*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76240 ***

Anmerkungen zur Transkription

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Die bunte Reihe der Deutschen Buchwerkstätten

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Die Kauzburg

Roman aus
dem Tagebuch
eines Freundes
von
Hans Kaboth

Verlag Deutsche Buchwerkstätten
Dresden


Alle Rechte vorbehalten / Copyright 1925 by
Verlag Deutsche Buchwerkstätten, Dresden

Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co., Altenburg, Thür.
Buchausstattung von Käte Vesper-Waentig


[S. 5]

 

Da bin ich nun in meiner neuen Heimat. Was sag’ ich: Heimat? .... In meiner neuen Fremde bin ich. Ein kleines Städtchen ist’s, an einem Fluß gelegen, hoch wie ein Storchennest.

In meinem Forsthause sitze ich nun und schreibe. Zum erstenmal in dieses Tagebuch, seit ich hier bin.

Es gab mit dem Einrichten so viel zu tun, daß ich nicht zum Schreiben kam.

Dazu noch der neue Dienst — kurzum, es kam nicht dazu. Noch ist mir alles so neu, so seltsam, daß ich mich an der Nasenspitze zupfen und fragen möchte: ist’s ein Traum oder ist’s Wirklichkeit?

Ist’s Wirklichkeit, daß mein Forsthaus ein altes ritterliches Ordenshaus, eine echte, aus dicken Steinmauern vor einigen hundert Jahren erbaute Burg ist, oder träume ich nur?

[S. 6]

Der Fluß rauscht tief unter den Mauern meiner ritterlichen Forstburg vorbei und läßt die Fische springen, ein Käuzlein ruft sein Huhu und streicht unhörbar wie ein Geist — vielleicht der Geist eines einstigen Ritters oder Mönchs — ums Mauerwerk meiner Burg. Täuscht mich nicht alles, so hör’ ich den Forstlehrling schnarchen in seinem Kämmerlein. Der Hahn hat soeben gekräht. Mein Haushahn ist’s, ein echter Italiener. Ein Hund hat gebellt. Der Nachtrat tutet die Mitternacht ein und schlürft die Straßen des Städtleins hinab. Ein Duften, ganz weich und linde, zieht in mein offenes Fenster; »’s ist Frühling«, ruft es mir zu, die roten Mauerrosen ranken am steinernen Tor, an der steinernen Mauer, die meinen Garten umschließt. O Waldkauz, ich fühle dir nach, warum du des Nachts die Mäuslein fängst und den Tag verschläfst! Es steckt Poesie in einer solchen Vollmondnacht! Poesie steckt auch in meiner Forstburg, und das versöhnt mich mit dem alten Gemäuer.

Mit Waldkauzgefühlen, Waldkauzaugen betrachte ich den alten Kasten, betrachte ich die Mäuse, die ungeniert um meinen Schreibtisch tanzen.

Es ist Vollmondnacht, und unten, tief unten rauscht der Fluß vorbei. Wenn seine Flut an die hohen Steinpfeiler der großen Brücke drängt, dann rauscht diese Flut zürnend auf, dann wirft sie silbernen Brodel und silbernes Geschäum, wie ein [S. 7] Roß, das in den Zügeln schäumt. Ich kann’s von hier oben sehn. Ich kann den Spiegel des Flusses sehn, kann sehn, wie er glänzt und gleißt unter den hellen, sanften Strahlen des Vollmonds, der dort hoch oben im Nachthimmel hängt und langsam weiterschwebt. Mit einem milden Lächeln. Er ist erhaben über das kleine Weh der kleinen Mutter Erde. Er weint nicht mit, wenn Mutter Erde weint, nicht mit, wenn ihre Kleinen weinen. Er lächelt ewig, ewig sein gleiches Lächeln. Manchmal mit vollem Gesicht, manchmal nur mit der linken oder rechten Backe. Auch das ist schon genug, um sich an ihm zu erfreuen. Um ihm heraufzurufen: sei gegrüßt, Freund Mond, du einsamer Kauz dort oben! Lächle herab auf dieses kleine Städtlein, lächle herab auf meine Forstburg hier. Du gehörst zu solcher alten Burg, zu solchem Garten mit tausendjährigen Bäumen, mit aufgetürmtem und verwestem Laube, zu solcher Steinmauer und solchem Steintor, in dessen Wölbung es hohl klingt, schreitet man hindurch.

Wie ward mir zumute, als ich das erstemal durch diese Steinwölbung schritt.

Kalt wehte es mich an aus all dem Steinwerk längst vergangener Zeit.

Als sich der schwere eiserne Torflügel krachend hinter mir schloß, da schien’s mir, als brächen sich[S. 8] tausend dumpfe Stimmen im dröhnenden, dumpfen Widerhall. »Eingesargt, lebend begraben«, höhnten die Stimmen, »laß alles hinter dir, was du liebst und haßt«, tönte es aus der großen Halle des Hauses, »ich halte dich fest und gebe dich nicht mehr heraus«, hauchte mich kalt der Atem des toten Ritters an, der zwischen zwei Mauern dieses Hauses seit dreihundert Jahren stehen soll, selbst zu Stein geworden. »Huhu, huhu«, schrien die beiden Käuzlein, die ich aus ihrem Schlafe aufscheuchte — »verdammtes Gezücht!«, schimpfte ich und schwang meinen Jägerhut von der feuchten Stirn, »Otterngezücht und Raubgesindel, laßt mich zufrieden! Ein Jäger bin ich, ein Grünrock, leben will ich noch hundert Jahre. Der Wald wird mich schützen, mein grüner Rock wird meine Schutzhülle sein, auch hier in diesem alten Steingemäuer, das nun mein Forsthaus werden soll!« Aber mein Herz sprach anders als mein Mund. Auf mein Waldherz legten sich all die schweren, großen Steine und Steinplatten dieses alten Ritterbaues. »Mein Gott, das soll ein Forsthaus sein?« sprach des Jägers Herz und zog sich zusammen, »rings um den Garten eine hohe Mauer aus Steinen, die Titanen zusammengefügt zu haben scheinen?« Vor mir die Steinburg selber, aus deren Halle mir’s wie dumpfe Grabluft entgegenwehte, links neben der Burg ein Steinbau,[S. 9] hoch genug, daß man nicht darüber äugen konnte, — er wölbte sich — wie die Städter behaupten — über dem unterirdischen Gange, der von hier aus unter der Stadt hindurch, den Abhang hinab bis ans Flußbett der Eder sich ziehen sollte, im Garten der zugeschüttete, kreisrunde Brunnen, von dem der Steinring noch stand. Hinter der Wohnburg der wildromantische Hauptgarten mit seinem schier undurchdringlichen Gestrüpp und tausendjährigem Baumwuchs, und hinter dem Garten, als Abschluß von aller Außenwelt, die unheimlich hohe und wie ein Pfeil nach oben zugespitzte Seitenmauer des einstigen Ritterschlosses. »Ein Mönch müßte ich sein, kein Grünrock, dann paßte ich hierher«, seufzte ich auf und trat durchs hohe Hausportal in den großen Flur.

Eine steinerne Treppe führte nach oben.

Ich stieg hinauf und stand nun oben in den leeren hohen Stuben. Winzige Türen führten von einem Raume in den andern. Um so winziger sahen die Türen aus, da sie fast sechs Meter hohe Stuben miteinander verbanden.

Das erste lebende Wesen, das mir hier oben entgegensprang, war eine Maus. Eine dicke, fette Maus. Neugierig sah sie mich mit ihren blanken Augen an. Furchtlos blieb sie mitten in der Stube vor mir sitzen. Ich war der Eindringling, sie die Bewohnerin.[S. 10] Meinen grünen Jagdhut zog ich vom Kopf, wie sich’s gehört vor solcher Ordensmaus: »Verzeih’ die Störung, ahnenreiche, vornehm geborene Maus, ich bin der neue Oberförster, der sein Forsthaus besichtigt, und morgen kommen die Möbel«, sagte ich frischweg, um ihr gleich klarzumachen, worum es sich handelt. Sie schwieg und sah mich neugierig mit blanken Mausaugen an.

»Du bist erstaunt, teure Maus«, fuhr ich fort, »ich sehe es deinen Augen an, die mich neugierig mustern, wie man einen Weinreisenden mustert, der zum ersten Male unser Haus betritt. So wisse denn, daß ich nicht weniger erstaunt bin, dich hier zu sehen. Leer glaubte ich dies Haus zu finden, nun finde ich’s bewohnt von unten bis oben. Unten in der Halle glühten mich die Augen einiger Waldkäuze, die ich aus ihrem Schlafe weckte, nicht gerade freundlich an, hier oben finde ich dich mit deiner anscheinend recht zahlreichen Familie vor, denn wie ich sehe, äugt aus jedem Mauerloch ein zierliches Mausköpflein nach mir hin, und oben im Dachgeschoß sitzt ein Volk von Tauben, ich hörte sie beim Hinaufsteigen gurren und locken und sah sie flattern und fliegen.« — — —

»Teure Maus,« fuhr ich nach einigem Zögern fort, da sie noch immer schwieg, »nimm von mir die Versicherung entgegen, daß ich die alten Rechte der bisherigen Bewohner, soweit es geht, respektieren [S. 11] werde. Euch, werte Mäuse: die Löcher, mir: der übrige Raum des Hauses! So begrüße ich dich denn als die Vertreterin des mir teuren Mausgeschlechtes, mit dem ich mich schon von meinen früheren forstlichen Wanderungen her in alten Forstwirtshäusern, Förstereien und Waldwärtereien, Jagdhütten und Jagdverstecken freundschaftliche Beziehungen verknüpfen. Freundschaft wollen wir halten, solange ich hier hausen werde, und daß von eurer Seite diese Freundschaft, die ich euch entgegenbringe, nicht zu sehr ausgenutzt wird, dafür, teure Maus, wird der Waldkauz sorgen, der mich besuchen kommt.« Das schien ihr unangenehm zu sein; die Diele knarrte unter meinem Fuß: husch, husch, waren alle Mäuse verschwunden.

So nehme ich denn Besitz von diesem Hause. Ich, der Grünrock, von der einstigen Ordensburg. »Kauzburg« will ich sie nennen. Bleibt ruhig wohnen hier, ihr Käuze, Mäuse und Tauben. Schränkt euch ein wenig ein in eurer Freiheit, so wird es gehn. Eine Katze will ich mir halten und einen Hund. Seht zu, daß ihr ihnen entwischt. —

Seitdem sind Wochen vergangen. Kahl lag die[S. 12] Gartenmauer da, als ich einzog; jetzt ranken die blühenden Kletterrosen in allen Ritzen. Goldregengesträuch mit den gelben giftigen Blütentrauben steht in den Ecken des Hofes vor dem Hause, der Flieder blüht weiß und rot und lila und vergeudet üppig schwülen Duft, ein alter Rotdorn streckt seine rote Blütenpracht bis ins Fenster zu mir hinein, die Haselsträucher setzen Nüsse an, der alte Nußbaum wird wieder jung im jungen Frühling, die Meisen zirpen, der Pirol lockt, die Finken schlagen, und der Kuckuck ruft. Selbst Spechte, die scheuen Waldvögel, hab’ ich in meinem Garten.

Und siehe da, die Steinmauern bekamen Leben. Überall grünte es aus den Ritzen hervor. Selbst zwischen den altersgrauen Steinen, mit denen der Burghof gepflastert ist, sproßt das Gras. Ist das das alte Steingeröll, in dem ich hause? Vor dem mir grauste, als ich’s sah? Dornröschens Märchenschloß bewohn’ ich jetzt. Nur das Dornröslein fehlt mir noch. Oder wie? Bin ich nicht undankbar und ungerecht? Schlürft nicht tagaus tagein meine Wirtin durch die hohen Räume des Dornröschenschlosses? Sieht sie nicht schlafestrunken, verschlafen und wie ein Dornröschen aus nach tausendjährigem Schlaf? Ach, allzuviel von dem Dörnlein, und allzuwenig von dem Röslein hat meine Wirtin.

[S. 13]

Laß gut sein, tapferes Junggesellen-Jägerherz, du bist ja nicht verheiratet mit diesem Dornröschen. Leicht kannst du dies Röslein gegen ein neues vertauschen. Es blühen so viele Röslein draußen, die gerne in solche Forstburg ziehn.

Frühlingsmondnacht glänzt wie ein Schleiergewand aus gleißendem Silberschein um meine Kauzburg. Ans stille Fenster bin ich getreten und habe hinausgeblickt in diese stille Nacht. Nachtstimmen raunten an mir vorüber. Die Blumen sprechen, und der Frühling singt ein Lied. Wie ein Kosen lacht es verstohlen aus dem Mondglanz zu mir herein. Wie ein Kosen huscht es von Blüte zu Blüte, wie ein Kosen tönt des Flüßchens Rauschen zu mir hinauf.

Der fernen schlesischen Heimat muß ich gedenken. Hoch oben am nächtlichen Himmel ziehn große Vögel hin. Aha, Wildgänse sind’s, ich hör’ sie rufen. Wie wunderbar klingt doch ihr heiseres Krächzen in dieser stillen Nacht. Wie wunderlich harmonisch klingt es in diesen stillen Frühlingszauber hinein. Verspätete Wildgänse. War eines von euch flügellahm geworden unterwegs? Und habt ihr getreulich ausgeharrt bei eurem kranken Weggenossen? Dort, wo ihr herkommt, liegt ja Schlesien! So bringt ihr Grüße der Heimat! Ihr schnellen Segler der Nacht! Wie kleine Punkte seh’ ich euch nur noch schweben.[S. 14] Nachthimmel nimmt euch auf. Der unendliche Raum, in dem ihr meinen spähenden Augen entschwindet.

Gute Nacht, gute Nacht!

Immer siegreicher kämpft der Frühling um meine Kauzburg. Wie ein König ist er eingezogen in meinen großen ummauerten Burggarten.

Aus dem hoch angewehten, verwesenden Laube, das in dem Buschwerk liegt, sproßt es in allen Farben. Maiglöckchenduft hängt am Gebüsch, noch hab’ ich die Spender nicht entdeckt in diesem Chaos von wildem Gerank, auch die Nachtigallen kann ich nicht erspähn in diesem verschlungnen Gesträuch. Nur singen und pfeifen höre ich sie, nur den Duft der Maiglöckchen spür’ ich. Wozu denn auch sehn, wer so viel Schönes verschenkt? Freu’ dich der Schönheit, daß sie sich dir schenkt, und spüre ihr nicht nach. Deine Feder, kleine schlesische Nachtigall, habe ich heute hervorgekramt; mit deiner Feder will ich heute schreiben. Während die Nachtigallen der Fremde, in der mein Heim, das ich bewohne, liegt, um mich den Reigen ihrer holden liebedurchglühten Sangeslust schlingen, während aus ihren Kehlen die klangtiefen Töne schmelzend wie flüssiges Gold, das in dem heimlichen, verborgenen Schachte tropft, mich[S. 15] umschmeicheln, will ich mit deiner Feder schreiben. Oder tönt der liebliche Sang, den ich zu hören meine, aus deinem Kiel zu meinem lauschenden Ohr? Bist du es, Sängerin der fernen Heimat, die mir die schönen Lieder in der Fremde singt? Hätte ich wirklich nicht nur aus deinem kleinen Vogelleibe diese Feder gerupft? Hätt’ ich die liebe kleine Sängerseele am Ende selber mit mir fortgenommen? Wie? Träume ich denn? Oder bist du es selbst, mein graues Vöglein, aus Schlesiens dunklem Walde, das aus dem holden Kiele schlüpfte und nun dicht vor mir sitzt auf meiner Schreibtischplatte? So singe, so singe! Die Hände falte ich und höre dir zu. — — —

Ich höre dich singen, Marianne, ja, ich höre dich singen. Seit der Stunde, da du in dieses Forsthaus, in meine Kauzburg, gekommen bist, von dem Augenblicke an, wo deine leichten Füße über die breiten, schweren Steinstufen gazellenleicht hinaufgeeilt sind, fast von dem Augenblicke an hat dein fröhlicher Sang die hohen Räume dieses Hauses belebt.

Wenn ich dich, kleine Marianne, mit meiner Wirtin zusammensehe, wenn ich sehe, wie du ihr hilfst und das Feuerlein frühzeitig anbläst mit deinen kirschroten Lippen, dann kommt es mir vor, als hätt’ ich zu einem Uhu eine Nachtigall eingesperrt. Ich brauche gar keine Nachtigall mehr, seitdem du in der Kauzburg bist.

[S. 16]

Man sagte mir, du seiest ein Kind der Straße, als ich dich mietete. Nun gut: dann hatte die Straße das schönste Kind, das je gezeugt war auf dieser Erde.

Seit drei Wochen habe ich dieses Kind der Straße in meiner Forstburg. Meine Wirtin klagte über zu viel Arbeit. Drum hielt ich Ausschau nach einem Mädchen zur Aushilfe. So kam Marianne ins Haus. Ich erschrak, als ich sie sah. So viel Schönheit von der Straße aufgelesen! Staub hatte ich auf der Straße hier schon genug gesehn, daß solche Schönheit im Straßenstaube blühn konnte, hätte ich nimmer gedacht. Rose bleibt Rose im düsteren Straßenwinkel, hinter dem blindesten Kellerfenster.

Ich erschrak, als es an der Tür klopfte, auf mein »Herein« die Tür sich auftat und nun das Mädchen, dieses Mädchen in die Stube hereintrat. Ein dunkles Augenpaar, groß und tief und glänzend, sah mich an, halb furchtsam und scheu, halb trotzig und bittend, halb lachend und halb voll unbestimmter sehnsuchtsvoller Schwermut. Darüber die weiße niedrige Stirn und über der das rote Haargewoge. War’s die Sonne, die rote Flecke in ihr Haar warf? Aber das Rote blieb auch im Schatten der Wand. Ein wunderbares Rot. Kein flammendes, grelles Rot, nein, wie ein roter Goldhauch lag’s in dem Haar, in jeder seidenweichen Strähne. »Wie heißen Sie?« fragte ich kurz.[S. 17] »Marianne«, antwortete sie und schwieg. »Was sind Ihre Eltern?« — »Ich habe keine Eltern.« »Wer waren Ihre Eltern?« — »Ich weiß nicht.«

Und nun ist Marianne, das Kind der Straße, schon drei Wochen in meiner Burg.

Meine Wirtin mag sie nicht leiden, ich weiß es. Sie hat wiederholt bei mir Versuche gemacht, das Mädchen los zu werden. Sie schimpft und sucht sie schlecht zu machen bei mir.

Marianne ist ein wunderliches Menschlein. Sie ist nicht zuverlässig in ihrer Arbeit und treibt sich lieber draußen im Frühling und lockenden Sonnenschein herum.

Sie singt und stört die Ruhe der Kauzburg, ich weiß es. Himmel noch eins! Ich weiß es! Ich weiß es!

Sie stört die Ruhe der Kauzburg, meine Ruhe stört sie mit ihrem Singen.

Mit ihrem roten Haar stört sie mich, ihre dunklen, tiefen Augen stören mich.

Mädchen, Kind der Straße, du mußt fort, bald fort aus der Kauzburg, fort aus meiner Nähe mußt du. Froh bin ich, wenn ich dein Singen höre, seh’ ich dein rotes Haar, blicke ich in deine dunklen Augen. Wo darfst du denn fort, du armes Kind der Straße, wo werde ich dich denn wie ein wildes Tier auf die [S. 18] Straße werfen, nein, nein, in der Kauzburg bei mir mußt du bleiben!

So hab’ ich also eine Nachtigall in meinem Hause.

Aber es ist kein graues unscheinbares Vöglein, nein, ein Paradiesvogel an Schönheit ist diese Nachtigall.

[S. 19]

 

Krähen sitzen auf sonnenhellen Feldern. Krähen sitzen dort und krächzen, fliegen mit schweren, schwarzen Flügeln auf die nächsten Pappeln, wenn mein Wagen ihnen zu dicht auf den schwarzen Krähenleib rückt, und fliegen — kaum bin ich vorbei — ebenso schwarz, ebenso schwer, ebenso krächzend, ins Saatfeld hinab. Ich bin auf der Fahrt in meinen Wald. Es war Spätnachmittag, als ich nach Hause fuhr. Einen kleinen Umweg machte ich, um an meiner Forellenfischerei, die ich gepachtet habe, entlang zu fahren.

Das ist ein schmales Gebirgswasser, das zwischen den Bergen zu Tale fließt. Gern fahr oder gehe ich diesen Weg. Ich selbst hatte noch nicht die Angel nach den rotpunktigen Fischlein im klaren Wasser ausgeworfen. Nur mein Forstlehrling war einige Male draußen gewesen und hatte ein paar Forellen gefangen. Heute wollte aber auch ich mein Glück als Fischer versuchen. Das Angelzeug lag im Wagen. Als das Flüßchen in Sicht kam, ließ ich halten und stieg aus.

»So, nun können Sie nach Hause fahren«, befahl ich dem Kutscher, nachdem ich das Angelzeug herausgenommen hatte. Immer schwächer und ferner ist das Rollen der Wagenräder zu hören. Nun ist’s verklungen, und nur der kleine, zwischen den Erlen und[S. 20] Weiden eingebettete Fluß rauscht zu mir herauf. Es will Abend werden. Mit rotgoldenen Streifen flammt die Sonne in den Buchenwald, der auf den Höhen steht, hinein.

Die Fische werden springen, denk’ ich.

Mit dem Strome des Wassers gehe ich und werfe die Angel aus. Nicht lange, so schnelle ich die erste Forelle heraus. Weiß Gott, es macht Spaß. Ich hätte es nie gedacht. Um das große Erlengebüsch biege ich, die Wiese schiebt sich bis an den kleinen Fluß heran, auf dem grünen Wiesengras ziehen die rotgoldenen Streifen der Abendsonne, Schmetterlinge gaukeln im warmen Frühlingsabend, Rehe treten aus dem waldigen Hang und äugen scheu nach dem Wässerlein hinab — was sehe ich! — dort vor mir am Ufer sitzt Marianne!

Ja, es ist Marianne. Das Kind der Straße ist es, das in mein Haus gekommen ist, zum Leid, zur Freude der Bewohner. Wie Feuer sprühte und gleißte ihr Haar in den goldenen Abendstrahlen einer versinkenden Sonne. Hatte sie mich bemerkt? Ein wenig wandte sie ihren Kopf nach mir hin, gleich aber wieder fort. Sie hielt die Angel in das Wasser. »Was tun Sie denn hier, Marianne?« rief ich sie an. Wozu meine törichte Frage? Ich wußte doch, was sie tat; ich sah es doch, ich hatte es ihr doch erlaubt, angeln zu gehn, wenn die Arbeit im Hause getan[S. 21] war. Warum klopfte mir denn das Herz so ungestüm? Bin ich ein Räuber, der unschuldige Mädchen überfällt? Kann ich rotes Haar nicht sehn? Frage ich so laut und töricht, weil mir das Blut in den Adern schlägt? Bin ich zu rasch gegangen? Hat mich das Angeln so aufgeregt? Ist es mir unangenehm, das Mädchen hier zu treffen? Ich bin der Herr, sie dient in meinem Hause, also kann ich Antwort fordern auf meine Frage: was tun Sie denn hier, Marianne? »Muß ich antworten?« sagte sie, stand auf und kam an mich heran. Eigentümlich berührten mich ihre Worte. Nein, ganz offen, ich schämte mich. Hätte sie in mich hineingesehen, mich durch und durch gesehn mit ihren wunderbaren Hexenaugen, so hätte sie mich mit diesen drei Worten nicht stärker treffen können. — Pfui, Pfui, wie hatte ich häßlich und roh gedacht: ich bin der Herr, sie dient in meinem Hause, also kann ich Antwort fordern auf meine Frage. Das ist das Rechte! Das ist mein Mitleid mit den Dienenden! Das mein Mitleid mit dem Kinde der Straße!

»Muß ich antworten?«

»Nein,« sagte ich, »nein, Marianne, Sie brauchen mir nicht zu antworten. Ich sehe ja, Sie angeln, ich sehe sogar, daß Sie ... ei, ei, eins, zwei, vier ... sechs Forellen gefangen haben und was für schöne.«

»Ich habe hier gesessen, die Angel geworfen und[S. 22] gesungen, so hab’ ich die Fische herbeigelockt, nun sind sie tot«, sagte sie und blickte auf die im Wiesengras liegenden, vor kurzem noch in ihrem Wässerlein so frohen Fische.

Ihre Augen blickten grausam.

Ach, es ist ja ein Unsinn! Wie können denn ihre Augen grausam blicken? Töricht bin ich, ganz töricht.

»Ach, ihr armen Fische! Eben noch so gewandt und flink im kühlen, sprudelnden Wasser, und nun so starr und unbeweglich«, meinte ich.

Marianne sah mich an.

»Was machen Sie denn für Augen, Marianne!« stieß ich heraus. Schon blickte sie fort. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Worüber war ich erschrocken? Ein Tiger kann grausame, blutdürstende Augen machen, aber doch nicht dieses Mädchen! Ja, hab’ ich denn Fieber? Ist es das glühende Abendlicht der Sonne am Berghang oben, wo sie versinken und uns den Abschied von ihrem rotsprühenden Feuer schwer machen will, — ist es dieses dämonisch schöne Leuchten, das mir aus Mariannens Augen entgegenglühte?

Ich warf noch ein paarmal meine Angel aus. Aber nichts fing ich. Stumm folgte mir Marianne. Ich plauderte mit ihr. Aber schließlich merkte ich, daß ja ich nur sprach. Hastig sprach. Und daß sie[S. 23] schwieg. Nur einige Male lachte sie halblaut auf, wenn ich ihr etwas Scherzhaftes erzählte. Ihr Lachen klingt so silbern und heimlich, wie das Lachen des Flüßchens, das über die Steine springt, silbern und heimlich klingt.

»Wo haben Sie nur Ihr prachtvolles rotes Haar her, Marianne?« scherzte ich, als ich die Angelschnur aufrollte, und sie mir dabei half.

Sie sagte kein Wort, warf nur mit einer unnachahmlich anmutigen Bewegung das ganze wogende Haar nach vorn, daß es mich streifte, umfaßte, und mein Gesicht in dieses glühende, kosende, duftende Seidengewebe einhüllte. Nur einige Sekunden lang, schon war ich frei. Vor meinen Augen nur wogte es noch rotgolden, leise knisternd, ein goldenes Funkenmeer. Ein paar Herzschläge lang stockte mein Atem. War ich berauscht? War’s wilde Lust, wildes sehnendes Jauchzen, das den Mann in des Weibes Arme treibt?

»Marianne«, stieß ich hervor. Hat meine Stimme gezittert? Dicht neben mir stand dieses Kind der Straße, das ich zu Leid und Freud’ in meine Kauzburg genommen habe, das ich bewahren will vor dem Verkommen im Straßenstaube.

Eine Sekunde lang sah sie starr in meine Augen. Dann packte sie gleichgültig das Angelzeug zusammen, bog ihre schlanke Gertengestalt, hob den[S. 24] Rucksack mit den Forellen aus dem Wiesengras, warf ihn über ihren Rücken und schnallte ihn fest.

»Der ist zu schwer für Sie, Marianne«, sagte ich und wollte ihn ihr abnehmen. Sie wehrte sich dagegen. Meine Hände berührten ihre Schultern, ihre atmende Brust, wie ein Feuerstrom schlug’s in mein Gesicht. Ich trat zurück. »Nun, wenn Sie ihn durchaus behalten wollen, so behalten Sie ihn. Wird’s Ihnen unterwegs zu schwer, so geben Sie ihn mir.« Wie ein Knabe sieht sie aus! Wie ein schlanker Knabe! Sie hat ihr Kleid gerafft, der Rucksack schnürt ein wenig ihre Schultern zusammen, den Angelstock benutzt sie als Stock. Einen grünen Hut hat sie auf ihr rotes Haar gestülpt, und es ist zu einem wildwirren Knoten aufgestellt, so schreitet sie tapfer und biegsam vor mir her. Ich ließ sie vorneweg gehen. Sie sollte den Schritt angeben. Ich wär’ am Ende zu rasch gegangen, hinter mir her wär’ sie gekeucht und hätte nichts gesagt. »Denn ich bin ja der Herr des Hauses und sie nur ein Kind der Straße!«

Es dunkelte. Ein weicher Frühlingsabend hing in den duftenden Blütenbüschen, hing in der Nachtluft über und um uns, wogte Feld auf Feld ab, küßte das tauige Wiesengras, sprang auf den Wellen des Flüßchens und kicherte unter den Erlen, schwebte hinauf, immer höher hinauf und holte den Mond[S. 25] über den Saum des Berges hinüber. Kein Staub der Straße drang bis hierher zu unserem Wiesenstege, rein war die Luft wie Gold, nichts Unreines kennt die Natur.

Unreines entsteht erst dort, wo man die Natur zwingen will, nicht mehr Natur zu sein.

Wir jetzigen Menschen kennen ja gar nicht die Natur. Von Kindheit auf entfernt man uns von ihr. An solchen Abenden wie heute überfällt mich die Sehnsucht, Natur zu sein in der Natur. Abzuwerfen, was Zwang und Sitte fordern, eine Hütte zu haben im Walde weit draußen und fern von Zwang und Sitte, zu leben dort wie das Getier des Waldes, wie der Hirsch, der durch die Wälder zieht, wie das Reh, das auf die Frühlingssaaten tritt, wie das Bienlein, das an jeder Blüte nascht, wie der lustig singende Vogel hoch im Gezweig der Bäume, wie der Waldkauz, der den Mond zum Gevatter bittet bei seiner stillen Mäusejagd. Halt da! Ich habe ja mein Kauzgehäuse, ich bin ja schon ein Kauz! Willst du die Käuzin sein, schlanker Bursch vor mir mit deinem grünen Jägerhut im sprühenden Rothaar, was?

Ganz übermütig ward mir zumute!

Übermütig sprudelt das Flüßchen neben unserem versteckten Erlenweg, übermütig scherzen die Rehe auf der Bergsaat links drüben unter dem Buchenhang,[S. 26] übermütig bescheint der helle Vollmond mich und das schlanke Bürschchen vor mir, übermütig quillt all das funkensprühende Rothaar aus seinem wirren Knoten und schaukelt und weht wie ein Stückchen goldnen Vließes, voll Übermut quiekt das Froschzeug im feuchten Wiesenloch, voll Glück und Übermut singt in dem einen einzigen Fliederstrauch, der an dem Mühltor blüht, die eine einzige Nachtigall hier draußen am Flüßchen und Walde, voll Glück und Übermut, und dabei klingt es sanft und flötend wie ein Lied der Trauer.

Ei, du mein Jägerbürschlein vor mir im hellen Mondschein, wie schreitest du schlank und leicht dahin! Dein schlanker Mädchenleib biegt sich wie eines Fischleins glattes Körperlein, bist etwa du selbst solch Fischlein und bist in Menschengestalt nur an Land gestiegen aus kühler, heimlicher Wasserflut? Bist etwa du selbst solch Forellchen, das zwischen den Steinen des Flüßchens neugierig auf Beute lauert? So schön, so schlank, so anmutig mit seinem rotpunktigen Fischleib, und hinter all der Schönheit, Schlankheit und Anmut verbirgt sich die schreckliche Raubgier?

Sag’ an, Marianne, du Weggenosse im blassen Mondglanz des Frühlings, was birgt sich hinter der weißen, von rotem Feuerhaar umsponnenen Stirn bei dir? Verwandle dich, Bürschlein, verwandle [S. 27] dich flugs zurück in den glänzenden Fischleib, aus dem du entsprangst, dann zieh mich hinein zu dir in die Flut, in das singende Wasser. Dann presse mich fest und ewig in deine weißen, wonnigen Arme, dann laß mich nie los mehr und sauge mein Leben, mein Atmen, mein Ich tief, tief in dich hinein!

Die Welt ist weit und groß. Aber für jeden Menschen liegt in dieser weiten und großen Welt eine enge Heimat. Die Enge der Heimat empfindet man nicht. Licht und groß und weit erscheint die Heimat. Hörst du es, meine Heimat? Du bist mir weit und groß und licht. Das Sehnen ins Weite hört auf, wenn mich dein Arm umschlingt. O, lege deine beiden Arme um mich, du Heimat meiner Kinderjahre, nimm mich hin, halte mich fest, und laß mich nimmer los.

Ich hör’ die Glocken läuten in meinem Heimatdorfe, die Oder hör’ ich rauschen, ich sehe den Eichwald, in dem ich als Knabe pürschte, am Saum des Waldes den Bach, der sich ins Feld verliert, und dort im Sonnenschein das Dörflein selbst. Grüß dich Gott, du liebes Dorf!

[S. 28]

Und das alles hat ein Brief bewirkt! Meiner Mutter Brief. Ein paar Kornblumen hat sie auf heimatlichem Feld gepflückt und in den Brief an den fernen Sohn hineingelegt.

Ihr holden Blumen des Feldes, wie duftet ihr süß und frisch zu mir herauf. Wie habt ihr den Duft mir bis in die Fremde zugetragen! Habt Dank dafür.

Ein Friedensodem weht mich an und macht mich still und froh zugleich. Und kindlich fromm. Und ruhig. Bin ich denn anders geworden?

»Mein lieber, guter Sohn.«

Vier Worte einer Mutter. Ja, Mutter, in deinem Herzen bleib ich gut und lieb. Und will’s bleiben für dich. Du hast dich geängstigt, weil ich so lange nicht schrieb? Hab’ ich denn lange nicht geschrieben?

O, ängstige dich nicht, meine Mutter. Ich käme mir ruchlos vor, wolltest du dich um mich und meine Schuld ängstigen. Eine Schuld ist’s für den Sohn, Ursache der Angst seiner Mutter zu sein.

Ja, ja, ich habe lange nicht geschrieben. Wirklich lange, lange nicht. Seh’ ich’s doch draußen an der Natur. Der Frühling ist hin, längst ist er hin. Kaum war er da, als ich zum letzten Male nach Hause schrieb. — Nun wiegt sich das Korn in den Ähren. Ein grüngelbes wogendes Meer. Das breitet sich jenseits des Flusses unter meinem Fenster bis an die Waldhänge drüben aus.

[S. 29]

Sommerwind geht und weht. In gleichmäßigen Wogen taucht auf, taucht nieder das Korn in den Feldern. Auf und nieder — auf und nieder. Es liegt Ruhe in diesem Auf und Nieder.

Als ich ein Knabe — der Dorfknabe — war, empfand ich nur helle Lust an dem hohen schwankenden Kornfeld. Vor allem die Kornblumen taten’s mir an. Die blauen Kornblumen waren mir lieber als der rote, wilde Mohn. Weil die großen, roten Mohnblüten zu leicht zerfielen. Kaum riß man sie ab, so löste sich ein rotes Blatt nach dem andern, und zuletzt hatte man nur noch den leeren Strunk. Aber die Kornblume, das war eine himmelsblaue Pracht!

So stell’ ich euch hier in das feingeschliffene Gläschen, ihr blauen Kinder des sommerlichen Feldes daheim. Ein wenig seid ihr zerdrückt, ein wenig welk auch. Die Reise war lang ... blüht auf! blüht wieder auf, ihr weitgereisten Heimatgrüße!

Mit euch zugleich blüht irgend etwas Schönes in mir auf. Vergangene Jahre sind’s.

Kinderjahre, Knabenjahre, Jünglingsjahre. —

Heisa, was seid ihr fortgesprungen wie wilde, russische Steppenpferde, ihr jungen, mutigen Jahre!

Mutig mit euch, durch euch bin ich gewesen. Wild bin ich mit euch gesprungen wie russische Pferdleins in weiter, wildfroher Steppe!

[S. 30]

Die weite, wildfrohe Steppe, das war das Leben, die Zukunft. Was sag’ ich: Die Gegenwart ist’s gewesen, der Tag, die Stunde war’s, nichts andres! Was Zukunft!? .... Unsinn! Die Jugend lebt, nichts weiter! —

Ein Griesgram bin ich geworden, ein Waldkauz, ein Kauz. Der Jugend gedenke ich heute, und euch, ihr Kornblumen aus heimatlicher Erde, verdanke ich dieses Gedenken. Nein dir, du treueste aller Mütter!

So runzlich ist dein Gesicht, so grau dein Haar, und dennoch, dennoch: schaust du mich an, gleich bin ich der frohe Knabe von einst!

Weshalb nur, weshalb?

Still, still, ich weiß es: es sind dieselben Augen, die einst das Kind, den Knaben betrauten, — dieselben Augen betrauen noch heute den Mann. Sie möchten noch heute so gern in des Mannes Herz blicken, wie sie ehmals in des Knaben Herz hineinschaun konnten.

Für die Mutter bleibt man der Knabe.

Schon gut, Mutter, schon gut. Komm’ ich zurück in die Heimat und zum Besuch in dein trautes Heim: der Knabe will ich sein, solange ich bei dir bin. Bist du nun zufrieden? Du fragst mich gar viel in deinem Briefe. Und manches muß ich verschweigen.

Von allem und allem schreibe ich dir, Mutter, [S. 31] und hab’ dir soeben geschrieben, nur eins behalte ich zurück — wozu davon schreiben? Ich mag nicht davon schreiben .... weshalb sollte ich von Marianne schreiben? Ich wüßte nicht, warum.

»Es geht um in der Nacht«, behauptet meine Wirtin. »Was Tausend, es geht um? In meiner Kauzburg sollten Geister hausen? Im nächtlichen Reigentanz ihr Klappergebein und Totengerippe schwingen?«

Ganz ärgerlich wurde ich gegen sie. »Schlafen Sie lieber und horchen Sie nicht auf Geisterstimmen und Geistergeräusche, mein Fräulein. In meiner Kauzburg geht’s nicht um!«

Ich war aber doch betroffen.

Leise, schleichende Schritte wollte sie gehört haben, ein Klirren des Fensters, ein unheimliches Lachen, .... darüber war sie wieder eingeschlafen.

»Du Tor!« sagte ich zu mir. Weil Fräulein Bartel das gehört haben will, fällt dir auf einmal ein, daß auch du es in einer Mondnacht gehört haben willst? Schon lange war’s her. Da wachte ich in der Nacht auf, halb noch im Schlaf: Es kam geschlichen, leise, ganz leise, es klinkte die Tür auf, es klirrte schwach, ganz schwach, ein Lachen, hatte ich wirklich ein Lachen [S. 32] gehört? Am nächsten Morgen erschien mir alles als Traum. Vergessen hätte ich’s, nie wieder daran gedacht — bis heute. Ich verbot Fräulein Bartel aufs strengste, zu den andern im Hause von dem, was sie gehört haben wollte, zu sprechen. Wozu Marianne ängstigen? Wozu erst solch Gerede aufkommen lassen? Übrigens hörte ich ein paar Tage später ganz zufällig, daß die Kauzburg schon von jeher in dem Rufe stand, »es gehe in ihr um«. Nun gut, mag es umgehn in ihr! Ich fürchte mich nicht. Freuen würde ich mich, mit den Geistern der früheren Bewohner in Verkehr zu kommen. Geister von Rittern und Mönchen sind es — würde es nicht interessant sein, mit Rittern und Mönchen früherer Jahrhunderte sich zu unterhalten?

[S. 33]

 

Noch einen neuen Bewohner soll meine Kauzburg bekommen.

Es war mit erst gar nicht recht.

Was soll man aber tun!

Es ist ein Unglück, daß ich Bitten gegenüber so wenig standhaft bin.

Fräulein Bartel hat mein Herz erweicht.

Meinetwegen, mag sie ihren Willen haben. Die Kauzburg ist groß; mich wird der neue Bewohner nicht stören.

Für ein halbes Jahr soll’s nur sein. Der Vater verreist ins Ausland, die Mutter starb im vorigen Jahr, wohin mit dem Mädchen! Da wandte sich der Mann an Fräulein Bartel, die jahrelang bei ihm und seiner Frau in Stellung gewesen war. »Nehmen Sie sich meiner Tochter an, solange ich reisen muß«, bat er dringend. »In einem halben Jahre bin ich zurück, dann ist die Erbschaft geregelt, bitte, bitte, nehmen Sie sich meiner Tochter so lange an.«

Fräulein Bartel brachte mir diesen, ich möchte sagen »händeringenden« Brief des Gutsbesitzers. Dieser Gutsbesitzer ist übrigens eine interessante Persönlichkeit. Sein Gut, sein Heidhof liegt in der Lüneburger Heide. Er selbst heißt der Heidkönig, weil sein Heidebesitz die größte Ausdehnung hat. Wohl auch, weil sein Geschlecht so alt und bieder ist.[S. 34] Also des Heidkönigs, — eines Königs Tochter — kommt in meine Kauzburg! Bin neugierig auf diese Heidkönigtochter. »Ein Kind der Heide« — — — ein Kind der Straße habe ich schon!

»Also meinetwegen, meinetwegen, nehmen Sie das Mädchen unter Ihre Fittiche«, sagte ich schließlich, um sie los zu werden. Fräulein Bartels Fittiche sind ja ehrwürdig, alt und genügend ausgemausert.

Aber nun hab’ ich meine Bedenken bekommen.

Was sagt Marianne dazu?

Ich rief sie. In der ihr eigenen anmutig-scheuen Weise trat sie in meine Stube.

»Sie wissen es schon, daß wir im Herbst oder Winter einen neuen Gast bekommen?« fragte ich.

»Ich weiß es«, antwortete sie.

»Na ... und ... Sie freuen sich doch, daß Sie nun in die einsame Kauzburg etwas Gesellschaft kriegen ... nicht?« Sie gab keine Antwort, hob nur langsam den Kopf. Ihr rotes Haar flimmerte, ihre roten Lippen waren halb geöffnet und stachen seltsam gegen ihr blasses Gesicht ab, in dem die blauen Adern wie kleine Schlangen zu sehn waren, die Leben hatten und sich zu bewegen schienen; schwer lagen die Augenlider mit den langen seidigen Wimpern noch über ihren Augen. Aber nun warf sie mit plötzlicher, zuckender Bewegung den Kopf in den Nacken,[S. 35] daß die rotgolden leuchtende Haarpracht wie ein Feuer, in welches ein Windstoß fährt, aufwirbelte, und sah mich an. »Marianne«, stieß ich zitternd hervor und umfaßte mit beiden Händen fest die eichene Kante meines Schreibtisches.

Da verzog ein Lächeln ihr Gesicht. Ehe ich zur Besinnung kam, hatte sie lautlos das Zimmer verlassen!

Ich aber warf mich erschöpft auf den nächstbesten Stuhl und bedeckte meine heißen Augen, meine heiße Stirn mit meinen zwei heißen Händen. »Wie soll das werden, wie soll das enden«, dachte ich immerfort.

Hast du recht gesehn, hast du dich nicht getäuscht? Sah sie dich wirklich mit liebedurstigen, liebeglühenden, liebeverlangenden Augen an? Hast du in diesem seltsamen rätselhaften Augenpaar auch noch einen anderen Ausdruck gesehen? Den Ausdruck von Haß? Gegen das Mädchen, das noch gar nicht hier ist? Das erst kommen soll?

Was sagten denn diese Augen? Warum bist du erschrocken vor ihnen?

Ein seltsam schauderndes Gefühl beschlich mich.

Und daneben die Gier nach diesem Mädchen, in dessen Augen ich soeben geschaut hatte.

»Hüte dich, hüte dich vor ihr!« flüsterte die eine innere Stimme, »Greif zu, greif zu«, stachelte mich die andere auf. —

[S. 36]

Ich setzte mich an den Schreibtisch und nahm mir meine Arbeit vor. Erst tanzten die Buchstaben vor meinen Augen. Dann wurde ich wieder Herr über mich. Die Arbeit lenkte mich ab, gab mich der nüchternen Wirklichkeit zurück. Zwei Förster ließen sich melden. Ich besprach Dienstliches mit ihnen, ich sagte mich für morgen zur Reviertour bei ihnen an, die Kulturen sollten besichtigt werden, Pflanzen waren infolge der Sommerhitze vertrocknet, Gegenmittel mußten bedacht, Ersatz mußte geschafft werden, ja du, mein Wald, du mein Bergwald wirst mich heilen, wirst mir die Ruhe wiedergeben, die ich verlieren will!

Geht’s denn wirklich um in der Kauzburg? Wollen mich die abgeschiedenen Geister dieser hohen, geheimnisvoll dunklen und kühlen Räume in ihren unheimlichen Bann nehmen?

Ich möchte das Mädchen mit dem Feuerhaar fortschicken.

Ja, ich werde sie fortschicken! ...

Nein! niemals! ... Von dem Staube der Straße habe ich sie aufgelesen, nun muß ich sorgen, daß sie nicht verkommt im Straßenschmutz. Hatte nicht der Domherr mir durch Fräulein Bartel sagen lassen, ich täte ein gutes Werk, wenn ich dieses Mädchen behielte?

Ich muß mit dem Manne sprechen! Ja, ich will[S. 37] bald mit ihm sprechen. Wer waren ihre Eltern? Wo war sie, bis sie zu mir kam? Zu mir in die Kauzburg? Auf der Schwelle des katholischen Waisenhauses hat man dich gefunden, armes Kind? Aber du bist doch nun ein großes Mädchen, schon längst mußt du das schützende Dach des Waisenhauses verlassen gehabt haben, bevor du zu mir kamst ... wo hast du gesteckt in der Zwischenzeit? Ich will alles, alles von dir und über dich wissen, Marianne, du verstoßenes Kind der Straße. Du verstoßenes Kind des Lebens.

Was kannst du dafür, daß dich das Leben verstieß schon beim Eintritt ins Leben? Daß es dich auf die Schwelle eines Waisenhauses legte? Dort lagst du, armes, verlassenes Kind, dort lagst du und klagtest Gott im Himmel an mit deinen großen, dunklen Kinderaugen. Armes Kind. Nun hast du ein Dach über deinem rotgoldenen Haar!

Es ist nur das alte Dach meiner uralten Kauzburg, aber es ist doch ein Dach.

Das schützt vor Staub und Regen.

Die Sonne läßt es freilich herein an der vermorschten Stelle links, wo das Türmlein einst ragte, es ist die Sonne aber! Die lachende, heitere, helle Sonne. Die Tauben gurren dort oben, wenn der leuchtende Sonnenstrahl hineinblitzt in das dunkle Kauzgeschoß des Kauzburgdaches, drum laß ich [S. 38] nichts dichten, nichts flicken. Ich habe Angst, daß die Tauben dann nicht mehr dort gurren. Sie sind so wild, meine Kauzburgtauben! Ganz heimlich muß man sie füttern, sonst sausen sie fort in alle Winde und kommen erst heim, wenn alles still ist und abendlich. Nur wenn Marianne sie füttert, bleiben sie sitzen, flattern ihr nach und entgegen.

Aufs goldene Haar ist ihr kürzlich eine geflogen. Dort hat sie nach Körnern gepickt. Hat sie geglaubt, dort goldene Weizenkörner zu finden? —

Der Schalk von einem Mädchen!

Sie lachte, als ich sie fragte.

Sie hatte sich wirklich Körner ins goldene Haar gestreut. Die pickte der Täuber auf. —

Nun ist es da, das Gewitter!

War das ein Rumoren und Rollen den ganzen Nachmittag über am Himmel!

Erst zogen die dunklen Wetterwolken von Westen auf, dann ballte sich’s drohend im Osten. Dann flammte es auf, mal hier, mal dort. Fahlgelb das Leuchten, dumpfgrollend der Donner, schwül war die Luft und totenstill zuletzt!

Kein Blatt am Baum bewegte sich.

[S. 39]

Wie Bleiguß lag es totenstarr ringsum. Dann kam es näher und näher.

Kein Vogel zu sehn, kein Schmetterling. Es hatte sich alles verkrochen. —

Hoch ragt die Kauzburg über die anderen Häuser empor. Ins Dunkle hinauf, das über ihr so drohend murrt und zuckt.

Huhu, huhu, hör’ ich den Waldkauz kreischen. Nacht sei es, mag er denken. So dunkel dräut das Gewitter.

Waldkauz, was schreist du so?

Huhu, nun ist es da, das Gewitter!

Wie es die Bäume packt und niederzwingt! Wie es flammt und züngelt, zischt und leuchtet, grollt und rollt, schmettert und kracht, und droht und beißt wie ein wilder Hund! Ist die Kette gesprengt, du wütender Wolfshund? Wen willst du packen mit deinem Gebiß? Wen willst du treffen, zerschmettern mit züngelndem Strahl, mit zermalmendem Zischen, unter drohendem Toben der blitzzersprengten Wolken?

Tobe nur, Wetter! Ich lache deiner! Ich steh’ am Fenster der Kauzburg, und die ist fest. Die hat schon manchem Gewitter getrotzt, schon manchem Sturme standgehalten, schon mancher Blitzstrahl ist durchs Gebälk gezischt, das alles hat sie überstanden. Zweimal schon hat das Feuer geprasselt in ihren mächtigen[S. 40] Balken. Gegen die Steinmauern war es machtlos und biß sich seinen Wolfszahn daran aus. Beiße nur, Wolfshund! Ich lache deiner! Am Fenster stand ich und schaute hinaus in die wilde hochbrandende Natur.

Da fuhr es prasselnd herab. Ein jäher, blendender Blitz. So blendend, daß ich die Augen schloß. Gleich darauf ein knatternder Donnerschlag. — Dann Stille, — dann wieder neues Toben.

Hat das der Kauzburg gegolten? Wolltest du beißen mit deinem Wolfsgebiß, du wilder Wolfshund im stürmenden Wetter?

Du hast gebissen! — Pfui, schäm’ dich!

Den alten vielhundertjährigen Nußbaum hast du zerbissen. — Pfui, schäm’ dich!

Da liegt seine Krone im Gartengestrüpp. Da fliegen angstvoll die Vögel auf, die in den Ästen saßen. — Pfui, schäm’ dich, ich sag’s dir das drittemal!

Hol’ dir doch andere Opfer und laß die Kauzburg mit ihren Insassen ungeschoren, du wüster, böser Gesell! —

Ich ging hinüber, wo Fräulein Bartel mit Marianne war. »Die werden erschrocken sein«, dacht’ ich. Ich traf Fräulein Bartel in heller Angst. Das Rosenkränzlein hielt sie in den zitternden Händen,[S. 41] und auf dem Tische vor ihr stand ein hübsches, buntes Muttergottesbild.

»Das hat eingeschlagen, das hat gewiß bei uns eingeschlagen«, sagte sie ängstlich.

»Dem Nußbaum hat es gegolten, Fräulein Bartel«, beruhigte ich sie. »Draußen im Garten hat es eingeschlagen, nicht ins Forsthaus ...... Aber wo ist denn Marianne?« — — —

Ich sah mich um, sie war nicht da.

Nun sah sich Fräulein Bartel auch nach ihr um.

»Ich weiß nicht«, stotterte sie, denn eben fuhr wieder ein knatternder Blitzstrahl unweit der Kauzburg ins Erdreich.

»Sie war vorhin noch hier.«

Ich hatte schon die Türklinke in der Hand.

Drüben bei mir in der Stube stülpte ich mir den Hut über, warf mir den Lodenmantel um und eilte auch schon die Treppe hinab.

Es war so finster, daß ich die kleine Handlaterne gut gebrauchen konnte.

Unten in der hohen, weiten Steinhalle schallten meine Tritte laut von den Mauern wieder. »Marianne!« rief ich; keine Antwort. So eilte ich denn durch den langen, gewölbten Flur nach der kleinen, ehemaligen Mönchspforte, die am Ende dieses von der Halle nach dem Eingang zum Keller führenden Ganges lag.

[S. 42]

Schon stand ich an der niederen Pforte. Nur ein paar Schritte über den Burghof hatte ich zu gehn, um an den Kellereingang zu gelangen.

Ich riß die uralte, schwere Eichentür auf. Kraft mußte ich anwenden, so drückte der Gewittersturm von außen entgegen.

Nun schlug sie schallend zurück.

Ich trat hinaus in die furchtbare Sturmnacht.

Die große Linde im Burghof rauschte ächzend und bog sich fast zur Erde mit ihrem hohen Wipfel. Über abgerissene Zweige stolperte ich.

Überall flammte und leuchtete es blutrot, fahlgelb und violett, dauernd wurde das Stockdunkel durch Blitz und Wetterleuchten in unheimlichem, jäh aufblitzendem, jäh ins Tintenschwarze wieder vorübergehendem Glanz unterbrochen. Fast schmerzhaft den Augen. Dumpfdrohend, gellkrachend, prasselnd, knatternd die Donner dazwischen. Wütend kochte der Regen herab. Wie ein schäumender Sturzbach fiel er herunter und hatte den Hof zu einem See verwandelt.

»Marianne, Marianne!« schrie ich in das Toben hinein. Antwort gab mir allein die Linde. Sie fing ganz laut zu stöhnen an, in ihrem Stamme begann ein ächzendes Geprassel, alle Äste von ihr erbebten und zitterten und schlugen wirr ineinander. Mir war’s in dem blendenden Wetterleuchten, als ob ich[S. 43] den ganzen hohen, gewaltigen Baum hätte schwanken sehn, als ob er von seinem Platze, an dem er nun seit Hunderten von Jahren stand, weitergeschritten wäre, mit wuchtigem, schwerem, hallendem Schritt. Wie ein Riese tauchte er noch einmal vor mir auf aus dem tiefen, tiefen, pechschwarzen Dunkel dieser Teufelsnacht. Wie ein Riese stand er vor mir in dem jäh aufzüngelnden Blitz, der die Abgrundtiefe dieses Gewitterhimmels zerschnitt, dann begann das Sterben dieses Riesen.

Ein Krachen und Reißen entstand, das selbst die Stimme des Wetters überklang. Auf rauschten wild die Blätter, Zweige schlugen mich ins Gesicht, wie ein wütender, schriller Schrei tönte es plötzlich, — die Herzwurzel war geborsten — dann stürzte der Baum zur Erde.

Der Sturm brauste wie ein Sieger über ihn hin.

»Marianne!« keuchte ich angstvoll.

Wo war das Kind der Straße bei diesem vernichtenden Unwetter?

Mit ein paar Sätzen war ich drüben am Tor des Kellers. Das Tor stand auf. Schwarze Finsternis gähnte mir entgegen. Hoch hob ich die Laterne, bückte mich und tappte die zehn steinernen Stufen, die unter die Erde führten, hinunter. »Marianne!« rief ich da unten wieder.

[S. 44]

Und siehe: Ein Lichtschein, kurz nur und spärlich, drang mir entgegen.

Sturm kam und warf hinter mir die Tür ins Schloß.

Abgesperrt von der Außenwelt stand ich, kaum konnte ich etwas sehn in dem winzigen Blinken meiner Laterne.

Aber dort vor mir, dort aus der Tiefe der Lichtschein! Die Angst trieb mich dorthin; die Angst hatte mich aus meiner Stube getrieben über den Hof ins Unwetter hinaus, nun hier hinein in diesen dunklen Keller. Die Angst? Um wen? Ja, um Marianne, das Kind der Straße. Ich mußte sie sehn, mußte wissen, daß sie geborgen war, daß sie lebte ....

Und nun stand ich ihr gegenüber. Unweit von ihr stand ich. An diesem seltsam schauerlichen Ort bei diesem seltsam schauerlichen Unwetter.

Bis hier hinein war das Toben und Tosen da draußen zu hören. Dumpf drang es bis hier hinunter.

»Marianne!« rief ich sie leise an.

Sah sie mich denn? Hört sie mich?

Nach vorn gebeugt, spähend, mit gierig grübelndem Ausdruck in ihren Augen stand sie im verschwimmenden Schein eines Lichtstumpfes, der auf einem aus der Mauer hervorragenden Steinkopf[S. 45] aufgeklebt war, und starrte auf die schwarzgrüne Steinmauer hin.

Ein mächtiger, mehrere Zentner schwerer Stein war dort aus der Mauer gebrochen, herausgeschleudert worden wohl durch einen herniedersausenden Blitz. Wie ein Felsblock lag er vor mir. Hinüber klettern mußte ich, um an Mariannens Seite treten zu können: Jetzt stand ich dicht neben ihr.

»Marianne, bei diesem Wetter sind Sie hier?« sagte ich voll Mitleid.

Sie wandte sich mir zu.

Ihre Augen brannten in einem triumphierenden Glanze, mit den Händen zeigte sie nach einer gähnenden Öffnung in der Mauer. Ich folgte dieser Bewegung und sah mit Erstaunen, fast mit einem Gefühl des Grauens, in einen unterirdischen Gang hinein, in den der Lichtschimmer unserer Kerzen zitternde Strahlen warf.

»Ein Gang, ein unterirdischer Gang?« rief ich erregt! »So ist’s kein Märchen, was die Leute sagen? Ein Gang führt von diesem Keller ans Ufer des Flusses unter der Stadt hindurch!«

Marianne faßte plötzlich meine linke Hand mit ihrer rechten und bog sie herab, so daß meine Finger über die glatte Fläche der neben uns liegenden, von der Gewalt des Blitzes herausgeschleuderten Steinplatte fuhren, die diese Öffnung bisher vor den[S. 46] Augen der Burginsassen verborgen hatte. Ich fühlte, daß in der Steinplatte etwas eingraviert war.

Mit der Laterne beleuchtete ich die Platte. Was sah ich! Ganz deutlich war die Figur einer Eule, eines Kauzes in den Stein geschnitten!

Marianne lachte vor sich hin.

»Eine Eule, ein Kauz,« rief ich, »ganz deutlich ein Kauz, ein Waldkauz in diesen tausendjährigen Stein geschnitten! Ich nannte dich Kauzburg, dich, mein Forsthaus, nun finde ich hier das Käuzchen in diesem Stein, der älter ist, als Burg und Mönche und Ritter!

Und wie? .... Was sehe ich unter dir, du steinernes Käuzchen längst verstorbener Zeit?

Eine Menschenfigur, einen Menschen in kniender Stellung, mit aufgehobenen Armen, betend zu dir, mein steinernes Käuzlein, anbetend dich als Gottheit! Ein heidnischer Stein, ein heidnisches Merkmal, ein heidnischer Gott in meiner Kauzburg!

Was hab’ ich gesehn!

Kauzburg hab’ ich mein Forsthaus getauft! Dem Heidengott hab’ ich mein Forsthaus wieder ausgeliefert mit meiner Taufe!

Oh, dreht euch nicht in euren Gräbern um, christliche Ordensritter und mönchisches Kuttenvolk!

Vor euch hat hier der Heidengott, der Kauz des Waldes, der Nachtvogel mit seinen großen, glühenden[S. 47] Augen gehaust! Ein Heidentempel ist vor tausend Jahren dieses Ordenshaus gewesen; auf den verschütteten Ruinen dieses Tempels haben ahnungslose Ritter diese Mauer errichtet.«

Ein Erdstoß ließ das Gewölbe erbeben, in dem ich mit Marianne stand.

»Kommen Sie, kommen Sie, Marianne,« drängte ich, »morgen, wenn das böse Unwetter vorüber ist, morgen am Tage wollen wir den unterirdischen Gang und die Steine hier untersuchen.«

»Nein, heute, jetzt«, sagte sie und wollte mich hineinziehn in den schräg abwärts in die Tiefe führenden Gang.

»Torheit!« rief ich scharf.

»Kommen Sie, und seien Sie nicht wie ein törichtes Kind, Marianne!«

Da umklammerte sie mich plötzlich mit ihren Armen. Ich fühlte ihre keuchende Brust an der meinen, ihr wogendes Haar spielte und streichelte mein Gesicht, ihr schlanker Leib drängte sich an den meinen, einen stechenden Schmerz empfand ich am Halse — schon ließ sie mich los, schon griff ich ins Leere, als ich sie von mir fortstoßen, nein, als ich sie an mich reißen wollte. Tiefe, stockdüstere, sargtiefe Finsternis umgab mich. Mein Licht in der Laterne war verlöscht. Ein leises Rascheln, ein Lachen vernahm ich, die Kellertür flog auf, der Donner rollte,[S. 48] und die Blitze flammten, dann war’s um mich wieder tintenschwarz und still. Dumpf nur hörte ich den Donner über mir. Ich stand wie betäubt. Aber dann überfiel mich ein Grauen vor diesem Ort. Ich tappte mich über den heidnischen Stein hinüber, an der kalten Mauer entlang, bis an die Tür. Als ich sie geöffnet hatte und die frische Nachtluft mir entgegenschlug, atmete ich tief auf. Fern hörte man noch den Donner vergrollen, es wetterleuchtete und flammte noch in den zerfetzten Wolken, aber durch ihre Lücken schien mild und freundlich der Mond. Der Sturm hatte sich gelegt, der Regen aufgehört, nur von den Zweigen der Bäume fielen noch einzelne, schwere Tropfen herab.

Im Burghofe lag die Linde. Sie war vom Sturme geworfen, ich hatte es nicht geträumt.

In ihren Blättern rieselten Wasserperlen und sickerten an der feuchten Borke des Stammes, allmählich zu kleinen Wasserbächen sich sammelnd, bis ins Erdreich, auf dem der Stamm nun lag.

Wie leid tat es mir, daß dieser Baum gefallen war. Und daß der Blitz dem Nußbaum im Garten seinen Wipfel zerschmettert hatte. Dieses Unwetter hatte mir die beiden liebsten Bäume geraubt.

»Dieses Unwetter hat mir auch endgültig meine Ruhe geraubt«, dachte ich, als ich neben der gestürzten[S. 49] Linde stand. Ich wußte: es war nun nicht mehr zu ändern, diesem Mädchen würde ich nicht länger widerstehn können. Sie zog mich hinein in ihre goldenen Fesseln, die sie um meine Schultern, über mein Gesicht geworfen hatte, sie hielt mich fest im Banne ihrer dunklen, grausamen, nein liebeglühenden Augen.

Hatte ich sie zum Leid der Insassen in meine Kauzburg aufgenommen? Zu meinem Leid? Zu meiner Wonne, meiner Lust? War’s Wonne, die ich empfand? Oder war’s nur Gier, wilde Gier, die sie in mir entfacht hatte?

Immer lichter wurde der Himmel. Immer zerfetzter die Wolken. Als ob von einem zerrissenen Mantel die letzten Stücke über den Himmel gejagt würden.

Wer hatte den Mantel zerteilt? Hatte man um ihn und seine Stücke gewürfelt?

Ja, lächle nur wieder herab, Freund Mond! Scheinheilig und freundlich, tückisch die Sünde erlaubend unter deinem unsicheren, sanft einhüllenden Licht. Du buhlst mit der Sünde, du freuest dich, du lachst, wenn unter dir gesündigt wird.

Eine wunderbare Ruhe war in die Natur getreten. Vor kurzem war alles noch so wildbewegt, jetzt schien die Ruhe selbst ringsum zu atmen. Als ich die breiten Steinstufen in meiner Kauzburg hinanstieg, klopfte mein Herz wild und erregt. Draußen in der Natur[S. 50] war nach dem Unwetter Ruhe geworden, der Sturm hatte sich austoben können, hatte sich ausgerast.

Auf Sturm folgt Ruhe, auf Ruhe folgt Sturm. So will’s das große Naturgefüge, das durch den Wechsel in seinen Lebensbedingungen lebt.

In mir war ein Sturm angefacht worden, ein wilder Sturm. Der wollte ausbrechen, sich austoben. Drum konnte noch keine Ruhe sein.

Mit klopfenden Pulsen öffnete ich die Tür der Wohnstube, wo Fräulein Bartel und Marianne sich für gewöhnlich aufhielten. Was würde ich finden? Wie würde ich’s finden? War Marianne schon da? Hatte sie sich verraten? Mich verraten?

Als ich eintrat, durchwärmte der trauliche Schein der Tischlampe den Raum mit gemütlicher Ruhe. Am Tische saß Fräulein Bartel und strickte, an der anderen Tischseite saß Marianne und las. Auf Fräulein Bartels Gesicht lag wie eine Erlösung die stille Mondnacht von draußen.

Drum stand auch hübsch im Winkel das liebe, hübsche Muttergottesbildnis.

Über Mariannens Augen lagen die zartweißen Lider mit ihrem seidigen, rotgoldenen Wimpernbehang. Rotgolden lag’s auch wie ein Leuchten über ihrem Köpflein. Der alte Feuerglanz, der alte Feuerzauber. »Ach, Marianne ist schon lange hier, Herr Oberförster,« sagte Fräulein Bartel, »sie war[S. 51] nur mal hinübergegangen vor die Tür, um das Wetterleuchten besser sehen zu können.«

Ein feines, flüchtiges, nur mir verständliches Lächeln huschte über Mariannens Gesicht.

»So, so«, meinte ich nur und sah auf dieses weiße Mädchengesicht, diese fein durchaderte, weiße, über das Buch gebeugte Stirn.

Sah’s nicht aus, als ob dort eine junge, kindlich-fromme Heilige saß und las?

»Herrgott, Sie bluten ja, Herr Oberförster!« schrie Fräulein Bartel plötzlich und sprang auf.

»Ich blute?« fragte ich und griff unwillkürlich nach meinem Halse.

Hatte ich dort nicht einen stechenden Schmerz gefühlt? Vorhin, als mich Marianne so heiß umschlungen hatte? Schon hatte Fräulein Bartel einen Handtuchzipfel feucht gemacht und wischte mir das Blut von der wunden Halsstelle ab.

»Ja, aber, was ist denn das? Das ist ja eine Bißwunde, man sieht ja ganz deutlich die Zahnabdrücke, eins ... zwei ... drei ... vier ..., mein Gott, Herr Oberförster, wer hat sie denn gebissen? Ein Marder? Eine Katze?« Ich sah forschend nach Marianne hin, während das kleine, alte Fräulein an mir herumwusch und -tupfte.

Ein grausames Lächeln, wirklich, ein unheimliches, wunderliches Lächeln verzog Mariannens[S. 52] Mund. Unsinn! Ich bin erregt, bin einer ruhigen Beobachtung nicht fähig. Sie lächelt ja gar nicht, ernst blickt sie in das Buch!

»Eine wilde Katze ist’s gewesen, vielleicht ein Vampyr«, scherzte ich und sah Marianne scharf dabei an.

»Nein, nein, Scherz beiseite, Fräulein Bartel,« sagte ich schnell, als sie mit einem unbeschreiblich entsetzten und kindlich-hilflosen Angstblick zu mir aufsah, »es ist eine Katze gewesen, die ich draußen von mir abschüttelte, und die mich wütend ansprang, weiter nichts.«

»Weiter nichts, Herr Oberförster,« wiederholte sie ängstlich, »ein Katzenbiß kann gefährlich werden. Marianne, geben Sie mir doch rasch das Fläschchen, auf dem Karbol geschrieben steht, ja, ja, das ist das richtige, so ... rasch ein paar Tropfen ins Wasser! ... aber Sie müssen stillhalten, Herr Oberförster ... und nun das englische Pflaster darüber ... nein, ich sag’ ja, was man nicht alles erleben kann in solcher alten, häßlichen Burg.«

»Nun, nun, es ist ein ritterlich-christlicher Bau, mein liebes Fräulein; denken Sie doch ... Ordensritter und Mönche!«

»Ja, freilich,« meinte sie erleichtert aufatmend, »fromme, gut katholische Herren haben hier gelebt ...«

[S. 53]

»Oh, wenn du wüßtest, was ich weiß!« dachte ich, »wenn du dabei gewesen wärest, als ich das heidnische Steinkäuzlein entdeckte, als mich da unten die rothaarige Wildkatze in meinen Hals biß!« Ist es denn möglich? Ist denn dieses hier in der traulichen Stube dieselbe Marianne?

Hat diese hier mich wirklich in solch rasender Gier umschlungen gehalten? Hat diese Marianne, die ruhig und still Fräulein Bartel hilft, als sei nichts gewesen, als hätte es kein Gewitter, keinen Sturm, kein Kellergewölbe, keinen gähnenden, in die Tiefe gähnenden Gang, kein steinernes Käuzlein gegeben, ... hat diese Marianne wie eine Wildkatze mich in den Hals gebissen?

Sind das nicht Augen, so sanft wie Taubenaugen? Ist’s nicht ein Lächeln, so sanft wie ein Lächeln der Heiligen? Rätselvoll sind diese dunklen, fast nachtschwarzen Augen. Genau so rätselhaft wie der See meiner Heimat im dunklen Walde. Der soll die Menschen, die sich in seine schöne Flut zum Baden stürzen, in seine Mitte ziehn, sie nicht mehr von sich lassen ... niemand mag mehr in seinem waldkühlen Wasser baden, man sagt, daß schon vier Menschen ihr Leben in seiner Flut haben lassen müssen ...

[S. 54]

 

Die Katholiken des Städtchens veranstalteten am heutigen Sonntag eine Prozession.

Eine Bittprozession, daß nie wieder ein so furchtbares Unwetter wie gestern das kleine Städtchen heimsuchen möge. Fräulein Bartel und Marianne haben mich gebeten, daran teilnehmen zu dürfen.

Natürlich dürfen sie!

Wenn ich auch nicht glaube, daß es viel helfen wird, so mögen sie immerhin gehen.

Auf den Berg drüben überm Flusse zur Kapelle hinauf soll prozessioniert werden. Ganz friedlich, fromm und kirchlich. Mit Fahnen, Thronhimmel und Gesang. Mit Kränzen, weißen Kleidern und Jungfrauen vornweg.

Feierlich und schön wird’s werden, ein sehenswertes Schauspiel. Ich kenne diese Prozessionen aus Schlesien. Schon als Knabe haben sie mir gewaltig imponiert; stets sah ich voll ehrfürchtiger Spannung zu. —

Es liegt so viel kindlicher Glaube darin, daß sich eine das Weltall leitende Gottheit durch ein solches Häuflein singender und betender Menschen, durch ein paar bunte, von Menschenhand verfertigte Fahnen, durch Thronhimmel und gestickte Gewänder, Weihrauch und Weihwasser bestimmen[S. 55] lassen wird, gerade diesen Ort aus der Spannung der Naturereignisse auszuscheiden.

Ich will hoffen: kindlicher Glaube. —

Jeder Glaube ist schön. Sobald er aus einem wirklich gläubigen Herzen kommt, ist er erträglich. Bewußter Aberglaube ist unschön. Man soll nicht glauben um irgendeines Vorteils willen, man soll nur dann glauben, wenn man wirklich glaubt. So will ich mich denn auf die Mauer stellen, dort, wo die Stufen in ihr Gestein gehauen sind.

Dort bergen mich die dichten Büsche des abgeblühten Flieders, Goldregens und Ginsters. Von dort aus kann ich die Prozession von weitem schon sehn, kann sie vorbeiziehn lassen dicht unter mir an der Mauer, kann zusehn, ohne selbst gesehn zu werden. Über mir schlagen die laubgefüllten Zweige eines Ahorns und einer Platane zusammen. Und bilden ein schützendes Dach gegen die allzu sommerliche Sonne, den allzu sommerlich heißen Tag.

Ihr armen Prozessionierenden! — schon höre ich Euren Gesang, schon die sechs städtischen Musikanten mit ihren Trompeten, Pauken und Trommeln! — — Bei dieser Hitze in langsamer Prozession! ... Im dicksten Straßenstaube!

Das muß doch ein göttliches Herz erweichen.

Hinauf zum Himmel dringt mit dem Straßenstaube der Gesang, wie in Wolken gehüllt wird er[S. 56] höher und höher getragen. Halt da! ... schon biegen sie um die Ecke! Schon sehe ich die weißgekleideten Jungfern, mit blühenden Kränzen im freigelösten braunen und blonden Haar, sie streuen Blumen, ein anmutig Bild, und hinter ihnen die hellauf singende Knabenschar in roten Chorröckchen mit brennenden Kerzen in den reingewaschenen, sonst so schmutzigen Jungenhänden, ... nun der goldbestickte, blausamtne Thronhimmel, an vier Säulen getragen von vier ehrwürdig, von der Heiligkeit ihrer Handlung durchdrungenen Männern, in langen, schwarzen Röcken, und unter dem Himmel der Domherr mit der in seinen Händen hoch emporgehobenen, goldstrahlenden Monstranz. Sie ist schwer, die Monstranz, drum werden seine Arme von zwei jungen Pfarrern, die dicht neben ihm schreiten, gestützt.

Noch kenne ich den Domherrn nicht. Ich sehe ihn heute zum erstenmal. Doch der Thronhimmel und die Monstranz verdecken sein Gesicht. Ich sehe aber, daß ein rötlicher, mit Grau gemischter Haarkranz unter seiner gestickten Bischofsmütze hervorquillt. Sonderbar, ist es die Sonne, die seine Haare so rötlich erschimmern macht, just wie dieselbe Sonne das Haar Mariannens so rötlich leuchten läßt?

Zwei Menschen mit solcher Haarfarbe in ein und demselben Städtchen? Ei, Marianne, ich habe gedacht,[S. 57] daß deine Haarfarbe nicht zum zweitenmal zu finden sei auf dieser schönen, im Sommerstaat prangenden Erde.

Ein stolzer Mann, der Domherr. Wie schreitet er fürstlich fast unter dem Himmel dahin. Wie schlank sieht er aus, wie vornehm in seiner priesterlich-bischöflichen Pracht. Ja, ja, die Herren verstehn es gar gut, auf ein harmlos gläubiges Menschenherz zu wirken.

Langsam schwankte die heilige Monstranz unter dem Thronhimmel an mir vorüber.

Noch freute sich mein Auge an den in den blauen Samt gestickten Goldsternen des Thronhimmels, dieses hübschen Himmelchens unter dem großen Himmel, von dem die Sonne herablachte in ihrer goldflutenden, ewigen Schönheit, da zuckte ich jählings zusammen.

— — Allein — dicht hinter dem Thronhimmel — ging Marianne. — — — Ein weißes Kleid hatten sie ihr angetan, in das rotgolden leuchtende, in langen Wellen über die Schultern wallende, seidige, köstliche Haar hatten sie ihr einen blauen Vergißmeinnichtkranz gelegt, in ihren Armen hielt sie, wie die Madonna, das Christuskind, ein aus Wachs geformtes Engelskind, das mit weitoffenen, unveränderlich, freundlich lächelnden Augen zu seiner Madonna, die es so sorgsam trug, herauflächelte.

[S. 58]

Und so schritt sie dahin! So schritt sie hinter dem bunten, goldumstickten, hoch über allem schwankenden Thronhimmel, der das Allerheiligste beschirmte, langsam, wie in holdem Traume träumend, dahin.

Sie hielt das liebliche, weiße Gesicht gesenkt. Es sah so natürlich, so selbstverständlich aus; die Mutter sah auf das lächelnde Kind in ihrem Arme herab.

Da hab’ ich nun das steinerne Heidenkäuzlein in meinem Hause, auf heidnischer Stätte der grauen Vorzeit stehe ich, wollte ein Schauspiel mir ansehn, nichts weiter: aber fromm ward mir im Herzen beim Zusehn dieses Zuges der zu ihrem Gotte betenden, singenden Menschen, ganz fromm ward mir ums Herz, als ich das weißgekleidete Mädchen erblickte mit dem lichtweißen Gesicht, umflutet von dem feuergoldenen Rothaar, in dem wie kleine Himmelssterne die tausend Vergißmeinnichtblüten verstreut lagen.

Man greife ans Gemüt des Menschen, so wird er gläubig! Als Marianne gerade unter meinem verborgnen Standpunkte auf der Mauer der Kauzburg vorbeikam, hob sie ihr Gesicht. Ohne zu suchen, zu irren, trafen mich wie zwei Pfeile die Strahlen[S. 59] ihrer Augen. Sie konnte mich doch nicht sehn, aber sie sah mich. Ich fühlte es, daß sie mich sah. Daß sie direkt in meine Augen sah. Ihre Augen schienen mich zwingen, mich rufen zu wollen: »Komm von deiner Mauer herab, komm neben mich und schließe dich diesem Betgang an!« Wende deine Augen von mir ab, Verführerin! Wende sie fort, fort, fort! schrie ich ihr in ihre Nachtaugen zurück. Wollte ich ihr hinabschreien, mitten hinein in diese fromme Menschenmenge!

Mein Mund blieb stumm, nur ein Zittern in meiner in das Astzeug der Büsche verkrampften Hand hätte sagen können von dem, was mein Herz schrie, was mein Mund verschwieg. Ich folgte ihr mit meinen Blicken. Ich sah ihr langwehendes Haar in den Strahlen der Sonne glühn und gleißen, — ja, sahen denn die anderen nicht, daß in den roten Haaren dieser demütig-frommen Heiligen, der man als Sinnbild das Engelskind in den Arm gelegt hatte, — ja, sahen denn die andern nicht, daß kleine Teufel in ihren roten Haaren herumsprangen und teuflische Grimassen schnitten? — Viel Volk folgte noch nach. Ein schier endloser Menschenzug. Jeder, selbst der ärmste hatte sein Haus verlassen, um sich diesem Bittgang anzuschließen.

Der alte Bischofssitz von ehemals thront noch immer hier. — Nun werdet ihr bald auf der Berghöh’[S. 60] drüben sein, ihr frommen Sänger und Bittgänger!

Vor der Kapelle, die dort oben zwischen den alten breitkronigen Buchen und Eichen steht, werdet ihr singend auf die Knie fallen, die geistlichen Herren werden vor den Altar treten und ihre Beschwörungsformeln sagen, und lachen vom Himmel dazu wird die Sonne.

Sie lacht bis zu mir hinein in mein grünes Laubversteck, Goldblitze tupft sie bald hier auf dieses dunkle Blatt, bald dort auf jene rote Rosenblüte, bald blitzt zwischen den runden Kieseln zu meinen Füßen ein Goldkorn auf, vom goldnen Sonnenstrahl getroffen, bald zieht sich zitternd und flimmernd ein langer Goldstreif über den Gartenweg. Ein goldner Himmel liegt um mich gebreitet. Ich möchte keinen Zwischenhimmel haben. Durch nichts behindert, nichts entstellt, so will ich meinen Himmel haben.

Seit Tausenden von Jahren geht nun das Suchen nach dem Himmel.

Menschen und Völker sind darüber zu Erde geworden, und andere haben auf ihnen neue Tempel gebaut. Und jeder sprach: »Dies ist mein Tempel, ist mein Gott, und Nebengötter dulde ich nicht.«

Und all diese Himmel hat die Erde überdauert! Die Erde, aus der wir kommen, in die wir gehn. [S. 61] Die schöne, frische, die lebenzeugende und ewig junge Erde. Oh, Erde, wie lieb ich dich! In dir zu ruhn und auszuruhn, muß köstlich sein nach Jahren des Lebens, nach Jahren der Arbeit, nach Jahren der Freude und Trauer, nach Sonnentagen und Regentagen, nach Sommertagen und Wintertagen, wenn grau das Haar geworden ist und alt der Mensch. Wir suchen den Schlaf und freuen uns seiner. Warum haben wir Furcht vor dem Schlaf in dir, Erde? Hatten wir Furcht vor dem Schlafe, als wir noch schlummerten im Mutterschoß? Hat uns das Leben feige gemacht? Wollen wir ewig leben? Wir kleinen, winzigen Menschlein, wir? Wir würden die Ewigkeit stören, ihr ewiges Weiterbauen und ewiges Neuerzeugen. — — — —

Ich bin allein in meiner Kauzburg. Als einziger Mensch. Fräulein Bartel und Marianne sind drüben auf jener schönen, waldverschlungenen Bergeshöhe bei frommem Gesang und frommem Beten, benutzen will ich das Alleinsein, hinuntersteigen will ich zu meinem steinernen Heidenkäuzlein, eine Forschungsreise will ich in den unterirdischen Gang unternehmen. Es ist Sonntag heute. Der [S. 62] Sonntag soll mich schützen bei meiner heidnischen Fahrt in die Tiefe hinab! — —

Im spärlich lichtspendenden Schein meiner Laterne stand ich nun wieder vor dem heidnischen Stein. Diesmal allein. Nicht wie gestern im Banne von rotem, flutendem Haar. Genau forschte ich jetzt die Steinplatte ab. Wirklich: unzweifelhaft blieb das Käuzchen im Stein und unter ihm der betende Mensch. Ganz grob und ohne Kunst hineingeritzt in den Stein. Aber deutlich erkennbar. Hier des Käuzleins große Rundaugen, darüber mit zehn kurzen Strichen die gesträubten Federn des fauchenden Vogels, an den Seiten die Federbüschel der Ohren, sodann die Flügel, unten die Krallen der Füße, ein Eulenvogel war’s. Darunter der betende Mensch! Die aufgehobenen Arme sind deutlich zu sehn. Hier dieser Kreis mit den beiden Löchern übereinander, dem schrägen Strich zwischen ihnen, dem wagerechten darüber und deutlich der Kopf. Die langen Striche mit den fünf kurzen Ritzen an jedem Ende: Die Beine — kein Zweifel: ein betender Mensch!

Hoch hob ich die Laterne und spähte in die Dunkelheit des Ganges hinein. Er war so hoch gewölbt, daß ich fast aufrecht stehen konnte. In schräger Steilheit führte er in die Erde hinein.

Nur Mut, ein Jäger kennt keine Furcht!

[S. 63]

Langsam tappte ich vor. Schlüpfrig war der steinerne Boden. Feuchtigkeit klebte an den Steinwänden, feuchtkalt und glitschrig fühlte sich die Steindecke über mir an.

Holst du mich, Tiefe der Erde?

Willst du mir ein wenig lüften von deinem tiefen Geheimnis?

Was kennen wir denn von dir, du allgewaltiger großer Mutterschoß!

Die Schale von dir, die oberste, dünnste Schicht deiner Schale durchfurchten wir mit unserer schwachen Kraft. Doch deine Tiefen öffnest du nicht vor unserem Blick.

Flammendes Feuer, brandendes Brodeln, zischendes Kochen birgt tief dein tiefstes Inneres. Und schickt ausstrahlende Kraft in den erdigen Gürtel, damit er Leben hat und Leben hervorbringen kann.

Öffne dich, Erde! Öffne dich, ich dringe in dich hinein. Wie tief mag ich sein? Kein Laut von außen. — Die tiefste Stille, die stillste Ruhe um mich herum. Schwach leuchtet mein kleines Laternenlicht. Vorwärts, Jäger! Ein Jäger kennt keine Furcht! — —

Es benahm mir den Atem.

Doch fühlte ich, daß ein leiser Luftstrom den Gang durchstrich. Also mußte am unteren Ende[S. 64] eine Öffnung sein. Sonst hätte ich ersticken müssen auf dieser unterirdischen Forschungsreise.

Immer weiter drang ich vor. Nur einmal hemmten Steine meinen Weg. Ich räumte sie beiseite, kroch über sie hinweg und strebte vorwärts, nur immer vorwärts. —

Halt? Hör’ ich nicht ein dumpfes Rauschen? Ist’s unter mir, ist’s über mir?

Sag’ dein Geheimnis, Erde!

Siehe! Vor mir, weit vor mir in der Ferne malt sich ein schwacher Lichtschein im finsteren Gange ab!

Das muß des Ganges Ende, das muß die Öffnung nach oben, zum Licht der Erde sein! Steil ging es aufwärts — steil abwärts war’s bisher gegangen.

Zum Licht empor, zum Leben jetzt!

Immer deutlicher wurde der erst so schwache Lichtschein. Wie ein Schimmern drang es mir entgegen. Hoch über mir sah ich Felsenwände aufwärts streben, sah grünendes Gezweig hoch aus den Steingeröllen winken, — sei mir gegrüßt du schönes Sonnenlicht!

Ich kletterte dem Lichtspalte zu. Über Geröll und Steintrümmer hinweg klomm ich aus der Erdtiefe empor.

Die Öffnung am Ende des unterirdischen[S. 65] Ganges, durch den ich wie ein menschlicher Maulwurf gekrochen, war fast völlig mit Brombeer- und wilden Himbeerranken zugewachsen. In reifer, schwarzer und roter Fruchtfülle hingen die Zweige.

So viel als möglich schonte ich das Geranke. Es half aber nichts: mein Weidmesser mußte mir freie Bahn schaffen. Zerkratzt kam ich endlich durch die schmale Öffnung ans Tageslicht hervor.

Fast hätte ich einen Jubelruf ausgestoßen, so schön war, was ich sah.

Von allen Seiten strebten Berge in die Höhe; sie waren mit üppig in hundert bunten Farben blühendem Gestrüpp und Buschwerk bewachsen. Hängende Blütengärten schienen sie zu sein. Von allen Seiten abgeschlossen und geschützt vor spähenden Augen lag dieses kleine Tal. Ein in den Sonnenstrahlen spiegelnder Teich, in dessen klares Wasser die Zweige der Buchen am Uferrande tauchten, lag verträumt und still inmitten des Grüns der Wiese, die dem kleinen Tal als Boden diente. Haselgesträuch mit reifenden Nüssen buschte hier und dort und bildete lauschige Inseln im hellen Grün der Wiese. Weißstämmige Birken mit ihrem lichten, zarten Blättergrün standen zu zwei’n oder drei’n am Rande der Wiese, wo die Berge anfingen, und streckten ihre jungfräulichen Wipfel ins dunkle Nadelgrün einer Fichtengruppe hinein.

[S. 66]

Bunte Wiesenblumen unterbrachen das Grün der Wiesengräser mit lebhaften Farben, Schmetterlinge umgaukelten die Blumen, Bienen summten, Käfer blitzten mit ihren goldglänzenden Flügeldecken im Sonnenlichte auf, Eichhörnchen hüpften fauchend in den Haselnußsträuchern umher, ein rotbrustiges Finkenhähnchen schlug froh und kecklich seinen hellen tönenden Finkenschlag, Goldammern huschten im Grase, und Lerchen standen wirbelnd, und sich ins ferne Blau des Himmels, der wie ein Auge in dieses heimliche Wiesental hineinsah, höher schraubend, in der warmen, klaren Sommerluft.

Und dieses alles abgeschlossen und still verborgen vor der Außenwelt. Man fühlte es: nie war die Außenwelt bis hier hinein gedrungen.

Große, behauene Steine fielen mir auf, die am westlichen Uferrande des stillen Teiches lagen. Über die grüne, blumenbesäte Wiese ging ich zu den Steinen heran und sah zu meinem Erstaunen, daß auch in sie wunderliche Figuren und Zeichen eingeritzt waren. Auch war deutlich eine kreisrunde Anordnung der Steinplatten noch zu erkennen. Unzweifelhaft stand ich hier an einer in grauer Vorzeit heidnischen Opferstätte, an der zu den längst als unecht von uns neuen Menschen abgesetzten Heidengöttern gebetet worden war. Vielleicht auch an einer Stätte einstiger Menschenopferung.

[S. 67]

So hatte ich hier einen sicher noch ganz unbekannten geheimnisvollen Ort ehemaligen Heidentums entdeckt. Kein Mensch wußte etwas von diesem allseitig abgeschlossenen kleinen, stillen Tal, das nun zu einem so wunderschönen Fleckchen unberührter, köstlicher Natur geworden war. Kein Mensch. Aber erschrocken fuhr ich zusammen.

Hatte es nicht geseufzt in meiner Nähe? Hatte ich nicht den sehnsüchtig lockenden, leisen Ton einer menschlichen Stimme gehört?

Ich stand still und horchte. Aber mein lauschendes Ohr vernahm nur den leichten Sommerhauch, der warm und wohlig durch die lichtgrünen Birkenwipfel strich, nur den fröhlichen, hellen Finkenruf, nur das Bienensummen, nur das plätschernde Hochschnellen der nach den tanzenden Mücken schnappenden Fische. Doch nein! Dort klang es deutlich zum zweiten Male! Dort, wo der Teich die bis unters grüne Laubgebüsch sich hinziehende Bucht bildet! Geister der alten Heidenzeit, seid ihr’s, die ihr so sehnsüchtig, so liebeatmend seufzt?

Seelen geopferter Menschen, seid ihr’s, die ihr an diesem sonnendurchstrahlten Sommersonntag ins Licht des Tages schwebt und nun den Reigen Abgeschiedener an dieser stillen, so wonnig-schönen Stätte tanzt?

Mensch, der du durch finsteren Erdgang in[S. 68] dieses zauberhaft liebliche, von Sonnenlicht und Sommerwinden erwärmte Tal den Weg gefunden hast, den keine anderen Menschen fanden, ist es dein eigenes Atmen, das du nur im Echo hörst? Nein, nein, mein eigenes Atmen ist es nicht! Ich muß ergründen, was an jener laubverhangenen Bucht dort Leben atmet, Leben ausseufzt, sehnsuchtsvolles Leben. —

Ich schlich mich von Gebüsch zu Gebüsch. Schmetterlinge jagte ich auf, die mit geschlossenen Flügeln an den Blütenkelchen der Wiesenblumen gehangen hatten und, vom süßen Duft ermattet, eingeduselt waren, grüne Heupferdchen hoppten, gestört aus ihrer Ruhe, im grünen, frischen Wiesengras mit gewaltigem Satz empor, sobald mein Fuß die Grasrispen erzittern ließ, Vögel flüchteten aus dem Haselnußgebüsch, an das ich streifte, ein Eichhörnchen fauchte mich mürrisch an, wickelte seinen Buschschwanz in die Höhe und wußte nicht recht, was es aus mir Eindringling in diesem Versteck zwischen den Waldbergen machen sollte; eine unschuldige Natter wand sich in das Wurzelwerk der Buche hinein, hinter deren Stamm ich haltmachte, lauschte und spähte, — nichts hörte ich mehr. Aber was erblickte ich, als ich die Zweige der Erlen vor mir auseinanderbog? War es ein Spuk? Ein holder, teuflischer, schöner, schrecklicher Spuk?[S. 69] Ein Spuk der Heidenwelt, in deren erstorbene, längst vermoderte Vergangenheit ich eingedrungen war? War etwa alles Spuk? Das kleine tiefe Tal? Der stille, spiegelnde, hier so dunkeltiefe Waldteich? Die buntbeblumte Wiese? Die Bergeshänge mit ihrem rankenden Gebüsch? Aus dem es blühte, duftete und Früchte niederhangen ließ? O holder Spuk, o schreckensschöner Spuk!

Ich möchte fliehn, und fest gebannt steh’ ich und kann nicht fort!

Und ist’s ein Traum, dann halte noch ein wenig aus, du holdes Traumgebild!

O Marianne, du hast mich ja bezaubert! Was hast du nur aus mir gemacht! Ich seh’ dich vor mir, seh’ dein flutend rotes Haar! Bis hier in dieses stille Tal folgt mir dein Bild. — Ja, Marianne! —

Dicht an dem Ufer des Waldsees lag sie lang ausgestreckt auf dem Wiesengras.

Dort lag sie und schien im Schlaf. Sonnenschein sprang durch das leichtbewegte Blattgerank der Erlen wie goldenes Blitzen über ihren herrlichen, weißen Leib, der wie in Feuersglut getaucht erschien in all der Fülle rotgoldenen Haares, das ihn umflutete und seine Blöße verhüllte. Leicht über sie bis an den Busen hochgebreitet lag das weiße Kleid, das man ihr vorhin beim heiligen Bittgang[S. 70] angetan hatte. Blumen lagen darüber gestreut in allen Farben des glühenden, blühenden Sommers. Auch an dem leuchtenden Rot der köstlichen, seidigen, glänzenden Haarpracht hingen blaue Glockenblumen wie schwere, schöne Himmelstränen.

Noch rieselten hier und da von ihrem weißen, sanft geschwellten Busen kleine, glitzernde Wasserperlen ins Gras zu den Seiten herab, noch lag’s wie ein feuchter Nebelreif über ihrem Haar. Sie mußte soeben erst der klaren Flut des Waldsees entstiegen sein.

Wie bist du hierher gekommen? Woher, sag’ mir, woher kennst du dieses stille, heimliche Tal? —

O wär’ ich geflohn in diesem Augenblick! Noch war es Zeit, noch Zeit zur Flucht, zur Rettung!

Aber da hob sie das Köpfchen, die blendenden Arme, die weißen Hände, da schob sie die wogende Haarflut zurück, da dreht sie langsam, ganz langsam ihr holdes Gesicht mir zu, da wölbte ein Lächeln die roten Lippen, da trafen — zwei sengende Strahlen — ihre Augen mitten hinein in die meinen.

»Marianne!« schrie ich laut auf, dann leise, ganz leise, noch einmal: »Marianne!«

Ich weiß es nicht, ob ich zu ihr hingestürzt bin, ob ich langsam, ganz langsam über das Stückchen grüner Wiese, das mich von ihr trennte, geschlichen [S. 71] bin. Vielleicht geschlichen wie ein Dieb, der stehlen wollte. Weil man zum Stehlen ihn aufgefordert hatte. Ich weiß das alles nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich vor ihr niederkniete, daß ich ihre nackten Arme, die sich kalt und weiß wie Elfenbein mit seinem fein getönten, fast nur geahnten Gelb in das rote Haargewoge verschlungen hatten, an mich riß, daß sie sich selbst wie eine aufbäumende Schlange gegen mich warf. O Marianne. — — — — — —

[S. 72]

 

Sonne, schöne Sommersonne, du versinkst hinter den hohen Domtürmen der kleinen Stadt.

Die beiden Kreuze auf den Turmspitzen gleißen wie pures Gold.

Wohnt Gott in ihnen? Gott, der die Sünde bannt, von Sünde löst und freispricht?

So sprich mich frei von meiner Sünde, Gott! — — —

Stilles, heimlich verborgenes Tal, dein Boden ist getränkt vom Blut der Menschenopfer alter heidnischer Zeit.

Forderst du ein neues Opfer? — — —

In der Dämmerung schlich ich mich am Fluß entlang in das Städtchen zurück.

Hatte ich nur geträumt? War’s Fieberwahnsinn, Fieberglut gewesen?

Hatte sich wirklich soeben erst lachend und keuchend mit flammenden Augen und glühender Stirn ein zauberschönes Mädchen meinen Armen entwunden? War fortgesprungen wie eine weißschimmernde Elfe mit rotwallendem Mantel über das sanfte Grün der stillen Wiese im Tal? Hatte grausam ihr Lachen geklungen? Und hart und spröde und siegestrunken? Und sanft und girrend, lockend und drängend, verführend, bezaubernd wie das Lachen der Zauberin Circe?

[S. 73]

Neben mir klingt und singt der Fluß. Am Ufer drüben ragen im Abendschein die Häuser, die Türme und Mauern der kleinen Stadt.

Ragt die Kauzburg hoch über die anderen Häuser hinweg. »Huhu, huhu« schrien ein paar Käuzchen und flogen lautlos um die schlanken Pappeln, die hier am Ufer stehen. Ganz still und unbewegt. So wie ich selbst hier stehenblieb und stand, ganz still und unbewegt. Und in das fließende, rinnende, immerfort fließende, immerfort rinnende Wasser des Flusses starrte. Bis immer mehr der Abend niedersank und nur ein letztes rotes Leuchten Kunde gab von einer Sonne, die verschwunden war, um einer anderen Welt ihr Licht zu spenden.

Ein Glöcklein klang vom Dom. Das Abendglöcklein war’s. Dann fiel ein zweites tieferes Glöcklein der evangelischen Kirche ein. Sie klangen schön miteinander. Wie Schwester und Bruder. Aber die Menschen, die ihnen zuhörten, waren nicht wie Schwestern und Brüder miteinander. Sie befeindeten sich und bekriegten sich. — Schwestern und Brüder. — Gestern war Marianne eine Schwester von mir gewesen und ich ihr Bruder. Denn der christliche Glaube lehrt, daß wir Menschen alle Schwestern und Brüder sind. —

Heute? Jetzt?

Wie kann man Bruder sein zu diesem Mädchen![S. 74] Ich wußte es doch seit Wochen, daß ich ihr nicht Bruder bleiben konnte. Warum hab’ ich sie nicht von der Schwelle der Kauzburg verjagt? So hätte ich meine Ruhe heute. So brauchte ich nicht so scheu wie ein Dieb in meine Kauzburg zu schleichen. Ich fühle mich schuldig. Ich verfluchte das stille Tal, den Waldsee, die sonnenfreudige grüne Wiese.

Und doch! .... Wenn ich zurückdachte ...... Marianne, ich bin dein! — — — — — — — —

Es war mir lieb, daß ich niemandem begegnete. Daß ich ungesehen in meine Stube kam. —

Morgen werde ich ruhiger denken. — — — —

Um Mitternacht ging ich zu Bett.

Still lag die Landschaft im milden Mondschein um meine Kauzburg.

Eine sommerlich warme, ganz klare Nacht. Drüben in den Feldern zirpten die Grillen. In weißen Gewändern hing der Nebel auf den Wiesen und schwebte als weißseidenes Feintuch über den Fluß. Mir ward ruhig zumute; wunderlich ruhig. Warum nicht immer so? Aber ist denn das Meer zu jeder Stunde ruhig? Brandet es nicht zuzeiten in wildem Gischt an den Strand? O Menschenherz, wie gleichst du dem Meer. Wie gleichst du der Natur in ihrer sanften Schönheit, in ihrem wilden Sturm. —

Ihr fliegt um die Kauzburg, ihr beiden Käuzlein?[S. 75] Der Mond ist euer Helfer und Freund bei eurer lautlosen Mausjagd. Auch mein schlesisches Käuzlein mag nun im stillen, mondbeglänzten Wald auf seine Mäuslein jagen. Und meine Mutter mag gerade die Hände falten und leise beten: bleib brav und gut, du lieber Sohn. — O Mutter, Mutter! —

Verstoßen könnte ich sie; fortstoßen mit den Füßen könnte ich sie! Aber sie zieht mich in ihren Arm, ihr goldenes Rothaar schlingt sie um meine Schultern, sie küßt mich voll Gier und voll Wonne, voll trunkener Lust und seliger Wonne, sie trinkt mein Blut, und ihre nachtschwarzen Augen sengen bis tief in mein Herz; ich reiße sie an mich, ich zähle die Stunden, wo ich sie habe im stillen, kleinen Tal, am dunklen Waldsee, im grünen Wiesengras, wo Schmetterlinge gaukeln, wo das Finkenhähnchen seine Rufe schmettert, und wo es sonst so still ist wie im Paradies.

Fortstoßen könnte ich sie; nein, niemals kann ich sie lassen; mein muß sie sein, mein muß sie bleiben. —

Merkt es denn niemand, niemand, daß ich ein anderer geworden bin?

Merkt es denn niemand, daß wir sündigen? Bin[S. 76] ich ein Doppelmensch? Vor den andern der eine, vor mir der andere? — Aber die Sünde wird zuletzt zur Gewohnheit. Das Gewissen schläft ein. Wozu es wecken! —

So gehen die Tage hin. Abwechselnd zwischen der Sünde und Pflicht. Die Pflicht hält jener das Gegengewicht. Die Arbeit reißt mich wieder und wieder empor, sie bringt mir die Ruhe und lenkt mich wohltuend ab.

Die Arbeit, die der Wald wie grünes Gezweig über mich ausschüttet. Daß ich sein Jünger bin, sein Pfleger und Schirmer, ist meine Rettung.

O Wald, wie liebe ich dich!

Weißt du es, Bergwald draußen, was du mir bist? Daß ich mich an dich anklammere, wie rankender Efeu am starken Eichenstamm es tut?

Mein lieber Bergwald, deine Luft macht rein und gesund. Gesund an Seele und an Leib. Ja, bin ich denn krank?

Ach, trauter Wald, ich möcht’ es dir sagen. Ich möchte mich hinknien auf hoher Berghöh’, wo du nur um mich bist mit deinem Rauschen, das so kräftig klingt, so wunderschön, so stolz und ruhig, dort möcht’ ich zu dir sagen und reden von meinem tiefen Leid. Sieh’, keiner weiß es, und keiner ahnt es. Wie mich umschlingt diese Zauberkraft, dieses feuerglühende Haar, wie sie mich immer und immer in Fiebergluten[S. 77] reißt, wie ich so machtlos bin im Banne ihrer grausigen Augen. Wie, grausig sag’ ich und lache mich nicht selbst gleich aus? Sind’s Augen nicht wie dunkle, schlummernde Tiefen des Sees? Des Waldsees, der den Tag verträumt in stiller, kosender Ruhe? So sanft und weich, wie das Wasser des Waldsees ist?

Kann denn ein Waldsee zum Tode locken?

Zur Tiefe, in der man ertrinkt mit ringendem Arm, mit verlöschender Kraft, mit letztem Kampfe ums Leben?

Doch, doch! — — — Ein See hat Tiefen, die niemand kennt. Ich weiß von einem, der lockt so weich, so kosend, doch was er an sich lockt, nie wieder kehrt es ans Ufer zurück. Hab’ ich das Ufer verloren? — —

O, Bergwald, wie kühl und kraftvoll ist dein Atmen, dein Leben!

An dich, du starker Eichenstamm, hab’ ich mich angelehnt. Und schaue hinab ins Tal zu meinen Füßen. Lau spielt der Sommerwind in den Blättern der Eichen und Buchen. Wie grünes Flimmern im blauen Himmelssommerglanz. Die Blätter sprechen, sie sprechen schön wie Vogelsang und Vogelsingen. Zur Ruhe sprechen sie. Zum Frohsinn mahnt ihr trauliches Rauschen und Klingen.

Zum Frohsinn in Ruhe. Das ist das Rechte! Ja, Frohsinn in Ruhe!

[S. 78]

Das Leben lebt, und es lebt nur einmal, nie wieder. Weshalb denn traurig sein?

Hab’ ich nicht dich, mein Wald?

Durchspüle mich, rasch, durchspüle mich mit deiner kräftigen Waldluft! Füll’ mir mein Herz damit, so widersteht es der Lockung, füll’ mir die Brust, so werd’ ich sie dehnen und frischen Atem schöpfen, füll’ mir die Kehle, so will ich singen dem Waldvogel gleich auf den wiegenden Ästen der Buchen, füll’ meine Augen damit, so werden sie trunken ewig schaun die Schönheit der Natur, der Wald- und Bergnatur, in der ich Sünder stehe, erfülle mein ganzes Ich mit deiner reinen Würze, so bin ich sündlos zur Stunde.

Und ist’s denn Sünde? Ist’s wirklich Sünde, wenn sich zwei Menschen schrankenlos einander geben? Wozu denn Schranken? Frei will ich sein von allen Schranken! Sind denn die Vögel in Ketten gelegt, in Schranken? Ist denn der freie Hirsch, der durch die Waldgründe zieht, gebunden? Muß denn das Füchslein erst bitten, wenn es die Hasen holt? Der Wanderfalk, wenn er aufs Rebhuhn stößt? Frei, Frei! — — — Du bist ein Mensch, kein Falk, kein Hirsch! Bedenke es, du bist ein Mensch.

O, teuer muß man erkaufen, ein Mensch zu sein. Denn Zucht und Sitte binden. Und müssen binden, soll nicht die Allgemeinheit leiden.

[S. 79]

Singt, singt, ihr Vögel in den grünen Zweigen! O singt, ihr seid ja luftbeschwingte, freie Sänger!

Schreite stolz wie der Waldfürst durch die tiefen, atmenden Gründe, du hochgeweihter Hirsch, du bist ja ein Hirsch, ein freier Hirsch des herrlichen Waldes!

Schleiche, mein rotes Füchslein, schleiche hinaus ins Feld, durch das wogende Meer der Halme, und greif dir das hoppelnde Häslein. Du bist ja ein Waldfuchs, ein loser Gesell, brauchst keinen zu fragen: »Sag’, darf ich?«

Blauschimmernder Wanderfalk, Beherrscher der Luft, stoß herab, stoß herab! An den Grabenrain hat sich das Rebhuhn gedrückt, kaum hebt es sich ab im braunen Gefieder von brauner Erde. Doch deine pfeilscharfen Augen sehen es ... Stoß zu, stoß zu! Wer sollte dich hindern? ...

Ich bin nur ein Mensch. Nichts weiter. Und hab’ mich an Menschengebot zu halten. Und soll ihn gehn, den Tageslauf der Pflicht. Und wollt’ ihn gehn und will ihn gehn. Wozu bist du, rothaarige Hexe, dazwischen getreten in meine Pflicht und in den Tageslauf eines Menschenseins?

Warum nur, warum?

Als Waisenkind, als Kind der Straße nahm ich dich in mein Haus.

[S. 80]

Bist du ein Kind der Straße?

Man hat dich auf der steinernen Schwelle des Klosters gefunden, in das man barmherzig das elternlose, ausgesetzte Kind aufnahm. Doch niemand weiß, woher du kamst.

Stammst du von Wesen ab aus einer anderen Welt, die wir nur ahnen, niemals aber sehn?

Ich fand dich unter der Erde vor dem gähnenden Abgrund zur Tiefe, neben dem Stein mit dem heidnischen Zeichen stehn, mein bist du geworden im kleinen Tal, an heidnischer Opferstätte. Im heidnischen Waldsee hattest du gebadet, noch perlten die Tropfen wie klare Tränen von dem herrlichen Weiß deines Körpers, da riß ich dich, nein, du rissest mich in deine Arme, in all dein flutendes, sprühendes Haar — — — wer bist du, wunderbares Zauberweib? Hast du die Macht, der Menschen Seelen in dich einzusaugen? Hilf mir, Wald! Mach’ mich wieder frei von ihr! Hilf deinem Grünrock, du schöner, grüner Wald! — — —

Im Mondschein ritt ich nach Hause. Über mondbelichtete Berge, durch ein mondbelichtetes Tal.

An jedem Zweige hing wie ein Silberschein des Mondes Glanz, in seinem Silberglanz gebadet schien das Tal.

So ritt ich der Kauzburg zu, und meines Reitpferdes Hufe tönten vom Wurzelwerke, mit dem der[S. 81] Waldweg durchflochten war, dumpf zurück. Ein unvergeßlich schöner Ritt.

Froh fühlte ich mich und frei.

Mit meinen Förstern, den ehrlichen, geraden Naturmenschen, war ich zusammen gewesen, hatte die herbstlichen Schlagflächen mit ihnen besucht, über die Pflanzen, die Saaten, über Wald und Wild, über den Dienst und seine Forderungen hatten wir gesprochen, und fast unbewußt hatte ich mein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden.

Aber, je näher ich dem Städtchen und meinem Forsthause kam, desto mehr wich die Ruhe von mir. Mein Gaul merkte es mit dem feinen Instinkt, den Pferde und Hunde, unsere intimsten Hof- und Hausgenossen, für unsere Stimmungen haben. Aufgeregt tanzte er unter meinen Schenkeln. Und plötzlich stutzte er, sprang zurück, und stand zitternd still. »Was hast du, Pascha?« sagte ich und klopfte ihm den Hals. Der Mondschein lag hell über der Straße. Vor mir bauten sich klar und scharf die Häuser des Städtchens auf. Ganz deutlich sah ich die Kauzburg, jeden Schornstein konnte ich erkennen.

»So geh doch, Pascha, vorwärts!« Ich gab ihm etwas die Sporen. Da schnaubte er und gehorchte. Aber als ich auf das mondhelle Feld blickte, das unter dem alten Kirchhof, der dicht an der Gartenmauer meiner Kauzburg liegt, sich hinzieht, fuhr ich[S. 82] im Sattel zusammen. Eine weibliche, weiße Gestalt bewegte sich quer über das Feld auf mich zu. Nicht schnell, nicht langsam, ganz monoton und traumhaft. Ich erkannte sie sofort. Denn wie ein köstlich goldener, wie Feuerschein lohender Mantel floß über das weiße Kleid das lange, gleitende Haar und ließ sich bespiegeln von dem silbernen Schein des Vollmondes.

Es war Marianne.

Marianne, die mir die Ruhe geraubt hat, Marianne, meine Sünde.

Meine Sünde, mein Leid und meine wonnige Lust.

So kam sie über das mondbleiche Feld, so leuchtete ihr rotes Gluthaar im Silberstrahl des Mondes. Ja, sah sie mich nicht? Ging sie im Schlaf?

Da fiel es mir jäh aufs Herz: sie leidet an der Mondsucht, mondsüchtig ist sie und heute ist Vollmond.

»Marianne!« rief ich.

Da stand sie still und hob den Kopf. Und sah starr auf mich und mein Pferd, und sprang wie ein schlankes Reh auf uns zu und hing an meinem Halse, ich wußte nicht, wie.

Und hing vor mir im Sattel und herzte und küßte mich, und Pascha, mein Gaul, ging ruhigen, stolzen Schrittes den schmalen Pfad, der zur Kauzburg führt, hinan, und der volle Mond sah mit einem[S. 83] Lächeln auf uns herab, und eine Wolke kam und hüllte des Mondes blasses Licht in Dämmerung, und der Sommer blühte und koste in den Halmen, und ich, ich hatte alles vergessen, was ich mir vorgenommen hatte, draußen im frischen Wald, ich hatte dieses Mädchens Leib in meinem Arm, und so, auf meinem Pferde, brachte ich sie heim zur Kauzburg, schlich mit ihr heimlich wie ein Dieb in meine Stube ... Marianne, Marianne.

[S. 84]

 

Der Domherr ist heute bei mir gewesen, und machte mir seinen Besuch. Lange war er verreist. In jedem Jahre macht er große Reisen.

Ich sah ihn vom Fenster aus ins steinerne Burgtor treten. Was tausend, wie kann sich der Mann benehmen.

Gleich im Burghofe blieb er stehen und sah sich um. »Niemand da, mich zu empfangen?« Jede Bewegung, sein ganzes Wesen sprach das aus.

Mein Forstlehrling kam aus dem Bureau, dummdreist wie immer. Je näher er dem Domherrn kam, desto unterwürfiger wurde der Junge. Ich glaube gar, er küßt ihm noch die Hand. Das fehlte gerade, er, der Sohn evangelischer Eltern, der Lehrling eines evangelischen Oberförsters! Ich hörte des Domherrn wohlklingendes Organ: »Ist der Herr Oberförster zu Hause?« Ich sah, wie mein Lehrling bejahte und vor dem geistlichen Herrn die Tür der Halle aufriß, ich hörte im Flur die Klingel, einen Ausruf Fräulein Bartels, ich öffnete meine Stubentür und sah, wie Fräulein Bartel ihrem Seelsorger die Hand küßte, sah seine segnende Handbewegung, sah, wie Marianne fast auf die Knie sich vor ihm beugte, sah, wie er auf ihr rotes Haar seine Hände legte und leise einen Segen auf dies rote Haar — ach, dieses Haar, das mich verführte — sprach, da[S. 85] richtete er seine hohe Gestalt auf, seine Augen trafen die meinen ... ja, bin ich denn närrisch? Seh’ ich denn schon in allen anderen Augen die Augen Mariannens? In jedes anderen Menschen Haar die Haarpracht Mariannens? — — —

Der Mann vor mir hatte ihre Augen und ihr rotes Haar! —

Ich bat ihn, einzutreten. Er saß mir gegenüber. Sein kühnes, kluges Gesicht hatte ich dicht vor mir. Er spricht gewandt, benimmt sich wie ein Fürst, versteht es, sich angenehm zu machen durch flüchtig hingeworfene Schmeicheleien, die sicherlich bei hundert Menschen wirken werden — und doch — er ist mir unangenehm.

Warum?

Es ist eine solche Wahnsinnsidee! Ich muß krank sein, ja, ich bin krank. Marianne macht mich fieberkrank!

Ist’s nicht Wahnsinn, daß ich bei seinen Augen an Mariannens Augen denke? Daß ich fortwährend die Farbe seines, um die Tonsur sich wellenden, mit wenig Grau gemischten Haares mit Mariannens rotem Haar vergleiche?

»Wie sind Sie mit dem Mädchen, das auf meine Empfehlung in Ihr Haus kam, zufrieden, Herr Oberförster?« fragte er mich.

[S. 86]

Sah er mich lauernd an? Hatte er nicht ein höhnisches Lächeln auf seinem Munde? Hat er irgend etwas gemerkt? Weiß er ... mein Himmel, weiß er etwa ... — Ich mußte wohl länger als schicklich geschwiegen haben auf seine Frage, denn er fragte noch einmal und sah mich verwundert an. Nur verwundert, natürlich, nur verwundert. Denn wo kann er denn etwas wissen!

Ich wollte ihn doch über Mariannens Herkunft ausfragen! Und nun fragt er mich nach ihr!

»Gut, ganz gut, Herr Domherr,« sagte ich und fuhr mir über die Stirn — sei klug und sei wahr und verrate dich nicht, liebe Seele, redete ich mir zu, »aber ich möchte Sie heute bitten, Herr Domherr, mir doch etwas Näheres über des Mädchens Herkunft mitzuteilen, es interessiert mich, da sie in meinem Hause ist und ich doch gerne wissen möchte, wen ich im Hause habe, darum ...«

»Ich will Ihnen gerne sagen, was ich weiß«, unterbrach er mich ruhig, und nur sekundenlang fühlte ich wie eines Messers scharfe Schneide den Blick seiner Augen in den meinen: — »Dieses Mädchen wurde an der Klosterschwelle als soeben geborenes Kind gefunden. Wir nahmen es in unser Waisenhaus auf. In des Kindes Windeln fand sich ein Zettel mit folgenden Worten: Nehmt dieses Mädchen im Namen Gottes, im Namen der[S. 87] heiligen Mutter Gottes auf, so wird des Herrn und der Heiligen Segen auf euch ruhen.«

»Und wie waren die Schriftzüge?« sagte ich, um etwas zu sagen, da er schwieg und wie traumverloren zur Erde starrte.

Er fuhr auf.

»Wie? ... Was meinen Sie?« ... rief er.

Ich war ganz verblüfft über seine plötzliche Aufgeregtheit.

»Aber ich bitte Sie, Hochwürden«, sagte ich.

»Ach so, ... so, ... bitte, bitte ... Sie meinen die Schriftzüge?« wiederholte er meine Frage und fuhr sich mit seiner schmalen Hand — wo habe ich denn bloß solche Hand schon gesehen? durchfuhr’s mich — über die Stirn. »Die Schriftzüge? ... Eines Weibes Handschrift war’s, ... wohl von der unbekannten Mutter dieses Mädchens ..., es ist lange her ... man vergißt es ..., aber auch Sie, mein Herr Oberförster, tun ein gutes Werk, wenn Sie das elternlose Geschöpf in Ihrem Hause behalten und ...«

»Ja, ja«, unterbrach ich ihn rasch, — ich hatte förmlich Angst, er könnte sagen: »und es vor allem bewahren«.

Aber sie war es doch gewesen, sie hat jede Schranke durchbrochen, sie hat mich dazu gebracht! Ich habe mich gewehrt wie ein Verzweifelter, immer, immer — gegen mich und mein eigenes[S. 88] Fleisch und Blut habe ich mich gewehrt, übermenschlich, wie ein Ertrinkender sich gegen die Wogen wehrt, bis er zuletzt doch ertrinkt, nein, trinkt, trinkt, trinkt von dieser höchsten Lust und Wonne, aus dem Becher dieses süßen, süßen Giftes!

»Ich wundere mich, Hochwürden, daß Sie Marianne in das Haus eines evangelischen Hausherrn ziehen ließen«, sagte ich.

»Aber warum denn nicht, Herr Oberförster, warum nicht?« meinte er lächelnd. »Ich wußte doch, daß Ihre Wirtin, Fräulein Bartel, katholisch ist, daß Ihre Mutter selbst, mein Herr Oberförster, Katholikin ist, ja, daß Sie selbst katholisch getauft sind, also gehören Sie doch auch etwas uns an, sind ...«

»Ich bin ein Protestant, Hochwürden«, unterbrach ich ihn kurz und scharf.

»Nun, nun, es war nicht schlimm gemeint«, sagte er mit derselben Freundlichkeit. Bloß seine Augen sah ich einen Augenblick schillern.

Als er ging, wiederholte sich das Schauspiel des Handkusses und der Segenspendung. Marianne kniete vor ihm nieder.

»Du warst lange nicht zur Beichte, Marianne«, sagte er, während er das Zeichen des Kreuzes über sie machte.

Sie zuckte zusammen. Unmerklich. Aber er hatte[S. 89] es gesehen. Seine tiefen, forschenden, dunklen Augen flammten auf.

»Du wirst zur Beichte kommen, mein Kind, nicht wahr?« Es klang sehr ruhig, sehr gütig, aber es klang wie ein Befehl.

»Ja«, sagte Marianne gehorsam.

»Dieser Mann hat große Gewalt über die Herzen der Menschen«, dachte ich, als ich allein war. Wenn Marianne zur Beichte geht und alles beichtet, was wird sein?

Und dann rief ich mir die soeben mit ihm geführten Gespräche ins Gedächtnis zurück.

Wie fein versteht er es, Schlingen zu legen. Er weiß natürlich ganz genau, daß ich kein Kirchgänger bin. Daß ich im Walde immer am besten die allwaltende Gottheit finde. Und nun sollte ich gar ein ganz ansehnliches Häuflein von Heiligen und bestickten Fürsprechern zwischen der Gottheit und mir haben? ... Ich mußte lachen. Nein, nein, das wäre nun schon gar nichts für mich einfachen Sohn des Waldes!

Lieber sollt ihr, meine lieben Bäume, Fürsprecher für mich sein! Rauscht meine Gebete mit eurer grünen Blätterpracht dem lieben Herrgott zu, erzählt[S. 90] ihm von dem Jägerlein, das an den Eichenstamm sich lehnt mit aller seiner Sünde, all seiner Herzenseinfalt trotz aller Sünde, rauscht bittend dem lieben Gott ins Ohr: »Herr, geh’ nicht ins Gericht mit ihm, er ist ein ganz passabler Kerl und uns viel lieber als mancher, der in der Kirche zu dir singt, schau ihn dir an in seinem grünen Röcklein, lieber Gott, guck’ auch mal unter dieses grüne Röcklein, wo sein Herz sitzt, gönn’ ihm ein stilles Plätzchen später mal zur ewigen Ruhe unter seinen Bäumen, dann wird er schlafen dort gleich einem Dachs so schön und fest.« — Bin sonst nicht neidisch: aber den Dachs beneide ich um seinen festen Winterschlaf.

Dächslein, komm in meine Kauzburg und bring’ mir deinen Schlaf mit. Ich hab’ den ruhigen Schlaf verloren. Aber auch du würdest ihn verlieren, sähest du dies rote fließende Goldhaar; oh, mein Dächslein, mein liebes Dächslein, zu deinem Besten rate ich dir: bleib draußen im Walde in deinem Bau! — — — —

Marianne kommt in die Stube und wischt Staub.

»Marianne,« sagte ich leise und trete an sie heran, »wirst du beichten gehn? Wirst du alles beichten? Du kannst doch nicht alles beichten, Marianne.«

»Hast du Furcht?« fragte sie und lacht, daß ihre Zähne blitzen. Und umschlingt mich mit ihrem[S. 91] linken Arm und fährt mit dem rechten über die Politur des Schränkchens. »Sieh, wie fein das nun blitzt und wie sauber«, meinte sie, und drückte sich an mich wie eine Katze mit weichem Katzenfell.

»Beichte, was du willst!« stoße ich hervor. »Aber bleib mein!« — — — — — — —

[S. 92]

 

Jetzt kenne ich den nächtlichen Spuk in meiner Kauzburg!

Daß ich nicht eher auf den so naheliegenden Gedanken kam! Seit jenem Abend auf dem vollmondhellen Felde hinter dem Kirchhof an der Gartenmauer meiner Kauzburg hätte ich wissen müssen, was zur Vollmondzeit so ruhelos durch all die hohen Ordensräume dieses Hauses schleicht. Armes Kind der Straße! Arme Marianne!

Ja, sie ist’s. Sie ist der ruhelose Geist der Kauzburg. Sie wird von dem schlimmen Gesellen dort oben am nächtlichen Himmel mit magnetischer Gewalt heraufgezogen, als wollte er damit sagen: »Seht, sie ist nicht von eurem Fleisch und Bein, ihr Menschen habt sie grausam ausgesetzt als kaum geborenes Wesen, nun will sie fort von euch, nun sehnt sie traumverloren sich nach einer anderen Welt, nun sucht sie ruhelos die andere Welt und kann sie nicht finden, und ich, ich habe nicht so große Macht, um sie ganz an mich zu ziehen und aus dem schweren Bannkreis eurer Erde sanft emporzuheben.«

Marianne, welch unendliches Mitleid krampfte mein Herz zusammen, als ich dich langsam dahinschwebend am hohen Gesims der Kauzburg erblickte!

Ich hatte wach gelegen in dieser köstlich klaren, silberflüssigen Vollmondnacht.

[S. 93]

Zum Fenster schaute ich heraus und sah, wie’s silbern floß und strömte um Baum und Strauch, um Feld und Wald, um Wiese und Rain.

Da kam es leise, ganz leise an der Tür vorbei, unhörbar fast, ich ahnte es mehr, als daß ich etwas hörte. Wie ein seidenes, weiches, ganz weiches Streifen und Rieseln, wie ein Seufzen, wie ein feines, ganz feines und weiches Lachen. Es griff mir ans Herz, ich wußte nicht warum, ich fühlte, wie meine Pulse klopften, wie sich’s schmerzhaft zusammenzog in mir.

Von draußen zogen die Silberwellen des Vollmondlichtes durchs offenstehende Fenster zu mir herein, auch fein und weich und leise. Ein Fenster hörte ich klirren.

Da raffte ich mich auf und öffnete sachte die Tür nach der Halle.

Niemand zu sehn. Ich schlich den weiten, hohen Hallengang hinab, da stand das Bogenfenster auf.

Ich beugte mich hinaus und schrak jäh und furchtbar zusammen.

»Marianne!« wollte ich schreien, aber gottlob erstickte ich noch den Schrei.

Nur wie ein Ächzen kam’s über meine Lippen: »Marianne« ... Ja, da schwebte ihre gertenhaft schlanke Pagengestalt hoch auf dem Rande des Dachgesimses hin. Tief unter ihr, ganz tief und drohend[S. 94] ging’s hinunter auf den felsgezackten Mauerrand. Ein einziger, kleiner Fehltritt in ihrer grausigen Höh’, ein Stocken des Fußes, ein Zögern, ein Nachlassen ihres Schlafzustandes, ein Aufwachen, ein Erwachen — und zerschmettert lag sie da unten! Zerschmettert dieser herrliche Mädchenleib, der für mich, ganz allein für mich in all seiner berauschenden Schönheit blühte.

So ging sie sicher wie auf der breiten Straße unten im Tal auf ihrem schwindelnden, schmalen Wege, ihr weißes Nachtgewand leuchtete wie ein milchfarbenes Strahlenkleid, ihre Haarpracht schien Funken nach dem silberglänzenden Licht, das sie in diese einsame Höhe emporgezogen hatte, zu senden, und ich hier am Fenster, ich zitterte davor, daß sie jemand anrufen und aus dem tiefen Geisterschlaf plötzlich aufwecken könnte.

Wie kommt es, daß man in solchen Augenblicken zum alten Gott zurückkehrt?

Daß man bei ihm und keinem anderen um Bewahrung, Schutz und Schirm bittet?

Da schwöre ich nun auf mein Erdgeborensein, auf mein Erdenleben und mein Erdensterben, da juble ich nun in den Wald hinaus: »Ich bin von Erde und will wieder zu Erde werden, ich habe meinen Himmel auf der Erde und sonst nirgendswo.«

Und heute, jetzt in dieser Nachtstunde, wo ich um[S. 95] jenes Leben zittere, das wie gelöst von jedem irdischen Leben, umspült, umschmeichelt von dem bleichen Mond, den Weg des Todes geht, heute halte ich die Hände, wie’s der einstige Forstbub tat, und bete: »Herrgott, der du über uns in Herrlichkeit und Macht und Güte thronst .. Herrgott, himmlischer Vater, laß sie zurückkehren in meinen Arm von ihrer furchtbaren Wanderung.«

Hatte mich Gott erhört? Gibt’s wirklich einen persönlichen Gott, der auf Worte eines einzigen Wesens unter Millionen anderer Wesen hört? Der milde und freundlich lächelnd wie ein guter Vater sich neigt und spricht: »Dein Glaube hat dir geholfen?«

Denn siehe: Sie wandte sich um, sie drehte sich auf dem äußersten, letzten Stein der Dachrinne, die über die Tiefe schwebte, um, sie hob die Hände und schlang sie hinter dem feuersprühenden Haar zusammen und schritt, das bleiche Gesicht wie in Sehnsucht gegen den Glanz des Mondes erhoben, denselben Todesweg, den sie gegangen war, zurück.

Immer näher kam sie, immer näher. Oh, nur noch ein paar Schritte, nur noch einen Schritt ... schon beugt sie sich in das Fenster hinein, von dessen Öffnung ich zurückgetreten war, schon will sie durch die Öffnung zurückschlüpfen in die sichere Halle, ... da wird drüben ein Fenster aufgerissen, eine gellende[S. 96] Stimme ruft: »Marianne! Um Gottes willen, Marianne ...!«

Sie zuckt zusammen, ihre Augen öffnen sich, ihr straff aufgerichteter, schlanker Körper knickt ein, als ob die Macht, die ihn hielt, von ihr genommen sei, aber schon bin ich vorgesprungen, schon hab’ ich sie erfaßt, umschlungen, reiße sie in die Fensteröffnung hinein, reiße sie an mich, werfe mich zurück vor dem Sturz hinab auf die Steinmauer tief unten, ... gerettet ... Gott, ich danke dir, gerettet!

Marianne lag ohnmächtig an meiner Brust. Fräulein Bartel kam den Gang heraufgestürzt mit fliegenden Gewändern und wie wahnsinnig schreiend: »Marianne, Marianne, Marianne!« »Ja, Marianne,« fuhr ich sie an, »danken Sie Ihrem Herrgott, daß Sie nicht ihre Mörderin geworden sind, Fräulein Bartel!«

»Ich? ... ihre Mörderin?« ... stotterte sie entsetzt.

»Ja, wissen Sie denn nicht, daß man Mondsüchtige nicht wecken, nicht erschrecken darf?«

»Marianne? ... Mondsüchtig?«

Ganz fassungslos vor Schreck war sie. Und das versöhnte mich mit ihrer Dummheit. —

Wir trugen Marianne auf ihr Zimmer und legten sie auf ihr Bett. Sie erholte sich bald von ihrer Ohnmacht. Wußte sich auf nichts zu besinnen.

Wir sagten ihr nichts.

[S. 97]

In Vollmondnächten wird aber seitdem — ohne daß sie es weiß — ihre Stubentür verschlossen. Vor ihrem Fenster ist ein Gitter.

Auch vor einigen der anderen Fenster. Dafür ist’s doch auch eine alte Ordensburg.

Tiefer Schnee deckt den Boden.

Dem Landmann ist’s lieb, daß die Schneedecke seine Saaten schützt, und daß die Erde genügend Feuchtigkeit fürs Frühjahr durch die Schneeschmelze erhält.

Noch ist das Frühjahr fern.

Noch denkt der Schnee nicht ans Schmelzen.

Noch sitzt er wie ein guter, mottenfreier Pelz auf der Erde. Auf den Zweigen der Bäume liegt er wie eine hohe Schicht Streusel auf schlesischem Streuselkuchen. Im Schlitten — ohne Schellengeläut — fahre ich durch den Wald. Durch meinen Bergwald, den ich so liebe. Über die Gebirgsbrücke hinüber. Aber der sonst so munter sprudelnde kleine Fluß liegt im Dornröschenschlaf. Unterm Eise, vom Froste eingeschläfert. Auf den holden Knaben, den Frühling, wartet das Flüßchen. Der wird es mit rotknospendem Zweig berühren, mit[S. 98] Jauchzen stromauf springen und überall sein holdes Antlitz zeigen, dann wird mit Geknatter und Gekrach das Eis bersten, das Flüßchen wird anfangen zu fließen, erst ganz verschämt und zagend, aber nicht lange wird’s dauern, da haben wir das ganze muntere Plaudern und Plätschern wieder.

So schlafe denn wohl, du lieber Talfluß du!

Der Knabe Frühling wird dich wecken.

Am tiefsten still ist der Winterwald. Der hohe Schneeanhang am grünen Nadelzweig, am trocknen vom Herbst her an den Ästen verbliebenen Laub, — das hohe Schneepolster, das selbst auf kahlen Laubbaumzweigen liegt, die weiche Schneedecke, die Waldwege, Waldstege wie eine Daunendecke verhüllt, das alles macht stiller noch den sonst schon stillen Wald.

Auch die Singvögel singen nicht.

Sie weilen in wärmeren Landen und — blieben sie hier — so piepen sie höchstens, wenn sie hungern, doch sie singen nicht.

Ich liebe den Winterwald. Fast mehr als den sommergrünen. Der Winterwald spricht so deutlich von Ruhe. Von Ruhe und Schweigen. Und Schlaf im Walde für ewig.

So rein sieht alles aus, so weiß, so grün darunter, wie frische Jugend im Hermelinpelz. Hier scharrte ein Füchslein im Schnee, ich sehe seine Spur.[S. 99] Dort ist ein Reh getrollt, hier hoppelte ein Hase, halt da ... und hier? Ein Wildschwein war’s, das ritterlichste Wild des Waldes. Der Fährtenfinder Schnee verrät das alles. Er ist des Waldes Papier, auf dessen Weiße alles schreibt, was durch den Wald schnürt, hoppelt oder trollt.

Spät am Abend erst kam ich in die Kauzburg zurück. Es war so spät geworden, daß ich mich wunderte, Fräulein Bartel noch aufzufinden. Ich hatte ein für allemal angeordnet, daß sie mir mein Abendbrot in meine Wohnstube hinstellen und zu Bett gehn sollte, wenn ich erst nach zehn Uhr aus dem Walde heimkehrte.

Ich liebe es dann, den Abend allein für mich zu verbringen. Denn der Waldfrieden, die Waldluft, des Waldes stille Schönheit hängen mir an solchen Abenden noch in den Gliedern, es stört mich, wenn mir dann irgendein Alltagsmensch Tagesklatsch und kleine Tagessorgen vorplappert. Aber an solchen Abenden hatte Marianne immer am ehesten Gewalt über mich. Sie, mit ihrer Waldnixenschönheit, mit ihrem weißen Gesicht, aus denen wie zwei dürstende rote Brombeeren die Lippen leuchten, mit ihren Rätselaugen, die geheimnisvoll sind wie das nächtliche Walddunkel, mit ihrer roten, goldigen, sprühenden Haarflut, ja, sie paßt zu dieser Stimmung, die ich an solchen Abenden mit heim bringe.[S. 100] Oder sie löst vielmehr diese Stimmung in glühende Akkorde auf. Was ich im tagtäglichen Leben nicht finde, glaube ich im Walde und in der trunkenmachenden, liebeglühenden Schönheit Mariannens zu finden. Eine Krankheit ist’s. Eine Krankheit der Seele. Ich glaubte sie zu heilen, indem ich wie ein Kranker nach Betäubungsmitteln griff.

Es war mir daher direkt unangenehm, als mir heute am späten Abend Fräulein Bartel oben in der Flurhalle entgegenkam. Verlegen, wie ich sofort merkte. »Ach, gewiß irgendeine in ihren Augen große, in meinen Augen kleine wirtschaftliche Sorge!« seufzte ich.

»Nun, Fräulein Bartel, noch auf?« fragte ich ziemlich unwirsch.

»Ach, Herr Oberförster, sie ist heute gekommen«, sagte sie und sah mich ängstlich an.

»Wer ist gekommen?« fragte ich.

»Nun, die Erika aus der Heide, Herr Oberförster.« Ich fing an, an Fräulein Bartels Verstand zu zweifeln. »Erika aus der Heide, Fräulein Bartel?« wiederholte ich maßlos verblüfft. »Ja, ich habe Herrn Oberförster doch aber gesagt, und Herr Oberförster hatten doch nichts dagegen«, meinte sie, ein wenig empfindlich.

»Nun tun Sie mir aber den einzigen Gefallen, mein liebes Fräulein Bartel, und sagen Sie mir endlich[S. 101] klar und deutlich, wer gekommen ist, was der Wer hier will, und zu welchem Wer ich meine Erlaubnis gegeben habe.«

»Des Heidkönigs Tochter ist gekommen«, sagte sie.

»Ah!« ... nun fiel mir’s wie Schuppen von den Augen! Das hatte ich längst, längst vergessen!

Ja, richtig, Fräulein Bartel hatte mich einmal gefragt, ob des Heidkönigs — eines Lüneburgers Großgrundbesitzers — Tochter für einige Zeit, solange der Vater im Auslande weilte, unter ihre Fittiche kriechen dürfe.

Und nun war die Heidkönigstochter da. Wirklich da! ... Nun hatte ich’s! Nun mußte ich mich drein finden. Drein finden, daß ein fremder Mensch mir meine Hausruhe stören würde. Meine Hausruhe? ... Lieber Gott im Himmel, Hausruhe hatte ich nicht mehr. Damals, ja damals, als mich Fräulein Bartel fragte, hatte ich noch Hausruhe gehabt. Jetzt war Leidenschaft und heimliche Sünde im Hause. Mein Herz war durchwühlt, ein anderer war ich geworden.

Am liebsten würd’ ich die Heidkönigstochter gleich morgen wieder einpacken und in ihre Heide zurückschicken ... Einen Beobachter im Hause? Bis jetzt war nur Fräulein Bartel hier oben in meinen Räumen. Die merkte und sah nichts von dem, was im geheimen hier geschah.

[S. 102]

Merkte und sah es nicht, daß Marianne und mich die Sünde zusammenhielt, daß Marianne wie ein schöner Dämon diese Räume und den Herrn dieser Räume beherrschte.

Aber von jetzt ab dieses fremde Menschenkind.

»Wie ist sie denn?« fragte ich mechanisch, denn ich merkte, daß Fräulein Bartel noch vor mir stand und mich ganz verwundert, ordentlich erschrocken ansah.

»O, ein liebes, stilles Mädel ist’s, Herr Oberförster.«

»Ein liebes, stilles Mädel«, wiederholte ich ihre Worte. Weshalb bewegten mich diese Worte so? War das nicht ein Traum, den ich immer geträumt hatte? Ein liebes, stilles Mädel! ... Fort, fort ihr dummen Forstbubengedanken! Vorbei, für alle Zeit vorbei ... »Ist gut, Fräulein Bartel, gute Nacht«, sagte ich und fühlte mich auf einmal so müde, ach, so müde.

»Wo ist denn Marianne? Was sagt sie denn dazu, ich meine, zu dem neuen Bewohner, hm?« fragte ich noch nebenbei, und es war mir doch die wichtigste Frage, die ich tat.

»Ach, Marianne, Herr Oberförster, aus der kann man nicht klug werden. Sie war ja ganz freundlich zuerst, aber dann verschwand sie gleich in ihrer Stube, ohne gut’ Nacht und so wie ein Geist.«

Lange blieb ich heute abend noch auf.

[S. 103]

Also in meiner Kauzburg ist eine Königstochter.

Eine Heidkönigstochter. Gekommen aus einsamer, weiter Heide, wo die Menschen weit voneinander entfernt wohnen in ihren in der weiten Heide verstreut liegenden Gehöften.

Nun, es ist anzunehmen, daß dieses Heidkind wenig zu merken sein wird und selbst ebensowenig wie Fräulein Bartel irgend etwas von dem merken wird, was hier in meiner Kauzburg das Licht der Sonne scheuen muß. Die Königstochter ist gekommen, ist da und wird wieder verschwinden. Ich werde gar nicht wissen, daß sie wieder von der Bildfläche verschwunden ist.

Aus meiner Bildfläche.

Was kümmern mich Königstöchter! Mögen sie Töchter wirklicher Könige oder nur Töchter von Heidkönigen sein! Aber es gibt gar keine Heidkönige, sondern nur diesen einen einzigen Heidkönig auf der ganzen Erde. In seiner Art ist also der Mann mehr König als all die anderen Könige.

Am nächsten Morgen begegnete ich der Heidkönigstochter in der Flurhalle. Ich begrüßte sie freundlich und war gleich von ihrem einfachen, schlichten Wesen sehr eingenommen.

Sie ist ein hübsches Mädchen, hat braunes Haar und braune Augen. Eine Welt von Güte und Treue strahlt aus diesen Augen.

[S. 104]

Sie würde zwischen anderen Mädchen sicher nicht auffallen. Aber allein besticht sie durch eine eigenartige Lieblichkeit.

Sie ist wirklich eine Erika. Eine schlichte Heideblüte. Die erblüht ist im einsamen Heidhof auf einsamer, weiter Heide. Nun, mein liebes Heidekind, möchtest du, wenn du von hier wieder fortgehst, eine freundliche Erinnerung an die Kauzburg mit hinausnehmen in deine braune Heide!

[S. 105]

 

Du würdest Augen machen, glühende Kauzaugen, mein schlesisches Waldkäuzlein, wenn du die beiden Mädchen in meiner Kauzburg sehn würdest.

Marianne, dieses zauberschöne, schlanke, hochragende, leidenschaftliche Geschöpf, mit seinen schwarzen Rätselaugen, mit seinem feuerflammenden Gluthaar, und neben ihr Erika, die keusche, treue, liebliche, schlichte Blume der Heide. Ich kann nicht recht dahinterkommen, wie diese beiden Gegensätze miteinander stehen.

Man sagt ja, Gegensätze ziehen sich an. Nun, dann müßten die zwei sich anziehen wie zwei Magnete, die im Weltall kreisen.

Wie sonderbar, ich komme mir vor wie der Forstbub im schlesischen Wald. Und doch ist die schöne Forstbubenzeit im heimatlichen Wald so lange schon vorbei. Aber Erika ist’s, das Heidekind! Das hat mir gestern so viel erzählt vom stillen Wald in der Heide. Wie sie als Kind sich dort verlaufen hat und Blumen pflückte, die gepflückten fortwarf und wieder pflückte und gar nicht merkte, wie der Abend kam. So recht nach Waldkinds Art. Und wie sie nirgends lieber hinlief als in den Heidwald. Und wieder und wieder sich dort verlief, bis die Hirten sie fanden. Die wurden aufmerksam durch das Geblök der Heidschnucken, die sie durch den Waldbusch nach Hause[S. 106] trieben. Die meldeten das Kind und blieben stehn, blökten und rupften die Blumen aus ihren kleinen Händen.

Und nie ist dem Kinde im Heidwald etwas passiert. Der Heidwald schützt die kleine, aufblühende Heidblume. Die nun in stiller Anmut erblüht ist und unterm Dache meiner Kauzburg ist.

Zwei Blumen blühen in meiner Burg.

Eine rote, wilde Rose mit holdem und doch betäubendem Duft, mit Dornen auch, die keiner Rose fehlen; eine Heidblume, Erika, eine liebliche, stille Blume mit zartem Duft, eine Blume, die treu der einsamen Heide bleibt und treu ausharrend ist in ihrem stillen Blühen. Nun ist sie schon ein paar Wochen hier, wie doch die Zeit vergeht.

Wie ein Hauch des Friedens geht es durch die Kauzburg. Draußen liegt tiefer Schnee, es ist Winter. In meiner Kauzburg ist’s sommerschön.

Marianne ist sehr wechselvoll in ihren Stimmungen. Viel mehr noch als früher.

Ach, wie oft reißt sie den Frieden, in dem ich nun lebe, mit ihrer Leidenschaft ein!

Und immer wieder unterliege ich ihrem Reiz und schlag’ mir den Frieden um die Ohren.

Heute liegt sie zu Bett. Sie klagt über Kopfweh und Übelkeit. Ein schrecklicher Gedanke kam mir. Um Gott, bloß das nicht. Das würde mich unrettbar an[S. 107] sie ketten. Aber meine Angst ist grundlos; sie lachte mich aus, als ich fragte, was ihr fehle. Sofort hat sie meine Gedanken mir von der Stirn gelesen. Gott sei Dank, es ist nichts! — Zum erstenmal saß ich des Abends mit Erika allein an dem großen Tisch in meiner Stube; die Hängelampe warf ihren hellen Schein auf die Tischplatte und ihr dämmeriges, dunkleres Licht ringsum auf die gewaltigen Hirschgeweihe, die gut geperlten Rehkronen, den Elchkopf mit seinen mächtigen Schaufeln, die beiden Wildschweinkämpfe urgewaltiger Rassen, und das Heidekind, das seine Heide und sein heimatliches, einsames Heidehaus verlassen hatte, erzählte mir von seiner Heimat, der Heide.

Ich hörte staunend zu. Mir wurde bewußt, wie gerade die einfachsten Landschaftsmotive Bilder von unvergleichlicher Kraft und Schönheit geben können. Während dieses treue, schlichte Heidekind von seiner geliebten Heimat in treuen, schlichten Worten sprach, aus denen man wie eine zarte Blume die Herzenssehnsucht nach der Heide herausfühlte, erstand vor mir die Heide, die weite blühende Heide.

Ich sah sie blühn in ihrem eigenartigen Braun und Lila der holden Waldblume Erika, ich sah auf dieser einsam weiten braunvioletten Heide die weiße Birke mit ihren hellgrünen zarten Blättern stehn, jungfräulich in der jungfräulichen Heide, ich sah das[S. 108] dunkle Moor mit seinem grauschwellenden Polster, mit seinen silbern schimmernden Wollgrasbüscheln, die roten Doldentrauben der Eberesche, an denen die Krammetsvögel picken und sich schon früh beim ersten Sonnenglühen dort sammeln, ich sah dies schöne, ernste, wunderbare Sonnenglühen über die Heide seine goldigrote feine Farbe legen, ich sah die Wasserflächen einsamer Teiche unter dem goldigen, wärmenden Glanz der Morgensonne aus ihrer Schwermut freundlich erschimmern, die hohen Wacholderbäume wie hohe Lorbeerbäume von frohem Morgenglanz durchleuchtet, am Horizont den dunklen Saum eines Waldgebüsches sich abheben, ich sah die ganze ungeahnte Farbenglut wie Purpur aus dem Horizont sich heben, immer weiter und weiter ihren roten Purpur verstrahlend, sah, wie die Sonne stieg und stieg und nun dies verträumte Flimmern und Glänzen und Zittern begann, das Nähe und Ferne in seine Märchenstimmung zieht und allen Farben unsagbare Feinheit und Zartheit verleiht, und nun sah ich den einsamen Hof, das einsame Heidehaus, das seine Heidblume Erika an uns hier abgegeben hatte.

Ein Eichenwäldchen umgibt schützend und schirmend den einsamen Heidhof.

Von mächtiger Bauart ist das Herrenhaus mit seinem tiefhangenden Strohdach, zwei Pferdeköpfe[S. 109] auf den Giebelseiten scheinen den Fremdling begrüßen zu wollen mit lautem, tönendem Wiehern, über dem Eingang ins Herrenhaus ein urgermanischer Spruch, er soll die bösen Geister bannen und ihren Fluch abwehren; rings um das Herrenhaus die holzgebauten Gehöfte, die Ställe, die Scheunen, der Speicher, das Backhaus, unweit davon die Katen der Arbeiter, und als des Hofes Wichtigstes der Steinbrunnen mit seinem gewaltigen, am nahen Eichbaum hochgehangenen Brunnenschwengel. So ruht der Heidhof im Flimmern stiller, träumender Mittagsonne; die Heidschnucken sind um den Steinbrunnen gelagert, umschlossen das ganze Idyll von einem Wall von Findlingssteinen im Osten und sonst von kunstvoll geflochtenem Palisadenzaun.

»Fern von der Welt«, sagte ich, als sie schwieg.

»Ja, fern von der Welt«, wiederholte Erika träumerisch und mit einem ungemein glücklichen, kindlichen Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Mein Vater meinte, daß man fern von der Welt, auf dem einsamen Heidhofe am glücklichsten lebe!«

»Recht hat Ihr Vater, und nun ist er doch in die Welt hinaus, sogar in die weite Welt übers weite Meer!«

»Weil er mußte«, sagte sie ernst, »es ist ihm bitter schwer geworden, seinen Heidhof zu verlassen.«

[S. 110]

»Seinen Heidhof, mehr noch seine Heidblume Erika«, sagte ich lächelnd.

»Ja, uns beide«, meinte sie ohne Ziererei, während ein freundliches Lächeln ihr ernstes Gesicht erhellte.

»Der Heidkönig hat seine Tochter, die Heideprinzessin, unter den Schutz meines Daches gegeben«, scherzte ich.

»Ach, wer hat das verraten?« fragte sie mit dem ihr eigentümlichen, so wundervoll melodisch klingenden Lachen.

»Ja, es ist richtig, man nennt meinen Vater den Heidkönig und mich die Heidkönigstochter; wohl weil von alters her unsere Eltern und Ureltern auf diesem Binnenheidhof sitzen und wir den größten Eigenbesitz in der Heide haben.«

»Ein kleines Fürstentum ... nun, wenigstens ein Grafentum, ja, ja!« rief ich.

»Aber von dem Grafentum sind nur vierhundert Morgen unter dem Pfluge,« sagte sie lachend, »alles übrige ist Wald, Heide, Moor und Bruchland. Hei und Holt sin dem Buren sin Stolt!«

»Nun, Heide und Holz sind nicht nur des Bauern Stolz, Fräulein Erika. Auch wir Grünröcke sind stolz auf unser Holz!«

»Haben Sie schönen Wald?« fragte sie.

[S. 111]

»Morgen nehme ich Sie mit in den Wald, Fräulein Erika. Ich muß hinaus in einige Holzschläge, und da sollen Sie den schönsten Bergwald, den es gibt, in weißem Schneeglanz sehn.«

»Gerne fahre ich mit und freue mich sehr darauf. Werd’ ich auch Heide, weite, weite Heide sehn?«

»Nein, weite Heide nicht. Nicht solche Heide, wie Ihre Heimatheide ist, holde Heidkönigstochter. Die gibt es hier nicht; ich wünschte, ich könnte sie Ihnen herzaubern.«

Einen Augenblick zog sich betrübt ihre Stirn zusammen und sie blickte auf das vor ihr liegende Heidebild, das sie mitgebracht hatte, herab. Gleich darauf schaute sie aber auf und blickte mir freundlich und schelmisch in die Augen.

»So werde ich denken, daß hinter dem schönen Bergwald, in dem wir im Schlitten fahren werden, die weite Heide liegt, und daß ich sie bloß des Waldes wegen nicht sehen kann«, sagte sie.

»So ist es brav und hübsch von Ihnen, Heideprinzessin. Sie werden ja wieder zurückkehren in Ihre einsame, schöne Heide, und ich muß hier bleiben, wo ich bin.«

Ich weiß nicht, ob in meinem Ton, mit dem ich das sagte, etwas Zerrissenes, Trübes lag. Denn sie sah mich einige Sekunden ernst und prüfend an.

»Hier ist es doch auch schön und einsam.[S. 112] Wenigstens können Sie doch so viel Einsamkeit haben, wie Sie wollen, nicht?« fragte sie dann.

»Ich möchte Einsamkeit und Ruhe haben, ja«, stieß ich unwillkürlich hervor.

Ach, dieses unverdorbene Heidekind mit seinen unschuldigen Augen, die schelmisch und träumerisch, lieb und gut blickten, ahnte ja nicht, was in mir vorging! — Ahnte ja nichts von der Sünde, die durch dieses Hauses Räume schlich, ahnte nichts von dem Zauberbann, unter dem ich mich krümmte und wand, ahnte nichts von den roten Haarfesseln, die mich umschlungen und fester hielten als Eisenketten.

»Erzählen Sie mir doch noch von Ihrer Heide, bitte, bitte, liebe Heidkönigstochter, ich werde so ruhig und still dabei, wie der Forstbub es wurde, wenn ihm die Mutter Märchen erzählte.«

Wieder traf mich ihr ruhig-ernster und prüfender Blick.

»Was sind denn zum Beispiel die Lieblingsgerichte der Heideleute, hm?« fragte ich scherzend. Nun machte die Heidkönigstochter zwei Schelmenaugen.

»To hungern brukt hi keen, so heißt es bei uns in der Heide!« sagte sie fröhlich.

»Unsere Lieblingsgerichte wollen Sie wissen? Ei, so muß ich mit dem Buchweizenpfannkuchen beginnen. Den ißt der Heidjer am liebsten. Auch[S. 113] ich als Heidjerin. Aber auch Buchweizengrütze und Buchweizenklöße, dann Erbsen und Kohl wie der Hase draußen, der sich sein Teil davon zu holen weiß, Bratbirnen und Speck und Quetschkartoffeln mit Buttermilch, ja, ja, to hungern brukt hi keen!«

»Weiß Gott!« rief ich laut lachend, so laut und froh wie seit langem nicht, »to hungern brukt dort keen!« ... »Eins haben Sie noch vergessen, Heidetochter, ... den Heidschnuckenbraten!«

»Schnuckenbraten gibt es nur am Sonntag«, meinte sie, »und wenn eine Hochzeit gefeiert wird.«

»Haben Sie besondere Hochzeitsbräuche in der Heide«, fragte ich.

»O ja, noch den Brauch des Brautheischers«, erwiderte sie.

»Wie ist denn das, Fräulein Erika?«

»Nun, der Brautheischer tritt in die Diele des Brauthauses, schlägt mit einem langen, mit Heideblüten bekränzten Stabe an den Dössel des Tores und heischt feierlich dreimal die Braut, und ist sie ihm überliefert, so zerbricht er den Stab und wirft die Stücke in das flammende Feuer des Fletts.«

»Des Fletts?« fragte ich.

Sie sagte: »Das ist der ebenerdige Raum, in dessen Mitte die Feuerstelle mit Feldsteinen ummauert sich befindet. Ein wichtiger Platz, denn an[S. 114] ihm werden Knecht und Magd gedungen und gekündigt, von ihm aus tritt die Heidetochter den Weg an in das Haus des auserwählten Ehemannes.«

»Wie feierlich und ernst löst sich das Kind der Heide doch vom Herdsitz seiner Väter!« sagte ich lächelnd.

Sie sah mich verwundert an.

»Es ist doch auch feierlich und ernst, wenn die Tochter den Hof der Eltern verläßt, um dem Manne ihrer Wahl zu folgen und seine Hausfrau zu werden.«

»Und wenn die Eltern dagegen sind? Nicht wollen, daß ihre Tochter seine Hausfrau wird? Fliegt dann nicht das Töchterlein manchmal dem Vöglein gleich heimlich ins Freie? Hinaus aus dem Herdsitz der Väter? Hinüber zum Heidhof des Geliebten?« scherzte ich.

Ich vergaß, daß ein reines Heidekind mir gegenübersaß; vergaß, daß nie der Saum ihres Kleides etwas Sündhaftes berührt hatte, vergaß, ach ich vergaß, daß ich, ich nicht mehr den Saum ihres Kleides berühren durfte.

Sie gab keine Antwort. Nur wie in schmerzlicher Trauer und Scham senkte sie den Kopf und blickte von mir fort, zum Fenster, durch das der weiße Schnee unterm Mondglanz hineinblickte.

»Sei’n Sie mir nicht böse, ich bitte Sie, sei’n Sie mir nicht böse!« sagte ich rasch und dringend.[S. 115] »Sie dürfen mir nicht böse sein, Erika, Sie sind doch ein Schutz für mich, Sie sind doch der Frieden, die Ruhe für mein Herz!« Ich wußte kaum, was ich sprach. Plötzlich überfiel mich mit schrecklicher Wucht dieses unglückselige Verhältnis zu Marianne! Diesem reinen Heidekind gegenüber kam es wie eine förmliche Verzweiflung über mich. Immerfort schrie es in mir: »Könnte ich dir doch so in deine Augen schauen, wie du mir mit deinen reinen Heideaugen in meine Augen blickst! O könnte ich das, ach könnte ich das!«

Da wandte sie ihren Kopf wieder zu mir hin. »Ich bin Ihnen nicht böse«, sagte sie so warm und herzlich, wie eine Mutter zu ihrem Kinde spricht. »Weshalb sind Sie denn so sehr, so furchtbar unglücklich?« Und ihre Augen blickten mich hell und klar wie zwei Sonnen durchdringend an.

»Ich unglücklich? Ach, Unsinn ... ich bin ja ganz vergnügt und glücklich!« rief ich hastig. Sie schwieg eine Weile und schaute mich ruhig dabei an.

»Nein«, sagte sie dann und schüttelte den Kopf, »Sie sind unglücklich über etwas. Ich weiß nicht, was es ist, aber sagen Sie’s mir doch, ich möchte Ihnen so gerne helfen.«

Vielleicht wäre ich vor sie hingekniet nach diesen Worten, vielleicht hätte ich meinen Kopf in ihren keuschen, unberührten Schoß gelegt, vielleicht hätte[S. 116] ich dann den Mut gefunden, ihr alles zu sagen, sie um Erlösung und Rettung gebeten, vielleicht hätte sie mit ihren Händen dann leise und lind über meine brennende Stirn gestrichen, ach vielleicht, vielleicht.

Da ging die Tür auf. Nicht heftig und laut. Leise und wie von selbst. Und im Rahmen der Tür stand Marianne im langen, weißen Nachtgewand. So leise war sie gekommen, daß Erika einen halblauten Schrei ausstieß und erschrocken vom Stuhl aufsprang.

Aber ich erschrak nicht. Ich kannte ja Mariannens Wesen. Ich blieb ruhig, ganz ruhig. Und hätte sie erwürgen können, daß sie gekommen war. Daß sie diese eine friedvolle Stunde für mich abkürzte.

Aber als ich sie so stehn sah, als ich ihr lilienweißes Gesicht mit den dunklen, nachtschwarzen, gierigen Augen, mit den blutroten, vollen Lippen, als ich die Funken, die der Mondstrahl über ihr rotes Haargewoge verstreute, schaute, da war ich wieder in ihrem Banne. Da kam wieder diese Gier nach ihr langsam wie eine Schlange über mich gekrochen. Sie stand noch immer schweigend in der Tür und sah mit einem lauernden, gespannten Blick auf Erika.

Ohne ein Wort der Erwiderung drehte sie sich um und war ebenso leise und lautlos, wie sie gekommen war, verschwunden.

Ich beruhigte zunächst das Heidekind und suchte[S. 117] ihr auszureden, daß in Mariannens Wesen irgend etwas Besonderes gelegen hätte.

Erika ließ mich ruhig sprechen und sah still vor sich hin. Ob sie gemerkt hat, daß ich mit Marianne anders stehe, als ich sollte?

Ich nahm mir vor, mit Marianne ernstlich zu sprechen. Erika darf nichts ahnen, nichts merken. Dieses unschuldige, treue, stille und fröhliche Heidekind.

»Du willst sie mitnehmen in den Wald?« sagte Marianne, als sie am nächsten Morgen zu mir in die Stube kam.

»Ja, ich will sie mitnehmen. Warum auch nicht, Marianne? Diese Heidkönigstochter bringt mir den freien Atem der Heide ins Haus, sie bringt mir Ruhe, Frieden und Fröhlichkeit des Herzens, denn ihr ganzes Wesen ist Ruhe, Frieden und Fröhlichkeit des Herzens.«

Spöttisch kräuselten sich ihre roten Lippen.

»Du willst frei sein? Wohl von mir?« fragte sie langsam, während in ihren dunklen Augen jenes rätselhafte, dämonische Funkeln trat, das ich ... ja, das ich ... fürchtete.

»Frei sein? Von dir, Marianne?« wiederholte ich mechanisch.

Ich lachte bitter auf.

»Liebst du mich nicht mehr?« fragte sie.

[S. 118]

»Ja, ja, ja, Marianne, ich liebe dich noch immer!« rief ich, »aber deine Liebe ist das Gift meines Lebens.«

Ein merkwürdiger Ausdruck trat in ihre Augen. »Gift«, wiederholte sie leise, kaum hörbar.

»Gift tötet, nicht wahr?«

»Was fragst du sonderbar, Mädchen! Ja, Gift tötet!«

»So werde ich dich also töten, langsam töten, und du wirst niemals jener anderen gehören, die in dein Haus gekommen ist, und die dich ...«

»Nun, Marianne, die mich ...?« fragte ich, als sie schwieg.

»Ach nichts!« fuhr sie auf. »Nimm sie nicht mit in den Wald, ich duld’s nicht!«

»Und doch werde ich sie mitnehmen!« schrie ich sie an, »soll ich wie ein Knecht dir gehorchen?«

»Es ist gut, nimm sie mit«, erwiderte sie ruhig. »Nein, nein!« jammerte sie dann plötzlich auf, »mein sollst du bleiben, mein!«

Und sie warf sich an mich, umschlang mich fest, daß mir fast der Atem verging, und brach in ein ungestümes Weinen aus.

»So beruhige dich doch, Marianne, denke doch, wenn jemand kommt.« Im selben Augenblick war mir’s, als ob ich im Spiegel die Tür sich öffnen und Erika in ihrem Rahmen stehn sähe.

[S. 119]

Aber ich hatte mich wohl getäuscht. Sekundenschnell war diese Täuschung gewesen. Mein Himmel, bin ich denn schon so weit, daß ich Halluzinationen habe?

Marianne beruhigte sich schließlich.

Man merkte ihr nichts an, als Erika hereinkam, freundlich und gütig und sanft wie immer.

Mir kam’s aber vor, als läge ein eigentümlich trauriger Ausdruck in den lieben, stillen Zügen des Heidekindes.

»Adieu, Marianne«, sagte sie und reichte ihr die Hand. »Ich freue mich, daß ich einmal in den Wald komme, ich bin doch ein Waldkind. Nur dieses eine Mal möchte ich mitfahren, darf ich?«

Ganz leise sagte sie die beiden letzten Worte, aber ich hatte sie doch verstanden.

Marianne stand und blickte sie an. Und als sich ihr Erika entgegenbog, hielten sich die beiden Mädchen plötzlich umschlungen. Ich tat, als hätte ich nichts gesehn. Was mögen sich diese vier Mädchenaugen dort gesagt haben?

Marianne, Marianne, ich traue dir nicht. Meinst du’s ehrlich mit der lieben Heidkönigstochter? In ihrer Seele liegen keine Abgründe, keine Tiefen wie in deiner Seele. Das Kind der Heide ist treu und gut und hat den Glauben an die Menschen. Soll ich sie warnen vor den Menschen?[S. 120] In der einsamen Heide lernt man die Menschen nicht kennen. Die Heidemenschen sind nicht gleich uns. Anders geartet sind sie. Sie wohnen weit voneinander auf großer Fläche. Einer nimmt dem andern nicht sein Brot, nichts nimmt er ihm von Luft und Sonnenschein.

Nichts von Liebe. Denn wenn das Heidekind liebt, dann liebt es in Zucht und Ehren. Es liebt treu und innig, fest und still. Das Heidekind weiß nichts von unzüchtiger Liebe und Leidenschaft, will nichts davon wissen. Nichts ahnt es von dem Bösen, das in Menschen der Leidenschaft und der unzüchtigen Liebe steckt.

Heidkönigstochter, ob ich dich warne vor der anderen? Du bist in deiner Heide aufgewachsen wie Erika, die Heideblume selbst. In Frieden und in Zucht des väterlichen Heidhofes, die Linden am Tore haben dich als Kind beschirmt und dir die hold duftenden Lindenblüten auf den Schoß geschüttet, aus der Heide kam zu dir der Duft der Heideblumen, der Duft der gelben Lupine, in der die summenden Bienen schwelgen, und wenn du vors Tor liefst auf die Heide hinaus, dann sahen deine Kinderaugen nichts als Blumen, violette und gelbe, auch rote dazwischen und weiße, sahen über dem Feld all der Blumen den Himmel mit seinem flimmernden Glanz, die Sonne mit ihren goldigen[S. 121] Strahlen, sonst einsam, einsam, einsam ringsum. Kein Laut sonst als das Bienensummen, als der Wachtelschlag, Lerchengetriller und Zirpen der Grillen.

Ja, liebes Heidekind, jetzt bist du unter die Menschen gekommen. Kaum kamst du unter sie, so kroch die Sünde an den Saum deines Kleides, deine reinen Heideaugen haben vielleicht heute, vorhin zum erstenmal etwas von der Sünde gesehn.

Armes Kind der Heide.

Ich sagte früher »armes Kind der Straße«.

Mein Heidekind, ich glaube, das Straßenkind ist ärmer als du. —

Mein Heidekind, ich fühle mich schuldig. Aber ich bin nur ein Mensch. Und wir Menschen sind schwach. Wirst du mir einst, wenn klar vor dir die Sünde dieses Hauses stehn wird, verzeihn? Oder wirst du den Saum deines Kleides an dich raffen und dich fortwenden von mir und von ihr?

Es ward heute eine stille Waldfahrt.

Im tiefen Schnee lag noch der Wald. Und doch ging es wie ein fernes Frühlingsahnen durch die verschneiten Zweige. Eine wärmere Luft schien schüchtern anzufragen: »Wann darf ich kommen, du kalter Schneemann, sag’ an

Diese Frage der wie ein Hauch uns umschmeichelnden Frühlingsluft machte Erika und[S. 122] mich still. Fast den ganzen herrlich-schönen Weg im Schlitten durch den im Schnee ruhenden, prächtigen Wald, den neckend die leise fragende Frühlingsluft umspülte, saßen wir still nebeneinander. Ich fühlte aber oft zwei heimlich und traurig mich anblickende Augen. Erikas, des Heidekinds Augen.

Tat ich ihr leid? Ahnte sie vielleicht ein Stückchen von der ganzen schweren Wahrheit? Hatte sich ein Zipfel des drückenden, wie schwerer Nebel auf mir lastenden Tuches vor ihr gelüftet? — Unsinn! — Fräulein Bartel ist von Anfang an, von dem Tage an, an dem mir das Schicksal, dieses unergründliche, blindwaltend grausame Schicksal, Marianne ins Haus brachte, in meiner Kauzburg gewesen und merkt noch heute nichts. Niemand hat es gemerkt.

Und dieses harmlose Heidekind sollte nach kurzer Zeit etwas ahnen? Unmöglich! Auch wenn sie wirklich Marianne vorhin weinend und neben mir stehend gesehn hätte. Nur die Liebe macht scharfsehend und vorausahnend. Ich fuhr zusammen.

»Tor!« lachte ich bitter in mich hinein, während ich das reine, kindliche Profil der neben mir Sitzenden musterte. »Mich Erika lieben!« Scheiden tut sich Rein und Unrein wie auf Messers Schneide.

Einen Mann könnte sie lieben, der gleich ihr in einsamer Heide vom Kind zum Knaben, vom Knaben zum Manne erwuchs. Gleich ihr, unberührt und[S. 123] keusch wie die Heide, fern von der argen Welt. Solchen Mann der jungfräulichen Heide darf das jungfräuliche Weib der Heide fordern. Zu solchem Manne fühlt sich solches Weib hingezogen. Ich krampfte meine Hände in das harte, kalte Leder der Leinen, mit denen ich den Gaul lenkte, zusammen.

War’s nicht lächerlich, war’s nicht wie ein Wahnwitz, daß ich mir trotz allem oft so unschuldig vorkam wie solcher Knabe der Heide? Als ob alles gar nicht wahr, gar nicht Wirklichkeit sei? Bloß wenn die Leidenschaft kam in Gestalt jenes zauberschönen, glühenden, rothaarigen Mädchens, brach alles zusammen, mein ganzer Traum von einem unschuldigen Mann der Heide, der seine Hände ausstrecken darf nach dem unschuldigen Mädchen der Heide.

»Weiche von mir! Weiche von mir! ... Nein, bleib, bleib, bleibe! Deine Haare sprühen wie rote Feuersglut, dein weißer Leib macht trunken. Der Seele Seligkeit geht verlustig, wer diesen Leib mit seinen Armen umschlingt. Weiche von mir, weiche von mir! Nein: bleib, bleib, bleib.«

Nun taute es wirklich und wollte Frühling werden.

In meiner Kauzburg ist’s wie Frühling. Ich habe [S. 124] ja den holdesten Frühling im Hause. Ist nicht des Heidkönigs Tochter unter meinem Dache? Ist des Heidkönigs Tochter nicht wie die Frühlingsbraut? Strahlt aus ihren Augen nicht das freundliche Winken des Frühlings. Dieses freundliche und doch so rührend keusche, fast schüchtern fragende Winken?

Dieses freundliche, schüchterne und mit ein wenig versonnener, ernster Schwermut fragende Winken? Die Versonnenheit der weiten Heide ist’s, die innen wohnende, mit dem inneren Frohsinn gepaarte Schwermut all der Kinder einer weiten, weiten, einsamen Heide.

Ja, Erika, ich kann es niederschreiben. Aus meinem Herzen heraus könnte ich es dir sagen: du hast der Kauzburg den Sonnenschein zurückgegeben.

Wenigstens dem Kauz in der Kauzburg. Und ich bin doch der Kauzherr der Kauzburg.

Dein reines, keusches Wesen hat diesen Räumen ihre Reinheit und Keuschheit eingehaucht. Ich bin durch dich gefeit gegen die wie Sturmtoben über mich hereinbrechende Leidenschaft zu den roten, wogenden wie Feuerschlangen mich umstrickenden Haaren der Hexe.

Nein, nein, nicht die Hexe. Sie bleibt für mich das arme Kind der Straße. Ich will für sie sorgen und über sie wachen mein Leben lang. Nur »lieben«, nur »sie verlangen« ... vorbei, vorbei! —

[S. 125]

Ich bin frei! Frei von den Banden, die mich umschlossen! Ich widerstehe Mariannen! Ich kann ihr widerstehn! Mir ist, als sei ich neu geboren. Sie war mein; jetzt soll sie mir fürderhin nur noch das arme Kind der Straße sein und bleiben, für das ich immer sorgen werde. Ich will sie schützen und will ihr treu sorgend zur Seite stehn. Wie ein Bruder seiner Schwester.

Als ich ihr’s kürzlich sagte, sah sie mich lange durchdringend und spöttisch an.

»Du liebst mich nicht mehr, ich weiß es«, sagte sie dann. »Meinetwegen, du liebst das fremde Mädchen aus der Heide. Aber du bist unfreier denn je.«

»Marianne!« rief ich.

»Still, lüge nicht, kein Wort sprich!« zischte sie mich an. Und ehe ich etwas erwidern konnte, war sie zur Tür hinaus.

Nun ist es schon seit Wochen so still. Fast ohne ein Wort zu sprechen, schleicht Marianne im Hause umher. »Sie fühlt sich krank«, sagte Fräulein Bartel zu mir, »am besten ist es, man läßt sie gewähren, so findet sie sich am ehesten wieder zu sich selbst zurück.«

Sie ist allein in ihrer Stube, und wenn sie sich zeigt, ist sie stets in ihren großen, weiten Mantel gehüllt; sie friert, und der Frühling naht. —

[S. 126]

Mit Erika spricht sie kein Wort. Und doch trägt ihr Erika das Essen aufs Zimmer, wenn Marianne nicht aufstehn will, und doch ist sie stets und immer so rührend freundlich zu ihr.

Das Kind der Heide ist zu jedermann gleichmäßig freundlich und gütig. Auch zu mir. Aber ich merke es, ach ich fühle es, sie ist anders zu mir, als sie früher war. Scheu hat sie vor mir. Gewiß, es ist nicht anders: sie weiß um unser sündiges Verhältnis, das wir gehabt haben, oder sie ahnt es. Sie hat Erbarmen mit Marianne, — ich fühl’s: Erbarmen auch mit mir! Ich bin viel weniger an dieser Sünde schuld als Marianne. Was nutzt das alles? Ich bin der Mann, und dem Manne rechnet man’s stets viel mehr als Vergehen an. Er ist der stärkere Teil. Den schwächeren Teil soll der Stärkere schonen.

Schonen! Schonen! Wenn das Weib lockt mit all seiner Zaubermacht, wenn es sündigen will mit dem, der schonen soll! Ja, ja, der Frühling ist da! Was war ich vor kurzem noch frühlingsfroh und frühlingsfreudig!

Fort, fort damit! Was soll mir der Frühling. Freut sich der Falke des Frühlings, wenn er an seinen Fängen gefesselt ist?

[S. 127]

Ich sitze in meiner Stube und schreibe. Draußen ist wunderschöner milder Frühlingsabend und Vollmondschein. Alle Zugvögel sind wieder bei uns. Manche, zum Beispiel die Schnepfe, sind schon weiter nach Norden gezogen. Es grünt und blüht schon mächtig um die Kauzburg. Sie fängt an, das verzauberte Dornröschenschloß zu werden, wie im vorigen Jahr. Und die Nachtigall singt. Weich, feucht, dunstig und voller Duft ist die Luft. Ein schweres, weiches Atmen der neues Leben hervorbringenden Natur. Die feuchte, weiche, schwere, duftende Frühlingsluft zieht ins Fenster hinein. Zu mir in die Stube, an meinen Schreibtisch, vor dem ich sitze. Sie legt sich feucht und weich und schwer auf meine Brust, über meine Stirn und macht mich müde und traurig.

Vollmond ist heute. Ich muß an Marianne denken. Welchen Einfluß hat doch stets der Mond auf sie! Dadurch, daß wir heimlich ihre Tür verschließen, haben wir ihr den Weg für die nächtlichen Wanderungen im Schein des Vollmondes verlegt. Ist sie vielleicht deshalb krank? Wie hell erstrahlt heute doch der Vollmond zur Erde herab! Mondwechsel! Das letzte Strahlen ist stets das schönste und hellste.

Wie? Fräulein Bartel wird doch nicht vergessen haben, Mariannens Tür zu verschließen? Ich hör’ doch ein Schleichen, ein leises, gieriges Lachen? Ein tiefes, tiefes Aufseufzen?

[S. 128]

Mein Gott ... da steht sie ja im Rahmen der Tür! Da ist sie ja, ... es ist Marianne .... Zu mir herein tritt sie ... gespenstisch, und weiß leuchtet ihre Gestalt ..., nur um die Hüfte hat sie ein schwarzes Tuch geschlungen; ihr Haar ist zerwühlt, verwirrt, ihr schönes goldrotes Haar. Sie spricht vor sich hin ... leise, ganz leise, und singend:

... »Mein Kind, mein Kind, komm, komm mit deiner Mutter hinauf in den gleißenden Mondschein, dort tanzen wir, dort sind wir allein« ...

Um Gottes Willen, ist sie irre geworden, hat ihr armer Geist gelitten, was singt sie denn für ein tolles, irres Zeug?

»Marianne!« sagte ich sanft zu ihr, um sie nicht zu erschrecken.

Und wie ich das sage, steht Erika neben ihr. Schlingt beide Arme um die im Schlaf Wandelnde und wiederholte mit ihrer lieben, freundlichen Stimme: »Marianne!«

Da wacht sie auf. Da schaut sie sich um, da sieht sie, wo sie ist. Einen schrillen Schrei tut sie und stiert mich an. Stiert Erika an; stößt sie von sich und lehnt sich dann aufstöhnend an den Türpfosten an.

Aber auch mit Erika geht Wunderbares vor.

Eben erst hatte sie Mariannen umschlungen. Und nun steht sie neben ihr, leichenblaß, zitternd, als hätte[S. 129] sie etwas Schreckliches, Unglaubliches gefühlt, im Arme gehabt.

Ich will auf Marianne zueilen, sie stützen, sie zurückführen in ihr Zimmer! Da wirft sich Erika dazwischen und sagt zu mir: »Bleiben Sie, rühren Sie sie nicht an, ich will ihr helfen, nicht wahr, Marianne, ich soll dir helfen, ich allein?«

Und nun schluchzt Marianne auf; wie im Traum läßt sie sich von Erika fortführen, schwer stützt sie sich auf die zarte Gestalt des Heidekindes. —

[S. 130]

 

Habe ich das alles gestern abend geträumt? Heute, wo die helle Morgensonne freundlich über der Kauzburg liegt, glaube ich, daß ich wirklich gestern um Mitternacht das alles geträumt habe. Geträumt, daß Marianne plötzlich so geisterhaft vor mir im Vollmondschein stand, daß Erika, das schlichte Heidekind, ebenso plötzlich neben der Schlafwandlerin auftauchte, geträumt von dem irren Sprechen, dem merkwürdigen Singen Mariannens, — was sprach sie doch so singend vor sich hin? »Mein Kind, mein Kind, komm, komm mit deiner Mutter hinauf in den gleißenden Mondschein dort tanzen wir, dort sind wir allein?« ... Geträumt von dem schrillen Schrei, von Erikas Entsetzen, ach, nur geträumt von allem ...!

Aber noch sehe ich, jetzt im hellen Morgenlicht sehe ich es noch so deutlich vor mir, wie sich Marianne so schwer, so schwer, als trüge sie schwere, bitterschwere Last, auf Erika, das Heidekind stützte ...!

Ich danke dem Geschick, das mir dieses Heidekind ins Haus führte.

Ihre bloße Gegenwart, der Gedanke schon, daß sie unter einem Dache mit mir ist, beruhigt mich. Unruhe, viel Unruhe berge ich in meinem Innern. Die Reue ist’s, ja, es ist die quälende Reue, daß ich Mariannens Lockungen nicht widerstanden habe. Oh, könnte ich ungeschehen machen, was geschehen ist.[S. 131] All diese nächtlichen Stunden wahnsinniger Leidenschaft. Nie wäre es geschehn, was geschah, wäre diese liebe Heidblume schon gleich in mein Haus gekommen.

Und doch! ... Nein, nein ... ich will nicht feige sein! Ich will mich nicht hinter Ausflüchten verstecken. Auch ich hatte Schuld. Ich mußte widerstehn, mußte stark sein, stark bleiben. Und nun danke ich dir, Gott, den ich überall in der Natur um mich sehe, ich danke dir, daß aus der Sünde kein neues Leben entkeimte. Daß ich mich lösen konnte von Marianne und sie nun Schwester nennen werde. Wie für eine Schwester werde ich für sie sorgen fortan.

Es klopft? ... Wer wird es sein so früh? ... »Herein! ... Ach, Erika, ... wie geht es Mariannen?«

»Sie ist nicht hier?« sagte Erika und blickte sich suchend um.

»Nein, hier ist sie nicht. War’s denn gestern wirklich kein Traum, Erika? Marianne gestern zur Nachtstunde dort, wo Sie stehn?«

»Lassen Sie, lassen Sie« ... unterbrach sie mich.

»Ich muß Mariannen suchen ... Gott im Himmel, sie schlief so fest, drum ließ ich sie allein ... und nun suche ich sie schon überall und finde sie nicht ... und ... und ... sie darf nicht fort ... sie ist ... ja, sie ist krank ...«

[S. 132]

»Ich suche mit Ihnen, Erika!« Und schon war ich neben ihr im Flur draußen.

»So beruhigen Sie sich doch, Erika,« rede ich auf sie ein, »wo soll sie denn sein? Bei Fräulein Bartel vielleicht, oder unten im Garten oder schon wieder in ihrer Stube ...«

»Nein, nein, nein!« jammert Erika auf und schlägt ihre Hände vors Gesicht.

»O, warum ließ ich sie allein, warum ließ ich sie allein.«

Es ist Abend. Wir haben sie nicht gefunden. Schwerer, ganz dichter, schwerer Frühlingsregen fällt, und immer stärker wird der Frühlingswind. Überall haben wir sie gesucht.

Im unterirdischen Gang bin ich mit Erika bis zu dem stillen, heimlichen Tal gekrochen. Dort, auch dort war sie nicht. Als ich den tiefen Waldteich sah, auf dessen stille Fläche der Frühlingsregen in schweren Tropfen aufschlug, faßte ich Erika krampfhaft bei der Hand. Sie las das Entsetzen, das in meinen Augen stand. Da sagte das liebe Heidekind: »Nein, das hat sie nicht getan, ich weiß, daß sie das nicht tut, ich weiß, warum sie das nicht tun wird ..., sie hat sich nicht das Leben[S. 133] genommen, glauben Sie’s mir und ... und ... fassen Sie Mut ... Nicht dieses Entsetzen in den Augen.«

»Warum, Erika, sagen Sie, warum glauben Sie, daß sich Marianne nicht das Leben genommen hat?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, flüsterte sie und sah zur Erde.

»Aber wir müssen sie finden, sie kann in ihrem Zustande ja nicht fort, sie muß in Pflege kommen, bald, bald in treue Hut und Pflege ...«

»Ja, bald, bald, denn sie ist krank,« rief ich; »ach Marianne, hätten wir dich erst wieder!«

Der Frühlingssturm braust stärker und stärker.

Wie sich die Bäume biegen! Wie sie geschüttelt und gerüttelt werden! Aber das junge Frühlingslaub hält fest. Es ist kein Laub des Herbstes. Nein, nein, heut hast du keine Macht!

Das junge Leben kann dir widerstehn! Das junge Leben! Überall junges, werdendes Leben in der Natur. Was weiß solches junges Leben von den Stürmen des Herbstes! Was weiß junges Leben überhaupt vom Leben! Wie schwer das Leben ist.

Es ist gut, daß junges Leben nichts weiß von der Schwernis des Lebens.

[S. 134]

Des Lebens Schwernis kommt von selbst. Man braucht sie nicht zu rufen.

Herein tritt sie wie jemand, der ein Recht hat, einzutreten. Sie läßt sich bei uns nieder und bleibt an unserem Tische. Sie schleicht sich bis aufs Ruhelager und schläft mit uns und wacht mit uns wieder auf.

Ach, bei manchem jungen Leben steht diese Lebensschwernis schon am Bett, kaum daß dies junge, neue Leben den ersten Lichtstrahl dieser Erde in sich aufnahm.

Draußen treibt der Frühlingssturm, der Regen gießt wie in Schleusen herab, — wo bist du, Marianne, um des Himmels willen, wo bist du!?

Ich sprang auf. Ich darf nicht hier sitzen und dem Sturmwind lauschen, suchen muß ich sie wieder, suchen, bis ich sie gefunden habe!

Da stand plötzlich Erika vor mir. Sie war in einen Umhang gehüllt. Von ihr tropfte des Regens Nässe. Ganz bleich stand sie vor mir. »Erika!« rief ich und sprang auf.

»Kommen Sie, kommen Sie!« keuchte sie atemlos. »Sie müssen gleich, gleich, gleich mit mir kommen ... zu Marianne!«

»Zu Marianne? Sie haben sie gefunden? Sie wissen, wo sie ist?«

»Kommen Sie!« stieß sie hervor.

[S. 135]

»Marianne will Sie sehn, Sie müssen Marianne sehn, ehe ... ehe ...«

Ein Schluchzen erschütterte sie.

»Marianne stirbt, nicht wahr, sie stirbt?« rief ich und taumelte nach der Tür. —

Sie nickte bloß und schrie laut auf vor Schmerz. Schon stand ich unten mit ihr in dem tobenden Frühlingssturm. Ach, der Regen strömte in Güssen herab, aber alles ringsum atmete den Frühling aus. Die vom Sturm bewegte Luft war weich und frühlingswarm.

»Kommen Sie!« sagte Erika und faßte mich an der Hand.

»Ich führe Sie, Sie gehn ja wie ein Trunkener, Sie armer Mensch.«

Ich stolperte hinter ihr her. Kein Mensch war auf den engen Gassen des Städtchens. Der strömende Regen hatte die ganze kleine Krämerwelt in die Stuben gebannt.

Wohin führte mich Erika? Endlich standen wir vor einer Pforte still. Einer Pforte in einer hohen Mauer. Ich strich mir den Regen aus dem Gesicht und blickte mich um.

»Das ist ja das katholische Kloster«, sagte ich wie im Traum.

Erika pochte dreimal an die Pforte. Ein[S. 136] Schlüssel knarrte, und die Pforte wurde geöffnet. Eine Schwester stand vor uns. »Lebt sie?« stieß Erika hervor. »Ja, sie lebt, kommen Sie, ich führe Sie hinauf.«

Wir gingen über den Klosterhof, bis zu dem hinein dieser heftige Frühlingssturm nicht drang. Der Regen schlug klatschend auf den steingepflasterten Hof; süße Düfte drangen vom Klostergarten hierher, ganz fern hörte ich eine Nachtigall pfeifen. Sie wollte singen trotz des Sturmes, weil’s doch Frühling war.

Ich hätte weinen können, so war mir zumute. Viele Treppen stiegen wir hinan, durch die stillen, schmalen Klostergänge folgten wir der Schwester. Ein paar Schwestern in ihrer schwarzen Nonnentracht begegneten wir. Sie huschten an uns vorbei und sagten leise: »Gelobt sei Jesus Christus!«

»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte auch ich, ich, der ich im grünen Walde draußen meinem Gott am nächsten stehe! Aber dieser tiefe Frieden in diesen Klostermauern erschütterte mein Herz. Vor einer Tür blieben wir stehn.

»Hier liegt sie, aber bitte, seien Sie ruhig, leise und gefaßt«, sagte die Schwester bittend und drückte auf die Türklinke.

Ja, da lag sie in blütenweißen Linnen des Bettes. Über die Weiße des Bettzeuges fluteten ihre rotgoldenen[S. 137] Haare, die mein Entzücken und meine Pein gewesen waren.

Tief und groß und strahlend sahen mich ihre Augen an, sofort, als ich ins Zimmer trat, nein, als ich noch in der Tür stand.

Wie? Das sollte eine Sterbende sein? Waren in ihrem lilienweißen Gesicht die Wangen nicht von sanfter Rötung? Die Lippen, die sich so oft in glühender, verzehrender Leidenschaft an die meinen gepreßt hatten, nicht rot wie die Kirschen? Die Arme, die sie mir entgegenstreckte, nicht von derselben köstlichen Rundung, wie einst, da sie noch mein gewesen war?

»Du kommst, Du bist gekommen und hast mir verziehn«, sagte sie leise zu mir, so leise, daß es kaum bis zu mir hindrang. Ja, an dieser Stimme erkannte ich, daß sie krank, sterbenskrank war.

»Marianne«, sprach ich, trat neben das Bett und wollte mich auf die Knie niederlassen zu ihr. Da erklang plötzlich in dem kleinen, matt erhellten Raum ein Wimmern, ein Weinen. Ich fuhr zusammen und horchte. Wie ein Entsetzen durchfuhr’s mich. »Was, was ist das?« fragte ich fassungslos. »Ein Kind, ein eben geborenes Kind hier bei der Kranken?«

Erikas Hand legte sich ruhig, aber mit festem Druck auf meinen Arm.

[S. 138]

»Fassung und Ruhe,« raunte sie mir zu, »vergessen Sie nicht, daß Sie eine Sterbende vor sich haben.«

»Mein Kind,« flüsterte Marianne, während ein unendlich glücklicher und trauriger Ausdruck ihre Züge überhauchte, »mein und dein Kind«, setzte sie verzagt hinzu und sah mich ängstlich an.

»Marianne!« schrie ich, nein, wollte ich aufschreien, hätte ich geschrien, wenn sich nicht rasch Erikas Hand auf meinen Mund gelegt hätte.

»Fassung und Ruhe«, sagte sie ernst zu mir. Ich stürzte vor dem Bette auf die Knie, Mariannens eine Hand streckte sich mir entgegen, die andere Hand legte sie mir auf mein Haar, und ich, ich verbarg mein Gesicht in ihrer Hand und stöhnte tief, tief auf.

Also das war’s! Das war ihre Flucht, das war ihr Verborgensein, das war’s, was ihr das Leben nun nahm.

»Marianne, Marianne«, ich konnte nichts anderes, als immer nur ihren Namen sagen. Und das Kindchen, mein Kind und ihr Kind, weinte kläglich, wie ein Häslein, das der Fuchs gepackt hat. Erika beugte sich zu der Wiege und nahm das Bündchen neues Leben in ihre Arme: Da beruhigte sich das Geschöpflein und schlief ein.

»Die dort soll seine Mutter sein, sie hat es mir bei Gott geschworen, sie wird ihr Wort doch halten?«[S. 139] sagte Marianne, auf Erika zeigend, zu mir, und blickte mich forschend an.

»Ich schwöre es hier vor dir und vor dem Vater dieses Kindes noch einmal, bei Gott im Himmel, der in das Herz von uns sieht: Ich will diesem Kinde eine Mutter sein, eine treue Beschützerin, darüber kannst du ruhig sein und ruhig schlafen, Marianne«, sagte Erika mit erstickter und doch mit einer so treuen, klaren Stimme, daß ein Schimmer des Glücks über Mariannens Gesicht glitt.

Und jetzt wandte die Sterbende den Kopf mir zu. Sie sagte nichts, aber ihre tiefen, schönen Augen, in die der kommende Tröster Tod schon den schönen Glanz ewiger Ruhe gedrückt hatte, taten stumm und doch so sprechend eine Frage an mich.

Ich war so erschüttert, daß ich erst gar nicht sprechen konnte. Erika legte mein Kind in meinen Arm. Ich küßte das liebe, schlafende Gesichtlein und sagte, während die Tränen mir aus den Augen stürzten, zu der mich forschend und mit dem Ernst des Todes anblickenden Marianne: »Ich erkläre dieses Kind für mein Kind; und damit es in den Augen der Menschen als ein ehrliches Kind gilt, und nie die Schmach und den Fluch fühlt, die man außerehelich geborenen Kindern zur Schande der ganzen Menschheit entgegenbringt, werde ich dieses Kind adoptieren und ihm meinen Namen geben.[S. 140] Ich leiste darauf vor der Mutter dieses Kindes, vor dir, Marianne, und vor Erika den Eid der über uns waltenden unsichtbaren Gottheit.«

Tief atmete Marianne auf. Sie lehnte sich in die Kissen zurück, und ein unendlich glücklicher Ausdruck verklärte ihr Gesicht. »Sie will schlafen«, sagte ich leise. Die Schwester war hereingekommen, beugte sich über das Bett und betete halblaut. Und während sie mit ihrer linken Hand der Schlafenden die Kissen ordnete, tauchte sie die Finger der rechten Hand in das an der Wand hängende, mit Weihwasser gefüllte kleine Becken, über dem der gekreuzigte Christus hing, und bespritzte das Gesicht der Schlafenden mit dem geweihten Wasser.

»Daß sie sich nicht erschrickt und aufwacht«, bat ich leise.

Da richtete sich die Schwester auf, wandte sich mir zu und antwortete mit ihrer sanften Stimme: »Sie schläft und wird erst aufwachen im Himmel oben.«

Und nun sah ich Mariannens Gesicht. Ich sah, daß sie tot war. Sie lächelte noch immer unendlich glücklich, aber das Lächeln war wie in weißen Marmor gegraben.

Marianne, Marianne!

Man ließ mich neben ihr niederknien. Kein Wort wurde gesprochen. Lange, lange sah ich mir ihr holdes Gesicht an. Wie sanft, wie friedlich, wie[S. 141] von innerem Glück verklärt sah es aus. Nichts mehr von der dämonischen Leidenschaft war in diesen engelsreinen, schönen Zügen.

O, Raffael Sanzio von Urbino, du gottbegnadeter Maler der holden Madonna della Sedia und der von St. Sixto, lebtest du noch, herbeirufen würde ich dich in diese Klosterkammer, und du fändest die schönste Madonna, die du malen könntest zur ewigen Unsterblichkeit auf Erden. Und du, edler Tiziano Vecellio aus dem kleinen verborgenen Pieve di Cadore, der du in unerreichter Schöne das goldenbraun gefärbte Haar der alten Römerinnen auf die Leinwand zaubern konntest, hier würdest du goldleuchtendes, niemals von Farbe berührtes Haar zu sehn bekommen, das dich, den Maler schönen Weiberhaares, in begeisterndes Entzücken versetzte. »Wir wollen sie nun schlafen lassen und sie nicht stören in ihrem ewigen Schlaf«, sagte die Nonne leise und legte über das Gesicht der Toten ein weißes Tuch.

Schwer erhob ich mich. Verstört blickte ich mich um.

»Und das Kind?« brachte ich endlich heraus.

»Für das sorgen wir«, sagte die Schwester.

Ich trat zu der Wiege hin. »Es ist ein Mädchen?« fragte ich. Erika nickte.

»Ach, du liebes Geschöpfchen, du wirst nie deine[S. 142] Mutter sehn. Um dir das Leben zu geben, hat sie ihr Leben hingegeben. War’s nicht besser, sie nahm dich mit in diese schöne, lächelnde Ruhe? Dich und auch mich zugleich? Nun muß ich es tragen, daß mein Kind der Mutter meines Kindes das Leben nahm. Und ich, ich bin an all dem schuld.«

»Kommen Sie«, bat Erika, die inzwischen alles leise mit den Schwestern besprochen hatte.

Ich folgte ihr wieder durch die vielen Gänge des Klosters nach, bis wir an die Pforte kamen. Lautlos trat eine Schwester vor und schloß die Pforte auf, sagte: »Gelobt sei Jesus Christus!«, und draußen auf der Straße stand ich mit Erika in der Frühlingsnacht.

Der vordem so starke Sturm hatte sich zu einem fast schwach zu nennenden Winde gemildert.

Der Himmel hatte sich aufgeklärt, man sah die Sterne flimmern. Aus jedem Garten, an dem wir vorüberkamen, klang der weiche, schöne Gesang einer Nachtigall, drang der aromatische Duft von Flieder und Jasmin.

Fast betäubend in meinem Burggarten.

Wir hatten unterwegs kein Wort zusammen gesprochen. Hier in dem Burggarten, wo ich schon so oft mit so viel Freude, mit so viel Leid gewesen war, blieb ich stehn.

Der ganze Schmerz um Marianne faßte mich[S. 143] hart an. Die ganze Verantwortung um das Kind stand mir vor Augen. Aber hätte jetzt jemand zu mir gesagt: »Ich will dir dein Kind abnehmen, ich gebe dir dein Kind nicht«, — wie ein Wolf hätte ich ihn angefallen und um das Kind mit ihm gekämpft. So groß war meine Liebe für das liebe, arme Geschöpflein, das ich kaum ein paar Minuten in meinen Armen gehalten hatte. Aber es war mein Kind; es war Mariannens Kind. Wie nennen doch die Menschen solche Kinder? Kinder der Sünde! O, ihr ruchlosen Menschen, wie könnt ihr solche Geschöpflein Kinder der Sünde nennen! Eure Zunge müßte im Gaumen verdorren, wenn ihr das aussprecht! Schlimmer seid ihr, die ihr verächtlich auf solche Kinder herabseht, schlimmer als die wildesten Bestien seid ihr! Die wildeste Bestie kennt kein Kind der Sünde. Die wildeste Bestie kennt nur ihr Kind. Nein, frei will ich mich zu dem Kinde bekennen. Mein Kind ist es! Jeder soll es hören, der es hören will!

O, schon jetzt sah ich die Kleinkrämer des Städtchens höhnisch lächelnd ihre Kleinkrämernasen rümpfen! Rümpft sie nur, ihr Kleinkrämerpack! Über mich könnt ihr eure Nasen rümpfen, wehe aber, wenn ihr Mariannen, die Mutter dieses Kindes, oder mein Kind verunglimpft! »Erika,« wandte ich mich an das stumm neben mir stehende[S. 144] Heidkönigstöchterlein, »Sie haben es Mariannen versprochen, ihrem Kinde eine treue Mutter zu sein?«

»Ich habe es ihr versprochen und will mein Versprechen halten. Fragen Sie nichts mehr«, bat sie plötzlich und hob ihre Hände bittend gegen mich. Sie weinte. Weinte ganz still und leise, und ich sah, wie ihr die Tränen aus den Augen strömten.

»Gut, Erika, Sie sollen keine weitere Frage von mir hören. Aber dankbar werde ich Ihnen sein, wenn Sie sich meines Kindes annehmen wollen.«

Oben stürzte uns Fräulein Bartel entgegen.

»Haben Sie Marianne gefunden?« rief sie. Sie war doch ein guter Mensch, denn man hörte die Angst aus ihrer Stimme deutlich heraus.

»Ja, wir haben sie gefunden«, sagte ich. »Weiß sie das andere, ich meine das mit dem Kinde, schon?« wandte ich mich an Erika. Die schüttelte schluchzend ihren Kopf.

»Marianne ist tot, Fräulein Bartel ...«, sagte ich.

»Gott im Himmel!« schrie sie laut auf.

»Ja, Marianne ist tot, sie ist an der Geburt eines Kindes, eines Mädchens, gestorben.«

Mit großen, geradezu entsetzten Augen sah sie mich an. Ich winkte ihr, still zu sein. Allein wollte ich sein.

»Gute Nacht, Fräulein Bartel, und gute Nacht,[S. 145] liebe, liebe Erika. Nicht wahr, Sie sehn morgen früh gleich nach dem Kinde?« Sie nickte stumm. Sing’ dein Trauerlied zur stillen Frühlingsnacht, liebholde Nachtigall!

Marianne ist tot.

Du kanntest sie ja. Oft ist sie, wenn du sangest, an deinem Fliederstrauche stehn geblieben, die Blumen dufteten, es duftete ihr goldrotes Haar, in dessen seidenen Wellen das weiße Mondlicht spielte.

Ja, singe ein Trauerlied. Ich stehe hier am Fenster und höre dir zu und lasse die Vergangenheit an meinen Augen vorübergehn. Von dem goldenen Haare aber behalte ich mir eine Strähne. Die wird dann leuchten wie eitel Feuergold, wenn ich sie herauslege zur Vollmondstunde im Mondessilberglanz.

Marianne: Leid und Lust bist du mir gewesen. Soll ich richten jetzt, ob größer das Leid, ob größer die Lust?

Mit Wonne ist Leid verknüpft, nie ist es anders. Die Wonne allein ist Menschen nicht beschieden.

Das Leid ist unser Gefährte. Nur wie ein toller Bub kommt gesprungen und ist fort wie ein Bub des Augenblicks die Wonne. So also sieht die Freiheit von den goldenen Fesseln aus? Lange wird es dauern, ehe ich mich der Freiheit erfreuen werde.

Das rote Gold der Flechten war zu schön.

[S. 146]

Zu schön der weiße Leib, den man so bald nun in die tiefe Erde senken wird.

Aber wir sollen doch Erde werden. Wir sind doch von Erde und sollen doch Erde bleiben.

O liebe Erde, den schönsten Menschenleib sollst du so bald erhalten.

Sei ihm ein treuer Mutterschoß und laß Veilchen nur aus jener Stätte sprießen.

Soeben kommt Erika aus dem Kloster zurück. Sie sagt mir, daß für das Kind gesorgt sei.

»Ich will’s aber doch so bald als möglich in die Oberförsterei nehmen, Erika.« Sie sieht zur Erde und sagt kein Wort. Dann spricht sie: »Auch ich halte es für das beste.«

»Ach, Erika, was müssen auch Sie unter dem allen leiden. Sie, ein unschuldiges Kind der Heide! Kaum setzen Sie den Fuß in die Welt hinaus, so tritt der Welt Sünde an Sie heran«, sagte ich herzlich zu ihr und faßte ihre Hände warm und fest mit den meinen.

»Der Welt Sünde, aber noch mehr der Welt Unglück, und im Unglück müssen die Menschen doch[S. 147] einander beistehn so gut, als sie können. Auch bindet mich das Versprechen, das ich der Toten gab.«

»Werden Sie bei mir bleiben?« fragte ich zaghaft.

»Ich weiß nicht, was ich tun darf; mein Vater wird bestimmen«, erwiderte sie leise.

»Sie wollen alles Ihrem Vater sagen, Erika?«

»Ja, alles«, sagte sie ruhig. »Er kommt in den nächsten Tagen und will mich abholen, in die Heide zurück.«

»Und wird Sie in seine keusche Heide mit sich nehmen, ich weiß es, Erika. Ja, ich weiß es. Ihr Vater kann nicht anders handeln, und töricht war meine Frage, ob Sie hier bei dem Kinde Mariannens bleiben wollen. Ich muß allein sehn, wie ich es in Zukunft machen, wie ich mein Kind mir erhalten soll. Allein, allein!«

»Ich will das Kind mit mir in die Heide nehmen, wenn Sie’s mir anvertrauen«, sagte sie sanft. »Solange will ich’s behalten, bis Sie es bei sich haben können.«

»Erika! Das wollen Sie tun! Wie soll, wie kann ich’s Ihnen danken!«

Wie ein Jubelschrei brach’s von meinen Lippen. Ja, in die Heide soll mein Kind, in die Heide zur Heidkönigstochter! Die schwere Sorge der nächsten Zeit um das mutterlose Geschöpf will mir Erika, das Heidekind, abnehmen.

[S. 148]

Ich hätte ihr die Hände küssen können.

Aber mein innerer Jubel galt nicht dem Kinde allein. Wenn mein Kind bei ihr im Heidhofe ist, würde ich, mußte ich ja Erika wiedersehen. Blieb mit ihr in steter Verbindung — ein Herz würde weiter für mich schlagen, das zu verlieren die schreckliche Angst der letzten Stunden für mich gewesen war.

Die Stunde ist da, in der man Marianne ins Grab legt.

Ich ging mit Erika und Fräulein Bartel am frühen Morgen ins Kloster.

Weil ich noch einmal, zum letztenmal das Gesicht der Toten sehn wollte.

Die mir im Leben so nahe stand. Von deren Leibe und Seele ein Kind mein eigen ist.

Nach der Beerdigung will ich das Kind gleich mitnehmen zu mir, um mich als Vater zu ihm zu bekennen, eintragen zu lassen als Vater und die Kleine zu adoptieren.

Ich sehe es an den Leuten, die uns begegnen, daß man schon etwas weiß in der Stadt.

Man sieht mir nach, man kriecht in die Haustür zurück, man grüßt mich ersichtlich verlegen und erstaunt. Aber mancher auch herzlich und warm.

[S. 149]

Im Kloster schleichen die Schwestern scheu an mir vorbei.

Verlegen, kaum hörbar klingt ihr Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus.«

Was sind mir die Grüße der Menschen!

Für anderes habe ich zu sorgen und zu denken. Früh sind wir gekommen, gottlob, so haben wir die Tote noch für uns allein.

Mein Kind habe ich vorher gesehn. Es schrie so kläglich, als wüßte es, daß seine Mutter jetzt tief in die Erde kommt.

Der Domherr wird, wie ich höre, die liebe Tote beerdigen. Das ist brav von ihm. Ich hätte es nicht gedacht. Er selbst beerdigen und dieses arme Straßenkind, diese uneheliche Mutter!

Und so stehe ich denn vor dir, Marianne, zum allerletztenmal.

Zum allerletzten Male sehe ich dein Gesicht.

Es ist noch unverändert, nur der kleine, bräunliche Fleck an der Stirn, die im Leben weiß von Farbe wie die Gartenlilien gewesen, sagt mir, daß die Erde anfängt, ihr Erdenkind wieder zurückzunehmen in sich hinein.

Weshalb gab sie es her?

Ein so holdes Erdengeschöpf hat sie hilflos auf die Schwellen dieses Hauses einst gelegt.

Hat doch ein jedes, selbst das kleinste der kleinen[S. 150] Vögel sein Nest und seine Eltern, die den kleinen hilflos-nackten Vogel füttern. Doch dir, du armes Straßenkind, haben Nest und Eltern gefehlt.

Aber deinem Kinde werden Nest und Eltern nicht fehlen. Das ist das einzige, was den Schatten meiner Seele lichtet, was meine Reue in stillen Schmerz verwandelt. Lebe wohl, Marianne. — —

Die Schwestern kamen. Der Sarg wurde geschlossen.

Zwei Chorknaben mit brennenden, efeuumrankten Kerzen stellten sich neben den Sarg, ans Sargende zwei andere mit dem an silbernen Ketten schwingenden Weihrauchgefäß mit Weihrauchschälchen und silberner Schippe zum Nachfüllen des Gefäßes. Der Weihrauch erfüllte den kleinen Raum mit betäubendem Duft, nun tönte ein fernes Glöckchen, dessen Töne immer näher kamen, und der Domherr in seinem reichgestickten Gewand trat ein. Ich fuhr zusammen. Wieder sah ich diese tiefen, dunklen Augen eine Sekunde lang auf mir ruhen — dasselbe Flimmern, derselbe Ausdruck, den Mariannens Augen in Leidenschaft und Zorn hatten, dieselbe Farbe ihrer Haare hatte dieser Mann dort. Der wie ein Fürst so stolz und hoch zu Häupten des Sarges stand und sofort nach seinem Eintritt mit den Gebeten begann.

Ob ihm die Tote wohl ihr Geheimnis gelüftet[S. 151] hatte? Ob er jetzt in diesem Augenblick schon den Vater ihres Kindes kannte?

Die Gebete waren beendet.

Noch einige Worte sprach er zum Nachruf der Toten.

O, dieser Mann! Wie ich ihn hasse!

Er sprach von dem kurzen, armselig kurzen und dunklen Leben der Verstorbenen, er schilderte, wie sie, von der Schwelle dieses Klosters aufgelesen, im Kloster eine Heimat fand, wie er selbst sich stets um ihr Wohl gekümmert und über ihr gewacht habe, und wie es ihn schmerze, daß sie nun doch das Opfer der Sünde, der Verführung geworden sei. Lautlos still war alles an dem Sarg. Nur von draußen drang das Zwitschern der Vögel bis hierher.

Starr sah ich dem Mann, der da sprach, ins Gesicht. Er blickte mich an, aber sofort senkten sich seine Augen wieder auf das Gebetbuch herab.

Ja, nun wußte ich: Er kannte den Vater des Kindes. Weshalb aber hielt er meinen Blick nicht aus? Er, der Sündlose, den Blick eines Sünders nicht?

Die Klosterschwestern trugen den Sarg auf den Klosterkirchhof. Der Weg war kurz, der Sarg war leicht.

Über dem Grabe blüht der Flieder. Alte, uralte Fliedersträucher. Fast Fliederbäume zu nennen. Drin nisten Nachtigallen immer wieder im Frühling;[S. 152] ein schöner Platz. Es ist doch gleichgültig, wo man wieder zu Erde wird. Aber die noch Lebenden finden eine Befriedigung darin, daß der Platz ihres Toten schön ist. Sonderbar: auch ich möchte lieber an solchem Platze wieder Erde werden, als in dem Staube der Wüste zerstäuben. Ich stand mit Erika noch lange bei dem Grabe allein.

Nun aber hole ich mir mein Kind. — — — —

Ich wollte Erika fortschicken. Aber sie wollte bleiben.

»Sie werden mich brauchen«, sagte sie eigentümlich ernst.

»Mein Heidkind, gehn Sie, gehn Sie. Setzen Sie sich nicht den Reden, den Augen der Menschen dieser Stadt aus, wenn ich mit meinem Kinde durch die Straßen gehe und es in meine Kauzburg bringe.«

»Ich bleibe«, erwiderte sie.

»So kommen Sie, Erika.«

Wir gingen über den stillen Kirchhof nach dem Kloster hinüber.

Die Tür war verschlossen. Ich klingelte. Das Glöckchen tönte. Eine Schwester öffnete einen Spalt breit die Tür.

»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte sie und sah mich fragend an.

»Ich will zu dem Kind der soeben zur Ruhe Gebetteten«, sagte ich.

[S. 153]

»Zu dem Kinde Mariannens?« fragte sie.

»Ja, zu dem.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie herführt?« fragte sie.

»Ich sagte schon: Zu dem Kinde will ich. Ich will es zu mir nehmen.«

Ein Lächeln, — kein schönes Lächeln — huschte über das fromme Schwesterngesicht.

»Ohne des hochwürdigen Domherrn Genehmigung darf ich niemand zu dem Kinde lassen, es gehört von jetzt ab dem Kloster und wird im Kloster bleiben«, sagte sie und sah mich lauernd an.

Ich stand noch vor der kaum ein Viertel offenen Tür mit Erika.

Nun stieß ich ruhig die Tür ganz auf und trat in den schmalen Klostergang. Erika stand dicht bei mir.

»So sagen Sie dem hochwürdigen Herrn, daß ich ihn sprechen will.«

»Ich werde Ihre Bitte Seiner Hochwürden unterbreiten.«

»Sagen Sie ihm, ich wünsche ihn zu sprechen, und ich muß ihn sprechen wegen dieses Kindes.«

Wieder huschte dieses höhnische Lächeln über das stille, heilige Nonnengesicht der vor mir Stehenden.

Sie nickte stumm, schloß die Tür und ging lautlos davon.

Ich stand mit Erika im Flur.

[S. 154]

Ich fühlte, wie der Zorn über den Domherrn in mir wuchs. Schon seine Worte am Grabe! Und nun diese Art des Empfanges!

»Ich bitte Sie, seien Sie ruhig, bleiben Sie ruhig«, flüsterte Erika mir zu.

»Ich will’s versuchen, solange es mir möglich sein wird, Erika.«

»Seine Hochwürden lassen bitten«, sagte die lautlos zurückkehrende Schwester. Jetzt widerte mich dieses lautlose Schleichen an. Wozu? Hier lagen keine Kranken. Drüben im untern Flügel.

Das hier war domherrliche Privatwohnung. Fest und hart klangen meine Schritte auf dem Steinpflaster des Klosterganges wider. Soll ich kriechen vor dieser Domherrlichkeit? Niemals!

Endlich waren wir vor der rechten Tür.

»Ich werde Seiner Hochwürden melden, daß Sie, Sie allein ihn sprechen wollen.«

»Nicht nötig, liebe Schwester,« sagte ich kurz, »ich melde mich selbst, und diese Dame wird bei der Unterredung zugegen sein.«

Laut klopfte ich an die geschnitzte Eichentür. Ja, hier oben sah es anders aus als unten in den schlichten, einfachen Klosterräumen. Als ich öffnete und in das, man kann ruhig sagen, prachtvoll ausgestattete domherrliche Gemach eintrat, stand die hohe Gestalt des Domherrn am Fenster. Auf den[S. 155] Kirchhof hatte man den Blick von hier oben. Gerade auf Mariannens Grab sah man hinab. Erst zuckte es drohend über sein Gesicht, es war nur ein Zucken, dieses Zucken in dem unleugbar schönen, schmalen Gesicht, dieses Aufblitzen in den dunklen Augen, als er mich mit Erika eintreten sah, dieses Aufblitzen, das mich stets und stets sekundenlang an ein anderes Gesicht erinnerte, das nun nie mehr zucken kann, nein, wie in marmorner Ruhe bleiben würde, bis die Erde sagen wird: Werde wieder zu Erde. Eine einladende Handbewegung machte er, indem er auf einige Sessel wies, die auf dem Teppich standen.

»Ich danke; aber ich komme nicht als Gast zu Ihnen«, sagte ich kalt und abweisend. »Ich komme nur, um Sie zu fragen, ob ich die Schwester unten recht verstanden habe?«

»Recht verstanden, womit?« fragte er mit gutgespieltem Erstaunen.

»Keine Worte weiter,« unterbrach ich ihn, denn ich fühlte, wie verhaßt mir dieser Mann seit jenen Worten am Grabe war, »ich kam, um Mariannens Kind in mein Haus zu holen, man wollte es nicht zugeben ohne Ihre Einwilligung, ja, man sagte mir, das Kind sei Eigentum des Klosters und würde es bleiben.«

Er spielte einige Augenblicke an dem goldenen Kreuz, das um seinen Hals an goldener Kette hing.

[S. 156]

»Die Schwester hat Sie recht berichtet,« sagte er; »bitte, bitte, mich ausreden lassen,« fuhr er auf, als ich ihn unterbrechen wollte, ... »es ist so. Wir kennen nur die Mutter des Kindes; diese Mutter, — Marianne, — haben wir im Kloster erzogen, sie hat das Kind im Kloster geboren, ist zu uns geflüchtet vor ihrer schweren Stunde, hat uns das Kind noch vor der Geburt anvertraut, also ...«

»Sie kennen also wirklich den Vater des Kindes nicht?« schnitt ich ihm das Wort ab. Seine Augen glühten.

»Ich will ihn gar nicht kennen«, sagte er rasch.

»Sie sollen ihn kennen! Er steht hier vor Ihnen!« rief ich. »Ich bin der Vater des Kindes, und ich fordere mein Kind!«

Er sah aus, als wollte er sich auf mich stürzen. Wenigstens sagten es mir seine Augen. Und seine Hände, die sich an die Stuhllehne verkrampften.

»Was Sie mir hier sagen, betrachte ich als Beichtgeheimnis; niemand wird es erfahren, sofern nicht Sie, mein Fräulein, ...« wandte er sich zu Erika. »Ich bedaure es übrigens schmerzlich, daß man Sie gezwungen hat, dieser Verhandlung beizuwohnen, unschöne, sündige Dinge kommen dabei zur Sprache ...«

»Ich wohne dieser Verhandlung nicht gezwungen[S. 157] bei, es war mein Wunsch, ihr beizuwohnen«, unterbrach ihn Erika ruhig.

»So? Warum?« fragte er und sah sie forschend an.

Sie schwieg.

»Wir sind wohl fertig miteinander, Hochwürden,« sagte ich nun; »ich werde also mein Kind jetzt mit mir nehmen.«

»Gemach, gemach,« stieß er hervor, »dieses Kind bleibt hier im Kloster ... für immer

»Herr Domherr!!!« stieß ich heraus.

»Ich wiederhole,« fuhr er fort, »was Sie mir sagten, bleibt Beichtgeheimnis ...«

»Ich weiß von keinem Beichtgeheimnis, ich bin Protestant«, unterbrach ich ihn barsch.

Er drückte seine Augen zusammen. Dann trat er dicht an mich heran und legte sanft seine bischofsringgeschmückte Hand auf meinen Arm.

»Ihre Mutter ist katholisch,« sprach er halblaut und beschwörend, »Marianne war katholisch, ist im katholischen Glauben erzogen, als fromme Katholikin gestorben, ihr Kind habe ich gestern getauft ...«

»Wie?« unterbrach ich ihn heftig, »getauft? Ohne mich zu benachrichtigen?«

»... Aber ich bitte Sie,« sagte er beschwichtigend, »bleiben Sie ruhig ... wie sollte ich begründen, daß ich Sie benachrichtige davon? ... Nein, nein,[S. 158] ich meine es gut mit Ihnen, herzlich gut mit Ihnen, mit der lieben Toten und Ihrer beider Kind. Sie sollen das Kind haben ... nur eins ... Sie selbst sind katholisch getauft ... kehren Sie zurück in den Schoß unserer, Ihrer Kirche, werden Sie ...«

»Halt! Kein Wort mehr!« rief ich und streifte seine Hand fort von meinem Arm. »Was fällt Euer Hochwürden ein? Wen glauben Sie vor sich zu haben? Wie?«

Er wich zurück und wurde wachsbleich.

»Gut, so sind wir fertig miteinander«, sagte er.

»Und mein Kind nehme ich mit«, rief ich, kaum noch meinen Zorn bemeisternd.

»Nein, es bleibt hier,« zischte er; »wer weiß etwas, wer glaubt etwas von dem, was Sie mir hier sagten? Es bleibt ein Beichtgeheimnis für mich.«

»Aber nicht für mich, hochwürdiger Herr!«

»Wie?« sagte er maßlos erstaunt, »Sie wollten davon anderen erzählen? Sie wollten den Leuten sagen, daß Sie, ... Sie ... dieses Mädchen ...«

»Ja, ja und ja!« schrie ich ihn an.

»Ich gehe von dieser Stube aus mit dem Kinde zum Standesamt, dort sage ich vor Zeugen, daß ich sein Vater bin, daß ich dieses Kind als das meine anerkenne, daß ich es adoptiere, ihm meinen Namen gebe ... nun, Euer Hochwürden, jetzt werden Sie[S. 159] wohl davon überzeugt sein, daß dieses Kind nicht im Kloster bleibt?«

Wie von einem Krampfe geschüttelt stand er ans Fenster gelehnt und blickte hinab auf das noch offene Grab derjenigen, um deren Kind ein Kampf gekämpft wurde.

»Nein,« sagte er nach einigen Minuten tiefer Stille, »nein, ich bin nicht davon überzeugt. Dieses uns von der Mutter übergebene Kind verbleibt dem Kloster, ich gebe es nicht heraus, eher ...«

»Eher drehn Sie ihm den Hals um!« höhnte ich außer mir.

»Nun ist’s genug!« sagte er, und richtete sich hoch auf.

»Genug, übergenug!« Und seine Hand wollte auf den elektrischen Knopf der Klingel drücken. »Ich wollte sagen, eher ...« Da wurde er wiederum unterbrochen — durch Erika! Durch Erika, deren Gegenwart wir beide ganz vergessen hatten in unserem heftigen Streiten.

»Ich weiß es, was Sie sagen wollen, Euer Hochwürden!« sprach die sanfte, liebe Stimme der Heidkönigstochter, »ich weiß es, weil mir’s Marianne gesagt hat.«

Der Domherr fuhr herum. Als ob ihn ein Pfeil träfe, so trafen ihn diese sanft und schlicht gesprochenen Worte. Er starrte Erika an.

[S. 160]

»Sie wollen sagen, eher verschwindet das Kind in einem anderen Kloster ... in Österreich drüben ... in dem Kloster, das hoch auf einem Felsen steht, wo Marianne das Licht der Welt erblickt hat, ... ich sehe, Euer Hochwürden wissen, welches Kloster ich meine ...«

In einen Sessel war der Kirchenfürst gesunken. Wie irre schauten seine lodernden Augen auf das schlichte Heidekind. »Und weil ich das weiß, und weil wir schon morgen das Kind vergeblich hier suchen würden, darum müssen Sie Ihr Kind noch in dieser Stunde mitnehmen«, sagte das liebe Mädchen zu mir gewandt.

Er bohrte drohend seine dunklen Augen in die Augen Erikas.

»Ich weiß nicht, welches Kloster Sie meinen, mein Fräulein,« stieß er hervor. »Das Kind verbleibt dem Kloster! Mariannens Kind gebe ich niemals heraus. Eine Braut des Klosters soll ihr Kind werden, so ist alles gesühnt.«

»Nein, gesühnt wird alles, wenn sich zu diesem Kinde der Vater bekennt ...!« rief ich in wilder Entgegnung und Angst.

»Still, still,« sagte da Erika, »diese Sühne meint Seine Hochwürden nicht. Hier, nehmen Sie das und halten Sie es fest wie Ihr Leben«, — und sie drückte mir ein zusammengeschnürtes und versiegeltes[S. 161] Päckchen loser Briefblätter, das sie verborgen bei sich getragen hatte, in die Hand. Nur ein Blättchen behielt sie und hielt es dem Domherrn hin. »Nicht wahr, Euer Hochwürden, Sie meinen, dann ist dieses gesühnt? Dieses, das hier auf diesen Blättern steht. Nein, nein, Hochwürden, Marianne ist nicht das Opfer dieses Mannes hier« — und sie zeigte auf mich — »wie Sie es heute am Grabe sagten! — — — Soll ich sagen, wessen Opfer Marianne ist?«

»Sag’ es erst, wenn sie ihm das Kind entreißen wollen,« hat mich Marianne angefleht und mir diese Papiere gegeben; »aber zerreiße ungelesen diese Blätter, wenn er mein Kind erst sicher hat«, beschwor sie mich weiter. »Euer Hochwürden, hier, sofort müssen Sie sich entscheiden: wollen Sie uns mit dem Kinde ruhig unserer Wege gehen lassen, oder sollen diese Blätter gelesen werden? Nimmer Herr Domherr, wird über meine Lippen kommen, was Marianne mir aus Angst um ihr Kind anvertraut hat; ungelesen verbrannt werden diese Papiere, sobald dieser um sein Kind besorgte Vater von seiner Sorge befreit ist.«

»Erika«, stieß ich hervor.

Sie hob abwehrend ihre Hände.

Was für ein furchtbares Geheimnis mußten diese Blätter bergen! War diese gebrochene Gestalt[S. 162] noch dieselbe stolze Gestalt des hohen Kirchenherrschers?

Er hielt sich, ja, man sah es, er hielt sich am Fensterkreuz fest, sonst wäre er zusammengebrochen.

»Diese Papiere«, keuchte er, »woher hat sie sie ... woher ... woher ...?«

Er schien ganz vergessen zu haben, daß wir noch im Zimmer waren.

»Ich ersuche Euer Hochwürden, den Befehl zu geben, daß wir das Kind mit uns nehmen können, ... sofort ...« sagte Erika.

Ich staunte die Tochter der Heide an. Wie ernst, wie fest in sich gehalten stand sie hier und forderte ruhig und unentwegt. »Werden ... werden ... diese Papiere ...«, stammelte der Domherr.

»Euer Hochwürden, ich gab mein Wort. Ich gab Ihnen mein Wort, ich gab der Toten mein Wort, daß diese Papiere verbrannt werden, sobald der Vater sein Kind hat«, sagte Erika einfach.

Ja, als sie das sagte, mußte man ihr glauben. Jeder hätte ihr geglaubt. Mehr geglaubt als tausend Eiden anderer.

»Und niemand, auch dieser nicht ...« und der Domherr zeigte auf mich »... wird jemals erfahren ...«

»Niemand, Herr Domherr, ich verspreche es Ihnen bei Gott im Himmel«, sagte Erika.

[S. 163]

Der Domherr rüttelte sich auf und drückte auf den Klingelknopf. Eine Schwester trat lautlos ein.

»Ich gebe das Kind seinem Vater heraus«, sprach er zu ihr. »Nichts soll ihm in den Weg gelegt werden.« Dann sank er in dem Sessel zusammen wie leblos. —

Wir folgten der Schwester.

Ich nahm mein Kind in meine Arme; Erika ging stumm neben mir her.

So gingen wir unerkannt durch die stillen Straßen des Städtchens.

Ach, unerkannt! Und wenn die Menschen an den Wegseiten wie Mauern gestanden hätten, es hätte mich nicht gekümmert. Ich hatte mein Kind, dieses kleine, arme Geschöpflein, ja in meinem Arm, dicht neben mir ging die liebe, treue Heidkönigstochter, über uns blinkten die Sterne, und ein holdes Duften strömte aus den Gärten zu uns.

Marianne, bist du zufrieden?

[S. 164]

 

Nun weiß es jeder in der Stadt, daß ich Vater eines unehelichen Kindes bin. Daß ich dieses Kind adoptieren will.

Ein paar von den Herren, mit denen ich hier verkehrt habe, sind des Abends zu mir gekommen und haben mir abgeredet.

»Sie werden sich doch so was nicht für Ihr ganzes Leben aufladen; es ist eine Last, bedenken Sie’s doppelt, bevor Sie’s tun. Lassen Sie sich versetzen, geben Sie das Jöhr irgendwohin in Pflege, kein Hahn kräht dann danach«, sagte der eine.

Der Zweite meinte: »Es ist wirklich Pech für Sie, nun so’n Kind. Wenn Sie wirklich die Vaterschaft nicht leugnen wollen — es wäre übrigens gar nicht so schwer, wo die Mutter tot ist und niemand sonst nach ihr fragt —, dann tun Sie’s wenigstens heimlich. Es braucht doch keiner zu wissen davon.«

Der Dritte sagte lachend: »Wissen Sie, geben Sie das Ding fort, eine Frau kriegen Sie deshalb immer noch.«

Ich hörte alle drei an.

Dann sagte ich ganz ruhig und freundlich: »Meine Herren, ich weiß, Sie haben sich’s nicht überlegt, was Sie mir eben sagten. Denn wenn Sie sich’s überlegt hätten, müßten Sie mich für einen Schweinehund halten, und der bin ich nicht,[S. 165] rate auch keinem, mich dafür zu halten. Prosit, meine Herren!« —

Da wurden sie höllisch verlegen, stießen eiligst mit mir an und plauderten harmlos von anderen Dingen.

Als ich dann dem einen von den dreien im anderen Zimmer ein paar Rehkronen zeigte, gab er mir die Hand und sagte ganz treuherzig: »Wenn ich mir’s recht überlege, kriege ich alle Hochachtung vor Ihnen, weiß Gott.«

»Erst jetzt?« rief ich lachend und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Ähnlich ging mir’s mit dem zweiten und dritten. Mir war’s lieb. Denn alle drei hatte ich gern, und es waren im Grunde brave Menschen.

Erikas Vater hat geschrieben, daß er am Sonnabend kommt.

Sie fährt ihm ein paar Stationen entgegen.

Ich weiß, sie will ihm in Ruhe erzählen.

Erzählen von der Kauzburg, von Mariannen, von mir und dem Kind.

Also Sonnabend!

Noch eine kurze Woche! Mir klopft das Herz zum Zerspringen.

[S. 166]

Gott, Gott, soll ich dieses Mädchen verlieren? Soll mein Kind diese treue Mutter verlieren? Zeige nun, Gott, daß du wirklich Gott bist! Zeige es, so will ich glauben! Laß sie mir. Laß den guten Geist des Hauses in meinem Hause! Aber unmöglich ist’s, ich weiß doch, daß es unmöglich ist!

Am Sonnabend also kommt der Heidkönig!

Jedem Mädchen ist die Liebe zum Kinde tief eingepflanzt von Natur: die Mutterliebe.

Wie soll man sich’s sonst erklären, wenn man Erika mit der kleinen Marianne sieht.

»Sind Sie denn dem Kinde gut, Erika?« fragte ich sie heute. Da nahm sie das hilflose Geschöpf und drückte es wortlos an sich.

»Noch ein paar Tage, dann kommt Ihr Vater, Erika, was wird dann

Sie sagte nichts, aber ich sah, wie sie sich festklammerte an das kleine Menschenkind in ihrem Arm.

Tief unten rauscht der Fluß unter der hochbogigen Brücke, die Wasserflut drängt an die Pfeiler.

[S. 167]

Es hat geregnet, und rasch schwillt der aus den Bergen kommende Strom an.

Doch seit gestern scheint die Sonne wieder freundlich vom Himmel.

In den Frühlingswald fahre ich heute hinaus. Ich will den Wald um mich haben.

Meine Waldbäume will ich sehn.

Morgen ist Sonnabend. Heidkönig, komme! Ich bin gefeit gegen dich. Erika liebt mein Kind; sie läßt es nimmer.

Will sie das Kind behalten für immer, so muß sie den Vater des Kindes mit in den Kauf nehmen. Es geht nicht anders, Heidkönig, also mußt du nachgeben!

Ich mache mir ganz umsonst so viel Sorgen. Frisch glänzen die Wiesen vom letzten Regen. Frisch glänzt — fast scheint es — das Gefieder des Störchleins, das in den Wiesen nach Fröschen herumstrolcht. — — —

Ich vermisse Erika. Gestern fuhr sie ihrem Vater entgegen. Noch mehr wird sie von dem Kinde vermißt. Das schreit ganz kläglich.

»Heute, bald kommt sie wieder, kleine Marianne, eia popeia, eiapopeia.« —

Und nun schreitet sie neben ihrem Vater über den Burghof. Also so sieht er aus, der Heidkönig?

Nicht groß, nicht klein, eine Mittelfigur. Ernst[S. 168] ist sein vom braunen Vollbart umrahmtes Gesicht, klar und treu und mit dem den Heidmenschen eigentümlichen Ausdruck des Verträumtseins und eines tiefen Innenlebens sind seine Augen. Auf dem Burghofe blieb er stehen und sah sich um. Dann sprach er ein paar Worte zu Erika. Sie nickte. Gewiß hat er zu ihr gesagt: »Es ist hübsch hier zwischen den grünumrankten Mauern, zwischen den Fliedersträuchern und dem gelben, hängenden Goldregen, hübsch hier in dem Burghofe, über den der Rotdorn seine Äste ausbreitet.«

Ja, zur Frühlingszeit kann sich die Kauzburg sehen lassen. Ich höre, wie der Heidkönig von Fräulein Bartel begrüßt wird. Natürlich wortreich, mehr als wortreich. Und nun klopft es an meiner Tür.

»Herein!« rufe ich. Erst kommt Erika herein, sie hat das Kind draußen schon jammern hören. »Grüß Gott!« sagt sie und gibt mir die Hand und wendet sich gleich zur Wiege, in der das Mariandel liegt und schreit und ruhig wird und lacht, als sie es aufnimmt und hin und her wiegt. Und vor mir steht nun ihr Vater, der Heidkönig. Er prüft mich klar und ernst mit seinen Augen. Wir geben uns die Hände. Ein kurzer Händedruck. Warum werde ich denn verlegen und komme mir klein vor diesem Manne gegenüber? Der hat nie gesündigt, der[S. 169] kann auf sein ganzes Leben zurücksehn wie auf einen sauberen Tisch — das sind meine Gedanken. Und diese Gedanken machen mich verlegen und klein vor ihm.

Ein großer, von Vater und Vaters Vater her ererbter Landsitz macht die Menschen merkwürdig sicher und in sich selbst gefestigt. Man spricht nicht umsonst von »Bauernstolz«. Bei diesem Manne hier machte sich ein Selbstgefühl nicht unschön breit.

Aber Selbstgefühl und Stolz ... Stolz auf seinen großen, einsamen Heidbesitz, auf seinen Namen und vor allem auf sein und seiner Väter unberührtes Heidleben hatte er. Den hatte Erika auch. Und diese Menschen durften ihn haben. Mit viel mehr Recht als mancher andere.

Aber was diesen Stolz — auch beim Heidkönig — so milderte und ihn schön machte, das war die schlichte Treue, die volle Ehrlichkeit, die selbstverständliche Pflichterfüllung, die reinste Offenheit ohne jedes Körnchen Lug und Trug, Verstellung und Heucheln.

»Ich kenne nur einen Weg, den geraden«, sagte der Heidkönig, sobald man ihn sah, ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte.

Wir plauderten zunächst über alltägliche Dinge. Ich fragte ihn nach dem Erfolge seiner Reise, nach seinem Heidhofe, seiner Heide! Er antwortete[S. 170] wortkarg. Fragte mich nach meinem Walde, nach dem Wild im Walde, besah sich die Geweihe, Rehkronen und ausgestopften Wildköpfe, dann aber sagte er nach einer Weile nachdenklichen Schweigens: »Ich bitte Sie, mir zu sagen, was ich an Pensionsgeld für Erikas Aufenthalt an Sie zu zahlen habe, da ich sie morgen wieder mit mir nehme.«

Die Worte trafen mich wie ein Schuß.

Und doch war nichts natürlicher, als daß er das sagte. »Da ich sie morgen wieder mit mir nehme«, ... immerfort hörte ich das in meinen Ohren klingen.

Er sah mich freundlich und doch auch ernst an. Zuletzt wiederholte er seine Frage, da ich immer noch schwieg. »Unsinn ... davon kann keine Rede sein«, stotterte ich. »Ihre Tochter hat doch im Hause geholfen ...«

»Das ist selbstverständlich, und müßig hier sein hätte sie nicht gekonnt, das liegt nicht in ihr, und so habe ich sie mir auch nicht erzogen. Aber daß ich den Aufenthalt meiner Tochter nicht als Geschenk annehmen kann, werden Sie sich selbst sagen, also bitte überlegen Sie es sich, und sagen Sie mir morgen Bescheid.«

Dann schwieg er wieder.

Nach einer Weile sagte er: »Ich danke Ihnen, daß Sie sich bereit erklärten, meine Tochter so lange unter Fräulein Bartels Schutz bei sich aufzunehmen.[S. 171] Freilich, wenn ich gewußt hätte, ... doch nein, Erika hat mich gebeten, Ihnen nichts darüber zu sagen, also mag es schon so bleiben, und so sage ich Ihnen nur meinen besten Dank.«

»Und Sie wollen Erika mitnehmen, und was soll aus mir werden und aus dem Kinde?« rief ich aufspringend.

Ruhig und prüfend lag sein Blick auf mir. Der Mann hier war freilich ein anderes Gegenüber als der Domherr mit seiner bösen Schuld.

Das Päckchen mit Papieren hatte ich Erika sofort nach unserer Heimkehr mit dem Kinde in die Kauzburg zurückgeben müssen. Ich hatte sie gebeten, nur einen Blick hinein tun zu dürfen. Vergeblich natürlich gebeten! Das Kind war ja mein geworden, in meinem sicheren Besitz, also — mußten die Papiere ungelesen vernichtet werden. Keine Macht der Erde hätte an ihrem Versprechen, das sie Mariannen gegeben hatte, etwas ändern können. Aber ich war überzeugt davon, daß der Domherr schwere Schuld an Mariannen hatte. Ich war überzeugt, daß Marianne, das arme, auf des Klosters Schwelle ausgesetzte Kind der Straße, sein Kind war. Was war meine Schuld dagegen? Ein Stäubchen nur gegen einen Berg!

Der Mann der Heide aber stand wie ein wirklicher König vor mir, wenn ein reines und vornehmes[S. 172] Innenleben den König macht, wie man so gerne und so falsch oft glaubt.

»Wie meinen Sie Ihre Worte, ich verstehe Sie nicht? Was aus Ihnen und dem Kinde werden soll, wenn ich Erika mit mir nehme?« sagte er langsam. »Was hat meine Tochter damit zu tun?«

»Hat Ihnen Erika nicht gesagt, was sie der Mutter des Kindes versprochen hat?« rief ich.

»Nein«, sagte er. »Was hat sie der Mutter des Kindes versprochen? ... Ach, ... da kommt sie ja selbst, ... ist gut, daß du kommst, Erika ... was hast du ihr versprochen? Hast du gehört, worum es sich handelt?«

»Ja, Vater«, sagte sie, nichts weiter.

Er sah sie fragend an. Dann mich.

»Bitte wollen Sie mir nun dieses Versprechen nennen, von dem meine Tochter nichts gesagt hat?«

»Vater«, sagte Erika und trat zu ihm hin.

»Schweige jetzt, da du vorhin deinem Vater nicht geantwortet hast«, wies er sie freundlich, aber entschieden ab.

»Sie hat der Sterbenden in ihre erkaltende Hand hinein versprochen, ihrem armen Kinde eine treue Mutter zu sein«, sagte ich, und meine Stimme bebte. Ich kämpfte ja um das Glück meines Lebens.

»So?« ... sprach er, und seine Stirn zog sich[S. 173] zusammen. Seine Augen sahen auf die Tischplatte, und so stand er lange Zeit und sprach kein Wort.

Es war lautlos still in der Stube.

Ein paarmal weinte das Kindchen im Schlafe, weinte sich aber immer wieder schnell in sein ruhiges Schlummern zurück.

»So?« ... sagte er noch einmal.

»Wiederhole, was du der Toten in ihre Hand hinein versprochen hast, Erika«, wandte er sich dann an sie.

Es war, als ob er Zeit, viel Zeit brauchte, um sich in das, was er soeben gehört hatte, hineinzufinden.

»Ich habe der Sterbenden in die kalt werdende Hand hinein unter Anrufung Gottes versprochen, diesem Kinde hier für alle Zeit eine treue Mutter zu sein, mein Vater«, sprach sie, ohne zu stocken, mit tiefer, leiser, treuer Stimme. Ihre Augen, mit denen sie ihren stumm dastehenden Vater ansah, schimmerten feucht.

»So?« ... sagte der Heidkönig zum dritten Male und fuhr sich mit seiner rechten Hand über die Stirn.

Eine Ewigkeit schien mir’s zu sein, ehe er weitersprach.

»Und wie gedenkst du dieses Versprechen einzulösen?« fragte er.

[S. 174]

— Was wird sie antworten?

»Ich will das Kind mit mir nehmen auf den Heidhof, Vater«, sagte sie.

Er schwieg. Ein paar Schritte machte er auf den Wagen zu, in dem das Kind schlief, und blickte auf das schlafende, lächelnde Gesichtchen hinab.

»Das Versprechen, dieses Versprechen an deine Mutter ...« murmelte er zu dem Kinde.

Als ob das Kind ahnte, daß es sich um Sein und Nichtsein handelte, denn ein Nichtsein würde es wohl werden, wenn man diesem Geschöpfchen Erika nehmen würde, — das Mariandel in seinem Korbwagen wachte auf, rieb sich mit den Fäustchen die Augen und fing zu schreien an.

Es klang, als ob ein Junghäslein klagte. Da drehte sich der Heidkönig um. Eine tiefe Röte lag auf seiner Stirn. Finster sahen seine Augen aus; tief gefurcht seine Stirn.

»Es ist nicht anders,« hub er zu sprechen an, während Erika das Kind hochnahm und beruhigte, »es ist nicht anders; jeder Mensch muß halten, was er verspricht. Lebte dieses Kindes Mutter noch, so würde ich mich an ihrem Sterbebett niederknien und sie bitten: lege nicht diese bittere Schwernis auf die jungfräulichen Schultern meines Kindes und nimm dieses Versprechen zurück. So aber bleibt es bestehn wie des Petrus Fels. Erika, ich erlaube[S. 175] dir, dein Versprechen einzulösen. Du darfst morgen dieses Kind mit in den Heidhof nehmen. Halt,« wehrte er sie ab, »ich bin noch nicht zu Ende. Klar muß alles werden. Auch« — wandte er sich an mich — »zwischen Ihnen und mir und ... der Erika.«

Er schwieg eine ganze Zeit, dann sprach er weiter, ruhig, ernst und nachdenklich:

»Ich bin nur ein einfacher Mann, ich habe mein ganzes Leben in einsamer Heide zugebracht, und so habe ich nichts von der Welt und ihrem Tun und Treiben kennengelernt. Hätte ich’s, vielleicht dächte ich so, wie viele denken mögen über die Unzucht und Unkeuschheit. Ich kann aber nur so darüber denken, wie ich eben denke. Und so sage ich Ihnen denn: nie wird meine Tochter meinen väterlichen Segen dazu erlangen, daß sie einen Mann zum Ehemann nimmt, der so wie Sie der Vater eines unehelichen Kindes ist. Ich sage Ihnen das und sage es dir, Erika. Meine Augen sehen scharf wie des Wanderfalken Augen, wenn es sich um meine Tochter, um mein einziges Kind handelt. Und ich habe gesehn, daß Erika Ihnen zugetan ist und Sie der Erika. Laß mich reden, Kind,« wehrte er seine Tochter wiederum ab, »was ich hier sage, muß gesagt werden, damit alles für alle Zeit klipp und klar ist. Wollen Sie leugnen,« sagte er zu mir gewandt, »daß Sie sie liebgewonnen haben, nachdem[S. 176] Sie erkannt haben, daß es ein keusches, braves unverdorbenes Heidekind ist?«

»Nein, ich leugne es nicht!« rief ich, »Erika ist der gute Geist dieses Hauses, sie ist mein guter Geist geworden, ich weiß nicht, was aus mir werden soll, wenn ich sie für immer verliere.«

»Sie sind ein Mann«, sagte der Heidkönig, »seien Sie ein Mann! Ein Mann muß stets wissen, was werden soll, und hätten Sie das früher gewußt und bedacht, so ständen Sie jetzt keusch und in allen Ehren vor mir, und ich würde Ihnen meine Tochter nicht weigern. Aber Sie werden und müssen einsehn, daß ich so handeln muß, wie ich jetzt handle, und ich denke, daß Sie mir nichts in den Weg legen?«

Ich hörte die tief verborgene Besorgnis aus seiner Stimme? O, er wußte, daß ich in Erikas Liebe zu dem Kinde und in ihrem Mitleide mit mir, dem Vater dieses Kindes, starke, gefährliche Bundesgenossen hatte!

Sollte ich sie brauchen? Sollte ich mich hinwerfen vor ihr, ihre Knie umfassen und immer wieder bitten: »Bleib, du guter Geist dieses Hauses, ach, bleibe!?«

Da tönte wieder seine Stimme.

»Geben Sie sich keiner falschen Hoffnung hin,« sagte er, und mir war, als habe er in meiner Seele gelesen, »Erika wird nie einem Manne angehören[S. 177] wollen, der ein Kind sein eigen nennt, zu dem er sich erst bekennen mußte, ehe es vor den Menschen sein Kind werden konnte. Unsere Frauen und Mädchen in der einsamen Heide denken darüber streng. Nicht wahr, Erika?«

Ich hielt den Atem an.

Sie schwieg.

Da vertiefte sich die Furche in der Stirn des Alten. »Wie, Erika, du schweigst? Hab’ ich dich deshalb aus dem Heidhofe hierher gehen lassen, damit der Schmutz deine reine Seele vergiftet?«

»Ich denke so, wie du denkst, Vater«, sagte die Heidkönigstochter und sah in Scham auf das Kind in ihrem Arm herab. »Ich habe aber einer Sterbenden mein Wort gegeben, Vater. Und ...« Sie sah ihn nun bittend an.

»Das sollst du halten, meine Tochter«, unterbrach sie der Heidkönig.

»Das Kind darfst du mit in den Heidhof nehmen, und zwar für ein Jahr. Dann ist es aus dem gröbsten heraus, und wir können es seinem Vater ohne Sorge wieder zurückgeben. So hast du dein Versprechen gelöst und bleibst trotz allem mein reines Kind der Heide.«

»Sind Sie damit einverstanden?« wandte er sich an mich.

[S. 178]

»Ich bin’s«, erwiderte ich, denn die Hoffnung zog wie ein Lichtstrahl in mein Herz.

»Ja, ich bin’s und danke Ihnen, daß Sie das erlauben! Was sollte sonst werden jetzt mit mir und dem Kinde?«

»Gut, so sind wir einig. Nur mache ich zur Bedingung, daß Sie vor Ablauf dieses Jahres Ihren Fuß nicht über die Schwelle des Heidhofes setzen.«

Ich blickte hinüber, wo Erika mit meinem Kinde stand. Ich sah, wie sie erblaßte, wie ihre Augen angstvoll und in voller Frauenliebe auf mir ruhten, ich sah aber auch, daß irgend etwas in diesen braunen Augen stand, das mir zurief: »Gehe auf diese Bedingung ein, harre aus und hoffe!«

»Darf ich wegen des Kindes ab und zu an Ihre Tochter schreiben?« fragte ich.

Er dachte lange nach.

»Man kann einem Vater solche Bitte nicht abschlagen,« sagte er dann; »darf er an dich schreiben, Erika, und willst du ihm antworten?«

»Ja, Vater«, erwiderte sie.

»Nun gut, so mag’s sein«, sprach er. »Und nun wissen wir voneinander, was wir wissen mußten, bevor ich von hier wieder abreise«, sagte er zu mir. »Ich halte Sie trotz der schweren Verfehlungen für einen braven Mann. Sehn Sie zu, daß Sie sich in[S. 179] Ihrem Kinde eine brave Tochter erziehn, so wird das Unrecht gesühnt, daß diesem Kinde das Leben gab. Jetzt will ich’s Ihnen auch offen sagen: es hat mich gefreut, daß Sie sich so offen zu dem Kinde bekannt haben. Hätten Sie’s nicht getan, so hätte ich nicht den Dank über meinen Mund gebracht dafür, daß Sie damals Fräulein Bartel erlaubten, Erika herzunehmen. — Bis morgen also.«

Bis morgen also!

Es ist spät am Abend. Die andern schlafen, ich aber bin noch wach und wandere ruhelos in meiner Stube auf und ab. Bis morgen also!

O, wäre ewig diese Nacht! Gäbe es doch kein Morgen! So behielte ich sie in diesem Hause, so hätte ich wenigstens das Gefühl: sie ist noch hier.

Sie und mein Kind.

»Eine schwere Verfehlung«, hatte der Mann gesagt. Keiner hat mir so ruhig, so schlicht und so wahr meine Sünde vorgehalten, als dieser Mann!

Ach, Marianne, du bist nun tot, und nun geht auch deine Schuld auf meine Rechnung über.

Nun muß ich alles auf mich nehmen und kann nicht sagen: »Mann, sie hat doch auch schuld. Sie hatte doch mehr schuld als ich!« — Du bist tot: Was[S. 180] würde er sagen, hätte ich so von einer Toten gesprochen!

Nein, Marianne, ich werde deine Ruhe nicht stören. Aber, so es wirklich ein Jenseits gibt, an das du doch auch immer glaubtest, so mache deinen Teil der Schuld gut, wirf dich hin vor Gottes Thron und flehe ihn an, daß des Heidkönigs Tochter nicht nur für dieses eine Jahr dem Kindchen eine treue Mutter sei, sondern fürs ganze Leben. Flehe ihn an, daß sie mein Weib wird.

So wirst du gutmachen, was du an mir gesündigt hast in deiner Leidenschaft und Liebe zu mir. Wenn zwei eine Sünde tun, so sind doch beide Sünder!

Ach, dieser schreckliche Begriff von Sünde!

Festgeschmiedet ist die Menschheit in unheilvolle Fesseln. Nein, nein, nicht unheilvoll!

Gibt es etwas Heiligeres als die Fesseln von Staat und Kirche, die den Mann an ein geliebtes Weib binden?

Sie werden nur unheilvoll durch das Verschulden der Gefesselten selbst.

Fessel! Gefesselt! — — —

Fessellos! Frei! — — —

Freie Liebe! Freie Leidenschaft!

Ich höre mein Kind schreien! — Ach, du armes Häschen, du! Du Kind der freien, fessellosen Leidenschaft!

[S. 181]

Denk’, mein armes Häschen, wenn ich mich nicht zu dir bekannt hätte als dein Vater.

Dann hätten sie dich zu einer Nonne gemacht. Nie wären die Freuden, die unschuldvolle Lust des Kindes an dich herangetreten.

Immer hätte man dir als deine Schuld angerechnet, die andere getan haben. Beten und büßen hättest du gemußt für die Sünden deiner Mutter und deines Vaters. Nie hättest du Elternliebe, Mutterliebe kennengelernt, immer hätte es geheißen: Du bist ein Kind der Sünde, du kannst nur durch Gebet in den Himmel kommen.

O, du mein armes Häschen du! —

Freie Liebe! Freie Leidenschaft!

Tausendmal müßten es alle bedenken, bevor sie in freier Liebe, in freier Leidenschaft alle Schranken durchbrechen! Und doch auch wieder: Wie menschlich, wie jammervoll menschlich ist es! Wir haben doch unsere Leidenschaft, unsere Liebe! Warum haben wir sie denn? Wenn sie Sünde ist und alles, was aus ihr zum Leben kommt, das Kind der Sünde ist? Da gehst du nun, leuchtender Mond in stiller Frühlingsnacht, deine hohe, ruhige, immer und immer gleiche Himmelsbahn! Du wirst von so vielen als schönes, mild lächelndes Licht gepriesen und besungen.

Was bist du denn in Wahrheit! Nichts als ein[S. 182] gefühllos kalter Stern im großen Weltall. Du lächelst dasselbe Lächeln, wenn unter dir ein Mord geschieht, du lächelst dasselbe Lächeln, wenn unter deinem verbergenden bleichen Glanz zwei Menschen in Leidenschaft sich befinden und diese Leidenschaft dann lebenslang ein armes Menschenwurm büßen muß, du lächelst dasselbe Lächeln heute — und morgen verlassen die beiden mein Haus!

Man weiß, du bist nichts weiter als ein kalter Stern, und doch kann man sich dir nicht entziehn.

Auch heute, wo ich mich aus dem Fenster lehne und in die glanzumflossene, stille Silbernacht mit dem Schmerz der Trennung schaue, bist du es, kalter nichtssagender Gesell dort oben, der in mein Herz die Abgeklärtheit dieses Schmerzes senkt.

Morgen abend um diese Zeit!

Da ist sie schon im Heidhofe, fern von mir in der fernen Heide. Mein Kind aber ist bei ihr. Und daß sie es hat, das spinnt Fäden, fein wie von Spinnenfleiß gesponnene Fäden von der Heide bis hier in meine Kauzburg hinein. Dann muß ich dich wieder bitten, dich, den kalten Gesellen Mond, der so verträumten Glanz auf unsere Erde ausgießt, — ich muß dich bitten, mit deinem Silberglanze diese Fäden zu erfüllen, so werde ich sie sehen. Was unsichtbar von Seele zu Seele sich spinnt, wird sichtbar werden im weichen Silberglanz des Mondes.

[S. 183]

Und sorgen will ich, daß diese Fäden nicht zerreißen.

Schreiben in die Heide will ich ihr; schreiben, wie einsam ich wieder bin und wie verlassen. Immer mehr will ich in ihre Seele das Mitleid mit mir pflanzen. Immer mehr will ich ihre Liebe wecken für das Kind. So wird das Gespinst der Fäden immer haltbarer, immer fester. Bis es unzerreißbar sein wird. Dann klettere ich daran hoch, hinein bis ins kleine Fensterlein ihres Heidhofstübchens. Heidkönig, ich nehme den Kampf mit dir auf! Ich sage dir Krieg an bis aufs Messer um deine Heidkönigstochter!

Ein Königstöchterlein gibt man nicht so leicht auf. Und ein Heidkönigstöchterlein erst recht nicht! Aber ein Jahr, ein ganzes, volles, langes Jahr! Ein Jahr, daß dreihundertundfünfundsechzig Tage hat und ebenso viele einsame Nächte! Und Nächte sprechen lauter zu dem einsamen Menschen als Tage.

Die Nächte sprechen durch ihre Stille so laut zur dürstenden Menschenseele.

Wie wird meine Seele nach dir dürsten, du treues, liebes Königstöchterlein!

Ein Königreich wirst du mir schenken, und dieses Königreich bist du.

In tiefen, abgrundtiefen Schlaf möchte ich mich ein Jahr lang versetzen und aufwachen erst zur Stunde, da ich vor dir stehe und du vor mir.

[S. 184]

Und zwischen uns das Kind.

Doch nein, nein. Wir werden uns ja schreiben! Wach muß ich bleiben und treu im Wachen! —

Morgen bist du in deiner Heide, Heidkönigstochter. Der Frühling empfängt dich, blühn und duften wird es aus tausend, vielen tausend Blumen, wenn du, die Königin der Heideblumen, heimkehrst zur Heide.

Die Bienen werden summen und gelben Pollenstaub an ihren Beinchen verschleppen, von Blüte zu Blüte werden sie naschend und nippend fliegen und heimgeleiten dich, du Königin aller Heideblüten.

Die Schmetterlinge werden ihre zarten Flügel spannen, im flimmernden Sonnenschein ihr buntes Farbenspiel entfalten, und in dein braunes Haar werden sie sich niederlassen, weil du die Königstochter der Heide bist.

Der Heidkönig wollte nicht, daß ich ihn und seine Tochter zur Bahn brachte.

So blieb ich denn in der Kauzburg zurück.

Fräulein Bartel begleitet sie ein Stück Weges noch auf der Bahn und kommt morgen früh zurück. Sie wollte mein kleines Mariannchen auf ihren Arm nehmen, aber Erika ließ es nicht zu.

Sie nahm mein Kind in ihre Arme. Wie geborgen[S. 185] wird das kleine Geschöpfchen sein. Viel geborgener, als ich es bin.

Kaum hatte sich das Tor der Kauzburg hinter ihnen geschlossen, da riß ich meinen Gaul aus dem Stall. Gesattelt war er. Ich schwang mich hinauf, und fort ging’s wie die wilde Jagd querfeldein an die Bahngleise heran. Ein paar Minuten vor dem Zuge war ich an Ort und Stelle. Draußen, gerade dort, wo der Wald anfängt, riß ich meinen Gaul zusammen. Er stand wie eine Mauer dicht an den Bahnschienen.

Und da kam der Zug, ganz langsam, wie die Kleinbahnzüge es tun, heran. Mein Waldhorn hatte ich schon am Munde. Klar klang sein schwermütig-fröhlicher Ton dem Zuge entgegen. Kaum erklangen die ersten Töne, so bog sich das Kind der Heide weit hinaus.

Sie kannte ja mein Waldhorn, und oft hatte ich des Abends Volkslieder auf ihm geblasen.

Weit bog sie sich heraus. Ihr braunes Haar spielte im Winde. Aus ihren Augen blinkten die Tränen, und mit einem Blick der Liebe sah sie mich an wie nie zuvor.

»Lebe wohl, auf Wiedersehen!« rief sie mir zu, als sie so nahe an mir vorbeifuhr, daß sie mich fast mit ihren Fingerspitzen erreichen konnte, die wie ein Hauch über mein Gesicht glitten.

[S. 186]

Schon war der Zug um die Waldbiegung verschwunden.

Ich aber blies weiter das alte Lied vom Scheiden und Meiden, und der Wald trug lang und bang das Echo zurück.

Dann sprang ich jählings herunter vom Gaul. Ins Gras warf ich mich, und über mir in den grünen Wipfeln der Bäume klangen die Blätter aneinander und flüsterten leise, ganz leise: »Lebe wohl, auf Wiedersehen!«

Einen blühenden Erikazweig brachte mir Fräulein Bartel mit: »Von Erika, das schickt sie Ihnen.«

[S. 187]

 

Liebe Erika!

Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief. Sie hätten mir sicher viel eher geschrieben, wenn Sie gesehn hätten, wie ich Tag für Tag dem Briefträger entgegeneilte, wenn er die kleine, steinüberwölbte Pforte, durch die Sie so oft ein und aus gegangen sind, öffnete und seine rotstreifige Mütze sich zeigte.

Die Vögel haben längst ihre Nester gebaut, schon hat abgeblüht der Flieder, das Korn schießt schon in seine Halme. Der Sommer naht, ist eigentlich schon da, und endlich, endlich heute der ersehnte Brief.

Dem Dürstenden eine Wasserspende. Ach, ich war gleich dem Dürstenden in weiter, öder Wüste. Aber nun bin ich in der Oase. Die Palmen rauschen über mir, die Quelle sprudelt, ringsum ist Wüste, doch ich bin geborgen.

Haben Sie Dank, Heidkönigstöchterlein, daß Sie aus Ihrem Brunnen mir den Krug zum Trinken reichten.

Ein tiefer Brunnen ist’s, aus dem Sie Wasser schöpfen, und wie ein reiner Bergquell ist sein Inhalt.

Die Heide muß den Bergen gleichen, denn auch in ihr herrschen Einsamkeit und Reinheit.

Dreimal schon habe ich Ihren Brief gelesen,[S. 188] dreimal des tiefen Brunnens silberklares Wasser ausgeschöpft, und nun ich wiederum ins Lesen komme, wird mir der Trunk zum neuen Labsal wieder.

Also dem kleinen Mariannchen geht es gut? Wie könnte das anders sein, wo das Kind in Ihnen eine so treue Mutter gefunden hat. Und Ihr Vater, der Heidkönig, kann gar nicht mehr ohne das Kind sein? Das sind zwei schöne Botschaften, die mir die Heide sendet. Die dritte schöne, schönste Botschaft atme ich aus den Blumen ein, die das Heidkönigstöchterlein zwischen die Seiten des Briefes legte. Frisch sind die Blumen wieder aufgeblüht in der Vase mit Wasser, die neben mir steht. Sie duften den frischen Heideduft mir zu. Er schwebt durchs Zimmer, haftet sich an mein Gewand, von draußen flimmert sommerliche Abendsonne durchs offene Fenster herein, die Meisen hör’ ich zirpen, den Pirol locken und die Finken schlagen. Lieg’ ich in stiller Heide? Kommt dort nicht durch das blühende, schöne Heidekraut die Tochter der Heide gegangen? Neigt sie nicht den Kopf mir zu? Glänzt nicht aus ihren Augen lautere Treue? Streift sie mit sanfter Hand nicht über meine Stirn?

Ich bin einsam, Erika, unendlich einsam.

[S. 189]

Seitdem die Heideblume nicht mehr in meiner Kauzburg blüht, seitdem sie mit meinem Kinde, das nun an ihrem Herzen zur kleinen Heideblume erblühn wird, fortzog in die Heide zurück, bin ich einsam.

Ich will keines Menschen Mitleid.

Ich verachte das Mitleid der Menschen.

Ein einziges Mitleid aber will ich mir erhalten, will es ausdehnen so weit, daß die ganze Heide um den Heidhof davon träumt und in stillen Träumereien davon erzählt, solange erzählt, bis Ihr Herz ganz davon erfüllt wird. Das Mitleid in einem Mädchenherzen öffnet wie ein Schlüssel die Pforte zur Kammer der Liebe. Und die Liebe vermag den unübersteigbaren, winterharten Berg zum stillen, grünen Tale umzuwandeln.

Wird für mich das stille Tal ergrünen?

Leben Sie wohl, Erika. Grüßen Sie mir mein Kind, es soll seine kleinen Arme um Ihren Hals schlingen und soll wie ein kleiner Engel sein, der zwei Herzen mit seinem silbernen Hammer fest zusammenschmiedet für alle Ewigkeit. Grüßen Sie auch den Heidkönig. Er riß uns auseinander, aber ich kann nicht anders: Ich will ihm grollen und zürnen und vermag es nicht. Er hat ganz recht, dieser stolze, schlichte Mann:[S. 190] Erst die Buße reinigt und erst das Fegefeuer öffnet uns den Weg zum Himmel. Meine Buße habe ich und mein Himmel ist ein Königstöchterlein, das wie eine Madonna mit dem Kinde durch die Blüten der braunen Heide schreitet.

Ihr

einsamer Freund.

N. B. Ich habe meine Versetzung nach Schlesien erbeten. Wenn es mir doch glückte. Ich bin ein solcher Heimatmensch und hänge an der Heimat wie eine Fledermaus tagsüber in der Räucherkammer hängt.

Mich stören hier auch die Erinnerungen und ... die Menschen. Kürzlich rief ein Kuckuck statt Kuckuck immerfort: Erika, Erika, Erika. Ich hab’s deutlich gehört. Und Sie werden lachen, wenn Sie das lesen. O, Sie böses, süßes Heidekind, Sie!

Daß du dich so riesig freust, liebe alte Mutter!

Feste der Freude willst du feiern über die Rückkehr des verlorenen Sohnes? Liebe Mutter, du lächelst. Ich sehe in deinem lieben Muttergesicht die kleinen Runzelchen und Fältchen, die dein Gesicht so schön machen. So wunderschön, wenn aus ihnen[S. 191] tausend liebe Mutterlächeln strahlen. Du schreibst mir: »Ich will Dich bei Deiner Rückkehr ins liebe schlesische Heimatland feiern, wie man den verlorenen Sohn bei seiner Heimkehr feiert; freilich warst Du mir in einem ganz anderen Sinne ein ›verlorener Sohn‹: Nur weil Du fern warst, viel zu fern von einer so alten Frau, als ich eine bin, nur darum mir verloren, Du lieber Sohn.«

Ach, liebe Mutter, wenn du wüßtest, wie nahe daran ich war, der biblische verlorene Sohn zu sein. Was wirst du sagen, wenn du alles weißt? Und wissen mußt du es! Wie werden deine Augen ratlos in Herzensangst blicken, wenn ich dir sagen werde: »Ich bin Vater eines Kindes!« Wirst du dieses Kind als Enkelkind aufnehmen? Bei deinen gläubig-strengen, durch die Tradition geheiligten Grundsätzen?

Wie leid tut es mir, dir diesen Kampf nicht ersparen zu können.

Bereite noch keine Feste vor für den »verlorenen Sohn«, liebe Mutter!

Erst wenn du weißt, daß es eine Zeit gab, wo er wirklich der verlorene Sohn war, dann, ja dann nimm ihn ans mütterliche Herz und laß ihn dort die Feste feiern, die deine Mutterliebe ihm bereiten wollte.

[S. 192]

Man verwächst mit einem Ort, an dem man längere Zeit geweilt hat, ohne daß man es merkt.

Erst die Abschiedsstunde macht es uns bewußt. Als ich meinen Wunsch erfüllt sah und nach Schlesien versetzt war, überkam’s mich im ersten Augenblick fast wie ein Schreck. Auf einmal sah ich manches, was ich bis jetzt nicht gesehn hatte.

Wie schön, wie selten schön ist doch dieser Blick über den alten Kirchhof hinüber weit in das Flußtal hinein. Wie eigenartig doch die Kauzburg selbst!

Wie traut mir diese hohen Räume, in denen ich mich erst so ungemütlich fühlte!

Ob wohl in Schlesien Buntspechte im Forstgarten sein werden wie hier? Ob dort wohl auch im Frühling die Nachtigall ihr einsam schönes Nachtlied im Garten singen wird? —

Am Abend ging ich zum Grabe Mariannens. Auch hier ein Abschied. Von vielem.

Als ich vom Grabe aufsah, erblickte ich den Domherrn am Fenster stehend. Krank sah er aus, schwer leidend. Ich glaube, dies Grab, an dem ich stehe, hat’s ihm angetan. Als meine Augen auf ihn fielen, machte er eine Bewegung, als wollte er rasch ins Dunkle des Zimmers zurücktreten. Dann aber blieb er stehen. Langsam, ganz langsam beugte er sich hinaus. Und dann sagte er mit verschleierter Stimme zu mir: »Ich werde über diesem Grabe[S. 193] wachen und es pflegen. Ist es nicht schön gepflegt? Daneben ... daneben ...«

Da brach er ab, denn eine Nonne ging quer über den Kirchhof.

Ich grüßte hinauf, als ich ging.

Er grüßte zurück und sah mir nach, bis sich die Pforte hinter mir schloß.

Also doch ein Herz unter dem gestickten Priesterkleid.

»Daneben ... daneben ...«

Ich wußte, was er meinte.

Neben Mariannens Grab wird bald ein anderes sein. Dann ist auch er tot. Mich wird’s nicht stören, komm’ ich im nächsten Jahre zu ihrem Grab. Denn die Toten haben alles hinter sich; auch ihre Sünde. Die Erde entsündigt. Sie gleicht aus, was ungleich war. Ein bißchen Erde mehr, nichts anderes. Soll man einem Teilchen der Erde zürnen, die für uns alle der gleiche Schoß ist?

Auch das heidnische, steinerne Käuzchen nehme ich nicht mit nach Schlesien. Ich traue diesem Käuzchen nicht! Wer weiß, ob nicht böse Geister daran schafften. Und ich habe mir das Unglück ins Haus getragen mit ihm.

[S. 194]

Heruntergeschafft habe ich’s wieder und vor den Eingang des unterirdischen Ganges gestellt. Dort mag es stehen und den Gang in das stille Tal verschließen wie früher. —

Ich benutzte den Nachtzug nach Schlesien. Fern flammte das Abendrot über dem Himmel, als ich das Städtchen verließ. Mit was für Gedanken! An Vergangenheit, an Zukunft. Was hat mir jene gebracht, was wird mir diese bringen? Wie mit blinden Augen müssen wir kommenden Tagen entgegengehn. Nie weiß man, was der nächste Tag uns bringt. Was sag’ ich, ... Tag! ... Die nächste Stunde, der nächste Augenblick. In Kleinigkeiten können wir das blinde Schicksal meistern, in großen Dingen nicht.

So bin ich denn in meinem Schlesien wieder!

Daheim! In der alten Heimat!

Ihr Bäume habt meine Knabenjahre beschützt, ihr Bäume legtet mir den Traum der Jugend in[S. 195] mein Herz. Dich, du mein grüner, heimatlicher Wald!

Dich selbst! Du warst mein Jugendtraum und bist es noch und wirst es bleiben allezeit.

O rauscht nur, ihr alten Kiefern! Hinknien will ich mich an den Waldbach, der aus dem hellen Felde zum dunklen Walde fließt, hinknien, wo einst des Knaben Höslein ihre Löcher kriegten. Wo einst der Knabe sprang und rutschte auf den Ästen, das Eichhorn jagte und die Krähennester ausnahm, da will ich heute knien.

Und dankbar sein für meine Rückkehr in die Heimat.

Ach, Heimat, Heimat! Was alles birgt doch dieses eine einzige Wort!

Eine Welt für sich. Eine volle, ganze Welt. Umragt von hohen Mauern gegen alles Fremde, gegen kalte, fremde Herzen, kalten, fremden Händedruck.

Eine Welt voll Sonne, die das Herz erwärmt, voll Licht, das durch die Adern strömt wie goldner Glanz und goldenklarer Strom, ach, eine Welt auch von Erinnerungen, von Trauer auch um euch, ihr lieben Toten, die ihr nicht mehr seid. — — Dort diese Kiefer kenne ich so gut!

Wie oft hab’ ich auf diesem starken Ast, der sich als stärkster aus dem Wipfel in die Breite streckt,[S. 196] gesessen und aufgepaßt aufs Wild, das in die Felder trat; des Abends. Der rote Sonnenball war immer im Versinken, da trat der starke Rehbock aus der jungen Dickung und warf mißtrauisch seinen gehörn-geschmückten Kopf hoch auf.

Links drüben ein paar Ricken mit einem jungen Böckchen. Kaum zeigte sich’s, hui, war der Starke wie ein vom Bogen straffgeschnellter Pfeil hinter ihm her! Die Eifersucht! Die liebe Eifersucht!

Hier hoppelte ein Häschen in das Feld. Vorsichtig, Männchen machend, mit den Löffeln wackelnd, bald hierhin, dorthin schnuppernd, endlich ganz beruhigt in seinem lieben Hasenherz, nun rasch mit ein paar Sätzen hinüber in den Klee. Der schmeckt ihm wie uns ein Gläschen guter Wein. —

Ein schlichtes Forsthaus unweit des Oderstromes ist meine schlesische Oberförsterei.

Aus den Fenstern im Dachgiebel kann ich das Wasser des Stromes sehen.

Ruhig fließt er dahin. Wildenten schnattern im Schilfe. Und schwirren pfeifenden Fluges hoch, umkreisen mein Forsthaus und lassen sich brausend im Schilfe wieder ins Wasser hinab.

In meinem jetzigen Forsthause gibt’s keine hohen Räume, in denen Ritter und Mönche hausten. Aber auch keinen unterirdischen Gang mit Steinkäuzchen und heidnischen Denkmälern gibt’s. Klar[S. 197] wie die Sonne am lichten Sonntag ist alles in meinem Haus.

Von Ruhe spricht alles hier, — fern von der Welt, der Wald ringsum, der stille, hohe Wald, — ja, von Ruhe.

Nun hab’ ich, was ich stets ersehnte: ein Forsthaus in schlesischer Heimat.

Nun ist die Heimat wieder mein.

Mein erster Brief aus der Heimat soll in den Heidhof eilen zu dir, Heidkönigstochter.

Liebe Erika!

Mein erster Brief aus Schlesien, meiner Heimatprovinz, soll zur Heidkönigtochter eilen! Eile, mein Brief, oh, eile! Bedenke, bald ist der Sommer hin, bald flattert das Laub von den Bäumen, bald, bald wird’s schneien, und dann kommt das Frühjahr! Im Frühjahr darf ich doch selbst in die Heide! Meinst du, mein Brieflein, daß ich dann schreibe?! O nein, dann eile ich selbst, so wie du heute eilen sollst! Dann zieh’ ich dem Frühling entgegen, der in der Heide für mich blüht ... Ja, dann ... Mein Königstöchterlein, dein König sendet dir seinen ersten Heimatgruß! Ein großer Strom fließt in ruhiger Majestät an meinem Forsthaus vorbei. Die großen Segelschiffe gleiten auf und nieder.

[S. 198]

Die Oder trägt sie alle. Und führt sie alle an ihr Ziel. Wie eine Mutter die Schar der Kinder.

Im Mondschein stehe ich gerne am lieben Oderstrom. Wenn die Schiffe lautlos herangleiten, die weißen Segel vom silbernen Mondglanz umflossen, dann ist’s mir, als ob sie mir aus der stillen, fernen Heide das Heidkind bringen sollten.

Erika, wie werde ich des Frühjahrs harren! Wie werde ich aufpassen, wenn die erste Schwalbe am Giebelfenster zwitschern wird. Wie werde ich auf den Kiebitz lauern, auf das Schnepflein am Waldrand drüben.

Wenn der Frühling im Lande sein, wenn sein strahlendes, holdes Antlitz uns anlächeln wird, dann werde ich rüsten zur Fahrt in die Heide. Aus der Heimat werde ich in die Heimat fahren. So lockt mich die Heide. Ich kam so froh hierher und bin so ernst und still, seitdem ich hier bin.

Warum wohl, Heidekind, warum?

Ach, weil mir immer mehr und mehr die Heidkönigtochter fehlt! Weil immer mehr mein Herz sich nach ihr sehnt. Doch still davon. Was man so ganz im Herzen hat, das duldet keine Worte. Das liegt verschlossen wie in einer Kammer. Wie Gold in einem goldenen Schrein.

Grüßen Sie mir mein Kind, liebe Erika.[S. 199] Mein Kindchen, bist Du Dir denn auch bewußt, daß Du mein Fürbitter sein sollst?

Als ich in die Fremde zog, sah ich, bevor ich um die Ecke bog, das liebe, alte Muttergesicht am Erkerfenster. Ich sah, wie es sich an die Scheiben preßte und dem Sohn nachsah. Die guten, alten Mutteraugen. Die so treu wie es nur Mutteraugen können, auf das Kind herabsehn. Und heute, als ich aus der Fremde wiederkam, zurückkehrte in die alte Heimat, sah ich, wie damals, das liebe, alte Muttergesicht am Erkerfenster. Wie ein Sonnenschein flog es über dieses liebe, alte Gesicht, als ich um die Ecke bog. Und doch stand eine Wolke über der Sonne oben am Himmel. Ach, eine Wolke stand auch über mir. Über dem heimkehrenden Sohne.

Noch ahnst du nichts, liebe Mutter. Noch ist für dich der heimkehrende Sohn derselbe Sohn, der er war, als er in die Fremde ging. Wie ein verlorener Sohn wurde ich empfangen. »Du bist mir doch wiedergeschenkt, richtig wiedergeschenkt, mein Junge, jetzt, wo Deine Oberförsterei so nah von hier liegt«, meinte sie lächelnd, als sie mich immer und immer wieder mit ihrer runzligen Hand streichelte. Diese alte, zitternde Hand. Ich hatte ihr nun schon[S. 200] so viel erzählt von meiner jetzigen Oberförsterei und der früheren. Kein Wort bis jetzt von dem Schweren, das ich erlebt hatte, nichts bis jetzt von Marianne, nichts von dem Kinde, nichts von Erika.

»Du verschweigst mir die ganze Zeit, seit du bei mir bist, etwas, mein Junge. Darf es deine alte Mutter nicht wissen?« Ich erschrak, als sie in ihrer mütterlich besorgten Weise diese Frage tat. Wie scharf sieht doch eine Mutter ins Herz des Kindes!

»Ich verschweige dir etwas, Mutter?«

»Ja, du verschweigst mir etwas, Sohn. Dich bedrückt etwas, sage es mir doch, vielleicht kann ich dir helfen.«

Da zog ich behutsam das Bild des kleinen Mariannchens, meines Töchterleins, aus meiner Brusttasche.

Sie folgte aufmerksam meinen Bewegungen. »Was hast du denn da, lieber Sohn?« fragte sie mit einer sie so gut kleidenden Neugierde. »Was ich hier habe, Mutter? Ei, hier ist das, was ich dir verschwiegen habe.«

»Also hatte ich recht, ja, ja, eine alte Mutter fühlt es, wenn das Kind, und wenn das Kind auch so ein großer Sohn ist, Kummer hat.«

»Kummer, Mutter?«

»Ja, Kummer, lieber Sohn«, sagte sie.

»Ich fühl’s, fühl’s ganz deutlich.«

[S. 201]

»So sieh dir doch einmal dieses Bild an, Mutter«, bat ich.

»Ei, was für ein liebes, liebes Kindchen ist es! Wer ist denn das Geschöpfchen? Und wie es lacht und seine Ärmchen vorstreckt, ach wie allerliebst, gewiß das Kind von einem deiner Freunde, lieber Sohn!« rief sie und sah voll Freude auf das Bild.

»Sieh’ es dir recht genau an, Mutter«, bat ich. Sie sah auf.

»Nanun, du tust ja ganz merkwürdig, Junge. Was machst du denn für ein Gesicht? Ist wohl tot, gestorben, das herzige Kind?«

»Nein, Mutter, es lebt. Das Kind lebt, Mutter«, sagte ich leise.

Da blickte sie noch einmal scharf auf das Kindergesicht. »Es lebt, das Kindchen«, sprach sie mir langsam nach und sah von dem Bilde wieder auf mich.

»Mutter,« sagte ich, »ahnst du denn nicht, wem das Kind gehört?«

Wie eine große Angst kam’s in ihre Augen. Wie eine große, ratlose Angst.

»Ja, wie soll ich denn das ahnen, lieber Sohn«, sprach sie, und ihre Stimme zitterte.

»Sag’, Mutter, wenn dieses unschuldige Kind nun mir, deinem Sohn gehörte?«

»Fritz!« rief sie und starrte mich an.

»Mutter, es ist mein Kind. Ich bin der Vater[S. 202] des kleinen, herzigen Mariannchens, dessen Bild du in der Hand hältst«, sagte ich ruhig. »Muß ich dich und dein Dasein, du armes Kind, denn sogar vor meiner Mutter entschuldigen?« dachte ich bitter, als ich sah, wie fassungslos, wie entgeistert die alte Frau dasaß.

Unwillig wandte ich mich fort.

Da hörte ich, wie sie leise in ihr Taschentuch hineinschluchzte.

»Mutter!«

Und ich kniete vor ihr, sie nahm die alten Hände, die mich vor vielen Jahren getragen hatten, von ihren weinenden Augen und streichelte immer und immer wieder mein Haar. »Du armer Sohn, du armer Sohn«, sagte sie, nichts anderes. Da erhellte ein Licht meine Seele: »Diese alte Frau fühlt in diesem Augenblick alles Leid nach, was ich heimlich vor den Augen aller anderen nur mit mir selbst durchgekämpft habe, bevor ich zu dieser Ruhe gekommen bin.« Und während ich vor ihr kniete und sie abwechselnd auf das Bild der kleinen Marianne blickte und mir das Haar aus der Stirn strich, erzählte ich ihr.

Erzählte ihr von der Mutter des Kindes, von ihrem goldenen, schimmernden, schönen Haar, ihrem lilienweißen, feinen Gesicht und ihrem sanften Sterben an diesem Kinde.

[S. 203]

»Wo ist das Kind?« fragte sie, und es war rührend für mich, wie schamhaft die alte Frau das fragte.

Da erzählte ich ihr von der anderen, die ich nun liebte. Anders liebte, als ich die erste geliebt hatte. Und diese Liebe verstand meine alte Mutter. Ich fühlte ordentlich, wie es immer mehr und mehr von ihrer Seele wich. Diese Bergeslast um den Sohn. Den verlorenen Sohn.

Ich erzählte ihr von Erika, dem Heidkönigstöchterlein, von der Heide und dem einsamen Heidhofe in der Heide. Auch vom Heidkönig warf ich nebenbei einiges dazwischen.

Aber, wer kann ein Mutterherz täuschen!

»Er will sie dir nicht geben und wird sie dir nicht geben, wegen diesem hier«, sagte sie betrübt und zeigte auf das Bild der kleinen Marianne.

»Nein, er gibt sie dir nicht. Und das wird schlimm sein für dich, mein armer Sohn.«

»Ach, Mutter, ich denke, er wird nachgeben«, meinte ich und legte in meine Worte viel Zuversicht.

»Nein, er gibt nicht nach«, sprach sie still vor sich hin. »Nach allem, was du mir erzählt hast, gibt er seine Tochter nicht. Und ... du darfst ihm deshalb nicht zürnen, lieber Sohn«, setzte sie zaghaft hinzu.

»Sieh mal, es ist doch nun einmal eine große[S. 204] Sünde. Aber habe keine Angst, ich werde dich losbeten, ja, das werde ich. Einer so alten Mutter zuliebe wird dir der liebe Gott schon verzeihn.«

Ich lächelte vor mich hin.

»Lache nicht darüber, mein Junge. Ich weiß ja, Ihr jungen Männer von heute seid nicht mehr so gottesfürchtig, wie ihr sein solltet. Da muß halt die Mutter für den Sohn mitbeten.«

»Tu es, du liebe, alte Mutter«, sagte ich und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Es kann mir nur nützen, wenn du es tust.«

Und schon, als ich am selben Nachmittage von einigen Gängen in der Stadt nach Hause kam, fand ich meine Mutter eifrig im Gebetbuche betend am Fenster sitzen.

Sie hatte sich offenbar nun schon mit dem Gedanken vertrauter gemacht, daß ihr Sohn der Vater der kleinen Marianne war, die so vergnügt aus dem Bilderrahmen die betende Großmama anlächelte.

»Wie wirst du es denn nun machen mit der Erika und dem Kindchen?« fragte sie.

»Hinfahren werde ich und mir beide holen«, sagte ich.

Sie seufzte.

»Du gibst dich so bestimmten Hoffnungen hin«, warnte sie ängstlich.

»Mutter, laß mir diese Hoffnungen! Die muß[S. 205] ich behalten, weil sie mich aufrecht halten. Ich klammere mich an die Hoffnung, daß Erika meine Frau werden wird, wie der Schiffbrüchige an die letzte Planke.«

»Und wenn sie nicht deine Frau wird und der Vater sie dir verweigert? Würdest du’s verwinden?«

Ich schwieg lange, ehe ich antwortete. Erst voll ausdenken mußte ich diesen Gedanken. »Verwinden nicht, aber ich habe ein Kind, und die Sorge um dieses Kind legt mir die schwere Pflicht auf, weiter zu leben und weiter zu arbeiten, Mutter.«

Da stand die alte Frau auf, langte nach dem Bildchen meiner kleinen Marianne und sagte leise:

»Sei gesegnet, du liebes, du mein liebes Enkelkind, du.«

»So darf ich dir das Kind bringen, wenn ich es wieder habe, Mutter?«

»Ja, mein Sohn, bringe es der Großmutter.«

— — — — Mariannchen, seit heute hast du eine Großmutter! Eine Großmutter hast du, mein kleines Mariannchen, und deine Großmutter wird Strümpfe stricken für deine strampelnden Füße, und Jäckchen und Kleidchen für dein kleines Menschenkörperlein.

[S. 206]

 

So fahre ich also in die Heide. Am Heidbahnhof erwartete mich ein hochbeiniger, einfacher Heidewagen.

Zwei wohlgenährte Schimmel davor. Es dauerte gar nicht lange, so war ich mitten drin in der weiten Heide.

Ringsum ein Blühen und Duften im Flimmerglanz der Abendsonne.

An stillen Teichen kam ich vorüber. An weißen Birken, deren zarte Zweige mit ihrem hellgrünen Blattschmuck leise schaukelten.

An dunklen Wacholderstauden, die ernst wie Schildwachen standen. Und weit in der Ferne sah ich den Schäfer auf der Heide und vor ihm die Heidschnucken grasen.

Scharf hob sich seine Gestalt in dem langen, dunklen Rock vom Glanz des Abendhimmels ab.

Süß duftete das Lupinenfeld, an dem mich der kleine Wagen im mahlenden Sande langsam vorüber brachte, vorbei an der alten, zerzausten Kiefer mit dem aufwuchernden Baumgezweig um ihren Stamm; so kam ich näher und näher dem Heidhofe, wo meine Heideblume blüht. Immer purpurner wurde das Abendrot, immer schöner der Blütenreichtum. Und hier, ganz dicht am Wagen das Edelweiß der Heide, die liebliche Immortelle!

Also, das ist deine Heimat, Heidkönigstochter![S. 207] Hier bist du als Kind durch die Blüten gesprungen, hier hast du geträumt und gesonnen, hier bist du zur Jungfrau geworden. Um dich allein die Keuschheit dieser unendlichen Heide. Unberührt von dem Branden der Welt. Deine Welt, du stille Tochter der Heide, ist das Haus, in dem du mit fleißigen Händen waltest. Mit treuem Herzen, mit ewig gleichem Pflichtgefühl still und fromm und mit der Fröhlichkeit im Busen, die sich nie laut verkündet, die aber wärmt und reinen Glanz um sich verbreitet.

Wie diese Heide hier.

Von weitem sah ich inmitten der braunen Heide eine weiße Gestalt stehn.

Klar hob sie sich ab in dem vergoldenden Glanz der Abendsonne.

Wie Purpurglut lag es um sie und um das Kind auf ihrem Arm.

»Ich will aussteigen, halt, steht, ihr Rößlein des Heidkönigs!« — — — —

»So, nun fahrt zu, ich gehe zu Fuß bis zum Heidhof, dort den Fußweg quer durch die Heide.« Und so ging ich ihr entgegen, nach der ich mich heiß gesehnt hatte Tag und Nacht und wieder Nacht und Tag. Und die Tage und Nächte dieses langen Jahres sind langsam geschlichen, so unendlich langsam —. Sie kommt mir entgegen, bringt mein Kind mir zu! Klopf’ nicht so heftig, mein Herz! — Wer weiß,[S. 208] ob sie dir entgegengehen wollte. Ob es nicht ein bloßer Zufall ist, daß sie diesen Fußsteg geht.

Ein Zufall? Ein bloßer Zufall? Törichter, furchtsamer Gesell, du weißt es, und dein Herz weiß es, daß es kein Zufall ist!

Jetzt konnte ich fast ihr Gesicht erkennen. Ach, wie blüht die Heide so seltsam schön, wie duften die vielen tausend Heideblüten so seltsam süß an diesem Abend. Wie seltsam schön flimmert und glänzt es um mich herum. Kein Wunder, wenn die Heidkönigstochter durch ihre Heide geht.

Immer näher kamen wir uns.

Kein Berg, kein Tal lag zwischen uns, nur die weitsichtbare, stille, summende Heide.

Die Luft war so klar, und dicht über der Ebene lag es so voller Flimmerglanz, daß wir uns schon ganz deutlich sahen, obwohl wir noch weit voneinander gingen. Wir dachten, ganz nahe schon beieinander zu sein, und waren noch weit entfernt.

»Erika!« sagte ich gar nicht laut, und hätte es auch gar nicht laut rufen können in diesem Augenblick. Sie schritt unentwegt weiter, sie hatte es nicht gehört und konnte es wegen der Entfernung, die uns trennte, auch nicht hören.

Ich sah, wie sie das Kind hoch auf ihrem Arm mir entgegenschwenkte, sah, wie das Kind jubelte und die kleinen Hände aneinanderpatschte, hörte aber keinen[S. 209] Laut. Mir war, als hätte eine Traumwelt mich eingesponnen. Wie ein Schlafwandler kam ich mir in dieser weiten Heide vor.

»Erika!« rief ich nun, so laut ich konnte, und siehe es war Wirklichkeit, was mir entgegenkam, kein Traum.

Deutlich hörte ich das Jubeln des Kindes. Da hätte ich hinknien können in die blühende, seltsame Heide und ihr danken, daß sie wirklich um mich herum blühte, daß ihre Blüten so schön waren, und daß die Heidkönigstochter wirklich mir, mir ganz allein entgegenkam.

Und nun stand sie vor mir, und ich stand vor ihr. Keins sprach ein Wort. Aber das Kind lachte und angelte nach mir. Nach seinem Vater, den es doch gar nicht mehr kannte nach diesem langen Jahr.

Sie reichte mir das Kind, und als es an meinem Halse hing, umfaßte ich auch sie und sagte leise: »Erika, nun bin ich bei dir in der Heide.«

Da schlang sie ihre Arme um mich, und ich bog mich herab und küßte erst sie auf den noch unberührten Mädchenmund, und dann das Kind auf sein rosiges, halboffenes Mündchen. So standen wir beide mit dem Kinde auf unseren Armen im versinkenden Goldglanz der Sonne.

Und um uns blühte die Heide.

Weit, unendlich weit lag die Welt von uns ab.[S. 210] Wir brauchten keine Welt. Wir selbst waren uns unsere Welt.

Meine ganze Welt waren nur diese beiden Menschen hier in der einsamen Heide.

»Erika,« sagte ich zu ihr, die treu und still und voll Liebe zu mir aufsah, »Erika, bist du nun mein?«

Da ging ein Zucken durch ihren Körper.

Sanft löste sie sich aus meinen Armen, trat etwas auf die Seite und sah mich prüfend an.

»Ich kann deinen Blick aushalten, Erika,« sprach ich, »immer werde ich deinem Blick standhalten können bis zum Tode, glaube es mir.«

»Ich sehe es, und ich weiß es und wußte es, ehe du kamst, Lieber,« erwiderte sie; »aber du weißt, wie mein Vater darüber denkt.«

»Dein Vater? Der Heidkönig?« fragte ich erschrocken; »wird er denn auch jetzt noch nicht seine Einwilligung geben zu unserer Vereinigung?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das hatte ich nicht gedacht und nicht erwartet«, sagte ich betrübt.

»Du kennst uns Heidleute nicht,« sprach sie ernst; »sieh, auch ich hätte noch vor Jahresfrist für unmöglich gehalten, daß ich einst einwilligen würde, wirklich deine Frau zu werden. Aber dies eine Jahr der Trennung hat viel umgewandelt in mir. Das[S. 211] Jahr der Trennung und das Kind hier. Immer mehr fühlte ich von Tag zu Tag, wie meine Liebe zu dir wuchs, immer mehr fühlte ich, das ich nun gerade zu dir, dem Einsamen, Unglücklichen — denn du bist nicht glücklich, Lieber, auch wenn du’s dir nicht merken läßt — gehöre, immer kleiner erschien mir deine Schuld, immer mehr sah ich nun, wie brav und ehrlich du die Folgen deiner Verfehlung auf dich nahmst, und wie du dich über alles Reden hinweg zu deinem Kinde bekanntest, und immer mehr wuchs auch meine Liebe zu deinem mutterlosen, verlassenen Kinde. Und wenn ich mit dem kleinen Mariannchen über die Heide ging und um mich der Frieden und die Ruhe der Heide lagen, um mich die Bienen summten und die Schmetterlinge flogen, nach denen dein Kind vergnügt mit den Händchen haschte und glücklich dabei auf meinen Armen krähte, um mich der Sonnenglanz strahlte, unter dem diese einsame Gotteswelt träumte, da hielt ich Einkehr in mich, und diese Einkehr hier draußen in der stillen Heide hat mir viel, recht viel gesagt. Sie sagte mir, daß niemand, auch der beste Mensch nicht, vor einem Fehler sicher ist, ja, sie sagte mir, daß gerade oft die besten Menschen einen Fehler tun und ihn bereuen müssen. Denn bist du nicht der beste Mensch? Und hast du nicht deinen Fehler bereut und nach bester Kraft gutgemacht?«

[S. 212]

»Erika«, sagte ich erschüttert.

»Laß mich noch reden, Lieber, es ist nötig, daß ich alles sage, was ich dir sagen wollte. Ich bin entschlossen, deine Frau zu werden. Gott wird verhüten, daß ich ohne den Segen meines Vaters aus dem Heidhof in das Haus des Mannes ziehen sollte, dem ich mich verpflichtet habe, in Treuen sein Weib zu werden. Ich weiß, ich würde das nie verwinden können, und in der Heide würde ich meine frohen Mädchenträume zurücklassen. In dein Haus brächte ich eine tiefe Trauer des Herzens. Darum, Lieber, bitte ich dich, überlege es dir ernst und prüfe alles, bevor du ein Weib nimmst, dem des Vaters Segen fehlt. Ich muß, wenn du mir winkst, mit dir gehn. Meine Liebe zu dir, dem Manne, dem das Weib folgen und alles andere verlassen soll, treibt mich dazu und mein Wort, das ich Mariannen gab. Wie sollte ich denn anders diesem Kinde eine treue Mutter sein? Und nun komm. Der Heidhof erwartet dich.«

»Wenn doch ein Wunder geschähe, daß deinem Vater seinen Sinn wandelte«, sagte ich traurig und schritt mit schwerem Schritt neben ihr.

»Eine tiefe Trauer des Herzens,« hatte sie gesagt; ja, durfte ich sie denn gegen ihres Vaters Willen, ohne seinen Segen, gewaltsam lösen aus dem Heidhofe? —

[S. 213]

So standen wir bald vor der Tür des Heidhofes. Der Abendsonne letztes, versprühendes Leuchten zitterte über dem Gehöft, ach, alles Schöne vergeht und läßt uns nur ein letztes Leuchten zurück. Da tat sich die Tür auf, und der Heidkönig stand auf der Schwelle.

Ich trat auf ihn zu und reichte ihm meine Hand. Ich konnte ihm noch keinen Gruß sagen, so bewegt hatten mich Erikas Worte.

»Seien Sie willkommen!« sprach er nicht unfreundlich, und seine Augen, diese treuen und doch so klugen, forschenden Augen bohrten sich auf mein Gesicht.

Der Mann sah in die Herzen!

Aber daß ich nicht bloß kam, um mein Kind mir nach Ablauf des Jahres aus dem Heidhofe zu holen, sagte er sich wohl selbst.

Also galt sein forschender Blick mir. Er wollte prüfen, was dieses Jahr aus mir gemacht hatte. Nun, diese Prüfung mußte ihn zufrieden stellen. Aber daß er diese Prüfung vornahm, legte ich mir günstig aus. Wozu denn erst solche Prüfung, wenn er doch fest entschlossen war, mir Erika nicht zu geben?!

Zum erstenmal trat ich über die Schwelle des Heidhofes. Des Hauses, in dem Erika geboren und zur Jungfrau herangeblüht war. Ja, dieser Heidhof! In solchem Hause, solchen Räumen, solcher[S. 214] Umgebung mußte ja ganz von selbst ein Heidkönigstöchterlein heranblühen. An diesem Abend sprachen wir nur Alltägliches und für mich doch auch wieder nicht Alltägliches zusammen.

Wie in stillschweigender Verabredung sprachen wir noch nichts von dem Zweck meines Kommens.

Freundlich, doch mit Zurückhaltung behandelte mich der Heidkönig als seinen Gast.

Er zeigte mir den ganzen Heidhof.

Diesen kleinen, in der Heide großen Fürstensitz, auf dem seit fünfhundert Jahren dasselbe Geschlecht saß.

Zum alten Schäfer, der seine Heidschnucken schon hereingetrieben hatte aus der Heide, führte er mich zuerst. Die Heidschnuckenherde stand Tier an Tier, Wolle an Wolle um den uralten Steinbrunnen, der rechts im Hofe neben der ebenso uralten Eiche tief in die Erde gebohrt war.

Ich fand alles so, wie’s mir Erika an dem einen Abend geschildert hatte. Den mächtigen Brunnenschwengel hoch an dem Eichenast verhakt; durch die Eichenblätter spülte von der Heide ein warmer Wind, der süßen Duft führte; der Schäfer stand an den rissigen, mächtigen Stamm gelehnt und strickte.

Ab und zu blökte eines der Schafe, oder ein anderes brachte eine kleine Unruhe in die gesättigte[S. 215] Herde, indem es sich unartig zwischen den anderen durchdrängeln wollte.

»Na, Peter?« sagte der Heidkönig.

»All gut«, erwiderte der Alte und strickte kopfnickend weiter. Mich sah er kurz und scharf an. Ich merkte aber, nicht unfreundlich. Vielleicht weil ich ihm gleich meine Hand hingestreckt hatte, die er, einen Augenblick das Stricken unterbrechend, fest und derb mit der seinen ergriff.

Dann flogen etwas schelmisch seine alten und doch scharfen Augen von mir auf Erika, die uns nachgekommen war. Er nickte ihr zu. Das schien sie zu freuen. Dann nickte sie ihm rasch wieder zu und zeigte mit einem verschämten Lächeln auf mich, während uns gerade der Heidkönig den Rücken zukehrte.

Befriedigt nickte er, der Erika auf den Armen getragen hatte und ihren Vater hatte groß werden sehn.

Gott sei Dank! Der Alte war mir gewogen. Ich hatte nur zu gut bemerkt, wie die Augen des Heidkönigs das Gesicht seines alten Schäfers musterten.

Dem Alten gefiel nicht jeder. Erika hatte mir erzählt, daß er sein Mißfallen an jemanden recht drastisch zum Ausdruck zu bringen pflegte. Er ging dann mit bedächtigem Schritt auf die andere Seite[S. 216] der Eiche und ließ den Fremden stehn. Aber heute blieb er und nickte befriedigt vor sich hin. Ich hätte ihm um den Hals fallen können.

Von dem Brunnen aus gingen wir nach der langen, riesigen, ganz aus Eichenbohlen erbauten Scheune mit der Wagenscheuer und von dort nach dem Schafstalle.

Mittlerweile war es dunkel geworden.

Nur fern am Saume der Heide, die sich hinter dem Garten weit, weit ausdehnte, glühte es noch rot. Ich trat an den Zaun heran. Erika stellte sich neben mich und lehnte sich gleich mir an den Zaun.

Der Heidkönig hatte uns verlassen. Er wollte, wie er sagte, noch in den Pferdestall gehn und dort zum Rechten sehen.

Erika lachte halblaut vor sich hin.

Ich sah sie fragend an.

»Das ist das einzige Mal, daß Vater lügt«, sagte sie lachend, und ein fröhliches Lachen war’s, mit dem sie das sagte.

»Wieso?« fragte ich.

Da lehnte sie sich an mich, hob sich ein wenig und flüsterte mir ins Ohr: »Zu deinem Kinde geht er, Lieber. Ja, wirklich, — freilich erst geht er in den Pferdestall, aber nur einen Augenblick bleibt er darin, dann geht der Heidkönig, verstohlen[S. 217] sich umschauend, Abend für Abend hinauf in meine Stube, wo dein Kind, das Mariannchen schläft, und dort sitzt er beim Schein der Lampe und guckt Abend für Abend sich das Kindchen an. Einmal hab’ ich ihn dabei erwischt, er wurde verlegen, und das hab’ ich ihm seitdem erspart und tue, als merkte ich’s nicht. Ach, Lieber, wie wird der stolze, schweigsame Heidkönig die Trennung von dem Kind überstehn! Ja, dieses Kind, dieses arme, liebe Kind wird uns das Glück bringen.« —

Am nächsten Morgen saßen wir uns in der großen Wohnstube, die so heimisch und traut aussah, gegenüber. Der Heidkönig und ich.

Er fing von selbst an.

»Sie wollen heute wieder fort?« fragte er.

»Ja«, sagte ich.

Er schwieg.

»Das Mariannchen ist tüchtig gewachsen und ein fröhliches Kind«, meinte er dann.

»Ja, ich habe das Kind entbehrt, und nun will ich mir’s heim holen in mein verwaistes Forsthaus.«

Wieder schwieg er.

»Aber nicht wegen des Kindes allein bin ich hergekommen. Ich bitte Sie, daß Sie mir Erika zur Frau geben. Wir sind uns gut, Sie wissen es.«

»Ich weiß es,« sagte er langsam, »und ich dachte[S. 218] mir, daß Sie diese Bitte heute aussprechen würden. Aber ich kann Ihnen Erika nicht zur Frau geben. Auch das habe ich Ihnen schon vor Jahresfrist gesagt.«

»Ja, Sie hatten es mir gesagt, offen und ehrlich,« rief ich und stand auf; »aber man soll einem Menschen eines Fehlers wegen nicht unversöhnlich bleiben, sondern zur Versöhnung geneigt sein ...«

»Ich stehe Ihnen nicht unversöhnlich gegenüber, nur meine Tochter kann ich einem nicht zur Frau geben, der ... der ...«

»Der ein solches Kind sein eigen nennt«, sprach ich den Satz zu Ende, als er zögerte, und schob ihm die kleine Marianne hin. Er beugte sich herab, und das Kind legte seine Ärmchen um seinen Hals.

»Ich kann es nicht, nein, ich tue es trotzdem nicht, sie kann seine Frau nicht werden«, sagte er zu dem Kinde und drückte es an sich. Und dann legte er seine rechte Hand schwer und wuchtig zur Faust geballt auf die Tischplatte. Das Mariannchen mochte glauben, daß er mit ihr wie sonst spielen wollte. Denn es tatschte mit seinen Fingerchen vergnügt auf dieser Faust herum und krähte laut und froh dabei.

»Ich kann es nicht«, wiederholte er noch einmal und hielt das Kind fest an sich gepreßt.

Da trat Erika zu ihrem Vater hinter dem großen[S. 219] Tisch und legte ihre linke Hand auf die silberbeschlagene Bibel, die auf dem Betstuhl am Tische lag. Die rechte Hand legte sie ihrem Vater auf die noch immer zusammengeballte Faust, die er eben schwer und wuchtig hatte auf die Tischplatte fallen lassen, und sagte zu ihm: »Vater, sag’, liebst du die Bibel und hältst du dich an alles, was in ihr geschrieben steht?«

»Törichtes Kind,« erwiderte er, »was soll die Frage? Hast du jemals gesehn oder gehört, daß dein Vater auch nur ein einziges Bibelwort für unwahr hält?«

Als er das gesagt hatte, schlug sie die Bibel auf und blätterte in ihr. So eifrig, daß sich ihre Wangen röteten. Nun hatte sie wohl gefunden, was sie suchte, denn sie nahm das schwere Buch und schob es ihm unter die Augen. »Hier, lies Vater«, bat sie und hielt auf eine Stelle des Blattes ihren Finger.

Er beugte sich herab. »Lies es laut«, sagte sie sanft.

Er las: »Und so wird es sein, daß das Weib ihren Vater und ihre Mutter verlassen wird und tut dem folgen, den sie sich hat gewählt zu ihrem Ehemanne, und tut wohl daran, daß sie ihm folgt, denn es steht geschrieben: Dein Wille sei mein Wille, und dein Haus sei fürder mein Haus.«

[S. 220]

Laut auf stöhnte der Heidkönig, als er das gelesen hatte.

Er sank auf den Stuhl und schlug sich beide arbeitsfleißigen und arbeitsrissigen Hände vors Gesicht. Das Mariannchen fing leise zu weinen an. Er hielt das weinende Kind fest an seiner Brust.

So saß er lange Zeit. Dann nahm er die Hände vom Gesicht und richtete sich auf. Aber zwei schwere Tränen rollten aus seinen Augen über die Backen herab.

So hab’ ich einmal, ein einziges Mal den Heidkönig weinen gesehn.

»Ziehe mit ihm und werde sein, meine Tochter«, sprach er ernst. »Aber nach Jahresfrist erst darfst du mit ihm ziehn und sein Weib werden. Nach Jahresfrist erst darf er wieder in den Heidhof kommen, keinen Tag eher. Das leg’ ich ihm auf; prüfen will ich und muß ich ihn, dem ich mein unberührtes Heidkind geben soll. Still, still, Kind«, sagte er, als Erika ihn am Arme faßte und zu ihm aufsehend bat: »Vater« — »still, meine Tochter, anders geb’ ich mein Kind nicht. Also hören Sie, Herr,« wandte er sich an mich, »Sie sollen heute über ein Jahr wieder hierher kommen und meine Tochter zur Hausfrau haben. Ein Jahr ist lang, und bis dahin ohne Sünde und brav und keusch leben,[S. 221] ist schon etwas. Geben Sie mir die Hand, daß Sie brav und keusch leben werden.«

Ich gab ihm die Hand und sah ihn gerade und ohne mit der Wimper zu zucken an.

Ich wußte ja, daß es kein Weib außer Erika mehr für mich gab.

»Ist mir lieb, dieser Handdruck und dieser Blick«, sagte er freundlicher.

»Noch eins,« unterbrach ich ihn, »es muß gesagt sein, was wird ... was soll aus meinem Kinde werden bis dahin?« Ich hatte es ganz leise gefragt. Ach, wer weiß, ob er nicht sagen würde; das müssen Sie fortgeben, das darf nicht dort sein, wo meine Tochter als Hausfrau schalten und walten wird? »Nie, nie,« schrie es in mir auf, »lasse ich mein Kind! Ich habe es ins Leben gesetzt, so muß ich es auch bewahren im Leben, solange es nötig ist.«

Wie wenig kannte ich doch noch immer diese Menschen der Heide!

»Ihr Kind?« sagte er, »nun das ist eine sonderbare Frage. Das Kind bleibt hier, bis Sie Erika sich holen. Dann bringt sie das Kind mit. Von dem Tage ab ist es ihr Kind, sie ist seine Mutter, und ich bin sein Großvater.«

»Herr«, sagte ich tief ergriffen und drückte ihm seine harten, lieben Hände fest, ganz fest.

»Aber was werden die Leute sagen, wenn das Kind[S. 222] hier bleibt, und wenn es dann mit Erika kommt?« sagte ich zaghaft.

Da richtete er sich hoch auf.

Er sah ordentlich vornehm aus, dieser einfache Mann des Heidhofes.

»Den möcht’ ich sehn, der es wagen würde, an des Heidkönigs Tochter auch nur in Gedanken sich zu versündigen. Nein, nein, ich sehe, wir Heidleute verstehn uns nicht mit euch Menschen, die ihr in den Städten wohnt und die Welt anders kennt, als wir sie kennen. — Erika, bedenke es wohl, ehe du dein väterliches Heidhaus mit dem Hause dessen vertauschst, den du dir zum Ehegatten erwählen willst.«

»Ich habe es mir bedacht, Vater, ich habe ihm versprochen, seine Hausfrau in Treuen zu werden und diesem Kinde hier eine treue Mutter, auch der toten Mutter dieses Kindes habe ich’s versprochen, und du weißt, mein Vater, daß ein Heidkind die Treue, die es versprochen hat, hält«, antwortete sie, hob das Kind — mein Kind — aus der Wiege und drückte das schlafende, kleine Geschöpf an ihre Brust.

Der Heidkönig sah prüfenden Auges auf dieses schöne Bild hin.

»Ja, ein Heidkind hält die Treue, möchte meinem Heidkinde auch allzeit die Treue gehalten werden. Ich denke, er wird die Treue halten, seine Hand drückte die meine fest und warm«, sagte er wie zu[S. 223] sich selbst und nickte ernst mit dem Kopfe. »Nun hört Ihr beiden, die Ihr in Jahresfrist, von heut ab gerechnet, Mann und Weib sein werdet und untrennbar bis zur Todesstunde, hört jetzt meine zweite Bedingung.«

Erika sah fragend mit erschrockenen Augen zu ihm auf.

»Noch eine Bedingung nach dieser ersten, schweren?« fragte ich.

»Ja,« gab der Heidkönig ruhig zur Antwort, »noch eine.«

Er setzte sich in den hochlehnigen Stuhl.

»Setzt euch,« gebot er uns, »ich muß weit ausholen, damit es euch klar wird, daß ich bei der Bedingung bleibe. Damit es Ihnen klar wird,« wandte er sich an mich, »da Sie uns Heidleute noch nicht kennen, um zu wissen, daß ein Heidbauer, und nichts anderes bin ich und will ich sein, seinen vom Vater und Vaters Vater her und Urahn her ererbten Heidhof so hoch hält wie sein eigen Kind. Der Heidhof ist ihm heilig und nichts schmerzt den Heidhofbauern mehr, als wenn er stirbt und er weiß, daß sein Heidhof dereinst in fremde Hände kommt. Wir Heidhofleute sitzen hier auf diesem Hofe seit fünfhundert Jahren. Eine hübsche Zeit, was?«

Ich nickte.

»Ja, seit fünfhundert Jahren. Und jeder, der[S. 224] den Heidhof übernahm, ist hier groß geworden. Hat hier als Kind gespielt im Schatten der Linden und Eichen, hat vom Vater gelernt, den Heidhof zu verstehn, denn der Heidhof will verstanden werden. Drum hat es sich auch fortgeerbt vom Urahn auf Ahn, vom Ahn auf Großvater, vom Großvater auf Vater, vom Vater auf Sohn, daß der jeweilige Erbe des Heidhofs hier erzogen wird.

Der Erbe des Heidhofes ist dein erster, dein ältester Sohn, Erika, den du haben wirst. Darum verlange ich dein und deines Mannes Versprechen jetzt, in dieser Stunde, daß ihr mir euren erstgeborenen Sohn überbringt. Ich will ihn zum Heidhoferben erziehn, er soll, mach’ ich die alten Augen zu, Heidkönig werden.«

Ich blickte heimlich zu Erika hinüber.

Wie? Vor ihm, dem Mädchen, verhandelte der Alte das? Was wird Erika tun? In meiner Gegenwart vor ihren keuschen Ohren das? Ich erwartete, daß sie blutrot werden und keine Antwort geben würde. Aber siehe: ruhig nahm sie das Wort. Es war ja in »Zucht und Ehren«, was hier besprochen wurde. Ja, ja, ihr Heidemädchen, auch euch muß man erst ganz verstehn!

»Ich sehe ein, Vater, daß du recht hast, der Bube muß hier sein, um den Heidhof liebzugewinnen, es geht nicht anders«, sagte sie.

[S. 225]

Klar und ruhig fielen ihre Worte.

»Freut mich, daß du es einsiehst, Kind,« brummte er, »hab’s nicht anders erwartet. Bis jetzt war der erste stets ein Bub, und es wird wieder so sein, darauf hat der Hof des Heidkönigs ein Recht.«

Jetzt sah mich der Alte an. »Nun?« fragte er.

Ich zögerte mit der Antwort.

»Überlegen Sie sich’s in Ruhe, nachher sagen Sie mir Bescheid«, sagte er freundlich und stand auf.

»Hier, meine Hand, mein erster Bub dem Heidkönig!« rief ich fröhlich lachend. Wirklich, ich lachte ganz herzlich und vergnügt. Sollte ich meinen ersten Buben um den schönen Heidhof bringen?

»Ich glaube, daß ich in einem Jahre beinahe ohne Sorge meine Erika Ihnen geben werde«, sagte er.

»Also, unser erster Bub wird Heidkönig?« sagte ich dann scherzend zu Erika. Da sah sie mich tief errötend und ängstlich an und wandte sich ohne ein Wort der Erwiderung fort. Ich Tölpel! Werde ich denn nie diese Heidleute kennenlernen?

»In Zucht und Ehren darf so etwas besprochen werden; das finden diese Heidmenschen des vorherigen Besprechens wert und notwendig. Es wird aber unnatürlich und frivol, sobald man darüber[S. 226] außerhalb des Rahmens der notwendigen Besprechung und Vereinbarung scherzt.

Bei den Menschen der Heide herrscht noch unverfälschte, keusche Natur und Herzenseinfalt. Und darum Hoheit und Treue und Ernst, sobald Ernstes besprochen werden muß. So fest und stark wie ein starker, fester Eichenstamm. Meine Hand würde ich jederzeit für die Treue meiner Hausfrau Erika vom Wegbergshofe ins Feuer legen.

Ja, solche Frau macht die Ehe zu einem Heiligtum. Solche Frau atmet den Räumen des Hauses, in dem sie waltet, die Reinheit und Treue ein, die ihr ganzes Wesen erfüllt. Solche Frau ist ein sicherer Hafen nach den Stürmen, die der Lebenskampf dem Manne bringt. Ist ein Hafen der Ruhe für des Mannes eigenes, wildbewegtes Herz.

O, Erika, bist du erst meine Hausfrau, dann wird der goldene Frieden in meinem Hause sein. Wenn ich dich sehen werde, werde ich die einsame, unberührte Heide sehn, wenn meine Arme dich umfangen werden, werde ich wie ein froher Forstbub an dem treuen Busen wie in der in scheuer Schöne und holder Keuschheit blühenden Heide ruhn.

Du hast nicht Mariannens verzehrende Glut, die mich widerstandslos gegen ihre flammende Schönheit machte, aber du hast dafür eine Welt von einfacher Güte und hingebender Treue. Solche Güte,[S. 227] solche Treue erhalten dem Manne die Kraft, im Leben felsenfest zu stehn und bis zum Ende auszuharren in dem Kampfe, den Welt und Leben von selbst mit sich bringen. Wie werde ich zu dir flüchten, bin ich zerzaust worden draußen! Wie wird mich deine Ruhe, dein Frieden, dein ganzes liebes Wesen aufrichten und wieder festigen. Wie eine Mutter wirst du mir sein, in deren Schoß der Forstbub seinen Kopf legen darf zu jeder Stunde.

Du wirst meiner alten Mutter eine Tochter nach ihrem Herzen sein. Weil du so vieles mit der alten, treuen Frau, die ich Mutter nennen darf, gemeinsam hast. Nie hätte sie Marianne verstanden. Aber nun werde ich nur heimlich noch an Marianne denken dürfen. Ich will an sie denken, trotzdem ich Erika gefunden habe. Denn Marianne ist doch die Mutter meines kleinen, lieben, herzigen Mariandels! Aber Erika soll es nicht merken, daß ich in stiller Stunde auch an Marianne denken will. Jedes Jahr will ich heimlich einen Kranz auf ihr Grab legen. Es wird sich schon machen lassen, daß Erika nichts davon merkt. Es müßte sie doch verletzen.«

Unter der Linde vor dem Heidhof saß ich, als ich das mit mir besprach. Da trat Erika mit meinem Mariandel auf dem Arm aus der Tür des Heidhauses und kam zu mir hin.

[S. 228]

Das kleine Mariandel krähte so lustig wie ein junges Hähnchen auf den Armen seiner ... Mutter. »Armes Hähnchen, deine Mutter ist tot«, dachte ich und sah sinnend zu meinem Kinde auf.

»Ich wollte dir noch etwas sagen, und ich soll es dir sagen, hat mein Vater mir befohlen, bevor du fährst«, begann Erika, setzte sich neben mich und gab mir das Mariandel auf die Knie.

»Wegen dieses Kindes muß ich noch mit dir sprechen, so will es mein Vater, und so will ich’s.«

»Was denn, Erika?« fragte ich beklommen.

»Sieh Lieber,« sagte sie ruhig und freundlich »ich will diesem Kinde eine treue Mutter sein, und ich habe es so lieb schon wie ein eigenes Kind. Wir wollen es großziehn und zu einem guten Menschen machen. Aber eines müssen wir noch miteinander besprechen. Ich glaube, es wäre nicht gut, dem Mariandel, solange es ein unverständiges Kind ist, zu sagen, daß ich nicht seine Mutter bin. Ist es groß und verständig, dann halte ich’s für recht, daß wir’s ihm sagen. Daß wir ihm sagen: ›Hör’, deine rechte Mutter, die dich geboren hat, ist tot.‹ Und damit es dann nicht davor erschrickt, so bitte ich dich heute, daß du mit mir und dem Mariandel jedes Jahr an Mariannens Todestag zu ihrem Grabe fährst. Dort wollen wir zusammen ihr Grab recht schön schmücken und dem Kinde von ihr Liebes und[S. 229] Gutes erzählen; wir wollen ihrer immer in Liebe, nur in Liebe gedenken. Denn ich weiß, sie hatte dich lieb, und es war doch auch ein armes, verlassenes Kind der Straße. Du darfst sie auch nie vergessen um dieses Kindes willen hier. Und das läßt dir der Heidkönig durch mich sagen.«

»Erika!« schrie ich auf, kniete mich vor sie hin und umschlang sie und das Kind mit meinen Armen.

»Erika!« sagte ich noch einmal leise und verbarg mein Gesicht in ihrem Gewand.

»Was hast du denn, Lieber?« fragte sie in ihrer so unbeschreiblich gütigen Art und fuhr mir sanft mit ihren Fingern übers Haar. Und das Kind krähte vergnügt und zog mich so derb am Haar, daß ich unwillkürlich »au« schreien mußte.

Da lachte sie und meinte: »Zupf’ ihn tüchtig, Mariandel, hörst du, zupf’ ihn tüchtig, denn gleich muß er fort von uns, und dann können wir ihn nicht mehr zupfen.«

»Erika, ihr Heidleute seid schwer zu verstehn, o du mein liebes, treues Weib, wenn ich erst an deinem treuen Herzen werde ruhn können.«

Sie verbarg unter einem Lachen ihre Abschiedsstimmung.

»Laß gut sein, Lieber, dann halten wir beiden dich fest, nicht wahr, Mariandel?«

Und während das Kind vor Lust und Freude[S. 230] krähte und Erika es mir zum Kuß reichte, und ich sie und das Kind küßte, fuhr der bockbeinige, steife Heidhofwagen, der einen durcheinanderschüttelt wie einen Sack voll trockener Pflaumen, vor die Tür unter den alten Lindenbaum, der Heidkönig trat zu uns und sagte: »Nun, es wird Zeit, und der Zug wartet nicht«; ich gab dem alten, schlichten Manne die Hand, stieg unter Lebensgefahr auf die hohe, federlose Kalesche, sagte: »Adieu also, Herr Heidkönig und auf Wiedersehn übers Jahr!« Der alte, verwitterte Knecht vorn auf dem Kutschbock ließ die Peitsche knallen und rief: »Hüdjüß!«, die beiden wohlgenährten Heidkönigschimmel zogen an, ich sah zurück, da stand Erika und hielt mein Kind an ihrem Herzen, da stand sie und weinte still in des Kindchens Kleid hinein, und mein und Mariannens Kind schlenkerte vergnügt mit den Ärmchen in die Luft, als ob’s fliegen, mir nachfliegen wollte in mein fernes Heimatland Schlesien hinein.

Wartet nur, ihr beiden, übers Jahr hol’ ich euch, und dann werden zwei liebe Menschenkinder mehr im lieben Schlesien sein. —


Die Märcheninsel

Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen

von Capri

*

Nach mündlichen Mitteilungen

von

Heinrich Zschalig

*

Es ist ein köstliches Buch, das hier dem deutschen Volke gegeben wird. Der ganze Zauber des märchenhaften kleinen Mittelmeereilandes entfaltet sich in dieser Sammlung, wie eine wundersame, duftgesättigte Blüte. Der Volkscharakter der tanz- und sangesfrohen Capresen spiegelt sich in diesen Märchen, Legenden und Liedern und macht das Werk zu einer Quelle des Genusses, nicht nur für die Kenner der sagenumwobenen Insel und den Wissenschaftler, sondern auch für alle Leser, die ihre Freude an der üppigen Phantasie des Volkes haben.


Verlag Deutsche Buchwerkstätten, Dresden


*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76240 ***