*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76485 *** F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski, Dmitri Philossophoff und anderen herausgegeben von Moeller van den Bruck Übertragen von E. K. Rahsin Zweite Abteilung: Neunzehnter Band F. M. Dostojewski Die Erniedrigten und Beleidigten Roman München und Leipzig R. Piper u. Co., G. m. b. H. 1910 R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1910 Druck von Mänicke & Jahn in Rudolstadt. Vorwort. Die ersten Werke, die Dostojewski nach seiner Rückkehr aus Sibirien geschrieben, bezw. vollendet hatte, waren die satirisch-humoristischen Dichtungen „Das Gut Stepantschikowo“ und „Onkelchens Traum“ gewesen, beide aus dem Jahre 1859. Diesen Dichtungen ließ er im Jahre 1861, noch während der Arbeit an den bereits begonnenen Erinnerungen „Aus einem Totenhause“, den Roman „Die Erniedrigten und Beleidigten“ folgen. Es ist Dostojewskis Liebesroman, die Geschichte einer Leidenschaft, die wie ein tragisches Idyll in dem breiten strömenden Epos seines Gesamtwerkes steht. Im Ton, in einer gewissen großstädtischen, nebelfeuchten, schattenschwankenden Petersburger Stimmung, in die sich auch hier noch leise und unheimliche soziale Untertöne mischten, griff er darin auf sein erstes Buch, die „Armen Leute“ zurück, wie es denn ersichtlich dieses Werk ist, auf das er sich selbst, als auf das Erstlingswerk des Erzählenden, des öfteren bezieht. Der Erzähler ist Dostojewski selbst, der junge Dostojewski aus seiner ersten Petersburger Zeit, an den sich der alte Dostojewski zurückerinnert. In der allgemeinen Behandlung dagegen, die auch hier wieder alle alte Romantik abtat und dafür schon in diesem Werke etwas wie eine neue Phantastik des modernen Lebens heraufbeschwor, in der entschlossenen Charakterologie, die sich nicht scheute, aus den Gestalten der beiden Liebenden die Vermenschlichung psychologischer und im Falle des Helden pathologischer Probleme zu machen, griff Dostojewski bereits seinen großen Romanen vor. Die „Erniedrigten und Beleidigten“ wirken wie ein Versuch zu ihnen, und nicht zufällig nähern sie sich ihnen von allem, was er in kleinerer Form geschrieben hat, auch räumlich am meisten. Geistig ist das Buch diesen Werken großer Form unmittelbar verwandt, fast könnte man sagen, es gehört bereits zu ihnen. Nur noch fünf Jahre, und Dostojewski war bereit, „Rodion Raskolnikoff“ zu schreiben. In den „Erniedrigten und Beleidigten“ kündigt sich diese Entwicklung bereits an: es ist das Jugendwerk, das er im Mannesalter geschrieben hat und in dem er sich zu seinem eigentlichen Lebenswerk frei und reif gemacht hatte. M. v. d. B. Erster Teil I. Am zweiundzwanzigsten März des vorigen Jahres hatte ich gegen Abend ein äußerst seltsames Erlebnis. Den ganzen Tag war ich auf der Suche nach einer neuen Wohnung in der Stadt herumgelaufen. Der Grund war, daß mir mein Husten, der mir mit der Zeit doch Sorge zu bereiten begann, es nicht länger möglich machte, daß ich in meiner alten feuchten Wohnung blieb. Eigentlich hatte ich ja schon im Herbst umzuziehen beabsichtigt, inzwischen war es darüber doch Frühling geworden. Einen ganzen Tag hatte ich gesucht, trotzdem aber nichts Passendes gefunden. Freilich waren auch meine Ansprüche nicht so leicht zu befriedigen. Erstens wollte ich nicht in einer Familienwohnung ein möbliertes Zimmer mieten, sondern eines für sich mit besonderem Eingang. Zweitens mußte dieses einzelne Zimmer unbedingt groß oder zum mindesten geräumig, und drittens bei all diesen Vorzügen selbstverständlich möglichst billig sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß in einem engen Raum auch die Gedanken sich beengt fühlen. Ich aber gehe, wenn ich mir meine noch ungeschriebenen Erzählungen in Gedanken zurechtlege, mit Vorliebe im Zimmer auf und ab, was in einer kleinen Stube natürlich sehr unbequem und wenig tunlich zu sein pflegt. Übrigens hat es mir immer mehr Vergnügen gemacht, in Gedanken meine Werke auszuarbeiten, es mir vorläufig nur auszumalen, wie ich sie schreiben würde, als sie buchstäblich zu schreiben – und das wirklich nicht etwa aus Faulheit ... Woher das nur kommen mag? Schon am Morgen hatte ich mich nicht ganz wohl gefühlt, gegen Abend aber fühlte ich mich geradezu krank: ich muß mich von neuem erkältet haben. Hinzu kam, daß ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war; das hatte mich natürlich sehr ermüdet. Als ich auf dem Wosnessenskij-Prospekt anlangte, sah ich gerade noch das letzte Leuchten der Abendsonne. Ich liebe die Märzsonne in Petersburg, namentlich den Sonnenuntergang, natürlich nur dann, wenn der Abend klar und kalt ist. Dann ist die ganze Straße plötzlich wie in Licht getaucht. Alle Häuser scheinen zu glänzen, und ihre grauen, gelben, schmutzig-grünen Fassaden verlieren für einen Augenblick ihre mürrische Stumpfheit. Auch in die Seele flutet das Licht, es ist ordentlich, als zucke sie zusammen. Wie Schuppen fällt es einem von den Augen und neue Gedanken strömen durch den Kopf ... Es ist ganz erstaunlich, was ein einziger Sonnenstrahl in der Seele des Menschen bewirken kann. Doch das Abendrot erlosch; die Kälte wurde immer empfindlicher; auch die Dämmerung nahm zu ... in den Schaufenstern und Läden flammte das Gas auf. Plötzlich blieb ich, unter dem Eindruck des Vorgefühls, daß ich sogleich etwas Ungewöhnliches erleben würde, wie angewurzelt stehen, spähte suchend zu dem anderen Trottoir hinüber, wo sich eine mir gut bekannte deutsche Konditorei befand, – und erblickte dort den Alten und seinen Hund. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie mein Herz sich unter einer unangenehmen Empfindung gleichsam zusammenzog, und ich vermochte selbst nicht einmal zu entscheiden, welches der Grund dieser Empfindung war. Ich bin kein Mystiker; an Vorahnungen und Wahrsagungen glaube ich so gut wie überhaupt nicht; indes habe ich in meinem Leben, wie vielleicht jeder Mensch, einige ziemlich unerklärliche Erlebnisse gehabt. Nun, nehmen wir zum Beispiel diesen Zwischenfall mit dem Alten: weshalb hatte ich damals, als ich ihn erblickte, sogleich das Empfinden, daß ich an diesem Abend etwas Außergewöhnliches erleben würde? Übrigens war ich krank, und Empfindungen in einem krankhaften Zustande pflegen fast immer trügerisch zu sein. Der Alte näherte sich der Konditorei nur langsam, setzte langsam einen Fuß vor den anderen, ohne die Gelenke dabei zu biegen, als ginge er nicht auf Beinen, sondern auf Stöcken. Sein Rücken war ganz krumm, gleichwohl stützte er sich, gleichsam tastend, nur leicht auf seinen Stock. So ging er auf die Konditorei zu. Noch nie war mir ein so seltsamer, ein so – unmöglicher Mensch begegnet. Auch früher schon, wenn ich ihn bei Müller – so hieß der Konditoreibesitzer – angetroffen hatte, war der Eindruck, den er auf mich machte, immer fast ein schmerzhafter gewesen. Seine lange gebeugte Gestalt, das achtzigjährige Leichengesicht, der alte Mantel, dessen Nähte überall aufgeplatzt waren, der verbeulte runde Hut, den er wohl schon etliche zehn Jahre auf seinem kahlen Kopfe tragen mochte, auf diesem seltsamen Schädel, von dessen Haaren sich nur noch im Nacken einige nicht graue, sondern gelblichweiße Strähnen erhalten hatten; alle seine Bewegungen, die etwas so Seltsames an sich hatten, als wären sie Bewegungen einer aufgezogenen Puppe – alles das mußte unwillkürlich einen jeden auf ihn aufmerksam machen. Es berührte in der Tat sehr sonderbar, diesen hilflosen Greis so ganz ohne Aufsicht zu sehen, um so mehr, als er tatsächlich schon eher einem Irrsinnigen glich, der der Obhut seiner Wärter entschlüpft war. Ganz besonders auffallend war auch seine ungewöhnliche Magerkeit: er sah aus, als habe er überhaupt kein Fleisch, als sei über ein Knochengerüst nichts als dünne, alte Haut geklebt. Seine großen trüben Augen, die von dunkelblauen Ringen umgeben waren, blickten stets unverwandt geradeaus – niemals sahen sie zur Seite; sie sahen überhaupt nie etwas, davon bin ich überzeugt. Denn wenn er einen auch ansah, wie man aus der Richtung seines Blickes schließen konnte, so setzte er doch so unbeirrt seinen Weg fort, als wäre vor ihm nichts als freie Luft gewesen. Das habe ich mehr als einmal bemerkt. Übrigens pflegte er erst seit nicht sehr langer Zeit in dieser Konditorei zu erscheinen, und zwar stets in Begleitung seines Hundes. Woher er kam, wußte niemand, denn noch nie hatte sich jemand von den Stammgästen entschlossen, ihn anzureden, er selbst aber sah sie nicht einmal an. „Weshalb schleppt er sich wohl täglich zu Müller, und was treibt er dort?“ dachte ich, und beobachtete ihn, unwiderstehlich von ihm angezogen, von der anderen Straßenseite. Ein gewisser Ärger – wahrscheinlich eine Folge meiner Krankheit und Müdigkeit – stieg in mir auf. „Was er wohl bei sich denkt?“ fragte ich mich, ohne mich beruhigen zu können. „Was er im Sinn haben mag? Denkt er überhaupt etwas? Sein Gesicht ist ja schon so tot, daß es entschieden nichts mehr ausdrückt. Und woher er nur diesen scheußlichen Hund hat! Aber das Tier ist wirklich wie verwachsen mit ihm, sieht ihm auch auffallend ähnlich ... Es ist fast, als wären sie beide ein einziges unteilbares Ganzes ...“ Dieser arme Hund war, glaube ich, gleichfalls achtzigjährig; ja, wie hätte er auch wohl jünger sein können! Erstens sah er so alt aus, wie sonst kein einziger Hund aussieht, und zweitens: weshalb war mir sogleich, beim ersten Blick auf diesen Hund, der Gedanke gekommen, daß er kein Hund wie alle anderen Hunde sei, sondern ein ganz besonderer, und daß in diesem Hunde unbedingt etwas Phantastisches, Verwunschenes stecken müsse. Vielleicht war sein Kern ein mephistophelischer? wer weiß! Jedenfalls aber war sein Schicksal durch geheimnisvolle, untrennbare Fäden aufs engste mit dem Schicksal seines Herrn verknüpft. Wer diesen Hund betrachtete, mußte ohne weiteres zugeben, daß er vor mindestens zwanzig Jahren zum letzten Mal, so wie es sich gehört, gefressen hatte! Mager war er wie ein Knochengestell oder – was wäre bezeichnender – wie sein Herr! Behaartes Fell hatte er fast überhaupt nicht mehr, selbst die Rute, die wie ein Stock herabhing, war so gut wie gänzlich unbehaart. Der Kopf und die langen Ohren hingen traurig herab. Nein, in meinem ganzen Leben habe ich keinen so widerlichen Hund gesehen. Wenn sie beide auf der Straße gingen, der Herr voran und der Hund hinterher, dann berührte seine Schnauze unausgesetzt den Mantelzipfel seines Gebieters, als wäre sie an ihn angeklebt. Und der Gang der beiden und ihre Haltung und ganzes Aussehen schienen dann bei jedem Schritt zu sagen: „Alt sind wir, ja, alt, Herrgott, wie sind wir alt!“ Ich erinnere mich noch, daß mir der Gedanke durch den Kopf ging, der Alte hätte sich mit seinem Hunde aus irgendeiner Hoffmannschen Erzählung, illustriert von Gavarni, herausgestohlen und spaziere jetzt als lebende Reklame des Werkes umher. Ich schritt über die Straße und folgte dem Alten in die Konditorei. Dort hatte der Alte schon längst unliebsames Aufsehen erregt. Müller, hinter dem Ladentisch, schnitt bei Erscheinen des unerwünschten Gastes jedesmal eine unzufriedene Grimasse. Erstens, bestellte der eigenartige Gast nie etwas. Sowie er eintrat, ging er gleich auf den Ofen in der Ecke zu und ließ sich neben ihm auf einen Stuhl nieder. War dieser Platz besetzt, so blieb er in gedankenlosem Staunen vor der Person, die seinen Platz eingenommen hatte, stehen und schritt dann wie vor den Kopf geschlagen in die andere Ecke am Fenster. Dort nahm er irgendeinen Stuhl, setzte sich langsam auf ihn nieder, nahm den Hut ab, legte ihn auf den Fußboden, stellte den Stock daneben an die Wand, lehnte sich zurück in den Stuhl und verharrte so regungslos drei bis vier Stunden. Niemals nahm er eine Zeitung zur Hand, niemals sprach er ein Wort oder gab einen Laut von sich; er saß nur, starrte mit einem so stumpfen und leblosen Blick vor sich hin, daß man hätte wetten können, er sähe und höre nichts von dem, was um ihn her vor sich ging. Der Hund legte sich dann, nachdem er sich ein paarmal im Kreise herumgedreht hatte, knurrig zu seinen Füßen nieder, drückte seine Schnauze zwischen die Stiefel seines Herrn, seufzte tief auf und lag so, der Länge nach ausgestreckt, den ganzen Abend unbeweglich da, als wäre er wirklich leblos. Es schien überhaupt, als ob diese beiden Wesen den ganzen Tag über irgendwo tot dagelegen und erst bei Sonnenuntergang sich plötzlich belebt hätten, nur um in die Müllersche Konditorei zu gehen und dort eine geheimnisvolle, allen unbekannte Pflicht zu erfüllen. Nachdem der Alte drei bis vier Stunden so dagesessen hatte, erhob er sich plötzlich, um sich nach Hause zu begeben. Auch der Hund richtete sich auf, klemmte seinen Schwanz zwischen die Beine und folgte gesenkten Hauptes, wie mechanisch, seinem Herrn. Die Gäste der Konditorei mieden den Alten, setzten sich nie neben ihn, als flößte er ihnen Widerwillen ein. Er aber merkte von alledem gar nichts. Diese Gäste waren hauptsächlich Deutsche, Bewohner des Wosnessenskij-Prospekt und Inhaber verschiedener Werkstätten, Schlosser, Bäcker, Färber, Hutmacher, Sattler – patriarchalische Leute im deutschen Sinne des Wortes. Bei Müller ging es überhaupt sehr patriarchalisch zu. Der Wirt selbst setzte sich des öfteren zu seinen Gästen an den Tisch, wobei eine gewisse Menge Punsch verabfolgt wurde. Auch die Hunde und die kleinen Kinder des Wirtes erschienen bei den Gästen, von denen sie dann geliebkost und gestreichelt wurden, die Kinder wie die Hunde. Alle waren sie miteinander bekannt und alle achteten sie sich gegenseitig. Und wenn die Gäste sich in das Lesen deutscher Zeitungen vertieften, so ertönte aus der Wohnung des Wirtes der liebe Augustin, gespielt auf einem alten Klimperkasten, von der ältesten Tochter, einem frischen, blondlockigen Mädchen, das an eine weiße Maus erinnerte. Besonders gern hatten es alle, wenn sie Walzer spielte. Ich selbst ging immer in den ersten Tagen des Monats zu Müller, um dort russische Monatsschriften zu lesen. Als ich heute in die Konditorei trat, sah ich den Alten bereits am Fenster sitzen und den Hund wie immer zu seinen Füßen. Schweigend setzte ich mich in eine Ecke und stellte mir selbst die Frage: „Warum bin ich hierhin gekommen, wo ich doch nichts zu suchen habe?“ Krank, wie ich mich fühlte, hätte ich nach Hause gehen, einen heißen Tee trinken und mich schlafen legen sollen. „Bin ich denn wirklich hierher gekommen, um den Alten anzugaffen?“ Ich ärgerte mich. „Was geht er mich an,“ dachte ich und erinnerte mich der krankhaften und sonderbaren Empfindung, die der Alte auf der Straße in mir hervorgerufen hatte. Und was habe ich mit all diesen langweiligen Deutschen zu tun? Wozu diese phantastische Idee? Wozu diese Erregung wegen nichts, die mich in letzter Zeit so beherrscht, ja mich nicht leben läßt und meine klare Anschauung über das Leben verwirrt? Trotz aller dieser Vorstellungen blieb ich doch wie angewurzelt auf der Stelle sitzen, während der Schüttelfrost in mir immermehr zunahm und ich das warme Zimmer jetzt erst recht nicht mehr verlassen mochte. Ich nahm die Frankfurter Zeitung, las ein paar Zeilen und schlief ein. Die Deutschen störten mich nicht dabei. Sie lasen oder rauchten und teilten sich nur hin und wieder mit abgebrochener und halblauter Stimme eine Neuigkeit aus Frankfurt mit, oder irgend einen Witz aus dem berühmten deutschen Witzblatt Satyr, worauf sie sich dann mit verdoppeltem Nationalstolz von neuem ins Lesen vertieften. Ich mag wohl eine halbe Stunde geschlafen haben, als mich plötzlich ein starker Fieberschauer aufriß. Es war wirklich an der Zeit, nach Haus’ zu gehen! Eine stumme Szene jedoch, die sich gerade in diesem Augenblick im Raume abspielte, hielt mich noch einmal davon zurück. Ich habe bereits gesagt, daß der Alte, nachdem er sich niedergesetzt, immer sofort seinen Blick auf einen Punkt heftete und ihn den ganzen Abend unverwandt auf denselben Gegenstand geheftet hielt. Auch mir passierte es einmal, daß dieser gedankenlose, starre und nichts unterscheidende Blick auf mich fiel: ein unangenehmes, ja unerträgliches Gefühl überkam mich und ich wechselte so schnell als möglich meinen Platz. Dieses Mal war das Opfer des Alten ein kleiner, außerordentlich sorgsam gekleideter Deutscher mit steif gestärktem hohen Kragen, und einem feuerroten Gesicht, ein angereister Kaufmann aus Riga, Adam Iwanowitsch Schulz, wie ich später erfuhr, ein Freund Müllers, dem der Alte und viele von den anderen Gästen unbekannt war. Als dieser mit großem Genuß den „Dorfbarbier“ gelesen und seinen Punsch getrunken, erhob er seinen Kopf und bemerkte plötzlich den unbeweglich auf ihn gerichteten Blick des Alten. Das machte ihn stutzig. Adam Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher Mensch, wie überhaupt alle „anständigen“ Deutschen. Er fand es sonderbar und beleidigend, daß man ihn so ungeniert ununterbrochen ansehen konnte. Mit unterdrücktem Unwillen wandte er sich von dem „aufdringlichen“ Alten ab, murmelte etwas in den Bart und verbarg sich hinter die Zeitung. Er hielt es jedoch nicht lange aus, schon nach zwei Minuten schielte er über die Zeitung hinweg: und wieder traf ihn derselbe starre, gedankenlose Blick. Adam Iwanowitsch schwieg auch noch dieses Mal. Als es ihm aber zum dritten Male passierte, da sprang er auf. Er hielt es für seine Pflicht und Schuldigkeit, als Repräsentant der schönen Stadt Riga, als der er sich fühlte, seine angegriffene Ehre zu verteidigen. Mit einer ungeduldigen Bewegung klopfte er mit dem Zeitungsstock energisch auf den Tisch, und noch röter vor Selbstgefühl und Punsch richtete er seine kleinen, flammenden Augen auf den verdrießlichen Alten. Beide, schien es, der Deutsche wie der Alte, wollten es auf die magnetische Kraft ihrer Blicke ankommen lassen und einer den andern zwingen, den Blick zuerst zu senken. Das Klopfen mit dem Zeitungsstock und die exzentrische Haltung Adam Iwanowitschs erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Ein jeder ließ von seiner Beschäftigung und beobachtete mit ehrbarer, schweigsamer Neugier die beiden Gegner. Die Szene begann sehr komisch zu werden. Der Magnetismus der herausfordernden Augen Adam Iwanowitschs war jedoch umsonst verschwendet. Der Alte, den nichts bekümmerte, fuhr fort, auf den außer sich geratenen Herrn Schulz zu starren und bemerkte überhaupt nicht, als wäre er auf dem Monde statt auf der Erde gewesen, daß er der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurde. Endlich riß Adam Iwanowitsch die Geduld und er platzte heraus: „Warum starren Sie mich so an?“ rief er auf deutsch mit scharfer, durchdringender Stimme und drohender Miene. Doch sein Gegner blieb stumm, als hätte er die Frage überhaupt nicht gehört. Adam Iwanowitsch entschloß sich russisch zu sprechen. „Ich frage Sie, warum Sie auf mich so sehen?“ rief er mit verdoppelter Heftigkeit. „Ich, bei Hofe bekannt, und Sie nicht bei Hofe bekannt!“ fügte er hinzu und sprang vom Stuhl auf. Doch der Alte rührte sich nicht einmal. Unter den Deutschen erhob sich ein unwilliges Gemurmel. Der Wirt, durch den Lärm aufmerksam geworden, trat hinzu. Als er erfahren, um was es sich handelte, beugte er sich ans Ohr des Alten, weil er dachte, er wäre taub. „Herr Schulz bittet Sie höflichst, nicht ihn anzusehen,“ rief er so laut als möglich, den unbegreiflichen Alten scharf beobachtend. Der Alte blickte mechanisch zu ihm auf und plötzlich gewahrte man auf seinem unbeweglichen Gesicht den Ausdruck eines Gedankens und eine gewisse ängstliche Erregung. Er schien verwirrt, beugte sich ächzend nach seinem Hut, griff eilig nach seinem Stock, erhob sich vom Stuhl mit einem gewissen wehleidigen Lächeln, dem verschämten Lächeln eines Armen, der von einem Platze gewiesen wird, der ihm nicht zukommt und bereitete sich vor, das Zimmer zu verlassen. In dieser stillen ergebenen Eile des armen, zerbrechlichen Greises lag so vieles, was Mitleid erregte, so vieles, was einem das Herz in der Brust erbeben ließ, daß alle Gäste, selbst Adam Schulz nicht ausgenommen, sofort ihre Haltung änderten. Es wurde allen klar, daß der Alte nicht nur nicht jemanden habe beleidigen wollen, sondern selbst fühlte, daß man ihn jeden Augenblick wie einen Bettler hätte davonjagen können. Müller war ein guter und mitfühlender Mensch. „Nein, nein,“ rief er aus, dem Alten beschwichtigend auf die Schulter klopfend. „Herr Schulz bat Sie nur höflichst, nicht ihn anzusehen. Er ist bei Hofe ...“ Doch der Arme verstand ihn auch jetzt nicht; er beeilte sich noch mehr als vorhin, fortzukommen, bückte sich nach seinem alten, blauen, durchlöcherten Taschentuch, das ihm aus dem Hut gefallen war, und rief seinen Hund; dieser war unbeweglich auf dem Fußboden liegen geblieben, scheinbar fest eingeschlafen, die Schnauze zwischen beiden Pfoten. „Asorka, Asorka!“ rief er ihm mit bebender, greisenhafter Stimme zu, „Asorka!“ Doch Asorka bewegte sich nicht. „Asorka, Asorka!“ wiederholte kläglich der Alte und berührte den Hund mit seinem Stock, um ihn zu wecken, doch dieser blieb unbeweglich. Der Stock entfiel seinen Händen. Er kniete nieder und ergriff mit beiden Händen den Kopf seines Hundes. Armer Asorka! Er war tot. Er war lautlos zu den Füßen seines Herrn verendet, vielleicht vor Alter, oder wer weiß, vielleicht verhungert. Der Alte sah einen Augenblick wie erstarrt auf ihn, als könne er nicht begreifen, daß Asorka tot war; langsam beugte er sich zu seinem alten Freunde und Diener nieder und preßte sein leichenblasses Gesicht an den leblosen Kopf des Hundes. Eine Minute dauerte das Schweigen ... alle waren tief davon ergriffen ... endlich richtete sich der Arme auf, er war kreideweiß und bebte am ganzen Körper. „Man kann ihn ausstopfen,“ bemerkte der gutmütige Herr Müller, um den Alten in irgend einer Weise zu trösten. „Man kann gut ausstopfen; Fedor Karlowitsch Krüger versteht gut auszustopfen. Fedor Karlowitsch Krüger ist großer Meister auszustopfen,“ bekräftige Müller noch seine Aussage, und überreichte dem Alten den Stock, den er aufgehoben hatte. „Ja, ich kann gut machen ausstopfen,“ lobte sich selbst, bescheiden vortretend, Herr Krüger. Das war ein langer, hagerer, gutmütiger Deutscher, mit roten, zerwühlten Haaren und einer Brille auf der stark gebogenen Nase. „Fedor Karlowitsch Krüger hat große Talent, um wundervoll auszustopfen,“ fügte wieder Müller hinzu, der sich für seine Idee zu begeistern anfing. „Ja, ich habe große Talent, um auszustopfen,“ bekräftigte seinerseits von neuem Herr Krüger, „und ich werde Ihnen umsonst ausstopfen Ihren Hund,“ fügte er in einem Anfall von Selbstaufopferung hinzu. „Nein, ich Ihnen bezahlen dafür, daß Sie machen ausstopfen!“ schrie Adam Iwanowitsch Schulz, flammend vor Begeisterung, da er sich für die unschuldige Ursache des Unglücks hielt. Der Alte hörte allen zu, augenscheinlich ohne etwas zu begreifen und zitterte noch immer am ganzen Körper. „Warten! Trinken Sie ein Gläschen kuten Kognak!“ rief Müller, als er sah, daß der rätselhafte Gast sich anschickte, fort zu gehen. Man brachte den Kognak. Mechanisch nahm der Alte das Gläschen, doch zitterten seine Hände, und bevor er es an die Lippen geführt, hatte er die Hälfte verschüttet. Ohne einen Tropfen zu trinken, legte er das Glas zurück auf den Teller. Darauf lächelte er so sonderbar, so ganz verloren und verließ eilig, ohne Asorka, die Konditorei. Alle waren ganz verwundert. „Was für eine Geschichte!“ hörte man sie ausrufen. Ich aber stürzte dem Alten nach. Einige Schritte rechts von der Konditorei lag eine kleine Gasse, finster und eng, zwischen hohen Häuserfassaden. Etwas sagte mir, der Alte müsse sich durchaus dahin begeben haben. Das zweite Haus rechts in der Gasse war im Bau begriffen und mit hohen Holzgerüsten umstellt. Der Bretterzaun, der das Haus umgab, nahm die Hälfte der Gasse ein. Längs dem Zaun war ein Holzsteg für Fußgänger: Hier, in der dunklen Ecke, die vom Bretterzaun ums Haus gebildet wurde, traf ich den Alten. Er saß auf dem Holzsteg für Fußgänger, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in die Hände gedrückt. Ich setzte mich neben ihn. „Hören Sie mich an,“ begann ich, ohne recht zu wissen, was ich sagen sollte. „Trauern Sie nicht um Asorka. Kommen Sie, ich führe Sie nach Haus. Ich werde gleich eine Droschke nehmen. Wo wohnen Sie?“ Der Alte antwortete nichts. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. In der Gasse war niemand zu sehen. Plötzlich packte er mich an dem Arm. „Ich ersticke!“ rief er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme. „Luft!“ „Kommen Sie, gehen wir nach Haus!“ rief ich, erhob mich und versuchte ihn aufzuheben, „Sie werden Tee trinken und sich zu Bett legen ... Ich werde sofort eine Droschke nehmen ... einen Arzt rufen ... ich kenne einen Arzt ...“ Ich weiß nicht mehr, was ich noch alles auf ihn einsprach. Er wollte sich erheben, und richtete sich ein wenig auf, doch fiel er gleich wieder zurück und murmelte etwas vor sich hin, mit erstickter Stimme. Ich beugte mich zu ihm nieder, um ihn hören zu können. „Auf Wassilij-Ostroff ... sechste Linie ... sechste Linie,“ röchelte der Alte. Er verstummte. „Sie leben auf Wassilij-Ostroff? Weshalb gingen Sie denn nach rechts, statt nach links? Ich werde Sie gleich hinführen ...“ Der Alte bewegte sich nicht mehr. Ich ergriff seine Hand; die Hand fiel leblos nieder. Ich blickte ihm forschend ins Gesicht, ich betastete ihn, – auch er war tot. Mir schien alles wie ein Traum. Dieses Erlebnis machte mir viel zu schaffen, und in der Erregung schwand mein Fieber. Die Wohnung des Alten wurde bald gefunden. Er lebte indessen nicht auf Wassilij-Ostroff, sondern zwei Schritt davon entfernt, wo er gestorben war, im Hause Kluge, unter dem Dach, in der fünften Etage, in einer Wohnung, die aus einem kleinen Vorraum und einem großen aber sehr niedrigen Zimmer mit drei fensterartigen Spalten bestand. Er schien in der größten Armut gelebt zu haben. Seine Möbel waren ein Tisch, zwei Stühle und ein alter, alter Diwan, hart wie Stein, aus dem überall der Bast herauskam; ja, selbst diese Möbel schienen noch dem Hauswirt zu gehören. Der Ofen war ersichtlich lange nicht mehr geheizt worden; ein Licht war auch nicht zu finden. Ich bin jetzt fest davon überzeugt, daß der Alte jeden Abend zu Müller ging, um sich zu wärmen und bei Licht zu sitzen. Auf dem Tisch stand ein leerer, irdener Krug und lag ein Stück alte Brotkruste. Geld fand man nicht. Auch Wäsche besaß er nicht. Einer der Anwesenden wollte zu seiner Beerdigung ein reines Hemd geben. Es war klar, daß er unmöglich allein so hätte leben können, und daß irgend jemand von Zeit zu Zeit für ihn gesorgt haben mußte. In der Schublade des Tisches fand man seinen Paß. Der Verstorbene war Ausländer von Geburt, aber russischer Untertan und hieß Jeremias Smitt, Maschinist, achtundsiebzig Jahre alt. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher; ein kleines Handbuch der Geographie und das neue Testament in russischer Übersetzung. Die weißen Ränder der Blätter waren mit Strichzeichen und Nägelspuren versehen. Diese Bücher erwarb ich mir später. Man befragte die Bewohner, den Wirt des Hauses, – keiner wußte etwas über ihn zu berichten. Das Haus hatte sehr viele Einwohner, meistenteils Handwerker und Deutsche, die Zimmer mit Beköstigung und Bedienung vermieteten. Der Verwalter des Hauses wußte wenig mehr von dem Verstorbenen, als daß er für seine Wohnung sechs Rubel monatlich Miete zahlte, im ganzen vier Monate in der Wohnung lebte und für die letzten zwei Monate schuldig geblieben war, – so daß man ihn hätte hinausweisen müssen. Man fragte, ob ihn jemand besucht habe? Doch niemand konnte auch darüber eine befriedigende Auskunft geben. „Das Haus sei groß, wie die Arche Noah, ... als ob denn wenig Leute in ihm wohnten, ... alle seien doch nicht bekannt ...“ Der Hausknecht, der über fünf Jahre in diesem Hause gedient und sicher etwas über den seltsamen Mieter hätte aussagen können, war gerade vor zwei Wochen in sein Heimatsdorf gefahren. Sein Neffe, ein ganz junger Bursche, kannte noch kaum die Hälfte der Mieter. Ich weiß nicht mehr genau, welches Endresultat sich aus all diesen Nachforschungen ergab. Der Alte wurde wenigstens bald darauf beerdigt. Als ich in diesen Tagen wie zufällig nach Wassilij-Ostroff und in die sechste Linie kam, mußte ich laut auflachen: was anders konnte ich wohl in ihr vorfinden, als eine Fassadenreihe allergewöhnlichster Häuser? „Doch warum hatte der Alte sterbend von Wassilij-Ostroff, sechste Linie gesprochen,“ dachte ich bei mir. „War es etwa nur Fieberphantasie gewesen?“ Ich sah mir die freigewordene Wohnung Smitts an und sie gefiel mir. Ich mietete sie. Hauptsächlich des großen Zimmers wegen, wenn es auch so niedrig war, daß ich mich in der ersten Zeit ständig fürchtete, mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Übrigens gewöhnte ich mich bald daran. Für sechs Rubel monatlich hätte ich auch kein besseres Zimmer finden können. Eine eigene separate Wohnung zu haben, entzückte mich, ich mußte mich jetzt nur noch nach einer Bedienung umsehen, denn ohne jegliche Bedienung kann man doch nicht leben. Der Hausknecht wollte in der ersten Zeit einmal am Tage heraufkommen, um das Notwendigste zu besorgen. „Wer weiß,“ dachte ich, „vielleicht kommt auch jemand, um nach dem Alten zu fragen!“ Übrigens waren schon fünf Tage nach seinem Tode vergangen, und noch hatte sich niemand sehen lassen. II. Damals, vor einem Jahre, schrieb ich noch für mehrere Zeitungen Artikel verschiedener Art und glaubte fest daran, daß es mir einst gelingen würde, etwas Großes und Schönes zu schaffen. Ich arbeitete zugleich an einem großen Roman, doch das Ende von allem war – daß ich jetzt im Krankenhaus liege und wahrscheinlich bald sterben werde. Wenn ich aber sowieso bald sterben muß, wozu diese Aufzeichnungen? Unwillkürlich muß ich ununterbrochen an dieses letzte schwerste Jahr meines Lebens denken. Ich bin gezwungen, alles Erlebte niederzuschreiben, um nicht aus Gram darüber zu sterben. All die empfangenen Eindrücke erregen und beschäftigen mich bis zur Qual. Unter der Feder werden sie immerhin einen ruhigeren, geordneteren Charakter annehmen, und weniger Hirngespinsten und Alpdrücken ähnlich sein. So hoffe ich wenigstens. Schon allein die mechanische Beschäftigung des Schreibens ist viel wert. Es beruhigt, es kühlt das erregte Blut, es weckt in mir frühere schriftstellerische Gewohnheiten und meine Erinnerungen und krankhaften Vorstellungen werden in Tätigkeit umgesetzt, verarbeitet ... Eine famose Idee ... und mit dem Papier kann man im Krankenhause die Doppelfenster zum Winter bekleben! ... Doch habe ich meine Erzählung in der Mitte begonnen. Um alles zu erzählen, muß man von Anfang beginnen. So sei es denn! Übrigens wird ja meine Autobiographie ganz kurz sein. Ich bin nicht hier geboren, sondern weit von hier entfernt, im Gouvernement X. Es ist anzunehmen, daß meine Eltern brave Leute gewesen sind, nur verwaiste ich schon in frühester Kindheit und wuchs im Hause Nikolai Ssergejewitsch Ichmenjeffs auf, eines kleinen Gutsbesitzers, der mich aus Mitleid aufgenommen. Er hatte nur ein einziges Kind, eine Tochter, Natascha, die drei Jahre jünger war als ich. Wir wuchsen wie Geschwister auf. O, süße Kindheit! Traurig, wenn man mit 25 Jahren nur an dich allein mit Begeisterung und Dankbarkeit denken kann! Am Himmel leuchtete damals eine so helle Sonne – nicht die Sonne Petersburgs. Mutwillig und fröhlich schlugen unsere kleinen Herzen. Um uns herum lagen Wiesen und Wälder und kein Gewicht toter Steine lastete auf uns, wie jetzt. Wie herrlich der Garten und der Park von Wassiljewskoje waren! Nikolai Ssergejewitsch war nämlich Verwalter des Gutes. In diesem Garten spielten ich und Natascha, und hinter ihm lag ein großer, feuchter Wald, in dem wir uns einmal als Kinder verirrten ... Goldene schöne Zeit! Das Leben schien so lockend und geheimnisvoll, und es war so süß, es kennen zu lernen. Damals, als hinter jedem Strauch und jedem Baum etwas Geheimnisvolles und Unbekanntes lebte und die Märchenwelt sich mit der Wirklichkeit verwebte! In der tiefen Ebene ballte sich der Abendnebel zu grauen gewundenen Bändern, die sich an die Sträucher unseres großen steinigen Abhangs hängten. Natascha und ich standen am Flußufer, hielten uns beide die Hände und sahen mit ängstlicher Neugier in die tiefe Ferne. Mit gespannter Ungeduld erwarteten wir etwas, das aus den Nebeln und aus der Tiefe aufsteigen, uns rufen und die Erzählungen der Njänjä[1] wahr machen würde. Einmal in späteren Jahren erinnerte ich Natascha daran, wie man uns ein „Kinderbuch“ schenkte und wir gleich zu unserer Lieblingsbank unter dem dichten alten Ahorn am Teich liefen, um das Zaubermärchen „Alfons und Delinde“ zu lesen. Auch jetzt kann ich nicht kaltblütig an die Erzählung zurückdenken und noch vor einem Jahr zitierte ich Natascha die ersten Zeilen mit Tränen in den Augen: „Alfons, der Held meiner Erzählung, war in Portugal geboren; Don Ramir, sein Vater usw.“ Ich muß wohl Natascha etwas sonderbar vorgekommen sein in meiner Begeisterung, denn sie lächelte so eigentümlich. Übrigens, zu meiner Beruhigung griff sie auch sofort selbst die alten Erinnerungen wieder auf, ich erinnere mich noch dessen. Ein Wort gab das andere, sie selbst begeisterte sich dafür, wir erzählten uns alles, was wir durchlebt hatten. Es war ein herrlicher Abend ... Und als man mich in die Gouvernementsstadt in Pension gab ... Gott, wie sie damals weinte! ... Und unsere letzte Trennung, als ich Wassiljewskoje auf immer verließ ... Ich hatte das Gymnasium beendet und begab mich nach Petersburg, um mich zur Universität vorzubereiten. Ich war siebzehn Jahre alt, sie war im fünfzehnten Jahr. Natascha sagt, daß ich damals ein so hoch aufgeschossener und linkischer Jüngling war, den man ohne zu lachen gar nicht ansehen konnte. Beim Abschied wollte ich ihr noch etwas sehr Wichtiges sagen, doch die Zunge war steif und klebte wie am Gaumen. Unser Gespräch stockte. Ich wußte nicht, wie ich es ihr sagen sollte – sie hätte mich vielleicht gar nicht verstanden. Ich weinte nur bitterlich, als ich fortfuhr, ohne etwas gesagt zu haben. Wir sahen uns erst lange nachher wieder, hier in Petersburg. Das war vor zwei Jahren, als der alte Ichmenjeff eines Prozesses wegen hierher gekommen war und ich meine literarische Tätigkeit kaum begonnen hatte. III. Nikolai Ssergejewitsch Ichmenjeff stammte aus einer guten Familie, die jedoch längst verarmt war. Übrigens hatten ihm seine Eltern noch eine ganz schöne Besitzung mit hundertfünfzig Seelen hinterlassen. Mit zwanzig Jahren ging er zu den Husaren. Alles lief gut ab, bis er im sechsten Jahre seines Dienstes, an einem verhängnisvollen Abend sein ganzes Vermögen verspielte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Am nächsten Abend erschien er wieder am Spieltisch und setzte das Letzte ein, was er besaß, – sein Pferd. Die Karte gewann, die zweite, die dritte und in einer halben Stunde hatte er eines seiner Dörfer, – Ichmenjeffka mit fünfzig Seelen, wie es sich bei der letzten Revision ergab – zurückgewonnen. Die hundert Seelen waren auf immer verloren. Am nächsten Tage reichte er seinen Abschied ein, nach zwei Monaten verließ er den Dienst im Range eines Leutnants und begab sich auf sein Gütchen. Von diesem Spielverlust hat er in seinem Leben niemals mehr gesprochen und hätte, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, mit jedem gebrochen, der es gewagt hätte, ihn daran zu erinnern. Auf dem Gute beschäftigte er sich fleißig mit der Wirtschaft und als er fünfunddreißig Jahre alt war, verheiratete er sich mit einer armen Adeligen, Anna Andrejewna Schumilowa, die ihm nichts mitbrachte, die aber in einem Adelspensionat bei einer Emigrantin, einer Mont-Revèche, erzogen worden war, obgleich niemand hätte sagen können, worin diese gute Erziehung bestanden. Nikolai Ssergejewitsch wurde ein vorzüglicher Landwirt. Die benachbarten Gutsbesitzer kamen zu ihm, um bei ihm zu lernen. Es vergingen einige Jahre, als plötzlich auf dem benachbarten Gut Wassiljewskoje, ein Gut, das neunhundert Seelen zählte, aus Petersburg der Besitzer desselben, Fürst Peter Alexandrowitsch Walkowskij, auftauchte. Seine Ankunft machte in der ganzen Gegend viel von sich reden. Der Fürst war noch ein Mann in den besten Jahren, wenn auch nicht mehr ganz jung, von hohem Rang und bedeutenden Verbindungen, ein schöner Mensch mit großem Vermögen, und dazu Witwer, was die Damen und jungen Mädchen der ganzen Umgegend ungemein interessierte. Man erzählte sich von dem glänzenden Empfang, den ihm der Gouverneur in der Gouvernementshauptstadt, mit dem er weitläufig verwandt war, bereitet und wie alle Damen durch seine Liebenswürdigkeit den Verstand verloren usw. usw. Kurz, er war einer der glänzendsten Vertreter der hohen Petersburger Gesellschaft, die selten in der Provinz erscheinen, aber wenn sie erscheinen, riesigen Effekt machen. Indessen gehörte der Fürst nicht zu den liebenswürdigen Menschen: das zeigte sich besonders denen gegenüber, deren er nicht bedurfte, oder die seiner Meinung nach unter ihm standen. Er hielt es auch nicht für nötig, seinen Gutsnachbarn einen Besuch zu machen, und erwarb sich dadurch viele Feinde. Alle waren deshalb sehr erstaunt, als es dem Fürsten plötzlich einfiel, Nikolai Ssergejewitsch einen Besuch abzustatten. Freilich war Nikolai Ssergejewitsch einer seiner nächsten Nachbarn. Auf die Familie Ichmenjeff machte der Fürst einen großen Eindruck, er entzückte sie alle beide, insbesondere Anna Andrejewna. In kurzer Zeit wurden sie die besten Bekannten, er kam alle Tage zu ihnen und lud sie zu sich ein, erheiterte sie, erzählte ihnen Anekdoten, spielte ihnen auf ihrem schlechten Klavier vor, sang ... Ichmenjeffs konnten sich nicht genug wundern, wie man von einem so lieben, guten Menschen hätte sagen können, daß er ein stolzer, zurückhaltender trockener Egoist sei – was alle Nachbarn von ihm einstimmig behaupteten! Man hätte annehmen müssen, daß der Fürst wirklich an Nikolai Ssergejewitsch, diesem einfachen, offenen und edlen Menschen, Gefallen gefunden hatte. Übrigens klärte sich das alles bald auf. Der Fürst war nach Wassiljewskoje gekommen, um seinen Verwalter zu entlassen, einen Deutschen und Landwirt von großem Selbstbewußtsein, einen Mann, schon ergraut und mit Brillen auf der gebogenen Nase, der jedoch bei allen seinen Vorzügen den Fürsten gottverboten bestohlen und einige Bauern fast zu Tode geprügelt hatte. Iwan Karlowitsch war denn auch endlich auf seiner Unehrlichkeit ertappt worden, sprach sehr beleidigt von der deutschen Ehrlichkeit, mußte jedoch ungeachtet dessen das Gut in etwas entehrender Weise verlassen. Der Fürst hatte jetzt einen Verwalter nötig, und seine Wahl fiel auf Nikolai Ssergejewitsch, einen ausgezeichneten Landwirt und ehrlichen Menschen, woran niemand gezweifelt hätte. Der Fürst hätte es nur sehr gewünscht, daß Nikolai Ssergejewitsch sich ihm selbst zum Verwalter angeboten. Doch das geschah nicht, und der Fürst machte ihm eines Tages von sich aus den Vorschlag, in Form einer freundschaftlich ergebenen Bitte. Ichmenjeff selbst gab zuerst eine abschlägige Antwort. Doch Anna Andrejewna schien das hohe Gehalt verlockend, und die verdoppelte Liebenswürdigkeit des Fürsten zerstreute alle übrigen Bedenken. Der Fürst hatte sein Ziel erreicht. Er war außerdem ein großer Menschenkenner. Während der kurzen Zeit seiner Bekanntschaft mit Ichmenjeff hatte er sofort erraten, mit wem er es zu tun hatte, und wußte, daß man Ichmenjeffs nur auf herzliche und freundschaftliche Weise dazu bewegen konnte, und daß mit Geld bei ihnen nichts zu erreichen war. Außerdem hatte er einen Verwalter nötig, dem er blindlings vertrauen konnte, da er nicht die Absicht hatte, jemals wieder nach Wassiljewskoje zu kommen. Das Vertrauen von Ichmenjeffs zu ihm war so stark, daß sie niemals an seiner Freundschaft zu ihnen gezweifelt hätten. Nikolai Ssergejewitsch gehörte zu diesen guten und naiv-romantischen Leuten, die bei uns in Rußland so liebens- und achtenswert sind, was man auch sonst von ihnen sagen mag, und die, wenn sie einmal jemand gern haben (und Gott weiß wofür), sich ihm mit ihrer ganzen Seele hingeben, so daß ihre Anhänglichkeit oft geradezu komisch wirkt. Es vergingen mehrere Jahre. Das Gut des Fürsten blühte. Die Beziehungen zwischen dem Besitzer und dem Verwalter des Gutes waren ungetrübte, beschränkten sich jedoch auf eine trockene, geschäftliche Korrespondenz. Der Fürst mischte sich in die Obliegenheiten Nikolai Ssergejewitschs nicht ein, erteilte ihm nur hin und wieder einen Rat, der durch seinen praktischen Wert und die Sachlichkeit Ichmenjeff in Erstaunen setzte. Man sah daraus, daß der Fürst kein Freund von unnützen Ausgaben war, sondern zu sparen verstand. In Verlauf von fünf Jahren schickte er Nikolai Ssergejewitsch die Bevollmächtigung zum Ankauf eines anderen schönen und in demselben Gouvernement gelegenen Gutes von vierhundert Seelen. Nikolai Ssergejewitsch war ganz begeistert. Die Erfolge des Fürsten, seine Rangerhöhung, seine Laufbahn, nahm er sich so zu Herzen, als handelte es sich um seinen leiblichen Bruder. Seine Begeisterung überstieg jedoch alle Grenzen, als der Fürst ihm in einer besonderen Angelegenheit wirklich ein Zeichen seines außerordentlichen Vertrauens gab. Es geschah das folgendermaßen ... Übrigens muß ich hier einige besondere Einzelheiten aus dem Leben des Fürsten Walkowskij erwähnen, der ja doch zum Teil zu den Hauptpersonen meiner Erzählung gehört. IV. Ich erwähnte schon vorhin, daß er Witwer war. Er hatte sehr jung geheiratet, und zwar – nur des Geldes willen. Von seinen Eltern, die sich in Moskau vollständig ruiniert hatten, erhielt er so viel als gar nichts. Wassiljewskoje war verpfändet und über und über verschuldet. Der zweiundzwanzigjährige Fürst war genötigt, in eine Kanzlei in Moskau einzutreten, weil er keine Kopeke besaß. Die Ehe mit einer überreifen Kaufmannstochter rettete ihn aus dieser Situation. Der Kaufmann betrog ihn natürlich bei der Mitgift, doch konnte er immerhin mit dem Gelde seiner Frau das elterliche Gut kaufen und auf die Füße stellen. Die Kaufmannstochter, die er geheiratet, verstand weder zu lesen noch zu schreiben und konnte beim Sprechen kaum zwei Worte miteinander verbinden; außerdem war sie sehr häßlich, doch hatte sie einen großen Vorzug, sie war gut und fügte sich in alles. Der Fürst nützte diesen Vorzug auch vollkommen aus; nach dem ersten Jahre der Ehe, als seine Frau ihm einen Sohn gebar, ließ er sie bei ihrem Vater in Moskau und siedelte selbst in ein anderes Gouvernement über, wo er durch die Protektion eines hohen Petersburger Verwandten einen bedeutenden Posten erhielt. Seine Seele dürstete nach Auszeichnungen und einer glänzenden Laufbahn und da er sich sagen mußte, daß er mit seiner Frau weder in Petersburg noch in Moskau leben konnte, so beschloß er, in Erwartung eines Besseren, seine Karriere in der Provinz zu beginnen. Man erzählte sich, daß er im ersten Jahre der Ehe seine Gemahlin durch Mißhandlungen fast zu Tode gequält hätte. Dieses Gerücht erregte den Zorn Nikolai Ssergejewitschs und er verteidigte den Fürsten eifrig, den er solcher rohen Handlungsweise nicht für fähig hielt. Endlich, nach siebenjähriger Ehe starb die Fürstin, und ihr verwitweter Gemahl siedelte jetzt sofort nach Petersburg über. Hier machte er von sich reden. Schön, jung, vermögend, mit glänzenden Eigenschaften begabt, geistreich, geschmackvoll, unerschöpflich heiter, trat er hier nicht als armer Glückssucher auf, sondern als eine blendende Erscheinung. Man erzählte sich, daß etwas Starkes, Siegreiches, ja ein unwiderstehlicher Zauber von ihm ausging. Er gefiel den Frauen außerordentlich, und ein Abenteuer mit einer Schönheit der hohen Gesellschaft brachte ihm denn auch glücklich einen skandalösen Ruhm ein. Ungeachtet seiner angeborenen Sparsamkeit warf er mit Geld um sich, verlor große Summen im Spiel, ohne eine Miene zu verziehen. Doch nicht darum war er nach Petersburg gekommen, um sich zu vergnügen: ihm war es darum zu tun, seine Karriere zu einem glänzenden Abschluß zu führen. Und das erreichte er. Ein hoher Verwandter, Graf Nainskij, der ihm seine Aufmerksamkeit nicht geschenkt hätte, wäre er als gewöhnlicher Bittender zu ihm gekommen, hielt es, entzückt durch die Erfolge des Fürsten in der Gesellschaft, für nötig, dessen siebenjährigen Sohn zur Erziehung in sein Haus zu nehmen. In die Zeit fiel die Fahrt des Fürsten nach Wassiljewskoje und seine Bekanntschaft mit Ichmenjeff. Durch Vermittlung des Grafen erhielt er dann eine bedeutende Stellung an einer der wichtigsten Gesandtschaften und begab sich ins Ausland. Ungenaue, dunkle Gerüchte drangen bis zu uns in die Heimat: man sprach von einem unangenehmen Konflikt im Auslande, doch konnte niemand sagen, worin er bestanden. Tatsache war damals nur der Kauf des Gutes von vierhundert Seelen, von dem ich bereits erzählt habe. Nach mehreren Jahren kehrte er dann mit erhöhtem Rang aus dem Auslande zurück und erhielt sofort einen bedeutenden Posten in Petersburg. In Ichmenjeffka verbreitete sich die Nachricht, daß er sich zum zweitenmal zu verheiraten beabsichtige, und zwar mit einer Tochter aus bedeutendem alten Adelsgeschlecht. Nikolai Ssergejewitsch rieb sich, außer sich vor Vergnügen, die Hände. Ich besuchte damals gerade in Petersburg die Universität und erinnere mich noch, daß Ichmenjeff sich mit der Bitte an mich wandte, Erkundigungen über die Vermählung des Fürsten einzuziehen. Er hatte auch an den Fürsten geschrieben und um seine Protektion für mich gebeten, doch ließ der Fürst diesen Brief unbeantwortet. Ich wußte nur, daß sein Sohn, der zuerst beim Grafen erzogen wurde und dann das Lyzeum besuchte, im Alter von neunzehn Jahren sein erstes Examen machte. Ich teilte dies Ichmenjeff mit und fügte hinzu, daß der Vater seinen Sohn sehr liebe, sehr verwöhne und schon jetzt um seine Zukunft besorgt sei. Ich hatte es von anderen Studenten, meinen Kameraden erfahren, die den jungen Fürsten kannten. Um diese Zeit erhielt Nikolai Ssergejewitsch eines schönen Tages einen Brief vom Fürsten, der ihn außerordentlich verwunderte ... Der Fürst, der sich bis dahin, wie ich schon erwähnte, in seinen Beziehungen zu Nikolai Ssergejewitsch nur auf eine trockene Geschäftskorrespondenz beschränkte, schrieb ihm jetzt plötzlich in ausführlicher, aufrichtiger und freundschaftlicher Weise über seine Familienangelegenheiten, beklagte sich über seinen Sohn, wie sehr dieser ihm durch seine schlechte Aufführung Sorgen mache ... Freilich müsse man die Unarten eines Knaben nicht allzu ernst nehmen, (er bemühte sich offenbar, ihn zu rechtfertigen) doch habe er beschlossen, seinen Sohn dafür zu strafen und ihn auf einige Zeit zu Ichmenjeffs ins Dorf zu schicken. Er schrieb ferner, daß er sich ganz auf seinen „guten, edlen Nikolai Ssergejewitsch verlasse, im besonderen aber auf Anna Andrejewna,“ bat sie beide, seinen Jungen in die Familie aufzunehmen, ihn in der Einsamkeit zu Vernunft zu bringen, wenn möglich, ihn zu lieben und vor allem aber seinen leichtsinnigen Charakter zu bessern und „ihm heilsame, strenge, im menschlichen Leben so notwendige Gesetze“ einzuflößen. Es versteht sich, daß der alte Ichmenjeff sich in allem Ernst und mit Begeisterung der Sache annahm. Der junge Fürst erschien und wurde wie ihr eigener Sohn von ihnen aufgenommen. In kurzer Zeit gewann ihn Nikolai Ssergejewitsch so lieb, wie seine Tochter Natascha; auch nachher, nach vollkommenem Bruch mit dem Fürsten, gedachte der alte Ichmenjeff mit besonderer Freude seines Aljoscha, wie er gewohnt war, den Fürsten Alexei Petrowitsch zu nennen. Dieser war in der Tat ein reizender Jüngling: schön, schwach und nervös wie eine Frau, doch harmlos und gutmütig, liebenswürdig und hochherzig, – so wurde er der Abgott des ganzen Hauses. Ungeachtet seiner neunzehn Jahre war er noch ein vollständiges Kind. Man konnte es gar nicht begreifen, warum der Vater ihn fortgeschickt hatte, der ihn, wie alle behaupteten, doch so sehr liebte. Man sagte, daß der Junge in Petersburg sich sehr leichtsinnig aufgeführt, nichts getan und sich auch mit nichts habe beschäftigen wollen, was den Vater sehr erzürnt hätte. Nikolai Ssergejewitsch fragte Aljoscha nicht weiter darüber aus, da der Fürst selbst ihm den wahren Grund nicht mitgeteilt hatte. Dazu liefen Gerüchte um von dem leichtsinnigen Verhältnis Aljoschas zu einer Dame, von einer Herausforderung zum Duell, von einem kolossalen Spielverlust, das Gerücht ging sogar so weit, daß es ihm nachsagte, er habe fremdes Geld unterschlagen. Wieder andere behaupteten, daß der Fürst seinen Sohn nur aus egoistischen Gründen entfernt habe. Die letzte Behauptung empörte besonders Nikolai Ssergejewitsch, um so mehr, als Aljoscha, der seinen Vater von Kindheit an nicht gekannt hatte, für ihn schwärmte, ihn liebte, sich für ihn begeisterte; offenbar war er ganz unter seinem Einfluß. Aljoscha plauderte zuweilen auch von einer Gräfin, die sie beide, Vater und Sohn verehrt hatten, und daß sie ihn, Aljoscha, bevorzugt habe, worüber der Vater sehr erzürnt gewesen wäre. Er erzählte des öfteren davon in kindlicher Offenherzigkeit und mit hellem Lachen; doch Nikolai Ssergejewitsch gebot ihm dann jedesmal, zu schweigen. Aljoscha bestätigte auch das Gerücht, daß der Vater ihn verheiraten wollte. Er lebte schon fast ein Jahr in der Verbannung, schrieb von Zeit zu Zeit dem Vater vernünftige und respektvolle Briefe und hatte sich in Wassiljewskoje so gut eingelebt, daß, als der Vater im Sommer selbst auf das Gut kam, (er hatte Ichmenjeff seine Ankunft gemeldet) der Verbannte den Vater selbst bat, ihn noch einige Zeit in Wassiljewskoje zu lassen, da das Landleben, wie er versicherte, seine einzige Bestimmung wäre. Alle Neigungen und Entschlüsse Aljoschas kamen aus einer außergewöhnlichen, nervösen Empfänglichkeit, aus seinem feurigen Herzen, aus einer Leichtsinnigkeit, die bis an Gedankenlosigkeit grenzte, aus der Fähigkeit, sich jedem äußeren Einfluß zu ergeben und aus gänzlicher Abwesenheit irgendeiner Willenskraft. Der Fürst dagegen verhielt sich sehr mißtrauisch zu seiner Bitte ... Auch Nikolai Ssergejewitsch konnte nur mit Mühe seinen früheren „Freund“ wiedererkennen, denn Fürst Pjotr Alexandrowitsch Walkowskij hatte sich sehr verändert. Er war plötzlich besonders kleinlich in seinem Verhalten zu Nikolai Ssergejewitsch geworden; bei der Revision der Rechnungen zeigte er sich mißtrauisch, habgierig, in gewisser Hinsicht fast geizig. Der gute Nikolai Ssergejewitsch nahm sich das alles sehr zu Herzen und bemühte sich, selbst nicht daran zu glauben. Dieses Mal wickelte sich der Besuch in umgekehrter Folge ab, als vor vierzehn Jahren. Dieses Mal besuchte der Fürst alle seine vornehmeren Nachbarn, nur zu Nikolai Ssergejewitsch kam er nie und behandelte ihn wie einen Untergebenen. Und plötzlich geschah etwas Unbegreifliches: ohne jeglichen Grund kam es zu einem vollständigen Bruch zwischen dem Fürsten und Nikolai Ssergejewitsch. Heftige, erregte Worte, die beiderseits gefallen waren, hatte man beiden hinterbracht. Ichmenjeff verließ sofort Wassiljewskoje, doch war die Geschichte damit noch nicht zu Ende. In der ganzen Umgegend erzählte man sich die schrecklichsten Klatschgeschichten. Man behauptete, Nikolai Ssergejewitsch habe den Charakter und die Fehler des jungen Fürsten zu seinen Gunsten auszunützen verstanden; seine Tochter Natascha (die damals siebzehnjährige) habe den zweiundzwanzigjährigen Junker in sich verliebt gemacht, und beide, der Vater wie die Mutter förderten diese Liebe, indem sie sich das Ansehen gaben, als bemerkten sie nichts, vor allem nicht, daß die schlaue und „sittenlose“ Natascha diesen noch ganz jungen Menschen das ganze Jahr über, durch ihre Bemühungen, der Bekanntschaft aller benachbarten „anständigen“ Fräulein aus guter Familie entzogen habe. Man behauptete endlich, daß zwischen den Liebenden die Trauung im Dorfe Grigorjeff, fünfzehn Werst von Wassiljewskoje entfernt, heimlich schon verabredet worden sei, und daß die Eltern dabei Natascha mit guten Ratschlägen unterstützt hätten. Kurz, ein ganzes Buch hätte das nicht zu fassen vermocht, was die Gouvernementsklatschbasen beiderlei Geschlechts bei Gelegenheit dieser Geschichte sich ausdenken konnten. Ich wundere mich nur, daß der Fürst ihnen Glauben geschenkt hatte und tatsächlich infolge eines anonymen Briefes aus der Provinz nach Wassiljewskoje gekommen war. Selbstverständlich hätte niemand, der Nikolai Ssergejewitsch wirklich kannte, diesen Geschichten Glauben schenken können, doch statt dessen, wie das so zu geschehen pflegt, ereiferten sie sich alle, schüttelten die Köpfe und ... verurteilten ihn auf immer und endgültig. Ichmenjeff war viel zu stolz, um sich und seine Tochter vor diesen Klatschbasen zu rechtfertigen und befahl auch strengstens Anna Andrejewna, sich den Nachbarn gegenüber in keine Erklärungen einzulassen. Natascha selbst, die vielverleumdete, erfuhr von alledem nichts, wußte kein Wort von diesen Klatschereien. Man verheimlichte vor ihr die ganze Geschichte und so blieb sie heiter und unschuldig, wie ein Kind. Der Konflikt spitzte sich indessen immer mehr und mehr zu. Diensteifrige Geister ruhten nicht und brachten es so weit, den Fürsten davon zu überzeugen, daß die langjährige Verwaltung des Gutes sich keineswegs durch musterhafte Ehrlichkeit ausgezeichnet hatte. Und nicht genug: vor drei Jahren sollte Nikolai Ssergejewitsch beim Verkauf eines Wäldchens zwölftausend Rubel für sich behalten haben, was durch die allerklarsten Beweise vor Gericht bezeugt werden könnte, um so mehr, als er zum Verkauf des Wäldchens keine gesetzliche Vollmacht des Fürsten besaß, sondern dabei aus eigener Initiative gehandelt hätte, um dann erst hinterher den Fürsten von der Notwendigkeit des Verkaufes zu überzeugen und ihm eine geringere Summe als die für das Wäldchen erhaltene einzuhändigen. Alle diese Verleumdungen entbehrten selbstverständlich jeglicher Basis, wie es sich in der Folge klar auswies, doch nichtsdestoweniger hatte der Fürst ihnen Glauben geschenkt und in Gegenwart von Zeugen Nikolai Ssergejewitsch einen Dieb genannt. Ichmenjeff brauste auf und schleuderte ihm eine gleich kräftige Beleidigung zurück. Es kam zu einer furchtbaren Szene, die dann zu einem Prozeß führte. Nikolai Ssergejewitsch, der keine genügenden schriftlichen Beweise hatte, und was die Hauptsache war, keine Protektion und keine Erfahrung in Gerichtssachen besaß, verlor den Prozeß sofort, in der ersten Instanz. Sein Gut wurde beschlagnahmt. Der erschütterte Alte aber ließ alles liegen und siedelte nach Petersburg über, um für seine Sache persönlich zu wirken. Sein Gut überließ er einem Sachverständigen. Dem Fürsten freilich schien es bald klar geworden zu sein, daß er Ichmenjeff grundlos beleidigt hatte. Doch waren beiderseits solche Kränkungen gefallen, daß von einem friedlichen Ausgleich nicht mehr die Rede sein konnte und der erbitterte Fürst auch seinerseits alles tat, um die Sache zu seinen Gunsten zu wenden, das heißt, seinem früheren Verwalter das letzte Stück Brot zu nehmen. V. So waren denn Ichmenjeffs nach Petersburg übergesiedelt. Über mein Wiedersehen mit Natascha will ich mich weiter nicht verbreiten. Ich hatte sie in diesen vier langen Jahren nicht vergessen, im Gegenteil, ich hatte nur zu oft an sie gedacht. Natürlich war ich mir selbst nicht völlig im klaren über jenes eigentümliche Gefühl, mit dem ich an sie zurückdachte; als wir uns dann aber wiedersahen, erriet ich, daß das Schicksal sie für mich bestimmt hatte. In der ersten Zeit schien es mir, daß sie sich in diesen Jahren wenig entwickelt habe, ich dachte, sie sei dasselbe kleine Mädchen geblieben, das ich früher gekannt hatte. Dann aber begann ich, mit jedem Tage etwas Neues an ihr zu entdecken, etwas bis dahin noch nie an ihr Bemerktes, das gleichsam absichtlich vor mir verborgen worden war, als wolle das Mädchen sich vor mir verstecken – ... und welch eine Wonne dieses Entdecken war! Ichmenjeff war in der ersten Zeit nach der Ankunft sehr übel gelaunt und dementsprechend reizbar. Seine Sache stand ziemlich schlecht, und da ärgerte er sich denn fortwährend, fuhr aus der Haut, sobald ihm etwas ungelegen kam, beschäftigte sich den ganzen Tag mit seinen Akten und Geschäftspapieren und hatte überhaupt wenig Sinn für uns. Anna Andrejewna dagegen ging umher, als könne sie sich in den neuen Verhältnissen noch immer nicht und niemals zurechtfinden. Petersburg ängstigte sie. Sie seufzte und fürchtete sich, weinte und sehnte sich nach ihrem früheren Leben in Ichmenjeffka, machte sich auch wegen Natascha Sorgen, da sie doch schon erwachsen sei und dabei so gar keine Aussicht habe, – kurzum, sie schüttete mit erstaunlicher Offenherzigkeit ihr ganzes Herz mir aus, freilich nur deshalb gerade mir, weil sie sonst niemanden hatte, der für solche freundschaftlichen Ergüsse geeigneter gewesen wäre. In eben der Zeit, oder vielmehr kurz vor ihrer Ankunft in Petersburg, hatte ich meinen ersten Roman beendet, jenes Erstlingswerk, mit dem ich meine Laufbahn begonnen, und als Neuling wußte ich natürlich nicht, wo ich ihn unterbringen sollte. Bei Ichmenjeffs ließ ich jedoch kein Wort davon verlauten; sie aber waren mir ernstlich böse darob, daß ich ein müßiges Leben führte, d. h. weder im Staatsdienst stand, noch sonst wo eine Anstellung suchte. Der Alte machte mir deshalb mitunter sogar bittere Vorwürfe, wozu ihn selbstverständlich nur seine väterliche Zuneigung zu mir bewog. Ich aber schämte mich einfach, ihnen zu sagen, womit ich mich beschäftigte. Und wie hätte ich ihnen auch so offen sagen sollen, daß ich überhaupt nicht in Staatsdienst treten, sondern Schriftsteller werden wolle? Deshalb zog ich es denn auch vor, sie inzwischen noch zu täuschen, und sagte ihnen, ich fände keine Anstellung, obgleich ich mich nach Kräften um eine solche bemühte. Der Alte hatte keine Zeit, mein Tun und Lassen zu beobachten. Ich entsinne mich noch, wie Natascha mir einmal, nachdem sie ein diesbezügliches Gespräch zwischen ihm und mir angehört hatte, heimlich einen Wink gab, ihr ins Nebenzimmer zu folgen, und wie sie mich dann unter Tränen beschwor, doch an meine Zukunft zu denken, und wie sie mich ins Verhör nahm: sie wollte wissen, was ich treibe. Und als ich auch ihr nichts von meiner Schriftstellerei mitteilte, da mußte ich ihr schwören, daß ich mich nicht als Faulpelz dem Schlendrian ergeben und mich zugrunde richten würde. Doch wenn ich ihr auch nicht gestand, was ich trieb, so hätte ich doch – dessen entsinne ich mich noch genau – alle Kritiken, selbst die schmeichelhaftesten Äußerungen der berühmtesten Literaturkenner über meinen Roman hingegeben für ein einziges aufmunterndes Wort von ihr. Eines Tages war dann das Buch endlich erschienen. Schon lange vor seinem Erscheinen war in Literaturkreisen viel von dieser Neuerscheinung gesprochen worden. B. hatte sich wie ein Kind gefreut, als er mein Manuskript gelesen. Nein! wenn ich jemals glücklich gewesen bin, so war ich es nicht in jener Zeit der ersten berauschenden Augenblicke meines ersten Erfolges, sondern damals, als ich mein Manuskript noch niemandem gezeigt, niemandem vorgelesen hatte: in jenen langen Nächten während der Arbeit, in jener Begeisterung, zwischen Hoffnungen und Träumen, und in der leidenschaftlichen Liebe zur Arbeit, als ich mich mit meinen Phantasiegebilden, mit den Menschen, die ich geschaffen, so eingelebt hatte, als wären es lebende, als wären es wirkliche Menschen gewesen; ich liebte sie von ganzer Seele, ich teilte ihr Leid wie ich ihre Freude teilte, mitunter vergoß ich aufrichtige Tränen über meinen unschlauen, einfältigen Helden. Wie sehr sich die Alten über meinen Erfolg freuten, läßt sich kaum beschreiben, obschon sie die Tatsache zuerst vor lauter Verwunderung gar nicht so recht fassen konnten: sie waren gar zu überrascht. Anna Andrejewna wollte zuerst überhaupt nicht glauben, daß der neue von allen gerühmte Schriftsteller – dieser selbe Wanjä wäre, der doch usw., usw., und sie schüttelte nur in einem fort den Kopf. Auch der Alte ergab sich nicht so bald, sprach langes und breites von verpfuschter Karriere im Staatsdienst, sprach auch von dem nicht einwandfreien Lebenswandel der Schriftsteller im allgemeinen. Doch die immer wieder auftauchenden neuen Urteile und Gerüchte, die zu ihm drangen, die Besprechungen in den Tageszeitungen und schließlich einige lobende Äußerungen hochstehender Persönlichkeiten, denen er alles ehrfurchtsvoll aufs Wort glaubte, zwangen ihn mit der Zeit doch, seine Auffassung von der Sache zu ändern. Als er dann gar sah, daß ich plötzlich Geld besaß, und als er erfuhr, wieviel Geld man mit literarischer Arbeit verdienen konnte, da schwanden auch seine letzten Zweifel und Bedenken. Als er aber einmal die Zweifel hatte fahren lassen, da gab er sich sogleich dem vollsten Glauben überhaupt hin, ja sogar richtiger Begeisterung. Wie ein Kind freute er sich über mein Glück und bald spann er die schönsten Zukunftsträume, indem er seiner Phantasie ohne Bedenken die Zügel schießen ließ. An jedem Tage, den Gott werden ließ, dachte er sich etwas Neues aus, schmiedete er neue Pläne für mich – und was das für Pläne waren! Er begann sogar, mir eine gewisse Hochachtung zu bezeugen, was er bis dahin natürlich nicht getan hatte. Dennoch gab es Augenblicke, in denen wieder ein Zweifel mißtrauisch sein Haupt erhob und er mitten im begeisterten Phantasieren inne hielt und mit sich selbst nicht recht im klaren war. „Hm!“ meinte er dann: „Schriftsteller! Dichter! ’s ist doch sonderbar ... Wann sind denn die Dichter große Männer gewesen, werden sie je Exzellenz? Weiß Gott, sie sind doch immer nur solche Tintenkleckser, so ’n unzuverlässiges Volk!“ Wie ich bemerkte, kamen ihm diese beunruhigenden Gedanken, die so kitzlige Fragen aufwarfen, gewöhnlich in der Dämmerung, die für ihn überhaupt eine gefährliche Stunde zu sein schien: er wurde dann eigentümlich nervös, empfindsam und mißtrauisch. O, wie gut ich mich noch dieser ganzen Zeit entsinne! Natascha und ich, wir kannten seine Schwächen und lächelten im stillen. Ich erzählte ihm literarische Anekdoten, erzählte, wie Dershawin[2] eine Schnupftabaksdose mit Golddukaten erhalten und wie die Zarin persönlich Lomonossoff[3] besucht hatte; erzählte zum Schluß auch noch von Puschkin und Gogol. „Ja, ja, Freund, ich weiß, ich weiß alles, das ist ja sehr gut und sehr schön, aber ...“ versetzte der Alte, der diese Geschichten vielleicht zum erstenmal hörte, „aber ... Hm! Aber weißt du, Wanjä, ich bin doch froh, daß dein Geschreibsel da nicht in Versen ist. Verse, weißt du, Freund, die sind doch barer Unsinn; da widersprich du mir nur nicht, das kannst du mir altem Manne ruhig glauben, ich will ja nur dein Bestes. Wie gesagt: barer Unsinn, nichts als Zeitverschwendung! Gymnasiasten – die können noch Verse schmieden, denen kann man es noch allenfalls gestatten ... Aber im allgemeinen können Verse euch junges Blut nur in die Irrenanstalt bringen ... Nun ja, gewiß, Puschkin war ein Genie, das wird niemand bestreiten, doch davon reden wir nicht. Aber immerhin sind es schließlich doch nur Gedichte, die er geschrieben hat, nichts weiter, so hm! – ephemerisch nennt man’s wohl ... Übrigens habe ich nur wenig von ihm gelesen ... Ja Prosa – sieh, das ist etwas ganz anderes! Hier kann der Verfasser sogar belehren, – na, da, gleichviel ... kann von der Liebe zum Vaterlande reden, oder so ... na überhaupt, von der Tugend ... Ja! Ich, weißt du, Freund, ich verstehe mich nur nicht auszudrücken, aber du begreifst auch so, was? Ich rede ja nur aus Liebe zu dir. Nun, nun, lies vor!“ schloß er plötzlich mit einer gewissen Gönnerhaftigkeit, als ich endlich das Buch gebracht und wir uns alle nach dem Tee an den runden Tisch gesetzt hatten, „also lies mal, was du dort zusammengeschrieben hast. Es wird ja soviel Aufhebens von dir gemacht! Jetzt werden auch wir es einmal zu hören bekommen.“ Ich schlug das Buch auf und schickte mich an, mit dem Vorlesen zu beginnen. Gerade an dem Tage war mein Roman im Druck erschienen, und nachdem ich endlich ein Exemplar erhalten, war ich sogleich zu Ichmenjeffs geeilt, um ihnen meinen Erstling vorzulesen. Wie oft hatte ich mich darüber geärgert, daß ich ihnen das Werk nicht früher, nicht aus dem Manuskript, das beim Verleger war, vorlesen gekonnt! Natascha hatte vor Ärger sogar geweint und mir bitter vorgeworfen, daß jetzt fremde Menschen meinen Roman früher lesen würden als sie ... Doch da war nun endlich der große Augenblick gekommen. Wir saßen am Tisch. Der Alte machte ein ungewöhnlich ernstes und kritisches Gesicht. Er wollte offenbar gewissenhaft zu Gericht sitzen, wollte unerbittlich streng urteilen, und vor allem „sich selbst überzeugen“. Die Alte blickte gleichfalls ungemein feierlich drein; fast hätte sie zu diesem Vortrag ihre neue Haube aufgesetzt. O, sie hatte schon längst bemerkt, wie zärtlich ich ihren Liebling Natascha betrachtete, daß mir der Atem stockte und es mir vor den Augen dunkel wurde, wenn ich mit ihr sprach, und daß auch Natascha mich mit helleren Blicken ansah als früher. Ja! Endlich war auch diese Zeit angebrochen, gerade im Augenblick der Erfolge, der goldenen Hoffnungen und des größten Glücks, – alles zusammen, alles auf einmal! Auch war es ihr nicht entgangen, daß ihr Alter mich ganz verdächtig zu loben begann und mich und seine Tochter oft mit so eigenen Augen betrachtete ... aber da erschrak sie: ich war doch kein Graf, kein Fürst, kein Erbprinz, oder zum mindesten ein Kollegienrat und Doktor der Rechte, auf dessen junger Brust Orden glänzten und der eine schöne Erscheinung war! Die gute Anna Andrejewna liebte es nicht, Halbes zu wünschen. „Da wird der Mensch nun gelobt und gelobt,“ dachte sie, „weshalb, wofür aber – das weiß niemand. Schriftsteller! Dichter! – was ist denn aber solch ein Schriftsteller?“ VI. Ich las ihnen meinen Roman sogleich bis zum Ende vor. Ich begann nach dem Tee und las bis zwei Uhr nachts. Der Alte legte zuerst die Stirn in Falten. Er hatte etwas unerfaßbar Hohes erwartet, etwas, das er vielleicht überhaupt nicht begreifen könnte: etwas unbedingt Erhabenes mußte es sein. Statt dessen aber war es plötzlich etwas so Alltägliches und so längst Bekanntes, – wirklich: ganz wie alles das, was gewöhnlich um einen herum geschah! Wenn doch der Held wenigstens ein großer oder interessanter Mensch gewesen wäre, oder wenn ich doch etwas Historisches geschrieben hätte ^à la^ Roßlawleff oder Jurij Miloßlawskij, aber so! ... Irgend ein kleiner, verschüchterter und sogar ziemlich einfältiger Beamter, von dessen Uniformrock sämtliche Knöpfe abgefallen sind! – und alles das noch dazu in einer so einfachen Sprache geschrieben, auf ein Haar so wie wir selbst sprechen ... Sonderbar! Die Alte blickte fragend ihren Alten an, setzte sogar eine etwas hochmütige Miene auf, als hätte ich sie gekränkt. „Nein, lohnt es sich denn, so etwas überhaupt zu drucken und anzuhören! Und dafür wird noch Geld gezahlt!“ stand auf ihrem Gesicht geschrieben. Natascha dagegen hörte gierig zu, wandte keinen Blick von meinem Gesicht; sie hing förmlich an meinen Lippen, sah wie ich jedes Wort aussprach, und bewegte hin und wieder unbewußt ihre eigenen reizenden Lippen nach meinem Beispiel. Aber was geschah? Noch hatte ich nicht bis zur Hälfte gelesen, da standen schon in den Augen aller meiner Zuhörer – Tränen. Anna Andrejewna weinte aufrichtig, bemitleidete meinen Helden von ganzem Herzen und wollte ihm in seinem Unglück beistehen, helfen, was ich aus ihren naiven Ausrufen ersah. Der Alte hatte bald alle Erwartungen auf hohe und erhabene Dinge fallen lassen. „Da sieht man gleich, daß es nichts Klassisches ist, eben eine einfache Erzählung; dafür geht sie auch allen zu Herzen,“ sagte er, „dafür ist sie verständlich und begreiflich und erklärt einem, was um uns geschieht, und ist gleichzeitig sozusagen ein Denkmal dieser Geschehnisse. Dafür erkennt man, daß auch der niedrigste Mensch, mag er noch so eingeschüchtert und heruntergekommen sein, doch auch ein Mensch und mein Bruder ist.“ Natascha hörte zu, weinte und drückte mir unter dem Tisch krampfhaft die Hand, natürlich nur heimlich. Ich hatte den Roman zu Ende gelesen. Sie erhob sich; ihre Wangen glühten und Tränen glänzten noch an ihren Wimpern; plötzlich ergriff sie meine Hand, küßte sie und lief aus dem Zimmer. Die beiden Alten tauschten einen Blick aus. „Hm! Da sieh mal an, wie begeisterungsfähig sie ist,“ sagte der Alte, doch etwas verdutzt. „Übrigens hat das nichts zu sagen, es ist sogar gut, weißt du, sogar sehr gut, ein edler Ausbruch! Sie ist ein gutes Mädchen ...“ brummte er mit einem Seitenblick auf seine Frau, als wolle er Natascha in Schutz nehmen und gleichzeitig auch mich rechtfertigen. Doch Anna Andrejewna blickte jetzt bereits, obschon sie noch kurz zuvor gerührt und aufgeregt gewesen war, mit einer Miene drein, als wollte sie sagen: „Das ist ja alles ganz schön und gut, aber weshalb denn davon soviel Aufsehens machen?“ Natascha kehrte bald zurück, heiter und glücklich, und im Vorübergehen kniff sie mich heimlich. Der Alte machte sich zwar wieder daran, „ernstlich“ meinen Roman abzuschätzen, entbehrte aber vor Freude der nötigen Charakterfestigkeit und ließ sich hinreißen: „Na, Freund Wanjä, kein Wort zu reden, es ist gut, sogar sehr gut! Hast uns überrascht, das muß ich sagen! Hast uns sogar so überrascht, wie ich es gar nicht erwartet hatte. Es ist ja nicht Gott weiß wie hoch und erhaben, das sieht man ... Da habe ich zum Beispiel die ‚Befreiung Moskaus‘ – dort auf dem Tisch – ist auch in Moskau verfaßt worden, – nun, das ist was anderes, da merkt man, Freund, schon an der ersten Zeile, daß man sich da, wie man so sagt, wie ein Adler emporschwingen muß, um es zu verstehen ... Aber weißt du, Wanjä, bei dir ist es alles viel einfacher, viel verständlicher. Sieh, und deshalb gefällt es mir auch gerade, weil es verständlicher ist. Es ist wie ... wie vertrauter; als hätte ich das selbst alles erlebt. Das Erhabene aber – was ist denn das schließlich. Das begreift der Schreiber vielleicht selber nicht. Aber weißt du, den Stil würde ich an deiner Stelle doch etwas schleifen; das Buch ist ja gut so, wie es ist, aber sag’ du, was du willst – es ist eigentlich doch wenig Erhabenes darin ... Na, aber was! – jetzt ist es zu spät: ist schon gedruckt. Doch in der zweiten Auflage, ginge es da nicht? Was, Freund, eine zweite Auflage wird’s doch geben? Und dann gibt es wieder Geld ... Hm!“ „Und Sie haben wirklich so viel Geld bekommen, Iwan Petrowitsch?“ fragte mich Anna Andrejewna. „Ich muß sagen – ich sehe Sie an und kann’s immer noch nicht glauben. Ach, du mein Gott, wofür man jetzt alles Geld zahlt!“ „Weißt du, Wanjä,“ fuhr der Alte fort, indem er und seine Phantasie immer lebhafter wurden, „das ist zwar kein Staatsdienst, dafür aber doch eine Laufbahn! Auch hochstehende Persönlichkeiten werden es lesen. Du sagtest doch, Gogol erhalte eine jährliche Unterstützung und sei ins Ausland geschickt worden. Was, wenn du nun auch so etwas erhieltest? Wie? Was meinst du? Oder ist es noch zu früh? Muß dazu noch mehr geschrieben werden? Nun, dann schreib nur, Freund, schreib nur! Ruh dich noch nicht auf deinen Lorbeeren aus. Wozu da Zeit versäumen!“ Und er sagte das alles mit so überzeugter Miene, mit einer so gutmütigen Offenherzigkeit, daß ich mich nicht entschließen konnte, seiner Phantasie einen Dämpfer aufzusetzen: ich hatte nicht das Herz dazu. „Oder es wird dir zum Beispiel eine Schnupftabaksdose übersandt ... Was! Man kann eben auf verschiedene Art seine Anerkennung bezeugen. Vielleicht will man dir behilflich sein ... Wer weiß, vielleicht wirst du sogar bei Hofe empfangen werden?“ fragte er fast flüsternd und sah mich dabei bedeutsam an und zwinkerte mit dem linken Auge, „oder nicht? Dazu ist’s wohl noch zu früh?“ „Was nicht noch! Nun schon bei Hofe!“ sagte Anna Andrejewna, wie es schien, für den Hof fast gekränkt. „Es fehlt nicht viel und Sie erheben mich zum General,“ versetzte ich von Herzen lachend. Da begann auch der Alte zu lachen. Er war gut gelaunt. „Wünschen Exzellenz nichts zu genießen?“ fragte Natascha schelmisch vom Eßtische her. Dann lachte sie auf, lief zum Vater und umarmte ihn krampfhaft. „Du guter, lieber Papa!“ Der Alte war ganz gerührt. „Nun, nun, schon gut, schon gut! Ich rede ja nur so. General hin oder General her – aber gehen wir mal jetzt zu Tisch und essen wir etwas. Ach du, Kleine, sieh mal an, wie leicht du dich rühren läßt!“ sagte er zärtlich, indem er seiner Natascha die rosige Wange klopfte, was er gern bei jeder Gelegenheit tat. „Ich habe ja nur aus Liebe zu dir gesprochen, Wanjä ... Nun, wenn du auch nicht ein General wirst – bis zum General ist es weit! – aber du bist doch immer eine bekannte Persönlichkeit: ein Verfasser.“ „Papa, jetzt sagt man Schriftsteller.“ „So? Nicht Verfasser? Das wußt’ ich nicht. Nun, dann meinethalben Schriftsteller, aber ich wollte nur sagen: zum Kammerherr wird er dafür, daß er einen Roman geschrieben hat, doch nicht ernannt werden; daran ist nicht zu denken; aber schließlich kann er auch so auf die Staffel kommen, zum Beispiel: kann irgend so etwas wie ein Attaché werden, wird vielleicht ins Ausland geschickt, nach Italien, zur Kräftigung der Gesundheit, oder sonstwie – zur Vervollkommnung in der Wissenschaft etwa ... dazu kann man ihn mit Geld unterstützen. Versteht sich: das darf nur in anständiger Weise geschehen, so, daß er auch wirklich etwas dafür leistet, für das Geld und die Ehrungen, nicht aber so irgendwie durch Protektion ...“ „Du, werd’ aber dann nur nicht zu stolz, Iwan Petrowitsch,“ unterbrach ihn lachend Anna Andrejewna. „Ach, Papa, heften wir ihm doch schnell einen Orden an den Rock, denn sonst – was ist denn ein Attaché!“ Und wieder kniff sie heimlich meinen Arm. „Da macht sich der Racker wieder mal über mich lustig!“ rief der Alte lachend, während seine Augen liebkosend auf seiner Tochter lagen, deren glänzender Blick und lachende Lippen Glück verrieten. „Ja, wißt ihr, jetzt merk’ ich selbst, daß ich zu weit gegangen bin, Kinderchen, das ist nun einmal mein alter Fehler ... Nun weißt du, Wanjä, es wundert mich doch: du bist ja eigentlich ein ganz gewöhnlicher Mensch, wenn man dich so ansieht ...“ „Ach, mein Gott! Wie soll er denn sein, Papachen?“ „Nein, nein, das war nicht so gemeint. Ich meine ja nur, Wanjä, daß du eben ein Gesicht hast ... das heißt so, so ... eben gar kein poetisches ... So, weißt du, ich meine – man sagt doch immer, sie seien so bleich, die Dichter, so – na ja, mit solchem Haar und in den Augen so was ... Na, du weißt schon, so wie Goethe etwa oder sonst einer von diesen ... ich hab’s vor kurzem in einer Zeitschrift gelesen ... Wie? Was? Habe ich wieder was Falsches gesagt? Da hat der Racker wieder gut lachen über mich! Worüber lachst du denn? Ich, wißt ihr, ich bin kein Gelehrter, ich verstehe nur zu – zu fühlen. Na, Gesicht hin, Gesicht her – was ist schließlich an solch einem Gesicht gelegen! Für mich ist auch dein Gesicht schon lange gut genug, es gefällt mir sogar sehr ... Das war es nicht, was ich sagen wollte ... Nur sei du immer ehrlich, Wanjä, sei ein Ehrenmann, das ist die Hauptsache. Lebe anständig, denke nicht an das glänzende Äußere, nicht darauf kommt es an! Vor dir liegt ein breiter Weg. Diene ehrlich deiner Sache; sieh, nur das wollte ich dir sagen, gerade dieses eine wollte ich dir nur sagen!“ Wundervoll war die Zeit! Alle freien Stunden, alle Abende verbrachte ich bei ihnen. Dem Alten erzählte ich Neues aus der literarischen Welt und von der Literatur, für die er sich plötzlich, ich weiß nicht warum, sehr zu interessieren begann; er las sogar die kritischen Abhandlungen B.s, von denen ich ihm viel erzählt hatte und die er doch fast überhaupt nicht verstand, nichtsdestoweniger aber bis zur Begeisterung lobte, indessen sich bitter über die Feinde B.s beklagte. Die Alte pflegte eifrig auf mich und Natascha aufzupassen, aber es half doch nichts! Zwischen uns war schon das entscheidende Wort gefallen, denn Natascha hatte mit gesenktem Köpfchen und halbgeöffneten Lippen flüsternd „Ja“ gesagt. Dann hatten es die Alten erfahren, sich darüber beraten, nachgedacht; Anna Andrejewna hatte lange ungläubig den Kopf geschüttelt. Sonderbar bange war ihr. Sie glaubte nicht an mich. „Solange Sie Erfolge haben, Iwan Petrowitsch, ist ja alles gut,“ sagte sie zu mir, „aber wenn der Erfolg ausbleibt – was dann? Wäre es nicht besser, wenn Sie doch irgendwo in Stellung träten!“ „Hör mal an, Wanjä, was ich dir sagen werde,“ entschied der Alte nach langem Nachdenken, „ich habe es ja selbst kommen sehen, längst bemerkt und muß gestehen, daß es mich gefreut hat, du und Natascha ... nun, was ist denn dabei! Siehst du, Wanjä; beide seid ihr aber noch sehr jung und meine Anna Andrejewna hat recht. Warten wir. Du, nehmen wir an, hast vielleicht Talent, bedeutendes Talent ... nun gerade kein Genie, wie sie da anfangs über dich schrieben, sondern so, einfach ein Talent ... (ich habe heute eine Kritik über dich in der ‚Biene‘ gelesen; gar zu schlecht haben sie dich da behandelt; doch was ist denn das auch für eine Zeitschrift!) Ja! Siehst du: das heißt noch kein Geld auf der Sparkasse haben, wenn man Talent hat: ihr seid aber beide arm. Warten wir ein Jährchen oder ein halbes: kommst du inzwischen gut auf deinem Wege vorwärts – so sollst du sie haben; wenn nicht – so sage dir doch selbst ... du bist ein anständiger Mensch, überlege es dir doch einmal! ...“ Und dabei blieb es! Was aber geschah nach einem Jahr: Ja, gerade nach einem Jahr! An einem hellen Septembertage, kurz vor Abend war es, da erschien ich bei meinen Alten, krank, den Tod in Seele und Körper und sank fast ohnmächtig auf einen Stuhl nieder, so – daß die beiden, als sie sahen in welchem Zustande ich mich befand, sehr erschrocken waren. Nicht etwa deshalb schwindelte mir der Kopf und quälte mich mein Herz, nachdem ich zehnmal an ihre Tür getreten war und zehnmal mich fortgeschlichen hatte, ohne einzutreten, – nicht deshalb weil meine literarische Tätigkeit mir keinen Ruhm gebracht und ich kein Geld besaß; nicht deshalb, weil ich noch kein „Attaché“ geworden und niemand daran dachte, mich der Gesundheit wegen nach Italien zu schicken; sondern deshalb, weil man in einem Jahr zehn Jahre durchleben konnte, und weil auch meine Natascha zehn Jahr in einem Jahr durchlebt hatte. Eine Ewigkeit lag zwischen uns ... Und ich erinnere mich, wie ich dasaß vor meinem Alten und schweigend meinen vertragenen Hut zwischen den Fingern drehte, dasaß und wartete – worauf? Wohl daß Natascha käme?! Meine Kleidung war vertragen, mein Rock saß mir schlecht, mein Gesicht war bleich und eingefallen – und doch war ich noch längst nicht einem Dichter ähnlich und aus meinen Augen flammte kein großer Genius, wie ihn damals der gute Nikolai Ssergejewitsch geschildert hatte. Die Alte sah auf mich mit allzu aufrichtigem, allzu bereitwilligem Mitleid und dachte wohl bei sich: „Und dieser wäre beinahe Nataschas Verlobter geworden! Gott erhalte und beschütze uns davor!“ „Iwan Petrowitsch, wünschen Sie vielleicht Tee?“ (Der Samowar kochte auf dem Tisch.) „Wie geht es Ihnen denn, Väterchen? Ganz krank sehen sie aus!“ Mir ist, als hörte ich ihre klagende Stimme. Und vor mir sehe ich sie jetzt noch, wie sie zu mir spricht, eine andere Sorge auf dem Herzen, die auch ihrem Manne am Herzen nagt, der über seiner stehengebliebenen Teetasse seinen Gedanken nachging. Ich wußte, daß sie in diesem Augenblick der Prozeß mit dem Fürsten, der für sie keine günstige Wendung genommen, sehr beschäftigte, dazu kamen noch andere Unannehmlichkeiten, die Nikolai Ssergejewitsch tief im Innersten erregten. Der junge Fürst, der die Ursache der ganzen Geschichte gewesen, hatte vor fünf Monaten eine Gelegenheit gefunden, Ichmenjeffs aufzusuchen. Der Alte, der seinen lieben Aljoscha wie seinen eigenen Sohn gern hatte und sich täglich seiner erinnerte, nahm ihn mit Freuden auf. Anna Andrejewna wurde an Wassiljewskoje erinnert und brach in Tränen aus. Aljoscha kam nun immer öfter und öfter, während er seine Besuche vor dem Vater verheimlichte. Nikolai Ssergejewitsch wiederum, offen und anständig wie er war, wies alle Bedenken und Vorsichtsmaßregeln mit Unwillen zurück. Aus Stolz mochte er gar nicht daran denken, was der Fürst dazu sagen würde, wenn er es erführe, daß sein Sohn wieder Gast des Hauses Ichmenjeff sei und verachtete innerlich jeglichen unsinnigen Verdacht. Der Alte überlegte gar nicht, ob er auch stark genug sein würde, neue Beleidigungen zu ertragen. Der junge Fürst erschien jetzt jeden Tag und erheiterte durch seine Gegenwart die Alten. Oft saß er bei ihnen bis in die Mitternacht. Natürlich erfuhr es der Vater. Es liefen wieder die schrecklichsten Gerüchte um. Der Fürst schrieb wieder Nikolai Ssergejewitsch wie früher einen schrecklich beleidigenden Brief über dieses Thema und verbot dem Sohn endgültig den Besuch bei Ichmenjeffs. Das war ungefähr vor zwei Wochen geschehen. Der Alte war wieder aufs tiefste erschüttert. Wie! Seine unschuldige edle Natascha wagte man von neuem in diese schmutzige Geschichte zu verwickeln! Dieser Mensch wagte es, wie früher ihren Namen in schimpfliche Verbindung zu bringen ... Und alles das, ohne irgend eine Genugtuung zu erhalten! In den ersten Tagen erkrankte er vor Verzweiflung und mußte das Bett hüten. Alles das hatte ich erfahren, die ganze Geschichte bis in alle ihre Einzelheiten, obgleich ich krank und gequält in meiner Wohnung lag und drei Wochen lang bei ihnen nicht erschienen war. Auch wußte ich schon damals ... nein, ich fühlte es voraus, daß außer dieser Geschichte, sie etwas anderes auf der Welt noch viel mehr beunruhigen, ja quälen mußte, und sie taten mir leid. Vielmehr ich quälte mich, fürchtete alles zu erraten und wünschte aus meiner ganzen Kraft, diese verhängnisvolle Minute aufhalten zu können. Und doch war ich nur deshalb zu ihnen gekommen. Mich hatte heute etwas geradezu gezwungen, hinzugehen! „Ja, Wanjä,“ wandte sich, wie sich plötzlich besinnend, der Alte an mich, „bist du nicht krank gewesen? Warst lange nicht mehr hier? Ich wollte mich nach dir erkundigen, aber ich kam nicht dazu ...“ Und er verfiel wieder in Nachdenken. „Ich war nicht recht gesund,“ antwortete ich. „Hm! Nicht recht gesund,“ wiederholte er fünf Minuten nachher. „Also nicht gesund! Habe ich dir damals nicht gesagt, dich gewarnt – du wolltest nicht hören! Hm! Nein, mein lieber Wanjä: die Muse, die hat doch immer im Dachstübchen gehungert und da wird sie auch sitzen bleiben. So ist’s!“ Ja, der Alte war wahrlich nicht bei Laune! Aber wäre er nicht selbst so tief in seinem Herzen verwundet gewesen, dann hätte er wohl nicht so hart von der hungernden Muse gesprochen! Ich betrachtete ihn näher: seine Gesichtsfarbe hatte einen gelben Ton und in seinen Augen lag eine quälende Frage, die zu beantworten er keine Kraft mehr zu haben schien. Er war zerstreut, unruhig, und offenbar sehr verbittert. Seine Frau betrachtete ihn mit Unruhe und schüttelte über ihn heimlich den Kopf. Als er sich umwandte, machte sie mir ein Zeichen. „Wie geht es Natalja Nikolajewna? Ist sie zu Haus?“ fragte ich die besorgte Anna Andrejewna. „Zu Haus, mein Lieber, zu Haus,“ bestätigte sie, doch ganz, als fiele es ihr schwer, diese Frage zu beantworten. „Sie wird gleich kommen, um dich zu begrüßen. Ist es denn ein Spaß, dich drei Wochen nicht zu sehen! Hat sie sich darum etwa so verändert, man weiß wirklich nicht, ist auch sie krank oder ist sie gesund! Gott mit ihr!“ Und sie warf einen scheuen Blick auf ihren Mann. „Wieso? Was soll ihr fehlen?“ warf Nikolai Ssergejewitsch kurz und abgebrochen ein, „sie ist gesund. Das Mädchen kommt in die Jahre, wo man die Kinderschuhe auszieht, das ist alles. Wer kann aus diesen Mädchenlaunen klug werden?“ „Nun ja, jetzt sind’s schon Launen!“ griff Anna Andrejewna in gekränktem Tone die Bemerkung auf. Der Alte schwieg und trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. „Mein Gott, sollte wirklich schon etwas zwischen ihnen vorgefallen sein?“ dachte ich mit Schrecken. „Nun, und wie steht es denn da mit euch?“ begann er von neuem. „Schreibt B. immer noch seine Kritiken?“ „Ja, er schreibt,“ antwortete ich. „Ach, Wanjä, Wanjä!“ rief er aus, mit der Hand abwinkend, „was sollen uns hier die Kritiken!“ Die Tür öffnete sich und herein trat Natascha. VII. Sie hielt ihren Hut in der Hand und legte ihn auf das Klavier; darauf kam sie zu mir und reichte mir schweigend die Hand. Die Lippen zitterten leise: es schien, als hätte sie mir etwas sagen wollen, doch – sagte sie nichts. Drei Wochen hatten wir uns nicht gesehen. Erschrocken sah ich sie an. Wie hatte sie sich in diesen drei Wochen verändert! Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich diese bleichen Wangen, diese wie im Fieber zuckenden Lippen sah, und diese Augen, die unter den langen dunklen Wimpern in leidenschaftlicher Entschlossenheit loderten. Gott! wie war sie schön! Niemals, weder vorher, noch nachher, habe ich sie so gesehen wie an diesem verhängnisvollen Abend. War es wirklich dieselbe Natascha, dasselbe junge Mädchen, das noch vor einem Jahr, als sie meinem Roman zuhörte, mich mit ihren Augen verschlang und kaum zu atmen wagte. Und wie konnte sie damals fröhlich sein, wie scherzte und lachte sie damals mit ihrem Vater und mit mir beim Abendessen! Dumpfer Glockenklang ertönte zum Abendgottesdienst. Natascha fuhr zusammen; die Alten bekreuzten sich. „Du wolltest zum Abendgottesdienst gehen, Natascha, man läutet schon,“ sagte Anna Andrejewna. „Gehe Nataschenka, gehe, das Heil ist nahe! Ja, gehe an die Luft, was sitzt du so eingeschlossen im Zimmer! Sieh, ganz bleich bist du!“ „Ich ... gehe vielleicht ... heute nicht,“ sagte Natascha leise, fast flüsternd. „Ich ... fühle mich nicht wohl,“ fügte sie hinzu und erbleichte. Sie war weiß wie ein Tuch. „Besser, du gehst, Natascha, du hast doch die Absicht gehabt, zu gehen, brachtest deinen Hut mit. Bete zu Gott, Nataschenka, daß er dir Gesundheit verleihe ...“ beredete sie Anna Andrejewna und sah schüchtern ihre Tochter an, als fürchtete sie sich vor ihr. „Ja, ja, gehe, gehe an die frische Luft,“ fügte jetzt auch der Alte hinzu, der unruhig das Gesicht seiner Tochter betrachtete. „Die Mutter hat recht. Wanjä wird dich begleiten.“ Mir schien, als glitt ein bitteres Lächeln über Nataschas Lippen. Sie ging ans Klavier, nahm ihren Hut und setzte ihn auf. Ihre Hände zitterten, alle ihre Bewegungen schienen ganz unbewußt – ganz als begriffe sie selbst nicht, was sie tat. Vater und Mutter beobachteten sie aufmerksam. „Lebt wohl!“ sagte sie kaum hörbar. „Mein Engel, wozu sich verabschieden, als wäre der Weg so weit! Sieh, daß du keinen Zug bekommst; gib acht, wie du bleich bist. Ach! Und ich habe vergessen (immer vergesse ich alles), ich habe ein kleines Amulett für dich, mein Engel, habe ein Gebet darin eingenäht. Eine Nonne aus Kiew hat es mich gelehrt, im vorigen Jahr. Es ist ein Gebet für alles; erst neulich habe ich es eingenäht. Nimm es, Natascha. Möge Gott dir Gesundheit schenken. Unser Einziges bist du.“ Und die Alte kramte im Arbeitskästchen und zog das goldene Kreuzchen von Natascha hervor, an dessen Kettchen sie auch das Amulett gehangen. „Trage es zu deinem Glück!“ fügte sie hinzu, und hängte das Kreuz der Tochter um den Hals, sich und sie bekreuzigend. „Es gab eine Zeit, da bekreuzte ich dich jeden Abend zur Nacht und du sprachst dein Gebet. Doch jetzt bist du nicht mehr dieselbe und Gott schenkt dir keine Ruh. Ach, Natascha, Natascha! Auch meine mütterlichen Gebete können dir nicht helfen.“ Und die Alte fing an zu weinen. Natascha küßte schweigend ihre Hand; wandte sich dann zur Tür; doch plötzlich kehrte sie um und ging schnell auf den Vater zu. „Väterchen, segne auch du ... deine Tochter!“ rief sie mit vor Schluchzen erstickter Stimme, und kniete vor ihm nieder. Vor diesem unerwarteten und feierlichen Kniefall standen wir ganz bestürzt da. Der Vater sah seine Tochter einen Augenblick wie verloren an. „Nataschenka, mein Kind, meine Tochter, mein Liebes, was ist mit dir?“ rief er endlich aus und ein Tränenstrom brach aus seinen Augen. „Was bedrückt dich? Warum weinst du Tag und Nacht? Ich weiß doch alles, ich schlafe die Nächte nicht und steh vor deiner Zimmertür und horche! ... Sage mir alles, Natascha, vertraue mir, deinem alten Vater und wir ...“ Er brach ab, hob sie hoch und umarmte sie. Sie preßte sich krampfhaft an seine Brust und verbarg ihren Kopf an seiner Schulter. „Nichts, nichts, das ist nur so ... ich bin nicht ganz wohl ...“ bestätigte sie, schluchzend von verhaltenen Tränen. „Ja, segne dich Gott, wie ich dich segne, mein liebes, mein einziges Kind!“ sagte der Alte. „Er schenke Frieden deiner Seele und befreie dich von allem Kummer. Bete zu Gott, mein Kind, damit er mein sündhaft Gebet erhöre.“ „Und meinen Segen, meinen Segen, über dich!“ fügte die Alte in Tränen aufgelöst hinzu. „Lebt wohl!“ flüsterte Natascha. An der Tür blieb sie noch einmal stehen, sah noch einmal auf beide, wollte noch etwas sagen, konnte jedoch nichts über die Lippen bringen und ging rasch aus dem Zimmer. Ich stürzte ihr nach, das Böse ahnend. VIII. Sie ging schweigend, schnell, den Kopf gesenkt und sah nicht auf mich. Als wir die Straße durchschritten und zum Kai kamen, blieb sie stehen und ergriff meine Hand. „Es ist so schwül!“ flüsterte sie, „mein Herz ist so beengt ... so schwül ...“ „Kehre um, Natascha!“ rief ich, außer mir. „Verstehst du denn wirklich nicht, Wanjä, daß ich auf _immer_ von ihnen gegangen bin und nie mehr zu ihnen zurückkehren werde?“ Und mit unaussprechlicher Trauer sah sie mich dabei an. Mein Herz erbebte. Das hatte ich alles vorausgefühlt, noch bevor ich zu ihnen ging, schon tagelang vorher, wie im Nebel ... und doch – trafen mich ihre Worte jetzt wie Donnerschläge. Wir gingen schweigend den Kai entlang. Ich konnte nichts sagen, nichts denken, mir schwindelte. Dieser Entschluß schien mir so unmöglich, so unsinnig! „Du verurteilst mich, Wanjä?“ sagte sie endlich. „Nein ... aber, ich kann es nicht glauben; das ist so unmöglich! ...“ antwortete ich, mir kaum bewußt, was ich sagte. „Nein, Wanjä, es ist schon geschehen! Ich habe sie verlassen und ich weiß nicht, was aus ihnen werden wird ... ich weiß auch nicht, was aus mir werden wird!“ „Du gehst zu ihm, Natascha?“ „Ja!“ antwortete sie. „Das ist doch unmöglich!“ schrie ich außer mir ... „Weißt du denn nicht, daß es unmöglich ist, Natascha, du meine Arme. Das wäre ja Wahnsinn! Du tötest sie und dich zugleich! Weißt du denn das nicht, Natascha?“ „Ich weiß es; doch, was soll ich tun, es ist nicht mein freier Wille,“ und in ihrer Stimme klang eine Verzweiflung, als ginge sie zum Tode. „Kehre um, kehre um, solange es nicht zu spät ist,“ flehte ich sie an, und um so inständiger bat ich, je hartnäckiger sie schwieg, je mehr ich selbst die Nutzlosigkeit meines Flehens erkannte. „Begreifst du denn, Natascha, was du deinem Vater antust? Hast du es dir auch überlegt? Sein Vater ist doch der Feind deines Vaters. Der Fürst hat doch deinen Vater erniedrigt und beleidigt, ihn des Diebstahls verdächtigt, er hat ihn einen Dieb genannt. Sie liegen beide im Prozeß miteinander ... Nun, das wäre noch nichts! Doch weißt du denn nicht, Natascha ... (o, mein Gott, du weißt doch alles! ...), weißt du denn nicht, daß der Fürst deinen Vater und deine Mutter verdächtigt hat, sie hätten selbst eine Annäherung zwischen dir und Aljoscha aus Berechnung gefördert, als Aljoscha in Wassiljewskoje euer Gast war? Bedenke doch, stelle es dir doch nur vor, wie sehr dein Vater unter diesen Verdächtigungen gelitten hat. Er ist ja in diesen zwei Jahren ergraut – sieh ihn dir doch an! Doch die Hauptsache: du weißt ja das alles, Natascha, gütiger Himmel! Ich will schon gar nicht davon reden, ob sie überwinden werden, dich auf immer zu verlieren! Du bist ja doch ihre einzige Freude, die ihnen für ihr Alter geblieben. Es lohnt sich ja gar nicht davon zu reden: das mußt du selbst wissen; sage dir doch, daß der Vater dich unschuldig verleumdet glaubt von diesen stolzen hochmütigen Menschen! Jetzt, gerade jetzt ist der alte Haß von neuem entbrannt, weil ihr Aljoscha bei euch empfangen habt. Der Fürst hat deinen Vater von neuem beleidigt, die Kränkung brennt noch jetzt im Herzen deiner Eltern, und plötzlich erscheinen jetzt alle Kränkungen gerechtfertigt! Alle, die von der Sache gehört haben, werden jetzt dem Fürsten recht und deinem Vater schuld geben. Was wird jetzt aus ihm werden? Es wird ihn niederschmettern! töten! Schmach und Schande – und durch wen? Durch dich, seine Tochter, sein einziges vergöttertes Kind! Und die Mutter? Die wird den Alten doch nicht überleben ... Natascha, Natascha! Was willst du tun? Kehre zurück! Besinne dich!“ Sie schwieg; schließlich sah sie mich vorwurfsvoll an, mit einem Blick so voll bitteren Leides, daß ich begriff, was in ihrem Herzen vorgehen mußte. Ich begriff, was dieser Entschluß sie gekostet hatte, und daß ich mit meinen nutzlosen, verspäteten Vorwürfen sie nur quälen, ihr das Herz zerreißen konnte; ich begriff das alles sofort und doch konnte ich nicht an mich halten und sprach weiter: „Du selbst sagtest doch soeben, Anna Andrejewna, du würdest _vielleicht_ heute nicht aus dem Hause gehen ... also wolltest du bleiben, also hattest du dich noch nicht fest entschlossen?“ Sie lächelte nur bitter zur Antwort. Was sollte diese Frage auch? Ich hätte doch verstehen sollen, daß ihr Entschluß nicht mehr zu ändern war. Doch auch ich war meiner selbst nicht mächtig. „Liebst du ihn wirklich so maßlos?“ fragte ich mit unsäglichem Weh im Herzen und ohne eigentlich selbst zu begreifen, was ich sie fragte. „Was soll ich dir darauf antworten, Wanjä? Du siehst doch: er hat mir befohlen, zu kommen, und da bin ich und warte hier auf ihn,“ sagte sie, mit demselben bitteren Lächeln. „Doch höre, höre, was ich dir sagen werde,“ begann ich wieder, sie anzuflehen, das letzte versuchend, „alles das läßt sich doch noch auf eine andere Weise machen. Warum dein Elternhaus verlassen. Ich werde dir sagen, wie du es machen sollst, Natascha. Ich werde euch helfen, euch Zusammenkünfte vermitteln ... Nur aus dem Hause gehe nicht fort! Ich werde euren Briefwechsel besorgen, warum auch nicht? Das wäre leichter zu ertragen, als alles andere. Ich werde euch beiden dienen, helfen, ihr werdet sehen, ich werde euch zufrieden stellen ... Und du, du wirst dein Leben nicht vernichten, Natascha ... Denn du vernichtest dein Leben damit, Natascha, vollständig! Willige doch ein, Natascha, alles wird gut werden, ihr werdet euch lieben und glücklich sein ... Und wenn die Eltern aufhören, zu prozessieren (und sie werden sicher aufhören) dann ...“ „Genug, Wanjä, laß das,“ unterbrach sie mich, drückte mir kräftig die Hand und lächelte unter Tränen. „Guter, guter Wanjä! Guter, anständiger Mensch, du! Und kein Wort mehr von dir. Ich habe dich verlassen, und dennoch verzeihst du mir alles, und denkst nur an mein Glück. Unsere Briefe willst du ...“ Sie fing an zu weinen. „Ich weiß es, Wanjä, wie lieb du mich hast, die ganze Zeit über hast du mir keinen Vorwurf gemacht, kein bitteres Wort zu mir gesagt! Und ich ... ich ... Wie bin ich vor dir schuldig! Weißt du noch, Wanjä, weißt du noch, damals, in der schönen Zeit? Ach, besser, ich hätte _ihn_ niemals kennen gelernt! ... Wie gut hätte ich es mit mir, mit dir, meinem guten lieben Wanjä! ... Nein, ich bin eben deiner nicht wert! Siehst du, wie ich bin: dich in diesem Augenblick noch an unser früheres Glück zu erinnern! und du leidest schon sowieso zu viel! Drei Wochen bist du nicht zu uns gekommen: ich schwöre dir, Wanjä, mir ist auch nicht einmal der Gedanke durch den Kopf gegangen, daß du mir vielleicht fluchst, mich haßt. Ich wußte, warum du nicht kamst, du wolltest uns nicht stören, kein lebender Vorwurf sein. Und du selbst mußtest leiden, wenn du uns sahst. Und wie habe ich dich erwartet, wie habe ich dich erwartet, Wanjä! Höre mich, Wanjä, ich liebe Aljoscha wie eine Wahnsinnige, eine Unsinnige, dich aber liebe ich noch mehr, dich – als meinen Freund. Ich weiß es, daß ich ohne dich nicht leben kann, daß du mir nötig bist, dein Herz, deine goldene Seele ... Ach, Wanjä! welch eine bittere, schwere Zeit jetzt anbricht!“ Tränen überströmten ihr Gesicht. Sie litt unsäglich! „Wie ich dich sehen wollte!“ fuhr sie fort, ihre Tränen niederkämpfend. „Wie bist du abgemagert, wie bist du krank und bleich; du bist wirklich krank, Wanjä! Und ich habe mich nicht danach erkundigt! Habe immer nur von mir gesprochen; wie steht es mit deinen Arbeiten? Geht es mit deinem neuen Roman gut vorwärts?“ „Was kümmert mich jetzt mein Roman – als ob es sich um mich handelte, Natascha! Ja, und meine Angelegenheiten, Gott mit ihnen! Was ich sagen wollte, Natascha, hat er es selbst verlangt, daß du zu ihm kommst?“ „Nein, nicht er allein, noch mehr ich. Er sprach davon, doch ich selbst ... Siehst du, Lieber, ich werde dir alles erzählen: man will ihn verheiraten mit einer reichen, sehr vornehmen jungen Dame aus altem Geschlecht. Der Vater will durchaus, daß er sie heiratet, der Vater, du weißt doch, ist ein schrecklicher Intrigant; er hat alles in Bewegung gesetzt; und einen solchen Zufall findet er in zehn Jahren nicht wieder. Verbindungen, Geld ... Und sie, sagt man, sei sehr schön, gebildet, – gut – überhaupt; Aljoscha scheint bereits zu ihr hinzuneigen. Außerdem möchte der Vater ihn loswerden, um selbst wieder zu heiraten, und hat deshalb beschlossen, was es auch kosten möge, unsere Verbindung zu lösen. Er fürchtet mich und meinen Einfluß auf Aljoscha ...“ „Weiß denn der Fürst,“ unterbrach ich sie mit Verwunderung, „um eure Liebe? Es war bis jetzt doch nur eine Verdächtigung von ihm.“ „Er weiß, weiß alles.“ „Wer hat es ihm denn gesagt?“ „Aljoscha hat ihm vor kurzem alles erzählt. Er selbst sagte es mir ...“ „Mein Gott! Was bei euch nicht geschieht!! Er selbst hat alles erzählt und in diesem Augenblick ...?“ „Beschuldige ihn nicht, Wanjä,“ unterbrach mich Natascha, „lache nicht über ihn! Man kann ihn nicht wie Menschen sonst beurteilen. Sei doch gerecht. Er ist anders als du und ich. Er ist ein Kind; man hat ihn so erzogen. Weiß er denn, was er tut? Der erste Eindruck, der erste fremde Einfluß, kann ihn von allem losreißen, woran er vor einem Augenblick gehangen, worauf er geschworen. Er hat keinen Charakter. Er kann dir schwören und noch am selben Tage einem andern, und als Erster kommt er, um es dir selbst zu erzählen. Man kann ihm wegen seiner Handlungsweise nicht einmal zürnen, man kann ihn nur bedauern. Er ist sogar einer Selbstaufopferung fähig und noch dazu welcher! Doch nur bis zum nächsten neuen Erlebnis: da vergißt er alles. _So wird er auch mich vergessen, wenn ich nicht immer um ihn bin!_ Siehst du, so ist er!“ „Ach, Natascha, vielleicht ist alles das noch gar nicht wahr. Doch, wie soll er, so ein Kind wie er ist, heiraten!“ „Der Vater verfolgt doch einen besonderen Zweck dabei, sagte ich dir.“ „Woher weißt du es, daß die Braut sehr schön sein soll, und daß sie ihn schon beeinflußt?“ „Er hat es mir doch selbst gesagt.“ „Wie! Er hat es selbst gesagt, daß er eine andere lieben kann, und verlangt von dir jetzt dieses Opfer?“ „Nein, Wanjä, nein! Du verstehst ihn nicht. Du kennst ihn zu wenig; man muß ihn besser kennen, um ihn beurteilen zu können. Es gibt kein aufrichtigeres, kein reineres Herz auf der Welt als seines! Wäre es denn besser, wenn er die Unwahrheit sagte? Und daß er jetzt für sie schwärmt! Wir brauchten uns nur eine Woche nicht zu sehen, und er würde mich vergessen haben, so wie er mich aber wieder sieht – liegt er zu meinen Füßen. Nein! Es ist so besser, ich weiß es, Wanjä! Sonst würde ich sterben vor Argwohn; ja, Wanjä! Ich weiß, was ich tue: _wenn ich nicht immer bei ihm wäre, ununterbrochen, jeden Augenblick, dann würde er aufhören, mich zu lieben, würde mich vergessen und verlassen_. Er ist schon einmal so, daß jede andere ihn beeinflussen kann. Und was wird dann mit mir geschehen? Ich werde sterben ... was sterben! Ich wäre froh, wenn ich sterben könnte. Wie soll ich aber ohne ihn leben? Das wäre schlimmer als der Tod, schlimmer als alle Qualen! O, Wanjä, Wanjä! Habe ich denn umsonst meinen Vater und meine Mutter verlassen! Rede nicht mehr davon; es ist schon geschehen! Er muß bei mir sein, jede Stunde, jeden Augenblick; ich kann nicht mehr zurück. Ich weiß, daß ich verloren bin und noch andere mit mir ... Ach, Wanjä!“ schrie sie plötzlich auf, am ganzen Körper bebend, „wenn er mich schon jetzt nicht mehr lieben sollte! Wenn du soeben die Wahrheit gesprochen, daß er nur mir allein so rechtschaffen und aufrichtig erscheint, im Grund aber nur ehrgeizig und leichtsinnig ist! Ich verteidige ihn jetzt vor dir, er aber lacht vielleicht in diesem Augenblick mit einer anderen über mich ... und ich, ich habe alles verlassen, laufe auf den Straßen und suche ihn ... Ach, Wanjä!“ Sie stöhnte so qualvoll auf, daß mein Herz vor Wehmut zerspringen wollte. Ich begriff, daß Natascha alle Gewalt über sich verloren hatte. Nur eine unsinnige, blinde Eifersucht hatte sie zu einem solchen Entschlusse treiben können. Doch die Eifersucht entbrannte auch in mir und zerriß mir das Herz. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, ein böses Gefühl kam über mich. „Natascha,“ sagte ich zu ihr, „ich verstehe nur eines nicht: wie kannst du ihn lieben, nach all dem, was du soeben über ihn gesagt hast? Du achtest ihn nicht, du glaubst nicht an seine Liebe, und doch gehst du zu ihm auf immer und vernichtest alle andern, die dich lieben, um seinetwillen? Was wird daraus werden? Er wird dich dein ganzes Leben lang quälen und du – ihn auch. Du liebst ihn schon zu sehr, Natascha, zu sehr. Eine solche Liebe verstehe ich nicht.“ „Ja, ich liebe ihn grenzenlos,“ antwortete sie, wie vor Schmerz erbleichend. „Ich habe dich niemals so geliebt, Wanjä. Ich weiß es doch selbst, daß ich wahnsinnig bin und ihn nicht so liebe, wie es sein muß. Schlecht ist meine Liebe ... Höre mich an, Wanjä: ich habe es schon früher gewußt, in meinen glücklichsten Augenblicken habe ich es vorausgefühlt, daß er mir nur Qualen bereiten wird. Doch was soll ich tun, wenn selbst diese Qualen durch ihn für mich noch ein – Glück bedeuten? Gehe ich denn zu ihm, um Freude zu erleben? Weiß ich denn nicht im voraus, was mich bei ihm erwartet, und was ich durch ihn erleiden muß? Er hat mir geschworen, mich zu lieben, hat mir sein Versprechen gegeben; ich aber gebe nichts auf seine Versprechungen, wenn ich auch weiß, daß er mich nicht belügt und mich niemals belügen kann. Ich selbst habe ihm gesagt, daß ich ihn nicht an mich binden werde. Für ihn ist es besser so. Niemand liebt Fesseln – ich gewiß nicht. Und doch bin ich glücklich, seine Sklavin zu sein, seine freiwillige Sklavin, und alles von ihm zu ertragen, alles, nur damit er bei mir ist und ich ihn sehen kann! Möge er sogar eine andere lieben, nur in meiner Gegenwart, nur daß auch ich dabei bin ... Wie niedrig das ist, nicht wahr, Wanjä?“ fragte sie mich plötzlich, mit leuchtenden, fieberhaft brennenden Augen mich ansehend. Einen Augenblick schien es mir, als phantasiere sie: „Wie niedrig solche Wünsche sind, nicht? Ich selbst sage es ja doch. Und doch, wenn er mich verläßt, so laufe ich ihm nach bis ans Ende der Welt, wenn er mich auch von sich stößt, mich davonjagt. Und du beredest mich jetzt, zurückzukehren; was würde die Folge davon sein? Daß ich morgen wieder davonginge! Er würde sagen: komm! – und ich würde kommen. Pfeifen wird er, und ich werde ihm folgen – wie ein Hündchen ... Qualen! Ich fürchte keine Qualen! Ich werde wissen, daß ich mich _seinetwegen_ quäle ... Ach, Worte geben das nicht wieder, Wanjä!“ „Und Vater und Mutter?“ dachte ich. Die schien sie ganz vergessen zu haben. „Er wird dich also heiraten, Natascha?“ „Er hat es versprochen, hat alles versprochen. Er hat mich ja heute darum zu sich gerufen, um sich morgen außerhalb der Stadt mit mir trauen zu lassen; er weiß doch nicht, was er tut. Er weiß vielleicht auch nicht, wie man sich trauen läßt. Und was ist er denn für ein Mann! Einfach lächerlich, nicht wahr. Ist er aber verheiratet, so wird er unglücklich sein, Vorwürfe machen ... Ich will nicht, daß er mir irgendwie einmal Vorwürfe machen könnte ... Alles will ich ihm geben, er aber, er braucht mir nichts zu geben. Wenn er nun durch die Heirat unglücklich wird, warum soll ich ihn – unglücklich machen?“ „Das ist doch einfach Wahnwitz, Natascha! Und du willst jetzt zu ihm gehen?“ „Nein, er versprach mir, hierher zu kommen, mich abzuholen; wir verabredeten uns ...“ Und sie blickte gespannt in die Ferne, aber es war noch niemand zu sehen. „Und er ist noch nicht einmal da. Du bist zuerst gekommen!“ rief ich unwillig aus. Natascha zuckte wie unter einem Schlage zusammen. Ihr Gesicht war krampfhaft verzerrt. „Er kommt vielleicht überhaupt nicht,“ sagte sie mit bitterem Lächeln. „Vor drei Tagen hat er mir geschrieben, daß er, wenn ich ihm nicht mein Wort geben könne, zu kommen, gezwungen sei, seinen Entschluß aufzugeben, sich mit mir trauen zu lassen ... und sein Vater ihn zu einer anderen führen würde. Und so natürlich, so einfach hatte er das geschrieben, als läge darin wirklich gar nichts ... Wenn er nun wirklich zu ihr gefahren ist, Wanjä?“ Ich antwortete nicht. Sie preßte heftig meine Hand und ihre Augen blitzten. „Er ist zu ihr gegangen,“ flüsterte sie kaum hörbar. „Er hoffte, daß ich nicht kommen würde, um dann zu ihr zu fahren mit der Behauptung, er hätte mich vorher davon benachrichtigt, ich aber wäre nicht gekommen. Ich bin ihm langweilig geworden, er wird mich verlassen ... Oh, Gott! Ich Wahnsinnige! Ich glaube, er hat mir neulich selbst gesagt, daß ich ihn langweile ... Worauf warte ich noch?“ „Da ist er!“ rief ich, ihn plötzlich in der Ferne am Kai erblickend. Natascha fuhr zusammen, schrie auf, blickte dem sich nähernden Aljoscha erwartungsvoll entgegen, und plötzlich stürzte sie, meine Hand loslassend, auf ihn zu. Auch er beschleunigte seine Schritte und in einer Minute lagen sie sich in den Armen. Außer uns war niemand auf der Straße zu sehen. Sie küßten sich und lachten; Natascha lachte und weinte zugleich, als hätten sie sich nach langer Trennung wiedergesehen. Ihre bleichen Wangen röteten sich. Sie war außer sich vor Freude ... Aljoscha bemerkte mich jetzt erst und ging sofort auf mich zu. IX. Ich sah ihn scharf an, obgleich ich ihn schon des öfteren gesehen; ich sah ihm tief in die Augen, als hätte sein Blick alle meine Zweifel lösen können, wodurch er dieses Kind so bezaubert, in ihr diese wahnsinnige Liebe wachgerufen hatte, eine Liebe bis zum Vergessen jeglicher Pflicht, eine Liebe, der Natascha alles, was ihr bis jetzt heilig gewesen, zum Opfer bringen wollte. Der Fürst nahm meine beiden Hände, schüttelte sie kräftig und sein bescheidener und heller Blick drang mir tief in die Seele. Ich fühlte, daß ich mich – zumal er mein Feind war – in meinem Urteil über ihn hatte irren können, denn ich liebte ihn nicht, habe ihn auch niemals lieben können – ich war die einzige Ausnahme unter allen, die ihn kannten. Hartnäckig konnte ich mich an vieles nicht gewöhnen, besonders nicht an sein elegantes Äußeres, vielleicht weil es schon zu elegant und gesucht war. Später begriff ich, daß ich ihn auch darin parteiisch beurteilt hatte. Er war hoch und schlank; sein Gesicht war von länglicher Form und immer bleich; er hatte blondes Haar und große blaue Augen, die milde und nachdenklich in die Welt schauten und aus denen dann zuweilen eine kindliche Freude aufleuchtete. Seine vollen roten Lippen hatten einen wunderschönen Schnitt und um den festgeschlossenen Mund lag ein seltsam ernster Zug; um so unerwarteter und bezaubernder war dann sein Lächeln, so naiv und gutherzig, daß man, in welcher Stimmung man sich auch befand, unwillkürlich mitlächeln mußte und dabei das Bedürfnis empfand, genau so zu lächeln, wie er. Er kleidete sich, wie gesagt, sehr elegant, doch diese Eleganz kostete ihm keine Mühe, sie schien ihm angeboren. Freilich besaß er auch einige von den schlechten Gepflogenheiten und Angewohnheiten des guten Tones: Leichtsinnigkeit, Selbstgenügsamkeit und höfliche Grobheit. Doch war er offenherzig und sich seiner Angewohnheiten so bewußt, daß er sich selbst tadelte und über sie lachte. Mir scheint es, daß dieses Kind von Jüngling nicht einmal im Scherz hätte lügen können, und wenn er es je getan, so würde er sich gewiß nichts Schlechtes dabei gedacht haben. Sogar sein Egoismus war anziehend, vielleicht weil er so offensichtlich war und nichts zu verbergen suchte. Er war schwach, vertrauensselig und schüchtern und hatte gar keine Willenskraft. Ihn zu betrügen und zu beleidigen wäre eine Sünde gewesen, so wie es Sünde ist, ein Kind zu beleidigen und zu betrügen. Er war, was seiner Jugend entsprach, vollständig naiv und unwissend und verstand nichts vom wirklichen Leben; übrigens würde er auch mit vierzig Jahren nichts von ihm verstanden haben. Solche Menschen sind zu einer ewigen Unmündigkeit verurteilt. Ich glaube, es gab keinen Menschen, der ihn nicht liebte, er war zu jedem zärtlich wie ein Kind. Natascha hatte recht; er wäre vielleicht imstande gewesen, schlecht zu handeln, durch schlechten, starken Einfluß dazu veranlaßt, doch hätte er über die Folgen seiner Tat vor Reue sterben können. Natascha fühlte instinktiv, daß sie seine Herrin, seine Beherrscherin und er ihr Opfer sein würde. Sie berauschte sich im voraus an dem Gefühl, ihn sinnlos zu lieben, und denjenigen, den sie liebte, sinnlos zu quälen, nur weil sie ihn liebte – deshalb war es ihr vielleicht ein Bedürfnis, sich selbst zuerst zu opfern. Doch auch aus seinem Ärger strahlte Liebe, und er betrachtete sie mit Entzücken. Triumphierend sah sie mich an. In diesem Augenblick vergaß sie alles – die Eltern, den Abschied und jedes Mißtrauen ... In diesem Augenblick war sie glücklich. „Wanjä!“ rief sie, „ich fühle mich schuldig vor ihm und bin seiner nicht wert! Ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen, Aljoscha. Vergiß meine schlechten Gedanken, Wanjä. Ich werde alles wieder gut machen!“ fügte sie hinzu und sah ihn mit grenzenloser Hingebung an. Er lächelte und küßte ihre Hand, und, ohne die Hand freizugeben, wandte er sich an mich. „Verurteilen Sie mich nicht. Schon lange wollte ich Sie als meinen Bruder umarmen; sie hat mir viel von Ihnen erzählt. Wir sind uns bis jetzt eigentlich fremd geblieben. Wollen wir Freunde sein und ... verzeihen Sie uns,“ fügte er noch mit halber Stimme und etwas errötend mit seinem bezaubernden Lächeln hinzu, sodaß ich nicht anders konnte, als seinen Vorschlag von ganzem Herzen anzunehmen. „Ja, ja, Aljoscha,“ griff Natascha auf, „er ist unser, unser Bruder, er hat uns schon verziehen und ohne seine Freundschaft würden wir nicht glücklich sein. Ich habe es ihm bereits gesagt ... Oh, grausame Kinder sind wir, Aljoscha! Doch wir werden zu dreien leben ... Wanjä!“ fuhr sie fort und ihre Lippen zitterten ein wenig, „sieh, du gehst jetzt zu ihnen nach Haus; du hast ein goldenes Herz, wenn sie mir auch nicht vergeben wollen, so werden sie sehen, daß du mir vergeben hast, und das wird sie weicher stimmen. Erzähle ihnen alles, alles, mit deinen von Herzen kommenden Worten. Verteidige mich, rette mich; sage ihnen die Gründe meiner Tat, so wie du sie verstanden hast. Weißt du, Wanjä, ich hätte mich vielleicht heute nicht dazu entschließen können, wenn du nicht gekommen wärest! Du bist meine Rettung: ich habe sofort an dich gedacht und gehofft, du würdest es ihnen mitteilen, du würdest den ersten Schmerz mildern helfen. O, Gott! Sage ihnen von mir, Wanjä, ich wüßte es, daß sie mir nicht mehr vergeben, doch wenn sie mich auch verfluchen sollten, so würde ich sie mein ganzes Leben segnen und für sie beten. Mein Herz ist bei ihnen! Ach, warum können wir nicht alle zusammen glücklich sein! Warum, warum! ... O Gott! Was habe ich getan!“ rief sie, sich plötzlich besinnend, und vor Entsetzen erschauernd schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. Aljoscha umarmte sie und drückte sie schweigend an sich. Wir schwiegen alle drei. „Und Sie konnten ein solches Opfer von ihr verlangen!“ sagte ich zu ihm mit vorwurfsvollem Blick. „Verurteilen Sie mich nicht!“ wiederholte er, „ich versichere Ihnen, daß alle Qualen, wenn sie auch jetzt sehr heftig sind – nicht von langer Dauer sein werden. Ich bin davon vollkommen überzeugt. Man muß nur den Mut haben, diesen ersten Augenblick zu ertragen, dasselbe hat auch sie mir gesagt. Sie wissen, daß dieser Familienstolz, dieser sinnlose Prozeß an allem die Schuld trägt ... Doch (ich habe es mir lange überlegt, versichere ich Ihnen) das alles muß einmal ein Ende nehmen. Wir werden uns alle wieder miteinander aussöhnen und vollständig glücklich sein. Wer weiß, vielleicht wird unsere Vermählung der erste Schritt zur Aussöhnung sein. Ich glaube sogar, daß es gar nicht anders sein kann. Was glauben Sie?“ „Sie sagen: Vermählung. Wann werden Sie sich denn trauen lassen?“ fragte ich, auf Natascha blickend. „Morgen oder übermorgen; wenigstens übermorgen bestimmt. Sehen Sie, ich selbst weiß es noch nicht genau, und um die Wahrheit zu sagen, habe ich auch noch keine Schritte getan. Ich dachte, vielleicht kommt Natascha heute gar nicht. Dazu wollte mich mein Vater noch durchaus zu meiner Braut führen (Sie wissen, man will mich verheiraten; Natascha hat es Ihnen doch erzählt? Ich aber will nicht). So konnte ich auf nichts Bestimmtes rechnen. Sicher lassen wir uns übermorgen trauen. Auf dem Wege nach Pskoff, nicht weit von hier, lebt auf dem Lande ein Freund von mir, aus dem Lyzeum, ein sehr guter Mensch, Sie werden ihn vielleicht noch kennen lernen. Im Dorfe wird es doch auch einen Geistlichen geben, bestimmt weiß ich es zwar nicht. Ich hätte mich früher darnach erkundigen sollen, doch bin ich noch nicht dazu gekommen. Im übrigen sind das doch alles Nebensachen. Man könnte im Notfalle aus einem Nachbardorfe einen Geistlichen holen; wie denken Sie darüber? Schade, daß ich meinem Kameraden noch nichts davon geschrieben habe, man hätte ihn benachrichtigen sollen. Vielleicht ist mein Freund noch nicht einmal anwesend. Das ist jedoch das Wenigste! Man muß nur wollen, alles andere wird sich schon finden, nicht wahr? Doch bis morgen oder übermorgen wird sie bei mir bleiben. Ich habe eine Wohnung gemietet, in der wir leben werden. Ich werde nicht mehr zu meinem Vater zurückkehren, nicht wahr Natascha? Sie werden uns besuchen? Ich habe alles sehr nett eingerichtet. Meine Freunde werden mich besuchen; ich werde Gesellschaftsabende ...“ Voll Unwillen und zugleich tiefem Kummer hörte ich ihm zu. Natascha sah mich flehend an, ihn nicht allzu streng zu beurteilen. Sie hörte seinen Erzählungen mit traurigem Lächeln liebevoll zu, wie man einem lieben fröhlichen Kinde bei seinem süßen und unsinnigen Geplapper zuhört. Ich sah sie vorwurfsvoll an. Mir war unerträglich schwer zumut. „Doch Ihr Vater?“ fragte ich. „Sind Sie fest überzeugt, daß er Ihnen verzeihen wird?“ „Versteht sich; was bleibt ihm denn anderes übrig? Das heißt, zuerst wird er mich natürlich verfluchen; davon bin ich überzeugt. Er ist schon einmal so, und zu mir ist er immer sehr streng. Vielleicht wird er auch versuchen, seine väterliche Macht mir gegenüber zu gebrauchen ... Doch das ist nicht ernst zu nehmen. Er liebt mich namenlos; er wird sich ärgern und mir doch verzeihen. Dann werden wir uns alle aussöhnen und alle glücklich sein. Auch ihr Vater ...“ „Wenn er aber nicht verzeiht? Haben Sie auch darüber nachgedacht?“ „Er wird mir unbedingt verzeihen, wenn auch nicht sofort. Nun, was tut es? Ich werde ihm zeigen, daß auch ich Charakter besitze. Er macht mir immer Vorwürfe, daß ich keinen Charakter habe, daß ich leichtsinnig sei. Jetzt kann er sehen, ob ich leichtsinnig bin oder nicht? Verheiratet sein, ist keine Kleinigkeit. Ich bin kein Kind mehr ... das heißt, ich wollte sagen, daß ich dann so sein werde, wie die anderen ... ich meine, wie andere verheiratete Männer. Ich werde mir selbst mein Brot verdienen. Natascha sagt, daß es besser sei, so zu leben, als auf Rechnung anderer, wie wir alle leben. Wenn Sie wüßten, wie viel Gutes sie mir sagt! Ich wäre selbst nie darauf gekommen, ich bin nicht so aufgewachsen, man hat mich nicht so erzogen. Freilich, ich weiß es selbst, daß ich leichtsinnig bin und zu nichts fähig; doch wissen Sie, vorvorgestern hatte ich einen sonderbaren Gedanken. Es ist eigentlich nicht gerade der richtige Augenblick, um davon zu sprechen, doch möchte ich es gern tun, um Ihren Rat zu hören. Sehen Sie: ich möchte Romane schreiben und sie an Zeitungen verkaufen, so wie Sie es tun. Werden Sie mir dabei helfen, nicht? Ich habe auf Sie gerechnet und mir gestern die ganze Nacht über einen Roman ausgedacht, so zur Probe, und wissen Sie: es kann wirklich eine nette Sache werden. Das Sujet habe ich aus einer Skribeschen Komödie genommen ... Ich werde Ihnen später davon erzählen. Die Hauptsache ist, daß man dafür Geld bekommt ... Ihnen gibt man doch Geld dafür!“ Ich mußte lächeln. „Sie lachen,“ sagte er, gleichfalls lächelnd. „Nein, hören Sie mich an,“ fügte er mit unglaublicher Naivität hinzu, „beurteilen Sie mich nicht darnach, wie ich scheine; ich besitze viel Beobachtungsvermögen; Sie werden selbst sehen. Warum soll ich es nicht versuchen? Vielleicht gelingt es mir ... Doch andererseits haben Sie recht; ich verstehe nichts vom wirklichen Leben; das hat mir Natascha auch gesagt, übrigens sagen es alle; was kann ich für ein Schriftsteller werden? Lachen Sie nur, lachen Sie mich nur aus, wirken Sie nur auf mich ein, und machen Sie mich nur besser als ich bin – Sie tun es ja für sie, Sie lieben sie ja doch. Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich ihrer nicht wert bin, das fühle ich; es fällt mir sehr schwer, ich weiß gar nicht, wofür sie mich so lieb hat? Und doch – ich würde ihr mein ganzes Leben hingeben wollen! Wirklich, bis zu diesem Augenblick habe ich nichts gefürchtet, doch jetzt packt mich die Furcht! Herrgott! Sollte es einem Menschen, der sich ganz seiner Pflicht hingibt, wirklich an Geschick und Kraft fehlen, diese Pflicht zu erfüllen? Helfen Sie uns doch, Sie, unser Freund! Sie sind der einzige Freund jetzt, der uns geblieben ist. Denn was verstehe ich allein davon! Verzeihen Sie, daß ich mich so auf Sie verlasse, aber ich halte Sie für einen edlen Menschen und für besser als mich. Doch ich werde mich bessern, seien Sie überzeugt davon, und will Ihrer beider wert sein.“ Er drückte mir hierbei wieder die Hand und aus seinen freundlichen Augen strahlte eine aufrichtige Hingabe. So vertrauensvoll reichte er mir die Hand, so überzeugt, daß ich sein Freund sei! „Sie wird mir helfen, mich zu bessern,“ fuhr er fort. „Denken Sie bitte nicht schlecht von uns, machen Sie sich keine Sorgen um uns. Ich mache mir viel Hoffnungen und in materieller Beziehung werden wir gewiß gesichert sein. Wenn es, zum Beispiel, mit dem Roman nicht gehen sollte (um die Wahrheit zu sagen, habe ich gleich, als ich davon sprach, bei mir gedacht, daß der Roman nur eine Dummheit sei, und ich erzählte es Ihnen nur, um Ihre Meinung darüber zu erfahren), wenn der Roman mir nicht gelingen sollte, so könnte ich im äußersten Fall Musikunterricht erteilen. Sie wissen es vielleicht nicht, daß ich musikalisch bin? Ich werde mich nicht schämen, von derartiger Arbeit zu leben. Ich schließe mich in dem Falle vollständig den neuen Ideen an. Außerdem besitze ich viele Wertsachen, Bibelots, Toilettengegenstände: was sollen sie mir? Ich werde sie verkaufen und, wir können lange Zeit hindurch davon leben! Schließlich kann ich im äußersten Falle immer noch als Beamter eintreten. Mein Vater wird sich sogar darüber freuen, er hat es schon längst gewünscht, ich habe mich unter dem Vorwand, kränklich zu sein, davon frei gemacht. Sowie er aber sehen wird, daß die Ehe mir Nutzen bringt, mich vernünftig macht, und ich wirklich in den Staatsdienst getreten bin ... so wird er sich freuen und mir alles verzeihen ...“ „Haben Sie auch, Alexei Petrowitsch, bedacht, was zwischen Ihrem und Nataschas Vater daraus entstehen wird? Was, glauben Sie, was wird wohl heute abend in ihrem Hause geschehen?“ Ich wies hierbei auf die totenbleich dastehende Natascha. Ich war erbarmungslos. „Ja, ja, Sie haben recht, das ist furchtbar!“ antwortete er. „Ich habe schon daran gedacht und seelisch sehr darunter gelitten ... Doch was ist zu machen? – Sie haben recht: wenn doch nur wenigstens ihre Eltern uns vergeben würden! Wenn Sie wüßten, wie ich sie beide geliebt habe! Sie standen mir so nahe, als wären sie meine eigenen Eltern! – und womit zahle ich es ihnen heim?! Ach, diese Streitigkeiten, diese Prozesse! Sie glauben nicht, wie schrecklich das ist! Und warum streiten sie sich. Alle lieben wir uns gegenseitig, und streiten uns! Man sollte sich endlich aussöhnen und der Sache ein Ende machen! Ich würde es tun an ihrer Stelle ... Furchtbar sind Ihre Worte. Natascha, es ist schrecklich, was wir zu tun beabsichtigen! Ich habe es schon früher gesagt ... Du selbst hast darauf bestanden ... Doch, hören Sie, Iwan Petrowitsch, es kann sich noch alles zum Guten wenden. Wir werden sie aussöhnen. Gewiß, es muß sein; sie werden unserer Liebe nicht widerstehen können ... Mögen sie uns verfluchen, wir werden sie dennoch lieb haben; sie werden nachgeben. Sie glauben mir nicht, was für ein gutes Herz manchmal mein Vater hat! Er blickt nur so finster unter den Brauen hervor, doch ist er oft sehr zugänglich. Wenn Sie wüßten, wie liebevoll er heute mit mir gesprochen, wie er mich zu überzeugen versuchte! Und ich handle gerade heute gegen seinen Willen; das stimmt mich sehr traurig. Und alles dieser elenden Vorurteile wegen! Das ist einfach – Wahnsinn! Wenn er sich doch Natascha nur einmal ordentlich ansehen, mit ihr eine halbe Stunde zusammensein wollte? Er würde uns sofort alles erlauben.“ Bei diesen Worten blickte er in leidenschaftlicher Zärtlichkeit auf Natascha. „Tausendmal habe ich mir vorgestellt,“ setzte er sein Geplauder fort, „wie er sie lieben wird, wenn er sie nur kennen lernt, und wie sie sie alle in Verwunderung setzen würde. Denn sie haben doch alle noch nicht ein solches Mädchen gesehen! Der Vater denkt, daß sie eine Intrigantin ist. Meine Pflicht ist es, ihre Ehre wieder herzustellen, und das werde ich tun! Ach, Natascha! Dich werden alle lieben, alle, es gibt keinen Menschen, der dich nicht lieben müßte,“ fügte er begeistert hinzu. „Wenn ich deiner auch nicht wert bin, so liebst du mich doch, ich aber ... O, du kennst mich doch! Und haben wir denn noch mehr nötig zu unserem Glück! Nein, ich glaube, glaube daran, daß dieser Abend uns allen zusammen Glück, Friede und Eintracht bringt. Gesegnet sei dieser Abend! Nicht, Natascha? Doch, was ist mit dir? Mein Gott, was fehlt dir?“ Sie war bleich wie eine Tote. Sie hatte während Aljoschas weitläufiger Rede kein Auge von ihm gewandt, doch allmählich wurde ihr Blick immer trüber und starrer und ihr Antlitz blässer und blässer. Mir schien es, daß sie zuletzt kaum mehr zuhörte und völlig abwesend dastand. Der Ausruf Aljoschas weckte sie aus ihrer Versunkenheit. Sie fuhr zusammen, schaute um sich und – wandte sich plötzlich zu mir. In aller Eile, und als ob sie es vor Aljoscha verbergen wollte, zog sie aus der Tasche einen Brief und gab ihn mir. Er war an ihre Eltern gerichtet und am Abend vorher geschrieben worden. Als sie ihn mir reichte, sah sie mich scharf und durchdringend an, als hätte sie sich mit ihrem Blick an mich festgesogen. In diesem Blick lag eine solche Verzweiflung, niemals vergesse ich diesen schrecklichen Blick! Mich schauderte: ich sah, daß sie sich in diesem Moment der ganzen Tragweite ihres Schrittes bewußt wurde. Sie wollte nur etwas sagen, sie begann schon und, plötzlich – verlor sie das Bewußtsein. Ich fing sie auf. Aljoscha erbleichte vor Schreck; er rieb ihre Schläfen, küßte ihre Hände, ihre Lippen. In zwei Minuten kam sie wieder zu sich. Nicht weit von uns entfernt stand die Droschke, in der Aljoscha gekommen war; er rief sie herbei. Als Natascha in den Wagen gehoben wurde, preßte sie wie unsinnig meine Hand und heiße Tränen rannen über meine Finger. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich stand noch lange an derselben Stelle und schaute ihm nach. Mein ganzes Glück entschwand in diesem Augenblick und mein Leben zerbrach in zwei Hälften. Schmerzhaft mußte ich das empfinden. ... Langsam ging ich den Weg zurück, zu den Alten. Ich wußte nicht, was ich ihnen sagen sollte, noch wie ich zu ihnen ins Zimmer treten wollte. Meine Gedanken erstarrten mir, meine Füße wankten ... Und das ist die Geschichte meines Glückes! Das war das Ende meiner Liebe: Ich werde nun in der unterbrochenen Erzählung fortfahren. X. Fünf Tage nach dem Tode Smitts zog ich in dessen Wohnung ein. Den ganzen Tag fühlte ich mich elend und traurig; das Wetter war feucht und kalt, vom Himmel fiel halb Schnee, halb Regen. Nur gegen Abend zeigte sich für einen Augenblick die Sonne und ein verlorener Strahl huschte, wohl aus Neugier, für einen Augenblick zu mir ins Zimmer. Ich bedauerte es bereits, hierher gekommen zu sein. Das Zimmer war ja groß, doch so niedrig, feucht und öde, trotz der Möbel. Ich dachte mir gleich, daß ich in dieser Wohnung den Rest meiner Gesundheit einbüßen würde. Und so geschah es denn auch. Den ganzen Morgen über hatte ich in meinen Papieren gelesen und sie in Ordnung gebracht. Da ich keine Mappe besaß, hatte ich sie in einem Kissenbezug hergebracht und alles durcheinander geworfen. Darauf setzte ich mich hin um zu schreiben. Ich arbeitete damals an meinem großen Roman, doch konnte ich die Gedanken nicht zusammenhalten, der Kopf war mir so voll von anderen Dingen ... Ich warf die Feder hin und setzte mich ans Fenster. Es dunkelte bereits und auch in meiner Seele wurde es immer düsterer. Schwere Gedanken lasteten auf mir. Es wurde mir klar, daß ich in Petersburg doch schließlich untergehen mußte. Es nahte der Frühling; ich würde neu aufleben, so schien es mir, wenn ich aus diesem Gefängnis wieder an die freie Gotteswelt käme, den Duft frischer Wiesen und Wälder atmete, die ich so lange nicht mehr gesehen! ... Mir ging noch der Gedanke durch den Kopf, wie gut es wäre, wie durch einen Zauberspruch alles zu vergessen, alles was ich in der letzten Zeit erlebt und erlitten, und mit frischem Kopf und neuen Kräften von vorn wieder zu beginnen. Damals träumte ich noch davon und hoffte auf eine Auferstehung. „Wie, wenn ich in ein Irrenhaus käme, und dann gleichsam mein Gehirn von neuem gesundete.“ Ich fühlte doch noch Lebensdurst in mir und glaubte an das Leben! ... Doch auch bei diesem Gedanken lachte ich laut auf. „Und nach dem Irrenhause, was würde dann folgen? Wirklich wieder Romane schreiben? ...“ So sann und trauerte ich, und die Zeit verstrich. Es war ganz dunkel geworden. Am Abend stand mir ein Wiedersehen mit Natascha bevor; sie hatte mich durch einen Brief vom Abend vorher dringend zu sich gebeten. Ich sprang auf und bereitete mich vor, auszugehen. Es drängte mich sowieso fort aus dieser Wohnung, einerlei wohin, in den Regen, in den Schmutz. Doch, je dunkler es wurde, um so geräumiger schien es bei mir im Zimmer zu werden, das sich immer mehr und mehr erweiterte. Mir war, als müßte ich in jeder Ecke des Zimmers den alten Smitt sehen, wie er so dasaß und einen unbeweglich anstarrte, ihm zu Füßen Asorka. Und plötzlich ereignete sich etwas, das tiefe Spuren in mir hinterließ. Übrigens muß ich gestehen, daß es mir infolge nervöser Schwäche, oder infolge der aufregenden Eindrücke in der neuen Wohnung und von der Erkältung her geschehen konnte, daß ich bei zunehmender Dunkelheit in einen Seelenzustand verfiel, der mich des öfteren in der Nacht heimsuchte und den ich einen mystischen Schrecken nennen möchte. Es war das die allerschrecklichste quälendste Furcht vor einem ungewissen Etwas, das man selbst nicht näher zu erklären vermag: etwas nicht Seiendes in der Ordnung der Dinge, das doch durchaus in jeder Minute zu sein vermag, allen Vernunftgründen zum Trotz auftaucht und sich vor mir als unerbittliche, schreckliche, unabwendbare Tatsache hinstellt. Die Furcht wächst von Minute zu Minute, ungeachtet dessen, daß der Geist in diesen Augenblicken noch größere Klarheit gewinnt, und nichtsdestoweniger alle Macht verliert, dieser Empfindung entgegenzutreten. Man gehorcht ihm nicht mehr, man kann ihn sich nicht mehr nutzbar machen und die schreckliche Angst der Erwartung verdoppelt sich langsam aber sicher. Ich erinnere mich noch, ich stand mit dem Rücken zur Tür und griff nach meinem Hut auf dem Tische, als mir der Gedanke kam, ich würde sofort hinter mir den alten Smitt erblicken; die Tür würde sich langsam öffnen und er würde auf der Schwelle stehen und ins Zimmer blicken, würde leise mit gesenktem Kopf auf mich zukommen, sich vor mir aufstellen, seine trüben Augen auf mich richten und plötzlich mir ins Gesicht lachen mit seinem zahnlosen, unhörbaren Lachen, und sein großer Körper würde von diesem Lachen hin- und hertanzen. Diese Vision richtete sich so klar und deutlich in meiner Phantasie auf, daß es mir zur vollen, unerschütterlichen Überzeugung wurde, daß alles das sofort geschehen müsse, ja, vielleicht schon geschehen sei, und daß ich es nur nicht gesehen, da ich mit dem Rücken zur Tür stand. In diesem Augenblick mußte sich die Tür unbedingt öffnen, ich kehrte mich plötzlich um und – was geschah? – die Tür öffnete sich wirklich leise, lautlos, genau so wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich schrie auf. Lange Zeit zeigte sich niemand, als hätte die Tür sich von selbst geöffnet; plötzlich aber erschien auf der Schwelle ein sonderbares Wesen: ein Paar Augen, die ich kaum in der Dunkelheit unterscheiden konnte, blickten mich finster und durchdringend an. Ein Schauer überlief meinen Körper. Zu meinem größten Erstaunen sah ich, daß es ein Kind war, ein Mädchen, und wenn es sogar Smitt selbst gewesen wäre, so hätte er mich vielleicht nicht so erschrecken können, wie diese sonderbare, unerwartete Erscheinung eines mir unbekannten Kindes, zu dieser Zeit und Stunde in meinem Zimmer. Ich sagte bereits, daß die Kleine die Tür langsam und unhörbar öffnete. Es war, als fürchtete sie sich, einzutreten. Als sie endlich auf der Schwelle erschien, sah sie mich lange mit solcher Verwunderung an, als wäre sie versteinert; zuletzt trat sie zwei, drei Schritte vor und blieb, ohne ein Wort zu sagen, vor mir stehen. Jetzt konnte ich sie deutlicher erkennen. Es war ein Kind von zwölf bis dreizehn Jahren, klein von Wuchs, zart und blaß, als hätte es soeben eine schwere Krankheit überstanden. Desto ausdrucksvoller aber leuchteten seine großen, dunklen Augen. Mit der linken Hand hielt die Kleine über der Brust ein altes, durchlöchertes Tuch zusammen, womit sie sich wohl vor der Abendkälte zu schützen suchte. Bekleidet war sie, man kann ruhig sagen, fast nur mit Lumpen. Das dichte dunkle Haar war ungekämmt und zerwühlt. Wir standen uns ungefähr zwei Minuten lang so gegenüber, uns gegenseitig anstarrend. „Wo ist Großpapa?“ fragte sie endlich mit kaum hörbarer, heiserer Stimme, als schmerzte ihr die Brust oder die Kehle. Mein ganzer mystischer Schrecken war plötzlich verschwunden. Man fragte nach Smitt! Ganz unerwartet kam ich also auf eine Spur von ihm! „Dein Großpapa? Er ist gestorben!“ sagte ich ohne Besinnen, da ich auf diese Frage garnicht vorbereitet war. Ich bereute es sofort. Einen Augenblick blieb sie noch vor mir unbeweglich stehen, dann aber erzitterte sie so heftig am ganzen Körper, daß ich fürchtete, sie bekäme einen Nervenanfall. Ich mußte sie halten, damit sie nicht fiele. Nach einigen Minuten wurde sie ruhiger und ich sah, mit welcher Anstrengung sie ihre Erregung vor mir zu verbergen suchte. „Vergib, vergib mir, mein Kind! Ich bin damit so einfach herausgeplatzt, das war vielleicht nicht dein Großpapa ... Du Arme! ... Wen suchst du eigentlich? Den Alten, der hier lebte?“ „Ja,“ brachte sie mit Anstrengung hervor und starrte mich unruhig an. „Er hieß Smitt? Ja?“ „J–, Ja!“ „Also er ... nun, ja, er ist tot ... Sei nur nicht traurig, mein Täubchen! Warum bist du nicht früher gekommen? Woher kommst du? Sie haben ihn gestern beerdigt; er starb plötzlich, ganz unerwartet ... Du bist also seine Enkelin?“ Die Kleine antwortete nicht auf meine überstürzten Fragen. Schweigend kehrte sie sich um und ging fast lautlos aus dem Zimmer. Ich war so bestürzt, daß ich sie nicht zurückhielt, noch sie etwas zu fragen wagte. Auf der Türschwelle blieb sie noch einmal stehen, und halb zu mir gewandt, fragte sie: „Auch Asorka ist tot?“ „Ja, auch Asorka ist tot,“ antwortete ich, und mir schien die Frage so sonderbar; sie klang so überzeugt davon, daß Asorka zusammen mit seinem Herrn hatte sterben müssen. Sie hörte meine Antwort an und verschwand dann lautlos durch die Tür, die sie vorsichtig hinter sich zuschloß. Eine Minute später stürzte ich der Kleinen nach, voll Ärger darüber, daß ich sie hatte gehen lassen. Sie war so lautlos verschwunden, daß ich nicht gehört, wie sie die zweite auf die Treppe hinausführende Tür hinter sich zugeschlossen. „Die Treppe kann sie noch nicht verlassen haben,“ dachte ich, und hielt lauschend still. Man vernahm weder ein Geräusch noch Schritte. In einem unteren Stockwerk wurde eine Tür laut zugeschlagen. Dann war wieder alles still. Ich stieg eilig hinab. Die Treppe von meiner Wohnung in den vierten Stock machte eine Biegung, erst von dort an führte sie geradeaus und hinab. Es war eine dieser schmutzigen Hintertreppen, die man stets in großen Mietshäusern mit kleinen Wohnungen findet. In diesem Augenblick war es auf ihr vollständig finster. Ich tastete mich bis zum nächsten Stockwerk hinunter und blieb dann stehen. Mir schien, als müsse sich hier jemand vor mir auf dem Treppenabsatz versteckt haben. Ich tastete mit den Händen längs der Wand und stieß ganz in der Ecke auf die Kleine, die mit dem Gesichte zur Wand hin stand und leise, fast lautlos, weinte. „Höre, warum fürchtest du dich?“ begann ich, „habe ich dich so sehr erschreckt? Das tut mir leid. Als dein Großpapa starb, sprach er von dir; das waren seine letzten Worte ... Bei mir liegen seine Bücher; sie gehören jetzt wohl dir. Wie heißt du? Wo wohnst du? Er sagte, in der sechsten Linie ...“ Doch konnte ich den Satz nicht beenden. Wie erschreckt darüber, daß ich wissen konnte, wo sie wohne, schrie sie laut auf, stieß mich mit ihrer mageren kleinen Hand beiseite und stürzte die Treppe hinunter. Ich stürzte ihr nach. Unten vernahm ich noch ihre kleinen Schritte. Plötzlich hörten sie auf ... Als ich auf die Straße trat, war sie nicht mehr zu sehen. Ich eilte bis auf den Wosnessenskij-Prospekt hinunter und als ich da anlangte, sah ich, daß alle meine Bemühungen vergebens waren: sie war verschwunden. „Wahrscheinlich hat sie sich irgendwo vor mir versteckt,“ dachte ich, „vielleicht gleich unten bei der Treppe.“ XI. Doch kaum war ich auf das feuchte, schmutzige Trottoir des Prospekts hinausgetreten, als ich mit einem Vorübergehenden zusammenstieß, der offenbar ganz in Gedanken versunken, den Kopf gesenkt, sich sehr beeilte. Zu meinem größten Erstaunen erkannte ich in ihm den alten Ichmenjeff. Es war für mich ein Abend unerwarteter Begegnungen. Ich wußte, daß der Alte vor drei Tagen stark erkältet war, und nun plötzlich begegne ich ihm bei diesem feuchten Wetter auf der Straße! Zudem war er früher nie zur Abendzeit ausgegangen und seitdem Natascha die Eltern verlassen, das heißt fast seit einem halben Jahr, rührte er sich nicht aus dem Hause. Als er mich erblickte, schien er außerordentlich erfreut zu sein, wie ein Mensch, der endlich einen Freund trifft, mit dem er seine Gedanken teilen kann. Er ergriff meine Hand, drückte sie kräftig, zog mich mit sich fort und fragte, wohin ich ginge. Er schien sehr erregt, seine Bewegungen waren hastig und zerstreut. „Wohin mag der wohl gegangen sein?“ dachte ich bei mir. Ihn danach zu fragen, das ging nicht an: er war in letzter Zeit so mißtrauisch geworden, daß er oft in der allereinfachsten Frage oder Bemerkung eine Anspielung oder Beleidigung witterte. Ich betrachtete ihn mir von der Seite: sein Gesicht sah krankhaft aus, in der letzten Zeit war es sehr abgemagert, der Bart war ihm seit einer Woche nicht mehr geschnitten worden. Das nun fast ganz ergraute Haar quoll unordentlich unter dem verbeulten Hut hervor und hing in langen Strähnen auf dem Kragen seines alten abgetragenen Überziehers. Ich hatte es schon öfter bemerkt, daß er sich minutenlang ganz vergessen konnte; er vergaß zum Beispiel, daß er allein im Zimmer war, sprach laut mit sich selbst und gestikulierte mit den Armen. Es tat weh, ihn anzuschauen. „Nun, Wanjä, nun? Wohin gingst du? Siehst du, mein Lieber, ich, ich bin ausgegangen; in Geschäften. Bist du gesund?“ „Und Sie, sind Sie gesund?“ antwortete ich. „Sie waren doch unlängst krank, und jetzt gehen Sie aus?“ Der Alte antwortete mir nicht, es war, als hätte er mich garnicht gehört. „Wie geht es Anna Andrejewna?“ „Gut, gut ... Übrigens, vielleicht ist sie ein bißchen erkaltet. Sie hat es bei mir ein wenig traurig ... Sie sprach auch von dir ... Warum bist du nicht gekommen? Ja, gehst du jetzt mit zu uns, Wanjä, oder nicht?“ fragte er plötzlich, mich scharf und fragend ansehend. Der mißtrauische Alte war so empfindlich geworden, daß, wenn ich ihm jetzt geantwortet hätte, es sei nicht meine Absicht gewesen, zu ihnen zu kommen, er sich unfehlbar beleidigt gefühlt und sich kühl von mir verabschiedet hätte. Ich beeilte mich also, ihm zu versichern, daß ich soeben die Absicht gehabt, Anna Andrejewna aufzusuchen, obgleich ich wußte, daß ich mich dadurch verspäten würde und das Wiedersehen mit Natascha überhaupt in Frage gestellt wurde. „Nun, das ist gut,“ sagte der Alte, vollständig beruhigt durch meine Antwort. „Das ist gut ...“ Und plötzlich verstummte er wieder und wurde nachdenklich. „Ja, das ist gut!“ wiederholte er nach fünf Minuten wieder mechanisch dasselbe, als erwache er aus einer tiefen Versunkenheit. „Hm! ... Siehst du, Wanjä, du bist uns immer wie unser eigener Sohn gewesen; Gott schenkte uns ... keinen Sohn ... und schickte uns dich; so habe ich immer gedacht. Die Alte ... auch! Ja! Und du hast dich immer ehrerbietig zu uns benommen, zärtlich, wie ein dankbares Kind. Möge dich Gott dafür segnen, Wanjä, wie wir beiden Alten dich segnen und lieben ... Ja!“ Seine Stimme bebte, er hielt einen Augenblick inne. „Ja ... nun ... wie ist es dir ergangen? Warst du nicht erkältet? Warum warst du so lange nicht mehr bei uns?“ Ich erzählte ihm die ganze Geschichte mit Smitt, entschuldigte meine Abwesenheit durch diese Angelegenheit, sagte, daß ich mich außerdem krank gefühlt, und daß der Weg nach Wassilij-Ostroff (wo sie damals wohnten), sehr weit sei. Ich wollte schon hinzufügen, daß ich auch noch nicht Zeit gefunden hatte, Natascha zu besuchen, doch fiel mir das Unangebrachte dieser Bemerkung noch zur rechten Zeit ein und ich verstummte. Die Geschichte mit Smitt interessierte ihn sehr. Er wurde aufmerksamer. Als er erfuhr, daß meine neue Wohnung feucht war, vielleicht noch feuchter als die alte und sechs Rubel monatlich koste, war er sehr aufgebracht. Überhaupt war er recht heftig und ungeduldig geworden. Nur Anna Andrejewna verstand es, in solchen Augenblicken mit ihm auszukommen, und auch das nicht immer. „Hm! ... Das kommt von deiner Literatur, Wanjä!“ rief er wütend aus. „Sie hat dich bis unter das Dach gebracht, und wird dich auch noch auf den Kirchhof bringen! Habe ich dir’s damals nicht gesagt? Dich davor gewarnt! ... Und wie steht es mit B.; schreibt er immer noch seine Kritiken?“ „Er ist gestorben, an der Schwindsucht gestorben. Ich habe es Ihnen doch schon mitgeteilt, wenn ich nicht irre.“ „Gestorben, hm! ... Gestorben! Ja, so mußte es kommen. Hat er seiner Frau und seinen Kindern etwas hinterlassen? Du hast mir doch gesagt, daß er Frau und Kinder hatte ... Woraufhin heiraten diese Leute überhaupt?“ „Nein, er hat ihnen nichts hinterlassen,“ antwortete ich. „Nun, hab’ ich’s nicht gesagt!“ rief er außer sich, als ginge ihn die Sache etwas an und als wäre der verstorbene B. sein eigener Bruder gewesen. „Nichts! Also, so ... so, nichts! Nichts hinterlassen! Siehst du, Wanjä, das hab ich vorausgefühlt, so mußte er enden, und schon damals, weißt du noch, als du ihn immer so lobtest. Sehr einfach zu sagen: hat nichts hinterlassen! Hm! ... hat sich dafür Ruhm erworben. Nehmen wir an, unsterblichen Ruhm, doch von Ruhm lebt man nicht. Ich habe damals, mein Lieber, auch bei dir alles vorausgesehen. Also so, B. ist gestorben? Ja ... und warum soll er auch nicht sterben! Ist denn das ein Leben hier ... in dieser Stadt! Sieh dich doch nur um!“ Und mit einer unwillkürlichen Handbewegung wies er auf die neblige Perspektive der wegen der undurchdringlichen Atmosphäre nur schwach erleuchteten Straßen, auf die schmutzigen Häuser, auf die vor Feuchtigkeit glitzernden Steinfliesen des Trottoirs, auf die finsteren und durchnäßten Gestalten der Vorübereilenden, auf dieses ganze Bild, das von der eintönig tuschfarbenen Kuppel eines Petersburger Himmels umrahmt wurde. Wir traten auf den Platz hinaus; aus dem Dunkel vor uns erhob sich das Denkmal Nikolais, von Gasarmen umgeben und von unten durch Gasarme und Kandelaber beleuchtet, weiterhin die dunkle, kolossale Masse der Isaakskirche, deren Formen bei der Dunkelheit des Himmels nur undeutlich zu erkennen waren. „Du sagtest doch, Wanjä, daß er ein großzügiger, sympathischer Mensch gewesen sei, mit Herz und Verstand. Alle sind sie so, deine sympathischen Leute mit den guten Herzen. Die Zahl der Waisenkinder zu vermehren, das ist alles, was sie verstehen! Hm! ... ja und zu sterben muß für ihn lustig gewesen sein, denke ich! he, he, he! Wäre er von hier fortgefahren, und wär’s nach Sibirien! ... Was willst du, Kleine?“ fragte er plötzlich ein Kind, das ihn um Almosen bat. Es war ein kleines schwächliches Mädchen, von sieben Jahren etwa, in schmutzige Lumpen, beinah Fetzen gekleidet. Die nackten Füßchen steckten in durchlöcherten Schuhen. Sie strengte sich an, den vor Kälte zitternden Körper in ein altes Mäntelchen zu hüllen, dem sie längst schon entwachsen war. Das abgemagerte, bleiche Gesichtchen war uns zugewandt; sie sah uns stumm, mit flehenden Blicken an und mit ergebener Furcht vor einer Absage streckte sie uns ihr zitterndes Händchen entgegen. Der Alte erbebte, als er es sah und wandte sich so hastig zu ihr hin, daß sie erschrak. Sie zuckte zusammen und fuhr entsetzt zurück. „Was willst du, Kind?“ schrie er. „Was bittest du? Da, nimm ... nimm, da!“ – Und er wühlte mit zitternder Hand in seiner Tasche herum und holte zwei oder drei Silberstücke heraus. Es schien ihm aber doch zu wenig, er zog seine Geldtasche hervor und nahm einen Rubelschein heraus – alles was in ihr enthalten war – und legte das Geld in die Hand des Bettelkindes. „Möge Christus dich behüten, Kleine ... Mögen dich, mein Kind, Gottes Engel begleiten!“ Mit zitternder Hand bekreuzte er mehrmals die Kleine, doch als er sah und ihm einfiel, daß ich dabeistand und ihm zusah, runzelte er die Stirne und setzte mit raschen Schritten seinen Weg fort. „Siehst du, Wanjä,“ begann er nach langem, fast wütendem Schweigen, „ich kann es nicht ansehen, wie diese kleinen, unschuldigen Geschöpfe, vor Kälte zitternd auf der Straße ... ihrer verfluchten Mütter und Väter wegen ... Übrigens, welche Mutter wird wohl ihr Kind hinaus in dieses Unglück schicken, wenn nicht eine im tiefsten Elend! ... Wahrscheinlich sitzen bei ihr in der Ecke noch andere Waisenkinder, diese war wohl die Älteste; sicher ist sie krank ... die Mutter und ... hm! Nicht alle sind Fürstenkinder ... viele Kinder gibt es in der Welt, Wanjä, ... die ... hm!“ Er verstummte auf einen Augenblick, als wüßte er nicht, wie er fortfahren sollte. „Ich, siehst du, Wanjä, habe Anna Andrejewna versprochen,“ begann er ein wenig verwirrt und unsicher, „ich habe ihr versprochen ... das heißt, wir sind beide miteinander einig, Anna Andrejewna und ich, ein Waisenkind zur Erziehung anzunehmen, ... so irgend ein armes, kleines, ganz ins Haus zu uns ... Du verstehst doch? Uns Alten ist es einsam, so allein ... hm ... nur, siehst du! Aber Anna Andrejewna scheint sich doch noch dagegen zu sträuben. Sprich du doch mit ihr, weißt du, nicht von mir aus, du weißt schon, sondern von dir aus, berede sie doch ... Du verstehst mich? Schon lange wollte ich dich darum bitten ... sie möge doch einwilligen ... ich kann es so recht nicht tun ... aber was rede ich von diesen Albernheiten! Was geht mich ein Kind an? Ich habe es nicht nötig! Nur so zur Beruhigung ... um ein Kinderstimmchen zu hören ..., und, ich tue es doch nur der Alten wegen; es wird für sie lustiger sein, als immer mit mir Altem allein. Doch, alles das ist dummes Zeug! Und – so kommen wir nicht weiter; nehmen wir eine Droschke, es ist noch weit und Anna Andrejewna erwartet uns schon lange ...“ Es war halb acht, als wir endlich bei Anna Andrejewna ankamen. XII. Die alten Ichmenjeffs liebten sich sehr. Liebe und langjährige Gewohnheit hatte sie unzertrennlich aneinandergefesselt. Doch war Nikolai Ssergejewitsch nicht nur jetzt, sondern auch schon früher in seinen glücklichen Zeiten, nicht sehr mittelsam zu seiner Anna Andrejewna gewesen, und hin und wieder geradezu streng mit ihr umgegangen, letzteres besonders in Gegenwart von fremden Leuten. In einigen Naturen, die sehr zart und feinfühlend sind, erhebt sich manchmal ein Widerstand dagegen, der von ihnen geliebten Person ihre Zärtlichkeit nicht nur in Gegenwart von Menschen, sondern auch unter vier Augen zu zeigen. Nur hin und wieder bricht die Zärtlichkeit durch, um so heißer und leidenschaftlicher, je länger sie zurückgehalten worden war! So verhielt sich auch teilweise der alte Ichmenjeff zu seiner Anna Andrejewna, und zwar von Anfang an in seiner Ehe mit ihr. Er achtete und liebte sie grenzenlos, ungeachtet dessen, daß sie nur eine gute Frau war, die nichts als ihn zu lieben verstand; und er ärgerte sich oft sehr darüber, daß sie sich ihrerseits in ihren Gefühlen zu ihm, in ihrer Natürlichkeit, keinen Zwang antat. Doch seit Natascha sie verlassen, waren sie viel zärtlicher zueinander geworden; sie fühlten es schmerzlich, daß sie jetzt ganz allein auf der Welt waren. Und obgleich Nikolai Ssergejewitsch oft sehr verschlossen und finster war, so konnten doch beide nicht zwei Stunden ohne Schmerz und Sehnsucht voneinander getrennt sein. Sie waren schweigend übereingekommen, von Natascha mit keinem Wort zu sprechen, als wäre sie niemals auf der Welt gewesen. Anna Andrejewna wagte in Gegenwart ihres Mannes denn auch nicht, Natascha nur im geringsten zu erwähnen, obgleich es ihr sehr schwer fiel. Sie hatte Natascha in ihrem Herzen schon längst verziehen. Zwischen uns war gewissermaßen eine stillschweigende Abmachung getroffen worden, daß ich zu jedem Besuch bei ihr Nachrichten von ihrem unvergeßlichen, geliebten Kinde brachte. Die Alte wurde krank, wenn sie länger keine Nachrichten hatte, und sobald ich dann wieder bei ihr erschien, wollte sie aber auch die kleinste Einzelheit wissen. Mit zitternder Neugier erkundigte sie sich nach allem, was ich gesehen, und wäre beinahe vor Schreck gestorben, als sie hörte, daß Natascha erkrankt war; fast wäre sie selbst zu ihr gegangen. Doch hätte sie es wohl nur im äußersten Fall getan. Sie wagte mir gegenüber nicht einmal den Wunsch, ihre Tochter wiederzusehen, auszusprechen, und jedesmal hielt sie es nach unseren Gesprächen, nachdem sie mich über alles ausgeforscht, für ihre Pflicht, nachdrücklich zu wiederholen, daß, wenn sie sich auch nach wie vor sehr um das Schicksal ihrer Tochter kümmere und sorge, Natascha doch eine Verbrecherin bliebe, der man nicht verzeihen könne. Das war jedoch alles nur äußerlich. Es kam vor, daß Anna Andrejewna sich bis zur Krankhaftigkeit abquälte, in meiner Gegenwart Natascha mit den zärtlichsten Namen nannte, sich bitter über Nikolai Ssergejewitsch beklagte, und in seiner Anwesenheit, wenn auch mit großer Vorsicht, versteckte Anspielungen machte, von Hochmut und Hartherzigkeit der Menschen sprach und davon, daß wir nicht zu verzeihen verstünden, Gott aber den Verstockten seinerseits auch nicht vergäbe – doch mehr wagte sie in seiner Gegenwart nicht zu sagen. In solchen Augenblicken verdüsterte sich das Gesicht des Alten, er wurde mürrisch und schweigsam, und plötzlich sprach er dann, gewöhnlich sehr ungeschickt, laut von etwas ganz anderem, um dann schließlich doch aufzustehen und sich in sein Zimmer zurückzuziehen, um auf diese Weise Anna Andrejewna die Möglichkeit zu geben, ihren Kummer vor mir auszuschütten und sich auszuweinen. Ebenso zog er sich bei meinen Besuchen, nachdem er mich begrüßt hatte, immer gleich zurück, um mir Gelegenheit zu geben, Anna Andrejewna die letzten Nachrichten über Natascha mitzuteilen. So tat er es auch diesmal. „Ich bin ganz durchnäßt,“ sagte er zu ihr, als wir kaum ins Zimmer getreten waren, „ich gehe in mein Zimmer, und du, Wanjä, bleibe hier. Ihm ist eine Geschichte passiert ... mit der Wohnung; erzähle ihr das. Ich komme gleich wieder zurück ...“ Und er eilte hinaus, bemüht, uns nicht anzusehen, als schäme er sich, daß er uns selbst zusammenbrachte. Wenn er wieder zu uns zurückkehrte, war er dann mürrisch, sowohl gegen mich als gegen Anna Andrejewna, ganz, als ärgere er sich über seine eigene Weichheit und Nachgiebigkeit. „So ist er immer,“ sagte die Alte, die in letzter Zeit ihre frühere Zurückhaltung gegen mich ganz aufgegeben hatte. „Immer ist er so zu mir; dabei weiß er doch, daß wir seine Schlauheit durchschauen. Warum verstellt er sich vor mir! Bin ich denn etwa eine Fremde für ihn? So ist er auch zu seiner Tochter. Er könnte ihr doch verzeihen, vielleicht wünscht er es sogar, Gott weiß es! Die Nächte über weint er, habe es selbst gehört! Äußerlich will er sich stark zeigen. Der Stolz beherrscht ihn ... Lieber Iwan Petrowitsch, erzähl’ schneller: wohin war er gegangen?“ „Nikolai Ssergejewitsch? Ich weiß es nicht: ich wollte Sie fragen.“ „Und ich dich! Mir wurde ganz schwach zumute, als ich ihn gehen sah. Er ist doch krank, und bei solchem Wetter, in der Dunkelheit! Nun, dachte ich, der muß etwas wichtiges vorhaben; was kann es aber wichtigeres geben, als die uns bekannte Angelegenheit? So dachte ich bei mir, aber zu fragen wagte ich ihn nicht. Großer Gott, ich zitterte ordentlich bei dem Gedanken an ihn und an sie. Nun, dachte ich, jetzt geht er zu ihr; jetzt wird er ihr verzeihen! Er hat doch alles erfahren, auch die letzten Nachrichten von ihr kennt er. Ich bin fest überzeugt, daß er alles weiß, woher er aber Nachrichten über sie erhält, kann ich mir nicht vorstellen. Gar zu sehr grämte er sich schon gestern, und heute gleichfalls. Ja, was schreist du denn! Erzähle doch, mein Lieber, was dort vorgefallen ist! Wie einen Engel Gottes habe ich dich erwartet, habe mir die Augen nach dir ausgesehen. Nun, wie ist es, verläßt dieser Bösewicht Natascha?“ Ich erzählte sofort Anna Andrejewna alles, was ich selbst wußte. Zu ihr war ich immer vollkommen aufrichtig. Ich teilte ihr mit, daß es in der Tat diesmal zwischen Natascha und Aljoscha zu einem Bruch kommen könnte; daß diesmal der Konflikt ernster als die früheren sei; daß Natascha mir gestern einen Zettel geschickt und mich gebeten, heute abend um neun Uhr zu ihr zu kommen, weshalb ich auch garnicht die Absicht gehabt, hierher zu gehen, aber Nikolai Ssergejewitsch habe mich mitgenommen. Ich erzählte ihr, und erklärte ihr ausführlich, daß die Lage jetzt eine sehr kritische sei; daß der Vater Aljoschas, der vor zwei Wochen von einer Reise zurückgekehrt sei, von alledem nichts hören wolle und energisch gegen Aljoscha vorgehe. Doch wichtiger sei, daß Aljoscha selbst, wie es scheine, zu der andern hinneige, und wie man höre, sich sogar in sie verliebt haben solle. Ich fügte noch hinzu, daß der Brief von Natascha in großer Aufregung geschrieben sei, und daß heute, wie sie darin schrieb, alles sich entscheiden würde. In welcher Richtung? Das sei noch unentschieden. Sonderbar, daß sie _heute_ geschrieben, mir aber befohlen habe, morgen um neun Uhr abends zu kommen. Darum müsse ich auch sofort gehen, und zwar so schnell als möglich. „Gehe nur, gehe, Junge, gehe sofort,“ rief Anna Andrejewna besorgt und beunruhigt, „sobald er kommt, trinkst du noch rasch den Tee ... Warum hat man den Samowar noch nicht gebracht! Matrjona! Wo bleibt denn der Samowar? Der Nichtsnutz! ... Wenn du also deinen Tee ausgetrunken hast, finde einen passenden Vorwand, und – fort mit dir! Morgen aber komme unbedingt zu mir und erzähle mir alles. Ja, komme so früh als möglich. Großer Gott! Wenn nur kein Unglück geschieht! Kann es denn noch schlechter kommen! Nikolai Ssergejewitsch hat sicher schon alles erfahren, mein Herz sagt es mir, daß er alles schon weiß. Ich habe ja auch von Matrjona vieles erfahren und diese wieder durch Agascha; Agascha wiederum ist ein Taufkind von Marja Wassiljewna, die im Hause des Fürsten dient ... nun, du weißt doch selbst alles. Böse war heute Nikolai Ssergejewitsch, böse. Ich sprach nur so von diesem und jenem, er aber schrie mich an, wie ein Wütender; später tat es ihm leid, behauptete, wir hätten bald kein Geld mehr. Als wäre er des Geldes wegen wütend gewesen! Nun, du kennst ja doch unsere Verhältnisse. Nach dem Mittagessen ging er schlafen. Ich blickte durch die Türspalte ins Zimmer (in der Tür ist eine kleine Spalte, er weiß nichts von ihr), er aber, mein Täubchen, lag auf den Knien vor einem Heiligenbild und betete. Als ich das erblickte, da wankten mir die Knie. Und den Tee trank er nicht, geschlafen hat er auch nicht. Nahm seinen Hut und ging. Ich wagte nicht ihn zu fragen; er hätte mich wieder angeschrien. Er schreit jetzt des öfteren, wenn er mich nicht anschreit, dann Matrjona; so wie er aber zu schreien anfängt, zittern mir die Knie und mein Herz hört auf zu schlagen. Wenn er auch übertreibt, nun ich weiß ja doch, daß er absichtlich so tut, aber schrecklich ist es doch. Als er fortging, habe ich zu Gott eine ganze Stunde gebetet, er möge alles zum Guten lenken. Wo ist ihr Brief, zeig’ ihn mir!“ Ich gab ihr den Brief. Ich wußte, daß Anna Andrejewna nur den einen Wunsch hatte, daß Aljoscha, den sie einen Bösewicht und dummen Jungen nannte, zuletzt doch Natascha heiraten würde, und daß sein Vater, der Fürst Pjotr Alexandrowitsch, seine Einwilligung dazu gäbe. Sie hatte es einmal sogar mir gegenüber ausgesprochen, es dann jedoch bereut und mehrmals widerrufen. Niemals aber hätte sie ihre Hoffnungen vor Nikolai Ssergejewitsch auszusprechen gewagt, obgleich sie wußte, daß der Alte ihr das nachtrug und ihr im stillen geradezu Vorwürfe deswegen machte. Ich glaube, er hätte Natascha auf immer verflucht und ihr Andenken ganz aus seinem Herzen gerissen, wenn er auch nur von einer Möglichkeit dieser Ehe erfahren hätte. Wir alle waren damals derselben Meinung. Er erwartete seine Tochter mit jeder Fiber seines Herzens, doch erwartete er sie allein, reuig und bereit, jede Erinnerung an ihren Aljoscha aus ihrem Herzen zu reißen. Nur unter dieser einen Bedingung hätte er ihr verziehen – wenn er das auch nicht in dieser Weise ausgesprochen, so begriff man es doch sofort, wenn man ihn nur ansah. „Charakterlos ist er, ein charakterloser, grausamer Junge ist er, das habe ich immer gesagt,“ begann Anna Andrejewna wieder von neuem. „Man hat ihn nicht zu erziehen verstanden, ein Leichtsinn ist er geworden. Um dieser neuen Liebe willen sie zu verlassen! Gott, mein Gott! Was wird aus der Armen werden? Und was er wohl an der Anderen gefunden haben mag, das begreife ich nicht!“ „Ich habe gehört, Anna Andrejewna,“ bemerkte ich, „daß diese Braut ein reizendes, bezauberndes Mädchen sein soll, auch Natalja Nikolajewna hat es von ihr behauptet ...“ „Und du glaubst natürlich alles!“ unterbrach sie mich. „Bezaubernd? Für euch Federfuchser ist jede bezaubernd, wenn sie nur einen Rock an hat. Und wenn Natascha sie lobt, so tut sie das nur, weil sie ein edles Herz hat. Sie versteht nicht ihn zu halten, alles verzeiht sie ihm, selbst aber leidet sie. Wie oft ist er ihr schon untreu gewesen! Böse, hartherzige Menschen! Mich aber packt die Angst, Iwan Petrowitsch! Der Stolz blendet sie alle. Wenn der Meine sich wenigstens überwinden, meinem Täubchen verzeihen und es wieder zu mir bringen würde! Wie wollte ich sie umarmen, mich an ihr satt sehen! Sie sieht wohl sehr elend aus?“ „Ja, Anna Andrejewna.“ „Die Arme! Und mit mir steht es auch nicht ganz gut, Iwan Petrowitsch! Die ganze Nacht und den ganzen heutigen Tag habe ich geweint ... worüber, das werde ich dir später erzählen! Wievielmal habe ich ihm nicht von ferne angedeutet, er möge ihr doch verzeihen: geradeaus wage ich es ihm nicht zu sagen, doch so auf Umwegen muß man’s ihm beibringen. Das Herz erstirbt mir dabei in der Brust: wenn er nun wütend wird, und sie noch verflucht! Verflucht hat er sie noch nicht, das habe ich von ihm noch nicht gehört ... Darum fürchte ich mich aber auch so sehr, daß er es nur ja nicht tut! Was würde wohl dann sein? Der Fluch des Vaters ist auch Gottes Fluch. So lebe ich, jeden Tag zittere ich vor Angst. Und auch du solltest dich schämen, Iwan Petrowitsch; bist in unserem Hause aufgewachsen, hast elterliche Liebe von uns empfangen und hast dir auch ausgedacht, daß die Andere bezaubernd sei! Was geht denn dich das an? Was für eine Bezaubernde? Da hat Marja Wassiljewna besser gesprochen. (Ich habe es gewagt: habe sie einmal zu mir zum Kaffee eingeladen, als Meiner einen ganzen Morgen in Geschäften aus war.) Sie hat mich über alles aufgeklärt. Der Fürst, der Vater von Aljoscha, hat zu der Gräfin in unerlaubten Beziehungen gestanden. Die Gräfin hat ihm schon immer vorgeworfen, daß er sie nicht heirate, er hat es aber immer wieder aufgeschoben. Die Gräfin jedoch stand schon bei Lebzeiten ihres Gemahls in schlechtem Rufe. Als ihr Mann starb, reiste sie ins Ausland: hier lernte sie Italiener, Franzosen, Barone und Grafen kennen, und da hat sie auch den Fürsten Pjotr Alexandrowitsch gekrallt. Ihre Stieftochter aber, die Tochter ihres ersten Mannes, der ein Branntweinpächter war, wuchs allmählich heran. Die Gräfin, ihre Stiefmutter also, hatte bis dahin alles verlebt, was sie besaß, mit Katherina Fedorowna zusammen aber wuchsen auch die zwei Millionen heran, die ihr Vater für sie in der Bank deponiert hatte. Jetzt, sagt man, habe sie drei Millionen, und da hat sich denn der Fürst gedacht, daß es sehr vorteilhaft wäre, Aljoscha mit ihr zu verheiraten. (Fürchte dich nicht, der läßt nichts durch.) Der Graf, der vornehme, hochgestellte Hofmann, ihr Verwandter, hat eingewilligt; drei Millionen sind kein Spaß! Gut, sagt er, sprechen Sie mit der Gräfin. Der Fürst teilt der Gräfin seinen Wunsch mit. Die ist dagegen, mit Händen und Füßen. Eine tolle Frau, sagt man, ohne jeden Anstand! Hier sollen sie schon viele nicht mehr empfangen, wie wird es erst im Auslande gewesen sein! Nein, sagt sie, du, Fürst, mußt mich heiraten, meine Stieftochter bekommt Aljoscha nicht. Die Tochter soll aber eine Seele von Mensch sein, doch ihrer Stiefmutter in allem untertan und sie geradezu anbeten. Eine bescheidene, sagt man, eine engelsgute Seele! Der Fürst versteht natürlich sofort, um was es sich handelt, und sagt es ihr auch: ‚Du, Gräfin, beunruhige dich nicht. Du hast dein Gut verlebt und eine Menge Schulden. Wenn aber deine Stieftochter Aljoscha heiraten wird, so gibt es ein gutes Paar: sie ist unschuldig wie ein Engel und Aljoscha ein Dummkopf; wir werden sie beide zusammen bevormunden, dann wirst auch du Geld haben. Was nützt es dir, wenn ich dich heirate?‘ sagte er. Ein schlauer Mensch. Ein Freimaurer! Vor einem halben Jahr hat die Gräfin sich nicht dazu entschließen können, jetzt, sagt man, seien sie nach Warschau gefahren, dort habe sie eingewilligt. So ist es. Das hat mir alles Marja Wassiljewna erzählt, die es selbst von einem glaubwürdigen Menschen erfahren. Nun, siehst du wohl: um Geld handelt’s sich, um Millionen, und nicht darum, daß sie bezaubernd ist!“ Die Erzählung Anna Andrejewnas setzte mich in Erstaunen. Sie stimmte vollkommen mit dem überein, was ich selbst unlängst von Aljoscha gehört hatte. Als er es mir erzählte, behauptete er fest, daß er nie des Geldes wegen heiraten würde. Doch hatte Katherina Fedorowna einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Ich hörte auch von Aljoscha, daß der Vater selbst vielleicht heiraten möchte, doch alles Gerede darüber als unwahr bezeichne, um die Gräfin nicht vorher zu reizen. Ich sagte bereits, daß Aljoscha seinen Vater sehr liebte und pries, und an ihn, wie an einen Gott, glaubte. „Und nicht aus gräflichem Geschlecht ist sie, deine Bezaubernde!“ fuhr Anna Andrejewna fort, sehr gereizt über das Lob, das ich der zukünftigen Braut des jungen Fürsten gespendet hatte. „Natascha wäre für ihn eine bessere Partie. Sie ist die Tochter eines Kaufmanns. Natascha aber ist aus altem adligem Geschlecht. Mein Alter öffnete gestern (ich habe es vergessen, dir zu sagen) seine eiserne Kiste, du kennst sie doch, und hat den ganzen Tag in alten Urkunden geblättert. So ernst saß er da. Ich strickte meinen Strumpf und wagte nicht, ihn anzusehn. Als er nun sieht, daß ich schweige, wird er wütend, er muß mich nun selbst rufen und da hat er mir den ganzen Abend unseren Stammbaum erklärt: Und so erfuhr ich denn, daß die Ichmenjeffs schon zu Zeiten Iwan Wassiljewitsch des Grausamen den Adel besaßen und meine Familie, das Geschlecht der Schumiloffs, schon unter Alexei Michailowitsch bekannt war, und eine Rolle gespielt hat – wir haben die Dokumente darüber und auch in der Geschichte Karamsins sind wir verzeichnet. Also, mein Väterchen, wir sind nicht schlechter in der Beziehung als die Anderen. Als der Alte mir das zu erklären anfing, verstand ich, was er im Sinne hatte. Ihn kränkt es, daß man Natascha so gering einschätzt. Nur mit dem Reichtum sind sie uns über. Nun, möge sich dieser Räuber Pjotr Alexandrowitsch um sein Geld mühen: das ist ja allen bekannt: er ist eine hartherzige, gierige Seele. Er sei in Warschau, sagt man, zu den Jesuiten übergetreten? Ist es wahr, was glaubst du?“ „Dummes Gerede,“ antwortete ich, doch unwillkürlich interessierte mich die Hartnäckigkeit, mit der sich dieses Gerücht verbreitete und erhielt. Auch die Nachricht von Nikolai Ssergejewitsch, der seine Urkunden durchsuchte, interessierte mich sehr. Früher hatte er nie seines Geschlechtes Erwähnung getan. „Alle sind sie hartherzige Menschen!“ fuhr Anna Andrejewna fort. „Doch, was tut sie, mein Täubchen? grämt sie sich, weint sie? Es ist Zeit, daß du zu ihr gehst! Matrjona, Matrjona! Wo bleibst du, Nichtsnutz! Haben sie sie beleidigt? Sage doch, Wanjä!“ Was sollte ich antworten? Sie fing an zu weinen. Ich fragte sie, welches Unglück sie denn noch betroffen hätte, wie sie vorhin gesagt. „Ach, mein Lieber, als ob es noch nicht genug wäre, als ob der Kelch nicht zum Überfließen voll wäre! Erinnerst du dich, mein Freund, oder weißt du nicht mehr, daß ich ein goldenes Medaillon besaß, mit Nataschas Bildchen, aus ihren Kinderjahren; acht Jahre alt war sie damals, mein Herzenskind. Wir bestellten es bei einem durchreisenden Maler, du hast es wohl sicher vergessen, mein Lieber! Ein guter Maler war es, er hat sie als Kupido dargestellt: helles lockiges Haar hatte sie damals, durchs Hemdchen schien ihre weiße Haut durch, und so reizend sah sie aus, daß man sich gar nicht an ihr sattsehen konnte. Ich bat den Maler, ihr doch Flügel anzumalen, doch er wollte es nicht tun. Nun, siehst du, mein Lieber, in diesen schrecklichen Tagen hatte ich es aus der Schatulle herausgenommen und es mir um den Hals gehängt; so hing es neben meinem Kreuz, und ich fürchetete schon immer, der Alte würde es vielleicht bemerken. Er befahl doch damals, alle ihre Sachen aus dem Hause zu entfernen oder zu verbrennen, damit wir durch nichts mehr an sie erinnert würden. Ich aber war glücklich, wenn ich das Bild wenigstens betrachten konnte; ich sehe es mir an und weine mich aus, dann wird mir leichter ums Herz; ein anderes Mal aber, wenn ich allein bin, küsse ich es, als wäre sie es selbst und nenne sie bei ihrem Namen und bekreuzige sie zur Nacht. Ich spreche laut mit ihr, wenn ich allein bin, frage sie dies und jenes und mir ist, als antworte sie mir. Ach, mein lieber Wanjä, schwer ist es mir, davon zu sprechen! Nun, ich war froh, daß er wenigstens vom Medaillon nichts bemerkt hatte; wie ich aber gestern abend nach meinem Medaillon greife, ist es nicht mehr da. Mir schwanden die Sinne. Suche, suche und suche – nichts! Es ist verloren und bleibt verloren! Und wie kann ich es verloren haben? Im Bett, denke ich, habe ich es abgerissen; ich kehre das ganze Bett um, – nichts! Wenn ich es verloren habe, wer kann es denn finden, wenn nicht _er_ oder Matrjona? Nun, Matrjona kann ich schon garnicht verdächtigen, sie ist mir mit ganzer Seele zugetan ... (Matrjona, wirst du endlich den Samowar aufstellen?) Nun, denke ich, wenn er es findet, was wird dann sein? Ich sitze da und weine, weine, kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Und Nikolai Ssergejewitsch ist so zärtlich zu mir, und sieht mich bedauernd an, als wüßte er, warum ich weine. Und da denke ich: er hat das Medaillon gefunden und es aus dem Fenster geworfen! In seinem Herzen ist er doch fähig dazu; hat es hinausgeworfen und jetzt tut es ihm selbst leid, bedauert es jetzt, denke ich. Nun, ich lief unter das Fenster, um es mit Matrjona zu suchen, – wir fanden nichts. Ich weinte die ganze Nacht über. Zum ersten Male hatte ich sie nicht zur Nacht bekreuzigt. Oh, das führt zum Schlechten, zum Schlechten, Iwan Petrowitsch, das bedeutet nichts Gutes; auch den nächsten Tag wurden meine Augen nicht trocken, immer wieder weinte ich. Habe dich erwartet, mein Freund, wie einen Engel Gottes, damit du meine Seele erlösest ...“ Und sie weinte bitterlich. „Ach, ja, was ich vergessen, dir zu sagen!“ begann sie plötzlich, ganz erfreut darüber, daß es ihr eingefallen, „hast du etwas von dem Waisenkind gehört?“ „Ja, Anna Andrejewna, er hat mir erzählt, Sie hätten beide beschlossen, ein armes Mädchen, eine Waise, zur Erziehung anzunehmen. Ist das wahr?“ „Nicht gedacht habe ich daran, mein Lieber, nicht gedacht! Und überhaupt, ein Waisenkind will ich nicht haben! Nur an unser schweres Schicksal, an unser Unglück, wird sie uns erinnern. Außer Natascha will ich niemanden haben. Meine einzige Tochter war sie, meine einzige wird sie auch bleiben. Doch, was soll das wohl bedeuten, dieser Einfall mit der Waise? Was denkst du davon, Iwan Petrowitsch? Mir zur Beruhigung, etwa, damit ich mein leibliches Kind vergessen und mich an ein anderes gewöhnen soll? Was hat er dir von mir erzählt? Wie schien er dir – streng ... böse? Ts! Er kommt! Nachher davon, nachher! ... Morgen mußt du kommen, vergiß nicht ...“ XIII. Der Alte trat ein. Er blickte uns neugierig und fast etwas verschämt an, dann verfinsterte sich sein Gesicht und er trat an den Tisch. „Nun,“ fragte er, „hat man noch immer nicht den Samowar gebracht?“ „Man bringt ihn sofort, Väterchen, sofort; nun, da ist er schon,“ beeilte sich Anna Andrejewna zu bemerken. Matrjona erschien sofort mit dem Samowar, als sie den Herrn erblickte, ganz als hätte sie nur auf ihn gewartet. Diese Matrjona war eine alte, erprobte und ergebene Dienerin, aber die eigenwilligste und brummigste von allen Mägden der Welt, mit eigensinnigem, rechthaberischem Charakter. Nikolai Ssergejewitsch jedoch fürchtete sie und vor ihm hielt sie den Mund. Dafür entschädigte sie sich aber um so mehr an Anna Andrejewna, war gegen sie grob und zeigte ihr auf Schritt und Tritt den Wunsch, über sie, ihre Herrin, zu herrschen, obwohl sie zu gleicher Zeit ihr und Natascha von Herzen ergeben war. Ich hatte Matrjona schon in Ichmenjeffka gekannt. „Hm ... es ist nicht angenehm, so durchnäßt zu sein, und hier will man einem nicht einmal den Tee bereiten,“ brummte der Alte halblaut vor sich hin. Anna Andrejewna warf mir einen verständnisvollen Blick zu, heimlich auf ihren Mann weisend. Er aber konnte die geheimen Einverständnisse nicht leiden, und wenn er sich in diesem Augenblicke auch die Mühe gab, sie nicht zu bemerken, so konnte man es ihm doch ansehen, daß er alles wußte und verstanden hatte. „Ich war in Geschäften ausgegangen, Wanjä,“ begann er plötzlich. „Alles in den Dreck gefahren. Sagte ich dir nicht? Mich werden sie verurteilen. Beweise habe ich nicht; die nötigen Papiere fehlen mir; die Angaben sollen sich als unrichtig erweisen ... Hm! ...“ Er sprach von seinem Prozeß mit dem Fürsten; dieser Prozeß zog sich noch immer hin, nahm aber für Nikolai Ssergejewitsch die denkbar schlechteste Wendung. Ich schwieg, ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte. Er blickte mich argwöhnisch an. „Und was tut’s!“ griff er plötzlich auf, als reizte ihn unser Schweigen, „je schneller, desto besser. Zum Schurken können sie mich nicht machen, wenn sie mich auch verurteilen, zu bezahlen. Ich habe mein reines Gewissen, mögen sie beschließen, was sie wollen. Wenigstens wird die Sache einmal ihr Ende nehmen; sie befreien mich, indem sie mich zugrunde richten ... Ich werde alles hinwerfen und gehe nach Sibirien.“ „Um Gottes willen, wohin gehen! Weshalb so weit!“ konnte Anna Andrejewna sich nicht enthalten, auszurufen. „Und hier, wem sind wir hier denn nah und irgend etwas wert?“ fragte er sie brutal und als freute er sich dieser Erwiderung. „Immerhin doch ... in der Nähe von Menschen ...“ erwiderte Anna Andrejewna, mich traurig ansehend. „Von Menschen!“ fuhr er auf, seinen flammenden Blick von mir auf sie heftend und wieder zurücklenkend, „von welchen Menschen? Von Räubern, Verleumdern und Verrätern? Die gibt es überall; beunruhige dich nicht, auch in Sibirien findet man sie. Wenn du nicht mit mir fahren willst, so bleibe, bitte, hier; ich werde dich nicht zwingen, mitzukommen.“ „Väterchen, Nikolai Ssergejewitsch! Was soll ich denn ohne dich!“ rief die arme Anna Andrejewna. „Ich habe doch, außer dir, in der ganzen Welt, niem...“ Sie stockte, schwieg und sah mich erschrocken und flehend an, als bäte sie mich um Beistand und Hilfe. Der Alte war gereizt; nörgelte an jedem Wort; ihm widersprechen durfte man jetzt nicht. „Beruhigen Sie sich, Anna Andrejewna,“ sagte ich, „in Sibirien ist es durchaus nicht so schlimm, wie es scheint. Wenn das Unglück geschehen sollte, daß Sie Ichmenjeffka verkaufen müssen, so ist die Absicht Nikolai Ssergejewitschs sogar sehr gut. In Sibirien kann man einen guten Privatverdienst finden, – und dann ...“ „Nun, es freut mich, daß du etwas von der Sache verstehst, Iwan. Ich habe so beschlossen; ich verwerfe die ganze Sache und fahre.“ „Nein, das hatte ich doch nicht erwartet!“ rief Anna Andrejewna und schlug die Hände zusammen. „Also auch du, Wanjä! Von dir, Iwan Petrowitsch, hätte ich das denn doch nicht erwartet ... Ich dächte, du hättest doch von uns nichts anderes als Liebe erfahren, und jetzt ...“ „Ha, ha, ha! Was hattest du denn erwartet? Wovon werden wir denn leben, was denkst du wohl! Das Geld ist verlebt, bald stehen wir vor dem Nichts! Befiehlst du vielleicht, daß ich zum Fürsten Pjotr Alexandrowitsch gehe und ihn um Verzeihung bitte?“ Als die Alte den Namen des Fürsten hörte, fing sie vor Schreck an zu zittern. Der Löffel in ihrer Hand schlug hell und vernehmbar an die Untertasse. „Nein, wirklich, Wanjä, was meinst du,“ fuhr der Alte weiter fort, mit boshafter, hartnäckiger Schadenfreude. „Warum nach Sibirien fahren? Besser ist’s, ich ziehe mich morgen an, kämme mich, putze mich, Anna Andrejewna wird mir ein neues Vorhemd zurechtlegen, werde mir neue Handschuhe kaufen, und zu Sr. Durchlaucht fahren: Väterchen, Euer Durchlaucht, Gönner und Wohltäter! Üben Sie Gnade an mir, geben Sie mir mein Stück Brot wieder, ... meine Frau ... meine kleinen Kinder! ... Soll ich’s so machen, Anna Andrejewna? Wünschst du es so?“ „Väterchen ... ich will nichts, garnichts will ich! Habe nur so aus Dummheit gesagt; verzeih, wenn ich dich geärgert habe, nur höre auf.“ Sie zitterte immer mehr vor Angst und Erregung. Ich bin überzeugt, daß in dem Augenblicke, als er die Angst und die Tränen seiner armen Frau sah, der Schmerz seine Seele durchbohrte; ich bin überzeugt, daß er noch mehr litt; doch konnte er jetzt nicht mehr an sich halten. So geschieht es meistens bei herzensguten, aber weichen Menschen, die ungeachtet ihrer Güte sich von ihrem eigenen Zorn und Schmerz so weit hinreißen lassen, daß es ihnen zum Genuß wird, sich selbst zu quälen und dabei einen anderen nahestehenden und ganz unschuldigen Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen. Frauen, zum Beispiel, haben oft ein Bedürfnis, sich unglücklich und beleidigt zu fühlen, obgleich weder eine Beleidigung noch ein Unglück vorliegt. Auch gibt es Männer, die in dem Falle oft den Frauen gleichen und sogar starke Männer, die sonst nichts Weibisches an sich haben. Der Alte suchte den Streit, obgleich er selbst darunter litt. Ich erinnere mich, es kam mir damals der Gedanke, ob er sich nicht in der Tat zu irgend einem Schritt entschlossen hatte, wie Anna Andrejewna es befürchtete. Es war doch möglich, daß er sich wirklich zu Natascha aufgemacht hatte, aber auf dem Wege zu ihr seine Absicht aufgegeben – was doch gewiß eintreten mußte – und jetzt nach Hause zurückgekehrt war, sich gekränkt und beleidigt fühlte – und sich seiner eigenen Wünsche und Gefühle schämte. Er mußte jetzt diesen Ärger an jemandem auslassen, und zwar an demjenigen, den er am meisten verdächtigte, dieselben Wünsche und Gefühle zu haben, wie er sie selbst hatte. Ihr niedergeschmetterter und bebender Anblick rührte ihn anfangs. Er schien sich seines Zornes zu schämen und hielt einen Augenblick an sich. Wir schwiegen alle; ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen. Dieser glückliche Moment hielt jedoch nicht lange an. Was daraus auch werden möge, er mußte sich davon befreien, sollte es auch mit einem Wutausbruch oder mit einem Fluch endigen! „Siehst du, Wanjä,“ sagte er plötzlich, „mir tut es leid, ich wollte lieber nichts davon reden, doch ist jetzt die Zeit gekommen, daß ich mich offen und ohne Winkelzüge ausspreche, wie es sich so für einen aufrichtigen Menschen gehört ... Du verstehst mich doch, Wanjä? Ich bin froh, daß du gekommen bist, und deshalb möchte ich vor dir erklären, damit es auch _andere_ hören, daß ich von all diesen Tränen, Seufzern, dem Unglück und Unsinn genug habe. Das, was ich einmal, vielleicht mit großem Schmerz, aus meinem Herzen gerissen habe, kann ich nie und nimmer wieder in mein Herz einpflanzen. Ja! Ich habe es gesagt und so bleibt es. Ich spreche von dem, was vor einem halben Jahr geschah, du verstehst mich, Wanjä! und ich spreche jetzt davon ganz aufrichtig und gradaus, damit du dich nie in meinen Absichten irren mögest,“ fügte er hinzu, mit flammenden Augen mich ansehend, um dem erschreckten Blick seiner Frau auszuweichen. „Ich wiederhole es: ich wünsche es nicht! ... Mich kränkt es, daß man mich für einen Dummkopf, für den allerniedrigsten Schurken hält, daß _alle_ solcher niedrigen und schwachen Gefühle mich für fähig halten ... sie denken, daß ich vor Kummer meinen Verstand verliere ... Alles Unsinn! Ich habe die alten Gefühle vergessen, aus meinem Herzen gerissen! Für mich gibt es keine Erinnerungen ... so! so! ja so ist es! ...“ Er stand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß alle Tassen klirrten. „Nikolai Ssergejewitsch! Ist es wirklich möglich, daß Ihnen Anna Andrejewna nicht leid tut! Sehen Sie sie doch an, was Sie tun!“ sagte ich, nicht mehr imstande, meinen Unwillen niederzukämpfen. Doch ich goß nur Öl ins Feuer. „Nicht leid!“ schrie er, erzitternd und erbleichend, „nicht leid, wenn man auch mich nicht schont! Nicht leid, weil in meinem Hause Verschwörungen gegen mein beschimpftes Haupt, wegen einer verkommenen und aller Strafen und des Fluches würdigen Tochter angezettelt werden! ...“ „Väterchen! Nikolai Ssergejewitsch, verfluche sie nicht! ... Alles was du willst, doch verfluchen darfst du deine Tochter nicht!“ schrie Anna Andrejewna außer sich. „Ich verfluchte sie!“ schrie der Alte zweimal so laut als früher, „denn von mir, dem Beleidigten und Beschimpften verlangt man, daß ich zu dieser Verfluchten gehe und sie um Verzeihung bitte! Ja, ja, so ist es! Damit quält man mich in meinem Hause jeden Tag, Tag und Nacht, mit Tränen, Seufzern und dummen Bemerkungen! Man will mich weich machen ... Sieh her, sieh her, Wanjä,“ fügte er hinzu, mit zitternden Händen aus seiner Brusttasche Papiere herausziehend, „sieh diese Papiere an, aus meinem Prozeß! Nach diesen Papieren bin ich ein Dieb und Betrüger, und habe meinen Brotherrn bestohlen! ... Ihretwegen bin ich zum Schurken, zum Betrüger, gemacht worden! Sieh, sieh sie dir an, sieh! ...“ Und er begann die verschiedensten Schriftstücke aus der Tasche zu ziehen und sie eines nach dem anderen auf den Tisch zu werfen, ungeduldig dasjenige suchend, das er mir zeigen wollte; doch, wie zum Trotz, fand er gerade dieses nicht. Ungeduldig geworden, riß er alles aus der Tasche, was sich in ihr befand und plötzlich – fiel etwas hell aufklingend auf den Tisch ... Anna Andrejewna schrie laut auf ... es war das verlorene Medaillon! Ich traute meinen Augen kaum. Das Blut stieg dem Alten zu Kopf und ergoß sich über sein ganzes Gesicht. Er fuhr zusammen. Anna Andrejewna stand da, die Hände übereinandergelegt und sah ihn flehend an. Auf ihrem Gesicht erstrahlte eine helle, freudige Hoffnung. Die Röte, die Erregung des Alten ... sie konnte sich jetzt nicht mehr irren, sie verstand jetzt alles ... das Medaillon! Sie begriff, daß er es gefunden haben mußte und, vor Freude über den Fund und aus Begeisterung darüber, es eifersüchtig vor den Augen anderer verborgen hatte; daß er sich dann irgendwo allein, versteckt von allen anderen, an dem Gesichtchen seines lieben Kindes nicht habe sattsehen können; daß vielleicht auch er wie sie, die arme Mutter, sich allein in seinem Zimmer eingeschlossen mit seiner Natascha Zwiesprach gehalten, vielleicht auch er des Nachts die Brust von Sehnsucht und Schluchzen erstickt, dieses Bild geküßt und statt des Fluches Segen und Vergebung vom Himmel erfleht hatte auf sie, die er jetzt nicht sehen wollte und vor allen verfluchte. „Väterchen, so liebst auch du sie noch!“ rief Anna Andrejewna, die jetzt ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten konnte und ganz vergessen zu haben schien, daß er ihre Natascha noch vor einem Augenblick verflucht hatte. Doch kaum hatte er ihren Schrei gehört, so packte ihn eine wahnsinnige Wut und mit flammenden Augen nahm er das Medaillon, warf es mit aller Gewalt auf den Fußboden und wollte es wie ein Rasender mit den Füßen zerstampfen. „Auf ewig, auf ewig sei von mir verflucht!“ heischte er heiser vor Wut. „Auf ewig, auf ewig!“ „Mein Gott!“ rief die Alte, „sie, sie! Meine Natascha! Ihr Gesichtchen ... mit den Füßen zertreten! Mit den Füßen! Du Tyrann! Du herzloser Mensch!“ Als er das Jammern seiner Frau vernahm, hielt der Alte inne, ganz erschrocken über das, was geschehen. Plötzlich hob er das Medaillon auf und wollte aus dem Zimmer stürzen, doch kaum hatte er einen Schritt getan, als er auf die Knie fiel und, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, legte er seinen Kopf auf den vor ihm stehenden Diwan. Er schluchzte wie ein Kind, wie ein Weib. Verhaltenes Schluchzen wühlte in seiner Brust, als wollte es sie zersprengen! Der drohende Alte wurde in einem Augenblicke zum schwachen Kinde. Oh, jetzt hätte er niemand mehr fluchen können, jetzt schämte er sich nicht seiner Liebesausbrüche und bedeckte vor uns das kleine Bild, das er vor einem Augenblick mit Füßen getreten, mit zahllosen Küssen. Es war, als ob alle Zärtlichkeit, alle Liebe zu seiner Tochter, die er solange zurückgehalten, sich jetzt mit unwiderstehlicher Gewalt hinausdrängte, und die Riesenkraft des Ausbruches sein ganzes Sein zerschmetterte. „Vergib ihr, vergib!“ rief schluchzend Anna Andrejewna, die sich über ihn gebeugt hatte, ihn umarmend. „Rufe sie zurück in ihr Elternhaus und Gott selbst wird dir einst am Tage des furchtbaren Gerichts deine Demut und Güte anrechnen.“ „Nein, nein! Nie, niemals!“ rief er mit heiserer, erstickter Stimme. „Niemals! Niemals!“ XIV. Ich kam sehr spät zu Natascha; es war bereits zehn Uhr. Sie lebte damals an der Fontanka, bei der Ssemjonoffschen Brücke, in dem schmutzigen „Mietshause“ des Kaufmanns Kolotuschkin, im vierten Stock. In der ersten Zeit nach ihrer Entfernung aus dem Elternhause lebte sie und Aljoscha in einer reizenden, wenn auch nicht großen Wohnung im dritten Stock auf der Liteinaja. Doch bald waren die Mittel des jungen Fürsten erschöpft. Musiklehrer war er nicht geworden, hatte dagegen Geld aufgenommen und bedeutende Schulden gemacht. Das Geld gab er zur Verschönerung der Wohnung und für Geschenke an Natascha aus, die sich gegen diese Verschwendung auflehnte, ihm deshalb Vorwürfe machte und oft darüber in Tränen ausbrach. Der gefühlvolle und herzensgute Aljoscha konnte oft wochenlang darüber nachsinnen und sich ausdenken, was er ihr schenken solle, und wie sie sein Geschenk annehmen würde. Für ihn, dem dieses Ereignis einen Feiertag bedeutete, und der mir oft im voraus alle seine Erwartungen und Träume mitteilte, gab es dann jedesmal eine Enttäuschung, wenn er statt dessen ihre Tränen sah, ihre Vorwürfe hörte. Späterhin kam es der Geschenke wegen zu sehr unangenehmen Szenen. Außerdem vergeudete Aljoscha hinter dem Rücken Nataschas noch viel Geld. Er ging mit seinen Freunden durch; besuchte verschiedene Josephinen und Minnas, doch nichtsdestoweniger liebte er Natascha grenzenlos. Er liebte sie dann fast aus Selbstqual. Oft kam er zu mir, traurig und verstimmt, und klagte, daß er Natascha nicht wert sei, daß er schlecht und böse und nicht fähig sei, sie zu verstehen. Er hatte zum Teil recht, zwischen ihnen war ein großer Abstand; er fühlte sich vor ihr wie ein Kind und sie behandelte ihn auch danach. Mit Tränen in den Augen bereute er die Bekanntschaft mit Josephine und zu gleicher Zeit flehte er mich an, Natascha nichts davon zu sagen; und wenn er dann demütig und zitternd vor Angst sich nach diesem aufrichtigen Geständnis mit mir zu Natascha begab, (er versicherte, er könne nach diesem Verbrechen nur mit mir zusammen zu ihr gehen, sowie, daß ich allein ihm Mut einzuflößen vermöge), so wußte Natascha schon auf den ersten Blick, um was es sich handelte. Sie war sehr eifersüchtig, und ich verstehe nicht, wie es ihr möglich war, ihm alle seine leichtsinnigen Ausschreitungen immer wieder zu vergeben. Gewöhnlich war es so: Aljoscha tritt mit mir zusammen ein, schuldbewußt und demütig spricht er mit ihr und sieht ihr mit großer Zärtlichkeit in die Augen. Sie errät sofort, daß er sich schuldig fühlt, doch zeigt sie es ihm nicht, spricht nie davon, fragt ihn nie aus, sondern im Gegenteil: sie verdoppelt ihre Zärtlichkeit, ist lustig und heiter. Es war das nicht etwa eine ersonnene Schlauheit ihrerseits. Nein; für dieses reizende Geschöpf war es eine unendliche Genugtuung, zu verzeihen und zu lieben. Es war, als ob in der Vergebung für sie ein besonderer verfeinerter Reiz lag. Freilich handelte es sich damals nur um Josephinen. Aljoscha wiederum, der sie so zärtlich und liebend sah, konnte mit seinem Geständnis nicht länger zurückhalten und erzählte ihr alles, um sich das Herz zu erleichtern: damit wieder alles „beim alten“ wäre. Hatte er dann ihre Verzeihung erhalten, so geriet er in Begeisterung, weinte oft vor Freude und Entzücken, küßte und umarmte sie. Darauf fand er seinen Mut wieder und erzählte mit kindlicher Offenherzigkeit alle Einzelheiten seines Vergehens mit Josephine, lachte, freute sich und lobte Natascha, und der Tag wurde fröhlich und glücklich beschlossen. Als bei ihm das Geld ausging, fing er an, seine Sachen zu verkaufen. Auf Nataschas Verlangen wurde eine billige Wohnung an der Fontanka gemietet. Die Sachen waren bald alle verkauft und Natascha begann ihre Kleider zu versetzen und Arbeit zu suchen. Als Aljoscha davon hörte, geriet er in grenzenlose Verzweiflung, verfluchte sich und behauptete, daß er sich selbst verachte, trotzdem blieb aber alles beim alten. In der letzten Zeit waren alle Einkünfte endgültig erschöpft, es blieb ihnen nichts übrig, als Arbeit, und für die Arbeit elender Lohn. In der ersten Zeit seines Zusammenlebens mit Natascha hatte sich Aljoscha mit seinem Vater ganz überworfen. Die damaligen Absichten des Fürsten, seinen Sohn mit Katherina Fedorowna Filimonnowa, der Stieftochter der Gräfin, zu verheiraten, waren nur erst ein Projekt. Nichtsdestoweniger hielt er fest an dem Plan, brachte Aljoscha zu seiner zukünftigen Braut, befahl ihm, alles zu tun, um ihr zu gefallen, und zwang ihn durch Strenge, ihm zu Willen zu sein. Doch zerschlug sich die Sache damals der Gräfin wegen. In der ersten Zeit nahm der Vater die Verbindung seines Sohnes mit Natascha ruhig hin, in der Hoffnung – da er die Unverantwortlichkeit und den Leichtsinn seines Sohnes kannte – Aljoscha würde dieser Liebe bald überdrüssig werden. Daß Aljoscha sich etwa mit Natascha hätte vermählen können, das wäre ihm auch nicht in den Sinn gekommen – darüber machte er sich keine Sorgen. Was nun die Liebenden selbst betrifft, so hatten sie die Vermählung bis zur formellen Aussöhnung Aljoschas mit dem Vater aufgeschoben. Sie hofften überhaupt auf eine Veränderung der Verhältnisse. Natascha wollte offenbar nicht mehr davon sprechen. Aljoscha dagegen deutete mir an, daß die ganze Geschichte seinem Vater in mancher Beziehung sogar sehr angenehm wäre; ihm gefiele vor allem die Erniedrigung, die die Ichmenjeffs dadurch erfuhren. Der Form halber fuhr er jedoch fort, seine Unzufriedenheit seinem Sohne gegenüber aufrecht zu erhalten: er verkleinerte dessen monatliches Taschengeld (in der Beziehung war er übrigens immer ungemein geizig gewesen) und drohte, ihm auch noch dieses zu entziehen. Doch bald darauf fuhr er nach Polen zu der Gräfin, die dort geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen hatte, und verfolgte unablässig sein Heiratsprojekt. Freilich war Aljoscha noch viel zu jung zur Ehe, doch die Braut war reich und diese Gelegenheit sollte nicht ungenützt vorübergehen. Der Fürst erreichte endlich sein Ziel. Zu uns drangen allerlei Gerüchte, daß die Sache für den Fürsten eine günstige Wendung genommen hätte. Zu dieser Zeit war er dann wieder nach Petersburg zurückgekehrt. Seinem Sohn begegnete er freundlich, doch die Hartnäckigkeit seiner Beziehungen zu Natascha berührte ihn jetzt sehr unangenehm. Er wurde nun doch ängstlich. Schroff und nachdrücklich verlangte er die Trennung von Natascha, doch bald besann er sich eines besseren, – er führte Aljoscha zur Gräfin. Die Stieftochter der Gräfin galt für eine Schönheit. Sie war fast noch ein Kind, von seltener Herzensgüte, hatte eine reine unschuldige Seele und war heiter, klug und zärtlich. Der Fürst rechnete darauf, daß Natascha nach einem halben Jahr für seinen Sohn nicht mehr den Reiz der Neuheit haben und er daher allmählich mit anderen Augen seine zukünftige Braut ansehen würde, als vorher. Zum Teil hatte er recht ... sie schien in der Tat auf Aljoscha einen großen Eindruck gemacht zu haben. Hinzu kam, daß der Vater sich jetzt ungemein gütig zu seinem Sohne zeigte (trotzdem gab er ihm kein Geld). Aljoscha fühlte, was sich unter dieser Zärtlichkeit vorbereitete und war sehr niedergeschlagen, übrigens, nicht so niedergeschlagen, wie wenn er einen Tag über Katherina Fedorowna nicht gesehen hatte. Ich wußte es, daß er schon den fünften Tag nicht mehr bei Natascha erschienen war. Als ich jetzt von den alten Ichmenjeffs zu ihr ging, riet ich unterwegs hin und her, was sie mir wohl mitzuteilen haben würde? Schon von weitem sah ich das Licht auf ihrem Fenster. Es war nämlich unter uns abgemacht worden, daß sie ein Licht an das Fenster stellen sollte, sobald sie mich zu sehen wünschte. Wenn ich an ihrem Hause vorüberging (was jeden Abend geschah), so konnte ich an dem Licht erkennen, daß sie mich erwartete, und ich ihr unbedingt nötig war. In der letzten Zeit hatte sie das Licht oft an das Fenster gestellt ... XV. Ich traf Natascha allein. Sie schritt mit gekreuzten Armen, in tiefe Gedanken versunken, im Zimmer auf und ab. Der erloschene Samowar stand auf dem Tisch und schien lange auf mich gewartet zu haben. Schweigend und mit einem verlorenen Lächeln reichte sie mir die Hand. Ihr Gesicht war bleich mit leidendem Ausdruck. In ihrem Lächeln lag etwas so Zärtliches, Duldendes. Ihre klaren blauen Augen schienen größer als früher, das Haar dichter, weil sie so abgehärmt und krank aussah. „Und ich dachte schon, du kämest nicht mehr,“ sagte sie, mir die Hand reichend, „wollte schon Mawra zu dir schicken; fürchtete, du wärest schon wieder erkrankt?“ „Nein, ich bin nicht krank, ich bin nur aufgehalten worden, werde dir sogleich alles erzählen. Doch, was ist mit dir, Natascha? Was ist geschehen?“ „Nichts ist geschehen!“ antwortete sie, ganz erstaunt über meine Frage. „Was soll denn geschehen sein?“ „Ja, du hast mir doch geschrieben ... gestern geschrieben, daß ich kommen soll, hast die Stunde bestimmt, nicht früher und nicht später; nicht wie gewöhnlich.“ „Ach, ja! Ich erwartete _ihn_ gestern.“ „Nun, ist er noch immer nicht dagewesen?“ „Nein. Ich habe gedacht: wenn er nicht mehr kommt, so muß ich mit dir sprechen,“ fügte sie hinzu und verstummte. „Und heute abend, hast du ihn erwartet?“ „Nein, habe ihn nicht erwartet: er ist des Abends dort.“ „Denkst du denn, Natascha, daß er überhaupt nicht mehr wiederkommen wird?“ „Selbstverständlich wird er kommen,“ antwortete sie, mich so eigentümlich ernst ansehend. Ihr mißfiel mein eiliges Fragen. Wir verstummten beide und schritten im Zimmer auf und ab. „Ich habe dich erwartet, Wanjä,“ begann sie mit einem sonderbaren Lächeln, „und weißt du, was ich getan habe? Ich ging im Zimmer auf und ab, und sagte mir das Gedicht her. Kennst du es noch: die Glocke, der Winterweg: ‚Es brodelt der Samowar auf dem eichenen Tisch ...‘ wir haben es noch zusammen gelesen: Vorüber der Schneesturm; der Weg ist erhellt, Aus Millionen von Augen blickt trübe die Nacht ... Und dann weiter: Und da scheint es mir – eine Stimme singt Weich, harmonisch zum Schellengeläut: ‚Ach, wann kommt doch, wann kommt doch, mein Liebster zu mir, Um zu ruhen an meiner Brust! ... Ist bei mir nicht das Leben! Glänzt nicht der Abendschein Rot durch der Eisblumen silberne Pracht – Steht nicht alles bereit auf dem eichenen Tisch ... Und im Ofen knistert das Holz und flammt Auf dem blumigen Vorhang am Bett.‘ Wie ist das doch schön, Wanjä! Welche Qual ... und wie phantastisch das Bild! Man kann alles hineinmalen, alles was man will! Zwei Welten: wie es war und wie es ist ... Dieses ‚alles bereit auf dem eichenen Tisch‘, und das Spiel der Flamme ‚an blumigen Vorhang am Bett ...‘ wie ist das alles so bekannt. Alles wie in unseren Häusern in der Provinz; ich sehe das Haus vor mir: neu, aus weißen, noch unbeschlagenen Balken ... Und dann das andere Bild: Und es scheint mir – dieselbe Stimme singt Trüb und traurig zum Schellengeläut: ‚Wo ist nun mein Freund? Ich fürchte, er kommt Und umschlingt mich zärtlich wie einst ...‘ Welch ein Leben das ist! So dunkel und eng Meine Stube; dort bläst es herein ... Nur ein einsamer Kirschbaum am Fenster steht Und auch er ist erfroren schon längst. Welch ein Leben! Verblichen der Vorhang am Bett, Krank bin ich, schleppe mich hin ... Bin den Eltern jetzt fremd, kein Liebster mehr kommt – Nicht einmal zu schelten ist jemand mehr da ... Und nur die Alte daneben, die brummt ... Nicht einmal zu schelten ist jemand da. Wieviel Zärtlichkeit, wieviel Qual, welch ein Rausch von Qual und Erinnerung, den man sich selbst heraufbeschwört und den man lieb hat ... Herrgott, wie ist das schön!“ Sie verstummte wieder, als suche sie einen inneren Kampf zu bezwingen. „Mein Lieber!“ sagte sie zu mir gewandt nach einem kurzen Augenblick und verstummte dann plötzlich wieder, als hätte sie vergessen, was sie hatte sagen wollen. Unterdessen gingen wir immer noch schweigend im Zimmer auf und ab. Vor dem Heiligenbild brannte das Lämpchen. Natascha schien in der letzten Zeit sehr religiös geworden zu sein, doch liebte sie es nicht, wenn man davon sprach. „Ist morgen ein Feiertag?“ fragte ich. „Bei dir brennt das Lämpchen.“ „Nein, kein Feiertag ... Doch setzen wir uns, Wanjä, du mußt müde sein. Willst du Tee? du hast sicher noch keinen getrunken?“ „Setzen wir uns, Natascha. Tee habe ich getrunken.“ „Ja, woher kommst du denn jetzt?“ „Von ihnen.“ So bezeichneten wir immer die Alten. „Von ihnen? Bist du selbst dahin gegangen? Riefen sie dich? ...“ Sie überschüttete mich mit Fragen. Ihr Gesicht wurde noch bleicher vor Erregung. Ich erzählte ihr ausführlich meine Begegnung mit dem Alten, mein Gespräch mit der Mutter, die Szene mit dem Medaillon – erzählte alles ausführlich und bis in alle Einzelheiten. Ich verheimlichte nie etwas vor ihr. Sie griff jedes Wort begierig auf. Tränen erglänzten in ihren Augen. Die Szene mit dem Medaillon hatte sie heftig erschüttert. „Warte, warte, Wanjä,“ sagte sie, oft meine Erzählung unterbrechend, „erzähle ausführlicher, alles, alles, so ausführlich als möglich; du erzählst nicht ausführlich genug! ...“ Ich wiederholte alles zum zweiten, dritten Mal, durch ihre beständigen Fragen immer wieder unterbrochen. „Und du glaubst wirklich, daß er auf dem Weg zu mir war?“ „Ich weiß es nicht Natascha, ich kann es nicht beschwören. Daß er sich nach dir sehnt, daß er dich liebt – das ist sicher, aber ob er zu dir wollte, das ...“ „Und er küßte das Medaillon?“ unterbrach sie mich. „Was sagte er, als er es küßte?“ „Nur unzusammenhängende Worte; er gab dir die zärtlichsten Namen, rief dich ...“ „Rief mich?“ „Ja.“ Sie weinte still. „Die Armen,“ sagte sie. „Und daß er von allem unterrichtet ist,“ fügte sie nach einigem Schweigen hinzu, „daran ist kein Zweifel. Er hat von Aljoschas Vater sicher Nachrichten erhalten.“ „Natascha,“ sagte ich schüchtern, „gehen wir zu ihnen! ...“ „Wann?“ fragte sie erbleichend und sich ein wenig erhebend. Sie glaubte, ich forderte sie auf, gleich mit mir zu kommen. „Nein, Wanjä,“ sagte sie, mir beide Hände auf die Schultern legend mit traurigem Lächeln, „nein, mein Lieber, das sagst du immer, doch ... sprich lieber nicht davon.“ „Also niemals, niemals soll dieser furchtbare Zwiespalt enden?“ rief ich traurig aus. „Bist du wirklich zu stolz, daß du nicht den ersten Schritt tun kannst. Und doch mußt du als erste ihn tun. Vielleicht wartet der Vater nur darauf, um dir zu – um dir zu vergeben ... Er ist dein Vater; du hast ihn gekränkt! Achte seinen Stolz, er ist berechtigt, er ist natürlich! Du mußt es tun. Versuche es und er wird dir bedingungslos alles vergeben.“ „Bedingungslos? Das ist unmöglich; und mache mir keine unnützen Vorwürfe, Wanjä. Ich habe daran Tag und Nacht gedacht. Seitdem ich sie verlassen, ist vielleicht kein Tag vergangen, ohne daß ich nicht daran gedacht. Ja, und wie oft haben wir nicht davon gesprochen! Du weißt doch selbst, daß es unmöglich ist!“ „Versuche es!“ „Nein, mein Freund, das geht nicht. Wenn ich es versuchte, so würde ich ihn noch mehr gegen mich erzürnen. Vergangenes kehrt nicht wieder; und weißt du, was auf immer vorüber ist?! Vorüber sind die glücklichen Tage der Kindheit, die ich mit ihnen verlebt. Wenn der Vater mir auch verzeihen würde, so würde er mich doch jetzt nicht mehr wiedererkennen. Er liebte noch das Kind in mir. Er freute sich meiner kindlichen Einfalt, er konnte mir noch über das Haar streichen, wie damals, da ich als kleines Mädchen auf seinen Knien saß und ihm meine Liederchen sang. Von Kindheit an, bis auf den letzten Tag kam er zu mir ans Bett und bekreuzte mich zur Nacht. Einen Monat vor dem Unglück kaufte er mir noch Ohrringe, heimlich vor mir (doch wußte ich alles) und freute sich wie ein Kind, sie mir zu schenken. Er war aber einfach empört, als er später erfuhr, daß ich vom Kauf dieser Ohrringe schon im voraus gewußt hatte. Drei Tage vor meiner Flucht bemerkte er, daß ich traurig war, und sofort war er bis zur Krankhaftigkeit niedergeschlagen, und – was glaubst du? um mich zu erheitern, nahm er Billette fürs Theater! ... Wahrhaftig, er wollte mich damit erheitern! Ich wiederhole es dir, er kannte und liebte das Kind in mir, doch wollte er niemals daran denken, daß auch ich einst eine Frau werden würde. Ihm kam das überhaupt nicht in den Sinn. Jetzt aber, wenn ich nach Hause zurückkehrte, so würde er mich gar nicht wiedererkennen. Und wenn er mir vergibt, was wird er in mir wiederfinden? Ich bin nicht mehr dieselbe, ich bin nicht mehr das Kind, ich habe viel durchlebt. Wenn ich mich auch bemühte, ihm alles recht zu machen, so würde er doch immer an das vergangene Glück denken, sich heimlich grämen, weil ich nicht mehr das von ihm geliebte Kind bin ... das Vergangene erscheint einem ja immer so schön! Mit Qual wird er daran denken! O, wie ist das Vergangene schön, Wanjä!“ rief sie, hingerissen und sich selbst unterbrechend, mit diesem Wort, das so recht aus ihrem wunden Herzen kam. „Es ist alles wahr, Natascha, was du sagst. Also, muß er dich jetzt wieder von neuem kennen lernen und von neuem lieben. Hauptsächlich aber – kennen lernen. Und, was meinst du? Er wird dich wiederlieben! Denkst du denn wirklich, daß er nicht imstande sein wird, dich zu verstehen, er, er, mit seinem großen Herzen!“ „Ach, Wanjä, sei doch gerecht! Was ist denn an mir zu verstehen? Ich spreche doch nicht davon. Siehst du: die väterliche Liebe ist auch eifersüchtig. Er ist gekränkt, daß das mit Aljoscha so ohne ihn geschehen konnte, daß er nichts bemerkt, nichts gewußt. Er glaubt, daß alle unglücklichen Folgen unserer Liebe, meine Flucht, daß das alles nur meiner undankbaren ‚Verschwiegenheit ihm gegenüber‘ zuzuschreiben ist. Ich bin nicht sogleich zu ihm gekommen, ich habe ihm nicht von Anfang an jede Regung meines Herzens mitgeteilt; ich habe im Gegenteil, alles in meiner Seele verborgen gehalten, alles vor ihm versteckt, und das kränkt ihn im Grunde genommen, mehr als die unglücklichen Folgen meiner Liebe, kränkt ihn mehr – als daß ich von ihnen gegangen bin und mich meinem Geliebten hingegeben habe. Nehmen wir an, daß er mich von neuem wie ein Vater aufnimmt, zärtlich und liebevoll – der Same der Feindschaft wird doch bleiben. Am zweiten, dritten Tage beginnen die Mißverständnisse, kommen die Klagen und versteckten Vorwürfe. Zudem wird er mir nicht bedingungslos verzeihen. Nehmen wir an, ich begreife aus der ganzen Tiefe meines Herzens, daß ich ihn beleidigt habe, daß ich vor ihm schuldig bin, so würde es mir doch weh tun, wenn er nicht verstünde, was mich selbst das ganze Glück mit Aljoscha gekostet hat, welche Qualen ich gelitten, welchen Schmerz ... Und, wenn ich auch alles auf mich nehmen, alles schweigend ertragen wollte, – so würde ihm das noch immer zu wenig sein. Er wird von mir einen unmöglichen Lohn fordern, er wird verlangen, daß ich meine ganze Vergangenheit, daß ich Aljoscha verfluchen und meine Liebe zu ihm bereuen soll. Dann aber, dann verlangt er von mir Unmögliches – wenn ich das letzte halbe Jahr aus meinem Leben ausstreichen soll. Denn ich – kann niemandem fluchen, ich kann nichts bereuen ... Wie es geschehen ist, so mußte es geschehen ... Nein, Wanjä, jetzt geht es noch nicht, noch ist die Zeit nicht dazu gekommen.“ „Wann wird sie denn kommen?“ „Ich weiß es nicht ... Man wird das zukünftige Glück wieder durch Leiden erkämpfen müssen; mit neuem Leid es bezahlen müssen. Durch Leid wird alles gesühnt ... Ach, Wanjä, wieviel Schmerz es im Leben gibt!“ Ich schwieg und sah sie nachdenklich an. „Was siehst du mich so an, Aljoscha, nein, Wanjä?“ Sie versprach sich und lächelte darüber. „Ich wundere mich über dein Lächeln, Natascha. Wie kommt das, früher lächeltest du anders.“ „Was ist denn mit meinem Lächeln?“ „Die frühere, die ganze kindliche Naivität ist wohl noch in ihm ... Doch, wenn du jetzt lächelst, so scheint es einem immer, als ob dir zu gleicher Zeit das Herz dabei weh tue. Du bist so abgemagert, Natascha, doch dein Haar ist dichter geworden ... Was ist das für ein Kleid? Hast du es jetzt machen lassen, oder schon früher?“ „Wie du mich lieb hast, Wanjä!“ Sie sah mich zärtlich an. „Nun, und du, was tust du jetzt? Wie geht es dir?“ „Wie immer; ich schreibe meinen Roman, aber es geht nicht gut vorwärts. Ich bin nicht recht aufgelegt dazu. Ich könnte ihn ja so niederschreiben, doch mir tut die gute Idee leid. Sie ist meine Lieblingsidee. Zum Termin muß ich aber damit fertig sein. Ich dachte schon eine Novelle statt dieses Romans zu schreiben, etwas Leichtes, Graziöses, etwas, das sich nicht in dieser düsteren Richtung bewegt ... Es wäre Zeit, daß wir wieder alle glücklich und fröhlich wären! ...“ „Du armer Arbeiter! Und Smitt?“ „Smitt ist beerdigt.“ „Ich sage dir, Wanjä, im Ernst, du bist krank. Deine Nerven sind zerrüttet. Was sind das alles für Ideen. Als du mir von deiner Wohnung sprachst, – diese ganze Phantasie! Dazu ist die Wohnung ...“ „Ja! Übrigens erlebte ich heute etwas sehr Sonderbares ... Doch, ich erzähle es dir später.“ Sie hörte mich schon nicht mehr an, und war ganz in Gedanken versunken. „Ich verstehe nicht, wie ich damals von ihnen fortgehen konnte, ich war wie im Fieber,“ sagte sie endlich, mich mit einem Ausdruck ansehend, der keine Antwort erwartete. Hätte ich etwas geantwortet, so hätte sie es nicht gehört. „Wanjä,“ sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, „ich habe dich hierher gebeten, um dir etwas zu sagen.“ „Was ist geschehen?“ „Ich werde mich von ihm trennen.“ „Du hast dich schon getrennt oder du wirst dich trennen?“ „Mit diesem Leben muß ein Ende gemacht werden. Ich habe dich gerufen, um dir alles, alles, zu sagen, was sich in mir angesammelt hat und was ich bis jetzt dir gegenüber verschwiegen habe.“ So pflegte sie stets zu beginnen, wenn sie mir ihre geheimen Absichten mitteilen wollte, und stets erwies es sich, daß ich von diesem Geheimnis schon längst durch sie selbst unterrichtet war. „Ach, Natascha, das habe ich schon tausendmal von dir gehört! Natürlich könnt ihr nicht zusammen leben, zwischen euch ist nichts Gemeinsames. Doch ... wirst du die Kraft dazu haben?“ „Früher hatte ich nur die Absicht, Wanjä, jetzt aber habe ich es beschlossen. Ich liebe ihn unendlich, doch bin ich für ihn sein ärgster Feind. Ich untergrabe ihm seine Zukunft. Man muß ihn befreien. Mich heiraten kann er nicht; er hat nicht die Kraft, gegen den Willen des Vaters zu handeln. Auch ich möchte ihn nicht an mich fesseln. Und deshalb bin ich sogar glücklich, daß er sich in die – Braut verliebt hat, die man ihm ausgewählt. Die Trennung von mir wird ihm leichter fallen. Ich muß es tun. Es ist meine Pflicht ... Wenn ich ihn wirklich liebe, so muß ich mich für ihn opfern. Das ist doch meine Pflicht! Nicht wahr?“ „Doch wirst du ihn nicht dazu bereden können.“ „Ich werde ihn auch garnicht dazu bereden. Ich werde so zu ihm sein, wie immer. Doch muß ich ein Mittel finden, damit er mich leicht und ohne Gewissensbisse verlassen kann. Das aber quält mich, Wanjä. Hilf mir. Kannst du mir einen Rat geben?“ „Dafür gibt es nur ein Mittel – einen anderen zu lieben, und nicht mehr ihn! Und kaum wäre das in diesem Falle ein Mittel. Du kennst doch seinen Charakter. Er ist jetzt fünf Tage nicht mehr bei dir gewesen. Nehmen wir an, er habe dich auf immer verlassen; du brauchtest ihm nur zu schreiben, daß du die Absicht hast, ihn zu verlassen, und er wird sofort zu dir gelaufen kommen.“ „Warum liebst du ihn nicht, Wanjä?“ „Ich –?“ „Ja, du, du! Du bist sein geheimer, sein wütendster Feind. Du kannst von ihm nicht ohne Haß sprechen. Ich habe es tausendmal bemerkt, daß es dir eine Genugtuung ist, ihn zu erniedrigen und anzuschwärzen! Besonders, ihn anzuschwärzen. Ja, so ist es, Wanjä!“ „Und tausendmal hast du es mir schon gesagt, Natascha. Genug, lassen wir das Gespräch.“ „Ich möchte in eine andere Wohnung ziehen,“ sagte sie nach längerem Schweigen. „Du, sei mir nicht böse, Wanjä ...“ „Nun, dann kommt er eben in die andere Wohnung. Ich, ich bin dir nicht böse.“ „Die neue Liebe ist stark und kann ihn zurückhalten. Wenn er zu mir kommen sollte, dann wird es doch nur auf einen Augenblick sein, was glaubst du?“ „Ich weiß es nicht, Natascha, bei ihm ist alles möglich, ich glaube, er kann die Andere heiraten und auch dich lieben. Er kann das alles zu gleicher Zeit.“ „Wenn ich wüßte, daß er sie wirklich liebt, so würde ich mich sofort entschließen ... Wanjä! verheimliche nichts vor mir! Weißt du irgend etwas, das du mir nicht sagen möchtest, oder nicht?“ Sie sah mich mit unruhigem, fragendem Blick an. „Ich weiß nichts, Natascha, ich gebe dir mein Ehrenwort, ich habe dir nie etwas verheimlicht. Übrigens, was ich noch sagen wollte: vielleicht ist er garnicht so verliebt in die Stieftochter der Gräfin, wie wir es annehmen. Vielleicht ist er nur so ...“ „Glaubst du das, Wanjä? Gott, wenn ich es doch nur wüßte! Oh, wie würde ich in diesem Augenblick ihn sehen wollen. Ich würde aus seinem Gesicht alles erraten! Und er kommt nicht! Er kommt nicht!“ „Erwartest du ihn denn, Natascha?“ „Nein, er ist bei _ihr_; ich weiß es; ich habe auskundschaften lassen. Wie gerne würde auch ich sie sehen ... Höre, Wanjä, vielleicht ist es unsinnig von mir, doch sollte ich sie denn wirklich niemals sehen, nie ihr begegnen können? Was glaubst du, ist es wirklich unmöglich?“ Unruhig erwartete sie, was ich sagen würde. „Sehen würdest du sie schon können, doch das ist dir wohl zu wenig?“ „Es würde ja genügen, sie nur zu sehen, dann würde ich auch schon alles andere wissen. Höre mich an: ich bin jetzt so dumm geworden; gehe hier auf und ab, auf und ab, immer allein, immer allein – und denke. Oft sind die Gedanken so schwer, daß sie mich wie ein Wirbelsturm niederreißen! Wanjä, kannst du nicht ihre Bekanntschaft machen? Die Gräfin, wie du mir damals selbst erzähltest, hatte doch deinen Roman sehr gelobt. Du gehst doch manchmal des Abends zum Fürsten R; sie verkehrt doch bei ihm. Lasse dich ihr vorstellen. Übrigens könnte dich auch Aljoscha ihr vorstellen. Sieh, und du würdest mir dann alles von ihr erzählen.“ „Natascha, lieber Freund, davon später. Hier handelt’s sich darum: glaubst du denn wirklich, daß du die Kraft dazu haben wirst? Sieh dich doch an, wie gequält und unruhig du bist.“ „Ich werde sie haben!“ antwortete sie kaum hörbar. „Alles für ihn. Mein ganzes Leben für ihn. Doch, weißt du, Wanjä, ich kann es nur nicht ertragen, daß er mich jetzt bei ihr so ganz vergißt, in diesem Augenblick vielleicht neben ihr sitzt, plaudert, lacht, weißt du, ganz wie er es hier tut ... ihr gerade in die Augen sieht, – er sieht immer gerade in die Augen – und es kommt ihm nicht einmal der Gedanke, daß ich hier bin ... mit dir ...“ Sie beendigte ihren Satz nicht und blickte mich mit Verzweiflung an. „Wie denn, Natascha, soeben sagtest du doch noch, soeben ...“ „Nein, mögen wir alle zusammen auseinandergehen!“ unterbrach sie mich mit blitzenden Augen. „Ich selbst werde ihn segnen ... Doch schwer ist es, Wanjä, wenn er als erster mich vergißt! Ach, Wanjä, was sind das für Qualen! Ich selbst verstehe mich nicht: in Gedanken kann man alles, in Wirklichkeit jedoch nichts. Was wird aus mir werden!“ „Genug, genug, Natascha, beruhige dich! ...“ „Und jetzt schon seit fünf Tagen, jede Stunde, jede Minute ... im Traum, wenn ich wache oder schlafe ... immer denke ich an ihn, an ihn! Weißt du, Wanjä, gehen wir dahin, bringe mich hin!“ „Aber, Natascha!“ „Ja, gehen wir! Ich habe nur auf dich gewartet, Wanjä! Drei Tage lang habe ich nur darüber nachgedacht. Darum hatte ich dich gerufen ... Du mußt mich begleiten; du darfst es mir nicht abschlagen ... Ich habe auf dich gewartet ... drei Tage ... Dort ist heute ein Abend ... er ist dort ... gehen wir!“ Sie schien wie von Sinnen. Im Vorzimmer hörte man Stimmen. Mawra schien sich mit jemanden zu streiten. „Warte, Natascha, wer ist da?“ fragte ich. „Höre!“ Mit ungläubigem Lächeln horchte sie auf, und plötzlich erblaßte sie. „Mein Gott! Wer ist da?“ hauchte sie mit kaum hörbarer Stimme. Sie wollte mich, glaube ich, zurückhalten, doch ich ging ins Vorzimmer zu Mawra. Also doch! Es war Aljoscha. Er stritt mit Mawra, die ihn anfangs gar nicht hereinlassen wollte. „Wo kommst du denn her?“ rief Mawra, als ob sie ein Recht dazu hätte. „Was? Wo hast du dich herumgetrieben? Nun, geh nur, geh! Mir wirst du nichts vormachen! Marsch, wollen wir sehen, was du antworten wirst!“ „Ich fürchte niemanden! Ich werde eintreten!“ sagte Aljoscha, etwas konfus. „Nun, mal los!“ „Ja, ich werde! Ah! Sie sind hier!“ sagte er, als er mich erblickte, „wie gut das ist, daß Sie hier sind! Nun, und ich, sehen Sie, wie soll ich jetzt ...“ „So kommen Sie doch einfach herein,“ antwortete ich, „was fürchten Sie denn?“ „Ich fürchte wirklich nichts, versichere Ihnen, denn ich bin, bei Gott, nicht schuld. Sie denken vielleicht, daß ich schuldig bin? Sie werden sehen, ich werde mich gleich verteidigen. Natascha, kann man eintreten?“ rief er plötzlich mit gemachter Dreistigkeit aus und blieb an der geschlossenen Tür lauschend stehen. Niemand antwortete. „Was bedeutet das?“ fragte er unruhig. „Nichts, sie war soeben dort,“ antwortete ich, „was sollte denn sein ...“ Aljoscha öffnete vorsichtig die Tür und überflog mit schüchternem Blick das Zimmer. Niemand war da. Plötzlich bemerkte er sie in einer Ecke neben einem Schrank und dem Fenster. Sie stand da, als hätte sie sich verstecken wollen, halb tot, halb lebendig. Und jetzt noch, wenn ich daran denke, kann ich mich eines Lächelns nicht erwehren. Aljoscha ging leise und vorsichtig auf sie zu. „Natascha, was ist dir? Guten Tag, Natascha,“ sagte er schüchtern, und sah sie ängstlich an. „Wieso, nichts ... nichts ...“ antwortete sie in schrecklicher Verwirrung, als fühlte sie sich schuldig. „Du ... willst du Tee?“ „Höre Natascha,“ sagte Aljoscha ganz verwirrt und verloren. „Du bist vielleicht überzeugt, daß ich schuldig bin ... Doch ich bin an nichts schuld, an nichts! Ich werde dir gleich alles erzählen.“ „Aber, warum denn das?“ murmelte kaum hörbar Natascha. „Nein, nein, das ist nicht nötig ... gib mir lieber die Hand ... und alles ist ... wie immer ...“ Und sie kam aus der Ecke heraus; leise Röte lag auf ihren Wangen. Sie hielt die Augen niedergeschlagen, als fürchtete sie sich, Aljoscha anzusehen. „O, mein Gott!“ rief er außer sich vor Entzücken, „wenn ich mich wirklich schuldig fühlte, so würde ich wahrlich nicht gewagt haben, sie jetzt noch anzusehen! Sehen Sie, sehen Sie!“ rief er aus, zu mir gewandt: „Sie hält mich für schuldig; alles spricht gegen mich. Fünf Tage bin ich nicht zu ihr gekommen! Man sagt, ich sei bei der Braut – und was glauben Sie? Sie hat mir schon vergeben! Sie sagt mir: ‚Gib die Hand und alles ist wie früher!‘ Natascha, mein Täubchen, mein Engel! Ich bin nicht schuld daran, daß du es weißt! Ich bin nicht im geringsten schuld daran. Im Gegenteil! Im Gegenteil!“ „Aber ... aber wie kommst du denn _hierhin_ ... Man hatte dich doch _dahin_ gerufen? Wieviel Uhr ist es denn?“ „Halb elf! Ich war da ... doch ich sagte, ich sei krank und bin fortgefahren und – das ist das erste Mal, das erste Mal in diesen fünf Tagen, daß ich frei bin, daß ich mich von ihnen losmachen und zu dir fahren konnte, Natascha. Das heißt, ich hätte ja früher kommen können, doch wollte ich es absichtlich nicht! Und warum? Du wirst es gleich erfahren; ich werde alles erklären: ich bin deshalb gekommen, um alles zu erklären; nur bin ich diesesmal in nichts schuldig. In nichts!“ Natascha hob ihren Kopf und sah ihn an ... Sein Blick leuchtete so aufrichtig, sein Gesicht war so freudig erregt, so ehrlich und lustig, daß man ihm alles glauben mußte. Ich dachte, sie würden gleich mit einem Aufschrei aufeinander stürzen und sich umarmen, wie das früher in ähnlichen Fällen immer geschehen war. Doch Natascha, wie von zu viel Glück überschüttet, senkte nur ihren Kopf und begann plötzlich ... leise zu weinen ... Da konnte Aljoscha sich nicht mehr halten. Er stürzte zu ihren Füßen. Er küßte ihre Hände, ihre Füße. Er war außer sich. Ich schob ihr einen Sessel hin ... Ihre Knie wankten ... Sie warf sich in den Sessel. Zweiter Teil I. Nach einigen Minuten lachten wir alle wie unsinnig. „Nun, laßt mich doch, laßt mich doch erzählen,“ übertönte uns Aljoscha mit seiner hellen Stimme. „Ihr denkt, daß ich euch, wie immer, nur mit Dummheiten komme ... Ich versichere euch, daß ich wirklich Interessantes mitzuteilen habe. Ja, werdet ihr denn nicht endlich mal aufhören!“ Er wollte so schnell wie möglich alles erzählen, und er schien uns wirklich etwas Wichtiges mitteilen zu wollen. Doch seine Wichtigtuerei und der naive Stolz über den Besitz dieser Neuigkeiten reizte Natascha zum Lachen. Der Ärger und die kindliche Verzweiflung Aljoschas wiederum brachten uns schließlich so weit, daß wir nur den kleinen Finger zu zeigen gebraucht hätten, wie beim Gogolschen Midshipman, um sofort vor Lachen zu bersten. Schließlich kam sogar Mawra aus der Küche und stellte sich an der Tür auf; mit ernstem Unwillen betrachtete sie uns, wütend, daß Aljoscha nicht eine ordentliche Standrede von Natascha bekommen, auf die sie sich schon die ganzen Tage lang gefreut hatte, und daß sie uns statt dessen so fröhlich sehen mußte. Natascha hörte endlich auf zu lachen, als sie bemerkte, daß Aljoscha anfing, sich beleidigt zu fühlen. „Was willst du uns denn erzählen?“ fragte sie ihn. „Soll ich den Samowar anmachen?“ fragte Mawra, Aljoscha ohne jegliche Rücksicht unterbrechend. „Mach, daß du fortkommst, Mawra,“ und er winkte ihr mit Händen und Füßen ab, damit sie sich schneller entfernen sollte. „Ich werde alles erzählen, wie es gewesen, wie es ist und wie es sein wird, denn ich weiß jetzt alles. Ich weiß es, meine Freunde, und ihr wollt wissen, wo ich die fünf Tage gewesen bin – das ist’s, was ich euch erzählen will, ihr aber laßt mich nicht dazu kommen. Nun, und vor allem also: ich habe dich die ganze Zeit über betrogen, Natascha, schon lange, lange habe ich dich betrogen, und das ist es ...“ „Betrogen?“ „Ja, betrogen, schon seit einem Monat, noch vor Papas Ankunft; jetzt ist endlich die Zeit gekommen, da ich dir alles aufrichtig sagen kann. Vor einem Monat, als mein Vater noch nicht angekommen war, erhielt ich plötzlich einen langen Brief von ihm, den ich euch beiden gar nicht gezeigt habe. In diesem Brief erklärte er mir einfach und geradeaus – und bemerkt wohl, in einem Tone, wie ich ihn noch niemals von ihm gehört hatte, so daß ich sehr erschrak – erklärte er mir also einfach, daß meine Heirat schon beschlossene Sache sei, daß meine Braut eine weibliche Vollkommenheit und ich ihrer gar nicht wert sei, daß ich sie aber trotzdem heiraten müsse. Und deshalb sei es nötig, daß ich mir alle Torheiten aus dem Kopfe schlage, und so weiter, und so weiter – wie es euch schon bekannt ist. Diesen Brief, seht ihr, habe ich euch garnicht gezeigt und auch nichts von ihm erwähnt.“ „Wieso nicht erwähnt?!“ unterbrach ihn Natascha, „was du behauptest! Im Gegenteil, du hast ihn uns sofort mitgeteilt. Ich erinnere mich noch, wie du plötzlich zärtlich und gehorsam mir gegenüber warst und nicht von mir gingst, als fühltest du dich schuldig vor mir ... und den ganzen Brief hast du uns stückweise mitgeteilt.“ „Das kann nicht sein, die Hauptsache habe ich euch sicher nicht erzählt. Vielleicht habt ihr beide alles erraten, ich jedenfalls habe nichts erzählt. Ich habe geschwiegen und schrecklich darunter gelitten.“ „Ich erinnere mich, Aljoscha, daß Sie mich damals jeden Augenblick um Rat fragten und mir alles erzählten,“ fügte ich hinzu, mit einem Blick auf Natascha. „Alles hast du erzählt,“ griff Natascha meine Bemerkung auf. „Was kannst du denn verheimlichen? Kannst du denn einen Menschen betrügen? Sogar Mawra weiß alles. Nicht wahr, Mawra?“ „Wie soll man denn nicht wissen!“ mischte sich Mawra wieder ein. „In den drei ersten Tagen hast du alles erzählt. Du Schlauberger!“ „Pui, mit euch ist es wirklich ärgerlich, etwas zu tun zu haben! Das behauptest du alles nur aus Bosheit, Natascha! Und du, Mawra, du irrst dich gewaltig. Ich weiß, ich war damals noch wie ein Wahnsinniger!“ „Kein Wunder. Du bist ja auch jetzt wie ein Wahnsinniger.“ „Nein, nein, ich spreche nicht davon. Weißt du, das war damals, als wir kein Geld hatten und du gingst noch, um mein silbernes Zigarettenetui zu versetzen; doch erlaube, Mawra, du scheinst dich mir gegenüber ganz und gar zu vergessen. Das hat dir Natascha beigebracht. Nun, nehmen wir an, ich habe euch wirklich damals alles erzählt, doch den Ton, den Ton des Briefes, den kennt ihr nicht, und der Ton des Briefes ist doch die Hauptsache. Davon spreche ich auch jetzt.“ „Nun, wie ist denn der Ton?“ fragte Natascha. „Höre mal, Natascha, du fragst wie im Scherz. Scherze nicht. Ich versichere dir, das ist sehr wichtig. Der Ton war so, daß ich einfach die Hände fallen ließ. Niemals hatte er so mit mir gesprochen. Eher müßte Lissabon untergehen, als sein Wunsch sich nicht: sieh, so ist der Ton!“ „Nun, nun, erzähle weiter; warum wolltest du denn das vor mir verheimlichen?“ „Ach, mein Gott! Um dich nicht zu erschrecken. Ich hoffte, alles wieder gut zu machen. Aber eine schwere Zeit brach an, als mein Vater nun zurückkehrte. Ich wollte ihm auf seinen Brief bestimmt und klar antworten, und immer gelang es mir nicht. Und er, er fragte nicht einmal danach, der Schlaufuchs! Im Gegenteil, er gab sich den Anschein, als wäre alles zwischen uns beschlossen und zu unserer gegenseitigen Befriedigung abgemacht. Höre doch, wie ist das möglich, eine solche Selbstverständlichkeit! Zu mir verhielt er sich zärtlich und liebenswürdig. Ich war einfach starr. Wie er klug ist, Iwan Petrowitsch, wenn Sie wüßten! Er hat alles gelesen, alles weiß er, wenn er nur einen ansieht, so weiß er sofort dessen Gedanken. Darum hat man ihn wohl auch einen Jesuiten genannt. Natascha liebt es nicht, wenn ich ihn lobe. Sei nicht böse, Natascha ... doch zur Sache! Er gab mir am Anfang kein Geld, gestern hat er mir aber wieder welches gegeben. Natascha, mein Engel! Jetzt hat unsere Armut aufgehört. Sieh, hier! Alles, was er mir in diesem halben Jahr entzogen, hat er mir gestern wiedergegeben; sieh, wie viel es ausmacht; ich habe es noch nicht gezählt. Mawra sieh mal, wie viel es ausmacht, jetzt brauchen wir keine Löffel mehr zu versetzen!“ Er zog einen großen Packen Geld aus der Tasche, wohl über tausend Rubel und legte ihn auf den Tisch. Mawra geriet in Erstaunen und lobte ihn sehr. Natascha drang in ihn, weiter zu erzählen. „Nun, was soll ich machen – denke ich?“ fuhr Aljoscha fort. „Wie soll ich jetzt gegen seinen Willen handeln? Denn ich schwöre euch beiden, wäre er schlecht und nicht so gut zu mir gewesen, so hätte ich mir weiter keine Gedanken gemacht. Ich hätte ihm geradeaus ins Gesicht gesagt, daß ich nicht will, daß ich ein erwachsener Mensch bin und – Schluß! Und glaubt mir, ich hätte auf dem meinen bestanden. Aber jetzt – was soll ich ihm jetzt sagen? Bitte, beschuldigt mich nicht. Ich sehe, daß du mit mir unzufrieden bist, Natascha. Warum seht ihr euch gegenseitig so an? Wahrscheinlich denkt ihr wohl: ‚nun, da haben sie ihn jetzt gekriegt und er hat keinen Charakter.‘ Ich aber, ich habe Charakter, mehr als ihr glaubt! Zum Beweise dafür, habe ich, ungeachtet meiner Lage, mir sofort gesagt: ‚es ist meine Pflicht, meine Schuldigkeit, meinem Vater alles zu sagen,‘ und ich habe ihm alles gesagt und er hat mir ruhig zugehört.“ „Ja was, was hast du ihm denn gesagt?“ fragte, unruhig geworden, Natascha. „Daß ich keine andere Braut haben will, daß ich schon selbst eine habe – und das wärest du! Das heißt, ich habe es ihm noch nicht genau so gesagt, sondern ihn nur darauf vorbereitet, doch morgen werde ich’s ihm sagen, das habe ich mir schon vorgenommen. Zuerst begann ich damit, daß es Schimpf und Schande wäre, um des Geldes willen zu heiraten, und wenn wir uns für wer weiß was für Aristokraten hielten, so wäre das einfach – dumm (ich bin ja zu ihm so aufrichtig wie zu einem Bruder). Darauf habe ich ihm erklärt, daß ich zum Dritten Stande gehöre, zum ^tiers-état^ und ^le tiers-état c’est l’essentiel^; daß es mein Stolz wäre, mit allen gleich zu stehen, mich von niemandem zu unterscheiden ... mit einem Wort, ich habe ihm alle diese gesunden neuen Ideen auseinandergesetzt ... Ich ließ mich hinreißen und sprach ganz begeistert. Ich war selbst über mich erstaunt. Ich bewies ihm und fragte ihn einfach: was wir für Fürsten seien? Vielleicht nur dem Geschlechte nach, fragte ich, doch in Wirklichkeit, was wäre an uns Fürstliches? Besonders reich wären wir nicht und Reichtum – ist doch die Hauptsache. Heutigentags ist der größte Fürst – Rothschild. Zweitens hat man in der großen Welt von uns schon längst nichts mehr gehört. Mein Großvater Ssemjon Walkowskij, der Letzte aus der Familie, der in Moskau bekannt war, ja – der hatte seine ganzen dreihundert Seelen vergeudet, und wenn mein Vater sich nicht Geld erworben hätte, so würden seine Enkel vielleicht jetzt selbst das Land pflügen müssen, wie es Fürsten oft tun. Wir hätten also nichts, auf das wir stolz sein könnten. Mit einem Wort, ich habe alles ausgesprochen, was in mir gärte – alles, ganz aufrichtig, ich habe sogar noch manches hinzugefügt. Er antwortete mir garnicht, sondern warf mir nur vor, daß ich das Haus des Grafen Nainskij nicht mehr besuchte, daß ich die Bekanntschaft der Gräfin K., meiner Taufmutter, machen müsse und daß ich, wenn diese Gräfin mich liebenswürdig aufnähme, überall empfangen werden würde und Karriere machen könnte usw. usw.! Das waren alles Anspielungen darauf, Natascha, daß du mich beeinflußt hättest, diese Besuche zu unterlassen. Von dir selbst zu sprechen, hat er bis jetzt unterlassen. Wir sind beide schlau; wir warten beide, wie der eine den andern fangen wird, und sei überzeugt, auch auf unserer Straße wird es Feiertag geben.“ „Schon gut, schon gut, Aljoscha, doch womit endet es denn, was hat er beschlossen? Das ist doch die Hauptsache! – Was bist du doch für ein Schwätzer, Aljoscha ...“ „Gott weiß es, aus ihm kann man nicht ... klug werden; ich bin durchaus kein Schwätzer, ich rede ganz sachlich. Er hat einfach nicht so beschlossen, sondern nur mitleidig zu allem gelächelt, was ich ihm sagte. ‚Ich bin,‘ sagte er, ‚mit allem einverstanden, was du denkst, doch fahren wir jetzt zum Grafen Nainskij, hüte dich aber dort, von diesen Dingen zu reden. Ich verstehe dich zur Not noch, sie aber werden dich nicht verstehen.‘ Es scheint, daß sie ihn dort selbst nicht gern empfangen; daß sie gegen ihn verstimmt sind. Überhaupt scheint man meinen Vater in der Gesellschaft nicht mehr gern zu sehen. Der Graf empfing mich zuerst ganz von oben herab; er schien es völlig vergessen zu haben, daß ich in seinem Hause erzogen worden bin. Er hält es für ‚Undankbarkeit‘, daß ich sein Haus nicht mehr besuche, doch kann dabei von Undankbarkeit meinerseits keine Rede sein; in seinem Hause ist es einfach langweilig und – das ist alles, ist der Grund, warum ich nicht mehr hingegangen bin. Auch meinen Vater empfing er so herablassend, so herablassend, daß ich einfach nicht verstehe, wie er noch zu ihm fahren kann. Das hat mich sehr aufgeregt. Der arme Vater muß vor ihm den Rücken beugen, und das alles meinetwegen – und ich, ich habe das alles garnicht nötig. Ich hätte meinem Vater gern meine Meinung gesagt, aber ich ließ es bleiben. Und wozu denn auch; seine Überzeugung kann ich ihm nicht nehmen, ich verärgere ihn nur und er hat es ohnehin schon schwer. Nun, denke ich mir, ich werde sie alle überlisten und werde den Grafen zwingen, mich zu achten – und, was glaubst du! Ich habe sofort alles erreicht und in einem Tage hat sich alles geändert! Graf Nainskij weiß jetzt nicht mehr, wie er mit mir umgehen soll. Und alles das habe ich ganz allein durch meine Schlauheit erreicht, so daß mein Vater vor Erstaunen ...“ „Höre doch, Aljoscha, bleibe doch bei der Sache!“ unterbrach ihn ungeduldig Natascha: „ich dachte, du hättest etwas zu erzählen, was uns anbetrifft, doch du erzählst nur davon, wie du dich beim Grafen ausgezeichnet hast. Was geht mich dein Graf an!“ „Was geht er dich an! Hören Sie, Iwan Petrowitsch, was geht er Sie an? Aber das ist doch die Hauptsache! Das wirst du selbst gleich sehen, laß’ mich doch nur zu Ende erzählen ... Und schließlich, warum soll ich’s nicht aufrichtig sagen, Sie, Iwan Petrowitsch, und Natascha haben oft gefunden, daß ich nicht sehr vernünftig sei; nun, und oft bin ich wirklich einfach dumm gewesen. Doch dieses Mal, ich versichere euch, habe ich viel Schlauheit gezeigt, auch viel Klugheit; so daß Sie beide, denke ich, selbst sehr froh sein werden, daß ich nicht immer – dumm bin.“ „Ach, wie kannst du so sprechen, Aljoscha! Laß’ doch, mein Lieber!“ Natascha konnte es nicht ertragen, wenn man Aljoscha für dumm hielt. Wie oft war sie nicht gekränkt gewesen, wenn ich ohne jegliche Zeremonie, Aljoscha irgendeiner seiner Dummheiten überführte. Es war ein wunder Punkt in ihrem Herzen. Sie konnte eine Erniedrigung Aljoschas nicht ertragen, um so weniger, als sie sich seiner geistigen Beschränktheit bewußt war. Doch wagte sie nie ihre Meinung über ihn auszusprechen, um seine Eigenliebe nicht zu verletzen. Er aber schien in der Beziehung besonders empfindlich zu sein und erriet jedesmal ihre geheimen Gefühle. Natascha wiederum versuchte ihn durch Liebkosungen und Schmeichelworte davon abzulenken. Deshalb berührten sie seine Worte auch dieses Mal peinlich ... „Laß doch, Aljoscha, du bist nur leichtsinnig, du bist durchaus nicht so ...“ fügte sie hinzu, „warum sich erniedrigen?“ „Nun, schon gut, schon gut, laß mich nur zu Ende erzählen. Nach diesem Empfang beim Grafen war der Vater außer sich über mich. Warte, denke ich! Wir fuhren gerade zur Gräfin; ich hatte bereits erfahren, daß sie vor Alter den Verstand verloren habe, fast taub sei und über alles Hunde liebte. Sie besitzt ein ganzes Rudel dieser Tiere und läßt nichts auf sie kommen. Ungeachtet dessen hat sie einen so großen Einfluß in der Welt, daß sogar Graf Nainskij, ^le superbe^, bei ihr antichambriert. Schon unterwegs hatte ich meinen Plan entworfen, und was glaubt ihr wohl, worauf ich mich stützte? Darauf, daß alle Hunde mich lieben. Wahrhaftig, ich habe es oft bemerkt. Steckt in mir ein solcher Magnetismus oder kommt es daher, daß ich selbst Tiere so gern habe, ich weiß es nicht, doch die Hunde lieben mich, das ist so! Übrigens, was den Magnetismus anbelangt, so habe ich dir noch nicht erzählt, Natascha, daß wir vor ein paar Jahren Geister beschwört haben, ich war bei einem Spiritisten; das ist sehr interessant, Iwan Petrowitsch; es hat mich wirklich in Erstaunen gesetzt. Ich habe Julius Cäsar beschworen.“ „Ach, mein Gott! Was soll dir Julius Cäsar?“ rief Natascha, hell auflachend. „Das fehlte auch noch!“ „Ja, warum denn nicht ... ganz als ob ich, ich weiß nicht, ver... Warum soll ich nicht das Recht haben, Julius Cäsar zu beschwören? Was ist denn dabei? Sehen Sie, jetzt lacht sie!“ „Natürlich ist nichts dabei ... ach, ach, mein Lieber! Nun, und was sagte dir Julius Cäsar?“ „Nichts sagte er. Ich hielt nur den Bleistift und der Bleistift schrieb von selbst auf das Papier. Alle sagten, das wäre Julius Cäsar. Ich glaubte es aber nicht.“ „Und was schrieb er denn?“ „Er schrieb etwas über – aber nun höre auf zu lachen!“ „Ja, aber erzähle uns nun doch von der Gräfin!“ „Ihr unterbrecht mich ja immer. Wir kamen also zur Fürstin und ich begann sofort, Mimi den Hof zu machen. Diese Mimi ist ein altes, ekliges, widerwärtiges Hündchen und dazu noch knurrig und bissig. Die Fürstin liebt es natürlich über alle Maßen. Ich füttere Mimi sofort mit Konfekt und bringe das Tier in zehn Minuten so weit, daß es mir die Pfote gibt, was man ihm das ganze Leben lang nicht hatte beibringen können. Die Fürstin geriet ganz außer sich vor Entzücken, fast hätte sie vor Freuden weinen können: ‚Mimi, Mimi, Mimi gibt die Pfote!‘ hieß es, wenn jemand eintrat. Graf Nainskij erschien. ‚Mein Taufsohn hat es ihm beigebracht!‘ rief man ihm entgegen. ‚Mimi reicht die Pfote.‘ Dabei sieht sie mich fast mit Tränen der Rührung an. Die gute Alte; sie kann mir fast leid tun. Ich ließ keine Gelegenheit vorübergehn, um ihr zu schmeicheln: ihre Tabakdose zeigt ein Jugendbild von ihr als Braut vor sechzig Jahren. Die Dose also fiel zu Boden, ich hob sie auf und sagte so, als wäre es mir garnicht bewußt: ^Quelle charmante peinture!^ Welch ideale Schönheit! Da taute sie schon ganz auf; sprach mit mir von dem und jenem, wo ich erzogen sei, bei wem ich verkehre, wie schön mein Haar wäre usw. usw. Ich brachte sie auch zum Lachen, erzählte ihr ein skandalöses Geschichtchen. Sie liebt das, drohte mir mit dem Finger, aber lachen tat sie doch. Sie entläßt mich, küßt und bekreuzt mich, und verlangt, daß ich jeden Tag zu ihr komme, um sie zu zerstreuen. Der Graf drückt mir die Hand, seine Augen schwammen ganz vor Rührung, und der Vater, der doch der beste, ehrlichste und anständigste Mensch ist – glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht – er weinte fast vor Freude, als wir beide zusammen nach Hause fuhren; er umarmte mich, wurde zu mir aufrichtig, teilte mir allerhand Geheimnisse über Karriere, Verbindungen, Geld, Ehe mit, so daß ich vieles davon nicht einmal verstehen konnte. Bei der Gelegenheit gab er mir denn auch das Geld. Das war gestern. Morgen muß ich wieder zur Fürstin und Papa ist, wie gesagt, der anständigste Mensch – glaubt nur nichts Schlechtes von ihm, wenn er mich auch von Natascha trennen will, so sind es doch nur die Millionen Katjäs, die ihn blind machen. Du besitzt doch keine ... und er will sie nur für mich, und nur aus Blindheit und Unwissenheit ist er ungerecht zu dir. Doch, welcher Vater wünscht seinem Sohne nicht Glück! So sind sie alle! Man muß ihn nur von diesem Standpunkt aus beurteilen, und er bekommt sofort recht. Ich bin gleich zu dir geeilt, Natascha, um dich davon zu überzeugen, ich weiß, du bist ihm gegenüber voreingenommen und, versteht sich, nicht schuld daran. Ich möchte dich auch garnicht anklagen ...“ „Also das ist alles, was du erlebt, du hast bei der Fürstin Karriere gemacht? Darin besteht deine ganze Schlauheit?“ fragte Natascha. „Wieso! Das ist doch nur der Anfang ... ich habe nur darum von der Fürstin erzählt, weil ich durch sie meinen Vater in die Hand bekomme, doch mit der Hauptsache habe ich noch nicht einmal begonnen.“ „Nun, so erzähle doch!“ „Ich hatte heute ein sonderbares Erlebnis, worüber ich selbst noch ganz erstaunt bin,“ fuhr Aljoscha fort. „Ich muß bemerken, daß die Verlobung zwischen meinem Vater und der Gräfin wohl beschlossen, doch noch nicht öffentlich bekannt gegeben worden ist, so daß sie ohne jeglichen Skandal wieder gelöst werden kann; nur Graf Nainskij weiß davon, doch der zählt ja nur als Verwandter und Gönner ... Obgleich ich in diesen Tagen Katjä viel näher getreten bin, so hatten wir doch bis heute miteinander kein Wort über Zukünftiges gesprochen, das heißt, weder von der Ehe, noch von der Liebe. Außerdem ist noch beschlossen worden, die Einwilligung der Fürstin K. abzuwarten, von deren Gunst man Goldberge erwartet. Was sie dazu sagen wird, das wird auch die ganze Welt sagen; sie hat ja so große Verbindungen ... Man möchte mich durchaus in die Gesellschaft einführen. Daran besteht besonders die Gräfin, Katjäs Stiefmutter. Die Sache ist nämlich die, daß die Fürstin sie vielleicht ihrer Abenteuer im Auslande wegen nicht mehr empfangen wird, und wenn die Fürstin sie nicht mehr empfängt, so tun es die andern auch nicht; es ist also meine Verlobung mit Katjä eine bequeme Gelegenheit, um wieder anzuknüpfen. Darum freute sich auch die Gräfin, die früher gegen die Verlobung war, so sehr über meinen Erfolg bei der Fürstin, ... doch das ist ja Nebensache, die Hauptsache ist: Katherina Fedorowna hatte ich vor einem Jahr kennen gelernt; aber damals war ich noch ein Junge und konnte nichts begreifen, und nichts besonderes in ihr finden ...“ „Einfach, weil du mich damals mehr liebtest, als jetzt,“ unterbrach ihn Natascha, „deshalb konntest du nichts in ihr finden, aber jetzt ...“ „Kein Wort mehr, Natascha!“ rief feurig Aljoscha, „du irrst dich in allem und beleidigst mich! ... Ich werde dir nichts darauf antworten; höre weiter und du wirst sehen ... Ach, wenn du Katjä kennen würdest! Wenn du wüßtest, was das für eine zärtliche, helle und reine Seele ist! Doch, du wirst sie kennen lernen, höre mich nur an! Vor zwei Wochen, als der Vater zurückkam und mich zu ihr führte, habe ich sie mir näher angesehen. Ich bemerkte, daß auch sie mich beobachtete. Das erweckte in mir die Neugierde schon deshalb, weil ich eine besondere Absicht dabei verfolgte, sie näher kennen zu lernen, – eine Absicht, die ich seit dem Brief meines Vaters, der mich so in Erstaunen setzte, verfolgte. Ich werde nichts über sie sagen, ich werde sie nicht loben, ich will nur bemerken: daß sie eine große Ausnahme in ihrem Kreise ist. Sie ist nämlich eine so eigenartige Natur, eine so starke und aufrichtige Seele, stark durch ihre Reinheit und Wahrhaftigkeit, daß ich einfach vor ihr, wie ihr jüngerer Bruder erscheine, ungeachtet dessen, daß sie erst siebzehn Jahre alt ist. Eines habe ich noch bemerkt: in ihr lebt ein Leid, ein Geheimnis; sie ist sehr verschlossen; im Hause schweigt sie immer, als fürchte sie etwas ... Immer ist sie in Gedanken versunken. Meinen Vater scheint sie zu fürchten. Die Stiefmutter liebt sie nicht, – das habe ich sofort bemerkt. Wenn die Gräfin behauptet, daß ihre Stieftochter sie sehr liebe, so tut sie es nur, um gewisser Ziele willen, doch ist es garnicht wahr. Katjä gehorcht ihr nur in allem, ganz als hätte sie sich mit ihr darüber verständigt, als sei es eine verabredete Sache zwischen ihnen. Vor vier Tagen beschloß ich, meine Absicht auszuführen, und heute abend ist es mir gelungen. Meine Absicht war: alles Katjä zu erzählen, ihr alles anzuvertrauen, sie auf unsere Seite hinüberzuführen und dann mit einem Male der ganzen Sache ein Ende zu machen ...“ „Wie! Was erzählen, was ihr anvertrauen,“ fragte beunruhigt Natascha. „Alles, einfach alles,“ antwortete Aljoscha, „und Gott, der mir diesen Gedanken eingegeben, sei Dank, doch höre, höre! Vor vier Tagen beschloß ich, nicht eher zu dir zurückzukehren, bis ich die ganze Sache allein durchgeführt hätte. Hätte ich auf dich gehört, so wäre ich unentschieden geblieben, doch allein geblieben, hatte ich mich vor die Tatsache gestellt, daß die Sache ein Ende nehmen müsse, und nur so konnte ich sie durchführen! Ich verließ dich mit dem Entschluß, und ich habe ihn jetzt ausgeführt!“ „Wie, wie das? Erzähle! schneller!“ „Sehr einfach! Ich sagte ihr alles, ehrlich und mutig ... Doch vorher muß ich von einem Zufall erzählen, der mich sehr in Erstaunen setzte. Bevor wir uns dahin begaben, erhielt der Vater einen Brief. In dem Augenblick trat ich zu ihm ins Kabinett und blieb an der Türe stehen. Er bemerkte mich nicht. Er war durch den Brief dermaßen erregt, daß er laut mit sich selbst sprach, erregt im Zimmer auf und ab ging, und mit dem Brief in der Hand plötzlich laut auflachte. Ich fürchtete mich sogar, einzutreten ... Der Vater war über irgend etwas dermaßen erfreut, so erfreut, daß er mich ganz sonderbar anredete, dann plötzlich abbrach und sofort mit mir fortging, obgleich es noch viel zu früh war. Bei ihnen war heute niemand zu Gast, und es war rein ein Irrtum von dir, Natascha, wenn du gedacht hast, es wäre ein Gesellschaftsabend gewesen. Man hat dich falsch unterrichtet.“ „Ach, Aljoscha, schweife doch nicht wieder ab; sag’ doch, was du alles Katjä erzählt hast?“ „Es war ein Glück, daß wir beide zwei ganze Stunden allein blieben. Ich erklärte ihr einfach, daß man uns beide verloben möchte, doch daß diese Ehe unmöglich sei, daß ich in meinem Herzen für sie eine große Sympathie empfinde und daß sie allein mich retten könne. Darauf erzählte ich ihr alles. Stelle dir nur vor, Natascha! sie wußte nichts von unserer Geschichte. Wenn du nur gesehen hättest, wie erschüttert sie davon war. Sie erbleichte sogar. Ich erzählte ihr also unsere ganze Geschichte: wie du dein Elternhaus verlassen, wie wir allein gelebt haben, wie wir uns jetzt quälen und uns ängstigen und um ihre Hilfe bitten (ich sprach auch in deinem Namen, Natascha), und hofften, daß sie auf unsere Seite träte und einfach ihrer Stiefmutter erkläre, daß sie mich nicht heiraten wolle; daß es unsere einzige Rettung wäre und wir einen anderen Ausweg nicht finden könnten. Sie hörte mir mit großer Aufmerksamkeit und Teilnahme zu. Was sie in diesem Augenblick für herrliche Augen hatte! Ihre ganze Seele lag in ihren Augen. Sie hat tiefblaue Augen. Sie dankte mir, daß ich zu ihr Vertrauen gehabt, und versprach, uns mit allen Kräften zu helfen. Dann fragte sie nach dir, sagte, daß sie dich kennen lernen wollte, bat mich, dir zu sagen, daß sie dich wie eine Schwester lieb habe, und daß auch du sie lieben möchtest; und als sie erfuhr, daß ich dich bereits den fünften Tag nicht mehr gesehen, schickte sie mich selbst sofort zu dir ...“ Natascha war gerührt. „Und du konntest uns von deinen Heldentaten bei der tauben, alten Fürstin erzählen, ohne uns zuerst dieses mitzuteilen. Ach, Aljoscha, Aljoscha!“ rief Natascha aus, in vorwurfsvollem Tone. „Und wie war denn Katjä? War sie fröhlich, als sie dich entließ?“ „Ja, sie war sehr froh, uns helfen zu können, doch brach sie bald darauf in Tränen aus. Denn sie hat mich auch lieb gewonnen, Natascha! Sie gestand mir, daß sie mich zu lieben angefangen, und daß ich ihr schon längst gefallen hätte, besonders deshalb, weil sie von Lüge und Schlauheit umgeben sei, und sie nur mich allein für einen aufrichtigen und ehrlichen Menschen hält. Sie stand auf und sagte: ‚Nun, Gott sei mit Ihnen, Alexei Petrowitsch, ich dachte nur ...‘ Sie vollendete nicht, brach in Tränen aus und verließ das Zimmer. Wir haben beschlossen, daß sie morgen ihrer Stiefmutter erklären soll, sie wolle mich nicht heiraten, und ich solle alles meinem Vater sagen, mutig und fest. Sie machte mir nur Vorwürfe, warum ich es ihr nicht schon früher gesagt hätte, denn ‚ein ehrlicher Mensch dürfe nichts fürchten!‘ Sie ist so edel. Meinen Vater liebt sie auch nicht; sie sagt, er sei schlau und wolle nur Geld. Ich verteidigte ihn, sie glaubte mir nicht. Wenn ich morgen beim Vater nichts erreichen sollte (sie glaubt nämlich, ich würde nichts erreichen), so ist sie dafür, daß ich zur Fürstin K. gehe. Dann wird es niemand wagen, gegen uns vorzugehen. Wir gaben uns gegenseitig das Wort, wie Bruder und Schwester zu sein. Wenn du ihre Lebensgeschichte kennen würdest, wie auch sie unglücklich ist, wie widerwärtig sie ihr Leben bei der Stiefmutter und diese ganze Umgebung empfindet! Sie sagte es mir, nicht so geradezu, als fürchtete sie, es auszusprechen, aber aus ihren Worten habe ich es doch erraten. Natascha, mein Liebling! Wie würde sie sich freuen, dich zu sehen! Und was für ein gutes Herz sie hat! Es ist so schön, bei ihr zu sein. Ihr seid beide wie geschaffen füreinander, ihr müßt euch gegenseitig wie Schwestern lieb haben! Ich habe die ganze Zeit daran gedacht. Ich müßte euch beide zusammenführen. Mit Entzücken würde ich euch betrachten! Laß mich bitte noch von ihr sprechen, Natascha, glaube nicht etwas Schlechtes. Mit ihr zusammen möchte ich über dich sprechen und mit dir über sie. Du weißt doch, daß ich dich über alles liebe, noch mehr als sie ...“ Natascha schwieg und sah ihn zärtlich und zugleich traurig an. Seine Worte umschmeichelten sie und quälten sie zugleich. „Und schon lange, schon vor zwei Wochen habe ich Katjä kennen und schätzen gelernt. Ich bin doch jeden Abend bei ihr gewesen. Wenn ich dann nach Hause zurückkehrte, dachte ich immer, immer an euch beide und verglich euch miteinander.“ „Wer von uns schien dir denn besser?“ fragte lächelnd Natascha. „Einmal du, einmal – sie. Doch meist schienst du besser. Nur wenn ich mit ihr spreche, fühle ich, daß ich selbst besser, klüger und edler bin. Doch morgen, morgen wird sich alles entscheiden!“ „Tut sie dir nicht leid? Sie liebt dich doch, sagtest du selbst.“ „Gewiß, Natascha! Doch wir werden uns alle drei lieb haben, und dann ...“ „Und dann, leb wohl!“ sagte leise vor sich hin Natascha. Aljoscha sah sie unwillig an. Unsere Unterhaltung wurde plötzlich in unerwarteter Weise unterbrochen. In die Küche, die zu gleicher Zeit das Vorzimmer war, hörte man jemanden eintreten. Gleich darauf öffnete Mawra die Tür und winkte Aljoscha, hinzukommen. Wir alle wandten uns nach ihr um. „Man fragt nach Ihnen!“ sagte sie mit geheimnisvoller Stimme. „Wer kann das sein, zu dieser Stunde?“ Aljoscha blickte uns ganz verwundert an. „Ich werde sehen!“ Aus der Küche entfernte sich in demselben Augenblick der Lakai des Fürsten, seines Vaters. Die Sache verhielt sich so, daß der Fürst auf der Rückreise nach Hause bei Nataschas Wohnung vorgefahren war, um zu erfahren, ob Aljoscha bei ihr sei. Als es dem Lakai bestätigt wurde, entfernte er sich sofort wieder. „Sonderbar! Das ist doch noch niemals geschehen,“ sagte verwirrt Aljoscha. „Was soll das bedeuten?“ Natascha sah ihn beunruhigt an. Plötzlich öffnete Mawra wieder die Tür. „Der Fürst kommt selbst,“ flüsterte sie uns eilig zu und verschwand. Natascha erbleichte und erhob sich von ihrem Platz. Plötzlich flammten ihre Augen auf. Sie stützte sich leicht auf den Tisch und blickte erwartungsvoll zur Tür, durch die der ungebetene Gast eintreten mußte. „Natascha, fürchte dich nicht, ich bin bei dir! Ich erlaube niemanden, dich zu beleidigen,“ flüsterte ihr Aljoscha, der seine Fassung nicht verloren hatte, erregt zu. Die Tür ging auf und auf der Schwelle erschien Fürst Walkowskij in eigener Person. II. Ein rascher, aufmerksamer Blick streifte uns alle. Aus diesem Blicke konnte man nicht erkennen, ob er von einem Freunde oder Feinde kam. Das Äußere des Fürsten setzte mich an diesem Abend besonders in Erstaunen. Ich hatte ihn auch schon früher gesehen. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, nicht älter, mit regelmäßigen und schönen Gesichtszügen, deren Ausdruck sich je nach den Umständen, und zwar plötzlich, mit unvorhergesehener Geschwindigkeit, zu verändern pflegte, und die in einem Moment von dem angenehmsten zum bösesten Ausdruck überspringen konnten, als gehorchten sie dem Druck einer mechanischen Feder. Das ebenmäßige Oval des etwas gebräunten Gesichtes, die prachtvollen Zähne, die feingeschwungenen und schmalen Lippen, die schön geschnittene etwas längliche Nase, die hohe Stirn, auf der noch kein Fältchen zu sehen war, die grauen, großen Augen – dies alles machte ihn zum schönen Manne. Und doch machten seine Züge keinen angenehmen Eindruck. Dieses Gesicht hatte etwas so Abstoßendes, weil es gar nicht seinen eigenen Ausdruck besaß, sondern etwas Verstelltes, Erdachtes, Angeeignetes darin lag. Man hatte unwillkürlich die Überzeugung, daß man niemals seinen wahren Ausdruck zu sehen bekommen würde. Wenn man das Gesicht näher betrachtete, so schien hinter seiner Maske etwas Böses, Schlaues und im höchsten Grade Egoistisches zu lauern. Namentlich zogen die grauen, schönen, offenen Augen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie allein konnten sich seinem Willen nicht unterordnen. Er wollte einen weich und liebenswürdig ansehen, doch schienen sich die Strahlen seines Blickes gleichsam zu spalten und mitten zwischen den milden, freundlichen Strahlen blitzten dann böse, mißtrauische, harte, forschende auf ... Er war von ziemlich hohem Wuchs, schlank und elegant. So schien er viel jünger an Jahren, als er wirklich war. Sein dunkelbraunes und weiches Haar war noch nicht ergraut. Seine Ohren, Hände und Füße waren von wunderbarer Form. Er hatte durchaus das, was man Rasse nennt. Seine Kleidung war gewählt und etwas jugendlich, was ihm aber sehr gut stand. Man hätte ihn für den älteren Bruder von Aljoscha halten können, niemals jedoch für den Vater eines erwachsenen Sohnes. Er ging geradewegs auf Natascha zu und sah ihr ruhig und fest ins Auge. „Mein Besuch zu dieser Stunde und ohne jede Anmeldung mag Ihnen sonderbar und unangebracht erscheinen; doch ich hoffe, Sie werden mir glauben, daß ich das Exzentrische meiner Handlungsweise durchaus überschaue. Ich meinerseits weiß es gleichfalls, mit wem ich es zu tun habe, ich weiß, daß Sie klug und großzügig sind. Ich bitte Sie mir zehn Minuten zu gewähren und Sie werden meine Handlungsweise begreifen und selbst rechtfertigen.“ Er sprach sehr höflich, doch mit einem gewissen Nachdruck. „Bitte, nehmen Sie Platz!“ sagte Natascha immer noch verwirrt von der Überraschung. Er verbeugte sich leicht und setzte sich. „Erlauben Sie mir, zuerst meinem Sohne ein paar Worte zu sagen. Aljoscha, als du kaum fortgegangen warst, ohne dich von uns zu verabschieden, wurde der Gräfin gemeldet, daß Katherina Fedorowna sich schlecht fühle. Die Gräfin wollte sich zu ihr begeben, als Katherina Fedorowna selbst plötzlich ganz verstört und aufgeregt erschien. Sie erklärte uns, daß sie nie deine Frau werden könne. Darauf sagte sie uns, daß sie in ein Kloster ginge, daß du sie um ihre Hilfe gebeten und ihr selbst gestanden hättest, du liebtest Natascha Nikolajewna ... Ein so unwahrscheinliches Geständnis von seiten Katherina Fedorownas in einem solchen Augenblick war natürlich nur die Folge deiner sonderbaren Erklärung ihr gegenüber. Sie war einfach ganz außer sich. Du verstehst, wie überrascht und bestürzt ich war. Als ich hier vorbeikam, erblickte ich Licht in Ihren Fenstern,“ wandte er sich zu Natascha. „Da kam mir denn der Gedanke wieder, der mich schon lange beschäftigt hatte, so daß ich jetzt dem ersten Impuls nachgab und zu Ihnen ging. Wozu? Das werde ich Ihnen gleich sagen, ich bitte jedoch, sich wegen einer gewissen Schärfe und Plötzlichkeit meiner Erklärung nicht zu verwundern. Alles das kam so jäh ...“ „Ich hoffe, daß ich Sie so verstehen werde, wie es nötig ist ... und das von Ihnen Gesagte schätzen werde,“ sagte etwas stockend Natascha. Der Fürst sah sie aufmerksam an, als wollte er sie in einem Augenblick ganz und gar durchschauen. „Ich hoffe auf Ihren Scharfsinn,“ fuhr er fort, – „und wenn ich es mir erlaubt habe, jetzt zu Ihnen zu kommen, so tat ich es nur, weil ich wußte, mit wem ich es zu tun haben werde. Ich kenne Sie schon lange, obgleich ich ungerecht zu Ihnen war, was ich Ihnen offen bekennen muß. Hören Sie mich also an: Sie wissen, daß zwischen mir und Ihrem Herrn Vater eine alte Fehde besteht. Ich will mich nicht rechtfertigen. Vielleicht bin ich ihm gegenüber mehr schuld, als ich es bisher angenommen habe. Wenn es sich so verhalten sollte, dann geschah es, weil ich selbst betrogen worden bin. Ich bin mißtrauisch und ich mache kein Geheimnis daraus. Ich bin immer geneigt, eher das Schlechte als das Gute anzunehmen – ein unglücklicher Zug, nur möglich bei einem Manne mit hartem Herzen. Doch habe ich nicht die Angewohnheit, meine Mängel zu verhehlen. Ich habe allen Verleumdungen über Sie Glauben geschenkt, und als Sie Ihre Eltern verlassen hatten, fürchtete ich für Aljoscha. Doch damals kannte ich Sie noch nicht. Die Nachforschungen, die ich nach und nach angestellt habe, beruhigten mich vollständig. Ich konnte mich schließlich davon überzeugen, daß meine Verdächtigung Ihnen gegenüber tatsächlich unbegründet war. Ich erfuhr und hörte davon, daß Sie sich mit den Ihrigen überworfen, und ich weiß auch, daß Ihr Herr Vater durchaus gegen eine Ehe mit meinem Sohne ist. Und schon allein, daß Sie, die Sie einen solchen Einfluß auf Aljoscha ausüben, ihn bis jetzt nicht zu einer Heirat mit Ihnen gezwungen haben – dies schon allein zeigt Sie von Ihrer besten Seite. Und doch muß ich Ihnen gestehen, daß ich bereits fest entschlossen war, mit aller Gewalt der Möglichkeit einer Ehe mit meinem Sohne entgegenzuarbeiten. Ich weiß es, daß ich mich jetzt nur allzu aufrichtig zu Ihnen ausspreche, doch dieser Augenblick verlangt nun einmal die größte Aufrichtigkeit meinerseits. Sie werden es mir selbst im Laufe unseres Gespräches zugeben. Bald darauf, als Sie Ihr Elternhaus verlassen hatten, verließ ich Petersburg, und als ich es verließ, da fürchtete ich schon nicht mehr für Aljoscha. Ich rechnete auf Ihren edlen stolzen Sinn. Ich hatte verstanden, daß Sie die Ehe mit Aljoscha nicht wollten, bevor der Familienstreit ein Ende genommen, und daß Sie das gute Einvernehmen zwischen mir und meinem Sohne nicht zu zerstören gedachten, da ich ihm niemals die Heirat mit Ihnen verziehen haben würde. Auch wollten Sie wohl nicht, daß man von Ihnen sagen konnte, Sie hätten die Verbindung mit einem fürstlichen Hause gesucht. Im Gegenteil, Sie zeigten unserem Stande gegenüber eine gewisse Verachtung und warteten vielleicht auf den Augenblick, daß ich selbst zu Ihnen käme, um Sie zu bitten, uns die Ehre zu erweisen und die Hand meines Sohnes anzunehmen. Aber trotzdem blieb ich Ihr hartnäckiger Gegner. Ich will mich Ihnen gegenüber nicht rechtfertigen, die Gründe Ihnen offen klarlegen. Sie sind nicht reich; Ihre Familie ist nicht angesehen. Wenn ich auch vermögend bin, so brauchen wir doch mehr. Mit unserer Familie geht es bergab. Wir haben Verbindungen und Geld nötig. Die Stieftochter der Gräfin hat allerdings keine Verbindungen, aber sie ist sehr reich. Ich durfte keine Zeit verlieren, andere Freier hätten uns die Braut fortgenommen, und so beschloß ich denn, obgleich Aljoscha viel zu jung ist, ihn zu verheiraten. Sie sehen, ich verheimliche nichts vor Ihnen. Sie können mit Verachtung auf den Vater sehen, der seinen Sohn aus Habsucht und Vorurteil zu einer schlechten Tat zwingt; denn ein Mädchen, das ihm großmütig alles geopfert hat, zu verlassen, ist eine schlechte Tat. Ich will mich, wie gesagt, nicht entschuldigen. Der zweite Grund für eine Heirat meines Sohnes mit der Stieftochter der Gräfin ist der, daß dieses Mädchen durchaus seiner Liebe und Achtung würdig ist. Sie ist hübsch, gut erzogen, sehr klug und ein herrlicher Charakter, wenn sie auch in vielem noch ein Kind ist. Aljoscha dagegen ist ganz charakterlos, leichtsinnig, unüberlegt und mit seinen zweiundzwanzig Jahren nicht nur ein halbes, sondern ein vollkommenes Kind, das nur den einen Vorzug hat – ein gutes Herz zu besitzen, was bei seinen Fehlern durchaus nicht ungefährlich ist. Ich habe schon längst bemerkt, daß mein Einfluß auf ihn sich verringert hat: das jugendliche Feuer nimmt überhand, auch über seine Verpflichtungen hinweg. Ich meinerseits liebe ihn vielleicht zu sehr, doch habe ich mich immer mehr und mehr davon überzeugt, daß mein Einfluß allein nicht für ihn ausreicht. Trotzdem und gerade deshalb muß er immer unter irgend einem guten Einfluß stehen. Seine Natur ist schwach und liebebedürftig, auch hat sie die Neigung, mehr zu gehorchen, als zu befehlen. So wird er sein ganzes Leben sein. Sie können sich nun vorstellen, wie froh ich war, in Katherina Fedorowna ein Mädchen zu finden, wie ich es meinem Sohne gern zur Frau gewünscht hätte. Doch meine Freude kam zu spät, ihn beherrschte bereits ein anderer Einfluß – der Ihre. Nach meiner Rückkehr beobachtete ich ihn scharf und bemerkte in ihm eine Wandlung zum Besseren. – Sein Leichtsinn, seine Kindlichkeit waren dieselben, daneben aber zeigte sich ein höheres Bestreben: er interessiert sich plötzlich nicht nur für Spielereien, sondern auch für Edleres. Seine Ideen sind noch sonderbar und ungeschickt, doch der Wille, der Wunsch zum Besseren ist entschieden vorhanden und das ist schließlich das Fundament zu allem; all dieses Bessere aber kommt sicher von Ihnen. Sie haben ihn erzogen. Ich gestehe Ihnen, daß ich zuerst den Gedanken hatte, daß tatsächlich Sie allein vielleicht sein Glück ausmachen könnten. Doch habe ich diesen Gedanken sofort wieder unterdrückt. Ich wünsche, offen gestanden, nicht, daß es so sei. Ich mußte ihn, sagte ich mir, Ihrem Einfluß entreißen, was es mich auch koste; ich handelte danach und hoffte schon, daß ich mein Ziel erreichen würde. Noch vor einer Stunde dachte ich, der Sieg sei auf meiner Seite. Doch das Ereignis im Hause der Gräfin stürzte alle meine Hoffnungen wieder über den Haufen und vor allem setzte mich diese ganz unerwartete Tatsache in Erstaunen: dieser seltsame Ernst in Aljoscha, seine Anhänglichkeit an Sie, und die Beharrlichkeit dieser Anhänglichkeit. Ich wiederhole es Ihnen, Sie haben ihn vollständig umgewandelt und ich sah plötzlich, daß diese Umwandlung sich weiter erstreckt, als ich es ahnen konnte. Heute habe ich zum ersten Male an ihm so etwas wie Verstand wahrgenommen, und zu gleicher Zeit eine große Feinfühligkeit des Herzens. Er hatte den rechten Weg gewählt, um aus dieser Lage heraus zu kommen, die für ihn eine sehr schwierige war. Er rührte an die alleredelsten Fähigkeiten des Menschenherzens, nämlich – die Fähigkeit, zu verzeihen und Böses mit Großmut zu vergelten. Er gab sich ganz in die Gewalt des von ihm gekränkten Wesens und bat um dessen Teilnahme und Hilfe. Er weckte den ganzen Stolz einer Frau, die ihn liebte, indem er ihr offen erklärte, daß sie eine Nebenbuhlerin hätte, und zu gleicher Zeit erweckte er in ihr Sympathie zu dieser Nebenbuhlerin und für sich Vergebung und brüderliche Freundschaft. So etwas zu wagen und dabei nicht zu beleidigen, das können die schlausten und fähigsten Leute nicht, das kann nur ein junges, reines und gutgelenktes Herz, wie das seine. Ich bin überzeugt, daß Sie, Natalja Nikolajewna, an seinem heutigen Schritte vollkommen unbeteiligt sind. Sie haben, vielleicht, von alledem erst soeben durch ihn erfahren. Nicht wahr, ich irre mich nicht?“ „Sie irren sich nicht!“ wiederholte Natascha, deren Gesicht glühte und deren Augen eigentümlich leuchteten. Die Dialektik des Fürsten begann bereits, ihre Wirkung auszuüben. „Ich habe Aljoscha seit fünf Tagen nicht mehr gesehen,“ fügte sie hinzu. „Das hat er sich alles allein ausgedacht und allein ausgeführt.“ „So ist es,“ bestätigte der Fürst, „aber abgesehen davon, ist seine ganze Entschlossenheit doch nur eine Folge Ihres Einflusses. Dies hatte ich mir alles auf der Fahrt nach Hause überlegt – und plötzlich fühlte ich in mir die Kraft, hier einen Entschluß herbeizuführen. Unsere Werbung im Hause der Gräfin ist nun für immer zerstört und kann nicht wieder hergestellt werden, selbst wenn es noch möglich wäre. Wie, wenn ich mich jetzt hätte überzeugen müssen, daß nur Sie sein Glück ausmachen, daß nur Sie seine Führerin sein können! Ich habe vor Ihnen nichts verheimlicht und würde es auch jetzt nicht tun: ich liebe Karriere, Geld, Ansehen, Rang, wenn ich auch ganz bewußtermaßen alles das nur für ein Vorurteil halte, – doch ich liebe nun einmal diese Vorurteile. Aber es gibt Umstände, in denen man auch andere Auffassungen gelten lassen muß, man kann nun einmal nicht alles mit demselben Maße messen ... Außerdem liebe ich meinen Sohn über alles. Kurz, ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß Aljoscha sich nicht von Ihnen trennen soll, weil er ohne Sie zugrunde geht. Ich muß mir sogar sagen, daß ich mich innerlich vielleicht schon vor einem Monat dazu entschlossen hatte, und daß ich jetzt recht daran getan, die Sache so aufzufassen. Freilich, um Ihnen dieses Geständnis zu machen, hätte ich nicht diese Stunde, so spät am Abend, zu wählen brauchen. Doch meine Eile möge Ihnen beweisen, wie eifrig, und vor allem, wie aufrichtig ich mich der Sache annehme. Ich bin kein Jüngling, in meinen Jahren kann man keinerlei unüberlegte Schritte mehr tun. Als ich hier bei Ihnen eintrat, war alles schon beschlossen und wohl erwogen. Aber ich fühle, ich werde noch viel Zeit brauchen, Sie von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen ... Doch zur Sache! Soll ich Ihnen jetzt noch erklären, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin? Ich bin gekommen, um Ihnen gegenüber meine Schuldigkeit zu tun und bei Ihnen feierlich, voll unbegrenzter Hochachtung zu Ihnen für meinen Sohn um Ihre Hand anzuhalten. O, glauben Sie nicht, daß ich zu Ihnen gekommen bin wie ein grausamer Vater, der endlich, endlich es über sich gebracht hat, seinen Kindern zu verzeihen und in ihr Glück einzuwilligen. Nein, nein! Sie erniedrigen mich, wenn Sie das von mir voraussetzen. Denken Sie, bitte, auch nicht, daß ich schon im voraus von Ihrer Einwilligung überzeugt gewesen bin; durchaus nicht. Ich bin der erste, der sagt und offen eingesteht, daß er Ihrer nicht wert ist ... (wenn er auch gut und reines Herzens ist) ... und er selbst wird es bestätigen. Doch das wäre noch wenig. Mich hat zu dieser Stunde nicht nur dies hierher gezogen ... ich bin außerdem gekommen ... (und er erhob sich ehrerbietig und mit einer gewissen Feierlichkeit) ... ich bin hierhergekommen, um Ihr Freund zu sein! Ich weiß, daß ich dazu nicht das kleinste Recht beanspruchen kann, im Gegenteil! Doch erlauben Sie mir, daß ich mir dieses Recht verdiene! Lassen Sie mich hoffen! ...“ Er verbeugte sich ehrerbietig vor Natascha und erwartete ihre Antwort. Die ganze Zeit, während seiner Rede, beobachtete ich ihn aufmerksam. Er merkte es. Er hatte seine Rede in kühlem Ton gesprochen mit merkbarer Absicht, tadellose und zugleich gewinnende Sätze zu formen, und stellenweise wieder mit vornehmer Nachlässigkeit. Der Ton seiner Rede entsprach durchaus nicht dem Ungestüm eines Besuches zu so unpassender Zeit. Einige Bemerkungen wurden besonders unterstrichen und hin und wieder gab er sich, während seiner langen Rede, den Anschein eines Sonderlings, der seine Gefühle durch Humor und Scherz zu verdecken sucht. Doch fiel mir das alles erst später auf, denn seine letzten Worte hatte er mit so viel Gefühl und Verehrung zu Natascha ausgesprochen, daß er uns sofort alle damit besiegte. An seinen Augenwimpern schienen Tränen zu erglänzen. Nataschas edles Herz war vollständig besiegt. Sie erhob sich gleichfalls von ihrem Stuhl und reichte ihm in tiefer Bewegung ihre Hand. Er ergriff sie und küßte sie zärtlich und gefühlvoll. Aljoscha war außer sich vor Begeisterung. „Was habe ich dir gesagt, Natascha!“ rief er aus. „Du hast mir nicht glauben wollen! Du hast mir nicht glauben wollen, daß er der edelste Mensch auf der Welt ist! Siehst du, siehst du es jetzt selbst ein! ...“ Er stürzte zu seinem Vater und umarmte ihn. Dieser erwiderte seine Zärtlichkeit, doch beeilte er sich, die gefühlvolle Szene abzukürzen, als schäme er sich seiner Gefühle. „Schon gut,“ sagte er und griff nach seinem Hut, „ich gehe. Ich erbat mir nur zehn Minuten und habe eine ganze Stunde bei Ihnen zugebracht,“ fügte er lächelnd hinzu. „Aber ich gehe von Ihnen voll Ungeduld, Sie möglichst bald wieder zu sehen. Erlauben Sie es, daß ich Sie des öfteren besuche?“ „Ja, gewiß, – o, ja!“ antwortete Natascha. „Auch ich möchte Sie so bald als möglich ... lieben lernen ...“ fügte sie ganz verwirrt hinzu. „Wie Sie aufrichtig und ehrlich sind!“ sagte der Fürst über ihren Ausbruch lächelnd. „Sie wollen mir nicht nur eine einfache Höflichkeitsformel sagen. Ihre Aufrichtigkeit ist mir viel teurer als alle Höflichkeit. Ja! Ich sehe es ein, daß ich mir Ihre Liebe erst noch verdienen muß!“ „Genug, loben Sie mich bitte nicht ... genug davon!“ flüsterte Natascha ganz bestürzt. Wie schön war sie in diesem Augenblick! „Wie Sie wünschen!“ beschloß der Fürst. „Doch noch ein paar Worte zur Sache. Können Sie sich vorstellen, wie unglücklich ich bin, denn weder morgen, noch übermorgen werde ich in Petersburg sein ... Ich erhielt heute einen Brief in einer sehr wichtigen Angelegenheit, die meine Anwesenheit verlangt. Morgen früh also verlasse ich Petersburg. Bitte, glauben Sie nicht etwa, ich bin deshalb heute so spät am Abend gekommen, weil es mir morgen und übermorgen nicht möglich gewesen wäre. Natürlich denken Sie gar nicht daran, aber – nun sehen Sie, da haben Sie wieder eine Probe meines Mißtrauens! Viel hat mir dieses Mißtrauen schon in meinem Leben geschadet, der ganze Prozeß mit Ihrer Familie, ist nichts als die Folge dieses elenden Charakterzuges! ... Heute haben wir Dienstag. Mittwoch, Donnerstag, Freitag werde ich also nicht in Petersburg sein. Sonnabend hoffe ich wieder zurückzukommen und werde Sie dann sofort aufsuchen. Kann ich auf den ganzen Abend zu Ihnen kommen?“ „Gewiß! Natürlich!“ rief Natascha. „Sonnabend abend werde ich Sie erwarten! Mit Ungeduld werde ich Sie erwarten!“ „Und ich meinerseits bin sehr glücklich darüber, daß ich Sie näher kennen lernen kann! Doch – jetzt gehe ich! Ich kann nicht umhin, auch Ihnen die Hand zu reichen,“ wandte er sich plötzlich an mich. „Entschuldigen Sie, wir sprechen so durcheinander ... Ich hatte wohl schon des öfteren das Vergnügen, Ihnen zu begegnen, ich glaube, wir sind uns sogar vorgestellt worden. Ich möchte nicht von hier fortgehen, ohne Ihnen versichert zu haben, daß es mir sehr angenehm ist, unsere Bekanntschaft zu erneuern.“ „Wir sind uns begegnet, das ist wahr,“ ich ergriff seine Hand, „doch erinnere ich mich nicht, Ihnen vorgestellt zu sein.“ „Beim Fürsten R., im vorigen Jahr.“ „Entschuldigen Sie, ich habe es vergessen. Doch ich versichere, daß ich es dieses Mal nicht vergessen werde. Dieser Abend wird mir durchaus in der Erinnerung bleiben.“ „Ja, das ist recht. Ich weiß es längst, daß Sie der aufrichtigste Freund Natalja Nikolajewnas und meines Sohnes sind. – Ich hoffe zu Ihnen dreien als der Vierte hinzuzutreten. Habe ich recht?“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder an Natascha. „Ja, er ist unser aufrichtiger Freund, und wir wollen alle Freunde sein!“ antwortete Natascha voll tiefer Überzeugung. Die Arme! Sie strahlte vor Freude, als sie bemerkte, daß der Fürst mich nicht vergessen hatte. Wie sie mich doch lieb hatte! „Ich bin vielen Verehrern Ihres Talentes begegnet,“ fuhr der Fürst fort, „und ich kenne zwei Ihrer aufrichtigsten Verehrerinnen. Es würde sie sehr freuen, Sie persönlich kennen zu lernen. Es sind das die Gräfin, meine beste Freundin, und ihre Stieftochter, Katherina Fedorowna Philimonnowa. Lassen Sie mich hoffen, Sie diesen Damen vorstellen zu dürfen.“ „Das ist für mich sehr schmeichelhaft, obgleich ich jetzt wenig in der Gesellschaft verkehre ...“ „Geben Sie mir Ihre Adresse! Wo wohnen Sie? Ich werde das Vergnügen haben ...“ „Ich empfange nicht, Fürst, wenigstens nicht gegenwärtig ...“ „Vielleicht machen Sie mit mir eine Ausnahme ...“ „Wenn Sie es verlangen, mir soll es sehr angenehm sein. Ich wohne in der M.-Gasse im Hause Klugen.“ „Im Hause Klugen!“ rief er ganz betroffen aus. „Wie! Wohnen Sie ... schon lange dort?“ „Nein, nicht lange,“ antwortete ich und faßte ihn unwillkürlich schärfer ins Auge. „Meine Wohnung ist Nummer vierundvierzig.“ „Nummer vierundvierzig? Sie leben dort ... allein?“ „Ganz allein.“ „Ja! Ich glaube ... ich kenne dieses Haus. Um so besser ... Ich werde Sie bestimmt besuchen, bestimmt! Ich habe über vieles mit Ihnen zu reden und ich verspreche mir sehr viel von Ihnen. Sie können mir einen großen Dienst erweisen. Sehen Sie, da komme ich schon gleich mit einer Bitte. Also auf Wiedersehen. Geben Sie mir noch einmal Ihre Hand!“ Er reichte mir und Aljoscha die Hand, küßte nochmals Nataschas Händchen, und forderte Aljoscha nicht auf, ihm zu folgen. Wir drei blieben in großer Erregung zurück. Alles das hatte sich so plötzlich und unerwartet zugetragen. Alle fühlten wir, daß sich in einem Augenblick alles verändert und nun etwas Neues, Unbekanntes beginnen würde. Aljoscha setzte sich schweigend zu Natascha und küßte ihr leise zärtlich die Hand. Von Zeit zu Zeit sah er ihr ins Gesicht, als erwartete er von ihr, daß sie etwas sagen würde. „Lieber Aljoscha, fahre morgen zu Katherina Fedorowna,“ sagte sie endlich zu ihm. „Das habe ich auch schon gedacht,“ antwortete er, „ich werde es bestimmt tun.“ „Vielleicht wird es ihr aber schwer fallen, dich zu sehen ... was meinst du?“ „Ich weiß es nicht, mein Liebling. Auch daran habe ich gedacht. Ich werde sehen ... wie ich mich entschließe. Jetzt, Natascha, hat sich alles bei uns geändert,“ konnte sich Aljoscha nicht enthalten zu bemerken. Sie lächelte und sah ihn lange zärtlich an. „Und wie er delikat ist. Er hat doch gesehen, wie ärmlich deine Wohnung ist, und nicht ein Wort hat er ...“ „Worüber?“ „Nun ... du mögest eine andere Wohnung nehmen, oder so etwas Ähnliches,“ fügte er errötend hinzu. „Aber, Aljoscha, aus welchem Grunde denn!“ „Ich sage ja eben, daß er so delikat ist. Und wie er dich lobte! Ich habe es dir ja gesagt ... gesagt! Nein, er fühlt und versteht alles! Und von mir sprach er wie von einem Kinde; alle halten mich dafür! Doch was tut’s, ich bin es ja auch.“ „Du bist ein Kind, und siehst zugleich schärfer als wir alle. Du, lieber, guter Aljoscha! Du!“ „Er aber sagte, daß mein gutes Herz mir schadet. Wie meint er das? Ich verstehe es nicht. Doch, was meinst du, Natascha, soll ich jetzt nicht gleich zu ihm fahren. Sowie es morgen hell wird, komme ich zu dir.“ „Geh nur, geh, mein Lieber. Du hast ganz recht. Und zeige dich ihm noch heute abend, hörst du? Und morgen komme so früh als möglich. Jetzt wirst du mich nicht mehr fünf Tage allein lassen?“ fügte sie schelmisch hinzu, ihn zärtlich ansehend. Alle waren wir voll stiller, reiner Freude. „Kommen Sie mit mir, Wanjä?“ fragte Aljoscha, das Zimmer verlassend. „Nein, er bleibt; wir haben noch miteinander zu reden, Wanjä. Auf morgen früh also.“ „Ja, morgen früh. Na, adieu, Mawra!“ Mawra war in großer Aufregung. Sie hatte gehorcht und alles gehört, was der Fürst gesagt, doch vieles nicht verstanden. Gern wollte sie das nähere erfahren. Doch sah sie jetzt sehr stolz und ernst drein, sie hatte gleichfalls das Bewußtsein, daß sich nun alles ändern würde. Wir blieben allein. Natascha nahm schweigend meine Hand und blieb stumm, als wüßte sie nicht, womit sie beginnen sollte. „Ich fühle mich so müde!“ sagte sie endlich mit schwacher Stimme. „Höre, du gehst doch morgen zu ihnen?“ „Selbstverständlich.“ „Mama kannst du es erzählen, ihm aber nicht.“ „Von dir spreche ich ja auch sonst nie mit ihm.“ „Er wird es ja sowieso erfahren. Achte darauf, wie er es aufnehmen wird. Mein Gott, Wanjä! Wird er mich wirklich dieser Ehe wegen verfluchen? Nein, das kann nicht sein!“ „Das wird alles vom Fürsten abhängen,“ beeilte ich mich zu versichern. „Er muß sich mit ihm aussöhnen und dann wird alles anders werden.“ „O, großer Gott! Wenn es möglich wäre, wenn das nur möglich wäre!“ rief sie verzweifelt aus. „Beunruhige dich nicht, Natascha, alles wird sich jetzt zum besten kehren.“ Sie sah mich forschend an. „Wanjä, wie denkst du vom Fürsten?“ „Wenn er wirklich aufrichtig gesprochen hat, so ist er meiner Meinung nach ein edler Mensch!“ „Wenn er aufrichtig gesprochen hat? Was willst du damit sagen? Könnte er denn auch unaufrichtig gesprochen haben?“ „Mir scheint es auch so,“ antwortete ich ausweichend. „Also steigen auch in ihr Zweifel auf,“ dachte ich bei mir. „Sonderbar!“ „Du sahst ihn so eigentümlich an ... so beobachtend ...“ „Ja, er schien mir etwas – merkwürdig.“ „Und mir auch. Er spricht so seltsam. – Doch ich bin jetzt müde, mein Lieber. Weißt du? Gehe auch du nach Haus. Und morgen komme von ihnen so bald als möglich zu mir. Du, es lag doch nichts Beleidigendes darin, daß ich ihm sagte, ich wollte ihn schnell lieben lernen?“ „Nein ... wieso Beleidigendes?“ „Und ... auch nichts Dummes? Denn es hieß doch eigentlich, daß ich ihn jetzt noch nicht liebe.“ „Im Gegenteil, das war sehr schön von dir, so naiv und spontan. Du warst so wunderbar in diesem Augenblick! Dumm wäre nur _er_, wenn er es mit seinem Gesellschaftsempfinden nicht verstünde!“ „Du scheinst ihm nicht gut gesinnt zu sein, Wanjä? Wie schlecht, mißtrauisch und ehrgeizig ich dagegen bin! Lache nicht über mich, du weißt, ich verberge nichts vor dir. Ach, Wanjä, du mein lieber Freund! Wenn ich nun jetzt wieder unglücklich werde, wenn das Leid wieder zu mir kommt, dann wirst du der Einzige sein, der bei mir bleibt! Wodurch habe ich das alles verdient! Verwünsche du mich nie, Wanjä! ...“ Als ich nach Hause zurückgekehrt war, legte ich mich sofort zu Bett. Im Zimmer bei mir war es feucht und dunkel wie in einem Keller. Sonderbare Gedanken und Empfindungen wogten in mir auf und ab, lange konnte ich nicht einschlafen. Doch, wie muß an diesem Abend jener Mensch gelacht haben, der in seiner luxuriösen Wohnung in weichem Bette ruhig einschlief – wenn er uns überhaupt eines Lächelns würdigte! Wahrscheinlich tat er aber wohl das nicht einmal! III. Als ich am andern Morgen um zehn Uhr meine Wohnung verlassen wollte, um nach Wassilij-Ostroff zu Ichmenjeffs zu gehen und von dort zu Natascha, stieß ich an der Tür mit meinem gestrigen Besuch zusammen, der kleinen Enkelin Smitts. Sie hatte zu mir kommen wollen. Ich weiß nicht warum, doch war ich ungemein erfreut darüber. Gestern hatte ich sie mir in der Dunkelheit kaum ansehen können, und jetzt am Tage setzte mich ihr Anblick noch mehr in Erstaunen. Es wäre kaum möglich gewesen, ein eigenartigeres Geschöpf, wenigstens dem Äußeren nach, zu finden. Klein von Wuchs, mit blitzenden, dunklen, nicht russischen Augen, mit dichtem, dunklem, widerspenstigem Haar und mit rätselhaftem, stummem, fast unbeweglichem Blick, hätte es sogar jeden Vorübergehenden fesseln müssen. Besonders aber setzte mich dieser Blick in Erstaunen: in ihm lag so viel Klugheit und ein fast inquisitorisches Mißtrauen. Ihr abgetragenes und schmutziges Kleidchen ähnelte bei Tage gesehen noch mehr einem Lappen. Mir schien es, daß sie an irgend einer inneren Krankheit leiden müßte, die langsam, aber sicher ihren Organismus zerstörte. Ihr bleiches, mageres Gesichtchen hatte einen krankhaften, gelblich braunen Farbenton. Doch ungeachtet ihrer Armut, Verwahrlosung und Verelendung war sie hübsch zu nennen. Sie hatte wundervoll geschwungene Brauen, schön war ihre breite etwas niedrige Stirn, die Lippen waren fein gezeichnet in einem stolzen und kühnen Bogen, doch fast farblos. „Ah, da bist du ja wieder!“ rief ich. „Nun, ich wußte, daß du wiederkommst. Komm mal herein!“ Sie trat langsam über die Schwelle, ganz wie gestern, und blickte mißtrauisch um sich. Aufmerksam betrachtete sie das Zimmer, in dem ihr Großvater gewohnt hatte, als wollte sie sehen, ob es sich mit dem neuen Einwohner verändert hätte. ‚Gerade wie der Großvater, so ist auch die Enkelin,‘ dachte ich bei mir. ‚Sie scheint ja auch nicht recht bei Sinnen zu sein?‘ Sie schwieg indessen immer noch; ich wartete. „Die Bücher!“ flüsterte sie endlich, die Augen zu Boden geschlagen. „Ach, ja! Deine Bücher; da sind sie, da nimm sie! Ich hatte sie für dich aufgehoben.“ Ein neugieriger Blick traf mich und sie verzog ein wenig den Mund, wie zu einem ungläubigen Lächeln. Doch das Lächeln verschwand sofort wieder und verwandelte sich in den früheren, rätselhaften Ausdruck. „Hat denn Großpapa von mir gesprochen?“ fragte sie plötzlich, mich ironisch vom Kopf bis zu den Füßen betrachtend. „Nein, von dir hat er nichts gesagt, aber er ...“ „Aber woher wußten Sie denn, daß ich kommen würde? Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte sie, mich plötzlich unterbrechend. „Weil es mir unmöglich schien, daß dein Großvater ganz allein, ohne jegliche Hilfe hätte leben können. Er war so alt und schwach, da dachte ich, jemand muß doch für ihn gesorgt haben. Da, nimm deine Bücher. Du hast wohl aus ihnen gelernt?“ „Nein.“ „Wozu brauchtest du sie denn?“ „Großpapa lehrte mich lesen, als ich noch zu ihm kam.“ „Bist du denn später nicht mehr gekommen?“ „Ich bin nicht mehr gekommen ... weil ich krank wurde,“ fügte sie, sich gleichsam entschuldigend, hinzu. „Hast du denn keine Mutter, keinen Vater?“ Sie zog plötzlich unwillig ihre Brauen zusammen und ein erschreckter Blick traf mich. Sie verstummte wieder vollständig, drehte sich um und ging leise aus dem Zimmer, ohne mich einer Antwort zu würdigen, ganz wie gestern. Ich sah ihr erstaunt nach. Doch auf der Schwelle blieb sie stehen. „Wie ist er gestorben?“ stieß sie abgebrochen, halb zu mir gekehrt, hervor, mit derselben Bewegung wie gestern, als sie, mit dem Gesicht zur Tür gewandt, nach Asorka fragte. Ich ging auf sie zu, und erzählte ihr alles in kurzen Worten. Sie verharrte bewegungslos in ihrer Stellung und hörte gespannt zu. Ich sagte ihr auch, daß der Alte sterbend von der sechsten Linie gesprochen hätte. „Ich erriet sofort,“ fügte ich hinzu, „daß in ihr jemand von den Seinen leben mußte, daher erwartete ich auch, daß man sich bei mir nach ihm erkundigen würde. Sicher hat er dich sehr geliebt, wenn er im letzten Augenblick an dich gedacht hat.“ „Nein,“ flüsterte sie, wie zufällig, „er hat mich nicht geliebt.“ Sie war sehr erregt. Während ich von ihrem Großvater erzählte, beugte ich mich zu ihr hinab, um ihr ins Gesicht zu sehen. Ich bemerkte, welche Anstrengungen sie machte, um ihre Erregung vor mir, aus Stolz, zu verbergen. Sie erbleichte immer mehr und mehr und nagte krampfhaft an ihrer Unterlippe. Doch besonders beunruhigte mich ihr Herzklopfen: ich konnte es auf zwei bis drei Schritte von ihr hören. Ich dachte, sie würde plötzlich in Tränen ausbrechen, wie gestern; aber es geschah nicht. „Wo ist der Zaun?“ „Welcher Zaun?“ „An welchem er starb.“ „Ich werde ihn dir zeigen ... wenn wir hinausgehen. Höre, wie heißt du?“ „Nicht nötig ...“ „Warum nicht?“ „Nicht nötig; nicht ... ich heiße nicht ...“ sagte sie abgebrochen und schickte sich an fortzugehen. Ich hielt sie zurück. „Warte doch, sonderbares Kind, du! Ich will dir doch nur Gutes tun; du tust mir leid seit gestern, wie du da in der Ecke weintest. Ich kann gar nicht daran denken ... Dabei ist dein Großvater in meinen Armen gestorben, und dachte sicher dabei an dich, als er mir befahl, in die sechste Linie zu gehen, also hat er dich eigentlich mir überlassen. Ich sehe ihn jedesmal im Traum ... Und die Bücher habe ich für dich aufbewahrt, und du bist so scheu und fürchtest dich vor mir. Du bist sicher ein Waisenkind, sehr arm und vielleicht bei fremden Leuten, ist es so oder nicht?“ Ich sprach eindringlich zu ihr, ich weiß selbst nicht, was mich zu ihr zog. Ich fühlte für sie noch etwas anderes als nur Mitleid. Etwas Geheimnisvolles, das mit Smitt zusammenhing, und meine eigene phantastische Stimmung zog mich zu ihr hin. Meine Worte schienen sie gerührt zu haben. Doch sah sie mich noch immer mißtrauisch an, wenn auch jetzt nicht mehr so finster. Dann blickte sie wieder nachdenklich zu Boden. „Helene,“ flüsterte sie plötzlich, ganz unerwartet und kaum hörbar. „Also, Helene heißt du?“ „Ja ...“ „Wirst du mich besuchen?“ „Nein ... ich weiß nicht ... vielleicht,“ flüsterte sie wie im inneren Kampfe. In diesem Augenblick schlug eine Uhr. Sie zuckte zusammen und mit einem unbeschreiblich qualvollen Ausdruck fragte sie mich immer noch flüsternd: „Wieviel Uhr ist es?“ „Ich glaube halb elf.“ Sie schrie auf. „Gott im Himmel!“ rief sie erschreckt aus und stürzte zur Tür hinaus. Doch erhaschte ich sie noch im Flur. „Ich werde dich nicht so fortlassen,“ sagte ich zu ihr. „Wen fürchtest du? Warum hast du dich verspätet? Wohin mußt du?“ „Ich bin heimlich davongelaufen! Lassen Sie mich! Sie wird mich schlagen,“ rief sie zitternd vor Angst, sich aus meinen Händen befreiend. „Höre mich an, steh’ still; du mußt nach Wassilij-Ostroff, auch ich muß dahin. Ich habe mich gleichfalls verspätet und werde mir eine Droschke nehmen. Du fährst einfach mit mir. Ich nehme dich mit, dann kommst du schneller hin, als zu Fuß ...“ „Zu mir kann man nicht, kann man nicht kommen,“ schrie sie in noch größerer Angst. Ihre Züge verzerrten sich bei dem für sie fürchterlichen Gedanken, ich könnte dahin kommen, wo sie lebte. „Ich habe dir doch gesagt, daß ich in die dreizehnte Linie muß, in meiner eigenen Angelegenheit, und durchaus nicht zu dir kommen will! Mit der Droschke geht es schneller. Fahren wir!“ Wir liefen beide die Treppe hinunter. Ich nahm die erste beste Droschke, die vor Alter in allen Fugen krachte. Sie mußte es wohl sehr eilig haben, da sie einwilligte, mitzufahren. Das allerrätselhafteste war, daß ich sie nicht einmal zu fragen wagte. Sie winkte mir sofort mit den Händen ab und war gleich bereit, aus der Droschke zu springen, als ich sie nur danach fragte, wen sie doch zu Hause so fürchte? „Was ist denn das für ein Geheimnis?“ dachte ich. Im Wagen saß sie äußerst unbequem. Bei jedem Stoß griff sie mit ihrer kleinen, schmutzigen Hand nach meinem Paletot. In der anderen Hand hielt sie ihre Bücher, fest an die Brust gedrückt, man sah daraus, wie teuer ihr diese Bücher waren. Als sie sich wieder einmal zurechtsetzte, sah ich zu meinem größten Erstaunen, daß ihre Füße ohne Strümpfe in zerrissenen Stiefeln staken. Obgleich ich beschlossen hatte, sie um nichts mehr zu fragen, so konnte ich mich doch nicht enthalten, etwas zu bemerken: „Hast du wirklich keine Strümpfe an?“ fragte ich sie. „Wie kann man barfuß bei solcher Feuchtigkeit und Kälte gehen?“ „Nein,“ antwortete sie kurz abgebrochen. „Mein Gott, du lebst doch bei irgend jemandem, konntest du dir denn nicht Strümpfe verschaffen, wenn du schon ausgehen mußtest.“ „Nein.“ „Du konntest dich doch erkälten und sterben!“ „Um so besser.“ Sie wollte nicht antworten, wie es schien; meine Fragen ärgerten sie offenbar sehr. „Hier ist er gestorben,“ sagte ich, und zeigte ihr das Haus, wo der Alte verendet war. Sie sah aufmerksam hin, und plötzlich wandte sie sich an mich mit der Bitte: „Um Gottes willen, kommen Sie nicht zu mir. Ich werde zu Ihnen kommen; wenn es mir nur möglich sein wird, werde ich kommen!“ „Schön, ich habe es dir doch schon versprochen, nicht zu kommen. Doch wen oder was fürchtest du so? Du quälst dich furchtbar, es tut mir leid, dich anzusehen ...“ „Ich fürchte niemanden,“ antwortete sie in gereiztem Tone. „Doch vorhin sagtest du: sie wird dich schlagen!“ „Soll sie es doch!“ antwortete sie und ihre Augen blitzten. „Soll sie es doch!“ rief sie bitter aus und ihre Oberlippe zitterte leise und verächtlich. Endlich langten wir auf Wassilij-Ostroff an. Sie befahl dem Kutscher, an der sechsten Linie zu halten, sprang dann aus dem Wagen und sah sich scheu um. „Fahren Sie weiter; ich werde kommen, ich werde kommen!“ wiederholte sie in großer Aufregung und bat mich flehentlich, ihr nicht zu folgen. „Fahren Sie weiter, schneller, schneller!“ Ich fuhr weiter, sprang aber, als ich eine kurze Strecke am Kai entlang gefahren war, aus der Droschke und bog in die sechste Linie ein, wo ich ihr auf der anderen Seite folgte. Ich sah sie sofort, sie war noch nicht weit gegangen, obgleich sie fast lief und sich dabei immer umsah; einmal blieb sie sogar stehen, um besser sehen zu können ob ich ihr folge oder nicht? Ich bog sofort in ein Hoftor ein. Sie hatte mich nicht bemerkt. Sie ging weiter, ich folgte ihr auf der anderen Seite. Meine Neugierde war im höchsten Grade angeregt. Obgleich ich beschlossen hatte, ihr nicht in das Haus selbst zu folgen, so wollte ich doch wenigstens wissen, in welchem Hause sie wohnte ... auf alle Fälle. Ich stand unter dem Eindruck eines schweren und sonderbaren Gefühls, das ganz ähnlich dem Gefühle war, als damals in der Konditorei Asorka plötzlich verendet war. IV. So waren wir bis zum kleinen Prospekt gekommen, sie fast laufend, bis sie endlich in einen Laden trat. Ich blieb stehen und wartete auf sie. „Sie wird doch in keinem Laden leben,“ dachte ich. Und so war es auch. Schon nach einer Minute kam sie wieder heraus und statt der Bücher hielt sie jetzt eine irdene Schale in der Hand. Nach ein paar Schritten trat sie in das Hoftor eines unansehnlichen, alten zweistöckigen schmutziggelben Hauses. Aus einem der drei Fenster des Hauses am unteren Stockwerk hing ein kleiner rotangestrichener Sarg – das Zeichen eines Sargmachers. Die Fenster des oberen Stockwerkes waren außergewöhnlich klein und viereckig mit grünen, geplatzten Scheiben, durch die rosabaumwollene Vorhänge schienen. Ich ging über die Straße auf das Haus zu und las über dem Hoftor auf dem Blechschild die Inschrift „Haus der Kleinbürgerin Bubnowa.“ Doch kaum hatte ich die Inschrift gelesen, als man plötzlich auf dem Hofe der Bubnowa eine hohe weibliche Stimme schreien und schimpfen hörte. Ich blickte durchs Tor. Auf den Stufen einer Holztreppe stand ein dickes Weib, wie eine Kleinbürgersfrau gekleidet, die um den Kopf einen grünen Schal trug. Ihr Gesicht war von widerwärtiger rotblauer Farbe, ihre kleinen, blutunterlaufenen Augen blitzten vor Wut. Man sah es ihr an, daß sie, trotz der frühen Stunde, nicht mehr ganz nüchtern war. Sie fuhr auf die arme Helene los, die mit der Schale in den Händen bewegungslos vor ihr stand. Oben auf der Treppe hinter dem Rücken der Alten, stand eine zerzauste, weißgepuderte und rotgeschminkte Frauensperson. Kurz darauf öffnete sich die Tür zum unteren Stockwerk, und es erschien, wahrscheinlich durch das Geschrei herbeigerufen, eine ärmlich gekleidete Frau in mittleren Jahren von bescheidenem und angenehmem Äußern. Durch die halbgeöffnete Tür des unteren Stockwerkes lugten noch Köpfe anderer Einwohner hervor, ein alter Mann und ein kleines Mädchen. Mitten auf dem Hofe stand mit dem Besen in der Hand ein kräftiger Bursche, wahrscheinlich der Hausknecht, der sich faul die Szene ansah. „Ach, du verfluchtes Ding, du Blutsaugerin, du ...“ schrie die Alte einen ganzen Schwall von Schimpfwörtern auf einmal heraus, ohne Unterbrechung und Überlegung, so daß ihr der Atem ausging. „So lohnst du mir, du Kröte! Nach Gurken habe ich sie geschickt, sie aber treibt sich herum! Mein Herz fühlte es, als ich sie ausschickte. Es nagte und nagte in mir! Gestern abend habe ich sie noch durchgeprügelt, heute läuft sie wieder davon! Wo bist du gewesen, du Herumtreiberin, wo?! ... Zu wem gehst du, verfluchte Hexe, du schiefäugiges Scheusal, du Giftkröte, zu wem? Sprich, du Lausmamsell, oder ich erwürge dich!“ Und das wutschnaubende Weib stürzte sich auf die arme Kleine, als sie aber die andere Frau an der Treppe erblickte, hielt sie plötzlich inne, schrie jedoch jetzt noch mehr als vorher und fuchtelte mit den Händen, als wollte sie die Frau zur Zeugin des furchtbaren Verbrechens machen, das ihr armes Opfer begangen. „Die Mutter hat sie verloren! Ihr wißt alle, daß sie ganz allein auf der Welt geblieben ist. Haben selbst nichts zu essen, dachte aber bei mir, du bringst dem heiligen Nikolai ein Opfer und nimmst die Waise auf. Was aber glaubt ihr wohl? Zwei Monate lang unterhalte ich sie schon, doch in diesen zwei Monaten hat sie mir wahrhaftig das Blut ausgesogen, mir das Fleisch abgenagt, Blutegel! Verstockter Satan, du! Sie schweigt, ich schlage sie, stoße sie, sie schweigt immer; als hätte sie Wasser im Munde – so schweigt sie. Das Herz zerreißt sie mir – aber sie schweigt! Sag’, wofür hältst du dich denn eigentlich, du Grasaffe? Ohne mich würdest du auf der Straße vor Hunger gestorben sein. Meine Füße müßtest du mir waschen, du Wurm. Steif und kalt wärest du jetzt ohne mich!“ „Was tun Sie, Anna Trifonowna, warum ärgern Sie sich so sehr? Was hat sie denn verbrochen?“ fragte ehrfurchtsvoll die Frau, an die sich die wütende Megäre richtete. „Warum, gute Frau, warum? Ich will es nicht, daß man gegen meinen Willen handelt! Sie hätte mich heute fast ins Grab gebracht! Habe sie nach Gurken in den Laden geschickt und sie ist erst nach drei Stunden zurückgekehrt! Mein Herz fühlte es, als ich sie schickte, es nagte in mir, es nagte! Wo war sie? Zu wem geht sie? Wen hat sie um Schutz gebeten? Bin ich nicht ihre Wohltäterin? Vierzehn Silberrubel schuldete mir ihre Mutter, habe sie auf meine Rechnung beerdigt, und ihren Grasteufel zur Erziehung angenommen, meine Liebe, das weißt du doch selbst alles! Habe ich nun nicht ein Recht auf sie? Wenn sie das anerkennen würde, so aber handelt sie gegen mich! Ich habe ihr Glück gewollt. Habe ihr ein weißes Musselinkleidchen und Schuhe gekauft und sie wie Feiertags angezogen! Und was glaubt ihr wohl, meine guten Leute! In zwei Tagen hat sie das ganze Kleid zerrissen, in Stücke zerrissen, und geht lieber in Lumpen! Und was glaubt ihr wohl, mit Absicht hat sie es zerrissen – ich will nicht lügen, habe es selbst gesehen. Da ging mir die Seele über, da habe ich sie blaugeschlagen, mußte aber dafür später den Arzt herbeiholen und ihn bezahlen. Dich plattdrücken müßte man, dich, du Ungeziefer, – dir eine Woche lang nichts zu essen geben. Die Fußböden hat sie zur Strafe waschen müssen! Und was glaubt ihr wohl: sie wäscht sie, wäscht und wäscht! Mir will das Herz platzen – sie wäscht! Nun denke ich: Die wird mir fortlaufen! Kaum hatte ich es gedacht, da war sie mir auch schon fortgelaufen! Ihr habt es selbst gehört, wie ich sie gestern dafür geschlagen habe, meine Hände schmerzten mir davon, nahm ihr die Strümpfe fort, die Stiefel – sie wird doch nicht barfuß gehen, denke ich, sie aber ist auch heute dorthin gelaufen! Wo warst du? Sprich? Bei wem hast du dich über mich beklagt? Sprich? Bummlerin, du Larvenfratz, sprich?“ Sinnlos vor Wut stürzte sie sich auf das vor Angst ganz erstarrte Kind, packte es an den Haaren und warf es zu Boden. Die Schale mit den Gurken flog zur Seite und zerschlug; das vergrößerte natürlich noch die Wut der betrunkenen Megäre. Sie schlug ihr Opfer ins Gesicht, auf den Kopf; Helene aber schwieg hartnäckig und gab keinen Laut von sich, keine Klage wurde laut. Ich stürzte auf den Hof und auf das betrunkene Weib zu. „Was tun Sie? Wie wagen Sie eine arme Waise so zu behandeln!“ rief ich, die Furie am Arm packend. „Was soll denn das bedeuten! Wer bist du denn eigentlich?“ keifte sie mich an, sie ließ von Helene ab und stützte ihre Arme in die Hüften. „Was haben Sie in meinem Hause zu suchen?“ „Sie Unbarmherzige!“ schrie ich sie an. „Wie wagen Sie es, ein armes Kind so zu peinigen? Sie gehört Ihnen nicht; ich habe es selbst gehört, daß sie eine Angenommene, eine arme Waise ist ...“ „Jesus Christus!“ brüllte die Furie. „Was hast du dich da herein zu mischen! Bist du etwa mit ihr gekommen, wie? Ich werde gleich die Polizei benachrichtigen! Andrej Timofejewitsch selbst ist mein bester Freund! Was, ist sie bei dir gewesen? Wer bist du eigentlich? Wie wagst du in ein fremdes Haus zu kommen?!“ Und sie stürzte sich mit ihren Fäusten auf mich. Doch in dem Augenblick ertönte ein scharfer, unmenschlicher Schrei. Ich sah mich um und erblickte Helene besinnungslos und in konvulsivischen Krämpfen auf der Erde. Ihr ganzes Gesicht hatte sich verzerrt, schreckliche Schreie stieß sie aus. Es war ein Anfall von Fallsucht. Die geschminkte Dirne und die einfache Frau hoben sie auf und trugen sie hinauf. „Krepieren sollst du, Verfluchte!“ schrie ihr keifend die Alte nach. „Schon den dritten Anfall im Monat ... Fort mit dir!“ Sie stürzte sich wieder auf mich. „Was stehst du da, Mensch? Wofür kriegst du deinen Lohn?“ „Mach, daß du fortkommst! Willst wohl, daß ich dich am Kragen nehme,“ brummte faul der Hausknecht, nur der Form wegen. „Ein Dritter soll sich nie einmischen. Mach, daß du fortkommst und hinaus mit dir!“ Es blieb mir nichts anderes übrig, ich verließ den Hof mit der vollen Überzeugung, daß ich hier nichts ausgerichtet hatte. Doch kochte die Wut in mir. Ich blieb am Hoftor stehen und blickte zurück. Die Alte war ins Haus gegangen, auch der Hausknecht war nicht mehr zu sehen. Gleich darauf erschien die Frau, die Helene hinaufgetragen, und eilte die Treppe hinunter. Als sie mich erblickte, blieb sie stehen und betrachtete mich mit Neugierde. Ihr gutes, stilles Gesicht flößte mir Mut ein. Ich ging zurück in den Hof, gerade auf sie zu. „Erlauben Sie eine Frage,“ begann ich, „wer ist dieses Kind, und wer diese scheußliche Alte? Glauben Sie nicht, daß ich nur aus Neugierde frage. Diesem Kinde bin ich begegnet und es interessiert mich.“ „Wenn Sie sich für das Kind interessieren, so wäre es besser, Sie nähmen es zu sich oder suchten ihm einen Platz, als daß es hier umkäme,“ sagte die Frau etwas gezwungen und schickte sich an, fortzugehen. „Wenn Sie mir aber nichts Näheres sagen wollen, was soll ich denn tun? Ich kenne die Verhältnisse hier nicht. Das war wohl die Bubnowa selbst, die Wirtin des Hauses?“ „Ja, das war sie selbst.“ „Wie ist sie denn zu dem Kinde gekommen? Ist die Mutter des Kindes hier gestorben?“ „Wie sie dazu gekommen ... Das ist nicht unsere Sache.“ Und sie wollte wieder fort. „So tun Sie mir doch den Gefallen; ich sage Ihnen doch, daß es mich sehr interessiert. Ich bin vielleicht imstande, hier etwas zu tun. Wer ist dieses Kind? Wer war ihre Mutter, – wissen Sie es?“ „Ausländer waren es, Angereiste; lebten bei uns unten; sie war so krank und starb an der Schwindsucht.“ „Sie muß wohl sehr arm gewesen sein, wenn sie unten in einem Winkel lebte?“ „Ach, so arm! Das Herz schnürte sich zusammen. Wir haben selbst kaum zu essen, doch blieb sie auch uns die sechs Rubel schuldig in den fünf Monaten, die sie bei uns lebte. Wir haben sie beerdigt, mein Mann hat ihr den Sarg gemacht.“ „Die Bubnowa sagte doch, sie hätte sie beerdigt?“ „Keineswegs!“ „Wie hieß sie denn?“ „Ich kann das nicht aussprechen. So ein fremder deutscher Name.“ „Smitt?“ „Nein, nicht ganz so. Anna Trifonowna hat die Waise zu sich genommen zur Erziehung, wie sie sagt. Doch ist dabei nichts Gutes zu erwarten ...“ „Wahrscheinlich zu einem gewissen Zweck?“ „Zu nichts Gutem,“ antwortete die Frau, nachdenklich und zögernd. „Doch was geht es uns an ...“ „Du solltest besser deinen Mund halten!“ ertönte hinter uns eine Männerstimme. Es war ihr Mann, ein Mensch in mittleren Jahren, in einem langen Kaftan gekleidet, ein Kleinbürger und Tischlermeister. „He, Väterchen, wir haben Ihnen nichts zu sagen: das ist nicht unsere Sache ...“ brummte er, mich mißtrauisch von der Seite ansehend. „Und du, mach daß du fortkommst! Leben Sie wohl, mein Herr, ich bin Sargmacher. Wenn Sie einen Sarg brauchen, stehe ich zu Diensten ... sonst aber haben wir nichts mit Ihnen zu tun ...“ Nachdenklich und in tiefer Erregung verließ ich das Haus. Tun konnte ich hier jetzt nichts, doch fiel es mir schwer, zu gehen. Die wenigen Worte der stillen Frau hatten mich tief erschüttert. Daß hier etwas Schlechtes vor sich ging, das fühlte ich deutlich. Mit gesenktem Kopf ging ich nachdenklich die Straße entlang, als plötzlich eine laute Stimme meinen Namen rief. Als ich aufblickte, steht vor mir ein berauschter, fast schwankender Mensch, ganz sauber angezogen, aber in schlechtem Mantel und schäbiger Mütze. Mir schien sein Gesicht bekannt. Ich sah ihn schärfer an. Er blinzelte mir zu und lächelte. „Er kennt mich nicht?“ V. „Ah! Das bist du, Masslobojeff!“ rief ich, in ihm plötzlich einen Schulkameraden aus der Provinz erkennend. „Das ist mal eine Begegnung!“ „Ja, sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen. Das heißt, begegnet sind wir uns schon öfter, aber Eure Hochwohlgeboren haben nicht geruht, mich eines Blickes zu würdigen. Sie gehören doch jetzt zu den Literaturgenerälen, ja–a ...“ Er lächelte ironisch. „Nun, Freund Masslobojeff, du lügst einfach,“ unterbrach ich ihn. „Erstens gibt es in der Literatur keine Generäle und die würden außerdem nicht so aussehen wie ich, und zweitens laß dir sagen, daß ich dir ein paarmal auf der Straße begegnet bin, aber du schienst mir selbst aus dem Wege zu gehen – sollte ich dir da noch nachlaufen? Und weißt du, was ich glaube? Wenn du nicht soeben einen Rausch hättest, so würdest du mich auch heute nicht angeredet haben. Stimmt, nicht? Nun, wie geht es dir? Ich bin sehr froh, lieber Freund, daß ich dir begegnet bin.“ „Wirklich? Aber kompromittiere ich dich nicht durch ... mein Äußeres, sozusagen? Doch jetzt lohnt es sich nicht mehr, danach zu fragen: ich denke, Bruder, immer daran, was du für ein guter Kamerad warst. Dich hat man einmal meinetwegen durchgeprügelt. Du schwiegst aber und verrietest mich nicht, und statt dir zu danken, habe ich dich noch eine ganze Woche lang gefoppt. Du gute Seele! Umarmen wir uns! Wieviel Jahre schlage ich mich schon – Tag und Nacht – allein durch die Welt, doch habe ich das alte nie vergessen. So etwas vergißt man nie! Und du, was machst du? ...“ „Ja, und ich, ich tue dasselbe ...“ Er sah mich lange an, mit dem rührseligen Blick eines betrunkenen Menschen. Im übrigen war er ein guter Kerl. „Nein, Wanjä, du bist nicht wie ich,“ sagte er endlich in tragischem Ton. „Ich habe doch gelesen, Wanjä, gelesen! ... Höre mich an: sprechen wir aufrichtig und von Herzen! Hast du Eile!?“ „Ich habe allerdings Eile; und ich muß dir gestehen, daß mich etwas ungemein beschäftigt. Sage mir besser, wo du wohnst?“ „Ich werde es dir gleich sagen. Doch das ist nicht besser. Soll ich dir aber sagen, was besser ist?“ „Nun, was?“ „Siehst du dort?“ Und er wies auf ein Schild, zehn Schritt von uns entfernt, „siehst du: Konditorei und Restaurant, das ist ein guter Ort. Ich sage dir, es ist ein gutes Lokal, und der Schnaps – es gibt nichts Besseres! Mir Schlechtes vorzusetzen, das wagt man nicht so leicht. Man kennt Filipp Filippytsch. Ich heiße so, Filipp Filippytsch! Wie, genierst du dich? Laß mich zu Ende reden. Jetzt ist es gleich ein Viertel nach elf, in einer Viertelstunde gebe ich dich wieder frei. Zwanzig Minuten kann man einem alten Freunde doch schenken, nicht?“ „Wenn es nur zwanzig Minuten sind – gut; denn, liebe Seele, ich schwöre dir, ich kann nicht ...“ „Nun, wenn es geht, dann komme. Aber vor allem muß ich dir sagen, daß dein Gesicht keinen guten – na ... Ausdruck hat, hast du dich etwa geärgert, wie?“ „Ja, du hast recht.“ „Das habe ich doch sofort erraten. Ich habe mich jetzt, Bruder, auf die Physiognomik gelegt, das ist auch eine Beschäftigung. Nun, gehen wir, reden wir miteinander. In zwanzig Minuten habe ich Zeit, mir einen ‚Admiral‘ in die Kehle zu gießen, das heißt einen Birken-, dann einen Pomeranzenschnaps und darauf einen parfait-amour und zu guter Letzt wird sich schon auch noch was anderes finden. Ich trinke viel, Bruder! Nur an den Feiertagen, vor dem Gottesdienst bin ich nüchtern. Du halte es, wie du willst. Ich brauche nur dich. Trinkst du auch, – willst du mir diese Ehre erweisen, so komm! Wechseln wir ein paar Worte, und dann gehen wir wieder auseinander, vielleicht – auf zehn Jahre. Ich passe ja doch nicht zu dir, Wanjä!“ „Rede nicht so viel, gehen wir lieber. Wie gesagt, zwanzig Minuten und dann ...“ Zum Restaurant führte eine Holztreppe in die zweite Etage. Auf der Treppe begegneten wir zwei ganz betrunkenen Herrn. Als sie uns erblickten, machten sie nur wankend Platz. Einer von ihnen war ein noch ganz junger Mensch, bartlos und mit einem ganz leichten Anflug von Schnurrbart und mit einem besonders dummen Gesichtsausdruck. Angezogen war er ungemein komisch, wie ein Modegeck, doch zugleich war es, als stecke er in einem ihm fremden Anzug. Ringe trug er an den Fingern und eine kostbare Busennadel trug er im Halstuch. Er hatte einen Scheitel, der seinen dummen Gesichtsausdruck noch erhöhte und lächelte und kicherte ununterbrochen. Der andere war ein Mann schon von fünfzig Jahren, dick und aufgedunsen, nachlässig gekleidet, kahlköpfig, doch trug auch er eine kostbare Nadel im Halstuch. Der Ausdruck seines Gesichts war sinnlich und roh, seine bösen, mißtrauischen, kleinen Augen schwammen im Fett und blickten wie aus ein paar Spalten. Beide schienen Masslobojeff zu kennen. Der Ältere verzog bei der Begegnung mit uns sein Gesicht zur Grimasse und der andere lächelte widerlich-süßlich – er lüftete seine Mütze. „Entschuldigen Sie, Filipp Filippytsch,“ murmelte er, ihn süßlich ansehend. „Was wünschen Sie?“ „Verzeihung, dort sitzt Mitroschka. Ihrer Meinung nach, Filipp Filippytsch, ist er jetzt ein Schuft.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Nur so ... Ihm aber (er wies mit dem Kopf auf seinen Kumpan) hat man in der vorigen Woche auf Mitroschkas Veranlassung an einem gewissen unanständigen Ort das ganze Gesicht mit Sahne eingeschmiert ... khi!“ Der Dicke stieß ihn ärgerlich mit dem Ellenbogen. „Würden Sie nicht mit uns, Filipp Filippytsch, wieder mal ein halbes Dutzend trinken, können wir darauf hoffen?“ „Nein, das ist jetzt nicht möglich,“ antwortete Masslobojeff. „Ich habe jetzt zu tun.“ „Kchi! Auch ich habe mit Ihnen eine Angelegenheit zu besprechen.“ Der andere stieß ihn wieder mit dem Ellbogen. „Nachher, ein anderes Mal!“ Masslobojeff bemühte sich augenscheinlich, sie nicht anzusehen. Als wir in den ersten Raum eintraten, in dem sich ein reich beladenes Büfett befand, brachte mich Masslobojeff sofort in eine Ecke und sagte zu mir: „Dieser junge Mensch ist ein Sohn Ssisobrjuchoffs, eines reichen Kaufmanns, der jetzt nach dem Tode des Vaters dessen Millionen durchbringt. Er war jüngst in Paris und hat dort sein halbes Vermögen vergeudet, nach einem Jahr wird er auf der Straße sein. Dumm ist er wie eine Gans. – Manchmal verkehrt er nur in den besten Restaurants, dann wieder in Kellern und Kabacken, mit Schauspielerinnen ... jetzt will er zu den Husaren – hat eine Bittschrift eingereicht. Der andere, alter Lebemann, – Archipoff, ist auch Kaufmann oder Verwalter, eine echte Bestie und ein Schelm, jetzt gut Freund mit Ssisobrjuchoff, Judas und Falstaff in einem, ein doppelter, falscher Bankrotteur und sinnlicher Wurm. Ich weiß von ihm eine Sache ... Es freut mich, daß ich ihm hier begegnet bin; ich hatte darauf gewartet ... Archipoff plündert natürlich den Ssisobrjuchoff. Er weiß und kennt alle Spelunken. Darum ist er für diesen Jüngling ein sehr genehmer Kumpan. Ich, Bruder, lauere ihm schon lange auf, auch Mitroschka, dieser junge Mensch dort in reicher Kleidung – der dort am Fenster steht mit dem Zigeunergesicht. Er handelt mit Pferden und ist mit allen Husaren bekannt. Ich sage dir, das ist ein solcher Betrüger, vor deinen Augen wird er Papiere fälschen, du siehst es mit eigenen Augen und glaubst ihm doch. Er geht jetzt im Samtkaftan, wie ein Slawophile; (der steht ihm aber fein) zieh ihm aber einen Frack an oder etwas Ähnliches und gehe mit ihm in den englischen Klub und sage von ihm, das ist, sagen wir, ein Graf Barabanoff, so wird man ihn dort tatsächlich für einen Grafen halten: er wird Whist spielen und sich wie ein Graf benehmen und keiner wird den Betrug bemerken. Schade, er wird sicher schlecht enden. Nun also, dieser Mitroschka ist auf den Dicken wütend, weil es ihm jetzt etwas faul geht und der Alte ihm Ssisobrjuchoff, seinen früheren Kameraden, abspenstig gemacht hat, noch bevor dieser ihm das Fell über die Ohren ziehen konnte. Wenn sie hier alle drei zusammen gewesen sind, dann haben sie wieder mal ein Stückchen vor. Ich weiß sogar, um was es sich handelt, denn Mitroschka hat mich davon unterrichtet, weshalb Archipoff und Ssisobrjuchoff sich hier herumtreiben. Eine Gemeinheit ist es. Ich will diese Gelegenheit ausnutzen und habe meine Gründe dazu. Mitroschka soll nichts davon bemerken, sieh nicht zu ihm hinüber, bitte. Wenn wir fortgehen werden, wird er wohl selbst zu mir kommen und mir das Nötige sagen ... Doch jetzt gehen wir ins andere Zimmer, Wanjä! Stepan,“ wandte er sich an den Kellner, „du weißt, was ich wünsche.“ „Ich verstehe.“ „Und wirst du mich befriedigen?“ „Ich werde Sie befriedigen!“ „Nun, so tu es! Setze dich, Wanjä. Warum siehst du mich so an? Ich habe schon lange bemerkt, daß du mich sonderbar ansiehst. Wundere dich nicht, mein Lieber. Alles kann einem Menschen passieren, auch, was ihm nie geträumt, und besonders nicht damals ... als wir den Kornelius Nepos studierten. Doch glaube mir, Wanjä, wenn Masslobojeff auch vom Wege abgeraten ist, sein Herz ist doch dasselbe geblieben ... Nur die Verhältnisse haben sich geändert. Wenn ich selbst auch nichts vorstelle, Schaden bringe ich niemandem. Zuerst wollte ich Arzt werden, dann unter die Lehrer gehen, habe sogar einen Artikel über Gogol geschrieben, dann wollte ich Goldarbeiter werden, mich verheiraten – sie willigte ein, obgleich ich nichts besaß. Zur Trauungszeremonie hatte ich mir schon Stiefel gepumpt, meine eigenen waren voll Löcher ... Doch kam es nicht dazu. Sie wurde die Frau eines Lehrers, ich ging in ein Kontor. Da entstand eine ganze Musik, und, wenn ich auch keine Stellung mehr habe, so verdiene ich mir doch genügend Geld: ich lasse mir nämlich Sporteln zahlen und zeuge für die Wahrheit auf Erden. Vor dem Dummkopf bin ich der Gerechte, und vor dem Gerechten bin ich der Dummkopf. Die Regel kenne ich jetzt, ein Krieger im Felde macht keinen Krieg aus. Meine Arbeit ist mehr eine unsichtbare ... Du begreifst?“ „Du bist doch nicht am Ende ein Polizeispitzel?“ „Nein, das bin ich nicht, doch gebe ich mich mit manchen Sachen ab, zum Teil offiziell, zum Teil aus Liebe zum Beruf. Siehst du, Wanjä, ich bin ein Trinker. Da ich aber niemals meinen Kopf vertrinke, so bin ich mir meiner Zukunft bewußt. Meine Zeit ist dahin, einen Mohren wirst du nicht weiß waschen. Eins nur muß ich sagen, wenn sich nicht in mir noch etwas Menschliches regte, so wäre ich heute nicht zu dir gekommen, Wanjä. Du hast recht, wenn ich dich auch schon des öfteren gesehen, so wagte ich doch nicht, dich anzureden, ich schob es immer auf. Ich bin deiner nicht wert. Und die Wahrheit zu gestehen, Wanjä, ich tat es auch heute nur, weil ich nicht nüchtern war. Doch alles das ist Unsinn, was ich rede, – sprechen wir lieber von dir. Nun, mein Lieber, ich hab’s gelesen. Ich, mein Freund, spreche von deinem Erstgeborenen. Als ich’s gelesen hatte, Bruder, wollte ich beinah ein anständiger Mensch werden! Doch habe ich es bald wieder aufgeben müssen. So ist es ...“ Und in dieser Weise redete er noch eine ganze Weile und wurde immer mehr und mehr betrunken. Zuletzt war er bis zu Tränen gerührt. Masslobojeff war immer ein guter Bursch gewesen, doch leider über seine moralischen Kräfte hinaus entwickelt; schlau, hinterlistig, verschmitzt schon von Kindheit an, war er doch im Grunde genommen ein guter Mensch – ein verlorener Mensch. Solcher Typen gibt es viele unter uns Russen. Gewöhnlich sind sie außerordentlich begabt, doch verwirrt sich die Welt in ihnen, und sie sind zu charakterlos, um nach ihrem Gewissen zu handeln. Meistenteils verkommen sie, und meistens wissen sie es selbst, daß sie zugrunde gehen. Masslobojeff zum Beispiel ging mit Bewußtsein am Schnaps zugrunde. „Höre mich an, mein Freund, noch ein Wort,“ fuhr er fort. „Auch ich erlebte es, wie dein Ruhm zuerst wuchs; habe alle deine Kritiken gelesen; (ich habe sie wirklich gelesen; du glaubst wohl, ich lese nicht) begegnete dir darauf, du warst in schlechten Stiefeln, ohne Galoschen im Schmutz, mit altem Hut. Nun, dachte ich, so geht er unter die Journalisten?“ „Ja, Masslobojeff.“ „Also, ein Postgaul bist du geworden?“ „So etwas Ähnliches.“ „Nun, darauf will ich dir erwidern, Bruder: Trinker ist besser! Sieh, ich betrinke mich, lege mich in meinem Zimmer auf den Diwan (ich habe einen schönen, weichen Sprungfederdiwan) und denke mir, daß ich irgendein Homer oder Dante bin, oder auch Friedrich Barbarossa – denn vorstellen kann man sich ja alles. Du aber darfst dir nicht vorstellen, daß du Homer oder Dante bist, denn du willst du selbst sein und alles ‚wollen‘ ist dir verboten; du bist ein bezahlter Postgaul. Ich lebe in der Einbildung, du in der Wirklichkeit. Höre, seien wir aufrichtig – brauchst du Geld? Ich habe Geld. Mache keine Grimassen. Nimm das Geld und kaufe dich los von deinen Verlegern, wirf die Fesseln ab, befreie dich für ein ganzes Jahr, um deiner Lieblingsidee zu leben, schaffe eine große Sache! Wie? Was meinst du?“ „Höre, Masslobojeff! Dein freundschaftliches Anerbieten schätze ich sehr, doch kann ich dir jetzt noch nichts Bestimmtes darauf antworten – warum – davon ein anderes Mal. Es gibt da gewisse Umstände. Ich danke dir für deinen Vorschlag, ich verspreche dir, noch einmal darauf zurückzukommen. Doch handelt es sich jetzt um etwas anderes, du bist zu mir aufrichtig gewesen, darum habe ich mich entschlossen, auch dich um Rat zu bitten, um so mehr, da du, wie es scheint, in diesen Sachen sehr bewandert bist.“ Und ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Smitt und seiner Enkelin. Sonderbar: an seinen Augen glaubte ich zu bemerken, daß ihm der Vorfall nicht ganz unbekannt war. Ich fragte ihn darnach. „Ich habe,“ antwortete er, „nur vom Tode eines alten Smitt in einer Konditorei gehört. Doch Madame Bubnowa kenne ich ganz genau. Von dieser Dame habe ich schon vor zwei Monaten Sporteln genommen. ^Je prends mon bien où je le trouve^, in der Beziehung bin ich ganz wie Molière. Obgleich ich ihr damals schon hundert Rubel abgenommen habe, so habe ich mir doch das Wort gegeben, von ihr noch weitere fünfhundert Rubel zu erpressen. Ein schlechtes Weib das. Handelt mit unlauteren Sachen. Dabei wäre ja nichts, wenn sie es nur nicht zu toll triebe. Halte mich, bitte, nicht für einen Don Quichotte. Die Sache kann mir gelingen. Als ich nämlich Ssisobrjuchoff hier vor einer halben Stunde antraf, war ich sehr zufrieden. Ssisobrjuchoff hat sicher der alte Archipoff hierhergeschleppt, und da ich weiß, mit welchen Dingen Archipoff handelt, so schließe ich daraus ... Na, ich werde ihn schon kriegen! Ich bin sehr froh, daß ich etwas über das kleine Mädchen erfahren habe; jetzt bin ich auf eine Spur gekommen. Ich, Bruder, habe die verschiedensten Privataufträge, und du glaubst nicht, mit welchen hochstehenden Leuten ich bekannt bin! Unlängst habe ich in Sachen eines Fürsten nachgespürt, ich sage dir – eine Affäre, die man von einem Fürsten nicht erwarten kann. Oder, soll ich dir noch eine andere Geschichte erzählen? Du, Bruder, komme mal zu mir, ich kann dir Sachen erzählen, die man erdichtet, aber nicht für wahr hält ...“ „Wie lautet der Name des Fürsten?“ unterbrach ich ihn ahnungsvoll. „Wozu willst du’s wissen? Walkowskij.“ „Pjotr?“ „Ja. Kennst du ihn?“ „Ja, ich kenne ihn, doch nur so ein wenig. Nun, Masslobojeff, wegen dieses Herrn werde ich des öfteren zu dir kommen,“ sagte ich, mich erhebend, „jetzt hast du meine Neugierde erregt.“ „Siehst du, alter Freund, du kannst mich ausforschen, so viel du willst. Und viel kann ich dir erzählen, doch nur bis zu einer gewissen Grenze, verstehst du? Denn Kredit und Ehre darf ich in meinem Beruf nicht aufs Spiel setzen, du verstehst mich, und so weiter ...“ „Doch soweit es die Ehre erlaubt.“ Ich war in großer Erregung. Er bemerkte es. „Aber wie denkst du über die Geschichte, die ich dir soeben erzählt habe? Hast du dich zu etwas entschlossen, oder nicht?“ „Bei der Geschichte? Warte einen Augenblick, ich werde bezahlen.“ Er ging ans Büfett und traf da wie zufällig mit dem jungen Mann zusammen, den sie einfach Mitroschka nannten. Mir schien es, daß Masslobojeff näher mit ihm bekannt war, als er es mir gegenüber zugegeben. Wenigstens trafen sie sich augenscheinlich nicht zum erstenmal. Mitroschka war dem Äußeren nach ein sehr origineller Bursche. In seinem russischen Samtrock und dem roten Seidenhemde mit seinen scharfen, doch edlen Zügen, von brauner Gesichtsfarbe, mit stolzen, blitzenden Augen, machte er einen interessanten und äußerst anziehenden Eindruck auf mich. Seine Gesten waren lebhaft, trotzdem er sich in diesem Augenblick ersichtlich Mühe gab, sachlich, solid und wichtig zu erscheinen. „Höre, Wanjä,“ sagte Masslobojeff, zu mir zurücktretend, „komme heute abend um sieben Uhr zu mir, ich werde dir manches mitteilen können. Allein ... habe ich ja nichts mehr zu bedeuten; früher bedeutete ich etwas, seitdem ich jedoch ein Trunkenbold geworden, habe ich mich auch von den Geschäften mehr zurückgezogen. Doch sind mir noch meine früheren Beziehungen geblieben, und ich kann vieles erfahren und die Sachen beschnuppern ... Doch genug davon ... Meine Adresse ist Schestilawotschnaja ... Jetzt noch einen Goldenen, Bruder, und dann nach Haus, sich hinlegen! ausschlafen! Wenn du kommst, stelle ich dich Alexandra Ssemjonowna vor, und wenn wir Zeit haben, sprechen wir auch noch von der Literatur.“ „Und davon?“ „Vielleicht auch davon.“ „Dann komme ich vielleicht, oder nein, ich komme bestimmt ...“ VI. Anna Andrejewna hatte mich schon lange erwartet. Das, was ich ihr gestern von Nataschas Brief erzählt, hatte sie so sehr erregt, daß sie mich bereits früh am Morgen, wenigstens seit zehn Uhr erwartete. Als ich nun endlich um zwei Uhr bei ihr erschien, hatte die Qual der Erwartung bei ihr den höchsten Grad erreicht. Außerdem wollte sie mir ihre neuen Hoffnungen mitteilen, die ihre Seele seit gestern erfüllten und mir von Nikolai Ssergejewitsch erzählen, der sich seit gestern abend krank fühlte, zu ihr aber außerordentlich zärtlich gewesen war. Sie empfing mich mit unzufriedenem, kaltem Gesichtsausdruck, sprach sehr abgemessen und zeigte nicht die geringste Neugierde, etwas von mir zu erfahren. Fast hätte sie mir die Frage gestellt: „Warum bist du gekommen? Macht es dir wirklich Vergnügen, jeden Tag hierher zu laufen?“ So ärgerte sie sich über mein spätes Kommen. Doch ich ließ mich nicht stören und erzählte ihr jede Einzelheit der gestrigen Szene bei Natascha. Als nun die Alte vom Besuch des Fürsten und dessen feierlicher Werbung hörte, vergaß sie ganz ihren Ärger. Es läßt sich nicht beschreiben, wie glücklich sie war, wie sie sich zugleich bekreuzte, weinte, lachte und vor dem Heiligenbild auf die Kniee fiel. Sie umarmte mich außer sich vor Freude und wollte sofort zu Nikolai Ssergejewitsch gehen, um ihm alles mitzuteilen. „Lieber Junge, er ist ja doch krank von all diesen Erniedrigungen und Beleidigungen; wenn er es nun erfahren wird, daß Natascha volle Genugtuung widerfährt, so wird er im Augenblick alles vergessen.“ Nur mit Gewalt konnte ich sie davon abhalten. Die gute Alte kannte ihren Mann noch nicht, trotzdem sie fünfundzwanzig Jahre mit ihm zusammen gelebt. Sie wollte auch sofort mit mir zusammen zu Natascha fahren. Ich stellte ihr vor, daß nicht nur Nikolai Ssergejewitsch sehr ungehalten darüber sein würde, sondern daß wir, durch eine so übereilte Handlung, der ganzen Sache schaden könnten. Endlich beruhigte sie sich, hielt mich aber wohl noch eine halbe Stunde mit unnötigem Gespräch auf und sprach die ganze Zeit davon, „daß sie nun mit ihrer Freude ganz allein in ihren vier Wänden sitzen solle“. Ich konnte sie endlich davon überzeugen, wie eilig ich es hatte, und daß Natascha mich schon längst erwarte. Die Alte bekreuzte mich auf den Weg, schickte Natascha ihren Segen und begann fast zu weinen, als ich ihre Bitte, heute abend bei ihr zu erscheinen, wenn bei Natascha etwas Besonderes vorfallen sollte, abschlagen mußte. Nikolai Ssergejewitsch sah ich dieses Mal überhaupt nicht; er hatte die ganze Nacht über nicht geschlafen, klagte über Kopfweh und lag jetzt in seinem Zimmer. Auch Natascha hatte mich seit dem Morgen erwartet. Als ich bei ihr eintrat, ging sie wie gewöhnlich mit gekreuzten Armen, in Nachdenken versunken, im Zimmer auf und ab. Auch jetzt noch, wenn ich an sie denke, sehe ich sie immer allein in diesem ärmlichen Zimmer, einsam, verlassen, auf etwas wartend, mit gekreuzten Armen und gesenkten Augen, ziellos auf- und abgehen. Sie fuhr auch jetzt fort, leise auf- und abzugehen, und fragte nur, warum ich so spät gekommen sei. Ich erzählte ihr in aller Kürze meine Erlebnisse, doch sie hörte mich kaum. Offenbar war sie mit etwas ganz anderem beschäftigt. „Was gibt’s Neues?“ fragte ich sie. „Neues? Nichts!“ antwortete sie mir mit einer sonderbaren Betonung, der man es sofort anhörte, daß sie nur auf mich gewartet, um mir dieses Neue mitzuteilen. Doch wußte ich, daß sie es nach ihrer Gewohnheit nicht sofort tun würde, sondern erst beim Abschied. So war es immer bei uns gewesen. Ich bereitete mich schon darauf vor und wartete. Wir sprachen natürlich zuerst vom gestrigen Erlebnis. Es wunderte mich, daß wir beide der gleichen Meinung über den Fürsten waren: er mißfiel ihr, mißfiel ihr heute weit mehr noch, als gestern. Als wir alles Gestrige durchgesprochen hatten, bemerkte plötzlich Natascha: „Weißt du, Wanjä, es pflegt aber immer so zu sein, und es ist das beste Zeichen, wenn ein Mensch einem zuerst nicht gefällt – dann gefällt er einem später. Mir ist es des öfteren so gegangen.“ „Gott gebe es, Natascha. Meine endgültige Meinung ist es übrigens, wie ich es mir auch hin und her überlege, daß der Fürst, obwohl er ein Jesuit ist, eure Ehe jetzt doch in Wirklichkeit zu wünschen scheint.“ Natascha blieb inmitten des Zimmers stehen und sah mich streng an. Ihr ganzes Gesicht veränderte sich; ihre Lippen zitterten leicht. „Wie hätte er denn in _diesem_ Falle ... lügen können?“ fragte sie in verhaltenem Unwillen. „Gewiß, gewiß!“ beeilte ich mich, ihr zu versichern. „Natürlich hat er nicht gelogen. Daran zu denken ist einfach unmöglich. Aus welch einem Grunde sollte er es getan haben? Und schließlich, was bin ich denn in seinen Augen, wenn er sich in solchem Grade über mich lustig machen kann? Kann denn ein Mensch wirklich einer solchen Beleidigung fähig sein?“ „Freilich, freilich ist das unmöglich!“ bestätigte ich meinerseits, bei mir aber dachte ich: „Gerade darüber denkst du jetzt nach, meine Arme, also mißtraust du ihm mehr noch als ich.“ „Ach, wie wünschte ich, daß er schneller zurückkehrte!“ sagte sie. „Den ganzen Abend wollte er bei mir verbringen ... Es muß doch eine wichtige Angelegenheit sein, wenn er alles läßt und fortfährt. Weißt du nichts davon, Wanjä? Hast du nichts darüber gehört?“ „Gott weiß es. Er soll alles Geld verleben. Was wissen wir von Geldsachen, Natascha.“ „Nichts. – Aljoscha sprach von einem Brief.“ „Von irgendeiner Nachricht. War Aljoscha hier?“ „Er war hier.“ „Früh?“ „Um zwölf Uhr; er schläft ja so lange. Ich schickte ihn zu Katherina Fedorowna, ich konnte doch nicht anders, Wanjä?“ „Hatte er selbst denn nicht die Absicht hinzugehen?“ „Ja, er selbst ...“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch verstummte sie. Ich sah sie erwartungsvoll an. Ihr Gesicht war traurig. Ich hätte sie gern darum gefragt, doch war ihr das oft nicht angenehm. „Ein sonderbarer Mensch ist er doch,“ sagte sie endlich. Sie verzog ein wenig ihren Mund zu einem bitteren Lächeln und vermied es, mich anzusehen. „Wieso? Was ist denn vorgefallen?“ „Nichts, nur so ... Er war übrigens sehr nett ... Nur zu ...“ „Jetzt haben alle seine Sorgen ein Ende ...“ sagte ich. Natascha sah mich lange forschend an. Sie schien mir selbst gern antworten zu wollen: „Welche Sorgen machte er sich denn früher,“ doch in meinen Worten lag schon derselbe Gedanke. Sie schwieg gekränkt. Übrigens war das nur eine vorübergehende Regung. Sie war sehr bald wieder freundlich, liebenswürdig, und von ihrer alten stillen Art. Ich blieb bei ihr wohl eine Stunde lang. Sie war sehr unruhig, ihr graute vor dem Fürsten. An einigen ihrer Fragen bemerkte ich, daß es ihr sehr darum zu tun war, zu erfahren, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht haben könne. Wie sie sich verhalten? Ob sie ihre Freude nicht zu auffällig gezeigt? Ob sie nicht allzu zurückhaltend, oder im Gegenteil, zu zuvorkommend gewesen sei? Hatte er sich nicht am Ende über sie lustig gemacht? Oder Verachtung für sie empfunden? ... Bei dem Gedanken schoß ihr das Blut wie Feuer in die Wangen. „Kann man sich wirklich so darüber aufregen, was ein schlechter Mensch über einen denkt? Soll er doch denken, was er will!“ sagte ich. Natascha war mißtrauisch, aber von Herzen rein und aufrichtig. Sie war stolz und konnte es nicht ertragen, das, was sie hoch hielt, verspottet zu sehen. Die Verachtung eines Menschen hätte sie gleichfalls mit Verachtung beantwortet, doch ihr Herz hätte es nicht ertragen, daß jemand über ihr Heiligstes gelacht. Das war keine Folge von Charakterschwäche, sondern nur von geringer Kenntnis des Lebens und der Menschen. Sie hatte ihr ganzes Leben in ihrem Winkel verbracht, ohne ihn jemals zu verlassen. Und schließlich ist es eine Eigenschaft aller gutmütigen Charaktere – eine Eigenschaft, die vom Vater auf sie übergegangen – stets einen Menschen besser zu machen als er ist, nur Gutes in ihm zu sehen: diese Eigenschaft war in ihr sehr entwickelt. Derartige Menschen leiden dann sehr, wenn sie sich getäuscht fühlen, um so mehr, weil sie selbst schuld daran sind. Sie fordern mehr, als andere geben können. Und darum ist es besser, wenn sie in ihren Winkeln bleiben und nicht in die Welt gehen. Übrigens hatte Natascha zu viel Leid und Erniedrigung erfahren. Sie war ein kranker Mensch geworden, den man nicht beschuldigen darf – wenn in meinen Worten überhaupt etwa eine Anklage liegt ... Doch ich hatte Eile und erhob mich, um fortzugehen. Sie war ganz erstaunt darüber und wäre fast in Tränen ausgebrochen, obgleich sie die ganze Zeit sich mir gegenüber sehr kühl verhalten hatte, kühler als gewöhnlich. Doch jetzt küßte sie mich zärtlich und sah mich lange an. „Höre,“ sagte sie. „Aljoscha war zu sonderbar heute und hat mich wirklich in Erstaunen gesetzt. Er war sehr nett und schien sehr glücklich zu sein, doch kehrte und drehte er sich die ganze Zeit vor dem Spiegel wie ein Fant. Er ist schon etwas gar zu nachlässig in seinem Betragen geworden ... Auch war er nicht lange hier. Stelle dir vor, er hat mir Konfekt gebracht!“ „Konfekt? Das ist ja sehr naiv und nett von ihm. Ach, was ihr beide für Menschen seid! Er ist ja noch immer der lustige Schulbub von früher. Aber du, du!“ Jedesmal, wenn Natascha ihren Ton veränderte und zu mir mit irgendeiner Klage über Aljoscha kam, oder irgendwelche Zweifel von mir gelöst haben wollte, oder mit einem Geheimnis kam, das ich selbst erraten mußte, so sah sie mich immer mit offenem Munde flehend an, mit der unausgesprochenen Bitte, alles so zu lösen, daß ihrem Herzen leichter wurde. In diesen Augenblicken nahm ich dann immer einen strengen Ton an, als wollte ich sie ausschelten, und sonderbar, es gelang mir fast immer. Meine Wichtigkeit und Strenge taten jedesmal ihre Wirkung. Der Mensch empfindet manchmal geradezu das Bedürfnis, eine Strafpredigt zu hören. Wenigstens Natascha verließ mich nach solchen Augenblicken immer vollkommen getröstet. „Nein, siehst du, Wanjä,“ fuhr sie fort, die linke Hand auf meine Schulter legend und meinen Blick erhaschend, „mir schien es, daß er schon ganz daran gewöhnt ist ... er schien mir schon zu – naiv ... weißt du, als ob wir schon zehn Jahre Mann und Frau gewesen wären. Ist das nicht viel zu früh? ... Er lachte, drehte und kehrte sich, als ob ich ihm eigentlich ganz gleichgültig wäre, nicht so wie früher ... Er beeilte sich schon zu sehr, zu Katherina Fedorowna ... Ich spreche zu ihm, er hört mich nicht und spricht von ganz anderem, weißt du, in dieser häßlichen, weltmännischen Manier, von der wir ihn schon glücklich abgebracht hatten. Kurz, er war so ... so gleichgültig ... Doch was tue ich! So bin ich – was sind wir doch alle anspruchsvoll, Wanjä, was für eigensinnige Despoten! Das merke ich erst jetzt! Wir verzeihen dem Menschen keine einzige Veränderung, und Gott weiß allein den Grund, warum er sich verändert hat! Du tust recht, Wanjä, mich auszuschelten! Daran bin nur ich allein schuld! Wir selbst erdenken uns alle Qualen der Welt und dann klagen wir noch über sie ... Habe Dank, Wanjä, du hast mich vollkommen beruhigt. Ach, wenn er doch nur heute käme! Vielleicht hat er sich noch geärgert!“ „Wie, habt ihr euch denn gezankt?“ rief ich verwundert aus. „Nein, er hat nichts bemerkt! Nur war ich ein wenig traurig und er wurde plötzlich nachdenklich und verabschiedete sich ein wenig trocken von mir. Ich werde nach ihm schicken ... Kommst du heute, Wanjä?“ „Ich komme bestimmt, wenn ich nicht abgehalten werde.“ VII. Um punkt sieben war ich bei Masslobojeff. Er lebte im Flügel eines kleinen Hauses auf der Schestilawotschnaja, in einer etwas unsauberen Wohnung von drei Zimmern, die jedoch gut möbliert waren. Es fehlte freilich überall an häuslicher Ordnung. Die Tür öffnete mir ein reizendes Mädchen von neunzehn Jahren, sehr einfach, aber nett und sauber gekleidet, mit guten fröhlichen Augen. Ich erriet sofort, daß es Alexandra Ssemjonowna, seine Geliebte, sein mußte, die er vorhin erwähnt hatte, und der er mich vorstellen wollte. Sie fragte, wer ich sei, und als ich ihr meinen Namen genannt, sagte sie, daß man mich erwarte und führte mich ins Zimmer, wo Masslobojeff auf seinem schönen, weichen Diwan, bedeckt mit einem Mantel, schlief. Sein Kopf ruhte auf einem alten Lederkissen. Er erwachte sofort, als wir eintraten, und rief mich bei Namen. „Ah! Da bist du ja! Ich habe dich erwartet. Soeben sah ich im Traum, wie du zu mir kamst und mich aufwecktest. Also ist es Zeit. Fahren wir.“ „Wohin?“ „Zur Dame.“ „Zu welcher Dame? Warum?“ „Zu Madame Bubnowa, um bei ihr einzukassieren. Was die für eine Schönheit ist!“ wandte er sich plötzlich zu Alexandra Ssemjonowna und küßte seine Fingerspitzen bei der Erinnerung an Madame Bubnowa. „Nun, geh nur, geh. Das denkst du dir nur aus!“ bemerkte Alexandra Ssemjonowna, die es für ihre Pflicht hielt, sich etwas zu ärgern. „Ihr kennt euch nicht? Ich werde dich vorstellen, Bruder: Alexandra Ssemjonowna, hier stelle ich dir einen Literaturgeneral vor; man kann ihn nur einmal im Jahr umsonst sehen, die übrige Zeit aber nur für Geld.“ „Jetzt hält er mich wieder zum besten. Hören Sie, bitte, nicht auf ihn, er lacht immer über mich. Was sind Sie denn für ein General?“ „Ich sage dir doch, daß er ein besonderer ist. Und Sie, meine Dame, glauben Sie nicht, daß wir dumm sind; wir sind viel klüger als wir auf den ersten Blick erscheinen.“ „Hören Sie nicht auf ihn! Immer verstellt er sich vor anständigen Leuten, Unverschämter! Wenn er mich doch wenigstens nur einmal ins Theater brächte!“ „Bitte, Alexandra Ssemjonowna, lieben Sie Ihre Pe... Haben Sie vergessen, was Sie lieben müssen? Haben Sie das Wort vergessen, das ich Ihnen gelehrt habe!“ „Natürlich habe ich es nicht vergessen. Irgendeinen Unsinn bedeutet es.“ „Nun, wie hieß denn das Wort?“ „Ich soll mich wohl vor dem Gast blamieren. Wer weiß, was dieses Wort bedeutet. Eher trocknet meine Zunge aus, als daß ich es sage.“ „Also haben Sie es vergessen?“ „Vergessen? Lieben Sie Ihre Penaten ... Sehen Sie, was er sich ausgedacht! Es hat vielleicht niemals Penaten gegeben; und warum soll ich sie lieben? Alles Lüge!“ „Dafür gehen wir auch zu Madame Bubnowa ...“ „Pfui, mit Ihrer Madame Bubnowa ...“ Und Alexandra Ssemjonowna lief gekränkt aus dem Zimmer. „Es ist Zeit! Gehen wir! Leben Sie wohl, Alexandra Ssemjonowna!“ Wir traten ins Freie. „Siehst du, Wanjä, setzen wir uns jetzt zuerst in die Droschke. So. Und jetzt kann ich dir noch mitteilen, daß ich manches und zwar ganz genau erfahren habe. Ich blieb noch eine ganze Stunde nachher auf Wassilij-Ostroff. Diese dicke Blase ist eine schreckliche Kanaille, ein schmutziger, perverser Kerl. Und diese Bubnowa ist ihrer gewissen Geschäftchen wegen schon ganz bekannt. Vor ein paar Tagen hat sie es mit einem jungen Mädchen aus anständigem Hause zu tun gehabt. Diese Musselinkleidchen, von denen du mir erzähltest, ließen mir keine Ruh, denn ich hatte schon vorher verschiedenes von ihr gehört. Ich habe mich jetzt davon überzeugen können, daß ich mich nicht irre. Wie alt ist die Kleine?“ „Dem Ansehen nach dreizehn Jahr.“ „Von Gestalt ist sie aber noch jünger. Nun ja, so treibt sie es. Wenn es nötig, sagt sie, die Kleine sei elf Jahre alt und wenn es nötig, – fünfzehn. Und da die kleine ohne Schutz und Familie ist, so ...“ „Ist’s möglich?“ „Was glaubst du denn? Eine Madame Bubnowa wird doch nicht aus Mitleid eine Waise zu sich nehmen. Und wenn der Dicke schon da verkehrt, so stimmt’s. Er ist neulich am Morgen bei ihr gewesen. Dem Dummkopf Ssisobrjuchoff ist eine verheiratete Dame, eine Schönheit versprochen worden, die Frau eines Stabsoffiziers. Wenn Kaufleute durchgehen, verlangen sie immer eine von Rang. Das ist wie in der lateinischen Grammatik; die Bedeutung hängt immer von der Endung ab. Übrigens, ich bin noch, glaube ich, betrunken. Die Bubnowa soll es nur wagen, solche Geschäftchen zu versuchen. Sie kann wohl die Polizei hintergehen, mich aber nicht, da soll sie mal sehen ... Nun, du verstehst mich?“ Ich war furchtbar erschrocken. Diese Nachrichten erregten mich im höchsten Grade. Ich fürchtete jetzt, daß wir uns verspäten könnten und trieb den Kutscher zur Eile an. „Fürchte nichts; ich habe Maßregeln getroffen,“ sagte Masslobojeff. „Mitroschka ist dort, wir haben uns mit ihm verabredet. Madame Bubnowa kommt auf meine Rechnung ...“ Wir hielten am Restaurant, doch ein Mensch, der Mitroschka hieß, war da nicht zu finden. Wir befahlen dem Kutscher, uns an der Treppe des Restaurants zu erwarten und gingen zum Hause der Bubnowa. Mitroschka erwartete uns am Hoftor. Die Fenster waren hell erleuchtet und man hörte Ssisobrjuchoffs betrunkenes Lachen. „Seit einer Viertelstunde sind sie alle dort,“ berichtete Mitroschka. „Jetzt ist es Zeit.“ „Wie sollen wir denn hineingehen?“ fragte ich. „Wie Gäste,“ entgegnete Masslobojeff, „sie kennt mich; auch Mitroschka kennt sie. Wahrhaftig, da scheint ein großes Fest zu sein, nur nicht für uns.“ Er klopfte leise an das Hoftor, der Hausknecht öffnete uns sofort; während er sich mit Mitroschka verständigte, gingen wir beide die Treppe hinauf. Im Hause bemerkte man uns nicht. Der Hausknecht klopfte an. Man fragte, wer da sei. Er antwortete: „Gäste“. Man öffnete uns und wir traten alle auf einmal ein. Der Hausknecht verschwand sofort. „Ai, wer ist das?“ rief die Bubnowa betrunken und zerzaust, mit einem Licht in der Hand. „Wer?“ erwiderte Masslobojeff. „Wie so denn? Sie erkennen Ihre Gäste nicht, Anna Trifonowna? Wer denn anders als wir ... Filipp Filippytsch!“ „Ah, Filipp Filippytsch? Das sind Sie ... ein so teurer Gast ... Ja, wie kommen Sie denn her ... ich ... tut nichts ... treten Sie ein ... hierher bitte!“ Sie war ganz verwirrt. „Hierher? Nein ... Uns nehmen Sie bitte besser auf. Wir wollen bei Ihnen ein Gläschen trinken und ...“ Die Wirtin faßte sofort Mut. „Ja, für solche Gäste ist alles bereit ...“ „Ein paar Worte, Anna Trifonowna: ist Ssisobrjuchoff hier?“ „Ja.“ „Ich muß ihn sehen. Wie wagt er es, ohne mich durchzugehen?“ „Er hat Sie sicher nicht vergessen. Er erwartete noch jemanden; wahrscheinlich wohl Sie.“ Masslobojeff stieß die Tür auf und wir traten in ein Zimmer mit zwei Fenstern, auf denen einige Geranientöpfe standen, mit einem alten Klavier an der Wand ... und allem was dazu gehörte. Mitroschka blieb im Vorzimmer. Wie ich später erfuhr, sollte er da Wache stehen. Zu ihm gesellte sich das geschminkte Weib vom Vormittag. Im Zimmer auf einem kleinen Diwan aus rotem Holz vor einem runden Tisch saß Ssisobrjuchoff. Auf dem Tische, der mit einer Decke belegt war, standen vor ihm zwei warme Champagnerflaschen und eine Flasche mit schlechtem Rum; standen Teller mit Konfekt, Nüssen und Kuchen. Ihm gegenüber am Tisch saß eine widerliche Kreatur von vierzig Jahren, in einem schwarzen Taftkleide, behängt mit goldenen Armbändern und Broschen. Das war die Frau des Stabsoffiziers, sicher keine echte. Ssisobrjuchoff war ganz betrunken und schien äußerst zufrieden. Das dicke Scheusal war nicht zu sehen. „So also macht man’s!“ brüllte aus voller Kehle Masslobojeff, „mich hat er zu Dusso eingeladen!“ „Filipp Filippytsch, Sie beehren uns?“ murmelte Ssisobrjuchoff, uns mit seligem Lächeln begrüßend. „Du trinkst?“ „Entschuldigen Sie.“ „Entschuldige dich lieber nicht, sondern bewirte deine Gäste. Wir sind gekommen, um uns mit dir zu amüsieren. Ich habe hier noch einen Gast mitgebracht: meinen Freund!“ Masslobojeff wies auf mich. „Sehr angenehm, es beglückt mich ... Kchi!“ „Das nennt er Champagner! Der schmeckt nach Kohlsuppe.“ „Sie beleidigen mich.“ „Bei Dusso wagst du dich ja gar nicht zu zeigen; aber einladen tust du!“ „Er erzählte mir soeben, daß er in Paris gewesen,“ griff die Stabsoffiziersfrau das Gespräch auf. „Sicher lügt er alles!“ „Fedossja Titischna, entschuldigen Sie, aber ich war in Paris. Wir waren ... wir fuhren ...“ „Was macht denn ein solcher Bauer in Paris?“ „Wir waren wirklich dort. Wir haben uns mit Karp Wassiljewitsch ausgezeichnet amüsiert. Kennen Sie Karp Wassiljewitsch?“ „Wie soll ich denn Ihren Karp Wassiljewitsch kennen?“ „Vielleicht doch ... aus politischen Gründen. Wir waren im Örtchen Paris und haben – bei Madame Joubert einen Trumeau zerschlagen.“ „Was haben Sie zerschlagen?“ „Einen Trumeau. Die ganze Wand war ein Trumeau und Karp Wassiljewitsch war so betrunken, daß er mit Madame Joubert einfach nur russisch sprach. Nun, und er stürzte sich an den Trumeau, die Joubert aber ruft ihm zu, daß der Trumeau sieben hundert Franks kostet, wenn er ihn zerschlägt! Er lächelt bloß und sieht mich an, ich saß ihm gegenüber auf einem Kanapee mit einer Schönen, die nicht einen solchen Rüssel hatte, wie die da. Kurz, er ruft mir zu: ‚Stepan Terentjytsch, die Hälfte fällt auf dich?‘ Ich sage ‚schön!‘ Wie er da ins Glas schlägt – dsin! Madame Joubert schreit auf und rückt ihm auf den Leib: ‚Du Räuber, aus welchem Lande kommst denn du her?‘ Er aber sagt: ‚Du, Madame Joubert, nimm dein Geld und kümmer dich nicht um meine Angewohnheiten.‘ Ihr wurden sechshundertfünfzig Franks ausgezahlt. Ein halbes Hundert haben wir ihr abgezogen.“ In diesem Augenblick ertönte ein durchdringender Schrei durch das ganze Haus. Ich fuhr zusammen und schrie auf. Ich hatte die Stimme sofort erkannt, es war Helene. Auf ihren kläglichen Schrei folgte ein ganzer Tumult, man hörte schimpfen und klatschende Schläge, wie mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Das war sicher Mitroschka, der seine Pflicht tat. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Helene stürzte bleich, mit verstörten Augen im weißen Musselinkleidchen, mit gekämmten, doch im Kampfe aufgewühlten Haaren hinein ins Zimmer. Ich stand der Tür gegenüber und sie stürzte geradewegs auf mich zu und umschlang mich mit beiden Händen. Alle erschraken, alle sprangen auf. Schreie und Ausrufe schwirrten durchs Zimmer. Ihr folgte in der Tür Mitroschka, den Dicken, sein Opfer, an den Haaren im aufgelöstem Zustande herbeischleppend. Er riß ihn zur Türschwelle und stieß ihn dann ins Zimmer. „Da ist er! Nehmt ihn in Empfang!“ rief er uns mit zufriedener Miene zu. „Höre,“ sagte Masslobojeff, ruhig auf mich zutretend und mir auf die Schulter klopfend. „Nimm das Kind und bringe es zu dir, hier hast du nichts mehr zu tun. Morgen wollen wir das Weitere besprechen.“ Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, nahm Helene bei der Hand und führte sie hinaus aus dieser Hölle. Das alles geschah so unerwartet, daß uns niemand aufhielt. Draußen wartete die Droschke auf uns und in zwanzig Minuten waren wir in meiner Wohnung. Helene schien halbtot. Ich öffnete ihr das Kleid, bespritzte sie mit Wasser und legte sie auf den Diwan. Sie fieberte und begann zu phantasieren. Ich sah auf ihr bleiches Gesichtchen, auf ihre farblosen Lippen, auf ihr dunkles pomadisiertes und aufgewühltes Haar, auf ihre ganze Toilette mit den rosa Bändern – und begriff alles. Die Arme! Sie fieberte immer mehr und mehr. Ich beschloß, am Abend nicht mehr zu Natascha zu gehen. Hin und wieder hob Helene ihre langen Wimpern und sah mich lange und forschend an, als wollte sie sich vergewissern, daß ich es war. Spät, um ein Uhr nachts, schlief sie ein. Ich schlief neben ihr auf dem Fußboden. VIII. Ich erhob mich sehr früh. In der Nacht wachte ich jede halbe Stunde auf, und sah nach meiner armen Kleinen. Sie hatte immer noch Fieber und erst gegen Morgen schlief sie fest ein. Ein gutes Zeichen, dachte ich, doch als ich am Morgen erwachte, beschloß ich, während die Arme noch schlief, einen Arzt zu holen. Ich kannte einen Doktor, einen gutmütigen, alten Junggesellen, der seit undenklichen Zeiten auf der Wladimirskaja mit seiner deutschen Wirtschafterin lebte. Ich begab mich zu ihm. Er versprach mir, um zehn Uhr zu kommen. Es war acht Uhr, als ich bei ihm war. Gerne wäre ich unterwegs zu Masslobojeff gegangen, doch gab ich es auf: er schlief wohl sicher noch seinen gestrigen Rausch aus, und außerdem hätte Helene erwachen können und in ihrem krankhaften Zustande hätte sie dann vielleicht nicht gewußt, wo sie sich befand, und auf welche Weise sie zu mir gekommen war. Sie erwachte in dem Augenblick, als ich ins Zimmer trat. Ich ging auf sie zu und fragte sie vorsichtig, wie sie sich fühle? Sie antwortete mir nicht, doch sah sie mich lange – lange mit ihren dunklen, ausdrucksvollen Augen an. Ich erriet aus ihrem Blick, daß sie alles begriff und bei vollem Bewußtsein war. Auf meine Frage antwortete sie mir ihrer Gewohnheit nach nicht. Auch gestern und vorgestern, als sie bei mir war, hatte sie viele meiner Fragen überhaupt nicht beantwortet und mich nur mit ihrem hartnäckigen, forschenden Blick angesehen, in dem außer Mißtrauen und Neugier ein so sonderbarer Stolz lag. Auch jetzt lag in ihrem Blick eine gewisse Härte und ein Zweifel. Ich legte meine Hand, glaube ich, auf ihren Kopf, um zu fühlen, ob sie noch Fieber hatte, sie aber schob schweigend mit ihrer kleinen Hand meine Hand fort und kehrte ihr Gesicht zur Wand. Ich zog mich zurück, um sie nicht zu stören. Ich besaß einen großen kupfernen Teekessel. Ich brauchte ihn an Stelle des Samowars und kochte in ihm das Teewasser. Holz besaß ich genügend, der Hausknecht hatte mir wenigstens einen Vorrat auf fünf Tage gebracht. Ich machte den Ofen an, holte Wasser und bereitete den Tee. Die Teetassen stellte ich auf den Tisch. Helene sah zu und betrachtete alles mit Neugier. Ich fragte sie, ob sie nicht einen Wunsch hätte. Sie aber wandte sich wieder von mir ab und antwortete nicht. „Weshalb sie mir wohl böse sein mag? Wunderliches Ding!“ dachte ich. Mein alter Doktor kam, wie er versprochen, um zehn Uhr. Er untersuchte die Kranke mit deutscher Sorgfalt und machte mir wieder Mut. „Es sei ein fieberhafter Zustand,“ sagte er, „doch ohne jegliche ernstere Gefahr. Er fügte hinzu, daß sie ein anderes Leiden haben müsse, ein Herzleiden, woraufhin er sie noch einmal gründlicher untersuchen wolle, jetzt sei es jedoch nicht vonnöten.“ Er verschrieb ihr eine Medizin und noch andere Pulver, mehr der Form wegen, als aus Notwendigkeit, und fragte mich: auf welche Weise sie zu mir gekommen sei? Zu gleicher Zeit sah er sich mit Verwunderung meine Wohnung an. Der Alte schwatzte gern. Auch ihn setzte Helene in Erstaunen; sie entzog ihm ihre Hand, als er ihren Puls fühlen wollte, und zeigte ihm nicht ihre Zunge. All seine Fragen ließ sie unbeantwortet und sah die ganze Zeit nur auf seinen großen Stanislaus-Orden, den er am Halse trug. „Ihr muß der Kopf sehr weh tun,“ bemerkte der alte Herr, „doch wie sie einen ansieht, wie sie einen ansieht!“ Ich hielt es nicht für nötig, ihm alles über Helene mitzuteilen, und entschuldigte mich mit der Erklärung, daß es eine sehr lange, weitläufige Geschichte sei. „Wenn es nötig sein sollte, rufen Sie mich,“ sagte er beim Fortgehen. „Jetzt ist sie außer Gefahr.“ Ich beschloß, den ganzen Tag bei Helene zu bleiben und sie so wenig als möglich allein zu lassen. Doch wußte ich, daß Natascha und Anna Andrejewna sich sehr aufregen würden, wenn sie mich vergeblich erwarteten und beschloß daher, Natascha durch die Stadtpost zu benachrichtigen, daß ich heute nicht zu ihr kommen könne. Anna Andrejewna durfte ich nicht schreiben. Sie hatte mich ein für allemal gebeten, ihr keinen Brief zu schicken, als ich es einmal Nataschas wegen getan. „Der Alte wird ganz finster und unwillig, wenn er einen Brief sieht,“ sagte sie, „möchte so gerne den Inhalt erfahren, doch danach zu fragen – dazu kann er sich nicht entschließen, und ist dann den ganzen Tag verstimmt. Und mich, mein Lieber, ärgerst du nur mit deinem Brief. Was sind mir die paar Zeilen. Ich möchte dich ausführlich über alles befragen und du bist nicht da.“ Darum schrieb ich nur Natascha, und als ich nach der Medizin ging, warf ich den Brief in den Postkasten. In der Zeit war Helene wieder eingeschlafen. Im Schlaf war sie unruhig und stöhnte. Der Doktor hatte recht, ihr schmerzte der Kopf sehr. Plötzlich schrie sie auf und erwachte. Sie sah mich ärgerlich an, als störe sie meine Aufmerksamkeit. Ich muß gestehen, daß es mir sehr weh tat. Um elf Uhr kam Masslobojeff. Er war sehr besorgt und wie es schien zerstreut; er hatte große Eile und kam nur auf einen Augenblick. „Nun, Freund, ich dachte mir schon, daß du nicht sehr verschwenderisch leben würdest,“ bemerkte er, sich bei mir umschauend, „daß ich dich jedoch in solch einer Kiste antreffen würde, das hatte ich denn doch nicht geglaubt. Das ist ja ein Kasten, aber keine Wohnung! Doch, das würde ja alles nichts besagen, es ist nur fatal, daß dich alle diese Sachen von der Arbeit abhalten. Ich dachte bereits gestern daran, als wir zur Bubnowa fuhren. Ich, Bruder, gehöre meiner Natur und meiner sozialen Stellung nach zu den Leuten, die selbst nichts tun und nur anderen vorwerfen, daß sie nichts arbeiten. – Jetzt höre zu: ich komme vielleicht morgen oder übermorgen zu dir; du aber komme jedenfalls Sonntag morgen zu mir. Bis dahin wird die Angelegenheit dieses Kindes erledigt sein; dann nehme ich dich vor und rede ein ernstes Wort mit dir. Nun, und sage doch, ist es in deinen Augen eine Schande, von mir Geld zu leihen?“ „Laß das Gerede,“ unterbrach ich ihn. „Sage lieber, was für ein Ende hat gestern die Sache genommen?“ „Wieso? Alles ist vortrefflich gegangen und das Ziel erreicht, verstehst du? Jetzt habe ich keine Zeit, bin nur auf einen Augenblick gekommen, um mich zu erkundigen, wo du sie unterbringen wirst – oder willst du sie bei dir behalten? Darüber müssen wir noch ins reine kommen.“ „Das weiß ich selbst noch nicht, und offen gestanden, habe ich dich erwartet, um mit dir zu beraten. Wie sollte ich sie wohl bei mir behalten?“ „Eh, warum denn nicht, vielleicht als Magd ...“ „Ich bitte dich, sprich leiser. Wenn sie auch krank ist, so ist sie doch vollkommen bei Bewußtsein, und als sie dich erblickte, bemerkte ich, wie sie zusammenzuckte. Folglich hat sie das Gestrige nicht vergessen ...“ Darauf erzählte ich ihm von ihrem auffallenden Charakter und von allem, was ich an ihr bemerkt. Meine Schilderung interessierte ihn sehr. Ich fügte noch hinzu, daß ich sie vielleicht in einer mir bekannten Familie unterbringen würde und erwähnte die Alten. Zu meiner großen Verwunderung war ihm die Geschichte Nataschas bekannt und auf meine Frage woher, antwortete er: „Ich habe gelegentlich davon gehört. Ich habe dir doch schon erzählt, daß ich den Fürsten Walkowskij kenne. Das wäre sehr schön, wenn du die Kleine zu Ichmenjeffs bringen könntest. Sie wird dich sonst hier nur genieren. Aber was ich noch sagen wollte, sie hat doch Kleider nötig. Mache dir deshalb keine Sorgen, das kommt auf meine Rechnung. Lebe wohl, besuche mich also. Schläft sie jetzt?“ „Es scheint so,“ erwiderte ich. Doch kaum war er fort, als Helene mich zu sich rief. „Wer ist es?“ fragte sie mich. Ihre Stimme zitterte vor Erregung, doch war ihr Blick immer noch so starr und abweisend. Ich nannte ihr seinen Namen und fügte hinzu, daß ich sie durch seine Hilfe aus der Gewalt der Bubnowa gerettet hätte, und daß die Bubnowa ihn sehr fürchte. Ihre Wangen erglühten plötzlich, bei der Erinnerung. „Und wird sie niemals hierher kommen?“ fragte Helene mit forschendem Blick in mein Gesicht. Ich beeilte mich, sie darüber zu beruhigen. Sie schwieg und griff mit ihren heißen Fingerchen nach meiner Hand, ließ sie aber sofort wieder fallen, als besinne sie sich. „Es ist doch nicht möglich, daß sie solchen Widerwillen gegen mich empfindet,“ dachte ich. „Das ist wohl so ihre Art, oder ... oder die Arme hat so viel Schlechtigkeit gesehen, daß sie niemandem auf der Welt mehr traut.“ Zur bestimmten Stunde ging ich in die Apotheke nach der Medizin und unterwegs in ein mir bekanntes Restaurant, wo ich manchmal zu Mittag speiste und Kredit hatte. Dort holte ich etwas Hühnersuppe für Helene, doch wollte sie nichts davon essen und ich mußte die Suppe in den Ofen stellen, um sie warmzuhalten. Nachdem sie die Medizin eingenommen hatte, setzte ich mich an die Arbeit. Ich dachte, daß sie schlief, aber als ich ganz zufällig aufblickte, bemerkte ich, daß sie ihr Köpfchen erhoben hatte und mir zusah, wie ich schrieb. Ich tat so, als ob ich es nicht bemerkte. Endlich war sie zu meiner großen Freude wirklich eingeschlafen, ganz ruhig, fieberfrei und ohne zu stöhnen. Ich fing an nachzudenken; Natascha, dachte ich, könnte wirklich sehr betrübt darüber sein, daß ich gerade in der Zeit sie verlassen, wo sie meiner vielleicht am meisten bedurfte. Was nun Anna Andrejewna anbelangt, so wußte ich ganz und gar nicht, wie ich mich morgen vor ihr rechtfertigen sollte. Ich dachte hin und her und plötzlich beschloß ich, sie beide aufzusuchen. Meine Abwesenheit konnte doch höchstens zwei Stunden dauern. Helene schläft und wird es gar nicht bemerken, daß ich abwesend bin! Ich sprang auf, warf mir meinen Paletot über, griff nach der Mütze und wollte zur Tür hinaus, als ich plötzlich Helene meinen Namen rufen hörte. Ich war ganz betroffen: hatte sie sich wirklich nur so angestellt, als schlafe sie? Ich muß übrigens bemerken, daß Helene nur so tat, als wolle sie nicht mit mir sprechen: diese wiederholten Rufe, das Bedürfnis, von mir über ihr Schicksal etwas zu erfahren, bewiesen das Gegenteil und waren, ich muß es gestehen, mir sogar sehr angenehm. „Wohin wollen Sie mich fortgeben?“ fragte sie mich, als ich an sie herantrat. Überhaupt richtete sie ihre Fragen immer plötzlich, ganz unerwartet, an mich. Dieses Mal verstand ich sie nicht einmal sofort. „Vorhin sagten Sie zu Ihrem Bekannten, daß Sie mich in ein Haus geben würden. Ich will aber nicht.“ Ich beugte mich über sie: sie fieberte wieder und war in höchster Erregung. Ich versuchte sie wieder zu beruhigen und ihr Hoffnung einzuflößen; ich sagte ihr daß, wenn sie bei mir bleiben wolle, ich sie niemals fortgeben würde. Ich zog meinen Mantel aus, legte die Mütze aus der Hand, denn in solchem Zustande konnte ich sie nicht allein lassen. „Nein, gehen Sie nur!“ sagte sie, sofort erratend, daß ich bleiben wollte. „Ich bin müde und werde gleich einschlafen.“ „Wie, soll ich dich denn allein lassen?“ sagte ich zögernd. „Ich werde allerdings in zwei Stunden wieder zurück sein ...“ „Nun, so gehen Sie doch. Sonst werde ich das ganze Jahr krank sein, und Sie werden das ganze Jahr das Haus nicht verlassen können.“ Und sie versuchte zu lächeln und sah mich so sonderbar an, sie schien irgendein gutes Gefühl in ihrem Herzen niederzukämpfen. Die Arme! Es war ihre Zärtlichkeit und Güte, die trotz aller Menschenscheu und offenbarer Verbitterung durchbrach. Zuerst eilte ich zu Anna Andrejewna. Sie erwartete mich mit fieberhafter Ungeduld und war entsetzlich beunruhigt. Nikolai Ssergejewitsch war gleich nach Tisch ausgegangen und man wußte nicht wohin. Mir ahnte, daß die Alte ihm wie gewöhnlich alles erzählt hatte, wenn auch nur in Andeutungen. Sie gestand es mir bald darauf selbst ein, daß sie nicht habe an sich halten können und ihre Freude mit ihm habe teilen wollen, daß aber Nikolai Ssergejewitsch, wie sie sagte, finster wie eine Gewitterwolke dreingeschaut habe und auf alle ihre Fragen nur geschwiegen hätte, und plötzlich nach Tisch fortgegangen sei. Zitternd vor Angst flehte sie mich an, mit ihr zusammen Nikolai Ssergejewitsch zu erwarten. Ich schlug ihre Bitte rund ab und sagte ihr, daß ich auch morgen nicht zu ihr kommen könne und daß ich nur heute zu ihr gekommen wäre, um sie davon zu benachrichtigen. Dieses Mal kam es fast zu einem Bruch zwischen uns. Sie brach in Tränen aus und machte mir bittere Vorwürfe, als ich aber schon zur Tür hinaus wollte, umarmte sie mich plötzlich und flehte mich an, sie „arme Waise“ nicht zu verlassen, und ihr nicht zu zürnen, falls sie mich gekränkt hätte. Natascha traf ich gegen meine Erwartung wieder allein an, – sonderbar, aber mir schien es, als freute sie sich diesmal gar nicht über mein Kommen, wie sie es sonst immer zu tun pflegte. Ich hatte den Eindruck, als hätte mein Kommen sie irgendwie geärgert oder gestört. Auf meine Frage, ob Aljoscha bei ihr gewesen, antwortete sie: „Versteht sich, er war da, aber nicht lange. Er versprach heute abend wiederzukommen,“ fügte sie nachdenklich hinzu. „War er gestern abend hier?“ „N–nein. Man hat ihn aufgehalten,“ fügte sie schnell hinzu. „Und wie geht es dir, Wanjä?“ Ich begriff, daß sie das Gespräch auf andere Dinge lenken wollte. Ich betrachtete sie näher und bemerkte, daß sie verstimmt war. Als sie sah, daß ich sie beobachtete, traf mich plötzlich ein zornig flammender Blick von ihr: als hätte er mich verbrennen können, so stark empfand ich ihn. Sie leidet wieder, dachte ich bei mir, und will es mir nicht zeigen. Ihre Frage nach meinen Angelegenheiten beantwortete ich mit einer ausführlichen Erzählung von meinem Erlebnis mit Helene. Meine Erzählung interessierte sie sehr, und versetzte sie in Erstaunen und Erregung. „Mein Gott! Und du konntest sie allein lassen!“ rief sie aus. Ich sagte ihr, daß ich eigentlich heute nicht zu ihr habe kommen wollen, doch nicht sicher gewesen sei, ob sie, Natascha, meiner nicht bedurfte. „Ich deiner bedürfen,“ sprach sie vor sich hin, „oh ja, ich werde deiner schon bedürfen, Wanjä, doch nicht heute, ein anderes Mal. Warst du bei den – Unsrigen?“ Ich erzählte ihr alles. „Ja, Gott weiß, wie der Vater diese Nachrichten aufnehmen wird. Doch, übrigens, was ist da aufzunehmen ...“ „Wieso denn? Eine solche Veränderung!“ „Nun ja ... Wohin ist er denn wieder gegangen? Neulich dachtet ihr, er habe zu mir gewollt. Weißt du, Wanjä, wenn es dir möglich ist, komme morgen zu mir. Vielleicht werde ich dir morgen etwas mitzuteilen haben ... Es ist zwar gewissenlos von mir, dich zu beunruhigen; und jetzt gehe nach Haus zu deinem Gast. Es sind sicher schon zwei Stunden vergangen, seit du von Hause weg bist!“ „Allerdings. Lebe wohl, Natascha. Nun, und wie war denn Aljoscha heute zu dir?“ „Aljoscha, wie immer ... Deine Neugier wundert mich, Wanjä.“ „Auf Wiedersehn!“ „Leb wohl.“ Sie reichte mir etwas nachlässig die Hand und wich meinem Blick aus. Ich ging ein wenig betroffen von ihr. „Übrigens,“ dachte ich, „sie hat allen Grund nachdenklich zu sein; morgen wird sie mir ja doch alles erzählen.“ Ich kehrte in trauriger Stimmung nach Hause zurück. Erstaunt blieb ich an der Türschwelle stehen. Im Zimmer war es dunkel. Ich konnte jedoch sehen, wie Helene mit gesenktem Kopfe auf dem Diwan saß, in tiefes Nachdenken versunken. Sie sah nicht einmal auf, als ich zu ihr trat; sie murmelte nur etwas vor sich hin. „Ob sie nicht wieder phantasiert?“ dachte ich. „Helene, mein Liebling, was fehlt dir?“ fragte ich, setzte mich zu ihr und ergriff ihre Hand. „Ich möchte fort von hier. Ich möchte lieber zu ihr,“ sagte sie, den Kopf noch immer gesenkt. „Wohin? zu wem?“ fragte ich ganz verwundert. „Zu ihr, zur Bubnowa. Sie sagt immer, daß ich ihr viel Geld schulde, daß sie Mama für ihr Geld beerdigt hat ... Ich will nicht, daß sie über meine Mama schimpft ... Ich möchte für sie arbeiten und ihr alles zurückgeben ... Dann werde ich wieder von ihr fortgehen. Jetzt aber will ich zu ihr ...“ „Beruhige dich, Helene, zu ihr kannst du nicht. Sie wird dich zugrunde richten ...“ „Mag sie mich zugrunde richten, mag sie mich foltern,“ unterbrach mich Helene ganz flammend, „ich bin nicht die Erste; es gibt bessere als ich, die sich noch mehr quälen. Das hat mir eine Bettlerin auf der Straße gesagt. Mein ganzes Leben lang werde ich arm bleiben, das hat mir meine Mama befohlen, als sie starb. Ich werde arbeiten ... Ich will nicht dieses Kleid tragen ...“ „Ich kaufe dir morgen ein anderes. Ich werde dir auch deine Bücher wieder zurückbringen. Du wirst bei mir bleiben. Ich werde dich niemandem abgeben, wenn du es nicht selbst willst; sei ruhig ...“ „Ich will Arbeiterin werden.“ „Gut, gut! Nur lege dich jetzt hin und versuche zu schlafen!“ Das arme Kind fing an zu weinen. Und langsam gingen ihre Tränen in Schluchzen über. Ich wußte nicht, was ich mit ihr beginnen sollte; ich reichte ihr Wasser, rieb ihr die Schläfen. Schließlich fiel sie kraftlos auf den Diwan zurück und das Fieber schüttelte sie wieder. Ich deckte sie zu und sie schlief ein, doch zuckte sie von Zeit zu Zeit wieder zusammen und erwachte dann jedesmal. Obgleich ich den Tag über nicht viel gegangen war, fühlte ich mich doch furchtbar müde und beschloß, mich selbst so früh als möglich hinzulegen. Quälende Sorgen durchbohrten mein Gehirn. Ich fühlte voraus, daß ich mit dem Kinde viel Mühe haben würde. Doch machten mir Nataschas Angelegenheiten noch mehr Sorgen. Überhaupt erinnere ich mich nicht, je in einer so schweren Gemütsstimmung gewesen zu sein, als in dieser unglücklichen Nacht. IX. Ich erwachte erst spät, gegen zehn Uhr morgens, und fühlte mich ganz krank. Mir schwindelte und der Kopf tat mir weh. Ich blickte auf Helenens Lager: es war leer. Zu gleicher Zeit hörte ich aber im kleinen Nebenzimmer Geräusch, wie wenn man mit dem Besen die Zimmer kehrt. Ich ging hinein, um nachzusehen. Helene hielt in der einen Hand den Besen, mit der anderen hob sie ihr Kleid auf, das sie seit jenem Abend noch nicht abgelegt, und kehrte die Stube aus. Das Holz vor dem Ofen war in der Ecke aufgestapelt, der Teekessel blankgeputzt. Kurz: Helene wirtschaftete. „Höre, Helene,“ rief ich, „wer hat dir erlaubt, die Zimmer zu fegen? Du bist krank, ich wünsche das nicht; bist du denn etwa als Magd zu mir gekommen?“ „Wer wird denn hier die Zimmer reinigen?“ Sie richtete sich auf und sah mir gerade in die Augen. „Jetzt bin ich nicht mehr krank.“ „Ich habe dich doch nicht der Arbeit wegen zu mir genommen, Helene. Du scheinst zu fürchten, daß ich wie die Bubnowa dir Vorwürfe machen könnte, daß du umsonst bei mir lebst? Und woher hast du diesen schmutzigen Besen genommen?“ fügte ich ganz verwundert hinzu. „Das ist mein Besen. Ich habe ihn selbst hierher gebracht. Ich habe doch Großpapa die Zimmer rein gemacht. Der Besen lag seit der Zeit dort, unter dem Ofen.“ Ich kehrte nachdenklich ins Zimmer zurück; mir war es klar, daß ihr meine Gastfreundschaft nicht leicht fiel, und daß sie sich bemühte, sie verdienen zu wollen. „Was für eine Hartnäckigkeit!“ dachte ich bei mir. Nach ein paar Minuten kam auch sie herein, setzte sich neben mich auf den Diwan und sah mich fragend an. Darauf bereitete ich den Tee, goß auch ihr Tee ein und reichte ihr ein Stück Weißbrot. Sie nahm alles schweigend ohne jeden Widerstand entgegen. Sie hatte ganze vierundzwanzig Stunden nichts genossen. „Siehst du, da hast du dein nettes Kleid mit dem Besen beschmutzt.“ Ich bemerkte einen schmutzigen Streifen an ihrem Rock. Sie warf einen Blick auf die bezeichnete Stelle und zu meiner Verwunderung stellte sie die Tasse hin, griff ruhig mit beiden Händen den Saum des Kleides und riß kaltblütig den Rock von unten bis oben durch. Nachdem sie das getan hatte, sah sie mich hartnäckig schweigend an, mit flammenden Augen. Ihr Gesicht war weiß wie Kreide. „Was hast du getan, Helene?“ rief ich erschrocken aus, denn ich glaubte eine Wahnsinnige vor mir zu sehen. „Das ist ein elendes Kleid!“ sagte sie mit vor Aufregung ganz erstickter Stimme. „Warum sagten Sie, daß es ein nettes Kleid sei? Ich will es nicht tragen,“ rief sie und sprang auf. „Ich werde es in Stücke zerreißen! Ich habe sie nicht darum gebeten, mich auszuputzen, sie hat es gewaltsam mit mir getan. Ich habe schon ein solches Kleid zerrissen, auch dieses werde ich zerreißen, zerreißen, zerreißen! ...“ In einem Augenblick war das ganze Kleid in Fetzen. Als sie damit zu Ende war, konnte sie sich kaum mehr auf den Füßen halten. Ich sah mit Verwunderung auf diesen Ausbruch sinnloser Leidenschaftlichkeit. Sie sah mich herausfordernd an, als wäre auch ich ihr gegenüber irgendwie schuldig gewesen. Ich wußte bereits, was ich zu tun hatte. Ich beschloß, ihr heute sofort ein neues Kleid zu kaufen. Dieses wilde, erbitterte Geschöpf mußte man mit Liebe behandeln. Es sah so aus, als wäre sie nie einem Menschen begegnet. Wenn sie schon einmal, ungeachtet der schrecklichen Strafen, ihr erstes Kleid in Stücke zerrissen, um wieviel mehr mußte sie dieses Kleid und dieser Augenblick an alles Schreckliche erinnern! Auf dem Trödelmarkt konnte man billig ein gutes einfaches Kleidchen kaufen. Das Unglück wollte es nur, daß ich in diesem Augenblick kein Geld bei mir hatte. Doch hatte ich noch gestern vor dem Schlafengehen beschlossen, mir heute welches zu verschaffen. Ich nahm meinen Hut. Helene folgte mir mit den Augen, als erwarte sie etwas von mir. „Sie werden mich wohl wieder einschließen?“ fragte sie, als ich nach dem Schlüssel griff, um die Wohnung von außen zuzuschließen, wie ich es gestern und vorgestern getan. „Liebes Kind,“ antwortete ich ihr, „sei mir nicht böse. Ich schließe die Wohnung nur darum zu, weil ich fürchte, daß jemand kommen könnte. Du bist krank und könntest dich erschrecken. Ja, und Gott weiß, wer nicht alles kommen kann, die Bubnowa am Ende ...“ Mit Absicht sagte ich ihr das. Ich schloß sie jedoch nur ein, weil ich fürchtete, daß sie von mir fortgehen könnte. Wenigstens für die erste Zeit hatte ich beschlossen, vorsichtig zu sein. Helene antwortete mir nichts und ich schloß die Tür hinter mir ab. Ich kannte einen Verleger, der schon ein großes Sammelwerk herausgab. Von ihm holte ich mir immer Arbeit, wenn ich Geld sehr nötig hatte. Ich begab mich auch heute zu ihm und erhielt von ihm fünfundzwanzig Rubel ausgezahlt, dafür verpflichtete ich mich in einer Woche einen bestimmten Artikel abzuliefern. Ich aber hoffte auf diese Weise Zeit für meinen Roman zu gewinnen. Das tat ich oft, wenn die Not am höchsten war. Von ihm begab ich mich auf den Trödelmarkt. Dort suchte ich eine mir bekannte Händlerin auf, die allerhand Kleider verkaufte. Ich gab ihr ungefähr den Wuchs Helenes an, und sie suchte mir sofort ein festes, starkes, nur einmal in der Wäsche gewesenes Kattunkleid aus, das sie mir zu geringem Preis verkaufte. Zufällig fand ich auch noch ein nettes Halstuch. Als ich das bezahlt hatte, fiel es mir ein, daß Helene auch sicher irgendeinen Mantel brauchte. Das Wetter fing an, kalt zu werden und sie besaß absolut nichts. Doch ich ließ es bis auf ein nächstes Mal. Helene war so empfindlich und stolz, Gott weiß, ob sie überhaupt dieses Kleid von mir annehmen würde, das ich mit Absicht so billig und so einfach als nur möglich gekauft hatte. Übrigens kaufte ich ihr auch noch zwei Paar baumwollene und ein Paar wollene Strümpfe. Die konnte ich ihr unter dem Vorwand geben, daß sie krank und daß es im Zimmer kalt sei. Sie hatte auch wohl Wäsche nötig, doch ließ ich davon ab, bis wir uns näher kennen gelernt haben würden. Dafür kaufte ich aber ein Paar alte Vorhänge vor das Bett, eine unumgängliche Sache, die Helene nur angenehm sein konnte. Beladen mit diesen Sachen kam ich erst am Nachmittag zu Hause an. Das Schloß öffnete sich fast geräuschlos, so daß Helene gar nicht bemerkte, daß ich eintrat. Ich sah sie am Tische stehen und in meinen Büchern lesen. Als sie mich erblickte, schlug sie schnell das Buch zu, in dem sie gelesen, und wandte sich errötend vom Tische ab. Es war mein erster Roman, auf dessen Titelblatt mein voller Name stand. „Es war jemand in Ihrer Abwesenheit hier!“ sagte sie in einem Tone zu mir, in dem man deutlich den Vorwurf hörte: „Warum haben Sie mich eingeschlossen?“ „Vielleicht war es der Doktor?“ sagte ich. „Du hast nichts geantwortet?“ „Nein.“ Ich schwieg, öffnete meinen Packen und überreichte ihr das Kleid. „Sieh, Helene,“ sagte ich zu ihr, „in den Fetzen, die du anhast, kannst du nicht bleiben. Ich habe dir ein billiges, einfaches Alltagskleid gekauft, es kostet im ganzen nur ein Rubel zwanzig Kopeken. Trag es!“ Ich legte das Kleid neben sie hin, sie errötete über und über und sah mich ganz verwundert starr an. Sie war über die Maßen erstaunt und schien mir sehr verlegen. Doch etwas Weiches, Zärtliches leuchtete in ihren Augen auf. Als ich bemerkte, daß sie schwieg, wandte ich mich ab und machte mir am Tische zu schaffen. Meine Handlungsweise schien sie ganz zu verwirren. Sie saß da, mit Mühe sich beherrschend, die Augen zu Boden geschlagen. Mein Kopf schmerzte mir immer mehr. Die frische Luft hatte mir nicht gut getan. Dabei mußte ich auf jeden Fall zu Natascha. Meine Unruhe um sie nahm zu. Plötzlich schien es mir, als hätte Helene mich gerufen. Ich wandte mich um. „Wenn Sie jetzt fortgehen, schließen Sie mich bitte nicht mehr ein,“ sagte sie beiseite blickend und mit den Fingern an der Diwanschnur zupfend, als nehme diese Beschäftigung sie ganz in Anspruch. „Ich werde nicht von Ihnen fortgehen.“ „Gut, Helene, ich bin damit einverstanden. Doch wenn nun jemand kommt, Gott weiß, wer?“ „So geben Sie mir den Schlüssel, ich werde die Tür von innen zuschließen und wenn jemand klopft, werde ich sagen: es ist niemand zu Haus.“ Und sie sah mich schlau an, als wollte sie sagen: „Sieh, wie man das machen muß!“ „Wer wäscht Ihnen die Wäsche?“ fragte sie plötzlich, bevor ich noch etwas erwidern konnte. „Hier im Hause ist eine Frau ...“ „Ich kann Wäsche waschen. Und wo speisen Sie?“ „Im Restaurant.“ „Ich verstehe auch zu kochen.“ „Laß doch nur, Helene; was verstehst du denn davon?“ Helene schwieg und ihr Ausdruck verdüsterte sich. Meine Bemerkung beleidigte sie offenbar. Es vergingen ungefähr zehn Minuten; wir schwiegen beide. „Suppe verstehe ich,“ sagte sie plötzlich, ohne den Kopf zu erheben. „Wie, Suppe? Was für eine Suppe?“ fragte ich verwundert. „Suppe verstehe ich zu kochen. Ich habe Mamachen immer Suppe gekocht, wenn sie krank war. Ich bin auch auf den Markt gegangen.“ „Siehst du nun, Helene, siehst du nun, wie stolz du bist,“ sagte ich und setzte mich zu ihr auf den Diwan. „Ich bin zu dir, wie mein Herz mir befiehlt. Du bist jetzt allein und unglücklich, hast niemanden und ich möchte dir helfen. Wenn es mir so schlecht erginge, würdest auch du mir helfen wollen. Doch du denkst nicht so wie ich und dir fällt es schwer, von mir etwas anzunehmen. Du willst mir sofort alles bezahlen, alles abarbeiten, als wärst du bei der Bubnowa! Du solltest dich doch schämen, Helene!“ Sie sagte nichts, ihre Lippen zitterten; sie schien mir etwas entgegnen zu wollen, doch nahm sie sich zusammen und schwieg. Ich erhob mich, um zu Natascha zu gehen. Dieses Mal überließ ich Helene den Schlüssel und bat sie, wenn jemand kommen und anklopfen sollte, zu fragen, wer da sei? – Ich war innerlich davon überzeugt, daß es um Natascha schlecht stand. Ich wollte jedenfalls auf einen Augenblick bei ihr vorgehen, sie sonst aber weiter nicht mit meiner Gegenwart belästigen. So geschah es denn auch. Sie empfing mich mit unzufriedener, strenger Miene. Ich hätte sofort wieder weggehen sollen, doch meine Füße trugen mich nicht mehr. „Ich komme zu dir auf einen Augenblick, Natascha,“ begann ich, „um dich meines Gastes wegen um Rat zu fragen?“ Und ich beeilte mich, ihr so schnell als möglich meine letzten Erlebnisse mit Helene zu erzählen. Natascha hörte mich schweigend an. „Ich weiß wirklich nicht, was ich dir raten soll, Wanjä,“ antwortete sie mir. „Es scheint ein eigenartiges Wesen zu sein, sicher sehr gequält und verschüchtert. Warte wenigstens ab, bis sie gesund ist. Willst du sie zu den Unsrigen bringen?“ „Sie sagt, sie wolle durchaus bei mir bleiben. Weiß Gott, wie man sie dort auch aufnehmen würde. Und du, wie geht es dir? Du schienst gestern krank zu sein?“ fragte ich sie schüchtern. „Ja ... auch heute tut mir der Kopf weh,“ antwortete sie zerstreut. „Hast du jemanden von den Unsrigen gesehen?“ „Nein. Morgen werde ich hingehen. Morgen ist ja Sonnabend ...“ „Nun, und dann?“ „Am Abend kommt der Fürst ...“ „Nun, und dann? Ich habe es nicht vergessen.“ „Ich meinte ja nur so ...“ Sie blieb vor mir stehen und sah mir scharf in die Augen. In ihrem Blick lag eine hartnäckige, fieberhafte, leidenschaftliche Entschlossenheit. „Weißt du, Wanjä, sei so gut, gehe wieder fort, du störst mich.“ Ich erhob mich vom Sessel und maß sie mit staunender Verwunderung. „Natascha! Was ist mit dir? Was ist geschehen?“ rief ich erschrocken aus. „Nichts ist geschehen! Alles, alles wirst du morgen erfahren, jetzt aber laß mich allein. Hörst du, Wanjä, gehe sofort. Ich kann dich nicht ansehen, es zerreißt mir das Herz!“ „Sage mir doch wenigstens ...“ „Alles, alles wirst du morgen erfahren! Mein Gott, wirst du denn nicht gehen?“ Ich ging hinaus. Ich war wie betäubt und wußte kaum mehr, wo ich mich befand. Mawra stürzte mir auf die Treppe nach. „Ist sie böse zu Ihnen gewesen?“ fragte sie mich. „Ich fürchte mich schon längst überhaupt nur zu ihr hineinzugehen.“ „Ja, was hat sie nur?“ „Ach, wir haben schon den dritten Tag nicht einmal seine Nasenspitze gesehen!“ „Wie, den dritten Tag?“ fragte ich voll Verwunderung. „Sie hat mir doch gestern selbst gesagt, daß er am Morgen dagewesen und am Abend wiederkommen wollte ...“ „Was am Abend! Er war nicht einmal am Morgen da. Ich sage Ihnen, den dritten Tag hat er sich schon nicht mehr gezeigt. Hat sie Ihnen wirklich selbst gesagt, daß er am Morgen dagewesen sei?“ „Sie hat es selbst gesagt.“ „Nun,“ sagte Mawra nachdenklich, „dann muß es ihr so weh tun, daß sie es sogar vor Ihnen verheimlichen will. Nun, das ist ’mal! ...“ „Ja, was soll denn sein!“ schrie ich sie an. „Ja, was soll denn sein, weiß ich es denn?“ Mawra schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Zweimal hat sie mich gestern zu ihm geschickt und jedesmal hat sie mich wieder zurückgerufen. Heute aber spricht sie schon kein Wort mehr mit mir. Wenn sie ihn doch nur sehen würde! Ich wage es schon gar nicht mehr, sie allein zu lassen.“ Ich stürzte die Treppe hinunter. „Zum Abend kommen Sie doch zu uns?“ rief mir Mawra nach. „Wir werden sehen. Ich werde vielleicht kommen, nur um mich nach ihr zu erkundigen. Wenn ich mich nur selbst auf den Beinen halten kann!“ Ich fühlte in der Tat, wie etwas an meinem Herzen riß. X. Ich begab mich geradewegs zu Aljoscha. Er lebte bei seinem Vater in der Kleinen Mosskaja. Der Fürst bewohnte ein ganzes Stockwerk, obgleich er ganz allein lebte. Aljoscha hatte zwei schöne große Zimmer dieser Wohnung inne. Ich war sehr selten bei ihm gewesen, ich glaube, nur ein einziges Mal. Er dagegen besuchte mich öfter, besonders zu Anfang seiner Verbindung mit Natascha. Er war nicht zu Haus. Ich trat in sein Zimmer und schrieb ihm folgenden Brief: „Ich glaube, Aljoscha, Sie sind von Sinnen. Als Ihr Vater Dienstag abend selbst Natascha bat, Ihnen die Ehre zu erweisen, Ihre Frau zu werden, waren Sie über diese Bitte sehr erfreut, wovon ich Zeuge war. Sie werden zugeben, daß Ihr Benehmen jetzt äußerst seltsam erscheint. Wissen Sie auch, was Sie Natascha gegenüber tun? Jedenfalls wird mein Brief Sie daran erinnern, daß Ihr Betragen Ihrer zukünftigen Frau gegenüber höchst merkwürdig und leichtsinnig erscheint. Ich weiß sehr wohl, daß ich kein Recht habe, Ihnen Vorstellungen zu machen, doch ist mir das ganz gleichgültig.“ „P. S. Von diesem Briefe weiß Natascha nichts und hat überhaupt nicht mit mir von Ihnen gesprochen.“ Ich schloß den Brief und ließ ihn auf Aljoschas Tisch. Auf meine Frage antwortete der Diener, daß Alexei Petrowitsch jetzt fast nie zu Hause sei und nur in der Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, zurückkehre. Mit Mühe schleppte ich mich bis nach Haus. Der Kopf schwindelte mir, die Füße waren schwach und zitterten; die Tür zu meiner Wohnung war offen. Bei mir saß Nikolai Ssergejewitsch Ichmenjeff und wartete auf mich. Er saß am Tisch und sah schweigend mit Verwunderung Helene an, die ihrerseits ihn nicht weniger erstaunt und mißtrauisch betrachtete. „Wie muß sie ihm wohl sonderbar erscheinen,“ dachte ich. „Siehst du, mein Lieber, eine ganze Stunde erwarte ich dich schon, ich hätte nicht gedacht, dich so zu finden ...“ Er sah sich im Zimmer um, und wies mit den Augen zwinkernd kaum merklich auf Helene. In seinen Augen lag Verwunderung. Als ich ihn näher ansah, bemerkte ich, daß sein Gesicht erdfahl war und Kummer und Unruhe in ihm lag. „Setze dich, setze dich,“ forderte er mich mit besorgter Miene auf. „Ich beeilte mich, zu dir zu kommen, habe eine Angelegenheit mit dir zu besprechen, doch was fehlt dir? Wie siehst du aus?“ „Ich fühle mich unwohl. Seit dem Morgen schwindelt mir der Kopf.“ „Sieh mal an, sei doch vorsichtiger. Hast du dich nicht erkältet?“ „Nein, das ist wohl nur so ein Nervenanfall. Das habe ich des öfteren. Und Sie, wie fühlen Sie sich?“ „Nichts, nichts! Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Setze dich zu mir.“ Ich zog einen Stuhl herbei und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. Der Alte beugte sich vor und begann mit halblauter Stimme: „Sieh sie nicht an, damit sie nicht bemerkt, daß wir über sie sprechen. Was ist das für ein Gast, den du da hast?“ „Nachher davon, Nikolai Ssergejewitsch. Das ist ein armes Mädchen, eine Waise, Enkelin desselben Smitt, der hier lebte und der in der Konditorei gestorben ist.“ „Also, er besaß eine Enkelin! Nun, mein Freund, ist das aber ein sonderbares Geschöpf! Die sieht einen so an, so! Wirklich, ich sage dir, wenn du in fünf Minuten nicht gekommen wärst, so hätte ich es hier nicht mehr ausgehalten. Mit Mühe konnte ich sie nur dazu bringen, daß sie mir die Tür öffnete; sie spricht kein Wort mit mir, es wird einem einfach unheimlich, mit ihr allein. Sie ist ja gar nicht einem Menschenkinde ähnlich. Wie ist sie denn zu dir gekommen? Ach, ich verstehe, sie ist wohl zum Großvater gekommen, hat es nicht gewußt, daß er gestorben ist?“ „Ja, es ist ein unglückliches Kind. Der Alte erinnerte sich ihrer noch, bevor er starb.“ „Hm! Wie der Großvater, so die Enkelin. Nachher erzählst du mir alles. Vielleicht kann ihr geholfen werden, wenn sie doch so unglücklich ist ... Doch jetzt, mein Lieber, könnte man ihr nicht sagen, daß sie fortgeht, denn ich muß ernstlich mit dir reden.“ „Ich kann sie nirgendwo hinschicken. Sie lebt hier bei mir.“ Ich erklärte dem Alten alles so schnell als möglich in ein paar Worten und fügte hinzu, daß man ruhig alles in ihrer Gegenwart sprechen könne, da sie ein Kind sei ... „Nun, ja ... freilich ein Kind. Doch du hältst mich wohl zum besten, mein Freund. Sie lebt bei dir, sagst du? Gott im Himmel!“ Und der Alte sah sie noch einmal verwundert an. Helene fühlte, daß man von ihr sprach, sie saß schweigend da, den Kopf auf die Brust gesenkt und spielte mit ihren Fingerchen an der Diwanschnur. Sie hatte bereits ihr neues Kleidchen angezogen, das ihr sehr gut stand. Die Haare waren sorgfältig gekämmt, sorgfältiger als früher, vielleicht aus Anlaß des neuen Kleides. Wäre sie nicht von dieser sonderbaren scheuen Art gewesen, so hätte man sie für ein allerliebstes Kind halten müssen. „Also, kurz und bündig, die Sache ist die,“ begann der Alte von neuem ... Er saß in sich versunken, mit strenger und wichtiger Miene da und ungeachtet seines „kurz und bündig“ konnte er den Anfang nicht finden. „Was kann er wohl haben?“ dachte ich. „Siehst du, Wanjä, ich bin mit einer großen Bitte zu dir gekommen. Doch bevor ich sie ausspreche – ich sehe es jetzt selbst ein – muß ich dir erst die näheren Umstände erklären ... Umstände, sehr peinlicher Art ...“ Er hüstelte und sah mich forschend an, darauf errötete er; errötete und ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit, ärgerte sich und fuhr fort: „Doch wozu da noch alles erklären wollen! Du wirst es von selbst verstehen! Kurz, ich will den Fürsten fordern, und dich bitte ich, diese Sache zu arrangieren und mein Sekundant zu sein.“ Ich sprang fast von meinem Stuhl auf und starrte ihn außer mir vor Verwunderung an. „Nun, was starrst du mich an? Ich habe noch nicht den Verstand verloren.“ „Doch erlauben Sie, Nikolai Ssergejewitsch! Unter welchem Vorwand, zu welchem Zweck? Und schließlich, ist es denn möglich? ...“ „Vorwand! Zweck!“ schrie der Alte. „Das ist ’mal schön! ...“ „Gut, schon gut, ich weiß, was Sie sagen werden; doch was werden Sie damit erreichen? Welch einen Ausgang kann das Duell nehmen? Ich gestehe, daß ich nichts davon begreife.“ „Ich dachte es mir, daß du nichts davon begreifen würdest. Höre: unser Prozeß ist zu Ende, d. h., wird in diesen Tagen zu Ende sein; es bleiben nur noch die Formalitäten. Ich bin verurteilt. Ich muß an zehntausend Rubel zahlen; so hat man beschlossen. Für sie wird Ichmenjeffka in Beschlag genommen. Folglich hat dieser gemeine Mensch das Geld bekommen und ich, der ich mit Ichmenjeffka bezahlt habe, bin aller Verpflichtungen ledig. Jetzt kann ich wieder meinen Kopf hoch heben. ‚Sie, verehrter Fürst, haben mich zwei Jahre lang beleidigt; Sie haben meinen Namen beschimpft und die Ehre meines Hauses mit Füßen getreten, und ich habe alles von Ihnen ertragen müssen! Ich habe Sie dazumal nicht fordern können. Sie hätten mir sagen können: Schlauer Mensch, du willst mich erschießen, um das Geld nicht herausgeben zu müssen, zu dem du früher oder später verurteilt werden wirst! Nein, erst wollen wir den Prozeß beenden und dann kannst du mich fordern. Jetzt, verehrter Fürst, ist der Prozeß zu Ende, jetzt, bitte, hier an die Barriere.‘ Siehst du, so ist die Sache. Und deiner Meinung nach soll ich nicht im Recht sein, endlich mich für alles, alles rächen zu wollen!“ Seine Augen blitzten. Ich sah ihn lange schweigend an. Ich wollte gern seine geheimsten Gedanken erraten. „Hören Sie mich an, Nikolai Ssergejewitsch,“ wandte ich mich an ihn. Ich hatte mich entschlossen, ihm gegenüber grenzenlos aufrichtig zu sein, denn sonst wären wir beide keinen Schritt weiter gekommen. „Können Sie gegen mich vollkommen aufrichtig sein?“ „Gewiß kann ich’s,“ antwortete er mit Festigkeit. „Sagen Sie mir ehrlich: ist es nur das Gefühl der Rache, was Sie dazu treibt, oder verfolgen Sie dabei auch noch andere Ziele?“ „Wanjä,“ erwiderte er, „du weißt, daß ich es niemanden erlaube, im Gespräch mit mir an gewisse Punkte zu rühren; doch dieses Mal sei eine Ausnahme gemacht, da du mit deinem hellen Verstand sofort erraten hast, daß es unmöglich ist, diesen Punkt zu umgehen. Ja, du hast recht, ich verfolge dabei noch ein Ziel: meine verlorene Tochter zu retten und sie von dem unheilvollen Wege abzuhalten, auf den sie durch die letzten Verhältnisse getrieben worden ist.“ „Wie wollen Sie denn Ihre Tochter durch dieses Duell retten, das ist die Frage?“ „Indem ich dadurch alles vernichte, was sie dort planen. Höre mich an: glaube nicht, daß irgendeine väterliche Zärtlichkeit oder irgendeine andere Schwäche aus mir spricht. Das ist alles Unsinn. Das Innerste meines Herzens zeige ich niemanden. Auch du kennst es nicht. Meine Tochter hat mich verlassen, hat das Elternhaus mit ihrem Liebhaber verlassen und ich habe sie aus meinem Herzen gerissen, an demselben Abend – du erinnerst dich? Wenn du mich auch damals über ihrem Bilde weinen sahst, so folgt daraus noch nicht, daß ich ihr vergeben habe. Ich habe es auch damals nicht getan. Ich weinte über mein verlorenes Glück, doch nicht über sie, wie sie jetzt ist. Ich habe vielleicht jetzt oft geweint und schäme mich nicht, es einzugestehen, ebenso wie ich eingestehe, daß ich mein Kind früher über alles in der Welt liebte. Alles das scheint offenbar mit meinem Vorhaben in einem gewissen Widerspruch zu stehen. Du kannst mir sagen: wenn dem so ist, daß Sie sich zum Schicksal Ihrer Tochter gleichgültig verhalten und Ihre Tochter als solche schon nicht mehr anerkennen, warum mischen Sie sich dann jetzt in ihre Angelegenheiten? Ich tue es: erstens, weil ich diesem niedrigen und gemeinen Menschen den Triumph lassen will und zweitens, einfach aus Menschenliebe. Wenn sie auch nicht mehr meine Tochter ist, so ist sie doch ein schwaches, schutzloses und betrogenes Wesen, das man noch mehr zu betrügen beabsichtigt, um sie schließlich gänzlich zu vernichten. In die Sache selbst kann ich mich nicht einmischen, doch mittelbar, durch das Duell, kann ich es tun. Wenn man mich totschießt und mein Blut vergossen wird, wird sie dann wirklich über meine Leiche schreiten und mit dem Sohne meines Mörders zum Altare gehen, wie jene Zarentochter über die Leiche ihres Vaters schritt? Ja, und schließlich, wenn es zum Duell kommen wird, so werden unsere Fürsten die Ehe selbst nicht mehr wünschen. Kurz, ich wünsche diese Ehe auf keinen Fall und werde alles tun, um sie zu verhindern. Hast du mich jetzt verstanden?“ „Nein. Wenn Sie Natascha Gutes wünschen, warum wollen Sie dann ihre Ehe verhindern, nur sie allein kann ihren guten Namen wieder herstellen. Sie hat noch ein langes Leben vor sich. Sie braucht ihren guten Namen wieder.“ „Auf die Meinung der Welt sollte sie spucken, das müßte ihre Gesinnung sein! Sie sollte erkennen, daß die größte Schmach für sie diese Ehe wäre, die Verbindung mit diesem gemeinen Menschen und dieser jämmerlichen Gesellschaft. Stolz – das müßte ihre Antwort an die Gesellschaft sein! Dann würde auch ich ihr wieder meine Hand reichen und dann wollen wir sehen, wer es wagen wird, mein Kind zu beschimpfen!“ Dieser maßlose Idealismus machte mich staunen. Doch ich erriet, daß der Alte in diesem Augenblick außer sich war und jeder kühlen Berechnung unfähig. „Das ist zu ideal, und einfach grausam. Sie verlangen von ihr Kräfte, die Sie ihr als Vater bei ihrer Geburt vielleicht nicht gegeben haben. Und willigt sie denn in diese Ehe ein, nur um Gräfin zu werden? Sie liebt doch; es ist Leidenschaft; es ist ihr Verhängnis. Und schließlich verlangen Sie von ihr Verachtung der gesellschaftlichen Meinung und beugen sich selbst vor dieser Meinung. Der Fürst hat Sie öffentlich verdächtigt, durch Betrug zu seinem fürstlichen Hause in Beziehung treten zu wollen und Sie denken: wenn sie jetzt diesen formellen Antrag ausschlägt, so ist das die beste Widerlegung aller früheren Klatschereien. Das ist es, was Sie wollen, Sie wollen dem Fürsten beweisen, daß er sich geirrt hat. Sie wollen ihn in eine lächerliche Lage bringen, wollen sich an ihm rächen und opfern dafür das Glück Ihrer Tochter. Ist denn das kein Egoismus?“ Der Alte saß lange finster und mürrisch da und sagte kein Wort. „Du bist gegen mich ungerecht, Wanjä,“ sagte er endlich langsam, und Tränen glänzten in seinen Augen – „ich schwöre es dir, daß du gegen mich ungerecht bist, doch lassen wir das! Ich kann vor dir nicht mein Herz umkehren und ausschütteln,“ fügte er hinzu und griff nach seinem Hut, „ich sage dir nur eines: du hast soeben vom Glück meiner Tochter gesprochen. Ich glaube nicht an dieses Glück, außerdem wird diese Ehe auch ohne mein Zutun niemals zustande kommen.“ „Wieso! Warum glauben Sie das? Haben Sie etwas Besonderes darüber erfahren?“ rief ich begierig aus. „Nein, ich weiß nichts Besonderes darüber. Doch dieser verfluchte Fuchs wird sich niemals dazu entschließen können. Das ist alles Unsinn, das sind Fallen. Ich bin fest davon überzeugt, denke an meine Worte! Und zweitens, wenn diese Ehe gegen seinen Willen zustande kommen sollte, oder wenn dieser Schuft irgendeinen mir unbekannten Vorteil aus dieser Ehe zu ziehen glaubt – so sage dir doch selbst, frage dein eigenes Herz: kann sie denn in dieser Ehe glücklich werden? Diese Vorwürfe und Erniedrigungen, als Freundin des Jungen, der bereits ihre Liebe als einen Zwang zu empfinden anfängt, und wenn er sie heiratet sie nicht mehr achten noch hochhalten wird, bei ihr dagegen wird die Leidenschaft in dem Maße wachsen, in dem seine Liebe abnimmt. Eifersucht, Qualen, Hölle, vielleicht noch Verbrechen ... nein, Wanjä! Wenn du dabei noch mithilfst, so wirst du vor Gott verantwortlich werden, und dann wird es zu spät sein! Lebe wohl!“ Ich hielt ihn zurück. „Hören Sie, Nikolai Ssergejewitsch, halten wir’s vorläufig so: warten wir ab. Seien Sie überzeugt, nicht meine Augen allein verfolgen die Entwicklung dieser Dinge, und vielleicht wird sich alles von selbst zum besten kehren, ohne künstliche Mittel, wie zum Beispiel dieses Duell. Die Zeit ist der beste Richter! Und außerdem, erlauben Sie mir, daß ich Ihnen sage, daß Ihr Projekt sowieso aussichtslos ist. Haben Sie wirklich auch nur einen Augenblick daran glauben können, daß der Fürst Ihre Herausforderung annehmen wird?“ „Wieso nicht? Bedenke, was du sagst!“ „Ich schwöre es Ihnen – er würde es nicht tun; und seien Sie überzeugt, er würde schon ein Mittel finden, es zu rechtfertigen, und Sie werden der Blamierte sein ...“ „Aber, Wanjä, besinne dich doch, was du sagst! Wie kann er es denn überhaupt – nicht annehmen? Nein Wanjä, du bist einfach ein Dichter: ein echter Dichter! Du glaubst doch nicht etwa, daß ich nicht satisfaktionsfähig bin? Ich bin doch nicht schlechter als er! Ich bin fast ein Greis, bin der beleidigte Vater; du, mein Sekundant, ein russischer Schriftsteller, der Anspruch auf höhere Achtung erheben kann, und ... und ... Ich wüßte nicht, was noch nötig wäre ...“ „Nun, Sie werden sehen. Er wird mit solchen Gründen kommen, daß Sie selbst, Sie zuerst Ihre Forderung zurückziehen werden.“ „Hm! ... nun gut, mein Freund, mag es so sein, wie du es denkst. Ich werde warten, bis zu einem gewissen Zeitpunkt, versteht sich. Wollen wir abwarten. Doch noch eines: gib mir dein Ehrenwort, daß du weder dort, noch Anna Andrejewna ein Wort von unserem Gespräch mitteilst.“ „Selbstverständlich.“ „Zweitens, tue mir den Gefallen, Wanjä, niemals mehr darüber mit mir zu sprechen.“ „Gut, ich gebe Ihnen mein Wort.“ „Und schließlich noch eine Bitte: ich weiß, mein Lieber, daß du es bei uns vielleicht langweilig hast, doch besuche uns trotzdem des öfteren. Meine arme Anna Andrejewna hat dich so lieb und ... und ... ohne dich grämt sie sich ... du verstehst, Wanjä?“ Er drückte mir fest die Hand. Ich gab ihm von ganzem Herzen das Versprechen. „Und jetzt, Wanjä, noch eine peinliche Frage: hast du Geld?“ „Geld!“ wiederholte ich voll Verwunderung. „Ja,“ der Alte errötete und schlug die Augen nieder, „für deine Wohnung ... und für deine Bedürfnisse ... und dann, denke ich, daß du noch besondere Ausgaben haben könntest (besonders zu dieser Zeit) ... siehst du, da dachte ich – hundertfünfzig Rubel auf alle Fälle ...“ „Hundertfünfzig Rubel, jetzt, wo Sie den Prozeß verloren haben!“ „Wanjä, ich sehe, daß du mich gar nicht verstehen willst! Auf alle Fälle, verstehe doch. In manchem Falle bedeutet Geld haben, Unabhängigkeit der Lage, Unabhängigkeit des Entschlusses. Vielleicht hast du in diesem Augenblick kein Geld nötig, bewahre es auf für den Fall, wo du es nötig haben könntest! Wenigstens behalte es bei dir. Das ist alles, was ich dir geben kann. Wenn du es nicht brauchen wirst, kannst du es mir zurückgeben. Und jetzt lebe wohl! Mein Gott, wie du erschöpft bist! Ja, du bist ja ganz krank ...“ Ich erwiderte nichts und nahm das Geld. Es war ja nur zu deutlich, wozu er es mir überließ. „Ich kann mich kaum auf den Füßen halten,“ antwortete ich ihm. „Nimm dich in acht, Wanjä, mein Lieber, nimm dich in acht! Gehe heute nicht mehr aus. Ich werde Anna Andrejewna sagen, wie du dich befindest. Hast du nicht den Doktor nötig? Ich werde mich morgen nach dir erkundigen; wenigstens werde ich mich bemühen, es zu tun, wenn ich mich nur selbst noch auf den Füßen halten kann. Lege dich jetzt hin ... Lebe wohl. Adieu Kleine! Hörst du, Wanjä, hier sind noch fünf Rubel für das Kind. Sage ihr nicht, daß ich sie dir gegeben habe. Gib sie für sie aus. Kaufe ihr Stiefelchen, Wäsche, was sie brauchen kann! Leb’ wohl, mein Lieber ...“ Ich begleitete ihn bis zur Tür. Ich mußte den Hausknecht nach Essen schicken. Helene hatte noch nichts genossen. XI. Kaum war ich wieder zurückgekehrt, als ich das Bewußtsein verlor und mitten im Zimmer hinstürzte. Ich hörte noch Helene aufschreien und herbeistürzen, um mich zu halten ... Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich im Bett. Helene erzählte mir nachher, daß sie mich zusammen mit dem Hausknecht, der das Essen gebracht hatte, auf den Diwan gelegt. Jedesmal, wenn ich aufwachte, sah ich das besorgt über mich gebeugte Gesicht Helenens. Doch dessen erinnere ich mich nur noch wie im Traum, wie durch Nebel. Das liebe Gesichtchen des kleinen Mädchens tauchte wie eine Erscheinung vor mir auf, wie ein Bild; sie reichte mir Wasser, legte mir die Bettdecke zurecht, und saß traurig und erschrocken neben mir, hin und wieder mit den Händchen mir über die Haare streichend. Ich erinnere mich auch, einmal ihren leisen Kuß auf meiner Stirn gefühlt zu haben. Ein andermal, als ich plötzlich in der Nacht erwachte, bemerkte ich beim Scheine des herabgebrannten Lichtstumpfs, das auf dem neben den Diwan gerückten Tisch stand, Helenes blasses und erschrockenes Gesichtchen neben mir auf dem Kissen ruhen: sie hatte ihr Gesichtchen in ihre Hand gelegt und die bleichen Lippen waren halb geöffnet. Doch erwachte ich erst vollständig gegen Morgen. Das Licht war ausgebrannt; ein heller, rosafarbener Morgensonnenstrahl spielte auf der Tapete. Helene saß auf dem Stuhl vor dem Tisch, hatte ihr müdes Köpfchen auf den linken Arm gelegt und schlief fest. Ich sah in ihr vom Schlafe gerundetes Kindergesicht, das auch im Schlafe seinen kindlich-traurigen Ausdruck nicht verloren hatte, dabei von sonderbarer, krankhafter Schönheit war; die langen Wimpern lagen wie dunkle Strahlen auf ihren blassen Wangen, die umrahmt wurden vom dunklen Flaum ihrer Haare. Die andere Hand lag auf meinem Kissen. Ich küßte leise, leise das magere Händchen, sie erwachte nicht davon, doch schien im Schlaf ein leises Lächeln über ihre Lippen zu huschen. Ich sah sie an und endlich war ich dann wieder in tiefen, gesunden Schlaf verfallen. Diesmal schlief ich bis zum Nachmittag. Als ich erwachte, fühlte ich mich fast ganz gesund, nur eine gewisse Schwäche und Schwere in allen Gliedern wies auf den überstandenen Anfall hin. Ähnliche nervöse Erscheinungen hatten sich auch schon früher bei mir gemeldet: ich kannte sie nur zu gut. Die Krankheit selbst verließ mich gewöhnlich in vierundzwanzig Stunden wieder, was natürlich nicht hinderte, daß sie in diesen vierundzwanzig Stunden sehr heftig und bedrohlich auftrat. Es war also schon Nachmittag. Das erste, was mir in die Augen fiel, waren die gestern von mir gekauften Vorhänge, die auf einer Schnur aufgezogen die eine Ecke vom Zimmer abschlossen. Dort hatte Helene sich ihren Winkel zurecht gemacht. In diesem Augenblick stand sie am Ofen und kochte Tee. Als sie bemerkte, daß ich erwacht, lächelte sie heiter und kam zu mir. „Meine liebe Freundin,“ sagte ich zu ihr und ergriff ihre Hand, „du hast die ganze Nacht an meinem Bette gewacht. Ich wußte nicht, daß du ein so gutes Herz hast.“ „Woher wissen Sie es denn, daß ich gewacht habe; ich habe vielleicht im Gegenteil die ganze Nacht geschlafen?“ sie sah mich schelmisch und herausfordernd an, zu gleicher Zeit errötete sie aber bei ihren Worten. „Ich habe alles gesehen. Erst gegen Morgen bist du eingeschlafen ...“ „Wollen Sie Tee?“ unterbrach sie mich, als wäre es ihr unangenehm, das Gespräch fortzusetzen, wie es keuschen Menschen eigen ist, die sich nicht loben hören können. „Ich bitte,“ antwortete ich. „Hast du gestern abend gegessen?“ „Ja, ich habe zu Abend gegessen. Der Hausknecht brachte das Essen. Doch sprechen Sie lieber nicht so viel, bleiben Sie ruhig liegen. Sie sind noch nicht gesund,“ fügte sie hinzu. Sie reichte mir den Tee und setzte sich zu mir ans Bett. „Liegen bleiben? Übrigens ja, bis zur Dämmerstunde bleibe ich liegen, doch dann muß ich ausgehen. Ich muß es tun, Lenotschka.“ „Ist es denn wirklich nötig! Zu wem müssen Sie denn? Doch nicht zum Alten von gestern?“ „Nein, nicht zu ihm.“ „Das ist gut, daß Sie nicht zu ihm müssen. Er hat Sie gestern so aufgeregt. Dann gehen Sie wohl zu seiner Tochter?“ „Was weißt du denn von seiner Tochter?“ „Ich habe doch gestern alles gehört.“ Sie senkte den Kopf und zog finster die Brauen zusammen. „Er ist ein schlechter Alter,“ fügte sie darauf hinzu. „Kennst du ihn denn? Im Gegenteil, er ist ein sehr guter Mensch.“ „Nein, nein, er ist böse; ich habe es gehört,“ antwortete sie gereizt. „Ja, was hast du denn gehört?“ „Er will seiner Tochter nicht vergeben ...“ „Aber er liebt sie. Sie hat ihn gekränkt, er aber sorgt für sie, quält sich um sie.“ „Warum verzeiht er ihr aber nicht? Wenn er ihr später verzeihen sollte, so wird die Tochter nicht mehr zu ihm gehen.“ „Wieso? Warum nicht?“ „Weil er es nicht wert ist, daß seine Tochter ihn lieb hat,“ antwortete sie erregt. „Soll sie ihn lieber auf immer verlassen, soll sie lieber betteln gehen, als zu ihm zurückkehren; er soll nur allein bleiben und sich quälen.“ Ihre Augen funkelten, ihre Wangen brannten. „Sicher hat sie einen Grund, wenn sie so spricht,“ dachte ich bei mir. „Und Sie wollten mich zu ihm ins Haus geben?“ fügte sie hinzu und verstummte. „Ja, Lenotschka.“ „Nein, lieber werde ich dienen gehen.“ „Wie kannst du nur so etwas sagen, Lenotschka! Welch ein Unsinn; wer würde denn dich engagieren?“ „Jeder Bauer,“ antwortete sie ungeduldig und immer erboster. Sie schien sehr heftig zu sein. „Eine solche Arbeiterin kann der Bauer nicht brauchen,“ sagte ich lachend. „Nun, dann gehe ich zu einer Herrschaft.“ „Mit deinem Charakter?“ „Mit meinem, jawohl.“ Je mehr sie sich aufregte, desto abgebrochener antwortete sie. „Du wirst es nicht aushalten.“ „Ich werde es wohl! Man wird mich schimpfen, ich aber werde schweigen. Man wird mich schlagen, ich aber werde schweigen, schweigen, mögen sie mich schlagen, ich werde nicht weinen. Sie werden platzen vor Wut, ich aber werde schweigen.“ „Wie du bist, Helene! Wieviel Verbitterung in dir steckt, und wie stolz du bist! Viel Leid mußt du erfahren haben ...“ Ich erhob mich und ging an meinen Arbeitstisch. Helene blieb auf dem Diwan sitzen, sah zu Boden und spielte mit ihren Fingern. Sie schwieg. „Ob sie sich durch meine Worte gekränkt fühlt?“ dachte ich bei mir. Mechanisch öffnete ich das Bücherpaket, das ich mir gestern zur Arbeit mitgebracht hatte, und vertiefte mich allmählich ins Lesen. Das geschieht bei mir oft so: ich öffne irgendein Buch nur auf einen Augenblick, fange an zu lesen und vergesse alles. „Was schreiben Sie immer?“ fragte mit bescheidenem Lächeln Helene, leise an den Tisch tretend. „Ach, Lenotschka, allerhand, wofür man mir Geld gibt.“ „Also Bittschriften?“ „Nein, nicht Bittschriften.“ Und ich erklärte ihr, so gut ich’s konnte, daß ich Geschichten über die Geschicke der verschiedensten Leute schreibe. Daraus entstehen Bücher, die man Erzählungen oder Romane nennt. Sie hörte mich mit großem Interesse an. „Ist das alles Wahrheit, was Sie schreiben?“ „Nein, ich denke es mir aus.“ „Warum schreiben Sie denn die Unwahrheit?“ „Lies doch, dann wirst du sehen, lies dieses Buch; du hast doch schon einmal in ihm gelesen. Du verstehst doch zu lesen?“ „Ja.“ „Nun, so sieh es dir doch an. Dieses Buch habe ich geschrieben.“ „Sie? Ich werde es lesen ...“ Sie schien mir etwas sagen zu wollen, doch wagte sie es offenbar nicht. Sie war in großer Erregung. Hinter ihren Fragen steckte etwas. „Und zahlt man Ihnen viel dafür?“ fragte sie endlich. „So wie es kommt. Einmal viel, ein andermal – gar nichts, je nachdem. Es ist eine mühsame Arbeit, Lenotschka.“ „Sie sind also nicht reich?“ „Nein, ich bin nicht reich.“ „Dann werde ich arbeiten und Ihnen helfen ...“ Sie blickte flüchtig zu mir auf, errötete, und schlug wieder schnell die Augen nieder. Plötzlich trat sie auf mich zu und schlang ihre beiden Ärmchen um mich und preßte ihr Köpfchen fest, fest an meine Brust. „Ich habe Sie lieb ... ich bin nicht stolz, Sie sagten gestern, daß ich stolz sei. Nein, nein ... ich bin nicht so ... ich liebe Sie, und Sie allein lieben mich ...“ Die Tränen erstickten sie. Ein Schluchzen entriß sich ihrer Brust und durchschüttelte sie mit solcher Gewalt, wie bei ihrem letzten Anfall. Sie fiel vor mir auf die Kniee, küßte meine Hände, meine Füße ... „Nur Sie lieben mich! ...“ wiederholte sie, „nur Sie allein, allein! ...“ Sie preßte meine Kniee an sich. Alle ihre Gefühle, die sie lange zurückgehalten, überwältigten sie in diesem Augenblick und ich begriff, wie sie durch die Hartnäckigkeit ihres Herzens bis jetzt alles niedergekämpft hatte, und zwar, je stürmischer das Verlangen ihres Herzens gewesen, desto hartnäckiger, bis dann endlich der Augenblick gekommen war, wo sich ihr ganzes Wesen bis zur Selbstvergessenheit der Liebe, der Dankbarkeit, der Zärtlichkeit und dieser Erlösung in Tränen hingab. Sie schluchzte so heftig, daß sie schließlich in einen richtigen Weinkrampf verfiel. Mit Mühe löste ich ihre Hände von meinen Knien und trug sie auf den Diwan. Sie begrub ihren Kopf in die Kissen, als schäme sie sich, mich anzusehen und schluchzte still weiter; meine Hand aber hielt sie noch lange mit ihren kleinen Händchen und preßte sie an ihr Herz. Endlich beruhigte sie sich allmählich, doch ihr Gesicht hielt sie noch immer versteckt. Hin und wieder streifte mich nur ein flüchtiger Blick, in dem so viel Weichheit und ein ängstlich verhaltenes Gefühl lag, und plötzlich lächelte sie wieder. „Ist es dir nun leichter, mein liebes, krankes Kind, meine kleine Lenotschka!“ „Nicht Lenotschka ...“ flüsterte sie und versteckte wieder ihr Gesichtchen. „Nicht Lenotschka? Wie denn?“ „Nelly.“ „Nelly? Warum denn gerade Nelly? Das ist ja ein sehr netter Name. Wenn du willst, kann ich dich so rufen.“ „So rief mich meine Mutter ... Niemand sonst nannte mich so, nur sie ... und ich würde es auch niemand erlauben, außer Mama ... nur Sie sollen mich so nennen, ich will es ... Ich werde Sie immer lieben, immer lieben ...“ „Was für ein kleines stolzes Herz,“ dachte ich, „wie lange mußte ich mich darum mühen, bis es mich lieb gewann.“ Doch jetzt wußte ich, daß dieses Herz mir auf immer ergeben war. „Höre, Nelly,“ fragte ich sie, als sie sich gänzlich beruhigt hatte, „du sagst, daß dich außer deiner Mama niemand lieb gehabt hat. Und dein Großpapa, liebte er dich denn gar nicht?“ „Nein, er liebte mich nicht ...“ „Du hast aber doch hier über ihn geweint, hier, auf der Treppe, erinnerst du dich?“ Sie dachte einen Augenblick nach. „Nein, er liebte mich nicht ... Er war böse.“ Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. „Von ihm konnte man es auch nicht mehr verlangen, Nelly. Er hatte bereits sein Gedächtnis verloren. Ich habe dir doch erzählt, wie er starb.“ „Ja; doch war er nur im letzten Monat so vergeßlich. Er saß hier den ganzen Tag, und wenn ich nicht zu ihm gekommen wäre, so würde er noch den dritten Tag so gesessen haben, ohne zu trinken, ohne zu essen. Doch früher war er viel besser.“ „Wann war das?“ „Als Mama noch lebte.“ „Also warst du es, die ihm zu trinken und zu essen brachte, Nelly?“ „Ja, ich brachte ihm ...“ „Wo nahmst du es denn, von der Bubnowa?“ „Nein, ich habe niemals etwas von der Bubnowa genommen,“ ihre Stimme hatte plötzlich einen harten, gesprungenen Klang. „Woher hast du es denn genommen, du besaßest doch nichts?“ Nelly schwieg und erbleichte; sie sah mich darauf mit langem, fragendem Blick an. „Ich habe auf der Straße gebettelt ... Hatte ich fünf Kopeken, so kaufte ich ihm Brot und Schnupftabak ...“ „Und er ließ es zu ... Nelly, Nelly!“ „Zuerst tat ich es, ohne ihm etwas davon zu sagen. Als er es aber erfuhr, schickte er selbst mich betteln. Ich bettelte auf der Brücke und er wartete auf mich in der Nähe; sowie er es sah, daß man mir Geld gab, stürzte er sich auf mich und nahm mir das Geld fort, als hätte ich es vor ihm verstecken wollen, oder als bettelte ich nicht für ihn.“ Um ihren Mund spielte ein bitteres Lächeln. „Das geschah alles erst, als Mama starb,“ fügte sie hinzu. „Erst nach ihrem Tode wurde er so – sonderbar.“ „Folglich muß er deine Mutter sehr geliebt haben? Warum lebtet ihr denn nicht alle zusammen?“ „Nein, er liebte sie nicht ... Er war böse und hat ihr nicht verziehen ... ganz wie der böse Alte von gestern,“ sagte sie leise, fast flüsternd und erblaßte. Ich fuhr zusammen: Die verwickelten Fäden eines ganzen Romans lösten sich in meiner Phantasie. Diese arme Frau, die bei einem Sargmacher im Keller gestorben: die Tochter, eine Waise, die den Alten, der ihre Mutter verfluchte, teilweise unterhielt; und der geistesabwesende alte Sonderling, der auf dem Wege von der Konditorei gleich nach seinem Hunde gestorben war! ... „Asorka gehörte ja früher Mama,“ sagte sie plötzlich, wie in Erinnerung lächelnd. „Großpapa liebte Mama früher sehr und als Mama ihn verließ, blieb Asorka bei ihm. Deshalb liebte er Asorka so sehr ... Mama verzieh er nicht, als aber Asorka starb, ist er auch gestorben,“ fügte Nelly hart hinzu und das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand. „Was war er eigentlich früher gewesen?“ fragte ich sie, nach einer längeren Pause. „Er war sehr reich ... Ich weiß nicht, wer er war,“ antwortete sie. „Er hatte eine Fabrik ... So sagte Mama. Anfangs glaubte sie, ich sei so klein und verstünde von alledem nichts. Sie küßte mich immer und sagte zu mir: wenn die Zeit kommt, wirst du alles erfahren, mein armes, mein unglückliches Kind! Immer nannte sie mich arm und unglücklich. Und in der Nacht, wenn sie glaubte, daß ich schliefe (ich stellte mich so an, als ob ich schliefe) weinte sie über mich, küßte mich leise und sagte immer Armes, Unglückliches!“ „Woran ist deine Mutter gestorben?“ „An der Schwindsucht; vor sechs Wochen etwa.“ „Erinnerst du dich noch der Zeit, da dein Großvater reich war?“ „Damals war ich doch noch gar nicht geboren. Mama hatte doch schon vor meiner Geburt Großpapa verlassen.“ „Mit wem war sie denn fortgegangen?“ „Ich weiß es nicht,“ antwortete Nelly leise und nachdenklich. „Sie ging ins Ausland, dort wurde ich geboren.“ „Im Auslande? Wo?“ „In der Schweiz. Ich bin überall gewesen, in Italien war ich, in Paris.“ Ich staunte. „Und du erinnerst dich, Nelly?“ „Vieles ist mir im Gedächtnis geblieben.“ „Wie hast du denn so gut Russisch sprechen gelernt, Nelly?“ „Mama sprach auch schon dort mit mir Russisch. Sie war Russin, denn ihre Mutter war Russin, Großpapa aber war Engländer von Geburt, doch auch ganz Russe. Als wir dann vor anderthalb Jahren hierher zurückkehrten, sprachen wir nur Russisch. Mama war damals schon krank. Wir wurden immer ärmer und ärmer. Mama weinte immer. Sie suchte hier nach Großpapa und sagte immer, sie sei vor ihm schuldig und weinte ... Sie weinte so sehr, so sehr! Als sie erfuhr, daß Großpapa ganz verarmt war, da weinte sie noch mehr. Sie schrieb ihm oft Briefe, er aber antwortete nicht.“ „Warum kehrte sie denn hierher zurück? Nur Großpapas wegen?“ „Ich weiß es nicht. Dort lebten wir so gut!“ und Nellys Augen glänzten. „Mama lebte mit mir allein. Sie hatte einen Freund, der war so gut wie Sie ... Er kannte sie schon hier. Doch er starb dort und Mama kehrte hierher zurück ...“ „Also hatte sie seinetwegen Großpapa verlassen?“ „Nein, nicht seinetwegen. Mit einem anderen, der sie verlassen hat ...“ „Mit wem denn, Nelly?“ Nelly sah mich an und antwortete mir nichts. Offenbar wußte sie, wer ihr Vater war. Doch fiel es ihr schwer, mir seinen Namen zu nennen. Ich wollte sie auch nicht mehr ausfragen. Sie war ein sonderbarer Charakter, nervös und heftig, der sich selbst immer bekämpfte, sympathisch, doch stolz und unzugänglich. Die ganze Zeit über, seit ich sie kannte, und trotzdem sie mich sicher von ganzem Herzen liebte, mit einer Liebe, die fast so groß und stark war, wie die zu ihrer verstorbenen Mutter, war sie mir gegenüber doch so verschlossen, daß sie nicht das Bedürfnis empfand, mir von ihrer Vergangenheit zu erzählen, sondern im Gegenteil alles vor mir zu verbergen suchte. Nur an diesem einen Tage, in diesen Stunden teilte sie mir alles zwischen Tränen und Schluchzen mit, was sie am meisten in ihrer Erinnerung quälte und niemals werde ich ihre grauenvolle Erzählung vergessen. Doch ihre ganze Lebensgeschichte steht uns noch bevor. Wie furchtbar war diese Erzählung; die Geschichte einer verlassenen Frau, die ihr Glück überlebt hatte; krank, gequält und von allen verlassen; selbst von ihrem nächsten Menschen, auf den sie gehofft, von ihrem Vater, den sie verlassen und der gequält von unendlichem Leid und Erniedrigungen den Verstand verloren. Diese Geschichte einer Frau, die zur Verzweiflung gebracht, mit ihrem kleinen Töchterchen, das sie noch für ein Kind hielt, in den kalten, schmutzigen Petersburger Straßen herumging, um Almosen zu bitten; eine Frau, die monatelang in einem feuchten Keller mit dem Tode rang, während der Vater ihr bis zum letzten Augenblick ihres Lebens die Vergebung nicht gewährte, und die er dann, als er sich endlich besann und zu seinem über alles in der Welt geliebten Kinde eilte, als Leiche vorfand. Es war eine wunderliche Erzählung, von geheimnisvollen, fast unverständlichen Beziehungen zwischen einem geistesabwesenden Alten und seiner kleinen Enkelin, die ihn verstand, und trotz ihres frühen Alters vieles kannte, was andere in langen Jahren ihres ruhig dahinfließenden sorglosen Lebens nicht kennen lernen. Es war eine dieser dunklen und qualvollen Lebensgeschichten, die fast unmerklich, fast geheimnisvoll unter dem schweren, trüben Petersburger Himmel sich abspielen, in den dunklen Ecken und verborgenen Winkeln dieser Großstadt, inmitten des Wirrsals unnatürlichen Lebensgenusses, stumpfen Egoismus’, aufeinanderstoßender Interessen, unheimlichen Lasters, geheimer Verbrechen, inmitten eines Höllenpfuhles sinnlosen Lebens ... Doch diese Geschichte steht uns noch bevor ... Dritter Teil I. Schon längst hatte die Dämmerung begonnen und der Abend war bereits hereingebrochen, als ich aus einem schweren Traum erwachte und mir der ganzen Gegenwart und Wirklichkeit bewußt wurde. „Nelly,“ sagte ich zu ihr, „du bist krank und niedergeschlagen und ich muß dich in diesem Zustande allein lassen. Doch du wirst mir vergeben, mein Kind, wenn ich dir sage, daß ein unglückliches, verlassenes und von mir geliebtes Wesen mich erwartet ... ja – sie erwartet mich ... und ich habe keine Ruhe, ich kann mich nicht überwinden, ich muß sie sofort sehen ...“ Ich weiß nicht, ob Nelly verstanden hatte, was ich ihr sagte. Meine Nerven waren durch meine Krankheit und durch Nellys Erzählung dermaßen erregt, daß ich sofort, von Sorgen getrieben, und ohne mich weiter um Nelly zu kümmern, zu Natascha eilte. Es war schon spät, gegen neun Uhr abends, als ich bei ihr eintrat. Noch auf der Straße, am Haustor, hatte ich eine Equipage bemerkt, die mir diejenige des Fürsten zu sein schien. Der Eingang zu Nataschas Wohnung ging vom Hof aus. Kaum als ich die Stiege betreten hatte, hörte ich vor mir, eine Treppe höher, einen Menschen sich vorsichtig hinauftasten, und zwar ganz wie einer, dem die Treppe fremd war. Ich dachte zuerst, es sei der Fürst, doch schien es mir schon bald darauf, daß ich mich getäuscht hatte, denn der Unbekannte vor mir schimpfte und verfluchte seinen Weg mit Worten, die um so gemeiner wurden, je höher er stieg. Freilich war die Treppe eng, schmutzig, steil, kaum erleuchtet, doch mußte ich die Flüche dieses Menschen eher einem Fuhrkerl als einem Fürsten zutrauen. Der dritte Stock war hell erleuchtet: vor Nataschas Tür brannte immer eine kleine Lampe. Ich holte den Unbekannten kurz vor ihrer Tür ein und – wie groß war meine Verwunderung, als ich in ihm doch den Fürsten erkannte. Es schien, daß ihn dieses Zusammentreffen mit mir sehr unangenehm berührte. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht, doch plötzlich veränderte sich sein Gesicht vollkommen. Sein kurzer wütender Blick auf mich wurde heiter und freundlich und mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit streckte er mir seine beiden Hände entgegen. „Ach, das sind Sie! Ich wollte schon Gott um die Errettung meines Lebens anflehen. Haben Sie gehört, wie ich fluchte?“ Und er lachte herzlich, auf die allerungezwungenste Weise. Doch plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht wieder und nahm einen besorgten Ausdruck an. „Aljoscha konnte Natalja Nikolajewna in dieser Wohnung unterbringen!“ sagte er bedenklich den Kopf schüttelnd. „Diese sogenannten Kleinigkeiten kennzeichnen den Menschen. Ich fürchte für ihn ... Er ist gut, er hat ein edles Herz, doch da haben Sie ein Beispiel: diejenige, die er über alles liebt, bringt er in einer Hundehütte unter. Ich hörte sogar, sie hätte oft nichts zu essen gehabt,“ fügte er flüsternd hinzu, mit der Hand nach der Klingel tastend. „Mir brummt der Schädel, wenn ich an seine Zukunft denke und hauptsächlich an die Zukunft Anna Nikolajewnas, wenn sie seine Frau wird ...“ Er hatte sich im Namen geirrt und vor Ärger darüber, daß er die Klingel nicht finden konnte, dies gar nicht bemerkt. Eine Klingel gab es nicht. Ich drückte auf die Türklinke und Mawra öffnete sofort, sich höflich verneigend. In der Küche, die von dem kleinen Vorzimmer durch eine Bretterwand geschieden war, bemerkte man die getroffenen Vorbereitungen; alles in ihr war außergewöhnlich sauber. Im Ofen brannte Feuer, auf dem Tisch stand neues Geschirr. Offenbar hatte man uns erwartet. „Ist Aljoscha hier?“ fragte sie der Fürst, als sie uns die Mäntel abnahm. „Er ist nicht hier gewesen,“ flüsterte sie mir auf die Frage geheimnisvoll zu. Wir betraten Nataschas Zimmer. In ihrem Zimmer war von besonderen Vorbereitungen nichts zu bemerken. Bei ihr war es übrigens immer so sauber und anheimelnd, daß es besonderer Vorbereitungen gar nicht bedurfte. Natascha empfing uns an der Tür. Ich war erschrocken über ihr elendes Aussehen, über ihre krankhafte Blässe, obgleich in diesem Augenblick leichte Röte in ihre Wangen stieg. Ihre Augen glänzten fieberhaft. Sie schwieg und reichte ein wenig verlegen dem Fürsten hastig die Hand. Mich schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Ich stand und wartete schweigend. „Da bin ich!“ begann der Fürst freundschaftlich und heiter. „Vor ein paar Stunden bin ich zurückgekehrt, und die ganze Zeit über habe ich an Sie gedacht (er küßte zärtlich ihre Hand). Viel, sehr viel habe ich Ihnen zu sagen ... Doch davon später! Mein Taugenichts ist noch nicht hier, wie ich sehe ...“ „Erlauben Sie, Fürst,“ unterbrach ihn Natascha etwas verwirrt, „ich habe Iwan Petrowitsch ein paar Worte zu sagen. Wanjä komm ... einen Augenblick.“ Sie nahm mich an der Hand und führte mich hinter den Vorhang. „Wanjä,“ sagte sie halblaut, und sie führte mich in den allerdunkelsten Winkel, „wirst du mir verzeihen, oder nicht?“ „Was hast du, Natascha?“ „Nein, nein, Wanjä, du hast mir zu oft, zu viel vergeben, auch deine Geduld muß einmal ein Ende nehmen. Du wirst mich niemals aufhören zu lieben, doch du wirst mich undankbar nennen, denn gestern und vorgestern bin ich dir gegenüber undankbar, egoistisch und schlecht gewesen ...“ Sie brach plötzlich in Tränen aus und preßte ihr Gesicht an meine Schulter. „Laß gut sein, Natascha,“ beeilte ich mich, sie zu beruhigen. „Ich war gestern, die ganze Nacht hindurch, sehr krank und kann mich auch jetzt kaum auf den Füßen halten, daher bin ich gestern abend und heute den Tag über nicht bei dir gewesen, und du glaubtest vielleicht, daß ich dir etwas nachtrüge ... Meine liebe Natascha, weiß ich denn nicht, was jetzt in deiner Seele vorgeht?“ „Nun, dann ist ja alles gut ... Also hast du mir wieder verziehen, wie immer,“ sie lächelte unter Tränen und drückte mir schmerzhaft die Hand. „Alles übrige später. Ich habe dir viel zu sagen, Wanjä, doch jetzt zu ihm.“ „Schnell, Natascha, wir haben ihn so plötzlich verlassen ...“ „Du wirst sehen, du wirst sehen, was geschehen wird,“ flüsterte sie mir noch schnell zu. „Ich weiß jetzt alles; ich habe alles erraten. An allem ist nur _er_ schuld. Dieser Abend wird alles entscheiden. Gehen wir!“ Ich begriff nichts, doch fragen konnte ich sie nicht mehr. Natascha ging mit heiterem Lächeln auf den Fürsten zu, der noch immer mit dem Hut in der Hand dastand. Sie entschuldigte sich, nahm ihm den Hut ab und wies ihm einen Stuhl an. Wir setzten uns alle drei rund um ihren Tisch. „Ich erwähnte vorhin meinen Sohn,“ fuhr der Fürst fort, „ich sah ihn nur einen Augenblick auf der Straße, als er sich anschickte, zur Gräfin Zinaida Fedorowna zu fahren. Er hatte es furchtbar eilig, stellen Sie sich vor, er wollte nicht einmal ins Haus kommen, um mich nach vier Tagen Trennung zu begrüßen. Übrigens bin auch ich schuld daran, Natalja Nikolajewna, wenn er jetzt noch nicht hier ist, ich benutzte die Gelegenheit, um ihm an die Gräfin einen Auftrag zu übergeben, da ich sie heute selbst nicht mehr aufsuchen konnte. Er muß sicher jeden Augenblick erscheinen.“ „Er hat Ihnen also versprochen, heute bestimmt zu kommen?“ fragte Natascha den Fürsten in der allerungezwungensten Weise. „Ach, mein Gott, wie sollte er denn heute nicht kommen ... wie eigentümlich Sie fragen!“ rief er erstaunt aus. „Übrigens, ich begreife, Sie sind ihm böse. Es ist in der Tat nicht schön von ihm, später als alle anderen zu kommen. Doch ich wiederhole es: ich bin schuld daran. Seien Sie ihm nicht böse. Er ist leichtsinnig und unbeständig; ich will ihn nicht entschuldigen, doch einige besondere Umstände verlangen es, daß er das Haus der Gräfin nicht meidet, und verschiedene Verbindungen nicht aufgibt, sondern im Gegenteil, so oft als möglich überall erscheint. Er, der jetzt, aller Wahrscheinlichkeit nach, nur bei Ihnen sich aufhält und alle Welt vergißt, muß mit Ihrer Erlaubnis, hin und wieder auch seinen Verpflichtungen nachkommen. Ich bin überzeugt, daß er seit dem Abend nicht ein einziges Mal bei der Gräfin A. gewesen ist, es tut mir leid, daß ich ihn vorhin nicht darnach habe fragen können! ...“ Ich blickte auf Natascha, die dem Fürsten mit halbironischem Lächeln zuhörte. Er aber sprach davon so selbstverständlich, so natürlich, es war scheinbar nicht möglich, ihn irgend einer besonderen und falschen Absicht zu verdächtigen. „Und Sie wissen es wirklich nicht, daß er in all diesen Tagen kein einziges Mal bei mir gewesen ist?“ fragte ihn Natascha mit leiser, ruhiger Stimme, als hätte sie von einer ihr allergleichgültigsten Angelegenheit gesprochen. „Wie! Kein einziges Mal bei Ihnen gewesen? Erlauben Sie, was sagen Sie?“ rief der Fürst in scheinbar außergewöhnlicher Verwunderung. „Sie waren Dienstag, spät abends, bei mir. Am nächsten Morgen war er eine halbe Stunde hier, seit der Zeit habe ich ihn nicht wiedergesehen.“ „Das ist doch unmöglich!“ (Sein Erstaunen wuchs immer mehr und mehr.) „Ich dachte, er hat Sie in diesen Tagen überhaupt nicht verlassen. Entschuldigen Sie, das ist zu sonderbar ... das ist einfach unmöglich.“ „Indessen, ist es so ... leider; ich habe Sie deshalb erwartet, und glaubte von Ihnen zu erfahren, wo er sich befindet?“ „Mein Gott! Er muß sofort kommen! Was Sie mir soeben sagen, setzt mich dermaßen in Erstaunen, daß ich ... ich gestehe es, alles andere von ihm erwartet hätte als dieses ... dieses! ...“ „Wie erstaunt Sie sind! Und ich dachte, es würde Sie gar nicht verwundern, sondern Sie hätten im voraus wissen müssen, daß es so sein würde.“ „Wissen müssen! Ich? Ich versichere Ihnen, Natalja Nikolajewna, daß ich ihn heute nur einen Augenblick gesehen habe, ich weiß nichts von ihm; und sonderbarerweise, scheinen Sie es mir nicht zu glauben,“ fügte er hinzu, uns beide ansehend. „Gott bewahre,“ griff Natascha auf, „ich bin durchaus überzeugt, daß Sie die Wahrheit sagen.“ Und sie lachte ihm gerade ins Gesicht, so daß er etwas verwirrt und gekränkt bemerkte: „Bitte, erklären Sie sich ...“ „Ich habe nichts zu erklären. Ich bemerke nur, daß Sie wissen mußten, wie leichtsinnig und vergeßlich Ihr Sohn ist. Ihm ist jetzt volle Freiheit gegeben und er läßt sich von ihr hinreißen.“ „Sich so gehen zu lassen, ist aber doch unmöglich, da muß noch etwas anderes dahinter stecken; wenn er kommt, werde ich ihn sofort darüber ausfragen. Doch mich wundert nur, daß Sie mich ... irgendwie anzuklagen scheinen, während ich doch in der Zeit überhaupt nicht hier gewesen bin. Im Grunde, Natalja Nikolajewna, scheinen Sie sehr böse auf ihn zu sein ... und das ist nur zu verständlich! Sie haben das Recht dazu ... und ... und ... versteht sich, ich muß als Erster daran schuld sein, vielleicht auch nur deshalb, weil ich als Erster zurückgekehrt bin; nicht wahr, so verhält es sich doch?“ fügte er hinzu und wandte sich dabei mit gereiztem Lächeln an mich. Natascha fuhr auf. „Erlauben Sie, Natalja Nikolajewna,“ hub der Fürst mit besonderer Würde an, „ich gebe zu, daß mich die Schuld trifft, gleich am nächsten Tage unserer Bekanntschaft abgereist zu sein, so daß Sie bei dem Mißtrauen, der Ihrem Charakter eigen zu sein scheint, in der kurzen Zeit Ihre Meinung über mich ändern konnten, wozu die Umstände vielleicht viel beigetragen haben. Wäre ich nicht fortgereist, so hätten Sie mich besser kennen gelernt, und Aljoscha wäre unter meiner Aufsicht geblieben. Sie werden sehen, was ich ihm jetzt zu sagen habe.“ „Das heißt, Sie wollen es dazu bringen, daß er mich als Last zu empfinden anfängt. Es ist nicht anzunehmen, daß Sie bei Ihrer Klugheit in der Tat glauben können, mir damit einen Dienst zu erweisen.“ „Sie wollen damit wohl andeuten, daß ich bereits dahin gewirkt habe, daß er Ihrer überdrüssig geworden? Oh, Sie beleidigen mich, Natalja Nikolajewna.“ „Ich bemühe mich, mich stets klar und deutlich auszudrücken, wem gegenüber es auch sei,“ antwortete Natascha. „Ich mache niemals Andeutungen, sondern sage alles gerade heraus, wovon Sie sich noch heute überzeugen werden. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu beleidigen – wozu auch? Schon deshalb nicht, weil Sie meinen Worten ja doch keine Beachtung schenken würden! Davon bin ich durchaus überzeugt, und ich verstehe unsere beiderseitigen Beziehungen richtig einzuschätzen. Sie werden sie doch niemals ernst nehmen, nicht wahr? Doch sollte ich Sie wirklich beleidigt haben, so bin ich sofort bereit, meine Entschuldigung zu machen, um vor Ihnen die Pflichten der Gastfreundschaft nicht zu verletzen.“ Ungeachtet des ungezwungenen, fast scherzhaften Tones, in dem Natascha mit lächelndem Munde diese Worte gesprochen, habe ich sie doch noch nie in dem Maße erregt gesehen. Jetzt begriff ich, wie weh es ihr in diesen drei Tagen ums Herz gewesen sein mußte! Ihre rätselhaften Worte: daß sie jetzt alles erraten und begriffen habe, flößten mir Furcht ein; sie bezogen sich bestimmt auf den Fürsten. Sie hatte ihre Meinung über ihn geändert und betrachtete ihn als ihren Feind, – das war offensichtlich. Sie schrieb seinem Einfluß ihr ganzes Unglück mit Aljoscha zu. Ich befürchtete den Ausbruch einer heftigen Szene zwischen ihnen. Der scherzhafte Ton verbarg ihre innere Erregung nicht. Ihre Bemerkungen dem Fürsten gegenüber, – daß er ihre Beziehungen zueinander nicht ernst nähme, die Phrase über die Gastfreundschaft, die Drohung, daß sie geradeheraus die Wahrheit sagen würde – waren so offensichtlich und herausfordernd, daß sie der Fürst unmöglich nicht bemerken konnte. Ich sah, wie sich sein Gesicht veränderte, doch gab er sich den Anschein, als verstände er die Anspielung überhaupt nicht, und er erwiderte scherzhaft lachend: „Gott beschütze mich davor, von Ihnen eine Entschuldigung zu fordern! Ich würde doch _niemals_ von einer Frau eine Entschuldigung verlangen – noch annehmen!!! Bei meiner ersten Begegnung mit Ihnen, habe ich Sie bereits vor meinem Charakter gewarnt, seien Sie mir darum, bitte, nicht böse, wenn ich mir eine Bemerkung über die Frauen erlaube ... Sie werden mir vielleicht darin zustimmen,“ wandte er sich liebenswürdig an mich. „Ich habe bei Frauen die Eigenheit bemerkt, daß eine Frau nie ihre Schuld sofort, im ersten Augenblick, zugeben wird, und wenn sie sie auch später mit tausend Zärtlichkeiten wieder gut zu machen sucht; im Augenblick ihrer Handlungsweise jedoch wird sie es niemals tun. Folglich, wenn Sie mich auch beleidigt haben sollten, so würde ich jetzt keine Entschuldigung von Ihnen verlangen; für mich ist es vorteilhafter abzuwarten, bis Sie Ihren Fehler selbst einsehen werden und ihn durch ... tausend Zärtlichkeiten wieder gut zu machen suchen. Sie sind so jung, rein und gut, daß der Augenblick, in dem Sie bereuen werden, ganz bezaubernd sein muß. Besser als alle Entschuldigung jedoch wäre es, wenn Sie mir sagen würden, wodurch ich es Ihnen zeigen soll, daß ich aufrichtiger und wohlwollender Ihnen gegenüber bin, als Sie es von mir glauben?“ Natascha errötete. Auch mir schien sein Ton ein wenig oberflächlich, nachlässig, sogar unbescheiden. „Sie wollen es beweisen, daß Sie zu mir aufrichtig und offenherzig sind?“ sagte Natascha und sah ihn herausfordernd an. „Ja.“ „Wenn dem so ist, so erfüllen Sie mir folgende Bitte.“ „Ich gebe Ihnen mein Wort ...“ „Mit keiner Silbe, mit keiner Bemerkung Aljoscha meinetwegen, weder morgen noch übermorgen, zu belästigen. Keinen Vorwurf, daß er mich vergessen, hören Sie? keine Bemerkung darüber! Ich möchte ihm so begegnen, als wäre niemals zwischen uns etwas vorgefallen ... Ich wünsche es. Werden Sie mir Ihr Wort geben?“ „Mit dem größten Vergnügen,“ antwortete der Fürst, „und erlauben Sie mir, hinzuzufügen, daß ich noch niemals einer so vernünftigen Anschauung, in diesen Dingen, begegnet bin ... Doch, das scheint ja Aljoscha zu sein!“ Man hörte im Vorzimmer Geräusch. Natascha zuckte zusammen, dann schien sie sich wie zu irgend etwas aufzuraffen. Der Fürst saß da mit ernster Miene, als erwarte er gespannt die kommenden Dinge. Er beobachtete scharf Natascha. Die Tür öffnete sich und Aljoscha stürzte ins Zimmer. II. ... Er flog ins Zimmer auf uns zu, mit strahlenden Augen, glücklich und heiter. Er mußte diese vier Tage lustig und angenehm verbracht haben und aus seinem ganzen Auftreten konnte man erraten, daß er uns viel mitzuteilen beabsichtigte. „Da bin ich!“ rief er über das ganze Zimmer, „ich, der ich von allen als Erster hätte hier sein müssen. Doch werdet ihr sofort, alles, alles, alles von mir erfahren! Vorhin konnte ich mit dir, Papa, kaum ein paar Worte sprechen, obgleich ich dir so viel zu sagen habe. – Nur in einigen seltenen Augenblicken erlaubt er mir _du_ zu sagen,“ wandte er sich an mich, „denn sonst verbietet er’s mir! Und was für eine sonderbare Taktik er dann mir gegenüber gebraucht: er sagt zu mir einfach _Sie_. Doch von heute ab wünschte ich, daß es nur solche seltene Augenblicke gäbe! Überhaupt habe ich mich in diesen vier Tagen ganz und gar verändert, ganz und gar, ich werde euch alles erzählen. Doch davon später. Zuerst kommt die Reihe an sie! sie! und wieder an sie, meine Natascha, mein Engel!“ Er setzte sich neben sie und küßte ihr gierig die Hände. „Hast du dich sehr um mich gegrämt in diesen Tagen! Doch, was soll ich sagen! Ich konnte nicht kommen! Konnte nicht ... Mein Liebling! Du hast abgenommen und bist so bleich ...“ Er bedeckte immer wieder ihre Hände mit Küssen, sah ihr in die Augen, als könne er sich nicht an ihr sattsehen. Ich sah Natascha an und erriet sofort, daß wir denselben Gedanken hatten: Daß er vollkommen unschuldig war. Ja, und wie sollte dieser _Unschuldige_ jemals schuldig werden? Eine helle Röte bedeckte plötzlich die bleichen Wangen Nataschas, als hätte sich ihr ganzes Blut vom Herzen ins Gesicht ergossen. Ihre Augen glänzten und sie sah stolz den Fürsten an. „Wo warst du denn ... alle diese Tage?“ fragte sie mit abgebrochener Stimme. Sie atmete schwer und ungleichmäßig. Mein Gott, wie sie ihn liebte! „Das ist es ja, daß es wirklich den Anschein hat, als wäre ich schuldig vor dir; ja, als wenn _ich’s wäre_? Versteht sich von selbst, daß ich’s bin, mit dem Bewußtsein bin ich auch hierhergekommen. Katjä sagte mir noch gestern und heute, daß eine Frau eine solche Vernachlässigung unmöglich verzeihen könne. Sie weiß doch, was sich Dienstag hier mit uns zugetragen, ich habe es ihr gleich am andern Tage mitgeteilt. Ich habe mich mit ihr gestritten, habe ihr gesagt, daß diese Frau _Natascha_ heißt, und daß auf der ganzen Welt ihr nur eine ähnlich kommt: und das ist Katjä; und ich bin hierhergekommen mit dem vollen Bewußtsein, daß ich im Streite recht behalten. Wie soll ein solcher Engel wie du, nicht verzeihen? ‚Es wird ihn etwas aufgehalten haben, aber er wird nicht aufgehört haben, mich zu lieben,‘ so denkt meine Natascha! Ja und wie kann man aufhören, dich zu lieben? Ist denn das möglich? Mir schmerzte das Herz deinetwegen. Denn ich fühle mich doch schuldbewußt. Du selbst wirst mich jedoch rechtfertigen, wenn du alles erfahren haben wirst! Ich werde dir sofort alles erzählen, ich muß mein Herz vor euch allen ausschütten; darum bin ich gekommen. Ich wollte heute auf einen freien Augenblick zu dir eilen, um dich zu küssen, doch auch das mißlang mir: Katjä verlangte, daß ich in einer wichtigen Angelegenheit umgehend zu ihr käme. Das war in dem Augenblick, als du mich trafst, Papa; auf einen besonderen Brief Katjäs fuhr ich das zweitemal zu ihr. In diesen Tagen sind Briefe zwischen uns hin- und hergegangen. Iwan Petrowitsch, Ihren Brief habe ich erst gestern gelesen, Sie sind durchaus im Recht, in allem, was Sie mir gesagt haben. Doch was sollte ich tun: eine physische Unmöglichkeit! Ich dachte bei mir: morgen abend wirst du dich verteidigen, denn heute abend war es mir doch schon ganz unmöglich nicht zu dir zu kommen, Natascha.“ „Was war das für ein Brief?“ fragte Natascha. „Er war bei mir gewesen und hatte mich, versteht sich, nicht angetroffen. Im Brief, den er mir hinterlassen, machte er mir heftige Vorwürfe, dich nicht besucht zu haben. Und darin ist er vollkommen im Recht. Das war gestern.“ Natascha sah mich an. „Wenn du aber Zeit hattest vom Morgen bis zum Abend bei Katherina Fedorowna zu sein ...“ begann der Fürst. „Ich weiß, ich weiß, was du sagen willst,“ unterbrach ihn Aljoscha: „‚Wenn du bei Katjä deine Zeit zubringen kannst, um wieviel mehr hättest du sie hier zubringen können.‘ Ich bin durchaus darin mit dir einverstanden und füge noch meinerseits hinzu, daß ich noch tausendmal mehr Grund gehabt hätte, hier zu sein. Doch gibt es unerwartete, sonderbare Zufälle, die alles um und um werfen. Nun, mit mir ist etwas geschehen, das mich vollständig verändert hat – bis auf die Fingerspitze, also muß es doch etwas Besonderes gewesen sein!“ „Ach, mein Gott, was ist denn mit dir geschehen? Martere mich nicht,“ bemerkte Natascha, belustigt über den Eifer Aljoschas. In der Tat war er ein wenig lächerlich: er beeilte sich schon gar zu sehr, seine Worte überstürzten sich, er redete zusammenhangslos. Er schien nur zu reden, zu reden und nichts zu sagen. Zwischendurch führte er immer wieder Nataschas Hand an seine Lippen, als könnte er sich nicht an ihr sattküssen. „Was mit mir geschehen ist?“ fuhr Aljoscha fort. „Ach, meine Lieben! Was ich getan, was ich gesehen, welche Menschen ich kennen gelernt habe! Erstens, Katjä: sie ist die Vollkommenheit! Ich habe sie bis jetzt überhaupt nicht gekannt! Auch am Dienstag, Natascha, als ich von ihr so begeistert sprach, kannte ich sie noch fast gar nicht. Bis jetzt hatte sie sich ja auch vor mir verschlossen, doch jetzt kennen wir einander gut und sagen uns bereits _du_. Doch ich will von Anfang beginnen: erstens, Natascha, wenn du gehört hättest, wie sie von dir gesprochen, als ich ihr am nächsten Tage, am Mittwoch, alles mitteilte, was sich hier, zwischen uns, ereignet hatte ... A propos: soeben fällt mir ein, wie dumm ich mich hier bei dir am Mittwoch morgen betragen! Du empfingst mich begeistert, so durchdrungen von der glücklichen Veränderung unserer Verhältnisse; du wolltest mit mir von alledem sprechen; du warst wehmütig gestimmt und zu gleicher Zeit liebkostest du mich und scherztest mit mir; und ich ... ich machte einen soliden Menschen aus mir! Oh, ich Dummkopf! Denn ich wollte den zukünftigen Ehemann spielen und mir einen ernsten Anschein geben, vor wem? Vor dir! Wie mußt du über mich gelacht haben, und wie verdiente ich deinen Spott!“ Der Fürst saß stumm da und betrachtete Aljoscha mit einem triumphierend-ironischen Lächeln, als wäre er froh gewesen, daß sein Sohn sich von einer so lächerlichen und leichtsinnigen Seite gab. Den ganzen Abend beobachtete ich den Fürsten aufmerksam und ich kam zu der festen Überzeugung, daß er seinen Sohn überhaupt nicht liebte, wenn auch alle von seiner großen Liebe zu ihm sprachen. „Von dir fuhr ich damals sofort zu Katjä,“ redete Aljoscha weiter. „Ich habe bereits erzählt, daß wir uns an diesem Morgen gegenseitig kennen lernten, und wie sonderbar das vor sich ging ... ich weiß eigentlich selbst nicht mehr wie ... Einige begeisterte Worte, einige starke Eindrücke, einige ausgesprochene Gedanken – und wir verstanden uns ... auf immer. Du mußt sie, du mußt sie kennen lernen, Natascha! Wie hat sie dich mir erklärt! Wie hat sie mir die Augen geöffnet, welch ein Schatz du für mich wärest! Nach und nach teilte sie mir alle ihre Ideen mit und ihre Anschauung über das Leben. Was für ein ernster, was für ein begeisterter Mensch sie ist! Sie erzählte von unserer Pflicht, von unserer Bedeutung der Menschheit gegenüber und da wir im Laufe von sechs bis sieben Stunden in allem miteinander übereinstimmten, so schworen wir uns ewige Freundschaft und gaben uns das Versprechen, unser ganzes Leben zusammen zu wirken!“ „Worin zu wirken?“ fragte verwundert der Fürst. „Ich habe mich so verändert, Papa, daß du dich natürlich über mich wundern wirst, und ich fühle alle deine Entgegnungen mir gegenüber im voraus,“ antwortete begeistert Aljoscha. „Alle seid ihr praktische Menschen, die streng nach erprobten und festen Regeln leben und die sich zu allem Jungen, Frischen und Neuen ungläubig, feindselig und spöttisch verhalten. Doch bin ich jetzt nicht mehr derselbe, den du noch vor ein paar Tagen kanntest. Ich bin ein anderer! Ich sehe kühn jedem und aller Welt in die Augen. Wenn ich weiß, daß meine Überzeugung richtig ist, so werde ich sie bis zum äußersten verteidigen; und wenn ich nicht von meinem Wege abweiche, so bin ich ein ehrlicher Mensch. Doch genug von mir. Möget ihr sagen, was ihr wollt, ich bleibe dabei.“ „Oho!“ bemerkte spöttisch der Fürst. Natascha wurde unruhig. Sie fürchtete für Aljoscha. Sie fürchtete, daß er sich in seinem Gespräch hinreißen lassen würde, wobei er sich nie in einem für ihn günstigen Lichte zeigte. Sie wollte nicht, daß er in unserer Gegenwart, namentlich seinem Vater gegenüber, lächerlich erscheine. „Was redest du, Aljoscha! Das ist ja schon die reine Philosophie,“ sagte sie zu ihm, – „wer hat sie dir beigebracht ... es wäre besser, du erzähltest ...“ „Schon gut, ich werde doch alles erzählen!“ rief Aljoscha aus. „Die Sache verhält sich nämlich so: Katjä hat zwei Vettern, Ljowinka und Borinka, der eine ist Student, der andere nur ein junger Mann. Sie steht mit ihnen in Verbindung und diese sind einfach – außergewöhnliche Menschen! Die Gräfin besuchen sie fast nie, und zwar – aus Prinzip. Als wir, Katjä und ich, über die Aufgabe des Menschen und von all diesen Dingen sprachen, gab mir Katjä sofort einen Brief an sie mit, und ich eilte zu ihnen, um ihre Bekanntschaft zu machen. Noch am selben Abend wurden wir die besten Freunde. Dort waren Menschen der verschiedensten Nationalitäten – Studenten, Offiziere, Künstler; es war auch ein Schriftsteller dort ... alle kannten Ihren Namen, Iwan Petrowitsch, alle hatten sie Ihre Sachen gelesen und erwarten in Zukunft viel von Ihnen. Ich sagte ihnen, daß ich Sie kenne und versprach Sie ihnen vorzustellen. Alle empfingen sie mich brüderlich, mit offenen Armen. Ich sagte ihnen sofort, daß ich bald heiraten würde und alle behandelten sie mich bereits wie einen verheirateten Menschen. Alle leben sie im fünften Stock unter dem Dach und versammeln sich so oft als möglich bei Ljowinka und Borinka. Das ist alles Jugend, voll leidenschaftlicher Liebe zur Menschheit! Wir sprachen von der Zukunft, von Wissenschaft und Literatur, und alle sprachen sie so gut, so einfach und aufrichtig ... Auch ein Gymnasiast ist unter ihnen. Wie sie miteinander verkehren, so edel sind sie! Ich habe noch niemals solche Menschen gekannt! Wo ich auch gewesen bin, was ich auch gesehen, unter welchen Menschen ich auch aufgewachsen, nur du, Natascha, hast mir ähnliches gesagt. Ach, Natascha, du mußt sie durchaus kennen lernen; Katjä kennt sie bereits. Sie sprechen von ihr mit großer Verehrung und Katjä hat Ljowinka und Borinka versprochen, sobald sie in den Besitz ihres Kapitals gelangt, eine Million zum Wohle der Menschheit zu opfern.“ „Und die Verwalter dieser Million werden wohl Ljowinka und Borinka mit ihrem ganzen Gefolge sein?“ fragte der Fürst. „Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, du solltest dich schämen so zu sprechen, Papa!“ rief in flammendem Protest Aljoscha. „Ich weiß, was du meinst! Wegen dieser Million haben wir hin- und hergesprochen und beraten, wie man sie anwenden soll. Es wurde endlich beschlossen, sie für die Volksaufklärung zu verwenden ...“ „Dann freilich habe ich Katherina Fedorowna bis jetzt nicht gekannt,“ bemerkte der Fürst wie zu sich selbst mit demselben ironischen Lächeln. „Ich habe übrigens viel von ihr erwartet, doch das ...“ „Wieso!“ unterbrach ihn Aljoscha, „was scheint dir dabei so sonderbar? Weil niemand von euch bis jetzt eine Million gegeben hat, sie aber dieses Opfer bringen will? Darum etwa, wie? Wenn sie jedoch auf fremde Rechnung nicht leben will, denn von diesen Millionen leben, heißt auf fremde Rechnung leben? (Das habe ich erst jetzt erfahren.) Sie will ihrem Vaterland Nutzen bringen und allen denen, die es brauchen. Und worauf fußt eure ganze belobigte Vernunft, die ich bis jetzt geglaubt habe? Warum siehst du mich so an, Papa? als stände ein Narr oder Dummkopf vor dir? Was tut’s, wenn ich ein Dummkopf bin! Wenn du wissen würdest, Natascha, wie Katjä darüber denkt: ‚Nicht der Verstand ist die Hauptsache, sondern was ihn leitet – die Natur, das Herz, die edlen Instinkte.‘ Doch die Hauptsache ist, was Besmygin zu diesen Dingen sagt, – Besmygin ist ein Bekannter Ljowinkas und Borinkas und das Haupt der ganzen Gesellschaft, wirklich ein genialer – Kopf! Gestern machte er noch den Ausspruch: ‚Ein Dummkopf, der sich bewußt ist, ein Dummkopf zu sein, ist bereits nicht mehr ein Dummkopf!‘ Wie wahr das ist! Und mit solchen Wahrheiten wirft er nur so um sich.“ „Wirklich genial!“ brummte der Fürst. „Du lachst. Doch ich habe nie etwas Ähnliches in unserer Gesellschaft gehört. Im Gegenteil, bei uns bringt man alles dem Erdboden so nah als möglich, damit alle gleich von Wuchs sind, damit alle Nasen gleich hoch nach dem Strich reichen und nach gewissen Regeln – ganz als ob das möglich wäre! Als ob das nicht sogar tausendmal mehr unmöglich wäre, als was wir denken und anstreben. Uns aber nennt man Utopisten! Wenn du gehört hättest, was sie gestern zu mir sagten ...“ „So erzähle doch, Aljoscha, was ihr denkt und wovon ihr gesprochen, ich muß gestehen, daß ich noch nichts begriffen habe,“ sagte Natascha. „Wir haben von alledem gesprochen, was zum Fortschritt, zur Humanität und Liebe führt; von allem, was zu den zeitgemäßen Fragen gehört. Wir sprechen von Reformen, von der Liebe zur Menschheit, wir lesen die Werke unserer Zeitgenossen und kritisieren sie. Doch die Hauptsache, wir haben uns gegenseitig das Wort gegeben, immer gegeneinander vollkommen aufrichtig zu sein. Nur durch vollkommene Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit kann man das Ziel erreichen. Darauf besteht besonders Besmygin. Ich erzählte es Katjä und sie stimmte ihm vollkommen bei: Und deshalb haben wir uns alle unter seine Führung gestellt, haben ihm das Wort gegeben, unser ganzes Leben hindurch ehrlich und aufrichtig zu handeln, was man auch von uns sagen, wie uns beurteilen möge – niemals zu verzagen und uns nicht unserer Begeisterung, unserer Fehler zu schämen, sondern unseren Weg geradeaus zu gehen. Wenn du wünschst, daß man dich achte, achte du dich selbst zuerst, nur durch deine Selbstachtung wirst du andere zwingen, dich zu achten. Das sagt Besmygin, und Katjä ist vollständig mit ihm einverstanden. Wir haben beschlossen, uns gegenseitig zu erkennen und uns gegenseitig aufeinander aufmerksam zu machen ...“ „Welch ein Blödsinn!“ rief der Fürst beunruhigt, „und wer ist dieser Besmygin? Nein, das kann nicht so fortgehen.“ „Was kann nicht so fortgehen?“ fragte Aljoscha. „Höre, Papa, warum erzähle ich dir das alles? Weil ich hoffe, dich für unseren Kreis zu gewinnen. Ich habe es ihnen bereits dort versprochen. Du aber machst mich lächerlich ... Nun, ich wußte, daß du’s tun würdest! Doch, höre mich an! Du bist gut und edel; du wirst mich verstehen. Du kennst sie nicht, du hast diese Leute nicht gesehen, sie nicht angehört. Vielleicht hast du von ihnen gehört und bist von ihren Ideen unterrichtet, denn du bist ja sehr gelehrt; doch sie selbst kennst du nicht, bist nie bei ihnen gewesen, wie kannst du dann über sie urteilen! Erst wenn du bei ihnen gewesen bist, sie angehört hast, dann, ich gebe dir mein Wort, dann wirst du ... unser! Denn ich will alle Mittel brauchen, um dich von den Anschauungen deiner Gesellschaft zu befreien, an denen du so hängst.“ Der Fürst hörte schweigend und mit hämischem Lächeln diesem Ausbruch zu; in seinem Gesicht lag verhaltene Wut. Natascha betrachtete ihn mit unverhohlenem Widerwillen. Er sah es, doch tat er, als bemerkte er’s nicht. Kaum hatte Aljoscha geendet, als er in ein unbändiges Gelächter ausbrach. Er lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück, als könne er sich vor Lachen kaum mehr halten. Doch war das ein erzwungenes Lachen, und man merkte es nur zu deutlich, daß der Fürst seinen Sohn beleidigen wollte. Aljoscha schien der Spott seines Vaters sehr zu Herzen zu gehen, sein ganzes Gesicht drückte tiefe Trauer aus. Nichtsdestoweniger wartete er ruhig, bis die Heiterkeit seines Vaters sich beruhigt hatte. „Papa,“ sagte er traurig, „weshalb lachst du über mich? Ich bin dir gegenüber so aufrichtig gewesen, und wenn ich deiner Meinung nach Dummheiten gesagt habe, so belehre mich doch eines besseren, aber lache nicht über mich. Und worüber lachst du eigentlich? Darüber, was mir edel und heilig schien. Nun, möge ich mich auch in vielem geirrt haben und alles woran ich glaube unwahr sein, bin ich auch ein Dummkopf, wie du mich soeben genannt hast; doch wenn ich mich geirrt habe, so tat ich es ehrlich und aufrichtig und habe dabei die Anständigkeit meiner Gesinnung nicht eingebüßt. Ich habe mich an hohen Ideen begeistert. Wenn sie nicht echt sein sollten, so ist doch das Gefühl, aus dem sie entspringen, heilig. Ich habe dir bereits gesagt, daß unsere Gesellschaft mir nichts Ähnliches, was mich so mitgerissen hätte, gegeben hat. Zeige mir was Besseres und ich werde dir folgen, doch lache nicht über mich, denn das beleidigt mich.“ Aljoscha hatte wirklich mit Würde gesprochen. Natascha folgte seinen Worten mit großem Mitgefühl. Der Fürst selbst schien mit Verwunderung seinen Sohn anzuhören und veränderte sofort seinen Ton. „Ich habe dich durchaus nicht beleidigen wollen, mein Freund, im Gegenteil, du tust mir leid. Du beabsichtigst einen so wichtigen Schritt in deinem Leben zu machen, und mußt aufhören, noch ein so leichtsinniges Kind zu sein. Das ist’s, was ich denke. Ich mußte unwillkürlich über dich lachen, doch lag es nicht in meiner Absicht, dich zu beleidigen.“ „Warum hat es mir denn so geschienen?“ bemerkte Aljoscha bitter. „Und warum fühle ich es denn schon lange, daß du dich zu mir feindlich, kalt und spöttisch verhältst, und nicht wie ein Vater zu seinem Sohn? Warum fühle ich es, daß ich an deiner Stelle mich nicht so beleidigend zu meinem Sohn verhalten könnte, wie du es tust. Höre mich an, Papa, sprechen wir uns ein für allemal darüber aus, damit es keine Mißverständnisse mehr unter uns gibt, denn so hatte ich nicht erwartet, euch alle hier anzutreffen. Verhält es sich so, oder nicht? Ist es nicht besser, jeder sagt, was er denkt? Wieviel Unglück kann man durch Aufrichtigkeit vermeiden!“ „Sprich dich nur aus, Aljoscha!“ sagte der Fürst. „Was du vorschlägst, scheint sehr klug zu sein. Vielleicht hätte man damit beginnen sollen,“ fügte er, an Natascha gewandt, hinzu. „Ärgere dich nicht über meine Aufrichtigkeit,“ begann Aljoscha. „Du hast sie selbst herausgefordert. Du hast in meine Ehe mit Natascha eingewilligt; du hast uns dieses Glück geschenkt und dich selbst überwunden. Du warst großmütig und wir alle haben deine edle Handlungsweise anerkannt. Warum machst du mir aber jetzt ununterbrochen die Bemerkung, daß ich doch nur ein lächerlicher Junge bin, der zum Manne überhaupt nicht taugt. Warum erniedrigst du mich, und willst mich besonders vor Natascha lächerlich machen? Du scheinst dich geradezu zu freuen, wenn du mich von irgendeiner Seite lächerlich machen kannst; das habe ich nicht nur jetzt, sondern bereits früher bemerkt. Du willst offenbar darauf hinweisen, daß unsere Ehe lächerlich und dumm erscheint und wir zueinander nicht passen. Als glaubtest du selbst nicht daran, warum du eingewilligt, als wäre das alles nur ein Scherz, eine Spielerei, ein lächerliches Vaudeville ... Ich schließe das nicht nur aus deinen heutigen Worten, denn noch am selben Abend, am Dienstag, als ich von hier zu dir zurückkehrte, machtest du so sonderbare Bemerkungen, die mich so wunderlich berührten. Und auch am Mittwoch, als du fortfuhrst, machtest du einige Bemerkungen über unsere jetzige Lage, die in bezug auf Natascha, wenn nicht gerade beleidigend, so doch frivol waren, wenigstens Bemerkungen, die ich nicht von dir zu hören wünschte, so lieblos waren sie im Grunde und so ohne jegliche Achtung für sie ... Das ist schwer mit Worten nachzuweisen, doch der Ton macht’s und das Herz fühlt es. Sage du mir, daß ich mich geirrt habe. Beruhige du mich darüber ... und auch sie, denn auch sie muß es empfunden haben. Ich habe es sogleich auf den ersten Blick erraten, als ich hier eintrat ...“ Aljoscha sprach voll Feuer und mit Bestimmtheit. Natascha hörte ihm mit flammendem Gesicht feierlich zu. Hin und wieder unterbrach sie ihn in seiner Rede mit der Bestätigung: „Ja, ja, so, so ist’s!“ Der Fürst schien unruhig und geärgert. „Mein Freund,“ begann er, „natürlich kann ich mich nicht mehr dessen erinnern, was ich dir alles gesagt haben soll; doch sonderbar erscheint es mir, daß du meine Worte hast so auslegen können. Wenn ich dagegen soeben gelacht habe, so ist das nur zu verständlich. Mit meinem Lachen wollte ich ein bitteres Gefühl gegen dich unterdrücken. Daß du heiraten willst, scheint mir jetzt erst recht unsinnig, ja, verzeih den Ausdruck – sogar komisch. Wenn ich dich ausgelacht habe, so bist du allein daran schuld, denn mich trifft nur die Schuld, daß ich dir in der letzten Zeit eine größere Freiheit gegeben habe, als du sie ertragen kannst und erst heute abend habe ich’s erfahren, wozu du nicht alles fähig bist. Ich zittere bei dem Gedanken an Natalja Nikolajewnas Zukunft: ich habe zu übereilt gehandelt; ich sehe, daß ihr beide viel zu ungleich seid. Die Liebe vergeht, doch die Ungleichheit bleibt. Ich will schon nicht von deinem Schicksal reden, wenn du aber ein ehrlicher Mensch bist, so denke doch an Natalja Nikolajewna, deren Leben du vernichtest, vollkommen vernichtest! Du hast, zum Beispiel, die ganze Zeit über von der Liebe zur Menschheit, vom Adel der Gesinnung und Anschauung, von edlen Menschen gesprochen, die du kennen gelernt hast; frage aber Iwan Petrowitsch, was ich ihm gesagt, als ich mit ihm hier auf der vierten Etage einer engen, dunklen Treppe zusammentraf, Gott dankend, daß ich mir nicht die Beine gebrochen? Weißt du, was für ein Gedanke mir durch den Kopf ging? Ich wunderte mich, daß du, mit deiner großen Liebe zu Natalja Nikolajewna, es leiden kannst, daß sie in einer solchen Wohnung lebt? Hast du es dir denn nicht überlegt, daß du ohne Mittel, oder ohne die Fähigkeit zu besitzen, deine Pflichten zu erfüllen, nicht das Recht hast, überhaupt zu heiraten. Liebe allein genügt nicht, und Liebe äußert sich in Taten; wie aber denkst du: ‚lebe mit mir, wenn du auch durch mich leidest,‘ ist das etwa human, ist das etwa edel! Von der Liebe zu reden, sich für allgemein menschliche Fragen zu interessieren und zu gleicher Zeit sich an der Liebe zu versündigen und es nicht einmal zu bemerken – ist mir unverständlich! Du sagst mir Aljoscha, daß du in diesen Tagen erlebt, was schön und edel sei und wirfst mir vor, daß unsere Gesellschaft nur vom trockenen Verstande gelenkt werde. Das ist schön: sich am Hohen und Edlen zu begeistern und nach dem, was sich am Dienstag hier zugetragen, auf vier Tage diejenige zu vergessen, die dir am teuersten auf der Welt sein sollte! Ja, du behauptest noch Katherina Fedorowna gegenüber, daß Natalja Nikolajewna dich so liebt und so großmütig ist, daß sie dir alles verzeihen wird. Welch ein Recht hast du denn auf ihre Vergebung, und wie kommst du dazu, darauf zu wetten? Hast du denn wirklich nicht ein einziges Mal daran gedacht, wieviel Qualen, wieviel bittere Enttäuschung und Zweifel deine Abwesenheit in Natalja Nikolajewna erwecken mußte? Hattest du wirklich das Recht, um der neuen Ideen willen, deine heiligste und erste Pflicht zu vernachlässigen? Verzeihen Sie mir, Natalja Nikolajewna, wenn ich mein Wort nicht gehalten habe. Die jetzige Angelegenheit ist wichtiger als dieses Wort: Sie werden das selbst verstehen ... Weißt du, Aljoscha, daß ich Natalja Nikolajewna in solchen Qualen vorgefunden habe, daß man wohl begreifen kann, in welche Hölle du diese vier Tage für sie verwandelt hast, die die glücklichsten ihres Lebens sein sollten. Solche Handlungen einerseits und – Worte nichts als Worte andererseits ... habe ich denn nicht recht! Und du wagst mir, Vorwürfe zu machen, wo du allein schuld bist?“ Der Fürst hatte geendigt und, ganz seiner Beredsamkeit hingegeben, konnte er sich eines triumphierenden Gefühls nicht erwehren. Als Aljoscha von Nataschas Qualen hörte, fiel ein schmerzhaft wehmütiger Blick auf sie, doch Natascha bemerkte kurz entschlossen: „Laß, Aljoscha, quäle dich nicht,“ sagte sie, „andere haben mehr Schuld als du. Setze dich und höre zu, was ich deinem Vater sagen werde. Es ist Zeit, der Sache ein Ende zu machen!“ „Ich bitte Sie dringend, Natalja Nikolajewna, sich endlich zu erklären,“ griff der Fürst auf. „Ich höre die Anspielungen bereits zwei Stunden und ich muß gestehen, daß es mir unerträglich wird; einen solchen Empfang hatte ich nicht erwartet.“ „Vielleicht; Sie glaubten uns wohl mit Ihren Worten zu bezaubern, damit wir Ihre geheimen Absichten nicht bemerkten. Was soll ich Ihnen da sagen! Sie wissen und verstehen doch selbst alles. Aljoscha hat recht. Ihr erster einziger Wunsch ist – uns zu trennen. Sie wußten und wissen alles im voraus, wie es kommen muß, seit dem Abend als Sie hier waren haben Sie sich alles an den Fingern abgezählt. Ich habe es Ihnen bereits gesagt, daß Sie zu uns wie zu mir nicht aufrichtig sind. Sie spielen mit uns und verfolgen dabei ein bestimmtes Ziel. Ihr Spiel freilich ist aufrichtig, und Aljoscha hat recht, wenn er Ihnen den Vorwurf macht, auf unsere Sache wie auf ein Vaudeville zu sehen. Sie sollten sich im Gegenteil über Aljoscha freuen, statt ihm Vorwürfe zu machen, wie gut er mir gegenüber seine Pflicht erfüllt hat, vielleicht besser, als man es von ihm verlangen konnte.“ Ich erstarrte vor Verwunderung. Ich hatte ja vermutet, daß es an diesem Abend zu einer Katastrophe kommen würde. Doch diese beleidigende Aufrichtigkeit Nataschas und der unverhohlen verächtliche Ton ihrer Worte setzten mich in äußerste Verwunderung! Sie mußte in der Tat etwas erfahren und sich zu einem völligen Bruch entschlossen haben. Vielleicht hatte sie sogar mit Ungeduld den Fürsten erwartet, um ihm alles ins Gesicht zu schleudern. Der Fürst erblaßte ein wenig. Aljoschas Gesicht drückte naive Furcht und quälende Erwartung aus. „Bedenken Sie doch, wessen Sie mich soeben beschuldigt haben,“ rief der Fürst aus, „und überlegen Sie sich Ihre Worte ... Ich habe nichts davon verstanden.“ „Ah! Dann wollen Sie sie wohl nicht verstehen,“ sagte Natascha, „sogar er, sogar Aljoscha hat es empfunden und Sie wissen, daß wir uns nicht gesehen noch gesprochen haben! Und auch ihm hat es geschienen, daß Sie mit uns ein unwürdiges, beleidigendes Spiel treiben, er, der Sie liebt und Ihnen glaubt wie einer Gottheit. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gegeben, schlauer und vorsichtiger ihm gegenüber zu sein, so sehr rechneten Sie darauf, daß er nichts bemerken würde. Doch er hat ein feinfühlendes, empfindsames und empfängliches Herz, und Ihre Worte und den Ton Ihrer Worte hat er mit dem Herzen nicht vergessen können ...“ „Ich verstehe nichts, aber auch gar nichts!“ wiederholte der Fürst und wandte sich verwundert an mich, als wolle er mich zum Zeugen anrufen. Er war aufgeregt und sehr gereizt. „Sie sind mißtrauisch,“ fuhr er fort, „und einfach eifersüchtig auf Katherina Fedorowna und darum wollen Sie alle Welt und mich als Ersten beschuldigen ... und erlauben Sie, daß ich schon alles sage: eine sonderbare Meinung muß man sich von Ihrem Charakter machen ... Ich bin an solche Szenen nicht gewöhnt; ich würde keinen Augenblick mehr hierbleiben, wenn nicht die Interessen meines Sohnes ... Ich warte noch immer, ob Sie geruhen werden, sich zu erklären?“ „Also Sie bestehen darauf, in ein paar Worten wollen Sie es nicht begreifen, was Sie doch bereits selbst wissen? Sie wollen, daß ich alles Ihnen gegenüber ausspreche?“ „Ich warte ja nur darauf.“ „Nun gut, hören Sie alle,“ rief Natascha voll Zorn, mit blitzenden Augen. „Ich werde alles, alles sagen!“ III. Sie erhob sich und sprach stehend, ohne es in ihrer Erregung zu bemerken. Der Fürst hörte sie an und erhob sich gleichfalls von seinem Platze. Die ganze Szene nahm daher einen vielleicht etwas zu feierlichen Charakter an. „Erinnern Sie sich selbst an Ihre Worte am Dienstag. Sie sagten, Sie hätten Geld nötig, Beziehungen zur großen Welt ... nicht wahr?“ „Ja.“ „Nun wohl, um Geld und Erfolge zu erhalten, die Ihnen aus den Händen zu gleiten drohten, kamen Sie am Dienstag hierher, und dachten sich die Verlobung aus, weil Sie dadurch hofften, alles wiederzugewinnen, Herr über die Situation zu werden.“ „Natascha,“ rief ich. „Bedenke was du sprichst!“ „Alles wiederzugewinnen! Aus Berechnung!“ wiederholte der Fürst mit äußerst gekränkter Würde. Aljoscha saß da wie niedergeschmettert, als begriffe er nicht, was vor sich ging. „Ja, ja, unterbrechen Sie mich jetzt nicht, ich habe geschworen, alles zu sagen,“ rief Natascha gereizt aus. „Das ganze halbe Jahr haben Sie sich Mühe gegeben, ihn von mir zu entfernen. Er hat sich Ihrem Einfluß nicht ergeben. Und plötzlich kam Ihnen der Gedanke, als es nicht mehr so weiter ging, ihm die Erlaubnis zur Heirat zu geben, da die Zeit drängte, und die Braut und das Geld, – hauptsächlich das Geld, die drei Millionen Mitgift zu verlieren ...; Sie durften diese günstige Gelegenheit nicht vorübergehen lassen ... Was sollten Sie tun: Aljoscha mußte sich in die Braut verlieben, die Sie für ihn bestimmt hatten, dann würde er von mir lassen ...“ „Natascha, Natascha!“ rief Aljoscha voll Trauer aus, „was redest du!“ „Das war Ihr Plan, das führten Sie aus,“ fuhr Natascha fort, ohne sich um Aljoscha zu kümmern, „also die alte Geschichte, ich störte Sie wieder! Doch eines gab Ihnen Hoffnung: als erfahrener und schlauer Mensch der Sie sind, hatten Sie bemerkt, daß Aljoscha die frühere Anhänglichkeit zu mir hin und wieder lästig zu empfinden anfing. Sie wußten, daß oft fünf Tage vergingen, ohne daß Aljoscha mich besucht hätte. Sie hofften schon am Ziel zu sein, als plötzlich am Dienstag die Handlung Aljoschas einen Strich durch Ihre Rechnung machte. Was sollten Sie tun! ...“ „Erlauben Sie,“ rief der Fürst, „im Gegenteil, diese Tatsache ...“ „Ich spreche jetzt,“ unterbrach ihn Natascha mit Nachdruck. „An dem Abend fragten Sie sich: ‚was soll man nun tun?‘ und beschlossen, nicht in der Tat, doch anscheinend in eine Heirat mit mir einzuwilligen, um Aljoscha zu beruhigen. Den Termin der Hochzeit konnte man ja aufschieben, so lang als man wollte, unterdessen würde die neue Liebe das ihre tun. Und da haben Sie auf diese neue Liebe alle Ihre Pläne aufgebaut.“ „Romane, alles Romane,“ sagte der Fürst halblaut vor sich hin. „Einsamkeit, Grübelei und Romane!“ „Ja, auf diese neue Liebe setzten Sie all Ihre Hoffnungen,“ wiederholte Natascha, ohne seinen Worten Beachtung zu schenken, wie im Fieber und immer aufgeregter – „und was für Chancen hatte diese neue Liebe! Sie begann bereits damals, als er alle Vorzüge dieses jungen Mädchens noch nicht einmal kannte! Sie begann in demselben Augenblick, als er an dem Abend ihr das Geständnis machte, daß er sie nicht lieben kann und darf, weil eine andere Liebe und die Pflicht es ihm gebietet, – und dieses Mädchen plötzlich ihm gegenüber so viel Edelmut erweist, so viel Mitgefühl für ihn und ihre Gegnerin empfindet, so viel Vergebung, daß er, wenn er auch von ihrer Schönheit überzeugt gewesen war, bis zu dem Augenblick doch nicht gewußt hatte, daß sie so reizend sein konnte. Als er damals zu mir kam, sprach er nur von ihr, so sehr hatte sie ihn in Erstaunen gesetzt. Freilich, er mußte ein unüberwindliches Verlangen haben, dieses reizende Geschöpf, wenn auch nur aus Dankbarkeit, am nächsten Morgen wiederzusehen. Ja, und warum sollte er denn nicht zu ihr fahren? – Seine frühere Liebe litt doch jetzt nicht mehr, ihr Schicksal war beschlossen, ihr würde er doch sein ganzes Leben hingeben, jener nur einen Augenblick ... Und wie undankbar wäre diese Natascha, wenn sie auf diesen Augenblick eifersüchtig sein sollte! Und unbemerkt entzieht man dieser Natascha statt Augenblicke Tage, den ersten, zweiten, dritten ... In der Zeit geschieht es, daß das junge Mädchen sich noch von einer ganz neuen, unerwarteten Seite zeigt. Sie ist edel und enthusiastisch, zu gleicher Zeit naiv wie ein Kind, und darum so passend für Aljoscha. Sie schwören sich gegenseitig Freundschaft, Bruderschaft, und wollen sich ihr ganzes Leben lang nicht mehr trennen. ‚In einigen fünf, sechs Stunden Beisammenseins‘ öffnete sich seine Seele ganz den neuen Empfindungen und er gibt sich ihnen mit seinem ganzen Herzen hin ... Es wird die Zeit kommen, denken Sie, wo er seine alte Liebe mit den neuen Eindrücken vergleichen muß. Dort ist alles alt und bekannt, dort weint man, ist eifersüchtig ... hier ist alles jung, frisch und beherrschend ... dort liebkost man ihn fast wie ein Kind ... und die Hauptsache ... alles ist ja gewesen ... bekannt ...“ Tränen drohten ihre Stimme zu ersticken, doch raffte sie sich noch einmal auf und fuhr fort: „Und dann? Alles weitere überläßt man dann der Zeit; bis zur Trauung ist es noch weit hin und mit der Zeit kann sich alles ändern ... Worte, Bemerkungen, Andeutungen tragen das ihre dazu bei. Man kann diese Natascha verleugnen, kann sie in ein unvorteilhaftes Licht stellen und ... und wie sich das alles noch lösen wird ... ist noch ungewiß, doch der Sieg gehört Ihnen! Aljoscha! vergib mir, mein Freund! Sage nicht, daß ich deine Liebe nicht zu schätzen weiß. Ich weiß, daß du mich auch jetzt noch liebst und meine Klagen nicht verstehen kannst. Ich weiß, daß ich schlecht getan, mich jetzt so rücksichtslos auszusprechen. Doch was soll ich tun, wenn ich es auch selbst weiß, so liebe ich dich doch noch immer mehr ... und mehr ... bis zum Wahnsinn!“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, fiel in ihren Sessel zurück und weinte wie ein Kind. Aljoscha schrie auf und stürzte zu ihr. Er konnte sie nicht weinen sehen, ohne selbst zu weinen. Dieser leidenschaftliche Ausbruch kam dem Fürsten sehr gelegen. Nataschas heftige Anklagen, ihre Ausschreitungen ihm gegenüber, hätte er anstandshalber als Beleidigung auffassen müssen, jetzt konnte man alles auf einen Ausbruch gekränkter Liebe, auf Eifersucht, auf eine krankhafte Anwandlung zurückführen und ihr sogar eine gewisse Teilnahme zeigen ... „Beruhigen Sie sich doch, Natalja Nikolajewna,“ versuchte sie der Fürst zu trösten, „das sind alles Phantasiegespinste, Folgen der Einsamkeit ... Sie sind gereizt durch sein leichtsinniges Betragen ... Doch, wenn das nur Leichtsinn seinerseits ist ... Die Hauptsache ist doch die Tatsache am Dienstag, sie muß Ihnen doch seine grenzenlose Hingebung an Sie – gezeigt haben und Sie im Gegenteil ...“ „O, bitte, sagen Sie nichts mehr, quälen Sie mich jetzt nicht noch!“ unterbrach ihn Natascha, bitterlich weinend. „Mein Herz hat mir schon alles gesagt! Glauben Sie denn wirklich, daß ich es nicht fühle, daß seine frühere Liebe dahin ist ... Hier, in diesem Zimmer, immer allein ... von ihm verlassen und vergessen, habe ich alles erlebt, erlitten und durchdacht ... Was sollte ich da tun! Ich beschuldige dich nicht, Aljoscha ... Warum wollen Sie mich täuschen? Glauben Sie denn etwa, daß ich nicht versucht habe, mich zu täuschen! ... O, wie oft, wie oft! Kenne ich denn etwa nicht den Klang seiner Stimme? Verstehe ich denn nicht auf seinem Gesicht, in seinen Augen zu lesen? Alles, alles ist vorbei, alles begraben ... Oh, ich Unglückliche!“ Aljoscha lag vor ihr auf den Knien und weinte. „Ich, ich bin an allem schuld! An allem ich!“ rief er unter Schluchzen. „Nein, beschuldige dich nicht, Aljoscha ... unsere Feinde sind’s ... Sie allein, – allein!“ „Aber, bitte, erlauben Sie doch,“ begann der Fürst ungeduldig – „woraufhin schreiben Sie mir alle Verbrechen zu? Das sind alles nur Ihre Annahmen, aber Beweise ...“ „Beweise!“ Natascha sprang vom Sessel. „Beweise wollen Sie, Sie falscher Mensch! Sie konnten nur mit dieser Absicht zu mir kommen! Sie mußten Ihren Sohn beruhigen, sein Gewissen übertäuben, damit er sich ruhiger und freier Katjä ergeben sollte; denn sonst hätte er mich nicht vergessen können, und es langweilte Sie zu warten: Sollte denn das nicht wahr sein!“ „Ich muß gestehen,“ antwortete ihr der Fürst mit sarkastischem Lächeln, „wenn ich Sie wirklich hätte betrügen wollen, so hätte ich tatsächlich darauf gerechnet; Sie sind sehr ... klug, doch müssen Sie es erst beweisen können, bevor Sie es unternehmen, einem Menschen solche Vorwürfe zu machen ...“ „Beweisen! Und Ihr früheres Verhalten, als Sie ihn mir abspenstig machten! Derjenige, welcher seinen Sohn auffordert mit solchen Pflichten, um des Vorteils und des Geldes wegen, zu spielen – demoralisiert ihn! Was sagten Sie vorhin von der Treppe und der schlechten Wohnung? Haben nicht Sie ihm das Taschengeld entzogen, um uns durch Not und Hunger zu zwingen, auseinander zu gehen? Ihre Schuld ist diese Treppe und diese Wohnung, Sie aber machen ihm Vorwürfe, Sie falscher Mensch! Und woher sollten denn plötzlich an diesem Abend diese neuen und Ihnen so fernliegenden Überzeugungen kommen? Und warum hatten Sie mich auf einmal so nötig? Ich bin hier diese vier Tage lang auf und ab gegangen und habe mir alles überlegt und habe alles abgewogen, jedes Ihrer Worte, das Mienenspiel Ihres Gesichtes, und habe mich davon überzeugt, daß alles nur Scherz und eine niedrige, beleidigende und unserer unwürdige Komödie gewesen ist ... Ich kenne Sie bereits längst! So oft Aljoscha von Ihnen zu mir kam, habe ich an seinen Mienen alles erraten, was Sie ihm gesagt hatten. Alle Ihre Schachzüge gegen mich, habe ich durch Ihr Verhalten zu ihm erfahren! Nein, mich können Sie nicht mehr täuschen! Es ist möglich, daß Sie sonst in diesem Augenblick noch andere Berechnungen gegen oder durch mich im Sinn führen – doch das läßt mich gleichgültig! Die Hauptsache ist, daß Sie mich betrogen haben! Das mußte ich Ihnen noch ins Gesicht sagen!“ „Also das allein sind Ihre Beweise? Bedenken Sie doch, exzentrisches Fräulein, durch meinen Antrag am Dienstag hatte ich mich doch vollständig gebunden. Es war also zu leichtsinnig von mir gewesen ...“ „Wodurch, wodurch haben Sie sich gebunden? Was will denn das in Ihren Augen besagen, mich zu hintergehen? Mich Unglückliche, Schutzlose, vom Vater Verstoßene, deren Leben auf immer zerstört! Lohnt es sich da, mich zu schonen, wenn dieser Scherz dazu noch was einbringt!“ „In welche Lage stellen Sie sich selbst, Natalja Nikolajewna, bedenken Sie doch! Sie wollen durchaus darauf bestehen, daß ich Sie meinerseits beleidigt habe. Diese Beleidigung jedoch ist so erniedrigend und so weittragend, daß ich nicht verstehen kann, wie man sie überhaupt annehmen, noch auf ihr bestehen kann. Man muß in allen Lebenslagen gar zu unerfahren sein, um so etwas überhaupt zuzulassen. Entschuldigen Sie, bitte, ich bin durchaus im Recht, Ihnen diese Vorwürfe zu machen, denn Sie reizen meinen Sohn gegen mich auf: wenn er jetzt für Sie einsteht, so ist sein Herz eben gegen mich ...“ „Nein, Papa, nein!“ rief Aljoscha, „wenn ich bis jetzt mich nicht gegen dich geäußert habe, so geschah es deshalb nicht, weil ich nicht glauben kann, daß du zu einer solchen Beleidigung fähig seiest!“ „Haben Sie gehört?“ rief der Fürst aus. „Natascha, an allem bin ich schuld, bitte, beschuldige ihn nicht. Das wäre schrecklich, das wäre Sünde!“ „Hörst du, Wanjä? Er ist schon gegen mich!“ rief Natascha. „Genug!“ sagte der Fürst. „Wir müssen dieser unangenehmen Szene ein Ende bereiten. Dieser verblendete und heftige Ausbruch Ihrer grenzenlosen Leidenschaft zeigt mir Ihren Charakter in einem ganz neuen Licht. Ich bin gewarnt, eines besseren belehrt. Ich habe mich in der Tat sehr übereilt. Sie bemerken es nicht einmal, wie sehr Sie mich beleidigt haben. Wir haben uns übereilt ... übereilt ... freilich, mein Wort bleibt bestehen, doch ... als Vater wünsche ich meinem Sohne Glück ...“ „Sie sagen sich also los von Ihrem Wort,“ rief Natascha außer sich. „Sie benutzen den Zufall! Doch wissen Sie, daß ich selbst hier vor zwei Tagen beschlossen habe, ihn von seinem Wort zu entbinden, was ich jetzt in Gegenwart aller tue. Ich gebe ihn frei!“ „Das heißt vielleicht, daß Sie in ihm die frühere Unruhe wieder heraufbeschwören wollen, das Gefühl der Pflicht Ihnen gegenüber – wie Sie sich noch soeben ausgedrückt haben – um ihn dadurch wieder an Sie zu fesseln. Nach Ihrer Theorie müßte es sich wenigstens so ereignen; ich sage es ja auch nur deshalb; doch genug davon; die Zeit wird alles entscheiden. Ich werde einen ruhigeren Augenblick abwarten, um mich mit Ihnen auszusprechen. Ich hoffe, daß wir unsere Beziehungen nicht endgültig abbrechen werden. Ich hoffe gleichfalls, daß Sie mich noch besser schätzen lernen. Ich wollte Ihnen noch heute ein Projekt mitteilen, wonach Ihre Eltern ... doch genug! Iwan Petrowitsch!“ er trat auf mich zu, „jetzt werden Sie mir mehr denn je von Nutzen sein können, ich möchte Sie näher kennen lernen, es ist ja mein langgehegter Wunsch. Ich hoffe, daß Sie mich verstehen werden. Ich werde Sie in diesen Tagen aufsuchen; Sie erlauben?“ Ich verneigte mich. Mir selbst schien es, daß ich jetzt einer Bekanntschaft mit ihm nicht mehr ausweichen konnte. Er reichte mir die Hand, verbeugte sich stumm vor Natascha und verließ, mit dem Ausdruck gekränkter Würde, das Zimmer. IV. Einige Minuten blieben wir alle stumm. Natascha saß traurig und gebrochen da, in trübes Nachdenken versunken. Jede Energie hatte sie verlassen. Sie starrte, ohne was zu sehen, geradeaus vor sich hin, als hätte sie auch vergessen, daß sie Aljoschas Hand in der ihren hielt. Der weinte leise seinen Kummer aus, sie hin und wieder mit ängstlicher Neugier beobachtend. Endlich raffte er sich auf, begann sie zu trösten, bat sie, ihm zu verzeihen, da nur er allein an allem die Schuld hätte: nur zu bemerkbar war es, daß er seinen Vater rechtfertigen wollte; das schien ihm sehr am Herzen zu liegen; er begann immer wieder davon zu sprechen, ohne es zu wagen deutlich zu werden, um Nataschas Zorn nicht zu erregen. Er schwor ihr ewige, unveränderliche Liebe und verteidigte voll Feuer seine Anhänglichkeit zu Katjä; ununterbrochen wiederholte er, daß er sie nur wie eine Schwester liebe, wie eine liebe, gute Schwester, die er doch nicht ganz und gar verlassen könne; das wäre hartherzig und gemein seinerseits und er versicherte immer wieder von neuem, daß Natascha, wenn sie Katjä kennen lernte, sich mit ihr befreunden und niemals von ihr lassen würde, und daß von Mißverständnissen schon garnicht die Rede sein könne. Dieser Gedanke gefiel ihm besonders. Der Arme log wirklich nicht. Er verstand die Bedenken Nataschas nicht, auch hatte er vieles, was sie seinem Vater vorhin gesagt, überhaupt nicht begriffen. Er wußte nur, daß sie sich entzweit hatten und das lag ihm wie ein schwerer Stein auf dem Herzen. „Bist du mir deines Vaters wegen böse, Aljoscha?“ fragte ihn Natascha. „Wie kann ich ihn beschuldigen,“ antwortete er bitter, „wenn ich selbst den Grund zu allem gegeben habe und an allem schuld bin? Ich habe dich so sehr gekränkt, daß du in deinem Zorn ihn beschuldigt hast, um mich verteidigen zu können; du verteidigst mich immer, ich aber bin es nicht wert. Jemand mußte doch schuld sein, und so hieltest du ihn für schuldig. Er aber hat keine Schuld daran, wirklich nicht!“ rief Aljoscha bewegt aus. „War er denn deshalb hierher gekommen; sollte ich denn das erwarten!“ Als er bemerkte, daß Natascha ihn traurig und vorwurfsvoll ansah, bereute er das Gesagte wieder sofort. „Nun, gut, schon gut, verzeih mir. Ich bin die Ursache von allem!“ „Ja, Aljoscha,“ fuhr Natascha schwermütig fort. „Jetzt ist er zwischen uns getreten und hat uns fürs ganze Leben unsern Frieden zerstört. Du hast immer an mich mehr geglaubt, als an alle anderen; jetzt hat er in dein Herz Zweifel und Mißtrauen zu mir gesät; du klagst mich an; er nahm mir die Hälfte deines Herzens. Eine schwarze Katze ist zwischen uns gelaufen.“ „Sprich doch nicht so, Natascha: ‚eine schwarze Katze?‘“ Der Ausdruck mißfiel ihm. „Durch erlogene Güte und vorgetäuschte Großmut fesselt er dich an sich,“ fuhr Natascha fort, „und wird dich jetzt gegen mich immer mehr und mehr aufhetzen.“ „Ich schwöre es dir, nein!“ beteuerte Aljoscha feurig. „Er war gereizt, als er sagte, daß wir uns ‚übereilt‘ hätten, und du wirst sehen, morgen bereits wird er uns wieder verloben und wenn er sich wirklich so geärgert haben sollte, daß er die Ehe nicht mehr wünscht, so schwöre ich dir, daß ich ihm nicht gehorchen werde. Hoffentlich werden meine Kräfte noch so weit reichen ... Und weißt du, wer uns helfen wird?“ rief er plötzlich, von seiner Idee gepackt, begeistert aus. „Katjä wird uns helfen! Und du wirst sehen, du wirst sehen, was sie für ein reizendes Geschöpf ist! Du wirst sehen, ob sie deine Nebenbuhlerin sein kann, und uns zu entzweien beabsichtigt! Und wie ungerecht du gegen mich warst, als du vorhin sagtest, ich gehörte zu jenen, die bereits am Tage nach der Hochzeit eine andere lieben können! Wie bitter weh mir das tat! Nein, ich gehöre nicht zu denen, und wenn ich so oft zu Katjä ...“ „Genug, Aljoscha, besuche sie, so oft du willst. Nicht das habe ich vorhin gemeint. Du hast nicht alles verstanden. Werde glücklich, mit wem du willst. Ich kann doch von deinem Herzen nicht mehr verlangen, als du mir freiwillig gibst ...“ Mawra trat ins Zimmer. „Soll ich endlich den Tee bringen oder nicht? Der Samowar kocht schon zwei Stunden; es ist elf Uhr.“ Sie war frech und wütend; offenbar war sie nicht bei Laune, weil sie sich über Natascha geärgert hatte. Sie hatte nämlich seit Dienstag triumphiert, daß ihr Fräulein (die sie sehr liebte) sich verheiraten würde, was sie bereits im ganzen Hause herumerzählt hatte, im Laden, beim Hausknecht. Sie hatte geprahlt, daß der Fürst, ein hoher General und sehr reich, selbst gekommen sei, und um die Hand ihres Fräuleins angehalten habe, was sie, Mawra, mit eigenen Ohren gehört hätte, und plötzlich ging jetzt alles auseinander. Der Fürst war in böser Stimmung fortgefahren, den Tee hatte man nicht serviert, und versteht sich, an allem war das Fräulein schuld. Mawra hatte gehört, wie unehrerbietig sie zu ihm gesprochen. „Nun ... gib ihn her,“ antwortete Natascha. „Und den Imbiß, soll ich den auch reichen, wie?“ „Gewiß, auch den Imbiß.“ Natascha lächelte. „Da hat man nun alles vorbereitet, gestern den ganzen Tag bin ich gelaufen. Bin auf den Newskij Prospekt nach Wein gegangen und nun ...“ Sie ging hinaus und schlug wütend die Tür hinter sich zu. Natascha errötete und sah mich eigentümlich an. Der Tisch wurde gedeckt; es gab Wild, Fisch, zwei Flaschen guten Wein von Jelissejeff. „Wozu hatte man das alles vorbereitet,“ dachte ich. „Siehst du, Wanjä, so bin ich,“ sagte Natascha zu mir, ganz verwirrt. „Ich habe es gewußt, daß es heute so kommen würde, wie es gekommen ist und doch hoffte ich, es würde anders sein. Ich dachte, Aljoscha würde kommen und wir versöhnten uns wieder; meine Verdächtigungen würden sich als ungerecht erweisen, man würde mich bereden, davon überzeugen und ... so hatte ich denn auf jeden Fall etwas vorbereitet. Vielleicht, dachte ich, werden wir zusammenbleiben, etwas plaudern ...“ Arme Natascha! Sie wurde über und über rot, als sie das sagte. Aljoscha geriet in Entzücken. „Siehst du, Natascha!“ rief er. „Du selbst hast nicht daran geglaubt; noch vor zwei Stunden glaubtest du nicht daran! Nein; das muß alles wieder gut gemacht werden; ich bin an allem schuld gewesen, ich muß auch wieder alles gut machen. Natascha, erlaube mir, daß ich gleich zu Papa gehe. Ich muß ihn sehen, er ist beleidigt und gekränkt; man muß ihn beruhigen, ich werde ihm alles sagen, was ich denke, von mir aus denke; dich werde ich nicht ins Gespräch ziehen. Sei mir nicht böse, wenn ich dich jetzt verlasse und zu ihm will. Mir tut er leid; er wird sich vor dir rechtfertigen; du wirst sehen ... Morgen werde ich den ganzen Tag bei dir bleiben, zu Katjä werde ich nicht gehen.“ Natascha hielt ihn nicht zurück, sondern gab ihm selbst den Rat zu fahren. Sie fürchtete sehr, Aljoscha würde jetzt mit Absicht ganze Tage lang bei ihr bleiben und sich bei ihr langweilen. Sie bat ihn nur, sie seinem Vater gegenüber nicht zu erwähnen, und gab sich Mühe, Aljoscha beim Abschied freundlich zuzulächeln. Er war schon im Begriff, fortzugehen, als er plötzlich umkehrte, sich neben sie setzte und ihre Hände ergriff. Er sah sie mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an. „Natascha, mein Freund, mein Engel, sei mir nicht mehr böse und wir wollen uns niemals mehr zanken. Und gib mir dein Wort, daß du mir in allem glauben wirst und ich dir. Ich muß dir noch etwas erzählen, mein Engel! Einmal waren wir miteinander verzankt, ich weiß nicht mehr, warum; ich war der Schuldige. Ich trieb mich in der Stadt herum, besuchte meine Kameraden, aber mein Herz war mir schwer, so schwer ... Und plötzlich kam es mir in den Sinn: wie, zum Beispiel, wenn du erkranktest und sterben würdest? Und wie ich mir das so vorstellte, überkam mich solche Verzweiflung, als hätte ich dich tatsächlich auf immer verloren. Meine Gedanken wurden immer dunkler und grauenvoller. Ich stellte mir vor, wie ich zu deinem Grabe kommen, halb besinnungslos vor Schmerz mich auf ihm niederlassen, es umarmen würde, dich rufen, und Gott um das Wunder anflehen würde, daß du auf einen Augenblick vor mir erschienest; ich stellte mir vor, wie ich mich auf dich stürzen würde, um dich an mich zu pressen und dich zu küssen, und wahrscheinlich wäre ich vor Seligkeit gestorben, wenn ich dich nur auf einen Augenblick, wie früher, hätte umarmen können. Als ich mir aber vorstellte, daß ich Gott anflehe, dich nur auf einen Augenblick zu besitzen, wo ich dich doch schon sechs Monate besessen, und wo ich mich in diesen sechs Monaten so oft mit dir gestritten und wir unser Glück nicht zu schätzen verstanden ..., jetzt aber fähig wäre für eine Minute Glück mit dir mein ganzes Leben zu opfern ... da konnte ich es nicht mehr aushalten, ich stürzte so schnell als möglich zu dir, kam hierher und du erwartetest mich bereits. Ich preßte dich an mich, als hätte ich dich wirklich verloren gehabt, Natascha! Wollen wir uns das Versprechen geben, niemals mehr zu zanken! Mir ist dann immer so schwer! Und wie soll ich es mir vorstellen, großer Gott, daß ich dich jemals verlassen könnte!“ Natascha weinte. Sie umarmten sich heftig und Aljoscha schwor ihr nochmals, sie niemals zu verlassen. Er war fest überzeugt, daß er alles wieder gut machen würde. „Alles ist aus! Alles ist verloren!“ sagte Natascha, und drückte krampfhaft meine Hand. „Er liebt mich, und wird nie aufhören, mich zu lieben; doch, er liebt auch Katjä und wird sie in einiger Zeit mehr lieben als mich. Und der Fürst wird nicht ruhen ... und dann ...“ „Natascha! Auch ich glaube, daß der Fürst nicht aufrichtig handelt, doch ...“ „Du glaubst nicht an alles, was ich ihm gesagt habe! Ich habe es an deinen Mienen bemerkt. Doch warte nur, du wirst noch sehen, ob ich recht habe oder nicht? Ich habe noch längst nicht alles gesagt, Gott allein weiß nur, was er alles noch beabsichtigt! Er ist ein schrecklicher Mensch. Ich bin diese vier Tage hier im Zimmer auf- und abgegangen, ich habe über alles nachgedacht, und bin hinter alles gekommen. Er will nur das Herz Aljoschas von seinen Liebespflichten befreien. Er hat sich diese Verlobung ausgedacht, um durch seine Großmut Aljoscha zu bezaubern und ihn mir zu entreißen. Das ist so, Wanjä! Auch hat Aljoscha einen solchen Charakter. Er würde sich beruhigen, seine Unruhe um mich würde aufhören. Er denkt, ‚jetzt ist sie meine Frau, gehört mir auf immer‘ und wird seine Aufmerksamkeit mehr Katjä zuwenden. Der Fürst kennt Katjä, er hat sie gut beobachtet und findet, daß sie mehr zu ihm paßt, daß sie ihn stärker beeinflussen kann, als ich. Ach, Wanjä, meine ganze Hoffnung beruht auf dir, er will aus irgend einem Grunde mit dir zusammenkommen, deine nähere Bekanntschaft machen. Weise ihn nicht ab, sondern versuche um Gotteswillen, so bald als möglich zur Gräfin zu kommen. Du wirst Katjäs Bekanntschaft machen und mir sagen, wie sie ist? Ich habe deine Meinung über sie nötig. Keiner versteht mich so gut, wie du, und du allein weißt, was ich brauche. Beobachte ihre Freundschaft, und worüber sie miteinander sprechen; besonders beobachte Katjä ... Erweise mir noch diesmal einen Freundschaftsdienst, mein einziger, lieber Wanjä! Nur auf dich allein setze ich jetzt alle meine Hoffnungen! ...“ Als ich nach Hause zurückkehrte, war es bereits ein Uhr nachts. Nelly öffnete mir mit verschlafenen Augen die Tür. Sie lächelte und sah mich freudig an. Die Arme ärgerte sich darüber, daß sie eingeschlafen war. Sie hätte mich durchaus erwarten wollen. Sie erzählte, daß in meiner Abwesenheit jemand gewartet und auf meinem Schreibtisch einen Zettel an mich hinterlassen. Der Zettel war von Masslobojeff. Er forderte mich auf, morgen um ein Uhr zu ihm zu kommen. Ich hätte gerne Nelly über alles ausgefragt, doch schob ich es auf morgen und bestand darauf, daß sie sich jetzt schlafen lege. Die Arme war müde und hatte nur eine halbe Stunde vor meinem Kommen geschlafen. V. Am andern Morgen erzählte mir Nelly eigenartige Dinge vom gestrigen Besuch. Es war übrigens schon sonderbar, daß Masslobojeff sich gerade den Abend ausgesucht hatte, an dem, wie er wissen mußte, ich nicht zu Hause war; ich hatte ihn noch bei unserem letzten Zusammensein davon unterrichtet, ich erinnere mich dessen nur zu gut. Nelly behauptete, daß sie am Anfang nicht habe öffnen wollen, weil sie sich gefürchtet, – es sei bereits acht Uhr abends gewesen. Er habe sie hinter der Tür angefleht, ihm zu öffnen, da er etwas sehr Wichtiges für mich zu melden habe, und es mir morgen sonst sehr schlecht ergehen könne. Gleich, nachdem er eingetreten, hatte er sich an meinen Schreibtisch gesetzt, um mir den Zettel zu schreiben, darauf war er aufgestanden und hatte sich zu ihr auf den Diwan gesetzt. „Ich stand auf und wollte nicht mit ihm sprechen,“ erzählte Nelly, „ich fürchtete mich sehr; er begann von der Bubnowa zu erzählen, wie sie wütend sei, daß sie mich jetzt für immer verloren und darauf lobte er Sie; er sagte, Sie seien sein guter Freund und er habe Sie bereits als Kind gekannt. Da verlor ich meine Angst und habe mit ihm gesprochen. Er reichte mir Konfekt; ich wollte es aber nicht annehmen. Er versicherte mir, daß er kein schlechter Mensch sei, daß er zu tanzen und zu singen verstehe; er stand sofort auf und fing an zu tanzen. Ich mußte lachen. Darauf sagte er, daß er noch ein wenig bleiben wolle, – um Wanjä abzuwarten – und bat mich sehr, ihn nicht zu fürchten, und mich neben ihm hinzusetzen. Ich setzte mich, doch wollte ich kein Wort mit ihm sprechen. Er sagte mir, daß er Mama und Großpapa gekannt habe und ... da habe ich denn gesprochen. Er saß noch lange ...“ „Und wovon habt ihr denn gesprochen?“ „Von Mama ... von der Bubnowa ... und von Großpapa.“ Nelly schien es mir nicht sagen zu wollen, wovon sie gesprochen. Ich fragte sie auch nicht weiter aus, denn ich hoffte alles durch Masslobojeff zu erfahren. Allem Anscheine nach hatte Masslobojeff Nelly allein antreffen wollen. „Wozu nur das?“ dachte ich. Sie zeigte mir lachend die drei Konfektstückchen, die er ihr gegeben. Das waren schlechte in einem Schmierladen gekaufte Bonbons. „Warum hast du sie nicht gegessen?“ fragte ich. „Ich wollte nicht,“ antwortete sie finster, mit gerunzelten Brauen. „Ich habe sie nicht genommen, er hat sie auf dem Diwan liegen lassen ...“ Ich hatte an diesem Tage viele Gänge zu machen und mußte Nelly bereits wieder verlassen. „Hast du es langweilig allein?“ fragte ich sie beim Fortgehen. „Langweilig und auch nicht langweilig. Langweilig, weil Sie immer so lange fortbleiben.“ Und sie sah mich mit großer Liebe an. Sie hatte mich bereits den ganzen Morgen zärtlich angesehen und schien halb fröhlich, halb zärtlich, halb verlegen zu sein; auch war in ihr etwas Scheues, als fürchtete sie, mich irgendwie zu ärgern oder mein Wohlwollen zu verlieren ... „Also ... und warum auch _nicht_ langweilig?“ fragte ich sie, unwillkürlich über sie lächelnd, so lieb und teuer war sie mir geworden. „Das kann ich nicht sagen,“ antwortete sie lächelnd und verschämt. Wir standen an der Schwelle bei offener Tür. Nelly stand vor mir mit gesenkten Augen, mit einer Hand an meinem Rockärmel zupfend. „Das ist also ein Geheimnis?“ fragte ich sie. „Nein ... das nicht ... ich ... ich habe Ihr Buch zu lesen angefangen,“ sagte sie mit leiser Stimme und richtete ihren zärtlichen Blick über und über errötend auf mich. „Ah, sieh mal an! Nun, gefällt es dir?“ Als Autor war ich außer mir vor Freude, doch ich hätte weiß Gott was gegeben, wenn ich sie in diesem Augenblick hätte küssen können. Doch das war nicht möglich. Nelly schwieg. „Warum, warum mußte er sterben?“ fragte sie mit einem Ausdruck tiefster Trauer, heimlich mich ansehend, um dann plötzlich wieder die Augen niederzuschlagen. „Wer denn?“ „Dieser junge Mann ... an der Schwindsucht ... im Buche, da?“ „Es mußte so sein, Nelly.“ „Durchaus nicht,“ antwortete sie fast flüsternd, doch plötzlich brach sie ab, halb böse, halb schmollend und hartnäckig die Augen zu Boden gerichtet. Es verging eine Minute. „Und sie ... nun sie, alle beide, das Mädchen und der Alte,“ flüsterte sie kaum hörbar und zupfte mich immer heftiger am Ärmel, „bleiben sie zusammen? Und werden sie nicht mehr arm sein?“ „Nein, Nelly, sie fährt weit fort und wird die Frau eines Gutsbesitzers, er aber bleibt ganz allein,“ es tat mir wirklich leid, daß ich ihr nichts Beruhigenderes mitteilen konnte. „Wenn es so ist ... so werde ich jetzt nicht mehr weiterlesen!“ Sie stieß meine Hand von sich, kehrte mir den Rücken, ging an den Tisch und blieb so von mir abgewandt stehen. Sie atmete unregelmäßig vor heftiger Erregung. „Du hast dich also geärgert, Nelly?“ Ich trat an sie heran, „das ist doch alles nicht wahr, das habe ich mir doch nur ausgedacht. Worüber bist du denn böse, empfindsame Kleine!“ „Ich bin nicht böse,“ sagte sie bescheiden und mich traf ein heller, liebevoller Blick. Plötzlich ergriff sie aber meine Hand, preßte ihr Gesicht an meine Brust und fing an zu weinen. Doch im selben Augenblick lachte sie auch schon wieder, lachte und weinte zusammen. Auch mir war es so komisch und doch – so süß zumute. Doch sie wollte um nichts in der Welt ihr Köpfchen aufheben, und je mehr ich mir Mühe gab, es von meiner Brust loszureißen, um so mehr preßte sie es an mich und lachte immer heftiger und heftiger. Endlich machten wir dieser gefühlvollen Szene ein Ende. Wir verabschiedeten uns voneinander und ich eilte davon. Nelly, ganz rot im Gesicht und verschämt mit glänzenden Augen, lief mir noch nach auf die Treppe und bat mich, bald wieder zu kommen. Ich versprach ihr, zu Mittag zurück zu sein. Zuerst ging ich zu den Alten. Beide waren erkältet. Anna Andrejewna war sogar ganz krank. Nikolai Ssergejewitsch war in seinem Kabinett. Er hörte, daß ich kam, doch wußte ich, daß er nach seiner Gewohnheit erst eine Viertelstunde später erscheinen würde, um uns miteinander Zeit zur Aussprache zu geben. Ich wollte Anna Andrejewna nicht zu sehr aufregen und schwächte meine Erzählung über den gestrigen Abend nach Möglichkeit ab, doch konnte ich die Wahrheit nicht verheimlichen; zu meiner Verwunderung jedoch nahm die Alte die Nachricht von der Möglichkeit eines Bruches ohne jede Verwunderung hin. „Nun, mein Lieber, das wußte ich doch,“ sagte sie. „Als du damals fortgegangen warst, habe ich mir noch lange alles überlegt, daß es nicht sein kann. Wir haben es beim lieben Herrgott nicht verdient und er ist doch ein so gemeiner Mensch; kann man denn von ihm etwas Gutes erwarten. Ist es denn ein Spaß, daß er von uns umsonst zehntausend Rubel nimmt; er weiß es, daß er sie umsonst bekommt, und doch nimmt er sie. Unser letztes Stück Brot nimmt er uns und Ichmenjeffka wird verkauft. Nataschenka ist klug und gerecht, daß sie ihm nicht glaubt. Ja, weißt du, mein Lieber,“ fuhr sie fort, ihre Stimme dämpfend; „der Meine, der Meine ... ist durchaus gegen die Hochzeit. Ich beredete ihn: er will nicht, sagt er! Zuerst dachte ich, er verstellt sich; doch nein, es ist so. Was soll dann aus ihr, meinem Täubchen, werden? Er würde sie dann verfluchen. Nun, und dieser da, der Aljoscha, was tut er?“ Und lange fragte sie mich noch aus, nach allem, wie es so ihre Gewohnheit war, seufzend und murrend. Ich hatte überhaupt bemerkt, daß sie in letzter Zeit fassungslos und verworren war. Jede Nachricht erschütterte sie. Das Leid um Natascha tötete ihr Herz und ihre Gesundheit. Der Alte erschien in Schlafrock und Pantoffeln; er klagte über Fieber, behandelte aber seine Frau, die ganze Zeit über, die ich bei ihnen verbrachte, mit großer Zärtlichkeit, sah ihr zärtlich in die Augen, pflegte sie und sorgte sich um sie. Ihre Krankheit hatte ihn sehr erschreckt, auch fühlte er, daß er alles im Leben verlieren würde, wenn er sie verlöre. Ich saß bei ihnen über eine Stunde. Als ich mich von ihnen verabschiedet hatte, kam er mit mir hinaus ins Vorzimmer und fragte nach Nelly. Er hatte die ernste Absicht, sie zu sich ins Haus zu nehmen. Er wollte sich mit mir beraten, wie man Anna Andrejewna dafür gewinnen könne. Mit großem Interesse fragte er mich, ob ich nicht noch etwas Neues über sie erfahren hätte? Ich erzählte ihm in aller Kürze, was ich wußte. Meine Erzählung machte auf ihn einen großen Eindruck. „Wir wollen noch darüber reden,“ sagte er in bestimmtem Tone, „– bis dahin ... übrigens, ich werde noch selbst zu dir kommen, wenn meine Gesundheit es mir erlauben wird. Dann wollen wir sehen ...“ Punkt zwölf Uhr war ich bei Masslobojeff. Zu meiner großen Verwunderung war die erste Person, der ich begegnete, der Fürst. Er zog im Vorzimmer gerade seinen Mantel an und Masslobojeff half ihm geschäftig dabei und reichte ihm seinen Stock. Er hatte mir ja von seiner Bekanntschaft mit dem Fürsten erzählt, aber diese Begegnung setzte mich doch in Erstaunen. Auch der Fürst schien ein wenig konfus zu sein, als er mich erblickte. „Ach, Sie sind es!“ rief er mit übertriebener Freundlichkeit. „Welch eine sonderbare Begegnung! Übrigens habe ich soeben von Herrn Masslobojeff erfahren, daß Sie mit ihm bekannt sind. Es freut mich, es freut mich sehr, Ihnen begegnet zu sein, ich möchte Sie sprechen und hoffe, so bald als möglich zu Ihnen zu kommen; Sie erlauben doch? Ich habe eine Bitte an Sie: helfen Sie mir, erklären Sie mir unsere jetzige Lage. Sie sind dort befreundet, Sie kennen den ganzen Gang der Angelegenheit; Sie haben Einfluß ... Es tut mir leid, jetzt nicht mit Ihnen bleiben zu können ... Geschäfte! In den nächsten Tagen jedoch, oder noch früher, werde ich das Vergnügen haben, bei Ihnen zu erscheinen. Doch jetzt ...“ Er schüttelte schon gar zu herzlich meine Hand, warf Masslobojeff einen verständnisvollen Blick zu und verschwand. ... „Sage mir doch, um Gotteswillen,“ begann ich, ins Zimmer tretend. „Nichts werde ich dir sagen,“ unterbrach mich Masslobojeff, der eilig nach der Mütze griff und ins Vorzimmer stürzte – „ich habe zu tun! Ich, Bruderherz, muß selbst eilen, habe mich verspätet! ...“ „Du hast mir doch geschrieben, um zwölf Uhr zu kommen ...“ „Was will das heißen? Das habe ich dir gestern geschrieben, heute aber hat man mir geschrieben ... ich sage dir, daß mir der Kopf brummt – vor Geschäften! Man erwartet mich. Verzeih, Wanjä. Alles, was zu deiner Genugtuung geschehen kann, ist, daß du mich durchprügeln kannst, weil ich dich umsonst herbemüht habe. Wenn es dir gefällt, so haue mich nur, doch um Christi willen, schnell! Halte mich nicht auf, man wartet auf mich ...“ „Wozu soll ich dich verhauen? Hast du Geschäfte, nun so laufe, Unvorhergesehenes kann jedem passieren. Nur ...“ „Von dem _Nur_ werde ich dir schon erzählen,“ unterbrach er mich, stürzte ins Vorzimmer und zog seinen Mantel an. (Auch ich zog mich an.) „Deinetwegen habe ich eine sehr ernste Sache zu erledigen; dieser Sache wegen habe ich dich hergebeten, sie betrifft dich und deine Interessen. Da ich dir aber jetzt in einem Augenblick nicht alles erzählen kann, so gib mir, bitte, um Christi willen, dein Wort, daß du heute um punkt sieben Uhr, nicht früher und nicht später, zu mir kommst. Ich werde dann zu Hause sein.“ „Heute noch,“ sagte ich unentschlossen, „nun, Bruderherz, heute abend wollte ich doch dahin gehn ...“ „Dahin, mein Lieber, wo du am Abend gehn wolltest, gehe jetzt und am Abend komme zu mir. Denn, Wanjä, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Sache ich dir mitzuteilen habe.“ „Na, schön, schön; was ist es denn? Ich gestehe, daß du mich neugierig gemacht hast.“ Wir traten aus dem Haustor und standen auf dem Trottoir. „Du wirst also kommen?“ fragte er. „Ich habe gesagt, daß ich komme.“ „Gib dein Ehrenwort.“ „Warum, wozu? Nun, ich gebe dir mein Ehrenwort.“ „Das ist anständig. Wohin gehst du?“ „Dahin,“ antwortete ich, und zeigte nach rechts. „Nun, und ich muß dorthin,“ und er zeigte nach links. „Lebe wohl, Wanjä, vergiß nicht ... sieben Uhr ...“ „Sonderbar, höchst sonderbar,“ dachte ich und sah ihm nach. Am Abend hatte ich eigentlich zu Natascha gehen wollen. Doch da ich jetzt Masslobojeff mein Wort gegeben hatte, zu ihm zu kommen, so beschloß ich, jetzt zu ihr zu gehn. Ich war überhaupt überzeugt, daß ich jetzt Aljoscha bei ihr antreffen würde. Und wirklich, er war dort, und freute sich außerordentlich über mein Kommen. Er war sehr nett, fröhlich und außerordentlich zärtlich zu Natascha. Natascha tat alles, um fröhlich zu erscheinen, doch sah man es ihr an, daß es ihr schwer fiel. Sie sah krank und bleich aus; sie hatte die Nacht nicht geschlafen. Zu Aljoscha war sie gezwungen zärtlich. Aljoscha sprach und erzählte sehr viel, offenbar wollte er sie belustigen und ihren Lippen ein Lächeln abringen. Er erwähnte aber in seinem Gespräche weder Katjä noch seinen Vater. Wahrscheinlich war ihm sein gestriger Versöhnungsversuch nicht gelungen. „Weißt du, Wanjä? Er möchte furchtbar gern von mir fortgehen,“ flüsterte mir Natascha in aller Eile zu, als Aljoscha hinausging, um Mawra irgend etwas aufzutragen. – „Doch er fürchtet sich, mich zu kränken. Und auch ich selbst fürchte mich, ihm zu sagen, daß er gehen soll, denn dann versteift er sich erst recht darauf zu bleiben, und am meisten fürchte ich mich, daß er sich bei mir langweilt und mich überhaupt zu lieben aufhört! Was soll ich tun?“ „Gott, in welche Lage ihr euch selbst bringt! Und wie mißtrauisch einer den andern verfolgt! Erklärt euch doch gegenseitig einfach und damit abgemacht. Durch solches Verhalten werdet ihr euch wirklich gegenseitig zur Last fallen.“ „Was soll ich tun?“ rief sie erschrocken aus. „Warte, ich werde schon alles in Ordnung bringen.“ Ich ging in die Küche unter dem Vorwand, Mawra zu bitten meine Galoschen zu reinigen. „Vorsichtig, Wanjä!“ rief Natascha mir nach. Kaum war ich in der Küche, als Aljoscha sich auf mich stürzte, als hätte er mich erwartet. „Iwan Petrowitsch, Lieber, was soll ich tun? Raten Sie mir: ich habe noch gestern mein Wort gegeben, um diese Zeit bei Katjä zu sein. Ich darf es nicht verfehlen! Ich liebe Natascha mehr als alles, ich bin bereit für sie durchs Feuer zu gehen, aber Sie sehen doch ein, daß ich die andere jetzt nicht ganz ...“ „Nun, so fahren Sie doch ...“ „Was wird Natascha dazu sagen? Ich werde ihr wehetun ... Iwan Petrowitsch, helfen Sie mir ...“ „Meiner Meinung nach ist es besser, daß Sie fahren. Sie wissen, wie sehr Natascha Sie lieb hat: sie wird sich fürchten, daß Sie sich bei ihr langweilen, wenn Sie sich zwingen bei ihr zu bleiben. Übrigens, kommen Sie, ich werde Ihnen helfen.“ „Lieber Iwan Petrowitsch, wie gut Sie sind!“ Wir kehrten zurück, nach einem Augenblick sagte ich zu ihm: „Ich habe soeben Ihren Vater gesehen.“ „Wo?“ rief er ganz erschrocken aus. „Zufällig auf der Straße. Er redete mich an und fragte nach Ihnen, ob ich nicht wüßte, wo Sie seien? Er müßte Sie durchaus sprechen.“ „Ach, Aljoscha, fahre zu ihm, suche ihn auf,“ unterstützte mich Natascha, die sofort begriff, was ich damit wollte. „Wo kann ich ihn denn jetzt antreffen? Wird er zu Hause sein?“ „Nein, ich glaube, er sagte, daß er bei der Gräfin sein würde.“ „Aber, wie soll ich denn ...“ bemerkte naiv Aljoscha und sah Natascha traurig an. „Ach, Aljoscha, was tut es denn!“ sagte sie. „Willst du denn wirklich diese Bekanntschaft aufgeben, um mich zu beruhigen. Das wäre doch kindisch. Erstens wäre es unmöglich, und zweitens wäre es einfach Undankbarkeit Katjä gegenüber. Ihr seid befreundet: kann man denn freundschaftliche Bande so brutal zerreißen. Und mich beleidigst du einfach, wenn du glaubst, daß ich so eifersüchtig sei. Fahre also, fahre unverzüglich, ich bitte dich! Ja, und auch dein Vater wird sich beruhigen.“ „Natascha, du bist ein Engel und ich bin deines kleinen Fingers nicht wert!“ rief Aljoscha voll Begeisterung und Reue zugleich. „Du bist so gut, und ich ... ich ... ich habe soeben Iwan Petrowitsch in der Küche gebeten mir zum Fortgehen zu verhelfen. Er hat sich das ausgedacht. Verurteile mich nicht, Natascha! Doch fühle ich mich gar nicht so schuldig, denn ich liebe dich tausendmal mehr als alles auf der Welt und ich habe mir da etwas Neues ausgedacht: ich will wieder alles Katjä anvertrauen, ihr unsere jetzige Lage mitteilen, und alles was gestern passiert ist. Sie wird sich etwas zu unserer Rettung ausdenken, denn sie ist uns mit ganzer Seele zugetan ...“ „Nun, so beeile dich,“ antwortete ihm lächelnd Natascha, „und weißt du, mein Freund, auch ich möchte ihre Bekanntschaft machen. Wie soll man das arrangieren?“ Aljoschas Begeisterung war grenzenlos. Er erging sich sofort in Plänen, wie es sich machen ließe. Doch das Problem löste er sofort dadurch, daß Katjä es schon machen würde. Er wollte in zwei, drei Stunden Natascha die Antwort bringen und den Abend bei ihr verbringen. „Wirst du wirklich kommen?“ fragte ihn ungläubig Natascha. „Wie kannst du daran zweifeln? Lebe wohl Natascha, meine Liebe – meine ewig Geliebte! Lebe wohl, Wanjä! Ach, mein Gott, ich habe Sie zufällig Wanjä genannt. Hören Sie, Iwan Petrowitsch, ich liebe Sie – warum sagen wir nicht _Du_? Wollen wir uns duzen?“ „Schön.“ „Gott sei Dank! Wie oft habe ich daran gedacht. Ich habe nur immer nicht gewagt, es Ihnen zu sagen. Sehen Sie, auch jetzt sage ich wieder _Sie_. Es ist zu schwer, sich an das Du zu gewöhnen. Das ist so gut bei Tolstoi, glaube ich, beschrieben: Zwei geben sich gegenseitig das Wort ‚_Du_‘ zu sagen, und können sich nicht daran gewöhnen, da vermeiden sie immer die Sätze, in denen sie es anwenden müssen. Ach, Natascha! Lesen wir einmal zusammen ‚Kindheit und Alter‘; das ist so schön!“ „Geh nur, geh!“ trieb ihn Natascha zur Eile an, „jetzt redest du wieder so viel vor lauter Freude ...“ „Leb wohl! In zwei Stunden werde ich wieder bei dir sein!“ Er küßte ihre Hand und stürzte hinaus. „Siehst du, siehst du, Wanjä!“ rief sie, und brach in Tränen aus. Ich blieb zwei Stunden bei ihr, tröstete und beruhigte sie. Sie hatte natürlich in allen ihren Befürchtungen recht. Mir tat das Herz weh, wenn ich an ihre jetzige Lage dachte; ich fürchtete für sie. Doch, was war hier zu machen? Sonderbar schien mir auch Aljoscha: er liebte sie nicht weniger als früher, vielleicht sogar noch mehr, quälender vor Reue und Dankbarkeit. Doch zu gleicher Zeit setzte sich die neue Liebe immer mehr in seinem Herzen fest. Ich selbst war neugierig, Katjä kennen zu lernen, auch versprach ich Natascha ihre Bekanntschaft zu vermitteln. Zum Schluß wurde sie sogar heiter. Unter anderem erzählte ich ihr alles über Nelly und Masslobojeff; von der Bubnowa und meiner Begegnung des Fürsten bei Masslobojeff und von meiner Verabredung um sieben Uhr bei ihm; alles interessierte sie sehr. Auch von den Alten teilte ich ihr alles mit, nur schwieg ich über die Absichten Nikolai Ssergejewitschs; das Duell hätte sie erschrecken können. Ihr schienen die Beziehungen des Fürsten zu Masslobojeff höchst sonderbar, sein Wunsch, mich kennen zu lernen, erklärte sich wohl durch die Verhältnisse ... Um drei Uhr nachmittags kehrte ich zurück nach Hause. Nelly empfing mich mit strahlendem Gesichtchen ... VI. Um Punkt sieben Uhr abends war ich bei Masslobojeff. Er empfing mich mit lautem Halloh und ausgebreiteten Armen. Es versteht sich von selbst, daß er bereits halb betrunken war. Doch am meisten wunderten mich die außerordentlichen Vorbereitungen, die zu meinem Besuch getroffen worden waren. Aus allem war zu sehen, daß sie mich feierlich erwartet hatten. Ein netter Samowar brodelte auf einem runden Tischchen, das bedeckt war mit einem teueren und schönen Tischtuch. Das Teegeschirr blitzte vor Kristall und Silber. Auf einem anderen Tisch, der nicht weniger reich gedeckt war, standen Teller mit Früchten und Konfekt, Kiewsche Marmeladen und Pastillen, eingemachte Früchte, wie Apfelsinen, Äpfel und drei Sorten Nüsse – kurz, eine ganze Fruchthandlung. Auf dem dritten Tisch, mit blendendweißem Tischtuch belegt, standen verschiedene Eßwaren: Kaviar, Käse, Pasteten, Würste, Fisch und eine ganze Reihe Kristallkaraffen mit Likör von den verschiedensten Sorten und den schönsten Farben – grün, rot, braun, goldig. Auf einem kleinen Nebentisch standen sogar zwei Flaschen Champagner und auf einem Tisch vor dem Diwan standen gleichfalls drei Flaschen: Sauterne, Lafitte und Kognak – teuere Jelissejeffsche Flaschen. Hinter dem Teetisch saß Alexandra Ssemjonowna, wenn auch in einfachem Kleide, so doch sehr gewählt und geschmackvoll angezogen. Sie wußte, daß es ihr stand und schien sehr stolz darauf zu sein; sie begrüßte mich fast mit einer gewissen Feierlichkeit. Fröhlichkeit und Zufriedenheit lagen auf ihrem frischen Gesicht. Masslobojeff war mit einem teuren Schlafrock und chinesischen Pantoffeln bekleidet und in teurer Wäsche. Am Hemd waren überall, wo es nur anging, moderne Knöpfe und Schließen angebracht. Die Haare waren gekämmt, pomadisiert und schräg, nach der Mode, gescheitelt. Ich war so erstaunt, daß ich mit offenem Munde mitten im Zimmer stehen blieb und einmal Masslobojeff, das andere Mal Alexandra Ssemjonowna anstarrte, deren Zufriedenheit sich bis zur Seligkeit steigerte. „Was hat das zu bedeuten, Masslobojeff, habt ihr heute einen Besuchsabend?“ rief ich schließlich beunruhigt aus. „Nein, wir haben nur dich erwartet,“ antwortete er feierlich. „Ja, was hat denn das zu bedeuten,“ ich wies auf die Vorräte, „damit kann man ja ein ganzes Heer bewirten!“ „Und betrinken, hauptsächlich betrinken!“ fügte Masslobojeff hinzu. „Und das alles ist nur für mich?“ „Und für Alexandra Ssemjonowna. Sie hat geruht, es sich so auszudenken.“ „Da haben wir’s! Ich wußte es ja!“ rief Alexandra Ssemjonowna errötend aus, doch verlor sie den Ausdruck von Zufriedenheit nicht. „Man kann nicht einmal anständig seinen Gast empfangen!“ „Kannst du dir vorstellen, bereits vom Morgen an, als sie es hörte, daß du heute abend kommen würdest, hat sie alles vorbereitet; es war nicht mehr auszuhalten ...“ „Das ist nicht wahr! Nicht vom Morgen an, sondern von gestern abend an. Denn gestern abend, als du nach Hause kamst, sagtest du mir, daß Iwan Petrowitsch morgen abend unser Gast sein würde ...“ „Da haben Sie sich verhört ...“ „Durchaus nicht, ich lüge niemals. Und warum soll man seinen Gast nicht gut empfangen? Da leben wir, und leben wir, kein Mensch kommt zu uns, und wir haben doch reichlich zu leben. Mögen doch die guten Leute sehen, daß wir wie andere Menschen zu leben verstehen.“ „Und die Hauptsache, sie sollen es einmal sehen, was Sie für eine vorzügliche Wirtin sein können,“ fügte Masslobojeff hinzu. „Stelle dir nur vor, mein Freund, was ich habe ausstehen müssen. Ein Hemd aus holländischem Leinen hat sie mir gekauft, Pantoffeln und einen chinesischen Schlafrock, die Haare gekämmt und pomadisiert: mit Bergamottenpomade; mit Parfüm wollte sie mich bespritzen ... da habe ich’s aber nicht mehr ausgehalten, habe ihr meine eheliche Autorität gezeigt ...“ „Durchaus nicht mit Bergamottenpomade, sondern mit der besten echten französischen Pomade ...“ unterbrach ihn ganz erregt Alexandra Ssemjonowna. „Urteilen Sie selbst, Iwan Petrowitsch, er bringt mich nirgendwohin, weder ins Theater, noch auf einen Ball, nur Kleider schenkt er mir ... doch wohin soll ich mit den vielen Kleidern? Ich soll mich ankleiden und allein im Zimmer auf und ab spazieren. Neulich wären wir beinahe ins Theater gegangen, ich ging nur in mein Zimmer, um mich etwas zurecht zu machen, aber wie ich wiederkomme, hat er ein Gläschen nach dem anderen getrunken und ist berauscht. So unterblieb es wieder. Kein Mensch, niemand, niemand kommt zu uns zu Gast; nur am Morgen kommen hin und wieder Menschen in Geschäften hierher; dann muß ich mich zurückziehen. Und alles ist da; ein Samowar, ein schönes Service und schöne Tassen – alles, alles hat er mir geschenkt. Und auch das Essen wird uns gebracht, nur den Wein kaufen wir, und diesmal ein bißchen Imbiß – eine Pastete, Kaviar, etwas Konfekt haben wir gekauft. Wenn doch nur jemand sehen würde, wie wir leben! Das ganze Jahr habe ich daran gedacht: wenn ein Gast kommt, ein wirklicher Gast, dann werde ich ihn gut bewirten, und er wird sich finden, und uns ist’s angenehm. Daß ich aber diesen Dummkopf pomadisiert habe, nun, er ist dessen nicht wert; am liebsten würde er immer schmutzig gehen. Sehen Sie, was man ihm für einen Schlafrock geschenkt hat: ja, ist er ihn denn wert? Wenn er nur was trinken kann! Sie werden sehen, gleich wird er vor dem Tee sich noch Schnaps eingießen.“ „Das ist wahr! Trinken wir eins, Wanjä, einen goldenen oder silbernen, um dann mit erfrischter Seele zu den anderen Getränken überzugehen.“ „Nun, das wußte ich doch!“ „Beunruhigen Sie sich nicht, Ssaschenka, wir werden auch Tee trinken, Tee mit Kognak, auf Ihre Gesundheit.“ „Also doch!“ rief sie, die Hände über den Kopf zusammenschlagend. „Tee vom Khan zu sechs Rubel das Viertel hat ihm vorgestern der Kaufmann geschenkt, er aber will ihn mit Kognak trinken. Hören Sie nicht auf ihn, Iwan Petrowitsch, ich werde Ihnen gleich eingießen ... Sie werden selbst sehen, was das für ein Tee ist!“ Es war augenscheinlich, daß sie mich den ganzen Abend festhalten wollten. Alexandra Ssemjonowna hatte das ganze Jahr auf einen Gast gewartet und nun sollte ich dazu herhalten. Das kam mir nicht gelegen. „Höre mal, Masslobojeff, ich bin zu dir nicht als Gast gekommen, sondern in Geschäften; du hast mich selbst gerufen, um mir mitzuteilen ...“ „Nun Geschäft ist Geschäft, doch die Unterhaltung mit einem guten Freunde ist auch eine Sache.“ „Nein, mein Lieber, darauf kannst du nicht rechnen. Um halb neun muß ich fort. Ich habe mein Wort gegeben ...“ „Daran ist nicht zu denken. Wirklich, was du uns antust. Denke doch an Alexandra Ssemjonowna? Sieh sie dir an, sie ist sprachlos. Wozu hat sie mich pomadisiert, bedenke, mit Bergamotten!“ „Du scherzest, Masslobojeff. Ich werde Alexandra Ssemjonowna schwören, in der nächsten Woche, am Freitag, zu kommen; heute jedoch habe ich mein Wort gegeben – oder besser gesagt, ich muß heute an einem Ort erscheinen, auf jeden Fall. Sage mir also lieber, was du mir mitteilen wolltest?“ „So wollen Sie wirklich nur bis halb neun Uhr hier bleiben!“ rief Alexandra Ssemjonowna mit kläglicher Stimme, fast weinend, während sie mir eine Tasse mit prachtvollem Tee reichte. „Beunruhigen Sie sich nicht, Ssaschenka; das ist alles Unsinn,“ beruhigte sie Masslobojeff. „Er wird bleiben; sag mir doch bitte, Wanjä, wohin du zu gehen hast? In welchen Geschäften? Kann man’s nicht erfahren? Du läufst ja den ganzen Tag umher und arbeitest nichts? ...“ „Was geht es dich an? Übrigens, davon kannst du später erfahren. Sage mir doch lieber, warum bist du gestern abend bei mir gewesen, wo ich es dir doch gesagt hatte, daß ich nicht zu Hause sein würde?“ „Es fiel mir nachher ein, doch gestern abend hatte ich’s vergessen. Ich wollte über eine ernste Angelegenheit mit dir sprechen, doch vorher mußte ich Alexandra Ssemjonowna befriedigen. ‚Sieh,‘ sagt sie, ‚da ist ein Mensch, der ist dein Freund, warum lädst du ihn nicht ein?‘ Und deinetwegen, Freund, hat sie mich eine dreiviertel Stunde lang gequält. Der Bergamottenpomade wegen werden mir sicher im Himmel viele Sünden vergeben werden, doch, denke ich, warum soll ich nicht einen Abend mit dir freundschaftlich zubringen? Ich ersann mir daher eine Kriegslist: schrieb dir, wenn du nicht kommst, so werden alle unsere Schiffe untergehen.“ Ich bat ihn im voraus, das nicht wieder zu tun, sondern mir gegenüber aufrichtig zu sein. Übrigens befriedigte mich diese Erklärung keineswegs. „Doch vorhin, warum bist du vorhin davongelaufen?“ fragte ich ihn. „Vorhin hatte ich wirklich ein dringendes Geschäft zu erledigen, das ist nicht gelogen.“ „Mit dem Fürsten etwa?“ „Wie schmeckt Ihnen der Tee?“ fragte mit honigsüßer Stimme Alexandra Ssemjonowna. „Siehst du, sie hat bereits fünf Minuten darauf gewartet, daß man ihren Tee lobt.“ „Vorzüglich, Alexandra Ssemjonowna, vorzüglich! Ich habe einen solchen noch nie getrunken.“ Alexandra Ssemjonowna war ganz stolz vor Vergnügen und wollte mir sofort neuen einschenken. „Der Fürst!“ schrie Masslobojeff, „dieser Fürst, Bruderherz, ist solch ein Schelm, ein Betrüger ... das! Ich Freund, ich sage dir, auch ich bin manchmal ein Betrüger, doch trotz alledem wollte ich nicht in seiner Haut stecken! Doch genug, ich schweige! Kein Wort mehr über ihn.“ „Und ich, ich bin gerade deshalb zu dir gekommen, um dich unter anderem über ihn auszufragen. Doch davon später. Sage mir aber, warum hast du gestern in meiner Abwesenheit Helene Konfekt angeboten und ihr vorgetanzt? Und worüber hast du mit ihr anderthalb Stunden gesprochen!“ „Helene ist ein kleines Mädchen von elf oder zwölf Jahren und lebt zur Zeit bei Iwan Petrowitsch,“ wandte sich plötzlich Masslobojeff erklärend zu Alexandra Ssemjonowna. „Sieh nur, Wanjä, sieh,“ er wies mit dem Finger auf sie, „wie sie rot geworden ist, als sie hörte, daß ich einem unbekanntem jungen Mädchen Konfekt gebracht hätte, wie sie zusammenzuckt, als hätten wir mit einer Pistole geschossen ... isch, wie die Augen blitzen und wie Nadeln stechen. Da ist nichts mehr zu machen, Alexandra Ssemjonowna ... nichts mehr zu verheimlichen. Sie sind eifersüchtig! Hätte ich nicht gesagt, daß es sich hier um ein elfjähriges Kind handelt, so wäre sie über mich hergefallen, hm! ... da hätte mich keine Bergamottenpomade mehr retten können!“ „Sie kann dich auch sowieso nicht retten!“ Mit diesen Worten sprang Alexandra Ssemjonowna wie eine Feder hinter ihrem Teetisch hervor und ehe es sich Masslobojeff versehen konnte, hatte sie ihn an den Haaren gefaßt und ordentlich durchgerüttelt. „Das hast du davon, das hast du davon, wage es noch einmal zu sagen, daß ich eifersüchtig bin, wage es, wage es noch einmal!“ Sie errötete über und über und wenn sie auch lachte, so mußte Masslobojeff ihren Ärger doch ordentlich verspüren. „Von jeder Schande spricht er!“ fügte sie ernst, an mich gewandt, hinzu. „Ach, Wanjä, so ist nun einmal mein Leben! Da hilft nur eines – Schnaps!“ beschloß Masslobojeff, brachte seine Haare in Ordnung und stürzte sich auf die Schnapskaraffe. Doch Alexandra Ssemjonowna hatte da schon vorgesehen, sie reichte ihm das Schnapsglas und streichelte ihm zärtlich die Backe. Masslobojeff blinzelte mir stolz zu, schnalzte mit der Zunge und leerte feierlich sein Glas. „Was das Konfekt anbelangt,“ begann er und setzte sich zu mir auf den Diwan, „ich habe es gestern in einem Schmierladen in betrunkenem Zustande gekauft, wozu, – weiß ich selbst nicht. Vielleicht, um den vaterländischen Handel aufrecht zu erhalten, bestimmt kann ich es nicht sagen; ich weiß nur, daß ich damals betrunken in den Schmutz gefallen war, mir die Haare raufte und darüber weinte, daß ich zu nichts nütze sei. Das Konfekt hatte ich natürlich vergessen, es blieb bis gestern in der Tasche, erst als ich mich auf deinen Diwan setzen wollte, fühlte ich es plötzlich. Getanzt habe ich wohl aus demselben Grunde, ich war angetrunken, und bin ich dann mit meinem Schicksal zufrieden, so tanze ich immer. Das ist alles; vielleicht hat die kleine Waise mein Mitleid erregt und ich tanzte, um sie ein wenig zu erheitern. Auch wollte sie kein Wort mit mir sprechen und schien sehr böse auf mich zu sein.“ „Wolltest du nicht etwas von ihr erfahren, gestehe es offen: Du gingst zu ihr, weil du wußtest, daß ich nicht zu Hause sein würde. Ich weiß, daß du anderthalb Stunden bei ihr gewesen und sie ausgefragt hast unter dem Vorwande, daß du ihre Mutter gekannt.“ Masslobojeff lächelte verschmitzt. „Die Idee wäre nicht schlecht,“ sagte er. „Nein, Wanjä, das ist es nicht. Das heißt, warum soll ich sie nicht bei Gelegenheit ausfragen; aber, wie gesagt, das ist es nicht. Höre, alter Freund, ich bin auch jetzt bereits betrunken, doch im allgemeinen weißt du, wird dich Filipp in einer _schlechten Absicht_ nicht betrügen.“ „Nun, aber ohne eine schlechte Absicht?“ „Ohne eine schlechte Absicht. Zum Teufel damit, trinken wir eins, und dann – zur Sache! Ich habe alles erfahren, diese Bubnowa hat auf das Kind überhaupt kein Recht. Die Mutter schuldete ihr Geld und sie hat darauf das Kind an sich genommen. Wenn die Bubnowa auch ein böses Weib ist, dumm ist sie doch, wie alle Weiber. Die Verstorbene war im Besitz eines guten Passes; daher ist alles im reinen. Helene kann bei dir bleiben, solange du willst, gut wäre es jedoch, wenn sie in eine Familie käme, wo sie eine gute Erziehung erhalten könnte. Doch fürs erste kann sie bei dir bleiben. Ich werde schon für alles sorgen. Die Bubnowa wagt nicht einen Finger zu rühren. Von der Verstorbenen konnte ich nichts Bestimmtes erfahren. Sie war Witwe und hieß Salzmann.“ „Das hat mir auch Nelly gesagt.“ „Nun, das ist alles. Jetzt, Wanjä,“ begann er mit einer gewissen Feierlichkeit, „habe ich eine Bitte an Dich. Du mußt sie erfüllen. Erzähle mir so ausführlich als möglich, was du für Geschäfte hast, wohin du täglich gehst? Ich habe manches zum Teil erfahren, doch möchte ich darüber ausführlicher unterrichtet sein.“ Diese Feierlichkeit erstaunte und beunruhigte mich. „Was soll das? Wozu mußt du das wissen? Du fragst so feierlich ...“ „Siehst du, Wanjä, alle überflüssigen Worte beiseite: ich möchte dir einen Dienst erweisen. Denn, Bruderherz, wenn ich wollte, könnte ich dich auf schlaue Weise ausforschen, so, wie du es glaubst, daß ich es bei der Kleinen durch Konfekt versucht hätte; ich habe es sofort verstanden. Da ich dich aber höchst feierlich darum bitte, so weißt du, daß ich dich im Ernst und in deinem Interesse ausfrage. Du brauchst mich also nicht zu verdächtigen und kannst mir die Wahrheit sagen.“ „Welchen Dienst willst du mir denn erweisen? Höre, Masslobojeff, warum willst du mir nichts vom Fürsten erzählen? Das wäre der einzige Dienst, den du mir erweisen könntest.“ „Vom Fürsten? Hm! ... Nun, geradeaus gesagt: ich möchte dich ja in Angelegenheiten des Fürsten ausfragen.“ „Wie?“ „Ich habe bemerkt, Bruderherz, daß er sich in deine Angelegenheiten einmischen möchte; er hat mich übrigens über dich ausgefragt. Wie er es erfahren, daß wir miteinander bekannt sind – das ist schon nicht mehr deine Sache. Die Hauptsache aber: hüte dich vor ihm. Das ist ein Judas und noch weit schlimmer. Ich zittere darum für dich. Übrigens weiß ich sonst gar nichts, darum bitte ich dich mir alles zu erzählen, damit ich darüber urteilen kann ... Darum habe ich dich heute hergebeten. Das ist die wichtige Angelegenheit, wenn ich schon aufrichtig sein soll.“ „Etwas wenigstens wirst du schon wissen, und wenn auch nur das, weshalb ich gerade vor dem Fürsten auf der Hut sein soll.“ „Nun gut, also sei’s denn! Du mußt nämlich wissen, Bruderherz, daß man sich so im allgemeinen mitunter an mich wendet, wenn es sich um verzwickte Fälle handelt. Aber eines überlege dir vorher: vertrauen mir doch die meisten nur deshalb, weil ich kein Schwätzer bin – wie also soll ich dir nun etwas erzählen? Deshalb, weißt du, schraube deine Ansprüche nicht gar zu hoch und nimm damit fürlieb, was ich dir so in Bausch und Bogen erzähle, denn ich tu’s ja nur, um dir eine Ahnung davon zu geben, als was für ein bodenloser Schuft er sich nach alledem entpuppt hat. Na, aber zuerst fange du an von deinen Sachen.“ Ich überlegte ein wenig, was ich ihm denn erzählen sollte, mußte mir aber sagen, daß ich schließlich nichts vor ihm zu verheimlichen hatte. Nataschas Erlebnisse waren kein Geheimnis; zudem konnte ich von Masslobojeff vielleicht noch etwas erfahren, das sich zu ihrem Nutzen verwenden ließ. Selbstverständlich bemühte ich mich, in meiner Erzählung gewisse Punkte nach Möglichkeit zu umgehen. Am meisten jedoch interessierte ihn alles, was ich ihm über den Fürsten erzählen konnte; er unterbrach mich sogar mehrmals mit verschiedenen Fragen und bat mich, vieles nochmals zu erzählen, so daß ich ihm zu guter Letzt doch alles ziemlich ausführlich erzählt hatte, was ungefähr eine gute halbe Stunde in Anspruch nahm. „Hm!“ meinte er zum Schluß, „jedenfalls ein verteufelt gescheites Mädel. Wenn sie den Fürsten vielleicht auch nicht ganz durchschaut, so hat sie doch wenigstens sofort erkannt, welcher Art dieser Mensch ist und nach dieser Erkenntnis ohne weiteres jede Beziehung zu ihm abgebrochen. Bravo, Natalja Nikolajewna! Ich trinke auf ihr Wohl!“ – Er leerte sein Glas bis zur Nagelprobe –. „Dazu gehörte nicht nur Verstand, dazu gehörte vor allen Dingen Herz! Hier galt es, mutig dem Feind ins Angesicht zu schauen und sich nicht vom Gefühl verleiten zu lassen. Und sie hielt stand! Natürlich hat sie damit jede Hoffnung verspielt. Der Fürst wird jetzt mit allen Mitteln darauf hinwirken, daß Aljoscha sie verläßt, und der wird sie sicherlich verlassen. Aber Ichmenjeff tut mir leid, – zehntausend Rubel diesem Schurken zahlen zu müssen! Aber wer hat denn auch seine Sache geführt, wer? Natürlich er selbst! Das ist’s ja! Aber so sind sie nun einmal alle, diese Ehrenmänner und Hitzköpfe! Das sind mir gerade die richtigen Advokaten! Diesen Fürsten hätte man ganz anders anfassen sollen. Und was für einen Advokaten ich dem Ichmenjeff hätte verschaffen können! – Teufel noch einmal!“ Vor Ärger schlug er sogar mit der Faust auf den Tisch. „Nun, und wie steht es denn jetzt mit dem Fürsten?“ „Ach, da kommst du wieder mit dem Fürsten! Tja, Mensch, was soll ich dir denn sagen? ... Es war überhaupt eine Dummheit von mir, so etwas zu versprechen. Aber ich wollte dich, weißt du, eigentlich nur warnen, um dich beizeiten sozusagen gegen seinen Einfluß zu verbarrikadieren. Wer sich mit ihm einläßt, der ist nicht ungefährdet. Deshalb spitze die Ohren, Freund Wanjä, so, und das ist alles, was ich dir zu sagen habe. Du dachtest wohl, ich würde dir Gott weiß was für Pariser Geheimnisse mitteilen? Gefehlt! Da sieht man gleich den Schriftsteller, der den Kopf voll von Romanen hat! ... Was soll ich dir denn von diesem Schurken erzählen? Ist er einmal ein Schurke, nun, dann ist er eben einer ... Na, schließlich so als Beispiel, weißt du, könnte ich dir eventuell noch so ’n kleines Geschichtchen erzählen, nur – versteht sich – ohne Angabe von Ort und Zeit, ohne Städte oder Personen zu nennen, also ohne jede kalendarische Genauigkeit. Bist du damit einverstanden? – Na, dann höre zu. Du weißt, daß er in seiner ersten Jugend, als er noch mit seinem mageren Kanzleigehalt auskommen mußte, eine reiche Kaufmannsfrau geheiratet hatte. Nun, diese Person soll er aber nichts weniger als höflich behandelt haben, und wenn es sich jetzt auch nicht um sie handelt, so will ich doch die Bemerkung hier einflechten, Freund Wanjä, daß er sein Leben lang gerade diese Art Erwerb jedem anderen vorgezogen zu haben scheint. So zum Beispiel auch in folgendem Fall. Fuhr er da einmal ins Ausland, wie man so eben fährt ...“ „Erlaub, Masslobojeff von welcher Reise redest du? In welchem Jahre?“ „Das war vor genau neunundzwanzig Jahren und drei Monaten. Nun und da machte er eines schönen Tages einem alten Vater die einzige Tochter abspenstig und entführte sie nach Paris. Kurz: er verstand die Geschichte gut einzufädeln. Der Vater war so etwas wie ein reicher Fabrikbesitzer oder, sagen wir, ein Aktionär, der an irgend einem ähnlichen Unternehmen stark beteiligt war. Genau weiß ich es nicht. Du, was ich dir jetzt so erzähle, sind nur meine eigenen Kombinationen, die ich mir mit freier Dichtergabe aus verschiedenen gegebenen Momenten zusammenbaue. Nun und der Fürst wußte ihn geschickt zu betrügen und sich gleichfalls in das Unternehmen hineinzuschmuggeln. Also er betrog ihn gründlich und nahm ihm obendrein noch bares Geld ab. Was nun dieses bare Geld betrifft, so hatte der Alte dafür natürlich gewisse Papiere vom Fürsten in den Händen. Der Fürst aber wollte das Geld so von ihm geliehen haben, daß er es nicht mehr zurückzugeben brauchte, wollte es also, prosaisch ausgedrückt und nach unseren Begriffen, einfach stehlen. Dieser Alte hatte nun, wie gesagt, eine Tochter, und diese seine einzige Tochter war eine Schönheit, und in diese Schönheit hatte sich ein junger Idealist verliebt – solch ein Seitenstück von Schiller, weißt du – ein Dichterling, der aber zugleich auch Kaufmann war, ein junger Träumer und Schwärmer – mit einem Wort: ein echter Deutscher, Pfefferkuchen oder so ungefähr mit Namen.“ „Wie? Sein Familienname war Pfefferkuchen?“ „Na, vielleicht wars nicht gerade Pfefferkuchen, ich will es nicht verschwören, und im übrigen hole ihn der Teufel, nicht um ihn handelt es sich jetzt. Nur war der Fürst im Verkehr mit der Tochter von gewinnenden Umgangsformen, daß sie sich bis zum Wahnsinn in ihn verliebte. Dem Fürsten aber erschienen damals namentlich zwei Dinge erstrebenswert: erstens, in den Besitz der Tochter und zweitens in den der bewußten Dokumente zu gelangen, die schwarz auf weiß bestätigten, daß er vom Alten jene Summe geliehen erhalten hatte. Die Schlüssel aller Geldschränke und Kassetten des Alten bewahrte jedoch die Tochter auf, denn der Alte liebte sein einziges Kind geradezu sinnlos, nämlich dermaßen, daß er sie unter keiner Bedingung verheiraten wollte. Tatsache! Auf jeden Freiersmann war er eifersüchtig, und konnte es nicht begreifen, daß er sich einmal doch von ihr würde trennen müssen. Selbst den armen Pfefferkuchen jagte er zum Teufel. Er war eben ein ganzer Sonderling, und dazu noch ein Engländer ...“ „Ein Engländer? Ja, aber wo ist denn das alles passiert?“ „Das heißt, nein, sieh mal: ich habe nur so gesagt, ‚ein Engländer‘, bloß weil es sich gerade so machte, du aber mußt es natürlich sofort aufgreifen! Herrgott, bewahre einen vor Schriftstellern! Geschehen aber ist’s in Santa Fé de Bogotá, vielleicht aber auch in Krakau oder, was am wahrscheinlichsten ist, im Fürstentum Nassau, – sieh mal, das hier auf der Seltersflasche steht. Also wie gesagt: in Nassau. Bist du jetzt zufrieden? Also der Fürst entführte die Tochter und die Tochter entführte wiederum auf Wunsch des Fürsten gewisse Dokumente. Gibt es doch solch eine Liebe, Wanjä! Pfui, Teufel! Und das Mädel war doch ein edles, reines, ideales Geschöpf! Freilich hat sie wohl von der Bedeutung dieser Papiere keinen ganz zutreffenden Begriff gehabt. Nur eines machte ihr Sorge: der Vater würde sie verstoßen. Doch der Fürst war auch diesem Hindernis gewachsen: er verpflichtete sich schriftlich, formell und gesetzlich, daß er sie heiraten werde. So redete er ihr denn ein, daß sie nur so ein wenig reisen würden, bis der Zorn des Alten sich gelegt, dann aber würden sie vermählt zurückkehren und zu dreien glücklich und einträchtig beisammen leben, Geld verdienen und sich freuen, und so weiter ^ad infinitum^. Und so entfloh sie denn mit dem Fürsten, der Alte verfluchte sie und damit war er gleichzeitig bankrott. Ihr folgte aber nach Paris jener Frauenmilch, der um ihretwillen alles, sogar sein Geschäft, verließ; er war nämlich gar zu sehr in sie verliebt ...“ „Erlaub! Was für ein Frauenmilch?“ „Ach, nun, zum Teufel mit ihm! Ich meinte jenen Feuerbach ... nein, wart mal, wie hieß doch der verwünschte Kerl? Pfefferkuchen! Na, also – diesen Pfefferkuchen meinte ich, wie gesagt. Der Fürst aber konnte sie doch natürlich nicht heiraten, denn, nicht wahr: was würde die Fürstin Soundso dazu sagen? Wie würde sich Baron Pomoikin darüber äußern? Folglich hieß es: betrügen. Nun und das tat er denn auch, tat es aber doch gar zu gemein. Erstens prügelte er sie fast, zweitens lud er absichtlich den Pfefferkuchen ein, und der begann sie denn auch richtig zu besuchen, und bald verbrachte er mit ihr ganze Abende in gemeinsamer Trauer oder tröstete sie als ihr aufrichtiger Freund, der er nun einmal war. Alles in allem wird es bei ihnen nur ein Gemisch von Romantik und Mitleid mit sich selber gewesen sein. Kennt man. Der Fürst aber wußte die Geschichte so zu drehen, daß er sie einmal spät abends überraschte: und da behauptete er frech, daß sie sich vergessen hätten, er habe es mit eigenen Augen gesehen, usw. usw. ... Das kam natürlich zu einer großen Szene, die damit endete, daß er sie beide vor die Tür setzte und selber nach London reiste. Sie aber war damals bereits stark in Umständen: kaum hatte er sie verstoßen, da gebar sie auch schon ein Töchterchen ... das heißt, nicht ein Töchterchen, sondern einen Sohn, jawohl gerade ein Söhnchen, verlaß dich drauf. Es wurde denn auch ohne viel Umstände Wolodjka[4] getauft. Pfefferkuchen hob ihn noch aus der Taufe. Nun, und so reiste sie denn mit dem Pfefferkuchen weiter. Der besaß nämlich ein kleines Kapital. Sie reisten in der Schweiz, in Italien ... in all diesen poetischen Ländern, weißt du, so wie es sich eben gehört. Jene weinte und Pfefferkuchen sah aus wie sieben Tage Regenwetter, das Töchterchen aber wuchs heran. Somit wäre für den Fürsten die ganze Angelegenheit aufs angenehmste erledigt gewesen, wenn – ja, wenn er auch sein schriftliches Eheversprechen von ihr zurückerhalten hätte. ‚Ein niedriger, verächtlicher Mensch bist du,‘ hat sie ihm zum Abschied gesagt, ‚du hast mich bestohlen, du hast mich entehrt und jetzt verläßt du mich. Nun gut! Aber dein Versprechen gebe ich dir nicht zurück. Nicht deshalb, weil ich dich jemals noch heiraten wollte, sondern einfach, weil du dieses Dokument fürchtest. So mag es denn ewig in meinen Händen bleiben.‘ Mit einem Wort, sie ließ sich ein wenig hinreißen, doch übrigens beunruhigte sich der Fürst dieserhalb nicht allzu sehr. Überhaupt ist solchen Schurken nichts vorteilhafter, als es mit solchen sogenannten höheren Wesen zu tun zu haben. Sie sind so edeldenkend, daß man sie mit größter Leichtigkeit betrügen kann, erstens; und zweitens antworten sie auf jeden Betrug mit nichts als erhabener, edler Verachtung, anstatt mit praktischer Anwendung des Gesetzes, selbst wenn dieses Gesetz sich auch noch so vorteilhaft für sie anwenden ließe. Da haben wir ein Beispiel in dieser Frau: sie begnügte sich vollkommen damit, ihn stolz verachten zu können, und wenn sie auch das eine bewußte Dokument zurückbehielt, so hätte sie sich doch eher erhängt, als davon Gebrauch gemacht. Und das wußte der Fürst und deshalb ließ er sich auch ihretwegen weiter keine grauen Haare wachsen, wenigstens vorläufig nicht. Sie aber blieb, wenn sie ihm auch moralisch ins Gesicht gespien, doch verlassen und einsam mit ihrem Kinde zurück, – mit dem Wolodjka. Stirbt sie heute oder morgen, was soll dann aus dem Wurm werden? Und ihr Freund, dieser Schmachtlappen Bruderschaft, bestärkte sie natürlich noch darin, anstatt ihr Vernunft zuzureden! Wahrscheinlich lasen sie gemeinsam Schiller. Schließlich aber erkrankte Bruderschaft doch mal irgendwie und starb.“ „Das heißt, Pfefferkuchen?“ „Na, ja, versteht sich doch, hol ihn der Teufel! Sie aber ...“ „Erlaub! Wieviel Jahre reisten sie denn zusammen?“ „Genau zwölf Jahre. Nun, sie aber kehrte, als er gestorben war, nach Krakau zurück. Der Vater nahm sie natürlich nicht auf, verfluchte sie, und schließlich starb sie, der Fürst aber pfiff darob Halleluja vor Freude. Na ja, und so weiter – trinken wir, Wanjä!“ „Ich vermute, daß du ihm in dieser Angelegenheit behilflich gewesen bist, Masslobojeff.“ „Das ist es wohl, was du gerade wünschst?“ „Ich verstehe nur nicht, was du in _dieser_ Angelegenheit hast ausrichten können.“ „Ja, sieh mal: als sie nach Madrid zurückkehrte – nach zehnjähriger Abwesenheit – da hieß es vor allen Dingen: auskundschaften, unter welchem Namen sie lebte, wo der Bruderschaft geblieben war und wo der alte Vater, und ob es auch wirklich sie selber war und wie es mit dem Kinde stand, und dann, ob sie auch wirklich gestorben war und ob sie Papiere hinterlassen hatte, und so weiter in lieblicher Reihenfolge. Und dann gab es noch so diese und jene Persönlichkeit, die uns interessierte. Wie gesagt: er ist der gemeinste Mensch, der mir je in die Quere gekommen ist, hüte dich vor ihm, Wanjä! Was aber den Masslobojeff betrifft, so merke dir folgendes: nenne ihn nie und unter keinen Umständen einen Schuft! Denn wenn er auch einer ist – meiner Meinung nach ist jeder Mensch in irgendeiner Hinsicht unfehlbar ein Schuft – so hat er doch dir speziell nichts Übles getan. Ich bin zwar stark betrunken, Bruderherz, doch wenn du Ohren hast zu hören, dann höre jetzt: sollte es dir jemals, sei es jetzt, bald oder erst im nächsten Jahr, mal scheinen, daß Masslobojeff in irgendeiner Angelegenheit gegen dich intrigiert hat – und, bitte, vergiß nicht den Ausdruck ‚intrigiert‘ – so wisse, daß er nie eine böse Absicht gehabt hat. Masslobojeff beobachtet dich bloß. Und deshalb schenke keinem Verdacht Glauben, sondern sei gescheiter und komme dann persönlich zu diesem Masslobojeff und rede mit ihm mündlich und brüderlich. Nun, willst du jetzt nicht trinken?“ „Nein.“ „Aber wie verhältst du dich zu einem kleinen Imbiß?“ „Nein, Freund, entschuldige, aber ...“ „Na, dann pack dich zum Teufel, es ist auch schon zehn Minuten vor neun, – damit ist es Zeit für dich.“ „Wie? was? Jetzt hat er sich angetrunken und da jagt er selbst den Gast fort! So ist er ja immer! Ach, du Unverschämter!“ rief Alexandra Ssemjonowna ganz erschrocken aus; sie war fast dem Weinen nahe. „Alexandra Ssemjonowna, laß ihn nur, er hat es eilig, und wir, meine Liebe, wir werden allein zurückbleiben und uns gegenseitig vergöttern. Er aber, weißt du, ist ein ganzer General! Nein, verzeih, Wanjä, du bist kein General, ich aber – ich, siehst du, ich bin – ein Schuft! Sieh mal, wie sehe ich jetzt aus? Als was stehe ich vor dir da? Vergib, Wanjä, verurteile mich nicht, laß mich mein Herz ausschütten ...“ Er umarmte mich und Tränen traten ihm in die Augen. Ich begann, mich zu verabschieden. „Ach, mein Gott, und er geht auch wirklich! Und bei uns ist schon der ganze Abendbrottisch gedeckt!“ klagte Alexandra Ssemjonowna tief betrübt. „Aber Freitag werden Sie doch zu uns kommen?“ „Unfehlbar, Alexandra Ssemjonowna, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“ „Vielleicht schämen Sie sich, mit uns zu verkehren, weil ... Sie sehen doch, wie er jetzt ist – ganz betrunken! Aber er ist ein guter Mensch, Iwan Petrowitsch, ein sehr guter Mensch, und wie gern er Sie hat! Tag und Nacht erzählt er mir jetzt nur noch von Ihnen, hat mir sogar Ihre Bücher gekauft, nur habe ich sie noch nicht gelesen – die Zeit vergeht so schnell! – aber morgen werde ich bestimmt damit beginnen. Und wie ich mich erst freuen werde, wenn Sie kommen! Ich sehe doch hier so gut wie gar keine Menschen, niemand besucht uns doch! Alles haben wir und dabei sitzen wir tagaus tagein allein zu Haus. Jetzt saß ich da und hörte zu, wie Sie sprachen, und wie war das schön ... Also Freitag dann!“ VII. Ich ging und beeilte mich, schnell nach Hause zu kommen: Masslobojeffs letzte Bemerkung hatte mich stutzig gemacht. Ich muß sagen, daß mir darob die seltsamsten Gedanken durch den Kopf fuhren ... Und ich täuschte mich auch nicht. Zu Hause erwartete mich eine Überraschung, die mich wie ein elektrischer Schlag erschütterte. Vor dem Tor des Hauses, in dem ich wohnte, stand eine Straßenlaterne. Ich war gerade im Begriff, einzutreten, als sich plötzlich vom Laternenpfosten eine seltsame Gestalt löste und auf mich zustürzte, so daß ich vor Schreck sogar aufschrie, als ich so plötzlich dieses zitternde, entsetzte, halb wahnsinnige Wesen erblickte, das sich im Augenblick wie verzweifelt an meine Arme klammerte. Es war Nelly. „Nelly! Was fehlt dir!“ rief ich, „was tust du hier?“ „Dort oben ... sitzt er ... bei uns!“ „Wer? Wer sitzt dort? ... Gehen wir, komm mit mir hinauf.“ „Ich will nicht, ich will nicht! Ich werde warten, bis er fortgegangen ist ... hier im Flur ... ich will nicht!“ Mit einem seltsamen Vorgefühl stieg ich die Treppen hinauf: ich öffnete die Tür und erblickte den Fürsten. Er saß am Tisch und las einen Roman. Wenigstens lag das Buch aufgeschlagen vor ihm. „Iwan Petrowitsch! Da sind Sie ja!“ rief er erfreut aus. „Es freut mich, daß Sie endlich zurückgekehrt sind. Ich wollte soeben wieder gehen. Habe über eine Stunde auf Sie gewartet. Ich mußte heute der Gräfin auf ihre dringende Bitte versprechen, daß ich nicht ohne Sie bei ihr erscheinen würde. Sie hat mich so sehr darum gebeten, denn sie will Sie unbedingt kennen lernen. Und da ich bereits Ihr Versprechen hatte, beschloß ich, persönlich bei Ihnen vorzusprechen, und zwar etwas früher, um Sie noch zu Hause anzutreffen und Ihnen die Einladung der Gräfin übermitteln zu können. Denken Sie sich meine Enttäuschung, als ich hier eintrat und Ihre Aufwärterin mir nur sagen konnte, daß Sie ausgegangen seien. Was sollte ich tun! Hatte ich mich doch ehrenwörtlich verpflichtet, nicht ohne Sie bei der Gräfin zu erscheinen! So setzte ich mich denn, um etwa eine Viertelstunde auf Sie zu warten. Und nun sehen Sie, was aus der Viertelstunde geworden ist! Ich schlug Ihren Roman auf und vertiefte mich in ihn. Iwan Petrowitsch! Das ist ja doch vollendet! Ich kann nur sagen, daß man Sie dann überhaupt nicht versteht! Sie haben mich ja fast zu Tränen gerührt, ich weinte geradezu, und das pflegt bei mir nicht oft zu geschehen ...“ „So wünschen Sie, daß ich mit Ihnen zur Gräfin fahre? Offen gestanden, ich habe jetzt ... wenn ich auch durchaus nicht abgeneigt bin ...“ „O, um Himmels willen, Sie müssen unbedingt! Bedenken Sie nur, was Sie mir antun? Ich habe mich doch ehrenwörtlich verpflichtet und hier habe ich anderthalb Stunden auf Sie gewartet! Zudem muß ich notwendig mit Ihnen reden, – Sie können sich wohl denken, worüber. Sie sind in alle diese Verhältnisse bedeutend besser eingeweiht als ich ... Wir könnten vielleicht etwas Entscheidendes beschließen ... Nein, Sie dürfen die Aufforderung nicht zurückweisen!“ Ich sagte mir, daß ich doch sowieso einmal würde hinfahren müssen. Zwar wußte ich, daß Natascha allein war und mich erwartete, aber andererseits hatte sie mich doch ausdrücklich gebeten, so bald als möglich Katjäs Bekanntschaft zu machen. Außerdem war es nicht ausgeschlossen, daß ich Aljoscha dort antraf ... Und da ich wußte, daß Natascha sich nicht eher beruhigen würde, als bis ich ihr Nachricht von Katjä brachte, entschloß ich mich, die Aufforderung des Fürsten anzunehmen. Doch mich beunruhigte noch Nelly. „Einen Augenblick,“ sagte ich zum Fürsten und trat auf die Treppe hinaus. Nelly stand nicht weit von meiner Zimmertür in einem dunklen Winkel des Flurs. „Warum kommst du nicht ins Zimmer, Nelly? Was hat er dir getan? ... Was hat er dir denn gesagt?“ „Nichts. – Ich will nicht, ich will nicht ... ich fürchte mich ...“ Ich versuchte sie zu bereden, doch vergeblich. So sagte ich ihr denn, daß sie, sobald ich mit dem Fürsten aus dem Zimmer trete, schnell durch die Tür schlüpfen und sie von innen verriegeln sollte. „Und daß du nicht aufmachst, wenn jemand an die Tür klopft, hörst du, Nelly? Und wenn man dich auch noch so bittet.“ „Und Sie gehen mit ihm fort?“ „Ja, ich gehe mit ihm fort.“ Sie erzitterte und ergriff meine Hand, als wolle sie mich anflehen, nicht mit dem Fürsten fortzugehen, doch sagte sie kein Wort. Ich nahm mir vor, sie am nächsten Tage nach dem Grunde ihres seltsamen Benehmens zu fragen. Ich machte darauf beim Fürsten meine Entschuldigung und begann mich anzukleiden. Er versicherte zwar, daß ich mich zu einem Besuch bei der Gräfin durchaus nicht umzukleiden brauche, meinte aber schließlich, nach einem peinlich prüfenden Blick auf mein Äußeres, daß es ja freilich immer besser sei, gewisse gesellschaftliche Vorurteile nicht ganz außer acht zu lassen. „... Denn den Äußerlichkeiten wird in unseren Kreisen oft genug eine viel zu große Bedeutung beigemessen. Das ist nun leider einmal so,“ schloß er, offenbar angenehm berührt, als er sah, daß ich einen Frack besaß. Wir traten hinaus. Auf der Treppe bat ich ihn aber, noch einen Augenblick zu warten: ich kehrte ins Zimmer zurück, um mich nochmals von Nelly, die inzwischen schon hineingeschlüpft war, zu verabschieden. Sie zitterte vor Aufregung und ihr Gesicht war bläulich weiß, sodaß ich förmlich erschrak; es fiel mir schwer, sie so allein zurückzulassen. „Eine sonderbare Aufwärterin haben Sie, das muß ich sagen,“ wandte sich der Fürst auf der Treppe an mich, während wir hinabstiegen. „Dieses kleine Mädchen ist doch Ihre Aufwärterin?“ „Nein ... sie ist nur so ... sie lebt vorläufig bei mir.“ „Ja, sie ist sehr sonderbar. Ich glaube sogar, daß sie geistig nicht ganz normal ist. Stellen Sie sich vor: nachdem sie mir zuerst ganz bescheiden auf meine Fragen geantwortet, schreit sie plötzlich, wie sie mich genauer ansieht, laut auf, erzittert am ganzen Körper, krallt sich an meinen Überzieher, will etwas sagen – kann aber vor Erregung keinen Laut hervorbringen. Ich muß gestehen, daß mir sogar angst und bange wurde und ich mich bereits in Sicherheit bringen wollte, doch zum Glück lief sie selbst von mir fort. Ich war nicht wenig verwundert. Wie haben Sie sich nur mit ihr einleben können?“ „Sie hat epileptische Anfälle,“ sagte ich. „Ah, also das ist es! Nun, dann wundert es mich weiter nicht ... wenn sie überhaupt unnormal ist ...“ Da kam mir auf einmal der Gedanke, daß Masslobojeffs letzter Besuch bei mir während meiner Abwesenheit (obschon er genau gewußt hatte, daß ich nicht zu Hause sein konnte!), daß mein Besuch bei Masslobojeff vor wenigen Stunden, daß Masslobojeffs trunkene und trotz der Betrunkenheit ungern erzählte Geschichten, ferner seine Aufforderung, heute um sieben Uhr bei ihm zu sein, sowie die Ratschläge, ihn nicht für einen Schuft zu halten, und endlich dieser Besuch des Fürsten, der vielleicht darüber unterrichtet war, daß ich mich bei Masslobojeff befand – kurz: daß alle diese seltsamen Geschehnisse irgendwie miteinander in Zusammenhang standen. Was war da natürlicher, als daß ich nachdenklich wurde? Vor der Haustür erwartete uns das Gefährt des Fürsten. VIII. Bis zur Gräfin war es nicht sehr weit: sie wohnte in der Nähe der Handelsbrücke. Eine Weile schwiegen wir. Ich dachte die ganze Zeit: wovon wird er mit mir zu reden beginnen? Es schien mir, daß er mich prüfen, sondieren und ausforschen wolle. Doch zu meiner Überraschung begann er ohne alle Umschweife sogleich von der Sache selbst. „Ich mache mir jetzt in einer Angelegenheit große Sorgen, Iwan Petrowitsch,“ hub er an, „da will ich Sie nun um Ihren Rat bitten und überhaupt Ihre Meinung hören. Ich habe nämlich schon längst beschlossen, das von mir im Prozeß gewonnene Geld Herrn Ichmenjeff abzutreten. Wie soll ich das nun machen?“ Es kann doch nicht sein, dachte ich, daß er nicht weiß, wie er es machen soll! Oder sollte er sich nur über mich lustig machen wollen? „Das weiß ich nicht, Fürst,“ versetzte ich möglichst unbefangen. „In jeder anderen Frage, das heißt, namentlich was Natalja Nikolajewna betrifft, bin ich bereit, Ihnen die für Sie und uns alle notwendigen Erklärungen abzugeben, doch in dieser Angelegenheit wissen Sie natürlich besser Bescheid als ich.“ „Nein, nein, wieso, ganz im Gegenteil! Sie sind mit der ganzen Familie gut bekannt und vielleicht hat Ihnen sogar Natalja Nikolajewna ihre diesbezüglichen Gedanken mitgeteilt. Das aber wäre für mich eine sehr erwünschte Richtschnur. Sie könnten mir viel helfen, denn die Sache ist verzwickter, als man glaubt. Ich bin bereit, ihm das Geld zu überlassen, und ich werde es auch unfehlbar tun, gleichviel wie die anderen Dinge sich gestalten sollten. Doch wie, in welcher Form wäre diese Abtretung des Geldes am richtigsten – das ist die Frage. Sie verstehen mich doch? Nun, sehen Sie: der Alte ist doch sehr stolz und sehr eigensinnig, da könnte er mir ja noch zum Dank für meine Gutmütigkeit das Geld ins Gesicht werfen ...“ „Erlauben Sie: als was betrachten Sie dieses Geld, wenn ich fragen darf? Als sein oder als Ihr Eigentum?“ „Den Prozeß habe ich gewonnen, folglich als mein Eigentum.“ „Nun wohl, aber vor Ihrem Gewissen?“ „Selbstverständlich als _mein_ Eigentum,“ versetzte er, ein wenig pikiert durch meine unhöfliche Frage. „Übrigens scheinen Sie über den Sachverhalt nicht ganz unterrichtet zu sein. Ich habe den Alten durchaus nicht eines bewußten, vorgefaßten Betruges beschuldigt, und ich gestehe Ihnen, daß ich ihn zu einer solchen Tat nie für fähig gehalten hätte. Es war sein eigener freier Wille, sich in seiner Ehre verletzt zu fühlen. Seine Schuld besteht nur in seiner Unachtsamkeit, in seiner sorglosen Verwaltung des ihm anvertrauten Vermögens. Unserer alten Abmachung gemäß aber hat er seine Handlungsweise zu verantworten. Sie wissen auch, daß es sich im Grunde gar nicht darum handelt, sondern einfach nur um unseren Streit, den wir damals hatten, um die gegenseitigen Kränkungen, – mit einem Wort: um unsere verletzte Eigenliebe. Ich hätte unter anderen Umständen vielleicht überhaupt nicht an diese lumpigen zehntausend Rubel gedacht. Doch es dürfte Ihnen wohl nicht unbekannt sein, weshalb dann dieser ganze Prozeß begann. Ich gebe gern zu, daß ich vielleicht zu argwöhnisch, daß ich sogar im Unrecht war – das heißt: nur damals! – doch der Ärger über seine Grobheiten verwirrte mich, und da wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Das wird Ihnen vielleicht nicht gerade edel erscheinen, aber ich will mich ja auch gar nicht rechtfertigen. Ich meine nur, daß eine Handlungsweise, die Ärger und hauptsächlich gereizte Eigenliebe diktiert haben, noch nicht als ausschlaggebender Beweis für absoluten Mangel an Ehrgefühl angesehen werden kann. Vielmehr ist sie etwas ganz Natürliches, menschlich Verständliches. Und ich sage Ihnen nochmals, daß ich den alten Ichmenjeff damals so gut wie gar nicht kannte und nur all diesen Gerüchten über Aljoscha und seine Tochter Glauben schenkte, folglich aber konnte ich auch an eine beabsichtigte Entwendung des Geldes glauben ... Doch das ist ja Nebensache. Die Hauptsache ist, was ich jetzt tun soll. Verzichte ich auf das Geld, während ich mich doch gleichzeitig durchaus im Recht fühle, so heißt das, daß ich es ihm schenke. Und wenn man nun das etwas gespannte Verhältnis in Betracht zieht, in das uns Natalja Nikolajewna ... Er wird mir zweifellos das Geld vor die Füße werfen ...“ „Nun, sehen Sie, Sie sagen doch selbst: er würde es Ihnen vor die Füße werfen. Folglich halten Sie ihn doch für einen ehrlichen Menschen und daher können Sie auch überzeugt sein, daß er Ihr Geld nicht gestohlen hat. Wenn es sich aber so verhält, weshalb sollten Sie dann nicht ohne Umschweife erklären, daß Sie sich im Unrecht fühlen? Jedenfalls wäre das anständig gehandelt, und Ichmenjeff würde sich dann vielleicht auch nicht weigern, _sein_ Geld zu empfangen.“ „Hm! ... _sein_ Geld; das ist es ja eben. Bedenken Sie doch, was Sie von mir verlangen! Ich soll zu ihm gehen und sagen, daß meine Klage ungerecht war. Ja, weshalb habe ich dann überhaupt geklagt, wenn ich selbst zugebe, daß mir kein Unrecht geschehen sei? – Das kann mich dann doch ein jeder fragen. Das aber habe ich nicht verdient, denn meine Klage war durchaus gerechtfertigt; ich habe weder gesagt noch geschrieben, daß er mich bestohlen habe, doch von seiner Unfähigkeit, seinem Leichtsinn in Geschäftssachen bin ich auch jetzt noch überzeugt. Dieses Geld gehört ganz positiv mir, und deshalb empfände ich es als nicht ganz angenehm, mich selbst zu verleumden ... und schließlich – ich wiederhole es – hat doch der Alte aus freien Stücken sich in seiner Ehre verletzt gefühlt, und da wollen Sie nun, daß ich ihn wegen dieser Kränkung um Verzeihung bitte, – das fällt mir doch etwas schwer ...“ „Ich glaube, daß, wenn zwei Menschen sich versöhnen wollen ...“ „Daß es dann sehr leicht getan ist?“ „Ja.“ „Nein, mitunter ist es auch nichts weniger als leicht, um so weniger, wenn ...“ „Ich verstehe: wenn es noch andere Umstände gibt, die zu berücksichtigen sind. Darin stimme ich mit Ihnen allerdings vollkommen überein, Fürst. Die Angelegenheit Natalja Nikolajewna und Ihres Sohnes muß vorher in all jenen Punkten, in denen Sie zu entscheiden haben, in einer Ichmenjeffs zufriedenstellenden Weise entschieden sein. Nur dann werden Sie sich mit Ichmenjeff ganz aufrichtig über den Prozeß aussprechen können. So aber, wie die Dinge jetzt liegen, bleibt Ihnen nur eine Möglichkeit: die Unrechtmäßigkeit Ihrer Klage einzugestehen, und zwar ganz offen, ja, falls nötig, sogar öffentlich. Das wäre meiner Ansicht nach das einzig Richtige. Damit habe ich Ihnen meine Meinung gesagt, denn diese wünschten Sie doch zu hören, und wahrscheinlich haben Sie auch nicht gewünscht, daß ich mich vor Ihnen verstelle. Deshalb werden Sie mir wohl auch folgende Frage gestatten: warum beunruhigt Sie dieses Geld so sehr? Wenn Sie sich im Recht glauben und dieses Geld als Ihr Eigentum betrachten, wie kommen Sie darauf, es ihm zurückgeben zu wollen? Verzeihen Sie meine Frage, aber das eine ist mit dem anderen so eng verbunden ...“ „Was meinen Sie,“ unterbrach er mich plötzlich, als habe er meine Frage ganz überhört, „sind Sie überzeugt, daß der alte Ichmenjeff die zehntausend Rubel zurückweisen wird, auch wenn man sie ihm ohne alle Erklärungen und ... und ... Milderungen anbieten sollte?“ „Selbstverständlich wird er sie zurückweisen!“ Wie unter einem physisch empfundenen Schlage zuckte ich zusammen und das Blut stieg mir ins Gesicht. Diese schamlos skeptische Frage machte auf mich einen Eindruck, als habe der Fürst mir ins Gesicht gespien. Und zu dieser Beleidigung kam noch etwas anderes hinzu: das war die verletzend nonchalante Art und Weise, in der er meine Frage vollkommen überging, als habe er sie überhaupt nicht gehört. Offenbar wollte er mir damit zu verstehen geben, daß ich mich gar zu sehr hatte hinreißen lassen, daß ich zu familiär geworden war, indem ich es wagte, solche Fragen an ihn zu richten. Ich haßte aber nichts so sehr, wie dieses in der höheren Gesellschaft übliche Verfahren und hatte mir schon früher Mühe gegeben, Aljoscha diese Angewohnheit abzugewöhnen. „Hm! ... Sie sind noch sehr ... temperamentvoll, doch werden im alltäglichen Leben gewisse Dinge nicht so behandelt, wie Sie es sich augenscheinlich denken,“ bemerkte er gleichmütig nach meinem erregten Ausruf. „Übrigens fällt mir soeben ein, daß darüber zum Teil Natalja Nikolajewna entscheiden könnte. Vielleicht sagen Sie ihr das. Sie könnte uns jedenfalls raten ...“ „Das wird ihr nicht einfallen,“ versetzte ich in sehr unhöflichem Tone. „Sie haben nicht geruht, anzuhören, was ich Ihnen vorhin sagte; Sie unterbrachen mich. Natalja Nikolajewna wird einsehen, daß Sie, wenn Sie das Geld unaufrichtig, nicht von Herzen ihrem Vater abtreten und ohne alle diese ‚Milderungen‘, wie Sie sich auszudrücken beliebten, daß Sie dann mit diesem Gelde dem Vater für die Tochter und ihr für Aljoscha eine Entschädigung zahlen wollen, damit sie zurücktrete ...“ „Hm! ... also so haben Sie mich verstanden, mein bester Iwan Petrowitsch!“ – Der Fürst lachte. Worüber lachte er? – „Indes ...“ fuhr er fort, „wir haben noch so vieles zu besprechen, nur haben wir jetzt leider keine Zeit dazu. Ich bitte Sie nur, sich eines zu merken: es handelt sich hier direkt um Natalja Nikolajewna und ihre ganze Zukunft, und alles das hängt teilweise davon ab, zu welch einem Entschluß wir kommen werden. Sie sind hierin unentbehrlich, – das werden Sie nachher einsehen. Und deshalb werden Sie mir, wenn Sie Natalja Nikolajewnas Freund sind, nicht eine Unterredung abschlagen, wie wenig Sie auch mit mir sympathisieren sollten. Da sind wir schon angelangt ... ^à bientôt^.“ IX. Die Gräfin lebte in einer sehr schönen Wohnung. Die Raume waren alle gut und geschmackvoll eingerichtet, wenn auch nicht gerade luxuriös. Doch ungeachtet des zweifellosen Geschmacks, verriet alles, daß es nur für einen zeitweiligen Aufenthalt zusammengetragen war. Es war das eben nur eine für kurze Zeit gemietete Wohnung, denn es fehlte hier ganz jener Prunk einer alteingesessenen Familie, deren Heim stets den Stempel der Herrschaft trägt und sogar alle jeweiligen Launen der Einwohner widerspiegelt. Es hieß, daß die Gräfin für den Sommer auf ihr im Gouvernement Ssimbirsk gelegenes Gut – das über und über verschuldet und verpfändet war – reisen und der Fürst sie dorthin begleiten würde. Ich hatte darüber, seit ich es gehört, oft genug mit Sorgen nachgedacht und mich gefragt: was wird Aljoscha tun, wenn Katjä mit der Gräfin verreist? Mit Natascha hatte ich noch nicht darüber gesprochen, ich fürchtete mich davor; doch glaubte ich, aus einigen Anzeichen zu ersehen, daß auch sie, wie es schien, von diesem Gerücht gehört haben mußte. Sie schwieg darüber und litt allein. Die Gräfin empfing mich sehr liebenswürdig, reichte mir mit einem Lächeln die Hand und bestätigte, was der Fürst mir gesagt hatte: daß sie mich schon lange bei sich zu sehen gewünscht habe. Sie bereitete selbst den Tee, während wir uns im Kreise um den schönen silbernen Samowar setzten, der Fürst, ich und noch irgend ein äußerst vornehm dreinschauender Herr mit einem Orden auf dem Frack, steifen Bewegungen und einer viel- oder nichtssagenden Diplomatenmiene – je nachdem. Dieser Gast wurde offenbar sehr geachtet. Die Gräfin hatte nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande noch keinen größeren gesellschaftlichen Verkehr finden können, wie sie es sich gewünscht. Außer diesem Gast und mir kam niemand mehr. Ich suchte mit den Augen Katherina Fedorowna: sie saß mit Aljoscha im Nebenzimmer, als sie von unserem Erscheinen erfuhr, stand sie sogleich auf und kam zu uns. Der Fürst küßte ihr liebenswürdig die Hand und die Gräfin wies lächelnd auf mich. Da stellte mich der Fürst vor. Ich kann nicht leugnen, daß ich sie mit großer Neugier betrachtete. Sie trug ein weißes Kleid und war zart und blond, und von nur mittelgroßem Wuchs. Ihr Gesicht hatte einen stillen, ruhigen Ausdruck, und ihre Augen waren „vollkommen blau“, wie Aljoscha sich einmal ausgedrückt hatte. Alles in allem war es nur die Anmut der Jugend, die sie verschönte, nichts weiter. Ich hatte erwartet, eine vollendete Schönheit zu erblicken, doch konnte man sie nicht gerade schön nennen. Sie hatte ein zartes Gesicht, ziemlich regelmäßige Züge, allerdings sehr schönes Haar, das sie aber ganz schlicht trug, und dazu einen ruhigen, aufmerksamen Blick. Bei einer Begegnung auf der Straße wäre ich an ihr vorübergegangen, ohne sie besonders zu beachten, dachte ich; doch das schien mir nur so im ersten Augenblick, denn noch im Laufe dieses Abends hatte ich Zeit und Gelegenheit, sie genauer zu betrachten, und da änderte sich meine Meinung ganz. Allein schon, wie sie mir die Hand reichte und mit angespanntem Blick mir unverwandt in die Augen schaute, ohne dabei ein Wort zu sagen, fiel mir als etwas Seltsames auf und ich lächelte ihr unwillkürlich zu. Wahrscheinlich empfand ich halb unbewußt die kindliche Reinheit ihres ganzen Wesens. Die Gräfin beobachtete sie aufmerksam. Katjä wandte sich, nachdem sie mir die Hand gereicht, mit fast auffallender Plötzlichkeit wieder von mir fort und setzte sich mit Aljoscha am anderen Ende des Zimmers in eine gemütliche Ecke. Bei der Begrüßung hatte mir Aljoscha unbemerkt zugeflüstert: „Ich bleibe nur noch einen Augenblick hier, dann fahre ich wieder hin – zu ihr.“ Der „Diplomat“ – da ich seinen Familiennamen nicht kenne, nenne ich ihn den „Diplomaten“ – sprach ruhig und erhaben und verfocht irgend eine seiner Theorien. Die Gräfin hörte ihm aufmerksam zu, der Fürst lächelte zustimmend und der Redner wandte sich oft an ihn speziell, da er augenscheinlich glaubte, in ihm einen würdigen Zuhörer zu haben. Mir wurde Tee gereicht und dann ließ man mich vollkommen in Ruh, womit ich sehr zufrieden war, denn so konnte ich die Gräfin ungestört beobachten. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, warum sie mir im ersten Augenblick so gefiel, ja, fast sogar gegen meinen Willen gefiel. Vielleicht war sie nicht mehr jung, doch mir schien es, daß sie nicht über achtundzwanzig Jahre alt sein könne. Sie hatte noch so frische Farben und man sah es ihr an, daß sie in der Jugend sehr hübsch gewesen sein mußte. Ihr dunkelblondes reiches Haar stand ihr sehr gut; ihr Blick, der etwas unendlich Gutmütiges hatte, verriet aber gleichzeitig Flatterhaftigkeit, Leichtsinn, Spottlust und Schelmerei. Doch während der Rede des „Diplomaten“ gab sie sich ersichtlich Mühe, ernst und aufmerksam zu sein. Übrigens verriet ihr Blick auch Klugheit, aber am meisten sprachen aus ihm doch Gutmütigkeit und ein heiteres Gemüt. Es schien mir, daß ihre vorherrschende Eigenschaft ein gewisser Leichtsinn sei; eine gewisse Vergnügungssucht und ein gewisser gutmütiger Egoismus, der vielleicht sogar sehr groß war. Jedenfalls aber stand sie, wie ich auch schon gehört hatte, ganz unter der Vormundschaft des Fürsten, der gewiß einen großen Einfluß auf sie ausübte. Ich wußte, daß sie ein Verhältnis hatten, auch hatte ich gehört, daß er während ihres Aufenthaltes im Auslande ein auffallend wenig eifersüchtiger Liebhaber gewesen sei; mir aber schien es – und es scheint mir auch jetzt noch so – daß außer dem früheren Verhältnis sie beide noch etwas anderes verband, etwas zum Teil Geheimnisvolles, etwas in der Art einer gemeinsamen oder gegenseitigen Verpflichtung, die vielleicht in einer gewissen Berechnung beruhte ... Kurz, etwas Ähnliches mußte es jedenfalls sein. Auch wußte ich, daß sie dem Fürsten im Augenblick sehr lästig war, trotzdem aber bestand ihr Verhältnis noch fort. Es ist möglich, daß es gerade ihre Absichten bezüglich Katjä waren, die sie noch verbanden. Selbstverständlich rührten alle diese Pläne vom Fürsten her und nur auf Grund derselben hatte er der Gräfin den Gedanken an eine Heirat – sie soll in der Tat verlangt haben, daß er sie heirate – auszureden und sie sogar für seinen Plan, Aljoscha mit ihrer Stieftochter zu verheiraten, zu gewinnen vermocht.[5] Wenigstens glaubte ich das aus Aljoschas gelegentlichen Erzählungen zu erraten, denn schließlich war Aljoscha doch nicht völlig blind. Auch schien es mir nicht zum wenigsten nach dem, was ich von Aljoscha gehört – daß der Fürst einen bestimmten Grund haben mußte, die Gräfin zu fürchten, obschon er sie vollkommen beherrschte. Das hatte auch sogar Aljoscha bemerkt. Nachher erfuhr ich, daß der Fürst die Gräfin sehr gern mit jemandem verheiratet hätte und sie hauptsächlich deshalb beredet hatte, auf ihr Gut im Gouvernement Ssimbirsk zu reisen, in der Hoffnung, dort in der Provinz einen passenden Gatten für sie zu finden. Ich saß und hörte zu, dachte aber eigentlich nur daran, wie ich es anstellen sollte, mit Katherina Fedorowna unter vier Augen zu sprechen. Der „Diplomat“ antwortete ausführlich auf eine Frage der Gräfin nach dem Stand der projektierten Reformen und ob sie denn auch wünschenswert seien. Er sprach viel und lange, ruhig und wie ein Mensch, der sich seiner Macht bewußt ist. Seinen Gedanken entwickelte er sehr klug und gut, doch war der Gedanke an sich widerlich. Mit besonderem Nachdruck hob er hervor, daß dieser ganze „Geist der Reformen und Veränderungen“ nur zu bald gewisse unerwünschte Früchte zeitigen werde, daß man dann angesichts der Früchte – freilich spät genug – wieder zur Vernunft kommen werde und die Gesellschaft – darunter verstand er wohl nur eine Kaste – sich nicht nur von den neuen Reformideen abwenden, sondern, nachdem sie deren Absurdität eingesehen, sich mit doppelter Energie der Erhaltung des Alten zuwenden werde. Ferner, meinte er, daß das allerdings traurige Experiment nur Vorteil bringen könne, denn es werde lehren, wie man dieses allein seligmachende Alte am besten aufrecht erhalten könne, kurzum, es werde neue Aufschlüsse bringen; folglich aber sei es sogar wünschenswert, daß man jetzt möglichst bald bis zur größten Unvorsichtigkeit vorgehe. „Ohne _uns_ kann nichts bestehen,“ schloß er selbstbewußt, „ohne uns hat sich bisher noch keine Gesellschaft gehalten. Verlieren können wir nichts, im Gegenteil, wir können nur gewinnen, deshalb müßte unsere Devise im gegenwärtigen Augenblick sein: ^pire ça va, mieux ça est^!“ Der Fürst lächelte ihm wie in vollster Übereinstimmung zu, was mich geradezu ekelhaft berührte, während der Redner vollkommen mit sich zufrieden war. Ich war so dumm, daß ich ihm scharf widersprechen wollte, das Blut kochte in mir. Doch ein giftig spöttischer Blick des Fürsten hielt mich noch rechtzeitig davon ab: Dieser Blick glitt eigentlich nur ganz flüchtig über mich hinweg, doch mir schien es, daß der Fürst gerade irgend so einen jugendlich unüberlegten Ausfall meinerseits erwartete; ja, vielleicht wünschte er ihn geradezu, um sich daran zu ergötzen, wie ich mich kompromittieren würde. Außerdem war ich fest überzeugt, daß der „Diplomat“ meine Entgegnung unfehlbar ganz übersehen würde und vielleicht sogar noch mich dazu. Es ekelte mich geradezu, bei ihnen sitzen zu müssen. Da erlöste mich Aljoscha. Er trat ganz leise an meinen Stuhl und berührte mich an der Schulter. „Nur auf zwei Worte,“ raunte er mir zu. Ich erriet sofort, daß Katjä ihn geschickt hatte. So war es auch. Nach wenigen Sekunden saß ich ihr gegenüber. Zuerst betrachtete sie mich nur sehr aufmerksam, als dächte sie bei sich: „Also so siehst du aus!“ und im ersten Augenblick fanden wir beide nicht das richtige Wort, um ein Gespräch anzuknüpfen. Nichtsdestoweniger war ich überzeugt, daß sie nur anzufangen brauchte, um dann womöglich bis zum Morgen sprechen zu können. Aljoschas einmal gemachte Bemerkung, daß er sich „_nur_ einige fünf bis sechs Stunden“ mit ihr habe unterhalten können, kam mir in den Sinn und ich lächelte im geheimen. Aljoscha saß bei uns und erwartete mit Ungeduld, wie und wovon wir sprechen würden. „Weshalb redet ihr denn nicht?“ fragte er schließlich und er sah uns mit einem Lächeln an. „Da sitzt ihr nun beisammen und schweigt.“ „Ach, Aljoscha, wie du bist! ... Wir werden bald genug sprechen,“ sagte Katjä. „Wir haben über so vieles zu reden, Iwan Petrowitsch, daß ich gar nicht weiß, womit ich anfangen soll. Wir sind sehr spät miteinander bekannt geworden ... aber ich kenne Sie ja schon längst. Und wie gern ich Sie sehen wollte! Ich dachte sogar daran, einen Brief an Sie zu schreiben ...“ „Weshalb das?“ fragte ich, unwillkürlich lächelnd. „Als ob kein Grund vorhanden wäre,“ meinte sie ernst. „Nun, zum Beispiel, wenn auch nur, um zu erfahren, ob es wahr ist, was er von Natalja Nikolajewna sagt: daß sie sich nicht gekränkt fühle, wenn er sie allein läßt. Nun, sagen Sie doch, kann man überhaupt so handeln wie er? Nun, weshalb sitzt du jetzt hier, sage mir das doch gefälligst?“ „Ach, mein Gott, ich werde doch sofort hinfahren! Ich habe doch schon gesagt, daß ich nur noch einen Augenblick hier bleiben werde, nur um noch zu sehen, was ihr beide tut, und dann fahre ich sogleich zu ihr.“ „Ja, was tun wir denn beide? – nun, wir sitzen hier, – hast du es jetzt gesehen? Und so ist er immer!“ wandte sie sich an mich, mit dem Finger auf ihn weisend, während sie langsam errötete: „‚Nur einen Augenblick, nur einen Augenblick,‘ sagte er, und eh man sich verseht ist es wieder Mitternacht und dann ist es zu spät. ‚Sie wird mir nicht böse sein, sie ist so gut,‘ sagt er, und das ist alles, was er denkt! Was meinst du, ist das schön von dir, ist das hübsch?“ „Ja, aber ich werde ja sogleich hinfahren,“ sagte er ganz kläglich, „ich wollte nur so gern noch etwas bei euch bleiben ...“ „Was hast du denn von uns? Wir aber haben sehr vieles unter vier Augen zu beraten. Aber höre, du, sei deshalb nicht böse, das ist nämlich etwas sehr Notwendiges, – du verstehst doch?“ „Wenn es etwas Notwendiges ist, werde ich sogleich ... weshalb sollte ich da böse sein? Ich will nur noch auf einen Augenblick zu Ljowinka und dann – schnell zu ihr. Nur eines noch, Iwan Petrowitsch,“ fuhr er geschäftig fort, indem er sich bereits erhob, „Sie wissen doch, daß mein Vater auf das Geld, das er im Prozeß von Ichmenjeff gewonnen hat, formell verzichten will?“ „Ja, ich weiß es. Er hat es mir gesagt.“ „Ist das nicht edel von ihm gehandelt? Was? Katjä will natürlich nicht glauben, daß es edel von ihm sei. Sprechen Sie mit ihr darüber. Auf Wiedersehen, Katjä, und, bitte, zweifle nicht daran, daß ich Natascha liebe. Überhaupt verstehe ich nicht, weshalb ihr mir alle diese Bedingungen aufladet, mir beständig Vorwürfe macht, mich beobachtet – ganz als stände ich unter eurer Aufsicht! Sie weiß es, daß ich sie liebe und sie glaubt an mich, und ich glaube ihr, daß sie an mich glaubt. Ich liebe sie so wie sie ist, ohne alle Verpflichtungen ... ich weiß nicht, wie ich sie liebe. Ich liebe sie eben einfach! Und deshalb braucht mich auch niemand ins Verhör zu nehmen wie einen Schuldigen. So frage doch Iwan Petrowitsch, – jetzt ist er hier und kann er es dir bestätigen, daß Natascha eifersüchtig ist, und wenn sie mich auch sehr lieb hat, so liegt doch in ihrer Liebe viel Egoismus, denn sie will mir doch nichts opfern.“ „Wie das?“ fragte ich verwundert – ich traute meinen Ohren nicht. „Was fällt dir ein, Aljoscha!“ fuhr Katjä ganz entsetzt auf. „Nun, ja; was ist denn dabei so Wunderliches? Iwan Petrowitsch weiß es ganz gut. Sie verlangt immer, daß ich bei ihr sei. Oder wenn sie es auch nicht gerade verlangt, so sieht man doch, daß sie es gern haben möchte.“ „Und du schämst dich nicht, du schämst dich nicht!“ rief Katjä ganz rot vor Empörung aus. „Weshalb soll ich mich denn schämen? Wie du wieder bist, Katjä! Ich liebe sie doch mehr als sie glaubt, wenn sie mich aber wirklich liebte, so wie es sich gehört, so wie ich sie liebe, dann würde sie mir sicherlich ihr Vergnügen opfern. Es ist ja wahr, sie schickt mich selbst fort, aber ich sehe es doch an ihrem Gesicht, daß es ihr schwer fällt, folglich ist es für mich ebenso, als würde sie mich nicht fortlassen.“ „Nein, das stammt nicht von ihm!“ wandte sich Katjä wieder an mich und ihre Augen blitzten vor Zorn. „Gestehe Aljoscha, gestehe sofort, daß alles das dein Vater dir gesagt hat? Hat er es dir heute gesagt? Bitte, versuche mich nicht zu täuschen: ich werde ja doch die Wahrheit erfahren! Nun, sprich!“ „Ja, er sagte es mir heute,“ gestand Aljoscha ein wenig verwirrt. „Was ist denn dabei? Er sprach so freundlich mit mir, wirklich, ganz wie zu seinem Freunde, und von ihr sprach er nur Gutes, wirklich, er lobte sie sehr, so daß ich mich sogar wunderte: sie hat ihn doch so beleidigt, er aber lobt sie noch.“ „Und Sie, Sie haben ihm Glauben geschenkt,“ sagte ich, „Sie, dem Natalja Nikolajewna alles hingegeben hat, alles, was sie nur zu vergeben hatte, und deren einzige Sorge ist und heute noch war, daß Sie sich bei ihr vielleicht langweilten, und wie sie es anstellen sollte, daß sie Sie nicht von einem Besuch bei Katherina Fedorowna abhielt. Das hat sie mir heute selbst anvertraut. Und plötzlich glauben Sie diesen falschen Worten! Schämen Sie sich nicht?“ „Du Undankbarer! Aber wie! – er schämt sich ja nie!“ sagte Katjä mit einer wegwerfenden Handbewegung, als sei er in ihren Augen doch ein total verlorener Mensch. „Ja, aber was wollt ihr eigentlich!“ fuhr Aljoscha ganz kläglich fort. „Und immer bist du so, Katjä! Immer vermutest du in mir nur Schlechtes ... Von Iwan Petrowitsch rede ich schon gar nicht! Sie glauben, daß ich Natascha nicht liebe. Ich habe doch nicht in diesem Sinne von ihr gesagt, sie sei eine Egoistin. Ich wollte nur sagen, daß sie mich gar zu sehr liebt, so daß es schon alle Grenzen übersteigt, das aber wird sowohl für mich wie für sie bedrückend. Mein Vater aber wird mich nie betrügen können, selbst wenn er es wollte. Ich bin nicht so dumm. Und er hat auch das, daß sie eine Egoistin sei, durchaus nicht im schlechten Sinne gesagt; ich habe ihn sehr gut verstanden. Er sagte genau so, wie ich es wiederholte: daß sie mich viel zu sehr liebe, mich dermaßen liebe, daß ihre Liebe einfach zum Egoismus wird und sie dadurch mir und sich das Leben schwer macht, und in Zukunft wird sie es mir noch schwerer machen. Nun, das ist doch vollkommen wahr, was er gesagt hat, und er hat es doch nur aus Liebe zu mir gesagt und damit hat er doch von Natascha nichts Schlechtes gesagt; er hat, im Gegenteil, nur die Größe ihrer Liebe hervorgehoben, dieser Liebe ohne jedes Maß, der Liebe bis zur Unmöglichkeit ...“ Doch Katjä ließ ihn nicht zu Ende reden und unterbrach ihn heftig. Sie überschüttete ihn mit Vorwürfen und begann ihm zu beweisen, daß sein Vater nur deshalb Gutes von Natascha gesagt habe, um ihn, Aljoscha, durch diese scheinbare Güte für sich zu gewinnen und ihn dann heimlich und unmerklich gegen Natascha aufzuhetzen und sie so einander zu entfremden. Sie redete sich nach und nach in wahre Leidenschaft hinein und erklärte ihm erstaunlich richtig, wie Natascha ihn geliebt und wie keine Liebe das je verzeihen werde, was er ihr jetzt antue, und daß nicht sie, Natascha, sondern er selbst, Aljoscha, hier der Egoist sei. Aljoscha wurde sehr traurig und machte ein aufrichtig reumütiges Gesicht: ganz niedergeschlagen saß er neben uns, blickte zu Boden, entgegnete kein Wort mehr, und schien, nach seiner Leidensmiene zu urteilen, sich förmlich vernichtet zu fühlen. Doch Katjä sprach schonungslos weiter. Ich beobachtete sie mit lebhaftem Interesse, denn ich wollte diesem seltsamen Mädchen bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Sie war noch ein vollständiges Kind, nur hatte dieses Kind schon manche selbst gewonnene Überzeugung und von sehr vielen Dingen ganz richtige Auffassungen. Und all das bei angeborener Liebe zum Guten und zur Gerechtigkeit. Wenn man sie auch in der Tat noch ein Kind nennen konnte, so gehörte sie doch zu der Kategorie der „nachdenklichen“ Kinder, deren es in unseren Familien eine ziemliche Menge gibt. Wenigstens sah man, daß sie viel und auch selbständig gedacht hatte. Wie sollte es mich da nicht interessieren, in dieses denkende Kindergemüt hineinzuschauen und zu sehen, wie sich dort die kindlichsten Begriffe mit vollkommen ernst durchlebten Eindrücken und Lebensbeobachtungen – Katjä kannte bereits das Leben – und gleichzeitig mit ihr noch ganz unbekannten Ideen vermischten, mit Ideen und Gedanken, die sie nicht selbst entwickelt hatte, sondern die ihr, sagen wir: ganz abstrakt aufgefallen waren. Und solcher gab es in ihr offenbar noch eine ganze Menge, doch wahrscheinlich hielt sie sie alle für ihre eigenen Gedankenprodukte. Ich glaube, daß ich sie an diesem Abend und auch im Laufe unserer späteren Bekanntschaft sehr gut kennen gelernt habe. Sie hatte einen stolzen Charakter, doch ein empfängliches Herz. Mitunter hatte es den Anschein, als verachte sie jede Selbstbeherrschung, indem sie nichts als Wahrheit wollte, und jede Lebensregel nur für vereinbartes Vorurteil hielt; und offenbar war sie stolz auf diese ihre Überzeugungen, was bei vielen stolzen Menschen sogar auch in nichts weniger als in jungen Jahren vorkommen soll. Gerade das aber war es, was ihr einen ganz besonderen Reiz verlieh. Denken und die Wahrheit ergründen, damit beschäftigte sie sich viel, doch war sie darin so wenig pedantisch und außerdem machte sie so viele kindliche Ausfälle, daß man von vornherein ihre Originalität nett fand und sich vollkommen mit ihr aussöhnte. Ich dachte an „Ljowinka“ und „Borinka“ und ich fand alles in der besten Ordnung. Und seltsam: ihr Gesicht, in dem ich auf den ersten Blick nichts besonders Schönes entdeckt hatte, wurde an diesem Abend – wenigstens in meinen Augen – mit jeder Minute schöner und anziehender. Dieses naive Doppelspiel des jungen Kindes und des denkenden Weibes, dieses kindliche und doch im höchsten Grade aufrichtige Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, und der felsenfeste Glaube daran, daß sie in ihren Bestrebungen auf dem richtigen Wege war – alles das belebte ihr Gesicht mit einem ... ich möchte sagen: reflektierenden Licht, das ihre ganze aufrichtige Seele sichtbar werden ließ und diesem Gesicht eine ganz anders geartete, höhere, geistige Schönheit verlieh; und man begriff, daß die Bedeutung dieser Schönheit, die nicht sofort jedem gewöhnlichen, gleichgültigen Blick zugänglich war, sich nicht so schnell ergründen ließ. Und da sagte ich mir, daß Aljoscha bald leidenschaftlich an ihr hängen würde. Wenn er selbst auch nicht zu denken und zu urteilen verstand, so liebte er doch gerade diejenigen, die für ihn dachten und sogar für ihn zu denken wünschten, – Katjä aber hatte ihn schon ganz unter ihre Vormundschaft gestellt. Sie hatte ein offenes, reines Kinderherz, das alles Gute und Schöne begierig aufnahm, und bei ihrer kindlichen Aufrichtigkeit hatte sie ihm natürlich schon ihr ganzes Innenleben erschlossen. Aljoscha besaß keinen Atom von eigenem Willen, sie aber besaß einen sehr ausgeprägten, der sich sogar bis zur Leidenschaft begeistern konnte, und nur an einen solchen Menschen, der ihn zu beherrschen, ihm sogar zu befehlen verstand, konnte sich dieser Junge anschließen. Das hatte ihn in mancher Hinsicht auch an Natascha gefesselt –, doch hatte Katjä in dieser Beziehung viel vor der anderen voraus: sie war selbst noch ein Kind und – wird es noch lange bleiben, dachte ich: Diese ihre Kindlichkeit aber bei all ihrem klaren Verstande, und gleichzeitig ihr Mangel an Urteilskraft – das war es, was sie für Aljoscha passender machte, weshalb er sich auch immer mehr zu ihr hingezogen fühlte. Ich bin überzeugt, daß in ihren Gesprächen, wenn sie unter sich waren, neben Katjäs ernsten Ermahnungen und Zurechtweisungen, auch von Spielsachen die Rede war. Und deshalb mußte es Aljoscha bei Katjä, obschon sie ihm augenscheinlich oft den Kopf wusch und ihn überhaupt sehr im Zaum hielt, doch leichter sein als bei Natascha. Sie paßten besser zueinander und das war die Hauptsache. „Gut, Katjä, schon gut, hör auf; es läuft doch immer darauf hinaus, daß du recht hast und nicht ich. Das kommt daher, daß deine Seele reiner ist als meine,“ sagte Aljoscha, und er erhob sich, um sich zu verabschieden. „Ich werde sogleich zu ihr fahren, zu Ljowinka aber werde ich nicht mehr gehen ...“ „Du hast dort auch nichts zu suchen, bei Ljowinka,“ meinte Katjä, „daß du aber jetzt gehorchst und zu ihr fährst, das ist sehr lieb von dir.“ „Und du bist mir tausendmal lieber als alle anderen,“ sagte der betrübte Aljoscha. „Iwan Petrowitsch, ich muß Ihnen noch zwei Worte sagen.“ Wir traten zur Seite. „Ich habe heute schmählich gehandelt,“ flüsterte er, „es war eine Gemeinheit von mir, ich habe mich an allen versündigt, am meisten aber an ihnen, an Natascha und an ihr. Heute machte mich mein Vater nach dem Essen mit der Alexandrine bekannt – eine Französin, wissen Sie, ein bezauberndes Weib. Ich ... ließ mich hinreißen und ... nun, was soll man da reden, ich bin’s einfach nicht mehr wert, bei ihnen zu sein ... Leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch!“ – „Er ist ein guter, ein ehrlicher Mensch,“ begann Katjä sogleich eilig zu versichern, kaum daß ich mich wieder zu ihr gesetzt hatte, „doch wir werden noch viel zu reden haben, das eilt nicht, jetzt aber zuerst eine Frage: für was halten Sie den Fürsten?“ „Für einen sehr schlechten Menschen.“ „Ich auch. Also stimmen wir darin überein; das wird uns vieles erleichtern. Jetzt lassen Sie uns zuerst über Natalja Nikolajewna reden ... Wissen Sie, Iwan Petrowitsch, ich saß hier wie im Dunkeln und erwartete Sie wie das Sonnenlicht. Sie müssen mir das alles erklären, denn gerade die Hauptsache ist mir völlig unklar, ich tappe da nur so im Dunkeln herum und habe keine weiteren Anhaltspunkte als das, was Aljoscha mir gelegentlich erzählt hat. Sonst aber habe ich hier doch keine Menschenseele, von der ich etwas erfahren könnte. Sagen Sie also, erstens – das ist das wichtigste – was meinen Sie, werden Aljoscha und Natascha glücklich miteinander sein oder nicht? Das muß ich ganz zuerst wissen, um mich endgültig entscheiden zu können, um genau zu wissen, was ich zu tun habe.“ „Wie kann man so etwas mit Bestimmtheit vorher sagen? ...“ „Ach, nein, so meinte ich es ja gar nicht, das kann natürlich kein Mensch,“ unterbrach sie mich rasch, „ich will nur wissen, wie es Ihnen scheint, – denn ich weiß, Sie sind ein sehr kluger Mensch.“ „Mir scheint es, daß sie nicht glücklich sein werden.“ „Weshalb nicht?“ „Sie passen nicht zueinander.“ „Das habe ich mir auch gedacht.“ Und sie faltete ihre Händchen wie in tiefer Trauer. „Erzählen Sie, bitte, ausführlicher. Hören Sie: ich möchte furchtbar gern Natascha sehen. Ich muß mich mit ihr aussprechen und ich glaube, wir werden dann für alles die richtige Lösung finden. Jetzt versuche ich immer mir in der Phantasie vorzustellen, wie sie ist: sie muß furchtbar klug sein, ernst, wahrheitsliebend und sehr schön. Nicht?“ „Ja.“ „Das dachte ich mir. Nun, aber wenn sie so ist, wie hat sie sich dann in Aljoscha, in diesen Knaben, verlieben können? Erklären Sie mir das. Ich habe darüber schon oft nachgedacht.“ „Das läßt sich nicht erklären, Katherina Fedorowna. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie und weshalb man ihn so lieb gewinnen kann. Ja, er ist ein vollständiges Kind. Aber wissen Sie denn nicht, wie man ein Kind bisweilen liebgewinnen kann?“ Mein Herz wurde weich bei ihrer kindlichen Ehrbarkeit, während der Blick ihrer tiefen, ernsten Augen in erwartungsvoller Aufmerksamkeit unverwandt auf mir ruhte. „Und je mehr Natascha selbst nicht einem Kinde gleicht,“ fuhr ich fort, „je ernster sie selbst ist, um so eher konnte sie ihn liebgewinnen. Er wird nie lügen, er ist von Herzen aufrichtig und überhaupt ist alles an ihm herzlich; er ist unglaublich naiv, bisweilen hat aber auch seine Naivität etwas Liebenswürdiges an sich. Vielleicht hat sie ihn – wie soll man das ausdrücken? ... aus einem gewissen Mitleid liebgewonnen. Das pflegt bei großmütigen Menschen mitunter vorzukommen ... Übrigens fühle ich, daß ich Ihnen nichts erklären kann, dafür aber möchte ich Sie etwas fragen: Sie lieben ihn doch?“ Ich sprach die Frage ganz ruhig aus, denn ich fühlte, daß ich weder durch ihre Plötzlichkeit, noch durch sonst etwas die kindliche Reinheit ihrer Seele trüben konnte. „Bei Gott, ich weiß es noch nicht,“ antwortete sie leise und ihre klaren Augen sahen mich dabei so ehrlich an, „aber ich glaube, daß ich ihn sehr liebe ...“ „Nun, sehen Sie. Und können Sie es erklären, weshalb Sie ihn lieben?“ „Es ist nichts Gelogenes an ihm,“ antwortete sie nach einigem Nachdenken. „Und wenn er mir so gerade in die Augen sieht und dabei etwas zu mir spricht, so gefällt mir das sehr ... Hören Sie, Iwan Petrowitsch, da spreche ich jetzt mit Ihnen davon, und ich bin doch ein Mädchen und Sie sind ein Mann; ist das nun gut gehandelt oder schlecht?“ „Ja, was sollte denn hierbei schlecht sein?“ „Das ist es ja. Selbstverständlich: was sollte hierbei schlecht sein? Nun, die dort aber,“ – sie wies mit dem Blick auf die Gruppe am Teetisch – „würden sicherlich sagen, daß es nicht gut sei. Haben sie recht oder nicht recht?“ „Nein! Sie fühlen doch in Ihrem Herzen, daß Sie nichts Schlechtes tun, folglich ...“ „So mache ich es auch immer,“ unterbrach sie mich, – offenbar wollte sie an diesem Abend noch über vieles mit mir reden. „Sobald ich es einmal nicht weiß, frage ich gleich mein Herz, und wenn es ruhig ist, dann bin auch ich ruhig. Und so muß man es auch immer machen. Und mit Ihnen spreche ich deshalb so aufrichtig, als spräche ich mit mir selbst, weil Sie erstens ein prächtiger Mensch sind und weil ich Ihre ganze frühere Geschichte mit Natascha, bevor sie Aljoscha liebgewann, kenne, und ich habe geweint als ich sie hörte.“ „Wer hat sie Ihnen denn erzählt?“ „Aljoscha natürlich, und er hatte selbst Tränen in den Augen, als er erzählte. Das war sehr gut von ihm und das hat mir auch sehr gefallen. Ich glaube, daß er Sie mehr liebt, als Sie ihn, Iwan Petrowitsch. Sehen Sie, gerade diese Züge sind es, die mir an ihm gefallen. Nun, und dann zweitens rede ich deshalb so offen mit Ihnen, weil Sie ein sehr kluger Mensch sind und mir in vielen Dingen raten und mich belehren können.“ „Woher wissen Sie, daß ich so klug bin, daß ich Sie belehren könnte?“ „Ach, nun, wie soll ich das nicht wissen!“ Sie dachte nach. „Ich habe ja nur so davon zusprechen begonnen; doch reden wir jetzt von der Hauptsache. Raten Sie mir, Iwan Petrowitsch! Sehen Sie, ich weiß doch, daß ich jetzt Nataschas Rivalin bin, was soll ich da nun tun? Deshalb fragte ich Sie auch: werden sie glücklich miteinander sein? Daran denke ich Tag und Nacht. Nataschas Lage ist so furchtbar, so furchtbar! Er hat doch schon ganz aufgehört, sie zu lieben und mich liebt er immer mehr. Nicht?“ „Es scheint so.“ „Und er betrügt sie doch gar nicht. Er weiß es ja selbst nicht, daß er aufhört, sie zu lieben, sie aber wird es bestimmt wissen. Da kann man sich denken, wie sie sich quält!“ „Was wollen Sie denn tun, Katherina Fedorowna?“ „Ich habe eine ganze Menge Projekte,“ antwortete sie ernst, „aber ich komme mit ihnen nicht zurecht. Deshalb habe ich Sie auch so ungeduldig erwartet, damit Sie mir helfen. Sie kennen das alles viel besser als ich. Sie sind ja doch jetzt geradezu ein Gott für mich, von dem ich alles erwarte. Also hören Sie: zuerst dachte ich so: wenn sie sich beide lieben, so müssen sie glücklich werden, und deshalb muß ich mich opfern und ihnen helfen. Nicht?“ „Ich weiß, daß Sie imstande wären, es zu tun.“ „Ja, zu Anfang, dann aber, als er öfter zu uns kam und mich immer mehr zu lieben begann, da wurde ich nachdenklich und jetzt frage ich mich: soll ich das Opfer bringen oder soll ich nicht? Das ist doch sehr schlecht von mir, nicht wahr?“ „Das ist schließlich nur natürlich,“ antwortete ich, „anders wäre es kaum denkbar ... Sie sind jedenfalls nicht schuld daran.“ „Das glaube ich nicht. Sie sagen es nur deshalb, weil Sie sehr gut sind. Ich denke aber nun, daß mein Herz wohl nicht ganz rein ist. Wenn mein Herz rein wäre, würde ich wissen, was ich zu tun habe. Doch – lassen wir das! Später erfuhr ich mehr von ihren Verhältnissen, einiges vom Fürsten, einiges von Mama, einiges auch von Aljoscha, und ich erriet, daß sie doch nicht so ganz zueinander passen müssen, und das haben Sie nun auch bestätigt. Da bin ich jetzt noch unentschlossen. Was nun? Denn wenn sie beide unglücklich werden würden, so würde es doch auch für sie nur besser sein, wenn sie sich trennen? Deshalb will ich mir nun von Ihnen alles ganz genau erzählen lassen und dann – so habe ich beschlossen – selbst zu Natascha fahren und mit ihr dann alles endgültig beschließen.“ „Ja, aber wie, das ist die Frage.“ „Ich werde zu ihr einfach sagen: ‚Sie lieben ihn doch mehr als alles auf der Welt, deshalb müssen Sie auch in erster Linie sein Glück wünschen: folglich müssen Sie sich von ihm trennen‘.“ „Was meinen Sie, wird es ihr sehr angenehm sein, so etwas zu hören? Und wenn sie einwilligt – wird sie auch fähig sein, es auszuführen?“ „Das ist es ja gerade, worüber ich Tag und Nacht nachdenke und ... und ...“ Und sie brach in Tränen aus. „Sie glauben nicht, wie leid mir Natascha tut ...“ murmelte sie mit zuckenden Lippen. Was sollte ich sagen? Ich schwieg und hatte selbst nicht übel Lust, wie sie zu weinen, nur so, einfach aus einem Gefühl heraus, einem Gefühl, das so wie Liebe war. Welch ein liebes, liebes Kind sie ist! dachte ich. Natürlich fragte ich sie nicht weiter, weshalb sie denn von sich glaubte, daß sie Aljoschas Glück ausmachen könne. „Sie lieben doch Musik?“ fragte sie, als sie sich ein wenig beherrscht hatte, doch war sie noch ganz nachdenklich gestimmt von den Tränen. „Ja,“ antwortete ich etwas verwundert. „Wenn wir Zeit hätten, würde ich Ihnen jetzt das dritte Konzert von Beethoven vorspielen. Ich spiele es jetzt. Dort sind alle diese Gefühle ... ganz so wie ich sie jetzt empfinde. So scheint es mir wenigstens. Doch davon nächstens, heute haben wir noch über Wichtigeres zu sprechen.“ Und es begannen die Beratungen, wie es anzustellen sei, daß sie mit Natascha zusammenkäme. Sie sagte, daß sie nicht ohne Begleitung das Haus verlassen dürfe; ihre Stiefmutter sei zwar gut zu ihr und habe sie lieb, doch werde sie nie und nimmer erlauben, daß sie, Katjä, Natalja Nikolajewnas Bekanntschaft mache. Daher habe sie sich zu einer List entschlossen. An manchen Vormittagen mache sie, wenn das Wetter schön sei, eine Spazierfahrt, doch fahre sie nie allein, sondern stets mit der Gräfin. Wenn diese aber aus irgend einem Grunde nicht mitfahren könne, begleite sie die Französin, die im Augenblick krank war. Das käme aber eigentlich nur dann vor, wenn die Gräfin Migräne habe, folglich mußte man warten, bis diese Migräne eintrat. Inzwischen aber mußte die Französin – ein altes Fräulein, das so etwas wie eine Gesellschafterin war – „gewonnen“ werden, was gewiß nicht schwer fallen könne, denn sie sei sehr gut. Das Ergebnis war also, daß es ganz unmöglich sei, im voraus zu bestimmen, wann sie Natascha ihren Besuch machen könne. „Sie werden Ihren Schritt nicht bereuen,“ sagte ich. „Sie will Sie selbst sehr gern kennen lernen, und das ist durchaus notwendig, damit sie wenigstens weiß, wem sie Aljoscha übergibt. Im übrigen aber brauchen Sie sich das alles gar nicht so zu Herzen zu nehmen. Die Zeit wird auch ohne Ihre Sorgen alles entscheiden. Sie werden doch aufs Land fahren?“ „Ja, bald, vielleicht schon in einem Monat,“ sagte sie. „Ich weiß, daß der Fürst darauf besteht.“ „Was meinen Sie, wird Aljoscha mit Ihnen dorthin fahren?“ „Das ist es, woran ich soeben dachte!“ sagte sie und sah mich unverwandt an. „Er wird doch wohl?“ „Zweifellos.“ „Mein Gott – ich weiß nicht, was daraus noch werden soll! Hören Sie, Iwan Petrowitsch, ich werde Ihnen alles schreiben, ich werde Ihnen sehr oft schreiben und sehr viel. Ich bin nun einmal Ihr Plagegeist geworden. Werden Sie uns oft besuchen?“ „Ich weiß es nicht, Katherina Fedorowna, das hängt von den Umständen ab. Vielleicht werde ich hier überhaupt nicht wieder erscheinen.“ „Weshalb denn nicht?“ „Das wird eben von verschiedenen Fragen abhängen, doch hauptsächlich – von meinem Verhältnis zum Fürsten.“ „Er ist ein unehrlicher Mensch,“ sagte sie überzeugt. „Aber wissen Sie, Iwan Petrowitsch, wie wäre es, wenn ich Sie einmal besuchen würde? Wenn ich an einem Vormittage meine Spazierfahrt mache? Wäre das gut oder wäre das nicht gut?“ „Wie finden Sie es?“ „Ich denke, daß es gut wäre. So, ganz einfach ... ich würde Sie eben einmal besuchen ...“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich sage es ja nur deshalb, weil ich Sie nicht nur sehr achte, sondern auch sehr liebe ... Und von Ihnen kann man vieles lernen. Und ich liebe Sie doch ... Aber ich brauche mich doch nicht deshalb zu schämen, weil ich so mit Ihnen spreche? ...“ „Weshalb sollten Sie sich schämen? Sie sind mir schon so lieb und wert, als hätte ich in Ihnen eine Blutsverwandte gefunden.“ „Wollen Sie nicht mein Freund sein?“ „O, von Herzen gern!“ sagte ich. „Nun, die dort aber würden sagen, daß ich mich schämen müßte und daß ein junges Mädchen so nicht reden dürfe,“ bemerkte sie wieder mit einem auf die Gruppe am Teetisch weisenden Blick. Ich muß hier bemerken, daß der Fürst uns, wie mir schien, absichtlich allein ließ, um uns die Möglichkeit zu geben, über Natascha und Aljoscha unter vier Augen nach Herzenslust zu sprechen. „Ich weiß doch sehr gut, daß der Fürst es nur auf mein Geld abgesehen hat,“ fuhr sie fort. „Sie halten mich noch für ein vollständiges Kind, und sagen es mir ja auch ganz offen. Ich aber denke anders. Ich bin kein Kind mehr ... Seltsame Menschen sind es doch: sie sind ja noch selbst die richtigen Kinder. Sagen Sie mir nur: weshalb sorgen sie sich so?“ „Katherina Fedorowna, ich vergaß, Sie zu fragen: wer sind dieser Ljowinka und Borinka, die Aljoscha so oft besucht?“ „Das sind entfernte Verwandte von mir. Es sind sehr kluge und sehr anständige Jungen, aber sie sprechen so viel, daß es einem denn doch zu viel wird ... Ich kenne sie ...“ Und sie lächelte vor sich hin. „Ist es wahr, daß Sie ihnen mit der Zeit eine Million schenken wollen?“ „Nun sehen Sie, zum Beispiel diese Million! Sie haben schon so viel davon gesprochen, daß es einem einfach unerträglich wird. Ich gebe natürlich gern zu allem Nützlichen, denn wozu hat man schließlich so viel Geld, nicht wahr? Aber es wird doch noch einige Zeit dauern, bis ich es werde tun können, sie aber tun so, als hätten sie bereits über das Geld zu verfügen, verteilen es, philosophieren, schreien, streiten über die beste Verwendung, ja sie geraten sich sogar in die Haare deswegen, so daß ich mich wirklich nur wundern kann. Sie haben es doch gar zu eilig. Aber dann sind sie doch wieder so nette Jungen, so herzlich in allem und ... klug sind sie. Sie lernen. Das ist doch immerhin besser als so, wie andere leben ... Nicht wahr?“ Und vieles sprachen wir noch. Sie erzählte mir fast ihr ganzes Leben und hörte mit brennendem Interesse zu, wenn ich erzählte. Doch immer wieder wollte sie noch Näheres von Natascha und Aljoscha hören. Es hatte schon zwölf geschlagen, als der Fürst zu mir trat und damit das Zeichen zum Aufbruch gab. Ich verabschiedete mich. Katjä drückte mir fest die Hand und sah mich mit einem vielsagenden Blick an. Die Gräfin forderte mich auf, sie auch fernerhin zu besuchen. Ich verließ das Haus zusammen mit dem Fürsten. Ich kann hier nicht umhin, eines seltsamen und vielleicht ganz unpassenden Eindruckes, den ich unter anderem aus dem dreistündigen Gespräch mit Katjä davontrug, Erwähnung zu tun: es war dies eine für mich selbst wunderliche, doch um so festere Überzeugung, daß sie noch so weit Kind war, daß sie das ganze Geheimnis der Beziehungen zwischen Mann und Weib überhaupt noch nicht kannte. Das verlieh einzelnen ihrer Äußerungen sowie dem ganzen ernsten Ton, mit dem sie von vielen äußerst wichtigen Dingen sprach, eine unendliche unfreiwillige Komik. X. „Was meinen Sie!“ sagte plötzlich der Fürst, als wir uns in den Wagen setzten. – „Wie wäre es, wenn wir jetzt zusammen zu Abend speisten?“ „Wirklich, ich weiß nicht, Fürst,“ antwortete ich unschlüssig. „Ich pflege nie zu Abend zu speisen ...“ „Selbstverständlich würden wir bei der Gelegenheit dann auch _reden_ können,“ fügte er bedeutsam hinzu, indem er mir mit einem halb spöttisch, halb heimtückisch lächelnden Blick unverwandt in die Augen sah. Wie sollte ich das mißverstehen! „Er will sich aussprechen,“ dachte ich, „und das ist es ja gerade, worauf ich warte.“ Ich willigte ein. „Also abgemacht. In die Große Moskaja zu B.,“ rief er dem Kutscher zu. „Ins Restaurant?“ fragte ich ein wenig verwirrt. „Ja. Wieso? Ich speise doch abends nur selten zu Hause. Erlauben Sie mir denn nicht, Sie aufzufordern?“ „Aber ich sagte Ihnen doch, daß ich mich überhaupt nicht daran gewöhnt habe, zu Abend zu speisen.“ „Nun, dieses eine Mal! Zudem habe ich Sie doch aufgefordert, mein Gast zu sein ...“ Das hieß: ich werde doch für dich zahlen. Ich bin überzeugt, daß er das mit Absicht hinzufügte. Ich widersprach nicht weiter, beschloß aber, im Restaurant selbst für mich zu zahlen. Der Fürst nahm ein einzelnes Zimmer und wählte mit Kennermiene drei Gänge. Das war alles sehr teuer, ebenso auch der feine Tischwein, den er dazu bestimmte, und daher nichts für meine Tasche. Ich warf einen Blick auf die Karte und bestellte für mich ein halbes Haselhuhn und dazu Lafitte. „Wie, Sie wollen nicht mit mir speisen?“ fragte der Fürst ganz aufgebracht. „Aber das ... das ist ja geradezu lächerlich! Pardon, ^mon ami^, aber das ist doch wirklich ... übertriebene Pedanterie. Sie können doch in Ihrer Eigenliebe nicht so kleinlich sein. Das ist ja förmlich, als wollten Sie auf den Standesunterschied pochen, – ich wette, daß das im geheimen Ihre Absicht ist! Ich versichere Sie, Sie beleidigen mich einfach!“ Doch ich bestand auf meinen Willen. „Nun – wie Sie wollen. Ich zwinge Sie nicht ... Sagen Sie, Iwan Petrowitsch, darf ich zu Ihnen einmal vollkommen freundschaftlich reden?“ „Ich bitte Sie darum.“ „Nun, dann sage ich Ihnen, daß Sie sich, meiner Meinung nach, durch solche Pedanterie nur schaden. Und dasselbe tun alle Ihre Kollegen. Sie sind Literat, Schriftsteller, Sie müssen die Welt kennen lernen, währenddessen ziehen Sie sich immer mehr zurück und wollen sich von allem fernhalten. Ich rede jetzt nicht von Haselhühnern, aber Sie sind ja doch bereit, auf jede Beziehung zu unseren Kreisen zu verzichten, das aber schadet Ihnen doch sicher. Ganz abgesehen davon, daß Sie dabei viel verlieren, – nun, zum Beispiel, was ihre Karriere betrifft und alles weitere, was daraus folgt – ganz abgesehen davon, sage ich, müßten Sie doch in erster Linie das kennen lernen, was Sie schildern. In solchen Novellen kann doch alles vorkommen, Grafen, Fürsten, Boudoirs ... Doch, was sage ich! Bei den Schriftstellern von heute dreht es sich ja jetzt um nichts anderes mehr als um Armut, verlorene Mäntel, Revisoren, verrückte Offiziere, Beamte, alte Jahrgänge und Sektiererleben, ich weiß, ich weiß ...“ „Sie irren sich, Fürst. Wenn ich mich nicht in den sogenannten höheren Kreisen bewege, so tue ich es nur deshalb nicht, weil es dort, erstens, langweilig ist, und zweitens, weil man dort nichts zu suchen hat. Doch schließlich bin ich auch hin und wieder ...“ „Ich weiß, beim Fürsten R., einmal im Jahr. Ich bin Ihnen ja dort mal begegnet. Aber die übrige Zeit des Jahres verknöchern Sie wie Ihre Kollegen in demokratischem Stolz irgendwo in kleinen Dachstuben. Freilich tun das nicht gerade alle. Es gibt unter ihnen auch solche Abenteuerjäger, daß es sogar mir ekelhaft zumute wird ...“ „Ich bitte Sie, Fürst, dieses Thema fallen zu lassen und unsere Dachstuben nicht weiter zu berühren.“ „Ach, mein Gott, da sind Sie schon gekränkt. Sie hatten mir doch erlaubt, vollkommen freundschaftlich mit Ihnen zu reden. Übrigens, ^je vous demande pardon^, ich habe ja noch mit nichts Ihre Freundschaft verdient. Der Wein ist nicht schlecht. Versuchen Sie ihn.“ Er schenkte mir ein halbes Glas ein – aus seiner Flasche. „Nun, sehen Sie, mein lieber Iwan Petrowitsch, ich begreife ja nur zu gut, daß es unanständig ist, seine Freundschaft einem anderen ungebeten aufzudrängen. Sind Sie doch der Meinung, daß wir alle Sie nur demütigend behandeln wollen. Nun, ich begreife auch sehr gut, daß Sie nicht aus Neigung zu mir hier sitzen, sondern weil ich versprochen habe, mit Ihnen zu _reden_. Nicht wahr, so ist es doch?“ Er lachte. „Da Sie aber die Interessen einer gewissen Person im Auge haben, so sind Sie natürlich sehr gespannt darauf, was ich sagen werde. Nicht wahr?“ fragte er mit boshaftem Lächeln. „Sie irren sich nicht,“ sagte ich nervös – ich sah, daß er einer von jenen war, die, wenn sie einen Menschen nur ein wenig in ihrer Macht wissen, es diesem sogleich zu fühlen geben möchten. Und ich war in seiner Macht. Sein Ton wurde mit jedem Satz familiärer, spöttischer, unverschämter. „Sie haben es erraten, Fürst; ich bin einzig zu diesem Zweck hergekommen, andernfalls würde ich wahrlich nicht ... so spät hier noch sitzen.“ Ich hatte sagen wollen: andernfalls würde ich wahrlich nicht in Ihrer Gesellschaft bleiben, unterließ es aber, und zwar nicht etwa aus Furcht vor ihm, sondern weil mein verwünschtes Zartgefühl es nicht erlaubte. In der Tat, wie soll man einem Menschen eine Grobheit ins Gesicht sagen, wenn er es auch noch so verdient hätte und ich ihm gerade eine Grobheit sagen wollte? Ich glaube, der Fürst erriet aus meinen Augen, was ich dachte und blickte mich die ganze Zeit spöttisch an, als mokiere er sich über meine Mutlosigkeit und als wolle er mir mit seinem Blick sagen: „Nun was, hast es nicht zu sagen gewagt, hast klein beigegeben? Ja, ja, Freundchen!“ Sicherlich waren das seine Gedanken, denn als ich meinen Satz beendet hatte, lachte er auf und klopfte mir mit einer gewissen protegierenden Liebenswürdigkeit aufs Knie. „Du erheiterst mich, Freundchen,“ las ich in seinem Blick. „Wart mal!“ dachte ich bei mir. „Ich bin heute sehr vergnügt!“ rief er lachend aus, „und wirklich, ich weiß eigentlich gar nicht, weshalb. Ja, ja, mein Freund, ja! Gerade über diese Person wollte ich mit Ihnen reden. Man muß sich doch einmal aussprechen, und man muß doch auch zu einem Resultat kommen. Deshalb hoffe ich, daß Sie mich diesmal richtig verstehen werden. Vorhin begann ich mit Ihnen von jenem Gelde und der alten Schlafmütze von einem Vater, dem sechzigjährigen Säugling ... Na, es lohnt sich nicht, darüber noch Worte zu verlieren. Ich begann doch davon _nur so_! Hahah! Sie sind doch Dichter – haben Sie denn das nicht erraten? ...“ Verwundert sah ich ihn an. Ich fragte mich, ob er schon betrunken sein könne? „Nun, was aber sein Töchterchen betrifft, so muß ich sagen, daß ich sie sehr achte, sogar liebe – versichere Sie! Sie ist zwar ein bißchen eigensinnig, aber schließlich: ‚keine Rose ohne Dorn‘, wie man vor fünfzig Jahren zu sagen pflegte, und das Wörtchen ist sogar sehr treffend. Dornen stechen, aber das ist ja gerade das Verlockende, und wenn auch mein Alexei ein Dummkopf ist, so habe ich ihm zum Teil doch schon verziehen – weil er einen so guten Geschmack bewiesen hat. Kurz, mir gefallen diese Mädchen und ich habe –“ er preßte vielsagend die Lippen zusammen – „sogar besondere Absichten ... Nun, davon später ...“ „Fürst! Hören Sie, Fürst!“ rief ich aus, „ich verstehe diese plötzliche Veränderung nicht, aber ... sprechen Sie von anderem, ich bitte Sie.“ „Sie regen sich schon wieder auf! Nun, gut ... ich werde das Thema wechseln. Nur – sehen Sie, was ich Sie fragen will, mein lieber Freund: achten Sie sie sehr?“ „Selbstverständlich!“ antwortete ich mit unhöflicher Gereiztheit und Ungeduld. „Nun, nun ... und Sie lieben sie?“ fuhr er fort, mit einem widerlichen Lächeln mir zublinzelnd. „Sie vergessen sich!“ „Nun, schon gut, schon gut. Beruhigen Sie sich nur. Ich bin heute bei erstaunlich guter Laune, das muß ich sagen! Ich bin so heiter gestimmt wie seit langer Zeit nicht mehr. Sollten wir nicht Champagner trinken? Was meinen Sie, mein Poet?“ „Ich werde keinen Champagner trinken, ich will nicht!“ „Nichts da! Sie müssen mir heute unbedingt Gesellschaft leisten. Ich fühle mich so wundervoll und bin von einer Güte, die fast an Sentimentalität grenzt, aber ich kann nicht allein glücklich sein. Wer weiß, vielleicht bringen wir es noch so weit, daß wir Brüderschaft trinken, hahaha! und ‚Du‘ zueinander sagen! Nein, nein, junger Freund, Sie kennen mich noch nicht! Ich bin überzeugt, daß Sie mich lieb gewinnen werden. Ich will, daß Sie heute Leid und Freud mit mir teilen, Heiterkeit und Tränen, obschon ich hoffe, daß ich ... wenigstens nicht weinen werde. Nun, wie steht’s, Iwan Petrowitsch? So bedenken Sie doch nur, daß, wenn nicht das geschieht, was ich will, meine ganze Inspiration zum Teufel gehen kann und Sie dann nichts mehr hören werden. Nun, Sie aber sind doch einzig zu dem Zweck hier, um etwas zu hören. Hab’ ich nicht recht?“ fragte er wieder mit einem frechen Blinzeln. „Nun, dann wählen Sie also.“ Die Drohung war nicht mißzuverstehen. Ich willigte ein. „Will er mich etwa betrunken machen?“ fragte ich mich. Übrigens dürfte es angebracht sein, hier eines Gerüchts, daß auch mir zu Ohren gekommen war, Erwähnung zu tun. Man erzählte vom Fürsten, daß er – der sich doch in der Gesellschaft stets tadellos und vornehm zeigte – mitunter nachts es wie der letzte Wüstling zu treiben liebte, sich toll und voll soff und sich dann heimlich der Ausschweifung hingab, ganz heimlich und gemein ... Ich hatte Scheußliches von ihm erzählen hören. Aljoscha wußte es, daß der Vater sich bisweilen betrank, suchte es aber vor allen zu verbergen, namentlich vor Natascha. Einmal verriet er sich unbedachtsamerweise im Gespräch mit mir, brach aber sofort ab und überging die Antwort auf eine meiner diesbezüglichen Fragen. Von diesem Gerücht jedoch hatte ich andere erzählen hören, nur muß ich gestehen, daß ich es für leeres Geschwätz hielt und ihm keinen großen Glauben schenkte. Ich wartete, was weiter geschehen würde. Der Kellner erschien mit dem Champagner; der Fürst schenkte ein, sich und mir. „Ein reizendes, reizendes Mädel! – wenn sie mich auch gescholten hat!“ fuhr er fort, mit Hochgenuß den Wein schlürfend. „Aber gerade in solchen Momenten sind ja diese reizenden Geschöpfe am reizendsten ... Und sie glaubte doch sicherlich, daß sie mich beschämt habe – Sie wissen doch: an jenem Abend? – daß ich einfach vernichtet sei! Hahaha! Und wie ihr das Erröten steht! Sind Sie ein Weiberkenner? Es gibt blasse Gesichter, denen ein plötzliches Erröten wundervoll steht, – ist Ihnen das nicht aufgefallen? Ach, mein Gott! Sie ärgern sich wohl schon wieder?“ „Ja, ich ärgere mich!“ sagte ich, ohne mich noch zu beherrschen. „Ich wünsche nicht, daß Sie jetzt von Natalja Nikolajewna sprechen ... das heißt, in einem solchen Tone. Ich ... ich erlaube Ihnen das nicht!“ „Oho! Nun, wie Sie wünschen; ich bereite Ihnen das Vergnügen und werde auf anderes übergehen. Ich bin ja doch nachgiebig und weich wie Wachs. Reden wir also von Ihnen. Ich liebe Sie, Iwan Petrowitsch. Wenn Sie wüßten, welch freundschaftliches, aufrichtiges Interesse ich für Ihr Schicksal empfinde ...“ „Fürst, wäre es nicht besser, wir kämen zur Sache?“ unterbrach ich ihn. „Das heißt, zu _unserer_ Sache, wollen Sie sagen. Ich verstehe Sie auch ohne Worte, ^mon ami^, nur ahnen Sie gar nicht, wie nah wir die Sache berühren, wenn wir jetzt auf Sie zu sprechen kommen und wenn Sie mich, was ich hoffe, nicht wieder unterbrechen werden. Also ich fahre fort: ich wollte Ihnen nämlich sagen, mein teuerster Iwan Petrowitsch, daß so leben, wie Sie leben, einfach ein Sichzugrunderichten ist. Erlauben Sie mir einmal, dieses delikate Gebiet zu berühren; ich tu’s aus Freundschaft. Sie sind arm, Sie müssen sich von Ihrem Verleger einen Vorschuß zahlen lassen, um Ihre kleinen Schulden bezahlen zu können, und für das übrige leben Sie ein halbes Jahr nur von Tee und zittern in Ihrer Dachkammer vor Kälte, in der Erwartung des Augenblicks, wann endlich Ihr Roman erscheinen wird. Ist es nicht so?“ „Und wenn es auch so ist, so ist es doch ...“ „Doch ehrenwerter als stehlen, Bücklinge machen, Sporteln nehmen, intrigieren, nun, usw., usw. Ich weiß, ich weiß, was Sie sagen wollen, das ist ja alles schon längst gedruckt!“ „Folglich dürfte es auch überflüssig sein, davon weiter zu reden. Muß ich Sie wirklich noch Takt lehren, Fürst?“ „O, selbstverständlich nicht. Nur, was ist da zu machen, wenn gerade diese delikaten Seiten in der Hauptsache eine große Rolle spielen. Man kann sie doch nicht totschweigen. Doch übrigens, wie Sie wollen, lassen wir die Dachkammern in Ruh. Ich habe auch nichts für sie übrig, abgesehen von gewissen Fällen ...“ Er lachte widerlich. „Mich wundert ja nur eines: was für ein Vergnügen finden Sie daran, die Rolle der zweiten Person zu spielen? A propos, einer Ihrer Kollegen sagt ja wohl irgendwo in einem Werk, soviel ich mich entsinne, daß es vielleicht die größte Tat sei, wenn ein Mensch es verstehe, sich im Leben auf die Rolle einer zweiten Person zu beschränken ... Oder so etwas Ähnliches. Ich habe auch einmal ein Gespräch darüber gehört ... mit halbem Ohr. Ich weiß doch, daß Aljoscha Ihnen die Braut abspenstig gemacht hat, Sie aber wissen, gleich einem idealen Schiller, nichts besseres zu tun, als sich für sie noch aufzuopfern, sie womöglich zu bedienen oder sich von ihnen gar als Laufbursche benutzen zu lassen ... Verzeihen Sie, mein Lieber, aber das ist doch nur ein gewisses widerliches Spiel mit großmütigen Gefühlen ... Daß es Ihnen noch nicht langweilig geworden ist, begreife ich nicht! Man müßte sich doch eigentlich schämen. Ich würde an Ihrer Stelle, glaube ich, umkommen vor Ärger, aber in erster Linie würde ich mich doch schämen, schämen!“ „Fürst! Es scheint, daß Sie mich nur zu dem Zweck hergebeten haben, um mich zu beleidigen!“ Ich war fast außer mir vor Wut. „O, nein, mein Freund, nein, ich bin im Augenblick ganz einfach nur ein Sachverständiger, der Ihr Bestes wünscht. Mit einem Wort, ich will der ganzen Geschichte einmal ein Ende machen. Doch vorläufig reden wir noch nicht von der ‚ganzen Geschichte‘, sondern hören Sie mich zuerst bis zu Ende an, und bemühen Sie sich, sich nicht aufzuregen, wenn auch nur für die Dauer von zwei Minuten. – Nun, also, was meinen Sie, sollten Sie nicht heiraten? Sie sehen, ich rede jetzt von ganz _Nebensächlichem_. Weshalb sehen Sie mich denn so erstaunt an?“ „Bitte, weiter, ich warte,“ antwortete ich. Ich sah ihn in der Tat verwundert an. „O, da ist nichts zu erwarten. Ich wollte nur wissen, was Sie dazu sagen würden, wenn Ihnen jemand von Ihren Freunden, der Ihnen ein dauerhaftes, wahres Glück wünscht – nicht irgend so ein ephemerisches – ein junges, nettes Mädchen anböte, das aber ... bereits einiges durchgemacht hat. Ich rede ganz allegorisch, doch Sie verstehen mich hoffentlich, – nun, so ^à la^ Natalja Nikolajewna, selbstverständlich mit einer anständigen Entschädigung ... Vergessen Sie nicht, daß ich von einer Nebensache, nicht von _unserer_ Sache rede. Nun also: was würden Sie dazu sagen?“ „Ich sage Ihnen, daß Sie ... verrückt geworden sind.“ „Hahaha! Bah! Sie scheinen ja Lust zu haben, tätlich zu werden?“ Es fehlte allerdings nicht viel und ich hätte ihn geprügelt. Ich konnte es kaum noch aushalten! Ich hatte das Empfinden, einem Geschmeiß, einer riesigen ekelhaften Spinne gegenüber zu sitzen und ich brannte vor Verlangen, das scheußliche Tier platt zu schlagen, unter die Füße zu treten. Er ergötzte sich an seinem Spott, den er mit mir trieb, er spielte mit mir, wie eine Katze mit der Maus, denn er glaubte, mich ganz in seiner Gewalt zu haben. Es schien mir, daß er an seiner Schamlosigkeit ein gewisses Vergnügen fand; vielleicht empfand er sogar eine gewisse Wollust in dieser Gemeinheit, in diesem Zynismus, mit dem er vor mir plötzlich sich die Maske vom Gesicht riß. Er wollte sich an meiner Verwunderung, an meinem Schreck und Ekel weiden, wie es mir schien. Er verachtete mich aufrichtig und machte sich über mich lustig. Ich hatte erraten, daß er einen besonderen Zweck verfolgte; ich befand mich aber in einer solchen Situation, daß ich ihn unter allen Umständen anhören mußte. Ich mußte es im Interesse Nataschas; ich mußte mich auf alles gefaßt machen und mußte alles ertragen, denn es war möglich, daß jetzt die Stunde gekommen war, in der sich ihr Schicksal entschied. Wer aber hätte diese zynischen, gemeinen Ausfälle auf ihre Rechnung kaltblütig anhören können? Und er begriff nur zu gut, daß ich gezwungen war, ihn anzuhören, was natürlich noch die Kränkung vergrößerte. „Übrigens bin auch ich ihm unentbehrlich,“ dachte ich bei mir und begann ihm schroff und verächtlich zu antworten. Er merkte es. „Hören Sie, mein junger Freund,“ begann er plötzlich, mir ernst in die Augen schauend, „so können wir nicht fortfahren, deshalb ist es besser, wir verständigen uns sogleich. Ich, sehen Sie mal, ich hatte die Absicht, Ihnen einiges zu sagen; da müssen Sie aber schon so liebenswürdig sein und einwilligen, mich anzuhören, gleichviel was ich Ihnen auch erzähle oder sagen sollte. Ich wünsche so zu sprechen, wie ich will und wie es mir gefällt, und genau genommen ist es so auch ganz in der Ordnung, Nun, also wie steht es, mein junger Freund? Werden Sie Geduld haben?“ Ich bezwang mich und schwieg, obschon er mich plötzlich mit so beißendem Spott ansah, als wolle er mich absichtlich zu einer schroffen Weigerung herausfordern. Doch er erriet aus meinem Schweigen, daß ich einwilligte, alles anzuhören, und so fuhr er denn fort: „Ärgern Sie sich nicht über mich, mein Freund! Worüber ärgern Sie sich denn, genau genommen? Einzig über eine äußere Form, nicht wahr? Sie haben doch von mir im Grunde nichts anderes erwartet, gleichviel wie ich mit Ihnen spreche: ob mit parfümierter Höflichkeit oder so wie jetzt; folglich bliebe doch der Sinn immer ein und derselbe. Sie verachten mich, nicht wahr? Sehen Sie doch, wieviel liebe Einfachheit, Aufrichtigkeit und Bonhomie in mir ist! Ich gestehe Ihnen alles, sogar meine Kinderlaunen. Ja, ^mon cher^, ja, ein wenig mehr Bonhomie auch Ihrerseits und wir würden uns vorzüglich aussprechen, würden in allen Punkten einig werden und uns gegenseitig vollkommen verstehen. Über mich aber wundern Sie sich nicht. Ich habe diese ganze Unschuld, Aljoschas Hirtenlieder und Schäferspiele, dieses ganze Schillerianertum und alle die Ideale in diesem verwünschten Verhältnis mit jener Natascha – übrigens an sich ein nettes Mädchen – wie gesagt, alles dies habe ich jetzt so satt, daß ich mich ganz unwillkürlich der Gelegenheit freuen muß, mich über diesen ganzen Rummel gründlich lustig machen zu können. Nun und da haben wir denn jetzt die Gelegenheit. Hinzu kommt, daß ich ja sowieso einmal mein Herz Ihnen ausschütten oder meine Seele vor Ihnen ausbreiten wollte. Hahaha!“ „Sie setzen mich in Erstaunen, Fürst. Ich verstehe Sie nicht. Sie verfallen in den Ton eines Hanswurst; diese plötzlichen Offenbarungen ...“ „Hahaha! Das ist ja doch teilweise ganz richtig! Ein allerliebster Vergleich! Hahaha! Ich _gehe durch_, mein Freund, ich _gehe durch_, ich bin froh und zufrieden, nun, und Sie, mein Poet, Sie müssen alle nur mögliche Nachsicht mit mir haben und sich dazu bequemen, aus Ihren Höhen tief herabzusteigen. Doch lassen Sie uns trinken!“ unterbrach er sich, in äußerster Zufriedenheit mit sich selbst, und er füllte die Gläser nach. „Sehen Sie, mein Freund, allein schon dieser eine dumme Abend bei Natascha – erinnern Sie sich? – gab mir den Rest. Freilich war sie selbst sehr nett anzusehen in jenem Augenblick, aber nichtsdestoweniger verließ ich sie doch in entsetzlicher Wut und das will ich nicht vergessen. Weder vergessen noch verheimlichen. Natürlich wird auch meine Zeit mal kommen und sie nähert sich ja schon rapid, doch vorläufig lassen wir das aus dem Spiel. Indes wollte ich Ihnen erklären, daß ich einen sehr beachtenswerten Charakterzug besitze, den Sie noch nicht kennen: das ist, daß mir nichts so verhaßt ist, wie alle diese ekelhaften, nichtswürdigen, billigen Naivitäten ^et toutes ces pastourelles^; und einer der pikantesten Genüsse war für mich stets, zuerst selbst in dieser Tonart zu singen, irgend so einen ewig jungen Schiller zu entzücken, fast sogar zu begeistern für mich, und dann ihn plötzlich wie mit einem Keulenschlage zu betäuben, plötzlich die begeisterte Maske herunterzureißen und ihm eine Grimasse zu schneiden, ihm die Zunge zu zeigen, und das gerade in dem Augenblick, wenn er am allerwenigsten eine solche Überraschung erwartete. Wie? Sie begreifen das nicht, Sie finden es vielleicht schändlich, dumm, gemein, nicht?“ „Selbstverständlich finde ich das.“ „Sie sind ziemlich aufrichtig. Nun, aber was kann ich dafür, wenn diese Kerls mich schließlich quälen! Auch ich bin dumm genug, aufrichtig zu sein, aber das ist nun mal mein Charakter. Übrigens will ich Ihnen noch so einige Episoden aus meinem Leben erzählen. Sie werden mich dann besser verstehen und das wird sehr interessant sein. Ja, Sie haben recht, ich erinnere heute vielleicht wirklich an einen Hanswurst, aber ein Hanswurst ist doch aufrichtig, nicht wahr?“ „Hören Sie, Fürst, es ist jetzt spät und wirklich ...“ „Was? Gott, welche Ungeduld! Was eilt denn so? Lassen Sie uns doch ein wenig sitzen, wir können bei der Gelegenheit ganz freundschaftlich und aufrichtig reden, so, wissen Sie, beim Glase Wein, wie es sich guten Freunden ziemt. Sie glauben, ich sei betrunken? Na, um so besser für Sie! Hahaha! In der Tat, diese freundschaftlichen Zusammenkünfte bleiben einem nachher immer so lange noch im Gedächtnis und man denkt mit solch einer Wonne an sie zurück. Sie sind kein guter Mensch, Iwan Petrowitsch! Es ist keine Sentimentalität in Ihnen, Sie gehören nicht zu den Gefühlvollen. Nun, was macht es Ihnen denn aus, ein bis zwei Stunden für solch einen Freund zu opfern, wie ich es bin? Außerdem gehört das doch durchaus zur Sache ... Wie sollten Sie denn das nicht verstehen, – Sie, ein Schriftsteller noch dazu! Sie müßten doch den Zufall einfach segnen. Sie können ja mich als Modell benutzen und einen großartigen Typ schaffen, hahaha! Gott, wie reizend offenherzig ich heute bin!“ Der Wein stieg ihm augenscheinlich schon zu Kopf. Sein Gesicht veränderte sich und nahm einen gewissermaßen verbissenen boshaften Ausdruck an. Offenbar empfand er das Verlangen, zu verletzen, zu verspotten, womöglich zu beißen. „Ganz gut, daß er betrunken ist,“ dachte ich, „ein Betrunkener ist immer schwatzhaft und verrät sich in der Regel.“ Doch ich täuschte mich: er vergaß sich keinen Augenblick und verfolgte einen besonderen Zweck. „Mein Freund,“ hub er an – ersichtlich war ihm das Reden ein Genuß – „ich habe Ihnen soeben ein Geständnis gemacht, das vielleicht nicht ganz am Platze war. Ich meine, daß ich bisweilen den unbezwingbaren Wunsch empfinde, irgend jemandem unter gewissen Umständen die Zunge zu zeigen. Zum Dank für diese meine naive und gutmütige Offenheit vergleichen Sie mich mit einem Hanswurst, was mich von Herzen erheitert hat. Doch wenn Sie mir darob Vorwürfe machen wollen, oder sich darüber wundern, daß ich Ihnen gegenüber unhöflich oder sogar unanständig sei, kurz – plötzlich einen anderen Ton angeschlagen habe, so sind Sie durchaus im Unrecht. Erstens paßt es mir nun einmal so, und zweitens bin ich nicht bei mir, sondern mit _Ihnen_ ... will sagen, wir gehen jetzt beide _durch_, wie es gute Freunde öfters tun; und drittens – liebe ich über alles Launen. Wissen Sie auch, daß ich einmal aus Laune sogar Metaphysiker und Philantrop gewesen bin und mich fast mit denselben Ideen abgegeben habe, wie Sie heute? Übrigens liegt das so unendlich weit zurück, – in den goldenen Tagen meiner Jugend war es mal! Ich weiß noch, ich fuhr damals auf mein Gut, getragen von den humansten Absichten und, versteht sich, grämte mich und sehnte mich ganz gottverboten. Aber Sie glauben nicht, was dann mit mir geschah: vor lauter Langeweile begann ich, bei netten Mädchen Zerstreuung zu suchen ... Schneiden Sie schon wieder eine Grimasse? O, mein junger Freund! Wir sind doch ganz unter uns und sind gute Freunde! Wann soll man denn sonst durchgehen, wann sich einmal auftun, alle Hüllen zurückschlagen! – ich bin doch eine russische Natur, eine unverfälschte russische Natur, bin Patriot, – wie sollte ich es da nicht lieben! Und man muß doch den Augenblick erhaschen und das Leben genießen. Sterben wir – was gibt’s dann noch? Nun, und so trieb ich es denn mit den Mädeln. Ich entsinne mich noch, eine Hirtin hatte einen Mann, ein hübscher junger Bursche war’s. Ich bestrafte ihn schmerzhaft und wollte ihn unter die Soldaten stecken – vergangene Zeiten, mein Poet! – tat es aber dann doch nicht. Er starb in meinem Krankenhause ... Ich hatte doch auf meinem Gut ein Krankenhaus errichtet, für zwölf Betten – großartig! Sauberkeit, parkettierter Fußboden und so weiter ... Jetzt ist es natürlich schon längst eingegangen, damals aber war ich sehr stolz auf mein Werk: ich war doch Philantrop! Nun, den Burschen aber hatte ich seines Weibchens wegen dort zu Tode geprügelt ... Ja, aber weshalb fabrizieren Sie denn schon wieder eine Grimasse? Es ekelt Sie an? Empört Ihre edlen Gefühle? Na, na, beruhigen Sie sich. Das ist ja schon lange her. Das tat ich damals, als ich Romantiker war, als ich ein Wohltäter der Menschheit werden und eine Philantropische Gesellschaft gründen wollte ... ich war eben in solches Fahrwasser hineingeraten. Damals drosch ich denn auch. Jetzt unterlasse ich es; jetzt muß man Grimassen schneiden; das tun wir doch jetzt alle, – es ist nun mal solch eine Zeit ... Doch am meisten amüsiert mich im Augenblick dieser Dummkopf Ichmenjeff. Ich bin überzeugt, daß er von diesem ganzen Vorfall mit dem Burschen unterrichtet war ... und was glauben Sie? Einzig aus Herzensgüte, da sein Herz aus Jungfernhonig geschaffen zu sein scheint, und weil er sich damals in mich geradezu verliebt hatte – entschloß er sich, keinem Wort davon Glauben zu schenken und – tat es auch nicht! Verstehen Sie: er glaubte dem Beweise nicht, leugnete die Tatsache und stand zwölf Jahre lang wie ein Fels für mich ein, bis es ihm dann selbst an den Kragen ging. Hahaha! Na, das ist ja doch alles Unsinn! Trinken wir, mein junger Freund: Sagen Sie: wie verhalten Sie sich zu den Weibern? Lieben Sie sie?“ Ich antwortete nichts. Ich biß die Zähne zusammen und hörte nur zu. Er hatte bereits die zweite Flasche begonnen. „Ich rede mit Vorliebe abends nach dem Essen von ihnen. Soll ich Sie nicht nachher mit einer bekannt machen – Mademoiselle Philiberte, zum Beispiel – wie? Was meinen Sie? Ja, was fehlt Ihnen denn? Sie wollen mich nicht einmal ansehen ... hm!“ Er dachte nach. Doch plötzlich hob er den Kopf, sah mich ganz eigentümlich an und fuhr fort: „Sehen Sie, mein Poet, ich will Ihnen ein Naturgeheimnis aufdecken, eines, das Ihnen, wie es scheint, noch ganz unbekannt ist. Ich weiß, daß Sie mich im Augenblick einen Sünder, vielleicht sogar einen Schurken, ein Monstrum der Verderbnis und des Lasters nennen. Doch hören Sie, was ich Ihnen sagen werde. Wenn es nur möglich wäre – ^en parenthèse^: der menschlichen Natur gemäß ist es absolut unmöglich – also, wenn es möglich wäre, daß ein jeder von uns sein ganzes Innenleben beschriebe, jedoch so, daß er nicht nur das, was er für keinen Preis den Menschen sagen, nicht nur das, was er nicht einmal seinem besten Freunde verraten würde, sondern sogar das, was er sich selbst kaum zu gestehen wagt, einmal mit größter Wahrheitstreue beschriebe, so würde es doch in der Welt einen solchen Gestank geben, daß wir alle ersticken müßten. Deshalb sind denn auch, nochmals ^en parenthèse^, unsere gesellschaftlichen Anstandsregeln und Gesetze so zweckentsprechend und segensreich. Es liegt ein tiefer Gedanke in ihnen, – ich will nicht sagen, daß es gerade ein sittlicher sei, aber einfach ein erhaltender, bequemer, was natürlich noch besser ist, denn die Sittlichkeit ist ja doch im Grunde nur Bequemlichkeit ... das heißt, ich meine, sie ist doch einzig zur Bequemlichkeit erfunden. Doch von den Anstandsregeln später, ich komme immer wieder vom Thema ab – erinnern Sie mich nachher daran. Sie beschuldigen mich der Lasterhaftigkeit, Ausschweifung, Unsittlichkeit, während man mir doch jetzt vielleicht nur das eine vorwerfen könnte, daß ich _aufrichtiger_ bin als die anderen, und weiter nichts; daß ich das nicht geheim halte, was die anderen sogar vor sich selbst verbergen, wie ich vorhin sagte. Das ist allerdings eine Schändlichkeit von mir, aber ich will es nun einmal so. Übrigens – beunruhigen Sie sich nicht,“ unterbrach er sich mit einem spöttischen Lächeln, „ich sagte ‚vorwerfen‘, aber ich will mich ja durchaus nicht entschuldigen oder Sie um Entschuldigung bitten. Und beachten Sie auch das noch: ich will Sie nicht in Verlegenheit setzen, indem ich Sie frage: ‚haben Sie nicht auch ähnliche Geheimnisse?‘ – um mit Ihren Geheimnissen dann auch mich in etwas zu rechtfertigen ... Ich handle also anständig und gentlemanlike. Überhaupt ist letzteres stets meine Richtschnur ...“ „Sie sind einfach ins Schwätzen gekommen,“ sagte ich und sah ihn mit Verachtung an. „Ins Schwätzen ... hahaha! Und wenn man bedenkt, welche Frage Sie dabei am meisten plagt! Soll ich’s sagen? Sie fragen sich: weshalb hat er mich hierhergeschleppt und plötzlich mir nichts dir nichts angefangen, mir alles das zu erzählen? Hab ich’s getroffen?“ „Ja.“ „Na, das werden Sie später erfahren.“ „Die einfachste Antwort ist aber: Sie haben zwei Flaschen Wein getrunken und sind ... berauscht.“ „Das heißt, einfach betrunken. Auch das ist möglich. ‚Berauscht‘! Das ist ja wohl eine höflichere Ausdrucksform. O, Sie in Zartgefühl getauchter Mann! Aber ... ich glaube, wir verfallen schon wieder in Liebenswürdigkeiten und begannen doch gerade mit einem so interessanten Thema. Ja, was ich sagen wollte, mein Poet: wenn es in der Welt noch etwas Reizendes und Süßes gibt, so sind es die Weiber.“ „Ich verstehe nicht, Fürst, weshalb es Ihnen eingefallen ist, gerade mich zum Zuhörer zu wählen, wenn Sie Ihre Geheimnisse und Liebes ... erlebnisse zum besten geben wollen.“ „Hm! ... Ja – aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß Sie das nachher erfahren werden. Beunruhigen Sie sich deshalb nicht, nehmen Sie meinethalben an, daß überhaupt kein besonderer Grund vorliegt. Sie sind doch ein Dichter, Sie werden mich verstehen – doch das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Es liegt eine besondere Art Wollust in diesem plötzlichen Abreißen der Maske, in diesem Zynismus, in dem sich der Mensch einem anderen plötzlich so zeigt, daß er ihn nicht einmal würdigt, sich vor ihm zu schämen. Ich werde Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es war einmal in Paris ein verrückter Beamter; später wurde er in einer Irrenanstalt untergebracht, als man sich vollends überzeugt hatte, daß er verrückt war. Nun, also dieser Mann hatte sich folgendes zu seinem Vergnügen erdacht: er entkleidete sich zu Hause vollständig, nur die Stiefel behielt er an, nahm sich dann einen weiten Mantel um, der fast bis zu den Fersen reichte, hüllte sich in ihn ein und ging dann mit ernster, erhabener Miene hinaus auf die Straße. Von der Seite gesehen – ein Mensch in einem Mantel spaziert dort wie alle anderen zu seinem Vergnügen. Sobald es sich aber so machte, daß ihm jemand entgegenkam, ringsum aber kein anderer Mensch zu sehen war, so ging er mit dem ernstesten und vertrauenerweckendsten Gesicht auf ihn zu, blieb dann plötzlich vor ihm stehen, schlug seinen Mantel auf und zeigte sich in seiner ganzen ... Naturtreue. Das dauerte nur einen Augenblick, dann hüllte er sich wieder ein und schritt stumm, ohne auch nur mit einem Gesichtsmuskel zu zucken, an dem sprachlos ihn Anstarrenden vorüber, ruhig, majestätisch, wie der Geist von Hamlets Vater. So tat er es mit allen, Männern, Frauen, Kindern, und darin bestand sein ganzes Vergnügen. Nun, einen Teil dieses Vergnügens kann man auch dann empfinden, wenn man einem jungen Schillerianer plötzlich einen solchen Keulenhieb versetzt und ihm die Zunge zeigt in einem Augenblick, in dem er am wenigsten so etwas erwartet. Hm, – wie gefällt Ihnen das Wörtchen ‚Keulenhieb‘? Ich habe es irgendwo in unserer – pardon! – in Ihrer modernen Literatur aufgestöbert.“ „Jener war ein Verrückter, Sie aber ...“ „Ich aber bin bei vollem Verstande?“ „Ja.“ Der Fürst begann zu lachen. „Sie urteilen sehr richtig, mein Lieber,“ fügte er mit der unverschämtesten Miene nur kurz hinzu. „Fürst,“ begann ich empört über seine Frechheit, „Sie hassen uns und jetzt wollen Sie sich an allen und für alles rächen. Und das tun Sie nur aus der kleinlichsten Eigenliebe heraus. Sie sind boshaft, und kleinlich boshaft. Wir haben Sie geärgert; und vielleicht ärgern Sie sich noch mehr als über alles andere zusammengenommen über – jenen Abend! Selbstverständlich konnten Sie sich dafür mit nichts so gut an mir rächen als mit dieser grenzenlosen Verachtung, die Sie mir jetzt bezeugen. Sie lassen sogar die alltäglichste Höflichkeit, um nicht zu sagen Anständigkeit zu der wir alle verpflichtet sind, außer acht. Sie wollen mir so deutlich wie möglich zeigen, daß Sie sich nicht einmal vor mir schämen – da ich es in Ihren Augen wohl auch nicht ‚wert‘ bin –, indem Sie so unverhohlen und unerwartet Ihre scheußliche Maske abreißen und sich in einem sittlichen Zynismus präsentieren, der ...“ „Wozu sagen Sie mir denn das alles?“ fragte er, mich frech und boshaft betrachtend. „Um Ihren Scharfblick zu beweisen?“ „Um zu beweisen, daß ich Sie durchschaue und um Ihnen das mitzuteilen.“ „^Quelle idée, mon cher!^“ Er verfiel wieder in den früheren heiter-gutmütigen Plauderton. „Sie haben mich jetzt nur vom Thema abgelenkt. ^Buvons, mon ami^, erlauben Sie, daß ich Ihnen einschenke. Ich hatte gerade die Absicht, Ihnen ein entzückendes und höchst interessantes Abenteuer zu erzählen. Ich will es nur so in großen Zügen wiedergeben. Ich war einmal mit einer Dame bekannt. Sie war nicht mehr ganz jung, sondern so zwischen sieben- und achtundzwanzig; dafür aber eine erstklassige Schönheit. Welch eine Büste, welche Haltung, welcher Gang! Ihr Blick war durchdringend scharf, hatte etwas Adlerhaftes, doch blieb er stets streng und hart; in ihrem Benehmen war sie königlich unnahbar. Es hieß von ihr, sie sei kalt wie ein sibirischer Winter, und mit ihrer fast grausamen Tugend flößte sie allen Schrecken ein. Ja, ‚grausamen‘! Im ganzen Kreise gab es keinen strengeren Richter als sie. Sie verurteilte nicht nur das Laster, sondern sogar die geringste Schwäche an den anderen Frauen, und verurteilte erbarmungslos, ohne Rücksicht und Appellationsmöglichkeit. Ihr Einfluß, ihre Bedeutung in der Gesellschaft, waren unermeßlich. Selbst die stolzesten Damen und wegen ihrer Tugend am meisten gefürchteten Greisinnen beugten sich vor ihr und suchten sich sogar bei ihr einzuschmeicheln, während sie auf alle gleichmütig erhaben herabblickte, wie etwa eine Äbtissin eines mittelalterlichen Klosters. Die jungen Frauen und Mädchen zitterten vor ihr und erbleichten unter ihrem Blick, denn sie wußten, daß eine Bemerkung, nur eine Andeutung von ihr genügte, um einen Ruf zu vernichten – so groß war nun einmal ihr Ansehen in der Gesellschaft. Sogar die Herren fürchteten sie. Zum Schluß versenkte sie sich in einen gewissen philosophischen Mystizismus, in dem sie aber übrigens ebenso ruhig und erhaben blieb. ... Und was glauben Sie: es gibt kein Weib, das verderbter sein könnte als es diese war. Und ich hatte das Glück, ihr Vertrauen im vollsten Maße zu gewinnen. Mit einem Wort – ich war ihr heimlicher Geliebten. Die Zusammenkünfte wußte sie aber so geschickt, so meisterhaft geschickt zu arrangieren, daß nicht einmal jemand von ihren Hausgenossen auch nur den geringsten Verdacht schöpfen konnte. Nur ihre Kammerzofe, eine nette kleine Französin, war in alle ihre Geheimnisse eingeweiht; doch auf diese Zofe konnte man sich vollkommen verlassen, denn sie war gleichfalls an den Geheimnissen beteiligt – inwiefern – das übergehe ich diesmal. Meine Dame war aber so erotisch lüstern, daß selbst der Marquis de Sade von ihr noch hätte lernen können. Doch das Stärkste, das Durchdringendste und Erschütterndste an dieser Wollust war – die Heimlichkeit und die Unverschämtheit des Betruges. Diese Verhöhnung alles dessen, was die Gräfin in der Gesellschaft als Höchstes und Heiligstes pries, was sie über Moral und Sittlichkeit sprach, und schließlich dieses innerliche teuflische Gelächter, mit dem sie es tat, dieses bewußte Unter-die-Füße-treten und Verleugnen alles dessen, was man doch nicht verleugnen kann – und alles das grenzenlos, bis zum äußersten getrieben, bis zu einem Grade, den sich auch die wildeste Phantasie nicht träumen lassen könnte – sehen Sie, darin lag die Quintessenz dieses Genusses. Sie war der leibhaftige Teufel, ein Teufel von Fleisch und Blut, aber dieser Teufel war doch so bezaubernd, daß ihm niemand hätte widerstehen können. Ich vermag auch jetzt noch nicht, ohne Begeisterung an dieses Weib zurückzudenken. Gerade in der Glut des heißesten Genusses begann sie plötzlich zu lachen – wie eine Wahnsinnige, und ich begriff, begriff vollkommen dieses Gelächter und stimmte selbst ein in ihr unbändiges Lachen. Auch jetzt noch stockt mir der Atem, bei der bloßen Erinnerung daran, obschon es vor so vielen Jahren war. Nach einem Jahr verabschiedete sie mich; sie nahm einen anderen. Selbst wenn ich gewollt hätte – ich hätte ihr doch nicht schaden können. Wer hätte es mir denn geglaubt? – Nun, wie finden Sie diesen Charakter? Was sagen Sie dazu, mein junger Freund?“ „Pfui, welch ein Ekel!“ sagte ich angewidert. „Sie wären nicht mein junger Freund, wenn Sie anders geantwortet hätten! Ich wußte es ja, daß Sie genau so antworten würden. Hahaha! Warten Sie, ^mon ami^, Sie werden noch leben und es dann auch begreifen, jetzt aber – jetzt muß ich Ihnen noch ein Törtchen servieren. Nein, wenn Sie das nicht verstehen, dann sind Sie kein Dichter: diese Frau begriff das Leben und sie verstand, es auszunutzen.“ „Aber weshalb es denn so bis zum Tierischen treiben?“ „Wieso, bis zum Tierischen?“ „Zu dem diese Frau gelangte und Sie mit ihr.“ „Ah, Sie nennen das tierisch, – ein Zeichen, daß Sie noch unselbständig am Kindergängelbande gehen. Übrigens ... ich gebe ja gern zu, daß es Selbständigkeit auch in der direkt entgegengesetzten Anschauungsweise geben kann, aber ... reden wir einfacher, ^mon ami^ ... Sie müssen doch zugeben, daß alles das Unsinn ist!“ „Was ist denn nicht Unsinn?“ „Nicht Unsinn ist – die Persönlichkeit, die bin ich selbst. Alles ist für mich, die ganze Welt ist nur für mich geschaffen. Hören Sie, mein Freund, ich glaube noch daran, daß man auf Erden gut leben kann. Das aber ist der beste Glaube, denn ohne ihn kann man ja nicht einmal schlecht leben: da müßte man sich vergiften. Ein Dummkopf soll es auch getan haben. Er philosophierte so lange, bis er mit seiner Philosophie alles zerstört hatte, alles, sogar die Gesetzmäßigkeit aller normalen und natürlichen Pflichten der Menschen, und er ging darin so weit, daß ihm zum Schluß nichts mehr übrig blieb: der Rest war gleich Null, und so verkündete er denn, daß das Beste im Leben Blausäure sei. Sie werden sagen: das war Hamlet, Hamlets grausame Verzweiflung, – mit einem Wort, irgend so etwas Großes, an das wir überhaupt nicht zu denken pflegen. Aber Sie sind ja Dichter, während ich ein gewöhnlicher Mensch bin, und deshalb sage ich Ihnen, daß man nur vom praktischsten und gewöhnlichsten Gesichtspunkt aus auf die Sache sehen muß. Ich zum Beispiel habe mich schon längst von allen Fesseln und sogar Pflichten befreit. Ich betrachte mich nur dann zu etwas verpflichtet, wenn mir daraus irgend ein Vorteil erwächst. Sie können sich natürlich nicht auf diesen Standpunkt stellen, Ihre Füße sind in Fesseln verwickelt und Ihr Geschmack ist krank. Sie philosophieren nach dem Maßstab des Ideals. Aber, mein Lieber, ich wäre doch selbst mit dem größten Vergnügen zu jeder Anerkennung, die Sie nur wünschen, bereit, bloß – was soll ich denn tun, wenn ich genau weiß, daß die Grundlage jeder menschlichen Tugend der größte Egoismus ist. Und je tugendhafter etwas ist, um so mehr Egoismus ist darin. Liebe dich selbst, – das ist das einzige Gesetz, das ich anerkenne. Das Leben ist in meinen Augen ein Handelsgeschäft: für nichts gibt’s nichts. Werfen Sie nicht umsonst Ihr Geld fort, aber, falls nötig, zahlen Sie für die Bewirtung und Sie kommen damit all Ihren Verpflichtungen nach, die Sie Ihrem Nächsten schuldig sind – das ist meine Moral, wenn es Sie zu wissen interessiert ... Doch gestehe ich Ihnen, daß es meiner Meinung nach noch besser ist, seinem Nächsten nicht zu zahlen, sondern es zu verstehen, ihn kostenlos auszunutzen. Ideale habe ich nicht und will sie auch nicht haben; gesehnt habe ich mich nach ihnen niemals. Es läßt sich auch ohne Ideale so lustig, so reizend auf der Welt leben ... und ^en somme^ bin ich sehr froh, daß ich ohne Blausäure auskommen kann. Denn – wäre ich nur ein wenig tugendhafter, so würde ich vielleicht doch nicht ohne sie auskommen, wie jener Dummkopf von Philosoph – zweifellos ein Deutscher ... Nein! Im Leben gibt es noch soviel Begehrenswertes! Ich liebe Einfluß, Rang und Titel, ein eigenes Palais, einen hohen Einsatz beim Spiel – überhaupt liebe ich das Spiel leidenschaftlich. Aber die Hauptsache, die Hauptsache sind doch – die Weiber ... Weiber jeder Kategorie; ich liebe sogar ganz heimliche, dunkle Ausschweifung, so eine etwas seltsamere und originellere, sogar ein wenig mit Schmutz zur Abwechslung ... Hahaha! Da sehe ich Ihr Gesicht: mit welch einer Verachtung Sie mich jetzt anblicken!“ „Darin haben Sie recht.“ „Nun, sagen wir, daß Sie recht haben, aber in jedem Fall ist doch dieser Schmutz immer noch besser als Blausäure. Nicht wahr?“ „Nein, da ist doch Blausäure besser.“ „Ich fragte Sie mit Absicht ‚nicht wahr‘, nur um mich an Ihrer Antwort zu ergötzen. Ich wußte, was Sie antworten würden. Nein, mein Freund, wenn Sie ein aufrichtiger Menschenfreund sind, so wünschen Sie allen klugen Leuten den Geschmack, den ich habe, also auch am Schmutz Gefallen zu finden, denn sonst würde doch ein kluger Mensch bald nichts auf der Welt zu tun haben und es blieben einzig die Dummköpfe übrig. Was die dann glücklich wären! Aber wissen Sie, es gibt nichts Angenehmeres als unter Dummköpfen zu leben und zu allem, was sie reden, stets ‚Gewiß, gewiß, sehr richtig!‘ zu sagen. Sie ahnen nicht, wie vorteilhaft das ist! Beachten Sie es weiter nicht, daß Vorurteile mir gefallen, daß ich mich nach gewissen Bedingungen richte, mich um größeren Einfluß bemühe. Ich sehe doch, daß ich in einer leeren Gesellschaft lebe. Aber es ist vorläufig ein warmer Platz, und ich stimme ihnen bei und tue, als stände ich wie eine Mauer für sie, und dabei wäre ich bei Gelegenheit der erste, der sie verläßt. Ich kenne doch alle Ihre neuen Ideen, wenn ich auch um ihretwillen nie leide – wozu auch? Gewissensbisse habe ich nie empfunden. Ich bin mit allem einverstanden, wenn es nur mir gut geht. Und solcher wie ich gibt es unter uns Legionen, und wir sind auch wirklich glücklich. Alles in der Welt kann untergehen, nur wir allein werden nie untergehen. Wir existieren ebenso lange wie die Welt existiert. Sollte auch die ganze Erde irgendwo im All ertrinken, wir würden selbst dann wie Fett an die Oberfläche kommen und wieder obenauf schwimmen. Nehmen Sie nur dies eine: sehen Sie doch, wie lebenszäh solche Menschen wie wir sind. Wir sind doch phänomenal zäh! – ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Wir leben achtzig, leben sogar neunzig Jahre! Folglich kann man sagen, daß die Natur selbst uns beschützt, hehehe ... Ich will unbedingt neunzig Jahre leben. Ich liebe den Tod nicht, ich fürchte ihn sogar. Weiß der Teufel, wie man noch mal sterben wird! Doch wozu davon reden! Dieser verd... Blausäuren-Philosoph hat mich ja nur darauf gebracht. Hol der Teufel die ganze Philosophie. ^Buvons, mon cher.^ Wir begannen doch, wenn ich nicht irre, von den netten Mädeln ... Wohin wollen Sie?“ „Ich gehe, und auch für Sie wäre es Zeit ...“ „^Eh bien, eh bien!^ Hören Sie mal, das geht so nicht: ich habe hier mein ganzes Herz vor Ihnen ausgebreitet, und Sie wollen einen so seltenen Freundschaftsbeweis nicht einmal würdigen! Hehehe! Es steckt wenig Liebe in Ihnen, mein Poet. Warten Sie, ich will noch eine Flasche ...“ „Die dritte?“ „Die dritte. Was die Tugend betrifft, mein Zögling – Sie erlauben mir doch, Sie mit diesem Kosewort anzureden? – und wer weiß, vielleicht fallen meine Lehren noch auf fruchtbaren Boden ... Also, mein Zögling, was die Tugend betrifft, so habe ich Ihnen ja schon gesagt: je tugendhafter die Tugend ist, um so mehr liegt in ihr Egoismus. Als Beispiel hierfür will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ich liebte einmal ein junges Mädchen und liebte sie fast aufrichtig. Sie hat mir sogar manches geopfert ...“ „Ist das dieselbe, die Sie bestohlen haben?“ fragte ich plötzlich in beleidigendem Tone, denn ich wollte mich nicht mehr beherrschen. Der Fürst zuckte zusammen, sein Gesicht veränderte sich und er sah mich mit seinen entzündeten Augen unverwandt an: in seinem Blick lag verständnislose Verwunderung und Wut. „Warten Sie,“ sagte er wie zu sich selbst, „warten Sie, lassen Sie mich nachdenken. Ich bin in der Tat betrunken, es fällt mir schwer, zu denken ...“ Er verstummte und sah mich böse und gehässig an, während er meine Hand festhielt, als fürchte er, daß ich fortgehen könnte. Ich bin überzeugt, daß er sein Denken krampfhaft anspannte, um zu erraten, woher ich von diesem seinem Erlebnis, von dem doch so gut wie niemand etwas wußte, erfahren haben konnte, und ob nicht darin irgendeine Gefahr lag? So verharrte er eine Weile regungslos. Plötzlich veränderte sich sein Gesicht: der frühere spöttische, trunken heitere Ausdruck erschien wieder in seinen Augen. Er lachte laut auf. „Ha–ha–ha! O Talleyrand! Nun, was, ich stand allerdings wie bespien vor ihr, als sie es mir so ins Gesicht warf, daß ich sie bestohlen habe! Wie sie kreischte, wie sie mich segnete! Ein verrücktes Frauenzimmer ... und ohne jede Dressur. Aber so urteilen Sie doch selbst: erstens, hatte ich sie durchaus nicht bestohlen, wie Sie sich ausdrückten – sie hatte mir das Geld geschenkt und folglich gehörte es mir. Nehmen wir an, Sie schenken mir Ihren besten Frack,“ – er warf einen kritischen Blick auf meinen einzigen und ziemlich billigen Frack, den mir vor drei Jahren der Schneider Iwan Skornjägin genäht hatte – „ich bin Ihnen dankbar und trage ihn, nach einem Jahr aber ärgern Sie sich plötzlich über mich und da verlangen Sie von mir den Frack zurück, ich aber habe ihn schon vertragen ... So etwas ist unfein. Weshalb haben Sie ihn mir denn geschenkt? Und zweitens hätte ich ihr das Geld, das mir und nicht mehr ihr gehörte, unfehlbar zurückgegeben, aber, nicht wahr: wo hätte ich im Augenblick eine so große Summe hernehmen können? Und vor allen Dingen kann ich nun mal Schäferspiele und Schillerianer nicht ausstehen, wie ich Ihnen schon sagte, nun, das aber war eben die ganze Veranlassung ... Sie glauben nicht, wie sie vor mir Theater spielte, als sie schrie, daß sie mir das Geld schenke – das Geld, das mir gehörte! Das machte mich wütend und plötzlich sah ich ganz richtig ein – meine Geistesgegenwart verläßt mich nie in solchen Augenblicken – daß ich sie ja einfach unglücklich machen würde, wenn ich ihr das Geld zurückgeben würde. Damit hätte ich ihr doch den Genuß geraubt, _durch mich_ vollkommen unglücklich zu sein und mich ihr Leben lang zu verfluchen. Glauben Sie mir, mein Freund, in einem solchen Unglück liegt sogar ein gewisser Rausch, wenn man sich selbst so vollkommen im Recht fühlt und wenn man weiß, daß man großmütig gehandelt hat und berechtigt ist, den Beleidiger einen Schurken zu nennen. Das sind natürlich zumeist Schillernaturen, die sich an ihrem Haß so berauschen können. Vielleicht hat sie später nichts zu essen gehabt, aber ich bin überzeugt, daß sie glücklich war. Und da ich sie dieses Glückes nicht berauben wollte, sandte ich ihr das Geld nicht zurück. Somit ist meine Theorie durchaus gerechtfertigt, daß, je lauter und größer die menschliche Großmut ist, man bei genauerer Beobachtung einen um so größeren und widerlicheren Egoismus hinter ihr entdeckt ... Sollte Ihnen das wirklich nicht klar sein? ... Aber ... Sie wollten mir ja nur ein Bein stellen und mich fangen, ha–ha–ha! ... Nun, so gestehen Sie doch, daß Sie’s wollten? ... O, Sie Talleyrand!“ „Adieu!“ sagte ich, und ich stand entschlossen auf. „Einen Augenblick! Nur noch zwei Worte zum Schluß!“ rief er, mich zurückhaltend, aus, und plötzlich in ernstem Ton, im Gegensatz zu seiner bisherigen widerlich frivolen Weise. „Hören Sie nur noch das Letzte an, das ich Ihnen zu sagen habe: aus all dem Gesagten geht, denke ich, klar und deutlich hervor – ich hoffe, daß auch Sie es gemerkt haben –, daß ich niemals und unter keiner Bedingung meinen Vorteil jemandem opfern werde. Ich liebe Geld und ich brauche es. Katherina Fedorowna ist sehr reich: ihr Vater war zehn Jahre lang Branntweinpächter. Sie hat drei Millionen Rubel, und dieses Geld wird mir sehr zustatten kommen. Aljoscha und Katjä sind wie geschaffen füreinander; beide sind sie Dummköpfe erster Sorte, und das ist es gerade, was ich bedarf. Deshalb wünsche und will ich, daß sie sich heiraten, und zwar möglichst bald. Nach zwei, höchstens drei Wochen werden die Gräfin und Katjä Petersburg verlassen. Aljoscha muß sie begleiten. Ich wünsche es so. Bereiten Sie also Natalja Nikolajewna darauf vor: damit es zu keinen Szenen kommt und keine Schillerrollen gespielt werden, und sie sich nicht etwa gegen mich auflehnt. Ich bin rachsüchtig und böse von Natur; ich werde meinen Willen durchsetzen. Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich sie fürchte. Selbstverständlich wird alles nach meinem Willen geschehen und deshalb geschieht es fast nur in ihrem Interesse, wenn ich sie warnen lasse. Also sorgen Sie dafür, daß es keine Dummheiten gibt und sie sich vernünftig benimmt. Anderenfalls würde es ihr schlimm ergehen, sehr schlimm. Müßte sie mir doch allein schon dafür dankbar sein, daß ich nicht so, wie es sich eigentlich gehört hätte, mit ihr verfahren bin, einfach gesetzmäßig. Wissen Sie auch, mein Poet, daß das Gesetz die Familie beschützt: das Gesetz garantiert dem Vater für den Gehorsam des Sohnes, und diejenigen, die die Kinder von ihren Pflichten den Eltern gegenüber ablenken, stehen nicht unter dem Schutz des Gesetzes. Und ziehen Sie gefälligst auch das in Betracht, daß ich überaus einflußreiche Verbindungen habe, wessen sie sich nicht im geringsten rühmen kann, und – begreifen Sie denn nicht, was ich mit ihr tun könnte? ... Ich habe aber noch nichts getan, weil sie sich bisher noch vernünftig verhielt. Während dieses halben Jahres haben achtsame Augen jede ihrer Bewegungen beobachtet und ich wurde von jedem letzten Detail in Kenntnis gesetzt. Und ich wartete ruhig ab, bis der Zeitpunkt kommen würde, an dem Aljoscha sie von selbst verläßt, was ja jetzt bereits der Fall ist; vorläufig aber ist es für ihn eine nette Zerstreuung. Und so bin ich in seinen Augen der humane Vater geblieben, und das wünsche ich gerade, daß er so über mich denkt. Ha–ha–ha! Wenn ich bedenke, daß ich ihr beinahe Komplimente gesagt habe – damals, an jenem Abend – und mich bei ihr quasi bedankt habe für ihre uneigennützige Großmut, die sie darin bewiesen, daß sie ihn nicht geheiratet – ich möchte bloß wissen, wie sie das angestellt hätte! Und was meinen damaligen Besuch bei ihr betrifft, so ging ich nur deshalb zu ihr, weil es doch endlich Zeit war, mit diesem Verhältnis ein Ende zu machen. Ich mußte mich von allem persönlich überzeugen, das war es ... Nun, sind Sie jetzt zufriedengestellt? Oder wollen Sie vielleicht noch erfahren, wozu ich Sie hierher geführt, weshalb ich diese Gespräche vom Zaun gebrochen und so rückhaltlos offen gewesen bin, während man dies auch ohne jede Offenheit Ihnen hätte mitteilen können – ja?“ „Ja.“ Ich bezwang mich gewaltsam und wartete. Zu sagen hatte ich ihm nichts weiter. „Einzig deshalb, mein Freund, weil ich in Ihnen ein wenig mehr Vernunft und klaren Blick bemerkt habe, als sie unsere Närrchen besitzen. Sie hätten auch früher schon wissen, ahnen, erraten können, wer ich bin, vielleicht hatten Sie auch schon in bezug auf mich manche Vermutungen entwickelt, doch nun wollte ich Sie dieser ganzen Mühe überheben und so entschloß ich mich, Ihnen anschaulich zu zeigen, _mit wem Sie es zu tun haben_. Ein persönlicher Eindruck will immer viel sagen. Bemühen Sie sich also, mich zu verstehen, mon ami. Sie wissen, wer ich bin, und da hoffe ich denn, daß Sie, der Sie sie lieben, Ihren ganzen Einfluß – den Sie zweifellos auf sie haben – daransetzen werden, um sie von Handlungen, die _gewisse_ Scherereien nach sich ziehen könnten, abzuhalten. Sollte das nicht der Fall sein, so wird es Scherereien geben, und ich versichere Ihnen, versichere Ihnen allen Ernstes, daß es keine leichten Scherereien sein werden. Nun und dann – der dritte Grund meiner Offenheit ... aber Sie haben ihn ja doch schon erraten, mein Lieber: ja, ich wollte in der Tat diese ganze Geschichte einmal etwas anspeien, und zwar gerade vor Ihnen ...“ „Und Sie haben Ihren Zweck erreicht,“ sagte ich, zitternd vor Empörung. „Ich gebe zu, daß Sie mit nichts Ihre Wut auf uns und die ganze Verachtung, die Sie für mich und uns alle empfinden, so gut hätten ausdrücken können wie gerade mit dieser Offenheit. Sie haben nicht nur nicht befürchtet, daß diese Offenheit Sie in meinen Augen kompromittieren könnte, Sie haben sich sogar nicht einmal vor mir geschämt ... Sie erinnerten in der Tat an jenen Verrückten, der nackt auf die Straße ging. Sie haben mich nicht für einen Menschen gehalten, mich wenigstens nicht zu den Menschen gezählt ...“ „Sie haben es erraten, mein junger Freund,“ sagte er ruhig. Er erhob sich. „Sie haben alles erraten: Sie sind doch nicht umsonst Literat. Ich hoffe, daß wir uns friedlich trennen werden. Brüderschaft jedoch werden wir wohl nicht trinken?“ „Sie sind betrunken, nur deshalb antworte ich Ihnen nicht so wie es sich gehörte ...“ „Wieder ein unvollendeter Satz. – Weshalb sprechen Sie es nicht aus, wie es sich zu antworten gehörte? Hahaha! Für Sie zu zahlen erlauben Sie mir nicht?“ „Beruhigen Sie sich, ich zahle selbst.“ „Nun, zweifellos. – Wir haben wohl nicht denselben Weg?“ „Ich werde nicht mit Ihnen fahren.“ „Adieu, mein Poet. Ich hoffe, daß Sie mich verstanden haben ...“ Er verließ mich – wie ich bemerkte, mit etwas unsicheren Schritten – ohne sich noch nach mir umzuwenden. Der Portier half ihm beim Einsteigen. Ich ging meiner Wege. Es war gegen drei Uhr morgens. Es regnete, die Nacht war dunkel ... Vierter Teil I. Ich will meine Wut nicht weiter beschreiben. Obschon ich mich so ziemlich auf alles gefaßt gemacht hatte, fühlte ich mich doch so überrumpelt, als hätte ich das nicht von ihm erwartet und als wäre er so überraschend wie ein Blitz aus heiterem Himmel in seiner ganzen schamlosen Gemeinheit vor mich hingetreten. Übrigens entsinne ich mich, daß ich mir meiner Empfindungen im Augenblick nicht ganz bewußt war: es war mir, als sei ich zu Boden gedrückt, verletzt, geschlagen, und schwerer, undefinierbarer Kummer bedrückte mein Herz. Ich fürchtete für Natascha. Konnte ich mir doch denken, wieviel Qualen ihr bevorstanden, und ich suchte halb unbewußt nach Wegen, auf denen man sie umgehen, vermeiden könnte, und sann auf Mittel, um ihr diese letzte Zeit vor der endgültigen Entscheidung zu erleichtern. Denn wie diese Entscheidung ausfallen würde, war doch schon vorauszusehen. Und sie näherte sich erschreckend schnell. Ich gewahrte nicht einmal, wie ich den Weg nach Haus zurücklegte, obschon der Regen mich gründlich durchnäßte. Es schlug drei, als ich ins Haus trat. Kaum hatte ich an meine Tür geklopft, da hörte ich ein Stöhnen und wie jemand eilig den Riegel zurückzog. Wie es schien, hatte Nelly sich nicht zu Bett gelegt, sondern die ganze Zeit an der Tür gewartet. Das Licht brannte auf dem Tisch. Ich blickte ihr ins Gesicht und erschrak: es war geradezu entstellt. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, auf den Wangen brannten rote Flecke, und dabei sah sie mich so wild und scheu an, als erkenne sie mich nicht. Ihre glühend heißen Hände zitterten. „Nelly, was fehlt dir, bist du krank?“ fragte ich, mich zu ihr niederbeugend, und ich umfaßte sie mit meinen Armen. Sie schmiegte sich zitternd an mich, als fürchte sie sich, und stoßweise, dabei atemlos schnell, begann sie mir etwas zu erzählen, als habe sie mich nur deshalb erwartet, um mir alles das zu sagen. Doch ihre Worte waren seltsam und ganz zusammenhanglos: ich begriff nichts. Sie aber sprach immer weiter wie im Fieber. Ich führte sie vorsichtig zum Bett, doch war es mir unmöglich, sie zu bewegen, sich hinzulegen und einzuschlafen: sie klammerte sich krampfhaft an mich, immer als fürchte sie sich maßlos und bitte mich, sie zu beschützen; und als sie dann endlich im Bett lag, griff sie wieder nach meiner Hand und hielt sie krampfhaft fest, damit ich nur nicht fortginge. Ich war aber von all dem Erlebten so nervös geworden, und diese letzte Überraschung hatte mich so erschüttert, daß ich, als ich so an ihrem Bett saß und ihr fieberglühendes Gesichtchen sah, plötzlich zu schluchzen begann. Ich war gleichfalls krank. Als sie meine Tränen bemerkte, sah sie mich lange Zeit unbeweglich mit krampfhaft angespannter Aufmerksamkeit an: sie schien sich die größte Mühe zu geben, mich zu verstehen, doch fiel es ihr augenscheinlich sehr schwer. Endlich löste sich die Spannung in ihren Zügen, und ein Gedanke erhellte ihr Gesicht. Ich wußte, daß sie nach einem schweren epileptischen Anfall gewöhnlich eine Zeitlang nicht ganz zu sich kommen konnte und daher vermochte sie auch nicht zu sprechen. Diesmal war es ebenso: sie strengte sich vergeblich an, etwas zu sagen, doch als sie erriet, daß ich sie nicht verstehen konnte, streckte sie nur ihre kleine Hand aus und wischte mir die Tränen von den Wangen, dann schlang sie ihren Arm um meinen Hals und küßte mich. Offenbar hatte sie in meiner Abwesenheit einen epileptischen Anfall gehabt, und zwar in einem Augenblick, als sie bei der Tür gestanden. Nachher wird sie dann lange bewußtlos dort gelegen haben und vielleicht war ihr dann in den Delirien irgend etwas Furchtbares erschienen, was sie so mit Angst erfüllt hatte. Vielleicht hat sie dann auch unklar daran gedacht, daß ich bald zurückkehren und an die Tür pochen würde, und so blieb sie wartend dort liegen, um sich bei meinem ersten Klopfen zu erheben. „Aber wie kam sie denn gerade in dem Augenblick zur Tür?“ fragte ich mich, und plötzlich bemerkte ich zu meiner Verwunderung, daß sie ihren kleinen Pelz angezogen hatte. Ich hatte nämlich kurz vorher von einer alten Händlerin, die mich bisweilen aufsuchte und mir Kredit gewährte, dieses Mäntelchen für sie erstanden. Folglich mußte sie doch im Begriff gewesen sein, das Zimmer zu verlassen, als der Anfall sie vor der Tür zu Boden warf. Wohin aber hatte sie denn gehen wollen? Oder sollte sie auch da schon im Fieber halb bewußtlos gewesen sein? Ihre Händchen waren heiß, das Fieber mußte gestiegen sein: sie lag bewußtlos auf dem Bett und phantasierte hin und wieder. Zweimal bereits hatte sie in meiner Wohnung einen Anfall bekommen, doch diesmal schien sie ernstlich erkrankt zu sein. Ich saß wohl über eine halbe Stunde bei ihr am Bett, dann machte ich mir auf dem Diwan ein Lager zurecht und legte mich, so wie ich war, in den Kleidern hin, um sogleich aufstehen zu können, falls sie mich rief. Das Licht ließ ich brennen. Bevor ich einschlief, blickte ich noch mehrere Male zu ihr hinüber: sie war beängstigend bleich; auf ihren fieberheißen trockenen Lippen bemerkte ich Blutspuren; aus ihrem Gesicht schwand aber selbst im Schlaf nicht der Ausdruck von Angst und einer gewissen qualvollen Sorge. Ich beschloß, am nächsten Morgen so früh als möglich zum Arzt zu gehn, wenn sich ihr Zustand nicht vorher noch verschlimmerte. Ich befürchtete, sie könnte Nervenfieber bekommen. „Das muß der Fürst gewesen sein, der sie so erschreckt hat!“ sagte ich mir und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich dachte daran, wie er von jenem Mädchen gesprochen, das ihm ihr Geld ins Gesicht geworfen. II. ... Es vergingen zwei Wochen. Nelly ging es besser. Zu einem Nervenfieber war es glücklicherweise nicht gekommen, aber trotzdem war sie nach dem Anfall sehr schwer erkrankt. An einem hellen klaren Tage gegen Ende April verließ sie zum erstenmal das Bett. Es war in der Karwoche. Armes kleines Geschöpf! Ich kann meine Erzählung nicht in der früheren Weise fortsetzen. Jetzt, wo ich all dies niederschreibe, ist schon viel Zeit darüber vergangen, und dennoch kann ich nicht ohne bitteres Weh an dies bleiche, schmale Gesichtchen zurückdenken, an den tiefen Blick ihrer dunklen Augen, wenn wir allein waren und sie mich von ihrem Bett aus ansah, lange und regungslos, als wolle sie mich auffordern, zu erraten, was sie im Sinne hatte; und wenn sie dann sah, daß ich noch immer nichts erriet und sie verständnislos ansah, lächelte sie still, gleichsam in sich hinein, um dann plötzlich ihr heißes Händchen mit den hageren Fingerchen mir entgegenzustrecken. Jetzt gehört das alles schon der Vergangenheit an, alles hat sich entschieden und alles ist bekannt, nur das Geheimnis dieses kranken, gequälten kleinen Herzens ist mir auf immer noch ein Geheimnis geblieben. Ich weiß, daß es mich von der Erzählung ablenkt, aber ich kann nicht anders, ich will immer nur an Nelly denken. Wie seltsam ist es jetzt: ich liege im Hospital auf einem schlichten Krankenbett, vergessen von allen, die ich einst so geliebt ... Und wenn mir jetzt irgend etwas Nebensächliches aus jener Zeit einfällt, etwas, das ich damals vielleicht kaum bemerkt und bald vergessen hatte, so beginnt es hier in der Einsamkeit unmerklich zu wachsen und wird groß und größer und erhält eine ganz andere Bedeutung, wird zu etwas Ganzem, Abgerundetem, das mir nun manches erklärt, was ich damals nicht zu begreifen verstand. In den ersten vier Tagen ihrer Krankheit waren wir, der Arzt und ich, sehr besorgt um sie, am fünften Tage aber nahm mich der Arzt beiseite und sagte mir, daß ich mich beruhigen solle, denn sie werde bestimmt gesund werden. Es war das derselbe Arzt, der alte Junggeselle und gutmütige Sonderling, den ich schon bei Nellys erster Erkrankung konsultiert und der ihr mit seinem Stanislausorden am Halse so unendlichen Respekt eingeflößt hatte. „Dann ist also nichts mehr zu befürchten?“ fragte ich erfreut. „Nein, sie wird jetzt gesund werden, dann aber wird sie bald sterben.“ „Wie das? Sterben? Weshalb denn?“ rief ich ganz erschrocken aus, fast verblüfft durch dieses seltsame Urteil. „Ja, sie wird unfehlbar bald sterben. Sie hat einen organischen Herzfehler und wird bei der geringsten Gemütserregung wieder so weit sein, daß sie ins Bett muß. Möglicherweise wird sie auch dann noch einmal gesund werden, aber jedenfalls nicht mehr auf lange.“ „Und kann man sie denn wirklich nicht retten? Nein, das kann unmöglich so sein!“ „Aber es ist so. Freilich ... wenn man alle Widerwärtigkeiten aus dem Wege räumen, ihr ein ruhiges, stilles Leben und verschiedene Vergnügungen bieten könnte, dann ließe sich der Tod noch etwas hinausschieben. Es gibt allerdings Fälle ... allerdings nur Ausnahmen ... die in der Regel ganz unerwartet vorkommen, daß ... mit einem Wort, die Kleine könnte sogar unter gewissen überaus günstigen Umständen gerettet werden, auf immer gerettet aber – niemals.“ „Ja, aber ... mein Gott, was soll man denn jetzt tun?“ „Vor allen Dingen meine Vorschriften befolgen: sie muß ein ruhiges Leben führen und regelmäßig die Pulver einnehmen. Wie ich bemerkt habe, scheint die Kleine recht eigensinnig zu sein, vielleicht auch etwas launenhaft und spottlustig. Jedenfalls liebt sie es nicht sonderlich, pünktlich nach der Vorschrift die Pulver einzunehmen. Soeben weigerte sie sich doch mit allem Nachdruck.“ „Ja, Sie haben recht. Sie ist in der Tat etwas sonderbar bisweilen, nur möchte ich das ihrer krankhaften Reizbarkeit zuschreiben. Gestern war sie sehr gehorsam; als ich ihr aber heute die Arznei brachte, nahm sie den Löffel scheinbar aus Versehen so unvorsichtig, daß sie alles verschüttete. Und als ich mit dem neuen Pulver kam, riß sie mir das Kärtchen aus der Hand und schleuderte es dorthin in den Winkel, worauf sie in Tränen ausbrach ... Doch glaube ich nicht, daß sie deshalb geweint hat, weil sie die Pulver einnehmen sollte.“ „Hm! Nerven, nichts als Nerven! Das hängt mit dem früheren großen Unglück zusammen, daher auch ihre Krankheit. (Ich hatte dem Doktor ausführlich und offenherzig Nellys Lebensgeschichte erzählt, und meine Erzählung hatte einen sehr großen Eindruck auf ihn gemacht.) Das einzige Mittel dagegen sind diese Pulver, sie muß durchaus die Pulver einnehmen. Ich werde ihr noch einmal eine Vorlesung halten über die Pflicht, den ärztlichen Vorschriften nachzukommen ... das heißt im allgemeinen gesagt ... die Pulver einzunehmen.“ Wir verließen beide die Küche, wo unsere Unterredung stattgefunden, und der Doktor trat wieder ans Bett der Kranken. Nelly mußte unser Gespräch gehört haben, denn ich hatte aus der Küche bemerkt, wie sie den Kopf hob und angestrengt zu lauschen schien. Als sie uns jetzt kommen hörte, schlüpfte sie wieder unter die Decke und sah uns mit einem spöttischen Lächeln entgegen. Die Arme hatte in diesen vier Tagen ihrer Krankheit sehr abgenommen. Die Augen lagen in großen Höhlen und immer noch zehrte das Fieber an ihr. Um so seltsamer fiel ihr schelmischer, herausfordernd glänzender Blick auf, der meinen guten Doktor, den besten aller Deutschen in Petersburg, höchst verwundern mußte. Er sprach ernst, wenn auch nach Möglichkeit mit weicher Stimme und im zärtlichsten Ton auf sie ein, um sie von der Notwendigkeit und Heilkraft der Pulver zu überzeugen und daß es also die Pflicht jedes Kranken sei, dem Arzt zu gehorchen ... Nelly hob das Köpfchen, um die Medizin einzunehmen, stieß aber wie zufällig mit einer Handbewegung an den Löffel und die ganze Arzenei wurde wieder verschüttet. Ich bin fest überzeugt, daß sie es mit Absicht getan. „Das war eine sehr unangebrachte Unvorsichtigkeit,“ sagte ruhig der Alte, „und ich glaube, daß sie mit Absicht geschah, was durchaus nicht lobenswert ist. Doch ... man kann alles wieder gut machen, darum werde ich ein zweites Pulver zubereiten.“ Nelly lachte ihm offen ins Gesicht. Der Doktor schüttelte methodisch den Kopf. „Das ist gar nicht schön,“ sagte er, „sehr, sehr wenig lobenswert.“ „Ärgern Sie sich nicht über mich,“ antwortete ihm Nelly, die sich Mühe gab, nicht mehr zu lachen, „ich werde die Pulver einnehmen ... werden Sie mich aber dafür lieb haben?“ „Wenn Sie sich lobenswert führen, werde ich Sie sehr lieb haben.“ „Sehr?“ „Sehr.“ „Sonst aber lieben Sie mich nicht?“ „Auch sonst liebe ich Sie.“ „Würden Sie mich küssen, wenn ich Sie küssen wollte?“ „Ja, wenn Sie es verdienen.“ Nelly konnte wieder nicht mehr an sich halten und brach in Lachen aus. „Die Patientin scheint einen fröhlichen Charakter zu haben, doch jetzt – sind es nur Nerven,“ flüsterte mir der Doktor mit ernster Miene zu. „Nun schön, ich werde die Pulver nehmen!“ rief Nelly plötzlich mit ihrem schwachen Stimmchen dazwischen. „Doch wenn ich erwachsen sein werde, werden Sie mich dann heiraten?“ Offenbar schien ihr dieser neue Scherz sehr zu gefallen; ihre Augen brannten und ihre Lippen zuckten vor Lachen in Erwartung einer Antwort des einigermaßen in Erstaunen gesetzten alten Doktors. „Nun, ja,“ antwortete er, unwillkürlich über diese neue Laune von ihr lächelnd, „wenn Sie gut und ein wohlerzogenes junges Mädchen sein werden, und gehorsam ...“ „Die Pulver einnehmen werden?“ griff Nelly auf. „Oho! Stimmt! ... Die Pulver einnehmen werden. Ein gutes Kind ist sie,“ wandte er sich wieder an mich, „in ihr ist viel, viel ... Gutes und Kluges, doch, heiraten ... was für eine sonderbare Idee ...“ Und wieder reichte er ihr die Medizin, und diesmal tat sie es nicht einmal mehr versteckt, sondern schlug einfach mit ihrer Hand die Hand des Alten von unten in die Höh’, so daß ihm die ganze Medizin auf das Vorhemd und ins Gesicht spritzte. Dabei lachte sie laut auf, doch war es nicht mehr ein gutes oder fröhliches Lachen ... in ihrem Gesichtsausdruck lag etwas Grausames, Böses. Die ganze Zeit war sie meinem Blick ausgewichen, jetzt sah sie nur lächelnd den Doktor an, aber in ihrem Lächeln lag eine gewisse Unruhe und Erwartung, was der „lächerliche“ Alte jetzt tun würde. „O! schon wieder! ... Wie unangenehm! Nun ... man kann das Pulver noch einmal bereiten!“ Der Alte wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab. Das setzte Nelly wirklich in Erstaunen. Sie hatte unseren ganzen Zorn erwartet, hatte gedacht, daß man ihr Vorwürfe machen würde, was sie sich unbewußt vielleicht sogar herbeigewünscht – als Vorwand um gleich wieder weinen und schluchzen zu können, die Pulver umzuschütten wie vorhin, oder aus Ärger irgend etwas zu zerschlagen, um dadurch ihr verbittertes, schmerzendes Herz zu betäuben. Das geschieht auch mit anderen, nicht nur mit Kranken und nicht nur mit Nelly. Wie oft bin ich selbst im Zimmer auf und ab gegangen mit dem unbewußten Verlangen, durch irgendeinen Vorwand meinem Herzen Luft zu verschaffen. Wie oft verfallen Frauen, deren Herz voll tiefer Trauer, die sie niemandem mitteilen können, in Hysterie. Doch die Engelsgüte des von ihr beleidigten Alten und die Geduld, mit der er von neuem, zum dritten Male, das Pulver verfertigte, ohne ihr einen Vorwurf zu machen, entwaffnete Nelly vollständig. Das Lächeln verschwand von ihren Lippen, sie errötete und der Blick ihrer Augen verschleierte sich: sie streifte auch mich flüchtig mit ihrem Blick, wandte sich aber sofort wieder von mir ab. Der Doktor reichte ihr die Medizin. Sie nahm sie ruhig und bescheiden an, ergriff die rote, gedrungene Hand des Alten und sah ihm in die Augen. „Sind Sie böse, daß ich ...“ sie konnte ihren Satz nicht beenden; sie zog die Decke über den Kopf und fing an zu schluchzen. „O, mein Kind, weinen Sie nicht ... Das hat nichts zu sagen ... Das sind Nerven; trinken Sie etwas Wasser.“ Doch Nelly hörte nicht auf ihn. „Beruhigen Sie sich ... regen Sie sich nicht so auf,“ dabei weinte er fast selbst vor Rührung, denn er war ein sehr gefühlvoller Mensch, „ich verzeihe Ihnen alles und werde Sie heiraten, wenn Sie bei gutem Betragen ein ehrliches Mädchen sein werden, und die ...“ „Pulver einnehmen,“ hörte man unter der Decke wie ein dünnes Glöckchen, ihr nervöses von Schluchzen unterbrochenes Lachen, das mir so gut bekannt war. „Gutes, einsichtsvolles Kind!“ sagte der Doktor triumphierend und fast mit Tränen in den Augen. „Armes Mädchen!“ Seit der Zeit entwickelte sich zwischen ihm und Nelly eine merkwürdige, innige Sympathie. Mir gegenüber wurde Nelly jedoch immer finsterer, nervöser und gereizter. Ich wußte nicht, wie ich mir diesen plötzlichen Umschwung in ihr erklären sollte. In den ersten Tagen ihrer Krankheit war sie zu mir so lieb und zärtlich gewesen; es schien, als könnte sie sich nicht sattsehen an mir, hielt meine Hand in ihrem heißen Händchen, und wenn sie bemerkte, daß ich erregt oder finster aussah, so bemühte sie sich, mich zu erheitern, scherzte, lachte und spielte mit mir, ungeachtet ihrer eigenen Schmerzen. Sie wollte nicht, daß ich arbeitete und die Nächte über wach saß und war unglücklich, wenn ich nicht auf sie hörte. Oft sah sie bekümmert und sorgenvoll aus und fragte mich, warum ich so traurig wäre und was ich auf dem Herzen hätte; doch sonderbar, kamen wir im Gespräch auf Natascha, so verstummte sie sofort und begann von was anderem zu reden. Sie schien es vermeiden zu wollen, von Natascha zu sprechen, und das wunderte mich. Wenn ich nach Hause zurückkehrte, so freute sie sich, griff ich nach der Mütze, so wurde sie finster und ein vorwurfsvoller Blick ihrer Augen begleitete mich. Am vierten Tag ihrer Krankheit saß ich den ganzen Abend bis Mitternacht bei Natascha. Wir hatten viel zu bereden. Als ich das Haus verließ, versprach ich meiner Kranken bald zurückzukehren, was ich auch beabsichtigt hatte. Als ich nun zufällig länger bei Natascha blieb, war ich in betreff Nellys ganz ruhig: ich wußte, daß sie nicht allein geblieben. Bei ihr war Alexandra Ssemjonowna, die durch Masslobojeff, der einen Augenblick bei mir gewesen, erfahren, daß Nelly erkrankt sei und ich sie ganz allein pflegen mußte. Mein Gott, wie die gute Alexandra Ssemjonowna sich darüber aufgeregt hatte! „Also wird er auch Freitag nicht zu uns kommen! ... Und der Arme ist doch allein, ganz allein. Aber da wollen wir ihm wenigstens unser Mitgefühl zeigen und den Zufall nicht unbenutzt vorübergehen lassen.“ Sie erschien sofort bei mir und brachte in der Droschke ein ganzes Bündel Sachen mit sich. Sie erklärte mir denn auch sofort, daß sie mich nicht mehr allein lassen würde und gekommen sei, um mir zu helfen; dabei öffnete sie ihr Bündel. In ihm waren eingemachte Früchte für die Kranke, Hühner für den Fall, wenn es der Kranken besser gehen sollte, Äpfel, Gebäck, Apfelsinen, Kiewer Bretzeln (für den Fall, daß der Doktor sie erlaubte), zuletzt Wäsche, Bettücher, Servietten, Frauenhemden, Kompressentücher – einfach ein ganzes Lazarett. „Wir haben ja alles,“ sagte sie, so schnell als möglich jedes Wort aussprechend, als eilte es sehr, „Sie aber leben als Junggeselle, Sie haben davon wenig. So erlauben Sie mir schon ... und auch Filipp Filippytsch hat es mir befohlen. Nun, was soll ich jetzt ... schnell, schnell! Was soll ich jetzt tun? Wie geht es ihr? Ist sie bei Bewußtsein? Ach, wie schlecht sie liegt, man muß ihr das Kissen zurecht machen, damit ihr Kopf niedriger zu liegen kommt, wissen Sie was ... sollte nicht ein Lederkissen besser sein? Kühler. Ach, wie dumm ich bin! Mir ist es garnicht eingefallen, das Kissen mitzubringen. Ich werde es noch holen ... Soll ich nicht Feuer anmachen? Ich werde Ihnen meine Alte schicken. Ich habe eine Alte, Sie haben ja gar keine weiblichen Dienstboten ... Nun, was soll ich jetzt tun? Was ist das? Die Medizin hat der Doktor verschrieben? Wahrscheinlich Brusttee? Ich werde sofort das Feuer anmachen ...“ Ich beruhigte sie und sie war sehr erstaunt, sogar betrübt, daß es gar nicht so viel zu tun gab wie sie sich gedacht hatte. Doch, im übrigen, wie gesagt, beruhigte sie sich demnach bald; sie befreundete sich sofort mit Nelly und hat mir viel zur Zeit ihrer Krankheit geholfen. Sie besuchte uns jeden Tag und immer schien es, als hätte sie etwas versäumt und müßte es wieder einholen. Auch fügte sie zu allem hinzu, daß so Filipp Filippytsch befohlen hätte. Nelly gefiel ihr sehr. Sie liebten sich bald wie zwei Schwestern und ich glaube, daß Alexandra Ssemjonowna in vielem noch ebenso ein Kind wie Nelly war. Sie erzählte ihr verschiedene Geschichten, erheiterte sie und Nelly schien sich bald ohne sie zu langweilen. Bei ihrem ersten Erscheinen setzte die Kranke sie in Verwunderung, die es sofort erriet, warum der ungerufene Gast eigentlich gekommen war und sie ihrer Gewohnheit nach denn auch finster, schweigsam und unfreundlich empfing. „Warum ist sie gekommen?“ fragte mich unzufrieden Nelly, als Alexandra Ssemjonowna uns verlassen hatte. „Um dir zu helfen, Nelly, und dich zu pflegen.“ „Warum? Wofür? Ich habe ihr doch nichts Gutes getan?“ „Gute Menschen warten nicht darauf, Sie helfen auch ohnedem, wo es nottut. Es gibt auf der Welt sehr viel gute Menschen, Nelly. Es ist nur ein Unglück, daß du ihnen nicht begegnet bist, als es nötig war.“ Nelly schwieg; ich entfernte mich auf einen Augenblick. Nach einer Viertelstunde rief sie mich mit ihrem schwachen Stimmchen selbst zu sich und bat um Wasser. Plötzlich aber umarmte sie mich und preßte ihr Köpfchen an meine Brust. Am andern Tage, als Alexandra Ssemjonowna wieder kam, empfing sie diese mit freundlichem, wenn auch verschämtem und etwas schuldbewußtem Lächeln. III. An diesem Tage hatte ich den ganzen Abend bei Natascha zugebracht. Als ich zurückkehrte, schlief Nelly bereits. Auch Alexandra Ssemjonowna war ganz schlaftrunken und erwartete mich am Krankenbette. Sie teilte mir eilig, leise flüsternd mit, daß Nelly zuerst sehr lustig gewesen und sogar gelacht habe, als ich aber nicht zurückgekehrt sei, sei sie traurig, schweigsam und nachdenklich geworden. Sie habe über Kopfschmerzen geklagt, geweint und so geschluchzt, daß Alexandra Ssemjonowna nicht gewußt, was mit ihr anfangen. Sie habe auch mit ihr über Natalja Nikolajewna gesprochen, doch als sie ihr nichts darauf antworten konnte, hätte sie aufgehört, davon zu sprechen, geweint und zuletzt sei sie dann unter Tränen eingeschlafen. „Nun, leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch; jetzt ist es ihr leichter, wie es mir scheint, ich muß auch nach Haus, so hat mir Filipp Filippytsch befohlen. Ich muß Ihnen gestehen, daß er mich diesmal nur auf zwei Stunden entlassen, und ich bin bereits viel länger hiergeblieben. Doch, was tut’s, beunruhigen Sie sich nicht meinetwegen, er wird es nicht wagen ... nur, mein lieber Iwan Petrowitsch, was soll ich tun: er kommt jetzt immer betrunken nach Haus! Er ist mit sich irgendwie sehr beschäftigt, spricht kein Wort mit mir, macht sich Sorgen, ich weiß es, und am Abend kommt er betrunken nach Haus ... Ich habe gedacht: wenn er nun nach Hause zurückgekehrt ist, wer wird ihn dann dort empfangen haben? Nun, ich fahre schon, ich fahre! Leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch. Habe mir dort Ihre Bücher angesehen: wieviel Bücher Sie haben, und alles ernste, kluge Bücher; ich Dumme, habe noch nie etwas gelesen ... Also, auf morgen ...“ Am nächsten Morgen erwachte Nelly finster und sprach kein Wort mit mir. Nur ungern antwortete sie auf meine Fragen, als wäre sie mir böse. Ich bemerkte nur hin und wieder einen ihrer Blicke, mit denen sie mich heimlich verfolgte; in ihnen lag viel verhaltenes Herzeleid und unterdrückte Zärtlichkeit, was sonst, wenn sie mich gerade anschaute, nicht der Fall war. An diesem Tage spielte sich denn auch die Arzenei-Szene mit dem Doktor ab; ich wußte nicht, was ich denken sollte. Nellys Verhalten zu mir veränderte sich jetzt vollständig. Ihr seltsames Wesen, ihre Launen, ja, ihr Haß gegen mich steigerten sich bis zu der Katastrophe, die unser ganzes Zusammenleben abbrach. Doch davon später. Es geschah übrigens, daß sie von Zeit zu Zeit, wie früher, zärtlich zu mir war. Ihre Zärtlichkeit schien sich in diesen Augenblicken sogar zu verdoppeln; am häufigsten aber weinte sie bitter in diesen Momenten. Doch diese Stunden vergingen sehr schnell wieder; sie verfiel dann wieder in ihren früheren Kummer, sah mich feindlich an, wurde launisch, wie damals mit dem Doktor, und wenn sie bemerkte, daß irgendeiner ihrer neuen Streiche mich unangenehm berührte, so brach sie in Lachen aus, das dann in Tränen endete. Selbst gegen Alexandra Ssemjonowna hatte sie sich unfreundlich benommen, ihr gesagt, daß sie nichts von ihr brauche. Als ich ihr in Gegenwart von Alexandra Ssemjonowna darüber Vorwürfe machte, brauste sie auf, verstummte dann und sprach zwei Tage lang kein Wort mit mir, wollte keine Medizin einnehmen, weder trinken noch essen, und nur der alte Doktor verstand es noch mit ihr umzugehen. Ich sagte bereits, daß sich zwischen ihr und dem Doktor ein merkwürdiges Freundschaftsverhältnis entwickelt hatte. Nelly schien ihn sehr gern zu haben und begrüßte ihn immer mit freundlichem Lächeln, wenn er kam, wie traurig sie auch sonst vor seinem Erscheinen gewesen sein mochte. Der Alte wiederum besuchte sie jeden Tag und manchmal sogar zweimal am Tage, und als Nelly sich bereits in der Genesung befand, das Bett schon verlassen hatte, schien sie ihn dermaßen bezaubert zu haben, daß er ohne sie den Tag nicht verleben konnte, ohne ihr Lachen und ihre Scherze über sich zu hören, die oft wirklich sehr drollig waren. Er brachte ihr Bilderbücher, meistenteils belehrender Art, brachte ihr Süßigkeiten und Konfekt in schönen Kästchen. Jedesmal erschien er dann mit besonders feierlicher Miene, als gäbe es eine Namenstagfeier, so daß Nelly sofort erriet, daß er mit einem Geschenk gekommen war. Das Geschenk zeigte er aber nicht gleich, sondern lächelte nur pfiffig und setzte sich neben Nelly mit der Bemerkung, daß, wenn ein junges Mädchen sich gut aufgeführt und in seiner Abwesenheit sich Achtung erworben, daß so ein junges Mädchen würdig einer Belohnung sei. Dabei sah er sie so gutmütig und herzlich an, daß in den strahlenden Augen Nellys, wenn sie ihm auch offen ins Gesicht lachte, eine aufrichtige und zärtliche Dankbarkeit aufleuchtete. Zuletzt erhob sich dann der Alte feierlich, zog ein Kästchen mit Konfekt aus der Tasche und händigte es Nelly ein mit der Bemerkung: „Meiner zukünftigen und liebenswürdigen Frau Gemahlin.“ In diesem Augenblick war er sicher selbst glücklicher als Nelly. Darauf folgten dann Gespräche über ihre Gesundheit und medizinische Ratschläge. „Vor allem muß man seine Gesundheit zu erhalten streben,“ sagte er zu ihr, in dogmatischem Tone, „hauptsächlich darum, um leben zu bleiben, immer gesund zu sein, das Glück des Lebens zu genießen. Wenn Sie, mein liebes Kind, irgendwelchen Kummer haben, so vergessen sie ihn, oder besser, trachten Sie, nicht an ihn zu denken. Und wenn Sie keinen Kummer haben, dann denken Sie erst recht nicht an ihn, sondern denken Sie an Vergnügungen und Spiel.“ „An welches Vergnügen soll ich denn denken?“ – fragte Nelly. Der Doktor war nicht wenig verblüfft ... „Nun, ... an irgendein unschuldiges Spiel, das Ihrem Alter ansieht; oder so ... etwas Ähnliches ...“ „Ich will nicht spielen; ich spiele nicht gern,“ sagte Nelly. „Ich liebe zum Beispiel neue Kleider.“ „Neue Kleider! Hm! Nun, das ist bereits weniger gut. Man muß mit seinem bescheidenen Los im Leben zufrieden sein. Doch, übrigens ... warum nicht ... man kann auch neue Kleider lieben.“ „Und Sie, werden Sie mir viele neue Kleider kaufen, wenn ich Ihre Frau sein werde?“ „Was für eine Idee!“ der Doktor schien ein wenig unwillig. Nelly lachte schelmisch und vergaß sich sogar so weit, daß sie auch mir zulächelte. „Übrigens, warum sollte ich Ihnen auch nicht schöne Kleider kaufen, wenn Sie es durch Ihr Betragen verdienen,“ fügte er versöhnlicher hinzu. „Und wenn ich Sie heirate, muß ich dann jeden Tag Pulver einnehmen?“ „Nein, immer brauchen Sie nicht Pulver einzunehmen.“ Jetzt lächelte auch der Doktor. Nelly krümmte sich einfach vor Lachen. Der Alte folgte ihrem Beispiel, er freute sich über ihre Fröhlichkeit. „Ein launisches Köpfchen!“ sagte er, zu mir gewandt. „Doch aus alledem spricht immer noch ein wenig Gereiztheit.“ Er hatte recht. Ich wußte wirklich nicht, was ich mit ihr anfangen sollte. Sie wollte scheinbar überhaupt nicht mehr mit mir sprechen, als wäre ich in irgend etwas schuldig vor ihr. Das tat mir bitter weh. Ich ärgerte mich schließlich und sprach einmal einen ganzen Tag nicht mehr mit ihr, doch am nächsten Tage schämte ich mich bereits darüber. Sie weinte oft, und ich wußte wirklich nicht, womit ich sie beruhigen sollte. Übrigens einmal brach sie doch das Schweigen mit mir. Eines Abends kehrte ich vor der Dämmerstunde nach Haus und bemerkte, wie Nelly unter ihrem Kissen ein Buch versteckte. Das war mein Roman, den sie jetzt wieder in meiner Abwesenheit zu lesen schien. Wozu mußte sie ihn vor mir verstecken? „Als schäme sie sich darüber,“ dachte ich und tat so, als ob ich nichts bemerkt hätte. Eine Viertelstunde nachher, als ich auf einen Augenblick in die Küche ging, sprang sie schnell aus dem Bett und legte das Buch an seinen früheren Platz; als ich zurückkam sah ich es auf dem Tische liegen. Plötzlich rief sie mich zu sich; in ihrer Stimme zitterte Erregung. Seit vier Tagen hatte sie kein Wort mit mir gesprochen. „Gehen Sie ... heute zu Natascha?“ fragte sie mit erstickter Stimme. „Ja, Nelly; ich muß sie heute durchaus besuchen.“ Nelly schwieg. „Sie lieben ... sie sehr?“ fragte sie wieder mit schwacher Stimme. „Ja, Nelly, ich liebe sie sehr.“ „Und auch ich liebe sie sehr,“ fügte sie mit leiser Stimme hinzu. Wieder trat Schweigen ein. „Ich möchte zu ihr gehen und mit ihr leben,“ begann Nelly von neuem. Ein furchtsamer Blick streifte mich dabei. „Das ist nicht möglich, Nelly,“ antwortete ich einigermaßen verwundert. „Hast du es denn schlecht bei mir?“ „Warum ist es nicht möglich?“ fuhr sie auf. „Sie bereden mich doch, zu ihrem Vater zu gehen; zu ihm aber möchte ich nicht. – Hat sie eine Magd?“ „Ja.“ „Nun, so soll sie ihre Magd fortschicken, ich werde sie bedienen. Ich werde alles für sie tun und werde keine Belohnung von ihr annehmen; ich werde sie lieben und ihr Essen kochen. Sagen Sie ihr das, bitte, heute.“ „Was das für Phantasien sind, Nelly? Und was denkst du eigentlich von ihr: glaubst du denn wirklich, daß sie das zulassen würde? Wenn sie dich schon zu sich nehmen sollte, so doch nur als gleichberechtigt mit ihr, als ihre jüngere Schwester.“ „Nein, das will ich nicht ...“ „Warum nicht?“ Nelly schwieg. Ihre Lippen zitterten; sie wollte weinen. „Der, den sie liebt, verläßt sie jetzt?“ fragte sie schließlich. Ich war erstaunt. „Woher weißt du das, Nelly?“ „Sie sagten es mir selbst vor einiger Zeit und vorgestern fragte ich den Mann von Alexandra Ssemjonowna; er erzählte mir alles.“ „War denn Masslobojeff hier?“ „Ja, er war gekommen,“ sie schlug die Augen nieder. „Warum hast du mir nicht gesagt, daß er da war?“ „So ...“ Ich dachte einen Augenblick nach. Gott weiß warum dieser Masslobojeff sich hier geheimnisvoll herumtrieb, und was für Beziehungen er hier angeknüpft haben mochte? Ich mußte ihn doch aufsuchen. „Nun, und was dann, wenn er sie verläßt, Nelly?“ „Nun, Sie lieben sie doch sehr,“ antwortete Nelly, ohne mich anzusehen. „Wenn Sie sie aber so lieben, so werden Sie sie doch heiraten, wenn der andere fort fährt.“ „Nein, Nelly, sie liebt mich nicht so, wie ich sie liebe, ja und ich ... Nein, das wird nicht sein, Nelly.“ „Ich aber würde Ihnen allen beiden dienen, und Sie würden glücklich sein,“ sagte sie kaum hörbar, ohne mich anzusehen. „Was ist mit ihr, was ist mit ihr?“ dachte ich und mein ganzes Innere tat mir weh. Nelly verstummte und sprach den Abend kein Wort mehr mit mir. Als ich fortgegangen war, weinte sie den ganzen Abend; wie Alexandra Ssemjonowna berichtete, schlief sie wieder unter Tränen ein. Sogar im Schlaf schluchzte sie noch und im Traum phantasierte sie. Von dem Tage an wurde sie immer schweigsamer und verschlossener. Mit mir sprach sie überhaupt nicht mehr. Es geschah wohl, daß ich hin und wieder einen verstohlenen und flüchtigen Blick von ihr auffing, der voll unsäglicher Zärtlichkeit zu mir schien. Doch waren das nur Augenblicke und im Gegensatz zu ihnen wurde sie immer finsterer und verschlossener, sogar der Doktor wunderte sich über diese Veränderung in ihrem Charakter. Inzwischen hatte sie sich so weit erholt, daß sie mit Erlaubnis des Arztes täglich ein wenig an die freie Luft gehen konnte. Auch die Tage wurden immer heller und wärmer. Es war in der Karwoche, als ich eines Morgens ausging; ich mußte zu Natascha gehen, hatte aber Nelly versprochen, früh zurückzukehren, um mit ihr zusammen spazieren zu gehen. Unterdessen war sie allein zu Hause geblieben. Ich kann es kaum beschreiben, welch ein furchtbarer Schlag mich traf, als ich damals nach Hause zurückkehrte! Schon draußen auf der Treppe fiel es mir auf, daß der Schlüssel von außen in der Tür steckte. Ich trete ein: es war niemand zu sehen. Ich erstarrte. Auf dem Tisch erblickte ich einen Zettel mit großen unregelmäßigen Buchstaben beschrieben: „Ich bin von Ihnen fortgegangen und kehre nie mehr wieder. Ich liebe Sie aber sehr. Ihre treue Nelly.“ Ich schrie auf und stürzte hinaus. IV. Kaum war ich auf der Straße, ohne mir noch klar zu werden, wohin ich mich wenden sollte, als plötzlich vor unserem Haustor eine Droschke hielt; aus der Droschke stieg Alexandra Ssemjonowna, gefolgt von Nelly, die sie fest an der Hand hielt, als fürchtete sie, daß Nelly noch einmal entlaufen könnte. Ich stürzte auf sie zu. „Nelly, was hast du, wo warst du?“ rief ich. „Warten Sie, gehen wir so schnell als möglich zu Ihnen, dort werden Sie alles erfahren,“ sagte Alexandra Ssemjonowna. „Was ich Ihnen für Sachen zu erzählen habe, Iwan Petrowitsch,“ flüsterte sie mir unterwegs zu. „Wundern kann man sich ... Kommen Sie nur, Sie sollen alles sofort erfahren.“ Ihrem Gesicht konnte man ansehen, daß sie außerordentliche Neuigkeiten mitzuteilen hatte. „Gehe, Nelly, gehe, lege dich schlafen,“ sagte sie zu ihr, als wir ins Zimmer traten, „du mußt müde sein. Es ist doch kein Spaß, nach der Krankheit so herumzulaufen! Lege dich, Täubchen, lege dich hin. Wir aber wollen hierher gehen, um sie nicht zu stören ...“ Und sie winkte mir zu, mit in die Küche zu kommen. Doch Nelly legte sich nicht, sie setzte sich auf den Diwan und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Wir verließen das Zimmer. Alexandra Ssemjonowna berichtete mir so schnell als möglich den Tatbestand. Später erfuhr ich noch weitere Einzelheiten. Nachdem sie mir den Zettel geschrieben, war Nelly zwei Stunden vor meiner Rückkunft davongelaufen und hatte sich zuerst zum alten Doktor begeben. Seine Adresse hatte sie sich schon beizeiten gemerkt. Der Doktor, wie er erzählte, war einfach starr vor Schreck gewesen, als er plötzlich Nelly bei sich sah und die ganze Zeit während ihres Daseins habe er „seinen Augen nicht trauen können.“ „Ich kann es auch jetzt noch nicht glauben,“ fügte er zum Schluß seiner Erzählung hinzu, „und werde es nie und nimmer für wahr halten.“ Er saß ruhig im Schlafrock in seinem Kabinett und trank Kaffee, als sie plötzlich hineinstürzte und, ehe er zur Besinnung gekommen war, sich ihm um den Hals warf. Sie klammerte sich an ihn, weinte, küßte ihm die Hände und bat ihn bedingungslos sie zu sich zu nehmen, mit der Begründung, daß sie bei mir nicht mehr leben wolle noch könne und darum von mir fortgegangen sei; daß sie leide; daß sie nie mehr über ihn lachen noch von neuen Kleidern sprechen werde, sondern sich gut aufführen und lernen wolle, – offenbar hatte sie sich unterwegs ihre Rede ausgedacht – und daß sie überhaupt gehorsam sein und jeden Tag, so viel er wolle, Pulver einnehmen würde. Der gute Alte war vor Schreck so erstarrt, daß er mit offenem Munde dasaß. Als er endlich zu Wort kam, war ihm die Zigarre ausgegangen. „Mademoiselle,“ sagte er endlich, „Mademoiselle, so wie ich Sie verstanden habe, wünschen Sie, daß ich Sie bei mir aufnehme. Doch, das ist – unmöglich! Sie sehen, ich lebe hier sehr beengt und verfüge über wenig Mittel ... Und überhaupt, so plötzlich, ohne sich’s zu überlegen ... Das ist schrecklich! Und außerdem sind Sie, so weit es mir scheint, einfach davongelaufen. Das ist durchaus nicht lobenswert ... Und schließlich habe ich Ihnen nur erlaubt, an hellen Tagen ein wenig spazieren zu gehen, unter der Aufsicht Ihres Wohltäters, Sie aber verlassen Ihren Wohltäter und laufen einfach zu mir, wo Sie sich doch schonen und ... und ... Medizin einnehmen sollten. Und schließlich ... schließlich, verstehe ich überhaupt nichts ...“ Nelly ließ ihn nicht aussprechen. Sie fing wieder an zu weinen, ihn anzuflehen, doch es half nichts. Das Erstaunen des Alten nahm immer mehr zu und er konnte schließlich nichts mehr verstehen. Endlich gab es Nelly auf und lief aus dem Zimmer. „Ich war den ganzen Tag unwohl,“ schloß der Alte seine Erzählung, „und nahm zur Nacht ein Pulver ein.“ Nelly begab sich von dort zu Masslobojeffs. Obgleich ihr die Adresse bekannt war, fand sie die Wohnung doch nur mit großer Mühe. Masslobojeff war zu Haus. Alexandra Ssemjonowna schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Nelly ihre Bitte, sie zu sich zu nehmen, vortrug. Auf ihre Fragen: warum es ihr Wunsch sei und ob sie es bei mir so schwer habe, antwortete Nelly nicht, sondern warf sich schluchzend in einen Stuhl. „Sie schluchzte so sehr, so sehr,“ erzählte mir Alexandra Ssemjonowna, „daß ich fürchtete, sie könne daran sterben!“ Nelly flehte, sie als Köchin, als Stubenmagd aufzunehmen, versicherte, daß sie waschen und plätten könne. Darauf schienen sich alle ihre Hoffnungen aufzubauen. Die Meinung Alexandra Ssemjonownas war gewesen, sie so lange bei sich zu behalten, bis die Dinge sich allmählich aufklärten und man mich davon benachrichtigt hätte. Doch Filipp Filippytsch hatte sich dem durchaus widersetzt und befohlen, mir den Flüchtling sofort einzuhändigen. Unterwegs habe Alexandra Ssemjonowna Nelly umarmt und getröstet, doch dabei habe sie wieder noch mehr zu weinen angefangen. Auch Alexandra Ssemjonowna hatte dann vor Rührung geweint. „Warum, warum willst du denn nicht bei ihm bleiben; hat er dich denn etwa beleidigt, wie?“ fragte sie Nelly unter Tränen. „Nein, er hat mich nicht beleidigt ...“ „Nun, warum willst du denn ...“ „So, ich will nicht mehr bei ihm leben ... ich kann nicht ... ich bin so böse zu ihm ... er aber ist gut ... bei Ihnen würde ich nicht böse sein, ich würde arbeiten,“ antwortete sie, krampfhaft schluchzend. „Warum bist du denn so böse zu ihm, Nelly?“ „So ...“ „Und ich konnte von ihr nur dieses ‚so‘ erfahren,“ schloß Alexandra Ssemjonowna, ihre Tränen trocknend. „Warum ist sie nur so trübsinnig? Wohl von Geburt so? Was denken Sie, Iwan Petrowitsch?“ Wir kehrten zu Nelly zurück; sie lag, das Gesicht in den Kissen vergraben, und weinte. Ich kniete an ihrem Bett nieder, nahm ihre Hände und küßte sie. Sie entriß sie mir aber und schluchzte noch heftiger. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. In dem Augenblick trat plötzlich der alte Ichmenjeff ins Zimmer. „Guten Tag, Iwan, ich komme zu dir in Geschäften!“ Verwundert sah er uns alle an. Der Alte war in der letzten Zeit krank gewesen, war ganz zusammengefallen, sah blaß und mager aus. Er wollte aber auf die Ermahnungen seiner Frau nicht hören, legte sich nicht, sondern fuhr fort – wie er sagte – „seine Geschäfte zu erledigen“. „Leben Sie jetzt wohl,“ sagte Alexandra Ssemjonowna mit neugierigen Blicken auf den Alten. „Filipp Filippytsch hat mir befohlen, so schnell als möglich zurückzukommen. Am Abend, in der Dämmerstunde, werde ich auf ein paar Stündchen zu Ihnen kommen.“ „Wer ist sie?“ flüsterte mir der Alte zu, offenbar an ganz was anderes denkend. Ich beantwortete ihm seine Frage. „So, hm? Ich bin in einer besonderen Angelegenheit zu dir gekommen, Iwan ...“ Ich wußte, in welcher Angelegenheit, und hatte seinen Besuch bereits erwartet. Er kam wegen Nelly. Anna Andrejewna hatte endlich eingewilligt, die Waise in ihr Haus zu nehmen. Das war nach einem geheimen Übereinkommen zwischen mir und Anna Andrejewna geschehen: ich hatte sie davon überzeugt, daß der Anblick dieses Waisenkindes, deren Mutter gleichfalls von ihrem Vater verflucht worden war, sein Herz rühren und seinen Sinn ändern würde. Dieser Plan hatte ihr so gefallen, daß sie jetzt selbst in den Alten drang, Nelly ins Haus zu nehmen. Er seinerseits wollte natürlich vor allem seine Anna Andrejewna befriedigen und dann hatte er selbst ein besonderes Ziel im Auge ... Davon werde ich später ausführlicher erzählen ... Ich sagte bereits, daß Nelly den Alten gleich seit seinem ersten Besuch nicht gern hatte. Ihr Gesicht drückte sogar einen gewissen Haß aus, wenn man seinen Namen nannte. Der Alte trug denn auch sofort ohne alle Umstände sein Anliegen vor, indem er auf Nelly zuging, die ihr Gesicht noch immer in die Kissen preßte, ihre Hand ergriff und sie fragte: ob sie an Stelle seiner Tochter zu ihm kommen wolle? „Ich hatte eine Tochter, die ich mehr liebte, als mich selbst,“ schloß der Alte, „doch jetzt ist sie nicht mehr vorhanden. Sie ist tot. Willst du ihren Platz in unserem Hause ... in meinem Herzen einnehmen?“ Und in seinen Augen, die vom Fieber entzündet waren, erglänzte eine Träne. „Nein, ich will nicht,“ antwortete Nelly, ohne den Kopf zu erheben. „Warum denn nicht, mein Kind? Du bist doch ganz allein in der Welt. Du kannst doch nicht immer bei Iwan bleiben, bei mir aber hättest du es wie im Elternhause.“ „Ich will nicht, weil Sie böse sind. Ja, böse, böse!“ fügte sie hinzu, richtete sich auf und setzte sich dem Alten gegenüber aufs Bett. „Ich selbst bin böse, böser als alle, aber Sie sind noch böser als ich! ...“ Dabei erbleichte sie, ihre Augen funkelten; sogar ihre Lippen erbleichten und zitterten, ihr Mund verzog sich vor innerer Erregung. Der Alte sah sie ganz verwundert an. „Ja, böser als ich, denn Sie wollen Ihrer Tochter nicht vergeben; sie wollen sie auf immer vergessen und an ihrer Stelle ein anderes Kind annehmen ... kann man denn sein eigenes Kind vergessen? Werden Sie mich denn je lieben können? Wenn Sie mich ansehen werden, so müssen Sie sich erinnern, daß ich Ihnen fremd bin, daß Sie aber eine Tochter hatten, die Sie vergessen wollten, Sie grausamer Mensch! Ich will nicht bei so grausamen Menschen leben; ich will nicht, ich will nicht! ...“ Nelly verstummte plötzlich und warf nun mir einen Blick zu. „Übermorgen ist Ostern!“ fuhr sie fort. „Christ ist erstanden, alles umarmt sich, alles versöhnt sich, allen wird vergeben ... Nur Sie ... Sie allein ... wollen es nicht tun, Sie Grausamer! Gehen Sie fort!“ Sie brach in Tränen aus. Auf diese Rede schien sie sich bereits lange vorbereitet zu haben, für den Fall, daß der Alte sie noch einmal auffordern sollte, zu ihm ins Haus zu kommen. Der Alte war vollständig erbleicht, auf seinem Gesicht zeigte sich tiefes Leid. „Und warum, warum, kümmern sich alle um mich? Ich mag’s nicht!“ rief Nelly plötzlich außer sich. „Ich werde ... werde ... betteln gehen!“ „Aber Nelly, was ist dir? Was hast du Nelly?“ rief ich unwillkürlich aus, doch goß ich damit nur Öl ins Feuer. „Ja, ich werde lieber auf der Straße betteln gehen, als daß ich hierbleibe!“ schluchzte sie auf. „Auch meine Mutter hat gebettelt und als sie starb, sagte sie zu mir: sei arm und gehe lieber betteln, als ... Zu betteln ist keine Schande, denn ich bitte nicht nur einen Menschen, sondern ich bitte alle Menschen. Von allen bitten ist keine Schande, das hat mir eine alte Bettlerin gesagt; und ich bin klein und kann mir nichts verdienen. Ich werde alle bitten, alle, ich bin böse, böse, böser als alle; seht, wie böse ich bin!“ Und dabei griff Nelly ganz unerwartet nach einer Tasse auf dem Tisch und warf sie zu Boden. „Da, da ist sie zerschlagen,“ fügte sie triumphierend hinzu, – „da ist ja noch eine Tasse – ich werde auch die andere zerschlagen ... Woraus werden Sie dann Tee trinken?“ Sie war wie besessen, und es schien ihr eine Wollust, sich in dieser Besessenheit gehen zu lassen. Sie fühlte wohl, daß es nicht gut und eigentlich eine Schande für sie war, darum hetzte sie sich selbst innerlich immer mehr und mehr dazu auf. „Sie ist krank, Wanjä, das ist der Grund,“ sagte der Alte, „oder ... oder ich begreife dieses Kind schon nicht mehr. Lebe wohl!“ Er nahm seinen Hut und reichte mir die Hand zum Abschied. Er war wie zerschlagen; Nelly hatte ihn furchtbar gekränkt; ich war außer mir. „Und er tat dir nicht leid, Nelly!“ rief ich aus, als wir allein waren; „du solltest dich schämen, schämen! Nein, du bist nicht gut, du bist wirklich schlecht!“ Und, so wie ich war, ohne Hut, lief ich dem Alten nach. Ich wollte ihn wenigstens bis zum Haustor begleiten, um ihm ein paar Worte zur Beruhigung zu sagen. Bevor ich hinauslief, bemerkte ich flüchtig Nellys erblaßtes Gesichtchen. Ich hatte Ichmenjeff bald eingeholt. „Das arme Kind leidet und hat seinen eigenen Kummer, und mir fiel es ein, noch von meinem zu reden,“ sagte er, bitter lächelnd. „Ich rührte an ihre Wunde. Man sagt, der Satte könne den Hungrigen nicht verstehen und ich sehe, Wanjä, daß selbst der Hungrige den Hungrigen nicht verstehen kann. Nun, lebe wohl!“ Ich wollte auf ihn einreden; doch er winkte mir bloß mit der Hand ab. „Laß doch, mich willst du beruhigen; siehe lieber, daß sie dir nicht davonläuft; sie sieht mir danach aus,“ fügte er mit Erbitterung hinzu und beeilte sich so schnell als möglich fortzukommen, wobei er mit seinem Spazierstock laut vernehmbar auf den Steinen aufschlug. Er ahnte es wohl selbst nicht, wie richtig seine Prophezeiung gewesen. Was mit mir geschah, als ich zurückkehrte und Nelly nicht im Zimmer vorfand, weiß ich selbst nicht. Ich suchte sie auf dem Treppenflur, auf der Treppe, rief ihren Namen, wollte schon beim Nachbar anklopfen; ich konnte und wollte es nicht glauben, daß sie wieder davongelaufen sei. Und wie konnte sie fortlaufen? Es gab doch nur ein Haustor; sie mußte also an mir vorbeigeschlüpft sein, als ich mit dem Alten gesprochen? Doch bald darauf kam mir der Gedanke, daß sie sich hier auf der Treppe versteckt haben mochte, um meine Rückkehr abzuwarten, und um dann hinter meinem Rücken hinauszulaufen. Jedenfalls konnte sie dann noch nicht sehr weit gekommen sein. Mit großer Unruhe machte ich mich auf den Weg, sie zu suchen, und ließ die Wohnung auf alle Fälle offen. Zuerst begab ich mich zu Masslobojeffs, traf sie aber nicht zu Haus, weder ihn noch Alexandra Ssemjonowna. Ich hinterließ ihnen einen Zettel, in dem ich Nellys neue Flucht meldete und bat sie, falls Nelly zu ihnen kommen sollte, mich zu benachrichtigen. Darauf ging ich zum Doktor: der war gleichfalls nicht zu Haus, nur die Magd erklärte mir, daß niemand dagewesen sei. Was sollte ich tun? Ich begab mich zur Bubnowa und erfuhr dort von der Frau des Sargmachers, daß die Wirtin seit dem gestrigen Tage sich auf der Polizei befinde. Nelly hatte man aber seit jenem Tag nicht mehr wiedergesehen. Müde, gequält, lief ich von dort wieder zu Masslobojeffs zurück; dieselbe Antwort: niemand zu Hause. Mein Zettel lag noch auf dem Tisch. Was sollte ich tun? In tödlicher Angst mußte ich mich schließlich nach Hause begeben. Ich mußte diesen Abend zu Natascha gehen, sie selbst hatte mich bereits am Morgen rufen lassen. Auch hatte ich den ganzen Tag noch nichts genossen; der Gedanke an Nelly hatte nichts anderes in mir aufkommen lassen. „Was soll das bedeuten?“ dachte ich. „Sollten das wirklich nur die Folgen der Krankheit sein? Hat sie nicht am Ende ihren Verstand verloren? Doch, mein Gott, – wo, wo soll ich sie jetzt suchen!“ Kaum hatte ich das gedacht, als ich plötzlich Nelly einige Schritte von mir entfernt auf der W-Brücke erblickte. Sie stand dort an einem Laternenpfosten und sah mich nicht. Ich wollte auf sie zulaufen, doch blieb ich plötzlich stehen: „Was mag sie hier machen?“ dachte ich und ich beschloß, da ich sie jetzt nicht mehr aus dem Auge verlieren konnte, hier zu warten und sie zu beobachten. Es vergingen ungefähr zehn Minuten, sie stand immer noch und blickte auf die Vorübergehenden. Endlich kam ein gut angekleideter, alter Herr und Nelly ging auf ihn zu: der zog, ohne stehen zu bleiben, etwas aus der Tasche und gab’s ihr. Sie schien ihm zu danken. Ich kann es nicht beschreiben, was ich in diesem Augenblick empfand. Schmerzhaft zog sich mein Herz zusammen, als wäre etwas Teures, das ich liebte und hegte, in diesem Augenblick, vor mir beschmutzt und beschimpft worden. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ja, Tränen über Nelly, zu gleicher Zeit fühlte ich etwas Unversöhnliches gegen sie: sie hatte nicht aus Not gebettelt; sie war durchaus nicht der Macht des Schicksals überlassen gewesen, sie war nicht ihren Peinigern entlaufen, sondern ihren Freunden, die sie liebten und hegten. Als hätte sie jemand damit schrecken und in Erstaunen setzen wollen, ja, fast schien sie damit zu prahlen! In ihrer Seele war etwas Geheimnisvolles aufgetaucht ... Der alte Ichmenjeff hatte recht, sie war verwundet, und ihre Wunde wollte nicht vernarben; sie schien durch dieses geheimnisvolle und mißtrauische Verhalten uns gegenüber geradezu in ihrem Schmerz wühlen zu wollen, – als gewähre ihr dieser Schmerz, dieser _Egoismus des Leidens_, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine besondere Genugtuung. Dieses Gefühl der Genugtuung begriff ich durchaus: denn viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergeworfen und sich der Ungerechtigkeit desselben bewußt sind, müssen es empfinden. Doch über welche Ungerechtigkeit konnte sich Nelly uns gegenüber beklagen? Sie schien mit ihren Launen, mit ihren wilden Ausbrüchen uns gegenüber sich geradezu selbst überbieten zu wollen! Doch warum hatte sie jetzt gebettelt, da sie sich von uns nicht gesehen glaubte? Fand sie denn wirklich darin einen Genuß? Wozu brauchte sie dieses Geld? Als sie das Geld von dem Fremden in Empfang genommen hatte, verließ sie die Brücke und blieb vor den hellerleuchteten Fenstern eines Ladens stehen, um es zu zählen; ich stand zehn Schritt von ihr entfernt und konnte sehen, wie sie eine Menge Geldstücke in der Hand hielt. Offenbar hatte sie bereits vom Morgen an gebettelt. Darauf ging sie auf die andere Seite der Straße hinüber und trat in einen Laden. Ich folgte ihr sofort, blieb an der Tür des Ladens, die offen war, stehen, um zu sehen, was sie dort tun würde. Ich sah, wie sie ihr Geld auf den Ladentisch legte und man ihr dafür eine Teetasse zeigte, eine ganz billige Tasse, ähnlich derjenigen, die sie zerschlagen. – Sie wollte mir und dem alten Ichmenjeff doch zeigen, wie böse sie sein konnte. – Die Tasse kostete vielleicht im ganzen nur fünfzehn Kopeken, vielleicht sogar noch weniger. Der Kaufmann wickelte sie in ein Papier ein, umschnürte das Päckchen und übergab es Nelly, die eilig und mit zufriedenem Gesicht aus dem Laden trat. „Nelly!“ rief ich, als sie sich mir näherte. „Nelly!“ Sie sah auf und zuckte zusammen, die Tasse entglitt ihrer Hand, fiel aufs Pflaster und brach in Scherben. Nelly erblaßte; als sie mich ansah und erriet, daß ich alles gesehen, errötete sie plötzlich; es war die Röte einer quälenden Scham. Ich nahm sie an der Hand und führte sie nach Hause; wir waren nicht mehr weit davon entfernt. Unterwegs sprach keiner von uns ein Wort. Nach Hause gekommen, setzte ich mich hin; Nelly blieb vor mir stehen, finster, nachdenklich und bleich stand sie da, die Augen zu Boden geschlagen. Sie konnte sich nicht überwinden mich anzusehen. „Nelly, du hast gebettelt?“ „Ja!“ flüsterte sie, kaum hörbar. „Du wolltest Geld sammeln, um die zerschlagene Tasse wieder zu ersetzen?“ „Ja ...“ „Habe ich dir denn dieser Tasse wegen Vorwürfe gemacht? Siehst du denn wirklich nicht, Nelly, wieviel selbstzufriedene Bosheit in deiner Handlung liegt? Ist das wirklich gut von dir gehandelt? Schämst du ...“ „Ich schäme mich,“ flüsterte sie kaum hörbar und über ihre Wange rollte eine Träne. „Du schämst dich ...“ wiederholte ich. „Nelly, meine Liebe, wenn ich vor dir schuldig bin, so vergib mir und wir wollen uns wieder versöhnen!“ Sie sah mich an, brach in Tränen aus und umschlang mich mit ihren Ärmchen. In diesem Augenblick kam Alexandra Ssemjonowna. „Wie! Ist sie wieder zu Haus? Ach, Nelly, Nelly, was tust du uns an! Ein Glück, daß sie nun wenigstens wieder da ist ... Wo haben Sie sie gefunden, Iwan Petrowitsch?“ Ich gab Alexandra Ssemjonowna zu verstehen, daß sie mich nicht fragen sollte, und sie schwieg sofort. Ich verabschiedete mich zärtlich von Nelly, die immer noch bitterlich weinte und bat die gute Alexandra Ssemjonowna, bis zu meiner Rückkehr bei ihr zu bleiben, ich selbst lief zu Natascha. Ich hatte mich bereits verspätet und mußte eilen. An diesem Abend sollte sich unser Schicksal entscheiden: obgleich ich mit Natascha von vielen anderen Dingen zu reden hatte, erzählte ich ihr doch alles, was sich mit Nelly zugetragen. Meine Erzählung setzte Natascha geradezu in Erstaunen. „Weißt du, Wanjä,“ sagte sie nachdenklich, „mir scheint es, daß sie dich liebt.“ „Wieso ... wie?“ rief ich ganz erstaunt. „Ja, mit der Liebe einer Frau ...“ „Was du sagst, Natascha! Sie ist doch noch ein Kind!“ „Das bald vierzehn Jahre alt sein wird. Ihre Verbitterung kann nur daher kommen, weil du deinerseits ihre Liebe nicht bemerkst und sie ihrerseits wiederum sich selbst nicht versteht; ihre Verbitterung äußert sich wohl ganz kindlich, ist aber darum nicht weniger ernst und quälend für sie. Und dann – sie ist auf mich eifersüchtig. Du bist so mit mir beschäftigt, daß du zu Hause wohl nur an mich denkst und von mir sprichst, ihr aber wenig Aufmerksamkeit schenkst. Sie hat das bemerkt und ist gekränkt. Sie hat vielleicht das Bedürfnis, ihr Herz vor dir auszuschütten, versteht es aber nicht, schämt sich und wartet auf eine Gelegenheit. Du aber verstehst sie nicht, läßt sie immer allein, sogar während ihrer Krankheit bist du zu mir gekommen und hast sie tagelang allein gelassen. Sie weint darüber, ihr tut es weh, daß du ihren Kummer nicht bemerkst. Auch in diesem Augenblick hast du sie meinetwegen wieder allein gelassen. Sie wird noch morgen davon krank sein. Und wie hast du sie jetzt nur allein lassen können. Gehe doch sofort zu ihr ...“ „Ich hätte sie vielleicht nicht allein gelassen, aber ...“ „Weil ich dich gebeten hatte zu kommen. Doch jetzt gehe ...“ „Ich werde gehen, doch glaube ich natürlich von alledem nichts.“ „Weil es so ungewöhnlich scheint. Bedenke aber, was sie durchgemacht, bedenke, daß sie anders aufgewachsen ist als wir ...“ Es war trotzdem spät geworden, als ich zurückkehrte. Alexandra Ssemjonowna erzählte mir, daß Nelly wieder, wie an dem Abend, viel geweint habe und unter Tränen eingeschlafen sei, ganz wie damals. „Ich muß jetzt gehn, Iwan Petrowitsch,“ fügte sie hinzu, „so hat mir Filipp Filippytsch befohlen. Der Arme, er wartet auf mich.“ Ich dankte ihr und setzte mich an Nellys Lager. Mir selbst lastete es schwer auf der Seele, daß ich sie in einem solchen Augenblick verlassen hatte. Lange, bis in die Nacht hinein, saß ich grübelnd an ihrem Bettchen – es war eine schwere, verhängnisvolle Zeit. Doch muß ich jetzt erzählen, was sich in diesen vierzehn Tagen ereignete. V. Seit dem denkwürdigen Abend, den ich mit dem Fürsten im Restaurant B. zugebracht hatte, lebte ich in einer ewigen Furcht um Natascha. „Womit bedrohte dieser gemeine Mensch sie und wodurch wollte er sich an ihr rächen?“ fragte ich mich jeden Augenblick und erging mich in den unmöglichsten Kombinationen. Ich kam nur immer zu dem Schluß, daß seine Drohungen ernst gemeint waren, und daß er Natascha so lange sie noch zu Aljoscha hielt, viel Schlechtes antun konnte. Denn er war kleinlich, rachsüchtig, berechnend und wirklich gefährlich, das wußte ich. Es war daher auch durchaus nicht anzunehmen, daß er die Kränkung durch Natascha vergessen würde. In einem Punkte hatte er sich auch mir gegenüber entschieden ganz unzweideutig ausgesprochen: er verlangte die Lösung des Verhältnisses zwischen Natascha und Aljoscha, und erwartete von mir, daß ich Natascha auf die nahbevorstehende Trennung vorbereite, damit es keine sentimentalen Szenen gebe, wie er sagte. Dabei war es ihm natürlich nur darum zu tun, daß Aljoscha mit ihm zufrieden blieb und ihn nach wie vor für einen zärtlichen Vater hielt. Damit mußte er durchaus rechnen, um über Katjäs Vermögen verfügen zu können. So stand ich denn vor der Aufgabe, Natascha auf die Trennung von Aljoscha vorzubereiten. Auch in Natascha hatte ich in letzter Zeit eine starke Veränderung bemerkt; ihre frühere Aufrichtigkeit zu mir hatte sie ganz verloren; und nicht nur das, sie schien sich geradezu mißtrauisch zu mir zu verhalten. Mein Trösten quälte sie nur; meine Fragen ärgerten sie, verbitterten sie sogar. Oft saß ich bei ihr ohne ein Wort zu sprechen. Sie ging, die Hände über die Brust gekreuzt, im Zimmer auf und ab, düster, bleich, abwesend, als hätte sie meine Anwesenheit ganz und gar vergessen. Fiel dann einmal zufällig ihr Blick auf mich, so konnte sie ihr Gesicht ungeduldig und geärgert abwenden. Ich begriff, daß sie wohl selbst über den Ausgang der bevorstehenden Trennung nachgedacht, und konnte sie es denn ohne Schmerz, ohne Qual tun? Daß sie aber die Trennung beschlossen, davon war ich überzeugt, mich quälte und beunruhigte nur ihre finstere Verzweiflung. Zudem wagte ich nicht mit ihr darüber zu sprechen und erwartete mit Bangen, wie sich das alles entscheiden würde. Was ihr Verhalten zu mir anbetraf, so quälte und beunruhigte es mich sehr, doch zweifelte ich nicht an dem Herz meiner Natascha; ich sah, wie schwer sie es hatte und wie sehr sie litt. In solchem Zustande ist das Einmischen von nahestehenden Menschen, die in unsere Geheimnisse eingeweiht sind, um so schmerzlicher. Doch war ich andererseits fest davon überzeugt, daß Natascha im letzten Augenblick doch zu mir kommen würde, um bei mir Trost und Frieden zu suchen. Über meine Unterredung mit dem Fürsten schwieg ich natürlich, denn ich hätte sie damit nur noch aufgeregt und gekränkt. Ich sagte ihr so nebenbei, daß ich zusammen mit dem Fürsten bei der Gräfin gewesen wäre und mich davon überzeugt hätte, daß er ein gemeiner Mensch sei. Ich war sehr froh, daß sie mich auch weiter gar nicht über ihn ausfragte; um so mehr aber interessierte sie meine Erzählung über die Begegnung mit Katjä. Wenn sie auch nichts sagte, so bedeckte doch ihr bleiches Gesicht eine Röte, und sie war den Tag über in erregter Stimmung. Ich verheimlichte ihr nichts von Katjä und gestand ihr offen, daß Katjä reizend sei und einen großen Eindruck auf mich gemacht hätte. Und wozu sollte ich es ihr verhehlen? Natascha hätte ja doch die Wahrheit erraten und wäre mir böse gewesen. Ich bemühte mich daher, alles so ausführlich als möglich zu erzählen und versuchte alle ihre Fragen im voraus zu beantworten, da ihr das Fragen in ihrer Lage nicht leicht fiel. Ich glaubte, es wäre ihr nicht bekannt, daß Aljoscha auf besonderen Befehl des Fürsten mit der Gräfin und Katjä aufs Land fahren sollte, und ich bemühte mich daher, ihr das so schonend als möglich mitzuteilen, um den Schlag abzuschwächen. Doch wie groß war meine Verwunderung, als Natascha bei meinem ersten Worte darüber mich unterbrach und mir erklärte, daß es nicht nötig sei, sie zu trösten, es sei ihr alles schon seit fünf Tagen bekannt. „Mein Gott!“ rief ich, „wer hat es dir denn gesagt?“ „Aljoscha.“ „Wie? Er selbst?“ „Ja, und ich habe mich zu allem entschlossen, Wanjä,“ fügte sie mit Nachdruck hinzu, aus dem klar hervorging, daß sie eine Fortsetzung dieses Gespräches nicht wünschte. Aljoscha besuchte jetzt Natascha öfter, doch immer nur auf ein paar Augenblicke; einmal nur war er während meiner Abwesenheit mehrere Stunden bei ihr geblieben. Meist erschien er in trauriger Stimmung und sah sie schuldbewußt und zärtlich an; doch Natascha empfing ihn dann immer so liebenswürdig und zärtlich, daß er bald alles vergaß und heiter wurde. Auch mich besuchte er jetzt häufig, fast jeden Tag. Er quälte sich furchtbar und konnte daher keinen Augenblick allein sein, sondern lief zu mir, um sich Trost zu suchen. Was sollte ich ihm sagen? Er warf mir Gleichgültigkeit, Kälte und sogar Bosheit ihm gegenüber vor; klagte und jammerte und ging dann schließlich zu Katjä, wo er denn auch immer Trost fand. An dem Tage als ich von Natascha erfuhr, daß sie von der Abreise Aljoschas unterrichtet sei (es war eine Woche nach meinem Gespräch mit dem Fürsten), kam er in Verzweiflung zu mir, umarmte mich, fiel mir um den Hals und weinte wie ein Kind. Ich schwieg und wartete, was er sagen würde. „Ich bin ein niedriger, ein gemeiner Mensch, Wanjä,“ begann er, „rette mich vor mir selbst. Ich weine nicht darüber, daß ich gemein und niedrig bin, sondern daß Natascha durch mich unglücklich wird. Denn ich überliefere sie dem Unglück ... Wanjä, mein Freund, sage du mir, wen ich mehr liebe: Katjä oder Natascha?“ „Das kann ich nicht bestimmen, Aljoscha,“ antwortete ich ihm, „das mußt du besser wissen als ich ...“ „Nein, Wanjä; ich würde dir doch nicht eine so dumme Frage stellen, wenn ich’s wüßte, aber das ist es ja doch, daß ich es nicht weiß. Ich frage mich und kann mir selbst keine Antwort darüber geben. Du aber hast alles miterlebt, und kannst es eher wissen, als ... Und, wenn du es auch nicht weißt, so sage mir doch wenigstens, wie es dir scheint?“ „Mir scheint es, daß du Katjä mehr liebst.“ „Das scheint dir! Aber nein, nein, das ist nicht so! Du hast es nicht erraten. Ich liebe Natascha grenzenlos und kann sie nie und nimmer verlassen. Ich habe es Katjä gesagt und Katjä ist durchaus damit einverstanden. Warum schweigst du? Ich sah soeben, wie du lachtest. Ach, Wanjä, wie hast du mich getröstet, wenn es mir zu schwer wurde ... Lebe wohl!“ Er lief aus dem Zimmer, was einen großen Eindruck auf die verwunderte Nelly machte, die schweigend unserem Gespräch zugehört hatte. Sie war damals immer noch leidend, hütete das Bett und brauchte Medizin. Aljoscha sprach bei seinen Besuchen niemals mit ihr, er schenkte ihr überhaupt keine Aufmerksamkeit. In zwei Stunden erschien er wieder, und ich wunderte mich über sein erfreutes Gesicht. Er umarmte mich wie vorher. „Jetzt ist die Sache beschlossen!“ rief er. „Alle Mißverständnisse beseitigt. Von Ihnen bin ich geradewegs zu Natascha gegangen: ich war gequält und konnte ohne sie nicht mehr auskommen. Ich kam zu ihr, fiel vor ihr auf die Knie und küßte ihre Füße. Ich mußte es tun, sonst wäre ich vor Kummer gestorben. Sie weinte und umarmte mich schweigend. Da habe ich es ihr aufrichtig gestanden, daß ich Katjä mehr liebe als sie.“ „Was sagte sie?“ „Sie antwortete mir nichts darauf, streichelte und beruhigte mich – mich, der ich ihr das eben gesagt! Sie versteht zu trösten, Iwan Petrowitsch! O, ich habe vor ihr all meinen Kummer ausgeweint, ihr alles gestanden. Ich habe ihr einfach gesagt, daß ich Katjä sehr liebe, doch wie lieb ich sie auch hätte, so könnte ich doch ohne sie, ohne Natascha, nicht leben, sondern müßte elendiglich umkommen. Ja, Wanjä, nicht einen Tag könnte ich ohne sie verleben! Und darum haben wir beschlossen, uns unverzüglich trauen zu lassen; da man es aber jetzt in den großen Fasten nicht tun kann, so müssen wir es auf den Juni verschieben, wenn ich wiederkomme. Papa wird es erlauben, daran besteht kein Zweifel. Und Katjä? Was soll ich tun, ich kann ohne Natascha nicht leben ... Wir werden uns trauen lassen und dort leben, wo Katjä ist ...“ Arme Natascha! Wie mußte es ihr ums Herz sein, diesen Knaben zu trösten, seine Bekenntnisse anzuhören und diesem naiven Egoisten zu seiner Beruhigung noch Märchen von einer baldigen Heirat auszudenken! Aljoscha war auch wirklich auf ein paar Tage beruhigt. Er ging doch nur zu Natascha, weil sein schwaches Herz nicht imstande war, diesen Kummer allein zu tragen. Als aber die Zeit der Trennung immer mehr heranrückte, kam wieder die frühere Unruhe über ihn; wieder kam er öfter zu mir um seinen Kummer auszuweinen. In der letzten Zeit hatte er sich so an Natascha angeschlossen, daß er sie nicht auf einen Tag verlassen konnte, geschweige denn auf anderthalb Monate. Doch war er bis zum letzten Augenblick fest davon überzeugt, daß er sie nur auf anderthalb Monate verlassen würde, um dann zur Trauung wiederzukehren. Natascha dagegen ihrerseits begriff durchaus, daß es eine Trennung auf immer sei, und daß es so kommen mußte! Es kam der Tag. Natascha war krank, bleich; mit fieberglänzenden Augen und trockenen Lippen sprach sie hin und wieder wie zu sich selbst, dann sah sie mich plötzlich mit durchbohrenden Blicken an, weinte nicht, antwortete nicht auf meine Fragen und erzitterte wie ein Blatt am Baume als sie die helle Stimme des eintretenden Aljoscha hörte. Feuer übergoß ihre Wangen, sie lief zu ihm, umarmte ihn krampfhaft, küßte ihn und lachte ... Aljoscha sah sie erstaunt an, fragte sie beunruhigt, ob sie auch gesund wäre und versuchte sie damit zu beruhigen, daß er bald zur Hochzeit zurückkehren würde ... Mit ganzer Kraft suchte sich Natascha zu bezwingen und ihre Tränen zu unterdrücken. Sie weinte nicht ... Einmal hatte er ihr gegenüber die Bemerkung gemacht, daß er ihr für die Zeit seiner Reise Geld hinterlassen würde, und sie solle sich darüber nicht beunruhigen, da ihm sein Vater viel Geld für die Reise versprochen. Natascha wurde finster. Als wir darauf allein blieben, sagte ich ihr, daß für sie auf jeden Fall hundertfünfzig Rubel bereit ständen. Sie fragte nicht woher das Geld kam. Das war zwei Tage vor Aljoschas Abreise, kurz vor der ersten und letzten Begegnung Nataschas mit Katjä. Katjä hatte durch Aljoscha einen Brief geschickt, in dem sie Natascha um die Erlaubnis gebeten, sie morgen zu besuchen; auch mir hatte sie geschrieben und mich gebeten, bei der Begegnung zugegen zu sein. Ich beschloß, ungeachtet aller Hindernisse, um zwölf Uhr bei Natascha zu sein; denn Hindernisse gab es viele. Ganz abgesehen von Nelly hatten mich auch die alten Ichmenjeffs sehr in Anspruch genommen. Vor einer Woche hatte ich von Anna Andrejewna einen Brief erhalten, mit der Bitte, in einer wichtigen Angelegenheit so schnell als möglich zu ihr zu kommen. Ich eilte zu ihr und traf sie allein zu Hause an: in zitternder Erwartung ihres Mannes ging sie in fieberhafter Aufregung im Zimmer auf und ab. Wie gewöhnlich, konnte ich auch diesmal nicht sofort erfahren, was geschehen und warum sie so erschrocken war, wo es vielleicht keinen Augenblick zu verlieren gab. Endlich nach heißen und gar nicht zur Sache gehörigen Vorwürfen: „warum ich nicht zu ihnen gekommen sei und sie wie Waisen in ihrem Kummer allein gelassen habe,“ so daß schon „weiß Gott was ohne mich hätte passieren können,“ erklärte sie mir, daß Nikolai Ssergejewitsch in den letzten drei Tagen so aufgeregt gewesen sei, „daß es unmöglich zu beschreiben wäre“. „Er ist sich einfach selbst nicht mehr ähnlich,“ erzählte sie, „in der Nacht schleicht er sich von mir fort, um auf den Knien vor dem Gottesbild zu beten, im Schlaf phantasiert er, bei Tage ist er nur halb bei Verstand: gestern aßen wir Kohlsuppe und er konnte seinen Löffel nicht finden, der neben seinem Teller lag: frägt man ihn dies, so antwortet er das. „Jeden Augenblick geht er aus dem Haus: ‚immer in Geschäften,‘ sagt er, ‚um einen Advokaten zu suchen;‘ schließlich hatte er sich heute morgen in seinem Kabinett eingeschlossen: ‚ich habe,‘ sagte er, ‚einen Geschäftsbrief zu schreiben.‘ Nun, denke ich, ‚was wirst du für einen Geschäftsbrief schreiben, wenn du nicht einmal deinen Löffel neben dir auffinden kannst?‘ Ich spähte durch den Türspalt: da saß er, schrieb und – weinte. ‚Schreibt man denn so einen Geschäftsbrief?‘ dachte ich. ‚Oder tut es ihm so leid um Ichmenjeffka; also müssen wir unser Ichmenjeffka doch auf immer verloren haben!‘ Plötzlich aber springt er vom Stuhl und wirft die Feder auf den Tisch, feuerrot im Gesicht, mit blitzenden Augen greift er nach dem Hut und stürzt zu mir hinaus. ‚Ich, Anna Andrejewna, komme sofort wieder,‘ sagte er und ging hinaus. Ich aber habe dann auf seinem Schreibtisch unter den vielen Papieren, die da in Stößen herumliegen, gesucht. Wievielmal habe ich zu ihm gesagt: ‚erlaube, daß ich deine Papiere in Ordnung bringe und vom Tisch den Staub abwische.‘ Doch, daran war nicht zu denken, er winkte mit Händen und Füßen ab: so ungeduldig, solch ein Schreier ist er hier in Petersburg geworden. So ging ich also zum Tisch und fing an zu suchen, was er soeben geschrieben. Denn ich wußte zu genau, daß er es nicht mitgenommen, sondern unter die anderen Papiere gesteckt hatte. Da, mein lieber Iwan Petrowitsch, da ist’s, da ...“ Und sie reichte mir einen Bogen Postpapier, der zur Hälfte beschrieben und stellenweis so unleserlich beschrieben war, daß man ihn kaum entziffern konnte. Der arme Alte! Bei den ersten Worten konnte man erraten, an wen er gerichtet war. Es war ein Brief an seine Natascha, an seine geliebte Natascha. Er begann warm und innig; er verzieh ihr alles und rief sie zu sich. Nur war es unmöglich, alles zu entziffern, was er geschrieben, die Sätze waren abgerissen und alles verwischt. Man fühlte nur, daß er aus heißem Drang zur Feder gegriffen und die ersten Zeilen tiefempfunden den hatte, aber auf die ersten Zeilen folgten einige anderer Art. Er machte seiner Tochter Vorwürfe, beschrieb in grellen Farben ihr Verbrechen, hielt ihr Eigensinn vor, beschuldigte sie der Gefühllosigkeit, daß sie garnicht daran gedacht, was sie ihren Eltern angetan. Für ihren Stolz aber verfluchte er sie und befahl ihr unverzüglich ins Elternhaus zurückzukehren, dann erst würden ihre Eltern „nach stillem, musterhaftem Leben im Schoße der Familie ihr vielleicht Vergebung gewähren,“ schrieb er. Man sah, daß er sein erstes Gefühl für Schwäche gehalten, sich dessen geschämt hatte und gequält und beleidigt in seinem Stolz mit wütenden Drohungen schloß. Die Alte stand vor mir mit zusammengelegten Händen und erwartete in Angst und Schrecken was ich sagen würde. Ich sagte ihr alles aufrichtig, so wie es mir schien. Nämlich: daß der Alte nicht mehr imstand sei, ohne Natascha zu leben, und daß man wohl annehmen müsse, daß es zu einer baldigen Versöhnung kommen werde; doch hänge das selbstverständlich alles von den Verhältnissen ab. Auch habe ihn der schlechte und für ihn unglückliche Ausgang des Prozesses erschüttert und gereizt, und durch den Triumph des Fürsten wäre er in seiner Eigenliebe empfindlich getroffen. In solchen Augenblicken sucht die Seele nach Mitgefühl, und er sehnte sich um so mehr nach derjenigen, die er über alles in der Welt am meisten liebte. Außerdem habe er wahrscheinlich erfahren, (da er ja doch von allem unterrichtet ist), daß Aljoscha sie jetzt verlassen wird. Auch aus seiner Lage heraus begreift er, wie sehr sie Trost und Hilfe brauchte. Doch konnte er sich diesesmal doch noch nicht ganz und gar überwinden, da er sich durch sie gekränkt und erniedrigt fühlt. Ihm kam der Gedanke, daß nicht sie es ist, die zu ihm kommt, und daß sie vielleicht garnicht an ihn denkt und nach seinem Troste durchaus nicht verlangt. Darum habe er wohl den Brief nicht beendigt, auch vielleicht aus Furcht vor neuen Beleidigungen die Versöhnung noch länger aufgeschoben ... Die Alte hörte mir zu und weinte. Als ich ihr nun sagte, daß ich sofort zu Natascha müßte und mich bereits durch sie verspätet hätte, zuckte sie zusammen und erklärte mir, daß sie die _Hauptsache_ noch garnicht erzählt hätte. Als sie nämlich den Brief unter den Papieren hervorgezogen hatte, war das Tintenfaß umgefallen. Die eine Ecke des Briefes war wirklich ganz mit Tinte übergossen und nun fürchtete sie sich sehr, daß der Alte durch diesen Klecks erkennen würde, daß sie den Brief an Natascha gelesen. Ihre Furcht war durchaus gerechtfertigt: denn bereits der Gedanke, sie wisse sein Geheimnis, hätte ihn so in Zorn und Wut bringen können, daß er aus Stolz bei seinem Trotz verharren würde. Ich sah mir die Sache an und konnte die Alte insofern beruhigen, daß er in dieser großen Erregung sich kaum dieser Kleinigkeiten erinnern dürfte, und denken würde, er habe selbst den Fleck gemacht. Nachdem sich nun Anna Andrejewna ein wenig beruhigt hatte, legten wir den Brief vorsichtig an seinen früheren Platz zurück, und bevor ich fortging, wollte ich noch einmal in der Angelegenheit Nelly ernst mit ihr reden. Mir schien es, daß das arme verlassene Kind, deren Mutter von ihrem eigenen Vater verflucht worden war, den Alten rühren und ihm großmütigere Gefühle einflößen könnte. Denn alles war in ihm dazu bereit; der Gram um seine Tochter hatte seinen Stolz und seine beleidigte Eigenliebe überwunden. Es fehlte nur noch der Anstoß dazu und die günstige Gelegenheit, und diese konnte vielleicht durch Nelly gegeben werden. Die Alte hörte mir mit besonderer Aufmerksamkeit zu: Hoffnung und Begeisterung belebten ihr Gesicht. Sie machte mir natürlich sofort Vorwürfe, warum ich ihr das nicht bereits früher gesagt hätte, fragte mich ungeduldig über Nelly aus, und versprach feierlich, daß sie nun selbst Ichmenjeff bitten würde, die Waise ins Haus zu nehmen. Ja, sie liebte Nelly bereits aufrichtig, bedauerte, daß sie krank war, wollte mir für Nelly einen Topf Apfelmus mitgeben, lief in die Kleiderkammer und brachte mir aus ihrer Rocktasche fünf Rubel, für den Fall, daß ich kein Geld für den Doktor hätte, und als ich diese nicht annahm, beunruhigte es sie sehr, ob Nelly auch Kleider und Wäsche hätte und ob sie ihr da nicht nützlich sein könnte, woraufhin sie sofort ihren Kleiderkasten um und um wühlte, um Sachen herauszusuchen, die sie der armen Waise schenken könnte. Ich aber ging zu Natascha. Als ich die Treppe zu ihrer Wohnung emporstieg, sah ich jemand vor ihrer Tür stehen, der soeben anklopfen wollte, doch als er meine Schritte hörte, sich abwandte. Endlich nach einigem Zögern schien er seine Absicht aufzugeben. Er kam die Treppe hinunter und begegnete mir auf der letzten Stufe vor dem Treppenabsatz. Wie groß war aber meine Verwunderung, als ich in ihm Ichmenjeff erkannte. Auf der Treppe war es auch am Abend dunkel. Er drückte sich an die Wand, um mir Platz zu machen, und ich erinnere mich noch jetzt des seltsamen Glanzes seiner Augen, die er fest auf mich gerichtet hatte. Mir schien es, daß er errötete; wenigstens war er sehr verwirrt und wußte nicht, was er sagen sollte. „Ach, Wanjä, du bist es!“ fragte er mit unsicherer Stimme ... „Ich suchte einen Menschen ... einen Schreiber ... in einer Angelegenheit ... ich suche ihn überall ... er ist nicht hier, nicht da ... Hier scheint er auch nicht zu sein. Habe mich geirrt. Lebe wohl.“ Und er ging schnell die Treppen hinunter. Ich beschloß, Natascha einstweilen von dieser Begegnung nichts zu sagen, es ihr aber gleich nach Aljoschas Abreise, wenn sie allein war, mitzuteilen. Gegenwärtig war sie so abgespannt, daß, wenn sie auch die ganze Tragweite dieses Aktes begriffen hätte, sie ihn doch nicht so in sich hätte aufnehmen können, wie später in einem Augenblick der letzten Verzweiflung. Dieser Augenblick war jetzt noch nicht gekommen. Ich hätte noch am selben Tage zu Ichmenjeffs gehen können, doch tat ich es absichtlich nicht: Dem Alten mußte jetzt eine Begegnung mit mir sehr schwer fallen. Ich ging erst am dritten Tage zu ihm; er war sehr niedergeschlagen, begrüßte mich aber ganz frei und sprach viel von seinen Angelegenheiten. „Sag doch, wen hast du denn damals besucht, so hoch oben, weißt du noch, wo wir uns begegneten ... vor drei Tagen war’s,“ fragte er mich plötzlich in nachlässigem Tone, obgleich er trotzdem meinen Blicken auswich. „Einen Freund,“ antwortete ich und blickte gleichfalls zur Seite. „Ah! Ich suchte meinen Schreiber Astaffjeff; man hatte mir dieses Haus angegeben ... es war ein Irrtum ... Um also auf meinen Prozeß zu kommen: im Senate hat man entschieden ... usw. usw.“ Er errötete sogar, als er von seinem Prozeß zu sprechen begann. Ich erzählte es noch an demselben Tage Anna Andrejewna, um die Alte zu erfreuen, bat sie aber doch unter anderem, ihm nicht besonders ins Gesicht zu schauen, nicht zu seufzen und keine Anspielungen darauf zu machen, kurz durch nichts zu zeigen, daß sie davon unterrichtet war. Die Alte war so erstaunt und erfreut, daß sie mir zuerst nicht glauben wollte. Ihrerseits erzählte sie mir, daß sie Nikolai Ssergejewitsch von Nelly gesprochen hätte, er aber habe geschwiegen, wo er sie doch sonst früher immer selbst dazu überredet hatte. Wir beschlossen, daß sie ihn morgen direkt darum bitten sollte ohne jegliche Umschweife. Doch am nächsten Tage waren wir seinetwegen in schrecklicher Angst und Pein. Ichmenjeff hatte am folgenden Morgen einen Beamten gesprochen, der in seiner Sache unterrichtet war. Der Beamte hatte ihm nun erklärt, daß er den Fürsten gesprochen, und daß dieser wohl Ichmenjeffka in Besitz nehmen würde, doch infolge „gewisser Familienangelegenheiten“ dem alten Ichmenjeff die zehntausend Rubel schenken würde. Nach dieser Nachricht kam der Alte geradewegs zu mir gelaufen, aufgeregt mit wutblitzenden Augen. Er rief mich, ich weiß nicht warum, hinaus auf die Treppe und verlangte von mir, daß ich sofort zum Fürsten ginge und ihn zum Duell fordere. Ich war so erschrocken, daß ich mich zuerst gar nicht zu fassen wußte. Ich fing, glaube ich, an, ihn zu bereden. Doch der Alte geriet so außer sich, daß ihm schlecht wurde. Ich lief nach einem Glas Wasser; als ich zurückkam, fand ich ihn bereits nicht mehr auf der Treppe. Am nächsten Tage ging ich zu ihm, traf ihn aber nicht zu Hause; er war damals auf zwei Tage verschwunden. Am dritten Tage erfuhren wir erst, was sich mit ihm ereignet hatte. Von mir aus war er geradewegs zum Fürsten gegangen, und weil er ihn nicht zu Hause angetroffen, hatte er ihm einen Zettel hinterlassen; in dem Schreiben teilte er ihm mit, daß er durch diesen Beamten von seinen Worten unterrichtet sei und sich durch sie tödlich beleidigt fühle, daß er, der Fürst, ein gemeiner Mensch wäre, und er ihn darum zum Duell fordere. Zum Schluß warnte er ihn noch, die Aufforderung zum Duell etwa abzulehnen, da er dann gezwungen wäre, ihn öffentlich zu beleidigen. Anna Andrejewna erzählte mir, er sei in solcher Aufregung zurückgekehrt, daß er sich sofort hingelegt und auf alle ihre zärtlichen Fragen nichts geantwortet hätte. In fieberhafter Ungeduld schien er irgend etwas zu erwarten. Am nächsten Morgen kam ein Stadtbrief; als er ihn gelesen, schrie er auf und faßte sich an den Kopf. Anna Andrejewna erstarrte fast vor Schreck und Angst. Er griff sofort nach Hut und Stock und lief hinaus. Der Brief war vom Fürsten. Trocken, kurz und höflich erklärte er Ichmenjeff, daß er über seine Worte, die er dem Beamten gegenüber ausgesprochen, niemand Rechenschaft schuldig sei. Obgleich er Ichmenjeff sehr bedaure, seinen Prozeß verloren zu haben, könne er doch trotz allem Mitgefühl es nicht für zulässig finden, daß der Verurteilte das Recht hätte, seinen Prozeßgegner aus Rache zum Duell herauszufordern. Was endlich die ihm angedrohte „öffentliche Beschimpfung“ beträfe, so bäte er Ichmenjeff, sich darum nicht zu beunruhigen, da von einer öffentlichen Beschimpfung gar nicht die Rede sein könne, da er seinen Brief sofort der Polizei vorlegen würde, die zur bestimmten öffentlichen Ordnung und Ruhe die entsprechenden Maßregeln treffen muß. Ichmenjeff stürzte, mit dem Brief in der Hand, sofort zum Fürsten. Der Fürst war wieder nicht zu Haus; dem Alten gelang es aber durch den Lakaien zu erfahren, daß der Fürst sich beim Grafen N. befinde. Ohne sich zu besinnen, begab er sich sofort zum Grafen. Der Portier des Grafen hielt ihn zurück, als er auf die Treppe hinaufsteigen wollte. Der alte Ichmenjeff geriet in Wut und schlug mit dem Stock um sich ... Man ergriff ihn sofort und übergab ihn der Polizei. Der Vorfall wurde dem Grafen sofort gemeldet. Als nun der anwesende Fürst dem alten Wüstling von Grafen mitteilte, daß der alte Ichmenjeff der Vater der Natalja Nikolajewna sei, so begann der Graf zu lachen und sein Zorn wandelte sich in Milde: er befahl Ichmenjeff sofort zu befreien; doch geschah das erst in drei Tagen, wobei man (wohl auf Befehl des Fürsten) Ichmenjeff mitteilte, daß der Fürst selbst den Grafen um Nachsicht für ihn gebeten. Halb wahnsinnig nach Hause zurückgekehrt, warf sich der Alte aufs Bett und lag eine ganze Stunde bewegungslos; endlich erhob er sich, und erklärte feierlich zum Schrecken Anna Andrejewnas, daß er seine Tochter auf immer und ewig verfluche! Anna Andrejewna verlor fast ihre letzte Besinnung; zum Glück mußte für den Alten gesorgt werden. Die ganze Nacht wachte sie an seinem Bette, machte ihm Eiskompressen, und konnte daher über ihr Unglück weiter nicht nachdenken. Er lag im Fieber und phantasierte. Ich verließ sie um drei Uhr nachts. Am nächsten Morgen stand Ichmenjeff auf und kam zu mir wegen Nelly. Von der Szene zwischen Nelly und ihm habe ich bereits erzählt; diese Szene erschütterte ihn endgültig. Nach Hause zurückgekehrt, legte er sich wieder zu Bett. Das geschah am Karfreitag, an dem Tage, an welchem die Begegnung zwischen Katjä und Natascha stattfinden sollte, am Tage vor Aljoschas Abfahrt aus Petersburg. Bei dieser Begegnung war ich zugegen. Das war am Morgen von Nellys erstem Fluchtversuch. VI. Aljoscha war eine Stunde vor der Begegnung zu Natascha gekommen, ich kam gerade in dem Augenblicke, als Katjäs Equipage vor dem Haustor hielt. Katjä erschien mit der alten Französin, die nach langem Zögern endlich eingewilligt hatte, sie zu begleiten und ihr sogar erlaubt hatte, allein den Besuch bei Natascha zu machen, unter der Bedingung, daß Aljoscha zugegen sein würde. Katjä rief mich zu sich an die Equipage, als sie mich erblickte, und bat mich, Aljoscha zu ihr zu senden. Ich traf oben Natascha und Aljoscha in Tränen an: beide weinten. Als Natascha hörte, daß Katjä gekommen sei, erhob sie sich, wischte sich die Tränen ab und stellte sich in Erwartung der Tür gegenüber. Gekleidet war sie diesen Morgen ganz in weiß. Ihre dunkelbraunen Haare waren glatt zurückgekämmt und hinten im Nacken zu einem dichten Knoten verschlungen. In dieser Frisur liebte ich sie am meisten. Als sie sah, daß ich beabsichtigte, bei ihr zu bleiben, bat sie mich auch, den Gästen entgegenzugehen. „Erst jetzt war es mir möglich, meine Absicht auszuführen, und Natascha aufzusuchen,“ sagte Katjä zu mir, als wir die Treppe hinaufstiegen, „so sehr hat man auf mich aufgepaßt, ... es war schrecklich! Mme. Albert habe ich ganze zwei Wochen bereden müssen, bis sie endlich einwilligte. Und Sie, und Sie, Iwan Petrowitsch, sind kein einziges Mal zu mir gekommen! Schreiben konnte ich Ihnen auch nicht und es fehlte mir auch die Lust dazu, denn im Brief kann man ja doch nicht alles sagen. Und wie gern hätte ich sie gesprochen ... Mein Gott, wie mir jetzt das Herz klopft ...“ „Die Treppe ist so steil,“ bemerkte ich. „Nun, ja ... die Treppe ... Doch, was glauben Sie: wird Natascha mir zürnen?“ „Nein, weshalb?“ „Nun, ja ... freilich, weshalb; ich werde es ja gleich selbst erfahren; wozu frage ich Sie noch?“ ... Ich führte sie am Arme hinauf. Sie war bleich und schien sich sehr zu fürchten. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb sie stehen um Atem zu schöpfen, dann aber stieg sie, mit einem bedeutsamen Blick auf mich, entschlossen die letzten Stufen hinauf. Vor der Tür blieb sie noch einmal stehen und flüsterte mir zu: „ich werde einfach hineingehen und ihr sagen, daß ich so an sie geglaubt habe, ohne etwa befürchten zu müssen ... Übrigens, was sage ich, ich bin doch überzeugt, daß Natascha das edelste Geschöpf ist, das es gibt. Nicht wahr?“ Sie trat schüchtern wie eine Schuldbewußte ein und sah Natascha starr an, die ihr zulächelte. Da trat Katjä sofort auf sie zu, ergriff ihre beiden Hände und küßte sie auf die Lippen. Darauf wandte sie sich, ohne Natascha ein Wort gesagt zu haben, ernst und streng an Aljoscha und bat ihn, sie auf eine halbe Stunde allein zu lassen. „Du, Aljoscha, sei deshalb nicht böse,“ fügte sie hinzu, „ich wünsche es darum, weil ich mit Natascha über viele ernste und wichtige Dinge zu reden habe, die du nicht hören sollst. Sei vernünftig, und gehe. Sie aber, Iwan Petrowitsch, bleiben hier. Sie müssen bei unserem Gespräch zugegen sein.“ „Setzen wir uns,“ sagte Katjä, als Aljoscha fort war, „so, ich setze mich Ihnen gegenüber. Ich möchte Sie zuerst ein wenig ansehen.“ Sie setzte sich Natascha gegenüber und betrachtete sie stumm. Natascha mußte unwillkürlich lächeln. „Ich kenne Ihre Photographie,“ sagte Katjä, „Aljoscha hat sie mir gezeigt.“ „Ist sie ähnlich?“ „Sie sind schöner,“ sagte Katjä ernst und bestimmt. „Ich wußte es, daß Sie schöner sind.“ „Und ich freue mich über Sie, wie reizend Sie sind!“ „Was Sie sagen! reden Sie nicht von mir, meine Liebe!“ fügte Katjä hinzu, und ergriff mit zitternden Händen Nataschas Hand, und wieder schwiegen sie und sahen sich gegenseitig an. „Sehen Sie, Natascha,“ unterbrach Katjä das Schweigen, „wir haben nur eine halbe Stunde für uns; Madame Albert wollte mir kaum diese halbe Stunde schenken, – und ich habe viel mit Ihnen zu reden ... Ich will ... ich muß ... Sie einfach fragen: lieben Sie Aljoscha sehr?“ „Ja, sehr.“ „Wenn das so ist ... wenn Sie ihn sehr lieben ... so ... müssen Sie auch sein Glück wünschen ...“ fügte sie leise schüchtern hinzu. „Ja, ich wünsche es, daß er glücklich würde.“ „So ist’s ... doch jetzt die Frage: kann ich sein Glück ausmachen? Habe ich das Recht so zu sprechen, denn ich nehme Ihnen Aljoscha. Wenn es Ihnen scheint, und wir wollen das jetzt entscheiden, daß er mit Ihnen glücklicher wird, als, als ... so ...“ „Das ist bereits entschieden, liebe Katjä, Sie selbst wissen es doch, daß alles entschieden,“ antwortete Natascha und neigte ihr Haupt. Es fiel ihr offenbar schwer, das Gespräch weiterzuführen. Katjä hatte wahrscheinlich eine lange Auslegung über dieses Thema vorbereitet: wer Aljoschas Glück ausmachte und wer von ihnen ihn der anderen abtreten sollte? Doch durch Nataschas Antwort begriff sie sofort, daß alles beschlossen und kein Wort mehr zu verlieren sei. Ihre reizenden Lippen halb geöffnet, sah sie traurig Natascha an, deren Hand sie immer noch in der ihren hielt. „Und Sie, Sie lieben ihn sehr?“ fragte Natascha sie plötzlich. „Ja; und ich wollte Sie auch darum fragen und bin deshalb hierhergekommen, um zu erfahren, warum Sie ihn lieben?“ „Ich weiß es nicht,“ antwortete Natascha, in ihrer Antwort lag ein Ausdruck gewisser Ungeduld. „Halten Sie ihn für klug?“ fragte Katjä. „Nein, ich liebe ihn einfach ...“ „Und ich auch. Er tut mir scheinbar immer so leid.“ „Und mir auch,“ antwortete Natascha. „Was soll man jetzt mit ihm beginnen! Und wie konnte er Sie um meinetwillen verlassen, ich begreife es nicht!“ rief Katjä aus. „Jetzt, wo ich Sie gesehen habe, kann ich es nicht verstehen!“ Natascha antwortete nicht und sah zu Boden. Auch Katjä verstummte und plötzlich erhob sie sich und umarmte sie zärtlich. Sich umarmt haltend, weinten sie miteinander. Katjä setzte sich auf den Arm des Lehnstuhls und hielt Natascha fest umschlungen, ihr die Hände küssend. „Wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie liebe!“ sagte sie in Tränen aufgelöst. „Wir wollen Schwestern bleiben und uns schreiben ... ich werde Sie ewig lieben, ewig ...“ „Hat er Ihnen von unserer Hochzeit im Juni gesprochen?“ fragte sie Natascha. „Ja, er hat gesagt, daß Sie dareinwilligen. Das ist doch alles nur so, um ihn zu beruhigen, nicht wahr?“ „Natürlich.“ „So habe ich es auch aufgefaßt. Ich werde ihn sehr lieben, Natascha, und Ihnen von ihm schreiben. Wahrscheinlich wird man uns bald verheiraten; so scheint es wenigstens. Sie sprechen alle davon. Liebe Natascha, Sie werden doch jetzt zu Ihren Eltern gehen?“ Natascha antwortete nicht, sondern küßte sie schweigend. „Werden Sie glücklich!“ sagte sie. „Und ... Sie ... Sie auch,“ erwiderte Katjä. In dem Augenblicke öffnete sich die Tür und Aljoscha trat ein. Er war nicht imstande, die halbe Stunde abzuwarten und als er sie jetzt umarmt und in Tränen sah, stürzte er ihnen beiden zu Füßen. „Warum weinst denn du?“ fragte ihn Natascha. „Wir werden doch nicht auf lange getrennt sein? Zum Juni kommst du doch wieder?“ „Und dann wird eure Hochzeit sein,“ beeilte sich auch Katjä ihn zu trösten. „Doch, ich kann nicht, ich kann dich nicht auf einen Tag verlassen, Natascha. Ich muß ohne dich sterben ... Du weißt nicht, wie teuer du mir jetzt bist! Gerade jetzt! ...“ „Nun, mache es doch so,“ sagte plötzlich belebt Natascha, „die Gräfin bleibt doch längere Zeit in Moskau?“ „Ja, fast eine Woche,“ bestätigte Katjä. „Eine Woche! Was wäre denn besser: du begleitest sie morgen nach Moskau, bleibst dort einen Tag und kommst hierher zurück. Wenn sie Moskau verlassen, fährst du wieder hin und begleitest sie auf einen Monat aufs Land.“ „So, so ist’s ... Sie werden immerhin noch vier Tage zusammen sein!“ rief Katjä entzückt, mit einem vielsagenden Blick auf Natascha. Das Entzücken Aljoschas über dieses neue Projekt läßt sich gar nicht beschreiben. Er schien plötzlich vollkommen beruhigt; sein Gesicht strahlte, er umarmte Natascha, küßte Katjä die Hand, umarmte mich. Natascha sah ihn mit traurigem Lächeln an, doch Katjä konnte sich kaum mehr beherrschen. Sie warf mir einen heißen, zornigen Blick zu, umarmte Natascha, erhob sich vom Stuhl um aufzubrechen. In dem Augenblick erschien auch schon der Diener mit der Meldung, daß die halbe Stunde vorüber sei. Natascha erhob sich. Beide standen sich jetzt gegenüber und sahen sich mit einem Blick an, der ihre ganze Seele ausdrücken sollte. „Wir werden uns niemals wiedersehen,“ sagte Katjä. „Niemals mehr,“ antwortete Natascha. „Dann leben Sie wohl.“ Sie umarmten sich. „Fluchen Sie mir nicht,“ flüsterte ihr eilig noch Katjä zu, „ich werde immer ... seien Sie überzeugt ... er wird glücklich ... Komm, Aljoscha, begleite mich!“ stieß sie eilig hervor und faßte ihn an der Hand. „Wanjä!“ wandte sich Natascha an mich, ganz erschöpft, als sie gegangen, „folge auch du ihnen ... Aljoscha wird bis zum Abend bei mir sein, bis acht Uhr; länger kann er nicht, dann muß er gehen. Ich bleibe dann allein ... Komme gegen zehn Uhr. Bitte!“ Als ich um neun Uhr Nelly (nach der zerschlagenen Tasse) mit Alexandra Ssemjonowna allein ließ, ging ich zu Natascha, die bereits ungeduldig auf mich wartete. Mawra gab den Tee; Natascha schenkte mir eine Tasse ein, setzte sich auf den Diwan und ich mußte mich neben sie setzen. „Nun ist alles, alles aus!“ sagte sie mit einem Blick auf mich, den ich nie vergessen werde. „Ein halbes Jahr der Liebe ... für ein ganzes Leben,“ fügte sie hinzu und preßte meine Hand. Ihre Hände brannten. Ich fing an sie zu bereden, sich warm einzuhüllen und zu Bett zu legen. „Sofort, Wanjä, sofort. Laß mich nur reden und mich an alles dies erinnern ... Ich bin wie zerschlagen ... Morgen sehe ich ihn zum letzten Male, um zehn Uhr ... zum letzten Mal!“ „Natascha, du bist wie im Fieber, gleich wird dich der Schüttelfrost packen; habe Mitleid mit dir ...“ „Was glaubst du, Wanjä? Ich habe hier auf dich seit einer halben Stunde gewartet und ich fragte mich, als er fortgegangen war – fragte mich: liebe ich ihn, oder liebe ich ihn nicht, und was war das eigentlich für eine Liebe? Dir wird das wohl sonderbar vorkommen, Wanjä, daß es von mir erst jetzt geschah?“ „Rege dich nicht auf, Natascha ...“ „Siehst du, Wanjä, ich glaube, daß ich ihn nicht so geliebt habe, wie eine gewöhnliche Frau einen Mann liebt. Ich liebte ihn fast ... wie eine Mutter. Ich glaube, daß es auf der Welt gar keine solche Liebe gibt, wo sich gegenseitig beide ganz gleich lieben, ah? Wie denkst du?“ In banger Unruhe beobachtete ich sie und befürchtete einen Fieberausbruch. Sie schien sich einem sonderbaren Gefühl hinzugeben, einem Bedürfnis, zu reden; oft ganz unzusammenhängende Worte, die ich kaum verstehen konnte. Ich fürchtete sehr für sie. „Er war mein,“ fuhr sie fort. „Gleich von der ersten Begegnung an, tauchte in mir der unbezwingliche Wunsch auf, daß er mein sei, ganz mein, und daß er niemanden kennen, niemanden sehen müßte, als nur mich ... Katjä hatte ganz recht vorhin, als sie sagte; ich habe ihn die ganze Zeit mit einer Liebe geliebt, als ob er mir leid täte ... Immer hatte ich den unbezwinglichen Wunsch, ja die Qual, wenn ich allein blieb, daß er unendlich und ewig glücklich sein müsse. Ich konnte sein Gesicht nicht ruhig ansehen. (Du kennst doch den Ausdruck seines Gesichtes, Wanjä): einen solchen Ausdruck _gibt es nicht_ noch einmal, und wenn er lachte, so lief mir ein kalter Schauer über den Rücken ... Das ist wahr! ...“ „Natascha, höre mich an ...“ „Alle sagten,“ unterbrach sie mich, „und übrigens auch du hast es gesagt, daß er charakterlos und ... sein Verstand der eines Kindes sei. Nun, und, das war es, was ich am meisten an ihm liebte ... glaubst du es mir? Ich weiß nicht, ob ich ihn gerade nur darum liebte: kurz, ich liebte ihn einfach so wie er war und wäre er anders gewesen, so hätte ich ihn vielleicht gar nicht so lieb gehabt. Weißt du, Wanjä, ich muß dir noch eines gestehen; erinnerst du dich, vor drei Monaten hatten wir einen großen Streit, damals, als er mit seinen Kameraden bei dieser Minna gewesen war ... Als ich es erfahren, glaubst du mir, tat es mir sehr weh, zugleich war es aber so angenehm, daß er sich vor mir schuldig fühlte, und ich das Gefühl hatte, daß er sich wie ein Erwachsener aufgeführt und mit anderen Männern zu schönen Frauen gefahren! Und dann, welch ein Entzücken, ihm vergeben zu können ... oh, Lieber!“ Sie sah mir ins Gesicht und lächelte so sonderbar. Darauf verfiel sie in tiefes, tiefes Nachdenken. Und lange saß sie da, mit diesem Lächeln auf den Lippen und dachte an Vergangenes. „Ich liebte es unendlich, ihm zu vergeben, Wanjä,“ fuhr sie fort. „Wenn er mich allein ließ und ich im Zimmer auf und ab ging, weinte und mich quälte, dann dachte ich immer: je schuldiger er vor mir sein wird, um so besser ... Ja! Und weißt du: immer schien es mir, daß er ein kleiner Junge sei: ich sitze da, er legt seinen Kopf auf meinen Schoß und schläft ein, dann streiche ich ihm leise übers Haar ... Immer habe ich ihn mir so vorgestellt, wenn er nicht bei mir war ... Weißt du, Wanjä,“ wandte sie sich plötzlich an mich, „wie reizend ist doch Katjä!“ Ich fühlte es, daß sie mit Absicht ihre Wunde aufriß, als fühlte sie ein Bedürfnis – ein Bedürfnis, der Verzweiflung und des Leides ... Das geschieht oft mit Herzen, die viel verloren haben! „Wie es mir scheint, wird Katjä ihn glücklich machen,“ fuhr sie fort. „Sie hat Charakter und spricht zu ihm so überzeugt, so ernst und überlegen – und stets von hohen Dingen, wie eine Erwachsene. Und dabei ist sie selbst – das reine Kind! Ein liebes, liebes Kind! Oh, möchten sie glücklich sein!“ Tränen und Schluchzen erschütterten ihren Körper. Ganze anderthalb Stunden konnte sie nicht zu sich kommen, sich irgendwie beruhigen. Dieser Engel von Natascha! Und doch konnte sie noch an demselben Abend, trotz ihres Kummers, Teilnahme für mich und meine Sorgen haben, als ich ihr, um sie zu zerstreuen, von Nelly erzählte ... Wir trennten uns erst spät abends, ich wartete bis sie eingeschlafen war und bat Mawra, als ich fortging, heute nacht bei ihrer kranken Herrin zu wachen. „Oh, schneller, schneller,“ dachte ich, als ich zu mir zurückkehrte, „schneller ein Ende mit diesen Qualen! Einerlei wodurch, einerlei wie, nur schneller, schneller!“ Um neun Uhr morgens war ich bereits wieder bei ihr. Zu gleicher Zeit mit mir fand sich auch Aljoscha ein – um Abschied zu nehmen. Ich möchte nicht von diesen Augenblicken sprechen, und nicht an sie denken. Natascha wollte lustig und gleichgültig erscheinen, und konnte es nicht. Sie umarmte Aljoscha krampfhaft. Sie sprach kein Wort mit ihm, sie sah ihn nur ganz verstört an. Sie hörte gierig jedem seiner Worte zu und schien doch nicht zu begreifen, was er zu ihr sprach. Ich weiß, er bat sie, ihm zu vergeben, ihm und seiner Liebe alles das, womit er sie in der letzten Zeit gekränkt, seine Untreue zu ihr und seine Liebe zu Katjä, seine Abfahrt ... Er sprach zusammenhanglos, Tränen erstickten seine Stimme. Dann versuchte er sie wieder zu beruhigen, sagte, daß er nur auf einen Monat fortginge oder höchstens fünf Wochen, daß er im Sommer wiederkomme und dann ihre Hochzeit sei, und daß der Vater einwilligen würde, und schließlich, was die Hauptsache, daß er übermorgen aus Moskau zurückkehre, um mit ihr noch vier Tage zusammen zu verleben, also würden sie jetzt nur auf einen Tag getrennt sein ... Sonderbar: wenn er fest davon überzeugt gewesen wäre, daß er die Wahrheit sprach und übermorgen aus Moskau zurückkehrte, – warum weinte er und quälte er sich so? Endlich schlug die Uhr elf. Ich konnte ihn nur mit aller Gewalt bereden aufzubrechen. Der Moskauer Schnellzug fuhr um Punkt zwölf Uhr ab. Es blieb ihm nur noch eine Stunde. Natascha sagte mir später selbst, daß sie sich der letzten Augenblicke nicht mehr entsinne. Sie bekreuzte ihn, glaube ich, küßte ihn, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und lief ins Zimmer zurück. Ich mußte Aljoscha zur Equipage führen, sonst wäre er niemals fortgegangen. „Meine ganze Hoffnung beruht auf Dir,“ sagte er mir beim Abschied. „Freund Wanjä, ich bin niemals deiner Liebe würdig gewesen, doch bleibe mir trotzdem ein Bruder; verlasse du sie nicht, schreibe mir alles ausführlich über sie, so ausführlich, als nur möglich. Übermorgen werde ich wieder da sein, bestimmt, bestimmt! Doch dann, wenn ich dann fortfahre, dann schreibst du!“ Ich setzte ihn in den Wagen. „Bis übermorgen!“ rief er mir noch zu, „bestimmt!“ Als ich mit bangem Herzen oben wieder Nataschas Zimmer betrat, stand sie mitten im Zimmer, mit verkreuzten Armen und blickte mich so fremd an, als erkenne sie mich nicht. Ihr Haar war in Unordnung; ihr Blick war trübe und wie irrsinnig. Mawra stand an der Tür und sah sie angstvoll an. Plötzlich blitzten ihre Augen auf. „Ah! Du bist es! Du!“ schrie sie mich an, „Du allein bist geblieben. Du mochtest ihn nicht! Du hast es ihm nie verzeihen können, daß ich ihn liebte ... Jetzt bist du wieder da! Wie? Bist wohl wieder mich beruhigen gekommen, mich bereden, zum Vater zurückzukehren, der mich verflucht hat. Das wußte ich bereits seit gestern, seit zwei Monaten! ... Ich will nicht, will nicht! Ich selbst werde sie verfluchen! ... Geh fort, ich will dich nicht sehen! Fort, fort!“ Ich verstand, daß sie außer sich war, und daß mein Anblick ihren Zorn bis zur Raserei steigerte, ich begriff zugleich, daß es so kommen mußte und beschloß, hinauszugehen. Ich setzte mich auf die erste Treppenstufe und – wartete. Von Zeit zu Zeit öffnete ich die Tür und rief Mawra hinaus, um sie auszufragen; Mawra weinte. So vergingen anderthalb Stunden. Was ich in dieser Zeit durchlebt, ist nicht wiederzugeben. Mein Herz erstarb in mir und tat mir zu gleicher Zeit grenzenlos weh. Plötzlich öffnete sich die Tür und Natascha stürzte in Hut und Mantel heraus. Sie war noch nicht zu sich gekommen und sie gestand mir selbst später, daß sie nicht gewußt hätte, was sie beabsichtigt, und wohin sie habe laufen wollen. Ich konnte kaum von meinem Platze springen, um mich vor ihr zu verbergen, als sie mich bereits gewahrte und wie angewurzelt vor mir stehen blieb. „Es fiel mir plötzlich ein, daß ich Wahnsinnige, Hartherzige, dich hatte fortschicken können, dich, meinen einzigen Freund, meinen Bruder und Retter!“ erzählte sie mir später. „Und als ich sah, daß du, den ich beleidigt, vor meiner Tür auf der Treppe sitzest und wartest bis ich dich wieder rufe, Gott! – wenn du wüßtest, Wanjä, was damals in mir vorging – als hätte man mir einen Dolch ins Herz gestoßen ...“ „Wanjä, Wanjä,“ rief sie und streckte mir beide Hände entgegen. „Du hier! ...“ Und sie fiel in meine Arme. Ich hob sie auf und trug sie ins Zimmer. Sie war ohnmächtig. „Was tun?“ dachte ich. „Sie wird erkrankt sein, das ist sicher!“ Ich entschloß mich zum Doktor zu laufen; hier mußte sofort eingegriffen werden. Ich konnte schnell zu ihm fahren, bis zwei Uhr war mein alter Deutscher immer zu Hause. Ich eilte zu ihm, und befahl Mawra, Natascha nicht eine Minute, nicht eine Sekunde, allein zu lassen, ihr auch jeden Ausgang zu verweigern. Gott war mir gnädig: ein wenig später und ich hätte meinen Alten nicht mehr zu Hause angetroffen. Er begegnete mir bereits auf der Straße. Ich setzte ihn in die Droschke, so daß er kaum zur Besinnung kam, und wir fuhren zurück zu Natascha. Ja. Wirklich, Gott war mir gnädig! In der halben Stunde meiner Abwesenheit hatte sich bei Natascha etwas zugetragen, das sie vollständig hätte vernichten können, wenn ich nicht zur rechten Zeit mit dem Doktor erschienen wäre. Eine viertel Stunde nach meiner Entfernung, war der Fürst bei ihr erschienen. Er hatte die Seinen zur Bahn begleitet und war direkt von da zu Natascha gekommen. Dieser Besuch war wahrscheinlich eine längst beschlossene Sache für ihn gewesen. Natascha erzählte mir selbst später, daß sie im ersten Augenblick gar nicht erstaunt gewesen, als sie den Fürsten gesehen. „Mein Geist war umnachtet,“ sagte sie. Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie mit zärtlichen und mitleidigen Blicken an. „Meine Liebe,“ sagte er seufzend zu ihr, „ich verstehe Ihren Kummer; ich wußte, wie schwer Ihnen dieser Augenblick fallen würde, darum hielt ich es für meine Pflicht, Sie aufzusuchen. Trösten Sie sich, wenn Sie können, wenigstens damit, daß Sie, indem Sie zurückgetreten sind, Aljoscha den Weg zum Glück freigegeben haben. Doch werden Sie das besser wissen als ich, denn Sie haben sich selbst zu diesem großmütigen Schritt entschlossen ...“ „Ich saß da und hörte ihm zu,“ erzählte mir Natascha, „zuerst konnte ich nicht begreifen, was er sagte. Ich habe ihn nur starr – starr angesehen. Er ergriff meine Hand und drückte sie in der seinen. Das schien ihm sehr angenehm zu sein. Ich war so geistesabwesend, daß ich es zuerst nicht einmal bemerkte.“ „Sie haben verstanden,“ fuhr er fort, „daß, wenn Sie Aljoschas Frau geworden wären, er Sie in der Folge vernachlässigt hätte, und Sie haben so viel edlen Stolz ... doch, ich bin nicht gekommen, um Sie zu loben. Ich wollte Ihnen nur versichern, daß Sie in niemandem und niemals einen so guten Freund finden werden, als in mir. Ich fühle mit Ihnen und bedaure Sie. Ich habe in dieser ganzen Angelegenheit sehr Teil an Ihnen genommen, doch – meine Pflicht mußte ich erfüllen. Ihr vorzügliches Herz wird das verstehen und sich mit dem meinen aussöhnen ... Mir fiel es vielleicht schwerer als Ihnen; glauben Sie mir.“ „Genug Fürst,“ erwiderte ihm Natascha. „Lassen Sie mich endlich in Ruh.“ „Gewiß, ich werde Sie sofort verlassen, doch liebe ich Sie, wie meine Tochter. Werden Sie es mir erlauben, Sie zu besuchen? Sehen Sie in mir einen Vater und erlauben Sie mir, Ihnen nützlich zu sein.“ „Ich habe nichts nötig, wollen Sie mich bitte verlassen,“ antwortete ihm wieder Natascha. „Ich weiß, daß Sie stolz sind ... Doch spreche ich zu Ihnen aufrichtig, von Herzen. Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun? Werden Sie sich mit Ihren Eltern versöhnen? Das wäre gewiß gut; doch Ihr Vater ist ungerecht, stolz und ein Despot; verzeihen Sie mir, aber er ist es. In Ihrem Hause werden Sie nur Vorwürfen und neuen Qualen begegnen ... Es ist also nötig, daß Sie unabhängig bleiben und meine heilige Pflicht ist es jetzt – für Sie zu sorgen und Ihnen zu helfen. Aljoscha hat mich gebeten, Sie nicht zu verlassen und Ihnen ein Freund zu sein. Doch auch außer mir gibt es Leute, die Ihnen sehr ergeben sind. Sie werden es mir hoffentlich gestatten, daß ich Ihnen den Grafen N. vorstelle. Er ist ein Verwandter von uns und mit seinem gütigen Herzen, man kann wohl sagen, ein Wohltäter unserer Familie; er hat viel für Aljoscha getan. Aljoscha hat ihn denn auch sehr geachtet und lieb gehabt. Er ist eine sehr hohe Persönlichkeit, mit großem Einfluß, ein alter Mann, den Sie zu jeder Zeit empfangen können. Er ist immer bereit, Ihnen, wenn Sie wollen, bei einer seiner Verwandten, eine vorzügliche Stellung verschaffen. Ich habe ihm bereits vor längerer Zeit von Ihnen erzählt und er interessiert sich so sehr für Sie, daß er den Wunsch ausgesprochen hat, Ihnen so bald als möglich vorgestellt zu werden ... Glauben Sie mir, er ist ein freigebiger, ehrenwerter, alter Herr, der das Schöne zu schätzen weiß, der noch unlängst sich Ihrem Vater gegenüber aufs edelste benommen, in einer Geschichte, die ...“ Natascha fuhr tief gekränkt auf, jetzt hatte sie ihn verstanden. „Verlassen Sie mich, verlassen Sie mich sofort!“ rief sie. „Nun, meine Liebe, Sie vergessen sich wirklich: der Graf kann Ihnen und besonders Ihrem Vater sehr nützlich sein ...“ „Mein Vater wird von Ihnen niemals etwas annehmen. Verlassen Sie mich, bitte!“ rief nochmals Natascha. „O, mein Gott, wie ungeduldig und mißtrauisch Sie sind! Wodurch habe ich das verdient,“ erwiderte der Fürst etwas unsicher werdend. „Auf jeden Fall, erlauben Sie mir,“ fuhr er fort, ein großes Papierpaket aus der Tasche ziehend, „Ihnen als Beweis meiner Teilnahme für Sie und auch der Teilnahme des Grafen N., der mit seinem Rat mir beigestanden, hier in dem Paket zehntausend Rubel zu überreichen ... Warten Sie einen Augenblick,“ fuhr er fort, als er sah, daß Natascha sich voll Zorn von ihrem Platz erhoben hatte. „Hören Sie mich, bitte, geduldig an, Sie wissen, daß Ihr Vater dieses Geld an mich verloren hat, und diese zehntausend Rubel sollen jetzt zur Belohnung ...“ „Fort!“ schrie Natascha außer sich, „fort mit diesem Gelde! Ich durchschaue Sie ganz. – Sie niedriger, gemeiner Mensch!“ Bleich vor Wut erhob sich der Fürst von seinem Stuhl. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er zu Natascha gekommen, um etwas über ihre jetzige Lage zu erfahren. Auch glaubte er fest daran, dieser armen und von allen verlassenen Natascha dieses Angebot von zehntausend Rubel machen zu dürfen. Niedrig und gemein wie er war, hatte er des öfteren dem alten Lüstling Graf N. einen ähnlichen Dienst erwiesen. Er selbst haßte Natascha und als er nun sah, daß er sich in der Sache verrechnet hatte, so wollte er die Gelegenheit nicht unbenützt vorüber lassen, ohne sie tödlich zu beleidigen. „Das ist durchaus nicht angebracht, meine Liebe, daß Sie sich darüber so empören,“ brachte er mit vor Erregung zitternder Stimme vor, in der die ganze Ungeduld der Erwartung lag, den Effekt seiner Beleidigung so bald als möglich zu erleben; „man bietet Ihnen Schutz an, Sie aber rümpfen das Näschen ... Sie scheinen es nicht zu wissen, wie dankbar Sie mir zu sein haben, denn ich hätte Sie schon längst in eine Korrektionsanstalt bringen können – als Vater eines von Ihnen verführten Sohnes, den Sie ausgenützt haben – und ich habe es nicht getan ... he, he, he!“ Doch in dem Augenblick waren wir schon in der Wohnung. Ich hatte bereits in der Küche die Stimme des Fürsten erkannt, ich ließ den Doktor stehen, stürzte ins Zimmer und war Zeuge seiner letzten Worte. Er brach in ein widerliches Gelächter aus, worauf ich Natascha „Oh, mein Gott!“ ausrufen hörte. In dem Augenblick stürzte ich mich bereits auf ihn. Ich spie ihm ins Gesicht, ich schlug ihm ins Gesicht. Er wollte sich auf mich stürzen, als er aber bemerkte, daß wir zwei waren, griff er schnell nach seinem Geldpaket und lief hinaus. Unterdessen war der Doktor Natascha zu Hilfe geeilt, die außer sich wie in einem Anfall um sich schlug. Lange konnten wir sie nicht beruhigen: endlich aber gelang es uns, sie zu Bett zu legen. „Doktor! Was fehlt ihr?“ wandte ich mich in meiner Angst an ihn. „Das muß man erst abwarten,“ antwortete er mir, „noch kann ich nichts Näheres bestimmen. Das kann mit einem Nervenfieber enden ... Man muß Maßnahmen treffen ...“ In mir blitzte ein neuer Gedanke auf. Ich flehte den Doktor an, zwei bis drei Stunden bei Natascha zu verweilen, sie auf keinen Augenblick zu verlassen. Er gab mir sein Wort und ich lief zu mir nach Haus. Nelly saß finster und erregt in der Ecke des Zimmers und sah mich verwundert an. Ich muß wohl sehr sonderbar ausgesehen haben. Ich ergriff ihre Hand, setzte mich auf den Diwan, hob sie auf meine Knie und küßte sie heiß und zärtlich. Sie errötete. „Nelly, mein Engel!“ sagte ich zu ihr. „Willst du unser aller Retter sein?“ Sie sah mich verwundert an. „Nelly! Meine ganze Hoffnung ruht auf dir! Es gibt einen Vater: Du kennst ihn; er hat seine Tochter verflucht und gestern kam er her, um dich an Kindesstatt anzunehmen. Jetzt hat der, den Natascha liebte, und um dessentwillen sie von ihrem Vater gegangen war, sie verlassen. Er ist der Sohn dieses Fürsten, der, du erinnerst dich doch, an einem Abend hier war, und dich nur allein antraf; du aber warst von ihm fortgelaufen und nachher davon erkrankt ... Du kennst ihn doch? Er ist ein böser Mensch!“ „Ich weiß,“ antwortete Nelly und zuckte zusammen. „Ja, er ist ein böser Mensch. Er haßte Natascha, weil sein Sohn Aljoscha sie heiraten wollte. Heute ist Aljoscha fortgefahren und eine Stunde nachher kam der Fürst zu ihr, beleidigte sie und drohte ihr mit der Korrektionsanstalt und verspottete sie. Kannst du mich verstehen, Nelly?“ Ihre dunkeln Augen blitzten, doch senkte sie sie schnell zu Boden. „Ich verstehe,“ flüsterte sie kaum hörbar. „Jetzt ist Natascha krank und allein; ich habe unseren Doktor bei ihr gelassen und bin schnell zu dir gelaufen. Höre mich an, Nelly: gehen wir beide zu Nataschas Eltern; du liebst ihren Vater nicht, du wolltest nicht zu ihm, doch jetzt, mit mir zusammen mußt du es tun. Wir treten zusammen ein, und ich sage, daß du willig bist, die Stelle Nataschas bei ihm einzunehmen. Der Alte ist jetzt krank, weil er Natascha verflucht, und der Vater Aljoschas ihn vor ein paar Tagen tödlich beleidigt hat. Er will jetzt nichts von seiner Tochter wissen, doch er liebt sie, liebt sie, Nelly, und möchte sich mit ihr aussöhnen; ich weiß es, ich weiß es alles! Es ist so! ... Hörst du, Nelly?“ ... „Ich höre,“ sagte sie mit demselben Flüsterton. Ich sprach zu ihr mit tränenerstickter Stimme. Sie sah mich scheu an. „Glaubst du daran?“ „Ich glaube.“ „Nun, dann komm mit mir! Man wird dich freundlich empfangen und dich nach allem ausfragen. Ich werde dann das Gespräch auf deine Mutter und deinen Großvater lenken. Du erzählst ihnen alles, Nelly, wie du es mir erzählt hast. Erzähle ihnen, wie dieser böse Mensch deine Mutter verlassen hat, wie sie in der Kellerwohnung bei der Bubnowa gestorben, wie du mit deiner Mutter in den Straßen gebettelt hast; was sie dir gesagt, und um was sie dich gebeten, als sie starb ... Bei der Gelegenheit erzähle auch von deinem Großvater, wie er deiner Mutter nicht verzeihen wollte, und wie sie dich in ihrer Sterbestunde zu ihm schickte, damit er ihr Verzeihung gewähre, wie er es ihr verweigerte und wie sie dann allein gestorben. Alles, alles erzähle! Durch deine Erzählung wird das Gewissen des Alten aufgerüttelt werden. Denn er weiß, daß heute Aljoscha sie verlassen, daß sie beleidigt und beschimpft allein ohne Hilfe und Schutz zurückgeblieben, ihrem Feinde preisgegeben ist. Er weiß das alles ... Nelly, rette Natascha! Willst du es tun?“ „Ja,“ antwortete sie, schwer atmend und mich mit einem so sonderbaren Blick starr ansehend; es lag ein stummer Vorwurf in diesem Blick, ich fühlte es wohl in meinem Herzen. Doch konnte ich mich von dem Gedanken nicht mehr trennen. Ich glaubte zu sehr an ihn. Ich faßte Nelly an der Hand und wir gingen hinaus. In der letzten Zeit war das Wetter so drückend und schwül gewesen, man hörte in der Ferne jetzt den ersten Donner. Eine dunkle Wolke zog auf und der Wind wirbelte den Staub hoch auf in den Straßen. Es war drei Uhr nachmittags. Wir nahmen eine Droschke. Auf dem ganzen Wege schwieg Nelly, nur von Zeit zu Zeit sah sie mich mit ihrem sonderbaren, rätselhaften Blick an. Ihre Brust hob und senkte sich, ich fühlte wie in ihrer kleinen Handfläche ihr Herzchen schlug, als wollte es herausspringen. VII. Der Weg schien mir endlos lang. Endlich kamen wir an und mit beklommenem Herzen trat ich zu den Alten ins Zimmer. Ich wußte nicht, mit welchen Gefühlen ich sie wieder verlassen würde, doch eines stand fest, nicht ohne Versöhnung und Frieden für uns alle erlangt zu haben. Es war bereits vier Uhr geworden. Die Alten saßen allein, wie gewöhnlich. Nikolai Ssergejewitsch fühlte sich immer noch sehr schwach und lag bleich in seinem Lehnstuhl mit verbundenem Kopf. Anna Andrejewna saß neben ihm und sah ihn hin und wieder mit fragenden und besorgten Blicken an, was den Alten jedoch sehr zu beunruhigen und zu ärgern schien. Er schwieg hartnäckig und sie wagte das Schweigen nicht zu brechen. Unser plötzliches Erscheinen setzte sie beide in Erstaunen. Anna Andrejewna schien sogar zu erschrecken als sie mich mit Nelly erblickte, und in dem ersten Augenblick uns gegenüber fast so etwas wie Schuldbewußtsein zu haben. „Ich habe Ihnen da meine Nelly mitgebracht,“ sagte ich eintretend. „Sie hat sich bedacht und selbst eingewilligt zu Ihnen zu kommen. Nehmen Sie sie und haben Sie sie lieb ...“ Der Alte sah mich mißtrauisch an, ich erriet sofort, daß ihm bekannt, daß Natascha jetzt verlassen, allein und erniedrigt dastehe. Er wollte offenbar hinter das Geheimnis unseres Erscheinens kommen und sah mich, wie Nelly, forschend an. Nelly zitterte und preßte meine Hand fest in der ihren, sah zu Boden, und warf nur flüchtig hin und wieder ihren Blick, schnell wie einen Pfeil über uns hin. Doch Anna Andrejewna besann sich sofort und schien alles erraten zu haben: sie stürzte sich auf Nelly, küßte und streichelte sie, fing sogar an zu weinen, setzte sie neben sich und ließ ihre kleinen Hände nicht aus den ihrigen. Nelly sah sie mit Neugier und Verwunderung von der Seite an. Nachdem die Alte Nelly gestreichelt und geliebkost hatte, wußte sie nicht mehr, was nun weiter zu tun, und sah mich in naiver Erwartung fragend an. Der Alte runzelte die Brauen, weil er wohl begriff, warum ich Nelly hierhergebracht. Als er sah, daß ich seine unzufriedene Miene und finstere Stirn bemerkt hatte, führte er die Hand zum Kopfe und sagte mit abgerissener Stimme: „Der Kopf tut mir weh, Wanjä.“ Wir saßen noch alle und schwiegen: ich dachte nach, wie beginnen. Im Zimmer war es düster; die dunkle Wolke kam immer näher, man hörte das ferne Rollen des Donners. „So früh im Frühling schon ein Gewitter,“ bemerkte Ichmenjeff. „Ich erinnere mich, im Jahre siebenunddreißig gab es bei uns in Ichmenjeffka ebenfalls so früh im Jahr ein Gewitter.“ Anna Andrejewna seufzte. „Sollte man nicht den Samowar aufstellen?“ fragte sie schüchtern; doch niemand antwortete ihr, und sie wandte sich daher wieder an Nelly. „Wie heißt du, mein Täubchen?“ fragte sie sie. „Nelly,“ sagte sie mit ihrem schwachen Stimmchen und senkte das Köpfchen noch tiefer. Der Alte sah sie forschend an. „Das heißt Helene, nicht?“ fügte Anna Andrejewna aufmunternd hinzu. „Ja,“ antwortete Nelly. Und wieder folgte minutenlanges Schweigen. „Bei der Schwester Praßkoffja Andrejewna hieß die Kleine auch Helene,“ bemerkte Nikolai Ssergejewitsch, „man rief sie Nelly.“ „Du hast, mein Täubchen, keinen Vater, keine Mutter mehr?“ fragte wieder Anna Andrejewna. „Nein,“ flüsterte Nelly scheu und kurz. „Das habe ich gehört, das habe ich gehört. Und ist deine Mutter schon lange tot?“ „Nicht lange.“ „Ach, du mein armes Kind,“ fuhr Anna Andrejewna fort, sie mitleidig betrachtend. Nikolai Ssergejewitsch trommelte ungeduldig mit seinen Fingerspitzen auf den Tisch. „Deine Mutter war eine Ausländerin, nicht? So erzählten Sie doch, Iwan Petrowitsch?“ setzte scheu die Alte ihre Fragen fort. Nelly sah mich mit ihren dunklen Augen flüchtig an, als riefe sie mich zu Hilfe. Sie atmete schwer und unregelmäßig. „Ihre Mutter, Anna Andrejewna,“ begann ich, „war die Tochter eines Engländers und einer Russin, so daß sie noch eher Russin war; Nelly ist im Auslande geboren.“ „Warum ist denn ihre Mutter mit ihrem Gatten ins Ausland gefahren?“ Nelly wurde plötzlich feuerrot. Anna Andrejewna begriff sofort, daß sie zu weit gegangen und zuckte unter dem strafenden Blick des Alten zusammen. Er sah sie streng an und wandte sich dann ab zum Fenster. „Ihre Mutter ist von einem nichtswürdigen Menschen betrogen worden,“ wandte er sich plötzlich an Anna Andrejewna. „Sie hatte mit ihm den Vater verlassen und das Geld des Vaters ihm übergeben; er aber brachte sie ins Ausland, betrog sie um das Geld und verließ sie. Ein guter Freund von ihr hat ihr dann bis zu seinem Tode geholfen. Als er gestorben war, kehrte sie zwei Jahre nach seinem Tode zum Vater zurück. War es so, Wanjä?“ fragte er mich barsch. Nelly hatte sich in höchster Erregung von ihrem Platze erhoben und wollte zur Tür gehen. „Komm her, Nelly,“ sagte der Alte, ihr endlich die Hand reichend, „setze dich hierher, neben mich, so!“ Er beugte sich über sie, küßte sie auf die Stirn und strich ihr leise übers Haar. Nelly erzitterte am ganzen Körper, doch beherrschte sie sich. Anna Andrejewna sah mit Rührung und freudiger Hoffnung zu, wie Nikolai Ssergejewitsch endlich die Kleine an sein Herz schloß. „Ich weiß, Nelly, daß ein gemeiner und sittenloser Mensch deine Mutter zugrunde gerichtet hat, aber ich weiß auch, daß sie ihren Vater geliebt und geachtet hat,“ sagte erregt Nikolai Ssergejewitsch und fuhr fort Nellys Köpfchen zu streicheln. Er konnte sich nicht versagen, diese Herausforderung an uns zu richten. Seine bleichen Wangen röteten sich und er vermied es, uns anzusehen. „Mama liebte Großpapa mehr als Großpapa sie liebte,“ sagte Nelly mit fester Stimme und bemühte sich ebenfalls niemanden anzusehen. „Woher weißt du denn das?“ fragte sie der Alte heftig und ungeduldig wie ein Kind. „Ich weiß es,“ antwortete ihm kurz angebunden Nelly. „Er hat Mama nicht zu sich genommen ... er hat sie von sich gestoßen ...“ Ich sah, wie Nikolai Ssergejewitsch etwas antworten wollte, zum Beispiel, daß der Alte das volle Recht gehabt es zu tun, doch er sah uns an und schwieg. „Wie das, wo habt ihr denn gewohnt, wenn der Großpapa euch nicht aufnahm?“ fragte Anna Andrejewna, die plötzlich den Eigensinn zu haben schien, dieses Thema weiter fortzusetzen. „Als wir hier ankamen, haben wir lange nach Großpapa gesucht,“ antwortete Nelly, „doch konnten wir ihn nicht finden. Mama erzählte mir damals, daß Großpapa früher sehr reich gewesen sei und eine Fabrik habe bauen wollen, und daß er jetzt ganz arm geworden, weil derjenige, der mit Mama ins Ausland fuhr, ihr das Geld fortgenommen und es ihr nicht mehr zurückgegeben hat. Das hat mir Mama selbst erzählt.“ „Hm! ...“ brummte der Alte. „Und sie sagte mir auch,“ fuhr Nelly fort, sich immer mehr und mehr belebend und offenbar mit dem Wunsch, Nikolai Ssergejewitsch ihre Aussage zu beweisen, obgleich sie sich an Anna Andrejewna wandte, „sie sagte mir auch, daß Großpapa auf sie sehr böse gewesen und sie in allem vor ihm schuldig sei und daß sie jetzt außer Großpapa keinen Menschen mehr auf der Welt hätte. Als sie mir das erzählte, weinte sie, und sie sagte mir bereits bevor wir hierher kamen, daß er ihr ‚nie verzeihen‘ wird, doch vielleicht würde er, wenn er mich sieht, mich lieb gewinnen, und ihr um meinetwillen vergeben. Mama liebte mich sehr und küßte mich immer, Großpapa aber fürchtete sie sehr. Sie lehrte mich, für Großpapa zu beten und betete selbst für ihn und immer erzählte sie mir dann, wie sie früher zusammen mit Großpapa gelebt und wie er sie lieb gehabt habe, lieber als alles auf der Welt. Sie hat ihm vorgespielt und am Abend vorgelesen und Großpapa hätte sie reich beschenkt ... Einmal habe er sich zu Mamas Namenstag sehr geärgert, weil Mama gewußt, was für Geschenke er ihr machen würde. Mama hatte sich Ohrringe gewünscht und Großpapa hatte gesagt, daß sie keine bekommen würde. Als Mama am Namenstage gar nicht verwundert war, daß er ihr doch die Ohrringe geschenkt, hatte er sich sehr darüber geärgert ... nachher habe er sie aber geküßt und sie selbst um Verzeihung gebeten ...“ Nelly hatte sich von ihrer eigenen Erzählung fortreißen lassen und ihre bleichen, kranken Wangen hatten sich gerötet. Ihre arme Mama schien der kleinen Nelly oft von ihren glücklichen Tagen erzählt zu haben, als sie da unten in der Kellerwohnung saßen und sie ihr Kind, das einzige Glück, das ihr geblieben, herzte und küßte und dabei ihren Kummer ausweinte, ohne daran zu denken, welchen starken und krankhaften Eindruck ihre Erzählungen auf das frühentwickelte Herzchen ihres kleinen Kindes machen mußten. Nelly schien sich plötzlich zu besinnen, sah sich mißtrauisch im Kreise um und verstummte. Der Alte runzelte die Stirn und trommelte wieder auf den Tisch; in Anna Andrejewnas Augen zeigte sich eine Träne, die sie sich schweigend mit dem Taschentuche abtrocknete. „Mama war sehr krank, als wir hierherkamen,“ fügte Nelly mit leiser Stimme hinzu. „Sie hatte eine kranke Brust. Wir suchten Großpapa lange und konnten ihn nicht finden. Da mieteten wir den Winkel im Keller.“ „Eine Kranke in einem Winkel!“ rief Anna Andrejewna entsetzt. „Ja ... in einem Winkel ...“ antwortete Nelly. „Mama war sehr arm. Mama hat mir gesagt,“ fügte sie lebhaft hinzu, „daß es keine Sünde sei arm zu sein, daß es aber Sünde sei, reich zu sein und schlecht ... und daß Gott sie gestraft habe.“ „Habt ihr euch gleich dort auf Wassilij-Ostroff eingemietet? Dort bei der Bubnowa?“ fragte der Alte, an mich gewandt mit einer gewissen Nachlässigkeit. Es genierte ihn offenbar so schweigend dazusitzen. „Nein, nicht dort ... zuerst in der Meschtschanskaja,“ antwortete Nelly. „Dort war es sehr feucht und dunkel,“ fuhr sie nach einigem Schweigen fort „und Mama war wohl krank, doch konnte sie noch gehen. Ich wusch ihre Wäsche, sie aber weinte. Da lebte eine alte Kapitanscha[6] und ein verabschiedeter Beamter, der jede Nacht betrunken nach Hause kam und dann schrie und schimpfte. Einmal wollte er die Kapitanscha schlagen, die aber war alt und schwach. Mama tat sie leid und sie wollte sie verteidigen; da schlug der Beamte Mama und ich wieder den Beamten ...“ Nelly hielt inne. Die Erinnerung übermannte sie, ihre Augen blitzten. „Großer Gott!“ rief Anna Andrejewna, die ganz Ohr war und ihr Auge von Nelly nicht abwenden konnte. Nelly wandte sich auch hauptsächlich an sie. „Da ging Mama fort und nahm mich mit,“ erzählte Nelly weiter. „Wir gingen den ganzen Tag bis zum Abend in den Straßen herum, Mama ging und weinte und führte mich an der Hand mit sich. Ich war sehr müde, wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Mama sprach die ganze Zeit zu mir und sagte mir: ‚bleibe arm, Nelly, und wenn ich sterbe, so höre auf niemanden und nichts. Bleibe allein, gehe zu niemanden, bleibe arm und arbeite, und wenn du keine Arbeit findest, so bitte um Almosen, aber zu ihnen gehe du nicht.‘ In der Dämmerstunde gingen wir durch eine große hellerleuchtete Straße, als Mama plötzlich ausrief: ‚Asorka, Asorka!‘ Es sprang ein großer Hund herbei, kam winselnd zu Mama und sprang vor Freude an Mama hinauf, die bleich dastand und sich plötzlich vor einem hohen alten Herrn, der sich auf einen Stock stützte und immer zur Erde sah, auf die Knie warf. Und dieser hohe alte Mann im abgetragenen Überzieher, das war Großpapa. Da habe ich ihn zum ersten Male gesehen. Großpapa erschrak auch sehr und war ganz bleich, als er sah, wie Mama vor ihm auf der Straße kniete, aber er stieß Mama zurück, machte sich von ihr los, schlug mit dem Stock auf die Steine und ging schnell davon. Asorka aber blieb noch bei uns, winselte vor Freude und beleckte Mama; darauf lief er zu Großpapa, packte ihn an der Hose und zog und zerrte ihn zurück, aber Großpapa schlug ihn mit seinem Stock. Asorka kam darauf wieder zu uns gelaufen, bis Großpapa ihn fortrief, da lief er davon und heulte noch immer. Mama aber lag da wie eine Tote, um uns versammelten sich Leute, die Polizei kam herbei. Ich weinte und bemühte mich, Mama aufzuheben. Sie erhob sich auch endlich, sah ganz verwundert um sich und ging dann mit mir weiter. Ich führte sie nach Hause. Die Leute sahen uns noch lange nach und schüttelten die Köpfe ...“ Nelly hielt inne und schöpfte tief Atem, dann raffte sie sich wieder auf. Sie war sehr bleich, doch in ihrem Blick lag feste Entschlossenheit. Sie hatte sich vorgenommen, wie es schien, alles zu sagen. In ihr lag sogar etwas Herausforderndes in diesem Augenblick. „Nun,“ bemerkte Nikolai Ssergejewitsch mit unsicherer Stimme, in gereiztem Tone. „Nun, deine Mutter hatte ihren Vater beleidigt, und sie hatte es verdient, daß er sich von ihr abwandte ...“ „Mütterchen hat es mir auch gesagt,“ versetzte Nelly plötzlich, „und als wir nach Haus gingen, sagte sie immer: das ist dein Großpapa, Nelly, und ich habe ihm großes Leid zugefügt, deshalb hat er mich auch verstoßen und deshalb werde ich jetzt von Gott gestraft, und den ganzen Abend und alle folgenden Tage sprach sie nur davon. Sie war ganz wie von Sinnen ...“ Der Alte schwieg. „Aber wie kamt ihr denn später in die andere Wohnung?“ fragte Anna Andrejewna, der noch die Tränen über die Wangen rollten. „Mama wurde in derselben Nacht krank, und die Kapitanscha fand schließlich die Wohnung bei der Bubnowa, und nach drei Tagen zogen wir dann hin. Als wir dann dort eingezogen waren, wurde Mama ganz krank und sie lag drei Wochen zu Bett und ich pflegte sie. Geld hatten wir gar nicht mehr, aber uns halfen die Kapitanscha und Iwan Alexandrowitsch.“ „Der Sargmacher, bei dem sie wohnten,“ bemerkte ich erklärend. „Und als Mama das Bett wieder verlassen konnte und umherging, da erzählte sie mir auch von Asorka.“ Nelly brach plötzlich ab. Dem Alten schien es sehr willkommen zu sein, daß das Gespräch auf Asorka überging. „Was hat sie dir denn von Asorka erzählt?“ fragte er wie beiläufig, sich noch mehr nach vorn neigend, als wolle er sein Gesicht verbergen. „Sie hat mir immer von Großpapa erzählt,“ antwortete Nelly auf seine Frage, „als sie krank war, erzählte sie auch nur von ihm, und wenn sie im Fieber phantasierte, sprach sie immer nur von Großpapa. Und als sie dann anfing gesund zu werden, da erzählte sie mir wieder wie sie früher gelebt hatte ... und dann erzählte sie auch von Asorka, denn einmal hatten außerhalb der Stadt mehrere Jungen Asorka an einer Schnur zum Fluß gezogen, um ihn zu ertränken, und da hatte Mama ihnen Geld gegeben und Asorka von ihnen gekauft. Als aber Großpapa Asorka zu sehen bekommen, da hatte er furchtbar über ihn gelacht. Nun war Asorka dann fortgelaufen und Mama hatte darüber so geweint, daß Großpapa ganz erschrocken gewesen war und gesagt hatte, er werde hundert Rubel demjenigen geben, der Asorka wiederbrächte. Am dritten Tage wurde er denn auch gebracht; Großpapa gab die hundert Rubel und von da an begann er Asorka sehr zu lieben. Mama aber liebte den Hund bald so sehr, daß sie ihn sogar zu sich ins Bett nahm. Sie sagte, Asorka sei früher mit Komödianten herumgezogen und ein Äffchen ist auf Asorka geritten und Asorka hat zu sitzen verstanden und zu schießen und vieles andere hat er noch verstanden ... Als aber Mama dann Großpapa verlassen hatte, da behielt Großpapa Asorka bei sich und ging niemals ohne ihn auf die Straße, so wußte Mama jedesmal, wenn sie Asorka irgendwo erblickte, daß Großpapa in der Nähe war ...“ Der Alte hatte nun freilich doch etwas anderes zu hören erwartet und schien unangenehm berührt zu sein. Weiteres Fragen unterließ er jedenfalls. „Und wie war es dann, habt ihr nachher nie mehr den Großvater gesehen?“ fragte Anna Andrejewna. „Nein, als es Mama besser ging, da begegnete ich ihm wieder einmal. Ich ging zum Bäcker nach Brot: plötzlich sah ich Asorka mit einem Mann und ich erkannte in ihm den Großpapa. Ich bog schnell aus und drückte mich an die Hauswand. Großpapa aber sah mich und sah mich lange an, und er hatte solch ein böses Gesicht, daß ich sehr erschrak, und er ging an mir vorüber; Asorka aber erkannte mich und sprang an mir in die Höhe und leckte meine Hände. Ich ging dann schnell nach Haus, blickte mich aber noch einmal um, und da sah ich, daß Großpapa in den Bäckerladen eintrat. Da dachte ich: jetzt wird er dort nach mir fragen, und ich erschrak noch mehr, und als ich nach Haus kam, sagte ich Mama nichts davon, damit sie nicht wieder krank werde. Am nächsten Tage ging ich aber nicht mehr zum Bäcker, ich sagte, mein Kopf schmerze; als ich dann am dritten Tage ging, begegnete mir niemand, nur hatte ich große Angst, und ich lief so schnell ich konnte. Am nächsten Tage aber – wie ich um die Ecke bog, stand dort plötzlich wieder Großpapa vor mir und neben ihm Asorka. Ich lief schnell fort und lief durch eine andere Straße, um von der andern Seite zum Bäcker zu kommen; doch stieß ich da plötzlich wieder auf ihn und ich erschrak so, daß ich stehen blieb und nicht mehr weiter konnte. Großpapa rührte sich auch nicht, er stand vor mir und sah mich wieder lange an, dann aber streichelte er mich, nahm meine Hand und führte mich mit sich, und Asorka kam hinter uns und wedelte mit der Rute. Da sah ich denn, daß Großpapa gar nicht mehr gerade gehen konnte und sich immer auf den Stock stützte, und seine Hände zitterten die ganze Zeit. Er führte mich zum Höker, der an der anderen Straßenecke saß und Äpfel und Pfefferkuchen verkaufte. Von ihm kaufte Großpapa einen Hahn und einen Fisch aus Pfefferkuchen und ein Bonbon und einen Apfel, und als er das Geld aus dem Lederbeutel nahm, da zitterten seine Hände so sehr, daß ein Fünfkopekenstück auf das Trottoir fiel, und ich hob es auf und gab es ihm. Er schenkte mir aber die fünf Kopeken und gab mir auch die Pfefferkuchen und streichelte mich wieder, so über den Kopf, nur sagte er wieder kein Wort und ging von mir fort nach Haus. „Als ich dann zu Mama zurückkam, erzählte ich ihr alles vom Großpapa und wie ich mich zuerst gefürchtet und vor ihm versteckt hatte. Mama glaubte mir zuerst gar nicht, dann aber war sie so froh, daß sie mich den ganzen Abend immer wieder nach allem fragte, mich küßte und weinte, und als ich ihr alles erzählt hatte, sagte sie zu mir, daß ich mich niemals mehr vor Großpapa fürchten solle, und daß er mich doch liebhaben müsse, wenn er absichtlich zu mir gekommen war. Und sie sagte, ich solle freundlich zu ihm sein und antworten, wenn er mich was fragt. Am nächsten Tag aber schickte sie mich schon am Morgen immer wieder hinaus, obwohl ich ihr sagte, daß Großpapa immer erst gegen Abend kommt. Und wenn ich ging, kam sie selbst mir nach und wartete hinter der Ecke, und ebenso auch am anderen Tage, aber Großpapa kam nicht mehr, und da es an diesem Tage regnete, erkältete sich Mama, denn sie war doch hinausgegangen in den Regen und da mußte sie wieder ins Bett. „Großpapa kam erst nach einer Woche und kaufte mir wieder einen Fisch und einen Apfel, sagte aber wieder nichts. Als er aber von mir fortging, versteckte ich mich zuerst und folgte ihm dann heimlich. Das hatte ich mir schon so vorgenommen, um zu sehen, wo Großpapa wohnte, und um das Mama zu sagen. Ich ging ganz weit hinter ihm auf der andern Straßenseite, so, damit Großpapa mich nicht sehen konnte. Er wohnte aber sehr weit, gar nicht dort, wo er später wohnte und starb, sondern in der Gorochowaja, auch in einem großen Hause und vier Treppen hoch. Das erfuhr ich denn alles und kehrte spät zurück nach Haus. Mama hatte sich sehr geängstigt, denn sie wußte doch nicht, wo ich geblieben war. Als ich ihr aber alles erzählt hatte, war sie wieder sehr froh und wollte gleich am nächsten Morgen zu Großpapa gehen; aber am nächsten Morgen wurde sie wieder nachdenklich und begann sich zu fürchten, und sie dachte immer an ihn und fürchtete sich ganze drei Tage; und so ging sie denn nicht zu ihm. Dann aber rief sie mich zu sich und sagte mir: ‚Höre, Nelly, ich bin jetzt krank und kann nicht zu ihm gehen, aber ich habe einen Brief an deinen Großpapa geschrieben, geh du zu ihm und gib ihm diesen Brief. Und sieh zu, Nelly, wie er diesen Brief liest und was er sagt und wie er überhaupt sein wird. Und küsse ihm die Hand und bitte ihn, daß er deiner Mama verzeihe ...‘ Und Mama weinte die ganze Zeit und küßte mich und segnete mich und betete zu Gott und hieß mich, neben ihr vor dem Muttergottesbilde niederknien, und obschon sie sehr krank war, begleitete sie mich doch bis auf die Straße hinaus, und als ich zurückschaute stand sie immer noch dort und sah mir nach wie ich ging ... „Ich kam zu Großpapa und machte die Tür auf, denn die Tür war nicht verschlossen und hatte auch gar keinen Griff. Großpapa saß am Tisch und aß Brot mit Kartoffeln, Asorka aber stand vor ihm, sah ihm zu wie er aß und wedelte mit der Rute. Großpapa hatte auch dort in jener Wohnung nur einen Tisch und einen Stuhl und die Fenster waren klein und niedrig. Er lebte dort ganz allein. Als ich eintrat erschrak er so, daß er ganz bleich wurde und zitterte. Ich erschrak auch und sagte auch nichts, ich ging nur zum Tisch und legte den Brief hin. Als Großpapa den Brief sah, wurde er so böse, daß er aufsprang, nach seinem Stock griff und mich schlagen wollte, nur schlug er mich nicht, er führte mich nur hinaus in den Treppenflur und stieß mich. Ich war noch nicht die erste Treppe hinuntergegangen, als er die Tür nochmals aufriß und mir den Brief nachwarf, uneröffnet. Ich ging nach Haus und erzählte alles Mama. Da wurde Mama wieder krank ...“ VIII. In diesem Augenblick donnerte es plötzlich stark und der Regen schlug in großen Tropfen an die Fensterscheiben; im Zimmer wurde es dunkler. Anna Andrejewna schien ganz erschrocken zu sein und bekreuzte sich. Wir waren alle verstummt. „Das Gewitter wird bald vorüberziehen,“ sagte der Alte nach einem Blick zum Fenster hinaus. Dann stand er auf und ging eine Weile im Zimmer hin und her, wie um sich Bewegung zu machen. Nelly beobachtete ihn verstohlen. Sie war krankhaft erregt, das sah ich; doch sie vermied es, mich anzusehen. „Nun, und was weiter?“ fragte endlich der Alte, indem er sich wieder auf seinen Platz setzte. Nelly blickte scheu von einem zum anderen. „So hast du denn deinen Großvater nicht wieder gesehen?“ „Nein, doch, ich habe ihn wiedergesehen ...“ „Ja! ja? Erzähl’, mein Täubchen, erzähl’ nur weiter,“ ermunterte sie Anna Andrejewna. „Drei Wochen sah ich ihn nicht,“ begann Nelly wieder zu erzählen, „bis zum Winter. Dann wurde es kalt und es schneite. Als ich Großpapa wiedersah, auf derselben Stelle, wo ich ihm früher begegnet war, da war ich sehr froh ... denn Mama grämte sich, weil er nicht mehr kam. Als ich ihn aber erblickte, lief ich absichtlich auf das andere Trottoir, damit er sah, daß ich von ihm fortlief. Wie ich mich aber nach ihm umschaute, sah ich, daß er mir sehr schnell nachkam und dann fast lief, um mich einzuholen, und er rief mich: ‚Nelly, Nelly!‘ Und Asorka lief ihm nach. Mir tat er leid und so blieb ich stehen. Großpapa kam zu mir, nahm mich bei der Hand und führte mich; plötzlich sah er, daß ich weinte: da blieb er stehen, sah mich an, beugte sich über mich und küßte mich. Da sah er auch, daß meine Schuhe schon ganz schlecht waren und er fragte mich, ob ich denn keine besseren hätte. Ich sagte ihm, daß Mama gar kein Geld mehr hatte und der Sargmacher uns nur aus Mitleid zu essen gab. Großpapa sagte darauf nichts, aber er führte mich auf den Markt und kaufte mir dort ein Paar Schuhe, die ich gleich anziehen mußte, er wollte es so, und dann führte er mich zu sich, in die Gorochowaja, und unterwegs ging er noch in eine Bude und kaufte eine Pastete und zwei Bonbons, und als wir in sein Zimmer kamen, sagte er, ich solle die Pastete essen, und er sah mich dabei die ganze Zeit an, während ich aß, und dann gab er mir die Bonbons. Aber Asorka hatte die Vorderpfoten auf den Tisch gelegt und bat um ein Stückchen Pastete und ich gab ihm denn auch etwas, und Großpapa lachte. Dann nahm er mich und ich mußte vor ihm stehen und er streichelte mein Haar und fragte mich, ob ich schon was gelernt habe und was ich überhaupt wisse. Ich sagte ihm darauf alles und darauf sagte er, daß ich jeden Tag um drei Uhr zu ihm kommen müsse, er wolle mich selbst unterrichten. Dann sagte er, ich müsse mich jetzt mit dem Rücken zu ihm wenden und zum Fenster hinaussehen, bis er mir sagte, daß ich mich wieder umkehren könne. Ich stellte mich auch so hin, aber dann guckte ich mich heimlich doch nach ihm um, und da sah ich, daß er sein Kissen am unteren Ende auftrennte und vier silberne Rubelstücke herausnahm. Dann kam er zu mir und gab mir das Geld und sagte: ‚Das ist für dich allein‘. Ich wollte es schon nehmen, aber dann dachte ich nach und sagte: ‚Für mich allein nehme ich es nicht.‘ Großpapa wurde sehr böse, aber er sagte doch: ‚Nun, dann wie du willst, geh!‘ Ich ging fort, er aber küßte mich nicht zum Abschied. Als ich nach Haus kam, erzählte ich alles Mama. Sie fühlte sich aber immer schlechter. Zu jenem Sargmacher, bei dem wir wohnten, kam auch ein Student; der behandelte Mama und verschrieb ihr eine Arznei. Ich ging von da an sehr oft zu Großpapa: Mama wollte es so. Großpapa kaufte das Neue Testament und ein Geographiebuch und unterrichtete mich; manchmal aber erzählte er mir nur von den Ländern und Völkern und was für Menschen es überall gibt und was für Meere und Berge, und was früher alles war, und wie Christus uns alle erlöst hat. Wenn ich selbst eine Frage stellte, so war er sehr froh und darum fragte ich ihn immer recht viel und er sagte mir dann alles und auch von Gott sprach er viel. Manchmal aber lernten wir nicht, sondern ich spielte mit Asorka. Asorka liebte mich sehr, und ich ließ ihn sitzen und übern Stock springen, und Großpapa lachte und streichelte wieder meinen Kopf. Nur lachte Großpapa eigentlich sehr selten. Zuweilen sprach er sehr viel, plötzlich aber verstummte er und saß dann so, als wäre er eingeschlafen, die Augen aber waren offen. Und so saß er bis es dunkel wurde, in der Dämmerung aber wurde er immer so unheimlich, so alt sah er dann aus ... Zuweilen aber war es so, wenn ich zu Großpapa kam: er sitzt auf seinem Stuhl, denkt und hört nichts, und Asorka liegt neben seinem Stuhl. Ich warte, warte – endlich huste ich: Großpapa hört aber gar nichts und rührt sich nicht. So ging ich denn wieder fort. Zu Hause aber erwartete mich Mama immer in großer Angst. Und ich erzählte ihr dann immer alles, alles, während sie im Bett lag, und es wurde darüber Nacht, ich aber erzählte immer noch von Großpapa und sie hörte zu: was er erzählt hatte, was für Geschichten, was ich gelernt hatte, und was ich das nächste Mal lernen würde. Und wenn ich von Asorka erzählte, wie ich ihn über einen Stock hatte springen lassen und wie Großpapa darüber gelacht hatte, da begann auch sie plötzlich zu lachen, und sie lachte und freute sich und ich mußte es ihr von neuem erzählen, und dann plötzlich begann sie zu beten. Ich aber dachte immer: wie kommt es, daß Mama, ihn, den Großpapa, so lieb hat, er sie aber gar nicht, und als ich zu ihm kam, fing ich absichtlich davon an, wie Mama ihn liebte. Er hörte zu und rührte sich nicht, und so böse sah er aus, kein Wort sagte er, er hörte nur zu; dann fragte ich ihn, weshalb denn gerade Mama ihn so liebte, daß sie immer nach ihm fragte, er aber nach ihr gar nicht fragte. Da wurde Großpapa sehr böse und jagte mich hinaus auf den Treppenflur. Ich stand dort ein Weilchen hinter der Tür und wartete, da kam er aber wieder und rief mich zurück, aber er war immer noch sehr böse und schwieg die ganze Zeit. Als wir aber dann im Neuen Testament zu lesen begannen, fragte ich wieder, wie es denn komme, daß Jesus Christus gesagt hat, wir sollen einander lieben und alles verzeihen, er aber meiner Mama nicht vergeben wolle. Da sprang er auf und schrie, daß ich von Mama beauftragt sei, das zu fragen, und er stieß mich wieder hinaus und sagte, daß ich mich nicht unterstehen solle, nochmals zu ihm zu kommen. Ich aber sagte, daß ich jetzt von selbst gar nicht mehr zu ihm kommen wolle und auch nicht kommen werde, und ich ging fort ... Großpapa zog aber am nächsten Tage aus jener Wohnung aus ...“ „Siehst du, ich sagte dir, daß der Regen nicht lange dauern werde – da hat es schon aufgehört zu regnen und dort scheint auch schon die Sonne hervor ... sieh, Wanjä,“ sagte Nikolai Ssergejewitsch, sich zum Fenster wendend. Anna Andrejewna sah ihn äußerst verwundert an, und plötzlich drückte sich heftiger Unwille in den Augen der bis dahin ängstlichen, eingeschüchterten alten Frau aus. Schweigend zog sie Nelly zu sich heran und nahm sie auf ihren Schoß. „Erzähle mir, mein Täubchen, mir allein,“ sagte sie, „ich werde allein zuhören. Laß jene Hartherzigen.“ – Sie sprach es nicht ganz aus, was sie sagen wollte, und wischte sich wieder die Tränen aus den Augen. Nelly sah mich, offenbar etwas verwundert und vielleicht auch erschrocken mit fragendem Blick an. Der Alte wandte sich zu mir, als wolle er etwas sagen, zuckte jedoch nur mit der Achsel und wandte sich sogleich wieder fort. „Erzähle nur weiter, Nelly,“ sagte ich. „Ich ging drei Tage nicht zu Großpapa,“ begann Nelly wieder zu erzählen, „Mama aber fühlte sich damals schon sehr schlecht. Geld hatten wir keinen Kopeken mehr, so konnten wir auch keine Arznei kaufen, und wir aßen nichts, denn auch der Sargmacher, bei dem wir wohnten, hatte mit seiner Frau nichts mehr zu essen, und sie begannen uns schon Vorwürfe zu machen, weil wir uns von ihnen ernähren ließen, wie sie sagten. Da stand ich am dritten Tage auf und kleidete mich an. Mama fragte mich, wohin ich denn gehen wolle. Ich sagte: zu Großpapa, um ihn um Geld zu bitten. Da freute sie sich sehr, denn ich hatte ihr doch alles erzählt, wie er mich von sich fortgejagt, und daß ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen wollte. Sie weinte wohl und beredete mich, doch wieder zu ihm zu gehen, aber ich sagte: nein, ich will nicht, ich werde nicht! Ich ging hin und erfuhr, daß Großpapa von dort ausgezogen war. Ich ging dann zu seiner neuen Wohnung. Wie ich aber bei ihm eintrat, sprang er auf, stürzte mir zornig entgegen und stampfte mit den Füßen, aber ich sagte ihm schnell, daß Mama sehr krank sei und daß wir zur Arznei Geld brauchten, fünfzig Kopeken, und daß wir nichts zu essen hätten. Großpapa schrie mich an und stieß mich hinaus auf die Treppe und schlug hinter mir die Türe zu, die er dann noch verriegelte. Als er mich aber hinausstieß, sagte ich ihm, daß ich so lange auf der Treppe sitzen und nicht fortgehen werde, bis er mir Geld gibt. Und ich setzte mich auf die Treppe. Nach einer Weile machte er die Tür auf und sah hinaus, und als er sah, daß ich dort saß, da schloß er die Tür wieder zu. Dann verging lange Zeit, bis er wieder die Tür aufmachte, wieder hinaussah auf die Treppe und wieder die Tür schloß. Und noch mehrere Mal machte er so die Tür auf und wieder zu. Endlich trat er mit Asorka aus dem Zimmer, schloß die Tür ganz zu und ging an mir vorüber aus dem Hause hinaus, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Auch ich sagte kein Wort und blieb so sitzen und saß bis zur Dämmerung.“ „Täubchen, mein Kindchen,“ rief Anna Andrejewna ganz erschrocken aus, „aber es war doch kalt dort auf der Treppe!“ „Ich war im Pelzmäntelchen,“ sagte Nelly. „Pelzmäntelchen! Was ist denn solch ein Mäntelchen ... Du mein Täubchen, wieviel du ausgehalten hast! Nun und – wann kam er denn zurück?“ Nellys Lippen begannen zu zucken, doch sie nahm sich krampfhaft zusammen und erzählte weiter. „Er kam als es schon ganz dunkel geworden war, und als er beim Hinaufsteigen plötzlich auf mich stieß, schrie er: wer ist hier? Ich sagte, daß ich es sei. Er aber hatte gewiß gedacht, daß ich schon längst fortgegangen, und deshalb war er, als er mich immer noch dort sitzen sah, sehr verwundert und stand lange Zeit ganz still vor mir. Plötzlich schlug er mit dem Stock auf die Treppe, lief dann an mir vorüber, riß die Tür auf und kam schon im nächsten Augenblick zurück: er brachte mir Kupfergeld, lauter Fünfkopekenstücke und er warf sie auf die Treppe. ‚Da hast du,‘ schrie er, ‚nimm, das ist alles was ich habe, und sage deiner Mutter, daß ich sie verfluche!‘ Und damit schlug er die Tür zu. Aber die Geldstücke waren alle die Treppe hinunter gerollt. Ich begann sie in der Dunkelheit zu suchen, aber Großpapa muß es nachher doch eingefallen sein, daß es schwer war, die verstreuten Kupferstücke im Dunkeln zu finden, so kam er denn mit einer Kerze aus dem Zimmer und leuchtete, und da sammelte ich sie schnell auf. Und Großpapa half mir noch beim Suchen und sagte, daß es im ganzen siebzig Kopeken gewesen seien, und dann ging er wieder zurück ins Zimmer. Als ich nach Haus kam, gab ich Mama das Geld und erzählte ihr alles, und Mama fühlte sich wieder schlechter, und ich war auch die ganze Nacht krank und am anderen Tage hatte ich auch Fieber, aber ich dachte nur an eines, denn ich war böse auf Großpapa, und als Mama wieder eingeschlafen war, ging ich hinaus auf die Straße und ging zu Großpapa, aber noch bevor ich sein Haus erreichte, blieb ich auf dem Trottoir stehen. Da kam _jener_ ...“ „Sie meint Archipoff,“ sagte ich, „jenen, von dem ich Ihnen, Nikolai Ssergejewitsch, bereits erzählt habe, – der zusammen mit dem Kaufmann bei der Bubnowa war und die dort durchgeprügelt wurden. Damals hat ihn Nelly zum erstenmal gesehen ... Erzähle weiter, Nelly.“ „Als er an mir vorübergehen wollte, hielt ich ihn auf und bat ihn um Geld, um einen Rubel. Er sah mich an und fragte: ‚Einen Rubel?‘ Ich sagte: ‚Ja.‘ Da begann er zu lachen und sagte: ‚Komm mit.‘ Ich wußte nicht, ob ich gehen sollte. Da trat plötzlich ein alter kleiner Herr mit einer goldenen Brille an uns heran, denn er hatte gehört, was ich haben wollte, und er beugte sich zu mir und fragte mich, wofür ich gerade so viel brauchte. Ich sagte ihm, daß Mama krank wäre und die Arznei so viel kostete. Er fragte, wo wir wohnten und schrieb das in sein Taschenbuch und gab mir einen Rubel. _Jener_ aber, als er den alten Herrn mit der Brille sah, ging fort und sagte mir nicht mehr, daß ich mitgehen solle. Ich ging dann in eine Bude und wechselte das Geld in kupferne Fünfkopekenstücke; von denen wickelte ich dreißig Kopeken in Papier ein, die behielt ich für Mama, die übrigen siebzig Kopeken wickelte ich aber nicht ein, sondern behielt sie in der Hand und ging mit ihnen zu Großpapa. Als ich vor seinem Zimmer stand, machte ich die Tür auf, blieb aber auf der Schwelle stehen und schleuderte ihm das ganze Geld hin, so daß alle Kupferstücke über den Fußboden rollten. ‚Da haben Sie Ihr Geld!‘ sagte ich zu ihm. ‚Mama braucht es nicht von Ihnen, wenn Sie sie verfluchen.‘ Und ich schlug die Tür zu und lief fort.“ Ihre Augen glänzten fieberhaft und mit kindlich stolzem, herausforderndem Blick sah sie den Alten an. „Das war gut!“ sagte Anna Andrejewna, ohne ihren Gatten weiter zu beachten und indem sie Nelly fest an sich drückte. „So geschah ihm recht! Dein Großvater war ein böser, grausamer Mensch ...“ „Hm!“ äußerte sich dazu Nikolai Ssergejewitsch. „Nun und wie wurde es dann, was geschah darauf?“ fragte Anna Andrejewna ungeduldig. „Ich ging nicht mehr zu Großpapa und er kam mir nicht mehr entgegen,“ sagte Nelly. „Nun, aber wie wurde es denn mit deiner Mama, was tatet ihr? Ach, ihr Armen, ihr Armen!“ „Mit Mama wurde es immer schlechter, sie konnte fast gar nicht mehr aufstehen,“ fuhr Nelly mit unsicherer Stimme fort. „Geld hatten wir überhaupt keines mehr und darum ging ich denn mit der Kapitanscha. Die Kapitanscha ging in die Häuser und bat um Geld, aber auch auf der Straße wandte sie sich an gutgekleidete Leute und bat sie um Geld, denn nur davon lebte sie. Sie sagte mir, daß sie nicht ganz so arm sei, daß sie aber Papiere habe, auf denen ihr Name geschrieben stand, und auf denen gesagt war, daß sie sehr arm sei. Diese Papiere zeigte sie immer vor und dafür gab man ihr Geld. Sie sagte mir auch, daß es keine Schande sei, von reichen Leuten Geld zu erbitten. So ging ich denn mit ihr und man gab uns Geld und davon lebten wir. Mama erfuhr das bald, denn die anderen Einwohner machten ihr Vorwürfe, weil sie arm war, die Bubnowa aber kam selbst zu Mama und sagte, sie solle mich doch lieber zu ihr schicken als mich auf der Straße betteln lassen. Sie war auch früher zu Mama gekommen und hatte ihr Geld gebracht, als Mama es aber nicht von ihr annahm, sagte sie: ‚Weshalb sind Sie so stolz?‘ und schickte uns dann etwas zu essen. Als sie das von mir aber Mama erzählt hatte, begann Mama zu weinen, denn sie war sehr erschrocken, die Bubnowa aber, die ganz betrunken war, begann sie zu schelten und sagte, daß ich sowieso ein Bettelkind sei und schon mit der Kapitanscha ginge, und noch am selben Abend jagte sie die Kapitanscha aus dem Hause. Als Mama das alles erfuhr, begann sie zu weinen, dann stand sie plötzlich auf, kleidete sich an, nahm mich bei der Hand und führte mich mit sich fort. Iwan Alexandrowitsch wollte sie zurückhalten, aber sie hörte nicht auf ihn und wir gingen hinaus. Mama konnte kaum gehen, alle Augenblicke setzte sie sich hin und ich stützte sie. Und sie sprach die ganze Zeit und sagte, daß sie zu Großpapa gehe, und daß ich sie hinführen solle, nur war es schon lange Nacht geworden. Da kamen wir zu einem großen schönen Hause, vor dem viele Equipagen standen und viele Menschen kamen aus dem Hause und alle Fenster waren hell und man hörte auch Musik. Mama blieb stehen, zog mich an sich heran und sagte zu mir: ‚Nelly, sei arm, bleibe dein Leben lang arm, gehe nicht zu ihnen, wer dich auch rufen, wer auch zu dir kommen sollte! Auch du könntest dort sein, in einem reichen, schönen Kleide, aber ich will es nicht. Sie sind böse und roh, und nun höre mein Gebot: bleibe arm, arbeite und bitte um Almosen, wenn man aber zu dir kommt und dich unter jene bringen will, dann sage: ich will nicht zu euch! ...‘ Das sagte mir damals Mama als sie krank war und ich will ihr mein ganzes Leben lang gehorchen,“ schloß Nelly zitternd vor Erregung. Ihr Gesichtchen glühte wie im Fieber. „Und ich werde mein ganzes Leben lang dienen und arbeiten, und auch zu Ihnen bin ich gekommen, um zu arbeiten, ich will nicht so wie eine Tochter ...“ „Beruhige dich, mein Täubchen, beruhige dich nur!“ unterbrach sie Anna Andrejewna, die Nelly wieder mit ihrer ganzen mütterlichen Zärtlichkeit an sich drückte. „Deine Mama war damals doch ganz krank als sie das sagte, mein Täubchen.“ „Wahnsinnig war sie!“ bemerkte schroff der Alte. „Und wenn auch!“ wandte sich Nelly brüsk an ihn, „und wenn sie auch hundertmal wahnsinnig war, aber sie hat mir das so gesagt, und ich werde mein ganzes Leben lang so leben. Als sie mir das gesagt hatte, fiel sie aber in Ohnmacht.“ „Großer Gott!“ rief Anna Andrejewna aus, „im Winter krank, auf der Straße! ...“ „Man wollte uns auf die Polizei bringen, aber ein Herr trat für uns ein. Er fragte mich, wo wir wohnten, gab mir zehn Rubel und ließ uns in seiner Equipage nach Hause bringen. Von da an hat Mama das Bett nicht mehr verlassen und nach drei Wochen starb sie ...“ „Und der Vater? Der hat ihr nicht verziehen?“ fragte Anna Andrejewna angstvoll und erschrocken. „Nein, er hat ihr nicht verziehen!“ sagte Nelly, sich qualvoll zusammennehmend. „Eine Woche vor ihrem Tode rief sie mich zu sich und sagte: ‚Nelly, geh noch einmal zu Großpapa, zum letztenmal, und bitte ihn, daß er zu mir komme und mir vergebe; sage ihm, daß ich nach wenigen Tagen sterben werde und dich allein auf der Welt zurücklasse. Und sage ihm noch, daß es mir schwer wird, zu sterben ...‘ Ich ging zu Großpapa und pochte an die Tür. Er machte die Tür auf, aber wie er mich erblickte, wollte er die Tür sogleich wieder schließen, doch hatte ich mich schon mit beiden Händen an die Tür geklammert und schrie ihm zu: ‚Mama stirbt, Sie sollen hinkommen, sie ruft Sie! ...‘ Er stieß mich aber fort und schlug die Tür zu. Ich ging zu Mama zurück, legte mich neben sie hin, umarmte sie und sagte kein Wort ... Mama umarmte mich gleichfalls und fragte mich auch nichts ...“ Hier stützte sich Nikolai Ssergejewitsch mit der Hand schwer auf den Tischrand und erhob sich langsam, doch blickte er uns alle nur mit einem seltsamen, trüben Blick der Reihe nach an und sank dann wie erschöpft wieder auf seinen Platz zurück. Anna Andrejewna beachtete ihn nicht, sie weinte und umarmte Nelly ... „Erst am letzten Tage, bevor sie starb, rief sie mich zu sich – es war schon Abend – und sie nahm meine Hand und sagte: ‚Ich werde heute sterben, Nelly.‘ Sie wollte noch etwas sagen, aber sie konnte nicht mehr. Ich sah sie an, und da war es mir, als sehe sie mich gar nicht, nur meine Hand hielt sie krampfhaft fest. Da befreite ich vorsichtig meine Hand und lief aus dem Hause und lief den ganzen Weg so schnell ich konnte bis zu Großpapa. Wie er mich erblickte, sprang er vom Stuhl auf und sah mich so groß an, und er war so erschrocken, daß er ganz bleich wurde und zu zittern begann. Ich ergriff seine Hand und sagte nur das eine: ‚Sie wird gleich sterben,‘ und da war er plötzlich ganz anders: er lief durch das Zimmer, ergriff seinen Stock und eilte zur Tür; sogar seinen Hut vergaß er, und es war doch kalt. Ich nahm seinen Hut und gab ihn ihm und wir liefen beide hinaus auf die Straße. Ich trieb ihn zur Eile an und sagte, er solle eine Droschke nehmen, denn Mama würde gleich sterben, aber Großpapa hatte im ganzen nur sieben Kopeken. Er blieb wohl bei den Droschken stehen und handelte mit den Kutschern, aber die lachten nur, und auch über Asorka lachten sie, denn Asorka lief uns nach, und wir liefen immer weiter, immer weiter. Großpapa wurde müde und atmete schwer, aber er lief doch so schnell er konnte. Plötzlich fiel er und der Hut flog fort. Ich lief dem Hut nach und hob ihn auf und half Großpapa aufzustehen und dann führte ich ihn an der Hand, aber es war schon Nacht als wir nach Hause kamen ... Und Mama war schon tot. Als Großpapa sie dort liegen sah, erhob er die Arme, erzitterte und starrte sie an, sagte aber kein Wort. Da ging ich zu meiner toten Mama, zog ihn ans Bett und schrie: ‚Siehst du, siehst du, du schlechter, herzloser Mensch, sieh! ... Sieh! ...‘ Da schrie Großpapa laut auf und fiel hin wie ein Toter ...“ Nelly befreite sich heftig aus den Armen Anna Andrejewnas, sprang von ihrem Schoß und blieb bleich, erschöpft und über alle Maßen erregt zwischen uns stehen. Doch Anna Andrejewna stürzte wieder zu ihr, zog sie von neuem in ihre Arme und rief wie in Ekstase: „Ich, ich werde deine Mutter sein, Nelly, und du mein Kind! Ja, Nelly, laß uns von hier fortgehen, verlassen wir die Herzlosen! Mögen sie in ihrem Stolz Trost finden, Gott aber, Gott wird es ihnen schon anrechnen ... Gehen wir, Nelly, gehen wir von hier fort, komm! ...“ Noch nie hatte ich Anna Andrejewna in einer solchen Erregung gesehn. Und offen gestanden: ich hätte es auch gar nicht für möglich gehalten, daß sie sich unter Umständen auch so erregen könnte. Nikolai Ssergejewitsch richtete sich in seinem Lehnstuhle bei den letzten Worten etwas auf und als er sah, daß Anna Andrejewna es ernst meinte, erhob er sich langsam und fragte mit merklich unsicherer Stimme: „Wohin willst du denn gehen, Anna Andrejewna?“ „Zu ihr, zu meiner Tochter, zu Natascha!“ rief sie erregt, Nelly zur Tür nach sich ziehend. „Warte, warte doch, so warte doch!“ „Wie lange soll ich noch warten, du herzloser Vater! Ich habe lange genug gewartet und sie hat lange genug gewartet, jetzt gehe ich, lebe wohl! ...“ Sie wandte sich, zum Abschied nickend, noch einmal zu ihrem Mann zurück. Da! – was war das? – sie starrte ihn sprachlos an. Ihr Nikolai Ssergejewitsch stand vor ihr mit dem Hut auf dem Kopf und zog sich mit zitternden Händen seinen Paletot an. „Du ... du kommst auch!“ stotterte sie, ohne es fassen zu können, dann faltete sie die Hände und sah ihn an, als wage sie noch nicht, an ein solches Glück zu glauben. „Natascha, wo ist meine Natascha? Wo ist sie? Wo ist meine Tochter?“ rang es sich plötzlich hervor. „Gebt mir meine Tochter zurück, mein Kind! Wo ist sie, wo ist sie?“ Er riß mir seinen Stock, den ich ihm reichte, aus der Hand und wandte sich hastig zur Tür. „Er verzeiht! er verzeiht!“ stammelte Anna Andrejewna. Doch noch bevor der Alte die Tür erreicht hatte, wurde diese von außen aufgestoßen und ins Zimmer stürzte Natascha, bleich vor Erregung und mit glänzenden Augen, wie sie sonst nur Fieberkranke haben. Ihr Kleid war verknüllt und vom Regen naß. Das Tuch, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte, war in den Nacken gesunken und in ihrem welligen Haar glänzten Regentropfen. Mit einem Schrei warf sie sich vor ihrem Vater auf die Kniee nieder und erhob flehend die Hände. IX. Im nächsten Augenblick lag sie an seiner Brust. Er hob sie wie ein kleines Kind empor und trug sie zu seinem Großvaterstuhl, in den er sie sorgsam hineinsetzte, um dann seinerseits vor ihr niederzuknien. Er küßte ihre Hände, ihre Kniee, er konnte sich nicht satt sehen an ihr, als wolle er das Versäumte nachholen, als glaube er noch nicht, daß sie wieder bei ihm war, daß er sie wieder sah und hörte, – sie, seinen vergötterten Liebling, seine Natascha! Anna Andrejewna drückte, unfähig ein Wort hervorzubringen, schluchzend Nataschas Köpfchen an ihre Brust. „Mein Liebstes! ... Mein Leben! ... Meine Freude du!“ stammelte der Alte, Nataschas Hände mit Küssen bedeckend, und mit Augen, wie sie nur Verliebte haben, hing er an ihrem blassen, schmalen, und bei alledem doch so unendlich liebreizenden Gesicht, an ihren lieben Augen, in denen Tränen glänzten. „Mein Kind, mein Sonnenschein!“ wiederholte er nur, und wieder verstummte er, um sie von neuem wie verzückt zu betrachten. „Aber wie, wie hat man mir denn gesagt, daß sie so abgenommen habe!“ fuhr er mit seltsamem Kinderlächeln fort, sich halbwegs an uns wendend. „Ja, ein bißchen ist das Gesichtchen schmäler geworden, auch ein wenig bleicher, aber sieh sie doch nur an, wie reizend sie ist! Noch schöner als sie früher war, ja, noch schöner!“ Unwillkürlich verstummte er wie unter einem seelischen Schmerz, einer jener freudvollen Schmerzempfindungen, von denen man meint, sie brächen das Herz entzwei. „Stehen Sie auf, Papa! So stehen Sie doch auf,“ bat Natascha. „Ich will Sie doch auch küssen ...“ „O, mein Liebling, mein Liebstes! Hörst du, hast du gehört, Annuschka, wie lieb sie das gesagt hat!“ Und er umarmte sie leidenschaftlich. „Nein, Natascha, ich ... ich muß so lange zu deinen Füßen liegen, bis ich fühle, daß du mir verziehen hast! Sage mir, was soll ich tun, um deine Verzeihung zu erlangen! Ich hatte dich verstoßen, ich hatte dich verflucht – hörst du, Natascha? – ich hatte dich verflucht! Ich, ich konnte das fertig bringen! ... Aber du, Natascha, wie konntest du nur glauben, daß ich dich auf ewig verstoßen würde! Und du hast es doch geglaubt, hast es geglaubt! Wozu, warum? Nein, du hättest es nicht glauben sollen! Ganz einfach – nicht glauben sollen hättest du es! Wie konntest du so grausam sein, mich für so grausam zu halten? Weshalb kamst du nicht zu mir? Du hättest doch wissen müssen, wie ich dich liebe ... O, Natascha, du weißt doch noch, wie ich dich früher liebte? Nun, dann wisse, daß ich dich in dieser ganzen Zeit noch einmal so sehr, nein, tausendmal mehr geliebt habe als früher! Mit meinem ganzen Blut liebte ich dich! Meine Seele hätte ich aus meinem Blut gezogen, mein Herz mir aus der Brust gerissen und dir zu Füßen gelegt! ... So liebte ich dich ... mein Liebling, meine Freude!“ „So küssen Sie mich doch auf den Mund, Papa, auf die Wangen, so wie Mama!“ rief Natascha mit einer Stimme, in der Tränen zitterten, Müdigkeit, Qual und Glück. „Und deine Augen! Auch deine Augen will ich küssen! Weißt du noch, so wie früher ...“ und der Alte küßte seine Tochter. „O, Natascha! Hat dir nicht von uns geträumt? Mir bist du fast in jeder Nacht im Traum erschienen, in jeder Nacht bist du zu mir gekommen und ich habe über dich geweint. Einmal aber erschienst du als kleines Mädchen, weißt du, so wie damals, als du noch keine zehn Jahre alt warst und gerade erst Klavier zu spielen begannst. Du kamst in einem kurzen Kleidchen zu mir, in hellen Stiefelchen, und deine kleinen Händchen waren rot ... sie hatte doch damals oft rote Händchen, weißt du noch, Annuschka? – sie kam zu mir, setzte sich auf meinen Schoß und schlang die Ärmchen um meinen Hals ... Und du, du böses Mädchen, konntest noch glauben, daß ich dir die Tür gewiesen hätte, wenn du zu mir gekommen wärest! ... Ich war ja doch ... höre, Natascha: ich bin doch oft zu dir gegangen, nur hat das bisher niemand gewußt, auch sie, deine Mutter, nicht, keine Menschenseele! So stand ich dort auf der anderen Straßenseite und schaute hinauf zu den Fenstern deiner Wohnung, oder ich wartete in der Nähe deiner Haustür, in der Hoffnung, du würdest vielleicht ausgehen und dann könnte ich dich von ferne sehen. Oft sah ich abends eine Kerze auf deinem Fensterbrett brennen, und oft, Natascha, bin ich nur deshalb hingegangen sobald es dunkelte, um diese brennende Kerze zu sehen, vielleicht auch deinen Schatten auf dem Vorhang, und um dich für die Nacht zu segnen. Hast du auch so an mich gedacht? Hast du? Hast du es nicht gefühlt, daß ich dort unter deinem Fenster stand? Mehr als einmal bin ich im Winter spät abends deine Treppe hinaufgestiegen und habe auf dem dunklen Treppenabsatz gestanden und mein Gehör angestrengt, um durch die Tür vielleicht doch deine Stimme zu hören. Nun, lachst du nicht? Ich dich verfluchen! War ich doch an jenem Abend zu dir gegangen, um dir alles zu verzeihen – ja, das wollte ich! – und erst vor der Tür gab ich es auf. ... O, Natascha!“ Er stand auf und zog auch sie empor, um sie fest an seine Brust zu drücken. „Du bist hier, ich kann dich wieder an mein Herz drücken! Ich danke dir, Gott, für alles, für alles, auch für deinen Zorn, und danke dir für deine Güte! ... Und auch für deine Sonne, die du jetzt nach dem Gewitter auf uns niederscheinen läßt! Für diesen ganzen Tag danke ich dir! O! mögen wir Erniedrigte, mögen wir Beleidigte sein, was tut das! – wir sind doch wieder alle beisammen! Und mögen sie doch, mögen sie doch triumphieren, die Stolzen und Hochmütigen, die uns erniedrigt und beleidigt haben! Mögen sie nur Steine auf uns werfen! Fürchte dich nicht, Natascha ... Wir werden Hand in Hand gehen und ich werde ihnen sagen: dies hier ist meine einzige, meine geliebte Tochter, mein unschuldiges geliebtes Kind, das ihr beleidigt und erniedrigt habt, das ich aber über alles liebe, ich, und das ich für alle Zeiten segne! ...“ „... Wanjä! Wanjä!“ rief mich Natascha leise zu sich und streckte mir über den Arm ihres Vaters die Hand entgegen. O, niemals werde ich es vergessen, daß sie in diesem Augenblick noch an mich dachte und mich zu sich rief! „Wo ist Nelly geblieben?“ fragte plötzlich der Alte, sich umschauend. „Ach, wo ist sie denn?“ fuhr auch Anna Andrejewna ganz erschrocken auf. „Mein Täubchen, wo bist du! Haben wir sie doch über der Freude ganz vergessen!“ Doch Nelly war aus dem Zimmer verschwunden. Unbemerkt war sie ins Schlafzimmer geschlüpft. Wir gingen alle hin; Nelly stand in einem Winkel hinter der Tür und wollte sich ängstlich vor uns verstecken. „Nelly, was fehlt dir, mein Kind, was hast du?“ fragte der Alte zärtlich, und er wollte den Arm um sie legen. Doch sie sah ihn nur seltsam starr mit weit offenen Augen an. „Mama, wo ist Mama?“ fragte sie, als sei sie nicht mehr ganz bei Besinnung. „Wo ist meine Mama?“ rief sie angstvoll, ihre zitternden Hände nach uns ausstreckend. Und plötzlich drang ein unheimlicher, markerschütternder Schrei aus ihrer Brust; ein krampfartiges Zucken lief über ihr Gesicht und in einem schweren Anfall fiel sie nieder ... Letzte Erinnerungen. Mitte Juni. Ein heißer, drückend schwüler Tag; ganz unmöglich in der Stadt zu bleiben: überall Staub, Kalk, Baugerüste vor den Häusern, glühend heiße Pflastersteine, von Ausdünstungen verpestete Luft ... Doch da – o, Freude! – irgendwo in der Ferne donnerte es; der Himmel wurde trübe, umwölkte sich und wurde düster; der Wind erhob sich und trieb den Straßenstaub in dichten Wolken vor sich her. Einzelne große Tropfen fielen schwer zur Erde und plötzlich war es, als öffne der Himmel seine Schleusen: ein ganzer Strom ergoß sich mit seinen Wassermassen über die Stadt. Als nach einer halben Stunde wieder die Sonne durch die Wolken brach, stieß ich das Fenster meiner Dachstube auf und atmete gierig mit meiner ganzen müden Brust die frische Luft ein. Wie ein Rausch kam es über mich und ich wollte Feder und Papier liegen lassen, auch den Verleger vergessen, und auf die Wassiljeff-Insel laufen zu den _Meinen_! Aber so groß auch die Versuchung war, ich bezwang mich doch und begann mit einer wahren Wut wieder zu arbeiten: ich mußte heute noch mit meiner Novelle fertig werden, um jeden Preis! Mein Verleger wartete und nur wenn ich ihm das fertige Manuskript brachte, würde er mir Geld geben, das wußte ich. Ichmenjeffs erwarteten mich zwar, doch dafür würde ich dann am Abend frei sein, vollkommen frei, frei wie der Wind, und dieser Abend sollte mich für die letzten zwei Tage und zwei Nächte, in denen ich dreieinhalb große Druckbogen geschrieben, vollauf belohnen. Und endlich kam dann auch der Augenblick, in dem ich die Arbeit beendet vor mir liegen sah ... Ich warf die Feder hin und erhob mich, mit einem Schmerzgefühl im Rücken und in der Brust, und im Kopf drehte sich alles im Kreise. Ich wußte, daß meine Nerven zum Zerreißen angespannt waren und es war mir, als hörte ich noch die letzten Worte meines alten Arztes: „Nein, einer solchen Lebensweise könnte auch die beste Gesundheit nicht lange standhalten!“ Nun, solange sie noch standhält ... Vor meinen Augen tanzten grüne Punkte, ich hielt mich kaum noch auf den Beinen, aber Freude, grenzenlose Freude erfüllte mein Herz. Meine Novelle war beendet und der Verleger würde mir jetzt, obschon ich ihm noch viel schuldete, doch wenigstens etwas Geld geben, wenn auch nur fünfzig Rubel – wie lange aber hatte ich nicht mehr so viel Geld in Händen gehabt! Freiheit und Geld! ... Ganz begeistert griff ich nach meinem Hut, schnell das Manuskript unter den Arm, und wie ein Schulbube lief ich die Treppe hinunter, um den werten Alexander Petrowitsch noch im Bureau anzutreffen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, denn schon war er im Begriff, fortzugehen. Auch er hatte soeben erst etwas sehr Wichtiges beendet; freilich keine Novelle, sondern nur eine ganz unliterarische, doch dafür um so vorteilhaftere zweistündige geschäftliche Unterredung, und nachdem er endlich das schwarzglänzende Jüdchen zur Tür geleitet hatte, streckte er mir freundlich die Hand entgegen und erkundigte sich mit seinem weichen gutmütigen Baß nach meiner Gesundheit. Er war ja doch ein herzensguter Mensch und ich war ihm – im Ernst – nicht wenig zu Dank verpflichtet. Was konnte er denn schließlich dafür, daß er in der Literatur sein Leben lang _nur_ „Verleger“ gewesen war und bis zum Grabe auch nur „Verleger“ bleiben würde? Dafür hatte er erkannt, daß unsere Literatur eines Verlegers bedurfte, und hatte es sogar sehr zur rechten Zeit erkannt, also Ehre wem Ehre gebührt – in diesem Fall, versteht sich, allerdings nur Verlegerehre. Mit wohlgefälligem Lächeln vernahm er, daß ich meine Novelle beendet hatte und die folgende Nummer der Zeitschrift somit in ihrem Hauptteil gesichert war. Er äußerte noch in humoristischer Weise seine Bewunderung darüber, daß ich überhaupt einmal etwas zum Termin hatte beenden können und machte ein paar Bonmots ... Darauf begab er sich zu seinem Geldschrank, um ihm die mir versprochenen fünfzig Rubel zu entnehmen, machte mich aber vorher noch auf einige Zeilen einer Kritik aufmerksam. Ich nahm das Blatt zur Hand – doch was sah ich: es war meine vorletzte Novelle, die da besprochen wurde. Sie wurde nicht gerade gelobt, aber auch nicht gerade heruntergerissen, und alles in allem genommen, konnte ich sogar sehr zufrieden sein. Unter anderem meinte aber der Kritiker, daß meine Arbeiten „nach Schweiß“ röchen, daß ich mir gar zu große Mühe gäbe und so lange an ihnen feilte und polierte, daß es einem wirklich widerlich würde. Wir lachten beide herzlich darüber. Ich sagte ihm, daß ich diese meine vorletzte Novelle in zwei Nächten geschrieben, die soeben gebrachte aber, die über dreieinhalb Druckbogen lang sein dürfte, in zwei Tagen und zwei Nächten. Wenn das mein verehrter Kritiker wüßte! „Aber es ist doch Ihre eigene Schuld, Iwan Petrowitsch: weshalb schieben Sie das Arbeiten immer so lange auf, daß Sie dann die Nächte zu Hilfe nehmen müssen!“ Alexander Petrowitsch war ja sonst ein äußerst netter Mensch, nur hatte er eine kleine, bisweilen etwas lästige Schwäche, und zwar: mit seinem literarischen Urteil gerade vor jenen großzutun, die ihn, wie er es mitunter sogar selbst ganz richtig vermutete, schon längst durchschaut hatten. Ein Gespräch über Literatur und literarisches Schaffen mit ihm zu führen, war daher auch für mich nichts Verlockendes und so griff ich, da ich das Geld schon empfangen hatte, abschiednehmend nach meinem Hut. Alexander Petrowitsch erkundigte sich nach dem Wohin, und wie er hörte, daß ich auf die Wassiljeff-Insel wollte, bot er mir großmütig einen Platz in seinem Wagen an, er fahre nach Haus, sagte er – er wohnte im Sommer auf einer der Inseln in seiner Villa – und da wäre es für ihn kein Umweg. „Ich habe doch jetzt einen neuen Wagen – haben Sie ihn noch nicht gesehen? Na, ich sage Ihnen – tadellos!“ Wir begaben uns zur Vorfahrt. Der neue halboffene Wagen war allerdings tadellos, und ich fand es begreiflich, daß Alexander Petrowitsch in der ersten Zeit des Besitzes mit einer ganz besonderen Vorliebe, die sogar ein gewisses geistiges Bedürfnis verriet, seine Bekannten zu einer gemeinsamen Fahrt aufforderte. Unterwegs erging sich Alexander Petrowitsch dafür ungehindert in Betrachtungen über die zeitgenössische Literatur. Meine Gegenwart verwirrte ihn nicht im geringsten und mit beneidenswerter Gewissensruhe wiederholte er verschiedene fremde Gedanken, die er in der letzten Zeit gehört hatte, in erster Linie, versteht sich, von Literaten, deren Meinung er für richtig hielt und hochschätzte. Bei der Gelegenheit passierte es ihm aber, daß er mitunter sehr wunderliche Dinge sagte, denn da wir Menschen nicht alles auswendig behalten können, was wir nur einmal hören, verwechselte er so manches mit der größten Harmlosigkeit. „Und alles das will er noch als seine eigene heilige Überzeugung respektiert wissen!“ dachte ich seufzend bei mir. Ich saß, hörte schweigend zu und wunderte mich über die Verschiedenheit und Grillenhaftigkeit der menschlichen Leidenschaften. „Da haben wir nun einen Menschen,“ dachte ich weiter, „dessen einziger Lebenszweck es doch zu sein scheint, Geld und nichts als Geld zusammenzuscharren, und das müßte ihm doch eigentlich genügen; aber nein, es verlangt ihn noch nach Ruhm, nach literarischem Ruhm, er will sogar als Kritiker anerkannt werden!“ So bemühte er sich, während ich dieses dachte, mir eine besondere Auffassung der Literatur wiederzugeben, eine Auffassung, die er vor drei Tagen von mir gehört und der er vor drei Tagen, nebenbei bemerkt, heftig widersprochen hatte, was ihn jedoch nicht hinderte, sie als seine ureigenste Schöpfung zu wiederholen. Doch was die Vergeßlichkeit in solchen Dingen – wohlverstanden: nur in solchen Dingen! – anging, so hatte es Alexander Petrowitsch in seinem Bekanntenkreise bereits zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Wie froh es ihn machte, in _seinem_ Wagen reden zu können, wie zufrieden er mit seinem Schicksal war, wie gütig! Er führte ein wissenschaftlich-literarisches Gespräch und sogar sein weicher Baß versuchte in wissenschaftlich harten Tonfärbungen die Worte zu modellieren! Ganz allmählich, offenbar ungewollt und unbewußt, ging er auf den Liberalismus über und verfocht unter anderem die unschuldsvoll skeptische Überzeugung, daß es in unserer Literatur – das heißt: in unserer sowohl wie in jeder anderen – weder Ehrlichkeit noch Bescheidenheit geben könne, sondern einzig und allein ein „um die Wette laufen“. Ich dachte bei mir, daß Alexander Petrowitsch dann wohl auch geneigt war, jeden ehrlichen und aufrichtigen Schriftsteller für seine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wenn nicht gerade für einen Esel so doch zum mindesten für einen Einfaltspinsel zu halten. Selbstverständlich war diese seine individuelle Auffassung auf nichts anderes als auf seine ganz außergewöhnliche Unschuld und Naivität zurückzuführen. Doch ich hörte nicht mehr auf ihn. Auf der Wassiljeff-Insel verabschiedete ich mich von ihm, stieg aus und eilte zu Ichmenjeffs. Im Augenblicke hatte ich die Dreizehnte Linie und fünf Minuten später auch ihr Häuschen erreicht. Anna Andrejewna drohte mir, als sie mich erblickte, mit dem Finger, legte ihn dann vertikal vor den Mund, winkte darauf beschwichtigend mit beiden Händen und flüsterte endlich: „Pst! – leise!“ – damit ich nur ja nicht unnützen Lärm mache. „Nelly ist soeben erst eingeschlafen, das arme Kind!“ fügte sie dann zur Erklärung hinzu. „Um Gottes willen, wecken Sie sie nicht auf! Gott, was ist sie für ein schwächliches Geschöpfchen! Wir sind wirklich in Sorge um sie. Der Arzt sagt ja wohl, daß es vorläufig nichts Schlimmes sei, aber aus _dem_ etwas Gescheites herauszubringen, ist ja ganz unmöglich! Ich danke für diesen _Ihren vielgepriesenen_ Arzt! Und Sie, Sie schämen sich nicht, Iwan Petrowitsch? Wir haben auf Sie gewartet und gewartet – die ganze Zeit vor dem Essen ... Sie sind doch zwei Tage nicht mehr hier gewesen! ...“ „Aber ich habe es Ihnen doch vorgestern ausdrücklich gesagt, daß ich zwei Tage nicht kommen werde!“ flüsterte ich ebenso leise wie sie. „Ich mußte meine Arbeit beenden ...“ „Aber Sie versprachen doch, heute zu Mittag zu kommen! Weshalb kamen Sie denn nicht? Nelly war eigens dazu aufgestanden, wir setzten sie, unser Engelchen, noch in den Großvaterstuhl und so saß sie am Eßtisch und wartete. ‚Ich will mit euch zusammen Wanjä erwarten,‘ sagte sie, wer aber nicht kam – das war Wanjä. Es ist doch schon bald sechs! Wo haben Sie sich denn wieder herumgetrieben? Ach Gott, wer die Jugend von heute nicht kennt! Und das hat sie so aufgeregt, daß ich nicht wußte, wie sie beruhigen ... ein Wunder, daß sie endlich einschlief, mein Engelchen. ... Nikolai Ssergejewitsch ist in die Stadt gegangen – zum Tee wird er wieder zurück sein – er hat doch Aussicht, eine Anstellung zu bekommen! Wenn ich aber denke, daß es in der Nähe von Perm ist, so läuft es mir kalt über den Rücken.“ „Wo ist Natascha?“ „Im Gärtchen ist sie, mein Liebling, hier gleich im Gärtchen! Gehen Sie mal zu ihr ... Sie scheint mir auch nicht so ganz ... ich weiß nicht, was ich denken soll ... Ach, Iwan Petrowitsch, das Leben wird einem nicht leicht! Sie sagt wohl immer, daß sie heiter und zufrieden sei, aber ich glaube es ihr nicht ... Gehen Sie mal zu ihr, Wanjä, und dann sagen Sie mir später unter vier Augen, was sie eigentlich hat ... Bitte, bitte!“ Doch ich war schon unterwegs zum Garten. Dieser Garten gehörte zum Hause. Er war etwa fünfundzwanzig Schritt lang und ungefähr auch ebenso breit, und bestand aus einem Rasenplatz, drei großen, alten Bäumen, ein paar jungen Birken und einigen Fliederbüschen; am Zaune wuchs Geisblatt und an einer Seite waren Himbeeren und zwei kleine Erdbeerbeete, und durch das Ganze schlängelten sich zwei schmale Wege. Der alte Ichmenjeff war von seinem Garten bis zur Begeisterung eingenommen und versicherte, daß in ihm bald Pilze wachsen würden. Die Hauptsache war aber, daß Nelly diesen Garten liebgewonnen hatte, weshalb sie denn auch oft im Lehnstuhl auf den Rasenplatz hinausgetragen wurde. Nelly war bereits zum Abgott des ganzen Hauses geworden. Doch da erblickte ich schon Natascha: sie kam mir freudig entgegen und reichte mir die Hand. Wie elend sie noch aussah, wie bleich! Sie hatte sich auch kaum erst von der Krankheit erholt. „Hast du sie schon ganz beendet, deine Novelle, Wanjä?“ fragte sie mich. „Ganz, ganz! Jetzt bin ich auch den ganzen Abend frei.“ „Nun, Gott sei Dank! Hast du dich sehr beeilt? – Doch nicht zu überhin geschrieben?“ „Das läßt sich nicht ändern ... Übrigens hat das nichts auf sich. Diese angespannte Arbeit reizt meine Nerven, meine Gedanken sind dann klarer, ich fühle und empfinde alles viel lebhafter und auch tiefer, sogar der Stil paßt sich mir an, so daß gerade diese angespannte Arbeitsweise sich als die vorteilhaftere erweist. Alles ist gut ...“ „Ach, Wanjä, Wanjä!“ Es fiel mir auf, daß Natascha in der letzten Zeit auf meine literarischen Erfolge, auf meinen Ruhm entschieden eifersüchtig wurde. Sie las nochmals alles der Reihe nach, was ich im Laufe dieses Jahres geschrieben hatte, fragte mich jeden Augenblick nach meinen weiteren Plänen, interessierte sich für jede Kritik, die über mich geschrieben wurde, ärgerte sich über jedes absprechende Wort, und wollte unbedingt, daß ich es zu großer Berühmtheit brächte. „So wirst du dich aber bald ausschreiben, Wanjä,“ sagte sie zu mir, „du wirst dich durch eine so angespannte Arbeit schnell erschöpfen; außerdem untergräbst du damit auch deine Gesundheit. S. zum Beispiel schreibt in zwei Jahren nur eine Novelle und N. hat in zehn Jahren im ganzen nur einen Roman geschrieben. Dafür aber – wie ist der auch geschrieben! Meisterhaft! Da findest du keinen einzigen nachlässigen Satz, kein einziges flüchtiges, unbedachtes Wort ...“ „Ja, schon möglich, aber diese Herren leben in gesicherten Verhältnissen, ich aber – bin wie ein gehetzter Postgaul. Ach, nun, das ist ja doch Unsinn! Reden wir nicht davon. Du? ... Was gibt es sonst Neues?“ „Vieles! Erstens einen Brief von _ihm_.“ „Noch einen?“ „Noch einen.“ Und sie reichte mir den letzten Brief von Aljoscha. Es war der dritte nach der Trennung. Den ersten hatte er aus Moskau geschrieben: er teilte ihr damals mit, daß die Umstände es ihm ganz unmöglich machten, aus Moskau nach Petersburg zurückzukehren, wie es vor der Trennung verabredet worden war. Im zweiten Brief benachrichtigte er sie, daß er in den nächsten Tagen wieder in Petersburg eintreffen werde, um sich dann mit ihr, Natascha, sogleich trauen zu lassen, das sei nun einmal sein fester Entschluß, von dem ihn keine Macht der Welt abbringen könne. Indes verriet der ganze Ton des Briefes nur zu deutlich, daß die anderen Einflüsse ihn bereits besiegt hatten, weshalb er denn überhaupt nicht mehr zu wissen schien, was er tun oder lassen sollte. Unter anderem schrieb er in diesem Brief noch, daß Katjä seine Vorsehung sei, und sie allein tröste ihn noch und stehe ihm bei. Ich gestehe, daß ich mehr als neugierig war, diesen seinen letzten Brief zu lesen. Es waren zwei Briefbogen. Die Handschrift war unordentlich, flüchtig, der ganze Brief mit Tinte besudelt und hier und da einzelne Worte von Tränen verwischt. Aljoscha begann damit, daß er sich von Natascha lossagte und sie bat, ihn zu vergessen. Er bemühte sich, ihr zu beweisen, daß eine Ehe zwischen ihnen unmöglich sei, daß andere, ihnen feindliche „Einflüsse“ stärker seien als er, und zu guter Letzt, daß es doch so am besten sei, denn sowohl er wie Natascha würden in der Ehe unglücklich geworden sein, da sie doch nicht zueinander paßten. Plötzlich aber vergaß er alle seine Vernunftschlüsse und Beweise und gestand – ohne die erste Hälfte seines Briefes zu zerreißen –, daß er ein Verbrecher, ein verlorener Mensch sei und nicht mehr die Kraft habe, sich dem Willen seines Vaters, der übrigens auch schon auf dem Gute eingetroffen war, zu widersetzen. Ferner schrieb er noch, daß er nicht fähig sei, seine Qualen zu schildern oder sonstwie auszudrücken, was er empfand, gestand aber im nächsten Satz, daß er durchaus die Fähigkeit in sich fühle, Natascha glücklich zu machen, worauf er zu beweisen begann, daß sie vollkommen ebenbürtig und für einander geschaffen wären, um zum Schluß mit aller Hartnäckigkeit die Einwendungen des Vaters zurückzuweisen. Mit wahrer Verzweiflung schilderte er die Glückseligkeit des Lebens, das ihrer harrte, falls sie sich heirateten – um darauf sich selbst wegen seines Kleinmuts zu verwünschen und – ihr auf ewig Lebewohl zu sagen! Man sah es, daß er den Brief unter Qualen geschrieben hatte, daß er in seiner Ratlosigkeit ganz außer sich gewesen war. Mir traten plötzlich Tränen in die Augen. Natascha reichte mir einen anderen Brief. Es war ein Brief von Katjä, den sie in einem Kouvert mit dem Brief Aljoschas gesandt hatte. Katjä schrieb ziemlich kurz, daß Aljoscha in der Tat sehr niedergeschlagen sei, oft weine, mitunter scheinbar der Verzweiflung nahe und sogar ein wenig krank sei, daß _sie_ aber bei ihm bleiben und ihn wieder glücklich machen werde. Sie schrieb, Natascha dürfe daraus nicht schließen, daß Aljoscha sich bald trösten werde und seine Trauer nicht ernst zu nehmen sei. Im Gegenteil! „Niemals wird er Sie vergessen,“ schrieb sie, „selbst wenn er es wollte, könnte er es nicht, denn sein Herz ließe es einfach nicht zu. Er liebt Sie ganz grenzenlos und wird Sie immer lieben, und ich sage Ihnen: sollte er jemals – gleichviel wann – aufhören, Sie zu lieben oder aufhören, sich nach Ihnen zu sehnen bei der Erinnerung an Sie, so werde ich sofort aufhören, ihn meinerseits zu lieben ...“ Ich gab Natascha beide Briefe zurück: wir sahen uns nur einmal an und sagten kein Wort. Dasselbe hatten wir auch nach den ersten Briefen getan. Überhaupt vermieden wir es jetzt, von Vergangenem zu sprechen, als hätten wir es so verabredet. Sie litt unsäglich, das sah ich, aber selbst mich wollte sie davon nichts merken lassen. Nach ihrer Rückkehr ins Elternhaus hatte sie drei Wochen zu Bett gelegen und auch jetzt noch hatte sie sich kaum erholt. Von der nahe bevorstehenden Trennung sprachen wir überhaupt nicht, obwohl wir beide wußten, daß ihr Vater eine Anstellung bekommen würde. Trotzdem aber war sie so lieb zu mir, interessierte sich in der letzten Zeit so lebhaft für alles, was mich betraf und hörte mir mit so angespannter Aufmerksamkeit zu, wenn ich ihr auf ihre dringende Bitte von mir erzählte, daß es mir anfangs das Beisammensein schwer machte: es schien mir, daß sie mich für das Vergangene entschädigen wollte. Doch bald begriff ich, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelte, daß sie mich einfach liebte, ja, ganz unendlich liebte und ohne mich gar nicht mehr leben konnte. Ich glaube, selbst eine Schwester hätte ihren Bruder nicht so lieb haben können, wie Natascha mich lieb hatte. Ich wußte sehr gut, daß unsere bevorstehende Trennung wie ein Alp auf ihr lag und sie quälte, denn auch sie wußte, daß ich ebensowenig ohne sie leben konnte. Doch wir sprachen nicht davon, wenn wir uns auch oft genug sehr eingehend über Bevorstehendes unterhielten ... Ich erkundigte mich nach Nikolai Ssergejewitsch. „Er wird bald zurückkommen, denke ich,“ sagte Natascha, „zum Tee jedenfalls bestimmt.“ „Ist er wegen der neuen Anstellung in die Stadt gegangen?“ „Ja. Übrigens ist es jetzt schon abgemacht, daß er sie bekommt ... Ich glaube, es war gar nicht so notwendig, daß er heute fortging,“ fügte sie wie in Gedanken hinzu. „Er hätte es auch morgen tun können.“ „Weshalb ist er denn heute fortgegangen?“ „Weil ich den Brief erhielt ...“ „Er leidet fast mehr als ich,“ fuhr Natascha nach kurzem Schweigen fort, „und du kannst dir denken, Wanjä, wie mich das quält. Ich glaube, er denkt an nichts anderes als an mich, nicht einmal im Schlaf scheint er mich vergessen zu können. Er weiß nicht, wie ich mich in diesem Leben zurechtfinden werde, was ich denke, was ich fühle. Sehe ich traurig aus, so ist er wie zerschlagen, und weiß nicht, wie er mich trösten soll, ohne mich dabei merken zu lassen, daß er mich trösten will. Mein Gott, ich sehe doch, wie ungeschickt er sich verstellt, wenn er uns Heiterkeit vortäuscht, sich zum Scherzen und Lachen zwingt! Mama ist dann auch ganz unglücklich, denn daß er sich nur uns zuliebe verstellt, das sieht sie doch ... So bleibt ihr nichts übrig, als zu seufzen ... Sich verstellen – das versteht sie nicht ... wie alle ehrlichen, offenherzigen Menschen!“ Natascha lächelte. „Und als ich heute den Brief erhielt, mußte er sogleich aus dem Hause, um nicht meinem Blick irgendwie zu begegnen ... Ich liebe ihn mehr als mich selbst, ich liebe ihn mehr als alle anderen auf der Welt, Wanjä,“ fügte sie mit gesenktem Kopfe hinzu und drückte mir leise die Hand, „sogar mehr als dich ...“ Wir gingen zweimal durch den Garten, ehe sie wieder zu sprechen begann. „Masslobojeff war heute bei uns, auch gestern war er hier.“ „Ja, er hat euch in letzter Zeit oft besucht.“ „Weißt du auch, weshalb er kommt? Mama glaubt an ihn wie an einen Allmächtigen. Sie ist überzeugt, daß er alles so genau wisse – nun, da die Gesetze und alles übrige – daß er alles zustande bringen könne. Und nun, was meinst du, woran sie denkt? Es tut ihr, weißt du, im Grunde doch sehr leid, daß ich nicht Fürstin geworden bin. Das läßt ihr jetzt keine Ruhe, und ich glaube, sie hat Masslobojeff in ihren Kummer eingeweiht. Papa gegenüber wagt sie natürlich nicht, etwas davon verlauten zu lassen, und da hofft sie nun, daß sich eventuell durch Masslobojeff etwas machen ließe, so – vielleicht mit Hilfe irgend eines Gesetzparagraphen. Masslobojeff ist natürlich klug genug, ihr nicht viel zu widersprechen und läßt es ruhig geschehen, daß sie ihm jedesmal Wein vorsetzt,“ schloß Natascha belustigt. „Glaub’s schon, das sieht ihm ähnlich! Aber woher weißt du es denn?“ „Daß Mama –? ... Ach, Mamachen verrät sich doch immer selbst ... mit ihren Andeutungen ... Dazu bedarf es nicht fremder Hilfe.“ „Was macht Nelly? Wie ist sie jetzt?“ fragte ich. „O, ich wundere mich schon die ganze Zeit über dich, Wanjä: erst jetzt erkundigst du dich nach ihr?“ Ich glaubte aus Nataschas Stimme einen leisen Vorwurf herauszuhören. Nelly war, wie gesagt, der Abgott des ganzen Hauses. Natascha gewann sie geradezu leidenschaftlich lieb und auch Nelly erwiderte ihre Liebe bald von ganzem Herzen. Die arme Kleine hatte es sich wohl nicht träumen lassen, daß sie je im Leben solche Menschen und soviel Liebe finden würde, und zu meiner Freude sah ich, daß ihr erbittertes kleines Herz mit der Zeit ganz weich und zutraulich wurde. Ja, bald erwiderte sie die allgemeine Liebe, die sie hier umgab, mit einer nahezu fieberhaften Gegenliebe, die man ihr nach ihrem früheren Mißtrauen, ihrer Verstocktheit und Unnahbarkeit kaum zugetraut hätte. Übrigens war aber diese Veränderung doch nicht so schnell vor sich gegangen: lange Zeit hatte sie sich noch wie ein Muscheltier zu den liebevollen Annäherungsversuchen der anderen verhalten, bis sie dann endlich ihre Scheu verlor und sich ganz ihrer Liebe zu uns hingab. Am meisten liebte sie Natascha und den alten Ichmenjeff. Ich aber, oder vielmehr meine Gegenwart wurde für sie förmlich zur ersten Lebensbedingung, so daß sich ihr Zustand jedesmal verschlimmerte, wenn ich an einem Tage nicht zu ihr kam. So hatte ich sie zum Beispiel das letztemal beim Abschied, als ich ihr sagen mußte, daß ich zwei Tage nicht zu ihr kommen würde, da ich eine Arbeit beenden mußte, lange Zeit darüber beruhigen müssen ... natürlich indirekt. Denn Nelly schämte sich ihrer Gefühle viel zu sehr, als daß ich offen von ihnen hätte sprechen können, daher mußte ich mir den Anschein geben, daß ich ihr das alles nur so beiläufig erkläre. Doch ihr Zustand beunruhigte uns nicht wenig. Selbstverständlich wurde es schon von Anfang an als stillschweigend beschlossen angenommen – eben weil es so selbstverständlich war –, daß Nelly bei Ichmenjeffs blieb. Nun rückte der Tag der Abreise immer näher, Nelly aber wurde noch immer nicht gesund, ja, ihre Krankheit verschlimmerte sich sogar augenscheinlich. Erkrankt war sie nach jenem schweren Anfall an dem Tage, als ich zum erstenmal mit ihr zu Ichmenjeffs gekommen war, am Tage der Versöhnung des Alten mit Natascha. Doch übrigens, was sage ich! Sie war ja doch wohl nie ganz gesund gewesen: die Krankheit hatte schon von Geburt an in ihr gesessen, deshalb machte sie auch, einmal zum Ausbruch gekommen, so erschreckend schnelle Fortschritte. Worin ihre Krankheit bestand, vermag ich nicht genau zu erklären. Die epileptischen Anfälle kehrten jetzt allerdings nach kürzerer Zeit wieder als früher; doch in der Hauptsache schien es eine Art Zehrung zu sein, ein allgemeiner, unaufhaltsamer Kräfteverlust, Fieber und ein krankhaftes, nervöses Erregtsein. Alles dies hatte sie so geschwächt, daß sie in den letzten Tagen nur noch zu Bett lag. Doch sonderbar: je mehr sie ihrer Krankheit erlag, um so freundlicher, liebevoller und offener wurde sie zu uns. Vor drei Tagen griff sie plötzlich nach meiner Hand, als ich an ihrem Bett vorüberging. Ich blieb natürlich stehen und sah sie an. Sie zog mich näher zu sich. Es war außer uns niemand im Zimmer. Ihr Gesichtchen, das so schmal geworden war, und ihre dunklen Augen glühten und in ihren fieberheißen Händchen zuckte es. Und zuckend, wie vor verhaltener Leidenschaft, streckte sie sich auf den Kissen näher zu mir, und als ich mich zu ihr beugte, schlang sie plötzlich ihre dünnen braunen Ärmchen krampfhaft um meinen Hals und küßte mich fest auf den Mund, und dann verlangte sie sogleich, Natascha solle zu ihr kommen. Ich rief sie. Nelly wollte unbedingt, daß sie sich zu ihr aufs Bett setze und sie ansehe ... „Ich will euch beide ansehen,“ sagte sie. „Ich habe euch heute nacht beide im Traum gesehen ... aber nicht nur heute nacht, sondern sehr oft ... in jeder Nacht ...“ Es drängte sie offenbar, uns etwas zu sagen; aber sie begriff vielleicht ihre Gefühle selbst nicht und wußte daher auch nicht, wie sie es ausdrücken sollte, was sie auf dem Herzen hatte ... Nein, am meisten liebte sie nach mir freilich doch den alten Nikolai Ssergejewitsch. Doch ich muß sagen, daß auch Nikolai Ssergejewitsch sie fast ebenso liebte, wie seine Natascha. Er verstand es großartig, seine kleine Nelly zu erheitern: kaum war er in ihr Zimmer getreten, da hörte man sie schon beide lachen. Nelly wurde heiter und unartig wie ein kleines unvernünftiges Kind, kokettierte aber zwischendurch sogar mit dem Alten und lachte ihn aus, um ihm darauf mit ernstestem Gesicht ihre Träume zu erzählen, wobei sie jedesmal die ungeheuerlichsten Dinge erfand, die er ihr dann – gleichfalls mit vollkommen ernstem Gesicht – zu deuten versuchte, worauf er dann ihr wiederum seine Träume erzählte, bei welcher Gelegenheit er eine nicht minder blühende Phantasie entwickelte. Kurz, der Alte war von seinem „kleinen Töchterchen“ so eingenommen, daß er sich bald mit bloßer Liebe zu ihr nicht mehr begnügte und für sie einfach zu schwärmen begann. „Gott hat sie uns zum Geschenk gemacht, damit uns die Freude, die sie uns bringt, für den Kummer dieses letzten Jahres entschädige,“ sagte er einmal zu mir, als er wieder ganz gerührt Nellys Zimmer verließ, nachdem er sie zur Nacht gesegnet hatte. Die Abende verbrachten wir sehr gemütlich: gewöhnlich versammelten wir uns alle im Eßzimmer um den runden Tisch. Masslobojeff erschien fast an jedem Abend, der alte Doktor, der sich mit ganzem Herzen Ichmenjeffs angeschlossen hatte, erschien nicht so oft, aber immerhin ein paarmal in der Woche. Dann trugen wir Nelly aus ihrem Krankenzimmer zu uns und setzten sie in den Großvaterstuhl. Die Tür zum Garten stand weit offen und vor uns lag der grüne Rasenplatz im Licht der Abendsonne. Und es duftete nach frischem Grün und blühendem Flieder. Nelly rührte sich nicht in ihrem Großvaterstuhl, ganz still hörte sie unserem Gespräch zu und nur ihre Augen bewegten sich langsam, wenn sie vom einen zum anderen sah. Mitunter aber wurde auch sie lebhaft und begann, sich an unserer Unterhaltung zu beteiligen ... Nur muß ich gestehen, daß wir uns dann etwas beunruhigt fühlten, zumal sie auf Dinge zu sprechen kommen konnte, die sie an Vergangenes erinnern mußten, und das war es gerade, was wir ängstlich zu vermeiden suchten. Wir waren uns unserer Schuld sehr wohl bewußt, denn wenn sie uns damals nicht ihre Lebensgeschichte hätte erzählen _müssen_, wäre es vielleicht auch nicht zu jenem schweren Anfall gekommen, der dann den Ausbruch ihrer Krankheit zur Folge hatte. Auch der Doktor war sehr gegen diese Erinnerungen und so gaben wir uns in solchen Fällen gewöhnlich alle die größte Mühe, das Gespräch möglichst unauffällig auf neutrales Gebiet abzulenken. Dann bemühte sich wiederum Nelly, uns nicht merken zu lassen, daß sie unsere Absicht erriet, und sie begann mit dem Doktor und Nikolai Ssergejewitsch zu scherzen und zu lachen. Und doch wurde es mit ihr von Tag zu Tag schlechter. Ihre nervöse Erregbarkeit nahm täglich zu und der Puls wurde immer unregelmäßiger. Der alte Doktor sagte mir, daß sie sogar sehr bald sterben könne. Natürlich verriet ich das nicht den anderen, – ‚sie werden es ja noch früh genug erfahren,‘ sagte ich mir. Nikolai Ssergejewitsch war übrigens fest überzeugt, daß sie noch vor der Reise vollkommen gesund werden würde. „Ah, da ist Papa schon zurückgekehrt!“ sagte Natascha, die seine Stimme gehört hatte. „Gehen wir, Wanjä.“ Nikolai Ssergejewitsch hatte, kaum über die Schwelle getreten, seiner Gewohnheit gemäß sogleich laut zu sprechen begonnen, so daß Anna Andrejewna ihn nicht angstvoll und schnell genug zur Ruhe winken konnte. Ganz erschrocken hielt der Alte in seiner heiteren Rede inne, um darauf, als Natascha und ich ins Zimmer traten, flüsternd und – um seine Verlegenheit zu verbergen – mit geschäftiger Miene das Ergebnis seiner soeben gehabten Unterredung mitzuteilen: die Stelle, um die er sich bemüht hatte, war nun endgültig ihm zugesprochen und das freute ihn natürlich sehr. „Nach zwei Wochen können wir hinfahren,“ schloß er händereibend, doch warf er gleichzeitig einen besorgten Blick auf Natascha. Sie bemerkte den Blick und antwortete ihm mit einem beruhigenden Lächeln, legte die Hände auf seine Schultern und küßte ihn, was seine Befürchtungen im Augenblick verscheuchte. „Ja, dann fahren wir, dann fahren wir, meine Lieben!“ fuhr er erfreut fort. „Nur du, Wanjä, sieh ... nur die Trennung von dir wird uns schwer werden ...“ Nebenbei bemerkt: er hatte mich noch mit keinem Wort aufgefordert, mit ihnen zu fahren, was er, nach seinem Charakter zu urteilen, unbedingt getan haben würde, wenn er ... nicht um meine Liebe zu Natascha gewußt hätte. „Nun, aber was ist da zu machen, Kinder! Was sein muß, muß sein! Es tut mir mehr als leid, mein Junge ... Aber ich hoffe, daß diese Lebensveränderung uns allen gut tun wird ... Eine Veränderung der Lebensweise bedeutet – daß ein neues Leben beginnt und ein altes _abgetan ist_!“ schloß er, wieder mit einem Seitenblick auf seine Tochter. Und er glaubte daran, was er sagte, und dieser Glaube machte ihn froh. „Aber Nelly?“ fragte Anna Andrejewna. „Nelly? Wieso, was? ... Nun ja, das Rackerchen ist noch ein wenig schwach, aber bis dahin wird sie ja wohl wieder auf den Beinen sein. Sie ist ja auch jetzt schon ein wenig besser, – findest du nicht auch, Wanjä?“ fragte er mich, wie es schien etwas beunruhigt, und dabei sah er mich so an, als hinge von mir allein alles ab. „Ja, wie geht es ihr jetzt? Hat sie lange geschlafen? Ist ihr sonst nichts passiert? Oder ist sie vielleicht von meinem lauten Sprechen aufgewacht? Weißt du was, Anna Andrejewna: wir schieben den Tisch schnell auf die Terrasse und trinken dort unseren Tee, wenn die anderen kommen, und Nelly kann heute auch mal draußen sitzen, es ist doch ein Wetter wie geschaffen dazu! ... Das wird schön werden. Aber ist sie nicht vielleicht doch schon aufgewacht? Ich werde mal nachsehen ... nein, nein, hab nur keine Angst, ich werde sie schon nicht aufwecken!“ beruhigte er Anna Andrejewna, da sie wieder ängstlich zur Ruhe mahnen wollte. Doch Nelly war bereits wach. Nach einer Viertelstunde saßen wir wie gewöhnlich um den runden Tisch beim Abendtee. Nelly saß wieder in ihrem Großvaterstuhl. Da erschien auch der Doktor und bald nach ihm kam Masslobojeff. Letzterer brachte Nelly ein großes Bukett blühender Fliederdolden, schien aber sonst gereizt und besorgt zu sein. Masslobojeff war bei Ichmenjeffs ein gern gesehener Gast und er besuchte sie fast täglich. Sonderbar war aber eines: obschon wir ihn alle gern hatten, was ich namentlich von Anna Andrejewna sagen kann, wurde doch Alexandra Ssemjonownas nie mit einem Wort Erwähnung getan; auch Masslobojeff sprach nicht von ihr. Da Anna Andrejewna durch mich erfahren hatte, daß Alexandra Ssemjonowna es noch nicht dazu gebracht, seine rechtmäßige Gattin zu werden, so war sie zu der Überzeugung gekommen, daß sie dieses Mädchen nicht nur nicht bei sich empfangen, sondern nicht einmal von ihr sprechen durfte. Und dabei blieb es – was zur Charakteristik Anna Andrejewnas dienen mag. Übrigens glaube ich aber, daß sie, wenn sie nicht Natascha gehabt hätte und – das mag wohl der Hauptgrund gewesen sein – wenn nicht das geschehen wäre, was geschehen war, so würde sie vielleicht auch nicht so strengdenkend gewesen sein. Nelly war an diesem Abend auffallend traurig und ihre Gedanken schienen mit etwas Besonderem beschäftigt zu sein. Es war, als habe sie einen schlechten Traum gehabt und denke nun über ihn nach. Doch über Masslobojeffs Geschenk freute sie sich sehr und betrachtete mit frohem Lächeln die Blumen, die Anna Andrejewna in einer Vase vor ihr auf den Tisch gestellt hatte. „Also du hast Blumen gern, Nelly?“ fragte der Alte. „Schau, schau! Na, wart mal,“ meinte er schmunzelnd, „morgen ... na, du wirst schon sehen ...“ „Ja, ich liebe Blumen,“ sagte Nelly, „und ich weiß noch, wie wir Mama einmal mit Blumen überraschten. Als wir noch dort waren,“ – dort bedeutete jetzt: im Auslande – „war Mama einmal einen ganzen Monat sehr schwer krank. Da verabredeten wir uns, Heinrich und ich, für sie, wenn sie zum erstenmal ihr Schlafzimmer verlassen würde, alle anderen Zimmer mit Blumen zu schmücken. Und so machten wir es auch. Mama sagte am Abend, daß sie am nächsten Tage unbedingt mit uns frühstücken wolle. Da standen wir sehr, sehr früh auf und Heinrich brachte viele Blumen und wir schmückten das ganze Zimmer mit grünen Ästen und Blumensträußen. Es waren da auch Efeuranken und noch andere, sehr breite Blätter – ich weiß nicht mehr, wie sie heißen – und dann noch andere, die überall kleben bleiben, und dann noch große weiße Blüten und weiße Narzissen – das sind meine Lieblingsblumen – und dann noch Rosen, so schöne, schöne Rosen, und noch viele, viele Blumen. Und wir schmückten das ganze Zimmer. Und dann waren da noch solche Büsche, ganz wie kleine Bäume sahen sie aus, in großen Kübeln, die stellten wir in die Ecken und zu beiden Seiten von Mamas Stuhl, und als Mama kam, war sie ganz verwundert und sie freute sich sehr und Heinrich war auch froh ... Ich weiß noch ganz genau wie das war ...“ Der Doktor war sichtlich besorgt und schien sie unterbrechen zu wollen, denn Nelly sah so erschöpft und bleich aus. Aber sie wollte sprechen und so erzählte sie bis zum Sonnenuntergang von jenem Leben, das sie „dort“ geführt hatten, und wir unterbrachen sie nicht. „Dort“ war sie mit ihrer Mutter und Heinrich viel gereist und sie erzählte mit glücklichen Augen vom tiefblauen Himmel, von hohen Bergen mit schneebedeckten Gipfeln, von Wasserfällen und Gletschern. Dann sprach sie von den Seen und Schluchten Italiens, von Blumen und Bäumen und von italienischen Bauern und deren braunen Gesichtern mit den schwarzen Augen; und sie erzählte verschiedene Erlebnisse, und was ihnen hier und da begegnet war. Dann sprach sie von großen Städten und Palästen, von einem großen Dom mit einer großen Kuppel, die plötzlich in den verschiedensten Farben erstrahlte, als man einmal die ganze Stadt illuminiert hatte; und dann von einer heißen südlichen Stadt, über der der Himmel ganz wolkenlos und ganz blau gewesen war und die an einem blauen Meerbusen lag ... Es war das das erstemal, daß Nelly so ausführlich von ihrer Vergangenheit erzählte, und wir hörten ihr gespannt zu. Wir hatten bisher nur ihr Leben in Petersburg gekannt – dieses Leben in einer finsteren, unfreundlichen Stadt, in einem rauhen, kalten Klima, unter einer trüben, bleichen Sonne und unter bösen, halbwahnsinnigen Menschen, durch die sie und ihre Mutter so viel zu leiden hatten. Ich dachte mir, wie sie beide an so manchem feuchten Abend in der schmutzigen Kellerwohnung auf ihrem armseligen Lager eng umschlungen gelegen und von Vergangenem gesprochen haben mögen, vom toten Freunde und von den Wundern anderer Länder. Ich dachte auch an Nelly, wie sie sich dann später allein dessen erinnert haben mag, als auch ihre Mutter schon tot war und die Bubnowa sie mit tierischer Grausamkeit zu Schändlichkeiten zwingen wollte ... Ganz erschöpft hielt Nelly endlich inne: sie fühlte sich sehr schlecht und wollte wieder ins Bett getragen werden. Nikolai Ssergejewitsch war ganz erschrocken und konnte es sich nachher nicht verzeihen, daß er sie so lange hatte sprechen lassen. Nelly bekam einen leichten Ohnmachtsanfall; in der letzten Zeit war das öfter geschehen. Als sie sich wieder etwas erholt hatte, wollte sie mich sprechen. Und sie bat so dringend, mich zu ihr zu rufen und uns allein zu lassen, daß der alte Doktor zu guter Letzt selbst darauf bestand, ihren Wunsch zu erfüllen. „Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen, Wanjä,“ begann Nelly, als wir allein waren. „Ich weiß, die denken alle, daß ich mit ihnen dorthin fahren werde; aber ich werde nicht mitfahren, denn ich kann nicht, und vorläufig will ich bei dir bleiben. Das mußte ich dir jetzt sagen.“ Ich versuchte, sie zu bereden; ich sagte ihr, daß Ichmenjeffs sie so liebten als wäre sie ihr leibliches Kind, daß sie sehr traurig sein würden, wenn sie sich von ihr trennen müßten, daß sie bei mir dagegen ein sehr schlechtes Leben hätte, und daß wir uns daher wohl, so lieb sie mir auch war, doch würden trennen müssen. „Nein, das geht nicht!“ sagte sie sehr bestimmt, „denn ich sehe jetzt Mama oft im Traum und sie sagt mir, daß ich nicht mit ihnen fortfahren, sondern hierbleiben soll; sie sagt, ich hätte viel gesündigt, weil ich Großpapa allein gelassen habe, und sie weint immer, wenn sie das sagt. Ich will hierbleiben und Großpapa pflegen, Wanjä.“ „Aber dein Großpapa ist doch schon tot, Nelly,“ sagte ich, nachdem ich sie etwas verwundert angehört hatte. Sie dachte nach und sah mich dabei mit vollkommen unbeweglichem, ernstem Blick an. „Erzähle mir noch einmal, Wanjä, wie Großpapa gestorben ist. Erzähle alles ganz genau, vergiß nichts!“ Ich wunderte mich wieder über ihr eigentümliches Verlangen, begann aber doch nach bestem Wissen zu erzählen. Ich sagte mir, daß sie vielleicht nur phantasiere, oder wenn nicht gerade das, so doch nach dem Ohnmachtsanfall vielleicht noch etwas unzurechnungsfähig war. Sie folgte aber meiner Erzählung mit angespannter Aufmerksamkeit. Deutlich sehe ich noch ihre dunkeln, krank blickenden Augen mit dem Fieberglanz unablässig auf mich gerichtet, solange ich erzählte. „Nein, Wanjä, er ist nicht tot!“ sagte sie plötzlich überzeugt, als ich verstummt war und sie noch eine Weile nachgedacht hatte. „Mama spricht jedesmal von Großpapa, und als ich ihr gestern sagte: ‚Aber er ist doch tot,‘ da war sie sehr traurig und weinte, und dann sagte sie mir, daß es nicht wahr sei, daß man es mir nur so sage, daß er aber auch jetzt noch dort gehe und um Almosen bitte, ‚so wie wir beide früher gingen,‘ sagte Mama, ‚und er geht immer dort auf der Stelle, wo wir ihn das erstemal gesehen haben, als ich vor ihm niederfiel und Asorka mich erkannte‘ ...“ „Das ist ein Traum, Nelly, und ein kranker Traum, weil du selbst krank bist,“ sagte ich ihr. „Das habe ich auch gedacht, daß es nur ein Traum sein kann, und deshalb habe ich auch niemandem etwas davon gesagt,“ fuhr Nelly fort. „Nur dir allein wollte ich es erzählen. Aber heute als ich nach dem Essen einschlief, nachdem du nicht gekommen warst, sah ich auch Großpapa im Traum. Er saß bei sich zu Hause und wartete auf mich, und er sah wieder so unheimlich aus, und er sagte, daß er zwei Tage nichts mehr gegessen habe und Asorka auch nicht, und er war sehr böse auf mich und machte mir Vorwürfe. Dann sagte er noch, daß er gar keinen Schnupftabak habe, ohne diesen Tabak aber könne er gar nicht leben. Das hat er mir wirklich auch schon früher einmal gesagt, Wanjä, als Mama schon gestorben war und ich noch zu ihm ging. Dann war er ganz krank und begriff fast gar nicht mehr was ich ihm sagte. Wie ich das nun heute von ihm hörte, dachte ich bei mir: ich werde auf die Straße gehen und um Almosen bitten, und dann für ihn Brot, gekochte Kartoffeln und Schnupftabak kaufen. Und da ging ich auch auf die Straße, stand und bat, nur sah ich plötzlich, daß auch Großpapa nicht weit von mir auf der Straße war, er wartete ein wenig und dann trat er an mich heran und sah nach, wieviel ich bekommen hatte und nahm mir das Geld fort. ‚Das ist für Brot,‘ sagte er, ‚jetzt sammle für Tabak.‘ Ich bitte also weiter um Almosen und er kommt dann wieder und nimmt mir das Geld wieder fort. Ich sage ihm, daß ich ihm doch sowieso das ganze Geld geben werde, daß ich doch nichts für mich behalten will. Er aber sagt: ‚Nein, du bestiehlst mich; auch die Bubnowa hat mir gesagt, daß du eine Diebin bist, deshalb werde ich dich auch niemals zu mir nehmen. Wo hast du ein Fünfkopekenstück hingetan?‘ Ich begann zu weinen, weil er mich eine Diebin genannt und mir nicht traute, er aber hörte nicht auf mich und schrie immer nur: ‚Fünf Kopeken hast du gestohlen, gib sie her!‘ Und dann fing er an, mich zu schlagen, dort vor allen Menschen auf der Straße, und er schlug mich so stark, daß ich schreien wollte vor Schmerz. Und ich weinte sehr ... Sieh, und da denke ich jetzt, daß er bestimmt noch lebt und irgendwo dort allein geht und auf mich wartet ...“ Ich begann sie wieder zu beruhigen und ihr zu versichern, daß er tatsächlich gestorben sei, bis sie es mir zu guter Letzt doch zu glauben schien. Sie sagte nur, daß sie sich jetzt fürchte, einzuschlafen, weil sie dann den Großpapa sehen werde. Endlich umarmte sie mich wieder ganz plötzlich und heiß ... „Aber ich kann dich doch nicht verlassen, Wanjä!“ sagte sie, ihr Gesichtchen an meine Wange schmiegend. „Auch wenn Großpapa nicht wäre – ich würde doch nicht von dir fortfahren!“ Die anderen waren alle sehr besorgt um Nelly. Ich ging mit dem Doktor ins Nebenzimmer und erzählte ihm dort unter vier Augen von ihren Träumen. Ich bat ihn, mir seine endgültige Meinung zu sagen. „Das kann ich nicht, denn ich weiß selbst noch nicht genau, um was es sich hier handelt,“ sagte er nachdenklich. „Ich beobachte vorläufig noch, ich kombiniere und versuche es mehr zu erraten, aber ... bestimmt etwas sagen läßt sich vorläufig noch nicht. Außer dem einen: daß eine absolute Gesundung prinzipiell unmöglich ist und sie unfehlbar bald sterben wird. Ichmenjeffs habe ich davon noch nichts gesagt, da Sie mich darum so gebeten haben, aber ... Ich will sie morgen noch einmal untersuchen und auch noch andere Ärzte zur Beratung heranziehen. Vielleicht läßt sich da noch etwas machen, vielleicht! Sie tut mir leid, die Kleine, es ist mir, als müßte ich mein eigenes Kind verlieren ... Solch ein liebes, reizendes Mädchen! Und wie verständig sie ist, wie klug für ihr Alter!“ ... Nikolai Ssergejewitsch war ganz besonders aufgeregt und trug sich mit großen Plänen. „Höre mal, Wanjä, ich habe mir was ausgedacht!“ begann er sogleich, als ich zu ihnen zurückkehrte. „Sie liebt – Blumen sehr – weißt du, was wir da machen wollen? Wir arrangieren ihr zu morgen genau solch einen Empfang mit Blumen, wie sie ihn mit jenem Heinrich ihrer Mutter bereitet hat, weißt du, so wie sie vorhin erzählte ... Es regte sie so auf als sie davon sprach ...“ „Das ist eben der Haken, – Aufregung schadet ihr,“ wandte ich ein. „Ja, aber eine angenehme Aufregung doch nicht! – das ist doch etwas ganz anderes! Glaube mir nur, Freundchen, verlaß dich auf meine Erfahrung: angenehme Aufregung schadet nie, im Gegenteil, die kann sogar gesund machen oder wenigstens zur Gesundung beitragen ...“ Mit einem Wort, der Alte war von seiner Idee so entzückt, daß er sich für sie fast schon zu begeistern begann. Es war ganz unmöglich, ihm zu widersprechen. Er fragte auch noch den Doktor nach seiner Meinung, doch bevor dieser etwas meinen konnte, hatte er schon Hut und Stock in der Hand und wandte sich zum Gehen. „Hör’ mal,“ sagte er im Fortgehen, „hier ist eine Orangerie in der Nähe, eine prächtige Orangerie. Und jetzt ist dort Ausverkauf: da kann man für den billigsten Preis Blumen kaufen, wirklich, geradezu erstaunlich billig! ... Du, sag das bei Gelegenheit Anna Andrejewna, damit sie sich nicht wegen der Ausgabe allzusehr beunruhigt ... Na, also das wäre das ... Ja! Noch eines, Freund: wohin gehst du denn jetzt? Du bist doch fertig, hast die Arbeit beendet, wozu also jetzt nach Hause eilen? Nächtige doch bei uns oben, in der Dachkammer – weißt du noch, wie früher? Deine Kissen, das Bett – alles steht noch auf demselben Fleck, – nicht angerührt! Wirst wie ein König von Frankreich dort oben schlafen. Was? Bleib mal hier! Morgen können wir dann früher aufstehen, und dann, weißt du, wenn die Blumen gebracht werden, können wir beide das Zimmer schmücken, so daß zu acht Uhr alles fertig ist. Und Natascha wird uns helfen – sie hat doch mehr Geschmack als wir beide zusammen ... Nun, bist du einverstanden? Bleibst du?“ Natürlich blieb ich. Der Alte traf sogleich die nötigen Anordnungen. Inzwischen verabschiedeten sich der Arzt und Masslobojeff und gingen nach Hause, denn Ichmenjeffs pflegten früh zu Bett zu gehen, gewöhnlich schon um elf Uhr. Masslobojeff war, als er sich verabschiedete, still und nachdenklich und wollte mir etwas mitteilen, schob es aber auf. „Ein anderes Mal, heute ist es zu spät,“ sagte er. Als ich aber den Alten gute Nacht gewünscht und in meine Dachkammer hinaufgestiegen war, da fand ich ihn zu meiner Verwunderung dort oben vor. Er saß am Tisch und blätterte in einem Buch. Offenbar erwartete er mich. „Habe unterwegs kehrtgemacht, Wanjä,“ sagte er, „denn schließlich ist es doch besser, ich erzähle es dir heute noch. Setze dich. Sieh, die ganze Geschichte ist so dumm, so blödsinnig dumm, daß man sich darüber nur ärgern kann ...“ „Was, was ist denn los?“ „Los ist nichts, aber dein vermaledeiter Fürst hat mich vor zwei Wochen so geärgert, so geärgert, sag ich dir, daß mein Ärger selbst in zwei Wochen noch nichts an Kraft und Größe eingebüßt hat.“ „Wie, was? Stehst du denn mit dem Fürsten immer noch in Verbindung?“ „Na ja, wußt ich’s doch, daß du sogleich Wie und Was schreien wirst, als wäre Gott weiß was passiert! Du, Freund, du bist auf ein Haar wie meine Alexandra Ssemjonowna ... Überhaupt ist das alles unerträgliches Weibergewäsch ... Kann so was nicht verdauen! ... Da braucht nur eine Krähe einmal zu krächzen, sogleich ist das Gezeter groß: ‚Wie! was!‘“ „Nun, ärgere dich nicht.“ „Tue ich gar nicht, aber man muß doch mit nüchternen normalen Augen auf die Dinge sehen, nicht durch Vergrößerungsgläser ... Ja.“ Er schwieg eine Weile, als ärgere er sich noch über mich. Ich schwieg gleichfalls und wartete. „Siehst du, Freund,“ begann er dann, „ich bin da auf eine Spur gestoßen ... das heißt, genau genommen bin ich weder auf eine Spur gestoßen, noch hat es eine Spur überhaupt gegeben, aber es schien mir plötzlich so ... Ich habe gewisse Dinge kombiniert und daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß Nelly ... vielleicht ... nun, mit einem Wort, des Fürsten rechtmäßige Tochter ist.“ „Was!“ „Na ja, das konnte ich mir ja denken, daß du sogleich ‚was!‘ schreien würdest! Bei Gott, es ist keine Möglichkeit, mit diesen Leuten zu reden!“ rief er scheinbar wütend aus. „Habe ich dir denn schon was Positives gesagt, du leichtsinniger Mensch? Habe ich dir gesagt, daß sie die _bewiesenermaßen rechtmäßige_ Tochter des Fürsten sei? Habe ich dir das gesagt oder nicht? ...“ „Höre, mein Bester,“ unterbrach ich ihn erregt, „schreie um Gottes willen nicht so, sondern tue mir den Gefallen und erkläre es mir ruhig und deutlich. Bei Gott, ich werde dich verstehen. So begreife doch, bis zu welch einem Grade das wichtig ist und welche Folgen ...“ „Jawohl, Folgen! Wo willst du die Folgen hernehmen? Wo sind die Beweise? Ohne Beweise macht man nichts, ich aber erzähle es dir nur als größtes Geheimnis. Weshalb ich aber überhaupt davon mit dir rede – das werde ich dir später erklären. Du siehst, es ist notwendig, daß ich’s tue, und damit basta. Also schweige vorläufig, höre zu und laß dir gesagt sein, daß es dir nur unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit mitgeteilt wird ... Sieh, die Geschichte verhält sich so: schon im Winter, noch bevor der alte Smitt starb, begann der Fürst sogleich nach seiner Rückkehr aus Warschau die ganze Sache ... Das heißt: begonnen hatte er sie schon viel früher, etwa vor einem Jahr. Damals aber hatte er nach etwas anderem geforscht, jetzt aber begann er nach etwas Neuem zu forschen. Die Hauptsache war nämlich die, daß er ihre Spur verloren hatte. Vor dreizehn Jahren hatte er die Smitt in Paris verlassen, doch während dieser ganzen Zeit hatte er sie nicht aus dem Auge verloren: so hatte er gewußt, daß sie mit Heinrich zusammenlebte – mit diesem, von dem heute die Rede war; er wußte, daß sie eine Tochter, namens Nelly, hatte, er wußte auch, daß sie selbst krank war; na, mit einem Wort, er wußte alles, nur verlor er plötzlich die Spur, und das, wie mir scheint, bald nach dem Tode Heinrichs, als die Smitt nach Petersburg zurückkehrte. Hier in Petersburg hätte er sie allerdings bald gefunden, gleichviel unter welchem Namen sie zurückgekehrt wäre; aber sieh, die Sache war nämlich die, daß seine ausländischen Agenten ihn betrogen hatten: sie schrieben ihm, daß sie in Süddeutschland irgendwo dort in einer kleinen Stadt lebe, was sie selber für vollkommen richtig hielten, doch hatten sie sich getäuscht: das war eine andere Smitt. Und das dauerte so ungefähr ein Jahr oder noch länger, der Fürst aber begann schließlich Verdacht zu schöpfen, denn aus gewissen Umständen glaubte er zu ersehen, daß es nicht diese Smitt sein könne. Jetzt fragte es sich: wo war die richtige Smitt? Und da kam es ihm in den Sinn – so, ganz von selbst, ohne jede Handhabe: sollte sie nicht in Petersburg sein? Während nun seine Agenten sich im Auslande erkundigten, begann er selber hier in Petersburg nachzuforschen, nur wollte er, wie’s scheint, nicht gar zu offiziell vorgehen. Na und da wandte er sich an mich. Man hatte mich ihm empfohlen, so und so, aus Liebhaberinteresse, wie gesagt, befaßt sich mitunter auch mit solchen Sachen, – nun und so weiter, und so weiter ...“ „Nun und so erklärte er mir denn den Sachverhalt, aber nur so mehr andeutungsweise, der Hund, so schleierhaft und zweideutig, daß kein Teufel recht klug draus werden konnte. Versah sich oft, wiederholte manches mehrmals, und erzählte ein und dasselbe zuerst so, dann wiederum so und dann nochmals anders, – kurz: alles doppelt, dreifach und verschieden ... Na, aber wie schlau er auch war, alles läßt sich doch nicht verbergen. Ich, versteht sich, ich begann mit vollster Unterwürfigkeit und Herzenseinfalt, mit einem Wort: ergebenster Sklave. Nach meinem Grundsatz aber, den ich mir ein für allemal aufgestellt habe, erstens, und zweitens gemäß dem Naturgesetz – denn das ist ein Naturgesetz, mußt du wissen – dachte ich bei mir: erstens ist das, was er mir gesagt hat, das, was er wissen will? Und zweitens: verbirgt sich nicht hinter dem angegebenen Beweggrunde ein ganz anderer, nicht angegebener, ja nicht einmal angedeuteter? Ist aber das der Fall, so will er mich – was du, mein Sohn, mit deinem Dichterschädel vielleicht auch begreifen wirst – so will er mich einfach bestehlen: denn das eine, siehst du, ist, sagen wir, nur einen Rubel wert, das andere aber mindestens vier; da müßte ich doch ein Esel sein, wenn ich ihm für einen Rubel das gebe, was vier wert ist. Ich begann nachzudenken und hin und her zu raten und allmählich kam ich denn auch der Sache auf die Spur. Einiges erfuhr ich von ihm selber, anderes von diesem und jenem, auf wieder anderes verfiel ich selbst, – brauchte nur meinen Verstand kombinieren zu lassen. Fragst du, weshalb ich das tat? Nun, wenn auch nur deshalb, weil der Fürst doch etwas gar zu besorgt war, weil er gar zu vieles zu befürchten schien. Was konnte er aber da schließlich zu befürchten haben, wenn man es recht bedenkt? Hat aus dem Hause des Vaters die Geliebte entführt, und als sie in Umständen war, verließ er sie. Was ist denn dabei Wunderliches? Eine liebe, nette Unart und nichts weiter! Da hörte doch alles auf, wenn ein Mensch wie der Fürst sich deshalb fürchten sollte! Er aber fürchtete sich ... Und da schöpfte ich eben Verdacht. Und da bin ich, mußt du wissen, auf ungemein interessante Spuren gestoßen, zum Teil auch durch diesen Heinrich. Er ist natürlich schon längst tot, aber durch eine seiner Kusinen – jetzt ist sie hier mit einem Bäcker verheiratet – also von dieser Kusine, die einst glühend in ihn verliebt gewesen ist und ihn fünfundzwanzig Jahre lang unverändert weitergeliebt hat, ungeachtet der Existenz ihres Mannes, des Bäckers, mit dem sie ganz aus Versehen acht Kinder in die Welt gesetzt hat – also wie gesagt, von dieser Kusine habe ich denn endlich nach den verschiedensten und kompliziertesten Manövern einen ungemein wichtigen Umstand in Erfahrung gebracht. Dieser Heinrich hatte ihr nämlich nach deutscher Art lange Briefe geschrieben, und vor dem Tode hatte er ihr dann noch verschiedene Papiere und so etwas wie ein Tagebuch zugesandt. Sie, diese Gans, hat natürlich von dem Geschreibsel nur die Stellen verstanden, wo er vom Monde, meinem lieben Augustin und von Wieland, wenn ich nicht irre, spricht, doch vom Wichtigen hat sie kein Wort kapiert. Aus diesen Briefen erfuhr ich aber einiges, das für mich von großer Wichtigkeit war und vor allem kam ich durch sie auf eine neue Spur. So erfuhr ich zum Beispiel vom alten Smitt, vom Vermögen, das die Tochter ihm entwendet hatte, und daß der Fürst dieses Vermögen sich angeeignet; und zwischen Ausrufen, Allegorien und anderem Zeug las ich dann die ganze Wahrheit heraus: da heißt, Wanjä, – du verstehst doch? Nichts Positives! Dieser Schmachtlappen Heinrich hat absichtlich nichts ausgesprochen, sondern eben nur so angedeutet. Nun, diese Andeutungen aber verbanden sich für mich zu geradezu himmlischer Harmonie! Versteh: der Fürst war mit der Smitt regelrecht verheiratet! Wo er sich hat trauen lassen, hier oder im Auslande, wann, wo die Dokumente sind – alles das ist unbekannt. Weißt du, Freund Wanjä, ich habe mir vor Ärger die Haare aus dem Schädel gerauft und Tag und Nacht gesucht und gesucht, das heißt vielmehr – geforscht ...“ „Endlich kam ich dem alten Smitt auf die Spur, da aber mußte es ihm plötzlich einfallen zu sterben. So habe ich ihn lebend nicht einmal zu Gesicht bekommen. Zufällig aber erfuhr ich zu derselben Zeit, daß auf dem Wassiljewskij-Ostroff eine Frau, auf die schon früher mein Verdacht gefallen war, gestorben sei. Und da kam ich wieder auf eine richtige Spur. Weißt du noch, wir trafen uns damals, als ich auf die Insel eilte? Dort erfuhr ich ziemlich viel. Auch Nelly hat mir hier in mancher Beziehung geholfen ...“ „Höre,“ unterbrach ich ihn, „glaubst du wirklich, daß Nelly es weiß ...“ „Was?“ „Daß sie vielleicht die Tochter des Fürsten ist?“ „Aber du weißt doch selber, daß sie die Tochter des Fürsten ist,“ versetzte er und sah mich mit einem gewissen Vorwurf an. „Wozu stellst du so müßige Fragen? Sei nicht langweilig! Nicht das ist die Hauptsache, ob sie es weiß oder nicht weiß, und auch nicht das, daß sie einfach nur des Fürsten Tochter ist, sondern: daß sie seine _rechtmäßige_ Tochter ist – begreifst du jetzt?“ „Das kann nicht sein!“ rief ich aus. „Das habe ich auch bei mir gedacht, daß es nicht sein könne, auch jetzt noch sage ich es mir bisweilen. Aber das ist es ja gerade, daß es tatsächlich so sein _kann_ und höchstwahrscheinlich auch so _ist_!“ „Nein, Masslobojeff, das kann nicht so sein, du hast übertrieben!“ unterbrach ich ihn. „Nicht nur, daß sie es nicht weiß, – sie ist auch in der Tat nur ein uneheliches Kind. Sollte denn die Mutter, wenn sie nur irgendwelche Dokumente in Händen gehabt hätte, ein so schreckliches Elend hier in Petersburg freiwillig ertragen und dabei nicht einmal an die elende Zukunft ihres Kindes gedacht haben? Geh! Das ist unmöglich!“ „Das habe ich auch gedacht, oder vielmehr: das steht auch jetzt noch als Rätsel vor mir. Aber sieh: die Smitt war doch an und für sich das hirnverbrannteste Weib der Welt, ein Frauenzimmer, wie man es sich kaum denken kann. Stelle dir doch bloß einmal die Verhältnisse vor! Das ist doch eine Romantik, die nichts mit der Welt zu tun hat, die irgendwo dort über den Sternen schwebt – einfach die wildeste Dummheit im verrücktesten Maßstabe! Nimm doch die Sache wie sie ist: zuerst hat sie nur an einen Himmel auf Erden gedacht und in ihm einen Engel in Menschengestalt gesehn, kurz: sie war hoffnungslos verliebt, vertraute schrankenlos, und ich bin überzeugt, daß sie dann später nicht deshalb den Verstand verloren hat, weil er sie zu lieben aufhörte und verließ, sondern weil er sie betrogen hatte, weil er _fähig gewesen war_, sie zu betrügen und zu verlassen, das heißt, weil ihr Engel sich plötzlich als schmutziger Lump entpuppte, der sie in den Schmutz herabgezogen. Diese Verwandlung konnte ihre romantische Seele nicht überwinden. Und außerdem noch diese Kränkung – du begreifst doch, von welch einer Kränkung ich rede? Entsetzen und Stolz und grenzenlose Verachtung mußte sie empfinden, als ihr die Augen aufgingen. Und da hat sie vielleicht alles zerrissen, alle Dokumente und Papiere, und hat ihm auch das Geld geschenkt, ohne daran zu denken, daß es nicht ihr Geld, sondern ihres Vaters Geld war. Sie verzichtete einfach auf dieses Geld, wie etwa auf Straßenschmutz, um ihren Betrüger durch seelische Erhabenheit zu erdrücken, um ihn als Dieb, der sie bestohlen, ihr Leben lang verachten zu können, und sie wird ihm wohl gesagt haben, daß sie es für eine Schmach halte, seine Frau zu sein. Unsere Kirche erlaubt keine Scheidung, sie aber lebten ^de facto^ geschieden, – wie hätte sie also noch um Hilfe flehen sollen? Bedenke doch, daß sie, diese Wahnsinnige, ihrer Tochter Nelly noch auf dem Sterbebett gesagt hat: geh nicht zu ihnen, arbeite, verkomme, aber geh nicht zu ihnen, gleichviel _wer_ dich auch rufen sollte. Also hat sie doch immer noch erwartet, daß man sie _rufen_ werde, folglich aber würde sie Gelegenheit haben, sich noch einmal zu rächen, dem _Rufenden_ ihre Verachtung zu zeigen. Sagen wir es kurz: sie hat sich nicht von Brot, sondern von ihrem Haß genährt. Vieles, Freund, habe ich auch von Nelly erfahren; selbst jetzt noch forsche ich sie aus. Freilich war ihre Mutter krank, schwindsüchtig; und die Schwindsucht soll ja im Menschen ganz besondere Erbitterung und Reizbarkeit hervorrufen. Dennoch weiß ich ganz genau – ich erfuhr es von einer Gevatterin der Bubnowa – daß sie einen Brief an den Fürsten geschrieben hat: ja, an den Fürsten ...“ „Einen Brief! Und hat er ihn erhalten?“ fragte ich gespannt. „Das ist es ja, was ich nicht weiß! Verdammt! Die Smitt hat sich jedenfalls einmal an diese Gevatterin gewandt – du hast sie doch gesehn, weißt du, dieses gepuderte Mädchen bei der Bubnowa? Jetzt sitzt sie im Zuchthaus. Nun, und durch diese selbe wollte sie ihm den Brief senden, den sie ^nota bene^ bereits geschrieben hatte. Aber da besann sie sich plötzlich eines anderen und gab ihr den Brief nicht oder forderte ihn zurück. Das war drei Wochen vor ihrem Tode ... Nichtsdestoweniger ist das von großer Wichtigkeit: denn wenn sie sich schon einmal entschlossen hatte, an ihn zu schreiben und ihm den Brief zu übersenden, so kann sie doch, wenn sie ihn auch zurückgenommen hat, sehr wohl ein anderes Mal gesandt haben. Hat sie ihn nun abgesandt oder nicht? Wenn ich das wüßte! Ich habe einen gewissen Grund anzunehmen, daß sie ihn nicht abgesandt hat, denn ich glaube, daß der Fürst erst _nach_ ihrem Tode mit voller Sicherheit erfahren hat, daß sie überhaupt in Petersburg war, und daß sie bei der Bubnowa wohnte. Was der sich gefreut haben muß!“ „Ja, ich entsinne mich, Aljoscha sprach einmal von einem Brief, den der Fürst erhalten und über den er sich sehr gefreut habe. Das war vor gar nicht langer Zeit, vor zwei Monaten höchstens. Aber weiter, weiter – wie ist jetzt dein Verhältnis zum Fürsten?“ „Mein Verhältnis zum Fürsten? Begreifst du, was das heißt: die vollste moralische Überzeugung und dabei keinen einzigen positiven Beweis haben – _keinen einzigen_, ungeachtet aller meiner Anstrengungen! Ist das nicht zum Verzweifeln? Ich hätte im Auslande nachforschen müssen, aber wo im Auslande? – wer das wüßte! wer das wüßte! Ich begriff natürlich, daß mir keine so leichte Schlacht bevorstand, daß ich ihm nur mit Andeutungen einen Schrecken einjagen konnte, wenn ich mich anstellte, als wüßte ich weit mehr, als es in Wirklichkeit der Fall war ...“ „Nun und?“ „Er ließ sich aber nicht hinters Licht führen; doch erschrak er übrigens nicht wenig, erschrak sogar so, daß er mich auch jetzt noch fürchtet. Wir haben mehrere Zusammenkünfte gehabt. Wie er sich jedesmal verstellt hat! Einmal machte er sich daran, mir – gewissermaßen aus Freundschaft – selbst alles zu erzählen. Das war damals, als er dachte, ich wisse alles. Er erzählte gut, das läßt sich nicht leugnen, erzählte mit Gefühl, offenherzig – d. h. er log mit unglaublicher Gewissenlosigkeit. Eben daran konnte ich ermessen, wie sehr er mich fürchtete. Eine Zeitlang spielte ich den dümmsten Tölpel, der sich selbst für sehr schlau hält. Begann ihn ungeschickt einzuschüchtern, mit Absicht ungeschickt, sagte ihm Grobheiten, drohte ihm sogar, – alles nur, damit er mich für einen Tölpel halte und sich dann vielleicht einmal unvorsichtigerweise verspreche. Er durchschaute mich aber, der Schuft! Ein anderes Mal spielte ich den Betrunkenen, nur kam dabei auch nichts Gescheites heraus. Er ist zu gerieben! Versteh’, Wanjä: ich mußte zuerst feststellen, inwieweit er mich fürchtet, um ihn dann glauben zu machen, daß ich viel mehr wisse, als ich in der Tat weiß ...“ „Nun und – was erreichtest du damit?“ „Ja – nichts, es kam nichts dabei heraus. Beweise, Beweise waren nötig, ich aber habe keinen einzigen Beweis. Nur eines begriff er, nämlich, daß ich einen Skandal heraufbeschwören könnte. Er aber befürchtet ihn um so mehr, als er hier bereits Verbindungen angeknüpft hat. Du weißt doch, daß er heiraten wird?“ „Nein ...“ „Im nächsten Jahr! Die Braut hat er sich schon im vorigen Jahr ausgesucht: damals war sie erst vierzehn Jahre alt, jetzt ist sie schon fünfzehn, geht noch im Flügelkleide, glaube ich, das arme Dingelchen. Die Eltern sind selbstverständlich froh. Begreifst du jetzt, wie notwendig es für ihn war, daß seine Frau starb? Diese Fünfzehnjährige ist eine Generalstochter, und zwar schwerreich! Wir, Freund Wanjä, du und ich, wir werden nie so heiraten ... Was ich mir aber zeit meines Lebens nicht verzeihen werde,“ rief Masslobojeff plötzlich wütend aus und er schlug mit der Faust auf den Tisch, „das ist: daß er mich angeführt hat, jawohl! – vor zwei Wochen ... dieser Schuft!“ „Wieso?“ „Ganz einfach! Ich sah schon, er hatte es erraten, daß ich nichts Positives gegen ihn in der Hand hatte und außerdem fühlte ich, daß er, je mehr ich die Sache in die Länge zog, um so eher meine völlige Machtlosigkeit erraten mußte. Nun und da nahm ich denn mit den Zweitausend fürlieb.“ „Du nahmst Zweitausend! ...“ „In Silber, Wanjä; innerlich knirschend nahm ich sie. Gott, ist denn so etwas bloß lumpige Zweitausend wert! Ich erniedrigte mich, indem ich sie nahm! Wie ein übers Ohr gehauener Esel stand ich da vor ihm, er aber sagte noch: ‚Ich habe Sie, Masslobojeff, für Ihre früheren Bemühungen noch nicht entschädigt‘ – das war aber gar nicht der Fall, er hatte mir schon längst der Verabredung gemäß, hundertundfünzig Rubel gezahlt – ‚nun,‘ sagte er, ‚hier sind zweitausend Rubel, und ich hoffe, daß wir jetzt unsere _sämtlichen_ Geschäfte als erledigt betrachten können.‘ Na und da antwortete ich ihm: ‚Vollkommen erledigt, Fürst,‘ wagte aber dabei nicht mal, ihm in die Fratze zu sehen; ich dachte bei mir, in diesem Gesicht müsse geschrieben stehn: ‚Na, hast du viel herausgeschunden? Ich gebe dir das Geld ja nur so, einzig aus Großmut!‘ Ich weiß nicht einmal, wie ich seine Wohnung verlassen habe!“ „Aber das ist doch eine Gemeinheit, Masslobojeff!“ rief ich empört aus. „Bedenke doch, was du mit Nelly getan hast!“ „Das ist nicht nur einfach eine Gemeinheit, das ist einfach niederträchtig, schmutzig ... Das ... das ... weißt du, es gibt keine Worte, um das auszudrücken!“ „Mein Gott! Aber er müßte doch wenigstens Nellys Zukunft sicherstellen!“ „Müßte! Wer kann ihn dazu zwingen? Oder meinst du, man könne ihn einschüchtern? Da sei du unbesorgt: der läßt sich nicht bange machen: ich habe doch das Geld von ihm angenommen. Damit habe ich doch selbst, versteh, ich selbst habe damit zugegeben, daß meine ganze Macht gegen ihn nur lumpige zweitausend Rubel wert ist! Womit kann ich ihn jetzt noch ängstigen?“ „Aber wie, wie ist es denn möglich, wie können denn Nellys Ansprüche damit für immer begraben sein?“ fragte ich ganz verzweifelt. „Das sind sie ja gar nicht!“ rief Masslobojeff und geriet sogar ganz aus dem Häuschen. „Du glaubst, ich werde ihm das schenken? Ich fange von neuem an, Wanjä: ich habe mich schon entschlossen. Was ist denn dabei, daß ich die Zweitausend genommen habe? Na, zum Teufel damit! Ich habe das Geld einfach für die Kränkung genommen, als Entschädigung, wenn du willst, denn dieser Spitzbube hat mich betrügen wollen, hat sich über mich einfach lustig gemacht, hat mich zum Narren gehabt! Ich erlaube es ihm aber nicht, mich an der Nase zu führen ... Jetzt werde ich, weißt du, zuerst mit Nelly anfangen. Ich habe sie beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, daß sie den Knoten der ganzen Sache in der Hand hat. Sie weiß _alles, alles_ ... Die Mutter hat es ihr erzählt. Vielleicht schon vor der Krankheit, vielleicht erst später, im Fieber, wenn die Qual zu groß wurde. Sie hatte sonst keinen bei sich, dem sie es hätte klagen können, da wird sie es eben Nelly erzählt haben. Und wenn sie nur einmal damit begonnen hat, dann hat sie ihr unfehlbar _alles_ erzählt. Vielleicht aber können wir mit Nellys Hilfe auch noch gewisse Dokumente entdecken!“ fügte er schmunzelnd hinzu und rieb sich stillvergnügt die Hände. „Begreifst du jetzt, Wanjä, weshalb ich in letzter Zeit so oft herkomme? Erstens natürlich aus Freundschaft zu dir, das versteht sich von selbst. Doch der Hauptzweck ist doch: Nelly zu beobachten. Und drittens, alter Freund, mußt du, ob du willst oder nicht, – mußt du mir behilflich sein, denn du hast großen Einfluß auf Nelly ...“ „O, gewiß, ich bin gern bereit,“ sagte ich lebhaft erfreut, „denn ich hoffe, Masslobojeff, daß du dich in ihrem Interesse bemühst, daß du es für das arme Waisenkind tun willst, nicht nur um deines eigenen Vorteils willen ...“ „Gott, was geht das dich an, um wessen Vorteils willen, wie du sagst, ich mich plagen werde, du seliger Mensch du? Wenn es nur gelingt, – das ist die Hauptsache! Natürlich, versteht sich: in der Hauptsache für das Waisenkindchen, so will’s ja auch die Nächstenliebe. Aber du, Wanjä, Wanjuscha, du verurteile mich nicht bis zu letzter Verdammnis, wenn ich dabei auch an mich denke. Ich bin ein armer Mensch, wie du weißt, er aber soll es hinfort nicht wagen, arme Menschen zu beleidigen. Er entzieht mir das, was mir von Rechts wegen zukommt, und außerdem hat er mich noch betrogen! Und solch einem Spitzbuben soll ich noch was schenken, meinst du? Das wird mir gerade einfallen!“ * * * * * Leider sollte unser Blumenfest am nächsten Tage unserer Erwartung nicht entsprechen: Nelly fühlte sich bedeutend schlechter und konnte das Zimmer nicht verlassen. Und sie sollte es überhaupt nicht mehr verlassen. Sie starb nach zwei Wochen. In diesen zwei Wochen ihrer Agonie kam sie nur selten zu sich, gewöhnlich hielten seltsame Phantasien sie gefangen. Es schien fast, als sei sie nicht mehr bei vollem Verstande. Von Anfang an war sie fest überzeugt, daß der Großvater sie zu sich rufe und sich über sie ärgere, weil sie nicht käme, und dann klopfe er mit dem Stock und sage, sie müsse von „guten Leuten“ Geld zu Brot und Tabak zusammenbetteln. Oft weinte sie im Schlaf, und wenn sie dann erwachte, erzählte sie, daß sie ihre Mutter gesehen habe. Einmal war ich allein bei ihr, als sie wieder zu sich kam; da schob sie sich näher zu mir und ergriff meine Hand mit ihren abgezehrten, fieberheißen Händchen. „Wanjä,“ sagte sie, „wenn ich sterbe, dann heirate Natascha!“ Ich glaube, dieser Gedanke hatte sich schon vor langer Zeit in ihr festgesetzt, und immerwährend schien er sie zu beschäftigen. Ich lächelte ihr schweigend zu. Als sie mein Lächeln sah, lächelte sie gleichfalls und drohte mir schelmisch mit ihrem dünnen Fingerchen und dann küßte sie mich. An einem wundervollen Sommerabend – es war drei Tage vor ihrem Tode – bat sie, man möge den Vorhang vor dem Fenster emporziehen und das Fenster öffnen. Vor dem Fenster lag das Gärtchen. Lange blickte sie in das frische Grün und sah die leuchtenden Farben der Abendsonne, und plötzlich bat sie, uns beide allein zu lassen. „Wanjä,“ sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, denn sie war schon sehr schwach, „ich werde bald sterben. Sehr bald, und ich will dir sagen, daß du mich nicht vergessen sollst. Zum Andenken hinterlasse ich dir dieses hier,“ – sie wies auf ein großes Amulett, das sie an dem Bändchen, an dem auch ihr Kreuz hing, auf der Brust trug. „Das hat Mama mir sterbend hinterlassen. Also, wenn ich sterbe, so nimm du dieses Amulett an dich, nimm es und lies, was darin steht. Ich werde heute auch den andern sagen, daß du allein dieses Amulett erhalten sollst. Und wenn du gelesen hast, was hier geschrieben steht, dann geh zu _ihm_ und sage ihm, daß ich gestorben bin, ihm aber nicht verziehen habe. Sage ihm auch, daß ich die Bibel vor nicht langer Zeit gelesen habe. Dort ist gesagt: vergebt allen euren Feinden. Nun, ich habe das gelesen, _ihm_ aber vergebe ich trotzdem nicht, denn als Mama im Sterben lag und noch sprechen konnte, war das Letzte, was sie mir sagte: ‚_Ich verfluche ihn_‘. Nun und so verfluche auch _ich_ ihn, verfluche ihn nicht um meinetwillen, sondern um Mamas willen ... Und du erzähle ihm, wie Mama gestorben ist, wie ich bei der Bubnowa allein zurückblieb, erzähle ihm, wie du mich bei der Bubnowa gesehn hast, – alles, alles erzähle ihm und dann sage ihm auch, daß ich lieber bei der Bubnowa bleiben wollte, als zu ihm gehen ... Ich bin nicht zu ihm gegangen ...“ Nelly war bleich geworden, ihre Augen brannten und ihr Herz klopfte so stark, daß sie auf das Kissen zurücksank und eine Weile kein Wort sprechen konnte. „Rufe sie, Wanjä,“ sagte sie dann endlich mit schwacher Stimme. „Ich will von allen Abschied nehmen. Leb wohl, Wanjä! ...“ Noch einmal, zum letzten Male umarmte sie mich krampfhaft. Der Alte konnte es nicht fassen, daß sie sterben solle, konnte diese Möglichkeit überhaupt nicht zugeben. Bis zum letzten Augenblick stritt er noch mit uns und versicherte, daß sie unfehlbar gesund werden müsse. Er magerte sichtlich ab vor Sorge und saß ganze Tage und sogar Nächte hindurch an Nellys Bett. In den letzten Nächten schlief er überhaupt nicht. Den geringsten Wunsch suchte er ihr schon im voraus zu erfüllen, noch bevor sie ihn ausgesprochen hatte. Als er an jenem Tage, nachdem sie von uns Abschied genommen, zu uns ins andere Zimmer kam, weinte er bitterlich, doch bald begann er wieder zu hoffen und uns zu versichern, daß sie gesund werden müsse. Ihr Zimmer schmückte er täglich mit Blumen. Einmal kaufte er ein großes Bukett der schönsten roten und weißen Rosen und hatte deshalb einen weiten Weg zurückgelegt, nur um seiner kleinen Nelly eine Freude zu bereiten ... Natürlich regte sie sich darüber nicht wenig auf: war doch eine so große und so allgemeine Liebe etwas ganz Neues für sie. Der Alte wollte unter keiner Bedingung Abschied von ihr nehmen. Da lächelte Nelly ihm zu und bemühte sich den ganzen Abend, fröhlich zu scheinen und mit uns zu scherzen, ja sie lachte sogar ... Wenigstens verließen wir sie alle fast hoffnungsfreudig, doch am nächsten Tage hatte sie schon die Sprache verloren. Nach zwei Tagen starb sie. Ich erinnere mich noch, wie der Alte ihren Sarg mit Blumen schmückte und wie verzweifelt er ihr abgezehrtes totes Gesichtchen, ihr totes Lächeln und ihre schmalen gefalteten Händchen betrachtete. Er weinte, als habe er sein leibliches Kind verloren. Natascha, ich und überhaupt alle trösteten ihn, so gut wir zu trösten vermochten, doch er ließ sich nicht trösten und erkrankte nach ihrer Beerdigung sogar ziemlich schwer. Anna Andrejewna gab mir das Amulett, das sie Nelly abgenommen hatte. Es enthielt nur einen Brief, den Nellys Mutter an den Fürsten geschrieben hatte. Ich las ihn durch. Sie wandte sich mit einem Fluch an ihn, sie sagte, daß sie ihm nicht vergeben könne; sie beschrieb ihr Leben in den letzten Jahren und schilderte das Schicksal, das ihre Tochter erwarte, und darauf flehte sie ihn an, doch etwas wenigstens für das Kind zu tun. „Es ist _Ihr Kind_,“ schrieb sie, „es ist Ihre Tochter und _Sie wissen es selbst, daß sie Ihre natürliche, Ihre rechtmäßige_ Tochter ist. Ich habe ihr gesagt, sie solle zu Ihnen gehen, wenn ich gestorben bin, und Ihnen diesen Brief übergeben. Wenn Sie das Kind nicht verstoßen, werde ich Ihnen _dort_ vielleicht noch vergeben, werde am Tage des Gerichts vor dem Throne Gottes niederknien und den Richter anflehen, Ihnen Ihre Sünden zu vergeben. Nelly weiß, was in diesem Brief steht: ich habe ihn ihr vorgelesen; ich habe ihr _alles_ erzählt, sie weiß _alles, alles_ ...“ Nelly hatte die Bitte der Mutter nicht erfüllt: sie war nicht zum Fürsten gegangen und unversöhnt gestorben. Als wir von ihrer Beerdigung zurückkamen, gingen wir beide, Natascha und ich, in den Garten. Es war ein heißer, blendend lichtheller Tag. In einer Woche sollten sie abreisen. Natascha sah mich lange mit seltsamen Blicken an. „Wanjä,“ sagte sie, „Wanjä, das war doch nur ein Traum.“ „Was war ein Traum?“ fragte ich. „Alles, alles das,“ sagte sie, „alles, was in diesem einen Jahr gewesen ist. Wanjä, weshalb habe ich dein Glück zerstört?“ Und in ihren Augen las ich: „Wir hätten beide so glücklich sein können!“ Fußnoten [1] Kinderfrau. E. K. R. [2] Dershawin, geb. 1743, gest. 1816: Justizminister und Verfasser von Memoiren. [3] Lomonossoff, geb. 1711, gest. 1765: Schöpfer der modernen russischen Literatursprache, bekannt durch Oden an Katharina die Große. E. K. R. [4] Koseform für Wladimir. E. K. R. [5] Die orthodoxe Kirche gestattet offiziell auch die Ehe nicht zwischen entfernten Verwandten, selbst dann nicht, wenn keine Blutsverwandtschaft vorliegt. E. K. R. [6] Kapitänswitwe. Anmerkungen zur Transkription Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach: F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung: Neunzehnter Band R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1910. Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): Ssemjon (Semjon) Ssergejewitsch (Sergejewitsch) Ssimbirsk (Simbirsk) Walkowskij (Walkowsky) Wanjä (Wanja) Auf Seite 353 wurde das Wort „ишь“ nicht übersetzt und statt dessen als „isch“ transliteriert. Es bedeutet in etwa „da!“ oder „schau!“. An allen anderen Stellen und auch in späteren Ausgaben wurde es sinngemäß so übersetzt. Das letzte Kapitel („Letzte Erinnerungen“) ist sowohl im russischen Original als auch in späteren Ausgaben als „Epilog“ ausgewiesen. Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben und des russischen Originals, sind hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 299]: ... Gedanken hatten: Daß er vollkommen unschuldig. Ja, ... ... Gedanken hatten: Daß er vollkommen unschuldig war. Ja, ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76485 ***