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Vom azurnen Firmament scheidet die Lenzessonne und vergoldet die Zinnen der kleinen Stadt Neubaumbach, deren ebene Dächer einen italienischen Eindruck hervorrufen, wiewohl das Städtchen wie seine Bewohner gut deutsch sind und kaum Einer der wälschen Sprache auch nur annähernd mächtig ist. Brave Leute, fromm und arbeitssam, nur etwas schwatzhaft und stets interessirt für Neuigkeiten. Bis auf das Privathäßle gegen die Bevölkerung des benachbarten Wallfahrtortes, das im Neid ob der gewaltigen Frequenz, des großen Fremdenzuzuges, von dem das Städtchen so gut wie gar nichts profitirt, und der den Städtern vor der Nase vorübergeht, wurzelt, könnte man die Neubaumbacher Bevölkerung musterhafte Leute nennen. Die Altbaumbacher verlachen diesen Haß und Neid, und klimpern mit den harten Thalern im Sacke; sie haben den Nutzen und können daher leicht lachen, wenn auch Altbaumbach nur ein Markt und keine Stadt ist. Von der Stadtwürde beißen die Neubaumbacher nicht viel herunter und ebensowenig von den Wallfahrern, die betend durch das Städtchen ziehen und die Groschen erst in Altbaumbach springen lassen. Fehlen die Wallfahrer auf der Straße, dann herrscht eine wundersame Stille im Städtchen, zumal in alten Zeiten ein fürsichtiger Landesherr durch ein Dekret alle lärmenden Gewerbe vor die zwei Stadtthore schickte, Schmiede, Schlosser u. daher außerhalb der engeren Stadt ansässig sind. Einer der Landesfürsten hätte auch den Wochenviehmarkt und die Schranne hinunter an den Gries verlegt, weil ihn das Blöken des Marktviehes auf der Hauptstraße genirte; allein die Neubaumbacher wehrten sich in Bittgesuchen und wiesen darauf hin, daß Altbaumbach, dessen Fluren die Stadtgrenzen berühren, ohnehin jeglichen Nutzen an sich reiße. Nehme man den Neubaumbachern auch noch die gut zechenden Schrannenbauern und den Wochenmarkt sammt den Viehhändlern, dann würden die Bräuer der Stadt zahlungsunfähig, und der Herzog würde lange auf die Steuergroschen warten müssen. Dies wirkte, und Neubaumbach behielt den vielbesuchten Wochenmarkt, und weil der Getreideboden im Bezirk des Städtchens von besonderer Güte ist, so hob sich die Schranne immermehr, wie denn auch die Getreidebauern oft vierspännig angefahren kommen, um den Neubaumbachern ihren Wohlstand vorzudemonstriren. Ist der Mittwoch als Hauptmarkt vorüber, so wird es so still im Städtchen, daß das Gellen einer Bräuglocke, womit irgend eine Magd die Kellnerin auffordert, heraus zu kommen und die Krüge zur Füllung zu übernehmen, häuserweit zu hören ist und die Leute an die Fenster bringt. Das ist wunderhübsch, denn die Neubaumbacher können auf diese Art genau controlliren, wo die Müllers, Maiers u. s. w. und wie oft sie des Tages über und des Abends Bier holen lassen. Und weil jede Glocke einen anderen Ton hat, so kann man aus dem öfteren Gebrauch genau den Zulauf ermessen; das ist sehr wichtig, denn selbst die Kinder von Neubaumbach wissen schon im zartesten Alter, daß das Bier dort am besten sei, wo der Zulauf am größten ist. Wenn es auf die sechste Stunde des Abends geht, gellen viele Bräuglocken, die nach altväterischer Sitte an der Hausfaçade angebracht sind und deren Klang daher so weit vernehmlich ist. Es ist dies die Hauptstunde für den Abendtrunk, dem dann zwischen acht und neun Uhr der Schlußtrunk folgt. Das Ziehen einer Bräuglocke nach neun Uhr Abends aber würde als Feueralarm aufgefaßt werden; daher besonders durstige Gemüther sich vorher noch genügend verproviantiren, d. h. solche Seelen mit weißer Leber, die ihren Trunk zu Hause einzunehmen pflegen.

Dem lauen Frühlingstag ist ein verklärter Abend gefolgt; die letzten Strahlen umsprühen noch den gothischen Thurm der Stadtpfarrkirche und umzittern die Giebel der Häuser auf der Westseite, die theilweise noch altfränkische Architektonik aufweisen. Die weiche Luft lassen die Neubaumbacher willig durch die geöffneten Fenster ein und freuen sich des linden Frühlingsabends. Stärker als sonst ist daher das Wagengerassel des gegen sieben Uhr durch das eine Stadtthor einfahrenden Postomnibus in den Wohnhäusern vernehmbar, und da dies immer ein Ereigniß zu sein pflegt, so erscheinen stets neugierige Gesichter an den Fenstern, wiewohl die Insassen des Postwagens nicht erkennbar sind. Eben künden die Glocken von den Thürmen Neubaumbachs die Feierstunde, das Ave. Der Postillon aber bläst sein Einzugslied dazwischen, indeß die müden Gäule den gelben Omnibus über das holperige Pflaster schleppen und von selbst die Richtung zum Gasthofe »Zur Post« einschlagen, der inmitten der Hauptstraße gelegen ist.

Der Klang des Posthorns hat auch im alten Hause nahe der »Post«, das dem Rathsgebäude gegenüberliegt, Jemanden ans Fenster gelockt: eine ältliche Frauensperson lehnt sich weit in die Fensterbrüstung, um im Dämmerscheine möglichst viel zu erkennen, wer mit der Post angekommen ist. Braune Zöpfe umschlingen einen ascetischen Kopf, zu dem jedoch die dunklen, ein seltsames Feuer sprühenden Augen nicht passen wollen. Ein schlichtes Kattunkleid umschließt den hageren Körper der Jungfrau, der mit einem Bruder im Werkmeisterhause zurückgebliebenen Tochter der Familie Lugmüller. Zwei Schwestern haben das Elternhaus bereits verlassen und geheirathet. Für das hagere Fräulein, die Werkmeister-Marie, hat die sehnsüchtig erwartete Befreiungsstunde noch nicht geschlagen, um sie hat noch kein Mann geworben, und Jahr um Jahr ist verflossen im stillen Warten. An schüchternen Annäherungsversuchen hat es allerdings nicht gerade gefehlt, aber in der Blüthezeit glaubte Marie auf besser situirte Werber warten zu sollen, auf Männer mit socialer Stellung und wo möglich mit etwas Vermögen, die aber nicht gekommen sind, weil sich bessere Partien fanden. Und jetzt, im Alter von schier dreißig Jahren, würde Marie gerne einen der einst abgewiesenen Freier nehmen, wenn Einer den Gang ins Werkmeisterhaus wiederholen würde. Immer weiter vor hat sich Marie gebeugt im Fenster, so daß ihre Füße kaum mehr den Fußboden berühren. Ihre Neugierde ist aufs Höchste erregt durch den Anblick eines fremden Herrn, der eben den Postomnibus verläßt und, mit einem Tiroler Jägerhut auf dem Kopfe, sich die dunklen Häuser am dürftig beleuchteten Hauptplatz betrachtet. Ein Mann mit einem Tiroler Hute, ein Fremder, der mit der Post vom Ausland kommt, das ist ein großes Ereigniß für Neubaumbach, und Werkmeisters Marie fühlt die Tragweite dieser Begebenheit. Schade, daß die Dunkelheit die Gesichtszüge des Fremden nicht mehr erkennen läßt. Ob der Tiroler noch jung ist? Was er in Neubaumbach wohl will? Blitzähnlich drängen sich diese Gedanken in Mariens Kopfe. Ein schriller Ruf läßt sie zusammenzucken. Im Hintergrund der Wohnstube mahnt Lisi, die alte Köchin und Vertrauensperson im Hause des königlichen Werkmeisters Lugmüller, zum Fensterverschließen, und da Marie nicht gleich hört, wiederholt Lisi ihre Mahnung in verschärfter Weise: »Mach' doch das Fenster zu, Marie! Ist doch keine Manier, nach Gebetläuten noch im Fenster zu liegen und sich noch dazu so weit hinauszubeugen! Wer wird sich solche Freiheiten herausnehmen! Ein anständiges Mädchen sicher nicht!«

Klirrend schlägt die ob solcher Strafrede geärgerte Marie das Fenster zu und schnippisch erwidert sie:

»Laß' mich doch mit denn›Freiheite‹ in Ruh'! Kaum mehr schnaufen darf man am offenen Fenster! ›Freiheiten, es ist zum Lachen! Was haben sich die andern Schwestern für ›Freiheiten‹ herausgenommen und jede hat einen Mann gefunden! –«

»Ja, aber was für welche! Gott sei's geklagt!« klagt das Hausfactotum.

»So, so! Hat sich die Line vielleicht zu beklagen? Die wird wohl auskömmlich genug versorgt sein, hat ein Haus, einen fleißigen Mann und die besten Aussichten, einmal zu Vermögen zu gelangen!«

Abweisend versetzt Lisi: »Ach, geh doch! Beim Pferdebeschlagen wird man nicht reich und vom Schlüsselmachen auch nicht!«

»Das wie ist völlig Nebensache!« opponirt Marie, des ewigen Schulmeisterns satt.

»Das ist ja recht hübsch! Schöne Ansichten das! Und zum Erwerb solcher Grundsätze hat man Dich im Kloster erziehen lassen! Schade um jeden Groschen! Ein schönes Erziehungsresultat, fürwahr!«

Dem unerquicklichen Disput macht der Ruf einer weiblichen Stimme aus dem Nebengelasse ein Ende. Dort ruht die blinde Frau Lugmüller im Lehnstuhl, die in Folge ihrer Augenerkrankung zu ständiger Unthätigkeit verurtheilt ist und die Tage trauernd und betend im Sorgenstuhl verbringt. Die Matrone im silberweißen Haar fragt mit zitternder Stimme, was denn der Streit im Wohnzimmer zu bedeuten habe?

Marie tritt ins Gelaß, gefolgt von Lisi, die eben Antwort geben will, als die Tochter sagt: »Ist nur unnützes Gerede, Mutter! Die Lisi hat mir das Fensterschauen verboten; nach ihrer Meinung gehört ein Mädel nach Gebetläuten nicht mehr ans Fenster! Ist wirklich lachhaft! Als wenn ich noch kurze Röckchen tragen würde!«

In ihrer ruhigen Weise mahnt Frau Lugmüller, die seit Beginn ihres Augenleidens immer die Geldbörse in Händen hält und sich selbst im Bette davon nicht trennt, zum Frieden im Hause: »Die gute Lisi hat ganz Recht! Und ihr darfst Du nichts verübeln! Sie hat Dich wie die andern Kinder ja noch im Lockkleiderl herumgetragen und mir treulich geholfen, Euch aufzuziehen! Was sie sagt, ist sicher ehrlich gemeint! Das merke Dir! Uebrigens mache Licht im Wohnzimmer, Marie! Der Vater wird bald heim kommen, und bei Lampenschein sein Gläschen Tiroler trinken wollen! Du weißt, er liebt Ruhe und Frieden im Hause!«

Die blutleeren Lippen trotzig aufgeworfen, geht Marie in die Wohnstube zurück, um die Hängelampe in Brand zu setzen. Lisi aber nimmt jetzt das Wort: »Das muß ich sagen, so müssig war die Marie nie! Was das Mädel nur hat? Sollte sie männersüchtig geworden sein? Bei dieser sorgfältigen Erziehung sollte das doch unmöglich sein! Und dann welcher Jammer, wenn die Ruhe des alten Herrn durch ungebührliches Betragen gestört würde! Das ist ja noch ein Lichtblick in unserem Leben: dieser pflichttreue, herzensgute, wackere Ehrenmann mit seinen bescheidenen Ansprüchen, mit einer Pünktlichkeit, wie sie selten zu finden sein wird!«

Beifällig nickt die Greisin und fügt hinzu: »Ja, so ist es! Gott sei's gedankt und dem heiligen Aloisius! Des Herrn mustergiltiger Lebenswandel hat auch meinen geistlichen Herrn Onkel mit derseinerzeitigen Eheschließung, die nicht nach seinem hochwürdigen Geschmack gewesen, wieder versöhnt! Damals wollte er vom Baugehilfen freilich nichts wissen und drohte mir mit Enterbung!«

Mit den Händen unruhig umherfuchtelnd fällt Lisi der Matrone ins Wort: »Das wär' noch schöner! Hat der Herr es vielleicht nicht weit genug gebracht? Ist das vielleicht keine Carrière: königlicher Werkmeister!? Und hochgeachtet von Alt und Jung in der ganzen Stadt! Das ganze Wasser- und Landbauamt ist keinen Pfifferling werth, wenn Herr Lugmüller nicht drinnen arbeiten würde! Das kann man aller Orten hören! Der Herr aber rackert sich ab und kriegt doch keinen Dank!«

»Ja, ja! Aber daß ich nicht vergesse, hast Du, Lisi, den Abendtrunk schon geholt?«

»Nein, Frau! Ihr habt mir ja auch noch kein Geld dazu gegeben!«

Seufzend öffnet Frau Lugmüller die Börse und tastet mit den Fingern die einzelnen Geldstücke ab, um im Greifen mangels Augenlichtes den Werth zu erkennen: »Ja, ja! Immer nur Geld! Wo nur immer hernehmen! Das Bier holst beim Oberbräu; die dortige Glocke höre ich am häufigsten. Zwei Maß werden wohl langen, nicht Lisi?«

»Es kommt ja nur auf Sie an, Frau! Ich krieg' seit bald vierzig Jahren alle Abend meine Halbe; die Marie trinkt lieber Wein und ob der Alphons seinen Abendtrunk im Hause nimmt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hockt er überhaupt im Wirthshaus. Zwingen Sie, Frau, denn noch eine Maß?«

»O du lieber Himmel! Wie sie mit mir armen, blinden Person umspringen! Statt Mitleid, neiden sie mir gar noch den Schluck Bier am Abend, wo ich doch rein gar nichts mehr vom Leben habe!«

»Aber Frau, wer redet denn vom neiden oder nicht vergönnen! Frau vom Haus sind doch alleweil noch Sie! Also schaffen Sie an! Ich bitt' dann bloß um zwölf Kreuzer!«

»Allweil Geld, den ganzen Tag immer Geld hergeben! Hast Du, Lisi, nicht auch gemeint, es wird einfacher, billiger im Hause, wie die Pepi und Line ausgeheirathet haben? Ich spür' wahrhaftig nichts davon!«

»Wär' auch ein Wunder! Wie soll's denn anders werden, wenn der nichtsnutzige Alphons an der Suppenschüssel kleben bleibt! Und an die Pepi wandern die Kisteln auch oft gleich mehrmals in der Woche! Und was die Marie in die Klöster schleppt, ist auch nicht wenig! Der Herr schränkt sich aufs Aeußerste ein, aber bei diesen Hausausgaben nützt das gar nichts!«

»Ja, Lisi, Du hast Recht! Ich werde doch wieder ein paar Kerzen für den Gnadenaltar in Altbaumbach stiften; vielleicht kommt der Alphons dann doch irgendwo unter und hilft dann dem Vater mit verdienen! Da, Lisi, hast die zwölf Kreuzer! Sag' aber dem Schenkkellner, er soll ordentlich christlich füllen, sag', es gehöre für uns, und wir wären eine gut katholische Familie!«

»'s ist schon Recht, Frau!« versichert Lisi, und brummt im Abgehen vor sich hin, daß sich der Schenkkellner sicherlich nicht einen Pfifferling um die Confession der Familie kümmern werde. Ueberhaupt ist's ein Jammer; der Herr kann sich im Dienst schinden, und die Andern leben grad nobel! Wenn das nur gut ausgeht!

Im Wohnzimmer hat unterdessen Marie beim Lampenlicht eine Häkelarbeit begonnen, und das Gespräch im Nebengelaß, das durch die offene Thür deutlich vernehmbar war, völlig ignorirt. Nach Lisi's Abgang ruft nun Mütterchen nach der Tochter, und bittet um Geleit in die Wohnstube, wohin Marie auch den Lehnstuhl stellen solle. Ein giftiger Blick fliegt auf die hilflose, blinde Matrone; doch gehorcht die Tochter und schleppt den Stuhl an den Tisch, worauf sie Mütterchen an der Hand führt und zum sitzen bringt. Wie um sich über die nächste Umgebung zu orientiren, tastet Frau Lugmüller alles im Bereich ihrer Hände ab und dann erst lehnt sie sich zurück, krampfhaft die Geldbörse festhaltend. Nach einer Weile fragt die Greisin: »Marie, ist mit dem heutigen Omnibus Jemand Bekanntes gekommen?«

»Ich hab' nichts gemerkt; es war auch schon zu dunkel. Bloß einen Herrn mit einem Tiroler Hut hab' ich gesehen!«

»Mit einem Tiroler Hut, sagst Du? Wer kann das sein? Ach ja! Ich erinnere mich; neulich sprach ja die Actuarin, als sie mich besuchte, davon, daß die Firma Dispecker & Motil einen neuen Magazinier aus Tirol bekommt. Soll ein besonders christlicher Mann sein, dieser Tiroler! Wo er sich wohl einmiethen wird? Meinst Du nicht auch, daß wir den zweiten Stock vermiethen könnten, der jetzt leer steht? Die Pepi schreibt so immer einen Jammerbrief nach dem andern, daß sie nicht auskommt, weil der Gehalt ihres Mannes gar so klein sei. Aber freilich, just diesen Habenichts hat sie sich eingebildet, und jetzt schaut die Noth zu allen Löchern heraus! Aber geheirathet hat sein müssen! Wenn da noch mehr Kinder kommen, dürfen wir die ganze Sippschaft noch ernähren! – Wenn der Tiroler das Stockwerk nehmen würde? Ein Paar Zimmer könnten wir möbliren, und den Rest er selber, meinst nicht auch? Eine Zubuße wär's!«

»Meinetwegen! Soll eben der Vater mit Dispecker & Motil reden, und die Wohnung anbieten.«

»Ja, das soll der Vater morgen gleich in der Früh besorgen, sonst schnappt den Tiroler wer anderer weg! Mein Gott, die Leute sind ja hier so viel hungrig und neidisch! Gescheidter wär's freilich, wenn Du selber zu Dispecker & Motil gehen würdest; aber Du hast ja morgen ohnehin schon so viel zu thun! Zuerst die hl. Messe bei den Capucinern, dann singst Du in der Stadtpfarrkirche beim Hochamt; hernach gehst hinüber nach Altbaumbach und wohnst der Messe am Gnadenaltar an für mich arme, blinde Person. Ich selber kann ja leider Gottes nicht mehr in die Kirche gehen! Auf dem Rückweg gibst Du dann bei den Franciscanern das Kistchen Cigarren ab und sagst, Hochwürden Pater Cosmas soll sie rauchen und im Gebete meiner gedenken.«

»Alles ganz schön, Mutter! Aber wenn ich das alles ausführe, wird es spät werden, und ich komme zum Mittagstisch nicht mehr rechtzeitig heim.«

»Das hat nichts auf sich; die Lisi soll Dir nach Heimkunft ein Schnitzl extra kochen. Zum »Rosenkranz« gehst Du dann zu den Englischen Fräulein; vergiß aber nicht, mir von der Schwester Pförtnerin etwas Quitten und Liqueur mitzubringen; falls die Oberin etwas gebrauchen sollte, sichere unsere Unterstützung für alle Fälle zu. Auch übergebe der Schwester Angelica einen Thaler für etwaige Privatbedürfnisse, jedoch heimlich; dafür soll sie bei der Matutin nicht vergessen, zur hl. Ottilie für mein Augenlicht ein Gebet zu verrichten. Zur Litanei gehst Du hernach zu Sct. Bonifaz, und übergibst dem Cooperator nach Beendigung des Gottesdienstes das in meiner Schlafstube auf der Commode liegende Paquet Lotzbeck Nr. 2; der liebe Herr schnupft diese Sorte so gerne. Auch bitte ihn, eine Messe am Altar des hl. Augustin zu lesen; dieser Heilige und die hl. Ottilie sind kräftige Schutzheilige für Augenleidende. Und weil auch die Fürsprache des hl. Bartholomäus so viel gut ist für die Augen, bestellst in der Stadtpfarrei eine hl. Messe am Bartholomäusaltar. Hernach machst noch einen Sprung zur Schwester Line, und sagst ihr, sie solle sich häufiger in der Kirche sehen lassen; es klagten mir schon mehrere Geistliche, daß die Schmiedin im Kirchenbesuch nachlasse und auch nicht mehr beim Opfergang zu sehen sei.«

»Aber, Mutter! In ihrem Zustand kann die Line doch überhaupt nicht mehr ausgehen!«

»Larifari! Ein Viertelstündchen in der Kirche –«

»Und wenn ihr just in dieser Viertelstunde etwas passirt, worauf jede Stunde gewartet wird – was wohl der geistliche Herr Onkel dazu sagen würde?«

»Jesses! Du hast Recht, Marie, das wär' schrecklich! Er könnte uns enterben und ein anderes Testament machen! Die Köchin vom geistlichen Herrn Onkel ist ohnehin auf ihren Vortheil erpicht. Wenn die Jungfer Thres den hochwürdigen Herrn Onkel noch aufhetzt, dann nimmt er die Geschichte, die der Vater neulich angerichtet hat, wirklich auf die Dauer krumm.«

»Welche Geschichte?«

»Na ja, Hochwürden der Herr Onkel hat erfahren, daß der Vater neulich in Bergheim war und ihm keinen Besuch abgestattet hat. Die Jungfer Thres hat sogar durchblicken lassen, daß es im Pfarrhof mißliebig empfunden worden sei, daß der Vater nicht auch gleich seiner österlichen Beichtpflicht nachgekommen sei, wiewohl die geistlichen Herren in den Beichtstühlen anwesend waren.«

»So? Hat denn der Vater so viel freie Zeit gehabt?«

»Wo der geistliche Herr Onkel in Frage kommt, muß man zu allem Zeit haben, von wegen des Testamentes.«

»So viel mir bekannt, ist der Vater damals aber gar nicht allein in Bergheim gewesen! Er ist zu Fuß krachmüde angekommen, und sofort vom Bauamtmann zur Flußcorrection geschleppt worden, worauf Papa wieder zur Straßenrevision nach Heubach mußte. Wie er da noch Zeit hätte finden sollen, eine österliche Beichte abzulegen, ist mir nicht erfindlich! Er hat ja nicht einmal Zeit gehabt, ein Glas Bier zur Stärkung zu sich zu nehmen! Papa hat mir's am späten Abend geklagt, daß er ohne Nahrung über vierzehn Stunden zu Fuß unterwegs gewesen sei! Ich begreife überhaupt nicht, daß der Vater nicht mehr Fuhrwerk benützt; er hat doch Diäten dafür!«

»Das fehlte uns noch! Der Haushalt verschlingt den Gehalt sammt Diäten! Also muß der Vater alle Streckenrevisionen zu Fuß erledigen! Wenn nur der geistliche Herr Onkel nicht auf die Dauer verstimmt bleibt; mir bangt um die Geflügelsendungen im Herbst, die sicher ausbleiben, wenn Hochwürden der Herr Onkel uns zürnt. Ja, was ich noch hab' sagen wollen: für die Stickerei für die ›Englischen‹ verlangst Du nichts, und sagst, es wäre Dir eine Ehre gewesen!«

»Was? Für meine mühsame Arbeit soll ich nichts erhalten?! Wär' nicht übel! Von was soll ich mir denn mein neues Sommerkleid kaufen? Es pressirt so schon arg, und ich habe noch nicht einmal den Stoff im Hause!«

»Laß nur gut sein, Marie! Der Vater soll um eine Halbe weniger trinken, auch braucht er nicht jeden Tag eine halbe Flasche Tiroler. Wir sparen das ein, und den Stoff nimmst bei Dispecker & Mottl auf Jahresrechnung. Sag' nur, der Vater hätte es gesagt, und werde auf Neujahr zahlen. Bis dorthin haben wir den Betrag schon eingespart! Da hast Du übrigens einen Gulden; den gibst der Schleicher Kathi und sagst, sie soll von Christi Himmelfahrt an jeden Freitag drei schwarze Wetterkerzen am Eingang der Gnadencapelle in Altbaumbach anzünden und ausbrennen lassen!«

»Wozu denn grad schwarze Kerzen?«

»Frevle nicht und zeige Dich nicht ungläubig! Schwarze geweihte Kerzen verhüten Blitzschlag und Feuersgefahr für das Haus dessen, der in frommer Meinung die Kerzen kauft und brennen läßt.«

»Und gleich für einen ganzen Gulden soll ich Kerzen kaufen?«

»Untersteh' Dich! Du kaufst selber gar nichts! Du gibst der Schleicher Kathi lediglich den Gulden, das Weitere wird schon sie besorgen.«

»Ja, aber wie controlliren wir, ob sie auch wirklich für einen ganzen Gulden Kerzchen kauft und verbrennt? Sie kann uns da doch ganz bequem beschummeln, Mutter!«

»Das wird sie nicht thun; sie ist eine fromme, von der hochwürdigen Geistlichkeit empfohlene Person!«

»Wenn sie aber doch bemogelt?«

»Laß' doch diese abscheulichen, unchristlichen Ausdrücke weg! Die fromme Meinung ist die Hauptsache, und nur darauf wird im Himmel gesehen!«

Inzwischen hat Lisi die Humpen mit dem Abendtrunk gebracht und auf den Tisch gestellt mit der Mittheilung, daß der »Herr« gleich nachkommen werde. Er spricht nur noch unter den Lauben mit dem Actuar.

»So? Dann müssen wir uns beeilen. Weißt was, Lisi! Stell' mir den einen Krug in mein Zimmer; ich trinke ihn dann vor dem Schlafengehen leer. Mein Gott, als blinde Person habe ich so nichts mehr auf der Welt, als das bisserl Bier!« klagt die Matrone elegisch.

»Ja, was sind denn das für Neuerungen, Frau? Seit wann darf denn der Herr Werkmeister das Bier auf dem Familientisch nicht mehr sehen?«

»Wir müssen uns einschränken!«

»So, das nennen Sie einschränken? – – Na, mir kann's recht sein!«

Im selben Augenblick tritt Herr Lugmüller in die Stube. Gutmüthig und liebevoll wie immer begrüßt der alte, eingetrocknete, von Wind und Wetter im Gesicht stark gebräunte Herr seine Frau und Tochter, und hat auch für die treue, alte Magd ein freundliches Grußwort. Mit minutiöser Genauigkeit stellt er den Stock an den gewohnten Platz, hängt Rock und Hut an die bestimmten Haken, und meint dann: »Liebe Lisi, willst Du mir nicht mein Schöppchen Rothen aus dem Keller bringen?«

Im Portemonnaie mit den Fingern wühlend scheint die Matrone nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben, denn sofort äußert sie auf diese Bitte: »Lieber Alter! Ich muß Dir leider die unangenehme Mittheilung machen, daß Du Deinen Weinconsum etwas einschränken mußt! Die Ausgaben werden zu groß; wir können bei den Anforderungen an unsere schmale Kasse diesen für unsere Verhältnisse zu großen Luxus nicht länger treiben! Du lebst denn doch zu üppig für Deine alten Tage! Des Abends drei Halbe Bier und dazu noch eine Flasche Tiroler, das geht nicht mehr!«

»Aber, Frau! Schau, den ganzen Tag nehm' ich keinen Tropfen zu mir, und drei Halbe sind für einen Mann doch wahrlich nicht zu viel!«

»Davon ist auch nicht die Rede! Aber der Wein darauf, der ist überflüssig, und auf diesen wirst Du verzichten müssen!«

»Muß ich das?«

»Ja, Vater! Wir würden in Schulden gerathen! Dein Gehalt ist zu klein, unser Vermögen steckt in dem unverzinslichen Haus, die Kinder kosten viel Geld und für unsere religiösen Bedürfnisse bleibt so fast gar nichts übrig!«

»Wenn es sein muß – ich will gewiß nicht zum ›Schlemmer‹ werden! Aber heute, zum letztenmale, möchte ich schon noch ein Schöpplein haben!«

»Na, meinetwegen!«

Wortlos vor Ueberraschung hat das alte Hausfactotum diesem Dialog gelauscht; Lisi steht wie versteinert, und erst auf die erneute Bitte des alten Herrn kommt Leben in sie. »Gleich, Herr, soll das Schöpperl da sein! Aber – nein so was! – Frau, was soll denn dann mit den hundert Flaschen geschehen, die noch im Keller lagern? Wenn sie der Herr nicht leeren darf, sollen wir sie auslaufen lassen oder verkaufen?«

»Was noch da ist, wird der Herr an Sonn- und Feiertagen je eine Flasche trinken, und neuer Vorrath wird nicht mehr eingelegt. Geh jetzt, Lisi, und hol' dem Herrn den Schoppen!«

Kopfschüttelnd geht die Magd. Mit eingekniffenen Lippen lehnt Marie im Stuhle, eine Beute widerstrebender Gefühle. Stets auf Mutters Seite stehend aus kluger Berechnung, schmerzt es die Tochter doch, daß beim seelensguten Vater eingespart werden solle. Und was man dem alten Herrn entzieht, wandert ja doch als Tabak oder sonst etwas in die Klöster. Schon wollen sich Worte des Widerspruchs zu Gunsten Papa's über ihre Lippen drängen, aber Marie beißt die Zähne zusammen. Die Sommertoilette heißt sie schweigen.

Wehmüthig zusammengekauert sitzt der alte Herr am Tische und schützt die müden Augen durch die vorgehaltene Hand vor dem grellen Lampenlicht. Er ein Verschwender, der durch seinen Luxus die Familie ruinirt! Und bisher, mehr als dreißig Jahre hindurch war er bestrebt durch ein peinlich geregeltes, sparsames Leben die Existenz seiner Familie sicher zu stellen. Ueber ein Vierteljahrhundert lang hat er bedürfnißlos gelebt, nie mehr als das Deputat getrunken, täglich nur eine Cigarre geraucht, niemals Schulden gemacht! Sogar die Hypotheken auf dem Hause sind allmählich abgetragen worden; was noch steht, ein kleiner Rest, wird pünktlichst verzinst, und, wenn Gott ihn am Leben läßt, auch noch getilgt werden. Und dennoch Schlemmer! – Wahr muß es sein, weil die besorgte Gattin es sagt. In Gottes Namen soll's geschehen; es geht ohne Wein auch.

Wie nun der von Lisi heraufgebrachte Wein vor ihm steht und Herr Lugmüller den ersten Schluck zu sich nimmt, däucht ihm der sonst so gute Röthel zu Essig geworden.

Stumm bleibt die kleine Familie im Kreise; jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis nach einer langen Pause Mutter fragt, ob Vater denn auch trinke; sie höre nichts von Gläserklirren! Es wäre auch schon Schlafenszeit! Das Lampenöl koste auch Geld, und in einem christlichen Hause soll alles um zehn Uhr zu Bette sein. Die Nacht sei des Menschen Feind!

Die Verbitterung hinunterkämpfend wünscht der alte Herr mit leise zitternder Stimme »geruhsame Nacht mitsammen!« und zieht sich in seine Schlafstube zurück.

Kaum ist die Thüre geschlossen, heischt die Matrone die Tochter den versteckten Krug holen und sagt, Marie solle den vom Vater übrig gelassenen Wein austrinken.

Und Marie meint, dem Papa hätte es doch recht wehe gethan –.

»Larifari! Einmal hat es gesagt werden müssen, der Anfang muß gemacht werden!«

»Wenn aber Papa am nächsten Gehaltstag Dir nicht das ganze Geld übergibt wie bisher, wenn er etwas für sich zurückbehält und sein Schöppchen künftig im Gasthause trinkt –«

»Soll's nur probiren! Wenn ich auch blind bin, einer solchen Lumperei sehe ich doch scharf auf die Finger! Das gibt es nicht! Aber halt – auf den Tiroler haben wir vergessen! Klopf' den Vater nochmal raus, Marie, und sag' ihm, was wir besprochen, zur Thür hinein! Er soll morgen gleich in der Früh bei Dispecker & Mottl vorsprechen!«

Geduldig nimmt der gute, alte Herr auch noch diese Störung hin, und verspricht nach Wunsch vorzugehen.

Spät erst läßt sich Frau Lugmüller in ihr Gemach führen, wo sie noch eine Weile mit Marie wegen der Commissionen für den morgigen Tag verhandelt. Wie die Uhr vom Rathhause die Mitternachtsstunde verkündet, erlischt das letzte Licht im Lugmüller'schen Hause.

*

Ist das ein Spektakel! Mit dem Aufräumen in den verschiedenen Zimmern beschäftigt, ist Lisi auch in das Gelaß des jungen Lugmüller gekommen, und hat dessen Bett unberührt vorgefunden. Alphons, der Tagdieb ist nicht heimgekommen; der Taugenichts hat die ganze Nacht auswärts verbracht. Ein Scandal sondergleichen für ein christliches Haus! Eine Schande für die Familie und für die ganze Stadt! Wie es nur möglich ist, eine lange Nacht im Wirthshause zu verbringen! Oder noch schlimmer, falls er am Ende gar – – –. Lisi zetert, daß es durch das ganze Haus gellt. Und bald darauf schreit auch die Matrone, welcher der eben heimgekommene Sohn das Geldtäschchen entreißen will, da sie ihm nicht gutwillig mit einigen Thalern beispringen wollte. Schrill klingen die Hilferufe der blinden Frau durch das Haus. Lisi stürzt entsetzt herbei, und stößt den jungen Burschen zurück, keifend und schreiend über diese unerhörte Schandthat. Alphons jedoch brüllt Lisi an, daß sie als Dienstbot' gar nichts drein zu reden habe, und verläßt das Haus aufs Neue, nachdem er noch rasch die goldene Uhr der Schwester zu sich gesteckt hatte.

Lange währt es, bis Lisi sich soweit beruhigt, um die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen zu können. Welche Schmach für ein christliches Haus! Wenn das in Neubaumbach bekannt wird, ist's um den Ruf der Familie geschehen! Der arme gute Herr! Wie muß ihn dieses Lumpenleben des verlotterten Sohnes schmerzen!

Im Zimmer Mariens entdecken Lisi's scharfe Augen alsbald das Fehlen der goldenen Taschenuhr. Sollte Marie selbe mitgenommen haben? Das ist an Werktagen noch niemals der Fall gewesen. Zum Kirchenbesuch braucht man das lasterhafte Schmuckzeug nicht. »Jesus Maria!« schreit Lisi, von einer schrecklichen Ahnung erfaßt. Und alles liegen und stehen lassend, hastet sie zur geldzählenden blinden Frau. »Hat Marie heute ihre Uhr mitgenommen? Doch halt, Sie können dies ja nicht gesehen haben.«

»Was ist's mit Mariens Uhr?«

»Sie ist fort! Und ich fürchte: Alphons, der Lump, hat sie gestohlen, um Geld daraus zu schlagen.«

»Um Jesu willen! Das ist unmöglich!«

»Er wird die Uhr versetzt haben!«

»Die Schande wär' entsetzlich! Lauf' doch gleich zum Goldarbeiter und löse sie wieder ein! Sag' dem Obermayr was Du willst, nur bring' die Uhr wieder!«

»Ja, gleich! Aber geben Sie mir Geld zum einlösen!«

»Ich kann das nicht so schnell abzählen mit den Fingern! Ach ist Blindheit doch was schreckliches!«

»So geben Sie mir das Portemonnaie, Frau! Ich werde rasch zählen!«

»Nein, nein! Die Geldtasche kommt nicht aus meinen Händen!«

»Aber mir, der alten Lisi, die so lange in Treue bei Ihnen dient, können Sie doch die paar Thaler anvertrauen!«

»Geh aus, hol' die Uhr, und frage, was dafür zu zahlen ist. Mittlerweile werde ich das Geld schon aufgezählt haben! Lauf', Lisi!«

Allein zurückgeblieben im menschenleeren Hause flüstert die Matrone ein Gebet, auf daß der Himmel sich des verstockten Sohnes erbarmen möge. Und zugleich gelobt Frau Lugmüller, drei Messen zur Sühne lesen zu lassen. Dann zählt sie das Baargeld, und häuft die Münzen thalerweise aufeinander.

Was der Goldarbeiter gesagt habe? fragt die alte Frau die wieder zurückgekehrte Magd.

»Eine schöne Bescheerung das! Gelacht hat er und gespottet! Es geschehe uns ganz Recht, wenn der Sohn solche Streiche macht! Wir sollen ihn nicht so knapp halten und ihm mehr Taschengeld geben, dann wird er wohl die Schmucksachen der Schwester unangetastet lassen! So hat er gesagt, und recht malitiös dazu gelacht! – Da ist die Uhr, und der Goldarbeiter bekommt fünf Thaler, die er dem Lumpen darauf vorgestreckt hat!« stottert Lisi aufgeregt heraus.

»Fünf Thaler! Mich trifft der Schlag!«

»Mich auch, Frau!«

»Ein kleines Vermögen! Einsparen will ich, und dann kommen solche Extraausgaben! Gräßlich! O heiliger Aloisius, erbarm' Du Dich des von Gott verlassenen Sohnes!«

»Mit Verlaub, Frau! Ich meine, es wäre besser, wenn Sie auf den heiligen Aloisius weniger rechnen, dafür den Taugenichts in eine Anstalt geben würden. Jetzt ist der Lump bald zwanzig Jahre alt; wo er in der Lehre war, überall ist er entweder durchgegangen, oder davon gejagt worden. Ein Früchtel durch und durch! Den Lumpen seh' ich noch am Galgen!«

»Um Gottes willen, Lisi! Sag' doch so was nicht!«

»Es ist aber wahr! Und wer ist Schuld? Niemand anderer als Sie selber, Frau! Von klein auf haben Sie dem Buben immer die Stange gehalten, ihm alles zugesteckt, zu Heimlichkeiten angehalten! Für jeden Kirchengang hat der Bub eine Geldbelohnung bekommen, und ich wette meinen Kopf, daß der Gauner sich stets die Kirche von außen angesehen hat! Seine schlechten Schulnoten haben Sie vertuscht, den Katecheten abgeschmirt, kurz, ein richtiges Muttersöhnchen daraus gemacht! Jetzt ist er arbeitsscheu, ein Tagdieb, ein Lump, der zu den schönsten Gerichtserwartungen berechtigt! Da hilft das Beten nichts mehr! Eine Correctionsanstalt wäre besser!«

»Aber Lisi!«

»Es ist ja wahr! Geben Sie mir jetzt die fünf Thaler für den Goldarbeiter!«

»Ach Gott, das auch noch! Wie das Geld doch fortrinnt!«

Und seufzend schiebt die Blinde die Summe der Lisi über den Tisch.

»Frau, das Marktgeld muß ich auch noch bekommen!« mahnt die Köchin.

»Ja, leider! Hier noch ein Thaler! Und für die Marie kaufst ein Kalbsschnitzel extra!«

»So, muß die Gans schon wieder was extriges haben? Der alte Herr kriegt jahraus jahrein bloß das zähe Rindfleisch; die Tochter aber – na ja, nur so fort!«

»Aber schau, Lisi! Die Marie kommt ja erst nach zwölf Uhr vom Kirchengang heim!«

»Die könnte zur gewöhnlichen Mittagsstunde genug und ausgebetet haben! Aber mit lauter Kirchenrennerei und Klosterbesuchen muß die Zeit vertrödelt werden; zu einer ordentlichen Hausarbeit ist das Mädel nie zu haben. Für Extrakocherei aber hat man das Geld! Dem alten Herrn aber vergönnt man das Schöpperl Wein nicht! Das ist mir auch die rechte Wirthschaft! Werden's schon sehen, wohin das führt. Adje, Frau!« Und die alte Lisi rauscht zornglühend in die Küche, und begibt sich sodann auf den Markt.

Groschen zählend sitzt die blinde Werkmeisterin in ihrem Stübchen, und murmelt vor sich hin, wie scharf doch die Lisi in ihren Aeußerungen ist, und wie unangenehm sich ihre Bemerkungen anhören. Wäre sie nicht schon so lange im Hause, eine musterhafte Person sonst in Allem und Jedem, unentbehrlich, weiß Gott, man müßte ihr den Dienst kündigen. Aber eine neue Person, nein, das geht nicht! Eine fremde Magd betrügt sicher, und als blinde Frau kann die Werkmeisterin eine Controlle gar nicht ausüben. An ein Einarbeiten in die eigenartigen Verhältnisse ist auch nicht zu denken. Und dann hat ja die Lisi doch auch einen Theil ihrer Ersparnisse hergegeben, damit der Vater rascher mit der Ablösung der Haushypotheken fertig würde. Es geht wirklich nicht, der Lisi zu kündigen. Man muß bloß froh sein, wenn nicht sie selber eines Tages kündigt und ihr Geld verlangt.

Zu Mittag Punkt elf Uhr nach althergebrachtem Brauch ist der alte Herr heimgekommen, und hat die Neuigkeit mitgebracht, daß der neue Magazinier bei Dispecker & Mottl die Wohnung im zweiten Stockwerk miethet. Die Chefs haben ihm selbe so warm empfohlen, daß der Tiroler auf eine Besichtigung der Wohnung verzichtet. Nur mochte er sofort einziehen, um die Gasthofrechnung zu ersparen. Ihm genüge einstweilen das vorhandene Mobiliar der Familie; später werde er schon die Ergänzung vornehmen nach Maßgabe seiner Verhältnisse.

Von dieser Mittheilung ist Frau Lugmüller hoch befriedigt, und im Stillen gelobt sie abermals eine Kerze.

Warum denn die Marie nicht am Mittagsmahle theilnehme, fragt der Vater, und wischt den zinnernen Teller gewohnheitsmäßig nochmal ab.

Sie habe noch verschiedene Commissionen zu besorgen, werde später heimkommen, und hinterher zu Mittag essen.

Und der Bub?

»Ja, Alter, da mußt schon Du einmal ein energisches Wort drein reden! Der Bub geht seine eigenen Wege, und ich als arme, alte, blinde Frau bin dem lüderlichen Burschen nicht mehr Herr! Außerdem bin ich auch nicht im Stande, seine fortwährenden Geldansprüche zu befriedigen! Sieh doch Du zu, den Alphons endlich wo unterzubringen. Wenn nicht anders, so als Arbeiter beim Bauamt! Etwas muß der Bursch ja doch thun! O Gott, was ich seinetwegen schon gelitten und gebetet habe!«

»Ich meine, wenn Du in der frühen Jugend ein klein wenig mehr energisch gewesen wärest –«

»Was, Vorwürfe gegen mich! Bin ich nicht unglücklich genug, blind –«

»Nu, nu, Mütterchen! Ich meine es ja nicht so schlimm! Nur nicht gleich so heftig! Ich werde schon sehen, was sich machen läßt. Der Polier wird den Burschen schon nehmen, wenn ich ihn darum bitte. Freilich, die Zukunft meines Sohnes habe ich mir etwas anders gedacht!«

»Ich auch! Aber auf mich hat man ja nicht gehört! Natürlich, was bin denn ich im Hause: ein lästiges Anhängsel, blind und betrogen! Der geistliche Herr Onkel hat ganz Recht: es ist die Strafe Gottes, die mich ereilte, ich bin das Opferlamm für Eure Sünden!«

»Aber, Frau! Laß doch solche Reden! Es wird schon recht werden! Noch bin ich rüstig, kann verdienen! Und ich thue es ja gern und freudig! Alles für meine Familie, bis zum letzten Athemzuge! – Aber alle Tage Sauerkraut wird doch etwas zu viel sein des Guten, meine ich, was?«

»Nützt Dir nichts, Alter! Wir müssen uns einschränken, und Kraut ist jetzt noch immer das billigste Gemüse. Neue Kartoffeln und Junggemüse wären freilich zu haben, aber das verschlingt zu viel. Wir werden auch den Braten am Abend streichen müssen: es thut's Käse und Schwarzbrot auch, und gelegentlich eine sauergedünstete Euter!«

»Wenn es sein muß, in Gottes Namen! Hoffentlich verträgt's der Magen! So, nun gesegnete Mahlzeit! Ich gehe wieder ins Amt, und dann auf Straßenrevision über Land. Leb' wohl, Mutter, und bleib' gesund!«

»Leb' wohl! Und vergiß nicht, Dich mit Weihwasser zu besprengen, auf daß der böse Feind keine Gewalt habe über Dich. Sei aber auch sparsam unterwegs: das ofte Einkehren unterwegs ist von übel für die Gesundheit und den Geldbeutel!«

Mit einem leisen Lächeln auf den müden Lippen verläßt der diensteifrige alte Herr das Haus.

*

Während der Siestastunde wird an Lugmüller's Hause die Glocke gezogen, deren lauter Schall durch alle Gemächer dringt, und die Matrone aus dem Halbschlummer weckt. Lisi, ärgerlich von der Spülarbeit weggerufen zu werden, öffnet, und beguckt sich den höflich nach Lugmüllers fragenden Herrn mit ihren durchdringenden Augen.

»Ich bin der neue Miether vom zweiten Stock!« fügt der in den vierziger Jahren stehende Herr hinzu.

»So, so! Guten Tag auch! Sie sind wohl der Tiroler, den wir ins Haus kriegen sollen?«

»Ja, ich bin Tiroler und Magazinier bei Dispecker & Mottl! Kann ich die Herrschaften sprechen? Ich möchte nämlich gleich die Zimmer beziehen, und habe nur die eine Stunde Zeit. Sie wissen ja, wir Geschäftsleute sind gebunden!«

»Der Herr ist schon ins Amt gegangen; aber Frau Lugmüller wird ihr Schläfchen wohl beendet haben. Sie müssen auch gleich erfahren, daß die alte Frau blind ist. Einen Augenblick, Herr Tiroler!«

»Ich heiße Joseph Leisetritt!«

Unwillkürlich richtet Lisi ihre Augen auf das Pedal des Tirolers; ein spöttisches Lächeln huscht über ihre welken Lippen und blitzartig zieht der Gedanke durch ihren alten Kopf, daß dieser Name zu den massiven Füßen wohl auch passe wie die Faust aufs Auge. Lisi heißt den Fremden eintreten in den Flur, und eilt dann voraus, den Besuch anzumelden.

Frau Lugmüller richtet sich im Lehnstuhl auf, und erwartet den Besuch, mit ihren lichtlosen Augen starr aufblickend. Lisi geleitet den Tiroler ins Zimmer und schiebt ihm einen Stuhl zu. »Der Herr Leisetritt von Tirol ist da, Frau, und möchte gleich einziehen!«

Freundlich heißt die blinde Matrone den Besucher willkommen, zugleich um Entschuldigung bittend, den Gast nicht stehend begrüßen zu können. Sie finde, wenn sie den Stuhl verlasse, nicht mehr zurück, und fürchte das Fallen. Herr Leisetritt beruhigt Frau Lugmüller, nimmt dann Platz und leitet das Geschäftliche wegen des Wohnungsbezuges ein, indem er nach Kündigungsfrist und Miethpreis fragt, sich nach dem Lohn für die Bedienung erkundigt und auch die Anfrage gestellt, ob ihm ein Theil des Kellers abgetreten werden könne. Er lagere sich heimathlichen Wein stets selber ein, weil er mit dem Bier »nichts machen« könne.

Bald ist Alles nach Wunsch geordnet, und insbesondere befriedigt den Tiroler der billige Miethpreis.

Eben will Lisi Herrn Leisetritt in die obere Etage hinaufführen, da kommt gleichzeitig mit dem Gepäck des Tirolers auch Marie an, die nun sofort dem neuen Miether als Tochter des Hauses vorgestellt wird, und Herrn Leisetritt mit großer, etwas überstürzter Freundlichkeit willkommen heißt. Hastig wirft das Fräulein Hut und Mantelette auf die zunächst stehende Commode, und schickt sich an, Herrn Leisetritt selbst hinauf zu geleiten. Lisi zieht sich zur unterbrochenen Spülarbeit zurück, indeß das Paar die steilen Stufen ins obere Stockwerk emporklettert. Geschäftig öffnet Marie die Wohnung und führt den neuen Miether in die verschiedenen Gelasse. Staunend über die großen, luftigen Räume, äußert Leisetritt, daß diese herrliche Wohnung ja viel zu groß für ihn sei und in keinem Verhältniß zur geforderten Miethe stehe. Und das Hausfräulein meint, daß man doch wohl auch die Ehre, einen so gediegenen Miether zu erhalten, in Anschlag bringen müsse.

»Hier, Herr Leisetritt, haben Sie auch eine bescheidene Fernsicht auf Wiesen, Hügel und den Fluß. Im vorderen Tract des Hauses sind sämmtliche Fenster nach der Hauptstraße gerichtet!«

»Bei Gott, Fräulein Marie, ich wohne da wie ein Fürst!«

»O, bitte! Es wird nur die Bedienung nichts weniger denn fürstlich sein! Indeß werde ich selber, wenn Sie erlauben, Ihr Stubenkätzchen sein. Die gröbere Reinigungsarbeit wird unsere alte Lisi besorgen, die leichtere ich selbst!«

»Sie beglücken mich durch dieses Aviso! Und hoffentlich gestatten Sie mir an Tagen besonderen Charakters meine Dankbarkeit beweisen zu dürfen. Wir Tiroler halten z. B. auf die Namenstage sehr viel! Sie sind wohl Maria Namen, nicht?«

»Wie Sie gut rathen können! Ja, ja, es ist doch wohl richtig: im Kalender und im guten Glauben sind die Tiroler daheim!«

»O, sehr schmeichelhaft für mein Heimathsland! Aber vergessen gnä' Fräul'n gütigst nicht den Tiroler Wein, der mir in der Fremde die Heimath ersetzen, mich trösten muß, wenn die Sehnsucht nach den Bergen mein Herz durchwühlt!«

»Ach ja, das Heimweh! Ich selbst bin aus dem Städtchen noch nie hinausgekommen; mein weitester Weg war Altbaumbach und einmal die Riesenentfernung von zwölf Säulen[R1] nach Bergheim zum geistlichen Herrn Onkel. Aber wenn Sie Berge, wenn auch in weiter Ferne, sehen wollen – freilich sind es noch keine echten Tiroler Felsenriesen, sondern nur Salzburger und bayerische Spitzen – dann dürfen

[F1: In früherer Zeit wurde die Entfernung auf Landstraßen nach Stundensäulen bemessen: alle Poststunden eine Säule.]

Sie nur vor das Altbaumbacher Thor gehen und die kleine Anhöhe ersteigen. Dort blauen die Berge so geheimnißvoll, so lockend! Ach, wie gerne käme ich mal ins Tirol, ins Land der Treue und des tiefen Glaubens!«

»Vielleicht findet sich dazu einmal Gelegenheit! Indeß soll mir Ihre Sympathie für mein Heimathland ein gutes Zeichen sein, ein Zeichen für treue Kameradschaft, gute Hausgenossenschaft, für ein harmonisches Zusammenleben! Ich bin kein Junger mehr, Fräulein Marie, die Zeit des Jodelns und Juchezens ist vorbei; aber mein Gläschen Röthel aus Tirols sonnigem Gelände trink' ich gern, und es soll mich herzlich freuen, wenn auch Sie, Fräulein Marie, diesem ›Tiroler‹ Freundin werden sollten! Doch nun ruft mich die Pflicht wieder ins Geschäft; meine ›sieben Zwetschgen‹ kann ich des Abends auch noch auspacken!«

»Aber bitte, Herr Leisetritt; wenn Sie die Kofferschlüssel hier lassen wollen, ich packe mit Vergnügen aus, und bringe alles in Ordnung!«

»Zu gütig, aber eine Dame Ihres Ranges und Junggesellenwäsche etc. – – –!«

»In diesem Falle bin ich nicht Dame, sondern Stubenkätzchen!«

»Ein reizendes Kätzchen!« versichert der alternde Junggeselle mit einem Blick, vor dem das übertragene Fräulein erglühend die Augen niederschlägt.

Herr Leisetritt läßt richtig die Kofferschlüssel zurück, nimmt bloß die Reserveschlüssel für Wohnung und Hausthor zu sich, und entfernt sich, begleitet von Marien, die nach der Verabschiedung sofort wieder in die zweite Etage hastet, um ihres freiwillig übernommenen Amtes zu walten. Neugierig öffnet die alternde Jungfrau des neuen Miethers voluminöse Koffer; allein, ohne Störungen befürchten zu müssen, durchwühlt sie deren Inhalt. Kleider und Wäsche bringt sie sofort in den Schränken unter. Größeres Interesse erregen in ihr die Bücher, Photographien, allerlei Krimskrams. Ein Gebetbuch hat der Tiroler natürlich auch, aber es scheint wenig gebraucht zu sein. Andere Bücher sind bedeutend mehr abgegriffen; diese will Marie schon auf ihren Inhalt prüfen, wozu sich Zeit genügend finden wird. Der Tiroler scheint vom Lande zu sein, denn die meisten schlechten Photographien sind Bilder von Landleuten, Soldaten, Bäuerinnen, gar nichts städtisches darunter. Aber da, ach du grundgütiger Himmel, was sind das für Sachen! Pfui! Aber ansehen muß man sich das Zeug doch. Frauenzimmer! Und wie wenig angezogen! Welch' ein Duckmäuser! Aber so sind die Männer! Führt Einer den besten Lebenswandel – abscheuliche Bilder hat er heimlich doch im Besitz. Na, das soll dem Tiroler ausgetrieben werden! Neben mir darf es für ihn kein weibliches Wesen geben! Hm! Das ist er wohl selbst in der Jugend? Etwas grobknochig im Gesicht, aber ein fescher Mann! Den Schnauzer hat er heute noch, und seltsam feurige Augen! Warum er wohl nicht geheirathet hat?

Durch den Lichthof klingt langgedehnt ein Ruf herauf in die obere Etage: »Maaariii!« Der Stimme nach ist es die alte Magd, die nach der Tochter des Hauses verlangt. Aergerlich über diese Störung begibt sich Marie hinunter ins erste Stockwerk, um zu fragen, was denn schon wieder los sei.

»Lauf' nur gleich hinunter zur Schwester Line, sie hat einen Boten heraufgeschickt, und verlangt nach Dir!«

»Sonst nichts? Das wird wohl nicht so arg pressiren! Ich muß doch früher dem Leisetritt die Zimmer in Ordnung bringen!«

»Oho! Das wird wohl doch hauptsächlich meine Arbeit sein! Seit wann machst denn Du, Marie, Magddienste? Du, die Du sonst keinen Finger im Hauswesen rührst, und bei jeder Arbeit eine Ausrede auf der Zunge hast! Aber das, was sich nicht schickt, das thust Du mit Vorliebe! Ist das auch eine Aufführung: mit einem ledigen Mann stundenlang allein oben zu bleiben, he?«

»Ach was! Stundenlang! Der Tiroler ist längst fort ins Geschäft, und ich bin allein oben gewesen, und habe seine Sachen in Ordnung gebracht!«

»Eine merkwürdige Aufopferung auf einmal! Sogar auf Dein Extramittagessen hast Du vergessen! Das inzwischen verdorrte Schnitzel kannst über's Hausdach werfen! Die Wirthschaft fängt gut an, das muß ich sagen! Das kann sich noch recht hübsch auswachsen!«

»Jetzt brummle nicht so arg, Lisi! Ich hab' so keinen Hunger, und das Schnitzel kann ja auch Abends kalt gegessen werden! Also was will die Line?«

»Das hat der Lehrbub nicht gewußt. Du sollst nur gleich kommen, und der Line ihr Mann hat dem Buben größte Eile aufgetragen!«

Unschlüssig steht Marie im Wohnzimmer; sie ginge viel lieber wieder hinauf zum weiterkramen in Leisetritt's Effecten. Aber es mahnt nun auch die blinde Mutter, zur Line zu eilen, und so nimmt denn Marie Mantelette und Hut, und begibt sich auf den Weg hinunter ins Gries.

Vor dem kleinen Hause mit dem Anbau für die Schmied- und Schlosserwerkstätte steht der Schmiedmeister, der Gatte Linens, eine robuste Gestalt, mit aufgekrempelten Hemdärmeln und arbeitsgeschwärzten wuchtigen Fäusten. Der Schwager winkt Marien schon von weitem, den Schritt zu beschleunigen.

Schier athemlos kommt Marie in den schwarzen Flur, und ehe sie noch fragen kann, was denn passirt sei, grollt der Meister mit seinem Baß: »Wo ist der Lump, Dein Bruder? Wo steckt der Vater? Ist er über Land? Der Teufel soll den Buben holen!«

»Was ist denn um Himmels willen los, Schwager?«

»Bombenelement, ist das eine Bande! Zum Kuckuck mit dieser Verwandtschaft! Der Bub war herunten und hat in meiner Abwesenheit die Line attaquirt –«

»Was?«

»Bedroht hat er sie, Geld gefordert – den Schrank wollt' er aufbrechen, und die Schwester hat er schier niedergeschlagen! In dem Zustand! Wenn nicht meine Gesellen dazwischen gekommen wären – heiliger Gott! Gnad' dem Lumpen der Himmel! Der Schuft soll meine Arbeitsfäuste spüren!«

»Gewiß! Aber –«

»Erwischt hat er nichts; dafür liegt die hochschwangere, arme Line jetzt oben in schweren Krämpfen! Steh' Du ihr bei; nach Arzt und Madam' hab' ich schon geschickt, und der Polizei werd' ich's selber anzeigen!«

»Thu' nur das nicht, Schwager! Lieber hau' ihm die Knochen windelweich! Bedenk' die Reputation der Familie!« Und Marie springt die eisenbeschlagene Treppe hinan, der Schwester Hilfe zu leisten nach Kräften, indeß der Schmied wieder nach den Gesellen sieht. Mit Melissengeist und Essig arbeitet Marie, um die Schmiedin wieder zum Bewußtsein zu bringen, so lange, bis endlich die Madam' herangerückt kommt, und nach kurzer Untersuchung Marien bedeutet, daß das Fräulein hier bei den zu erwartenden Vorgängen überflüssig sei. Das Fräulein soll lediglich alles bereit richten für die schwere Stunde, und den Meister davon verständigen.

Wie der mächtige Mann zittert vor Angst und Aufregung! Wie er Marien beschwört, im Hause zu bleiben, nach dem Rechten zu sehen, die Obliegenheiten der Hausfrau zu erfüllen, bis es überstanden sei.

»Aber, Schwager, die Madam' hat mich doch fortgewiesen!«

»Na, wohl nur aus dem Zimmer! Nicht aus dem Hause! – Großer Gott, da kommt auch schon der Arzt angefahren!«

Mit Bangen harrt der Schmied des ärztlichen Ausspruches, der, nach gründlicher Untersuchung, dahin lautet, daß eine schwere seelische Erschütterung, irgend ein Auftritt Herzkrämpfe hervorgerufen haben müsse. Auch sei die Entbindung dadurch nähergerückt und seien Complicationen zu befürchten. Der Arzt will auf dem Rückwege nochmals nach der Frau sehen; einstweilen müsse die Madam' hier bleiben, und soll alles vorbereitet werden.

Kaum vermag der bebende Meister ein Wort des Dankes zu stammeln. Während Marie Wäsche zusammensucht, und der Madam' zuträgt, was diese verlangt, starrt der Schmied unten an der Esse in die Gluth – die Arbeit drängt – und von seinen Lippen flüstert es in das Zischen des Blasbalges erst einem Gebete gleich, einem Gelöbniß, dann aber klingt es drohend wie ein entsetzlicher Fluch: Rache, Rache!

*

Im behäbigen, von Vorgärten umsäumten Pfarrhofe zu Bergheim nächst der ziegelrothen gothischen Kirche, hat die Jungfer Köchin Hochwürden dem Herrn Pfarrer in der Studierstube Meldung erstattet, daß ganz unerwartet der Lugmüller-Alphons angekommen sei, und Hochwürden den geistlichen Herrn Onkel begrüßen möchte.

»Ein Bettelbesuch, was?«

Höhnisch lächelnd nickt Jungfer Thres.

»Soll bis zum Abendessen warten; muß meine Predigt fertig concipiren! Ueberhaupt laß' mir an solchen Tagen niemanden vor, und auch Du, Thres, sollst mich wegen Lappalien nicht stören, hörst Du!«

Ein forschender, blitzschneller Blick fliegt auf den Pfarrer, der würdevoll und schwer im Lehnstuhl am mächtigen Schreibtische sitzt, und die Feder zum weiterschreiben bereit hält. »Gewiß Hochwürden! Hab's ganz gut verstanden; nur hab' ich nicht gewußt, daß dies starre Verbot sich auch auf meine Person erstreckt. Früher war das anders, Herr Pfarrer!«

»Laß' mich in Ruhe, Thres! Die Predigt muß heute noch fertig werden. Hat der Bursch Hunger und Durst, so gib' ihm Speise und Trank.«

»Zu Befehl!« klingt es hart von den Lippen der vergrämten Köchin. »Und, was ich fragen wollte, bleibt der – der – Alphons bei uns über Nacht?«

»Wenn er darum ersucht, meinetwegen. Verlaß' mich jetzt! Ich verliere noch den ganzen Faden!«

Schnippisch drückt sich Jungfer Thres zur Thüre hinaus, und kräftiger als sonst, schlägt sie selbe hinter sich zu. Und giftig murmelt die beleidigte Hausverwalterin, daß solche Behandlung Hochwürden büßen solle, gehörig büßen. Lange genug habe sie die Launen ertragen wie den maßlosen Hochmuth! Lächerlich! War doch auch nur ein Bauernbub einst, der hochmögende, reichgewordene Pfarrer! Und wo ist der Dank geblieben für all' die Hingebung? Wer weiß, ob das Testament einen Legatlohn enthalten wird! Wie weggeblasen ist Alles; heiteres Lächeln liegt auf dem breiten fetten Gesicht der drallen Köchin, als sie dem im Speisezimmer des Parterre harrenden jungen Lugmüller verkündet, daß Hochwürden, weil Predigt studirend, ihn jetzt nicht empfangen könne. Doch stände sie dem jungen Herrn zur Verfügung mit allem was sie habe, und was Küche und Keller bergen.

Ein Schwerenöther, dieser junge Bursch, der trotz seiner Jugend schon große Lebenserfahrung zu haben scheint.

Er zwinkert der feisten Haushälterin zu, umfaßt sie bei der colossalen Taille, und wispert ihr ins Ohr, daß sie eine charmante Person sei, und er um ihre Gunst, Huld und Gnade bitte.

Und geschämig zupft die dicke Thres am Schürzenende und lispelt: »Nicht hier, Herr Alphons, wir könnten gesehen werden! Kommen Sie mit in die Küche!«

Oben memorirt Hochwürden die salbungsvolle, stellenweise aber scharfe Predigt über den Unglauben in seiner Studirstube so kräftig laut, daß das Grollen seiner donnernden Stimme trotz der geschlossenen Fenster herunten hörbar wird. Erschrocken horcht daher der junge Lugmüller auf, und hält im Vertilgen von Speise und Trank inne; doch beruhigt die Jungfer Thres den jungen Gast, denn so lange eben die Stimme von Hochwürden zu hören sei, habe es keine Gefahr. Eher sei der schleichende Gang des Cooperators zu fürchten. Alphons, den die Pfarrerköchin einen schmucken jungen Mann nennt, der sein Glück machen werde, so er verständig sei, fragt erstaunt, ob denn im Pfarrhause außer dem Onkel noch andere Geistliche wohnen, und erfährt sogleich, daß neben dem Cooperator noch ein Caplan da sei. Aber Beide seien dienstlich fort, und es sei fraglich, ob sie zur Nacht heimkommen, da der Cooperator in Erlenbach zu thun habe, und der Caplan nach Oberberg geholt worden sei.

Immer mehr fordert die dralle Thres den jungen Gast auf, sich an dem »Oesterreicher« zu laben, weil er so viel gut und massenhaft davon vorhanden sei. Aber zu viel solle Alphons nicht trinken, denn der Herr Onkel wäre ein Feind von Völlerei. Auch läßt es Thres in ihrer Fürsorge nicht an guten Rathschlägen fehlen: so solle Alphons ja recht demüthig und bescheiden sein, sich nöthigen lassen bei der Abendtafel, und morgens besonders der von Hochwürden selbst gelesenen Messe anwohnen in größter Andacht. Das sähe der Onkel gerne, und drücke dafür ein Auge zu, wenn allenfalls lustige Streiche laut werden sollen. Sie, die Thres, wisse ja: Jugend habe keine Tugend. Aber wenn man so hübsch ist wie der Phonsi, könne man nicht so strenge sein. Der Phonsi wird wohl einige Tage im Pfarrhof bleiben oder länger?

»Wenn s' mich behalten, und die Thres mich nicht hinauswirft, schon!«

»Aber, Phonsi! Je länger, je lieber! Darf man denn überhaupt wissen, was der junge Herr vor hat?«

»Ja, liebe Thres, das wenn ich wüßte! In Neubaumbach ist es mir zu langweilig geworden; auch findet sich in dem Nest so gar nichts Passendes für mich. Die Alten wollen mich im Bauamt unterbringen und –«

»Was, den hübschen Phonsi zu solch' gemeiner Arbeit – wär' nicht übel! Nein, das erlaube ich nicht!«

»Recht viel wird mir nicht anders übrig bleiben; leben will ich und nicht schlecht, das Geld fehlt –«

»Na, wenn der Phonsi artig ist und Verständniß zeigt, werde ich ihn protegiren. Für's erste bleibt der Phonsi bei uns; das werd' ich schon durchsetzen beim Herrn Onkel, denn noch bin ich die Pfarrersköchin, und meinen Willen hab' ich noch immer durchgesetzt. Dann werden wir uns 'mal überlegen, ob sich nicht ein Plätzchen findet. Was hat Er denn gelernt, Phonsi?«

»Ja, mein', liebe, gute Thres, nicht viel! Das Mutterbuberl war halt in der Volksschul' und ist aufgepäppelt und hübsch verzogen worden. Mit der Lehrzeit in verschiedenen Geschäften hat's dann gehapert –«

»Ja, ja, das kennt man schon! Aber was nun anfangen?«

»Ja, ich weiß auch nicht, was?«

»Will Er, Lumpazi, bei uns in der Nähe bleiben?«

»Ich thät' schon schön bitten! Bei der Thres ging' 's mir wohl nicht schlecht!«

»So? Hat Er das schon herausgefunden, Er Schwerenöther! Na, ich will Dir was sagen, Phonsi! Vielleicht kann ich Dich in der Oekonomie von Hochwürden in Oberberg unterbringen. Von dort kannst alle Samstag Abend zu uns kommen, und gehst Montag in aller Früh wieder hinauf.«

»Das letztere wäre sehr gut; aber was thu' ich in der Oekonomie? Ich verstehe davon gar nichts, und die Bauernarbeit paßt mir auch nicht –«

»Wer redet denn vom mähen und dreschen! Ich meine, so quasi als Aufseher und Gutsschreiber zur Entlastung des Caplans in dieser Beziehung. Das Viehverkaufen unter Anleitung des Oberknechtes wird wohl nicht gar so schwer zu erlernen sein!«

»Na, das wär' was anderes! Aber kriegt man dafür auch etwas auf die Hand, wenn's Monat 'rum ist?«

»Für die erste Zeit nicht, und ob sich vom Herrn Onkel überhaupt Thalerlohn herauszwicken lassen wird, ist auch noch fraglich. Dir könnte es aber gleich sein, Phonsi, aus welcher Kasse die Thaler kommen, nicht?«

»Natürlich! Und je mehr desto besser! Und was wär' der andere Posten, den Sie im Auge haben?«

»Der Kaufmann im Dorf ist von uns ziemlich abhängig; er könnte so gewissermaßen gezwungen werden, den jungen Springinsfeld aufzunehmen.«

»So? Ohne Lehrzeit? Ich hab' ja nicht ausgelernt zum Commis, und einem unfertigen Menschen wird er kein Salair zahlen!«

»Dann gehe Er eben ohne solches; ich werd' schon für meinen Phonsibuben sorgen!«

»Vergelt's Gott im Voraus, liebe Thres! Aber muß ich beim Kaufmann nicht auch Kost und Logis im Hause nehmen? Der wird mich Abends nicht fortlassen, wenn's mich in den – Pfarrhof zieht!«

»Es wird besser sein, der Phonsi kommt nach Oberberg. Still jetzt, Hochwürden sind mit dem Predigtstudiren fertig und kommen eben die Treppe herab. Geschwind hinaus ins Speisezimmer, und recht demüthig sein!« Mit einem Ruck schiebt die resolute Köchin den jungen Mann ins Zimmer, und zieht die Thüre geräuschlos wieder ins Schloß, zugleich aber das eine Ohr ans Schlüsselloch legend.

Hochfahrend, im Vollgefühle seiner Macht und Würde, tritt der Pfarrer unmittelbar darauf ein, und mit Befriedigung nimmt sein herrisches Auge die demüthig-unterthänige Haltung des Burschen wahr. Dennoch fragt Hochwürden mit absichtlicher Schärfe im Ton: »Was will Er, wie kommt Er urplötzlich daher! Wohl davongelaufen, um beim Onkel zu betteln, was?«

»Halten zu Gnaden hochwürdigster Herr und Onkel! Ich bin auf der Suche nach einer Stellung, und wollte auf der Durchreise ehrerbietigst Hochihre Hand küssen!«

»Wo hat Er diese feine Sprache auf einmal her?«

»Das weiß ich nicht; es wird mir wohl der schuldige Respect, die Ehrfurcht vor Ew. Gnaden die Zunge führen!«

Sichtlich geschmeichelt und angenehm berührt mildert Hochwürden den Ton in der weiteren Frage, was Alphons vorhabe bezüglich seiner Zukunft. Was seine Mutter bisher über ihn habe verlauten lassen, habe keineswegs angenehm geklungen, meist waren es bittere Klagen über den Thunichtgut.

Mit gesenktem Kopf harrt der durchtriebene Bursch der Strafpredigt, und gewaltsam drückt er die Augen zu, um durch seine listig funkelnden Blicke nicht zu verrathen, wie lustig ihm die behäbige Gestalt des Strafredners erscheine. Und wie rührend demüthig dann der Nichtsnutz fleht: Es wolle der hochwürdige Herr Onkel über ihn jegliche Strafe verhängen, über sein Schicksal bestimmen, nur möge er ihm in Gnaden gestatten, die Hand küssen und einer von ihm celebrirten Messe beiwohnen zu dürfen. Hernach wolle er willig den Staub von seinen Füßen schütteln, und arm wie eine Kirchenmaus von dannen pilgern.

»Er kann im Pfarrhof bleiben! Und wegen seiner Zukunft werde ich mich mit den einschlägigen Faktoren benehmen. Damit aber bei der Abendtafel, wie überhaupt bei Tisch, die Herren nicht genirt werden, wird Er seine Mahlzeiten in der Küche einnehmen. Ueberhaupt halte Er sich an die Thres!«

Mit diesen Worten reicht Hochwürden der Pfarrherr dem Neffen die Hand zum Kusse, und trotz des Zuckens in den Mundwinkeln beugt sich Alphons und drückt die Lippen auf die Pfarrerhand.

»Wissen Seine Eltern, daß Er hier ist?« fragt der Pfarrer noch unter der Thüre.

»Noch nicht, Gnaden Herr Onkel!«

»Also schreibe Er sofort, daß Er bis auf Weiteres im Pfarrhof aufgenommen sei, und ich weiter sorgen wolle. Ich verbitte mir aber jede weitere briefliche oder mündliche Belästigung!«

»Zu Befehl!«

Kaum hat Hochwürden das Speisezimmer verlassen, um seinen Abendspaziergang anzutreten, winkt Thres dem Alphons, in die Küche zu kommen. Der Schlankel will lachenden Mundes rapportiren, aber Thres schließt ihm mit den fleischigen Fingern den losen Mund. Sie wisse ja ohnehin bereits Alles, denn sie habe jedes Wort gehört. Der Phonsi wär' ein gescheidtes, verständiges Burscherl, das man lieb haben müsse. Und dabei tätschelt die Köchin den Burschen ab mit mehr als mütterlicher Zärtlichkeit. Dann zeigt sie ihm noch sein Zimmer.

Wenn er etwas benöthigt, dürfe er nur an die Verbindungsthür klopfen; »nebenan ist nämlich mein Schlafgemach!« fügt Thres bei. Aber Lärm dürfe er auf keinen Fall machen, denn wenn auch der Herr Pfarrer nichts vernimmt, der Cooperator habe außerordentlich feine Ohren, und dessen Zimmer sei auch parterre gelegen. Der Caplan hingegen habe das Dachstübchen inne, und schlafe wie ein Murmelthier, versichert die Köchin und zeigt lachend ihr Wolfsgebiß mit den vorstehenden Fangzähnen.

Alphons benützt diese Gelegenheit, um seinerseits der Freude über diese herrliche Unterkunft Ausdruck zu geben, und setzt dann dazu:

»Was Sie aber für schöne Zähne haben, liebe gute Thres!«

»Was wirst denn Du schon wissen von weiblicher Schönheit?!«

»Na, ich bin doch kein Kind mehr, hihihi!«

»Wie alt ist Er denn schon?«

»Zwanzig vorüber! Also im besten Mannesalter, mein' ich!«

»So, schon! Da fühlt Er auch wohl schon etwas, he? Hat er am Ende gar schon ein Techtelmechtel, was?«

»Gehabt, liebe Thres! Zur Zeit wohnt in meiner Brust nur die Dankbarkeit für meine Wohlthäterin!«

»Welche Wohlthäterin, ha?«

Der Thunichtgut umfängt die breit vor ihm stehende Köchin und küßt sie derb auf den Mund.

»Jesses, wenn uns wer sehen würde! Aus wär's und gar! Nicht so ungestüm, Du Schwerenöther! Am helllichten Tage küßt man nicht, und am allerwenigsten eine Pfarrersköchin!«

Und sachte wehrt sie ab. Es wäre jetzt an der Zeit, die Abendmahlzeit zu bereiten. Der Alphons könne sich unterdessen die Gegend anschauen, doch dürfe er nicht etwa ein Wirthshaus besuchen. Das würde Hochwürden verübeln. Für Hunger und Durst werde sie zu Hause abhelfen. Er ißt ja so wie so in der Küche, und in sein Zimmer werde sie ihm schon noch einen Schlaftrunk bringen, ohne daß das der Onkel zu wissen brauche.

Rasch schreibt nun Alphons ein paar Zeilen der Verständigung nach Hause, und geht dann hochbefriedigt über diesen Beginn seiner Flucht spazieren.

*

Herrn Leisetritt, der mit größter Pünktlichkeit seinen Verpflichtungen als Miether der zweiten Etage inzwischen nachgekommen ist und von Lugmüllers als Muster eines »Zimmerherrn« gepriesen wird, ist mit Eintritt der warmen Jahreszeit selbstverständlich auch die Benutzung des Gartens, der sich auf der Rückseite des Hauses über das Steilgehänge hinabzieht, freigestellt worden, weßhalb der Tiroler die lauen Sommerabende regelmäßig in der von Wildweinreben umrankten Laube verbringt, und dazu seinen heimathlichen Röthel trinkt. Von ihrer gleichfalls nach rückwärts gelegenen Schlafstube aus, durch den Vorhang gedeckt, hat Marie den einsamen Mann in der Laube beobachtet, und nachdem sie auch die Stunde ausspionirte, zu welcher der Tiroler aus dem Keller zu kommen pflegt, um sich seine Flasche in die Gartenlaube zu tragen, hat sie es so einzurichten gewußt, daß sie wie zufällig vom Hang heraufkommend, ihm in den Weg laufen mußte. Wie erwartet, richtete Leisetritt an die Tochter des Hauses neben freundlichen Worten respektvoller Begrüßung auch die Einladung, doch auch 'mal von seinem Röthel zu kosten, und wenn es die Eltern erlauben, ihm für ein Weilchen Gesellschaft zu leisten. Es sitze sich so wohlig und behaglich in der stillen Laube. Und Marie hat diese Einladung bereitwilligst angenommen. Die davon verständigte Mutter hat nicht nur nichts dagegen, sondern fühlt sich ob solcher Einladung geehrt, denn der Herr vom zweiten Stock ist ein hochanständiger Mann, und auf die Warnungen Lisi's reagirte Marie nicht im Geringsten. Der alte Vater ward überhaupt nicht gefragt. So verbringt Marie denn jeden regenfreien Abend mit Leisetritt in der stillen Laube, und kommt erst in völliger Dunkelheit wieder in die Wohnung zurück. An einem besonders schwülen Abend war's, daß Leisetritt näher rückte an Mariens schlanke Gestalt, und nach ihrer schmalen Hand tastete unter wärmeren Worten. Es wäre, begann er unter Seufzen, doch eigentlich ein einsames Leben, das er zu führen gezwungen sei. So allein, immer allein durch's Leben zu wandern, sei traurig, und wenn er an das nahende Alter denke, überkomme ihn eine wehmüthige Stimmung. Was ist ein alternder Junggeselle, wenn Krankheit ihn ans Lager fesselt! Hilflos liegt er in seinem Bette, und trägt man ihn schließlich mit verglasten Augen hinaus zur Ruhestätte, so folgt Niemand seinem Sarge.

Ergriffen antwortet Marie mit bebender Stimme: »Freilich ist das die düstere Seite des Junggesellenlebens. Aber wenn solch' trauriges Loos selbst gewählt ist, hat sich ein Hagestolz doch nicht zu beklagen. Er hat es doch in seiner Hand, sich ein glücklicheres Loos zu wählen!«

»Gewiß, Fräulein Marie! Aber die Wahl ist so schwer! Wo findet ein alternder Mann noch die für ihn passende Gefährtin, die gleichgestimmte Seele?«

Betäubend duftet der Jasmin an der Laube; die Gesträucher des Hanges senden Gerüche herauf, schwer, beklemmend, und dazwischen zieht der würzige Duft des auf den Wiesen im Thalgrunde lagernden Heus. Glühkäferchen gaukeln durch die Büsche, und leise sendet der Mond sein Silberlicht hernieder.

Marie ist verstummt; das Landschaftsbild in schwüler Sommernacht wirkt mächtig auf sie, und die Worte des Mannes an ihrer Seite klingen im starken Widerhall in ihrer Seele. Hand in Hand sitzen Beide nebeneinander; die nächste Viertelstunde wird eine Erklärung bringen, der Marie zitternd harrt.

Wie zurückhaltend der Tiroler doch ist; er schweigt, und selbst die ihm willig überlassene Hand läßt er wieder los. Dann nach einer langen Pause hebt er wieder zu reden an: »Ein glücklicheres Loos wählen! Das ist leicht gesagt! Aber welche Veränderungen im Leben bringt ein einzig Wort hervor! Und wenn ich immer wieder bedenke, daß ein Freien meinerseits meine ganze bisherige Existenz umstürzt, so –«

»Wieso, das, Herr Leisetritt?«

»Den Junggesellen ernährt die Stellung bei Dispecker & Mottl, doch nicht den verheiratheten Magazinier, der sich selbstständig machen, als Kaufmann irgendwo etabliren müßte, um sein Auskommen mit Weib und Kind zu finden. Ich aber bin nicht vermöglich genug, eine Etablirung ohne fremde Hilfe fertig zu bringen.«

»Dann muß und soll doch die erwählte Gattin durch eine entsprechende Mitgift dieses Vorhaben fördern.«

»Sehr edel von Ihnen gedacht, Fräulein Marie!«

»Das ist doch selbstverständlich! Bei meiner Schwester Line war es ähnlich der Fall! Zur kompleten Ausstattung gab der Vater ein Stück Baargeld, ebenso der geistliche Herr Onkel, welch' letzterer allerdings erst in der Erbschaft vollwichtig in Betracht kommen wird.«

»Sie haben einen geistlichen Onkel?«

»Gewiß! Er ist ein sehr gutsituirter Mann, reich zu nennen, und zieht eine große Rente aus dem Landgut nahe seiner Pfarrei.«

»Hochwürden ist Ihrer Familie wohlgesinnt?«

»Wenn nicht die Thres, seine Köchin, gegen uns hetzt, fehlt es uns nicht an Beweisen seines Wohlwollens.«

»Hat die Pfarrersköchin solchen Einfluß?«

»Die ist bald wichtiger als der Onkel selbst! Gegenwärtig stehen wir gottlob gut mit ihr. Sie hat es z. B. durchgesetzt, daß mein Bruder, der Thunichtgut Alphons, auf dem Landgute des Onkels untergebracht ist; sie ist es auch, die jetzt allwöchentlich Viktualiensendungen hierher dirigirt, ganz auffallend häufig. Wir können uns diese Sympathiebeweise, die früher so spärlich waren, gar nicht erklären.«

»Da scheint eine Umwandlung zum Bessern vor sich gegangen zu sein!«

»Ganz unzweifelhaft! Sollte sie mit Alphons' Benehmen so zufrieden sein? Ich kann es mir nicht erklären!«

»Wo sagten Sie, Fräulein Marie, steckt der Junge jetzt?«

»Er ist auf dem Gute des Onkels in Oberberg, das eine starke Wegstunde vom Pfarrhof in Bergheim entfernt ist.«

»So, so! Da ist der Junge dann gar nicht im Pfarrhof selbst?«

»Ich glaube nicht.«

»Und dort thut er gut, während es hier nur bittere Klagen über ihn gab?«

»Das ist eben das Räthselhafte! Wenn nur der Vater bald in Bergheim dienstlich zu thun hätte, und bei dieser Gelegenheit nachforschen könnte!«

»Liegt Ihnen viel daran, darüber einen Bericht zu erhalten?«

»Ja freilich! Aber ich selbst als Dame kann doch nicht allein hinaus aufs Land, und Papa ist nicht abkömmlich in nächster Zeit!«

»Wenn Sie es wünschen, würde ich am nächsten Sonntag diesen Ausflug unternehmen. –«

»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Leisetritt!«

»Aber mit größtem Vergnügen!«

»Ich würde Ihnen einen Dankbrief an die Thres mitgeben, der Sie zugleich einführt, und in Oberberg könnten Sie ja, sich als Hausgenosse vorstellend, den Alphons fragen, ob ihm etwa Kleider und Wäsche nachgesendet werden solle. Bei dieser Gelegenheit wird sich eine Beobachtung der merkwürdigen Sachlage schon ermöglichen lassen.«

»Gewiß! Ich bin ganz Ihrer Anschauung! – Darf ich mir noch erlauben, Ihnen ein Gläschen einzugießen?«

»Es wird doch ein wenig zu viel! Der Wein ist stark, Herr Leisetritt!«

»O, ganz ungefährlich! Aber echt! Herb, abstoßend und doch anziehend, der echte Tiroler!«

»Oh, sagen Sie das nicht, Herr Leisetritt! Das letztere wohl, das erstere sicher nicht!«

»Sie sind so gütig gegen mich! Oh, wenn ich all' diese Güte vergelten könnte und dürfte, Fräulein Marie! –«

»Sie thun es ja bereits, indem Sie sich unserer Interessen in Bergheim annehmen!«

»Darf ich mir erlauben, dieses Glas auf Ihr spezielles Wohl zu leeren? Gestatten Sie! Prosit Fräulein Marie! Auf gute Freundschaft, auf innige Harmonie!«

Um die Gläser zum aneinander klingen zu bringen, müssen die Beiden noch näher aneinander rücken; die Dunkelheit ist zu groß. Heißes Leben fluthet von Körper zu Körper, und Marien drängt alles Blut zu Kopf.

»Seien Sie mir gut, Marie!« flüstert Leisetritt, und legt seinen rechten Arm um Mariens schmale Schulter.

»Ich bin es schon, Joseph!« lispelt das ältliche Mädchen, und überläßt sich willig dem Junggesellen, der gierig Küsse nascht und Marie umschlingt. Dann aber rafft sich das Mädchen auf, wehrt ab und strebt dem Ausgang zu. »Es wird zu spät, ich muß hinauf!«

»Auf morgen denn, Marie! Gute Nacht, mein Lieb!«

Gleich einem aufgescheuchten Reh hastet Marie durch den Garten und ins Haus, wo sie in ihrer Stube erst ihre Toilette in Ordnung bringt, bevor sie die Wohnstube betritt.

*

In Altbaumbach ist ein Wallfahrerzug angesagt, der über tausend Köpfe stark aus Oesterreich kommen soll. Von der Kirchenverwaltung ist das Aviso an den Postwirth herübergegeben worden, der mit dieser Bevorzugung bedacht wird, weil er, klug und weise, der Verwaltung einen ansehnlichen Betrag als Stiftung überwies und den hochwürdigen Herren stets von frischbezogenen Weinen Proben in großen Körben übersandte. Von einem Wallfahreraviso hat der Postwirth allerdings nur einen relativen Nutzen insofern, als er auf einen Massenandrang vorbereitet, den Anforderungen auch gerecht werden und dadurch sein Schäfchen scheeren kann. Ob freilich die Schaaren ausschließlich in die »Post« strömen, ist der Verwaltung gleichgiltig. Indeß pflegen wallfahrende Geistliche immer die renommirte »Post« aufzusuchen und ziehen selbstverständlich ihren Anhang mit sich, und wer sich bei der Kirchenverwaltung nach guter Unterkunft erkundigt, wird stets zur »Post« gewiesen. Als Fuhrwerksbesitzer kann der avisirte Postwirth denn auch die meisten Vehikel den heranziehenden Wallfahrern entgegenschicken, von denen Marode, Müde und Bessersituirte stets Gebrauch machen, sodaß die Postfuhrwerke, Omnibusse und Stellwagen stets vollbesetzt den Wallfahrerzügen vorauseilen und den Menscheninhalt in der »Post« abladen. Mit grimmem Neid sehen die übrigen Wirthe solche Bevorzugung, die sie schon mehrmals veranlaßt hat, dagegen zu remonstriren. Allein die Herren von der Wallfahrtsverwaltung gaben allen Vorstellungen keine Folge und drohten im Fall weiterer Belästigung aus Fondsmitteln ein neues Hotel bauen zu wollen, das dann allen Zuzug für sich allein beanspruchen und sicher auch erhalten werde. Der Schreckschuß wirkte, so sehr auch die besonders erbitterten Gasthofsbesitzer dem Postwirth eine neue scharfe Konkurrenz gönnen möchten. Die Gemäßigteren aber mahnten zur Ruhe, weil sie den allgemeinen Schaden vor Augen sahen und bei allem Neid doch eingestehen mußten, daß das Wallfahrergeschäft immer noch ein vorzügliches sei; nur müssen sie eben die Fremden nehmen, die in der »Post« keine Unterkunft mehr finden. Die »Post«-Konkurrenz hat naturgemäß die Kreirung eigener Beobachtungsposten und die Anschaffung weiterer Fuhrwerke veranlaßt, indem die übrigen Wirthe eigene Spione aufstellten, die den ganzen Tag in der Nähe des Posthotels herumlungern und etwaige Wahrnehmungen unverzüglich zu melden haben. Wenn daher auf der »Post« die Knechte eine größere Anzahl von Equipagen und Stellwagen bereitstellen und mit Pferden bespannen, wird dies von den Beobachtungsposten augenblicklich rapportirt und in höchster Eile wird auch in den übrigen Hotels eingespannt. Kaum fahren dann die Postequipagen durch Altbaumbach, so rasseln auf »Gradwohl« die andern Stellwagen hinterdrein und so lange drauf los, bis die Postwagen halten, um Wallfahrerpassagiere aufzunehmen. Trotz des Protestes der Postknechte halten auch die übrigen Hotelkutscher und laden zum Einsteigen ein, wobei der Fahrpreis immer gegen die »Post« unterboten wird um einige Kreuzer. Das Gezeter auf offener Landstraße bietet freilich kein erbauliches Bild, besonders dann nicht, wenn sich die Knechte gegenseitig mit umgekehrten Peitschenstielen bearbeiten und gotteslästerlich dabei fluchen, indeß die Insassen der gestürmten Wagen laut, dem Gelübde gemäß, weiterbeten. Im tollen Tempo wird sodann unter dem Gekreisch der erschrockenen Passagiere eingefahren, und wenn gelegentlich bei zu scharf genommenen Kurven nahe den Thoren Neubaumbachs ein Wagen umgeworfen wird, so kümmern sich regelmäßig die Knechte am wenigsten um verletzte Passagiere, die dann selber suchen müssen, wie sie das Spital erreichen.

Dank dem heutigen Aviso hat der Postwirth Befehl zur Bespannung sämmtlicher Fuhrwerke gegeben, und flink sind seine Kutscher bei der Arbeit. Kaum fahren die ersten Wagen ab, da poltern auch schon die Wagen der übrigen Wirthe aus den Einfahrten der Gasthöfe. Diesmal aber giebt es eine gewaltige Ueberraschung: die Wagen sind noch nicht an der Gemeindegrenze von Altbaumbach, da kommt der Vortrab des Wallfahrerzuges schon mit Kreuzen und Fahnen angerückt.

Die Ausfahrt ist somit zu spät erfolgt, der »Fang« mißglückt. Fluchend fahren die Knechte rücksichtslos in schärfster Gangart an den betenden Wallfahrern, die ängstlich zur Seite springen, vorüber, dem angrenzenden Städtchen Neubaumbach zu, in der Hoffnung, das Gros des Zuges vielleicht noch außerhalb der Mauern auf der Straße zu erreichen. Durch die Stadt anders als im Schritt zu fahren, ist in Neubaumbach allerdings streng verboten; aber die Knechte haben diesmal Eile, sie kümmern sich um dieses Gebot keinen Pfifferling und verhöhnen den Halt gebietenden alten Stadtsoldaten. Wie Sturmwetter rasseln die Wagen klirrend und klappernd durch das eine Thor und über das schlechte Kieselpflaster in die Hauptstraße, die ein seltsames Bild bietet. Nach Hunderten stehen müde, bestaubte Wanderer vor den verschiedenen Gasthöfen und Brauhäusern, deren Eigenthümer und Kellner die Pilger und Wallfahrerinnen persuadiren, doch hier in Neubaumbach Quartier zu nehmen, da in Altbaumbach die Wirthshäuser und Unterkunftsstätten alle bereits besetzt seien. Das giebt ein Durcheinanderschreien, ein Menschengewoge sonderbarster Art, besonders durch den Umstand, daß handfeste Bräuknechte einzelne Bauersleute herausfangen und in das Haus schieben, welcher Vorgang die Weiber der Herausgefischten zetern macht und sie veranlaßt, nun gleichfalls in die Häuser zu dringen, um der eingefangenen Gatten, die stets auch das Zehrungsgeld in der Tasche haben, habhaft zu werden. Ein allgemeines Gästekapern ist es, und der Menschenfang gelingt den industriösen Neubaumbacher Wirthen, die den Kollegen in Altbaumbach diesmal ein Schnippchen schlagen. Die Neubaumbacher haben sich lange genug die Gäste vor der Nase vorbeiführen lassen. Jetzt, auf Anregung eines pfiffigen Hoteliers, wollen sie von der Wallfahrt auch etwas profitieren, und schöpfen den Rahm ab, bevor er in die Altbaumbacher Pitschen fließt.

Wutschnaubend sehen die Altbaumbacher diesen nach ihrer Meinung infamen Menschenfang und fluchend, peitschenknallend fahren sie in die Menschenhaufen hinein. Jeder der Knechte brüllt aus Leibeskräften, daß es nicht wahr sei mit der Ueberfüllung, daß die Wagen eigens da seien, Gäste aufzunehmen, daß das Fahren heute gar nichts koste, und Unterkunft, billig und gut, massenhaft und überall zu haben sei. »Einsteigen nach Altbaumbach, einsteigen!« brüllen die wuthentbrannten Kutscher, und zögernd kriechen auch Einige der Wallfahrer in die kastenähnlichen Stellwagen. Doch die Knechte der Bräuhäuser und Gasthöfe find nicht faul, sie langen sich die brüllenden Kutscher vom Bock herab, und insceniren eine solenne Prügelei, wobei auch tüchtige Hiebe für die nächststehenden Pilger abfallen, die nun schreckerfüllt auseinander stieben. Ein wüstes Geschrei, wilder Lärm erfüllt die Straße, so daß die Einwohner Neubaumbachs bestürzt aus den Häusern laufen, und Weiber und Kinder von den Fenstern aus der Schreckenscene zusehen. Machtlos steht in vorsorglicher Entfernung der Stadtsoldat, unschlüssig, ob er seine alten Knochen in den Wirrwarr drängen, oder in Sicherheit bringen soll. Wie nun aber die Schreckensschreie ärger werden, die scheu gewordenen Pferde auszuschlagen beginnen, eine der Kutschen umstürzt und von den wilden Gäulen krachend fortgeschleift wird, und die erbosten Bräuknechte die Fenster der Stellwagen mit Pflastersteinen einwerfen, – da eilt der alte Stadtsoldat hinüber ins Rathhaus, und alarmirt die Feuerwehr. Wenige Minuten später tönt das Hornsignal schaurig durch das enge Städtchen, und bald darauf rasselt schon die erste Spritze heran zum Rathhaus.

Schon der Ruf »Feuer!« hat die Kämpfenden auseinandergebracht, und wie die Knechte merken, daß ihnen die Auffahrt der Feuerwehr gilt – der Stadtsoldat deutet mit ausgestrecktem Arm auf die Kampfesscene vor dem Oberbräu und der alten »Post« – da reißen sie aus und sind im Augenblick verschwunden, indeß die Altbaumbacher Kutscher auf ihre Vehikel klettern, und eiligst von dannen fahren. Auch die Wallfahrer flüchten sich in die Häuser, oder treten ihren Marsch gegen Altbaumbach an, so daß die Feuerspritze gar nicht in Aktton kommt. Rur die umgeworfene Chaise mit den in den Strängen verwickelten und gestürzten Pferden vermochte nicht rasch genug vom Schauplatz der wüsten Konkurrenzneidscene zu kommen, und ihren blau und grün verschlagenen Lenker faßte der alte Stadtsoldat ab, um dessen Personalien festzustellen. Der Bürgermeister jedoch ließ nunmehr die Dienstchaise einspannen, und fuhr nach Altbaumbach, um dem Bezirksamt Anzeige von dem betrübenden Vorfall zu machen.

Die Geschäftsleute und Wirthe Altbaumbachs sind in hellem Aufruhr ob des Neubaumbacher Menschenfanges. Nach ihrer Meinung ist solche Wallfahrerkaperung schlimmer denn Raubmord. Die Behörde muß in entschiedenster Weise dagegen einschreiten, denn der uralte Ruf der Wallfahrt leide unter solchen Verhältnissen, und die Zugkraft könne ganz verloren gehen. Was aber sollen die Paternosterkrämer, die Lebzelter und Wachszieher, die Bildchenhändler, Pfefferminzweiber, die Vorbeterinnen, die Lieferanten von Holzkreuzen und die übrigen von der Wallfahrt Anderer Nutzen ziehenden Bewohner von Altbaumbach auch in Wahrheit anfangen, wenn die Wallfahrer ihr gutes Geld anderswohin tragen und ihren Ort meiden?! Sie sind geschäftlich ruinirt, denn der frömmste Altbaumbacher kauft nichts vom Wallfahrtskram, und die benachbarten Neubaumbacher gleichfalls nicht. Drum Rache und Strafe! Die Erzählungen der verhauenen Fuhrknechte durchlaufen mit Windeseile den ganzen Ort, und erregen die ruhigsten Leute. Nicht zum wenigsten zeigen sich die Herren von der Stiftungsverwaltung erbost. Man sieht denn auch bald darauf flatternde Talare; die hochwürdigen Herren eilen cylinderbewaffnet zum Bezirksamtmann, der bearbeitet werden muß zu Gunsten der in ihrer Existenz schwer bedrohten Altbaumbacher und ihrer Wallfahrt. Aber welche Enttäuschung! In unerschütterlicher Ruhe hört der Bezirkschef die heftigen Klagen an, und meint dann, daß allerdings die zu eruirenden Theilnehmer exemplarisch bestraft werden müssen. Wenn die Herren aber ihre Drohung mit einer Beschwerde zum Ministerium wahr machen wollen, so seien sie darin zwar keineswegs behindert; aber von Seite des Bezirksamtes werde bis zur Erledigung der Beschwerde im Ministerium und bis zur Herabgelangung der betr. Entschließung die Wallfahrt – gesperrt, jeglicher Zuzug verboten werden.

Die Herren knicken förmlich zusammen. Die Wallfahrt sperren! Uns ruiniren! Wenn das bekannt würde, ist das Renommée weg, und kein Mensch kommt später mehr nach Altbaumbach! Sie versichern, eine Beschwerde zum Ministerium unterlassen zu wollen, und sehr gedrückt empfehlen sich die Herren vom Amtmann, der den Herren in kühlhöflicher Weise bis zur Thüre des Amtszimmers das Geleite gibt.

Kaum allein, beginnt der kluge Beamte eine Epistel aufzusetzen. Er kennt seine Pappenheimer und weiß nur zu gut, daß noch mit der Abendpost von Seite der in ihren Sonderinteressen bedrohten Herren ein Schreiben an den Erzbischof abgehen, somit auf anderem Wege versucht werden wird, der Aufsichtsbehörde entgegen zu arbeiten. Dem will der Beamte vorbauen durch einen Bericht an die Kreisregierung, die die Sache weitergeben wird ans Ministerium.

Im Rathssaale der Stiftsverwaltung hingegen halten die geistlichen Herren eine Konferenz ab. In gewichtiger Debatte wird beschlossen, ein Circular an den Diözesanklerus hinauszugeben, und zwar sowohl an den inländischen wie an jenen der benachbarten österreichischen Provinzen, worin der Wallfahrerzüge geleitenden Geistlichkeit nahegelegt wird, unterwegs telegraphische Avisi zu geben über Zugsrichtung, Tag und Stunde der Ankunft, so daß Alles zur Einholung und Bequartierung vorbereitet werden könne. Und an das Konsistorium geht ein nicht minder gewichtiges Schreiben ab, dem eine Deputation nachfolgen solle.

Mit Spannung harrt die Bevölkerung beider Orte des Urtheilsspruches des Gerichtes, vor welches die Theilnehmer jener Menschenkaperung in Neubaumbach verwiesen worden sind, nachdem die Gensdarmerie mit besonderer Schärfe die Recherchen erfolgreich beendigt hatte. Den Neubaumbacher Wirthen wird von Tag zu Tag schwüler; es dämmert ihnen auf, daß der Nutzen jenes Wallfahrerfanges in keinem Vergleich zu den Geldstrafen und Prozeßkosten stehen werde. Daß die Hauknechte mit Gefängniß bestraft werden, gilt vorweg für sicher. Die Kutscher aber werden unzweifelhaft mit Ersatz- und Entschädigungsansprüchen herantreten und dies bereitet den Altbaumbacher Wallfahrtswirthen bittere Sorgen, die nur in etwas gemildert werden durch den Umstand, daß sich das vom Collegium erlassene Circular an den Klerus zu bewähren beginnt. Die Geistlichen telegraphieren prompt und die Einholung der Wallfahrerzüge geht gut von statten, zumal den Neubaumbachern die Lust, einen Menschenfang zu wiederholen, vergangen ist. Allein eines Tages brachte auch dieser schlau erdachte Modus eine unliebsame Ueberraschung. In einem Dorfe an der Landstraße, auf welcher ein Wallfahrerzug sich nähert laut Aviso, harrten Altbaumbacher Kutscher mit den Gefährten, ebenso Fahnenträger, Ministranten samt dem zur Einholung des Zuges entsandten Altbaumbacher Priester. Heiß ist der Tag, und groß der Durst; was Wunder, daß vom Warten müde, die Altbaumbacher das Dorfwirthshaus aufsuchen und sich zu laben beginnen. Zum Zeitvertreib beginnen die Knechte und Kirchendiener ein Kegelspiel um verhältnißmäßig hohen Einsatz. Wer nicht mithält, wird verhöhnt; zahlen müssen die Spielkosten ja doch die erwarteten Wallfahrer mit den Trinkgeldern. Wer nicht mitthut, ist ein Lump! Alle thun mit wie bei einem Preiskegeln und immer erregter werden die Leute, je nach Gewinn oder Verlust. Die Kellnerin, solchem Andrang nicht gewachsen, schleppt mit dem »Vice« (dem zweiten Hausknecht) massenhaft gefüllte Krüge herbei, aber immer klappern »leere« Trinker nach frischer Füllung, sodaß der hochvergnügte Wirth nun auch noch die Kuhdirn zur Bedienung abkommandirt. Schon kalkulirt der Taverninhaber, wie hoch der Profit des heutigen Tages sich belaufen werde – es sind ja noch die eigentlichen Wallfahrer zu gewärtigen, die kaum »trocken« an der Taverne vorüberziehen werden – da bricht draußen in der Kegelbahn ein wüster Lärm los. Angezechte Spieler streiten um den Einsatz, wüste Schimpfworte fallen, pumps schlägt ein kräftiger Knecht dem Partner die Holzkugel auf den Kopf, daß hellroth das Blut aufspritzt und der Schwerverletzte stöhnend zu Boden stürzt. Aber auch andere Kegler sind aneinander gerathen; Stühle klappern, Krüge fallen scheppernd und klirrend in Scherben hernieder, ein Knäuel Menschen liegt am Boden; ängstlich flüchten die Zuschauer des Kegelspiels davon und schreien laut nach Hilfe und Gensdarmerie. Messer blitzen auf, die betrunkenen Knechte stechen aufeinander.

Wie besessen zetert der Wirth nach dem handfesten Hausknecht und wirft sich den raufenden Kutschern entgegen, indeß Ministranten und Meßner in ihrer Angst zum Pfarrer springen, um den Altbaumbacher Geistlichen zu holen, denn ein Gestochener liegt im Sterben. Inmitten der allgemeinen Rathlosigkeit und des fürchterlichen Geräufes naht sich betend und fahnentragend der Zug der fremden Wallfahrer. Kaum wird die Tête mit dem führenden Priester der wüsten Szene ansichtig, löst sich auch schon alle Ordnung im Zuge; die Vordersten prallen erschrocken zurück, die Nachrückenden drängen vor. Das Gebet verstummt, die Weiber im Zuge zetern nach Hilfe und suchen ihre Männer, ein durcheinanderdrängendes Chaos entsteht; herzhafte Bauern springen zu dem Knäuel raufender und blutender Menschen, reißen die Kämpfer auseinander, prügeln die Tollwüthigen windelweich, indeß vom Dorfkirchthurm die Glocken nach Hilfe rufen und das ganze Dorf alarmirt wird. Unter Anleitung der Geistlichen wird den Verletzten nothdürftig Hilfe geleistet; abseits vom Wirthshaus erhält der Sterbende die letzten Tröstungen der Religion und haucht in den Armen des Priesters die Seele aus.

Mit Mühe bringt der Zugführer seine Leute in Ordnung; eben will er das Kommando zum Weitermarsch nach Altbaumbach ertheilen und fängt das Gebet der Wallfahrer an, da gebietet der Wirth ein energisches Halt. Er will vorher bezahlt sein; nach seiner Meinung wollen sich zahlreiche Wallfahrer von der Zeche drücken. Kategorisch, ja brutal protzig verlangt er vom Zugsgeistlichen Bereinigung der Zeche. Auch müsse der Zug aufkommen für die zerbrochenen Krüge. Scharf protestirt der den Wallfahrerzug geleitende Priester gegen solche unerhörte Zumuthungen. Das hat insofern Erfolg, als der sackgrobe Wirth nun vom Altbaumbacher Geistlichen Ersatz fordert, denn dieser habe die »Bagage«, die Lumpen und Raufer hierher gebracht! Und wie der Knallprotz schimpft! Eine schöne Einrichtung das, wenn zum Empfang von fremden Wallfahrern Leute todtgestochen und einem armen Landstraßenwirth das Geräthe kurz und klein geschlagen wird!

Der wüsten Skandalszene machen anstürmende Landgensdarmen ein Ende. Die Kutscher kriegen nun flinke Beine, und kleinere Stiche und Verwundungen werden gar nicht beachtet, es trachtet Jeder, schleunigst von dannen zu kommen. Flinker ist noch niemals angespannt worden; nur fragt Keiner der Kutscher, ob Jemand mitfahren will, sie fahren mit leeren Wagen davon. Was in der Eile notirt werden konnte, haben die Gensdarmen ausgeschrieben; alles weitere muß späterer Recherchirung überlassen bleiben.

Von seltsamen Eindrücken erfüllt, pilgern die Wallfahrer dann endlich am späten Abend der Gnadenstätte zu, indeß einer der Gensdarmen vorauseilt, um im Bezirksamt sofort Rapport zu erstatten.

*

Leisetritt ist zur Rekognoszirung nach Bergheim gefahren und hat im Pfarrhof den Empfehlungsbrief Mariens der Jungfer Köchin übergeben. Freundlich war der Empfang nicht; die Pfarrersköchin richtete schier feindselige Blicke auf den ziemlich devot vor ihr stehenden Tiroler, der seine Augen von Zeit zu Zeit forschend auf die dralle Gestalt der Thres richtete, sie aber stets niederschlug, wenn die Pfarrersköchin ihn anblickte. Offenbar mißtraut Thres dem ins Haus geschneiten fremden Menschen, sie wittert in ihm einen Spion. Rasch durchfliegt sie den Brief Mariens, zieht die Lippen spöttisch auf bei den Stellen überschwenglichen Dankes, und fixirt abermals den Tiroler, den Marie als Hausgenossen vorstellt, der sich nach Alphons erkundigen und fragen soll, wie es mit dem durchgegangenen Bruder stehe, ob er in Bergheim untergebracht sei und Wäsche und Kleider gebrauche.

Frostig bietet Thres Herrn Leisetritt einen Stuhl im Speisezimmer an, und theilt ihm mit, daß Alphons auf dem Pfarrgute Verwendung gefunden habe. Der junge Mann mache sich ganz brav, seine Leistungen befriedigen, und es könne die Marie für Alphons schon Wäsche und Kleider schicken, da der Bursch voraussichtlich längere Zeit bleiben werde.

Leisetritt dankt für diese Mittheilungen, die für die Familie Lugmüller erfreulich lauten. Die Frage, wie der renitente Taugenichts unterzubringen sei, habe der Familie schon manche Sorge bereitet, und gewiß werde Sr. Hochwürden dem Herrn Onkel der größte Dank entgegengebracht werden.

»Oh bitte! Wir haben Alphons gerne ausgenommen; er ist anstellig, willig, ein wackerer Bursch, so daß wir nicht verstehen können, wie über ihn in Neubaumbach fortwährend geklagt wird. Wenn er dort nicht gut thut, werden doch wohl die Leute selbst schuld sein. Wir haben thatsächlich noch nicht Ursache zu klagen, im Gegentheil!«

Leisetritt vermag seiner Ueberraschung kaum Herr zu werden; solches Lob und noch dazu aus dem Munde der bissigen Pfarrersköchin steht zu sehr im Widerspruch zu dem, was er daheim über den Jungen stets gehört. Ob es gestattet sei, den Burschen in Oberberg zu besuchen?

»Das ist wohl nicht nöthig, und würde Alphons nur aus der Arbeit reißen. Was der Bursch braucht, hat er und das Fehlende können ihm seine Leute hierher schicken!«

»So kommt er doch zu Zeiten in den Pfarrhof?«

»Sehr selten! Ich werde etwaig für ihn eintreffende Sendungen schon nach Oberberg dirigiren. Sie fahren wohl mit nächster Gelegenheit wieder zurück?«

Leisetritt versteht den Wink und erhebt sich augenblicklich, zugleich diese Frage bejahend.

»Dann könnten Sie ja, wenn Sie wollen, für Lugmüllers gleich ein Paquet mitnehmen. Ich werde sofort etwas zusammenrichten aus unseren Vorräthen. Die Marie ist ja eine brave Person, so fromm und untadelhaft in ihrem Lebenswandel! Schade, daß sie keinen passenden Freier gefunden hat!«

»Das finde ich auch, Jungfer Köchin! Sie verdient einen braven Mann. Vielleicht hat das geringe Vermögen die Freier abgeschreckt; mancher richtet nur auf die Mitgift das Augenmerk.«

»Freilich, freilich! Aber so gar mittellos ist Marie ja doch nicht und wenn sie je heirathet und Hochwürden sind noch am Leben, wird der geistliche Herr Onkel sicher etwas beisteuern, und die Marie auch später noch unterstützen. Und schließlich bin ja ich auch noch da.«

Geschäftig eilt Thres nun in die Vorrathskammer und packt ein Bündel Viktualien zusammen, das sie dann Herrn Leisetritt übergibt mit besten Grüßen an Marie und die alten Lugmüllers. Freundlicher als beim Empfang wird Leisetritt von der Köchin hinausbekomplimentirt.

Hinter der Thüre aber dreht Thres dem abgehenden Tiroler eine lange Nase und lacht höhnisch auf: »So dumm sind wir nicht und lassen uns ausspekuliren! Wie die Bagage in Neubaumbach aber neugierig ist! Sie wittern wohl etwas, weil ich den Burschen protegire? Ja, Schnecken! Schicken sie mir da einen Spion her, der wohl auskundschaften sollte, wie ich mit Alphons stehe? Hihihi! Als wenn man so etwas Jemandem gleich auf die Nase binde! Der Bub gehört jetzt mein, so lange er parirt und anstellig ist. Hab' ich ihn satt, fliegt er hinaus, mit oder ohne Segen des Onkels! Und wie der Tiroler horchen wollte wegen der Marie! Der hat wohl Absichten auf die alte Schachtel, auf diese klapperdürre Vogelscheuche!«

Und wie um den Kontrast zu steigern zwischen ihr selbst und der alternden Marie, schiebt Thres ihre übervolle Büste etwas in die Höhe und wiegt sich in den Hüften. Dann aber verschwindet sie wieder in die Küche.

*

Ueber Neubaumbach hängt ein trüber Himmel und aus den bleigrauen Wolken träufelt es stetig herab. Das schlechte Wetter hält die Leute in den Häusern gefangen; auch Leisetritt verbringt die freie Zeit in seiner behaglichen Wohnung. Gleich nach seiner Rückkunft von Bergheim konnte Marie nicht zu ihm hinaufhuschen, weil Leisetritt denn doch zu spät angekommen war, und am nächsten Tage hielten ihn große Arbeiten ans Geschäft gefesselt. Nun er aber am Abend bei seinem Rothwein sitzt und in den Bildern seiner Schatulle kramt, klopft es an seiner Thüre und erglühend tritt Marie ein mit der Bitte, die Störung gütigst entschuldigen zu wollen. Sie käme ja nur auf einen Augenblick, um nach dem Resultate der Beobachtungen in Bergheim zu fragen. Mit zärtlicher Galanterie geleitet Leisetritt das Mädchen zum Sopha und nimmt dann neben Marie Platz. Bereitwillig erstattet er nun Bericht, schildert, wie die Köchin den Alphons lobt, der sich ganz vorzüglich anlasse und wirklich auf dem Landgute des Pfarrers untergebracht sei. Seine Ausstattung solle der Thres zugemittelt werden, denn Alphons werde auf längere Zeit dort bleiben.

»Ist Ihnen das nicht auffällig?«

»Die Erklärung wurde mir so harmlos gegeben, daß an besondere Vorfälle oder Verhältnisse nicht gedacht werden kann!«

»Welchen Eindruck hat denn die einflußreiche Pfarrersköchin auf Sie gemacht, lieber Herr Leisetritt?«

»Wie Sie selbst es sagen: auch ich halte die Köchin für die wichtigste Person im dortigen Hauswesen. Wahrscheinlich hat Alphons es verstanden, sich bei der Thres einzuschmeicheln, weßhalb diese ihn nun mit ihrem Einfluß protegirt.«

»Wie hat sie sich Ihnen gegenüber benommen?«

»O, ganz gut! Sie hält große Stücke auf Sie, liebe Marie, und sichert alle Unterstützung zu, falls Sie sich einmal verändern sollten!«

»So? Sie haben doch um Himmelswillen nicht etwa Andeutungen gemacht – –?«

»Wo denken Sie hin! Aber die Thres hat selbst dies Thema begonnen und bei meiner Verehrung für Sie, liebe Marie, können Sie sich wohl denken, daß ich ein Loblied auf Sie sang.«

»Sie sind so lieb, Herr Leisetritt!«

»Ach, bitte, liebe Marie, nicht diese steife ceremonielle Anrede! Sagen Sie doch gütigst Joseph zu mir! Es klingt viel süßer, traulicher!«

»Darf ich mir denn solche Vertraulichkeit erlauben? Dringe ich da nicht zu sehr in ihre Geheimnisse ein?«

»Geheimnisse? Mein Leben ist ein offenes Buch und ehrlich mein Lebenszweck!«

»Davon bin ich überzeugt! Doch, was haben Sie denn da in dieser Schatulle Interessantes? Ah, Damenbilder? Aber, Joseph, was sind denn das für unangezogene Frauenzimmer! Das kann man ja gar nicht ansehen!«

»Keine Aufregung, liebe Marie! Das sind Photographien von berühmten Statuen in der Münchener Glyptothek.«

»Ach so!«

Förmlich erleichtert athmet Marie auf.

»Sie haben mich doch nicht für einen Sünder gehalten?«

»Gewiß nicht! Aber Sie wissen, ich bin klösterlich erzogen worden und verstehe mich nicht auf die sündige Außenwelt.«

»Aber wie Küsse schmecken, wissen Sie doch?« schäkert Leisetritt und hascht nach Mariens Händen.

»Ich? Wie können Sie so etwas sagen!« fährt entrüstet Marie auf.

»Nun, mein Herzlieb, haben wir uns nicht gefunden unten in der Laube zu verschwiegener Stunde?«

Erglühend lehnt Marie ihr Haupt an Leisetritts Brust und lispelt: »Das ist ja was anderes! Ich dachte, Sie meinten, ich hätte fremde Männer geküßt!«

»Also bin ich Ihnen, bin ich Dir nicht mehr fremd, süße Marie!«

»Nein, mein Geliebter!« flüstert Marie und legt ihre Arme um Leisetritts Hals. Wieder finden sich die Lippen in inniger Umarmung.

Sich sanft losmachend geht Leisetritt auf die Thüre zu und schließt das Schloß ab.

»Um Gotteswillen, Joseph, was thun Sie?«

»Ich sichere unsere Schäferstunde vor unliebsamer Ueberraschung!«

»Aber die Absperrung bringt uns doch erst recht in üblen Verdacht!«

»Es wird ohnehin Niemand kommen. Und wenn auch, wir werden ja doch ein Paar, liebe Marie! Oder willst Du nicht?«

Marie fliegt in seine Arme und küßt ihn in aufquellender Glückseligkeit. Ein selig Vergessen auf die Außenwelt im süßen Brautglück, ein zärtlich Kosen im Dunkeln, ein sanftes Wehren, ein stürmisch Drängen.

Schrill klingt ein Ruf durch das alte Haus; Lisi, die wachsame, treue Person, ruft Marie herab.

Im jähen Erschrecken reißt sich das Fräulein aus Leisetritts Armen und hastet zur Thüre, dreht ungestüm den Schlüssel um, und stürmt die Treppe hinab.

Aergerlich ob dieser erneuten Störung schreitet Leisetritt durch seine nun wieder einsamen Räume.

Im unteren Stockwerk faßt Lisi das Mädchen ab, zieht es in ihre Magdkammer, um einmal gründlich sich über solch' unerhörte Aufführung auszulassen. Schnippisch will Marie solche Strafpredigt zurückweisen, aber die in Unordnung gekommenen Zöpfe, die derangirte Toilette schlagen ihr doch heiße Gluthwellen ins Gesicht, und etwas weniger hochmüthig sucht sie Lisi zu besänftigen. Es wäre ja nicht so schlimm, einige Küsse habe es freilich gegeben, aber sie sei ja – die Lisi solle die Erste sein, die davon erfährt – seit heute Braut.

Wohl wettert die treue, alte Magd noch, daß sich Besuche zu so später Stunde, das Verweilen bei einem alleinstehenden Herrn deshalb noch immer nicht rechtfertigen lassen, aber das Zauberwort »Braut« übt selbst auf das weißhaarige Hausfaktotum noch seine Wirkung aus; und so schließt denn die zornsprühende Strafpredigt mit einem Kusse und dem Wunsche, daß Marie glücklich werden möge im künftigen Ehestande. Dann ging's ans vertraute Erzählen, Pläne für die Zukunft werden entworfen, Lisi ist Feuer und Flamme und verspricht kräftigste Unterstützung und will auch für ihre Person ein Scherflein zur Aussteuer beitragen. Die blinde Matrone weint Freudenzähren über diese frohe Botschaft, und legt die zitternden Hände segnend auf das Haupt der vor ihr knieenden Tochter. Auch Vater Lugmüller ist bewegt; nur mischen sich bittere Sorgen in das freudige Empfinden, Sorgen ob der flüssig zu machenden Mitgift.

So wird denn die Verlobung gefeiert, zu welcher auch der Onkel von Bergheim gratulirt mit dem Bedeuten, daß zum Hochzeitstag das Geschenk sicher eintreffen werde. Im Städtchen wünscht Jedermann alles Glück der Braut ins Antlitz, hinter dem Rücken aber wird getuschelt und gezischelt über die niederträchtige Art, wie sich Lugmüllers den Tochtermann angelockt und herausgefischt haben. Da hieß es von Mund zu Mund, daß es gegen alle Sitte sei, den Verlobten unter gleichem Dache mit der Braut wohnen zu lassen, und sitzengebliebene Töchter der Neubaumbacher begeifern Lugmüllers Marie, die scheinheilig alle Kirchen und Klöster ablaufe und sich dann mit einem Zimmerherrn einlasse. Zwar hätte es jede dieser Klatschrosen genau so gemacht, wenn sie den ledigen Tiroler ins Haus bekommen haben würden; aber nun Herr Leisetritt weggefischt ist, reibt man sich an der »glücklichen« Braut. Und dieser Tiroler scheint es auch faustdick hinter den Ohren zu haben; der wahre Duckmäuser! Nun erklärt es sich, warum der Mann nie in Gasthäusern, bei Bällen oder sonstigen Vergnügungsgelegenheiten zu sehen war! Wer weiß, wie lange die Zwei schon unter der Decke ihr heimliches Spiel trieben! Vielleicht läßt sich dieser Verkehr nun nicht mehr in seinen Folgen verheimlichen! Selbst an den untadelhaften Ruf des alten Werkmeisters wagt sich Verleumdung und Klatschsucht heran, indem ihm, natürlich immer hübsch hinter dem Rücken, vorgeworfen wird, durch seine blindgläubige Gutmüthigkeit dieses »skandalöse Verhältniß« im eigenen Hause geduldet zu haben. Der alten Frau allein kann man die Entwicklung der Dinge nicht verübeln, weil sie blind und deßhalb unfähig zum Eingreifen ist. Jedenfalls hatte auch die alte Lisi die Hand im Spiele, diese unangenehme Person mit ihren derben Wahrheiten.

Mit geheimem Bangen sieht der alte Werkmeister dem Moment einer Aussprache mit dem zukünftigen Schwiegersohn entgegen, der Erörterung der Mitgiftsrage, welcher nicht auszuweichen ist. Der biedere alte Herr ist es selbst, der zu Leisetritt kommt und die Frage anschneidet. Wohl meint Herr Leisetritt, daß dies doch durchaus nicht so pressire. Aber just aus dieser Bemerkung fühlt der alte Werkmeister heraus, daß der Tiroler bereits auf diese Erörterung gewartet habe. Herr Lugmüller ist sich klar, daß Marie ein flüssiges Kapital mit in die Ehe bringen müsse. Nun lebe die Familie von Lugmüllers Gehalt, und das bescheidene, durch die Heirathen zweier Töchter geminderte Vermögen stecke im Hausbesitz. Es wird sich nun darum handeln, eine Hypothek auf das Haus aufzunehmen und die daraus resultirende Summe Herrn Leisetritt einzuhändigen, falls sich Herr Leisetritt etabliren wolle. Wenn aber der Herr Schwiegersohn in seiner bisherigen Stellung zu verbleiben gedächte, könnte ihm ein Hausantheil notariell zugeschrieben werden, und würde dadurch eine Transaktion hinfällig werden.

Die stille Hoffnung auf eine diesbezügliche Zustimmung vereitelt Leisetritt sofort dadurch, daß er versichert, die Baarauszahlung der Mitgift dankbarst anzunehmen.

»Also wollen Sie sich als Kaufmann irgendwo etabliren?«

»Gewiß! Ich werde Umschau hallen, und ein freiwerdendes Geschäft, gleichviel in welchem Orte, kaufen.«

»Dann verlieren wir Sie also und die Tochter mit?«

»Ich kann das leider nicht ändern. Eine Etablirung ist mein Lebenszweck! In meinem Alter, nach vieljähriger abhängiger Stellung, sehnt man sich nach Selbstständigkeit. Auch wird. Marie es entschieden vorziehen, Gattin eines etablirten Kaufmanns zu sein statt eine Magaziniersfrau in einer Kleinstadt, wo Jedermann sie und ihre Verhältnisse kennt.«

Seufzend nickt der alte Herr und bittet nur, ihm Zeit zur Aufnahme der »Heirathshypothek« zu lassen. Leisetritt versichert, gerne warten zu wollen; da jedoch hiervon bereits gesprochen worden sei, werde Herr Lugmüller wohl die Frage nicht Übelnehmen, wieviel Marie mitbekommen werde. Leisetritt betheuert, durchaus nicht auf eine hohe Mitgift erpicht zu sein – er heirathe ja nur aus Sympathie –, aber da es sich um Ankauf eines Geschäftes handle, müsse er doch über die Höhe des ihm zugesicherten Kapitals auch informirt sein.

Das ist nun zwar einleuchtend und für einen Kaufmann durchaus korrekt, aber die nackte Erörterung dieser Angelegenheit schmerzt den alten Herrn dennoch, und mit leise zitternder Stimme giebt er der Hoffnung Ausdruck, zweitausend Thaler hypothekweise aufbringen zu können.

Aus dem wenig maskirten Mienenspiel Leisetritts kann Lugmüller unschwer die Enttäuschung des Freiers erkennen; er kann aber nicht mehr bieten, da auch der Sohn noch Ansprüche hat. Ziemlich frostig scheiden die Herren dann von einander.

Allein in seiner Wohnung trommelt Leisetritt ärgerlich mit den Fingern an die Fensterscheibe; die in Aussicht gestellte Mitgift wirft die schönsten Pläne über den Haufen. Wenn da der Onkel nicht mithilft, werde sich das ganze Heirathsgeschäft wenig lohnen. Ja wenn er selber noch jünger wäre! Dann könnten doch noch höhere Ansprüche gestellt werden. Und im Grunde genommen, hat er ja selber auch nichts als den Gehalt, der von der Hand zum Mund reicht. In Neubaumbach wird keine bessere Partie zu machen sein, und der Scandal einer rückgängig gemachten Verlobung wird in der Kleinstadt so viel Staub aufwirbeln, daß die Stellung in Frage kommen könnte. Da wird das Gescheidteste doch noch sein, die Marie mit den lumpigen paar tausend Thalern in Gottesnamen zu nehmen.

Diesem intimen Gedankengang entsprechend zeigt sich Leisetritts Verhalten kühl und reservirt. Von Zärtlichkeiten für die glückstrahlende, förmlich sich verjüngende Braut ist keine Rede mehr, der Verkehr wird auf das nothwendigste beschränkt. Marie fragt den Verlobten wiederholt, welche Sorgen ihn bedrücken, was ihn so frostig mache. Leisetritt wehrt stetig ab; nun die Zukunft geklärt, sie selber ein Brautpaar seien, erscheine zärtliches Liebesgeflüster überflüssig. Viel wichtiger dünke es ihm, wenn Marie dagegen versuchen wurde, sich den Onkel günstig zu stimmen, auf daß er zur Hochzeit seine milde Hand möglichst weit aufthue.

»Du sinnst auf Geld, Joseph?!«

»Gewiß! Und leben wir später nicht in Gütergemeinschaft?«

»Das schon; aber so dürr herauszusagen, daß Alles sich nur um eine möglichst hohe Mitgift handle, das ist doch nicht schön von Dir!«

»Ich bin Kaufmann und brauche zur Etablirung Geld; je mehr, desto besser!«

Verletzt, enttäuscht verläßt Marie den Verlobten, ohne Kuß, ohne ein freundlich Abschiedswort.

Wenn etwas Sonnenschein dem alten Lugmüller ins treue Herz leuchtet, ist's das Verhalten der guten Lisi. Die mit ihm altgewordene Magd hat ihn eines Tages beim Rockzipfel erwischt, in die Küche gezogen, und ihm hier, in ihrem Bereiche, erklärt, daß sie auf ihr Guthaben auf dem Hause zu Gunsten Mariens verzichte. Herr Lugmüller solle daher ihre Hypothek streichen lassen und das Nöthige hierzu veranlassen. Jeglichen Weigerungsversuch erstickt Lisi durch die Betonung, daß dies ihr unumstößlicher Wille sei. Dann aber fragt die gute treue Seele, ob der Herr das nöthige Baargeld für das Brautpaar schon aufgebracht habe.

Kopfschüttelnd verneint der Werkmeister diese Frage und fügt dann hinzu, daß die Kapitalisten seltsame Ausflüchte gebrauchten. Ja, einige der Hauptprotzen hätten anzügliche Bemerkungen fallen lassen, die dahinzielen, daß man Töchter nicht ausheirathen sollte, wenn man das Geld dazu nicht besitze.

Mit einer Fluth von flammenden Worten der Entrüstung beantwortet Lisi diese Mittheilung; so was fehlte noch! Aber es sähe den Neubaumbacher Klatschmäulern ganz ähnlich! Dieser Geschichte werde aber Lisi selbst wenigstens theilweise ein Ende machen; sie besitze noch ein Erbtheil von tausend Thalern, das sofort flüssig gemacht werden könne. Damit hätte der Herr Werkmeister die halbe Sorge los und den Rest werde man doch in Baumbach auftreiben können. Vielleicht ist ein Stiftungsgeld irgendwo zu erhalten? Der Herr solle nur nicht verzagen.

»So, nun besorgen Sie, Herr, die Löschung der Hypothek, und machen Sie, daß Sie aus der Küche kommen. Ich werde sonst nicht mit meiner Arbeit fertig!«

Rasch drängt Lisi den alten Herrn zur Thüre hinaus, so wirbelnd geschwind, daß er ihr gar nicht mehr Dank sagen kann.

Was die alte Magd höchst ungern thut, vollführt sie am Abend beim trüben Schein eines Oellümpchens am Anrichtetisch: sie kritzelt mit ungelenken Zügen einen Schreibebrief in ihre Heimath, worin sie ihr Erbtheil einfordert und einen Verwandten bittet, ihr gegen Verpfändung des ihr noch zustehenden Besitzrechtes an einem Grundstücke weitere tausend Thaler zu überweisen. Dabei motivirt sie diese Bitte mit dem Hinweis, daß sie Gelegenheit habe, diese Gelder nutzbringend hier in Neubaumbach auf eine sichere Hypothek anzulegen. Schwitzend vor ungewohnter Anstrengung bringt sie diesen Brief endlich fertig, klebt die Marke auf und trägt ihn eigenhändig zur Post.

Immer trübseliger schleicht der Werkmeister umher; seine Bemühungen haben überall negativen Erfolg, wenn er nicht bei einem Altbaumbacher Wucherer Geld zu unerschwinglichen Zinsen nehmen will. Dazu kann sich Lugmüller nicht entschließen, ebenso wenig zum Gang zu den stolzen Stiftsherren, die unzweifelhaft von ihm Gegengefälligkeiten verlangen werden, die ihn in Konflikt mit seinen Dienstpflichten im Landbauamt bringen könnten. Eines Abends aber paßt dem heimkommenden Hausvater abermals Lisi auf, und händigt ihm im dunklen Flur ein dickes Kouvert ein mit dem Beifügen, daß hierin das zur Heirath Mariens nöthige Geld enthalten sei. Der Herr solle es nur nehmen und seine Sorgen nun in den Wind schlagen. Rückzahlen könne er nach Gelegenheit. Sie hoffe nur, daß es zum Glück der Tochter diene. Sie selber brauche ja kein Geld! Damit schiebt sie den sprachlos gewordenen Alten in die Wohnstube, und huscht dann in die Küche zurück.

Von Rührung überwältigt, mit zitternden Händen zählt Vater Lugmüller die Kassenscheine: Zweitausend Thaler sind es, die Lisi ihm in großherziger Uneigennützigkeit eingehändigt hat. Kann und darf er solches Opfer annehmen? Nie und nimmer! Doch lehnt er ab, so kann Marie nicht heirathen; wenigstens in absehbarer Zeit nicht. Damit zerstört er ein Menschenglück! Das will er auch nicht, und ebenso wenig die gute Lisi durch eine Ablehnung kränken. Aber sobald als möglich wird er die Summe als Hypothek für Lisi im Kataster eintragen lassen. Das ist seine heiligste Pflicht.

*

Die Trauung ist vorüber, die Hochzeitsgäste mit dem Brautpaar sitzen an der Tafel im Saale des Oberbräus. Auf spezielle Anordnung Lugmüllers mußte Lisi den Ehrenplatz neben der Braut einnehmen und neben der ob dieser Auszeichnung leise weinenden braven Magd sitzt die blinde Brautmutter, die von zwei Herren sorgsam zur Hochzeitstafel in das fremde Haus geführt worden ist. Wie immer hat die Matrone die Geldtasche in der einen Hand, indeß sie umgeben von fröhlichen Menschen im Bereich ihres rechten Armes den Tisch abtastet und sich durch Anfragen vergewissert, wen sie zu Nachbarn hat. Freude glänzt auf den Antlitz der Greisin; lichtlos aber starren die Augen ms Leere, ein Kontrast, der wehmüthig stimmt. Zum Hochzeitsmahl ist auch die Schmiedin auf kurze Zeit gekommen, Mariens Schwester, die sich von dem ihr durch Alphons zugefügten Schreck mühsam erholt hat. An jene wüste Scene erinnert sie jedoch draußen im Friedhof ein kleiner Grabhügel. Der Gatte jedoch ist der Hochzeitsfeier fern geblieben; er grollt dieser Verwandtschaft und will nichts mehr von ihr wissen. Den Sohn hat man wohl eingeladen, aber es ist keine Zeile der Begrüßung oder eines Glückwunsches von ihm eingelangt. Zur größten Verwunderung ist aber auch aus dem Pfarrhofe zu Bergheim kein Lebenszeichen zur Hochzeitsfeier gekommen und kein Brief, kein Geschenk. Marie hat darüber schon heiße Thränen vergossen, und Leisetritt hegt schwere Befürchtungen, daß seine Hoffnungen ins Wasser fallen, zumal er selber den Pfarrer um die hohe Ehre der Copulirung durch seine Person gebeten und Hochwürden zur Hochzeit eingeladen, aber nicht eine Zeile des Dankes oder einer Gratulation mit Entschuldigungen oder dergleichen erhalten hat. Der Mutter hat das Brautpaar dieses sonderbare, unerklärliche Verhalten des Onkels wie der Thres einstweilen noch verschwiegen und ausweichend geantwortet, wenn diese nach den eingelaufenen Geschenken des Oheims fragte und selbe betasten wollte.

Nun ist die Trauung vorüber, das Hochzeitsmahl hat begonnen, und von Bergheim ist noch immer nichts da! Unruhig ist die Braut, weil dieses starre Schweigen sie mit Bangen erfüllt, und nervös zerrt Leisetritt an seinem Schnauzer. Immer wieder richtet er den Blick auf die Saalthüre, gewissermaßen in Erwartung, daß der Onkel oder doch die Thres eintreten und die Hochzeitsgesellschaft hierdurch überraschen werde. Doch nur Aufwärter gehen ein und aus und schleppen Speisen herein. Gang um Gang des reichlichen, wenn auch nur bürgerlichen Diners wird servirt, die üblichen Toaste sind ausgebracht worden; der Wein thut seine Wirkung, die Unterhaltung wird lauter, lärmender; eine Tabaksnebelschicht lagert in halber Zimmerhöhe, die Herren qualmen fleißig zur Verzweiflung der vom Krampfhusten erfaßten Matrone, die durch die Rücksicht ihres Gatten stets rauchfreie Luft im Hause hat. Wenn Leisetritt an seine Brusttasche greift, knistern die Kassenscheine, welche ihm Lugmüller vor der Trauung eingehändigt hat. Dieses Geld hat Leisetritt allerdings sicher. Aber die Batzen des Onkels hängen in der Luft oder liegen im Mond! Ein böses Gefühl gegen die ihm eben angetraute Braut will in ihm aufsteigen. Ist er nicht betrogen worden?

Wieder wird die Saalthüre geöffnet, und Leisetritt zuckt zusammen; mit rücksichtslosem Drängen, eine Kellnerin schier über den Haufen rennend, stürmt Alphons in den Saal, wirft den Hut in die nächste Ecke, und ruft grinsend: »So, da bin ich! Gebt mir nur gleich was zu essen – das Brautpaar lebe hoch und ich sterbe vor Hunger!«

»Alphons, Du?!« schreit wie versteinert Marie, indeß Line, die Schmiedin, aus dem Saale flüchtet und wie besessen heimrennt.

»Je, die Braut? Was schreist Du so? Bin ich ein Geist? Als Dein Bruder werde ich wohl Deiner Hochzeit beiwohnen dürfen! Oder genire ich Dich etwa?«

»Nein, nein! Aber Dein plötzliches Erscheinen – wo ist der Onkel?«

»Daheim im Pfarrhof, wo er heillos über uns schimpft!«

»Waaas?« schreit nun Leisetritt dazwischen, der bleich geworden ist.

»Ah, der Herr Schwager! G'horsamer Diener! Gelt, jetzt sagen wir Du zu einander?!«

»Dutze den Teufel! Was ist passirt?« fragt bebend vor Aufregung Leisetritt.

»Nicht viel: davon gejagt haben sie mich!«

»Wer?«

»Na, der liebe, gute Herr Onkel!«

»Warum denn?«

»Na, fragt die Thres, wenn Ihr wißt, wohin sie sich geflüchtet hat!«

»Geflüchtet – Joseph, mir wird übel!« ruft kläglich Marie und sinkt in Leisetritts Arme.

Die ganze Hochzeitsgesellschaft stürmt mit Fragen auf den jungen Lugmüller ein, der aber zu sehr mit dem Vertilgen des Inhaltes der ihm erreichbaren Schüsseln beschäftigt ist, um Antwort geben zu können. »Red' Bursch!« befiehlt der Vater; Alphons jedoch kaut weiter; die aus allen Himmeln und den Hochzeitsfreuden gerissene Gesellschaft muß sich wider Willen gedulden. Und als der Junge endlich fertig ist, da greift er nach seinem Hute in der Ecke und stürmt trotz des Protestes Aller zur Thüre hinaus.

Die Abendpost bringt die erwartete Aufklärung über den Vorfall nur theilweise durch einen gepfefferten Brief des Onkels, worin lediglich das Hausverbot für alle Angehörigen der Familie Lugmüller dick unterstrichen notificirt und gesagt ist, daß die Aufführung Alphons' ein Scandal, der Pfarrhof geschändet ist, und Lugmüllers vom Onkel nichts mehr zu erwarten haben.

Leisetritt ist sprachlos vor Ueberraschung, Marie thatsächlich erkrankt, so daß von der projektirten Reise Abstand genommen werden muß. Jetzt liegt sie im jungfräulichen Bett, von Lisi gepflegt, und der Gatte hockt in seiner Junggesellenwohnung und brütet in die einsame Brautnacht hinein, unschlüssig was nun zu beginnen sei. Vor Aufregung ist auch Frau Lugmüller bettlägerig geworden, und Lisi hat alle Hände voll zu thun, die jammernden Patienten zu betreuen, zu trösten. Aber so viel die blinde Matrone sie auch bestürmt, eine Erklärung der rätselhaften Vorfälle in Bergheim kann sie nicht geben. In Alphonsens Zimmer jedoch harrt Vater Lugmüller der Rückkunft des nichtsnutzigen Sohnes. Ein bitterer Zug um die zusammengekniffenen Lippen und die tiefen Falten auf der Stirne des alten Herrn künden nichts Gutes. Stunde um Stunde verrinnt; Mitternacht ist nahe, tief herabgebrannt sind die Kerzen. Endlich schleicht der Bursch die Treppe herauf, schließt die Corridorthüre auf, und sucht sein Zimmer huschend zu erreichen. Wie vom Blitz getroffen, zuckt Alphons zusammen beim Anblick des Vaters. Schon greift er wieder nach der Klinke, da heischt der alte Herr mit scharf klingender Stimme: »Du bleibst und stehst mir Rede!«

Alphons hat den seelensguten Vater noch nie so zornglühend, so energisch und unheimlich gesehen; unwillkürlich senkt er vor diesen glühenden Blicken das Haupt und schlägt die frechen Augen nieder. Er fühlt die Überlegenheit und ahnt eine böse Stunde, vor welcher es kein Entrinnen gibt. Feig zittert er nun, sein Trotz ist verflogen. Mit grollender Stimme fordert der Vater Aufschluß über die Vorgänge in Bergheim, ohne Ausflüchte; Alphons soll nur die Wahrheit, nichts als die nackte Wahrheit bekennen.

Des Burschen Gedanken drehen sich wie im Kreise, er sucht nach Worten, seine Uebelthaten in möglichst mildem Licht zu schildern, schier demüthig gesteht er, daß er das Opfer von Thresens Verführungskünsten und die Geschichte durch eine Ueberraschung aufgekommen sei. Ohne viel zu fragen, habe der empörte Onkel dann Beide aus dem Hause gejagt mitten in der Nacht.

Ein Schmerzensschrei entringt sich Lugmüllers gequälter Brust. »Diese Schande auch noch! Du erbärmlicher Nichtsnutz, Du Nagel zu meinem Sarg! Aber nun ist meine Geduld zu Ende, und die Abrechnung gekommen! Von morgen ab trittst Du als gemeiner Arbeiter beim Wasserbauamt ein! Du verdienst nichts besseres! Ich selbst werde Dich geleiten; wehe Dir, wenn Du nicht gehorchst! Für jetzt bleibst Du Gefangener bis morgen früh! Parirst Du nicht, so bringe ich selbst Dich in das Zwangsarbeitshaus!« Kreischend dreht sich der Schlüssel im Thürschloß von außen, Alphons ist eingeschlossen, ein Gefangener im Elternhause, eingesperrt vom eigenen Vater.

»Das hat mir gerade noch gefehlt!« knurrte Alphons vor sich hin. »Macht der Alte ein Spektakel wegen der dummen Geschichte! Als wenn da so was besonderes dahinter stäke; hat doch jeder Spatz seine Spätzin! Freilich: erwischen soll man sich nicht lassen! Und es war so nett! Jetzt hat die verliebte Thres ihren guten Platz und das Legat im Testament verloren, und ich meinen Posten auf der Oekonomie! Zu dumm! Aber dem Aufpasser und Denuncianten soll der Streich eingetränkt werden! – Also Wasserbauarbeiter soll ich morgen werden! Eine schöne Stellung! Warum denn nicht gleich Canalräumer?! Der Alte kann schon hinaus an den Fluß und zum Palier gehen, aber ohne mich! Das Hundeleben habe ich nun satt in dieser faden, scheinheiligen Stadt und bei meinen Leuten! Ich brenn' jetzt energisch durch und für immer! Wie aber hinaus kommen? Auf dem gewöhnlichen Wege geht es nicht, also mit Hilfe der Dachrinne. Adieu, meine Herrschaften!«

Sachte öffnet Alphons ein Fenster, tastet nach der seitlich daran befindlichen Dachrinne, greift nach der für einen Ausstieg sehr günstig angebrachten Rundklammer, und schwingt sich behende hinaus. Ein sausender Rutsch, der die Innenflächen der Hände zerschindet, aber Alphons ist unten und frei. Was nun anfangen? Wo das Reisegeld hernehmen? »Halt, eine Idee!«

Alphons probirt, ob die zum Garten führende Hofthüre unverschlossen ist. Triumph! Nun kann er ins Haus und hinauf.

Eine Gestalt schleicht katzengleich ins zweite Stockwerk. Welch' ein Leichtsinn! Der um seine Brautnacht geprellte junge Ehemann hat in seinem Jammer auf das Thürverschließen vergessen.

Leisetritt ist des Brütens endlich doch überdrüssig geworden; vom größeren Weingenuß begünstigt stellte sich Schläfrigkeit ein, und die Kleider nach Junggesellenart gleich auf den Tisch werfend, hat Joseph das Lager aufgesucht und ist bald eingeschlafen. Schwere Träume ängstigen den Schläfer; die Ereignisse des Tages vergrößern sich im Traumgebilde ins Ungeheure und verzerren sich zu Absurditäten.

Ein leises Rascheln und Knistern wird hörbar, wie wenn Mäuse ein Blatt Papier anknabbern und auf eine Zeitung hüpfen. Dann ein Luftzug, kühl und scharf. Es fröstelt den Schläfer, der die Decke höherzieht. Immer kälter wird's im Gemach, und Leisetritt wird munter.

»Wo ist denn ein Fenster offen?« fragt er sich selber und macht Licht. »Alle Wetter! Sollte ich vergessen haben, die Thüre zu schließen? Ich habe sie doch unzweifelhaft zugemacht!« Die Fenster revidirend, schreitet Leisetritt auch am Tisch vorüber und just fällt ein flackernder Lichtschein der Kerze auf die wirr durcheinander liegenden Festkleider. Großer Gott! Am Frack hängt die Innentasche ausgezogen heraus! Dort befand sich die Mitgift! Mit einem Sprung ist Leisetritt am Tische, sucht mit zitternden Fingern alle Taschen der Festkleider ab; nichts zu finden, das Couvert mit den Kassenscheinen ist verschwunden. Verzweifelnd sucht der Tiroler in allen anderen Kleidern, im Schrank, in der Cassette; das Geld ist verschwunden.

»Heiliger Gott! Die offene Thüre – –!«

Leisetritt läuft den Corridor hinaus – auch dessen Thüre ist unverschlossen, ja sie steht sogar offen. Der maßlose Schreck verschlägt dem Tiroler die Sprache, er will schreien, aber nur krächzend gurgelnde Laute kommen über seine blutleeren Lippen. »Alles, Alles verloren!« Kaum vermag Leisetritt sich in die Schlafstube zu schleppen; die Kniee versagen den Dienst.

Wie niedergeschmettert ist der gute, alte Werkmeister, als ihm verstört, leichenblaß Leisetritt am Morgen Mittheilung von dem Diebstahl macht. Unwillkürlich eilt Lugmüller an die Thüre von Alphons' Schlafzimmer; sie ist noch verschlossen. Ein Seufzer der Erleichterung kommt von seinen Lippen; Gottlob, sein Sohn ist nicht betheiligt, er kann der Dieb nicht sein, da der Bub ja eingeschlossen ist. Leisetritt deutet aber dennoch darauf hin, daß nur ein mit den Localitäten des Hauses sehr vertrautes Individuum den Diebstahl vollführt haben könne.

»Sie meinen doch nicht, daß Alphons –«

»Wer goldene Damenuhren nimmt und versetzt, greift auch nach Kassenscheinen!«

»Es wäre entsetzlich! Aber wir wollen gleich den Alibibeweis erbringen. Der Junge ist unzweifelhaft in seinem Zimmer; ich selbst habe ihn ja heute Nacht eingesperrt!« Lugmüller schließt auf – das Zimmer ist leer, das Fenster offen – –. Der alte Herr schlägt sich die Hände vors Gesicht, und weint bitterlich.

»Der Schwager ist der Dieb der Mitgift! Ich hab's geahnt!« ruft Leisetritt verzweifelt.

»Wir werden nach ihm fahnden lassen; die Polizei soll ihn suchen und verhaften. Der Bursch verdient keine Rücksicht mehr!« sagt, sich ermannend, der alte, erschütterte Herr.

»Es wird nichts nützen; der Vorsprung ist zu groß! Bis der Stadtsoldat auszieht, ist der Dieb längst in Sicherheit über der Grenze. Und vom Scandal, den eine Anzeige heraufbeschwört, haben wir nichts!«

»Das ist leider nur zu wahr! Was fangen wir nun an? Das Geld ist fort!«

»Und ich bin ohne Stellung! Wegen der bevorstehenden Etablirung habe ich meinen Posten bei Dispecker & Mottl aufgegeben – –«

»Wir müssen trachten, Sie wieder unterzubringen! Ich werde unter Discretion der Firma den betrübenden Vorfall mittheilen, und um Ihre Wiederanstellung bitten!«

»Nein, Schwiegervater! Das ist demüthigend für uns Beide! Ich werde suchen in der Heimath unterzukommen!«

»Sie wollen fort?«

»Ich muß unter sothanen Umständen, ich kann nicht anders!«

»Und Marie?«

»Meine Frau soll einstweilen im Elternhause bleiben; in ihrem jetzigen Zustande kann sie ja doch nicht reisen.«

»Verfügen Sie noch über genügend Mittel zur Reise?«

»Zur Noth geht es!«

»Ich helfe aus, soweit ich kann. Den Vorfall aber wollen wir in Gottesnamen todtschweigen. Nur Lisi soll davon erfahren aus triftigen Gründen.«

Während Leisetritt sein Gepäck in Ordnung bringt, verständigt mit schwerem Herzen Lugmüller die alte Magd von der Schandthat des Sohnes.

Fassungslos starrt Lisi den Herrn an; dann treten Thränen in ihre Augen, und Lugmüller weint mit.

Leisetritt schützt am Krankenlager Mariens eine Geschäftsreise vor und sichert baldige Rückkehr zu. Dann noch ein rascher Abschied bei der Matrone, ein kurzer, stummer Händedruck bei Vater Lugmüller, und Leisetritt verläßt das Haus, um mit der Post nach Tirol abzureisen.

*

Tiefe Herbststimmung liegt in der Natur; welk die Blüthen in den Gärten, welk das Laub, das leise raschelnd zur Erde fällt. Auf den gelbbraunen Wiesen lagern Nebelballen, ein feines Geriesel von Dunst und Sprühregen kommt vom grauen Firmament herab; Trauerstimmung in der Natur. Und Trauer herrscht im alten Hause; die blinde Matrone ist hinausgetragen worden im engen Schrein. Sie hat die lichtlosen Augen für immer geschlossen, und ruht nun draußen im Friedhöfe neben dem Enkelchen. Frau Lugmüller ist ahnungslos verstorben; zarte Rücksicht ließ den Gatten wie die treue Magd schweigen. Und Marie begrub ihren Schmerz im tiefsten Grunde ihres Herzens, als Lisi ihr allmählich beigebracht hatte, daß der Bruder der Vernichter ihres Glückes sei. Stumm hat Marie zugehört, thränenlos. Nun begreift sie, warum Leisetritt nicht mehr zurückkehrt. Darum also die wenigen frostigen Briefe mit dem Hinweis, daß es noch immer nicht gelungen sei, festen Fuß zu fassen.

Seit dem Hingang der Gattin kränkelt Lugmüller. Er kann den strapaziösen Außendienst nicht mehr versehen, und selbst die Arbeit in der seine Kräfte zu schwer. Pflichttreu schleppt der Werkmeister den müden, kraftlosen Körper ins Amt, aber die Schaffenskraft ist erlahmt, die geistige Elasticität geschwunden. Und wie er eines Tages am Arbeitstische, zwischen Bauplänen, Karten und Acten schlafend angetroffen wird, fällt das harte Wort aus dem Munde des Amtschefs, daß Lugmüller sich solle pensioniren lassen. Auf einem königlichen Baubureau werde nicht geschlafen.

Stotternd entschuldigt sich der zitternde alte Herr, daß ihm nicht Faulheit die Augendeckel niedergedrückt habe. Krankheit und Müdigkeit habe ihn einschlummern lassen. Es soll jedoch nicht mehr vorkommen. Achselzuckend läßt der Chef den Alten stehen, und murmelt im Abgehen etwas dergleichen, daß man keine »Spitaler« im Amt brauchen könne.

Verbittert kehrt Lugmüller heim; die Scene in der Kanzlei schmerzt ihn namenlos. Ein langes Leben hat er in aufopferndster Pflichttreue gedient, und nun er alt und gebrechlich ist, wirft man ihn wie eine ausgepreßte Citrone weg. »Ja, ja! Es wird Zeit, ans Ende zu denken!« flüstert Lugmüller vor sich hin. Und da fällt ihm ein, daß er bei seiner Hinfälligkeit die Regelung seiner Obliegenheiten nicht länger hinausschieben dürfe. Am besten wird es sein, das Haus zu verkaufen, wodurch Marie wieder Mittel flüssig erhält, um ihrem Manne zu helfen in der Gründung einer Existenz, und wodurch es auch möglich wird, der braven Lisi wenigstens einen Theil ihres Guthabens zurückzuerstatten. Das ist Ehrensache gegenüber der beispiellosen Opferwilligkeit Lisi's.

Während Lugmüller die Papiere in Ordnung zu bringen bestrebt ist und einem Häusermakler schreibt, den Verkauf des Hauses bewerkstelligen zu wollen, erhält der Werkmeister vom Bauamt Mittheilung, daß draußen am Fluß der Baustadel in Flammen stehe und Lugmüller als Verwalter dieses Depots sofort Maßregeln anzuordnen habe. Der pflichttreue Alte hastet fort im dünnen Rock, hinaus in den schneidend kalten Frühwintertag. Unterwegs holt der Löschtrain ihn ein, und weil Eile geboten ist, fordert Lugmüller auf dem Steigerwagen Platz, der ihm auch sofort eingeräumt wird. Der Alte zittert vor Frost während der rasenden Fahrt. Rauch und Nebel zeigen von Weitem die Brandstätte an; dazwischen züngeln rothe Flammen, die reichliche Nahrung in den getheerten Holzpflasterwürfeln finden. Lugmüller wimmert bei diesem Anblick. Dieses Unglück muß ihm nach dem jüngsten Vorkommniß im Amt auch noch passieren!

Die Feuerwehr muß sich angesichts des in hellen Flammen stehenden Objektes beschränken, die benachbarten Häuser zu schützen; der Baustadel ist nicht mehr zu retten. An Werkzeug, Karren etc. ist von den Arbeitern ausgebracht worden, was möglich war. Allein das Feuer hat so rapid um sich gegriffen, daß vom Trockenlager des Bauholzes und dergleichen nichts mehr gerettet werden konnte. Lugmüller will trotz Abrathens seitens des Commandanten in das qualmerfüllte Innere des brennenden Stadels; in einem Verschlag des Holzgebäudes befinden sich die Bau- und Straßenrevisionsbücher nebst einigen Plänen, die der Werkmeister noch retten möchte. Sein Beginnen ist wahnsinnig; schon senkt sich das Dachgespärre knisternd und die Balken sind durchgebrannt, jeden Augenblick muß der Dachstuhl einfallen. Ein Feuerwehrmann reißt den Alten zurück, just im letzten Moment; krachend stürzt das Gebäude in sich zusammen, hoch auflodernd züngeln die Flammen empor, ein Funkenmeer sprüht auf, Rauch und Qualm hüllt Alles ein. Die Feuerwehr überschüttet die Brandstätte mit riesigen Wassermassen und dämpft das Feuer, worauf die Bauarbeiter die abgelöschten Trambäume und angekohlten Holzstücke mit Haken aus der Schuttmasse herauszerren. Pflichtgemäß überwacht der Werkmeister diese Bergungsarbeiten, und sucht dabei die Brandursache zu eruiren. Trotz des schneidenden Windes, trotz Kälte und Schneetreiben harrt Lugmüller im dünnen Rock aus, bis die Feuerwehr abzieht. Einem Palier die Aufsicht übertragend, verläßt Lugmüller betrübt die Stätte seines Fleißes, und wandert heim mit erstarrten Gliedern. Von Schüttelfrost und Fieberhitze erfaßt, muß Lugmüller sich sofort zu Bett begeben. Die über solch' grenzenlosen Leichtsinn, ohne Ueberrock fortzustürmen, wetternde Lisi braut sofort Glühwein, und Marie holt den Hausarzt, der des alten Herrn Zustand infolge dazu getretener Lungenentzündung für höchst bedenklich erklärt. Marie und Lisi wetteifern in der aufopferndsten Pflege; allein gegen Morgen haucht der alte Mann die treue Seele aus. – – –

*

Vor der Verlassenschaftsbehörde haben sich sämmtliche Hinterbliebenen eingefunden bis auf den verschollenen Sohn, Leisetritt und den Schmied. Die Töchter harren der Mittheilungen, und mit Ausnahme der am schmerzlichsten bewegten Marie leuchtet Habgier aus den Augen der in Trauergewänder gekleideten Frauen. Was sie im Hause von beweglichen kleineren Sachen an sich bringen konnten, haben sie bereits geborgen, und brauchen konnten sie alles; von Muffschachteln mit Mottennestern bis zum Paradedegen des verstorbenen Beamten ist alles des Mitnehmens werth erachtet und eingepackt worden. Jetzt soll es zum Theilen des Vermögens kommen. Der Richter verkündet, daß ein Testament nicht vorgefunden wurde und daß daher zum Verkauf des Hauses und zur Aufstellung eines Curators geschritten werden müsse. Baarvermögen fehle, ebenso seien Aufzeichnungen über etwaige Belastungen außer einigen Eintragungen im Kataster nicht vorhanden.

Kein Baarvermögen! Wie da die Mäuler laufen! Marie wird der Prasserei beschuldigt, einer heillosen Verschwendung; sie sei am längsten im Elternhause gewesen, sie habe am spätesten geheirathet, daher werde sie zur Seite geschafft haben, was sie erwischen konnte. Jetzt fordern die Schwestern rücksichtslos die Rückerstattung unterschlagener Gelder, auf daß eine Theilung nach der Kopfzahl vorgenommen werden könne. Vergeblich betheuert Marie, daß sie nicht einen Groschen besitze. Hätte sie Geld, so würde sie längst ihrem Gatten nachgezogen sein. Immer wüthender, mit den geballten Fäusten drohend, dringen die lieben Schwestern auf Marie ein, die angsterfüllt Lisi zur Hilfe ruft. Hah, die alte Lisi! Diese wird gleichfalls geraubt haben; sie ist die Helfershelferin der Marie, sie hat gestohlen seit langen Jahren. »Gib das Geld heraus, Diebin!« keifen und schreien die erbosten trauernden Hinterbliebenen. Erst sprachlos über solch' unerhörte Anschuldigungen prasselt Lisi aber dann los und überschreit das Gekeife so kräftig, daß die Neubaumbacher angsterfüllt aus den Häusern auf den Marktplatz laufen, um zu sehen, wo sich die vermuthete Mordthat abspiele. Lisi wäscht den Töchtern gründlichst den Kopf und nennt ihr Gebahren beim rechten Namen. Sie bändigt die schamlose, habgierige Bande, und wie es ruhiger wird, sagt sie es heraus, daß sie den Eltern wiederholt ausgeholfen, ihr ganzes Erbtheil geopfert habe, das dann der ehrenwerthe Bruder gestohlen und Marie um ihr Eheglück gebracht habe.

»Ich bin aus Treue und Liebe zur Familie Lugmüller bettelarm geworden; ich habe meine Hypothek auf das Haus aus Liebe zu Euch löschen lassen ohne anderweite Deckung, meine zweitausend Thaler sind durch Alphons verloren, ja sogar meinen Lohn habe ich seit Jahresfrist zum Haushalt gegeben! Und ich soll Euch betrogen haben?«

Still wird's im Hause; gedemüthigt schleichen die Frauen fort. Nur Line, die Schmiedin, reicht der Lisi die Hand und dankt ihr mit schlichten Worten für die den todten Eltern bewiesene Treue und Liebe. Marie jedoch weint sich in ihrer Kammer aus; sie ist ja die unglücklichste der Töchter Lugmüllers.

Die Theilung ist erfolgt, nachdem es gelang, das alte Haus zu verkaufen. Nach allen Abzügen und Auszahlung der Provision an den Makler fällt auf die Erben allerdings nur ein bescheidenes Sümmchen. Für den unauffindbaren Sohn wird das Erbtheil in gerichtliche Verwahrung genommen.

Die Töchter Lugmüllers reisen mit der Beute sofort ab, nachdem sie hastig kühlen Abschied von Lisi genommen. Nur Marie will mit der treuen Magd theilen, will ihr wenigstens einen kleinen Betrag einhändigen; Lisi weigert sich jedoch entschieden, auch nur das Geringste anzunehmen. Sie brauche nichts, ihre Bedürfnisse sind gering, auch sei sie rüstig genug, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie werde sich, wenn es auch hart ankomme, wieder verdingen.

»Bei fremden Leuten, nein, Lisi! Du darfst mich nicht verlassen! O bleib' bei mir in meiner Noth, Du treue Beschützerin!« fleht unter Thränen Marie.

Gerührt sagt Lisi zu; sie will ausharren bei Frau Leisetritt.

Nun das Vaterhaus in fremde Hände übergegangen, muß Marie es verlassen. Eine neue Wohnung zu miethen, nach den dürftigen Verhältnissen ein paar Kammern, ist nicht nothwendig, denn Marie will zu ihrem Gatten reisen, und Lisi soll sie begleiten. Vorher jedoch möchte sie den Onkel aufsuchen, ihn um Versöhnung bitten, ihm danken für alle Wohlthaten und Abschied nehmen. Ein schwerer Gang ist es freilich, aber er muß gemacht werden; es ist eine Pflicht der Dankbarkeit. Wohl befürchtet Lisi, daß der Onkel den Besuch anders auffassen, daß er andere Motive darin erblicken könnte. Marie kann dies freilich nicht bestreiten, aber sie läßt sich doch nicht abhalten, sie folgt ihrem Herzen.

Im stillen Pfarrhof waltet eine neue Hausbesorgerin ihres Amtes, eine ältliche Person, mild und freundlich. Sie weist die Besucherin nach dem Studierzimmer des Pfarrers, nachdem Marie ihr gesagt, daß sie eine Verwandte des geistlichen Herrn sei. Um die Klippe einer Audienzverweigerung ist Marie dadurch glücklich gekommen. Pochenden Herzens steigt sie die Treppe empor, und klopft bescheiden an die ihr wohlbekannte Thüre. Herrisch klingt es aus der Stube:

»Herein!«

Marie öffnet, und verbeugt sich an der Schwelle: »Verzeihung, hochwürdiger Herr Onkel!«

»Was will Sie, wer ist man?«

»Halten zu Gnaden, Herr Onkel, Ihre Großnichte in Trauer möchte Abschied nehmen und Dank sagen für empfangene Wohlthaten!«

»Wieder ein Bettelbesuch! Ich habe dieser Verwandtschaft ein für allemal mein Haus verboten – ist Dir davon nichts bekannt?«

»Verzeihen Sie, Herr Onkel! Ich habe Vater und Mutter verloren, bin tief unglücklich. Nicht zu betteln stehe ich vor Ihnen! Ich folge dem Drang meines Herzens, Ihnen herzinnigsten Dank zu sagen für frühere Wohlthaten. Was geschehen ist, was Bruder Alphons gesündigt, verbrochen hat: ich habe keinen Theil daran. Strafen Sie nicht eine Unschuldige!«

Der Ton dieser Bitte dringt dem stolzen Pfarrherrn doch zu Herzen. Hochwürden erhebt sich schwerfällig vom Stuhl und tritt auf Marie zu.

»Du bist unschuldig, sagst Du?«

»Ja, ich habe keine Ahnung, was Alphons angestellt hat. Ich habe beim Hochzeitsmahl nicht mehr erfahren, als daß der Bursch davongejagt worden sei und die Thres sich geflüchtet habe. Der Schrecken darüber hat mich an meinem unglücklichen Hochzeitstage krank gemacht!«

»Du hast geheirathet; ja ich erinnere mich Deiner Einladung. Jenen Tiroler, nicht?«

»Ja, Hochwürden Herr Onkel!«

»Nun, wo lebst Du jetzt mit Deinem Gatten?«

»O Gott! Hören Sie meinen Jammer! In jener Nacht, die ich krank im Bette verbrachte, hat Alphons meinem Manne in dessen Junggesellenbehausung meine ganze Mitgift gestohlen, und Alphons ist von jener Stunde an verschwunden.«

»Wie?«

»Es ist so!«

»Und was that Dein Mann?«

»In Neubaumbach hatte er seine Stellung wegen beabsichtigter Etablirung aufgegeben; nun stand er mittellos da und reiste in seine Heimath, um sich dort um eine Stelle umzusehen. Mir gab man davon erst nach meiner Wiedergenesung Kenntniß! Inzwischen sind Vater und Mutter dahingeschieden, das Haus ist verkauft, heimathlos stehe ich in dieser unheilvollen Welt!«

»Traurig fürwahr! Du dauerst mich! – Was willst Du nun beginnen?«

»Von Ihnen weg will ich mit der alten Lisi nach Tirol reisen, und meinen Gatten aufsuchen, der noch immer ohne Verdienst ist. Mit der bescheidenen Summe, die mein ist, soll mein Mann versuchen, irgendwo ein kleines Geschäft zu erwerben, das uns ernähren muß.«

»In so langer Zeit sollte jener Tiroler, Dein Gatte, noch immer keinen Posten gefunden haben? Das ist doch kaum zu glauben; da ist etwas anscheinend nicht in Ordnung! Ich fürchte –«

»Um Gottes willen, Herr Onkel! Sie glauben doch nicht, daß mich Leisetritt verlassen und betrogen haben könnte?«

»Ich kann und will nichts behaupten; es sind nur Vermuthungen. Doch Du wirst ja selbst sehen, wenn Du nach Tirol kommst. Hoffentlich täusche ich mich.«

»O, Onkel, welch bange Sorge haben Sie in mein Herz verpflanzt!«

»Darum sei vorsichtig, Marie! Doch nun erhebe Dich – Du siehst sehr angegriffen aus – stärke Dich unten im Speisezimmer! Ich will angesichts der Dir widerfahrenen Unglücksfälle eine Ausnahme machen; Dir sei verziehen!«

Dankbar, tiefgerührt küßt Marie des Pfarrers Hand.

Hochwürden segnet die schmerzgebeugte Nichte; dann aber führt er sie zu einem Schrank, bittet sie Platz zu nehmen, und entnimmt einer Schatulle etliche Kassenscheine: »Hier, Marie! Nimm das zu Dir! Du hast nicht gebettelt, daher verstärke ich freiwillig Deinen Reisefonds! Behalte das Geld als Nothpfennig für Dich selbst! So, und nun laß Dir unten Speise und Trank reichen. Ich muß hier oben weiterarbeiten. Geh mit Gott, der Allmächtige behüte, er stärke Dich, Amen!«

Mit einem stummen Handkuß verabschiedet sich Marie vom Onkel; ihr Herz ist übervoll von dankbaren Gefühlen, und dennoch bringt sie kein Wort über ihre Lippen.

Die Zähren tiefer Rührung rollen perlend über ihre abgehärmten Wangen. Auf der Treppe schiebt sie die Noten in die Rocktasche, und streicht sich das Trauerkleid wieder glatt. »Der gute Onkel!« flüstert sie, und verabschiedet sich unten, jegliche Stärkung dankbarst ablehnend, von der Häuserin, weil es ihr nach dieser Audienz unmöglich ist, mit der fremden Person ein gleichgültiges Gespräch zu führen. Den Omnibus am Nachmittag benutzend, fährt Frau Leisetritt wieder nach Neubaumbach zurück, um mit Lisi noch in der gleichen Nacht weiterzureisen nach Tirol.

*

Jene Leute, die schwere Bestrafung für die Menschenfänger in Neubaumbach prophezeit hatten, bekamen Gelegenheit, ihre Muthmaßungen vollauf bestätigt zu finden. Das Amtsgericht verurtheilte die Bräuer und Gasthofbesitzer von Neubaumbach, strafte deren Knechte wie die Kutscher von Altbaumbach theils mit Geld, theils mit Gefängniß. Dagegen wurde recurrirt, Berufung in alle Instanzen eingelegt, und deshalb zog sich der Proceß bedeutend in die Länge und wuchsen die Kosten. Die Altbaumbacher Wirthe jedoch hielten Conventikel ab, um andere Mittel zu finden, die Wallfahrer in ihre Hotels zu locken. Die alten Geleise sind nach den gemachten Erfahrungen zu sehr ausgefahren; außerdem copirten die Neubaumbacher Collegen das Beispiel des Entgegenfahrens, indem auch sie sich Stellwagen und Omnibusse anschafften und stundenweit auf den Zufuhrstraßen die Fuhrwerke etwaigen Wallfahrerzügen entgegenschickten. Allein eines Tages ward dieser Usus vom Bezirksamt rundweg verboten, und zwar auf Grund jener Rauferei, die den bekannten traurigen Ausgang nahm und einigen Menschen das Leben kostete. Alle Bitten um Aufhebung des Verbotes wurden abgewiesen, ja selbst die Gesuche bei der Kreisregierung fanden kein Gehör, obwohl alle Hebel in Bewegung gesetzt und einflußreiche Leute in der Residenz um Intervention angegangen worden waren.

Nun haben die Hoteliers die Kutschen und Stellwagen verstaubt in den Magazinen stehen, zwecklos, und für die Pferde fehlt die Verwendung. Die Vorgänge in Altbaumbach und Umgebung, sowie der Proceß vor Gericht, übten eine Wirkung aus, die sich in einschneidender Weise fühlbar machte. Der Zuzug ließ bedeutend nach; es scheuten sich namentlich die Landleute, nach Altbaumbach eine Wallfahrt zu unternehmen, die infolge der räumlichen Entfernung immer ein Uebernachten unvermeidlich machte. Von Mund zu Mund flog es, daß man in Altbaumbach »gerupft« werde, und wer sich mit der Absicht trug, fromme Gelübde durch eine Wallfahrt zu erfüllen, der pilgerte zu anderen Gnadenstätten, mied jedoch das altberühmte Altbaumbach. Der Postwirth spürte begreiflicherweise den Rückgang in der Frequenz am meisten; er hatte die meisten Zimmer, den größten Zulauf, und nun kann er mehr als die Hälfte seines Bedienungspersonals wegen Mangel an Beschäftigung entlassen. Er ist es auch, der, in steter Fühlung mit den Stiftsherren, am meisten auf Remedur dringt, und die Idee ausgeheckt hat, im Ausland neuen Zuzug zu werben durch Plakate mit verlockenden Anpreisungen, mit reizvollen Bildern der Gegend. Der Plan kostet zwar, da der Postwirth von Altbaumbach selbstverständlich auf den Plakaten nur sein Hotel als besonders empfehlenswerth anpries, schweres Geld, allein der Modus brachte doch wieder einigen Zufluß von Fremden, die natürlich bei Ankunft in Altbaumbach nur nach der »Post« frugen und dort Quartier nahmen. Allmählich mußte das die Aufmerksamkeit der Concurrenten erregen; aber so sehr die übrigen Altbaumbacher Gastwirthe nach den Ursachen der neuen Erscheinung einer für sie unbegreiflichen Fremdenanlockung forschten, den »Köder«, wie sie sagten, konnten sie nicht finden. Der findige Postwirth war nämlich schlau genug, seine Köderplakate nicht in Altbaumbach oder der Umgebung anschlagen zu lassen, sondern bewirkte die Verbreitung derselben durch Plakatinstitute in Dörfern und Städten in größerer Entfernung, wohin die Concurrenten eben nicht kamen.

Eines Tages sollte indeß der Schleier dieses Altbaumbacher Geschäftsgeheimnisses gelüftet werden. Irgend ein auswärtiger Hotelier verweigerte die Annahme des ihm zugesandten Plakates, das daher per Kreuzband zurückging und von der Post dem Postwirth zugestellt wurde. Durch Zufall blieb die offene Sendung im Gastlokale liegen, und einer der beim Frühschoppen sitzenden Collegen sah den »Köder«, las das Plakat und verschwand damit unauffällig. Die Folge dieser Entdeckung war eine Plakatüberschwemmung seitens der übrigen Altbaumbacher Hoteliers, die sich zur Kostenersparniß indeß vereinigten und gemeinsam die Plakate herstellen ließen. Wie dann die Neubaumbacher auf diesen Kniff kamen, ging ein neuer Plakatregen auch von ihnen aus in die Welt und Neubaumbach ward als das Paradies der Erde empfohlen. Sind nun die Leute auswärts stutzig geworden über die Reklamewuth, mißtrauen sie den Anpreisungen ob der unverhüllten Aufdringlichkeit: der Zufluß ward immer spärlicher und stand in keinem Verhältniß zu den ausgelegten Kosten.

In diese für die auf »Fremdenindustrie« angewiesenen Gastwirthe betrübende Geschäftslage fiel nun einem Blitzschlag ähnlich das zündende Wort: Eisenbahn. Ja, eine Eisenbahn ist das Rettungsmittel, eine Eisenbahn bringt neuen Verkehr, neue Verhältnisse, neuen Zufluß von Wallfahrern. Und mit einem wahren Feuereifer ward der Gedanke aufgegriffen; nach einem Schienenstrang schrieen die Wirthe, schrie die ganze Bevölkerung. Versammlungen wurden abgehalten, Agitationscomités eingesetzt, in Wort und Schrift wurde der Gedanke propagirt, Petitionen wurden eingereicht und das Heil in einer Eisenbahn liegend verkündet. Natürlich verlangen die Altbaumbacher den Schienenstrang für ihren Ort, die Trace muß Altbaumbach berühren, wenn die ganze Eisenbahn nicht für sie werthlos werden solle. Die Neubaumbacher aber fordern die Trace für sich, in ihr Gelände, schon aus dem Grunde, weil Neubaumbach eine Stadt ist und mehr Bevölkerung hat als der Nachbarort. Die Altbaumbacher jedoch weisen auf die Frequenz ihres Marktfleckens hin; zu ihnen kommen die Tausende von Wallfahrern und nicht nach Neubaumbach; also gebühre ihnen der Schienenstrang. Damit ist ein böser Streit zwischen Alt- und Neubaumbach entfacht, der große Wellen wirft und weite Kreise erfaßt. Erbittert verweigern die Neubaumbacher jegliche Grundabtretung für die Trace nach Altbaumbach und vice versa thun dies die Altbaumbacher. Deputationen überfallen die Behörden und preisen ihre Trace als allein richtig und segenbringend an; die Altbaumbacher entfalten die Wucht ihrer Beziehungen und ihres Einflusses, die Neubaumbacher mobilisiren die Abgeordneten ihres Bezirkes. Die ganze Gegend geräth in Aufregung und Streit.

Und je mehr das Verkehrsministerium bombardirt und Schutztruppen in den Kampf geführt werden durch Entsendung von Stiftsherren und Ordenspriestern, die bei hohen Herren vorstellig wurden und um Unterstützung warben, desto kühler führte man die Frage der Existenzberechtigung einer Bahn nach Baumbach der Entscheidung zu.

Als Sackbahn kann der Staat die Trace nicht bauen, er muß eine Fortführung nach der Reichsgrenze ins Auge fassen. Mit allgemeiner Spannung harrte man in beiden Orten wie auf dem Lande der Entscheidung, die endlich erfolgte. Die Bahn wird gebaut, aber der Schienenstrang führt 10 Kilometer vor Neubaumbach, und 12 Kilometer vor Altbaumbach, und noch dazu jenseits des Flusses vorbei zur Grenze.

Allgemeine Enttäuschung! Dann eine Fluth von Remonstrationen, von Gesuchen und Vorstellungen auf Abänderung dieser Trace. Aber die Regierung blieb steifnackig! Entweder diese Trace oder gar keine!

Wieder ist es der Postwirth von Altbaumbach, der am ersten seinen Calcul aufstellte: Nützlich ist die Eisenbahn für alle Fälle, sie erleichtert den Verkehr und bringt neuen Zufluß. Die Entfernung Altbaumbachs von der Station hingegen bringt einen Nutzen für die Fuhrwerksbesitzer, denn nach Erbauung der Bahn wird für billiges Geld jeder angekommene Fremde gerne nach Altbaumbach fahren. Daher muß man das Regierungsprojekt unterstützen. In diesem Sinne propagirte der Postwirth die Trace und gewann auch die übrigen Collegen dafür. Das Einholen von Fremden wird dann selbstverständlich und das amtliche Verbot muß aufgehoben werden.

Und so kam es auch. Die Baumbacher hüben und drüben gewöhnten sich an die neue Bahn wie an den Stellwagenverkehr, und da auch die Neubaumbacher ihre Kutschen zur Station schickten, so war es auch ihnen möglich, Passagiere zu erhalten, die in steigender Anzahl wieder nach Baumbach kamen, denn die Bahn erleichterte Wallfahrten im Vergleich zu Pilgerzügen nach anderen Gnadenstätten ganz bedeutend, und jagte viele Hasen in die Küche der Baumbacher.

*

Wie sehr Marie sich einst darnach gesehnt, in die Bergwelt Tirols zu kommen und Alpenluft zu athmen, jetzt ist solche Sehnsucht verschwunden; nun sie mit Lisi im ächzenden, klirrenden, stoßenden Stellwagen durch die herrlichen Gelände fährt, hat sie kein Auge für die landschaftlichen Schönheiten. Müde und abgespannt, in einer Art Lethargie, liegt sie in einer Ecke des Wagens, und ihre Gedanken concentriren sich nur auf die Frage: Wird sie Leisetritt wohl auch antreffen? Seine Adresse hat er im ersten nach Neubaumbach gerichteten Briefe allerdings angegeben; allein es ist inzwischen viel Zeit vergangen, er kann die Wohnung gewechselt haben, vielleicht gar verzogen sein. Bange Sorge erfüllt Marie, und je mehr sie sich diesen quälenden Gedanken hingiebt, desto reichlicher fließen die Zähren, sodaß die gute alte Lisi immer wieder zu trösten versucht und Marie Muth zuspricht.

Spät Abends erreicht der von lebensmüden Gäulen gezogene Wagen das stille Bergstädtchen, in welchem Marie ihren Gatten zu finden hofft. Sofort auf die Suche zu gehen, ist es zu spät; auch fehlt den Frauen jegliche Ortskenntniß, ohne welche man sich in finsterer Nacht nicht zurecht finden kann. Marie muß ihre Augst und Ungeduld bezähmen und mit Lisi in einem Gasthof Quartier nehmen. Dienstwillig stellt sich der Wirth zur Verfügung und erklärt sich zu etwaigen Auskünften bereit. Marie will zwar über den Zweck ihrer Anwesenheit im fremden Städtchen nichts verlautbaren, aber die Bereitwilligkeit des Wirthes veranlaßt sie doch, an den Gastgeber die Frage zu richten, ob er vielleicht zufällig einen Herrn Namens Leisetritt kenne, der hier wohne seit einiger Zeit. Der Wirth kratzt sich in Verlegenheit hinterm Ohr, mustert Marie unschlüssig, was er sagen soll. Etwas hastig meint er dann: so viel ihm bekannt, sei der gesuchte Herr – verreist.

Betroffen sieht Marie dem Gasthofsbesitzer ins Auge.

»Was ist's mit diesem Herrn? Was für Ansehen genießt der Mann im Städtchen?«

Der Wirth ist sichtlich bestrebt, einer Antwort auszuweichen; er thut, als sei seine Anwesenheit in der Küche nothwendig, entschuldigt sich für einen Augenblick, und verläßt sofort den Tisch, an welchem die Frauen Platz genommen hatten, und läßt sich später nicht mehr blicken.

»Um Gotteswillen, was muß da vorgegangen sein!« flüstert bebend Marie zu Lisi, die gleichfalls einen argen Schrecken in den alten Gliedern fühlt.

In qualvoller Sorge, schlaflos, verbringen die Frauen die Nacht, um zu früher Morgenstunde nach Bereinigung der Zeche sich auf den Weg zu machen. Bis auf wenige Kirchgänger sind die engen Gassen menschenleer; eine wahre Grabesruhe herrscht im Städtchen. Dichte Nebel verhüllen die Berge und schwarzgrau verhangen ist das Firmament. Ein trüber, trauriger Morgen.

Nach einigem Fragen finden Marie und Lisi endlich die kleine Gasse und darin das Haus, in welchem Leisetritt wohnt.

Die Frauen müssen erst die Leute aus dem Schlaf läuten, um in das Haus gelangen zu können. Unwillig ob solch' frühen Besuches öffnet ein altes Weiblein die Hausthüre und fragt nach dem Begehr, zugleich die Frauen mit nichts weniger denn freundlichen Blicken musternd.

Ob hier Herr Leisetritt wohne und ob er zu Hause sei, fragt stotternd vor Aufregung Marie.

»Woll woll!«

Ob man ihn sprechen könne?

»Sell woll nit!«

»Warum nicht?«

»Weil er nimmer da ischt!«

»Wie?«

»Ja, so ischt's!«

»Der Herr wohnt nicht mehr bei Euch!«

»Decht (doch) wohl!«

»Ich verstehe nicht! Wo ist Herr Leisetritt dann zu finden?«

»Sell weiß ich nit!«

Marie wird irre an dieser Person und ihrer verworrenen Auskunft. Lisi hingegen glaubt den Sinn dahin deuten zu sollen, daß Leisetritt bei den Leuten wohl seine Habseligkeiten stehen haben wird, selbst aber nicht im Städtchen anwesend sei.

Diese Muthmaßung erklärt das Weiblein für völlig zutreffend, nur kann es nicht angeben, wohin sich Leisetritt begeben habe. Er sei vor einiger Zeit fort, ohne irgend eine Nachricht hinterlassen zu haben.

Marie fühlt eine förmliche Scheu, sich als Leisetritts Gattin vorzustellen; es ist ihr, als würde sie in der Achtung einbüßen, doch möchte sie Näheres erfahren. Ihrer Rathlosigkeit kommt Lisi zu Hilfe durch eine Bemerkung dahingehend, daß die Frauen von Neubaumbach kämen, wo Leisetritt früher lebte und speziell bei ihnen eingemiethet hatte.

Dem Weiblein geht ein Licht auf und verständnißvoll nickt sie dazu. Da werden die Frauen wohl hierher gekommen sein, um rückständige Miethe einzufordern, meint die Alte dann.

Lisi fragt augenblicklich dazwischen, ob Leisetritt vielleicht auch hier im Rückstand geblieben sei.

»Freilich, freilich! Seit längerer Zeit! Aber mein', sein thut's ein Elend, wenn der Mensch nicht regelmäßig verdient.«

»Hat er denn noch immer keine Stellung,« fragt schüchtern Marie.

»Sell hat er nit! Er geht halt jetzt hausiren mit –«

»Hausiren!« echot entsetzt Marie, und Lisi horcht erschrocken auf.

»Decht wohl! Er geht hausiren mit heiligen Sachen für die Bauern. Ein mühsam Geschäft, bei dem einer keine Reichthümer erwerben kann. Ja, ja, sein thut's ein Elend! Ihr Weibets werdet die Reise wohl vergeblich gemacht haben; er hat nichts und was an Effecten da ist, nehmen wir, ich und mein Alter, als Deckung in Beschlag.«

»Wir wollen ihm auch nichts nehmen; im Gegentheil, sagt, wie viel er Euch schuldet, ich zahle Euch den Betrag aus!« hastet Marie heraus.

»O mein' so was! Aber wollt Ihr nicht eintreten, es ist kalt heraußen!« und geschäftig trippelt das alte Weiblein voran.

Bald ist in Leisetritts düsterem Zimmer das »Geschäft« abgewickelt; Marie zahlt den Betrag für die rückständige Miethe aus zur Freude der Alten, die von Höflichkeit nun förmlich trieft, und in übergroßer Dienstwilligkeit nicht mehr von den Frauen weicht.

Wohl oder übel muß daher Marie in Gegenwart der unbequemen Alten Lisi fragen, was nun zu beginnen sei; wenn sie wieder in den Gasthof zurückkehren und dort abermals sich einlogiren, können sie Leisetritt verfehlen; ihre Adresse zu hinterlassen, würde das Incognito lüften. Marie möchte den Gatten überraschen, ihm persönlich unangemeldet gegenübertreten.

Ob die Frau vielleicht auf kurze Zeit ein Zimmer mit zwei Betten abtreten könnte, fragt Lisi dann die Alte.

»Wenn's Euch nicht zu schlecht ist bei uns, könnt Ihr schon bei uns logiren.« Das Zimmer ist freilich feucht, klein und finster, aber für einen Gulden täglich stünde es frei. Trotz des hohen Preises makelt Marie nicht länger, sondern erklärt sich einverstanden und bezieht sofort das unbehagliche Quartier.

Um Leisetritt ja nicht zu verfehlen, wagen die Frauen das düstere Haus gar nicht mehr zu verlassen; Tag für Tag harren sie seiner Rückkunft und lassen sich die nothwendige Leibesnahrung aus dem nächsten Wirthshaus holen.

Marie will verzagen in ihrer Sorge und Angst, und selbst Lisi weiß nimmer, was sie sagen soll, um die Unglückliche zu trösten. Die Zeit schleicht entsetzlich langsam dahin, und die Unthätigkeit wirkt lähmend auf die in selbstauferlegter Gefangenschaft schmachtenden Frauen.

Eines Tages zu früher Stunde dringen Laute von einer Männerstimme ins Zimmer der aufhorchenden Frauen.

»Er ist's, und kommt endlich zurück!« flüstert Marie, und beeilt sich, Toilette zu machen.

Lisi hingegen äußert Zweifel; ihr däucht das nicht Leisetritts Stimme zu sein.

Doch nähert sich Jemand ihrer Thüre, ein fester Männertritt wird hörbar. Es klopft, Marie springt, eben mit der Toilette fertig geworden, zur Thüre, indeß Lisi sich eiligst ein Tuch umhängt, um die Nachtjacke zu verdecken. Zitternd vor Erregung öffnet Marie, und prallt im selben Augenblick erschrocken zurück. Vor ihr steht in Wehr und Waffen ein Gensdarm, der ohne Umschweife fragt, weßhalb die Damen sich just hier einquartirt hätten.

Marie ist sprachlos, und Lisi bebt.

»Sprechen Sie!«

Marie findet keine Worte.

»Sie wollen nicht reden, verweigern die Auskunft! Das verschlimmert die Sache. Sie warten auf einen Herrn Leisetritt, also stehen Sie mit ihm in Verbindung. Der Mann ist bereits verhaftet –«

»Verhaftet!« schreit Marie und sinkt ohnmächtig zu Boden.

Lisi kreischt vor Schrecken. Erst auf das Zureden des Sicherheitsorganes leistet sie Marien Hilfe und bringt diese durch Waschungen wieder zum Bewußtsein. Allmählich erholt sich Marie wieder, aber der Anblick des Gensdarmen verursacht ihr Krämpfe. Lisi will sie zu Bett bringen. Doch der Gensdarm fordert die beiden Damen auf, ihm zur Polizei zu folgen. Er will gerne außen warten, bis sie vollständig ihre Toilette in Ordnung gebracht haben; auch will er jegliches Aufsehen vermeiden, und die Damen in entsprechender Entfernung nachfolgen lassen, wenn sie versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Bei dem geringsten Anzeichen eines Fluchtversuches müßte er jedoch rücksichtslos einschreiten. Es dauert bei der Fassungslosigkeit der Frauen ziemlich lange, bis sie das Haus verlassen können. Der Gensdarm geht, als Wegweiser gleichsam, voraus, und Marie mit Lisi folgt ihm gehorsam.

Auf der Polizei wird namentlich Marie besonders eingehend verhört, nachdem sie angegeben, daß sie Leisetritts angetraute Gattin sei. Da indeß nicht das Geringste im belastenden Sinne gegen sie vorliegt und die sofort aufgenommenen Gensdarmerierecherchen ergaben, daß sie vor wenigen Tagen erst dem Gatten nachgereist sei, da ferner aus dem Verhöre unzweifelhaft erwiesen ist, daß Frau Leisetritt nicht die geringste Ahnung von dem Treiben ihres Gatten hat, so muß sie wieder in Freiheit gesetzt werden.

Auf die dringenden Bitten Mariens um Bekanntgabe des Grundes zur Verhaftung Leisetritts sagt man ihr nur, daß ihr Gatte sich wahrscheinlich wegen Betruges zu verantworten haben wird. Falls sie in der Lage sei, den von Leisetritt verursachten Schaden zu vergüten, könne dies vielleicht eine Veranlassung zu einer Strafmilderung geben, wenn der Fall spruchreif sein werde bei Gericht. Sofort deponirt Marie ihre ganze Baarschaft zu Händen des Polizeibeamten, der ihr nähere Mittheilungen zugehen lassen wird, falls Frau Leisetritt im Städtchen zu bleiben willens ist.

Weinend verläßt Marie, gefolgt von der jammernden Magd, das Gebäude, um sofort ihr düsteres Zimmer wieder aufzusuchen. Sie meiden das Tageslicht und jegliche Oeffentlichkeit, ihnen ist's als könnten ihnen die Leute vom Gesicht ablesen, daß sie einen Conflict mit der Polizei gehabt haben, daß der Gatte Mariens in Haft sich befindet.

Dieses entsetzliche Hinwarten erfährt ein plötzliches Ende. Marie wird zur Polizei gerufen, wo man ihr mittheilt, daß sich der Häftling Leisetritt in seiner Zelle das Leben genommen habe. Auf einem hinterlassenen Zettel betheuere er seine Unschuld; er sei selber dupirt worden und habe die wiederverkauften Reliquien als echte erworben, an deren Echtheit geglaubt. Daß er sich den Titel eines päpstlichen Kämmerers beilegte, sei lediglich ein verzeihlicher Geschäftskniff gewesen, um die Kauflust der Bauern zu reizen. Jede betrügerische Absicht lag ihm ferne, und die Noth war so groß! Er habe Monate hindurch gehungert, ein schreckliches Dasein, darbend am Nothwendigsten geführt. Gott werde ihm sicher ein milderer Richter sein, als die Behörde, die ihn in den Kerker bringen wollte. Der Schande mache er vorzeitig ein Ende, einen Todten verurtheile man nicht. Marie windet sich in Herzkrämpfen, und Lisi fühlt ob dieser amtlichen Mittheilungen ein Sausen im alten Kopf, als müßte dieser bersten. Beide müssen sich in das Krankenhaus des Städtchens überführen lassen.

Zwischen Leben und Tod schwebend liegt Marie Monate lang, und auch Lisi braucht geraume Zeit, bis sie wieder auf die alten Füße kann. Eine böse Schwäche ist jedoch zurückgeblieben. Die Kosten für Unterkunft und Pflege im Krankenhause für Marie und Lisi haben den letzten Rest der geringen Baarschaft aufgezehrt. Marie besitzt nun nichts mehr. Sie muß von hinnen; vielleicht gelingt es ihr in der nahen Hauptstadt Innsbruck auf irgend eine Art so viel zu verdienen, um die Heimreise bestreiten zu können. Beide besuchen das Grab des Selbstmörders. Ist das eine Wendung im Schicksal! – –

Zu einer Fahrgelegenheit reichen die Baarmittel nicht mehr aus, daher wandern die beiden Frauen auf der Landstraße zu Fuß nach Innsbruck. »Was dort beginnen?« fragt die trostlose, alte, treue Dienerin.

»Wir müssen uns um Verdienst kümmern, und fürs erste will ich meine Uhr und sonstigen Schmuck opfern, um wenigstens einige Baarmittel zu erhalten.«

Im »grauen Bären« zu Innsbruck miethen sich Marie und Lisi ein in einem bescheidenen Zimmerchen. Dann sucht Marie – ein schrecklicher Gang – das Pfandhaus auf. Nur wenige Gulden erhält sie für ihre Uhr, die einst so schweres Geld gekostet. Sodann schreibt Marie in ihrer qualvollen Herzensangst, ihre bittre Noth und das entsetzliche Ende Leisetritts schildernd, an den Onkel und bittet ihn um Hilfe.

Vier Tage vergehen, da überbringt der Postbote ein Schreiben, Marie erhält ihren eigenen Brief zurück, auf dem ein amtlicher Vermerk mit dürren Worten besagt: »Adressat verstorben.« Marie taumelt, sie ist einer Ohnmacht nahe.

Lisi zermartert sich den Kopf, wie weitere Geldmittel zur Heimreise zu beschaffen wären. Sie selbst besitzt gar nichts, und hat auch keine Ansprüche mehr auf das bereits hinausbezahlte Erbe. Wenn Marie ihren Schwestern schreiben würde? Ach, du lieber Himmel! Die leiden selber Noth und fristen ein jämmerliches Dasein. Aber die Schmiedin! Diese lebt in guten, wenigstens in erträglichen Verhältnissen. Wieder wandert ein Brieflein hinaus.

Nach bangem Harren bei größter Einschränkung in Bezug auf Kost kommt die Antwort, vom Schmied in ungelenken Lettern geschrieben: Er wolle von dieser Verwandtschaft nichts wissen und verbitte sich jede weitere Belästigung. Einen Thaler würde er allenfalls noch spendiren, aber Silber könne man im Briefe nicht schicken.

Nun ist's aus! Lisi beschließt, einen Dienstplatz zu suchen, um von einer mitleidigen Herrschaft einen Vorschuß zur Heimreise Mariens zu erbitten. Sie selber will dann diesen Vorschuß abdienen und solange bleiben, bis sie gleichfalls das Reisegeld erspart habe.

Marie fühlt sich so unwohl, daß sie, gänzlich entkräftet, das Zimmer nicht verlassen kann.

Abend wird es, dann späte Nacht. Lisi ist nicht ins Hotel zurückgekommen. Marie wacht und harrt Stunde um Stunde vergeblich.

Am Morgen wird ihr die Rechnung präsentirt; der Wirth, mißtrauisch geworden, läßt um sofortige Bezahlung ersuchen. Bald roth bald blaß vor Schrecken und Scham erklärt sich Marie für augenblicklich zahlungsunfähig. In ihrer grenzenlosen Verwirrung nimmt sie zu einer Nothlüge Zuflucht: ihre Dienerin sei mit einer größeren Note wechseln gegangen und überraschenderweise seit gestern Nachmittag nicht zurückgekehrt.

Der Kellner pfeift höhnisch durch die Zähne, und geht ohne Gruß aus dem Zimmer. Ein Poltern und Stimmengewirr unten; dann läuft ein Piccolo fort. Bald darauf klopft es an Mariens Thüre, und ein Polizist tritt ein.

»Wollen Sie zahlen?«

»Ich kann es leider nicht!« stammelt Marie.

»Wo ist Ihre angebliche Dienerin?«

»Ich weiß es nicht!«

»Nach Aussage des Wirthes haben Sie die Dienerin gestern mit einer größeren Note zum Umwechseln fortgeschickt. Ist das richtig?«

»Nein.«

»Zum Kellner sagten Sie aber anders!«

Marie verstummt.

»Eine alte Frauensperson ist heute Nacht unterstandslos, ohne Subsistenzmittel aufgegriffen worden; möglicherweise ist das Ihre Dienerin, die angibt, den Hotelnamen vergessen zu haben.«

»Die arme Lisi!«

»Sie werden mit zur Polizei folgen. Das Weitere wird sich schon ergeben.«

»Oh Gott, diese Schande!«

»Kein Gejammer! Den Wirth um die Zeche prellen, ist auch nicht ›nobel‹! Machen Sie sich fertig!«

Unter dem neugierigen Gegaffe des Personales und verletzenden Bemerkungen über Zechprellerei und dergleichen wird Marie vom Polizisten aus dem Hotel geleitet.

Auf dem Polizeiamt wird Lisi vorgeführt und Frau Leisetritt gegenübergestellt. Welch' ein Wiedersehen! Die Frauen gestehen ihre schreckliche Lage unumwunden ein, sie verhehlen nichts, nur bestreitet Marie jegliche Betrugsabsicht.

Ueber gesetzliche Bestimmungen kann sich auch der von Mitleid ergriffene Beamte nicht hinwegsetzen. Frau Leisetritt erhält einen Tag Haft und wird der Landespolizeibehörde übergeben werden.

»Um Gottes willen, weshalb, wozu?« stammelt Marie.

»Sie sind erwerbs- und unterstandslos. Aus Ihrem vorgelegten Trauschein ist ersichtlich, daß Sie als Gattin des Leisetritt in der Heimathsgemeinde Ihres Mannes zuständig sind. In jenes Dorf im Mittelgebirge werden Sie abgeschubt und der dortigen Gemeindeverwaltung zur weiteren Amtshandlung übergeben werden.«

»Allmächtiger Gott! Ich kenne dort keine Seele! Heilige Mutter Gottes! Oh, bitte, lassen Sie mich doch nach Neubaumbach zurück!«

»Das ist unzulässig! Die dortige Polizei müßte Sie, weil Sie nach Tirol zuständig sind, doch wieder an die österreichischen Behörden abliefern! Sie haben eben durch Ihre Verheirathung das bayerische Indigenat verloren, Sie sind Tirolerin geworden. Also werden Sie, weil, wie schon erwähnt, unterstands- und gänzlich mittellos, in die Heimathsgemeinde Ihres verstorbenen Gatten zwangsweise abgeschubt. Daran ist nichts zu ändern.«

»Und was geschieht mit mir?« fragt weinend die alte Lisi.

»Ihretwegen muß bei dem Mangel von Legitimationspapieren vorerst in der angegebenen Heimathsgemeinde über Ihre Zuständigkeit amtlich angefragt werden. Bestätigt sich Ihre Angabe, so werden Sie im Schubwege bis zur Landesgrenze gebracht, und dort der bayerischen Gensdarmerie übergeben.«

Nach einem erschütternden Abschied, der selbst die an schmerzliche Scenen gewöhnten Beamten weich stimmt, werden Lisi und Marie in ihre gesonderten Zellen geführt.

Tags darauf escortirt ein tirolischer Gensdarm Frau Leisetritt auf der Landstraße – zur Beförderung per Wagen fehlen ihr ja die Mittel – in ihre – neue Heimath. Wie dem das Kreuz schleppenden Welterlöser auf dem Gange zur Kreuzigung zu Muthe gewesen sein mag, glaubt Marie annähernd nachfühlen zu können. Ihr ist, als würde sie zur Richtstätte geschleppt. Mit ihren geschwächten Kräften humpelt sie die Straße fort, oft und oft anhaltend, weinend, verzweifelnd. Gutmüthig gestattet der Gensdarm diese für ihn freilich sehr unbequeme oftmalige Marschunterbrechung. Unterrichtet über den Zweck dieser Escortirung vermag er sich unschwer in die trostlose Lage der armen Frau hineinzudenken.

Spät Abends nach ermüdendem Marsche wird das Bergdorf erreicht. Der eingetretenen Dunkelheit wegen sind nur wenige Dörfler um die Wege; doch diese laufen neugierig herbei und trippeln der ungewöhnlichen Escorte nach. Die Erscheinung einer städtisch gekleideten Frau in Gensdarmenbegleitung ruft das höchste Interesse wach.

Der Gensdarm fragt nach dem Ortsvorsteher, und ein Bübchen führt ihn sammt der Dame zum Gemeindehause.

Der Vorsteher hat sich eben nach Dörflerart zur frühzeitigen Ruhe begeben wollen, da wird er nochmal herausgeklopft. Vorsichtig steckt er den Kopf zum Fenster heraus und fragt, was denn los sei zu später Stunde.

»Ein Transport! Aufmachen!« ruft laut der Gensdarm.

Brummig zieht der Vorsteher den Kopf zurück, und nach einer Weile, während Marie schluchzend an der Mauer lehnt, wird die Hausthüre geöffnet, und mit einer Stalllaterne vor sich hinleuchtend tritt der Vorsteher vor die Thüre. Alt und Jung der noch wachen Bevölkerung umringt die nächtliche Gruppe, um nichts zu überhören.

»Was bringen Sie denn zu mir herauf?« fragt verwundert der Vorsteher.

»Das erledigen wir drinnen. Schließen Sie das Amtszimmer auf!« befiehlt der Gensdarm, und nimmt Marie beim Arm, um der kraftlosen Frau eine Stütze zu sein im Emporsteigen über die Treppe zum Hausflur.

In der dumpfen Gemeindekanzlei beim Scheine der Stalllaterne liest der Vorsteher bedächtig die ihm übergebenen amtlichen Papiere, indeß der Gensdarm mitleidig Frau Leisetritt einen Stuhl zuschiebt, so daß Marie für eine Weile sitzen und ruhen kann. Der Vorsteher räuspert sich wiederholt und läßt ein »Hm hm!« nach dem andern hören. Solcher Fall ist ihm noch nicht vorgekommen. Wohl sind verlumpte Dorfangehörige, die draußen in der Welt Schiffbruch gelitten, zwangsweise wieder in ihrer Heimathsgemeinde eingeliefert worden, wo sie nun dieser zur Last fielen und in das Armenhaus gegeben werden mußten, oder ins dürftige Spital. Aber jetzt ist das ganz was anderes. Die Frau gehört nicht ins Dorf, kein Mensch kennt sie, und dennoch ist sie hier zuständig nach dem Heimathsgesetze. Seit schier einem Menschenalter hat Niemand mehr etwas von jenem Leisetritt gehört, der als junger Bursch in die Fremde wanderte und in Vergessenheit gerathen ist. Und nun wird seine Frau erwerbslos, aller Mittel entblößt im Dorfe eingeliefert, und die Gemeinde muß für sie sorgen. Wer hätte das geglaubt, für möglich gehalten! Eine Dame, und dennoch eine Last für die Gemeinde. Was mit ihr anfangen?

Der Gensdarm drängt zur Abfertigung; was die Gemeinde mit der Einlegerin beginne, kümmere ihn nicht. Der Vorsteher wolle den Ablieferungs- und Escortschein unterfertigen, die Frau übernehmen, alles Andere sei seine Sache. So kritzelt denn der Bauer mühsam genug seinen Namen unter die amtlichen Schriftstücke, die der Gensdarm seiner Brieftasche einverleibt. Die Dame durch Anfassen des Gewehres militärisch grüßend, nach einem Abschiedswort für den Vorsteher, verläßt der Gensdarm das Haus, um draußen die neugierig harrenden Dörfler auseinander zu jagen.

Still ist's in der dunklen Kanzlei; trüb glotzt das Licht der Stalllaterne durch die Finsterniß.

»Hm, Frau, sell ischt a hoakliche Sach'! Was nun machen?«

Marie weint leise vor sich hin.

»In 'n Arrest kann ich Enk nicht führen lassen, verbrochen habt Ihr nix und ins Armenhaus paßt Ihr aa nit. Unser Spittel ischt aa nix für Enk; sacra, sacra, sein thuat's a Elend! Was aber machen?!«

Eine Weile sinnirt der Vorsteher vor sich hin und kratzt sich in arger Verlegenheit hinter den großen Ohren. Dann stottert er heraus: »Wißt's was, Frau, i frag mei' Alte, was die moant! Bleibt a wengl da drinnen in der Kanzlei, die Latern' laß i Enk da; i kimm glei wieder!« Apathisch ruht Marie im Stuhle; sie sehnt sich nur nach Einem – nach dem Tode. Dieses Leben ist nicht das Leben werth! O wäre sie doch damals im Kloster verblieben; sie wäre geborgen für das Leben gewesen. Aber das wollte der Vater selig nicht. Er aber, der gute Vater, hat es überstanden, er ruht in heimathlicher Erde, während sie zwangsweise zu Fremden geführt, fremden Leuten zugewiesen worden ist. Der alten Heimath beraubt durch eine unglückselige Heirath! Und keine Hilfe, keine Rettung! Werden die Heirathen wirklich im Himmel geschlossen? Lebt der alte Gott noch? Ist dieses Elend des Himmels Lohn für das christlich fromme Leben, für die Opfer, die gebracht worden sind? Gibt es nicht ein Sprüchwort: »Hilf Dir selbst ...«? Eine Flucht ohne Mittel ist unmöglich ...; doch die Beseitigung des Lebenszwanges ist möglich ...

Nothdürftig bekleidet huscht in Strümpfen gehend die alte Bäuerin herein, die vom Gatten rasch über den seltsamen Fall unterrichtet worden ist. Sie will sich nur noch die unglückliche Frau besehen, und zu diesem Behufe leuchtet sie mit der Laterne Marien in das gramdurchfurchte, verweinte Antlitz. »O mei', dös Load! Woaßt was, Frau, Du bleibst derweil bei uns! Aftn werden wir schon sehen, was zu machen ischt! Komm' mit, ich führ' Dich, a Stüberl haben wir schon für Dich arme Person.« Mitleidig schiebt die Bäuerin ihren Arm unter Mariens rechten Arm und unterstützt sie auf der kurzen Wanderung in ein anderes Gemach, wozu der Vorsteher leuchtet. Ein reinliches, wenn auch grobes Bett ladet zur Ruhe ein; das ist's, was Marie zunächst ersehnt: Ruhe, stille Ruhe!

Die alten Bauersleute lassen die Laterne im Stübchen zurück und wünschen »geruhsame Nacht!« Morgen werde der armen Frau Wasser und ein Süppchen schon in die Stube gebracht werden.

Völlig gebrochen dankt Marie für Alles und wünscht gleichfalls »gute Nacht«.

Nach wohlthätigem Schlaf am frühen Morgen erwachend, muß sich Marie eine Weile besinnen, um zu erkennen, wo sie sich befindet, was in den letzten Stunden mit ihr vorgegangen ist. Allmählich treten die einzelnen Phasen der schrecklichen Erlebnisse wieder in Erinnerung. Bis zur Einlegerin eines Bergdorfes ist sie herabgesunken ohne das geringste Verschulden ...

Die alte Bäuerin bringt Wasser zur Reinigung; eine Morgensuppe wird sie später bringen. Ob die Frau gut geschlafen habe? Ob ihr Nummern geträumt hätten? Wenn ja, thäte sie um Mittheilung bitten; solche Nummern kämen so viel gern in der kleinen Lotterie heraus, und die Bäuerin würde gern ein Sechserl darauf setzen in der Collectur unten im nächsten Marktort. Wehmüthig lächelt Marie zu dieser beabsichtigten Fructification ihrer Träume. Ihr haben keine Zahlen »geträumt«!

»So, nicht? Dann habt Ihr auch nit ordentlich g'schlafen!«

Verwundert darüber, daß Einem in einem fremden Bett keine passenden Lottonummern im Traum erscheinen können, verläßt die Bäuerin die kleine Stube. Ja, ja, die Stadtleut'! Allweil müssen sie was Extriges haben, was Vornehmes, wenngleich sie dann bloß Einleger werden und froh sein müssen, wenn man sich ihrer in Verarmung annimmt.

Was mit der Frau anzufangen sei, wissen die Bauersleute selber nicht. Ständig können sie sie nicht ernähren; eine Weile geht das an, besonders wenn die Frau Flickarbeit, Schneiderei und Strickarbeit übernehmen würde. Es wird wohl der Gemeinderath wegen dieser verflixten Geschichte einberufen werden müssen. Dieser soll auch entscheiden, was mit der Frau geschehen soll.

Marie übernimmt bereitwillig die von ihr gewünschten Nadelarbeiten; sie braucht nicht unter die fremden, unerträglich neugierigen Leute zu gehen, kann still auf ihrem Stübchen hocken und allein mit ihrem Jammer sein.

Bei Tag liest der Vorsteher das amtliche Schreiben über Frau Leisetritt nochmals und genauer durch. Eine böse Falte bildet sich während dieser Lectüre auf seiner Stirne.

»Schau, schau! So, so! Also ischt die Frau mit der Duldermiene das Weib eines Häftlings, der sich im Gefängniß vor dem Urtheilsspruch erhängt hat. Der Leisetritt war also so eine Art halbeter Zuchthäusler! Na, das ischt ja eine schöne Bescheerung! Da wird wohl decht auch hinter ihr nit so viel stecken! Das ändert den Fall wesentlich! Und die Flickarbeit gibt man auch besser einem armen Insassen vom eigenen Dorf!«

Hurtig klettert der Alte zur Bäuerin, um ihr die gestern übersehene Neuigkeit aus dem amtlichen Schreiben mitzutheilen. »Jess' Marie und Joseph!« schreit die erschrockene Bäuerin. »Gott steh' uns bei! Er ein halbeter Zuchthäusler! Aftn ischt sie auch nit viel besser! Auf die Stund' muß sie aus 'm Haus!«

Mit wahrer Brutalität wird Marien mitgetheilt, daß »man« das Weib eines Zuchthäuslers nicht länger unter dem Dache dulde. Sie müsse fort und werde im Armenhause untergebracht werden; das Armenhaus sei gut genug für solche Leute, die der Gemeinde zur Last fallen!

»Pack nur glei' Deine sieben Zwetschgen z'ammen!« schreit der Vorsteher, reißt Marien das Handtäschchen aus der Hand und wirft es brutal auf die Straße hinaus. »Pack Di' durch!« höhnt die wie umgewandelte Bäurin, und stößt Marie vor die Hausthüre. »Frag' nur wo 's Armenhaus ischt, sie werden Dir's schon weisen, Zuchthäuslersweib!«

Krachend fliegt die Hausthüre zu. Marie ist ausgestoßen. Wilde Verzweiflung erfaßt das unglückliche Weib. Eine Rotte Dorfbuben umringt die fassungslose Marie und kreischt höhnend: »Zuchthäuslersweib kommt ins Armenhaus!«

Marie flüchtet blindlings von dannen, fort, nur fort von diesen grausamen Menschen; lieber in die Wildniß, in den Tod. In dem rasenden Dauerlauf bleiben die Buben doch zurück; sie wollen ja auch den Dörflern vermelden, daß die neue Einlegerin durchbrenne. Marie hat den Wald erreicht, durch welchen ein Gangsteig aufwärts führt. Wilder wird die Gegend, die Fichten schmiegen sich an starre Felsen an, die thurmhoch aufragen. Der Pfad überschneidet eine Felsnase und schlängelt sich um die Curve einer Buchtung von wuchtigen Prallwänden. Links das riesige Felscouloir und rechts vom Pfad gähnender Abgrund, in dem dichte Nebel brauen, ein weißes, brodelndes Chaos, in das ein brausender Wasserfall seinen Donner sendet. Wirre Nebelfetzen umflattern die Prallwände, hüllen die triefenden Baumkronen ein, umgaukeln den schmalen gefährlichen Pfad. Der Wind heult schauerlich im Geschröff, in schrägen Strichen klatscht der Regen auf die Felsplatten ... Sturm auf einsamer Höhe ... in der Felswildniß. ...

Ein Weib hastet den gefährlichen Weg hinan ... der tosende Wind greift in die Kleider ... ein Flattern ... ein Drängen ... wüthend schlägt der Regen ins todtenbleiche Gesicht der flüchtigen Frau ... ein Blick in das brodelnde Chaos, in den dunsterfüllten Abgrund ... ein hastig Kreuzschlagen über die Brust ... ein Sprung ... ein Schrei, gellend, wirr, vom Donner des Schaumsturzes verschlungen ... Ein Menschenkörper taucht hinunter in die brodelnde Dunstfluth – – –

Befreit vom irdischen Elend! – – –

Eine arme Gemeinde von einer Einlegerin befreit ...–

*

Jahre sind vergangen. Im Armenhause eines bayerischen Marktfleckens ist eine uralte Frauensperson gestorben, für deren Beerdigung die Gemeinde aufkommen muß. Niemand folgte dem Sarge; aber in manchem Familienkreise besprach man dieses geringfügige Ereigniß, denn Manchem dünkt es unbegreiflich, daß Lisi, die Tochter ziemlich begüterter Leute, per Schub mit weißen Haaren zurückkam nach langer Abwesenheit und ohne einen Kreuzer im Besitz, schier verhungernd, zu Lasten der Gemeinde im Armenhause aufgenommen werden mußte. So geht es, wenn man nicht zu sparen versteht – – –

Man weiß hier nichts von Dienstbotenliebe und Treue und vom Schicksal der Familie Lugmüller.

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