzten Monate auf Falsterhof hatten ihn anspruchsvoller gemacht, er fand manches an seiner Toilette auszusetzen, und allerlei Bedürfnisse regten sich in ihm, die er früher aus Mangel an Geld notgedrungen hatte unterdrücken müssen. Natürlich! Je früher er Theonie seinen Entschluß kund gab, Falsterhof zu verlassen, desto eher gelangte er in Besitz von Geld. Seine Genußsucht und seine Ungeduld überwogen häufig seine Klugheit und Selbstbeherrschung; auch in diesem Falle ging's ihm durch den Sinn, lieber rasch zu nehmen, was er bekommen konnte, als den langen und ungewissen Weg der Intrigue einzuschlagen. Aber dann überlegte er wieder, wie groß der Unterschied sei zwischen dem, was er erreichen werde, wenn er möglichst lange mit seiner Abreise zögerte, und dem, was Theonie ihm jetzt wahrscheinlich bieten werde. Er glaubte, seine Kousine ganz zu durchschauen. Wenn die Ungeduld sie erfaßte, würde sie vielleicht die Abfindungssumme höher normieren. Also warten, trotz allem warten! Als er sich später in den Park hinaus begab und dort gegen seinen Willen sein Gehirn wieder zu arbeiten begann, packte ihn plötzlich das Mißtrauen, und ihn ergriff ein ungeduldiges Verlangen, einen Einblick in das Testament zu gewinnen. Dieser Gedanke beschäftigte ihn auch noch, als er sich im Stall von dem Kutscher Klaus des alten Onkels Pferd satteln ließ und einen Spazierritt unternahm. In jedem Fall beschloß er, nachdem an diesem Abend sich alles in Falsterhof zur Ruhe begeben, in der Tante Wohnzimmer zu schleichen und nachzuforschen, ob er nicht etwa mit einem seiner Schlüssel zum Inhalt der Schublade gelangen könne, an der er Theonie heute hatte hantieren sehen. Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, hielt er unwillkürlich sein Pferd an und warf einen Blick in die Gegend. Vor ihm — er befand sich auf einer Anhöhe — lag im Thal das Gut Holzwerder, das einem Herrn von Treffen gehörte. Die weißen Wände des Herrenhauses schauten malerisch aus dem Grün hervor, und namentlich hoben sich links und rechts emporsteigende Tannenwälder reizvoll von der übrigen Umgebung ab. Tankred erinnerte sich der Mitteilungen seiner Tante über die Verhältnisse der Familie Tressen. Diese waren eigentümlicher Art. Herr von Tressen und seine Frau besaßen eigentlich nichts, alles gehörte der Tochter. Von deren Gelde lebten sie, und schon oft war in der Nachbarschaft die Frage ausgeworfen worden, wovon Tressens wohl existieren sollten, wenn Grete von der Linden, die Tochter des ursprünglichen Besitzers von Holzwerder und ersten Gatten der jetzigen Frau von Tressen, einmal heiraten würde. Während Tankred von Brecken noch auf der Höhe verharrte und nun eben seinen nach den überhängenden Zweigen eines Knickes schnappenden Fuchs wehrte, erklang hinter ihm das Geräusch von Schritten, und als er sich zur Seite wandte, hörte er die Worte sagen: „Nicht wahr, es ist schön hier? — Guten Abend.“ Der Mann, der sie sprach, hatte ein breites, ausdrucksvolles Gesicht, ja, zwei Linien um den Mund waren so scharf, daß sie sich beim Sprechen eingruben, als seien sie künstlich in die Haut gemeißelt. Der untere Teil des Gesichts erhielt dadurch fast das Aussehen einer Maske, aber die buschigen Augen blickten ruhig, und die energische Stirn, an die das Haar schon etwas grau sich anschmiegte, zeigte keine Spur des Alters. Der Fremde trug sich wie ein Verwalter oder Pächter, und er war auch der Verwalter von Holzwerder. „Ist wohl ein großer Besitz?“ hub Tankred, den Worten des Mannes durch Kopfnicken beistimmend, an. „Ist dort unten am Fluß nicht die Scheide zwischen Falsterhof und Holzwerder?“ „Ja, mein Herr — Ah —“ unterbrach er sich, als Tankred unter Nennung seines Namens den Hut lüftete und sein Pferd in Bewegung setzte, „sehr angenehm — Haben schwere Trauer drüben gehabt? Ja, ja, alles fegt die Zeit zuletzt weg. Drum und dran —.“ Dieselben Worte wiederholte der Mann noch mehrmals, ohne Beziehung zu seiner Rede und fuhr fort: „Aber um auf Ihre Frage zu kommen, Herr von Brecken. Ja, da ist die Grenzscheide. Vor langer Zeit gehörten die Güter zusammen, alles gehörte der Familie von der Linden. „Dann hat also diese an die Breckens verkauft?“ „So ist es! Die Lindens besaßen noch mehr Güter. Es war die reichste Familie — drum und dran — in der Umgegend: aber der Großvater des Letztverstorbenen wußte schon nicht zu wirtschaften, und“ — nun erschienen die tiefen Falten — „so hat sich's nach und nach abgebröckelt.“ „Aber immerhin ist wohl Holzwerder noch ein großes Gut?“ forschte Tankred neugierig. Der Mann zog die Nase und den Mund, er antwortete auch nicht gleich und sagte erst nach einer Pause ausweichend: „Ja, groß ist der Besitz — doch haben wir auch Lasten, — drum und dran — ja, ja, gewiß, mancher würde die Finger lang ausstrecken, wenn er Fräulein Grete von der Linden wäre.“ „Grete von der Linden?“ setzte Tankred an, als ob ihm die Verhältnisse völlig fremd wären. „Ja, sie ist die Besitzerin. Die alten Herrschaften leben aber auch auf dem Gut. Übrigens, da kommt grade das gnädige Fräulein mit ihrer Gesellschafterin her.“ In der That bogen zwei Frauengestalten um die Ecke, und Tankred sah eine schlank gewachsene, in gesunder, zarter Fülle prangende Blondine. Grete von der Linden, und eine etwas ältere Dame mit einem feinen, geistvollen, aber blassen Gesicht vor sich. Es erfolgte eine Begrüßung, doch Tankred, dem plötzlich ein berechnender Gedanke durch den Kopf schoß, beschränkte sich nicht allein auf diese Artigkeit, sondern ließ sich von dem Verwalter Hederich vorstellen. Bald nahmen alle den Weg tiefer in das Thal hinab, und ein lebhaftes Gespräch entspann sich zwischen Tankred, der die ganze Kunst seiner Verstellung aufbot, um der Fremden zu gefallen, und der letzteren, welches damit endete, daß sie ihn einlud, baldigst auf Holzwerder einen Besuch abzustatten. „Meine Eltern,“ erklärte sie, „sind seit einigen Wochen verreist. Dies ist auch der Grund, weshalb sie sich nicht zum Begräbnis Ihrer Frau Tante eingefunden haben. Sie kehren aber heute abend zurück und werden sich sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Als dann an einer Wegbiegung Tankred den Fuchs, den er bisher hatte im Schritt gehen lassen, anhielt und Miene machte, sich zu verabschieden, ward er durch den etwas steifen und, wie ihm scheinen wollte, mißtrauischen Blick der Gesellschafterin betroffen, während ihm Hederich, der Verwalter, mit derber Zutraulichkeit die Hand schüttelte und bat, daß Tankred auch ihm bei seinem demnächstigen Besuch nicht vorbeigehen möge. — „Drum und dran — es wird mir eine große Ehre sein, wenn Sie bei nur eingucken möchten, Herr von Brecken.“ Und dann setzte Tankred, noch einen verlangenden Blick auf die leicht errötende Grete von der Linden werfend, sein Pferd in Trab. „Ein eigenes Geschöpf,“ murmelte er im Weiterreiten. „Schön, sehr selbständig und — klug. Aber auch kalt! Sie hat etwas im Auge, das unnatürlich ist für ihr Alter. Nun, ich werde ja sehen — heute abend will ich Theonie einmal über sie ausfragen.“ Als Tankred mit schon sinkendem Abend nach Falsterhof zurückkehrte, fiel ihm auf, wie einsam, düster und abgeschlossen doch eigentlich der Besitz belegen war: Der Pächterhof weit ab, in dem großen Hause die wenigen Menschen, und außer ihnen nur in einem Katen neben dem Park der zwiefache Funktionen besorgende Kutscher und Gärtner Klaus. Und den Mann überfiel's, daß einmal in der Nacht Unwillkommene ins Haus eindringen und stehlen und — morden könnten — ihn und Theonie —! Und bei dem Gedanken an Mord dachte er, wie es wohl werden würde, wenn man Theonie von fremder Hand erschlagen im Bette fände, wenn kein Glied der Breckenschen Familie mehr auf der Welt sei — außer ihm — —!? Unter solchen Vorstellungen warf er dem herbeieilenden Klaus die Zügel des Fuchses zu, öffnete die Hausthür und trat, begleitet von dem impertinenten Klingelton und dem Bellen des „verfluchten Köters“ Max, dem er einen Fußtritt versetzte, in den Flur. Die gnädige Frau hätten sich schon in ihr Zimmer zurückgezogen, sie lassen sich entschuldigen, erklärte Frege, und leuchtete Tankred zunächst in seine Gemächer und dann ins Speisezimmer, wo letzterer den Tisch für sich gedeckt fand. Als er sich niederließ, fand er neben dem Kuwert einen Brief, dessen Inhalt ihn nicht wenig in Erstaunen setzte und beschäftigte. Aber während er ihn las, waren zwei Augen von denselben Platze aus auf ihn gerichtet, von dem er damals am Sterbeabend seiner Tante diese und Theonie beobachtet hatte, und diese Augen, die sonst so ruhig blickten, als ob sie durch nichts erregt werden könnten, als ob sie nur Sehvermögen besäßen für den einschränkten Wirkungskreis, der ihrem Besitzer angewiesen, funkelten drohend und schienen zu sagen: „Einer wacht über allem, was Du thust und thun wirst. Hüte Dich!“ Die Augen gehörten dem alten Frege. * * * * * Als sich Theonie und Tankred am nächsten Tage beim zweiten Frühstück zusammenfanden, — Theonie war beim ersten nicht erschienen, — brachte letzterer nach flüchtiger Erkundigung über ihr Befinden das Gespräch auf Grete von der Linden und die Familie von Tressen. „Meine Eltern haben mit unsern Nachbarn nicht viel verkehrt; mit Tressens, die sich zudem meist in der Stadt aufhalten, fast gar nicht. Grete von der Linden kenne ich wenig; es heißt, daß sie herrschsüchtig und für ihre Jahre überreif sein soll. Ich fand sie immer auffallend schön und auch liebenswürdig, aber, wie gesagt, andere urteilen anders.“ „Und ihre Eltern?“ „Herr von Tressen ist ein Lebemann und jedenfalls ein sehr gutmütiger Herr; aus Frau von Tressen ist eigentlich noch niemand klug geworden. Sie gehört zu den Menschen, über deren wirkliches Wesen man sich zeitlebens den Kopf zerbricht. In einem Punkt gleicht sie ihrem Gatten durchaus, sie liebt Amüsement und Wohlleben, und das Wort Sparsamkeit steht nicht in ihrem Lexikon. So äußerte sich wiederholt meine Mutter, die übrigens Frau von Tressen trotz ihrer Fehler sehr schätzte und ihre ehrenwerten Gesinnungen lobte.“ „Weißt Du etwas von den Geldverhältnissen drüben?“ „Ja, man sagt, Herr von Tressen habe das ihm von seiner Frau mitgebrachte Vermögen bis auf den letzten Pfennig verthan, und beide lebten schon seit Jahren von Gretes Einkünften. Bis Grete ein bestimmtes Alter erreicht hatte, soll die Mutter auch testamentarisch Nutznießerin gewesen sein, seitdem aber keine Ansprüche mehr haben.“ „Ganz recht. Gleiches deutete schon der Verwalter Hederich an. — Wie beurteilt man ihn denn?“ „Man nennt ihn in der Umgegend ‚Drum und dran‘, weil er diese Worte stets an passender und unpassender Stelle gebraucht. Er ist ein einfacher aber sehr braver und von aller Welt geachteter Mann. Mein Vater hielt große Stücke auf ihn.“ Nun trat eine Pause ein. Tankred dachte darüber nach, wie geschäftsmäßig Theonie das alles gesprochen habe, wie kühl und temperamentlos sie nicht nur ihm begegne, sondern sich überhaupt gegen die Menschen zu verhalten scheine. Ihn ergriff plötzlich das Verlangen, sie zu zwingen, sich ihm gegenüber wärmer zu geben, oder er wollte ihr durch Kränkungen vergelten, daß sie es wagte, ihn gleichsam wie Luft zu behandeln. Alles Schlechte stieg in dieser gemeinen Seele wechselnd auf. Nichts erboste ihn in seiner Eitelkeit so sehr, als daß andere Menschen ihn durchschauten. Er wollte, obgleich er die Selbsterkenntnis besaß, daß er keine Achtung verdiene, doch als Ehrenmann gelten, angesehen, bewundert werden. Aber während bei andern Menschen aus der Eitelkeit Ehrgeiz entspringt und sie zu Thaten anspornt, scheiterte Tankred von Brecken an seiner übermäßigen, mit Trägheit gepaarten Genuß- und Bequemlichkeitssucht. Mühelos materiell genießen, stand allein auf seiner Fahne geschrieben; um das zu erreichen, war ihm jedes Mittel recht. Am Nachmittag desselben Tages erschienen in einem Einspänner der Breckendorfer Pastor und seine Frau auf Falsterhof. Sie kamen, um Theonie zu trösten und ihr Beileid nachträglich noch an den Tag zu legen. Der Mann war ein Kind an Einfalt und Herzensgüte. In dem bartlosen Gesicht glänzten unter einer großen, silbernen Brille ein Paar überaus freundlicher Augen, und auch ihm hatten die Leute einen Beinamen gegeben. Er wurde stets Pastor Ja, ja! genannt, weil er schwer nein sagen konnte und das Wörtchen ‚ja‘ fortwährend gebrauchte. Sie dagegen war eine Frau von Energie, besaß Humor und Menschenkenntnis und trat, mit ihres Mannes Schwächen rechnend, sehr häufig handelnd für ihn ein. Er predigte auf der Kanzel, sie aber war der eigentliche Pastor in der Gemeinde, hörte die Leute an, riet, entschied und besorgte manche seiner Geschäfte. Neuerdings hatten sie, da sie kinderlos waren, ein Kind angenommen, und die freundlich gesinnten und schärfer beobachtenden Leute erzählten allerlei rührende Geschichten von Pastors und der kleinen Lene. Nachdem der Kaffee eingenommen war, begaben sich die Herrschaften in den Garten; Tankred bot dem Pastor eine Zigarre an und ging mit ihm, während Theonie sich der Frau anschloß. Als die Männer außer Hörweite waren, trat die Pastorin enger an Theonie heran und sagte, deutlich mit ihrer Frage eine besondere Absicht verratend: „Bleibt Ihr Vetter auf Falsterhof, Frau Cromwell? Wird er künftig die Wirtschaft leiten? Man sagt so in der Umgegend.“ „Das verhüte Gott!“ stieß Theonie herauf. Und „Nein, nein, keineswegs,“ fügte sie hinzu. „Ich bin alleinige Besitzerin von Falsterhof, und mein Vetter verläßt mich demnächst.“ „Ich fragte nicht aus Neugierde — sondern — aus — andern Gründen, liebe Frau Cromwell,“ fuhr die Pastorin in warmem Tone fort. „Nennen Sie mich doch wie früher, Theonie, ich bitte —“ fiel Theonie ein. Der schwermütige Zug in ihrem Gesicht verschwand, und ihr eigentliches Antlitz durchstrahlt von Güte und Menschlichkeit, kam zum Vorschein. Und „Ja, bitte — Sie wollten sagen?“ schloß sie. „Hier!“ entgegnen die Pastorin entschlossen und zog aus der Tasche ihres Kleides einen Brief hervor. „Dies fanden wir heut' mittag in meines Mannes Briefkasten. Lesen Sie! Ich hatte keine Ruhe! Ich trieb meinen guten Höppner, gleich anspannen zu lassen und mit mir Sie aufzusuchen.“ Theonie nahm das Schreiben aus der Pastorin Hand und las: ‚Da Sie die junge, gnädige Frau auf Falsterhof lieben und ihr wohlwollen, so helfen Sie und Ihre Frau mit Ihrem Einfluß, Herr Pastor, daß der Schurke, der sich bei ihr aufhält, daß Tankred von Brecken bald das Herrenhaus verläßt. Bleibt er, so geschieht etwas Schreckliches. Das schreibt einer, der ihm nach seinen Beobachtungen das Schlechtere zutrauen darf.‘ „Wer kann das sein?“ stieß die Pastorin im Übereifer ihres Gefühls heraus, bevor Theonie noch zu Ende gelesen. Aber sie unterbrach sich, da sie sah, wie Theonie die Farbe wechselte, ja, daß Totenblässe auf ihre Wangen trat. „Also Sie haben auch Veranlassung, ihm zu mißtrauen beste Theonie — liebe Frau Theonie? Schrecklich! — Bitte, eröffnen Sie sich mir. Und nehmen Sie meinen Rat an: Begeben Sie sich, sobald etwas vorliegt, nach Elsternhausen zu Ihrem Sachwalter, Justizrat Brix, und teilen ihm alles mit.“ „Ich kann nichts sagen — bis jetzt nichts sagen —“ gings zitternd aus Theonies Munde, „aber mich beherrscht eine schier wahnsinnige Angst und Unruhe. Ich fürchte mich namenlos vor dem Menschen, und was in des Unbekannten Briefe steht, entspricht meinen eigenen Eindrücken.“ „Können Sie ihn denn nicht entfernen? Welche Rücksichten leiten Sie?“ „Keine! Aber er geht nicht und wird nicht gehen, trotz seiner Worte. Seit gestern trage ich mich mit dem Gedanken, ihm unter der Bedingung seiner Entfernung ein Kapital anzubieten. Ich sprach ihm auch schon davon, und er wich auch nicht grade aus, aber schien offenbar erst hören zu wollen, wie hoch die Summe sei. Ich scheue mich auch, ihm so unmittelbar nach dem Tode meiner Mutter die Thür zu weisen, zumal er mir bisher keinen direkten Anlaß gab, ihm kalt zu begegnen. Er that eben nichts, was man ihm vorwerfen könnte. Mich leiten nur die Kenntnis seines Vorlebens und mein Instinkt; und ein nicht zu beherrschendes Mißtrauen gegen ihn erfüllt mich. Aber sicher, er geht nicht. Gestern hat er Grete von der Linden kennen gelernt. Seine Fragen heute beim Frühstück scheinen darauf hinzudeuten, daß er Absichten auf sie hat. Schon das wird ihn veranlassen, hier zu bleiben. Ah! — ah — Wie werde ich die Last von meiner Seele los!“ „Haben Sie keine Ahnung, wer meinem Mann den Brief geschrieben haben kann?“ Theonie schüttelte den Kopf. „Keine! Und das ängstigt mich nun auch! Doch still. Ich höre Ihren Mann und Tankred kommen! Bitte, lassen Sie mir den Brief. Er kann mir vielleicht nützen —“ Nun erscheinen die beiden Herren wieder. Der Pastor mit seinem harmlos freundlichen Gesicht, und Tankred daneben, geschmeidig, wenn er sprach, gelangweilt oder mit lauerndem Ausdruck in den Zügen, wenn er zuhörte und sich unbeobachtet glaubte. Jetzt eben schien er sehr wenig angemutet. Der Pastor ließ sich über sein Töchterchen aus, über Lenes Vorzüge, und sagte mit seiner rollenden Stimme: „Die Kinderseelen sind noch rein und unverfälscht. Sie haben keine Hintergedanken, sondern geben sich, wie sie wirklich sind. Sie können, während wir ‚sie‘ zu erziehen suchen, ‚uns‘ ein Beispiel geben, nach dieser Richtung ein — Beispiel geben —“ Tankred fand diese Ausführungen eben so sentimental wie geschmacklos und zog gähnend den Mund. Gleich aber glätteten sich seine Mienen wieder, und mit allerlei Artigkeiten und Liebenswürdigkeiten sprach er auf die Pastorin ein. Sie gehörte, wie er wußte, ebenfalls zu den Menschen, die ihn durchschauten, und da war's weise, den Versuch zu machen, ihr eine andere Meinung beizubringen. Auch fühlte Tankred instinktiv, daß die beiden Frauen von ihm gesprochen hatten, und er wollte den ungünstigen Eindruck, den die Pastorin etwa durch Theonie empfangen hatte, möglichst zu verwischen suchen. Es war ihm für seine Pläne von großem Wert, die Menschen ringsum für sich zu gewinnen. „Nun? Bleiben Sie noch eine Weile auf Falsterhof, Herr von Brecken? oder verlassen Sie uns?“ hub die Pastorin mit Absicht an und forschte unbemerkt in seinen Mienen. Aber Tankred wich aus und sagte, sich mit galanter Liebenswürdigkeit an Theonie wendend und sie dadurch zwingend, ihm nicht zu widersprechen: „Wenn meine sehr gütige Kousine die mir gegebene Erlaubnis nicht zurückzieht, werde ich noch eine Weile bleiben, bis ich eine Thätigkeit gefunden habe, nach der ich mich wirklich nachgrade sehne.“ „Ja, das Herumhocken ohne Beschäftigung ist niemandem gut, besonders nicht jungen Leuten,“ bestätigte die Pastorin derb und kurz, Brecken fest anschauend. „Na, aber nun wird's auch Zeit, zurückzukehren, lieber Höppner. Was meinst Du? Und haben wir denn nicht die Freude, Sie bald einmal bei uns zu sehen, liebe Theonie?“ schloß sie und schritt, deren Zustimmung einholend, mit der jungen Frau voran. „Auch — Sie — erweisen uns — hoffentlich die Ehre, Herr von Brecken?“ ergänzte, seiner gewohnten Gutmütigkeit nachgebend, der Pastor, obgleich er wohl wußte, weshalb seine Frau Theonies Vetter nicht aufgefordert hatte. Er glaubte nie an die Schlechtigkeit der Menschen, redete immer zum guten und hatte auch heute hingeworfen, daß er auf anonyme Briefe nichts gebe, daß ihm Herr von Brecken sehr gut gefalle, und kein Grund vorhanden sei, ihm Übles zuzutrauen. Nachdem die Gäste sich entfernt hatten, befiel Tankred das Verlangen, noch ein Stündchen ins Kirchdorf zu gehen und Bier zu trinken. Er hätte sich gern Höppners angeschlossen, aber kam doch von diesem Gedanken zurück, weil die Pastorin ihm wegen ihrer Gradheit sehr mißfallen hatte. Auch beim Abschied war sie ihm wieder sehr von oben herab begegnet, indem sie unter starker Betonung geäußert hatte, sie hoffe denn, daß er in kürzester Zeit eine Stellung erhalte, damit er die Lust an der Arbeit, welche letztere allein glücklich mache, nicht verliere. — Solche moralisierende Menschen waren ihm in den Tod zuwider. Aber auch der Gang in den Krug wurde deshalb unmöglich, weil er keinen Groschen mehr besaß, und die absolute Notwendigkeit drängte sich ihm auf, Geld herbeizuschaffen. Er beschloß, noch am selben Abend beim Thee mit Theonie zu sprechen und sie in geschickter Weise um ein Sümmchen anzugehen. Unterdessen näherte er sich umherschlendernd dem Stall, trat hinein und sah dem dort beschäftigten Kutscher Klaus zu. Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, ihn zunächst um einen Thaler anzusprechen, und sein Komödiantentum äußerst geschickt verwertend, stieß er heraus: „Hebbt Se villich en beten Lüttgeld to Hand, Klaus? So wat en Dahler?“ „Ja, Herr von Brecken, dat hev ick,“ entgegnete Klaus mit gutmütiger Bereitwilligkeit und griff eilig in die Hosentasche und zog einen schmutzigen ledernen Beutel hervor. Diesen breitete er fächerartig auf dem Futterkasten aus und holte allerlei Kleingeld hervor, das er, es einzeln betastend, vor Tankred hinzählte. Aber während das geschah, erschien, als ob er etwas suche, Frege mit seinem verschlossenen Gesicht in der Thür, zog sich jedoch, als habe er sich vergewissert, daß hier das von ihm Gewünschte nicht zu finden sei, kurz nickend gleich wieder zurück. Als Tankred den Parkausgang erreicht hatte und über die Wiese den Weg zum Kirchdorf nehmen wollte, sah er abermals Frege, und hinterher lief der Köter Max, der bei Tankreds Anblick ein wütendes Gebell ausstieß. Da hob Tankred einen Stein auf und warf nach der Bestie, aber so unglücklich, daß nicht der Hund, sondern der Alte am Bein getroffen wurde. In Freges Gesicht erschien ein Ausdruck von Schmerz und dann ein Zug von Rachsucht, vor dem man erschrecken konnte. Aber Tankred sah es nicht, er ging pfeifend und mit dem Feldstock des verstorbenen Onkels um sich fuchtelnd, auf abgekürztem Wege dem Kirchdorf zu. — Inzwischen überlegte Theonie, durch den Brief und das Gespräch mit der Pastorin von neuem erregt und beunruhigt, ob es nicht richtig sei, sich noch heute mit Tankred endgültig auseinanderzusetzen. Sie vermochte seine Gegenwart nicht mehr zu ertragen. Schon in der letzten Nacht war sie wiederholt aus dem Schlafe aufgeschreckt, weil sie Schritte zu hören vermeint und angenommen hatte, es sei ihr Vetter, der komme, um ihr Gewalt anzuthun. Im höchsten Grade auffallend war es ihr gewesen, daß sie am Spätnachmittag, als sie den Schreibtisch ihrer Mutter öffnen wollte, das Schloß verdreht fand. Daß Tankred versucht habe, das Innere zu untersuchen, war ihr zweifellos. Gelang es nicht, ihn dazu zu bringen, schon am nächsten Tage Falsterhof zu verlassen, so wollte sie abreisen und sich zu ihren Verwandten begeben. Unter der nervösen Angst und Furcht, die sie beherrschten, erhöhte sich ihre Bereitwilligkeit zu Opfern. Sie wollte ihm alles vorhandene Kapital ausliefern, wenn er sich verpflichtete, nie wiederzukehren! Aber freilich, was waren Versprechungen und Zusagen bei diesem Menschen! Und wenn es ihm gelang, Grete von der Linden heimzuführen, würde er immer in ihrer Nähe bleiben. Der Aufenthalt auf Falsterhof würde für sie eine Qual werden; sie mußte am Ende das Erbteil ihrer Eltern verkaufen oder konnte nie dahin zurückkehren! So gingen ihre Gedanken hin und her. Und die Einleitung und Form, ihm ihre Absicht kund zu geben, fand sie auch nicht, so sehr sie ihr Gehirn anstrengte. Freilich, wenn sie ihm gegenüber saß, Auge gegen Auge, war sie gefaßter, ja, dann empfand sie kaum einmal Furcht und war nie um Worte verlegen. Auch konnte der Zufall ihr vielleicht günstig sein. So beruhigte Theonie sich denn endlich, ließ eins der Mädchen kommen und befahl denselben, in einem Raume neben ihrem Schlafzimmer ein Bett aufschlagen. Sie wünsche, da sie sich nicht wohl fühle, nachts Aufwartung zur Hand zu haben, erklärte sie, und dasselbe äußerte sie gegen Frege, als er den Abendtisch deckte. „Aber was ist denn, Frege? Ich sehe, Sie hinken ja, mein guter Alter,“ schloß Theonie mitleidig als sie nun erst bemerkte, daß Frege sich mit dem einen Bein schwerfällig bewegte. Der wortkarge Mann sah seine Gebieterin mit einem eigentümlichen Blick an. „Von ihm! — Er war's!“ stieß er dann finster und ganz gegen seine Gewohnheit heftig heraus. „Er? Wer? Von wem sprechen Sie?“ Noch zögerte Frege, aber dann holte er tief Atem und sagte, die Teller, die er eben verteilen wollte, absetzend: „O, liebe gnädige Frau, ich kann es nicht mehr bei mir behalten. Ich muß sprechen. — Es liegt etwas Schreckliches über Falsterhof — es kommt von dem jungen Herrn. Ich bitte, hüten Sie sich. — Ja, ja, ich weiß, Sie denken wie der alte Frege, der bisher nur nicht zu sprechen wagte, weil er kein Recht hatte zu reden über Sachen, die allein die Herrschaft angehen.“ „Um Gotteswillen Frege, also Sie auch?“ drang's in Todesschrecken aus Theonies Munde. „Sprechen Sie! Sagen Sie mir alles, was Sie wissen. — Aber nicht hier, er kann jeden Augenblick kommen! Gehen wir ins Wohnzimmer! So, nun — nun —“ hauchte Theonie und sank übermannt von den Eindrücken in einen Lehnstuhl. Und da brachte Frege alles, alles, was ihm auf dem Herzen saß, über die Lippen: Er habe gesehen, daß Tankred am Sterbetage der gnädigen Frau ins Fenster gespäht und sich dann heimlich wie ein Dieb wieder entfernt habe. Er habe ihn abermals gesehen, jüngst am Abend, als auch Theonie seinen Kopf am Fenster bemerkt. Er erzählte von den Geldanleihen, die Tankred bei ihm gemacht; er wisse auch aus sichrer Quelle, daß er während der Krankheit der Gnädigen in Hamburg in einem Hotel gewohnt, sich dort amüsiert habe und gar nicht in der Ost-Priegnitz, wohin er zu gehen vorgegeben, gewesen sei. Sicher, er gehe mit bösen Absichten um, er habe etwas Furchtbares im Blick, das nicht täusche. Sie könnten sich alle des Schrecklichsten von ihm versehen, und schon seit den letzten Wochen habe er, Frege, stets nachts ein Gewehr zur Hand gehabt, um für alle Fälle bereit zu sein. Er habe ihn auch in der vorigen Nacht in das Zimmer der verstorbenen Gnädigen schlüpfen sehen, und wohl eine halbe Stunde sei er dringeblieben. Er, der Alte, aber habe sich hinausgeschlichen und von dem Beobachtungsposten aus, den er ihm selbst abgelauscht, wahrgenommen, wie Tankred sich am Schreibtisch zu schaffen gemacht. — Nun ertönte die Glocke draußen, Max schlug an — Herrin und Diener flogen auseinander, und Theonie eilte wieder ins Speisezimmer. Fünf Minuten später trat auch Tankred ein. Er hatte sichtlich sehr viel getrunken, war äußerst gesprächig, und statt der demütigen Zurückhaltung, mit der er sich sonst zu geben pflegte, legte er eine unheimliche Lebhaftigkeit an den Tag. Theonie besorgte mit der gewohnten, ernsten Ruhe den Thee, rückte ihrem Vetter die Speisen näher und suchte seinen starken Redefluß zu dämpfen, indem sie erklärte, sie fühle sich sehr angegriffen. „Trink einmal ein Glas Wein! Das giebt Kraft und andere Gedanken. Du genießest ja auch nichts Ordentliches,“ entgegnete Tankred und schenkte trotz Theonies Weigerung deren Glas voll. „Wozu, da ich doch nicht trinke —?“ wehrte sie herb und in deutlicher Auflehnung gegen seine zudringliche und laute Art ab. „Na, es ist ja kein Unglück, wenn ein Glas eingeschenkt und doch nicht getrunken wird,“ entgegnete Tankred in absprechendem Ton. „Niemals habe ich leiden können, wenn Damen sich so heftig dagegen wehren, daß man ihnen Wem einschenkt! Ist's nicht vollkommen gleich, ob er genossen wird oder nicht? Es liegt etwas Kleinliches und Ungeselliges darin, sich das Glas nicht füllen lassen zu wollen. Ich möchte sogar sagen, es ist ein Stück guter Erziehung, daß eine Dame ihren Herrn darin gewähren läßt und keine Einwendungen erhebt.“ „So bin ich denn nicht gut erzogen,“ entgegnete Theonie schroff. „Ich finde es unrecht, etwas unnütz zu verthun, so lange es Darbende in der Welt giebt.“ Tankred wollte eine hämische Bemerkung über Theonies ewig moralisierendes Wesen machen, ja, es brannte ihm auf der Zunge, zu sagen: Ihr Breckens seid ein kleinliches, filziges, philisterhaftes Geschlecht! Aber er glaubte schon ihre Erwiderung zu hören: Lieber dafür gescholten werden, als aus den Taschen anderer leben. Er sagte deshalb einlenkend und das Wort Darbende im humoristischen Sinne aufgreifend: „Na, streiten wir uns nicht, Theonie, während der wenigen Tage, die wir noch beisammen sind. Und da Du von Darbenden sprichst, ich bin einer. Schon seit acht Tagen habe ich keinen Pfennig mehr in der Tasche und mußte sogar schon den alten Klaus anpumpen —“ Wie? Auch Klaus bist Du um Geld angegangen? wollte Theonie herausstoßen. Aber auch sie beherrschte sich und sagte, hoffnungsvoll und versöhnlicher gestimmt durch den von Tankred absichtlich eingeschobenen und von ihr im Augenblick ernsthaft genommenen Hinweis auf seine baldige Entfernung: „Warum hast Du nicht eher gesprochen? Ich bin natürlich bereit, Dir auszuhelfen. Übrigens können wir vielleicht unsere ganze Geldaffaire bei dieser Gelegenheit erledigen. Wann gedenkst Du abzureisen? ich meine — es soll keine Aufforderung darin liegen — ich möcht's nur wissen.“ Tankred wollte mit einem raschen: Morgen, spätestens übermorgen, erwidern. Er fürchtete, sie könne ihm abermals in dem ausweichen, was zu erfahren er nicht erwarten konnte. Aber er änderte doch seinen Plan und sagte, seine Absicht unter einem plumpen Scherz versteckend: „Von Deiner generösen Hand, beste Theonie, hängt alles ab. Wenn Du mir kräftig unter die Arme greifst, kann ich ja von anderer Stelle aus meine Versuche fortsetzen. Freilich,“ schloß er, verliebt sprechend, und verschlang, durch das hastige Weintrinken plötzlich in eine leidenschaftliche Erregung geratend, mit seinen Blicken ihre Gestalt, „Dich nicht mehr zu sehen, Dich lassen zu sollen, Theonie, ist ein schwerer, fast meine Kraft übersteigender Entschluß.“ Entsetzt sah Theonie empor. Es war das erstemal, daß seine sinnliche Natur ihr gegenüber zum Ausbruch kam. Diesen Augenblick hatte sie vor allem gefürchtet, und ihm zu entgehen, darauf waren ihre Gedanken insbesondere gerichtet gewesen. Zunächst suchte sie seiner Rede Einhalt zu thun, indem sie seine Gedanken abzulenken trachtete. Sie reichte ihm, mit kurzer Abwehr den Kopf bewegend, eine Schale mit Obst. Aber er setzte sie rasch beiseite, und alles wagend, da der Wein ihm half, jegliche Scheu abzustreifen, sagte er, sich vornüberbiegend und sie mit seinen glühenden Augen bannend: „Höre, Theonie, was ich Dir zu sagen habe. Ich erfuhr von Dir, daß Du mir nicht geneigt bist. Ich weiß, woher es kommt. Du denkst an mein Vorleben. Meine Mutter, die mich nicht nur nicht liebte, vielmehr haßte, obgleich ich doch ihr Sohn war, hat Dich beeinflußt. Aber ich bin ein anderer geworden, ich möchte es sein, und Du könntest läuternd auf mich einwirken. Ich bin wohl oft leichtsinnig gewesen und ließ mich von meinen Leidenschaften fortreißen, aber ich bin nicht schlecht, wie meine Mutter mich schilderte. Ist es nicht unnatürlich, daß wir uns von einander abschließen? Wäre es nicht vielmehr den Verhältnissen entsprechend, wenn wir zusammen hielten? Ich liebe Dich, Theonie. Beim ersten Sehen hatte ich schon mein Herz an Dich verloren. Aber Deine Strenge und Zurückhaltung schreckten mich ab, mir ahnte zu meinem Schmerz, daß Du gegen mich voreingenommen seiest. Sage ehrlich: Was that ich Dir? Bin ich Dir nicht ehrerbietig begegnet? Geschah während meines Aufenthaltes hier etwas, was Dir mißfallen mußte? Gewiß, da ich kein Geld besitze, mir bisher kein Eigentum erwarb, bin ich im Nachteil selbst bei denen, die sonst den Wert eines Menschen nicht nach seinem Vermögen bemessen, selbst bei meiner Verwandten, der einzigen, die ich habe. Ich fände hier auf Falsterhof einen Wirkungskreis, da ich Landmann bin. Ich könnte es verwalten, den Besitz erhalten und vermehren, mit Dir gemeinsam arbeiten und genießen, von Dir lernen und empfangen, wenn Du Dir auch von dem Mißratenen nichts aneignen könntest. Und doch vielleicht etwas, da er mit so gutem Willen sein neues Leben beginnen würde. Er wird Dich auf Händen tragen, denn er liebt Dich leidenschaftlich, Theonie. — Nun, Theonie? Was sagst Du? Hast Du mir gar nichts zu erwidern?“ Aber sie antwortete nicht. Sie schüttelte sich in Grauen, und er sah es, und weil ihre Mienen und Bewegungen nicht mißzuverstehen waren, weil es ihm klar wurde, daß sein Spiel verloren war, daß er trotz der meisterhaften Maske sie nicht getäuscht hatte, daß sie ihn doch für das hielt, was er wirklich war, ergriff ihn eine wilde Rachsucht, ein brennender Haß, eine solche Leidenschaft, daß er sie am liebsten ergriffen und geschüttelt und ihr zugerufen hätte: Warte, Du hochmütige Kreatur, die Du es wagst, Dich mit Deinem souveränen Besserhalten über mich zu stellen, und mir begegnest, als sei ich ein aussätziger Vagabund! Ich will Dich lehren! Hinab auf die Kniee und bitte, daß ich Dich zu meinem Weibe mache, oder ich erdrossele Dich mit meinen Fäusten! Und weil sie solche Gedanken aufblitzen sah in seinen Augen, und weil ihr ahnte, was er dachte, griff sie in ihrer Angst und Verzweiflung, wie er, zu List und Verstellung und machte in ihrer Not einen Anlauf auf seine gemeinen Triebe. „Es geht nicht, ich kann Dich nicht heiraten, Tankred,“ entgegnete sie, ihn zum erstenmal bei seinem Vornamen nennend. „Nicht aus Motiven, wie Du sie hinstellst, sondern weil ich nie wieder einen Mann zu lieben vermag. Aber gehen wir in Frieden auseinander. Ich bitte Dich, fünfzigtausend Mark von mir anzunehmen, damit Du Dir etwas kaufen oder pachten kannst. Sie stehen Dir beim Justizrat Brix zur Verfügung. — Nicht wahr, Du zürnst mir nicht? Ich bitte Dich.“ Sie sah ihn an. Aber ihr Blick war ihr Verderben. In dem Wechsel der Leidenschaft packte denselben Mann, der eben noch das Weib hätte töten mögen, wieder eine wahnsinnige Begierde. Er sah ihr stilles Antlitz, umrahmt von dem schwarzen Haar, ihren reizenden, in sanfter Fülle sprossenden Leib und die jetzt so süß und demütig blickenden Augen. Und das sollte er fortwerfen, weil er's nicht gleich beim ersten Anlauf errungen hatte? Blieben ihm nicht noch tausend Mittelchen in seinem Zauberschrank? Hatte überhaupt jemals ein Mensch seinen Künsten auf die Länge widerstanden? Hatte er nicht alle, wenn er wollte, bezwungen? „O, Süße!“ rief er aufspringend, sie mit kräftigen Armen umschlingend und leidenschaftlich küssend, „sei hart und abweisend oder gütig gegen mich — immer liebe ich Dich gleich heftig. Wehre Dich nicht, fühle an meinen Küssen, was ich Dir entgegen bringe. Theonie, Theonie, erhöre mich!“ Theonie wollte in Ohnmacht sinken, sie schwankte, und weiße Farben traten auf ihre Wangen, dann aber riß sie sich mit schier übermenschlicher Kraft von ihm los, stieß ihn vor die Brust und floh, wie von Furien gepackt, hinauf in ihr Zimmer. * * * * * Als sich Tankred von Brecken am kommenden Morgen erhob, war ihm der Kopf wüst, und er fühlte eine grenzenlose Unbefriedigung in sich. Die Vorgänge des vergangenen Abends traten in sein Gedächtnis, und Ärger. Unmut und Reue erfüllten sein Inneres. Von dem ruhigen Wege, den er sich vorgezeichnet, war er abgewichen, weil ihn seine Sinne bemeistert hatten. Schon so oft, wenn er dem Wein zu sehr zugesprochen, hatte er Unbesonnenes gethan und die üblen Folgen tragen müssen. Er wußte, durch diesen Vorgang büßte er vieles ein, was schon gewonnen war. Theonie hatte nun eine Handhabe gegen ihn. Bisher war nichts geschehen, was sie ihm hätte vorwerfen können, denn daß er sie liebte, konnte kein Verbrechen sein; aber durch die Form seiner Werbung, durch seine Leidenschaft hatte er seinen Charakter offenbart, hatte er das Gastrecht in unerhörter Weise verletzt. Er stellte sich die Folgen vor. Zunächst hatte er sicher jede Geneigtheit Theonies zu einer milderen Beurteilung seiner Person verscherzt; von einer freiwilligen Annäherung ihrerseits konnte jetzt nicht mehr die Rede sein, und wahrscheinlich würde sie sogar Rache üben und ihm die Auszahlung eines Kapitals verweigern. Der letztere Gedanke kam dem Manne, weil er selbst so gehandelt haben würde; er blieb jedoch nicht in ihm haften; wohl aber war er sicher, daß sie nach diesem Vorfall sich zu keinen größeren Opfern bereit finden würde, im guten wenigstens nicht. Er überlegte nun, was weise und vorteilhaft für ihn sein werde. Zunächst mußte er durch die Künste seiner Verstellung wieder ein äußerlich gutes Verhältnis zwischen sich und Theonie herstellen, schon um seines vorläufigen Bleibens willen; dann aber hieß es, sondieren, was nach dem Geschehenen zu erreichen war. Wenn er vor sie hintrat und demütig seine Unbesonnenheit eingestand, ihre Verzeihung erflehte und zugleich erklärte, er wolle Falsterhof verlassen, dann würde er — das hielt er für ausgemacht — sie zu Opfern am bereitwilligsten finden. Aber damit gab er alle Vorteile auf, die ihm noch werden konnten, und schnitt sich die Möglichkeit ab, in Grete von der Lindens Nähe zu bleiben. Bei diesem Ende seiner Gedankenreihe angelangt, schlug er sich voll Zorn und Unmut vor den Kopf, verwünschte seine Leidenschaft und war schon, da er deren Folgen nicht ausweichen konnte, im Begriff, seine Sache verloren zu geben, als Frege ins Zimmer trat, das Frühstück servierte und ihm einen Brief übergab. Das Schreiben komme vom Baron von Treffen, der Bote warte. Nachdem Frege sich entfernt hatte, riß Tankred voll Ungeduld den Brief auf und las: ‚Hochgeehrter Herr von Brecken! Sie haben unserer Tochter die liebenswürdige Zusage gemacht, uns besuchen zu wollen. Darauf hin bin ich so frei, Sie zu fragen, ob Sie ohne das Zeremoniell einer Antrittsvisite, auf die wir gern verzichten, im engen Familienkreise bei uns eine Suppe essen möchten. Wir würden darüber außerordentlich erfreut sein und bitten, gütigst dem Überbringer zu sagen, ob wir Sie um drei Uhr erwarten dürfen. Ihr sehr ergebener Konrad von Treffen.‘ Der artige Inhalt dieser Zeilen gab Tankreds Gedanken mit einem Schlage eine andere Richtung. Tressens kamen ihm in ungewöhnlicher Weise entgegen. Sicher hatte er auf Grete einen guten Eindruck gemacht, auch wirkte der Umstand wohl mit, daß man ihn als Miterben von Falsterhof ansah. — Und er war es nicht! Empörend, daß der filzige Philister, sein Onkel, ihn hatte leer ausgehen lassen! Und nicht minder unverzeihlich war's von der verstorbenen Tante, daß sie nicht einen Augenblick gefunden hatte, um eine Klausel zu seinen Gunsten in das Testament einzufügen. Gewiß hatte er das Theonie zu verdanken! Ja, sie war ihm in der Seele zuwider, obschon ihn gestern, als sein Blut heiß gewesen, ihr Körper gereizt, obschon er sich eingebildet hatte, er könne sie lieben. Diese sentimentale Tugend, diese langweilige Resignation und diese ihren geistigen Hochmut nur in noch schärferes Licht stellende äußerliche Bescheidenheit waren ihm in der Seele zuwider. Er nahm auch einen ganz verkehrten Standpunkt ihr gegenüber ein. Von rechtswegen gehörte ihm die Hälfte von Falsterhof! — Und plötzlich schoß es Tankred von Brecken durch den Sinn, diese Hälfte im Fall mit Gewalt von ihr zu erzwingen und dadurch sicher der Mann Grete von der Lindens zu werden. Das sollte fortan sein Ziel sein! So trat er denn Frege bei seinem Wiedereintritt gehobenen Hauptes entgegen, befahl, den Boten hereinkommen zu lassen, und schrieb, während dieser wartend an der Thür stand, eine Zusage: ‚Hochgeehrter Herr Baron! Ihre gütigen Zeilen haben mich ebenso überrascht wie erfreut. Sie beschämen mich in der That durch die ungewöhnlich artige Form Ihrer Einladung, die ich dankend annehme. Indem ich die Versicherung hinzufüge, daß ich bestrebt sein werde, mich der mir gewordenen Auszeichnung stets würdig zu erweisen, bin ich mit dem Ausdruck größter Verehrung und unter gehorsamen Empfehlungen an Ihre Damen Ihr ganz ergebener Tankred von Brecken.‘ Nach eingenommenem Frühstück setzte sich dann Tankred abermals an den Schreibtisch und richtete die nachstehenden Zeilen an Theonie: ‚Liebe Theonie! Ich bedaure und bereue den gestrigen Vorfall aufs tiefste. Laß mich es Dir auf diesem Wege sagen und Deine Verzeihung einholen, bevor wir uns wieder gegenübertreten. Niemals — dessen sei gewiß — wirst Du Dich ferner über einen Mangel an Ehrerbietung meinerseits zu beklagen haben, vielmehr aus meiner Begegnung erkennen, wie hoch ich Dich schätze, achte und verehre. — Genehmige, liebe Theonie, daß ich noch acht Tage auf Falsterhof bleibe. Dann reise ich ab, und inzwischen finden wir Gelegenheit, uns auszusprechen und die von Dir in so gütiger Weise angeregten geschäftlichen Angelegenheiten zum Austrag zu bringen. Heute mittag und den Rest des Tages bin ich nicht in Falsterhof und bitte, mich bei der Mahlzeit zu entschuldigen. Tankred.‘ „Tragen Sie dies der gnädigen Frau hinauf, die ich nicht stören will, da sie sich gestern abend schon unwohl fühlte. Ich werde heute nicht bei Tisch sein,“ erklärte Tankred dem durch Klingeln herbeigerufenen Frege. „Die gnädige Frau ist bereits in der Frühe nach Elsterhausen gefahren. Sie ist nicht anwesend,“ ging's kurz aus des Dieners Munde. Tankred zog ein enttäuschtes Gesicht. Aber sich schnell wieder beherrschend, warf er hin: „So — so? Und wann kehrt sie zurück?“ „Die gnädige Frau will morgen ihre Reise antreten. Sie meinte, gegen abend wiederzukommen.“ „Hm, schön!“ Damit war Frege entlassen. * * * * * Herr von Tressen warf eben noch einen prüfenden Blick auf die heute reicher als sonst im kleinen Speisezimmer hergerichtete Tafel, als der Diener bereits Herrn von Brecken von Falsterhof anmeldete. „Bitte, sehr angenehm! Führe Herrn von Brecken ins Empfangzimmer und benachrichtige die gnädige Frau.“ Tankred schaute sich mit prüfendem Auge in dem Raume um, in den ihn der Diener geführt hatte. Eine große Eleganz trat ihm entgegen. An den Wänden hingen wertvolle Gemälde, die Polstermöbel waren mit Seide bezogen, und die Fensterpaneele und Teile der Wände in Weiß und Gold gemalt. Und nun öffnete sich die Thür, und Frau von Tressen, eine ungewöhnlich stattliche Erscheinung mit lebhaften Augen, einer energisch geschnittenen Nase und vollen Formen, trat ihm mit ausnehmender Liebenswürdigkeit entgegen. Sie verwickelte Tankred sogleich in ein anregendes Gespräch, an dem kurz darauf auch die übrigen Hausbewohner teilnahmen. Herr von Tressen war ein starker Fünfziger, dem man die Spuren einer flotten Lebensweise ansah. Sein Gang war ein wenig unsicher, und die Augen hatten etwas Mattes, aber sein Gesammtäußeres war, durch eine gewählte Kleidung gehoben, doch ungemein sympathisch. Er glich einem Major außer Dienst und trug in dem scharf markierten Gesicht einen starken Schnurrbart. Besonders anziehend aber sah Grete aus. Sie hatte ein mausgraues Kleid an, das vollendet saß, und ihren schlank geformten Hals umschloß ein kleiner, aufrechtstehender Kragen. Ihre Züge waren auch heute kalt, solange sie nicht sprach, wenn sie aber den etwas sinnlichen Mund öffnete, und ein Lächeln ihn umspielte, wenn Ausdruck in ihre Augen trat, war sie von einem unwiderstehlichen Reiz. Diesem unterlag auch Tankred, der bei Tisch und in der Folge alles aufbot, um sie und ihre Umgebung zu gewinnen. Halb freimütig, halb zurückhaltend, stets von ausgesucht zarter Artigkeit, niemals mit Beifall zurückhaltend, immer seine Worte wägend, verstand er es, durch sein Komödienspiel alle, bis auf die Gesellschaftsdame, Fräulein Helge, zu täuschen. Die letztere blieb nicht nur zurückhaltend gegen ihn, sondern legte sogar einen gewissen Widerstand an den Tag, indem sie einigemale seinen Worten entgegentrat. Freilich geschah das nicht in Formen, die es auch für die übrigen erkennbar machten, daß sie ihn zu brüskieren trachte, aber Tankred mit seinem scharfen Spürsinn wußte, daß sie sich gegen ihn auflehnte, und er in ihr eine Gegnerin zu besiegen habe. Indessen schien sie auf Grete keinen Einfluß auszuüben. Tankred bemerkte sogar einmal, daß etwas von widerspenstigem Trotz in Gretes Augen aufblitzte. Das freute ihn, obgleich ihn die Unendlichkeit ihrer Blicke fast erschreckte. In der Seele dieses Mädchens war nichts Nachgiebiges, sie ging ihren eigenen Weg, und sicher gehörte sie nicht zu den vielen sanftmütig sich unterordnenden, auf eine eigene Meinung verzichtenden jungen Geschöpfen, die mit blindem Idealismus in die Ehe gingen und sich den später eintretenden Enttäuschungen geduldig fügten. Nach eingenommenem Kaffee mußte Tankred die Malereien der Frau des Hauses, die nicht ohne Talent ausgeführt waren, in Augenschein nehmen; man sprach mit Interesse und Verständnis über Politik, Litteratur und Kunst, und Grete ward aufgefordert, etwas zu spielen und zu singen, was sie ohne Einwendungen that. Ihre Stimme war schön, und ihr Spiel technisch vollendet, aber allem fehlte doch die rechte Wärme. „Sie müssen einmal von einer starken Leidenschaft ergriffen werden, dann wird Ihr Gesang alles in den Schatten stellen, gnädiges Fräulein,“ wagte Tankred zu sagen, und Grete von der Linden sah ihm so scharf und beinahe herausfordernd in die Augen, daß es ihn fast verwirrte. Sie besaß nichts von schüchterner Verlegenheit; vielmehr schien sie sagen zu wollen: Prüfe mich, ob ich kalt bin, und mich nicht schon eine Leidenschaft ergriffen hat. Aber Tankred kannte die Frauen. Es gab viele, die in solcher Weise zum Tändeln aufforderten, sich aber mit sittlicher Entrüstung zurückzogen, sobald ein Mann ihnen besondere Aufmerksamkeiten erwies. Solche Weiber reizt es, Herz und Gemüt der Männer zu beunruhigen, auch haben sie Interesse für sie, und es steigert sich, solange jene unempfindlich bleiben. Sobald die Männer aber an den Tag legen, daß ihre Sinne in Aufruhr geraten, ziehen sie sich gleichgültig von ihnen zurück. Tankred wendete die Taktik an, Grete von der Linden mit äußerster Aufmerksamkeit zu begegnen, aber ihre Eifersucht und ihr Nachdenken wach zu rufen, indem er mit ungemessenem Lob und gleich großer Begeisterung von anderen Frauen und Mädchen sprach. „Es ist das schönste, geistreichste und klügste Geschöpf, das mir im Leben vorgekommen ist,“ warf er, eine Äußerung einer gerade erwähnten Dame geschickt in das Gespräch einflechtend, hin. „Ich hatte auch das Glück, von ihr ausgezeichnet zu werden, aber ein einziger Zug genügte, um mich verzichten zu lassen.“ „Und der war?“ fiel Grete, ihre Neugierde nicht verbergend, ein. Tankred machte eine ausweichende Bewegung und lächelte in überlegener Weise. „Nun?“ drängte Grete, während sie, wie zufällig, einige Schritte ins Nebengemach that, durch die sie sich und ihren Begleiter dem Gesichtskreis der übrigen entzog. „Sie mißhandelte,“ entgegnete Tankred, indem er eine kleine Rokoko-Nippesfigur, die auf dem Schreibtisch stand, ergriff und sie in seiner Hand drehte, „ihre Zofe wegen eines geringen Versehens in unerhörter Weise und verdoppelte noch die Züchtigung, als diese ihr nachwies, daß nicht sie, sondern die Dame selbst an der ihr vorgeworfenen Unterlassung schuld sei.“ „Ja, eines Fehlers geziehen zu werden, gefällt niemandem,“ entgegnete Grete, Partei nehmend. „Jedenfalls war die Zofe wenig klug, gerade in dem Augenblick in solcher Weise den Vorwurf von sich abzuwälzen.“ „Sie legen durch Ihre Bemerkung eine sehr nüchterne Auffassung der Dinge an den Tag, gnädiges Fräulein. Das ist beneidenswert —“ „Finden Sie es beneidenswert, wenn das Gemüt bei einem nicht mitspricht?“ Diesmal klang etwas Weicheres durch den Ton ihrer Stimme. „Allerdings. Man will lieber Herr als Sklave sein, und ersteres ist man nur, wenn man den Verstand als Kommandeur vor seine Truppe stellt. Ah — tausendmal um Verzeihung —“ unterbrach sich Tankred, dem bei den letzten Worten die Nippesfigur aus den Händen fiel, und der beim Herabbeugen zu seinem Schrecken gewahrte, daß ihr ein Arm abgeschlagen war. Er dachte, daß Grete die Sache leicht nehmen und ihn beruhigen werde, aber statt dessen zeigte sie einen deutlichen Verdruß und sagte: „Die Figuren stammen noch von den Eltern meines Großvaters, sie sind sehr wertvoll, fast unersetzlich, da man heutzutage solche Übergangsfarben nicht mehr zu komponieren weiß.“ Als hierauf Tankred abermals Worte des Bedauerns sprach, schloß sie, kaum hinhörend, die Kunstfigur in ein Schränkchen ein und sagte: „Sie gehören zu den Menschen, die alles anfassen müssen. Man sagt, solchen hafte ein Diebssinn an.“ Die letzten Worte begleitete sie zwar mit einer lächelnden Miene, sie sprach sie, als ob sie nur einen Scherz habe machen wollen, aber Tankred erschrak doch heftig, und für Sekunden war ihm Grete fast unheimlich. „Ich werde mich zu bessern suchen,“ stieß er mit einschmeichelnder Artigkeit heraus. „Und Sie haben mir vergeben, gnädiges Fräulein? Nicht wahr, ich darf ein wenig Hoffnung hegen?“ Gleichzeitig sah er sie mit seinen bezwingenden Augen an, flüsterte die letzten Worte in doppelsinniger Betonung und preßte einen den Eindruck derselben verstärkenden, weichen Kuß auf ihre Hand. Und Grete wehrte ihm nicht, sie gab seinen Blick zurück, aber in ihren Augen erschien nicht der Strahl reiner, aus der Seele quellender Hingebung, sondern etwas Leidenschaftliches, das er in ihr anzufachen verstanden hatte. — Bei einem vor dem Abendessen unternommenen Spaziergang fand Tankred noch einigemal Gelegenheit, sich Grete auf kurze Zeit ohne Zeugen zu nähern. Sie sprach davon, daß sie sich darauf freue, wieder einen Teil des Winters in Hamburg zuzubringen, und fragte mit einem von Tankred nicht unbemerkten, interessierten Blick, ob er künftig auf Falsterhof wohnen oder das Gut verlassen werde. „Ein herrliches Erbe ist Ihnen und Ihrer Frau Kousine in Falsterhof geworden,“ warf sie sondierend hin. Tankred nickte, als rede sie von etwas Unbestreitbarem; er machte durchaus keine Einwendung. Grete schien sehr befriedigt; unmittelbar darauf gestattete sie ihm eine Blume, die sie gepflückt, an sich zu nehmen. Auch lächelte sie mit einem die Sinne anfachenden, reizenden Lächeln vor sich hin, als Tankred trivial, aber überzeugend klingend, sagte: „Von allen Andenken, die ich der Güte schöner und kluger Frauen verdanke, ist dies Blümchen das wertvollste.“ Beim Souper plauderte er absichtlich fast nur mit der Frau des Hauses, — es war eine alte Weisheit: Wer die Tochter gewinnen will, muß die Mutter erobern! — und nach aufgehobener Tafel unterhielt er sich bei der Zigarre so ausschließlich mit Herrn von Tressen, daß die Damen eine Handarbeit ergriffen und sich in die Rolle der Zuhörer fügten. Nur eine nahm einmal das Wort, Carin Helge. Sie sprach von einem Schauspiel, das sie gesehen. In ihm habe ein gefährlicher Mensch in die gute Gesellschaft einzudringen gewußt und alle getäuscht, bis auf die Gouvernante. Sie habe ihre Umgebung gewarnt und dadurch ein Verbrechen verhütet. „Und das Ende?“ fragte Grete, als sie eine Pause machte. „Das Ende war ein Totschlag —“ „Was verhandelt ihr da Schreckliches?“ fragte Herr von Tressen lachend. „Es klingt ja entsetzlich —“ Tankred aber bestätigte Carins Erzählung mit gleißnerischer Unbefangenheit und sagte — und sie verstand ihn —: „Sie vergessen, gnädiges Fräulein: es kommt zweimaliger Totschlag in dem Stücke vor. Erst beseitigt der Verbrecher seine Angeberin, dann unterliegt er selbst dem Schicksal.“ Und als sie hierauf nichts erwiderte, sondern nur mit den Lippen zuckte, gab Grete dem Gespräch eine andere Wendung und bat Tankred, einige Handfertigkeiten zum besten zu geben, von denen er ihr gesprochen. Da er darin Meister war, erntete er großen Beifall, auch ahmte er Tierstimmen nach und erregte dadurch namentlich Gretes Bewunderung. Es war für ländliche Verhältnisse schon spät, als der Stallknecht Tankreds Fuchs vorführte. Unter einem „Auf Wiedersehen am Schluß der Woche“ und einem „Vergessen Sie es nicht!“ von Grete, dem Frau von Tressen lebhaft beistimmte, nahm der Gast Abschied. Nach Falsterhof zurückgekehrt, zog Tankred das Pferd selbst in den Stall und zäumte es ab. Von Klaus war nichts zu sehen. Aber er ereiferte sich darüber nicht, sein Kopf war so voll von Gedanken und Anschlägen, daß nur sie sein Innerstes beherrschten. Auf dem Flur brannte die Lampe, Max knurrte wie immer und beruhigte sich erst allmählich. Nun hallten Tankreds Schritte über die Steinfliesen, und er öffnete die Thür seines Gemachs. Das erste, was sein Auge traf, war ein weißes Kuwert, das auf dem Tisch lag. „Ah —! Sicher eine Antwort von Theonie!“ Er griff, ohne den Hut abzunehmen und sich des Reitmantels zu entledigen, ungestüm danach und las: ‚Da ich morgen Falsterhof verlasse, mußt Du Dich bei Deinem Entschluß, noch hier zu bleiben, schon allein einrichten und mich entschuldigen. Wenn Du mir noch etwas zu sagen hast, — ich möchte sonst bitten, Dich mit Justizrat Brix, der über alles orientiert ist, in Verbindung zu setzen, — muß es morgen vormittag um halb elf beim zweiten Frühstück geschehen. Um elf Uhr habe ich den Wagen bestellt. Theonie.‘ „Also doch!“ murmelte Tankred. Auf der einen Seite befriedigte ihn der Inhalt dieser Zeilen außerordentlich. Sie räumte das Feld, und er konnte nach seinem Belieben bleiben; auf der anderen Seite aber entzog sie ihm die Gelegenheit, auf sie einzuwirken. Daß er sie trotz der Entschiedenheit ihres Charakters allmählich würde einschüchtern können, schien ihm zweifellos; er wußte, daß sie Furcht vor ihm empfand, und ihr würde sie unterliegen. Durch eine einzige Unterredung aber konnte er nichts erreichen, besonders wenn sie am hellen Tage stattfand. Die Nacht, das Grauen mußte helfend einwirken. — Der Mann warf den Kopf zurück. Sie sollte nicht reisen, wenigstens eine Woche mußte sie noch bleiben. Alle seine Künste wollte er aufwenden. — Künste? Theonie gegenüber? Doch wohl ein vergebliches Beginnen! Sie durchschaute ihn so gänzlich, daß nichts verfing. Nein, nur ein Appell an ihren Gerechtigkeitssinn, unterstützt durch indirekte und gegebenenfalls direkte Drohungen, konnte zum Ziel führen. — Daß er sich auch von seiner Leidenschaft hatte hinreißen lassen, da er doch wußte, ein Werben, in welcher Form es immer geschehe, sei zwecklos! Es war, um sich selbst zu ohrfeigen! Wäre das nicht geschehen, so würde er jetzt eine Neigung zu Grete von der Linden als Vorwand benutzen. Er könnte erklären, es sei möglich, deren Hand zu erwerben, wenn er über ein Erbteil zu verfügen habe. — Plötzlich schoß Tankred ein Gedanke durch den Kopf. Es hatte ihm einmal jemand erzählt, daß der Beamte eines großen Hauses in Amsterdam bei der Werbung um die Hand der Tochter des Chefs die abweisende Antwort erhalten habe: „Ja, wenn Sie einmal Compagnon von Watkin in London sind, dann kommen Sie wieder, dann läßt sich über die Sache sprechen!“ Der junge Mann war alsdann nach London gereist und hatte den Chef des Hauses Watkin gefragt, ob er ihn als Teilhaber aufnehmen wolle. Er sei der Schwiegersohn von van der Huyssen, dem sechzigfachen Millionär in Amsterdam. Auf diese Weise war er in den Besitz des Mädchens gelangt, das er liebte, und war zugleich Mitbesitzer vieler Millionen geworden. Unter solchen Gedanken legte sich Tankred zu Bett. Noch einmal hörte er draußen ein Geräusch, als ob jemand langsam an seine Thür schleiche; auch Max knurrte mit rasch wieder ersterbendem Laut auf. — Dann aber war's still, und von Träumen umgaukelt, schlief Tankred von Brecken bis zum Morgen. * * * * * In ihrem Zimmer befand sich Theonie und ordnete an ihren Koffern. Eben hatte sich die Zofe entfernt, und Frege trat ins Gemach. „Wann ist er nach Hause gekommen?“ fragte sie ohne Einleitung. „Es war zwischen zwölf und ein Uhr. Er hat selbst den Fuchs abgesattelt. Dann hatte er noch Licht im Vorderzimmer und las wohl den Brief der gnädigen Frau. Als ich nach ein Uhr noch einmal über den Flur schlich und durch das Schlüsselloch sah, verlöschte gerade das Licht.“ Theonie nickte. „Also Du weißt: wenn wir beim Frühstück sitzen, bleib in der Nähe. Ich bin nicht sicher, daß er nicht abermals unverschämt gegen mich wird. Da will ich Dich erreichen können. — Und berichte mir also jeden Tag, Frege. Sobald er fort ist, telegraphierst Du mir, ich komme dann zurück — Ah,“ unterbrach sie sich, „er wird nicht freiwillig gehen! — Und es durch Zwang erreichen? Dann wird er sich auf jede Weise zu rächen suchen, und ich werde keinen ruhigen Augenblick mehr haben. Vor solchen Menschen schützt keinerlei Schloß und Gesetz, sie sind zu allem fähig.“ Frege widersprach seiner Herrin nicht. Er bewegte den alten, großen Kopf mit den scharfen Linien und starrte mit dem eigentümlichen Ausdruck vor sich hin, der den Schwerhörigen eigen ist. „Ich wüßte eins, gnädige Frau,“ schob er dann, das Wort nehmend, ein. „Wenn er das Fräulein auf Holzwerder heiratet, dann werden Sie von ihm befreit für alle Zeiten. Das sollten Sie zu fördern suchen.“ „Wie kann ich das fördern, Frege? Und ob Du recht hast, ist noch sehr zweifelhaft. Dann bleibt er doch in unserer Nachbarschaft. Schon seine Nähe beunruhigt mich, flößt mir Furcht ein.“ Frege bewegte die Achseln. ‚Es mag zutreffen, aber in der Not nimmt man das, was man finden kann‘ stand in seinem Gesicht geschrieben. Nun schlug die Uhr vom Gutsthor herüber, und Theonie entließ Frege und stieg die Treppe hinab. Ihr graute vor diesem Gang so sehr, daß ihr die Kniee zitterten. Während dessen befand sich Tankred noch im Freien. Ein unruhiger Drang hatte ihn, gleich nachdem er sich aus dem Bett erhoben, hinausgetrieben. Die Natur lag da im strahlenden Glanz der Herbstsonne. Als sich Tankred dem großen Tannenhügel näherte, der zur Linken einen Teil des Parkes begrenzte, eröffnete sich ihm ein zauberhaft schönes Bild! Unzählige Lichter irrten zwischen den Stämmen, versteckte kleine Sonnen blitzten und durchleuchteten die dunkelgrünen Zweige der Fichten; breite Ströme ergossen sich den Hügel hinab, wo eine Lichtung geblieben war, und an anderer Stelle stieg ein einsamer Weg im schattigen Dunkel die Höhe hinan und weckte das Verlangen, sich dort niederzulassen und den würzigen Duft der Kiefernadeln einzuatmen. Die Schönheit der Natur wirkte auf die Seele des Mannes ein, aber mehr noch ward das Verlangen nach Besitz in ihm geweckt. Als er aus dem Park heraustrat, und sein Blick weithin die Koppeln, Wiesen, Felder und Waldungen umfaßte, die alle zu Falsterhof gehörten, die dalagen von der Sonne umflossen wie ein herrliches Eden, als sein Blick nach dem Pachthof hinüberschweifte, und die Kuh- und Schafherden vor ihm auftauchten, das Geräusch thätiger Menschenarbeit zu ihm herüberdrang, die Wirtschaftsgebäude unter dem farbigen Laub emporstiegen, und er im Geiste an sich vorüberziehen ließ, was alles sie bargen an Getier, Getreide und sonstigem Vorrat, welch ein Leben in der Meierei war, wie weit sich die Gemüsegärten ausstreckten, und wie endlos auch noch östlich von Falsterhof das Gutsland sich dehnte, da krallte sich der Teufel der Habsucht so tief in seine Seele ein, daß sein Herz klopfte, und seine Handflächen sich feuchteten. Es war auch alles klar in ihm. Einen Vorschlag wollte er Theonie machen, ohne Umschweife. Da er doch einmal die Maske abgeworfen hatte, war's schon weise, nun ohne Schwanken und Zaudern zu sagen, was er wünschte. Sie konnte es sich ja überlegen, seinen Vorschlag auf der Reise wägen und ihm schreiben. — Ja, so sollte es sein. Und dann standen sie sich gegenüber. Theonie goß eben Wasser auf den Thee, als Tankred ins Gemach trat. Sie wandte das Haupt, bewegte es unbefangen, obschon es in ihrem Innern pulsierte, und sagte: „Bitte, nimm Platz. — Willst Du vielleicht etwas von dem Graubrot abschneiden? Ich sehe, Kathrine hat es vergessen. Und Eier, die Du so liebst, fehlen ja auch. Soll ich rasch welche bestellen?“ Tankred ward aufs angenehmste berührt. Theonie ließ ihn die Vorfälle des verflossenen Tages nicht entgelten, sie legte freundlich versöhnliche Gesinnungen an den Tag. Auch er begegnete ihr mit ausgesuchter Aufmerksamkeit. Als sie sich gegenüber saßen, sagte er: „Ich danke Dir für Deine Zeilen, Theonie. Darf ich fragen, wo Du Dich hinbegiebst, und wie lange Du fortzubleiben gedenkst?“ „Ich reise zunächst nach Hamburg, wo ich einige Zeit verweilen will. Über die Länge meiner Abwesenheit habe ich noch nichts festgesetzt.“ „Jedenfalls sehen wir uns aber dann wohl nicht wieder?“ „Nein, schwerlich.“ Es trat eine Pause ein. Neben dem Tische dampfte der Theekessel und sang heimliche Lieder. Die Sonne warf durch die großen, tiefen Fenster ihre Strahlen, blieb zwar hockend auf den Fensterbrettern, aber erhellte doch das Gemach, als seien die Wände plötzlich in lichtdurchflutetes Glas verwandelt. Die alten, kostbaren Möbel glänzten, das weiße Leinen der Servietten und eine von Frege in die Mitte des Tisches gestellte rote Herbstrose hoben ihre Farben reizvoll von einander ab, und das Krystall und das Silber auf dem Frühstückstisch flimmerte und blitzte. Eine Platte mit süß duftenden, dampfenden Rindfleischschnitten und eine einen zarten Champignongeruch verbreitende Schale mit Sauce standen neben mehlig-hellen Kartoffeln. Vor allem bediente Tankred sich, und nun schenkte Theonie ihm auch ein Glas goldfunkelnden Rheinweins ein. Sie verstand es, die Dinge gemütlich zu machen; wenn sie etwas bereitete oder die Hand darüber hielt, war's stets tadellos, und auch heute schmeckte es dem Manne vortrefflich, und die Vorzüge sorglosen Wohllebens drangen wiederholt auf ihn ein. Es gab eigentlich nichts Herrlicheres, als auf Falsterhof zu leben. Alles stand wie durch Zauber auf dem Tisch, die Gemächer waren mit allen nur denkbaren Bequemlichkeiten versehen, die Dienerschaft war noch vom alten Schlage, voll Ehrerbietung und Aufmerksamkeit, und wenn sich Tankred in der Umgegend oder in Elsterhausen zeigte, begegnete man ihm mit jener Unterordnung, die Stand und Reichtum stets in der Welt hervorrufen. „Höre mich, bitte, an, Theonie, bevor wir auseinandergehen,“ begann Tankred unter solchen Eindrücken in gehobener Stimmung. „Wirf Deinen hohen Gerechtigkeits- und Deinen Verwandtschaftssinn mit in die Wagschale, wenn Du mir antwortest. Ich sagte Dir gestern, ich wisse, daß ich in meinen Entschlüssen, ein arbeitsames, geregeltes Leben zu beginnen, gefördert werden würde, wenn ich heiraten könnte — Nein, nein, fürchte nicht, daß ich Dir wieder zu nahe trete. Du hast mir gestern an den Tag gelegt, daß Du meine Empfindungen nicht teilst, und nie werde ich Dich wieder belästigen. Ich wollte etwas anderes sagen: Wenn ich in guten, geordneten Verhältnissen wäre, könnte ich sicher auch eine brave Frau finden. Nun bin ich, und besitze ich aber nichts, und das, was Du mir gütigst zuwenden willst, giebt unter heutigen Verhältnissen einem Landmann keine Möglichkeit, sich eine Selbständigkeit zu verschaffen. Wir sind die letzten beiden Breckens auf der Welt, Theonie. War es nicht ein bischen ungerecht von Deinen Eltern, mich ganz leer ausgehen zu lassen? Wäre es den natürlichen Verhältnissen nicht entsprechender gewesen, wenn Dir ein Teil, und mir der andere geworden wäre, zumal Du Deinen Gatten verloren hast und nicht wieder heiraten willst? Ich weiß, daß Du mich nicht liebst. Ich fühle sogar, daß Du mich nicht achtest, obgleich ich Dir nie etwas zu leide that und mich nur des Vergehens schuldig machte, Dir meine Liebe in einer Form zu gestehen, die Du leicht nachgesehen haben würdest, wenn Du meine Neigung erwidertest. Aber wenn Du mich auch nicht liebst und meinem Charakter mißtraust, so hast Du doch als eine Brecken und vermöge Deiner ganzen Veranlagung gewiß den Wunsch, daß ich fortan einen soliden und rechtschaffenen Lebenswandel führe, daß ich dem Namen der Familie Ehre mache. Wenn dem aber so ist, so hilf mir, gieb mir eine Stellung in der Welt durch freiwillige Teilung des Besitzes und lasse mich in Zukunft Falsterhof verwalten. Hast Du kein Vertrauen zu meinen wirtschaftlichen Fähigkeiten, so kann ja auch alles bleiben, wie es jetzt ist, aber dann mache die Mittel zu einer Teilung zwischen uns flüssig, indem Du eine größere Summe auf Falsterhof aufnimmst oder mir die Hälfte der Rente überweisest. Ich sehe, Du zuckst zusammen, Du findest es über die maßen unbescheiden von mir, eine solche Forderung zu stellen, und ich gebe auch zu, daß mein Verlangen sehr ungewöhnlicher Art ist. Aber ich bin nüchtern veranlagt und setze anderseits ein großes Vertrauen in Deinen Gerechtigkeitssinn, auch weiß ich, daß Du geringen Wert auf Hab und Gut legst, und so fand ich denn den Mut, Dich mit meinem Wunsche bekannt zu machen. — Nun, Theonie?“ schloß er und griff wieder nach Messer und Gabel, die während seiner Rede geruht hatten. „Was meinst Du? Willst Du so freundlich sein, zu überlegen, was ich Dir vorzutragen mir erlaubte?“ Theonie hatte bei den letzten Sätzen sinnend vor sich hingeschaut. Ihre Gedanken beherrschten sie so, daß sie nur halb vernommen, was er am Schluß gesagt hatte. Aus diesem Gesichtspunkte hatte sie ihres Vetters Stellung zur Familie Brecken allerdings noch niemals ins Auge gefaßt. Die Berechtigung eines Anspruchs von seiten Tankreds war ihr auch nicht einmal in den Sinn gekommen; bei dem Gedanken, ihm eine Summe zuzuwenden, hatte lediglich ihr Gefühl, nicht aber ein Pflichtzwang sie geleitet. Dennoch war jetzt alles klar in ihr, und ihm fest und ehrlich ins Auge schauend, erwiderte sie: „Ich weise Deine Vorschläge durchaus nicht zurück. Aber vor der Hand kannst du in keiner anderen als der Dir bereits mitgeteilten Weise auf mich rechnen. Ich will einen Entschluß von solcher Tragweite — ich spreche, wie ich gleich betonen will, nur von einer Erbteilüberweisung; die Verwaltung des Gutes möchte ich dem Manne nicht entziehen, der meines Vaters ganzes Vertrauen besaß und es stets rechtfertigte — also, ich will einen Entschluß von solcher Tragweite nicht fassen, ohne Justizrat Brix zu rate zu ziehen, und ihn auch abhängig machen von gewissen Umständen, die erst nach einer Reihe von Jahren meiner Beurteilung unterliegen können.“ Theonie machte eine Pause, und Tankred setzte voraus, daß seine Kousine noch etwas für ihn Günstiges hinzufügen werde. Aber sie neigte nur in Bestätigung ihrer Worte den Kopf und machte dann eine Bewegung zum Aufstehen. „Es ist wohl so weit, der Wagen wird vorgefahren sein,“ sagte sie, nach einer im Zimmer stehenden Uhr schauend. „Entschuldige mich, ich habe oben noch etwas zu thun.“ Aber Tankred hielt Theonie durch seine blicke zurück. „Schon einmal machte ich Dir Andeutungen, daß ich ohne Mittel sei, Theonie. Wir wurden damals unterbrochen. Würdest Du wohl die Güte haben, mir einiges Geld zurückzulassen?“ Sie nickte bereitwillig und sagte, die Börse ziehend, mit einem Anflug von Verlegenheit: „Wie viel, bitte?“ „Ein paar hundert Thaler würden mir zunächst sehr gelegen kommen, da ich einige Verpflichtungen habe.“ „Ein paar hundert Thaler? Die habe ich nicht hier. Da müßte ich erst an Brix schreiben.“ „Gieb mir ein paar Zeilen an den Verwalter,“ wandte Tankred ein. „Er ist stets bei Kasse und wird mir auf Deine Anweisung gleich zahlen.“ „An den Verwalter?“ wiederholte Theonie zögernd und pedantisch überlegend. „Das würde ihm sehr auffallend erscheinen. Das ist nie geschehen, alles geht durch Brix.“ „Mache diesmal eine Ausnahme, Theonie. Ich werde es ihm schon erklären —“ Aber sie gab noch immer nicht nach. Ein starker Ordnungssinn, den sie von ihrem Vater geerbt, war ihr eigen. „Nein, ich möchte es doch nicht. Aber hier, bitte — vorläufig,“ — entschied sie und reichte ihm ein paar Geldscheine, die sich in ihrer Börse befanden, „für weiteres werde ich sorgen.“ Tankred nahm mit gezwungener Miene das Geld; er mußte an sich halten, um ihr nicht schroff zu begegnen. Dieses in seinen Augen kleinliche Markten und Überlegen um ein paar hundert Thaler von einer Person, die, wenn sie ihr Eigentum flüssig machte, Millionärin war, brachte ihn schon an sich auf, verletzte aber auch seine Eitelkeit im höchsten Grade. Es mußte alles nach seinem Kopfe gehen. Wenn die Dinge sich nicht gestalteten, wie er sie sich in seinem Sinn zurechtgelegt hatte, wußte er, wenigstens für den ersten Augenblick, seinen Unmut niemals zu unterdrücken. „Nun — lebe wohl,“ — sagte Theonie, vom Reisefieber erfaßt, mit deutlicher Unruhe. — „Möge es Dir gut gehen! Und bitte, besuche Justizrat Brix, er wird Dir das Nötige mitteilen.“ Plötzlich kam Tankred der Gedanke, daß dieser fortwährende Hinweis auf den Rechtsbeistand und Vermögensverwalter der Familie noch einen besonderen Grund habe. Theonie würde ihm am Ende noch Bedingungen durch Brix stellen. Das reizte und beunruhigte ihn so sehr, daß er sie abermals zurückhielt und die Worte hervorstieß: „Du kannst es nicht erwarten, eine doch an sich gar nicht eilige Reise anzutreten, und wendest dabei große Umständlichkeiten an, während Du meine Angelegenheit behandelst wie eine lästige Nebensache. Weshalb soll ich denn durchaus den Umweg zu Brix machen? Gieb mir doch einfach eine Anweisung auf ihn, die ich verwerten kann. Ich habe nicht gern mit ihm zu thun. Er ist mir sehr unsympathisch.“ Diese Worte reizten nun auch Theonie, und sehr rauh und mit einem starken Anhauch von Bevormundung gab sie, zugleich durch ihre Mienen zeigend, daß sie sich durch seinen Einwand durchaus nicht beirren lasse, zurück: „Es muß aber doch so bleiben! Einige kleine Unbequemlichkeiten mußt Du schon mit in den Kauf nehmen, wenn Du Geld empfangen willst.“ Aber sie bereute sogleich, was sie gesprochen. In dem Antlitz des Menschen, der ihr gegenüber stand, erschien ein furchtbarer Ausdruck. Wut, Rachsucht, Totschlag standen in seinem Gesicht geschrieben, und ein zähneknirschendes, von funkelnden Blicken begleitetes: „Nein, ich muß nicht und will nicht!“ drang wie ein Gewitter aus seinem Munde. „Ich habe Dir alles freundlich und sachlich vorgestellt, ich habe an Deinen Gerechtigkeitssinn und Dein Verwandtschaftsgefühl, aber auch an Deine Klugheit appelliert, mich nicht wie einen lästigen Habenichts zu behandeln, sondern wie einen halbwegs Gleichberechtigten. Als Du dann die ablehnende Antwort auf meine Rede mit allerlei mystisch klingenden, aber sich wohl auf meinen zukünftigen Lebenswandel beziehenden Worten begleitetest, schwieg ich und fügte mich. Dann bat ich um etwas Geld, das Du mir nicht aus eigener Initiative gabst, obschon Du wußtest, daß ich schon seit der Krankheit Deiner Mutter nichts besaß, und machte, weil ich es gleich gebrauchte und —“ hier schob Tankred einen berechnenden Satz ein — „auch für meine Abreise desselben bedürftig war, den Vorschlag, es sofort herbeizuschaffen. Auch den wiesest Du zurück und stelltest Dich auf den pedantisch engherzigen und kleinlichen Standpunkt Deines filzigen Vaters, dem Gold und Silber alles war.“ Aber nun unterbrach Theonie, die anfänglich mit Angst und Herzklopfen zugehört hatte, und weil etwas Wahres in Tankreds Worten lag, sich getroffen fühlte, ihren Vetter mit einigen, alle Klugheit und Besonnenheit beiseite werfenden Worten. Dieser verkommene Mensch wagte es, das Andenken ihres Vaters zu beschimpfen in dem Augenblick, wo er bettelte, bettelte um Geld, das jener durch Ordnung und Sparsamkeit sich erworben?! Dasselbe ungestüm tobende Blut, das in Tankreds Adern rollte, pulsierte in den ihren, und besinnungslos vor Erregung rief sie ihm entgegen: „Halt! Mit dieser Verunglimpfung meines verstorbenen teuren Vaters hast Du jeglichen Anspruch auf das kleinste Entgegenkommen von meiner Seite verwirkt. Das merke Dir! Und nun verlasse Falsterhof sogleich! Nicht ich gehe, Du gehst —! Das ist mein letztes Wort.“ In diesem Augenblick erschien die dürre Gestalt Freges in der Thür, und hinter ihm Klaus, der Kutscher, mit neugierig fragender, halb ängstlicher, halb entschlossener Miene. „Ah!“ drang's aus dem Munde Tankreds, und er richtete seine Gestalt zur Abwehr auf. „So stehen die Dinge? Sind nicht auch noch Gensdarmen zur Hand? Ich aber sage euch, ich bleibe auf Falsterhof und weiche keiner Gewalt! Muß ich ihr aber dennoch weichen, so hütet Euch!“ Nach diesen mit furchtbarer Stimme und unter drohenden Gebärden ausgestoßenen Worten trat er durch das anstoßende Gemach auf den Flur, und die Zurückbleibenden hörten, wie er die Zimmer des Onkels aufschloß. „O mein Gott! Weshalb willst Du mich denn so grausam strafen, indem Du mir diesen Menschen ins Haus sandtest! Was that ich, um so Schreckliches zu verdienen?!“ hauchte Theonie und sank wie vernichtet in ihren Stuhl. — Tankred wanderte in seinem Zimmer mit Mienen auf und ab, als wäre er eingesperrt und sänne darüber nach, wie er sich befreien könne. Aber sein Ingrimm richtete sich diesmal nicht auf eine andere Person, sondern auf sich selbst. Er hatte sich wieder nicht in seiner Macht gehabt, abermals war er seinem Jähzorn unterlegen, und statt seine Sache zu verbessern, hatte er sie gänzlich verfahren. Da seine Handlungsweise mit der eben erst wieder gegebenen schriftlichen Zusicherung im krassesten Widerspruch stand, hatte er Theonie schlagend bewiesen, daß sie recht hatte, wenn sie ihm aufs äußerste mißtraute. Nicht nur hatte er jede Ehrerbietung außer acht gelassen, sondern sich auch zum Richter ihrer Handlungsweise aufgeworfen und am Ende sogar Drohungen ausgestoßen, die nur zu gut verrieten, was sich in den tieferen Winkeln seiner Seele versteckte. Sie konnte sich nach diesem Vorgang ihm nicht wieder nähern, das Tuch zwischen ihnen war zerschnitten. Unglaublich hatte er gehandelt! War sie nicht auf seinen Antrag eingegangen, und war das nicht ein über alle Erwartungen günstiges Ergebnis gewesen? Nach einer einzigen Unterredung, und trotz ihrer ausgesprochenen Abneigung gegen ihn, hatte er erreicht, was einem andern kaum zu denken in den Sinn gekommen wäre. Es würde ihn nicht überrascht haben, wenn Theonie ihm erwidert hätte: Ich weiß nicht, ob ich mehr über Deine unverschämte Forderung mein Erstaunen ausdrücken soll, oder über deinen Mut, sie mir vorzutragen. Statt dessen hatte sie seine Gründe angehört und unbefangen gewürdigt und dem Sinne nach nur erwidert: Ich will das Erbteil meiner Vorfahren nicht gefährden, bewährst Du Dich aber, dann soll die Hälfte Dein Eigentum sein. Sie hatte gehandelt wie ein selbstloser, gerechter, aber auch wie ein weiser und besonnener Mensch, er aber wie ein zügelloser, von gemeinen Trieben geleiteter Rabulist. Nun hatte er am Ende auch das Geld verscherzt, das sie ihm willig hatte auszahlen wollen. Sicher würde Theonie jetzt wieder zu ihrem Rechtsanwalt gehen, alles annullieren, was sie früher festgesetzt hatte, und zugleich die Mittel mit Brix beraten, ihn, Tankred, mit Gewalt von Falsterhof zu entfernen. Und die Geschehnisse würden an die Öffentlichkeit dringen, und er würde der Familie Treffen als das erscheinen, was er wirklich war. Wie gut hatte er alles eingefädelt, und mit welcher Pfuscherarbeit geendigt! Wäre er fügsam gewesen, so hätte er Tressens erklären können, er habe, wenn auch erst nach einigen Jahren, Anspruch auf die Hälfte von Falsterhof. Theonie würde, unter geschickter Behandlung der Angelegenheit von seiner Seite, diese Begünstigung bestätigt, es würde sich alles ohne Schwierigkeiten und Künste geregelt haben, während nun schon eine Unsumme von Verstellung, Intrigue und Lüge aufgewendet werden mußte, um nur die üblen Eindrücke wieder zu verwischen. Und dann war das Resultat auch noch zweifelhaft, die Wahrscheinlichkeit lag vor, daß alle Mühe umsonst gewesen. Nein! er war doch noch ein großer Stümper! Er mußte sich's zugestehen. So sehr ergriff den Mann die Einsicht in seine Fehler, daß er sogar auf den Gedanken kam, ob es nicht doch am Ende vorteilhafter sei, tugendhaft zu werden, umzukehren und sich zu bemühen, ein ordentliches Leben zu führen. Ihm kamen plötzlich Zweifel, ob ihm nicht doch die Eigenschaften zur erfolgreichen Schurkerei fehlten, da er sie nicht durch Selbstbeherrschung zu unterstützen vermochte. Er hatte noch nicht warten gelernt. Warten können! Was lag nicht alles in den Worten! Und er besaß auch nicht hinreichenden Mut; seine Genußsucht und sein Bequemlichkeitsdrang schoben sich in seine Entschlüsse und machten ihn feige. In seinem charakterlosen Hin und Her, aber auch zufolge seiner schrankenlosen Selbstsucht überlegte er, ob er nicht lieber Theonie nachreisen, abermals ihre Verzeihung erflehen und schwören solle, daß das Geschehene nichts mit seinem Herzen gemein habe. Nur der Zorn hätte aus ihm geredet. Er vertraute dabei seiner eminenten Verstellungskunst. Der Gedanke, durch eine einzige Unterredung alles noch wieder ins richtige Geleis bringen zu können, beschäftigte ihn plötzlich solchergestalt, der Gegensatz zwischen dem, was augenblicklich war, und dem, was er vielleicht wieder erreichen konnte, drängte sich ihm so stürmisch auf, daß er das Haupt zurückwarf, die Klingel zog und dem stumm und finster hereintretenden Frege zurief, er möge sofort den Fuchs satteln. „Wohin ist meine Kousine gereist?“ fügte er erregt hinzu. „Es ist wichtig, daß Sie mir die Wahrheit sagen, da ich mich entschlossen habe, alles daran zu setzen, um unser Zerwürfnis zu beseitigen. Also, wohin hat Klaus die gnädige Frau kutschiert?“ Frege befand sich in größter Verlegenheit. Er wußte nicht, wie er am besten zu Gunsten seiner Herrin handeln würde. „Ich weiß es nicht, Herr von Brecken. Zunächst wollte Frau Cromwell bei Pastors vorsprechen und später Nachricht geben.“ So wand sich Frege heraus. Bei der Erwähnung der Pastorfamilie schoß Tankred ein Gedanke durch den Kopf. Wenn sie von den letzten Vorfällen durch Theonie unterrichtet wurden, würden Tressens auch bald wissen, was geschehen war. Jüngst hatte die Familie bereits geäußert, daß sie Pastors, die sie sehr schätzten, allernächstens mit Tankred zusammen einladen wollten. Das verstärkte des Mannes Entschluß, unter allen Umständen Theonie nachzueilen. Er konnte sie noch erreichen, wenn er nicht säumte; sicher würde sie sich bei Höppners einige Stunden, vielleicht sogar den Tag über aufhalten. Sehr unbequem war ihm freilich die Pastorin, sie guckte durch die Wand, sie nahm kein Blatt vor den Mund. Wie der Teufel vor dem Zeichen des Kreuzes zurückwich, so fühlte er seine Gewalt und Kraft gehemmt durch die grade Ehrlichkeit ihres Wesens. Kaum zehn Minuten später war Tankred unterwegs, er jagte dahin, daß der Staub der Landstraße hoch aufwirbelte, und der schnaubende und wild stürmende Fuchs die Aufmerksamkeit der die einsame Landstraße belebenden Fußgänger erregte. — Inzwischen saß Theonie bei Höppners im Gartenzimmer und berichtete mit eben wieder zurückgewonnener Fassung von allem, was geschehen war. Der Pastor richtete unter der silbernen Brille seine Augen mit dem Ausdruck größter Teilnahme auf Theonie, aber sein sich auf- und abschiebender Mund und seine leisen Kopfbewegungen verrieten, daß er zugleich nach einer Entlastung für Tankred suchte, daß er die Hoffnung nicht ausgab, die Herzen zu versöhnen. Anders die Pastorin, die allem Gerechten eine warme Freundin, aber dem Schlechten eine eifrige und unerschrockene Gegnerin war. „Ich sollte nur Ihrem Vetter gegenüberstehen, ich wollte ihm schon die Seele mürbe machen, liebste Theonie. Sie thun auch ganz unrecht, Furcht zu empfinden. Menschen, wie Ihr Vetter, sind nur mutig, wenn sie keinen Widerstand treffen; sehen sie, daß man ihnen die Zähne zeigt, ziehen sie wie die Hunde den Schwanz ein. Was soll Ihnen denn geschehen? — Er könnte Sie totschlagen, meinen Sie? Welcher Gedanke! Er will nur Vorteile aus Ihnen ziehen. Was gewinnt er, wenn er sich mit der Staatsgewalt in Konflikt bringt? Ihre Phantasie ist erregt; der alte Frege, dessen Mißtrauen sich erhöht, weil er schlecht hört, hat Sie ängstlich gemacht. Ich wette darauf, daß Ihr Vetter von selbst wieder ankommt und um gut Wetter bittet.“ So sprach die Frau, freilich mehr, um Theonie zu beruhigen, als ganz ihrer Überzeugung folgend. Auch sie stand unter dem Eindruck, daß Tankred zu dem Schlimmsten fähig sei. Nachdem es ihr zu ihrer Freude gelungen war, Theonie etwas zu beruhigen, und nachdem auch noch der Pastor, seiner Veranlagung entsprechend, milde zum guten geredet, ja, den Vorschlag gemacht hatte, als Vermittler aufzutreten und Tankred zu bewegen, Falsterhof zu verlassen, wandten sie sich anderen naheliegenden Dingen zu, und die Pastorin rief: „So, liebste Frau Theonie! Nun müssen Sie doch auch unsere Lene sehen, unser Herzenskind. Ich sandte sie mit Christine fort, weil ich wollte, daß wir uns erst ungestört aussprächen. Gleich will ich mal umschauen, wo sie ist. Sie werden wohl von der Pastorenwiese zurück sein.“ Nach diesen Worten machte sie eine Bewegung, um fortzueilen, unterbrach sich aber, da eben die Thür sich öffnete, und ein freundlich aussehendes, sauber gekleidetes Dienstmädchen mit bloßen Armen, in einem sogenannten Brabanterrock, mit einem kleinen, blonden Mädchen von fünf Jahren an der Hand, in die Thür trat. „Bist Du da, mein Lenchen, mein kleines, süßes Lenchen?“ rief die Frau glückselig und hob das Kind mit den verlegenen, unschuldigen Augen empor, herzte es und zeigte es triumphierend dem Besuch. Die folgende Stunde war dann allerlei Besichtigungen gewidmet. Frau Höppner besaß viele Vögel, die sie Theonie zeigte; sie führte sie auch in den trotz der Herbstzeit noch sorgfältig geharkten und sauber gehaltenen Garten. Den Hühnerhof mit den gackernden Kratzhennen und dem gespreizt einherschreitenden Hahn mußte Theonie ebenfalls in Augenschein nehmen und eine neue Tapete im Kabinet neben dem Wohnzimmer bewundern. Als sie wieder über den Flur schritten, sah Theonie daß sich eben ein Bauer mit dem Pastor unterhielt. So menschenfreundlich schimmerte es in des Geistlichen Auge, so geduldig hörte er auch noch zu, als der Mann am Schluß wiederum anhub, und mit so sanft ermunternden Worten entließ er ihn! Und überall, wohin das Auge schaute, war gleichsam Sonnenschein! Ordnung und Schönheitssinn in der kleinsten Kammer, und das Gesinde, durch Beispiel geleitet, bescheiden und rührig, selbst der Hund anschmiegend und gehorsam. Im Gartenzimmer zeigte die Pastorin Theonie allerlei Handarbeiten, mit denen sie für Lenchen beschäftigt war. Auch des Kindes erstes Schreibbuch legte sie ihr vor und sagte glücklich, und ihr sonst jeder Überschätzung abgewandtes Wesen ein wenig verleugnend: „Wirklich erstaunlich, was das kleine Geschöpf für eine sichere Hand hat, wie talentvoll sie überhaupt ist. Nicht wahr? Es ist doch sehr viel für ein Mädchen in den Jahren?“ Und Theonie pflichtete lächelnd bei, obschon sie das unbehülfliche Gekritzel noch nicht sehr kunstgerecht fand. Durch die Seele der jungen Frau zog ein unnennbar sehnsüchtiges Gefühl. Ein solches Heim zu besitzen, ein Kind zu haben — glücklich zu sein — ja — glücklich zu sein! Sie verwünschte fast das große Erbe, das, ihr kaum zugefallen, schon die Leidenschaft der sie umgebenden Menschen geweckt, ihr Angst, Unruhe und Qual verursacht und sie selbst verführt hatte, gegen ihre bessere Überzeugung sich fortreißen zu lassen. Denn Theonie bereute die Form der Lossagung von ihrem Verwandten. Der Pastor hatte gesagt: „Wenn Sie, statt Ihrem Vetter zornige Worte zuzuschleudern, liebe gnädige Frau, sanft erklärend auf ihn eingesprochen hätten, würde er zur Einsicht gelangt sein. Sie haben ihn auch ein wenig gereizt!“ Freilich hatte die Pastorin ihn unterbrochen und noch einmal ihre Ansicht dargelegt. „Nein, ich hätte ebenso gehandelt wie Frau Theonie. Der saubere Herr mußte fühlen, daß ihm ein Wille gegenüberstand, denn nur so findet ein Mensch wie er die Grenzen wieder. Giebt man ihm nach, so wachsen seine Unverschämtheit und sein Übermut, und man hat das Spiel verloren! Theonie muß auf ihrem Standpunkt beharren. Jetzt keine Weichheit mehr, kein Nachgeben!“ Aber trotz dieser ihre Handlungsweise verteidigenden Worte fühlte Theonie doch, daß der Pastor auch ein Recht für seine Ansicht habe. Hatte nicht sie ebenfalls ein Ziel vor Augen gehabt, war's ihr nicht entrückt worden durch den Ausbruch ihres wenn auch an sich gerechten Zornes? Auch dieser praktische Gedanke mischte sich in die sittliche Überlegung. Sie stand wehrlos und ohne Schutz da! Was halfen alle Urteile und Meinungen anderer, wenn sie Tankred nicht von Falsterhof entfernen konnte, nicht die Sicherheit hatte, sich seiner für immer zu entledigen, wenigstens nicht mehr mit ihm in Berührung zu kommen? Als Erzieher bei einem Menschen wie Tankred aufzutreten, war zwecklos; aber zwischen sich und ihm ein erträgliches Verhältnis herzustellen und indirekt auf ihn einzuwirken durch ihr Geld, durch Verweigern oder Gewähren, das war weise, und es entsprach zudem dem Drang ihres Innern, den letzten, der den Namen Brecken trug, vor Selbstbeschimpfung seines Namens zu behüten. So kämpfte in ihr auf der einen Seite der ursprüngliche Entschluß, Tankred keinerlei Konzessionen mehr zu machen, ihre Hand ganz von ihm zurückzuziehen und alle Folgen ihrer Überzeugung zu tragen, mit der ihr innewohnenden Einsicht, Herzensmilde und Klugheit, die doch zu einer Verständigung rieten. Als man sich zum Abendessen im Pastorhause rüstete, die Frau vom Hause eben noch in der Küche eine Anzahl Eier zerschnitt und die flaumenweich gekochten, einen starken Phosphorgeruch verbreitenden, weiß und goldgelb schimmernden Hälften auf einen Teller legte, trat das Kindermädchen ihr näher und meldete, daß ein Herr im Flur stehe und nach Frau Cromwell frage. „Wer denn?“ warf die Pastorin leicht hin, ging, das Messer noch in der Hand, an die Küchenthür und guckte um die Ecke. Aber sie prallte zurück, als sie Tankred von Brecken vor sich sah. „Um es gleich zu sagen, sehr verehrte Frau Pastorin,“ hub er, ehe sie Worte gewinnen konnte, an und trat ihr mit einschmeichelnder Artigkeit entgegen, „ich komme, um mit meiner Kousine ein versöhnendes Wort zu sprechen, und möchte Ihre freundliche Vermittelung anrufen. Nicht wahr, Sie schlagen mir mein Ersuchen nicht ab? Ich rechne auf Ihre mir bisher stets bewiesene Güte.“ Aber die Antwort fiel doch nicht ganz so aus, wie Tankred, den Wirkungen seiner Geschmeidigkeit vertrauend, vorausgesetzt hatte. „Zunächst, bitte, treten Sie gefälligst in das Zimmer meines Mannes!“ entgegnete sie höflich, aber durchaus kühl. „Ich werde Frau Cromwell fragen, ob sie Sie empfangen will. Offen gestanden, ich glaube es nicht, und jedenfalls werden Sie sich schon etwas gedulden müssen. — Hier —“ schloß sie ebenso kurz und entschieden und öffnete das Gemach ihres Gatten, aus dem Tankred der dumpfsäuerliche Geruch der vielen Pfeifen, die der Pastor den Tag über rauchte, entgegenschlug. Noch eine Sekunde, dann hatte sich hinter ihm die Thür geschlossen. Die Pastorin aber begab sich, nachdem sie vorher noch in völliger Ruhe die Küchenangelegenheiten erledigt, ins Gartenzimmer und verkündete ihrem dort mit dem Pastor weilenden Besuch, was sich ereignet hatte. Theonie erbleichte, ja, sie zitterte am ganzen Körper, der Pastor aber, bei dem die Ehrfurcht vor allem, was den Namen Brecken trug, ebenso sehr wirkte wie die ihm angeborene rücksichtsvolle Höflichkeit, rief fast ängstlich tadelnd: „Aber wo, wo ist er denn? Du hast ihn doch nicht draußen stehen lasten?“ Die resolute Pastorin schüttelte bloß den Kopf und sagte kurzhin: „I, wie sollt ich wohl; er ist natürlich in Deinem Zimmer.“ „Nun, da will ich —“ „Nein, bitte, bleibe,“ entschied die Frau in einem Ton, der keinen Widerspruch aufkommen ließ. „Erst müssen wir überlegen, gründlich überlegen. Wenn Sie meinem Rat folgen wollen, liebe Theonie, so erklären Sie, daß Sie Ihren Vetter erst morgen vormittag empfangen könnten. Einmal haben wir Zeit, zu beraten, und dann kühlt sich der Übermut des sauberen Herrn noch weiter ab.“ Der Pastor schüttelte bei diesem Vorschlag sogleich den Kopf. Theonie aber schwankte. Was im allgemeinen richtig sein mochte, war doch vielleicht bei Tankred nicht angebracht. Sein Hochmut und seine Eitelkeit gaben fast immer den Ausschlag. Es war auch möglich, daß er, da er den ersten Schritt gethan, erklärte, sich nicht als ein Bettler behandeln lassen zu wollen. Er war wieder im Vorteil, wenn Theonie der Versöhnung aus dem Wege ging, und was besonders maßgebend war: sie wünschte so rasch wie möglich Klarheit zwischen sich und ihm zu schaffen; sie hoffte noch immer, daß er Falsterhof verlassen werde. So entschied sie sich denn, Tankred nicht abzuweisen, und schlug vor, ihm sagen zu lassen, daß sie nach Beendigung des Abendessens, also nach Verlauf einer kleinen Stunde, bereit sei, ihn anzuhören. „Ja — ja — aber — wir legen dadurch an den Tag, daß wir ihn nicht an unserm Tisch sehen wollen; das — geht doch wohl nicht —“ schob wieder der Pastor in seiner Gutmütigkeit ein. „Er hat unsere Gastfreundschaft angerufen, indem er unser Haus betrat.“ „Ach was!“ entschied die Pastorin. „Laß ihn nur fühlen, wie wir über sein Benehmen denken, das schadet gar nichts. Überhaupt ist Zartheit der Gesinnung bei diesem Menschen durchaus unangebracht. Den muß man behandeln als das, was er ist!“ So eilte denn der Pastor in sein Arbeitszimmer, schädigte Theonies Angelegenheit durch sein gewohntes höfliches Entgegenkommen und bat Tankred, unter dem Hinweis, daß sich seine Kousine gerade sehr angegriffen fühle, geneigtest in einer Stunde wiederkommen zu wollen. „Sie sind wohl im Krug abgestiegen?“ Tankred nickte. „Werden Sie die Nacht hier zubringen?“ Nein, er wolle nach Falsterhof zurückkehren, entgegnete Tankred und fügte, um wenigstens den Pastor zu gewinnen, eine Summe von Artigkeiten hinzu, die denn auch auf dessen arglos vertrauendes Gemüt die beabsichtigte Wirkung übten. Aber als ihr Mann ins Wohnzimmer zurückkehrte und über seine Unterhaltung mit Tankred berichtete, nahm die Pastorin das Wort und erging sich über ihn in scharfem Tadel. „Solche Gutmütigkeit, wie Du sie an den Tag legst, Adalbert,“ hub sie an, „ist Schwäche. Wo bleibt der Vorteil für die Guten, wenn man den Miserablen alles nachsieht? Das entspricht auch gar nicht dem Willen des göttlichen Wesens, dem Du nacheifern möchtest. Wenn Du aber nicht dieser Ansicht bist, so predige von Deiner Kanzel auch nicht mehr von Himmel und Hölle, von Guten, die zur Rechten, und von Bösen, die zur Linken stehen sollen. Dann verheiße ihnen allen Verzeihung! Nein, das Gute für die Guten, das Schlechte für die Schlechten. Wenn Du nicht strenger unterscheidest, wird man Dich charakterlos, unmännlich schelten, und mit Recht! Gewiß, das Herz soll sprechen, die Erwägung, daß man für die eigenen Schwächen die Nachsicht der Mitmenschen in Anspruch nehmen möchte, soll ihre Stimme haben, aber erst heißt's, die Forderung stellen: Lege an den Tag, daß Du das Gute nicht nur willst, sondern übst! Dann giebt's Barmherzigkeit auch im Himmel!“ Und nun wandte sie sich an Theonie und fragte, was sie betreffs Tankreds beschlossen habe. „Sprechen Sie erst Ihre Meinung aus, liebe Frau Pastorin,“ entgegnete Theonie. „Ich möchte gern hören, ob wir übereinstimmen!“ Die Pastorin warf einen freundlichen Blick auf die junge Frau. Es gefiel ihr, daß sie schon einen Entschluß gefaßt hatte, sie fand auch, daß Theonie richtig entschieden, als sie Tankred den ihm gewordenen Bescheid gegeben. „Ich würde Ihrem Vetter Folgendes erklären,“ erwiderte sie deshalb, Theonies Wunsche willfahrend: „Vorbedingung sei, daß er Falsterhof sofort verlasse und bei Justizrat Brix schriftlich erkläre, daß er niemals ohne Aufforderung dahin zurückkehren werde, auch keine Rechte auf irgend einen Teil Ihres Vermögens habe. Nachdem dies geschehen, würden ihm die einmal zugesagten fünfzigtausend Mark ausgezahlt werden.“ „Nun und dann?“ fragte Theonie, als die Pastorin schwieg. „Dann? Liebe Theonie! Sind Sie etwa gewillt, ihm noch sonst irgend etwas zuzubilligen? Ich rate ab, etwas anderes zu erwähnen. Sollte er auf ein weiteres zurückkommen, so würde ich ihm erwidern, daß ich mich jetzt in keiner Weise mehr binden wolle. Das habe er durch seine Begegnung verscherzt.“ „Aber deswegen ist er doch hergekommen!“ schob der Pastor, diesmal nicht nur seiner Gutmütigkeit, sondern einer richtigen Erwägung folgend, ein. „Gewiß! Aber wer weiß, was geschieht!“ entgegnete die Pastorin. „Hoffentlich heiratet doch unsere Theonie noch einmal, und dann braucht sie ihr elterliches Vermögen selbst.“ „Ich weiß, ich werde ihn nicht los! Er geht nicht, wenn ich mich nicht entgegenkommender äußere,“ sagte Theonie, der Pastorin letzte Worte durch ein sanftes Kopfschütteln übergehend. „Sie erklären ihm ja nur, daß Sie sich nicht binden wollen; darin liegt doch kein absolutes Nein.“ „Das ist sophistisch, Marie!“ schob der Pastor ein. „Ach was! Wie kann man mit ungleichen Waffen siegen! Einer soll Kanonen haben, und der andere bloß einen Helm, da ist kein Verstand drin.“ Während sie noch sprachen, entstand draußen ein Geräusch, und Theonie, bereits Tankred vermutend, fuhr zitternd zusammen. Schon der bloße Gedanke, ihrem Vetter wieder gegenüber zu treten, erregte sie aufs höchste. Das gab der Pastorin den Entschluß ein, Theonie vorzuschlagen, sie wolle statt ihrer mit Tankred verhandeln. „Ich werde es schon machen und sehr schnell mit ihm fertig werden. Ich erkläre ihm, wozu Sie sich verstehen wollen, und damit basta! Zu gleicher Zeit will ich aber auch dem Herrn seinen Standpunkt einmal klar machen.“ Und dabei blieb es trotz des Pastors Gegenrede. Fünf Minuten später meldete die Magd den Herrn von Brecken. „Bitte ihn, in des Herrn Zimmer zu treten. Zünde Licht an!“ entschied die Pastorin, und nach einer Weile begab sie sich in das Gemach. Tankred war nicht wenig enttäuscht, statt Theonie die Frau des Hauses zu sehen, aber er ließ sich nichts merken und begegnete ihr mit ausgesuchter, seine tiefe Verpflichtung ausdrückender Höflichkeit. „Ihre Frau Kousine ist zu angegriffen, um mit Ihnen, wie es ihre Absicht war, zu sprechen,“ hub die Pastorin in gemessener Weise an und machte eine Bewegung gegen Tankred, Platz zu nehmen. „Sie hat mich, um gleich auf die Sache zu kommen, beauftragt, Ihnen folgendes zu sagen: Es ist Frau Cromwells Wunsch, daß Sie Falsterhof verlassen und ohne ihre Aufforderung nicht dahin zurückkehren. Sie verpflichten sich dazu schriftlich bei Justizrat Brix, ferner erklären Sie, keinerlei Rechte auf das Breckensche Vermögen, das flüssige oder liegende, zu besitzen, und nachdem das geschehen, ist Frau Cromwell nicht abgeneigt, ihr Anerbieten wieder aufzunehmen und Ihnen fünfzigtausend Mark auszuliefern. So, Herr von Brecken, das ist alles, was ich zu berichten habe.“ „Über die Zukunft hat meine Kousine mir nichts zu sagen?“ brachte Tankred, nur mühsam seine durch Enttäuschung hervorgerufene Erregung verbergend, hervor. „Nein!“ „Kann ich meine Kousine vielleicht morgen sprechen?“ „Nein! Schon deshalb nicht, weil sie nicht mehr hier sein wird, und auch die Angelegenheit zwischen Ihnen und dem Justizrat innerhalb drei Tagen erledigt sein muß. Im anderen Fall will Frau Cromwell sich auf nichts einlassen und ersucht Sie, innerhalb dieser Zeit unbedingt Falsterhof zu verlassen.“ „Und wenn ich es nicht thue?“ „Nun, dann wird sie Sie zu zwingen wissen.“ „Haben Sie ihr diese Ratschläge erteilt, Frau Pastorin?“ „Gleichviel. — Ihre Kousine weicht von ihrem Entschluß nicht ab.“ „Und wenn ich nun beschwören kann — ich kann es beschwören und habe nur bisher nichts geäußert, weil ich den Schein einer Pression vermeiden wollte, — daß meine verstorbene Tante mir bei Lebzeiten die Hälfte von Falsterhof zugesagt hat?“ „So würden Sie einen falschen Eid schwören. So weit werden Sie es doch wohl nicht kommen lassen. Ich will Ihnen mal etwas sagen, Herr von Brecken. Was denken Sie eigentlich? Glauben Sie wirklich, daß Sie mit solchen Mitteln durchdringen, daß es bloß eines solchen für Sie bequemen Entschlusses bedarf, um mühelos ein reicher Mann zu werden? Welcherlei Ansprüche können Sie erheben? Sie haben bisher nicht an den Tag gelegt, daß Sie arbeiten und wie andere Menschen durch Pflichterfüllung und Fleiß sich Ihr Brot verdienen wollen, vielmehr alle Eigenschaften eines recht leichtfertigen und keineswegs gewissenhaften Menschen zur Schau getragen. Statt sich Ihrer Kousine für ihre Hochherzigkeit dankbar zu erweisen, die Gabe, die sie Ihnen bietet, als ein unverdientes Geschenk hinzunehmen, stellen Sie einfach die Forderung, den Besitz mit ihr zu teilen. Als sie Ihnen nicht gleich in einer Ihnen genehmen Form die Mittel zur Verfügung stellte, die Sie zu brauchen vorgeben, werden Sie ausfallend und stoßen Drohungen aus, wie man Sie wohl auf der Bühne von Bösewichtern, aber nicht von einem sittlichen Menschen zu hören gewohnt ist. Nun wollen Sie gar durch falsche Eide Ihre Forderungen erzwingen! Gehen Sie in sich, Herr von Brecken! Noch ist es Zeit. Das Ende wird sonst schrecklich sein. Eine Weile begünstigt das Schicksal wohl solcherlei Treiben, aber nur um den Übermut nachher um so schwerer zu strafen. Nehmen Sie, was Ihre Kousine Ihnen bietet, und erwerben Sie sich durch einen tadellosen Lebenswandel die Anwartschaft auf fernere Zuwendungen, dann sind Sie weise. Wenn Sie mir das versprechen, will ich verschweigen, was eben über Ihre Lippen gegangen ist, und es soll auch alles, was sonst geschehen, der Außenwelt vorenthalten bleiben. Im anderen Falle aber seien Sie überzeugt, daß wir mit allen Mitteln Ihrem ungesetzlichen, frivolen, ja, gefährlichen Treiben entgegentreten werden. Und noch eins: Wenn Sie glauben, daß Sie uns Furcht einflößen können, so irren Sie sich. Sie werden vielmehr erkennen, daß mit uns nicht gut Kirschen essen ist. — So, nichts für ungut. Die meisten Menschen haben eine Periode, wo sie der Teufel packt. Ich will denken, daß er auch nur zeitweise über Sie gekommen ist. Helfen Sie selbst, ihn auszutreiben!“ Tankred hatte der Rede der Frau, die ihn wie einen Schulbuben abzukanzeln sich erdreistete, mit einem unbeschreiblichen Ärger zugehört. Mehr als einmal hatte er in seiner maßlosen Erregung den Versuch gemacht, die Sprecherin zu unterbrechen, seine Hände ballten sich unwillkürlich, und die Zähne preßten sich zusammen. Aber da sie sich durch seine Haltung durchaus nicht beirren ließ, da sie ruhig und fest fortfuhr, hatte er, um wenigstens in einer Weise seiner Stellung zu ihren Worten Ausdruck zu verleihen, sich abgewandt und voll Ungeduld mit den Fingern auf den Tisch getrommelt. Erst am Schluß ihrer Rede ward seine Hand ruhig, und nur ein finsterer Zug blieb in seinem Angesicht haften; offenbar trat die Überlegung bei ihm ein, ob es nicht doch richtiger sei, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Gut denn,“ stieß er, nachdem sie geendigt hatte, kurz entschlossen heraus. „Ich will Ihnen einen Gegenvorschlag machen, Frau Pastorin. Ich will die von Ihnen geforderte Erklärung geben, auch mich mit der angebotenen Summe begnügen, wenn meine Kousine mir einen Brief des Inhalts schreibt, daß sie einen moralischen Anspruch auf Falsterhof von meiner Seite anerkennt. Sie giebt mir damit nichts anderes, als was sie mir schon vor unserm Zerwürfnis zugebilligt hatte. Auch muß sie hinzufügen, daß sie diesen Anspruch in Geld verwandeln will, wenn sich nach Verlauf einer Anzahl Jahre herausgestellt hat, daß ich in ihren Augen dessen würdig bin. Was Sie da von falschen Eiden sprechen, die ich schwören würde, von meinen Charaktereigenschaften und von Eventualitäten, denen ich mich aussetzen werde, wenn ich meiner Überzeugung nachgehe, will ich unberührt lassen. Als kluge Frau wissen Sie am besten, daß bloße Behauptungen taube Nüsse sind, und daß wir die Natur die Sprache nicht verliehen hat, um gegebenen Falles die Rolle eines Taubstummen zu spielen! Ich gab meiner Kousine zu, daß manches an mir zu bessern sei, und um die Besserung um so sicherer herbeizuführen, bat ich sie um ihre Hand und um einen Teil ihres Überflusses. Was ist ein Mensch ohne Mittel, besonders einer, der durch verehrte Erziehung hervorgerufene Eigenschaften besitzt, wie ich? Sie sprechen vom Teufel, der mich gepackt haben soll, aber Sie alle wollen nicht helfen, ihn zu vertreiben.“ „Nein, man vertreibt ihn nur selbst durch festen Willen, durch Beherrschung seiner Leidenschaften, durch Bezwingung seiner Natur und durch Beschränkung seiner Bedürfnisse. Daß Ihre Kousine, die keine Liebe für Sie empfindet, Sie heiraten soll, um Sie zu bessern, ist in der That ein starkes Verlangen. Und daß jemand Glücksgüter fordert, um seine Fehler abzulegen, beweist, daß er noch nicht das ABC sittlicher Lebensanschauungen in sich aufnahm, wohl aber eine an Irrsinn grenzende Selbstüberhebung besitzt. Sehen Sie, das ist meine Ansicht. Um aber zum Schluß zu gelangen: Ich will Ihrer Kousine mitteilen, was Sie wünschen, sie mag dann selbst entscheiden.“ „Also auf Ihre Befürwortung habe ich nicht zu rechnen?“ „Nein, Herr von Brecken. Wenn es nach mir ginge, erhielten Sie nichts weiter als ein Darlehen, und das auch nur, damit Sie in die Lage gerieten, sich Arbeit und Verdienst zu schaffen. Ich würde erst sehen wollen, ob Sie ein anderer werden. Ihre träge Genußsucht in solcher Weise zu unterstützen, halte ich fast für ein Verbrechen.“ Tankred zuckte die Achseln, aber da er seiner Sache schon gewiß war, da er sah, daß er doch wieder auf dem Punkte stand, seine Zwecke zu erreichen, triumphierte er innerlich, überging die letzten Ausführungen der Pastorin und sprach ihr sogar seinen Dank für ihre Bemühungen aus. „Ich weiß, Sie werden Ihre schlechte Meinung über mich ändern, Frau Pastorin! Sicher!“ schloß er mit künstlichem Ernst und suchte, indem er sie trotz ihrer herben Begegnung gleißnerisch seiner Achtung und Bewunderung versicherte, noch zu gewinnen, was etwa durch Schmeichelei zu erobern war. — * * * * * Grete von der Linden griff mit recht mürrischer Miene nach Umschlagtuch und Hut und begab sich in den Garten. Sie wollte versuchen, hier ihre Gedanken zu ordnen, nachdem sie ein sehr aufregendes Gespräch mit Carin Helge gehabt hatte. Ihre frühere Erzieherin und jetzige Gesellschafterin hatte geäußert, daß Herr von Brecken ihr ein äußerst widerwärtiger Mensch sei, eine Persönlichkeit, vor der man sicher auf der Hut sein müsse, und Grete hatte sehr empfindlich entgegnet, daß sie es nicht passend finde, daß Carin ein solches Urteil über Freunde des Hauses fälle. Darauf war wieder eine etwas schroffe Äußerung von Fräulein Carin gefallen, und nach einer nicht minder gereizten Antwort von Grete hatte die erstere erklärt, daß es bei der geringen Übereinstimmung, die neuerdings zwischen ihnen herrsche, wohl besser für sie sei, Holzwerder zu verlassen. „Ja, machen Sie das ganz, wie Sie es für gut befinden, liebe Carin.“ Mit diesem kühl gesprochenen Wort war das Band zerrissen, das die beiden seit Jahren verknüpft hatte. Aus der ursprünglichen Erzieherin war nach Gretes Einsegnung eine Freundin geworden. Auf Gretes ausdrücklichen Wunsch war Carin auf unbestimmte Zeit als Gesellschafterin und Gast auf dem Gut geblieben. Aber von Monat zu Monat hatte sich im letzten Jahr das Verhältnis schlechter gestaltet. Grete waren die Flügel ungewöhnlich rasch gewachsen, sie erlaubte sich, über alles sehr präzise nachzudenken, sich ihre eigene Meinung zu bilden und dieser nicht nur Ausdruck zu geben, sondern auch über entgegengesetzte Ansichten kurz wegzugehen oder ihnen entschieden entgegenzutreten. Einige Ausflüge mit ihren Eltern in die große Welt hatten sie rasch gezeitigt. Sie wußte, daß sie hübsch und klug war, und schmeichelnde Stimmen hatten es in zahlloser Wiederholung bestätigt, aber sie wußte auch, daß sie eine reiche Erbin sei, und hatte bereits erfahren, wieviel ein Mensch, den man für begütert hält, der Welt ohne Widerspruch bieten kann. Geld und Gold beugte die Kniee der Menschen und schuf demütige Gebärden selbst dann, wenn die den Nacken krümmenden Personen keiner Vorteile gewärtig sein konnten. Grete hatte ein Interesse für Tankred, weil ihrem praktischen Sinn die Vorzüge einleuchteten, die erwachsen würden, wenn die beiden aneinandergrenzenden, großen Güter unter eine Herrschaft kämen. Breckens waren Freiherren, auch Tankred hatte das Recht, sich Baron zu nennen. Schon seit ihrer Kindheit hatten ihr die Bewohner von Falsterhof großen Respekt eingeflößt. Reichtum verband sich bei ihnen mit solider Gesinnung und vornehmer Zurückhaltung; die alten Breckens ließen die Menschen an sich herankommen, sie suchten sie nicht auf. Das gefiel Grete, die Eindrücke der Jugend wirkten nach und übertrugen sich auf Tankred. Er war ein stattlicher Mann, groß und geschmeidig und hatte etwas Energisches in Haltung und Ausdruck, und doch besaß er etwas Fortreißendes, wenn er liebenswürdig sein wollte. Daß sich nichts von Sentimentalität in seinem Wesen äußerte, war Grete höchst willkommen; sie haßte alle Empfindsamkeit, weil sie selbst davon nichts besaß. Und endlich und zuletzt — sie mochte ihn einmal, und durch seine Vermögenslage würde sie imstande sein, um so leichter die allerdings nur moralisch begründeten materiellen Ansprüche ihrer Eltern zu befriedigen. Allerdings, auch das überdachte Grete; sie war durchaus nicht geneigt, sich Einschränkungen aufzuerlegen. Freilich waren Tankreds Vermögensverhältnisse noch nicht völlig aufgeklärt. Einige behaupteten, Tankred von Brecken besitze keinen Groschen, andere dagegen, — sie wollten es aus seinem Munde gehört haben, — daß er Miterbe von Falsterhof sei. Nach dem ersten Besuch war Tankred noch zu wiederholten malen auf Holzwerder gewesen, obschon er nicht mehr auf Falsterhof wohnte. Er hatte sich in Elsterhausen unter dem Vorgeben eine Wohnung gemietet, daß ihm der Aufenthalt auf dem Gute ohne Theonie zu einsam, es auch für seine Bemühungen, sich ein Gut zu kaufen, bequemer sei, in der mit der Eisenbahn verbundenen Stadt zu wohnen. Heute ward Tankred abermals erwartet, und bei dieser Gelegenheit hatte sich Herr von Tressen auf Veranlassung seiner Frau vorgenommen, mit dem Gast über dessen Vermögensverhältnisse zu sprechen. Frau von Tressen besaß die Eigenschaften, welche die verstorbene Frau von Brecken an ihr gerühmt hatte. Sie war gutherzig, klug und energisch, hatte eine gerechte Denkungsart und einen ehrenwerten Charakter. Aber sie liebte das Leben und seine Zerstreuungen und hatte niemals recht verstanden, sich einzurichten. Während ihr erster Mann noch gelebt hatte, war er der verständige Haushalter gewesen, aber nach seinem Tode hatte Frau von Tressen über ihre Verhältnisse gewirtschaftet und in ihrem zweiten Mann keinerlei Stütze für bessere Entschlüsse gefunden. Im Gegenteil, das ihr persönlich gebliebene Vermögen war schon längst verthan. Bei der Feinfühligkeit, die ihr eigen war, hatte sie bisher noch niemals mit Grete über die Zukunft gesprochen, ebensowenig ihr Mann, der alles beiseite legte oder aufschob, was ihm unbequem war. So vertrauten beide stillschweigend Grete, aber ihr Nachdenken sagte ihnen auch, daß ihre Tochter eine offnere Hand haben werde, wenn sie einen wohlhabenden Mann heirate. Tankred gefiel ihnen aus denselben Gründen, die für Grete hauptsächlich in die Wagschale fielen. Wohl wollte sich in der Frau — wie in Carin — bisweilen ein Mißtrauen gegen Tankred regen, aber durch seine Geschmeidigkeit ward ihre Vernunft eingeschläfert, und ein Gemisch von befriedigter Eitelkeit, Anbequemung an Gretes deutlich hervortretende Wünsche und jene Flüchtigkeit, die zunächst nur das greifbar Vorteilhafte ins Auge faßt, bestimmten sie, sich für die Partie zu interessieren, — natürlich vorausgesetzt, daß Tankred der vermögende Mann sei, als den sie ihn schätzten. Ihr künftiger Schwiegersohn und ihre Tochter sollten sich schriftlich verpflichten, ihren Eltern jährlich eine festgesetzte Summe zu zahlen. Aber wenn nun Tankred kein Vermögen besaß, oder wenn er oder ein anderer Gatte Gretes sich weigerte, für ihre und ihres Mannes Existenz aufzukommen? Zum erstenmal überfiel es die Frau schwer, zum erstenmal in ihrem Leben überkam sie eine schier unbezwingliche Angst, es könne dergleichen geschehen oder später eintreten. Ihr Mann, ein früherer Offizier, war vollkommen erwerbsunfähig. Schon machten sich allerlei durch einen raschen Lebenswandel hervorgerufene Leiden bei ihm bemerkbar, ihn plagten vorübergehend Gichtschmerzen; eigentümliche nervöse Beschwerden, Schlaflosigkeit und Atemnot waren schon vor zwei Jahren eingetreten und hatten das Herz der Frau mit Sorge erfüllt. Wenn er sich dann wieder erholt und wohl gefühlt, hatten sie beide die Gedanken an Krankheit und Tod rasch beiseite geschoben; aber gegenwärtig erschien ihr alles in einem anderen, sehr dunklen Lichte. Unklar und drohend stieg die Zukunft vor ihr auf, und sie beschloß, vorsichtig zu handeln und sich nicht auf bloße Eindrücke oder gar auf den Zufall zu verlassen. — Als Grete nach ihrer Wanderung im Freien ins Herrenhaus zurückkehrte, begegnete ihr Hederich, der die Weste schief zugeknöpft hatte, und dem ein Zipfelchen hinten aus dem Rockkragen hervorschaute. Er war ein gut geschulter Verwalter und ein gerader, durchaus ehrlicher Mensch, der nicht eben überintelligent und vielseitig war, aber instinktiv das Rechte traf, in allen seinen Obliegenheiten nach Grundsätzen verfuhr und allgemeine Achtung genoß. Niemand übte einen so großen Einfluß auf Grete aus, wie er, ja, insofern das junge Geschöpf überhaupt jemanden, einschließlich ihrer Mutter, zu lieben vermochte, — ihren Vater betrachtete sie eigentlich nur als eine durch unantastbare Verträge überkommene, friedfertige und unschädliche Persönlichkeit, — empfand sie ein solches Gefühl für Hederich. So lange sie ihn gekannt hatte, war er ihr stets gütig und zugleich ehrerbietig begegnet. Wann immer sich eine Gelegenheit gefunden, hatte er ihr Aufmerksamkeiten erwiesen, und schon als Kind war sie zu ihm gelaufen und hatte ihm ihr kleines Herz ausgeschüttet. Nicht Herr von Tressen, der immer nur seine Amüsements, seine L'Hombre-Partieen, Diners, Jagden und Reisen ins Auge faßte, hatte ihr den früh verlorenen Vater ersetzt, sondern der Junggeselle Hederich. Er kannte nichts von der Welt draußen, aber um so besser war er über alle Gutsangelegenheiten und alle Persönlichkeiten in nächster und weiterer Umgegend unterrichtet. Er ward auch sehr häufig in praktischen Fragen, bei der Beurteilung von Pferden und anderen die Landwirtschaft betreffenden Dingen, über Korn, Witterung und Gesinde um Rat gefragt und wußte eigentlich immer alles. Dem pfeifen es die Drosseln von den Bäumen zu, sagten die Leute von ihm. „Guten Morgen, guten Morgen, liebes Fräulein. Drum und dran. Schon so früh heraus? Wie geht's Papa heute? Hab' ihn noch nicht gesehen. — So, so, das ist schön. — Ja, gewiß, gern. — Ich habe Zeit! Sollen wir hier den Buchensteg entlang gehen? Nun, liebes Fräulein, was ist, bitte?“ „Zuerst Hederich: Fräulein Carin verläßt uns. Sagen Sie, was halten Sie eigentlich von ihr?“ „Viel, Fräulein Grete! Sie ist eine ehrliche Person und braucht nicht erst ein Kreuz auf dem Rücken zu haben zum Zeichen, daß sie dienstfähig ist. Sie hat von ihren Eltern Verstand mit in die Wiege gelegt gekriegt. Aber drum und dran, warum fragen Sie?“ forschte der Alte mit seinem tief eingeschnittenen Gesicht und machte neugierige Augen. „Nun ja, weil sie weggeht, und ich darüber nachdenke, an wem die Schuld wohl liegt. Gewiß Hederich, ich stimme Ihnen bei. Aber wir verstehen uns nicht mehr. Da ist es besser —“ „Ja, ja, Sie gehen bei Zeiten auseinander, als daß Sie in Feindschaft enden. Gewiß, das hat sie nicht um Sie verdient, Fräulein Grete!“ Grete schwieg, sie fühlte er hatte recht; gern würde sie aber gesehen haben, daß er ihr bereitwillig zugestimmt hätte. „Wie kam denn das mit Ihrem Streit, Fräulein Grete, nichts für ungut, wenn ich fragen darf?“ „Über Herrn von Brecken erzürnten wir uns. Apropos! Was halten Sie von dem?“ unterbrach Grete sich, als sei sie erst durch das Gespräch auf ihn gebracht, während sie es doch nur um seinetwillen begonnen hatte. Der Verwalter antwortete diesmal nicht gleich. Er schien ausweichen zu wollen. „Nun? Haben Sie etwas gegen ihn?“ „Mit Verlaub, Fräulein Grete. Will Fräulein Carin etwas von ihm wissen?“ „Nicht viel eben! Sie verdächtigt seinen Charakter.“ Hederich bewegte den Kopf, zog die breiten Lippen und machte große Augen. „Ja, sie versteht's —“ „Wieso? Mögen Sie ihn auch nicht? Hören Sie, Hederich! Ich frage nicht umsonst. Ich — ich —“ „A — h —“ machte der Mann und sah Grete groß an. „Nun ja denn! Ich weiß nichts Schlechtes von ihm. Drum und dran, er soll leichtsinnig gewesen sein. Anfangs da gefiel er mir auch sehr gut. Er hat mir sogar eine Meerschaumpfeife geschenkt. Aber wissen Sie, Fräulein Grete, er hat was im Auge — oft — man kann sich fürchten —“ „Ja, ein energischer Mensch ist er. Ich glaube deshalb auch, wenn er sich mal gesetzt hat, mal zur Ruhe kommt, wird er ordentlich, sparsam und solide werden.“ „Ja — ja — das ist wohl anzunehmen,“ bestätigte Hederich. „Aber ob er so recht umgänglich werden wird — gegen Sie — ich meine — drum und dran — und denn — und denn, Fräulein Grete — er hat, glaub' ich, gar nichts!“ stieß Hederich zum Schluß heraus. „So? Wissen Sie etwas Bestimmtes darüber?“ forschte Grete, den ersteren Einwand umgehend. „Er soll ein Versprechen haben von seiner Kousine auf Falsterhof, aber auch bloß ein Versprechen, das an Bedingungen geknüpft ist.“ „In der That? Von wem haben Sie das? Von ihm selbst?“ Hederich verneinte stumm. Er wollte nicht mit der Sprache heraus. Zuletzt ließ er etwas von Frege fallen und ging noch weiter und erklärte, Frege traue Tankred nicht über den Weg. „Ja, aber weshalb mißtrauen ihm denn die Leute? Ich verstehe nicht,“ betonte Grete, durch die Enttäuschung, die sie empfand, zum Widerstand gedrängt. Sie wollte Gutes hören, und da sie es nicht vernahm, wollte sie es, wie alle Hoffenden, erzwingen. „Sie meinen — drum und dran —“ entgegnete Hederich ehrlich, — „daß er wenig Herz hat und nur auf seinen Vorteil bedacht ist. Für andere Menschen hat er nichts übrig.“ Grete fand diese Eigenschaft nicht so schlimm. Die Erklärung regte sie nicht auf, sondern beruhigte sie, obschon sie gern gesehen hätte, wenn Hederich von Tankred eingenommen gewesen wäre. „Na,“ schloß sie nüchtern. „Besser ein Fuchs, als ein dummes Huhn.“ „Ja, — ja — liebes Fräulein, aber es liegt — drum und dran — etwas dazwischen. Das ist das Richtige. Ihre Mama — na ja, sie hat ja eine sehr leichte Hand — aber die hat die schöne Mitte, klug und gut.“ Grete antwortete nicht. „Warten Sie, alter, guter Hederich —“ sagte sie und schob ihm das Bändchen unter den Rockkragen, — „hier steckt was heraus.“ Und plötzlich ganz unvermittelt: „Wie viel sicheres Einkommen hat Falsterhof, und wie viel unser Gut?“ Darauf mußte Hederich schon antworten, weil er sich in der Rolle des genau Unterrichteten überaus gut gefiel. „Falsterhof wirst wenigstens hundertzwanzig- bis hundertdreißigtausend Mark jährlich ab, und Holzwerder durchschnittlich, mal mehr, mal weniger, so etwa sechzigtausend Mark.“ „Nicht mehr?“ fragte Grete enttäuscht. „Nein, mehr nicht, Fräulein, und dann sind da auch noch Zinsen und — und — na, gleichviel —“ Eben waren sie wieder am Gutshof angelangt und nahe Hederichs Haus, das, von Epheu umsponnen und von schönen Bäumen umgeben, einen reizvollen Anblick gewährte. „Haben Sie nie daran gedacht, zu heiraten, Hederich?“ fragte Grete sinnend. „Ja, einmal. — Was jetzt die Frau Pastorin ist — unter uns gesagt — die Pastorin Höppner, die hätt' ich gern gehabt, aber sie neigte ja mal zu so was Kirchlichem und zum Pastor. Ja, ja, ist ja auch ein netter Mensch, bloß kein Mann. — Nein, drum und dran — kein Mann. Ich freue mich noch immer, wenn ich sie sehe — ja, das thue ich!“ schloß Hederich, mehr mit sich selbst als mit Grete redend. „Adieu! Danke, alter guter Hederich!“ sagte Grete. Was sie für ihn empfand, spiegelte sich in ihren Augen wieder. Und er fühlte es und sagte: „Noch eine hab ich immer in mein Herz geschlossen.“ „Nun?“ „Sie! Fräulein Grete,“ sagte er mit warmem Ausdruck. Nun zog's über das Angesicht des Mädchens, und sie drückte ihm gerührt die Hand. Bisweilen sprang noch einmal wie in ihren Kinderjahren eine heiße Quelle in ihr auf; die Sehnsucht, gut zu sein und sich Liebe zu erwerben, durchzog sie stürmisch. — Tankred war nach Abrede auf Holzwerder eingetroffen, und eben versammelten sich die Herrschaften, um zu Tisch zu gehen. Nur Carin fehlte noch, und Frau von Tressen, die nicht gern warten mochte, schaute etwas ungeduldig nach der Thür. „Wo bleibt denn Carin? Weißt Du etwas von ihr, Grete?“ wandte sie sich fragend an ihre Tochter und zog zugleich die Klingel. Grete zuckte mit deutlicher Teilnahmlosigkeit die Achseln; in denselben Augenblick aber öffnete sich die Thür, und Carin trat mit sichtlich verweinten Augen ins Gemach. Alle blickten befremdet auf, aber Frau von Tressen verscheuchte die Peinlichkeit der Situation, indem sie sogleich das Zeichen zum Tischgang gab. Nach Aufhebung der Tafel verschwand die Freundin des Hauses, die fast stumm dagesessen, sogleich wieder, und dieser Umstand veranlaßte Tankred, der mit Grete allein plaudernd in einem nach dem Garten schauenden Balkonzimmer saß, die Rede auf Fräulein Helge zu bringen. „Wir haben uns erzürnt, und mit unserer Freundschaft ist's aus. Das Fräulein verläßt morgen früh Holzwerder,“ entgegnete Grete kalt. Die Mitteilung überraschte, aber interessierte und erfreute zugleich Tankred sehr. Die mißtrauischen Augen dieser Person in Zukunft nicht mehr auf sich gerichtet zu sehen, war ihm eine große Beruhigung. „Das sagen Sie so leicht hin, gnädiges Fräulein?“ knüpfte er, um mehr zu hören, an. „Nun ja, was ist denn weiter? Sie war in unserm Hause angestellt, blieb dann noch einige Jahre als meine Gesellschafterin bei uns und sucht sich nun eine andere Thätigkeit. Ein Bündnis fürs Leben habe ich doch nicht mit ihr geschlossen.“ „Ließ die Dame etwa die Ehrerbietung gegen Sie aus den Augen, wenn die Frage erlaubt ist?“ Statt zu antworten, lächelte Grete vor sich hin. Dann sagte sie, halb verlegen, halb schelmisch zu Tankred emporschauend: „Sie, Herr von Brecken, sind sogar die Veranlassung zu unserm Zwist. Wenn Fräulein Helge uns verläßt, so tragen Sie die Schuld. Ja, ja, man kann sündigen, ohne es zu wissen,“ schloß sie, als Tankred große, forschende Augen machte. „Ich?“ stieß er heraus. „Ich bitte, sprechen Sie. Das interessiert mich natürlich ungemein.“ Einen Augenblick schwankte Grete, ob sie Tankred antworten solle. Verriet sie ihm, daß Carins absprechendes Urteil über ihn sie geärgert habe, so offenbarte sie auch ihre Neigung zu ihm und griff den Dingen vor. Sie wollte ihm aber erst Hoffnungen machen, wenn sie über seine äußeren Verhältnisse genau unterrichtet war. Dem klugen Intriganten ahnte, wie die Dinge lagen, und seine Wünsche unterstützten seine Annahme. Er nahm deshalb rasch statt ihrer das Wort und sagte eindringlich: „Ist es denkbar, daß Sie, mein Fräulein, für mich gegen Fräulein Helge Partei nahmen? Darf ich es hoffen, da es mir beweist, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin? Offen gestanden, Ihre Freundin war auch mir gleich bei dem ersten Anblick unsympathisch, und daß sie gegen mich intrigieren werde, war mir unzweifelhaft. Ich that ihr nichts, aber vielleicht sagte ihr ihr Ahnungsvermögen, daß — daß —“ „Daß?“ forschte Grete, die eigentlich sich nicht fortreißen lassen wollte, und doch dem Reiz nicht widerstehen konnte, der in halb verdeckten Erklärungen liegt. „Nun, daß Sie mir mit der Zeit vielleicht etwas gut werden könnten, und daß sie, Fräulein Helge, dann nicht mehr der Mittelpunkt Ihrer Gedanken sein würde.“ „Sollte es das sein?“ ging's rasch und fast gegen Gretes Willen über ihre Lippen. Also Beweggründe egoistischer Natur hätten Carin geleitet! Das war Grete bisher noch nicht in den Sinn gekommen, aber da es ihr paßte, da sich daraus die Gründe für Carins Abneigung gegen Tankred erklären ließen, nahm sie das Gesagte als zutreffend an. „Gewiß, ich bin dessen sicher, Fräulein von der Linden. Und nicht wahr?“ fügte Tankred, sich vorsichtig umschauend und leiser und zärtlich sprechend, hinzu: „Ich darf annehmen, ich darf hoffen, daß Fräulein Helge das Rechte traf —?“ Nun sah er sie an mit seinen leidenschaftlichen, sinnverwirrenden Augen, und sie ward unsicher und beängstigt. Ihr Blut regte sich, ein Strom schoß durch ihre Glieder, Liebe und Leidenschaft vereinten ihre Kräfte und wollten sie fortreißen. Aber dennoch siegte die überlegende Vernunft. „Wir wollen über andere Dinge sprechen, Herr von Brecken,“ stieß sie, sich mit Gewalt beherrschend, heraus und sah ihn an, als ob sie seine Worte als ein übertriebenes Kompliment aufgefaßt hätte. Und zur besseren Bestätigung ihrer Unempfindlichkeit fügte sie hinzu: „Es giebt ja interessantere Themata als Fräulein Helge. — Wie denken Sie zum Beispiel über die Stellung des Jupiter zur Sonne?“ — Als später Tankred mit Herrn von Tressen in dessen Rauchzimmer saß — es war kurz vor dem Abendessen — sagte der letztere: „Haben Sie etwas von ihrer Frau Kousine gehört? Wo hält sie sich jetzt auf, wenn's erlaubt ist, zu fragen? Wird sie den ganzen Winter fortbleiben?“ „Sie ist bei Verwandten ihres Mannes in Hannover und will schon in einigen Wochen nach Falsterhof zurückkehren.“ „Und dann siedeln Sie auch wieder nach Falsterhof über? Oder welche Pläne haben Sie, Herr von Brecken? Ist es richtig, was meine Tochter mir sagt, daß Sie ein Gut kaufen wollen? Hoffentlich dann in unserer Nähe,“ schloß Herr von Tressen artig. „Allerdings, ich möchte wohl hier herum etwas erwerben, finde aber nichts Passendes. Ja, wenn ich ein Gut wie Holzwerder kaufen könnte —“ Unwillkürlich erhob Herr von Tressen den Blick. Hatte Tankred die letzten Worte mit einer bestimmten Absicht gesprochen? Wollte er auf diese Weise das Gespräch auf Grete hinüberleiten? Im Augenblick fand Herr von Tressen keine Anknüpfung, dann aber kam ihm ein guter Gedanke, und er sagte: „Falsterhof selbst zu verwalten, da Sie ja, wie ich höre, Mitbesitzer sind, würde Ihnen nicht konvenieren? Übrigens nachträglich meine Gratulation! Es ist wohl die schönste Herrschaft in der Provinz.“ Diesen Worten war es unmöglich, auszuweichen. Tankred wußte auch, daß sie absichtlich gesprochen waren. Tressens wollten Klarheit haben, und wenn die Dinge nach ihren Wünschen ausfielen, stand einer Heirat mit Grete nichts im Wege. Und da doch einmal das Schweigen gebrochen werden mußte, da Tankred je eher, desto lieber zum Ziele gelangen wollte, warf er alle Bedenken beiseite und sagte: „Da Sie mich fragen, will ich Ihnen offen antworten, Herr von Tressen. Ohnehin drängt es mich, ein unumwundenes Wort mit Ihnen zu sprechen. Wollen Sie es mir gestatten?“ „Ich kann mich dadurch nur geehrt fühlen,“ entgegnete Gretes Stiefvater verbindlich und zugleich mit größter Spannung. „Nun, meine Kousine ist allerdings alleinige Erbin von Falsterhof, aber sie hat selbst den Wunsch, mich an dem Besitze in halber Höhe zu beteiligen. Zu diesem Zwecke wurde mir durch ihren Rechtsbeistand bereits ein bares Kapital überwiesen. Weiteres macht sie abhängig von gewissen Bedingungen. Ohne Rückhalt gesprochen, sie will mich prüfen, ob ich imstande bin, mit einem großen Vermögen umzugehen. Eine gewisse Breckensche Pedanterie, übertriebene Gewissenhaftigkeit leiten sie. Aber ich besitze ein Schriftstück, das unzweifelhaft ihre Absicht kund giebt, mich zum gleichberechtigten Erben einzusetzen. — Ich gelange nun auf den anderen Punkt, Herr von Tressen. Ihre Tochter, Fräulein Grete, hat gleich bei unserer ersten Begegnung einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und er hat sich bei jeder von Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin mir in so überaus liebenswürdiger Weise gestatteten Wiederholung meiner Besuche verstärkt. Aber noch ein besonderer Umstand tritt hinzu, der meine sehr lebhaften Wünsche unterstützt. Unwillkürlich richtet ein besonnener Mensch auch den Blick auf die Umgebung der Erwählten seines Herzens. Er fragt sich, ob die Personen, die ihr nahe stehen, ihm sympathisch sind, und da muß ich ohne Komplimente sagen, daß ich es als das höchste Glück ansehen würde, in Zukunft gerade mit Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin in nähere Berührung zu treten.“ Bei den letzten Worten machte Tankred ein so freimütig liebenswürdiges Gesicht, so ehrlich blickte sein Auge, und so überzeugt klangen seine Worte, daß sie die volle Wirkung erzielten, die er damit beabsichtigt hatte. Herrn von Tressens Eitelkeit ward geschmeichelt, und da die vorausgegangenen Mitteilungen äußerst befriedigender Art zu sein schienen, war er bereits entschlossen, Tankred ganz in dem von ihm gewünschten Sinne zu antworten, als ihm die Erinnerung kam an das, was seine Frau ihm eingeschärft hatte. Er sagte deshalb vorläufig noch mit etwas Zurückhaltung: „Bei einer Verlobung unserer Tochter, sehr geehrter Herr von Brecken, treten besondere Verhältnisse ein, die der Erörterung unterliegen müssen. Wenn ich Ihren sehr ehrenden und mich äußerst erfreuenden Antrag — meiner Tochter Stellung zu demselben kenne ich vorläufig noch nicht, ich darf dies gleich betonen, zweifle aber nicht, daß sie Ihnen, wie Sie es voraussetzen, geneigt ist, — also wenn ich Ihren Antrag in Überlegung ziehen soll, ist eine vorherige Klarstellung zwischen uns nötig. Meine Tochter ist alleinige Inhaberin von Holwerder. Mit ihrer Heirat hören unsere rechtlichen Ansprüche auf, und wir sind angewiesen auf ihre gütige Hand. An sich ist dies peinlich, aber noch peinlicher gestalten sich die Dinge, wenn ihr Gatte Mitbesitzer und Verwalter des Vermögens wird. Eine klare, bindende schriftliche Bestätigung unserer moralischen Ansprüche ist erforderlich, nachdem die Höhe der uns zu zahlenden jährlichen Rente festgesetzt ist. Je bereitwilliger uns der Mann, der Grete einmal heimführen wird, in dieser Hinsicht entgegenkommt, desto geneigter werden wir ihm selbstverständlich sein. Darin liegt keine verwerfliche Geldsucht, sondern es begründet sich in der Natur der Dinge. Von der Luft können wir nicht existieren, und ein anständiges Auskommen wird meine Tochter ihrer Mutter selbst wünschen.“ Tankred hatte während Herrn von Tressens Rede wiederholt, eifrig beipflichtend, den Kopf bewegt. Aber da er vorläufig noch nicht Gretes Bräutigam war, hemmte er den Strom bereitwilliger Rede und sagte, der Wirkung seiner Antwort gewiß: „Ich würde, wenn mir das Glück werden könnte, Fräulein Grete heimführen, es als eine Ehrensache betrachten, die Existenz derjenigen möglichst ausgiebig materiell sicher zu stellen, denen ich mein Lebensglück in erster Linie verdanke. Das als Antwort auf eine Eventualität, die in eine Thatsache umzuwandeln, Sie, mein hochverehrter Herr von Tressen, so freundlich und gütig sein wollen, zu unterstützen.“ — Als die beiden Ehegatten sich abends schlafen legten und Gelegenheit hatten, sich ohne Zeugen auszusprechen, berichtete Herr von Tressen in sehr gehobener Stimmung seiner Frau von dem Inhalt der stattgehabten Unterredung. „Vortrefflich,“ sagte die Frau, nachdem er geendigt. „Aber nun wäre es doch wünschenswert, daß wir das Schriftstück, von dem Brecken spricht, einsähen, und daß Du auch an Frau Cromwell schriebest.“ „Meinst Du wirklich, daß letzteres notwendig ist? Ich denke, die Einsicht in das Abkommen genügt; hoffentlich wird Brecken es uns von selbst vorlegen. Ihn darum zu ersuchen, ist peinlich.“ „Nun, es wird sich ja finden! Vorläufig wollen wir Grete noch nichts mitteilen, aber ich will sie morgen sondieren, wie sie zu Brecken steht. Daß sie sich sehr für ihn interessiert, ist zweifellos. Übrigens, wie ist sie kühl! Von der Helge trennt sie sich mit einer Gleichgültigkeit, die mich fast erschreckt. Armes Mädchen! Sie war sehr weich und rührte mich sehr bei der Unterredung, die ich am Vormittag mit ihr hatte, während Ihr spazieren gingt. Aber an eine Aussöhnung denkt sie selbst nicht. Sie fühlt, daß Grete ihr Gehen will, Grete hat begierig die Gelegenheit zur Herbeiführung der Verstimmung ergriffen.“ Aber Herr von Tressen hörte schon kaum mehr zu, tiefe Atemzüge bewiesen, daß er bereits dem Schlaf erlegen war. * * * * * Tankred saß in seiner Wohnung in Elsterhausen und studierte immer von neuem ein Schriftstück. Es war das Schreiben, welches er vor Wochen von Theonie erhalten hatte, und es lautete wie folgt: ‚Nachdem mein Vetter Tankred von Brecken schriftlich erklärt hat, daß er keinerlei rechtliche Erbansprüche an den Nachlaß meines Vaters besitzt, insbesondere sich auch der Einrede begeben hat, diesbezügliche Zusicherungen von seiten meiner verstorbenen Mutter empfangen zu haben, bestätige ich hierdurch meine Zusage, ihm die Summe von fünfzigtausend Mark sofort auskehren zu wollen, und habe meinen Sachwalter, Justizrat Brix, mit den betreffenden Anweisungen versehen. Weitere Zuwendungen, größere oder kleinere bis eventuell zur Hälfte des vorhandenen Gesamtbesitzes, sollen nicht ausgeschlossen sein, doch will ich mich darüber erst nach Verlauf eines Zeitraumes von fünf Jahren äußern und verpflichte mich, wie ich ausdrücklich hervorhebe, dazu in keiner Weise.‘ In dieser Fassung machte der Inhalt keinen sehr vorteilhaften Eindruck, und was noch schlimmer war, er bot durchaus keine sichere Bürgschaft, daß Tankred einmal Miterbe von Falsterhof würde. Er konnte das Schriftstück Tressens vorlegen und einen Kommentar dazu geben, aber es blieb doch sehr zweifelhaft, ob Gretes Eltern sich damit begnügen würden. Was bedeuteten fünfzigtausend Mark? So viel wie nichts! Und während der nächsten fünf Jahre wenigstens war er nicht imstande, weiteres Kapital oder eine Rente mit in die Ehe zu bringen. Es blieb also nur übrig, die Vorlegung zu umgehen oder selbst eine zweifellos günstige Erklärung abzufassen, mit anderen Worten, eine Fälschung vorzunehmen. Wenn er Grete erst mal geheiratet hatte, fand sich alles leicht. Aber in ihren Besitz mußte er erst gelangen, und dazu bedurfte es stärkerer Mittel, als ihm zu Gebote standen. Tankred überlegte auch, wie viel Rente Gretes Eltern zuzuwenden sein würde. Unter zwanzigtausend Mark jährlich waren sie sicherlich nicht abzufinden, dann blieben noch dreißig- bis vierzigtausend Mark für seinen und Gretes Bedarf. Das war nicht übermäßig viel, aber doch sehr viel, wenn man nichts besaß. Auch waren noch die Vorteile hinzuzurechnen, die ihnen würden, wenn sie auf dem Gute blieben. Alles, was sie brauchten, erhielten sie dort. Nur das Stadtleben verschlang viel, die Reisen und sonstiger Luxus. Und die Alten würden ja auch nicht ewig leben. Also es war doch ein sehr gutes Geschäft, Grete von der Linden zu heiraten. Sie war, da das Gut eine Rente von etwa sechzigtausend Mark abwarf, eine Millionärin. Auch des Erfolges war Brecken gewiß, wenn nicht noch unberechenbare Zwischenfälle eintraten, wenn nicht eben dieses verflixte, von dem Justizrat mit sehr wenig Rücksicht auf seine Wünsche abgefaßte Schriftstück jede Hoffnung wieder zerstörte. Hm! hm! — Tankred erhob sich und wanderte sinnend im Zimmer auf und ab. Dann aber ließ er sich wieder an dem Schreibtisch nieder und schrieb lange, änderte, fügte hinzu, überlegte, änderte nochmals und las schließlich, was vor ihm lag: ‚Nachdem mein lieber Vetter Tankred von Brecken erklärt hat, auf Ansprüche, wie sie ihm aus den Zusicherungen der verstorbenen Frau von Brecken erwachsen sein mögen, verzichten zu wollen, bestätige ich hierdurch meine Zusage: I. ihm zunächst fünfzigtausend Mark auszukehren, ferner II. ihm die Hälfte des Besitzanteils an Falsterhof überweisen zu wollen, wenn mir nach fünf Jahren die Gewähr gegeben ist, daß er damit im Sinne meines verstorbenen Vaters verfahren, also es weise nützen und mehren wird. Eine solche Einschränkung zu machen, ist durch die Kautelen, welche das Testament für mich selbst enthält, geboten und entspricht demnach nur genau den mir selbst zustehenden Rechten. Theonie Cromwell.‘ „Ja, ja, das ist vortrefflich, das macht einen guten Eindruck und atmet trotz der geschäftlichen Kürze und Form volles Wohlwollen,“ flüsterte Tankred. „Im Grunde ist's ja auch genau dem Sinne des Originals entsprechend, und daß sich Tressens den Wortlaut nicht abschreiben, dafür werde ich schon Sorge tragen. Sollten sie sich also sogar bei Theonie erkundigen, so wird es sich doch immer nur um den faktischen Thatbestand handeln: fünfzigtausend Mark bar und Aussicht auf die Hälfte des Besitzanteils von Falsterhof nach fünf Jahren.“ Und so überzeugt war Tankred von dem Gelingen seines Vorhabens, daß er sich sogleich daran begab und, die Handschrift des Schreibers des Originals täuschend nachahmend, den Entwurf ins Reine schrieb. Endlich blieb noch Theonies Unterschrift, und auch sie gelang ihm überraschend. Nun hatte er nur noch mit einer Person zu rechnen, mit der Pastorin Höppner, und sie zu veranlassen, daß sie ihm wenigstens keinen Widerstand entgegenstellte, mußte jetzt seine Aufgabe sein. Zu diesem Zwecke wollte er sich noch an demselben Tage ins Dorf begeben, vorher aber einen Besuch in Falsterhof machen, teils um seine Neugierde zu befriedigen, teils um von Frege etwas über Theonie zu erfahren. Es war gegen ein Uhr mittags, als Tankred auf einem Rappen, den er sich in Elsterhausen für seine Reitausflüge gemietet hatte, in die Allee von Falsterhof einbog. Obschon der Winter im Anzuge, war die Luft milde, und die schneebeladenen, im Sonnenschein funkelnden Bäume, insbesondere die kleinen Tannenwaldungen, die in dem Umkreise von Falsterhof vielfach auftauchten entzückten das Auge. Tankred befand sich in einer außerordentlich gehobenen Stimmung; je mehr er über die Zukunft nachdachte, desto aussichtsvoller erschien sie ihm, und nur eins mischte sich noch beunruhigend in seine Gedanken: daß Grete von der Linden, die sehr genau wußte, was sie wollte, ihm am Ende doch noch einen Korb geben konnte. Er glaubte es nicht, er vertraute den Erfahrungen, die er an Frauen gemacht hatte, aber — eine Möglichkeit war doch vorhanden. Während er so zerstreuten Sinnes den Rappen in die Allee lenkte, hörte er hinter sich das Geräusch eines dahineilenden Wagens, und als er den Blick wandte, sah er zu seiner großen Überraschung Grete, die selbst das Gefährt lenkte, vor sich. „Sie, mein hochverehrtes Fräulein?“ „Sie, — Herr von Brecken?“ ging's zugleich aus Gretes Munde. „Wohin? Nach Falsterhof? Ist Ihre Frau Kousine zurück?“ „Nein,“ — erklärte Tankred und regierte sein unruhig schnaubendes Pferd durch einen so mächtigen Druck, daß es sich fast überschlug und nun bewegungslos verharrte. „Ich will nur einmal auf Wunsch meiner Verwandten, die mir heute einen sehr liebenswürdigen Brief geschrieben hat, nach dem Rechten sehen und will dann nach Elsterhausen zurückkehren. Darf ich fragen, wohin Sie wollen? Kennen Sie Falsterhof eigentlich? Möchten Sie nicht einmal einen Blick ins Haus werfen? Es wird Sie, glaube ich, interessieren, den mächtigen Bau mit den schönen, altertümlichen Möbeln in Augenschein zu nehmen.“ Einen Augenblick zögerte Grete noch, da sich ihr der Gedanke des Abweichenden oder gar Unpassenden einer Besichtigung des Hauses in Tankreds Gesellschaft aufdrängte. Aber sie überwand das Bedenken, nachdem Tankred ihr zugeredet und erklärt hatte, daß Frege sie herumführen, und er sie sogleich wieder zurückgeleiten werde. Grete sah bezaubernd aus. Sie trug eine eng anschließende, mit Pelz besetzte Jacke, ein dichtes, schweres Winterkleid in sogenannter Lodenfarbe und auf dem Kopfe eine kleine, kecke Jagdmütze. Ihre reizenden Formen kamen zum Ausdruck, und die Zähne in dem klugen, fein geschnittenen Munde blitzten verführerisch. — Als sie unter lebhaftem Plaudern den Hof erreicht hatten, zeigte sich anfangs nichts, nur Max erhob ein wütendes Gebell. Dann aber kam Klaus aus dem Stalle gelaufen und nahm auf Tankreds Wink die Pferde in Empfang. „Bitte, erlauben Sie!“ bat Tankred, der schnell von seinem Tier herabgesprungen war, und streckte die Arme aus. „Nein, ich danke, ich danke, ich kann allein, Herr von Brecken,“ wehrte Grete ab. Aber sie gestattete es doch, daß er ihre beiden Hände ergriff, und ließ sich so von ihm beim Herabspringen helfen. Nachdem er in dem Gegendruck ihrer Rechten einen stummen Dank empfangen, schritt er an Gretes Seite dem schloßartigen Gebäude zu, das wie immer unheimlich einsam und finster im Hintergrunde des großen Hofes emporstieg. Max folgte ihnen, in kurzen Zwischenräumen bellend auf dem Pflaster erscholl das Geräusch der fortgeführten, und einmal übermütig hintenaus schlagenden Gäule. Und dann ertönte dumpf die schwere Flurglocke, und sie betraten das Herrenhaus von Falsterhof. Zunächst drückte Tankred auf eine Klingel, um Frege herbeizurufen, aber da der nicht sogleich erschien, öffnete er selbst die Thür zur Linken und bat Grete, in die Wohngemächer einzutreten. Ein überraschender Luxus trat ihnen entgegen; überall befanden sich kostbare Teppiche, alte Möbel und Kunstgegenstände; faltige Gardinen und Vorhänge, meist aus schweren Seidenstoffen, beschützten Thüren und Fenster, und alles Vorhandene verriet gediegenen Geschmack und den Reichtum der früheren Besitzer. Aber ein Hauch schwermütiger Verlassenheit durchwehte die Gemächer, und erst als sie die nach dem Parkgehölz zu liegenden Räume betraten, und hier die heller eindringende Sonne den kostbaren Gegenständen ein heiteres Gepräge verlieh, die eingelegten Schränke und Tische in ihrem Glanze blitzten, die Silbersachen funkelten, und die Bukets in den Fußteppichen in farbenreicher Schönheit aufleuchteten, verlor sich der Druck, der sich unwillkürlich auf Gretes Gemüt gelegt hatte, und ein Ruf der Überraschung ging aus ihrem Munde. „So schön hätte ich mir Falsterhof nicht gedacht. War es Ihr Onkel, der einen so ausgeprägten Sinn für kostbare Dinge und einen so feinen Geschmack besaß?“ fragte sie. „Er sowohl wie seine Frau hatten beide Verständnis dafür und Freude daran,“ entgegnete Tankred. „Wenn es sich um ein schönes, altes Möbel oder irgend eine Seltenheit handelte, hatte mein Onkel stets Geld. Er besaß eigentlich nur diese Passion und ging ihr bis in die letzten Lebensjahre nach. Sie müssen nun aber erst mal seine eigenen Gemächer sehen. Ich bitte, hier geht's hinaus, gleich über den Flur auf die andere Seite.“ Aber Grete zauderte noch, sie beugte sich zu einem in Elfenbein ausgelegten Kästchen herab und ließ ihr Auge darauf ruhen. Wie so oft äußere Dinge die Vorstellungen der Menschen beeinflussen, so geschah's auch hier. Tankreds Wert und Ansehen stieg in ihren Augen durch all diese herrlichen Dinge, und ein gewisses eifersüchtiges Verlangen, der Mittelpunkt seines Lebens zu werden und Rechte auf all das zu erwerben, was sie umgab, regte sich in Grete. Sie wünschte in diesem Augenblick, daß er ihr Komplimente sage, ihr den Hof mache, ja, sie wollte, wenn er's nicht von selbst that, herbeiführen, was ihre Gedanken und Sinne beschäftigte. So war es denn durchaus nicht ohne Absicht, daß sie, als er ihr näher trat, den Kopf so zur Seite neigte, daß seine Wange ihr Haar streifte, und ihre Häupter sich sanft berührten. Sie zog das ihrige auch nicht zurück, und als er gar absichtlich oder unabsichtlich sich leise an sie drängte, ließ sie es geschehen und wich erst nach einer Weile, ihm einen sinnverwirrenden Blick zuwerfend, zurück. „Beneidenswert, hier zu wohnen, das alles sein eigen zu nennen,“ stieß Grete, nun den Weg zur Thür nehmend, heraus und seufzte begehrend auf. „Das sagen Sie?“ entgegnete Tankred, ohne ihr zu folgen, und sie durch seine Haltung am Weiterschreiten hindernd. „In Holzwerder strahlt doch alles in Schönheit, dort weht eine reizvolle Gemütlichkeit, während Falsterhof düster und einsam ist. Nur in diese beiden Gemächer dringt etwas Wärme und Licht.“ „Ja, aber es strotzt hier von Reichtum und solider Fülle, und das liebe ich. Ich gestehe, daß mich das Besitzen an sich reizt, und ich unterscheide mich dadurch von meiner Mutter und meinem Stiefvater, die viel für Überflüssiges, für gelegentliche Genüsse und für Dinge ausgeben, die ebenso rasch zerrinnen, wie sie erworben werden. Für Kunstsachen möchte ich auch ein wenig verschwenden, sie können durch die Zeit nur an Wert gewinnen. Was habe ich zum Beispiel von einem teuren Essen und teuren Weinen?“ „Dann stimmen wir also ganz in unseren Neigungen überein,“ erwiderte Tankred. Und mit brennendem Blick fügte er hinzu: „Ja, erwerben, besitzen, Gut und Geld sammeln, hat auch für mich einen unnennbaren Reiz. Früher war das nicht so. So lange ich nichts besaß, war ich leicht, legte keinen Wert auf Geld. Aber ich bin anders geworden. Ich glaube, daß wir auch sonst mancherlei Ähnlichkeiten haben. Wir hassen zum Beispiel die Sentimentalität, besitzen einen auf das Greifbare gerichteten Sinn und einen übereinstimmenden Geschmack in dem, was man bequem nennt.“ Grete nickte lebhaft, er wußte ihr Ich in das seinige einzuspinnen, er holte alles hervor, gleichviel ob es mit der Wahrheit übereinstimmte oder nicht, jegliches, von dem er glauben konnte oder wußte, daß es ihr gefallen werde. Er schmeichelte ihr in scheinbar unberechneter Rede mit der alten Kunst der Verstellung. Und zum Schluß wußte er noch einen besonderen Druck auf sie auszuüben, indem er berechnend hinwarf: „Glücklich ist derjenige, der Ihnen im Leben näher treten darf, der von Ihrer Freundschaft berührt wird, glücklich, weil Sie sich ganz so geben, wie Sie sind, ehrlich und offen, ohne falsches Gefühl, und sicher fest halten, was Sie einmal ergriffen haben.“ „Sie spotten, Herr von Brecken. Was bin ich?“ gab Grete halb geschmeichelt, halb in ehrlicher Überzeugung zurück. „Wollen Sie wissen, daß ich oft sehr traurig bin, mich sehr unglücklich fühle? Ich denke dann, daß ich eigentlich gar keine guten Eigenschaften besitze. Ich bin oft eigenwillig, rechthaberisch, gar nicht gefügig und sehr egoistisch. Ich bin nicht gut, wie man sein müßte. Die Natur schuf mich so, — leider! Freilich beruhige ich mich dann wieder und sehe gerade in meiner Charakterveranlagung mein Glück. Es ist wirklich von Übel, wenn man eine so leichte Hand hat wie meine Eltern, so vertrauensselig und gutmütig ist. Was hätten sie nun in ihrem Alter, wenn ich nicht wäre? Natürlich werde ich sie nicht verlassen, aber so wie bisher werden sie doch nicht weiter leben können, wenn ich einmal —“ Grete stockte. „Wenn Sie einmal?“ setzte Tankred leise an und trat Grete, plötzlich alles wagend, mit zärtlich werbenden Mienen und Blicken näher. Aber obgleich ihre Augen verrieten, daß sie bei ihm war, entwich sie ihm doch, als er zu weiteren Worten ansetzte. Auch hörten sie draußen Schritte, und, ihre Verwirrung bekämpfend, gingen sie auf den Flur, wo ihnen Frege mit ernster Ehrerbietung gegenübertrat. Tankred verständigte den Diener seiner Kousine mit einigen laut gesprochenen Worten und ersuchte ihn dann, in den Stall zu gehen: Klaus möchte den Wagen und das Pferd vorführen, sie wollten gleich wieder fort, er wünschte dem Fräulein nur noch die Herrenzimmer zu zeigen. Tankred wollte Frege verscheuchen, in den Gemächern des verstorbenen Onkels hoffte er zu erreichen, was ihm eben entgangen. Aber Gretes Stimmung war bereits eine andere geworden. Entweder sie bereute, daß sie sich hatte fortreißen lassen, oder sie wünschte sich nicht der Möglichkeit auszusetzen, von Frege überrascht zu werden. Sie besah die Räume, in die Tankred sie führte, flüchtiger und machte eine hastig unruhige Bewegung zur Rückkehr, als sie in einer alten Rokokouhr die Zeiger bereits auf zwei Uhr gerichtet fand. „Schon zwei Uhr! Ich muß zurück, Herr von Brecken. Ein andermal den Park.“ „O nein! Ich bitte, bleiben Sie, Fräulein,“ wandte Tankred schmeichelnd ein. „Wann werden Sie wieder hierher kommen? Vielleicht niemals!“ — Und einen neckisch ernsten Ton annehmend, fügte er hinzu: „Hätten Sie, wie ich zu hoffen wagte, ein wenig Interesse für Falsterhof und seinen künftigen Besitzer — dann — dann —“ Aber schon während Tankred noch sprach, machte Grete eine nicht ungütige, aber entschieden abweisende Bewegung. „Ich glaube, zu wissen, was Sie wollen, Herr von Brecken,“ stieß sie rasch, und als ob jede Minute Zaudern verderblich sei, heraus. „Aber, bitte, nicht hier, nicht jetzt, unter den mißtrauischen Augen des alten Dieners. Kommen Sie morgen zu uns zu Tisch nach Holzwerder. Wir sprechen uns dann, und — und —“ „O Grete, teures Mädchen —“ stieß Tankred, nicht Herr seiner durch den Widerstand verschärften Leidenschaft, heraus. Aber statt ihm nachzugeben, schüttelte sie das Haupt und verließ mit sanfter Entschiedenheit und eiligen Schrittes das Gemach. Draußen angekommen, drückte Tankred den Dienern jedem ein Geldstück in die Hand, und kurz darauf hatten sie beide Falsterhof verlassen. — „Hier,“ sagte Frege, als das Geräusch der Räder und Hufen verklungen war, und gab Klaus die empfangene Münze. „Ich will von ihm kein Geld. — “ Nach diesen Worten zog er sich langsam in das finstere Haus zurück. * * * * * Als Tankred durch das Kirchdorf trabte, sah er zu seiner höchsten Überraschung Fräulein Helge mit der Frau Pastorin zusammen vor sich auftauchen. Dies bestimmte ihn, einen anderen Weg einzuschlagen, um das Wirtshaus zu erreichen, in welchem er sein Pferd einstellen wollte. Dort angekommen, forschte er die Wirtin aus, ob Besuch im Pastorenhause sei. „Ja, schon seit längerer Zeit. Das Fräulein, das früher auf Holzwerder gewesen, befindet sich dort.“ Tankred wollte weiter fragen, aber sagte sich, daß man ihm hier doch Näheres, seine Neugierde Befriedigendes nicht werde mitteilen können. Jedenfalls hockten nun zwei ihm sehr feindliche Personen zusammen, und heute einen Besuch bei Höppners zu machen, war zwecklos. Aber auch etwas Gutes lag wieder darin. Sicher würden Pastors jetzt Tressens auf Holzwerder nicht besuchen. Es war vielmehr anzunehmen, daß durch die Aufnahme Fräulein Carins im Predigerhause ein etwas gespanntes Verhältnis zwischen den beiden Familien eintreten werde. Der Pastorin sah es freilich ganz ähnlich, keine ängstlichen Rücksichten zu nehmen, wenn sie von ihrer besseren Überzeugung geleitet ward. Ihr natürliches Selbstgefühl wurde durch den Umstand verstärkt, daß sie ihrem übrigens ziemlich viel älteren Manne ein nicht unbedeutendes Vermögen in die Ehe gebracht hatte. Sie konnten auch leben, ohne daß der Pastor sich in abhängiger Stellung mühte. Während Tankred seinen Weg wieder zur Stadt nahm, machte er sich Gedanken über den Meinungsaustausch der beiden Frauen bezüglich seiner Person. Die Pastorin würde wenigstens in der Hauptsache nicht mit ihren Eröffnungen zurückhalten, und die Helge würde triumphieren, daß sie ihn so richtig durchschaut hatte. Bei seinem feigen Sinne kamen ihm doch wieder recht schwere Bedenken. Wenn sich nun die Helge aufraffte und an Grete, ihre frühere Schülerin und Vertraute, eine Warnung ergehen ließ? Sein Schuldbewußtsein drängte ihm plötzlich alle möglichen Vorstellungen auf, und er verlebte einen sehr unruhigen Tag. Einige Personen mußte er notwendigerweise beseitigen: die Helge, den alten Frege und die Pastorin. Daß damals Frege den Brief an ihn geschrieben, war ihm durch Vergleichung von Schriftstücken, die von dessen Hand herrührten, zweifellos geworden; auch lag es in der Natur der Sache, daß er zu Theonie hielt. Um so mehr drängte es Tankred, sich nun so rasch wie möglich Gretes zu versichern, und am nächsten Tage schon etwas ruhiger gestimmt, machte er sich denn auch um die Tischzeit auf den Weg nach Holzwerder, indem er diesmal den Postwagen benutzte. Ein eigentümlicher Zufall führte es mit sich, daß auf der ersten Station zwischen Elsterhausen und dem Kirchhof Breckendorf der Pastor Höppner, welcher dort bei einer armen Familie einen Besuch gemacht hatte, einstieg. Er begrüßte Tankred mit gewohnter Höflichkeit und Unterordnung und gab sich auch in der Folge überaus beflissen und mit der ihn stets auszeichnenden liebenswürdigen Gutmütigkeit in seinem Wesen. Tankred konnte sicherlich nichts erwünschter sein als diese Begegnung, da Höppner harmlos alles ausplauderte, was Brecken zu wissen wünschte. „Wir kennen,“ hub er an, „Fräulein Helge ja schon so viele Jahre, und meine Frau hat sich stets sehr freundschaftlich zu ihr gestellt. Sie schätzt ihren Charakter außerordentlich und empfand gleich lebhaftes Mitleid, als sie erfuhr, daß gewisse Umstände die Entfernung der Dame von Holzwerder ohne eine sofortige Aussicht auf eine andere Stellung erforderlich gemacht hätten.“ „Was war denn wohl die Veranlassung?“ schob Tankred, sich unwissend stellend, ein. „Darüber bin ich nicht unterrichtet,“ entgegnete Höppner, langsam die Worte dehnend und in gewohnter Rücksicht ausweichend. „Es wird wohl auf beiden Seiten ein wenig Schuld sein, aber das ändert ja nicht die Notwendigkeit, daß wir uns der uns befreundeten Dame annehmen.“ „Sehr, sehr menschenfreundlich von Ihnen, Herr Pastor. Ganz Ihrem und Ihrer Frau Gemahlin vortrefflichem Charakter entsprechend,“ schob Tankred, glatt schmeichelnd, ein. „Wird Fräulein Helge länger bei Ihnen verweilen? Übrigens eine ausgezeichnete Dame, wie ich Ihnen beipflichten muß. Eine Dame, die ich hoch verehre, obschon wir uns einander wenig genähert haben.“ — Tankred wußte, daß der immer zum Friedenstiften geneigte, gutherzige Höppner jedes Wort seiner Rede den Frauen hinterbringen werde. „Fräulein Helge hat Aussicht, — ja, sieh! das wird Sie ja gerade sehr interessieren, und da Sie sie so schätzen, auch freuen, Herr von Brecken, — Gesellschafterin bei Ihrer Frau Kousine zu werden. Die Verhandlungen, durch meine Frau eingeleitet, haben guten Fortgang. Bis die Sache entschieden, bleibt sie bei uns.“ Tankred glaubte, daß ihn der Schlag treffen solle bei diesen von dem Pastor so arglos und mit so befriedigter Miene hingeworfenen Worten. Das fehlte gerade noch! Theonie, Frege und das Geschöpf mit dem unerträglich affektierten Vornamen künftig zusammen auf Falsterhof! Tankreds Stimmung war die denkbar schlechteste. Wie würden sie ihn alle beobachten, und wie würden sie Buch führen, um nach fünf Jahren zu erklären, daß er des Erbes nicht würdig sei! Und alle die Katzenbuckel, die er den Dreien in so langer Zeit würde machen müssen, während er sie am liebsten an dem Kragen genommen und sie irgendwo auf eine wüste Insel geschickt hätte. Und dieser Pastor! Er ging in der Welt umher wie ein Blinder! Ungewöhnlich beschränkt war doch dieser Geistliche! So ging es in Tankreds Innerm auf und ab, aber mit kräftiger Selbstbeherrschung wußte er gleichwohl seine Enttäuschung zu verstecken, pflichtete vielmehr, hoch erfreut über solche Möglichkeit, dem Pastor bei und verabschiedete sich von ihm, ohne zu verraten, daß er den Weg nach Holzwerder nahm. Er gab vielmehr vor, eine Einladung auf eins der in größerer Entfernung liegenden Güter erhalten zu haben. Als Tankred, nachdem er den Postwagen an einer Wegbiegung verlassen und einen Fußpfad eingeschlagen hatte, durch das Gutsthor trat, sah er, daß Herr von Tressen mit einer Anzahl von Angestellten auf dem Hofe beschäftigt war. Auch die Damen standen nicht weit ab und schauten zu, wie die einzelnen Teile einer Dampfmaschine von einem ausgespannten Wagen abgehoben wurden. Nach rascher, freundschaftlicher Begrüßung wandten sich alle wieder der Thätigkeit der von Hederich angeleiteten Knechte zu. Aber es wollte nicht gelingen, den schweren Gegenstand, der jetzt an der Reihe war, herabzuheben; tief Atem holend, hielten die Beschäftigten inne. „Erlauben Sie mir!“ rief Tankred, welcher sah, daß die Damen den Vorgängen mit großer Spannung folgten, und schwang sich auf den offenen Lastwagen. Hier packte er mit wahrhaften Riesenkräften den unter den Dampfzylinder geschobenen Hebel, rief den Arbeitern zu, jenen nochmals anzufassen und abwärts zu drücken, und brachte nun gleichsam spielend zu wege, was allen Mühen bisher getrotzt hatte. Auch beim Niedersetzen der schweren Eisenmasse war er behülflich und stand, während die übrigen, nachdem das Werk gethan, sich pustend den Schweiß wischten, da, als ob es sich um eine Kinderei gehandelt hätte. Auch am Nachmittag, nach Tisch, legte er Proben von der Stahlkraft seiner Arme ab, indem er auf Herrn von Tressens Veranlassung einen bisher nicht zu bändigen gewesenen Hengst bestieg und unter den Augen der Gutsinsassen und der Herrschaften um den Hof herum jagte. Es war, als sei die Legende vom wilden Reiter zur Wahrheit geworden! Mehreremale machte das Tier, ein schwarzes Rassepferd, Sätze, daß die Umstehenden unwillkürlich aufschrieen und einen tödlichen Sturz schon vor Augen sahen, aber Tankred riß den Hengst herab, als ob in die schnaubenden Nüstern gebohrte unsichtbare Stahlstricke ihn niederzerrten, peitschte ihn zwischen die Ohren und über die Weichen und flog dann wieder in solcher Karriere über den Hof, daß die Funken aus dem Pflaster stoben. Zuletzt stand das Tier auf einen einzigen Ruck schaumbedeckt, zitternd und bebend, der übermenschlichen Gewalt sich bedingungslos fügend, da. „Herrlich! Wundervoll!“ riefen Frau von Tressen und Grete, als Tankred abgestiegen war und sich ihnen näherte. Auch Hederich war ganz hin. „Drum und dran, das ist ein Stück, wie ich es noch nicht gesehen habe. Alle Achtung, Herr von Brecken,“ stieß er heraus und bewegte in unbeschränkter Bewunderung den Kopf. Tankred aber wandte das Auge zu Grete, und sie sah ihn mit einem Blicke an, der mehr sprach als alle Worte. Dann aber trat an Tankred etwas anderes, weit schwereres heran. Herr von Tressen zog ihn vor dem Abendessen in sein Arbeitszimmer. Tankred wußte, daß nun das Schriftstück von Theonie zur Sprache kommen werde. Noch war er nicht so verdorben, daß er der Vorlage des gefälschten Dokuments mit völliger Ruhe entgegen gesehen hätte; bisher hatte er gelogen und betrogen, auch sich Vorteile zu verschaffen gewußt, die seinen Brotherrn geschädigt hatten, aber doch nicht als direkter Diebstahl anzusehen waren. Aber vor Fälschungen war er bisher doch zurückgeschreckt! Nun beschritt er einen Weg, der ihn bei Entdeckung jeden Augenblick mit der Staatsgewalt in Berührung bringen konnte, und so peinigte ihn außer dem Rest von Ehrgefühl, das noch in ihm war, auch — die Furcht. Er sagte sich wie schon früher, daß er nicht dazu veranlagt sei, die Folgen eines Verbrechens auf sich zu nehmen, daß er nicht die mit der vollkommenen Verderbtheit verbundene und für sie erforderliche Seelenruhe besitze: und doch beschwichtigte er sich. Wenn das Schriftstück nicht in Tressens Händen blieb, wer konnte ihm dann etwas nachweisen? Er würde im Fall mit kühner Stirn leugnen und Tressen der falschen Verdächtigung zeihen. So zog er denn, sobald das Gespräch dazu Anlaß bot, das von ihm mitgenommene Papier hervor und überreichte es Gretes Vater mit voller Unbefangenheit. Tankred beobachtete des Lesenden Züge. Ohne Zweifel; er hatte seine Sache gut gemacht! Tressen bewegte nach genommener Einsicht mit deutlicher Befriedigung den Kopf und legte, Tankreds geschickt abgefaßtem Kommentar ebenfalls mit größter Genugthuung zuhörend, das Papier neben sich auf den Tisch. Er schien das Schriftstück einstweilen behalten zu wollen, aber Tankred ließ seinen Zweck nicht aus dem Auge. „Der letzte Passus“ — schob er in seine Rede ein, nahm die gefälschte Akte an sich und entfaltete sie, „bedarf auch nach anderer Richtung hin noch einer Erklärung. Gestatten Sie. Es heißt da — —“ Nun las er vor, und nachdem er zu Ende gelesen, ließ er das Papier, nachdem er es noch eine Weile in den Händen gehalten, gleichsam unwillkürlich in seine Brusttasche zurückgleiten. „Würden Sie erlauben, daß ich auch meine Frau mit dem Inhalt des Schriftstückes bekanntmache?“ fiel Tressen ein und streckte mit höflicher Bewegung die Rechte aus. „Ich lege es dann morgen dankend in Ihre Hände zurück. Ich hoffe doch, daß Sie die Nacht noch bei uns bleiben, wenn Sie uns nicht gar einige Tage schenken können? Sie wissen, unsere Fremdenzimmer stehen allezeit für Sie bereit!“ Tankred schwankte. Was Tressen ihm über sein Bleiben vorgeschlagen, stimmte sehr mit seinen Wünschen überein, aber das Papier auch nur zeitweilig von sich zu geben, hieß alles aufs Spiel setzen! Sie konnten, ohne ihm etwas mitzuteilen, Abschrift davon nehmen, die Kopie Theonie vorlegen! Was er selbst gethan haben würde, mutete er anderen zu. „Natürlich! Mit Vergnügen,“ bestätigte er trotzdem. Aber mit der Geistesgegenwart, die ihm eigen war, fügte er hinzu: „Verzeihen Sie die Frage, mein hochverehrter Herr von Tressen, ob es vielleicht möglich wäre, daß wir jetzt gleich im Beisein Ihrer Frau Gemahlin einmal die ernsten Dinge, die wir vorhaben, einer Besprechung unterziehen. Offen bekannt, habe ich keine Sekunde Ruhe mehr. Ich möchte etwas Gutes aus dem Munde Ihrer Frau Gemahlin hören; sie wird auch wissen, ob ich mir bei Ihrem Fräulein Tochter Hoffnung machen kann. Später, wenn Gäste eintreffen, ist die Gelegenheit zu einer vertraulichen Unterhaltung abgeschnitten. Eine Nacht der Ungewißheit raubt mir den Schlaf. Sie lächeln! Aber Sie werden sich der Zeit erinnern, wo Sie um Ihre Frau Gemahlin warben, das wird Sie für meine Bitte nachsichtig stimmen. Ich möchte für den Fall auch gern Ihre künftigen Angelegenheiten besprechen, Ihnen gleich meinen Standpunkt darlegen. Verzeihen Sie, daß ich das so ausspreche, so unbescheiden vorzugreifen wage, aber ich fühle mich — der Himmel möge verhüten, daß ich in meinen Hoffnungen betrogen werde — bereits als ein Teil der Familie, deren Vertrauen mich würdig zu zeigen ich stets aufs eifrigste bestrebt sein werde.“ Diesem Wortschwall erlag Herr von Tressen. Er neigte kavaliermäßig das Haupt, bat Tankred, einen Augenblick zu verziehen, und holte seine Frau herbei. — * * * * * Das Gespräch war lange beendet, und die Abendtafel abgedeckt. Herr von Tressen, Gretes Mutter und Hederich hatten am Whisttisch Platz genommen, während Tankred um die Erlaubnis gebeten hatte, sich mit Fräulein Grete unterhalten zu dürfen. Man hatte ihn verstanden und ihm gern die Bitte gewährt. Während im Wohngemach die Karten klapperten, und die beim Anschreiben benutzte Bleifeder immer mit demselben harten Geräusch aus Tressens Hand auf den Spieltisch fiel, während Frau von Tressens lebhaftes Lachen erscholl, und Hederichs unvermeidliches „Drum und dran! das mußte Schlemm werden!“ ertönte, saßen nebenan Tankred und Grete in stillem Geflüster, und endlich die lang ersehnte Gelegenheit ergreifend, raunte er dem durch seine Worte und Gebärden immer mehr erregten Mädchen zu: „Gestern auf Falsterhof wehrten Sie mir, Fräulein Grete, zu sprechen. Ich ging mit Gefühlen, die ich nicht zu beschreiben vermag, von Ihnen. Mir war, als ob Sie mir befohlen hätten, einen Tag und eine Nacht den Atem anzuhalten. Ich ringe seit gestern gleichsam nach Luft, und nur ein Gedanke beschäftigt mich: zu vollenden, was mir gestern auf der Lippe lag. Darf ich denn nun sprechen, — o bitte, nein, lassen Sie mir Ihre Hand, die ich es nicht mehr erwarten kann, zu fassen, — Ihnen sagen, was, was, — “ Er hielt inne und forschte in ihrem Angesicht. Grete wagte nicht, empor zu sehen. Sie lag unter dem Bann seines Wesens, und gerade weil es sie drängte, das sie berauschende Wort zu hören, fand sie keine Sprache. In dieser sonst so kalten Brust brach eine heiß strömende Quelle auf, das Gefühl überflutete alles: Verstand, Vernunft und Überlegung. Sie liebte und wollte geliebt sein! Ihr Herz pochte, ihre Sinne waren in Aufruhr, und schon die Nähe des Mannes durchströmte sie mit einer fieberhaften Wonne. Als er noch einmal auf sie einsprach, drängend, schmeichelnd, zärtlich und feurig, war sie nicht mehr Herr ihrer selbst; sie litt es, daß er sie, ihr Schweigen, ihr Wesen richtig deutend, umfaßte, und plötzlich drängte sie selbst ihre Lippen zu den seinen und hielt ihn lange und fest umschlungen. Auch durch Tankreds Inneres zog ein Gefühl von Sättigung und Wonne, und seine Seele triumphierte. So war es denn erreicht! Er, der vor Halbjahresfrist noch wie ein Bettler, wie ein Ausgestoßener auf Falsterhof erschienen war, saß im Schloß von Holzwerder, und die Erbin der reichen Herrschaft hing an seinem Halse und gestand ihm ihre Liebe. Ja, sie würde sich wie ein Raubtier aufgerichtet haben, wenn jemand ihn, Tankred von Brecken, von ihrer Brust hätte reißen wollen. — * * * * * Fast eine Woche war vergangen. Tankred war abermals auf dem Wege nach Falsterhof und zwar diesmal mit der Absicht, von Frege Bestimmtes über die Rückkehr seiner Kousine zu erfahren. Er hatte sich mit Grete von der Linden verlobt und war von ihr und ihren Eltern bestürmt worden, nunmehr seinen Aufenthalt wieder auf Falsterhof zu nehmen. Die Entfernung von Elsterhausen sei zu groß. Grete hatte den Wunsch, Tankred täglich zu sehen. „Weshalb willst Du meine Wünsche nicht erfüllen?“ hatte sie in einem starken Gefühlsdrange gefragt. „Ich kann ohne Dich nicht sein. Liebst Du mich weniger, als ich Dich?“ Der Grund, den Tankred früher für seine Entfernung von Falsterhof angegeben, fiel nun fort; von der wahren Ursache aber wünschte er nicht zu sprechen. Er wollte heute von Frege hören, ob Theonie vielleicht die Absicht habe, den Winter über fortzubleiben, und ihr dann schreiben, daß sie ihm wegen der veränderten Verhältnisse erlauben möge, die Räume, die er in Falsterhof inne gehabt, wieder zu beziehen. Theonies Plan, Carin zu sich zu nehmen, widersprach zwar der Annahme, daß sie ihrem Besitz fern bleiben wolle, aber da Tankred hoffte, daß die Dinge sich nach seinen Wünschen gestalten möchten, legte er ihnen auch eine größere Wahrscheinlichkeit bei. In Breckendorf erfuhr er, als er von seinem Rappen abstieg und sich in der Schenkstube des Kruges niederließ, daß der Pastor erkrankt, und man in großer Sorge um ihn sei. Da der Pastor Tankred nicht im Wege stand, so regte sich in ihm ein Anflug von Bedauern; viel lieber hätte er gehört, daß sie, die Pastorin, hoffnungslos darnieder liege. Die „Person“ war ihm in der Seele zuwider. Nachdem er dann noch erfahren, daß Carin nach wie vor im Pfarrhause sei, machte er sich wieder auf den Weg. Als er den Hof erreichte, — es war gegen vier Uhr nachmittags, und er wollte noch an demselben Tage, nach einem Besuche in Holzwerder, nach Elsterhausen zurückkehren, — sah er Frege gerade mit langsamen Schritten ins Haus treten. Die Erscheinung des Alten wirkte in dieser einsamen, finsteren und regungslosen Umgebung fast wie ein düster gemaltes Bild. Ringsum nichts Lebendiges. Die Bäume streckten regungslos ihre dürren, kahlen Zweige in die graue, lichtwehrende Luft, und Öde und ein gleichsam stumpfes Verzichten auf Leben und Sonnenschein lag über allem ausgebreitet. Brecken überkam ein Gefühl von grenzenloser Leere, ja, von Grauen. Es legte sich ihm plötzlich auf die Brust, als ob er fliehen müsse, als ob seiner etwas Furchtbares hier warte. Dann aber ritt er auf den Stall zu, löste die Trense aus des Rappen Maul, holte, da Klaus nicht zugegen war, selbst Häcksel aus der Futterkiste herbei und warf ihn dem Rappen in die Krippe. Nun schritt er auf das Haus zu, wandte sich, ohne die Klingel zu ziehen, sogleich zu der von Frege bewohnten, nach dem Garten gelegenen Kammer, klopfte und trat, ein Herein nicht abwartend, näher. Der Alte war nicht da; auf dem Tische aber lag ein Brief, in den Tankred ohne Besinnen guckte. Das an Theonie gerichtete Schreiben begann mit allerlei nebensächlichen Dingen. Nach Erwähnung dieser war ein Absatz gemacht, und das alsdann Niedergeschriebene lautete wie folgt: ‚Und nun die Hauptsache, gnädige Frau. Herr von Brecken hat sich mit Fräulein von der Linden verlobt. Die Herrschaften haben es zugegeben, nachdem er durch ein Schriftstück von der gnädigen Frau nachgewiesen hat, daß er Miterbe von Falsterhof ist und die Erbschaft nach fünf Jahren antreten kann. Ich glaube nicht, daß es das richtige Papier ist, und schicke der gnädigen Frau Abschrift davon.‘ Was war das? Tankred zitterten die Glieder, das Blatt mit Freges großen, steifen Buchstaben bebte in seiner Hand, und das Blut schoß ihm tobend ans Herz. Rasch! Weiter lesen, ehe er gestört ward —! ‚Die gnädige Frau werden sich wundern, wie ich zu der Einsicht des Schriftstücks gekommen bin. Der Zufall hat auch merkwürdig dabei gespielt. Am Tage nach der Verlobung war ich schon früh bei Herrn Hederich in Holzwerder, der, wie ich wußte, zur Stadt wollte und schon oft mein bischen Geld mit in die Sparkasse genommen hat. Da traf ich hinter dem großen Wirtschaftshaus, wo die Knechtsstube ist, Peter, den Diener der Herrschaften, der das Zeug rein machte. Auch Herrn von Bremens Sachen, der die Nacht bei Hederich geschlafen hatte, putzte er und legte grade ein Kuwert auf den Tisch, das aus der Tasche gefallen war. Erbschaftsakte (Falsterhof) Tankred von Brecken, las ich. Grade wurde Peter abgerufen. Da nahm ich schnell mein Wirtschaftsanschreibebuch und meine Bleifeder und schrieb ab, was in dem Dokument stand. — ‘ Soweit war Tankred von Brecken gekommen, als er Schritte auf dem Flur hörte. Sicher! Es war Frege, und rasch legte er den Brief wieder auf den Platz und faßte die Thürklinke. Als er hinaustrat, streifte er den Alten, der mit einer Miene zurückprallte, als ob die Erscheinung eines Verstorbenen vor ihm aufgestiegen wäre. „Ah, da sind Sie, Frege! Eben guckte ich in ihr Zimmer und fand Sie nicht. Einen Augenblick! Ich möchte etwas von meiner Kousine hören. Kommen Sie! Wir können nach vorn gehen!“ Der Alte, sichtlich aufs äußerste betroffen, aber sich beherrschend, nickte ehrerbietig und schritt voran, um die Thür zu den Gemächern des alten Herrn zu öffnen. Aber ehe sie eintraten, fragte Tankred: „Wo ist Klaus?“ „Er ist vor einer halben Stunde nach Marienhof gegangen. Er wollte seine Schwester besuchen —“ Tankred bewegte kurz den Kopf. Was er hörte, befriedigte ihn sehr. Kaum waren sie in den fast schon dunklen, dumpfen Raum eingetreten, als Tankred die Thür schloß, auf den Alten losstürzte, ihn an der Gurgel packte und ihm zuraunte: „Wo ist die Abschrift des Schriftstücks, das Du Bandit Dir auf Holzwerder angeeignet hast? Heraus damit, oder ich töte Dich, so wahr ich Brecken heiße!“ „A — h —“ drang's aus der Kehle des Gemarterten. Er wollte reden, aber die furchtbare Faust Breckens schnürte ihm Atem und Sprache ab. Brecken lockerte mit den funkelnden Augen eines Raubtiers seine Hand, stieß den Alten auf einen Stuhl und blieb neben ihm stehen. „Nun?“ zischte er mit furchtbaren Gebärden. „Ich sag's nicht, und ich bin kein Bandit,“ stieß Frege entschlossen heraus. „Ein Bandit ist der, welcher —“ Aber Brecken ließ ihn nicht ausreden. Er faßte ihn hinten am Rockkragen, schob den Widerstrebenden zur Thür, entriegelte sie und stieß sein Opfer bis in die Kammer. Hier ließ er ihn los und befahl ihm, den Brief an sich nehmend, nochmals, die Abschrift auszuliefern. Aber der Alte hob sich stöhnend in die Höhe, blickte den Mann fest an und sagte: „Ich thue es freiwillig nicht, wenn Sie mich auch töten. Früher oder später wird's doch Mordgeruch geben. Fangen Sie nur mit mir an!“ Brecken fletschte die Zähne, und so furchtbar war seine Wut, daß er Frege mit einem einzigen Schlage zu Boden streckte. Und dann beugte er sich über ihn und schrie: „Gieb, oder Du bist eine Leiche!“ und als Frege dann mit letzter Kraftaufwendung abermals verneinend den Kopf schüttelte, griff er in dessen Tasche, fand zwei Schlüssel und begab sich selbst ans Suchen. Seine Bemühungen waren nicht umsonst; nach wenigen Minuten fand er in der Schublade der Kommode sowohl das Wirtschaftsbuch wie auch ein Blatt Konzeptpapier, auf das Frege den Wortlaut des Falsifikats niedergeschrieben hatte. Nachdem er es an sich genommen, näherte er sich Frege, der sich inzwischen mühsam emporgerafft hatte und, die Hand an den blutenden Kopf pressend, mit noch immer gleich finsterer Entschlossenheit dastand, und sagte, ihm die Schlüssel hinwerfend: „Diesmal ging's noch an Dir vorbei, Du schleichender Schuft. Aber hüte Dich! Trittst Du mir noch einmal in den Weg, so weiß ich, was ich zu thun habe!“ Dann schritt er hinaus, band sein Pferd im Stall los und jagte im Galopp auf der Straße nach Holzwerder zu. * * * * * Und wieder einen Tag später in der Dämmerungsstunde saß die Pastorin an dem Bette ihres Mannes und hörte mit tiefbeschwertem Herzen, was aus seinem Munde drang. „Kräfte, Kräfte — Lene, fehlen mir! Bitte, reiche mir einen Schluck Wasser.“ „Soll ich nicht etwas Wein hineinthun?“ Der Kranke schüttelte den Kopf. „Ich mag nicht. Nichts schmeckt, nur Durst habe ich, immer Durst nach Wasser. Ah,“ stieß er heraus und ließ erschöpft das Haupt in die Kissen fallen, nachdem die Pastorin ihm das Verlangte eingeflößt. Und dann schlossen sich seine Augen. Aber zugleich streckte er zärtlich die Hand nach ihr aus. „Mein guter Mann!“ flüsterte die Frau liebevoll und ergriff die ihr dargebotene Rechte. Schwere Thränen tropften aus ihren Augen. Eine stumme Dankgebärde war es von seiner Seite gewesen, aber auch ein Drang, ihr seine Liebe an den Tag zu legen. Und später öffnete sich die Thür, und die kleine Lene schob sich, leise auftretend, herein. „Papa Gute Nacht sagen,“ ging's aus dem Munde des Kindes. Aber die Frau wehrte der Kleinen mit sanfter Bewegung, zog sie zu sich empor und ging mit ihr in eine entferntere Ecke des Zimmers. „Papa schläft, mein süßes Kind, wir dürfen ihn nicht wecken! Ich werde ihm erzählen, daß Du da warst.“ Lene nickte. „Papa immer krank! Papa soll mit mir spielen,“ klagte sie traurig. Aber einem stark entwickelten Ordnungssinn folgend, glitt sie von dem Schoß der Mutter herab und nahm das Blatt einer Blume auf, das am Boden lag. Sie legte es in ihrer Mutter Hand und fuhr fort: „Wann steht Papa wieder auf, Mama, bald?“ Da überkam die Frau der Schmerz. Am Mittag hatte ihr der Arzt gesagt, daß er kaum verstehe, daß der Kranke bei so schwachem Puls noch lebe. Ein rasendes Fieber, das Höppner nach einer Erkältung erfaßt, hatte alle seine Kräfte verzehrt und ihm jegliche Widerstandsfähigkeit geraubt. „Weshalb weinst Du?“ forschte nun Lenchen mit weinerlicher Stimme und schmiegte sich ängstlich an die Brust der Bedrückten. Und unter leisem Schluchzen flüsterte die Pastorin: „Ich bin traurig, weil unser Papa so krank ist, mein süßes Lenchen. Wir wollen heut abend beten, daß ihn der liebe Gott bald wieder gesund macht.“ Das Kind nickte eifrig. „Ja, ich will für Papa und für die weiße Henne beten. Sie hat noch immer ihr schlimmes Bein. Sie schrie, als Trine sie auf den Schoß nehmen wollte.“ Die Frau drückte in abermaliger, übermächtiger Rührung das Kind ans Herz und setzte es sanft auf die Erde hinab. „Komm, ganz leise, geh nun wieder nach vorn und bitte Fräulein Carin, daß sie Dir Deine Puppe anziehen hilft, und nachdem mußt Du ein wenig lernen, Lenchen, das Einmaleins!“ „Soll ich es Papa hersagen, wenn ich es kann?“ „Gewiß, Lenchen, dann wird er um so eher gesund!“ Das Kind horchte vergnügt auf und trippelte aus dem Gemach. Nach einer Weile öffnete Fräulein Carin die Thür und fragte, ob Frau Höppner ihren Mann verlassen könne. Es seien mehrere Personen da, die sie zu sprechen wünschten. Die Frau trat an das Bett des Kranken, vergewisserte sich, daß er noch schlief, und folgte dann dem an sie ergangenen Rufe. Sie fand neben Frauen aus dem Dorfe, die nach des Pastors Befinden fragten, vornehmlich aber andere Anliegen hatten, und denen sie in ihrer entschiedenen, aber stets hülfbereiten Weise Rat erteilte, auch Frege von Falsterhof auf dem Flur. Da sie mit ihm länger zu sprechen wünschte, rief sie ihm freundlich grüßend zu: „Gehen Sie nur in meines Mannes Zimmer, Frege, ich komme gleich, und wir können dann in Ruhe reden.“ Aber er blieb wartend stehen und trat erst, nachdem die übrigen sich entfernt hatten, mit der Pastorin in das erwähnte Gemach. „Nun, mein guter Frege? Was haben Sie?“ hub die Pastorin, nachdem beide sich gesetzt hatten, an und legte, wie meist beim Plaudern, die gefalteten Hände auf die Brust. „Sie wollen wohl etwas von Frau Cromwell hören? Oder haben Sie selbst Nachricht?“ „Nein, ich komme wegen etwas anderem. Ich kann nicht mehr auf Falsterhof bleiben. Es geht mir am Ende doch ans Leben. Wenn ich auch ihm, Herrn von Brecken, gegenüber so gethan habe, als ob mir Leben oder Sterben gleich wäre, man will doch nicht wie ein Hund totgeschlagen werden!“ „Na, was sind denn das wieder für Sachen,“ stieß die Pastorin erschrocken heraus. „Soll man denn nie vor dem schrecklichen Menschen zur Ruhe kommen? Erzählen Sie, was geschehen ist, Frege —“ In diesem Augenblick erfolgte eine Störung. Die Magd erschien und meldete, daß Herr von Brecken da sei. Er wolle sich nach des Herrn Pastors Befinden erkundigen und bitte auch in anderer Angelegenheit die Frau Pastorin sprechen zu dürfen. Die Frau schwankte, was sie thun solle. Frege um Breckens willen ungehört abfertigen, konnte ihr nicht beifallen. Ihre gerade Natur machte niemals Standesunterschiede, auch regte sich in ihr eine natürliche Neugierde, Näheres von Frege zu erfahren. So entschied sie sich denn rasch, hinauszugehen, um Tankred mit kurzen Worten abzufertigen. Während sie jedoch der ihr voranschreitenden und die Thür offenlassenden Magd folgte, erblickte der auf dem Flur harrende Besucher gerade denjenigen Mann in dem Gemach des Pastors, um dessen willen er vornehmlich heute seinen Gang angetreten hatte. Aber Tankreds Mienen verrieten nichts; mit unbefangenster Artigkeit trat er auf die Pastorin zu und richtete, schon während sie ihm in die Wohnstube voranschritt, äußerst teilnehmende, ihren Mann betreffende Fragen an sie. Nachdem dies geschehen, nahm die Pastorin das Wort und sagte, nicht ahnend, daß Tankred wisse, wer bei ihr sei: „Ich habe Besuch, den ich nicht fortsenden kann, aber ich wollte Sie doch für einige Minuten wenigstens empfangen. Zunächst eine Frage: Bestätigt es sich, daß Sie sich mit Fräulein von der Linden verlobt haben? Man sagt so!“ Tankred nickte. „Ja, Frau Pastorin; es war neben dem Wunsche, mich nach des Herrn Pastors Befinden zu erkundigen, der Zweck meines Erscheinens, Ihnen persönlich das für mich so glückliche Ereignis mitzuteilen. Haben Sie Nachricht von meiner Kousine? Wissen Sie, wann sie nach Falsterhof zurückkehrt? Ich war gestern dort, aber kam über einen ärgerlichen Zwischenfall gar nicht dazu, Frege zu fragen. Denken Sie — und auch das wollte ich zur Vermeidung thörichter Aussprengungen Ihnen sagen, — der Mensch lehnte sich in so ungebührlicher Weise gegen mich auf, daß ich ihn züchtigen mußte. Ich erhielt durch einen Zufall Kenntnis von allerlei Schleichereien seinerseits und einem ganz unerhörten Eingreifen in meine persönlichen Angelegenheiten. Er hat neulich bei seiner Anwesenheit auf Holzwerder das mir von Theonie ausgefüllte Schriftstück — Sie wissen, die Abtretungsakte, die ich Herrn von Tressen vorlegen wollte, — an sich genommen und kopiert und weigerte sich, mir die Abschrift herauszugeben. Es wird wahrlich nicht in dem Willen meiner Kousine liegen, besonders nicht, nachdem wir dauernd Frieden geschlossen, daß ihr Diener auf eigene Faust Spionage treibt und sich dabei den Anschein giebt, als ob es für das Wohl und Wehe seiner Herrin nötig sei. Es scheint, der Mensch will mir imputieren, ich habe ein Schriftstück überhaupt gar nicht von seiner Herrin empfangen! Weshalb sollte er sich sonst erdreistet haben, davon Abschrift zu nehmen?“ Nachdem er auf diese Weise Freges Darstellung abgewehrt hatte, unterbrach sich Tankred und bat, als ob er durch seine Rede fortgerissen sei, um Entschuldigung, die Pastorin so lange in Anspruch genommen zu haben. „Verzeihen Sie, daß ich bei Ihrer kurz bemessenen Zeit auch über diese Angelegenheit mich noch äußerte. Aber da Sie, verehrte Frau Pastorin, doch gerade die gütige Vermittlerin zwischen meiner Kousine und mir gewesen sind, wollte ich an Sie auch die freundliche Bitte richten, Ihre mir gelobte Verschwiegenheit zu brechen und jedem, der fragt, mitzuteilen, wie die Dinge wirklich liegen. Mich gegen unsinnige Beschuldigungen eines Dienstboten zu verteidigen, könnte mir wahrlich sonst nicht beifallen, aber hier ist es in der That geboten, die Dinge klarzustellen.“ In dieser Rede war jeder Satz berechnet. Daß es sich bei Freges Vorgehen um etwas ganz anderes gehandelt, daß er eben bei seinem tief eingewurzelten Mißtrauen gegen Tankred ein Falsifikat vermutet hatte, erwähnte Tankred natürlich nicht. Er wollte sich den Anschein geben, als ob die Möglichkeit einer solchen Unterstellung ihm überhaupt gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Zu seiner Befriedigung bemerkte er denn auch, daß die Pastorin, unbekannt mit Freges Schlußfolgerungen, Partei für ihn zu nehmen schien und, ihrem Gerechtigkeitssinn folgend, erklärte, sie werde gern Gelegenheit nehmen, falsche Gerüchte, wenn sie ihr begegneten, richtig zu stellen. Mit den Worten: „Im übrigen will ja Ihre Kousine in vierzehn Tagen zurückkehren. Sie können dann selbst die Dinge mit ihr bereden,“ verabschiedete sie sich von Tankred und eilte, da eben auch ihr Mann, bei dem Carin statt ihrer den Dienst versehen, nach ihr verlangte, in das Krankenzimmer. Infolgedessen streifte Tankred Carin auf dem Flur: „Ah, mein hochverehrtes Fräulein. Sehr erfreut, sie einmal wieder zu sehen,“ hub er unter vielen Komplimenten an. „Zu meiner großen Freude höre ich, daß Sie in Zukunft meiner Kousine Gesellschaft leisten werden. Ich kann meiner Verwandten dazu nur ebenso sehr Glück wünschen, wie ich bedauert habe, daß Sie sich von meiner Braut trennen mußten. — Meine Braut! Allerdings. Das Gerücht bestätigt sich! — Ich danke sehr für Ihre guten Wünsche,“ schloß Tankred, als Carin, der es war, als habe eine giftige Natter sie angezischt, die aber doch einige höfliche Worte nicht umgehen konnte, ihre Gratulation aussprach. Wenige Sekunden später hatte Tankred, sehr befriedigt über den Erfolg seines Besuchs, das Pastorenhaus verlassen. — Als er in seine Wohnung in Elsterhausen zurückgekehrt war, ließ er sich sogleich nieder und schrieb die nachstehenden Zeilen an Theonie: ‚Liebe Theonie! Zunächst melde ich Dir heute, daß ich mich mit Grete von der Linden verlobt habe. Wenn ich in die Dir seinerzeit gegebenen Erklärungen einflocht, daß mich neben deiner Zuneigung für Dich besonders der Wunsch leite, durch eine Heirat ein festes Fundament zu gewinnen und meine ehrlichen Vorsätze zu unterstützen, so kann ich Dir dies auch jetzt als den wesentlichen Beweggrund für meinen Entschluß anführen. Nachdem ich auf den höchsten Wunsch meines Lebens, Dich zu besitzen, habe verzichten müssen, haben der Schmerz und das Verlangen, sobald wie möglich aus dem unthätigen Zustande herauszukommen, mich bestimmt, um die Erbin von Holzwerder anzuhalten. Da die künftigen Lebensverhältnisse, meine und die der Familie Tressen, bei dieser Gelegenheit zur Sprache gelangten, habe ich das mir von Dir übergebene Schriftstück vorgelegt, und da es meine Pläne wesentlich gefördert hat, so will ich auch die Gelegenheit ergreifen, um Dir nochmals von ganzem Herzen zu danken. Dieser Dank erfüllt mich umsomehr, als ich mir bewußt bin, nicht immer so gegen Dich gehandelt zu haben, wie Du es erwarten konntest. Jähzorn ist das Erbteil der Breckens. Er riß mich hin, mein Inneres hatte keinen Teil daran, und ich habe das Geschehene ehrlich bereut. Beiläufig bemerke ich, daß Frege sich sehr ungebührlich benommen hat, indem er das mir von Dir eingehändigte Schriftstück, das er zufällig in meiner Rocktasche fand, kopierte. Als ich die Herausgabe meines Eigentums, das ich nicht als für fremde Augen geschrieben ansehe, forderte, verweigerte er sie und erging sich zugleich in so unerhörten Ausdrücken, daß er eine ihm gewordene Züchtigung durchaus verdiente. Ich erzähle Dir dies einmal, um den wirklichen Thatbestand zu Deiner Kenntnis zu bringen, anderseits, um Dich freundlich zu ersuchen, ihm seine unwürdige Spionage zu verbieten. Daß Du nicht damit einverstanden bist, weiß ich. Und nun habe ich noch eine Bitte. Meine Braut möchte mich natürlich gern täglich sehen. Auf Holzwerder zu wohnen, widerspricht der Schicklichkeit. Würdest Du wohl gestatten, daß ich bis zu meiner Heirat, die schon in sechs Wochen stattfinden soll, wieder nach Falsterhof übersiedele? Ich weiß nicht, was ich Tressens und Grete als Grund meines längeren Wohnens in Elsterhausen angeben soll. Du wirst gewiß auch nicht wollen, daß ich den wahren Sachverhalt aufdecke, und verstehen, daß ich nicht erklären möchte, Du habest mir den Aufenthalt in Falsterhof untersagt. Frege werde ich sein Benehmen nicht entgelten lassen, wenn er trotz der geschilderten Vorgänge ferner in Deinem Dienste bleiben soll. Daß ich nicht gern mit ihm zusammen bin, wirst Du begreifen, wenn Du Dich nur einen Augenblick in meine durch sein Vorgehen geschaffene Lage hineinversetzest. Bitte, antworte bald und Gutes Deinem Dich herzlich grüßenden und Dir allzeit aufrichtig und dankbar verpflichteten Tankred von Brecken.‘ Nachdem Tankred das Geschriebene noch einmal durchgelesen, bewegte er sehr befriedigt das Haupt. Er stand unter dem Eindruck, daß er dem höchst ärgerlichen Zwischenfalle mit Frege die Spitze abgebrochen oder sogar dessen Stellung erschüttert habe. Auch die Pastorin war gegenwärtig viel zu sehr mit ihrem Manne beschäftigt, um ihm Ungelegenheiten zu bereiten. Wenn der einfältige Pastor starb, ward sie erst recht davon abgelenkt, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. So hatte er denn von dieser Seite schwerlich etwas zu befürchten, und es blieb nur die Helge, die der Himmel hoffentlich auch noch unschädlich für ihn machen würde. Aber Tankreds Gedanken gingen an diesem Tage auch zu seinen zukünftigen Schwiegereltern. Frau von Tressen war doch eine sehr dezidierte Dame; mit ihr war nicht so leicht fertig zu werden. Ihm ahnte, daß er mit dieser Frau in seinem zukünftigen Lebenslaufe noch manchen Kampf werde ausfechten müssen; ihren Vorteil würde sie nicht aus dem Auge verlieren. Und gerade das paßte ihm gar nicht. Seine anfängliche Bereitwilligkeit, Tressens eine Rente in dem geplanten Umfange zu überweisen, hatte sich nun, nachdem er festen Fuß gefaßt, schon sehr gemindert. Er fand, daß eine Rente von fünfzehntausend Mark weitaus genug sei, und außerdem mußte es sein Ziel sein, keine schriftlichen Zusagen zu geben. Wenn er Grete erst heimgeführt hatte, war es ihm sehr gleichgültig, was aus Tressens ward, und ob sie ihn haßten oder liebten. Aber Vorsicht! Die Frau guckte durch die Wand. Er beschloß, vorläufig alles ängstlich zu vermeiden, was den guten Eindruck, den er bisher hervorgerufen, irgendwie abschwächen könnte. — Nach einigen Tagen traf die Antwort von Theonie ein. Sie schrieb: ‚Deinen Brief, den ich gestern erhielt, beantworte ich in aller Kürze. Zunächst meine Gratulation. Möge Dir in Zukunft werden, was Du erwartest, und insbesondere auch das, was Du bezüglich Deiner selbst voraussetzest. Niemand kann es aufrichtiger wünschen als ich. In den Abmachungen möchte ich keine Änderungen eintreten lassen; ich ersuche Dich, davon abzustehen, nach Falsterhof überzusiedeln. Ich habe die Absicht, allernächstens zurückzukehren, und hoffe dann auch Deine Braut zu begrüßen, der ich mich, sowie der Familie Tressen, bestens zu empfehlen bitte. Theonie.‘ Diese dem Kernpunkt seiner Anfrage kühl ausweichende und sogar die Fregesche Angelegenheit gänzlich umgehende Antwort enttäuschte und ärgerte Tankred aufs äußerste. In seiner gewohnten Heftigkeit warf er den „Wisch“ in die Ecke und murmelte böse Worte zwischen den Lippen. Eine infam hochmütige Art hatte diese Theonie, eine Art, für die er sie am liebsten gleich gezüchtigt haben würde! Und was sollte er nun auf Holzwerder erklären? Bisher hatte er noch immer triftig klingende Auswege zu finden gewußt und in der Sicherheit, daß Theonie ihm zu Willen sein werde, zuletzt erklärt, daß er in den nächsten Tagen nach Falsterhof übersiedeln wolle. Daß seine Verwandte die Absicht ihrer Rückkehr bestätigte, paßte ihm auch nicht. Überhaupt fand er es sehr überflüssig, daß sie wiederkam, weil es seine Pläne durchkreuzte. Er fürchtete, daß Frau von Tressen ein offenes Wort mit Theonie sprechen könne, bevor er Grete geheiratet habe. Es ging auch aus den Zeilen hervor, daß Theonie gar keine Furcht mehr vor ihm empfand. Natürlich! Sie hatte ihn ja durch das Schriftstück in Händen. Wenn er irgend etwas that, was ihr Mißfallen erregte, schädigte er seine Zukunft. Tankred kam zum erstenmal der Gedanke, ob es nicht am besten sein werde, das Feld zu räumen, sich mit seiner künftigen Frau ganz aus diesem Umkreis zu entfernen! Dann war er mit einem Schlage aller Kontrolle entrückt und brachte sich aus dem Verkehr und der Nähe der ihm lästigen Personen. Er wollte es überlegen und mit Grete darüber sprechen. * * * * * An einem der dem Vorerzählten folgenden Tage begab sich in der Vormittagsstunde Frau von Tressen zu ihrer Tochter Grete ins Zimmer. Grete bewohnte zwei sehr hübsche, in einem erkerartigen Anbau gelegene Gemächer im Parterre. Von hier aus hatte man einen ungehinderten Blick ins freie Land und eine Aussicht auf einen weitläufigen, sich bis an die Seite des Schlosses hin ausdehnenden Garten. Eine große Ordnung zeichnete die Räume neben ihrer reichen Einrichtung aus, zugleich aber fiel die Anhäufung von zahlreichen Gegenständen auf. Hier konnte sich die Behauptung, daß aus der Umgebung eines Menschen sich sein Charakter ableiten lasse, bewahrheiten; ein geschärftes Auge erkannte sowohl das Bestreben der Inhaberin der Räume, sich mit Bequemlichkeiten zu umgeben, als auch ein peinliches Behüten von Besitz. Auch fehlte ihr der Schönheitssinn nicht. Blumen standen in den Fenstern und füllten namentlich den Erker. Die vorhandenen Gegenstände bekundeten sämtlich einen geläuterten Geschmack. Letzterer war ein Erbteil Gretes von ihrer Mutter; sie glich ihr darin völlig, während ihre sonstigen Eigenschaften sie durchaus von ihr unterschieden. Heute hatte Frau von Tressen die Absicht, endlich einmal mit ihrer Tochter die materielle Frage der Zukunft zu besprechen. Ihr Mann hatte ihr mitgeteilt, daß er bei Brecken ein uneingeschränktes Entgegenkommen gefunden habe, aber das blieb doch gegenstandslos, wenn nicht auch Grete sich einverstanden erklärte; auch mußte die Höhe der Rente einer Besprechung unterzogen werden. Grete befand sich eben beim Putzen ihrer vielen Nippessachen und erhob etwas überrascht den Kopf, als ihre Mutter zu so ungewohnter Stunde bei ihr eintrat. „Hast Du einen Augenblick Zeit? Ich möchte etwas mit Dir besprechen. Grete —“ „Bitte, liebe Mama. Nur einen Augenblick —“ Und fortfahrend in ihrer Beschäftigung: „Sieh, wie Minna grenzenlos ungeschickt ist! Da hat sie nun wieder etwas abgestoßen. Gerade an dem alten Krug! Man müßte die Dinge einschließen, und dazu sind sie doch nicht da. — So, bitte, Mama! Willst Du nicht hier sitzen? Noch eins: Habt Ihr heute jemanden eingeladen? Tankred kommt zu Tisch. Du weißt doch!“ Frau von Treffen nickte. „Gerade über ihn und Dich, aber auch über mich und meinen Mann wollte ich mit Dir sprechen, Grete. Höre mich also einmal ruhig an. Als Dein Vater starb, lagen die Verhältnis sehr einfach, weil überaus günstig! Ich hatte selbst ein Vermögen, und Dein Vater überließ Dir den sonst vorhandenen, von ihm in die Ehe mitgebrachten Besitz. Leider hatten wir — ich meine Dein Stiefvater und ich — viel Unglück. Papiere, in denen mein Vermögen angelegt war, fielen oder wurden ganz wertlos; und einmal angebröckelt, zerrann im Laufe der Zeit alles, was ich besessen hatte. Stillschweigend haben wir nun von den Renten, die Dir zufielen, mit gelebt und sind darauf auch für die Zukunft angewiesen, da dein Stiefvater sowohl seines Alters als seiner Kränklichkeit wegen nicht imstande ist, noch selbst etwas zu erwerben. Papa hat nun schon mit Tankred gesprochen und ihm die Notwendigkeit vor Augen gestellt, daß eine Vereinbarung zwischen Euch und uns stattfindet. In erster Linie aber hast Du Dein Einvernehmen zu erklären, liebe Grete, und ich möchte Dir einmal sagen, wie wir uns die Dinge gedacht haben.“ „Ja, liebe Mama,“ ging's in ruhig kühlen Ton aus Gretes Munde. „Holzwerder warf in den legten Jahren unter Hederichs Verwaltung durchschnittlich sechzigtausend Mark ab. Davon ist stets ein Teil für Verbesserungen aufgewendet, der Rest ist für unsern gemeinsamen Unterhalt, Deine Erziehung und die Abwechslungen, die wir uns verschafft haben, verbraucht worden. Tankred hat — natürlich unter Vorbehalt — mit Papa von zwanzigtausend Mark gesprochen, die er Dich bitten würde, uns zu überlassen. Ihr würdet also mehr als das Doppelte behalten, wenn Ihr auf Holzwerder bleibt, da Wohnung und Lebensmittel Euch hier nichts kosten. Wenn es auch natürlich erscheint, daß diese Dinge zwischen Eltern und Kindern besprochen werden, so bleibt es doch peinlich, und ich würde Dir dankbar sein, liebe Grete, wenn du nach Rücksprache mit Tankred das Resultat Eurer Überlegungen ohne abermalige Erörterungen in einem von unserem Advokaten beglaubigten Dokument Deinem Vater übergeben wolltest. — Nun, was meinst Du?“ schloß die Frau, als Grete bei der Pause, die sie machte, nicht gleich ins Wort fiel. „Ich verstehe ja gar nichts von Geldsachen, liebe Mama. Ich habe keine Ahnung, wie viel wir für unsern Unterhalt brauchen. Ich meine aber, daß es ganz selbstverständlich ist, daß Ihr eine auskömmliche Rente bezieht, zumal Euch die Vorteile des Aufenthalts auf Holzwerder entzogen werden.“ Da diese Antwort auf der einen Seite sehr ausweichend war, der Schluß aber auf etwas hinzudeuten schien, was Frau von Treffen noch gar nicht in den Sinn gekommen war, schwieg sie für Sekunden höchst betroffen und ihre Enttäuschung malte sich deutlich in ihren Zügen. Dann aber nahm sie mit einem Anflug von anlehnender Abwehr das Wort und sagte: „Ich verstehe nicht, Kind, was willst Du mit dem letzten Satze sagen?“ „Na ja, ich meine,“ entgegnete Grete, nicht ohne Verlegenheit, „daß Ihr doch — wohl in Zukunft —“ und nun lenkte sie durch den Ton in einer Weise ein, als ob das Folgende eben doch nur den Wünschen ihrer Mutter entspräche, — „in der Stadt leben wollt!“ „Nein!“ gab die Frau kurz und entschieden und wiederum so zurück, als ob sie die Hoffnung, die sich in den Worten ihrer Tochter ausgesprochen hatte, gar nicht herausgefühlt habe. „Wir behalten unsern Wohnsitz hier. Ich denke, wir richten uns oben ein — auch darüber wollte ich mit Dir reden — und Ihr herrscht unten. Natürlich bleibt Euch das Reich, und wir bescheiden uns mit den kleineren Räumen.“ „So, so,“ meinte Grete, sich zwangsweise fügend. „Gewiß, ja, das läßt sich ja auch machen! — Ich weiß nicht, wie Tankred darüber denkt. — Und was die andere Sache betrifft, so will ich auch gleich heute mit ihm sprechen. Sei überzeugt, liebe Mama,“ schloß sie, noch mehr einlenkend, da sie dem sehr ernsten Blicke ihrer Mutter begegnete, „daß die Dinge sich so vollziehen werden, wie sie einer gerechten Behandlung in solchen Fällen entsprechen.“ „Es wird also doch nötig sein, daß wir noch einmal reden!? Das möchte ich nicht. Es wäre mir —“ hier nahm Frau von Treffen schon deshalb einen entschiedenen Anlauf, weil ihr ahnte, daß sie vielleicht alles verscherzen werde, falls sie die augenblickliche Gelegenheit nicht wahrnahm, — „doch lieb, wenn wir beide noch ein Wort über die Höhe der Rente sprächen, wenn Du, mein liebes Kind, mich dadurch, daß Du Dich jetzt äußerst, der Peinlichkeit einer abermaligen Erörterung überhöbest.“ „Nun ja, Mama,“ entgegnete Grete, die nicht minder selbstsüchtig war als Tankred, aber die Tugend der Offenheit besaß: „Ich finde es, ehrlich gesagt, etwas viel, was Ihr verlangt. Zwanzigtausend Mark entsprechen bei vier Prozent einem Kapital von fünfhunderttausend Mark. Es können ja, so viel ich davon verstehe, in der Landwirtschaft Konjunkturen eintreten, die unsere Einnahme auf wohl zwei Drittel zu reduzieren vermögen, — ja, gewiß, Hederich hat mir das früher einmal gesagt, — und dann ist das Verhältnis doch zu ungünstig. Wir müssen rechnen, was uns im ungünstigsten Falle bleibt; davon Euch ein Drittel zu überweisen, scheint mir gerecht und billig. Bitte, laß mich mit Tankred, der ja über landwirtschaftliche Verhältnisse unterrichtet ist, sprechen, auch noch einmal mit Hederich Rücksprache nehmen. Ich sage Dir dieser Tage genau, was wir können und wollen!“ Die verwöhnte Frau, die bisher allein geherrscht und über die vorhandenen Mittel mit unbeschränkter Hand verfügt hatte, biß die Lippen aufeinander. Gegen das, was Grete gesagt hatte, ließ sich nichts einwenden, es verriet zugleich aber einen so festen Willen und einen so klaren Blick in die Verhältnisse, daß die Frau von der unangenehmen Überraschung, daß sie so benachteiligt werden sollte, ganz überwältigt ward. Und doch bezwang sie sich. Gerade ihre zarte Sinnesart ließ sie schweigen neben der Erwägung, daß sie ja ohnehin machtlos war, wenn Grete erklärte, sie wolle sich an ein festes und schriftliches Abkommen überhaupt nicht binden. Nach dem Umfang ihrer Einnahme und ihres eigenen Verbrauchs wolle sie geben. Aber unter dem schmerzlichen Gefühl über den unnatürlich berechnenden Sinn ihres Kindes griff sie nach dessen Hand und sagte: „Wir waren bisher so glücklich mit einander, Grete. Laß unser gutes Einvernehmen nicht erschüttert werden durch Geldfragen, die leider in den meisten Fällen Zerwürfnisse hervorrufen. Ich bitte Dich, mein Kind, behalte mich lieb, wie ich Dich liebe, und erinnere Dich stets, daß Du einst ein hülfloses Geschöpf warst, das nirgends eine bessere Zuflucht fand als am Herzen seiner Mutter! — Nicht wahr, Grete, Du versprichst mir, daß Du zu mir und Deinem Vater halten wirst. Ach, oft sah ich schon mit Sorge in die Zukunft, und mein Sinn ward trübe. Er ist es jetzt wieder!“ Bei den legten Worten drängten sich schwere Thränen aus den Augen der Frau, und in Grete von der Linden regte sich etwas von Rührung und guten Entschlüssen zugleich. „Ich bitte Dich, Mama, weine nicht. Gab ich Dir denn Anlaß, so traurig zu sein, habe ich nicht als selbstverständlich betont, daß Euch ein sorgenfreies Alter gesichert wird? Wenn ich meiner nur einmal innewohnenden Natur folge, die weniger sorglos und leicht ist als die Deine, — verzeih die Erwähnung, — und sorgfältig vorher prüfe, so liegt doch zugleich eine größere Gewähr für Dich darin, daß ich es ernst meine und gewillt bin, was ich zusage, auch nach Kräften zu halten.“ Grete von der Lindens Worte waren ehrlich gemeint. Sie fühlte, was sie sprach, wenn sie auch selbst in diesem Augenblicke sich nicht fortreißen ließ, sondern über den Anspruch, den ihre Mutter erhob, ihre eigene Meinung festhielt. Sie nahm sich aber vor, allzeit gerecht und billig zu handeln. Freilich vergaß sie, daß in Zukunft noch jemand mitzusprechen haben werde, vergaß, daß Rost an der Seele unaufhaltsam weiter frißt, und daß kein Mensch vorher sagen kann, welchen Einfluß ein anderer auf seine Denk- und Handlungsweise gewinnen wird. * * * * * Als an diesem Tage Tankred und Grete nach Tisch sich zurückzogen und das Recht ausübten, das man den nach Alleinsein drängenden Verlobten einräumt, entwand sich Grete ziemlich rasch seinen Armen und sagte: „Bitte, laß, lieber Tankred! Ich möchte heute einmal mit Dir über die Zukunftsangelegenheiten meiner Eltern sprechen!“ Tankred horchte auf. Was Grete sagte, regte ihn sehr an, und da es sich um diese Angelegenheit handelte, überwand er den Verdruß, daß sie sich den Zärtlichkeiten entzog, nach denen sein leidenschaftlicher Sinn verlangte. Grete berichtete sodann über das zwischen ihr und ihrer Mutter gepflogene Gespräch und schloß, nachdem sie in ihrer überlegenen Weise die Dinge dargestellt hatte, mit den Worten: „Was meinst Du? Findest Du nicht, daß ich recht habe, wenn ich die Ansprüche der Eltern etwas einzuschränken wünsche?“ Tankred nickte lebhaft. Daß Grete hervorgehoben hatte, bei schlechteren Konjunkturen könnten ihm und ihr nicht dieselben Lasten auferlegt werden wie in guten Zeiten, gefiel ihm ganz außerordentlich. Hier fand sich der Punkt, an dem er für seine geheimen Absichten anknüpfen konnte. Nachdem er seine Braut mit vielen offenen und versteckten Komplimenten überschüttet hatte, erwiderte er: „Wäre es nicht überhaupt am besten, die Akte, wenn solche überhaupt nötig ist, — Mißtrauen können Deine Eltern doch nicht in uns setzen! — so zu fassen, daß wir uns verpflichten, ihnen ein Drittel der jedesmaligen Jahreserträgnisse zu überweisen, so lange beide leben, die Hälfte des Drittels aber, wenn eins von ihnen stirbt? Und wäre es nicht andererseits auch gerecht, wenn sie Dich bei dieser Gelegenheit zum Erben ihres eventuellen Nachlasses einsetzen?“ Grete bewegte den Kopf. Der erstere Vorschlag gefiel ihr, entsprechend ihrer nüchternen Veranlagung, ausnehmend. Der Zusatz, ein kleinliches Spekulieren auf eine sehr große Unwahrscheinlichkeit, mutete sie weniger an. Bis jetzt sträubte sich ihre Natur noch immer dagegen, etwas zu thun, was einen anfechtbaren Charakter trug. Sie suchte aber aus Rücksicht gegen Tankred der Sache eine leichte, mehr komische Seite abzugewinnen, und sagte lächelnd: „Da können wir ebenso gut die Forderung stellen, daß die Spatzen auf den Dächern Holzwerders nach ihrem Tode ihr Gefieder zu unserer Verfügung stellen. — Ich meine,“ fügte sie, selbst gestört durch die Ironie und den Anflug von Unzartheit in ihren Worten, hinzu: „Auf diese Erklärung können wir schon deshalb verzichten, weil nie etwas da sein wird. Meine Eltern verstehen ja gar nicht, Haus zu halten. Und schriftlich muß ich Ihnen die Zusicherung einer Rente geben, und Du mußt, um Deine Zustimmung auszudrücken, mit unterschreiben. Da Mama es so erbeten hat, mag ich es ihr nicht abschlagen.“ „Und ich muß zustimmen, Grete?“ fiel Tankred schmeichelnd ein und küßte seine Braut zärtlich. „Du willst also nicht nur Herz- und Seelengemeinschaft, sondern auch Gütergemeinschaft mit mir schließen?“ „Ja, ich mit Dir, und Du mit mir!“ „Ah — —“ stieß Tankred heraus und lächelte künstlich. Das junge Geschöpf behandelte Geldsachen, als ob sie ihr seit Kindesbeinen geläufig seien. Und sie gab wohl, wußte aber auch wieder zu nehmen. Ihre praktische Umsicht war in der That erstaunlich! Aber er ließ nichts von seinen Eindrücken merken, stimmte ihr nur, um ihre Vertrauensseligkeit zu bestärken, durch ein „Natürlich! natürlich, liebster Schatz!“ bei und triumphierte, daß ihm solche seine Macht und seinen Einfluß für die Zukunft sichernde Vergünstigung freiwillig geboten ward. Über die schriftliche Zusicherung, die Tressens gegeben werden sollte, dachte er auch schön günstiger. Wenn kein Fixum festgestellt, vielmehr die Summe von den nicht kontrollierbaren Einnahmen, die das Gut erzielte, abhängig gemacht wurde, dann waren genug Hinterthüren vorhanden, um Tressens später die Einkünfte zu schmälern. — Endlich unterlag der künftige Wohnsitz der „Alten“ noch einer Erörterung zwischen Tankred und Grete. „Ich meine allerdings, daß dies ein Punkt ist, wo Du fest bleiben mußt, Grete. Ohne Not mit den Schwiegereltern zusammenzuwohnen, heißt, täglich das Dach öffnen, um das Wetter hereinzulassen. Aber bitte, berühre diese Sache vorläufig noch gar nicht. Wir werden sagen, daß wir nach der Hochzeit eine Reise unternehmen wollen, und unsere Wünsche sprechen wir dann in sehr rücksichtsvoller, aber ebenso entschiedener Weise schriftlich aus. Mündliche Erörterungen sind peinlich, ihnen wollen wir aus dem Wege gehen. Daß sie uns jährlich einmal besuchen, kann uns natürlich nur sehr willkommen sein, aber sie oben, wir unten, das führt zu nichts Gutem. Übrigens will ich zugeben, — “ hier trug Tankred der Möglichkeit Rechnung, daß doch einmal das Gespräch über diesen Gegenstand Tressens zu Ohren kommen könnte, — „daß für ein Zusammenleben wenige Personen sich so eignen, wie Deine überaus treffliche Mutter und Dein sehr liebenswürdiger Papa.“ Grete war sichtlich völlig einverstanden. Gegen das vorgeschlagene Versteckspielen lehnte sich ihre ehrliche Natur freilich ein wenig auf, aber sie überwand ihr Schwanken leicht, weil sie die eben von Tankred hervorgehobene Peinlichkeit einer mündlichen Erörterung in Betracht zog. „Wann siedelst Du denn nun nach Falsterhof über, lieber Tankred?“ warf dann noch Grete hin. „Woran liegt's eigentlich, daß Du nicht Ernst machst? Die Gründe von früher sind doch nun hinfällig.“ Da schoß es Tankred von Brecken durch den Kopf, daß er das Ungünstige für sich günstig nützen könne, und er gab, den Tag, an welchem die Szene mit Frege stattgefunden, auf eine frühere Zeit verschiebend, diesen Vorfall als Grund für sein Fernbleiben von Falsterhof an. Grete werde verstehen, wie ungemütlich es sei, einen solchen renitenten Menschen, den er aber doch nicht fortschicken könne, um sich zu haben. Den Gegenstand, wegen dessen er ihn gezüchtigt hatte, umging er; er erwähnte nur, daß Frege sich höchst unverschämt betragen habe. Eine offene Darlegung des Sachverhalts schien ihm gefährlich; sie konnte doch Mißtrauen erwecken. Gerade das Schriftstück hatte ja Tressens Bereitwilligkeit, einer Verlobung mit Grete zuzustimmen, gefördert; letztere selbst — Tankred bezweifelte es nicht — würde ohne die Aussicht, die ihm durch dasselbe auf Falsterhof eröffnet wurde, gezögert haben, ja zu sagen. Er durchschaute sie ganz. Sie aber, seiner Kunst erliegend, traute ihm bisher nichts Schlechtes zu; sie fand ihn etwas berechnend und selbstsüchtig, aber das störte sie keineswegs, im Gegenteil, das erhöhte seinen Wert in ihren Augen. — Inzwischen hatte die Unterredung mit ihrer Tochter Frau von Tressen nicht minder beschäftigt als Tankred und Grete, ja, so wenig vorteilhaft war der Eindruck gewesen, den sie davon empfangen, und so sorgende Zweifel waren in ihr aufgestiegen, daß sie beschloß, einmal vertraulich mit Hederich über den Gegenstand zu reden. Sie glaubte, sie werde durch eine Rücksprache mit ihm Beruhigung finden. Er kannte Grete so lange und hatte sich auch ein Urteil über Tankred gebildet. Der Drang, das, was ihr Herz beschwerte, abzulösen, trieb sie; es lag in ihrer lebhaften Art, daß sie Dinge, die sie beschäftigten, nicht auf sich beruhen lassen konnte. Da sie Hederich mehrere Tage nicht gesehen hatte, wollte sie auch über Höppners etwas von ihm erfahren. Hederich war, wie das Hausgesinde ihr gesagt, in letzter Zeit sehr oft im Pastorenhause gewesen. Seine Liebe zu der Frau, der einzigen Tochter eines vordem in der Nähe ansässig gewesenen, verstorbenen Gutsbesitzers, bei dem er viel verkehrt hatte, schien keineswegs erloschen. Oder vielleicht hatte sich sein Herz besänftigt, und nur die Gewohnheit trieb ihn häufiger in die Nähe der Pastorin. Hederich bewohnte ein mit allem möglichen Krimskrams vollgepacktes, zur rechten Hand im Verwalterhause liegendes Parterrezimmer. Als Frau von Tressen bei ihm eintrat, saß er in dem sehr heißen Gemach in Hemdsärmeln und war mit der Prüfung von Gutsrechnungen beschäftigt. Bei ihrem Kommen sprang er verlegen empor, mühte sich mit großer Ungeschicklichkeit, seinen Hausrock anzuziehen, wobei er zunächst nicht in den Ärmel, sondern in das Brusttaschenloch fuhr, und räumte dann einen mit Rechnungsbüchern bepackten Stuhl ab. „Hier, hier, bitte, gnädigste Frau. Daß Sie mich auch gerade so finden. Ich bitte, drum und dran, um Entschuldigung.“ Frau von Tressen suchte ihm durch erhöhte Liebenswürdigkeit seine Verlegenheit zu nehmen, setzte sich und kam gleich auf die Sache. Sie teilte Hederich im Vertrauen mit, daß die Zukunft ihr große Sorge mache, und daß sie das Bedürfnis habe, sich gegen ihn darüber auszusprechen. „Es tritt ein neuer Abschnitt in unserem Leben ein, wir stehen nun wirklich vor dem, was ja einmal kommen mußte, und ich fühle, wie notwendig es ist, den Augenblick zu nützen.“ „Gewiß, gewiß — drum und dran, jeder ist sich selbst der nächste,“ bestätigte Hederich, ohne einen in einer abgenagten Spitze steckenden Zigarrenrest fortzulegen, und immerfort mit dem kleinen Finger über die ausgekohlte Fläche fahrend. „Ja, mein guter Hederich, aber es ist nicht leicht, weil Erörterungen über den Gegenstand peinlich sind. Es beunruhigt mich auch, daß die jungen Leute durchaus nicht zu wünschen scheinen, daß wir auf Holzwerder bleiben.“ Hederich antwortete nicht gleich, er bewegte nur die Schultern und holte seufzend Atem. ‚Ja, ja, das glaube ich wohl,‘ stand in seinem Wesen ausgedrückt. Dann aber sagte er freundlich und doch einen ehrerbietigen Ton in seine Worte legend: „Was meinen Sie, gnädige Frau, wenn ich mal mit Fräulein Grete spräche? Ich weiß, sie giebt was auf mich; ja, sie thut, was ich ihr rate. Neulich kam sie von selbst an und fragte allerlei. Sie wollte wissen, wie viel das Gut abwürfe und anderes, drum und dran.“ „Ich sehe, Sie teilen meine Besorgnisse — ich sage Besorgnisse, Hederich, denn mich von Holzwerder trennen zu sollen, ist mir ein nicht ausdenkbar schmerzlicher Gedanke. Und mit Grete reden? Hm — hm — Sagen Sie, guter Hederich, — offen zwischen uns, was halten Sie von Herrn von Brecken?“ „Dieselbe Frage richtete Grete damals auch an mich,“ bestätigte Hederich, kratzte seinen Kopf und sog, in Gedanken verloren, an der zerbissenen Zigarrenspitze. Hederich hatte mancherlei kleine üble Gewohnheiten, aber in seiner Kleidung war er stets musterhaft sauber, und auch sein Gesicht, so wenig schön es war, besaß eine trockene, gesunde, spiegelsaubere Farbe, die Anlaß gab, daß Kinder sich leicht an ihn schmiegten und ihn herzten. Überhaupt wirkte seine Erscheinung, wenn er nicht gerade das Gesicht unter dem Reflex innerer Eindrücke allzu sehr auf- und abzog, sehr sympathisch. Eine warme Empfindung durchdrang gegenwärtig auch Frau von Tressen; sie liebte den Mann, sie fühlte grade in diesem Augenblick, wie sehr ihr Herz ihm zugethan war, und seine Bewegungen, das häufige Berühren des Gesichts mit den Händen, sein Kopfkratzen und Schulterziehen gehörten einmal zu ihm. „Nun, und was erwiderten Sie, Hederich?“ fragte Frau von Tressen sehr gespannt. „Drum und dran, ich sagte, er kenne nur sich und nochmals sich, aber sonst hätte er wohl die ausgelassenen Tage im Rücken und würde sicher künftig seinen Kram zusammenhalten.“ „Sie raten mir also auch, daß ich auf sehr präzisen Abmachungen bestehe? Auf schriftliche!?“ „Na ob!“ stieß Hederich heraus. „So — so — hm — hm,“ machte Frau von Tressen. Sie war betroffen, und doch stimmte das Geäußerte mit ihren eigenen, bisher nur zurückgedrängten Gedanken überein. So sagte sie denn: „Nein, sprechen Sie einstweilen nicht mit meiner Tochter, Hederich. Es sei denn, daß sie selbst anfängt. Und bezüglich unseres Hierbleibens habe ich noch eine Idee. Ich denke, da werde ich schon das Richtige treffen und meine Wünsche zur Geltung bringen. — Um übrigens etwas anderes zu berühren, wie geht es Pastor Höppner?“ „Er kommt sich wieder! Seit gestern nachmittag ist eine Änderung eingetreten,“ erklärte Hederich. „Er mag wieder essen, und der Doktor sagt, nun wäre alles gewonnen. Der Pastor lachte gestern, — ich saß an seinem Bett, — als Fräulein, Fräulein — drum und dran — nun kann ich wahrhaftig nicht auf ihren Namen kommen, — Fräulein Carin ihn ein bischen neckte. Ist doch eine Perle von einem Frauenzimmer! Offen gesagt, das kann ich Fräulein Grete nicht verzeihen, daß sie mit ihr so umgesprungen ist.“ Bei Carins Erwähnung machte Hederich sehr eigentümliche Augen, so viel Zärtliches drückte sich in seinen Mienen aus, daß Frau von Tressen überrascht ihren Blick auf ihm ruhen ließ. Dann aber hellte es sich in ihr auf. Nicht der Pastorin galten am Ende seine vielen Besuche, sondern Carin! Auch das beschäftigte die Frau, als sie nun Abschied nahm und langsam über den vom Schnee freigelegten Weg aufs Schloß zuschritt. — Am Abend war eine kleine Gesellschaft von Gutsfreunden aus der Umgegend nach Holzwerder geladen, und sie erschienen alle, obschon am Nachmittag ein schweres Schneetreiben aufgekommen war. Um so anheimelnder wirkten die lichtdurchstrahlten, sanft und gleichmäßig erwärmten, teppichbedeckten Räume im Schloß Holzwerder, und Hederich, der sich als letzter Gast über den schneebedeckten Hof aufgemacht hatte, gab den Empfindungen aller Ausdruck, als er, beim Eintreten von Herrn von Tressen bewillkommt, ausrief: „Drum und dran! Man wird überhaupt erst wieder Mensch, wenn man hier in die Gemütlichkeit kommt!“ Bei Tisch erhob sich ein sehr lebhaftes politisches Gespräch zwischen den Herren, und später ward eine neue, die Gutsverhältnisse betreffende Regierungs-Verfügung in den Bereich der Erörterung gezogen, die auch nach Aufhebung der Tafel die Herren noch beschäftigte, als sie die Damen allein ließen und sich ins Rauchzimmer begaben. Als Grete, die sich auch eben bei den Frauen niederlassen wollte, den zurück gebliebenen Hederich bemerkte, machte sie eine auf die Gesellschaft berechnete Bewegung, als ob ihr plötzlich etwas noch notwendig zu Besorgendes einfiele, eilte ins Nebengemach und faßte des alten Freundes Arm. „Kommen Sie, ich möchte Sie etwas fragen, lieber Hederich!“ sagte sie und zog ihn in ein neben dem Zwischengemach befindliches, ebenfalls geöffnetes und erleuchtetes Kabinet. Er folgte bereitwillig, und nachdem sie ihm für die in seiner Hand befindliche, unangezündete Havannazigarre Feuer aufgedrängt und sich neben ihm niedergelassen hatte, fuhr sie fort: „Nicht wahr, Mama war heute vormittag bei Ihnen, Hederich? Was wollte sie? Sprach sie über mich?“ „Drum und dran. — Ja! Wenn Sie mich fragen, liebes Fräulein —“ „So — o, also doch!“ machte Grete langgezogen, „bitte, sagen Sie mir alles. Ich wäre Ihnen wirklich sehr, sehr dankbar, wenn Sie wir den Inhalt des Gesprächs rückhaltlos mitteilen wollten.“ „Wie kommen Sie denn mit einemmal auf so was?“ schob Hederich, sich in seiner platten Weise ausdrückend, eigentlich nur um sich zu sammeln, ein. „Haben Sie Unannehmlichkeiten mit ihr gehabt —?“ Grete schüttelte den Kopf. „Nein, durchaus nicht! Aber Mama hat in diesen Tagen die Zukunft mit mir besprochen, und ich habe dann mit meinen Verlobten geredet, und da — da — fürchte ich doch, daß sich noch allerlei Schwierigkeiten herausstellen werden. Ich möchte nun gern wissen, worauf sich bei den Eltern die Sache vorzugsweise zuspitzt. Also bitte, erzählen Sie.“ Aber Hederich that nicht gleich, was sie verlangte. Er faßte die Hand des schönen, jungen Geschöpfes, das er einst auf den Knieen gewiegt, und das die Arme so oft zärtlich um seinen Hals geschlungen hatte, und sagte: „Hören Sie, liebe Grete — liebes Fräulein Grete. Ich möchte Sie, bevor wir weiter sprechen, einmal erinnern dürfen an vergangene Zeiten. Ich bin Ihr alter Freund, — Sie werden mir deshalb das offene Wort zu gute halten — ich bin auch ein Freund Ihrer Eltern und besonders Ihrer Mama. Drum und dran, sie hat ja auch ihre Fehler. Ich sagte es schon neulich, aber sie verehre und liebe ich nun mal ganz besonders, — und da drängt es mich, zu sprechen, damit nichts, gar nichts den guten Frieden des Hauses auch in Zukunft stört. Ich meine, Sie sollten nicht zuerst an sich und Ihren Bräutigam denken, sondern zuerst an Ihre Mama, die seit Ihrer Geburt keinen andern Gedanken hatte, als den, wie sie Sie hochbringen, erziehen und glücklich machen könnte. Verdient das nicht Dank von Ihrer Seite? Kann das jemals vergessen werden? Man sieht es so oft, drum und dran, wie eine Mutter sich den Bissen am Munde abspart, um selbst ihren schon erwachsenen Söhnen und dann auch noch wieder ihren Enkeln etwas zuzuwenden — es ist ja, um das Herz weich zu machen, was solche Frauen fertig bringen! Aber die Kinder, — die Kinder!? Es ist wahr, was in der Bibel steht! Sie aber, Fräulein Grete, sollten nicht nur an sich denken. Sie sollten nicht zu denen gehören. Gewiß, Sie sind einmal nicht weichmütig, der liebe Gott hat Ihnen mehr den Verstand gegeben. Schon als kleines Mädchen sammelten Sie im Garten alles auf, die Birnen und Äpfel, und sprachen davon, daß man es brauchen könnte. Aber es giebt etwas, das Anständigkeit in der Gesinnung heißt, — drum und dran — mißverstehen Sie mich nicht, und da meine ich, in erster Linie sollten Sie Ihren Eltern hier in Holzwerder die Wohnung lassen. Sehen Sie, das ist's, was Mama das Herz so schwer macht. Sie sagt, sie könnte es nicht überleben, wenn sie hier weg sollte. Bitte, liebes Fräulein, suchen Sie da das Rechte zu finden: es ist ja immer schwer, wenn man so zusammenhockt, — gewiß, — aber bei jedem Menschen ist etwas, was er wohl anders haben möchte, und — und — ich glaube auch, Ihre Mama wird sich nicht in Ihre Sachen mischen, Ihr Papa erst gar nicht. Wenn Sie gesehen hätten, wie bedrückt sie war —“ Hederich hielt inne und beobachtete, obschon er sich ein anderes Ansehen gab, Gretes Mienen. Freilich fand er nicht ganz das darin, was er gehofft hatte. Gerade dieser Punkt war es ja, der Grete trotz der Abrede mit Tankred Sorge machte. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie aus Erfahrung nicht beurteilen konnte, welche Schwierigkeiten ein Zusammenleben haben werde. Indessen hatte Hederichs Rede doch einen weit tieferen Eindruck auf sie gemacht, als es ihm scheinen wollte. Sie drückte die hingehaltene Hand des Alten und sagte ernst, fast schwermütig: „Es ist mir oft so, als wäre mein Herz geteilt, und die beiden Hälften gehörten gar nicht zusammen. Bisweilen bin ich nur Gefühl, und alles, was ich thue, unterliegt ihm. Manchmal wieder ist's ganz anders. Nicht nur der Verstand spricht dann, sondern ich lehne mich fast boshaft auf gegen alles, was sich mir entgegenstellt. Ja, boshaft, Hederich! Ich fühle Befriedigung darin, jemandem weh zu thun. So war's mit Carin. Es brannte in mir, ihr Unangenehmes zu sagen, ich wollte mich auch von ihren stets vigilierenden Augen befreien. Und als sie fort war, sehnte ich mich zwar nicht nach ihr, ein Beweis, — daß ich sie wohl doch nicht so geliebt habe, wie ich glaubte, — aber ich schämte mich meiner Herzlosigkeit. Was wohl noch einmal aus mir wird! Ich ängstige mich bisweilen. — Ich glaube — ich glaube —“ „Nun?“ setzte Hederich, weich sprechend, an. Das Mädchen richtete sich höher empor, sah Hederich fest in die Augen und sagte, die Stimme dämpfend: „Ja, ich glaube eigentlich, daß ich hätte einen Mann haben müssen, der wie Pastor Ja-ja viel, sehr viel Herz hat, nicht mir so ganz ähnlich sieht, wie Brecken. Wenn ich allein bin, mache ich Pläne, wie ich doch den Eltern alles zuwenden will, — zwar nicht ganz so, wie sie es meinen, aber doch reichlich — und wenn ich ihn dann höre, und es zur That kommen soll, so erheben sich wieder ganz andere Stimmen in mir. Nicht wahr, Sie sagen niemandem, daß ich je so mit Ihnen sprach, Hederich! Sie aber sollen doch sehen, daß ich nicht so herzlos bin, — schlecht und berechnend nennen sie mich sogar in der Nachbarschaft; ja, ja, ich weiß wohl, wie sie über mich urteilen, — also, daß ich nicht so herzlos bin, um sich sogar des Nachdenkens über mich zu entschlagen.“ „Sie sagten eben,“ knüpfte Hederich an, und eine Hoffnung, rasch wie ein Funke, glühte plötzlich in ihm empor, „daß Sie fühlen, Sie müßten einen weicher gearteten Menschen an Ihrer Seite haben. Heißt das, drum und dran, daß Sie Ihre Wahl bereuen? O, dann handeln Sie, so lange es noch Zeit ist. Ich bitte, ich beschwöre Sie! Die Augenblicke, wo die Sinne sprechen, sind kurz, — nachher kommt eine lange, ewig lange Zeit, und wenn man dann nicht zu einander paßt, möchte man alles hingeben, um wieder los zu werden, was man zu erobern so viel Eile hatte.“ Es flog durch den Körper des Mädchens, als ob ein Schauder sie erfaßte; sie atmete tief, tief auf und starrte, die Augen senkend, auf den Fußboden. „Ach Hederich — ich weiß es nicht,“ drang's rasch und stöhnend aus ihrem Munde, und ein hülfloser Ausdruck trat in ihre Züge. Aber es war nur für Sekunden. Dann war alles wieder verwischt, sie schüttelte den Kopf, in ihren Mienen lag das alte Phlegma, und sie sagte fast geschäftsmäßig: „Das ist eben der Kampf bezüglich seiner. Aber es ist doch nicht das Richtige. Ein Mensch muß wissen, was er will!“ Zum Unglück trat, als Hederich trotz ihrer Äußerungen noch einmal anknüpfen wollte, — so viele, eindringliche, beredte Worte lagen ihm auf der Zunge, — Frau von Tressen ins Gemach, und ihre Unterhaltung ward unterbrochen. „Da bist Du, Grete. Tankred sucht Dich überall“ rief sie. Und neckend fuhr sie fort: „Er wird sicher eifersüchtig werden, wenn er erfährt, daß Du so lange mit Hederich in heimlicher Ecke geplaudert hast!“ Grete aber sagte zur höchsten Überraschung beider sehr ernst, fast finster: „Er hat wirklich auch Ursache, eifersüchtig zu sein! Ich kenne keinen besseren Mann auf der Welt, als Hederich, und ich hätte gleich ja gesagt, wenn er um mich angehalten hätte.“ Nach diesen Worten eilte sie rasch fort. Nachdem Frau von Tressen sich von ihrem Erstaunen erholt hatte, stieß Hederich, dem's blutrot über das Gesicht gelaufen war, unter Umgehung von Gretes letzten Worten heraus: „Drum und dran, gnädige Frau, sie hat doch ein gutes Herz. Aber freilich, er, — er wird's nicht ausbilden!“ Nun schritten sie beide nachdenklich, aber mit dann sich rasch wieder glättender Miene auf den Kreis der Gäste zu. — * * * * * Fast zehn Monate waren vergangen. Der Sommer war lange ins Land gezogen, und seit dem Vorerzählten hatte sich vieles verändert. Tankred von Brecken hatte Grete von der Linden heimgeführt und befand sich, während Tressens sich nach wie vor auf Holzwerder aufhielten, schon seit seiner Heirat mit ihr auf Reisen. Der Pastor erfreute sich seiner alten Gesundheit, predigte wie früher von der Kanzel, hörte die energischen Reden seiner Frau und horchte auf Lenchens süßes Geplauder, und endlich war auch Theonie, nachdem sie ihre Rückkehr Tankreds halber immer von neuem aufgeschoben hatte, nunmehr wieder auf Falsterhof eingezogen. Aber noch etwas anderes, das im Winter in der Schwebe gewesen, hatte Gestaltung gewonnen. Carin war Theonies Gesellschafterin geworden und aus dem Pastorenhause, wo man ihr so freundlich zuvorkommend Gastfreundschaft geboten hatte, nach Falsterhof übergesiedelt. Carin schien, seitdem sie neben Theonie einherging, um Jahre verjüngt. Nicht ganz so erfreulich standen die Dinge auf Holzwerder. Herrn von Tressens Gesundheitszustand war nicht der beste; es machten sich Leiden bei ihm bemerkbar, die ihn häufig auf längere Zeit ans Zimmer oder gar ans Bett fesselten. Die freie Bewegung ward ihm gehemmt. Empfang von Gästen im eigenen Hause und Besuche bei Freunden in der Nachbarschaft mußten eingeschränkt werden. Gretes Mutter fühlte zum erstenmal eine starke Vereinsamung; unheimlich drängte es sich ihr auf, daß das Alter sich nahe, daß allerlei Verzicht geboten erscheine, und statt des früheren raschen ein mehr beschauliches und auf die Pflege des Körpers gerichtetes Leben notwendig und weise sei. Aber noch etwas anderes drückte sie: Es war doch so ganz anders geworden, seitdem ihr Mann und sie die Herrschaft auf Holzwerder hatten abgeben müssen, sie waren nicht mehr der alleinige Mittelpunkt in der Wirtschaft; man fragte sie nicht wie früher, und sie trafen keine Entscheidungen. Schon durch die Beschränkung auf die ihnen oben im Schloß eingeräumten Zimmer wurden sie täglich an die eingetretene Veränderung erinnert. Die Gewohnheit, zu herrschen, zu gebieten, wirkte nach, und mit dem Verlust stieg der Reiz. Wenn Hederich über Gutsgeschäfte sprach, so war es des neuen Herrn Wille, dem er sich fügte. Hederich mußte Tankred allwöchentlich berichten und empfing Anweisungen von ihm. Das junge Paar war nur deshalb noch nicht zurückgekehrt, weil Grete neuerdings an einer fieberartigen Erkrankung, die zwar keinen ernstlichen Charakter angenommen hatte, aber doch den Aufschub der Weiterreise erforderlich machte, daniederlag. Die Briefe, welche das junge Ehepaar schrieb, atmeten nicht gerade übermäßige Wärme. Tankred machte zwar glatte Worte, aber sie erschienen auch eben nur als solche, und Grete gab sich, wie sie war: kühl und verstandesnüchtern. Über das Verhältnis zu ihrem Manne schrieb sie nichts; ob sie glücklich sei, erwähnte sie mit keiner Silbe. Ihre Berichte beschränkten sich auf Schilderungen der Länder, die sie besuchten, auf Reiseeindrücke und auf ihr Befinden. Gelegentlich blickte auch etwas von Sehnsucht nach Holzwerder durch. Ihre Heimat sei doch am schönsten, hatte sie geäußert, aber das war das einzige gewesen, was ihr Veranlassung zu einer Empfindungsäußerung gegeben hatte. Seine lange Abwesenheit begründete das junge Paar durch den Umstand, daß sie, abgesehen von Gretens Unpäßlichkeit, beide noch nie etwas von der Welt gesehen hätten; sie wollten nun die Gelegenheit nützen. Deutschland, England, Paris, die Schweiz und zuletzt Italien hatten sie auf kürzere oder längere Zeit berührt. Neuerdings verkehrte Hederich sehr viel bei den Alten, fast jeden Abend kam er, spielte Whist oder plauderte und berichtete, was ihm die Spatzen zugetragen. Er hielt mit seinem kühlen Urteil über Tankred auch jetzt nicht zurück, aber gestand zu, daß sein neuer Herr für vieles einen richtigen Blick habe und gut zu disponieren verstehe. „Er wird's auch bald allein machen, drum und dran! Weshalb noch einen Verwalter halten und bezahlen?“ hatte er schon hingeworfen und auf die Einwände der beiden Tressens hinzugefügt: „Ja, ich sagte auch bezahlen, gnädige Frau. Er ist wie das Fräulein, er sieht auf den Schilling.“ Tressens fühlten, daß Hederich recht habe; in den letzten Wochen vor der Hochzeit hatten sich allerlei kleine Dinge bemerkbar gemacht, die nur wegen mangelnder Veranlassung früher nicht zum Ausdruck gelangt waren. Ihrer Kinder Engherzigkeit hatte Tressens gestört, aber gerade sie, die es nicht verstanden, zu hüten, schätzten doch auch wieder deren Sparsamkeitssinn, wenn schon ihr Temperament sie einmal hinriß, sich dagegen aufzulehnen. Wenn die Alten allein waren, gaben sie ihren Gedanken rückhaltslos Ausdruck; Befürchtungen, die durch die Abmachungen vor der Hochzeit beseitigt zu sein schienen, machten sich leise vorahnend wieder geltend. Grete und Tankred hatten ihnen ein Drittel der Jahreserträgnisse des Gutes überwiesen und ihr Einverständnis erklärt, daß die Alten im Schloß wohnen blieben. Wenn sich später herausstellte, daß doch ein so enges Zusammenleben nicht zuträglich sei, so verpflichteten sie sich, ihnen eine Wohnung in Elsterhausen für ihre Bedürfnisse einzurichten, ohne allerdings gehalten zu sein, sie noch besonders zu bezahlen. Grete hatte ihren Eltern diese nach wiederholten Beratungen mit Tankred aufgesetzten Punkte eines Tages als ihren unabänderlichen Willen unterbreitet, ja, das Aktenstück ihnen gleich unterschrieben auf den Tisch gelegt. Der Rechtsanwalt hatte Tressens in einem privaten Schreiben geraten, anzunehmen, was ihnen geboten wurde. Es sei doch möglicherweise auch in ihrem Interesse, daß eine Trennung stattfinde, und der materielle Punkt sei nicht wohl anfechtbar, da die Überweisung eines Drittels aus den Einkünften koulant zu nennen sei. — Es war mitten im Juni, an einem das Gemüt erheiternden, sehr schönen Sommertage, als nach Tisch ein Brief von Grete eintraf, der nunmehr verkündete, daß Breckens zurückkehren würden. Zufälligerweise hatten sich Theonie und Carin, welch letztere nach wie vor von den guten Gesinnungen der beiden Tressens stete Beweise erhielt, auf Holzwerder zum Nachmittag angemeldet. Zwischen Theonie und Tressens hatte sich aus naheliegenden Gründen ein freundschaftlicher Verkehr entwickelt, und die Neigung, sich häufiger zu begegnen, war dadurch verstärkt worden, daß Hederich, der bei Theonie viel aus- und einging, ein für die Herbeiführung einer Annäherung erprobtes Mittel fleißig zur Anwendung brachte. Er berichtete beiden Gruppen das Günstige, was sie übereinander geäußert hatten. Theonie hatte es sich zum Gesetz gemacht, ein Urteil über Tankred Tressens gegenüber nicht abzugeben; sie wollte ihnen ihren guten Glauben nicht nehmen, auch lag es in ihrer Art, Kritiken über Nebenmenschen auszuweichen. Sie schien auch Carin in diesem Sinne beeinflußt zu haben. Es kam aus dem Munde Carins nie mehr ein tadelndes Wort über den inzwischen der Familie Tressen so nahegerückten Mann. „Wir wollen nun die alten Dinge ruhen lassen, Frege!“ hatte Theonie nach ihrer Rückkehr auch gegen letzteren geäußert. Sie fühlte, daß sie, wenn sie auch durch die damaligen Erregungen entschuldigt wurde, nicht recht gehandelt hatte, ihren Diener als Wächter und Berichterstatter über Tankred anzustellen. Das in ihr wohnende, Milde heischende Gerechtigkeitsgefühl kam immer wieder zum Ausdruck. Frau von Tressen hatte für die erwarteten Gäste im Garten in einer Laube den Kaffee servieren lassen und sich eben dahin begeben, als der Gutsbote Gretes Brief brachte. „Lies ihn noch rasch vor, ehe Frau Cromwell kommt,“ bat Herr von Tressen seine Frau und lehnte sich in einen der Gartenstühle zurück. Sie nickte und sagte — schon hatte sie das Schreiben zur Hälfte durchflogen —: „Wie sonderbar sie sich doch brieflich ausdrückt, und wie eigentümlich sie die Sätze formt!“ Dann begann sie: ‚Liebe Mama! Tankred meinte anders. Ich meinte aber, daß zu viel weniger sei. Er dann auch. Das ging vorher, und ich sage es, weil wir erst eben schrieben, die Reise sei noch aufgeschoben. Wann wir kommen? Wir wollen direkt reisen, aber es hält uns ein schöner Punkt, ein Wald, eine Aussicht, eine Bekanntschaft unterwegs länger; dann später. Erst, wenn wir Euch ganz nahe, melde ich den Tag bestimmt. Man freute sich damals fortzugehen. Jetzt anders. Oft kann ich es kaum erwarten, in meinem Stübchen zu sitzen. Bitte, die Blumen! Vergiß sie nicht. Wie schön, daß Papa besser ist. Das giebt ruhige Stimmung; man wünscht sie herbei, immer draußen und drinnen hell. Wer liebt es nicht? So vieles ist zu erzählen, aber zu viel läßt gar nicht reden. Man weiß nicht, wo beginnen und wo enden! Es sollte doch anders sein. Ich berichte Dir mündlich alles. Daß das Korn so schön steht, schreibt Hederich. Auch eine gute Nachricht. Ich bin ganz hergestellt, da beschäftige ich mich mehr mit Euch. Das will ich auch, und Ihr wollt es. Man soll die Funken anblasen. Wer sich immer recht verstände! Tankred ist klarer. Wenn er nicht so rasches Blut hätte, ganz zielbewußt. — Lebt der große Hahn noch? Sonderbar! Vorige Nacht hörte ich ihn immer krähen, und Hederich stand in Hemdsärmeln dabei und sagte: „Drum und dran, er ruft Sie, Fräulein Grete!“ Grüß ihn besonders! Deine Grete.‘ Als Frau von Tressen eben den Brief zu Ende gelesen, erschien Peter und meldete, daß die Damen und auch Höppners ihm auf dem Fuße folgten. „Welch angenehme Überraschung,“ stieß Frau von Tressen heraus und eilte, von ihrem Manne gefolgt, den Gästen entgegen. Höppners hatten auch Lene mitgebracht, die ihr Händchen gab und sich dann gleich einem kleinen Hausteckel, der sich unter dem Tisch verkrochen hatte und nun hervorkam, zuwandte. Während die Herrschaften gemütlich plaudernd beim Kaffee saßen, erschien auch noch Hederich, von allen lebhaft begrüßt, besonders aber von der Pastorin. „Sie wissen wohl gar nicht mehr, wo wir wohnen, lieber Hederich!“ hub sie an. „Wie lange ist's her, daß Sie nicht in Breckendorf waren! Aber ich weiß, was Sie jetzt viel mehr anzieht. Unsere Frau Theonie und gewisse andere Personen haben uns ausgestochen! Freilich, das ist begreiflich, ich muß es zugestehen!“ schloß sie mit liebenswürdiger Neckerei, halb Hederich, halb Carin mit ihren Blicken streifend. Über Carins Gesicht flog ein Lächeln. Hederich aber erging sich, da er sich getroffen fühlte, in sehr ernsthaften Gegenreden, die dann den gutmütigen Pastor zu dem Versuch veranlaßten, die Wirkung der Worte seiner Frau abzuschwächen. „Ja, ja, gewiß die Entfernung!“ bestätigte er. „Breckendorf liegt so weit, und Sie sind gerade jetzt so sehr beschäftigt. Meine Frau sagt immer alles, was ihr gerade auf die Zunge kommt. Das kennen Sie ja bei ihr!“ „Herr Hederich ist ein eifriger Schachspieler geworden,“ nahm nun auch Theonie das Wort. „Das zieht ihn nach Falsterhof. Fräulein Carin ist eine gute Lehrmeisterin —“ „Ja, drum und dran, das ist wahr, aber strenge ist sie,“ lachte Hederich. „Erst in voriger Woche gab's viel Tadel, und von einer Versetzung nach Prima war nicht die Rede.“ „Sie werden vielleicht bald besser spielen als ich, Herr Hederich!“ fiel Carin ein. Und zu den übrigen gewendet, fuhr sie fort: „Es ist auch ganz anders, als er sagt. Er hat mich schon einigemale matt gemacht! So steht die Sache!“ Das Gespräch ging jetzt auf andere Gegenstände über. Der Pastor lobte Herrn von Tressens vortreffliche Zigarren, und die Pastorin und Frau von Tressen, die Lene vom Spielen abgerufen hatte, um ihr einen Kuchen zuzustecken, waren plaudernd um die Kleine beschäftigt. „Haben Sie schon die Rosen unten im Garten gesehen, Fräulein Carin?“ fragte Hederich nun die eifrig über eine Arbeit gebückte Gesellschafterin Theonies. „Nein, Herr Hederich! Sind sie besonders schön dies Jahr?“ „Na ob!“ Es trat eine Pause ein. Früher, als Carin auf Holzwerder gewesen war, hatten Hederich ihr gegenüber die Worte nie gefehlt. Seitdem aber sein Mitgefühl erwacht war, und später die Entbehrung, Carin nicht mehr täglich zu sehen, sich in ihm geregt, auch Vergleiche sich ihm aufgedrängt hatten zwischen diesem reifen, ernsten Mädchen und anderen, hatte er all seine Unbefangenheit verloren. Und sie half ihm gar nicht. Sie saß stets da mit einem eigentümlich still lächelnden Gesicht, mit Mienen, durch die sie sich, wie er meinte, über ihn stellte. Freilich wenn sie dann die freundlichen Augen aufschlug und ihn anblickte, war der störende Zug fort. Dann mußte er an sich halten, um ihr nicht gleich um den Hals zu fallen. Einmal war in Hederich der Gedanke aufgestiegen, Carin Helge zu heiraten. Aber als sei er von einer Schlange gebissen, so war er, über sich selbst erschrocken, aufgesprungen. Er war schon über die Vierzig, und sie höchstens siebenundzwanzig. Schon dieses in seinen Augen bestehende Mißverhältnis verhinderte, dem Gedanken Folge zu geben. Und dann war sie sehr gelehrt, sprach mehrere Sprachen und hatte Kenntnis von Dingen, die er kaum dem Namen nach kannte. Sie hatte zum Beispiel jüngst Macaulays Geschichte von England gelesen. Schon der Name des Autors! Der Teufel konnte ihn aussprechen. Und dann hatte sie so feine, weiße Finger und Handgelenke und hielt sich so überaus sauber, — ihre Kleidung machte immer den Eindruck, als sei sie eben aus der Wäsche gekommen, — und endlich entstammte sie einer sehr angesehenen Familie. Ihr Großvater hatte einen Gesandtenposten bekleidet, und nur durch besonders schwere Verhältnisse war sie veranlaßt worden, ihre Heimat zu verlassen, sich für einen Beruf auszubilden und damit ihr Brot zu verdienen. Nein, nein, das konnte nie etwas werden. In der Nachbarschaft hatten schon mehrere junge Gutsbesitzer ihr Interesse für sie durchschimmern lassen, aber sie hatte ihnen nicht einmal einen Blick gegönnt. Und nun war sie gerade in dem letzten Jahre, seitdem sie von Holzwerder fortgegangen, so viel schöner geworden; alle fanden es. Ihre dunklen Augen strahlten lebhaft, während sie sich früher stets in sich selbst zurückgezogen hatten. Ihre fast zu schlanke Gestalt hatte sich gerundet. Das Gesicht war voller, ebenmäßiger geworden. Und was war dagegen er? Wenn ihn die Pastorin neckte, so geschah's eben, weil sie ihn für gänzlich ungefährlich hielt. Ihr Zartgefühl hätte ihr sonst solche Bemerkungen verboten. — Seinem Wunsche aber, Carin die Rosen zu zeigen, ward Hederich später, nachdem man noch ein allgemeines Gespräch gepflogen hatte, doch näher gerückt, als die Damen die Absicht äußerten, sich ein wenig Bewegung im Garten zu machen. Sobald sich die übrigen erhoben, legte auch Carin ihre Arbeit beiseite. „Sehen Sie hier, Fräulein Carin!“ bat nun Hederich, der sich zuerst mit Lene zu schaffen gemacht und sich dadurch von den beiden sitzenbleibenden Herren zu trennen gewußt hatte, bei einer Wegbiegung. „Wollen Sie nicht einmal die Blütenpracht in Augenschein nehmen? Drum und dran! So war's noch in keinem Jahre.“ Carin nickte unbefangen und trat, während die anderen in den Buchensteig einbogen, um auf der dort am Ausgang befindlichen Höhe einen Ausblick zu gewinnen, mit Hederich an das mit niedrigem, stark duftendem Buchsbaum eingefaßte Rondell. Nachdem Carin die Rosen bewundert hatte, sagte sie: „Ich finde, daß der Garten nicht mehr so schön gehalten wird, wie früher. Schade! Woran liegt das?“ „Drum und dran, an dem, was Sie selbst wissen. Herr von Tressen kränkelt viel und kommt nicht heraus. Und dann, dann, Fräulein Carin, es ist doch nicht der frühere Zug drin. Die Alten dürfen sich in nichts mehr mischen. Die jungen Herrschaften haben den Besitz angetreten, und nun ist natürlich das Interesse für vieles nicht in alter Weise da.“ „Ich höre, Breckens haben heute geschrieben, daß sie die Rückreise angetreten haben. Sie werden in einigen Tagen erwartet. Das führt dann auch wohl für Sie manche Änderung mit sich, Herr Hederich?“ „Drum und dran! Ja gewiß! Wissen Sie, was ich glaube, Fräulein Carin?“ Hederich sprach den Namen sehr breit, er verstand's nicht anders. „Nun, Herr Hederich?“ „Ich glaube, meine Tage sind hier überhaupt gezählt. Herr von Brecken will selbst herrschen, auch die Ausgaben verringern. Sie wollen's beide. Na, Sie kennen's ja am besten. Ich hab' mich auch schon an den Gedanken gewöhnt. Am Ende, leben kann ich, so viel habe ich! Vielleicht pachte ich mir irgendwo etwas oder kaufe mir einen kleinen Besitz. — Aber, drum und dran, — leicht wird's mir doch nicht werden — leicht schon nicht, weil — weil —“ „Weil man sich schwer von der Scholle trennt, auf der man so lange fleißig wirkte und erfolgreich thätig war,“ fiel Carin ein. „Ja, das begreife ich. Die Liebe für das hiesige Land und die Menschen waren ja neben der Frau Pastorin eifrigem Zureden auch für mich der Grund, zu bleiben. Sonst hätte ich mich wahrscheinlich nicht der Peinlichkeit ausgesetzt, wieder mit Grete in Berührung zu treten. Wie leichten Herzens hat sie mich gehen lassen!“ „Es hat sie viel beschäftigt, es hat ihr auch weh gethan, ich sagte es Ihnen schon, Fräulein Carin. Es war ja nur, weil sie über Herrn von Brecken so abfällig urteilten. Sie mußten doch, drum und dran, merken, daß sie ein Auge auf ihn hatte, da war es, — nichts für ungut, unvorsichtig und auch etwas hart von Ihnen, ihn so in Mißachtung zu bringen. Was man lieb hat, mag man sich nicht von anderen verleiden lassen. Aber passen Sie mal auf, es wird alles gut gehen, wenn sie wiederkommt. Sie wird ganz die alte sein.“ „Nein, nein, das ist vorbei. Ich will auch nicht wieder und habe nur bei Frau Cromwell die Erlaubnis erwirkt, den späteren Gesellschaften hier im Hause fern bleiben zu dürfen. Sie denken noch immer viel zu gut über die Menschen, Herr Hederich. Es ehrt Sie, es beweist, daß Sie ein goldenes Herz haben. Aber Sie werden auch noch enttäuscht werden. Ich freue mich nur, daß Sie sich die Dinge mit Herrn von Brecken schon klar gestellt haben. Kein Jahr dauert's, dann ist's vorbei. Ich rate Ihnen, zu kündigen, damit er es nicht thut.“ „Sie meinen —?“ schob Hederich ein und sah Carin erst ein wenig erschrocken und dann mit einem traurigen Blicke an, ja, obschon er sich dagegen wehrte, trat ein silberner Punkt in sein Auge. „Nun, Herr Hederich, was ist's? Habe ich Ihnen durch meine Offenheit unangenehme Empfindungen bereitet? Ah — ah — das thut mir weh!“ Und sanft begütigend schloß sie: „Ich kann mich ja irren, lieber Herr Hederich!“ „Nein, das ist's nicht,“ sagte der Mann mit einfacher Würde. „Ich wurde ein büschen weich, weil — weil — weil ich, nein, ne, ich kann's nicht sagen, Sie könnten es falsch auslegen —“ „Ich lege gewiß nichts falsch aus, Herr Hederich. Im Gegenteil! Und es beunruhigt mich, daß ich durch Beipflichtung Ihrer eigenen Voraussetzung schon früher den Abschiedskummer in Ihnen wach gerufen habe, als es nötig war. Übrigens einen Mann, wie Sie, wird man überall mit offenen Armen aufnehmen. Sie werden bald wieder an anderer Stelle Freunde finden und sich dann auch glücklich fühlen; dessen bin ich sicher, und das ist mir eine Beruhigung.“ „Wie Sie das so schön ausgedrückt haben, Fräulein Carin! Und wie viel Teilnahme Sie für mich an den Tag legen! Wenn Sie wüßten, wie nur das wohl thut, und wie ich überhaupt —“ Er brach ab, und seine Stimme zitterte. In diesem Augenblicke kam der Teckel, der sich von der anderen Gruppe getrennt hatte, herbeigelaufen, drängte sich an Hederichs Beine und sprang an Carin empor. „Drum und dran! Jetzt nicht. Mach', daß du wegkommst, Puffmann!“ rief Hederich höchst ärgerlich und verscheuchte den Hund. Aber als er sein Auge mit dem früheren, werbenden Ausdruck auf Carin richtete, sah er über ihr Angesicht ein leise spöttelndes Lächeln fliegen. Und das störte ihn so, ja, schnitt ihm so ins Herz, daß ihm das Wort erstarb, und daß er mit einem „Drum und dran! dieser Köter, oft möchte man ihm den Hals umdrehen!“ Carins Bewegung, sich zu entfernen, folgte und stumm den Weg zur Laube zurücknahm. Als sie sich dem Platze näherten, drang lebhaftes Plaudern an ihr Ohr, und dazwischen hörten sie der Frau Pastorin helle Stimme. — Vor dem Abschied bat Theonie in ihrer gewinnend liebenswürdigen Weise Tressens, an einem der kommenden Tage das Mittagessen bei ihr einnehmen zu wollen. Auch lud sie Hederich ein und nannte einige Familien der Umgegend, die sie gleichfalls aufgefordert hatte. Als bei dieser Gelegenheit erwähnt wurde, daß einer der von Theonie erwarteten, in der Nähe von Breckendorf wohnenden Gäste die Gegend verlassen und seinen kleinen Besitz, Haus, Hof, Park und Stallung, verkaufen wolle, sagte Herr von Tressen: „Das wäre so ein Gewese nach meinem Herzen, wenn ich mich jemals von Holzwerder trennen müßte. Elsterhausen in einer Viertelstunde erreichbar, und Breckendorf in nächster Nähe, die schöne Lage und das wirklich splendid eingerichtete Haus — da läßt sich leben! Wem hat's eigentlich ursprünglich gehört, Hederich?“ Aber schon nahm der Pastor zum Verdruß Hederichs, der nun einmal gern für diese Dinge der Auskunftsgeber sein mochte, das Wort und erteilte Herrn von Tressen Antwort. Auch Theonie fügte einige Worte hinzu und äußerte: „Es ruhte aber niemals Segen auf den Familien, die dort gewohnt haben. Alle kamen später in Bedrängnis. Der abgetrennte, alte Herrensitz hat ja auch nichts als einen Park, bringt also keine Einkünfte, sondern kostet nur Geld. Höchstens ein paar Hühner und eine Kuh können da gehalten werden.“ „Ja höchstens! Drum und dran, nur für reiche Leute bewohnbar,“ betätigte Hederich, um doch wenigstens seiner Ansicht auch Geltung zu verschaffen. „Wann treffen Ihre Kinder ein?“ fragte Theonie, sich zum Abschied erhebend. „Ich möchte Ihrer Tochter einige Blumen zum Willkommen senden.“ Frau von Tressen gab Antwort, und alle setzten sich nach dem Hof, auf dem der Wagen von Falsterhof bereits wartete, in Bewegung. Wenig später hatten Theonie, Carin und auch Höppners, die in einem flinken Landfuhrwerk eingetroffen waren, Holzwerder verlassen. „Wir erwarten Sie also nachher zum Whist, Hederich,“ rief noch Herr von Tressen, der unter Beihülfe seiner Frau hinkend den Weg nach dem Schloß nahm und Hederichs höflichen Gruß durch das Lüften des Hutes erwiderte. Und Hederich rief ein „Zu Befehl, Herr von Tressen“ zurück, obschon seine Gedanken in diesem Augenblicke wenig bei der Sache waren. Als er in sein wein- und epheuumschattetes Haus eintrat, murmelte er: „Sie grüßte noch einmal vom Wagen herunter. Ja, das that sie. Wenn dieser verdammte Puffmann nicht gewesen wäre, dann, — dann, — drum und dran! Ich hatte so schöne Gelegenheit, ihr ein büschen Andeutung zu geben — —“ * * * * * Breckens wurden erwartet. Am Mittag sollten sie eintreffen, und schon nahte sich der Augenblick. Frau von Tressen hatte das Schloß bekränzen lassen. Um die Fenster und Thüren waren Blumenguirlanden gesteckt, und auch Hederich hatte sich gerührt. Die Knechte und Mägde waren in ihren Sonntagskleidern bereits aufgestellt, und die Kinder der Gutsangehörigen standen mit Rosen in den Händen an der Schloßtreppe. Einem kleinen Mädchen waren einige Verse einstudiert, die sie hersagen sollte. Der Schluß der von Hederich unter vielen Nöten gedichteten Willkommsworte lautete: „Es wechselt Kälte, Sonnenschein und Regen! Der Landmann braucht's, Ihm ist's ein Segen, Wenn's auch mal kalt und naß vom Himmel strömt! Durch Eure Herzen aber möge strahlen Nur warmer, goldener Sonnenschein und malen Auf Eure Wangen Lust und Fröhlichkeit! Das wünschen alle, die hier sind vereinet, Und seht, ein jedes Auge weinet Vor Freud', daß Ihr zurückgekehret seid!“ Glücklicherweise war's ein herrlicher Tag. Alles glänzte, umflutet von der Sonne. Der Hof und der Vorgarten prangten in Ordnung und Sauberkeit, die Blumen in letzterem leuchteten in lebhaften Farben, der Himmel war klar und blau, und die am Morgen besprengten Gebüsche trugen noch silberfunkelnde Spuren des erfrischenden Bades. Auch waren die Wege neu aufgeschüttet, und von der Spitze des Daches flatterte eine Fahne in den Tressenschen Farben. Und alles vollzog sich, wie gehofft und erwartet war. Sichtlich bewegt umarmte Grete ihre Mutter und ihren Vater; nach ihnen drückte sie Hederich die Hand und reichte sie, Tankred folgend, auch den Knechten und Mädchen. Ihr Gatte, in einem flottgeschnittenen Reisekostüm, strahlte wie seine Frau in Frische und Gesundheit, und deutlich malten sich die Eindrücke in beider Zügen wieder. Bei Grete war's ein Anflug wahrer Rührung, sie verglich das wenige, was an Gemüt in ihr ruhte, mit dem, was ihr entgegengetragen ward. Ehrliche Scham und dankbare Gefühle zogen durch ihre Seele. Bei dem Manne war's dagegen die Eitelkeit und die Befriedigung, daß man ihm ohne Zwang Beweise der Verehrung entgegentrug, die er so wenig verdiente. Gesunkene Hoffnung auf altes Glück stieg auch in Frau von Tressen empor, sie glaubte, weil sie hoffte, und nicht minder fanden Herr von Tressen und Hederich ihre Voraussetzungen erfüllt. Der Tag und die kommende Woche verliefen denn auch in ungestörter Harmonie. Grete packte, ordnete und richtete unter Beihülfe ihrer Mama alles nach ihrer Bequemlichkeit ein, und Tankred ging mit Hederich über die Gutsfelder und sah mit nicht geringer Genugthuung, wie jegliches gediehen war. Nach und nach gewannen auch die Hauseinrichtungen eine feste Gestalt. Die junge Frau übernahm nunmehr die Küche, das Mittag- und Abendessen wurde in dem Speisezimmer unten serviert, und die Alten begaben sich, wenn die Glocke ertönte, herab und nahmen daran teil. Dafür war ein festes Kostgeld verabredet worden. Tressens vergüteten, gleichviel ob sie erschienen oder nicht, ihren Kindern monatlich eine bestimmte Summe. Morgens bereitete dagegen Frau von Tressen ihrem Manne selbst das Frühstück und sorgte auch in außergewöhnlichen Fällen für ihre und seine Bedürfnisse. Ein Diener wurde angenommen, der in erster Linie für Tressens da war; sie bezahlten ihn, und er beschaffte, was sie brauchten. In der Praxis sollte sich dann erst herausstellen, ob das alles so bleiben konnte, oder Änderungen eintreten mußten. Zunächst spürten beide Familien nur die Annehmlichkeiten der Einrichtungen. Am Tage, der seine Pflichten erheischte, hielt sich jeder für sich, und wenn der Abend mit seinem Ruhe- und Erholungsdrange kam, trat auch das Bedürfnis nach Geselligkeit ein. Nach wie vor wurden die Karten oder das Schachbrett hervorgeholt, man plauderte oder las vor, und die Frauen beschäftigten sich mit Handarbeit. Grete hatte offenbar den besten Willen mitgebracht, mit ihren Eltern in engstem Zusammenhange zu bleiben, und Tankred fügte sich entweder aus wirklichem Behagen oder aus Klugheit bereitwillig in die geschaffenen Verhältnisse. Jedenfalls ward das gute Einvernehmen durch nichts gestört, und nach Verlauf von einigen Wochen, als sich alles in geordnetem Gange befand, wurde nunmehr auch erörtert, wann die jungen Leute Besuche machen wollten, und wer zunächst eingeladen werden sollte. „Es geht gar nicht mehr! Wir müssen sobald wie möglich nach Falsterhof,“ erklärte Grete. „Noch haben wir nicht einmal für die Blumen gedankt, die Theonie uns gesandt hat.“ Tankred, der diesen Besuch als einen ihm sehr unbequemen absichtlich aufgeschoben hatte, stimmte jetzt bei. Einmal mußte er seiner Kousine ja doch zum erstenmal wieder gegenübertreten, und schon hatte Hederich, der inzwischen wiederholt auf Falsterhof gewesen war, erzählt, daß Theonie sich erkundigt hätte, ob ihre Blumen auch abgegeben worden seien. „Drum und dran! Sie wundert sich, daß Sie noch nicht da waren, Herr von Brecken. Da Sie mich fragen, ja, es ist so.“ Es wurde demnach beschlossen, am Sonntag nachmittag nach Falsterhof zu fahren und Theonie und Fräulein Carin zu einem Diner in der Mitte der Woche einzuladen. Letzterer gegenüberzutreten, war Grete recht peinlich. Aber da sie sich schon bei der Hochzeit wieder gesehen, und beide ein unbefangenes Wesen an den Tag gelegt hatten, überwand sie bald den Anflug ihrer unbehaglichen Stimmung. Nach eingenommenem Kaffee um vier Uhr nachmittags machten sich die Bewohner von Holzwerder in zwei Wagen auf den Weg. Hederich saß bei den Alten, die Jungen kutschierten voran; Grete, neben ihrem Manne, lenkte die Zügel. Während sie dahin fuhren, sagte Tankred: „Weißt Du, es wäre wirklich gar zu schön, wenn die beiden Besitzungen, die ursprünglich zusammengehört haben, wieder vereint würden. Es hat doch keinen Zweck, daß meine Kousine da allein auf Falsterhof wirtschaftet. Wenn sie mir ihr Versprechen früher einlöste, wäre es auch leicht zu machen. Ich würde eine Hypothek auf Falsterhof aufnehmen und ihr ihre Hälfte damit abkaufen. Denke Dir, Holzwerder und Falsterhof! Es wäre eine fürstliche Herrschaft! Wenn manches anders eingerichtet wird, die Güter rationeller bewirtschaftet werden, können sie gegen zweihunderttausend Mark abwerfen. Sei nur recht liebenswürdig gegen meine Kousine und auch gegen die Helge. Die hat großen Einfluß auf sie. Sie kann uns im Fall alles verderben.“ „Wenn nur Theonie nicht noch einmal heiratet, Tankred,“ entgegnete Grete, ihres Mannes Worte durch Neigen des Kopfes bestätigend. „Dann könnte sie am Ende an ihrer Zusage rütteln?“ „Gewiß. Und deshalb müßte man auch darauf hinzuwirken suchen, — ich denke täglich daran, — daß sie schon früher Ernst macht. Sie will nach der Vorschrift des Testaments die Sicherheit haben, daß der Besitz nicht verschleudert wird, mit anderen Worten, daß wir ihn halten, mehren und verbessern. Wenn sie die Überzeugung gewonnen hat, daß wir das thun, so wird sie nicht zögern, ihr Versprechen wahr zu machen. Man könnte vielleicht Hederich ins Vertrauen ziehen. Aber das ist auch wieder zu überlegen. Der thut nur, was er für richtig hält, und daß er auf dem Standpunkte steht, ohne seine Verwaltung könne nichts gedeihen, ist ausgemacht. Wir kamen schon gestern einmal an einander. Immer will er seinen Willen durchsetzen. Eigensinnig ist er wie ein Kutschpferd.“ „Ihr kamt an einander? Weshalb? Das hast Du mir ja gar nicht erzählt. Bitte, was war's?“ „Ich gehe stark mit der Absicht um, in größerem Maßstabe Rüben zu pflanzen und eine Zuckerfabrik anzulegen. Von diesem Plane erzählte ich ihm, und er wollte nichts davon wissen. Sie hätten alle bisher kein Geschäft gemacht, meinte er.“ „Dann ist's doch auch klug, es zu lassen.“ „Ja, so scheint es, aber die anderen haben es nicht richtig angefangen. Und das ist's ja auch nicht. Er ist nur gegen jede Neuerung, schon weil sie ihm Unbequemlichkeiten macht. Hat er sich nicht, wie Dein Papa erzählt, auch gegen die Branntweinbrennerei gesträubt? Und rentiert sie nicht ausgezeichnet?“ „Das ist etwas anderes, Tankred. Damals hatte man noch keine rechten Erfahrungen. Da sprach wohl bei ihm die Vorsicht. Aber man hört überall, daß die Zuckerfabriken vorläufig nur von Hoffnungen leben. Die Konkurrenz ist auch zu groß.“ „Nein, die Konkurrenz ist nicht zu groß, aber es ist noch ein Vorurteil bei Händlern und Konsumenten zu überwinden. Aber das wird sich geben. Der Rübenzucker stellt sich so viel billiger, daß man nach den überseeischen Produkten schon bald gar nicht mehr fragen wird. Und die bisher gebauten Fabriken sind auch zu teuer bezahlt. Das Anlagekapital war zu hoch. Inzwischen hat man bessere Maschinen erfunden, und nach einem Jahr spätestens wird die Bahn von Elsterhausen über unser Gut gehen, und in Breckendorf wird eine Station errichtet werden. Dann kann man ganz anders konkurrieren. Aber das sind alles Dinge, die in Hederichs Schädel nicht hineingehen. Eine Eisenbahn ist ihm ein Gedanke, als wollte sich Beelzebub hier in der Gegend dauernd niederlassen.“ Grete erwiderte nichts. Was ihr Mann sagte, konnte sie auf die Richtigkeit nicht prüfen. Sie nahm sich aber vor, sich alles einmal in Zahlen vorlegen zu lassen, und im übrigen wurden ihre Gedanken unterbrochen, da nunmehr Falsterhof seitwärts auftauchte. Theonie hatte auf ihrem Besitze sehr vorteilhafte Veränderungen vornehmen lassen. Die das Haus verdüsternden Bäume waren gefällt, auch nach der Gartenseite war Licht geschaffen, und das früher so finster beschattete Haus lag jetzt, durchhellt von dem Glanz der Sonne, da. Auch im Innern sah man die Thätigkeit einer neugestaltenden Hand. Der Flur hatte weiße Lackfarbe mit Goldverzierungen erhalten und machte mit den dunkelrahmigen Ölgemälden einen äußerst imponierenden Eindruck. Vom früheren Wohngemach der alten Frau von Brecken ging jetzt eine Thür ins Freie, und die Gartenanlagen waren unmittelbar bis ans Haus gerückt worden. Auf einem großen Rondell blühten edle Rosen, und mit hellgelbem Kies bestreute Wege erfreuten statt des wildstruppigen Gebüsches und des halb eingefallenen Grabens das Auge. Frege begrüßte mit gewohnter ernster, aber ehrerbietiger Miene die Gäste und führte sie in die hinteren Gemächer. „Die Damen und ein Fremder, der zum Besuch da ist, sind im Garten,“ erklärte er. „Gleich werde ich die Herrschaften melden.“ Dann eilte er davon. Mit sehr eigentümlichen Empfindungen betraten Tankred und Grete die Räume. Sie erinnerten sich jenes Nachmittags, an dem sie zusammen das Haus besehen, und jener Augenblicke, in denen Tankred zum erstenmal freier gesprochen: Grete von der Linden sein Inneres aufgeschlossen hatte. Die im Hause vorgenommenen Veränderungen wirkten befremdend auf sie ein. Der Gedanke, eigentlich schon Mitbesitzer von Falsterhof zu sein, trat weit zurück. Theonie schaltete und waltete ohne Vorfrage oder Mitteilung nach ihrem Gutdünken. Natürlich, es war ihr Recht, aber gerade weil dem so war, hob sich der Wert des Erbes und die Machtfülle der Besitzerin. Die erste Wiederbegegnung mit seiner Kousine gestaltete sich indessen weit leichter und angenehmer, als Tankred sich vorgestellt hatte. Theonie reichte ihrem Vetter mit unbefangenster Miene die Hand und umarmte Grete mit Wärme und Herzlichkeit. Schon durch die Anwesenheit so vieler Personen, namentlich auch durch die Gegenwart eines fremden Mannes wurde jede Peinlichkeit verwischt, und bald saßen die Anwesenden in dem Gartenzimmer, gemütlich plaudernd, beisammen. Der Fremde war der Eigentümer des vor Tagen erwähnten in der Nähe von Elsterhausen belegenen Besitzes Klementinenhof. Er hatte früher als Hauptmann in der Armee gestanden, war wegen eines Beinleidens gezwungen gewesen, den Dienst zu verlassen, und hatte sich, da er vermögend war, den kleinen Besitz gekauft, um hier der Ruhe zu pflegen und seinen Passionen nachzugehen. Er galt als ein besonnener, aber keineswegs pedantischer Mann, und man rühmte seine große Frische, seinen Geist und seine hohe Intelligenz. Herr von Streckwitz führte denn auch vornehmlich das Gespräch. Herr von Tressen fragte, weshalb er seinen Besitz aufgeben wolle, und er erwiderte, daß er sich bei seinem Interesse für Landwirtschaft nach einem ihm mehr Beschäftigung bietenden Gütchen umzusehen die Absicht habe. Hederich mischte sich hinein und machte Vorschläge, und Tankred, dem Streckwitz gleich beim ersten Sehen höchst unsympathisch war, riet mit vorgesteckter ehrlicher Miene, sich lieber in einer anderen Gegend anzukaufen. Er wollte einen Mann mit solchem geistigen Übergewicht nicht in seiner Nähe behalten, er wollte ihn auch von Theonie fern halten, die, wie er werkte, allem, was Streckwitz sprach, mit lebhaftestem Interesse zuhörte. „Es gefällt mir aber gerade hier ausnehmend,“ entgegnete Streckwitz. „Mein bisheriges Einsiedlerleben möchte ich zudem vertauschen, aber mir Thätigkeit und Verkehr nicht in einer großen Stadt suchen, sondern auf dem Lande. Übrigens eilt es durchaus nicht. Wenn sich mir früher oder später eine Gelegenheit zu anderer, größerer Wirksamkeit bietet, werde ich sie wahrnehmen. Zunächst habe ich die Absicht, mehr Verkehr zu suchen. Sie gestatten mir auch,“ schloß er, sich mit verbindlicher Miene gegen Tressens und Grete wendend und nach seiner Gewohnheit das rechte Auge ein wenig zusammenkneifend, „daß ich Ihnen meine Aufwartung machen darf?“ „Es wird uns außerordentlich freuen, Sie bei uns zu sehen,“ entgegnete Frau von Tressen, bevor Breckens das Wort nehmen konnten. Da sich Streckwitz in Folge dessen gegen sie und ihren Mann und nur halb gegen Breckens verneigte, biß sich Tankred, in seiner Eitelkeit verletzt, auf die Lippen. Er nahm sich vor, seine Schwiegermutter demnächst einmal deutlich zu belehren, daß ihr kein Recht mehr zustehe, eine derartige Erlaubnis zu erteilen. Er wurde indessen von seinen Gedanken durch ein Geräusch abgelenkt, da Fräulein Carin ein Knäuel Seide fallen ließ, und Hederich, sich übereifrig danach bückend, so unglücklich auf dem glatten Fußboden ausrutschte, daß er knieend vor ihr liegen blieb. Um nun doch irgendwie seinen Ärger auszulassen, nahm sich Tankred Hederich und Carin zur Zielscheibe und rief, des letzteren Redeweise nachahmend: „Bleiben Sie liegen, Hederich! Es ist — drum und dran — ein zu schöner Anblick, Sie in Ihrem jugendlichen Feuer vor Fräulein Helge hingestreckt zu sehen.“ Dazu lachte Tankred laut und mit der auffordernden Miene gegen die Anwesenden, seinem Scherz zu applaudieren, während Hederich, rot vor Beschämung, sich emporrichtete und das schmerzende Bein rieb. Doch die von Tankred erhoffte Beipflichtung blieb aus: die Gesellschaft stimmte nicht zu, stellte sich vielmehr, Grete eingeschlossen, auf Hederichs Seite. Aber Hederich gab auch selbst seinen Empfindungen Ausdruck und entgegnete auf Theonies teilnehmende Erkundigung, ob er sich sehr weh gethan habe: „Ich danke sehr für Ihre Güte, gnädige Frau, es ist schon vorüber. Ich bitte nur um Entschuldigung, daß ich in Ihrem Hause — drum und dran — eine so — lächerliche Rolle gespielt habe — —!“ Dieser auf Tankred gemünzte Satz mißfiel niemandem, und namentlich in Carins Gesicht spiegelte sich dieser Eindruck wieder. Sie streifte erst Hederich mit raschem freundlichen Blick und ließ dann ein auf Tankred berechnetes verächtliches Zucken um ihre Lippen spielen. Tankred sah es. Er wußte, was in ihr vorging, und der alte Haß gegen das ‚Frauenzimmer‘ setzte sich von neuem in ihm fest. Der Vorfall that nun aber der bisherigen unbefangenen Stimmung so sehr Abbruch, und das glatt fließende Gespräch setze sich nun so gezwungen fort, daß Theonie den Vorschlag machte, einen Gang durch den Garten zu unternehmen. Herr von Streckwitz, ein überaus stattlicher Mann mit dunklem Vollbart und ernsten, einnehmenden Zügen, schritt mit den beiden Tressens voran, ihnen folgte Tankred mit seiner Frau, die sogleich seinen Arm genommen hatte, und ein wenig später Hederich mit Carin. Sowie die letzteren aus der Hörweite der Voranschreitenden waren, sagte Carin: „Ich kann's nicht sagen, wie ich diesen Brecken hasse! Ich glaube, auf hunderttausend Meilen Umkreis giebt es keine so gemeine Seele. Und wissen Sie, Herr Hederich: ich habe seinen Gedankengang verfolgt. Es ist fast unheimlich, wie offen das Innere dieses Menschen vor mir liegt. Seine schlechte Laune entstand schon, als Herr von Streckwitz der Mittelpunkt des Gespräches ward. Dergleichen Zurücksetzungen kann er absolut nicht vertragen. Stets muß er das Wort führen und bewundert werden. Später ärgerte es ihn, daß Frau Cromwell sich so oft an den Gast wendete. Am Ende interessiert sie sich für ihn! Das paßt Brecken durchaus nicht; das durchkreuzt seine Pläne, und als Herr von Streckwitz nun gar davon sprach, sich hier in der Gegend einen größern Besitz erwerben zu wollen, kannte sein Ärger keine Grenzen mehr! Den ließ er dann an Ihnen aus, Herr Hederich! Empörend handelte er, in solcher Weise von seinem Übergewicht als Gutsherr Gebrauch zu machen. Aber eins hat mich auch wieder ausnehmend gefreut, daß Sie ihm nämlich eine solche Antwort zu teil werden ließen. Sie war vortrefflich; sie wirkte! Sie hätten den Natterblick sehen sollen, mit dem er Ihnen lohnte!“ Hederich hatte, wiederholt langsam den Kopf bewegend, zugehört. Als Carin geendigt hatte, sagte er: „Sie gehen vielleicht etwas weit — aber — drum und dran — er ist kein guter Mensch, wir wissen's alle längst. Und es ist wahr, es giebt Dinge, die kann man schwer vergessen. Man streitet sich, hat verschiedene Ansichten, sagt sich die Wahrheit, aber niemand will lächerlich gemacht werden. Das liegt einmal im Menschen darin sind wir alle gleich!“ „Und wir haben recht!“ fiel Carin ein. Und ablenkend fuhr sie fort: „Immer wieder frage ich mich, wie konnten Tressens diese Heirat zugeben, und wie konnte Grete sich in den Menschen verlieben? Sie brauchte doch wahrlich nur die Hand auszustrecken. — Ich weiß wohl, was Sie sagen wollen. Beide Teile glaubten so am besten ihren Vorteil wahrzunehmen! Aber welcher Vorteil erwächst ihnen denn aus der Heirat? Wissen Sie, Herr Hederich,“ hier senkte Carin die Stimme, „was mir Frege neulich mitgeteilt hat? Bei einer Auseinandersetzung zwischen ihm und Frau Cromwell, worin auch des Schriftstücks — Sie wissen, der Erbteilverschreibung — Erwähnung gethan sei, habe Frau Cromwell ihm den Wortlaut mitgeteilt, und er, Frege, könne darauf schwören, daß das von ihm damals abgeschriebene Dokument ganz anders — natürlich viel günstiger gelautet habe. Brecken hat also —“ hier schossen Carins Augen unheimliche Blicke — „sicher eine Fälschung begangen!“ „O nein, nein, Fräulein Carin,“ fiel Hederich erschrocken ein und sprach wieder das Wort Carin sehr breit. „Da gehen Sie doch wieder zu weit! So schlecht und so unvorsichtig ist Brecken nicht. Im Gegenteil! Er ist schlau, und er wäre es noch mehr, wenn — drum und dran — ihn sein Blut nicht oftmals fortreißen thäte.“ Und forschend schloß er: „Hat Frege Frau Theonie denn auch so etwas gesagt?“ Carin nickte. „Und was hat sie erwidert? „Sie glaubt's nicht. Frau Cromwell ist ja überhaupt eine sehr eigentümliche Frau. Sie strebt immer in erster Linie, gerecht und billig zu sein, obgleich sie, wie wenige Menschen, das Schlechte verabscheut. Einerseits dieser Grundzug ihres Wesens — denn ihre hervortretende gelegentliche Kürze und Strenge sind auch nichts anderes als ein Ergebnis ihrer wahrhaftigen Natur — und andererseits die Pietät, welche sie für alles an den Tag legt, was den Namen Brecken trägt, machen sie ungewöhnlich nachsichtig gegen ihren Vetter. Sie hofft noch immer, daß er sich ändert, und ihr gegenüber spielt er ja auch eine recht gute Komödie! — Wie geht's denn eigentlich in Holzwerder? Vertragen sich die Jungen mit den Alten?“ „Drum und dran — ja —. Es giebt wohl auch mal etwas, aber es macht sich so ziemlich —“ entgegnete Hederich. „Frau von Tressen ist vorsichtig, und Grete will Frieden, — bis jetzt wenigstens, — und das giebt den Ausschlag! Ich habe ihr damals vor der Hochzeit zugeredet. Ich glaube, daß es Eindruck auf sie gemacht hat. Von da an wurde schon manches anders; von Trennung und dergleichen war nicht mehr die Rede.“ „Ja, sie liebt Sie, Herr Hederich! Sie hängt mehr an Ihnen, als an ihrer Mutter, von ihrem Stiefvater nicht zu sprechen. In ihr ist überhaupt noch nicht alles Gute erloschen, sie kämpft, glaube ich, einen ehrlichen Kampf; er aber ist schlecht aus Prinzip, und es macht ihm Freude, gemein und boshaft zu sein, wie der heutige Vorfall wieder bewiesen hat.“ „Weshalb, Fräulein Carin,“ fiel Hederich milde ein, „hassen Sie Herrn von Brecken eigentlich so sehr? Hat er Ihnen was Unangenehmes zugefügt?“ Carin zuckte die Achseln. „Weshalb hat man eine Abneigung gegen Menschen, Herr Hederich? Mit demselben echt kann man fragen, weshalb man sich zu anderen besonders hingezogen fühlt? Ich kann überhaupt nur hassen oder lieben. Sehen Sie, in unserem Kreise sind alle Arten vertreten. Pastor Höppner kann überhaupt nicht hassen. Deshalb ist er auch kein Mann. Seine Frau ist ohne Ansehen der Persönlichkeit gütig und menschenfreundlich, aber sie unterscheidet im Gegensatz zu ihm und tritt dem Schlechten energisch entgegen. Grete vermag — ihre Person ausgenommen, die sie über alles liebt — weder zu lieben noch zu hassen! Ihr Mann liebt keine menschliche Seele auf der Welt, haßt aber jeden, der ihm irgendwie in den Weg tritt, — und — Sie — Sie, Herr Hederich —“ „Nun, Fräulein Carin? —“ forschte Hederich gespannt, und sein gutes Auge ging unruhig hin und her. „Ja, Sie sind ein Kind und ein Mann zugleich! Sie haben einen klaren Verstand, ein goldenes Herz und besitzen eine treue Seele.“ „Na — na — na! — Es ist schon zu viel Schönes, Fräulein Carin, aber — drum und dran, — daß Sie das sagen, das — das — ist mir mehr wert als — als —“ sagte er weich betonend, und seine Stimme zitterte. „Ach, Sie lieber Mensch! —“ unterbrach das Mädchen den Mann, sah ihm mit einem seelenvollen Blick ins Auge, ließ ihn aber nicht weiter sprechen, sondern eilte nun rasch auf Frau Theonie und die übrigen Gäste zu, die nach dem Rundgang durch den Garten jetzt eben wieder vor dem Hause auftauchten. Nach einem kleinen Imbiß nahm man demnächst von Holzwerder Abschied. Nur Herr von Streckwitz blieb noch den Abend da. — * * * * * Im Wohnzimmer des Pfarrhauses in Breckendorf saßen die Pastorin und Hederich einander gegenüber. Seit dem Vorerzählten waren fünf Monate verstrichen. Der Herbst war bereits ins Land gezogen, und Hederich hatte sehr viel zu erzählen und sehr viel zu hören. Zunächst war es die Frau Pastorin, die in einem starken Redestrom ihm ihr Herz ausschüttete. „Was mich am meisten beschäftigt und mich geradezu traurig gemacht hat, ist die Art und Weise, die Grete bei der Angelegenheit an den Tag legte, Hederich. Ihn kennt man ja. Er ist und bleibt ein trauriger Geselle. Aber sie! Doch nun hören Sie! Nachdem ich oben bei Tressens gewesen war, die mir sogleich fünfhundert Mark für das von mir geplante Armenhaus in Breckendorf bewilligten, ging ich hinunter und traf Ihren jungen Herrn in seinem Zimmer am Schreibtisch. Ich trug ihm vor, was mich nach Holzwerder geführt hatte, erzählte, daß mein Mann und ich von meinem Vermögen fünftausend Thaler als Grundlage für den Bau hergeben wollten, legte ihm dann auch die Liste der bisherigen Zeichner vor und bat ihn, daß er sich auch mit einem namhafteren Betrage beteiligen möge. Erst äußerte er nichts, ließ mich niedersitzen und guckte auf das Papier. Dann erwiderte er mit einem infam spöttischen Ausdruck: ‚Meine Schwiegermutter hat fünfhundert Mark gezeichnet? So — so — na ja, wer's lang hat, läßt's lang hängen! Ich kann höchstens hundert Thaler geben. Fast kein Tag geht vorüber, an dem nicht Ansprüche an mich herantreten, und wollte ich immer nach den Voraussetzungen der Antragsteller geben, müßte ich nachgerade auf Einnahmen für mich selbst verzichten.‘ — Er zählte mir denn auch eine Reihe von Vereinen auf, denen er angehöre, sprach von Erhöhung der Steuern und anderem und rief seine Frau, die inzwischen ins Zimmer getreten war, als Zeuge auf, wie beschwert sie seien. ‚Glauben Sie nur, daß es uns nicht so leicht gemacht ist, wie Sie meinen,‘ versicherte er. ‚Jeden Monat die Rente an meine Schwiegereltern, die Wirtschaft, das Haus, Anschaffungen, Neubauten, die gemacht werden müssen. Ich kann's nicht mehr gut machen!‘ Und Grete stimmte lebhaft ein, immer kam auch sie auf ihre Eltern zurück: natürlich, es müßte ja sein, aber jetzt lebten doch zwei Familien von den Einkünften von Holzwerder. Ich sage Ihnen, Hederich, es war widerlich anzuhören, und ich habe denn auch gar keinen Versuch mehr gemacht, sie zu einer größeren Gabe zu bewegen. Geizig, schmutzig geizig werden sie beide. Haben Sie mir nicht selbst erzählt, daß sich dies Jahr ungemein günstig gestellt, daß das Gut noch nie so viel abgeworfen hat?“ „Ja, es ist richtig, sie haben schöne Einnahmen, und was sie sagen von der Rente an die Eltern, die ist bei den Einkünften nicht gar so schlimm. Aber das geht jetzt in allem so! Der Thorwächterposten ist eingezogen, seine Arbeit muß jetzt der Parkwächter mit besorgen; er kriegt aber nicht mehr dafür und hatte die Wahl, nein zu sagen oder die Stelle zu verlieren. Was er, drum und dran, sonst am Tage verdiente, ist nun weggefallen. Die beiden Kutscher müssen mit im Garten helfen, und die Burschen sind entlassen. Auch im Hause haben sie nicht mehr so viele Dienstleute. Der Wirtschafterinposten ist eingegangen. Die junge Frau giebt selbst aus, verschließt alles und macht Szenen, wenn zu viel gebraucht wird. Verschiedene Lieferanten aus Elsterhausen sind schon bei mir gewesen und haben sich bitter beklagt. Wenn sie dafür nicht liefern könnten und wollten, werde sie aus Hamburg beziehen, sei ihnen gesagt. Ich sollte mit Frau Grete sprechen. Aber ich lehnte es ab. Ich will mich nicht in Sachen mischen, die mich nichts angehen. Früher durften auch die Arbeitsleute nach dem Pflücken das letzte Obst abschütteln, das ist nun ebenfalls vorbei. Holzsammeln in den Gehölzen hat er durch Anschlag verboten und den Hardesvogt bestimmt, Geldstrafen dafür anzusetzen. Und nicht einmal Vernunft ist drin. In den Knechtekammern waren zum Beispiel neue Fenster nötig, die will er nicht bewilligen, und nun schlagen Wind und Regen hinein. Aber, drum und dran, für die unsinnige Geschichte mit der Zuckerfabrik möchte er Unsummen ausgeben. Unser Land eignet sich nicht für den Rübenbau, aber er will es durchzusetzen, er will Geld machen, raffen, die Einnahmen vergrößern, das ist sein einziger Gedanke. Na, mit der Fabrik wird's hoffentlich noch seine Weile haben. Sie ist dagegen.“ „Hat sie denn etwas zu sagen, wenn er will?“ „Na ob! Sie verstehen sich immer. Alles wird gemeinsam überlegt. Neulich sagte sie, sie wollte ihr Silberzeug einschmelzen lassen und verkaufen. Neusilber thäte es auch. Sie hätte sich herausgerechnet, daß sie so viel Kapital herauskriegte, daß sie von den einmaligen Jahreszinsen sich eine neue Christofleeinrichtung anschaffen könnte. Ich muß daran denken, daß wir, drum und dran, Familienzuwachs erhalten, sagte sie —“ „So? also damit hat sie Grund, sich zu beschäftigen? Das wußte ich noch gar nicht. Wie steht es auf Falsterhof? Ist es wahr, daß Herr von Streckwitz dort fast täglicher Gast ist? Frau Theonie leugnete es neulich, sie wurde aber sehr rot dabei. Ich glaube, die Verlobungsanzeige wird nicht lange auf sich warten lassen.“ „Meinen Sie wirklich?“ fragte Hederich erstaunt. Er gehörte zu den Menschen, die weniger selbst sehen, als sich aufmerksam machen lassen, aber, einmal rege gemacht, aus Neugierde mehr beobachten als andere. Da Carin, vielleicht aus Diskretion, die Möglichkeit eines tieferen Interesses Theonies für Streckwitz nicht wieder berührt hatte, war auch Hederich nichts aufgefallen. „So, lieber Hederich! Nun darf ich Sie aber fortjagen; wir haben heute Wäsche, und ich muß selbst noch mit anfassen. Heute abend ist Nähschule bei mir, die erwachsenen Kinder aus dem Dorfe. Ich habe viel um die Ohren. — Darf ich Ihnen rasch noch etwas bringen? Einen Schnaps? Warten Sie — herrliche Wurst hat mir Klaus gebracht. Die müssen Sie probieren.“ — Und während er, nachdem sie rasch den Branntwein und die Speisen herbeischafft, aß, stand sie — sich zu setzen hatte sie keine Zeit — vor ihm und erzählte noch von allerlei traurigen Ereignissen im Dorfe, von Not und Krankheit, der sie abzuhelfen bemüht gewesen, und zuletzt auch noch eine lange Geschichte von Lene. Sie sei mit ihrem Vater in Elsterhausen und jetzt recht niedlich. „Ja niedlich, niedlich,“ betätigte Hederich, während er das Leberwurstbutterbrod in den Mund schob, etwas zerstreut. Die Geschichten von Lenchen erregten wohl sonst sein Interesse, aber heute ging er ihnen lieber aus dem Wege. Als er schon in seinem Einspänner saß, sah er noch, daß Frau Höppner mit einer alten Bauerfrau sprach, die vor der Thür stand und weinend ihren Kummer erzählte. Die Pastorin aber trocknete der Alten mit ihrem Schnupftuch die Thränen von den Wangen, und trostreiche Worte gingen über ihre Lippen: „Na ja, kommen Sie nur erst mal herein und nehmen was Warmes, gute Alte. Dann wollen wir weiter sprechen,“ hörte er sie noch sagen, und „Drum und dran, brave Frau!“ ging's über Hederichs Lippen, während er mit einem Hü die Zügel ergriff und das Pferd antrieb. Als er zu Hause sein Wohnzimmer betrat und Licht machte, fand er auf seinem Schreibtisch einen Brief, der Frau von Tressens Handschrift trug. Mit nicht geringer Spannung ergriff er das Schreiben, öffnete und las: (Privat) ‚Lieber Hederich! Wir haben heute abend bei Breckens, die eine Gesellschaft zu sich geladen, abgesagt. Weder mein Mann noch ich sind in der Stimmung, daran teil zu nehmen. Ich muß Sie notwendig sprechen. Bitte, kommen Sie zur Theezeit, wenn Sie nicht versagt sind, und gehen Sie hinten die Treppen hinauf. S. von Tressen.‘ Noch unter dem Eindruck des Gespräches, das er am Nachmittag mit der Pastorin gehabt hatte, regten die Zeilen Hederich außerordentlich auf. Sicher war etwas sehr Bedeutsames vorgekommen. Er konnte es nicht erwarten, daß sich der Zeiger der Uhr auf acht schob, und begab sich dann, einen versteckten Umweg nehmend, durch die Hinterthür des Souterrains ins Haus. Aber als er eben die Treppe hinaufeilen wollte, trat ihm Tankred mit einigen bestaubten Flaschen Wein, die er selbst aus dem Keller geholt hatte, entgegen und sagte, seinen Verwalter erblickend, sehr erstaunt: „Sie hier? Ich denke, Sie sind nach Elsterhausen gefahren? Schon zurück? Was wünschen Sie? Suchen Sie etwas?“ „Drum und dran, ich wollte oben ein Packet Handschuhe abgeben, die ich für Frau von Tressen mitgebracht habe,“ entgegnete Hederich, sich schnell fassend. „Ich vermutete die Herrschaften unten bei Ihnen und wollte vorn wegen der Gesellschaft nicht stören. Guten Abend, Herr von Brecken! Viel Vergnügen! —“ Aber Tankred ließ sich so nicht abfertigen. Wenn Hederich nach oben ging, fand er Tressens; ohne Zweifel würden Sie ihn auffordern, zum Thee zu bleiben, und gewisse, am Nachmittag stattgehabte Dinge würden zur Sprache kommen. Das paßte ihm nicht. So setzte er denn die Weinflaschen nieder und sagte: „Was wollen Sie sich die Treppe hinaufbemühen, Hederich. Geben Sie das Packet nur her. Ich werde es meiner Schwiegermutter einhändigen.“ Die Situation war höchst peinlich. Wenn Hederich erklärte, daß er gar kein Packet habe, stand er als Lügner da, und ablehnen konnte er füglich Tankreds Anerbieten auch nicht. Da aber zu viel auf dem Spiel stand, nicht nur für ihn, sondern auch für Tressens, nahm er seine ganze Unerschrockenheit zusammen und sagte, indem er nach einer Bewegung, die seine Bereitwilligkeit ausdrückte, Tankreds Wunsch zu willfahren, erschrocken in die hintere Tasche seines Rockes griff: „Na, das ist aber noch besser! Drum und dran, nun habe ich das Packet in meinem Zimmer liegen lassen. Na bitte, Herr von Brecken, dann bestellen Sie gütigst, daß ich der gnädigen Frau morgen das Gewünschte überreichen würde. Und nun erlauben Sie, daß ich mich empfehle. Ich halte Sie auf! Ihre Gäste werden schon da sein. Nochmals, viel Vergnügen.“ Nach diesen Worten zog er sich überhastig zurück und verwischte dadurch wieder den ihm bisher so gut gelungenen Eindruck. Während Tankred die zwei Flaschen Aßmannshäuser wieder ergriff, murmelte er: „Da ist was nicht richtig! Er wollte hinauf. Sie hatte ihn bestellt. Aber ich will der Sache schon auf die Spur kommen!“ Dann eilte er mit hämischem Ausdruck in den Mienen die Treppe hinauf, und oben schalt er Peter, den Diener, daß er ganz unnötig so viele Lichter angesteckt habe: „Immer wird darauf losgewirtschaftet. Ich sagte Ihnen doch, nur die kleine Flur- und Treppenlampe, nicht die Wandlichter anzuzünden.“ „So, dann habe ich den gnädigen Herrn nicht recht verstanden. Bei den Herrschaften mußte ich immer alles anstecken.“ „Ja, ja, die Herrschaften,“ entgegnete Tankred, in unzarter Weise seine Schwiegereltern preisgebend, „die hatten's wegzuwerfen! Also, vorwärts, löschen Sie die Lichter aus, und dann stellen Sie die Flaschen, ohne sie zu reinigen, — hören Sie? ohne sie zu reinigen, — ins Anrichtezimmer!“ Inzwischen wanderte Hederich, sehr benommen von der Begegnung, in seine Wohnung zurück. Er fand keinen Weg, Tressens über die Gründe seines Nichterscheinens zu verständigen, noch weniger hielt er es für möglich — und wenn doch etwa für möglich, nicht für rathsam, an diesem Abend noch einen zweiten Versuch zu machen, zu ihnen zu gelangen. Wenigstens wollte er das vorher noch überlegen. Auch wenn er einen der Knechte mit einem Briefe die Hintertreppe hinaufsandte, konnte abermals der Zufall sein Spiel treiben. Überhaupt war er gegen jede schriftliche Äußerung. Es beschäftigte ihn zu alledem, daß er zu einer Lüge seine Zuflucht genommen hatte. Seit seinen Jünglingsjahren war mit Bewußtsein kein unwahres Wort über seine Lippen gekommen. Aber das war die Folge solcher Verhältnisse. Immer ungemütlicher wurde es in Holzwerder, und Hederich sah noch weit Schlimmeres herannahen. Während er, so nachdenkend, dasaß und aus der Pfeife die Rauchwolken herausblies, — fast ein Stündchen mochte vergangen sein, — hörte er auf dem kleinen Hausflur die Klingel gehen, und gleich darauf vernahm er Peter, den Diener, und seine Haushälterin Worte wechseln. „Na, was giebt's?“ rief Hederich die Thür öffnend. „Haben Sie eine Bestellung an mich, Peter?“ Der Diener nickte verlegen, dann trat er näher. „Von Herrn von Brecken soll ich bestellen, die gnädige Frau von oben ließe um das Packet Handschuhe bitten, und die gnädige Frau von oben — sie faßte mich ab, als ich gerade weggehen wollte — läßt fragen, ob Sie noch kommen thäten, Herr Verwalter. Sie haben mir beide gesagt, ich soll nichts sagen — ich meine, ich soll nichts an die oben und nichts an die unten von meiner Bestellung an Sie erzählen!“ „Ja, lassen Sie das auch man so bleiben, Peter, auch mit dem, was ich Ihnen auftrage, hören Sie? An Herrn von Brecken können Sie ausrichten, ich hätte die Handschuhe wohl unterwegs verloren. Ich könnte sie in meinem Zimmer nicht finden. Weiter nichts. An Frau von Tressen sagen Sie blos: Ich würde ihr morgen erzählen, weshalb ich nicht gekommen wäre, es sei denn, daß sie so gut sein wollte, sich — drum und dran — heute abend noch eine Viertelstunde nach dem Verwalterhause herzubemühen. Es wäre sehr gut, wenn sie es thäte. Sie ist doch noch oben und nicht bei der Gesellschaft?“ Peter verneinte. „Na ja, drum und dran, wie ich mir dachte. Alles Fisematenten,“ murmelte Hederich. Und laut: „Nun, haben Sie verstanden, Peter? Die Handschuhe seien verloren, wie sich herausgestellt habe, bestellen Sie unten. Unten, Peter! Verwechseln Sie ja nicht. Das andere oben!“ „Ja, Herr Verwalter, soll alles fein gemacht werden. Versteh' schon. Ach — ach es ist —“ seufzte der Mann. „Was ist?“ Der Diener bewegte mißmutig den Kopf. „Nichts für ungut, Herr Verwalter, ich will kündigen. Keine Stunde hat man mehr Ruhe. Nichts ist recht zu machen. Immer soll gespart werden, und alles, was früher gut war, ist nu schlecht. Und dann, was die Herrschaften oben sind und die unten, das hat auch keinen Bestand. Heute nachmittag waren sie schrecklich an einander. Ich hörte es, wie ich das Silberzeug putzte.“ Hederich sagte anfangs nichts. Was er vernahm, beschäftigte ihn sehr. Dann aber machte er eine ablehnende Kopfbewegung. „Diener müssen nicht aus dem Haus schwatzen, Peter. Und überall ist etwas. Wird sich schon wieder zurechtziehen. Na, gehen Sie, guter Peter, und mit dem Kündigen überlegen Sie sich es noch. Aber wenn's denn doch nicht will, dann wissen Sie, — drum und dran, — wo Hederich zu sprechen ist.“ „Ja, ja, deswegen hab' ich auch man blos Herrn Verwalter was gesagt. Herr Verwalter wissen, daß ich nichts herumtrage, und wieviel ich von den alten Herrschaften halte. Aber es ist nicht mehr mit den Jungen auszukommen. Er hat den Teufel im Leibe, und sie — sie ist ganz anders geworden.“ „Ja, wie gesagt, Peter — es wird schon wieder besser werden. Thun Sie Ihre Pflicht, — drum und dran, — für das andere lassen Sie den lieben Herrgott sorgen. Und nun sputen Sie sich, daß Sie wieder hinkommen.“ — Kaum zehn Minuten nach Peters Fortgang öffnete sich die Thür der Verwalterwohnung von neuem, und Frau von Tressen, in einen dunkeln Mantel gehüllt, trat zu Hederich ins Gemach. Sie war sehr aufgeregt und drang sogleich auf den Verwalter ein, ihr mitzuteilen, was ihn von seinem Besuche abgehalten habe. „Um so besser, daß wir uns noch heute abend sprechen!“ erklärte sie nach seinem durch viele drum und dran unterbrochenen Bericht. Und die Stimme dämpfend, fuhr sie fort: „Hören Sie denn, was heute nachmittag passiert ist. Ich habe mit Grete und Brecken eine sehr böse Szene gehabt. Und alles hat sich eigentlich entwickelt infolge einer ganz harmlosen Bemerkung von meiner Seite. Als wir beim Kaffee zusammensaßen, fehlte der Zucker auf dem Tisch. Während meine Tochter sich an das geschlossene Büffet begab, um ihn herbeizuholen, sagte ich: ‚Ist es denn notwendig, daß Du sogar den Zucker verschließest, Kind? Ihr seid doch nicht von Dieben umgeben —‘ ‚Sogar? Was meinst Du damit?‘ entgegnete Grete, sich kurz umwendend, in einem sehr schroffen Ton. Da sie sich offenbar in einer gereizten Stimmung befand, lenkte ich sogleich ein und fragte nach dem Abend und nach den Gästen. Aber sie antwortete nicht, sie machte nur eine kurze, bejahende Bewegung. In diesem Augenblick trat die Hausmamsell Anna herein und bat meine Tochter, ihr die für den Abend nötigen Zuthaten auszugeben. ‚Wie, Du wagst es?‘ rief Grete, gegen die Person auftrotzend. ‚Habe ich Dir nicht heute vormittag alles zugeteilt?‘ Und als die Mamsell das in sehr entschiedener Weise in Abrede stellte und auf eine abermalige höchst provozierende Äußerung Gretes neben anderen Erklärungen in die erregten Worte ausbrach, es fehle nachgerade noch, daß sie in der Küche blos mit Luft und Wasser kochen solle, geriet meine Tochter in einen solchen Zorn, daß sie aufsprang und dem Mädchen einen Schlag versetzte. Aber damit nicht genug. Mein Schwiegersohn, dem ich schon angesehen, daß er sich über meine Äußerung von vorhin geärgert hatte, und dessen Stimmung durch diesen Vorfall nicht besser geworden war, packte Anna am Arm und stieß sie in rohester Weise zur Thür hinaus. Draußen befahl er der Mißhandelten, — ich hörte es, — sofort ihre Sachen zu packen und innerhalb einer Viertelstunde das Haus zu verlassen. Was aus ihr werde, sei ihm gleichgültig, und Lohn bezahle er nicht. Wolle sie etwas, so könne sie klagen. Zu meinem Unglück nahm ich nach seiner Rückkehr gerechter Weise Partei für das Mädchen. Ich hielt beiden in sanfter Weise vor, daß sie durch die wenig gütige Art, in der sie mit den Leuten verkehrten, durch ihr fortwährendes Verschließen und Beaufsichtigen sie zum Widerstand anregten, statt Liebe und Interesse für sich zu erwecken, und schloß mit der Bemerkung, daß ich doch stets mit meinem Personal ausgekommen sei, während jetzt fast kein Tag ohne Verdruß hingehe. Auf die Äußerung gab zunächst meine Tochter eine Antwort, indem sie in einem zwar ruhigen, aber sehr entschiedenen Tone hinwarf: Ich hätte doch das feste Versprechen gegeben, mich niemals in ihre Hausangelegenheiten zu mischen. Ich thue es aber täglich. Bald moniere ich, daß der Korridor unten von dem Diener nicht rein gefegt sei, bald mache ich Bemerkungen über ihre Anordnungen. So habe ich mich jüngst über die Wäsche geäußert. Wenn zufällig mal Zucker auf dem Tische fehle, halte ich ihr eine Strafpredigt über ihre Sparsamkeit, und daß ich in diesem Falle Partei für das impertinente Geschöpf genommen habe, das sie fortwährend bestohlen und heute abermals einen Versuch gemacht habe, auf diese plumpe und unglaublich unverschämte Weise sich einen Vorteil zu verschaffen, sei doch mehr als eigentümlich von meiner Seite! Sie habe Beweise dafür, daß Anna sie bestohlen habe, und die Zuthaten seien heute morgen von ihr ausgegeben. Mit dem größten Erstaunen hörte ich, was meine Tochter sprach. Ich war ganz ahnungslos. Wohl hatte sie hin und wieder bei meinen Bemerkungen und Vorschlägen sehr kurze Antworten gegeben, aber ich legte ihnen keine Bedeutung bei, da ein gewisses schroffes Wesen ihr ja schon als Kind eigen war. Was ich that, geschah aus bester Absicht, und es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, daß sie die Dinge so ernsthaft nehmen, viel weniger, daß sie mich fortwährender Einmischungen in ihre Angelegenheiten zeihen würde. Ich sah aus ihrer Rede, daß lange aufgestauter Groll einen Ausweg suchte, und ich sah auch, daß ihr Mann ihr vollständig beistimmte. Scheinbar um an meinen Gerechtigkeitssinn zu appellieren, thatsächlich aber um mich noch mehr zu kränken, kam auch er mit allen möglichen Dingen, die ja, wie er sich heuchlerisch ausdrückte, an sich nur Kleinigkeiten seien, aber doch zu einem leisen Verdruß schon mehrfach Veranlassung gegeben hätten. Wir hätten jüngst die Pferde ohne vorherige Anfrage bei ihm oder Grete in Anspruch genommen, während sie hätten ausfahren wollen; Peter sei mehr oben, als unten, während wir doch unsern eigenen Diener hätten. Der letztere habe neulich durch Umstoßen des Tintenfasses den ganzen Fußboden verdorben, und mein Mann hätte ihn sogar noch wegen seiner Ungeschicklichkeit getröstet. Und was den Fall mit dem Mädchen betreffe, so sei er zufällig dabei gewesen, wie Grete für den Abendpudding und die Kuchen die Zuthaten abgewogen habe. ‚Ja, abgewogen vielleicht, Tankred,‘ fügte ich, mich bemeisternd und alles übrige übergehend, ein, ‚aber Anna sagte, Deine Frau habe, da sie während ihrer Beschäftigung gerade vom Förster abgerufen worden, nachher vergessen, ihr Mehl, Zucker und Eier in die Küche zu stellen. Es ist doch möglich, daß Grete sich irrt: es ist doch kaum zu glauben, daß ein Mädchen ihrer Herrschaft unbegründeterweise mit solchen Behauptungen gegenübertritt. Und ich habe nie früher eine Unehrlichkeit an Anna bemerkt,‘ schloß ich. Da lachte mein Schwiegersohn mit einer so höhnischen Miene auf und erging sich in so verletzenden Anspielungen über unsere Verschwendung und unsere leichtsinnige Sorglosigkeit, daß ich, nicht mehr Herr meiner Empörung, meiner Tochter zurief, ob das auch ihre Ansicht sei. Und da sie zwar nicht ja, aber auch nicht nein sagte, wohl aber mit dem alten, finstern, trotzigen Gesichtsausdruck dastand, entglitt mir ein Wort, auf welches sie beide unzweifelhaft nur gewartet hatten. Ich sagte, es sei unter solchen Verhältnissen dann wohl besser, daß ich mit meinem Manne Holzwerder verließe! Danach stand ich auf und begab mich auf mein Zimmer. Nach einer Stunde sandte ich hinab und ließ sagen, daß wir nicht in der Stimmung seien, an der Gesellschaft teilzunehmen. Ich nahm an, daß Grete nun heraufkommen und ein gutes Wort geben werde. Aber nichts davon, bis jetzt hat keines von ihnen sich sehen lassen. Sehen Sie, Hederich, sie _wollen_ einen Anlaß, um die ihnen lästigen Menschen, ihre Eltern, aus dem Hause zu bringen.“ Bei diesem Schlußsatz brachen der Frau die Thränen stromweise aus den Augen, und so bitter schluchzte sie in ihrem Schmerz und Kummer, daß dem braven Hederich auch das Wasser unter die Wimpern trat. So war's denn nun da, was Carin schon oft und erst jüngst wieder als bevorstehend prophezeit hatte: Ein böses Ende werde es nehmen in nicht allzulanger Zeit zwischen denen oben und denen unten! Und nun würde auch bald sein, Hederichs, Schicksal sich entscheiden, denn er war entschlossen, mit seiner Meinung nicht zurückzuhalten. Ja, er wollte mit Grete sprechen; sie sollte hören, was er dachte! Und Tressens noch zuzureden, war gegen seine innerste Überzeugung. Er glaube selbst, es sei wohl das beste, äußerte er, daß sie sich in Elsterhausen einrichteten oder sich etwa Streckwitz's Besitz pachteten. Sicher würden sich solche Auftritte wiederholen, und ihnen aus dem Wege zu gehen, sei nur ratsam; jetzt sei noch Geneigtheit zur Versöhnung auf beiden Seiten vorhanden, später aber könne sich ein unheilvoller Bruch daraus entwickeln. „Drum und dran, es ist nun einmal so. Sich keinen Illusionen hinzugeben, ist immer weise, wenn's auch hart, betrübend und schwer ist, sich auf den Boden der Thatsachen zu stellen.“ „Ja, so meine ich auch, Hederich, und doch, wenn ich denke, daß wir wie Überzählige aus dem Hause gehen, daß wir unser geliebtes Holzwerder verlassen sollen, dann ist's mir, als überfiele mich eine unheilbare Krankheit. Sie ahnen nicht, wie mein Gemüt beschwert ist. Seit heute nachmittag pocht mir das Herz vor Aufregung. Das, das ist das Ende!“ stieß sie, in grenzenloser Schwermut vor sich hinstarrend, heraus. „Ja, ja, Geld! Geld! Wir sollten nur das Vermögen haben, die Kinder sollten nur von uns abhängig sein! Wie ganz anders würde es dann aussehen!“ Sie weinte wieder, des Lebens Jammer erfaßte sie mit ganzer Gewalt, sie war betrübt zum Sterben, aber jetzt nicht aus der Vorstellung, Holzwerder verlassen zu sollen, sondern aus dem Schmerz enttäuschter Mutterliebe. Es war richtig. Ihre Tochter kannte nur sich! Der göttliche Funke warmer Liebe war in Gretes Herz nie zur Flamme geworden, und jetzt drohte selbst der Funke zu verlöschen. — * * * * * Als am kommenden Tage Tankred nach Erledigung seiner Vormittagsgeschäfte mit seiner Frau beim zweiten Frühstück saß, erkundigte er sich, ob die oben etwas von sich hätten hören lassen. „Nein! Sie werden auch nicht zu Tisch kommen, wenn ich nicht hinaufgehe. Ich kenne Mama —“ entgegnete Grete. „Und Du willst hinaufgehen?“ „Nein, aber ich habe mir gedacht, daß ich, wenn sie heut mittag auf das Klingelzeichen nicht erscheinen, Peter nach oben schicke und fragen lasse, ob die Herrschaften nicht zu Tisch kommen wollen.“ „Und wenn sie nicht kommen?“ „Dann werde ich wohl hinaufgehen und gute Worte geben müssen. Ich habe ja nur erreichen wollen, daß Mama sich nicht ferner in meine Angelegenheiten mischt. Jetzt wird alles — verlasse Dich darauf — eine längere Weile nach Wunsch gehen.“ Bei den letzten Worten glitt ein Lächeln über Gretes Gesicht. Es belehrte Tankred, daß seine Frau den gestern stattgefundenen Zwist nicht so ernst genommen hatte, wie er selbst, und das enttäuschte ihn zunächst. Aber da er es sich zum Gesetz gemacht hatte, vor allen Dingen mit ihr zusammen zu halten, niemals ohne ihre Zustimmung etwas Wichtiges zu unternehmen und sich ihre Ansichten nach Möglichkeit anzueignen, so nahm auch er einen leichten Ton an und sagte: „Du hast recht. Fassen wir die Sache von gestern nicht anders auf, als ein die Luft reinigendes Gewitter. Und so wie Du es Dir ausgedacht, ist es auch gut. Wir schicken, wenn sie nicht kommen, hinauf, als sei nichts passiert, und begegnen ihnen mit alter Unbefangenheit. Übrigens hast Du gehört? Sie haben sich ja mal wieder einen Teppich aus Hamburg kommen lassen. Ich sah's heut morgen auf dem Frachtbrief, als das Packet gebracht ward. Ist doch wirklich ein Wahnsinn, nun wieder für eine ganz überflüssige Sache so viel Geld auszugeben!“ „Papa behauptet, es sei in seinem Zimmer so fußkalt, daß er es nicht aushalten könne,“ schaltete Grete ein. Sie gab diesmal kein Urteil ab, war überhaupt zurückhaltender über „die oben“ als gestern. „Ja eben, er hat jeden Tag ein neues Bedürfnis. Hypochondrische Leute, die nichts zu thun haben, kommen auf tausend überflüssige Geschichten. Da fällt mir ein: es scheint ja wahrhaftig etwas zwischen Streckwitz und Theonie zu werden. Frau von Bülow behauptete, sie seien sogar schon verlobt. Wir müssen Hederich fragen. Übrigens möchte ich wohl wissen, ob der gestern noch bei ihnen oben gewesen ist. Die Sache ist klar. Er wollte keine Handschuhe abgeben, sondern sie wollten nur zusammen hocken, um über uns zu Gericht zu sitzen. Und das ist doch kein richtiges Verhältnis, Grete. Sie intriguieren fortwährend gegen uns, und der alte Schwäger trägt die Neuigkeiten von Haus zu Haus, nach Breckendorf, nach Falsterhof und nach Elsterhausen. Insofern wäre es allerdings, um einmal den Fall ernstlich ins Auge zu fassen, gar nicht vom Übel, wenn die Eltern fort zögen. Streckwitz's Besitz könnten sie ja pachten. Papa scheint sehr davon eingenommen zu sein.“ Tankred hatte bei den letzten Sätzen, die ihm durch die Gelegenheit aufgedrängt waren, Grete genau beobachtet. Er wollte wenigstens wieder ein Samenkorn legen. Nicht nur im Zorn sollte sie den Gedanken einer Trennung von den Eltern fassen, sondern sich nach und nach daran gewöhnen. Daß sie ernsthaft den Fall noch gar nicht ins Auge gefaßt hatte, ergab sich jetzt. „Mama würde, glaube ich, sterben, wenn sie von Holzwerder fort müßte, Tankred. Ich muß gestehen, daß auch ich ihre Anwesenheit sehr entbehren würde. Du lieber Himmel! Man zankt sich einmal! Wo kommt nicht so etwas vor! Aber eine wirkliche Trennung? Nein, ich meine, den Gedanken wollen wir vorläufig wenigstens gar nicht fassen. Und dann — und dann —“ die Frau errötete leicht — „wenn ich demnächst in der Krankenstube liege, würde ich ihre Abwesenheit doppelt empfinden —“ Das letztere leuchtete Tankred ein. Die Krankenwärterin beim Wochenbett fortsenden, hieß nicht weise handeln. Ja, Grete dachte immer noch weiter als er! Sie war außerordentlich umsichtig und behielt stets ihren Vorteil im Auge! Während dem Manne solche Gedanken über seine Frau aufstiegen, ward geklopft, und Peter erschien, um eine Meldung zu machen. Das Gespräch ward dadurch unterbrochen, und jeder ging seinen Geschäften nach. Am Mittag desselben Tages fuhr Herr von Streckwitz auf Falsterhof vor. Er hatte bei seinem letzten Besuch mit Theonie von einer kleinen in seinem Besitz befindlichen Marmorgruppe, Venus und Amor, gesprochen, und als sie ihr lebhaftes Interesse daran ausgedrückt, um die Erlaubnis gebeten, sie ihr verehren zu dürfen. Er suche, wie er bei der Überreichung hervorhob, nach einem Anlaß, sich ein wenig für die vielen Liebenswürdigkeiten erkenntlich zu zeigen, die er auf Falsterhof empfangen habe. Sie möge ihm die Bitte nicht abschlagen, ihr die Gruppe überreichen zu dürfen. Nach verlegenem Dank und nach weiterem Wortaustausch sagte Theonie, die sich mit Streckwitz im Gartenzimmer niedergelassen: „Es bleibt also wirklich bei Ihrer Absicht, daß Sie wieder eine Zeitlang auf Reisen gehen wollen? Wann verlassen Sie uns, Herr von Streckwitz, und wann dürfen wir Sie zurückerwarten?“ „Nein —“ entgegnete Streckwitz. „Der Verkauf von Klementinenhof hat sich zerschlagen; für den Fall der Veräußerung hätte ich mich ja zunächst anderweitig einrichten müssen und ging deshalb mit solchem Plan um. Ich bleibe nun aber den Winter über hier und will meine Bemühungen um einen Verkauf von Klementinenhof aus fortsetzen.“ „Immer wieder wundere ich mich,“ wandte Theonie ein, „daß Sie bei Ihren vielen Interessen das Land der Stadt vorziehen. Was bietet sich Ihnen hier in der Einsamkeit?“ „Lieben Sie nicht auch das Land, gnädige Frau? Schätzen Sie nicht auch die reine Luft, die einfachen, natürlichen Verhältnisse, den unmittelbaren Verkehr mit der Natur, die Ruhe und die Behaglichkeit? Anregung findet ein Mensch, der sich nicht nur mit seinem Ich beschäftigt, überall. Ich liebe, wie ich schon oft hervorhob, die Menschen in dieser Gegend, die hiesige Geselligkeit mutet mich an, und die Beschäftigung mit Stall, Acker und Vieh hat für mich etwas außerordentlich Anziehendes. Ich beneide die Städter nicht, ich bemitleide sie. Ihr Gehirn ist in einer fortwährenden Bewegung, sie müssen mitlaufen, wenn sie nicht am Wege liegen bleiben wollen, und zu einem rechten, ruhigen Lebensgenuß vermögen sie nicht zu gelangen. Wandern die Wohlhabenden unter ihnen nicht alle jährlich in die Berge, ans Meer und in kleine, abgelegene Ortschaften? Und dann giebt's ja auch heut zu tage keine Entfernungen mehr. Ich kann ja, wenn mich die Lust und Laune packt, in wenigen Stunden in Hamburg und Berlin sein.“ „Sie haben wohl noch keine Aussicht, etwas hier in der Gegend zu erwerben?“ knüpfte Theonie, die durch stumme Gebärden Streckwitz beigepflichtet hatte, an. „Hederich sprach jüngst von Wankendorf. Aber es liegt sehr nördlich, und der Preis soll hoch sein.“ Streckwitz schüttelte den Kopf. „Ich möchte am liebsten etwas hier in der nächsten Umgebung finden. Ich möchte auch Ihnen“ — Streckwitz legte einen nicht mißzuverstehenden Inhalt in den Ton seiner Worte — „nahe bleiben, gnädige Frau.“ Theonie errötete leicht und hielt das Auge gesenkt. Ihr mädchenhaftes Wesen kannte nicht das Mienenspiel, das Frauen anwenden, um Männer zu ermuntern. Sie zeigte rasch auf zwei Zeisige, die in einem Bauer hin- und herflatterten, und suchte so dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Aber Streckwitz war heute gekommen, um sich über Theonies Gefühle für ihn Klarheit zu verschaffen. Nachdem er einen Blick umher geworfen, um sich besser zu versichern, daß er nicht gestört werde, sagte er: „Vorher sprachen Sie Ihre Verwunderung darüber aus, daß ich mich hier, wie Sie sich ausdrückten, in der Einsamkeit vergrabe. Ein gleiches habe ich von Ihnen schon mehrfach gedacht, gnädige Frau. Durch Ihre Hand ist zwar Falsterhof gelichtet und hat den früheren düstern Eindruck verloren, aber grade für eine junge Frau — da für Ihr Geschlecht so enge Grenzen gezogen sind, weil Sie sich nicht, wie wir, frei bewegen können, — scheint es mir hier recht einförmig. Haben Sie denn kein Verlangen nach der Stadt?“ „Nein, keins! Ich könnte nirgend anderswo leben, und als ich mich nach dem Tode meiner Mutter von hier entfernen mußte, war ich sehr unglücklich.“ „Sie mußten?“ „Ja — oder ich wollte, gleichviel. Als der Tag meiner Rückkehr festgesetzt war, vermochte ich erst wieder die Schwermut, die mich erfaßt hatte, abzustreifen.“ „Sie hatten damals die Gesellschaft Ihres Herrn Vetters, wenn ich mich recht erinnere? Er ist wohl ein sehr anregender Mann? Ich war jüngst auf Holzwerder und habe höchst angenehme Stunden dort verlebt. Sehr gefallen wir auch die Schwiegereltern. Charmante Leute.“ Theonie betätigte letzteres durch eine Bewegung, über Tankred aber äußerte sie sich nicht. Diese stete, taktvolle Zurückhaltung war's aber eben gerade, die Streckwitz, der das wenig günstige Urteil der Menge über Tankred kannte, zu Theonie so hinzog. Alles, was er bisher von ihr gesehen hatte, war tadellos. Sie war ernst, aber nicht sentimental, klug ohne das Bestreben, sich geltend zu machen, und besaß neben einem edlen Selbstgefühl eine vollendete Weiblichkeit in ihrer Erscheinung und ihrem Wesen. Da das Gespräch sich wieder ein wenig von dem ihm am Herzen liegenden Gegenstand abgewandt hatte, suchte der Mann nach einer direkten Anknüpfung, und plötzlich kam ihm ein Gedanke. „Noch eins wollte ich Ihnen heute bei meinem Besuch vortragen, gnädige Frau,“ hub er nach geschicktem Übergang an. „Ich habe die Absicht, allernächstens ein kleines Diner zu geben. Würden Sie und Fräulein Carin wohl so liebenswürdig sein, auch daran teil zu nehmen? Ich weiß, daß ich etwas erbitte, das ein wenig ungewöhnlich erscheint. Aber ich hoffe doch auf Ihre gütige Zusage, ja, ich darf sagen, daß ich das kleine Fest vorzugsweise veranstalte, um bald wieder die Freude zu haben, mit Ihnen zu plaudern. Es verlangt mich jeden Tag danach, und wenn ich von Ihnen fern bin, fehlt nur etwas, das durch nichts zu ersetzen ist.“ Die legten Worte hatte Streckwitz in einem weichen, eindrucksvollen Ton gesprochen, und diesmal wich auch Theonie seinen ehrlichen Augen nicht aus. Aber sein Blick verwirrte sie doch so sehr, daß sie nicht gleich Worte fand, vielmehr die Schultern bewegte und in der Erregung den ausdrucksvoll geschnittenen Mund zusammenpreßte. „Ich bitte, sprechen Sie — sagen Sie etwas —“ drängte Streckwitz, durch die Ungewißheit, wie er ihr Wesen deuten sollte, nicht mehr Herr seiner Gefühle, „oder darf ich noch etwas hinzufügen, etwas von dem vielen, was mich bewegt, seitdem ich Sie kennen lernte? Nun? Darf ich, Theonie, liebste Frau Theonie? —“ wiederholte Streckwitz, indem er sich erhob und Theonie näher trat. Mit zagendem Ausdruck suchte er ihr abgewendetes Antlitz, er zitterte innerlich, und sein Atem ging rasch. Aber es war nur für Sekunden. Dann wandte sie sich zu ihm, sah im mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Hingebung ins Auge, lächelte sanft und neigte ihre feine Gestalt zu ihm. „O komm, Du Liebe!“ flüsterte der Mann stürmisch und breitete seine Arme aus. Durch ihren Körper ging ein Beben; sie liebte ihn leidenschaftlich, und er hörte es aus ihrem Munde, als er nun glückberauscht sie fest und fester an sich zog. * * * * * Die Verlobung des Herrn von Streckwitz mit Theonie Cromwell bildete in der Umgegend das Tagesgespräch. Je nach ihrer freundlichen oder durch vermeintliche Zurücksetzung, Neid und Mißgunst hervorgerufenen feindlichen Stimmung nahmen die Menschen für oder gegen das Brautpaar Partei. Einmal hieß es, sie paßten vortrefflich zusammen, und beide seien liebens- und achtenswerte Menschen, ein andermal dagegen, es könne nur ein Unglück daraus entstehen, wenn zwei so selbstbewußte und absprechende Menschen sich vereinigten. Und einmal paßte den Leuten Theonies Nase nicht, ein andermal hielten sie sich über Streckwitz's schleppenden Gang auf, bald war's nur Berechnung von seiner Seite, und bald hatte sie ihn durch Koketterie und zwar durch ihr gemacht sanftes Wesen und ihr langsames Augenaufschlagen gefangen. Aber jedenfalls — darin stimmten alle überein — kam Geld zu Geld; für beide Teile war die Partie eine gute, und mit so reichen Leuten zu halten, wenn man sie auch nicht mochte, war nicht mehr als selbstverständlich. Ohne Nebengedanken stimmten eigentlich nur Tressens und Höppners dieser Verbindung zu. Selbst in Carins und Hederichs Freude mischte sich ein Spürchen Unbehaglichkeit. Hederich fürchtete, das Mädchen, das er nun einmal liebte, zu verlieren. Sie würde sich eine andere Stellung suchen müssen, und er sie nicht mehr sehen; und Carin beschäftigte nicht minder der Gedanke, daß nun wohl ihre Tage auf Falsterhof gezählt seien. Die Pastorin hatte in ihrer Freude keine Ruhe und mußte gleich etwas thun. An Streckwitz schrieb sie einen Brief, in dem sie ihm gratulierte, und zu Theonie machte sie sich schon wenige Tage nach Empfang der Verlobungsanzeige auf den Weg. „Sie müssen meinen guten Mann entschuldigen, er hatte dringende Amtsgeschäfte, sonst wäre er mitgekommen!“ erklärte sie nach ihrem aus dem Herzen kommenden und von einer Umarmung begleiteten Glückwunsch. „Und gleich heute möchte ich von Ihnen hören, liebste Theonie, wann Sie und Herr von Streckwitz uns beehren können. Wir möchten Ihnen ein recht lustiges Verlobungsfest geben und dazu nette Menschen einladen. Waren Tressens schon bei Ihnen? Haben Sie etwas gehört, wie die Dinge stehen? Man erzählt sich, daß zwischen den Alten und Jungen schwere Differenzen ausgebrochen sind. Es war leider zu erwarten! Übrigens, Ihr Vetter wird nicht sehr von Ihrer Verlobung erbaut sein, Theonie.“ So sprach die lebhafte Pastorin in raschem Redefluß und ward erst unterbrochen, als Theonie ihr nun mit einem unbefangenen: „Sie meinen, liebe Pastorin?“ ins Wort fiel. „Nun, er wird natürlich fürchten, daß Sie jetzt an eine Vermögensabtretung nicht mehr denken, daß er auf Falsterhof in Zukunft keinerlei Aussicht hat.“ „Er irrt sich aber!“ entgegnete Theonie mit größter Ruhe. „Wenn er während der Frist nichts thut, was ehrenrührig ist, und wenn er nicht verschwendet, sondern solide wirtschaftet, halte ich an meiner einmal gegebenen Zusage fest. In diesem Sinne gab ich sie. Daß mein Vetter seinen Charakter nicht ändert, weiß ich, aber diese Forderung habe ich auch nie an ihn gestellt.“ Die Pastorin sah mit Bewunderung auf die Sprechende. Ein solcher Sinn für Gerechtigkeit und ein solches Festhalten an einem gegebenen Wort waren ihr bisher nicht vorgekommen. Aber da sie Brecken immer mehr verabscheute, ja, nach der Unterredung betreffs ihres Siechenhauses sogar einen untilgbaren Widerwillen gegen ihn gefaßt hatte, knüpfte sie noch einmal an und sagte: „Ihre im übrigen sehr vorsichtig gefaßte und durchaus nicht bindende Zusage gaben Sie doch damals aus Zwang. Auch die Furcht leitete Sie. Um Gewalttaten aus dem Wege zu gehen, gingen Sie auf seinen Vorschlag ein, Theonie. Wie stehen nun heute die Dinge? Das Hauptmotiv Ihrer Handlungsweise, daß Ihr Vetter mittellos war, ist inzwischen fortgefallen. Er sitzt jetzt unter warmen Decken. Ferner, damals dachten Sie nicht an Heiraten. Jetzt aber steht Ihnen Ihr Mann doch näher, als Ihr Vetter, und wenn Sie Nachkommen haben, wird er sich gewiß weigern, die Hälfte von Falsterhof für nichts herzugeben. Und ist Ihr Vetter denn wirklich würdig, so von Ihnen bevorzugt zu werden?“ „Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, daß Sie an einmal gegebenen Zusagen rütteln, liebe Pastorin. Was hat Ihnen mein Vetter gethan?“ „Das will ich Ihnen sagen, oder vielmehr ich will Ihnen den Grund darlegen, weshalb ich diesem Menschen nicht noch einen Vermögenszuwachs gönne.“ Und nun erzählte die Pastorin von ihrem Besuch, wie Brecken und Grete sich dabei benommen, und daß er erklärt habe, höchstens hundert Thaler zeichnen zu wollen. „Sehen Sie, das ist es!“ schloß sie. „Wenn Ihr Geld gute Früchte tragen würde, auch andere Vorteil daraus ziehen könnten, wenn's nicht nur der Gier dieses Geizhalses diente, dann würde ich gewiß keine Einsprache erheben. Aber indem Sie sich das Kapital entziehen, verringern Sie für sich selbst die Möglichkeit, Ihren Nebenmenschen davon mitzuteilen, wie bisher Glück und Segen dadurch zu verbreiten. — Ja, ja, ich weiß sehr wohl, wie viel Sie thun, liebste Theonie! Wo immer es sich um ein Liebeswerk handelt, sind Sie da, und in Breckendorf und Elsterhausen sind die Namen derer nicht zu zählen, denen Sie Wohlthaten erzeigen. Das ist das Richtige. Wer sein Geld so anwendet, der hat auch ein Recht, viel zu haben. — Blos Geld erwerben, um es zu besitzen? Welch ein gemeiner Standpunkt! Immer ist's ein Beweis kleinlicher Seelen. Und nicht einmal den Einwand, es sei nicht das Geld sondern die Freude am Erwerben, der Sparsamkeitsdrang, — lasse ich gelten! Geld soll nur ein Mittel zum Zweck sein, glücklich zu werden und andere glücklich zu machen. Darin besteht jedes Vernünftigen Lebensaufgabe. — Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich Ihrem Vetter erklären, ich habe damals verhüten wollen, mein Geld einem Verschwender zu geben. Das sei er nicht, wie Sie jetzt sähen, aber, was weit schlimmer, ein Geizhals, und Geiz sei einer der gemeinsten menschlichen Triebe. Übrigens“ — brach die Pastorin ab, da sie sah, daß ihre Rede auf Theonie Eindruck gemacht hatte, und jetzt weitere Worte vielleicht schaden könnten, statt nützen — „wie wird's nun mit unserer trefflichen Carin? Bleibt sie bei Ihnen?“ „Ich werde ihr nicht kündigen,“ erwiderte Theonie. „Wohin soll das arme, verlassene Ding? Sollte sie aber selbst den Wunsch ansprechen, zu gehen, so ist es etwas anderes.“ „Auch das sieht Ihnen wieder ganz ähnlich, Sie herrliches Menschenkind. Immer stellen Sie sich auf den Standpunkt Ihres Nebenmenschen, nicht nur auf Ihren,“ schloß die Pastorin lebhaft und drückte der Freundin in einem überströmenden Gefühl die Hand. — Während in solcher Weise die Pastorin Höppner, ihrem Unmut nachgebend, in die Breckenschen Angelegenheiten eingriff, gestalteten sich in Tankred ganz andere und keineswegs hoffnungslose Gedanken. Schon wiederholt hatte er gefunden, daß es nicht nur weise sei, das Ungünstige zu nützen, um Günstiges daraus zu ziehen, sondern daß dies bei geschickter Handhabung auch meist mit Erfolg gekrönt wurde. Versteckte Pfade zum Glück lagen überall, aber man mußte Augen zum Sehen haben. — In einer Unterredung, die zwischen Tankred und seiner Frau über Theonies Verlobung stattfand, warf Grete ähnliche Zweifel hin, wie die Pastorin sie geäußert hatte. „Nun wird's wohl mit dem Erben nichts!“ begann sie und schnitt aus einem großen Haufen weißer und bunter Leinwandstücke, die vor ihr lagen, eine Anzahl Vierecke, aus denen sie Wischtücher machen wollte. „Herr von Streckwitz sieht wir gar nicht danach aus, als werde er Dich freiwillig zum Miterben von Falsterhof einsetzen. Zu Erörterungen oder gar zum Prozeß wird's jedenfalls kommen, aber es ist richtig: weshalb sich schon jetzt den Kopf verdrehen! Nur eins, Tankred, wir wollen ihnen keine Veranlagung geben, berechtigte Anklagen gegen uns zu erheben. Um unserer selbst willen schon wollen wir es vermeiden.“ Grete hatte die Worte in dem ihr eigenen Gemisch von Ehrlichkeit und Berechnung gesprochen und sah, ein eben gesäumtes Tuch glättend und in genauer Anpassung auf ein Häufchen bereits fertig gewordener legend, zu ihrem Manne empor. Er aber sagte, aus einem tiefen Nachdenken sich erhebend: „Was meinst Du, Grete, wenn wir die Sache ganz anders anfingen, jetzt, wo noch der Gedanke in Theonie kräftig ist, wo noch ihr Rechtsgefühl nicht durch Einwirkung von seiten anderer gelitten hat? Ich stimme Dir nämlich bei: Wenn die paar Jahre verflogen sind, wird von der Sache gar nicht mehr die Rede sein. Sie werden Kinder haben, und an freiwillige Hergabe ist nicht zu denken. Ich meine so: Ich trete jetzt vor Theonie hin und sage: Gieb mir einen größeren Teil, etwa zwei Drittel von dem Zugesagten, dann will ich auf meine weiteren Ansprüche verzichten. Thue es, bevor Du an den Altar trittst, damit Du reinen Tisch hast, wenn Du in die Ehe gehst. Ich glaube, ich würde reüssieren! Vielleicht könnten wir Theonie durch Hederich sondieren. Was meinst Du?“ „Wie viel wird denn das ausmachen — ich meine an Kapital — ungefähr?“ warf Grete forschend hin. „Nun, ich rechne den Wert von Falsterhof auf vierhunderttausend Thaler. Davon die Hälfte sind sechshunderttausend Mark, und davon zwei Drittel vierhunderttausend.“ „Ah —!“ machte Grete. „Aber,“ setzte sie gleich hinzu, „das ist doch ein Unterschied von zweihunderttausend Mark.“ Sie schüttelte den Kopf. „Schlag's jedenfalls in runder Summe vor! Laß Dich nicht auf Teilzahlungen ein, Tankred. Der Gedanke an sich ist ja sonst sehr gut! Sage ihr, sie solle fünfhunderttausend Mark zahlen, dann spart sie doch noch hunderttausend.“ Tankred machte eine etwas ungeduldige Bewegung. „Wir verfügen über eine Beute, die wir noch gar nicht haben. Nein, das geht nicht. Wenn sie nun überhaupt nicht will? Zwingen kann ich sie doch nicht. Ja, später klagen, prozessieren, aber was kommt dabei heraus?“ Tankred wollte von Prozessen schon deshalb nichts wissen, weil seine Fälschung dabei an den Tag kommen konnte. Und dann, während er noch nachdachte, kam's jäh wie ein Blitz über ihn, daß es schon am besten wäre, wenn's keinen Streckwitz auf der Welt gäbe, wenn, wenn — auch Theonie nicht mehr auf Erden sei! Dann war er Erbe des Ganzen! Die Furie Habsucht packte ihn mit solcher Gewalt, so unvermittelt und heftig war ihr Angriff auf seine Seele, daß ihm die Kniee bebten, und in dem Drange nach Ablösung von dem furchtbaren Gedanken sich unwillkürlich ein schwerer Seufzer aus seiner Brust wand, und seine Augen sich schlossen. Grete erhob überrascht das Haupt. „Was hast Du? Ist Dir nicht wohl?“ fragte sie betroffen. „Doch — doch. — Mich fröstelte nur ein wenig.“ Und dann: „Sag, Grete, wie wär's, wenn Du mit Hederich sprächest, daß er Theonie sondierte? Dir schlägt er nichts ab, im Gegenteil —“ Die Frau aber schüttelte den Kopf. Sie wollte in dieser Sache Hederich nicht ins Vertrauen ziehen, ihr Inneres sträubte sich dagegen, grade ihm die Blößen ihrer Seele aufzudecken. Sie war eifrig bedacht, sich die gute Meinung, die er noch von ihr hatte, zu erhalten. So sagte sie denn, auch ihrer besseren Einsicht folgend und sie vorschiebend: „Nein, das ist nichts. Wo man selbst reden kann, soll man sich keines Vermittlers bedienen. Und in delikaten Dingen sind zwei Ohren mehr immer zu viel. Wenn Hederich von unseren Absichten unterrichtet wird, weiß auch Carin sie, und Carin bespricht alles mit der Pastorin, die ihren Mund nie halten kann. Du mußt mit Theonie ohne Zeugen reden; sie ist — das muß man ihr rühmend nachsagen — die personifizierte Diskretion.“ Tankred stimmte eifrig bei. Ja, seine Frau hatte, wie immer, recht; er beschloß auch, gleich zu handeln und alle Künste aufzuwenden, um seinen Zweck zu erreichen. Noch hatte sicher Streckwitz keinen Einfluß auf Theonie gewonnen. Je länger er aber zögerte, um so ungünstiger wurden seine Ansichten. Gleich nach Tisch ließ er sein Reitpferd satteln, hörte noch einmal alles, was Grete ihm sagte, an und machte sich dann nach Falsterhof auf den Weg. Es war ein nebliger, aber ungewöhnlich milder Wintertag. Bald nach Tankreds Fortreiten begann es vom düsteren Himmel herunter zu flocken, und die warme Luft verwandelte die Schneegebilde bereits vor dem Herabfallen in flüssiges Naß. Der Gaul leckte und dampfte. Die Hufe drangen tief in die schlüpfrigen Wege ein, und beim schnellen Trab spritzte das erdigschmutzige Wasser Tankred in das ohnehin feuchte Gesicht. Aber er achtete weder darauf, noch auf die Nässe, die seinen ganzen Körper bedeckte; er sah nicht die im feuchten Nebel ausgestreckte Landschaft, die Bäume, Felder und Wiesen, er war nur beschäftigt mit seinen Plänen, mit Theonie und seinen Schwiegereltern. Wenn er letztere nur erst aus dem Hause gebracht hätte! Es stand fest in ihm, sobald Grete ihrer Mutter Hülfe am Krankenbett entbehren konnte, wollte er ein Ende machen. Aber während er sich ausmalte, daß sie wirklich von Holzwerder Abschied nähmen, — er sah seinen Schwiegervater in den Wagen steigen und das schmerzentstellte Gesicht seiner Schwiegermutter vor sich —, stolperte der Gaul, von Tankred loser im Zügel gehalten, so unglücklich, daß der Reiter fast aus dem Sattel gehoben ward. Das Tier aber mußte für seines Herrn Nachlässigkeit büßen; Tankred zog dem Rappen mit der Reitgerte einige starke Schläge über den Rücken. Und während der abergläubische Mann dahinsauste, überkam ihn die Vorstellung, daß das Schicksal ihn durch diesen Vorfall habe mahnen wollen. Na ja, Gedanken waren noch keine That! — So schloß er rasch einen Kompromiß mit der leicht zu beschwichtigenden Stimme in seiner Brust. Endlich gewann er eine kurz vor Falsterhof aufsteigende Höhe, und zu seinen Füßen lag halbverschwommen das Gut ausgebreitet. Aus dem Schornstein des Herrenhauses schob sich langsam qualmend der Rauch. Wie eine schwarze Wolke erschien er dem Auge, da ein noch dichterer Nebel inzwischen die Landschaft eingehüllt hatte. Tankred ward dadurch an die bald eintretende Dunkelheit gemahnt, und so setzte er, die Ebene gewinnend, das Tier so lange in Galopp, bis er den Hof erreicht hatte. „Die gnädige Frau zu Hause? Herr von Streckwitz auch da?“ warf Tankred hin, während Klaus das Tier abführte. Ein Ja und ein Nein erfolgte. Theonie war also allein, Gott sei Dank! Als Tankred ins Haus trat, war Frege nicht anwesend; ein Mädchen, welches eine auf dem Flur stehende, mit messingenen Zierraten versehene hochschlanke Uhr putzte, stieg eilig von einem für ihre Arbeit herangerückten Stuhl herab und eilte fort, um Tankred zu melden. Seltsamer Gegensatz! Hier das peinliche Behüten eines Hausgegenstandes, und dagegen er, der kam, um zu sagen: gieb nur freiwillig die Hälfte Deines Vermögens! Tankreds gehobene Vorstellungen wurden durch diesen Vergleich sehr herabgestimmt, aber nun erschien die Magd wieder, und er trat in das von der Abenddämmerung umhüllte Wohngemach. „Ich komme trotz Schnee und Regen, Theonie, um Dir gleich meinen Glückwunsch zu sagen,“ begann Tankred bei Theonies Eintritt. „Grete schließt sich mir von Herzen an und bittet, Du mögest verzeihen, daß sie nicht schon heute mitgekommen. Eine Erkältung, die sie sich zugezogen, und das schreckliche Wetter —“ Theonie machte eine liebenswürdige Bewegung, bat Tankred, Platz zu nehmen, und sagte nach einigen warmen Dankesworten, sich besinnend: „Ich denke, ich lasse lieber schon Licht bringen?“ Sie war aufgestanden, aber hielt inne, als Tankred sie unterbrach: „So? meinst Du? Nun, mir ist's recht. Ich schwatze sonst gern im Halbdunkel.“ Tankred von Brecken wollte kein Licht. Er konnte besser sprechen, wenn's dunkel um ihn her war, und er ergriff auch nach kurzem Redeaustausch über Herrn von Streckwitz, seine Schwiegereltern und Hederich das Wort in seiner Angelegenheit: „Höre Theonie! Da wir nun einmal ungestört beisammen sitzen, möchte ich Dir etwas sagen, etwas die Zukunft Betreffendes. Ich weiß, daß Du mich nicht mißverstehen wirst, und was ich sagen will, ist auch von Vorteil für Dich! Durch Deine Verlobung und demnächst stattfindende Heirat verschieben sich sicher Deine Dispositionen bezüglich Deines Vermögens. Ich begreife das — begreife das vollkommen. Als Du mir damals die schriftliche Zusage machtest, lag alles anders. Aber da Du sie mir doch einmal gegeben und, wie ich Dich kenne, nicht ausgestellt hast, um mich nur durch Redensarten zu vertrösten, möchte ich Dir einen Vorschlag unterbreiten, damit Du mit völlig klaren Verhältnissen in die Ehe gehst: Entschließe Dich jetzt, mir einen geringen Anteil auszuzahlen, finde Dich jetzt mit mir ab!“ Tankred durchdrang mit Luchsaugen die Dämmerung, um den Eindruck seiner Worte auf Theonies Antlitz zu lesen. So viel hing von diesem Augenblick ab! Zu seiner Überraschung nahm Theonie seine Rede sehr ruhig, aber zu seiner höchsten Enttäuschung auch sein Ansuchen äußerst kühl auf. Sie sagte fast ausdruckslos in Miene und Ton: „Zu meinem Bedauern muß ich Deinen Antrag ablehnen, Tankred. Die fünf Jahre müssen voll verstreichen, und dann werden nicht, wie Du meinst, die veränderten Verhältnisse meinen Entschluß beeinflussen, sondern die Umstände für mich maßgebend sein. Wenn ich, wie ich hoffe, in die Lage komme, Dir etwas abzutreten oder auszuzahlen, so soll Dir nichts gekürzt werden —“ „Bitte, sage mir Theonie,“ fiel Tankred, durch die letzten Worte aus all seinen Himmeln gerissen, mit künstlicher Ruhe ein, „was soll ich denn eigentlich erfüllen? Was kann dann anders sein als heute? Entschuldige! Aber ich sehe keinen Unterschied. Liegt es nicht wirklich in Deinem Interesse, daß Du Dich vor Deiner Heirat mit mir abfindest? Ich bin überzeugt, Dein Bräutigam wird anders über die Sache denken, als Du. Willst Du nicht wenigstens den Vorschlag in Überlegung ziehen, mit ihm reden? Sprechen wir einmal in Zahlen. Der Wert von Falsterhof repräsentiert wohl fast ein und eine halbe Million. Wenn ich nun sagte, zahle mir jetzt —“ Aber statt ihn ausreden zu lassen, erhob sich Theonie mit einem „Entschuldige, bitte“ und hörte, was der nun doch mit einer brennenden Lampe ins Zimmer tretende Frege „gehorsamst“ zu melden hatte. „Der Verwalter von Falsterhof läßt fragen, ob er morgen Vormittag zum Vortrage kommen dürfe.“ „Ja, Frege, es paßt mir um elf Uhr!“ Nun schloß sich die Thür wieder. „Es nützt wirklich gar nichts, Tankred, diese Sache zu besprechen, ich wiederhole vorher Gesagtes,“ knüpfte Theonie mit der alten Ruhe an. „Auch wenn Du fragst, was sich erfüllen soll, so kann ich Dir darauf nur antworten: Ich will, wenn ich Dir das Kapital auszahle, daß alle Bedingungen zutreffen, die ich damals an dieses Eventualversprechen knüpfte. Ich erkläre Dir nochmals, daß die zwischen mir und Streckwitz wahrscheinlich eintretende Gütergemeinschaft an dem Geist der Sache nichts ändern wird. Nicht unser Geldvorteil soll maßgebend sein, sondern Deine Würdigkeit.“ „Mit anderen Worten, Du bist schon jetzt entschlossen, mir keinen Groschen auszuzahlen —“ stieß Tankred, kaum Herr seiner Erregung, heraus. „Was heißt Würdigkeit? Sind wir Kinder? Handelt es sich um das Verhalten auf der Schulbank und um den Lohn eines Apfels für gutes Betragen? Ich bin neben Dir der einzige Brecken auf der Welt. Wenn Du gestorben wärest, würde mir Falsterhof zugefallen sein. Also nicht um eine bloße Laune oder dergleichen handelt es sich, sondern um ein tiefer begründetes, natürliches Anrecht. Was soll ich denn heute oder später mit dem Gelde thun? Ich will es hüten und mehren, um meinem Nachkommen, dem letzten männlichen Zweig der Breckens, zu Besitz und Ansehen zu verhelfen. War das nicht auch Deines Vaters, unserer Vorfahren Lebenszweck? Bin ich ein Verschwender? Mache ich mich unehrenhafter Handlungen schuldig? Wird unser Familienname durch mich geschädigt oder geschändet? Andere Gesichtspunkte hast Du doch wohl nicht aufzustellen? Nicht von aller Welt geliebt zu werden, das teile ich mit vielen Menschen. Wer Charakter hat, wird niemals sehr gefallen. In der That, ich verstehe Dich nicht. Wir schaffen aber klare Verhältnis wenn Du Dich jetzt mit mir abfindest, und Du sparst ein Stück Geld.“ „Ich will nicht sparen!“ entgegnete Theonie stolz. „Dir soll Dein Recht werden, wenn Du eins zu erheben hast! Und laß uns nun das peinliche Gespräch schließen. Ich thu's und will's nicht, Tankred. Kommt die Zeit, so werden mein Mann und ich prüfen und ohne Rücksicht auf unseren Vorteil handeln.“ „Ich nehme den Fall, daß Ihr zu der Ansicht kommt, ich sei unwürdig! Meinst Du denn, ich müßte mich ohne weiteres darein finden? „Ich brauche doch keine Gründe für eine Weigerung anzugeben, also hast Du auch kein Recht zu einer Reklamation, Tankred!“ „Ah! so faßt Du Deine Zusage auf? Na, ja, ich sehe, wie die Dinge stehen! Nur eins hätte ich nicht gedacht: daß Du Dich hinter Worten verschanzen würdest. Von Theonie Cromwell hatte ich anderes erwartet.“ „Nein, ich verschanze mich gar nicht, Tankred. Das ist auch einer Deiner Fehler: Du gestaltest Dir die Dinge nach Deinen Vorlegungen, und wenn's nicht so kommt, machst Du andere dafür verantwortlich, daß Du Dich Illusionen hingegeben hast.“ „Auch einer meiner Fehler? Was habe ich denn sonst noch für welche?“ Höhnisch ging's aus Tankreds Munde, und die Backenknochen seines Verbrechergesichtes schoben sich unheimlich vor. Und als Theonie nur ablehnend die Achseln zuckte, sprang er in die Höhe, stellte sich vor sie hin und raunte ihr mit heiserer Stimme zu: „Noch einmal, zum letztenmal! Gieb nach! Du weißt, daß ich nicht mit mir spaßen lasse! Du kannst Ruhe und Frieden haben — oder das Gegenteil! Wenn Du mir vierhunderttausend Mark auszahlt, will ich auf alle Ansprüche verzichten, und wir bleiben gute Freunde. Wo nicht, werde ich die mündlichen Zusagen Deiner Mutter mit ins Feld führen, nachweisen, daß ich mich dem Verzicht nur zwangsweise gefügt habe, und auf sofortige Erfüllung meiner Ansprüche klagen. Ich kann schwören, daß sie mir versprach, mich zum Miterben einzusetzen.“ „Du lügst,“ rief Theonie, von Empörung und Ekel fortgerissen. „Du lügst und fügst zu allem anderen noch den Meineid. Wenn meine Mutter etwas versprochen hätte, würde es auch von uns gehalten worden sein. O, verächtlich bist Du mir; so verächtlich, daß ich nichts in der Welt so verabscheue wie Dich. Meine Natur unterdrückte ich, ich wollte sie nicht Herr über mich werden lassen, ich wollte gerecht sein, mit Deinen Fehlern rechnen, da niemand frei davon ist. Und Dir wäre geworden, was Du wünschest, wenn Du geblieben wärest, was Du seit Deiner Heirat warst. Aber diese Drohungen und diese Lüge reißen alles wieder in mir auf. Ich fühle wie damals, wo ich vor Deinem Mordblick flüchtete. Aber keine Furcht beherrscht mich mehr! Was kann's denn Schlimmeres sein als der Tod? Wag es! Und Geld! Geld! Schon jetzt zwitschern die Spatzen auf dem Dache von Deinem Geiz, von Deiner Habsucht, von Deinem grenzenlosen, jedes anderen Rechte mißachtenden Egoismus. Statt Dich des ungeheuren Glückes, das Dir geworden, dankbar zu erinnern, es Dir stets vorzuhalten, verfolgst Du diejenigen mit Deinem Haß, durch deren Befürwortung Du etwas geworden. Sie stehen Dir im Wege. Nur Dein Ich, Dein grauenhaftes Ich hat Audienz bei Dir! Mache, thue, was Du willst. Ich zerreiße noch heute die Akte. Schon heute ist entschieden, daß ich wich weigere, Dir auch nur einen Pfennig auszuzahlen. Du hast Dein Spiel verloren, weil Du mich abermals einen Blick in Deine gemeine Seele thun ließest.“ Der Mann hörte, was seine Verwandte sprach, und seine Wut kannte keine Grenzen mehr. Zu der bis zur Raserei gesteigerten Empfindlichkeit, daß sie wagte, ihm so zu begegnen, gesellte sich eine tobende Wut über sich selbst. Hatte sie nicht gesagt: sie würde ihr Wort gehalten haben, wenn nicht diese Szene zwischen ihnen vorgefallen wäre? Er hätte sich selbst züchtigen mögen, und wie einst, ging's durch seine Gedanken, ob's denn gar keine Möglichkeit mehr gäbe, das Geschehene ungeschehen zu machen. Und wieder siegten selbst in diesem furchtbaren Affekt Gier und Habsucht in ihm. Er sank stöhnend auf seinen Stuhl zurück, bedeckte sein Angesicht mit den Händen und verharrte wie ein Zerschlagener. Und dann glitt er nieder auf die Kniee, schob sich zu seiner Verwandten hin, tastete nach ihrer Rechten und flehte, daß sie ihm vergeben möge. Er habe sich abermals vom Zorn hinreißen lassen, er wisse dann nicht, was er thue, sie habe ihm doch schon einmal vergeben, und was er von der Verstorbenen gesagt, sei wirklich in dem von ihm angeführten Sinne wahr, wenigstens habe er hingeworfene Worte so gedeutet. Er wolle ja das beste, er verstehe es nur nicht immer; er sei ehrlich bestrebt, seine Fehler abzulegen, aber er habe mit seiner Natur zu kämpfen. Sie sei ja ein Gott an Gerechtigkeit, Milde und Güte und möge, gleichviel was sie beschlossen, ihm verzeihen. „Bitte, bitte, liebe, teure Theonie, sei wieder die alte. Und mit meinen Vorschlägen meinte ich es ja wirklich gut. Es ist doch verständig, sich zu vergleichen, und Du hast selbst Vorteil davon. Und nur noch einmal, zum letztenmal,“ schloß er, „vergiß alles, was mein Mund sprach, ich bereue tief.“ Aber die Frau, die ihn in ihrem Ekel und ihrer Empörung wiederholt hatte unterbrechen wollen, die ihm nichts, gar nichts mehr glaubte, vielmehr wußte, daß er durch sein Komödienspiel nur Verlorenes noch einmal wieder zu retten versuchen wolle, riß sich, als er zuletzt ihre Kleider umfaßte, von ihm los, warf den Kopf zurück und rief, mit ausgestreckten Händen ihn abwehrend: „O Natter, Schlange, weiche von mir. Es giebt, glaube ich, nichts in der Welt, worin die Natur so viel Gemeines zusammenmischte, wie in Dir. Wenn ich überdenke, was ich je hörte oder las über die Schlechtigkeit menschlicher Kreaturen, so entrollte sich doch nie vor meinen Augen ein solches Bild. Lüge, Verstellung, Feigheit, Gemeinheit, Habsucht und Geiz begegnen sich, sie alle reichen sich die Hände in Dir. Deine Seele ist keiner vornehmen Regung fähig, sie ist niederträchtig und schmutzig; wo anderen das Herz sitzt, hockt bei Dir die grauenhafteste Eigenliebe, und Deine gemeinen Leidenschaften sind so stark entwickelt, daß nur die Gelegenheit zum Verbrechen fehlt, um sie ans Licht zu fördern. Und ich glaubte noch an Dich, wollte an Dich glauben! Aber diese Wiederholung — Du drohst mir, Du beschimpfst das Andenken meiner Mutter, Du spielst eben eine über alle maßen ekelhafte Komödie — hat alles für immer in mir getötet. Ich wiederhole: zerrissen ist jedes Band zwischen uns für alle Zeiten. Und nun gehe! Ich will um Deiner selbst willen hoffen, daß diese neue Erfahrung Dir eine Lehre sein mag. Es ist ein schwerer Irrtum zu glauben, man könne in der Welt Niederträchtigkeit an die Stelle von Tugend setzen. Auch für Dich werden Stunden kommen, wo Du nach Gott und nach denen schreist, die es gut mit Dir meinten. Ja, fletsche nur die Zähne und spotte meiner Moralpredigt. Es giebt einen Himmel und eine Gerechtigkeit, und Dich wird das Schicksal richten, wenn Du nicht bald und völlig umkehrst!“ — Nach diesen Worten verließ Theonie, den zu wiederholten malen wie ein Wahnsinniger gegen sie auftrotzenden Mann stolz und furchtlos abwehrend, das Zimmer. Als Tankred den Weg nach Elsterhausen zurücknahm, beschäftigte ihn die eben gehabte Unterredung. Alles, alles war nun dahin! Nur die Möglichkeit, daß Theonie sterben, und daß er dadurch dermaleinst noch in den Besitz des Gutes gelangen konnte, blieb zurück. Aber sie konnte ja steinalt werden, und er konnte vor ihr dahingehen! Was war nicht alles denkbar!? — — Und was sollte er Grete berichten? Daß ein unheilbares Zerwürfnis zwischen ihm und Theonie eingetreten sei? Wodurch? Sie würde doch fragen. Und die Folgen? Enterbung! — Nein! Das brachte er so nicht über die Lippen. Er mußte sie täuschen, sie vorläufig noch einwiegen in Hoffnungen. Vielleicht fand sie dennoch einen Ausweg. Wenn sich Grete vor Theonie demütigte, wenn auch Hederichs Einfluß zu Hülfe genommen ward, ließ sich doch vielleicht noch alles zum guten lenken, noch ein Vergleich schließen. Dieser Gedanke belebte vorübergehend wieder die Seele des Mannes, er setzte dem Gaul die Sporen in die Seiten und flog dahin. Ein offener Wagen kam ihm entgegen. Ein einzelner Mann, in einen Pelz gehüllt, saß darin; es war Herr von Streckwitz. Diese Begegnung gab Tankred den Gedanken ein, die Vermittlung des Bräutigams Theonies anzurufen. Ja, damit wollte er beginnen. Er wollte Streckwitz aufsuchen, bevor Theonie ihn sprechen konnte. Unter solchen Gedanken erreichte er gegen neun Uhr Holzwerder. Als er ins Wohngemach trat, kam ihm Grete nicht wie sonst entgegen, sie nickte ihm nur stumm zu, und ihre Augen waren verweint. „Nun? Was ist? Du erschreckst mich,“ stieß Tankred heraus. „Sprich, was hat sich ereignet?“ Aber sie sagte nichts, sie ließ den Kopf sinken, und Thränen schossen aus ihren Augen. „Ist wieder etwas mit denen oben?“ drängte Tankred. „Hat's eine Szene gegeben?“ Nun hub sie schluchzend an: „Es ist alles aus. Mama hat mir vor kaum einer halben Stunde nach einem furchtbar erregten Auftritt erklärt, daß sie beide Holzwerder verlassen und nach Elsterhausen ziehen wollen.“ „Und die Veranlassung?“ fragte Tankred gespannt. Nun erschien der Diener Peter und meldete, daß das Abendessen aufgetragen sei. Dadurch ward das Gespräch der Eheleute zeitweilig unterbrochen. „Beruhige Dich! — beruhige Dich!“ tröstete Brecken nach des Dieners Fortgang seine Frau, faßte sie leicht um die Schultern und zog die kopfschüttelnd ihn Abwehrende mit sich ins Speisezimmer. „Es wird nichts so heiß gegessen, wie es auf den Tisch kommt. Die oben werden schon von selbst wieder gut Wetter machen.“ „Nein, nein! Diesmal ist's Ernst!“ entgegnete Grete rauh, sich gleichsam trotzig gegen seine Auffassung auflehnend, und auch in der Folge sprach sie in einem Ton, der sich eben so sehr gegen ihn wendete, wie gegen ihre Mutter: „Du hättest nur hören sollen, was sie alles vorbrachte. Da verlor ich die Geduld, und ich war's, die ausrief: ‚So geht doch, wenn es Euch bei uns so wenig behagt. Ihr seid ja Eure eigenen Herren.‘ Das schlug dem Faß den Boden aus. Mama hat mir unglaubliche Dinge gesagt: Wir warteten auf ihren Tod; jeden Tag fühlten sie beide, wie lästig sie uns seien: von Liebe, Rücksicht, Pietät sei nicht die Rede. Wir fänden uns mit der Thatsache, daß sie auf der Welt seien, notgedrungen ab. — Am Ende, es ist doch meine Mutter,“ schloß Grete abermals schluchzend und schob die ihr von Tankred inzwischen vorgesetzten Speisen von sich. „Aber was war es denn? Was hat Euch denn so maßlos aufgeregt?“ forschte Tankred in gemischten Empfindungen. Wenn ihm auch nichts lieber war, als die Lästigen von Holzwerder zu entfernen, so beunruhigte ihn doch sowohl seiner Frau bedrückte Stimmung als auch ihre allzu deutlich gegen ihn hervortretende Reizbarkeit. „Ja, was war's? Die alte Geschichte! Sie behauptete, das Gänsesauer sei heute mittag nicht frisch gewesen. Papa habe sich ganz krank darnach gefühlt. Soweit dürfe doch meine Sparsamkeit nicht gehen, daß ich Verdorbenes auf den Tisch setzte. Mama hatte in der Küche gefragt, und die Köchin behauptet, sie habe mich aufmerksam gemacht, daß die Kruke schlecht verschlossen gewesen sei. Erst blieb ich ruhig, aber als sie mir dann wieder eine Rede über unsere, namentlich Deine Sparsamkeit hielt, die schon sprichwörtlich geworden sei, verließ mich bereits die Geduld. Zuletzt kam sie in anderer Weise auf Dich zu sprechen und — und —“ „Nun?“ „Sie erhob schwere Anschuldigungen gegen Dich. Ich sollte auf Dich einwirken, meinte sie. Und als sie mir den Zweck Deines Rittes nach Falsterhof herausgelockt, rief sie: Immer nur haben, haben, raffen! Nicht abwarten kann Dein Mann. Und verderben wird er seine Sache, an deren Gelingen doch auch wir interessiert sind, schon deshalb, weil wir dann weniger beschämt werden durch die Art und Weise, wie er allezeit die Monatszahlungen leistet. Es scheint beinah Absicht zu sein, daß bei jeder Zahlung etwas fehlt, und daß er es auch nachträglich zu berichtigen vergißt. Im letzten Monat seien es, behauptete sie, wieder zwölf Mark gewesen. Das müsse bei einem korrekten Mann doch nicht vorkommen. Ich sollte Dir natürlich von alledem nichts sagen, aber, aber — jetzt muß es doch heraus —“ schloß Grete immer in demselben Gemisch von Ärger über ihre Mutter und von halber Parteinahme für sie. „Und ganz ohne jeglichen Anlaß von Deiner Seite kamen alle diese Invektiven zum Vorschein?“ „Nun ja, wie ich schon sagte. Da sie mich gereizt hatte, sprach ich von ihrer Verschwendung. Sie haben sich doch nun wieder ein Vogelbauer für hundertfünfzig Mark angeschafft, während sie schon die beiden Prachtbauer besitzen. Darüber äußerte ich mich, und dann antwortete Mama: Besser noch verschwenden, als so schmutzig geizig sein, wie wir es wären. Und wir thäten beide, als ob wir ihnen das Gnadenbrod hinwürfen, und erlaubten uns Bemerkungen über jegliches, was von ihnen ausginge. Sie hätten doch nach der notariellen Ausfertigung ein Recht auf die Rente. Und sie sei alt genug, um zu wissen, was sie zu thun und zu lassen habe; bei mir brauche sie nicht erst in die Schule zu gehen und sich von mir Lehren zu holen!“ — Die junge Frau hatte das alles rasch, ohne Absatz, stürmisch und erregt herausgestoßen. Nun übermannte sie wieder ihre Bedrückung, und weinend und schluchzend hielt sie inne. Tankred aber, obschon er zuhörte und auch den Sinn der Worte in sich aufnahm, war schon längst nicht mehr bei der Sache; seine Gedanken gingen, nachdem er gesehen, daß es sich nicht um einen besonderen Streitgrund handelte, allein zu den Vorfällen in Falsterhof zurück. Er konnte es nicht erwarten, nun seinerseits zu berichten, brach auch rasch von dem alten Thema ab und sagte: „Ach, das kommt ja alles wieder in Ordnung, und wenn nicht, ist's wahrlich auch kein Unglück! Aber was ich erlebt habe, ist ganz anderer, weit schlimmerer Natur!“ Die Frau erhob bei diesen Worten rasch und erschrocken das herabgeneigte Antlitz. Tankred berichtete sodann ausführlich über die stattgehabte Unterredung und erzählte, daß Theonie einen Vergleich sehr schroff abgelehnt und eine dadurch von seiner Seite hervorgerufene Äußerung als Anlaß genommen habe, um ihm in sehr wenig rücksichtsvoller Weise zu begegnen, ja, nach heftigem Streit und trotz seiner versöhnenden Worte habe sie die Erklärung abgegeben, sie wolle ihm überhaupt nichts abtreten. Offenbar suche sie seit ihrer Verlobung nach einem Vorwand, um das von ihr gegebene Versprechen zurückzunehmen, und habe jetzt gleich die Gelegenheit dazu ergriffen. Aber Grete nahm die Sache nicht so auf, wie Tankred erwartet hatte. Sie war zwar seinen Auseinandersetzungen mit gespanntem Ausdruck gefolgt, aber sie legte durch Mienen und eingestreute Bemerkungen schon während seiner Erzählung an den Tag, daß sie weniger Theonie als ihm selbst die Schuld an diesem ganz unerwarteten Ausgang zuschob. Durch ihre Zweifel und ihren Tadel und dann wieder durch ihr stummes, einsilbiges, mit Achselzucken verbundenes Wesen, durch ihre sonderbaren, halb vorwurfsvollen, halb mißtrauischen Blicke versetzte sie ihn aber in eine so gereizte Stimmung, daß er an sich halten mußte, um ihr nicht in brutaler Weise zu begegnen. Zuletzt versuchte er, um sie auf seine Seite zu bringen, es auf andere Weise; er gab zu, daß er vielleicht die Hauptschuld trage, und bat schmeichelnd um ihren Rat und ihre Hülfe. Das schien von Wirkung zu sein. Grete überlegte; dann sagte sie: „Laß einmal sehen, was sie Dir damals geschrieben hat. Es wäre ja möglich, daß man die Sache wieder ins Gleis bringen könnte.“ Tankred schwankte, ob er ihrem Wunsch willfahren sollte, auch war er unschlüssig, welches von den beiden Aktenstücken ihr einzuhändigen wäre, das Original oder das Falsifikat. Dann aber trug die gehobene Stimmung, in die er dadurch geraten, daß Grete wieder eins mit ihm zu sein schien, den Sieg über seine Bedenken davon; er ging an sein Schreibpult, zog das Falsifikat hervor und überreichte es ihr. Grete las es aufmerksam durch, legte es dann beiseite und gab abermals ihrer Hoffnung Ausdruck, daß noch nicht alles verloren sei; auch stimmte sie halbwegs zu, als Tankred auf sie einredete, am folgenden Tage selbst nach Falsterhof zu fahren und mit Theonie zu sprechen, während er mit Streckwitz reden wollte. Nicht in der früheren, deutlich hervortretenden Übereinstimmung mit ihm, aber, wie es schien, doch ruhiger und versöhnlicher als beim Eingang des Gespräches, hörte dann Grete noch ferner ihrem Mann zu, und erst gegen Mitternacht begaben sich beide — Grete unter einem schwermütigen „Gute Nacht! Hoffentlich bringt die Zukunft Gutes. Es sieht augenblicklich alles so trübe aus! —“ zur Ruhe. Als die Eheleute am folgenden Morgen beim Frühstück wieder zusammen saßen, erklärte aber Grete dennoch zu Tankreds äußerstem Verdruß, daß sie bei nochmaliger Überlegung zu dem Entschluß gelangt sei, von einem Besuch bei Theonie abzusehen. Es widerstrebe ihr, sich in diese Angelegenheit zu mischen, es werde ein falsches Licht auf sie werfen, es passe nicht für sie, ihr Gefühl lehne sich auch dagegen auf. Und gestern habe er drüben erklärt, sie sei nicht wohl, und heute erscheine sie kerngesund vor Theonie. Schon das werde einen unvorteilhaften Eindruck hervorrufen. Er müsse selbst die Angelegenheit zu ordnen suchen. Sie habe, wenn es mit den Eltern nicht so stände, wohl Neigung, mit ihrer Mutter die Sache zu besprechen, überhaupt wäre letztere geeigneter als sie, mit Theonie zu reden. Aber freilich, davon könne keine Rede sein, es sei ja alles mit den Eltern aus. — Tankred wollte anfänglich Einwendungen erheben, seiner Frau ihre Auffassung ausreden, aber als sie ihrer Mutter Erwähnung that, blitzte es in ihm auf. Ja, das war ein guter Gedanke! Wenn Frau von Tressen sich bewegen ließ, auf Theonie einzureden, kam sicher am ehesten etwas heraus. Und es war im Grunde richtig: für Grete paßte es nicht; den Gedanken hatte Furcht und Unruhe geboren. Er sprang deshalb empor und sagte: „Weißt Du, Grete, das ist das Richtige. Und ich will auch gleich handeln. Wir wollen mal Peter sofort hinaufschicken und fragen lassen, ob ich Mama in einer wichtigen Sache sprechen könne. Ich äußere erst mein Bedauern, daß gestern wieder etwas zwischen Euch vorgefallen, und lege ihr dann die Sache dar. Es hilft nichts, wir müssen alle Minen springen lassen, und es ist keine Zeit zu verlieren. Wenn Theonie und Streckwitz sich bereits gesehen haben, ist nichts mehr zu machen. Wir müssen ihn und sie vorher abfangen.“ Nach wenigen Minuten erschien der nach oben gesandte Diener wieder. Frau von Tressen ließe sagen, sie sei nicht wohl, sie müsse bedauern, heute niemanden sehen zu können. Das hatte Brecken denn doch nicht erwartet. Er sah, die oben nahmen jetzt die Dinge sehr ernst. Nach kurzem Besinnen aber reckte er sich und sagte: „Ich gehe trotzdem hinauf, ich will doch sehen, ob sie mich abweist. Wenn nicht anders, trete ich ohne weiteres ein und nehme ihr die Sache über den Kopf.“ Grete äußerte kein Nein und kein Ja. „Versuch's!“ warf sie tonlos hin, und Tankred, immer nur mit dieser einen Angelegenheit beschäftigt, übersah ihr Wesen, schob es auf die mit ihrem körperlichen Zustand zusammenhängende Unberechenbarkeit der Stimmung, von der er schon mehrfach Proben gehabt, und eilte hinauf. Frau von Tressen hatte sich eben mit ihrem Manne vom Frühstück erhoben, als die Thür mit einem schmeichelnden „Guten Morgen, Mama! Guten Morgen, Papa!“ von Tankred geöffnet ward. „Entschuldigt, daß ich so ohne Meldung bei Euch eindringe, Peter kam nicht zurück! Aber was ich Euch zu sagen habe, hat Eile,“ fuhr er kriechend fort. Und ehe Tressens zu einer Antwort zu gelangen vermochten, erklärte er, daß Grete sehr bedrückt sei, und daß der gestrige Zwist hoffentlich der letzte gewesen sein werde. Von seiner Seite solle alles dazu geschehen und von Gretes Seite auch. Und dann rückte er mit der Falsterhof-Angelegenheit heraus, berichtete ausführlich und bat seine Schwiegermutter aufs dringendste, mit Theonie über eine Abfindung zu verhandeln. Da der Mann in Geldsachen allezeit die Menschen nach sich zu beurteilen pflegte, hatte er gar nicht gezweifelt, daß Frau von Tressen auf seine Bitte eingehen werde. Er war daher aufs höchste betroffen und nicht minder geärgert, als sie sehr kurz und entschieden den Kopf schüttelte und sagte: „Nein, nein, damit will ich nichts zu thun haben. Es widerstrebt mir durchaus, in dieser Angelegenheit vermittelnd einzutreten. Es kann bei der Sachlage gar nicht anders als wie eine Bettelei aufgefaßt werden, und dagegen lehnt sich mein Empfinden auf. Ich habe, als Grete mir von deinem Schritt erzählte, gleich gedacht, daß das nichts werden würde. Theonie betrachtet die Sache nicht wie ein Geschäft, bei dem es ihr von Wert ist, etwas abzuhandeln, sondern sie leiten ganz andere Gesichtspunkte. In dem Schriftstück hat sie fünf Jahre ausbedungen und würde ihr Wort gehalten haben, wenn Du Dich der von ihr in Aussicht genommenen Vergünstigung würdig gezeigt hättest. Hat sie jetzt schon nein gesagt, so ist das eben so sehr ihr fester Entschluß, wie es ihre ehrliche Absicht war, Dir im Falle das Erbteil zuzuwenden. Daran werde ich nichts ändern, und wenn doch, ich mag und will's nicht. Es hat, wie gesagt, den Anstrich einer Bettelei, zu der wir nicht den geringsten Anlaß haben. Begnügt Euch denn nun mit dem, was Ihr habt, freut Euch dessen, laßt jedem das seine, das ihm zukommt, und trachtet nicht nach Fremdem. Das ist mein Rat. Daß es uns natürlich angenehm gewesen wäre, daß es sogar damals vor Deiner Heirat eine Voraussetzung war, daß auch Du etwas in die Ehe bringen würdest, brauche ich nicht hervorzuheben. Aber es ist überhaupt so vieles anders geworden, als wir gedacht haben, daß es wirklich auf etwas mehr oder weniger nicht ankommt. In unseren Augen wenigstens nicht. Das schöne Glück, das wir erträumt haben, ist dahin, und unser Entschluß, Holzwerder zu verlassen, steht auch fest. Es ist ja sehr schön, daß Ihr das bedauert, es scheint mir auch natürlich, aber es ändert nichts an der Einsicht, daß ein Zusammenleben zwischen uns unmöglich ist! — So, nun kennst Du meine und Tressens Ansicht, und nun lasse uns aus dem Spiel.“ „Nun, wie Du willst,“ entgegnete Brecken, der, sich beherrschend, diesen Worten zugehört hatte, und in dem trotz aller höchst unliebsamen Erfahrungen abermals Hochmut, verletzte Eitelkeit und Zorn jegliche Klugheit und Besonnenheit überwogen. „Ihr werdet es aber noch bereuen, und ein für allemal bemerkt, liebe Mama, an den guten Lehren, die Du fortwährend an Grete und mich austeilst, finden wir sehr wenig Geschmack. Sie eignen sich mehr für Schulkinder als für uns.“ Nach diesen Worten verließ er mit einer impertinenten Miene das Zimmer. „Nein, es ist nichts!“ rief er, als er zurückkehrte, und Grete fragend und in sichtbar großer Erregung das Haupt erhob. „Und Du hast recht, es ist überhaupt aus mit ihnen. Sie wollen fort, unbedingt fort, und dann lasse sie auch nur! Mir ist absolut nichts daran gelegen, im Gegenteil! Gott sei Dank, daß die Quälerei ein Ende hat. Nicht wahr, wir sind uns selbst genug, meine Grete?“ schloß er schmeichelnd und werbend und umarmte, ehe sie es hindern konnte, die zitternd aufhorchende Frau. Sie aber entzog sich rasch, ungeduldig, und wie von einem Schmerz betroffen, seinen Zärtlichkeiten, stieß ein rauhes: „Nein, nein, laß, ich mag jetzt nicht!“ heraus und verließ das Gemach. Tankred wollte aufbrausen und ihr nacheilen, aber er unterließ es doch. Er würde mit ihr schon alles wieder ins Gleichgewicht bringen. Das hing mit ihrem gegenwärtigen Befinden zusammen; es waren auch Hederichs Einflüsse, dem er aber jetzt kündigen wollte, und die Lamentationen von denen oben wirkten ebenfalls mit. Das kannte er schon. Vielleicht beeinflußte überdies die Enttäuschung Grete, aber die würde bald wieder einem anderen Gefühl weichen. Er siegte doch noch! Tankred von Brecken war wieder voll bester Hoffnungen. * * * * * Bald nachdem Tankred sich entfernt hatte, begab sich Grete zu Hederich. Sie nahm einen versteckten der sie hinten ans Haus führte, fragte Hederichs Wirtschafterin, ob der Herr Verwalter anwesend sei, und trat, deren eifrige Bereitwilligkeit, Hederich zu benachrichtigen, kurz abwehrend, ohne Meldung in dessen Arbeitsgemach. Hederich stand, den Rücken der Thür zugewendet, über eine Kiste gebückt, in die er Papiere packte, und sagte, offenbar seine Wirtschafterin vermutend, und ohne sich umzuwenden. „Was ist — was ist? — Drum und dran — jetzt habe ich keine Zeit. — Wie? Was? — Ah, ah — Sie, liebe Frau von Brecken? — Verzeihen Sie! Bitte, nehmen Sie Platz. — Nein, es ist gar nichts. Es war nur — drum und dran — Hier, hier sitzen Sie bequemer. — Ja, ich will gleich sagen, daß ich nicht zu Hause bin, daß wir ganz ungestört bleiben.“ Nach diesen Worten lief er fort, kam eilfertig zurück und nahm neben Grete, die mit trüber Miene und blassen Wangen sich niedergehockt hatte, Platz. „Nun, was ist geschehen? Hoffentlich nichts Böses?“ begann Hederich, sich zu der jungen Frau neigend und sie mit seinen ehrlichen Augen voll Teilnahme anblickend. Aber statt zu antworten, legte Grete plötzlich die Hände vor das Angesicht, und ein leises Schluchzen drang aus ihrer Brust. „Es ist aus, alles aus, Hederich,“ stieß sie, nachdem er zärtlich, wie man einem Kinde begegnet, auf sie eingeredet hatte, heraus. „Ich bin traurig zum sterben. Niemand hat mich lieb, niemand mag mich — Mama und Papa wollen unabänderlich fort. Und noch anderes: Ich fühle — o Hederich! — es ist schrecklich — entsetzlich —, allmählich eine nicht zu erklärende Abneigung gegen Brecken. — Und doch vielleicht sehr erklärbar,“ fuhr sie nach kurzer Pause in bitterem Tone fort. „Er ist nicht gut, ich seh's, — er ist schlecht! Er ist es noch nicht gegen mich gewesen, wenn er auch schon gelegentlich sehr roh und rücksichtslos war, aber es wird kommen. Es bereitet sich etwas vor; mir ahnt es. Wissen Sie, Hederich, ich möchte wieder von ihm. Ich möchte meine Freiheit zurück haben. Nachdem mir Mama wiederholt ihre Ansicht über ihn ausgesprochen, und ich jetzt sehe und höre, wie sie alle über ihn denken, finde ich, durch meine eigene Sinnesänderung bestärkt, alles betätigt. Ich fühle, daß sein Einfluß auf mich nicht gut war, daß er meine Fehler, meine Engherzigkeit förderte, daß er es gewesen, der mich den Gedanken, die Eltern sollten Holzwerder verlassen, schon als etwas ganz Selbstverständliches ansehen ließ. Er bringt uns überhaupt mit aller Welt in Uneinigkeit. Die Menschen ziehen sich von uns zurück — ich merke es wohl —, sie wollen nichts mit ihm, mit uns zu thun haben. Wir erhalten Absagen, wenn wir einladen. Man giebt Gesellschaften und umgeht uns. Noch sind kaum zwei Jahre verflossen, und schon ist das Leben jeglichen Reizes entkleidet, ja, die Hoffnung auf Gut und Geld ist nun auch geschwunden. Er hat sich mit Theonie überworfen!“ „Wie? Mit Frau Cromwell auch?“ stieß Hederich, dem alles andere von Grete Vorgebrachte nicht neu war, der auch die Sinneswendung in ihr früher oder später hatte kommen sehen, auf den das Zerwürfnis mit Theonie aber wie ein Blitzschlag wirkte, erschrocken heraus. Und nun sagte sie ihm alles, was sie wußte, und wie sie trotz Tankreds Darstellung die Dinge beurteilte. Sie gab ihm allein schuld, sie schloß: „Er hat's natürlich verdorben. Als sie nicht gleich wollte, wie er wünschte, ist er brutal und ausfallend geworden. Sie wissen, im Zorn spricht er unglaubliche Dinge und deckt sein Inneres auf. Ach — ach — Hederich — ich weiß nicht, was werden soll. Hat mich Mama so beeinflußt? Ich verstehe mich selbst nicht. Ich bin mir nur darüber klar, daß ich nicht glücklich bin und mit Brecken nicht leben kann. Nein! Nein. Es ist nicht das, was Sie denken, leider, leider denken, Hederich. Die Erbschaftsangelegenheit beeinflußt mich durchaus nicht. Ich schwöre es Ihnen. Ich kann ja einmal nicht gegen meine Natur, ich bin sparsam und habe das Geld lieb, aber jetzt bewegt mich nur der eine Gedanke, die Achtung vor mir selbst zurückzugewinnen, mir die Achtung anderer zurückzuerwerben, mich mit Mama auszusöhnen und meine Seelenruhe wieder zu erlangen. O, ich möchte Theonie sprechen. Nicht, um etwas von ihr zu erbetteln wie er, nein, um klar zu sehen, mich vor ihr zu rechtfertigen, und wenn ich Schuld trug, sie ihr abzubitten. Und nun helfen Sie mir, Hederich. Was soll ich thun? Wie komme ich von ihm ab? Ich muß wieder frei sein!“ Der Mann, der Grete durch besänftigende Einschaltungen und Trostworte wiederholt unterbrochen hatte, erhob bei den letzten Worten das Haupt und sagte: „Ja, meine liebe Frau von Brecken, liebe Frau Grete, das ist eine schwere, sehr schwere Sache, und das müssen Sie selbst wissen. Wie wollen Sie das, drum und dran, anfangen? Er läßt Sie nicht gutwillig, und wenn er Sie wirklich läßt — passen Sie auf — dann verlangt er womöglich alles, was Sie besitzen, und wirft Ihnen und Ihren Eltern kaum einen Bettel hin. Ich sag's — drum und dran — offen, wie ich's mein. Und erlauben Sie die Frage: Haben Sie Gütergemeinschaft mit ihm geschlossen?“ „Ja — a —, ich that's, weil er seinerseits die Erbschaft von Falsterhof als sicher in Aussicht stellte. — Bitte vergessen Sie doch nicht, Hederich,“ schob Grete eilfertig ein, als sie des Freundes bedauerndes Kopfschütteln begegnete, „welches Air er sich gab! Wir konnten doch nur die beste Meinung von ihm fassen! Er wußte sich so einzuschmeicheln, daß wir die abfälligen Urteile anderer bloß als Neid und Mißgunst ansahen, als das Ergebnis seines häufig schroffen Wesens und seiner gelegentlich hervorbrechenden jähzornigen Natur. Gewiß, ich weiß, Sie warnten mich. Aber er hatte damals meine Sinne bereits gefangen. Ich bin jung, ich bin ein Weib und habe Fleisch und Blut —“ Die Frau brach plötzlich ab und starrte vor sich hin, und dann sagte sie als Resultat ihrer raschen Überlegungen, aber auch so, als habe ein Vorgespräch darüber stattgefunden: „Ja, das wäre eine Möglichkeit, daß wir, ohne geschieden zu werden, getrennt weiter lebten, jeder für sich. Nun ja denn — ich will's versuchen, so lange es geht,“ schloß sie, dumpf resigniert. „Dann können die Eltern bleiben, und gerade sie sollen bleiben, ‚er‘ mag sich von uns separieren.“ Da die Gedanken der Frau solche Wendung genommen, sprach Hederich noch eindringlicher auf sie ein, bat, daß sie sich beruhigen möge, und gab auch, um zum guten zu reden, seiner Verwunderung Ausdruck, daß sie so plötzlich zu einer solchen Stellung Tankred gegenüber gelangt sei. „Nicht plötzlich, Hederich. Ich habe mich nur rasch zu einem Entschluß aufgerafft,“ entgegnete sie mit einer eigentümlichen Weichheit im Ton. „Und wissen Sie nicht, daß mir schon während meiner Verlobung bisweilen Zweifel kamen, daß ich fühlte, es sei doch vielleicht nicht das Rechte, daß ich äußerte, ich brauche einen Mann, der mein bischen Herz fördere, statt die guten Regungen in mir zu ersticken!? Gewiß, ich hatte zeitweilig alle Sehkraft verloren, während unserer langen Reise fast ganz, aber die letzten Gespräche mit Mama, zusammen mit allen Vorgängen, brachten mich zum Nachdenken und zur Besinnung, und mir schauderte vor dem Bild, das sie mir von mir selbst und von ihm rückhaltlos entrollte. Das Gefühl für Recht und Wahrheit begann sich in mir zu regen; ich konnte meinen Mann plötzlich nicht sehen; über alles, was er that und sagte, stieg Ärger und Unmut, oft Ekel in wir auf, weil ich alles berechnend, unwahr, falsch fand; mir graute, wenn er mich berührte, und meine Gelassenheit und Ruhe waren schon längst künstlich oder ein Ergebnis der letzten noch vorhandenen Regungen für ihn.“ Während Grete diese Worte sprach, erschien die Wirtschafterin und überbrachte ein Schreiben. Es sei im Schloß abgegeben; Peter habe es herübergebracht; der Bote von Falsterhof wisse nicht, ob er Antwort haben solle. „Von Falsterhof? Von Theonie?“ Grete erbrach den Brief mit fieberhafter Hast, las ihn, erbleichte, griff dann nach einer Einlage und schaute sie mit großen, erschrockenen Augen an. Und nachdem sie auch diese gelesen, ließ sie die Schriftstücke aus der Hand fallen und sank stöhnend und wie vernichtet in den Sessel zurück. * * * * * Als Tankred, während dies bei Hederich geschah, auf den in Klementinenhof zwischen Tannenreihen sich ausbreitenden Vorhof trabte, zog ein eben dem Stall sich nähernder Diener den Hut und fragte, ob er das Vergnügen habe, mit Herrn von Brecken zu sprechen. Er sei von seinem in der Nacht erkrankten Herrn beauftragt worden, nach Holzwerder zu reiten, um Herrn von Brecken zu bitten, geneigtest einen anderen Tag für seinen Besuch zu wählen. Nicht wenig überrascht, aber auch von Mißtrauen erfaßt, forschte Tankred in des Boten Mienen. Aber in ihnen spiegelte sich ein so ehrlicher Ausdruck wieder, und der Bericht des Dieners über die Krankheit klang so überzeugend, daß Tankred von der Annahme, Streckwitz habe sich nur eines Vorwandes bedient, um eine Begegnung mit zu ihm vermeiden, sogleich zurück kam. Aber die Ungeduld, doch irgend etwas seinen Plänen Förderliches zu unternehmen, beherrschte ihn so sehr, daß er beschloß, Höppners aufzusuchen und dort je nach Gelegenheit direkt oder indirekt für sich zu wirken. Frau Höppner empfing ihn, als er nach scharfem Ritt und Einstellung des Rappen im Krug das Pastorenhaus betrat, auf dem Flur und erzählte ihm sogleich sehr besorgt, daß ihr Mann wieder einmal das Bett hüten müsse. Sie erwarte den Arzt und sehe schon mit Ungeduld nach ihm aus. Während sie ihr Gespräch in etwas gezwungener Weise im Wohnzimmer fortsetzten, schon deshalb, weil Tankred sah, daß die Gelegenheit, über seine Sache zu reden, durchaus keine günstige war, meldete die Magd den Doktor, der sogleich ins Zimmer trat und berichtete, daß er bereits bei dem nachts vorher erkrankten Herrn von Streckwitz gewesen sei. Tankred stellte sich völlig unwissend und bat den Arzt, Näheres mitzuteilen. Es könne eine sehr langwierige Sache werden, äußerte der Doktor Ernst, ein etwas kurz und bündig sprechender, auch wegen seiner Formlosigkeit vielfach angegriffener, aber ungewöhnlich zuverlässiger Mann. Es seien leider die Anzeichen einer Kopfrose vorhanden; Herr von Streckwitz habe in der Nacht bereits starkes Fieber gehabt. Die Pastorin hörte voll Teilnahme zu, auch regte sich ein tiefes Mitleid für Theonie. Wenn das Befinden ihres Mannes sie nicht abhalte, werde sie gleich am Nachmittag nach Falsterhof fahren, erklärte sie. Der Doktor war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, wandte sich bei diesen Worten aber noch einmal zurück und sagte: „Es wäre allerdings sehr wünschenswert, daß Frau Cromwell zuverlässige Mitteilung in schonender Weise erhielte. Herr von Streckwitz hat ihr vorläufig nur sagen lassen, daß er heute verhindert sei, sie zu besuchen.“ „So, so!“ stieß die Pastorin lebhaft heraus. „Ja, dann muß ich doch wohl sehen, ob ich nicht — Aber halt! Würden Sie es nicht vielleicht übernehmen, Ihre Kousine vorzubereiten, Herr von Brecken?“ Hier fand sich ein Ausweg! Brecken war in den Augen der Anwesenden als einziger Verwandter grade die richtige Persönlichkeit. Der Doktor stimmte auch zu und sah, bereits in der Thür gehend, Tankred ermunternd an. „Ja natürlich — gewiß — ich werde alles besorgen!“ gab Tankred, dem plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoß, bereitwillig zurück. „Und was meinen Sie, Herr Doktor, wäre es wünschenswert, daß meine Kousine etwa zur Pflege hinüberkäme?“ „Nein — ich denke — wir wollen das noch abwarten. Ihre Frau Kousine würde, abgesehen von naheliegenden Bedenken, wohl dadurch grade beunruhigt werden. Nein! Ich bitte, nur zu sagen, daß etwas Erkältung und Fieber vorhanden sei. Sie werde täglich Nachricht erhalten.“ — Wenige Minuten später hatten sich die Sprechenden getrennt, und Tankred war schon wieder auf dem zum Wirtshaus. Wenn doch der Himmel Einsicht nehmen und Streckwitz aus der Welt schaffen wollte! dachte er, während er dahinschritt. Dann, dann konnte alles noch gut werden! In ihrem Schmerz würde Theonie wieder weicher, nachgiebiger werden, noch weniger Wert auf Hab und Gut legen, als jetzt. Und die ihm aufgetragene Botschaft wollte er bestens zu seinem Vorteil nützen! Im Krug angekommen, ließ er sich Papier und Tinte geben und schrieb: ‚Liebe Theonie! Mir wurde, da ich zufällig bei Höppners war und dort den Doktor traf, der Auftrag, Dich zu benachrichtigen, daß Dein Verlobter von einem Unwohlsein befallen ist. Ich freue mich, Dir sagen zu können, daß Ernst keinerlei Besorgnisse hegt; nur besuchen kann Dich Dein Bräutigam in den nächsten Tagen nicht. Ich wähle diese Form der Mitteilung, da ich persönlich ja nicht vor Dir erscheinen darf. Ist es denn wirklich wahr, daß jedes Band zwischen uns zerrissen ist? Kannst Du wirklich nicht verzeihen Deinem seine leidenschaftliche Natur stets nachher tief bereuenden T. v. Brecken?‘ So! Dies Billet konnte jedenfalls nicht schaden! Tankred nahm es an sich, bestieg sein Pferd und ließ es, als er nach einem Stündchen das Verwalterhaus von Falsterhof berührte, von dort aus Theonie hintragen. Nach einigen Umwegen über den eigenen Besitz kehrte er gegen mittag wieder nach Hause zurück und berichtete seiner ihm abermals mit einem eigentümlich stillen und verschlossenen Wesen gegenübertretenden Frau, weshalb er unverrichteter Sache zurückkehre. „Die Zeit muß es klären, und wenn nicht, nun dann war's abermals eine Hoffnung weniger!“ stieß sie in einem teilnahmlosen Ton heraus und bückte sich über ihre Handarbeit. „Was sagst Du? Du bist so sonderbar!“ forschte Tankred mit einem Anflug von Ungeduld. Ihn ärgerte ihr Wesen. „War Mama unten?“ „Nein!“ „Sprachst Du niemanden?“ „Ich verstehe Dich nicht —“ Tankred fühlte, daß seine Frau auswich. Man hatte wieder auf sie eingewirkt, und er wollte, sie sollte sprechen. In seiner reizbaren Stimmung kehrte sich sein Zorn gegen sie. „Hederich war hier! Er sagte es mir doch —“ setzte er, seine Voraussetzung als Thatsache hinstellend, an. Die Frau erhob das Haupt und sah ihren Mann finster an. „Er sagte es Dir? Du sprichst die Unwahrheit, Tankred! Oft thust Du das.“ „Oft thue ich das? Was soll das heißen? Was hast Du überhaupt? Du bist so vorwurfsvoll-sentimental. Wer hat Dich beeinflußt? Sprich!“ „Ach Tankred —“ ging's aus dem Munde der Frau. Es klang wie eine tiefe, schmerzliche Klage. Wieder einmal schien sich ihr Herz zu regen, das Herz, das so selten sein Dasein verriet. Und Klugheit und ein mit einer plötzlichen, unerklärlichen Unruhe vermischter Gefühlsdrang mahnte den Mann, sein Weib in die Arme zu nehmen und zärtlich und versöhnend auf sie einzusprechen. Aber er vermochte einmal nicht, seine Heftigkeit zu zügeln. So stampfte er denn statt dessen mit dem Fuß und wiederholte ungeduldig, drohend und gebieterisch: „Ach was! Antworte, wenn ich Dich frage! Wer hat Dich gegen mich aufgehetzt? War es der alte Schleicher? Hat er wieder mit denen oben intriguiert? — Nun? Wirst Du antworten?“ Aber unwillkürlich trat Tankred zurück. Statt sich zu fügen, richtete Grete plötzlich ihre Gestalt empor, und mit einem stolzen Blick seine Gestalt musternd, rief sie: „Wie kommst Du dazu, in einem solchen Tone mit mir zu reden? Ich lasse nur von niemandem außer Gott Befehle erteilen. Das merke Dir, und merke es Dir gut, denn ich dulde es nicht noch einmal. — A — h —“ stieß die Frau langgezogen heraus und fiel in einen Sessel „Wie grenzenlos traurig starrt mich das Leben an!“ Aus Tankred von Breckens Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen, so unerwartet trafen ihn diese, ihr geheimstes Inneres aufdeckenden Worte, so tief erschüttert schien seit gestern ihr ganzes Wesen, daß ihn gegenwärtig nicht mehr Zorn und Auflehnung beherrschten, sondern grenzenlose Überraschung, und zu ihr gesellten sich, da es nun offenbar war, daß sich inzwischen etwas Außerordentliches zugetragen, Angst, Feigheit und der brennende Drang nach Aufklärung. Und da griff er zur Erreichung seiner Zwecke nach dem alten, oft angewendeten Rezept und ergab sich einer lamentierenden Weichmütigkeit. Er begann, von sich zu sprechen, was er alles durchzufechten habe, wie bedrückt er sei, da doch die Dinge mit denen oben und mit Theonie wahrlich nicht spurlos an ihm vorübergingen, wie entschuldbar es sei, daß er erregt und reizbar wäre, und daß, wenn nicht einmal sie ihn verstehe und Nachsicht übe, das Leben nicht mehr lebenswert für ihn sei. Und reden könne sie doch wenigstens, das sei doch wahrlich nicht zu viel verlangt. Aber sein Mittel verfing nicht. Sie erhob sich nicht, wie es sonst bei Zerwürfnissen geschehen, und lehnte sich an ihn, sondern sie saß da wie eine Abwesende und starrte mit todestraurigen Blicken vor sich hin. Dann stieß sie in ihrer eigentümlichen, eine ganze Gedankenreihe zusammenfassenden Weise heraus: „Ja, ja! Jeder sucht sich den Rücken zu decken. Aber nur die That überzeugt, und bei Dir ist die That Gegenzeuge. Worte sind Worte!“ Und mit schmerzlicher Verzweiflung im Ausdruck für sich sprechend, fügte sie hinzu: „Was handelte ich ein für das, was ich hingab? Was ist mir dafür geworden? Meine Mutter verlor ich, niemand mag mich, mein Herz weint mehr, als daß es lacht — es lacht fast nie. Sie wollen alle nichts von uns wissen! Wir stehen ganz allein, und auch die Hoffnung auf die Zukunft haben wir zu begraben. Nie wird Theonie ihren Sinn ändern. Und wer verschuldet das alles?“ „Nun? Wer, wenn's wahr wäre? Bin ich's?“ Tankred sprach's mit wilder Gebärde und sah seine Frau drohend an. Er war wie rasend. Die Zornadern schwollen ihm, und in dem geöffneten Munde erschienen seine Zähne wie die eines Raubtieres. Aber er flößte ihr keine Furcht ein. „Gleichviel — es ist so — und ich muß es tragen,“ — stieß sie mit finsterm Trotz heraus und stützte den Kopf mit dem schönen, kalten Antlitz auf die Hand. Aber grade ihre Ruhe machte den Mann fast besinnungslos. „Ja, ja, Du mußt es tragen!“ betonte er roh und höhnisch. „Und das Bündnis mit mir bereust Du jetzt natürlich, seitdem die Aussichten auf Geld und Gut geschwunden sind. Nun kenne ich den Grund Deiner Kälte. Jetzt bin ich Dir nichts mehr! — Natürlich, natürlich, Du kalte, berechnende Natur!“ „O Du —!“ stieß die Frau heraus, erhob das gesenkte Haupt und sah den Mann mit einem Ausdruck maßloser, mit Ekel und Weh vermischter Verachtung an. Durch diese seine Sprache war das letzte vernichtet, was sie noch in ihrem Herzen für ihn fühlte. Und er wußte auch jetzt durch ihren Blick, daß er sie verloren, daß sie ihn erkannt hatte als das, was er war. Gut, so mochte es denn sein! Er war zum Kampf bereit, aber die Personen, die Mißtrauen und Widerstand in ihrem Innern angeblasen zu solcher Flamme, sollten büßen. Zunächst jedoch noch einem anderen Gedanken folgend, sagte er und drängte seinen Blick in ihre Augen: „Übrigens noch eins, bevor Fragen solcher Art als völlig nebensächlich zwischen uns erscheinen! Du gabst bisher vor, mich zu lieben. Hast Du mich denn je geliebt?“ „Wozu — das —?“ „Gleichviel — sage auch ich. Ich bitte ja nur, zu antworten! Ich befehle ja nicht!“ „Ich glaubte Dich zu lieben, ja! —“ „Und nun liebst Du mich nicht mehr?“ „Nein!“ Sie sprach's mit grausamer Kälte. „Nein?“ Es drang tobend und stöhnend, fast wie ein Gebrüll aus des Mannes Brust. Was sein Gefühl ihm gesagt, nun ward's deutlich und nüchtern bestätigt. Aber was war denn geschehen, daß im Lauf weniger Tage sich dieses Weibes ganzes Inneres von ihm abgewendet hatte? Zorn, Enttäuschung, Rachsucht, Qual und ein Gefühl grenzenloser Unbefriedigung wirbelten in Tankreds Innerem zusammen. „Nein?“ wiederholte er. „Und da es nicht die Enttäuschung ist, die Dir Theonie bereitete, wie Du mich eben durch Deinen Blick zu belehren trachtetest, was ist's denn? Bist Du zu feige, mir Rede zu stehen? Nun, was ist's wodurch ich Deine Liebe verlor?“ „Besser, Du hättest mich nicht gefragt. Ich wollte schweigen und es ertragen bis an mein Lebensende. Ich begegnete Dir ohne Wärme, aber ich mied bisher Wortkampf und Streit. Du aber hast mir heute Dein Inneres enthüllt, und mit Grausen sehe ich in die Tiefe. So sei es denn! Was in dieser Stunde geschehen, lötet doch kein Künstler wieder zusammen, und hätte er eines Gottes Hand. Hier!“ fuhr sie fort, knöpfte ihr Mieder auf und zog Papiere hervor. „Lies diese mir heute morgen von Theonie zugegangenen Zeilen und lies auch die Abschrift ihrer Originalzusage. Vergleiche sie mit dem, was Du meinen Eltern und mir vorgelegt, und dann wage noch Deinen Blick zu mir aufzuschlagen! Und nun höre und wisse: Als ich mich entschloß, Dir die Hand zu reichen, sah ich wohl Deine Fehler, aber in ihnen zugleich Zeichen kräftiger Männlichkeit, die ich um so höher schätzte, als ich sie stets in meiner Umgebung vermißt hatte! Sie respektierte ich, und aus diesem Respekt erwuchs ein Gefühl, das ich selbst für Liebe hielt. Nun aber empfinde ich nicht nur keinen Respekt, sondern Ekel vor Dir. Gewiß, ich bin selbst nicht gut, ich habe wenig Herz, ich denke zu viel an mich, auch bin ich vielleicht ein Produkt meiner Erziehung, oft ungerecht und empfindlich, aber ich war doch nie schlecht. Ich hasse die Lüge, die Unehrlichkeit, die Maske, die Verstellung und jegliche Abweichung vom Recht. Es ist mir, als ob durch diesen einen Blick in Deinen Charakter plötzlich die Binde von meinen Augen gefallen ist. Du fragst mich spottend, ob ich Dich je geliebt habe? Hattest Du denn je für mich ein ehrliches Gefühl? Nein, Du hattest nur Gefühl und Sinn für mein Geld, und um das zu erobern, griffst Du zu dem Elendesten, was es in meinen Augen giebt! Und welche Meinung über mich dokumentiertest Du durch diese Handlung! O — welche Meinung! Ich bin so beschämt, so bedrückt, so zerrissen und zermartert in meinem Innern, daß der Tod mir eine Erlösung wäre. Nach reiner Luft schreie ich; wie verpestet erscheint mir im Hause die Atmosphäre! Droben meine Mutter in Thränen; keinem Freund, keine Liebe, nur Gesichter voll Abscheu — selbst Hederich, mein bester, einziger Freund, wendet sich von mir! Du selbst bist nur beherrscht von Deinen Leidenschaften, nicht das Gute in mir fördernd, sondern nur das Schlechte, und nun gar roh, gemein, als sei ich eine Dirne! Ich kann's und will's nicht mehr! Ich bereue, daß ich so weit sank, daß mein besseres Ich so einschlief! Ja, meine Mutter und Hederich haben recht. Kaum ist's noch Zeit zur Umkehr! Wenn mir jemand gesagt hätte, Du habest einen Mord begangen, nicht furchtbarer hätte die Nachricht auf mich wirken können, als der Beweis, daß Du ein Fälscher bist.“ — — Grete hatte lange das Zimmer verlassen, aber noch immer stand der Mann regungslos da, und nur der Mund, in dem sich die Zähne zusammenbissen, ging unruhig hin und her. Dann aber raffte er sich auf, warf höhnisch den Kopf zurück und griff nach Theonies Schreiben. Es lautete: ‚Sehr geehrte Frau von Brecken! Wenn Sie diese Zeilen erhalten, wissen Sie, daß eine Auseinandersetzung zwischen mir und meinem Vetter stattgefunden hat. Ich habe sie nicht herbeigeführt, sondern er, und wenn er sich meiner höflichen, aber entschiedenen Ablehnung, schon jetzt durch Vergleich die Erbangelegenheit zu ordnen, gefügt hätte, wenn er nicht abermals Schuld auf Schuld gehäuft und an den Tag gelegt hätte, daß seine Wandlung nur eine rein äußerliche geblieben, würde ich sicher das Eventualversprechen später in ein definitives verwandelt haben. Er aber drohte mir wie vor Jahren, wo ich ihm die Schwelle meines Hauses verbieten mußte, wie ein Einbrecher, er verunglimpfte abermals meine in Gott ruhende Mutter, indem er behauptete, sie habe ihm Versprechungen gemacht, kurz, er trat nicht auf wie ein Freund und Verwandter, dem etwas zu gewähren ist, sondern wie einer, der etwas zu fordern hat und es mit Gewalt erzwingen will. Als ich ihm meinen Willen kund that und zugleich erklärte, daß er durch sein empörendes Verhalten ein für allemal jeden Anspruch verwirkt habe, spielte er eine widerwärtige Komödie und schob, statt seine innere Verderbtheit zuzugestehen, wie stets, alles auf sein heißes Blut. Dieses falsche Spiel um eines Vorteils Willen erhärtete völlig meinen Entschluß, das Tuch zwischen uns zu zerreißen. Ich füge Abschrift der Akte bei, die ich ihm seinerzeit auf sein inständiges Bitten ausstellte. Sie allein rechtfertigt mein Verfahren. Aber ich will überdies, daß Sie mich nicht falsch beurteilen. Da ich nicht weiß, was er Ihnen erzählt hat, bedarf es zur richtigen Schätzung meiner Handlungsweise dieser Zeilen. Auch stehe ich Ihnen, obschon mein Entschluß unabänderlich, so unabänderlich ist, daß ich bereits eine anderweitige unumstoßbare Verfügung getroffen habe, jederzeit zu weiterer Erklärung zur Verfügung. Denken Sie, trotzdem auch Sie von der Wirkung meines Thuns betroffen werden, ich bitte, nicht allzu strenge über mich. Ich vermochte nicht anders zu handeln, und nicht ich, sondern lediglich mein Verwandter trägt die Schuld an diesem Ergebnis. Die Ihrige Theonie Cromwell geb. von Brecken.‘ — Zunächst begab sich Grete nach dem völligen Bruch mit ihrem Manne auf ihr Schlafzimmer und suchte die Einsamkeit. Sie warf sich in einen Sessel und starrte vor sich hin. Wozu befand sie sich überhaupt auf der Welt? Welchen Zweck hatten Leben und Dasein? Waren das Weltall, die Erde, alle Geschöpfe, die darauf wohnten, nur durch einen Zufall entstanden? Und wenn nicht, wenn ein umfassender Geist das alles geschaffen, welche Absicht verfolgte er mit dem Ganzen und mit der einzelnen Kreatur? Fragen, auf die es keine Antwort gab, die zu stellen auch müßig war, deren Unlösbarkeit aber die Qual und den Lebensüberdruß, der Grete erfaßt hatte, erhöhten. Und doch gingen allmählich ihre Gedanken wieder zurück auf das, was greifbar war, auf das, mit dem sie sich nun einmal abgefunden hatte, und an die Stelle dieser gänzlichen Öde ihres Innern trat — wie umgekehrt dem Glücksrausch die Ernüchterung zu folgen pflegt — ein Gefühl von Sehnsucht und Hoffnung, eine Weichheit der Seele. Aber auch eine gewisse Kraft bemächtigte sich ihrer. War denn schon alles verloren, hatte sie ein Recht gehabt, so völlig zu verzweifeln, selbst ihr Bild im Spiegel mit Abscheu zu betrachten? Nein! Und nicht zu untersuchen galt es, wer schuld sei, daß ihr Herz spröder als dasjenige anderer war, daß ihr Ich sich vordrängte, sondern die Harmonie ihres Innern zurück zu gewinnen, glücklich zu sein, darauf kam es an! Und um glücklich zu sein, mußte man andere glücklich machen, das hatte sie als notwendig erkannt aus dem Zerwürfnis mit ihrer Mutter, deren Leid und Kummer auch sie elend machte. Und ferner: Nichts war verderblicher, als vor dem Unglück den Nacken zu beugen. Ein Vers fiel ihr ein, den sie einst gelesen, der sich ihrem Gedächtnis eingeprägt hatte: Feiger Gedanken Bängliches Schwanken, Ängstliches Zagen, Weibisches Klagen Wendet kein Elend, macht dich nicht frei. Allen Gewalten Zum Trotz sich erhalten, Nimmer sich beugen, Kräftig sich zeigen. Rufet die Arme der Götter herbei! Ja, das war das Richtige! Und zweierlei wollte sie: zunächst zu ihrer Mutter gehen und versuchen, sie zu versöhnen, und dann, nachdem das geschehen, alles aufbieten, um die Ehe mit Tankred zu lösen. Es ging doch nicht in der Weise, wie sie es sich vorgestellt, wie sie es Hederich gegenüber geäußert hatte. Halbe Verhältnisse waren von allem das schlechteste. Sie wollte eine vollständige Scheidung herbeiführen, und wenn sie darum kämpfen sollte mit den letzten, äußersten Kräften und — Opfern. Opfern? — Da regte sich doch wieder ein Teufel in ihr. Opfer bedeuteten Geld! Von ihrem Besitz hergeben? Bequemlichkeiten entbehren? Die Frau atmete tief auf. Ein abermaliger Kampf begann, ein unendlich schwerer. Ihre guten Vorsätze stritten heiß mit ihrem Egoismus. — Einige Stunden später stieg Grete die Treppe zu ihrer Mutter hinauf. Da sie den Diener nicht oben fand, ward sie unschlüssig, was sie thun sollte. So fremd war sie ihren Eltern schon geworden, daß sie zauderte, ohne Anmeldung bei ihnen einzutreten. In diesem Augenblick öffnete Frau von Tressen die Thür und rief über den Korridor nach dem Diener. „Ich suchte ihn auch, Mama —“ erklärte Grete. „Grete, Du?“ ging's in maßlosem Erstaunen aus dem Munde der Frau. Statt zu antworten, nickte die Angeredete und ergriff fast stürmisch ihrer Mutter Hand. „Ich möchte Dich sprechen, in wichtiger Angelegenheit sprechen, Mama!“ begann sie, schritt neben ihr ins Wohnzimmer und ließ sich an dem Fenster, an welchem ihre Mutter zu sitzen pflege, mit einem Versöhnung erbittenden, weichen Ausdruck nieder. „Nicht wahr, Ihr geht nicht? Ihr bleibt?“ fuhr sie drängend fort. „Ich komme, um Euch darum zu bitten. Sieh, es ist alles aus zwischen mir und meinem Mann —“ Frau von Tressen, die mit größter Überraschung zugehört, fuhr bei dem legten Satz unwillkürlich in die Höhe. „Ich will los von ihm!“ fuhr Grete von Brecken kurz und entschieden fort. „Ich habe eingesehen, daß wir nicht für einander passen. Wir ergänzen uns nicht, es ist auch etwas geschehen, was es mir unmöglich macht, ferner neben ihm zu leben. Helft nur, daß ich mich wieder von ihm trenne.“ Und nun entwickelte Grete Frau von Tressen ihre Pläne. Sie wollte bereits am folgenden Tage nach dem Süden abreisen, und ihre Eltern sollten sie begleiten. In Elsterhausen hatte sie die Absicht, vorher mit dem Rechtsbeistand die Form der Scheidungsklage zu besprechen. Er sollte persönlich mit Tankred verhandeln. In Frau von Tressens Brust erhob sich bei all diesen Mitteilungen ein Sturm von Empfindungen. Dieser plötzliche Entschluß in so bestimmter Form, diese Wandlung erschien ihr bei Gretes ganzer Veranlagung, bei der Stellung, die sie bisher zu Tankred eingenommen, und bei der Nüchternheit ihrer Auffassung so außerordentlich, sie verrieten so ungewöhnliche Vorgänge, daß Frau von Tressen vor allem in Grete drang, sich ihr ganz anzuvertrauen. „Es war schon lange etwas in mir,“ entgegnete die Frau. „Ich wollte es mir aber nicht eingestehen; und weil dem so war, zwang ich mich nicht nur äußerlich, für Brecken Partei zu nehmen. Oft war's mir denn wieder auch, als sei dies das Rechte. Aber wenn eine Szene zwischen Dir und mir stattgefunden, hatte ich, trotzdem es anders erschien, heftige Kämpfe in mir zu bestehen, ich lehnte mich halb gegen Dich, halb gegen mich selbst auf. Diese Zwistigkeiten zeitigten allmählich den Gedanken in mir, daß es so nicht weiter gehen könne. Ich war auch nicht blind für das, was sonst um mich her vorging.“ In dieser und ähnlicher Weise erörterte Grete ihrer Mutter die einzelnen Vorgänge, die Empfindungen, die sie dabei gehabt, und zuletzt die durch Theonies Schreiben an den Tag gebrachte Entdeckung von Tankreds Fälschung. Die letzte Mitteilung versetzte Frau von Tressen in eine furchtbare Aufregung. Am Schluß legte Grete, gedrängt von ihrem Gefühl, einen besonders zärtlichen Ausdruck in ihre Worte. Sie zeigte der über ihre Wandlung bewegten Mutter, daß nicht nur ihr Ich gesprochen, als sie zu dem Entschluß gelangt war, sondern daß auch die Liebe zu ihr einen Anteil daran gehabt hatte. Als die Mittagsstunde herannahte, und Grete sich in das Speisezimmer begab, um noch einmal Umschau zu halten, trat ihr Peter entgegen und meldete seiner Herrin, daß Herr von Brecken bereits vor einer Stunde fortgeritten sei und hinterlassen habe, daß er wahrscheinlich nicht zu Tisch komme. Dies veranlaßte Grete, sich zu ihren Eltern hinaufzubegeben, um sie zu bitten, gleich heute wieder das Mittagsessen unten einzunehmen. Als sie beisammen saßen, ward die Reise erörtert, und Grete erklärte, daß sie bereits an diesem Abend oben im Hause schlafen wolle. „Am besten, wir packen schon heute, fahren morgen früh gleich ab und begeben uns nach Elsterhausen und dann nach Erledigung unserer Rücksprache mit dem Rechtsanwalt nach Hamburg.“ Frau von Tressen, weniger eilfertig, redete auf die junge Frau ein, nichts zu überstürzen, vielmehr noch einige Tage abzuwarten. Ein so wichtiger Entschluß bedürfe der Überlegung; auch um der Menschen willen sei es ratsam, es so einzurichten, daß nichts Auffälliges in ihrer Abreise gefunden werden könne. „Ist dann Eure Trennung nachher eine Thatsache, findet sich die Welt rasch damit ab. Weshalb nicht vermeiden, daß sie sich schon vorher mit unseren Angelegenheiten befaßt?“ Aber obgleich Grete ihrer Mutter nicht unrecht geben konnte, blieb sie doch bei ihrem Willen und fügte sich nur darin, sich nicht heute schon in auffallender Weise von Brecken zu trennen, damit dem Dienstpersonal der Anlaß zu Gesprächen entzogen werde. „Ich thu's, obgleich ich eine Stimme in mir höre, die mir abmahnt,“ sagte sie. „Übrigens bin ich begierig, wie er sich bei seiner Rückkehr zu mir stellen, was er erwidern wird, wenn ich ihm erkläre, wir wollten uns auf Reisen begeben.“ „Thue auch das nicht,“ riet Frau von Tressen. „Er wird Dich zu hindern suchen. Füge Dich heute scheinbar, und dann laß uns morgen ohne Rücksicht handeln.“ — Es war sechs Uhr, als Brecken nach Hause kam. Er hatte stark getrunken. Grete hörte schon bei seinem Eintritt ins Haus seine roh polternde Stimme und bald nachher ein Schreien und Toben und zuletzt ein Geräusch, als sei ein Mensch die Treppe hinuntergestürzt. Als sie erschrocken, aber auch gereizt über diesen Lärm, die Thür öffnete, sah sie ihren Mann mit wutentstellten Gebärden am Treppenabsatz stehen. Er hatte Peter die Treppe hinabgeworfen und rief dem Unglücklichen noch schwere Drohworte nach: Augenblicklich solle er sich packen, das Haus verlassen, oder er werde ihn fortpeitschen lassen. „Nein, er bleibt!“ erklärte Grete in äußerster Empörung, und nur mit Mühe sich bezwingend. „Hier ist keine Spelunke, in der gerauft wird, und ich will nicht, daß der Mensch wie ein Hund davongejagt wird.“ Nach diesen Worten beugte sie sich hinab und rief Peter, der Hautabschürfungen und Knochenverletzungen davongetragen zu haben schien, zu, er möge in sein Zimmer gehen, dort das Nötige für sich thun und später zu ihr kommen. Aber nun wandte sich Tankreds Wut gegen seine Frau. Er überschüttete sie, ohne Rücksicht auf die Hausbewohner zu nehmen, mit lauten, kreischenden Worten und erhob zuletzt die Hand und rief: „Und nun in Dein Zimmer! Es wird überhaupt Zeit, daß ich hier ein anderes Regiment einführe, den Durchstechereien, Sentimentalitäten und Auflehnungen ein Ende mache, kurz mit der Weiberwirtschaft oben und unten gründlich aufräume. Ihr sollt mich jetzt von einer anderen Seite kennen lernen. — Nun, hörst Du nicht? Marsch, vorwärts, oder —“ Und als Grete nicht that, was er wollte, vielmehr furchtlos ihm Trotz bot, ergriff er sie und schleuderte sie gegen die Thür. Und nun ertönte ein furchtbarer, markerschütternder Aufschrei — und dann folgte etwas, das allen Plänen und Reisegedanken für jetzt und immer ein Ende machte. * * * * * Drei Tage später war's. Ein neues lebendes Wesen und — eine Tote. Indem die Frau ihrem Kinde ein zu frühes Dasein gegeben, hatte sie ihr eigenes eingebüßt, und unversöhnt mit dem Manne, dem sie einst in der Leidenschaft der Sinne und unter den Einwirkungen ihrer berechnenden Natur die Hand gereicht, war sie nach furchtbaren Leiden und Kämpfen dahin gegangen, wo es kein Erwachen mehr giebt. Grauen, Schrecken und Entsetzen durchwehte die Räume, die Dienstboten schlichen ängstlich flüsternd einher, und Frau von Tressen, die keinen Augenblick von dem Krankenlager ihrer Tochter gewichen war, schien wie vernichtet. Sie schleppte sich treppauf treppab, um entweder oben nach ihrem mit gichtischen Schmerzen behafteten Mann zu sehen oder unten sich um das kleine Wesen zu kümmern. Und wenn sie dann mit ihrem Blick das starre Antlitz der Toten streifte oder Brecken nicht ausweichen konnte, der ihr begegnete, als ob sie Luft sei, aber an das Totenbett der von ihm Gemordeten mit heuchlerischer Miene herantrat, dann ergriff sie ein so wahnsinniger Schmerz, und die Leidenschaften regten sich in ihr mit solcher Gewalt, daß sie wie zerschmettert zusammensank und in Angst, Kummer und Empörung aufschrie. Und Gedanken kamen und lösten sich ab, und ihre Seele weinte. Nein! Es war nicht möglich! Ihr Kind konnte nicht tot sein, es durfte nicht Wahrheit sein. Die Qual, der Lebensjammer waren zu fürchterlich. Jetzt erst fühlte sie, wie grenzenlos sie ihre Grete geliebt hatte, aber auch mit welcher Blindheit sie geschlagen gewesen, daß sie einer Verbindung ihrer Tochter mit Brecken Vorschub geleistet hatte. Ohne jegliche Empfindung war dieser Mensch. Sie sah's ihm an, daß er nicht erwarten konnte, daß die Leiche aus dem Hause kam, daß das ‚Gejammer‘ ein Ende nahm, daß er ganz allein Herr wurde im Hause und sie verjagen konnte für immer. Und sein Gehirn arbeitete in der Überlegung, welchen Nutzen er für sich aus diesem Vorfall ziehen konnte. Kein Zweifel, er würde Holzwerder für seinen Sohn in Anspruch nehmen, auf die Gütergemeinschaft hinweisen und sich mehr noch als früher benehmen, als sei er alleiniger Inhaber der Herrschaft. Seinen Schwiegervater hatte er während dieser Tage nicht einmal besucht, mit Frau von Tressen hatte er kein Wort geredet, selbst in der ersten Stunde nach Gretes Tod war keine Silbe über seine Lippen gekommen. Nur dem Arzt gegenüber hatte er eine widerliche Komödie gespielt, damit er die Eindrücke hinaustrage in die Umgegend. Und die Frau hatte recht in all ihren Annahmen. Nachdem die Beisetzung der Leiche in Breckendorf stattgefunden hatte, ging Brecken, sich die Hände reibend, im Zimmer auf und ab und dankte dem Schicksal, das es doch trotz allerlei Widerwärtigkeiten so gut mit ihm meinte. Nur eins machte ihm Sorge: wem er das Kind anvertrauen sollte. Die da droben würden es wahrscheinlich in Anspruch nehmen, aber er würde sie kurz und bündig abweisen. Dieses Kind war sein Kapital, und es aus den Händen geben, hieß mit dem Feuer spielen. Gewiß, der Balg war ihm unbequem, aber diese Gêne mußte er schon mit in den Kauf nehmen. Und Breckens gute Stimmung wurde noch erhöht durch etwas sehr Erfreuliches, das an sein Ohr gedrungen war. Herr von Streckwitz lag fast aussichtslos darnieder; es schien jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß er am Leben blieb. Theonie war nicht einmal bei dem Begräbnis gewesen, sie hatte sich bei Frau von Tressen entschuldigt. Und dann beschäftigten sich die Gedanken des Mannes auch mit dem Nächstkommenden: wann nun die oben Holzwerder verlassen würden, was die Frau vorbringen, welche Vorschläge sie wegen des Kindes machen werde. Der nächste Tag mußte Entscheidendes herbeiführen. Aber die ganze folgende Woche verging noch, ohne daß die Schwiegereltern sich rührten. Frau von Tressen hatte das Kind ohne jede Rücksprache mit Tankred zu sich hinaufgenommen, eine Amme, und was sonst erforderlich, war besorgt, sie ließ wie früher unten kochen und sich oben bedienen und machte keinerlei Miene, in ihren bisherigen Gewohnheiten eine Änderung herbeizuführen oder gar Vorbereitungen zu ihrem und ihres Mannes Fortgang zu treffen. Das regte Brecken dermaßen auf, daß er schon wiederholt einen Brief aufgesetzt hatte, um damit die Alten aus ihrem Schlupfwinkel herauszutreiben. Aber wenn er ihn hinaufschicken wollte, kamen ihm doch wieder Bedenken, ob es weise sei, noch mehr Anlaß zu Gesprächen zu geben. Er hatte eine Unterredung zwischen zwei Holzaufsehern belauscht, aus der hervorging, daß man ihn für den Tod seiner Frau verantwortlich zu machen geneigt war, und daß sich Gerüchte verbreitet hatten, die mit der Erbschaftsakte von Theonie in Verbindung standen. Die Worte: „So was mit Papieren soll nicht richtig sein“ waren an sein Ohr gedrungen, und besonders letzteres hatte doch einen solchen Eindruck in ihm hervorgerufen und war zugleich eine solche Mahnung zur Vorsicht für ihn gewesen, daß er im Fluge nach Hause geeilt war, um das Falsifikat, das er bis jetzt noch immer in seinem Schreibtisch verborgen gehalten hatte, zu verbrennen. Wo kamen aber diese Gerüchte her? Entweder von Falsterhof oder von Hederich. Dieser Hederich, wie er ihn haßte! Nur Rücksicht auf Grete hatte verhindert, daß Tankred nicht längst seine Absicht, ihm den Laufpaß zu geben, zur Ausführung gebracht hatte. Zunächst ließ er ihn nun am Ende der Woche in sein Privatzimmer rufen. Seit Gretes Beisetzung hatten sie einander nicht gesehen. Hederich war damals sichtlich tief ergriffen, seine Mienen kummervoll gewesen, und bei der Grabrede Höppners hatte er geweint wie ein Kind. Das hatte Brecken einerseits sehr geschmacklos gefunden, und andrerseits hatte es ihn geärgert. Auch die Pastorin Höppner hatte sich angestellt, als sei der Weltuntergang gekommen. Durch diese Beweise der Wertschätzung, die man Grete entgegentrug, sah er sich selbst herabgesetzt. Diese Trauer erschien ihm wie eine gegen ihn gerichtete Demonstration. — Es war eine Stunde vor Mittag, als Hederich mit bedrückter Miene zu seinem Herrn ins Zimmer trat. Er war noch tief bewegt durch die Geschehnisse: Gretes Tod, die Trauer und den Schmerz der Familie Tressen, Theonies Sorge, sowie auch durch das infolge der Sachlage sich kund thuende niedergeschlagene Wesen Carins. In Hederich war inzwischen alles erloschen, was er bisher noch für Brecken übrig gehabt. Auch hatte ihn eine völlige Gleichgültigkeit erfaßt, welche Meinung Brecken über ihn, den Untergebenen, habe, ob er ihm gar die Thür weisen werde. Brecken ekelte ihn über die Maßen an; es ging ihm jetzt, wie es Carin lange ergangen, wie es sich allen, die mit dem Manne in Berührung kamen, am Ende aufdrängte. Anders als sonst klang deshalb auch der Ton, in dem Hederich sagte: „Sie wünschten mich zu sprechen?“ „Ja, allerdings, setzen Sie sich und warten Sie!“ warf Tankred, den diese kurze Art äußerst reizte, mit verletzender Nichtachtung hin und trat, als ob er noch etwas zu besorgen habe, ins Nebenzimmer. Hederich stiegen die Blutwellen zum Kopf. Nicht mit dem geringsten seiner Arbeiter hatte er jemals so gesprochen. Wenn er sich auch keines zuvorkommenden Tones bedient hatte, war er doch höflich gewesen. Tankred aber behandelte ihn wie einen zur Rede zu stellenden Bedienten. Und da plötzlich kam Hederich ein Entschluß, ein fester, unabänderlicher. Er war es sich selbst schuldig und schuldig dem Andenken Gretes, die er geliebt hatte, und die der Rohheit dieses Menschen zum Opfer gefallen war, er war es auch der Welt schuldig, diesem rüden Habenichts, diesem Ehe- und Erbschleicher einmal zu sagen, was er von ihm dachte, und wenn's geschehen war, das Haus zu verlassen für immer. Unter solchen Gedanken setzte er sich nicht, sondern stand aufrecht da mit stolzer Miene, als Brecken zurückkehrte. „Nun? Setzen Sie sich doch! Haben Sie denn solche Eile? Ich denke, meine Angelegenheiten haben den Ihrigen vorzugehen, Herr Verwalter —“ „Ohne Zweifel! Aber ich komme, um Ihnen zu sagen, daß ich heute meinen Posten verlassen will, und da habe ich wohl keine Aufträge mehr von Ihnen entgegen zu nehmen. Ein Vertrag zwischen mir und Herrn von Tressen hat nie existiert, wohl aber ist die Abrede getroffen, daß wir jeden Tag gegenseitig das Recht haben, unser Verhältnis zu lösen. Von diesem Recht mache ich nun, und zwar in dieser Stunde, Gebrauch!“ „So, das sind ja sehr hübsche Dinge! Und Sie meinen, das ginge alles nur so, wie Sie sich das ausdenken: Ich mag nicht mehr, und damit basta! Was ist denn der Grund, mein Geschätzter, daß Sie sich die Erlaubnis nehmen, in solcher Weise jede Rücksicht außer acht zu lassen und mir zu begegnen, als habe ich bisher ein Gnadenbrod aus Ihrer Hand entgegengenommen? Ist es die saubere Gesellschaft da oben, oder das intrigante Frauenzimmer Carin auf Falsterhof, die Ihren sonst doch so wenig hellen Kopf plötzlich erleuchtet hat? Ja, ja! Es ist wirklich nicht zu glauben, welchen Einbildungen bezüglich ihrer Vortrefflichkeit sich dieser ganze Kreis hingiebt. Jeder hält sich für einen Gott, und, bei Licht besehen, ist's nichts weiter, als eine sich pharisäerhaft an die Brust schlagende, außerordentlich wenig, fast nichts leistende, aber dem Klatsch und dem zu Gerichtsitzen munter fröhnende Gesellschaft. Nun, antworten Sie, welche Gründe haben Sie, sich plötzlich in die Brust zu werfen, als wären Sie ein Cäsar? Wissen Sie, lieber Herr, was Sie thun sollten? Ihren Klatschweibermund im Zaum halten, mit dem Sie schon so viel Unheil angerichtet haben. So, und nun erwarte ich Ihre Erklärung!“ Diese in einem maßlos impertinenten Ton gesprochenen Worte, diese Ausfälle, welche Hederich in solcher Stärke nicht im entferntesten erwartet hatte, die Brecken aber nach dem Grundsatz angewandt hatte, daß der Angreifer im Kampfe stets im Vorteil ist, machten den mit seinen Fehlern sehr ernst zu Rate gehenden Mann zunächst ganz fassungslos. Auch gaben sie seinem ursprünglichen Entschluß eine völlig andere Richtung. Er konnte, wie er sah, nur verlieren, wenn er sich noch irgendwie mit Brecken einließ. Er sagte deshalb, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, ernst und würdevoll: „Nach Ihren Auseinandersetzungen ist es, ganz abgesehen von der Berechtigung oder Nichtberechtigung meiner Kündigung und deren Ursachen, für mich absolut ausgeschlossen, ferner auch nur einen Augenblick in Ihren Diensten zu bleiben. Sollten Sie mir aber irgend etwas, drum und dran, in den Weg legen, so weiß ich, wo ich Schutz und Recht finden kann, und werde davon sehr ausgiebig für mich und andere Gebrauch machen. Das wollen Sie festhalten. So, und nun Gott befohlen, Herr von Brecken. Mich sehen Sie auf Holzwerder nicht wieder!“ Nachdem Hederich gegangen war, zündete Tankred die ihm bei dem Gespräch ausgegangene Zigarre an, indem er ein bereits gebrauchtes Schwefelholz in die Kaminflamme hielt. Während er sich mit dem Anbrennen mühte, überdachte er das eben Geschehene. Was er dem Manne hingeschleudert, das hatte doch gut gesessen! Nun konnte Hederich erzählen, wie er, Brecken, über die ganze Idiotengesellschaft dachte. Aber seltsam! Durch diese Gedanken gelangte der Mann zum erstenmal zu einem völlig klaren Nachdenken über sich selbst. Während er da in seinem Lehnsessel hockte, murmelte er: „Ich besitze Gaben, durch die ich Großes schaffen könnte, aber sie bleiben wirkungslos, da ich sie nur in den Dienst meines eigenen Ichs stelle. Mein Egoismus bringt mir Vorteile, aber auch Nachteile, weil sich mit meiner Eigenliebe Eitelkeit, Jähzorn und Mangel an Mäßigung verbinden. Was meine Verstellungskunst mir Günstiges schafft, wird durch mein Ungestüm meist wieder aufgehoben.“ Und eine ängstliche Stimme erhob sich in seinem Innern, die flüsterte, es sei nur Schein, daß Gretes Tod, das Zerwürfnis mit Tressens, der Fortgang Hederichs, die Krankheit Streckwitz's ihm förderlich werden würden. Freilich schoben seine Hoffnungen solchen Gedanken rasch wieder beiseite. Was konnte ihm anderes aus alle dem entstehen, als die Erfüllung seiner Wünsche? Und das Gute üben, war langweilig und öde, und durch die Entäußerung seines Ichs ward der Mensch nichts weiter, als der Sklave seiner Umgebung. Er aber wollte nicht nur herrschen und befehlen, sondern auch besitzen. Und das war nicht zu erreichen, wenn er sich moralisierend in Sack und Asche hüllte. — * * * * * Am Abend dieses Tages saß Hederich bei Tressens im Wohnzimmer. Er war gekommen, um Abschied zu nehmen; am nächsten Vormittag wollte er das Gut verlassen, unterwegs auf Falsterhof vorgucken und sich dann nach Elsterhausen begeben. Der Rest der Ruhe, die ihnen noch geblieben war, wurde Tressens durch diese Nachricht genommen. Mit Hederichs Fortgang verloren sie den letzten Halt, und nun war es auch für sie nicht mehr zweifelhaft, daß sie Holzwerder aufgeben müßten. In diesen Trauertagen hatten sie einen Entschluß überhaupt nicht fassen können. Bei ihren Überlegungen sprach bald alles für ihren Fortzug, und bald wieder alles dagegen. Was sollte aus dem Kinde werden, dem lebendigen Andenken an die Tochter? Wenn sie blieben, würde die Großmutter in seinem Anblick wenigstens Trost und eine Ablenkung von der Trauer finden, und sie behaupteten auch eher ihre zweifellos gefährdeten Rechte. Es stand ja alles für sie in Frage. Aber dann drängte es sich ihnen wieder auf, daß es doch unmöglich sei, mit einem solchen Menschen, einem Fälscher, ferner unter einem Dache zu wohnen. Ihnen graute beiden bei seinem Anblick, und es war ihr sehnlicher Wunsch, nie wieder mit ihm in Berührung zu gelangen. Herr von Tressen wollte vor einem entscheidenden Schritt nach Elsterhausen fahren, um mit dem Rechtsanwalt zu sprechen, aber bisher hatte ihn sein Leiden noch immer daran verhindert. So schuf die Lage Unschlüssigkeit und Zweifel, und nicht nur das furchtbare Ereignis, der jäh eingetretene Tod Gretes, machte ihre Herzen krank, sondern auch die Zukunft lastete mit ihren furchtbaren Sorgen auf ihnen. „Drum und dran, machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt, gnädige Frau!“ erklärte Hederich, nachdem er Bericht über seine Begegnung mit Brecken erteilt und dann Tressens Angelegenheiten zur Sprache gebracht hatte. „Ich rate, verlassen Sie Holzwerder. Machen Sie gar keinen Versuch, den Knaben mit sich zu nehmen; es ist doch vergeblich; aber klagen Sie, sobald Ihr Schwiegersohn die Ihnen zugesicherte Rente nicht bezahlt. Er wird sie Ihnen sicher vorenthalten, aber dann müssen alle Mittel in Bewegung gesetzt, und auch eine Eingabe an die Behörde muß gemacht werden, daß ihm als einer vertrauensunwürdigen Person die Vormundschaft über das Kind genommen wird. Gern würde ich in Ihrem Interesse mit ihm geredet haben, aber jetzt wird er mich gar nicht mehr anhören, und — drum und dran — ich halte, abgehen von meiner Abneigung, jemals wieder mit dem Schurken zu sprechen, eine Einmischung meinerseits auch für gänzlich aussichtslos.“ „Nun, so will ich mich selbst aufraffen,“ entschied Frau von Tressen mit blitzendem Auge, und plötzlich wie verwandelt. „Morgen vormittag werden wir im klaren darüber sein, was wir zu erwarten haben, aber wir werden dann auch wissen, was wir zu thun haben, wenn dieser Erbärmliche seine Rolle weiter spielt!“ * * * * * Der Sommer war schon eine Weile ins Land gekommen. In dem Pfarrgarten in Breckendorf dufteten die Blumen, die Bäume und Gebüsche prangten in Kraft und Schönheit, und wohin der Blick sich wandte, sah er blütenschwere Zweige, und wohin das Ohr sich neigte, vernahm es Zwitschern und Singen fröhlicher Vögel. Ein sanfter Regen, der über nacht herabgefallen, hatte den durch längere Dürre hervorgerufenen Staub verwischt und das müde Träumen der Natur in frisches Leben verwandelt, in dem sich nun die neuen Triebe kräftig hervordrängten. Und freudiges Leben erfüllte auch die Herzen der Bewohner des Pfarrhauses; Frau Höppner lief in Haus, Hof, Küche und Keller umher und sah nach dem Rechten, und neben ihr trippelte Lene oder stürmte jauchzend durch die Gartenwege, und hinter ihr her sprang bellend der Hausspitz. Der Pastor schien endlich mit aller Krankheit aufgeräumt zu haben; sein Aussehen war frisch, und seine guten Augen schauten hell und klar. Die beiden Gatten ernteten die Früchte ihrer Herzensgüte durch Zufriedenheit und Wohlbefinden, und da nun auch das auf ihre Anregung in Breckendorf erbaute Armen-Krankenhaus sich seiner Vollendung soweit näherte, daß die Einweihung vor der Thür stand, durchströmte sie ein Gefühl der Freude und Ungeduld, als sei ihnen ein großes Fest bereitet. Das Jahr hatte sonst viel trauriges gebracht, Sorge, Krankheit und Sterben ringsum. Auch Herrn von Streckwitz hatte keine menschliche Sorgfalt retten können; noch einmal war das Glück wie eine helle Sonne vor Theonies Thür erschienen, aber nur zu schnell war es wieder verschwunden. Der Tod hatte der Frau das Liebste vom Herzen gerissen. Nun hockte sie wieder einsam und in Schmerz versunken in ihrem großen Hause oder wanderte todesbetrübt durch den Park. Auch in ihm haltender Sommer seine Reize in verschwenderischer Fülle entfaltet. Die Vögel sangen, und aus der Ferne erklangen Laute ländlichen Lebens: Wiehern der Pferde, Peitschenknallen und einmal fröhliches Singen. Aber die Frau hörte davon nichts, und wenn's ihr Auge und ihr Ohr einmal ausnahmen, so mahnte es sie nur um so schmerzerregender an das, was sie verloren hatte. Auch auf Gretes Eltern, die alten Tressens, die inzwischen nach Klementinenhof gezogen waren, hatte sich von neuem das Ungemach gesenkt. Am verflossenen Ersten des Monats war die Zahlung, die Brecken den Schwiegereltern zu leisten hatte, ausgeblieben. In einem eingeschriebenen Briefe hatte er ihnen erklärt, sich zu ferneren Raten nicht mehr verstehen zu können. Falls Tressens es angebracht finden sollten, dagegen Einspruch zu erheben, werde er mit Ruhe die gerichtliche Entscheidung erwarten. Frau von Treffen hatte nach jenem Besuche Hederichs mit Brecken gesprochen. Kurz und entschieden hatte sie erklärt, was sie wollte, und ebenso kurz und entschieden ablehnend hatte er geantwortet, und dabei waren sogar furchtbare Worte von seiner Seite gefallen: Daß alles so gekommen, daran sei sie ganz allein schuld. Die alte Geschichte von der Unfrieden stiftenden Schwiegermutter habe sich hier wieder einmal bewahrheitet. Wenn sie und ihr Mann gleich nach der Wiederkehr des jungen Paares von der Hochzeitsreise Holzwerder verlassen hätten, so wäre nie Streit entstanden, und Grete lebte heute noch. Daß er die Schuld an ihrem Tode trage, sei lächerlich. Er habe allerdings eine Szene mit ihr gehabt, wie sie aber hundertmal zwischen Eheleuten vorkomme, und daran sterbe keine Frau. In gleichem Zustande seien anderen schon viel schwerere Dinge zugestoßen, ohne daß sie üble Folgen davon getragen hätten. Aber jede Krankheit schließe die Möglichkeit eines traurigen Ausganges in sich, und so sei es hier gekommen. Sein Kind gebe er nicht her. Er behalte es bei sich, denn er sei sein natürlicher Vormund. In dem Vertrage, den er mit Grete getroffen, sei alles nötige vorgesehen; dagegen finde sich in dem zwischen ihr und ihren Eltern geschlossenen Abkommen kein Passus, in dem auf den jetzt eingetretenen Fall Bedacht genommen wäre. Er sei indes als Nutznießer des Besitzes nicht abgeneigt, ihnen bis zur Mündigkeit des Knaben eine monatliche Rente auszuzahlen, vorausgesetzt, daß Tressens sich den Bedingungen unterwürfen, die er stellen müsse. Zu diesen Bedingungen gehörte in erster Linie, daß sie Holzwerder räumten, und ferner, daß sie sich verpflichteten, in die Erziehung des Kindes in keiner Weise einzugreifen. Sobald ihm aber je auf Tressens zurückzuführende Anschuldigungen und Verleumdungen, beispielsweise, daß er an Gretes Tod Schuld trage, oder der Unsinn, daß er ihnen und Grete seinerzeit ein anderes Dokument als das von Theonie ausgefüllte vorgelegt habe, zu Ohren kämen, werde er keinerlei Zahlung mehr leisten und überhaupt jede Erinnerung an einst mit den Schwiegereltern gepflogene Beziehungen auslöschen. Das sei sein unabänderlicher Wille und sein letztes Wort. Und schriftlich verpflichte er sich überhaupt zu nichts, sie besäßen keinerlei Rechte, sondern seien lediglich auf seine freigebige Hand angewiesen. Nach diesen kaltherzigen Erklärungen hatte er freilich auch wieder eine versöhnliche Stimmung geheuchelt und Frau von Tressen ersucht, einmal ohne Voreingenommenheit zu prüfen, ob's nicht besser sei, daß sie sich trennten, ob er anders handeln könne bezüglich des eigenen Kindes; er zeige doch jetzt, daß er wahrlich kein selbstsüchtiger Mensch sei. Es habe sich die Mär gebildet, er sei eine unaufrichtige, harte, egoistische Natur. Was er denn gethan habe? Seine Ehe mit Grete sei eine glückliche gewesen, bis sie, Frau von Tressen, durch ihr vieles Hineinreden die Gedanken und das Herz der Frau verwirrt habe. Unter seiner Verwaltung habe sich Holzwerder nach jeder Richtung hin gehoben, und wenn er nicht allen Leuten sympathisch sei, so komme das doch nur daher, weil er seinen eigenen Weg gehe; zu nahe getreten sei er niemandem. Freilich, wie man ihn anrufe, so antworte er. Und Tankred hatte mit der Versicherung geschlossen, daß, wenn er auch nichts schriftlich geben wolle, wenigstens jetzt nicht, so könne Frau von Tressen doch darauf bauen, daß er schon um Gretes willen, die er so sehr geliebt habe, sein Wort halten werde. — Und so war es denn gekommen. Tressens hatten, dem Rat ihres Rechtsanwaltes folgend, Holzwerder verlassen, und die Großmutter hatte das Kind in Tankreds Händen lassen müssen. Gegen einen solchen Menschen gab's eben keine anderen Waffen, als richterliche Entscheidung, und eine solche hatte der Justizrat geraten aufzuschieben, bis sich Brecken eines Bruchs seiner Zusage schuldig mache. Mit dem Ausbleiben der monatlichen Zahlung war nun dieser Augenblick gekommen. Aber wie lange konnte ein Prozeß währen, und wovon sollten Tressens, die sehr verwöhnten Menschen, in der Zwischenzeit leben? Eine Weile würde es wohl gehen, da sie Kredit besaßen, so lange nicht bekannt wurde, daß sie mittellos geworden; aber am Ende vermochte selbst der Genügsamste sich auf die Dauer ohne Geld nicht einzurichten. Der Gedanke, andere Menschen um Unterstützung angehen zu müssen, trieb Tressens eben so sehr das Blut zum Herzen, wie Empörung darüber, daß der Schurke nun auch noch diesen Akt von Niederträchtigkeit gegen sie ausgeübt hatte. Mit Tankreds Absagebrief in der Hand war Frau von Tressen zum Justizrat nach Elsterhausen gefahren, um seine Hülfe in Anspruch zu nehmen. Er hatte sich erboten, vorher noch einmal mündlich mit Brecken Rücksprache zu nehmen, ihm einerseits ins Gewissen zu reden und ihm andrerseits klar zu machen, daß er einen Prozeß unmöglich gewinnen könne. Freilich willigten Tressens nur ungern darein. Dem Menschen noch ein gutes Wort geben, hieß sich erniedrigen; ihr Stolz und ihr Selbstgefühl bäumten sich dagegen auf. Aber leben! Dieses Wort beugt die stolzesten Seelen, die starrsten Nacken. Die Notwendigkeit ist ein Weib mit eisernem Rückgrat. — Es war mitten im Juli, als Rechtsanwalt Brix sich nach Holzwerder auf den Weg machte, und gegen die elfte Stunde vormittags traf er auf dem Gutshofe, den er seit langer Zeit nicht mehr gesehen, ein. Die seitdem eingetretenen Veränderungen fielen ihm sofort auf: von der vornehmen Sauberkeit, der peinlichen Ordnung und dem herrschaftlichen Anstrich, die Holzwerder in der Tressenschen Zeit ausgezeichnet hatten, war nichts mehr zu entdecken. Alles war in den Dienst der Nützlichkeit gestellt. Dem Schönheitssinn waren keine Rechte mehr eingeräumt, denn zu beiden Seiten der Wirtschaftsgebäude lagen jetzt Misthaufen, zwischen dem Pflaster des Auffahrtsweges wucherte das Unkraut, und die früher sorgfältig geharkt und mit Kies bestreut gewesenen Wege zeigten die Radspuren schwerer Wagen und glichen einer seit Jahren vernachlässigten Chaussee. Die Fenster des Schlosses bis auf die zur Linken im Parterre liegenden waren verhängt, und die Farbe, welche die Winter- und Herbststürme von den Wänden gewaschen hatten, war nicht erneuert worden. Die Instandhaltung des Hofes, des Gartens, des Parks und der Wirtschaftsgebäude kostete Geld, und Geldausgeben war dem völlig zum Geizhals gewordenen Brecken ein Greuel. Als Brix in das Schloß eintrat, hantierte Tankred in einem abgenützten Hausrock im Flur und hämmerte selbst an einem wackelig gewordenen Tischbein; neben ihm stand ein Leimtopf und sonstiges Tischlergerät. Er konnte sich nicht mehr entschließen, einen Handwerker auf den Hof kommen zu lassen; sobald auch nur die geringste Ausgabe in Frage kam, überlegte er, ob er ihr nicht ausweichen könne. Beim Anblick des Justizrats verfinsterten sich anfänglich seine Züge, dann aber nahm er rasch eine zuvorkommende Miene an und nötigte den unerwarteten Gast in sein Arbeitsgemach. Hier zeigte sich noch die ursprüngliche Eleganz; der Fußteppich wies zwar starke Spuren des Gebrauches auf, aber Ordnung und Kunstsinn traten überall dem Auge entgegen. Denn bei dem, was einmal solid und reich ausgestattet, wo nur der Staub zu entfernen war, da trachtete der Mann ängstlich, es zu erhalten. Der Geiz äußert sich eben auf verschiedene Weisen; oft sieht er hundert Dinge, oft ist er blind. „Ich komme,“ hub Brix an, „um über das unseren gemeinsamen Freunden von Ihnen zugesandte Schreiben zu sprechen. Ich weiß nicht, Herr von Brecken, worauf sich Ihre Sinnesänderung stützt, aber ich weiß, daß Ihre Schwiegereltern durch Sie bereits in die allerpeinlichste Lage versetzt worden sind. Noch einige Wochen weiter, und sie müssen darben, wenn sie nicht ihre Schmuck- und Silbersachen verkaufen sollen. Ich richte einen Appell an Ihre Einsicht und bitte Sie, den alten Status freiwillig wieder eintreten zu lassen.“ Brix hielt inne und erwartete auf diese kurzen, die Sachlage darlegenden Worte eine Erwiderung. Statt deren erhob sich Brecken, zog aus seinem Sekretär einige Aktenstücke hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. „Hier ist das Abkommen, das meine verstorbene Frau mit ihren Eltern geschlossen hat, und hier das Gutachten eines Hamburger Advokaten, dem ich die Sache vorgelegt habe. Dem letzteren zufolge besitzen Tressens keine, auch nicht die geringsten Rechte auf eine Rente. Wollen Sie gefälligst durchlesen, was Ihr Kollege hier niedergeschrieben hat?“ Nach diesen Worten sah Brecken den Justizrat mit kaltem Blick und mit einem Ausdruck an, als stehe hier eben nur eine rein geschäftlich zu behandelnde Angelegenheit in Frage. „Meine Ansicht über die Berechtigung Ihrer Schwiegereltern, die Rente von Ihnen zu fordern, kann selbst eine Entscheidung des höchsten Gerichtshofes nicht ändern, Herr von Brecken,“ entgegnete mit kühler Abwehr der Justizrat. „Es ist daher wertlos, daß ich die Auffassung meines Kollegen in dieser Sache studiere. Ich komme ja auch nicht deshalb, sondern um an Ihr menschliches und verwandtschaftliches Gefühl zu appellieren. Ich möchte einen Vergleich anstreben, durch den das wahrlich für die Außenwelt nicht erhebende Schauspiel eines Prozesses zwischen Ihnen und den Eltern Ihrer verdorbenen Frau Gemahlin vermieden wird. Wie nun, wenn Sie Ihre Sache vor den Gerichten verlieren? Sie haben dann eine Unsumme von Kosten noch drauf zu zahlen! Und es wird doch sicher einen höchst peinlichen Eindruck hervorrufen, wenn man erfährt, daß Sie Ihren Schwiegereltern die notwendigsten Subsidien verweigert, ja, sie gezwungen haben, die Mildthätigkeit Fremder in Anspruch zu nehmen.“ Brecken hatte mit unbeweglichem Gesicht zugehört. Nachdem der Justizrat aber geendet, stieß er, alle dessen Worte umgehend, heraus: „Es ist ja nicht zu erschwingen, monatlich eine solche Summe zu zahlen! Warum können die Leute sich nicht einschränken? Mit der Hälfte werden sie auch leben können!“ Ah! Das war's also! Dem Justizrat wurde alles klar. Der Schurke hatte die Sache lediglich aus Geiz eingefädelt. Er wollte durch dieses Vorgehen die Hälfte sparen, und wenn man darauf nicht einging, dann — nun dann mochte es auf einen Prozeß ankommen! Aber daß er damit kein Glück haben werde, sah Brecken freilich sehr bald ein. „Wenn Sie annehmen, Herr von Brecken,“ erwiderte der Justizrat, „daß Herr und Frau von Tressen sich in diesem Sinne vergleichen würden, so muß ich Ihnen sofort erklären, daß davon nicht die Rede sein kann. Sie denken nicht daran, etwas von ihren Rechten aufzugeben, würden vielmehr, wenn Sie auf dem — entschuldigen Sie — unmenschlichen Standpunkt beharren, in der Klage beantragen, daß ihnen die Vormundschaft über Ihren Sohn übertragen und die Nutznießung des Vermögens zugesprochen wird. Und wenn wir das erstreiten sollten, wie würden dann die Sachen für Sie stehen?“ Brecken lachte höhnisch. „Was Sie da sagen, glauben Sie ja selbst nicht, Herr Justizrat. Mit Gespenstern schreckt man Kinder und Feiglinge, aber keine Männer. Ich lebte mit meiner Frau in Gütergemeinschaft, folglich gehört mir nach ihrem Ableben Holzwerder. In dem zwischen uns geschlossenen Abkommen, das Ihnen ja sehr wohl bekannt ist, wurde für den Fall einer Nachkommenschaft bestimmt, daß jeder von uns bis zur Mündigkeit unserer Kinder die Nutznießung des Vermögens behalten, später aber Ansprüche auf eine Rente haben sollte. Meine Frau, die in eigentümlichen Anschauungen steckte, wollte das so, und ich gab ihr nach, obgleich wir uns dadurch selbst die Verfügung über das Vermögen entzogen. Für die mir eingeräumten Rechte stipulierte sie auch besondere Rechte für ihre Kinder. Gleichviel, es wurde so abgemacht. Wer mir aber bei diesem Sachverhalt mein Recht auf Besitz, Verwaltung und Vormundschaft absprechen will, der muß den klaren Verstand verloren haben.“ „So würde es allerdings auf den ersten Blick scheinen,“ warf Brix ein. „Aber die Ansprüche Ihrer Schwiegereltern können nicht alteriert werden, denn sie wurden ihnen eingeräumt, damit sie zu leben vermöchten. Und ferner: Ihre Frau Gemahlin gewährte Ihnen die erwähnten Vorteile aus zweierlei Ursachen; erstens, weil Sie das Erbe von Falsterhof mit in die Ehe zu bringen versprachen, und zweitens —“ „Nun?“ „Weil aus dem von Ihnen vorgelegten Dokument ersichtlich war, daß diese Ihre Behauptung eine begründete sei!“ „Also — was wollen Sie denn weiter?“ „Was ich will? Sie besaßen ja gar keine Anwartschaft auf das Gut Ihrer Frau Kousine in der von Ihnen vorgelegten Form, und dafür würden wir Frau Cromwell, Frege und Ihre Schwiegereltern zu Zeugen aufrufen.“ Bei Freges Namen, in dem er eine Anspielung auf die Fälschung erblickte, zuckte Brecken unwillkürlich zusammen, und die Farbe wich aus seinem Angesicht. Aber nur für Sekunden ward er eingeschüchtert. „Ich verstehe Sie nicht,“ warf er dann hin. „Wenn das eine Anspielung auf ebenso gehässige wie unerhörte Anschuldigungen sein soll, so erwarte ich Beweise. Behauptungen sind vor Gericht leerer Wind.“ „Aber nicht der Eid, Herr von Brecken! Indes lassen wir das. Ich frage Sie noch einmal, ob Sie an Ihrer Zusage — Sie gaben doch eine Zusage betreffs der monatlichen Zahlungen an Ihre Schwiegereltern — festhalten wollen oder auf deren Zurückziehung bestehen?“ „Ja, ich bestehe darauf. Höchstens würde ich mich bereit erklären, Tressens statt des Ganzen ein Drittel zu zahlen, und das würde ich ihnen dann schriftlich geben. Aber nicht, weil ich dazu genötigt bin, sondern aus Rücksicht auf ihre Lage, die ja allerdings schwierig werden mag.“ Noch einmal sprach Brix eindringlich auf Brecken ein. Als aber alles nichts half, als sich unzweifelhaft herausstellte, daß der Eigennutz allein in der Seele dieses Menschen Raum hatte, ward er so sehr von Ekel erfüllt, daß er sich mit kurzer Verbeugung empfahl und auf den Hof schritt, um dort seinen Wagen wieder zu besteigen. Als der Justizrat auf dem Heimwege nach Elsterhausen in die Nähe von Falsterhof gelangte, kam ihm der Gedanke, gleich dort vorzusprechen, um in Tressens Interesse mit Theonie zu sprechen. Er ward in diesem Vorhaben bestärkt, als er gerade Hederich herantraben und in die auf den Gutshof führende Allee einlenken sah. Nach erfolgter Begrüßung schloß er sich ihm an, und zehn Minuten später saßen beide bereits in Theonies Wohnzimmer, und Brix berichtete, was er auf Holzwerder erlebt hatte. Während er dann auf die traurigen Verhältnisse der alten Tressens zu sprechen kam, erschien Carin, und Hederich nahm die Gelegenheit wahr, mit ihr in den Garten hinauszutreten. Er erzählte, daß er schon am Vormittag bei Tressens gewesen sei und den Eindruck bekommen habe, daß ihre gemeinsamen Freunde sich geradezu in Not befänden. „Sehen Sie, Fräulein Carin, ich komme eigentlich — drum und dran — mit einer Bitte,“ erklärte Hederich und erhob das glattrasierte Gesicht mit den treuherzigen Augen zu seiner mit ernster Miene neben ihm herschreitenden Begleiterin. Doch stockte er, als sie bei seinen Worten nicht gleich zu ihm aufblickte. „Ja, bitte, Herr Hederich!“ ermunterte Carin ihn nun weich und freundlich. „Ich meine nämlich so, Fräulein Carin: Ich bringe es nicht über die Lippen, Frau von Tressen zu bitten, daß sie ein Darlehn von mir annimmt, nein — drum und dran — ich kann es nicht. Und Schreiben ist auch nicht das Richtige. Wenn Sie vielleicht die Freundlichkeit haben wollten — ich meine — ich meine — mit Frau von Tressen zu sprechen, daß ich — ich — Sie verstehen, Fräulein Carin.“ „Ja, ich verstehe, lieber Herr Hederich!“ entgegnete das junge Mädchen, bewegt durch diese mit so großer Zartheit gepaarte Herzensgüte, und schaute Hederich voll ins Antlitz. „Ich will auch gern Ihren Wunsch erfüllen, gleich morgen, wenn Sie wollen. Aber wäre es nicht richtiger, wenn Sie den Justizrat damit betrauten? Ich gestehe, die rechte Form, das vorzubringen, ist schwer zu finden, und gerade ich in meiner Stellung habe weniger das Recht, in einer so delikaten Sache das Wort zu nehmen, als ein anderer, der den Herrschaften mehr gleichsteht oder bereits von ihnen ins Vertrauen gezogen ist.“ „Na ja, das ist wohl richtig — obgleich — obgleich, Fräulein Carin —“ erwiderte Hederich und fuhr, einem neuen Gedanken folgend, fort: „Glauben Sie, daß auch Frau Theonie etwas thun würde, wenn's nötig wäre?“ „Ich weiß es nicht. Sie spricht über gewisse Dinge nie mit mir. Über ihren Vetter hat sie sich selbst nach der letzten Auseinandersetzung nicht anders als mit den Worten geäußert, sie habe jede Verbindung mit ihm abgebrochen. Daß sie sich für Tressens interessiert, ist indes zweifellos.“ „Sagen Sie, Fräulein Carin, es ist — drum und dran — hier jetzt wohl recht öde und einsam für Sie?“ fuhr Hederich, abermals das Gesprächsthema willkürlich ändernd, fort. „Oft wundere ich mich, wie Sie es aushalten.“ „Ja, es ist auch schwer, Herr Hederich. Seit dem Tode des Herrn von Streckwitz ist Frau Cromwell so melancholisch, daß sie oft Tage lang nicht spricht, und wir sehen fast niemanden mehr bei uns.“ „Da sehnen Sie sich denn wohl fort von hier, Fräulein Carin?“ Das Mädchen antwortete nicht gleich, dann aber sagte sie mit tiefem Ernst: „Mich hält das Pflichtgefühl und — die Notwendigkeit. Wo sollte ich wohl hin, Herr Hederich?“ Hierauf fand Hederich keine Worte. Sie waren eben auf die Anhöhe im Park gelangt, und vor ihnen lag die mit Wiesen, Äckern, Waldungen, kleinen glitzernden Flüssen und Ortschaften bedeckte, weite Ebene. Während sie gedankenvoll ins herrliche Land schauten, sagte er: „Da unten links, wo gerade der Rauch aufsteigt, ist ein kleines Gut zu kaufen. Elmenried heißt es, Fräulein Carin. Ich hätte es mir schon zugelegt, wenn — drum und dran —“ „Nun?“ machte Carin verwundert. „Ach, Fräulein Carin, es geht mir wie Ihnen, ich bin auch einsam, ganz einsam, und möchte — drum und dran — einen festen Halt haben. Das ist es! Das hält mich ab!“ „Sie müßten sich eine Frau nehmen, Herr Hederich!“ „Wer will mich? Und wenn ein Mädchen mich wirklich wollte, so möchte ich sie wohl nicht. Eine, ja eine — die — die —“ Er senkte das Haupt und stöhnte. Durch das Innere der Verlassenen zog plötzlich ein nie gekanntes Gefühl; diesem braven Manne anzugehören, ein eigenes Haus und Heim zu besitzen, nicht mehr abhängig zu sein, ein Ziel, ein rechtes Dasein zu haben! Welch eine wunderbare Aussicht — welch ein Glück! Und ergriffen von diesem Gedanken, auch ihm innerlich zugewendet mit einem warmen, zärtlichen Gefühl, erhob sie das Auge und sagte leise: „Eine, Hederich? — Also doch eine? Darf man ihren Namen wissen?“ Nun wendete auch er das Antlitz zu ihr, und als ihr liebes, gutes Auge so freundlich auf ihm ruhte, brach endlich die Scheu, und er stieß heraus: „Ja — ich will ihn nennen — drum und dran — denn einmal muß es doch heraus, und wenn es dann auch nichts damit ist. Ich kann es nicht länger bei mir behalten, weil es mir das Herz abdrückt. Sie sind es, Fräulein Carin! Bitte, bitte, nehmen Sie es blos nicht übel — bitte, Fräulein Carin —“ „Übel nehmen? Kann sich ein Mädchen nicht nur geehrt fühlen, wenn ein rechtschaffener Mann ihr seine Hand reichen will, und besonders, wenn auch sie ihm — gut ist — wenn auch sie ihn lieb —“ „Ach — ah — Fräulein Carin!“ ging's stürmisch aus des Mannes Brust. „Ist's wahr? Ist's möglich? Sie könnten? — Sie wollten wirklich —?“ Und als sie nickte und das Antlitz senkte, da griff er nach ihren Händen, küßte sie und weinte und schluchzte und streichelte sie, dankbar wie ein Kind. Sie aber schüttelte den Kopf und sagte, ihm ehrlich die Hand reichend: „Nein, nicht so, Hederich. Ich habe zu danken, daß Sie das arme Mädchen ohne Heimat und Familie bei sich aufnehmen wollen, und seien Sie versichert, Sie sollen eine treue, gute Frau an mir finden!“ Die Sonne legte sich eben voll und glänzend über die Landschaft, aber selbst ihr heller Strahl schien dunkel gegen die Lichter, die über des Mannes Antlitz zogen. „Fräulein Carin — Fräulein Carin!“ rief er selig, nahm sie in seine Arme und legte kindlich seinen runden, großen Kopf an ihre Brust. Sie aber ergriff mit beiden Händen des ehrlichen Menschen Haupt, zog es an sich und küßte ihn sanft auf den Mund. — * * * * * In Tankred von Brecken waren nach der Unterredung mit dem Justizrat Brix keinerlei Besorgnisse oder Zweifel aufgestiegen, sondern die Auseinandersetzung hatte sogar seine Zuversicht verstärkt. Er sagte sich einerseits, daß man ihm keine guten Worte geben würde, wenn man sich sicher fühlte und sein Entgegenkommen nicht brauchte, und anderseits schätzte er den Wert der gewonnenen Zeit. Einen Prozeß konnte er mit einiger Geschicklichkeit mindestens ein Jahr hinziehen, und während dessen würden seine Schwiegereltern, ohne jegliche Mittel zum Leben, weich und fügsam werden. Ihre sich immer mehr steigernden Verlegenheiten konnte er benutzen, um ihre Ansprüche möglichst herabzudrücken. Natürlich, am liebsten würde er sich seiner Verpflichtung ganz entzogen haben, aber da er selbst keineswegs überzeugt war, daß die richterliche Entscheidung zu seinen Gunsten ausfallen werde, so war ihm auch schon jede Herabminderung der monatlichen Rente willkommen. Während seine Gedanken in solcher Weise hin- und hergingen, überfiel ihn der drängende Reiz, sich vor Augen zu führen, wie viel er überhaupt besitze, und nicht zum erstenmal öffnete er — immer mit derselben brennenden Gier — seinen Schreibtisch, zog Bücher und Schriftstücke hervor, rechnete und zählte und weidete seine Augen an den im Geldschrank niedergelegten Wertpapieren. Dann griff er nach einem Bogen Papier, ging jeden einzelnen Posten in den vor ihm liegenden Inventarverzeichnissen und Bilanzen durch und sann, wie er die Ausgaben noch mehr ermäßigen und die Einnahmen erhöhen könne. Und dann plötzlich fiel es ihm auf die Seele, daß eine Zeit kommen werde, in der das alles nicht mehr sein Eigentum sein werde, in der er in eine ähnliche Lage geraten könne, wie jetzt seine Schwiegereltern. Und das regte ihn solchergestalt auf, daß er emporsprang und überdachte, ob er darin nicht doch eine Änderung herbei zu führen vermöge. Nein, es gab keine in dem gewöhnlichen Sinne. — Nur, wenn Gretes Kind stürbe, dann — dann — den Mann schauderte; es ergriff ihn, wie schon oft, ein Grausen vor sich selbst. Nicht die Vorstellung, daß Theonie und sein Sohn eines Tages sterben könnten, erregte sein Inneres, aber daß diesen beiden Leben ein gewaltsames Ende gemacht werden könne, das trieb ihm das Blut ans Herz. Daß doch immer solche Gedanken sich seiner wieder bemächtigten! Er floh auch heute vor ihnen; er schloß hastig seinen Schreibtisch, drehte den Schlüssel an dem Geldschrank ab und eilte, in der Sicherheit, daß draußen andere Eindrücke die ihn peinigend verfolgenden Gedanken verwischen würden, ins Freie. Tief sog Tankred von Brecken die Luft ein, aber als er eben den Hof betreten hatte, wandte er doch noch einmal die Schritte ins Haus zurück, betrat das Gemach, in dem sein Kind schlief, lüftete den Vorhang von der Wiege und versicherte sich, daß der Knabe atmete — daß er lebte. — — Lange stand er vor seinem Kinde und schaute in dessen Züge. Es sah Grete ähnlich; es hatte denselben scharf geschnittenen, kalten Mund; es werde auch ihren Charakter haben und das Geld lieben, dachte er. Aber auch ihm werde es gleichen. — — War's ein Glück für das Kind, zu leben? Nein! Tankred verachtete das unvollkommene Dasein. Und da er das Leben auf eine Zufallslaune der Natur schob, da er eines Menschen Existenz nicht höher achtete, als das einer Fliege, — und ob sie da war in der Schöpfung oder nicht, welchen Wert hatte das? — wünschte er auch diesem jungen Wesen den Tod. Ein Glück für den Knaben, wenn die Erde ihn wieder zurückzog in ihren Schoß! Ja, die Erde — — aber kein gewaltsames Abschneiden des Lebensfadens! — Wie wohl einem solchen Wiegenkinde am leichtesten der Garaus zu machen wäre? Brecken überlegte. — Am unauffälligsten geschah's jedenfalls durch Ersticken; — Spuren einer gewaltthätigen Hand waren dann nicht sichtbar. Man mußte es am Morgen finden, die in der Nacht verschobenen Decken über sich. Ein Erstickungsanfall, befördert durch Husten! Ja, ja, dergleichen kam vor! — Oder eine starke Dosis Opium — aber das war schon gefährlicher. — Der Mann schrak entsetzt zusammen. Nun war er schon wieder bei so furchtbaren Gedanken, während er doch zurückgeeilt war, um sich zu vergewissern, daß das Kind lebte. — — Ein heißes Gefühl kam über ihn! Es war, als sei die einzige Ader, in der Gefühl für dieses junge Leben vorhanden war, in ihm aufgesprungen. Und unter dem starken Drange seines rasch pulsierenden Herzens beugte sich Tankred von Brecken herab und küßte zum erstenmal seinen Knaben auf die Stirn. Aber der den Säuglingen dumpfe Geruch stieß ihn ab, und die durch dieses Unbehagen hervorgerufene Reizung der Geruchsnerven, oder weil das Gefühl überhaupt nur die kurze Kraft eines raschen Blitzes gehabt hatte, erlosch die zärtliche Empfindung des Mannes im Nu wieder. Mit dem alten, gleichgültigen Blick sah Brecken den Knaben an und verließ unter dem Gedanken, daß er es dem Schicksal anheim geben müsse, ob es seine Pläne fördern wolle, das Gemach. Nachdem er kurze Umschau auf dem Hofe gehalten, trat er in den Pferdestall, wo in einem gesonderten Raum ein bereits seit längerer Zeit erkranktes Wagenpferd vom Tierarzt behandelt wurde, und das Befinden der grauen Stute Liese beschäftigte Tankred in der nächsten Stunde mehr als irgend eines sonstigen lebendigen Wesens Sein oder Nichtsein. — — Bald nach dem Mittagsschlaf meldete ihm die Haushälterin, — die männliche Dienerschaft hatte Brecken entlassen und außer dieser Frau nur noch die Kindeswärterin und ein Mädchen behalten, — daß Herr Pastor Höppner auf dem Flur warte und den Herrn zu sprechen wünsche. „Pastor Höppner?“ wiederholte Brecken, wenig angeheimelt, schritt aber hinaus und nötigte den unerwarteten Besuch in sein Arbeitszimmer. „Welche besonderen Umstände verschaffen mir das Vergnügen, Sie einmal wieder auf Holzwerder zu sehen, sehr geehrter Herr Pastor?“ begann er mit schmeichlerischer Freundlichkeit, rückte einen Stuhl heran und griff nach einer Kiste Zigarren, von denen er dem vielfach dienernden und seinen Dank ausdrückenden Pastor anbot. Da Höppner schon glücklich war, wenn er überhaupt nur rauchen konnte, von der Güte einer Zigarre aber nichts verstand, so hatte ihm Brecken aus der sogenannten ‚Leutekiste‘ angeboten; sich selbst aber hatte er eine andere und bessere angezündet, nachdem er den Gast vorher mit Feuer bedient. Höppner begann mit der Erklärung, daß er in der Nähe zu thun gehabt und die Gelegenheit ergriffen habe, Herrn von Brecken einmal Guten Tag zu sagen. Er fügte hinzu, daß auch seine Frau ihn ermuntert habe, in Holzwerder vorzugucken, und Brecken war nach dieser beiläufig eingestreuten Bemerkung sicher überzeugt, daß die Frau den Mann abgesandt habe, um ihm wegen Tressens ins Gewissen zu reden. Höppner ging aber doch nicht gleich aufs Ziel los, sondern leitete das Gespräch durch die Frage ein, ob Herr von Brecken bereits das Neueste vom Neuen gehört habe. Nein, er sei durch sein zurückgezogenes Leben mit dem, was sich draußen ereigne, wenig bekannt, erwiderte Brecken, gab aber seinem unverhohlenen Erstaunen Ausdruck, als nun Höppner ihm die Verlobung Hederichs mit Carin mitteilte. Dann freilich erging er sich in spöttischen Bemerkungen und äußerte, ohne auf Höppners Zartgefühl irgend welche Rücksicht zu nehmen, diese Verlobung komme ihm vor, als verbände sich ein Kameel mit einer Bachstelze. „O, o — o —“ machte Höppner abwehrend und strich mit dem Mittelfinger durch den ihm unter dem Kinn sitzenden Bart, fand aber dann den Übergang zu der Angelegenheit, die ihn hergeführt hatte. Er sagte: „Da wir nun einmal zusammensitzen und plaudern, Herr von Brecken, möchte ich Sie bitten, mich einmal einen Augenblick wegen Ihrer verehrten Schwiegereltern anzuhören. Wie ich zu meinem großen Leidwesen gehört habe, sind schwere Differenzen zwischen Ihnen ausgebrochen. Die Schrift mahnt uns Menschen —“ Aber weder von dem, was in der Schrift stand, noch von anderem begehrte Tankred von Brecken zu hören; er unterbrach Pastor Höppner jäh und sagte, seine starkknochige Hand auf dessen Rechte legend: „Es hilft da kein Intervenieren, verehrter Herr Pastor. Schon war Justizrat Brix bei mir, um einen Vergleich anzubahnen, aber da meine Schwiegereltern einen solchen dahin auffassen, daß sie nach wie vor auf der ganzen Rente bestehen, so ist eben nichts zu machen. Natürlich werden da wieder die ungeheuerlichsten Gerüchte ausgesprengt; aber das Zutreffende ist allein, daß ich einfach nicht so viel zahlen kann, weil die übrigen Lasten, die auf dem Gute liegen, zu groß sind.“ „So, so? In der That? — Das wäre ja etwas ganz anderes, als was uns berichtet ist. Frau von Tressen hat meiner Frau —“ „Ja, das ist eben das Unglück, verehrter Herr Pastor, daß meine Schwiegermutter eine so ausgiebige Phantasie besitzt. Wie es ihr paßt, so stellt sie es dar. Sie weiß sehr wohl, um was es sich handelt, aber —“ „Nein, ich versichere Sie, sie weiß es nicht,“ schob Höppner, arglos den Worten des Mannes nachgehend, ein. „Sie hat doch ein Schreiben von Ihnen erhalten, dem zufolge Sie die Rentenzahlungen einstellen und Ihre Schwiegereltern auf die Gerichte verweisen —“ „Ach, das sind ja blos Formsachen! Aber, wie gesagt, stehen Sie von einem Interventionsversuch ab, er kann doch nichts nützen, denn mit dem, was ich bieten könnte, würden sie ja doch“ — Brecken betonte seine wie beiläufig hingeworfenen Worte — „nicht zufrieden sein.“ „Man könnte doch hören!“ fiel Höppner eifrig ein. „Offen gesagt, Herr von Brecken, ich kam eigentlich nur, um Sie recht herzlich zu bitten, sich mit Ihren Schwiegereltern auszusöhnen. — Also, wie viel könnten Sie zahlen?“ Brecken zauderte jetzt doch, zu sprechen, obgleich er nicht mehr zweifelte, daß der Pastor von Tressens abgesandt sei. Brix hatte er anfänglich von der Hälfte, dann von einem Drittel geredet; jetzt wollte er ein Viertel bieten. Das schien ihm selbst zwar ungeheuerlich, aber er überwand sein Zaudern rasch und sagte: „Mit fünf- bis sechshundert Mark werden sie nicht zufrieden sein, und das wäre schon das Äußerste.“ „Das ist ja nur der vierte Teil der abgemachten Summe, Herr von Brecken!“ stieß Höppner erschrocken heraus und schüttelte in größter Enttäuschung den Kopf. Sodann legte er sich aufs Bitten und Zureden und suchte, als ob Rechts- und Vernunftgründe oder gar solche, bei denen das Herz mitsprach, bei Brecken hätten verfangen können, auch sonst alles, was etwa günstig auf ihn hätte wirken können, hervor und schloß mit den Worten: „Der ewige Gott wird es Ihnen lohnen, Herr von Brecken, wenn Sie die Hand zum Frieden und zu einer annehmbaren Verständigung bieten!“ „Der ewige Gott hat etwas anderes zu thun, als sich mit solchen Dingen zu befassen,“ entgegnete Brecken, brutal sprechend. „Nein, er mag seine Belohnungen behalten, und ich behalte mein Geld. Es ist mir schon lieber so! —“ „Herr von Brecken! Herr von Brecken!“ stieß Höppner, zum erstenmal die Devotion in Ton und Miene außer acht lassend, heraus und schüttelte den Kopf. „Sie werden es noch tief bereuen, so jeder Versöhnung aus dem Wege gegangen zu sein. Ja, tief bereuen; das sagt mir eine innere Stimme. Aber da Sie auf Ihrer Absicht beharren, so müssen Sie das mit sich selbst abmachen und mit dem, der über uns allen thront als ein Richter unserer Handlungen. Ich weiß, Sie glauben nicht an ein höheres Wesen; der Gottesbegriff ist für Sie nur eine menschliche Vorstellung. Sie stehen auf dem Standpunkt, der Zufall regiere das Schicksal der Gesamtheit der Menschen und jedes einzelnen. Aber das Leben mit allen seinen Erscheinungen lehrt das Gegenteil. Es giebt eine Vergeltung! Nicht umsonst hat die Natur ein Gewissen in unsere Brust gelegt. Nichts für ungut, aber ich möchte sowohl Ihnen wie unseren Freunden in Klementinenhof dienen; ich möchte Sie bewahren vor Reue und Seelenunruhe.“ „Ja, ja, ganz gut, bester Herr Pastor; ich erkenne Ihren guten Willen an, aber Sie vergessen, — ich sehe von Ihren religiösen Mahnungen ab, — daß in Geldsachen nicht der Wille spricht, sondern das Können. Und dann, welche Stellung nehmen meine Schwiegereltern gegen mich ein! Verunglimpfen, verdächtigen Sie mich nicht bei jeder Gelegenheit? Sie streuen die infamsten Gerüchte über mich aus, reden von Fälschungen, und was weiß ich; und ich soll das wie ein Lamm über mich ergehen lassen? Zuletzt schwillt doch jedem der Kamm!“ Die legten Sätze hatte Brecken gesprochen einerseits, um zu sondieren, ob seine Schwiegereltern bereits entschlossen seien, gerichtlich gegen ihn vorzugehen, andererseits, um einen Vorwand für seine Handlungsweise heranzuziehen. Aus Höppners Antwort und Verteidigung Tressens sah er, daß sein Mißtrauen ungerechtfertigt gewesen; auch entging ihm nicht, wie erstaunt der Pastor über die Motivierung seines Vorgehens war. Aber seinen Sinn änderte das natürlich nicht, und er hielt auch den ‚langweiligen Salbaderer‘ nicht zurück, als er endlich aufbrach und sich, äußerst bedrückt über das Mißlingen seines Versuches, empfahl. Nachdem er aber gegangen, erinnerte sich Brecken, daß ja nun Carin demnächst Falsterhof verlassen werde, daß dort dann zwei Augen weniger seien, und daß nun doch vielleicht — Ja! was denn? Brecken griff in die Zigarrenkiste und entzündete sich eine neue Havanna, um den ihn wie eine Krankheit verfolgenden Gedanken zu bannen. Abermals hatte er sich bei der entsetzlichen Überlegung ertappt, wie er dem Schicksal bei einer Verkürzung der Lebensdauer Theonies zu Hülfe kommen könne — — * * * * * Eine geraume Zeit war verflossen, und mit ihr wiederum der Winter ins Land gezogen. Das von Höppner begründete Armenhaus hatte seine Pforten geöffnet, in seinen Räumen befanden sich Kranke und Bedürftige, und wöchentlich wenigstens einmal begab sich Frau Höppner, meist mit Lene an der Hand, in das Asyl, um nach dem Rechten zu sehen. Das Kind kannte alle Insassen und nahm wie ihre Mutter Stellung zu ihnen; sein Herz regte sich in Mitgefühl, wenn sie leidende Menschen sah, und ohne es zu wissen, nahm es die Grundsätze in sich auf, die ihre Pflegemutter den Nebenmenschen gegenüber leiteten. Hederich hatte seine Carin geheiratet und wohnte auf dem von ihm vorläufig nur gepachteten kleinen Gütchen Elmenried. Die beiden Leute genossen das Behagen des Lebens; die junge Frau, endlich befreit von einem Zwange, der ihrer Natur so sehr widerstand, dem sie sich aber bereits seit jungen Jahren hatte unterwerfen müssen, atmete beseligt auf, und die täglichen Beweise von Liebe und Herzensgüte, die sie von ihrem Manne empfing, gab sie aus innerem Drange zurück, denn sie liebte ihn mit jener warmen Liebe, die dem Gemüt entspringt und auf Achtung beruht. Die vierundzwanzig Stunden des Tages, die durch Thätigkeit ausgefüllt waren und durch frohen Lebensdrang einen erhöhten Wert empfingen, flogen für Carin dahin; Haus, Hof, Küche und Keller waren ihrer Aufmerksamkeit gewidmet, aber sie gab auch, in allen ihren Vorbildern Frau Höppner und Theonie folgend, ihrem Leben noch einen volleren Inhalt, indem sie sich ihrer Mitmenschen sorgend annahm und ihren Geist durch Lektüre und Musik weiter zu bilden suchte. Zwischen den beiden Familien Höppner und Hederich fand ein sehr lebhafter und inniger Verkehr statt; der Pastor und Carins Mann fanden sich als Gemütsmenschen zusammen, und die beiden Frauen begegneten sich durch die Gemeinsamkeit ihrer Lebensanschauung. Sie waren dem Guten ehrliche Freunde und dem Schlechten energische Gegner. Aber während sich bei ihnen durch günstige materielle Verhältnisse, durch weise Beschränkung im Lebensgenuß und durch Sparsamkeit das Glück eine feste Stätte bereitete, sah es bei Tressens allmählich immer trauriger aus. Die Hülfe Hederichs, die ihnen durch Brix und später auch durch Carin angeboten worden war, hatten sie ebenso abgewiesen, wie der Pastorin selbstlose Dienstwilligkeit. So viel Güte und Freundschaft rühre sie, aber sie würden sich auch so einzurichten wissen, hatten sie erklärt. Frau von Tressen hatte ihren Schmuck bereits verkauft. Sie wollte, durch das Leben bezwungen, lieber Überflüssiges entbehren, als den Druck von Verpflichtungen auf sich laden. Und in ihren Stolz mischte sich auch die Hoffnung! Der Prozeß war sogleich angestrengt worden, er mußte sich in einem halben Jahre entscheiden. Aber bei dieser Voraussetzung hatten Tressens außer acht gelassen, mit wem sie zu thun hatten. Einmal beantragte Brecken durch seinen Anwalt Aussetzen des Verfahrens, weil von seiner Seite noch Material herbeizuschaffen sei, dann wieder wußte er die Termine hinauszuschieben, indem er Krankheit vorschützte. Einen Formfehler in dem ersten Klageantrag des Justizrats Brix benutzte er zu einem Protest, und die Folge von alledem war, daß die Sache nach einem halben Jahre, zumal die Gerichtsferien dazwischen gekommen, fast noch auf demselben Fleck stand. Jetzt eben, kurz vor Weihnachten, hatte er eine Reise nach dem Süden angetreten, und es hieß, daß er nicht vor dem ersten März zurückkehren werde. — Eng und enger hatten sich Tressens inzwischen an Theonie angeschlossen. Mit wärmster Teilnahme hatte letztere sich ihren Verwandten genähert und gleich bei der ersten Berührung geäußert: „Wenn ich Ihnen irgend wie nützen kann, verfügen Sie über mich. Es giebt keine Grenzen meiner Bereitwilligkeit und keinen Freundschaftsdienst, den ich Ihnen nicht leisten würde.“ Gegenwärtig aber beschäftigte Frau von Tressen noch etwas anderes als nur die materielle Sorge. Seit dem Abschied von Holzwerder hatte sie ihr Enkelkind nicht wieder gesehen, und da sie nun erfuhr, ihr Schwiegersohn sei auf Monate verreist, gab's nur einen Gedanken für sie: Gretes Kind einmal an ihr Herz zu drücken. Der furchtbare Schmerz um die Verstorbene suchte nach einer Ablösung, nach einem Ausgleich. Aber die Frau war auch von Sorge erfüllt, daß dem Knaben, der fremden Händen anvertraut war, etwas zustoßen könne. Dem Vater schien ein solcher Gedanke nicht gekommen zu sein, oder völlige Gleichgültigkeit hatte seine Handlungen bestimmt. Nicht einmal bei Gelegenheit seiner Reise hatte er seine persönlichen Empfindungen zurückgedrängt und sich der Großmutter als Pflegerin des Kindes während seiner Abwesenheit erinnert. Das kleine Wesen stand doch dem Streit und Unfrieden fern; es war mehr als grausam, das Kind um dessen willen schädlichen Zufälligkeiten auszusetzen. Aber er wollte es nicht; er hatte sogar den strengen Befehl hinterlassen, Frau von Tressen den Eintritt ins Schloß zu verweigern, ihr unter keinen Umständen eine Berührung mit ihrem Enkelkinde zu gestatten. Die Wärterin war ein braves, mitleidiges Geschöpf, aber die Haushälterin, die jetzt allein in Holzwerder waltete, und ein Knecht, durch den deren bisherige weibliche Stütze abgelöst war, und der zum Schutze der Frauen und des Kindes im Herrenhause schlafen mußte, befanden sich, da Brecken ihnen Belohnungen zugesagt hatte, wenn sich während seiner Abwesenheit alles nach seinen Voraussetzungen vollziehen werde, zu ihm in völliger Abhängigkeit. Dennoch beschloß Frau von Tressen — es war acht Tage vor Weihnachten — einen Versuch zu machen. Sie konnte sich dabei der Hülfe der früheren Haushälterin Hederichs bedienen, die in einer kleinen, von ihr erworbenen Kate nahe bei Holzwerder wohnte und sich durch allerlei Hülfsleistungen auf dem Gute und durch Handarbeit ihre dürftige Lage als Kätnerin verbesserte. Durch Hederich, der den Vermittler gemacht hatte, war verabredet worden, daß die alte Hanne Nachricht geben solle, sobald sich die Haushälterin vom Schloß entfernen würde. Es war wahrscheinlich, daß sie kurz vor dem Fest nach Elsterhausen fuhr. Dann wollte Hanne das Kindermädchen veranlassen, sie mit dem kleinen Tankred in ihrer Kate zu besuchen und so Frau von Tressen Gelegenheit zu geben, ihr Enkelkind zu sehen. Es vollzog sich auch alles nach Abrede. Frau von Tressen erhielt früh morgens einen Brief von der Alten, in dem diese meldete, daß ‚die vom Schloß‘ am Nachmittag nicht anwesend sei, und daß das Mädchen zugesagt habe, den ‚kleinen Herrn‘ zu ihr zu bringen. Während Frau von Tressen, in ihren Mantel gehüllt, dahinfuhr, kamen ihr beim Anblick der Landschaft, bei dem Wiedersehen der vielen, ihr seit der Jugend vertrauten Einzelheiten so wehmütige Gedanken, auch die Erinnerung an Grete ward so lebendig in ihr wach, daß ihre Augen sich wiederholt mit Thränen füllten. Wo war das Glück von Holzwerder geblieben? Es gab keine Grete mehr; sie, die Mutter, mußte sich versteckt ihrem früheren Eigentum nähern und, statt im eigenen Fuhrwerk dahin zu fahren, ein fremdes Gefährt benutzen, das zu bezahlen ihr in ihrer gegenwärtigen Lage schon ein Opfer auferlegte. Mit Beginn des Jahres stand sie mit ihrem Manne thatsächlich dem Nichts gegenüber, und so sehr sich ihr Inneres dagegen auflehnte, sie mußte jetzt Hülfe bei Freunden suchen. Es lag auch in ihrer Absicht, nachdem sie den kleinen Tankred wiedergesehen, Theonie auf Falsterhof aufzusuchen und sich ihr rückhaltlos anzuvertrauen. Eine Summe für den Unterhalt des nächsten halben Jahres wollte sie von ihr erbitten. Dann endlich würde doch der Prozeß, und, wie sie annahm, zu ihren Gunsten entschieden sein. Als sie an Falsterhof vorüberkam, forschte sie gespannt hinüber. In der breiten Kastanienallee lag so tiefer Schnee, als sei seit Monaten kein Wagen dort gefahren, und kein Fußgänger gegangen. Einsam und abgestorben stieg das Herrenhaus aus der weißen Schneefläche über den kahlen Bäumen empor. Nirgends ein menschliches Wesen, und selbst aus den dicht umschneiten Schornsteinen drängte sich nicht einmal ein Leben verratendes Rauchwölkchen. Es war richtig — die Betrachtung kam der Frau — daß nicht Geld und Besitz das Glück bedingte. Theonie war die reichste Frau der Umgegend, jede Laune vermochte sie zu befriedigen; sie konnte Feste geben, die Fürsten beschämten, und ihr Haus zu einem Sammelplatz auserlesener Geister machen. Aber alles das hatte keinen Reiz für sie. Ihr Herz trug zu viel blutende Wunden. Wenn sie den Mann ihrer Wahl hätte auferwecken können aus seinem Grabe, sie würde alles dafür hingegeben haben. Und wie häufig Vergleiche Lichter in sich schließen, aus denen sich eine leuchtende Hoffnungssonne entwickelt, so war's auch in diesem Falle. Plötzlich kam's über die Frau mit Sicherheit, daß sie doch noch einmal wieder auf Holzwerder herrschen, daß sie neben ihrem Enkel stehen und sich nochmals das Glück des Lebens zurückerobern werde. Aber freilich, vorläufig fuhr sie im verdeckten Wagen, bekannten Gesichtern vorsichtig ausweichend, wie ein Dieb ihrer einstigen Besitzung zu und mußte schon froh sein, wenn sie von ihrem Enkelkinde einen kurzen Blick erhaschen, es einmal zärtlich in ihre Arme schließen durfte. Als Frau von Tressen in die Nähe der Wohnung der alten Hanne gelangt war, ließ sie den Wagen seitab vom Wege halten und begab sich zu Fuß in die Kate. Es war ihr sehr auffallend, daß ihr auf ihr Klopfen nicht gleich aufgethan wurde, und ihre Unruhe verstärkte sich, als sie beim Betreten des Wohngemaches niemanden anwesend fand. Während sie noch unschlüssig dastand, kam die alte Hanne, eine kleine korpulente Person mit watschelnden Bewegungen, atemlos angelaufen. Schon aus der Ferne winkte sie mit Verzeihung erbittenden Gesten, und als sie, näher gekommen, Worte fand, erklärte sie, daß der schon seit einiger Zeit kränkelnde Kleine in der Nacht sehr unwohl geworden sei, daß die Magd nicht wage, ihn in der Kälte nach der Kate zu bringen, und nichts anderes übrig bleibe, als daß sich die gnädige Frau ins Schloß bemühe. Freilich sei das — sie müsse selbst ihr Bedenken äußern — sehr gefährlich. Man werde die gnädige Frau sehen, ihre Anwesenheit werde sicher Herrn von Brecken hinterbracht werden, und allen beteiligten Böses daraus erwachsen. Der Herr kenne ja keine Rücksicht, sobald man sich ihm nicht bedingungslos füge. Aber trotzdem solle die gnädige Frau selbst entscheiden. Frau von Tressen geriet in eine gewaltige Erregung; neben der Enttäuschung drang die Sorge um den Kleinen auf sie ein. Sie fragte, was ihm fehle, und als Hanne keine Antwort zu geben imstande war oder absichtlich auswich, stiegen noch ihre Angst und Besorgnis. Aber jählings entwickelte sich in ihr ein verzweifelter Entschluß. Sie wollte das Kind, wenn sein Zustand die Fahrt erlaubte, mit sich nehmen, es mochte daraus entstehen, was wollte! So gab sie sich denn äußerlich ein ruhiges Ansehen und befahl Hanne, daß sie, um jeglichem Gerede auszuweichen, ihr nicht folgen solle; sie wolle sich vielmehr allein aufs Schloß begeben, um ihr Enkelkind zu sehen. „Sie haben der Magd doch nicht gesagt, daß ich kommen würde? Sie weiß nichts von meinem Hiersein?“ schloß sie fragend; und nachdem Hanne dies verneint hatte, nahm sie Abschied und richtete ihre Schritte über den Hof nach dem Herrenhause. Tief herabstimmend waren die Eindrücke, die sie dabei empfing. Was Brix ihr gemeldet hatte, blieb noch weit hinter der Beschreibung zurück. Eine völlige Verwahrlosung trat ihr entgegen, wohin sie das Auge wandte, und insbesondere bei dem Anblick des vernachlässigten Herrenhauses traten Frau von Tressen unwillkürlich die Thränen in die Augen. Als sie den Flur beschritt, zeigte sich niemand; Kälte, Öde und Kargheit wehten sie an, das Haus war wie ausgestorben; auch fand sie die Thür zur Linken geschlossen. Erst als sie dann zur Rechten pochte, erschien die Kindesmagd mit dem kranken, mageren, abgezehrten Knaben auf dem Arm und machte sehr erstaunte Augen, plötzlich eine elegant gekleidete Dame vor sich zu sehen. Frau von Tressen aber sah weder ihre fragenden Mienen, noch hörte sie auf ihre Worte; sie flog auf den Kleinen zu, blickte ihn voll zehrenden Mitleids an, streichelte und herzte ihn, von tiefer Rührung ergriffen, immer von neuem und nahm ihn zulegt aus den Händen des Mädchens und drückte ihn weinend an die Brust. „Mein Kind — mein süßes, liebes Kind —“ schluchzte die Frau. Ihr war bei dem Anblick, als sei Grete noch einmal geboren, als habe sie, wie einst, ihr eigenes Kind in den Armen. Und lassen konnte sie es nicht wieder. Es war undenkbar! Sie sprach auf die Magd ein, sie erklärte ihr, wer sie sei, welche Anrechte sie an den Kleinen habe, welche Qual sie erduldet, und welche Verantwortung auf ihr laste, da sie nun ihres Kindes Kind so blaß, mager und krank vor sich sehe. Sie solle mit ihr gehen, in ihren Dienst treten; keine Nachteile, nur Vorteile folgten ihr daraus erwachsen, und jetzt gleich wolle sie sie belohnen. Ihr Schwiegersohn werde unter solchen Umständen ihr Verhalten gutheißen! Für die Wirtschafterin werde sie einen Brief zurücklassen und ihr darin alles erklären. Sie werde sagen, daß sie sie gezwungen habe, ihr zu folgen. Zu Frau von Tressens freudiger Überraschung machte die Magd keine erheblichen Einwendungen. Entweder fühlte sie Mitleid mit der Frau und dem Kinde, oder sie wünschte selbst, Holzwerder zu verlassen. Die Langeweile drückte sie, und da ‚die Gnädige‘ die Verantwortung übernehmen wollte, so sah sie keinen Grund, der Großmutter Weisung einen Widerstand entgegenzusetzen. In kaum einer halben Stunde hatte sie auch bereits alle ihre Habseligkeiten und alles für das Kind Notwendige zusammengepackt und lief dann nach Frau von Tressens Anweisung fort, um den Wagen zu holen. Er sollte hinten am Hause halten. Dort wollten sie einsteigen und auf einem Seitenwege des Parks die Landstraße gewinnen. Sobald das Mädchen sich entfernt hatte, schloß Frau von Tressen Tankreds Arbeitszimmer auf, fand hier Papier und einen Rest Tinte und setzte einige Worte an die Haushälterin auf. Sie erklärte ihr Vorgehen durch den körperlichen Zustand des Kleinen. Als sie eben den Brief vollendet hatte, hörte sie draußen Schritte. Ihr Herz pochte; wahrscheinlich war's der im Hause wohnende Knecht; ihn hatte sie ganz vergessen. Aber nur kurze Zeit kämpfte sie mit Unentschlossenheit, dann erhob sie sich, öffnete die Thür und sah hinaus. Ein wie ein Jägerbursche gekleideter Mensch mit einem sehr wenig sympathischen Gesicht stand vor ihr; eben kam er aus dem Kinderzimmer, wo er offenbar die Magd gesucht hatte. Nun galt's! Gewalt, Widerstand konnten zu keinem Resultat verhelfen, nur List vermochte etwas. „Ah! Da ist jemand!“ begann Frau von Tressen, des Knechtes Frage zuvorkommend. „Wollen Sie, guter Freund, ein paar Thaler verdienen? Ich suchte Herrn von Brecken, ich wollte ihm einen Besuch machen. Da ich ihn nicht finde, möchte ich ein Billet nach Falsterhof gebracht wissen. Einen Augenblick —“ Und während der Angeredete noch in Überraschung dastand und durch die Sicherheit des Auftretens der Fremden eingeschüchtert verharrte, steckte sie einen leeren Briefbogen in ein Kouvert, überschrieb es an Theonie und überreichte dem Manne das Schreiben zugleich mit zwei Thalern. „Sie müssen aber sofort hinübereilen! Nehmen Sie den Weg über den Hof. Ich habe die Magd fortgesandt, da mein Wagen, den ich erwartete, nicht kam. Sorgen Sie sich nicht um mich. Er muß jeden Augenblick eintreffen, und inzwischen sehe ich nach dem Kleinen. Der Brief ist nur abzugeben, ohne Antwort.“ „Zu Befehl! Zu Befehl, gnädige Frau! Soll alles bestens besorgt werden!“ bestätigte der Mann ebenso arglos wie unterthänig, dienerte und machte sich rasch davon. Mit einem tiefen Atemzug ließ sich Frau von Tressen in einen Sessel sinken. Nach der ungeheuren Erregung kam die Abspannung über sie; aber sie raffte sich wieder auf und flog zu dem weinenden, offenbar eben von Schmerzen gepeinigten Kinde, nahm es voll Zärtlichkeit an sich und suchte es zu beruhigen. Und dann folgten noch zwanzig Minuten schrecklicher Angst und Unruhe, Minuten, die der Frau wie Stunden vorkamen. Immer von neuem schaute sie aus dem Balkongemach auf den Park, ob der Wagen noch nicht erscheine, und als er endlich an der Ecke sichtbar ward, rang sich ein Erlösungsschrei aus ihrer Brust. Aber seltsam! Während ihre Gedanken sich so mit aller Anspannung auf das Gegenwärtige richteten, wurden andere Vorstellungen plötzlich in ihr lebendig, und das Widersinnige der Situation und der Gegensatz zwischen einst und jetzt drangen überwältigend auf sie ein. Wie wäre es, wenn sie sich in den Besitz des Gutes, nicht nur in den Besitz des Kindes setzte; wenn sie Brecken bei seiner Wiederkehr mit Gewalt von Holzwerder entfernte; wenn sie seine Klage wegen Besitzstörung trotzig abwartete und dem Richter erklärte, sie habe gehandelt als natürlicher Anwalt ihres Enkelkindes? Da der Vater seine heiligsten Pflichten gegen das Kind außer acht gelassen, da er zudem ein Fälscher sei, der sich als solcher in den Besitz des Gutes gesetzt habe, so beantrage sie die Aberkennung aller Rechte, die er sich angemaßt habe?! Ja, das konnte gehen! Wie ein flammend aufhellender Blitz zog's durch das Gehirn der Frau. — Wen hatte sie zu gewinnen, um ihr Vorhaben ins Werk zu setzen? Die Menschen im Hause und einen als Inspektor fungierenden Großknecht, der schon in früheren Zeiten auf Holzwerder beschäftigt gewesen. Und das konnte nicht fehlen! Wenigstens wollte sie den Versuch machen! Hederich sollte ihr helfen! Unter solchen Gedanken bestieg sie, nachdem mit Hülfe des Kutschers alles aufgepackt war, den Wagen und fuhr, den Hauptweg zunächst vermeidend, mit dem Kinde in raschem Trabe Klementinenhof zu. * * * * * Es war am kommenden Tage bald nach der Tischzeit, als sich Frau von Tressen zu dem verschobenen Besuch bei Theonie auf den Weg machte. Der Kleine war inzwischen in Klementinenhof untergebracht, und Herr von Tressen von allem unterrichtet, ja, sogar schon mit dem Gedanken einer Besitzergreifung Holzwerders vertraut gemacht. Aber gerade um letztere zur Ausführung zu bringen, bedurfte es um so mehr der Unterstützung von Freunden. Ob und wie Frau von Tressen den Justizrat zu Rate ziehen solle, darüber war sie noch nicht ganz mit sich einig. Wie konnte er mehr sagen, als was eigener Menschenverstand ihr klar machte? Er würde das Vorhaben doch vielleicht widerraten, weil's eben eine Gewaltmaßregel war, und Frau von Tressen wollte keine abmahnende Stimme hören! Von dem Warten auf eine günstige Entwicklung des Prozesses hatte sie nachgerade genug. Nur in einem Punkte mußte sie doch Brix in Anspruch nehmen: sie war selbst nicht imstande, eine Eingabe an das zuständige Gericht aufzusetzen, sie wollte aber auf Grund der Thatsachen sofort mit Anträgen vorgehen, nicht etwa abwarten, daß Tankred ihr zuvor kam. Sie hatte die Absicht, zu erklären, daß ihr Schwiegersohn das Leben ihres Enkelkindes in Gefahr gebracht habe, und zur Erhärtung ihrer Behauptung wollte sie ein ärztliches Gutachten beibringen; ferner auf Grund der Fälschung ein beschleunigtes Verfahren in dem Sinne beantragen, daß die Gütergemeinschaft zwischen dem Breckenschen Ehepaar sofort für null und nichtig erklärt, und dementsprechend auch Tankred jegliches materielle Verfügungsrecht über das Vermögen entzogen werde. Ihre Rückkehr nach Holzwerder endlich wollte sie lediglich als eine veränderte Entschließung hinstellen, zu der sie auf Grund früherer Abmachung berechtigt sei. Hederich war zufolge ihrer Bitte schon am Morgen nach Klementinenhof gekommen, und er hatte, nachdem sie ihm ihre Absicht kund gethan, erklärt, daß er mit den maßgebenden Personen auf Holzwerder sofort sprechen wolle. Also auch das war schon eingeleitet. Frau von Tressen befand sich in einer thatkräftigen und gehobenen Stimmung, die durch die Aussicht, ihr Enkelkind fortan bei sich zu behalten, noch verstärkt ward. Als sie vor der Thür des Herrenhauses in Falsterhof hielt, trat Frege, der den Wagen hatte ankommen sehen, sogleich heraus und war ihr beim Aussteigen behülflich. Wie eben alles auf Falsterhof einen düster melancholischen Eindruck machte, so auch wieder seine Erscheinung. Ernst und stumm öffnete der in tiefe Trauer gekleidete Mann die Thür zum Wohnzimmer und erklärte, daß Frau Cromwell alsbald erscheinen werde. Frau von Tressen überlief ein inneres Frösteln, als sie sich allein befand. So unheimlich still und lichtlos war's in dem Raum, alles starrte sie so stumm und doch zugleich so furchterregend an. Das einzige, die lautlose Ruhe unterbrechende Geräusch, das Ticken einer Uhr, klang ihr wie das Pochen eines Totenwurms. Auch als Theonie kam und sie mit schmerzerregter, wenn auch gütiger Miene begrüßte, ward ihr Gemüt nicht entlastet, umsoweniger, da die bleich und abgehärmt aussehende Frau berichtete, daß sie mit ihren Hausbewohnern eine furchtbare Nacht verlebt habe. Es sei jemand, sicherlich ein Dieb oder Einbrecher, im Hause gewesen; wenigstens habe der Hund fortwährend wütend, wie zum Angriff vorgehend, gebellt, und die Dienerschaft sei aufgeschreckt aus den Betten gestoben, ohne indes etwas entdeckt zu haben. Natürlich wirke der Eindruck dieses nächtlichen Vorfalles nach und habe ihre ohnehin erregten Nerven noch mehr in Aufruhr versetzt. Nach dieser Frau von Tressen sehr beunruhigenden Erzählung kam Theonie dann auf deren Angelegenheit, erkundigte sich voll Teilnahme nach Herrn von Tressens Befinden und lenkte zuletzt das Gespräch auf Holzwerder. Wohl eine Stunde währte die Unterredung. Frau von Tressen erzählte von den gestrigen Vorfällen, gedachte ihrer in der Not abgelassenen, Theonie bisher rätselhaft gebliebenen Botschaft und gelangte zuletzt auf die durch Brecken hervorgerufene, schwere und allmählich unhaltbar gewordene Lage. Theonie erklärte sich ohne Besinnen zur Hülfe bereit, und wenn sie auch, ihrer Eigenart entsprechend, bei der dann erfolgenden Erörterung der Zahlungsmodalitäten eine etwas pedantische Umständlichkeit an den Tag legte, so behandelte sie doch die ganze Angelegenheit mit so viel Zartgefühl, daß Frau von Tressen jeder Peinlichkeit enthoben ward. Als sie nach wiederholten warmen Dankesworten zum Fortgehen auf den Flur getreten war, kam ihr Theonie noch einmal nachgegangen und stellte eine gleichgültige Frage. Aber es war ihr offenbar nicht um deren Beantwortung zu thun; etwas anderes bewegte Theonie, das sie auszusprechen sichtlich Scheu empfand. Frau von Tressen sah auf die blasse, dunkle Frau mit den unruhig ängstlichen Augen und ward zum Sprechen gedrängt. „Es ist irgend etwas, das Sie beschwert, das Sie mir mitteilen möchten, liebe, verehrte Frau Theonie. Bitte, vertrauen Sie sich mir an. Könnte ich Ihnen in irgend etwas dienen?“ Und da drängte sich Theonie dicht an die Sprechende heran und flüsterte, des letzten Satzes Inhalt abwehrend: „Nein, nein, ich bedarf nichts. Ich danke Ihnen für Ihre Güte. Es ist etwas anderes, Sie Betreffendes. Ich weiß es nicht, ich habe keinen greifbaren Anhalt, aber eine Ahnung sagt mir, daß Tankred sich gar nicht im Süden befindet, sondern sich in der Nähe aufhält, Unheil für uns brütet und —“ Aber Theonie kam nicht weiter. In demselben Augenblick fiel mit furchtbarem Getöse ein schwerer Gegenstand oben im Hause zu Boden, und beide Frauen fuhren entsetzt zusammen. „Unsagbar, wie ich mich erschrocken habe,“ stieß Theonie, zuerst wieder Worte gewinnend, heraus. „Sie sehen, wie sehr mich alles alteriert! Und so wird auch bei Tankred nur meine Phantasie im Spiele sein. Meine Ahnung ist thöricht. Aber es trieb mich, Sie zu warnen, da doch eine Möglichkeit vorliegt. In diesem Sinne — ich bitte — fassen Sie meine Worte auf, liebe Frau von Tressen!“ Es sei oben ein Bild herabgestürzt, hörte noch Frau von Tressen eins der hinaufgeeilten Mädchen berichten, dann nahm sie Abschied, und wie von einem unheimlichen Druck befreit, atmete sie auf, als sie einige Minuten später das düstere und einsame Falsterhof im Rücken hatte. — Am kommenden Tage stattete Hederich Bericht über den ihm gewordenen Auftrag ab. Es habe sich, wie er meldete, der Insassen des Schlosses wegen der Entfernung des Kindes eine ungeheuere Aufregung bemächtigt, und eben sei die Haushälterin im Begriff gewesen, darüber an Tankred zu berichten. Dies sei vorläufig unterblieben, aber Neigung, sich Frau von Tressen unterzuordnen, sei aus Angst nicht vorhanden. Die Leute befänden sich einem so außerordentlichen Vorfall gegenüber so gut wie ratlos, und nur der als Inspektor fungierende Peter Wille habe erklärt, er sei durchaus bereit, wieder in den Dienst seiner früheren Herrschaft zurück zu treten. Die letzten Nachrichten kräftigten Frau von Tressens Entschluß so sehr, daß sie, auch durch ihren Mann ermuntert, noch an demselben Mittag mit Hederich nach Elsterhausen fuhr, um mit Justizrat Brix zu reden. Der Justizrat besaß ein altes, am Markt belegenes Patrizierhaus, das er allein bewohnte, und war eben im Begriff, seinen Nachmittagsspaziergang anzutreten, als sich die energische Frau bei ihm melden ließ. Ohne lange Einleitung berichtete sie von allem, was geschehen, und schloß mit der Erklärung, daß sie die Absicht habe, schon am folgenden Tage von Holzwerder Besitz zu ergreifen. Mit erstaunlicher Schärfe entwickelte sie ihm ihren Standpunkt und schloß mit den Worten: „Was kann uns geschehen, wenn wir dort erst festen Fuß gefaßt haben? Mit Gewalt kann man uns schon deshalb nicht vertreiben, weil uns nach dem Abkommen mit unserer Tochter ausdrücklich die freie Wahl gestellt ist, dort oder anderswo unseren Wohnsitz zu nehmen. Die Gutseinnahmen deponieren wir zu Händen des Gerichts, bis die Sache entschieden ist; wir entgehen dadurch der Klage auf ungesetzmäßiges Eingreifen in fremdes Eigentum, erklären uns aber zu unserem Vorgehen befugt, indem wir Brecken irgend welche Besitzrechte an Gretes Vermögen abstreiten.“ Frau von Tressen ließ sich auch durch Einwendungen des Justizrats nicht mehr irre machen; es war, als sei ein völlig anderer Mensch in sie eingezogen. Durch die Wiedervereinigung mit ihrem Enkelkinde war nicht nur das Pflichtbewußtsein bei ihr zum Durchbruch gekommen, sondern auch Mut und Entschlossenheit hatten sich ihm zugesellt. „Ich hatte mich schon in die Rolle des Ambos gefunden,“ erklärte sie Brix, „aber jetzt will ich wieder der Hammer sein und will es bleiben für meinen Enkelsohn. Das Glück streckt die Hände nach mir aus, ich will sie ergreifen. Nur deshalb stehen wir so oft frierend am Wege, weil wir die Winke des Schicksals nicht richtig zu deuten verstehen. Indem es die schlummernden Kräfte in mir von neuem anregt, zeigt es, daß es Gutes mit mir vor hat. Und da ich nun auch Mittel und Wege dazu besitze, trotze ich um so mehr einem Schurken, dessen Stärke nur darin besteht, daß man ihm bisher niemals energischen Widerstand entgegen gesetzt hat. Ich werde eine Schutzwache auf Holzwerder aufstellen, niemand betritt das Gut ohne meine Erlaubnis, und wer den Eintritt erzwingen will, den entferne ich mit Gewalt!“ * * * * * Es war an einem dunklen und stürmischen Wintertage im Anfang Januar, als ein einzelner Fußgänger sich um die Nachtzeit Falsterhof näherte, am Eingange der Gutsallee angekommen, stille stand und sichtlich unschlüssig, ob er sie betreten oder weiter schreiten solle, ruhelos um sich blickte. Der Fußgänger war Tankred von Brecken, und was ihn heute furchtbares beschäftigte, hatte seine Gedanken schon seit vielen, vielen Wochen ausschließlich in Anspruch genommen. Er hatte Holzwerder verlassen, weil er endlich die Stimme des Teufels in seinem Inneren zum Schweigen bringen wollte, die ihm immer von neuem zuflüsterte: Thu's, und Du wirst Besitzer von Falsterhof! Thu's, und Du wirst Eigentümer einer halben Million! Und wenn er sich dies ausmalte, ergriff ihn eine so wahnsinnige Gier, daß die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, ihm wie ein Nichts erschienen, und die That und deren Folgen ihm nicht anders dünkten, als alles, was die Tageswelle sonst an den Strand wirft. Aber wenn dann wieder zu anderer Zeit das Wort Totschlag in seinem Innern austönte, und seine Phantasie sich zu regen begann, dann nahmen statt solcher gefälligen Vorstellungen Angst, Furcht und Grauen von ihm Besitz, und die Feigheit — nicht seine bessere Natur, weil sie überhaupt keine Stimme in ihm besaß — riß ihn zurück und stürzte alle Pläne über den Haufen. Und wiederum, wenn am Morgen Feigheit und Nüchternheit geredet und das Wort behalten hatten, fand um mittag die Habgier sich schon wieder ein und flüsterte, und ihre Stimme wuchs, und sie sprach so lange, bis der Mann sich abermals da fand, wo er nicht sein wollte, bei ihr in Falsterhof! Hundertmal war er in Gedanken schon in das Haus eingedrungen, hatte mit raschem Griff den in der Schlinge gefangenen Hund erwürgt, war leise hinaufgeschlichen in Theonies Gemach und hatte auch sie mit seinen Händen erdrosselt. Und dann war er eben so leise wieder hinausgeschlichen, — noch immer besaß er von seinem damaligen Aufenthalt den Schlüssel zur Hinterthür — und die Blätter hatten zwar im Park geraschelt, aber der Mond hatte geschienen wie sonst, und die Felder hatten tot und empfindungslos dagelegen wie immer, und er war schon wieder weit, weit fort, als die Hähne krähten, als im Hause alles wach wurde, die Zofe oben über den Korridor schritt, um die gnädige Frau zu wecken, das Frühstück unten aufgetragen ward, und doch keine gnädige Frau erschien, und der blanke Theekessel umsonst den Dampf aus seinem Halse stieß. — Morgens, mittags und abends, bei den Spaziergängen und Zerstreuungen, beim Essen, im Theater und in Konzerten, zuletzt auch im Traume verfolgte Brecken immer nur der eine Gedanke: wie fängst Du es an, die aus der Welt zu schaffen, durch deren Tod Du Besitzer von Falsterhof wirst? Besitzer von Falsterhof und Holzwerder! — Es lag ein Klang in diesen Worten, dem kein anderer vergleichbar war, keine Harfenmusik, kein Orgelbrausen! Das Gehirn des Mannes arbeitete unermüdlich wie der Kolben einer Dampfmaschine. Vorbereitung zur That, Ausführung und Flucht waren bis ins kleinste überlegt; jeder Zufälligkeit war Rechnung getragen, für jedes gab es eine Auskunft, eine Antwort, einen Unterschlupf. Und doch! Schon einmal war er dagewesen und hatte seine Sache so schlecht gemacht, daß er um eines Haares Breite erwischt wäre. An dem Hund, an der teuflischen Bestie, hatte es gelegen. Ja, wenn der überhaupt nicht da wäre, dann würde es ein Kinderspiel sein, Theonie Cromwell ein für allemal des Atems zu berauben. — Endlich nach viertelstündigem Hin- und Herwandern war Brecken zu einem festen Entschluß gelangt. Ja, er wollte! Abermals auf halbem Wege stehen bleiben, hieß mit den quälerischen Gedanken von neuem beginnen, die Kosten, die durch seinen Fortgang von Holzwerder hervorgerufen waren, wegwerfen und die Hauptsache vergessen, daß nämlich Theonie weiterlebte, und er nichts anderes blieb als der Verwalter des Vermögens seines Sohnes. Fast überhastig durchschritt er die Kastanienallee, nahm, bis zur Mitte angelangt, den bekannten Weg über das Feld in den Park und hielt erst inne, nachdem er vor dem Hinterhause angelangt war. Zunächst lauschte er aufmerksam, ob sich irgend etwas rühre. Das letztemal hatte der Hund sich erst bemerkbar gemacht, als er den Flur betreten, aber sich dann so wütend gebärdet, daß er ihm nicht hatte beikommen können; sehr bald darauf waren auch die Hausbewohner wach geworden. Jetzt hatte Tankred von Brecken eine Schlinge zur Hand; er hatte sich geübt; mit einem Wurf konnte er das Tier unschädlich wachen. Der alte Frege hörte bei seiner Schwerhörigkeit sicher nichts; ein Knecht, den Theonie ins Haus genommen, schlief unten im Keller; das Mädchen und die Zofe fürchtete er nicht. So trat Tankred denn an die Thür, steckte vorsichtig den Schlüssel ins Loch und drehte um. Nichts rührte sich! — Rasch entzündete er eine Blendlaterne — aber ein scharfer Stoßwind löschte sie wieder aus; auch ging's ihm plötzlich eisig über den Nacken, über den Rücken, durch alle Glieder, und er fühlte ein schier wahnsinniges Kitzeln unter der Haut. — Was war das? Sicher ein Nervenreiz, hervorgerufen durch die Kälte, durch die Aufregung; es werde eben so rasch wieder vorübergehen, wie es gekommen war. Doch nein! Zu dem Kitzeln gesellte sich eine furchtbare innere Angst, eine solche Angst, daß der Mann zunächst an nichts anderes dachte, als sich vor sich selbst zu retten. Er griff nach dem Schlüssel und rüttelte rücksichtslos an dem Schloß, als es sich nicht gleich lösen wollte. Und da knurrte es drinnen; der Hund schlug an wie damals; laut, schreckhaft, unheimlich klang's. Und das verschärfte die entsetzliche Bangigkeit und Unruhe, die Brecken ergriffen, und als ob Furien hinter ihm losgelassen seien, floh er durch den Park und aus dem Park über das Feld und erreichte stöhnend, keuchend, atemlos den Ort, an dem er vor kurzer Frist gestanden und sich schlüssig gemacht hatte. Aber dies alles ließ nur blitzartig verschwindende Eindrücke zurück. Bis zur Verrücktheit jedoch quälte ihn das Kitzeln unter der Haut. — Ein Arzt! Wo fand er einen Arzt?! Der nächste wohnte in Elsterhausen. Aber jetzt bei nacht konnte er ihn doch nicht aufsuchen! — Und alle Welt nahm an, daß er sich im Süden aufhalte, und nun war er plötzlich da! — Weshalb? — Nein, das ging nicht. Er mußte zurück nach dem kleinen, westlich liegenden Ort L. und von dort nach Hamburg, wo er sich die letzten Tage aufgehalten hatte. Zunächst aber war es nötig, die Nacht durchzumarschieren, um wieder dort einzutreffen. — So war denn abermals alles umsonst gewesen. — Alles umsonst! Und immer entsetzlicher ward das Prickeln, und je mehr er kratzte, desto fürchterlicher ward es. „Herr Gott im Himmel! Hilf! Was soll daraus werden?“ Wie? Er rief den Gott an, an den er nicht glaubte, den er bisher behandelt hatte wie ein Spielzeug? Am Ende gab's doch ein höheres Wesen, das belohnte und strafte — am Ende gab's doch eine Vergeltung? War er bisher mit Blindheit geschlagen gewesen? Siegte doch das Gute, und ging das Böse unter — —? Plötzlich, in der namenlosen Qual, erhob sich eine Stimme in ihm, die er zuletzt gehört hatte in seiner Knabenzeit, als er noch gut sein wollte, Fehler und Vergehen bereute, als noch ein ehrliches Streben ihn durchdrang, er an sich, an seine Umgebung, an die Menschen glaubte. Ach, sie hatten ihm schon in seiner ersten Jugend die Illusionen genommen, mit seinem frühreifen Verstande hatte er durchschaut, wie gleichgültig er seinem Vater sei, wie wenig seine Mutter ihn liebte, wie berechnend, wie heuchlerisch die Menschen waren. Und das Beispiel hatte auf ihn eingewirkt. Er hatte auch eine weiche Seele und ein für Eindrücke empfängliches Herz besessen, aber allmählich waren sie erstarrt. Es blieb nur Raum in ihm für Regungen, die auf sein sich immer widerwärtiger ausbildendes Ich Bezug hatten. Unterstützt durch eine robuste Gesundheit und durch das ihn begleitende Glück war er einhergegangen, als könne nie ein Wechsel eintreten; nicht einmal der Gedanke an die Möglichkeit einer Änderung war ihm gekommen. Er sah, was in der Welt um ihn her vorging, aber was Schlimmes geschah, das stieß eben anderen zu, und nicht ihm. — Nun aber fühlte er sich plötzlich betroffen. Wie wohl die Heilung eines solchen Leidens vor sich ging? Nie hatte er von ihm gehört. — War's schon die Strafe des Himmels für seine Schlechtigkeiten? Aber bis jetzt hatte er sich doch nur mit Absichten getragen, noch war sein Inneres nicht mit einem Mord belastet. — Mord? Wie das klang! Entsetzliches Wort! — Wie? Hatte er wirklich Theonie töten wollen? — Plötzlich griff der Mann sich an die Brust, als ob ein anderes Wesen in ihn eingezogen sei. — Und dann begann wieder das rasende Kitzeln, und er hätte sich am liebsten nackt im Schnee gewälzt, um die Feuerpein los zu werden. Einmal brüllte er auf durch die Nacht, er warf den Blick empor zu den Sternen. Ob's auch droben so arme, gepeinigte Kreaturen gab? Wie's dort wohl aussah —? Sterben, sterben, nicht mehr leben! Was nützten nun Holzwerder und Geld und Besitz, was Falsterhof und Erbschaft?! Befreit zu werden von dieser Krankheit, dafür wollte der Mann alles hingeben! So klein, so demütig ward er im Verlauf der Stunden, in denen er wie ein Rasender dahin jagte, daß er begann, allen alles abzubitten, seinen Schwiegereltern, Grete, Carin, Hederich, und wie sie alle heißen mochten. Er wollte mit ihnen in Frieden leben, er wollte sich bescheiden, gut werden! Aus den Wirkungen des Schmerzes, der Furcht und der Feigheit schälte sich zum erstenmal etwas heraus, das seinem besseren Gefühle entsproß. Das kalte Herz erhielt allmählich wieder Leben. Ob's wohl anhielt? Ob's nicht wieder verdorrte, wenn die Schmerzen gewichen waren? Er dachte selbst darüber nach. Nein! Die Mahnung war nicht umsonst gewesen; sie kam ihm vom Himmel! Er glaubte jetzt an Gott, er hätte niederstürzen können auf die schneebedeckte Flur und den Schöpfer anbeten. Und nun allmählich wich auch ein wenig das entsetzliche Kitzeln; der Schweiß, in den er geraten war durch das Laufen und die Seelenangst, öffnete die Poren und besänftigte den Reiz. Wie der Mann aufatmete, aber wie auch wieder die Gedanken sich veränderten! Welcher Schwächling er doch war, gleich zu verzagen! Es war sicher nichts von Bedeutung. Vielleicht war's völlig vorüber, wenn er L. erreichte. Und was dann? Ja, was dann —? Er warf den Blick über die Gegend; schon begann's heller zu werden, der Morgen regte sich. Er hielt inne und atmete auf — und dann — dann — plötzlich begann von neuem das Jucken, ein solches kitzelndes Jucken, daß dem Manne der Schaum vor den Mund trat, und er wieder wie ein mit Stacheln gepeitschtes Tier weiter seinem Ziele zuraste. — — * * * * * In ihrem einstigen Wohngemach im Parterre des Schlosses Holzwerder stand Frau von Tressen und hörte, was ihr Hederich, der eben ins Zimmer getreten war, berichtete. Der Inspektor sei zu allem bereit, ebenso das Mädchen; die Haushälterin und der Diener aber wollten erst hören, welche Sicherheit die gnädige Frau ihnen böte, daß sie nicht wegen ihrer Fahnenflucht zur Verantwortung gezogen würden. „Also Pflichtgefühl oder Anhänglichkeit an meinen Schwiegersohn leitet sie nicht?“ „Nein, gnädige Frau! Beide sind Kreaturen, die nur ihren Vorteil im Auge haben. Übrigens — drum und dran — wo wäre der Durchschnitt anders? Frau von Tressen kennen doch die Welt so gut wie ich.“ Die Frau bewegte zustimmend den Kopf; dann sagte sie: „Ich bin dann dafür, beide abzulohnen. So gut wie sie Tankred verleugnen, können sie auch Untreue gegen mich üben. Ich aber brauche zuverlässige Menschen. Mit welcher Summe glauben Sie, daß wir sie abfinden können?“ Hederich zuckte die Achseln. „Sie werden, wenn Sie sie nicht in Dienst nehmen, erklären, daß die Kündigung nur von dem ausgehen kann, der sie verpflichtet hat.“ „Ja, ja, ganz richtig!“ bestätigte Frau von Tressen. Und dann fuhr sie kurz entschlossen fort: „Ich bitte, lassen Sie sie herunterkommen. Ich werde mit ihnen sprechen.“ Als die Dienstboten, von Hederich geleitet, in das Zimmer traten, sagte Frau von Tressen: „Mein Schwiegersohn hat Sie in Dienst genommen. Für ihn trete ich jetzt ein und kündige Ihnen Ihre Stellung sofort. Aber ich wünsche, daß Sie zufrieden von hier gehen, und will Ihnen deshalb ein volles Jahresgehalt auszahlen. Sind Sie damit einverstanden?“ „Ja, ich bin's,“ sagte der Diener nach kurzem Besinnen, „wenn die gnädige Frau mir schriftlich erklären, daß das so richtig ist, und Sie für alles aufkommen.“ „Ja, ich will schriftlich betätigen, daß Ihr durch die Besitznahme des Gutes meinerseits überflüssig geworden seid, und daß ich Euch auf Grund meiner Rechte entlassen habe.“ „Dann bin auch ich damit zufrieden!“ erklärte die Haushälterin. „Wann sollen wir abgehen?“ „Gleich! Ihr könnt noch heute den Lohn empfangen und Holzwerder verlassen.“ Die beiden nickten, verbeugten sich und verließen das Gemach. „So, das wäre ja gut und rasch erledigt!“ rief Frau von Tressen, Hederich vergnügt anblickend. „Jetzt will ich mit Peter Wille das weitere bereden, namentlich auch den Fall ins Auge fassen, daß mein Schwiegersohn zurückkehrt. Ich bitte, lieber Hederich, rufen Sie nun auch ihn, und dann wollen wir uns gleich weiter an die Einrichtung machen.“ — Nachdem Frau von Tressen in solcher Weise die Einleitung zu ihren mit so kühner Entschlossenheit gefaßten Plänen getroffen, griff sie in gleich entschiedener Weise auch in die übrigen Verhältnisse ein und brachte es nach wenigen Wochen dahin, daß der Umzug bewirkt war, und sie und ihr Mann sich in alter Weise in Holzwerder eingewohnt hatten. Mehrere von Tankred entlassene, aber Tressens aus früherer Zeit ergebene Leute wurden wieder angestellt, und namentlich ward auch am Hofthor ein Wächter postiert, der alles, was aufs Gut kam, einer genauen Kontrolle unterwerfen mußte. Hof, Garten und Gebäude wurden, so weit die Witterung es erlaubte, und es gegenwärtig bereits von Wert war, in einen würdigen Zustand zurück versetzt, und endlich griff auch Frau von Tressen in dem zwischen Brix und ihr verabredeten Sinne in die Gutsgeschäfte ein. Durch diese alles umgestaltende und neue Verhältnisse anstrebende Thätigkeit stellte sich bei Frau von Tressen die alte Lebensfreudigkeit und Zuversicht wieder ein, ja, sie schien sich auch auf ihre Umgebung zu übertragen, denn der Kleine erholte sich zusehends, und Herr von Tressen befand sich infolge der ihm durch das Landleben aufgezwungenen einfachen Lebensweise wohler und kräftiger als seit vielen Jahren. Als Tressens zum erstenmale Hederichs, Höppners und Theonie wieder bei sich in Holzwerder sahen, feierten sie den Tag wie einen Festtag, und die Gedanken an Brecken, der seit Wochen nichts von sich hatte hören lassen, traten allmählich ganz zurück. Was konnte er machen? Klagen? Arrest beantragen? Wohl! Sie warteten das Ergebnis ab. Würde der Richter einem die Gesundheit und das Eigentum seines Kindes vernachlässigenden Manne, einem Menschen, der sich durch Fälschung in Besitz von Rechten gesetzt hatte, solche von neuem bestätigen? Schwerlich! Die Zeugnisse waren niederdrückender Natur, zum Teil unanfechtbar. Von ihnen unterstützt, hatte Brix inzwischen die Eingabe an das Gericht abgehen lassen. Ganz mit Herzen und Gedanken bei ihren Freunden waren während dieser Zeit Höppners, Hederich und Carin. Sie legten eine Teilnahme an den Tag, als sei ihnen selbst ein großes Glück zugefallen; Hederich fühlte sich auch schon wieder als Verwalter auf Holzwerder, und Frau von Tressen that nichts die Gutsangelegenheiten betreffendes, ohne seinen Rat einzuholen. Mit Bewunderung sah er, wie sie alles angriff, wie die Energie, die sie durch den furchtbaren Schmerz über Gretes Tod verloren hatte, zurückgekehrt war. Mit tiefem Kummer aber erfüllte die Freunde das Aussehen und Wesen Theonies. Ihr Inneres, man sah es, war schwer krank, in ihren Mienen lag ein so herzzerreißender Ausdruck von Verzicht auf Glück und Lebensfreude, daß Carin, die mit ganzer Seele an Theonie hing, sich über die bei der letzten Begegnung empfangenen Eindrücke gar nicht zu beruhigen vermochte. — Es war gegen Ende der Woche in der Frühe, als der Inspektor in sehr aufgeregter Stimmung bei Tressens anklopfte und den Herrschaften einen von Tankred eingetroffenen Brief überreichte. In diesem gab der Schreiber seinem Befremden darüber Ausdruck, daß ihm keine Berichte mehr zugegangen seien, weder von dem Inspektor, noch von der Haushälterin. Er verlangte solche umgehend und fügte hinzu, daß er ehestens nach Holzwerder zurückzukehren gedenke. Durch Krankheit sei er gezwungen worden, den Süden zu verlassen und sich nach Hamburg zu begeben. Es folgten dann noch einzelne Fragen, und am Schlusse hieß es: ‚Melden Sie mir auch etwas von Frau Cromwell auf Falsterhof und von Tressens, und lassen Sie Frau Born sogleich telegraphieren, — das Wort war, weil der Schreiber vielleicht die größeren Kosten scheute, nachträglich ausgestrichen, und statt dessen ‚schreiben‘ gesetzt, — wie es dem Kleinen geht.‘ Der Inspektor bat um Verhaltungsmaßregeln; er wußte nicht, was er thun sollte, und fühlte sich erleichtert, als Frau von Tressen ihm erklärte, sie werde selbst die Zeilen beantworten und auch alle Maßnahmen treffen. Und so geschah es; die energische Frau schrieb sogleich mit fester Hand an ihren Schwiegersohn: ‚Die Zeilen, welche Sie an Herrn Peter Wille gerichtet haben, sind von demselben meinem Manne, der sich, wie ich selbst, auf Holzwerder befindet, übergeben worden. Da wir erst dadurch in den Besitz Ihrer jetzigen Adresse gelangt sind, unterblieb bisher die Mitteilung, daß wir unser kleines, durch schlechte Pflege äußerst vernachlässigtes, fast an seinem Leben bedrohtes Enkelkind zu uns genommen und auch die Verwaltung von Holzwerder, an welchem wir Ihnen alle Rechte abstreiten, angetreten haben. Ferner zur Nachricht, daß unser bisheriges Bankhaus in Elsterhausen von uns beauftragt worden ist, einlaufende Gelder zwar wie früher in Empfang zu nehmen, aber lediglich zur Verfügung des Gerichts zu halten und fortan Zahlungen an niemanden, auch an Sie nicht mehr zu leisten. Ergebenst A. von Tressen.‘ „So!“ rief Frau von Tressen, nachdem sie diese Zeilen mit Bewilligung ihres Mannes einem Diener zur Besorgung übergeben hatte. „Nun werden wir mit Ruhe abwarten, was geschieht. Morgen hat er bereits den Brief. Von übermorgen ab können wir uns auf seinen Besuch gefaßt machen. Aber alle Leute sind genau instruiert; auf den Hof wird man ihn, kommt er durch das Thor, nicht lassen, und tritt er durch den Park ins Haus, so werden ihm unsere Dienstboten die erforderlichen Erklärungen geben. Aber passe auf, er wird nichts gegen uns unternehmen.“ „Wer weiß!“ fiel Herr von Tressen ein. „Daß er sich nicht in gleicher Weise fügen wird, wie seinerzeit wir es gethan, ist sicher. Ich glaube doch, daß er irgend etwas Gewaltthätiges inszenieren wird.“ „Gewaltthätiges? Nein! Dazu ist er zu feige. Daß ihm vielleicht solche Gedanken kommen, bezweifle ich nicht, aber Dinge, bei denen es sich um mehr handelt, als um schiefe Gesichter, faßt er nicht an. Wohl aber halte ich es für möglich, daß er sich einmal wieder an Theonie heranmacht, klagt und lamentiert und ohne Rücksicht auf alles Vorgefallene eine seiner Komödien in Szene setzt. Da fällt mir ein: ich will Theonie lieber in Kenntnis setzen, daß er aus Italien zurück ist. Ich weiß, sie trifft dann Maßregeln, daß er sich ihr nicht zu nähern vermag.“ Frau von Tressen ward unterbrochen, weil eben aus dem Nebenzimmer die klagende Stimme des Kleinen drang. Als sie aber das Gemach betrat, streckte der Knabe die Arme aus und rief jauchzend ein unbehülflich klingendes „Omama!“ Da nahm die Frau das Kind in die Arme und küßte es in dem Überquellen ihrer glückseligen Empfindungen lang und zärtlich. * * * * * In einem Parterrezimmer des Streitschen Hotels am Jungfernstieg in Hamburg ging der Baron Tankred von Brecken in höchster Aufregung auf und ab. Ein Brief, den er vor einer Stunde empfangen, versetzte ihn in einen völlig fassungslosen Zustand, raubte ihm jedes Interesse für die Außendinge und schuf ein Heer von widerstreitenden Gedanken und Empfindungen in seinem Inneren. Aus dem Briefe ergaben sich unumstößlich zwei Thatsachen: vorläufig war er von Holzwerder ausgestoßen, und wenn das Bankhaus in Elsterhausen die Weisung des Gerichts abwartete und alle Zahlungen an ihn sistierte, so war er auch geradezu in seinem Lebensunterhalt bedroht. Breckens erste Idee war gewesen, sogleich mit seinem Rechtsanwalt Rücksprache zu nehmen und die Firma in Elsterhausen telegraphisch anzuweisen, ihm den gesamten Kassenbestand nach Hamburg zu senden. Aber was konnte ihm sein Anwalt anderes sagen, als was sich ihm selbst an Schlußfolgerungen aufdrängte? Und das Telegraphieren war ja überhaupt zwecklos. Nur durch persönliches, mündliches Eingreifen vermochte er vielleicht, etwas zu erreichen! Eben von der furchtbaren Krankheit genesen und aus der Privatklinik des ihn behandelnden Arztes entlassen, traf ihn nun dieser neue Schlag völlig unerwartet. Eine solche Möglichkeit war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Das waren Dinge, wie sie sich höchstens in mittelalterlichen Zeiten vollzogen hatten. Damals ward wohl eine Burg in der Abwesenheit des Besitzers belagert, die Mannschaft entwaffnet oder bestochen, und die Fahne des Feindes flatterte statt der des Eigentümers vom Turme, aber jetzt? — — Und Gegenmaßregeln? Eine Zwangsvollstreckung? Sie zu beantragen, war sicher zwecklos. Tankred wußte, daß das alles nicht ohne Brix' Einwilligung geschehen war, und ohne die näheren Umstände zu kennen, war es für ihn zweifellos, daß ein solches Vorgehen sich auf besonders schwerwiegende Argumente stützte. Von der bisherigen, weil durch keinen Widerstand streitig gemachten Höhe war er mit einem jähen Schlage herabgestürzt. Das Bild hatte sich völlig verändert. Er stand tief unten und mußte bittend die Hände ausstrecken, mußte gute Worte geben. Und das war nicht nur zeitweilig. Brecken sah, daß er durch diesen unerwarteten Zwischenfall entweder das Spiel ganz verloren habe oder schon jetzt den von ihm für später geplanten Vergleich zur Ausführung bringen müsse. Ja, das war jetzt das einzige, was ihm übrig blieb, nur mit dem Unterschiede, daß, da nicht Tressens mürbe gemacht waren, sondern er, sie ihm nun ihre Bedingungen vorschreiben würden. Verdammt! Verflucht! Er stampfte wie rasend mit dem Fuß und biß die unheimlich weißen Raubtierzähne in seinem Verbrechergesicht zusammen. Und dann — dann blitzte wieder in seinem Gehirn auf, was er endlich ein- für allemal begraben glaubte, schon deshalb, weil er bereits vor der That so furchtbar hatte büßen müssen: Theonie gewaltsam aus dem Wege zu räumen —! Nein, nein, fort mit dem gräßlichen Gedanken! Ihm war's, als stelle sich das entsetzliche Kitteln wieder ein, als fühle er die Wiederkehr der Krankheit. Nein, alles, nur das nicht! — — Und doch, im Grunde war's ja Thorheit. Der Arzt hatte ihm gesagt, daß solche Hautreize, als welche er die Krankheit bezeichnet hatte, nur aus einer gestörten Blutzirkulation herrührten, und daß das heilbar war, hatte sich ja nun herausstellt. Also Dinge in Verbindung setzen, die gar keinen Zusammenhang hatten, war mehr als Unsinn, deshalb konnte er — Ja, was? Nun war er doch abermals bei Theonie! Wie so oft stand er wieder im Gedanken vor der Hinterthür in Falsterhof, drang ins Haus ein, erwürgte mit rascher Energie den Köter, schlich hinauf zu ihr, packte und erdrosselte sie mit seinen Fäusten, ehe sie überhaupt einen Ton von sich zu geben vermochte, versicherte sich noch einmal, daß sie nicht mehr lebe, und entwich darauf eben so leise, wie er gekommen war. — — Und dann und dann — Brecken reckte sich in die Höhe, trat vor den Spiegel, maß seine Gestalt und betrachtete sein knochiges Antlitz — dann war er Erbe von Falsterhof und konnte zur Not Holzwerder entbehren. Entbehren? — Nun, soweit kam's überhaupt doch wohl nicht. Etwas würde man ihm doch zubilligen. — Und plötzlich fiel der Mann wieder in einen der roten Plüschsessel zurück und starrte vor sich hin, weil — weil — das doch eben nur schöne Wahnbilder gewesen waren. Die Wirklichkeit bestand wie vorher, und der Gegensatz zwischen gehobener Vorstellung und Wirklichkeit ernüchterte und entmutigte ihn nur noch mehr. — Endlich sprang er auf, und ein: „Ja, so soll es sein!“ ging aus seinem Munde. Erst wollte er sich mit Tressens aussöhnen, zu erreichen suchen, was zu erreichen war, und dann später endlich die Geschichte in Falsterhof abmachen, nachdem er vorher — daß ihm dieser gute Gedanke doch jetzt erst kam! — die Bestie, den Hund, beseitigt hatte. Ja, so war's gut, und so sollte es bleiben. Unter solcher Stimmung packte er seinen Koffer und reiste, nachdem er vorher noch an Brix telegraphiert hatte, daß er ihn am kommenden Vormittag in Geschäften besuchen werde, nach Elsterhausen ab. — Es war zwei Tage darauf in der Vormittagsstunde, als ein Reiter langsamen Schrittes die beschneite Landstraße von Elsterhausen nach Breckendorf durchmaß. Der Reiter war Tankred von Brecken, und ihm war sehr bedrückt zu mute. Seine ungünstigsten Vorstellungen hatten sich bestätigt. Von Brix war ihm erklärt worden, daß gerade an diesem Tage auf seinen speziellen Antrag die Bestätigung einer vorläufigen Kuratel über Gretes Vermögen eingetroffen sei, und daß Tressens jetzt zu irgend welchem Vergleiche um so weniger geneigt seien. Er vermöge in der Sache nicht nur nichts zu thun, sondern müsse auch eine Vermittlung ablehnen. Zugleich erfuhr Brecken, daß die Akten zur Prüfung an den Staatsanwalt gegangen seien, und die Möglichkeit vorliege, daß die Anklage wegen Fälschung gegen ihn erhoben werde. Mit dieser konnte, wie der Anwalt ihm nicht verhehlte, der Antrag auf Freiheitsentziehung verbunden sein, dem freilich, wie Brecken hoffte, durch eine Kautionsstellung vorgebeugt werden könne. Endlich war auch Tankreds Unterredung mit den Besitzern des Bankhauses resultatlos verlaufen; sie waren soeben angewiesen worden, keinerlei Zahlungen ohne Befehl des Gerichts, respektive vor der definitiven Entscheidung des obersten Gerichtshofes mehr zu leisten. Nun wollte Brecken den schon einmal mit so gutem Erfolg betretenen Weg einschlagen und der Pastorin Höppner Hülfe in Anspruch nehmen. Er fürchtete das Ergebnis der Fälschungsklage, in dieser Annahme unterstützt von seinem Rechtsanwalt, nicht eben sehr; es fehlten ja doch die Beweise! Aber die ganze übrige, seine Existenz und seine Bequemlichkeit gefährdende Situation war ihm unerträglich. Ein Vergleich hob die Streitigkeiten und den Prozeß wenigstens nach der einen Seite hin auf; darum war's ihm zunächst zu thun. Die Diäten, welche ihm das Gericht auf Antrag seines Anwaltes aus dem beschlagnahmten Vermögen zur Verfügung stellen würde, retteten ihn wohl vor Lebensnot, aber die in ihm zehrende Herrschsucht und Ungeduld ließen ihm, da die Dinge sich nun einmal so ungünstig gewendet hatten, keine Ruhe. Er wollte unter allen Umständen, und wenn er sich selbst nach Holzwerder begeben und dort gute Worte geben sollte, aus der Ungewißheit heraus. Das Spiel — er hatte es sich klar gemacht — war völlig verloren, und damit wollte er rechnen. Bei den Blitzen der Selbsterkenntnis, die in ihm aufleuchteten, fand er sich gegenwärtig selbst so charakterlos, feige und schwankend, daß die Reue ihn mit ganzer Gewalt packte. Er wünschte, einen Kompromiß mit sich und dem in der Not immer doch wieder von ihm angerufenen Gott zu schließen, er wollte friedfertig und ehrbar werden, wenn nur diesmal noch der Himmel ihm beistehen wollte! Nur dies eine mal! — Und wenn der Vergleich mit Tressens durch Frau Höppners Hülfe gelang, dann würde auch Brix Rat wissen, das übrige zu beseitigen; dann war alles gut. — Die Pastorin befand sich, als Brecken das Haus betrat, bei ihrem ‚guten Mann‘ im Zimmer. Sie saß mit umgebundener Küchenschürze auf der Lehne des Sofas, er aber hatte, die Arbeit an der Predigt unterbrechend, dem Pulte den Rücken zugewandt und stand, die lange Pfeife im Munde und die Stirn in dem freundlich-arglosen Gesicht nach der Art der Beschränkten hoch emporziehend, aufmerksam zuhörend vor ihr. Und die Pastorin weinte, indem sie einen Bericht über Lene, deren Angelegenheiten sie zu so ungewohnter Zeit in das Studierzimmer ihres Mannes getrieben hatten, mit den Worten schloß: „Es ist das erste mal, daß ich das Kind bei einer Lüge ertappe! Aber eben — sie versteht doch schon zu lügen und sich zu verstellen, und das macht mich so unendlich traurig.“ Und als der Pastor beruhigend auf sie einsprach, fuhr sie fort: „Ach nein, nein, es ist leider so, und Du mußt mit ihr reden und ihr vorstellen, wie unrecht sie gehandelt hat. Wir dürfen die Sache nicht leicht nehmen. Es ist sicher, sie neigt zu diesem furchtbaren Laster. Ich muß immer denken, was aus einem Menschen werden kann, wenn er schlecht erzogen wird, wenn nicht gleich die Fehler in ihm ausgerottet werden. Sieh nur Tankred von Brecken an! Welch ein Scheusal ist dieser Mensch —“ „Herr von Brecken bittet, den Herrschaften aufwarten zu dürfen!“ ließ sich in diesem Augenblick die Stimme der die Thür öffnenden Magd vernehmen, und fast gleichzeitig und höchst ungelegen erschien Tankred unter tiefer, überhöflicher Verbeugung. Aber während der Pastor wie gewöhnlich dem Gutsherrn mit großer Zuvorkommenheit begegnete, verhehlte die Pastorin ihre schlechte Stimmung gegen ihn durchaus nicht und bewillkommnete den Gast mit zurückgeworfenem Haupt und äußerst steifer Miene. Auch machte sie absichtlich, als ob sie annehme, Brecken sei in Geschäften zu ihrem Mann gekommen, sogleich eine Wendung zur Thür. „Ich bitte einen Augenblick, sehr verehrte Frau Pastorin!“ schmeichelte nun Brecken unterwürfig. „Ich möchte gerade Sie gern sprechen und Ihren freundlichen Rat erbitten. Würden Sie mir nicht einen Augenblick schenken? Ich wäre sehr dankbar dafür —“ Die Pastorin sagte nichts; schon sein Anblick war ihr so widerwärtig, daß sie sich zu einem entgegenkommenden Worte nicht zu zwingen vermochte; sie bewegte nur mit kaltem Ausdruck den Kopf und nahm wieder Platz. Um die unhöfliche Begegnung seiner Frau auszugleichen, bot nun der Pastor mit der Entschuldigung, daß das Kraut zwar von sehr geringer Güte sei und Breckens verwöhntem Gaumen kaum behagen dürfe, dem Gast eine Zigarre an. Und nachdem Brecken sie unter der Erwiderung, daß er durchaus nicht verwöhnt sei, und daß ihm des Pastors Zigarren — obschon er sie höchst miserabel fand — stets vortrefflich schmeckten, entzündet hatte, begann er sogleich mit seinem Anliegen und wendete sich dabei fast ausschließlich an die Frau. Er sprach in längerer Rede mit tiefem Bedauern von den Zerwürfnissen zwischen ihm und Tressens und wagte an die nie versiegende Güte der Frau Pastorin zu appellieren, noch einmal die Rolle der Vermittlerin übernehmen zu wollen. Aber die Antwort fiel keineswegs nach seiner Erwartung aus, ja, die Pastorin nahm gleich für ihren Mann mit das Wort und entgegnete mit demselben ausdruckslos kalten Gesicht, mit dem sie Tankreds Auseinandersetzungen zugehört hatte: „Wir müssen bedauern, Herr von Brecken! In dieser Sache auf Ihre Anregung hin einzugreifen, hieße an den Tag legen, daß bei uns doch noch ein Rest von Sympathie für Sie vorhanden wäre. Gerade das Gegenteil aber ist der Fall. Wir empfinden nur tiefsten Abscheu vor dem, was Sie gethan, und ich für meinen Teil bin ein- für allemal mit Ihnen fertig. Das mag Ihnen nicht angenehm klingen, aber ich kann mir nicht helfen, und somit ist denn auch meine fernere Anwesenheit hier überflüssig geworden. Empfehle mich!“ Brecken warf einen von der Pastorin nicht gesehenen, bittenden Blick auf den Pastor, seine Frau zurückzuhalten. Und so geschah es auch. Aber nicht zum Vorteil Tankreds. Als er nochmals auf die Pastorin einsprach und dabei die alten Verstellungskünste anwandte, während doch seine Augen verrieten, daß er am liebsten der Frau, die ihm so zu begegnen gewagt, den Garaus gemacht hätte, erhob sich in der ohnehin durch Lenes Lüge äußerst verstimmten Pastorin ein solcher Tumult von Ärger und Widerstand, und ihr sittliches Gefühl bäumte sich so gewaltsam auf, daß sie mit funkelnden Augen hervorstieß: „Wissen Sie was, Herr von Brecken? Am besten thäten Sie, wenn Sie so rasch wie möglich das Land ein- für allemal verließen! Hier nimmt kein Hund ein Stück Brod mehr von Ihnen! Ihrem Charakter mißtraut man aufs äußerste, man hält Sie für fähig, das Schlechteste zu thun, wenn es sich um Vorteile für Sie handelt, und ich kann mich nicht erinnern, daß jemals ein Mensch allen, mit denen er in Berührung gekommen ist, einen solchen Abscheu eingeflößt hat, wie Sie. Man nennt Sie einen Heuchler und Komödianten, und ich füge hinzu, Sie sind nicht das allein, sondern ein grundschlechter Mensch, den der gerechte Gott nur deshalb noch nicht gestraft hat, weil er ihn später um so empfindlicher züchtigen will. Nichts, gar nichts thun wir in der Sache. Wir wünschen vielmehr, daß unsere so hochgeachteten und lieben Tressens alles vollauf erreichen, was sie erstreben! — So, und das war nun das letztemal, daß ich Ihnen im Leben gegenübergestanden habe. Ich will nichts, gar nichts, unter keiner Bedingung mehr mit Ihnen zu schaffen haben!“ Nach diesen Worten verließ die unerschrockene Frau das Gemach, und bleich, zitternd und verzehrt von Wut stand der Gemaßregelte da. Noch einmal aber nahm der Pastor das Wort und hub an: „Lieber Herr von Brecken, es giebt für jeden, der fehlte, bei unserm Herrn Jesus Christus —“ Aber weiter kam er nicht. „Ach was! Schweigen Sie doch mit Ihrem — Ihrem —“ setzte Brecken, der vor Zorn jede Besinnung verloren hatte, an und fuhr gegen Höppner auf. Er sah in des Pastors Worten einen neuen Angriff in anderer Form und wollte und konnte all das Geschwätz und all die ‚Salbaderei‘ nicht mehr ertragen. Er ergriff deshalb seinen Hut und sagte mit wuterstickter Stimme: „Sie begreifen wohl, daß ich nach einer solchen maßlosen Invektive es nicht erwarten kann, das Haus zu verlassen, das sich ein christliches und versöhnendes nennt, aber nichts anderes ist, als ein nichtiger Bau scheinheiliger Überhebung! — Nein, nein, ich höre nichts mehr, und nie werden Sie mich wieder unter Ihrem Dache sehen!“ Nach diesen trotz seiner maßlosen Leidenschaft berechnenden, den Pastor sicher gerade im tiefsten Herzen verwundenden Worten stürmte Tankred auf den Flur und aus dem Hause. Brecken nahm nicht gleich den Weg ins Wirtshaus zurück, in das er seinen Rappen eingestellt hatte, sondern beschritt, um der wühlenden Gedanken in seinem Innern besser Herr zu werden, zunächst einen einsamen Nebenpfad. Er mußte allein sein; jetzt konnte er keinen Menschen sehen; er bedurfte der Sammlung, um zu einem vernünftigen Entschluß zu gelangen. Einmal schoß es ihm durch den Sinn, sich direkt nach Holzwerder zu begeben, vor seine Schwiegereltern hinzutreten und seine Sache selbst zu führen. Aber das Zwecklose dieses Schrittes leuchtete ihm eben so sehr ein, wie die Nichtigkeit eines nochmaligen Versuchs, Theonies Verzeihung zu erringen. Nein, einmal hatte alles in der Welt ein Ende, und es war nun auch für ihn gekommen, aber weit schlimmer, als er es sich je vorgestellt hatte. Noch eine Woche weiter, und er besaß keine Mittel mehr zum Leben. Er mußte dann schon Anspruch auf Diäten erheben, aber da er ohne Wohnung war, würden sie kaum zu seinem Unterhalt ausreichen. Wieder ergriff den Mann eine an Raserei grenzende Wut. Und zu der Wut gesellte sich die Rachsucht und in erhöhtem Maße die Gier nach Besitz und Geld. Welch ein Augenblick, wenn er Eigentümer von Falsterhof sein würde, wenn er mit stolzer, von Machtfülle getragener Geringschätzung herabblicken könnte auf das ‚Gesindel‘, das ihn hatte vernichten wollen. Er weidete sich in Gedanken an ihrem Ärger und ihrer grenzenlosen Enttäuschung, daß es ihnen nun doch nicht gelungen war, ihn in den Staub zu drücken. Im Gegenteil! Ihnen allen zum Trotz blieb er dann doch in ihrer nächsten Nähe, und von genügenden Mitteln unterstützt, konnte er einen vorläufig verlorenen Prozeß noch einmal wieder aufnehmen. Und fest entschlossen war er nun, dem Zaudern ein Ende zu machen. Die Verhältnisse trieben ihn dazu. Er wollte Theonie beseitigen. Während er dahinschritt, bald rasch, bald langsam, je nach den Regungen seines Innern, waren seine Gedanken ausschließlich mit diesem Plan beschäftigt. Abermals wollte er ausstreuen, daß er sich nach dem Süden begebe, bei seinem Anwalt wollte er, um später sein Alibi nachweisen zu können, seine Adresse an der Riviera niederlegen. Und dann galt's noch einmal denselben Gang zu unternehmen wie damals, aber fest und ohne Schwanken. Und nach geschehener That wollte er dann direkt nach Italien reisen und sich von dort zurückrufen lassen — als Erbe von Falsterhof. Nach solcher Auseinandersetzung mit sich selbst und Klarstellung dessen, was er wollte, schlug Brecken wieder die Richtung nach dem Breckendorfer Wirtshaus ein und erreichte es nach einer halben Stunde. In der Gaststube fand er den Besitzer allein hinter dem Schenktisch; das paßte ihm eben; er bestellte ein Glas heißen Grog und knüpfte ein Gespräch an. Im Verlauf dessen fragte er den Wirt, seine lange Abwesenheit vorschützend, über Falsterhof aus; wie es seiner Kousine, die er, so warf er hin, diesmal nicht aufsuchen könne, gehe, und ob der Wirt etwas von ihr gehört habe. „Ja, die gnädige Frau will in diesen Tagen, so erzählte der alte Frege, eine Zeit lang verreisen. Nach Dresden und Berlin. Ich glaube morgen früh gehen sie schon ab. — Nicht wahr, Anna?“ rief der Mann seiner eben eintretenden Frau zu, als Brecken, seine Erregung über die Mitteilung geschickt unterdrückend, Zweifel hinwarf. „Sagte Frege nicht, daß die Herrschaft von Falsterhof morgen früh abreisen wollte?“ „Nein, übermorgen mittag,“ berichtigte die Wirtin, Brecken ehrerbietig begrüßend. „So sagte der Pächter Harms gestern abend.“ Brecken fiel ein Stein vom Herzen. Wenn keine Spanne Zeit zwischen seinem Hiersein und seiner Abreise lag, so fiel leicht der Verdacht des Mordes auf ihn. Ohnehin war die Zeit schon kurz bemessen. Mit schlecht verhehlter Hast ließ er sich sein Pferd wieder vorführen, bezahlte die Zeche und warf hin, daß er noch heut seine Reise nach Italien antreten wolle. Als er schon in der Thür stand, wagte der Wirt nach dem Stande der Prozeßangelegenheit zu fragen, er gab sich den Anschein, als leite ihn nicht Neugierde, sondern Interesse für Brecken. „Erst hatte ich die Oberhand,“ antwortete Tankred anscheinend gelassen, „nun haben die sie zeitweilig. Das Gericht wird entscheiden! Ich warte die Sache mit Ruhe ab, da der Ausgang mir nicht zweifelhaft ist. Zunächst will ich noch mal etwas für meine Gesundheit thun. Adieu, lieber Krüger! Adieu, Frau Krüger! Auf Wiedersehen!“ Damit trabte er davon, und der Wirt, getäuscht durch seine sorglose Miene, sagte, langsam neben seiner Frau ins Haus zurücktretend und sich an den warmen Ofen stellend: „He schien ja ganz vergnögt to sin. Am Enn steiht doch de Sak för de Herrschaften up Holtwerder nich so günstig, as de glöwen. — Schall mi Wunner nehm'n, woans dat aflöst! Na, ick mug nich mit em in Striet kamm'n. He hett wat int Oog, dat man dat Gruseln krieg'n kann.“ * * * * * Am Vormittag desselben Tages traf Hederich in Holzwerder ein. Er hatte die Tasche voll Neuigkeiten und konnte es nicht erwarten, sie auszukramen. Schon an seinen leuchtenden Augen erkannten Tressens, daß er Günstiges zu melden habe, und er platzte denn auch gleich damit heraus. Er wußte, daß Brecken bei Brix gewesen, und daß dieser jede Intervention eben so entschieden abgelehnt hatte wie Frau Höppner. Jedes Wort, das letztere Tankred entgegengeschleudert, hatte er in der Erinnerung und gab es — ein Labsal für sich selbst — wieder. Endlich wußte er auch, daß Brecken später noch im Krug gewesen war und dort geäußert hatte, daß er sich gleich wieder nach dem Süden begeben wolle. „Was soll er denn auch hier thun?“ schloß Hederich eben so überzeugt wie vergnügt und rieb sich die Hände. „Drum und dran — es war ein großartiger Gedanke von Ihnen, gnädige Frau, den Spieß umzukehren und hier einzuziehen. Wir sehen es ja jetzt. Er ist völlig entwaffnet und bittet um gut Wetter. Aber nicht wahr, Sie lassen sich auf nichts, auf gar nichts ein? Jetzt nur nicht noch einmal weich werden, gnädige Frau!“ „Sie kennen mich nicht, lieber Hederich, wenn Sie glauben, ich könnte gutwillig diesem Menschen jemals wieder die Hand bieten. Übrigens möchte ich Theonie gleich benachrichtigen. Sie will reisen, vorzugsweise um ihrem Vetter unter allen Umständen aus dem Wege zu gehen. Vielleicht ändert sie nun ihren Entschluß. Wie wär's, lieber Hederich, wenn Sie auf der Rücktour einen Augenblick bei ihr vorsprächen und ihr Mitteilung machten? Die Neuigkeiten würden sie auch um unseretwillen angenehm berühren, ich weiß es!“ Diesem Ersuchen stimmte Hederich bereitwillig zu; nach eingenommenem Frühstück nahm er von den Herrschaften Abschied und ritt nach Falsterhof. Wie immer öffnete stumm, ernst und gelassen der alte Frege die Thür, wie immer bellte in dem dumpfhallenden Flur der bald sich wieder freundlich anschmiegende Hund, und wie immer erschien Theonie mit ihren ruhigen Bewegungen und ihrem ernsten Antlitz und reichte Hederich die Hand. Es drängte sich dem Besucher unwillkürlich die Frage auf, wie die Menschen es in ihrer abgeschlossenen Einsamkeit aushielten, womit sie den Tag ausfüllten, wie sie Herz und Sinne nährten. Alles war so freudeleer, so eintönig, düster und bedrückend. — Hederichs Bericht nahm Theonie mit großer Spannung und sichtlicher Befriedigung entgegen. Sie hatte sich um Tressens sehr gesorgt, starke Konflikte, gar Gewaltakte erwartet, und nun war alles weit über die günstigste Voraussetzung verlaufen. Sie wurde auch wirklich schwankend, ob sie reisen solle, und äußerte sich in diesem Sinne gegen Hederich. „Sie begreifen nicht, daß ich es in der Einsamkeit aushalte, Hederich!“ sagte sie. „Aber hier werde ich durch die Umgebung auch an das Gute erinnert, das mir der Himmel während meines Lebens schenkte. Meine Eltern, und was ich später liebte —“ Theonies Augen feuchteten sich, und für Augenblicke vermochte sie nicht weiter zu sprechen. Sie brach auch von dem Thema ab, fragte nach Carin und bat, von einem raschen Entschluß beeinflußt, ob Hederichs nicht am kommenden Tage mit Tressens und Höppners, die sie auch bitten wolle, zu Tisch und Abendbrod kommen möchten. „Also wirklich, Sie geben die Reise auf?“ warf Hederich nach ausgesprochener Zusage hin. „Ja, Hederich! Ich war mit meinem Herzen durchaus nicht dabei. Nachdem ich nun den schrecklichen Menschen fern weiß, atme ich wieder auf und will mich meiner Ruhe von neuem freuen. — Hier, nehmen Sie das Ihrer lieben Frau mit!“ schloß sie, als Hederich aufstand und sich zum Abschied rüstete. „Es ist eine Brosche, die aus der Erbschaft stammt, und die ich für sie neu habe fassen lassen. — Nein, nein, keinen Dank, ich liebe ja Ihre Frau wie eine Schwester und wollte ihr vor der Abreise den Schmuck doch zusenden!“ Nun kam auch Frege und meldete, daß Klaus den Schimmel vorgeführt habe, und Hederich, der heute besonders gut gelaunt war und dem Alten einen Thaler in die Hand schob, nahm in schnellerem Tempo als sonst den Weg zurück nach seinem kleinen Gütchen. * * * * * Es war ein Uhr nachts. Die ersten Vorboten des Frühlings regten sich. Die Kälte war gewichen, die Luft war lind selbst in dieser späten Stunde, und solche windstille Ruhe herrschte, daß die Schritte eines sich Falsterhof nähernden Wanderers unheimlich laut das Schweigen der Natur unterbrachen. Und das störte den Spätling. Er wünschte Sturm und Finsternis statt dieses sanften Träumens der Natur, und als nun eben der Mond durch die Wolken brach, und zu der Ruhe sich die Helle gesellte, auch vom Gehöft her das laute Gebell eines Hundes an sein Ohr drang, ging ein wilder Fluch über seine Lippen. „Ah, die Bestie! Immer diese Bestie!“ murmelte er zähneknirschend. Doch ließ Tankred von Brecken sich nicht abschrecken. Wie das letztemal nahm er den Weg über das Feld durch das Gehölz und hielt erst inne, als er die Rückseite des Hauses erreicht hatte. Nun schlug abermals der Hund an, das Gebell kam indes nicht aus dem Hause, sondern aus dem Stall, und doch war's derselbe Ton, den Brecken vordem gehört hatte. Das Tier befand sich also offenbar — vielleicht durch einen Zufall — nicht im Hause; und die schwerste und zunächst wichtigste Arbeit, es zu beseitigen, fiel dadurch fort. Brecken hoffte, daß dem so sein werde, und sein Mut wuchs. Der Himmel kam ihm entgegen, und nun schwankte er auch nicht länger. Im Nu drehte er den Schlüssel im Schlosse um, horchte gespannt, ob das Geräusch jemanden geweckt habe, und entzündete, als alles still blieb, die Blendlaterne. Und dann, nach einer Sekunde, stand er in dem Flur des alten Falsterhofhauses, leuchtete atemlos rings umher, umfaßte mit seinem Blick die hochschmalen, steifgerahmten Gemälde an den weißen Wänden, horchte noch einmal gespannt auf und vernahm zu seiner Erleichterung nichts, als das regelmäßige, laut durch den eingeschlossenen Raum dringende Ticken der großen, alten, aufrechtstehenden Wanduhr. Für Augenblicke weckte der in dem Flur herrschende dumpfe Geruch in Brecken Erinnerungen, ja, mehr noch, Bilder stiegen greifbar deutlich vor ihm auf. Er sah die alte Tante, wie sie in ihren guten Zeiten sich vom Wohnzimmer aus in die Gemächer ihres Mannes begeben, dort nach dem Rechten gesehen und mit vorgebeugtem Kopfe aus dem geöffneten Vorzimmer nach den Dienstboten gerufen hatte. Und vor seinem Auge erschien ihr gütiges Antlitz, die hohe Gestalt seines Vaters, die unerbittlich strenge Miene seiner Mutter und zuletzt — seltsam, — der alte Frege. Brecken war's, während er zum Dämpfen seiner Schritte ein paar Filzsohlen unter die Stiefel knüpfte, als ob er ihn hinten aus seinem Zimmer treten höre, und jetzt, als ob er dastehe und all sein Thun beobachte. Thorheit! Vorwärts! Und wirklich klomm Tankred katzenschnell empor, legte, bevor er Theonies Zimmer betrat, eine Maske vor das Gesicht und schlich bis an die Thür. Ein Druck — sie gab nach — jetzt war sie angelehnt. — Er horchte — sein Herz pochte — Nichts. — Langsam und vorsichtig erweiterte er die Öffnung — nun war er im teppichbedeckten Vorzimmer. Er leuchtete vor sich hin. Er sah im Nebengemach das Himmelbett, in dem Theonie schlief, er hörte ihren regelmäßigen Atemzug. Noch einmal flog's ihm durchs Gehirn, bevor er zur That schritt, wie er's begönne. Er wollte über sie hinstürzen, ihr mit der Linken den Mund verschließen und sie mit der Rechten würgen — so lange würgen — bis — — Aber was war das? — Theonie regte sich — Tankred wich unhörbar zur Seite. — Blitzschnell verschwand die Laterne unter seinem Rock. — Wohl zwei Minuten stand er regungslos da. — — Ohne zu sehen, war's ihm, als ob Theonie sich emporgerichtet habe und mit angstvoll entsetzten Blicken durch das Dunkel spähe. — Endlich — endlich — war sie wieder eingeschlafen — ihr ruhiger, tiefer Atem ging durchs Gemach. — — So, und nun vorwärts! — * * * * * Es war geschehen! Bleich, mit schlotternden Knieen, erschien oben auf der Treppe Tankred von Brecken. Die Laterne zitterte in seiner Hand, er mußte trotz des ihn beherrschenden, alle Sinne gefangen nehmenden Gedankens der That sich an dem Geländer festhalten und stolperte schwankend die Stufen hinab. Und als er die letzte erreicht hatte, drang von drüben Hundegebell an sein Ohr, und unten im Hause oder oben — er vermochte nicht, es zu entscheiden — entstand ein Geräusch, und während er, von Furcht gepackt, zur Hinterthür fliehen wollte, erschien — ja, es war keine Vorstellung, sondern Wirklichkeit! — in Hemdsärmeln und mit in der Eile ungeknöpften, an den Beinkleidern herabhängenden Tragbändern der alte Frege, in der einen Hand ein Licht, in der andern eine Pistole. Und als er den Eindringling mit der schwarzen Maske sah, schrie er durchs Haus, daß die Wände bebten, stürzte vorwärts und sandte dem in wahnsinniger Angst Fliehenden, bevor er die Thür zu erreichen vermochte, eine Ladung aus der Pistole nach. Tosend, wie ein Donnerschlag, klang's durch das Haus. Aber wenn der Verbrecher auch vielleicht getroffen war, so erreichte er doch das Freie. Als Frege hinter ihm die aufgerissene und mit krachendem Laut vom Winde zugeschlagene Thür zurückstieß, sah er Brecken — er glaubte ihn sicher zu erkennen an Größe, Haltung, Bewegungen — durch den Park fliehen. Einen Augenblick stand er ratlos da. Seine Lippen bebten, der Mund murmelte in der Erregung unzusammenhängende Worte. Aber dann ward er aufgerüttelt. Ein entsetzliches, markerschütterndes, nicht endenwollendes Geschrei drang durch das Haus — — Die Zofe flog, mit einem Licht in der Hand, die Treppe herab und rief dem wenige Minuten später schlotternd vor Angst und Schrecken aus allen Winkeln herbeistürmenden Gesinde die Worte zu: „Die gnädige Frau! — Die gnädige — Frau — liegt tot im Bett — —“ Weiter vermochte sie nicht zu sprechen, und während eins der Mädchen sie in ihren Armen auffing, stürzten die anderen empor, um selbst zu sehen, was Gräßliches, Grausiges, Unerhörtes geschehen war. — * * * * * Und durch die Nacht jagte mit einem wahnsinnigen Schmerz an der rechten Schulter, da, wo ihn die Kugel aus Freges Pistole getroffen hatte, Tankred von Brecken. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, die Glieder flogen, die Brust hämmerte. — Vorwärts! Vorwärts! Zunächst weit weg aus dem Gutsbereich, in eine andere Gegend, wo man ihn nicht kannte, zurück nach L. und von dort nach Hamburg. Und von Hamburg am folgenden Tage nach dem Süden! Ja, wenn's ging! — Schon mußte er froh sein, wenn er sich mit der Wunde bis dahin schleppte. Im Körper brannten die Schmerzen, und brennend ging's auch durch sein Gehirn, denn während er dahin stürmte, erschien wieder vor seinem inneren Auge das unglückliche Geschöpf in dem hohen Himmelbett. Wie sie die Augen aufgeschlagen, als er sich ihr genähert hatte; wie ihre Mienen sich angstvoll verzerrt hatten; wie trotz der Schnelligkeit, mit der er sie gepackt, doch ein wimmernder Klageton, ein Ton, den er nicht vergessen würde, und sollte er tausend Jahre alt werden, aus ihrem Munde gedrungen war! Und wie er sie dann mit beiden Händen an die Gurgel gefaßt hatte, und wie im Sterben noch ihr halb flehender, halb entsetzter Blick auf ihn gerichtet gewesen war! — Es war grausig noch in der Erinnerung. In der Wirklichkeit aber war's so fürchterlich gewesen, daß sein Herz fast erweicht worden war. Er hatte Mitleid mit dem armen, hülflosen Geschöpf empfunden — er hätte ihr lieber vorher noch die Wahl gelassen zwischen freiwilliger Besitzabtretung oder Sterben. Aber schon war's zu spät gewesen. Die Augen waren verglast und aus den Höhlen getreten, die Brust hatte aufgehört zu atmen, der in Todeswahnsinn arbeitende, sich sträubende Körper hatte keine Kraft mehr gehabt. Und rasch hatte er ihr Gewand herabgerissen und an ihrem Herzen gehorcht. — Nein! Es schlug nicht mehr, und schlug sicher nicht mehr, als er noch einmal, zum letztenmal mit seinen Fäusten ihre Gurgel — — In diesem Augenblick stolperte Brecken; er stolperte unter der Wirkung gerade dieser legten Vorstellung, — denn dann hatten ihn Grausen, Entsetzen und Angst gepackt. Am liebsten hätte er gleich von oben aus das Freie gewonnen: eine unbeschreibliche, wahnsinnig beklemmende Furcht hatte sich seiner davor bemächtigt, den Weg unten durch das Haus nehmen zu müssen, über den Flur an der tickenden Uhr vorbei, in der sich bewußtes Leben zu verbergen, die ihm offene Augen zu haben schien, und die den Urheber all des Fürchterlichen verraten würde — —! Und als er unten angelangt, war wirklich Frege vor ihm aufgetaucht, hatte ihn angestarrt mit entsetzten und doch entschlossenen Mienen — Und dann ein dumpfer Knall und ein Schmerz an der Schulter, der zunahm und immer unerträglicher wurde, jetzt so unerträglich, daß Tankred von Brecken den bisherigen, stürmenden Lauf hemmte, stille stand und in der gräßlichen Qual aufbrüllte. Es drang unheimlich, ihn selbst erschreckend durch die Nacht! Und doch trat dieser Schmerz zurück vor einem sich jählings seiner bemächtigenden Gedanken, vor der sich zur Gewißheit steigernden Befürchtung, daß Frege ihn erkannt habe! Ja, er mußte ihn erkannt, schon sein Instinkt mußte ihm die Wahrheit eingegeben haben! Und die alte Kanaille würde gegen ihn zeugen, würde es aller Welt verkünden, daß er, Tankred von Brecken, der Mörder sei — —! Und man würde auf ihn fahnden, ihn suchen, bis man ihn fand. Freilich, wer, außer Frege, hatte ihn gesehen? Niemand! In dem Städtchen, wohin er eilte, war er unter einem anderen Namen bekannt, dort hatte er sich für einen in Dresden lebenden Hauptmann außer Dienst ausgegeben. Freilich, sicherer war's schon, nicht nach dort zurückzugehen und auch Hamburg zu vermeiden. Aber was beginnen —? Er konnte, selbst wenn er wollte, nicht weiter kommen. Die Kräfte fingen an, ihn zu verlassen! Und seit kurzem war auch ein Umschwung in der Witterung eingetreten. Immer schwereres Unwetter kam auf, der Mond verschwand vom Himmel, die Wolken jagten sich, ein heftiger Sturm brach los, fuhr über die Felder, Wiesen, Äcker und brachte Finsternis und zuletzt frostige Kälte mit sich. Und durch die Nacht und den Sturm floh mit den letzten ersterbenden Kräften der Mörder, jetzt nur von dem einen Gedanken beherrscht, erlöst zu werden von den furchtbaren, qualvollen Schmerzen, die ihn bis zur Raserei peinigten. * * * * * Der alte Frege saß in seinem Hinterzimmer, hatte die Arme auf die dürren Kniee gestützt und das greise Haupt auf die Brust herabsinken lassen und starrte mit einem unbeschreiblich müden und verlassenen Blick vor sich hin. Die mit der für die Beerdigung seiner Gebieterin notwendigen Maßnahmen verbundene Tätigkeit hatte ihn seit der Frühe aufrecht erhalten; jetzt war er, wie von aller Kraft verlassen, zusammengesunken, und die Gedanken kamen und lösten sich in seinem Kopfe ab, und wenn sie je zu einem Schluß gelangten, war's immer nur der: „Was sollst du noch auf der Welt, da nun die letzte von denen dahingegangen, welchen du dein Leben gewidmet hattest?“ Frege hatte während seiner langen Dienstzeit nie etwas anderes verlangt, als die Thätigkeit, in der er sich befand, und die Ausübung seiner Pflicht, die ihm Bedürfnis geworden war. Andere richteten ihren Sinn hinaus, sie glaubten draußen besseres zu finden, neben der Arbeit Zerstreuung, höheren Verdienst, und was sonst die Sinne der Menschen fesselt. Er aber wußte, es sei thöricht, zu glauben, das die Fremde besseres biete. Breckens waren gleichsam seine Familie geworden, nachdem er vor langen Jahren seine Eltern verloren hatte. Ihre Freude war die seinige, ihr Leid empfand er wie eigenes. In der nächsten Umgegend war er geboren; so hielten ihn denn auch die Heimat, die Landschaft, die Luft, die Menschen, ihre Sprache, ihr Wesen und ihre Gebärden. Schon Elsterhausen schien ihm eine andere, fremde Welt. Einmal hatte er noch gehofft, und seine Seele hatte sich verjüngt, als Theonie zum zweitenmal ihr Herz einem Manne zu eigen gegeben. Da schien die Sonne ihm nicht nur am Himmel, sie flutete durchs ganze Haus, sie strahlte in seinem Herzen, und wenn er seiner Gebieterin leuchtendes Auge, ihre glückseligen Mienen sah, dann ward er selbst noch einmal jung, und seine Phantasie schuf ihm reizvolle Zukunftsbilder. Jetzt war alles unwiederbringlich dahin! Sie war dem Manne ihrer Wahl in den Tod gefolgt, und das große Erbe kam in fremde Hände. Wo sollte er nun bleiben? Hederich hatte ihm gesagt, Tressens würden ihn auf Falsterhof lassen, alles würde beim Alten bleiben. Beim Alten!? Der Gram fraß an seinem Herzen; es war auch gleichgültig, wo er die letzten Jahre noch sein Haupt hinlegte. Er konnte leben ohne Dienst — Leben, ja! essen, trinken, schlafen. — Aber welch ein leeres Dasein! — Gab's noch irgend etwas, das ihm Hoffnung ins Herz träufeln konnte!? Nichts! Ja, doch! Ein Gedanke vermochte ihn noch aufzurütteln: den Verbrecher unter den Händen des Henkers zu sehen! — Wenn sich der alte Mann vorstellte, der Mörder stände ihm jetzt gegenüber, dann verzerrten sich vor Haß und Wut seine Mienen. Er fiel über ihn her, stieß ihm ein Messer in den Körper, wo es gerade traf, und weidete sich an der Dual des Scheusals. — Und Gott würde ihm vergeben! Der Gott, der selbst ein zorniger und eifriger Gott war, würde begreifen, daß man Rache übte! Mitleid? Vergebung? Nachsicht? Hatte Gott nicht selbst eine Hölle geschaffen mit Zittern und Zähneklappern für die Bösen, und sollte sein Geschöpf, der Mensch, sich des natürlichen Triebes, des Hasses und der Vergeltung, entäußern? Und bei diesem Gedanken kam dem Manne wieder die Erinnerung an die Frau, die er wie ein höheres Wesen verehrt und geliebt hatte, und er raffte sich auf, schritt mit nassen Augen langsam über den stillen, hallenden Flur, öffnete die Zimmer des alten Herrn, wo man die Leiche gebettet hatte, und näherte sich ihrem Totenlager. Aber nein! Er konnte den Anblick nicht ertragen. Zu fürchterlich waren die nachwirkenden Spuren des Todes auf dem Gesicht der Erdrosselten. Die Augen hatten sich, vielleicht bei der Umbettung, wieder geöffnet, und diese Augen schauten ihn an mit einem so grausigen Ausdruck von flehendem Entsetzen! Der alte Mann deckte rasch ein Leinenlaken über das Antlitz; er konnte ihr wenigstens jetzt nicht die Lider zudrücken, er vermochte es nicht. Er sank neben der Leiche nieder und weinte und stöhnte. — Noch tags vor ihrem Tode hatte seine Herrin, wieder ein wenig Lebensmut gewinnend, lange mit ihm gesprochen, Pläne gemacht, und ihm durch ihr Vertrauen gezeigt, welche guten Empfindungen auch sie für ihn besaß. Und da war der feige Einbrecher erschienen und hatte — hatte — O Gott, o Höchster über den Sternen! Es war nicht auszudenken, daß das wirklich alles geschehen war! Der Hund hatte die ganze Nacht in Absätzen gebellt, durch ihn war Frege geweckt worden — aber zu spät — — zu spät — — Und daß das Tier sich gerade an diesem Abend vom Hofe entfernt hatte und, keinen Einlaß findend, in den Stall gekrochen war zu Klaus, das war ein so unglücklicher Zufall gewesen, das erschien als ein solches Bündnis des Teufels mit dem dämonischen Plan des Verbrechers, daß es fast aussah, als habe Gott aus für die Menschen unerfindbaren Gründen alles so geschehen lassen wollen! Seltsam! Das ganze Leben Theonie von Breckens war eine Kette von Strafen gleich erscheinenden Schicksalen gewesen! — War darin Sinn und Verstand? — Vielleicht doch! — Sie mußte fallen, damit jene auf Holzwerder wieder zu ihrem Recht gelangten, für schwere Enttäuschungen um so höher entschädigt würden. So ging's überall in der Welt zu; das waren geheime Gesetze. Der alte Mann, der viel gelesen und viel nachgedacht hatte, neigte stumpf ergeben das Haupt. Und nun war der kleine Tankred von Brecken Erbe von Falsterhof! Nun kam wieder in eine Hand, was einst Leichtsinn und Unverstand verschleudert hatten. Wenn's nur nicht sein Sohn wäre! dachte der alte Mann. Nur nicht der Sohn dessen, der, ein Teufel in Menschengestalt, auf der Erde hauste! Endlich erhob er sich, die Thürglocke ging, Klaus trat ins Haus. Es war Essenszeit. In der Gesindestube saßen schon die anderen Dienstboten zu Tische, und draußen bellte laut der Hund und haschte nach den pickenden, harmlosen Spatzen. Auch hier Verfolgung und Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen. — Am Nachmittag desselben Tages trafen Höppners, Tressens und Hederichs in Falsterhof ein, um Theonie noch einmal zu sehen, und um gemeinsam wegen der auf den folgenden Mittag angesetzten Bestattung zu beraten. Auch Justizrat Brix hatte sich eingefunden und erteilte den Anwesenden Bericht über die Schritte, die er auf Grund der von Frege gemachten Aussagen zur Ergreifung Tankred von Breckens bei der Staatsanwaltschaft unternommen hatte. Die Ermordung Theonies hielt das ganze Land in Aufregung. Die Blätter hatten schon am Tage nach der That ausführliche Berichte gebracht und Mutmaßungen über den Thäter ausgesprochen. Die Aussage Freges, der mit vollkommener Sicherheit die Erklärung abgegeben, daß er Brecken erkannt habe, hatte sich blitzschnell verbreitet, und da er zugleich auf das bestimmteste behauptete, den Mörder verwundet zu haben, erschien die Überführung des Verbrechers, sobald man seiner habhaft geworden, als eine leichte. Aber noch hatte man keine Spur von Brecken entdeckt. Es war konstatiert, daß er tags vorher in der Nähe gewesen und die Absicht geäußert hatte, sich nach dem Süden zu begeben. Aber da er keinen großen Vorsprung gewonnen haben konnte, auch die Staatsanwaltschaft einen Preis auf seine Ergreifung gesetzt hatte, mußte sich die Angelegenheit baldigst klären. In einer namenlosen Spannung und Aufregung befanden sich Tressens. Die mit dem Ereignis verbundenen, bedeutsamen Folgen beschäftigten sie auf das lebhafteste. Wenn Justizrat Brix darin recht hatte, daß auf einem solchen vorsätzlichen Mord der Tod stand, so fiel ihrem Enkel Falsterhof zu, und er wurde zugleich für alle Zeiten Einflüssen entzogen, die, wie auch immer der Prozeß ausfallen mochte, verderblichster Natur gewesen sein würden. Auf Nacht und Dunkel folgten Sonne und Licht; was die hoffnungsvollste Phantasie nicht auszudenken gewagt, wurde Thatsache. Und wenn auch gegenüber der Toten, deren Anblick den Anwesenden einen unheimlichen, freie Gedanken nicht aufkommen lassenden Schmerz aufdrückte, Äußerungen der Freude über den wahrscheinlichen Ausgang der Dinge nicht laut wurden, so waren doch aller Herzen von glücklichen Vorstellungen erfüllt, und namentlich auch Hederich und Carin machten Pläne, die darauf hinzielten, nach Holzwerder zurückzukehren. Hederich war einmal mit seinem ganzen Sinn und Wesen mit Holzwerder verwachsen. Er fühlte sich dort besonders heimisch und glücklich. Und bei einer Wiederaufnahme seiner Stellung verbesserten sich auch seine materiellen Verhältnisse wesentlich. Hederichs hatten wohl ihr Auskommen, aber es war nur ein bescheidenes. Wenn er in die alte Thätigkeit wieder eintrat, so waren sie wohlsituiert, und der Verkehr mit Tressens, sowie der Umgang, den sie pflogen, bot der aufgeweckten, nach geistiger Anregung verlangenden jungen Frau weit mehr, als die jetzige Einsamkeit ihr zu geben vermochte. Noch einmal traten die Freunde vor ihrem Fortgang an Theonies Sarg, drückten Blumen in die Hand der Entschlafenen und trafen dann Vorbereitungen zur Abfahrt. Als sie bereits in der Thür standen und den letzten Händedruck austauschten, fragte Frau von Tressen die Pastorin nach Lene. Sie habe, wie sie gehört, ihr Kummer gemacht. Aber die Fragende begegnete zu ihrer Überraschung keiner bedrückten Miene, sondern die Pastorin neigte mit leuchtenden Augen den Kopf und sagte: „Ach, es ist ja ein herziges Ding! Sie hat so tief bereut, daß mir die Seele schmolz. Sie kam unaufgefordert zu mir, legte ihr Köpfchen an meine Schulter und bettelte, daß ich ihr verzeihen möchte.“ Sie hatte nach diesem Bericht über Lene auch keine Zeit mehr, die lebhafte Frau Pastorin. Sie drängte ihren Mann, zu dem Stall zu eilen und nach dem Wagen zu sehen, und er that mit seinem gutmütigen Gesicht, was sie wollte. Durch das Gespräch über Lene ward auch Frau von Tressen an den kleinen Tankred erinnert, und Unruhe und Sehnsucht nach ihrem Enkel erfaßten sie. Als beim Nachhausefahren zwischen dem Hederichschen Ehepaar die Rede auf die Liebe der Frauen zu den Kindern kam, nahm der Gatte sein blühend aussehendes junges Weib in die Arme und flüsterte zärtlich neckend: „Aber mein kleines Frauchen, — drum und dran — mag keine Kinder —!“ Da senkte die Frau mit unbeschreiblichem Blick ihre Augen, und er las in ihren Mienen die Glückseligkeit, die sie durchströmte über das, was auch ihr bevorstand. — * * * * * Es war Spätabend. Abermals ein furchtbares Gewitter — gleichsam ein Kampf der mächtig nach Verjüngung ringenden Natur — durchtobte den Himmel, und meilenweit leuchtende Blitze erhellten auch das Hotelzimmer, in dem der vor einigen Tagen krank nach L. zurückgekehrte, unter dem Namen ‚von Kaub‘ in das Fremdenbuch eingeschriebene Gast gebettet war. Ärztliche Hülfe war von ihm zurückgewiesen. Er hatte einen Barbier angenommen, der ihm einen Verband auf seine durch einen Fall verletzte linke Schulter legen und nach Bedarf erneuern mußte. Es sei eine sehr böse Sache, eine schwere Knochenzersplitterung hatte der Barbier auf die Frage des Wirtes erklärt, und viele Wochen würde es dauern, ehe der Kranke das Zimmer wieder verlassen könne. Unten im Hotel hatte eben der letzte Gast das links belegene Restaurant verlassen, auch sämtliche Fremde hatten sich bereits zur Ruhe begeben, und der Besitzer war gerade im Begriff, sich nun auch schlafen zu legen, als noch an die Hausthür geklopft ward, und der Barbier, an dem verschlafenen Hausdiener vorüberschreitend, in sichtlicher Erregung das Gastzimmer betrat. „Nun?“ machte Helms, der Wirt, ein mittelgroßer Mann, der mit seinem zwischen englischen Bartkoteletts überaus glattrasierten Kinn und der übertrieben sorgfältig gehaltenen Kleidung den Eindruck hervorrief, als ob er sofort als Schauspieler in einer Bühnenrolle aufzutreten habe, verwundert und nicht eben angeheimelt. „Wo kommen Sie denn noch so spät her, und in dem, Wetter, Bartsch?“ Statt zu antworten, machte Bartsch eine geheimnisvolle Miene und schaute sich um wie jemand, der sich durch Sprechen zu verraten fürchtet. Dann sagte er: „Ist noch heiß Wasser da? Ich möchte einen halben Grog, — und — dann — dann — muß ich Ihnen etwas mitteilen, etwas sehr wichtiges, das keinen Aufschub duldet!“ In Helms Gesicht drückte sich allerlei Mißbehagen aus, aber er ging doch hinter das Buffet, drehte selbst das Gas noch einmal in die Höhe, ließ den Theekessel singen und schickte den Kellner ins Bett. „Hier! Lesen Sie mal, Herr Helms,“ begann Bartsch, ein Mann, in seiner Erscheinung mehr einem Küster als einem Barbier gleichend, mit ernstem, zuverlässigem Ausdruck und zog, nachdem der Wirt sich zu ihm gesetzt, eine Nummer der Hamburger Nachrichten hervor. Helms setzte ein Glas aufs Auge, und während er ein Steckbriefsignalement studierte, beobachtete Bartsch mit größter Spannung seine Mienen. „Na? Und?“ setzte Helms arglos an und schnitt mit großer Umständlichkeit die Spitze einer Zigarre ab. „Haben Sie Aussicht, die tausend Mark zu verdienen —?“ „Wir!“, betonte Bartsch mit ruhiger Sicherheit und zeigte mit der Hand nach oben. Helms zuckte die Achseln. Er verstand nicht. „Der von Kaub ist der Herr von Brecken, der in dem Steckbrief gesucht wird,“ hub Bartsch an. „Alles stimmt. Merken Sie auf!“ Und nun las er einzeln das Signalement vor, und bei jedem Satz schob er ein „Trifft doch genau zu!“ ein. „Donnerwetter!“ sagte Helms, den jetzt auch die bisherige Ruhe verließ. Und er kam auch gleich zu einem festen Entschluß. Einen solchen Menschen im Hause zu haben, war unheimlich, ja, so unheimlich, daß er sogleich mit Bartsch überlegte, ob sie nicht noch in dieser Nacht polizeiliche Anzeige erstatten und veranlassen sollten, daß eine Wache vor die Stubenthür und vors Haus gestellt werde. Ja, ja! Es war zweifellos, ganz zweifellos! Verletzung in der Schulter oder im Rückgrat, scharfknochiges, bartloses Gesicht, unruhige, aber kalte Augen, sehr weiße Zähne, große, nervige, geschmeidige Gestalt und zudem der Anzug! Jedes Stück stimmte bis auf den zweireihigen, graugelben Überzieher. Und ganz in der Frühe war er angekommen, verstört, totenbleich, mit Fieber und Schmerzen, und hatte eine unwahrscheinliche Geschichte erzählt, daß er gefallen sei und sich an den Treppenstufen verletzt habe. Wo war er die Nacht gewesen, woher kam er? Und zu Fuß —! Während die beiden noch zusammen überlegten, ertönte plötzlich ein Donnerschlag von solcher Vehemenz, daß die Erde zu beben schien, und sie unwillkürlich zusammenfuhren; aber auch fast unmittelbar darauf ward eine Klingel oben im Hause in Bewegung gesetzt, und der rasch herbeigerufene Hausknecht erklärte, es komme von Nr. 7, aus dem Zimmer des Herrn von Kaub. Die beiden Männer sahen sich an. Wer sollte hinaufgehen? Ein Anflug von Grauen erfaßte sie. Von dem Mord hatten sie schon tags vorher gelesen, und nun war's so gut wie erwiesen, daß der Thäter oben im Hotel lag. — Entsetzlich! — Endlich gingen sie beide. — — Als sie das Zimmer öffneten, bot sich ihnen ein fürchterlicher Anblick dar. Der Kranke saß aufrecht im Bett und brüllte, man möge gleich den Donner abstellen, gleich, oder er werde anders auftreten! Er könne das nicht aushalten, auch das Blitzen nicht. Und dunkel solle es gemacht werden, aber Licht wolle er am Bett haben. Und die Mäuse und Ratten sollten nicht an den Wänden kriechen und — und — Der Schaum stand ihm vor dem Munde. Mit der Rechten kratzte er sich wie ein Verzweifelter und schrie und tobte, er könne es vor Kitzeln nicht aushalten! Und dazwischen kreischte er, daß die Frau, die Frau Theonie mit dem grausigen Gesicht und den toten Augen fortgeschafft werde. — Fürchterlich! Wahnsinn, Fieber, Delirium, Körper- und Seelenschmerzen wirkten zusammen in dem Unglücklichen! Und was die Anwesenden sagten, hörte er nicht, er wußte schon nicht mehr, daß sie da waren. In den kurzen Augenblicken, wo das Deliriumfieber aussetzte, sah er sie an, als ob sich ihm Henker genähert hätten, und dann brüllte er wieder so markerschütternd auf, daß sie, wie von Furien verfolgt, davoneilten und sich kaum Zeit ließen, die Thür von außen zu verschließen. — Nun war's ihnen, als ob der Kranke aufgestanden sei, als ob er im Zimmer auf und ab tobe, und einen Moment schwankten sie wieder. Pflicht, Furcht, Schrecken und Machtlosigkeit kämpften in ihnen. Aber dann gab's einen schnellen Entschluß, und Helms eilte nebenan zum Physikus, und Bartsch auf die Polizei, trotz Donner, Blitz und Unwetter, das, statt abzunehmen, sich noch verstärkt hatte, als ob alle Himmel droben gegeneinander in Aufruhr geraten seien — — * * * * * Man geht, um den Kirchhof in Elsterhausen zu erreichen, rechts von der Hauptstraße ab eine Anhöhe hinauf. Eine alte, schmucke Kirche erhebt sich fast in der Mitte des Hügels, und rings umher befinden sich die vielfach von Bäumen beschatteten und meist sorgsam gehaltenen Gräber, herabreichend bis an die Gärten der die Straße flankierenden Häuser. Ein stiller Ort, an dem die Vögel heimlich singen, an dem selbst der Wind sanfter zu rauschen scheint, wenn er seine Flügel erhebt. Es ist morgens um die zehnte Stunde; die gesamte Natur liegt da in einem durch die Frühsonne verklärten Frieden. Überall junges Grün, wohin das Auge blickt, Grün und Gold, und die Erde haucht jenen gleichsam aus der Tiefe quellenden Atem aus, der, sich mit dem Duft der Blumen vermählend, unsere Sinne halb anregt, halb in eine sanfte Erschlaffung versetzt. Den Sarg, welchen der Leichenwagen heranfährt, begleiten nur drei Personen. Sie gehen wortlos hinter dem Gefährt her, und jeden leitet auf diesem Gange ein nicht auf den Verstorbenen gerichteter Beweggrund und Gedanke. Es ist die Verehrung für die Frau des Toten, das Interesse für sein noch lebendes Kind, was sie nach Elsterhausen geführt hat. Tankred von Brecken — über drei Wochen sind vergangen — war in dem öffentlichen Krankenhause, in das er auf Anordnung der Sanitätspolizei und der Gerichte gebracht worden, verschieden. Geistige und körperliche Qualen, wie sie selten einen Menschen heimsuchen, hatte er erduldet, bis er seine Seele ausgehaucht. Aber noch Schlimmeres hätte ihn erwartet, wenn es der Pflege gelungen wäre, ihn am Leben zu erhalten. Und das hatte der Mann gewußt in den wenigen lichten Augenblicken seiner Krankheit, in denen endlich auch das Gewissen mit ganzer, furchtbarer Gewalt zum Durchbruch gekommen war. Aber er wußte noch mehr. Er hatte vom Himmel nichts zu erflehen, da er alles Erbarmen verwirkt, und dennoch richteten sich seine Gedanken hinauf, und die gefalteten Hände zitterten, und der Mund flehte stöhnend: „Nimm mich fort, sende mir den Tod. Übe dein göttliches Mitleid an der von Dir erschaffenen Kreatur, indem Du ihr das nimmst, was die anderen als höchstes Gut erkennen: das Leben — —!“ Und das Schicksal hatte ihn nach entsetzlichen Kämpfen erlöst; an einem Hirnschlag, der sein krankhaft vibrierendes Nervengeflecht lähmte, war er gestorben, und Staatsanwalt, Richter und Henker wurden ihres Opfers beraubt. — Der Leichenzug war oben angelangt; die Träger hoben den Sarg, auf den niemand eine Blume oder gar einen Kranz niedergelegt hatte, vom Wagen und schritten an die Gruft, an welcher der Küster mit seinen Gehülfen harrte. Es ward nicht gesprochen, alles vollzog sich stumm und tonlos. Nur als der Sarg eingesenkt wurde, entstand durch das Hinabrollen einiger klebriger Erdstücke ein Geräusch. Sie fielen dumpftönend auf den Deckel, aber sie störten den Schläfer nicht mehr — „Wir wollen ein Vaterunser beten,“ hub Höppner an. Aber er sprach noch anderes. Seine verzeihende Seele drängte nach einem Wort: „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet! Die Fehler und Vergehen des Unglücklichen, Verirrten, den wir eben in die Erde gebettet haben, waren das Ergebnis einer verkehrten Erziehung; er hatte durch Naturveranlagung einen schwereren Kampf mit sich zu bestehen als andere. Das mildert seine Schuld in den Augen der Barmherzigen. Gott möge ihm gnädig sein!“ — Als die drei Männer, Herr von Tressen, Pastor Höppner und Hederich, langsam den Weg zurücknahmen, zwitscherten über ihnen die Vögel mit süßem, fröhlichen Gesang; von unten drang das Geräusch emsigen Lebens an ihr Ohr. Leben und Daseinsdrang überall! Und das Gefühl einer schweren Last war auch von der Seele dieser Männer gewälzt und machte sie leicht und hoffnungsfroh. Hier hinterließ der Tod keine Narben, hier war er eine Erlösung für die Zurückbleibenden, wie er eine Erlösung gewesen für den Vernichteten, der einst geglaubt hatte, der Mensch vermöge sein Schicksal zu lenken nach seinen Wünschen und Vorstellungen. — End of the Project Gutenberg EBook of Todsünden, by Hermann Heiberg *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 13805 ***